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Seewölfe 344 1
Fred McMason 1.
Nathaniel Plymson schwitzte. Er nahm das feuchte Spültuch vom Tresen, lüftete die Lockenperücke, wischte sich den Schweiß von Stirn und Schädel und genehmigte sich einen ausgiebigen Schluck Bier, der ihm innerliche Kühlung verschaffte. Mit einem Laut des Wohlbehagenssetzte er den Krug ab und wischte sich den Schaum von den Lippen. Es war weit nach Mitternacht. Die letzten Saufbolde hatten den Schankraum der „Bloody Mary“ verlassen. Watschelnd schleppte Plymson seine Leibesfülle zur Tür. Tief atmete er die frische Nachtluft ein, die nun endgültig den letzten Schweiß von seinem feisten Gesicht löschte. Er schloß die beiden Fensterläden, legte die Eisenstangen vor und begab sich zurück zum Eingang seiner Schenke. Das Geräusch von Schritten hörte er nicht. Nur die plötzliche Bewegung hinter seinem Rücken spürte er. Eisiger Schreck durchzuckte ihn, und er warf sich herum, so schnell es sein Körpergewicht erlaubte. Die Gestalten waren wie aus dem Nichts aufgetaucht, von der Schwärze der Nacht ausgespuckt, und ihre Mienen verhießen nichts Gutes. Drei Kerle von der Sorte, der ein anständiger Bürger selbst bei hellem Tageslicht tunlichst aus dem Weg ging. Plymson sah ihr höhnisches Grinsen und ihre funkelnden Blicke, die ihn als sicheres Opfer geringschätzig abtasteten. Entsetzt hob er die Arme und wich mit unsicheren Schritten bis zur Tür zurück. Erst jetzt bemerkte er einen vierten Mann, der am Rand jenes schwachen Lichtkreises stand, der von der Laterne über dem Eingang der „Bloody Mary“ ausgestrahlt wurde. Die Kleidung dieses Mannes war wie gelackt, sein vornehmes Gesicht gepudert. Rein äußerlich trennten ihn Welten von den drei Galgenstricken. „Was wollt ihr von mir?“ keuchte Plymson. „Die Schenke ist geschlossen. Aber wenn es unbedingt sein muß, kann ich eine Ausnahme machen und ...“
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„Halt Maul, Dicker“, sagte einer der Kerle, ein schwarzbärtiger Riese mit ausladenden Schultern. „Du redest sowieso zuviel“, sagte der zweite grinsend, ein rothaariger Schrank, dessen Gesicht aus Narben und Sommersprossen bestand. „Dafür bist du bekannt, Fettsack“, fügte der dritte hinzu. Er hatte ein verschlagenes langes Gesicht und eine schwarze Mähne bis auf die Schultern. „Du wirst jetzt die Klappe halten. In deinen Dreckstall wollen wir nicht. Wir unternehmen zusammen einen kleinen Spaziergang, kapiert?“ Nathaniel Plymson erschrak von neuem. Erst jetzt wurde ihm bewußt, in welcher Gefahr er schwebte. Um Himmels willen, diese Schlagetots wollten ihn entführen! Und was, in aller Welt hatte der Lackaffe im Hintergrund damit zu tun? Die aufwallende Angst ließ den Schankwirt alle Beherrschung vergessen. „Nein!“ schrie er schrill und streckte die Arme aus, als könnte er die Kerle damit von sich fernhalten. „Hilfe! Zu Hilfe! So helft mir ...“ Ein Knüppel wirbelte plötzlich durch die Luft, und der trockene Schlag ließ Plymsons Stimme in einem Gurgeln ersterben. Der Schwarzbärtige ließ den Knüppel unter seinem zerlumpten Umhang verschwinden, während seine Kumpane den bewußtlosen Plymson packten, bevor er zu Boden sinken konnte. „Beeilt euch!“ zischte der elegant gekleidete Mann. Sichernd sah er sich nach allen Seiten um. Aber nirgendwo war eine Menschenseele zu erblicken. Auch auf den Schiffen in der nachtdunklen Mill Bay war längst Ruhe eingekehrt. * „Ob die ihn tothauen. Leslie?“ „Glaube ich nicht, Jamie. Das hätten sie doch gleich hier erledigt.“ „Hm. Kann sein. Ist ja ziemlich anstrengend, den Dicken durch die Gegend zu schleifen.“ „Genau. Und wenn sie sich so anstrengen, dann haben sie bestimmt noch was mit ihm
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vor.“ Die beiden Jungen kicherten leise hinter der hohlen Hand. Sie kauerten zwischen leeren Trinkwasserfässern und Proviantkisten am Kai und beobachteten, was sich drüben vor dem Eingang der „Bloody Mary“ abspielte. Leslie und Jamie wußten, daß sie sich von der Stadtgarde nicht erwischen lassen durften. Zu so später Stunde hatten sie auf der Straße nichts mehr verloren. Aber das Zuhause, das ihnen Wärme und Geborgenheit gegeben hätte, existierte nicht. Die beiden halbwüchsigen Jungen hatten so etwas wie eine Interessengemeinschaft gegründet. Ihre Väter waren Tagediebe, die das bißchen Geld, das sie bei Gelegenheitsarbeiten verdienten, sogleich in die nächstbeste Schenke trugen. Und aus Kummer hatten ihre Mütter ebenfalls begonnen, mit Hilfe von billigstem Absinth Vergessen zu suchen. Nein, wenn es für Leslie und Jamie ein Zuhause gab, dann schon eher die Straße. Und lieber liefen sie dann und wann vor der Stadtgarde davon, als dauernd von betrunkenen Eltern Prügel zu beziehen. Gespannt beobachteten sie, wie die drei Galgenstricke den bewußtlosen Nathaniel Plymson in die Dunkelheit der St. Mary Street schleiften. Nur undeutlich waren dort die Umrisse einer einspännigen Kutsche zu erkennen. Der elegant gekleidete Gentleman folgte seinen Schergen mit einigen Schritten Abstand, wobei er sich immer wieder nach allen Seiten umsah. Es kostete die Kerle einige Mühe, den schwergewichtigen Schankwirt in die Kutsche zu verfrachten. „Was ist?“ zischte Leslie. „Sehen wir uns das an?“ „Klar doch“, antwortete Jamie halblaut, „stell dir vor, wenn wir dem Dicken das Leben retten. Ist doch aufregend, was?“ Leslie schnaufte nur. Sein Freund hatte recht. Ein richtiger Nervenkitzel war das. Aber der dicke Plymson war auch kein schlechter Kerl, obwohl er manches Mal geflucht und sie mit einem Tritt in den Hintern davongescheucht hatte. Doch das war ja auch sein Recht, wenn sie immer
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wieder aufkreuzten, um auf Pump eine Kanne Bier für die versoffenen Eltern zu holen. Aber Plymson drückte auch oft beide Augen zu, wenn er tage- oder wochenlang auf sein Geld wartete. Als die Kutsche in der St. Mary Street anrollte, verließen die zerlumpt gekleideten, barfüßigen Jungen ihr Versteck. Lautlos nahmen sie die Verfolgung auf. Sie kannten jeden Winkel im Hafengebiet von Plymouth, und so war es ihnen ein leichtes, immer wieder dann in eine Mauernische oder einen Torweg zu schlüpfen, wenn der elegante Gentleman, der neben einem der Galgenstricke auf dem Kutschbock saß, einen besorgten Blick nach hinten warf. Die Fahrt dauerte nicht sehr lange. Am nordwestlichen Stadtrand hielt die Kutsche auf dem düsteren Grundstück eines ehemaligen Sägewerks. Plymson war wieder bei Bewußtsein, als sie ihn in einen halbwegs intakten Schuppen bugsierten. Aber er riskierte nicht, den Mund zu öffnen. Vielleicht begriff er auch, daß es hier, in dieser menschenleeren Gegend, ohnehin keinen Sinn hatte, zu schreien. Vorsichtig pirschten sich Leslie und Jamie auf dem von Gerümpel übersäten Gelände voran. Dabei schlugen sie einen weiten Bogen, um die Rückseite des Schuppens zu erreichen. Denn wenn das Kutschpferd rebellisch wurde, konnte das für sie gefährlich werden. Doch es gelang ihnen, unbemerkt bis zu der rissigen Bretterwand vorzudringen. Und dann hielten sie den Atem an. Denn sie konnten jedes Wort verstehen, das drinnen gesprochen wurde. * Plymson schrie auf, als sie ihn in einen Haufen halbvermoderten, feuchten Sägemehls stießen. Aber er wagte nicht, sich wieder aufzurappeln, denn er fürchtete, daß die Galgenstricke sofort von neuem über ihn herfallen würden. „Reg dich nicht künstlich auf, Dicker“, sagte der Schwarzbärtige glucksend,
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„weicher konntest du gar nicht fallen. Merkst du nicht, wie gut wir dich behandeln?“ „Zur Seite jetzt!“ befahl George Snyders herrisch. Seine drei Handlanger wichen bereitwillig an die Schuppenwand zur Rechten zurück. Snyders baute sich breitbeinig vor dem in den Sägespänen hockenden Schankwirt auf. Er spürte die Gedankenanstrengung in Plymsons Augen, die hinter aufgeschwemmten Wangenfalten ruhten. Möglich, daß der Dicke ihn schon einmal gesehen hatte - vielleicht, als sie die Ramsgate-Werft inspiziert hatten. Oder bei einem der kurzen Aufenthalte in der Stadt. Doch es war nicht von Belang. Plymson konnte ohnehin keinen Schaden mehr anrichten. George Snyders, Offizier für Sonderaufgaben an Bord der „Glorious“, schätzte sich in diesen Minuten Glücklich, daß sein Vorhaben soweit gelungen war. Plymson in seine Gewalt gebracht zu haben konnte eine Menge für ihn bedeuten, möglicherweise hing sogar seine ganze Zukunft davon ab. Nach dem Auslaufen des Flaggschiffs „Glorious“ und der drei anderen Schiffe hatte Snyders den Ersten Offizier händeringend bekniet, ihn sogleich wieder an Land zu setzen. Natürlich mußte das außerhalb von Plymouth geschehen. und zwar so, daß es keine Zeugen gab. Nach der Gefangennahme von Sir Andrew und Marquess Henry waren die Dinge sowieso völlig durcheinandergeraten. Und vielleicht war der Erste froh gewesen, Snyders mit seinem halsstarrigen Ansinnen loszuwerden. Nun, George Snyders hatte seine Chance zur Rehabilitation gefunden. Diese Chance hieß Nathaniel Plymson. Zwar war sich Snyders nach wie vor keiner Schuld bewußt, aber Sir Andrew hielt ihn für denjenigen, der dafür verantwortlich war, daß Ramsgate und Ribault aus der Gefangenschaft auf der „Glorious“ befreit werden konnten. Snyders war überzeugt, daß ihm der Bastard Killigrew einen üblen Streich
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gespielt hatte. Denn die zurückgebliebenen Spuren sahen so aus, als hätte er, Snyders, in seiner Kammer vergessen, das Schott zur Heckgalerie zu schließen, und dem Seewolf und seinen Männern dadurch ermöglicht, zu den Gefangenen vorzudringen. Snyders wußte, daß ihn keine Verantwortung dafür traf. Aber es gab nichts, womit er Sir Andrew das beweisen konnte. Blieb also nur der Versuch mit dem dicken Plymson. Zuträger aus Plymouth hatten Sir Andrew berichtet, daß Nathaniel Plymson nach der Besetzung der Ramsgate-Werft schnurstracks zur „Isabella“ geeilt war, um Killigrew brühwarm zu berichten, was sich dort draußen auf Rame Head ereignet hatte. Also war in erster Linie Plymson schuld daran, daß Ramsgate und Ribault in einer Blitzaktion befreit werden konnten. Snyders würde ihn dafür seinem Vorgesetzten, Sir Andrew, auf einem Silbertablett servieren. Ohne Zweifel würde das den Earl of Cumberland besänftigen. Natürlich mußte er erst einmal wieder auf freiem Fuß sein. Aber das hielt Snyders nur für eine Frage der Zeit. „Dein Name ist Nathaniel Plymson“, sagte Snyders schnarrend und von oben herab, „du bist der Inhaber der Schenke ,Bloody Mary'. Richtig?“ Er rümpfte die Nase, während er es aussprach. „Sie wissen es doch schon, Sir“,. ächzte Plymson, „warum fragen Sie dann noch?“ „Dieses Verhör muß seine Richtigkeit haben“, sagte Snyders verächtlich und kopfschüttelnd über so viel Unverstand. „Ich muß sicher sein, daß ich den richtigen Mann verhöre. Du gibst also zu, Plymson zu sein?“ „Ja, Sir“, hauchte der Schankwirt erschrocken. „Ist das ein Verbrechen?“ Snyders schickte einen Blick zur Decke und seufzte. „Hör gut zu, Freundchen“, sagte er warnend, „ich wünsche nicht, daß du noch länger mit Gegenfragen antwortest. Ist das klar?“ „Jawohl, Sir.“
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„Gut. Dann zur nächsten Frage: Dir ist bekannt, daß die Ramsgate-Werft auf Rame Head von Sir Andrew Clifford, Earl of Cumberland, per Order Ihrer Majestät, Königin Elizabeths, besetzt wurde?“ „Jawohl, Sir.“ „Wodurch wurde dir das bekannt?“ „Werftarbeiter haben es mir berichtet. Sie suchten mein gastliches Haus auf und waren total fertig.“. Innerlich frohlockte Snyders. Plymson war ein Trottel, so bereitwillig alles zuzugeben, woraus Sir Andrew ihm garantiert einen Strick drehen würde. „Was haben die Arbeiter noch berichtet?“ fuhr Snyders fort. „Alles, was sich abgespielt hat, Sir.“ „Auch, daß Ramsgate und dieser Franzose, Ribault, an Bord der ,Glorious` gebracht wurden?“ „Jawohl, Sir, auch das.“ „Und dann bist du zur ‚Isabella' gerannt und hast alles Killigrew weitererzählt.“ „Nicht alle Einzelheiten, Sir. Hauptsächlich handelte es sich darum, daß der Seewolf wegen Ramsgate und Ribault Bescheid wissen mußte.“ „Das genügt“, sagte Snyders zufrieden. Er wandte sich ab und winkte den Schwarzbärtigen zu sich, während er bereits auf die Schuppentür zuging. „Ihr seid mir dafür verantwortlich, daß Plymson in sicherem Gewahrsam bleibt, bis ich wieder von mir hören lasse. Verstanden?“ Er drückte dem Galgenstrick ein Ledersäckchen in die Hand. Der Schwarzbärtige verbeugte sich tief. „Sie können sich auf uns verlassen, Sir, bei unserem Leben.“ „Darauf würde es auch hinauslaufen, wenn ihr nicht pariert“, entgegnete Snyders mit hartem Grinsen. Dann verschwand er in der Dunkelheit. Der Hufschlag und das mahlende Geräusch der Kutschenräder waren schon bald nicht mehr zu hören. Der Schwarzbärtige spähte noch einmal prüfend ins Freie. Doch er sah und hörte nichts, was seinen Verdacht erweckt hätte. 2.
