Beate Schaefer
Bacchantische Nacht
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Ich war traurig, aber in diesem Moment habe ich...
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Beate Schaefer
Bacchantische Nacht
scanned by unknown corrected by ak
Ich war traurig, aber in diesem Moment habe ich etwas über die Liebe begriffen. Daß nicht die erste Nacht zählt oder die zweite oder das gemeinsam verbrachte Leben. Sondern einzig und allein der Augenblick des Erkennens. Alles liegt in ihm, Anfang und Vollendung! Alles, was zwischen zwei Menschen möglich ist. Alles Gefühl. Aller Rausch der Sinne, alle Ewigkeit. Nichts, was später geschieht, läßt sich mit diesem Augenblick vergleichen. ISBN 3-8218-0883-7 Eichborn AG, Frankfurt am Main, Februar 2002 Umschlaggestaltung: Moni Port
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Iulia, Tochter des Kaisers Augustus, ist trotz eines Lebens in Luxus und Reichtum keine glückliche Frau. Von ihrem dritten Ehemann lebt sie getrennt, seit sie den Wunsch ihres mächtigen Vaters nach einem weiteren Thronerben erfüllt hat. Die strengen Regeln der römischen Gesellschaft zwingen Iulia in die Enge eines goldenen Käfigs, der sie mit heimlichen Liebschaften und gelegentlichen Zerstreuungen entflieht – bis ihr die zufällige Bekanntschaft mit vermeintlichen politischen Gegenspielern ihres Vaters zum Verhängnis wird. Nach einem nächtlichen Bacchanal wird Iulia zunächst unter Hausarrest gestellt und nach kurzem Prozeß auf eine einsame Mittelmeerinsel verbannt. Ehebruch, Verschwörung und Hochverrat werden ihr vorgeworfen. In der Einöde ihrer Gefängnisinsel versucht sie, sich an die entscheidenden Stunden des rauschenden Fests zu erinnern, und läßt ihr Leben Revue passieren – das Leben einer jungen Frau, deren Sehnsucht nach Liebe den politischen Zielen ihres skrupellosen Vaters geopfert wird. Sensibel, klug und überaus zeitgemäß: Beate Schäfer gelingt ein ebenso virtuoser wie beklemmender Roman über die Tragödie einer Frau, die an den Zwängen und Widersprüchen einer erstarrten Gesellschaft zerbricht.
Autor
Beate Schaefer, geboren 1961, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Soziologie. Nach langjähriger Tätigkeit im Bereich Öffentlichkeitsarbeit (unter anderem für den WWF) lebt sie nun als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Rom. Sie schrieb das Libretto für mehrere Musiktheaterstücke. Im Eichborn Verlag erschienen: Das Orakel von Cumae (2000).
Für meine Eltern und EMB.
›Wenn aber sogar Gründe von nicht geringem Gewicht es wahrscheinlich machten, daß Iulia vielmehr das Opfer einer abscheulichen Cabale als ihrer eigenen Ausschweifungen gewesen: würde da nicht doch die Gerechtigkeit selbst erfordern, daß man sie, nach einer billigen Schätzung ihrer schönen Eigenschaften, wenigstens mit der eben so liebenswürdigen Maria von Schottland (gegen welche doch die Nachwelt endlich unparteiisch wird) in dieselbe Linie stelle?‹ Ch. M. Wieland (1733-1813)
PROLOG Der Caelius mons träumt unter Schattenbäumen; wer es sich leisten kann zu dieser fünften römischen Stunde, träumt mit und überläßt die trockene, staubige Stadt ihrem Treiben. Faul verirrt sich die Zeit, streift träge über den Esquilin, wo auf dem häßlichsten Friedhof der Welt die Lebenslichter nie ausgehen und wo die Endstation nicht Sehnsucht heißt, sondern Termini; wandernd quert die Zeit schmale Schluchten, eingekerbt zwischen Viminal und Quirinal; verweilt endlich in den Gärten des Pincius, beruhigt von Myrten und Lorbeer, Zypressen und Buchs; auf einem Brunnenrand sitzend schaut sie den Algen zu, die glasiggrün unter Wasser wehen wie ausgekämmtes Nymphenhaar. Götter fürchten die Zeit wie alle, die herrschen; das macht sie unfrei und die Zeit mächtig – seltsam, daß sie, die vergeht, unvergänglich ist, wir aber im Vergehen enden, wenn sich niemand erinnert. Wir warten, bis die Zeit auf den Hügeln verweilt. Dann sind wir frei, zu erinnern.
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SYMPOSIUM
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I. Au! Iulia schlägt nach ihrer Friseuse, die ungerührt mit einem Elfenbeinkamm das lange, dunkelblonde Haar ihrer Domina zerteilt, zielsicher zugreift, ein weiteres graues findet und es ausrupft. Au! ruft Iulia erneut. Kannst du nicht aufpassen? Au oder grau, gibt die Alte zurück. Halt still. Iulia lacht: Au oder grau. Wie findest du das, Phoebe? Sie dreht sich nach rechts, wo ihre Hausgenossin auf einem ganz ähnlichen Lehnstuhl aus Weidengeflecht sitzt wie sie selbst und sich von zwei Sklavinnen Wellen in die glatten schwarzen Haare pressen läßt, während eine andere Dienerin sich um die Nagelpflege der Hände, eine weitere sich um die Füße kümmert. Phoebe muß stillhalten; sie dürfte allerdings etwas sagen, doch sie tut es nicht, sondern lächelt nur, wie sie immer lächelt, die Mundwinkel straffgezogen, ein bißchen nach unten; es macht sie nicht häßlich, weil es wenig gibt, was sie häßlich machen könnte, aber sie wird dadurch auch nicht anziehender. Iulia stört es nicht, sie ist es gewöhnt, nimmt es gar nicht mehr wahr, nimmt die Freundin so, wie sie ist, und die strengen Mundwinkel als das, was gemeint ist: ein Lächeln. Sie sticht ihrer Friseuse spielerisch mit einer Haarnadel in den Arm: Wart’s ab, Lusia. Wenn dir das nächste Mal ein Zahn so abfault, daß du nichts mehr essen kannst und du heulst, weil du nicht zum Chirurgus willst, um ihn dir ziehen zu lassen, dann sag ich einfach: Au oder kau! Iulia streckt ein Bein aus, damit eine Sklavin jene 8
Härchen aus ihrer Wade zupfen kann, die sie vielleicht gestern übersehen hat, und weil sie nicht ruhig sein kann beim Schöngemachtwerden, fragt sie Phoebe: Wieso hast du eigentlich noch keine grauen Haare? Du bist immerhin zwei Jahre älter als ich. Warum glaubst du, daß es mich noch nicht erwischt hat? fragt Phoebe zurück. Sie besitzt das passende klassische Profil zur neuen Haarmode, die üppiges Plissee samt Mittelscheitel und rückwärtigem Knoten verlangt; jede Römerin trägt es zur Zeit, wenn die Haarpracht nur irgendwie ausreicht, und wenn nicht, zumindest die Karikatur davon. Ich hab noch nie eins entdeckt, schmollt Iulia. Und das heißt, daß ich keine habe? sagt die Freundin, und: zu heiß! schnauzt sie das Mädchen an, das mit der Brennschere dicht an ihre Kopfhaut gelangt ist. Du betrügst mich also? ruft Iulia. Reißt sie dir im Geheimen aus, während ich mich für dich zur Schau stelle? Bist du so feige? Nicht feige. Nur ein bißchen diskreter als du. Wieso diskreter? Wer sieht uns denn bei diesem langweiligen Ritual? Ich zum Beispiel, meldet sich eine angenehme, relativ helle Männerstimme aus dem Hintergrund. Was ist dir lieber, Iulia. Graues Haar oder eine Glatze? Iulia hebt den silbernen Handspiegel, um ihren Vater anzuschauen, der hinter sie getreten ist. Noch habe ich die Wahl, sagt sie. Und später? Ich weiß nicht. Es gibt gute Perückenmacher. Augustus legt ihr eine Hand auf die Schulter; Iulia weiß, daß es väterlich gemeint ist, aber sie haßt es, wenn er sie unaufgefordert anfaßt, dazu noch vor anderen Leuten – 9
obwohl die ganze Person des Kaisers nicht massiv ist, nie massiv war, und seine Gesten wie beiläufig wirken, spürt sie hinter allem, was er tut, was er sagt, nur eines: Ich will!, und der geringe Druck, den seine Hand auf ihre Schulter ausübt, wird zur Last, als hätte man ihr einen Sack Mehl aufgeladen. Ich war den ganzen Tag im Senat, berichtet Augustus, ich dachte, ich komme bei dir vorbei, um dir eine gute Nachricht zu bringen. Wir schicken Caius nächstes Jahr in den Osten. Er soll mit den Parthern verhandeln. Es scheint, als hätten sie nichts dagegen, mit uns dauerhaft Frieden zu schließen. Aber er ist doch erst achtzehn! protestiert Iulia und wendet so heftig den Kopf, daß im Kamm der Friseuse ein Büschel Haare zurückbleibt. Iulia kümmert sich nicht darum, sondern sagt, die Stimme eine Nuance höher gerutscht: Caius hat keinerlei Erfahrung. Was ist, wenn sie ihm einen Krieg aufzwingen? Sie steht auf, hektisch, sieht unordentlich aus mit den langen, offenen Haaren, die ihr über Brust, Schultern, Rücken hängen; das Kleid, in dem sie Toilette macht, nicht mehr als ein Hemd; es ist außerdem warm an diesem Septembertag, und Iulia hat Schweißperlen auf der Oberlippe. Hast du Carrhae vergessen? ruft sie. Oder das Desaster von Antonius in Armenien? Willst du meinen Sohn bei diesen unzivilisierten Monstren verheizen? Ich dachte, du würdest dich freuen, sagt Augustus knapp. Ich habe angenommen, die Ehre, die der Senat einem Mitglied unserer Familie erweist, würde dich stolz machen. Stolz! Ehre! wiederholt Iulia verächtlich. Und was heißt: der Senat. Die Senatoren tun doch sowieso nur das, was du willst. Ich habe meinen Sohn nicht großgezogen, damit du ihn den Parthern zum Fraß vorwirfst. 10
Augustus bleibt gelassen; auch das etwas, was sie regelmäßig zur Raserei bringt. Du regst dich umsonst auf, Iulia, sagt er. Caius wird keine Armee führen, sondern eine diplomatische Mission. Mit ein paar Legionen und einem halben Dutzend Generälen im Gepäck! höhnt Iulia. Augustus lächelt nur: Diplomatie muß flexibel sein. Übrigens ist Caius nicht mehr dein Sohn, seit ich ihn adoptiert habe. Das sind wohl zwei verschiedene Dinge, entgegnet Iulia. Ich habe ihn geboren, er ist ein Teil von mir. Sie will noch etwas hinzufügen, verbietet es sich, schweigt verbissen, öffnet noch einmal den Mund, um zu protestieren, doch dann zuckt sie die Achseln. Mach, was du denkst, sagt sie. Du wirst wenig Interesse daran haben, ihn zu verlieren. Wenn du willst, kannst du sehr klug sein, erwidert Augustus. Warum ärgerst du mich zuerst immer? Iulia, schon wieder lächelnd: Weil ich dein Temperament geerbt habe, vermutlich. Mein Temperament ist sehr ausgeglichen, widerspricht ihr Vater. Wirklich? entgegnet Iulia. Phoebe, was sagst du dazu? Du kennst ihn fast ebensolang wie ich. Phoebe hat angespannt dagesessen, blaß, und ohne Mienenspiel von einem zur anderen geschaut. Phoebe ist meiner Meinung, sagt Augustus. Nicht wahr? Phoebe nickt. Sie würde immer sagen, was du hören willst, wirft Iulia ein. Aber sie liebt dich vermutlich auch noch mehr als ich. Phoebe nimmt es ohne Regung hin und konzentriert sich wieder auf das, was die Dienerinnen geschickt und in ziemlich rasantem Tempo tun, um ihre Domina noch 11
attraktiver zu machen, als sie ist. Ich habe euch was mitgebracht, wechselt Augustus das Thema und winkt einem Sklaven, der vor der Tür gewartet hat. Der Junge bringt zwei kleine blaue Glasschälchen mit je einem grünen und einem weißen Deckel. Süßigkeiten für die Damen, sagt der Kaiser, während der Sklave die Geschenke überreicht. Iulia greift nach der Glasschale und hebt sofort den Deckel. Mandelnougat! sagt sie erfreut. Du auch, Phoebe? Phoebe öffnet den Deckel, sieht die Notiz, auf ein kleines Holzplättchen gekritzelt. Ihr Mund zuckt fast unmerklich. Ich auch, sagt sie dann. Danke. Ja, Dank dem Spender, fügt Iulia hinzu. Sie kaut bereits und fragt mit vollem Mund: Möchtest du einen Becher Wein? Nein, ich muß weiter. Ihr beide scheint heute abend auszugehen, sonst würdet ihr nicht so einen Aufwand betreiben, richtig? Crispinus feiert, sagt Iulia undeutlich, schluckt, greift nach einem weiteren Konfekt und nutzt den Moment des Nichtkauens, um zu berichten: Er weiht sein Haus am Tiber ein. Er ist mein Nachbar geworden. Seine Villa grenzt genau an meinen alten Kasten. Aber während ich es vorziehe, hier oben auf dem Oppius zu wohnen, glaubt er, da unten sei das Leben angenehmer und will demnächst völlig umsiedeln. Er wird sich wundern. Am Fluß ist es heiß und drückend. Wahrscheinlich werden wir heute abend die ganze Zeit nur gegen die Stechmücken kämpfen, statt uns zu amüsieren. Wer wird noch da sein? fragt der Kaiser. Oh, alle, erwidert Iulia und schiebt Nougat nach. Lauter Leute, die du nicht magst. 12
Augustus nickt: Dann wünsche ich euch viel Spaß. Wo ist Livia? erkundigt sich Iulia, nicht, weil es sie tatsächlich interessiert, wo die Frau des Kaisers gerade hofhält, sondern um zu provozieren, was ihr Vater regelmäßig übelnimmt. In Prima Porta, antwortet er abweisend. Phoebe hebt ruckartig den Kopf, senkt ihn aber sofort wieder und starrt auf die blaue Glasdose in ihrer Hand. Fährst du hin? will Iulia wissen. Morgen oder übermorgen. Soll ich sie grüßen? Iulia legt kokett den Kopf schief: Wenn du es für sinnvoll hältst. Augustus sieht sie kopfschüttelnd an, geht nicht darauf ein und sagt: Zieh heute abend ein Kleid mit einem Ausschnitt an, den ich ohne rot zu werden betrachten könnte, Iulia. Dann müßte ich mich bis zum Kinn zuschnüren, erwidert sie. Über Mode rede ich nicht mit meinem Vater. Sie setzt sich wieder auf den Frisierstuhl. – Grüß meine Stiefmutter auf jeden Fall von mir. Augustus dreht sich wortlos um und will gehen. In der Tür wendet er sich nochmal um und rächt sich: Gibt es Neuigkeiten von deinem Mann? Iulia nimmt erneut ihren Spiegel und sieht ihren Vater darin spöttisch an. Das müßtest du besser wissen als ich, bemerkt sie. Du schreibst Tiberius Briefe. Ich nicht. Aber da wir schon über ihn reden: Warum schickst du nicht ihn nach Parthien? Von Rhodos hat er es nicht halb so weit dorthin wie mein kleiner Caius von Rom aus. Tiberius ist für diese Mission nicht geeignet. Ich möchte einen Unterhändler, keinen General zu Phraates schicken. Du meinst eine Geisel! 13
Du vergißt, sagt Augustus scharf, daß wir diejenigen sind, die parthische Prinzen als Geiseln haben. Caius wird mir die Feldzeichen wiederbringen. Es geht um unsere Ehre. Früher haben auch römische Frauen einen Begriff davon gehabt. Damit dreht er sich endgültig um und geht. Die Friseuse beginnt nun, auch Iulias Haar in modische Wellen zu zwingen. Iulia hat rote Flecken auf den Wangen, auf Hals und Dekollete; ihr hübsches, unkonventionelles Gesicht gleicht mit den hohen Wangenknochen, den tiefliegenden blaugrauen Augen, der schmalen Nase und dem kleinen, sensiblen Mund dem Gesicht ihres Vaters, wenn auch auf eine weichere, die Konturen zunehmend vernachlässigende Art. Verdammt! ruft Iulia. Phoebe, sag mir, warum ich mich immer noch aufrege? Jedesmal freue ich mich, wenn er kommt, und jedesmal kriegen wir Streit. Immer die alte Leier. Früher war alles besser. Römische Ehre. Unsere Feldzeichen. Was kann ich denn dafür, daß Crassus die Dinger vor fünfzig Jahren dort im Dreck hat liegenlassen? Phoebe schweigt und dreht nur nervös das Glasschälchen in den Händen. Was hast du? will Iulia wissen. Ist was nicht in Ordnung? Phoebe schüttelt den Kopf, was funktioniert, da ihre Friseuse fertig ist. Sie steht auf, stellt das Glasdöschen auf einen Tisch und läßt sich ihr Unterkleid überstreifen. Sobald ihr Kopf aus dem hauchzarten safrangelben Stoff wieder auftaucht, sagt sie: Dein Vater denkt politisch, Iulia. Du denkst privat. Iulia lacht: Du willst damit ausdrücken, ich denke nur an mein Vergnügen, während der Kaiser nur Rom im Kopf hat? Ich sag’ dir eins, Phoebe: Mein Vater amüsiert sich 14
genausooft wie ich, aber er macht es so, daß es niemand mitbekommt. Außerdem war ich nicht umsonst zehn Jahre lang mit dem Herrn Vizekaiser Agrippa verheiratet. Und davor mit dem armen Marcellus, der jetzt fast vierzig wäre und immer noch vergeblich darauf warten würde, endlich Princeps zu werden. Ich bin nicht nur politisch, ich bin Politik! Das verlockt sogar Phoebe zu einem jener strengen Lächeln; vielleicht hat sie sich nur deshalb angewöhnt, so zu lächeln, weil der Gegensatz zu ihren vollen, weichen, nie geschminkten Lippen sie interessant macht? Ehe Phoebe noch etwas sagen kann, wickeln sie zwei Mädchen in das blaßgelbe Kleid mit den Goldstickereien und befestigen die Schulterspange und den Gürtel. Während eine kleine Dienerin, fast noch ein Kind, Phoebe die weißen Sandalen anzieht und sie schnürt, will die andere großzügig Schmuck auf ihrer Herrin verteilen, doch Phoebe lehnt, ohne dazu ein Wort sagen zu müssen, allein mit der Bewegung zweier Finger das meiste ab und läßt allein Perlenohrringe und eine goldene Kette zu. Eine Sklavin hält ihr eine Schatulle mit Ringen hin, aber Phoebe schüttelt nur den Kopf. Ich weiß, was für einen Ring du brauchst, ruft Iulia und läßt die Sklavinnen, die ihr gerade das Frisierhemd ausziehen wollen, einfach stehen. Sie klappt den Deckel einer kleinen silbernen Kiste auf, die mit blauem Samt ausgeschlagen ist, und nimmt einen einfachen Goldring heraus, der statt einer Gemme oder einem Stein ein Siegel aus massivem Gold trägt. Iulia kommt zu ihrer Freundin, nimmt ihre Hand und steckt ihr den Ring an. Phoebe wirft einen Blick auf das eingravierte Bild und entzieht Iulia hastig ihre Hand. Mit der Linken will sie den Siegelring mit dem kaiserlichen Profil wieder entfernen, aber er sitzt zu fest, so daß es ihr zunächst nicht gelingt. 15
Iulia faßt sie am Arm. Behalt ihn für heute abend, Phoebe, sagt sie. Er ist geliehen, nicht geschenkt. Warum machst du dich über mich lustig fragt Phoebe und streift den Ring mit einiger Gewalt von ihrem Finger. Sie hält ihn Iulia fast feindselig hin: Da, nimm! Iulia seufzt. Na gut. Ich dachte, du freust dich. Sie nimmt den Ring und steckt ihn sich selbst an. Du siehst ziemlich schön aus, sagt sie. Wie eine sizilianische Schlüsselblume. Deine Figur hätte ich gern. Ich habe auch keine fünf Kinder geboren, sagt Phoebe kurzangebunden. Dann merkt sie, daß ihr Ton wie eine Anklage ist. Tut mir leid, entschuldigt sie sich. Ich weiß nicht, was heute mit mir los ist. Ich glaube, ich möchte mich noch kurz ausruhen, ehe wir gehen. Mach das. Ich brauche bestimmt noch eine Weile, sagt Iulia und winkt ihr zu: Denn das Kleid, das ich mir ausgesucht habe, gefällt mir nicht mehr. Phoebe nimmt die kleine blaue Glasdose von einem Klapptischchen, geht und kommt erst zurück, als Iulia längst ungeduldig auf sie wartet. Da bist du ja, ruft Iulia, als die Freundin in der Tür erscheint. Wir müssen uns langsam auf den Weg machen. In Kürze rollen die ersten Lastwagen in die Stadt. Dann kommen wir mit unseren Tragsesseln nur im Schneckentempo vorwärts. Sei mir nicht böse, aber ich wollte nur vorbeischauen, um dir zu sagen, daß ich später nachkomme, sagt Phoebe. Du bist so blaß, ist dir nicht gut? fragt Iulia. Doch, doch. Ich brauche nur noch etwas Zeit. Soll ich auf dich warten? Nein, wehrt Phoebe ab, vielleicht etwas zu schnell, zu laut. 16
Wirklich nicht? Es ist nicht nötig. Aber du kommst? bedrängt Iulia die Freundin. Auf jeden Fall. Iulia geht zu Phoebe und umarmt sie. Ich bin so aufgeregt, gibt sie zu. Phoebe steht mit hängenden Armen. Ich weiß, sagt sie leise. Iulia schaut ihr in die Augen: Wünsch mir Glück. Phoebe weicht ihrem Blick nicht aus, aber ihr Sehen ist nach innen gerichtet, und so wirken ihre dunklen Augen seltsam stumpf. Ich weiß nicht, was ich dir wünschen soll, Iulia, sagt sie. Glück? Natürlich. Aber alles andere? Wünsch mir auch das! Du wirst es dir schon nehmen, erwidert Phoebe kühl und tritt einen Schritt zurück, so daß Iulia sie loslassen muß. Du benimmst dich komisch heute abend, beschwert sich Iulia und mustert die Frau, die einmal ihre Sklavin war, die ihre Freundin wurde in den einsamen Kindertagen, die sie zu ihrem dreißigsten Geburtstag freigelassen hat, und die bei ihr geblieben ist, obwohl sie reich ist und schön und ein eigenes Leben führen könnte. Wenn ich es nicht besser wüßte, meint sie, würde ich denken, daß du eifersüchtig bist. Unsinn, antwortet Phoebe. Mir ist nur etwas Unangenehmes eingefallen, das ich noch erledigen muß. Aber du willst mir nicht sagen, was es ist. Phoebe schüttelt den Kopf: Es ist nicht so wichtig. Aber unangenehm. Ja. Na gut. Behalt dein Geheimnis. Ich erwarte dich bei 17
Crispinus. Iulia läßt die Freundin stehen und geht hinüber in den Trakt des Hauses, wo die Kinderzimmer liegen, um sich von der zwölfjährigen Vipsania und dem kleinen Agrippa zu verabschieden. Sie findet ihre Tochter nicht vor, aber ihre Mutter, Scribonia. Wo ist Vipsania? will Iulia gegen das Wutgebrüll des neun Jahre alten Agrippa wissen, der beim Mühlespielen gegen seinen Hauslehrer verloren hat und drauf und dran ist, das Brett mit den Spielsteinen vom Tisch zu fegen. Bei ihrer Schwester, sagt die alte Frau schmunzelnd, die trotz knotiger, halbsteifer Finger am Spinnrad sitzt, und fügt hinzu: Seit Iuliola verheiratet und schwanger ist, findet ihre einstige Feindin sie hochinteressant. Iulia lacht und streicht Agrippa, der sich maulend an ihr Kleid gehängt hat, über den Lockenkopf. Er bettelt so lange, bis sie nachgibt und noch eine Partie Hase und Jäger mit ihm spielt. Du nimmst Schwarz, ruft er und zieht die Nase hoch. Und du nimmst Weiß, sagt Iulia. Aber erst, wenn du dir die Nase geputzt hast. Eine Dienerin besorgt das grünlichgelbe Geschäft. Während Iulia, ihrem Sohn halbwegs genau folgend, damit sie ihn gewinnen lassen kann, ihre Spielsteine setzt, sagt sie zu ihrer Mutter: Augustus war vorhin hier. Er will Caius nächstes Jahr in den Osten schicken. Nach Parthien. In diplomatischer Mission, behauptet er. Um diese blöden Standarten wieder einzusammeln, die sie Crassus damals bei Carrhae abgenommen haben. Als hinge Roms Weiterbestehen davon ab. Ich habe mich wieder mal mit ihm gestritten. Sie seufzt. Du weißt doch, daß es nichts bringt, sagt Scribonia. Warum sollte Caius nicht nach Parthien? Er ist alt genug. 18
Findest du? Mit achtzehn? Es wird Zeit, daß er sich der Welt draußen vorstellt. Dein Vater ist einundsechzig. Wenn er stirbt, wird Caius Kaiser. Iulia kann nicht verhindern, daß Schwarz Weiß ausnahmsweise einen Haken schlägt, was Agrippa dazu veranlaßt, sie zu boxen. Sie lacht und hält seine Hand fest: Das Spiel ist noch nicht aus, Schatz. Setz deinen Stein. Sie schaut zu ihrer Mutter, die routiniert, wenn auch langsam, das Spinnrad dreht und den Faden zwischen den Fingern zwirbelt. Und was ist, wenn Caius dort umkommt? fragt sie. Erstens wird das nicht passieren, zweitens gibt es keine Garantie, sagt Scribonia. Es hat keinen Sinn, sich wegen solcher Dinge mit deinem Vater zu streiten. Ich weiß. Aber irgendwie muß ich. Warum? Iulia zuckt die Achseln. Gewonnen! jubelt Agrippa und nimmt Iulia den letzten Stein weg. Ich habe gewonnen! Iulia küßt ihn schmatzend auf beide Wangen und auf den Mund: Hast du, mein Lieber. Jetzt geht’s ins Bett. Sie übergibt ihren Sohn dem Hauslehrer und steht auf. Hat Augustus dein Kleid gesehen? fragt Scribonia beiläufig. Iulia lacht. Nein, aber er hat mir geraten, den Durchmesser meines Ausschnitts generell zu verringern. Scribonia blickt von ihrer Arbeit auf. Du hast ihn vergrößert, würde ich sagen. Gefällt es dir? Wie es mir gefällt, ist wahrscheinlich eher unwichtig, oder? 19
Nicht ganz, erwidert Iulia und küßt ihre Mutter kurz auf die alterszarte, faltige Wange. Du warst früher berühmt für deine Extravaganz. Hättest du’s getragen? Scribonia lächelt: Je nachdem, bei wem ich Eindruck machen wollte. Iulia schaut aus dem Fenster des Kinderzimmers, das zum Garten hinausgeht. Es ist fast dunkel draußen. – Nehmen wir an, bei der Liebe deines Lebens, sagt sie leichthin. Scribonia schüttelt den Kopf, steht mühsam auf, weil ihr die Knie geschwollen sind und ein stechender Schmerz sie behindert. Sie kommt zu Iulia ans Fenster. Woher hast du denn diesen Traum? fragt sie. Ich weiß nicht. Er war einfach da. Und wer ist es? Iulia legt den Finger auf die Lippen und erwidert nichts. Dann paß auf dich auf, sagt Scribonia. Oder bleib am besten heute abend hier. Um einen Brief an Tiberius zu schreiben, damit er endlich heimkommt, wie es Augustus so gern hätte? fragt Iulia spöttisch. Scribonia lacht: Bloß nicht. Dann geh lieber feiern. Iulia umarmt ihre Mutter. Dachte ich mir’s doch. Gute Nacht. Wir sehen uns morgen. Als sie endlich das große Stadthaus in den Carinen verläßt und sich in ihren Tragsessel schwingt, ist es dunkel. Zwei Fackelträger und ein Schreihals, der dem kleinen Troß den Weg durchs Gewühl der Subura bahnen wird, stehen bereit. Iulia überlegt kurz, ob sie eine Sklavin zu Phoebe schicken soll, um zu sehen, ob diese mittlerweile ausgehbereit oder sogar schon aufgebrochen ist, aber dann läßt sie es und befiehlt den beiden Sesselträgern, loszutraben. 20
II. Der altreiche Bohemien Crispinus hat als Bauherr keine Kosten gescheut. Wer sein Haus am Tiber betreten will, muß zunächst durch einen langen, gedeckten Portikus, eine Erfindung von Modearchitekten, die neue Häuser mit solchen Wandelgängen, Exedren und anderem Schnickschnack bauen, Platz damit verschwenden und die Zimmer dann lieblos und mickrig aneinanderschachteln, weil sie sich verkalkuliert haben oder weil es ihnen egal ist, wie beengt der Hausherr wohnt – Hauptsache, nach außen stimmt das Bild. Der überdachte Gang, den Iulia ohne ihren Anhang, den sie an der Pforte zurückgelassen hat, nun mit gebremster Eile entlanggeht, ist zweigeteilt durch hohe, gewölbetragende Pfeiler, deren Backsteininneres verborgen ist hinter hellgrauem Marmor. Ihnen gegenüber an den Wänden Blendpfeiler aus ebendemselben Marmor, dazu für Iulias Geschmack ziemlich gräßlicher Stuck an der gewölbten Decke und Wandmalereien in zartem, wie hingewischtem Stil – arkadisches Leben in Villen am Meer, sirupsüße Liebesszenen in Gondeln oder in rosenumrankten Pergolen, glückliche Fischer mit fettem Fang, alles in warmbraunen, ockrigen, goldgehöhten Farbtönen … Iulia gönnt der Idylle kaum einen Blick; das gleiche hat sie in ihrem eigenen Haus nebenan, nur daß der Maler, den sie beauftragt hat, ein Könner ist, während dieser hier vermutlich nur teuer war … Von hinten legt ihr jemand zwei kräftig zupackende Arme um die Taille und küßt sie ziemlich feucht auf den Hals. Wen willst du denn auf deine alten Tage noch aufreißen? fragt der feuchte Küsser dicht an ihrem Ohr. 21
Die, die heute abend hier sind, kennst du und willst sie nicht, oder du hast sie schon gehabt. Iulia versucht, die Arme des Mannes loszuwerden. An Geschmacklosigkeit bist du nicht zu überbieten, Sempronius, sagt sie. Er lacht geschmeichelt und geht neben ihr her, einen Arm um ihre Hüften gelegt. Oh, doch, meint er. Den Gipfel der Geschmacklosigkeit hat Afranius erreicht. Er hat seine Frau mit irgend einem illiteraten Subjekt im Bett erwischt, und statt die beiden, wie es Sitte und Gesetz erfordern, sofort totzuschlagen und sich was nettes Neues zu suchen, hat er den Kerl laufenlassen und ihr verziehen. Ein Nachbar hat ihn verpfiffen, weil er nicht Anzeige erstatten wollte. Und als dann die Sittenpolizei kam, hat er sich geweigert, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Weil er sie angeblich liebt. Gibt es etwas Geschmackloseres? Ich meine, man liebt Gottweißwen, ein Mädchen, einen Jüngling, von mir aus eine alte Hure, aber doch nicht seine Ehefrau! Zwei Männer in leichten, eleganten Togen kommen ihnen entgegen. Sie fächeln sich Luft zu und haben offenbar gehört, was Sempronius erzählt. Sie schlendern herüber, wobei sie Iulia mit gezielter Bewunderung anstarren. Der eine von ihnen ruft Sempronius zu: Wie willst du das wissen, Caius? Du warst ja noch nie verheiratet, obwohl es auch dafür ein Gesetz gibt. Verrate mir den Trick. Ich bin verlobt, gibt Sempronius zurück. Unsinn. Wer verlobt ist, muß irgendwann heiraten. Vielleicht schaffst du es, den Termin ein, zwei Jahre hinauszuzögern, aber spätestens dann sitzt du in der Falle. Nicht, wenn die Auserwählte noch in den Windeln liegt, sagt Sempronius überlegen. 22
Die beiden Männer lachen: Du machst Witze! Sempronius schüttelt den Kopf: Es ist wahr. Meine Braut heißt Statilia und ist anderthalb Jahre alt. Macht noch dreizehn Jahre Freiheit. Das ist verrückt, sagt der eine Mann. Aber genial, sagt der andere. Bloß, das Ehegesetz ist doch schon über zehn Jahre alt. Was hast du vorher gemacht? Das gleiche, erwidert Sempronius. Ich hatte Glück, und die andere ist an einem Fieber gestorben, als sie dreizehn war. Du bist widerlich, sagt Iulia, aber sie lächelt. Was sind das für barbarische Eltern, die ihre Säuglinge mit dir verloben? Sempronius küßt sie aufs Ohrläppchen. Weißt du, Iulia, ich bin ein ziemlich begehrter Heiratskandidat. Reich, schön, aus guter Familie. Es gibt Leute, die dafür, mit einem Gracchus verwandt zu sein, noch mehr geben würden als nur ihre Töchter. Er wendet sich an die beiden Männer, die sich, nachdem sie stehengeblieben sind, nur um so heftiger Luft mit ihren Elfenbeinfächern zuwedeln. Warum lauft ihr hier draußen rum? will er von ihnen wissen. Ist drin nichts los? Doch, sagt der eine. Es ist zum Ersticken voll. Tausend Leute. Die kommen nur zum Fressen, konstatiert Sempronius. Wenn sie weg sind, wird’s gemütlich. Wir sehen uns nachher. Er winkt den beiden Männern zu. und die schlendern weiter. Laß uns Crispinus begrüßen, Iulia, fordert er sie auf. Wir sagen ihm hallo und bewundern sein Haus, dann suchen wir uns ein nettes ruhiges Sofa … 23
Iulia macht sich lachend von ihm los. Das wünschst du dir, Sempronius! Warum sollte ich nicht? Weil du, wie du vorhin großzügig erläutert hast, zu jenen gehörst, die ich bereits gehabt habe. Immer mal wieder, wenn ich dich erinnern darf. Schon lange nicht mehr. Um so mehr ein Grund, unsere alte Freundschaft zu erneuern. Hör zu, Liebling, du siehst unglaublich aus heute abend. Unglaublich gut oder unglaublich schlecht? Unglaublich unglaublich. Welcher Aphroditestatue hast du das Kleid geklaut? Du hast lauter Stoff an dir dran, aber du siehst aus, als wärst du nackt. Also sieht es gut aus? fragt Iulia und zupft, plötzlich nervös, an einer plissierten weißen Stoffkaskade. Sempronius vertritt ihr den Weg, hält sie mit der linken Hand am Arm fest und legt ihr die Rechte ums Kinn. Er zwingt sie, ihn anzusehen: Was ist los mit dir, Iulia? fragte er mit spöttisch verzogenem Mund. Bist du verliebt? Aber in wen? Doch nicht etwa in den alten Langweiler Crispinus? Oder in den neuen schicken Kitharaspieler. Ich gebe zu, er ist schön wie Apoll… Iulia schiebt seine Hand weg: Laß mich los, Sempronius. Er zuckt die Achseln. Ich sehe schon, du gerätst auf Abwege. Iulchen, Iulchen, wohin soll das führen? Sempronius, du bist ein Schwätzer. Aber ein charmanter, betont er, nicht im geringsten verärgert. Und ein fanatisch neugieriger Skandaltreiber, schiebt sie nach. 24
Er zieht sein Gesicht in tragische Falten: Du magst mich nicht. Iulia lacht: Doch. Ziemlich. Denn zumindest lügst du nie. Er grinst: Wozu auch? Ehrlich schockt am längsten. Dann komm. Sie zieht ihn am Ärmel: Laß uns Leute schockieren!
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III. Phoebe wartet lange, so lange, bis sie sicher sein kann, daß Iulia unterwegs zum Tiber ist und auch nicht mehr umdreht, weil sie, wie so oft, etwas vergessen hat, einen Schal, ihr Parfüm … Um in ihrer Abendkleidung nicht aufzufallen, hängt sich Phoebe ein dünnes Cape um, zieht den weiten Stoff als Schleier übers Haar – vorsichtig, um die Wellen nicht plattzudrücken – und eilt unbegleitet durch die nur spärlich beleuchteten Straßen und Gäßchen auf dem Oppius; bald werden die Gebäude weniger zahlreich, die Häuser größer, reicher, bis es gar nicht mehr weitergeht und eine lange, hohe Mauer das Viertel auf dem Esquilin einfach quer abschneidet. Phoebe braucht einen Moment, um sich zu orientieren – wo ist die Pforte, das kleine Schlupfloch, fast unsichtbar? Instinktiv geht sie nach rechts und findet den Einlaß nach wenigen Schritten. Sie hat einen Schlüssel – seit damals immer noch –, aber es dauert einen Augenblick, bis sie sich erinnert, wie das Schloß funktioniert; es ist eine trickreiche Konstruktion, drei Schlösser in einem, aber schließlich läßt sich die schmale, niedrige und doch massive Tür aufstoßen. Phoebe blickt sich hastig um, ob auch niemand sie gesehen hat, und huscht durch den Spalt. Mit zitternden Fingern schließt sie die Pforte wieder ab. Dann bleibt sie stehen. Lauscht. Strengt die Augen an. In dem großen Park ist es nahezu stockdunkel. Ein Stück entfernt sieht sie hoch oben zwischen Baumwipfeln Licht. Der Turm! Sie zögert etwas zu lang für jemanden, der sicher ist, was er tun soll. In dem erleuchteten Turmfenster ein Schatten. Phoebe zuckt unwillkürlich zusammen, obwohl sie doch weiß, daß Er dort ist und auf sie wartet. 26
Langsam geht sie durch die Finsternis auf das Licht zu, bewegt sich bald so zielsicher durch den nächtlichen Garten, als ob sie dort zuhause sei, vermeidet nahezu automatisch die Kieswege und läuft auf dem Gras, damit man ihre Schritte nicht hört. Es macht ihr fast Spaß, dieses alte, verbotene Spiel, wie man als Erwachsene ehemals mit Tabu belegte Pfade noch einmal entlanggeht mit dem kindlichen, nicht mehr ganz echten Schauer, etwas zu tun, das man nicht darf. Kaum ein Luftzug bewegt die Zweige der Büsche, läßt die Blätter der alten Steineichen und Lorbeerbäume rascheln. Ab und zu der schläfrige Laut, den ein Vogel von sich gibt, der noch keinen Schlafplatz gefunden hat, ein kurzes Flattern. Danach nur noch Phoebes eigene, katzenhaft leichten Schritte im Gras. Die Tür zum Turm, den sich Maecenas vor Jahren inmitten seines riesigen Anwesens hat errichten lassen – ein Gag, eine Laune – ist nur angelehnt. Phoebe hält inne, als würde sie sich gerade erst bewußt, daß die Zeit des Spiels längst vorbei und der Weg, den sie heute abend kam, gefährlicher geworden ist, statt seine Bedrohlichkeit zu verlieren. Sie lehnt sich gegen die kühle Mauer, rückwärts, mit geschlossenen Augen, hört auf die gedämpften Nachtgeräusche im Park und wartet. Auf was? Vielleicht darauf, daß ihre Gedanken sich bündeln lassen zu einer Entscheidung? Darauf, daß ihr Körper sich wehrt, indem er ihr Kopfschmerzen schickt, Übelkeit, Krämpfe? Nichts davon geschieht. Statt dessen freut sie sich auf eine bittere Weise, und als es ihr klar wird, öffnet sie die Augen, steigt entschlossen mit schnellen Schritten die Treppe hoch und klopft. Komm rein, sagt Augustus von drinnen mit seiner hellen, angenehmen Stimme, die immer klingt, als amüsiere ihn etwas, als nähme er selbst in schwierigen Momenten weder sich noch die Welt um sich herum 27
wirklich ernst. Phoebe ist blaß, als sie eintritt, blaß selbst für eine Frau, die von Natur aus hellhäutig ist. Augustus kommt auf sie zu, lächelt, nimmt ihre Hand und küßt sie: Ich freue mich, daß du meine kleine Einladung nicht ausgeschlagen hast. Phoebe steht ganz kalt, ganz angespannt. Es ist ihr unangenehm, daß ihre Handfläche schwitzt. Ich gehorche deinen Befehlen normalerweise, sagt sie. Meinen Bitten, entgegnet er immer noch lächelnd. Er läßt ihre Hand nicht los und führt sie zu einer Kline: Setz dich, Phoebe. Danke, ich bleibe lieber stehen. Ich habe eine Verabredung. Sag mir, was ich für dich tun kann. Dann laß mich gehen. Das Fest bei Crispinus, sagt Augustus und läßt sich auf dem blauen, mit goldenen Ornamenten gemusterten Polster des Sofas nieder. Willst du dort wirklich hin? Meiner Tochter zuschauen, wie sie sich lächerlich macht? Lächerlich? Augustus winkt ab. Laß nur. Ich nahm an, du wüßtest, wovon ich rede. Komm schon, Phoebe, setz dich. Bleib einen Augenblick bei mir. Was willst du? Er sieht zu ihr auf, gleichzeitig amüsiert und fordernd. Sechzig Jahre ist er alt oder ein Jahr mehr, vieles an ihm ist gealtert, das Gesicht nicht mehr faltenlos, die Hände voll brauner Flecken, die Augen noch tiefer eingesunken, die widerspenstigen Haare weniger voll und ziemlich grau mit einigen weißen Strähnen. Trotzdem ist er auf eine fast lächerliche Art schön geblieben, seine blaugrauen Augen haben nichts von ihrem Glanz verloren, er hält sich extrem 28
gerade, vielleicht weil er nicht groß ist und seine Gestalt so filigran; in der Bewegung seines Kopfes, seiner Arme und Hände liegt eine Gelassenheit, die täuscht, denn seine Reaktionen können schnell sein wie die eines Tiers. Muß ich etwas wollen? fragt der Kaiser. Warum hättest du mich sonst hergebeten? Also habe ich gebeten, nicht befohlen? Du weißt genau, daß jede deiner Bitten ein Befehl ist, erwidert Phoebe. Augustus seufzt. Schade, daß du so denkst. Das war nicht immer so. Doch. Es gab nur eine Zeit, da habe ich mir eingebildet, es sei nicht so wichtig, ob du wünschst oder befiehlst. Weil? Phoebe steht vor ihm und sieht ihm geradeheraus in die Augen: Weil ich wollte, was du wolltest, ob du nun gebeten hast oder befohlen. Aber das ist vorbei. Du hast seit anderthalb Jahren weder gebeten noch befohlen. Dachtest du, ich hätte dich satt gehabt? Natürlich. Wäre es dann nicht anständiger gewesen, dir das mitzuteilen, statt mich zurückzuziehen ohne eine Erklärung? Du bist mir keine Erklärung schuldig gewesen. Augustus steht auf. Er schenkt zwei Becher voll Wein und reicht einen davon Phoebe. Sie will ihn nicht nehmen, sieht jedoch am Blick des Kaisers, daß es nicht gut wäre, abzulehnen, und läßt sich den Becher in die Hand drücken. Trink, sagt er und stößt kurz mit ihr an, ohne zu warten, daß sie ihm entgegenkommt. Ich bin dir eine Erklärung schuldig gewesen, Phoebe, fügt er hinzu. Auf deine Gesundheit! 29
Auf die Gesundheit des Princeps Augustus, sagt sie. Beide trinken. Ich habe auch einen Rufnamen, bemerkt er dann. Phoebe schüttelt den Kopf: Ich weiß nicht, was du bezweckst, Augustus. Was zwischen uns war, ist lange vorbei. Warum hast du mich heute abend herbestellt? Doch wohl kaum, um unsere alte Beziehung wieder aufzunehmen. Und wenn doch? Dann verlasse ich sofort diesen Raum. Augustus lacht. Beruhige dich, Phoebe. Es geschieht nur, was du willst. Um ehrlich zu sein, habe ich mich ganz einfach nach angenehmer, intelligenter Gesellschaft gesehnt. Nach Gesprächen, die mich anregen, statt mich zu ermüden. Nach einem schönen Gesicht, das ich dabei anschauen kann. Nach deiner Gesellschaft, Phoebe. Nach deinem Gesicht. Es gibt intelligentere Frauen. Wenige. Schönere. Jüngere. Ich wollte dich. Mit dir plaudern. Einen Abend lang frei haben. Genießen. Ganz ohne Zweck. Ganz ohne Absichten. Hättest du dagegen auch etwas einzuwenden? Phoebe geht ein paar Schritte durch das Turmzimmer. Ich verstehe dich nicht, sagt sie. Warum plötzlich heute abend? Nach so langer Zeit? Ah, da sind wir wieder bei unserem kleinen Problem. Darf ich dir erklären, warum ich mich damals zurückgezogen habe? Sie sieht ihn zweifelnd an: Was würde das bringen? Daß du mir nicht mehr böse bist, und wir uns einen 30
schönen Abend machen können. Und wenn ich das gar nicht will? Er legt den Kopf ein wenig schief und lächelt sie an. Sag mir ehrlich, daß du es nicht willst. Dann lasse ich dich gehen und werde dich nicht mehr belästigen. Du belästigst mich nicht! erwidert sie heftig. Laß uns reden, Phoebe, bittet er und setzt sich wieder. Du siehst übrigens sehr schön aus heute abend … Mach mir keine Komplimente. Er lacht: Ich mag dich sehr. Vor allem, wenn du so direkt bist. Phoebe dreht sich auf dem Absatz um und will gehen. Augustus springt auf und hält sie am Arm fest. Sie ist fast so groß wie er. Dicht nebeneinanderstehend bilden sie einen aparten Kontrast – sein helles, graues Haar, ihre schwarzen Locken, seine weiße Toga, ihr gelbes Kleid. Einen Moment lang scheint es, als seien sie sich dieses Bildes bewußt, obwohl sie ja nur ihr Gegenüber sehen. Es ist, als führten sie beide ihr eigenes, für andere unsichtbares Spiegelbild mit sich. Phoebe wendet sich ihm zu; es ist eine weiche, fast zaghafte und doch widerständige Hinwendung. Sie hält seinen Blick aus. Er rührt sich nicht. Sie rührt sich nicht. Sie stehen einfach nur da, sehen sich in die Augen und schweigen. Augustus ruhig, ohne Drängen im Blick, fast ohne erkennbares Gefühl. Phoebe zweifelnd, innerlich davonlaufend, dann wieder selbstbewußt, fast aggressiv. Ich glaube dir deine Gründe nicht, sagt sie schließlich. Was willst du, Augustus? Dich. Phoebe schüttelt langsam den Kopf, aber sie läßt es zu, daß Augustus ihr eine Hand auf den nackten Arm legt. 31
Und warum gerade heute abend? will sie wissen. Weil ich bis gestern verreist war und bald wieder verreisen werde und nicht mehr länger warten wollte. Warten? fährt sie auf. Wieso warten? Du tust, als gäbe es irgend etwas, das dich daran gehindert hätte, mich zu sehen. Ich habe dich nicht warten lassen! Ich weiß. Ich habe doch gesagt, daß ich dir eine Erklärung schulde. Setz dich hin. Laß uns reden. Phoebe seufzt. Ich glaube dir kein Wort, Augustus. Ich bin nicht naiv. Du hast einen Grund. Aber der hat nichts mit mir zu tun. Wenn ich nur wüßte … Könnte der nicht einfach sein, daß Livia in Prima Porta ist? fragt Augustus schlicht. Wann hätte sie dich je bei deinen Abenteuern gestört? erwidert Phoebe grob. Augustus lächelt nur: Bei meinen Abenteuern nicht. Aber bei dir. Ich möchte nicht, daß du Schwierigkeiten bekommst. Außerdem ist Iulia auf ihrem Fest heute abend abgelenkt. Du hast ihr doch nichts von meiner kleinen Einladung erzählt, oder? Nein. Gut. Er zögert. Weiß sie ansonsten Bescheid? Nein. Ich wußte, daß du klug bist, Phoebe. Er zögert erneut. Hat sie jemals irgendwas vermutet? Kaum, bemerkt Phoebe trocken. In Iulias Welt dreht sich alles nur um sie selbst. Sie glaubt, ich himmele dich an, wie man dich ihrer Meinung nach anzuhimmeln hat, solange man nicht deine Tochter ist. Weiter schaut sie nicht und denkt sie nicht. Augustus lächelt: Sie ist in letzter Zeit etwas zu forsch. Im übrigen hat man mir erzählt, sie laufe Antonius 32
hinterher. Stimmt das? Phoebe entzieht ihm ihren Arm. Ich tratsche nicht, sagt sie. Also stimmt es? Du fragst die Falsche. – Sie öffnet die Tür. Augustus drückt sie wieder zu. Es tut mir leid, Phoebe, sagt er. Wir sollten nicht über Iulia reden. Ich bin froh, daß du gekommen bist. Bleib eine Weile. Bitte. Er nimmt ihre Hand und streichelt wie beiläufig ihre Finger, einen nach dem anderen. Dabei schaut er über Phoebes Schulter hinweg ins Leere. Sie schweigen. Lange. Sie läßt es zu, daß er ihre Finger massiert, so scheinbar absichtslos wie zärtlich. Du warst vor anderthalb Jahren kurz davor zu heiraten, Phoebe, sagt Augustus leise. Ich wollte dir die Möglichkeit geben, die richtige Entscheidung zu treffen. Baibus war eine gute Wahl. Du hättest nichts dagegen gehabt, daß er eine Freigelassene heiratet? fragt Phoebe spöttisch. Bei jeder anderen, ja. Aber du bist nicht irgend jemand, Phoebe. Es hätte trotzdem nicht verhindert, daß man ihn schief anschaut, von den rechtlichen Konsequenzen ganz zu schweigen, falls wir, was unwahrscheinlich war, noch ein Kind bekommen hätten. Deine Gesetze sind eindeutig. Hast du ihn deswegen abgewiesen? Sie bleibt stumm. Oder weshalb? beharrt Augustus. Warum hast du mir nicht gesagt, daß du willst, daß ich Baibus heirate? fragt Phoebe heftig. Hättest du es dann getan? Vermutlich. 33
Augustus streichelt mittlerweile ihr Handgelenk und die Innenseite ihres Unterarms, immer noch, als sei es etwas, das außerhalb seines Willens vor sich geht, das nichts ist als eine Geste, die niemandem im Besonderen gilt, schon gar nicht der Person, die die Folgen der Berührung spürt. Was war der Grund, warum du Schluß gemacht hast? fragt er. Ohne sich merklich bewegt zu haben, steht er dicht vor Phoebe, so dicht, daß sein Atem, wenn er redet, ihr Ohr streift, denn er hat den Kopf halb zur Seite gewandt, schaut ihr nicht ins Gesicht, sondern an ihr vorbei und fixiert die kleinen Alabasterscheiben, die das Turmfenster in apartem Muster ausfüllen. Als du mich verlassen hast, gab es keinen Grund mehr zu heiraten, antwortet Phoebe so leise, daß es kaum hörbar ist. Verstehe, sagt er lächelnd, als ob die Logik des Arguments vollkommen sei, und dann küßt er sie.
