Nr. 360
Aufbruch ins Unbekannte Zwei Männer auf der Suche nach sich selbst von Horst Hoffmann
Pthor, der Kontinent de...
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Nr. 360
Aufbruch ins Unbekannte Zwei Männer auf der Suche nach sich selbst von Horst Hoffmann
Pthor, der Kontinent des Schreckens, der dank Atlans und Razamons Eingreifen der Erde nichts anhaben konnte, liegt nach jäh unterbrochenem Hyperflug auf Loors, dem Planeten der Brangeln, in der Galaxis Wolcion fest. Pthors Bruchlandung, die natürlich nicht unbemerkt geblieben war, veranlaßte Sperco, den Tyrannen von Wolcion, seine Diener, die Spercoiden, auszuschicken, damit diese den Eindringling vernichten. Daß es ganz anders kam, als Sperco es sich vorstellte, ist allein Atlans Eingreifen zu verdanken. Denn der Arkonide übernahm beim Auftauchen von Spercos Dienern sofort die Initiative und ging systematisch daran, die Macht des Tyrannen zu unter graben. Inzwischen haben dank Atlans Hilfe die von Sperco Unterdrückten ihre Freiheit wiedererlangt. Der Tyrann von Wolcion ist tot. Er starb in dem Augenblick, als sein Raumschiff bei der Landung auf Loors zerschellte. Während Atlan, der als einziger die Schiffskatastrophe überlebte, sich zusammen mit »Feigling«, seinem mysteriösen neuen Gefährten, auf den mühevollen Rückweg zur FESTUNG macht, wenden wir uns einem anderen Mann zu, der ebenfalls in eine abenteuerliche Odyssee verstrickt ist. Wir meinen Grizzard, den ehemaligen Schlä fer, der sich im Körper Axton-Kennons befindet. Mit Hilfe der Porquetor-Rüstung verläßt er die Feste Grool auf der Suche nach sich selbst. Sein Start ist ein AUFBRUCH INS UNBEKANNTE …
Aufbruch ins Unbekannte
3
Die Hautpersonen des Romans:
Grizzard und Axton-Kennon - Zwei Männer auf der Suche nach sich selbst.
Atlan - Der Arkonide auf dem Weg zur FESTUNG.
Feigling - Atlans Begleiter.
Caidon-Rov - Herr der Feste Grool.
Razamon - Der Atlanter erfüllt einen Auftrag der Odinssöhne.
1. GRIZZARD: DER AUFBRUCH Es dauerte einige Sekunden, bis Atlan die Überraschung überwunden hatte. Er selbst war dabeigewesen, als Porquetor, der von Yunthaal gelenkte Halbroboter, im Kontroll raum der oberen Kugel den Geist aufgege ben hatte. Nun kletterte der Stählerne an einem Seil an der Außenmauer der Feste Grool herab! Die Dalazaaren, die die Feste belagerten, wurden von wilder Panik erfaßt. Viele von ihnen rannten Hals über Kopf davon. Ande re zögerten noch. Eine Gruppe wurde auf Atlan aufmerk sam, als Feigling schreiend die Flucht er griff. Der Arkonide konnte sich nicht mehr um ihn kümmern. Er hatte genug damit zu tun, seine eigene Haut zu retten. Wegrennen hatte keinen Sinn, dazu waren die Krieger schon viel zu nahe. Sie schienen zu glauben, daß Atlan für Porquetors Wiederauferstehung verantwort lich war. Der Arkonide streckte ihnen ab wehrend die Hände entgegen. Gleichzeitig behielt er die Feste im Auge. Porquetor hatte eine der Stützen erreicht und stieß sich davon ab. Der Schwung reich te aus, um ihn über den tiefen Graben, der das Bauwerk umgab, hinwegzutragen. Porquetor begann, von der Feste wegzu rennen. Das alles war mehr als verwirrend für At lan, doch er hatte keine Zeit mehr, sich Ge danken zu machen, denn die Dalazaaren wa ren fast heran. »Bleibt stehen, ihr Narren!« rief der Ar konide ihnen in Pthora zu. Noch einmal sah er sich schnell um. Von Feigling war nichts
zu sehen. Es gab in der Nähe keine Deckung, wo er sich hätte verbergen kön nen. Feigling mußte in den Blutdschungel geflohen sein. Atlan riß die Machete aus dem Gürtel, der die leichte Fellkleidung zusammenhielt. Die Dalazaaren kamen wenige Meter vor ihm zum Stehen. Sie wirkten verunsichert. Immer wieder sahen sie zur Feste zurück, dann wieder zu Atlan. Ihre Speere waren auf den Arkoniden gerichtet. Wenn ich nur wüßte, was in ihren Köpfen vorgeht! dachte der Arkonide. Es waren et wa zehn Männer. Einer von ihnen schrie den anderen irgend etwas zu, das Atlan nicht verstand. Die Augen des Eingeborenen fun kelten in unbändigem Haß. Es scheint ihr Anführer zu sein, dachte Atlan. Wenn es mir gelänge, ihn zu besiegen … Doch es sollte nicht zum Kampf kommen. Einer der Krieger schrie schrill auf und zeig te zur Feste. Porquetor kam auf die kleine Gruppe zu. Und ein zweites geschah. An der Kuppe der Feste Grool blitzte es auf. Ein armdicker Energiestrahl fuhr weni ge Meter von Porquetor entfernt in den Bo den und schmolz einen großen Krater. »Aber das ist doch Wahnsinn!« entfuhr es Atlan. »Caidon-Rov schießt auf den Halbro boter. Haben denn hier alle den Verstand verloren?« Die Dalazaaren hielt es nicht länger. Sie stoben in alle Richtungen auseinander. Weitere Salven. Porquetor wurde fast ge troffen. Er lief im Zickzack, mit einer Wen digkeit, die der Arkonide ihm nie zugetraut hätte. Atlan fühlte sich in eine Traumszenerie versetzt. Was hatte das alles zu bedeuten?
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Horst Hoffmann
Atlan hatte gesehen, wie Yunthaal gestorben und der Halbroboter auf den Boden des Kontrollraums gekracht war. Und CaidonRov würde niemals ohne Grund auf Porque tor schießen. Und wenn jemand anders an den Energie geschützen der Feste saß? Porquetor wich einer weiteren Salve aus. Jetzt kam er genau auf den Arkoniden zuge rannt. Atlan wollte ausweichen, aber schon war der Stählerne vor ihm. Atlan hatte nicht den Hauch einer Chance gegen Porquetor. Doch der Halbroboter blieb vor ihm ste hen. Atlan hatte das Gefühl, die facettenarti gen Linsen im Kopfteil der Rüstung würden sich auf ihn richten. Einige Augenblicke standen die beiden Ungleichen sich schwei gend gegenüber. »Wer bist du?« dröhnte die Stimme des Stählernen unverhofft. Atlan glaubte, nicht richtig gehört zu ha ben. Aus den Augenwinkeln heraus bemerk te er, wie es an der Kuppe der Feste zu flim mern begann. Dann blitzte es wieder grell auf. Der Energiestrahl schlug etwa zehn Meter von den beiden entfernt in den Boden. Atlan spürte die Hitze. Er wollte zur Seite sprin gen, doch da traf ihn etwas Hartes mit vehe menter Wucht am Kopf. Er wurde zu Boden geschleudert. Helle Punkte tanzten vor sei nen Augen. »Es tut mir leid«, hörte er noch die mäch tige Stimme Porquetors. Dann verlor er das Bewußtsein.
* Grizzard starrte den hellhaarigen Fremden an. Einen Moment vergaß er Caidon-Rov. Wenn er nur wüßte, an wen der Mann ihn erinnerte. An eines der Wesen, die er auf der Projektionswand in Caidon-Rovs Unter richtsraum gesehen hatte? Plötzlich hallte eine Stimme über das Land. »Komm zurück, und ich werde dich scho-
nen. Du wirst niemals Porquetor sein. Du bist verloren, Grizzard!« Der verwachsene Zwerg in der Rüstung wurde in die Wirklichkeit zurückgerissen. Er mußte weg von hier. Caidon-Rov war blind vor Zorn, weil er ihn verlassen hatte. Er würde nicht zögern, ihn zu töten. Grizzard überlegte fieberhaft. Hier hatte er keine Chance, den tödlichen Strahlbahnen zu entgehen. Er war sicher, daß Caidon-Rov bisher absichtlich schlecht gezielt hatte. Aber das würde sich schnell ändern, wenn er merkte, daß seine Einschüchterungsversuche und Appelle nichts nützten. »Es tut mir leid«, sagte Grizzard noch ein mal, obwohl er wußte, daß der Fremde ihn nicht hören konnte. Er hatte ihn betäuben müssen, damit er nicht auch in Gefahr ge riet. »Zum letztenmal, Grizzard! Komm zu rück. Ab jetzt ziele ich besser. Du wirst an meiner Seite leben oder sterben!« Grizzard beschloß, zum Schein auf Cai don-Rovs Ultimatum einzugehen. Die Ge schütze der Feste reichten bis weit in den Blutdschungel hinein. Auch dort war er nicht sicher – von den Gefahren, die dort lauerten, ganz abgesehen. Nur in unmittelbarer Nähe der Feste konnten die Salven aus den Energiekanonen ihm nichts anhaben. Grizzard steuerte die Rüstung auf die Fe ste Grool zu. »Du wirst es nicht bereuen«, kam CaidonRovs Stimme aus den starken Außenlaut sprechern des Bauwerks. »Ich verzeihe dir alles. Warte, ich öffne das Tor.« Grizzard ging langsam weiter auf die Brücke zu. Wieder fühlte er tiefes Mitleid mit Caidon-Rov. Die Einsamkeit hatte ihn zu dem gemacht, was er jetzt war – ein ver sponnener, eifersüchtiger und verbitterter Mann. Aber die Suche nach seinem, Grizzards, Körper, der sich irgendwo auf dieser Welt der Schrecken befinden mußte, ging vor. Caidon-Rov erschien auf der oberen Brü stung und winkte ihm zu. Grizzard zwang
Aufbruch ins Unbekannte sich, die aufkommenden Gefühle zu unter drücken. Er ging weiter. Kurz vor der Brücke, dem einzigen Zugang zur Feste, blieb er stehen. Er sah das knollenartige Gebilde am Bo den liegen. Irgend etwas zwang ihn, sich zu bücken und es aufzuheben. »Laß das!« schrie Caidon-Rov. »Es ist ei ne Blaue Göttin. Jetzt ist es nur eine Knolle, aber schon bald wird aus ihr eine der schrecklichsten Lebensformen des Blutd schungels wachsen!« »Öffne das Tor!« entgegnete Grizzard. »Ich komme!« Der Hagere verschwand von der Brü stung. Grizzard legte die Knolle in einen am Gürtel der Rüstung befestigten Beutel. Er wußte selbst nicht, weshalb er es tat. Er hatte nicht viel Zeit. Bevor CaidonRov das Tor geöffnet hatte, mußte er ver schwunden sein. Grizzard steuerte die Por quetor-Rüstung auf den Abgrund neben der Brücke zu. Er fand eine Stelle, wo er hinab klettern konnte. In etwa zehn Metern Tiefe sah er eine kleine Höhle. Er stieg über einen Vorsprung. Dann kroch er in die Vertiefung, wo er zunächst vor Caidon-Rovs Blicken si cher war. Grizzard hörte, wie die Flügeltore knar rend aufschwangen, dann die Flüche des Ha geren. Wenig später fuhren Energiebahnen bis in den Blutdschungel hinein. Er konnte sich vorstellen, wie CaidonRov tobte. Er mußte die Nacht ausnutzen, wenn er ungesehen entkommen wollte. Grizzard be schloß, noch einige Stunden zu warten. Erst jetzt kam er dazu, über seine Lage nachzudenken. Er hatte gesehen, wie die Wilden geflohen waren, als er an der Feste hinuntergeklettert war. Der Gedanke war berauschend: Sie wa ren vor ihm, dem verkrüppelten Zwerg, ge flohen. Sie hatten Angst vor ihm! Nein, dachte Grizzard. Nicht vor mir. Vor Porquetor.
5 Er senkte den Kopfteil der Rüstung. Die Linsen der Optik richteten sich auf den stäh lernen Körper. 2,10 Meter groß, blauer, glänzender Stahl. Eine Ganzkörperhülle, plump wirkend. Ar me und Beine waren durch Segmente be weglich, Verstärkerkappen befanden sich an Ellenbogen, Schultern und Knien. Stül phandschuhe und Stiefel waren fest mit der Rüstung verbunden, wie alle anderen Teile. Der Helm hatte zwei blaue Längsflächen, Facettenlinsen mit den empfindlichen Opti ken, die die Bilder der Umgebung in die Körpermaske übertrugen, in der Grizzard saß. Der übrige Helm war bis auf einen Si chelkamm und die »Ohrmuscheln«, hoch empfindliche Außenmikrophone, schwarz. Am Gürtel in der Körpermitte befand sich eine Scheide für ein breites Kurzschwert. Sie war nun leer. Porquetors einzige Waffen waren seine Fäuste. Der »echte« Porquetor-Halbroboter hatte unter den Dalazaaren und den Geschöpfen des Blutdschungels Tod und Verderben ver breitet. Grizzard wußte es teilweise aus den Andeutungen Caidon-Rovs, vor allem aber aus den Informationen, die ihm zugeflossen waren, als er für kurze Zeit in den Bann des sen geraden war, was vom ehemaligen Herrn der Feste Grool übriggeblieben war. Die Wilden fürchteten sich nicht vor Griz zard, sondern vor einem Phantom, das nun endgültig gestorben war. Es würde niemals mehr einen Porquetor geben – nur Grizzard, der in seiner Rüstung so lange durch das fremde Land ziehen wür de, bis er seinen ursprünglichen Körper ge funden hatte. Die Stunden vergingen. Grizzard wagte es, die Höhle zu verlas sen. Sein Weg würde zunächst durch den Blutdschungel führen. Aus Caidon-Rovs Er zählungen wußte Grizzard ungefähr, was ihn dort erwartete. Unwillkürlich tastete eine der stählernen Hände nach dem Beutel mit der Knolle. Eigentlich sollte er sie in den Abgrund
6 werfen. Wer konnte wissen, was sich in ihr verbarg? Grizzard tat es nicht. Vorsichtig, jedes unnötige Geräusch ver meidend, kletterte er den Abhang hinauf. Der ganze Hügel war in Scheinwerferlicht getaucht. Grizzard hatte gehofft, daß Caidon-Rov glaubte, er wäre in den Graben gestürzt. Si cher beobachtete der Hagere das Gelände um die Feste herum. Erst außerhalb der Lichtkegel war Griz zard in Sicherheit. Langsam arbeitete er sich bis zu ein paar dicht beieinander stehenden Büschen vor. Als keine Reaktion erfolgte, lief er weiter, auf eine kleine Baumgruppe zu. Nichts deutete bisher darauf hin, daß Cai don-Rov ihn bemerkt hatte. Das aber konnte nur bedeuten, daß dieser sich ins Innere der Feste zurückgezogen hatte. Der blaue Stahl der Rüstung glänzte im Licht der Scheinwer fer. Caidon-Rov hätte ihn längst sehen müs sen, wenn er an einem Fenster stand. Grizzard setzte alles auf eine Karte. Er be gann, den Hügel hinabzurennen, auf die dunkle Wand des Dschungels zu. Er hatte et wa die Hälfte der Strecke hinter sich ge bracht, als er seinen Irrtum erkannte. Bei der Feste blitzte es auf. Die Nacht wurde in gleißende Helligkeit getaucht. Strahlbahnen fuhren rechts und links von Grizzard in den Boden. Grizzard sah sich nicht um. Nur wenn er den Dschungel erreichte, ohne getroffen zu werden, hatte er eine Chance. Caidon-Rov würde nicht mehr gezielt schießen können, wenn er im Dickicht untergetaucht war. Direkt vor der Rüstung schlug eine Explo sion einen schweren Krater. Grizzard wich geschickt aus. Es war, als ob er schon immer in seinem neuen Stahlkörper gesteckt hätte. Jeder Steuerimpuls war genau dosiert. Plötzlich wurde Grizzard von einem scharf gebündelten Lichtstrahl erfaßt. Er war einen Augenblick irritiert – und dieser kurze Moment genügte, um ihn einen Fehler ma chen zu lassen. Einem Impuls folgend, be-
Horst Hoffmann wegte der Verwachsene die Beine in der Körpermaske, als ob er laufen wollte. Die Sensoren übertrugen die Bewegungen auf die stählernen Gliedmaßen Porquetors. Ein Ruck ging durch die Rüstung. Sie fiel vorn über auf den moosbewachsenen Boden. Grizzard war benommen und nicht im stande, sie schnell genug wieder aufzurich ten. Caidon-Rov würde sich die Gelegen heit, ihn zu vernichten, nicht entgehen las sen. Aber nichts geschah. Plötzlich war es to tenstill. Nicht einmal die Geräusche des Dschungels waren zu hören. Grizzard wagte nicht, sich zu rühren. Nach Minuten, die ihm wie Stunden vor kamen, hörte er lautes Lachen, das durch die Nacht hallte. Er begriff, daß Caidon-Rov sich über ihn lustig machte. Oder hatte der Hagere den Verstand ver loren? Grizzard legte keinen Wert darauf, dies zu erforschen. Er konzentrierte sich und ließ den Robotkörper aufspringen. Sofort begann er wieder zu laufen. Grizzard erreichte die Ausläufer des Blutdschungels, ohne daß auch nur noch ein einziger Schuß aus den Energiekanonen der Feste abgefeuert worden wäre. Dafür hörte er Caidon-Rovs hysterisches Lachen. Es ver folgte ihn. Kein Zweifel – Caidon-Rov war verrückt geworden. Grizzard hastete weiter in den Urwald hinein. Die Gewächse bildeten jetzt eine na türliche Mauer, in die er nur schwer eine Bresche schlagen konnte. Erst, als der neue Morgen zu dämmern begann, machte Grizzard halt. Er fand eine freie Stelle zwischen drei dicken, von aller lei Rankengewächsen überwucherten Baum stämmen, wo er sich niederließ. Er war frei. Er hatte es geschafft, lebend aus der Feste Grool zu entkommen. Er hatte einen perfekten Körper, in dem er relativ si cher vor der Wildnis war. Die Eingeborenen fürchteten ihn. Doch was kam nun? Wo sollte er mit seiner Suche beginnen?
Aufbruch ins Unbekannte Grizzard lauschte in sich hinein, als ob mit der Freiheit auch die Erinnerung an sei ne frühere Existenz zurückkehrte. Er hörte nichts. Seine Vergangenheit war wie hinter einem dunklen Schleier verbor gen. Alles, was er von sich wußte, war sein Name und daß er einmal einen starken Kör per gehabt hatte. Doch plötzlich hatte er das Gefühl, daß von irgendwoher eine leise Stimme in sein Bewußtsein drang. Dies dauerte jedoch nur einen Augenblick. Dann glaubte Grizzard, daß er selbst es war, der den Wunsch ver spürte, als erstes die von Caidon-Rov einmal erwähnte »Stahlquelle« aufzusuchen. Grizzard hatte keine Ahnung, was er dort finden würde, aber irgend etwas lockte ihn dorthin. Es war hell geworden. Grizzard betätigte die Steuerung der Porquetor-Rüstung, nach dem ihm eine Automatik ein Stück Nah rungskonzentrat in den Mund geschoben hatte. Die Suche nach der Stahlquelle begann. Vielleicht würde er Eingeborene finden, die ihm Auskunft geben konnten. Grizzard war plötzlich sehr traurig dar über, daß die Belagerer der Feste so über stürzt vor ihm geflohen waren. Was hatten sie von ihm zu befürchten? Er war doch nicht derjenige, der ihnen soviel Übles zuge fügt hatte. Vielleicht gelang es ihm, Freundschaft mit ihnen zu schließen, solange er sich in diesem Gebiet aufhielt. Grizzard setzte die Porquetor-Rüstung in Bewegung. Ein halbes Dutzend Augenpaare beobach tete, wie er mit den stählernen Fäusten auf die Schlinggewächse eindrosch, die ihm den Weg versperrten. Die Dalazaaren folgten ihm.