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Der Morgen des 4. Juni Anno 1593 begann auf eine freundlichere Art und Weise. Endlich strahlte eine schon recht warme Frühsommersonne auf Plymouth nieder, und am blaßblauen Himmel zogen nur wenige weiße Wolken ihre träge Bahn. Bei der Werft auf Rame Head hatte bereits in der ersten Helligkeit ein beträchtlicher Lärm eingesetzt. Hesekiel Ramsgate und seine Männer schufteten vom frühen Morgen bis zum späten Abend und dann sogar bei Fackel- und Laternenschein. Sie hatten es sich zum Ziel gesetzt, die restlichen Arbeiten an Bord der beiden Neubauten in möglichst kurzer Zeit zu bewältigen. Denn eben die Zeit brannte ihnen unter den Nägeln. Wie der Seewolf wußten sie alle, daß ihnen jeder zusätzliche Tag, den sie in England blieben, weiteren Ärger einbringen konnte. Seit die „Crown“ durch das voreilige Handeln Thorfin Njals versenkt worden war, gab es darüber keinen Zweifel. Es galt, so bald wie möglich alle Brücken hinter sich abzubrechen, wollte man sich nicht immer größere Schwierigkeiten einhandeln. Auf den beiden Neubauten, die am Ausrüstungskai lagen, herrschte rege Betriebsamkeit. Knappe Kommandos wurden gebrüllt, Hammerschläge dröhnten, und Sägen kreischten in schnellem Rhythmus. Seit dem Stapellauf und der Taufe der „Le Vengeur III.“ und der „Tortuga“ gönnten sich Hesekiel Ramsgate und seine Leute kam noch Verschnaufpausen. Die „Isabella“, der Schwarze Segler, „Roter Drache“ und die „Wappen von Kolberg“ ankerten unweit des Ausrüstungskais. Noch während der ersten Sonnenstrahlen begaben sich Hasard und Jean Ribault hinüber, und sie trafen den weißbärtigen Schiffbaumeister an Bord der „Le Vengeur III.“, wo er die Arbeiten besonders sorgfältig überwachte und immer wieder selbst mit Hand anlegte. Ramsgate deutete zum Werftgelände, wo ein Teil seiner Männer dabei war, Ausrüstungsgegenstände und Werkzeuge
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in Kisten zu packen und diese zum Kai zu transportieren. „Ich habe einen Zeitplan aufgestellt. In drei bis vier Tagen, denke ich, werden wir mit allem fertig sein.“ Jean Ribault lehnte sich an die Achterdecksbalustrade seines stolzen neuen Schiffes. Er warf einen Blick zum Hauptdeck und zur Back. Etwa ein Dutzend Arbeiter waren auf der „Le Vengeur III.“ beschäftigt. Die Masten waren bereits aufgeriggt und auch das laufende und stehende Gut eingeschoren. Nur noch Kleinigkeiten waren jetzt zu erledigen, Zimmermannsarbeiten, die dem schmucken Neubau den letzten Schliff gaben. Ribault wandte sich wieder um und sah Ramsgate zweifelnd an. „Hier an Bord sehe ich keine Probleme, Hesekiel. Auch auf der ,Tortuga' nicht. Aber wie wollt ihr es in der kurzen Zeit schaffen, die komplette Werftausstattung zu verladen?“ „Hesekiels Leute sind nicht allein“, sagte der Seewolf, „wir haben vier Crews, die mit anpacken können, wenn die Zeit wirklich knapp wird.“ Er deutete mit einer Kopfbewegung zu den vor Anker liegenden Galeonen. Ramsgate schüttelte den Kopf. „Das wird nicht nötig sein. Meine Männer wissen, was sie brauchen, und sie werden es so ordnen, daß es kein großes Durcheinander gibt, wenn wir in der Karibik unsere neue Werft aufbauen. Nichts gegen eure Crews, aber sie würden unsere Sachen nur durcheinanderbringen.“ Hasard wechselte einen Blick mit Jean und lächelte. Der alte Ramsgate war nicht umsonst für seine Perfektion bekannt. Seine außergewöhnlichen Leistungen im Schiffbau beruhten nicht zuletzt auch auf der ungeheuren Präzision, die er bei seiner Arbeit walten ließ. Wenn auf der Ramsgate-Werft ein Arbeitstag zu Ende ging, lag alles auf seinem Platz - von der größten Axt bis zum kleinsten Nagel. Hasard sah den erfahrenen Mann forschend an. Freundschaftlich verbunden waren sie seit vielen Jahren, und so war ihm sicher nicht schwergefallen, den Entschluß zum
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Aufbruch zu fassen. Dennoch glaubte Hasard aber, einen Hauch von Wehmut in den Augen des alten Mannes zu erkennen. Hasard legte ihm die Hand auf die Schulter. „Es wird nicht leicht für dich sein, alles zurückzulassen. Jetzt, da es ernst wird, wird dir das erst richtig bewußt.“ „Von was redest du?“ entgegnete der Schiffbaumeister lachend. „Ich lasse nichts zurück. Ich nehme alles mit. Sogar die meisten meiner Männer. Jedenfalls die, die unverheiratet und ungebunden sind.“ „Du weißt genau, daß ich das nicht meine“, entgegnete der Seewolf. „Du läßt einen Teil deines Lebens zurück.“ Hesekiel Ramsgate wurde ernst. „Darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen. Mir wird nichts leid tun, gar nichts. In einem Land, in dem Halunken wie dieser Sir Andrew Clifford schalten und walten können, hält mich nichts mehr. Es steht schlimm um England, wenn die Krone nicht mehr die Macht hat, solchen Verbrechern auf die Finger zu klopfen.“ „Daran wird sich nie etwas ändern“, sagte Jean Ribault, „aber es ist nicht nur in England so. In Frankreich und Spanien und in allen möglichen anderen Ländern ist es die gleiche Leier. Überall, wo sich Leute ihr Stück aus dem Kuchen der Macht schneiden wollen, gibt es Intrigen und Verbrechen. Ehrliche Leute sind dagegen hilflos, weil sie nur geradeaus denken, weil sie nicht mit den Waffen kämpfen, die da heißen: List, Heimtücke, Niedertracht und was weiß ich.“ „Du hast deinen Beruf verfehlt“, sagte Hasard. „Mit solchen schönen Worten kannst du dich glatt als Prediger auf eine Kanzel stellen.“ Der schlanke, dunkelhaarige Franzose grinste. „Wie wäre es“, sagte Ramsgate, „wenn ihr euch wieder den irdischen Dingen zuwendetet? Da wäre beispielsweise noch die Frage, wie die beiden Neubauten bemannt werden sollen.“ „Richtig“, entgegnete der Seewolf und nickte, „ich habe meine Vorstellungen darüber, und auch Jean hat seine
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Überlegungen angestellt. Aber es wäre gut, wenn wir diesen Punkt alle gemeinsam besprächen.“ Hesekiel Ramsgate war einverstanden. Mit den beiden Männern enterte er in die kleine Jolle ab, und sie pullten hinüber zur „Isabella“. Aus der Kombüse wehte der Duft von gebratenem Speck. Die Männer befanden sich im Logis und widmeten sich der vom Kutscher und Mac Pellew zubereiteten morgendlichen Mahlzeit. Hasard veranlaßte Luke Morgan, der als Deckswache eingeteilt war, zu den drei anderen Schiffen zu signalisieren. Oliver O'Brien befand sich bereits an Bord der ..Isabella“. Gemeinsam mit Ben Brighton verließ der stämmige grauäugige Mann das Achterdeck, als Hasard ihnen zuwinkte. Kurze Zeit später enterte Arne von Manteuffel als erster über die Jakobsleiter auf. Hesekiel Ramsgate war aufs neue verblüfft, wie sehr dieser Mann seinem Vetter, dem Seewolf, ähnelte. Arne war breitschultrig und nur um eine Idee kleiner als Hasard. Besonders hervorstechende Merkmale waren sein blondes Haar, die eisblauen Augen und das scharfgeschnittene Gesicht. Die Ähnlichkeit war so frappierend, daß man ihn für Hasards Bruder halten konnte. Wenig später folgten der Wikinger und Siri-Tong, die Rote Korsarin. Hesekiel Ramsgate war fasziniert von der jungen Frau, die berückende Weiblichkeit und zugleich unbeugsame Härte ausstrahlte. Die Vorstellung, daß eine Frau eine wildverwegene Crew von Rauhbeinen anführte, mochte für manchen Seemann absurd sein. Doch schon bei seiner ersten Begegnung mit der Roten Korsarin war dem alten Ramsgate dank seiner Menschenkenntnis auf Anhieb klar gewesen: Wenn es eine Frau gab, die als Kapitän eines Seglers mit beiden Beinen fest auf den Decksplanken stand, dann war das Siri-Tong. Sie versammelten sich in der Kapitänskammer der „Isabella-. „In drei bis vier Tagen werden alle Arbeiten beendet sein-, sagte der Seewolf, „uns bleibt also nicht mehr viel Zeit, die
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letzten Einzelheiten zu. regeln. Es geht jetzt um die Besatzung der beiden Neubauten. Jean wird selbstverständlich die .Le Vengeur` als Kapitän übernehmen. Soviel steht fest“. Er wandte sich dem Schiffbaumeister zu. „Wie viele Männer werden sich uns von der Werft anschließen?“ „Fünfzehn haben fest zugesagt“, erwiderte Ramsgate. „mit fünf weiteren verhandele ich noch. Ich will die Männer nicht überreden. aber es sieht so aus, als ob sie sich auch entschließen werden mitzugehen.“ „Was Besseres können die Torfköppe nicht tun“, sagte der Wikinger dröhnend und hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. „Hast du ihnen das nicht verklart. Mister Ramsgate?“ „Natürlich habe ich das“, erwiderte der weißbärtige Mann und lächelte. „Aber ich gebe jedem genug Zeit zum Überlegen. Bei einer so wichtigen Entscheidung darf man nicht ungeduldig sein.“ Thorfin Njal verschränkte die Arme vor der mächtigen Brust und prustete. „Ihr Engländer seid doch ein merkwürdiges Volk. Jedes Ding dreht ihr dreimal um. bevor ihr es richtig anfaßt.“ „Du vergißt eine wichtige Tatsache“, sagte Oliver O'Brien. Der Wikinger ruckte herum. „Tatsache? Was soll das denn heißen? Ich rede doch nur von Tatsachen, Mann.” „Ebendrum“, fuhr O'Brien beharrlich fort. „Wir Iren und die Engländer können uns zwar meistens nicht riechen, aber wir haben doch eins gemeinsam: Über England sind deine Wikinger-Vorfahren genauso hergefallen wie über Irland. Und du kannst sicher sein, Mister Thorfin Njal, daß es eine verdammte Menge Engländer und Iren gibt, in denen Nordmannsblut fließt.“ „Teufel auch“, brummte Thorfin Njal, „dann haben sie sich aber nicht besonders angestrengt, die alten Ahnen.“ Er hob die rechte Hand zum Helm, ließ sie aber schon auf halbem Weg wieder sinken. Ein schuldbewußter Ausdruck trat in sein Gesicht, und beinahe verstohlen blickte er
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in die Runde, ob jemand etwas mitgekriegt hatte. Die anderen taten unbeteiligt und verkniffen sich ihr Grinsen. Denn sie alle wußten längst, wie sehr sich der poltrige Wikinger die kleinen Wünsche seiner Gotlinde zu Herzen nahm. Seit sie es für dummes Zeug erklärt hatte, daß sich ein ausgewachsener Mann am Helm kratzte, versuchte er krampfhaft, diese alte Gewohnheit zu unterdrücken - jetzt sogar schon, wenn seine bessere Hälfte nicht einmal in der Nähe war. Der Seewolf brachte die Dinge zum Kern der Sache zurück. „Wie auch immer, wir haben im günstigsten Fall zwanzig Mann von der Werft. Wenn wir sie zusammen mit Hesekiel alle auf der ,Le Vengeur' unterbringen, ist die ,Tortuga` damit immer noch nicht bemannt.“ Er blickte die Rote Korsarin an. „Wie sieht es bei dir aus? Ich denke, du hättest am besten die Möglichkeit, mit ein paar Männern auszuhelfen.“ „Das habe ich erwartet“, entgegnete die Rote Korsarin lächelnd, „aber du hast recht. Ich könnte zehn Männer entbehren, mehr allerdings beim besten Willen nicht.“ „In Ordnung“, sagte Hasard und nickte, „damit ist uns schon sehr viel geholfen. Ich stelle es mir so vor, daß die Leute von der Werft je zur Hälfte auf die beiden Neubauten verteilt werden. Natürlich nur, wenn ihr damit einverstanden seid.“ Er blickte Jean Ribault und Hesekiel Ramsgate fragend an. „Ich halte das für einen guten Vorschlag“, sagte Jean spontan. „Bestimmt ist es ein Vorteil, wenn auf der Jungfernfahrt auf jedem Schiff die Leute dabei sind, die es gebaut haben.“ „Das finde ich auch“, sagte der alte Ramsgate, „aber damit sind wir immer noch nicht komplett. Zehn Männer aus Siri-Tongs Crew, zehn Männer von der Werft und Jean Ribault als Kapitän der ,Le Vengeur', das würde reichen. Ich bin zwar gern bereit, mit den zehn anderen Männern von der Werft auf die ,Tortuga' zu gehen,
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aber wenn ich ehrlich bin, werde ich kaum ein sehr guter Kapitän sein.“ „Ich bin auch noch da“, meldete sich Oliver O'Brien zu Wort. Hasard lächelte, tauschte einen Blick mit Arne und wandte sich dann dem Iren zu. . „Für dich haben wir eine besondere Aufgabe vorgesehen, Oliver. Aber darüber reden wir noch.“ Er lehnte sich zurück. „Ich habe mich an jemanden erinnert, der den meisten von uns bekannt ist. Es handelt sich um Jerry Reeves, der damals vor der Bretagne die ,Fidelity' von Easton Terry übernahm.“ „Guter Mann“, sagte Thorfin Njal dröhnend, „und seine Leute waren auch in Ordnung. Wenn wir uns den an Land ziehen könnten, hätten wir genau das, was wir für die ‚Tortuga', brauchen.“ „Reeves ist mit seinen Leuten nach Bristol gegangen, wenn ich nicht irre“, sagte Ben Brighton. „Richtig.“ Hasard preßte die Fingerspitzen gegeneinander. „Das war vor dem Stapellauf der ‚Isabella'. Wenn wir Glück haben, können wir Jerry aufstöbern. Vielleicht hält er sich noch in Bristol auf. Schließlich ist es erst ein halbes Jahr her, daß er sich um ein neues Schiff kümmern wollte. Ich halte ihn nicht für den Typ, der sich für den erstbesten Kahn entscheidet.“ „Also holen wir ihn, wenn wir ihn kriegen können“, sagte Jean Ribault, „soviel Zeit haben wir doch noch, oder?“ „Es läßt sich einrichten“, entgegnete Hasard. „Also: Wer ist einverstanden?“ Es gab keine einzige Gegenstimme. Nachdem sich die kleine Versammlung aufgelöst hatte, beauftragte der Seewolf sofort Dan O'Flynn und Stenmark, als Kuriere nach Bristol aufzubrechen. 3. „Ferris“, sagte Edwin Carberry und drehte sich zu dem rothaarigen Schiffszimmermann um, „ich glaube, du mußt mir jetzt mal einen Tritt in den Hintern verpassen. Sieht so aus, als ob ich aus einem verdammten Traum aufwachen
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müsse. Das hier, das haben wir doch schon mal erlebt, was, wie?“ „Geht uns nicht anders, Ed“, brummte Ferris Tucker und zog die Schultern hoch. „Weiß der Teufel, was das nun wieder zu bedeuten hat.“ Auch die übrigen Männer schüttelten ratlos den Kopf. Batuti, Matt Davies, Luke Morgan, Bob Grey, Sam Roskill, Jack Finnegan, Paddy Rogers, Jeff Bowie und Nils Larsen hatten sich dem Profos und dem Schiffszimmermann angeschlossen, um der altvertrauten „Bloody Mary“ einen Besuch abzustatten. Doch sie standen vor verschlossener Tür. So schien es jedenfalls. Schon bei beginnender Abenddämmerung die Fensterläden zu verrammeln, das war weiß Gott nicht Plymsons Art. Oder hatte er etwa wieder Wind vom Anmarsch der Arwenacks gekriegt, wie beim letztenmal? Da hatte er sich verkrochen, der alte Hundesohn - aus Angst, daß sie ihm mal wieder den Laden zu Kleinholz verarbeiteten. „Das hat man nun davon, wenn man ein treuer Kunde bleiben will“, sagte Ed Carberry maulend. „Die anderen waren eben doch schlauer.“ Die Männer aus den Crews des Schwarzen Seglers. des „Roten Drachen“ und der „Wappen von Kolberg“, die gleichfalls Landurlaub erhalten hatten, waren von Anfang an in andere Richtungen aufgebrochen und verteilten sich auf die übrigen Schenken von Plymouth, die sie zu erforschen gedachten. Nun, sie hatten auch nicht die engen Bande zur „Bloody Mary“, wie das bei den Männern der „Isabella“ der Fall war. Unvermittelt huschte ein wohlbekannter grauer Schatten zwischen ihren Beinen hindurch und hechelte schwanzwedelnd auf den Eingang von Plymsons Kneipe zu. „Himmel, Arsch und Gammelhering!“ grollte Ed Carberry. „Da haben diese Lausebengel doch wieder nicht aufgepaßt. Dabei hatten sie ausdrückliche Order, das Vieh einzusperren.“ „Gib ihnen nicht schon wieder die Schuld“, sagte Matt Davies besänftigend. „Plymmie
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ist in der letzten Zeit unberechenbar. Die macht sich doch dauernd selbständig.“ In der Tat hatten Philip und Hasard junior, die Söhne des Seewolfs, in den letzten Tagen ihre liebe Not mit der Bordhündin der „Isabella“. Schon ein paarmal war Plymmie ausgekniffen, trotz aller Sicherheitsvorkehrungen. Diesmal mußte sie tatsächlich über die Jakobsleiter abgeentert und an Land geschwommen sein, denn ihr Fell war noch naß. „Zeit für Suche nach einem Mann“, sagte Batuti feixend, „nach einem Hunde-Mann. Da werden die Hündinnen ganz verrückt.“ „Mach mich nicht schwach“, sagte Ferris Tucker stöhnend, „ich sehe das schon vor mir: ein halbes Dutzend kleiner Plymmies an Bord! Oder wie viel Nachwuchs kriegen diese Viecher?“ Die Männer lachten schallend, wurden aber im selben Moment abgelenkt. Denn die schnüffelnde Wolfshündin hatte ihre Nase zwischen einen kaum erkennbaren Türspalt geklemmt und half nun mit der rechten Vorderpfote nach. Tatsächlich gelang es ihr, die Tür zu öffnen. Knarrend schwang sie auf und gab den Blick frei auf einen leeren, düsteren Schankraum der „Bloody Mary“. „Durchsuchen!“ befahl Ed Carberry kurz entschlossen. „Und wenn er uns diesmal zum Narren halten will, dann kriegt er was auf die Jacke, der dicke Bastard.“ Plymmie drang als erste in den Schankraum vor, eifrig schnüffelnd. Die Männer folgten ihr. Wenn Plymson sich tatsächlich irgendwo versteckte, dann würde die Wolfshündin ihn aufstöbern. Denn sie hatte mit dem feisten Schankwirt bereits ausgiebig Bekanntschaft geschlossen und eine regelrechte Vorliebe dafür entwickelt, ihm die rosigen Wangen abzulecken. Der Profos hielt den letzten Mann zurück. „Paddy, für dich habe ich einen Spezialauftrag.“ Paddy Rogers, der bereits ahnte, was ihn erwartete, schickte einen flehentlichen Blick zum Himmel.
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„Ausgerechnet ich“, sagte er in gespielter Verzweiflung, „natürlich muß es mich wieder erwischen. Warum, zum Teufel?“ „Den letzten beißen immer die Hunde“, antwortete Carberry grinsend, „aber mach dir nichts draus, mein Junge. Du schnappst dir Plymmie und bringst sie zurück an Bord. Anschließend ist Treffpunkt hier bei der ,Bloody Mary'. Klar?“ „Aye, aye, Sir!“ Paddy Rogers ließ die Schultern hängen und schlurfte ergeben in den dunklen Schankraum. Ed Carberry schickte sich an, ihm zu folgen. Eine zaghafte Jungenstimme veranlaßte ihn, stehenzubleiben und sich umzudrehen. „Verzeihung, Mister - Sir, entschuldigen Sie bitte ...“ Stirnrunzelnd drehte sich der Profos der „Isabella“ um. Die leiden Jungen, die da vor ihm standen, sahen zum Erbarmen aus. Barfuß, zerlumpt und ungewaschen. Bei ihnen brauchte man nicht zweimal hinzusehen, um zu erkennen, daß sie von der Schattenseite des Hafens stammten. Aber sie waren aufgeweckte, pfiffige kleine Kerlchen. Das ließen ihre hellwachen Augen und die Offenheit ihres Gesichtsausdrucks erkennen. „Na, was habt ihr auf dem Herzen?“ fragte Ed Carberry freundlich. Alle, die ihn kannten, wußten um den weichen Kern unter seiner rauhen Schale. Und diese beiden Bürschchen taten ihm ganz einfach leid. Er trat einen Schritt beiseite, um Paddy Rogers vorbeizulassen, der Plymmie am Halsband hielt und mit ihr in Richtung Rame Head davonzuckelte. „Wenn Sie Mister Plymson suchen“, sagte der ältere der beiden Jungen, ein sommersprossiger Rotschopf, „dann können wir Ihnen helfen.“ „Wir wissen nämlich, daß Sie Freunde von ihm sind“, fügte der kleinere hinzu. Er hatte blaue Augen und strohblondes Haar. „Wir haben Sie schon öfter hier gesehen.“ „Stimmt“, sagte Ed Carberry grinsend, „wir sind besonders gute Freunde von
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Mister Plymson. Ihr habt also gesehen, wohin er sich verdrückt hat?“ „Oh, das hat er nicht, Sir, ganz gewiß nicht.“ „Er wurde nämlich entführt, Sir. Letzte Nacht, Sir. Wir haben alles beobachtet.“ Das Rammkinn des Profos sackte nach unten. „Entführt? Wißt ihr überhaupt, was das ist? Ihr wollt mir doch wohl keinen Bären aufbinden? Wie heißt ihr überhaupt?“ „Ich bin Jamie, Sir“, antwortete der Rotschopf. Er deutete mit einer Kopfbewegung zu seinem Freund. „Und er heißt Leslie.“ „Drei Halunken waren es!“ rief Leslie aufgeregt. „Sie haben den armen Mister Plymson bewußtlos geschlagen. Aber wir sind natürlich gleich hinterher und ...“ „Es war noch ein vierter dabei“, unterbrach ihn Jamie unwillig. „Laß mich mal erzählen. Du vergißt sowieso die Hälfte.“ Erstaunlich präzise schilderte er, was sich abgespielt hatte, bis hin zum „Verhör“ des Schankwirts im Schuppen am Stadtrand. Ed Carberry konnte sich mühelos zusammenreimen, was dahintersteckte. Und daß die beiden Kerlchen nicht schwindelten, war sonnenklar. Na, die Suppe würden sie dem sauberen Hochwohlgeborenen aus Sir Andrews Clique gründlich versalzen. Plymson mochte ein Schlitzohr sondergleichen sein. aber eine solche Behandlung hatte er wirklich nicht verdient. „Könnt ihr uns diesen Schuppen zeigen?“ fragte der Profos. „Natürlich, Sir“, antwortete Jamie eifrig, „überhaupt kein Problem.“ „In Ordnung.“ Ed Carberry nickte grimmig. „Dann wollen wir mal.“ Er drehte sich um, brüllte in den Schankraum, und nachdem die Männer im Freien standen, informierte er sie mit wenigen Worten. Die beiden Jungen wurden rot vor Stolz, als sie anerkennende Blicke und reihenweise freundschaftliches Schulterklopfen ernteten. Strahlend marschierten sie an der Spitze der kleinen Kolonne los.
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Bis zu dem verlassenen Sägewerk brauchten sie wenig mehr als eine halbe Stunde. Vor der Einfriedung, die nur noch aus einem morschen, schon halb umgewehten Bretterzaun bestand, verharrten sie. Ed Carberry schlich mit den beiden Jungen zu einer Stelle, an der ein Brett fehlte. Vorsichtig spähten sie durch die Lücke. „Dahinter!“ flüsterte Jamie mit erregter Stimme. „Der mittlere von den drei Schuppen ist es. Wir haben uns das genau gemerkt, bevor wir uns letzte Nacht verdrückt haben.“ „Das habt ihr fein gemacht“, sagte der Profos gerührt und strich ihnen über die Haare. „Ihr wartet jetzt hier. Falls irgendeiner aufkreuzt, der uns nicht in den Kram paßt, schlagt ihr Alarm. Klar?“ „Klar, Sir“, erwiderten die beiden wie aus einem Mund, und die Freude über ihre besondere Aufgabe strahlte aus ihren Augen. Ed Carberry winkte die Männer heran. Wenige halblaute Worte genügten, um ihnen die Lage zu verklaren. Durch das halboffene Tor, das nur noch windschief in den Angeln hing, drangen sie auf das Grundstück vor. Sofort schwärmten sie nach beiden Seiten aus und pirschten im Schutz von moosbewachsenen Bretterstapeln und verrosteten Bergen von Gerätschaften lautlos voran. Hinter den beiden seitlichen Schuppen warteten sie nur einen Moment, um die Lage zu peilen. Nichts rührte sich, kein Laut war zu hören. Ed Carberry gab das Handzeichen, und die beiden Gruppen marschierten vereint auf das Tor des mittleren Schuppens los. Wortlos zeigte der Profos auf einen verwitterten, halb durchgesägten Baumstamm, der nur ein paar Schritte entfernt lag. Die Männer begriffen, schlichen darauf zu, verteilten sich auf beide Seiten und hoben den Stamm auf Carberrys Kommando an. Die Entfernung betrug fünf Yards, es reichte für einen Anlauf. Der Rammstoß traf das Schuppentor mit urgewaltigem Krachen. Berstend und
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splitternd lösten sich altersschwache Bretter in einen Regen von weißfaserigen Kleinteilen auf. Vom eigenen Schwung getrieben, stürmten die Arwenacks in den halbdunklen Raum. „Laßt fallen!“ brüllte Ed Carberry. Reaktionsschnell wichen die Männer nach beiden Seiten. Dumpf dröhnend landete der Baumstamm auf dem Boden. Weit hinten fuhren die drei Galgenstricke hoch, als hätte ihnen der Gehörnte blitzartig ein bißchen Fegefeuer unter den Allerwertesten geschoben. Vom Schein einer blakenden Ölfunzel erhellt, standen sie kerzengerade und starr vor Schreck. Es gab kein Entrinnen. Die hintere Schuppenwand war nicht morsch genug, und der Erdboden tat ihnen nicht den Gefallen, ein Loch zum Verschwinden zu öffnen. Die Arwenacks marschierten auf sie los, bildeten eine breite Front und spuckten in die Hände. Ed Carberry schob die Hemdsärmel hoch über seine mächtigen Muskeln, und dazu grinste er in geradezu unverschämter Vorfreude. „Dann mal los, Männer“, sagte er mit grollender Reibeisenstimme. „versohlen wir ihnen erst mal das Fell. Hinterher, denke ich, ziehen wir diesen Kakerlaken die Haut in Streifen von ihren Affenärschen.“ Die drei Galgenstricke wurden von erneutem Schreck gepackt. Mit geweiteten Augen starrten sie dem Unheil entgegen, das da auf sie zurückte. Jeder einzelne dieser Kerle war geeignet, ihnen Furcht und Entsetzen einzuflößen - allen voran der Riese mit dem Narbengesicht und dem kantigen Rammkinn, das so aussah, als könnte es sogar einen Huftritt vertragen. Dann der rothaarige Hüne mit diesen Pranken wie Ankerklüsen. Und der Schwarze, der so scheinbar freundlich die perlweißen Zähne entblößte. Und dieses grauhaarige Muskelpaket, das anstelle der fehlenden rechten Hand eine Hakenprothese hochhielt, deren Ende nadelspitz zugeschliffen war. Aber auch die übrigen sechs waren nicht von schlechten Eltern.