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IV. Stimmengewirr und Musik. Kindersklaven, keiner älter als acht, im weißen Schurz, mit bunten Krauskopfperücken, die sich Wege bahnen im Gedränge und Tabletts mit salzigem Gebäck hochhalten: eine Kostprobe gefällig? oder herangewinkt werden mit ihren Mischkrügen, um Becher nachzufüllen, die immer schon wieder leer sind, ehe die grellgelben, froschgrünen oder knallroten Locken des Knaben zwischen weißen Männertogen, bestickten Frauenkleidern verschwunden sind, um den nächsten, die nächste zu bedienen. Sempronius und Iulia haben die Festräume durch den kleinen Garten betreten, in den man vom Wandelgang aus durch einen schmalen Zugang gelangt. Sie haben sich nicht damit aufgehalten, Bekannte zu begrüßen, gönnen dem kleinen, muschelbesetzten Nymphaeum an der rückwärtigen Mauer des Gärtchens nur einen halben, etwas verächtlichen Blick, und schlendern dann zielstrebig, doch nicht zu sehr, an weiteren, sich heftig fächelnden Gästen vorbei ins erste der Speisezimmer. Der Raum nicht groß, die Klinen weggeräumt… Stehparty, bemerkt Sempronius, oder Crispinus ist das Geld für Möbel ausgegangen – was meinst du, Iulia? Diese antwortet nicht, sondern tippt ihn nur an die Schulter, um ihn aufmerksam zu machen auf den schmalen Fries, al fresco auf schwarzem Grund; das ganze Zimmer ist schwarz ausgemalt und durch spindeldürre weiße Säulen, an denen Girlanden aus Weinlaub hängen, unterteilt in viereckige Felder mit weißen, durchsichtigen Zeichnungen: Landschaften, Häuser, Tempel …, darüber dann der Fries mit lauter Gestalten, entweder nackt oder in 35
Schleiergewändern, die Körper irgendwie zu lang, Hände und Füße nur Schemen, hingewischt, um die Richtung der Bewegung anzudeuten. Crispinus hat sich anscheinend jetzt auch unter die Jünger von Isis begeben, spottet Sempronius, der ohne Mühe die Szenen des Frieses interpretiert; dann, in einer raschen Bewegung, geht er um ein paar Leute im Gespräch herum, bückt sich und nimmt einem halberwachsenen Mann, der in der Hocke sitzt und dabei ist, unterhalb der rotgrüngelben Bordüre Verse in die einladend glatte schwarze Wand zu ritzen, das schmale Klappmesser aus der Hand. ›Oh, Cypria, Ahnherrin derer, die ich verehre …‹ liest Sempronius das Grafitto laut vor, klappt das Messer zu und wirft es dem jungen Mann hin, der es knapp auffängt. Kratz deinen Herzschmerz in die Latrinenwände, Fannius, sagt er zu dem Vandalen. Dort gehört er hin! Ein paar Umstehende lachen, einer ruft: Latrine? Der wird doch noch von seiner Amme trockengelegt! – was noch mehr Gelächter zur Folge hat und Fannius, nach einem verwirrten, erschrockenen Blick auf Iulia in ihrem alles verhüllenden, alles enthüllenden Kleid, in die Flucht schlägt Richtung Garten. Wie gemein, Sempronius, sagt Iulia und lacht. Warum darf das arme Kind mich nicht mit einem Gedicht auf dieser Wand anschmachten? Bist du eifersüchtig? Natürlich, lügt er und küßt so überraschend ihre Schulter, daß sie ihn nicht abwehren kann. Man darf keine schlechten Gedichte über dich schreiben. Er schiebt Iulia in den Vorraum des Trikliniums, in dem die Farbe Rot dominiert. Heutzutage schreibt doch jeder, meint Iulia. Oder kennst du irgend jemanden, der noch nichts veröffentlicht hat? 36
Ja, mich, antwortet er. Aber schau mal, da vorne ist eine, die dürfte selbst in meine Schlafzimmerwände Verse kratzen. Hallo, Sulpicia, begrüßt er eine äußerst merkwürdige weibliche Gestalt, die mit angezogenen Knien auf dem Marmorboden vor dem Eingang zum zweiten Speisesaal sitzt. Sie trägt eine schwarze Tunika, und ihr langes Haar, das einmal schwarz gewesen ist, ehe es strähnig ergraute, hängt wirr über ihre Schultern bis auf den Boden. Sulpicia, die Dichterin, starrt voller Abscheu auf die bemalte Wand mit ihrer Phantasiearchitektur, hält in der linken Hand ein aufgeklapptes hölzernes Schreibtäfelchen und in der rechten, vom Körper denkerisch abgespreizten Hand, einen Griffel. Wer sie kennt, weiß, daß der angewiderte Ausdruck auf ihrem Gesicht normalerweise weder der Wand noch Sempronius gilt, sondern der Welt an sich und der Liebe im besonderen. Geh weg, Sempronius, sagt sie, ohne damit aufzuhören, auf die Wand zu starren. Du verdunkelst selbst noch den Schatten meiner Muse! Sempronius lacht. Wer hat dich geärgert, Sulpicia? Ich kann es nicht gewesen sein, denn ich bete dich an. Die Dichterin blickt düster. Hund! stößt sie zwischen den Zähnen hervor. Na hör mal, beschwert sich Sempronius, immer noch lachend. Dich meine ich nicht! faucht sie. Wen dann? fragt er. Libo, den Idioten. Und was hat er dir getan? Er hat die Mythologie kritisiert! Deine Mythologie? hakt Sempronius nach, obwohl er 37
genau weiß, worum es geht. Ja, meine! Welche sonst! Sulpicia sticht den Griffel in das Wachs des Täfelchens, als wolle sie ihren Gegner aufspießen. Ihm paßt es nicht, ruft sie, daß eine Frau sich an die Mythen wagt! Jason, Ariadne, Antigone! ›Was fällt dir ein, Sulpicia‹ näselt sie in Imitation, ›und dann diese Sprache! Die reden ja wie wir!‹ Die empörte Dichterin zieht den Griffel aus dem Wachs und zielt damit auf Sempronius: Weißt du, wie die Alten gesprochen haben? Weiß es irgend jemand? Gestalten wie Libo glauben immer, je länger irgendwas her ist, desto geschwollener hätten die Leute geredet. Die Sklaven lassen sie vielleicht noch sagen: ›Mensch, da kommt der Alte. Nix wie an die Arbeit!‹ Aber Antigone muß hauchen: ›Oh, Kreon naht, so laßt uns fleißig sein.‹ Bei mir sagt sie: ›Scheiße, da kommt Kreon. Tun wir, als ob wir arbeiten.‹ Oder sie schreiben über die Argo, auf der sich Jason zum Sterben verkriecht: ›Das hehre Schiff, gebrechlich nun und morsch.‹ Bei mir heißt es: ›Der schrottreife Kahn.‹ – ›Haben sie nicht gehabt, ein Wort wie schrottreif, die Alten!‹ zetert Libo. Woher weiß er das? Wir kennen doch nur die Verse, nicht den Alltag. Und auch die kennen wir nur, weil wir sie übersetzen. Selbst wenn wir Griechisch lesen können, bleibt es irgendwie Übersetzung, nicht? Und, fährt sie auftrumpfend fort: Wenn Libo glaubt, Literatur zu machen, klingt es immer, als würde Cato senior eine Abhandlung über die ›Vortheile der That gegenüber der Muße‹ schreiben! Sempronius nimmt ihr den Griffel mit einer raschen Bewegung aus der Hand und wirbelt ihn geschickt zwischen Zeige- und Mittelfinger um die eigene Achse. Ärgere dich nicht, Sulpicia, sagt er. Libo und seine Genossen suchen in der Vergangenheit das Exotische. 38
Deine Mythen halten uns den Spiegel vor. Er hat genau den richtigen Ton getroffen, denn die beleidigte Dichterin schaut – nicht sofort, aber dann doch, wie gegen ihren eigenen Willen – versöhnt und gnädig. So weit würde ich nicht gehen, murmelt sie höchst zufrieden. Sie streckt die Hand nach ihrem Griffel aus und bekommt ihn. Sempronius grinst und meint: Dir fehlt was zu trinken, Sulpicia. Er hält einen kleinen Sklaven mit grünem Krauskopf an, nimmt ihm die Karaffe aus der Hand, greift sich von einem Menschen, der sich zufällig vorbeidrängen will, den Becher, gießt ihn voll mit Rotwein, riecht daran, riecht noch einmal, und hält ihn Sulpicia hin. Ungemischt, sagt er. Crispinus will anscheinend, daß wir alle in längstens zwei Stunden völlig besoffen sind. Die Dichterin klemmt sich den Griffel zwischen den linken Daumen und das Täfelchen, nimmt den Becher, kippt den Inhalt auf einen Zug und stellt ihn neben sich auf den Boden. Falerner, stellt sie fest. Aber der Jahrgang ist zweite Wahl. Sag das Crispinus. Zu Befehl. Sempronius salutiert ironisch, gibt die Karaffe zurück und zieht Iulia, die dem Geplänkel amüsiert zugehört hat, mit sich ins nächste Zimmer, wo sich tatsächlich Sofas befinden, auf denen sechs Männer und drei Frauen liegen, während der Rest der Leute im Raum herumsteht und ein Kitharaspieler versucht, gegen den Stimmenlärm anzuklampfen. Er hat ein schönes Gesicht, Locken à l’Apoll und weiße, etwas schwammige Arme; die Hände extrem behaart bis auf die letzten, jeweils spitz zulaufenden Fingerglieder. In zwei Jahren sieht er aus wie ein fetter Kapaun, zischt Sempronius in Iulias Ohr. Ist er dein Auserwählter, nach 39
dem du die ganze Zeit auf so verkrampfte Weise nicht Ausschau hältst? Sag es mir, Iulchen, flüstert er, komm schon. Ich … Salve, ihr beiden! brüllt einer der unbequem Gelagerten und winkt Sempronius und Iulia zu. Daß ihr auch schon erscheint! Wie gefällt euch meine kleine Hütte? Kommt her, wir machen Platz für euch. Er stößt seinen Nachbarn unsanft in die Rippen. Steh auf, Pulcher, du liegst schon zu lange hier rum. Geh dich amüsieren und nimmt die kleine Gans da neben dir gleich mit. Er winkt noch einmal. Hier gibt’s ein Lager für euch. Iulia, an meine Seite! Wieso habt ihr noch nichts zu trinken? Er schubst einen Sklaven mit roter Perücke. Geh, hol zwei Becher. Und von dem anderen Wein. Du weißt schon … Ihr kommt genau im richtigen Moment! redet Quintus Crispinus weiter; er ist nicht mehr sehr nüchtern, glotzt Iulia ungeniert auf den Busen. Dieses … dieses Kleid, stammelt er, ist… Unglaublich, ich weiß, hilft ihm Iulia und setzt sich neben ihn auf die Kline. Das hat mir Sempronius auch gesagt. Jetzt fahr deine Stielaugen wieder ein und sag mir, warum wir gerade im richtigen Augenblick erscheinen. Crispinus richtet sich ungelenk auf und fuchtelt mit den Armen wie einer, der Worte sucht und sie demonstrieren will, statt einfach den Mund aufzumachen und seine Zunge zu benutzen. Das … das Problem … stottert er, wir haben darüber gestritten, schon eine ganze Weile, ehe ihr kamt … schuld ist nur das neue Buch von Naso … Der rote Knabe offeriert Iulia den Wein. Sie nimmt den Becher, trinkt aber nicht und geduldet sich, in der Hoffnung, daß Crispinus irgendwann zur Sache kommt. Sempronius, der auf der anderen Seite des Hausherrn soweit liegt, als es die vollgequetschte Kline möglich macht, hält ihr hinter dem Rücken von Crispinus eine Phiole aus Alabaster hin. Iulia schüttelt unmerklich den 40
Kopf. Sempronius zieht die Augenbrauen hoch, zuckt die Achseln und träufelt, ohne daß es jemand mitbekommt, ein paar Tropfen aus dem Fläschchen in seinen eigenen Wein. Dann korkt er das Ding wieder zu, steckt es ein, prostet Iulia schweigend, lächelnd, zu und trinkt. Gäste schlendern herein und heraus, auf dem Weg zur Terrasse oder in den Garten, verweilen, um sich mit Bekannten zu unterhalten, über die Dekorationen zu lästern, zu fragen, ob es denn noch etwas zu essen gibt, oder um tatsächlich der Musik zuzuhören, die außerordentlich gut ist, weil der Kitharöde nicht nur spielen kann, sondern auch eine ausgezeichnete Stimme hat. Ovidius Naso hat ein neues Buch geschrieben? fragt Sempronius interessiert. Es ist noch nicht offiziell auf dem Markt, berichtet Crispinus. Es heißt: Die Liebeskunst. Wie sonst? meint Sempronius. Nach den Liebesbriefen nun die Liebeskunst. Was hat er uns mitzuteilen, der Herr Naso? Steht irgend etwas neues drin über die Liebe seit Platon? Nichts … nichts philosophisches, wie du vielleicht denkst, stammelt Crispinus. Es geht um … Sex, kommt es ernüchternd von Sulpicia, die aufgestanden ist und, immer noch Schreibtäfelchen und Griffel in Dichterpose in den Händen, an der Wand des Trikliniums lehnt. In dem Buch geht’s um Sex und sonst nichts, sagt sie. Ein Handbuch für besseren Geschlechtsverkehr. Natürlich außerhalb der Ehe, dieser Zwangsanstalt zur Hebung der Bürgertugenden. Er ist ziemlich geschäftstüchtig, dieser Naso. Scheint mir auch so, antwortet Sempronius. Sind seine Tips brauchbar? Erfahren wir etwas neues? Du vielleicht nicht, sagt Sulpicia. Aber der ein oder 41
andere brave Mann, das ein oder andere keusche Mädchen wird sich rote Ohren bei der Lektüre holen. Und worüber habt ihr euch gestritten? will Iulia wissen. Crispinus überlegt, deutet mit eins, zwei, drei zählenden Fingern in die Luft und sagt: Ovidius schreibt, die drei wichtigsten Dinge für liebeslustige Singles seien: wo finde ich eine Frau … Oder einen Mann, wirft Iulia ein. Richtig. Oder einen Mann, wiederholt Crispinus. Dann: Wie kriege ich sie oder ihn rum? Und drittens, wie stelle ich es an, daß die Beziehung dauert. Und? fragt Sempronius. Coranius da drüben behauptet, daß der dritte Punkt nicht auf die Liste gehöre, weil die Dauer die Feindin jeder Liebe sei. Das hat, wie ihr euch denken könnt, Widerspruch herausgefordert. Die Debatte lief kreuz und quer, jeder hat jedem dazwischengequatscht, so daß wir, gerade ehe ihr reinkamt, beschlossen haben, es ordentlich zu machen und jeden der Reihe nach um seine Meinung zu befragen. Aber wie genau lautet die Frage? will Sempronius wissen. Das haben wir schon festgelegt, sagt Crispinus, mittlerweile flüssiger redend. Die Frage heißt: Welche Liebe ist die wahre, schöne, gute – die, die lange dauert, oder die, die morgen vorbei ist? Das ist doch klar! empört sich eine der Frauen, die breit auf dem Sofa fläzt, das Kleid bereits fleckig vom verschütteten Wein. Lange! Lange muß es dauern! Ewig. Für immer! Die anderen lachen. Crispinus hat eine neue Geste – befehlend streckt er den 42
Arm aus. Ruhe! fordert er. Wir brauchen eine Reihenfolge. Coranius, der den Streit angefangen hat, soll zuerst reden. Dann jeder, der will, von Coranius aus gesehen links herum. Sulpicia soll am Ende entscheiden! Einige der herumstehenden Gäste, die keine Lust darauf haben, einem Meinungsaustausch zuzuhören, von dem sie, weil nicht zum Kreis derer gehörend, die ihren Hintern auf eine der drei Klinen haben plazieren können, ausgeschlossen sind, verlassen den Raum, andere wiederum kommen näher, hören auf, sich zu unterhalten. Der Kitharaspieler gibt ein paar Akkorde zum Auftakt und macht anschließend Pause. Iulia wirft verstohlen einen Blick zur Tür, dann merkt sie, daß Sempronius sie beobachtet. Schnell trinkt sie Wein, um sich, um ihn abzulenken, streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn, die zu kurz ist, um in der Frisur zu bleiben, und konzentriert sich so betont auf Coranius, daß sie steif und unnatürlich auf dem Sofa sitzt, wie ein Schulmädchen, das dem Lehrer unbedingt zeigen will, daß es aufpaßt… Reine Frage, beginnt Coranius laut, wer liebt, will Ewigkeit, ganz so, wie es unsere Freundin Sabina gerade wunderbar formuliert hat (Gelächter). Man könnte also meinen, weil dieser Wunsch so stark ist, wäre seine Erfüllung auch die Erfüllung der Liebe. Die Dauer der Liebe, behaupten einige, sei ein Gradmesser für die Liebe selbst. Aber ich sage euch!, fährt er mit erhobener Stimme fort: Venus hat die Liebe nicht gemacht, damit wir armseligen Menschlein unsere ewige Angst vor dem, was zu Ende geht, mit ihr verquirlen und die falschen Schlüsse ziehen! Unsere Wünsche – laßt es mich bildhaft formulieren – haben ihre Wurzeln in der Unterwelt, sie sind das Erbe jener Erde, aus der wir gemacht sind. Die Liebe dagegen gehört zu den Mächten des Himmels – wer 43
einen besseren Ausdruck weiß als diesen, wie ich zugebe, etwas zu oft benutzten, soll sich melden. Coranius macht eine Pause; als niemand einen Einwand hat, führt er weiter aus: Schauen wir uns also einmal an, was aus Liebe wird, der der Mensch versucht, Dauer zu verleihen. Als Paris nach Sparta kam, verliebte er sich in Helena. Ihr Mann war verreist, sie verliebte sich auch, sie verbrachten eine schöne Zeit. Dann kamen sie auf die Idee, ihre Liebe müßte ewig dauern, und Paris nahm sie mit nach Troja. Zehn Jahre Krieg, unzählige Tote, eine zerstörte Stadt. Und wahrscheinlich hat sich Helena schon nach ein paar Wochen mit Paris gelangweilt. Ein anderer Fall. Jason kommt nach Kolchis. Medea, die Tochter des Königs, verliebt sich in ihn und hilft ihm, das goldene Vlies zu klauen. Statt ihre Zauberkräfte zu nutzen, um sich ein Alibi zuzulegen, verlangt sie von Jason, daß er sie mitnimmt. Das Resultat: eine tote Rivalin, zwei von der eigenen Mutter ermordete Kinder. Oder eine der wunderbarsten Liebesgeschichten, die ganz und gar nicht hätte tragisch enden müssen, wenn die Dame schon damals einen Ratgeber wie mich gehabt hätte. Aeneas in Karthago. Der strahlende Held, die einsame Königin. Natürlich verlieben sie sich. Aeneas aber ist von den Göttern befohlen, nach Italien zu reisen, Rom zu gründen. Er reist heimlich ab. Dido klettert auf den Scheiterhaufen, statt ihr Land ordentlich zu regieren und sich über das Gewesene zu freuen. Sucht ihr glückliche Lieben in den Mythen der Vergangenheit? Ihr findet sie nicht. Weil alle immer nur das eine wollen: daß diese verflixte Liebe dauert. Aber das funktioniert nicht, glaubt mir. Wenn ihr glücklich lieben wollt, dann genießt den Augenblick und trennt euch, solange es schön ist. Es ist viel angenehmer, um eine verlorene Liebe zu trauern, als sich mit den Mühen ihrer 44
Aufrechterhaltung herumzuschlagen. Denn der Schmerz geht vorbei, wird zuckersüß in der Erinnerung, und, wie Ovidius Naso einleuchtend sagt: ›So viel Sterne der Himmel – so viel zählt Roma der Mädchen‹. Coranius verneigt sich in Richtung Sulpicia: Und Männer, natürlich, gibt es auch genug. Was jeder von euch sucht – es läßt sich finden. Nur eins verlangt nie: daß die Liebe bis übermorgen hält. Es verdirbt euch sonst schon die Freuden der ersten Nacht! Bravo! ruft Sempronius, ganz deiner Meinung. Einen Ergänzungsvorschlag allerdings hätte ich. Sagen wir, Paris liebt Helena, sie haben eine lustige Zeit, er fährt wieder weg, und beide behalten sich in bester Erinnerung. Wenn er dann, vielleicht nach ein, zwei Jahren wiederkommt – meinst du, es wäre erlaubt, eine Neuauflage zu wagen? Denn so, wie ich es erlebt habe, ist die Liebe, die man läßt, ohne daß die Kleinlichkeiten, die Forderungen, die Langeweile, die Rechthaberei und der Haß als Folge einer Dauerbeziehung das Gefühl jemals hätten vergiften können, um so leichter und reizvoller wieder aufzufrischen. Man hat sich nur so weh getan wie unbedingt nötig, und das Wiedersehen ist eine Lust. Ihr frivolen, herzlosen Ungeheuer! ruft Sabina, die während der Rede von Coranius heftig weitergetrunken hat und eher noch breiter auf der Kline liegt als vorher – wie zerflossen. Das ist nicht Liebe, was ihr beschreibt! Das ist … das ist … Grausamkeit. Dann sag uns, was die wahre, schöne, gute Liebe deiner Meinung nach ist, lädt Crispinus sie mit weitausholenden Armen ein. Er hat längst vergessen, daß er eine Reihenfolge der Redner angeordnet hat, es ist auch gleichgültig, da Sempronius der einzige ist, dessen Ansichten ihn noch interessiert hätten. Doch dieser scheint mit seiner Einlassung bereits am Ende seines Arguments 45
zu sein, schmunzelt in sich hinein und fixiert Iulia, die sich für einen Moment unbeobachtet gefühlt hat oder so in ihr eigenes Grübeln versunken war, daß sie Sempronius ignoriert hat. Jetzt, als ob ihr jemand das Stichwort gegeben hätte, taucht sie aus ihrer Versunkenheit auf, schaut zur Tür – und blickt einem späten Gast, der anscheinend schon eine ganze Weile dort gestanden hat, direkt in die Augen. Sempronius sieht, wie sie erschrickt, errötet, hastig zur Seite guckt und den halben Becher Wein in sich hineingießt, sich fast verschluckt, mit dem Handrücken über den Mund wischt, nur um krampfhaft nicht hinüber zu schauen, wo Iullus Antonius steht – und es doch nicht lassen kann. Sempronius lächelt zufrieden, schüttelt aber den Kopf, als wolle er sagen: arme Irre. Ich kann nicht so reden wie der Corvinius da drüben, sagt Sabina verschwommen. Coranius, korrigiert der Hausherr. Mir egal, gibt Sabina zurück. Jedenfalls … Ich übernehme den Part, fällt ihr ein schmächtiger blonder Mann ins Wort, der neben ihr mehr sitzt als liegt und offensichtlich noch ziemlich nüchtern ist. Denn ich bin deiner Meinung, Sabina. Liebe ohne Dauer – was für eine Verschwendung! Der Kitharaspieler schlägt wiederum ein paar Ackorde an, sei es, um sich in Erinnerung zu bringen, sei es, um die Bedeutung des Augenblicks ironisch zu unterstreichen. Der zierliche Blonde, Appius, nickt höflich dankend in die Runde, als befände er sich in einer öffentlichen Debatte, richtet sich noch ein bißchen mehr auf und doziert mit gleichmäßiger Stimme, die dem Gesagten Würde, nahezu Unantastbarkeit verleiht: Wahre Liebe ist, dem anderen in den Tod zu folgen, weil ohne ihn das Leben undenkbar ist. 46
Einige Umstehende pfeifen durch die Zähne. Der Kitharöde greift zur großen Phrase in die Saiten. Und das, fügt Appius hinzu, ist wohl das Äußerste an Dauer, was ein Mensch der Liebe verleihen kann. Daphne war nicht zu trösten, als ihr Hirte starb. Mag der Mythos behaupten, Apoll habe sie aus Mitleid in einen Lorbeerbaum verwandelt – es zeigt uns nur, daß sie dem Geliebten folgte. Aber wir brauchen gar nicht die alten Geschichten zu bemühen. Wer erinnerte sich nicht an Porcia, die glühende Kohlen aß, um Brutus im Tod nicht alleinzulassen! Ein Raunen fliegt durch den Raum. Füßescharren. Ach, hört auf, euch zu mokieren! ruft Appius. Brutus war einer der Mörder Caesars, na und? Aber die Liebe zwischen ihm und Porcia steht auf einem anderen, einem privaten Blatt. Und damit ihr noch mehr zu raunen und zu pfeifen habt, werde ich euch sagen, wer mein Held ist, auch wenn es verboten ist, seinen Namen öffentlich auch nur auszusprechen, geschweige denn, ihn als Vorbild statt als abschreckendes Beispiel zu nehmen. Denn es sind nicht nur die Frauen, die sich aus Liebe vom Leben abwenden. Hier in diesem Raum ist einer, der letzte, der den Namen des großen Mannes trägt, der aus Liebe zu einer Frau in deren Land zog, der für sie kämpfte, der unterlag, und als er erfuhr, daß sie sich das Leben genommen hatte, auch Selbstmord beging. Aber nicht, ohne zuvor zu befehlen, man solle ihn neben der Königin begraben! Leute, die so dachten wie du, Coranius, haben ihn als weibisch, schwach und verhext beschimpft. Der oberste Feldherr dieses Reichs – dein Vater, Iulia – hat ihm in keiner einzigen Schlacht das Wasser reichen können. Es hat eines Genies wie Agrippa bedurft, um ihn zu schlagen, und das auch nur mit Glück. Er war ein großer Mann, und er war sich nicht zu schade, zu lieben, 47
auf Dauer zu lieben! Alle Schreiberlinge verherrlichen die Taten des glorreichen Augustus. Niemand schreibt die Geschichte des einzigen wirklichen Helden, den Rom in den letzten fünfzig Jahren gehabt hat! Ein kleiner Tumult ist die Folge dieser unzeitgemäßen Eloge. Alles redet durcheinander. Iulia springt auf, setzt sich nervös wieder, steht erneut auf und geht zum Fenster, wo sie sich mit der Hand Luft zufächelt. Ihr Blick trifft sich mit dem von Iullus Antonius. Er lächelt ihr beruhigend zu und zuckt die Achseln. Ich lasse es über mich ergehen, soll das wohl heißen. Also du auch. Crispinus ist ebenfalls aufgestanden. Er wedelt hektisch mit beiden Händen. Leute, Leute, beruhigt euch! schreit er gegen den Lärm an. In meinem Haus hat jeder das Recht, zu sagen, was er denkt! Sempronius wiegt seinen Becher sachte in der Hand. Dann sagt er – und seine Stimme durchdringt das Geschnatter mühelos, ohne daß er viel lauter redet als sonst – Tut doch nicht so furchtbar staatstreu, Freunde. Was schockiert euch so an der Rede von Appius? Doch nicht, daß er für Marcus Antonius eine Lanze bricht! Macht euch nicht lächerlich. Und wie oft habt ihr als Kinder von euren Eltern Witze über die militärischen Künste des Herrn Princeps gehört? Oft genug! Gebt’s zu! Einzelne lachen. Jetzt erst erwidert Iulia das Lächeln von Antonius. Fast gleichzeitig schaut sie zu Sempronius und merkt, daß er sie die ganze Zeit beobachtet. Er schlägt in komischer Verzweiflung beide Hände vors Gesicht, läßt sie langsam nach unten gleiten und lugt durch die Fingerspitzen. Iulia streckt ihm die Zunge heraus. Er lacht und wirft ihr eine Kußhand zu. Ich bin noch nicht fertig! sagt Appius und steht auf. Er 48
ist wirklich ziemlich klein, dünn dazu. Wir hören! ruft Coranius. Leute, seid still! Ruhe. Nur noch Kleiderrascheln. Die Mühen der Aufrechterhaltung, beginnt Appius, so nennt mein Freund Coranius die Freuden, die ich euch beschreiben werde. Sicher, die erste Zeit der Verliebtheit mit ihren Aufregungen, Unsicherheiten und dem Kitzel brandneuer Lust hat ihre Reize. Aber nehmen wir an, ein Mann wechselte seine Freundin alle paar Wochen. Neue Aufregungen, Unsicherheiten, der Kitzel brandneuer Lust … Frauen sind verschieden, jede schafft ein paar andere Aufregungen, Unsicherheiten, und jede liebt ein bißchen anders. Und doch: irgendwann hat man sie alle gehabt und alles erlebt und alles gründlich satt. Auch das ewig Neue nützt sich ab. Wie anders dagegen das langsame Blühen und Reifen einer Beziehung! Mit wachsender Vertrautheit entsteht nie gekannte Nähe – was Coranius Langeweile nennt, ist nichts anderes als das entspannte Glück eines Paars, das nicht ständig Angst haben muß, daß morgen alles vorbei ist, man kennt im Bett das, was dem anderen Spaß macht, und kann die beiderseitige Lust nahezu garantieren – sage mir einer, jede seiner neuen Liebschaften sei sofort ein sexueller Hochgenuß gewesen! – und selbst ein Streit führt nur dazu, daß man sich auf angenehme Weise wieder versöhnt. So läßt es sich aushalten in einer Dauerbeziehung, finde ich. Von Langeweile keine Spur. Aber von Glück und Zufriedenheit! Nahezu alle applaudieren spontan, und Appius schaut sich triumphierend um. Ihr Klugscheißer! unterbricht Sulpicia laut die begeisterte Zustimmung und löst sich von dem Platz an der Wand, wo sie keine Zeile geschrieben, aber mit 49
abwesendem Blick quer durch den Raum gestarrt hat. Deine Liebe, Coranius, fährt die schwarze Gestalt mit den hüftlangen, grauen Haaren fort und stellt sich mitten ins Zimmer, ist ein bißchen früher am Ende, und deine Liebe, Appius, ein bißchen später. Keine von beiden verdient es, die wahre genannt zu werden. Aber welche dann? ruft Sempronius und weist einen Sklaven mit gelber Krauskopfperücke an, Sulpicia etwas zu trinken zu bringen. Der Knabe gehorcht und reicht der Dichterin einen Becher, den sie achtlos leert und hinter sich wirft, wo er auf dem Marmorboden zerscheppert. Antonius steht plötzlich neben Iulia; sie hat ihn weder kommen gehört noch gesehen, doch auch ohne, daß sie ihn anschaut, spürt sie seine Nähe; er ist ein gutes Stück größer als sie, kräftig gebaut, ohne im mindesten dick zu sein, und seine dunklen Locken sind ganz kurz geschnitten, weil sie sonst überhaupt nicht zu bändigen wären. Er steht so dicht neben der Kaisertochter, daß ihre Arme sich fast berühren – aber nur fast. Ich werde euch nicht mit irgendwelchen Ausführungen belästigen, beginnt Sulpicia, sondern euch eine Geschichte erzählen. Vor einer Weile bin ich nach Bononia gereist. Ich kam flott voran, weil mein Wagen offen und leicht, mein Pferd jung und mein Kutscher nur selten betrunken war. Am ersten Abend hab’ ich mir ein Gasthaus gesucht. Natürlich ein halber Puff, wie all diese Dinger, aber das Zimmer war in Ordnung und das Essen, nun ja … Schon unterwegs auf der Flaminia war mir ein Reiter aufgefallen. Ein Mann, vielleicht dreißig, glattrasiert, wie ich es mag, mit schwarzen Haaren, die zu lang waren, um anständig zu wirken. Er hatte es offensichtlich nicht eilig, denn er ließ sein Pferd gemütlich am langen Zügel traben und las dabei. Auf der Straße war, seit Rom weit genug hinter uns lag, nicht viel los, deshalb konnte er sich das leisten. Als 50
ich mit meinem Gig nun im Weg war, nahm er die Zügel in eine Hand und lenkte sein Pferd mehr mit Gewicht und Schenkel als mit den Händen an uns vorbei. Dabei schauten wir uns kurz an, aber er grüßte nicht und lächelte auch nicht. Trotzdem hatte ich das Gefühl, mein Interesse spiegele sich in seinen Augen. Er ritt weiter, wir zockelten hinterher, und bald verlor ich ihn aus den Augen. Um so mehr freute ich mich, sein Pferd genau vor jenem Gasthaus wiederzufinden, in dem ich übernachten wollte. Beim Essen saßen der schöne Fremde und ich auf weit auseinanderliegenden Bänken. Er las immer noch oder schon wieder. Aber ab und zu schaute er herüber, wie nur ein Mann herüberschaut, der neugierig ist. Auf ein Gespräch, vielleicht sogar ein Abenteuer. Jetzt werdet ihr sagen: Die alte Kuh, was bildet sie sich ein? Sulpicia schüttelt ihr schweres, graues Haar und blickt in die Runde. Ihre schwarzen Augen glänzen in ihrem mageren Gesicht, das so arrogant wie lebhaft ist. Wer wen liebt, sagt sie gelassen, und warum, das hat bisher noch nie jemand rausgefunden. Nur eins wissen wir immer sofort, ohne daß ein Wort geredet wäre: daß da etwas ist, sein könnte, sein wird. Mich jedenfalls faszinierte der lesende Reiter, und ich, aus unerfindlichen Gründen, war ihm Blicke wert, die auf das Schönste hoffen ließen. Und doch schlief ich in dieser Nacht allein. Am nächsten Morgen brach ich früh auf. Schon bald wiederholte sich das Spiel von gestern. Der hübsche Reiter, lesend, überholte uns. Kein Gruß, nur Blicke, die Andeutung eines Lächelns. Ich war enttäuscht und animiert und wollte nur noch eins: ihn wiedersehen. Schon nach ein paar Stunden ließ er sich von uns einholen. Er tränkte sein Pferd an einem Brunnen. Welch eine Gelegenheit! Ich ließ sie vorübergehen, trieb den Kutscher an, wäre am liebsten wieder umgekehrt, biß mir auf die Lippen und hoffte. Nicht vergeblich! Diesmal 51
galoppierte er an uns vorbei und sah nicht mal herüber. Vergiß es, sagte ich mir. Vergiß ihn. Da drehte er sich um. Sulpicia macht eine Kunstpause, ehe sie weiter erzählt: Der Gasthof, in dem ich an diesem Abend einkehrte, war fast leer. Aber der schöne Fremde tauchte nicht auf. Hatte ich schon seit Stunden an nichts anderes gedacht als an ihn, verbrachte ich die Nacht noch sehnsüchtiger, fragte mich, wo er war, ob ich ihn wiedersehen würde. Morgens hatte mein Kutscher verschlafen, ich ließ ihn wecken und wartete ungeduldig vor der Herberge, bis er angeschirrt hatte. Da sah ich, daß das Pferd des schönen Reisenden herbeigeführt wurde. Ich bekam Herzklopfen wie eine verliebte Vierzehnjährige. Doch der Mann tauchte nicht auf. Meine Kutsche rollte heran. Ich suchte nach irgendeinem Grund, dazubleiben, zu warten, aber wir blockierten einen Lieferwagen … Ich drehte mich um, wollte frustriert einsteigen. Sie unterbricht sich erneut, sieht sich um, sagt leise: Jemand … berührte mich am Arm. Ich wandte den Kopf, unwillig, und sah … in die Augen des Reiters. Wortlos lächelnd legte er seine Lektüre, die er anscheinend immer mit sich herumtrug, auf den Kutschbock und half mir in mein Gig. Ich konnte nicht denken, nichts fiel mir ein, was ich hätte sagen können. Endlich schaute er zu mir auf und sagte: Du bist sehr schön. Dann griff er nach dem Buch. Erschrocken sah ich, daß es meine Gedichte waren. Lauter, das Tempo beschleunigend, fährt Sulpicia fort: Der Fuhrmann, der seine Fässer loswerden wollte, brüllte meinem Kutscher etwas zu. Peitschenknallen. Ein Ruck vorwärts. Ich sah mich um. Der schöne Fremde schwang sich auf sein Pferd, aber diesmal nahm er die andere Straße, galoppierte davon. Sulpicia richtet sich auf, der ganze Körper gespannt, das Kinn erhoben, und sagt triumphierend: Ich war traurig, 52
aber in diesem Moment habe ich etwas über die Liebe begriffen. Daß nicht die erste Nacht zählt oder die zweite oder das gemeinsam verbrachte Leben. Sondern einzig und allein der Augenblick des Erkennens. Alles liegt in ihm, Anfang und Vollendung! Alles, was zwischen zwei Menschen möglich ist, alles Gefühl, aller Rausch der Sinne, alle Ewigkeit. Nichts, was später geschieht, läßt sich mit diesem Augenblick vergleichen. Dies empfand Odysseus, als es ihm gelang, Nausikaa ein einziges Mal allein zu sehen, nur um Abschied zu nehmen. Dies empfand Nausikaa, als der Begehrte, Geliebte vor ihr stand und doch alles, was sie sagen konnte, sagen durfte, adieu war … Sulpicia läßt ihre Worte ausklingen, verhallen, sie vibrieren im Raum, und ihre Wirkung ist stark genug, die anderen stumm zu machen, wenigstens eine kurze Weile, stumm und empfindsam, was ihnen peinlich ist, was nicht zur Partystimmung paßt, was stört und abgewehrt werden muß. Der Kitharaspieler nutzt die Möglichkeiten seines Instruments, Fäden wiederaufzunehmen, beginnt eine Melodie, summt dazu, und langsam fangen die Leute an zu reden, sich zu bewegen, sich etwas zu trinken zu besorgen oder hinauszugehen in die angrenzenden Räume, in den Garten. Sulpicia steht in kürzester Zeit verlassen, schwarz und reglos, auf sich selbst konzentriert, gleichgültig gegen alles um sie herum, bis sie, anscheinend nur für sich selbst, lacht und den Kopf schüttelt, als sei ihr etwas eingefallen. Dann nimmt sie ihr Schreibzeug, um etwas zu notieren und wandert langsam, schreibend, hinaus. Iulia und Antonius sind allein im Zimmer zurückgeblieben; die Klinen sind leer, stehen schief, die Polster sind fleckig. Sulpicia, die Partykillerin, sagt Antonius. Keine kann 53
das so gut wie sie. Da Iulia nicht antwortet, bemerkt er: Crispinus hat ein Ballett versprochen. Draußen auf der Exedra. Kommst du mit? Iulia nickt. Hast du Phoebe irgendwo gesehen? fragt sie, während sie ihm folgt; anscheinend kennt er sich aus; es geht einen Flur entlang, durch zwei weitere Räume, die noch nicht fertig dekoriert sind, und dann eine Treppe runter ins Freie. Nein. Ist sie dir abhanden gekommen? So würde ich das nicht ausdrücken. Sie wollte später kommen. Anscheinend … … hat sie es sich anders überlegt? ergänzt Antonius, weil sie nicht weiterredet. Ich weiß es nicht, sagt Iulia. Sie war seltsam heute abend. Bist du deshalb so schlechter Laune? fragt er. Schlechter Laune? Man muß dir jedes Wort geradezu abbetteln, meint er und nimmt ihre Hand, um sie an der Bühne vorbei auf die andere Seite der halbrunden Terrasse zu ziehen, wo weniger Leute stehen. Es ist eine opulente Freifläche, dahinter das neue Haus, seine Gartenfront mit ihren Gesimsen und Halbsäulen von den Fackeln und Feuerschalen mehr als ausreichend erhellt, um erkennen zu lassen, daß hier an nichts gespart wurde. Zum Fluß hin eine niedrige, mit Rautenmuster durchbrochene Mauer, junge Bäume in Kübeln in regelmäßigen Abständen; unterhalb fließt der Tiber dahin, dunkel, und am anderen Ufer die Stadt. Roma, ein nächtliches Schemen, zu erahnen das Theater des Pompeius mit seinen hohen Rängen, ein paar Tempel, 54
Mietshäuser, in denen Licht brennt… Auf der Bühne vor dem Haus ein kleines Orchester, Flöten, Oboen, Hörner, Tamburine, alles, was Krach macht und Rhythmus. Sempronius schlendert wie absichtslos herüber, stellt sich provozierend nah neben Iulia und Antonius. Hast du Phoebe gesehen? fragt Iulia ihn, während sie ihn ärgerlich anfunkelt. Das ist das einzige, was sie heute abend sagt, beschwert sich Antonius lachend. Seit wann mußt du nach Phoebe suchen? zieht Sempronius sie auf. Normalerweise klebt sie dir wie ein Hund an den Fersen. Sei froh, daß du sie einen Abend lang los bist. Hast du noch ein paar Freundlichkeiten? fährt ihn Iulia an. Troll dich! Hier hat man den besten Blick auf den Striptease, der uns doch hoffentlich gleich erwartet, erwidert er nur. Kann mir jemand sagen, warum diese Art von Schauspiel zur Zeit so in ist? Schaut sie euch an, sagt er und deutete auf die Partygäste, die sich um die Bühne drängen. Sie können’s kaum erwarten. So eine verklemmte Bande! Die Musiker beginnen zu spielen, laut, schlecht, und der Rhythmus ist gerade noch zu ahnen. Fünf Mädchen in bunten Schleiergewändern tanzen auf die Bühne. Pfiffe, Klatschen, Johlen begleiten sie. Schauerlich, sagt Sempronius. Wer denen das Tanzen beigebracht hat, gehört ans Kreuz genagelt. Weder Iulia noch Antonius gehen auf ihn ein. Sie schauen auf die Bühne, aber keiner von beiden interessiert sich wirklich für das Ballett, eine Mischung aus rhythmisch-akrobatischem Tanz und ungelenk-lasziven 55
Bewegungen, die so lange erträglich ist, als die Musik mit ihrem Lärm in den Bauch fährt. Doch Sempronius gibt sich nicht so schnell geschlagen. Er stört, und das mit größtem Vergnügen. Glückwunsch übrigens, sagt er zu Iullus Antonius, der einen Moment braucht, um zu begreifen, daß er gemeint ist, und Sempronius dann verständnislos anschaut. Wozu? fragt er. Ich hab gehört, ihr bekommt wieder Nachwuchs. Sempronius grinst, als er sieht, wie Iulia all ihre Muskeln anspannt, um nicht hochzugehen und ihm das Gesicht zu zerkratzen. Danke, erwidert Antonius knapp. Ich hoffe, alles geht gut, fährt Sempronius ungerührt fort. Marcella ist ja auch schon … wie alt? Zweiundvierzig. Antonius bellt es fast. Die fünf schleierumhüllten Tänzerinnen lassen nach und nach ihre Verrenkungen sein und kommen zum Eigentlichen, was die Augen der Zuschauer entspannt, weil sich nur noch Hüften und Brüste bewegen, während die Mädchen, jede nach Einfallsreichtum und Können, anfangen, sich auszuwickeln. Die kleine Band gibt ihr Äußerstes, macht einen Krach, den man vermutlich bis zum Capitol hören kann, und die Zuschauer, dankbar für jedes Stückchen nacktes Fleisch, feuern die Nymphen an, so laut sie können. Entschuldigt mich, sagt Iulia zu den beiden Männern. Ich gehe Phoebe suchen. Sie fühlt sich so verdammt fehl am Platz in ihrem schönen, extravaganten Kleid. Wozu? Wozu das alles? Ehemänner schwängern ihre Ehefrauen. Das ist normal. Nichts, worüber man nachdenken sollte. Es ist ihre Pflicht, kaiserlich angeordnet und mit Prämierung ab drei Kindern, weil die Frau dann frei ist 56
von der Vormundschaft ihres Mannes. Warum sich also beleidigt fühlen, getroffen, verletzt? Sie drängt sich durch das Gewühl auf der Terrasse, flüchtet durch Korridore, verirrt sich in dem fremden Haus, kommt schließlich in den kleinen Garten, wo niemand ist, weil alle sich an einem schlechten Strip delektieren müssen, und lehnt sich an eine kühle marmorne Säule. Heimgehen. Aufhören. Es gut sein lassen. Hat sie Antonius mißverstanden? Seine Aufmerksamkeit? Die plötzliche Nähe? Die Komplimente der letzten Wochen. Die Gespräche über Dinge, Philosophie, Kunst, Poesie? Die scheinbar absichtslosen Berührungen? Sein Lächeln, wenn sie sich zufällig in der Saepta oder im Theater begegnen? Sie kann sich noch so oft sagen, daß es gleichgültig ist, ob er seine Frau geschwängert hat oder nicht. Daß nur das zählt, was zwischen ihnen entstanden ist. Daß die Ehe nichts mit Liebe zu tun hat. Wie gut sie das aus eigener Erfahrung kennt. Trotzdem fühlt sie sich auf kindische Weise betrogen. Und Phoebe ist nicht gekommen. Es irritiert sie, weil die Freundin nie unzuverlässig ist. Der Abend ein Desaster. Ich sollte gehen, denkt sie. Ehe es noch schlimmer kommt. Ich muß mir nichts bieten lassen. Ich … Sempronius ist ein Arsch, sagt Antonius leise, der hinter sie getreten ist. Sie dreht sich um, schlingt ihm wortlos die Arme um den Hals. Er zieht sie an sich, warm, fest, wiegt sie leise hin und her. So stehen sie eine ganze Weile. Einfach so.
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V. Nicht, zieh dich nicht an, sagt Augustus zu Phoebe. Sie hat der Sklavin das Handtuch zurückgegeben und greift nach ihrem Kleid; das Mädchen nimmt die Waschschüssel und den Krug und verschwindet durch die fast unsichtbare kleine Tür in der Wand des quadratischen Turms. Er sagt noch: Ich mag es lieber, wenn du nackt bist. Phoebe nimmt sich einen Apfel aus einer Schale und riecht daran, während sie ihn in der Hand dreht. Erst dann beißt sie ein Stück ab. Mir wird aber kühl, erklärt sie. Dann aber nur die Tunika, lenkt er ein. Die ist so durchsichtig, daß ich auch etwas davon habe. Was ist so spannend an einer nackten Frau von fast vierzig? will Phoebe wissen und macht ihren Apfel nieder. Oh, alles, erwidert Augustus. In einem hat jener Mensch, der diese unanständigen Bücher schreibt, recht. Meinst du Ovid? Augustus nickt und sagt: Schweinereien das meiste, kaltes, ungefühltes Zeug. Scharlatanerie auf höchstem Niveau. Und mit was hat er recht? fragt Phoebe, die sich das dünne, safrangelbe Hemd überstreift und es sich auf dem Sofa bequem macht. Er sagt, eine Frau ist erst ab fünfunddreißig auf dem Höhepunkt ihrer Lustfähigkeit. Wie das klingt! beschwert sich Phoebe. Wie aus einem medizinischen Lehrbuch. Er formuliert es ja auch anders. Aber ich glaube, es stimmt. Was meinst du? 58
Phoebe ißt auch den Apfelkrotzen mit, nur der Stiel bleibt verschont und wird fallengelassen. Stimmt, sagt sie einfach. Muß ich ins Detail gehen? Augustus lacht. Wenn du möchtest? Sie schüttelt den Kopf. Wie ist es bei Männern ab sechzig? fragt sie. Da kommt es ganz auf die Gespielin an, antwortet er, nimmt ihre Hand und küßt sie. Er hat sich ein weißes Tuch um die Hüften gebunden; es reicht bis knapp zu den Knien. Sein Oberkörper ist mager, voller Flecken, seine Brustwarzen hängen nach unten an schlaffer, faltiger Haut. Sein alternder Körper ist ihm offensichtlich nicht peinlich, denn er beginnt, barfuß, halbnackt, im Zimmer auf und ab zu gehen. Was wird Iulia denken, wenn du nicht auf dem Fest erscheinst? fragt Augustus unvermittelt. Phoebe zuckt die Achseln und sucht sich aus der Schale einen weiteren Apfel. Ich weiß nicht, erwidert sie. Vermutlich ist es ihr egal. Glaubst du wirklich? Ich weiß es nicht, wiederholt Phoebe. Mir ist es zumindest egal. Und was wirst du ihr erzählen, wenn sie dich fragt? Muß ich darüber jetzt schon nachdenken? Phoebe macht auch diesen Apfel klein. Augustus lacht. Warum haben Frauen hinterher immer so einen Hunger? Phoebe wirft den Krotzen nach ihm. Frauen! beschwert sie sich. Du hast wohl Dutzende, daß du das so genau weißt! Nur ein paar, sagt er lächelnd. Immerhin bin ich nicht mehr der Jüngste. Da darf man ein paar Frauen gehabt 59
haben. Sie lacht. Was essen deine anderen Frauen nach dem Sex? Er legt den Finger an die Lippen. Ich bin diskret, sagt er. Ach ja? erwidert sie. Augustus antwortet nicht, sondern geht weiterhin im Zimmer auf und ab. Der Ton, in dem er das Geplänkel geführt hat, ist leicht genug gewesen. Trotzdem ist, seitdem er aufgestanden ist, die Stimmung anders, nervöser. Phoebe fragt sich, ob er will, daß sie geht, aber sie kann nicht gehen, ohne von ihm dazu aufgefordert zu werden; so war es immer; irgendwann sagt er dann, er müsse noch arbeiten oder habe einen Termin oder wolle schlafen; manchmal will er auch nochmal, manchmal nur stundenlang reden. Nichts an seinem Verhalten jetzt deutet auf Abbruch, Aufbruch; er will noch etwas, spürt Phoebe; es kommt noch etwas; sie hat, ohne daß sie weiß, woher, plötzlich das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, überhaupt hierzubleiben, es ist verrückt, aber je länger sie auf dieser Kline sitzt und ihm zusieht, wie er auf und ab geht, desto stärker wird ihr Unbehagen, bis es kippt, und sie auf einmal Angst hat, nicht nur Angst, sondern Panik; sie springt unvermittelt auf, nimmt ihr Kleid, zieht sich hektisch, ungeübt, mit zitternden Fingern an, sticht sich die Spange zuerst in den Finger, ehe es ihr gelingt, sie auf der Schulter zu schließen; sie ist es nicht gewöhnt, sich die Schuhe selbst anzuziehen, trotzdem bückt sie sich, schlüpft in die Sandalen, will sie schnüren, da benutzt Augustus ein kleines Glöckchen, klingelt, die Sklavin kommt, sieht, wie Phoebe sich abmüht und nimmt ihr das knifflige Geschäft ab. Danach zupft sie Phoebes Kleid zurecht, öffnet die Spange, richtet die Falten des Kleides und schließt die Fibel wieder. Das Mädchen entfernt sich lautlos. 60
Der Kaiser hat schweigend zugeschaut. Als sie wieder allein sind, ist alles Spiel, alle Leichtigkeit, alle Vertrautheit, die in der Begegnung zwischen ihnen lag, weg. Ich brauche eine Information von dir, Phoebe, sagt er kühl. Sie, vollständig angezogen, schaut ihn an. Er ist weder groß noch kräftig. Er ist alt. Er ist halbnackt. Und doch ist er Augustus, Kaiser, Vater des Vaterlandes, die mächtigste Person, die Rom je hervorgebracht hat; Macht und jenes alles zusammenhaltende ›ich will‹ geben ihm eine Aura, die furchteinflößend ist, gerade weil er niemals zeigt, daß er sich ihrer bewußt ist. Phoebe braucht einen Moment, um zu begreifen. Ihr erster Impuls ist: Flucht. Aber wie? Wohin? Der zweite ist das Gewohnte: sich beherrschen, schlucken – oh, wie gut sie das kann, sich beherrschen! Wer als Sklavin geboren ist, lernt schon früh: Es gilt nur eins – danke sagen und lächeln, auch wenn man dich schlägt … Es macht ihr ja nichts aus, sie hat von Augustus nichts anderes erwartet. Oder hat sie tatsächlich etwas anderes erwartet? Vielleicht für ein paar Augenblicke. Schöne Illusion! Eigene Dummheit. Sie kennt ihn so lange und läßt sich immer wieder täuschen. Kommen … wir also zum Geschäft, sagt sie langsam. Was willst du? Meine Tochter verkehrt seit einer ganzen Weile in Kreisen, deren Moral und deren Staatstreue ich für äußerst bedenklich halte, beginnt Augustus ohne Umschweife. Ich habe Informationen, daß sie jetzt sogar in ein Komplott verwickelt ist. Ein Komplott? Phoebe lacht unwillkürlich. Das ist völliger Unsinn! Die Leute, mit denen sie Umgang hat, reißen das Maul auf und machen sich vielleicht manchmal 61
auf drastische Weise lustig über Dinge, die ihnen lästig sind, aber ein Komplott? Die haben alles, Geld, Besitz, öffentliche Ämter. Denen geht’s gut. Was sollten sie noch mehr wollen? Macht, sagt der Kaiser. Ich rede auch nicht von allen. Ich rede von zweien oder dreien aus dem Kreis. Ich will dir auch sagen, von wem. Ich meine Sempronius Gracchus, Iullus Antonius, Appius Claudius und diesen neuen Kitharaspieler, den sie alle so anhimmeln. Iulia hatte ein Verhältnis mit Sempronius, ob auch mit Appius, weiß ich nicht… Nein! Danke für die Aufklärung. Neuerdings läuft sie Antonius nach oder er ihr. Ob sie sich jemals klargemacht hat, wie lächerlich sie sich benimmt? Und wie gelegen ihre Blauäugigkeit Antonius kommen muß? Iulia ist völlig unpolitisch, sagt Phoebe. Sie hat kein Interesse an Macht oder dergleichen. Das stimmt, und es stimmt nicht, erwidert Augustus. Vielleicht ist es richtig, daß sie sich nicht einmischt, nicht politisch handeln, nicht einmal denken will. Aber sie ist meine Tochter. Sie ist die Mutter des zukünftigen Kaisers. Sie ist mit meinem Stiefsohn verheiratet, dem obersten der Generäle Roms. Iulia ist Politik! Etwas ähnliches hat sie, in anderen Worten, heute abend zu mir gesagt. Phoebe schaut an Augustus vorbei, konzentriert sich auf das Gespräch, weil sie nicht will, daß ein Blick auf ihn sie ablenkt, sie traurig macht; der alternde Mann und sein Körper, seine Hände, die sie liebt, sein Mund, den sie nie wieder küssen wird. Sie kämpft gegen die Tränen und weiß, daß er es bemerkt. Er reagiert nicht darauf, was ihr Kraft gibt für Wut, verzweifelte Wut. Nur daß sie aus dieser Tatsache nie irgendeine 62
Konsequenz gezogen hat, sagt Augustus. Mag sein, daß ihr die Ambitionen von Antonius & Co. völlig egal sind. Indem sie dem Kreis angehört, gibt sie ihnen Legitimation. Du meinst, man benutzt sie nur? fragt Phoebe. Maecenas, antwortet der Kaiser, nannte Iulia mal eine große Naive. Aber das entschuldigt nichts. Sie ist zu weit gegangen. Ich glaube einfach nicht an ein Komplott, beharrt Phoebe. Ich wüßte davon, meinst du nicht? Augustus lächelt. Meine ich. Deswegen bist du hier. Phoebe beißt sich auf die Lippen, fängt sich, schaut ihm in die Augen. Aber ich weiß nichts davon, sagt sie. Gib mir Anhaltspunkte. Vielleicht erinnere ich mich dann. Also gut, sagt der Kaiser. Fangen wir mit Sempronius an. Es vergeht kaum ein Gerichtstag, an dem er nicht Subjekte verteidigt, die gegen grundlegende Gesetze, die unter meiner Regierungszeit erlassen wurden, verstoßen haben. Er tut es mit einer perfiden Genugtuung, und weil er, zugegebenermaßen, ein guter Anwalt ist, oft mit Erfolg. Diese Erfolge benutzt er, um mehr oder weniger offen Stimmung gegen die herrschende Ordnung zu machen. Vor Sempronius brauchst du keine Angst zu haben, sagt Phoebe sarkastisch. Er betreibt Opposition aus Langeweile. Er ist ein Spieler. Es dürfte leicht für dich sein, ihn einzuschüchtern. Spieler sind gefährlich, Phoebe. Weil sie ihre Grenzen nicht kennen wollen. Na gut. Da haben wir also Sempronius, den gefährlichen Spieler. Phoebe kennt sich kaum selbst; die Ironie, mit der sie Augustus begegnet, ist ihr völlig fremd, sie muß aus der Angst erwachsen sein und der Hoffnungslosigkeit; sie 63
fühlt sich so unendlich mutig, so überlegen; es ist wie ein Rausch. Der nächste bitte, fordert sie den Kaiser auf und macht eine einladende Geste. Er mustert sie einen Augenblick schweigend. Dann sagt er: Jeder vergißt heutzutage, daß Iullus der Sohn von Marcus Antonius ist… Appius nicht! ruft Phoebe, er … Sie hält inne und beißt sich erschrocken in den Handrücken. Tatsächlich? erwidert Augustus nur. Wie interessant. Schreibt er an einem Traktat zur Rehabilitierung des großen Schwachkopfs? Iullus hat Karriere gemacht, lenkt sie schnell ab. Er war Konsul. War im Ausland. Er ist mit deiner Nichte Marcella verheiratet. Warum sollte er … Rache, was sonst, sagt Augustus. Hältst du ihn für so dumm? fragt Phoebe direkt. Er hätte doch nicht die geringste Chance. Welcher Königsmörder denkt vorher darüber nach, ob er eine Chance hat, selbst auf den Thron zu gelangen? meint Augustus. Du bist kein König. Du bist Erster unter Gleichen, widerspricht Phoebe. Ich bin Caesar Augustus, sagt der halbnackte, alternde Mann, der vor ihr stehengeblieben ist. Das bin ich, weil Marcus Antonius tot ist. Und ich habe außerdem nicht vor, so zu enden wie mein Vater, nur weil meine Tochter mit Verrätern kungelt! Im letzten Jahr erst habe ich einen Ring von Verschwörern zerschlagen … Es war nicht sicher, ob sie tatsächlich geplant hatten … will Phoebe einwenden. Sie hatten den Termin für das Attentat schon festgelegt! fällt ihr Augustus ins Wort. 64
Phoebe schluckt. Du … du hast den Kitharaspieler erwähnt. Wo steht er in deiner Theorie? Der nette Musikant hat eine besonders delikate Vergangenheit, sagt Augustus bissig. Meine Informanten haben herausgefunden, daß er der Enkel jener Schauspielerin ist, mit der Antonius bis kurz vor der Ermordung Caesars zusammen war. Als Antonius meine Schwester geheiratet hat, ist Cytheris zu Cornelius Gallus gewechselt – eine gute Wahl, denn so haben wir vier Bücher höchst amüsanter Liebesgedichte. Gallus wiederum, wie du dich vielleicht erinnerst, war ein bißchen zu ehrgeizig. Warum mußte er seine Heldentaten auf den Pyramiden veröffentlichen und mir öffentlich die Konkurrenz erklären? Du hast ihn wegen Korruption und Amtsanmaßung anklagen lassen. Er hat sich selbst gerichtet, soviel ich weiß, sagt Phoebe. Stimmt. Dieser Kitharaspieler, der sich in Iulias Clique gerade so beliebt macht, ist der Enkel von Cytheris und Gallus. Ohne jede bürgerliche Legitimation natürlich. Aber das macht seinen Einfluß nicht ungefährlicher. Neulich, an den Septemberkalenden, hat bei ihm zu Hause ein konspiratives Treffen stattgefunden … Wer sagt das? entgegnet Phoebe schnell. Mein Informant. Leider hat er davon erst hinterher erfahren. Deshalb sind die Teilnehmer nicht alle bekannt. Ich weiß nur, daß Iulia dort war. Du übrigens auch, Phoebe. Von Antonius, Sempronius und Appius gehe ich aus. Ich kann dir keine Informationen geben, sagt Phoebe. Iulia und ich waren zum Essen da. Danach sind wir gegangen, weil die anderen sich betrinken wollten. Während der ganzen Zeit wurde nichts besprochen, was 65
dich oder deine Informanten im mindesten interessieren würde. Ich weiß, daß ihr gegangen seid. Mich interessieren die Teilnehmer. Du kennst sie doch! erwidert Phoebe heftig. Nur ein paar. Wenn ich, wie ich vorhabe, die Sache im Keim ersticken will, ohne großes Aufsehen, brauche ich die Namen aller, die in das Komplott verstrickt sind. Und dann? Ein, zwei Festnahmen. Vielleicht Verbannung. Der Rest: Schwamm drüber. Ich brauche deine Hilfe, Phoebe. Je eher wir wissen, wer alles an der Verschwörung beteiligt ist, desto leichter können wir. Unheil verhindern. Unheil verhindern? Wie weit ich gehe, hängt, sagen wir, von der Einsicht der betreffenden Personen ab. Augustus lächelt. Ich nehme an, die meisten werden sehr einsichtig sein … Du glaubst also wirklich fest an eine Verschwörung? fragt Phoebe. Ich vertraue den Informationen meiner Leute. Sie schüttelt den Kopf. Du irrst dich, Augustus. Bekomme ich die Namen von dir? Nein! Sei vernünftig Phoebe. Ich möchte keine Details. Ich möchte nichts weiter als eine Liste der Namen jener Männer, die am ersten September bei dem Kitharaspieler zu Gast waren. Ist das zuviel verlangt? Ja, erwidert Phoebe. Das weißt du genau. Möchtest du der Mitwisserschaft angeklagt werden? erkundigt sich Augustus freundlich, zu freundlich. Es ist, als habe er sich innerhalb kürzester Zeit in einen anderen 66
Menschen verwandelt, als sei er nur ein Schauspieler, der die Rollen wechselt, mühelos, und Phoebe, auf eine bizarre Weise, ist sich bewußt, daß er, gibt sie nach, nicht lange brauchen würde, um vom Geschäftlichen erneut ins Private überzugehen; sie sieht ihn an und sieht sein Gesicht plötzlich zweigeteilt; die Gesichter fließen auseinander, teilen sich; ihre Konturen werden klar; beide Gesichter unterscheiden sich nicht in den Formen, nur im Ausdruck und in den Farben; das eine ist das, das sie liebt, das andere das, das sie fürchtet; aber der Spuk dauert nur einen Moment. Du kennst die Leute doch alle, sagt sie verzweifelt. Wozu brauchst du mich? Du warst bei diesem Fest, sagt Augustus. Und auf diejenigen, die dort waren, kommt es mir an. Phoebe schüttelt den Kopf. Ich verstehe dich nicht, sagt sie. Mußt du das? erwidert Augustus sanft. Sie schaut ihm in die Augen. Was geschieht, wenn ich mich weigere, dir Auskunft zu geben? fragt sie. Augustus hebt erneut das Glöckchen und klingelt. Der Ton hängt noch in der Luft, als ein Mann eintritt, im ledernen Schurz, mit nackter, behaarter Brust und ledernen Handgelenkschützern. Er ist mindestens einsneunzig groß, braungebrannt; sein Bart und sein Haar ungepflegt, seine Augen kalt. In den Händen hält er an Zubehör, was man für eine Ad-hoc-Folter ohne feste Einrichtung braucht. Phoebe schaut nur kurz hin, erschrocken und doch nicht überrascht, denn nichts scheint in dieser Nacht mehr unmöglich, dann sieht sie Augustus an, lange, bis alles verschwimmt vor ihren Augen; dafür konzentriert sich das Sehen in ihrem Kopf, ganz klar und farbig sind die Bilder vergangener Jahre, gespürte, warme Erinnerungen an 67
Momente, in denen der Mann, der jetzt gewalttätig Verrat von ihr fordert, ihr nah war auf ganz verspielte, ganz vertraute Weise, ohne andere Gründe als Verliebtheit und Begehren. Nein, sagt sie noch einmal, und alles ist dunkel in ihr, wie in jenem Augenblick, in dem ein Taucher die Augen schließt beim Sprung vom Felsen, ehe das Meer ihn empfängt.
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VI. Ich liebe dich, sagt Iulia leise. Antonius läßt sie nicht los, flüstert mit einem kleinen Lachen: Wann ist denn das passiert? Ach, ich weiß nicht, kichert sie. Vor hundert Jahren … Er hält sie ein wenig von sich weg, so daß er ihr ins Gesicht sehen kann. Lächelnd betrachtet er sie. Iulia wartet. Als er nichts sagt, sie nicht küßt, nichts tut, außer sie anzuschauen, löst sie sich erstaunt von ihm, verwirrt, weil das Gefühl für ihn so stark ist, und weil sie keinen Zweifel daran hatte, daß er es erwidert. Ich mag dich sehr, Iulia, beginnt er endlich. Ich bewundere dich. Ich bin gern mit dir zusammen. Er macht eine Pause. Sehr gern, flüstert er. Aber? fragt sie mit kleiner Stimme. Aber ich liebe dich nicht. Das ist nicht wahr! fährt sie auf. Du hast doch … Du warst so anders in letzter Zeit. Wirklich? Er lächelt immer noch; sie liebt seinen breiten Mund mit den schmalen Lippen, sie mag selbst seine Zähne, die braun sind und alle einzeln nebeneinanderstehen, als wollten sie ihrem Nachbarn höflich Platz lassen. Ich dachte …, sagt sie und bricht ab, weil es ihr lächerlich scheint, ihm zu sagen, was er doch selbst nur zu gut weiß, wissen muß. Seine Blicke, seine Aufmerksamkeiten, die Stunden, die sie zusammen verbracht haben, lesend, diskutierend. Und das alles soll 69
nichts bedeutet haben? Sie glaubt ihm kein Wort und trotzdem ist sie verunsichert, denn was genau weiß man schon von den Gefühlen eines anderen Menschen? Sie hat nichts als das, was er ihr sagt. Und das ist eindeutig. Ich dachte …, sagt sie noch einmal und läßt es dann, weil die Enttäuschung sie stumm macht, die Enttäuschung, die sich mit der Scham zu Erkenntnis bündelt. Sie hat sich geirrt, und selbst, wenn sie sich nicht geirrt hat, nützt es ihr wenig, weil er leugnet; sie begreift es nicht, zu überraschend ist die Zurückweisung; sie zwingt sich, es zu akzeptieren, sucht einen Weg aus der Erniedrigung, kann sich nicht verstellen, tritt nur einen Schritt zurück und steht da, hilflos, ehrlich … Wann? fragt Antonius wieder. Wann hast du dich in mich verliebt? Du kennst mich doch seit deiner Geburt, Iulia. Man verliebt sich doch nicht einfach nach so vielen Jahren. Sie hebt die Hände. Ich weiß es nicht, sagt sie erschöpft. Es ist ja auch egal. Ich habe mich geirrt. Ich dachte … Du hast mir jeden Grund zu der Annahme gegeben … Das kann nicht sein. Er schüttelt, immer noch lächelnd, den Kopf. Was habe ich denn getan? Seine Frage klingt so ernsthaft, so echt, daß Iulia nun tatsächlich zu zweifeln beginnt. Hat sie ihn mißverstanden? Wie eine blind verliebte Frau jede Handbewegung, jedes Wort des Geliebten mißversteht, um sich selbst zu beweisen, daß er sie meint, nur sie? Aber ist sie nicht lange genug am Leben, daß sie erkennt, wenn einer was will, sich für sie interessiert, wenn er sie begehrt? Die Konfusion, in die sie die Gewißheit, der Zweifel, stürzen, rät ihr: Geh! Geh weg, laß ihn in Ruhe, er will dich nicht, egal, was du fühlst, er sagt, er will dich nicht, also nimm es hin, mach dich nicht noch lächerlicher, geh, laß ihn in Ruhe … 70
Na schön, sagt sie. Du hast also nichts getan. Ich … es tut mir leid. Ich dachte nur … Sie senkt den Kopf, wendet ihn zur Seite, damit es ihr gelingt, die Tränen zu unterdrücken. Es ist nicht so wichtig, meint sie dann und lächelt ihn an. Gute Nacht … Iulia dreht sich um, geht durch den Garten zum Ausgang. Antonius läuft ihr nach, hält sie am Arm fest. Sie stehen im Schatten der Gartenmauer, hierher kommt das Licht der Fackeln nicht; vereinzelt sind Stimmen der Partygäste aus den Zimmern zu hören; anscheinend ist das Ballett vorbei, und man holt sich was zu trinken, zu essen; im Garten ist noch niemand. Antonius nimmt Iulias Hände; er lehnt sich an die Mauer, zieht Iulia zu sich, bis sie knapp vor ihm steht. Hör zu, sagt er, du bist eine wunderbare Frau, Iulia. Du bedeutest mir viel. Sehr viel. Aber ich liebe dich nicht. Meine Frau bekommt ein Kind. Darauf freue ich mich. Sie entzieht ihm ihre Hände. Wie schön für dich, faucht sie ihn an. Er lacht. Danke, sagt er. Hör mir weiter zu. Du bist nicht irgendwer, Iulia. Und – du hast Appius vorhin gehört – ich bin auch nicht irgendwer. Sie unterbricht ihn. Laß das. Ich brauche keine Erklärungen von dir. Es reicht, was du gesagt hast. Er greift wieder nach ihren Händen, sie ringen kurz miteinander, dann siegt seine Kraft. Ich will aber, daß du begreifst, Iulia. Du bist die Tochter des Mannes, der meinen Vater und meinen Bruder auf dem Gewissen hat. Ich bin noch am Leben, weil mich deine Tante großgezogen hat, und weil ich, seit ich erwachsen bin, so tue, als fände ich nichts natürlicher als dem Princeps Augustus in öffentlichen Ämtern zu dienen und dankbar dafür zu sein, daß ich die Frau heiraten darf, die ich mir 71
ausgesucht habe, obwohl sie seine Nichte ist. Glaubst du, er fände es lustig, wenn ich ein Verhältnis mit seiner Tochter hätte? Feigling! erwidert Iulia nur. Ich habe nie behauptet, daß ich mutig wäre. Darf ich jetzt endlich gehen? schnauzt sie ihn an. Nein, sagt er, doch dann läßt er sie los. Ja, flüstert er. Ich habe kein Recht, dich aufzuhalten. Wortlos läßt sie ihn stehen, findet den Torbogen in der Mauer, flieht den überwölbten Portikus entlang, entsetzt, wütend, todunglücklich, die Hände zu Fäusten geballt, den Kopf gesenkt; sie geht schnell, in äußerster Anspannung, nur nicht hier schon die Fassung verlieren, es reicht, wenn es zu Hause passiert.
