Atlan - Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 05
Aufruhr auf Narukku von Horst Hoffmann
Atlan, einst als Kristallprinz ...
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Atlan - Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 05
Aufruhr auf Narukku von Horst Hoffmann
Atlan, einst als Kristallprinz des arkonidischen Imperiums geboren und seines Throns beraubt, strandete nach vielen Jahren auf Terra. Dort wurde er dank eines Zellaktivators zu einem relativ Unsterblichen. Als Freund und Verbündeter Perry Rhodans erlebte er den Aufstieg der Menschheit, als Widerstandskämpfer trat er gegen Usurpatoren und Invasoren an, als Beauftragter der Kosmokraten sah er die Wunder des Kosmos, als Ritter der Tiefe wurde er zum Träger einer entsprechenden Aura. Im Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) macht sich der Unsterbliche zusammen mit der geheimnisvolen Varganin Kythara auf, einem Hilferuf der Cappins aus der Galaxis Gruelfin zu folgen. Dabei verschlägt es die beiden zuerst auf einen fremden, fernen Planeten: Narukku. Dort treffen sie auf Androiden, die wie Varganen aussehen, begegnen einem geheimnisvolen Insektoidenvolk, das scheinbar für die Lordrichter tätig ist – und es kommt zum AUFRUHR AUF NARUKKU …
Aufruhr auf Narukku
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide sieht millionenfaches Sterben. Kythara - Die Varganin erfährt Narukkus Geschichte. Opalmagor - Ein Androide kämpft um seinen endgültigen Tod. Toghar-134 - Ein Torghan kämpft um sein Leben. Erzherzog Garbhunar - Er muss sich den Lordrichtern gegenüber verantworten.
Prolog Zentrum des Murloth-Nebels Erzherzog Garbhunar kämpfte sich durch den Wust fremdartiger, zutiefst erschreckender Eindrücke, die seine Wahrnehmungen quälten, an seinem Geist zerrten, ihn zu zerreißen drohten. Von Minute zu Minute wurde es schlimmer. Er trieb zwischen den unheimlichen Kräften, die keine Mauern, keine Wände aus Stahl, keine noch so leistungsfähigen Schirme zurückhalten konnten. Die Gewalten schlugen überall durch. Selbst hier, tief in der riesenhaften, für unangreifbar gehaltenen Station, war nur noch Chaos. Der Psi-Sturm tobte im Zentrum des Murloth-Nebels, und sein Höhepunkt, so schien es, war noch längst nicht erreicht. Der Erzherzog kreischte Befehle an seine Untergebenen, aber er war nicht sicher, ob sie sie erreichten. Die Psi-Effekte rissen ihm die Worte vom Mund, verzerrten und verfremdeten sie wie die Bilder, die ihm seine riesigen Facettenaugen zeigten. Alles stand Kopf. Nichts schien mehr dort zu sein, wohin es gehörte. Es war wie ein Weltuntergang. Seine insektoiden Untergebenen rannten kopflos durcheinander. Manche prallten gegen Wände, fielen um und blieben regungslos liegen. Andere drehten sich um die eigene Achse wie irre Tänzer, taumelten, stützten sich auf Gerätepulte und führten sinnlose Tätigkeiten aus. Erzherzog Garbhunar stand als Einziger in der Mitte der Zentrale und bewahrte sich zumindest einen Rest klaren Verstandes. Er hatte bisher gezögert – vielleicht zu lange. Vielleicht hätte er die Lordrichter kontaktieren sollen, als noch Zeit dazu war;
als die Geräte noch funktionierten. Jetzt war er nicht einmal mehr sicher, dass überhaupt eine Verbindung zustande kam. Aber sie mussten wissen, was geschah – und vor allem, was geschehen war! Er hätte nie für möglich gehalten, dass sich die Dinge auf diese Weise entwickelten, dass das Chaos so schnell und so grauenhaft zuschlagen würde. Der Erzherzog stand immer noch aufrecht auf seinen anderthalb Meter langen Hinterbeinen, viergliedrig und in Krallen endend wie die beiden anderen Gliedmaßenpaare. Die mittleren Arme waren vom insgesamt drei Meter großen, in der Mitte eingekerbten Insektenkörper weggestreckt. Das vordere Paar bewegte sich zuckend und zitternd über den Kontrollen des Hauptschaltpults. Der dunkelbraune Chitinpanzer, der nur an Kopf und Gliedmaßen nicht von dem graumetallischen Schutzanzug bedeckt war, reflektierte in mattem Glanz die grellen Farben, in die die Zentrale der Psi-Quelle gehüllt war. Sie zuckten wie Irrlichter durch die große Station, umso heftiger, je stärker die Wogen des Psi-Sturms durch die Anlage brandeten. Er musste es berichten, doch immer noch schreckte er davor zurück. Er fürchtete den Zorn der Lordrichter noch mehr als den Sturm. Fast kerzengerade stand er da, ein Fels in der Brandung der Unwirklichkeiten, des Chaos, der Dimensionsaufrisse, die ihn jeden Moment verschlingen konnten. Die beiden 50 Zentimeter langen Antennen-Fühler zitterten, fielen herab, richteten sich wie unter Stromstößen wieder auf. Die metallisch blau schimmernden, riesigen Facettenaugen vorne und hinten am dreißig Zentimeter großen Kopf mit den gefährlich wirkenden Maul-Mandibeln waren ebenfalls in das unheimliche Spiel der Farben getaucht, das
4 die Sinne marterte und verwirrte. Der Erzherzog kämpfte um seinen Verstand. Es war wichtig, dass die Lordrichter erfuhren, dass ihr erhabenes Projekt in Gefahr war. Er musste es ihnen sagen, solange er es noch konnte. Garbhunar riss alle geistige Kraft zusammen, um sich genau zurechtzulegen, was er mitzuteilen gedachte, wenn die Verbindung wie durch ein Wunder doch noch zustande kommen sollte. Er zwang sich dazu, die ihn umgebenden Irritationen zu ignorieren, die grauenhaften Schreie seiner Untergebenen, die ihm keine Hilfe mehr waren; das Knacken ihrer zerplatzenden Chitinpanzer. Die psionischen Gewalten, die auch ihn zu überwältigen drohten. Narukku … zehneinhalb Lichtjahre entfernt … Die Bilder waren verschwommen, aber noch klar genug, um sie in Worte zu fassen – soweit es Worte dafür gab. Alles hatte damit angefangen, dass das fremde Objekt über dem Planeten Narukku materialisiert war und eine gewaltige Menge an PsiMaterie in Kristallform mitgebracht hatte, die sofort mit dem Narukku-Ableger der PsiQuelle in Wechselwirkung getreten war und auf der Versunkenen Welt der Varganen einen fürchterlichen Psi-Sturm entfesselt hatte. Aus jetziger Sicht war es nur ein Vorgeschmack auf das gewesen, was gerade im Zentrum des Emissionsnebels geschah … Ein Eingreifen war nicht möglich gewesen. Hilf- und tatenlos hatte man beobachten müssen, wie der Psi-Kristall die Emissionen des Psi-Quellen-Ablegers quasi »auffraß«, verbunden allerdings mit einem Abschwächen des Psi-Sturms. Als dann nur noch ein geringer Restfokus des Ablegers vorhanden war, brach die »Nabelschnur-Verbindung« zur Psi-Quelle zusammen. Der Kristall hatte sich die Konzentration komplett einverleibt. Der Psi-Sturm endete augenblicklich. Eine neue Woge psionischer Energien brandete gegen Garbhunars Bewusstsein. Vor seinen Augen bildeten sich feine Risse.
Horst Hoffmann Die Umgebung verschwamm erneut. Dann taten sich schwarze Abgründe auf, aus denen unheimliche Augen zu starren schienen. Der Erzherzog hatte das Gefühl zu fallen, immer tiefer, mitten hinein in die Schwärze. Plötzlich waren fremdartigen Klänge und Stimmen zu hören, ein Gesang, hell und klar, nicht von dieser Welt. Er übte eine hypnotische Anziehungskraft aus, schien alles mit sich saugen zu wollen, hinein in den Abgrund. Garbhunar stemmte sich gegen den Sog. Seine Beine knickten ein. Er musste sich mit allen sechs Gliedmaßen auf dem Boden abstützen, um nicht fortgezerrt zu werden. Das Anstemmen gegen den psionischen Wind, den Strudel, der ihn in sich zu reißen drohte, kostete fast mehr Kraft, als er noch besaß. Garbhunar schrie auf. Panik griff nach seinem gemarterten Bewusstsein. Die Schwärze wallte in die Zentrale hinein. Er sah einen seiner Untergebenen schreiend und wild mit den Armen rudernd darin verschwinden. Zentimeter für Zentimeter glitt er auf das wesenlose Wallen zu, in die lockenden Stimmen hinein. Es gab jetzt kein Halten mehr, kein Oben und Unten. Da waren nur noch die Schwärze und die Klänge, die seinen Geist umlullten, erdrückten. Ein gewaltiges Brausen hob an. Er rutschte, fiel, glitt auf das Zentrum der Schwärze zu … Und dann war es vorbei. Die Tore in eine andere Dimension hatten sich von einem Moment zum anderen wieder geschlossen. Erzherzog Garbhunar lag auf dem Rücken und strampelte mit allen sechsen, bis es ihm endlich gelang, sich zu drehen und auf die Beine zu kommen. Um ihn herum war wieder das Chaos aus flackernden Irrlichtern, Schreien und Erscheinungen, die sich nicht beschreiben ließen. Er kämpfte. Die Lordrichter … das erhabene Projekt … Narukku … der Psi-Kristall … Die Bilder waren wieder da. Der Kristall … er hatte zu bröckeln begonnen. Gleichzeitig war der Verbindungsstrahl wieder ent-
Aufruhr auf Narukku standen, allerdings mit deutlich größerem Umfang. Die Kristallpartikel waren in der Art eines Tornadoschlauchs oder -trichters um die Nabelschnur gequirlt und über sie abgesaugt worden. Die in der Nähe befindlichen Insektoiden aus dem Volk der Torghan waren aus ihrer Starre erwacht und hatten sich ebenfalls von dem Sog mitreißen lassen. Der Narukku-Ableger, ins Gewaltige verstärkt durch die psionische Energie der Kristallmassen, war zurückgekehrt zur eigentlichen Psi-Quelle im Zentrum des Nebels, spontan und absolut unplanmäßig … Und seither tobte der Psi-Sturm! Es war so gut wie unmöglich, Informationen und Bilder von außerhalb zu bekommen. Am Anfang hatten die Ortungssysteme noch funktioniert. Die Bildschirme hatten zu flackern begonnen, aber die Bilder immer wieder noch stabilisiert. Erzherzog Garbhunar hatte erfahren, dass Psi-Kräfte auch auf die anderen drei Ableger der Quelle durchschlugen und diese in Aufruhr versetzten. Und noch etwas hatten die Orter registriert: Das fremde Objekt, das die Kristallmassen nach Narukku gebracht hatte, war wieder erschienen; ein meist teilentstofflichter Quader, der auf den ersten Blick unkontrolliert wirkende Transitionen durchführte. Erst langsam war deutlich geworden, dass der Quader zwar einen Zickzackkurs beschrieb, die Transitionen aber eindeutig eine Annäherung an das Zentrum des Murloth-Nebels extrapolieren ließen – und damit den Standort der Psi-Quelle. Es war das Letzte, was die Ortungssysteme hatten verraten können, bevor aus den kleineren Ausfällen und Störungen immer größere wurden. Es war noch nicht klar, was das alles zu bedeuten hatte und welche Auswirkungen es haben würde. Aber der Erzherzog musste davon ausgehen, dass hier eine fremde Macht in Erscheinung getreten war, die möglicherweise das erhabene Projekt insgesamt in Gefahr brachte. Das war alles. Die Lordrichter mussten informiert werden. Er durfte es nicht länger hinausschieben. Die Frage blieb nur, ob er
5 es noch konnte. Und sie beantwortete sich nicht von selbst … Die kurze Pause, die der Psi-Sturm ihm und seiner Besatzung gegönnt hatte, war vorbei. Es war nur die Ruhe vor dem wirklichen Sturm gewesen. Die Insektoiden, die hilflos am Boden gelegen hatten, hatten sich gerade zum Teil wieder aufgerichtet. Jetzt traf es sie mit doppelter Wucht. Das Brausen hob erneut an. Dunkle Blitze spalteten die Welt. Die Station schien sich in ihre Bestandteile auflösen zu wollen. Schwerkraftschübe schlugen durch, ohne dass die Schutzschirme es verhindern konnten. Die Insektoiden verloren den Halt unter den Klauenfüßen. Sie schwebten frei in der Luft, zuckend, schreiend und strampelnd. Ihre Hände suchten Halt, den sie nicht fanden. Dem Erzherzog erging es nicht besser. Er schwamm in der Luft, die keine Luft mehr war, sondern wie ein zäher Brei. Das Brausen und die hellen Stimmen aus einem jenseitigen Raum, die durch die schwarzen Spalten in die Zentrale drangen, marterten seine Gehörmembranen. Die Blitze blendeten die Facettenaugen. Garbhunar sah die Instrumente und den großen Bildschirm, der nur noch in den wirrsten Mustern flackerte, und versuchte mit Schwimmbewegungen, darauf zuzusteuern. Er musste sie erreichen, um den Kontakt herzustellen – es wenigstens versuchen! Er wusste, es war gegen jede Wahrscheinlichkeit, aber er musste es tun! Die Herren mussten erfahren, in welcher Gefahr ihr erhabenes Projekt war! Halb wahnsinnig von dem, was auf ihn eindrang, ruderte er auf die Instrumente zu, aber er kam nicht von der Stelle. Er hörte die Schreie seiner Untergebenen und sah, wie sie sich plötzlich rückwärts bewegten. Dann wieder standen sie still in der Luft. Alles drehte sich. Die Wände wurden für wenige Augenblicke transparent. Blankes Entsetzen ergriff den Erzherzog. Er war sicher, dass dies der endgültige Anfang vom Ende war, aber sie stabilisierten sich wieder. Kurz loderte neue Hoffnung in ihm auf. Vielleicht gönnte der Sturm ihm noch ein-
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mal eine Pause, die reichen musste, um an die Instrumente zu gelangen. Die Besatzungsmitglieder der Zentrale, die weder ins Nichts gesogen worden noch tot oder bewusstlos waren, bewegten sich weiter mit skurril wirkenden Bewegungen rückwärts, im unheimlichen Lichtgewitter und dem noch beängstigenderen Brausen aus dem Nichts. Dann bewegten sie sich überhaupt nicht mehr, und Erzherzog Garbhunar musste zu seinem maßlosen Entsetzen erkennen, dass die Zeit aufgehört hatte, in eine Richtung zu fließen. Die freigesetzten, ungezügelten Psi-Kräfte setzten alles außer Kraft, was jemals eine Geltung besessen hatte. Raum und Zeit, so, wie er sie kannte, existierten nicht mehr. Was auch immer im Murloth-Nebel wirklich geschah, was die Ursache und die letzte Konsequenz für das erhabene Projekt sein würde – die Lordrichter würden es niemals erfahren. Das war sein letzter Gedanke, bevor der Sog nach seinem Bewusstsein griff und es aus seinem Schädel zerrte.
1. Narukku 12. Mai 1225 NGZ Es waren immer wieder die gleichen Worte, die in meinem Kopf widerhallten, die gleichen Bilder, die vor meinem geistigen Auge erschienen, während ich in der Zentrale der AMENSOON auf Kythara wartete. Ebenso wie ich hatte sie die Ruhe und Abgeschiedenheit ihrer Kabine gesucht, um ihre Gedanken zu ordnen – und vor allem um sich von den Strapazen zu erholen, die hinter uns lagen: der lange Weg zurück zum Doppel-Pyramidenraumer, die schrecklichen Kämpfe. Da waren einerseits jene zwischen den Varganen Narukkus untereinander, die eigentlich nur Androiden waren. Und andererseits die Auseinandersetzung mit den Insektoiden, die als Invasoren auf diese Welt gekommen und inzwischen von einem uns immer noch unerklärlichen Umstand … Er-
eignis … einer Laune des Geschicks praktisch »weggewischt« worden waren. Überall zwischen den »fünf herrlichen Städten« lagen ihre Leichen. Sie waren von einem Augenblick auf den anderen tot umgefallen – einfach so, aus heiterem Himmel. Immer wieder die gleichen Worte und Bilder: der nach mehreren vergeblichen Versuchen in der Bewusstseinstransferanlage der Stahlwelt materialisierte Cappin, verletzt und über die Maßen verwirrt. Carscanns gestammelte Worte waren von uns zuerst als unverständliches, ominöses Zeug abgetan worden. Wir konnten damit nichts anfangen, und er war nicht mehr in der Lage gewesen, konkretere Erklärungen abzugeben. Jetzt sah ich das alles in einem anderen Licht. Die tödliche Gefahr, die angeblich seiner Heimatgalaxis Gruelfin drohte; die schrecklichen Kriege, die dort wüten sollten; das »Schwert der Ordnung«, das darauf warte, »die Ernte einfahren zu können« … Die Lordrichter von Garb – inzwischen hatten wir den Begriff wiederholt gehört, von den Insektoiden und ihrem monströsen Befehlshaber, Erzherzog Garbhunar. Die Bilder aus der Vergangenheit … Lordrichter von Garb … Wenn sie erschienen, so Carscann, seien alle Cappins verloren. Die »Quelle« sei im Begriff, pervertiert zu werden, und auch an Bord einer irregulär erscheinenden und verschwindenden Schwarzen Plattform hielten sich Cappins auf … Mittlerweile wussten wir, was mit der Schwarzen Plattform und ihrem geheimnisvollen Erscheinen und Verschwinden gemeint gewesen war. Ich kannte sie aus der Vergangenheit. Damals, in meiner Jugend, war sie ebenfalls schon aufgetaucht: die Vergessene Positronik der alten Lemurer. Schon zu dieser Zeit, vor mehr als 12.000 terranischen Jahren, war sie ein Quell des Geheimnisvollen und der Bedrohlichkeit gewesen, ein düsterer Wanderer zwischen den Sternen, der überraschend auftauchte und ebenso spontan wieder verschwand, um an einem
Aufruhr auf Narukku anderen Ort des Universums zu materialisieren – meist nur halb stofflich, nie wirklich greifbar. Mittlerweile hatten Kythara und ich auch erfahren – oder glaubten es zumindest aus unseren Beobachtungen schließen zu können –, dass die »Quelle« mit der varganischen Psi-Quelle identisch sein musste, mit der wir es hier auf Narukku zu tun hatten. Kytharas Erinnerungen zufolge hatte es einst insgesamt fünf so genannte Psi-Stationen gegeben, die von ihrem Volk im Leerraum außerhalb der Milchstraße erbaut worden waren, um dort die »Kosmischen Kräfte« anzuzapfen und zu speichern. Im Verlauf der Zeit – Kythara hatte von Jahrhunderttausenden gesprochen! – hatten drei dieser Stationen durch die gehorteten psionischen Ballungen eine Art Eigenbewusstsein entwickelt und seither ihrerseits im Psi/UHF-Bereich gestrahlt. Sie waren zu »Psi-Quellen« geworden. Über das weitere Schicksal dieser PsiStationen, mit deren Hilfe man etliche der Versunkenen Welten der Varganen direkt erreichen konnte – und umgekehrt –, konnte sie allerdings nichts sagen. Kythara hatte in den vergangenen 21.000 Jahren in der Verbannung der Obsidian-Kluft gelebt und dort naturgemäß keinerlei Informationen über die Geschehnisse »außerhalb« bekommen können. Fest stand nach ihren Worten nur, dass die fünf ihr bekannten Standorte nicht identisch waren mit der hiesigen Welt und dem nahen Murloth-Nebel. Und das bedeutete nichts anderes, als dass die Psi-Quelle von einer unbekannten Macht hierher versetzt worden war. Aber wo war »hier«? Noch hatten wir keine Ahnung. Die galaktische Position des Emissionsnebels, an dessen Peripherie wir uns befanden, kannten wir nicht. Wir waren mit der »Vergessenen Positronik« hierher transitiert, über eine uns unbekannte Entfernung. Theoretisch war es sogar denkbar, dass wir uns nicht in der Heimatgalaxis befanden. Die Sterne am Himmel waren uns fremd.