2. LEBO AXTON: DIE ABFUHR Sinclair Marout Kennon alias Lebo Axton alias Grizzard befand sich seit nunmehr drei
7 Tagen im riesigen Zelt, in dem die hochge wachsenen, glotzäugigen Humanoiden, von denen er annahm, daß es sich um Androiden handelte, mehr als hundert Exoten gefangen hielten. Noch hatte er nicht den Grund dafür her ausfinden können, daß man so verschieden artige Wesen auf engstem Raum zusammen gepfercht hatte. Allerdings wurde der Ein druck, daß die Wächter selbst nicht recht wußten, welche Aufgabe sie hier eigentlich durchzuführen hatten, im Laufe der Tage immer stärker. Sie warteten auf Befehle, das war offen sichtlich. Aber von wo sollten diese kom men? Und von wem? Wußten ihre Auftraggeber etwas über At lans Schicksal? Lebo Axton war entschlossen, das heraus zufinden. Mittlerweile verstand er die frem de Sprache soweit, daß er sich einigermaßen verständlich machen konnte. Noch immer lag Axton auf einer Art Ma tratze inmitten aller möglicher Fremdwesen. Flatter, wie er seinen neuen Freund genannt hatte, wich nicht von seiner Seite und achte te darauf, daß kein anderer sich dem Terra ner näherte. Das eifersüchtige Vogelwesen wollte den Freund mit niemandem teilen. Immerhin war es Axton gelungen, Flatter davon zu überzeugen, daß sein lautes Ge schnatter unerträglich für seine Ohren war. Das Wesen verhielt sich nun ruhiger als zu Anfang ihrer Bekanntschaft, und wenn es einmal die Beherrschung verlor, tauchte der Affenartige, mit dem Flatter schon unliebsa me Bekanntschaft gemacht hatte, auf und brachte den Schreihals zum Schweigen. Es war kurz nach Mittag. Die »Dellos«, wie die Hochgewachsenen sich selbst nann ten, hatten die Exoten mit Nahrung versorgt und zogen sich zum Ausgang des Zeltes zu rück, wo sich ihre Unterkünfte und labor ähnliche Räume befanden. Axtons Wunden waren dort versorgt worden. Der Terraner nickte grimmig, als ein in ei ne tiefrote Kombination gekleideter Dello an ihm und Flatter vorbeiging, ohne sie eines
8 Blickes zu würdigen. Der Androide war ihm mehrmals unangenehm aufgefallen, als er Gefangene hinter dem Rücken der anderen mißhandelte oder ihnen völlig unzureichen de Nahrung gab. Das konnte kaum im Sinn seiner Kolle gen, geschweige denn ihrer Auftraggeber sein. Lebo Axton richtete sich auf. Flatter war sofort bei ihm und blickte ihm fragend in die Augen. »Tut mir leid, mein Freund«, sagte der Terraner schulterzuckend. »Ich muß den Kerlen zeigen, was für ein schlauer Bursche ich bin. Dazu brauche ich deine Hilfe. Das verstehst du doch, oder?« Der Straußenvogel neigte den Kopf zur Seite. Er saß neben Axtons Matratze, die drei starken Beine weit von sich gespreizt und die verstümmelten Flügel wie zwei Ärmchen auf der gefiederten Brust gekreuzt. »Du verstehst es nicht«, seufzte Lebo. »Wäre auch zuviel verlangt. Trotzdem mußt du mir helfen. Wir müssen diesem gemeinen Kerl«, er zeigte auf den Dello, »eins auswi schen.« Flatter kratzte sich mit einem der Stum melflügel am Kopf. Es war offensichtlich, daß er sich über Axtons Redeschwall Ge danken machte. Der Blick seiner Augen schien zu fragen, ob dem Freund irgend et was fehlte. Axton seufzte wieder. Dann schlug er sich mit einer Faust auf die Brust und begann zu schnattern. Ein Affenartiger, der an einen gutgenähr ten Gorilla erinnerte, wurde aufmerksam. Lebo Axton sah seinen Schädel hinter eini gen Echsenabkömmlingen auftauchen. Flatter stieß einen überraschten Laut aus. »Na los doch!« forderte der Terraner ihn auf. »Mach's mir nach. Jetzt darfst du's.« Wieder produzierte er die seltsamen Lau te. Und diesmal hatte er den gewünschten Erfolg. Flatter fuhr in die Höhe und begann, auf allen drei Beinen im Kreis herumzuhüpfen. Offensichtlich glaubte er, daß Axton ihm
Horst Hoffmann seine Sympathie bekunden wollte. Das Ge schnatter ließ eine der Echsen von ihrer Lie ge fallen. Der Riesenaffe fuhr mit einem Ruck in die Höhe. »Weiter, Flatter! Das machst du großar tig!« zischte Axton, während der Riese sich eine Gasse durch die Leiber der Exoten bahnte. Flatter sah ihn nicht, deutete aber die Gesten des Terraners richtig. Die Brust des Vogelwesens wölbte sich nach vorne, als Flatter Luft holte. Axtons Hände fuhren zu seinen Ohren. Dennoch hatte er das Gefühl, daß seine Trommelfelle platzen müßten, als Flatter seine Freude in die Welt hinausschrie. Der Affenartige tauchte hinter Flatter auf. Eine riesige, behaarte Faust fuhr in die Höhe und sauste auf den gefiederten Kopf herab. Flatter gab einen gurgelnden Laut von sich. Dann kippte er zur Seite. Axton schob schnell seine Matratze an die Stelle, wo der Vogelkörper auf den Boden prallte. Der Affenartige überzeugte sich davon, daß Flatter bewußtlos war. Dann ging er an seinen Platz zurück. »Das hast du gut gemacht«, lobte Axton den Bewußtlosen. »Nicht böse sein. Als kleine Entschädigung verschaffe ich dir eine große Portion von diesen Körnern, die du so gerne frißt. Nun schlaf schön und mache keine Dummheiten, bis ich zurück bin.« Der Terraner stand auf und setzte sich in Richtung auf die Quartiere der Dellos in Be wegung. Er mußte immer wieder über Exo ten hinwegsteigen, die sich in den Gängen breitgemacht hatten. Es war ein verwirrendes Bild. Axton sah Wesen, die so grundverschieden voneinan der waren, daß sie niemals auf natürliche Art und Weise zusammengekommen sein konn ten. Er nahm immer noch an, daß er sich in einer Art Zoo befand. Es roch nicht gerade angenehm. Das einzige, was die »Ausstellungsstücke« gemeinsam hatten, war, daß sie ausnahmslos Sauerstoffatmer waren. Die meisten von ihnen ließen sich in kei ne bekannte Kategorie einordnen. Natürlich
Aufbruch ins Unbekannte fielen Axton diejenigen, die an auf Terra heimische Tierarten erinnerten, in besonde rem Maße auf. Aber es gab auch solche, die sich mit nichts vergleichen ließen, was er je mals gesehen hatte. Sie alle wirkten auf unnatürliche Weise träge. Axton hatte schon seit Tagen den Ver dacht, daß die Dellos sie mit Betäubungs mitteln versorgten. Ab und zu kam es zu er schütternden Szenen, wenn Gefangene plötzlich hysterische Anfälle bekamen oder Amok zu laufen begannen. Die Hochge wachsenen holten sie dann ab und brachten sie kurz darauf an ihren Platz zurück, wo sie wie in Trance saßen und vor sich hin glotz ten. Die Dellos mußten jedes der hier festge haltenen Wesen gründlich untersucht haben, um zu wissen, welche Mittel auf ihren Meta bolismus in der gewünschten Weise wirkten. Er erinnerte sich daran, wie man ihn bei seiner Ankunft betäubt hatte, um die beiden Fleischwunden an Arm und Bein zu behan deln. Was war in dieser Zeit noch mit ihm ge schehen? Er fühlte sich frisch. Aber konnte er si cher sein, daß man nicht doch Manipulatio nen mit ihm vorgenommen hatte? Manipula tionen, die sein Bewußtsein vielleicht gar nicht erreichten, weil es nicht zu dem Kör per gehörte, in dem er steckte? Kurz vor dem Eingang zu den Quartieren der Wächter blieb Axton stehen und sah an sich herab. Der Anblick des jungen, starken Körpers löste sofort Euphorie aus. Er war kein Krüppel mehr und kein Gehirn in einer robotischen Vollprothese. Einer der Hochgewachsenen tauchte vor ihm auf. »Was willst du hier?« verstand der Terra ner. »Weshalb bist du nicht an deinem Platz?« »Nur die Ruhe«, sagte Lebo Axton und hob abwehrend die Hände. »Bringe mich zu deinem Chef. Ich habe eine Beschwerde vorzubringen.« Er formulierte sein Anliegen sinngemäß
9 und hoffte, daß der andere ihn einigermaßen verstand. Tatsächlich betrachtete der Andro ide ihn einige Sekunden lang mißtrauisch, dann trat er zur Seite und forderte ihn auf, einzutreten.
* Axton kannte den Dello hinter dem großen Tisch. Der Androide blickte nicht ganz so dumm aus den Augen wie die ande ren. »Du willst dich beschweren?« fragte der Hochgewachsene, ohne von den auf seinem Tisch ausgebreiteten Folien aufzusehen. »Und? Was gibt es?« Lebo Axton hatte keine Mühe mehr, die fremde Sprache zu verstehen, auch wenn hier und da einige unbekannte Worte auf tauchten, die er noch nicht so recht einglie dern konnte. Er wußte aber, daß seine Ver suche, sich dieser Sprache zu bedienen, kläglich waren. Wenn es ihm gelang, das, was er auf dem Herzen hatte, einigermaßen verständlich auszudrücken, konnte er zufrie den sein. »So ist es«, bestätigte er. Er blickte sich um. Drei Dellos, unter ihnen der Rotunifor mierte, standen hinter ihm am Ausgang des kleinen, durch Planen abgetrennten Raumes. »Ich muß allein mit Ihnen reden.« Der Androide sah auf. »Was soll das?« »Es ist zu wichtig, um andere mithören zu lassen«, flüsterte der Terraner. »Aber bitte – wenn Sie meine Informationen nicht brau chen …« Axton tat so, als wollte er den Raum ver lassen. Er war sich dessen bewußt, daß er sich auf ein Spiel mit vielen Unbekannten einließ. Er konnte nur hoffen, daß die Dellos ähnliche Gefühle empfinden konnten wie ein Mensch. Die Androiden machten auf ihn den Eindruck, als ständen sie den vergleich baren Entwicklungen des Solaren Imperiums in nichts nach. Manchmal erschienen sie so gar ausgereifter. Axtons Beobachtungen lie ßen jedenfalls den Schluß zu, daß vieles im
10 Handeln der Dellos von Emotionen be stimmt war. »Bleib hier!« rief der Mann am Tisch. »Und ihr drei laßt uns allein!« Der Rotuni formierte wollte protestieren, wurde aber von seinem Vorgesetzten zurechtgewiesen. Axton bemerkte den verächtlichen Blick des Dellos, als dieser den Raum verließ. »Was hast du zu sagen?« verstand der Terraner. »Es ist etwas Ungeheuerliches gesche hen«, erklärte Axton. »Ich habe beobachtet, wie einige meiner Mitgefangenen mißhan delt wurden.« Der Androide fuhr auf. »Ihr seid keine Gefangenen!« preßte er hervor. »Die neuen Herren haben uns …« »Die neuen Herren?« fragte Axton schnell – zu schnell. Er sah, wie sein Gegenüber leicht zusammenzuckte. »Wer bist du?« fragte der Dello. »Was weißt du von den Herrschern? Bist du in ih rem Auftrag hier?« »Keineswegs«, sagte Axton, nachdem er vergeblich versucht hatte, einen Sinn in der Frage des Dellos zu finden. »Ich bin ein nor maler Gefangener wie alle anderen. Ich …« »Ihr seid keine Gefangenen!« wiederholte der Androide. »Wir haben die Aufgabe, euch mit allem zu versorgen, was ihr zum Leben braucht.« »Und die Aufgabe, uns zu mißhandeln?« Der Hochgewachsene sah Axton ver ständnislos an. »Ich verstehe nicht, was du meinst.« »Ich kann es dir zeigen«, sagte Axton. »Dieser Mann«, er zeigte auf den Ausgang, wo die drei Dellos verschwunden waren, »in der roten Uniform hat einen Gefangenen zu sammengeschlagen. Er ist bewußtlos. Schon vorher mißhandelte er uns.« Axton wartete vergeblich auf eine weitere Reaktion seines Gegenübers auf das Wort »Gefangene«. »Das glaube ich nicht«, entgegnete der Hochgewachsene. »Ich kann es beweisen. Komm mit.« Der Dello sah den Terraner lange an.
Horst Hoffmann Dann kam er hinter seinem Arbeitstisch her vor. »Führe mich hin.« Lebo Axton lachte still in sich hinein. Es sah so aus, als ob sein Plan Erfolg hätte. Hoffentlich war Flatter noch nicht zu sich gekommen. Einen Moment lang hatte Axton das Ge fühl, ein schäbiges Spiel mit seinen »Leidensgenossen« zu treiben. Er hatte noch keine Ahnung, was hier vor sich ging, doch manchmal hatte er das Gefühl, daß er Zeuge einer ungeheuren Tragödie war. Ein Grund mehr, die Wahrheit zu erfah ren! dachte er grimmig. Zusammen mit dem Androiden gelangte der Terraner in das riesige Zelt. Vergeblich suchte er nach dem Rotuniformierten. Er führte den Androiden zu Flatters La ger. Einige Exoten, die sich um den Bewußt losen kümmerten, wichen scheu zurück, als sie den Dello auf sich zukommen sahen. »Hier!« sagte Lebo Axton. »Er ist so sehr mißhandelt worden, daß er ohnmächtig zu sammenbrach.« Und wenn das deine Herren erfahren? wollte er hinzufügen, verkniff sich die Frage aber. Er durfte nichts überstürzen. Der Hochgewachsene war sichtlich um seine Fassung bemüht. »Wer war das?« fragte er leise. Axton setzte eine Unschuldsmiene auf und zuckte die Schultern. »Der Rotgekleidete. Ich sagte es bereits.« »Arron«, brachte der Dello hervor. Er blickte sich um und sah einen seiner Artge nossen, der gerade damit beschäftigt war, den Schmutz in den Gängen zwischen den Liegen zu beseitigen. »Grabbal! Komm her!« Belustigt verfolgte Lebo, wie der Andro ide von seinem Vorgesetzten den Auftrag er hielt, Arron, den Rotuniformierten, zu holen. »Ich kann es nicht glauben«, murmelte der Dello vor Flatters Lager. »Ich habe es mit eigenen Augen gese hen«, versicherte Axton, wobei er nach dem Affenartigen suchte. Er konnte nur hoffen,
Aufbruch ins Unbekannte daß dieser ihm nicht noch im letzten Augen blick einen Strich durch die Rechnung machte. Arron erschien. Der Befehlshaber der Androiden richtete einige Fragen an ihn, aber er sprach so über hastet, daß Axton kaum ein Wort verstehen konnte. Arron gab ebenso heftige Antworten und warf dem Terraner vernichtende Blicke zu. Je länger Axton den Disput beobachtete, desto sicherer wurde er, daß der »Unfall« für die Dellos eine mittlere Katastrophe bedeu tete. Er sah seine Chance. Lebo Axton wartete, bis sich die beiden Androiden beruhigt hatten (mittlerweile wa ren weitere hinzugekommen), dann meldete er sich zu Wort. »Vielleicht kann ich dem Bewußtlosen helfen«, sagte er. Aus Arrons Worten hatte er heraushören können, daß der Oberwächter Kabbal hieß. Dieser sah ihn fragend an. »Ja, du hast richtig gehört. Ich kann euch und ihm helfen.« »Wieso sprichst du unsere Sprache?« wollte Kabbal wissen. Erst jetzt schien ihm der Umstand, daß Axton sich mit den Dellos verständigen konnte, aufzufallen. Der Terraner zuckte die Schultern. »Ich bin ein begabter Mensch«, entgegnete er grinsend. »Ich …« »Mensch?« fragte Kabbal dazwischen. »Was ist das?« »Nichts von Bedeutung. Ich kann es euch später erklären.« Kabbal deutete auf Flatter. »Dann heile ihn!« Axton wußte, was von diesem Augenblick abhing. Wenn es ihm gelang, Flatter aus sei ner Ohnmacht zu erwecken, nahm er zumin dest eine Sonderstellung unter den Exoten ein. Die Wächter waren auf ihn aufmerksam geworden. »Er lügt!« stieß Arron hervor. »Glaubt ihm nicht. Ich habe niemanden mißhandelt.« Axton wartete nicht ab, bis Kabbal es sich anders überlegte. Er beugte sich über das
11 Vogelwesen und betastete dessen Oberkör per. Natürlich kannte er mittlerweile die Stellen, an denen Flatter besonders empfind lich war, ganz genau. Doch er mußte seinen Zuschauern ein kleines Spektakel bieten. Erst als er merkte, daß Kabbal ungeduldig wurde, berührte er einen unter Federn ver borgenen Knoten an Flatters Hals. Das Vogelwesen fuhr auf und stieß eine Reihe von Schnatterlauten aus. Axton sah, wie der Affenartige sich erhob und eine dro hende Haltung einnahm. »Beruhige dich, Freund«, sagte Axton und drückte Flatter auf die Matratze zurück. Dann fügte er in der Sprache der Wächter hinzu: »Der böse Mann wird dir nichts mehr tun.« Arron packte Kabbal am Arm und zog ihn mit sich, bis beide genau vor Flatter standen. Er protestierte heftig. Axtons Hand lag unter Flatters Kopf. Er drückte den Zeigefinger gegen einen weite ren Knoten, als das Vogelwesen gerade den Rotuniformierten anstarrte. Flatter krächzte so laut, daß die Dellos sich die Ohren zuhielten. »Siehst du nun, welche Angst dieses ar me, wehrlose Geschöpf vor diesem Quäler hat?« fragte der Terraner. Kabbal wirkte verunsichert. »Hier«, sagte Axton. Er zeigte auf Flatters geschwollenes Auge, das allmählich grün gelb anlief. »Das stammt von dem Schlag, den Arron ihm versetzte.« Kabbal betrachtete die Stelle. »Arron, du bist ab sofort vom Dienst sus pendiert«, sagte er dann. Wieder verstand Axton nur die Hälfte der Worte, aber der Sinn ging eindeutig aus der Situation hervor. Arron zuckte zusammen. Er fuhr herum und blickte Axton haßerfüllt an. Ohne Warnung stürzte er vor. Lebo Axton hatte mit etwas ähnlichem gerechnet und wich blitzschnell zur Seite aus. Mit seinem verwachsenen Zwergenkörper hätte er kaum eine Chance gegen den Hochgewachsenen gehabt. So aber stellte ihn der blindwütig vorgetragene Angriff vor keinerlei Proble
12 me. Er ließ einen Fuß stehen, und Arron se gelte in hohem Bogen an ihm vorbei – genau auf eine viereckige Matte, auf der sich ein quallenähnliches Lebewesen breitgemacht hatte. Zwei Androiden halfen ihm auf Kabbals Weisung hin auf. »Bringt ihn weg!« befahl der Dello. Ax ton atmete auf. Alles lief nach seinem Plan. »Ich habe dir zu danken, wer immer du bist«, sagte Kabbal. »Meide dich kurz vor der Essensausteilung bei mir. Vielleicht ist es gut, wenn einer der Schläfer mit uns zu sammenarbeitet.« »Schläfer?« fragte Axton schnell. Er wie derholte das Wort des Dellos, ohne die Be deutung zu begreifen. Doch Kabbal gab keine Antwort. Er und die anderen Androiden drehten sich um und gingen auf den Ausgang zu. Axton hatte Mühe, seinen Triumph zu verbergen. Wenn er erst einmal mit Kabbal zusammenarbeitete, würde es ihm sicherlich innerhalb kürzester Zeit gelingen, an Arrons Stelle zu treten und von den anderen Dellos durch unauffällige Fragen wichtige Informa tionen zu erhalten. Auch Flatter schien zufrieden zu sein. Er wußte natürlich nicht, worum es ging, aber er merkte, daß sein Freund sich freute. Das Vogelwesen richtete sich auf und hol te tief Luft. »Nicht!« zischte Axton ihm zu. Er holte mit der Hand aus, um Flatter auf die Matrat ze zurückzudrücken, aber es war schon zu spät. Das Schnattern ließ Kabbal und seine Be gleiter herumfahren. Einige Exoten wurden aus ihrem Mittagsschlaf geschreckt. Aber das bemerkte Axton in diesem Moment nur am Rande. Der Affenartige kam mit einem Ruck in die Höhe und stürmte auf Flatter zu. Axton sprang auf und versuchte, ihn aufzuhalten. Beschwörend streckte er dem Riesen beide Hände entgegen. »Tu's nicht, King-Kong! Sei brav und leg dich wieder hin. Ich schenke dir auch ein
Horst Hoffmann paar Bananen, wenn ich welche finde, aber …« Weiter kam er nicht. Eine Pranke stieß ihn zur Seite. Noch im Fall sah der Terraner, wie die Faust des Exoten auf Flatters Kopf herabsauste, genau auf das noch unverletzte Auge. Kabbal kam zurück. Der Affenartige stampfte an Axton vorbei. Der Androide beugte sich über das be wußtlose Vogelwesen und betrachtete das schnell anschwellende Auge. Dann drehte er langsam den Kopf. Axton hatte das Gefühl, unter dem Blick des An droiden zu schrumpfen. »Hierher!« rief Kabbal und zeigte auf das Lager des Terraners. »Setz dich hin und rüh re dich nicht von der Stelle. Wir sprechen uns später.« Kabbal sah sich um und rief nach Arron. Der Rotuniformierte kam herbeigelaufen. »Du achtest darauf, daß unser Freund kei ne weiteren Dummheiten macht. Es sieht so aus, als hätte ich dich zu Unrecht verdäch tigt, Arron.« »Das sagte ich die ganze Zeit«, entgegne te der Dello. Der Rotuniformierte blieb allein bei Ax ton. Als die anderen außer Hörweite waren, verzog er das Gesicht zu einer Grimasse. »Wir werden uns ganz bestimmt gut ver tragen«, verstand Axton. »Ganz bestimmt.« Arron sah sich um. Als Kabbal und die anderen Wächter in ihren Quartieren ver schwunden waren und auch keiner der Exo ten hinsah, versetzte er dem Terraner einen Tritt in die Seite. Axton unterdrückte einen Aufschrei. Der Kopf des Affenartigen war immer noch in die Höhe gereckt, als wartete er bloß auf ei ne weitere Gelegenheit, mit ordnender Hand für Ruhe im Zelt zu sorgen. Als Arron gegangen war, drehte Axton sich zu Flatter um, der ihn unsicher ansah. »Da hast du uns was Schönes einge brockt, du dämlicher Vogel«, knurrte Lebo. »In Zukunft werde ich mir meine Freunde besser aussuchen, das schwöre ich dir.«
Aufbruch ins Unbekannte Der Terraner seufzte und legte sich auf den Rücken. Von Kabbal hatte er außer Un annehmlichkeiten nichts mehr zu erwarten. Und Arron würde ihn schikanieren, sobald sich Gelegenheit dazu ergab. Axton hatte nicht die geringste Lust, untä tig darauf zu warten, daß sich vielleicht ei ner der »Herren«, von denen Kabbal gespro chen hatte, zeigen würde. »Jetzt werde ich doch fliehen müssen, Flatter«, murmelte er. »Und denke nicht, daß ich dich mitnehme.« Das Vogelwesen gab ein paar glucksende Laute von sich. Axton hatte fast das Gefühl, daß Flatter weinte. Jedenfalls bot er ein Bild des Elends. Der Terraner schluckte. Jetzt regte sich das schlechte Gewissen. »War ja nicht so gemeint, Flatter«, hörte er sich sagen. »Ich werde es mir überlegen, einverstanden?«
* Insgesamt befanden sich vierzig als Not unterkünfte eingerichtete Auffanglager für die erwachten Schläfer in der Senke der ver lorenen Seelen. Einige von ihnen faßten bis zu fünftausend Exoten. Bisher war es den von der FESTUNG geschickten Dellos ge lungen, knapp zwei Drittel der Schläfer ein zufangen und am Leben zu erhalten. Einige kleinere Zelte, wie das, in dem Lebo Axton untergebracht war, beherbergten in erster Li nie Wesen, die nach medizinischer Behand lung beobachtet werden mußten, bevor man sie in die größeren Sammelunterkünfte ver legte. In jedem der vierzig Lager befanden sich jeweils artverwandte Lebewesen. Darunter gab es solche, die selbst der erfahrene Axton kaum als Leben begriffen hätte. Gerade unter ihnen gab es jeden Tag tra gische Todesfälle. Je fremdartiger sie waren, desto schwerer fiel es den Dellos, sie zu er nähren und ihre anderen Bedürfnisse zu be friedigen. Zwar handelte es sich bei den in die Sen ke Beorderten um sorgfältig ausgebildete
13 Spezialandroiden, doch auch sie konnten nur dort helfen, wo sie über ausreichende Infor mationen über Metabolismus und Psyche der Erwachten verfügten. Es war den Odins söhnen, die genug mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt waren, bisher nicht gelungen, die in der FESTUNG gespeicherten Informatio nen über die Schläfer zu nutzen. So war es oft dem Zufall überlassen, ob die Dellos in den offenstehenden Glaspalästen die benö tigten Daten über diesen oder jenen Schläfer fanden oder aus den Lebenserhaltungssyste men Schlüsse ziehen konnten oder nicht. Immer wieder kam es zu Pannen. Die Technos, die nicht aus der Senke ge flohen waren, halfen, wo sie nur konnten – allen voran Sirkat. Der Techno-Führer hatte mit viel Mühe seine Getreuen beruhigen und in der Senke halten können. Sirkat erinnerte sich noch gut an die Er eignisse, die zum Erwachen der Schläfer ge führt hatten. Nachdem die Dellos für Ruhe gesorgt hatten, war er in den Schwarzen Pa last eingedrungen, wo er den bisher vor den Technos verborgenen Geheimgang fand. Seitdem war er auf der Suche nach einem Wesen, das sich »Grizzard« nannte, was so viel bedeutete wie »Der, der für alle schläft«. Grizzard und das Geheimnis des Schwarzen Palasts waren untrennbar mitein ander verbunden. Er selbst hatte den finsteren Fremden, Razamon, und das grüne Monstrum mit Grizzard aus der Senke gebracht. Wahrscheinlich hatten sie längst die FE STUNG erreicht, aber Sirkat konnte dessen nicht sicher sein. Es war auch möglich, daß die drei unterwegs herumstreunenden Exo ten oder Anhängern Herrohns in die Hände gefallen waren. Sirkats Interesse an Grizzard hatte aber noch einen zweiten Grund. Irgendwo in Sir kats Unterbewußtsein gab es eine Erinne rung an diesen geheimnisvollen Mann, eine Art kollektive Urerinnerung, die in allen Technos schlummerte. Vielleicht war Griz zard der Schlüssel zu jener Zeit, als die er sten Technos in die Senke geschickt wurden.
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Es war eher eine Hoffnung als eine reali stische Einschätzung der Lage, die Sirkat glauben ließ, Grizzard eines Tages wieder zusehen. Und er täuschte sich nicht. Es war am späten Abend, als sein Freund und Vertrauter Tersten, der nach den turbu lenten Ereignissen jener Nacht, in der die Glaspaläste sich öffneten, zunächst aus der Senke geflohen war, um Tage später reumü tig zurückzukehren, mit der Nachricht zu ihm kam, daß in einem der kleineren Lager ein Fremder für einiges Aufsehen gesorgt hatte. Die Beschreibung paßte genau auf Grizzard. »Um welches Zelt handelt es sich?« fragte Sirkat aufgeregt. »Es ist das südlichste«, erklärte Tersten. »Der Befehlshaber der Dellos heißt Kab bal.« »Dann weiß ich Bescheid«, sagte Sirkat. »Komm mit. Wir sehen uns den Fremden an. Bist du sicher, daß es sich wirklich um einen erwachten Schläfer handelt?« »Kabbal ist sicher«, entgegnete Tersten. Die beiden Technos verließen den Glas palast, in dem Sirkat sich eingerichtet hatte, und stiegen in einen Torc. Sirkat fuhr wie ein Besessener. Der Gedanke, schon bald dem Geheimnisvollen gegenüberzustehen, ließ ihn nicht mehr los. Nur kurz dachte er an Razamon und den grünen Riesen und daran, was ihnen zugestoßen sein mochte. Freiwillig hatten sie Grizzard bestimmt nicht ziehen lassen.