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AMNESIA
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I. Es ist ein Tag wie jeder andere Werktag in Rom, oder? Die Vestalinnen hüten im kleinen Tempel das ewige Feuer, auf dem Tribunal nebenan wird verhandelt, bestochen und geurteilt, in der Curia wird heute geputzt statt gestritten, und die Läden in den großen Basiliken haben durchgehend geöffnet. Die Subura nebenan – das geschäftigste Viertel Roms – dehnt und bläht sich, drängt gegen die Mauern und gegen die steilen Wände der Hügel in Platznot, gerät an ihre Grenzen und entläßt ihren Gärungsatem, sackt in die schmalen Talengen zurück, erschlafft für einen Moment, bevor sie von neuem stöhnt, sich aufbläst, gewaltiger noch als vorher, doch ebenso vergeblich. Jeder Fleck rechts und links der gepflasterten Straßen und Sträßchen ist zugebaut, die Mietskasernen sind hoch: drei, vier, fünf Stockwerke hoch, einsturzgefährdet die meisten, manche rußgeschwärzt vom nächtlichen Brand – nur die Läden im Erdgeschoß verschont – dort geht der Handel weiter, während oben die Zimmerleute schlecht bezahlt ihr armseliges Geschäft verrichten; endlos verschachtelt sind die Gebäude; bieten sie nach vorne zur Straße bereits einen verwirrenden Anblick, so verliert sich ein Mensch, der die Treppen hinaufsteigt, in einem Wabengeflecht an Gebautem, Hinzugebautem, Angefügtem, lichtlos, dreckig; selbst der Straßenlärm hier nur noch ein dumpfes Grollen. Findet man irgendwann wieder hinaus und bleibt einen Moment der Orientierung wegen stehen, ist man im Weg, wird angerempelt, beschimpft; hier, wo alles und alle in Bewegung sind, gilt der einzelne nichts, er muß mit oder sich unter das Vordach eines Ladens retten, wo vielleicht 74
weniger Gedränge herrscht; dort aber prasselt sofort der Redestrom der Verkäufer auf ihn ein, steigen ihm unwillkommene Gerüche in die Nase, worauf das Gewühl der Straße trotz aller Gefahren Freiheit verheißt, Freiheit des Nichtkaufenmüssens, des Nichtredenmüssens. Gar nicht weit aber vom aufgeregten Hin und Her der Subura eine andere Welt. Lichte Ruhe, wohlhabende Gelassenheit dort, wo zwischen heiligem Forumstal, kreischendem Argiletum und den Gärten des Maecenas die Carinen ihre Felsrümpfe wie umgestülpte Schiffe zur Velia senken. Lange Fronten hell verputzter Häuser verraten den ungestört vermehrten Reichtum ihrer Bewohner; es wacht oder döst der Pförtner hinter vergittertem Fenster; die Tür zu jenem fast eine Straßenlänge einnehmenden Domus ist ein Portal, Säulen zu beiden Seiten; der Giebel schlicht; die schwere, doppelte Holztür hat ihre Patina ebenso ehrlich erworben wie der Türklopfer seine blankgewetzten Stellen. So abweisend von der Straße aus das fast fensterlose Anwesen scheint, so weit und einladend dehnt sich das Haus dem Besucher nach innen; hoch und von Säulen aus rosenfarbenem Granit getragen spannt sich das Dach über dem Atrium, läßt den Himmel sehen in weitem Quadrat; das schwarzweiße Mosaik auf dem Grund des Regenbeckens zeigt Tritonen bei ihrem wilden Ritt; – aber wie kommt es, daß die Kunst seltsam altmodisch wirkt? Sind nicht farbige Marmorarbeiten modern; sollte nicht mindestens eine bronzene Nymphe in der Mitte des Beckens jeden begrüßen, der zu Besuch kommt? Schaut sich der Betrachter um, wird er noch manches entdecken, was einer anderen Zeit als der goldgefärbten Friedenswelt des Augustus entstammt. Martialisch ragt ein Dutzend eiserner Schiffsschnäbel von den Mauern seitlich des Atriums, erbeutet, so sagt die Inschrift in goldenen 75
Lettern, von den Schiffen kilikischer Freibeuter, die Mithradates von Pontus dienten. Sie nahmen einst auch Caesar gefangen; er kaufte sich frei, kaperte sie und ließ sie hängen; aber Pompeius Magnus erst hat sie besiegt; es ist sein Haus, erbaut fünfzig, sechzig Jahre zuvor, und wenn auch der Besitzer zum viertenmal ein anderer ist, so war sich Antonius, so war sich Agrippa und ist sich nun Tiberius nicht zu schade, die Kriegsbeute des Magnus und seine Büste, obwohl keine Schönheit, aufzubewahren wie zum Hinweis auf eigene Verdienste. Im Haus ist es den ganzen Morgen still gewesen, niemand hat sich gerührt, weil Iulia noch schläft; alle Läden sind zu, die Sklaven schleichen, wenn sie nicht faul herumsitzen und Würfel spielen. Iulia, nackt unter der dünnen Decke, liegt ganz still in ihrem Bett und hält die Augen geschlossen, obwohl sie wach ist – nicht ganz wach, nur so, wie die Träume weichen und das Denken sich rührt, langsam und schweifend. Sie hat wenig Lust, sich auf dieses Denken einzulassen, weil es seit letzter Nacht nichts mehr gibt, woran sich zu denken, worauf sich zu hoffen lohnen könnte. Sie dreht sich auf die Seite, einen Arm über dem Gesicht, bereit, bis in alle Ewigkeit hier zu liegen. Durch die geschlossenen Jalousien zwängt sich Sonnenlicht, aber für Iulia ist der Tag grau. Ihre Mutter, die im Nebenzimmer auf einem Stuhl gesessen hat, kommt herüber, tritt neben das Bett. Willst du nicht aufstehen, Iulia? fragt sie. Es ist schon Mittag vorbei. Wo ist Phoebe? murmelt Iulia undeutlich, weil ihr Gesicht immer noch unter dem Arm begraben ist. Wahrscheinlich in ihrem Zimmer, antwortet Scribonia. 76
Iulia rollt sich herum, so daß ihre Mutter das übernächtigte, unglückliche Gesicht sehen kann. Was macht sie in ihrem Zimmer? sagt Iulia ungehalten. Normalerweise ist sie um diese Zeit längst hier! Sie legt den Kopf zurück, massiert sich den Nacken und streicht sich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn; die Wellen, die die Sklavin den Haaren gestern aufgezwungen hat, sind noch nicht ganz platt, an einigen Stellen bauscht sich das Haar unordentlich, fast filzig, Knoten haben sich hineingenestelt. Iulia zupft an ihnen, fährt mit den Fingern dazwischen, um sie aufzudröseln. Laß sie holen! fordert Iulia ihre Mutter auf. Scribonia nickt, rührt sich aber nicht vom Fleck. Worauf wartest du? will Iulia wissen. Du bist spät nach Hause gekommen, sagt Scribonia. Spät? Ich dachte eher, zeitig. Dein Abend war nicht gut? fragt die alte Frau. Vergiß es. Es ist vorbei. Ich will Phoebe. Sie hat mich gestern versetzt. Versetzt? Sie ist nicht gekommen. War sie hier? Ich habe sie nicht gesehen, sagt Scribonia. Aber das muß nichts heißen. Ich war bei den Kindern. Egal, meint Iulia. Laß sie holen. Ich will mit ihr reden. Scribonia dreht sich um, als wolle sie hinausgehen, zögert aber. Was ist los? fragt Iulia ihre Mutter. Nichts. Scribonia verschwindet im Nachbarzimmer, sagt etwas zu jemandem, eine Sklavin, Cyriace, deren Stimme Iulia erkennt, erwidert etwas. Schritte, Gemurmel. Als Scribonia zurückkommt, schwingt Iulia sich aus dem 77
Bett; die goldbestickte Decke rutscht von ihren Schultern; unbefangen steht Iulia nackt im Zimmer und streckt sich. Scribonia wendet sich höflich ab, aber Iulia sagt vorwurfsvoll: Guck nicht immer weg, Mutter, ich bin immerhin dein Kind, nackt bin ich aus dir gekrochen, wenn mich auch andere großgezogen haben. Mich, Iulia, höhnt sie, die wichtigste Person nach dem Kaiser! So wichtig, daß er sich am Tag meiner Geburt von dir scheiden ließ, damit nur ja keine falsche Verbindung seinen Ehrgeiz trüben konnte. So wichtig, daß er mich als unschuldiges Ding von zwei Jahren mit Antyllus verlobte, dem Ältesten von Marcus Antonius, und den jungen Mann selbstredend umbringen ließ, als er nach Actium zu nichts mehr nütze war. Iulia, der wichtigste Stein auf dem heiratspolitischen Spielbrett. Vergaß ich, Cotiso zu erwähnen, den Getenkönig, mit dem mein Vater mich ebenfalls verkuppeln wollte zum Tausch gegen Frieden? Vergaß ich den reichen Caius Proculeius, Ehrenmann? Einen Freundschaftsdienst, dachte mein Vater, könne er ihm doch leisten; schließlich hat Proculeius ihm mal das Leben gerettet. Wem von Rang und Namen war ich eigentlich seit fünfunddreißig Jahren nicht verlobt oder angetraut? Marcellus ist tot. Agrippa ist tot. Von ihm habe ich immerhin fünf Kinder! Jetzt bin ich siebenunddreißig. Verheiratet zum drittenmal mit einem Mann, den ich nicht liebe. Und der Mann, den ich liebe … – Sie hält inne in ihrer Suada, als wäre ihr etwas eingefallen, das sie vergessen hatte. Dabei ist es umgekehrt. Sie hat das seltsame Gefühl, etwas vergessen zu haben, ohne daß sie wüßte, in welchem Zusammenhang. Verwirrt schüttelt sie den Kopf und beschließt ihren Vortrag so unvermittelt, wie der Ausbruch begonnen hat: Ich wünsche mir nur eins, Mutter, daß Tiberius sich auf Rhodos totsäuft! Sie geht zum Tisch und nimmt den silbernen 78
Handspiegel, geht zur Tür, stößt sie auf, tritt halb hinaus auf den überdachten Gang, wo mehr Licht ist, weil ein kleiner Ziergarten daran grenzt, und will sich in der glänzend polierten Fläche flüchtig anschauen, als sie die Wachen der Praetorianergarde bemerkt, die rechts und links halb ehrerbietig, halb drohend am Ende des Ganges stehen. Erschrocken weicht Iulia in ihr Zimmer zurück, voll ungläubiger Verwunderung sieht sie fragend zu ihrer Mutter. Was haben die Soldaten in meinem Haus zu bedeuten? will sie wissen. Ich dulde nicht, daß … Die Soldaten sind hier, seitdem ich wach bin, sagt Scribonia. Sie wollen mir keine Auskunft geben, behaupten nur, sie hätten Order, niemanden zu uns zu lassen. Wir müssen hier in diesen beiden Zimmern bleiben. Das ist doch verrrückt! ruft Iulia. Was soll das? Wer veranlaßt sowas? Wer sonst als dein Vater, bemerkt Scribonia. Es ist seine Leibwache. Iulia starrt sie an. Aber weshalb? fragt sie kopfschüttelnd und fährt gleich danach auf: So eine Frechheit! Wie kommt er dazu? Gute Frage, erwidert Scribonia. Was hast du heute nacht getan? Was ich getan habe? fährt Iulia sie an. Ich war auf einer Party und bin ziemlich bald wieder gegangen. Ziemlich bald? Scribonia lächelt grimmig. Es war ungefähr halb vier Uhr morgens, als du heimgekommen bist! Ich habe auf dich gewartet, weil ich mir Sorgen gemacht habe. Das ist doch Quatsch! ruft Iulia. Ich bin doch gegangen, 79
gleich nachdem … Ja, nach was? Sie sieht sich noch im Garten mit Antonius, spürt noch die Verzweiflung, schämt sich jetzt noch in Grund und Boden für das, was sie zu ihm gesagt, was sie ihm gestanden hat, würde sich am liebsten das Gesicht zerkratzen, weil es angenehm wäre, einen äußeren Schmerz zu empfinden, der mehr wehtut, als die Trauer, die es ihr schwermacht, überhaupt zu atmen. Wenn sie sich anstrengt, sieht sie sich den überdachten Portikus der Villa entlangeilen, aber schon da verschwimmt das Bild, setzt ihre Erinnerung immer wieder von neuem an einem früheren Punkt ein, wiederholt die Szene; so sehr sich Iulia auch bemüht, sie gelangt nie bis zum Ausgang der Villa, alles zerfließt in dichtgrauem Nebel. Nachdem? fragt ihre Mutter. Nach dem Ballett, sagt Iulia trotzig. Wann war das? Noch vor Mitternacht. Und was hast du bis halb vier morgens gemacht? Ich weiß es nicht! schreit Iulia ihre Mutter plötzlich an. Laß mich damit in Ruhe! Die Wut macht sie energisch, irgendwo muß man anfangen, und so ruft sie nach ihren Sklavinnen: Lusia, Cyriace! Wo seid ihr, ihr Schlampen? Ich bin nicht angekleidet, ich bin nicht frisiert. Was sollen die armierten Herrschaften da draußen von mir denken, was sollen sie meinem Vater berichten, der anscheinend so überaus besorgt um meine Sicherheit ist, daß er mir seine Leibwache ins Haus schickt. Los, her mit euch! Und schaut zu, daß jemand Phoebe Bescheid sagt. Hat sie nicht versprochen, mich niemals zu verlassen? Wo ist sie nun, das untreue Stück? Sie klatscht in die Hände, Lusia und Cyriace erscheinen tatsächlich, Iulia setzt sich in den Lehnstuhl aus Weidengeflecht, denselben, auf dem sie 80
sich gestern hat feinmachen lassen für das Fest. Das Ritual beginnt, weniger aufwendig als am Vortag, diesmal werden die Haare geglättet statt gewellt und zu einem Nodus gesteckt, mit einem Haarwulst über der Stirn und geflochtenem Zopf, im Nacken gerollt; eine strenge, etwas altmodische Frisur, die dem Gesicht Iulias allerdings schmeichelt, weil sie die hohen Wangenknochen betont und davon ablenkt, daß die Züge nicht mehr so straff und klar modelliert sind wie früher. Mutter, ruf Parthenius, befiehlt sie, ich will einige Briefe diktieren! Lusia, sieh nach, wo mein Frühstück bleibt! Und schick Leute los, daß sie Phoebe suchen. Ich dulde es nicht, daß ein paar Praetorianer meinen gesamten Haushalt auf den Kopf stellen. Mein Vater wird mir sagen müssen, was beim Styx ihn dazu treibt, mich so zu beleidigen! Die Mutter, Lusia, eilen nach draußen, lassen die Tür offen; Licht dringt aus dem Peristyl herein; man hört Stimmen, Männerstimmen, tief und drohend; dann hallende Schritte im Gang. Scribonia und die Sklavin kommen wieder ins Zimmer, gefolgt von einem kaiserlichen Gardisten, der die Toga trägt, wie es seinem Rang angemessen ist, und das Schwert. Iulia sieht die kleine Versammlung im Spiegel; eben hat Cyriace den Zopf zur Schnecke gerollt und festgesteckt. Iulia mustert den Praetorianer im Spiegel; er ist jung und sieht gut aus und errötet unter ihrem Blick; er will etwas sagen, doch sie schneidet ihm mit einer Handbewegung das Wort ab und läßt ihn warten, bis die Sklavin ihre Hände eingecremt und ihr die Ringe an die eleganten, aber nicht zu schlanken Finger gesteckt hat. Sie bietet Cyriace den Nacken, damit diese das goldene Halsband mit Perlen und Smaragden befestigen kann. Wie heißt du? fragt sie den Praetorianer wie beiläufig. Caius Isiacus, antwortet der Gardist. 81
Iulia steht auf, dreht sich um und geht ein paar Schritte auf ihn zu; sie ist schön, und sie weiß es; weil sie aufgewühlt ist und wütend und verwirrt durch den Verlust der Erinnerung, sind ihre Augen tiefgrau. Wie lautet dein Befehl? fragt sie. Der Mann verstummt verlegen. Nun? Isiacus räuspert sich und sagt, sich mehrmals verhaspelnd, so schnell er kann: Ich … du … Augustus hat angeordnet, daß du unter Arr … Arrest stehst ab sofort. Du darfst dieses Zimmer hier nicht ver … verlassen; das heißt, du und deine Mutter und deine zwei Dienerinnen. Wir … wir haben Order, niemanden zu dir zu lassen, keine Post zu befördern; jeglicher Kontakt zur … zur Außenwelt ist dir untersagt. Aber … fährt Iulia auf; beinahe hätte sie Isiacus gefragt, was sie denn getan habe, doch sie erkennt die Peinlichkeit; einem Soldaten gegenüber darf sie sich keine Blöße geben; worauf die Anklage lautet, darf sie nicht fragen; muß er nicht davon ausgehen, daß sie weiß, was sie verbrochen hat; hat er nicht überdies den Befehl, den Mund zu halten? Er mag jung sein und eingeschüchtert von der Tochter des Kaisers, doch Augustus sucht seine Leibgarde nach Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit aus; Iulia kennt diese Art Praetorianer, sie sind jung, aber gut ausgebildet, sie sind vielleicht noch etwas unerfahren, aber um so eifriger, keinen Fehler zu machen; selbst ihn zu bestechen, nimmt sie an, hätte wenig Erfolg. Sie tut also, als sei sie nicht überrascht, nicht beeindruckt; jedoch glaubt sie trotz allem, im Blick des Mannes ein wenig Mitgefühl zu entdecken. Ich verstehe, sagt sie ruhig. Kein Kontakt, keine Briefe. Ich hoffe doch immerhin, daß mein geschätzter Herr Vater 82
mich nicht verhungern lassen wird? Isiacus lächelt wider Willen. Keineswegs, antwortet er. Du sagst, kein Besuch; nur meine Mutter, meine zwei Dienerinnen in meiner Nähe erlaubt. Was ist mit meinen Kindern? Sie haben Befehl, sich von dir fernzuhalten. Was für eine Frechheit! Welche Anmaßung! schnauzt Iulia ihn an, als ob er etwas dafür könnte, und fügt wütend hinzu: Einer, der von jeher in der Öffentlichkeit damit protzt, oberster Schirmherr der Familie zu sein, verbietet mir den Umgang mit meinen Kindern! Untersagt mir Augustus etwa, meinen kleinen Sohn Agrippa zu sehen, meine noch unverheiratete Tochter Agrippina? Will er den minderjährigen Kindern die Fürsorge der Mutter nehmen? Glaubt er, nur weil er Caius und Lucius adoptiert hat, sei mir das Recht abhanden gekommen, sie als meine Kinder zu betrachten? Iuliola, meine älteste Tochter, ist schwanger. Will er ihr den Beistand und den Rat der Mutter rauben? Von den Gedanken des Augustus weiß ich nichts, wehrt der Soldat ab. Sein Befehl lautet: Du darfst deine Kinder nicht sehen. Iulia ballt die Fäuste, aber sie schweigt, geht im Zimmer auf und ab, rastlos, minutenlang. In der Stille nur das halb unterdrückte Schluchzen der Mutter; die Sklavinnen haben sich vor dem Bett auf den Boden gekauert und halten sich an den Händen. Endlich tritt Iulia erneut vor Isiacus. Gut, sagt sie. Hast du mir von Augustus sonst noch irgend etwas zu bestellen? Nein, erwidert er und senkt den Blick. Iulia nähert sich, bis sie dicht vor ihm steht. Er schaut sie 83
an; sie spürt, daß er zurückweichen möchte, doch er ist zu gut erzogen, deshalb bleibt er gehorsam am Fleck. Ich mache mir Sorgen, sagt Iulia leise. Nicht um mich, aber Phoebe, meine Vertraute, meine Begleiterin seit Kindertagen, wollte gestern nachkommen auf das Fest, sie ist nicht aufgetaucht, und ich frage mich, ob ihr etwas passiert ist. Kannst du mir helfen? Sag mir, wo sie ist. Geht es ihr gut? Ich kann akzeptieren, daß ich sie nicht sehen darf. Aber ich muß wissen, ob es ihr gutgeht. Isiacus schaut verstört; es ist klar, daß er es nicht gewöhnt ist, mit Frauen umzugehen; wahrscheinlich fiele es ihm leichter, fünf Randalierer in Schach zu halten, als sich gegen die Gefühle zu wehren, die die reife, sinnliche Frau, die vor ihm steht und mindestens zehn Jahre älter ist als er, in ihm weckt. Er vergißt seine Disziplin für einen Moment, weicht zurück und ruft: Frag mich nicht! Iulia umklammert seinen Arm, zerrt an ihm, will den großen Mann schütteln, was ihr nicht gelingt. Sag es mir, Isiacus! Was ist passiert? Laß mich nicht in dieser Ungewißheit! Phoebe ist wie eine Schwester für mich, nein, mehr noch, wie ein Zwilling, sie war bei mir in all den Jahren, in guten und in schlechten Zeiten, in Zeiten des Hochgefühls und der Feste, in Zeiten der Trauer. Wo ist sie? Rede mit mir. Sag was! Sag mir, wo Phoebe ist! Iulia sinkt auf die Knie, falls sie die Verzweiflung nur spielt, spielt sie gut; schluchzend sinkt sie dem Mann zu Füßen, die beringten Finger in die Falten der Toga gekrallt. Der Praetorianer versucht ungelenk, Iulias Hände von seinem Gewand zu lösen. Er hilft ihr auf. Ich darf nicht, flüstert er. Hier! Iulia streift ihre Ringe ab, öffnet die Hand des jungen Mannes und drückt sie hinein. Nimm! Du 84
bekommst mehr. Du bekommst alles, was ich noch habe. Aber sag mir, wo Phoebe ist! Was ist ihr zugestoßen? Als wäre der Schmuck giftig, läßt Isiacus die Ringe fallen. Klirrend rollen sie über den Mosaikboden; die Sklavinnen eilen herbei und bücken sich nach ihnen, um sie einzusammeln und in die Schatulle zu legen, die noch geöffnet auf dem dreifüßigen Toilettentisch steht. Sie ist tot, sagt Isiacus laut und hart, härter als er beabsichtigt hat; es klingt, als könne er sich nur durch Härte von der Zumutung des Mitleids befreien. Iulia starrt ihn an, mit geöffnetem Mund, der unnatürlich rot ist in ihrem blassen Gesicht. Sie schüttelt den Kopf. Nein, flüstert sie; unaufhörlich schüttelt sie den Kopf. Nein! Fieberhaft beginnt sie erneut, die verhüllten Tiefen ihrer Erinnerung aufzusuchen; die Gäste, das Fest, Antonius, der sie zurückweist, Phoebe, die nicht gekommen ist, und dann? … Nacht in ihrem Kopf; – was ist es, das ich vergessen habe? Was habe ich getan auf dem Fest, nach dem Fest? Ist Phoebe doch noch gekommen? Wohin bin ich gegangen? Was habe ich getan Nein! schreit sie plötzlich. Du lügst, Isiacus! Sie schlägt auf seinen Arm ein, daß der Soldat zusammenzuckt. Ihr wollt mir angst machen, du und deine verdammten Kameraden, du und mein Vater, und all die anderen Spießer, die über die Moral wachen und selbst keine haben! Aber ich lasse mich von euch nicht zum Narren halten! Ich bin die Tochter des Kaisers! Du hast mir nichts zu befehlen! Laß mich durch! Ich will zu Augustus. Er soll mir Rede und Antwort stehen. Von ihm will ich wissen, was ich so Kriminelles getan habe, daß er mir seine Leibgarde auf den Hals hetzt und Lügen verbreiten läßt, um mich zu erschrecken! Laß mich durch! Sie drängt sich an Isiacus vorbei, stürmt den Flur entlang; die Wache salutiert gewohnheitsmäßig, doch ebenso geschult kreuzt 85
sie die Speere, verwehrt der Aufgebrachten den Durchlaß. Isiacus ist auf den Gang getreten, sieht zu, wie Iulia rastlos die Reihe der Soldaten abschreitet wie ein Tier, das nach einem Ausweg sucht. Endlich wird ihr bewußt, was sie tut; sie dreht sich um, steht ganz still, ganz ruhig, wie betäubt. Komm, sagt Isiacus und geht ihr voraus, ohne sich zu vergewissern, ob sie ihm folgt. Iulia geht ihm nach, blind, taub, fühllos; sie gehen durch mehrere Zimmer, dann einen schmalen Gang entlang, der in eine Laube mündet, an deren Ende ein von Efeu umwucherter Brunnen in die Wand eingelassen ist. Die Laube ist eingerahmt von Edelholzbalken mit rautenförmigem Spalier, an dem sich Rosen emporranken; eine Fensteröffnung ohne Scheiben bietet den freien Blick in den großen Garten; dort stehen alte Obstbäume, Äpfel, Pflaumen und Birnen voller Frucht; wenige Kirschbäume, deren Blätter schon gelb sind, deren Früchte schon lange auf die Tafel gewandert sind oder von Amseln gestohlen wurden. Einer dieser Kirschbäume trägt dennoch eine Last. Isiacus faßt Iulias Arm so fest, daß es wehtun müßte, spürte sie überhaupt etwas; er wartet auf den Schrei; sie hat den Mund weit aufgerissen, aber es kommt kein Laut; sie beginnt zu zittern; ihre Muskeln entspannen sich, um sich sofort wieder zu verkrampfen; ihre Zähne schlagen aufeinander; mit äußerster Willenskraft nur hält sie sich aufrecht, klammert sich mit beiden Händen an die hölzerne Brüstung des Fensters, starrt hinüber, dorthin, wo man die Erhängte mit hervorquellenden Augen und blauer Zunge in der Mittagshitze am Baum ließ, als habe man nur auf diesen Moment gewartet; es wirkt wie eine Inszenierung, und es ist dieses theatralische Moment, das Iulia die Kraft gibt, ihr Entsetzen zu dämmen, Fassung zu gewinnen; es ist das Gefühl, daß hinter einem anderen 86
Fenster jemand lauert, der dem Schauspiel Befriedigung abzugewinnen weiß; Iulia würgt, erbricht sich aber nicht; schwer atmend lehnt sie sich an die kühle Mauer, taucht ihre Hände ins Brunnenwasser, bespritzt ihr Gesicht. Warum? wispert sie immer wieder. Warum nur? Ich weiß es nicht, sagt Isiacus. Lügt er? Wer weiß – er hat dem Kaiser Schweigen gelobt, bei Einsatz seines Lebens: er hat schon zuviel gewagt heute. Iulia sieht ihn an, bittend, fragend, abwartend, stumm. Er hält ihrem Blick stand; sie kennt die Pflichten der Leibgarde zu gut, um zu drängen; sie spürt außerdem, daß die Antwort auf ihre Frage, auf all das, was sie fragen müßte, dort ist, wohin sie nicht gelangen kann, weil ihre Erinnerung wie eine mit Pech bestrichene Spiegelscheibe ist oder wie eine Schriftrolle, deren Buchstaben bis zur Unleserlichkeit verblichen sind. Iulia geht auf den Praetorianer zu, wischt ihre Hände an seiner Toga ab. Dann läßt sie Isiacus stehen, kehrt sie ohne Eile in ihr Zimmer zurück, in ihre Haft.
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II. Iulias Körper gewöhnt sich nach zwei, drei Tagen an die Dimensionen des Gefängnisraums; sie empfindet die Wände, die Decke, den Boden nicht mehr wie Dämonen, die ihr näher rücken, ihr die Luft abschnüren, bis sie zu ersticken droht; das Zimmer verharrt in seinen Proportionen, bedrängt sie nicht mehr, aber es öffnet sich auch nicht; es bleibt eine feste Größe, vier Meter zwanzig mal vier Meter vierzig in der Fläche, drei Meter sechzig in der Höhe; vor dem Fenster, das, öffnete man die Läden, Ausblick auf den Garten des Peristyls mit seinem Säulengang gewährte, stehen Soldaten; an beiden Enden des Flurs sind Praetorianer postiert; der Wachwechsel morgens und nachmittags und abends vollzieht sich fast lautlos, nur ab und zu klirrt ein Schwertgehänge, hört man einen der Männer husten, hört die Gefangene Füßescharren; die Sklavenjungen, die ihr, ihrer Mutter und ihren zwei Dienerinnen das Essen bringen, sind sorgfältig ausgewählt nach Taubstummheit und Analphabetentum; der Kaiser sorgt für die Bewachung seiner Tochter so penibel wie er die Staatsgeschäfte führt: Planung bis ins kleinste Detail; Augustus, Sohn des vergöttlichten Improvisationsgenies Iulius Caesar, ist Bürokrat aus Leidenschaft, aus Überzeugung; was in seinen Amtsstuben erdacht wird, spüren die freien Bürger und die Freigelassenen und die Sklaven, die Schauspieler und die Huren, die Musiker und die Dichter, die Bettler und die Taugenichtse, in jedem Winkel ihrer Existenz; der Vater des Vaterlandes sorgt für sie alle, alle! Iulias Körper mag sich an die Wände gewöhnt haben, doch wenn sie auch die meiste Zeit still auf einem Stuhl 88
sitzt, nichts ißt, wenig trinkt und sich selten schlafen legt – ab und zu nickt sie im Sitzen ein; der Kopf sinkt ihr auf die Brust, ihr Atem verlangsamt sich, wird tiefer, ruhiger –, so bemüht sich ihr rastloser Geist unentwegt, jene Räume wiederzufinden, die die Nacht ihrer Erinnerung für immer verborgen zu haben scheint; im Schlaf ist es dann, als wandere sie durch ein großes altes Haus, das ihr so vertraut ist wie der Geruch der Mutter, jedoch zugleich fremd wie die Anderwelt; manche Räume sind erhellt, mit Menschen belebt; sie tritt ein, mischt sich unter die Leute, versteht, was sie reden, sieht, was sie tun, aber es hat nichts mit ihr zu tun; dann geht sie weiter, läßt die Tür hinter sich offen, streift durch das Haus wie eine Abenteurerin; hinter jeder Ecke, hinter jeder verschlossenen Tür kann sich ein Stück Erinnerung verbergen; aber je weiter sie vordringt, desto öfter gerät sie an verschlossene Türen, gerät sie in dunkle, geheime Räume; die Stimmen der anderen verlieren sich; Iulia verläuft sich in diesem riesigen Haus, bekommt Angst; sie beschließt, es zu verlassen, doch sie findet den Ausgang nicht, irrt durch Zimmerfluchten, leer und kalt, läuft Treppen hinauf und hinunter, sinnlos, weil sie nirgendwohin führen; die Schlafende atmet rascher, ihre Hände zucken; sie zwängt sich im Traum durch einen engen Spalt, hinter dem, so glaubt sie, das Draußen sich öffnet, das Licht in die Freiheit führt; sie sehnt sich nach leichtem Atem, nach befreiter Brust, nach laufen, rennen; sie zwängt sich durch den Spalt, zerreißt sich das Kleid, der Raum aber weitet sich nicht, er wird enger, furchterregend eng, erdrückend und stickig – Iulia erwacht mit einem Ruck, starrt mit offenen Augen ins Leere; langsam erst wendet das Auge, das nach innen blickte, sich wieder nach außen; Iulia sieht ihre Mutter, die besorgt vor ihr steht und sie fragend anschaut. 89
Du hast geträumt, sagt Scribonia. Iulia nickt, schließt noch einmal die Augen, bis die Beklemmung weicht, bis sie langsam zurückkehrt ins Jetzt mit allen Sinnen; der Schrecken vergeht, schläfrig noch gähnt sie; erst im letzten Moment hält sie sich die Hand vor den Mund; dann streckt sie die Arme, dehnt sie über dem Kopf, ehe sie sie vor der Brust verschränkt und seufzt: Wie lange sitzen wir jetzt schon hier und warten? Vierzehn Tage. Wie spät ist es wohl? Genau weiß ich es nicht. Es könnte um die elfte Stunde sein. War jemand hier? Niemand. Niemand, wiederholt Iulia. Nun, irgend jemand wird sich über kurz oder lang für mich interessieren, meinst du nicht? Scribonia zuckt die Achseln. Du glaubst, man wird uns hier vermodern lassen? Iulia steht auf, dehnt erneut ihre Arme und gähnt: Das wäre doch langweilig. Ich finde das, was geschieht, nicht besonders amüsant, erwidert Scribonia. Ich auch nicht. Aber es geschieht ja nichts. Wenigstens darüber kann ich mich lustig machen, oder? Du hast ein seltsames Naturell, Iulia. Hast du keine Angst? Oh, doch. Nützt es mir etwas? Was habe ich davon, wenn ich zitternd in der Ecke sitze, als bräche gleich der Weltenbrand über mich herein? Solange ich nicht weiß, was das hier soll, ziehe ich es vor, darüber Witze zu machen, statt mich in Sorge zu wälzen. Im übrigen, sagt 90
Iulia mit einer nachlässigen Handbewegung, habe ich tatsächlich Hunger. Mein Vater wird bald bereuen, mich so ungerecht behandelt zu haben. Iulias Sklavinnen springen auf, um ihr etwas zu essen zu reichen. Laßt nur, wehrt sie ab. Ich muß mich bewegen. Sie geht zu einem Tisch, auf dem Schalen mit Obst und Brot stehen. Sie pflückt Trauben, beginnt sie zu essen und geht dabei langsam im Zimmer hin und her. Dann nimmt sie sich Brot, ißt es mit Appetit. Bist du sicher, daß er im Unrecht ist, Iulia? fragt Scribonia. Du kennst die Gesetze … Was könnte ungerechter sein, als die eigene Tochter, die Mutter der kaiserlichen Prinzen, ohne Anhörung in ihr Zimmer zu sperren, als wäre sie ein ungezogenes Kind, als wäre sie ein Sklave ohne Rechte, ein wildes Tier, das man hinter Gittern halten muß, weil man sich vor ihm fürchtet? Nein, er wird bald einsehen, daß er zu weit gegangen ist. Er wird zu mir kommen, mich in die Arme nehmen, mich sein ungezogenes Töchterchen nennen, mir vorjammern, daß die große Roma ihm doch schon genug Ungelegenheiten bereitet und … Hast du Phoebe vergessen? wendet Scribonia ein. Nein, durchaus nicht, erwidert Iulia unvermutet hart. Augustus schuldet mir mehr als eine Erklärung. Du glaubst also, es ist ihm nicht ernst? Ihm, der sprichwörtlichen Milde? Iulia lacht spöttisch. Man hat der Clementia Augusti so viele Altäre geweiht, daß er es sich kaum leisten kann, gnadenlos zu sein. Er ist es früher oft gewesen. Und er ist es noch. Nur, daß er es besser zu verdecken weiß. Du und deine Freunde, ihr seid ihm seit Jahren ein Dorn im Auge. Ihr macht ihn lächerlich … Nur seine Sittengesetze. 91
Sie sind ihm wichtiger als du denkst. Ja, weil er alt wird und Livia ihm einredet, ihre Spießermoral sei das Maß aller Dinge! Aber er ist nicht von Natur aus prüde. Besteht zwischen dem, was er ist, und dem, was er sein will, irgendein Unterschied? Nimm nur ein Beispiel, Iulia, und gleich das Äußerste, was es zu diesem Thema zu sagen gibt. In diesem Jahr hat er Tränen vergossen, als der Senat, als das Volk ihn zum Vater des Vaterlandes ernannte. Die Tränen waren echt, aber es waren keine Tränen der Rührung, sondern des Triumphes. Dein Vater hat viele Triumphe gefeiert, aber keiner war größer als dieser. Was war er denn damals, als er so frech und unbekümmert das Erbe Caesars antrat? Ein Abenteurer mit viel Geld und einem Namen. Das Geld gehörte nicht ihm, und den Namen hatte er geerbt. Er hat betrogen, Kriege geführt gegen das eigene Volk, gemordet, die Gesetze gebrochen, den Senat entmachtet. Das weißt du so gut wie ich. Und nun? Der höchste Titel, den Rom zu vergeben hat, der ehrenvollste, der heiligste Titel schmückt ihn. Glaubst du, er ist sich der Verpflichtung nicht bewußt? Was gilt der Vater einer Tochter gegen den Vater des Vaterlandes? Das heißt, er wäre kein Mensch mehr, sondern sein eigenes Werkzeug; kein moralisch Handelnder mehr, sondern die Moral selbst? Vielleicht? Iulia lacht. Ach was. Mach ihn nicht zum Heiligen. Mein Vater ist ein simples Gemüt. Er schauspielert gern, er sonnt sich gern im Zuspruch der Massen; es macht ihm Spaß, als Wohltäter gesehen zu werden. Aber es wäre mir neu, daß er sich selbst zum Programm erhebt. Bisher hat ihn davor sein Sinn für das Lächerliche bewahrt. Er liebt 92
mich. Ein bloßer Titel macht aus einem Menschen kein Ungeheuer. Ein Geräusch von weit her, aber im stillen Haus deutlich vernehmbar, läßt sie aufhorchen. War das der Türklopfer? Scribonia lauscht. Ich habe nichts gehört. Jemand kommt! ruft Iulia. Endlich! Hoffst du wirklich auf erfreuliche Nachrichten? Iulia hört nicht zu, wird plötzlich nervös. Glaubst du, mein Vater kommt? Ich wünsche es dir, Iulia, sagt ihre Mutter, aber sie klingt nicht besonders hoffnungsvoll. Stimmen im Gang, die Wachen salutieren, Schritte nähern sich; Iulia steht mitten im Zimmer, ein Stück Brot in der einen Hand, Trauben in der anderen; sie steht ganz still, lächelt und wartet. Ohne Umstände tritt ein Mann ein in senatorischem Rang, an seiner Seite ein zweiter, jüngerer; ein Sklave folgt ihnen, er trägt eine Schriftrolle. Cornelius Fuscus grüßt Iulia, beginnt der Ältere schroff. Ich bin hier auf Anordnung des Caesar Augustus, der den Senat über dein Vergehen informiert hat. Dein Fall wurde verhandelt. Folgendes Urteil wurde gefällt. Der Sklave öffnet die Schriftrolle und reicht sie dem Würdenträger. Iulia ist blaß geworden und starr, sie umklammert das Brot und die Trauben; die Trauben so fest, daß sie platzen und der Saft an ihren Fingern herunterläuft; sie bemerkt es nicht, steht nur da; sie hört, was Fuscus verliest, und sie hört es nicht; seine Worte dringen zu ihr wie Schall, der mal näher kommt, mal von weither herüberweht; anschwellend, abklingend; vor ihren Augen droht es dunkel zu werden, aber sie hält sich, spannt alle Muskeln an; es rauscht in ihren Ohren, aber sie hält sich, starrt 93
Fuscus ins Gesicht und versucht zu begreifen, was er ihr vorliest mit barscher, lauter Stimme. Senat und Volk Roms verhängen über Iulia, Tochter des Caesar Augustus und der Scribonia, nach den Gesetzen wegen Ehebruchs, Hochverrats und Beleidigung der Götter folgendes Urteil: Die Delinquentin verliert ab dem heutigen Tag, dem vierten Oktober, in der Amtszeit der Konsuln Lucius Caninius Gallus und Caius Fufius Geminus, sämtliche Würden und Privilegien; ihre Mitgift fällt an den Vater zurück, und sie hat Rom binnen einem Tag und einer Nacht zu verlassen; auf Befehl des Princeps wird sie nach der Insel Pandateria verbracht und wird dort unter Bewachung und Hausarrest leben; es ist ihr untersagt, Besuch zu empfangen, Korrespondenz zu führen und bei Todesstrafe, die Insel zu verlassen. Die Scheidung der Delinquentin von ihrem Ehemann Tiberius Claudius Nero erfolgt mit diesem Schreiben. Ihre Bilder werden von öffentlichen Orten entfernt, ihr Name gelöscht. Auf Verfügung des Caesar Augustus wird nach ihrem Tod keine Bestattung in der iulischen Familiengrabstätte erfolgen. Scribonia und die beiden Sklavinnen sind bei den letzten Worten in hemmungsloses Geheul ausgebrochen; ihr Schluchzen füllt das Zimmer; ihre Tränen scheinen die stickige trockene Luft im Raum zu befeuchten, daß es sich wie Tau auf die Wände, auf den Boden, auf die Haut legt; es ist ein schwerer, kalter Tau. Iulia läßt das Brot fallen und die Trauben, wischt sich unbewußt die Hände an ihrem Kleid ab; das Geheul der drei Frauen steigert sich ins Unerträgliche. Seid still! brüllt Iulia plötzlich. Hört auf! Erschrocken kauern sich Cyriace und Lusia in eine Ecke; zuckend und ein Tuch vor den Mund gepreßt, sinkt Scribonia aufs Bett. 94
Wo ist mein Vater? will Iulia von Cornelius wissen. Verreist. Das glaube ich nicht. Sag ihm, ich, Iulia, will ihn sprechen. Er ist nicht in Rom. Du lügst. Bring mich zu ihm. Sofort. Caesar Augustus ist nicht in Rom. Wo ist er? Ich bin nicht befugt, dir das zu sagen. Dann war dein Besuch bei mir umsonst, Fuscus. Ich nehme von dir keine Befehle entgegen. Ich bin die Tochter des Kaisers. Der Senat hat keine Macht über mich. Augustus hat dem Senat alle Vollmachten übertragen, erwidert Cornelius. Dieses Schreiben bezeugt es. Morgen früh wird dich und zwei deiner Sklavinnen eine Kutsche abholen. Eine Eskorte wird dich nach Pandateria begleiten. Es ist deinen Sklavinnen erlaubt, unter Bewachung zwei Kisten mit persönlicher Habe zu packen. Haltet euch zur ersten Stunde bereit. Und wenn ich mich weigere? fragt Iulia. Wird man dich zwingen. Und wenn ich mich töte? Cornelius hebt den Kopf, sieht sie an, fast interessiert. Man wird dich nicht daran hindern, bemerkt er lapidar. Iulia zuckt unmerklich zusammen, faßt sich aber sofort. Gut zu wissen. Was ist mit … Beinahe hätte Iulia nach Antonius gefragt, doch im letzten Moment besinnt sie sich; besteht nicht eine geringe Chance, daß er davongekommen ist? Sie lacht; es ist ein zynischer Laut, denn was weiß sie schon, mit wem sie gestern nacht die Ehe gebrochen hat? War es Iullus? Oder ein anderer? Oder 95
mehrere? Ist alles nur eine Erfindung von Verleumdern, von Spitzeln? Warum hat Phoebe sich umgebracht? Was wußte sie? Was hat sie gesehen, gehört? Hochverrat? Beleidigung der Götter? Sie fragt: Was geschieht mit meinem angeblichen Liebhaber? Ich kann darüber keine Auskunft geben. Erhebt mein Vater noch Anklage gegen weitere Personen? Das weiß ich nicht, sagt Fuscus stoisch. Weich mir nicht aus! schreit Iulia ihn an. Was soll die Heimlichtuerei? Natürlich weißt du, was Augustus sonst noch beschlossen hat. Ich habe dazu nichts zu sagen. Juristenpack! Sadistenpack! Was habt ihr davon? Du kennst die Gesetze. Sie sind eindeutig. Iulia lacht erneut; es ist ein Geräusch, wie es die Kurtisanen Roms von sich geben und die Bettler und die Erniedrigten aller Ränge, will man sie Anstand lehren; es ist voller Verachtung, haßerfüllt. Sie spuckt Cornelius vor die Füße. Das halte ich von euren Gesetzen! Fuscus kann eine heftige Handbewegung nicht unterdrücken; er schnauft indigniert, saugt röchelnd Luft durch die Nase ein; aufgebracht umklammert er die Schriftrolle, daß sie fast bricht. Weshalb hat sich meine Vertraute, Phoebe, umgebracht? fährt Iulia ihn an. Oder habt ihr sie etwa umgebracht und sie an diesen Kirschbaum gehängt, um mich zu erschrecken? Wut packt sie; schnell, schneller als Cornelius reagieren kann, springt sie auf ihn zu, reißt ihm die Schriftrolle aus der Hand, zerreißt den dünnen Papyrus, er bricht ihr unter den zornigen Händen; sie schleudert die Fetzen von sich. Ich verlange einen 96
ordentlichen Prozeß! ruft sie. Ich verlange von meinem Vater, daß er mich anhört, daß er mir darlegt, was ich verbrochen habe! Ich verlange, die Anklageschrift zu lesen! Ist es Hochverrat, über die Liebe zu debattieren, über Liebe in Freiheit, statt in der Knechtschaft der Ehe? Beleidigung der Götter? Vielleicht habe ich Venus zu Ehren ein unanständiges Lied gesungen. Wenn sie es übelnimmt, soll sie mich strafen! Cornelius ist Röte ins Gesicht gestiegen; der Sklavenjunge sammelt die Reste des Urteils ein. Dein Prozeß ist abgeschlossen, sagt Fuscus. Das Urteil lautet auf Verbannung. Die Gesetze … Ich kann kein Urteil akzeptieren, wenn ich die Details der Anklage nicht kenne. Was wirft man mir vor? Fuscus sieht sie an, als zweifle er an ihrem Verstand. Was man dir vorwirft, hast du eben gehört. Ehebruch, Hochverrat, Beleidigung der Götter. Ehebruch? Mit wem? Nenn mir den Namen! Hochverrat? Wie lächerlich! Was hätte ich denn davon? Ich bin die Tochter des Kaisers. Mein Sohn ist sein Nachfolger. Mehr Ehre kann mir auf dieser Welt nicht werden! Beleidigung der Götter? Wodurch? Beleidige ich Venus, wenn ich ihren Altar mit Kränzen schmücke? Was, so frage ich dich, Cornelius Fuscus, habe ich verbrochen? Was du verbrochen hast? wiederholt Fuscus höhnisch. Das weißt du selbst am besten. Dabei mustert er sie, daß sie, die ihre Weiblichkeit immer selbstbewußt trug, die sich ihrer Freizügigkeit immer gerühmt hat, sich plötzlich schämt; es ist ein neues, überraschendes Gefühl; es lähmt sie, macht sie unsicher. Eine Regung, die sie nie kannte, beginnt ihren Körper, ihren Geist zu vergiften: Feigheit. Es ist nur ein Blick, der Blick eines Mannes, dem Iulia sonst auf der Straße, beim Gelage, in einem Geschäft, 97
keinen Gruß gegönnt hätte. Dieser Blick, voller Verachtung, voller Gier, obszön und brutal, nimmt ihr die Würde; was kein Pamphlet, kein Grafitto, kein ordinärer Witz über sie je bewirkt haben, erreicht jener Blick, derselbe, den Männer einer billigen Hure zuwerfen, die an eine Mauer gelehnt steht, das Kleid halb über die Schulter gerutscht, eine häßliche Brust entblößend, trunken, mehr Tier als Mensch. Iulia schweigt, weicht zurück. Cornelius mustert sie noch einmal von oben bis unten; dann dreht er sich auf dem Absatz um, will den Raum verlassen, der jüngere Senator und der Knabe folgen ihm; da läuft Iulia hinter ihnen her. Darf ich … darf ich wenigstens von meinen Kindern Abschied nehmen? ruft sie stockend, ihre Stimme gepreßt und rauh. Cornelius, im Gehen, ruft ihr über die Schulter zu: Man hat dafür gesorgt, daß sie dich nicht mehr sehen wollen! Iulia bleibt stehen, lehnt sich schwer atmend gegen die Wand. Das kann nicht wahr sein, keucht sie. So grausam kann Augustus nicht sein. Mein kleiner Agrippa … Meine süße Agrippina … Caesar wird sich um sie kümmern, erwidert Fuscus kalt. Erspar uns dein Gejammer, es ändert nichts. Damit wendet er sich ab und geht hastig den Flur entlang. Iulia lehnt reglos an der Wand, den Kopf zurückgelegt, die flachen Hände gegen die Mauer gepreßt, als erwarte sie, aus der festen Ziegelwand mit ihrem glatten Putz und den idyllischen Malereien Kraft zu ziehen. Sie hat die Augen geschlossen, atmet rasch; so sieht sie nicht, aber sie hört, wie ihre Mutter dem Senator hinterhereilt. Fuscus, eine Sache noch, ruft Scribonia laut. Die Männer halten unwirsch inne. Was ist denn nun noch? herrscht Fuscus die alte Frau an. Habe ich mich nicht klar und deutlich genug ausgedrückt? 98
Ich bitte darum, meine Tochter nach Pandateria begleiten zu dürfen, sagt Scribonia, zitternd und unterwürfig; zitternd, weil sie haßt, und unterwürfig, weil sie seit langem gelernt hat, mit kaiserlichen Beamten zu sprechen. – Wo sie hingeht, gehe auch ich hin. Nein, Mutter! Iulia spannt sich, öffnet die Augen – nicht denken, nicht denken, rast es in ihrem Kopf; nur nicht an die Kinder denken, konzentrier dich, ehe dir alles entgleitet … – Nein! sagt sie noch einmal heftig. Ich will nicht, daß du leiden mußt, nur weil ich leide. Du hast alles in Rom, meine Halbschwestern, deine Enkelinnen und Enkel, all deine Verwandten, deine Freunde, deine Vergnügungen; du hast Geld genug für einen schönen Lebensabend. Was willst du in Pandateria? Dort ist alles tot. Hast du diesen erlauchten Herrn hier nicht gehört? Hausarrest, kein Besuch, keine Post. Ödnis. Mitten im Meer werde ich sitzen, einsam, verlassen. Im Sommer ausgelaugt von der Hitze, im Winter terrorisiert von den Stürmen, eingesperrt, Tag und Nacht, wie ein Verbrecher; weißt du, ob sie mir Bücher gönnen? Eine Kithara, daß ich mir selbst die Musik zu meinen drei Bissen Brot machen kann? Die Betten hart und schmal. Weißt du, ob sie nicht von Ungeziefer wimmeln? Gibt es überhaupt ein Haus auf Pandateria? Werden sie mich nicht in einer Höhle halten wie wildes Getier? Gibt es Licht? Gibt es Schatten? Gibt es Vögel, deren Gesang man hören kann? Will man überhaupt das Gezwitscher hören? Macht es nicht traurig, weil die Vögel frei sind und man selbst gefangen? Unwirtliches Pandateria! Tag und Nacht das Geräusch der Wellen, die sich an den Klippen brechen. Niemand kommt, niemand spielt die Flöte, niemand tanzt für mich, niemand liest mir vor. Nichts außer der endlosen Weite des Meeres, das man vielleicht von einem Fenster aus sehen kann; doch wer will das Meer sehen, immer wieder 99
hinausblicken; weckt es nicht die Sehnsucht nach Freiheit, nach Schönheit, nach Leben? Nein, Mutter. Nicht nach Pandateria! Du gehst nicht ohne mich, antwortet Scribonia ruhig und schlicht und wendet sich erneut an Cornelius Fuscus. Sag Augustus, ich flehe ihn an, meiner Tochter in die Verbannung folgen zu dürfen. Iulia will noch etwas einwenden, doch ihre Mutter macht eine unwillige Handbewegung. Laß mich, Iulia. Du wirst nichts an meinem Entschluß ändern. – Nun, Cornelius? Caesar Augustus hat für diesen Fall bereits vorgesorgt, erwidert der Senator knapp und grinst. Du darfst mit ins Inselparadies. Er setzt sich wieder in Bewegung, ungeduldig, als habe er den Auftrag satt, als habe er sich nur einer lästigen Pflicht entledigt, als sei die Zerstörung eines Frauenlebens – des Lebens einer römischen Bürgerin – eine Marginalie auf der Tagesordnung, in der Laufbahn eines Beamten vorgesehen wie der Auftrag, als junger Aedil eine Wasserleitung zu reparieren, als Praetor über Erbstreitereien zu richten, im Senat die Hand zu heben, um über dieses Dekret oder jenes abzustimmen, als Prokonsul einen tributpflichtigen Stamm zur Räson zu bringen … Scribonia läuft ihm nach. Meiner Tochter sind zwei Kisten eigener Sachen erlaubt. Auch ich benötige ein paar Dinge. Nimm, was du unbedingt brauchst. Die Soldaten werden dafür sorgen, daß du mit leichtem Gepäck reist. Am Ende des Flurs öffnen die Gardisten das Kreuz der Speere für Cornelius Fuscus und seine Begleiter; sie salutieren, Füße scharren, Schwertgehänge klirren; vor Scribonia sperren die Soldaten den Durchgang; Iulia hört die Schritte der Männer sich durchs Atrium entfernen; ein Hund bellt; bald aber ist es wieder still; Scribonia kommt zurück, die Schultern gestrafft; sie ist eine alte Frau, fast siebzig, 100
rüstig jedoch; nur die Hände sind knotig und wollen nicht mehr so richtig; die Beine sind schwer, und nachts die stechenden Schmerzen im Knie. Sie hält sich aufrecht, doch Iulia sieht in ihren Augen die Tränen; sie läuft zu ihr, nimmt sie in den Arm, geht mit ihr zurück ins Zimmer. Nicht weinen, flüstert sie. Nicht weinen. Was hast du getan? fragt Scribonia; ihre Stimme ist klar, nur die Tränen laufen über ihre Wangen, unaufhaltsam; kein Schluchzen, nur immer wieder die Frage in stumpfem Ton: Was hast du getan? Was hast du nur getan? Iulia hält sie ganz fest und schließt die Augen. Ich weiß es nicht, Mutter. Ich weiß es wirklich nicht. Und das ist die Wahrheit. Scribonia hebt ruckartig den Kopf und trocknet sich mit einem Zipfel ihres Kleides die Augen. Was heißt, du weißt es nicht? Es heißt, daß ich mich nicht erinnern kann. An was kannst du dich nicht erinnern? An das Fest, an das, was geschehen ist, nachdem ich die Party, wie ich dachte, verlassen habe. An das, was zwischen Mitternacht und halb vier Uhr morgens passiert ist, denn wenn du dich nicht irrst, bin ich erst dann nach Hause gekommen. Du meinst, du weißt nicht mehr, wie und wann du dieses Haus hier betreten hast? Genau. Ich kann mich daran erinnern, das Fest bei Crispinus besucht zu haben. An wenig mehr. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich in dieser Nacht getan habe. Hattest du getrunken? Ja, auch. Aber nicht genug, um nicht mehr zu wissen, was ich tue. 101
Bist du sicher? Iulia lacht, kurz, trocken. Was ist schon sicher, wenn man offensichtlich das Gedächtnis verloren hat? Wenn man Glück nicht mehr von Grauen, Wahres nicht mehr von Wahnwitz unterscheiden kann. Aber warum …? Glaub mir, das wüßte ich selbst gern. Du wirkst so gelassen, Iulia. Man wirft dir Hochverrat, Ehebruch, Beleidigung der Götter vor. Ist dir klar, daß es das Ende ist? Nur die Verbannung. Das ist noch lange nicht das Ende. Iulia schweigt, überlegt, hebt dann die Hände halb fragend, halb ergeben. Es ist seltsam, aber ich fürchte mich nicht. Jedenfalls nicht sehr. Nicht mehr, seit das Warten aufgehört hat. Wie viele, die verbannt waren, sind triumphal nach Rom zurückgekehrt. Mein Vater mag Wut auf mich haben. Aber denk doch mal darüber nach! Hat er sich in all den Jahren in mein Leben eingemischt? Wenn er mich wegen Ehebruchs hätte anklagen wollen, hätte er dazu in der Vergangenheit viel mehr Grund gehabt als in der Nacht bei Crispinus. Und Hochverrat! Beleidigung der Götter! Das ist lächerlich! Wahrscheinlich hat man ihn aufgehetzt, ihm irgendwelche Märchen erzählt. Anders kann es nicht sein, denn er hat sein unseliges Temperament bisher niemals an mir ausgelassen. Wir wissen alle, daß er blind und taub ist, wenn er in Rage gerät. Maecenas konnte ihn bändigen, Octavia noch besser. Beide sind tot. Was Livia ihm rät, dient nur ihren Zwecken. Aber glaub mir, Mutter, sein Zorn dauert nicht lange. Er wird eine Weile so tun, als mache es ihm nichts aus, mich weggeschickt zu haben. Er wird sich sogar zwingen, länger zu warten, als er es wünscht, weil er in der Öffentlichkeit nicht als wankelmütig dastehen will. Er 102
wird abwarten, bis sich genügend Leute für mich verwendet haben. Dann wird er sich mit Livia beraten, doch sein Entschluß ist bereits gefällt, und ich kehre zurück. Nein, für mich fürchte ich wenig. Es wird nicht angenehm sein; mag sein, daß es sogar länger dauert, als ich erträglich finde. Ich werde es überleben. Die Verbannung haben schon viele überlebt und standen hinterher besser da als zuvor. Sie lächelt müde. So wird es auch mir ergehen, fügt sie hinzu. Scribonia sieht sie forschend an. Du bist sehr zuversichtlich. Willst du dir und mir einreden, die Sache sei nicht ernst? Iulia schüttelt den Kopf, schweigt aber. Du nimmst das alles sehr leicht, beharrt Scribonia. Zu leicht. Wieder schweigt Iulia einen Augenblick; achselzuckend meint sie daraufhin: Wer weiß. Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es das Ende. Oder auch nicht. Ich bin keine Schwarzseherin und ich weigere mich einfach, Angst zu haben. Aber du hast Angst? Erneut schüttelt Iulia den Kopf. Ich will keine Angst um mich haben. Ich fürchte nur für … die anderen. Für Iullus? Iulia erschrickt. Woher weißt du? fragt sie schnell. Du redest manchmal im Schlaf, sagt Scribonia lächelnd und fährt dann ernster fort: Er wäre nicht der erste Antonius, den dein Vater beseitigt. Iulia hält ihrer Mutter den Mund zu. Still. Das darfst du nicht sagen. Nicht einmal denken. Sie lehnt ihren Kopf erschöpft an die Schulter der Älteren. Ich liebe ihn so sehr. Aber es ist vorbei. 103
Scribonia streicht ihrer Tochter übers Haar. Das ist gut so, sagt sie leise. Iulia nickt stumm. Sie sitzen aneinandergelehnt auf dem Bett, lange, schweigend. Die Tür zum Gang, durch die man ins Peristyl blicken kann, bleibt offen. Das warme späte Licht eines Oktobernachmittags. Die Schatten der Marmorsäulen. Der Duft der Rosen, der letzten Lavendelblüten. Das letzte Funkeln, als die Sonne nur noch den flachen Dachfirst streift, der letzte goldene Strahl dieses Tages, ein letztes Aufblitzen, ein letzter Reflex auf dem ruhig dahinfließenden Wasser des Seerosenkanals, der das kleine grüne Refugium durchschneidet. Es wird dämmrig, dann dunkel. Lange bleibt es auch im Zimmer dunkel. Es ist ganz still. Nur aus dem Garten hört man die Vögel. Leise, als hätten sie traurig ihre Stimmen gedämpft. Eine Zikade fiedelt ihr Abendlied, doch sie bricht ab, weil sie keine Antwort erhält. Du mußt dich erinnern, flüstert Scribonia irgendwann. Ja, Mutter, sagt Iulia ebenso leise. Bald. So bald wie möglich. Nicht sofort. Weiß ich, ob ich mich überhaupt erinnern möchte? Ist es nicht besser, alles zu vergessen, neu anzufangen, oder wenigstens darauf zu hoffen, daß ich neu anfangen darf, wenn dieser Spuk vorbei ist? Das wird dir nicht genügen. Iulia lacht fast unhörbar: Wie gut du mich kennst. Es gibt etwas, das dir vielleicht helfen könnte. Iulia atmet den vertrauten Duft von Scribonias Haar, spürt die schwere Wärme der viel älteren, die zarte, faltige Haut ihrer Wange an ihrer eigenen, die noch glatt ist und 104
voll. Was ist es? fragt sie. Scribonia dämpft ihre Stimme noch mehr. Eine Mischung seltener Kräuter, der Mens bona geweiht, jener Göttin des klaren Verstandes, zu deren kleinem uralten Tempel alle pilgern, die … Ich bin nicht verrückt, wirft Iulia hastig ein. Natürlich nicht. Aber man sagt, es wirke auf vielfältige Weise. Weshalb sollte es nicht auch deine Erinnerung wecken? Du vergißt, daß wir rund um die Uhr bewacht werden. Was uns gebracht wird, wird kontrolliert. Wir könnten nicht einmal einen beschriebenen Holzsplitter aus dem Haus schmuggeln, geschweige denn, hinein. Wie sollen wir das Zeug bekommen? Pst. Leise. Ich habe davon ein Leinensäckchen in meinem Zimmer. Selbst dorthin gelangen wir nicht, flüstert Iulia. Sind dir nicht zwei Kisten persönliche Habe erlaubt? Habe ich von Cornelius nicht die Erlaubnis, ein paar Sachen mitzunehmen? Die unsere Sklavinnen unter Aufsicht packen müssen. Ich werde einen Weg finden. Vertraue mir. Riskiere nicht zuviel, Mutter. Im Gegenteil. Wir haben nichts zu verlieren. Iulia schüttelt im Dunkeln den Kopf; Scribonia spürt es, spürt, wie die Tochter sie an sich zieht und festhält, ganz fest. Sei vorsichtig, damit du nicht erwischt wirst. Ich könnte es nämlich nicht ertragen, ohne dich in die Verbannung zu gehen, wispert Iulia. Das weißt du, nicht wahr? Ich weiß es, erwidert Scribonia ruhig. 105
Iulia faßt die Hände ihrer Mutter; ihre eigenen sind kalt und klamm trotz der Wärme im Zimmer. Ein zuckender Schauer durchläuft ihren Körper; sie wehrt sich, aber ihre Stimme klingt flach und klein, als sie fast unhörbar sagt: Ich hab ja nur noch dich, Mutter. Nur noch dich. Und nun weint sie doch. Lautlos fast; ihre Tränen rinnen zuerst über ihre eigenen Wangen und von dort über die Wange ihrer Mutter; umgekehrt ist es dasselbe; es ist ein neues Band, das in dieser Nacht zwischen ihnen geknüpft wird, anders als das Band zwischen Mutter und Tochter, fester und zugleich spannbarer; es ist das Band der Treue, der unbedingten, unzerstörbaren Treue. Irgendwann, spät, sehr spät, weit nach Mitternacht, erhebt sich mit raschelndem Kleid eine Sklavin, tastet sich durch den Raum und zündet Lampen an. Dann kommt sie zu den beiden Frauen, fragend, unsicher. Iulia lächelt ihr zu, löst sich langsam von ihrer Mutter und steht auf. Ja, Lusia, du hast recht, sagt sie entschlossen. Wir müssen überlegen, was wir mit nach dem schönen Pandateria nehmen. Geh hinaus und sag den Wachen, daß wir bereit sind.