7 Das Einzige, was wir sicher wussten, war, dass wir am Rand eines Nebels waren und dass dieser Planet von seinen Bewohnern Narukku genannt wurde und der Nebel Murloth. Ich strich mir mit dem Handrücken über die Stirn. Ich fühlte mich ermattet. Ich hatte nicht geschlafen, aber das war es nicht. Der Zellaktivator konnte den fehlenden Schlaf für drei, vier Tage mühelos kompensieren. Nein, es war etwas anderes. Ich war mit meinen Überlegungen an einem Punkt angekommen, wo sich alles im Kreis drehte. Ich fühlte mich wie vor einem Mosaik, von dem sich einige Teile zusammengefügt hatten, das meiste aber noch unbekannt war. Es war wichtig, diese Lücken zu schließen, denn was Gruelfin bedrohte, war auch eine potentielle Gefahr für unsere eigene Galaxis, falls wir uns wirklich in der Milchstraße befanden. Mein Extrasinn und ich waren uns allerdings einig, dass dem so war. Was sich hier zusammenbraute, war also ganz offensichtlich nicht so weit ab vom Schuss, wie unser Ziel Gruelfin vermuten ließ. Eine fremde Macht hatte sich im direkten Umfeld unserer eigenen Heimatgalaxis Werkzeugen aus der tiefen Vergangenheit bemächtigt und missbrauchte sie. Wozu? Was steckte dahinter? Wer waren die Lordrichter von Garb, und was hatten sie hier zu suchen? Was taten ihre Hilfskräfte hier, denn um solche handelte es sich bei den insektoiden Invasoren zweifellos? Wozu züchteten sie aus vorher harmlosen varganischen Androiden eine Armee aus Kriegern? Superkriegern, wenn unser Verdacht zutraf und sie durch Psi-Aufladung zu unberechenbaren Mutanten gemacht wurden – eine schreckliche Vorstellung. Du verrennst dich wieder einmal, alter Narr!, tadelte mein Extrasinn. Komm zur Ruhe. Allein wirst du die Antworten nicht finden! Der ewige Plagegeist! Aber er hatte Recht. Ich musste auf andere Gedanken kommen, wenigstens für ein paar Stunden. Niemand konnte wissen, was die Zukunft brachte. Vielleicht die Antwort auf einige
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der mich quälenden Fragen. Ich streckte die Beine aus und beobachtete die Holoschirme, die die Umgebung der AMENSOON zeigten. Das leicht blaustichige Licht der Innenbeleuchtung aus den Deckenplatten und anderen indirekten Quellen wirkte kalt. Aber draußen hatte bereits der Morgen zu dämmern begonnen. Ein neuer Tag brach an. Was würde er bringen? Ich wartete noch zwei Stunden, beobachtete stumm die große Panoramagalerie, sah die gelegentlichen Ausschläge der Instrumente. Immer wieder musste ich mir ins Bewusstsein rufen, dass dieses große Schiff, ein Oktaeder mit Kantenlängen von 600 Metern, von einer einzigen Person gesteuert werden konnte. Es war ein Wunderwerk der Technik, aber wen wunderte das? Die alten Varganen hatten den heutigen Milchstraßenvölkern in nichts nachgestanden – ganz im Gegenteil. Dann kam Kythara endlich. Sie war schön und zweifellos begehrenswert, hatte alles, wovon ein Mann träumen konnte. Unter anderen Umständen vielleicht … Jetzt brauchte ich den Extrasinn gar nicht erst, um mich einen alten Narren zu schelten. Dass ich zweifellos einer war, musste jeder merken, der meine Frage hörte – mir entschlüpfte so ziemlich eine der dümmsten Fragen, die mir zu ihrer Begrüßung einfallen konnten: »Hast wenigstens du etwas geschlafen?« Sie lachte rau und setzte sich in den Kontursitz neben mir. »Sehe ich vielleicht so aus?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage. »Also, was hast du Neues für mich?«
* Der Schuss kam aus heiterem Himmel. Er verfehlte Opalmagor nur um einige Handbreit. Nach dem ersten Schrecken reagierte der Androide augenblicklich und warf sich hinter einem großen Felsen in Deckung – keinen Augenblick zu früh. Die nächste Salve fuhr in den mannsho-
hen und doppelt so breiten Stein und brachte ihn an der Einschlagstelle zum Schmelzen. Ein Glutorkan fuhr über Opalmagor hinweg. Er duckte sich tiefer, presste sich fest in den sandigen, nur spärlich bewachsenen Boden und überlegte fieberhaft, wie er aus der Falle entkommen konnte. Er hatte nicht erwartet, hier in der Einöde, weitab von einer der fünf Städte und dem Targan-Binnenmeer, auf andere seiner Art zu treffen. Geschöpfe wie er – jedenfalls rein äußerlich. Sie alle hatten sich verwandelt, waren einem furchtbaren, unheimlichen Bann erlegen, der über sie gekommen war. Nur er nicht – als Einziger womöglich. Er war immer noch Opalmagor, nicht Opalmagor-Murloth! Er wusste immer noch nicht genau, wie sie so geworden waren, wie sie sich seit Tagen schon aufführten. Er wusste nur, dass er kein »Krieger« war. Was immer die Naruks auf so grausame Weise verändert hatte – bei ihm hatte es nicht funktioniert. Er war anders. Er wollte nicht kämpfen – aber vielleicht würde er es müssen, um diesen Wahnsinn zu überleben. Zuerst hatte er versucht, sich anzupassen, hatte sich gefügt und verstellt, ohne überhaupt zu begreifen, was um ihn herum geschah. Dann war der Trupp, zu dem er gehört hatte, in der ersten Schlacht völlig aufgerieben worden. Bis auf ihn, der, nur geleitet von seinem Überlebensinstinkt, in die Savanne hatte fliehen können. Er vermochte sein Glück bis jetzt noch nicht zu fassen. Es war ein Wunder gewesen. Ein Wunder, wie er nun wieder eines benötigte … Die nächste Salve fuhr in den Felsen. Sie würden ihn schmelzen. Er wusste nicht, wie viele Gegner es waren. Es musste sich um Versprengte wie ihn handeln, denn der Krieg tobte hauptsächlich zwischen den Städten und nicht hier in der Wildnis. Vielleicht waren sie auch Überlebende, die sich vom großen Schlachtengetümmel abgesetzt hatten, aber der Hass und der Drang zum Kämpfen beherrschten sie immer noch. Anders war ihr Angriff nicht zu
Aufruhr auf Narukku deuten. Es war absolut sinnlos, sich auch nur die Hoffnung zu machen, sich mit ihnen verständigen zu können. Opalmagor wartete. Sein Herz schlug wild. Seine Hände waren zerschunden und bluteten an einigen Stellen. Die Hitze des Strahlengewitters trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Glutflüssiges Gestein spritzte und tropfte auf den Boden, schlug zischend neben ihm ein. Er wusste, dass er hier nicht bleiben konnte. Er würde die nächste Minute nicht überleben. Einmal hatte er Glück gehabt. Ein zweites Mal würde das nicht geschehen. Plötzlich hörte der Beschuss auf. Die einsetzende Stille war unheimlich. Die anderen wussten, dass er hier lag. Er war ihnen sicher. Warum also vollendeten sie ihr tödliches Werk nicht? Er war ihnen sicher … Der Naruk hatte eine Ahnung, was sie vorhatten. Er saß in der Falle. Vielleicht waren es zehn, vielleicht zwanzig, vielleicht auch nur drei oder vier Gegner. Auf jeden Fall genug, um ihn in die Zange zu nehmen. Einer blieb in seinem Rücken, die anderen kamen von den Seiten. Sie schlichen sich an, lautlos, mit schussbereiten Strahlern in den Händen … Opalmagors Hand legte sich wie automatisch auf den Griff der eigenen Waffe, die er an der Hüfte trug. Er hatte sie erhalten, als der Trupp zusammengestellt worden war. Sie stammten von den Fremden, die – wie er mittlerweile wusste – den Krieg schürten und vielleicht für all das verantwortlich waren, was auf Narukku geschah. Er wusste es nicht mit Sicherheit, aber er bezweifelte, dass sie die »Stimmen« produzieren konnten, die seine Artgenossen plötzlich gehört hatten, bevor sie sich als ein Teil von »Murloth« fühlten und alles vergaßen, was bis dahin ihr Leben ausgemacht hatte. Das Forschen, das Sammeln von Wissen, ihre Arbeit … Wieder fuhr ein Strahlschuss in den Felsen. Hatte Opalmagor sich geirrt? Er wusste es nicht. Er hatte nicht die leiseste Ahnung,
9 wie er aus dieser Falle entkommen sollte, ohne selbst … Seine wunden Finger krümmten sich um das kalte Metall der Waffe. Er wusste, wie er damit umzugehen hatte. Er wusste, wie tödlich sie war. Doch alles in ihm widerstrebte dem Gedanken, das Leben eines anderen Naruks auszulöschen. Sie ließen ihm aber überhaupt keine Wahl. Sie kamen. Und er tat nichts, als abzuwarten, dass der Fels endgültig zerschmolz. In der Rechten hielt er die Waffe. Er wollte es nicht, hatte inständig gehofft, nie dazu gezwungen zu werden, doch als er den Naruk vor sich auftauchen sah, geschah etwas mit ihm. Der Selbsterhaltungstrieb übernahm die Kontrolle über seine Reflexe. Er schaltete alle Skrupel aus. Der Gegner kam um den Felsen und zielte auf ihn. Opalmagors Reaktion war von seinem Unterbewusstsein gesteuert. Es geschah wie von allein. Später würde er sich dafür hassen, aber jetzt konnte er nicht anders. Er wirbelte, am Boden liegend, um die eigene Achse. Dort, wo er vor einer Sekunde gewesen war, fuhr der Hitzestrahl in den Sand und erzeugte eine glühende, spritzende Furche. Zu einem zweiten Schuss kam der Angreifer nicht. Opalmagor traf ihn mitten in die Brust. Er starb lautlos, hatte nicht einmal mehr Zeit für einen Aufschrei. Opalmagor sah seinen ungläubigen Blick, als er zu Boden sank. Dann starrte er auf seine Hand und die Waffe darin. Was hatte er getan? War er das gewesen? Er hatte nie von dem Strahler Gebrauch machen wollen. Er hatte es nicht getan, als er mit seinem Trupp seine Stadt verließ und auf die ersten Gegner stieß, in seiner ersten und letzten Schlacht. Doch es kam noch schlimmer. Er hörte das Geräusch hinter sich. Das Herumfahren, inzwischen auf die Knie aufgerichtet, und der Schuss waren eine Bewegung. Auch der zweite Gegner starb durch
10 seine Hand, die er verfluchte. Der Himmel schien auf ihn herabzustürzen. Er wusste nicht, wie viele Naruks noch hinter dem Felsen waren und es auf sein Leben abgesehen hatten. Er wollte es nicht wissen. Er war zum Mörder geworden. Er hatte zwei Narukleben ausgelöscht. Es durften nicht noch mehr werden! Opalmagor wusste später nicht zu sagen, was ihn dazu bewegt hatte, aufzuspringen und loszurennen, einfach nur weg von diesem Ort des Grauens. Ihm fehlte die Erinnerung an diese Minuten, als er aus der Deckung des Felsens hervorstürmte, hinein in die Savanne, wo er für jeden Gegner ein ausgezeichnetes Ziel bot. Felsen, die wie von Riesen in die Ebene hineingewürfelt wirkten, und dürre Bäume gab es nur sehr vereinzelt. Das Gras war hoch, aber es reichte ihm dennoch nur bis knapp zu den Hüften. Es bot keinen wirklichen Schutz. Das genaue Gegenteil war der Fall. Die Strahlbahnen fuhren fauchend an ihm vorbei und setzten die Steppe in Brand. Das Gras war trocken. Es hatte in dieser Gegend seit Wochen nicht mehr geregnet. Es ging nur ein leichter Wind, aber der reichte aus, um das Feuer zu entfachen. Vor, neben und hinter ihm schlugen die Thermosalven ein und schufen neue Herde. Bald brannte es rings um ihn herum. In welche Richtung er sich auch drehte, überall loderten die Flammen. In seinem Rücken waren der oder die Verfolger. Vor ihm die Glut. Opalmagor stieß einen heiseren Schrei aus, rannte weiter und sprang mitten in eine Flammenwand hinein. Die Hitze war furchtbar, aber er nahm sie kaum wahr. Sein Verstand rebellierte, Schwindel ergriff ihn. Er sah die Umgebung nur noch verschwommen und stolperte über eine Wurzel, als er sich neben einem der wenigen Bäume weit und breit in Deckung werfen wollte. Der Hitzestrahl zischte einen halben Meter an ihm vorbei und setzte den Stamm in Brand. Opalmagor fiel und blieb liegen, mitten im Feuer. Er wusste, dass es aus war. In
Horst Hoffmann wenigen Augenblicken würden die Verfolger hier sein und das vollenden, was ihre beiden Kumpane nicht geschafft hatten: einen Naruk zu töten, der keinen Kampf wollte. Einen Hilflosen! Hilflos? Der Androide hob die rechte Hand. Er starrte wieder die Waffe an, die zwei Leben ausgelöscht hatte. Dann schleuderte er sie in hohem Bogen von sich, weit hinein in die Flammen. Wenn es geschehen sollte, dass er hier und jetzt starb, dann sollte es eben geschehen. Er würde sich nicht mehr dagegen wehren. Und außerdem … Der Gedanke daran, dass er wiedergeboren werden würde, mit vollem Wissen um das, was er getan hatte, war schlimmer als die Angst vor dem Tod selbst, der kein Tod war. Er wusste, dass es Naruks gab, die versucht hatten, so zu sterben, dass nichts von ihnen übrig blieb, um wiedergeboren werden zu können. Er hatte sich nie wirklich damit befasst, aber jetzt wünschte er sich, es gäbe für ihn einen Weg, einfach zu erlöschen; niemals mehr leben und denken zu müssen. Eine Gestalt tauchte vor ihm aus den Flammen auf. Sie hielt den Strahler genau auf seinen Kopf gerichtet. Drück ab!, dachte Opalmagor. Er versuchte, es dem Besessenen entgegenzuschreien, doch seine Kehle war trocken und wie zugeschnürt. Er sah ihn nur an und wartete auf den Tod, vor dem es in zweierlei Hinsicht kein Entrinnen gab. Tu es!, schrie es in ihm. Mach endlich ein Ende!
* Wir aßen und tranken etwas zusammen. Das meiste von dem, was die Servos des Schiffes uns auftischten, ließen wir unangerührt. Richtigen Appetit hatten wir beide nicht, dazu waren wir viel zu aufgewühlt. Wir aßen nur das Allernotwendigste, um die Herausforderungen des neuen Tages meistern zu können. Und die würden kommen, darüber waren wir uns im Klaren. Es wäre
Aufruhr auf Narukku nicht gut, in einem vielleicht entscheidenden Moment »schlappzumachen«, wenn wir unsere ganzen Kräfte und Konzentration benötigten. Unser Frühstück war also alles andere als feierlich. Eigentlich war es bedauerlich. Da saß ich mit einer der schönsten und anziehendsten Frauen, die mir in meinem langen Leben begegnet waren, und … Ich brauchte keine Ermahnung des Extrasinns, um alle Gedanken daran beiseite zu schieben. Kythara war eine Schönheit mit ihrer bronzen schimmernden, makellosen Haut, der bis zu den Hüften reichenden Goldlockenmähne und den großen, ebenfalls goldenen Augen. Ihr Gesicht war eine Offenbarung und die Figur nicht weniger faszinierend, kurvenreich an den genau richtigen Stellen. Sie war wie alle Varganen hochgewachsen und schlank, sportlich, stark und intelligent; beeindruckend charismatisch und mit einer knisternd-erotischen Ausstrahlung gesegnet, die jeden Mann in ihren Bann schlagen musste. Wir kannten uns erst seit wenigen Tagen. Dennoch hatte ich mich mehr als einmal dabei ertappt, sie im Stillen mit Ischtar zu vergleichen, der »Goldenen Göttin«; der ersten Varganin, der ich, gerade einmal siebzehn Jahre alt und väterlich wohl behütet von Fartuloon, dem Bauchaufschneider und meinem Lehrmeister, vor über 12.000 Jahren begegnet war. Es war sinnlos. Beide Frauen waren besonders, einzigartig. Jeder Versuch eines Vergleichs war einfach nur lächerlich. Sentimentale Anwandlungen, kommentierte der Extrasinn. Du wirst alt. Das hofe ich doch schwer, alter Freund, gab ich lautlos zurück. Kythara sah mich an, als wüsste sie, was hinter meiner Stirn vorging. Ich holte Luft, legte beide Hände mit gespreizten Fingern flach auf die Platte des kleinen Tischs, an dem wir saßen, und nickte. Nie durfte ich vergessen, dass sie, wie alle Varganen, in der Lage war, ihre Gedanken in das Bewusstsein anderer Lebewesen zu übertragen,
11 aber andererseits auch bis zu einem gewissen Grad deren gedankliche »Vorformulierungen« zu erfassen. Es hatte nicht viel mit echter Telepathie zu tun, wie ich sie etwa von den terranischen Mutanten her kannte. Außerdem war ich mentalstabilisiert. Aber stellte das für sie ein Hindernis dar? »Die Frage ist, was wir als Nächstes unternehmen«, begann ich also. »An unserer Lage hat sich nichts geändert. Wir sitzen auf dieser Welt fest. Der Psi-Sturm ist hier zwar abgeebbt, aber das ändert nichts daran, dass weiterhin viele Systeme der AMENSOON blockiert oder gar ausgefallen sind. Das betrifft vor allem das Kyri-Überlichttriebwerk, das von den hyperenergetischen Überschlägen des Psi-Sturms besonders getroffen worden ist. Ob die Selbstreparaturroutinen diese Schäden überhaupt beseitigen können, steht noch nicht fest. Zumindest wird es aber viele Tage oder gar Wochen dauern. Und bis dahin ist an einen Abflug von Narukku nicht zu denken.« »Du erzählst mir nichts Neues«, sagte Kythara. »Das weiß ich.« Sie wirkte kühl, aber nicht arrogant. Natürlich hatte sie in ihrer Kabine ebenfalls alle Informationen abrufen können, die ich während der Nacht in der Zentrale bekommen hatte. Dennoch fasste ich weiter zusammen, als wolle ich mich ihr beweisen: »Die Ortung zeigt weiterhin im Umkreis von 15 Lichtjahren die drei kleineren Psi-Konzentrationen sowie die mit ihnen über … Nabelschnüre verbundene, deutlich stärkere der eigentlichen Psi-Quelle im Zentrum des Emissionsnebels an. Alle werden sie von Psi-Stürmen heimgesucht, deren Emissionen ein Anmessen von Details unmöglich machen. Die Psi-Quelle und ihre Ableger an sich sind zu erkennen, Einzelheiten jedoch nicht.« »Ich weiß«, seufzte Kythara, eine geduldige Zuhörerin – oder nur um Höflichkeit bemüht? Ich spürte, dass sie auf etwas wartete, was wirklich neu war, ein Gedanke von
12 mir, eine Strategie. Aber dazu saßen wir ja zusammen. Wir mussten gemeinsam entscheiden, wie wir die Gefahr anpacken wollten, die uns beiden bekannt war. Was im Moment geschah, war nichts als eine Rekapitulation und Standortbestimmung. Sicher hatte sie sich in der Nacht ebenso den Kopf darüber zerbrochen wie ich – aber es war das Fundament, auf dem wir aufbauen mussten. Es musste gesagt werden. Vielleicht fanden wir dabei etwas, das wir übersehen hatten. »Es kommt nach wie vor zu den schon mehrfach angemessenen erratischen Transitionen der Vergessenen Positronik«, fuhr ich also fort. Sie nahm den Blick nicht von meinen Augen. Entdeckte ich da ein spöttisches Lächeln um ihre Mundwinkel? Wie sah sie mich? Auch diese Frage stellte ich mir nicht zum ersten Mal. Was die Varganen und ihr Erbe anging, war sie mir zweifellos um Meilen voraus, obwohl sie ihr Wissen nur spärlich freigab (ganz zu schweigen von ihrer eigenen Vergangenheit). Sie war zwar 21.000 Jahre lang in der Obsidian-Kluft gefangen gewesen, und für diese Zeitspanne besaß ich einen Wissensvorsprung. Aber das änderte nichts daran, dass sie ihre Geheimnisse hatte und wohl verwahrte. Wenn sie sich mir dadurch überlegen fühlte, dann zeigte sie es nicht – jedenfalls nicht bewusst. Sagen wir es so: Sie versuchte mir das Gefühl zu geben, ein gleichwertiger Partner zu sein. Komm endlich zum Punkt!, verlangte der Extrasinn. Für einen Moment wusste ich nicht, wo ich stehen geblieben war. Dann war der Faden wieder da. Kythara wartete geduldig. »Die Vergessene Positronik. Ihre Strukturschock-Muster sind eindeutig zu identifizieren und werden überdies von den Signalen der Hyperfunk-Peilsender bestätigt. Nach unseren Hochrechnungen nähert sie sich dem Nebelzentrum an und damit der Psi-Quelle.« Na also!, lobte der Extrasinn. Und jetzt weiter. Die Vorrede hast du hinter dir. Spann sie nicht länger auf die Folter!
Horst Hoffmann Vorlauter Patron. Aber ich kam mir ja selbst vor wie ein Oberlehrer, der die Geduld seiner Schüler hart auf die Probe stellte. »Wir sind uns darin einig«, sagte ich, »dass die varganische Psi-Quelle von einer fremden Macht übernommen und hierher transportiert worden ist. Ebenfalls wissen wir, welches immense Machtpotenzial mit solchen Psi-Konzentrationen verbunden ist. Wir müssen versuchen, jeden Missbrauch dieses Potenzials zu unterbinden. Davon hängt alles Weitere ab.« »Was werden wir also tun?«, fragte Kythara. »Es liegt auf der Hand«, antwortete ich. »Die Psi-Quelle wird von der fremden Macht, von der wir bisher nur den Namen kennen, definitiv bereits missbraucht, und zwar massiv. Das wissen wir durch die Begegnung mit den insektoiden Invasoren und diesem Erzherzog Garbhunar.« »Wir sind ihm eigentlich nicht begegnet«, korrigierte sie mich. »Wir haben Bilder und Szenen aus der Vergangenheit gesehen und miterlebt.« »Ja, aber sie wirkten real genug. Mir hat es jedenfalls gereicht.« Ich strich mir eine Strähne meines langen weißen Haars aus der Stirn. »Die Manipulation der Naruk-Androiden, die zu perfekten Kriegern gemacht werden sollen, einer Armee mit unvorstellbarem Potenzial – alles das geht auf das Konto der so genannten Lordrichter von Garb.« »Das Schwert der Ordnung.« Die Varganin nickte. »Was immer sich dahinter verbirgt – wir müssen es herausfinden.« »Was das Schwert der Ordnung ist und was seine Ziele«, stimmte ich zu. »Wer oder was die ominösen Lordrichter sind und wozu die ursprünglich harmlosen Naruk zu perfekten Kriegern gemacht werden sollen.« »Die Psi-Quelle.« Kythara und ich, wir redeten endlich wie mit einer Stimme. »Ihren Einsatz – wozu auch immer letztlich gedacht – müssen wir verhindern. Das Schicksal der Naruk-Androiden lässt schon nichts Gutes ahnen. Aber es muss noch mehr
Aufruhr auf Narukku
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dahinter stecken. Wir müssen es herausfinden und die düsteren Pläne der Lordrichter durchkreuzen.« Ich sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Düster?« »Denk an die Worte des Cappins.« »Ich tue nichts anderes.« Sie stand auf und ging zu den Bildschirmen, die die karge Landschaft außerhalb des Schiffes zeigten. Einige Minuten lang schwiegen wir beide. Dann drehte sie sich wieder zu mir um. »Es fragt sich nur, wie wir unser Ziel erreichen wollen. Wie können wir die PsiQuelle ausschalten oder befreien? Welche Mittel können wir gegen sie einsetzen, da die AMENSOON bis auf weiteres doch nicht überlichttauglich ist. Wie du schon sagtest: Wir sitzen auf Narukku fest.« Ich erhob mich ebenfalls und trat zu ihr. »Dann müssen wir auf Narukku beginnen«, sagte ich und deutete auf einen der Schirme. Kythara zoomte das Bild heran, das wir beide bereits kannten. Eine weite Ebene, übersät von toten Insektoiden. Es waren die, die nicht von dem »Tornadoschlauch« mitgerissen worden waren. Narukku war wahrhaftig alles andere als ein gastlicher Planet. Mir graute vor den Überraschungen, die hier noch auf uns warten mochten. Der Psi-Sturm, die furchtbaren Schlachten der Androiden aus den »fünf herrlichen Städten«, von denen nur noch Ruinen übrig waren. Der plötzliche Kollektivtod der Invasoren – ich spürte mit dem untrüglichen Instinkt des Unsterblichen, der Sternenreiche kommen und untergehen gesehen hatte, dass dies noch nicht alles war. Wenigstens, so dachte ich mit einer Portion Sarkasmus, drohte uns von den Insektoiden keine Gefahr mehr.
2. Toghar-134 gehörte zum Überwachungsteam des Narukku-Ablegers der Psi-Quelle. Als der Psi-Sturm losbrach, hatte er sich mit einigen wenigen weiteren seines Volks tief
unter der Oberfläche der »Ebene ohne Schatten« befunden, jenes grob kreisförmigen, vollkommen vereisten Gebiets von rund hundert Kilometern Durchmesser, in dessen Zentrum sich der Berg erhob, von dem ein künstlicher Winter ausging – obwohl sich die Ebene an der Küste eines Binnenmeers nur knapp nördlich des Äquators erstreckte. Als dann die Kämpfe zwischen den Androiden entbrannten, waren seine Artgenossen ebenfalls an die Oberfläche gegangen, um zu beobachten und einzugreifen, wo es nötig wurde. Toghar war allein zurückgeblieben. Über Funk – sofern er funktionierte und nicht massiv gestört wurde –, stand er in Verbindung mit den anderen Arbeitern, hoch spezialisiert wie er selbst, und konnte sie warnen, wenn es eine neue Entwicklung bei der Psi-Konzentration gab. Um seine Überwachungsaufgabe zu erfüllen, benötigte er sie nicht. Er hatte alles zur Verfügung, um sie allein ausfüllen zu können. Und das tat er mit der kalten Sachlichkeit eines Insekts, das nur sein Ziel kannte und seinen Platz in der Gemeinschaft. Der Psi-Sturm schlug trotz aller erdenklicher Abschirmungen teilweise auch auf die tief gelegene Überwachungsstation durch. Toghar-134 blieb davon nicht verschont. Er kämpfte gegen die fremdartigen Effekte an und gegen die Panik, die ihn ergreifen wollte, wenn ihm die Dinge zu entgleiten drohten; wenn er unfähig war, die Kontrolle über das zu behalten, was ihm anvertraut war. In den Augenblicken, da die Heftigkeit des Sturms nachließ und er vollkommen klar denken und analysieren konnte, stellte er fest, dass er längst nicht so stark betroffen war wie die Torghan an der Oberfläche. Seine Stellung in der Hierarchie der Torghan war nicht die höchste, was sich schon von seinem Namen ableitete: Toghar-134 – das Zahlenanhängsel war nicht durch die Sieben teilbar, die dominierende Zahl im Wertesystem der Insektoiden. Doch das änderte nichts daran, dass er jetzt quasi der Herr der Überwachungsstation war. Alle »Siebener« befanden sich oben, um den
14 Gang der Dinge zu kontrollieren und zu beeinflussen. Toghar erlebte an seinen zahlreichen Kontrollen (die einst von Varganen errichtete Überwachungszentrale war gespickt mit hoch entwickelter Technik) mit, wie sich die Androiden bekriegten und gegenseitig abschlachteten. Er wusste, dass sie in einem neuen Körper wiedergeboren wurden, wenn sie auf dem Schlachtfeld starben. Das war ja der Zweck des Ganzen. Zuerst wurden sie durch den Einfluss des Psi-Ablegers von harmlosen Informationssammlern in nur vom Drang zum Töten beherrschte Krieger verwandelt. Das war aber nur der erste Schritt. Der zweite, genauso wichtige bestand darin, sie als Kämpfer zu optimieren. Wenn sie fielen und wiedergeboren wurden, verfügten sie über alle Erinnerungen ihres »früheren Lebens«. Sie wussten, was sie richtig und – viel wichtiger – was sie falsch gemacht hatten. Sie kannten die Fehler, die ihnen zum Verhängnis geworden waren, und würden versuchen, sie nicht noch einmal zu begehen. Mit jedem Neuerwachen wurden sie bessere und gerissenere Kämpfer, abgebrühter, gefährlicher. Und der dritte Schritt … sollte sie unüberwindbar machen. Toghar-134 stemmte sich gegen den Sturm, wenn dessen Effekte zu stark wurden oder ihn minutenlang der Fähigkeit des klaren Denkens beraubten. Vor dem Tod fürchtete er sich nicht so sehr wie davor, nicht mehr richtig funktionieren zu können. Seine Aufgabe hier war wichtig. Er war nur ein Teil des Ganzen, ein kleines Rädchen im großen Getriebe – aber dieses große, bedeutende Ganze konnte gefährdet sein, wenn er versagte. Toghar kannte die genauen Pläne seiner Herren nicht. Er war in das eingeweiht worden, was er brauchte, um seine Aufgabe zu erfüllen. Alles Weitere hatte ihn nicht zu beschäftigen. Er hatte seine Anweisungen zu erfüllen, und das so perfekt wie möglich. Das Schicksal der Naruk-Androiden war ihm egal, es berührte ihn nicht, solange sie
Horst Hoffmann so funktionierten, wie es vorgesehen war; solange der Ablauf des Meisterplans nicht in Gefahr geriet. Er verbrachte die folgenden Stunden voller Konzentration auf das Geschehen an der Oberfläche. Manchmal verschoben sich die Realitäten. Dann verlor er den Bezug zu dem, was auf dem Planeten geschah, oder er stellte fest, dass ihm ganze Minuten fehlten – Schwarze Löcher in seinem Wissen, seinen Erinnerungen. Doch immer wieder kehrte er in die Wirklichkeit zurück. Aber an der Oberfläche war es viel schlimmer. Dort wütete das Chaos. Die Einsamkeit störte das zweieinhalb Meter große Insektenwesen mit dem Wespenkörper, den drei Teleskopbeinen und den vier mehrgliedrigen Armen wenig. Er war es gewohnt, allein zu sein und allein zu handeln. Für alles gab es ein Programm, dem er zu folgen hatte. Toghar registrierte. Er spürte und verfolgte mit seinen vier großen Facettenaugen – je zwei am Vorder- und zwei am Hinterkopf – auch auf den Schirmen und Ortungsanzeigen, wie der Psi-Sturm endlich abflaute und die Psi-Konzentration sich veränderte. Er erholte sich schnell und verfolgte nun bei wieder völlig klarem Verstand, wie die Kämpfe der Androiden immer heftiger wurden. Seine Artgenossen dirigierten sie nur, wenn es nötig war. Alles schien nach Plan zu laufen – abgesehen natürlich immer noch von der psionischen Aktivität an der Oberfläche. Sie war der einzige nicht zu berechnende Faktor. Aber auch derjenige, von dem alles andere abhing. Weitere Stunden vergingen. Toghar-134 registrierte das Zerbröckeln der psionisch aufgeladenen Kristallmasse und wie seine Artgenossen und die Androiden in eine unerklärliche Starre fielen. Es war das Erste, was ihn wirklich beunruhigte. Denn es war nicht vorgesehen. Aber das war erst der Anfang. Aus den Überresten der Kristallmassen bildete sich ein Strudel, ein Sog, der alles
Aufruhr auf Narukku mit sich riss. Er erfasste auch die Torghan, die sich in seiner Nähe befanden und aus der unerklärlichen Starre erwachten. Sie wurden fortgewirbelt, mit dem Psi-Schlauch vom Planeten Narukku fort, aus diesem Kontinuum heraus. Nichts blieb von ihnen zurück. Toghar-134 fühlte sich zum ersten Mal überfordert. Hatte er es bisher nicht vermisst – jetzt sehnte er sich nach einem Vorgesetzten, der ihm sagte, wie er sich zu verhalten hatte. Er versuchte sogar, einen der Befehlshaber an der Oberfläche zu kontaktieren, doch ohne Erfolg. Sie waren nicht in der Lage, ihm zu antworten – hatte es sie mit dem Schlauch in die Unendlichkeit gerissen? Er hatte keine Ahnung, was genau vorgefallen war, und das ließ ihn fast verzweifeln. Es machte ihn sogar wütend, auf seine kalte, im Grunde nicht emotionale Art. Der Gedanke, dass er keinen Einfluss auf das Geschehen um ihn herum hatte, wirkte paralysierend. Den Sturm hatte er tapfer überstanden. Aber was jetzt geschah, stürzte ihn in einen tiefen Albtraum. Denn das Drama an der Oberfläche war noch nicht vorbei. Es ging weiter. Zuerst aber griff es nach ihm selbst. Es kam übergangslos und ohne Vorankündigung. Toghar-134 begann am ganzen Körper zu zittern. In den Beinen begann es: Seine drei Teleskopbeine zitterten, knickten ein, glitten ihm weg, und er fiel haltlos zwischen den Kontrollsesseln auf den kalten, stählernen Boden des Kontrollraums. Das konvulsivische Zucken griff über auf seine Arme, bis es alle sieben Gliedmaßen umfasste. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen, und Schwärze umfing ihn. Er litt keine Schmerzen – im Gegenteil. Er fühlte sich leicht und spürte einen plötzlichen Sog im tropfenförmigen Kopf, der ihn in die Höhe hob, hoch, immer höher. Er hatte das Gefühl zu schweben, frei von seiner körperlichen Hülle, reiner Geist, reines ICH … Dann war alles vorbei. Toghar-134 lag auf dem Rücken, um sich herum die grellen Lichter der Überwachungszentrale. Er spürte
15 seinen Körper wieder, besaß die Kontrolle. Es war alles wie vorher. Aber irgendetwas war geschehen, und er hatte das Gefühl, dass etwas furchtbar fehlgeschlagen war. Unter Mühen kam der Insektoide wieder auf die Beine. Als er wieder auf die Bildschirme sah, erstarrte er vor Entsetzen. Die Androiden lagen noch auf der Ebene und rührten sich nicht. Sie waren, im Gegensatz zu seinen Artgenossen, überhaupt noch nicht aus ihrer Erstarrung erwacht. Die Torghan aber lagen auch wieder starr. Es gab keine Regung mehr an der Oberfläche. Sie, die nicht von dem Psi-Tornado mitgerissen worden waren, bewegten sich nicht, und Toghar wusste, tief in seinem Innern, dass sie es nie mehr tun würden. Dennoch versuchte er verzweifelt, eine Funkverbindung zu bekommen, einen Kontakt zu irgendeinem Torghan, ob Vorgesetzter oder Subalterner. Es war ihm in diesem Moment völlig gleichgültig. Er hätte alles dafür gegeben, die Stimme eines Artgenossen zu hören. Doch der Äther blieb stumm. Toghar-134 ließ sich in einen der Sessel fallen. Seine Gelenke knackten. Er spürte einen Druck auf seiner Brust, als wolle der Panzer sich aufwölben und platzen. Minutenlang starrte er noch auf die Schirme, aktivierte immer wieder neue Sonden und holte sich neue Bilder heran, von anderen Schauplätzen. Dann endlich gab er es auf. Es war sinnlos und darüber hinaus irrational. Er musste es endlich akzeptieren. Es gab keine lebenden Torghan mehr auf dem Planeten Narukku – keinen außer ihm. Etwas hatte auf fatale Art und Weise nicht funktioniert. Etwas war nicht nach Plan gegangen. Es konnte alles in Frage stellen.