3. ATLAN: EIN WIEDERSEHEN Atlan kam zu sich. Er schlug die Augen auf. Es war hell. Benommen schüttelte er den Kopf. Er richtete sich auf und sah Feigling. Der gerade 1,65 Meter große, magere und schwächliche Bursche saß mit unschuldigem Gesicht neben ihm und lächelte ihn an. »Du hast lange geschlafen«, stellte er mit seinem merkwürdigen Akzent fest.
Atlan verdrehte die Augen und unter drückte ein Stöhnen. Als er die Feste Grool sah, erinnerte er sich. Porquetor hatte ihn mit einem Schlag nie dergestreckt. Immer noch viel es ihm schwer, das Gese hene zu akzeptieren. Und was hatten die Worte des Stählernen zu bedeuten? Der Porquetor, den er von sei nem ersten Aufenthalt in der Feste her kann te, hätte sich niemals entschuldigt. Irgend etwas ging hier vor. Die Dalazaaren waren verschwunden. Mehrere tiefe Krater zeugten von dem wil den Energiebeschuß, den jemand, vermut lich Caidon-Rov, in der Feste ausgelöst hat te. Es war unheimlich still. Nur die Laute kleiner Tiere drangen aus dem Blutdschun gel. Atlan kam auf die Beine und wischte sich den Schmutz von der Fellkleidung ab. »Wo hast du gesteckt?« fragte er Feigling. Der Kleine zeigte auf einen hohen Baum wipfel am Rand des Urwalds. Atlan nickte. Wenn er dort hinauf geklettert war, mußte ihm die Angst schon sehr im Nacken geses sen haben. »Was machen wir jetzt?« wollte Feigling wissen. »Wir werden doch nicht dieses schreckliche Ding«, er zeigte auf die Feste, »betreten?« »Doch«, sagte Atlan. »Ich will wissen, was hier vorgeht. Außerdem brauchen wir ein Fahrzeug, mit dem wir zur FESTUNG gelangen können.« »Niemals!« wehrte Feigling ab. »Ich gehe nicht dort hinein.« Atlan zuckte die Schultern und machte ein gleichgültiges Gesicht. Er massierte sich die Beule an der Stirn und fragte sich, weshalb sein Zellaktivator nicht dafür gesorgt hatte, daß er früher aus der Bewußtlosigkeit er wachte. »Dann eben nicht. Ich wünsche dir viel Glück auf deinem Weg.« »Auf welchem Weg?« fragte Feigling. »Was meinst du damit?« »Ich werde zusehen, daß ich in der Feste
Aufbruch ins Unbekannte ein Fahrzeug bekomme. Unterdessen kannst du ja versuchen, zu Fuß weiterzukommen. Die FESTUNG liegt im Südosten. Sieh dich im Blutdschungel vor.« Atlan setzte sich in Richtung Feste in Be wegung. »Warte!« schrie Feigling. »So warte doch. Du … du meinst doch nicht etwa, daß ich al lein …«, Feigling suchte verzweifelt nach Worten, »daß ich ganz allein in diesem furchtbaren Dschungel …« »Natürlich«, meinte der Arkonide, ohne stehenzubleiben. »Denke nur daran, was dir in der Feste alles passieren könnte. Du könn test auf einer Treppenstufe ausrutschen und dir einen Zeh verstauchen.« »Sag so etwas nicht«, beschwor der Klei ne den Arkoniden. Langsam und vorsichtig, als könne er jeden Augenblick auf eine Mine treten, folgte er Atlan. »Wie kannst du mich im Stich lassen?« Atlan gab keine Antwort. Er ging weiter, bis er die Brücke erreicht hatte, die zum großen Flügeltor der Feste führte. Dann leg te er die Hände trichterförmig an den Mund. »Caidon-Rov!« rief er. »Mach auf! Ich bin es, Atlan.« Keine Antwort. Der Arkonide rief noch dreimal nach Por quetors ehemaligem Diener. Endlich erschi en der Hagere auf der unteren Brüstung, eine Energiewaffe in der Hand. Feigling kreischte schrill und versteckte sich hinter Atlans Rücken. »Was wollt ihr?« schrie Caidon-Rov. »Geht! Ich will niemanden sehen!« »Er hat recht«, zischte Feigling. »Laß uns gehen.« Atlan achtete nicht auf ihn. »Mach auf, Caidon-Rov!« wiederholte der Arkonide seine Forderung unbeein druckt. »Wir brauchen deine Hilfe.« Plötzlich ging eine Veränderung mit dem Hageren vor. Er steckte die Waffe weg. Et was zu überhastet rief er: »Wartet! Ich komme zum Tor!« »Wer ist dein Freund?« Atlan winkte ab.
15 »Er wird uns nicht stören. Er will allein in den Blutdschungel gehen, um dort Heldenta ten zu vollbringen.« »Lüge!« zischte Feigling. »Gemeiner Verrat. Ich komme mit dir.« Atlan grinste. Caidon-Rov verschwand von der Brüstung. Wenig später schwangen die beiden Flügel des Tores knarrend auf. Caidon-Rov stand im Eingang. »Kommt herein.« Atlan nickte ihm zu und sah sich nach Feigling um. »Ist er krank?« fragte Caidon-Rov. »In gewisser Hinsicht, ja«, meinte der Ar konide. Nach langem Zureden gelang es ihm, Feigling zum Betreten der Brücke zu überreden. Der Kleine setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, als könnte sie jeden Augenblick einstürzen. »Geh du zuerst!« forderte er Atlan auf. »Damit ich mir als erster den Hals bre che«, brummte dieser. Er packte Feigling, drehte ihn um und versetzte ihm einen sol chen Stoß in den Rücken, daß er über die Torschwelle in den Innenhof der Feste flog. Vor Schreck wurde der Kleine ohnmächtig. Caidon-Rov beeilte sich, das Tor zu schließen, nachdem auch Atlan eingetreten war. Wieder eine Spur zu hastig! dachte der Arkonide.
* Caidon-Rov war immer noch zutiefst ver bittert über Grizzards Verrat. Er hatte alles für den kümmerlichen Zwerg getan, und als Belohnung hatte dieser ihn bei der ersten sich bietenden Gelegenheit verlassen. Er hätte ihn doch töten sollen, als er hilf los am Boden lag. Gegen die Energiebahnen aus den Geschützen der Feste bot auch die Porquetor-Rüstung keinen Schutz. Caidon-Rov wußte selbst nicht, was ihn dazu veranlaßt hatte, Grizzard ziehen zu las sen. Vielleicht war es eine sentimentale An wandlung gewesen, Mitleid mit dem Ver wachsenen oder die Gewißheit, daß er in
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ihm niemals einen wirklichen Freund gefun den hätte. Die Wahrheit war, daß Caidon-Rov im entscheidenden Augenblick seine Selbstbe herrschung verloren und sich in einen hyste rischen Anfall hineingesteigert hatte. Der mächtige Porquetor am Boden! Der Anblick hatte einen Kurzschluß in Caidon-Rovs Denken ausgelöst. Er hatte sich bereits damit abgefunden, wieder allein zu sein. Dann tauchte der Hellhaarige mit seinem seltsamen Begleiter auf. Caidon-Rov war schnell klargeworden, daß sich ihm hier eine neue Chance bot. Er bezweifelte, daß er At lan an sich binden konnte, aber der andere machte einen unsicheren Eindruck. Viel leicht konnte er ihn halten. Noch während Caidon-Rov die beiden (Feigling, wie Atlan seinen Begleiter nannte, war inzwischen zu sich gekommen) in sei nen kleinen Kontrollraum führte, überlegte er, wie er sie am besten überlisten konnte. Porquetor war endgültig tot. Unter großer Überwindung hatte Caidon-Rov den Raum in der oberen Kugel der Feste betreten, in dem sich die Überreste des Meisters befun den hatten. Das Podest war leer, die unför mige, pulsierende Masse verschwunden, ebenso wie die monströsen Spukgestalten, die die Feste plötzlich überschwemmt hat ten. Caidon-Rov war nun endgültig alleiniger Herrscher über die Feste Grool.
* Atlan ließ sich in einen Sessel fallen. Feigling tat es ihm nach, als er sich davon überzeugt hatte, daß das Möbel nicht umkip pen konnte und auch sonst keine Tücken barg. Der Kontrollraum war dem Arkoniden unbekannt. Er glich einem Labor. Auf einer Reihe von Regalen befanden sich mehrere Behälter mit kleinen Tieren. Eine Wand war ganz mit Kontrollinstrumenten und Monito ren bedeckt. Von hier aus konnte Caidon-
Rov vermutlich alles beobachten, was in der Feste und ihrer Umgebung vor sich ging. Caidon-Rov erschien mit einigen Geträn ken und bot sie seinen Gästen an. Er wirkte erregt, ansonsten unterschied er sich kaum von dem Mann, den Atlan während seines ersten Aufenthalts in der Feste kennenge lernt hatte. Der Arkonide war dennoch miß trauisch. Caidon-Rov hatte etwas zu verbergen. Atlan beschloß, nicht lange um den hei ßen Brei herumzureden. Bevor er den Hage ren bat, ihm und Feigling ein Fahrzeug zur Verfügung zu stellen, mußte er wissen was hier vorging. »Du hast auf Porquetor geschossen«, sag te er frei heraus. »Warum? Wieso existiert überhaupt ein neuer Porquetor? Ich habe ge sehen, wie Yunthaal starb und die Rüstung am Boden lag.« Der Hagere zuckte zusammen und ließ fast die Gläser fallen. Atlan nahm ihm eines aus der Hand. Er würde natürlich nicht dar aus trinken. Anders dagegen Feigling. Der nahm einen großen Schluck und nickte aner kennend. Dabei hatte er nicht einmal ge prüft, ob die Flüssigkeit kein Gift enthielt oder ein Insekt darin herumschwamm. »Du hast also alles gesehen«, murmelte Caidon-Rov. Er setzte sich. Atlan nickte bestätigend. »Wir kamen gerade aus dem Dschungel, als Porquetor an der Feste herabstieg und du mit deinem Feuerwerk begannst«, sagte er. »Es war nicht Porquetor«, sagte CaidonRov leise. »Porquetor ist tot – für immer. Es war ein Fremder, der in die Rüstung gestie gen ist, so wie du, als du versuchtest, mich und Yunthaal zu überlisten. Sein Name ist Grizzard. Ich möchte nicht mehr über ihn sprechen.« Das Gesicht des Hageren hatte sich ver finstert. Es war offensichtlich, daß das Kapi tel »Porquetor« für ihn abgeschlossen war. Doch Atlans Neugier war geweckt. »Du mußt mir mehr über ihn berichten«, forderte er. Er bemerkte, wie der Hagere nach seinem Glas schielte. Atlan tat so, als
Aufbruch ins Unbekannte ob er einen Schluck nähme. »Ich habe nichts zu verlieren«, sagte Cai don-Rov schließlich. »Ich habe bereits alles verloren. Er tauchte plötzlich in der Feste auf. Ich fand ihn hilflos. Er sprach kein Wort Pthora und wirkte völlig verstört. Immer wiederholte er dieses eine Wort: Grizzard. Ich pflegte ihn, weil ich Mitleid hatte. Er war ein Krüppel und konnte sich am Anfang kaum auf den Beinen halten.« Atlan hörte interessiert zu, als der Hagere weitersprach. Als Caidon-Rov Grizzard ge nauer beschrieb, brachte er ihn mit einer Ge ste zum Schweigen. »Ein Zwerg, sagst du? Riesiger Kopf, vor quellende Augen, Trommelbrust? Dazu viel zu große Füße?« »Ja«, sagte Caidon-Rov verwirrt. »Genauso sah er aus. Kennst du ihn?« Atlan lächelte matt und winkte ab. »Ach, nichts. Es ist sicher Unsinn, aber einen Augenblick lang dachte ich, du hättest wirklich einen alten Bekannten beschrieben. Aber derjenige, an den ich denken mußte, kann nicht hier sein. Berichte weiter!« Caidon-Rov fuhr fort. Er erzählte, was sich in der Feste Grool zugetragen hatte, nachdem er damit begann, Grizzard zu pfle gen und zu unterrichten. Er ließ auch die Er eignisse im Zusammenhang mit dem Wie dererwachen Porquetors und die Angriffe der Dalazaaren nicht aus. Allerdings log er, was die Flucht Grizzards anging. Er behaup tete, daß er versucht habe, dem Verkrüppel ten einen neuen Körper – die Porquetor-Rü stung – anzupassen, wobei es aber zu einer tragischen Fehlschaltung gekommen sei. Er sagte aus, daß Grizzard verrückt geworden sei und begonnen habe, Amok zu laufen. Um die Dalazaaren und alle von ihm be drohten Wesen Pthors vor Schrecklichem zu bewahren, habe er, so versicherte CaidonRov, schweren Herzens versucht, den Amokläufer zu vernichten. Atlan ließ sich nicht anmerken, daß er die Lüge sofort durchschaute. Wieder fielen ihm die Worte des Stählernen ein: Es tut mir leid!
17 So redete kein Irrer. »Was kann ich für euch tun?« fragte Cai don-Rov plötzlich. »Du sprachst davon, daß ihr Hilfe brauchtet.« »So ist es«, bestätigte der Arkonide. »Wir benötigen ein Fluggerät, meinetwegen auch ein anderes Fahrzeug, mit dem wir die FE STUNG erreichen können.« Caidon-Rov überlegte einen Augenblick. Atlan versuchte, sich einen Reim auf das, was er von dem Hageren erfahren hatte, zu machen. Er kannte natürlich sein Problem, die Einsamkeit. Und so glaubte er zu wissen, weshalb Caidon-Rov auf diesen Grizzard geschossen hatte. Es war sogar zu befürchten, daß CaidonRov versuchen würde, ihn und Feigling in der Feste festzuhalten, nur damit er Gesell schaft hatte. Ein Blick auf den Kleinen bestätigte sei nen Verdacht. Feigling wirkte seltsam ver klärt, den Blick in die Ferne gerichtet. Seine Augen mußten jeden Augenblick zufallen. »Ich werde sehen, was ich machen kann«, sagte der Hagere. »Es müssen sich noch Flugmaschinen in den unteren Räumen der Feste befinden. Ich werde sie untersuchen.« »Und der Preis?« fragte Atlan. »Ich ver stehe nicht«, meinte Caidon-Rov. Der Arkonide zeigte auf Feigling, der in diesem Augenblick vornüber aus dem Sessel kippte. Er war bewußtlos. »Verstehst du nun?« Atlan kippte den In halt seines Glases in einen Blumentopf. »Wenn dem Kleinen etwas passiert, bezahlst du dafür.« »Aber nein«, sagte Caidon-Rov schnell. »Es war kein Gift in dem Getränk, wenn du das meinst.« »Was dann?« »Nur ein leichtes Betäubungsmittel, At lan. Ehrlich. So versuche doch, mich zu ver stehen. Ich wollte nichts anderes als euch Gelegenheit zur Ruhe geben. Ihr seid zu ner vös, und da dachte ich …« »Daß uns ein wenig Schlaf nicht schaden könnte, nicht wahr?« »So ist es. Ich zeige euch eure Wohnräu
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me. Dann kümmere ich mich um die Flugge räte.« Du kommst dir verdammt schlau vor, dachte Atlan. Aber er ging zum Schein auf das Spiel des Hageren ein. Natürlich würde Caidon-Rov versuchen, ihre Abreise hinaus zuzögern oder völlig verhindern. Er würde ein Auge auf ihn haben. Atlan hob Feigling auf und warf ihn sich über die Schulter. Caidon-Rov führte ihn zu den Wohnunterkünften. Eigentlich tat der Einsame dem Arkoni den leid. Aber vielleicht gab es eine Mög lichkeit, ihm zu helfen. Im Augenblick gefährdete er seine Pläne. Aus seinem Bericht über Grizzard glaubte er, herausgehört zu haben, daß er insgeheim doch noch damit rechnete, daß der Fremde zu ihm zurückkehrte, wenn er sich in der Wildnis jenseits der stählernen Mauern nicht zurechtfand. Daran konnte Atlan nicht glauben. »Du hast recht«, sagte er schließlich zu Caidon-Rov. »Auch ich bin verdammt mü de. Wir haben einen langen Weg hinter uns. Ich werde schlafen. Wecke mich bitte, wenn du die Maschinen überprüft hast.« »Du kannst dich auf mich verlassen«, ver sicherte der Hagere. Das glaube ich dir gerne! dachte der Ar konide. Caidon-Rov verabschiedete sich. Atlan legte Feigling auf eine der beiden bereitste henden Liegen und ließ sich auf die zweite fallen. Natürlich beobachtete Caidon-Rov ihn. Atlan stellte sich schlafend, bis er sicher sein konnte, daß der Hagere überzeugt war.
4. GRIZZARD: ERSTES ABENTEUER Grizzard drang wie ein alles niederwäl zender Tank weiter in den Blutdschungel ein. Seine rudernden Stahlarme zerschmet terten alles, was ihm im Weg war – Sträu cher, Ranken, kleine Baumstämme. Dann und wann tauchten kleinere Tiere
im Dickicht auf, zogen sich aber augenblick lich zurück, sobald sie die Porquetor-Rü stung kommen sahen. Grizzard ließ sich führen. Mittlerweile hatte er begonnen sich einzureden, daß er ei ne Art Instinkt entwickelte, der ihn lenkte. Er war jetzt etwa eine Stunde unterwegs. Bei dem Gedanken daran, daß er mit dem häßlichen Zwergenkörper mit Sicherheit kei ne zehn Schritte in den Urwald hätte tun können, ohne den Kreaturen der Wildnis zum Opfer zu fallen, beschlich ihn leichte Euphorie. Zwar steckte er immer noch in dem ungeliebten Körper, aber er brauchte kein Glied zu rühren. Grizzard saß auf einer Art Sattel in der Körpermaske, die CaidonRov für ihn angefertigt und in die Rüstung eingebaut hatte. Ein Fingerdruck auf einen der Sensorpunkte in den Vertiefungen für die kleinen Hände genügte, um die Stahl faust Porquetors einen Baum zerschmettern zu lassen. Der Nachteil für ihn war eben, daß alle Geschöpfe, die ihn erblickten, in Panik vor ihm flohen. Sie fürchteten den echten Por quetor. Wie sollte es Grizzard da gelingen, Kontakt mit den Eingeborenen aufzuneh men? Sicher, er hatte nicht vergessen, wie übel einige von ihnen ihm in der Feste mit gespielt hatten, aber er mußte eine Möglich keit finden, ihr Vertrauen zu erringen. Viel leicht wußten sie etwas über seinen Körper, das ihm weiterhalf. Nach einer weiteren halben Stunde sah er plötzlich schroff aufsteigende Felsen vor sich. Er mußte das Hindernis umgehen. Nach wenigen Schritten hörte er Stim men. Grizzard brachte die Rüstung zum Stehen. Er lauschte. Die Außenmikrophone fingen die Laute auf und leiteten sie verstärkt an seine Ohren weiter. Natürlich verfügte Grizzard nicht über die Erinnerungen des echten Porquetor. Er wuß te nur das, was Caidon-Rov ihm erzählt hat te, und das war nicht viel. So dachte er sich nichts dabei, als er vorsichtig um einen Fel sen lugte und die seltsam aussehenden We
Aufbruch ins Unbekannte sen auf einer freien Fläche sitzen und spie len sah. Hinter ihnen klaffte ein Spalt im Fels. Grizzard glaubte, darin ein fahles Licht zu sehen. Grizzard spürte die aufkommende Erre gung. Noch hatten sie ihn nicht bemerkt. Die Wesen waren nur mit einem Lendenschurz bekleidet und erinnerten vage an die Dala zaaren. Nur waren sie kleiner und untersetz ter, dazu wuchsen ihnen große Schaufelge weihe aus den Köpfen, die zu beiden Seiten bis zur Höhe ihrer Oberarme ausluden. Über den beiden »normalen« Augen befanden sich zwei weitere, knopfförmige, die weit auseinanderstanden. Die Wesen machten einen friedlichen Eindruck. Irgendwie schienen sie nicht in die Wildnis des Blutdschungels zu passen. Grizzard konnte Männer, Frauen und Kinder unterscheiden. Grizzard überlegte, wie er sich ihnen am besten nähern konnte, ohne daß sie gleich wieder in Panik davonliefen. Er konnte nicht ahnen, daß Porquetor der Erzfeind dieser Geschöpfe gewesen war. Schließlich gab er sich einen Ruck. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und kam hinter dem Felsblock hervor. Er hob die Arme zum Zeichen seiner friedlichen Ab sichten und sprach so leise wie möglich eine Begrüßung in sein Mikrophon, was aller dings sinnlos war, denn der automatische Regulator sorgte dafür, daß seine Worte im mer in der gleichen Lautstärke gesendet wurden, ganz egal, ob er nun laut oder leise sprach. Eines der Wesen stieß einen heiseren Schrei aus. Im nächsten Augenblick spran gen alle anderen ebenfalls auf und rannten in wilder Flucht auf den Felsspalt zu. »So wartet doch!« rief Grizzard. »Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben. Ich bin nicht Porquetor! Bleibt stehen!« Unwillkürlich setzte er die Rüstung in Be wegung. Als die Gehörnten alle im Fels ver schwunden waren, konnte er ein Schott er kennen und dahinter einen Fluß. Ein prächtig gekleideter Mann erschien
19 im Eingang und schleuderte einen schweren Stein. Er traf die Rüstung am Kopf. Nur die Körpermaske verhinderte, daß Grizzard durch die Erschütterung das Bewußtsein verlor. »So etwas habe ich mir gedacht!« schrillte die Stimme des Wesens im Eingang. »Du hattest geglaubt, uns täuschen zu können, in dem du verbreiten ließest, du seiest tot. Aber Troton überlistest du nicht. Verschwinde, Porquetor, oder ich mache dir Beine!« Grizzard verstand nicht, was sein Gegen über meinte. Immerhin ergab eine schnell durchgeführte Kontrolle, daß weder die Op tiken noch die übrigen Wahrnehmungssyste me des Halbroboters beschädigt waren. Auch die Steuerung funktionierte noch ein wandfrei. »So höre doch!« rief Grizzard. »Ich bin nicht der, für den ihr mich haltet. Ich komme in Freundschaft!« Die erste Antwort des Wesens hatte ihm bewiesen, daß es ihn verstand. Es benutzte die gleiche Sprache, die Caidon-Rov ihm beigebracht hatte. »Daß du ein Idiot bist, wußte ich«, schrie Troton, wie der Fremde sich nannte. »Aber daß du so dumm bist, ist mir neu. Ver schwinde, oder ich …« Troton hob einen weiteren Stein aus. Grizzard wich geschickt aus. Plötzlich pack te ihn die Wut. Der Bursche wollte ihn nicht verstehen! Der Halbroboter marschierte auf den Fels spalt zu. Troton zuckte zusammen und lief zurück bis zum Schott. Er machte sich daran zu schaffen und lachte den vermeintlichen Porquetor hämisch aus. Er mußte sich sehr sicher fühlen. Das änderte sich schlagartig, als er fest stellte, daß sich das Schott nicht schließen ließ. Noch einmal schleuderte er einen Stein nach Grizzard. Dann rannte er in den in Fels gehauenen Gang hinein, der ins Innere der Felsenburg führte. Grizzard überlegte einen Augenblick. Fast war er soweit, umzukehren und sein Glück
20 woanders zu versuchen. Nein! dachte er bitter. Ich werde überall das gleiche erleben. Ich muß versuchen, hier und jetzt den Bann zu brechen. Langsam marschierte er auf das offene Schott zu. Es war groß genug, um ihn einzu lassen. Er sah matt schimmernde Platten an der Decke, die das dämmrige Licht schufen. An den Wänden befanden sich Zeichnungen. Keines der Wesen zeigte sich. Es war vollkommen still, mit Ausnahme eines mo notonen Rauschens wie von langsam dahin strömendem Wasser. Grizzard lenkte die Rüstung weiter in den Gang hinein. Nach etwa hundert Meter er reichte er ein zweites, ebenfalls offenes Tür schott. Er schritt hindurch und gelangte in eine große Felshöhle. Tatsächlich sah er einen Fluß. Mehrere Öllampen erhellten die Halle. »Kommt heraus«, rief Grizzard. »Ich will euch nichts tun. Ich brauche eure Hilfe.« »Habt ihr das gehört?« kam es von ir gendwoher. »Der mächtige Porquetor braucht unsere Hilfe!« Jemand kicherte. »Ich glaube, er wird alt«, rief ein anderer. Grizzard drehte die Rüstung um 360 Grad, konnte aber niemanden entdecken. Die We sen mußten überall in den Felsnischen stecken. »Ja«, antwortete jemand. »Sollen wir ihm eine Lektion erteilen?« »Es könnte auch eine Falle sein.« »Ach was«, hallte es. »Dazu ist er viel zu dumm. Ich glaube, ich habe ihn besser ge troffen, als ich dachte.« »Troton«, rief Grizzard. »Komm her, ich möchte mit dir reden!« »Das kann ich mir denken!« kam prompt die Antwort. Grizzard sah sich wieder um. Die Stimmen hallten in der Höhle und wur den von den Wänden zurückgeworfen. Es war unmöglich, Troton zu lokalisieren. Ein erster Hinweis konnte die kopfgroße Frucht sein, die von hinten gegen den Kopf teil der Porquetor-Rüstung klatschte. »Geh ruhig und zerstöre unsere Hütten!«
Horst Hoffmann rief Troton. »Uns findest du nicht. Es gibt zu viele von uns, die sich das Recht auf Arbeit erkämpft haben. Wir haben nichts zu tun. Geh und schlage die Hütten kaputt, damit wir sie wieder aufbauen können!« Grizzard hatte das Gefühl, unter eine Hor de von Verrückten geraten zu sein. Allmäh lich riß ihm die Geduld, zumal jetzt ein Bombardement auf ihn einsetzte. Die Früch te kamen von allen Seiten. Sie wurden aus den Felsnischen geworfen, die viel zu klein waren, als daß er sich in eine von ihnen hätte hineinzwängen können. Der Saft der aufgeplatzten Früchte ver schmierte die Rüstung. Grizzard erkannte, daß er diese Fanatiker niemals überzeugen konnte. Der echte Por quetor mußte ihnen übel mitgespielt haben, überlegte er. Dennoch war er weit davon entfernt, das ganze Ausmaß des Leidens zu erkennen, das der Stählerne den Geweihträ gern zugefügt hatte. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und marschierte auf den Ausgang zu. Tränen der Enttäuschung rannen über die Wangen des Verwachsenen in der Körpermaske. »Er verschwindet!« hörte er. »Das ist ein großer Tag für uns. Der mächtige Porquetor geht, ohne unsere Hütten zu vernichten. He, Idiot! Das ist nicht in Ordnung! Wir brau chen Arbeit!« »Jetzt ist vielleicht die Gelegenheit, uns zu rächen«, rief eine andere Stimme. »Kommt! Wir heizen ihm ein! Er soll dafür büßen, daß er viele von uns tötete!« Grizzards Niedergeschlagenheit war nicht zu beschreiben. Er achtete nicht auf die Stei ne, die seinen Rücken trafen. War das wirklich der Preis für seine Frei heit? Würde er für alle Zeiten ein Monstrum sein, mit dem niemand etwas zu tun haben wollte? Mußte er für all das büßen, was der echte Porquetor angerichtet hatte? Die Schreie der Höhlenbewohner hallten noch in den Lautsprechern der Körpermas ke, als Grizzard schon weit im Dickicht des Dschungels verschwunden war. In einem plötzlichen Wutanfall zertrüm
Aufbruch ins Unbekannte merte er mit beiden Stahlfäusten etwas, das wie eine riesige, auf dem Boden liegende Kokosnuß aussah. Die Schale brach ausein ander. Gelber, übelriechender Saft spritzte in die Höhe und blieb an einigen Teilen der Rüstung kleben. Ich handle schon so wie der echte Por quetor! erkannte Grizzard entsetzt. Immer wieder hallten die Worte der Ge weihträger in seinem Bewußtsein: Er soll dafür büßen, daß er viele von uns tötete! Würde er überhaupt jemals Freunde fin den können? Wie mochten die Wesen jen seits des Blutdschungels auf sein Erscheinen reagieren? Ihm kam ein schrecklicher Gedanke. Er mußte damit rechnen, daß ein anderes Bewußtsein in seinem eigentlichen Körper steckte. Wie würde dies handeln, wenn er ihm gegenübertrat? Grizzard war weiter in den Dschungel hineinmarschiert. Manchmal hatte er das Gefühl, im Kreis zu gehen. Was war, wenn er plötzlich ins Freie trat und die Feste Grool wieder vor sich sah? Wäre es nicht besser, als Gefangener ne ben Caidon-Rov zu leben als einsam durch eine Welt zu ziehen, die ihn ablehnte? Unsinn! dachte Grizzard. Ich darf erst gar nicht in Versuchung geraten, zu ihm zurück zukehren. Grizzard ließ den Halbroboter halten. Wo sollte er weitersuchen? Wann erreichte er die Stahlquelle? Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er zog die blaue Knolle aus dem Gürtel beutel und betrachtete sie. Täuschte er sich, oder war ihre rauhe Oberfläche jetzt von fei nen Härchen übersät? Beim Anblick der Knolle geschah etwas Seltsames mit Grizzard. Er fühlte plötzlich neue Zuversicht. Was immer Porquetor angestellt haben mochte, es konnten gar nicht alle Völker dieser Ge gend unter ihm gelitten haben. So mächtig war auch er nicht gewesen. Er steckte die Knolle in den Beutel zu rück, wobei er sorgfältig darauf achtete, daß
21 er sie nicht beschädigte. Er behandelte sie wie einen ungeheuer wertvollen Schatz. Grizzard beschloß, zu den Geweihträgern zurückzukehren und noch einen letzten Ver such zu machen, sich mit ihnen zu verständi gen. Die Art und Weise, wie sie sich tief im Fels eingerichtet hatten, bewies, daß sie über Intelligenz verfügten. Danach hatte er immer noch Zeit, sich um die Stahlquelle zu küm mern. Er verdrängte die entsprechenden Im pulse, die ihn von seinem Vorhaben abhal ten und weiterführen wollten. Grizzards Vermutung war richtig: die Paarlen waren intelligent. Wie intelligent, das sollte er früher zu spüren bekommen, als ihm lieb sein konnte.