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III. Erzwungener Aufbruch; rastlos nach durchwachter Restnacht wartet Iulia auf ihren Abtransport, wütend und ängstlich zugleich; heute ist alles zu Ende, wenn sie auch an die Vorläufigkeit und eine Wiederkehr glaubt; zu Ende ist trotzdem fast alles ab jetzt für eine Weile, vielleicht für länger – für immer: das wagt sie nicht zu denken; es darf, es kann ja nicht sein; – für immer: wie dumm das klingt; nein, unrealistisch, sinnlos; kaum jemand geht für immer in die Verbannung; Männer stürzen sich in der Fremde ins Schwert oder werden erschlagen; aber Frauen halten aus, halten durch; mein Vater und mich vergessen, mich davonjagen für immer? Nein! Heute mag das Leben in Freiheit, die ungebundene Lust am Dasein enden; kein Geld, kaum noch Kleider; der Sklavinnen Zahl auf zwei geschrumpft – was soll ich mit nur zwei Sklavinnen anfangen – aber wahrscheinlich werden mir auf Pandateria ein paar andere, fremde noch dienen, die Küche besorgen, das Bad bereiten; ich werde sie mir schon ziehen; – hier in Rom ist heute alles zu Ende; erzwungener Aufbruch; das große Haus liegt wie erstarrt in der Morgendämmerung, als wage sich nichts und niemand zu rühren; nur Iulia geht in ihrem Zimmer auf und ab, in Gedanken versunken; manchmal muß sie lachen, sagt sie leise ein Wort; sie wartet, wütend und ängstlich zugleich, aber je länger sie wartet, weil die erste Tagesstunde noch nicht angebrochen ist, desto ungeduldiger wird sie, desto drängender wird der Wunsch aufzubrechen; ein wildes Gefühl, alles hinter sich zu bringen, wenn es denn sein muß, zerrt an ihr, will sie hinausreißen; es ist erregend, vorwärts zu wollen und nicht zu verharren; jetzt sofort will sie los; vorwärts, niemals 107
innehalten; es ist, als wolle sie durch Eile die Zeit verkürzen, die sie in der Verbannung verbringen wird; als könne sie durch schnelleres Reisen, schnelleres Leben auch die stetige Zeit aus dem Konzept bringen, sie zwingen, sich ihrer Geschwindigkeit anzupassen, ihrer Sehnsucht, daß das, was begonnen, was gelebt und erlitten werden muß, in rasendem Zeitlauf dahineilt, kaum gelebt und erlitten: schon vorbei; als wäre, je schneller sie lebt, die Rückkehr desto eher zu erreichen. Iulia lauscht, ihr ist, als habe sie ein Geräusch gehört. Ist das der Wagen, Mutter? fragt sie Scribonia, die am Fenster steht und hinaus in den halbdunklen Peristylgarten blickt. Ich habe nichts gehört. Beide konzentrieren sich auf jeden Laut, der zu vernehmen wäre, doch nach einer Weile schüttelt Iulia den Kopf. Du hast recht. Es war nichts. Es ist noch zu früh, sagt Scribonia. Komm, setz dich mit mir an den Tisch. Iß etwas. Du mußt ruhiger werden. Du kannst nichts erzwingen. Leider! Iulia setzt sich auf einen Stuhl. Merkwürdig, daß ich diesem Aufbruch in Schande entgegenfiebere wie einer Ferienreise nach Baiae. Es ist verrückt, aber ich bin sogar neugierig auf Pandateria. Es ist ein Gefühl wie: nur weg hier, nur raus aus diesem Haus; ich kann es nicht erklären; in mir scheinen alle Gefühle vertauscht; in Situationen, in denen ich Angst haben müßte, spüre ich nur Wut; wo ich zornig werden könnte, bin ich traurig; wen ich liebe, möchte ich schlagen und kratzen und treten; mir ist, als hätte ich Fieber, doch ich bin ganz kalt… Scribonia blickt sie an mit Wärme, Mitgefühl, mütterlicher Sorge. Nein, Mutter! Iulia hebt abwehrend eine Hand: Kein Mitleid. Alles, nur kein Mitleid. Hilf mir, Abschied zu 108
nehmen; viel Zeit hat man mir ja nicht gelassen, einen Abend, eine Nacht … Wie soll man in so kurzer Zeit Abschied nehmen von allem, was war? Du sagst doch, wir kämen wieder? wendet Scribonia ein. Na und? Ich gehe aber nicht freiwillig, ich habe nicht damit rechnen können, daß ich mein Leben in Freiheit hinter mir lassen muß – für wie lange, wissen die Götter –, und es ist doch ein Abschied, Mutter, denn alles, was nun beginnt, ist das Leben danach. Nach was? In meinem Gedächtnis ist eine Lücke, ein schwarzes Loch, erwidert Iulia heftig. Ich kann mich nicht erinnern, was ich in dieser Nacht der Nächte getan habe; ich weiß nicht, warum mich mein Vater auf die Insel schickt, ich weiß nicht, warum sich Phoebe umgebracht hat, ich weiß nichts, gar nichts. Mir scheint, als hätte ich ein Leben vor dieser Nacht gehabt; und nun beginne ich ein Leben danach. Das wichtigste Bindeglied, jener Teil, der mein Leben in der Vergangenheit und mein Leben in der Zukunft verknüpfen könnte, fehlt. – Hast du übrigens beim Zusammenpacken jenes geheimnisvolle Leinensäckchen mitnehmen können, von dem du behauptest, es enthalte eine Droge, die meiner Erinnerung auf die Sprünge helfen könnte? Ja, ich habe das Zeug. Hat dich wirklich niemand gesehen? Es hat niemanden interessiert, was ich einpacke, nur wieviel ich mitnehme; das Gezetere dieses Cornelius war nichts weiter als Schikane; kein Mensch will wissen, ob ich heimlich Gift horte; du hast den Kerl ja gehört: Man hätte nichts dagegen, wenn wir uns aus der Welt schaffen, sagt Scribonia verächtlich. Ich hatte also jegliche Freiheit – fast jegliche, denn einer der Soldaten wühlte in der Kiste 109
herum, die ich gepackt hatte; vermutlich wollte er verhindern, daß ich Schmuck beiseite schaffe, mit dem ich Sklaven bestechen könnte, aber er tat es nur beiläufig, nicht gründlich; und das Leinensäckchen trage ich sowieso bei mir. Iulias Blick verliert sich im zarten Grau der Morgendämmerung, das die Büsche und Blumen im Garten in weichen, noch unbestimmten Formen hervortreten läßt. Danke, sagt sie leise, wir werden sehen, ob es nützt. Wer weiß, ob ich mich auf Pandateria wirklich erinnern will? Vielleicht ist es ja gut so, dieses Dunkel in meinem Kopf. Für eine Weile. Ich muß mir Zeit lassen. Denn etwas ist zu Ende, etwas Neues beginnt. Dazwischen ist diese tiefe, unendliche Leere. Ich spüre, daß ich Abschied nehmen muß, von was auch immer, um mich erinnern zu können an diese Nacht, denn, Mutter, fährt sie mit festerer Stimme fort, du wirst mir zustimmen, daß diese grandiose Nacht, von der ich nichts mehr weiß, eine gewisse Bedeutung gehabt haben muß, von der ich zwar jetzt auch nichts mehr weiß, die ich aber fühle in ihrer Gewalt, in mir selbst und außerhalb meiner selbst durch die Gewalt, die mein Vater mir antut! Sie steht auf und beginnt erneut, im Zimmer auf und ab zu gehen. Das Haus hier … Sie stockt, beginnt von neuem, das Haus hier, zum Beispiel; ich werde nicht mehr hier wohnen, wenn ich aus der Verbannung heimkehre, heimkehren sollte; reden wir von der Möglichkeit einer Heimkehr, nicht von der Tatsache, um nicht maßlos zu erscheinen; wer bin ich denn schon: die Tochter des mächtigsten Mannes der Welt; ich bildete mir ein, selbst Macht zu haben, nicht wahr? Was bin ich denn aber? Ein lächerliches Geschöpf, ein Krümel, den Augustus mit einer Hand zerreibt, mein Vater … Und dieses Haus hier, fährt sie fort; ihre Gedanken springen von diesem Thema auf jenes; sie 110
kümmert sich nicht darum, eilt weiter in ihrer Rede; spricht schnell und abrupt wie jemand, der keine Zeit zu verlieren hat, dieses Haus hier werde ich nicht mehr bewohnen; ich hätte es schon vor langer Zeit aufgeben sollen, jetzt nimmt man es mir, wie man mir meine Freiheit, mein Geld, meine Kinder nimmt; ich kann es nicht einmal verkaufen oder vererben oder verschenken, weil es nicht mir gehört, einer Frau, sondern immer den Männern, die man mit mir verheiratet hat; ich kann nicht mal mehr zu meinem Vater gehen und ihm sagen, was ich ihm vor Jahren schon hätte sagen sollen: Dieses Haus hier in den Carinen – ich will daß es Iullus Antonius gehört, schenke es ihm, ich bitte dich, willige ein, er hat es verdient; es ist das Erbe seines Vaters, auch wenn dieser es einst als Beute erwarb; er wird nicht darin leben wollen, aber es soll ihm gehören; er soll etwas haben von mir, wie ich all die Jahre, die ich hier verbrachte, etwas hatte von ihm; es soll ihm gehören und unseren Erinnerungen: an die Kindertage in der ›Räuberhöhle‹ … Räuberhöhle? fragt Scribonia verwundert. Habe ich dir nie erzählt, daß Livia das Haus des Antonius nur ›die Spelunke‹ nannte? Iulia lacht. Ich dachte immer, Livia wäre sich zu fein für solche Worte – und dann noch einem Kind gegenüber! Ist sie auch. Ich habe einmal ein Gespräch zwischen ihr und einer ihrer Busenfreundinnen belauscht, erwidert Iulia. Wie sie das Haus wohl nennt, seitdem ich darin wohne? Lasterhöhle? Bordell? Die prüdesten Leute haben immer die vulgärste Phantasie. Scribonia lächelt. Das ist wahr. Als ich noch klein war, durfte ich die Spelunke nie besuchen. Erst in jenem Winter, in jenem schaurigen Vorkriegswinter, in dem ich solche Angst hatte und nicht 111
wußte, wovor … Ihre Stimme verliert sich, wendet sich nach innen, verbindet sich dort mit dem Fluß der stummen Gedanken, der dahinströmt, gespeist von den Bächen und Zuflüssen der Erinnerung; manche dieser Quellen sind lange Zeit nur ein Rinnsal gewesen, manche versiegt, das Bett, in dem sie flossen, trocken; ab und zu jedoch, wie durch Zufall oder durch göttliche Hand, regt sich hier ein Quell und füllt den Brunnen, rieseln bald Geschichten, von dem was war, was wir vergessen zu haben glaubten; Geschichten hören wir mit unserem inneren Ohr, sehen Bilder mit jenen inneren Augen, die viel weiter blicken als die, mit denen wir zu erkennen glauben; die sich nicht unserem Willen unterordnen, sondern einem Dämon in uns zu gehören scheinen, der die Träume bringt, wunderbar gute wie schlechte, zerstörerische, aus denen wir erwachen und nicht erwachen, weil wir für entsetzliche Wahrheit nehmen, was wir träumten; mit den Augen dieses Dämons schauen wir Erinnerung, hören mit seinen Ohren, fühlen, was er uns fühlen läßt; er schaukelt uns, stößt uns, wiegt uns, zieht uns den Boden unter den Füßen weg, dreht uns im Kreis, bis uns schwindlig wird, und erzählt uns dabei unsere eigene Geschichte, ob wir wollen oder nicht; oft scheinbar aus dem Zusammenhang gerissen; szenenhaft, unvollständig; oft aber auch packt er uns, hält uns fest, wendet unsere Sinne einzig auf das, was er uns berichtet; und wenn es vorbei ist, dreht er uns gewalttätig herum, stößt uns zurück ins Hier und Jetzt, in die Gegenwart, gerichtet auf das, was kommen wird; – ohne Erinnerung, keift er uns hinterher, die wir taumeln, uns die Ohren zuhalten, die Augen verschließen, – ohne Erinnerung hast du in der Wirklichkeit nichts zu suchen; ohne meine Geschichten ist dein Leben wie ein Haus ohne Fenster oder eine Brücke von einer Wanderdüne zur nächsten; – Iulias Geschichte beginnt an einem 112
Novembertag auf dem Palatin: Ein kleines Mädchen von sieben Jahren, das dunkelblonde Haar adrett zum Knoten aufgesteckt, in Mantel und festen Schuhen, hüpft an der Hand ihres Lehrers durch die langen Gänge der verwinkelten Residenz; eine Dienerin begleitet sie; und da ist auch noch ein Mädchen, ein wenig älter, ein wenig größer als das Kind, schwarzhaarig, schlank, mit intensiv beobachtenden Augen; die Mundwinkel straff gezogen, was sie ernst und kritisch erscheinen läßt; seltsam wirkt dies zu ihrer Sklaventracht. Im Atrium treffen sie auf eine Versammlung von Männern; sie debattieren lautstark; einer ist darunter, groß, breit und braungebrannt, der mit dröhnender Stimme etwas sagt, wovon die Kinder nur hören: … Ihre königliche Hure; die Männer lachen, verstummen aber, als der Lehrer, Apollonios, vorsichtig hüstelt, um anzukündigen, daß sich Ohren in der Nähe befinden, für die ein allzu freier Umgang mit der lateinischen Sprache schädlich sein könnte; einer der Männer, nicht der größte, nicht der am edelsten gekleidete, löst sich aus der Gruppe, kommt zu Iulia; er hat ein feingeschnittenes, ernstes Gesicht, helle, durchdringende Augen und dunkelblondes Haar, dessen Wellen und dessen widerspenstige Locke über der Stirn auch der Elfenbeinkamm nicht ganz glätten kann. Er nimmt Iulias kleine Hände, beugt sich zu ihr, lächelt; sein schöner, ernster Mund … Iulia schaut zu ihm auf; es ist wie immer: sie ist glücklich, überglücklich, bemerkt zu werden; ihr Vater so fern in all den frühen Kinderjahren – erinnert sie sich zunächst nicht nur deshalb daran, daß es ihn gibt, weil andere Leute ständig von ihm reden? So fern auf Reisen, auf Kriegszügen. Kaum heimgekehrt, umgeben ihn seine Offiziere, die Senatoren, ausländische Gäste, Schreiber, Überseeboten und Laufjungen; ständig ist Marcus Agrippa – jener große braungebrannte Seeheld, ist Caius Maecenas 113
um ihn herum, wie auch jetzt; Caesar Octavianus hat Zeit für sein Kind nur beiläufig; er kommt wohl im Tablinum vorbei, wo die Kleine an der Seite ihrer Stiefmutter am Spinnrad sitzt, oder er schaut in die Webstube, immer ein Lob auf den Lippen, ohne genau hinzusehen, ohne zu bemerken oder bemerken zu wollen, daß der Ungeduldigen der Faden gerissen ist oder sie den Webkamm schief aufwärts geschoben hat; er lächelt, küßt seine Tochter auf den Scheitel, sagt: Eile mit Weile, mein Schatz im Vorübergehen; dann kann es sein, daß sie ihn wochenlang nicht mehr sieht; kommt er dann heim, ist da wieder jene Fremdheit, aber auch jenes jäh aufbrechende Nähebegehren des Kindes; selige Hingabe, schenkt er ihr nur ein bißchen Aufmerksamkeit, und dabei doch im ersten Moment immer Furcht; mit zitternden Knien zuerst erlebt Iulia jede Begegnung in dieser Zeit; aber wovor fürchtet sie sich? Er hat sie nie geschlagen, nie erhebt er die Stimme, er tadelt sie nicht einmal sanft; wovor fürchtet sich Iulia; auch in diesem Augenblick wieder, hier im Atrium der palatinischen Domus, die Caesar Octavianus gehört und seiner Frau Livia, und in der ein ständiges Kommen und Gehen herrscht, welchem der junge Hausherr mit einer Gelassenheit begegnet, die täuscht. Krieg liegt in der Luft. Iulia weiß davon kaum etwas, zu jung ist sie, zu sehr schirmt man sie von allem ab; aber sie spürt die Anspannung, die Gefahr. Wenn sie draußen ist in den Straßen, auf den Märkten: die Menschen, sie reden nicht über den Krieg, niemand nennt die Parteien beim Namen, noch nicht; zu kaufen gibt es alles im Überfluß; das Leben scheint normal, zu normal, als daß nicht auch oder gerade die Unbeteiligten das Unheil ahnen; Iulia, die an der Seite einer Sklavin oder von ihrer Stiefmutter begleitet einkaufen geht, Besuche macht, stillsitzen muß und den Gesprächen zuhört, die sie nicht versteht; sie hört 114
Namen nennen, Getuschel: Antonius, Kleopatra; auch den Namen ihres Vaters hört sie, dessen Name verschmolzen ist mit dem des vergöttlichten Caesar; sie spürt die Sehnsucht der Menschen nach Frieden, die Angst, die Hysterie, die Euphorie; es kommt ihr vor, als fräße sich ein kaltes Feuer durch ihren Körper; berührt ihr Vater sie, ist ihr, als versenge ihr etwas Unnennbares die Haut; es sind die Furien des Bürgerkrieges, Vorboten des nahenden Unheils, sie begleiten diejenigen, die sie unbedacht oder berechnend rufen, unsichtbar und gratis; sie befinden sich auch hier im Atrium an diesem Novembertag, und das Lächeln, das der Imperator seiner kleinen Tochter schenkt, gilt kaum ihr; es ist das Lächeln des schon kampfbereiten Mars … Doch wie immer geht der Moment der Furcht vorbei; zu aufgeregt, zu sehr von Vorfreude gepackt auf das Abenteuer des Nachmittags ist Iulia; ihr Vater fragt in leutseligem Ton: Wohin des Wegs, meine kleine Iulia? – er liebt altmodische Wendungen, benutzt sie sogar im Senat, wo man ihn deswegen manchmal auslacht und ihn nicht ausreden läßt; auch Iulia findet es komisch – ohne zu wissen, was genau ihr Mißbehagen bereitet, verzieht sie das Gesicht. Ich gehe zu Tante Octavia, verkündet sie lauter als nötig; sie fühlt sich unsicher, weil sich die Männer im Atrium alle zu ihr umgedreht haben; gleichzeitig ist sie kokett genug, Eindruck machen zu wollen und fügt hinzu: Ich war noch nie da. Aber so schlimm kann die Spelunke ja nicht sein! Lachen brandet auf. Männerlachen. Es hallt von den Wänden des Atriums wider; Iulia wird rot; ihr Vater läßt abrupt ihre Hände los, sagt aber nichts. Das schwarzhaarige Mädchen, Phoebe, das bisher an Iulias Seite stand, zieht sich hastig hinter Apollonios zurück; ihre Mundwinkel sind herabgezogen; wütend starrt sie zu 115
Boden. Apollonios zerrt an Iulias Arm; Phasis, die Dienerin, schubst sie von hinten ein wenig, aber Iulia rührt sich nicht vom Fleck; beschämt steht sie da, kann sich nicht rühren; aber nun kommt Maecenas auf sie zu; er ist noch nicht so fett wie in späteren Jahren, jedoch vom Saufen hat er bereits Tränensäcke unter den Augen, und er ist fast kahl. Iulia mag sein intelligentes, häßliches Gesicht; er mag sie ebenfalls; ständig bringt er ihr Naschereien mit und nennt sie Iuliettalein. So auch jetzt. Iuliettalein, sagt er schmunzelnd und droht ihr mit seinem beringten Zeigefinger. Wer bringt dir denn solche Worte bei? Iulia steht stumm und steif und antwortet nicht. Maecenas legt ihr zwei Finger unters Kinn, zwingt sie, zu ihm aufzuschauen. Weißt du, meine Süße, sagt er, ich glaube, du solltest das Wort Räuberhöhle deiner armen Tante gegenüber nicht erwähnen. Versprichst du mir das? Er läßt Iulias Kinn los, und sie nickt, so heftig sie kann, während sie die aufsteigenden Tränen bekämpft. Braves Mädchen, lobt Maecenas noch; dann drehen er und ihr Vater sich um; der Imperator, ohne sich von seiner Tochter zu verabschieden; sie stellen sich zu den übrigen Männern, beginnen erneut zu diskutieren. Der Lehrer, die Dienerin, schieben die Kinder eilig am Pförtner vorbei auf die Straße; man eilt den Carinen zu, schweigend; Iulia will Phoebes Hand ergreifen, doch die Ältere entzieht sie ihr mit einem Ruck. Warum hast du das gesagt? zischt sie. Alle haben gelacht! In Iulia erwacht Trotz, schmollend verzieht sie die noch kindlichen Lippen. Na und? entgegnet sie. Sollen sie doch lachen. Es ist unwürdig, zischelt Phoebe weiter. Du hast deinen Vater verärgert. Caesar Octavianus würde niemals etwas 116
Würdeloses tun. Außerdem gehört ihm bald die Welt! Iulia stutzt; verblüfft bleibt sie stehen, wird von Apollonios weitergezerrt; sie versteht die Heftigkeit nicht, mit der die Freundin auf die kleine Ungeschicklichkeit reagiert; versteht noch weniger, was das alles damit zu tun haben soll, daß ihrem Vater die Welt gehören wird – die Welt ist noch überhaupt kein Begriff für sie, schon gar nicht einer, der mit Werten bemessen wäre; ist es gut, die Welt zu besitzen oder eher nicht? Wem gehört sie gerade eben, gerade noch? Wie macht man es, daß einem die Welt gehört? Sie hat ihren Vater in den sieben Jahren ihres Lebens als Fremden wahrgenommen, als Fremden, der irgendwie zu ihrem Dasein gehört, dem sie angehört mit Leib und Seele, aber ihr Bereich und der, in dem sie ihren Vater erlebt, ist das Haus; was er außerhalb tut, auf dem Forum, in der Kurie, auf Reisen, im Feld, kommt zu ihr als Wort, nicht als Erfahrung; es bleibt abstrakt, unbegreifbar; und nun gar die Welt! Warum? fragt Iulia unbedacht; eigentlich wollte sie der Älteren gegenüber Wissensmangel und Neugier nicht zugeben, aber sie hat es noch nicht gelernt zu taktieren, wird es nie lernen; es liegt nicht in ihrer Natur; Phoebe jedoch schaut arrogant geradeaus und preßt die Lippen aufeinander; eigentlich hätte sie ein sehr hübsches Gesicht, wenn jene Angewohnheit nicht wäre, die ihr etwas Altkluges, Unbarmherziges verleiht. Warum wird mein Vater Herr der Welt? beharrt Iulia; sie hat lauter geredet als opportun, und Apollonios hat die Worte gehört; er bleibt stehen, nimmt die Mädchen bei den Schultern. Wer hat mit diesem Unsinn angefangen? will er wissen. Beide schweigen. Rasch und mit deutlichem Klatschen ohrfeigt er zuerst Phoebe; sie hart; dann Iulia. Wenn ich so etwas noch einmal höre, gibt es hiervon! Er schwenkt bedeutungsvoll seinen Rohrstock und wendet sich wieder 117
zum Gehen. Die Mädchen haben sich spontan an der Hand gefaßt und trotten hinterdrein. Warum? flüstert Iulia so leise wie möglich; sie gibt nicht auf; zu groß ist die Neugier. Darum, zischt Phoebe. Sei still. Iulia? Ganz leise die Stimme der Mutter aus nächster Ferne. Die Träumende, umhüllt von den Bildern, den Geräuschen der Vergangenheit, mag nicht zurückkehren; auf halbem Weg in die Wirklichkeit wendet sie sich, sieht die zwei Kinder, den Lehrer und die Dienerin die Stufen hochsteigen, die aus der Senke hinauf in die Carinen führen, sieht das kleine Trüppchen die gepflasterte Straße entlanggehen bis zu einem Haus mit langgestreckter, fast fensterloser Fassade und zierlichem Portikus; sie spürt wieder die Enttäuschung von damals: die Räuberhöhle nichts weiter als ein langweiliges Stadthaus, vielleicht ein wenig größer als die anderen; nur die Säulen des giebelgeschmückten Eingangs sind aus rotem Porphyr und kitzeln die Phantasie: Raub? Beute? – nicht ahnend das Kind, wie nah es damit der Wahrheit kommt… Iulia? Noch einmal Scribonia, diesmal nachdrücklicher; die Stimme der Mutter, das Getuschel der Sklavinnen, Schritte … Von weither scheinen sie zu kommen, doch Iulias überreizten Sinne nehmen sie wahr wie bedrohlichen Lärm, als sie nicht vergehen, sondern näher und näher rücken; zuerst versucht sie, die Belästigung abzuschütteln, sich weiter auf die Geschichte in ihrem Kopf zu konzentrieren, doch der Lärm hört nicht auf, schwillt an, wird ohrenbetäubend; Männerstimmen, grob und befehlend, die Mutter, mahnend, laut: Iulia! Die Aufgestörte erschrickt, da Isiacus sie am Arm 118
berührt. Was ist? fragt sie, plötzlich zitternd. Es geht los, erwidert er leise. Der Wagen ist da. Iulia bleibt sitzen. Stumm; nur noch ihre Hände zittern; regungslos verharrt ihr Körper, steif und angespannt; nun, da das Warten vorbei ist, scheint ihr alles zu schnell zu gehen; halt! will sie rufen; noch nicht! es ist noch nicht soweit! ich habe noch nicht ausgeträumt, ich weiß noch nicht genug, ich habe noch nicht Abschied genommen, ich muß noch … Komm, sagt Isiacus. Sie schüttelt den Kopf, stur und angstvoll wie ein Pferd, das auf dem Weg, auf den man es zwingen will, Unheil wittert und die Beine in den Boden stemmt, hartnäckig den Gehorsam verweigernd, und, treibt man es an, scheut und sich aufbäumt und die Flucht ergreift, panisch. Als hätte sie nie den Aufbruch herbeigesehnt, als wäre sie nie entschlossen gewesen, durch Bewegung, wohin auch immer, das quälende Warten, die Ungewißheit zu beenden, verläßt Iulia der Mut. Sie senkt den Blick, sinkt in sich zusammen, ballt die Fäuste. Komm, sagt Isiacus noch einmal. Und als sie sich nicht rührt: Wir haben nur wenig Zeit. Iulia schweigt. Sie hört, wie die Kisten mit ihrer Habe, mit den Sachen ihrer Mutter, nach draußen getragen werden. Ihre Beine fühlen sich schwer an, zu schwer, um sie zu bewegen, ihren ganzen Körper durchströmt eine Mattigkeit, die die Knochen aufzulösen und die Muskeln in Schwämme zu verwandeln scheint; sie fühlt sich als Masse, nicht mehr als Mensch, aber das Herz zieht sich zusammen, es bewirkt, daß ganz innen etwas dem Auseinanderfließen trotzt, kontrahiert, und Angst aussendet in Wellen, die eine Erinnerung an Lust in sich 119
tragen … Isiacus legt ihr eine Hand auf die Schulter. Willst du, daß man dich zwingt? Sie schüttelt die Hand ab. Ich gehe nicht, sagt sie. Ein kurzer Befehl, und zwei Praetorianer erscheinen. Groß, jung, ohne eine Spur von Verlegenheit, aber auch aggressionslos; unbewegten Gesichts gehen sie auf Iulia zu. Sie hebt den Blick, und die beiden bleiben stehen. Langsam, ganz langsam, strafft sie sich, atmet tief. Mutter, ruft sie leise. Scribonia kommt, hilft der Tochter auf. Isiacus nickt den beiden Praetorianern zu, sie sollen verschwinden. Iulia sieht ihn an, hochmütig und dankbar zugleich. Ich komme gleich, sagt sie. Gib mir noch einen Moment. Sie läßt den Arm ihrer Mutter los und geht zur Tür, tritt auf den Gang. Dort bleibt sie stehen – ein letzter Blick in den Garten, ein letztes schweifendes Schauen jenes Hauses, das so viele Spuren trägt. Iulia lehnt sich an einen marmorverkleideten Pfeiler, schließt die Augen, preßt die Hand an den kühlen, glatten Stein … – Iullus – sie hat plötzlich so panische Sehnsucht nach ihm, daß sie seinen Namen lautlos vor sich hin sagt, immer wieder; am liebsten würde sie sich am Pfeiler festklammern, als wäre er das goldene Abbild eines helfenden Gottes; aber während sie noch verzweifelt für sich selbst an Rettung denkt, drängt sich ein Bild auf, das sie nur vom Hörensagen kennt; das Bild eines jungen Mannes, fast eines Knaben noch, der sich in einen Tempel geflüchtet hat vor seinen Verfolgern, der die Statue der Göttin Isis umfängt, schutzflehend, und der erschlagen wird, vernichtet, weil er im Weg war; Caesarion hieß er, kleiner Caesar; er war der Sohn Caesars und Kleopatras, und er war jenem Mann im Weg, der im Namen Caesars die Welt veränderte. Iulia begreift mit einem Mal, was der Knabe 120
gefühlt hat, welche Angst ihn trieb, wie groß seine Ohnmacht war, wie mitleidslos der Blick des Siegers, wie unbedingt sein Wille zur Macht. – Warum hast du sie alle umgebracht? schreit sie lautlos. Sie steht mit geschlossenen Augen und gesenktem Kopf noch eine kurze Weile, als lausche sie in sich hinein. Dann schaut sie auf, stößt sich leicht mit der Hand von dem Pfeiler ab, als wäre sie ein Schiffer, der sein Boot mit Armeskraft vom Steg entfernt, bevor er die Ruder benutzt; sie folgt Isiacus den Gang entlang, zuerst zögernd, bald jedoch fester, sicherer, dabei jeden Schritt in ihrem Gedächtnis notierend, jede zurückgelegte Elle vermessend, jeder Berührung ihres Fußes mit dem Mosaikboden nachspürend, als gelte es, sich jenen Weg für immer und ewig einzuprägen. Sie geht schließlich rasch, mit erhobenem Kopf, die Augen geradeaus gerichtet auf den Rücken des Soldaten; sie sieht nichts, aber sie nimmt jedes Geräusch, jede Bewegung, selbst die Wärme, die der Körper ihrer Mutter ausstrahlt, hundertfach stärker wahr als jemals zuvor; es ist, als ob ihre Sinne Gestalt angenommen hätten; was einst ihr Körper war, ist nun Empfindung; Iulia läuft, als schwebe sie, körperlos; die anderen aber sehen sie ganz kalt, ganz fest, gefühllos. Ohne links und rechts zu schauen, durchquert sie das Atrium; grußlos eilt sie am Pförtner vorbei, der ihr seit zwei Jahrzehnten dient; auf der Straße die wartende Kutsche, Maultiere davor; rosenfarbenes Frühlicht über den Hügeln der Stadt, und der Morgenduft aus den römischen Gärten; Isiacus hilft den Damen beim Einsteigen; es ist eng im Wagen, obwohl die Sklavinnen vorn beim Kutscher sitzen; die Sitze sind hart, Iulia hat nichts anderes erwartet. Isiacus schwingt sich aufs Pferd, nickt den Kameraden zu. Die Eskorte, die Iulia zum Hafen nach Ostia bringt, ist lächerlich groß: als drohe Gefahr, als 121
lägen die Freunde der Kaisertochter um diese Zeit nicht noch in ihren weichen Betten; als ginge sie um diese frühe Stunde etwas anderes an als die Schöne des Abends, die neben ihnen döst und nach der es sie schlaftrunken noch einmal verlangt; vor Mittag sind sie nur für sich selbst da – und hätte Iulia denn bis vor kurzem anders gelebt? Außerdem – weiß sie, ob die, die sich ihre Freunde nannten, nicht ebenfalls längst verbannt sind – oder schlimmer noch: beseitigt? Iulia wirft keinen Blick zurück, als die Kutsche anruckt. Wozu auch? Sie kennt jede Linie der Fassade auswendig, jedes Farbenspiel, mit dem das Licht der verschiedenen Tageszeiten den glatten Putz verwandelt; sie kennt jede Nuance des roten Porphyrs der Säulen zu beiden Seiten der Tür, den haarfeinen Riß im marmornen Giebelgebälk, kennt jede Unebenheit der ausgetretenen Schwelle, kennt das fast lautlose Geöffnetwerden des massiven Portals – die Scharniere sind gut gepflegt; sie kennt das dumpfe, leicht verzögerte Geräusch, wenn die Tür geschlossen wird – wie jetzt in diesem Moment. Sie braucht sich nicht umzudrehen; sie sieht vor ihrem inneren Auge die Tür ins Schloß fallen; ob sie es hört, oder ob es nur die Erinnerung an ein Gehörtes ist, bleibt ohne Belang. Ausgesperrt. Kein Weg führt mehr hinein in das Haus der Kindertage, der Frauenzeit. Pandateria …
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PANDATERIA
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I. Iulia erkennt die schnelle Liburne im Portus von Ostia sofort; es ist die Medusa, jenes Schiff, mit dem ihr Vater auf seine vielen Reisen geht; er haßt die Seefahrt – ob es wohl an seinem Desaster vor Sizilien liegt? – er besteht darauf, daß Livia ihn begleitet; er nimmt sogar seine Ziege Amalthea mit an Bord – jedes Tier, das eingeht, wird durch ein neues namens Amalthea ersetzt –, weil er nicht auf seine Gewohnheit verzichten will, Milch zu trinken. Die Medusa ist ein schlanker Zweiruderer mit Volldeck und achtern festen, bequemen Unterkünften. Iulia, die nach der zäh sich gestaltenden Fahrt froh ist, daß die Kutsche endlich ihr Ziel erreicht hat, steigt aus, ohne auf Erlaubnis oder Hilfe zu warten. Sie ballt die Fäuste, streckt die Arme nach unten, leicht zur Seite abgewinkelt, legt den Kopf in den Nacken und atmet die klare Luft, die vom Meer das Tiberdelta heraufweht, gemischt mit dem Geruch nach Hafenbrackwasser. Während der Fahrt hat sie kein Wort gesprochen; Scribonia, die Kutschfahrten nicht verträgt, ist immer mehr in sich zusammengesunken und hat sich ein- oder zweimal erbrochen; Iulia und die Mädchen haben für sie das Nötige getan: Wasser, belebende Kräuter, doch das Schaukeln, das Holpern und der Lärm sind eine Tortur gewesen für die alte Frau; jetzt hilft Isiacus ihr aus dem Wagen, hebt sie fast hinaus, denn die Beine wollen nicht. Hol Wein! ruft er einem Kameraden zu. Und Brot! Der Soldat eilt in eine Hafenschänke und kommt gleich darauf mit einem Krug, einem Becher und einem Fladenbrot zurück. Isiacus nimmt das Brot, bricht eines der Achtel, in die es geteilt ist, heraus und reicht es Scribonia. Der 124
andere Soldat gießt Wein in den Becher, offeriert ihn der alten Frau. Scribonia akzeptiert beides mit zitternden Händen, trinkt zunächst; der schwere Rotwein ist mit Wasser gemischt; er belebt sofort; Röte steigt in ihre Wangen – sie ist Wein nicht gewohnt, ihre Lippen verlieren die bleierne Farbe. Sie riecht zunächst am Brot, schnuppert, weil es frisch und gut duftet; nicht umsonst ist Ostia die Stadt der Bäcker; es ist eine so frauliche, hausfrauliche Geste, daß Isiacus lächeln muß. Er bricht ein weiteres Achtel vom Brot und bietet es Iulia an. Möchtest du auch Wein? fragt er sie. Iulia schüttelt den Kopf, nimmt aber das Brot. Ihr Blick irrt immer wieder hinüber zum Schiff; sie weiß nicht, was sie davon halten soll, daß Augustus ihr für die Reise in die Verbannung die Medusa zur Verfügung stellt. Ist es Hohn, oder ist es eine Geste, die weitere Gesten einleiten soll: der vorsichtigen Wiederannäherung, des Verzeihens, der Versöhnung? Vielleicht aber ist es einfach nur Gleichgültigkeit; die Gedankenlosigkeit eines Mächtigen, für den, weil er alles hat, kein Ding mehr irgendeinen Wert, eine Art Symbolkraft besitzt? Iulias Atem, zuerst leichter beim Anblick der Medusa, stockt erneut. Wie geht es dir? fragt Isiacus Scribonia. Ist alles wieder in Ordnung? Scribonia nickt. Dann laßt uns an Bord gehen. Er gibt den Befehl, die Kisten abzuladen. Es ist diesig geworden, ab und zu fallen ein paar unentschlossene Regentropfen. Obwohl es noch warm ist, spürt Iulia hier am Hafen zum erstenmal jene klamme Feuchtigkeit, die sie von nun an begleiten soll; sie verhüllt ihr Haar mit dem Schleier der Stola; der Oktober ist nicht die bevorzugte Reisezeit, selbst wenn das Wetter es erlauben würde; jähe Temperaturwechsel, plötzliche 125
Winde machen das Unterwegssein zu See ungemütlich. Es ist noch nicht allzu spät am Nachmittag, etwa um die achte Stunde, aber die Sicht ist schlecht; obwohl Eile befohlen ist, lohnt es nicht, heute noch in See zu gehen; es weht kaum Wind. Wir bleiben vor Anker, verkündet Isiacus. Morgen früh sehen wir weiter. Er geht voraus; die Liburne liegt, wie es üblich ist, mit dem Heck am Kai; ein Steg führt an Bord. Iulia folgt mit Scribonia und ihren Sklavinnen; seit sie angekommen sind, sammeln sich immer mehr Gaffer am Kai; sie zieht den Schleier vor das Gesicht, und ihre Mutter tut das gleiche; der Steg wippt leise unter ihren Schritten. Iulia ist oft mitgefahren auf diesem Schiff, es ist so vertraut gewesen – weil es ihrem Vater gehörte, gehörte es auch zu ihrem Leben. Mit der Medusa zu verreisen, ist einerseits immer ein Privileg gewesen, doch andererseits eines, von dem sie angenommen hat, das es ihr zustehe. Und nun? Die bequemen Möbel, mit denen die Kabine auf dem Achterdeck ausgestattet ist, kommen ihr gleichzeitig vertraut vor und fremd; sie hat sich hier immer wohlgefühlt, hat alles benutzt, wie es zum Gebrauch stand und lag; heute jedoch ist sie von einer Scheu ergriffen, den Raum auch nur zu betreten, irgend etwas zu berühren; sie hat kein Recht mehr, sich zuhause zu fühlen in einer Umgebung, die ihr Vater für sich geschaffen hat – hier ist der kleine Tisch, an dem er schreibt, dort ist die Decke aus feiner iberischer Wolle, die er über seine Beine legt, wenn ihm kalt ist; es gibt einen Vorrat an Papier und Schreibtäfelchen und Teile des Silbergeschirrs, das auch in der Domus des Augustus auf dem Palatin verwendet wird – der Herrscher ist sparsam und liebt es überdies, gewohnte Dinge um sich zu haben. Ich hatte völlig vergessen, wie feucht es auf Schiffen immer ist, bemerkt Scribonia und fröstelt. 126
Auf der Insel wird es nicht angenehmer sein, erwidert Iulia knapp. Sie bleibt mitten in der Kabine stehen, unschlüssig, innerlich sowohl hoffend, als auch aufbegehrend, trotzig. Was hältst du davon, fragt sie, daß mein Vater sich die Ehre gibt, mir die Medusa zu leihen? Will er mich in allem Pomp loswerden, oder ist es ein Anzeichen dafür, daß es ihm bereits leidtut? Es klingt bitter, dennoch hört Scribonia die Hoffnung heraus. Ich habe darüber nachgedacht, sagt sie. Womit spricht ein Mensch, der die direkte Anrede, der selbst einen Brief scheut? Mit Zeichen, oder nicht? Meinst du? Könnte es nicht vielmehr sein, daß er mich durch diese großzügige Geste seine Verachtung noch stärker spüren lassen will? Wozu? Doch nur, wenn er irgend etwas von dir zu befürchten hätte. Er hat dir alles genommen. Warum sollte er dich noch mehr erniedrigen? Das ist ein Argument. Iulia lächelt plötzlich und schlägt den Schleier zurück. Na gut, sagt sie, nehmen wir also an, es ist eine positive Geste, welche auch immer. Zumindest wird die Reise nach Pandateria nicht so unbequem wie die Fahrt nach Ostia. Sie schaut sich um, wo ihre Sklavinnen geblieben sind, ruft nach ihnen, streng: Lusia, Cyriace! Die beiden Frauen haben draußen gestanden; es hat Cyriace gefallen, sich von den Hafenarbeitern anglotzen zu lassen; die Rufe, die sie erntet, sind derb, doch die Bewunderung so ehrlich, daß beide lachen müssen; wer weiß, ob auf Pandateria auch nur ein männliches Wesen ist außer den Soldaten, und deren Miene ist immer so streng und abweisend … Lusia, es gibt hier irgendwo einen kleinen Spieltisch, sagt Iulia, als die Sklavin sich endlich herbequemt. Dazu gehört ein Kästchen mit Spielsteinen. Hol beides und zwei 127
Stühle. Mutter, ich bitte dich, mir Gesellschaft zu leisten. Oder bist du zu müde, dir auf diese Weise die Zeit zu vertreiben? Ich bin müde, aber es hat wenig Sinn, jetzt zu schlafen. Es wird mühsam genug sein, in der Nacht Ruhe zu finden. Laß uns anfangen. Wenn du nicht mehr magst, frage ich Isiacus. Er wird wohl nicht gleich gegen seine Dienstordnung verstoßen, wenn er mit mir Mühle spielt. Scribonia lacht. Da wäre ich nicht so sicher.
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II. Iulia schläft in dieser Nacht das erste Mal seit zwei Wochen tief und lange, so lange, daß sie erst erwacht, als die Medusa bereits die Tibermündung verlassen hat und das offene Meer gewinnt. Es hat aufgeklart, ein wenig Wind bläht das Segel, aber die See ist ruhig, und nur das Schiff, von siebzig erfahrenen Ruderern vorwärtsgetrieben, macht Wellen; Gischt sprüht aufwärts am Bug, als es dahingleitet; eine Weile noch folgen ein paar Möwen, die auf Abfälle hoffen; entgegen kommen Fischerboote mit dem Fang der Nacht, und immer wieder begegnen pralle Handelssegler, deren kostbare oder nahrhafte Ladung allein für die Märkte der reichen Roma bestimmt ist, dem Caput mundi, dessen Herrscher Caesar Augustus heißt, der den Frieden gebracht hat und eine Zeit des Wohlstands, dessen Gesetze man vom Rhein bis an Euphrat und Tigris, vom Nil bis an die Donau befolgt, wofür seine Beamten sorgen, seine Zöllner und seine Soldaten – und dessen Praetorianer nun für den ungestörten Schlaf seiner einzigen Tochter sorgen, die die Gesetze des Princeps gebrochen hat in einer Septembernacht seines fünfundzwanzigsten Regierungsjahres. Iulia schläft traumlos, aber im Erwachen läuft sie wieder den gedeckten Portikus entlang, den sich Crispinus hat bauen lassen; in ihrem halb nur gegenwärtigen Zustand wird der Gang immer länger; sie läuft ihn entlang, den Kopf gesenkt und mit aller Willenskraft entschlossen, nicht zu weinen, und dann … Leere. Das dunkle Loch, in dem sich ihre Erinnerung verliert. Sie schreckt hoch, die Augen weit offen, ohne daß sie tatsächlich schon etwas 129
sehen würden. Iullus, flüstert sie; mit Tränen in den Augen starrt sie in die Dämmerung der Kabine, in der sich die Formen der Gegenstände nur als graue Schatten abzeichnen, lauscht sie auf das gleichmäßige Geräusch der Ruder, das Knarren der Schiffsplanken; ab und zu Schritte an Deck, leise Stimmen. – Wohin fährt dieses Schiff; was ist das Ziel? Woran sich halten, sich klammern, woraus Hoffnung schöpfen – nur aus mir selbst, immer nur aus mir selbst? Niemand, der sich für mich verwendet; zu Ende, was ist zu Ende? Ich bin siebenunddreißig. Das Ende? – Iulia lacht, ihr Lachen erstickt von Tränen. – Siebenunddreißig. Dreimal verheiratet. Zwei Männer gestorben. Einer davon, als er kaum zum Mann geworden war. Meine Kinder, mein kleiner Agrippa, meine süße Agrippina – Haß läßt sie erschauern, wenn sie daran denkt, daß Livia, deren Erziehungsmethoden sie am eigenen Leib erfahren hat, nun für ihre Kinder sorgt oder besser: sie mißhandelt; es scheint, als wiederhole sich die Geschichte; ist nicht auch sie selbst der Mutter weggenommen worden? – Wie muß Livia triumphieren: Konnte sie schon meinen Willen nicht brechen, bekommt sie nun die Gelegenheit, sich an meinen Kleinen schadlos zu halten – aber warte nur, du unduldsame Caritas, du grausame Rächerin auch der kleinsten Verfehlungen: Meine Kinder sind frei erzogen; sie unterwerfen sich nicht so leicht; ihr seid ein seltsames Paar, Livia und Augustus; jeder für sich allein mag für eure Mitmenschen, für die Welt erträglich sein, aber gemeinsam seid ihr etwas so Ungeheuerliches, so Gewaltiges … – Iulia hat nie zuvor die kumulierte Macht, die diese beiden Regierenden verkörpern, so intensiv empfunden, hat nie zuvor begriffen, wie allein die Tatsache, daß sie die Tochter des einen und die Ziehtochter der anderen ist, einen Zwang auf sie ausübt, ihr ganzes Leben lang ausgeübt hat, Tag für 130
Tag, Nacht für Nacht, bei allem, was sie getan hat, in allem, was sie dachte und fühlte, einen Zwang, den sie erst jetzt, da er seine äußerste Konsequenz erreicht hat: sie einzusperren, in seinem ganzen Ausmaß zu erkennen beginnt. – Was war mein Streben nach Freiheit? Was war mein Streben nach einer Kunst zu leben, die alles einschließt: Raum, Zeit, Körper und Geist? Was waren unsere Versuche zu lieben in Freiheit, Freiheit zu erlangen durch Liebe? Waren es nur Kinderspiele, die wir unter der Aufsicht des allerhöchsten Paars gespielt haben, immer beobachtet, immer milde belächelt, immer kontrolliert, immer in Gefahr, unterbrochen, herausgerissen zu werden, immer kurz vor dem endgültigen Verbot? War das Gewährenlassen nur die Gelassenheit von Eltern, die sich durch die Unverschämtheiten der Kinder eher belustigt fühlen als bedroht? Und das Ende? Warum dieses Ende? Was ist geschehen? – Wieder fühlt sie sich in jenen schwarzen Tunnel hinein, der durch keine Fackel der Erinnerung erhellt wird. – Was habe ich getan in dieser Nacht? Was habe ich getan, um eine Anklage zu verdienen, die auf Ehebruch, Hochverrat und Beleidigung der Götter lautet? – Nichts rührt sich in ihrem Gedächtnis, alles bleibt stumm, nur etwas, spürt sie, ist wahr; nur dieses eine kann sie erinnern, obwohl sie es nicht will: Iullus! Ich liebe dich. Ich vermisse dich. Oh, verdammt, ich vermisse dich so sehr. Scribonia, geweckt durch das Schluchzen ihrer Tochter, steht auf und kommt zu ihr, setzt sich auf die Bettkante, hält Iulias Kopf; diese, als sei sie noch ein kleines Mädchen, vergräbt ihr Gesicht im Schoß ihrer Mutter, weint, hemmungslos; zum erstenmal seit zwei Wochen gibt sie sich ganz ihrer Trauer hin, weint um ihr Leben, ihre Liebe, ihre Kinder, um Rom, um den Vater, jenes Monstrum, das sie verehrt, trotz allem. Schon bald aber 131
versucht sie sich zu sammeln; es gelingt ihr nicht gleich; immer wieder werden Momente der Ruhe durch neue Verzweiflung durchbrochen; schließlich jedoch richtet sich Iulia auf; mit einer Stimme, die nicht ihre ist, ein bißchen verschwommen und nasal noch vom Weinen, sagt sie: Es nützt ja nichts, Mutter. Es wird auch nie wieder vorkommen, das verspreche ich dir. Sie lacht in diesem Augenblick; es ist ihr nicht im geringsten zum Lachen, doch gerade das ist es, was ihren Sinn für das Lächerliche reizt, ihren Willen zu widerstehen, und sei es nur noch dieses eine Mal, daß die Kraft dazu reicht. Außerdem, wiederholt sie, es nützt ja nichts. Am Morgen ist es immer am schlimmsten; gut, daß es hell wird; wie lange fährt man übrigens nach Pandateria? Scribonia zuckt die Achseln. Nun, sagt Iulia und schlägt die Decke zurück, dann werde ich Isiacus fragen. Lusia, ruft sie leise, Cyriace! Los, ihr beiden, kleidet mich an, frisiert mich. Auf See steht man früher auf als an Land. Ihre Kleider sind klamm, und ihr Haar ist widerspenstig; die salzige Feuchtigkeit der Luft macht es noch schwerer, als es schon ist, doch endlich haben die Mädchen ihre Arbeit verrichtet, fühlt sich Iulia wieder als Mensch; der lange, tiefe Schlaf hat sie erfrischt, und das Weinen hat sie erleichtert. Mit Schwung öffnet sie die Tür und tritt hinaus aufs Deck. Gerade sieht sie Isiacus, will etwas zu ihm sagen, als sie Lärmen hört, weiter vorn; Soldaten rufen etwas, beugen sich über eine dicke Rolle Tau, die als Ersatz rund um den Fuß des Mastes gewickelt ist; sie zerren etwas hervor, das zappelt und schreit und schließlich als Mensch erkennbar wird, als Menschlein, denn es ist ein Zwerg, mißgestaltet, mit Buckel und zu großem Kopf, Armen wie ein Mann und Beinen wie ein Kind; zwei Praetorianer nehmen ihn hoch, daß er 132
zwischen ihnen hängt wie ans Kreuz geschlagen; nur mit den Beinen strampelt er, und den Mund konnten sie ihm noch nicht stopfen; er beschimpft sie mit so ausgesuchten Unflätigkeiten, daß sie grinsen, soweit es sich mit ihrer Würde verträgt. Herakles! ruft Iulia erschrocken. Es ist ihr Zwerg, einer von zweien, die sie besitzt; Agrippa hat sie ihr einst geschenkt; es gehört noch eine Frau dazu, sie sind ein Paar. Gehört er dir? fragt Isiacus knapp. Ja, erwidert sie und will an ihm vorbei; Isiacus hält sie am Arm fest. Was soll das, zischt sie. Hier an Bord kann ich dir kaum weglaufen. Laß mich los! Mit einem Ruck befreit sie sich. Isiacus macht keinen Versuch mehr, sie zu hindern. Sie läuft auf die Soldaten zu. Runter! befiehlt sie. Laßt ihn runter! Behandelt ihn anständig. Er ist ein Mensch wie ihr! Die Soldaten, verblüfft, setzen den Zwerg ab, und kaum berührt er mit den Füßen die Planken, hört er mit seinem Geschrei auf. Herakles grüßt Iulia, seine Herrin, sagt er förmlich. Was tust du hier? will sie wissen. Warum begibst du dich meinetwegen in Gefahr? Weißt du nicht, was sie mit blinden Passagieren tun? Doch. Sie werfen sie über Bord, entgegnet Herakles keck. Ich kann aber schwimmen. Die Soldaten lachen. Das wird dir nicht viel nützen. Sieh dich um. Meilenweit kein Land, nicht einmal eine Klippe. Warum hast du das getan? flüstert Iulia zärtlich und streicht ihm übers Haar. Was soll denn deine Frau ohne dich machen? Sie hat mich geschickt, sagt Herakles, der nun auch ernst 133
geworden ist. Ich habe versucht, früher zu dir zu gelangen, aber diese Wachhunde hier, die glauben, mich mit ihren Grobheiten einschüchtern zu können, haben jedes Loch gestopft, durch das ich hätte schlüpfen können. Aber warum? fragt Iulia noch einmal. Es gibt etwas, das du … Schweig! Die Soldaten packen ihn härter an den Armen, so brutal, daß es wehtun müßte, doch Herakles verzieht keine Miene. … das du wissen mußt, fährt er ungerührt fort. Es war den Versuch wert, auch wenn diese Kerle hier mir abgenommen haben, was ich dir zu bringen versuchte. Mir zu bringen? Frag sie darum! Iulia blickt auffordernd zu den beiden Praetorianern; diese wiederum schauen zu Isiacus, der nur stumm die Hand ausstreckt. Der eine Soldat greift in seine Gürteltasche, nimmt etwas Silbernes heraus und reicht es Isiacus, der es seinerseits einsteckt, ohne sich um Iulia zu kümmern. Bringt ihn weg, sagt er zu den Kameraden und weist mit einem Kopfnicken auf Herakles. Nein! schreit Iulia. Nein! Laßt ihn leben! Als Isiacus sich kommentarlos abwendet, packen die Soldaten den Zwerg gewaltsam, heben ihn hoch und schleppen ihn davon, woraufhin er den Kopf herumdreht, soweit es geht, und Iulia zuruft: Es gehörte Phoebe, der Verräterin! Sie ist schuld an deinem Unglück. Phoebe ist schuld! Danach, als sei es ihm ein Anliegen, als letztes in seinem Leben die Praetorianer mit seinem immensen Wortschatz vertraut zu machen, fängt er wieder an, sie zu beschimpfen; Iulia aber steht zwischen den Henkern und 134
ihrem Befehlsgeber, weiß nicht, wem sie nachlaufen, wen sie bitten soll; schließlich hastet sie Isiacus hinterher, hält ihn an der Toga. Bitte, Isiacus, fleht sie. Was hat euch der Kleine denn getan? Befehl ist Befehl, lautet seine Antwort. Niemand hat dir einen Befehl gegeben, Isiacus. Wem nützt es, wenn Herakles stirbt? Es gibt klare Anweisungen für solche Fälle. Du hast es vorhin selbst gesagt. Ich weiß, erwidert Iulia heftig. Aber ist es nötig, sie jedesmal bis zur Grenze zu erfüllen? Ich mag mich schuldig gemacht haben; die Strafe erleide ich nun; du bringst mich ins Inselparadies. Das, was der Zwerg getan hat, ist Teil meiner Schuld. Bestrafe mich, wenn es dir paßt, aber laß ihn leben! So gut kenne ich deine Pflichten, daß ich weiß, daß dieser Spielraum dir gegeben wäre. Die Soldaten stehen bereits an der Reling; sie geben dem Zwerg Schwung, als spielten Eltern mit einem Kind Fliegen, sie schaukeln ihn zwischen sich hoch und höher, er schreit seine Obszönitäten mit sich überschlagender Stimme … Ich kann nicht. Isiacus vermeidet es, Iulia in die Augen zu sehen und wirft einen Blick zu seinen Kameraden, die ihrem Geschäft mit einer Hingabe nachgehen, die an Lust grenzt. Sag es uns nur, rufen sie Herakles zu. Gleich wird dir die kräftige Salzbrühe die Lungen verstopfen, du Schreihals! Sie zögern den Moment, in dem sie ihn loslassen müssen, hinaus; er schwingt zwischen ihnen hin und her; der kleine mißgeformte Körper an den langen Männerarmen; Herakles kläfft seine Beleidigungen, schreit sie noch, als er längst durch die Luft fliegt; Iulia schaut nicht hin, sie läßt sich von ihrer Mutter in den Arm nehmen; Stirn an 135
Stirn gepreßt stehen die beiden Frauen da; jede fühlt für sich, wie es sein muß, unterzugehen, zu ertrinken, abzusaufen; nahe genug ist jeder, der schwimmen kann, diesem Zustand schon einmal gekommen; was Iulia zudem noch empfindet, ist, daß sie schuld ist am Tod ihres treuen Sklaven, schuldlos schuld, wie an so vielem man in einem Menschenleben schuldlos schuld wird; manches davon ist uns bewußt, manches davon geschieht, ohne daß wir davon erfahren. Deine Kameraden sind Barbaren, Isiacus, sagt Iulia tonlos. Aber du, du bist ein Feigling. Isiacus schweigt, doch es ist ihm anzumerken, daß es ihn Mühe kostet. Zeig mir das Ding, das ihr ihm abgenommen habt, fordert Iulia. Es wird dich wohl nicht deine Praetorianertoga kosten, wenn du mir diesen Gefallen tust, oder? Du hast mir nichts zu befehlen, erwidert Isiacus. Ich behandle dich mit Respekt und erfülle meine Pflichten. Iulia kommt näher, zu nah, und flüstert. Du warst schon freundlicher, damals, als du mich zu Phoebe geführt hast. Das war ein Fehler, sagt Isiacus mit zusammengebissenen Zähnen. Iulia schüttelt den Kopf und wahrt wieder Abstand. Du bist noch jung, Isiacus, sagt sie. Die Zeit wird dir zeigen, daß es kein Fehler ist, ab und zu Mitleid zu haben. Sie wendet sich ab, erschöpft von dem Moment des Grauens, doch ehe sie ihre Kabine betritt, dreht sie sich noch einmal um. Wann treffen wir in Pandateria ein? fragt sie den Praetorianer. 136
Heute abend, wenn der Wind nicht dreht. Sie wendet sich ab und begibt sich in den Schutz der hölzernen vier Wände, versucht, den Mord zu vergessen, die Schreie des Zwerges, versucht, nicht an die Trauer seiner Frau zu denken, versucht, das Gefühl des Erstickens zu bekämpfen, das sie heimsucht, und das nicht nur das Mitleiden mit dem Ertrunkenen ist, sondern ein Bedrohtsein, Umklammertwerden, Beengtsein; sie hält es plötzlich nicht mehr aus in der Kabine, springt auf, obwohl sie sich gerade erst hingesetzt hat, reißt die Tür auf und stürmt nach draußen. Sie tritt an die Brüstung des Hecks, atmet tief durch, starrt hinunter in die weißschäumende Spur, die das Schiff im nur leicht gekräuselten Wasser zieht; dann richtet sie ihren Blick in die Weite des Meeres, dorthin, wo nichts mehr ist oder fast nichts, denn nur, wenn sie sich anstrengt, kann sie im Osten die Küstenlinie, die Kette des Apennin, im Dunst erkennen. So steht sie, Stunde um Stunde, und als die Sonne am Mittag zu heiß wird, ist Iulias einzige Reaktion, den Schal ihrer Stola übers Haar und tief in die Stirn zu ziehen; sie steht wie ein Soldat, der Wache hält und nicht abgelöst wird; oder ist es die Totenwache für ihren treuen Diener, das einzige, was sie tun kann, wo nichts mehr zu tun ist? Sie läßt es zu, daß ihr die Mutter ab und zu einen Becher Wasser bringt, doch sie schweigt und rührt sich nicht vom Fleck, Stunde um Stunde, bis es Abend wird. Da merkt sie es an der Luft, die sich verändert hat, und am Licht, und an den Möwen, die auf einmal das Schiff umkreisen. Land in Sicht! ruft es hinter ihr. Sie dreht sich nicht um, könnte sich nicht umdrehen, selbst wenn sie es wollte; ihre Beine geben nach; ihr Körper wird zur knochenlosen Masse; sie reißt die Augen auf, weil sich düstere Schleier über sie breiten wollen, die Schleier werden dichter und dichter, bis sie schwarz sind, ab und zu 137
Lichtpunkte, blendend hell; Iulia hört noch Geräusche, dann wird es stumm in ihren Ohren; sie sinkt in sich zusammen, ohnmächtig, der Welt abgewandt und dem Schmerz.
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III. Sie liegt. Zugedeckt. Doch sie fröstelt. Klamme Feuchtigkeit. Von irgendwoher Zugluft. Sie liegt bequem. Aber ihr Kopf schmerzt. Noch ist alles dunkel. Mutter? sagt sie fragend und öffnet die Augen. Es ist ein kleines Schlafzimmer, in dem sie sich befindet; es gibt kein Fenster, jedoch eine Tür, durch deren Spalt Licht fällt, es scheint hell draußen zu sein. Ein Öllämpchen von vieren an einem bronzenen Kandelaber brennt und spendet warmes schwaches Licht. Wenige Möbel, die sie an jene zu Hause erinnern, bemalter Stuck mit filigranen Ornamenten an der Decke, und soweit sie es erkennen kann, tragen die Wände feine Malereien mit Illusionen von Pfeilern, schlanken Säulen, Fenstern und Giebelgebälk; in jedem Abschnitt Vignetten mit zartausgeführten häuslichen Motiven. Der Boden schwarzweißes Mosaik. Der Raum erinnert Iulia an das Winterschlafzimmer ihrer Villa am Tiber, gegenüber dem Marsfeld, die sie so selten benutzt hat seit Agrippas Tod … Schritte im Flur, die Tür ist nur angelehnt. Mutter? sagt sie noch einmal leise. Lusia tritt ein, eine Schale mit duftendem Rosenwasser in den Händen, darin ein kleiner Schwamm; ein Handtuch hängt über ihrem Arm. Deine Mutter wird gleich hier sein, sagt sie, hängt die Schale in einen bronzenen Dreifuß und beginnt, Iulias Gesicht, das diese ihr dankbar zuwendet, vorsichtig abzutupfen; danach den Hals und das Dekollete. Das tut gut, seufzt Iulia. Ich habe Kopfweh. Du warst ohnmächtig und bist erst in der Nacht wieder zu dir gekommen. 139
Davon weiß ich gar nichts. Der Arzt hat dir einen Schlaftrunk gegeben. Der Arzt? Lusia lächelt. Pandateria scheint zivilisiert zu sein. Einer der griechischen Sklaven ist heilkundig. Das Haus ist eine Residenz. Aber es zieht. Wenn du es besichtigst, wirst du sehen, warum, antwortet die Sklavin und trocknet Iulia Hals und Gesicht ab. Du machst mich neugierig, auch wenn mir deine Worte beweisen, was ich befürchtet habe: Wir sind tatsächlich auf der Insel. Lusia erwidert nichts, weil Scribonia hereinkommt. Wie geht es dir? fragt sie ihre Tochter. Kopfweh, sonst gut. Wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Iulia winkt ab. Nicht nötig. Ich habe eine eiserne Konstitution. Trotzdem solltest du heute im Bett bleiben, meinst du nicht? Vielleicht. Aber eigentlich möchte ich aufstehen. Wenn das hier eine Luxusunterkunft ist, gibt es bestimmt auch ein Bad? Scribonia nickt. Dann werde ich jetzt baden. Lusia, du kommst mit. Danach schaue ich mir an, was mir mein Gefängnis sonst noch zu bieten hat.