* Nachdem er einmal die Tatsachen akzeptiert hatte, brauchte Toghar-134 nicht lange, um den Schock zu überwinden, der auch ihn
16 vorübergehend in eine todesähnliche Starre versetzt hatte. Die Irritationen waren vorbei. Vorübergehend hatte er die Fähigkeit der nüchternen Analyse verloren gehabt. Jetzt war sie wieder da, und der Insektoide begriff, was geschehen war. Er hätte es bei den Androiden erwartet. Ihm war bekannt, dass es einen Todesimpuls gab, der, einmal ausgestrahlt, alle Naruks auf der Stelle sterben ließ. Jeder von ihnen verfügte über einen Reizempfänger im Gehirn. Einmal aktiviert, erlosch das Leben der Kunstgeschöpfe von einer Sekunde auf die andere. Er hatte nicht gewusst, dass es einen solchen Todesimpuls auch für ihn und seinesgleichen gab. Aber nur das konnte die Antwort auf die Frage nach dem Grund des millionenfachen Todes auf Narukku sein. Und es gab nur eine logische Konsequenz, die daraus gezogen werden konnte. Je klarer Toghar dachte, desto sicherer wurde er sich der zwar erschütternden, aber nüchternen Wahrheit. Und er wusste gleichzeitig, dass es tatsächlich einen Fehler gegeben hatte – allerdings anders, als er es sich noch vor Minuten vorgestellt hätte. Die Situation war außer Kontrolle geraten. Begonnen hatte es wahrscheinlich mit der nirgendwo angekündigten Ankunft dieser merkwürdigen Plattform und der Kristallmassen über Narukku, die von dem georteten Objekt abgesprengt worden waren und auf verhängnisvolle Weise mit dem PsiQuellen-Ableger reagiert hatten. Der darauf folgende Psi-Sturm war niemals Teil des Planes gewesen. Er und alles, was danach geschehen war, waren ein chaotischer Faktor gewesen – etwas, das den Plan in Gefahr brachte, wenn nicht sogar schon zum Scheitern. Die Torghan hatten es nicht verhindern können, also hatten sie versagt oder waren überflüssig geworden. Die Lordrichter hatten auf Narukku keine Verwendung mehr für sie. Also mussten sie eliminiert werden. Es wirkte und blieb logisch. Toghar über-
Horst Hoffmann dachte es wieder und wieder, kalkulierte, wog ab, immer noch gefühllos, wie es seiner Art entsprach. Den Tod seiner Artgenossen musste er akzeptieren, ob er wollte oder nicht – jetzt, da er wusste, warum er hatte sein müssen. Es war nicht der Fehler gewesen, der geschehen war. Der Fehler war er. Der Todesbefehl hätte auch ihn treffen müssen. Es hatte nicht funktioniert. Es war das gewesen, was mit ihm geschehen war, ihn aber nicht umgebracht hatte. Entweder hatte die besondere Abschirmung der Station es verhindert, oder sein Implantat hatte versagt. Es war nicht nach Plan verlaufen, aber es hätte es gemusst. Das war die Logik. Und sie ließ auch diesmal nur eine Konsequenz zu. Die Lordrichter von Garb brauchten die Torghan auf Narukku nicht mehr. Vielleicht hatten sie den Impuls auch gegeben, um sie als Zeugen dessen zu beseitigen, was sie auf Narukku begonnen hatten. Es war auch denkbar, dass Erzherzog Garbhunar selbst den Befehl gegeben hatte. Das spielte jedoch letztlich keine Rolle. Es war Toghar-134 nicht bestimmt zu leben. Deshalb musste er seinen Tod selbst herbeiführen. Der Plan war wichtiger als das Leben eines Individuums – auch wenn er selbst dieses Individuum war. Er selbst musste sich den Todesimpuls geben. Das Problem war, dass er es nicht konnte. Im Lauf der nächsten Stunden versuchte er auf verschiedene Arten, sich umzubringen, aber was er auch tat, es gelang ihm nicht. Er war noch nicht bereit – obwohl das wider jede Logik war. Endlich gab er es auf. Er fühlte sich schrecklich leer und ausgelaugt, als er wieder vor den Schirmen saß und sah, wie allmählich wieder Leben in die Androiden kam. Sie hatte der Impuls nicht getroffen. Sie erwachten aus ihrer Starre und begannen sofort wieder zu kämpfen. Sie brachten sich wieder gegenseitig um, bevor sie überhaupt
Aufruhr auf Narukku wieder klar denken konnten. Und noch etwas geschah, was er nicht verstand. An der Oberfläche der »Ebene ohne Schatten« begann es zu tauen! Das Eis schmolz, und das Land verwandelte sich in eine morastige Sumpffläche – und das viel schneller, als es eigentlich möglich gewesen wäre. Man konnte dabei zusehen. Als ob durch den kollektiven Tod der Torghan ein Prozess in Gang gesetzt worden wäre, überschlugen sich jetzt die Ereignisse. In der Androidenfabrik kam es zu Fehlfunktionen. Welche es genau waren, erfuhr Toghar noch nicht. Aber er würde es erfahren. Es gab Meldungen von Überwachungssonden, die schadhaft geworden waren. Toghar-134 begann sich zu fragen, ob er sich geirrt hatte. War es vielleicht doch kein »Zufall« oder ein anderer unkalkulierbarer Faktor gewesen, der ihn vor dem Tod bewahrt hatte, als der Todesimpuls ausgestrahlt wurde? Steckte ein ihm noch verborgener Sinn dahinter? Brauchten die Lordrichter jemanden, einen Torghan, der die Vorgänge auf Narukku kontrollierte? War er dieser eine? Je länger Toghar darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es ihm. Warum lebten die Naruk-Androiden noch? Wenn das Unternehmen Narukku fehlgeschlagen war, durch die Ankunft der Kristallmassen und die Reaktion des Ablegers darauf, wenn alle Zeugen und Beteiligten des Versagens ausgeschaltet werden sollten, mussten auch sie sterben. Er konnte es tun. Es gab keine Vorgesetzten mehr, keine Generäle, die sich dieses Recht vorbehielten. Er war der Letzte. Die ganze Verantwortung trug nun er! Toghar-134 stellte Wahrscheinlichkeitsberechnungen an und durchdachte die ganze Problematik. Am Ende war er mehr denn je davon überzeugt, dass eine fremde Macht gezielt angegriffen und Einfluss auf die Entwicklung des Narukku-Ablegers gewonnen hatte.
17 Toghar-134 besaß, wie alle Torghan, seine Notfallbefehle. Und die griffen nun. Er war sicher, dass alle Zeugen dessen, was auf Narukku geschehen – oder nicht geschehen, fehlgeschlagen, gescheitert – war, eliminiert werden sollten. Alle Spuren ihrer Aktivitäten auf dieser Welt waren zu beseitigen: beginnend mit dem Todesimpuls an alle noch lebenden Androiden. Das war seine Aufgabe. Deshalb lebte er noch. Es war logisch. Toghar-134 wurde sich dessen bewusst, dass er allein jetzt alle Entscheidungen treffen musste. Immer hatte er Befehlen gehorchen müssen. Nie hatte er selbst denken und nach eigenem Ermessen handeln müssen. Jetzt war es so weit. Er hatte es nicht gewollt. Aber nun war er der allein Verantwortliche. Jetzt war er wirklich der Herr der Station, der Herr des Planeten! Das zweieinhalb Meter große Insektenwesen mit dem Leib einer dreibeinigen Riesenwespe stemmte sich aus seinem Kontrollsitz und machte sich an seine Aufgabe. Es tat es mit tödlicher Präzision …
* Opalmagor war auf der Flucht. Er lebte noch und wusste, dass es ein Wunder war. Vielleicht auch die Fügung einer höheren Macht – er wusste es nicht, und es war auch seine geringste Sorge. In dem Augenblick, in dem sein Gegner den tödlichen Schuss auf ihn hatte abgeben wollen, war es passiert. Ein dicker, schwerer, überhängender Ast des halb verkohlten Savannenbaums, den er selbst in Brand gesetzt hatte, war unter lautem Knirschen abgebrochen und hatte ihn unter sich begraben. Der vom Töten Besessene hatte zwar noch aufsehen können, doch der Versuch, sich mit einem schnellen Sprung in Sicherheit zu bringen, war zu spät gekommen. Der Ast hatte ihn erschlagen. Opalmagor war aufgesprungen und ganz einfach weggerannt, in irgendeine Richtung,
18 es war ihm egal gewesen. Er hatte die furchtbaren Schmerzen der Verbrennungen ignoriert und war mehr gestolpert als gelaufen. Nur fort von hier und fort von den Städten. Zum Glück hatte er sich nichts gebrochen oder verstaucht. Weiter, immer weiter. Er wusste nicht, ob es noch andere Verfolger gab. Aber das Gefühl, den Tod im Nacken zu haben, war übermächtig. Jetzt stand die Sonne hoch am Himmel. Sie brannte auf ihn herab. Es gab keine Wolken – und kein Wasser weit und breit. Es hatte in dieser Gegend seit Wochen nicht mehr geregnet. Alles war vertrocknet. Opalmagor fand keinen Bach, keinen Tümpel, keine Pfütze. Sein Durst war so groß, dass er sogar schwarzes, verfaultes, stinkendes Wasser getrunken hätte, wäre er auf eine Quelle gestoßen. Aber weit und breit gab es nur Steppe. Er musste einen Fluss oder einen See erreichen – aber ob er dazu noch die Kraft hatte …? Er wusste nicht, wie lange er gelaufen war, als er erschöpft zusammenbrach. Er landete weich im sandigen Boden, auf einer Decke aus niedrigen, Boden deckenden Pflanzen. Inzwischen hatte sich die Landschaft verändert. Es gab flache Hügel, und überall wuchsen bis zu zwei, drei Meter hohe Sträucher. An ihren Ästen glänzten große, gelbrote Beeren, aber noch längere Dornen schützten die Früchte. Die Blätter waren verkrüppelt. Auch die Pflanzen litten unter der Dürre. Einmal hatte Opalmagor einen entfernten Schrei gehört – nein, mehr ein Trompeten. Es hatte geklungen wie von einem großen Tier. Opalmagor kannte die Legenden um die sechsbeinigen Riesen, die es noch auf Narukku geben sollte. Er selbst hatte nie einen gesehen, aber das wollte nichts heißen. Seine – ehemaligen – Wissenschaftlerkollegen waren der übereinstimmenden Ansicht gewesen, dass sie längst ausgestorben seien. Er hatte seine Stadt nie verlassen müssen. Alles, was er über diesen Planeten wusste, war blanke Theorie.
Horst Hoffmann Er lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen. Dennoch schmerzte das Licht der im Zenit stehenden Sonne an seinen Augen. Die dünnen Lider konnten sie nicht ausreichend schützen. Opalmagor atmete heftig. Jedes Luftholen tat weh. Er war viel zu erschöpft, um sich wieder aufzurichten, und wartete, bis das Pochen des Herzens in seiner Brust allmählich erträglicher wurde und sein Atem sich endlich normalisierte. Der Durst brachte ihn fast um. Die Sonne dörrte ihn aus. Eine halbe Stunde lang lag er so da. Wäre jetzt ein Gegner erschienen oder einer der insektoiden Fremden, es wäre ihm fast gleich gewesen. Er war mehr tot als lebendig. Jetzt spürte er die Schmerzen am ganzen Leib. Seine Gedanken kreisten. Der Rest von Verstand, der ihm geblieben war, sagte ihm, dass er aufstehen und aus der Sonne heraus musste. Er brauchte Schatten, irgendeine Deckung, Kühle. Das war das Mindeste. Vielleicht fand sich dann eine Lösung seines Problems. Ein Weg, wie er in einer Welt überleben konnte, die ihm feindlich und unbekannt war. Denn eines wusste er genau: Nach Hause zurück würde er nie mehr gehen können. Gehen! Unter höllischen Schmerzen richtete er sich in eine sitzende Stellung auf. Er wusste, in welcher Verfassung er war. Trotzdem erschrak er, als er seine Arme und Beine sah. Die Kombination war an vielen Stellen aufgerissen oder angesengt. Sie war nicht brennbar, aber auch alles andere als feuerfest. Die Hitze der Flammen hatte das Material teilweise schmelzen lassen. Wo das geschehen war, klebte es, wie zu einem schwarzen Ölfilm erstarrt, an seiner überall aufgeschürften, wunden Haut. Am schlimmsten betroffen waren die Hände. Sie bluteten zwar nicht mehr, aber wenn er versuchte, die Finger zu bewegen, durchfuhr ihn höllischer Schmerz. Eine Kruste aus getrocknetem Blut und Dreck über-
Aufruhr auf Narukku zog sie wie hässliche Geschwüre. Als er die Zähne zusammenbiss und eine Hand ballte, riss sie an einigen Stellen auf, und klebriger Eiter sickerte aus dem Fleisch. Auch hier gab es Bäume. Auch hier standen sie nur vereinzelt. Ihr Blätterdach war nicht besonders dicht. Es spendete wenig Schatten, aber alles war besser, als ganz ohne Schutz in der Sonne gebraten zu werden. Opalmagor stemmte sich auf die Beine. Für einige Sekunden wurde ihm schwindlig. Er schwankte, aber dann ging es. Er bewegte sich langsam durch das trockene Gras auf den nächsten Laubbaum zu. Dazu musste er ein Stück weit einen Hügel erklimmen. Es war nicht leicht, jeder Schritt eine Anstrengung, aber er schaffte es. Insgeheim hoffte er darauf, der Baum möge auch Früchte tragen, die nicht durch Dornen geschützt waren. Früchte mit Saft, um den schlimmsten Durst zu stillen. Und den Hunger. Wann hatte er zuletzt etwas gegessen? Seine Därme und der Magen rebellierten. Er hatte das Gefühl, jeden Augenblick erbrechen zu müssen. Der Naruk wusste, dass er sich etwas vormachte. Wenn es hier Baumfrüchte gab, waren sie verdorrt wie alles andere. Trotzdem arbeitete er sich weiter voran, bis er sich endlich mit dem Rücken an den Stamm lehnen und langsam daran heruntergleiten lassen konnte. Die Strahlen der Sonne drangen zwar auch durch das lichte Blätterdach über ihm, aber jetzt waren sie wenigstens auszuhalten. Die relative Kühle tat gut, aber das war auch alles. Was ihn mehr quälte als die Glut des Mittags, linderte sie nicht. Die Hoffnung auf Früchte, selbst trockene, hatte er inzwischen längst aufgegeben. Selbst wenn der Baum solche getragen hätte – die Äste hingen viel zu hoch, um an sie heranzukommen. Opalmagors Atem ging flach. Er schloss wieder die Augen, aber es nützte ihm nichts, ganz im Gegenteil. Die Bilder, die sein Unterbewusstsein produzierte, waren schlimmer als die trostlose Einöde um ihn herum. Er hatte zwei Naruks getötet. Auch wenn
19 sie wieder auferstehen würden – er blieb ein Mörder! Solange er lebte, würde ihn diese Schuld begleiten und verfolgen. Er konnte es nicht rückgängig machen. Was war geschehen? Er quälte sich mit dieser Frage, wieder und wieder, und wusste genau, dass er keine Antwort darauf finden würde. Er hatte dies und das aus ihren Unterhaltungen gehört, als seine Artgenossen, seine Freunde, plötzlich nur noch von Kampf und von Krieg redeten; Krieg gegen die anderen Städte, nein, eigentlich Krieg gegen jeden. Sie wollten kämpfen und auch töten. Er hatte es zuerst nicht begriffen, und er verstand es auch heute noch nicht. Etwas war über sie gekommen wie ein Blitz aus heiterem Himmel – aber nicht über ihn. Warum nicht? Opalmagors Kehle brannte wie Feuer. Er wollte einen Schrei ausstoßen, aber nur ein heiseres Krächzen wurde daraus. Dafür hörte er wieder das Trompeten. Diesmal klang es näher, war lauter und ließ ihn erschaudern. Seine Fantasie gaukelte ihm die grauenvollsten Bilder vor. Sechsbeinige Ungeheuer, groß wie Häuser, auf die beiden hinteren Beinpaare aufgerichtet, die kleineren Vorderarme vorgestreckt, das riesige, mit messerscharfen Dolchzähnen gespickte Maul weit aufgerissen. Tückische Reptilienaugen funkelten ihn an. Aber das war Unsinn. Es gab bestimmt keine solchen Giganten mehr auf Narukku. Er sagte es sich immer wieder. Es gab überhaupt keine größeren Tiere in diesem Teil der Welt. In anderen Gegenden mochte das anders sein, so wie das Wetter und die Vegetation. Hier aber durfte er sich sicher fühlen – sagte jedenfalls das, was noch von seinem klaren Verstand geblieben war. Nach einer Weile schlug er die Augen wieder auf. Er war matt, schwach, müde – ganz einfach kaputt. Es fiel ihm schwer, einen Funken Hoffnung zu bewahren. Wozu noch? Nur um sich selbst zu betrügen? Dann aber kniff er die Augen zusammen. Er schüttelte den Kopf und sah wieder hin.
20 Das Bild war das gleiche. Auf der anderen Seite des Hügels, vielleicht ein oder zwei Kilometer entfernt, schimmerte Wasser! Kein Fluss. Auch kein Tümpel. Es füllte den ganzen Horizont aus. Opalmagor schluckte und ignorierte die Schmerzen, als er sich am Stamm aufrichtete und an der groben Borke des Baums den Rücken der Kombination aufriss. Auch darauf achtete er nicht. Er sah das Wasser. Es war weit weg, aber nicht zu weit. Er hatte sein Orientierungsvermögen längst verloren, aber es gab nur eine Erklärung: Er hatte eines der anderen Binnenmeere erreicht – fast. Aber er sah es, es gab keinen Zweifel. Zwei Kilometer, höchstens, und er konnte seinen Durst stillen. Vielleicht fand er auch Nahrung, denn wo Wasser war, war auch Leben. Der Naruk-Androide setzte sich in Bewegung, zuerst taumelnd, dann immer sicherer. Zweimal fiel er hin, aber das registrierte er kaum noch. Er stand wieder auf und ging schneller, immer schneller und zügiger. Es war doch nicht alles umsonst gewesen. Er wusste nicht, welchem Schicksal er dieses Glück zu verdanken hatte, das er gar nicht verdiente. Wäre er in der Steppe verdurstet und verhungert, er hätte es als Strafe für das hingenommen, was er getan hatte. So aber hoffte er wieder. Er ging schneller, begann humpelnd zu laufen. Er würde leben! Er hörte auf, sich zu fragen, wem er dieses Wunder verdankte, aber er würde leben! Plötzlich hörte er ein Summen über sich. Er hob den Kopf und sah einen dunklen Schatten am Himmel. Genau konnte er nicht erkennen, worum es sich handelte, aber so, wie es sich bewegte, konnte es sich bei dem fremden Objekt nur um einen Gleiter handeln – ein Fahrzeug seines Volks oder der Insektoiden? Opalmagor reagierte instinktiv. Ihm blieb keine Zeit zum Denken. Er handelte aus einem Impuls heraus, als er stehen blieb und winkte und schrie. Als ihm klar wurde, was er da tat, war es womöglich schon zu spät.
Horst Hoffmann Er warf sich hinter einen Busch und stellte sich tot. Sein Herz klopfte noch heftiger. War er denn von allen guten Geistern verlassen? Er hatte die Rettung vor Augen gehabt, hatte es noch immer und tat das Dümmste, was er in seiner Lage hatte tun können. Der Naruk betete darum, dass sie ihn nicht gesehen hatten. Denn es konnten nur Feinde sein. Entweder Naruk-Krieger oder die Fremden. Von beiden hatte er nichts Gutes zu erwarten – schon gar keine Rettung, eher den sicheren Tod. Er wartete einige Minuten lang, bis das Summen verklungen war. Als er vorsichtig den Kopf hob, war von dem Schatten nichts mehr zu sehen. Er war nicht umgekehrt, und kein Hitzestrahl aus einem Bordgeschütz oder von einem Handstrahler hatte ihn getroffen und zu Asche verwandelt. Er hatte noch einmal mehr Glück als Verstand gehabt. Opalmagor richtete sich auf und begann wieder zu laufen. Es war noch einmal gut gegangen. Er hatte sich fast selbst umgebracht, aber das Glück war ihm auch diesmal treu geblieben. Er rannte, taumelte, stolperte und sprang wieder auf, rannte weiter. Das Wasser! Es war doch weiter entfernt, als er zuerst gedacht hatte. Fast war es, als wiche es vor ihm zurück, aber das konnte natürlich nicht sein. Er wollte ganz einfach nicht, dass es so war. Denn es war die Hoffnung, es war die Rettung. Er würde leben!
* Er würde es nicht. Opalmagor lag auf dem Rücken, Hände und Füße weit von sich gestreckt, in einer Mulde, einige Zentimeter tief in den Boden getreten. Sie kam ihm vor wie ein Sarg, und wie es nun aussah, als er alle Illusionen verloren hatte, würde sie sein Grab werden. Er wartete auf das Ende. Es gab kein Wasser, kein Meer. Seine
Aufruhr auf Narukku kranken Sinne hatten es ihm nur vorgegaukelt. Auch davon hatte er schon gehört, in den Berichten von Naruks, die in die Wildnis verschlagen worden waren und ähnlichen Trugbildern aufgesessen waren wie er. Was er zu sehen geglaubt hatte, war nichts anderes gewesen als eine Luftspiegelung. Eine Tücke seines gemarterten, nach Wasser und Nahrung lechzenden Gehirns, das viel zu spät auf die Warnungen reagiert und das akzeptiert hatte, was er längst hätte erkennen müssen. Das scheinbare Zurückweichen des »Meeres«, das nie ein Meer gewesen war. Mit jedem Schritt hatte er geglaubt, ihm näher zu kommen. Er hatte sogar schon gedacht, das Wasser riechen zu können. Es war alles umsonst gewesen. Er war nicht mehr Herr seiner Sinne. Sie hatten ihn zum Narren gehalten. Wenn es so etwas wie Glück gab, dann hatte es sich längst schon gegen ihn gewandt und ihm nicht zur Seite gestanden, wie er törichterweise geglaubt hatte. Die letzte Hoffnung, der Mut und die Kraft hatten ihn verlassen. Er gab sich seiner Erschöpfung hin in der festen Überzeugung, dass alles Aufbäumen keinen Zweck mehr hatte. Es war vorbei. Um ihn herum wurde es dunkel. Irgendwann erwachte er. Er konnte wieder sehen und hören. Die Sonne war weitergewandert. Bald würde sie untergehen. Er musste für Stunden geschlafen haben. Vielleicht hatte ihn auch eine gnädige Ohnmacht befallen. Auf jeden Fall spürte er seinen Körper wieder. Er sollte tot sein, aber er war es nicht. Immer noch war Leben in ihm; ein kleiner Rest nur, eine spärliche Flamme, aber immerhin … Sie flackerte, aber sie brannte noch. Opalmagor kam langsam zu sich. Er fragte sich, was das sollte – warum er nicht tot war. Wozu war er noch einmal aufgewacht? Nur um zu leiden? Um seine Qualen zu verlängern? Es musste einen Sinn haben. Der Naruk-
21 Androide besaß immer noch seinen alten Körper. Sein Bewusstsein war nicht in einem neuen, gesunden Leib erwacht. Vielleicht sollte er leben. Vielleicht gab es doch noch eine Hoffnung für ihn … Er drehte sich auf die Seite und zog die Beine an. Zuerst waren sie wie taub, dann kehrte das Gefühl in sie zurück. Er schaffte es noch einmal, sich aufzurichten und in die Höhe zu stemmen. Anfangs stand er noch auf wackligen Füßen und musste mit den Armen rudern, damit er nicht wie ein Klotz fiel, wenn der Schwindel ihn packte und die Umgebung sich um ihn drehte. Dann kam sie zur Ruhe. Es war vielleicht ein letztes Aufbäumen, aber Opalmagor sah plötzlich wieder alles klar: seine Umgebung, so, wie sie war. Kein Wasser mehr, wo es kein Wasser gab. Er war schwächer denn je. Dennoch schaffte er es beim dritten Versuch, aus der Mulde herauszusteigen, wieder ins trockene Gras und zwischen die niedrigen Büsche mit kleinen roten Beeren, die er vorher nicht bemerkt hatte. Jetzt bückte er sich danach und pflückte sie. Er schob sie in den Mund. Sie schmeckten bitter und brannten auf dem Gaumen und im Hals, aber zum ersten Mal sickerte wieder Saft, kostbare Flüssigkeit in seinen Rachen, auch wenn es nur so lächerlich wenig war. Er pflückte noch mehr, stopfte sich den Mund voll, bis sein Magen zu rebellieren begann. Er war es gewohnt, sein Essen und Trinken von der Automatik geliefert zu bekommen, die alle Androiden versorgte. Hunger und Durst hatte er in seiner Stadt nie gekannt. Trotzdem spürte er ein gewisses Sättigungsgefühl. Und nicht nur das. Er fühlte sich auf einmal leicht, als würde er schweben. Die Verzweiflung wich einer Hochstimmung, wie er sie noch nie erlebt hatte. Selbst die Schmerzen verschwanden. Opalmagor kannte keine Drogen. Er hatte in seiner Stadt nie welche erhalten. Was sein Körper an Vitaminen, Medizin oder Mineralien brauchte, wurde automatisch der Nah-
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rung beigemischt. Er kam also gar nicht auf den Gedanken, dass seine plötzliche Euphorie etwas mit den roten Beeren zu tun haben könnte. Er lebte wieder. Es war noch längst nicht zu Ende. Wenn auch sein Körper der eines halb toten Krüppels war – sein Geist flog hoch. Nein, er war noch nicht verloren. Er musste weitergehen. Der Naruk drehte sich noch einmal um, um zu dem Hügel zurückzusehen, von dem er gekommen war. Danach fiel sein Blick auf die vermeintliche Mulde, in der er gelegen hatte. Und er erkannte, worum es sich wirklich handelte. Der Schreck, das Entsetzen war wie ein schwarzer Blitz, der in das Rosa seiner Hochstimmung fuhr. Das, was er für eine Bodenmulde gehalten hatte, war nichts anderes als der Abdruck eines gigantischen Fußes. Opalmagor wollte es nicht glauben, aber spätestens als er sich um die eigene Achse drehte und zwei weitere solcher ausgezackter »Mulden« fand, akzeptierte sein vernebelter Verstand die Wahrheit. Gleichzeitig – konnte es eine größere Ironie des Schicksals geben? – hörte er wieder das Trompeten. Diesmal war es nicht mehr fern, sondern nah; ganz nah. Plötzlich wusste er, dass sich seine ehemaligen Kollegen fürchterlich geirrt hatten. Und dann spürte er, wie schwere Schritte den Boden unter seinen Füßen erzittern ließen.