* Troton, der vor einiger Zeit von Atlan ins Priesteramt des Türverantwortlichen erho ben worden war, saß auf einem Felsturm und beobachtete von dieser sicheren Stelle aus den Dschungel. Wenn er recht und Por quetor gelogen hatte, mußte der Stählerne zurückkommen, um Rache zu nehmen. Der Mörder hatte noch niemals eine Schlappe ohne Vergeltung eingesteckt. Troton ließ sich durch das merkwürdige Verhalten Porquetors nicht beirren. Für ihn war klar, daß der Stählerne etwas im Schilde führte. Sein Auftritt in der Höhle sollte nur dazu dienen, die Paarlen in Sicherheit zu wiegen, ebenso wie die Gerüchte über sei nen Tod, die er hatte verbreiten lassen. Troton lachte meckernd auf, als er daran dachte, daß die Priester und fast alle anderen Paarlen darauf hereingefallen waren. Ihr Leichtsinn hätte sie fast das Leben gekostet. Der Türverantwortliche hatte immer wie der gewarnt, aber man wollte nicht auf ihn hören und spielte sogar im Freien. Als Zei chen der Freiheit mußte er die Verschlußmo dule aus den Schotten entfernen. Natürlich hatte Troton sie wieder eingebaut. Leider war ihm dabei ein Fehler unterlaufen. Sie funktionierten nicht mehr. Auch jetzt machte sich schon wieder der
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Leichtsinn unter seinen Artgenossen breit. Viele Paarlen glaubten, daß Porquetor zwar nicht tot, aber ungefährlich geworden sei – nur weil er, wie sie glaubten, geflohen war. »Wir werden ja sehen«, sagte Troton lei se. »Wenn er zurückkehrt, habe ich den Be weis. Er will uns in Sicherheit wiegen, um dann leichtes Spiel mit uns zu haben. Aber nicht mir mir! Nicht mit Troton, dem Wäch ter des Tores!« Wenn er noch einmal auftauchte, würde Troton ihn selbst in die Falle locken. Er würde der Held des Stammes sein! Die Zeit verging, und Troton glaubte schon, sich doch geirrt zu haben. Dann sah er plötzlich etwas Metallisches im Licht der Sonne schimmern. Es bewegte sich durch das Dschungeldickicht genau auf den Fels spalt zu. Triumphierend begann der Türverant wortliche mit dem Abstieg. Er hatte zwar höllische Angst, aber schließlich wollte er ein Held werden.
* Grizzard blieb stehen, als er den freien Platz vor dem Spalt erreichte und rief nach den Geweihträgern. Schon nach wenigen Augenblicken zeigte sich einer von ihnen. Er kam hinter einem Felsvorsprung hervor und stand genau zwi schen Grizzard und dem Eingang zum Höh lensystem. An der prächtigen Kleidung erkannte Grizzard den frechen Kerl, der sich Troton nannte. »Hör zu«, rief er. »Ich komme als euer Freund. Ihr müßt vergessen, was Porquetor euch antat. Ich bin nicht Porquetor!« Der Geweihträger schnitt eine Grimasse und sprang wild von einem Bein aufs ande re. Dann begann er, wüste Beschimpfungen auszustoßen. »Komm doch!« rief er. »Komm, wenn du dich traust!« »Was soll das?« fragte Grizzard und setz te sich in Bewegung. Troton bewegte sich
rückwärts auf den Felsspalt zu. Grizzard hatte die Stelle, an der Troton zuerst gestanden hatte, noch nicht ganz er reicht, als der Boden unter der Rüstung nachgab. Grizzard wurde in die Tiefe geris sen und fand sich in einer etwa fünf Meter tiefen Grube wieder. Er stieß eine Verwünschung aus, die er Caidon-Rov abgehört hatte, und versuchte, an den lehmigen Wänden hochzuklettern. Nach wenigen erfolglosen Versuchen gab er es auf. Seine Finger glitten an dem weichen Boden ab. Am Rand der Grube gab es einen Mords spektakel. Neben Troton waren die anderen Geweihträger erschienen und vollführten Freudentänze. »Porquetor ist tot! Porquetor ist tot!« ver stand er immer wieder. Noch während er über die Bedeutung der skandierten Rufe nachdachte, bildete sich in der dem Höhlen system zugewandten Wand der Grube eine Öffnung, aus der gelbe, stinkende Flüssig keit schoß. Grizzard begriff. So wollten sie ihm also den Garaus machen. Wahrscheinlich hatten sie einen unterirdischen Kanal gebaut und die Flüssigkeit vom Fluß abgeleitet. Schon jetzt stand er bis zu den Knöcheln in der Brühe. »Das ist deine Strafe, Mörder!« schrie Troton. »Die Strafe für die Morde an unse ren Frauen und Kindern!« Die Geweihträger verschwanden vom Rand der Grube. »So wartet doch!« rief Grizzard in Panik. »Ihr irrt euch. Ich …« »Nicht einmal in Würde sterben kannst du, du jämmerlicher Feigling!« schrie Tro ton. »Auch ich werde jetzt gehen.« »Wieso?« fragte Grizzard. »Willst du dei nen Feind nicht sterben sehen?« »Unsere Gesetze verbieten uns, anderen beim Sterben zuzusehen«, erklärte Troton. »Selbst, wenn es ein Mörder ist.« Ohne ein weiteres Wort verschwand der Geweihträger. Die Flüssigkeit stieg schnell. Grizzards
Aufbruch ins Unbekannte Hoffnung, sie würde vom Waldboden aufge sogen, erfüllte sich nicht. Schon jetzt reichte sie ihm bis zu den Knien. Er war sich darüber im klaren, daß er wahrscheinlich nicht einmal warten mußte, bis er ertrank. Schon vorher würde es Kurz schlüsse geben, die ihn umbrachten. Noch einmal warf er sich gegen die senk recht aufragenden Lehmwände und grub die stählernen Hände ins Erdreich. Aber er schaffte es nicht, nur wenige Zentimeter an ihnen hochzusteigen. Der neue, unbesiegbare Körper war zur tödlichen Falle geworden. Die gelbe Brühe stieg weiter.
* Als die Flüssigkeit die Hüftpartien der Rüstung erreicht hatte, fühlte Grizzard plötz lich eine tiefe Ruhe. Vorbei war die Todes angst. Er schrie nicht mehr und versuchte nicht weiter, gegen das Unvermeidliche an zukämpfen. Plötzlich tauchten, verschwommen und seltsam verzerrt, Traumbilder vor seinem geistigen Auge auf. Er sah seinen eigenen jungen und starken Körper. Er bewegte sich durch eine bizarre Landschaft, die ihm zunächst fremd vorkam. Dann erschienen hier und da vertraute Ele mente. Manchmal glaubte er, sich an etwas erinnern zu können, doch sobald er versuch te, einen der schnell wechselnden Eindrücke einzufangen und festzuhalten, löste sich das Bild auf. Er wußte, daß er Teile seiner Welt sah – jenes Planeten, auf dem er herangewachsen war, bevor … Was war dann geschehen? Wie war er hierher gekommen? Je mehr er versuchte, die Traumbilder un ter Kontrolle zu bringen, desto undeutlicher wurden sie. Grizzard geriet erneut in Panik. Der Ver lust der so nahe liegenden und doch uner reichbaren Erinnerung war schlimmer als der Tod.
23 Dann schien der Schleier aufzureißen. Grizzard sah sich in seinem Körper, mitten unter einer Vielzahl fremdartiger Lebewe sen, die in einem riesigen Zelt auf primitiven Lagern lagen oder saßen. Grizzard wurde von nie gekannter Eupho rie erfaßt. Er spürte, daß er dem Geheimnis noch niemals so nahe gewesen war wie in diesen Augenblicken, da er dem Tod ins Au ge sah. Mehr noch: Er fühlte, daß das, was er sah, Realität war. Die fremden Wesen be wegten sich um ihn herum. Es geschah jetzt, in diesem Moment. Von irgendwoher kam eine Stimme. Sie rief nach ihm. Die Bilder wurden wieder schwächer. Grizzard merkte nicht, wie er schrie. Er sah durch die Augen seines Körpers, aber er fand den Rufer nicht. Die Bilder verblaßten, doch die Stimme blieb. Grizzard kam zu sich. Die Flüssigkeit stand ihm bis zur Brust. Er begriff nicht, wieso er noch lebte. Caidon-Rov mußte die Rüstung vollkommen neu isoliert haben. »Hörst du endlich?« Grizzard zuckte zusammen. Der Kopf der Porquetor-Rüstung fuhr in die Höhe. Die Optiken übertrugen gerade noch, wie ein Schatten vom Rand der Grube verschwand. Im nächsten Augenblick flog ein armdickes, von vielen Lianen gefertigtes Seil zu ihm herab. Grizzard griff instinktiv danach. Ohne lange zu überlegen, zog er daran, bis es straff war. Es war stark genug, um die schwere Rüstung zu tragen. Die Stahlfäuste umklammerten die Lia nen, während sich die metallenen Stiefel in den Lehm bohrten. Langsam, immer darauf bedacht, das Gleichgewicht zu halten und nicht mit den Füßen abzurutschen, kletterte Grizzard in die Höhe. Nach wenigen Minuten erreichte er den Rand der Fallgrube. Er warf sich auf den moosbewachsenen Boden. Dann richtete er die Rüstung schnell auf und sah sich um.
24 Wie durch ein Wunder war er gerettet worden. Doch wo steckte sein unbekannter Helfer? War auch er vor ihm geflohen? Weshalb hatte er ihm dann das Seil in die Grube ge worfen? Grizzard sah, daß es mit dem ande ren Ende um einen zwei Meter dicken Baumstamm geschlungen war. Er rief nach seinem Retter, doch erhielt keine Antwort. Er hatte es auch nicht erwar tet. Dafür tauchten im Felsspalt die ersten Ge weihträger auf. Sie begannen, in ohnmächti ger Wut wüste Schreie auszustoßen und ihn mit allem möglichen zu bewerfen. Eine Gruppe zerrte ein geschützähnliches Gerät aus dem Spalt, eine primitive, aber wir kungsvolle Steinschleuder. Grizzards Hände berührten die Sensoren der Steuerung. Die Porquetor-Rüstung bahn te sich ihren Weg in den Dschungel. Neben ihr krachte ein großer Felsbrocken durch die Baumwipfel ins Unterholz. Grizzard gönnte sich diesmal keine Ruhe. Er machte keine Rast, sondern marschierte weiter. Er ließ sich willenlos lenken. Am Ende der Wanderung würde er vor der Stahlquelle stehen. Der Gedanke an den geheimnisvollen Retter ließ ihn nicht mehr los. Er hatte einen Freund, auch wenn dieser sich wie die anderen vor ihm zu fürchten schien. Und er wußte jetzt, daß sein Körper tatsächlich auf dieser Welt war, und zwar nicht sehr weit von ihm entfernt. Das gab ihm neuen Mut. Sein erstes Ziel war jetzt, den unbekannten Freund zu fin den. Vielleicht konnte dieser ihm wertvolle Informationen geben. Der stählerne Gigant brach eine Bresche in das für einen Menschen undurchdringbare Dickicht. Es war mittlerweile später Nach mittag. Dann und wann blieb Grizzard stehen und lauschte, wenn er glaubte, verdächtige Ge räusche im Unterholz zu hören. Doch im mer, wenn er den Halbroboter eine Drehung vollführen ließ und sich umschaute, sah er
Horst Hoffmann nichts als ineinander verschlungene, phanta stische Pflanzen und fliehende kleine Tiere. Er ging weiter. Und die Dalazaaren folg ten ihm.
5. LEBO AXTON: DIE FRAU Als es draußen dunkel war, beschloß Le bo Axton, die Flucht zu wagen. »Also hör gut zu, Flatter«, flüsterte er sei nem Vogelfreund zu, der ihn natürlich nicht verstand. »Ich verschwinde jetzt. Du mußt die Wachen ablenken.« Er zeigte auf vier Dellos, die in den Gängen patrouillierten. »Glaube mir, es ist besser, wenn du hier bleibst. Sicher findest du schnell einen neuen Freund.« Flatter blickte den Terraner aus den klei nen Augen seltsam an. Fast hatte Axton das Gefühl, daß er ihn doch verstand. »Also paß auf. Du wirst jetzt so laut schnattern, wie du kannst, bis der Kraftprotz kommt und dir eins über den Schädel gibt. Ich sorge dafür, daß weitere Verwirrung ent steht, so daß ich im allgemeinen Durchein ander entkommen kann. Die Dellos sind sich ihrer Sache sehr sicher. Die eine Wache am Ausgang macht mir keine allzu großen Sor gen.« Plötzlich schüttelte Flatter energisch den Kopf. »Du willst nicht?« fragte Axton. »Und meine Gesten ahmst du auch schon nach. Tut mir leid, mein Freund, aber dann muß ich nachhelfen.« Lebo Axton sah sich um. Die vier Dellos blickten nicht herüber. Im fahlen Schein der von ihnen aufgestellten Lichtspender konn ten sie auch nicht viel erkennen. Der Terraner packte das Vogelwesen im Nacken und drückte auf den empfindlichen Hautknoten. Keine Reaktion. Flatter schüttelte wieder den Kopf. »Dann eben nicht«, murmelte Axton. Be vor Flatter reagieren konnte, griff er nach dessen Futterschüssel und warf sie über die
Aufbruch ins Unbekannte träge auf ihren Liegen hockenden Echsenab kömmlinge hinweg dem Affenartigen an den Kopf. Der Riese fuhr in die Höhe. Axton hatte sich schnell auf seine Matratze fallen lassen und tat so, als ob er schliefe. Ehe Flatter begriff, wie ihm geschah, war der Affenartige heran und holte mit der Faust aus. Flatter wich dem Hieb aus, sprang auf und rannte laut schnatternd davon. Zwei der Echsen fielen von ihrer Liege und prote stierten mit lautem Zischen. Mehrere Gefäße wurden umgestoßen, als der behaarte Riese dem Vogelwesen nachsetzte. Jetzt sprangen auch in den anderen Teilen des Zeltes die Exoten auf und machten einen Höllenlärm. Einige beteiligten sich an der Jagd auf den vermeintlichen Schuldigen an der Störung. Die vier Androiden liefen ihnen nach und versuchten, sie zu beruhigen. Weitere Dellos stürmten aus ihren Quartieren. Lebo Axton drehte vorsichtig den Kopf. Noch stellte er sich schlafend. Erst als Wächter und Exoten den dem Ausgang ge genüberliegenden Teil des Zeltes erreicht hatten, stand er vorsichtig auf und schlich sich fort. Er gelangte leichter ins Freie, als er ge dacht hatte. Der dort normalerweise postier te Androide hatte seinen Platz verlassen, um das seltene Spektakel aus der Nähe mitzu verfolgen. Axton sah sich nach beiden Seiten um. Die Straße, die weiter ins Innere der Senke führte, war leer. Niemand war zu sehen. Er beschloß, sich vorerst zum Rand der Senke zurückzuziehen, wo er sich so lange vor den Suchtrupps der Androiden ver stecken konnte, bis wieder Ruhe eingekehrt war. Im Dunkeln konnte man ihn kaum von ei nem Dellos unterscheiden. So gelangte er zu den Hügeln im Süden, ohne aufgehalten zu werden, obwohl einige Male Fahrzeuge nahe an ihm vorbeifuhren. Lebo Axton hatte keine Lust, noch einmal mit gefährlichen Kreaturen wie den beiden Katzenartigen Bekanntschaft zu machen,
25 deshalb entfernte er sich nicht zu weit von den äußersten Glasbauten und versteckte sich zwischen einigen hohen Büschen. Am Morgen würde er weitersehen. Vielleicht gelang es ihm doch noch, ins Zentrum der Senke zu gelangen und sich dort Informationen zu beschaffen.
* Sirkat starrte den Dello wütend an. Er hat te Mühe, sich zu beherrschen. Die Beschreibungen Kabbals und seine Antworten auf einige gezielte Fragen hatten den letzten Zweifel daran beseitigt, daß es sich bei dem Flüchtling tatsächlich um Griz zard handelte. Außer ihm war ein weiterer ehemaliger Schläfer entkommen – ausgerechnet jenes Wesen, das an allem schuld war. Das Innere des Notunterkunftzelts sah aus wie eine Schlachtstätte. Immer noch waren Dellos dabei, einzelne Exoten mit Beruhigungsmitteln zu versor gen. Zu allem Überfluß hatte Kabbal Meldung an die Odinssöhne in der FESTUNG ge macht. Es war damit zu rechnen, daß diese bald jemanden schickten, um die Arbeit der Spezialandroiden zu überprüfen und gegebe nenfalls für Ordnung zu sorgen. Bis dahin mußte Sirkat diesen Grizzard gefunden haben. Sicher trieb er sich in der Umgebung der Senke herum. Weiter hinaus würde er nicht gehen. Er wußte, daß er in den unbekannten Weiten Pthors verloren war. Und freiwillig in die Senke zurückkeh ren würde er mit einiger Sicherheit auch nicht. Die Dellos hatten alle Vollmachten, was die Versorgung der ehemaligen Schläfer be traf. Sirkat war nicht berechtigt, ihnen An weisungen zu geben. Dennoch widersprach Kabbal nicht, als der Techno-Führer ihn auf forderte, sich weiter nur um die ihm anver trauten Wesen zu kümmern und sie schärfer bewachen zu lassen, während er mit einigen Torcs auf die Suche nach den Ausreißern
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ging. Kabbal stellte auch keine Frage nach Sirkats auffallendem Interesse an Grizzard. Er schien genug mit seinem schlechten Ge wissen beschäftigt zu sein und sah wohl schon den Kontrolleur der Odinssöhne vor sich.