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IV. Metrobius, der Verwalter, der Iulia und Scribonia später im Tablinum begrüßt, hat sich eine Rede zurechtgelegt, um die hohen Persönlichkeiten gebührend zu empfangen, doch Iulia schneidet ihm kurzerhand das Wort ab. Schon gut, Metrobius, danke, sagt sie. Wir wissen beide, daß ich nicht freiwillig hier bin, es nützt also nichts, es schönzureden. Sag mir lieber, warum es hier so widerlich zieht in allen Räumen. Der Verwalter winkt ihr, ihm zu folgen. Du wirst den Grund dafür gleich selbst sehen, erklärt er. Wir bemühen uns, Fenster und Türen so gut wie möglich abzudichten, aber es ist Oktober, der Wind weht stärker; es wird kälter, – er hebt beide Hände – was will man machen? Iulia folgt ihm einen akkurat mit schönen roten Ziegeln gepflasterten Flur entlang, von dem aus ab und zu Bogengänge nach links abzweigen, die mit hellgrauem Marmor ausgelegt sind und nach einigen Metern als Treppen nach unten führen; rechts gelingt ihr durch den Spalt einer geöffneten Tür ein Blick ins Peristyl mit seinen Arkaden; der Garten scheint groß und üppig bepflanzt, wenn auch die Pflanzen erkennen lassen, daß das Jahr zuende geht; selbst den Rand eines marmornen Brunnens meint sie zu sehen. Jetzt biegt Metrobius um die Ecke nach rechts und bleibt stehen; ein Windstoß erfaßt Iulias Kleider, eine Tür knallt. Metrobius zuckt bedauernd die Achseln. Dies hier ist die Mittelachse der Villa, informiert er die beiden Frauen. Sie ist ausgerichtet von Süden nach Norden. Die Villa selbst liegt auf einem Felsvorsprung, der nicht umsonst der Aeolische genannt wird, denn, wie du bereits bemerkt 141
hast, es zieht. Er biegt nach links, öffnet eine Tür, und sofort pfeift der Wind den Gang entlang. Iulias Haar, kunstvoll aufgesteckt, beginnt, sich zu lösen. Trotzdem folgt sie dem Verwalter hinaus auf eine große, halbrunde Terrasse. Sie weiß nicht, was sie erwartet hat. Vielleicht gar nichts. Vielleicht genau das, was sie vor sich sieht: endloses Meer. Sonst nichts. Dort, wo Land sein könnte, Land sein müßte – denn sähe man nicht die italische Küste von hier? – verschwimmt der Horizont in milchigem Weißblau. Schwindelerregende Weite. Sonst nichts. Sie tritt an die Brüstung, obwohl der Westwind an ihren Kleidern, an ihrem Haar zerrt. Steil fällt die Küste ab; der graubraune Fels scheint relativ weich zu sein; im Wasser türmen sich herabgebrochene Brocken, von den Wellen zu bizarr gerillten Formen geschliffen. Die See ist unruhig heute, bricht sich lärmend am Felsen; Iulia wendet sich um. Hinter ihr die hübsche Exedra, dahinter wiederum das vielgestaltige Dach der Villa. Dahinter die Insel, das Inselchen, von dem Iulia niemals etwas sehen wird; lohnte es überhaupt? Ist es nicht völlig gleichgültig, von welcher Stelle Pandaterias aus Iulia aufs Meer schaut? Im Sommer ist es hier sehr nett, verteidigt sich Metrobius, ohne daß sich jemand beschwert hätte. Sicher, erwidert Iulia und starrt wieder auf die offene See. Diesen Anblick hatte sie gestern schon an Bord der Medusa. Stundenlang. Die unendliche Weite. Blau. Blaugrau. Blaugrün. Milchigblau. Ihr wird klar, daß es von nun an kein anderes Panorama mehr geben wird als das Meer, das Meer, das Meer, aber gleichzeitig, nicht herbeigeführt, sondern sich wie von selbst über die blaue, ferne Milchigkeit legend oder aufscheinend wie eine versunkene Welt aus der klaren, nahen Untiefe der See, schaut Iulia die vertraute Vedute der Stadt aller Städte, die gelbroten Ziegeldächer und goldenen Tempel der großen 142
Roma, ihre Bäume, ihre Gärten, den Fluß und die ordentlich gepflasterten Straßen; gegen die blaue Leere setzt die Erinnerung die Fülle urbanen Lebens, jenes Lebens, das Iulia liebt, das sie genossen hat, aus dem sie herausgerissen worden ist, nach dem sie sich sehnt. Abrupt dreht sie sich um. Laß uns den Rest des Hauses anschauen, sagt sie. Weshalb gibt es auf diesem verlassenen Flecken Erde überhaupt so eine Residenz? Pandateria ist klein, aber es liegt überaus günstig für den Schiffsverkehr, erklärt der Verwalter. Eine Tagesreise von Rom entfernt, etwas weniger von Puteoli; es besitzt große Zisternen, es gibt Landwirtschaft und Fischzucht – bedeutet der Name, den die Griechen der Insel verliehen, nicht überdies ›jene, die alles gibt‹? –, schon immer kommen Reisende von Süden und Norden gern hier vorbei, rasten, nehmen Vorräte auf; es gibt einen natürlichen Hafen, den Augustus ausbauen ließ; diese Villa hier war einst nichts weiter als ein Bauernhof, zu dem eine Fischfarm gehörte, die Muränen für Crassus züchtete; später fiel der Besitz im Bürgerkrieg an Caesar, der sich nicht weiter darum kümmerte, aber Augustus, der ein- oder zweimal hier weilte, hat befohlen, das Haus zu erweitern, damit er und seine Freunde auf der Reise hier einkehren können … Oder damit er seine Tochter hier deponieren kann, wenn sie ihm Ungelegenheiten bereitet, bemerkt Iulia sarkastisch. Metrobius, dem eine solche Sprache ungewohnt ist, räuspert sich verlegen. Wie groß ist die Insel? mischt sich Scribonia ein. Etwa eine Meile lang und weniger als eine halbe Meile breit, antwortet der Verwalter. Sie besitzt außer dem Portus keinen einzigen bequemen Zugang, nur ein paar 143
winzige Buchten; aber überall fällt der Felsen so steil ab, wie ihr gesehen habt; am anderen Ende der Insel ist es sogar noch extremer, geradezu furchterregend. Sie gehen zurück ins Haus; Metrobius schließt die Tür hinter ihnen und öffnet ein Fenster zum Peristyl. Hier ist es windgeschützter, sagt er. Kühl an heißen Tagen, und angenehm, wenn es Herbst wird. Ich habe euch bereits die Winterschlafzimmer anweisen lassen, fährt er fort. Die Sommermonate über werdet ihr in den westlichen Räumen die frische Brise genießen. Wenn ich im Sommer nicht wieder in Rom bin, springe ich von der Klippe! murmelt Iulia, nur für ihre Mutter bestimmt. Metrobius führt sie quer durch den Garten in den vorderen Teil des Hauses. Hier rechts ist das Bad, das du bereits kennst, sagt er zu Iulia. Wenn ihr mir bitte folgen wollt … Eine kleine Treppe verbindet zwei Flure, die mit sorgfältig ausgeführten Fresken verziert sind; der kürzere der beiden Korridore ist nicht mehr mit Ziegeln in Fischgratmuster gepflastert, sondern mit einem schwarzweißen geometrischen Mosaik bedeckt, und die angrenzenden Speisezimmer, von denen es ein kleineres und ein größeres gibt, sind mit verschiedenfarbigem Marmor ausgelegt. Auf hübschen bronzenen Dreifüßen mit marmorner Platte sind Früchte in Schalen angerichtet, Brot und Karaffen mit Wasser; an den Wänden zarte gemalte Efeugirlanden auf rotem Grund; jede Wand ist an zentraler Stelle überdies geschmückt mit einem Stilleben; das eine zeigt Fische und Brot, das andere Früchte, das dritte Geflügel; es sind behagliche, helle, warme Räume mit einladenden Klinen, deren rote Polster so neu wirken, als habe noch nie jemand Soße darauf getropft oder Wein verschüttet. Essen! sagt Iulia erfreut. Eine gute Idee. Was meinst du, 144
Mutter? Scribonia lächelt. Eine sehr gute Idee. Ich kümmere mich darum, verkündet Metrobius geschäftig und hastet davon. Was macht dein Kopf? fragt Scribonia, während sie sich auf einer Kline niederläßt. Iulia setzt sich ebenfalls. Besser. Wo ist übrigens Isiacus geblieben? Er läßt dir seine ehrerbietigsten Grüße bestellen. Er ist heute morgen zurück nach Rom gereist. Beim Abschied gab er mir dies hier für dich. Sie nestelt an etwas, das in den Falten ihres Kleides verborgen ist und reicht es Iulia. Das Silberding, das der arme Herakles mir bringen wollte! ruft Iulia. Es hat Phoebe gehört, sagt er, fügt sie nachdenklich hinzu. Phoebe, der Verräterin, was auch immer die Ärmste verraten hat … Sie betrachtet das Objekt von allen Seiten. Es ist eine kleine runde Silberdose, relativ flach; der Deckel mit zierlichen Ranken graviert; der Verschluß einfach, aber wirkungsvoll. Was mag es sein? fragt sie. Mach es auf. Iulia öffnet mit einem Daumendruck den Verschluß und klappt die Silberdose auf. Verblüfft starrt sie auf das kunstvolle Relief des oberen Teils. Es zeigt das Brustbild eines Gottes, der Oberkörper frontal, der Kopf im Halbprofil; in der Linken hält er das Blitzbündel Iupiters, in der Rechten die Himmelskugel; sein Haupt umgibt der Strahlenkranz des Sol Apollo; dessen Aeskulapstab fehlt ebenfalls nicht; über allem schweben der Mond und die Sterne; aber das Gesicht dieses Gottes ist kein Ideal, hat nichts von der Perfektion klassischer Bildnisse, wie sie gewöhnlich von den Künstlern verwendet werden, und gerade deswegen, in seiner melancholischen Heiterkeit, in 145
seinem empfindsamen Ernst, ist dieses Gesicht um so bewegender; es ergreift den Betrachter, läßt ihn nicht wieder los; es ist kein Gott, es ist ein Portrait… Augustus, flüstert Iulia entsetzt. Sie klappt das silberne Objekt zu und schüttelt sich. Du meine Güte, was ist das? fragt sie ihre Mutter heiser. Es sieht aus wie eines dieser Kultbilder, die in Mode gekommen sind und attributstarrenden neuen Göttern geweiht sind, die ihre Anhänger als Erlöser bezeichnen und sich von ihnen das ewige Leben erhoffen. Sol Invictus oder Apollo Soter oder was weiß ich. Aber, verdammt, es trägt das Gesicht meines Vaters! Es gibt doch einen Kult des Augustus, wendet Scribonia ein. Ja, aber nicht in Rom. Nur in den Provinzen. Und auch dort nur in Verbindung mit Dea Roma. In der Hauptstadt selbst und in Italien darf niemand Augustus als Gott verehren. Das ist sein eigener Befehl. Und du wirst zugeben, Mutter, daß dieses Ding hier etwas ganz anderes ist. Scribonia nickt. Sklaven erscheinen, bringen Speisen. Solange aufgetragen wird, schweigen die beiden Frauen, melden höchstens Wünsche an, die die Knaben und Mädchen erfüllen, so rasch sie können; offensichtlich sind sie gut gedrillt; offensichtlich funktioniert dieser Haushalt so einwandfrei, wie man es sich nur wünschen kann; es bleiben immer zwei, drei Diener im Raum, weitere Befehle erwartend, so daß keine ungestörte Unterhaltung möglich ist; zwar sind sowohl Iulia als auch Scribonia daran gewöhnt, niemals wirklich allein zu sein, doch das Thema ist zu heikel, um es in einer Umgebung zu erörtern, die noch fremd ist; sie wollen den Sklaven nicht gleich zu 146
Anfang Stoff für Klatsch aus dem Kaiserhaus bieten; im übrigen sind beide hungrig genug, um sich erst einmal ausgiebig den zwar nicht ausgefallenen, aber leckeren Gerichten zu widmen. Später, im Tablinum, setzt sich Scribonia ans Spinnrad; Lusia ihr zu Füßen; sie ordnet die Wolle im Korb. Ich muß etwas tun, erklärt Scribonia ihrer Tochter. Zwar wollen meine Finger nicht mehr so richtig, aber im Gegensatz zu dir macht es mir Freude. Iulia sitzt ihr gegenüber in einem komfortablen Lehnstuhl aus geflochtenen Weidenruten; sie dreht die Silberdose in der Hand, unschlüssig, als habe sie wenig Lust, sich dem Anblick des Reliefs noch einmal auszusetzen; schließlich jedoch siegt die Neugier, sie klappt die Dose erneut auf und entdeckt dabei, daß sich im unteren Teil, der wie eine flache Schale geformt ist, schwärzliche Spuren befinden. Vorsichtig riecht sie daran. Weihrauch! sagt sie verblüfft. Was für eine merkwürdige Gerätschaft. Hast du es immer noch nicht begriffen? Oder willst du es nicht begreifen, Iulia? fragt ihre Mutter, ohne herüberzuschauen, denn sie konzentriert sich auf ihre Arbeit. Es gibt anscheinend eine Menge Dinge, die ich begreifen müßte, wenn ich sie begreifen wollte, erwidert Iulia. Dieses Objekt hier, soweit ich es verstehe, ist ein tragbarer Altar, und die Weihrauchspuren sind Spuren eines Opfers. Richtig? Scribonia nickt. Das hieße, klar gesprochen, daß Phoebe einem Geheimkult angehörte, der meinen Vater als Gott verehrte. Iulia lacht hilflos. Ich kann es nicht glauben. Es scheint mir zu absurd. 147
Aber du weißt, daß es solche Geheimkulte gibt, nicht wahr? Ja, schon … Und du weißt, daß Phoebe deinen Vater verehrte. Zwischen Verehrung und Vergötterung besteht doch noch ein kleiner Unterschied, oder? Phoebe hat schon als Kind für meinen Vater geschwärmt. Vielleicht war sie sogar später in ihn verliebt? Du meine Güte, wenn alle Frauen, die meinen Vater verehren, einem Geheimkult des Augustus beiträten, könnten wir allein in Rom zehn neue Tempel errichten. Er ist der mächtigste Mann der Welt, und er sieht immer noch gut aus. Diese Kombination wirkt bei einer bestimmten Sorte Frauen. Aber Phoebe? Sie kannte ihn, genau wie ich, von allen seinen Seiten; er war ein Mensch für sie, kein Gott. Ein Mensch mit Schwächen, ja, einer Anzahl äußerst unangenehmer Eigenschaften; sie wußte, daß seine Gesundheit mangelhaft, sein Gebiß schadhaft ist, und sein Körper immer wieder von einer juckenden Flechte befallen wird. Sie hat ihn essen und trinken sehen – immer maßvoll, leider; daß mein Vater jemals betrunken war, kann ich mir nicht vorstellen –, sie wußte, daß er Affären hat und geizig ist, soweit es ihn selbst und seine Familie betrifft. Was, Mutter, so frage ich dich, ist an diesem Mann, daß man ihn als Gott verehren müßte? Und wenn Phoebe das, was du so scharf siehst, gar nicht wahrnahm, nicht wahrnehmen wollte? Das kann nicht sein. Sie war weder taub noch blind, dazu intelligent. Ist dir nie der Gedanke gekommen, daß sie ein Verhältnis mit deinem Vater gehabt haben könnte? Davon hätte ich gewußt! Bist du ganz sicher? 148
Iulia wiegt den Miniaturaltar in der Hand. Ich bin mir seit jener Nacht, deren Ergebnis meine Verbannung auf diese einmeilenlange und halbmeilenbreite ›Insel der Fülle‹ ist, über gar nichts mehr sicher, antwortet sie. Das einzige, was ich weiß, ist, daß Phoebe sich an meinem Kirschbaum erhängt hat, daß sie offensichtlich einen Kultgegenstand besaß, der meinem Vater geweiht ist, und daß Herakles behauptet, sie habe mich verraten. Meine Anklage, wie du weißt, lautet nicht nur auf Ehebruch. Und das ist das einzige, was Phoebe irgend jemandem hätte verraten können. Abgesehen davon, daß meine ehemaligen Liebhaber meinem Vater bekannt sind. Und Iullus? Er ist nicht mein Liebhaber! entgegnet Iulia erbost. Weißt du das genau? Wenn du nicht meine Mutter wärst, würde ich dir jetzt sagen, daß du dich zum Styx scheren sollst, sagt Iulia. Nein! Ich weiß gar nichts genau! Ich weiß nur, daß zu dem Zeitpunkt, an dem ich ihn verließ, nichts zwischen uns war, was einem Ehebruch auch nur im entferntesten ähneln würde. Leider …, fügt sie hinzu. Sie hat keine Ahnung, warum es ihr so leicht fällt, darüber zu reden. Seit ihrer Ankunft auf der Insel hat sie das Gefühl, als trenne ihr neues Leben von ihrem alten eine unsichtbare und doch äußerst scharfe Linie, so daß sie, Iulia, nun auf der einen Seite steht und hinüberschaut auf das, was vorher war, wie auf etwas Abgeschnittenes, etwas, das nicht mehr zu ihr gehört, als hätte man ihr den Kopf rasiert, und auf dem Boden lägen die langen Haare, gerade noch zu ihr gehörig, und jetzt fremd, tot. Sie erinnert sich plötzlich daran, etwas ganz ähnliches auf Lesbos empfunden zu haben, dieses Abgetrenntsein von der Welt und dem, was man für das eigene Leben hielt. 149
Sie ist mit Agrippa in den Osten gereist, auf einem eigenen Schiff, weil er oft andere Wege nehmen mußte auf seiner Inspektionstour; sie dagegen wollte nichts als Urlaub machen, langweilige Bankette mit kaiserlichen Beamten in Provinzstädten vermeiden und den Einweihungszeremonien für irgendwelche Statuen zu ihren und Agrippas Ehren aus dem Weg gehen. Als er nach Syrien weitergereist ist, ist sie auf der Insel geblieben; er hat sich im Lauf der Jahre dort eine Residenz errichten lassen, in der Nähe der Heilquellen, weil er geglaubt hat, daß sie gegen sein Fußleiden helfen. Eigentlich ist ganz Lesbos Agrippas Residenz, die Leute sind an seine Anwesenheit gewöhnt, sie veranstalten weder Aufmärsche noch Gottesdienste noch starren sie seine Frau an, wenn sie über den Markt schlendert oder einen Tempel besucht. Es ist Agrippas zweites Zuhause, aber für Iulia, die das erste Mal in Griechenland reist, eine neue Welt. Rom ist so weit weg, und irgendwann, nach ein paar Wochen, vergißt sie fast auch Agrippa, der ihr das letzte Mal geschrieben hat, als er in Jerusalem war, vor sechs Wochen … Iulia spürt, ohne daß es ihr damals bewußt gewesen wäre, die Verführung der Insel. Inseln sind Orte, so begrenzt wie unendlich, sie leben von der Ambivalenz zwischen Land und Meer, jede von ihnen ein Abbild der Welt, die Okeanos umfließt; im Kleinsten das Größte. Rom wird unwichtig, unscharf in der Erinnerung; eine andere Welt in einer anderen Zeit. Iulia ist erst einen Tag auf Pandateria, und trotzdem ist das Inselgefühl schon da; fast wie Gleichgültigkeit – wäre nicht der Zwang, wäre nicht die Frage nach dem Warum –, Iulia hätte nichts dagegen, sich in dieser Gleichgültigkeit eine Weile zu verlieren, bis die Langeweile zu groß wird und die Sehnsucht nach Rom geweckt… Iulia zuckt die Achseln. Ich weiß nicht, sagt sie. Phoebe 150
war so ein nüchterner, völlig unromantischer Mensch. Ich bringe diesen lächerlichen Klappaltar einfach nicht in Verbindung mit ihr. Verdammt! ruft sie. Ich müßte es doch gemerkt haben, wenn sie ein Verhältnis mit meinem Vater hatte! So eng, wie wir zusammengelebt haben! So eng, wie wir befreundet waren! Dann wäre ja alles nur eine Lüge gewesen! Und ich so blind? War es wirklich Freundschaft, Iulia? fragt Scribonia. Sie war deine Sklavin. Ich habe sie freigelassen. Sie ist bei mir geblieben. Aus eigenem Wunsch. Nie wich sie von meiner Seite. Wir haben alles geteilt, gemeinsam gelebt; sie hat mich auf meine Reisen mit Agrippa begleitet, sie hat meine Kinder auf den Knien geschaukelt… Und sie konnte durch dich in der Nähe deines Vaters sein, wirft Scribonia gelassen ein. Iulia schweigt. Das ist ein furchtbarer Gedanke, sagt sie schließlich leise. Sie klappt die Silberdose erneut auf und betrachtet das Relief, sieht das vertraute Gesicht des Vaters, von der Hand des Künstlers überhöht nach klassischen Idealen, doch nah genug an der Wirklichkeit; es sind nicht allein die schönen Züge dieses Gesichts; es ist jenes Oszillieren zwischen einer Weltabgewandheit, wie sie griechischen Grabstelen eigen ist, einer seligen traurigen Ruhe, und gleichzeitig einer Art nervöser Kraft. Iulia hat sich nie Gedanken darüber gemacht, doch in diesem Moment begreift sie, was dieses Gesicht bei einem empfänglich gestimmten Betrachter bewirken kann. Sich für Augenblicke hingebend, läßt sie es zu, daß es sie berührt, zutiefst berührt in seiner Schönheit, in seiner Versunkenheit, in seiner nachdenklichen Trauer und lächelnden Ergebung; noch einmal erschrickt Iulia, vertieft in die Betrachtung des Bildes, wie sie damals erschrocken sein mag, als es ganz neu war für sie; aus den Tiefen 151
frühester Erinnerung wächst ein Erkennen des Vaterbildes empor, das das Kind, das die Jugendliche erschauern ließ, wenn sie es unvermittelt sah; erst später hat sie es vergessen oder geleugnet; es ist seit über fünfundzwanzig Jahren das offizielle Portrait des Augustus; nun sieht sie es vor sich, eingefaßt in all diese absurden Details des frivolen Altars. Staunend gibt sich Iulia momentlang dem Erwachen hin, das in ein Fieber mündet, Hitze in Wellen aussendend – Er hat sich selbst zum Gott gemacht in diesem Bild! – Vom Rücken her über die Schultern laufen die Schauer, heizen die Haut der Wangen, lassen die Stirn glühen; es ist der Eros der Macht, eine asketische Erotik, kalt und brennend zugleich, ein gezügelter Eros, dessen Schwingen verborgen sind; gebunden; ein Trugbild, die äußerste Art von Lüge, die mit Reinheit kokettiert; eine Selbstüberhöhung, die keine Grenze akzeptiert, eine Demutshaltung, die nur dem zusteht, der sich vor niemandem beugen muß. Die Tochter, die Verführte, Schauende, erfährt sich selbst an einem Abgrund, in den sie hinaufblicken muß statt hinunter; er ist hell, blendend hell – Phoebe an meiner Seite an der Seite ihres Gottes? Nein. Oder doch? Wie blind und stumpf müßte ich gewesen sein, um es nicht zu bemerken? Haben es alle gemerkt, nur ich nicht? Wie hat mein Vater sie behandelt, wenn ich dabei war? Ist er nicht immer nur auf seine altmodische Art väterlich zu ihr gewesen? Hat sie nicht immer nur geredet, wenn er sie etwas fragte! Hätte sie nicht stärker seine Nähe suchen müssen? Hätte sie mich nicht drängen müssen, öfter zu Besuch auf den Palatin zu gehen? Hat sie es versucht, und ich habe nicht hingehört? – Ich weigere mich, es zu glauben, sagt Iulia fest. Ist dir nicht aufgefallen, daß Phoebe dir gegenüber seit 152
einer Weile arrogant bis unverschämt war? fragt Scribonia. Oder nennen wir es einfach: zickig. Iulia seufzt. Ich nahm an, sie sei unglücklich verliebt. Scribonia lacht: So kann man es natürlich auch nennen. Ich habe mich gewundert, daß sie oft so kurz angebunden, fast unfreundlich reagierte, wenn ich sie um etwas bat, gibt Iulia zu. Gewundert? entgegnet Scribonia schärfer als gewohnt. Gewundert habe ich mich, weshalb du ihren schnippischen Ton so lange geduldet hast, ohne ihr ein einziges Mal zu zeigen, wo sie steht. Iulia, manchmal hatte man das Gefühl, du seist ihre ehemalige Sklavin gewesen, nicht umgekehrt! Du bist ein großzügiger Mensch, das ist wahr, und es ist eine deiner besten Eigenschaften, aber niemand, nicht nur ich, konnte sich erklären, warum du Phoebe einen Gefallen nach dem anderen getan hast, ohne auch nur ein Wort des Dankes dafür zu ernten. Sie hat ihre Grenzen nie verletzt. Oh, doch. Du hast es nicht nur zugelassen, du hast es herausgefordert, Iulia. Iulia schüttelt langsam und nachdenklich den Kopf. Warum hätte ich das tun sollen? fragt sie. Scribonia schweigt. Dann sagt sie: Ist dir nie der Gedanke gekommen, daß Phoebe eifersüchtig auf dich war? Eifersüchtig? Wie sollte sie. Sie war mir nicht ebenbürtig! Du hast sie aber seit jeher von gleich zu gleich behandelt. Sie ist mit dir zusammen aufgewachsen, mehr Schwester oder Freundin als Sklavin, hat dich überallhin begleitet, hat deine Erziehung geteilt und vermutlich sogar weniger Schläge bekommen, weil sie den Mund hielt. Du 153
hast dir von ihr raten lassen, sie durfte dich kritisieren, und du hast nur gelacht. Weshalb dann Eifersucht? Was sollte sie noch mehr wollen? Es gibt immer mehr zu erstreben, als das, was man hat, Iulia. Vielleicht wollte sie alles? Alles? Der Stand entscheidet nicht über unsere Gefühle, erwidert Scribonia nur. Glaubst du, sie war verrückt? Scribonia zuckt die Achseln und dreht mit geübten, wenn auch vom Alter bereits etwas steifen Fingern den Faden. Ihr Gesichtsausdruck hat sich verändert während des Gesprächs; es ist wie eine Öffnung, etwas tritt hervor wie ein Gesicht hinter dem natürlichen Gesicht; als wäre auch das natürliche Gesicht eine Maske, und was sie sagt, klingt, als verfüge die alte, pragmatische Frau über eine verborgene Sprache; sie spricht leise, aber mit Nachdruck: Wo sind die Grenzen, Iulia? Muß man verrückt sein, um deinen Vater als Gott anzubeten? Ich weiß es nicht. Tritt bei den Mysterien aus dir heraus; und wer will hinterher behaupten, du seist nicht eine Weile verrückt gewesen? Du bleibst dieselbe, aber etwas in dir hat sich verändert, und diese Veränderung erhält sich; hast du die Ekstase einmal erfahren, reagieren dein Körper, dein Geist, deine Seele sehr rasch, wenn du die Erinnerung daran hervorrufst; die Verrückung ist bald durch einfachste Mittel wiederherzustellen; wer wollte dann sagen, wann du vollkommen in dir, vollkommen außer dir bist? Du beschreibst die Liebe. Nicht ganz. Bist du denn bei dir, wenn du liebst? Nein! Du befindest 154
dich im anderen, bist verrückt, und dein Geliebter ist in dir, wie der Gott, dem du dich in den Mysterien überäußerst, und der in dich eingeht und dir seine Kraft und seine Weisheit gibt. Scribonia zögert, doch dann sagt sie: Nein, Iulia. Es ist anders, als du denkst. Wie dann? Sich dem Gott anzuverwandeln, öffnet, alles drängt ins Weite, Freie, furchtlos blickst du über den Rand dessen hinaus, was dem Menschen erfahrbar ist, ohne Schwindel, ohne Sorge, du könntest nicht mehr zurückkehren. Liebe ist ihrer Natur nach hermetisch, du schließt den Geliebten in dich ein und dich in ihm in dir. Es ist ein Gefängnis; immer begleitet dich die Angst; schließlich verlierst du den Geliebten und dich zugleich. Wie kannst du das wissen, da du doch immer sagst, du hättest nie geliebt? Scribonia schüttelt nur stumm den Kopf. Also hast du geliebt? Die Mutter schweigt; sie hat aufgehört zu spinnen, starrt auf die Wand, die wie in Fortsetzung des Gartens, zu dem sich das Tablinum im Sommer öffnen läßt, rundherum mit einer Fülle von früchtetragenden Bäumen, blühenden Büschen, bunten Vögeln und blauem Himmel bemalt ist, das Areal säuberlich eingezäunt von einer niedrigen weißen Mauer, die mal in Rauten-, mal in Fischschuppenmuster vielfach durchbrochen ist. Iulia wagt nicht, noch einmal zu fragen; sie wartet, regungslos. Lange. Cyriace, die ebenfalls am Spinnrad sitzt, hält in der Arbeit inne; Lusia, zu Füßen der alten Dame, läßt die Hände im Schoß ruhen. Es ist ganz still im Tablinum; nur 155
von weither kommen Geräusche, die von der Geschäftigkeit des Hauses zeugen. Ich habe ihn geliebt, sagt Scribonia endlich; was sie sagt, kommt schnell, und doch, als verdicke sich die durchdringliche Substanz, die den Laut weiterträgt zwischen ihr und ihrer Tochter, verzögert sich die Ankunft der Worte in Iulias Ohr; es dauert Äonen, bis das, was ihre Mutter sagt, zu ihr dringt, und noch länger, bis sie es aufgenommen, verstanden hat. Scribonia verwandelt sich in diesem Moment, erscheint ihrer Tochter ganz jung, zart und verletzbar, doch es rührt sie nicht, oder wenn es sie rührt, so ist etwas anderes stärker. So sagt sie lauter als nötig, und es klingt wie ein Vorwurf, wie eine Beleidigung: Also auch du! Ja, auch ich, antwortet Scribonia ruhig. Iulia steht wortlos auf und geht hinaus; es ist eine solche Erleichterung, immerhin in ein Haus, ein Haus von dieser Größe, und nicht mehr nur in ein Zimmer verbannt zu sein; fast fühlt es sich an wie Freiheit, als sie den Flur entlangeilt in der Hoffnung, die richtige Richtung gewählt zu haben; immer der Zugluft nach; ja, hier ist die Tür; sie erinnert sich, reißt sie auf; nein, noch ein weiterer Gang; sie rennt fast bis ans Ende, öffnet auch dort eine Tür; hinter ihr knallt die, durch die sie gekommen ist, ins Schloß; endlich tritt sie hinaus auf die Exedra; der Wind hat nicht nachgelassen, er zaust ihr Haar, ihr Kleid, aber die salzige Luft atmet sich leicht und prickelt auf der Haut; Iulia kann nicht genug davon bekommen; in tiefen Zügen atmet sie ein, als sei sie zuvor am Ersticken gewesen; die Sonne steht im Westen; es mag um die zehnte Stunde sein; Wolken schieben sich davor, brechen die Strahlen, so daß sie in weitem Fächer übers Meer sich breiten; weiter hinten eine golden glänzende Fläche; es ist ein Spiel aus Licht, Luft und Farben; und dort, dort wo der Fächer aus 156
Sonnenstrahlen auf die Wasseroberfläche trifft, erscheint plötzlich wie aus dem Nichts das Schemen einer Insel; sie wölbt sich aus der See wie ein langgestrecktes Meeresungeheuer; Pontia muß es sein, Pandateria benachbart, wie Iulia erfahren hat; sie weiß nun, daß die Dichter nicht lügen, wenn sie Geschichten schreiben von Seefahrern, die Schiffbruch erlitten haben und auf dem Meer treiben, tagelang, vor sich den Horizont; und dann, mit einem Mal, so schreiben die Dichter immer, ›erschien vor ihm ein Eiland, grün und mit steil abfallenden Felsen; die Wellen spülten ihn gnädig an einen Strand …‹; niemals wußte der Schiffbrüchige, ob ihn freundliche Menschen erwarteten oder neue Verfolgung. – Was ist besser: heimatlos und in Seenot zu sein, oder verbannt, gefangen auf einer Insel? Der eine bewegt sich und weiß nicht, wo er ist oder wo er demnächst sein wird; die andere ist an den Ort gefesselt, der gleichfalls ein Nirgendwo ist; beide sind nicht dort, wo ihr Verlangen sie hinweist; beide sind erfüllt von der Sehnsucht, an einem Ort zu sein, an den sie nicht gelangen können; dem einen trotzt das Schicksal; der anderen … Augustus … Vater … – Iulia schließt die Augen; Pontia, das Schemen, verschwindet; sie spürt, nun, da die Sonne hinter den Wolken ist, die kühle Luft auf der Haut; erst tut es gut, doch bald fröstelt sie. – Wußte der junge Caesar Octavianus von der Liebe Scribonias? Was bedeutet Liebe in einem Leben, in dem Macht alles ist? Wie oft rechnet man überhaupt damit, daß in einer arrangierten Ehe Liebe entsteht? Oh, ja, alle schreiben darüber, wie sich das junge Mädchen, einem viel Älteren angetraut, von der hochachtungsvoll Aufblickenden in eine Liebende verwandelt, die seine Gedichte mit eigenen Melodien auf der Kithara zu Gehör bringt, die sich seine Aussprüche zu eigen macht und sich nicht darüber beschwert, daß er Mundgeruch hat, weil sie 157
ganz naiv annimmt, daß alle Männer – sie kennt ja nur diesen einen aus der Nähe – so riechen! Aber meine Mutter; sie ist älter gewesen als Octavius, erfahren, bereits Mutter zweier Kinder aus der ersten Ehe; sie hatte keine Illusionen. Und dann? Liebe? Der Geliebte von ihr umschlossen, und sie in ihm in sich selbst geborgen? Verloren der Geliebte und mit ihm sie selbst? Augustus, der sich zum Gott gemacht hat, den jedoch niemand anbeten darf, weil er es verboten hat – was bezweckte er dann mit seinem Bildnis? Phoebe: Nicht lieben durfte sie ihn, aber vielleicht mit ihm ins Bett gehen und anbeten nur im Verborgenen, und nun hängt sie am Kirschbaum; nein, sie hängt wohl nicht mehr, man hat sie abgenommen und verbrannt und ihre Asche bestattet; wo aber? Wo finde ich sie, wenn ich nach Hause zurückkehre; sie war doch wie eine Schwester, nicht wahr? Sollte sie nicht bei uns … aber ich? Ich aus dem Grab der Familie ausgeschlossen; wo werde ich sein, wenn ich Asche bin? Hier auf diesem zugigen Felsen Pandateria; wieviel besser, den Staub gleich über die Wellen zu streuen, daß er die weißen Kronen trauergrau färbt, bis sie stürzend sich reinwaschen, mich reinwaschen … Iullus, oh, Iullus … wer trägt Schuld an der Liebe? Was ist geschehen in jener Nacht, in der mein Leben einen Anfang nahm, sich in einen Beginn verliebte, und in der alles endete, meine Freiheit, meine Erinnerung … Phoebe … Sie öffnet die Augen; der Sonnenglanz, der Pontia enthüllte, ist silbergrauem, blendendem Licht gewichen, das alles Meer und allen Himmel gleichmacht. Entschlossen dreht Iulia sich um und geht zurück ins Haus. Sie findet Scribonia noch am Spinnrad; die alte Frau hat ihre Arbeit längst wieder aufgenommen; das, was kurz aufflackerte, der Schmerz, die Wehmut sind verflogen; freundlich und neutral blickt sie Iulia entgegen, die zu ihr 158
kommt und neben ihr niederkniet. Verzeih mir, Mutter, flüstert sie und senkt den Kopf. Scribonia streicht ihr übers Haar. Es gibt nichts, wofür du um Verzeihung bitten müßtest. Oh, doch, sagt Iulia. Eine Weile verharrt sie ihrer Mutter zu Füßen, den Kopf an ihren Schenkel gelehnt, als sei sie noch ein Kind. Scribonia spinnt geruhsam weiter. Sie schweigen. Ich möchte es heute nacht versuchen, sagt Iulia schließlich. Scribonia nickt. Gut. Wie nimmt man das Zeug? Man feuchtet die Kräuter etwas an, verbrennt zwei Fingerspitzen davon, ruft den Beistand der Göttin, und atmet die Dämpfe ein. Wie lange dauert es, bis es wirkt? Das mußt du herausfinden. Es gibt keine Regel. Wirst du wachen? Natürlich. Danke. Iulia lächelt und steht auf, erleichtert; sie versucht nun, sich bis zum Abend abzulenken. Metrobius hat etwas von einer Bibliothek erzählt, sagt sie; ihr ist nach Lektüre, und sei es nur, um in der Odyssee jene Passagen aufzuspüren, in denen der schiffbrüchige Held sich, mit salzverkrusteter Haut, durstig und hungrig und erschöpft, dem Schemen einer Insel gegenübersieht, das aus dem milchigblauen Nichts vor ihm aufgetaucht ist; schon entgleitet ihm die Hoffnung, schwinden die letzten Kräfte, doch Leucothea hüllt ihn sanft in ihre Schleier und bringt ihn zum Strand, denn die Insel ist kein Schemen, sondern Wirklichkeit, und wenigstens eine davon – Scheria – birgt nicht neue Gefahren, sondern Rettung und Heimkehr … 159
FRAGMENTA
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I. Die Kräuter in der bronzenen Schale glimmen nur und schwelen; ihr Rauch ist aromatisch und fremd und verteilt sich langsam in Iulias Schlafzimmer, das von zwei Öllampen gedämpftes Licht erhält; Iulia bemüht sich, soviel wie möglich von dem Kräuterrauch einzuatmen; es ist nicht leicht: Weil ungewohnt, reizt eine Substanz darin zum Husten; doch sie findet einen Rhythmus des Ein- und Ausatmens, der es bald zuläßt, das Aroma zu genießen; es ist süßlich und etwas bitter, und nicht nur den Geruchssinn spricht es an; sie schmeckt es auch auf der Zunge, es verändert sich in der Kehle noch einmal, um beim Ausatmen von neuem andere Geruchsund Geschmacksgestalt anzunehmen; allerdings von einer Wirkung auf ihren Geist spürt Iulia nichts; zunächst macht es ihr Herz klopfen, daß ihr angst wird und sie fast nach ihrer Mutter ruft; dann jedoch, nach und nach, gerinnt der Tag mit seinen Aufregungen in ihr zu Müdigkeit; alles wird schwer und warm; nahezu vergißt Iulia den Zweck des Opfers; murmelnd wiederholt sie ihren Anruf der Göttin: Mens bona, lichte Jungfrau, die auch die Götter um Klarheit der Gedanken zu bitten sich nicht scheuen, höre mich! Höre mich, Göttin, ich flehe zu dir und schenke dir, was dir schon geweiht im heiligen Tempel; Kräuter, heilig dir, von dir gesegnet, senden ihren Duft hinauf zu dir, lichte Göttin, Mens bona. Höre mich denn, wenn du geneigt bist, das Opfer anzunehmen, höre mich, Mens bona, lichte Göttin, und sende mir die Klarheit der Erinnerung. Ich bitte dich. Schwer und warm fühlt sich ihr Körper an; es ist ein behaglicher, fülliger Zustand; nichts empfindet Iulia, das 161
ihren Geist weckt: Es ist eher, als lulle ihn der Kräuterdunst ein; sie kichert schläfrig und unkontrolliert, nimmt es wohl wahr, aber es stört sie nicht; heitere, behagliche, füllige Schwere. Nach einer Weile setzt sie sich aufs Bett, noch vollkommen angezogen, versucht, etwas Konkretes zu denken, aber die Gedanken laufen weg, sobald sie sie einfangen und festhalten will; ein Spiel wird daraus: Iulia zwingt das Fest des Crispinus in ihr Gedächtnis, ruft Bilder hervor von seinem Beginn; sie kommt zu spät, wie oft, diesmal weil Phoebe sie hat warten lassen und dann doch nicht mitgekommen ist, und auch, weil sie mit Agrippa Hase und Jäger gespielt hat; sie wird einen Moment bitter und traurig, weil sie an ihre Kinder denkt, aber sie zwingt sich zurück zu ihrer Aufgabe, weil es ja nichts nützt, sich zu sehnen, und weil der Kräuterdunst wirkt – auf eine Weise, die es nicht zuläßt, daß sie Dinge denkt, die sie denken will, sondern daß sie beginnt, Farben zu sehen, Bilder, völlig zusammenhanglos … Iulia sinkt entspannt zurück auf ihr Bett; noch immer kitzelt das Räucherzeug ihre Nase, und eine unendliche Gelassenheit erfüllt sie, das Ziel jedoch, das sie mit der Droge erreichen will, scheint weiter weg als zuvor. Es wirkt nicht, sagt sie zu sich selbst, weil niemand sonst da ist; ihre Mutter wacht im Nebenzimmer, zu Hilfe zu kommen, falls Iulia nach ihr ruft; Lusia und Cyriace leisten Scribonia Gesellschaft. Es wirkt nicht, sagt Iulia noch einmal, aber ihre Sprache klingt unsicher, die Vokale aufgedunsen wie ein Wortteig aus ueio; sie kichert und schüttelt verwundert den Kopf, ohne daß sie es merkt; einen Arm über die müden Augen gelegt, entzieht sie sich dem Licht, das die Lampen spenden; sie gähnt, und mitten im Gähnen muß sie erneut kichern; sie fühlt sich heiter und schwer und warm, dazu müde, grenzenlos müde, aber 162
es ist nicht Hypnos, der sie zur Ruhe bettet; nicht seliger Schlaf läßt sie aus der Wachwelt gleiten; die Göttin hat anderes mit ihr vor; sie nimmt die Wachschlafende, Berauschte bei der Hand, scheucht sie aus ihrer wohligen Schlaffheit, fort aus Pandateria, fort auch vom Fest des Crispinus, obwohl Iulia sich wehrt; je mehr sie aber gegen die Zumutung kämpft, desto dunkler wird es um sie, desto feindseliger scheint ihr die Umgebung; je mehr sich Iulia zu entziehen versucht, desto gewaltsamer fühlt sie sich gedrängt; sie weiß, sie will nicht, sie will nicht, sie hat Angst, es ist dunkel, und – erst von weit her, dann näher und näher – hört sie Gesang aus dutzend Kehlen, frische, junge Stimmen singen: Riegel, öffnet die Tür, die Zeit Ist gekommen! Und siehe, seht: Scham läßt die Braut zögern noch; Als sie deutlicher jetzt uns hört, Weint sie, weil sie nun geh’n muß. Weine nicht mehr, o Iulia, Denn du brauchst zu befürchten nicht, Daß ein schöneres Weib als du Sah den strahlenden klaren Tag Aus dem Ozean tauchen. Neuvermählte, o bitte tritt Nun hervor und erhöre doch Unser Rufen! Es schütteln schon Fackeln brennend ihr goldnes Haar! Neuvermählte, tritt vor nun! Laut das Geräusch, Metall auf Metall, als ein Riegel zurückgeschoben wird, kühl der Luftzug, der von der Gasse ins Haus hereinweht, das Vaterhaus auf dem Palatin, in dem sich das Paar die Hände reichen mußte; es ist der Wille des Caesar Augustus, daß seine Tochter früh die Ehe eingeht; den Mann wählt er auch: Marcellus, Schwestersohn, welch ein schönes junges Paar; nun wartet der Ehemann im neuen Haus wenig entfernt auf seine Schöne, doch sie zögert; einsam steht sie da, die roten Schuhe an den Füßen; Fackeln zucken auf in der Straße; 163
sie beleuchten flackernd Gesichter, vertraut einst, doch nun fremd und gefährlich, und wieder der Chor: Neuvermählte, tritt vor nun! Jemand – ist es Agrippa, der Brautführer, ist es Livia, die Stiefmutter? – stößt Iulia hinaus auf die Gasse, oder sind es nur die drei Knaben, von denen zwei sie an der Hand fassen; der dritte leuchtet mit der Weißdornfackel den Weg? Flöten keifen schrill in Iulias Ohr; ein Windstoß erfaßt ihren hellroten Schleier, den ein Kranz schmückt; die Knaben zerren sie lachend weiter, obwohl der Schleier verrutscht ist und die Nadeln, mit denen er befestigt ist, in Iulias Haar ziepen, weil es straff zu sechs Zöpfen geflochten wurde, wie es der Brauch verlangt. In die Arme des stürmischen Jünglings gibst du das Mägdlein fein In der Blüte der Jugend vom Schoß der Mutter, o Hymen, O Hymen, o Hymenaeus, grölt der Chor, den Hochzeitsgott preisend, edler Sproß der Urania. - Vom Schoß der Mutter? – Die Mutter hat Iulia heute nach vierzehn Jahren das erste Mal wiedersehen dürfen – Vom Schoß der Mutter? – Ihr Blick sucht den Scribonias, findet ihn nicht in der Menge, die geladen ist, die Hochzeit der Tochter des Princeps zu feiern; die Mutter ist noch so fremd, so fern, und trotzdem – ist da nicht das Verlangen, einfach nur bei ihr zu sein, den Kopf in ihre Brust zu wühlen, sie nach all den Jahren zu fragen, die sie getrennt waren, all das Leben zu erzählen, das in vierzehn Jahren gelebt werden konnte, nichts weiter – vor allen Dingen nicht weitergehen in diesem Fackelzug, sondern weglaufen mit der Mutter, an einen einsamen Ort, sich halten lassen, sie spüren, ihre Stimme kennenlernen und ihren Geruch. – Wie soll ich heiraten, das, was nach dem 164
Mädchentum folgt, beginnen, wenn ich die Mutter nicht hatte, nicht an ihrer Seite Mädchen sein durfte; es fehlen uns ja all die Jahre. – Etwas drängt sie zurück, hemmt ihren Schritt, aber die anderen wissen ja nicht, wie ihr zumute ist; alles strebt singend und fackelschwingend und begierig, die Sache zu ihrem naturgemäßen Ende zu bringen, dem Haus des Bräutigams zu. O Hymen, o Hymen, o Hymenaeus, grölt der Chor; Phoebe, aufrecht und ernst, den Mund straff gezogen, wie es ihre Gewohnheit ist, trägt Iulia die Spindel voran und den Spinnrocken. Iulia hat eine Strophe des Liedes verpaßt, doch die nächste hört sie gut, zu gut: Welche Freuden, o bräutlich Bett, Harren nun deines Herrn bei Nacht Und zur Stunde des Mittags. O Siehe, wie schon der Tag sich neigt! Neuvermählte, tritt vor nun! - Des Bettes, des Hauses Herr? Marcellus? – Der Halbstarke, der Cousin, so bekannt, so oft gesehen im Haus der Tante, der Räuberhöhle des Antonius, dessen Sohn er nicht ist und den er verachtet; mit dessen Sohn Iullus er gemeinsam aufwuchs, und auch den verachtet er, obwohl er es offen nie zeigt. Marcellus ihr Gatte, ihr Herr? Jener hochaufgeschossene, hochfahrende Jüngling, so oft geneckt, nie ernstgenommen, obwohl er drei Jahre älter ist als sie; so oft eifersüchtig bespöttelt, weil der Vater, weil Augustus ihn liebt und ihn allen vorzieht, auch seiner Tochter. – Vater! – Sie sieht Scribonia im Zug der Freunde und Bekannten, die der Braut das Geleit geben, stellt sich die Mutter an der Seite ihres Vaters vor wie ein Kind, das die Scheidung der Eltern erduldet, jahrelang 165
davon träumt, Vater und Mutter wären wieder zusammen und alles wieder gut – vergebliche Träume, und irgendwann vorbei; der Vater ist übrigens unpäßlich an diesem großen Tag und hütet mit Fieber das Bett; – hätte er denn der Frau, von der er sich scheiden ließ schon nach einem Jahr, überhaupt ein Wort gegönnt? – Sie sieht Livia nicht, die Stiefmutter, weiß aber, daß sie hinter ihr geht mit wachsamen Augen und unbetrügbarem Gehör, neben ihr Marcus Agrippa, der den Brautvater macht auf Wunsch des Augustus, Agrippa, der die Auspizien eingeholt hat und der den Ehekontrakt verlas – er und seine junge Frau Marcella, Schwester des Bräutigams, Cousine, Schwägerin, die einzigen, die Iulia nicht furchteinflößend erscheinen, und dennoch: Agrippa, Livia als Brauteltern, und die Mutter nur Gast, der Vater krank – wie verkehrt das alles ist und wie zuviel, viel zuviel für diesen einen Tag, den Hochzeitstag, an dem es doch genügt hätte, sich die Hände zu reichen – Ubi tu Gaius, ego Gaia –, nicht wahr? Und welche Freuden? – Nur vage weiß Iulia, was sie erwartet in der Nacht, und, wie es das Lied erzählt, auch mittags, sie weiß aber soviel, daß es zumindest ihr nicht zur Freude sein wird; Livia hat es unternommen, sie beim Ankleiden zu ermahnen mit ähnlichen Worten, wie sie der Hochzeitschor nun singt auf dem Weg, den Iulia mehr geschoben als begleitet wird ins eheliche Heim: Braut, du hüte dich, daß du nie, Was dein Mann von dir will, versagst, Denn er sucht es sonst anderswo. Hymen, o Hymenaeus, O Hymen, o Hymenaeus! - Was er von mir will? – Es tut weh, sagt Livia, aber nicht sehr, und es geht schnell vorbei; es ist nicht angenehm, auch später nicht, sagt Livia, aber es ist dem Mann notwendig; wehr dich also nicht; bist du erst schwanger, hast du für ein Jahr deine Ruhe – schau mich 166
nicht so an! Soll ich dir etwas vormachen? Die Freuden des Bettes sind die Freuden des Mannes, Iulia, das will die Natur; wir haben uns nicht dagegen aufzulehnen; als verheiratete Frau hast du viele Privilegien; deine Mitgift ist reich, dein Vater hat an nichts gespart; führe dein Haus, wie es der Tochter des Augustus zukommt. Gehorche deinem Mann in allem und leite mit klugem Sinn und sorgender Hand selbst, wo deine Pflichten sind: Halte das Haus in Ordnung, sei streng, aber gerecht zu deinen Sklaven; das Essen, das in deiner Küche zubereitet wird, soll gut sein, aber nie üppig oder gar verschwenderisch; kümmere dich um die Kleidung, nie sei faul, immer wartet der Webstuhl auf deine fleißige Hand … - Der Webstuhl, der Haushalt, Gehorsam – Iulia ist kalt vor ängstlicher Abwehr; sie folgt dem Hochzeitszug, dem jubelnden Chor der Jungen und Mädchen mit kleinen, stockenden Schritten; Neugier beginnt sich in ihr zu regen; erleichtert begreift sie, je weiter sie sich vom Haus ihres Vaters entfernt, daß heute die Macht Livias über sie endet für immer. Für immer! Zugleich erschrickt sie vor dem Zwielicht der Zukunft, in das sie sich vorantastet, denn in unserer Vorstellung ist das, was wir nicht kennen, in düsteres Licht getaucht, und erst nach und nach erhellt es sich durch Erfahrung, Gewohnheit und unsere eingreifende Veränderung; Marcellus, der Mann, hat Macht nun, die er als Cousin nie besaß; sie hat übrigens nie zu den Mädchen gehört, die ihn übermäßig bewundern – mag sie ihn überhaupt – o ja, wie man einen Verwandten halt mag; Marcellus wiederum zog Phoebe vor, die Stille, kritisch die Welt Betrachtende. Oft unterhielt er sich mit ihr, die ihm im Alter gleich ist; sie teilen die Leidenschaft, das Verhalten von ihnen bekannten oder auch unbekannten Menschen streng und spöttisch zu bewerten wie auch, an ihrem Körperbau, ihren Gesichtszügen Maß 167
zu nehmen; sie lieben die Karikatur und sind ohne Gnade, weil sie selbst schön sind und geistreich; niemand ist vor ihrem Urteil sicher, lachend freuen sie sich an dem Unbehagen, das sie mit ihrer Gegenwart zu schaffen gewohnt sind. Iulia hingegen, die den Wortspielen der Älteren nur zuhören durfte und ausgelacht wurde, versuchte sie sich selbst darin, findet es schwierig, Äußeres richtig zu beurteilen; sie sieht ein Gesicht – es hat vielleicht diesen oder jenen Makel, die Nase ist zu groß, das Kinn zu stark ausgeprägt, die Ohren nicht ganz flach, der Hals zu kurz oder zu lang – aber in ihrem Blick spiegelt sich ein Ausdruck von Nachdenklichkeit in diesem Gesicht, oder die aparte, wenn auch nicht ideale Kurve des Mundes fängt ihre Bewunderung ein; kann sein, daß dieser Mensch, den sie betrachtet, ein bißchen zu klein ist – jedoch, es ist etwas in seinem wiegenden, gelassenen Gang, das ihn größer erscheinen läßt, das ihn attraktiv macht, und die rasche, geübte Geste, mit der er ohne übertriebenen Aufwand die Schriftrolle öffnet, läßt vergessen, daß seine Hände nicht schlank und seine Finger kurz sind. Seltsame Gedanken auf dem Weg zum Hochzeitsbett! Es ist nicht mehr weit bis zum Haus, das der Vater gekauft hat zu diesem Anlaß; der Weg ist mit Fackeln beleuchtet, und nicht nur der Chor, auch viele Gäste tragen eine; an den Wänden der Häuser schimmern Blumengirlanden auf, künstlich ihr Rot, ihr Gelb, ihr Grün im Feuerlicht; die Flöten kreischen, und jetzt, da die Braut sich dem ehelichen Heim nähert, geben die Knaben vor allem, aber auch die Mädchen, singend ihr Bestes; lauter, schneller, rhythmischer drängt das Lied voran, Dein Gemahl wird nicht schändlich sich Einer Buhlerin widmen und Treiben leichtfertig Ehebruch. Fern von deiner geliebten Brust 168
Will er niemals mehr liegen. Wie die schmiegsame Rebe sich Rankend schlingt um den Baum, so wird Er umarmend in Liebe dich fest umstricken. Der Tag vergeht! Neuvermählte, tritt vor nun! - In Liebe? Marcellus und ich? Liebe? – Beinah lacht Iulia, hilflos; sie stolpert, stockt, dort ist der Eingang … Glücklich über die Schwelle setz Deinen goldenen, kleinen Fuß Und durchschreite das glatte Tor! Hymen, o Hymenaeus, O Hymen, o Hymenaeus! Der Gott muß gnädig nach drinnen geeilt sein, der Braut voraus, gesegnet haben muß er das neue Heim, den Bund, denn die Knaben, die Iulias Hand hielten, heben sie ohne Mühe über die Schwelle, kein Mißgeschick unterläuft ihnen; sag es jetzt, flüstern sie Iulia ins Ohr. Diese dreht sich um, als wolle sie fliehen, doch da steht Agrippa, steht Livia, beide versperren den Weg, sag es, flüstern die Knaben, du mußt es sagen! Marcellus, blasser als sonst, angespannt lächelnd, wartet; Iulia steht da, stumm; sie sehen sich an; in diesem Augenblick endet die Kindheit, enden die gemeinsam verbrachten Jahre, Vergangenheit sind die fröhlich an Octavias Tisch verspeisten Mahlzeiten, die Spiele und die Ferien in Baiae, wo Agrippa sie beide das Schwimmen gelehrt hat; Iulia ist flinker im Wasser als er; vorbei das Gefühl, zu einer Familie zu gehören, vorbei die simple Vertrautheit, die durch häufiges Sehen, durch Verwandtschaft entsteht, vorbei auch die Zeit, in denen beide kokett ab und zu miteinander liebäugelten, weil es so harmlos war und zu nichts führen konnte; welcher junge Mann, welches junge Mädchen übt nicht Flirten mit 169
der Cousine, dem Cousin? - Er ist mein Mann! – Erschrocken hört Iulia den Chor: Laß den zierlichen runden Arm, Knabe, Brautführer, denn die Braut Soll nun gehn zu dem Ehebett. Hymen, o Hymenaeus, O Hymen, o Hymenaeus! Sag es, flüstert der Junge noch einmal und schubst sie ein wenig, los, sag deine Worte! Sie beginnt, stammelt, bricht ab. ›Ubi tu Gaius, ego Gaia‹, wispert er, und da endlich wiederholt Iulia die Formel, die von ihr erwartet wird; sie murmelt sie rasch, fast unverständlich, den Blick gesenkt: Ubi tu Gaius, ego Gaia. Die Gäste brechen in fröhliche Rufe aus; es ist vollbracht, ein neues Paar hat sein Haus bezogen; jemand drückt Iulia die Dose mit Fett in die Hand, und sie beginnt, ohne darüber nachzudenken, die Türpfosten damit einzureiben, wie es die Sitte fordert… Frauen älterer Männer, die Ihr erfahren in Liebe seid, Legt das Mädchen aufs Hochzeitsbett. Hymen, o Hymenaeus, 0 Hymen, o Hymenaeus! Eine entfernte Verwandte, die einzige im Clan, die nur einen Mann hatte, darf Iulia zum Ehebett geleiten in dämmriger Kammer, vorbei an jenem Prunkbett, das geschmückt im Atrium steht und den Gästen die Paarung bezeichnet, ohne daß sie darauf vollzogen würde; Iulia folgt der Frau, läßt sich durch das noch fremde Haus zu ihrem Schlafzimmer führen, als habe sie keinen eigenen Willen; in ihren Ohren hallt der Refrain, mit dem der Hochzeitsgott gepriesen, gerufen wird, an ihr Bett zu kommen, der Vereinigung beizuwohnen, Hymen, o Hymenaeus, gellt es in ihrem Kopf, o Hymen, Hymenaeus! Sie ist kalt, und ihre Muskeln sind hart und 170
verkrampft, o Hymenaeus, Hymen, o Hymenaeus! Sie sperrt sich, als die Pronuba sie ausziehen will, laß mich! fährt sie die Alte an, aber diese packt sie nur bei den Schultern und sieht ihr ins Gesicht: Es ist deine Pflicht, Iulia! herrscht sie das zitternde Mädchen an. Hörst du? Deine Pflicht! Gleichzeitig beginnt sie, Iulias Gürtel zu lösen. Ich will nicht! schreit Iulia plötzlich; sie weint und windet sich aus dem Griff der Alten, doch nicht lange, denn ihr Widerstand ist schwach, weil sie genau spürt, daß es keinen Weg gibt hinaus; sie schluchzt, während die Verwandte sie entkleidet, ihr die roten Schuhe auszieht, den Schleier und das Haar löst. Hör auf zu heulen, fordert die Pronuba, wie sollst du deinem Mann gefallen mit verschwollenem Gesicht? Es ist seltsam, aber diese Ermahnung wirkt. Du willst ihm doch gefallen, oder? lockt die Alte. So ein schöner junger Mann, dein Marcellus. Komm, leg dich hin. Sie richtet das Kissen, so daß Iulia halb aufrecht wie eine kleine weiße Venus auf dem Bett liegt. Aber was soll ich denn tun? fragt Iulia, und noch einmal steigen Schluchzer in ihrer Kehle auf. Gar nichts, mein Täubchen, sagt die Alte. Laß ihn zu dir kommen, alles andere findet sich. Draußen vor der Tür singt der Chor: Jetzt darfst kommen du, Bräutigam! Deine Braut liegt im Bett dir schon, Und ihr Blumengesichtchen strahlt Lilienweiß wie ein Blütenblatt, Brennend rot wie der Mohn glüht. Aber, Gatte, – so wahr mir die Götter beistehn – auch du bist schön. Ausgezeichnet hat Venus dich. Aber siehe, der Tag vergeht! Komm, verweile nicht länger! 171
Dann geht die Alte, löscht die einzige Lampe. Es ist dunkel, und Iulia wendet den Kopf zur fackelumloderten Tür. Dort steht Marcellus; seine schlanke, hohe Silhouette, schwarz, ohne Detail, ohne Gesicht; dort steht er, wortlos; ein Sklave löst die Spangen seines Gewandes, enthüllt ihn; dort steht Marcellus, wortlos, nackt; die jünglingshaften Formen wie ein Bild des geschmeidigen Apoll gegen die verglühende Sonne; aber je mehr sich Iulia in starrem Schrecken, in fasziniertem Schauen bemüht, das Bild zu fixieren, sich an die Gestalt heranzutasten, die vierzehn Jahre lang so vertraut war und nun die Fremdeste; je mehr sie den Mann mit ihrem Blick herbeizwingt und auf Distanz hält, desto unschärfer werden die Konturen, desto heller das Fackellicht, für einen Moment scheint es, als werde der Körper des Jünglings von den Flammen erfaßt; – er brennt! Er brennt! – Iulia riecht schon den beißenden Rauch, gemischt mit ätherischen Dämpfen, lärmend dringen die Stimmen tausender Menschen an ihr Ohr, Klageweiber heulen ihre bezahlte Trauer durch die Straßen, Schritte, Stimmen, das Prasseln von Holz, das vom Feuer verschlungen wird, Musik, laut, gräßlich laut und die Haut ebensosehr malträtierend wie das Gehör, die schrecklichsten, trostlosesten Töne, bis die Zähne schmerzen, als beiße man auf Metall; das ungehemmte, nie unterbrochene Schluchzen einer Frau, das Rom zu füllen, in Besitz zu nehmen scheint; Iulia in ihrer Trance weiß, sie ist es nicht selbst, die um Marcellus weint, sondern die Mutter, Octavia, verzweifelt schreit sie an gegen den Tod; Iulia aber ist ganz kalt, ganz trocken ihre Lippen, alles in ihr konzentriert sich auf das Feuer, das den Jüngling frißt – er brennt! Er verbrennt! – Und dann schießt die Flamme hoch, als habe jemand Öl hineingegossen; die Silhouette des Jünglings tritt zurück hinter die blendende Feuerwand, doch der Spuk dauert 172
nicht lange, bald verausgabt sich die zerstörende Hitze, nur noch hier und da glimmt es, zuckt es, dann wird alles grau, aschfarben; Iulia, die ihren Blick nicht eine Sekunde von der Tür gewandt hat, starrt auf den Mann, der dort steht; er ist groß, breit, mit mächtigen Schultern und starken Beinen; es ist nicht Marcellus; es ist eine andere Zeit, ein anderer Raum, eine andere Tür; das Licht von draußen ist weich, gelblich; der Mann ist nackt, ein Riese, mit muskulösem Nacken und kräftigen, fast groben Zügen im Halbprofil, da er dem Sklaven an seiner Seite einen Befehl gibt. Agrippa betritt ohne Umschweife das Brautgemach; der Sklave zündet sämtliche Lampen an, die an einem Kandelaber hängen; es wird hell im Zimmer; Iulia bedeckt sich hastig; der Sklave geht und schließt die Tür. Wir müssen miteinander reden, beginnt Agrippa so unvermittelt, wie er die Zeremonie der Hochzeitsnacht durch Licht unterbrochen hat. Er geht im Zimmer auf und ab, das für einen wie ihn viel zu klein scheint; seine Nacktheit stört ihn keineswegs; er ist in erster Linie Soldat und Seemann und die Künstler der Ehrenstatuen, die ihn in herkulischer Pose abbilden, schmeicheln ihm, weil sie seinen massiven Körper als Vorbild nehmen, ohne der griechischen Vorlage zu bedürfen. Iulia liegt auf dem Bett; sie kennt diesen Mann seit ihrer frühesten Kindheit; sie mochte ihn immer, seine halb grobe, halb weiche Natur, seine großen Hände, seinen geraden Gang; sie beobachtet ihn neugierig und, seit die Tür geschlossen, das Licht an ist und die Hochzeitsgäste anderswo weiterfeiern, ohne jene der mädchenhaften Angst gleichende Beklemmung, die die Braut befällt vor dem ersten Mal. Sie wäre bereit gewesen, mit ihm zu schlafen; sie hat es gelernt in den zwei Jahren mit Marcellus, hat sich in ihre Pflicht ergeben zunächst, hat es 173
hingenommen und gelächelt, notgedrungen, bis es sie angewidert hat, so sehr, daß sie sich hinterher übergeben mußte; in einem dieser Zustände hat sie Octavia gefunden, Schwester des Vaters, geliebte Tante; Octavia betritt das Haus, als ihr Sohn es beschwingt verläßt und findet ihre Schwiegertochter kotzend und heulend; es sei ihre Pflicht! schreit Iulia immer wieder, aber sie könne es nicht mehr ertragen! Es tue weh, immer noch, es sei ihr Untergang! – Deine Pflicht? sagt Octavia. Das auch. Aber verdammt – dies ist das erste Mal, daß Iulia aus dem Mund der hochanständigen Tante so ein Wort hört – aber verdammt, das ist nicht alles, mein Schatz. Und sie erzählt Iulia von ihrer eigenen Hochzeit – sie war fünfzehn – von ihrem ersten Mann; aber mit ihm hält sie sich nicht lange auf; ihre Augen bekommen Glanz, als sie von Marcus Antonius berichtet, seiner Liebe, seiner Zärtlichkeit, seiner Leidenschaft; sie umfängt Iulia mit ihren Geschichten, macht sie sehnsüchtig und weich; sie weckt in ihr das Verlangen, sich zu geben, sich hinzugeben; dem Geliebten, jenem Geliebten, Ungenannten, Ungekannten; – was ist Liebe? fragt Iulia, aber die Antwort, die sie erhält, ist unbefriedigend: Du wirst es wissen, wenn du es fühlst, sagt Octavia; und so gibt Iulia sich hin, ihrem Mann, Marcellus, lernt, in der Hingabe Gefühl zu entwickeln für die Sinnlichkeit des Mannes, der es kaum bemerkt, der sich kaum darum schert; er ist jung, immer bereit und schnell sich vergeudend; er bekommt immer, was er will; aber Iulia läßt sich nicht abhalten, davon zu lernen; wenig erfährt sie dabei über sich, doch sie dringt in das Reich des kleinen geflügelten Gottes ein, denkend, er sei männlich und das Männliche sei Eros; sie gibt sich hin, öffnet sich und lernt, Lust zu schenken wie eine junge gelehrige Hure; Marcellus nimmt das Geschenk an, erfreut sich an ihrer Neugier, ihrer Bereitwilligkeit, ihm zu 174