3. Die Sonne würde bald untergehen, und was hatte uns dieser Tag gebracht? Was hatten wir erreicht? Wenn ich eine erste Bilanz ziehen wollte, musste ich mir eingestehen, dass das Positivste der Umstand war, dass sich meine geheimen Befürchtungen, was kommende Gefahren und böse Überraschungen betraf, nicht erfüllt hatten. Noch nicht. Der Tag war noch nicht vor-
bei. Es konnte noch vieles geschehen, auch wenn der klare Verstand das Gegenteil sagte. Wir waren beide enttäuscht von unserer Ausbeute. Kythara schien meine Gedanken zu lesen, denn sie sagte: »Wir haben den halben Tag vertrödelt. Wir hätten das tun sollen, was wir besprochen hatten. Die fünf varganischen Städte am Targan-Binnenmeer anfliegen, dort landen und uns nicht um die Androiden kümmern. Es war ein Fehler, falsche Rücksichten zu nehmen. Sie sterben so oder so, nicht auf einen Schlag wie die Insektoiden, aber einer nach dem anderen, bis sie alle niedergemetzelt sind und keiner mehr übrig ist.« Sie vermied es, mich dabei direkt anzusehen. Der Vorwurf war klar genug. Er ging an meine Adresse, und wahrscheinlich hatte sie Recht. Wir hatten am Morgen, vor dem Aufbruch mit dem Gleiter, unsere Präferenzen geklärt und die Ziele entsprechend festgelegt. Wir waren uns darin einig gewesen, dass es – wenn wir schon nichts anderes tun konnten – in allererster Linie darum gehen musste, endlich unsere Position zu ermitteln und vielleicht Hinweise auf andere Versunkene Welten der Varganen zu gewinnen, zu denen Narukku gehörte. Wenigstens daran konnte kein Zweifel bestehen. Das war das erste, das primäre Ziel. Das zweite schloss direkt daran an: eine Auswahl anderer Versunkener Welten anzusteuern, um dort vielleicht geeignete Mittel zu finden, die es uns ermöglichen sollten, die PsiQuelle oder das, was durch sie angerichtet werden sollte, zu bekämpfen. Ich konnte mir nicht helfen, aber ich hatte das Gefühl, dass Kythara sich in dieser Hinsicht seltsam benahm. Auf entsprechende Fragen hatte sie keine Antwort gegeben oder nur ausweichende, nichts sagende. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass sie mir etwas verbarg – aber wozu? Wir waren verschieden, aber saßen im selben Boot. Dann war es aber anders gekommen, und wenn sie mir daraus einen Vorwurf machte,
Aufruhr auf Narukku dann hatte sie Recht. Aber ich hätte wieder so gehandelt. Wir hatten die AMENSOON mit einem der Tropfenboote verlassen, um die fünf »herrlichen Städte« anzufliegen. Wir hatten sie auch erreicht, die erste von ihnen. Auf dem Weg dorthin hatten wir tote Insektoiden gesehen, umso mehr, je näher wir der ehemaligen Varganen-Station und dem TarganMeer kamen. Der Boden war förmlich mit ihnen gepflastert. Die grelle Sonne schien gnadenlos auf sie herab, aber auch auf die Tausende toten Androiden, die in den Schlachten der vergangenen Tage gefallen waren. Und sie kämpften immer noch gegeneinander. Auch ohne ihre Befehlshaber gingen sie aufeinander los. Dort unten herrschten Chaos und Anarchie. Versprengte Trupps lieferten sich Scharmützel mit anderen, die bisher überlebt hatten. Es waren immer noch Unzählige, die sich zwischen den Städten abschlachteten – und vor allem in den Städten. Ich rief mir in Erinnerung, dass sich die Gesamtzahl der Naruks auf mehrere Millionen belaufen hatte. Zwischen den Ruinen tobten Guerillakämpfe. Wir sahen abgestürzte Gleiter und Krater von Bombeneinschlägen. Die Götter mochten wissen, woher die Androiden diese Massenvernichtungsmittel hatten. Es hatte früher nie einen Krieg auf Narukku gegeben, dessen war ich sicher – und damit auch keine Notwendigkeit, Waffen zu bauen und gegenseitig aufzurüsten. Im Gegensatz zu den letzten Tagen waren keine Insektoiden mehr zu sehen, die sich in die Kämpfe einmischten – wie auch. Sie waren alle tot. Ihre auf den Straßen liegenden Leichen waren von den Naruks teilweise als Barrieren benutzt worden. Sie hatten sie aufgetürmt und sich hinter ihnen in Deckung geworfen. Die Invasoren konnten sich nicht mehr einmischen, obwohl ich für einen Moment verunsichert gewesen war, als uns ein Ortungsstrahl traf, was sofort zum Aufbau des Tarnfelds führte. Kurz hatte ich befürchtet,
23 dass doch noch einige der Invasoren auf Narukku aktiv sein könnten. Allerdings sprach alles dagegen. Das Massensterben konnte niemanden verschont haben. Vermutlich war es ganz einfach, und ein automatisches System hatte das Beiboot geortet – genauso wie die Bootspositronik selbsttätig mit der Aktivierung des Tarnfelds reagiert hatte. Es folgten einige Strahlschüsse aus verborgenen Abwehrstellungen. Sie verfehlten uns alle, manche viele hundert Meter weit. Sie waren blind abgefeuert und bestätigten mich in der Annahme, dass wir es mit automatischen Stellungen zu tun hatten. Unser wirkliches Problem war das gleiche geblieben. Die Insektoiden konnten nicht mehr in die Kämpfe eingreifen. Sollten wir es jetzt tun? Dieser furchtbare Krieg war grausam und makaber genug. Ich wollte es nicht. Ich weigerte mich zu landen. Kythara hatte den Kopf geschüttelt, aber noch nichts gesagt. Ich vertröstete sie – und natürlich auch mich – damit, dass es in den anderen Städten anders sein konnte. Ich hatte gewusst, dass ich mich selbst betrog, noch bevor wir die fünfte und letzte Station angeflogen und das Grauen erneut erlebt hatten. Ich war umgekehrt und hatte mir Kytharas Vorhaltungen anhören müssen. Leider konnte ich ihr nichts entgegnen, um sie zu entkräften. Ich wusste, dass sie Recht hatte. Zu allem Überfluss stimmte der Extrasinn ihr zu und bezeichnete mich als sentimentalen, langsam verkalkenden Trottel. Er wurde tatsächlich immer liebenswürdiger, und beinahe wünschte ich mir, er wäre tatsächlich gestorben, als wir hier notlandeten. Die Gefühle für Kythara standen auf einem anderen Blatt. Ich ärgerte mich nicht wirklich über sie – schon eher über mich selbst. Wir schwiegen uns an, als wir noch drei Stunden lang aus der Luft und im Schutz des Tarnfelds die Kämpfe der Androiden beobachteten. Erst als wir am Nachmittag wieder Kurs auf die AMENSOON nahmen, sprachen wir wieder miteinander. Kythara brachte sogar so etwas wie eine Entschuldigung über die
24 Lippen. Ich revanchierte mich mit dem Eingeständnis, vielleicht doch zu viel Rücksicht genommen zu haben. Wir waren beide erleichtert über das Ende der Funkstille und lächelten uns an, wohl wissend, dass wir uns wie Kinder benahmen. Wir kehrten ins Mutterschiff zurück, wobei es noch einen Zwischenfall zu vermelden gab. Er verdiente wahrscheinlich diese Bezeichnung nicht, denn es brachte uns weder Gefahr noch irgendwelche Aufschlüsse. Es war »nur« ein Naruk, der vollkommen allein durch die hier leicht hügelige Savannenlandschaft rannte und stehen blieb, als er uns sah oder hörte. Er winkte und schien etwas zu schreien. Natürlich verstanden wir nichts davon. Ich reagierte instinktiv, indem ich kurzerhand das Tarnfeld desaktivierte, sodass er uns sehen konnte. Bevor ich mir jedoch überlegen konnte, eventuell zu wenden und bei ihm zu landen, warf er sich flach auf den Boden hinter einem Busch und stellte sich tot. »Lass ihn«, hatte Kythara gesagt. »Ein Flüchtling, nichts weiter. Er würde uns bei der ersten Gelegenheit angreifen.« Diesmal hörte ich auf sie. Ich schaltete wieder das Tarnfeld ein. Wir flogen weiter und schleusten uns wenige Minuten später im Schiff ein. Kurz davor hatten wir noch zwei Sonden geortet, die in großer Höhe kreisten. Auch das schien mir noch einleuchtend. Die Automatik, die uns geortet und auf uns geschossen hatte, hatte sie ausgeschickt, um ganz sicherzugehen. Aber sie würde kein Glück haben. Ich machte mir deshalb keine Sorgen. Der Naruk ging mir jedoch nicht aus dem Sinn. Alle anderen hätten sofort auf uns gefeuert, wenn sie uns bemerkten. Er aber hatte gewinkt wie ein … ein Wesen, das verzweifelt auf sich aufmerksam machen wollte. Weil er in Schwierigkeiten war und gerettet werden wollte? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass er sich anders verhielt als seine kämpfenden Artgenossen; und dass er weiter von den Städten entfernt war als alle
Horst Hoffmann anderen, die wir gesehen hatten. Ich merkte mir also seine Position und schleuste gleich nach unserer Ankunft im Schiff eine Sonde aus, um nach ihm zu suchen. Kythara registrierte es kommentarlos, ebenso wie meine Blicke, die ich hin und wieder auf den Schirm warf, der ihn zeigte, wie er wie tot dalag. Und jetzt machte sie mir wieder die alten Vorwürfe. Jedenfalls glaubte ich das, aber dann erlebte ich eine Überraschung. Sie schaffte es immer wieder. Aber diesmal war es ein verdammt schlechter Scherz.
* »Wenn wir die Städte durchsucht hätten, hätten wir unter den Trümmern bestimmt etwas gefunden, was meine Informationen bestätigt«, sagte Kythara und klang verbissen. »Da bin ich sicher.« Ich nahm den Blick von den Schirmen und sah sie überrascht an. Mit hochgezogener Braue fragte ich: »Deine Informationen? Wovon sprichst du?« Kythara lächelte spitzbübisch, fast schon schadenfroh. Das ungute Gefühl, das ich ihr gegenüber hatte, verstärkte sich. Hatte sie wieder die Gnade, etwas preiszugeben, was sie mir bisher vorenthalten hatte? Etwas von dem, das sie nur in kleinen Stückchen abgab? »Sag es schon«, forderte ich sie auf. »Was weißt du, das ich nicht weiß, wahrscheinlich aber wissen sollte?« »Ich bin ja gerade im Begriff, das zu tun.« Sie stützte einen Arm auf das Pult, an dem wir uns gegenübersaßen, warf ebenfalls einen Blick auf die Schirme und drehte dann den Kopf mit einem Ruck wieder in meine Richtung. Sie lächelte immer noch, doch jetzt sah es aus wie entschuldigend. »Ich habe mich mit der Positronik der AMENSOON beschäftigt«, begann sie. »Genauer gesagt, mit ihren Datenspeichern. Sie sind immens.« Sie zuckte die Achseln. »Ich bin keine Kybernetik-Spezialistin. Es war nicht leicht, in die Speicher hineinzu-
Aufruhr auf Narukku kommen.« »Du bist eine Varganin«, sagte ich. »Du bist die Herrin dieses Schiffes und legitimiert, die Positronik zu benutzen und alles von ihr zu erfahren, was du wissen willst.« Die Frage, die mir mehr auf der Zunge lag, stellte ich noch nicht. Ich wartete gespannt und mit wachsendem Unbehagen, was sie weiter zu sagen hatte; worauf sie hinauswollte. Mach es nicht so spannend! »Trotzdem war es nicht einfach. Natürlich hat mir die Positronik zu gehorchen und Zugang zu allen Daten zu gewähren. Das Problem war, dass die, an die ich heranwollte, verschlüsselt waren. Ich brauchte viele Stunden, um die entsprechenden, geschützten Dateien zu öffnen.« »Stunden«, murmelte ich. Ich sah sie direkt an. »Wann war das?« »Immer wenn du in der Zentrale warst und glaubtest, ich würde schlafen. Ich sagte dir doch, dass ich es nicht konnte.« »Und stattdessen hast du mit der Positronik gearbeitet.« Ich nickte. Eigentlich hätte es mich nicht überraschen sollen. »Wonach hast du gesucht?« »Ich hatte zuerst gehofft, Informationen über unsere Position zu bekommen«, antwortete sie. »Ich hatte umsonst gehofft. Die Namen Narukku und Murloth sind der Positronik nicht bekannt.« »Wir sind also genauso schlau wie vorher«, meinte ich. Allerdings war mir klar, dass das nicht alles sein konnte. Sie hatte etwas herausgefunden, einen Trumpf im Ärmel. Anders war ihr Verhalten nicht zu erklären. Hätte sie nur einen Fehlschlag erlitten, dann hätte sie es nicht zu erwähnen brauchen. »Nicht ganz«, sagte sie dann auch. Ihre Augen leuchteten, aber gleichzeitig glaubte ich, eine Portion Schuldbewusstsein in ihrer Miene zu entdecken. »Bei der Positionsbestimmung kann uns die AMENSOON also nicht helfen. Funk und Fernortung funktionieren zwar einigermaßen, aber daraus lassen sich keine brauchbaren Daten extrahie-
25 ren. Keine der in den Speichern aufgelisteten Versunkenen Welten ist identisch mit Narukku. Da auch der Murloth-Nebel nirgendwo verzeichnet ist, befindet er sich eindeutig in einem Gebiet, das ich in der Vergangenheit nie besucht habe.« Sie wiederholte sich. Oder sie wollte das hinauszögern, was sie mir wirklich zu sagen hatte. Ich sagte nichts und wartete, bis sie von sich aus fortfuhr. Und dann ließ sie die Katze aus dem Sack. »Ich habe also die Speicher der Positronik nach den Versunkenen Welten der Varganen durchmustert, nachdem ich sie einmal geöffnet hatte. Viele kannte ich, andere nicht. Aber dann bin ich auf eine Markierung im Bereich des galaktischen Zentrums gestoßen.« Sie holte Luft. »Die prächtige Sternenstadt VARXODON, Atlan!« Ihre goldenen Augen funkelten. »VARXODON – einst das Zentrum des varganischen Reichs und auch oder gerade genutzt, nachdem die meisten meines Volkes aufgebrochen waren, um in den Mikrokosmos zurückzukehren!« »Sprich weiter«, forderte ich sie auf, als sie wieder eine kleine Pause einlegte, wohl um zu sehen, wie ihre Eröffnungen auf mich wirkten. Noch sagten sie mir nicht viel. »Weiter.« Meine Stimme klang härter, als ich es beabsichtigte. »Wir haben die Sternenstadt in einer Dunkelwolke versteckt, als sich der Aufstieg der Lemurer abzuzeichnen begann«, führte sie aus, mit deutlich weniger Begeisterung. Was hatte sie von mir erwartet? Dass ich Luftsprünge machte? Ich hatte ganz andere Gedanken, die ich lieber nicht wiedergab. »Wie sich dann wenige Jahrtausende nach dem Ende des lemurisch-halutischen Krieges herausstellte, war das Versteck auch in anderer Hinsicht hervorragend. Für viele von uns war es ein Rückzugsgebiet, als der Henker Magantilliken uns Rebellen zu jagen begann.« Magantilliken, natürlich. Ein Teil der Vergangenheit wurde in mir wieder lebendig; kein ausgesprochen schöner Teil.
26 »Bei meinem letzten Besuch, kurz bevor ich in die Obsidian-Kluft verschlagen wurde«, sagte Kythara, sie sprach immer schneller, »gab es die Sternenstadt noch. Sollte sie auch jetzt noch existieren, dann finden wir genau dort, was wir benötigen!« Jetzt sah sie mich geradezu triumphierend an, doch ich musste sie enttäuschen. Ich wusste noch nicht, worauf sie hinauswollte. »Und das wäre?«, fragte ich also. »Von Varxodon habe ich noch nie gehört.« Sie fand ihr Lächeln wieder, ganz zart zwar, aber ich las darin ihre Genugtuung darüber, dass ich doch noch lange nicht alles über die Varganen wusste. »Dann wäre sie auch nicht mehr geheimes Varganenwissen, nicht wahr?«, verzieh sie mir mein Unwissen großzügig. »Ich rede von einem oder mehreren Kardenmoghern.« Kardenmogher! Das allerdings war mir ein Begriff, auch wenn ich sie dadurch vielleicht enttäuschte. Ich nickte langsam und sagte also: »Davon habe ich schon gehört. Magantilliken hat seinerzeit eins dieser Geräte in der Arsenalstation im Kometen Glaathan aktiviert, bekam aber die Programmierung nicht in den Griff und ging recht unfreiwillig seines Oktaederraumers verlustig.« Die Varganin lachte laut auf. »Das geschah ihm recht! Die Sicherheitskodes von Ezellikator haben es in der Tat in sich! Ich hatte vor langer Zeit mehrfach mit diesem verschrobenen Kerl zu tun. Er war zwar ein Genie – aber eines, das knapp vor dem Wahnsinn stand. Irgendwann drehte er dann komplett durch und brachte sich um, indem er die Droge benutzte. Das Kyrachtyl gewährleistete ihm den sanften Tod, die gezielte Lösung des Bewusstseins von der körperlichen Hülle.« »Also das, was man als ›Freisetzung des Kyriliane‹ umschrieb«, warf ich ein. Sie nickte heftig. »Magantilliken …« »Ist tot«, sagte ich hart. »Und die Eisige Sphäre, in die sich der Großteil deines Volks zurückgezogen hatte, euer Mikrokosmos, aus dem der Henker seine Befehle bekam,
Horst Hoffmann wurde vernichtet! Schon vor mehr als zehntausend Jahren. Ich war dabei, ich habe es selbst erlebt.« Sie sah mich an, als könne sie meine Worte kaum glauben. Dann schlug sie die Augen nieder und schwieg. Natürlich. Ich musste mir immer wieder aufs Neue klar machen, wie wenig wir im Grunde noch voneinander wussten. Es kam mir ganz anders vor. Sie hatte ihre Geheimnisse, ich hatte meine. Für die ausführliche Schilderung unserer Lebensläufe war bislang keine Zeit gewesen. Kythara konnte mich genau genommen überhaupt noch nicht einschätzen, abgesehen von dem, was sie im Verlauf der Reise auf Vinara von Lethem da Vokoban und Konsorten erfahren hatte und was sie inzwischen aus eigenem Erleben kannte – natürlich unter Berücksichtigung ihrer Psi-Fähigkeit. Im Gegensatz dazu hatte ich immerhin den Vorteil, eine Menge über die Varganen, über Ischtar und anderes zu wissen, auch wenn diese Dinge in meiner Jugend passiert waren. Kythara wusste natürlich viel mehr über ihr Volk als ich. Aber es blieb die Tatsache, dass sie für Jahrtausende in der ObsidianKluft gefangen gewesen war. Und als dies geschah, als es sie dorthin verschlug, war sie auf der Flucht vor Magantilliken gewesen. Sie hatte nicht wissen können, dass er längst tot war. Ich hatte es ihr zwar gesagt, aber das Glauben fiel ihr immer noch schwer. Zu lange hatte sie in Furcht und Schrecken vor ihm gelebt … Ich wollte ihr endlich die Frage stellen, die sie sich einfach gefallen lassen musste, ob sie wollte oder nicht, als sie aufstand und zu einem anderen Kontrollpult ging. Ihr Zeigefinder berührte einige Kontakte, und ein Holo baute sich auf. Kythara kam zurück und begann erneut zu sprechen, noch bevor ich etwas sagen konnte.
* »Der Kardenmogher«, sagte sie und deutete auf die holografische Darstellung des
Aufruhr auf Narukku Objekts, das mir nicht unbekannt war. Es handelte sich um eine bläuliche Metallröhre – wie ich wusste, 60 Meter lang und 15 Meter im Durchmesser. Die Daten waren mir noch gut vertraut, und ich schauderte unwillkürlich, als ich daran dachte, wozu dieses scheinbar plumpe und harmlose Ding in der Lage war. Die Varganin sprach es aus: »Eine fast ultimate Waffe, mit der ganze Planeten entvölkert werden können. Andererseits handelt es sich auch um ein multifunktional einsetzbares Allzweckgerät, das zum Beispiel in der Lage ist, in kürzester Zeit ganze Städte aus dem Boden zu stampfen. Es ersetzt ganze Kriegsflotten, ist Transportsystem und Verwaltungsapparatur. Der Kardenmogher kann sich in Einzelmodule aufspalten, formenergetisch projizierte Ersatzteile erstellen und seinen immensen Energiebedarf unter anderem durch die Anzapfung von Sonnenenergien sicherstellen.« Sie sah mich schon wieder mit stillem Triumph in den Augen an, hatte sich wieder vollkommen gefasst. »Es ist die stärkste Waffe, die Varganen je entwickelt haben, Atlan – und genau das Richtige, um damit gegen die Psi-Quelle vorzugehen.« Woher wollte sie das so genau wissen? Erstens hätten die Varganen während der Zeit ihrer Verbannung andere, noch furchtbarere Waffen bauen können, und zweitens handelte es sich bei der Psi-Quelle nicht um irgendeinen Planeten, nicht um einen xbeliebigen Himmelskörper, sondern um einen psionischen Machtfaktor, von dessen Stärke wir uns, trotz aller Erfahrungen mit ihrem Ableger, überhaupt noch keine Vorstellung machen konnten. Genau das sagte ich ihr. Sie war allerdings nicht so leicht von dem Gedanken abzubringen, den sie sich in den hübschen Kopf gesetzt hatte. Ihre Augen funkelten noch immer in Siegesgewissheit. »Die Psi-Quelle, Atlan«, sagte sie, »ist nichts anderes als eine von meinem Volk erbaute Station, die ein eigenes … Bewusstsein und ein eigenes Potenzial entwickelt
27 hat. Aber sie war und ist ein technisches Instrumentarium – und deshalb angreifbar.« Ich schwieg. Für fast eine Minute sahen wir beide das im Holo wiedergegebene Gebilde an, und wieder stiegen die grausamen Erinnerungen in mir hoch. Vielleicht hatte sie Recht. Vielleicht war der Kardenmogher tatsächlich die Waffe gegen die von den ominösen Lordrichtern, dem Schwert der Ordnung, pervertierte Quelle. Wenn es ihn noch gab auf dieser … wie hatte sie gesagt? … »prächtigen Sternenstadt«. Aber dazu mussten wir zuerst einmal nach Varxodon kommen, und dann, selbst falls uns das momentan Unmögliche gelingen sollte … »Nur einmal gesetzt den Fall, dass wir so ein Ding finden«, machte ich einen letzten Versuch, sie in ihrem Überschwang zu stoppen, »müssten wir erst einmal die gefährliche Aktivierungsprozedur überstehen. Denk an Magantilliken.« »Ach was.« Sie winkte ab. »Haben wir einmal den Kardenmogher, dann bekommen wir ihn auch in den Griff.« Wieder blieb ich ruhig – jedenfalls äußerlich. Tatsächlich spukten mir die verrücktesten Gedanken durch den Kopf. Selbst der Extrasinn schien so verblüfft zu sein, dass er sich nicht mit einer Silbe meldete, um seinen Senf dazuzugeben. Sie war sich doch klar darüber, dass wir nicht einfach mit dem Finger schnipsen mussten, um einen Kardenmogher herbeizuzaubern, falls es überhaupt noch einen oder mehrere davon gab? Spielte sie denn im Ernst mit dem Gedanken, nach Varxodon zu kommen? Wie, bei allen Göttern? »Was verbirgst du noch vor mir?«, fragte ich sie. Endlich bekam ich die Gelegenheit dazu. Sie musste Farbe bekennen, ob sie wollte oder nicht. »Warum hast du es mir nicht früher gesagt? Du hattest den ganzen Tag lang Zeit.« Und wer weiß, vielleicht noch mehr! Sie sah mich an. Ihr Blick war entwaff-
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Horst Hoffmann
nend und ihre Antwort … Ich wusste nicht, ob ich »offen« oder »unverfroren« dazu sagen sollte. »Du bist selbst schuld, mein Lieber«, erklärte sie mir mit dem charmantesten Lächeln. »Ich wollte es dir natürlich schon eher sagen, aber erst wollte ich mir Gewissheit verschaffen, drüben in den Stationen, die es unter den fünf Städten geben muss. Wer nicht landen wollte, warst du; wegen ein paar lächerlicher Androiden.« Mir blieb im wahrsten Sinn des Wortes die Luft weg. Da bist du platt, was?, versetzte mir der Extrasinn einen zusätzlichen Stich. Ich seufzte und stand auf. Ich hätte Kythara böse sein sollen, aber ich konnte es nicht. Ich fühlte mich natürlich hintergangen, aber durfte ich ihr böse Absicht unterstellen? Sie schwieg, wartete aber auf eine Antwort. Mir war klar, dass sie notfalls auch ohne mich zu den Städten fliegen würde. Aber das war das Letzte, was ich wollte. Also … »Morgen früh«, sagte ich. »Morgen früh werden wir mit dem Beiboot …« Ich stockte. »Ja?«, fragte sie. »Warum redest du nicht weiter, Atlan?« Ich sagte nichts, sondern deutete nur auf den Bildschirm, auf dem der Naruk zu sehen war, den wir überflogen und der uns gewinkt hatte. Jetzt lag er nicht mehr in der Mulde. Auch wenn er nur klein wiedergegeben war, glaubte ich, das Entsetzen in seinem Gesicht sehen zu können. Und dazu hatte er, verdammt, allen Grund!