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Nathaniel Plymson, gefesselt und geknebelt, reckte den Kopf von seinem Spänehaufen, und das Erstaunen in seinen Augen wich einem hoffnungsfrohen Leuchten. Zwei Schritte von den Entführern entfernt blieben die Seewölfe stehen - immer noch grinsend. Der schwarzbärtige Riese war der erste, der sich halbwegs vom Schreck erholte. „Was habt ihr hier zu suchen?“ knurrte er und bemühte sich, es so drohend klingen zu lassen, wie er nur konnte. Ed Carberry nickte verständnisvoll und trat einen Schritt vor. „Komm her, Freundchen, dann will ich es dir gerne sagen.“ Der Schwarzbärtige witterte eine aberwitzige Chance, es seinem Gegenüber allein besorgen zu können. Mit einem Wutschrei schnellte er auf den Profos los. Scheinbar gelangweilt stand Ed Carberry da. Doch nur einen Atemzug lang. Dann zuckten seine Fäuste vor, mit der Härte von Schmiedehämmern. Der Schwarzbärtige wurde gestoppt, als sei er gegen eine unsichtbare Mauer gerannt. Grenzenloses Erstaunen malte sich in seinem Gesicht, als er im nächsten Moment von den eisenharten Fäusten des narbengesichtigen Hünen zurückgetrieben wurde. Verzweifelt versuchte er, einen Halt zu finden und zu kontern. Doch es gelang ihm nicht, auch nur einen einzigen Hieb zu landen. Grinsend und wie mit spielerischer Leichtigkeit zerschmetterte der Mann mit dem Rammkinn jeden seiner Angriffsversuche. Für den Rothaarigen und seinen Kumpan mit der langen schwarzen Mähne gab es kein Entrinnen mehr. Ferris Tucker und Batuti schnappten sich die beiden und verabreichten ihnen eine Tracht Prügel, die sie ihr Leben lang nicht vergessen sollten. Mit zwei letzten schallenden Ohrfeigen legte unterdessen Ed Carberry seinen Gegner flach. Der Schwarzbärtige streckte alle viere von sich und rührte sich nicht mehr. Carberry klopfte seine Hände an der Kleidung ab.
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„So was“, sagte er kopfschüttelnd, „da tätschelt man den Kerl ein bißchen, und schon meldet er sich von Bord.“ Die anderen lachten. Batuti trieb den Langmähnigen mit erbarmungslosen Fausthieben vor sich her und beförderte ihn so präzise ins Traumland, daß er neben seinem bereits bewußtlosen Komplicen in die Waagerechte ging. Ferris Tucker besorgte es dem Rothaarigen nicht minder zügig. Ein trockener Haken setzte den Mann außer Gefecht und ließ ihn quer über seinen beiden Partnern landen. Luke Morgan und Sam Roskill hatten bereits damit begonnen, Nathaniel Plymson von Knebel und Fesseln zu befreien. In der offenen Schuppentür tauchten die beiden Jungen auf und betrachteten mit großen Augen das Bild, das sich ihnen bot. „Euch schickt der Himmel“, sagte Plymson mühsam, als ihm die Männer auf die Beine halfen. „Mann, o Mann, ich weiß überhaupt nicht, wie ich euch danken soll. Diese verdammten Hundesöhne hätten mich hier glatt verhungern lassen. Himmel, wenn ihr nicht gewesen wärt, hätte ich elendiglich krepieren müssen.“ Ed Carberry hieb ihm mit der flachen Hand auf die Schulter, daß es krachte. „Fang nicht an zu heulen, Plymson. Und wenn du dich bedanken willst, dann tu es bei den beiden Prachtkerlchen da drüben.“ Jamie und Leslie wurden abermals rot vor Stolz, und als der feiste Schankwirt sie überschwenglich an sich drückte, gerieten sie vor so viel Zuneigung endgültig in Verlegenheit. „Was fangen wir mit denen an?“ fragte Matt Davies und zeigte auf die drei Bewußtlosen. „Nicht mehr drum kümmern“, erklärte Ed Carberry abwinkend, „denen dürfte die Lektion genügen. Wenn nicht, kriegen sie noch mal die Jacke voll.“ Jamie und Leslie fühlten sich wie die Anführer eines Triumphzuges, als sie zum Hafen zurückkehrten und auf die „Bloody Mary“ zusteuerten. Dort wartete bereits Paddy Rogers, der die Bordhündin
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Plymmie ordnungsgemäß auf der „Isabella“ abgeliefert hatte. Am Kai und an den Piers brannten die Pechfeuer in den hohen Stangenkörben, und überall in den Gassen der Stadt waren die abendlichen Lichter angezündet. Nathaniel Plymson watschelte freudestrahlend auf seine Theke zu, nachdem die Arwenacks die Funzeln angezündet hatten. „Gentlemen“, rief der dicke Schankwirt feierlich und mit einer theatralischen Geste, ..welch ein erhebendes Gefühl ist es doch, gesund und wohlbehalten wieder in den eigenen vier Wänden zu sein! In Anbetracht ...“ „Du hättest Wanderprediger werden sollen!“ schrie Matt Davies, und die anderen prusteten mit donnerndem Gelächter los. „Unterbrich mich nicht, Mister Davies!“ fauchte Plymson, nachdem sie ruhiger geworden waren. „In Anbetracht dieser besonderen Umstände werde ich mir nämlich erlauben, ein Faß Bier auf Kosten des Hauses zur Verfügung zu stellen.“ Die Männer brüllten Beifall. „Hab mich getäuscht!“ schrie Matt Davies begeistert. „Du mußt doch Schankwirt bleiben. Einen besseren kriegen wir nicht.“ Abermals brachen die Arwenacks in Beifall aus. Nathaniel Plymson klapperte selbstzufrieden mit den Augenlidern und winkte die beiden Jungen zu sich heran. „Folgt mir, meine Freunde. Für euch gibt es was Besonderes.“ Gemeinsam mit Jamie und Leslie stieg der dicke Plymson in den Keller hinunter. Als sie wenig später zurückkehrten, hatten Ed Carberry und die anderen bereits ein Faß Bier angestochen und die ersten Humpen gefüllt. Leslie und Jamie erhielten einen Ehrenplatz an einem der Tische neben dem Tresen, und der Schankwirt servierte ihnen eigenhändig die Mitbringsel aus dem Keller - einen großen Krug mit Himbeersaft, frisch geschnittenen Räucherschinken mit knusprigem Brot und als Nachtisch ein paar große Stücke süßen Mandelkuchen.
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Im ersten Moment gingen den Jungen fast die Augen über. Aber dann langten sie zu, daß es den Männern eine wahre Freude war. Ed Carberry konnte sich eines gerührten Lächelns nicht erwehren, und dann gab er sich einen Ruck, ging hinüber, griff in die Hosentasche und legte eine Handvoll silberne Achterstücke auf den Tisch. Abermals wurden Leslies und Jamies Augen groß und rund. „Das habt ihr euch redlich verdient“, sagte der Profos. „Und paßt gut auf, daß niemand es euch abknöpft. Niemand, habt ihr verstanden?“ „Soviel Geld - das - das können wir nicht annehmen, Sir“, stotterte Leslie entgeistert. „Kein Wort mehr“, sagte Ed Carberry, und es klang nur deshalb so barsch, weil er seine Rührung verbergen mußte. „Geld einstecken und Klappe halten! Das ist ein Befehl.“, „Aye, aye, Sir!“ riefen die Jungen wie aus einem Mund und mit leuchtenden Augen. Zwinkernd wandte sich der Profos wieder den Männern zu. „In Anbetracht der besonderen Umstände“, äffte er Plymson nach, „können wir diesmal wohl darauf verzichten, ein bißchen aufzuräumen. Widmen wir uns lieber dem Gerstensaft, den unser großherziger Freund Nathaniel gestiftet hat.“ Erneut brüllten die Arwenacks Zustimmung, stießen die Humpen hoch, und in dem Lärm ging der erleichterte Stoßseufzer Nathaniel Plymsons unter. Diesmal, soviel war sicher, würden sie seinen Laden nicht auseinandernehmen. 4. Das matte Licht in der Kapitänskammer der „Isabella“ strahlte jene Art von Behaglichkeit aus, wie sie der Seewolf und seine Männer nur ab und zu erlebten. Denn selten war für sie Zeit, sich der Ruhe und der Zurückgezogenheit hinzugeben. In dem rubinroten Wein. den Hasard in drei Gläser geschenkt hatte, rief die Öllampe glutvolle Reflexe hervor.
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Oliver O'Brien sah den Seewolf und den Ersten Offizier erwartungsvoll an. „Ich bin ziemlich gespannt“, sagte er. „Was für eine besondere Aufgabe ist es, die mich erwartet?“ Hasard hob das Glas, und sie prosteten sich zu. „Wir brauchen einen Kapitän für die ,Wappen von Kolberg', sagte der Seewolf unumwunden. O'Brien sah ihn entgeistert an. „Aber - was ist mit deinem Vetter, mit Arne von Manteuffel? Er wird doch sein Schiff nicht abgeben?“ „Nein, darum geht es nicht“, erwiderte Hasard, „ich habe mich mit Arne darüber geeinigt. daß er in der Karibik spezielle Aufträge übernehmen wird. Daher steht er dann nicht mehr als Kapitän für die ‚Wappen' zur Verfügung. Das ist alles.“ O'Brien schüttelte den Kopf, immer noch ungläubig. „Himmel, das habe ich nicht im Traum erwartet. Ich konnte doch nicht damit rechnen, bei euch gleich als Kapitän eingesetzt zu werden. Aber vorläufig behält Arne doch noch das Kommando an Bord, oder?“ Hasard lächelte und sah den stämmigen Iren an. „Vorausgesetzt, wir kriegen Jerry Reeves für die ,Tortuga', sollst du die ,Wappen' ab sofort gemeinsam mit Arne führen. Wenn wir dann die Karibik erreicht haben, wirst du auch mit der Crew bestens vertraut sein.“ „Eine hervorragende Mannschaft übrigens“, warf Ben Brighton ein, „in der Ostsee wären wir ohne sie verraten und verkauft gewesen.“ „Was hältst du von dem Vorschlag?“ fragte Hasard. „Abgesehen von der Überraschung“, entgegnete O'Brien aufatmend, „bin ich ganz einfach begeistert. Eine traumhafte Aufgabe. Etwas Besseres kann sich ein Mann in meiner Lage wohl kaum wünschen.“ Ben Brighton sah den Seewolf von der Seite an.
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„Da wäre nur ein kleines Problem nicht zu vergessen.“ „Richtig“, sagte Hasard und nickte, „das Sprachproblem, Oliver. An Bord der ‚Wappen' hast du es ausschließlich mit Deutschen zu tun. Zwar verstehen sie inzwischen ein paar Brocken Englisch, und vor allem Arne beherrscht unsere Sprache allmählich recht gut, aber du wirst doch Deutsch lernen müssen, damit du dich überhaupt verständigen kannst.“ O'Brien blies die Luft durch die Nase. „Ich sehe zwar auch noch einige Probleme, aber das ist nun wirklich überhaupt keins.“ „Oliver O'Brien“, entgegnete Ben Brighton verblüfft, „als Aufschneider haben wir dich noch nicht kennengelernt. Ich gebe zu, daß die deutsche Sprache für mich ein Buch mit sieben Siegeln ist. Ehrlich gesagt, ich würde das wohl nie lernen. Und du nimmst das auf die leichte Schulter, als sei es gar nichts?“ „Moment“, sagte Hasard stirnrunzelnd, und dabei musterte er den Iren eindringlich. „Mir ist da etwas aufgefallen. Wenn ich mich nicht verhört habe, hat unser Freund Oliver die Worte ,Arne von Manteuffel' und ,Wappen von Kolberg' haargenau so ausgesprochen, wie wir es von Arne und seiner Crew kennen - also ohne Akzent. Hat das einen besonderen Grund, Oliver?“ O'Brien lehnte sich lachend zurück. „Natürlich hat es das. Und ein Prahler bin ich ganz gewiß nicht. Ich würde auch nie behaupten, daß die Iren sprachbegabter seien als die Engländer. Nein, die Erklärung ist sehr einfach: Ich bin zweisprachig groß geworden, weil meine Mutter Deutsche ist.“ „Und das sagst du erst jetzt?“ rief Hasard. „Wir hätten uns weit weniger den Kopf zu zerbrechen brauchen, wenn wir das gewußt hätten.“ „Aber ich wußte doch nichts davon, daß ich die ‚Wappen' übernehmen soll“, rechtfertigte sich O'Brien, „also spielte die deutsche Sprache für mich auch keine Rolle.“ „Recht hast du“, sagte Hasard und nickte.
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Ben Brighton mußte grinsen, was bei ihm seltener geschah als bei den übrigen Männern an Bord der „Isabella“. „Bei euch Iren“, sagte er kopfschüttelnd, „muß man doch mit allen Überraschungen rechnen.“ „Das ist es, was die Engländer so an uns schätzen.“ O'Brien grinste zurück. „Bist du in Deutschland aufgewachsen?“ fragte der Seewolf. „Nein. Die Geschichte ist schnell erzählt. Mein Vater hat ein Handelshaus in Dublin. Schon in jungen Jahren baute er Geschäftsbeziehungen mit HanseKaufleuten auf, und da ergab es sich, daß er regelmäßig jedes Jahr nach Hamburg reiste. Nun ja, und von einer' dieser Reisen brachte er seine junge deutsche Ehefrau mit nach Dublin. Das ist alles. Ich bin natürlich in Irland geboren.“ „Das hilft dir auch nicht viel“, erwiderte Ben Brighton. „Ein richtiger Ire bist du für uns nun doch nicht mehr.“ „Darüber könnt ihr immer noch diskutieren“, sagte Hasard, als er ein Funkeln in den Augen O'Briens entstehen sah. „Im Moment zählt nur, daß wir die wichtigen Einzelheiten geklärt haben.“ „Da ist noch etwas-, sagte O'Brien, schon wieder besänftigt. Er wurde ernst. Hasard nippte an seinem Rotwein. „Ich weiß. Du bist noch nicht offiziell aus der Royal Navy entlassen. Das ist es, nicht wahr?“ „Etwas mehr. Es geht mir um eine ehrenhafte Entlassung. Ich möchte nicht durch das Verschulden von diesem Halunken Sir Andrew meinen guten Ruf verlieren. Wenn das nicht wäre, würde ich Hals über Kopf aus England verschwinden, ohne diesem Land noch eine Träne nachzuweinen:* Der Seewolf nickte verständnisvoll. „Wir müssen einen Weg finden, um diese Dinge für dich in Ordnung zu bringen.“ „Denkt daran, daß wir nicht mehr viel Zeit haben“, wandte Ben Brighton mahnend ein. „Oliver müßte schon nach London reisen, um seine ehrenhafte Entlassung mit Brief und Siegel durchzusetzen. Das würde mindestens eine Woche dauern,
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wahrscheinlich länger, weil er beim Marineministerium bestimmt nicht sofort vorgelassen wird.“ „Sir Andrew sitzt drüben auf dem ,Roten Drachen' warm und trocken“, sagte O'Brien. „Könnte man ihm nicht ein schriftliches Geständnis abverlangen? Er müßte darin bestätigen, daß die ,Vanguard` durch sein Verschulden gestrandet ist.“ „Damit wäre dir nicht gedient“, widersprach Hasard, „er würde dieses Dokument sofort widerrufen, wenn er auf freiem Fuß ist. Und die zuständigen Stellen würden ihm das auch abnehmen, wenn er nämlich erklärt, daß das Schriftstück unter Zwang aufgesetzt wurde.“ „Also gibt es keine Lösung“, sagte O'Brien pessimistisch. „Ihr müßt das verstehen. Natürlich bin ich Feuer und Flamme, euch in die Karibik zu begleiten, aber andererseits ...“ „Völlig klar“, sagte Hasard, „einen unehrenhaften Abschied würden wir dir niemals zumuten. Aber ich denke, es gibt eine andere Möglichkeit. Ich spiele mich nicht gern selbst hoch, aber - mein Wort hat ein wenig Gewicht. Ich würde ein offizielles Schriftstück aufsetzen und den Sachverhalt schildern, dazu ein persönliches Begleitschreiben, und beides wird direkt an Lord Cliveden geschickt. In dem Begleitschreiben werde ich ihn bitten, deine ehrenhafte Entlassung an zuständiger Stelle zu regeln.“ „Also gewissermaßen in Abwesenheit“, entgegnete O'Brien stirnrunzelnd. „Wird das genügen?“ „Lord Cliveden ist ein einflußreicher Mann bei Hofe. Sein Wort hat Gewicht, Oliver. Du kannst dich darauf verlassen.“ „Also gut.“ O'Brien lehnte sich zurück. „Ich bin einverstanden.“ Hasard nickte, stand auf und holte Papier, Feder und Tintenfaß aus dem Schapp. „Verlieren wir keine Zeit. Wir werden gleich morgen früh einen zuverlässigen Kurier losschicken. Allerdings keinen eigenen Mann. Das wäre zeitlich nicht mehr möglich.“ „Ich kümmere mich darum“, sagte Ben Brighton bereitwillig. „Ich werde in
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Plymouth einen geeigneten Mann auftreiben.“ Er ließ den Seewolf und den künftigen Kapitän der „Wappen von Kolberg“ allein. Hasard begann ohne Umschweife damit, das offizielle Dokument aufzusetzen. * In der leeren Achterdeckskammer des „Roten Drachen“ war es fast völlig dunkel. Nur durch das Fenster zur Heckgalerie fiel schwaches Licht von der Hecklaterne des Schiffes herein. Die drei Gefangenen hockten auf den Planken, an Hand- und Fußgelenken gefesselt. Lediglich Knebel hatte man ihnen erspart. Warum sie in diese Kammer umquartiert worden waren, hatten ihnen die Männer der Roten Korsarin nicht verraten. Auf alle noch so eindringlichen Fragen hatten sie nichts als ein abfälliges Grinsen geerntet. Genug für Sir Andrew und Marquess Henry, ihrer Empörung auf sehr deutliche Art und Weise Ausdruck zu verleihen -was bei ihren Bewachern allerdings nur ein noch breiteres Grinsen hervorgerufen hatte. „Es ist eine Schande“, sagte Sir Andrew mit entrüsteter Stimme in die Dunkelheit hinein, „eine verdammte Schande ist das. Aber es wird ein Nachspiel haben, das kann ich Ihnen versichern, Gentlemen.“ „Das sagen Sie jetzt schon zum zehnten Male“, entgegnete Marquess Henry verärgert, „aber ich werde Ihnen verraten, was wir mit diesen verfluchten Bastarden anfangen, sobald wir hier heraus sind. Ich lasse sie köpfen, allesamt! Das gibt ein Schnellverfahren, wie es sich sehen lassen kann. Und dann werden wir die Köpfe von diesen Hundesöhnen auf Stangen am Kai zur Schau stellen. Das wird allen Nacheiferern eine Lehre sein.“ „Besonders erfreulich dürfte sein, dieses Teufelsweib ins Jenseits zu befördern.“ „Ist das Ihr Ernst?“ Marquess Henry kicherte glucksend. „Das hübsche Kind würde ich gern noch eine Weile schonen. Die als Gefangene - Himmel, da könnte man eine Menge Spaß haben.“
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„Reden Sie kein dummes Zeug, Henry! Alles, was Sie vorhaben, klappt sowieso nicht. Wie war es denn mit der ‚Isabella'? Als Sie das Killigrew-Schiff an die Kette gelegt hatten, wurde doch auch nichts daraus, oder?“ „Weil sich diese Hunde dreist über alles hinwegsetzen. Unter normalen Umständen ...“ „Ach, Unsinn. Mit Ihnen kann man doch überhaupt nicht rechnen. Wenn ich mich nicht auf Sie verlassen hätte, säße ich jetzt wahrscheinlich nicht hier, und der Bastard Killigrew befände sich hinter Kerkermauern.“ „Wollen Sie jetzt etwa mir die Schuld geben?“ brauste Marquess Henry auf. Der Kurier, der sich mit den beiden Hochwohlgeborenen in der Kammer befand, räusperte sich vernehmlich und meldete sich zum ersten Male seit geraumer Zeit zu Wort. „Gentlemen, würden Sie Ihren Disput bitte einmal kurz unterbrechen und mir zuhören?“ „Was bilden Sie sich ein?“ schnaubte Sir Andrew. „Wer gibt Ihnen das Recht zu solchen plumpen Vertraulichkeiten, Mann?“ „Vielleicht interessiert es Sie, daß es mir soeben gelungen ist, mich von meinen Fesseln zu befreien“, flüsterte der Kurier, „und jetzt seien Sie um Himmels willen still, sonst war die ganze Arbeit umsonst.“ Sir Andrew und Marquess Henry waren in der Tat für den Moment sprachlos. Aber dann, als der Kurier lautlos auf sie zukroch, wußten sie, daß er ihnen keine Lüge aufgetischt hatte. Vor Freude wären sie am liebsten in Triumphgeschrei ausgebrochen. Aber so viel Verstand bewahrten sie doch, daß sie wußten, wovon jetzt alles abhing. „Am besten, Sie streiten sich weiter“, zischte der Kurier, während er begann, an den Handfesseln des Marquess zu nesteln. „Dann wird der Posten draußen keinen Verdacht schöpfen.“ „Wenn wir die Fesseln los sind, sind wir noch lange nicht frei“, flüsterte Marquess Henry zurück.