dienen, seinen Wünschen nachzukommen, ja, sogar neue, andere zu erfragen; es ist eine seltsame Befriedigung, die ihr aus dieser Hingabe erwächst; sie ist lustvoll und demütigend zugleich, weil nach jedem gelungenen Spiel etwas übrigbleibt, etwas Nichtausdrückbares, Sehnsüchtiges, Ungestilltes; Iulia kann ihm keinen Namen geben, aber manchmal reagiert ihr Körper auf die kurzen Begegnungen, daß sie keucht und mehr will und länger, heftiger, aber immer ist es zu Ende so bald, so abrupt… Agrippa, nackt und deutlich unbewegt von seiner neuen, jungen Frau in weichem Hochzeitsbett, redet weiter, schnell, ohne Unterbrechung, als wolle er keine Widerrede zulassen, nicht einmal den Gedanken daran. Ich habe dich geheiratet, weil dein Vater es von mir verlangt hat, sagt er knapp; seine Stimme ist tief, mit dem fast unmerklich heiseren Unterton des Kommandeurs, der zu oft gegen den Wind angeschrien hat oder gegen den Marsch der Soldaten, knarrendes Leder, Feldgetümmel; er hat es nicht einmal für nötig gehalten, fährt der zweite Mann Roms fort, zu dieser Hochzeit anwesend zu sein; ich weiß, er hat vor, die Ostprovinzen zu besuchen, aber als er mir von Sizilien aus die Depesche nach Lesbos schickte, ich solle mich nach Hause begeben, mich von Marcella scheiden lassen und dich umgehend zu ehelichen, hätte er Zeit genug gehabt, nach Rom zurückzukehren; nein, ich mache ihm keinen Vorwurf; dein Vater handelt, wie er handeln muß; er wird seine Gründe haben … Agrippa tritt nah heran an das Bett, in dem das Mädchen, die Braut, Iulia, zugedeckt liegt und ihn abwartend anschaut, nicht einmal fragend; sie ist ganz ernst, doch ab und zu kann sie nicht verhindern, daß unwillig und enttäuscht ihre Mundwinkel zucken; sie hat einen hübschen Mund, wie sie weiß, und sinnlos, unzusammenhängend, ohne daß sie es will, ärgert sie sich, daß dieser Mann dort keine Anstalten macht, 175
ihren Mund zu küssen. Iulia, sagt Agrippa freundlich, fast väterlich, ich habe auch Augustus gegenüber nicht so getan, als sei ich erfreut über die Wendung, die mein Privatleben nun nimmt. Ich … ich war mit Marcella glücklich, das weiß jeder … Ich … oh, Götter, sagt er plötzlich heftig, ich liebe sie, verdammt nochmal, ich liebe sie, wir waren glücklich, bis … Er wendet sich wieder ab, beginnt erneut, im Zimmer hin und her zu gehen, wird sich seiner Nacktheit bewußt, greift nach einem der weißen Leinentücher, die neben dem Krug mit duftendem Rosenwasser liegen, der bereit steht, damit lächelnde Sklavinnen das Brautpaar nach Vollzug der Ehe erfrischen können; Agrippa schlingt das Tuch um die Hüften, knotet es nachlässig. Iulia beobachtet ihn aufmerksam; mehr noch als durch seine Nacktheit vorhin treten nun durch das weiße Tuch die gesunde Kraft, das Spiel der Muskeln hervor; er verletzt Iulia mit seinen Worten, obwohl er ihr nichts Neues erzählt; sie fühlt sich zurückgewiesen, obwohl sie weiß, daß es nicht so sein dürfte, denn niemals bis zur Nachricht ihres Vaters hat sie an Agrippa gedacht als Mann, sie hat ihn nicht heiraten wollen, sie empfindet für ihn dasselbe wie für einen netten Onkel, aber die schöne Cousine, von der er sagt, er liebe sie, er sei mit ihr glücklich gewesen, wird ihr unvermittelt zur Konkurrentin, jetzt, da sie selbst seine Frau, Marcella aber die Verlassene ist. – Die Trauung, der Bund, die Formalitäten des Ehevertrags und das rituelle Geleit haben noch alle verleitet: Wo kein Anspruch war, wächst ein Anspruch hervor, wo zwei Liebende, frei und einzeln, nie gewagt hätten zu fordern, gewöhnen sie sich in der Ehe ans Fordern; selbst aber wo kaum ein Mögen für den anderen da war, zieht der Bund doch den Neid und die Eifersucht nach sich auf jene, denen das Gefühl des anderen gelten könnte; was man nie begehrte, will man 176
nun besitzen, weil man glaubt, ein Recht darauf zu haben; es sind Neid und Eifersucht, die rote Flecke auf Iulias Wangen treiben; gleichzeitig fühlt sie sich ohnmächtig, gedemütigt; sie sieht Agrippa dort stehen, kühl und abweisend, der Trauer hingegeben um die Geliebte, und voller Abwehr begehrt sie ihn, will ihn haben und doch nicht haben, weil er ja die andere liebt – und gerade deswegen! Sie errötet noch tiefer, es sammelt sich erwartungsvolles Empfinden dort, wo ein sanfter Druck der Schenkel gegeneinander daran erinnert, daß diese Nacht, die Hochzeitsnacht, Hymen geweiht ist und der Göttin der Lust. Du wirst dich nicht über mich zu beklagen haben, fährt Agrippa ruhiger fort. Von uns wird erwartet, daß wir Kinder in die Welt setzen; dein Vater hat keinen Sohn, nur dich, daher wünscht er sich Enkel, vor allem männlichen Geschlechts; die Ehre, die mir zuteil wird, dein Ehemann zu sein, Vater deiner Kinder, Vater des Mannes, der einst die Nachfolge des Kaisers antreten wird, ist groß, ich erkenne sie durchaus als das, was sie ist bei meiner Herkunft, meinem Rang; sie ist eine Gnade; ich werde mich der Erhebung würdig zeigen; du bist meine Frau, Iulia; ich bin dein Mann; wir kennen uns lange; ich mag dich, und ich glaube, daß auch du Freundschaft für mich empfindest; unsere Ehe wird von gegenseitiger Achtung getragen sein, wie ich hoffe … Ehre, Gnade, Achtung, stößt Iulia hervor; sie ist wütend aus Gründen, die sie vage nur ahnt; die Freiheit, die sie sich nimmt, erschreckt sie ein bißchen, doch sie hat keine Angst vor diesem Mann, der so alt ist wie ihr Vater, aber ungleich vertrauter, weil ihm das Schillernde, Wechselhafte fehlt; was er sagt, ist immer eindeutig, sein Wesen ist offen, einfach, manchmal derb; Iulia kennt ihn viel zu gut und zu lange, um jene heilige Scheu zu 177
verspüren, die sie in Gegenwart ihres Vaters befangen macht und klein. Ist das alles, was mich erwartet? fragt sie. Agrippa sieht stirnrunzelnd zu ihr hinüber. Was meinst du damit? Gefalle ich dir nicht? fragt sie ein wenig zaghaft. Erstaunt schweigt er zunächst, man sieht, daß er nachdenkt, überlegt, was er auf Iulias überraschende Frage antworten soll, dann, mit dem Anflug eines Lächelns, erwidert er langsam: Doch, Iulia, du gefällst mir. Wir werden hübsche Prinzen und Prinzessinnen zeugen. Aber nicht heute nacht? Er muß lachen ob ihrer Direktheit. Gleich darauf schüttelt er den Kopf, sein ausdrucksvolles, wenngleich nicht schönes Gesicht wieder ernst. Gib mir Zeit, sagt er. Wie lange? Nicht lange. Ich muß bald nach Gallien … Und vorher muß ich schwanger sein, vollendet Iulia seinen Gedanken; sie wollte nicht, daß es so verletzt und bissig klingt, aber nun, da es heraus ist, schämt sie sich nicht. Agrippa, erneut verblüfft, starrt ihr in das noch mädchenhaft volle Gesicht, sieht ihr in die grauen Augen, aus denen sie seinen Blick freimütig und fast herausfordernd erwidert; diese Augen scheinen so wenig zu der jugendlich-fülligen Gestalt, dem kleinen naiven Mund und der frischen Röte der Wangen zu passen; sie verraten die Erinnerung an Unordnung und frühes Leid, aber auch Wut und Härte und eine Spur jener ausgelassenen Fröhlichkeit, mit der, wie er oft genug erfahren hat, Iulia sich darüber freuen kann, unterwegs von einem plötzlichen Regenschauer überrascht zu werden 178
und mit klatschnassen Kleidern nach Hause zu rennen oder mit der sie einem jungen Kitharöden applaudiert, der vielleicht keinen Namen und nicht die Perfektion eines Tigellinus hat, dafür aber um so leidenschaftlicher singt. Iulia bemerkt, wie sich Agrippas Gesichtsausdruck verändert; sie kann es nicht deuten, nur, daß es schmeichelhaft für sie ist, was er empfindet, fühlt sie. Wirst du ewig um Marcella trauern? fragt sie und bereut es sofort, denn Agrippa, versunken in die Betrachtung seiner Braut, strafft sich; an seinem Hals pulsiert sichtbar das Blut. Gib mir Zeit, ist alles, was er erneut erwidert, barsch diesmal, nicht bittend. Willst du in dein Zimmer gehen? Ich könnte nicht, selbst, wenn ich wollte. Man erwartet von uns, daß wir zusammen schlafen. Glaubst du, ich möchte dem neugierigen Pack schon jetzt irgend etwas zu geifern geben? Iulia folgt einem Impuls und rückt im Bett zur Seite. Ich nehme an, du möchtest nicht die ganze Nacht stehen oder herumlaufen? Agrippa muß wider Willen lächeln. Nein, das nicht. Laß mich noch eine Weile aufbleiben. Schlaf, wenn du möchtest. Kein Gedanke an Schlaf! Doch sie nimmt an, daß hier und heute nacht nichts weiter zu gewinnen ist – was zu gewinnen wäre, darüber ist sie sich noch nicht einmal im klaren; daß sie überhaupt etwas zu gewinnen hofft, ist neu genug; – Iulia jedenfalls bittet nur, einige der Lampen zu löschen und schließt die Augen, als es geschehen ist; sie hört Agrippa noch eine Weile auf und ab gehen; er setzt sich schließlich aufs Bett, bleibt eine Zeitlang einfach sitzen; sie hört seinen Atem, spürt die Wärme seines 179
Körpers; lange liegt sie da mit geschlossenen Augen, tut, als ob sie schlafe, horcht auf den Mann an ihrer Seite, fragt sich, was er denkt, fragt sich, wie es ist, zu lieben und den Menschen, den man liebt, verlassen zu müssen, fragt sich, ob sie selbst jemals lieben wird, jemals geliebt werden wird; was sie hier tut, entschädigt sie auf seltsam sinnvolle, traurige Weise für den Mangel an ehelicher Zuwendung, obwohl sie auf keine dieser Fragen eine Antwort findet. Endlich, kann sein, daß es schon auf Morgen zugeht, seufzt Agrippa und läßt sich leise, vorsichtig, wie um Iulia nicht zu wecken, auf die Matratze sinken; diese gibt nach unter seinem Gewicht, und Iulia rutscht ein wenig hinüber zu ihm, gerade so, daß ihr Arm seinen Arm berührt; sie bemerkt es, doch sie nimmt ihn nicht weg, gibt auch nicht zu verstehen, daß sie wach ist; Agrippa bleibt auf dem Rücken liegen; sein Atem geht schwer zunächst, aber es dauert nicht lange, bis er ruhiger atmet und tief und gleichmäßig. Er schläft. Iulia wacht bis in den neuen Tag hinein. Niemand kommt; man läßt das junge Glück ausschlafen; durch die Ritzen der Tür und des Fensterladens dringt Morgenlicht; schon hört sie die Schritte eiliger Sklaven, die auf bloßen Füßen über den Steinboden huschen, gedämpfte Stimmen, die bald wieder verklingen; um das Brautzimmer macht der Haushalt noch eine Weile einen großen Bogen, bis auf die vertrautesten Dienerinnen und Diener, die sich still in Rufweite halten, immer da, doch unbemerkbar. Iulia stützt sich sachte auf einen Arm und betrachtet ihren Mann, der neben ihr liegt genau wie er sich zu Anfang gebettet hatte, auf dem Rücken, nackt, denn das Tuch, mit dem er sich in der Nacht bedeckte, hat sich gelöst. Agrippa schläft offensichtlich noch fest, doch sei es, daß er träumt, sei es, daß sein Körper sich der Gefährtin bewußt ist – ein Teil von ihm schläft nicht, hat sich erhoben wie der jungen 180
Frau zum Gruß. Iulia bemerkt es und lächelt; sie beobachtet es eine Weile, bis ihre Phantasien beginnen, sich selbst Geschichten zu seinem Gebrauch zu erfinden; der nächstliegende Gebrauch wäre, es zu berühren, mit den Lippen, der Zunge, den Händen; sie wagt es nicht, weil sie Agrippas Erwachen, seinen Zorn fürchtet; doch es ungenutzt zu lassen widerstrebt ihr gleichfalls; – ihn gefangennehmen, daß er nicht wegkann, ihn umhüllen, bis er nicht mehr weg will -; sie weiß nicht, warum diese Gedanken sie packen, sie mag gar nicht wissen, woraus sie den Mut schöpft, einen Mut, der eher verwegener, kitzelnder Mutwille ist; sie tut es jedenfalls: nymphengleich, federleicht und behende nimmt sie den Mann in Besitz, nimmt ihn langsam, vorsichtig in sich auf; seine Augenlider flattern für einen Moment; Iulia erschrickt und will sich schon retten, doch dann geschieht nichts, als daß er daliegt; er muß wohl wach sein, denn sein Atem ist nicht mehr zu hören; aber er liegt ganz ruhig, ganz warm; nur der Puls an seinem kräftigen Hals klopft schneller … Sie verhält sich ganz still, sitzt da und spürt der Wärme nach und dem leisen Ziehen in ihrer Mitte; – es ist gut so, nicht wahr? Nur nicht rühren, abwarten; was habe ich getan? Ist es so schlimm? Er ist wach, aber er will nicht, daß ich es merke; solange er nichts gegen mich sagt, mich nicht wegschickt, ist es gut; es ist doch gut, nicht wahr, Agrippa? – Sie redet stumm mit ihm, fragt ihn viele Dinge, die ohne Antwort bleiben, was sie nicht stört, denn das Reden in ihrem Kopf gehört zum Spiel, ist Ablenkungsmanöver, unter dem Reden konzentrieren sich ihre Sinne auf etwas ganz anderes: Ist es mehr so, daß er in ihr ist, oder wird er vor allem von ihr umschlossen; wo ist die Grenze zwischen Innensein und Umschlossenwerden, zwischen Eindringen und Eingesogenwerden; es erregt sie, sich die Membranen 181
zartester, heißester Haut vorzustellen, die aneinanderreiben und sie atemlos machen; die Luft, die sie atmet, dringt nicht mehr bis in die Tiefe ihrer Lungen, und mit jedem Atemzug, der nicht mehr bis hinunter reicht, zittert Lust durch Iulias Körper. Obwohl sie sich kaum bewegt, wächst diese Lust zu Taumel und jähem Erschrecken wie sie es als Kind das erste Mal spürte, auf den Knien desselben Mannes, der Hoppe-Reiter mit ihr spielt, sie nach wildem Ritt fallen läßt und sie auffängt, sie fallen läßt und sie auffängt, süße, taumelnde Lust und jähes Erschrecken; Iulia schließt die Augen und überläßt sich ihrem Körper, biegt ihren Rücken nach hinten, senkt den Kopf weit in den Nacken; die Muskeln in ihren Oberschenkeln spannen wohlig und dehnen sich, als sie mit den Schultern die ausgestreckten Beine Agrippas berührt; all ihr Empfinden drängt nun zu einem Punkt, jenem Punkt, an dem sie beide verbunden sind; ihre Körper entfalten sich wie ein Blatt, das, am Schaft ungetrennt, sich nach zwei Seiten spaltet; Iulia läßt sich tragen, stumm, äußerlich fast reglos, nur ihre Brüste heben und senken sich in schwingendem Atem, ihr Mund ist halb geöffnet und rot, ihre Hände fühlen sich heiß an und feucht; diesmal, dieses Mal … nicht mehr lange, nicht denken, nicht denken … es wird … es muß werden; aber das Werden retardiert, stockt, schmerzhaft zieht sich die Lust in sich selbst zurück, und Kälte kriecht in den Raum wie ein eisiges Tier; das kalte Tier haucht seinen Eisatem in alle Winkel des Zimmers, von wo aus Klammheit das Bett zuerst, dann die Laken, dann die sich Paarenden erfaßt; Eisdampf legt sich wie Reif auf die Haut, verbindet sich mit dem Schweiß zu feuchter Hülle; Iulia, aus schwebender Trance nur widerwillig sich lösend, fröstelt, als das Tier unsichtbar näherkommt; Angst erfaßt sie, unfähig, sich zu rühren, spürt sie Agrippa unter sich kalt 182
werden; sein mächtiger Körper unter ihr gefriert; sie will etwas sagen, rufen, doch der Frost lähmt ihre Zunge; nur ihr Herz ist stark und pulsiert an gegen die Kälte; sie zittert, als die geeisten Flügel des Tieres über sie hinstreichen – Agrippa! Agrippa! – Alle Wärme weicht aus dem Raum, alles wird klamm und starr; – Agrippa! – Er ist starr und kalt … Das eisige Tier haucht seinen Atem nach oben, und er kommt zurück als Schnee, harter, prickelnder Schnee, der in Eisregen übergeht, Wind treibt ihn nahezu waagerecht in Iulias Gesicht; es ist eine andere Zeit, ein anderer Ort; Iulia verhüllt das Gesicht mit der Kapuze ihrer Stola und stemmt sich dem Wind entgegen; sie wirft einen Blick zurück zum Flußhafen, wo die Barkassen entladen werden, aber sie kann im Schneetreiben kaum etwas erkennen, alles verschwindet hinter der weißen Wand; das Weiß jedoch blendet nicht, weil kaum das Nachmittagslicht ausreicht, den Dingen Gestalt zu geben; die grauen Häuser der Stadt mögen bei gutem Wetter freundlich und reich wirken; heute aber sind ihre Fassaden kalte eisenfarbene Wehren: Zutritt verboten, komm nicht näher! Hinter unseren Mauern sind die Herzen der Menschen so erfroren wie der Kanal, auf dem das Eis in Schollen treibt. Eines dieser Häuser öffnet sich dennoch den Neuankömmlingen, die zu dieser Jahreszeit – im November – noch reisen; herbei eilt der Verwalter, die hohen Gäste zu grüßen; Augustus, mit steifgefrorenen Fingern und immer wieder erschauernd vor Kälte, opfert den Laren, spricht das Gebet, obwohl seine Lippen aufgesprungen sind und die Kiefer nahezu unbeweglich vor Frost. Iulia drängt an ihm vorbei, nur weg aus der zugigen Eingangshalle; sie nimmt in Kauf, ja provoziert Livias mißbilligenden Blick; die Fürstin steht fromm neben ihrem Gatten; daß sie friert, ist ihr nicht anzumerken; Tiberius, ungeduldig, doch höflich, wartet im 183
Hintergrund, bis die Weihehandlung vorbei ist; neben ihm Phoebe, die das Gebet leise mitmurmelt; ganz zum Schluß das Kindermädchen mit dem kleinen Agrippa auf dem Arm; die dicken Wangen des Anderthalbjährigen brennend rot von der beißenden Kälte, aber es scheint ihm nichts auszumachen; aus großen schwarzen Augen blickt er neugierig in die Welt. Im Tablinum ist geheizt; aus bronzenen, dreifüßigen Öfen dringt Wärme, aber auch beißender Holzkohlenrauch. Augustus zieht sich sofort zurück; Livia geht ebenfalls und verwandelt ihr Zimmer, das im ruhigsten Trakt des Hauses gelegen ist, sofort in das, was Iulia Kommandozentrale nennt; mit schneidend freundlicher Stimme gibt die Frau des Kaisers Anweisungen, dann setzt sie sich an den Schreibtisch und beginnt, während sie selbst sich Notizen macht, Depeschen zu diktieren. Iulia schickt das Kindermädchen mitsamt ihrem Jüngsten, die Wohnsituation zu erkunden und bleibt selbst mit Phoebe im Tablinum zurück; sie wirft ihren Mantel über einen Stuhl und drapiert sich lässig auf eine Kline. Haselnüsse, Walnüsse, Äpfel laden in einer Schale auf dem kleinen Tischchen davor zum Naschen ein. Ich reise ab! verkündet sie und knackt mit bloßen Fingern eine Walnuß, schält das Innere heraus und schiebt es in den Mund, schmeckt die Qualität und lächelt anerkennend; anscheinend taugt der Verwalter etwas … Heute noch? erkundigt sich Phoebe spöttisch. Iulia wirft eine Walnuß nach ihr. Nein, natürlich nicht. Dein Vater wird dich nicht lassen. Er wird müssen. Ich weigere mich, hierzubleiben. Aquileia ist eine Zumutung! Du wirst dich daran gewöhnen. 184
Niemals! Dieses elende Kaff. Diese Trostlosigkeit. Was soll ich hier? Bei deinem Mann sein. Du meinst, mich ein sechstes Mal schwängern lassen? Von Tiberius diesmal? Diesem … diesem … Ekel? Ich habe drei Söhne von Agrippa und zwei Töchter. Reicht das nicht für ein Leben? Mein Vater kann nur einen auf den Thron setzen. Was soll er mit dem Rest? Phoebe wendet sich ab, sagt: Ich mag es nicht, wenn du so redest. Nein? Iulia lacht. Warum nicht? Weil es die Wahrheit ist? Bei allen Göttern, ich könnte mir was Schöneres vorstellen, als in der Provinz mit Vater, Schwiegermutter, Ehemann und nörgelnder Freundin festzusitzen und aufs Frühjahr zu warten. Ich will nach Rom! Dort sind meine Freunde, dort gehöre ich hin. Wir sind nicht zum Vergnügen auf dieser Welt, bemerkt Phoebe bissig. Du redest wie mein Vater, sagt Iulia und höhnt: Die Pflicht, die Pflicht! Und hat er nicht recht? Ach, geh zum Styx! Tiberius schlendert herein; er hat sich umgezogen, trägt eine warme Toga, leger geknotet; in der Hand hält er einen Becher mit Wein; Polydeukes, sein Lieblingssklave, begleitet ihn. Iulia versucht, in seinen Augen den Grad seiner Trunkenheit zu bestimmen; er weicht ihr aus und bedeutet Polydeukes, Musik zu machen. Dieser nimmt die Kithara, die er vorzüglich spielt, wie auch seine Stimme gut ausgebildet ist, und beginnt. Mir ist nicht nach Musik, faucht Iulia. 185
Dann geh in dein Zimmer, erwidert Tiberius ungerührt. Ich war zuerst hier, beharrt Iulia; sie ist sich bewußt, wie kindisch es klingt, doch ihr Widerwille gegen diesen Mann ist so groß, daß sie sich ewig umsonst um Haltung bemüht. Phoebe, Streit ahnend, geht zur Tür. Ich kümmere mich darum, daß unsere Räume geheizt werden. Abrupt verläßt sie das Tablinum. Danke, ruft Iulia ihr hinterher. Zwei Sklaven bringen einen silbernen Mischkrug, gießen Wein hinein und Wasser und streuen Kräuter darüber, rühren um, daß der Löffel gegen die metallenen Wände tönt und schöpfen die rote Flüssigkeit in den Becher, den Tiberius ihnen hinhält. Willst du dich schon vor dem Abendessen betrinken? fragt Iulia. Geht es dich etwas an? Iulia würdigt ihn keiner Antwort, sondern wendet sich an einen der Sklaven: Gib mir auch etwas davon. Der Knabe füllt einen weiteren Becher, reicht ihn Iulia, die daran nippt, das Gesicht verzieht und ihn dem Sklaven hinhält. Mehr Wasser! Folgsam kippt der Kleine ein Drittel des Weins zurück in den Krug und gießt Wasser aus einer Karaffe in den Becher, woraufhin er sorgsam umrührt. Hier, Domina. Iulia nimmt ihr Getränk und nippt erneut. Gut, sagt sie zufrieden. Merk dir die Mischung. Sie geht zu Polydeukes. Wenn du schon Musik machen mußt, dann hör wenigstens auf zu singen. Spiel meinetwegen Flöte. Der Junge, nicht mehr Knabe, noch nicht Mann und von jener fast metallischen Schönheit, die dunkelstes Haar und 186
blaue Augen hervorbringen, schaut fragend zu Tiberius. Der nickt und winkt gnädig seine Zustimmung. Ich reise übrigens ab, sagt Iulia. Aquileia wird nicht die Ehre haben, mich lange in ihren Mauern zu behalten. Vergiß es, erwidert Tiberius. Die Schiffahrt ist eingestellt ab heute. Dann fahre ich über Land. Weder dein Vater noch ich werden dir eine Eskorte stellen. Ich fahre trotzdem. Ich werde es zu verhindern wissen. Warum? schreit Iulia ihn an. Was hast du davon? Dir liegt doch nicht das Geringste daran, ob ich hier bin oder am Ende der Welt. Richtig. Tiberius lächelt und trinkt. Warum sollte ich dann nicht reisen? Weil es mir Freude macht, dich ein wenig zu quälen, Iulia, erwidert Tiberius immer noch lächelnd. Das weißt du doch. Du … du … Bastard! Mit drei Schritten steht sie vor ihm und schüttet ihm den Inhalt ihres Bechers ins Gesicht. Rot läuft der Wein von der Stirn, dem durchnäßten Haar, die Wange hinunter und färbt den Ausschnitt der Toga. Sofort ist ein Knabe neben ihm, der ihm ein Tuch reicht, im Wasserkrug befeuchtet. Tiberius wischt sich nachlässig trocken. Du irrst dich, Iulia, sagt er knapp. Bastard ist das falsche Wort. Ich bin durchaus ehelich gezeugt. Was man von Agrippas postumen Nachkömmling nicht unbedingt behaupten möchte. Verleumder! 187
Jeder kann es sehen. Lügner! Weißt du, Iulia, sagt Tiberius und legt ihr eine kühle Hand in den Nacken, mit der er die Widerstrebende zu sich zieht, ich meinesteils werde dafür sorgen, daß unsere Kinder von mir sind. Sie riecht den Alkoholdunst seines Atems, sieht seine bernsteinfarbenen Augen boshaft schimmern, und macht sich mit einem Ruck frei. – Du wirst mich nicht anrühren. Nein? Niemals! Weiß dein Vater von dieser Einstellung? Oder hast du dich wieder geduckt und Klein-Iulia gespielt, statt ihm zu sagen, daß ich ein Schwein bin, daß ich dich anwidere, weil ich saufe und Knaben vögele? Hättest du ihm meine ganzen Charakterfehler aufgezählt, hätte er dich vielleicht Witwe bleiben lassen oder dich endlich mit Proculeius verheiratet, dem Arschkriecher. Er lacht und kommt erneut auf Iulia zu. Warum hast du ihm nicht gesagt, daß du lieber auf die Straße gehen würdest, als mit mir Kinder zu machen? Hör auf, Tiberius! Du bist betrunken! Noch nicht sehr, mein Schatz. Du weißt doch, daß ich einiges vertrage … Ich gehe auf mein Zimmer. Bleib hier. Tiberius hält sie am Arm fest; sie wehrt sich, doch sein Griff ist so brutal, sein Wille so stark, daß sie stillhält, weggewandt, so daß ihr Arm halb verdreht ist. Warum sind wir nicht einfach eine Weile nett zueinander, Iulia? flüstert er anzüglich. Gib doch zu, daß es dich reizt, herauszufinden, wie es mit uns beiden wäre. Du bist verdammt überzeugt von dir. Laß mich in Ruhe. 188
Na schön. Unerwartet gibt Tiberius nach, läßt sich Wein nachgießen, bedeutet dem Sklaven, auch Iulia einen Becher zu reichen. Setz dich. Er führt sie zu einem bequemen Stuhl; sie versteift sich, aber er verdreht ihr das Handgelenk, daß sie mit einem Aufschrei niedersinkt. Entspann dich, fährt er fort. Wir sollten besprechen, wie wir unseren Aufenthalt hier gestalten. Getrennt, bis ich abreise, faucht sie. Du tust mir weh! Gern, erwidert er lächelnd. Sadist! Er läßt sie los, und sofort steht Iulia auf, ohne aber Distanz zwischen sich und ihn bringen; sie weiß nicht, warum sie sich überhaupt auf dieses Gespräch eingelassen hat; sie tut es wie unter Zwang; alles in ihr sträubt sich dagegen, sie möchte schweigen, stumm sein, aber etwas zwingt sie zu reden, Beleidigungen auszuspucken, die keine Wirkung zeigen, nein zu sagen, wo doch von vornherein jede Weigerung vergeblich ist; ihre Glieder fühlen sich schwer an, lähmend hüllen sie Haß ein und ohnmächtiges Wollen; sie möchte gehen, rennen, davonlaufen, aber etwas, das stärker ist als sie, zwingt sie zu bleiben, zu hören, ja sogar die Nähe des Scheusals zu suchen; jede Beleidigung, die sie gegen ihn schleudert, scheint das Band aus Ekel und Wut, das sie verbindet, fester um sie zu schlingen; grinsende, häßliche Dämonen ziehen die Schlinge zu, immer weiter, immer enger, bis die beiden Menschen, Mann und Frau, die auseinanderstreben, sich treffen, Körper an Körper, Gesicht an Gesicht, zähnefletschend, geifernd; enger wird das Band, immer enger schnürt es sie ein; Iulia schlägt auf Tiberius ein, mitten in sein Gesicht, aber er beugt sich zur Seite, daß sie nur seine Schulter trifft; sie schreit vor Wut und Schmerz, als er sie in den Hals beißt, erst ganz zärtlich, dann mit klaffendem Kiefer zupackend und die Zähne in die zarte 189
Haut grabend, bestienhaft; Iulia tritt zu, beengt, schwach vor ohnmächtigem Zorn und plötzlich aufschwappender Angst; Tiberius lacht, greift in ihr Haar, seine Faust zieht ihren Kopf nach hinten; er ist viel größer als sie, und als sie den Mund öffnet, schmerzverzerrt, erstickt er ihr Stöhnen mit seinen Lippen, küßt sie, daß die Zähne hart aufeinandertreffen; dann läßt er ein wenig nach, löst die ins Haar gekrallten Finger, umspielt mit der Zunge ihre Lippen; sie versucht, den Kopf wegzudrehen, doch sofort verstärkt er den Griff erneut, beißt sie in die Unterlippe, so fest, daß sie aufschreit; küß mich, flüstert er, du willst es doch. Laß mich! Laß mich los! Aber nein, mein Schatz. Du warst noch nie so entgegenkommend wie heute. Ich hasse dich! Ich dich auch, Geliebteste. Dann laß mich gehen! Ihre Stimme überschlägt sich; sie windet sich, strebt nach außen, wehrt sich gegen die Fessel, aber sie spürt, sie ist zu schwach, schon drohen ihre Knie nachzugeben. Tiberius lacht leise und schiebt Iulia rückwärts zur Kline, bis sie zwischen ihm und dem Möbel gefangen ist. Dreh dich um, fordert er sie auf, doch er wartet nicht auf ihren Widerstand, packt sie, dreht ihren Arm auf den Rücken, wie er einen diebischen Sklaven anpacken würde, auf frischer Tat ertappt; Iulia beißt die Zähne zusammen, um nicht zu schreien; gewaltsam wendet Tiberius sie, bis sie ihm den Rücken kehrt, hält ihren Arm und preßt mit der anderen Hand ihre Brust, bis Iulia nicht anders kann als aufzustöhnen vor Schmerz. Bück dich, befiehlt er, schiebt den Rock ihres Kleides bis über die Hüften nach oben. Sie wehrt sich; er lacht nur und bezwingt sie mit 190
physischer Kraft; sie wird ganz kalt, innerlich wie äußerlich reglos; Tiberius nimmt sie wie er seinen Lustknaben nehmen würde, ohne Vorbereitung, ohne Vorsicht… Du Schwein! schreit Iulia; kaum ist es noch Schrei, schon ein Kreischen, verzweifeltes, schrilles Geräusch; Tiberius lacht, beugt sich über sie und flüstert unaufhörlich Obszönitäten in ihr Ohr; Iulia würgt, Tränen rinnen ihr übers Gesicht, aber es kommt kein Laut über ihre Lippen – vorbei, irgendwann geht es vorbei, es kann nicht mehr lange dauern, vorbei – doch es ist nicht vorbei; Tiberius zieht sich wohl zurück, jedoch nur, um die andere Pforte zu wählen, brutal und entschlossen. Nein! Nicht so! schreit Iulia gequält; zur Angst, zur Verwundung kommt die Panik vor der erneuten Schwangerschaft. Nein! Tiberius! Nicht so! kreischt sie in seinen Orgasmus hinein, den er herausbellt wie ein heiserer Kettenhund anschlägt in der Nacht. Genau so, mein Liebling, sagt er keuchend, lachend; er löst sich von ihr, trinkt seinen Becher leer und geht aus dem Zimmer. Iulia sinkt vor dem Sofa auf die Knie, zitternd, verletzt; sie würgt, kann sich nicht erbrechen; Tränen rinnen über ihre Wangen, aber sie weint nicht; sie zerrt an ihrem Kleid, bis es sie wieder bedeckt, dann stützt sie sich auf die Polster, steht mühsam auf; es ist niemand mehr im Raum, die Sklaven, Polydeukes, haben sich verdrückt schon beim Streit; Iulia schleppt sich zum Tisch, schöpft Wein in einen Becher, trinkt hastig, verschluckt sich, hustet; alles tut weh beim Husten; sie wendet sich um, erschrickt, jemand steht in der Tür; es ist nicht Tiberius – Augustus … Was hat er gesehen? Was gehört? Wie lange steht er dort schon? – Er steht nur da und starrt seine Tochter an, als wäre sie eingedrungen in dieses Haus ohne 191
Recht; sein Blick ist abschätzig, feindselig fast, und ihr erster Impuls, sich ihm zu nähern, versiegt; stumm steht sie da, den Becher in der Hand – was hat er gesehen, gehört? Wie lange steht er schon da? – Sie will etwas sagen, doch Augustus wendet sich ab, so rasch, daß Iulia kaum reagieren kann. Sie möchte ihm sagen: Du hast es so gewollt! Schau mich an in meinem Elend! Du hast es so gewollt! Sie hat das Bedürfnis, ihn festzuhalten an seiner wohlanständigen Toga, deren Stoff Livia gewebt hat, ihn festzuhalten, an ihm zu zerren, ihn zu schütteln, bis er ihr Rede und Antwort steht. – Warum? will sie ihn fragen. Warum tust du mir das an? Warum stehst du mir nicht bei? Warum liebst du mich nicht? Warum nur, warum? – Vater, ruft sie leise. Sie hört seine Schritte im Gang, läuft hinter ihm her, alles schmerzt, fühlt sich rauh an, aufgerieben, zerrissen, aber sie läuft hinter ihm her. Vater, ruft sie, und es ist, als käme der Ruf von weither als Echo zurück; der Gang ist düster, der Vater, der vor ihr hereilt, ein Schatten, ein Schatten, der sich immer weiter entfernt, obwohl sie nicht langsamer läuft als er; der Gang aber scheint sich aus sich selbst zu verlängern, höher zu werden und breiter; ihre Schritte hallen von den kahlen Wänden wider, vermischen sich mit dem Echo ihrer Rufe, immer lauter und lauter dröhnt es um sie, dringt in ihren Kopf ein, sie läuft und läuft, aber der Schatten ihres Vaters schwindet, löst sich auf in der Düsternis; so sehr strengt sie ihre Augen an, ihn festzuhalten, nicht zuzulassen, daß er ihr entgleitet, daß die Augäpfel anfangen zu brennen und ein Schmerz sich in der Mitte der Stirn eingräbt wie unaufhörliche Beilhiebe, Vater! ruft sie in das Brausen der Töne, rennt, keucht vor Anstrengung, meint einmal sogar, ihm näherzukommen, ihn wieder deutlicher zu sehen, Vater! Vater! Doch ihre Stimme verklingt, erreicht, dünn und brüchig geworden, nur noch sie selbst, ihr eigenes 192
Ohr, nicht einmal mehr ein Echo fängt sie auf; die Anstrengung wird mit einem Mal ungeheuerlich, überhaupt die Lippen zu bewegen, Laute hervorzubringen, die Worten ähneln; als kehre sich der Prozeß um, kehren die Laute, die Worte, in Iulias Mund zurück, füllen ihn, drohen ihre Kehle zu verstopfen, bis sie meint zu ersticken; sie ringt nach Luft, reißt die brennenden Augen auf; der messerscharfe Schmerz in der Mitte der Stirn macht, daß sie nichts sieht. – Wo bin ich? Laufe ich, liege ich, falle ich? Wo bin ich? – Eine Wand, Stoff, kein Boden unter den Füßen, Schwere, fliegende Schwere; – sie setzt sich ruckartig auf in ihrem Bett; sofort geht der Atem leichter, löst sich der Krampf; die Schatten weichen, und Iulia findet zuerst ihren Körper, langsam dann auch ihr Denken und Fühlen in jenem Zimmer wieder, in dem sie, der Göttin vertrauend und den geweihten Krautern, hinüberglitt ins Erinnern. – Es ist vorbei. Vorbei. Es ist alles gewesen. Vergangenheit. Es tut nicht mehr weh. Es ist vorbei. Vorbei … – Scribonia kommt, wie sie auch in den vergangenen Stunden oft kam, voller Mitleid, zugleich jedoch sorgfältig darauf achtend, die Tochter nicht aus der Trance zu lösen; die Göttin nimmt es übel, wenn man sich in ihr Werk mischt. Iulia, fragt sie sanft. Bist du wach? Iulia, angekleidet und mit angezogenen Beinen dasitzend, die Arme um die Knie geschlungen, hat den Kopf auf die Knie gelegt. Ich weiß nicht, ob ich wach bin, antwortet sie, ohne aufzublicken. Es war so real, daß ich nicht weiß, ob ich hier bin oder dort in meiner Erinnerung. Möchtest du etwa zu trinken? Bitte. Scribonia reicht ihr einen Becher mit Wasser; Iulia trinkt durstig, hörbar schluckt sie und verlangt nach mehr. Ihre Mutter füllt den Becher erneut; diesmal trinkt Iulia langsamer, hält schließlich inne. Es war furchtbar, flüstert 193
sie. Weißt du nun, was geschehen ist? Iulia schüttelt den Kopf. Das Fest habe ich nicht besucht in der Erinnerung. Die Göttin hat mir anderes zeigen wollen. Was? Frag mich nicht. Es war so furchtbar. Sie läßt den Kopf erneut auf die Knie sinken. Vorerst werde ich, glaube ich, von weiteren Versuchen Abstand nehmen. Wie spät ist es? Um die zweite Nachtstunde. Geh nicht weg. Ich gehe nicht weg. Ich habe wahnsinnige Kopfschmerzen. Du mußt schlafen. Iulia streckt sich aus; es kostet sie Mühe, die Augen offenzuhalten. Vergessen, murmelt sie. Ich muß vergessen. Doch noch einmal fährt sie hoch. Warum sind wir hier, Mutter? schreit sie. Warum, verdammt, bin ich nicht zu Hause? Dein Vater hat es so gewollt. Ich hasse ihn, sagt Iulia ganz ruhig. Ich hasse ihn so, daß ich daran zugrunde gehen möchte. Scribonia deckt sie zu. Du mußt schlafen, Liebes. Nicht denken. Iulia dreht sich auf die Seite, zieht die Knie an; zusammengerollt liegt sie da; einen Arm über das Gesicht gelegt. Du hast recht, Mutter. Nicht denken, murmelt sie noch, ehe sie sich tiefem, traumlosem Schlaf anverwandelt. So recht … Nicht denken … niemals mehr denken …
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TUMULTUS
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I. Das Haus, die Villa auf der Nordklippe von Pandateria, ist vielgestaltig und weitläufig wie eine Stadt; aber kann ein Haus auf einer Insel sein wie eine Stadt in einem Land? Sind seine Flure wie Gassen, seine Gärten wie Parks, seine Wasserspiele wie öffentliche Brunnen, seine Zimmer wie die bewohnten Refugien, seine Wirtschaftsräume wie die Garküchen in den Straßen, die Lagerhallen und Kontore? Sind die kleinen Privataltäre Orte der Anbetung wie die Tempel rund um das Forum; sind die bewachten Stadttore, die Aus- und Einlaß gewähren in immerwährendem Gegeneinanderfließen der Menschenströme wie die geschützte Pforte des Hauses, durch die Leute kommen und gehen? Ist eine Stadt auf einer Insel wie ein Haus in einem Land? Ist ein Land eine Insel, und bleibt ein Haus, das Gefängnis wurde, wenigstens einer Stadt ähnlich, ein Mikrokosmos als Spiegel des Größeren, Umfassenderen? Geht ein Mensch, der eine Stadt nicht verlassen darf, dicht an ihren Mauern auf und ab, öffnet zahllose Türen, beobachtet unablässig jene, die durch die Tore nach draußen gehen, folgt ihnen, wie Iulia es tut in jenem Haus auf der Insel, bis zur Schwelle, wo die Erfahrung wiederkehrt, immer wieder, daß Soldaten ihr wortlos bedeuten: halt, nicht weiter, keinen Schritt? Steigt der Gefangene in der Stadt die Stufen hinunter zum Fluß, lange, steile Treppen zwischen Häuserwänden, zwischen glattgehauenem Fels, wie Iulia es tut – zum Meer hinunter führen Dutzende von grauen Marmorstufen, an deren Ende sie durch Eisengitter aufs Wasser blickt, ganz nah ist sie den Wellen; sie kann den Tangduft riechen – und leckt sie sich über die Lippen, sind sie salzig … 196
Wie groß muß eine Stadt, muß ein Haus sein, damit das Gefühl der Enge weicht, das ständige Bedürfnis, Hände abzuschütteln, die nicht da sind und doch da, die festhalten, behindern? Ihre Berührung, ihr Zwang, macht aggressiv, ohne daß sich die Wut gegen etwas Wirkliches richten könnte; sie zwingen den Körper, sich zu wehren, sich zu winden, zu zucken, innerlich nur, denn selbstbeherrscht übt die Gefangene, übt Iulia sich in einer Ruhe, nicht einmal vorgetäuscht, der Lähmung verwandt, als ob der Aufruhr der Seele unbedingt das Gleichmaß der Bewegungen, die Unbewegtheit der Gesichtszüge zur Folge hätte. Niemals kann eine Stadt, kann ein Haus groß genug sein, um der Gefangenen, der Verbannten, genügend Raum zu geben; eine Insel wäre nicht groß genug, auch nicht ein ganzes Land; es ist nicht die Größe oder die Beschränktheit des Gefängnisses, nicht seine Wirtlichkeit oder Unwirtlichkeit, die die Eingesperrte verzweifeln lassen; wäre der Ort der Verbannung annähernd so groß wie die Welt, und wäre draußen ein Fleck, den man ihr zu betreten verbietet – sie fühlte sich eingesperrt. Während ihre Mutter, ihre Sklavinnen am Spinnrad sitzen oder die Wolle zu feinen Stoffen weben, treibt es Iulia ruhelos durchs Haus; sie kann nicht stillsitzen, noch weniger kann sie sich auf ein Buch, eine Arbeit konzentrieren, und je öfter sie unterwegs ist, um immer von neuem zu erfahren, daß kein Weg hinausführt, desto stärker wird der Drang, die Runde zu wiederholen, desto weniger hört sie hin, wenn Scribonia versucht, sie dazu zu bewegen, sich abzulenken. Laß mich, sagt sie dann. Ich muß nachdenken, und das kann ich am besten beim Gehen. Nur, daß sie über nichts nachdenkt, nachdenken kann; die Gedanken lassen sich nicht festhalten, nicht in eine Reihe bringen; Iulia wandert in der Villa umher mit 197
abwesendem Blick und scheinbar tief in Grübeleien versunken, doch in ihrem Kopf ist nur die endlose Wiederholung jener Szene, der letzten, die sie vom Fest erinnert: der Garten, die Nacht, Iullus und der Moment der Öffnung, der Zurückweisung, der Scham. Dann die Flucht… Metrobius, der Verwalter, findet sie nach längerem Suchen am Fuß der Treppe, die auf der östlichen Seite hinunter zum Meer führt und zu einem kleinen Anleger, wo Händler oft per Boot ihre Waren feilbieten; man erwartet die Phoenikier, wie sie genannt werden, an bestimmten Tagen des Monats; sie verkaufen Dinge, die auf anderem Weg schwieriger und teurer zu beschaffen wären; im übrigen kann man sie auch noch ein gutes Stück herunterhandeln und behält doch am Schluß das Gefühl, ein wenig übers Ohr gehauen worden zu sein. Heute ist nichts los, das Gittertor ist geschlossen; Iulia hat zwei der Eisenstäbe umfaßt und die Stirn an das kühle Metall gelegt. Sie steht ganz unbeweglich und scheint aufs Meer zu blicken, was nicht zutrifft, aber wie soll Metrobius auch sehen, daß sie die Augen geschlossen hat? Von oben ruft er sie an: Ich habe Neuigkeiten, Iulia. Sie rührt sich nicht. Ja? sagt sie nur. Metrobius eilt die Treppe hinunter. Ich habe neue Order erhalten. Und? Es betrifft die Bedingungen deines Aufenthaltes hier. Anscheinend haben sich einflußreiche Leute bei Augustus für dich verwendet, denn … Iulia dreht sich abrupt um und starrt den Verwalter an; ihren Körper hat plötzlich eine Spannung erfaßt, die den kleinen Vorraum, zu dem sich die Treppe am Tor 198
erweitert, für zwei Leute zu eng erscheinen läßt. Hat mein Vater geschrieben? fragt sie hastig. Metrobius weicht etwas zurück und senkt den Blick. Es kam ein Schreiben seiner Kanzlei … sagt er. Mit seinem Siegel. Und seiner Unterschrift? Metrobius schüttelt den Kopf: Bedaure. Dann ist es egal, sagt Iulia und wendet dem Verwalter erneut den Rücken zu. Willst du nicht wissen, was der Brief enthält? Meine Begnadigung? fragt sie spöttisch. Metrobius räuspert sich verlegen. Nun? Er beschließt, nicht darauf einzugehen. Du darfst ab sofort Besuch empfangen … Besuch? Iulia wirbelt herum. Von meinen Kindern? Sie faßt Metrobius am Arm. Wo ist der Brief? Gib ihn mir. Ist es wahr? Es wird nicht explizit gesagt, von wem du Besuch empfangen darfst. Jeder, der dich sehen will, muß vorher eine Genehmigung der Kanzlei einholen. Augustus selbst entscheidet. Enttäuscht läßt Iulia die Arme hängen. Aha. Fein ausgedacht, bemerkt sie. Warum bin ich so dumm, etwas anderes zu erwarten? Weiterhin wird dir erlaubt, Korrespondenz zu führen. Mit wem? Das wird ebenfalls nicht gesagt. Aber es wird sicher darauf hingewiesen, daß meine Post durch die Hände der werten Zensoren geht, nicht wahr? Metrobius nickt. 199
Iulia lacht. Und was soll das Ganze dann? Was könnte ich den Auserwählten denn schreiben? ›Liebe Agrippina, wie geht es dir? Mir geht es gut. Wir haben (wahlweise) Sonne, Regen, Schnee. Zu Mittag gab es Fisch, wie jeden Tag‹ – oder wäre diese Bemerkung nicht bereits zu zensieren? Oder an meinen Vater: ›Iulia grüßt den Princeps Augustus. Lieber Vater, ich danke dir für alles. Wie viele meiner Freunde leben noch? Deine gehorsame Tochter.‹ Sie lacht erneut; es klingt wie ein Schluchzen. Oder soll ich diesen Kontrolleuren lieber richtig etwas zum Schwärzen geben? ›Liebster Tiberius, bist du froh, daß du mich endlich los bist? Ich wünsche dir, daß du dich bald zu Tode gesoffen hast. Mögest du von außen her verfaulen, wie dein Charakter seit deiner Geburt verfault ist! Deine Exfrau.‹ Sie hat sich in Fahrt geredet, hektisch, mit schrill und schriller klingender Stimme. Oder an Livia! ruft sie. ›Werte Schwiegermama, na, ist dir der Geduldsfaden mit meinem Jüngsten schon gerissen? Hast du ihn schon peitschen lassen oder gar selbst Hand angelegt? Ja, ja, er ist ein freches, kleines Monster, und stark wie das Knäblein Herkules. Ich hoffe, daß er dir eines Tages so genußvoll die Kehle zudrückt, wie Herkules es in der Wiege mit den Schlangen tat! Ehrerbietigst, deine Stieftochter.‹ Iulias Gelächter steigert sich; ihre Stimme überschlägt sich, Tränen laufen über ihre Wangen; sie kann nicht aufhören zu lachen; es klingt wie das Gebell einer Hyäne, und ihr Körper, ihre Hände, zucken im Krampf. Dem Verwalter ist die Situation peinlich; er läuft rot an, wird blaß und wieder rot; er weiß sich nicht im geringsten zu helfen, doch da ist auf einmal Scribonia an seiner Seite; er hat sie nicht kommen hören; die alte Frau ist nicht mehr flink, aber zielstrebig; sie geht auf Iulia zu und ohrfeigt sie ohne Zögern, einmal links, einmal rechts. Das Lachen, das 200
Geheul, verstummen. Komm mit, fordert Scribonia ihre Tochter auf und nimmt sie bei der Hand. Dieses Herumgestreune hört ab sofort auf! Es wird Zeit, daß du dich mit etwas nützlichem beschäftigst. Du drehst ja noch durch! Iulia schweigt und folgt ihrer Mutter nach oben. Scribonia schiebt sie in das Zimmer, wo sie tagein tagaus mit Lusia und Cyriace spinnt und webt. Tu was mit deinen Händen, sagt sie zu Iulia. Ich weiß, daß du Weben haßt, weil Livia dich dazu gezwungen hat, aber ich kann dir versichern, daß auch ich dich zu dieser Tätigkeit angehalten hätte, wäre ich in der Lage dazu gewesen. Sieh her, fährt sie freundlicher fort und weist auf mehrere Lagen verschiedener Stoffe, alle etwa so groß, daß man sie zwischen zwei Armen spannen könnte. Das alles sind Farben und Muster, die man miteinander kombinieren kann. Manche sind aus der Mode, manche schon wieder modern. Such dir eine Variante aus und fang an. Aber … murmelt Iulia. Kein Aber. Fang an! befiehlt Scribonia. Folgsam wie ein kleines Mädchen tut Iulia, was ihre Mutter von ihr verlangt. Als habe sie keinen Willen, deutet sie auf eines der Stoffmuster. Die Sklavinnen besorgen die passende Wolle; ein Webstuhl ist noch frei, weil Cyriace mehr Talent zum Spinnen feinster Garne hat als zu ihrer Verarbeitung; alles wird gerichtet, und Iulia, noch mit ungeübter Hand, beginnt, mechanisch, lustlos, schweigend.
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II. Ein paar Tage steht sie am Webstuhl, versucht, einen Rhythmus zu finden, versucht, je nach Stimmung, dem Geschwätz zuzuhören oder nicht zuzuhören, mit dem sich die Sklavinnen und ihre Mutter die Zeit vertreiben; sie finden anscheinend unendlichen Stoff für Geplauder, und wenn der Faden manchmal abreißt, nimmt eine von ihnen ein anderes Thema auf, genauso nichtssagend. Sie reden übers Wetter – hier gibt es viel zu diskutieren, weil es Winter wird und die Tage kürzer und kühler, Regen, kein Regen, Wind, kein Wind, Sonne, keine Sonne, Wellengang oder glatte See – alles wird kommentiert, ausgiebig besprochen, dazu, ob das Bad genug geheizt war oder nicht, ob es heute dies oder das zu Essen gibt, wie viele Schiffe sie haben vorbeifahren sehen in den letzten Tagen, und dann die Sklaven im neuen Haushalt – sie sind endlosen Tratsch wert: welcher sich anstellt, welche frech ist, welche freundlich, wer wie heißt, weil man doch immer die Namen verwechselt, aus welchem Land sie kommen, ob man sie mag oder ablehnt aus diesen und jenen Gründen – so schlagen Scribonia und die beiden Dienerinnen die Zeit tot, und es gelingt ihnen dabei, aus den einzelnen Garnen tatsächlich ein Stück Stoff zu machen. Iulia dagegen wird immer nervöser, nicht nur, weil sie die Tätigkeit haßt. Das Geschwätz, das ohne Anfang und Ende scheint, macht sie aggressiv; sie unterdrückt ihre Wut, was die Sache nicht besser macht, und endlich gibt sie auf, läßt den Webrahmen stehen und die Frauen allein im Zimmer zurück. Sie fröstelt, als sie den zugigen Flur entlang in die 202
Bibliothek geht. Das Zimmer liegt im Nordosten der Villa und ist um diese Jahreszeit alles andere als gemütlich. Trotzdem wird dieser Raum ab jetzt der Ort, an dem sie sich bevorzugt aufhält; sie befiehlt Metrobius, ihn zu heizen, was er nach einigem Zögern – wegen der Brandgefahr – tut, und fragt nach einem Sklaven, der griechisch lesen kann. Metrobius schickt ihr den jungen Mann, Dorides, der auf der Insel auch als Arzt fungiert; er stammt aus Syrien, ist nicht hübsch, aber er hat eine gute Stimme, und er liest Iulia vor, solange er nicht zu irgendeinem Kranken gerufen wird. Anfangs reden sie kaum ein Wort; sie sagt ihm, was er lesen soll, die Odyssee ist das, was sie ihm aussucht, aber nach einigen Tagen unterbricht Iulia ihn und fragt: Kannst du Latein lesen? Dorides senkt die Schriftrolle. Ja, antwortet er. Dann laß uns aus der Aeneis lesen, sagt sie. Ich habe Odysseus satt. Zur Zeit wird er mir ziemlich unsympathisch. Ihr Vorleser, klein, beweglich, an die Dreißig, glattrasiert, braun und bereits mit weit zurückgewichenem Haaransatz, lächelt und rollt das Buch zusammen. Findest du nicht? meint Iulia, als er nichts erwidert. Odysseus ist ein aufgeblasener, selbstgerechter Heuchler. Statt sich ordentlich zu benehmen und sich den Phäaken vorzustellen: hallo, ich bin Odysseus, tut mir leid, daß ich euch zur Last falle, aber ich habe mal wieder Schiffbruch erlitten, inszeniert er ein Drama, hockt sich wie der letzte Bettler in den Dreck und preßt sich ein paar Tränen ab, als der Sänger von seinen Irrfahrten erzählt, damit alle auf ihn aufmerksam werden und ihn endlich fragen, was denn mit ihm los sei. Dann der große Auftritt – o Wunder, der Held mitten unter uns! 203
Meinst du, sie hätten ihm geglaubt, wenn er sich gleich zu Anfang als Odysseus präsentiert hätte? fragt Dorides. Warum sollten sie ihm später glauben? fragt Iulia zurück. Er hat keinerlei Legitimation, nur seine Erzählungen, die er dann ja auch bereitwillig zum Besten gibt. Denk dran, daß Homer seine Zuhörer bei Laune halten mußte. Wie langweilig, wenn Odysseus einfach kommt und sagt, salve, ich bin Odysseus, darf ich mir von euch ein Schiff ausborgen, daß ich endlich nach Hause komme? Iulia lacht. Du hast recht, sagt sie. Trotzdem habe ich gerade genug von dem Kerl. Dorides geht zu einem Schrank, in dem Schriftrollen liegen. Was willst du aus der Aeneis hören? erkundigt er sich. Lies mir die Carthago-Episode vor, verlangt Iulia. Der junge Mann wirft ihr über die Schulter einen fragenden Blick zu. Bist du sicher, daß Aeneas dir nicht ebenso auf die Nerven fallen wird? fragt er. Absolut nicht, erwidert Iulia. Aber es kommt in der Geschichte wenigstens eine Frau vor, die mehr sagt als guten Tag und bleib hier und Aufwiedersehen und die mehr tut als den Helden aus der Ferne anzuschmachten. Also fang an! Dorides nimmt die passend beschriftete Rolle, öffnet sie und beginnt zu lesen, während Iulia sich auf ihrem Stuhl zurücklehnt und die Augen schließt. Sie hört reglos zu, lange Zeit; es ist kaum zu erkennen, ob sie nicht eingeschlafen ist – nur wenn Dorides genau hinsieht, merkt er an ihren gespannten Gesichtsmuskeln, daß sie aufmerksam ist. Irgendwann, als sich die Geschichte dem Ende nähert, beginnen, ohne daß Iulia die Augen öffnen würde, Tränen unter den Wimpern hervorzuquellen und 204
einzeln, nacheinander, in regelmäßigen Abständen zuerst, dann schneller, über ihre Wangen zu laufen, bis sie das Kinn erreicht haben, wo sie einen Moment als dicke Tropfen hängenbleiben, ehe sie auf Iulias Brust fallen und dort mit der Zeit nasse Flecke bilden, einen rechts, einen links. Da er nicht den Befehl erhält, aufzuhören, liest Dorides weiter bis zum Schluß; er hält es aus, daß das stumme Tränenlaufenlassen mittlerweile in behagliches Schluchzen übergegangen ist, das noch ein bißchen länger dauert als das große Finale, das den Helden auf See und die Heldin auf den Scheiterhaufen treibt. Endlich macht Iulia die Augen auf. Sie schnieft und kramt in den Falten ihres Kleides nach einem Taschentuch. Das war schön, sagt sie etwas undeutlich. Glaubst du, er hat sie geliebt? Aeneas Dido? fragt Dorides. Er zuckt die Achseln. Schwer zu sagen, meint er. Woran erkennt eine Frau, ob sie geliebt wird, Dorides? will Iulia plötzlich von ihm wissen. Sie richtet sich in ihrem Sessel auf und schaut ihn erwartungsvoll an. Nehmen wir an, fährt sie fort, ein Mann tut alles, um eine Frau glauben zu lassen, daß er sie liebt. Er sucht ihre Nähe mehr als sonst, er redet mit ihr auf eine vertraute Weise, er berührt sie oft, auch wenn es nicht nötig wäre; wenn sie zufällig hochsieht, bemerkt sie, daß er sie die ganze Zeit angeschaut hat, und da ist immer dieses Gefühl – ich meine, es fühlt sich an wie Kirschblüten angucken im Frühling …, Iulia bricht ab, putzt sich zum letztenmal energisch die Nase. Aber? fragt Dorides. Und dann, sagt Iulia auffahrend gegen niemanden im besonderen, und dann, nach alldem, erklärt der Mann ihr, 205
daß er absolut nicht verliebt in sie ist! Was ist das, Dorides? Lügt er? Oder hat sie ihn einfach nur mißverstanden? Oder was? Dorides, immer noch mit der Aeneis in der Hand, schüttelt den Kopf. Ich bin Arzt, sagt er. Wenn überhaupt etwas. Ich kann dir vielleicht sagen, warum dein Kopf wehtut oder warum du deinen Arm nicht hochheben kannst oder warum du letzte Nacht erbrechen mußtest, wenn ich erfahren habe, was du getan oder gegessen hast. Aber das, was du beschreibst, fällt nicht unter meine Zuständigkeiten. Ich frage dich auch nicht als Arzt, ich frage dich als Mann, entgegnet Iulia. Welche Motive ein Mensch hat, kann nur dieser Mensch dir sagen, erwidert Dorides. Ich habe mir angewöhnt, das ernst zu nehmen, was mir jemand sagt, weil es das ist, was er will, das ich glauben soll. Dahinter mag etwas ganz anderes stecken, aber diese Dinge sind so vielfältig, daß man in der Regel nur seine Zeit damit verschwendet, sich zu fragen, was der andere wirklich gemeint hat. Die Wahrheit findet man auf diese Weise nie heraus – nur das, was man selbst gern als Wahrheit haben möchte. Das heißt, fragt Iulia, wenn dir eine Frau sagt, daß sie dich nicht liebt, obwohl sie die ganze Zeit Dinge getan hat, aufgrund derer du annehmen müßtest, daß sie dir zumindest einiges Gefühl entgegenbringt, würdest du ihr glauben und nicht weiter fragen? Dorides nickt. Aber wenn dir doch dein Gefühl genau das Gegenteil verrät! ruft Iulia. Kann man sich so irren? Ich weiß es nicht, sagt er. Ich glaube, man kann. Ich meine, du machst es dir zu einfach, sagt Iulia. Viele 206
Menschen verbergen, was sie wirklich wollen. Sie sagen etwas und meinen das Gegenteil. Dann sind sie selbst schuld, wenn man sie beim Wort nimmt und sie nicht bekommen, was sie wollen. Kannst du so deine Patienten kurieren, Dorides? entgegnet Iulia. Wie oft mußt du mühsam herausfinden, warum ihnen etwas wehtut oder warum sie diese oder jene Krankheit haben. Wie oft schämen sie sich für etwas, das sie getan haben, und weshalb sie nun krank sind. Sie lügen dich an. Du fragst, ob sie etwas bestimmtes gegessen haben und weißt, daß es ihnen verboten ist, das Zeug zu essen. Sie schwören hoch und heilig, daß sie es nicht getan haben. Trotzdem sind sie krank. Dann frage ich nicht weiter, sondern kuriere so, als ob ich wüßte, daß sie es gegessen haben, antwortet Dorides. Das heißt, du nimmst sie beim Wort, aber du machst dir trotzdem deine eigenen Gedanken und gehst davon aus, daß sie richtig sind? Ich erkenne, worauf du hinaus willst, Iulia, sagt Dorides lächelnd. Aber der Fall von Liebe oder nicht Liebe, den du beschreibst, und dieser medizinische Fall, sind ziemlich verschiedene Dinge. Findest du? Sagen wir, die Komplexität im ersten Fall ist wesentlich höher als im zweiten. Iulia muß wider Willen lachen. Du hast recht, sagt sie. Es führt ja auch zu nichts. Sie steht auf, geht zu ihm. Was ich viel lieber wissen möchte, Dorides, ist, wie ich mein Gedächtnis wiederbekomme. Vielleicht hast du ja einen Rat für mich. Dein Gedächtnis? erwidert der Arzt verblüfft. Ja, mein Gedächtnis, wiederholt Iulia ungeduldig. Mir 207
fehlt ein Stück Erinnerung. Etwa vier Stunden jener Nacht, in der ich das getan haben soll, weswegen ich jetzt hier in diesem Inselparadies sitze. Verstehst du? Black-out. Schwarzes Loch. Hattest du zuviel getrunken? fragt Dorides, nun ganz Arzt. Hast du Drogen genommen? Hattest du einen Schock? Bist du gestürzt? Ich weiß es nicht, sagt Iulia. Es kann sein, muß aber nicht. Ich war auf dem Weg nach Hause. Etwas vor Mitternacht. Aber dort bin ich nach Aussage meiner Mutter erst etwa um halb vier Uhr morgens eingetroffen. Hast du Kopfschmerzen? Schwindelgefühle? Nein. Dorides nimmt ihr Handgelenk. Fühlt, bis er den Puls findet. Zählt stumm. Dann, ohne zu fragen, zieht er Iulias unteres Augenlid ein wenig herunter, wendet ihren Kopf zum Licht, schaut sich den Pupillenreflex an. Erst das eine Auge, dann das andere. Hast du schon mal erlebt, daß jemand sein Gedächtnis verloren hat? fragt Iulia. Er nickt. Normalerweise, sagt er, geht das nach ein paar Tagen wieder weg. Wenn du zuviel getrunken hast, kann es sein, daß du dich an das fehlende Stück nie wieder erinnerst. Wenn du einen Schock hattest, kann es Monate dauern. Gibt es nichts, was man machen kann, damit es schneller geht? Nichts, was ich wüßte. Das heißt, es kann mir passieren, daß ich nie wissen werde, warum ich hier auf dieser verdammten Insel verrotten muß? Es muß Leute geben, die dabei waren in den vier 208
Stunden, an die du dich nicht erinnern kannst, sagt Dorides. Aber die kann ich nicht fragen, entgegnet Iulia patzig. Oder? Er lächelt. Du nicht, aber … Würdest du…? Es ist schwierig, sagt er. Ich kann niemandem trauen. Jeder, den du beauftragst, Informationen aus Rom zu bekommen, kann dich verraten. Gibt es Leute, denen du vertraust? Wenige. Und das sind nicht die, die regelmäßig auf dem Forum den neuesten Klatsch austauschen. Verstehe, sagt Iulia. Sie wendet sich ab, geht zum Bücherschrank, streicht nachlässig mit einem Finger über ein Regalbrett. Manchmal weiß ich gar nicht, ob ich es überhaupt wissen will, sagt sie leise. Es muß ziemlich widerlich gewesen sein, um das hier – sie macht eine weitausholende Geste – zu verdienen, meinst du nicht? Er schweigt. Iulia lacht. Du bist höflich, sagt sie. Das ist nett. Geh jetzt. Wir sehen uns morgen um die gleiche Zeit, falls du nicht irgendwo Beine amputieren mußt. Dorides verneigt sich und verläßt das Zimmer.