* Lebo Axton schrak zusammen. Er war für kurze Zeit eingeschlafen und nun von einem plötzlichen Geräusch geweckt worden. Ir gend jemand trieb sich in seiner Nähe her um. Der Morgen dämmerte bereits. Es hatte leicht zu regnen begonnen. Wieder hörte Axton das Geräusch. Er sprang auf und griff nach einem Stein. Der Unbekannte mußte sich hinter den Büschen verstecken, die in Richtung Senke standen. »Komm heraus«, rief der Terraner. »Ich habe dich gehört!« Er holte drohend mit der rechten Hand aus. Ein Schnattern antwortete ihm. Axton ließ sich ins Gras fallen und schlug die Hände vor den Kopf. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Womit hatte er das verdient? »Komm 'raus, Flatter. Ich tue dir nichts. Du bist ein wahrhaft treuer Freund.« Das Vogelwesen streckte den Kopf in die Höhe und lugte über die Äste, bis es sicher war, daß Axton den Stein fallen gelassen hatte. Dann kam es zwischen zwei Sträu chern zum Vorschein. Flatter hockte sich neben Axton ins Gras und warf dem Freund verstohlene Blicke zu. Beim Anblick der angeschwollenen, ver färbten Gesichtspartien um die Augen her um machte sich das schlechte Gewissen des Terraners wieder bemerkbar. Er klopfte dem Gefiederten beruhigend auf die Flügel. »Ist schon in Ordnung, Flattertierchen. Wir beide müssen zusammenhalten. Ich wet te, daß der Gorilla eine Lektion erteilt be kam, weil er uns beide vertrieben hat, meinst du nicht auch?« Der Blick aus den kleinen Augen seines
Gegenübers belehrte Axton eines Besseren. Wie schon im Zelt, hatte er das unangeneh me Gefühl, daß Flatter jedes seiner Worte verstand und längst nicht so dumm war, wie er sich gab. »Und was machen wir nun?« fragte der Terraner. »Die Senke ist wohl der einzige Ort hier in der Nähe, wo wir Näheres über diese Welt und das, was hier vorgeht, erfah ren können. Ich denke, wir sollten noch einen Versuch wagen und uns irgendwie ins Zentrum durchschlagen.« Flatter begann aufgeregt zu schnattern und schüttelte heftig den Kopf. »Du meinst, daß sie nach uns suchen? Überall?« Das Vogelwesen nickte! Na bitte, dachte Axton belustigt. Wer spricht da von unüberwindbaren Sprachbar rieren zwischen intelligenten Wesen? Wenn wir's so machen wie unsere frühen Vorfah ren, kommen wir ganz gut mit der Zeichen sprache zurecht. Seine Laune verschlechterte sich augen blicklich, als er daran dachte, daß ihnen nun tatsächlich nichts anderes übrigblieb, als weiter ins Unbekannte zu marschieren. Die Richtung, aus der er auf seiner Flucht aus der Berserkerstadt gekommen war, schied aus. Also nach Westen. Axton konnte nicht ahnen, daß irgendwo im Westen, im Blutdschungel, ein anderes Wesen vor ähnlichen Problemen stand wie er. »Also brechen wir auf«, sagte der Terra ner. Er erhob sich und spähte durch die Bü sche in die Senke hinab. Einige der schalen förmigen Fahrzeuge näherten sich schnell. Flatter hörte auch das Motorengeräusch und beeilte sich, aufzustehen. Die beiden un gleichen Gefährten begannen zu rennen. Die Hügel am Rand der Senke fielen jetzt nach Westen hin steil ab. Es gab schroffe Erhe bungen und kleinere Wälder, die genügend Deckung boten. Lebo Axton geriet in eine Art Rausch. In seinem Zwergenkörper hätte er kaum einige hundert Meter laufen können. Jetzt spürte er
Aufbruch ins Unbekannte kaum eine Belastung. Im Gegenteil: Er fühl te sich wie neugeboren, als ob er erst jetzt richtig zu leben begonnen hätte. Sie erreichten einen der Wälder zwischen zwei Hügeln. Axton hätte noch lange weiter rennen können, doch er bemerkte, daß Flat ter allmählich die Puste ausging. »Warte!« forderte er den Gefiederten auf und spähte in die Richtung, aus der sie ge kommen waren. Es war nichts von den Ver folgern zu sehen. »In Ordnung, ruhen wir uns aus.« Er sah sich um. Er hatte Hunger. »Du bleibst hier«, sagte er zu Flatter. »Ich versuche, etwas Eßbares aufzutreiben.« Wieder dieser undefinierbare Blick des Vogelwesens. »Ich komme ganz bestimmt zurück! Ich verspreche es, verdammt noch mal! Traust du einem Ehrenmann etwa nicht?« Ich würde es auch nicht tun, fügte er in Gedanken hinzu. Aber Flatter schien sich mit der Zusicherung zu begnügen. Er nickte. Lebo Axton winkte ihm noch einmal zu und machte sich auf den Weg. »Und woher soll ich wissen, welche Früchte oder wel chen Braten mein neuer Körper verträgt?« murmelte er vor sich hin. »Möglicherweise überhaupt nichts, was von dieser Welt stammt.« Axton mußte grinsen. »Und wenn ich Flatter zuerst probieren lasse?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das hat keinen Sinn. Sein Metabolismus ist grundverschieden von meinem, wer weiß, von welcher Welt er stammt. Außerdem hat der arme Kerl schon genug mitmachen müs sen.« Der Terraner kam zu dem Schluß, daß es noch am sichersten sei, ein kleines Tier zu erlegen und zu braten. Ein Feuer zu entfa chen, sollte ihm nicht schwerfallen. Zwar war es noch naß, aber der Regen hatte auf gehört, und die Sonne stand am Himmel. Der Wald war größer, als Axton gedacht hatte. Er merkte sich den Weg, um zu Flatter zurückfinden zu können. Wenn er ihn zu lange warten ließ, würde er nach ihm su
27 chen, und wer konnte sagen, was er dabei ungewollt alles anrichtete. Länger als eine halbe Stunde durchstreifte der Terraner das Dickicht. Er hatte einen spitzen Stein gefunden, der sich als eine Art Faustkeil gebrauchen ließ. Plötzlich hörte er das Knicken von Ästen. Es kam von rechts, wo Bäume und Sträucher besonders dicht beieinander standen. Ein Tier, dachte Axton. Vielleicht aber auch umherstreifende Exoten. Wieder fiel ihm der Kampf mit den Katzenartigen ein. Vorsichtig schlich er sich in die bewußte Richtung, sorgfältig darauf achtend, daß er kein unnötiges Geräusch verursachte. Der Boden fiel steil ab. Axton erreichte drei zusammengewachsene Bäumchen, die ihn an die Eichen der terranischen Natur schutzparks erinnerten. Dann sah er die Zwerge. Er zuckte zusammen. Einen Augenblick lang erschien sein Gnomenkörper vor sei nem geistigen Auge. Er verscheuchte die Gedanken. Die Zwerge dort unten, etwa zwanzig Meter von ihm entfernt, hatten je weils vier Arme und nur ein Bein, das stän dig in Bewegung war. Die Mühelosigkeit, mit der die Fremden sich aufrecht hielten, war beeindruckend. Sie hatten ihn nicht bemerkt. Aber es war offensichtlich, daß sie auf etwas warteten. Sie hatten sich hinter Büschen versteckt, hinter denen ein kleiner Pfad durch den Wald führte. Lebo Axton zählte insgesamt drei Zwer ge, aber er schloß nicht aus, daß auf der an deren Seite des Pfades weitere dieser Wesen lauerten. Sicher handelte es sich um Exoten, die von den Suchtrupps noch nicht eingefan gen worden oder aus den Lagern ausgebro chen waren. Er beschloß abzuwarten. Auf welche Beu te mochten sie aus sein? Plötzlich bemerkte der Terraner eine Bewegung. Die Zwerge duckten sich, das einzige Bein gekrümmt, wie sprungbereite Katzen. Und dann sah Lebo Axton die Frau.
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* Sie war vollkommen nackt. Auf den er sten Blick wirkte sie wie eine Wilde. Erst als sie näher heran war, sah er, wie schön sie war. Langes, tiefblau schimmerndes Haar hing ihr bis auf die Ellbogen herab. Sie war schlank. Die Haut war kupferfarben und an einigen Stellen mit Schmutz verschmiert. Die Eleganz, mit der sie sich bewegte, faszi nierte Axton vom ersten Augenblick an. Wäre sie eine Terranerin gewesen, hätte Ax ton ihr Alter auf etwa zwanzig bis fünfund zwanzig Jahre geschätzt. Sie wirkte unbefangen und näherte sich der Stelle des Pfades, wo die Vierarmigen lauerten. Axton glaubte sehen zu können, wie sich die Muskeln der Angreifer spann ten. In diesem Augenblick vergaß er alles um sich herum – Flatter, die Dellos und Atlan. Sie durfte den Zwergen nicht in die Hän de fallen! Verzweifelt überlegte der Terraner, wie er ihr helfen konnte. Sie zu warnen, hatte kei nen Sinn, dazu war sie viel zu nahe. Er spürte den Stein in seiner Hand. Ohne lange zu überlegen, stieß er einen Schrei aus und rannte den Abhang hinunter. Die Zwerge fuhren herum. Sie reagierten unerwartet schnell. Zwei von ihnen katapul tierten sich auf ihn zu. Sie kamen regelrecht angeflogen. Geistesgegenwärtig fing Axton den ersten von ihnen auf und trat dem zwei ten im Fallen mit voller Wucht vor die Brust. Der Vierarmige krallte sich in seiner Klei dung fest. Die breiten Lippen fuhren ausein ander, und eine Reihe spitzer Zähne wurde sichtbar. Das Wesen versuchte, sie in Ax tons Haut zu schlagen. Der Terraner ließ mit einer Hand los und hieb ihm den Stein in den Rachen. Er warf sich herum und entging um Millimeter einem Angriff des zweiten Zwerges. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie
der dritte sich auf die Nackte stürzte. Ihr Schrei hallte ihm in den Ohren. Doch schon waren die beiden Angreifer wieder heran, Axton holte mit einer Faust aus und schlug dem ersten mit voller Wucht zwischen die Augen. Der Zwerg sackte in sich zusammen und blieb reglos liegen. »Das vertragt ihr nicht, eh?« preßte der Terraner hervor. »Na, komm!« Der Kumpan des Bewußtlosen wirkte einen Augenblick lang verunsichert. Das ge nügte Axton. Er packte ihn an einem der vier Arme, riß ihn auf sich zu und schmet terte die Faust genau zwischen die Augen des Einbeinigen. Dieser sank ebenso wie sein Artgenosse zu Boden und rührte sich nicht mehr. Wieder wurde Lebo Axton von wilder Eu phorie erfaßt. Er betrachtete sekundenlang seine beiden Hände, die neuen Hände. Die Fremde! Axton sprang auf und rannte auf den Pfad zu. Die Frau kämpfte verzweifelt gegen den Vierarmigen und versuchte, sich von ihm zu lösen. Axton sprang hinzu und riß den Zwerg mit einem Ruck zu Boden. Er wollte schon ausholen, um ihm den betäubenden Schlag zu versetzen, als er die Augen der Fremden blendend hell aufflammen sah. Unwillkürlich sprang er zurück – keinen Moment zu früh. Ein violettes Flimmern umspielte für Se kundenbruchteile den Körper des Angrei fers. Er bäumte sich auf, als ob er einen elektrischen Schlag erhalten hätte. Das Flimmern erlosch. Die Augen der Nackten leuchteten nicht mehr. Vorsichtig näherte sich Axton dem Vierarmigen. Er war tot. Die beiden anderen erwachten zugleich aus ihrer Bewußtlosigkeit und rannten da von. Axton und die Fremde sahen sich an. Sie lächelte. Sie lachte ihn nicht aus, weil er ein häßli cher Krüppel war. Sie lief nicht davon, weil er ein Gehirn in einer robotischen Vollpro these war.
Aufbruch ins Unbekannte Lebo Axton spürte, wie er zu zittern be gann. Von einem solchen Augenblick hatte er jahrhundertelang geträumt. Plötzlich war eine lautlose Stimme in sei nem Bewußtsein. Ich danke dir. Wer bist du? Der Terraner spürte einen Kloß in seinem Hals. »Ich bin …«, begann er. Dann zögerte er einen Augenblick. Schließlich sagte er: »Ich bin Grizzard.«
* Sekunden später verfluchte er seine Feig heit. Wieso hatte er nicht den Mut gehabt, sich als Lebo Axton vorzustellen? Die Fremde machte einen Schritt auf ihn zu und berührte seine Brust mit einer Hand. Ich danke dir nochmals, Grizzard. Ich heiße Leenia. Woher kommst du? »Ich wurde auf einer Welt geboren, die sich ›Terra‹ nennt«, antwortete Axton spon tan. »Und du?« Ich weiß es nicht. Vielleicht lebte ich im mer hier. »Du kannst meine Gedanken lesen?« Nur die Botschaften, Grizzard. »Grizzard!« fuhr der Terraner auf. »Ich habe gelogen. Ich heiße Axton, Lebo Ax ton!« Was sind schon Namen, Lebo? Axton wurde sich plötzlich bewußt, wie dumm er dastand. Er sah sich um. Von wei teren Exoten war nichts zu sehen. Dennoch war es Leichtsinn, noch länger auf dem Pfad zu bleiben. »Hast du eine Unterkunft?« fragte er Lee nia. Sie sah ihn aus großen Augen an. Ich kann keinen Sinn in der Botschaft erkennen, Lebo. »Na, ob du irgendwo in der Nähe wohnst. Oder bist du den Dellos weggelaufen, so wie ich? Hast du niemanden, der sich um dich kümmert?« Ich lebe allein. Was meinst du damit, daß sich jemand um mich kümmern sollte?
29 »Zum Beispiel ein Mann«, meinte Axton. Ein Mann? Was ist ein Mann? Leenia schien nachzudenken. Doch, es gab jeman den, der mit mir zusammenlebte, aber ich kann mich an nichts mehr erinnern. Es ist lange her, in einer anderen Welt. Lebo Axton sah, daß er so nicht weiter kam. »Komm«, sagte er. »Geh mit mir. Läuft du immer so herum wie jetzt? Ich meine – hast du nichts zum Anziehen?« Wozu? »Da hast du auch wieder recht«, murmelte der Terraner. Er nahm Leenias Hand und nickte ihr aufmunternd zu. Sie ging mit ihm, als sei dies das Selbstverständlichste der Welt. Lebo Axton hatte seinen knurrenden Ma gen vergessen. Immer wieder warf er der Frau an seiner Seite verstohlene Blicke zu. Sie war noch schöner, als sie auf den ersten Blick gewirkt hatte. Und sie schien unbe schränktes Vertrauen zu ihm zu haben. Er ertappte sich bei dem bangen Gedan ken daran, daß sie sich plötzlich losreißen und weglaufen könnte. Ein nie gekanntes Gefühl der Ausgeglichenheit und des Glücks breitete sich in ihm aus. In diesen Augen blicken, da er Hand in Hand mit ihr durch den Wald ging, wünschte er sich, daß die Zeit zum Stillstand käme. Er wollte sie nie wieder loslassen. All das, was sich in so vielen Jahren in ihm aufge staut hatte, brach mit einem Mal durch. Nur manchmal dachte er daran, wie sie den vierarmigen Zwerg auf dem Pfad allein durch einen Blick ihrer plötzlich grell leuch tenden Augen getötet hatte. Er verdrängte diese Gedanken. Flatter wartete immer noch geduldig am angewiesenen Platz. Das Vogelwesen sprang auf, als es den Freund kommen sah, um ihn stürmisch zu begrüßen. Dann sah es die Frau. »Darf ich vorstellen?« sagte Axton etwas verlegen. »Das ist mein gefiederter Freund Flatter, dies hier ist Leenia. Ich hoffe, ihr werdet euch gut vertragen.«
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Der Gefiederte blickte mißtrauisch. Axton vernahm Leenias telepathische Stimme. Sie begrüßte den Vogel. Flatter zeigte keine Reaktion, doch der Terraner glaubte, einen gewissen Unmut in seinem Blick zu sehen, als er sich mit Lee nia ins Gras setzte. Die Frau wirkte nachdenklich. »Was hast du?« wollte Axton wissen, der schon wieder befürchtete, daß sie jeden Au genblick weglaufen und ihn auslachen könn te, wie es ihm so oft in der Vergangenheit passiert war. Deine Worte haben mich nachdenklich gemacht, vernahm er. Ich versuche, mich an meinen Begleiter in der anderen Welt zu er innern, aber ich kann es nicht. Er war wie du. Bist du ein Mann? Axton verschluckte sich. Er sah an sich herab – keine verkrüppelten Beine, keine Trommelbrust, kein Robotkörper. »Ich … ich glaube schon«, brachte er her vor.
* Gegen Mittag fand der Suchtrupp die Spuren wieder. Die Technos hatten sie ver loren, als sie steiniges Gelände erreichten. Es war ihnen nicht schwergefallen, den Platz ausfindig zu machen, an dem die Flüchtlinge übernachtet hatten. »Dieses gefiederte Wesen ist noch bei ihm«, sagte Tersten und zeigte auf die in den weichen Boden getretenen Fußabdrücke. »Sie sind nach Westen unterwegs.« Sirkat nickte. »Also wissen sie nicht, wohin sie sich zu wenden haben, wie wir vermuteten. Sie wol len nur weg von der Senke, denn der Däm mersee oder die Feste Grool können unmög lich ihr Ziel sein. Sie wissen ja nicht einmal, daß es sie gibt.« Auch die Technos in der Senke hatten bis zur Ankunft der Dellos kaum etwas über das Land jenseits der Hügel gewußt. Die Ereig nisse der letzten Monate hatten sie erst aus ihrer Isolation gerissen.
Tersten stieg wieder in den Torc. »Wie weit können sie gekommen sein?« »Nicht sehr weit«, meinte Sirkat. »Ich nehme an, daß sie sich irgendwo versteckt halten, bis sie glauben, daß wir aufgegeben haben. Vielleicht dort vorne im Wald.« »Das Geräusch der Motoren wird sie war nen«, gab Tersten zu bedenken. »Du hast recht. Wir haben aber keine an dere Wahl, oder sollen wir zu Fuß hinter ih nen herjagen, wo wir nicht einmal wissen, ob sie sich tatsächlich zwischen den beiden Hügeln verstecken? Vielleicht sind sie schon viel weiter. Dann würden wir nur unnötig Zeit verlieren.« Sirkat drehte sich im Fahrersitz um und gab den anderen Technos ein Zeichen. Die Torcs setzten sich in Bewegung. Die deut lich zu sehenden Spuren wiesen ihnen den Weg.
* Seit der Rettung Leenias vor den Vierar migen waren zwei Stunden vergangen. Lebo Axton lag im Gras und ließ sich verwöhnen. Leenia strich ihm durchs Haar und betrach tete ihn. Sie ist genauso allein wie ich, dachte der Terraner. Er kämpfte mit sich. Noch länger konnte er sich hier nicht aufhalten, ohne frü her oder später den Verfolgern in die Hände zu fallen. Er mußte weiter. Flatter zeigte un verhohlen seine Ungeduld. Nicht nur das: Das Vogelwesen war hoch gradig eifersüchtig auf Leenia. Es sah sie als Nebenbuhlerin um Axtons Gunst an. Immer wieder wollte Lebo sich aufraffen, um Leenia den Vorschlag zu machen, ihn auf seinem Weg, der Flucht vor den Dellos und der Suche nach Atlan, zu begleiten. Und jedesmal, wenn er gerade zu sprechen anfan gen wollte, beschlich ihn die Angst vor einer neuen Enttäuschung. Eigentlich konnte dies alles nur ein schö ner Traum sein. Lebo Axton war verliebt. Und sie hatte ebenfalls das Bedürfnis, sich an jemanden
Aufbruch ins Unbekannte anzulehnen. Er gab sich einen Ruck und richtete sich auf. Flatter zuckte zusammen und begann, verhaltene Laute auszustoßen, weil er wohl glaubte, daß Axton sich jetzt zur Abwechs lung wieder einmal ihm ihn kümmern wür de. »Halt die Klappe«, murmelte der Terra ner. Als Leenia ihn fragend ansah, beeilte er sich, zu versichern, daß sie nicht gemeint war. »Hör zu«, begann er dann. »Wir können hier nicht bleiben. Die Dellos sind auf der Suche nach uns.« Er zögerte, dann nahm er all seinen Mut zusammen: »Ich möchte, daß du mit uns kommst.« Du hast lange gebraucht, um die Bot schaft zu formulieren, Lebo. »Dann kannst du doch all meine Gedan ken lesen? Wieso hast du …?« Nur die Botschaften. Ich nahm wahr, wie du sie vor bereitetest. »Und deine Antwort? Willst du mit uns kommen?« Ich will, Lebo, aber ich kann es nicht. Ich muß hier bleiben, um auf den Ruf zu warten. »Welchen Ruf?« fragte der Terraner ver wirrt. Der Ruf der Höheren Welten. Er wird kommen und mich dorthin zurückholen, wo ich hingehöre. Siehst du! dachte er verbittert. Es ist im mer wieder das gleiche! Es war nur ein Traum, nichts anderes! Du bist traurig, Lebo. Axton winkte ab. »Daran bin ich gewöhnt, das kannst du mir glauben. Was ist das, der Ruf der Höhe ren Welten?« Du würdest es nicht verstehen. Er wird mich erreichen, eines Tages. Und dann muß ich gehen. »Ich wußte es«, knurrte der Terraner. »Sprechen wir nicht mehr davon.« Du darfst nicht leiden, Lebo. Der Ruf wird mich auch ereilen, wenn ich mit dir ge he. Nimm mich mit. »Danke, aber ich brauche kein Mitleid.«
31 Axton schlug nach einem kleinen Insekt, das auf einem Grashalm in die Höhe kletterte. Kein Mitleid, Lebo. Ich möchte bei dir sein und bei dir bleiben. Sie meint es ernst! durchfuhr es Axton. Doch kein Traum! Nun bloß nicht lange zö gern! Er stand auf und reichte ihr die Hand. Plötzlich stand sie vor ihm. Ihr Blick schien sich in sein Gehirn zu bohren. Die Welt ver sank hinter einem rosaroten Schleier. Lebo Axton legte beide Hände um Leeni as Hals und küßte sie. Sie erwiderte den Kuß. Lebo wollte sie nie wieder loslassen. Er vergaß die Zeit. Er war entschlossener denn je, Leenia um jeden Preis mit sich zu nehmen, so fremdartig sie auch sein mochte – das spielte keine Rolle. Er hatte das Ge fühl, mit ihr zu verschmelzen, nicht mehr al lein zu sein … Irgend etwas störte, zerbrach die Harmo nie zweier Wesen, die bereit waren, sich al les zu geben. Was ist das? wisperte es in seinem Be wußtsein. Axton ließ Leenia los. Motorengeräusch! Die Verfolger! Axton sprang hinter einen Baumstamm. Sie befanden sich nahe am Waldrand. Einige Büsche und ein paar kleinere Bäume schütz ten sie vor einer Entdeckung. Wenn die Del los am Wald vorbeifuhren und nicht ausstie gen, hatten sie nichts zu befürchten. Fünf der schalenförmigen Fahrzeuge ka men auf sie zu. »Sie fahren vorbei«, zischte Axton Leenia und Flatter, der sich beleidigt zum Rand der kleinen Lichtung zurückgezogen hatte, zu. »Kommt her. Hinter den Büschen werden sie uns nicht entdecken.« Leenia warf sich neben ihm auf den Bo den. Die Büsche gaben ausreichend Deckung. Die Fahrzeuge waren noch etwa fünfzig Meter entfernt. Wo blieb der Vogel? »Flatter, komm her, verdammt!« flüsterte Lebo. Endlich gehorchte das Vogelwesen. Die
32 rechte Hand schützend über Leenia gelegt, zog Axton Flatter mit der Linken zu sich heran. Es war sein Pech, daß er dabei ausgerech net die empfindliche Stelle in dessen Nacken streifte. Er stieß ein ohrenbetäubendes Schnattern aus – genau in dem Augenblick, als die Fahrzeuge an den Flüchtlingen vorbeifuh ren, ohne sie bisher bemerkt zu haben. Die Humanoiden, die Axton für Dellos hielt, brachten ihre Maschinen zum Stehen und sprangen ab. Axton hatte plötzlich das Gefühl, daß ihm der Schädel zerspringen müßte. Die Panik drohte ihn den Verstand zu rauben, aber es war nicht seine eigene Angst. Er achtete kaum auf die Verfolger, die über die Büsche sprangen und ihre stabför migen Waffen auf ihn richteten. Axton sah, wie Leenia davonrannte und hinter einer Baumgruppe verschwand. »Komm zurück!« schrie er in höchster Verzweiflung. Er sprang auf, um ihr nachzu laufen, aber einer der Jäger versperrte ihm den Weg. Axton sah, wie dieser die Mündung der Waffe auf seine Brust richtete. Er konnte nicht wissen, daß es sich um eine Waggu, ei ne Betäubungswaffe, handelte. Von Leenia war nichts mehr zu sehen. »Du bist Grizzard«, sagte der Mann vor ihm. Axton sah ihm ins Gesicht. Er war so sehr in Gedanken bei Leenia, daß er einige Zeit brauchte, um zu erkennen, daß er kei nen Dello vor sich hatte. »Ich bin Lebo Axton!« schrie er ihn an. »Ich weiß es besser«, entgegnete der Fremde. »Du kommst mit uns, Grizzard. Ich habe viele Fragen an dich.« Dann wird er mich nicht gleich töten, er kannte der Terraner. Er sah sich um und fand Flatter. Das Vogelwesen hockte, von zwei der Fremden bewacht, am Boden und rührte sich nicht. »Einverstanden«, sagte Axton. »Aber einen Wunsch habe ich noch.« »Sprich!«
Horst Hoffmann Lebo Axton streckte die Arme zur Seite, um so zu bekunden, daß er keinen Wider stand zu leisten gedachte. Dann ging er auf den Gefiederten zu. Bevor die Bewaffneten es verhindern konnten, holte er mit der Rechten aus und ließ die Faust auf Flatters Kopf herabsausen. »Jetzt können wir gehen«, sagte er. Der Terraner folgte den Fremden zu ei nem ihrer Fahrzeuge. Als er zwischen zweien von ihnen auf der Ladefläche lag, glaubte er, ein leises Wispern zu hören. Wir werden uns wiedersehen, wenn du es willst, Lebo Axton. Ich werde auf dich war ten, falls der Ruf der Höheren Welten mich nicht vorher erreicht. Er fuhr auf und begann zu toben. Der Mann rechts von ihm schoß. Axton brach gelähmt zusammen.