* Toghar-134 hätte längst den Todesimpuls für die Androiden gegeben, wenn nicht etwas geschehen wäre, über das er vorher Klarheit haben musste. Er hatte einen Verdacht, noch keine Gewissheit. Doch wenn sich seine Vermutung, für die eine hohe Wahrscheinlichkeit sprach, bewahrheitete, dann hatte er ein eindeutig vorrangiges Pro-
blem. Die Androiden mussten warten, vielleicht noch ein paar Stunden. Er empfand nichts dabei, ihnen diese Gnadenfrist zu geben. Sie würden einander weiter abschlachten. Eigentlich hätte er sogar abwarten können, bis sich das Problem von selbst löste – wäre da nicht der schier unerschöpfliche Nachschub an »neuen« Naruks aus der Androidenfabrik gewesen, trotz der gemeldeten Disfunktionen. Um die Fabrikation zu stoppen, musste er auch die gesamte Anlage zerstören. Naruks, die immer raffinierter und gerissener kämpften, weil sie aus ihren Fehlern gelernt hatten; ganz so, wie es der ursprüngliche Plan vorgesehen hatte. Sie benutzten Dinge als Waffen und dachten sich Strategien aus, die selbst ihn beeindruckten, teilweise sogar faszinierten. Er musste scharf aufpassen, dass sie nicht allzu einfallsreich und verwegen wurden. In diesem Fall hatte er keine andere Wahl. Dann musste er den Befehl sofort geben, und zwar ohne Rücksicht auf anderes. Zweimal schon hatten sie sich abgestürzter Gleiter der Torghan bemächtigt. Es war ihnen gelungen, sie in die Luft zu bringen und zu fliegen, allerdings nur jeweils für eine kurze Strecke. Bevor sie ernsthaften Schaden anrichten konnten, hatten sie die Kontrolle verloren und waren mit den Maschinen explodiert. Andernfalls wäre Toghar gezwungen gewesen, sie selbst abzuschießen. Was für Kämpfer hätten aus ihnen werden können! Wenn sie am Ende auch noch zu Psi-Soldaten optimiert worden wären – Toghar-134 wagte es sich nicht auszumalen, welchen ungeheuren Machtfaktor sie dargestellt hätten. Er konnte es nicht. Der Plan war perfekt gewesen. Ohne den Zwischenfall mit der fremden Plattform und ihren Kristallmassen … Es gab kein »Wenn«, »Ob« und »Oder« in den Gedanken des Insektoiden. Es gab nur Fakten und Wahrscheinlichkeiten, nach denen er zu entscheiden hatte. Und die Wahrscheinlichkeit sprach eindeutig dafür,
Aufruhr auf Narukku dass sich die unbekannte Macht, der unbekannte Faktor, der zumindest mitverantwortlich für das Chaos auf Narukku war, auf dem Planeten befand! Zumindest ein Teil davon. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich um Spione, die im Auftrag der unbekannten Macht die Vorgänge auf Narukku beobachten sollten. Toghar-134 studierte die Aufzeichnungen, die automatisch gemacht worden waren, als der Ortungsalarm anschlug. Wenige Augenblicke später war das Objekt auch optisch am Himmel zu erkennen gewesen. Was Toghar gesehen hatte, bestätigte klar die ersten, blitzschnell vorgenommenen Analysen. Es handelte sich bei dem zwölf Meter langen, tropfenförmigen Luftfahrzeug einwandfrei um ein Produkt varganischer Technologie. Ein Irrtum war unmöglich. Toghar hatte die Daten mit jenen verglichen, die sich in den Speichern des Stationsrechners befanden: ein varganisches Beiboot, für den planetennahen Verkehr konstruiert. Er rief weitere Daten ab und wusste danach, dass es auf Narukku keine solchen Boote gab – es hatte nie welche gegeben. Die fünf Städte hatten niemals über derartige Fahrzeuge verfügt. Die Tropfenboote verfügten nur über einen Sublichtantrieb. Demnach konnte es nicht allein aus dem Weltall auf diesen Planeten gekommen sein. Die logische Folgerung war, dass es zu einem großen Schiff gehörte; einem Schiff der Varganen, wie es sie in dieser Galaxis seit Jahrtausenden nicht mehr gab. Einem Oktaeder. Jetzt musste Toghar entscheiden – allein. Er hatte sich damit abgefunden, hatte es akzeptiert und wünschte sich nicht mehr, dass andere für ihn die Verantwortung trugen. Er trug sie selbst, für die Station, für den Planeten, für den Plan. Er war der Herr. Toghar-134 hatte Sonden ausgeschickt. Sie hatten in grobem Raster den gesamten Planeten abgesucht, aber einen varganischen Oktaederraumer hatten sie nicht entdeckt. Dass dies nicht geschehen war, ließ nur den Schluss zu, dass das Schiff unter einem starken Tarnfeld lag. Informationen über solche
29 Felder besaß er und wusste, dass sie schier undurchdringbar waren – für die Orter anderer Völker, für andere Technologien. Es war das Ergebnis kalter Kalkulation. Die fünf Städte, die jetzt in Trümmern lagen, waren varganische Stützpunkte gewesen. Und varganische Stützpunkte mussten über varganische Technologie verfügen. Sie mussten die Möglichkeit bieten, das fremde Schiff zu orten. Toghar-134 hatte noch nicht beschlossen, wie er in dieser Hinsicht vorgehen sollte. Er wartete auf weitere Berechnungen und Informationen. In der Zwischenzeit konnte er darauf hoffen, dass der Gegner einen weiteren Fehler beging. Den ersten hatte er gemacht, als er ohne Tarnfeld die Ruinenstädte überflog, was auch sogleich zur Ortung geführt hatte. Leider hatte Toghar das Boot dann wieder verloren, gerade als es sich von den Städten entfernte – oder zu entfernen schien. Es hatte also ebenfalls über das Tarnfeld verfügt und es plötzlich aktiviert. Jetzt war er besser vorbereitet. Er hatte fast alle Spionsonden in der Luft, über die sein Stützpunkt verfügte. Sie waren immer noch um den Planeten verteilt. Wenn das fremde Boot erneut erschien und nicht geschützt war, würden sie es orten – und diesmal nicht so leicht wieder verlieren. Falls das doch geschah, bestand die Hoffnung, aus seinem Kursvektor den Standort des varganischen Raumschiffs zu ermitteln. Nein, die Androiden mussten noch warten. Toghar-134 setzte sich selbst eine Frist für die Aktivierung des Todesimpulses. Er gab sie in einen Computer ein. Wenn bis zum Ablauf der Frist nichts anderes, Entscheidendes geschehen oder Toghar etwas zugestoßen war, würde sich der Befehl selbsttätig aktivieren. Ihr Schicksal war so oder so entschieden. Die Naruks konnten ihrem kollektiven Ende nicht entkommen. Die Prioritäten waren eindeutig.
4.
30 Opalmagor hatte sich umgedreht. Die untergehende Sonne blendete ihn. Wieder sah er zuerst nur einen Schatten, aber dieser war riesig. Als er dann die Augen fest zusammenkniff und endlich besser sehen konnte, erfolgten die nächsten Donnerschritte, die den Boden zum Beben brachten, und der Naruk-Androide stieß ein heiseres, ersticktes Krächzen aus. Das Ungeheuer ragte vor ihm auf, groß wie ein Haus. Es stand auf seinen zwei hinteren Beinpaaren. Der tonnenschwere Leib war auf den ersten Blick klobig. Der Vorderkörper war aufgerichtet, zehn, eher 15 Meter hoch. Die kleineren Vorderarme ragten in die Luft, angehoben bis fast zum Kopf, diesem furchtbaren Schädel mit einem Maul, in das der Androide zweimal hineinpasste. Er sah die Dolchzähne, einige einen halben Meter lang, und wusste, dass er keine Chance mehr hatte. Oder doch? Sein Verstand sagte nein, aber in seinen Adern kreiste immer noch der amphetamine Wirkstoff der Beeren, der ihn die Wirklichkeit verzerrt sehen ließ, heller, leichter, mutiger. Er suggerierte ihm etwas, das mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatte. Er sah den Giganten, seine funkelnden gelben Augen und seinen Tod darin. Gleichzeitig suggerierte ihm die Droge, dass er stark war; noch stark genug, um vielleicht fliehen zu können. Er hatte dem Tod in den letzten Stunden schon zwei- oder dreimal entkommen können. Wieso sollte es nicht noch einmal möglich sein? Noch vor kurzem hätte sich der Androide in sein Schicksal ergeben und nur darum gefleht, dass es schnell gehen möge. Er hatte mit seinem Leben abgeschlossen gehabt, aber jetzt peitschte die Droge irrationale Hoffnungen und das Gefühl der Kraft in sein Gehirn, die er längst nicht mehr besaß. Sein Körper hatte seine Leistungsgrenze erreicht, nein, längst überschritten. Aber sein Geist wollte es nicht wahrhaben. Die Bestie riss den Rachen noch weiter
Horst Hoffmann auf und stieß ihr Trompeten aus. Opalmagors Trommelfelle drohten zu platzen. Er roch den stinkenden, fauligen Atem des Untiers bis zu sich herab. Angewidert machte er einige Schritte zurück. Die Wissenschaftler haben sich geirrt!, durchfuhr es ihn. Die Giganten, die diesen Planeten vielleicht einst beherrscht hatten, waren nicht tot. Vielleicht gab es auch nur noch diesen einen, den Letzten seiner Art. Vielleicht hatte er jahrhunderte- oder jahrtausendelang geschlafen. Es spielte jetzt keine Rolle mehr. Er war hier, stand aufgerichtet vor ihm und würde sich jeden Moment auf ihn stürzen und ihn mit einem Happen verschlingen, wenn ihn nicht ein Hieb der schrecklichen, riesigen Vorderpranken vorher zerschmetterte. Der Strahler!, durchfuhr es ihn. Zum ersten Mal verwünschte er sich dafür, die Waffe weggeworfen zu haben. Jetzt hätte er mit ihr vielleicht eine Chance gehabt … oder, noch besser: Lauf! Renn, so schnell du kannst! Opalmagor, meilenweit entfernt von der Realität, ballte und schüttelte dem Riesen eine Faust entgegen. Dann drehte er sich um und begann zu fliehen. Er schwankte, knickte in den Knien ein, fiel und rappelte sich wieder auf. Er legte kaum ein Dutzend Meter zurück, aber ihm kam es vor wie hundert. Hinter ihm ertönte das Trompeten des Ungeheuers. Dann bebte die Erde wieder unter seinen Schritten. Diesmal waren es mehr, und jeder brachte den Giganten zehn Meter weiter. Opalmagor bekam kaum noch Luft. Seine Lungen brannten, die Brust drohte zu platzen. Er strauchelte wieder, und diesmal schaffte er es nicht mehr, in die Höhe zu kommen. Sein Körper versagte. Dass sein Herz noch schlug, war wie ein Wunder. Opalmagor gelang es gerade noch, sich auf den Rücken zu wälzen. Mit aufgerissenen, brennenden und stark tränenden Augen starrte er das Untier an, das stehen geblieben war und langsam den
Aufruhr auf Narukku Oberkörper mit dem schrecklichen Maul senkte. Es war genau über ihm. Er war ihm sicher. Im Angesicht des Todes kehrte sein klarer Verstand zurück, gewann den Kampf gegen die Wirkung der Pflanzendroge. Opalmagor sah das Verderben in Gestalt des aufgerissenen Mauls näher und näher kommen, nur noch wenige Meter über ihm. Es war vorbei, das wurde ihm mit grausamer Schlagartigkeit klar. Diesmal würde kein Wunder mehr geschehen. Sein Vorrat daran war aufgebraucht. Schreckliche Angst erfüllte ihn plötzlich. Er wollte schreien, aber nicht einmal ein Krächzen entrang sich mehr seiner geschundenen Kehle. Der Schädel kam näher und näher. Opalmagor sah nur noch die Zähne im aufgerissenen Maul. Sie wurden größer, immer größer. Sie schienen sein ganzes Gesichtsfeld auszufüllen. Er riss die Hände hoch und drückte sie auf seine Augen. Das schaffte er gerade noch, aber es kostete unglaubliche Anstrengung. Es war vorbei. Er konnte sich nicht mehr rühren. In seinen Beinen war kein Hauch von Kraft mehr. Die furchtbare Wahrheit hatte ihn eingeholt. Er sah nichts mehr, hörte nur noch einmal das Trompeten. Es war wie ein Weltuntergang. Der stinkende Atem der Bestie brachte ihn fast um. Er wartete mit verdeckten Augen auf das Ende. Lass es schnell gehen! Er hörte ein anderes Geräusch. Er hatte es schon einmal gehört, ein leises Summen. Aber er nahm es schon nicht mehr wahr. Es war schwarz vor seinen Augen, doch es würde noch schwärzer, schwärzer in ihm. Die Flamme erlosch. Das Letzte, was Opalmagor noch wahrnahm, war ein höllischer Schmerz in seiner Brust und seinem Bauch. Auch ohne es zu sehen, wusste er, was es zu bedeuten hatte. Aber es war schon zu fern von ihm, nicht mehr real. Das stille Flehen des Androiden war erhört worden. Er hatte sich lange gequält, geschunden und völlig verausgabt. Doch jetzt, am Ende, ging es schnell.
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* Wir standen vor dem röhrenförmigen, zwei Meter langen Heiltank, in dem der Naruk-Androide lag. Misstrauisch, noch voller Zweifel und Skepsis und doch von banger Hoffnung erfüllt, betrachtete ich die Anzeigen der Lebenserhaltungssysteme. Vielleicht war er noch zu retten. Sein Bauch und ein Teil der Brust waren von den messerscharfen Klauen des saurierähnlichen Riesentiers aufgeschlitzt worden. Eine Erstversorgung hatte an Ort und Stelle durch Medoroboter stattgefunden, nachdem ich die Bestie mit mehreren Schüssen niedergestreckt hatte. Ich hatte mein Leben riskiert, als ich unter den zusammenbrechenden, nach vorn stürzenden Körper des Giganten gerannt war und den Naruk an mich gerissen und in Sicherheit gebracht hatte. Keine zwei Sekunden später war der Riese dort aufgeschlagen, wo er eben noch gelegen hatte. Die Erde hatte gebebt. Er hätte ihn unter sich begraben, zerquetscht, bis nichts mehr von ihm übrig war. Kythara hatte den leblosen Körper in Empfang genommen. Gemeinsam hatten wir ihn in dem Tropfenbeiboot verstaut. Wir waren sofort wieder gestartet und hatten den Ortungsschutz neu aktiviert. Aber die kurze Zeit, für die wir ihn hatten aufgeben müssen, hatte dem Gegner genügt, um uns erneut zu finden. Jetzt kreisten gleich ein halbes Dutzend Sonden über der Steppe. Teilweise kamen sie dem Standort der AMENSOON gefährlich nahe, doch sie hatten keine Chance. Die Tarnung des Schiffes war perfekt, sie konnten es nicht finden, auch wenn sie direkt über ihm standen. Darum machte ich mir noch die wenigsten Sorgen. Es ging um den Androiden. Ich wusste selbst nicht genau, was ich mir von ihm erhoffte – falls die Reanimation gelang und er je wieder sprechen konnte, was immer noch äußerst zweifelhaft schien. Kythara war mir keine große Hilfe. Obwohl sie mir zur Hand ging, war sie gegen
32 die Rettungsaktion gewesen, von Anfang an. Sie verstand mich einfach nicht, und konnte ich es ihr verübeln? »Sein einziger Gedanke, wenn er noch einmal die Augen aufschlägt«, sagte sie, »wird sein, wie er uns umbringen kann.« Ich glaubte es nicht. Ich sträubte mich dagegen. Du willst bloß, dass es anders ist, stellte der Extrasinn fest. Obwohl sein Verhalten im ersten Augenblick atypisch im Vergleich zu den anderen Murloths war, muss das noch lange nicht bedeuten, dass du Recht hast. Gib Acht, dass du dich nicht in etwas verrennst. Ich hatte sofort reagiert, als ich auf dem Bildschirm den Koloss sah, der sich dem Androiden näherte. Ich hätte es auch allein getan, doch Kythara hatte darauf bestanden, mich zu begleiten, trotz ihrer Proteste. Sie fürchtete das Ortungsrisiko. Natürlich war dies nicht von der Hand zu weisen, aber das hatte mich nicht aufhalten können. Es war ein Rennen gegen die Zeit gewesen. Wir waren im buchstäblich allerletzten Moment gekommen. Ich hatte das Feuer schon vom Boot aus eröffnet, noch bevor wir gelandet waren. Die letzten, endgültig tödlichen Schüsse hatte ich allerdings erst abgeben können, als ich schon auf dem Boden war und auf den Naruk zulief. »Ich verstehe dich einfach nicht«, sagte Kythara. »Was erhoffst du dir davon? Er … es ist nur eine Tötungsmaschine!« Ich schüttelte den Kopf. »Androiden sind mehr als nur Maschinen. Und er hier ist auch nicht aufs Töten ›programmiert‹. Er ist anders. Ich weiß es einfach. So, wie er uns gewinkt hat, sein ganzes Verhalten …« Ich zuckte die Achseln. Ich konnte es ihr nicht erklären, wenn sie noch immer nicht begriff. »Er ist anders, Kythara, und kann uns vielleicht Dinge erzählen, die wichtig sind.« »Du bist ein Träumer«, erwiderte sie mit abwertendem Lächeln. Eine Antwort, die der Extrasinn, natürlich, fast synchron gab. Ich ließ mich nicht beirren, auch wenn die
Horst Hoffmann Stunden vergingen und die Hoffnung mit jeder Minute schwand. Die Systeme arbeiteten, aber sie zeigten noch immer keinen Ausschlag. Draußen war es inzwischen längst Nacht. Ich war entschlossen, notfalls bis zum Morgen zu warten. Ich schien größeres Vertrauen in die varganische Technik zu haben als Kythara selbst. Immerhin hatten die Medos den Bauch, aus dem schon die Gedärme gequollen waren, und den gesplitterten Brustkorb des Androiden geflickt, bevor sie ihn in den Heiltank legten. Jetzt fehlte nur noch der zündende Funke, der das Leben in den fast Toten zurückbrachte. Aber es wollte einfach nicht gelingen. Kythara verschwand schließlich aus der Medo-Abteilung. Irgendwie war ich fast erleichtert darüber. Ich blieb allein und wartete. Vom Extrasinn musste ich mir Sturheit vorwerfen lassen. Na gut, dann war ich stur, doch damit hatte ich in meinem Leben schon so manches erreicht, über das andere nur müde gelächelt hatten. Ich musste genau sieben Stunden warten und hoffen. Dann geschah das Wunder. Ich sah zweimal hin, aber es war kein Irrtum möglich. Die Monitoren zeigten es deutlich. Die Kurven logen nicht. Das Herz des Androiden hatte wieder zu schlagen begonnen. Sein Gehirn erwachte ebenfalls wieder zu neuer Aktivität – langsam nur, eine ganz spärliche Flamme, aber sie wuchs. Ich benachrichtigte Kythara. Die Varganin ließ sich Zeit. Als sie kam, nach fast drei Stunden, hatte der Naruk gerade die Augen aufgeschlagen.
* Die meisten lebenswichtigen Organe des Androiden arbeiteten wieder, wenn auch auf Sparflamme und durch die überragende varganische Medotechnik gestützt. Andere, zum Beispiel die Atmung, mussten ganz von High Tech ersetzt werden. Ich wusste, dass der Naruk auf diese Art keine drei Stunden
Aufruhr auf Narukku am Leben gehalten werden konnte – sofern man seinen Zustand so bezeichnen mochte. Er war zwar ein Kunstgeschöpf gewesen, doch ein perfektes. Jetzt war er nur noch ein Stück komplexen Zellgewebes mit einem halb funktionierenden Gehirn. Auf keinen Fall durfte er aus dem Heiltank genommen werden. Für das, was ich mir von ihm erhoffte, war es auch nicht nötig. Wir konnten auch so miteinander kommunizieren. Der Androide verstand, was ich sagte. Einfache, aber für unsere Zwecke ausreichende Lautsprechersysteme im Tank und Translatoren machten es möglich. Die wirkliche Frage war, ob er auch zu antworten in der Lage war. Kythara zeigte sich nach wie vor skeptisch, aber ihre Zweifel waren offenbar nicht mehr so stark wie am Anfang der Prozedur. Ich glaubte sogar, jetzt so etwas wie einen ganz schwachen Hoffnungsfunken in ihrem Blick zu sehen. Einer Hoffnung, die sie natürlich nicht zugeben würde. Der Androide tat mir wirklich Leid. Ich sprach seit einer Stunde zu ihm, aber alles, was ich an Reaktionen erhielt, waren die Kurven auf den seine Gehirnaktivität überwachenden Schirmen. Er verstand mich. Das wusste ich. Doch er brachte noch nicht die Kraft auf, mir zu antworten. Die Augen, die starr auf mich, manchmal auch auf Kythara gerichtet waren, wirkten klar. Ich sah in ihnen kein Zeichen von Feindseligkeit – nur tiefe Verzweiflung. Der Naruk musste Schreckliches durchgemacht haben. Ich bedauerte jetzt mehr denn je, dass wir nicht gelandet waren, als wir ihn unter uns sahen – winkend, schreiend, eine Kreatur anscheinend in höchster Not. »Er stirbt, Atlan«, sagte Kythara nach einer weiteren Stunde. Immerhin hielt sie es diesmal noch bei mir aus. »Keine Technik kann es noch verhindern. Wir werden nichts von ihm erfahren.« Es war, als hätte sie mit ihren Worten ein Zeichen gegeben; als wolle das Schicksal sie strafen, denn in diesem Moment hörten wir
33 zum ersten Mal seine Stimme – trotz der Verstärkung leise und, elektronisch verzerrt, natürlich noch undeutlich. Ich spürte, wie die Hand der Varganin sich auf meinen Arm legte. Ich drehte mich nicht zu ihr um. Die geschundenen Lippen des Androiden bewegten sich, zuerst zitternd, dann ruhiger. Er wiederholte seinen Versuch mehrere Male, bis sich das Wort deutlich anhörte. Es ließ sich nicht übersetzen. »Sein Name«, sagte die Varganin flüsternd. »Er sagt uns seinen Namen.« Ich nickte. Aus den Augenwinkeln heraus registrierte ich, wie sich die Gehirntätigkeit des Androiden sprunghaft erhöhte. Es war, als ob sich in seinem Kopf etwas gestaut hatte, was jetzt mit einem Mal herauswollte. Ein, zwei Minuten lang blieb das so, und ich hatte Angst, dass sein Gehirn explodierte wie ein überladenes Aggregat. Die Medosysteme pumpten weitere sedierende Substanzen in seinen Kreislauf, aber sie zeigten keine Wirkung. Im Gegenteil schienen sie ihn noch weiter zu stimulieren. Und dann hörten wir die ersten, klar übersetzten Worte des Naruks, und ich hielt unwillkürlich den Atem an. Ich war mir völlig darüber im Klaren, dass wir vielleicht gerade dabei waren, ihn umzubringen; dass jedes Wort sein letztes sein konnte, und ich wagte nicht, ihn durch Fragen zu unterbrechen. Es war auch nicht nötig. Es strömte nur so aus dem Androiden heraus, als wolle er vor seinem endgültigen – und unwiderruflich letzten – Tod noch das loswerden, was er mitzuteilen hatte. Was ihm wichtig war. Die Kurven auf den Monitoren nahmen immer bedrohlichere Formen an. Kytharas Hand krallte sich fester in meinen Arm, als sie die ersten, schnell und heftig hervorgestoßenen Worte des Naruks hörte. Unglaubliche, selbst von mir nicht erhoffte Worte. Dinge, die sie niemals für möglich gehalten hätte …
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* Toghar-134 wartete vergeblich auf eine Positiv-Meldung der Sonden. Das varganische Boot hatte sich wieder gezeigt. Es war auf der Stelle geortet worden, doch ehe die sofort abgefeuerten Raketen und die gestarteten Jäger überhaupt einen Bruchteil der Strecke zurückgelegt hatten, war es wieder verschwunden – ohne die geringste Möglichkeit, einen Kursvektor zu berechnen. Toghar bezweifelte auch, dass ihn das weitergebracht hätte. Wer oder was immer dieses Fahrzeug steuerte, war zu gerissen, um sich diese Blöße zu geben. Aber irgendwo dort draußen lag, unter seinem Tarnfeld verborgen, ein varganisches Raumschiff. Toghar-134 war jetzt absolut sicher. Es befanden sich Varganen auf Narukku, und angesichts der Tatsache, dass sein Volk, die Krieger des »Schwerts der Ordnung«, hier und an vielen anderen Orten dieser Galaxis varganische Hinterlassenschaften für ihre eigenen Zwecke benutzt hatte, hatte er sich fragen müssen, ob nicht sogar die Ankunft der geheimnisvollen Plattform, des psimateriellen Kristalls, auf Varganen zurückzuführen sei. Der Rechner hatte ihm eine Wahrscheinlichkeit von 73,44 Prozent dafür ausgewiesen. Für kurze Zeit fühlte Toghar-134 sich überfordert. Er wartete Stunden in der Hoffnung, dass ihm die zusätzlich ausgeschickten und umbeorderten Sonden einen Hinweis lieferten, aber nichts geschah. Er war sicher, dass sich der Feind auf dem Planeten Narukku aufhielt, und wenn es nur zu Beobachtungszwecken war. Ebenso überzeugt war er davon, dass er sich früher oder später zeigen würde. Und dann würde er vorbereitet sein. Er hatte alle Vorkehrungen getroffen, die ihm zur Verfügung standen, um den Feind zu eliminieren. Sein zweites Problem stand kurz davor, auf die vorgesehene Art gelöst zu werden.