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III. Iulia, in der Stille des Raumes, in der weitabgewandten Sicherheit, die Bibliotheken eigen ist, setzt sich und beginnt einen Wachtraum, den sie in den nächsten Wochen oft träumen wird, immer in Variationen, immer ohne ein wirkliches Ende, immer mit einem Gefühl der Unzufriedenheit aus dem Traumgefährt aussteigend, so wie jemand, der weiß, daß er sich einen Vorteil erschlichen hat und ihn deshalb nicht genießen kann. Sie träumt ein Wiedersehen mit Antonius, auf der Straße, ganz zufällig, oder in einem Geschäft, oder bei Freunden; es ist Tag, kein besonderer Tag, einer ohne Feste, ohne Verpflichtungen; sie variiert den Moment, in dem sie erkennt, daß er dort drüben steht, in dem er ihre Anwesenheit spürt, sich umdreht, in dem sich ihre Blicke treffen, auf hundert verschiedene Arten; sie malt sich das Erschrecken aus, das Glück, die ersten Worte, dann das Bedürfnis, zusammen wegzugehen, allein miteinander zu sein, zu reden, sich zu berühren … Das ist der angenehme Teil des Traums, aber er wird durchschnitten von einer zweiten Traumfährte, die anders geht als die erste, in der der Moment des Erkennens ein negativer ist, ein Abwenden, Verneinen, Leugnen und das traurige Auseinanderstreben, ohne daß ein Wort gewechselt worden wäre. Iulia verläßt diese zweite Traumfährte mit der Kraft ihres Willens und läßt sich auf den glücklichen Weg ein, bis sie an einen Punkt gelangt, immer wieder, wo es sich entscheiden müßte, wo Antonius sich entscheiden müßte, gemeinsam weiterzugehen, aber genau an diesem Punkt scheitert der Traum, verliert Iulia die Orientierung, weiß sie nicht weiter, wird die Angst zu stark, daß alles, 210
was sie imaginieren könnte, zu sehr nach Selbstbetrug riecht; deshalb dreht sie um, beginnt wieder von vorn oder mitten in einer Szene; es geht um die kurzen Augenblicke des Glücks, jene Illusion, die sie ihrer Erinnerung abringt, und den Gefühlen, die sie einmal empfunden hat und die so echt waren, daß sie ihren Körper jetzt noch in erregende Schwingungen versetzen. Daraus und aus den Lektürestunden mit Dorides, besteht im Winter Iulias Hauptbeschäftigung. Ihre Mutter läßt sie in Ruhe und versucht nicht noch einmal, sie zu irgendeiner hausfraulichen Tätigkeit anzuregen. Irgendwann kommt tatsächlich Post – eine Großtante schickt ein Paket mit den neuesten Büchern; was davon der Zensur mißfallen haben mag, befindet sich nicht darunter; es handelt sich um Liebesschnulzen der niederen Art, dazu ein paar der neuesten Theaterstücke, allesamt Komödien. An den Saturnalien zum Jahreswechsel, an denen Herrinnen und Sklaven die Rollen tauschen für kurze Zeit, schlägt Iulia vor, daß man eines der Stücke aufführt, ebenfalls mit vertauschten Rollen, Lusia spielt die Domina, Metrobius den Herrn, Cyriace die hochwohlgeborene Tochter, Iulia den Bösewicht, Scribonia die Kupplerin und Dorides darf den Liebhaber geben; das Stück ist derb und dramaturgisch unbeholfen, aber es vertreibt einen Abend lang ziemlich gelungen die Zeit und lenkt Iulia davon ab, daß der Ianuarius zwiegesichtig ist, nach vorn und nach hinten blickt, und daß die Jahrespforte, durch die sie geht, in ihrem Fall zu einer Straße gehört, die nach rückwärts wie nach vorwärts eine Mauer hat, an der die Freiheit endet.
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IV. Es ist nicht mehr richtig kalt tagsüber Ende Februar, nur die Tage noch kurz; in der Villa auf dem zugigen aeolischen Felsen von Pandateria wird jede Sonnenstunde genutzt, um die Fensterläden aufzureißen, Licht und Luft hereinzulassen, auch wenn das Licht noch lange nicht alles durchwärmt, auch wenn die Luft feucht ist und salzig und die Kleider klamm macht. Das Fenster in der Bibliothek, in der Iulia und Dorides sich mit Thukydides plagen, sitzt relativ hoch in der Wand, ist nicht besonders groß – aber heute ist es zumindest weit offen, so daß das einfallende Licht einen breiten hellen Streifen auf den Boden malt und die Schatten der Bücherschränke, der wenigen Möbel, der beiden Menschen im Raum sich scharf von den fast weißen, konturlosen Flächen abheben, auf die die Sonne hart und blendend trifft. Ein plötzliches Geschrei, ein Lärm, so überraschend, wie die Laute fremd sind, läßt Iulia aufspringen. In diesem Moment verdunkelt ein Schatten das Fenster, taucht alles für Augenblicke in graues Licht; dann ist es vorbei und der Raum wieder wie vorher. Was war das? fragt Iulia und stellt sich auf die Zehenspitzen, um aus dem Fenster zu schauen. Die ersten Zugvögel, antwortet Dorides, der das Buch weggelegt hat und neben sie tritt, um ebenfalls einen Blick nach draußen zu werfen, wo aber nichts mehr zu sehen ist außer weißblauem Himmel; außerdem müssen beide die Augen zusammenkneifen, weil es so hell ist. Zugvögel? wiederholt Iulia. Es wird Frühling, erklärt Dorides. Zuerst kommen die 212
Drosseln und Stare, später die Mauersegler und Schwalben, danach die Lerchen und Nachtigallen … Sie bleiben oft nicht, sondern ziehen weiter nach Norden. Du wirst sie bald beim Abendessen auf deinem Teller finden. Für den hohlen Zahn, meint Iulia lachend. Besser als immer nur Fisch, oder? entgegnet Dorides. Neulich gab es Zicklein in Rosmarin, sagt Iulia. Weil ich gestreikt habe. Das war lecker. Ich hätte dich einladen sollen. Warum hast du’s nicht getan? fragt er zurück. Sie haben sich im Winter fast jeden Tag gesehen, zusammen gelesen, geredet; Dorides hat ein natürliches Selbstbewußtsein, eine Sicherheit, die ihm seine Bildung, sein Beruf als Arzt verleihen, und gleichzeitig wahrt er eine Zurückhaltung gegenüber allen, die frei geboren sind und ihm zu befehlen haben, die den Feinfühligeren unter ihnen eine Ahnung davon gibt, wie arrogant ein Sklave sein kann, der aufgrund seines umfangreichen Wissens den meisten seiner Zeitgenossen überlegen ist. Iulia reckt sich nochmal, um sich aus dem Fenster zu lehnen, um vielleicht ein paar jener Schreihälse zu sehen, die mit etwas Glück auf ihrem Speisezettel erscheinen werden. Dann wendet sie sich Dorides zu, der neben ihr steht, kleiner als sie, mit spiegelglatter brauner Halbglatze, feinen Gesichtszügen und dunklen Augen, denen nie eine Emotion abzulesen ist außer vielleicht jener Grundstimmung, mit der Dorides gleichzeitig skeptisch, belustigt und melancholisch auf Menschen und Dinge schaut. Ja, sagt Iulia, warum habe ich dich nicht eingeladen? Aber wir werden die ersten Drosseln oder wie die Viecher heißen miteinander verspeisen, nicht wahr? Dorides nickt. Alles, was du willst, erwidert er und sieht 213
sie aufmerksam an. Warum schaust du so? will Iulia wissen. Weil du eine neue Frisur hast, antwortet er. Es sieht hübsch aus. Die kleine marmorne Muse im Garten hat dich anscheinend inspiriert. Sie weiß, welche Statue er meint; sie ist griechisch oder jedenfalls eine Kopie; ihr Haar ist in viele kleine Marmorzöpfe geflochten und hoch auf dem Kopf zu einem kurzen, frechen Pferdeschwanz gebunden, während zu beiden Seiten der Schläfen sich Locken ringeln. Sein Kompliment schmeichelt ihr, aber es paßt ihr auch wieder nicht, daß er es erwähnt; sein Blick ist neu und durchaus männlich, es irritiert und ärgert sie; sie hat das Gefühl, daß ihr gerade etwas abhanden kommt, was sie geschätzt hat, ohne bislang den Wert zu erkennen; sie spürt, daß sich etwas grundlegend verändert hat in diesen wenigen Augenblicken, auf äußerst unwillkommene Weise; sie hat Dorides nie als Mann wahrgenommen, seine Art, mit ihr zu reden, war frei, aber ohne jemals Grenzen zu überschreiten, Grenzen, die nie offiziell gesteckt wurden, sondern da waren anscheinend durch ein schweigendes Übereinkommen, wie es das zwischen Menschen gibt, die ähnlich empfinden, ähnlich denken, zwischen denen ein intimer Austausch besteht ohne Worte, ein Vertrauen, das solange besteht, wie beide diese Grenzen respektieren. Dieses Vertrauen hat Dorides mit seiner Bemerkung erschüttert; sein Kommentar zu Iulias Frisur schafft Polarität: Mann/Frau, wo vorher neutrales Gleich zu Gleich war; sie fühlt sich bestohlen um ein Stück Freiheit, die Freiheit, als Mensch wahrgenommen zu werden, offen reden zu können, privat auch, intim, ohne sich zu entblößen; ein Satz nur, und sie ist ganz Frau, und, denkt sie schließlich ernüchtert, war es nicht von Anfang an nur Illusion? 214
Dorides, zu intelligent und sensibel, um den Schaden, den er angerichtet hat, nicht zu bemerken, doch zu sehr Mann, um sich nicht über die Irritation, die er mit seinem Kompliment ausgelöst hat, zu freuen, nimmt es mit einem angedeuteten Lächeln zur Kenntnis, als Iulia später, nachdem sie noch eine Weile mit den Peloponnesischen Kriegen verbracht haben, sagt: Morgen will ich frei haben, Dorides. Ich lasse dir Bescheid sagen, wenn ich dich wieder benötige. Er nickt. Ich erwarte deine Nachricht, sagt er knapp, dreht sich um, geht zur Tür. Dorides! ruft Iulia, ihr Ton ein Befehl. Er bleibt stehen, wendet sich ihr zu. Du kannst jetzt gehen, sagt sie kühl. Dorides verbeugt sich, ehe er den Raum verläßt, und Iulia starrt ihm wütend hinterher.
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V. Ihr Wachtraum ist blaß geworden über die Monate hinweg, hat an Farbe verloren, ist kürzer geworden, der Fluß der Bilder stockend, manchmal fehlen ganze Passagen; trotzdem hält Iulia an ihrer Phantasie fest, wie um sich zu beweisen, daß das, was sie für Antonius empfindet, empfunden hat, Wirklichkeit gewesen ist. Seit sie auf der Insel wohnt, fällt ihr die Vorstellung immer schwerer, daß es da draußen irgendwo eine Welt gibt, in der sich die Tagesabläufe der Menschen signifikant von ihrem eigenen unterscheiden – sie erinnert sich an die Dinge, die sie früher – so lange ist es noch gar nicht her, nur fünf Monate – getan hat, aber es erscheint ihr zunehmend fremd, eigentümlich; manchmal versucht sie, sich auszumalen, wie es wäre, abgeholt zu werden von einem Schiff, in Ostia an Land zu gehen, die Füße auf Festlandsboden zu setzen, zu sehen, wie anders das Licht ist, die Geräusche, wieder einzutauchen in das Leben in Freiheit, zögernd zunächst wie jemand blinzelnd aus der Dunkelheit eines Hauses, das Siesta hält, in die Hitze des grellen Mittags auf die Straße tritt. Manchmal stellt sie sich diese ersten Schritte vor, die sie unbewacht tun würde, ohne die drohende Präsenz der Garde, ohne Begleitung ihrer Sklaven; einsam, frei und vorsichtig den Boden unter den Schuhsohlen fühlen, den Blick geradeaus richten – dort ist nicht das Meer, sondern eine Stadt, Häuser, Straßen, Läden, Menschen – und langsam anfangen zu gehen, immer in der Angst, daß jemand sie festhält, sie zwingt, umzudrehen, dann zu merken, daß niemand kommt, daß sie gehen kann, immer weiter, wohin sie will, soweit sie will, und dann sieht Iulia sich rennen, 216
springen, das Kleid gerafft, rennt sie durch die Straßen der Stadt, sie orientiert sich nicht, läuft anscheinend ohne Ziel, keuchend die Hügel hinauf und hinunter, bis sie vor einer Tür steht, die von zwei heiligen Lorbeerbäumen flankiert wird. Dort bleibt sie stehen, schwer atmend, und wartet, daß er öffnet, daß Augustus sie ansieht, daß er lächelt… Der Februar verabschiedet sich auf Pandateria stürmisch und naß. Iulia geht früh schlafen – vielleicht nur, um in Ruhe gelassen zu werden und sich in ihre Phantasien zu flüchten; sie schläft, seit sie auf der Insel ist, aber tatsächlich mehr als früher, auch, weil irgend etwas, das sie nicht benennen kann, sie müde macht, ihr Kraft entzieht und ihren Körper, ihren Geist schwer macht, langsam, dazu ihre Gedanken fahrig; sie ist ungeduldig mit anderen und mit sich selbst, gleichzeitig faul und nicht bereit, irgend etwas schneller zu tun als nötig; eine permanente Unzufriedenheit macht sie mürrisch, auf nichts kann sie sich lange konzentrieren, obwohl sie alle Zeit dazu hätte. Sie läßt ihre Mutter und die Sklavinnen im Tablinum zurück; Scribonia und Lusia, wie viele alte Leute, gehen nie vor Mitternacht ins Bett und sind meistens schon vor Sonnenaufgang wieder aktiv. Sie reden unablässig übers Wetter, aber es scheint ihnen nichts auszumachen, egal, ob es kalt und stürmisch ist wie heute nacht, oder ob es mild ist und angenehm. Iulia dagegen merkt seit einiger Zeit jeden Wetterwechsel; nicht nur machen sie trübe Tage unruhig und traurig, nicht nur lebt sie auf, wenn es hell ist, warm und trocken; es ist noch schlimmer: sie nimmt hier auf der Insel, auf diesem zugigen Felsen, jede Nuance wahr, ohne es zu wollen, als hätten alle Kräfte der Natur hauchzarte, unsichtbare Marionettenfäden mit Widerhaken an ihrer Haut befestigt und ließen sie nach ihrem Willen 217
tanzen. Hat Iulia früher Wind und den Wechsel der Mondphasen, Kälteeinbrüche und die Schwüle, die an manchen Tagen die Luft wie mit Gelatine aufzukochen scheint, nie groß beachtet, so fühlt sie sich ihnen nun ausgeliefert; egal, was sie gegen’s Frieren tut oder die Kopfschmerzen oder die plötzliche Bewegungslust, der so enge Grenzen gesteckt sind – sie empfindet, daß sie manipuliert wird, sich nicht wehren kann oder nur notdürftig; ihre Mutter sagt: das kommt davon, weil du nichts mit den Händen machst, arbeite, dann bist du nicht so empfindlich; sie mag ja recht haben, denkt Iulia, aber das ändert nichts daran, daß sie überzeugt ist, eine andere Aufgabe zu haben; sie sucht etwas, in ihrer Lektüre, in ihren Grübeleien. In den Stunden, die sie einfach nur auf der Exedra steht und hinaus aufs Meer starrt, versucht sie, etwas herauszufinden; es ist nicht die Suche nach jener Nacht, die sie vergessen hat, es ist etwas anderes; sie weiß nicht, wie sie es nennen soll; manchmal sieht sie eine der Kamelien im Garten, die jetzt blühen, und denkt: so wie es sich anfühlt, wenn ich diese Blume anschaue, so muß es sein, das zu wissen, was ich wissen will; die rote Blüte, so still, so leuchtend, so alltäglich und auch wieder so herausgehoben, scheint Iulia mit einem Mal wie ein Wesen eigenen Rechts; Iulia ist es, die die Blume betrachtet, aber was wäre, fragt sie sich, wenn ich nicht hier stünde und sähe, wie schön sie ist? Sie findet, die Kamelie sieht aus, als habe sie ein Bewußtsein ihrer eigenen Schönheit, das über sie hinausweist und weit über den Menschen hinaus, der sie betrachtet; Iulia versucht, sich für Momente in einen Zustand der Abwesenheit von diesem Ort zu versetzen und sich vorzustellen, wie diese stille, rote Blüte in der Welt ruht, da ist um ihrer selbst willen, und warum ein Mensch …, aber dann rutscht der 218
Gedanke, den sie festhalten wollte, wieder aus der Perspektive, schieben sich verwirrende Bilder darüber, mischen sich mit den Sätzen, die sie in den vergangenen Tagen gelesen hat, und so wird nie eine Struktur erkennbar; sie bemüht sich auch nicht darum, wünscht sich nur manchmal, Cicero lesen zu dürfen, den ihr Vater aus den Bibliotheken verbannt hat, wünscht sich, die neunmalklugen philosophischen Bearbeitungen des alten Angebers zu lesen – nicht, weil sie hoffen würde, dadurch der Erkenntnis näher zu kommen, aber er regt ihren Widerspruchsgeist an, macht sie spottlustig und scharf, und immerhin wäre das gegen das Einerlei der Tagesabläufe und den so unbequem präsenten Körper doch eine Abwechslung gewesen … Während der Wind von Nordosten ab und zu den Regen gegen die Fensterläden klatscht, versucht Iulia wie in jeder Nacht, warm zu werden unter der Decke im Kampf mit der klammen, kalten Feuchtigkeit, die auf Pandateria in alles kriecht, was Stoff ist und auch nur im mindesten saugfähig. Es ist immer das gleiche: Wenn Iulia schlafen geht, überläuft sie schon beim Anblick und beim Geruch der Decken und Kissen Gänsehaut; irgendwie sieht das Zeug schwerer aus, kaum wahrnehmbar dunkler, als wenn es trocken wäre, wie sie es von zu Hause gewöhnt war, und das Leinen riecht salzig. Fröstelnd kriecht sie jedesmal unter die Laken; weil ihr kalt ist, kann sie die Decken nicht anwärmen, und weil die Decken feucht sind, ändert sich dieser Zustand oft auch nach Stunden noch nicht. Meistens kommt Scribonia, ehe sie selbst schlafen geht, und bringt einen in Tücher gewickelten heißen Backstein, tut so, als nehme sie an, daß Iulia ihn gar nicht braucht und drängt ihn ihr mehr oder minder auf; es ist ein abgemachtes Spiel zwischen ihnen; warum Iulia so tun soll, als sei sie abgehärtet genug, die zusätzliche 219
Wärmequelle nicht zu benötigen, weiß sie selbst nicht; Scribonia hält eine Öllampe in der einen, den eingepackten Ziegel in der anderen Hand und wartet, bis Iulias Arm unter der Decke hervorkommt und danach greift. Scheußlich draußen, bemerkt Scribonia, während Iulia sich mit dem Bettöfchen einrichtet. Ziemlich, erwidert Iulia. Ich dachte gerade, es ist doch schön, wenn der Wind so an den Läden rüttelt. Dann weiß man wenigstens, daß man tatsächlich in einem Haus ist, und nicht auf dem nackten Felsen schläft. Scribonia lacht. So schlimm? fragt sie. Nein, natürlich nicht. Irgendwann wird es wohl Sommer werden, oder? Bald. Morgen sind die Kalenden des März. Schon? fragt Iulia. Zählst du nicht mit? will Scribonia wissen. Iulia schüttelt den Kopf. Schon lange nicht mehr, sagt sie müde. Es ist immer jemand da, der dir sagen kann, welcher Tag heute ist. Was nützt es mir? Als wir herkamen, hatte ich nicht den Eindruck, daß du so schnell aufgeben würdest, sagt Scribonia. Wie viele Leute, hast du gesagt, sind verbannt worden und wieder heimgekehrt und standen besser da als je zuvor. Fünf Monate sind keine lange Zeit, Iulia. Wer weiß, was in Rom alles geschehen ist? Tiberius ist wieder zu Hause, erwidert Iulia trocken. Das ist alles, was geschehen ist. Sobald sie mich los waren, ist er heim zu Livia. Rhodos ade. Jetzt ist er zwar nicht mehr mein Mann, und damit Schwiegersohn des Kaisers, aber Livia wird schon Wege finden, ihr Schätzchen auf den Thron zu hieven. 220
Woher weißt du, daß er wieder in Rom ist? fragt Scribonia. Einer der Händler, die sie Phoenikier nennen, hat sich mit Metrobius unterhalten. Sie haben mich nicht gesehen, weil ich hinter einer Säule stand. Der Phoenikier erzählte, er habe das Flaggschiff von Tiberius und ein paar seiner Schiffe in Puteoli gesehen. Anscheinend hat er es auf dem Weg nach Rom nicht für nötig gehalten, bei mir vorbeizukommen. Wäre doch nett gewesen. Lag doch auf dem Weg! Iulia lacht bitter. Vielleicht ist Caius schon auf dem Weg nach Parthien? Stell dir vor, er fährt hier vorbei. Soll ich mir wünschen, daß er anhält, mich besucht? Darf er überhaupt mit mir reden? Mein eigener Sohn? Will er überhaupt mit mir reden? Existiere ich noch in seinem Gedächtnis? Als was? Als seine Mutter? Oder als die Schlampe, die letzten September einen Skandal verursacht hat, an den sie sich leider, leider nicht einmal mehr erinnern kann? Was mag Augustus ihm erzählt haben? Du solltest über diese Dinge nicht soviel nachdenken, Iulia, rät ihre Mutter. Und wie soll ich das meinem Kopf beibringen? fährt Iulia sie an. Was hast du empfunden, als man mich dir damals weggenommen hat, gleich nach meiner Geburt? Wie war das, noch Milch in den Brüsten zu haben, aber keinen Säugling? Was hast du gedacht, als ich älter wurde? Hast du dich gefragt, ob ich an dich denke? Ob man mir von dir erzählt? Was man mir von dir erzählt? Scribonia stellt die Öllampe auf einen kleinen Tisch und setzt sich zu ihrer Tochter ans Bett. Sie nimmt ihre kalten Hände und schaut sie an, traurig, zärtlich. Was willst du wissen, Iulia? fragt sie sanft. Ob ich dich geliebt habe? Ob ich an dich gedacht habe, immer und immer, in den vierzehn Jahren, in denen ich dich nicht sehen durfte? Ob ich dich vermißt habe? 221
Du hattest andere Kinder, sagt Iulia dumpf. Scribonia streicht ihr übers Haar. Man vermißt immer das, was man nicht hat, am meisten, erwidert sie. Ich habe dich jeden Tag in diesen vierzehn Jahren vermißt, ich habe unablässig an dich gedacht, und als ich dich wiedersehen durfte … War ich mit Marcellus verheiratet und mußte so tun, als sei ich eine erwachsene Frau, wirft Iulia ein. Scribonia lächelt. Du warst mein Kind, ich war bei dir. Immerhin etwas, oder? Iulia schaut zu ihr auf, belebt, fast fröhlich. Wie machst du das nur? fragt sie ihre Mutter. Was? fragt Scribonia schmunzelnd zurück. Gute Laune verbreiten, sagt Iulia, richtet sich auf und gibt ihrer Mutter einen geräuschvollen Kuß. Ich weiß nicht? Wahrscheinlich bin ich ein Naturtalent, antwortet Scribonia, steht auf, nimmt das Öllicht und geht zur Tür. Brauchst du noch einen Ziegelstein? fragt sie. Vielleicht später? Nein, nein, wehrt Iulia ab. Es wäre gar nicht nötig gewesen. Aber vielen Dank. Dabei bewegt sie ihre Zehen und spürt, wie endlich Wärme in die halbtauben Dinger zurückkehrt. Gute Nacht, wünscht Scribonia. Schlaf gut. Du auch. Iulia winkt ihr und kuschelt sich in ihre Decke.
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VI. Brandgeruch. Mitten in der Nacht schreckt Iulia hoch, weil es beißend nach Rauch riecht. Angestrengt versucht sie, sich in dem dunklen Zimmer zu orientieren, setzt sich auf, schlaftrunken, noch nicht richtig in der Lage, Arme und Beine koordiniert zu bewegen. Da hört sie Leute den Flur entlangrennen, hört nur die Schritte, schwer, als trügen diese Leute Stiefel. Etwas klirrt? Metall. Waffen? Dann sind die Männer auch schon in ihrem Zimmer; es sind drei, einer hat eine Laterne, sie tragen Mäntel, die Kapuzen über dem Kopf, Tücher vor Mund und Nase. Iulia, steif vor Schreck, fühlt, wie sie an den Armen gepackt wird, hochgezerrt; sie will schreien, aber da preßt sich eine Hand auf ihren Mund: still, kein Wort, oder du bist tot, hört sie eine scharfe Stimme an ihrem Ohr, man wirft ihr einen kratzenden Wollmantel über das Nachthemd, dann wird sie wieder aufs Bett gestoßen, jemand faßt sie ums Fußgelenk, schiebt ihren einen Fuß in einen Stiefel, ohne ihn richtig zuzuschnüren; dann ist der andere Fuß dran, und schon reißt man sie wieder hoch, sie stolpert, einer greift fest um ihre Taille, schiebt sie nach draußen, wo der Brandgeruch noch stärker ist; kein Feuer zu sehen, nur die Schwaden, die husten machen; die drei Männer hasten schweigend mit ihrer Beute durchs Haus; jetzt hört Iulia die aufgeregten Stimmen der Sklaven, unterscheidet Metrobius, der den Sklaven Befehle erteilt, hört die Kommandos, die der Hauptmann den Soldaten gibt; Iulia stolpert immer wieder in den Stiefeln, die ihr zu groß sind und nicht festgeschnürt, aber sie wird zwischen zwei der Vermummten mehr mitgetragen, mitgeschleift, als daß sie laufen würde, und einer der Entführer hat 223
immer noch die Hand auf ihren Mund gepreßt; sie müssen der Wache in die Arme rennen, denkt Iulia, denn der Flur, durch den sie kommen, führt geradewegs zum Portikus, den die Soldaten Tag und Nacht abschreiten; der Säulengang schneidet die Villa an der schmälsten Stelle der Felsenzunge hart ab; hier ist kein Durchkommen; Iulia sieht einen Feuerschein links, sieht im Gegenlicht die Sklaven, die den Brand bekämpfen, es zischt und raucht; und da ist auch schon der erste Soldat, er stellt sich den Flüchtenden in den Weg, zieht das Schwert, der zweite kommt angerannt, ebenfalls bewaffnet; keine Chance, denkt Iulia, sie spürt, wie sie losgelassen wird, taumelt gegen eine Wand, weil die stützenden Arme plötzlich fehlen; es gibt ein Handgemenge, blanker Stahl trifft aufeinander; Iulia duckt sich, um in dem engen Flur nicht getroffen zu werden; unterdrückte Stimmen, die Tritte der Männer, ein Schrei, dumpf fällt ein Körper, aber es ist keiner der Vermummten, es ist ein Soldat, der zweite brüllt nach Verstärkung, und während er sich gegen zwei der Entführer wehrt, packt der dritte Iulia, die nicht mitwill, hebt sie einfach hoch und wirft sie sich wie einen Sack über die Schulter; er flüchtet mit ihr; er muß eine unglaubliche Kraft haben, denn er rennt trotz der Last; der Rauch und das Gerangel, in das die Soldaten verwickelt sind, der Tumult und das Chaos lassen die beiden entkommen; draußen durchnäßt sie sofort eine Regenböe, es ist eiskalt, und der schwere Wollstoff des Mantels saugt sich voll Wasser. Der Vermummte taucht mit Iulia ins Dickicht der Macchia, die an die Villa grenzt, aber im Hintergrund Hundegebell, lang wird es nicht dauern, bis man ihre Spur hat, bis man sie eingeholt hat; ihr Entführer wiederholt: kein Laut!, setzt Iulia ab, faßt sie an der Hand und hastet mit ihr durch die Nacht; langsam gewöhnen die Augen sich an die Dunkelheit; der Mann scheint zu 224
wissen, wo er hinwill; es geht ein Stück den Hang hinauf, Büsche haken sich an den Mänteln fest, dann spürt Iulia Felsen unter ihren Sohlen, gleitet aus auf Geröll, dann wieder ist da weiche Erde oder Sand, und dann sind sie mit einem Mal oben auf einer Klippe, schwach erkennbar unten die Bucht, die Felsen steil; ohne daß Iulia genau feststellen könnte, wie hoch es ist, merkt sie, daß es eine gewaltige Höhe sein muß; nach einem Moment meint sie, unten die weiße Gischt sehen zu können, wenn sich die Wellen weiter links an den Felsen brechen, und ganz tief unter ihnen schimmert es hell, als ob dort Strand wäre. Weiter, keucht der Vermummte und zerrt Iulia nach links, es geht abwärts, so steil, daß sie beide einfach die weiche Erdkante hinunterrutschen, doch ehe Iulia fühlt, wie sie ins Bodenlose fällt, haben sie wieder Grund unter den Füßen; zwischen Gestrüpp und Felsen scheint es einen schmalen Pfad abwärts zu geben; Iulia ist naß und erschöpft; sie hört immer noch das Gebell der Hunde, aber es ist nicht so nah, daß sie wirklich Angst hätte; ein Stiefel rutscht, und während der Mann sie mitschleppt, ohne sich darum zu kümmern, ob sie sich die Knie blutig schlägt, gelingt es ihr, den schweren, durchnäßten Mantel loszuwerden; es ändert nichts an der Kälte – im Gegenteil –, aber sie hat zumindest nicht mehr das Gefühl, nach unten gezogen zu werden durch sein Gewicht, unbeweglich zu sein, gefangen. Hinter ihr plötzlich schnelle Schritte, Geröll löst sich, Steine kollern von hinten gegen Iulias Fersen und über die Klippen. Ein halblauter Ruf. Ihr Entführer bleibt stehen, nur ganz kurz, dreht sich um, erwidert den Ruf. Gleich darauf sind die drei Männer wieder zusammen; der eine sagt: Zwei haben wir fertiggemacht. Die anderen sind mit den Hunden hinter uns her. Mein Stiefel, sagt Iulia. 225
Einer der Männer bückt sich und greift nach dem rechten Bein. Nein, links, sagt sie. Er zieht das Leder hoch und schnürt es fest. Dann geht es weiter nach unten; der Weg ist dem Felsen abgerungen, in Zickzackwindung führt er nach unten, ohne mehr Halt zu bieten als das Gestrüpp, um sich vor dem Absturz zu bewahren; Iulia ist langsam, weil ihre Knie nachgeben, weil sie kaum noch Atem hat, aber der, der hinter ihr geht, schiebt sie ohne Rücksicht, hält sie, wenn sie stolpert, die Steine sind glatt und scharf, die Dornen der Büsche zerkratzen Iulias Arme, ihre Beine, ihr Nachthemd klebt klatschnaß und eisig an ihrem Körper, es muß an einigen Stellen zerrissen sein; hinter ihnen sind jetzt Stimmen zu hören, es sind die Soldaten, die Hunde japsen und bellen; sie scheinen näher zu kommen, aber jedesmal, wenn Iulia glaubt, jetzt sind sie da, jetzt haben sie uns eingeholt, macht der Weg eine Kurve; noch haben die Flüchtenden ein wenig Vorsprung; Iulia keucht, heult vor Erschöpfung; weiter, sagt der Mann hinter ihr, wir sind gleich da; ihre Beine knicken weg, als sie statt auf harten Felsen auf Sand tritt; zwei der Männer packen sie rechts und links und schleifen sie über den Strand, wo jetzt schemenhaft ein Ruderboot erkennbar ist. Hart spürt Iulia das Holz der einen Ruderbank gegen ihren Oberschenkel prallen, als man sie ins Boot hebt; einer ihrer Entführer greift nach den Rudern, während die anderen den Kahn ins tiefe Wasser schieben und sich dann hochziehen; die Hunde auf dem Strand kläffend, winselnd; losgelassen schießen sie gleich darauf wütend über den Sand, werfen sich in die Flut und schwimmen dem Boot hinterher, das Fahrt macht. Am Wellensaum die Soldaten, laut fluchend, einer brüllt Befehle. Die drei Männer, schwer atmend, reißen sich die Tücher 226
vom Gesicht, schlagen ihre Kapuzen zurück und lachen. Gratuliere, Fufius! sagt einer. Routinearbeit, sagt der andere grinsend und beugt sich über den Bootsrand, um einem der Hunde, die hinter dem Kahn herhecheln, zuzurufen: Schwimm heim zu Herrchen. Hier kannst du nichts mehr ausrichten! Gelächter; die Männer schlagen sich gegenseitig auf die Schultern. Iulia liegt mehr, als daß sie sitzen würde im Heck des Bootes. Sie ist halb ohnmächtig vor Kälte und Erschöpfung; sie zittert und beißt die Zähne zusammen, damit sie nicht unaufhörlich aufeinanderschlagen. Alle Knochen tun ihr weh. Zwei Männer, einer davon der, den sie Fufius genannt haben, rudern, der dritte klettert zu ihr, legt ihr seinen Mantel um und hilft ihr in eine etwas aufrechtere Position. An Bord haben wir trockene Kleider für dich, sagt er. Erkennst du mich? Iulia blinzelt in die Dämmerung. Es wird bald Morgen, die Nacht ist nur noch grau, nicht mehr schwarz. Der Regen kommt mittlerweile gleichmäßig, ohne Wind, in ruhigen, schmalen Fäden. Das Geräusch der Ruder, die ins Wasser tauchen. Das Boot, an dessen hölzerne Wände die Wellen schwappen. An Bord? fragt sie mit schwacher Stimme. Der Mann deutet hinter sich. Unser Schiff liegt in der Einfahrt zur Bucht. Iulia strengt ihre Augen an. Tatsächlich. Wenn sie sich nicht irrt, kann sie etwas großes, dunkles sehen, das die Formen eines Schiffes hat. Sie konzentriert sich wieder auf ihren Befreier. Caius Matinius, sagt sie. Richtig? Du bist ein Freund von Sempronius. 227
Scheiße! brüllt auf einmal Fufius. Die haben ein Boot! Matinius und Iulia drehen sich um. Ein Lichtschein am Strand, wohl Laternen; ein Boot wird über den Sand gezogen, die Hunde lärmen und springen, halb im Wasser, am Bootsrand hoch; die Soldaten schieben den Kahn alle zusammen ins Wasser, dann, auf Kommando, ziehen sie sich hoch, ihr Gewicht hüben und drüben garantiert die Balance; sie fahren die Ruder aus, nehmen die Verfolgung auf; im Bug steht einer, der mit der Laterne das Wasser absucht; er brüllt einen Befehl in Richtung der Entführer, aber der Wind, der Regen und die Wellen sind zu laut, die Entfernung zu groß – noch schneller, ruft Matinius. Wir schaffen es! Die beiden Ruderer legen sich ins Zeug, verbissen schweigend. Iulia kauert sich zitternd gegen die feuchte, hölzerne Bootswand. Etwas ist falsch, spürt sie; es gibt Dinge, die sie fragen will, aber was zuerst davon wichtig wäre, kann sie nicht entscheiden. Ist Sempronius an Bord? fragt sie Matinius. Er ist tot, antwortet Matinius knapp und steht auf. Aber … fährt Iulia auf. Sei still. Wenn wir auf See sind, kannst du Fragen stellen. Angespannt schaut Matinius nach hinten, wo sich das Boot mit den Soldaten nähert. Er läßt Iulia allein, steigt über die Ruderbank, wo Fufius und der andere Entführer sitzen, greift die beiden überzähligen Ruderblätter, wartet, zählt den Rhythmus seiner Kollegen ab, und taucht dann ein. Das Boot beschleunigt seine Fahrt. Iulias Unterbewußtsein arbeitet schneller als ihre Gedanken, die sie fieberhaft zu sortieren versucht. Etwas stimmt nicht, weiß sie, aber sie weiß nicht, was es ist, 228
sucht nach Worten für das Gefühl, das sie warnt, ihr angst macht. Fufius und Matinius sind junge Männer, die zur Entourage von Sempronius gehört haben; sie kennt sie nur beiläufig, hat sie ein paarmal gesehen, vielleicht sogar mit ihnen getafelt, sie kann sich nicht an den genauen Event erinnern; wer der dritte ist, weiß sie nicht; sie vermutet, daß er auch auf irgend eine Art zur Clique gehört … Sempronius tot … Und die anderen? Appius. Antonius! Sie traut sich nicht zu fragen; schweigend, verbissen ziehen die Männer die Riemen durch; sie sind jung, in allen Disziplinen gut ausgebildet, durchtrainiert; im Hintergrund hebt sich der dunkle Rumpf eines Schiffes gegen den Horizont ab; es scheint eines jener Handelsschiffe zu sein, die leichte Waren, verderbliche Waren, schnell befördern können; an Bord sieht Iulia schattenhaft Gestalten. Sie dreht sich um; das Boot mit den Soldaten liegt zurück; sie sieht die Laterne flackern, ein seltsames, überflüssiges Licht in der Morgendämmerung, auf eine Weise irritierend wie eine Kerze, die man über Nacht hat brennen lassen, und die man morgens entdeckt, noch flackernd, aber nicht mehr hellmachend, weil selbst das wenige Morgenlicht mehr Kraft hat als die künstliche Flamme. Der Bindfadenregen, das zunehmende Licht, die Windstille, das wartende Schiff und das Schweigen der Entführer wie der Soldaten, die jetzt um jeden Zoll kämpfen, geben der Situation etwas Unwirkliches; was in der Nacht wie ein verrücktes Abenteuer schien, wird hier draußen auf dem Wasser, jetzt, wo es fast hell ist, zur Farce. Plötzlich fällt Iulia ein, was sie fragen muß, was sie wissen muß. Wohin bringt ihr mich? will sie von ihren Entführern wissen. Fufius grinst sie verzerrt an; die Anstrengung läßt ihn keuchen. 229
Iulia richtet sich auf, schreit ihn an, was ihr nur stockend gelingt, weil die Wangenmuskeln nahezu unbeweglich sind vor Kälte. Wohin bringt ihr mich? Kein Ort im ganzen römischen Reich, wo ich … sicher wäre! Wir auch nicht, gibt Fufius, immer noch grinsend, zurück. Nach diesem kleinen Kunststück hier … Aber wohin? brüllt Iulia mit aller Kraft ihrer Stimme. Arabien, ruft Matinius von der zweiten Bank. Dort hat Augustus nichts zu sagen. Wir werden erwartet, sagt Fufius schnaufend. Sie haben das Schiff fast erreicht, gehen längsseits, ziehen die Ruder ein, von oben werden Taue heruntergeworfen, eine Strickleiter. Schnell, ruft Fufius. Die Bande hat uns gleich! Er packt Iulia um die Taille, hebt sie über die Ruderbank, und als er merkt, daß ihre steifgefrorenen Hände die Strickleiter nicht greifen können, brüllt er nach oben: He, holt sie ab! und befiehlt Iulia: pack zu! während er sie nach oben schiebt, den Männern entgegen, die nach ihren ausgestreckten Armen greifen; das Boot unter ihr schwankt, driftet immer wieder ein Stück vom Schiffsbauch weg, aber der Transporter ist nicht hoch, besitzt nur eine Ruderbank; so gelingt es denen an Bord, Iulias Handgelenke zu ergreifen, sie angelt mit den Füßen nach der Strickleiter, findet einen Tritt, verliert ihn, baumelt frei, spürt die Zerrung in den Armen, prallt gegen die Schiffswand und stößt sich ab, wird endlich hochgezogen, festgehalten, weil sie zusammensackt; Fufius, Matinius und der dritte sind schon an Bord, ziehen die Leinen ein; der Kahn mit den Soldaten fast heran, sie brüllen Befehle, doch die Entführer lachen nur; zwanzig Ruder werden ins Wasser getaucht, das Schiff, unbeladen und leicht, ruckt, Planken knarren, scheinen sich unter Iulias Füßen zu verschieben, als die Ruder greifen … Sie 230
ist kaum bei Besinnung, versucht, zu begreifen, was Arabien bedeutet, während sie blind aufs Wasser starrt, das Boot mit den Soldaten kaum wahrnimmt, kaum merkt, daß sich das Schiff mit ihr an Bord auf See zu bewegt; Arabien, weiß sie, ist ein Land, fern, heiß und fast unbekannt; es gibt keine diplomatischen Beziehungen, aber auch keine Kriege; Sempronius tot … und was ist mit Appius, Antonius? … Arabien – plötzlich begreift sie, was ihr angst macht – ich bin eure Geisel! schreit sie Matinius an. Ihr nehmt mich mit, damit sie euch nicht an den Galgen hängen! Fufius grinst sie an. Du bist frei. Was willst du mehr? Frei? Ihr wollt mich verschachern! Iulia, die Kaisertochter als Gastgeschenk! Sie werden mich mit einem ihrer Prinzen verheiraten, und ihr macht euch ein schönes Leben! Fufius grinst immer noch, seine Augen glitzern wie die eines Menschen, der genug getrunken hat, um mutig zu werden; es ist die Trunkenheit des Erfolgs, aber Iulia kennt diese Art Mann gut genug, um zu wissen, daß der Alkohol folgen wird, und zwar bald. Was ist mit Appius? Mit Antonius? schreit sie Fufius an. Appius ist verbannt, Antonius hat gnädig die Erlaubnis erhalten, sich umzubringen, sagt er. Alternative: der Henker. Angeblich haben wir uns gegen den Kaiser verschworen. Sie haben es aus dem Kitharaspieler herausgefoltert. Matinius kommt zu Iulia. Wenn Tyrannen alt werden, sagt er, kriegen sie Angst. Iulia hört ihm kaum zu. Schwacher Fahrtwind zupft an ihrem Mantel. Noch haben sie die Bucht kaum verlassen, aber es ist klar, daß sie es schaffen werden. Die Soldaten im Boot haben keine Chance. Sie ziehen die Ruder ein, 231
stehen auf und schauen dem Schiff hinterher. Der Regen hat aufgehört. Antonius tot, ist alles, was Iulia denken kann. Antonius tot. In diesem Gedanken bündeln sich ihre Furcht und ihr Wissen, werden zu einer Restenergie, die sie für Augenblicke klarer in die Vergangenheit und in die Zukunft blicken läßt, als sie ihr auf bewußte Weise je gelingen würde. Es ist eine Klarheit, die sie handeln läßt: überraschend schnell, viel schneller, als die Männer reagieren können, streift sie sich den Mantel ab, spannt mit aller Kraft, die in ihrem steifgefrorenen Körper noch sein mag, die Muskeln, verharrt einen winzigen Augenblick – eine Nike in nassem Hemd, an dem der Fahrtwind zerrt – schätzt von oben die Länge der Ruder ein, stößt sich ab, springt, stürzt sich ins Wasser, taucht unter, kommt spuckend wieder hoch, das Hemd, die Stiefel behindern sie, und das eisige Wasser nimmt ihr den Atem; sie ringt nach Luft, weil sich die Kälte wie ein Eisenring um ihre Brust legt, macht ein paar Schwimmzüge; sie ist eine gute Schwimmerin, aber die Erschöpfung ist zu stark; sie kämpft gegen den Impuls, aufzugeben, aufzuhören, sich einfach nicht mehr zu bewegen, unterzugehen und nichts mehr zu spüren, sie schwimmt weiter, hört nichts, sieht nichts, das Salzwasser brennt in den Augen, in den Ohren dröhnt es, als würde ihr Kopf gleich platzen; sie kann nicht mehr, sie weiß es, es wird nicht mehr lange dauern, bis es vorbei ist; sie spürt gar nicht mehr, ob sie noch vorwärtskommt oder sich nur noch mit letzter Energie an der Wasseroberfläche hält; eine Welle, gar nicht hoch, schwappt über ihren Kopf; sie fühlt, daß sie sinkt; ihre Arme, ihre Beine scheinen nicht mehr vorhanden zu sein; es ist gut, denkt sie, es ist gut; nichts mehr wollen, nichts mehr müssen, nur noch sinken, tief ins Vergessen; da wird es dunkel vor ihr, Hände 232
greifen nach ihr; das Boot, die Soldaten! Iulias Körper ist taub, sie fühlt nicht, wie sie an Bord gezogen wird, sie hat keine Kraft mehr zu denken, zu bemerken, es ist alles gleichgültig; nur einmal, ein letztes Mal, macht sie die Augen auf – und schaut in das Gesicht von Dorides. Danach ist alles schwarz.
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BACCHANAL
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I. Hat sie eine Chance, fragt Scribonia Dorides, der sich über das Bett beugt, in dem Iulia liegt, reglos, blaß, bis zum Hals zugedeckt; sie hat eine Schweißschicht auf dem Gesicht, die ihr eine Sklavin abtupft, nur damit sie sich von neuem bilden kann; Iulias Lippen sind aufgesprungen und farblos, und immer wieder schauert ihr Körper im Fieberfrost, es schüttelt ihn nahezu; sie ist nicht bei Bewußtsein. Dorides richtet sich auf. Ich weiß es nicht, sagt er. Es hängt alles davon ab, ob das Fieber irgendwann runtergeht. Macht, was ich euch gesagt habe. Haltet ihre Lippen feucht, und wenn sie schluckt, versucht, ihr etwas zu trinken zu geben. Paßt auf, daß es immer nur tropfenweise geschieht. Tut das Zeug rein, das ich mitgebracht habe. Es hilft, das Fieber zu senken. Wechselt die durchgeschwitzten Laken regelmäßig; du, Cyriace, solltest ihre Beine und Arme so massieren, wie ich es dir gezeigt habe, ganz sachte, nicht drücken. Seid leise, wenn ihr im Zimmer hin- und hergeht. Redet nur das Nötigste. Ruft mich, wenn sie unruhig oder sogar wach wird. Mehr können wir nicht tun. Nur hoffen? fragt Scribonia. Dorides nickt. Also gibt es Hoffnung, beharrt sie. Der Arzt schaut sie an. Ich weiß es nicht, sagt er unwirsch. Du bist doch Arzt! fährt sie ihn an. Aber nicht Asklepius, gibt er zurück und geht.