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„Erinnern Sie sich, wie Ramsgate und der Franzose von Bord der ,Glorious' geflohen sind?“ sagte der Kurier leise. „Wir werden das ein bißchen nachahmen, denn auch wir befinden uns schließlich in einer Achterdeckskammer mit Zugang zur Heckgalerie.“ „Mit verschlossenem Zugang“, knurrte Sir Andrew. „Bitte fahren Sie jetzt mit Ihrem Disput fort, Gentlemen“, bat der Kurier beharrlich. Ohne Zeit zu verlieren, setzte er seine Arbeit fort. Und die beiden Hochwohlgeborenen spielten mit, wie er es verlangte. Zeternd fast, warfen sie sich Freundlichkeiten an den Kopf, schoben sich gegenseitig die Schuld an allem in die Schuhe und ersannen immer neue Schimpfworte. In der Dunkelheit grinste der Kurier vor sich hin, obwohl die Lage im Grunde noch keinen Anlaß dazu bot. Er war sich von vornherein darüber im klaren gewesen, daß die Umquartierung in diese Kammer wegen der besseren Bewachungsmöglichkeiten stattgefunden hatte. Umso schwieriger, wenn nicht gar aussichtslos, würde es sein, unbemerkt zu verschwinden. Aber es mußte eine Chance geben. Jetzt, zu dieser späten Stunde, konnten auch an Bord dieses Schiffes nicht alle Menschen hellwach sein. Marquess Henry stöhnte auf, als die Fesseln von seinen Gelenken fielen. Die nun wieder ungehinderte Blutzirkulation verursachte stechende Schmerzen. Doch Sir Andrew fuhr mit seinen Beschimpfungen fort, so daß dem Marquess keine Gelegenheit blieb, in Wehklagen auszubrechen. Der Kurier nahm sich Sir Andrews Handfesseln vor, und er arbeitete rasch und geschickt. Nach wenigen Augenblicken fielen die Stricke ab und kurz darauf auch die Fußfesseln. Im selben Moment zuckten die Gefangenen zusammen. Schritte klangen dumpf durch den Gang vor der Achterdeckskammer. Marquess Henry und Sir Andrew verstummten. „Verfluchter Mist, die Postenablösung!“ zischte der Kurier. „Bleiben Sie, wo Sie
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sind, Gentlemen. Und tun Sie so, als seien Sie noch gefesselt.“ Während sie seine Anweisung befolgten, richtete er sich auf und huschte zum Schott. Draußen endeten die Schritte, und dann waren gemurmelte Worte zu hören. Der Kurier spannte die Muskeln an. Wahrscheinlich würde der neue Posten nach dem Rechten sehen, bevor die Ablösung vollzogen war. Oder alle beide. Bislang hatten sie dabei keine Regelmäßigkeit an den Tag gelegt. Unvermittelt schwang das Schott knarrend nach innen. Im toten Winkel hielt der Kurier den Atem an. Im nächsten Sekundenbruchteil überschlugen sich die Dinge. Er sah eine Hand mit einer Laterne, die in den Raum gehalten wurde - und eine Pistole im Gurt, zum Greifen nahe neben sich. Blitzartig packte er zu. Der Mann mit der Laterne zuckte zusammen. Doch bevor er einen Laut von sich geben konnte, schmetterte ihm der Kurier den schweren Pistolenlauf über den Schädel. Sofort packte er mit der freien Hand zu und zog den Mann herein. Der Lichtschein der Laterne begann zu torkeln. Der zweite Posten, wahrscheinlich der, der abgelöst werden sollte, schaffte es nicht mehr, die eigene Pistole zu ziehen. Seine Bewegung erstarrte, als er in den großkalibrigen Lauf blickte. „Herein mit dir!“ fauchte der Kurier. „Los, los, beweg dich!“ Aus den Augenwinkeln heraus sah er, daß Sir Andrew die Laterne aufgefangen hatte. Marquess Henry quiekte erschrocken, da der Bewußtlose quer über seinen Bauch kippte. Während der zweite Posten, immer noch verdutzt, der Anordnung folgte, ließ der Kurier die Pistole in seiner Rechten herumkreiseln und schlug mit dem Knauf zu, als der Mann in seiner Reichweite war. Sir Andrew bremste den Fall des Mannes. Unterdessen holte der Kurier den hölzernen Riegel herein, schloß das Schott und verriegelte es von innen. Weitere Worte brauchte er nicht zu verlieren. Die Fluchtchance, die sich ihnen
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so plötzlich eröffnete, beflügelte Sir Andrew und Marquess Henry zu unerhörtem Tatendrang. Sie fesselten die beiden Bewacher mit den umherliegenden Stricken und stopften ihnen die eigenen Halstücher als Knebel in den Mund. Der Kurier hatte sich bereits eins der Entermesser geschnappt und die Pistole auf die Planken gelegt. Der harte Klingenstahl erfüllte seinen Zweck. Innerhalb von wenigen Minuten gelang es ihm, eins der sechseckigen Stückchen aus der Bleiverglasung des Fensters zu lösen, das sich unmittelbar neben dem Schott zur Heckgalerie befand. Alles Weitere war kinderleicht. Er löste lautlos den Außenriegel, öffnete es und schlüpfte ins Freie. Sekunden später war auch das Schott zur Heckgalerie offen. Mit einer einladenden Geste winkte der Kurier die beiden Hochwohlgeborenen heran. Argwöhnisch näherten sie sich dem Schein der Flecklaterne. „Und jetzt?“ flüsterte Marquess Henry. „Sollen wir etwa runterspringen?“ Der Kurier schüttelte den Kopf. Er deutete nach Steuerbord, wo sich die Heckankertrosse in Reichweite befand. Weiter außenbords verschmolz die Trosse mit der Dunkelheit. Wo sie in der Wasseroberfläche endete, war nicht zu erkennen. Noch einmal horchte der Kurier angestrengt. Aber es waren weder Schritte noch Stimmen zu hören. Nun, die Deckswachen hatten keinen Anlaß, nach achtern zu spähen. Sie mußten sich auf den Bewacher der Gefangenen verlassen. Doch jeden Augenblick konnten sie stutzig werden, da der abgelöste Posten nicht zurückkehrte. Sir Andrew schwang sich als erster über die Balustrade, packte die Trosse und hangelte abwärts. Nach Sekunden war er in der Dunkelheit verschwunden. Marquess Henry folgte ihm, zitternd zwar, doch er schaffte es, nicht den Halt zu verlieren, als er an der Trosse hing. Der Kurier horchte abermals, bevor er das Entermesser unter seinen Gurt schob und dann ebenfalls über die Balustrade stieg.
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Mit vorsichtigen Schwimmzügen entfernten sich die drei Männer vom „Roten Drachen“. Hinter ihnen ragte das Schiff der Roten Korsarin dunkel und unheilvoll auf, und sie waren fast verrückt vor Triumph, daß sie diesem Unheil entrinnen konnten. Triefend naß krochen sie ans steinige Ufer der Landzunge, die sich südlich der Ramsgate-Werft befand. Voller Genugtuung sahen sie, daß sowohl auf dem Viermaster als auch auf den übrigen Schiffen alles ruhig blieb. In der näheren Umgebung an Land gab es keine Lichter. Der Stadtrand von Plymouth war weit genug entfernt, um den drei Männern eine unauffällige Flucht in der Dunkelheit zu ermöglichen. Schon nach einer halben Meile landeinwärts hörten sie fernes Gebrüll. Sie kicherten triumphierend, hasteten weiter und waren sicher, daß sie von den Männern der Roten Korsarin nicht mehr erwischt werden konnten. 5. „Langsam fallen mir die Augen zu“, sagte Stenmark und unterdrückte ein Gähnen, „eine Mütze voll Schlaf wäre jetzt genau das richtige.“ Dan O'Flynn schüttelte energisch den Kopf. „Kein Gedanke. Wir werden Jerry Reeves finden, und wenn es die ganze Nacht dauert. Und dann geht es sofort zurück nach Plymouth.“ „Ich weiß, ich weiß“, sagte der blonde Schwede brummend. „Wenn ich mein bisheriges Leben als Reiter zugebracht hätte und nicht als Seemann, dann könnte ich vielleicht im Sattel schlafen.“ „Riskiere das lieber nicht“, entgegnete Dan grinsend, „du mußt doch schon in wachem Zustand aufpassen, daß du nicht runterfällst.“ „Ebendrum.“ Stenmark nickte. „Ich habe nie behauptet, daß ich was von dieser verrückten Fortbewegungsart auf einem Pferderücken halte.“
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Seit mehr als zwei Stunden waren die beiden Männer in den Gassen rings um den Hafen von Bristol unterwegs, nachdem sie ihre Reitpferde in einem Mietstall am Stadtrand zurückgelassen hatten. Mittlerweile hatten sie es aufgegeben, die Schenken zu zählen, die sie abgeklappert hatten - ohne den geringsten Erfolg bislang. Sollten Jerry Reeves und seine Gefährten eine plötzliche Abneigung gegen einen gemütlichen Umtrunk entwickelt haben? „Da waren wir noch nicht“, sagte Stenmark und deutete auf eine Laterne, die wenige Yards entfernt an einer Gebäudeecke pendelte. „Whistling Rufus“, entzifferte Dan O'Flynn das Schild, das vom Laternenlicht erhellt wurde. „Wenn der Inhaber Rufus heißt, ist er ein Schotte.“ „Du meinst, er geizt beim Biereinschenken?“ „Man muß ihm eben auf die Finger sehen.“ Sie betraten die Schenke, in der noch mehr als ein Dutzend späte Gäste aushielten. Rauhe Gesänge und wildes Gegröle erfüllten den Raum, Lachen von umgekipptem Bier standen auf dem Lehmfußboden. Der Wirt war ein breitschultriger Kerl mit mächtigem Bauch, im blakenden Lampenlicht schimmerte seine Halbglatze, und in seinem rötlichen Vollbart hingen Schaumreste vom Gerstensaft. „Willkommen beim alten Rufus!“ brüllte er den beiden Männern entgegen. „Wer so spät aufkreuzt, muß einen guten Grund haben.“ „Stimmt“, sagte Dan und nickte, als der Rotbart zwei leere Bierkrüge fragend hochhob. „Hab ich mir's doch gedacht“, sagte der Schankwirt dröhnend und mit unverkennbarem schottischem Akzent, „in meinem Beruf kriegt man verdammt viel Menschenkenntnis. Also, ich seh's einem an der Nasenspitze an, ob er nur 'ne durstige Seele ist oder ob ihm irgendwas unter den Fingernägeln brennt.“ Er schob den beiden Männern die gefüllten
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Bierkrüge hin. Ganz im Gegensatz zu Dans Vermutung schwappte das Bier fast über. „Wir suchen einen alten Freund“, sagte Stenmark unumwunden. Minutenlang blickte ihm der Schotte forschend in die Augen. Dann nickte er. „In Ordnung. Ich sehe, du sprichst wirklich von einem Freund und nicht vom Gegenteil, Wißt ihr, ich gebe mich nämlich nicht dafür her, daß jemand durch meine Vermittlung eins über den Schädel kriegt oder so was.“ Dan und Stenmark wechselten einen Blick, prosteten sich zu und grinsten. Der Mann hatte das Herz auf dem rechten Fleck. „Es handelt sich um einen gewissen Jerry Reeves“, sagte Dan. „Wir haben uns vor einem halben Jahr in Plymouth aus den Augen verloren. Er wollte damals mit seinen Leuten nach Bristol und sich nach einem neuen Schiff umsehen. Allmählich befürchten wir, daß ihm das tatsächlich geglückt ist. Wir haben nämlich schon überall herumgefragt.“ Der Schankwirt verschränkte die Arme vor der Brust, schüttelte den Kopf und lachte. „Ihr Burschen seid doch zu bedauern. Wärt ihr gleich beim alten Rufus eingekehrt, hättet ihr euch die Latscherei ersparen können.“ „Soll das heißen ...?“ stieß Dan ' hervor. „Sachte, sachte“, unterbrach ihn der Schotte, „bevor wir weiterreden, muß ich erst mal wissen, ob es wirklich so dringend ist. Jerry und seine Männer schuften nämlich tagsüber drüben auf der Mulhollen-Werft. Und abends fallen sie dann hundemüde auf ihre Strohsäcke.“ „Wo?“ fragte Stenmark verblüfft. „Na, hier bei mir. Ich hab ein paar schmucke Fremdenzimmer, gar nicht teuer.“ Dan und Stenmark sahen sich ungläubig an. Sie konnten es kaum fassen, daß ihre stundenlange Suche so plötzlich Erfolg haben sollte. „Wir müssen Jerry sofort sprechen“, sagte Dan hastig, „nach Möglichkeit auch die anderen, die bei ihm sind.“ „Und warum diese Eile?“
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„Wir haben ein Schiff für ihn. Er soll es als Kapitän übernehmen. Ein Neubau, in Plymouth auf der Werft des alten Ramsgate gebaut. Sagen Sie Jerry, O'Flynn und Stenmark seien hier.“ Der Schotte zog die Brauen hoch. „Ramsgate? Neubau? Ihr gehört doch nicht etwa zur Crew von Philip Hasard Killigrew, dem Seewolf? Jerry Reeves und die anderen haben wahre Wunderdinge über ihn berichtet. Nach allem, was man sonst so hört, muß dieser Killigrew einer sein, der dem Teufel einen Tritt in den Hintern verpaßt, wenn's sein soll.“ Dan und Stenmark lächelten nur. Rufus sah sie noch einen Moment staunend an, dann drehte er sich um und verschwand durch eine Hintertür neben der Theke. Die beiden Männer hatten ihre Bierkrüge noch nicht zur Hälfte geleert, als sie aus dem hinteren Teil des Hauses Schritte hörten, die eine Treppe hinunterpolterten. Im nächsten Moment stürmten sie in den Schankraum, eilig angekleidet zwar, doch die Wiedersehensfreude hatte den Schlaf aus ihren Gesichtern vertrieben. Strahlend lief Jerry Reeves als erster auf die beiden Arwenacks zu, hieb ihnen auf die Schultern und schüttelte ihnen die Hände. Die freudige Begrüßung wollte kein Ende nehmen. George Baxter, der bullige, fast kahlköpfige Profos, schob Reeves kurzerhand beiseite und zerquetschte den Männern von der „Isabella“ fast die Hände. Als nächster folgte Stoker, der an Bord der „Fidelity“ Decksältester gewesen war. Bei ihrem ersten Zusammentreffen hatte Big Old Shane von Stoker behauptet, er habe mehr Ähnlichkeit mit dem Schimpansen Arwenack als mit einem Menschen. In der Tat war Stoker von gedrungener Gestalt, hatte lange Arme, große Hände und eine flache, gefurchte Stirn. Doch das Äußere täuschte, denn er war bei weitem nicht so dumm, wie er aussah. Mulligan, der Schiffszimmermann, war ein großer und ungeschlacht wirkender Mann mit kurzem, strohblondem Haar. Ray Hoback, der beleibte Rudergänger, hatte
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ein rosiges Gesicht und sah scheinbar friedlich aus. Doch die, die ihn kannten, wußten, daß er mächtig in Fahrt geraten konnte, wenn man ihn angriff. Und schließlich waren da noch die drei Männer, die sich Jerry Reeves in den Wirren der Geschehnisse in der Bretagne angeschlossen hatten: Gustave Le Testu, der Hugenotte, hatte ein längliches Gesicht mit einem schmalen Oberlippenbärtchen. Seine Bande von Wegelagerern, mit der er Heinrich von Bourbon zu schaden versucht hatte, wo er nur konnte, war durch französische Soldaten aufgerieben worden. Außer Le Testu war nur Montbars, der Korse, übriggeblieben. Er war hochgewachsen, hatte jettschwarze Augen, graues Haar und ein markantes Gesicht mit energischem Kinn. Letzter in der Begrüßungsreihe war Albert, der in der Bretagne als der „Bucklige von Quimper“ von sich 'reden gemacht hatte. Doch den falschen Buckel schnallte er sich schon lange nicht mehr auf den Rücken. Lediglich seinen heißgeliebten schwarzen Umhang trug er auch jetzt wieder. Albert war ein hagerer, häßlicher Mann mit wirrem, schwarzem Haar. Sie setzten sich an einen der noch freien Tische. Schankwirt Rufus brachte gefüllte Bierhumpen, und dann hörten sie alle voller Spannung zu, was die beiden Männer von der „Isabella“ zu berichten hatten. Dan und Stenmark schilderten abwechselnd in knappen Zügen, was sich seit dem Dezember des vergangenen Jahres ereignet hatte. Und sehr schnell stießen sie dann zum Kern der Sache vor. „Ein nagelneues Schiff?“ sagte Jerry Reeves ungläubig. Er war ein schlanker. dunkelhaariger Mann mit nie versagender Energie. So hatten ihn die Seewölfe kennengelernt, und daran hatte sich allem Anschein nach nichts geändert. „Ausgerechnet für uns?“ rief George Baxter entgeistert. „Womit haben wir so ein Glück verdient?“ „Hasard hatte diesen Gedanken“, sagte Dan, „und wir alle waren sofort begeistert. Bedingung ist natürlich, daß ihr uns in die Karibik begleitet. Die ,Tortuga` ist
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übrigens ein Dreimaster, von Jean Ribault in Auftrag gegeben und ähnlich gebaut wie die ,Isabella`.“ „Ich kann es noch nicht fassen“, sagte Jerry Reeves leise. Einen Moment senkte er den Blick. Dann hob er den Kopf und sah Dan und Stenmark beinahe entschuldigend an. „Jetzt wundert euch bitte nicht, wenn ich sofort zusage. Das hört sich so an, als ob wir einen leichtfertigen Entschluß faßten, ohne lange zu überlegen. Aber bei diesem Angebot brauchen wir wirklich nicht lange zu überlegen.“ Er blickte in die Runde. „Stimmt's?“ Die Männer nickten, eifrig zustimmend. „Daß ihr nicht leichtfertig seid, wissen wir“, entgegnete Stenmark. „Wie ist es euch ergangen?“ fragte Dan. „Sieht so aus, als hätte das etwas mit eurem schnellen Entschluß zu tun.“ „So ist es.“ Jerry Reeves preßte die Lippen zusammen. Dann fuhr er fort: „Wir sind damals im Dezember von Plymouth direkt nach Bristol gegangen. Kurze Zeit später konnten wir einen brauchbaren Zweimaster auftreiben. Wir haben unser Geld zusammengekratzt und das Schiff auch bezahlt. Aber das dicke Ende war in Sicht, bevor wir überhaupt den Anker lichten konnten, geschweige denn die ersten Fracht an Bord nehmen.“ In der Erinnerung an das Geschehen murmelten die Männer leise Flüche. „Es gab nämlich auf einmal jede Menge Komplikationen“, berichtete Jerry Reeves weiter. „Der Handelsmann, der uns den Zweimaster verkauft hatte, verschwand bei Nacht und Nebel. Schon zwei Tage später wurde er jedoch aufgegriffen und festgenommen. Dann wurde ein Verfahren gegen ihn eingeleitet, und zwar wegen betrügerischen Bankrotts. Es stellte sich heraus, daß unser Zweimaster noch gar nicht sein Eigentum gewesen war, als wir ihn kauften.“ „Und ihr habt euer Geld nicht zurückgekriegt?“ fragte Stenmark kopfschüttelnd. „Bis jetzt nicht. Das Schiff wurde jedenfalls beschlagnahmt, zur