Ab und zu warf er einen Blick auf die Anzeigen der Instrumente. Alles war vorbereitet zur Ausstrahlung des Impulses. In weniger als einer Stunde würde es keine Androiden auf Narukku mehr geben. Er brauchte nichts dazu zu tun. Die Uhren zählten unaufhaltsam rückwärts, auf die Null-Marke zu. In weniger als einer Stunde würde es zu Ende sein. Dann herrschte wieder Stille auf dem Planeten. Es würde nur noch ihn geben – ihn und die Varganen, wenn er Recht hatte. Er erwartete sie mit insektoider Kühle. Sie mochten mächtig sein, aber er war mächtiger. Er verfügte über alle Machtmittel ihrer Schöpfer. Es war sehr unwahrscheinlich, dass sie dem etwas entgegenzusetzen hatten.
5. 13. Mai 1225 NGZ Opalmagor erzählte uns seine Geschichte. Vieles war scheinbar unzusammenhängend und ergab erst später einen Sinn. Mein Logiksektor war uns eine große Hilfe bei den Bemühungen, Ordnung und System in das hineinzubringen, was aus dem mehr toten als lebendigen Androiden heraussprudelte. Doch als der Naruk endlich schwieg, hatten wir ein Bild, das unsere gröbsten Fragen beantwortete – auch und vor allem solche, die wir ihm noch gar nicht gestellt hatten. Wir wussten jetzt, dass Opalmagor, wie er sich nannte, nicht in den Bann geraten war, der seine Artgenossen erfasst und in Krieger verwandelt hatte, die nur ein Ziel kannten: sich zu verbessern, zu optimieren, immer effektiver zu kämpfen. Weshalb er »immun« gewesen war, konnten wir uns ebenso wenig erklären wie er es sich selbst. Alles, was mir dazu einfiel, war, dass es sich bei ihm um ein »Fehlprodukt« handeln musste, einen Fehler im System, in der Programmierung der Androiden. Von einem perfekt funktionierenden Überwachungssystem wäre er aussortiert worden. Wir kannten in groben Zügen die Ge-
Aufruhr auf Narukku schichte seiner Flucht, und ohne dazu aufgefordert werden zu müssen, hatte er uns noch mehr gesagt. Dinge, von denen wir nicht einmal zu träumen gewagt hatten, trotz meiner wiederholt geäußerten Hoffnungen, von dem Androiden Hintergründe zu erfahren, die uns vielleicht weiterhelfen konnten. Er hatte es freiwillig getan. Er hatte es uns mitteilen wollen, mit jeder Faser seines Verstandes, bevor er diese Welt verließ. Vielleicht hatte er es aus Dank getan. Das Einzige, was er sich von uns gewünscht hatte – nicht gefordert! –, war, dass wir seinen Körper im Augenblick des Todes zerstörten, sodass nichts von ihm übrig blieb und er nicht in einem anderen wiedergeboren werden konnte. Opalmagor hatte in Teilen die Geschichte der varganischen Siedlung auf dem Planeten Narukku berichtet, aus der schließlich die »fünf herrlichen Städte« entstanden waren. Opalmagor hatte sich als Wissenschaftler intensiv mit der Vergangenheit beschäftigt und dem Hauptrechner des ursprünglichen Stützpunkts, der nach seinen Worten immer noch unbeschädigt und funktionstüchtig war, viele Fragen gestellt. Auf einige hatte er Antwort bekommen, auf andere nicht. Vor langer Zeit, war es aus ihm herausgesprudelt, war die Siedlung von acht Varganen-»Rebellen« gegründet worden, die sich hier ein »persönliches Paradies« einzurichten hofften. Das war viele Jahrzehntausende nach dem Ende des varganischen Reichs gewesen. Die Namen der acht kannte er nicht, sie hatte der Rechner offenbar nicht preisgegeben. Er wusste auch nichts über ihre konkreten Pläne und wie sie sich ihr Leben in der neuen Heimat vorgestellt hatten. Immerhin schien es nicht so funktioniert zu haben, wie sie sich das erträumten, denn im Lauf der Jahrtausende hatten sie damit begonnen, sich in zunehmender Dekadenz von Androiden umsorgen zu lassen, die sie in immer größerem Ausmaß erschaffen hatten. Die Kunstgeschöpfe hatten ihnen alles abgenommen, was ihnen selbst lästig geworden war, aber ihr Traum vom Paradies war
35 dennoch nicht wahr geworden. Sie stumpften weiter und weiter ab, und irgendwann schließlich waren die Varganen ihres ewigen Lebens überdrüssig geworden und hatten sich mit der »Kyrachtyl«-Droge selbst umgebracht. Die von ihnen errichtete Androidenfabrik war jedoch nie abgeschaltet worden, sondern arbeitete in den nachfolgenden Jahrtausenden weiter und produzierte immer neue Generationen von Naruks, wie sich die Androiden selbst nannten. Schließlich waren es insgesamt 15 Millionen, die bei der täglichen »Reinigung« ihre Erinnerungen weitergaben und in den Wissenspool einfließen ließen, der von den varganischen Großrechnern verwaltet und aufbereitet wurde; Jahrzehntausende, in denen eine eigene Zivilisation von intelligenten, fühlenden Kunstgeschöpfen entstanden war – bis eines Tages die Insektoiden kamen und die Androidenproduktion übernahmen. Und jetzt schwieg Opalmagor. Auch Kythara und ich brauchten eine Weile, bis wir wieder Worte fanden. Wir mussten das Gehörte erst verarbeiten, trotz oder vielleicht gerade wegen der darin enthaltenen Lücken. Es war mehr als überwältigend gewesen, vor allem, weil wir so unverhofft damit konfrontiert worden waren. Kythara schüttelte immer wieder wie ungläubig den Kopf, bis sie endlich hervorbrachte: »Der Hauptrechner existiert also noch.« Sie hatte vor dem Heiltank gestanden. Jetzt drehte sie sich zu mir um. In ihren goldenen Augen sah ich wieder das Funkeln von neu erwachtem Tatendurst. »Er wird uns alle Fragen beantworten müssen, Atlan! Vor allem – unsere Position! Er wird uns sagen können, wo wir sind – und wie wir nach Varxodon kommen und …« Sie verstummte, als sie das Unverständnis in meinem Blick sah. Die Varganin holte noch einmal tief Luft, es sah aus wie das Ansetzen zu einem Versuch, sich und die eigene Ungeduld heftig zu verteidigen. Für einen langen Moment sahen wir uns gegenseitig in die Augen.
36 Dann senkte sie den Blick. »Es ist … es ist doch das, worauf es ankommt«, sagte sie leise. »Oder vielleicht nicht …?« Ich sah von ihr zurück zu dem im Heiltank liegenden Androiden. Opalmagor hatte die Augen jetzt wieder geschlossen. Seine Lippen bewegten sich zwar noch leicht und zuckend. Aber er sprach nicht mehr. Alles, was er noch hatte loswerden wollen, müssen, war offenbar gesagt worden. Ich hatte immer noch tiefes Mitgefühl für ihn. Ich konnte in ihm keinen Androiden sehen, für mich war er ein Mann, ein Mensch, ein lebendes, denkendes und fühlendes Wesen. Ich wusste: Die Bezeichnung »Androiden« umfasste alle nichtrobotischen Kunstgeschöpfe, die – im Unterschied zu Droiden, Robotern und Homutern – auf biologisch-chemischem Weg erzeugt worden waren. Doch dieses Wesen hier – Opalmagor, es hatte einen Namen und ein Recht darauf, so angesprochen zu werden, verdammt! – mochte alles sein, auf perverse Weise unsterblich, konditioniert, erschaffen zu bestimmten Zwecken, und doch: Es war nicht künstlich! Opalmagor war lebendig, natürlich, ein Individuum. Und wenn auch nicht die Natur ihn ins Leben gerufen hatte, so war er doch nun ein Teil davon. Androide, dieser Begriff erschien mir plötzlich wie ein Schimpfwort oder, ärger noch, wie eine vorgeschobene Entschuldigung dafür, jemanden mitleidlos zu behandeln. Er ist doch nur ein Androide! Was für eine Lüge in diesen wenigen Worten schlummerte. Das grausame Schicksal, das Opalmagor ereilt hatte, hatte er nicht verdient. Er verdiente unser Mitleid. Unwillkürlich schwenkte mein Blick wieder zu den Bildschirmen neben dem Kopfende des Tanks. Meine Augen weiteten sich. Ich konnte nicht glauben, was sie uns zeigten. Die Lebensfunktionen des Naruks hatten sich wieder stabilisiert, nachdem sie nach dem Ende seiner totalen Verausgabung fast schon erloschen gewesen waren. Es war ei-
Horst Hoffmann gentlich unmöglich, selbst bei aller Supertechnik der alten Varganen. Bestand eine Chance, dass Opalmagor wider alle Logik doch nicht starb? War er tatsächlich immer noch zu retten? Ich sah es nicht nur unter emotionalen, sondern auch unter durchaus pragmatischen Gesichtspunkten. Der Naruk hatte uns schon vieles gesagt, was erst noch geistig verarbeitet werden musste. Er hatte geredet, solange er die Kraft dazu hatte. Es war durchaus vorstellbar, dass er noch mehr wusste – wenn man ihn nur gezielt genug auf bestimmte Themen ansprach. »Er hat von der ursprünglichen Station gesprochen, dem ursprünglichen Stützpunkt, den die acht Varganen angelegt hatten«, hörte ich mich sagen. »Die fünf Städte müssen demnach erst später errichtet worden sein.« »Das ist anzunehmen«, stimmte Kythara zu. »Ich weiß, worauf du hinauswillst. Wir wissen noch nicht, wo sich dieser ursprüngliche Stützpunkt befindet – mit dem Hauptrechner.« Plötzlich lächelte sie wieder. »Aber Opalmagor weiß es, denn er hat mit dem Hauptrechner gearbeitet. Wenn wir genau suchten, würden wir ihn zweifellos finden, aber wozu, wenn es auch einfacher und schneller geht? Vor allem …« In diesem Augenblick geschah es. Kythara verstummte abrupt, als sie meinen fassungslosen Blick sah. Alarmiert fuhr sie herum, und was sich ihren Augen da bot, machte all ihre Hoffnungen mit einem Schlag zunichte. Opalmagors Körper hatte sich im Tank wie unter einem gewaltigen Stromstoß halb aufgerichtet. Für eine Sekunde waren seine Augen weit aufgerissen. Ich würde seinen Blick nie vergessen, die Überraschung, die Panik, den absoluten Unglauben. Dann zuckte sein Körper noch einmal und sank zurück auf den Rücken. Gleichzeitig veränderten sich die Anzeigen auf den Überwachungsmonitoren. Sie dokumentierten keinerlei Lebensfunktionen mehr. Wo eben noch Hoffnung machende Kurven und Zahlen gewesen waren, war nichts mehr. Kytha-
Aufruhr auf Narukku
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ra schüttelte ungläubig den Kopf, aber damit konnte sie es nicht ungeschehen machen. »Er ist tot«, sagte ich bitter. »Und es ist nicht von allein geschehen. Dazu kam es zu schnell.« Ich ballte die Hände. »Wir konnten ihm noch nicht einmal mehr seinen Wunsch erfüllen!« »Was meinst du damit, es sei nicht von allein geschehen?«, fragte Kythara. Wusste sie es denn wirklich nicht? Ich packte die Varganin beim Handgelenk und zog sie mit mir. »Du tust mir weh!«, rief sie protestierend, aber darauf achtete ich gar nicht; nicht in diesem Moment. »Schnell!«, rief ich über die Schulter. »Schnell zur Zentrale!« »Aber du vermutest doch etwas!« »Ja!«, knurrte ich. »Und es ist nichts Gutes!«
* Ich hatte im ersten Moment an eine Art Sicherheitsschaltung gedacht, etwas, das sich selbst aktivierte und den Androiden umbrachte, bevor er weitere Informationen preisgeben konnte – Dinge, die geschützt waren und die Schaltung aktivierten, sobald er sie auch nur in Gedanken vorformulierte. Aber dann war mir das eher unwahrscheinlich vorgekommen. In einem solchen Fall hätte sie ihn früher schon töten müssen, als er ausplauderte, was er über die Vergangenheit der varganischen Siedlung auf Narukku berichtet hatte. Viel wahrscheinlicher, wenngleich in seinen Konsequenzen auch unglaublicher erschien mir etwas anderes. Er hatte die toten Insektoiden vor Augen, die durch einen Fernimpuls umgebracht worden waren. Was, wenn es einen solchen Todesimpuls auch für die Naruk-Androiden gab – oder vielmehr, falls sich meine Befürchtungen bestätigten: gegeben hatte? In der Zentrale der AMENSOON angekommen, erhielten wir die grausame Bestätigung. Unsere Beobachtungssonden über den
fünf Ruinenstädten zeigten uns die Bilder, die sich für immer in mein Gehirn einbrennen würden. Es waren stumme Bilder, Bilder des millionenfachen Todes. »Du hast es gewusst!«, stieß Kythara hervor. Ihre Stimme bebte – ein Beleg dafür, dass sich ihre Einstellung zu den Naruks geändert hatte? Waren sie auch für sie nicht mehr »nur« die Androiden, die ihre acht Artgenossen geschaffen hatten, um ihnen ein Leben in Luxus und Muße zu gewährleisten? Da lagen sie, kein Einziger rührte sich mehr; kein einsamer Überlebender, der durch die Trümmer und die Barrikaden strich und fassungslos dem Grauen gegenüberstand. Sie lagen da in den unmöglichsten Stellungen und Verrenkungen. Vielleicht war ihr Ende so schnell gekommen, dass sie es nicht gespürt hatten. Ich hoffte es für sie. Ihre verdrehten Positionen ließen jedoch eher darauf schließen, dass es anders gewesen war, und während ich mich hinzusehen zwang, begannen sie sich zu verändern. Wieder sah ich Opalmagors Körper vor mir, wie er sich aufbäumte, Unglauben und Entsetzen in den weit aufgerissenen Augen. Das, was die Naruks zu anderen Wesen gemacht hatte, hatte ihn nicht getroffen. Gegen den Todesimpuls aber war er ebenso wehrlos gewesen wie jeder andere auch. Die Körper der toten Naruks wurden unförmig. Sie zerflossen und wurden zu dem zähen Brei, der blauweißen Plasmamasse, aus der sie geformt worden waren. Nach wenigen Minuten waren von ihnen nur noch Lachen übrig, die sich teilweise berührten und ineinander flossen. An einigen Stellen war der Boden wie von bläulich weiß schimmerndem Schleim überzogen, sichtbar im Licht von Scheinwerfern, die zwischen den Ruinen kreisten, wie um die schauderhafte Szenerie für Augen zu erhellen; Augen von Mördern, die wahrscheinlich schon jahrtausendelang tot waren. Wer sonst als die alten Varganen sollte für die »Todesschaltung« verantwortlich gewesen sein? Aber sie hat-
38 ten sie nicht mehr auslösen können – also wer dann? Die Insektoiden? Waren am Ende doch nicht alle gestorben? Wo saß unser Gegner? Es wurde zusehends rätselhafter und makaberer. Erst nach weiteren langen Minuten zogen die Scheinwerfer sich zurück, stiegen höher und erloschen dann einfach. Auf dem Bildschirm, der die Medo-Station mit dem Heiltank zeigte, war ebenfalls nur noch die blauweiße Masse zu sehen, die den Tankboden bedeckte. Von Opalmagor waren nicht einmal, wie von seinen Artgenossen in den Städten, Kleidungsreste übrig geblieben. Die Medos hatten ihn natürlich vollkommen ausgezogen, bevor sie ihn in den Tank legten. Ich war von maßlosem Zorn erfüllt, Wut und Zorn auf die- oder denjenigen, der für diesen Massenmord an vielen tausend intelligenten Wesen die Verantwortung trug. Ob es nun wirklich die längst toten Varganen gewesen waren, die den Todesbefehl in einem ihrer Rechner verankert hatten, nur damit er zu einer bestimmten Zeit ausgelöst wurde, oder ob es sich um die Manipulation eines Computers – mit hoher Wahrscheinlich der von Opalmagor erwähnte Hauptrechner – allein handelte. Als ich die furchtbaren Bilder sah, konnte ich nur an Rache denken. Wer oder was für das Massaker verantwortlich war, er musste bestraft werden – mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung standen. Bringt es dich weiter?, fragte der Extrasinn provozierend. Du kannst dich abreagieren, aber macht es sie wieder lebendig? Hilft es dir bei deinen wirklichen Problemen? Manchmal wollte ich einfach nicht, dass er Recht hatte! Und wen willst du bestrafen?, fragte er weiter. Tatsächlich ein Rechengehirn? Ein totes Instrument? Willst du es in die Luft jagen, ist es das? Blinde Zerstörung von Schaltkreisen und Halbleitern für tausendfachen Mord? Das ist nicht dein Ernst. Zumal du diesen Rechner brauchen wirst, um von
Horst Hoffmann hier gezielt weiterzukommen. Ich kochte innerlich, je mehr mir klar wurde, dass ich nichts tun konnte – wenn ich weiterhin davon ausging, dass kein lebender Gegner mehr auf Narukku weilte. Und das tat ich auch jetzt noch. Die Insektoiden hatten den Todesimpuls ebenso wenig überlebt wie die Androiden. Es gab keine Ausnahmen. Opalmagor hatte es hinreichend bewiesen. »Ich fliege zu den Städten«, sagte ich gepresst, ohne den Blick von den Schirmen zu wenden. »Ich werde diesen ursprünglichen Stützpunkt der Varganen und seinen Hauptrechner finden.« Und dann? »Wir hätten es früher haben können«, hörte ich Kythara sagen. Nein, es hörte sich nicht nach einem Vorwurf an. Dazu war sie zu taktvoll. Sie stellte nur Tatsachen fest. Gestern hatte ich mich wegen der kämpfenden Androiden geweigert zu landen. Jetzt gab es keine lebenden Naruks mehr. »Ich lasse dich nicht allein fliegen«, sagte die Varganin weiter. Ich drehte mich noch immer nicht um, doch ich spürte, dass sie jetzt ganz dicht hinter mir stand. Dann lag ihre Hand auf meiner Schulter. Sie drückte einmal fest zu, wie um mir Mut zu machen. Vor Stunden noch hätte ich sie für herzlos halten können. Jetzt tat mir ihre Berührung gut. Ich nahm den Arm hoch und legte die Hand auf die ihre. Für lange Sekunden standen wir so da, schweigend, mit unseren Gedanken beschäftigt. Ich kam allmählich zur Ruhe. Der Zorn war immer noch da, aber er fand andere Kanäle. Mein Denken war wieder nach vorne gerichtet. Der Extrasinn hatte Recht. Ich konnte das Schreckliche nicht ungeschehen machen. Nichts auf der Welt brachte die Androiden wieder zum Leben. Wirklich nicht? Und wenn sie nun in neuen, bereitliegenden oder schnell produzierten Körpern in der Androidenfabrik wiedergeboren wurden? Ich dachte nur ganz kurz an diese Möglichkeit. Ausschließen, das Gegenteil beweisen konnte ich nicht; aber ich
Aufruhr auf Narukku glaubte nicht daran. Sie waren endgültig vernichtet worden. Ich war so gut wie sicher, dass auch die Fabrik zerstört worden war. »Ist etwas von der AMENSOON angemessen worden?«, fragte ich Kythara dennoch. »Eine größere Explosion?« »Wir haben etwas angemessen«, sagte sie und drückte mir noch einmal die Schulter. Ich drehte mich um und sah sie vor mir, ihre goldenen Augen, die Verbitterung darin. Nein, sie war nicht herzlos. Sie beherrschte ihre Wut und ihre Enttäuschung vielleicht nur besser als ich. »Du … wir brauchen nicht mehr nach dem Stützpunkt zu suchen. Wenn von ihm aus der Todesimpuls ausgestrahlt worden ist, dann wissen wir jetzt, wo er liegt; auf den Kilometer genau.« Überrascht, fast ungläubig zog ich eine Braue in die Höhe. »Das Schiff hat den … Todesimpuls an die Androiden angemessen?« Sie nickte nur. Ihre Augen strahlten Entschlossenheit aus. Wir waren uns einig, auch ohne ein weiteres Wort. Und wir wussten, dass die Zeit des Wartens vorbei war. Die Dinge waren endgültig in Bewegung geraten. Es war nicht einmal unsere Schuld. Wir wussten nicht, was wir in der Station der Varganen vorfinden würden. Aber am Ende würde unser Triumph stehen – oder unser Untergang. Soweit es uns anging, glaubten wir, auf alles Erdenkliche vorbereitet zu sein. Wir waren es nicht, weil ich mich noch immer stur weigerte, an das Unglaubliche zu glauben. Später würde es mir wie Schuppen von den Augen fallen; dann, als es zu spät war zur Umkehr. Wir ahnten noch nichts, aber zehn Minuten später waren wir in der Luft, und zwar nicht mit einem der Beiboote. Die AMENSOON selbst hob von ihrem Landeplatz ab und flog in die einsetzende Morgendämmerung hinein nach Westen – dorthin, von wo der Todesimpuls gekommen war. Ihr Ziel waren nicht etwa die »fünf
39 herrlichen Städte«, wie ich noch vor Stunden angenommen hätte. Der Impuls war zwar aus der gleichen Richtung gekommen, aber aus der doppelten Entfernung. Es konnte keinen Zweifel geben: Der »ursprüngliche Stützpunkt« der Varganen, die Hauptschaltzentrale des Planeten, lag in oder unter der ehemaligen »Ebene ohne Schatten«. Dort hatte alles angefangen. Und jetzt sah es aus, als sollte es auch dort enden. So oder so. »Auf deine Frage von vorhin«, sagte Kythara, als wir die westliche Savanne in einer Höhe von zweitausend Metern überflogen. »Es hat noch eine zweite Messung gegeben.« »Die Androidenfabrik?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Sie nickte hart. »Wir können davon ausgehen, dass sie nicht mehr existiert. Es wird niemals mehr Naruk-Androiden geben.« Sie sah mich nicht direkt an. »Du hast es gewusst, oder?« »Ja«, antwortete ich. »Nur so ergibt es Sinn.« Und so ist Opalmagors Wunsch doch noch in Erfüllung gegangen.
* Toghar-134 hatte sachlich und vollkommen ungerührt registriert, dass keiner der Androiden den Todesimpuls überlebt hatte. Er empfand nicht einmal Zufriedenheit oder Triumph. Es war von Anfang an klar gewesen. Sie konnten den Impuls nicht überleben, es war nur eine Frage des Countdowns gewesen. Jetzt kämpften sie nicht mehr. Blauweißer Plasmaschleim war von ihnen übrig geblieben, mehr nicht. Und es würde nie wieder neue Naruks geben. Die Androidenfabrik war gesprengt worden, im gleichen Moment, in dem der Impuls die Antennen verließ, auf den die Reizempfänger in ihren Köpfen augenblicklich reagierten. Es gab jetzt niemanden mehr auf diesem Planeten, keine Naruks, keine Torghan. Es gab nur noch ihn – und vielleicht die Varga-
40 nen. Es war und blieb der unbekannte Faktor. Das varganische Schiff war da, dieser Sachverhalt war über jeden Zweifel erhaben. Es verbarg sich irgendwo auf Narukku, unter seinem undurchdringbaren Tarnfeld. Und solange es da war, stellte es eine selbst für Toghar unkalkulierbare Gefahr dar. Das Problem mit den Androiden hatte sich erledigt. Es war keine Herausforderung für ihn gewesen. Doch was die Varganen anbetraf, konnte er nur spekulieren – und warten. Warten darauf, dass sie sich endlich eine Blöße gaben und angreifbar wurden. Er war darauf vorbereitet. Sollten sie – falls es wirklich Varganen waren und keine Automatiken, die das Schiff und seine Beiboote steuerten – gekommen sein, um die von Angehörigen ihres Volks vor langer Zeit angelegte Station zurückzuerobern, dann würden sie einen heißen Empfang erleben. Die Informationen über die von den Kriegern des »Schwerts der Ordnung« auf Narukku vorgenommenen Manipulationen durften ihnen keinesfalls in die Hände fallen. Vielleicht wussten sie schon zu viel – dann durfte es unter keinen Umständen noch mehr werden und machte ihre Vernichtung zwingend notwendig. Toghar-134 hatte vorgesorgt. Er hatte alles präpariert, was es für den Verteidigungsfall zu präparieren gab. Die heimtückischsten Fallen warteten auf die Varganen. Aber so weit würde es wahrscheinlich gar nicht kommen. Toghar-134 zwang sich zur Geduld. Insgeheim rechnete er mit einem Funkspruch von außerhalb des Systems, vom Zentrum des Murloth-Nebels oder vielleicht noch weiter – viel weiter. Er wartete auf Anweisungen. Jemand musste ihm sagen, was er zu tun hatte. Er fragte sich, ob bald neue Torghan oder andere Krieger des »Schwerts der Ordnung« nach Narukku kommen würden oder ob es ihm bestimmt war, bis ans Ende seines Lebens diesen Stützpunkt zu halten. Es erschien ihm sinnlos. Und bei diesem Problem konnten ihm auch die Rechner nicht helfen.
Horst Hoffmann Toghar richtete sich auf eine mehrtägige Wartezeit ein, doch es kam völlig anders. Als es so weit war, blieb er kühl. Er konnte nicht überrascht werden. Jede Handlung war vorausberechnet und zigmal durchkalkuliert. Nichts war dem Zufall überlassen worden. Als die Orter Alarm gaben, war der Insektoide bereit. Ein einziges Kommando an den Hauptrechner des Stützpunkts genügte. Die Varganen taten ihm auf einer nichtemotionalen Ebene fast Leid. Sie mussten sich absolut sicher sein, wenn sie es wagten, ihre Tarnung aufzugeben – sicher oder nicht mehr bei Verstand. Es kam auf das Gleiche heraus. Sie flogen direkt in ihren sicheren Tod.
* Es war Kytharas Wille gewesen. Sie hatte darauf bestanden, mit dem Schiff zur Eisebene zu fliegen, die keine Eisebene mehr war. Unsere Sonden hatten das deutlich gezeigt. Wir verstanden es nicht, hatten nur unsere Vermutungen, die aber jeder für sich behielt. Tatsache schien zu sein, dass sich auf Narukku so gut wie alles verändert hatte oder es noch tat. Kythara hatte auf den Flug mit einem Beiboot verzichtet, der meines Erachtens sicherer gewesen wäre und uns genauso schnell ans Ziel gebracht hätte. Auf meine Fragen hatte sie geantwortet, dass sie nun ihre »ganze Macht demonstrieren« und den »Gegner aus der Reserve locken« wolle. Und so, wie sie das sagte, wurde mir klar, dass sie, im Gegensatz zu mir, doch noch an einen lebenden Gegner glaubte – einen, der den ganzen Machtapparat der varganischen Hinterlassenschaften benutzte und steuerte. Mit anderen Worten: einen Insektoiden, der den ersten Todesimpuls überlebt hatte. Du solltest es nicht so einfach abtun!, mahnte mich der Extrasinn. Du solltest die Möglichkeit wenigstens in Erwägung ziehen. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du ein sturer Hund bist?