* Sirkat sorgte dafür, daß das Vogelwesen zurück in die Notunterkunft und Grizzard in seinen Glaspalast gebracht wurde. In wenigen Stunden würde die Betäubung nachlassen. Sirkat saß vor der breiten Liege, auf der der ehemalige Schläfer lag, und betrachtete ihn fast andächtig. Er hoffte, von Grizzard aufschlußreiche Informationen zu erhalten, was die Vergan genheit der Senke und der Technos betraf.
6. GRIZZARD: DIE STAHLQUELLE Allmählich näherte sich die Sonne dem Horizont. Grizzard sah sich nur selten, wenn ihr Licht gerade durch das Blätterdach des Blutdschungels drang. Er beschloß, sich eine Lagerstätte für die Nacht zu suchen. Im Blutdschungel war das so gut wie unmöglich. Überall gab es wildes Leben, das oft nur darum zu kämpfen schi en, die nächste Sonne aufgehen zu sehen. Grizzard hatte das bisher kaum berührt. Ob Schlingpflanzen, die ihre Fäden nach
Aufbruch ins Unbekannte ihm abschossen, oder Raubtiere – sie alle konnten ihm in der Porquetor-Rüstung nichts anhaben. Darüber hinaus flohen die meisten Tiere vor ihm. Zwar spürte Grizzard immer noch den Drang in sich, so schnell wie möglich die sa genumwobene Stahlquelle zu erreichen, aber er wollte das Glück nicht herausfordern. Als er eine kleine Lichtung fand, machte er halt. Die Stahlquelle war nicht mehr fern, das spürte er, aber sie konnte bis zum näch sten Tag waten. An dieser Stelle war der Dschungel nicht so dicht wie auf seinem bisherigen Weg. Auch die Pflanzen und Tiere hatten sich ver ändert. Der Boden wurde allmählich mora stig. Grizzard mußte aufpassen, daß er nicht in einen Sumpf geriet. Er sah einen riesigen, schwarzbelaubten Baum. Am Rand der Lichtung gab es weite re Exemplare. Grizzard lenkte die Porquetor-Rüstung an den Urwaldriesen heran und lehnte sie ein fach gegen den zwei Meter durchmessenden Stamm. Dann ließ er sich in der Körpermas ke bequem zurücksinken und von der Auto matik Nahrungskonzentrate in den Mund schieben. Das Zeug schmeckte scheußlich, aber diesen Nachteil nahm er für den Schutz, den ihm der Halbroboter bot, gern in Kauf. Es wurde dunkel. Grizzard wollte versu chen, zu schlafen. Bevor er die Augen schloß, sah er noch etwas Eigenartiges. Die großen Bäume am Rand der Lichtung schienen sich zu bewegen. Ihre mächtigen Stämme schwangen in der Luft hin und her und rieben sich aneinander, wobei unheimli che Laute entstanden. Dann war alles wieder still. Grizzard redete sich ein, daß seine Nerven ihm einen Streich gespielt hatten. Die Nacht senkte sich über den Blutd schungel herab. Überall entwickelte sich ge spenstisches Leben, doch Grizzard hatte nichts zu fürchten. In der Rüstung war er si cher. Sobald eine Gefahr auf ihn zukam, würde ein Alarmsignal ihn wecken.
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* Es waren sechs Dalazaaren, jeder von ih nen ein eingefleischter Anhänger des toten Ravaal. Sie waren so blind vor Haß, daß selbst die Hölle des Blutdschungels sie nicht mehr schrecken konnte. Alles, was sie noch den ken konnten, war: »Porquetor muß sterben!« Er hatte all ihre Pläne zunichte gemacht und darüber hinaus die Schuld daran, daß sie von ihren Stammesgenossen mit Schimpf und Schande davongejagt worden waren. Die sechs hatten mit den übrigen Belage rern beobachten können, wie Ravaal im Sch lund der Blauen Göttin ein grausames Ende gefunden hatte. Dann sahen sie die stählerne Rüstung an der Feste herabklettern. Als die Energiegeschütze der Feste zu feuern began nen, flohen sie in Panik. Die Belagerer, die sich in alle Winde zer streut hatten, fanden sich nach und nach in der Ebene der Windmühlen zusammen. Die meisten von ihnen kehrten reumütig zum Stamm zurück. Doch die Rädelsführer, die ihre Artgenossen zur Belagerung überre det hatten, wurden verstoßen. Die Stammesführer sahen sich in ihrer Überzeugung, daß man sich nicht gegen die Macht der Feste Grool auflehnen durfte, be stätigt. Viele der ehemaligen Rebellen, die Ravaal gefolgt waren, gehorchten nun willig ihren Befehlen. Porquetors plötzliches Wiederauftauchen hatte die Rebellen Lügen gestraft. Die Rä delsführer versuchten, noch einmal das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden und riefen zum offenen Kampf gegen den Stählernen auf, hatte es doch so ausgesehen, als sei Porque tor aus der Feste geflohen. Dann aber mußte seine Macht gebrochen sein. Man vertrieb sie mit Gewalt. Einige machten sich auf den Weg nach Osten, um irgendwo zwischen dem Blutdschungel und dem Dämmersee einen neuen Stamm zu gründen. Nur die sechs, die Grizzard jetzt auf
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Schritt und Tritt folgten, hatten gewagt, in den Dschungel selbst einzudringen. Porque tor mußte ein für allemal unschädlich ge macht werden. Vielleicht gab es dann eine triumphale Rückkehr in die Ebene der Windmühlen. Die Dalazaaren wollten den nächsten Morgen abwarten und dann bei der erstbe sten Gelegenheit zuschlagen. Beinahe hätten die Paarlen die Arbeit für sie erledigt, aber auf rätselhafte Weise war Porquetor gerettet worden. Dennoch wußten die Verfolger jetzt, daß seine Macht gebrochen war. Er hatte sich wie ein Feigling benommen. Porquetor war verwundbar geworden und dadurch zu be siegen. Daran konnte auch der Unbekannte, der ihm aus der Fallgrube herausgeholfen hatte, nichts mehr ändern.
* Das automatische Alarmsystem riß Griz zard aus dem Schlaf. Er öffnete die Augen. Es war fast hell. Grizzard reagierte blitzschnell. Er und die Rüstung bildeten eine untrennbare Einheit. Das Raubschwein war fast heran. Der Halb roboter wich zur Seite aus. Das riesige Tier stemmte die Vorderhufe in den Boden, um den Schwung abzufangen, aber es war zu spät. Die mächtigen Hauer bohrten sich in die Rinde des Dschungelriesen. Grizzard erkannte bestürzt, daß er selbst in der Rüstung kaum eine Chance gegen das Biest gehabt hätte. Als er sah, wie es sich zu befreien versuchte, sprang er hinzu und ließ beide Stahlarme mit voller Wucht auf seinen Rücken hinabsausen. Der Schlag brach ihm die Wirbelsäule. Schnell sah Grizzard sich nach allen Sei ten um, aber er konnte keine weiteren Schweine erkennen. Es mußte sich um einen Einzelgänger gehandelt haben. Plötzlich fiel sein Blick auf die Rinde des Riesenbaums. Ungläubig verfolgte er, wie eine dunkel-
rote Flüssigkeit, die ihn sofort an Blut erin nerte, aus der Rinde trat – genau dort, wo sich die Hauer des Borstentiers in den Stamm gebohrt hatten. Der Saft floß in Strömen an der Rinde herab und bildete auf dem leicht morastigen Boden eine kleine Lache, die nur allmählich versickerte. Grizzard wurde an eine blutende Wunde erinnert. War es Zufall, daß er genau in diesem Augenblick wieder dieses klagende Ge räusch hörte? Er drehte die Rüstung so, daß er die eng beieinanderstehenden Baumriesen am Rand der Lichtung sehen konnte. Sie waren seltsam gekrümmt. Jetzt richte ten die Stämme sich auf und begannen wie der, sich in der Luft zu winden und zu dre hen. Dabei neigten sich die Wipfel mit den schwarzen Blättern allmählich der aufgehen den Sonne zu. Die Bäume rieben sich aneinander. Dies mal war Grizzard sicher, daß er keiner Hal luzination zum Opfer fiel. Durch das Anein anderreiben entstanden die unheimlichen Laute. Und dann begannen sie zu bluten. Aus sich plötzlich öffnenden Rissen in der Rinde strömte die gleiche rote Flüssigkeit wie aus dem Baum, bei dem Grizzard die Nacht verbracht hatte. Bald war der Boden rot gefärbt. Die Flüssigkeit breitete sich schnell aus und bildete kleine Rinnsale. Die Laute wurden immer eindringlicher. Es war verrückt, aber Grizzard war sicher, daß die Urwaldriesen weinten. Die Lichtung wurde ihm unheimlich. Grizzards Zehen berührten einige Sensor punkte in den Vertiefungen der Körpermas ke. Die Porquetor-Rüstung setzte sich in Be wegung. Der Stählerne rannte an den bluten den Riesen vorbei weiter in den Dschungel hinein. Einige Male geriet er fast in sumpfigen Boden. Erst als er ein paar hundert Meter von der Lichtung entfernt war, kam er zur Ruhe.
Aufbruch ins Unbekannte Caidon-Rov hatte diese Bäume nie er wähnt. Doch Grizzard glaubte fast, daß sie es waren, die dem Dschungel seinen Namen gaben. Er bildete eine eigene Welt voller Ge heimnisse. Und eine davon war mit Sicher heit die Stahlquelle. Grizzard hatte es nun plötzlich sehr eilig, dorthin zu gelangen. Unwillkürlich tastete er nach dem Beutel mit der Knolle. War auch sie Teil des My steriums? Die Gefühlssensoren in der stäh lernen Hand übertrugen das, was sie ertaste te, auf Grizzard. Täuschte er sich, oder pulsierte die Knolle leicht? Er marschierte weiter. Der Dschungel wurde wieder dichter. Die Pflanzen schienen sich dem morastigen Boden angepaßt zu ha ben. Es mußte ein Fluß in der Nähe sein. Grizzard ließ sich lenken. Der unbekannte Einfluß, der ihn vorwärtstrieb, wurde stär ker. Er schloß daraus, daß er sich jetzt in un mittelbarer Nähe der Stahlquelle befand. Er wehrte sich nicht gegen die Beeinflussung, denn er spürte instinktiv, daß sie nichts Ne gatives darstellte. Zwei Stunden nach Son nenaufgang teilten sich die Büsche vor Griz zard. Er war in den letzten Minuten nur langsam vorwärtsgekommen. Die Sümpfe hatten zugenommen. Oft mußte er sich vor sichtig auf dünnen Streifen festen Bodens bewegen, um nicht zu versinken. Der Anblick war überwältigend. Grizzard wußte, daß er sein Ziel erreicht hatte.
* Es war eine riesige Mulde mit ziemlich regelmäßiger Rundung des umgebenden Walles, nach Grizzards erster Schätzung et wa einen Kilometer im Durchmesser? Sie glich eher dem Krater eines erloschenen Vulkans als dem, was man sich gemeinhin unter einer Quelle vorstellte. Die Mulde war mit schmutzigem Wasser angefüllt. Dampf schwaden nahmen zeitweise die Sicht. Die Wasseroberfläche hatte einen seltsam metal
35 lischen, blaugrünen Schimmer. Doch das war es nicht, was Grizzard in seinen Bann schlug. An den Rändern des Walles ragten breit gestreut die phantastischsten Gebilde in die Höhe. Manche erinnerten an verstümmelte Lebewesen, andere glichen bizarren Blei gußversuchen. Es gab Hunderte dieser Gebilde. Sie alle waren aus Metall. Grizzard hatte sich oft gefragt, was sich hinter dem Begriff »Stahlquelle« verbarg. Auch hier hatte Caidon-Rov sich ausge schwiegen. Jetzt kam ihm der überwältigende Gedan ke, daß der Name nicht nur symbolisch zu verstehen war. Ein innerer Zwang trieb ihn weiter auf den Kratersee zu, bis er direkt am Ufer stand. Vor ihm ragten drei Metallstrukturen in die Höhe, die direkt aus dem Boden zu wachsen schienen. Sie waren mehr als zwei Meter hoch. Eine in die Sichtoptik eingeblendete An zeige verriet Grizzard, daß die Außentempe ratur sprunghaft anstieg, je weiter er sich der an einigen Stellen brodelnden Flüssigkeit näherte. Die perfekte Isolierung ließ ihn nichts davon spüren. Was will ich hier? fragte Grizzard sich. Ich habe die Stahlquelle gefunden – und nun? Plötzlich bemerkte er einige Dutzend Me ter zu seiner Rechten ein Gebilde, das ihn sofort an eine Waffe erinnerte. Es wuchs aus einem breiten Sockel heraus in den Himmel. Es war tatsächlich eine Art Lanze, aus blauem Stahl und an der Spitze breit und ge zackt. Bisher hatte die Rüstung ihn geschützt, aber vielleicht geriet er auf der weiteren Su che nach seinem Originalkörper schneller in eine Situation, in der er um sein Leben kämpfen mußte, als ihm lieb sein konnte. Hatte das, was ihn beeinflußte, ihn wegen dieser Waffe hierher geführt? Er erinnerte sich an die leere Scheide am Gürtel der Rü stung. Früher einmal mußte Porquetor eine
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Waffe, vermutlich ein Schwert, getragen ha ben. War es nicht denkbar, daß die Rüstung ihn auf eine unverständliche Art und Weise hierher getrieben hatte? Grizzard beschloß, einen Versuch zu wa gen. Wenn er die Lanze aus dem Boden rei ßen konnte und der geheimnisvolle Einfluß verschwand, hatte er die Bestätigung für sei nen Verdacht. Dennoch war ihm bei dem Gedanken, daß der Halbroboter eine Art Eigenleben ent wickeln konnte, alles andere als wohl. Grizzard steuerte die Rüstung auf die Lanze zu, nur wenige Meter vom Rand des brodelnden Kratersees entfernt. In diesem Moment erfolgte der Angriff.
* Grizzard hörte das Geräusch von knicken den Ästen und Zweigen. Er ließ den Halbro boter eine halbe Drehung ausführen und sah die Dalazaaren auf sich zustürmen. Es waren sechs. Grizzard konnte nicht ausweichen. Sie ka men von allen Seiten. Und hinter ihm bro delte das heiße Wasser der Stahlquelle. Die Absicht der Wilden war klar. Sie rannten auf ihn an, um ihn in den Krater zu stürzen. Grizzard machte sich auf einen Kampf auf Leben und Tod gefaßt. Zum erstenmal seit den schrecklichen Stunden in der Fallgrube der Paarlen hatte er Todesangst. Jetzt nützte ihm auch die Rüstung nichts. Als der erste Dalazaare nur noch Meter von ihm entfernt war, erfüllte ein feines Sur ren die Luft. Der Eingeborene stürzte vor Grizzards Füßen zu Boden. Ein Pfeil steckte in seinem Rücken. Die anderen kamen zum Stehen. Entsetzt und verständnislos starrten sie auf den Toten. Dies genügte dem verborgenen Schützen, um zwei weitere Pfeile abzuschießen. Sie fanden ihr Ziel. Grizzard erkannte blitzschnell seine Chance. Er stürmte vorwärts und ließ die
stählernen Fäuste der Rüstung auf die Wil den herabsausen. Zwei von ihnen starben auf der Stelle. Noch ein Gegner. »Hör auf!« schrie Grizzard, als er sah, wie der Dalazaare eine primitive Schleuder durch die Luft wirbelte. »Wir sind keine Feinde!« »Elender Feigling!« brüllte der Eingebo rene. »Ich wußte, daß du nicht Porquetor bist, auch wenn du seine Rüstung trägst. Doch du wirst für seine Verbrechen büßen!« Der Stein flog heran. Grizzard konnte nicht schnell genug reagieren. Die Rüstung wurde mit solcher Wucht an der Schulter partie getroffen, das sie nach hinten umkipp te. Für Bruchteile von Sekunden verlor Griz zard die Kontrolle über den Halbroboter. Der Wilde kniete über ihm und holte mit ei nem Messer aus, um die Linsen der Optik zu zerstören. Der Pfeil traf ihn in den Hals. Benommen richtete Grizzard die Rüstung auf. Er, spürte, wie sein Herz wild schlug. Wieder war er wie durch ein Wunder geret tet worden. Er sah sich um, aber von dem unbekann ten Helfer war nichts zu sehen. »Wer bist du?« rief Grizzard. »Komm heraus. Du brauchst dich nicht zu ver stecken! Warum zeigst du dich nicht?« Wieder wartete er vergeblich. Weshalb mied der Retter ihn? Wirklich nur aus Angst? Und warum folgte er ihm? Grizzard rief noch einige Male – ohne Er folg. Traurig drehte er den Robotkörper um und starrte auf die toten Dalazaaren. War es sein Schicksal, von Tod und Ge walt begleitet zu werden? Mehr denn je sehnte er sich danach, sei nen Originalkörper zu finden. Grizzard ging auf die stählerne Lanze zu. Die Hände der Rüstung umklammerten sie und rüttelten daran. Leichter als erwartet konnte Grizzard sie knapp über dem Sockel
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abbrechen. Die Lanze mochte etwa zwanzig Pfund schwer und drei Meter lang sein. Dennoch bereitete es Grizzard keinerlei Schwierigkei ten, sie zu tragen. Noch einmal warf er einen Blick auf die brodelnde Flüssigkeit der Stahlquelle. Er versuchte erst gar nicht zu verstehen, woher die stählernen Gebilde am Ufer kamen. Die se Welt war voller Geheimnisse, und es war nicht seine Aufgabe, sie zu entschlüsseln. Grizzard ging den Weg zurück, den er ge kommen war. Irgendwo mußte der Blutd schungel zu Ende sein. Vielleicht würde er dann auf jemanden stoßen, der ihm weiter helfen konnte. Aber in welche Richtung sollte er mar schieren? Der geheimnisvolle Einfluß, der ihn bisher vorwärtsgetrieben hatte, war ver schwunden, was Grizzards Vermutung be stätigte, daß er auf eine unbekannte Art und Weise von der Rüstung geführt worden war, um eine Waffe zu finden. Grizzard sah zum Himmel auf. Das Blät terdach war nicht so dicht wie an anderen Stellen. Er konnte die Sonne sehen. Grizzard beschloß, weiter nach Südosten zu gehen.
Die stählernen Hände rissen den Beutel mit der Knolle von der Hüfte. Nur kurz wurde sich Grizzard klar dar über, daß er etwas völlig Sinnloses tat. Was wollte er hier? Er mußte weiter, um eine Spur zu finden, die ihn zu seinem Körper führte … Er nahm die Knolle aus dem Beutel und führte sie vor die Linsen der Sehschlitze. Jetzt sah er die feinen Fäden deutlich. Sie wuchsen aus ihr heraus und hatten schon ei ne Länge von zwanzig Zentimetern erreicht. Die Knolle pulsierte. Grizzard mußte sie ganz einfach vor sich auf den Boden legen. Die Müdigkeit wurde übermächtig. Griz zard versuchte vergeblich, gegen den Wunsch anzukämpfen, sich hinzulegen und zu schlafen. Er merkte erst, daß die Rüstung flach auf dem kahlen Land lag, als er direkt in die Sonne blickte, die zwischen den Blättern der Bäume hindurch schien. Dann trübte sich sein Blick. Grizzard schlug die Augen zu und sank in einen tiefen Schlaf.
*
Die Königspflanze schickte ihre Fäden aus. Sie tasteten vorsichtig über den weichen Boden und versenkten sich in ihn. Aus den Fäden wurden Wurzelstränge, die sich inner halb kurzer Zeit sternförmig nach allen Sei ten hin ausbreiteten, bis sie den Rand der für die neue Lebensgemeinschaft geeigneten Fläche erreichten. An den Enden der Stränge bildeten sich weitere Knollen. Mikroorganismen aus dem Erdreich verbanden sich mit ihnen und schu fen so die Grundlage für einen neuen Le benskreis. Es gab nur wenige Stellen auf Pthor, wo eine solche Symbiose möglich war. Die Mi kroben im Boden mußten gewisse Eigen schaften aufweisen. Nur dann kam es zur Wechselwirkung zwischen ihnen und den Tochterknollen der Königspflanze.
Es war Mittag, als er plötzlich vor einem großen Stück freien Geländes stand. Rings herum war es von dichter Vegetation umge ben, doch in einem Gebiet von etwa dreißig Metern Durchmesser wuchs absolut nichts. Der Boden war braun. Über der freien Stelle wuchsen die Wipfel der Urwaldbäume wie ein Baldachin zusammen. Grizzard wurde neugierig. Zögernd betrat er das Land. Er rechnete damit, daß es sich um einen Sumpf handelte, aber der Boden war fest. Als Grizzard die Mitte der kahlen Stelle erreicht hatte, spürte er plötzlich, wie er mü de wurde. Ohne sich dessen bewußt zu sein, ließ er die Porquetor-Rüstung auf die Knie sinken.