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Befriedigung der Gläubiger. Natürlich haben wir sofort unsere Ansprüche angemeldet, aber unser Geld hatte der Bankrotteur längst für die Begleichung seiner schlimmsten Schulden ausgegeben. Das Verfahren läuft noch immer. Aber wir haben längst die Hoffnung aufgegeben, unser Geld jemals wiederzusehen.“ „Also schreiben wir es in den Wind“, sagte Stoker grollend. „Und verschwinden aus England“, fügte Mulligan hinzu. „In der Karibik kann es uns nur besser gehen.“ „Eines nicht zu vergessen“, sagte Jerry Reeves lächelnd, „mit solchen Prachtkerlen wie Philip Hasard Killigrew und seinen Männern läßt es sich bestimmt ausgezeichnet leben.“ Die anderen trommelten auf die Tischplatte und drückten damit ihre begeisterte Zustimmung aus. „Die Sache hat noch einen Haken“, sagte Dan O'Flynn, nachdem sie ruhiger geworden waren, „wir brauchen euch so schnell wie möglich in Plymouth.“ „Wie schnell?“ fragte Jerry Reeves. „Am besten wäre, wenn ihr noch heute nacht mit uns auf brechen würdet.“ Jerry biß sich auf die Unterlippe, und auch die anderen zogen betroffene Gesichter. „Ich fürchte, das wird nicht gehen“, sagte Jerry bedauernd. „Bevor wir Bristol verlassen, müssen wir uns bei der Kämmerei abmelden - wegen der Betrugsgeschichte. Wenn wir nämlich heimlich verschwinden, könnte es sein, daß man uns ebenfalls wegen Betrügerei verfolgt. Die städtischen Beamten könnten auf den Dreh verfallen, daß wir unsere Forderungen zu Unrecht angemeldet haben.“ „Stimmt“, sagte Dan. „Bei so einer Betrugsgeschichte ist alles möglich.“ „Außerdem sind wir es auch dem Werftbesitzer schuldig, daß wir uns ordnungsgemäß abmelden“, fuhr Jerry Reeves fort. „Er hat uns Arbeit gegeben, als wir keinen Penny mehr in der Tasche hatten und auf die schnelle keine Heuer auf einem Schiff erwischen konnten. Außerdem konnten wir wegen dieses
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laufenden Verfahrens sowieso schlecht die Stadt verlassen.“ „Was wäre also euer Gegenvorschlag?“ fragte Stenmark. Jerry Reeves überlegte nicht lange. „Es gibt eine gute Möglichkeit, die gar nicht mal Zeitverlust bedeuten würde. Ich kenne einen Kapitän, der morgen nachmittag mit seiner Galeone ausläuft und nach Falmouth segelt. Da könnten wir doch leicht einen Treffpunkt vereinbaren vorausgesetzt, ihr könnt den Neubau so weit mit kleiner Besatzung segeln.“ „Das ließe sich einrichten“, sagte Dan und dachte einen Augenblick nach. „Wie wäre es mit der Mount's Bay bei Penzance? Das Datum müßte dann der 8. Juni sein, wenn ich richtig rechne.“ „Haargenau“, sagte Jerry Reeves erfreut. „Ihr könnt euch drauf verlassen, daß wir pünktlich zur Stelle sind. Richtet Hasard unsere herzlichen Grüße aus. Und unseren Dank! Wir werden ihm das nie vergessen.“ * Hasard hatte Siri-Tong selten so niedergeschlagen erlebt wie an diesem Vormittag des 5. Juni. Vom Achterdeck der „Isabella“ aus beobachteten sie, wie die letzten Männer an Bord des „Roten Drachen“ zurückkehrten. Die Suchaktion war beendet worden. Ohne Ergebnis. „Ich werde mir das nie verzeihen“, murmelte die Rote Korsarin, „das hätte nie passieren dürfen.“ Der Seewolf legte ihr den Arm um die Schultern. „Die Kerle waren eben gerissener, als wir dachten. Ich vermute aber, daß die Flucht auf das Konto dieses Kuriers geht. Sir Andrew und Marquess Henry wären allein niemals in der Lage gewesen, so etwas zustande zu bringen.“ Siri-Tong sah ihn aus ihren dunklen Augen an und preßte die Lippen zusammen. „Welche Gründe es auch immer waren, die beiden Posten hätten sich einen solchen Schnitzer nicht leisten dürfen.“ „Sie haben nicht damit gerechnet, daß sich die Gefangenen von den Fesseln befreien
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würden. Damit haben sie zumindest die beiden Hochwohlgeborenen genauso eingeschätzt, wie ich es auch getan hätte.“ „Willst du die Männer etwa noch in Schutz nehmen?“ Siri-Tongs Augen blitzten auf. Hasard schüttelte den Kopf. „Nein. Nur solltest du sie auch nicht zu hart bestrafen.“ „Ihren Rüffel haben sie schon weg. Ich werde mir noch überlegen, was ich weiter mit ihnen anfange.“ „Es gibt noch einen anderen Punkt bei der Geschichte, den wir nicht vergessen dürfen.“ „Und der wäre?“ „Wir hätten Sir Andrew und Marquess Henry sowieso früher oder später an Land setzen müssen.“ Die Rote Korsarin lachte leise. „Das ist ja wohl eine Entschuldigung, die an den Haaren herbeigezogen ist.“ „Nicht unbedingt“, widersprach Hasard. „Wir hätten nicht verantworten können, die ehrenwerten Gentlemen zu lange gefangen zu halten. Jetzt sind sie natürlich zu einem Zeitpunkt frei, der uns überhaupt nicht in den Kram paßt.“ „Damit sind wir wieder beim Ausgangspunkt“, sagte Siri-Tong auftrumpfend. „Wir können das drehen und wenden, wie wir wollen, es ist und bleibt ein unverzeihlicher Fehler. Und du brauchst weder wegen mir noch wegen der Männer nach einer Entschuldigung zu suchen.“ „Also gut.“ Hasard zog die Schultern hoch und atmete tief durch. „Befassen wir uns mit den Konsequenzen. Es bedeutet, daß wir einen noch dringenderen Grund haben, so schnell wie möglich auszulaufen. Der alte Ramsgate wird entzückt sein, wenn wir ihn noch mehr unter Druck setzen.“ Siri-Tong blickte nachdenklich zum Ausrüstungskai. Auf der „Le Vengeur III.“ und der „Tortuga“ waren nur noch wenige Arbeiter beschäftigt. Ein gutes Zeichen dafür, daß auch die letzten Kleinigkeiten bald erledigt waren. Hesekiel Ramsgate hatte die meisten Kräfte von den Neubauten abgezogen und setzte sie jetzt auf dem Werftgelände ein, wo eine rege
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Betriebsamkeit beim Verstauen der Ausrüstungsgegenstände, Werkzeuge und Vorräte begonnen hatte. Ramsgate stand am Kai und war in ein Gespräch mit Jean Ribault und einer Gruppe von Werftarbeitern vertieft. „Reden wir mit ihm“, schlug Siri-Tong vor, „ich denke, er müßte uns genau sagen können, wie viel Zeit er noch braucht.“ Hasard war einverstanden. Er ließ die kleine Jolle abfieren und mit vier Mann besetzen. Zehn Minuten später gingen sie vor der großen Helling der Werft an Land. Ramsgate und Ribault hatten unterdessen ihre Besprechung mit den Arbeitern beendet, bemerkten Hasard und die Rote Korsarin und eilten ihnen entgegen. „Gibt es Neuigkeiten?“ rief Jean atemlos. „Konntet ihr die adligen Hundesöhne schnappen?“ Natürlich hatte sich die Nachricht von der Flucht der Gefangenen in Windeseile auf den vor Anker liegenden Schiffen herumgesprochen. Siri-Tong schüttelte schweigend den Kopf. „Wahrscheinlich haben sie sich noch in der Nacht Reitpferde oder eine Kutsche beschafft“, sagte Hasard. „Wenn es so war, konnten sie natürlich einen guten Vorsprung herausholen.“ „Meine Suchtrupps haben alle Mietställe, alle Herbergen und alle Schenken abgeklappert“, fügte Siri-Tong hinzu. „Angeblich hat kein Mensch die drei Kerle gesehen.“ „Kann ich mir vorstellen.“ Jean Ribault nickte grimmig. „Niemand wagte, gegen die ehrenwerten Messieurs den Mund aufzutun. In so einem Fall handelt doch jeder nach dem Grundsatz: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Und ich sage euch, das ist überall das gleiche. Die Engländer sind in dieser Beziehung noch gar nicht mal so schlimm.“ „Vielen Dank für den Trost“, entgegnete Hasard verbissen. Hesekiel Ramsgate räusperte sich. „Wenn ich das alles höre, dann sehe ich euch an der Nasenspitze an, was ihr von mir wollt.“ „Fein“, sagte Siri-Tong, „das erspart uns überflüssige Worte.“
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„Also?“ Hasard sah den weißbärtigen Schiffbaumeister fragend an. „Wann können wir frühestens ankerauf gehen?“ Ramsgate überlegte nicht lange. „Morgen vormittag. Die Arbeiten sind schneller vorangegangen, als ich erwartet hatte. Ich muß dazu sagen, daß sich die Männer mächtig ins Zeug gelegt haben. Irgendwie scheinen sie alle zu spüren, daß sich hier in England nur Schlechtes zusammenbraut.“ „Womit sie nicht unrecht haben“, entgegnete der Seewolf. „Also sind wir uns einig: Sobald ihr morgen früh den letzten Handschlag erledigt habt, setzen wir Segel.“ „Wir werden uns beeilen“, versicherte Ramsgate. Jean Ribault hob mahnend die Hand. „In all der Eile sollten wir eins nicht vergessen, Freunde: Zumindest für mich wird es ein aufregender Moment sein. Eine Jungfernfahrt erlebt man schließlich nicht jeden Tag.“ „Wir werden es gebührend würdigen“, versicherte Siri-Tong lächelnd. „Vielleicht veranstaltet Thorfin ein kleines Feuerwerk.“ „Um Himmels willen, nicht schon wieder!“ rief Hasard in gespieltem Erschrecken. „Sein letztes Feuerwerk steckt mir noch in den Knochen.“ „Bewahre!“ sagte Jean entsetzt. „Er wird doch die neue ,Le Vengeur` nicht so behandeln wie die ,Crown`!“ „Bei zuviel Freudenfeuer könnte ihm schon mal ein Fehlgriff passieren.“ SiriTong lachte mit glockenklarer Stimme. „Verzichten wir also lieber auf das Feuerwerk.“ „Wie steht es übrigens mit der Anzahl deiner Männer, Hesekiel?“ fragte Hasard, wieder ernst geworden. „Die letzten fünf haben heute morgen auch zugesagt. Das bedeutet dann: zehn Mann für die ,Le Vengeur` und zehn Mann für die ,Tortuga`. Richtig?“ „Ausgezeichnet“, erwiderte der Seewolf. „Jetzt fehlt uns nur noch Nachricht über Jerry Reeves.“
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Als hätte er ein Signal gegeben, wurde unvermittelt Hufschlag laut, der sich rasch näherte. Wenig später trieben Dan O'Flynn und Stenmark ihre erschöpften Pferde auf die Helling zu und schwangen sich aus den Sätteln. Hasard und die anderen gingen auf sie zu. Die beiden Männer sahen übernächtigt aus und waren mindestens genauso ausgepumpt wie die Pferde. „Mann, o Mann!“ sagte Stenmark stöhnend. „Lieber eine Woche bei Windstärke zehn auf einem morschen Eimer im Atlantik als diese Schinderei.“ „Sten übertreibt maßlos“, sagte Dan grinsend, „in Wirklichkeit ist er ein verdammt guter Reiter.“ Der blonde Schwede antwortete mit einem freundschaftlichen Boxhieb. Auf eine auffordernde Kopfbewegung des Seewolfs begannen die beiden Männer, abwechselnd zu berichten. „Gut, daß ihr sie überhaupt aufgetrieben habt“, sagte Hasard, nachdem sie geendet hatten. „Bis zur Mount's Bay finden wir eine Behelfslösung.“ „Oliver O'Brien könnte die ,Tortuga` bis zum Treffpunkt übernehmen und dann auf die ‚Wappen' überwechseln, sobald Reeves und seine Männer an Bord sind“, schlug Jean Ribault vor. „Genau das“, stimmte Hasard zu. „Hauptsache, wir haben erst einmal Plymouth hinter uns. Dann kann nicht mehr viel passieren.“ Er konnte nicht wissen, wie sehr er sich in dieser Beziehung täuschen sollte. 6. In ihrer Federung schaukelnd, hielt die zweispännige Kutsche jäh an. Die Hufe der Pferde schlugen unruhig tänzelnd auf die Pflastersteine. Aufgeregte Stimmen wurden laut, wegen des geschlossenen Aufbaues der Kutsche nur undeutlich zu hören. „Was, zum Teufel, ist jetzt schon wieder los?“ Sir Andrew verzog in aufwallendem Ärger das Gesicht und hieb mit der linken Faust in die rechte Handfläche.
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„Regen Sie sich nicht auf, mein Lieber“, sagte Marquess Henry mit einem Gähnen, „wir sind doch unserem Ziel so nahe. Was kann uns jetzt noch interessieren?“ „Papperlapapp!“ zischte Sir Andrew. „Jede Minute ist kostbar. Wenn es nach Ihnen ginge, würden wir die wichtigsten Entscheidungen verschlafen.“ Wütend stieß er die Seitentür auf und schwang sich nach draußen. Marquess Henry wechselte einen vielsagenden Blick mit dem Kurier. Beide Männer verzichteten darauf, einen weiteren Kommentar abzugeben. Seit sie Bristol erreicht hatten, wurde Sir Andrew von einer wachsenen Nervosität gepackt, was Henry beim besten Willen nicht verstehen konnte. Man brauchte nur die erforderlichen Anweisungen zu geben, und die Dinge würden ihren Lauf nehmen. So oder so. Warum sollte man sich ereifern? Dem Bastard Killigrew ging es auf jeden Fall an den Kragen. Das war für Marquess Henry so sicher wie das Amen in der Kirche. Sir Andrew stelzte unterdessen am Kutschbock vorbei, baute sich breitbeinig auf und sah sich die Bescherung mit zornrotem Gesicht an. Ein einachsiger Handkarren stand schräg in der engen Hafengasse. Die gesamte Ladung, bestehend aus flachen Kisten mit Fisch, war hinuntergekippt. Makrelen, Heringe und ähnliches schuppiges Zeug lagen verstreut auf dem Pflaster. Ein ärmlich gekleideter Mann war in fliegender Hast damit beschäftigt, die Fische zusammenzuraffen und in die Kisten zu werfen. Seine Frau, füllig und ebenfalls zerlumpt gekleidet, hielt unterdessen den Karren waagerecht, damit der Mann die Ladung neu verstauen konnte. In den Fenstern und Hauseingängen waren nur ein paar alte Leute zu sehen, die das Geschehen neugierig beobachteten. Die jüngeren Männer und Frauen aus diesem Viertel gingen bereits ihrem harten Tagewerk nach. „Was geht hier vor?“ brüllte Sir Andrew, um auf seine Autorität hinzuweisen, wobei er erregt auf den Zehenspitzen wippte.
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Der Fischhändler zuckte zusammen und richtete sich auf, eine halbgefüllte Fischkiste in den Händen. Sein Gesicht war schmal und zerfurcht und von ungesunder grauer Farbe. „Ich bitte um Vergebung, Sir. Ein kleines Mißgeschick. Aber es wird sofort behoben sein. Nur noch ...“ „Sofort?“ brüllte Sir Andrew. „Willst du mich zum Narren halten, du Hund? Das kann eine halbe Stunde dauern. So viel Zeit habe ich nicht. Gib auf der Stelle den Weg frei, oder es passiert etwas, du Mistkerl!“ Der Fischhändler erschrak und sperrte die Augen weit auf. „Aber ich kann doch nicht ... Sir, ich bitte Sie“, stammelte er. Seine Frau schlug angstvoll eine Hand vor den Mund, ihre andere Hand, mit der sie den Karren hielt, begann zu zittern. „Den Weg frei!“ schrie Sir Andrew mit schrillerer Stimme. „Ich sage das nicht noch einmal!“ Der Fischhändler bückte sich und fuhr panisch gehetzt fort, den frischen Fang der letzten Nacht in die Kisten zu werfen. „Der Hund will nicht hören!“ Sir Andrew keuchte. „Es ist immer das gleiche mit diesem Pöbel!“ Abrupt wirbelte er herum, war mit zwei Schritten beim Kutschbock und riß die Peitsche aus der Halterung. „Sir!“ rief der Kutscher empört. „Sie werden doch nicht ...“ „Halt das Maul!“ fauchte Sir Andrew. „Ich bezahle dich nicht dafür, deine Meinung zu hören!“ Der Mann auf dem Kutschbock biß die Zähne zusammen. Einen Moment sah es aus, als würde er hinunterspringen und dem Hochwohlgeborenen die Peitsche entreißen. Aber er bezwang sich und sah ein, daß er in jedem Fall den kürzeren ziehen würde. Die Frau des Fischhändlers stieß einen Entsetzensschrei aus, als der adlige Gentleman peitschenschwingend auf ihren Mann losstürmte. Zu hastig war der Händler mit der Bergung seiner kostbaren Fracht beschäftigt, als daß er die Gefahr sofort, bemerkte.
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So traf ihn der erste Hieb der dünnen Lederschnur quer über den Nakken und über die Wange. Der Mann schrie auf, verlor die fast gefüllte Fischkiste aus den Händen, und ein schuppiger Regen ergoß sich auf das Pflaster, wo die größere Menge der Fische noch verstreut lag. „Ich habe dich gewarnt, du Misthund!“ kreischte Sir Andrew mit sich überschlagender Stimme. Abermals hob er die Kutscherpeitsche. _Verschwinde! Aus dem Weg! Oder du wirst diesen Tag dein Leben lang nicht vergessen!“ Der Fischhändler war starr vor Entsetzen und hielt sich das schmerzende Gesicht. Die Angstschreie seiner Frau gellten in seinen Ohren. Und wieder schlug Sir Andrew zu. Er traf den Mann nicht weniger empfindlich als beim erstenmal. Der Händler stieß einen Schmerzenslaut aus, barg sein Gesicht in beiden Händen und begann zu wanken. Sir Andrew ging mit zwei schnellen Schritten auf ihn zu, stieß ihm den Peitschenstiel vor die schmale Brust und brachte ihn zu Fall. Immer wieder glitt der Mißhandelte auf den , Fischen aus, als er von Furcht getrieben auf den nächsten Hauseingang zukroch. „Weg da!“ herrschte Sir Andrew die immer noch schreiende Frau an. Mit der Peitsche deutete er auf einen nahen Torweg. „Dort hinüber, oder es ergeht dir nicht besser!“ Zitternd und wie von Furien gehetzt befolgte die Frau die Anordnung. Sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Mehr stolpernd als laufend erreichte sie mit dem Karren den schützenden Torweg. Sir Andrew wandte sich mit zufriedenem Grinsen um und warf dem Kutscher die Peitsche zu. „So geht man mit diesem Pöbel um“, sagte er, „merk dir das für die Zukunft. Wenn du noch einmal Fahrgäste von meinem Rang kutschierst, dann darf es solche Aufenthalte nicht geben.“ Der Mann starrte ihn schweigend vom Kutschbock aus an. Nachdem Sir Andrew wieder eingestiegen war, trieb er die Pferde voran, dabei standen Tränen in seinen
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Augen. Hufe und Eisenräder zerquetschten einen beträchtlichen Teil der Fische. Er vermochte den armen Menschen keinen Trost zu spenden, denen ein Teil ihrer ohnehin kargen Tageseinnahme genommen wurde. Wenige Minuten später hielt die Kutsche am Kai des Hafenbeckens, in dem das um die Karavelle „Crown“ dezimierte Geschwader Sir Andrews mittlerweile vertäut hatte. „Warten Sie hier!“ Sir Andrew wandte sich herrisch dem Kutscher zu, nachdem sie ausgestiegen waren. „Ich schicke Ihnen sofort jemanden, der Sie bezahlen wird.“ Am südlichen Stadtrand von Plymouth hatten sie den Mietstallbesitzer gleich nach ihrer Flucht aus dem Bett getrommelt und sich bei ihm auch trockene Kleidung verschafft. Sir Andrew atmete auf, als er die Pier entlangblickte, die sich weit in das Hafenbecken hinaus erstreckte. Dort lag sein Flaggschiff, die Galeone „Glorious“, außerdem die Galeone „Sunderland“ und die beiden Karavellen „Golden Gull“ und „Thames“. Jetzt konnte und sollte es keine Pannen mehr geben. Die Schlagkraft des Geschwaders war gewährleistet. Außer Reichweite des verdammten Seewolfs hatte man Zeit und Ruhe, sich auf den nächsten Einsatz vorzubereiten. Mit weit ausgreifenden Schritten marschierte Sir Andrew auf die Pier. Marquess Henry und der Kurier hatten Mühe, ihm zu folgen. Als sie über die Stelling der „Glorious“ an Bord gingen, wurden sie von George Snyders, dem Offizier für Sonderaufgaben, empfangen. „Welch eine Freude, Sie an Bord wiederzusehen!“ rief Snyders strahlend. „Ich habe Sie schon dringlichst erwartet, Sir Andrew. Es handelt sich nämlich um eine wichtige Mitteilung, die ich Ihnen ...“ Sir Andrew starrte ihn an. „Daß uns die Flucht aus der Gewalt dieser barbarischen Bestien gelungen ist, interessiert Sie anscheinend nicht, wie?“ Snyders schluckte.