Aufruhr auf Narukku Tausendmal. Wenn das reichte. Nur so viel zum Thema »Respekt vor dem Alter«. Kythara strotzte nur so vor Selbstsicherheit. Sie musste das Warten gewohnt sein – 21.000 Jahre hatte sie nichts anderes getan –, doch die Zeit des Versteckspiels auf Narukku hatte anscheinend so viel Energie in ihr aufstauen lassen, dass sie sie jetzt in übertriebener Weise herauslassen musste. Wir flogen sogar ohne Tarnfeld! Auch das verstand sie darunter, den »Gegner aus der Reserve zu locken«. Ich hatte zwar protestiert, aber ich hätte ihr genauso gut ein Liebeslied singen können. Es hätte sie ebenso wenig beeindruckt. Wenn ich ein »sturer Hund« war, was war dann erst sie? Wir überflogen die fünf Städte am Targan-Binnenmeer in etwas geringerer Höhe. Es war jetzt schon hell genug, um auch ohne die Hilfe von Sonden Einzelheiten zu erkennen. Von den ehemals stolzen Gebäuden war nicht mehr viel übrig geblieben. Die Androiden hatten am Ende mit ganz anderen Waffen gekämpft als zu Beginn des Krieges. Ein heller, bläulich weißer Film überzog die Barrikaden wie ein Leichentuch, in Mulden und Einschlagkratern von Bomben schimmerten große Pfützen des Plasmas, manchmal regelrechte Teiche. Die Masse würde nicht lange so zähflüssig bleiben. Unter den sengenden Strahlen der Sonne würde sie austrocknen, Risse bekommen und erstarren. In wenigen Monaten würde nichts mehr an das erinnern, was sie einmal gewesen war. Für die Androiden-Krieger würde es keine Grabsteine geben, nicht einmal eine Heldengedenktafel. Ihr Tod war, obwohl Teil eines offenbar fehlgeschlagenen Planes, so absolut sinnlos gewesen! Dabei hätte ich eigentlich froh sein müssen, dass von der Vision einer schier unbezwingbaren, in der galaktischen Geschichte unvergleichlichen Armee nichts geblieben war außer dem im ersten Sonnenlicht leicht glitzernden Schleim am Boden. Wir flogen weiter, immer weiter nach Westen. Ich wusste jetzt, dass uns die Landung in einer der umkämpften Städte nichts
41 gebracht hätte. Wir hätten zwar sicher die eine oder andere Station unter den Trümmern gefunden, aber kaum viel erfahren oder gar ausrichten können. Natürlich musste jede der Städte eine Verbindung zum Hauptstützpunkt mit dem Hauptrechner gehabt haben – nur so konnte Opalmagor überhaupt an ihn herangekommen sein, denn ich bezweifelte, dass er jemals bis zur »Ebene ohne Schatten« vorgedrungen war –, doch was uns vorschwebte, konnten wir nicht von einer peripheren Station aus bewerkstelligen. Die vormals gefrorene Ebene tauchte vor uns auf. Ich wartete auf den Angriff, der unweigerlich erfolgen musste. Zweifellos waren wir längst geortet worden. Wo blieben die Raketen und die Thermosalven aus den mit Sicherheit vorhandenen unterirdischen Abwehrforts – falls der Hauptstützpunkt der alten Varganen tatsächlich hier verborgen war? Ich zweifelte nicht daran. Und umso unverständlicher erschien mir Kytharas Ruhe. Hätte ich doch noch Zweifel gehabt, dann wären sie in dem Moment ausgeräumt gewesen, als wir die Ortung erhielten. Die Ortungs- und Tastungssysteme der AMENSOON hatten die Station entdeckt! Demnach befand sich der »ursprüngliche Stützpunkt« wie vermutet tief unter der jetzt matschigen Oberfläche der Ebene. Den Ergebnissen zufolge war es ein riesiger Komplex, offenbar aus Höhlen- und Kavernensystemen, mit einer Ausdehnung von mehr als 50 Kilometern Durchmesser und Tiefetagen von bis zu zweitausend Metern unter der Oberfläche. Mir blieb allerdings keine Zeit, diese Informationen zu verdauen, denn in diesem Moment erfolgte der längst überfällige Angriff. Ich hielt den Atem an und konnte immer weniger verstehen, wie Kythara auch jetzt noch so ruhig bleiben konnte. Natürlich flogen wir in einem Varganenschiff, das so leicht nicht vom Himmel zu holen war – aber das, womit wir beschossen wurden, entsprach auch varganischer Technik. Es waren varganische Vernichtungswaffen!
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Kythara schien völlig den Verstand verloren zu haben, als sie jetzt auch noch hell und laut zu lachen begann. Wir flogen in den Untergang – und sie … benahm sich wie eine Verrückte! Sie hatte nicht einmal die Schutzschirme aktiviert! Die Raketen rasten auf uns zu. Wo blieben die Thermostrahlen und die Gravo-Zyklon-Felder? Aber ohne Schutzschirm … Selbst die AMENSOON konnte den Geschossen nicht mehr ausweichen. Ich zählte bei mir die Sekunden, die wir noch zu leben hatten …
* Toghar-134 konnte es nicht fassen! Die Abwehrstellungen des Stützpunkts reagierten nicht auf die Befehle des Hauptrechners. Dass es vielleicht der Hauptrechner selbst war, der seine Anweisungen zur sofortigen Eröffnung des Feuers mit allen Mitteln ignorierte, kam dem Insektoiden nicht in den Sinn. Es hätte keine logische Erklärung dafür gegeben. Tatsache war, dass der Varganenraumer nur noch wenige Kilometer vom Stützpunkt entfernt war. Er hatte seine Geschwindigkeit reduziert und drosselte sie weiter. Zweifellos wollte er landen. Diejenigen, die in ihm saßen, wussten, wo er war! Sie waren gekommen, um zu kämpfen. Aber noch war es nicht so weit. Die Raketen rasten dem Doppelpyramidenschiff entgegen. Fast hatten sie es erreicht. Doch dann beschrieben sie einen Bogen und kehrten zurück! Für einen Moment sah es so aus, als wollten sie direkt an der Oberfläche über dem Stützpunkt explodieren, aber sie nahmen eine weitere Kursänderung vor und gewannen wieder an Höhe. Als sie zehn Kilometer von der Station entfernt waren, detonierten die Sprengköpfe. Die mörderischen Energien, die tiefe Krater in den Boden sprengten und die Luft zum Kochen brachten, hätten von dem Raumschiff nichts übrig gelassen. Es kam ohne Schutz-
schirme! Was konnte das anders sein als eine ungeheuerliche Provokation? Eine überhebliche Demonstration der Macht jener, die es steuerten? Aber das sollte ihnen nichts nützen. Je sicherer sie sich fühlten, desto leichter würde er mit ihnen fertig werden, wenn sie erst einmal auf dem Weg in die Tiefe waren. Toghar zwang sich zur Ruhe. Er stand auf seinen drei Beinen vor den Schirmen und verfolgte die »Landung« des varganischen Raumers. Er berührte den Boden nicht, sondern verharrte fünfhundert Meter mit seiner Unterkante darüber. Kurz darauf öffnete sich eine Schleuse, nur um sich nach einer halben Minute wieder zu schließen. Scheinbar war nichts geschehen, aber Toghar wusste es besser. Der oder die Gegner kamen in Tarnanzügen. Sie trugen Deflektoren, die sie unsichtbar machten. Glaubten sie etwa, ihn dadurch narren zu können? Ihr Hochmut musste unvorstellbar groß sein. Es beeindruckte ihn nicht, es verwunderte nur und war ihm unverständlich. Wenn sie sich mit varganischer Technik so gut auskannten – wussten sie dann wirklich nicht, was sie erwartete? Toghar-134 nahm Kontakt mit dem Hauptrechner auf und vergewisserte sich, dass alles zu ihrem Empfang vorbereitet war – und auch funktionieren würde. Noch einmal wollte er es nicht erleben, dass seine Befehle einfach nicht ausgeführt wurden. Denn ohne den Hauptrechner war er hilflos. Über ihn lief alles, er kontrollierte die Station und alle anderen varganischen Hinterlassenschaften auf dem Planeten; die Waffen- und Vernichtungssysteme, die Fallen. Das ausbrechende energetische Chaos sprach dafür, dass er sich diesmal nicht quer stellte.
6. Die transparenten Klapphelme unserer golden-metallisch schimmernden vargani-
Aufruhr auf Narukku schen Kampfanzüge waren geschlossen, die hochwertigen energetischen VragonSchutzschirme aufgebaut. Die aktivierten Deflektoren schützten uns vor optischer Entdeckung. Ich konnte Kythara keinen Leichtsinn mehr vorwerfen. Diesmal waren wir optimal vorbereitet. Und das war auch bitter nötig. Das Energiegewitter überfiel uns, als wir vielleicht vierzig, höchstens fünfzig Meter unter der Oberfläche waren. Kythara hatte den Einstieg wie blind gefunden und einen Impuls abgestrahlt, der ihn für uns und die beiden uns vorausfliegenden, ebenfalls unsichtbaren varganischen Kugelroboter Varg 1 und Varg 2 öffnete. Es war wie ein Kinderspiel gewesen und nur dadurch zu erklären, dass sich alle varganischen Stützpunkte auf fremden Planeten in den wichtigsten Dingen glichen. Dazu gehörten aber auch, wie Kythara gewarnt hatte, die Fallen. Mit der ersten machten wir gerade Bekanntschaft. Die Strahlen kamen überall aus den Wänden des drei Meter durchmessenden Schachts, in dem wir in die Tiefe glitten. Unsere Schirme leuchteten grell auf. Das Licht blendete. Das auf uns hereinprasselnde energetische Knistern stach in die Ohren. Zusätzlich schlug kinetische Energie zu uns durch. Ich wurde heftig durchgerüttelt, fühlte mich wie ein Spielball unsichtbarer Gewalten, dann plötzlich wie in einer Zentrifuge. Ich schrie, als mein Körper wie zwischen zwei ultrastarken Magneten auseinander gerissen zu werden drohte – so fühlte es sich jedenfalls an. Mein Helm dunkelte sich ab, doch trotz der Filterfunktion brannten mir die Augen. Für lange Sekunden war es die Hölle. Es war, als hätte unser unbekannter Gegner bereits jetzt alle Register gezogen, um uns zu zermalmen. Dabei waren wir noch gar nicht richtig in dem Stützpunkt drin. Ich stemmte mich gegen die Gewalten, die der Schutzschirm nicht abhalten konnte, und spürte, wie mir die Luft knapp wurde. Ich rief nach Kythara und wusste doch
43 gleichzeitig, dass sie mich in diesem Chaos unmöglich hören konnte. Du musst durchhalten! Es bringt dich nicht um! Ich wusste nicht einmal, ob das der Extrasinn war oder meine eigenen Gedanken. Die Zentrifuge drehte sich immer schneller. Ich hatte das Gefühl, von gleich mehreren unterschiedlich vektorierten Schwerkraftfeldern einmal auseinander gerissen und im nächsten Moment zusammengequetscht zu werden. Ich bekam keine Luft mehr. Die Lungen versagten. Mir wurde schwarz vor Augen. Eben hatte ich noch über das Strahlengewitter gelacht, das mühelos von meinem Schutzschirm absorbiert wurde. Jetzt war mir das Lachen vergangen, und es wurde immer noch schlimmer. Die physikalischen und vielleicht auch hyperphysikalischen Gewalten, die auf uns losgelassen worden waren, tobten sich an uns aus, und nichts schützte uns dagegen. Ich fühlte mich so, wie sich ein Getreidekorn fühlen musste, das zwischen mächtigen Mühlrädern zermahlen wurde. Ich glaubte, ferne Stimmen zu hören. Halluzinationen hatten mir gerade noch gefehlt! Wenn etwas mein Gehirn zu beeinflussen versuchte, würde es sich daran die Zähne ausbeißen! Ich sagte es mir immer wieder. Aber es schien nicht zu helfen. Ich geriet in einen Strudel, wurde körperlich und geistig attackiert, rang nach Luft. Ich sagte mir, dass ich mich wehren müsste, aber wie? Ich spürte meine Arme und Beine nicht mehr. Es gab nichts, auf das ich eindreschen konnte; kein Zauberwort, das diesen Spuk beendete. Immer wieder hörte ich das Halte durch!, mal wie aus weiter Ferne, mal so nah, dass es mir den Rest von Verstand zu sprengen drohte, den ich noch besaß. Und als ich glaubte, dass dieser letzte Funke auch noch erlöschen würde, war es vorbei. Es dauerte eine Weile, bis ich es begriff. Alles flimmerte vor meinen Augen, und in den Ohren rauschte es. Erst langsam wurde es besser, und als ich wieder sehen konnte,
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blickte ich durch die Transparenthüllen unserer Helme direkt in Kytharas Augen. Wenn ich je Panik gesehen hatte, dann war es jetzt.
* Sie hielt mich fest; besser gesagt, sie klammerte sich an mir fest. Ich konnte ihre Stimme wieder hören. Es waren wirre, leise Worte, die ich nicht verstand. Aber der Tonfall vermittelte mir einen Eindruck des Schreckens, der die Varganin erfüllte. Dann war sie still. Ihre Lippen bewegten sich nicht mehr. Sie sah mich weiter nur an. Dann senkte sie auch den Blick, ließ mich los und drehte ihr Gesicht von mir weg. War sie beschämt? Wir schwebten im Schacht auf der Stelle. Die Antigravaggregate unserer Anzüge hatten auf unsere Verwirrung reagiert und uns nicht weiter nach unten getragen, als sie keine entsprechenden Befehle mehr bekamen – allerdings mit Verzögerung, und das hatte uns wahrscheinlich den Verstand gerettet, wenn nicht gar das Leben. Sie hatten uns noch so weit sinken lassen, dass wir aus dem gefährlichen Bereich der verborgenen Projektoren herauskamen, mit denen wir angegriffen worden waren. Ich kannte diese Waffen nicht, aber es waren varganische Abwehrvorrichtungen. Kythara war eine Varganin und ebenfalls von ihnen überrascht worden. Auch sie hatte sich nicht wehren können. Ich wusste, dass das der Grund für ihr Entsetzen, ihre panische Reaktion war. In der AMENSOON war das ganz anders gewesen. Da hatte sie die Kontrolle gehabt, jederzeit, auch als ich begann, an ihrem Verstand zu zweifeln. Sie hatte genau gewusst, dass es in jedem varganischen Stützpunkt eine Sicherheitsschaltung gab, die verhinderte, dass varganische Geschütze auf ein varganisches Schiff feuerten. Selbst die Raketen hatten reagiert, leider erst, als sie uns schon fast erreicht hatten. Sie hatte es gewusst und mich Todesängste ausstehen lassen. Ein
Wort von ihr zur rechten Zeit – und nicht erst, als die Gefahr vorbei war – hätte gereicht, um mir diese Qualen zu ersparen. Manchmal liebte sie es zu spielen … Jetzt aber hatte sie am eigenen Leib erfahren müssen, dass das, was für varganische Schiffe galt, nicht unbedingt auch für varganische Eindringlinge gelten musste. Oder es musste gelten, aber es hatte nicht funktioniert. Sie hatte das Gleiche erleben müssen wie ich, doch dazu war noch die Überraschung gekommen, der Unglaube und das Entsetzen. Kythara fing sich schnell wieder. Sie drehte sich zu mir um und nickte grimmig. »Normalerweise«, sagte sie, »hätte das nicht passieren dürfen. Jetzt wissen wir, dass sich jemand an der Programmierung des Hauptrechners zu schaffen gemacht hat und zumindest die ersten Sicherheitsvorrichtungen außer Funktion setzen konnte. Es wird nicht bei dieser einen Überraschung bleiben. Sehen wir uns also doppelt vor.« »In Ordnung«, sagte ich, aber nichts war in Ordnung. Erstens glaubte ich, dass sie es sich etwas zu leicht machte, denn eine Anlage wie der Hauptrechner dieses Stützpunkts war sicherlich nicht so einfach »umzuprogrammieren«, und zweitens redete sie schon wieder von einem »Jemand«. Ich muss es gestehen: Ich war mir inzwischen nicht mehr so völlig sicher, ob es außer uns kein lebendes Wesen mehr auf Narukku gab. Opalmagor war immun gegen die offenbar psionische Beeinflussung der NarukAndroiden gewesen. War es da wirklich nicht auch denkbar, dass, auf die gleiche unerklärliche Weise, einer oder mehrere der Insektoiden »immun« gegen die Todesstrahlung gewesen sein könnten, die sie dahingerafft hatte? »Komm weiter«, sagte Kythara. Die beiden gut halbmetergroßen, golden spiegelnden Kugelroboter begannen wieder zu sinken, wir folgten ihnen. Ihre Tentakelarme waren ausgefahren und endeten in Kombistrahlwaffen. Aber wo sich kein Geg-
Aufruhr auf Narukku ner zeigte, konnten sie ihn auch nicht bekämpfen. Auch ich rechnete mit weiteren Fallen und versprach mir von ihnen nicht allzu viel im Kampf gegen den oder das, was diese Station beherrschte. Kythara hatte gesagt, sie würde den Weg zur Hauptschaltzentrale und dem Hauptrechner kennen, also führte sie weiter – was im Moment keine Kunst war, denn es ging lediglich tiefer im Schacht. Wie gut sie sich wirklich auskannte, würde sich erst zeigen, wenn wir vor Weggabelungen oder geschlossenen Schotten standen. Das kam schneller, als ich gedacht hatte. Wir sanken weiter. Ich beobachtete die Einblendungen im Helm. Demnach waren wir 147 Meter tief, als der Schacht zu Ende war und wir tatsächlich die Qual der Wahl hatten, welchen von drei abzweigenden Korridoren wir nehmen sollten. Kythara traf sie für uns. Sie deutete, ohne zu zögern, nach links. Es herrschte ein ähnliches weißes Licht wie in der AMENSOON. Wir schritten vorwärts, die Roboter immer vor uns her und sichernd. Wir passierten mehrere Kreuzungen, wo weitere Gänge abzweigten, doch Kythara ging stramm geradeaus. Erst als wir einen Ringkorridor erreichten, blieb sie kurz stehen, bis sie wieder nach links wies. Nach zwei Dutzend Metern kam ein weiterer Schacht, dem wir uns anvertrauten. Es ging weitere 50 Meter in die Tiefe, dann aus ihm heraus, nach rechts, geradeaus, zurück, zum nächsten Schacht und eine Rampe hinauf. Es war das reinste Labyrinth. Allmählich begann ich die Geduld zu verlieren. Mehr noch, ich wurde misstrauisch. Ich bekam mehr und mehr das Gefühl, dass Kythara absolut keine Ahnung hatte, wohin sie ging; dass sie sich aufspielen wollte, wie sie es immer getan hatte. Im Schiff, als die Raketen kamen, und überhaupt … schon lange vorher … Sie führte uns in die Irre. Ich wurde mir immer sicherer und folgte ihr mit zunehmendem Widerwillen. Schließlich blieb ich stehen.
45 Sie machte noch ein paar Schritte, dann stand auch sie und drehte sich zu mir um – viel zu schnell und zu ruckhaft. Ein schlimmer Verdacht stieg in mir auf. Sie wurde von einer fremden Macht gesteuert! »Was glotzt du mich an?«, fauchte sie. »Warum bleibst du stehen? Was passt dir nicht?« Ihr Ton gefiel mir nicht. Was wollte sie von mir? Ärger? Den konnte sie haben! »Ab jetzt übernehme ich die Führung!«, sagte ich hart. Sie lachte schallend. Ich wiederholte es. Ich schrie es laut. »Du hast gar nichts zu wollen!«, zischte sie mich an. »Du … ein primitiver Emporkömmling! Ich hätte …« Ich hörte nicht mehr, was sie sagte. Meine Augen weiteten sich, als sich ihr Gesicht veränderte. Ich machte unbewusst einen Schritt zurück und zog den stabförmigen Energiestrahler aus der Halterung am Anzuggürtel. Ich riss die Waffe hoch, als ihr Gesicht zerfloss und sich zu etwas Neuem, Ekelerregendem, Widerlichem verformte – der höhnisch grinsenden Fratze eines Monsters. Das war nicht mehr Kythara, das war … Sie zog den Strahler so schnell, dass ich es erst sah, als sie schon auf mich angelegt hatte und das Feuer eröffnete. Der Strahl fuhr in meinen Schutzschirm und hüllte ihn ein. Für einen Moment stand ich in grellen Flammen, eine lebende Fackel, als ich mich fallen ließ und meinerseits schoss, noch bevor ich den Boden berührte. Kythara – das, was ich für die Varganin gehalten hatte – loderte auf. Es schwankte, aber es fiel nicht. Es kam auf mich zu, in meinen Thermostrahl gebadet, ein feuriges Phantom und nur von dem Gedanken besessen, mich zu töten. Ich sprang auf und rannte ihm entgegen, weiterhin feuernd. Der Gang stand in Flammen, und inmitten der energetischen Gewalten, die wir entfesselten, prallten wir zusammen. Ich verlor meinen Strahler und versuchte, sie zu packen. Ich war rasend und konnte nicht mehr klar denken; wusste nur,
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dass ich das Monster töten musste, bevor es mich umbrachte. Wir prallten mit voller Wucht aufeinander. Ihre Schreie erfüllten den Gang, übertönten schrill das Energiechaos um uns herum. Unsere Schutzschirme interferierten und desaktivierten sich. Meine Hände waren weit vorgestreckt, und ich sah ihre auf mich zukommen, riesige Klauen mit messerscharfen Enden; Mordinstrumente. Ich bückte mich, schoss wieder hoch und packte sie. Im nächsten Moment lagen wir am Boden und wälzten uns. Jeder versuchte, dem anderen die Luft abzudrücken. Sie schlug und trat nach mir, ich versuchte ihr das Genick zu brechen. Doch sie war geschmeidig, nicht wirklich zu fassen. Sie kämpfte wie eine Katze, und plötzlich war sie auf mir. Ich lag auf dem Rücken und sah in ihre Fratze. Sie hatte beide Hände über den Kopf erhoben, in den geschlossenen Klauenfingern ein blutrot gleißendes langes Messer. Als es auf mich herabfuhr, brauchte ich alle noch vorhandene Kraft, um mich mit dem Oberkörper zur Seite zu werfen. Der tödliche Hieb ging knapp daneben. Ich zog die Beine an und hebelte sie von mir. Kreischend flog sie durch die Luft und stand wieder, als ich mich aufgerafft hatte und mit beiden Fäusten weit ausholte. Ich wollte sie mit einem Hieb zerschmettern, ihr alle Rippen auf einmal brechen, sie endgültig loswerden. Nur wenn sie tot war, konnte ich leben. Nur wenn … Der Schock traf mich mitten in der Bewegung. Ich hatte nicht einmal mehr Zeit, die Augen aufzureißen und zu schreien. Ich spürte den Hammerschlag gegen die Stirn. Dann war nichts mehr.
* Toghar-134 beobachtete den Vormarsch der Eindringlinge zunächst in absoluter Siegesgewissheit, dann zunehmend beunruhigt. Schien am Anfang ihr Tod nur eine Frage von Minuten gewesen zu sein, so musste er nun erleben, wie eine Falle nach der anderen
versagte. Er konnte sie immer noch nicht sehen, die Beobachtung war nur indirekt, durch Ortung der Streuemissionen ihrer Deflektorfelder und der Energieabgabe der beiden Körper, bei denen es sich nur um Roboter handeln konnte – wie der Hauptrechner bestätigte, um varganische Roboter. Der Herr der Station erlebte eine schlimme Überraschung nach der anderen. Immer wenn er davon überzeugt war, dass die Fremden nun endlich und endgültig dem Fallensystem anheim gefallen waren, belehrten sie ihn eines Besseren. Manchmal dauerte es Stunden, bis sie wieder zu neuer Aktivität erwachten. Doch sie kamen näher und näher, und die Art, wie sie sich bewegten, machte deutlich, dass sie ganz genau wussten, wo ihr Ziel lag. Irgendwann wusste Toghar, dass er sie nicht aufhalten konnte. Es war gegen jede Wahrscheinlichkeit, aber es konnte sich nur noch um ein, zwei Stunden handeln, vielleicht auch weniger, bis sie vor ihm standen. Sie öffneten jedes Schott, es gab für sie keine Sperren. Er hatte keine eigenen Roboter zur Verfügung, die er ihnen entgegenschicken konnte – und der Rechner weigerte sich, seine Befehle auszuführen. Der Hauptrechner reagierte überhaupt nicht mehr auf seine Appelle, ihn zu unterstützen. Im Gegenteil, er schien sich plötzlich gegen ihn zu wenden. Wie anders war es zu erklären, dass alle Beobachtungsschirme mit einem Schlag dunkel wurden? Toghar-134 verstand es nicht, und das war mit das Schlimmste, was einem von seiner Art passieren konnte. Er hatte von dem Stützpunkt keine Hilfe mehr zu erwarten. Er begriff, dass er auf einmal allein war. Ohne die Beobachtungssysteme war er taub und blind. Ebenso gut hätte das Licht ausgehen können. Wo waren die Gegner? Wie lange noch, bis sich das Schott öffnete und sie eintraten? Nichts ließ sich mehr schätzen, geschweige denn exakt voraussagen. Alles hatte sich innerhalb kürzester Zeit geändert. Toghar-134 suchte verzweifelt
Aufruhr auf Narukku nach einem Ausweg. Es durfte einfach nicht sein! Er hatte alle Vorteile für sich gehabt. Die ganze Machtfülle des varganischen Stützpunkts hatte er in Händen geglaubt. Und nun war … Nichts war davon geblieben. Der logische Verstand sagte ihm, dass er den unausweichlich bevorstehenden Kampf nicht gewinnen konnte. Aber der Stützpunkt durfte nicht in die Hände der Varganen fallen! Es würde den Plan in Gefahr bringen, ja vielleicht scheitern lassen. Es durfte nicht geschehen! Toghar-134 versuchte wider besseres Wissen, eine Hyperfunkbotschaft abzusetzen. Es war sinnlos. Die Station gehorchte ihm nicht mehr. Er war allein. Alles, was er noch tun konnte, war, es den Feinden so schwer wie möglich zu machen. Er trug die Verantwortung! Er musste kämpfen, für die Große Sache! Für den Plan! Kämpfen bis zum letzten Schuss, zum letzten Tropfen Blut … Er wartete. Es war still, unheimlich still in der Zentrale. Die dunklen Bildschirme starrten ihn an. Die Minuten tickten lautlos herunter. Toghars Finger hatten sich um den Griff seiner Strahlwaffe gekrampft, mit der er auf das Schott zielte, durch das sie kommen mussten. Das Warten war unerträglich und wurde schlimmer mit jeder weiteren Minute, die ereignislos verstrich. Eine jähe Hoffnung keimte in dem Insektoiden auf. Waren die Feinde am Ende doch noch dem Fallensystem zum Opfer gefallen? Wie sonst war es zu erklären, dass sie noch nicht hier waren? Bei dem Tempo und der Beständigkeit, mit der sie vorgerückt waren, solange er es hatte beobachten können, musste es längst geschehen sein. Es geschah etwas anderes. Das Ende kam aus einer anderen, unerwarteten Richtung. Kein Schott flog auf. Toghars Schrei schrillte durch die Zentrale, als plötzlich die Beleuchtung ausfiel und er im Dunkeln stand – in völliger Dunkelheit.