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II. Sie nennen es das Bewußtsein verloren haben, aber ist es nicht nur die andere Seite bewußten Seins, die Iulia nun betreten hat, als sei sie auf die Rückseite, die dunkle Seite des Mondes gewechselt, wo die Kategorien bewußt, bewußtlos nicht mehr gelten, wo das Wissen um den eigenen Zustand nicht verloren ist, sondern nur verschieden von der wachen Existenz, von der man glaubt, daß wir über sie etwas wissen? Sie betritt dieses Reich nicht freiwillig, und was ihr geschieht, ist das, was geschehen ist; es fängt noch nicht einmal an, wo es aufgehört hat; es beginnt mittendrin; ihr Gedächtnis – virtuoser Dämon der Erinnerung – macht das gleiche, was ein Sänger tun würde, der eine Geschichte über Tage hinweg erzählt – an jedem neuen Abend beginnt er nicht dort, wo er endete, sondern ein bißchen früher, weil er die Zuhörer mit Vertrautem fängt, sie einstimmt auf das Neue, Unerhörte … Iulia findet sich und Antonius allein im Zimmer; die Klinen sind leer, stehen schief, die Polster, gerade noch neu bezogen mit den teuersten Modestoffen, sind schon nach einem Abend fleckig. Sulpicia, die Partykillerin, sagt Antonius. Keine kann das so gut wie sie. Da Iulia nicht antwortet, bemerkt er: Crispinus hat ein Ballett versprochen. Draußen auf der Exedra. Kommst du mit? Iulia nickt. Hast du Phoebe irgendwo gesehen? fragt sie, während sie ihm folgt; anscheinend kennt er sich aus; es geht einen Flur entlang, durch zwei weitere Räume, die noch nicht fertig dekoriert sind, und dann eine Treppe runter ins Freie. 236
Nein. Ist sie dir abhanden gekommen? So würde ich das nicht ausdrücken. Sie wollte später kommen. Anscheinend … … hat sie es sich anders überlegt? ergänzt Antonius, weil sie nicht weiterredet. Ich weiß es nicht, sagt Iulia. Sie war seltsam heute abend. Bist du deshalb so schlechter Laune? fragt er. Schlechter Laune? Man muß dir jedes Wort geradezu abbetteln, meint er und nimmt ihre Hand, um sie an der Bühne vorbei auf die andere Seite der halbrunden Terrasse zu ziehen, wo weniger Leute stehen. Es ist eine opulente Freifläche, dahinter das neue Haus, seine Gartenfront mit ihren Gesimsen und Halbsäulen von den Fackeln und Feuerschalen mehr als ausreichend erhellt, um erkennen zu lassen, daß hier an nichts gespart wurde. Zum Fluß hin eine niedrige, in Rautenmuster durchbrochene Mauer, junge Bäume in Kübeln in regelmäßigen Abständen; unterhalb fließt der Tiber dahin, dunkel, und am anderen Ufer die Stadt. Roma, ein nächtliches Schemen, zu erahnen das Theater des Pompeius mit seinen hohen Rängen, ein paar Tempel, Mietshäuser, in denen Licht brennt… Auf der Bühne vor dem Haus eine Band, Flöten, Oboen, Hörner, Tamburine, alles, was Krach macht und Rhythmus. Sempronius schlendert wie absichtslos herüber, stellt sich provozierend nah neben Iulia und Antonius. Hast du Phoebe gesehen? fragt Iulia ihn, während sie ihn ärgerlich anfunkelt. Das ist das einzige, was sie heute abend sagt, beschwert 237
sich Antonius lachend. Seit wann mußt du nach Phoebe suchen? zieht Sempronius sie auf. Normalerweise klebt sie dir wie ein Hund an den Fersen. Sei froh, daß du sie einen Abend lang los bist. Hast du noch ein paar Freundlichkeiten? fährt ihn Iulia an. Troll dich! Hier hat man den besten Blick auf den Striptease, der uns doch hoffentlich gleich erwartet, erwidert er nur. Kann mir jemand sagen, warum diese Art von Schauspiel zur Zeit so in ist? Schaut sie euch an, sagt er und deutete auf die Partygäste, die sich um die Bühne drängen. Sie können’s kaum erwarten. So eine verklemmte Bande! Die Musiker beginnen zu spielen, laut, schlecht, und der Rhythmus gerade noch zu ahnen. Fünf Mädchen in bunten Schleiergewändern tanzen auf die Bühne. Pfiffe, Klatschen, Johlen begleiten sie. Schauerlich, sagt Sempronius. Wer denen das Tanzen beigebracht hat, gehört ans Kreuz genagelt. Weder Iulia noch Antonius gehen auf ihn ein. Sie schauen auf die Bühne, aber keiner von beiden interessiert sich wirklich für das Ballett, eine Mischung aus rhythmisch-akrobatischem Tanz und ungelenk-lasziven Bewegungen, die so lange erträglich ist, als die Musik mit ihrem Lärm in den Bauch fährt. Doch Sempronius gibt sich nicht so schnell geschlagen. Er stört, und das mit größtem Vergnügen. Glückwunsch übrigens, sagt er zu Iullus Antonius, der einen Moment braucht, um zu begreifen, daß er gemeint ist, und Sempronius dann verständnislos anschaut. Wozu? fragt er. Ich hab gehört, ihr bekommt wieder Nachwuchs. 238
Sempronius grinst, als er sieht, wie Iulia all ihre Muskeln anspannt, um nicht hochzugehen und ihm das Gesicht zu zerkratzen. Danke, erwidert Antonius knapp. Ich hoffe, alles geht gut, fährt Sempronius ungerührt fort. Marcella ist ja auch schon … wie alt? Zweiundvierzig. Antonius bellt es fast. Die fünf schleierumhüllten Tänzerinnen lassen nach und nach ihre Verrenkungen sein und kommen zum Eigentlichen, was die Augen der Zuschauer entspannt, weil sich nur noch Hüften und Brüste bewegen, während die Mädchen, jede nach Einfallsreichtum und Können, anfangen, sich auszuwickeln. Die kleine Band gibt ihr Äußerstes, macht einen Krach, den man vermutlich bis zum Capitol hören kann, und die Zuschauer, dankbar für jedes Stückchen nacktes Fleisch, feuern die Nymphen an, so laut sie können. Entschuldigt mich, sagt Iulia zu den beiden Männern. Ich gehe Phoebe suchen. Sie fühlt sich so verdammt fehl am Platz in ihrem schönen, extravaganten Kleid. Wozu? Wozu das alles? Ehemänner schwängern ihre Ehefrauen. Das ist normal. Nichts, worüber man nachdenken sollte. Es ist ihre Pflicht, kaiserlich angeordnet und mit Prämierung ab drei Kindern, weil die Frau dann frei ist von der Vormundschaft ihres Mannes. Warum sich also beleidigt fühlen, getroffen, verletzt? Sie drängt sich durch das Gewühl auf der Terrasse, flüchtet durch Korridore, verirrt sich in dem fremden Haus, kommt schließlich in den kleinen Garten, wo niemand ist, weil alle sich an einem schlechten Strip delektieren müssen, und lehnt sich an eine kühle marmorne Säule. Heimgehen. Aufhören. Es gut sein lassen. Hat sie Antonius mißverstanden? Seine Aufmerksamkeit? Die plötzliche Nähe? Die Komplimente 239
der letzten Wochen. Die Gespräche über Dinge, Philosophie, Kunst, Poesie? Die scheinbar absichtslosen Berührungen? Sein Lächeln, wenn sie sich zufällig in der Saepta oder im Theater begegnen? Sie kann sich noch so oft sagen, daß es gleichgültig ist, ob er seine Frau geschwängert hat oder nicht. Daß nur das zählt, was zwischen ihnen entstanden ist. Daß die Ehe nichts mit Liebe zu tun hat. Wie gut sie das aus eigener Erfahrung kennt. Trotzdem fühlt sie sich auf kindische Weise betrogen. Und Phoebe ist nicht gekommen. Es irritiert sie, weil die Freundin nie unzuverlässig ist. Der Abend ein Desaster. Ich sollte gehen, denkt sie. Ehe es noch schlimmer kommt. Ich muß mir nichts bieten lassen. Ich … Sempronius ist ein Arsch, sagt Antonius leise, der hinter sie getreten ist. Sie dreht sich um, schlingt ihm wortlos die Arme um den Hals. Er zieht sie an sich, warm, fest, wiegt sie leise hin und her. So stehen sie eine ganze Weile. Einfach so. Irgendwann sagt Iulia leise: Ich liebe dich. Antonius läßt sie nicht los, flüstert mit einem kleinen Lachen: Wann ist denn das passiert? Ach, ich weiß nicht, kichert sie. Vor hundert Jahren … Er hält sie ein wenig von sich weg, so daß er ihr ins Gesicht sehen kann. Lächelnd betrachtet er sie. Iulia wartet. Als er nichts sagt, sie nicht küßt, nichts tut, außer sie anzuschauen, löst sie sich erstaunt von ihm, verwirrt, weil das Gefühl für ihn so stark ist, und weil sie keinen Zweifel daran hatte, daß er es erwidert. Ich mag dich sehr, Iulia, beginnt er endlich. Ich bewundere dich. Ich bin gern mit dir zusammen. Er macht eine Pause. Sehr gern, flüstert er. 240
Aber? fragt sie mit kleiner Stimme. Aber ich liebe dich nicht. Das ist nicht wahr! fährt sie auf. Du hast doch … Du warst so anders in letzter Zeit. Wirklich? Er lächelt immer noch; sie liebt seinen breiten Mund mit den schmalen Lippen, sie mag selbst seine Zähne, die braun sind und alle einzeln nebeneinanderstehen, als wollten sie ihrem Nachbarn höflich Platz lassen. Ich dachte …, sagt sie und bricht ab, weil es ihr lächerlich scheint, ihm zu sagen, was er doch selbst nur zu gut weiß, wissen muß. Seine Blicke, seine Aufmerksamkeiten, die Stunden, die sie zusammen verbracht haben, lesend, diskutierend. Und das alles soll nichts bedeutet haben? Sie glaubt ihm kein Wort und trotzdem ist sie verunsichert, denn was genau weiß man schon von den Gefühlen eines anderen Menschen? Sie hat nichts als das, was er ihr sagt. Und das ist eindeutig. Ich dachte …, sagt sie noch einmal und läßt es dann, weil die Enttäuschung sie stumm macht, die Enttäuschung, die sich mit der Scham zu Erkenntnis bündelt. Sie hat sich geirrt, und selbst, wenn sie sich nicht geirrt hat, nützt es ihr wenig, weil er leugnet; sie begreift es nicht, zu überraschend ist die Zurückweisung; sie zwingt sich, es zu akzeptieren, sucht einen Weg aus der Erniedrigung, kann sich nicht verstellen, tritt nur einen Schritt zurück und steht da, hilflos, ehrlich … Wann? fragt Antonius wieder. Wann hast du dich in mich verliebt? Du kennst mich doch seit deiner Geburt, Iulia. Man verliebt sich doch nicht einfach nach so vielen Jahren. Sie hebt die Hände. Ich weiß es nicht, sagt sie erschöpft. Es ist ja auch egal. Ich habe mich geirrt. Ich dachte … Du 241
hast mir jeden Grund zu der Annahme gegeben … Das kann nicht sein. Er schüttelt, immer noch lächelnd, den Kopf. Was habe ich denn getan? Seine Frage klingt so ernsthaft, so echt, daß Iulia nun tatsächlich zu zweifeln beginnt. Hat sie ihn mißverstanden? Wie eine blind verliebte Frau jede Handbewegung, jedes Wort des Geliebten mißversteht, um sich selbst zu beweisen, daß er sie meint, nur sie? Aber ist sie nicht lange genug am Leben, daß sie erkennt, wenn einer was will, sich für sie interessiert, wenn er sie begehrt? Die Konfusion, in die sie die Gewißheit, der Zweifel stürzen, rät ihr: Geh! Geh weg, laß ihn in Ruhe, er will dich nicht, egal, was du fühlst, er sagt, er will dich nicht, also nimm es hin, mach dich nicht noch lächerlicher, geh, laß ihn in Ruhe … Na schön, sagt sie. Du hast also nichts getan. Ich … es tut mir leid. Ich dachte nur …, Sie senkt den Kopf, wendet ihn zur Seite, damit es ihr gelingt, die Tränen zu unterdrücken. Es ist nicht so wichtig, meint sie dann und lächelt ihn an. Gute Nacht…, Iulia dreht sich um, geht durch den Garten zum Ausgang. Antonius läuft ihr nach, hält sie am Arm fest. Sie stehen im Schatten der Gartenmauer, hierher kommt das Licht der Fackeln nicht; vereinzelt sind Stimmen der Partygäste aus den Zimmern zu hören; anscheinend ist das Ballett vorbei, und man holt sich was zu trinken, zu essen; im Garten ist noch niemand. Antonius nimmt Iulias Hände; er lehnt sich an die Mauer, zieht Iulia zu sich, bis sie knapp vor ihm steht. Hör zu, sagt er, du bist eine wunderbare Frau, Iulia. Du bedeutest mir viel. Sehr viel. Aber ich liebe dich nicht. Meine Frau bekommt ein Kind. Darauf freue ich mich. Sie entzieht ihm ihre Hände. Wie schön für dich, faucht 242
sie ihn an. Er lacht. Danke, sagt er. Hör mir weiter zu. Du bist nicht irgendwer, Iulia. Und – du hast Appius vorhin gehört – ich bin auch nicht irgendwer. Sie unterbricht ihn. Laß das. Ich brauche keine Erklärungen von dir. Es reicht, was du gesagt hast. Er greift wieder nach ihren Händen, sie ringen kurz miteinander, dann siegt seine Kraft. Ich will aber, daß du begreifst, Iulia. Du bist die Tochter des Mannes, der meinen Vater und meinen Bruder auf dem Gewissen hat. Ich bin noch am Leben, weil mich deine Tante großgezogen hat, und weil ich, seit ich erwachsen bin, so tue, als fände ich nichts natürlicher als dem Princeps Augustus in öffentlichen Ämtern zu dienen und dankbar dafür zu sein, daß ich die Frau heiraten durfte, die ich mir ausgesucht habe, obwohl sie seine Nichte ist. Glaubst du, er fände es lustig, wenn ich ein Verhältnis mit seiner Tochter hätte? Feigling! erwidert Iulia nur. Ich habe nie behauptet, daß ich mutig wäre. Darf ich jetzt endlich gehen? schnauzt sie ihn an. Nein, sagt er, doch dann läßt er sie los. Ja, flüstert er. Ich habe kein Recht, dich aufzuhalten. Wortlos läßt sie ihn stehen, findet den Torbogen in der Mauer, flieht den überwölbten Portikus entlang, entsetzt, wütend, todunglücklich, die Hände zu Fäusten geballt, den Kopf gesenkt; sie geht schnell, in äußerster Anspannung, nur nicht hier schon die Fassung verlieren, es reicht, wenn es zu Hause passiert. Sie hört Schritte hinter sich. Iulia! ruft er. Sie bleibt stehen, gegen ihren Willen, verachtet sich dafür, weil sie sich umdreht, langsam, wie unter Zwang. 243
Iullus steht an einen der Pfeiler gelehnt. Seine Arme ausgestreckt. Komm her, sagt er weich. Sie schüttelt den Kopf. Komm her, wiederholt er. Sie kommt, zögernd. Wozu? fragt sie sich immer wieder, wozu? Als sie bei ihm ist, nimmt er ihr Gesicht in beide Hände, zärtlich, warm. Dieser Augenblick gehört uns, sagt er leise. Sie schüttelt noch einmal den Kopf, soweit es seine Hände zulassen. Was immer auch geschieht, fährt er fort, an eins mußt du denken, Iulia. Du bist eine wunderbare Frau. Vergiß das nie, hörst du? Im Anfang das Ende. Todtraurig und geborgen. Sie hört auf zu denken, ist nur noch Nerv, Gefühl, Sensibilität, lehnt ihre Stirn an seine, atmet sich in den Rausch, bis sie es nicht mehr aushält und ihn vorsichtig, federleicht, wie fragend in den Mundwinkel küßt. Da er nur lächelt, fordert sie unsicher: küß mich … Sie wartet eine furchtbare Ewigkeit. Dann spürt sie seine Lippen auf ihrem Mund. Aus dem Garten kommt Musik, anscheinend hat der Kitharaspieler sich nun dort aufgebaut. Stimmen, Gelächter. Leute schlendern den Portikus entlang, nehmen die beiden verschlungenen Gestalten, die am Pfeiler lehnen, vielleicht wahr, aber es interessiert sie nicht, weil überall im Haus, im Garten, Pärchen knutschen oder ganz anderes tun; es ist nichts dabei, so ist der Lauf jeder Party, das ist ihr Sinn, und wer niemanden abbekommen hat, findet genug zu trinken … 244
Ich bin verrückt nach dir, flüstert Iulia; es ist ein so banaler, so dummer Satz; sie muß kichern, weil sie sich selbst reden hört, so ein abgegriffenes Zeug, aber es ist wahr, sie will Antonius haben, sofort, er küßt wie Apoll, der Daphne gleichzeitig überwältigt und verführt, und sein Körper fühlt sich so gut an, breit und fest, und wie direkt er sie anfaßt, und wo er hinfaßt, lustvoll zugreift, und es ist ja nicht so, daß sie sein Verlangen nicht deutlich spüren könnte … Er küßt sie erneut, fast brutal, aber Iulia hält es nicht aus, löst sich von ihm, keucht: Komm mit! Antonius läßt sie los. Iulia, sagt er beschwörend. Du willst es doch! erwidert sie, auf ihren Wangen hektische Flecken. Du willst es doch genau wie ich! Er schüttelt den Kopf, stumm. Iullus! schreit sie ihn an. Du lügst! Sie faßt seine Hand, will ihn mit sich ziehen. Er macht sich los, packt sie am Arm. Hör zu, Iulia, sagt er leise und scharf, es geht nicht. Ich kann nicht. Ich will nicht! Sie starrt ihn an; noch immer sind ihre Augen stumpf vor Lust, als benetze Amor jenen, die der Leidenschaft verfallen sind, die Iris mit einem Liquor, der den Entflammten die Sicht trübt, damit sie anfangen, mit der Haut zu sehen, mit dem Geruchssinn, mit dem Gehör; deshalb sagt das Sprichwort: Liebe macht blind; Iulia starrt Antonius an, gerade so blind. Warum? sagt sie heiser, schluchzt das nächste: warum? bereits, weil sie es nicht begreift, weil sie sich geliebt und geschlagen, getreten und verschlungen fühlt, alles zugleich; sie kann nicht festhalten, nicht ordnen, was geschieht, sie will ihn halten und ihn wegstoßen und hat zu beidem nicht die Kraft; er läßt sie los, geht rasch den Portikus entlang, 245
wechselt zwischen den Mittelpfeilern hindurch auf die andere Seite, so daß Iulia ihn einen Moment aus den Augen verliert; sie läuft ihm nach, ein paar Schritte, bleibt stehen, Iullus! ruft sie; er dreht sich nicht um, geht schneller und schneller, drängt sich zwischen Leuten durch, die den Wandelgang auf und ab schlendern; Iulia bleibt schließlich stehen, zitternd; sie achtet nicht auf die Freunde und Bekannten, die etwas zu ihr sagen, bemüht sich nur um ein Gesicht, das ihren Aufruhr nicht verrät, schluckt die Tränen hinunter, und dann kommt sie, die Wut, die der Verzweiflung ähnlicher ist als dem Furor, ein Kitzel, der der ungestillten Lust entspringt, sie lacht plötzlich, kann nicht aufhören zu lachen, macht auf dem Absatz kehrt, reißt eine Fackel aus ihrer Halterung und läuft in den Garten mit wehendem Kleid – Sempronius, ruft sie laut, Sempronius, wo steckst du? Laß uns feiern! Sempronius, den Becher in der Hand, grüßt Iulia in einem der Speisezimmer, in das sie fackelschwingend stürmt – Halt, meine schöne Maenade, sagt er, hier bin ich, was tun wir, um uns zu amüsieren? Er geht auf sie zu, faßt sie um die Taille; sie lacht, biegt den Hals zurück; er beugt sich vor und beißt sie nicht zärtlich, sondern kraftvoll; Iulia lacht noch lauter und stößt ihn von sich – Gib mir was zu trinken! fordert sie. Und von dem Zeug! Er reicht ihr seinen Becher – da ist genug drin, sagt er und greift sich selbst einen anderen von einem, der neben ihm steht – Wir haben etwas zu feiern! ruft Iulia den Anwesenden zu; sie ist schön in diesem Moment, die Lippen so rot, das weiße Kleid auf ihren Körper geschnitten, sie streckt ihren Arm mit der Fackel, daß die Flamme wilde Zungen über die Gesichter der Menschen im Raum leckt – Wir feiern Liebe in Freiheit – Freiheit durch Liebe! ruft sie mit sich fast überschlagender Stimme. Los! fordert sie die anderen auf – Wie heißt die Parole? Und die Bacchanten 246
skandieren: Liebe in Freiheit – Freiheit durch Liebe! Der Kitharaspieler spielt die ersten Akkorde eines vulgären Trinkliedes, und schon bei der ersten Strophe fallen zumindest die Männer ein; ihren Stimmen merkt man an, daß sie geschult sind, wohlerzogene Jugend aus gutem Hause auf Abwegen, die Gesellschaft, in die sie geraten sind, macht vielen von ihnen ebensoviel Angst, wie sie sie reizt; sie trinken mehr, als ihnen guttut, weil sie glauben, dann gehörten sie dazu, und sie spielen jedes Spiel mit, das die abgehalfterte Boheme ihnen vormacht, daß man nicht Feigling zu ihnen sagt und Spießer. Nehmt euch Fackeln! ruft Sempronius ihnen zu. Wir ziehen durch die Stadt! Bacchus und Ariadne! Er bückt sich, streckt die Hände nach hinten und ruft Iulia zu: Auf meinen Pantherrücken, Geliebte! Deine Füße sollen die Erde nicht mehr berühren! Iulia lacht, zwei Männer helfen ihr auf Sempronius’ Schultern; dort oben thront sie, glühend, schwenkt die Fackel. Folgt dem Zug! ruft sie, nehmt Thyrsosstab und Trauben, Tympanon, Flöten und Hörner, macht Krach, soviel ihr könnt, damit die Römer in ihren Betten sich fürchten, und wenn sie den Kopf aus den Fenstern strecken, packt sie und zerreißt sie, denn so tun es Bacchanten! Laßt die Knaben nicht hier, sie sollen die Weinschläuche tragen, macht das Maul auf, wenn ihr Durst habt, und laßt euch den Saft in die Kehle gießen, und singt, singt dem Dionysos eure Lieder, tanzt, bewegt eure Ärsche, schwenkt eure Titten, damit er heiß wird vor Lust und Ariadne nicht sterben läßt, ehe er es ihr besorgt hat! Grölen ist die Antwort auf ihre Ansprache; es formiert sich der Zug; bald sind die Zimmer, ist der Garten dunkel, weil die Fackeln in den Händen der Bacchanten sind; mit scheppernden Tympani, singend, johlend, verläßt die Party das Haus des Crispinus; bunt ergießen sich die Feiernden 247
in die Nacht, reißen Efeu von den Mauern, um die Maenade, den Satyr neben sich mit einem Kranz zu schmücken; Sempronius, der Panther, von Ariadne geritten, führt den Zug an; es geht am Tiber entlang, bald über den Pons Agrippae, wo ein paar Huren und Lustknaben stehen, die sich dem Happening anschließen, weil es zu trinken gibt, kostenlos, und vielleicht ein Geschäft; den reichen Buben sitzt das Geld locker, und sie sind immer unter Druck, wenn sie nicht gerade zuviel gesoffen haben … Wohin, Geliebte? fragt Sempronius seine Reiterin; andere Mädchen haben es ihr nachgemacht, haben sich auf die Buckel der Männer geschwungen, peitschen sie mit Weidenruten, die sie von den Bäumen am Tiberufer abgerissen haben; sie singen und schreien ihre Lastträger an: hüh, schneller, und kicken ihnen die Fersen in die Rippen, damit sie in einen holprigen, trunkenen Galopp fallen. Zum Forum! ruft Iulia. Zur Rostra! Ich will eine Rede halten! Los, Panther, nicht so lahm; wir wollen Einzug halten über die heilige Straße im Triumph; Dionysos ist unser Gott, sein Sieg unsere Freiheit! Sempronius lacht und faucht und fuchtelt mit den zu Krallen gekrümmten Händen; er läuft schneller, biegt in den Vicus Iugarius ein; der Festzug, in wilder Ordnung, folgt ihm; hier, durch die Porta Carmentalis, kommen die Triumphzüge des Kaisers von Norden; hier drängen sich heute nacht die Dionysier durch die Tore; die Wachen glotzen nur schlaftrunken, kriegen Wein ab und ein paar Zoten und werden mit Trauben bekränzt von kreischenden Mädchen; die losgelassene Jugend ist nichts, womit harmlose Kontrolleure von Sitte und Ordnung sich anlegen wollten; die Kerle mögen betrunken sein, aber sie sind nicht umsonst tagsüber auf dem Marsfeld zu finden, 248
wo sie reiten und rennen und fechten, bis ihnen der Schweiß trieft, unter ihren feinen Togen, die jetzt fleckig sind vom Wein, haben sie Muskeln, und eine Prügelei scheint keinem, auch den Nachtwächtern, die die Straßen patrouillieren, auch nur halbwegs erfolgversprechend. Der grölende, ekstatische Haufen entert das Forum zwischen der Iulischen Halle und dem Tempel des Saturn; die Fackeln zucken über die hohen Mauern, lassen die fetten Säulen Schatten werfen; je offizieller die Gebäude werden – da vorn ist die Curia, wo der Senat beschließt, was der Kaiser will, links das Aerar, wo der Staat sein Geld hortet, rechts die heilige Rednerbühne und dahinter, in der Nacht noch schmaler und höher erscheinend der Tempel des vergöttlichten Caesar – je offizieller der Platz, desto ausgelassener wird die Meute, sie lassen die Schellen der Tamburine scheppern zu ihren schmutzigen Liedern, die Flötenspielerinnen pfeifen die schrillsten Töne, die sie finden können, und die Hörner wetteifern damit, wer den längsten und ordinärsten Furz auf seinem Instrument hervorbringen kann; der Wein drückt vielen auf die Blase, Mauern gibt es genug, an die sich die Männer stellen und pissen; die Frauen heben die Röcke und hocken sich in die Gosse. Iulia, hoch auf dem Rücken von Sempronius, ihrem Panther, lockt ihre Gefolgschaft vor die iulische Rostra, die Rednerbühne, von Caesar erbaut; ihre gesamte Front ist gespickt mit eisernen Schiffsschnäbeln; sie stecken in der Mauer wie drohende Phalli; verkünden Sieg und Vergewaltigung: Pharsalos, Sizilien, Actium; hier ist der Platz, an dem das römische Volk den Rednern Gehör schenkt oder auch nicht, hier ist der Platz, an dem die heiligen drei Bäume der großen Roma fest in geweihter Erde wurzeln: Olive, Feige und Weinstock, und unter dem Feigenbaum steht Marsyas, der alte bronzene Silen mit 249
den spitzen Ohren, der platten Nase, den Mund zum Protest aufgerissen; er schultert einen prallen Weinschlauch, und um seine Fußgelenke schlingen sich eiserne Fesseln; Marsyas, seit vierhundert Jahren Symbol des Widerstands, erst der Plebejer gegen die Knechtschaft, in der die Patrizier sie hielten, heute für jeden, der Unterstützung braucht für Opposition; Marsyas, rauh und häßlich, der Erde näher als dem Himmel, wo der Kaiser sich seine Götter sucht, steht so breit und fest auf seinem Platz, so gewöhnlich und lebendig, das Gegenteil aller Raffinesse, er ist so nackt, daß ihm vertraut, wer nichts zu verlieren hat oder das bißchen, was er besitzt, verteidigen will; er ist das Gegenteil aller Eloquenz, die vor seinen Ohren hier jeden Tag geübt wird; Marsyas sagt, was er denkt, so dreist und ungedrechselt, daß ihm glaubt, wer selber weder die Gabe noch die Übung hat, Lügen so kompliziert zu verpacken, daß sie unwiderlegbar klingen. Marsyaner! wendet sich Iulia laut an ihre Gemeinde, Marsyaner! ruft sie noch einmal, um die Aufmerksamkeit der Bacchanten zu bekommen; sie reckt die Fackel und macht sich auf den Schultern von Sempronius noch größer – in uns allen ist der Geist des Widerstands! schreit sie über die Köpfe der trunkenen Gestalten hinweg – wir dienen nicht den Göttern des Kaisers, nicht Apoll, dem Heuchler, wir dienen Bacchus und folgen dem Weg, den uns Marsyas weist, dem Weg in die Freiheit! Liebe in Freiheit – Freiheit durch Liebe! brüllt sie, und die Menge skandiert: Liebe in Freiheit – Freiheit durch Liebe! Bekränzt Marsyas mit Lorbeer, kreischt sie, weiht ihm, was ihr dabei habt, schenkt ihm eure Spangen, eure Armreifen, eure Küsse! – Wer Freiheit will, ist Marsyaner, und ich werde euch die Gesetze verkünden! Sie stößt Sempronius die Fersen in die Seiten, damit er sich in Bewegung setzt, und dirigiert ihn die Treppe hinauf 250
auf die Rednerbühne. Liebe statt Krieg! johlt einer der Besoffenen, den Slogan ändernd – Wein macht kreativ – und beginnt, an den Schiffsschnäbeln zu rütteln; andere lassen sich anstecken – Liebe statt Krieg! grölen sie im Chor – Liebe statt Krieg! – und zerren an den festverankerten Trophäen, ein oder zwei lassen sich tatsächlich bewegen. Während die Frauen drumherumstehen, klatschen, die Tamburine traktieren und den Schlachtruf in rhythmischem Singsang wiederholen, reißen vier, fünf der Vandalen eine Spolie aus der Wand, daß noch Putz und Beton und Backsteinsplitter dran hängenbleiben; sie halten die Beute hoch über ihre Köpfe, ekstatisch gefeiert von Menschen außer Rand und Band, und werfen das schwere eiserne Ding schließlich Richtung Curia, wo es scheppernd auf das Pflaster knallt. Iulia ist oben auf der Bühne angelangt, sie rutscht von Sempronius’ Schultern, breitet die Arme aus; ihr Haar hat sich gelöst, die künstlichen Locken bauschen sich um ihren Kopf, glatter gezogen durch das schwere lange Haar, das ihr bis auf die Hüften reicht; sie schüttelt ihre Mähne, stellt sich breitbeinig an den Rand der Rostra, ruft: Freunde! Die Menge wendet sich ihr zu, noch ist der Lärmpegel hoch, aber nach einem Moment dämpfen auch die Ausgelassensten ihre Stimmen, die Musikanten würgen sich selbst mitten im Ton ab; alles starrt hoch, dorthin, wo die Tochter des Kaisers steht im weißen Kleid, mit offenen Haaren, eine Fackel in der Hand. Marsyaner! schreit sie enthusiastisch. Von heute an wollen wir uns so nennen! Unsere Gesetze werden marsyanische sein, unser Ziel ist die Freiheit! Ohne dazu aufgefordert zu sein, grölt die Horde: Liebe 251
in Freiheit – Freiheit durch Liebe! Gesetz Nummer eins! ruft Iulia. Lex Marsya de maritandis! Die Bacchanten pfeifen und jubeln; jeder kennt die Lex Iulia de maritandis ordinibus, die Augustus erlassen hat, jeder fürchtet sie, jeder haßt sie, jeder versucht, sie zu umgehen. Lex Marsya de maritandis! wiederholt Iulia. Das Gesetz lautet: Niemand, keine Frau und kein Mann, ist verpflichtet, die Ehe einzugehen; wer einen Partner wählt oder eine Partnerin, soll es aus Liebe tun, und nicht, um Besitz anzuhäufen oder Kinder zu produzieren! Pfeifen. Johlen. Sämtliche Ehen, ruft Iulia, sind sofort aufzulösen; die Partner haben sich zu fragen, ob sie miteinander weiterleben oder einen neuen Partner wählen wollen! Frenetisches Klatschen! Kinder, die geboren werden, gehören allen, werden gemeinsam aufgezogen, Jungen und Mädchen erhalten die gleiche Ausbildung! Bravo, bravo! jubelt die Menge; Tamburine scheppern. Der Geräuschpegel wird ab sofort nicht mehr wesentlich geringer, und Iulia schreit ihre nächste Position mit allem, was ihre Stimme hergibt: Die Abtreibung wird ab sofort freigegeben! Gegen den einsetzenden Lärm hat sie vorübergehend keine Chance. Sie wirft einen Blick zu Sempronius. Seine Augen glitzern, und er zieht sie am Haar zu sich, um sie zu küssen. Iulia macht sich los. Zweites Gesetz! schreit sie über den Platz. Lex Marsya de adulteriis! Jeder kennt die Lex Iulia de adulteriis, die Augustus 252
erlassen hat, jeder fürchtet sie, jeder haßt sie, jeder hat sie schon gebrochen. Da es keine Ehe mehr gibt! ruft Iulia und breitet die Arme aus, kann es auch keinen Ehebruch mehr geben! Das Chaos, der Lärm, sind so extrem, daß Iulia lachen muß. Sie gestikuliert, Ruhe, bis die Aufgestachelten aufhören zu brüllen und in die Hörner und Flöten zu blasen. Seid euren Liebsten treu! rät sie, und als laute Buh-Rufe ertönen, fügt sie hinzu: solange die Liebe hält! – was ihr wiederum Beifall einbringt. Auf dieser Rednerbühne hier, fährt sie fort, wurde schon oft Krieg verkündet! Liebe statt Krieg, Liebe statt Krieg! skandiert die Meute und schüttelt dazu ganz martialisch die Fäuste. Genau! ruft Iulia ihnen zu. Laßt uns diesen Ort der Liebe weihen! Kommt rauf, kommt alle rauf, bringt die Rostra zum Klingen, zum Schaukeln, macht den Kriegsschauplatz zum Liebeslager, zeigt dem rächenden Mars, was eine lächelnde Venus vermag! Kommt rauf! Iulia lädt die bekränzten, betrunkenen Marsyaner winkend auf die Rednerbühne ein; sie machen sich nicht einmal die Mühe, die Treppen zu nehmen, sondern stürmen die Rostra, indem sie sich gegenseitig die Feuerleiter geben oder einfach die Schiffsschnäbel als bequeme Tritte benutzen; die Frauen werden einfach hochgehoben, hochgeschoben; die Bühne ist nach wenigen Augenblicken voll; die Musikanten beginnen zu spielen, laut und schräg, die Tamburine geben einen harten, pulsierenden Rhythmus, dem sich niemand entziehen kann; die ersten fangen an zu tanzen, und es dauert nicht lang, bis die heilige iulische Rednerbühne eine einzige wogende Tanzfläche ist, von Fackeln zuckend erleuchtet; 253
das Forum bebt; schaulustige Nachtschwärmer bauen sich vor dem Senatshaus auf, in gehörigem Abstand; die wilde Party ist ihnen nicht geheuer, der Lärm und die ekstatische Musik ziehen sie an und stoßen sie ab; die Musik hallt von den Mauern der Tempel und Säulenhallen wider; auf der Bühne die ekstatischen, sich ineinander verschlingenden, wieder auseinanderstrebenden Leiber der Tanzenden, der Besessenen; die Frauen fast alle mit offenen Haaren, einige von ihnen bereits nackt; die ersten Männer lassen die Hüllen fallen, werfen ihre Togen über das Geländer der Rostra auf die Straße; mit den Kleidern fallen die Hemmungen, fallen die Bacchanten übereinander her; Iulia tanzt mit Sempronius engumschlungen, völlig außerhalb des Rhythmus, sie knutschen, verschlingen sich fast; Sempronius hat ihren Hintern gepackt, sie krallt die Finger in seine Haare und drängt schließlich seinen Kopf zurück; er schaut ihr in die fanatisch geweiteten Augen, schaut dann auf ihre Brust und beginnt, ihr das Kleid von den Schultern zu streifen, langsam, dabei lächelt er auf eine kalte, grausame Art, die ihr angst machen müßte, wenn sie überhaupt noch wüßte, was Angst ist; mit einem Ruck reißt er den Stoff zuletzt hinunter, entblößt Iulias Brüste; sie legt den Kopf in den Nacken, spürt seine Lippen, seine Zähne, mit denen er ihre Brustwarzen reizt; um sie herum tobt die Party, aber sie nimmt nichts wahr, nur das, was Sempronius tut, und auch das nur mit dem Körper, nicht mit dem Geist; Iulia keucht, nimmt seine Hände, schiebt sie sich zwischen die Beine, greift dann nach seiner Erektion, die sie durch den Stoff der Toga spürt, massiert seinen Schwanz; – tu es, Sempronius, flüstert sie. Er drängt sie zum Geländer der Rostra, lehnt sie rücklings dagegen, schweigend; auch sein Atem beschleunigt, in seinen Augen das Glitzern des Triumphs. Er schiebt ihr das Kleid hoch bis zu den Hüften, befreit 254
seinen Schwanz unter der Toga, und als er in sie eindringt, beißt er ihr in die Unterlippe, bis sie schreit. Er leckt ihr darüber, immer wieder, beißt ihr schmerzhaft ins Kinn, in den Hals, scheint ihr bewußt zu zeigen: Du gehörst mir, du kannst nicht weg; sie wendet den Kopf nach links, nach rechts, versucht, ihm auszuweichen, aber er hält sie fest, nimmt sie, wie es ihm paßt, während das Fest im Hintergrund tobt; nein, keucht Iulia, als Sempronius sich an ihrem Ohrläppchen festbeißt, du Schwein! Als er die Zähne löst, entzieht sie ihm diese Seite, nur um ihm die andere zu entblößen; sie öffnet die Augen; Sempronius lacht, und in diesem Moment sieht sie ein Stück entfernt, unterhalb der Bühne, eine Gestalt, eine vertraute Gestalt, groß, breit, ernst und stumm. Iullus! stöhnt sie, aber Sempronius kommt ganz nah mit seinem Gesicht und sagt: Du fickst Gracchus, mein Schatz. Sie schaut zu ihm auf und sieht plötzlich in die Fratze eines zähnefletschenden Panthers; sein Atem ist heiß auf ihrer Haut, dann verwandelt sich der Raubtierkopf in das grinsende Gesicht eines Satyrs, panisch beginnt sie, sich gegen ihn zu wehren, windet sich, boxt ihn, versucht, ihn zu kratzen, aber er lacht nur und hält sie fest. Sie tritt nach ihm, beginnt hysterisch zu schreien; es ist nur ein einzelner, langgezogener schriller Ton, den sie immer wieder von neuem beginnt; er übertönt das Bacchanal, die Tamburine und Flöten; Iulia zuckt und windet sich, krampft, unkontrolliert bewegen sich Arme und Beine von selbst; das Schreien ist das einzige, was ihre Zähne davon abhält zu klappern; ihre Finger werden taub und starr, und ihre Beine, ihre Füße; Sempronius hat längst aufgegeben, sich von ihr gelöst; er hält sie von hinten an den Oberarmen fest; krampfend, schreiend, mit entblößten Brüsten, wehrt sie sich immer noch gegen ihn; er kann ja nicht wissen, daß er für sie abwechselnd ein 255
gefleckter Panther oder ein bocksfüßiger Satyr ist; sie verschluckt sich, hustet, würgt, die Panik verleiht ihr eine unglaubliche Kraft; sie windet sich aus Sempronius’ Griff, stößt ihn weg, kauert sich hinter das Geländer der Rostra, als biete es Schutz; Iulia klammert sich an die Balustrade, sieht den Panther auf sich zukommen und schreit in höchster Panik, weicht rückwärts kriechend zurück; Sempronius versucht, auf sie einzureden, ihre Halluzination zu durchdringen, einen Weg zu finden, an ihr Bewußtsein zu gelangen, aber jedesmal, wenn er sich nähert, gerät sie so außer sich, daß er es bleiben läßt; längst haben die Tanzenden, die Kopulierenden auf der Bühne die Szene mitbekommen; das Fest ist mittendrin zu Ende, löst sich auf, kaum zu glauben, wie schnell die Bühne sich leert, sich die gerade noch ekstatisch ineinander verknäuelten Paare entwirren, ihre Klamotten aufklauben, sich aus dem Staub machen; mit der Verrückten, die auf den falschen Trip geraten ist, will niemand etwas zu tun haben; sie kann nicht aufhören zu husten, ihre Schreie erstickt, sie hustet, keucht, verschluckt sich, Tränen laufen ihr übers Gesicht; sie kauert unter der Brüstung des Geländers, an den Marmor gepreßt, zitternd, immer noch krampfend, zähneklappernd, aber langsam läßt der Anfall nach, nur vor Sempronius scheint sie immer noch eine solche Angst zu haben, daß er endlich aufgibt und kopfschüttelnd geht. Die Schaulustigen haben sich längst verzogen, die Nachtwächter trauen sich noch nicht wieder her. Nach einer Weile ist es ganz still auf dem Forum. Iulias Krämpfe lassen nach, es kehrt wieder Gefühl in ihre Finger, ihre Beine zurück. Sie nimmt ihre Umgebung wie durch einen Schleier wahr, weiß, wo sie ist, und weiß es doch nicht. Die plötzliche Stille ist betäubender als vorher der Lärm. Iulia kniet sich hin, zieht sich unbewußt das 256
Kleid über die Schultern, hält es dort fest, weil die Spangen fehlen. So bleibt sie eine ganze Weile. In ihrem Kopf ist es dumpf; sie fühlt nichts, weiß nichts, sieht und sieht nicht. Irgendwann steht sie auf, zieht sich mit einer Hand am Geländer hoch, mit der anderen hält sie das Kleid zusammen. Der große Platz mit den schemenhaft erkennbaren Tempeln, den Basiliken, den Ehrensäulen und heiligen Orten liegt ganz ruhig und reglos da. Es ist nicht ganz dunkel; ein, zwei Fackeln sind vom Fest übriggeblieben und flackern mit letztem Brennvorrat. Iulia schwankt, als sie die ersten Schritte geht, tastet sich am Geländer entlang bis zur Treppe; es dauert endlos lange, bis sie es geschafft hat, die Treppe runterzusteigen. Auf der Via Sacra bleibt sie einen Moment stehen, wie um sich zu orientieren, aber sie sucht nicht wirklich nach der Richtung; alles, was sie tut, geschieht nur halb bewußt, sie setzt sich in Bewegung, atmet die kühle Nachtluft, die sich gut anfühlt auf der Haut; irgend etwas macht sie unruhig, unruhig und schuldbewußt, es ist ein bedrängendes Gefühl, das sie nicht abschütteln kann; sie will die Via Sacra weitergehen, aber wie unter Zwang biegt sie nach rechts ein, bis sie zu den heiligen Bäumen kommt und der bronzenen Statue des Marsyas; sie tritt auf ihn zu, nimmt ihm den Lorbeerkranz vom Kopf, schaut sich um wie eine Diebin, ob sie jemand gesehen hat; es ist eine so sinnlose Handlung, aber sie kann nicht anders, sie eilt mit dem Kranz in der Hand weiter, bis sie zu dem kleinen Tümpel gelangt, wo sich Curtius ertränkt hat, um Rom zu retten. Iulia sieht sich noch einmal hastig um, dann wirft sie den Lorbeerkranz in den Teich und geht hastig weg, kindisch, mit eingezogenem Kopf, als müßte sie sich vor irgendwem ducken. Sie läuft durch die dunklen Straßen Roms, bis sie den Heimweg findet, weckt den Pförtner, der sie einläßt, geht lautlos die Flure entlang, aber als sie ihr Zimmer 257
betritt, und beginnt, sich geräuschlos und heimlich auszuziehen, hört sie die Stimme ihrer Mutter. Iulia, flüstert sie. Iulia antwortet nicht, kriecht ins Bett. Wieder hört sie ihre Mutter rufen, reagiert nicht, stellt sich taub, schlafend. Eine Weile ist alles ruhig. Sie sucht im Bett nach einer bequemen Schlafposition, bemüht sich, kein Geräusch zu machen; alle Knochen, alle Muskeln tun ihr weh; sie hat plötzlich Durst, so sehr, daß sie es kaum aushält, aber sie ist zu müde, um aufzustehen, will nicht, daß ihre Mutter kommt, will nicht reden, niemandem begegnen, nicht einmal einer Sklavin … Scribonia spricht sie erneut an, diesmal lauter. Iulia hat das Gefühl, sie stehe direkt neben ihrem Bett, aber sie weigert sich, die Augen zu öffnen. Iulia, hörst du mich? flüstert Scribonia. Iulia dreht sich mühsam auf die Seite. Ihre Haut scheint zu brennen, jede Bewegung schmerzt. Sie fühlt, wie jemand ihr Handgelenk nimmt, will nichts wissen, nur schlafen. Der Puls ist normal, sagt eine Männerstimme leise. Iulia dreht unendlich langsam den Kopf, öffnet die Augen. Es ist dämmrig im Zimmer, aber nicht dunkel. Neben ihrem Bett steht Dorides und legt ihre Hand sachte zurück auf die Decke. Sie weiß, daß sie ihn kennen müßte, kann ihn aber im ersten Moment nicht zuordnen. Es vergeht eine quälend lange Zeit, bis sie begreift, wo sie ist, bis eine vage Erinnerung in ihr hochkriecht an das, was geschehen ist, eine Erinnerung an Kälte, an Wasser, salziges Wasser, an ihre Angst, an die Schmerzen, eine Erinnerung gleichzeitig an das, was sie geträumt hat; die Bilder vermischen sich, driften übereinander; Iulia kann nicht unterscheiden, was davon echt, was Halluzination 258
ist, hat das Gefühl, es ist alles gleichzeitig passiert, was ja nicht sein kann, findet sich nicht zurecht, versucht schließlich, sich auf das zu konzentrieren, was sie vor sich sieht, Dorides, das Zimmer, das Zimmer, das zu der Villa gehört auf Pandateria. Sie schiebt alles andere in ihrem Kopf gewaltsam zur Seite, blinzelt, wendet den Kopf; dort, auf der anderen Seite des Bettes, steht ihre Mutter, neben ihr Lusia. Iulias Kehle ist trocken, ihre Lippen spannen. Als sie etwas sagen will, kommt nur ein Krächzen. Gebt ihr was zu trinken? befiehlt der Arzt. Lusia holt Wasser. Iulia will den Becher festhalten, aber sie hat keine Kraft, läßt ihn beinah fallen. Die Sklavin hilft ihr; es ist eine mühsame Aktion, einiges an Wasser läuft Iulia übers Kinn, auf das Laken. Danach läßt sie sich zurücksinken. Scribonia kniet sich neben ihre Tochter, nimmt ihre Hände. Du wirst wieder gesund, flüstert sie schluchzend. Du wirst wieder gesund … Iulia schaut zu Dorides auf, will etwas sagen, aber er legt den Finger an den Mund. Schlaf jetzt, sagt er. Du warst krank, aber das ist vorbei. Das Fieber ist weg. Schlaf dich gesund, Iulia. Ich komme morgen wieder. Ich … war so weit weg, wispert sie kaum hörbar. Ich … ich weiß jetzt alles. Alles … Sie läßt den Kopf zur Seite sinken und schließt erschöpft die Augen. Scribonia nimmt ihre Hand und streichelt sie, bis Iulia eingeschlafen ist.
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III. Ich glaube nicht an eine Verschwörung, sagt Iulia ein paar Tage später zu ihrer Mutter; sie sitzt, eingewickelt in eine Decke, im sonnigsten Zimmer, das die Villa auf Pandateria zu bieten hat, und Scribonia läßt ausnahmsweise das Spinnrad allein, um sich ganz der Rekonvaleszenten zu widmen. Iulia erholt sich schnell, aber viel mehr als zwei Stunden aufrecht sitzen – von Stehen ganz zu schweigen – hält sie nicht durch. Ich bin mittlerweile überzeugt, fährt sie fort, daß Augustus einen Grund – irgendeinen Grund – gesucht hat, um ein paar Leute loszuwerden, darunter Gracchus und Antonius. Vielleicht hätte er sich noch eine Weile Zeit gelassen, wenn wir nicht dieses kleine Spektakel auf dem Forum inszeniert hätten. Bist du sicher, daß das Ganze nicht nur ein Albtraum war? fragt Scribonia; Iulia hat ihr das, was sie für mitteilenswert hält, erzählt; ihre Mutter ist alles andere als prüde; und sie mußte das Wiedergefundene, Erinnerte mit jemandem teilen; Scribonia, findet sie, hat übrigens Anspruch darauf, genau zu wissen, warum sie hier mit ihrer Tochter im Inselparadies sitzt; es ist nur gerecht. Ganz sicher, sagt Iulia. Träume, egal ob gut oder schlecht, verschwinden, werden vage, und selbst wenn sie eine Geschichte erzählen, ist diese Geschichte doch nie vollständig, sie bricht ab, seltsame Zwischenträume schieben sich mittenrein; nein, sagt sie, Albträume sind anders bizarr als das, was mir begegnet ist. Ich erinnere jedes Detail, kann nachspüren, was ich empfunden habe, und die Bilder sind nicht blaß und verschwommen, sondern werden jeden Tag deutlicher. Abgesehen davon, 260
seufzt sie, daß ich jetzt, wo ich es weiß, nicht mehr halb so entsetzt über mich bin als zu der Zeit, in der ich nur wußte: ich habe etwas getan, das ausreichte, mich zu verurteilen wegen Hochverrat, Ehebruch und Beleidigung der Götter, und mich zu verbannen. Du meine Güte! Iulia lacht. Ein Haufen betrunkener Nachtschwärmer stürmt die Rostra und feiert eine kleine Orgie! Bekränzt einen Silen mit apollinischem Lorbeer. Iulia gründet den Club der Marsyaner und schafft die Sittengesetze ab! Ich meine, weißt du, sagt sie belustigt, mein Vater ist in die eleusinischen Mysterien eingeweiht und auch noch in ein paar andere, ganz andere. Ihm sollte so ein Happening nicht fremd sein. Das einzige, worauf ich hätte verzichten können, war der Horrortrip zum Schluß. Daran war das Zeug schuld, das mir Sempronius gegeben hat. Was war es? will Scribonia wissen. Iulia zuckt die Achseln. Fliegenpilz vermutlich. Macht ein paar Stunden lang high, verleiht Bärenkräfte, macht Lust auf Sex und hinterläßt keine Nebenwirkungen. Ich nehme an, daß jede andere Partygesellschaft, die in einem Bacchanal auf dem Forum endet, keine solchen Folgen für die Teilnehmer gehabt hätte, bemerkt Scribonia. Aber eure Truppe war explosiv, schon in der Zusammensetzung. Ach was, sagt Iulia. Der einzige wirkliche Revolutionär unter uns war Appius. Und auch er hat nicht von einer Republik geträumt, sondern nur von Helden. Helden wie Antonius! wirft Scribonia ein. Iulia lacht. Marcus Antonius, ja. Bei Iullus war nicht viel zu holen in dieser Hinsicht. Ich frage mich Was? Der eine meiner Entführer, ich glaube, es war Matinius, hat etwas gesagt, was mir gestern wieder eingefallen ist. 261
Er sagte: Wenn Tyrannen alt werden, kriegen sie Angst. Und? fragt Scribonia. Im vorletzten Jahr hat Augustus eine ›Verschwörung‹ auffliegen lassen, die vermutlich keine war. Im letzten Herbst hat er unser kleines Happening dazu benutzt, einige ihm unbequeme Leute zu beseitigen, die bisher nicht mehr getan hatten, als sich über seine Spießermoral lustig zu machen und von denen vielleicht der eine oder andere den falschen Namen trug. Antonius ist und bleibt für meinen Vater ein Reizwort. Wenn Octavia damals nicht jeden ihrer fremden Zöglinge, ob Iullus Antonius oder die Bälger von Kleopatra, verteidigt hätte wie eine Löwin ihre Jungen, dann hätte Iullus die Feiern von Actium keine drei Tage überlebt. Selbst wenn es kein Komplott gegen den Kaiser gab, sagt Scribonia, ist das, was du als kleines Happening bezeichnest, nicht so harmlos gewesen. Iulia! sagt sie, denk nach! Ein Bacchanal auf der iulischen Rednerbühne! An genau dem Ort, an dem dein Vater seine Sittengesetze verkündet hat! Genial, nicht? lacht Iulia. So genial, daß du jetzt auf Pandateria wohnen darfst, gibt Scribonia zurück. Und Marsyas ist kein Leichtgewicht, Iulia. Er steht nicht umsonst seit mehr als dreihundert Jahren neben den heiligen Bäumen. Er sagt allen, die Macht haben, ob klein oder groß, jeden Tag, wenn sie an ihm vorbeikommen: Auch deine Festung kann wanken! Er ist ein Symbol der Freiheit. Wer ihn mit Apollos Lorbeer schmückt, fordert den Staat heraus … Ich habe nie behauptet, daß wir in einer Tyrannis leben, sagt Iulia. Das, was du getan hast, kann man aber so interpretieren, beharrt ihre Mutter. 262
Nun, offensichtlich wurde es so interpretiert. Iulia seufzt. Du hast ja recht, gibt sie zu. Ich weiß es ja auch. Es war nicht im geringsten lustig. Solche Feste sind nie lustig, weil man die ganze Zeit, in der es sich hochschaukelt, das Gefühl hat: Gleich kippt es, und es passiert etwas Furchtbares. Manchmal ist es nur ein falscher Trip, auf den man gerät. Manchmal ist es zuviel Wein und der falsche Mann, neben dem man morgens aufwacht und das Bedürfnis hat, sofort zu baden, ausgiebig zu baden, einen ganzen Tag lang zu baden, um den Ekel loszuwerden. Und manchmal … endet es halt auf Pandateria. Es muß nicht für immer sein, sagt Scribonia. Iulia wirft ihr einen zweifelnden Blick zu. Er hat meine Söhne, antwortet sie hart. Und er hatte einen Grund, Tiberius als Schwiegersohn loszuwerden. Er braucht mich nicht mehr. Er ist dein Vater, sagt Scribonia. Iulia lächelt. Er ist Caesar Augustus, erwidert sie. Princeps und Vater des Vaterlandes, oberster Feldherr und Hüter der Moral, und vor allem: Ehemann Livias. Sie wird es nie zulassen, daß ich Rom noch einmal betrete.
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IV. Ende März ist es tagsüber warm genug, um im Garten spazierenzugehen; Iulia hat eine Abneigung dagegen entwickelt, aufs Meer zu schauen; sie meidet die zugige Exedra und hält sich ans windgeschützte, blickgeschützte Peristyl mit seinen Säulen aus rosa Granit und den Blumenbeeten. Jeden Tag gibt es neues Grün, neue Blüten, neue Farben zu entdecken; hier draußen auf der Insel macht es ihr, der Städterin, die von Blumen und Bäumen vorher nie mehr wußte, als daß sie existieren, plötzlich Spaß, ihre Vielfalt zu entdecken, und Scribonia, altmodisch in jeden Grashalm vernarrt und dem Gärtner immer auf den Fersen, wird nicht müde, Iulia zu begleiten. Iulia sitzt auf einer Bank im Schatten, einen kleinen Strauß Adonisröschen in der Hand, als der Gärtner, fast noch ein Knabe, von draußen ins Peristyl kommt. Er hat ein paar Zweige mitgebracht, geht zu Iulia und will ihr einen davon geben. Iulia rümpft die Nase. Gestrüpp mit ein paar gelben Blüten? fragt sie. Woher hast du das denn? Hier im Garten wächst es jedenfalls nicht. Riech mal dran, fordert der Junge sie auf. Iulia beugt sich vor und schnuppert den gelben satten Duft. Lecker, sagt sie. Was ist das? Inselginster, erklärt der Gärtner grinsend. Nenn ihn häßlich, wenn du willst, aber der Honig, den du ißt, stammt von ihm. Ich möchte, wenn du erlaubst, zwei Sträucher hier im Garten pflanzen, verkündet er. Das lockt die Insekten an. Und dann kommen die Vögel. Iulia lacht, weil der kleine Sklave so begeistert ist. Sie nimmt einen der rauhen, silbriggrünen Zweige und riecht 264
noch einmal daran. Ich erlaube es dir, sagt sie. Aber nur zwei! Metrobius erscheint in der Tür, schaut sich um, entdeckt Iulia und ihre Mutter auf der Bank hinter dem Brunnen und geht betont geschäftig, wie es seine Art ist, hinüber, verbeugt sich vor den Damen. Du hast Besuch, sagt er zu Iulia. Besuch? fragt sie ironisch, meint dazu: Wer mich besuchen darf, ist von oben beglaubigt und daher langweilig. Ich will ihn nicht sehen. Metrobius ist verunsichert, aber weitere Erläuterungen bleiben ihm erspart, weil vier Männer in den Garten kommen, schwungvoll im Gleichschritt aus Gewohnheit, zackig; ihre Toga, das Schwert, weist sie als Praetorianer aus; dann erkennt Iulia Isiacus; ihr Magen krampft sich zusammen, ob aus hoffnungsvoller Erwartung, ob aus Angst… Caius Isiacus grüßt Iulia, sagt er und salutiert; die Kaisertochter verfehlt diesmal ihrer Wirkung auf ihn, die ihn damals im Haus auf dem Oppius hat verlegen werden lassen. Salve, erwidert Iulia einfach nur. Was bringst du, Isiacus? Auf Anordnung des Kaisers wird dein Aufenthaltsort von Pandateria aufs Festland verlegt; du erhältst eine jährliche Rente und … Isiacus winkt einem seiner Begleiter, der eine Kassette in den Händen hält … einen kleinen Vermögensanteil in Aurei und Denaren. Iulia steht auf, vorsichtig, damit ihr nicht schwindlig wird, denn die Spuren der Krankheit sind auch nach drei Wochen noch nicht vollkommen verschwunden; sie ist blaß und hat abgenommen. Was heißt: Festland? will sie mißtrauisch von dem 265
Praetorianer wissen. Italisches Festland? Oder steckt Augustus mich in irgendein Kaff in Asia minor oder gleich in ein Loch am Schwarzen Meer? Ich habe Befehl, dich nach Rhegium zu bringen, antwortet Isiacus. Iulia lacht. Rhegium! Damit ich jeden Tag, wenn ich aus dem Fenster schaue, am anderen Ufer der Scylla Sizilien sehe, die Schöne, die Wunderbare, und weiß: Dort darf ich nicht hin? Wie nett von meinem Vater. In Rhegium ist es heiß und langweilig. Habe ich wieder Hausarrest, oder erlaubt mir Caesar Augustus ein paar Schritte nach draußen? Darüber wird später entschieden, sagt Isiacus. Später? Wenn ich bewiesen habe, daß ich mich anständig aufführe und keine schmutzigen Lieder singe bei weitgeöffneten Fenstern? Isiacus geht darauf nicht ein. Wir reisen morgen, wenn der Wind nicht dreht, verkündet er. Morgen schon? ruft Iulia erschrocken; ihr wird bewußt, daß es ernst ist; sie wird nie ganz begreifen lernen, daß die Regeln, nach denen sie glaubt zu leben, Regeln ihrer Phantasie sind, die verspielt ist und flexibel, die von einem Zustand der Freiheit ausgeht; sie ist wie ein Schmetterling, der vor der hellen Alabasterscheibe auf und ab flattert und sich immer wieder den Kopf stößt, weil die Anziehungskraft des Lichts stärker ist als der Schmerz; Iulia wird im nächsten Augenblick klar, daß es außerdem etwas gibt, hier auf der Insel, das sie nicht verlassen will, noch nicht, vielleicht später, und wenn, dann doch nur für Rom, nicht für Rhegium! Morgen, bestätigt Isiacus, salutiert, und schon marschieren die vier Soldaten mit wehenden Mänteln im Gleichschritt so formvollendet aus dem Peristyl, als wäre 266
der Villengarten das Capitol und ihr Auftritt eine Parade. Iulia starrt ihnen hinterher. Unendlich langsam setzt sie sich wieder auf die Bank, stützt sich mit einer Hand ab. Morgen, flüstert sie. Hast du das gehört? wendet sie sich an ihre Mutter? Morgen nach Rhegium. Wenn ich früher davon erfahren habe, daß irgendein Mensch von irgendeiner Insel aufs Festland relegiert wurde, nahm ich immer an, es sei eine Form der Begnadigung. Aber Rhegium! Du hast Geld, sagt Scribonia. Vielleicht bald sogar Ausgang. Rhegium ist nicht so klein, wie du denkst. Ich weiß, ich war da. Mit Agrippa. Aber es ist trotzdem zu klein, langweilig, und im Sommer so heiß, daß du dein Haus monatelang freiwillig nicht verläßt. Iulia überlegt. Was Augustus wohl dazu bewogen hat, eine so unglaubliche Gnade walten zu lassen? bemerkt sie sarkastisch. Vielleicht, weil du die Gelegenheit zur Flucht nicht genutzt hast? meint Scribonia. Flucht? erwidert Iulia und muß lachen. Die Kerle haben mich entführt, weil sie sich davon einen Gewinn versprachen! Iulia, die Kaisertochter, hat auch noch nach ihrer Verbannung einen Marktwert. Nach Arabien wollten sie! Fein ausgedacht. Sie waren Abenteurer ohne Hirn. Doch nicht einmal sie hätten angenommen, daß ich freiwillig mit ihnen komme. Deshalb haben sie die Entführung inszeniert. Ein Meisterstück, jedenfalls logistisch, wirft Scribonia ein. Stimmt, sagt Iulia. Aber sind sie nicht dazu ausgebildet gewesen? Wo ist der Unterschied zwischen den Fähigkeiten, die man für legalen Krieg braucht, zu jenen, die einen guten Piraten ausmachen? 267
Scribonia lacht. Nur die Energien sind anders gerichtet, meint sie. Wo die Helden wohl jetzt sind? überlegt Iulia. Vielleicht nagen schon die Fische an ihren Knochen? Oder sie versuchen sich als Seeräuber wie damals Sextus Pompeius? Augustus hat keinen Agrippa mehr, der sie kaltmachen könnte. Aber andere gute Leute, sagt Scribonia. Das Meer ist mittlerweile so sicher, so kontrolliert. Sie hätten keine Chance. Wahrscheinlich hast du recht, seufzt Iulia. Also Rhegium. Morgen. Sie schaut auf den Boden, wo eine Ameisenkolonne Via Appia spielt, Verkehr und Gegenverkehr, Gütertransport en miniature. Iulia beobachtet es eine Weile, dann hebt sie den Kopf. Wo ist Dorides? fragt sie ihre Mutter. War er heute schon hier? Nein. Er hat wohl auf der Insel zu tun, erwidert Scribonia. Laß ihm eine Nachricht zukommen, sagt Iulia. Bitte. Nur, daß ich morgen abreise.
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V. Er kommt zu ihr, spät in der Nacht, als Iulia schon im Bett liegt; er hat ihre Botschaft verstanden; der junge Syrer kommt nicht als Arzt, nicht als Sklave, er kommt als Mann, ganz selbstverständlich; es muß zwischen ihnen nicht ausgesprochen werden; es hätte schon längst sein sollen, zu groß ist das Vertrauen, die Nähe, über Wochen und Monate entstanden, bis es mehr war, Zuneigung, Verlangen … Dorides betritt fast geräuschlos Iulias Zimmer, in dem noch Licht brennt, gerade so, daß alles erkennbar ist, ohne daß es hell wäre. Er zieht seine Schuhe aus, geht barfuß zum Bett, in dem ihn Iulia, nachlässig zugedeckt, bequem halb sitzend gelagert, erwartet. Es gibt bei Sappho einen Vers, sagt Dorides leise, als nähme er eine Unterhaltung wieder auf, die sie über lange Zeit geführt und nur kurz unterbrochen hatten. Er beugt sich vor, nimmt Iulias Hand und küßt ihre Innenfläche, dann ihre Fingerkuppen, eine nach der anderen. Und wie geht er? fragt Iulia, da Dorides, beginnt, Küsse auf ihrem Handgelenk, ihrem Unterarm zu verteilen und die Lyrik vergessen zu haben scheint über der Poesie zarter Haut. Er hebt den Kopf, sagt: ›Zu lassen, was man liebt, ist mehr als Glück – es ist die wahre Kunst zu leben!‹ Wie bitter, sagt Iulia. Glaubst du, daß es stimmt? Dorides schlägt die Decke zur Seite und beginnt ganz sanft, Iulias nackte Brüste zu streicheln, federleicht. Sie liegt nur da, ganz ruhig und erwartungsvoll, schaut zu ihm auf. 269
Ich nehme es an, erwidert er, ohne in den sachte kreisenden Bewegungen innezuhalten. Aber es hat möglicherweise noch eine andere Bedeutung. Wer frei läßt, was er liebt, zu dem kommt es vielleicht zurück. Liebe kann sehr dauerhaft sein, sagt Dorides lächelnd. Es ist eher alles andere, das sie zerstört, wenn man sie damit vermischt. Geld, Besitz, Neid, Konventionen, Macht. Diese Dinge haben uns im Griff, und nur, wenn wir freilassen, was wir lieben, gibt es eine Chance, daß die Liebe bleibt, was sie von jeher ist: das Gegenteil von Geometrie, die Widerlegung aller mathematischen Sätze, die Ordnung, die wir nicht verstehen, und die deshalb bei uns Anarchie und Chaos heißt. Aber ich will nicht, daß unser Anfang schon ein Abschied ist, sagt Iulia traurig. Ich möchte einmal, ein einziges Mal, festhalten dürfen, was mich glücklich macht. Es ist das eine, zu philosophieren, das andere, zu leben. Ich habe nie herausgefunden, wieviel beide miteinander zu tun haben. Dorides schaut sie lange an; sie fühlt sich nicht im geringsten nackt unter seinem Blick; sie hat nicht den Ehrgeiz, etwas zu tun, spürt, daß sie nichts beweisen muß, weder, daß sie schön ist, immer noch, obwohl nicht mehr jung, noch, daß sie alles versteht, was die Dichter, die Denker jemals geschrieben oder gesagt haben. Sie haben nichts miteinander zu tun, sagt Dorides schmunzelnd und beginnt, sich auszuziehen. Wußtest du das nicht? Iulia lacht. Du Verführer! Du Betrüger! Er kommt zu ihr aufs Bett, streicht ihr das Haar aus dem Gesicht, schaut ihr in die Augen. Laß uns leben, Iulia, sagt er zärtlich. Es bleibt ja nur so wenig Zeit, flüstert sie. In ihren 270
Augen schimmern Tränen. Wir haben viel Zeit, Iuliettina, sagt er leise, ehe er sie küßt. Viel Zeit, wiederholt er dicht an ihrem Mund. Eine ganze Nacht.
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RHEGIUM – EPILOG Er ist tot, sagt Iulia zu ihrer Mutter; sie hält einen Brief in der Hand, den ein Bote gebracht hat; er ist tot, sagt sie noch einmal, schon seit drei Wochen tot. Scribonia reagiert nicht, sie ist stocktaub und fast ebenso blind; sie sitzt immer in einem Sessel, den ganzen Tag, die knotigen Hände ineinander verkrampft, den Kopf gesenkt; abends tragen zwei Sklavinnen sie ins Bett und holen sie morgens wieder heraus, um sie zu waschen, zu frisieren und wieder auf ihren Stuhl zu setzen; sie muß gefüttert werden, redet nicht mehr, nimmt nichts mehr wahr; andere Menschen sind in diesem Alter lange tot; Scribonia ist vierundachtzig, aber sie stirbt nicht; irgendwann wird sie vielleicht vertrocknet sein; es ist, als weigere sie sich, Iulia allein zu lassen; Scribonia hat durchgehalten, die ganzen sechzehn Jahre der Verbannung, und jetzt hört sie nicht mehr, wie ihre Tochter ihr sagt, daß Augustus tot ist, gestorben am neunzehnten August in Nola – so teilt es das Schreiben lapidar mit – und gleich darauf unter die Götter versetzt… Divus Augustus, sagt Iulia zu ihrer Mutter. Hörst du? Er ist jetzt ein Gott, wie auf den Bildern, die er von sich hat machen lassen in aller Bescheidenheit. Sie lacht rauh. Was jetzt? fragst du. Sie redet mit Scribonia, als hätte diese etwas geantwortet; das tut Iulia schon lange, weil sie niemanden mehr zum Reden hat; die Sklaven in diesem Haus wechseln ständig, sie sind scheu und verdrücken sich, sobald sie ihre Pflichten erledigt haben, und fragt Iulia sie etwas, gucken sie verlegen zu Boden und antworten 272
dummes Zeug. Was jetzt? wiederholt sie. Tiberius ist Kaiser, was sonst? Er hat Agrippa umgebracht. Fein von ihm, nicht wahr? Hättest du etwas anderes erwartet? Alle sind tot. All meine Söhne sind tot. Caius ist in Limyra verreckt, Lucius in der Narbo, Agrippa verbannt und gekillt. Iuliola sitzt wie ich auf Pandateria, nur Vipsania hat es geschafft, weder tot zu sein noch in die Wüste geschickt zu werden; ob es ihr wohl gefällt, einen Mann zu vögeln, der das Blut Livias in den Adern hat? Sie schüttelt sich angeekelt und lacht; es ist kein gesundes Lachen; heiser, mit Husten gemischt und nahezu nach jedem Satz hervorgestoßen, neurotisch, zwanghaft. Hörst du? schreit sie plötzlich ihre taube Mutter an. Augustus ist tot! Tiberius ist Kaiser! Das steht hier drin! Ich kriege kein Geld mehr, darf nicht mehr raus! Das steht auch hier drin! Sie hält Scribonia den Brief direkt vors Gesicht, doch noch nicht einmal die Augenlider der Alten zucken. Dir ist es egal, sagt Iulia und lacht. Kannst froh sein, daß du nichts mehr merkst. Eine Katze, eisengrau und schön getigert, kommt aus dem Garten, streift durchs Tablinum, miaut, streicht Iulia um die Beine. Es gibt nichts zu fressen, sagt Iulia, hau ab. Dann, als ob sie vor der Tatsache, die sie gerade ausgesprochen hat, erschrickt, schaut sie sich um, schaut auf den Tisch, wo immer eine Schale mit Obst stand, schaut zur Tür, horcht, ob sie die Stimmen der Sklaven hört. Doch alles ist still im Haus. Iulia hustet, sie hat immer Husten, obwohl es Spätsommer ist und warm. Der Laut hallt von den Wänden wider. Die Katze gibt nicht auf, maunzt, reibt ihren Kopf an 273
Iulias Wade. Geh weg! faucht Iulia sie an. Hast du nicht gehört. Hier ist nichts zu holen. Was sie uns gestern gebracht haben, davon hast du deinen Teil gekriegt. Heute war noch niemand da. Sie lacht, hustet. Was nicht heißen muß, daß niemand kommt… He! Sie klatscht in die Hände, daß die Katze erschrickt und mit zwei geschmeidigen Sprüngen im dunklen Flur verschwindet. Ist jemand da? ruft Iulia. Stille antwortet ihr. Sie geht zu ihrer Mutter. Hast du Durst? fragt sie. Scribonia antwortet natürlich nicht, aber Iulia nickt, als habe die Alte ja gesagt, füllt Wasser aus einem Krug in eine flache Schale und hält sie ihrer Mutter an die Lippen. Der Reflex funktioniert, obwohl genug danebenläuft. Sie haben uns alleingelassen, sagt Iulia und lacht nervös. Vielleicht kommen sie ja wieder? Ich schaue in der Küche nach, ob es etwas zu essen gibt. Scribonia starrt blicklos auf ihre Hände, die sie im Schoß verkrampft hält. Iulia wandert durch das leere, dämmrige Haus, schaut in Zimmer, denen anzusehen ist, daß dort vor kurzem noch jemand war; hier steht ein Besen an der Wand, liegt ein Häuflein Dreck davor; dort liegt ein Kleidungsstück auf einem Hocker; im Schlafzimmer ist das Bett ungemacht, das Fenster offen, obwohl die Sonne hereinknallt, und je weiter Iulia Richtung Küche geht, desto mehr nimmt sie den schwachen Geruch nach gebratenem Fett, nach Bohnen, nach Gewürzen wahr, der sich nach langen Jahren wie eine unsichtbare Patina auf die Wände legt. Die Küche ist groß, aber unaufgeräumt, schmutziges Geschirr steht herum, auf Essensresten summen fette Fliegen. Das Feuer im Ofen ist aus, aber als Iulia an die Steine faßt, 274
sind sie noch warm. Die Katze streunt herein, miaut. Iulia schrickt zusammen, sieht, wie das Tier auf die Anrichte springt, wo das Essen gammelt. Die Fliegen stieben in empörtem Schwarm auf, als die Katze beginnt, die Reste zu vertilgen. Die Tür zum Kräutergarten ist nur angelehnt; ein schmaler Lichtstreifen fällt auf den Terrakottaboden der Küche. Iulia macht die Tür auf. Draußen im Beet sitzt eine große schwarzgraugefleckte Nebelkrähe. Iulia klatscht in die Hände. Raum beeindruckt breitet der große Vogel seine Schwingen aus, fliegt mit wenigen, unaufwendigen Flügelschlägen davon. Iulia läßt die Tür offen, als sie zurück durch die Küche geht und weiter den Flur entlang, bis sie wieder ins Tablinum kommt. Es ist niemand mehr da, sagt sie zu ihrer Mutter, die reglos dasitzt, mit leeren Augen, auf denen ein weißlicher Schleier liegt. Plötzlich rafft Iulia ihr Kleid, rennt durch den langen Flur ins Atrium, reißt die Tür zur Nische des Pförtners auf. Der kleine Raum ist leer; innen vor dem vergitterten Guckfenster sind die beiden Klappläden geschlossen. Iulia macht sie mit zitternden Händen auf, schaut auf die Straße, hört die Schritte der beiden Wachen, die vor dem Haus Dienst schieben, wartet, bis der eine heran ist, so daß er sie sehen kann. He, du! ruft sie ihm zu, hustet, schluckt. Wo bleibt unser Essen? Wo sind unsere Diener? Anordnung von Tiberius, antwortet der Soldat kurzangebunden und nimmt seine Patrouille wieder auf. Warte! schreit ihm Iulia hinterher und klammert sich an die Gitterstäbe. Will er uns verhungern lassen? kreischt sie. Warum schickt er uns nicht einfach ein Killerkommando ins Haus? Sie lacht schrill, verschluckt 275
sich, hustet. Dann läßt sie die Eisenstäbe los, wendet sich ab, geht zurück, aber auf dem Weg betritt sie jedes Zimmer, öffnet hastig die Fenster, vor denen sich massive Gitter befinden, sie geht noch einmal durchs ganze Haus, reißt alle Fenster und die Türen zu den Fluren, in den Garten auf; sie hat das Gefühl, wenn sie nicht Durchzug macht, müsse sie ersticken, aber auch nachdem nichts mehr zu ist, was geöffnet werden könnte, bleibt die Enge im Hals, bleibt der Druck auf der Brust. Er ist zu feige, murmelt sie immer wieder vor sich hin. Zu feige. Selbst dazu ist er zu feige … Als es Abend wird, kommt ein kleiner alter Mann und bringt Wasser, Brot und Äpfel. Er stellt alles schweigend hin und will wieder gehen. Iulia hält ihn fest. Kommst du morgen wieder? fragt sie heiser. Ist das alles, was wir kriegen? Was geschieht mit uns? Er erwidert nichts, sieht sie nur merkwürdig an und verläßt das Haus so eilig, als gäbe es hier eine Pest, an der er sich anstecken könnte. Iulia taucht das Brot in Wasser, füttert ihre Mutter, so gut es geht. Dann wird es Nacht. Das große Haus ist so still, daß Iulia die Holzwürmer in den wenigen Möbeln nagen hört und den Atem ihrer Mutter. Der Wind von der Meerenge zwischen Sizilien und dem Festland streicht am Anfang noch durch die geöffneten Fenster und Türen. Im Garten rascheln das trockene Gras, die vertrockneten Blätter der Rosenstöcke, das gelbe Weinlaub, das an den Mauern hochgewuchert ist, über die Fenster aufs Dach, weil niemand es gestutzt hat. Doch irgendwann schläft auch die Brise ein. Ein schwerer Duft nach Trauben, die prall und dunkel, wie eine Erinnerung an andere, üppigere Zeiten, an den Ranken hängen, erfüllt nach und nach das 276
Tablinum. Iulia geht in den ummauerten Garten und schaut dorthin, wo keine Wände sind, keine Gitter; sie schaut in den Nachthimmel, der schwarz ist und klar; es ist zu Ende, sie weiß es, morgen darf es sie wieder erschrecken, morgen will sie sich wieder fürchten, will den Hunger spüren, das Elend, die Verzweiflung, aber heute nacht will sie nur da sein, nur spüren, daß sie noch lebt; sie zieht die Schuhe aus; das Gras ist hart und die Erde ist warm unter ihren nackten Fußsohlen; sie starrt in das Dunkel, sieht Sternbilder, versucht, sie zu bestimmen; sie sucht etwas, fixiert den Himmel, als könne sie mit bloßem Auge das All durchdringen, um ihn zu finden, jenen Stern, der aufging, als Caesar starb, jenen Stern, sidus Iulium, der den Menschen verriet, daß er unter die Götter aufgenommen worden war; Divus Caesar, Divus Augustus, wo ist dein Stern, flüstert Iulia, wo ist das sidus Augustum, denn sagen sie nicht, daß du, auch du, Gott geworden bist? Wo leuchtet dein Licht, Augustus, fragt sie in die Lautlosigkeit der Nacht, wo brennt deine Fackel, wo kann ich dich sehen, wo kann ich dich erkennen, wo kann ich eine Antwort bekommen auf alles, was ich dich hätte fragen wollen; nie wieder ist eine Ewigkeit; es gäbe so viel zu fragen; es ist zu Ende; sechzehn Jahre hat es gedauert, du hast es so gewollt; wo werden sie mich begraben, wenn sie mich überhaupt begraben; wo stellen sie meine kleine Urne hin; nicht neben deine in der Gruft am Tiber, du hast es verboten; vielleicht an irgend einen Ackerrand, wo der Pflug sie im nächsten Frühjahr zerbricht? Werden sie mir einen Grabstein meißeln? Was werden sie draufschreiben, ich trage doch nicht einmal mehr deinen Namen, bin niemand, von nirgendwoher, weil du es so gewollt hast; wer wird sich an mich erinnern, wenn mein Name ausgelöscht ist und meine Bilder zerschlagen, meine 277
Kinder ermordet sind, wenn, daß ich lebte, daß ich war, meinen Enkeln verschwiegen wird, wer wird ihnen erzählen, daß ich sechzehn Jahre lang nur leben wollte, weil der Tod der einzige Grund ist zu leben, und unsere Hoffnung blind? Iulia verstummt, sie breitet die Arme aus, hebt die Hände wie zum Gebet, aber sie betet nicht, sie spürt nur unter den Füßen die Erde, riecht den Saft der geplatzten Trauben, die im Gras zu gären beginnen, fühlt die letzte Wärme des Sommers auf ihrer Haut, im Garten ist es dunkel und still; Iulia wird nicht schlafen, wird hier draußen wachen, als ob sie Totenwache hielte für alle, die sie verloren hat, und Nachtwache für die, die noch leben … … und als die Nacht zu Ende geht, erwacht die Zeit auf dem römischen Hügel, erhebt sich aus ihrem Schlummer; sie streift durch die grauen Straßen und gibt den Menschen in ihren Betten das Gefühl von Verlust zurück; es ist nicht mehr dunkel, noch nicht hell, kein Windhauch, doch nicht lange, und der Zweig eines Lorbeerbaums auf dem Aventin streift wie zufällig über den Arm des bronzenen Fauns, der am Brunnen die Flöte spielt; und als Tramontanus von Norden sich endlich bequemt, fächelt der Lorbeerzweig rascher über den Arm des Sommergesellen; bald aber umspielt der Morgenwind mit Geschick die Bäume und Sträucher; im kühlen Licht der ersten Stunden atmen sie Wandel; eine Septembersehnsucht erwacht, eine raschelnde Gier nach dem Ende des Sommers, in der die Trauer ist um das sterbende Jahr; am Brunnenrand als Schemen der breitmäulige Fisch – gerade noch spie er seinen Strahl ruhig und rund Bogen – da fährt Tramontanus hinein, zerteilt ihn, läßt Tropfen stieben – aber schon ist er vorbei, und der Fisch speit seinen Strahl gleichmütig in vollendetem Bogen. 278