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„O doch, aber ja, natürlich, Sir. Ich erlaube mir, Ihnen meine aufrichtigen Glückwünsche auszusprechen. Wenn ich jetzt vielleicht berichten darf ...“ „Später“, knurrte Sir Andrew. „Veranlassen Sie, daß sich alle Offiziere auf der Stelle in der Messe versammeln. Los, los, beeilen Sie sich!“ Snyders schluckte abermals. „Aye, aye, Sir!“ sagte er gepreßt, drehte sich hastig um und eilte davon. Sir Andrew wandte sich dem Kurier zu. „Sie begeben sich wieder an Ihren Platz. Ach ja, und melden Sie sich beim Zahlmeister. Veranlassen Sie, daß der Kutscher entlohnt wird.“ Sir Andrew wandte sich um, ohne ein weiteres Wort zu verschwenden. Der Kurier starrte Sir Andrew aus schmalen Augen nach, als der gemeinsam mit Marquess Henry zu den Achterdecksräumen stolzierte. Es war für den Mann nicht einfach zu begreifen, daß er keinen Dank erwarten durfte. Als Sir Andrew und Marquess Henry die Messe betraten, waren bereits alle versammelt, wie befohlen -der Erste, der Zweite und der Dritte Offizier sowie Navigationsoffizier Christopher Norton, Adjutant Raymond Keefer und letztlich George Snyders. Sie nahmen an der für die Morgenmahlzeit gedeckten Tafel Platz. Der Erste Offizier erhob sich, räusperte sich und sah die beiden Heimgekehrten freudig lächelnd an. „Sir Andrew, Marquess Henry - ich darf im Namen aller Anwesenden zum Ausdruck bringen, wie außerordentlich erfreut wir sind, Sie wieder an Bord begrüßen zu können. Es ist uns ein Bedürfnis, unseren allerhöchsten Respekt für Ihre erfolgreiche Flucht zu bekunden. Jeder von uns kann ermessen, was diese Bravourleistung bedeutet, haben wir doch alle die Auseinandersetzung mit diesen hm - Subjekten hautnah miterlebt. Willkommen also an Bord der ,Glorious`!“ Die Offiziere klatschten Beifall. Sir Andrew hob gönnerhaft die Hand. „Natürlich war es ein höchst riskantes Unternehmen, und bis zur letzten Sekunde
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mußten wir damit rechnen, von diesen Blutsäufern umgebracht zu werden. Aber es war eine Selbstverständlichkeit für mich, daß ich mich uneigennützig auch um die Sicherheit des Marquess Henry und des anderen Mannes gekümmert habe.“ Marquess Henry sah ihn von der Seite an und grinste, verkniff sich jedoch eine Bemerkung. Wieder klatschten die Offiziere Beifall. „Sir“, sagte der Erste Offizier, „wegen der gebotenen Eile erlaube ich mir noch vor Beginn der Mahlzeit einen wichtigen Hinweis. Es handelt sich um eine Nachricht, die in direktem Zusammenhang mit Killigrew und seinen Halunken steht.“ Sir Andrew beugte sich abrupt vor, voller Spannung. „Lassen Sie hören“, drängte er. „Wir haben einen Informanten an Bord, Sir. Wenn Sie erlauben, lasse ich ihn rufen, damit er Ihnen selbst berichtet. Im wesentlichen geht es um ein Gespräch, daß dieser Mann mitgehört hat.“ „Auf was warten Sie noch!“ rief Sir Andrew ungeduldig. Der Erste Offizier gab dem Adjutanten einen Wink. Dieser eilte hinaus und kehrte Augenblicke später mit einem abgerissen gekleideten Mann zurück, der verlegen vor der Tafel der Offiziere stehenblieb, an sich hinunterblickte und von einem Bein auf das andere trat. „Berichte!“ fuhr ihn der Erste Offizier an. „Alles, was du mir erzählt hast, erzählst du jetzt noch einmal.. Sir Andrew möchte jede Einzelheit wissen.“ Sir Andrew lehnte sich zurück, wechselte einen zufriedenen Blick mit Marquess Henry und sah dann den Zerlumpten mit Interesse an. „Das war so“, begann der Mann zögernd, „also, ich hab da letzte Nacht mit ein paar Kumpels in der Schenke von Rufus gesessen. Es war schon ziemlich spät, mindestens nach Mitternacht, als zwei Fremde auftauchten. Die suchten nach Jerry Reeves und seinen Leuten, und damit hatten sie dann auch Glück, weil Reeves und die anderen bei Rufus wohnen.“
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„Wer ist Reeves?“ unterbrach ihn Sir Andrew unwirsch. „Was hat er mit Killigrew zu tun?“ „Reeves war zuletzt Kapitän der ‚Fidelity’, Sir“, antwortete der Zuträger. „Zusammen mit dem Seewolf ist er drüben in Frankreich gewesen. Mehr weiß ich auch nicht. Jedenfalls haben die beiden Fremden mit Reeves und seinen Leuten Wiedersehen gefeiert. Und dann konnte ich hören, daß sie Reeves einen Posten als Kapitän angeboten haben. Und zwar auf einem Neubau, der noch in Plymouth liegen soll.“ Sir Andrews Kinnlade sackte weg, und auch Marquess Henry starrte den Informanten ungläubig an. „Weiter!“ stieß Sir Andrew atemlos hervor. „Los, los! Laß dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.“ „Jawohl, Sir“, sagte der Informant bereitwillig und mit einer dienernden Verbeugung. „Also, das war so: Nach und nach wurde mir klar, daß diese beiden Fremden von Killigrew, dem Seewolf, geschickt worden waren. Sie redeten dann noch eine Weile hin und her, und es ging darum, daß Reeves und seine Leute so schnell wie möglich nach Plymouth aufbrechen sollten.“ Marquess Henry räusperte sich. „Wie viele Männer hat dieser Reeves?“ „Das sind“, der Zuträger dachte angestrengt nach, „außer Reeves selbst noch sieben, Sir.“ „Gut, gut“, sagte Sir Andrew. „Was war noch? Wie haben sich die Halunken geeinigt?“ „Das habe ich ganz genau gehört, Sir. Reeves und seine Leute wollen heute nachmittag mit einer Galeone in See gehen, die nach Falmouth segelt. Mit Killigrew wollen sie sich dann am 8. Juni in der Mount's Bay bei Penzance treffen. Das ist alles, Sir. Die beiden Fremden sind dann sofort aufgebrochen, um nach Plymouth zurückzureiten.“ Sir Andrew hieb mit der Faust auf den Tisch. „Phantastisch!“ rief er begeistert. „Eine bessere Nachricht können wir uns nicht
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wünschen.“ Er gab dem Ersten Offizier einen Wink. „Zahlen Sie dem Mann eine ordentliche Belohnung. Jeder soll wissen, daß ich mich für gute Dienste immer erkenntlich zeige.“ Der Erste gab den Befehl an den Adjutanten weiter. Der zerlumpt Gekleidete bedankte sich überschwenglich und verbeugte sich mehrmals. Naserümpfend nahm ihn der Adjutant beim Ärmel und führte ihn hinaus. „Gentlemen“, sagte Sir Andrew feierlich, „diese unerwartete Mitteilung eröffnet uns völlig neue Möglichkeiten. Eines ist sicher: Es wird keine bessere Gelegenheit geben, Killigrew und seine Piratenbande endlich zu erwischen.“ „Das bedeutet“, sagte Marquess Henry, „daß wir herausfinden müssen, mit welchem Schiff dieser Reeves Bristol verlassen wird.“ „Eine Kleinigkeit“, entgegnete Sir Andrew mit blitzenden Augen, „so viele Galeonen werden es nicht sein, die heute nachmittag von Bristol auslaufen.“ Er wandte sich den Offizieren zu. „Snyders!“ „Sir?“ „Das ist eine Aufgabe für Sie. Sie haben ohnehin Grund genug, sich zu bewähren. Setzen Sie meinetwegen Kundschafter ein, aber unauffällig, versteht sich. Bis heute mittag will ich wissen, um welche Galeone es sich handelt. Verstanden?“ „Aye, aye, Sir!“ antwortete Snyders steif. „Äh, da wäre noch die Angelegenheit, die ich vorhin andeutete, Sir.“ „Was, zum Teufel?“ Snyders' Gesicht leuchtete. „Ich habe die erfreuliche Mitteilung, Sir, daß es mir gelungen ist, diesen Schankwirt Plymson festzusetzen. Er befindet sich in Plymouth im Gewahrsam von zuverlässigen Helfern und steht damit zwecks Bestrafung zu Ihrer Verfügung, Sir.“ Snyders lehnte sich zurück, voller Selbstsicherheit über die Wirkung seiner Worte. „Quatsch“, sagte Sir Andrew grob, „reine Zeitverschwendung, Snyders. Unterlassen Sie in Zukunft solche nutzlosen Eigenmächtigkeiten. Wir haben uns jetzt
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den wirklich wichtigen Dingen zuzuwenden.“ Alle Freude verschwand aus dem Gesicht des Offiziers für Sonderaufgaben. 7. Der Morgen des 6. Juni 1593 zog mit idealen Wetterbedingungen herauf. Ein handiger Nordost kräuselte die Wasseroberfläche vor Rame Head und trieb Schaumkronen in einem Parallelmuster auf das Meer hinaus. Die Wolkendecke war aufgelockert, gelegentlich lugte die Sonne mit wärmenden frühsommerlichen Strahlen auf die südenglische Küstenlandschaft nieder. Hesekiel Ramsgate hatte dem Seewolf das Zeichen gegeben. Die „Le Vengeur III.“ und, die „Tortuga“ waren klar zum Auslaufen. Auch auf der „Isabella“, der „Wappen von Kolberg“, auf „Roter Drache“ und dem Schwarzen Segler waren alle Vorbereitungen abgeschlossen. Während der letzten beiden Tage waren ausreichende Proviantund Trinkwasservorräte für die Reise in die Karibik an Bord gemannt worden. Die Stunde des Aufbruchs war da. Mit geschmeidiger Schnelligkeit enterten die Männer in den Wanten auf und lösten die aufgetuchten Segel. Knappe Kommandos hallten über die Decks und wurden vom Wind weit auf das Wasser hinausgetragen. Die Crews an den Ankerspills gaben sich ihren Arbeitstakt mit rhythmischem Singsang. Sehr bald füllte der Wind die Segel, blähte sie und gab den Schiffen einen kraftvollen Vortrieb. Die „Isabella“ setzte sich an die Spitze des stattlichen Verbandes und ging, über Backbordbug segelnd, auf Südwestkurs. Ihr folgte die „Wappen von Kolberg“, jene stattliche Galeone, die noch vor wenigen Monaten das Flaggschiff des polnischen Generalkapitäns Woyda gewesen war. Dann die beiden Viermaster „Roter Drache“ und der Schwarze Segler, die an diesem freundlichen
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Sommermorgen etwas von ihrem unheilvollen Ansehen verloren. Dann schließlich nahmen auch die „Le Vengeur III.“ und die „Tortuga“ Fahrt auf. Jean Ribault hatte seinen Platz auf dem Achterdeck seines neuen Dreimasters eingenommen, und gemeinsam mit Hesekiel Ramsgate genoß er das überwältigende Gefühl. Auf den Planken eines Schiffes zu stehen, das bisher noch kein Salzwasser geleckt hatte, war etwas Einmaliges im Leben eines Mannes, der sich der Seefahrt verschrieben hatte. Schweigend erlebten Ribault und Ramsgate die ersten Augenblicke nach dem Ankeraufgehen. Auch die Männer von der Werft und aus Siri-Tongs Crew standen stumm und ergriffen auf der Kuhl und auf der Back. Das Schiff entfaltete sein eigenes Leben und ließ zum ersten Male jene Geräusche vernehmen, die von nun an unverkennbar sein würden. Da war das Knarren und Ächzen des laufenden und stehenden Gutes, und da begann der Wind seine Stimme in Wanten und Pardunen zu erheben. Bald teilte der Bug die Wogen in rauschender Fahrt, und von der weiß gischtenden Bugwelle trieben feine Schwaden zur Back hoch. Das Steuerruder hatte einer der Männer von der Ramsgate-Werft übernommen. „Rudergänger“, sagte Jean Ribault, „etwas abfallen!“ „Aye, aye, Sir, etwas abfallen!“ Der Mann gab etwas nach Backbord. Die „Le Vengeur III.“ reagierte wie ein sensibles Lebewesen und lief voller vor dem Wind. Ribault sah den alten Ramsgate begeistert an. „Genauso, wie ich es mir vorgestellt habe, Hesekiel. Ein schnelles und wendiges Schiff, einfach ein Meisterwerk. Ich könnte mir nichts Besseres wünschen. Der alte Ramsgate lächelte. „Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Warten Sie erst einmal ab, wie sich die ,Vengeur` unter extremen Wetterbedingungen verhält. Dann können Sie sich ein endgültiges Urteil bilden.“
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„Wie das Urteil ausfallen wird, weiß ich schon jetzt, Hesekiel. Und Sie sollten vor allem Ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen.“ Der weißbärtige Schiffbaumeister schüttelte den Kopf. „Ein Mann kann verschiedene Grundsätze haben, Jean. Ich habe es mir nie geleistet, überheblich zu sein. Man sollte von einer Arbeit niemals überzeugt sein, bevor man nicht das endgültige Ergebnis kennt.“ „Das verstehe ich nicht“, entgegnete Ribault. „Soll das heißen, daß Sie unsicher sind? Sie, ein Mann; der den allerbesten Ruf in seinem Metier hat und jahrzehntelang die hervorragendsten Schiffe gebaut hat?“ „Stimmt genau. Nur jemand, der bereit ist, an sich und seinen Fähigkeiten zu zweifeln und aus Fehlern zu lernen, wird Höchstleistungen vollbringen. Lassen Sie sich das von einem alten Mann gesagt sein.“ Jean Ribault sah den Schiffbaumeister minutenlang nachdenklich an. „Ich denke, ich weiß, wovon Sie sprechen“, sagte er dann, „trotzdem bleibe ich dabei, daß Sie in diesem Fall ein Meisterwerk geschaffen haben. Zwei Meisterwerke!“ Er drehte sich um und beobachtete die „Tortuga“, die ihnen mit einer Kabellänge Abstand folgte. Möglich, daß Oliver O'Brien nach einem solchen Schiff keine große Neigung mehr verspürte, die „Wappen von Kolberg“ zu übernehmen. Jean lächelte bei diesem Gedanken. O'Brien würde vermutlich gar nicht auf eine solche Idee verfallen. Er war in erster Linie ein Mann, der seine Pflicht tat, selbst unter schwierigsten Umständen. Das hatte er bewiesen, als er noch unter dem Befehl des sehr ehrenwerten Sir Andrew gefahren war. * Es gab niemanden an Bord der „Isabella“, der an diesem Morgen nicht bei blendender Laune gewesen wäre. Lachend, beinahe übermütig verrichteten die Männer ihre
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Arbeit an den Brassen, und sogar die groben Sprüche Edwin Carberrys klangen durchaus freundlich. Jeder aus der Crew empfand es an diesem Morgen besonders liebevoll, als „Affenarsch“, „Schlickfresser“ oder „Läuseknacker“ tituliert zu werden. Die Wortgewalt des Profos war ihnen allen zur lang vertrauten Begleitmusik geworden. Was sich für fremde „Ohren wie wüste Beschimpfungen anhörte, erschien den Männern in dieser Stunde als besonders lieblicher Klang war es doch der Auftakt zur Gewißheit, dem Ziel in der Karibik schon ein paar Kabellängen näher gerückt zu sein. Ein wenig von diesem Übermut mochte auch Arwenack, den Schimpansen, gepackt haben. Anders wußten sich die Männer später nicht zu erklären, was zu dem denkwürdigen ersten Zwischenfall dieser Reise geführt haben mochte. Niemand beachtete den Schimpansen, der sich in der allgemeinen Wuhling an das offene Kombüsenschott heranpirschte. Niemand außer Plymmie, der Bordhündin. Sie hockte hinter einer Taurolle am Steuerbordschanzkleid und beobachtete regungslos, doch mit scharfen Augen. Scheinbar gelangweilt taperte Arwenack dahin - wie ein Spaziergänger, den nichts Sonderliches an seiner Umgebung interessiert. Dann, nach einem kurzen Rundblick, ließ er sich neben dem offenen Schott vor dem Freßnapf nieder, in dem sich noch zwei oder drei gesottene Speckschwarten befanden. Plymmies Freßnapf. Die Söhne des Seewolfs hatten es wieder einmal zu gut gemeint und ihrem vierbeinigen Schützling eine viel zu große Mahlzeit aufgetischt. Unter normalen Umständen hätte Plymmie nach dem Überangebot an Fressen längst satt und träge in einer Ecke gedöst. Doch während sie sich über den Napf hergemacht hatte, waren ihr die begehrlichen Blicke Arwenacks nicht entgangen. der sie von der Back herab beobachtet hatte. Solchermaßen vorgewarnt, fand Plymmie jetzt ihr Mißtrauen bestätigt. Ihre
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Nackenhaare sträubten sich, als sie sah, wie Arwenack mit spitzen Fingern eine der Schwarten aus dem Napf hob und voller Behagen auf dem zähen Speck zu kauen begann. Ohne Vorwarnung, ohne den leisesten Knurrlaut, schnellte Plymmie hinter ihrer Taurolle hervor und sauste wie ein geölter Blitz auf den Affen zu, der ihr den Rücken zuwandte. Alles Weitere geschah in Sekundenschnelle. Plymmies Gebiß blitzte, als sie zuschnappte und Arwenacks Hinterteil haargenau so erwischte, wie sie sich das vorgestellt hatte. Der Schimpanse fuhr senkrecht in die Höhe, stieß einen markerschütternden Schrei aus, und die Speckschwarte flog in hohem Bogen durch die Luft. Im nächsten Moment raste Arwenack los, wie von der Tarantel gestochen. Mit der Linken hielt er sich die schmerzende Kehrseite. Zeternd und schreiend hetzte er den Niedergang zur Back hinauf, gefolgt von einer zähnefletschenden Plymmie, die wütend knurrte. Im Vorbeigehen schnappte sich Arwenack einen Koffeynagel von der Nagelbank des Fockmastes, entging Plymmies erneut zuschnappendem Fang nur um Haaresbreite und enterte mit einer im wahrsten Sinne des Wortes affenartigen Geschwindigkeit in den Backbordwanten auf. Zwei Sekunden später hatte der Schimpanse den Fockmars erreicht. Zeternd und keckernd bedachte er seine Verfolgerin mit wilden Drohgebärden. Mit heiserem Gebell sprang Plymmie unterdessen an der Verschanzung hoch, mühte sich aber vergeblich ab, die Fockmastwanten zu erreichen. Zu diesem Zeitpunkt waren sämtliche Männer an Deck auf den Lärm aufmerksam geworden. Grinsend beobachteten sie den Schimpansen, der außer sich war vor Wut und Schmerz. Und wäre er ein Mensch gewesen, hätte er sicherlich Ed Carberrys schönstes Vokabular verwendet.
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Plymmies Gebell steigerte sich im gleichen Maße, in dem Arwenacks Zetern zunahm. Mac Pellew, der gemeinsam mit dem Kutscher und den Zwillingen die Kombüse verlassen hatte, verlor die Geduld und enterte zur Back auf. „Wollt ihr wohl aufhören, ihr Mistviecher!“ brüllte er und lief auf Plymmie zu, um sie am Halsband zu packen. Der Zufall wollte, daß sich Arwenack haargenau diesen Moment ausgesucht hatte, um die Wolfshündin mit einem harten Gruß von oben zu beglücken. „Schluß jetzt, oder…“, brüllte Mac Pellew, und dann waren seine Worte wie abgeschnitten. Arwenacks Koffeynagel traf ihn auf den Hinterkopf. Mac Pellew spürte noch den dumpfen Schlag, bevor er in die nicht enden wollende Schwärze versank, die mit funkelnden Sternen ausgefüllt war. Plymmie sah ihn an, als er auf die Planken sank. Dann, als die übrigen Männer Herbeirannten, begann sie, dem Bewußtlosen das Gesicht abzulecken. Doch er tat ihr nicht den Gefallen, sich zu bewegen. „Himmel, Arsch und Schimmelkäse!“ rief Ed Carberry dröhnend. „Dieses verdammte Affenvieh hat auch schon mal besser gezielt, was, wie?“ Die Männer grinsten und starrten zum Fockmars hoch, wo es mucksmäuschenstill geworden war. Nicht einmal ein Fellzipfel war jetzt noch von Arwenack zu sehen. Der Kutscher ging neben seinem ohnmächtigen Kombüsenkollegen in die Knie und untersuchte ihn besorgt. Die Söhne des Seewolfs schnappten sich Plymmie und hielten ihr eine Standpauke. „Böse Plymmie“, sagte Hasard junior energisch, „siehst du, was du angerichtet hast? Das ist alles deine Schuld.“ „Das tust du nie wieder, verstanden?“ fügte Philip junior hinzu. „Wer wird denn einen Affen beißen! Das tut doch kein braver Hund.“ Der Kutscher wandte sich um.