*
38 Nur wenige alte Männer und Frauen der Eingeborenenstämme im Blutdschungel hat ten jemals einen Lebenskreis mit eigenen Augen gesehen. Es hieß, daß es immer nur eines dieser rätselhaften Gebilde geben konnte – niemals zwei zur gleichen Zeit, egal, wie weit sie voneinander entfernt sein mochten. Wenn die Lebenskräfte, die aus der Sym biose entstanden, nachließen, wurde eine neue Königspflanze geboren, die einmal Mittelpunkt einer neuen Gemeinschaft wer den würde, falls jemand sie fand und zu ei nem Ort brachte, wo der Boden geeignet war. Die war so, solange die Legenden zurück reichten. Die Eingeborenen sprachen ehr fürchtig von den Königspflanzen der Blauen Göttin, die, wenn man den Legenden glau ben durfte, nur jedes Menschenalter einmal aus einer Mutation hervorgingen – und das auch nur dann, wenn jemand die Knolle, die als einziges von einem in sich zusammenge fallenen Lebenskreis übriggeblieben war, fand und weitertrug. Einige Stämme beteten die Blauen Göttin nen an und flehten um ihren Schutz und da für, daß die Pflanzen sie mit ihren tödlichen Fangfäden verschonen möge. Die Wilden waren fest davon überzeugt, daß innerhalb eines Lebenskreises Kräfte wirksam waren, die ein Tor zur Vergangenheit schaffen konnten. Die Tochterknollen begannen zu wach sen, und Stunden später erschienen kleine, blaue Blätter an der Erdoberfläche, genau auf einer gedachten Kreislinie um die Mut terknolle und Grizzard als Zentrum. Aus den Blättern wurden große, fladenar tige Gebilde, die sich unaufhaltsam nach al len Seiten verschoben. Die Blauen Göttinnen wuchsen so schnell, daß man es mit bloßem Auge hätte beobach ten können. Es waren mehr als zehn der ge fährlichsten Pflanzen des Blutdschungels. Die Eingeborenen bezeichneten sie als Mordpflanzen, auch wenn sie sie anbeteten. Was sie wirklich darstellten, wußte nie-
Horst Hoffmann mand.
* Grizzard hatte einen seltsamen Traum. Er lag ganz allein auf einer kreisrunden Scheibe. Eine violett leuchtende Sonne stand an einem purpurroten Himmel und tauchte die Scheibe in mattes Licht. Es gab kein Leben in Grizzards Traum welt. Er versuchte sich aufzurichten, aber er schaffte es nicht. Erschreckt erkannte er, daß er gar keinen Körper hatte. Er war nichts als bloßes Bewußtsein. Er mochte Ewigkeiten hier gelegen haben – gelegen oder geschwebt, das machte kei nen Unterschied. Irgendwann einmal mußte er einen Körper gehabt haben, auf den er sich unbewußt immer noch einstellte. So vergingen Minuten, Stunden oder Jah re. Grizzard litt furchtbar unter der Einsam keit, bis er fremdartige mentale Schwingun gen auffing. Überall um ihn herum begann Leben zu sprießen, und er war der Mittelpunkt. Gebannt verfolgte Grizzard, wie sich das aufkeimende Leben entwickelte. Wieder konnte er es nicht sehen, aber es war da. Er hatte das Gefühl, daß es aus ihm selbst her aus strömte. Dann kam es zur Ruhe. Grizzard empfing emotionale Strömun gen. Dankbarkeit, Freude, Geborgenheit. Jetzt glaubte er, eine Stimme zu hören, die sich aus den vagen Strömen herausschälte. Sie sprach zu ihm. Wieder die Dankbarkeit. Sie war das alles andere überschattende Gefühl, und sie kam von allen Seiten. Grizzard begriff nicht, was er getan hatte, aber je länger er die Stimme hörte, desto klarer wurde ihm, daß er, wenn auch indirekt, der Schöpfer dieses ihn umge benden Lebens war. Er hatte als Katalysator gewirkt. Die Stimme verkündete, daß er reich be lohnt werden sollte. Das, was er sich am dringlichsten wünschte, sollte in Erfüllung gehen.
Aufbruch ins Unbekannte »Ich will meinen Körper finden!« hallte der lautlose Schrei über die Scheibe. »Meinen Körper und den Freund, der mich schon zweimal rettete!« Grizzard wartete bange auf die Antwort. Vielleicht hatte er zu überhastet reagiert. Einige Augenblicke glaubte er, so etwas wie Ratlosigkeit wahrzunehmen, die von dem unsichtbaren Leben ausging. Dann er reichten ihn Gefühlsströme, die von ge dämpfter Zuversicht erfüllt waren. Doch bevor sich etwas Klares aus ihnen herausschälen konnte, wachte Grizzard auf. Es dauerte einige Sekunden, bis er in die Wirklichkeit zurückfand. Das, was er sah, ließ ihn laut aufschreien.
7. ATLAN: FLUCHT AUS DER FESTE Atlan ließ eine Stunde verstreichen, dann stand er von seiner Liege auf und trat zur Tür des Schlafgemachs. Feigling schlief. So schnell würde er nach dem Genuß des Be täubungstranks nicht wieder auf die Beine kommen. Atlan glaubte Caidon-Rov kein Wort. Der Hagere würde alles andere tun, als die Flug maschinen der Feste zu untersuchen und in Ordnung zu bringen. Daß es sie gab, wußte der Arkonide. Er hatte ja selbst eines der Geräte gesehen, als Caidon-Rov die Porque tor-Rüstung abholen ließ, nachdem Atlan und Razamon entdeckt hatten, daß der Stäh lerne nichts anderes als ein ferngesteuerter Halbroboter war. Vorsichtig trat der Arkonide auf den Gang hinaus. Er war leer. Atlan hatte sich den Weg zu Caidon-Rovs Kontrollraum genau eingeprägt. Es war möglich, daß der Hagere ihn auch jetzt auf Schritt und Tritt beobachtete. Si cherlich brütete er gerade über einer Mög lichkeit, die beiden »Gäste« für längere Zeit in der Feste gefangenzuhalten. Atlan ging das Risiko ein. Er wollte Klar heit haben. Nach wenigen Minuten erreichte er den
39 laborähnlichen Raum. Caidon-Rov war nicht zu sehen. Atlan trat vor die Kontrollwand und be trachtete die Monitoren. Wie er erwartet hat te, zeigte einer von ihnen das Schlafgemach mit Feigling, andere die Korridore auf dem Weg dorthin. Auch hier konnte er den Hageren nicht entdecken. Vielleicht steckte er in einer der beiden Kugeln. Der Arkonide suchte nach den Kontrollen für das Überwachungssystem. Es gelang ihm relativ schnell, sich mit der Bedienung der Bildschirme zurecht zu finden. Die Technik glich der der FESTUNG. Atlan schaltete die Monitoren der Reihe nach ein, bis einer von ihnen eine Art Han gar zeigte. Der Arkonide stieß einen Laut der Überraschung aus. Er hatte erwartet, ein oder zwei Flugmaschinen vorzufinden. Statt dessen erblickte er ein halbes Dutzend. Sie alle glichen den Zugors. Nur waren sie klei ner. »Für Feigling und mich reichen sie aus«, murmelte er. Er hielt inne, als er eine Bewe gung wahrnahm. Caidon-Rov! Der Hagere kam hinter einer der Maschi nen hervor, eine lange Metallstange in der Hand. Er schien sich vollkommen sicher zu fühlen. Atlan stieß einen Fluch aus, als er sah, wie der Hagere ausholte und mit der Stange auf die Steuerung eines der Fahrzeuge ein drosch. Funken stoben in die Luft. CaidonRov sprang zurück, um nach wenigen Se kunden sein Zerstörungswerk fortzusetzen. »Dieser hinterhältige Halunke!« entfuhr es dem Arkoniden. Er sah auf eine Anzeige unterhalb des Bildschirms. Von seinem ersten Aufenthalt in der Feste Grool her wußte er genug über das Bauwerk, um den Hangar lokalisieren zu können. Er überzeugte sich davon, daß Feigling immer noch schlief. Dann rannte er auf einen der abzweigen
40 den Korridore hinaus. Nach kurzer Zeit fand er eine Treppe, die nach unten führte. Atlan hastete sie hinab, gelangte auf den Innenhof der Feste und fand eine weitere Treppe, über die er in eines der unteren Stockwerke kam. Schon aus der Ferne hörte er das Hämmern. Durch einen aus Steinen gemauerten Gang gelangte er zum Hangar. Das Schott stand offen. Atlan sah, wie Caidon-Rov sich eine wei tere Maschine vornehmen wollte, vielleicht die letzte, die noch funktionierte … »Hör auf!« schrie er. »Es hat keinen Sinn!« Der Hagere fuhr herum. Er zuckte heftig zusammen, als er den Arkoniden langsam auf sich zukommen sah. »Geh weg!« rief Caidon-Rov. »Verschwinde! Ihr werdet niemals zur FE STUNG gelangen!« Er verliert den Verstand, dachte Atlan. Er ging weiter. Noch wenige Meter … »Komm nicht näher. Ich warne dich!« »Gib auf, Caidon-Rov. Du schadest dir nur selbst. Ich weiß, daß du leidest, weil du allein bist. Warum kommst du nicht mit uns?« »Wohin?« schrie der Hagere. »Ich habe immer hier gelebt, so lange ich zurückden ken kann. Wohin sollte ich gehen?« »Du kannst mit uns zur FESTUNG kom men«, sagte Atlan gedehnt. Vorsichtig nä herte er sich der Flugmaschine weiter. Eine unbedachte Bewegung konnte genügen, um Caidon-Rov endgültig die Kontrolle über sich verlieren zu lassen. Wenn er auch diese Maschine unbrauchbar machte, war viel leicht alles verloren. Zu Fuß konnten Feig ling und Atlan die FESTUNG nicht errei chen. Mit Grauen dachte der Arkonide an den langen Weg, den er und Razamon schon einmal hinter sich gebracht hatten. Ohne den Berserker hätte er es niemals geschafft, sein Ziel zu erreichen. Und Feigling würde ihm keine Hilfe sein – im Gegenteil. »Ich meine es ernst«, sagte er eindring lich. »Die Odinssöhne werden dich sicher gern aufnehmen. Es gibt in der FESTUNG
Horst Hoffmann viel für einen Mann wie dich zu tun.« »Nie!« rief Caidon-Rov. »Ich gehöre hier her, und nichts wird mich von hier vertrei ben. Ich habe Porquetor immer gedient und werde es tun, solange ich lebe!« Der Hagere war tatsächlich nicht mehr Herr seiner Sinne. Er redete sich etwas ein, von dem er genau wissen mußte, daß es nicht stimmte. Caidon-Rov begann zu zittern. »Bleib, wo du bist, Atlan! Ich zerstöre die Maschine, wenn du auch nur einen Schritt näher kommst. Es ist die letzte, die noch fliegen kann!« Atlan blieb stehen. Bis zu Caidon-Rov waren es noch etwa drei Meter. Er stand auf dem schalenförmigen Fahrzeug und hatte ei ne Metallstange mit beiden Händen um klammert. Er meinte die Drohung ernst. Was konnte Atlan tun, um ihn zur Ver nunft zu bringen? Er wollte nicht mit ihm kämpfen. Aber was blieb ihm jetzt noch üb rig? Der Arkonide blickte sich vorsichtig um. Er sah nichts, was ihm als Waffe dienen konnte. Plötzlich hörte er Schritte im Gang. Cai don-Rovs Blick in Richtung des Schottes verriet, daß auch er sie wahrnahm. »Wer ist das?« keuchte der Hagere. Es kann nur Feigling sein! überlegte At lan. Er muß früher aus der Betäubung er wacht sein, als ich annahm. »Porquetor!« rief er. »Porquetor ist auf dem Weg hierher, um dich für deinen Unge horsam zu strafen!« Caidon-Rov stieß einen heiseren Schrei aus und ließ die Stange fallen. Mit zwei Sät zen war der Arkonide heran. Er riß ihn von der Maschine und betäubte ihn mit einem Faustschlag gegen die Schläfe. Feigling erschien im Eingang des Han gars. Er zitterte. »Komm herein!« rief Atlan. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Er schläft vor erst.« »Aber ich habe Angst«, flüsterte Feigling.
Aufbruch ins Unbekannte »Furchtbare Angst. Laß uns von hier fortge hen. Schnell!« Atlan fragte sich, wie der Kleine es fertig gebracht hatte, allein bis hierher zu gelan gen, wo er doch hinter jeder Ecke eine unbe kannte Gefahr wähnte. »Wir werden von hier verschwinden. Jetzt gleich. Hilf mir, Caidon-Rov aus dem Han gar zu tragen.« Feigling machte zwei Schritte zurück. Atlan verdrehte die Augen und stieß einen Seufzer aus. »Du wirst dich ganz bestimmt nicht an ihm verletzen. Entweder packst du mit an, oder du bleibst hier.« Widerstrebend setzte Feigling sich in Be wegung. Er überzeugte sich davon, daß Cai don-Rov auch wirklich bewußtlos war. Gemeinsam trugen Atlan und Feigling den Ohnmächtigen in den Gang. Atlan fand den Verschlußmechanismus des Schottes und ließ es zufahren. »Nun komm, du furchtloser Kämpfer oh ne Fehl und Tadel. Setz dich in die rechte Sitzschale, aber paß auf, daß du nichts be rührst. Die Maschine könnte explodieren.« Atlan suchte nach den Schaltungen, die die Schleuse öffneten. Der Hangar befand sich weit unter dem Teil der Feste Grool, den man von der Brücke aus sehen konnte. Nach Norden hin fiel der Hügel schroff ab, und die Feste ragte bis in eine Tiefe von mehr als zwanzig Metern frei aus dem felsi gen Gestein. Es dauerte einige Minuten, bis der Arko nide den Öffnungsmechanismus gefunden hatte. Ein großes, sechseckiges Schott fuhr zur Seite, dann ein zweites. Der Weg war frei. Atlan drehte sich um. Feigling lag reg los auf dem Boden. »Was ist nun wieder los?« herrschte der Arkonide ihn an. »Steh auf!« »Unmöglich!« kreischte der Kleine. »Ich werde niemals in so einem Ding fliegen. Au ßerdem hast du gesagt, es könnte explodie ren.« Atlan schlug sich beide Hände vor die Augen.
41 »Und ich glaubte, nur auf der Erde gäbe es Verrückte«, murmelte er. Dann rannte er auf Feigling zu und zerrte ihn auf den Lade raum der kleinen Flugmaschine. »Und du bleibst hier sitzen, sonst werfe ich dich den schrecklichen Ungeheuern vor!« »Wel … welchen Ungeheuern?« »Den gräßlichen Monstren, die es in der Feste gibt. Aber vielleicht wäre das nicht einmal das schlechteste. Ich könnte in Ruhe zur FESTUNG fliegen, ohne daß du mich weiterhin …« »Nein!« schrie Feigling schrill. »Ich kom me mit. Starte endlich! Nur weg von hier!« »Bitte«, sagte Atlan. »Warum nicht gleich so?« Er sprang auf die Maschine und aktivierte den Antrieb. Im Gegensatz zu einem ge wöhnlichen Zugor gab es zwei Sitzschalen direkt vor der Steuersäule, ansonsten befand das tellerförmige Fahrzeug zur Hauptsache aus Ballastraum. Gerade wollte der Arkonide die Flugma schine in Bewegung setzen, als er das feine Flimmern in der Schleuse bemerkte. »Gebt auf«, hallte es aus verborgenen Lautsprechern. »Die gesamte Feste ist von Energieschirmen umgeben.« Dann war hysterisches Gelächter zu hören – das Lachen eines Wahnsinnigen.
* »Caidon-Rov!« knurrte Atlan und riß Feigling, der in wilder Panik aus dem Flug zeug springen wollte, um sich darunter zu verkriechen, am Arm zurück. »Der Kerl ist zäh wie Leder.« Feigling kauerte sich zusammen und jam merte leise vor sich hin. »Kannst du mich hören?« rief Atlan. »Was denkst du?« Wieder das hysterische Lachen. »Ich habe die absolute Macht. Das müßtest du wissen. Eigentlich wollte ich nur den Kleinen hier festhalten, aber nun werdet ihr mir beide Gesellschaft leisten. Ihr werdet euch an das Leben in der Feste gewöhnen.
42 Ganz bestimmt. Ich kann euch jeden Wunsch erfüllen!« »Dann schalte den Schirm ab!« Das Lachen des Hageren klang schrill in Atlans Ohren. Der Arkonide gab sich keine Mühe, seine tiefe Bestürzung zu verbergen. Was hatten Einsamkeit und immer neue Ent täuschungen aus diesem Mann gemacht? Atlan kam sich gemein vor – aber er muß te unfair handeln, wenn er nicht Monate oder Jahre als Gefangener eines Verrückten in der Feste verbringen wollte. Er sah sich um und fand eine Flugmaschi ne, deren Steuerung von dem Tobenden zer stört worden war. Aber das interessierte den Arkoniden nicht. Die zugorähnliche Maschine war bewaff net. Sie verfügte über starr in den Rumpf eingebaute Energiegeschütze. Wenn der Ha gere nicht auch diese unschädlich gemacht hatte … Atlan setzte alles auf eine Karte. »Wo willst du hin?« fragte Feigling mit vor Angst bebender Stimme. »Du bleibst hier und rührst dich nicht. Es wird gleich verdammt ungemütlich werden, und dann ist es besser, wenn du …« »Ungemütlich? Du meinst gefährlich! Ich ergebe mich, Caidon-Rov!« Feigling sprang auf und sah sich nach verborgenen Kameras um. »Ich bin mit allem einverstanden, wenn du uns nur nichts tust und mich vor den Un geheuern schützt. Für Atlans Handlungen bin ich nicht verantwortlich! Gnade, Herr! Strafe Atlan, nicht mich!« Der Arkonide fluchte und packte Feigling am Kragen. Er zerrte ihn kurzerhand zu ei ner der beiden am Rand der halbschalenför migen Ballastfläche befestigten Ketten, an deren Ende sich jeweils eine Handschelle befand. »So, mein Freund. Ich weiß, wie man die Fesseln öffnet – du nicht. Also komm zur Vernunft. Ich befreie dich erst wieder, wenn wir draußen sind.« »Aber … aber der Energieschirm …« »Steht nicht mehr lange«, versprach At lan. Dann sprang er aus der Flugmaschine
Horst Hoffmann und rannte auf die andere, bewaffnete, zu. Caidon-Rov hatte bisher geschwiegen. Jetzt drang seine Stimme erneut aus den Lautsprechern. Atlan hatte den Eindruck, daß der Hagere verunsichert war. »Was hast du vor?« Der Arkonide schwang sich hinter die Kontrollen der Bordwaffen. Schneller als er wartet fand er heraus, wie sie zu aktivieren waren. Lämpchen leuchteten auf und zeigten an, daß die Energiegeschütze einsatzbereit waren. Vermutlich hatte Porquetor mit die sem Fahrzeug in der Vergangenheit größere Strafexpeditionen unternommen. Einer der Projektoren war genau auf das Schott gerichtet, hinter dem der Zugang zum Hangar lag. »Du mußt verrückt geworden sein!« schrie Caidon-Rov. »Du bringst euch um!« »Genau das habe ich vor«, rief Atlan. »Lieber sterbe ich jetzt auf der Stelle, als mein Leben lang mit einem Geisteskranken zusammenzuleben.« »Du bluffst!« »Meinst du? Wir werden sehen. In genau einer Minute beginne ich, die Schleuse und das Schott vor dem Zugang zu beschießen. Die Hitze wird uns schnell töten. Es sei denn, du entschließt dich dazu, den Schirm abzuschalten. Überlege dir, was du an zwei Toten hast. Du wirst in Zukunft mit deinem schlechten Gewissen leben müssen. Es wird dir keine ruhige Minute lassen.« »Spar dir deine Worte!« »Ich biete dir noch einmal an, mit uns zu kommen. In der FESTUNG wird man dir helfen können. Wenn du wieder gesund bist, wirst du eine neue Aufgabe an der Seite der Odinssöhne bekommen.« »Niemals! Ich gehöre hierher!« Atlan hielt den Daumen in die Höhe und zeigte damit an, daß er nicht zu weiteren Diskussionen bereit war. Eine Minute. Er machte auch den Projektor feuerklar, der auf die Schleuse zeigte. Seine beiden Zeigefinger lagen auf den Auslösern. Caidon-Rov zeterte und schrie. Dann wur de seine Stimme leiser. Er beschwor Atlan,
Aufbruch ins Unbekannte von seinem selbstmörderischen Vorhaben abzulassen. Schließlich war nur noch ein Schluchzen zu hören. Atlan zählte die Sekunden. Immer noch stand der Energieschirm. Der Arkonide begann zu schwitzen. Was sollte er tun, wenn Caidon-Rov sich nicht bluffen ließ? War der Hagere imstande, ihn und Feigling kaltblütig sterben zu lassen? Nach acht Sekunden … sieben … sechs … »Du wirst nicht schießen!« hallte es aus den Lautsprechern. Caidon-Rovs Stimme überschlug sich. Atlan antwortete nicht. Seine Hände wa ren feucht. Drei Sekunden … zwei … Der Energieschirm erlosch. Das Flimmern in der Schleuse verschwand genau in dem Augenblick, als Atlan einen Warnschuß ab geben wollte, der sie zwar nicht umbringen, den Hageren aber vielleicht doch beein drucken würde. Schnell in die andere Maschine! meldete der Extrasinn. Er kann es sich anders über legen! Atlan war schon unterwegs. Mit einem Satz landete er in der Sitzschale und startete das Fahrzeug. Gebannt starrte er auf die of fene Schleuse. Wenn Caidon-Rov jetzt den Schirm wieder einschaltete … Die Maschine schoß ins Freie. Feigling schrie wie ein Besessener und trommelte mit den Fäusten gegen den Rand der Ballastflä che. Erst als er den Fahrtwind spürte, legte er sich flach auf den Boden, um nicht in die Tiefe sehen zu müssen. Atlan atmete auf. Dennoch traute er dem Frieden nicht. Er beschleunigte weiter, bis er außer Reichweite der Energiegeschütze Cai don-Rovs war. Dann steuerte er die Flugmaschine in wei tem Bogen nach Osten, wo die FESTUNG lag. Er warf einen letzten Blick zurück zur Fe ste Grool. Caidon-Rov hatte nicht mehr versucht, sie aufzuhalten. Bedeutete dies, daß er im letz
43 ten Augenblick doch noch zur Besinnung gekommen war? Der Arkonide wünschte es ihm. Er war immer noch bereit, dem einsamen Mann, der nun wieder ganz allein in seinem stählernen Gefängnis war, zu helfen. Doch zunächst gab es Wichtigeres zu er ledigen. Welche Verhältnisse würde er in der FE STUNG vorfinden? Es war wahrscheinlich, daß sich während seiner Abwesenheit Ver änderungen vollzogen hatten.
8. GRIZZARD: EIN HINWEIS Grizzards Angst legte sich sofort. Irgend etwas sagte ihm, daß von den ihn umschlie ßenden blauen Riesenpflanzen keine Gefahr drohte. Direkt neben seinen Füßen lag die Knolle. Sie war in blaues Leuchten gehüllt. Finger dicke rote Stränge liefen sternförmig in alle Richtungen und verschwanden unter den fla chen Blättern der Gewächse. Grizzard wußte, daß er jetzt gehen mußte. Er würde etwas finden. Nur vage erinnerte er sich an seinen Traum. Er fühlte instinktiv, daß die Knolle auf diese Weise zu ihm »gesprochen« hatte. Grizzard hatte sich in zwischen daran gewöhnt, das Unbegreifliche als gegeben hinzunehmen. In dieser Welt schienen alle bekannten Gesetze aufgehoben zu sein. Zwischen zwei der Blauen Göttinnen bil dete sich eine Gasse, gerade groß genug, um ihn durchzulassen. Grizzard richtete sich mit der Rüstung auf und griff nach der Lanze. Dann verließ er den Kreis. Hinter ihm legten sich die fladenförmigen Blätter wieder über die für ihn frei gemachte Stelle. Wohin? dachte Grizzard. War es Zufall, daß ihm im gleichen Augenblick eine Grup pe rotblühender Büsche förmlich ins Auge zu springen schien? Noch ein letztes Mal nahm er Gefühle wahr – Abschied und Dankbarkeit. Noch einmal betrachtete er die Knolle und
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den Kreis der Blauen Göttinnen. Ohne sich richtig bewußt zu sein, warum er es tat, ließ er den Stahlarm mit der Lanze in die Höhe fahren und machte eine Grußbewegung. Dann drehte er sich abrupt um und ver schwand im Dschungel. Als er die kleine Gestalt zwischen den ro ten Blüten ins Freie treten sah, wußte er, daß er seinen zweimaligen Retter vor sich hatte. Es war ein Kind – mitten im Blutdschungel.