47 Danach konnte er nicht mehr schreien.
* Wir waren zehn Tode gestorben. Es war ein Weg durch die Hölle gewesen. Von allen Fallen, in die wir geraten waren, waren die Angriffe auf unser Gehirn am schlimmsten gewesen. Wir hätten uns mit hundertprozentiger Sicherheit gegenseitig umgebracht, wenn Varg 1 und Varg 2 uns nicht im letzten Moment paralysiert hätten. Jeder hatte im andern seinen Feind gesehen, seinen Tod, ein Ungeheuer, das vernichtet werden musste. Hass und Wahnsinn hatten von uns Besitz ergriffen. Als wir schließlich wieder zu uns kamen, hatten die Roboter uns aus der Gefahrenzone herausgebracht. Wir waren benommen, wussten aber, was wir – fast – getan hätten. Minutenlang hatten wir uns nicht ansehen können. Dann hatte Kythara sich mit einem Ruck umgedreht und mit so grimmiger Miene, wie ich sie an ihr noch nie gesehen hatte, gesagt: »Gut, Atlan. Es tut mir Leid, und es tut dir Leid. Die Sache ist abgehakt, aber ich habe langsam genug. Noch einmal wird uns das nicht passieren!« Sie hatte Recht behalten. Wie waren in weitere Fallen geraten, mindestens ein halbes Dutzend. Ein weiteres Dutzend hatten die Kugelroboter unschädlich gemacht, bevor sie uns gefährlich werden konnten. Kythara hatte uns entschlossen geführt. Dennoch brauchten wir Stunden bis zu dem Schott, vor dem wir jetzt standen, und in diesen Stunden hatte ich mir wahrhaftig mehr als einmal gewünscht, diese Varganin nie zum Feind haben zu müssen. Ich wusste, dass wir am Ziel waren oder nur kurz davor. Kythara sah mich an und nickte. Wir hielten beide unsere Strahler bereit. Auch die Waffenarme der Roboter waren auf das Schott gerichtet. Ich war bis in die Zehenspitzen hinein angespannt. Die Varganin nannte einen Kode. Es war immer die gleiche Prozedur. Mindestens
48 zehn Türen hatte sie so für uns geöffnet. Auch diesmal war es nicht anders. Ein quaderförmiges Holofeld erschien vor uns, und sie streckte ihre Hand hinein. Für Sekunden wurde zunächst sie, dann ihr Kopf von hellblauem, energetischem Flimmern umspielt. Dann erlosch das Feld. Im nächsten Moment öffnete sich das Schott für uns. Ich hatte die Luft angehalten. Ich hatte mir ein Dutzend Mal auszumalen versucht, was uns in der Hauptschaltzentrale des Stützpunkt erwarten mochte. Es waren die unterschiedlichsten Horrorszenarien gewesen. Aber es kam anders. Für einige Augenblicke starrten wir in völlige Dunkelheit. Kythara warf mir einen irritierten Blick zu. Damit hatte sie ebenso wenig gerechnet wie ich, der in diesem Moment ganz bestimmt kein besseres Bild abgegeben hatte. Dann wurde es hell. Wir sahen die große Zentrale mit ihren bildschirmgespickten Wänden und den zahllosen Kontrollpulten und -leisten vor uns, den Sitzgelegenheiten und anderen Arbeitsplätzen. Sie waren alle leer. Die Zentrale schien verlassen zu sein. Meine erste Vermutung schien sich also doch zu bestätigen. »Komm«, sagte Kythara und winkte mir. Varg 1 und Varg 2 schwebten als Erste hinein. Kythara ging durch das Schott, die Waffe immer noch schussbereit vorgehalten. Sie schwenkte sie hin und her. Dann blieb sie stehen und zielte auf etwas am Boden, was ich noch nicht sehen konnte. Als ich neben ihr stand, erblickte ich den reglosen Insektoidenkörper. Er schien uns aus seinen großen Facettenaugen anzustarren, aber er konnte nichts mehr sehen – nie wieder. »Er ist tot«, sagte Kythara. Es war allerdings mehr eine Vermutung als eine Feststellung, das konnte ich an ihrem Tonfall hören. Die Gewissheit bekamen wir erst, nachdem Varg 1 den Fremden einer ersten Untersuchung unterzogen hatte. Ich befahl ihm, den Leichnam genauer
Horst Hoffmann unter die Lupe zu nehmen, während Kythara sich den ebenfalls wieder zum Leben erwachten Kontrollen zuwandte und versuchte, einen Kontakt zum Hauptrechner des Stützpunkts herzustellen. Er kam prompt zustande. Ich überließ es ihr, die Fragen zu stellen, die ihr auf der Seele brannten. Mich interessierte natürlich auch, was in dieser Station geschehen war. Mehr noch aber wollte ich wissen, ob ich nun Recht gehabt hatte oder nicht, was die Insektoiden und ihren kollektiven Tod betraf. Vor allem diesen hier, den Burschen vor mir am Boden. Nach weniger als fünf Minuten hatte ich die Gewissheit. Varg 1 hatte zunächst festgestellt, dass der Fremde erst seit weniger als dreißig Minuten tot war – also hatte er tatsächlich den Todesimpuls überlebt, durch den alle anderen gestorben waren. Allerdings nur um Tage. Varg 1 fand den Reizempfänger in seinem Körper, das »Todesimpuls-Implantat«, um es treffender zu bezeichnen. Es hatte aus Biomasse mit einer psionischen Komponente bestanden und mit zweitägiger Verzögerung reagiert. Warum das so war, sollte ich nie erfahren. Ich hatte nur die Vermutung, dass es zunächst versagt hatte und sich dann aktiviert hatte, als unser Gegner – ich hatte jetzt keinen Zweifel mehr daran, dass er es nach dem Tod seiner Artgenossen gewesen war, der sich die Mittel des Stützpunkts zu Nutze gemacht hatte – die Aussichtslosigkeit seiner Lage erkannte und zu einer Gefahr für seine Auftraggeber geworden wäre, wäre er lebend in unsere Hände gefallen. Die Gefahr, dass er – falls dazu in der Lage – uns im Verhör etwas über die Lordrichter von Garb oder das »Schwert der Ordnung« hätte ausplaudern müssen, war zu groß gewesen. Es waren Vermutungen, aber ich hatte mich damit zufrieden zu geben. Kythara hatte wesentlich mehr Glück. Sie sprach mit dem Hauptrechner, der ihre Legitimation und Befehlsberechtigung längst anerkannt hatte, und erhielt nicht nur Auskunft
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auf ihre Fragen, sondern viel mehr.
* Der Hauptrechner begann mit einem »Geständnis«. Er schilderte, wie die insektoiden Wesen auf Narukku gelandet waren und nach und nach alle wichtigen Anlagen unter ihre Kontrolle gebracht hatten – von der Androidenfabrik bis zu diesem uralten Stützpunkt, in dem wir uns jetzt befanden. Er war nicht in der Lage gewesen, sie in ihrem Treiben zu stoppen, denn er konnte nicht erkennen, dass sie gegen die Interessen der varganischen Erbauer handelten. Wir erhielten die Bestätigung für unsere Vermutung, dass die Androiden durch psionische Beeinflussung von harmlosen Wissenschaftlern zu kriegslüsternen Kämpfern gemacht worden waren, die durch stetige Wiedergeburt in neuen Körpern und Lernen aus den im »früheren Leben« gemachten Erfahrungen als solche immer weiter optimiert werden und am Ende durch psionische Aufladung zu den Superkriegern gemacht werden sollten, die ich schon als Schreckensbilder vor Augen gehabt hatte. Nicht Tausende, nicht Millionen, sondern letztlich Milliarden seelen- und furchtloser, zu allem entschlossener und nach Belieben einsetzbarer Krieger, die durch eingepflanzte Miniableger der Psi-Quelle über Parakräfte des gesamten Spektrums verfügen sollten. Dieser teuflische Plan hätte gelingen können, dachte ich, wenn nicht das Auftauchen der Vergessenen Positronik mit ihren mit dem Psi-Quellen-Ableger reagierenden Kristallmassen ihn letztendlich verhindert hätte. Daran, dass es auch ganz anders hätte kommen können, durfte ich gar nicht denken. Denn ohne die Vergessene Positronik, den »psimateriellen Kristall«, wären auch wir nicht mit der AMENSOON nach Narukku gekommen. Wir hätten niemals erfahren, was hier in aller Stille vorbereitet wurde … Ebenfalls erhielten wir die Bestätigung dafür, dass die Insektoiden als Krieger im Dienst des »Schwerts der Ordnung« standen
und der direkten Befehlsgebung der Lordrichter von Garb unterworfen waren. Das alles hatten wir geahnt. Aber es ging weiter. Kythara stellte ihre Fragen präzise, und der Rechner, der sie quasi im letzten Moment als Varganin erkannt und sich daraufhin gegen den Insektoiden gewandt und alle weiteren gegen uns schon voraktivierten Fallen außer Funktion gesetzt hatte, antwortete. Zuerst bestätigte er die Geschichte, die uns Opalmagor vor seinem Tod über die Entstehung der varganischen Siedlung auf Narukku erzählt hatte. Er schloss die Lücken in dem Bericht und nannte, unter anderem, die Namen der acht alten Varganen. Sie lauteten Teshar, Kailotar, Keshara, Kebrandro, Nozallinex, Targax, Nentroggain und Neschonart – weder Kythara noch mir kamen sie bekannt vor, und sie waren wohl auch nicht mehr wichtig. Trotzdem speicherte ich sie in meinem fotografischen Gedächtnis für die Nachwelt. Die toten Körper der acht waren nach Varganenart in transparenten Konservierungssärgen nahe der Zentrale aufgebahrt. Die Varganen nahmen sich das Leben, doch die Androidenfabrik wurde nicht abgeschaltet. Sie arbeitete in den nachfolgenden Jahrtausenden weiter und produzierte immer neue Generationen von Naruks, die bei der täglichen »Reinigung« ihre Erinnerungen weitergaben und in den Wissenspool einfließen ließen, der von varganischen Großrechnern verwaltet und aufbereitet wurde. Das ging so lange gut, bis die Insektoiden kamen und die Androidenproduktion in ihre eigenen Hände nahmen. Das war die Vergangenheit. Wir hatten jetzt ein Bild von dem, was auf Narukku geschehen und unwiederbringlich verloren war. Die Androidenfabrik war gesprengt worden, es würde nie wieder neue Naruks geben. Wahrscheinlich war das gut so. Auf diese Weise konnten sie nicht mehr missbraucht werden. Was mir mehr unter den Nägeln brannte, war etwas anderes. Kythara machte eine
50 Pause und warf mir einen bedeutsamen Blick zu, bevor sie die Frage nach der galaktischen Position des Planeten stellte. Keine zwei Minuten später wussten wir, dass sich Narukku am Rand der Southside der Milchstraße befand, und zwar rund 60.000 Lichtjahre von Terra und nicht ganz 45.000 Lichtjahre von Omega Centauri entfernt. Ich stellte die Frage nach der Distanz zu Arkon. Sie betrug bereits stattliche knapp 77.000 Lichtjahre. Damit wussten wir endlich, in welchem Teil des Universums wir herausgekommen waren. Die große Frage, die sich uns jetzt noch stellte, lautete: Was machen wir daraus? Kythara las es in meinen Augen. Sie beherrschte sich mustergültig, aber mir machte sie nichts mehr vor. Ich konnte sehen, wie es hinter ihrer hübschen Stirn arbeitete. »Der Kardenmogher, nicht wahr?«, sagte ich. »Du denkst an ihn und an Varxodon – und wie wir dahin kommen.« Sie lächelte. »Natürlich, Atlan. Hast du es vergessen? Wir brauchen den Kardenmogher – oder besser noch mehrere –, um die Psi-Quelle auszuschalten und die Pläne der Lordrichter zu durchkreuzen, worauf auch immer sie abzielen. Und deshalb müssen wir zusehen, wie wir dorthin kommen. Hier auf Narukku haben wir nichts mehr verloren. Die AMENSOON wird sich selbst wieder instand setzen. So lange können wir nicht warten – oder?« Ich schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.« »Eben. Und deshalb suche ich uns jetzt den besten Weg nach Varxodon.« »Und wie?«, wagte ich zu fragen. Sie sah mich an, als wüsste ich es genau. Sie lächelte immer noch, doch jetzt schon wieder mit einem leichten Anflug von leisem Spott. »Transmitter, Atlan. Der Hauptrechner hat auf meine Frage bestätigt, dass es in diesem Stützpunkt Personen- und Frachttransmitter gibt, die Narukku mit anderen Versunkenen Varganenwelten verbin-
Horst Hoffmann den.« Sie zuckte die Achseln. »Einige davon funktionieren nicht mehr, aber das werden wir sehen.« »Ja«, sagte ich. Es mochte wenig begeistert klingen, denn ich dachte an das Alter dieser Anlagen. »Ja, natürlich.« Wenn sie den stillen Einwand in meinen Augen sah, ließ sie ihn nicht gelten. Sie drehte sich um und machte sich an die Arbeit.
7. 14. Mai 1225 NGZ Wir standen in voller Ausrüstung vor der von vier achteckigen, knapp hüfthohen Säulen getragenen Metallplatte und warteten auf die Nachricht, dass wir den Transmitter ohne Gefahr benutzen konnten, der uns über eine Distanz von nicht weniger als 23.000 Lichtjahren auf den Varganenplaneten Maran'Thor befördern sollte. Wir waren ausgeruht und hatten neue Kraft getankt. Wir hatten die Nacht an Bord der AMENSOON verbracht und ausgiebig geschlafen, uns frisch gemacht und gefrühstückt. Jetzt harrten wir der Dinge, die auf uns zukamen – gut vorbereitet, wie wir dachten. Unser Ziel hatte sich nicht geändert. Es war und blieb die ferne Sternenstadt Varxodon, wo wir hofften, in Gestalt eines oder mehrerer Kardenmogher die benötigten Mittel zum Ausschalten der pervertierten PsiQuelle zu finden. Allerdings hatten sich Kytharas anfängliche Hoffnungen, Varxodon möglichst auf direktem Weg zu erreichen, nicht erfüllt. Vom Hauptrechner des Stützpunkts hatte sie keine zuverlässige Information darüber bekommen können, ob Varxodon per Transmitter überhaupt erreichbar war. Es auf »gut Glück« zu versuchen war viel zu riskant. Sie hatte sich zwar in die Idee verrannt gehabt, und es kostete mich auch einige Überzeugungsarbeit, aber nach Stunden teilweise hitziger Diskussion hatte ich sie soweit, den zwar vielleicht beschwerlicheren, aber hoffentlich sichereren Weg zu
Aufruhr auf Narukku gehen – in der Hoffnung, auf einer der Versunkenen Welten, die per Transmitter zu erreichen waren, vielleicht ein funktionstüchtiges neues Schiff zu finden, mit dem wir dann den Rest der Reise zurücklegen konnten. Die AMENSOON hatten wir im TarganBinnenmeer »geparkt«. Sie war aus der Luft nicht zu entdecken. Das Antiortungs- und das Tarnfeld waren aktiviert und der Rest energetisch abgeschirmt – »neutralisiert«. Wir konnten nicht ausschließen, dass die Insektoiden über kurz oder lang zurückkamen, um nachzusehen, was aus ihren Artgenossen geworden war. Auch möglich war, dass sie die Transmitteraktivität orteten und davon angelockt wurden. Wir waren davon überzeugt, an alles gedacht zu haben. Nicht zuletzt hatten wir den Stützpunkt der Varganen in erhöhten Bereitschaftsmodus versetzt. Noch einmal würde der Hauptrechner sich so schnell nicht wieder hintergehen lassen. Dafür war gesorgt worden. Wir hielten uns an den Händen und warteten. In der Transmitterhalle herrschte ein bläuliches Licht. Ein feines Summen erfüllte die Luft. Ich spürte den ungeduldigen Druck von Kytharas Fingern. Der körperliche Kontakt tat gut nach all dem, was wir auf dem Weg in die Zentrale des Stützpunkts durchgemacht hatten. Zu wissen, wozu wir unter Beeinflussung fähig waren, machte uns immer noch zu schaffen. Mach dir doch nichts vor, stichelte der Extrasinn. Du weißt genau, dass es nicht nur das ist! Kannst du dich da nicht heraushalten?, dachte ich zurück. Sie ist eine Frau, eine faszinierende Frau! Und du machst auch Eindruck auf sie. Ich räusperte mich. Kythara sah mich an. »Ist etwas?« »Nein«, sagte ich. »Es dauert mir einfach zu lange.« Sie versuchte hoffentlich nicht, in meinen Gedanken nachzuforschen. Dabei wurde ich tatsächlich langsam nervös. Wir hatten unsere beiden Kugelroboter
51 vorausgeschickt, um zu kontrollieren, ob die Transmitter-Gegenstation auf Maran'Thor tatsächlich sicher war. Wir hatten sie in dem sich formenden, dunkelrot glühenden Ring aus pulsierender Energie verschwinden sehen. Sie waren entmaterialisiert worden und nicht zurückgestoßen worden. So weit schien alles funktioniert zu haben. Wo blieb das Signal? Maran'Thor … Die meisten schalttechnisch möglichen Transmitterverbindungen zu anderen Varganenwelten waren nicht zustande gekommen. So ruhten all unsere Hoffnungen auf Maran'Thor, oder sollte ich sagen, der »Welt mit den feurigen Ringen«? Das war die Umschreibung, die ich, wie den Namen selbst, aus meiner Jugendzeit kannte. Ich wusste, dass sich dort einmal Ischtar mit ihrem Artgenossen Wamloyt getroffen hatte. Kythara war mir allerdings – wieder einmal – einen Schritt voraus. Sie war bereits einmal dort gewesen. Bei der ersten Erwähnung des Planeten hatte sie einen seltsam träumerischen Blick bekommen, den ich auch bis jetzt nicht zu deuten vermochte. Von sich aus sprach sie nicht darüber, und ich stellte keine entsprechenden Fragen. Wenn sie wichtige Erinnerungen an Maran'Thor hatte, dann würde sie sie zur rechten Zeit preisgeben. Mir spukten ganz andere Sorgen im Kopf herum. Wir waren uns beide darüber im Klaren, dass nicht nur der Transmitterdurchgang trotz aller Vorsichtsmaßnahmen riskant war. So mussten wir vielmehr damit rechnen, auf Maran'Thor wieder mit Truppen der Lordrichter konfrontiert zu werden – oder kurz darauf. Wir hatten sogar überlegt, ob es sinnvoll wäre, nach Verstärkung zu rufen – vielmehr es wenigstens zu versuchen. Die Antwort war: nein! Denn einerseits reichten unsere derzeitigen Erkenntnisse über das »Schwert der Ordnung« noch nicht aus, und andererseits hatte weder der Hypersender von Narukku noch jener der AMENSOON eine genügend große Reichweite. Hinzu kam, dass
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die ATLANTIS im Zentrum von Omega Centauri wegen der dortigen Hyperschwallstörungen selbst mit stärksten Sendern nicht zu erreichen sein würde. Schließlich und endlich kam noch der Zeitfaktor hinzu. Je länger es dauerte, desto schwieriger würde das Vorgehen gegen die Psi-Quelle werden. Man konnte es drehen, wie man wollte: Kythara und ich waren auf absehbare Zeit weiter ganz auf uns allein gestellt. Und dann endlich kam das Signal. Wir erhielten die »Keine Gefahr«-Bestätigung von der Gegenstation auf Maran'Thor und packten uns noch einmal fester an den Händen. Ein letztes Mal sahen wir uns an. Wir waren bereit. Wir wussten nicht, wo und in was wir herauskommen würden und was uns dort erwartete, aber wir hatten unser Ziel und waren entschlossen, es auch zu erreichen – koste es, was es wolle. »Gehen wir«, sagte sie. »Gehen wir«, wiederholte ich. Wir setzten uns in Bewegung, auf die große Platte auf den Sockeln zu.
Epilog Er hatte das Gefühl zu stürzen, aus der tiefen Dunkelheit, die ihn umgab, hinein in das Licht vor ihm. Zuerst war es nur ein kleiner Punkt gewesen, ein einziger Stern in der allgegenwärtigen, erdrückenden Schwärze des Raums – nein, Raum war das falsche Wort. Es hatte keinen Raum mehr gegeben und keine Zeit. Er war durch das Nichts gewirbelt, durch das namenlose Grauen, von einem Ende der Ewigkeit bis zum andern. Sein Mund hatte lautlose Schreie ausgestoßen, seine Arme und Beine hatten versucht, sich festzuhalten, wo es keinen Halt mehr gab. Er war wie eine Flamme gewesen, die erloschen war. Und jetzt zog es ihn mit Gewalt auf das Licht zu, das schnell größer wurde. Er stürzte hinein, in einen riesigen Schlund aus purer Helligkeit, der nun das ganze Universum auszufüllen schien. Er fiel, wurde ver-
schluckt … … und fand sich in einem bunten Gewirr aus Farben und fließenden Formen wieder, die sich nur allmählich glätteten und stabilisierten. Die Welt um ihn herum festigte sich. Er erkannte sie wieder. Sie war ihm vertraut, auch wenn sie noch verzerrt wirkte. Aber auch das legte sich, und Erzherzog Garbhunar begriff endlich, dass er zurück war; zurück in seiner Dimension, seiner Welt, seinem Körper. Um ihn herum zeigte sich ein Bild der Verwüstung. Überall lagen Trümmer am Boden, abgerissene und -gesprengte Teile von Pulten, Sesseln – allem Möglichen. Und dazwischen … reglose Körper. Nur wenige seiner Untertanen standen noch auf den Beinen oder saßen, knieten, zeigten Anzeichen von Leben und Begreifen. Wie er mussten sie Schreckliches durchgemacht haben. Einige mochten dabei den Verstand verloren haben und die Kameraden beneiden, die im Psi-Sturm gestorben waren. Der Sturm! Die Quelle! Der zurückgekehrte Ableger, mit dem das Chaos begonnen hatte! Mit einem Schlag waren die Erinnerungen wieder da, und der Erzherzog begriff, dass er jetzt oder nie versuchen musste, die Lordrichter zu alarmieren. Der Sturm, so schien es, hatte nachgelassen. Er war so weit abgeflaut, dass die Dinge fast wieder normal wahrnehmbar waren, aber das konnte sich schnell wieder ändern. Einige der vermeintlich Toten begannen sich zu bewegen. Garbhunar registrierte es mit gewisser Erleichterung, aber seine Untergebenen mussten warten. Die Lordrichter gingen vor. Wenn er es jetzt nicht schaffte, sie zu erreichen, dann vielleicht nie mehr. Und die Verbindung kam zustande. Garbhunar hatte nicht wirklich und fest daran geglaubt, aber er hörte die Stimme eines der Herren, obwohl er kein Bild erhielt. Die Verbindung blieb konstant, bis der Erzherzog seinen Bericht erstattet hatte. Sie brach nicht zusammen, wurde nicht gestört, sondern wurde sogar noch besser. Der Sturm
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gönnte der noch lebenden Besatzung der Zentrale eine lange Pause, wenn er sich nicht gar ganz legte. Garbhunar wagte noch immer nicht, darauf zu hoffen. Er hatte gesagt, was zu sagen war, und wartete bange auf die Antwort des Lordrichters. Doch bevor sie kam, dröhnte ein Ortungsalarm durch die Zentrale der PsiQuelle. Garbhunar erhielt die Mitteilung, dass auf Narukku soeben ein PersonenFerntransmitter aktiviert worden sei. Die angemessene Gegenstation befand sich auf einer weiteren Versunkenen Welt der Varganen, Maran'Thor. Auch das teilte er dem Lordrichter mit. Seine Geduld wurde noch einmal auf eine Probe gestellt, dann kam endlich die Antwort. Der – immer noch unsichtbare – Lordrichter bestätigte den Erhalt des Berichts und befahl mit dröhnender Stimme, den Vorgang genau zu untersuchen. Wie es aussah, hätten Varganen die Aktivitäten des »Schwerts der Ordnung« entdeckt und es müsse davon ausgegangen werden, dass sie auf die eine oder andere Weise dagegen vorzugehen beabsichtigten. Deshalb sollten Torghan-Krieger den Fremden, die den Transmitter benutzt hatten, folgen – entweder ebenfalls per Trans-
mitter oder mit Raumschiffen – und sie ausschalten. Erzherzog Garbhunar bestätigte den Erhalt des Befehls und versprach seine schnellstmögliche Ausführung. Der Lordrichter beendete den Kontakt mit den Worten: »Sollten die Fremden wider Erwarten doch entkommen und vielleicht sogar die Sternenstadt Varxodon als Ziel ausgewählt haben … nun, dann werden sie bereits erwartet werden!« Sein lautes, schallendes Lachen hallte Garbhunar noch lange in den Ohren, nachdem der Lordrichter die Verbindung von sich aus unterbrochen hatte. Selbst er, den so leicht nichts aus der Fassung zu bringen vermochte, spürte dabei einen heftigen Schauder. Er würde nicht zögern, die Befehle auszuführen. Aber er wusste nur eines: Wer immer diese Unbekannten waren, die den varganischen Ferntransmitter benutzt hatten – er wollte nicht in ihrer Haut stecken. Um nichts auf der Welt. ENDE
ENDE
Kampf um Maran'Thor von Horst Hoffmann Der Transmitter hat Atlan und Kythara abgestrahlt – auf die ihnen noch unbekannte Welt Maran'Thor. Doch ihr Ziel bleibt Varxodon. Ob Maran'Thor wirklich eine Pforte zur geheimnisvollen Sternenstadt darstellt und was ihnen auf der Suche nach dem Kardenmogher zustoßen wird, darüber verrät uns Horst Hoffmann mehr in Band 18 der ATLAN-Reihe