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„Ich glaube, die wahren Schuldigen sind die, die heute morgen Plymmies Freßnapf gefüllt haben.“ Die Zwillinge liefen rot an. „Habe ich euch das nicht schon oft genug gesagt?“ fuhr der Kutscher fort. „Ihr sollt ihr nur so viel zu fressen geben, wie sie schaffen kann. Und wie oft habe ich euch erklärt, daß Hunde nicht zu fett werden dürfen. Als Bordhund würde Plymmie dann ganz gewiß nichts mehr taugen.“ „Aber was hat denn das mit Arwenack zu tun?“ entgegnete Hasard junior, scheinbar begriffsstutzig. „Dies“, sagte Luke Morgan und schob sich in den Vordergrund. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er eine angekaute Speckschwarte. „Richtig“, sagte der Kutscher, „Arwenack hat darauf nur gelauert. Unter normalen Umständen würde er so was nie anrühren. Aber er wußte genau, wie sehr er Plymmie beleidigt, wenn er sich an ihrem Napf vergreift. Und Plymmie wiederum hat nur darauf gewartet, Arwenack zu erwischen.“ „Dieses Viehzeug“, sagte Ed Carberry kopfschüttelnd. „Mir war ja von Anfang an klar, daß wir zuviel davon an Bord haben. Und jetzt fangen diese Biester auch noch an, aufeinander eifersüchtig zu werden. Da frage ich mich doch, warum hat denn das Federvieh nicht mitgemischt? Wo steckt er denn, unser lieber kleiner Sir John?“ Die Nennung des Namens genügte. Ein schrilles Kreischen ertönte von der Großrah. Als die Männer die Köpfe wandten, sahen sie den karmesinroten Papagei, der sich hoch oben von einem Bein auf das andere wiegte und jetzt seine durchdringende Stimme erklingen ließ. Es hagelte eine Salve der übelsten Beschimpfungen, dann folgte ein helles Meckern, das Ähnlichkeit mit einem menschlichen Lachen, aber auch mit der Stimme einer Ziege hatte. Ed Carberry verzog das Gesicht, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. „Deine Schule, Mister Carberry“, sagte Smoky grinsend. „Als Viehzeug-Erzieher bist du wahrhaft kein Vorbild.“
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„Ist ja auch nicht meine Aufgabe“, entgegnete der Profos maulend, „ich war ja sowieso dagegen, als ...“ Lautstarkes Protestgebrüll schnitt ihm das Wort ab, und die Zwillinge mußten sich mit aller Gewalt zwingen, ein freudiges Grinsen zu unterdrücken. „Haben wir in Finnland abgestimmt oder nicht?“ rief Smoky. „Wir haben alle gemeinsam entschieden, daß Plymmie Bordhund wird. Ich denke, das sollten wir nicht vergessen.“ Ed Carberry zog den Kopf zwischen die Schultern, grinste und sagte nichts mehr. Er schien, als wäre es das Gebrüll, was Mac Pellew in die Wirklichkeit zurückrief. Er stöhnte, betastete die schwellende Beule auf seinem Hinterkopf und richtete sich halb auf, vom Kutscher gestützt. „Was, in aller Welt, ist passiert?“ ächzte Mac. „Du hast einen großen Fehler begangen“, sagte Smoky und feixte. „Misch dich nie wieder ein, wenn ein Hund und ein Affe sich streiten.“ 8. George Snyders, Offizier für Sonderaufgaben an Bord der „Glorious“, kehrte am frühen Nachmittag zurück und fühlte sich elend und ausgepumpt. Alle Energie hatte er den Ermittlungen in Sachen Reeves gewidmet, und dabei war ihm das üppige Mittagsmahl in der Offiziersmesse des Flaggschiffs entgangen. Aber ungeachtet seines knurrenden Magens meldete er sich sofort im Achterdeckssalon, beseelt von der Hoffnung, in der Gunst seines Vorgesetzten wieder eine Stufe nach oben zu rücken. Sir Andrew, der sich zu einem Schläfchen niedergelegt hatte, verzog unwillig das Gesicht, als der Adjutant den Offizier für Sonderaufgaben hereinführte. Aber die Wichtigkeit der Angelegenheit war unbestritten. Auf dem Rand der Koje hockend, rieb sich Sir Andrew die Augen, gähnte herzhaft und forderte den Offizier
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mit einer herrischen Geste auf zu berichten. „Ich bin über alle Einzelheiten informiert, Sir“, sagte Snyders stolz. „Wie schön!“ entgegnete Sir Andrew sarkastisch. „Dann lassen Sie mich diese Einzelheiten wissen, statt sich mit einer langen Vorrede aufzuhalten.“ Snyders schluckte trocken hinunter. „Sehr wohl, Sir. Nun, ich habe zunächst herausgefunden, um welches Schiff es sich handelt, mit dem Reeves und seine Halunken Bristol verlassen werden. Es ist die Galeone ,Gravity`, ein Frachtsegler von etwa dreihundert Tonnen. Die ,Gravity` wird heute nachmittag gegen sechzehn Uhr auslaufen. übrigens ist ihr Liegeplatz in Luftlinie nur drei Kabellängen von uns entfernt, auf der anderen Seite des Hafenbeckens. Ich habe bereits festgestellt, daß wir vom Achterdeck der ,Glorious' aus alles beobachten können, was sich an Bord der Galeone abspielt.“ Sir Andrew wurde wacher und musterte sein Gegenüber jetzt mit einem teils erstaunten, teils anerkennenden Blick. „Ausgezeichnet“, sagte er, „und weiter? Was haben Sie über Reeves in Erfahrung gebracht?“ „Alles, was für uns von Bedeutung ist, Sir“, erwiderte Snyders mit neugewonnenem Stolz. „Ich habe von Reeves und seinen Männern genaue Personenbeschreibungen. Wir werden sie also einwandfrei erkennen können, sobald sie sich an Bord der ‚Gravity` begeben. Es stimmt übrigens, was der Informant gesagt hat. Reeves verfügt tatsächlich über sieben Mann. Er selbst ist ein schlanker, ziemlich großer Mann mit dunklem Haar. Als ich ihn heute morgen beobachten ließ, trug er ein graublaues Jackett mit gelber Einfassung am Kragen und an den Manschetten. Wünschen Sie noch mehr Einzelheiten zu hören, Sir?“ Snyders warf sich in die Brust. „Danke, das reicht fürs erste“, entgegnete Sir Andrew und nickte zufrieden. „Gute Arbeit, Snyders, wirklich gute Arbeit.“ „Danke, Sir. Wenn Sie erlauben, möchte ich mich dann zum Essen zurückziehen.”
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„In Ordnung. Schicken Sie vorher einen Boten zur ,Golden Gull`. Die Mannschaft soll sich bereit halten. Sobald die Galeone nachher ausgelaufen ist, wird sich die ‚Golden Gull`. als Fühlungshalter dranhängen. Einzelheiten darüber besprechen wir aber noch.“ „Aye, aye, Sir!“ antwortete George Snyders. Er salutierte und verließ den Salon nach einer eleganten Kehrtwendung. Die Mühe hatte sich gelohnt. Obwohl Sir Andrew ihn in Plymouth zu Unrecht verdächtigt hatte, war es ihm auf diese Weise gelungen, die Dinge wieder ins Lot zu rücken. Snyders führte die Anweisung seines Vorgesetzten aus und beorderte außerdem einen Decksmann als Beobachter auf das Achterdeck. Dann erst zog sich Snyders beruhigt zu seiner wohlverdienten Mahlzeit zurück. Alle erforderlichen Maßnahmen waren getroffen. Selbst wenn an Bord der „Gravity“ vorzeitig etwas geschah, würde man es bemerken. Bereits etwa eine Stunde später begaben sich Sir Andrew und Marquess Henry auf das Achterdeck. Beide waren mit blitzblanken Messingkiekern ausgerüstet und von Spannung gepackt. Snyders, der von seiner Ruhepause zurückkehrte, erblickte die Hochwohlgeborenen und eilte sofort zu ihnen. Den Decksmann hatten sie bereits weggeschickt. „Ich hatte einen Posten aufgestellt, Sir Andrew“, sagte Snyders, „ich hielt es für notwendig, damit wir nicht von unvorhergesehenen Dingen überrascht werden.“ „Eine vortreffliche Entscheidung“, erwiderte der Kommandant des Flaggschiffes wohlwollend, und seiner Miene war deutlich anzusehen, daß Snyders etliche Pluspunkte gesammelt hatte. „Aber wir brauchen den Mann nicht mehr, denn Marquess Henry und ich werden ab sofort selbst beobachten, was sich drüben abspielt.“ „Wobei nur zu hoffen ist“, sagte Marquess Henry, „daß dieser Reeves und seine Burschen von uns nichts gehört haben.
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Wenn diese Kerle auf unsere Schiffe aufmerksam werden, wird es für uns ein Schlag ins Wasser.“ „Auch darum habe ich mich gekümmert“, erklärte George Snyders eifrig. „Ich habe den Informanten noch einmal gründlich verhört. Er war absolut sicher, daß die beiden Halunken aus Killigrews Crew bei dem Gespräch in der Schenke keine Beschreibung von unseren Schiffen abgegeben haben. Außerdem war ihnen zu dem betreffenden Zeitpunkt ja noch gar nicht bekannt, daß Ihnen, Gentlemen, die Flucht vom Schiff dieses Teufelsweibs gelungen ist.“ „Richtig“, sagte Sir Andrew erfreut, „absolut logisch gedacht, Snyders. Mir scheint, ich habe Sie doch falsch eingeschätzt. Wenn Sie sich in Plymouth diesen Schnitzer nicht geleistet hätten, wäre der Mißklang zwischen uns sowieso gar nicht erst entstanden.“ „Mit Verlaub, Sir“, entgegnete der Offizier für Sonderaufgaben behutsam, „es war wirklich nicht so, wie Sie denken. Ich habe den Gefangenen zu keiner Fluchtmöglichkeit verholfen. Es wurde von ihren Helfern so arrangiert, daß hinterher der Verdacht auf mich fiel. Sicherlich steckte auch eine bestimmte Absicht dahinter. Haben Sie einmal überlegt, welche Zusammenhänge bezüglich O'Briens möglich wären? Immerhin hat der Mann uns verlassen. Und wo hat er sich denn aufgehalten, als Ribault und Ramsgate die Flucht von Bord der ,Glorious` gelang?“ Sir Andrew starrte den Offizier entgeistert an. „Donnerwetter, Snyders, Sie könnten recht haben. Natürlich! O'Brien muß sich in seiner Kammer befunden haben, also mit Zugang zur Heckgalerie. Das bedeutet ...“ „... daß er zur Flucht der Gefangenen beigetragen haben könnte“, vollendete Snyders triumphierend den Satz seines Vorgesetzten. Sir Andrew verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse. „Wenn dem so sein sollte, dann werde ich das aufklären, darauf können Sie sich
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verlassen. Diesen O'Brien werden wir uns bei nächster Gelegenheit schnappen. Er kann uns nicht entwischen. Und dann ziehen wir ihm die Wahrheit aus der Nase.“ Marquess Henry räusperte sich vernehmlich. „Wenn ich die Gentlemen um Aufmerksamkeit bitten darf“, sagte er näselnd. Sir Andrew ruckte herum. Marquess Henry hatte bereits sein Spektiv ans Auge gesetzt. Da Snyders über kein Glas verfügte, mußte er abwarten, bis die beiden Hochwohlgeborenen ihre Beobachtungen schilderten. Die Luft war klar, ohne jeglichen Dunst, und so lieferte ihnen die Optik ein scharfes Bild. Der Kapitän der „Gravity“, ein behäbiger grauhaariger Mann, begab sich soeben auf die Kuhl seines Schiffes. Zur Begrüßung, wie sich zeigte. Durch die Pforte im Schanzkleid trat als erster ein schlanker, hochgewachsener Mann in einem graublauen Jackett mit gelber Einfassung am Kragen und an den Manschetten. Diese Einzelheiten sprangen Sir Andrew und Marquess Henry buchstäblich ins Auge. Mit angehaltenem Atem beobachteten sie weiter und stellten schließlich fest, daß es sich um exakt sieben weitere Männer handelte, die sich an Bord der dickbauchigen Galeone begaben. „Kein Zweifel“, stieß Marquess Henry hervor, „das können nur Reeves und seine Kerle sein.“ „Was Sie nicht sagen“, entgegnete Sir Andrew spöttisch, „welch eine messerscharfe Schlußfolgerung!“ „Eine Verwechslung wäre ja immerhin möglich“, sagte der Marquess beleidigt, „man muß immer alle Unwägbarkeiten in Betracht ziehen.“ „Wie wahr, wie wahr!“ Sir Andrew zog die Augenbrauen hoch. „Wenn Sie das immer beherzigt hätten, wären Ihnen mit Killigrew nicht so viele Pannen passiert.“
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„Das Kompliment kann ich unbesehen zurückgeben“, fauchte Henry, „Ihnen ist es schließlich auch nicht gelungen ...“ „Schluß der Debatte“, sagte Sir Andrew herrisch, „jetzt haben wir uns um das Naheliegende zu kümmern und nicht um die Vergangenheit. Snyders!“ „Sir?“ „Sie begeben sich unverzüglich und persönlich an Bord der ‚Golden Gull' und bleiben dort auch während des Einsatzes. Sie sind mir dafür verantwortlich, daß alles reibungslos klappt. Wichtig ist, daß Sie mit der 'Gravity' Fühlung halten, ohne selbst bemerkt zu werden. Wir können uns eicht darauf verlassen, den Treff-Punkt von Killigrew und Reeves selbst zu finden. Die Mount's Bay ist groß. Unsere Aktion wird nur dann erfolgreich sein, wenn wir zuschlagen können, sobald die ,Gravity` auf den Verband dieses Bastards stößt. Haben Sie verstanden?“„Aye, aye, Sir!“ „Gut. Ich verlasse mich auf Sie. Wenn es diesmal keine Panne gibt, soll es Ihr Schaden nicht sein.“ George Snyders verneigte sich. Dann salutierte er, wandte sich um und marschierte los. Er erreichte die „Golden Gull“ gerade noch rechtzeitig. Denn die „Gravity“ legte bereits eine halbe Stunde vor der vorgesehenen Zeit von ihrem Liegeplatz an der Pier ab. * Die Windverhältnisse entwickelten sich äußerst günstig, und so verkürzte sich der vorgesehene Zeitplan für den Verband des Seewolfs um etliche Stunden. In der Nacht zum 8. Juni löste Hasard seinen Ersten Offizier kurz nach Mitternacht auf dem Achterdeck ab. „Keine besonderen Vorkommnisse“, sagte Ben Brighton. „Wenn ich unsere Position richtig berechnet habe, müßte in spätestens einer halben Stunde das Leuchtfeuer von Land's End zu sehen sein. Wir befinden uns jetzt also bereits im nördlichen Bereich der Mount's Bay.“
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„Danke, Ben“, entgegnete der Seewolf und klopfte ihm auf die Schulter. „Leg dich jetzt in die Koje. Du brauchst mindestens eine Mütze voll Schlaf.“ Ben Brighton nickte, lächelte und zog sich zurück. Hasard ging weiter nach achtern. Im Ruderhaus, vor dem hellen Hintergrund der Hecklaterne nur schattenhaft zu erkennen, stand Luke Morgan, der Pete Ballie schon in den Abendstunden abgelöst hatte. Hasard wechselte ein paar Worte mit Luke und begab sich dann an die Heckbalustrade. Es war eine sternenklare und laue Frühsommernacht. Die Umrisse der übrigen Schiffe des Verbandes zeichneten sich deutlich ab, begleitet von den Lichtreflexen, die ihre Hecklaternen auf der Wasseroberfläche hervorriefen. Der Wind blies nach wie vor handig aus Nordost und krönte die Wellen mit weißen Schaumlinien. Auch die hellen Bugwellen der Schiffe waren in der Dunkelheit zu erkennen. Hasard dachte an die Menschen an Bord, an seine Freunde, die sich mit ihm zu einer Gemeinschaft verschworen hatten, beseelt von dem Gedanken, in der Karibik ein besseres Leben zu beginnen, ein Leben in Freiheit und Gleichheit, wie es sich in Europa kaum jemand vorzustellen vermochte. Da waren der alte Ramsgate und seine Männer, denen die Entscheidung sicher nicht leicht gefallen war. Ihre Verbitterung über die Zustände, unter denen sie in England leiden mußten, war verständlich. In vielen langen Gesprächen hatte Hasard seinem alten Freund Hesekiel immer wieder gesagt, daß man einen so tiefgreifenden Entschluß, alles hinter sich zurückzulassen, nicht allein aus Verbitterung fassen dürfe. Aber Ramsgate hatte den Seewolf nur lächelnd angesehen, und Hasard war sich sofort darüber im klaren gewesen, daß es nichts gab, was dieser lebenserfahrene Mann in seinen Überlegungen nicht berücksichtigt hätte. Dementsprechend hatte er auch seine Männer über alle nur denkbaren Konsequenzen aufgeklärt.