* Der Knabe machte einen verstörten Ein druck. Er mochte etwa acht Jahre alt sein, höchstens zehn. Er war ungewöhnlich schlank, ohne schwach zu wirken. Seine Kleidung bestand aus zerlumpten Fetzen und Fellstücken, die durch Lederriemen zu sammengehalten wurden. Er sah Grizzard aus hellen Augen an. Er sieht Porquetor! dachte Grizzard. Den noch scheint er keine Angst zu haben! »Wer bist du?« fragte er. »Verstehst du mich?« Der Knabe nickte. »Ich heiße Bördo. Ich bin auf der Suche nach meinem Vater Sigurd.« Der seltsame Ausdruck in Bördos Gesicht und die Beto nung seiner Worte erweckten in Grizzard fast den Eindruck, als ob er jetzt eine beson dere Reaktionen erwartete. Aber worauf? Wer war Sigurd? »Wie kommst du in diese Gegend?« frag te Grizzard. »Selbst die Männer der hiesigen Stämme trauen sich nicht allein in den Dschungel.« »Ich gehöre nicht zu den Eingeborenen, und ich bin kein Kind mehr.« Bördo löste ei nige Schnüre an seiner Felljacke und schlug sie zur Seite, so daß Grizzard die helle, von vielen verkrusteten Narben übersäte Brust sehen konnte. »Ich habe gelernt zu kämpfen. Das, was ich erlebte, war schlimmer als der Dschungel.« »Es war nicht böse gemeint«, versicherte Grizzard schnell. »Wieso zeigst du dich erst jetzt? Du weißt, daß ich nicht Porquetor bin,
sonst hättest du mir nicht zweimal das Le ben gerettet.« Grizzard zeigte auf den Bogen und den Köcher auf Bördos Rücken. »Ich weiß es nicht«, erklärte der Knabe. »Ich muß vorsichtig sein.« Bördo begann Grizzard zu faszinieren. Ir gend etwas war an ihm, das ihn zu etwas Be sonderem machte, ohne daß Grizzard sagen konnte, was es war. Grizzard zeigte auf eine freie, moosbe wachsene Stelle zwischen zwei Bäumen. »Setzen wir uns.« »Ich muß weiter«, entgegnete Bördo. »Ich darf mich nicht zu lange aufhalten.« »Nur ein paar Augenblicke«, bat Griz zard. Einige Minuten, in denen ich das Gefühl haben kann, einen Freund bei mir zu haben! fügte er in Gedanken hinzu. Wieder mußte er an den Traum denken, und er war sicher, daß er Bördos Erscheinen dem zu verdanken hatte, was sich aus der Knolle entwickelt hatte. Hatte er sich nicht gewünscht, seinen Ret ter zu sehen? Und der zweite Wunsch … Grizzard wartete, bis Bördo im Moos saß. Dann begann er, seine Geschichte zu erzäh len, in der Hoffnung, daß er von dem Kna ben einen Hinweis auf den Verbleib seines Körpers erhalten konnte. Doch als er zu Ende berichtet hatte, schüt telte dieser nur den Kopf. Dann schien ihm etwas einzufallen. »Es gibt eine Stadt in der Nähe, die von Händlern bewohnt ist. Sie heißt Orxeya. Wer auf Pthor etwas Wertvolles anzubieten hat, versucht zuerst dort sein Glück, falls er über eine Möglichkeit verfügt, dorthin zu gelangen.« Grizzard spürte, wie das Herz in der Trommelbrust schneller zu schlagen begann. »Wo liegt diese Stadt?« »Ich selbst war nie dort«, erklärte Bördo. »Ich hörte nur von ihr. Wir befinden uns am südöstlichen Rand des Dschungels. Orxeya liegt, von hier aus gesehen, genau im Osten. Du kannst die Stadt nicht verfehlen.« »Ich danke dir, Bördo. Ich wünschte, ich
Aufbruch ins Unbekannte könnte dir auch helfen.« Zum erstenmal lächelte der Knabe. Sein Gesicht zeigte die Spuren vieler Kämpfe, doch die edlen Züge waren nicht zu verken nen. Wieder hatte Grizzard das Gefühl, ei nem Wesen begegnet zu sein, das hoch über all jenen stand, die er bisher auf dieser Welt zu Gesicht bekommen hatte. »Ich habe gelernt, mir selbst zu helfen«, sagte Bördo. »Wir können ein Stück zusam men gehen, bis zum Rand des Dschungels. Mein Ziel liegt im Südwesten. Dort gibt es eine Stadt mit dem Namen Wolterhaven, wo ich vielleicht die Möglichkeit finde, zu mei nem Vater zurückzukehren.« »Wieso hast du mich gerettet?« fragte Grizzard. »Ich habe beobachtet, wie du mit den Felsbewohnern sprachst, und wie sie dich behandelten. Du konntest nicht der sein, für den sie dich hielten.« »Nein«, seufzte der Mann in der Porque tor-Rüstung. »Ich heiße Grizzard und stecke in einem Körper, der nicht mein eigener ist. Aber das erzählte ich ja schon.« Bördo legte eine Hand auf die Schulter der Rüstung und lächelte Grizzard an. Er sah genau in die Sehschlitze. Allein die Berührung flößte Grizzard neuen Mut ein. Grizzard war nahe daran zu fra gen, wer dieser Sigurd, wie Bördo seinen Vater nannte, eigentlich sei. Aber er stellte die Frage nicht. Er hatte das Gefühl, damit einen Fehler zu machen. Bördo schien davon auszugehen, daß je dermann auf Pthor Sigurd kannte. Grizzard zeigte auf Bördos Brust. »Wer hat dich so zugerichtet?« Der Knabe stand auf und sah zum Him mel empor. »Ich kann es dir unterwegs erzählen. Laß uns aufbrechen. Ich möchte den Dschungel verlassen haben, wenn es dunkel wird.« Wenig später bahnten die beiden sich ih ren Weg durch das Dickicht. Dabei erfuhr Grizzard, wie der Knabe, nachdem eine ver heerende Flutwelle das Land, in dem er leb te, verwüstet hatte, von einer Gruppe flie
45 hender Valjaren verschleppt wurde. Er er wähnte in diesem Zusammenhang auch jene seltsamen Fremden, an ihrer Spitze einen geheimnisvollen Hellhaarigen, die ihm zu helfen versucht hatten. Bördo konnte nicht ahnen, daß er nun fast wieder mit diesem Hellhaarigen zusammen gestoßen wäre, wenn ihn sein Weg näher an die Feste Grool geführt hätte. »Ich konnte den Valjaren entfliehen und wurde wenige Tage später halbverhungert von einer Bande von Flußpiraten gefangen genommen, die plündernd durch die verwüs teten Gebiete zogen. Damit begann mein Weg. Sie verkauften mich an Sklavenhänd ler, die mich wiederum bei Piraten gegen Pelze eintauschten. Das war an der Mün dung des Regenflusses. Von den Piraten lernte ich vieles über Pthor.« Bördo schwieg eine Weile, dann preßte er hervor: »Und ich lernte zu kämpfen und mich zu wehren. Sie waren schlimmere Bestien, als der Dschun gel sie jemals hervorgebracht hat. Als mir die Flucht gelang, war ich abgemagert und konnte vor Schmerzen kaum laufen. Ich mußte drei von ihnen töten.« Bördo sprach nicht weiter, und Grizzard stellte keine Fragen. Am Abend erreichten sie freies Gelände. »Jetzt trennen sich unsere Wege«, sagte der Knabe. »Ich wünsche dir das Glück, das du auf deiner Suche brauchen wirst, Griz zard. Und sieh dich vor. Die Händler in Or xeya sind rauhe Gesellen.« »Können wir nicht zusammen nach Orxe ya gehen? Vielleicht findest du dort auch einen Hinweis auf deinen Vater.« »Ich brauche keinen Hinweis, sondern et was, mit dem ich zu ihm gelangen kann«, sagte Bördo. »Es tut mir leid. Vielleicht se hen wir uns eines Tages wieder.« »Vielleicht«, murmelte Grizzard. »Auch dir viel Glück, und nochmals Dank für al les.« Der Knabe lächelte und winkte. Dann drehte er Grizzard den Rücken und schritt davon. Grizzard war wieder allein, allein wie
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Caidon-Rov. Er sah nach Osten. Irgendwo in dieser Richtung lag sein nächstes Ziel. Würden auch dort die Menschen vor ihm fliehen, weil sie ihn für Porquetor hielten? Würde er einen Hinweis auf den Verbleib des Originalkörpers finden? Allein der Ge danke daran trieb ihn vorwärts.
9. RAZAMON: DER SCHLÄFER Der Atlanter befand sich an Bord eines Zugors auf dem Weg zur Senke der verlore nen Seelen. Der Auftrag der Odinssöhne, ge rade jetzt die für die ehemaligen Schläfer er richteten Notlager zu inspizieren, paßte ihm gar nicht. Natürlich war er an ihrem Schick sal interessiert – immerhin hatten er und Kolphyr mit Grizzards Erweckung dafür ge sorgt, daß sich die Tiefschlafkammern öff neten und die darin gefangenen Wesen be freit wurden. Niemand hatte damals das Chaos voraussehen können, das dieser Schritt auslöste. Razamon fühlte sich mit verantwortlich für das Elend, das trotz aller Bemühungen der Dellos und Sirkats Tech nos jetzt in der Senke und ihrer Umgebung herrschte. Andererseits jedoch fürchtete er um Tha lias Sicherheit. Es war nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn ihre Brüder da hinterkamen, daß der angebetete Vater Odin nichts anderes war als die ungeliebte Schwe ster. Dann gab es da noch das geheimnisvol le VONTHARA, das Razamon Kopfschmer zen bereitete. Wäre nur Atlan zurück! Wenn das, was Razamon vermutete, sich als richtig erwies, saß ganz Pthor auf einer gewaltigen Zeitbombe. Razamon fluchte. Er konnte es sich in der gegenwärtigen Lage nicht leisten, es sich mit den Odinssöhnen endgültig zu verder ben. Sie hatten von den in die Senke beor derten Dellos Meldungen erhalten, die be sagten, daß man dort die Lage nicht richtig in den Griff bekam. Immer wieder kam es
zu Zwischenfällen. Viele der ehemaligen Schläfer starben, weil es unmöglich war, sich um jeden einzelnen zu kümmern und sich auf seine spezifischen Bedürfnisse ein zustellen. Die Erinnerung an das, was Herrohns Sa botageakt an der Tiefschlafkammer des Daa len, jenes monströsen Energiewesens, ausge löst hatte, steckte Razamon noch in allen Knochen. Am frühen Nachmittag erreichte er die Senke. Da er keinen der Dellos kannte, funkte er Sirkat, den Anführer der Technos, an. Kurz darauf landete er vor dessen Glaspa last. Sirkat begrüßte ihn herzlich. Etwas zu überschwenglich, dachte Razamon. »Ich bin froh, dich zu sehen«, sagte Sir kat. »Ehrlich gesagt, ich habe mir große Sor gen um euch gemacht, als ihr damals mit dem Torc floht.« »Du siehst, daß es mir gutgeht. Ich mei nerseits freue mich darüber, daß du den gan zen Wirbel gut überstanden hast. Was ist aus Herrohn geworden?« Sirkat zuckte die Schultern. »Er verschwand mit einem großen Teil seiner Anhänger. Auch viele meiner Leute flohen vor den Schläfern.« Sirkat sah den Atlanter fragend an. »Du willst wissen, warum ich hier bin. Ich werde es dir erklären. Vielleicht kannst du mir hel fen.« »Gern«, sagte der Techno. »Ich habe im mer noch das Gefühl, einiges gutmachen zu müssen. Vor nicht allzu langer Zeit standen wir uns als Gegner gegenüber. Heute weiß ich, daß du richtig gehandelt hast, als du Grizzard aus dem Schlaf erwecktest. Du kannst dir kein Bild davon machen, welche Not hier herrschte, bevor die Dellos kamen und die Notunterkünfte errichteten. Viele Wesen, auch Technos, mußten sterben, weil die Schläfer verrückt vor Angst waren. Sie brachten sich gegenseitig um oder starben langsam vor sich hin. Es war furchtbar. Die meisten der geretteten Exoten werden stän
Aufbruch ins Unbekannte dig mit beruhigenden Drogen versorgt, da mit sie sich langsam an ihre Lage gewöhnen können. Doch die zur Verfügung stehenden Dellos reichen nicht aus.« »Das ist einer der Gründe, weshalb man mich geschickt hat«, erklärte Razamon. Der Atlanter war von Sirkats Worten be eindruckt. Der Techno hatte mehr Menschli ches an sich, als Razamon bisher aufgefallen war. Dennoch redete er zuviel. In seinem langen Leben hatte Razamon so etwas wie einen siebten Sinn entwickelt. Und der sagte ihm, daß Sirkat irgend etwas zu verbergen hatte. Razamon folgte Sirkat in dessen Palast und erklärte ihm, was die Odinssöhne beun ruhigte. »Ich möchte mich hier umsehen«, sagte er schließlich. »Zuerst in dem Lager, von dem aus die letzte Meldung an die FESTUNG gemacht wurde. Der Koordinator der Dellos heißt Kabbal.« Sirkat zuckte zusammen. »Kabbal? Was hat er den Odinssöhnen mitgeteilt?« »Zwei Schläfer sollen entflohen sein. Ein vogelähnliches Wesen und ein Humanoide.« »Das Vogelwesen konnten wir einfan gen«, sagte Sirkat schnell. »Ich begleite dich zum Lager.« »Danke«, brummte der Atlanter. Er ließ sich nicht anmerken, daß ihm Sirkats über eilte Reaktion reichlich merkwürdig vor kam. Wieso schwieg er sich über den zweiten Flüchtling aus? Mit Sirkats Torc erreichten sie in einer knappen Stunde das riesige Zelt. Kabbal erwartete sie am Eingang, Offen bar hatte man ihm berichtet, daß ein Zugor aus der FESTUNG eingetroffen war. Razamon wußte selbst nicht, was Kabbal den Odinssöhnen genau mitgeteilt hatte. Es kam laufend vor, daß Exoten fliehen konn ten. Es mußte mit den beiden Ausreißern schon etwas Besonderes auf sich haben. Nach einigen Fragen an den Dello be schlich den Atlanter eine Ahnung. »Der Mann war ohne jeden Zweifel sehr
47 intelligent. Er kannte nach dem ersten Tag seiner Verwahrung schon die wichtigsten Grundbegriffe unserer Sprache. Er war kein gewöhnlicher Schläfer.« Grizzard! dachte Razamon. Es war ein vager Verdacht, durch nichts belegt. Der Atlanter bemerkte Sirkats zunehmende Nervosität. Kabbal berichtete, wie zwei Dellos den Humanoiden am südöstlichen Rand der Sen ke aufgegriffen und ihm das Leben gerettet hatten. Es war kaum vorstellbar, daß Grizzard ungeschoren von der Berserkerstadt hierher gelangen konnte, aber wenn er es geschafft hätte, mußte er am südöstlichen Rand der Senke angekommen sein. Aber wieso sollte er hierher zurückge kehrt sein? War es denkbar, daß eine verborgene Er innerung ihn getrieben hatte? Oder war er einfach dem Lauf des Regenflusses gefolgt? »Ich möchte das Vogelwesen sehen«, sag te Razamon. Kabbal führte ihn zu Flatters Lager. Sirkat folgte ihnen. Der Gefiederte blickte die drei mißtrau isch an. »Er ist etwas seltsam geworden, seitdem er seinen Freund verloren hat«, erklärte Kabbal. »Er verweigert jede Nahrung. Wenn das so weitergeht, müssen wir ihn entweder wieder unter Drogen setzen oder künstlich ernähren.« Razamons Blick war nicht minder miß trauisch als Flatters. »Was stört dich an ihm?« fragte Sirkat. »Ach, nichts. Einen Augenblick mußte ich an ein Wesen denken, das ihm sehr ähn lich sah. Es war kleiner und legte Eier unter die Haut anderer Leute. Ein Freund von mir kann ein Lied davon singen.« Razamon mußte unwillkürlich grinsen, als er an Kolphyr dachte, der ohne eigenes Da zutun Vater geworden war – oder Mutter. Er klopfte dem Vogelwesen belustigt auf die gefiederte Schulterpartie. Dabei berührte er einen der empfindlichen Hautknoten.
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Flatter fuhr in die Höhe, schlug sich mit den verstümmelten Flügeln gegen die Brust und stieß ein ohrenbetäubendes Geschnatter aus. Drei Meter weiter fielen zwei Echsen von ihrer Liege und zischten drohend. Hinter ih nen fuhr der Kopf eines affenähnlichen We sens in die Höhe. Der Riese richtete sich zu seiner vollen Größe auf und stampfte auf den Gefiederten zu. Bevor Razamon eingrei fen konnte, versetzte er diesem einen Faust schlag aufs Auge. Der Affenartige drehte sich um und wollte zu seinem Platz zurückgehen. »Einen Augenblick, mein Freund!« rief Razamon. Kabbal und Sirkat riefen ihm Warnungen zu. Der Riese blieb stehen und starrte den At lanter drohend an. Razamons Faust sauste auf seinen Schä del hinab. Der Exote brach bewußtlos zu sammen. Das Geschnatter des Vogelwesens zerriß fast die Trommelfelle des Atlanters. Bevor er begriff, was eigentlich geschah, war der Gefiederte heran und schmiegte sich an ihn. Nur der Geistesgegenwart einiger in der Nähe stehender Dellos verdankte er es, daß er nicht zu Boden gerissen wurde. Was ihm sonst noch geblüht hätte, ahnte er glückli cherweise nicht. Kabbal führte ihn und Sirkat aus dem La ger. »Wo kann ich schlafen?« fragte Razamon. »In meinem Palast«, sagte Sirkat.
* Razamon wurde durch ein Geräusch ge weckt. Seine Schlafstätte befand sich in einem abgedunkelten Raum von Sirkats Palast. Razamons Hand fuhr zu einem Knopf über der Liege. Das Licht flammte auf. Trotz der Ähnlichkeit aller Technos unter einander erkannte er Tersten, Sirkats Ver trauten, sofort. Der Techno gab ihm mit einer Geste zu
verstehen, daß er schweigen sollte. Dann flüsterte er: »Sirkat weiß nicht, daß ich hier bin. Ich muß dir etwas mitteilen, das vielleicht wich tig für dich ist – für uns alle.« Razamon blickte Tersten mißtrauisch an. Welchen Grund sollte er haben, hinter dem Rücken seines besten Freundes Informatio nen weiterzugeben, die Sirkat offenbar für sich behalten wollte? Er stellte eine entsprechende Frage. »Sirkat ist wie besessen«, antwortete Ter sten. »Er hat sich verändert, seitdem er den Fremden bei sich hat. Ich habe Angst um Sirkat.« Razamon wurde hellhörig. »Den Fremden? Du meinst den Ausbre cher?« Tersten nickte. »Sirkat konnte ihn einfangen, aber er lie ferte ihn den Dellos nicht aus. Sie wissen nicht, daß er sich hier befindet.« »Wo steckt er?« »In Sirkats Privatgemächern. Niemand außer mir weiß davon.« Razamon stand auf und legte dem Techno eine Hand auf die Schulter. »Willst du mich zu ihm führen – auch auf die Gefahr hin, daß du Ärger mit Sirkat be kommst?« »Das ist nicht mehr nötig«, sagte eine Stimme vom Eingang her. Sirkat stand in der Tür. Tersten zuckte zusammen. »Du mußt mich verstehen«, sagte er ha stig. »Ich mußte es ihm sagen, Sirkat. Du hast dich in etwas verrannt und wirst uns al len nur schaden, wenn du den Schläfer noch länger versteckt hältst. Wir wissen nichts über ihn und die Aufgabe, die er vielleicht zu erfüllen hat.« »Du hast das Richtige getan«, erklärte Sirkat lächelnd. »Ich habe lange nachge dacht und kam zum gleichen Schluß.« Er blickte Razamon in die Augen. »Komm mit. Ich bringe dich zu ihm.« Der Atlanter folgte Sirkat durch mehrere Gänge, vorbei an offenen Tiefschlafkam
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mern und Kontrollbänken für die überflüssig gewordenen Lebenserhaltungssysteme. Schließlich erreichten die beiden jenen Teil des Palasts, in dem Sirkat sich einge richtet hatte. Hier waren die gläsernen Wän de ebenfalls so stark getönt, daß sie un durchsichtig geworden waren. Vor dem Eingang blieb der Techno ste hen. »Ich möchte, daß du mich richtig ver stehst«, sagte er. »Tersten wird mich nie mals begreifen, manchmal komme ich mir selbst seltsam vor. Wir Technos sind es ge wohnt, die uns gegebenen Befehle wider spruchslos auszuführen und keine Fragen zu stellen. Seit den Ereignissen in der Nacht, als die Schläfer erwachten, kann ich mich damit nicht mehr zufriedengeben. Verstehst du das?« »Ich glaube schon«, sagte Razamon ernst. »So vieles erscheint mir plötzlich ohne jeden Sinn. Weshalb sind wir hier? Warum wurden die Glaspaläste gebaut? Wozu brauchten die Herren der FESTUNG sie?« Sirkat stieß eine Verwünschung aus. »Irgendwo in uns schlummert eine Erinne rung an die Zeit, als man uns hierherschaff te, und an unsere wirkliche Aufgabe. Die er sten Technos müssen gewußt haben, wel ches Schicksal man den Schläfern zugedacht hatte. Doch das Wissen ging im Lauf der Zeit verloren.« »Ich glaube, ich kenne dein Problem«, sagte der Atlanter. Sirkat sah ihn traurig an. »Sobald eine gewisse Anzahl von Tech nos stirbt, holt man sie ab und liefert neue aus der FESTUNG. Niemand von uns weiß, woher diese Neuen stammen und wie sie entstanden sind. Aber wenn es so etwas wie eine Urerinnerung gibt, müssen wir uns doch fortpflanzen können, vielleicht auf eine andere Art und Weise als ihr, und mögli cherweise nur in der FESTUNG.« »Du fürchtest dich davor, erkennen zu müssen, daß ihr … Roboter seid«, stellte
Razamon fest. Sirkat sah ihn erschrocken an. »Sag so etwas nicht wieder«, flüsterte er. »Die Erinnerung ist vorhanden. Vielleicht gelingt es uns einmal, sie wiederzufinden.« Sirkat schüttelte den Kopf. »Was mit den Schläfern geschehen sollte, übertrifft an Grausamkeit alles, was den Gehirnen der toten Herren jemals entsprungen ist. Das ist al les, was ich weiß.« Der Techno gab sich einen Ruck. »Ich bringe dich jetzt zu ihm.« Die Tür fuhr zur Seite. Sirkat ließ Raza mon den Vortritt. Im kärglich eingerichteten Raum, von dem aus weitere Türen in andere Gemächer führten, stand ein schlanker, in Fell geklei deter Mann. »Verdammt!« stieß Razamon hervor, un bewußt Interkosmo gebrauchend. »Ich hatte also doch recht.« »Und ich wußte, daß wir uns irgendwann wiedersehen würden«, antwortete der Schlä fer ebenfalls in perfektem Interkosmo. »Wer sind Sie?« stammelte der Atlanter ungläubig. Der Fremde lächelte und zuckte die Schultern. »Grizzard – Sinclair Marout Kennon – Lebo Axton«, sagte er und reichte Razamon die Hand. »Suchen Sie sich etwas aus. Ich habe eine lange Reise hinter mir und bin auf der Suche nach Atlan.« »Wieso sagten Sie das nicht schon in der Berserkerstadt?« wollte der Atlanter wissen. Grizzard lachte amüsiert. »Ich hielt Sie für einen Barbaren, bis Sie ›Verdammt!‹ sagten. Wissen Sie etwas über Atlan?« »So könnte man's ausdrücken«, antworte te Razamon grinsend. »Kommen Sie mit mir. Ich bringe Sie in die FESTUNG.«
E N D E
ENDE