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Auch für Arne von Manteuffel, Hasards Vetter, bedeutete die Reise in die Karibik einen tiefgreifenden Einschnitt in seinem Leben. Was Arne zurückließ, konnte man nicht mit dem vergleichen, dem der alte Ramsgate den Rücken kehrte. Arne hatte den schlimmsten Schmerz erfahren, den es für einen Mann nur geben konnte. Als seine Verlobte, die Freiin Gisela von Lankwitz, von Meuchelmördern umgebracht worden war, war für ihn eine Welt zusammengebrochen. Viele Stunden lang hatte Hasard mit seinem Vetter Gespräche geführt, ohne sich dabei als Besserwisser aufzuspielen. Er hatte Arne geschildert, welche Schicksalsschläge er selbst hatte hinnehmen müssen. Ein wenig hatte es dem Mann geholfen, der dem Seewolf wie ein Bruder ähnlich sah. Schließlich, nach Rücksprache mit seiner Familie in Kolberg, hatte Arne seine wohlüberlegte Entscheidung getroffen. Hasard war glücklich darüber, seinen Vetter auf dieser Reise und für eine weitere lange Zeit bei sich zu haben. Ein Ruf aus dem Großmars riß den Seewolf aus seinen Gedanken. Bill hatte seinen Posten als Ausguck für die Nachtstunden bezogen. „Deck! Leuchtfeuer Steuerbord voraus!“ „Verstanden!“ rief Hasard, zog seinen Kieker aus dem Futteral und ' ging an die Steuerbordverschanzung. Ben Brighton hatte recht behalten. Das Leuchtfeuer von Land's End war über der nächtlichen Kimm als flimmernder rötlicher Fleck zu erkennen. Hasard ließ die Männer hochpurren, die sich auf ,Freiwache befanden. Er befahl Kurswechsel nach Südwest und ließ die nachfolgenden Schiffe entsprechend anpreien. Wenig später zeichnete sich die Küste bei Penzance als dunkle, wellige Linie im Westen ab. Lichter waren nicht zu sehen, an Land hatte sich längst alles zur Ruhe begeben. Der Seewolf ließ den gesamten Verband vor Anker gehen. Mit einer längeren Wartezeit war nicht zu rechnen. Hasard
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und seine Männer kannten Jerry Reeves als einen höchst zuverlässigen Mann. * Noch vor Sonnenaufgang, beim ersten heraufziehenden Grau des neuen Tages, war es mit der Ruhe auf den sechs ankernden Schiffen vorbei. Erneut meldete sich die helle Stimme des Ausgucks der „Isabella“. Diesmal waren es Mastspitzen, die Bill über der östlichen Kimm erspähte - dort, wo die auslaufende Küstenlinie der Mount's Bay den Blick auf die offene See freigab. Wenig später waren die Umrisse der Galeone deutlich zu erkennen, die Kurs auf den vor Anker liegenden Verband nahm. Mit langen Kreuzschlägen näherte sich der Frachtsegler nur mühsam, und erst nach geraumer Zeit konnten Hasard und Ben Brighton mit dem Kieker den Namenszug „Gravity“ entziffern. Auch auf der „Wappen von Kolberg“, auf „Roter Drache“ und dem Schwarzen Segler sowie auf den beiden Neubauten herrschte freudige Erwartung. Sämtliche Crewmitglieder hatten sich an Deck versammelt., in dem Bewußtsein, daß auch der letzte Aufenthalt vor dem endgültigen Aufbruch in die Karibik bald vorüber sein würde. Im Osten schob sich der Feuerball der aufgehenden Sonne über die Kimm, als die „Gravity“ endlich in zwei Kabellängen Entfernung von der „Isabella“ beidrehte. Die Segel der Handelsgaleone wurden aufgegeit. Hasard gab Befehl, die große Jolle abfieren zu lassen, da der Kapitän der „Gravity“ offenbar keinen längeren Aufenthalt wünschte. Gemeinsam mit sechs Männern aus der Crew enterte der Seewolf ab und nahm selbst den Platz auf der Achterducht ein. Mit kraftvollen Riemenschlägen trieben sie das Beiboot auf die dickbauchige Galeone zu. Schon von weitem sahen sie die Männer am Schanzkleid, die ihnen mit Freudengebrüll zuwinkten. Schließlich, als sie unterhalb der Jakobsleiter längsseits
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gingen, kannte die Eile von Jerry Reeves und seinen Gefährten keine Grenzen mehr. Innerhalb von wenigen Minuten waren sie in die Jolle abgeentert, wo es eine herzliche und lautstarke Begrüßung mit den Seewölfen gab. Hasard winkte Jerry zu sich auf die Achterducht und schüttelte ihm die Hand. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, gestand der hochgewachsene, dunkelhaarige Mann, und in seinem markanten Gesicht zeichnete sich Verlegenheit ab. „Daß wir uns so schnell wiedersehen würden, hätte keiner von uns gedacht. In erster Linie muß ich mich bedanken, Sir, auch im Namen der Männer.“ George Baxter, Stoker, Mulligan und die anderen, die sich auf die freien Duchten verteilt hatten, riefen begeisterte Zustimmung. Hasard hob lächelnd die Hand, und es kehrte gleich darauf Ruhe ein. „Ihr seid niemandem Dank schuldig. Im Gegenteil. Ihr tut uns allen einen großen Gefallen. Wenn ihr nicht so schnell eingesprungen wäret, hätten wir nicht so bald eine geeignete Crew für die ,Tortuga` gefunden. Außerdem weiß ich, daß es euch sicher nicht leicht gefallen ist, England den Rücken zu kehren. Ich nehme an, ihr seid euch darüber im klaren, daß wir uns in der Karibik endgültig niederlassen wollen.“ Die Männer begannen zu pullen. „Ich nehme an, Dan O'Flynn und Stenmark haben berichtet, wie es uns ergangen ist“, sagte Jerry Reeves. Der Seewolf nickte. „Das muß ein Schlag für euch gewesen sein. Aber ...“ „Ich weiß, ich weiß.“ Jerry winkte lachend ab. „Nur weil man in die Patsche geraten ist, soll man nicht in den Sack hauen. Darüber haben wir auch gründlich nachgedacht. Zwei Punkte waren für uns ausschlaggebend: Erstens wissen wir, daß wir mit euch prächtig auskommen. Und zweitens kriegen wir in England kein Bein mehr an die Erde.“ „C'est vrai!“ rief Gustave Le Testu. „Das ist wahr. England ist wahrhaftig kein
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Verlust für uns.“ Sein Englisch hatte einen singenden französischen Akzent, klang aber immerhin schon recht passabel. „Das muß man sich nun von einem Franzmann anhören!“ rief George Baxter stöhnend und verdrehte in gespielter Qual die Augen. Dann grinste er. „Aber er hat ja recht, unser Hugenotte.“ „Natürlich hat er recht“, sagte Montbars. „Frankreich ist unsere Heimat längst nicht mehr. Und in den letzten Monaten sind wir schon halbe Engländer geworden.“ „Also können wir der Lissy auch einen Tritt in den Hintern verpassen. Zumindest in Gedanken.“ Albert schlug sich die Hand vor den Mund und blickte den Seewolf erschrocken an. „Hab ich was Unverschämtes gesagt, Monsieur Hasard?“ „Die königliche Lissy kann's vertragen“, entgegnete Hasard lachend, „die ist nämlich selber aus rauhem Holz geschnitzt. Und im übrigen, Albert, kannst du den ‚Monsieur' getrost weglassen.“ Der Mann, der einst als „Buckliger von Quimper“ traurige Berühmtheit erlangt hatte, atmete erleichtert auf. Während die große Jolle rasch an Fahrt gewann, ging auch die schwerfällige Galeone „Gravity“ wieder auf Kurs. Jerry Reeves winkte dem Kapitän, der auf dem Achterdeck stand, noch einmal zu. „Ein zuverlässiger Mann?“ fragte der Seewolf. „Unbedingt“, erwiderte Jerry Reeves, „für ihn kann ich bedenkenlos meine Hand ins Feuer legen. Er wird kein Sterbenswörtchen darüber verlauten lassen, mit wem wir auf die Reise gegangen sind. Wenn ich Dan und Sten richtig verstanden habe, ist es doch das, was dir Sorgen bereitet, nicht wahr?“ Hasard nickte nur. Das Wort von Jerry Reeves galt ohne Wenn und Aber. Man brauchte keinen Gedanken darüber zu verschwenden. Während sie die ankernden Schiffe passierten, pflanzte sich das freudige Begrüßungsgebrüll von einem Deck zum anderen fort. Und dann bekamen Reeves und seine Männer leuchtende Augen, als sie die beiden Neubauten sahen. Jerry sah
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sich noch einmal um und betrachtete die „Isabella“. „Unverkennbar von derselben Meisterhand“, sagte er beinahe andächtig, „obwohl es, in der Tonnage natürlich einen deutlichen Unterschied gibt.“ „Jean Ribault bevorzugt kleinere und wendigere Schiffe“, sagte der Seewolf. „Das ist die ganze Erklärung.“ Als sie die „Tortuga“ erreichten, ging Hasard gemeinsam mit Jerry Reeves und seinen Männern an Bord. Hasard stellte die Neuankömmlinge vor und bemerkte erfreut, daß sie sich mit den Männern von der Ramsgate-Werft auf Anhieb prächtig verstanden. Dann nahm er Oliver O'Brien und Jerry Reeves beiseite. „Ich nehme an, es fällt dir nicht leicht, dieses Schiff wieder zu verlassen, Oliver.“ „Das kann man wohl sagen. Aber ich weiß, warum ich auf der ‚Wappen' gebraucht werde. Und ein Mann muß seine Aufgabe da erfüllen, wo es von ihm verlangt wird.“ „Wenn es ein Problem gibt, weiß ich jedenfalls, an wen ich mich wenden kann“, sagte Jerry Reeves. O'Brien lächelte. „Mit diesem Schiff wirst du keine Probleme haben, das versichere ich dir. Im übrigen hast du zehn Männer an Bord, die selbst daran mitgebaut haben. Sie können dir alles erklären, was du wissen möchtest.“ Jerry Reeves bedankte sich bei dem Iren. Dann enterte Hasard gemeinsam mit O'Brien in die Jolle ab, um ihn zur „Wappen von Kolberg“ zu bringen. Zehn Minuten später waren die sechs Schiffe klar zum Ankeraufgehen. Im Osten stand jetzt die Sonne als vollständig sichtbarer Feuerball über der Kimm. 9. Es geschah, als der Verband des Seewolfs zwei Seemeilen zurückgelegt hatte. Mastspitzen tauchten jäh hinter einer felsigen Halbinsel mit hoch aufragender Steilküste auf. Bill, der auf seinem Posten als Ausguck hellwach war, richtete nichts mehr aus.
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Obwohl er seine Warnung brüllte und die Männer an Deck auch sofort darauf reagierten, gab es keine Chance mehr. „Alle Mann auf Gefechtsstation!“ brüllte der Seewolf und wußte doch, daß es kaum noch zu schaffen war. Nein, es war unmöglich. Dennoch gaben die Männer ihr Äußerstes. Eine fieberhafte Tätigkeit setzte ein. Auch von der „Wappen“ und den übrigen Schiffen waren rauhe Kommandos zu hören. Die heranrauschenden Karavellen waren den Seewölfen nur zu bekannt. Bis auf drei Kabellängen hatten sie den Verband herannahen lassen, und jetzt jagten sie wie zustoßende Raubvögel hinter der Felsenhalbinsel hervor. Und der Nordost war keineswegs ungünstig für sie. Die Halbinsel verlief von Westen ziemlich genau in östliche Richtung. Bei halbem Wind über Steuerbordbug segelnd, rauschten die „Golden Gull“ und die „Thames“ auf Ostkurs und kreuzten in Sekundenschnelle den Kurs der „Isabella“. Die Seewölfe erstarrten, als sie die offenen Stückpforten der beiden Karavellen sahen. Im selben Moment tauchten weitere Segel hinter der Halbinsel auf. Die „Glorious“ und die „Sunderland“. Beide Galeonen waren ebenfalls gefechtsbereit. Eins der Backbordgeschütze der „Golden Gull“ blitzte auf. Während grauschwarzer Pulverrauch aufwölkte, orgelte die Kugel heran und riß eine hohe Fontäne vor dem Bug der „Isabella“ aus dem Wasser. Die „Thames“, die in vorderster Position segelte, steuerte mit Kollisionskurs auf die „Isabella“ zu. Auf der „Golden Gull“ ließ man die Segel killen. Gleichzeitig näherten sich die „Glorious“ und die „Sunderland“ der Galeone des Seewolfs von Steuerbord. „Die lassen uns direkt in ihre Breitseite hineinlaufen“, sagte Ben Brighton niedergeschmettert. „Nicht nur das“, knurrte Hasard voller Grimm, „beim kleinsten Ausweichmanöver liegen wir den anderen vor den Rohren.“
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Es gab keine andere Wahl. Der Seewolf ließ die Segel backbrassen, um der „Isabella“ die Fahrt zu nehmen. Überdies wußte er, daß man auf der „Golden Gull“ jedweden Versuch, die Fahrt fortzusetzen, als Angriff gewertet hätte. Und noch eins war offenkundig: Der saubere Sir Andrew war sich sehr wohl darüber im klaren, daß die übrigen Schiffe des Verbandes nicht eingreifen würden, solange die „Isabella“ und ihre Besatzung in höchster Gefahr schwebten. Mit einem eleganten Manöver ging die „Thames“ längsseits. Auf den einzelnen Decks standen Seesoldaten mit schußbereiten Musketen wie eine waffenstarrende Mauer. Hasard faßte einen raschen Entschluß. Es gab nicht viel zu überlegen. „Ben, du übernimmst das Kommando“, sagte er. Einen Moment sah ihn der Erste Offizier erstaunt an. Dann begriff er. Es gab nur noch eine einzige Chance, der hinterhältigen Falle der Hochwohlgeborenen zu entgehen. Und haargenau diese Chance würde der Seewolf nutzen. Zwischen Hasard und Ben waren keine Worten notwendig, um das zu klären. Geduckt huschte Hasard im Schutz der Verschanzungen zum Quarterdeck hinunter und von dort aus über den Niedergang zur Kuhl. Er gab dem Profos ein knappes Handzeichen, und auch Ed Carberry verstand sofort. Mit wenigen langen Sätzen war der Narbenmann zur Stelle. „Zeigen wir diesen gepuderten Affen, was die ‚Isabella' alles in sich hat?“ fragte er grinsend. „Genau das“, entgegnete Hasard mit einem harten Lächeln. „Los jetzt, beeilen wir uns!“ Aus den Augenwinkeln heraus sahen sie noch, wie sich die „Glorious“ an Steuerbord ebenfalls anschickte, längsseits zu gehen. Auch auf dem Flaggschiff des erlauchten Sir Andrew hatten Seesoldaten mit schußbereiten Musketen Aufstellung genommen. Die Arwenacks hätten schon Selbstmörder sein müssen, um jetzt
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Widerstand zu leisten. Sie wären im Handumdrehen zusammengeschossen worden. Mit ausgerannten Bordgeschützen hielten unterdessen die „Golden Gull“ und die „Sunderland“ ihre Positionen - gleichzeitig eine Vorsichtsmaßnahme gegen etwaige Absichten des restlichen SeewolfVerbandes. Hasard und Ed Carberry hasteten den Niedergang zu den Achterdecksräumen hinunter und erreichten gleich darauf die Kammer von Big Old Shane. Im Handumdrehen öffneten sie den getarnten Einstieg zum Geheimgang. Ed schnappte sich eine bereitliegende Laterne und schlüpfte hinein. Hasard folgte ihm sofort und schloß den getarnten Zugang von innen. In dem engen, finsteren Raum roch es noch immer nach frischem Holz, und es erinnerte die beiden Männer daran, daß die „Isabella“ immerhin noch ein sehr junges Schiff war. Hasard nahm die Lampe entgegen und hob die Glashaube an. Ed schlug Funken mit zwei Flinten, und es glückte ihm, den Docht innerhalb von Sekunden in Brand zu setzen. Die blakende Flamme vergrößerte sich rasch, als Hasard die Haube schloß. Vorerst verharrten der Seewolf und der Profos regungslos. Von ihrem Versteck aus konnten sie genau mithören, was sich an Bord abspielte. Polternde Schritte breiteten sich auf den Decks aus, begleitet von barschen Stimmen. Die Arwenacks wurden auf dem Hauptdeck zusammengetrieben und entwaffnet. Nach einigen Minuten wurde es ruhiger. Dann war eine dröhnende Stimme zu hören. „Setzen Sie Ihre Fahrt fort! Verschwinden Sie! Jeden Versuch, einen Angriff zu unternehmen, beantworten wir mit der Tötung einer Geisel! Ich wiederhole: Setzen Sie Ihre Fahrt fort. Jeden Versuch ...“ Ed Carberry stieß den Seewolf an. „Das ist der Erste Offizier von diesem Mistkerl Sir Andrew. Die freundliche
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Aufforderung dürfte wohl Arne, Siri-Tong und den anderen gelten.“ „Hoffentlich befolgen sie es“, flüsterte Hasard zurück, „sonst ist unser ganzer Plan nichts mehr wert.“ Ed brummte nur. Während der nächsten Minuten hielten sie den Atem an. Dann, als es ruhig blieb, wußten sie, daß sich die anderen zähneknirschend gefügt hatten. Ob sie wollten oder nicht, sie waren gezwungen, weiter ihren Karibikkurs steuern, als sei nichts geschehen. Denn soviel stand fest: Sir Andrew war in erster Linie an der „Isabella“ und Philip Hasard Killigrew, seinem Erzfeind, interessiert. Wenn er die „Isabella“ erst einmal vereinnahmt hatte - so plante er vermutlich -, dann konnte er immer noch die Verfolgung aufnehmen und versuchen, auch die anderen Schiffe in seinen Besitz zu bringen. Schritte dröhnten jetzt durch die Achterdecksräume. Und dann konnten Hasard und Ed jedes Wort verstehen, das haargenau über ihnen, in der Kapitänskammer, gewechselt wurde. „Mister Brighton“, sagte Sir Andrew schneidend, und dabei vibrierte seine Stimme in höchstem Zorn, „ich warne Sie. Wenn Sie nicht auf der Stelle damit herausrücken, wo sich Killigrew befindet, lasse ich den ersten Mann aus Ihrer Crew erschießen.“ „Ich habe Ihnen das bereits gesagt“, entgegnete Ben Brighton kalt, „Sir Hasard befindet sich auf der ,Wappen von Kolberg`, bei seinem Vetter. Es gibt einige wichtige familiäre Dinge zu besprechen, wozu bislang keine Zeit war. Ich habe vorübergehend das Kommando über dieses Schiff erhalten.“ „Lüge!“ schrie Sir Andrew mit sich überschlagender Stimme. „Das ist glatt gelogen. Aber dadurch ziehen Sie Killigrews Kopf nicht aus der Schlinge, Brighton.“ „Ich empfehle Ihnen, das Schiff durchsuchen zu lassen“, antwortete Ben gelassen, „Sie werden sehen, daß ich die Wahrheit sage.“
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„Gut“, sagte Sir Andrew wutschnaubend, „man soll mir nicht nachsagen, daß ich voreilig Geiseln erschießen lasse, auch wenn es sich um Galgenstricke handelt, die als Seeräuber die Weltmeere verunsichern.“ Ed Carberry stieß ein wütendes Knurren aus. „Dieser Affenarsch, dem ziehe ich ...“ „Still!“ zischte Hasard. Aus dem weiteren Wortwechsel in der Kapitänskammer ergab sich, daß Ben Brighton dort bewacht werden würde. Sir Andrew gab unterdessen Anweisung, die „Isabella“ zu durchsuchen. Anschließend zog er sich mit seiner hochwohlgeborenen Offiziersclique auf das Achterdeck zurück, wo er den besten Überblick über die Lage hatte. Hasard und Ed Carberry stiegen lautlos die eingebauten Sprossen hinunter, bis sie den Geheimgang über dem Kielschwein erreichten. Hier unten konnten sie sich nur kriechend fortbewegen. Ed schob die Laterne behutsam vor sich her. Sorgsam achteten sie darauf, kein lautes Geräusch zu verursachen. Auf ihrem mühsamen Weg begleitete sie das Getrampel, das fortwährend aus sämtlichen unteren Decksräumen zu hören war. Sir Andrew hatte offenbar eine ganze Armee von Seesoldaten aufgeboten. * Die Zeit war nur sehr schwer zu schätzen. Aber es mußte ungefähr eine Stunde gewesen sein, die Hasard und Ed in dem engen Geheimgang nahe vor dem vordersten Stauraum ausgeharrt hatten. Dann erst wurde es in den Unterdecksräumen stiller. „Jetzt haben sie aufgegeben, die stinkigen Kanalratten“, flüsterte Ed Carberry. „Bleibt nur zu hoffen, daß sie Ben die Geschichte mit Arne abkaufen“, entgegnete Hasard ebenso leise. „Dann wird sich der saubere Gentleman vor Wut selbst in den Hintern beißen, weil er nämlich den Verband davonsegeln ließ.“
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„Und er rechnet sich vermutlich aus, daß der Verband nicht unverrichteter Dinge abzieht.“ „Du meinst, er wartet darauf, daß SiriTong und die anderen zurückkehren?“ „Etwas anderes bleibt ihm doch kaum. Ich glaube nicht, daß er sich mit der ,Isabella' zufriedengibt, Ed. Solange er mich nicht hat, juckt es ihm in den Fingern.“ Der Profos lachte leise. Sie warteten noch eine Weile, bis sie zum zweiten geheimen Ein- und Ausstieg an der Stirnseite des Mannschaftslogis aufenterten. Dort verharrten sie und horchten. Nur unterdrückte Stimmen waren zu hören. Niedergeschlagene Stimmen. Aber es gab keinen Zweifel, um wen es sich handelte. Ed Carberry stieß den Seewolf triumphierend an. „Auf was warten wir noch?“ Hasard grinste und öffnete wortlos den getarnten Zugang, vorsichtig und nur einen Spaltbreit. Er blickte Mac Pellew in die Augen, der nur zwei Schritte entfernt auf einem Schemel hockte und eine ziemlich saure Miene zog. Im nächsten Moment erhellte sich Macs Gesicht. Er riß den Mund auf. Hasard legte warnend den Zeigefinger an die Lippen. Mac begriff, nickte und gab das Zeichen an die anderen weiter. Dann huschte er lautlos auf die geheime Öffnung zu. „Wie sieht es aus?“ fragte der Seewolf leise. „Sie haben uns alle ins Logis gescheucht”, gab Mac Pellew flüsternd Auskunft, „bis auf Ben Brighton, den bewachen sie in der Kapitänskammer. Jedenfalls waren sie dumm genug, die Posten nur draußen an Deck aufzustellen. Hier im Logis sind wir unter uns.“ Hasard nickte. Die Sache gefiel ihm nicht. Wenn es eine Panne gab, konnte Sir Andrew den Ersten Offizier der „Isabella“ immer noch als Geisel verwenden. „In Ordnung“, sagte Hasard nach kurzem Überlegen, „wir lassen es trotzdem ablaufen, genau nach Plan. Gib den anderen das Zeichen, Mac.“
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Der Kombüsenmann nickte, und ein entschlossener, harter Glanz trat in seine Augen. Dann wandte er sich ab. Natürlich hatten die übrigen Männer längst begriffen, und so gab es keinen großen Zeitverlust. Hasard und Ed enterten sofort wieder bis zum Kielschwein ab und begaben sich auf den Rückweg zum Heck. Ihnen folgten Al Conroy, Dan O'Flynn, Bob Grey, Luke Morgan, Gary Andrews und Sam Roskill, wie es im Einsatzplan vorgesehen war. Jeder einzelne Mann an Bord der „Isabella“ kannte diesen Plan in- und auswendig. Er war für einen solchen Fall vorbereitet worden, in dem man auf den Geheimgang zurückgreifen mußte. Nachdem die vorgesehenen Männer in Richtung Schiffsheck unterwegs waren, stiegen Roger Brighton und Paddy Rogers vom Logis aus ebenfalls lautlos in den Geheimgang munter und öffneten die vordere geheime Waffenkammer, die sich unmittelbar unter dem Stauraum befand, der an die Vorpiek grenzte. Zügig wurden die Männer im Logis mit Pistolen, Pulver, Bleikugeln und Entermessern versorgt. Jeder Handgriff lief geschickt und behutsam ab, denn schon beim kleinsten verdächtigen Laut mußte man damit rechnen, daß die Posten auf dem Hauptdeck die Ohren spitzten. Hasard und Ed erreichten unterdessen die achtere geheime Waffenkammer, die sich knapp unterhalb der Heckgalerie befand. Hier war besondere Vorsicht geboten, denn der oder die Posten zur Bewachung von Ben Brighton waren nur durch ein paar Planken von ihnen getrennt. Vorsichtig hievte Hasard eine flache Kiste aus dem versteckten Arsenal. Er drückte Al Conroy die Kiste in die Hand. Der schwarzhaarige Stückmeister schlüpfte damit behutsam durch den Geheimzugang in Big Old Shanes Kammer. Dort hatte er den Platz, den er brauchte, um sein Feuerwerk vorzubereiten. Die Männer im Logis wußten, wie viel Zeitvorgabe Hasard und seine Gruppe brauchten, damit sie haargenau im selben Moment losschlagen konnten.
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Hasard versorgte Ed, Dan und die anderen mit Pistolen, Munition und Entersäbeln, und einer nach dem anderen kroch in Shanes Kammer, wo sie die Waffen klarierten. Der Seewolf folgte ihnen zuletzt, gleichfalls mit einer schußbereiten Pistole und einem Entermesser ausgerüstet. Die geheimen Waffenkammern waren besonders gegen Feuchtigkeit abgedichtet. Es bestand also absolute Gewißheit, daß das Pulver trocken geblieben war. Al Conroy grinste breit und gab Hasard ein Handzeichen. Der Stückmeister hatte seinen Griff in die Trickkiste beendet. Der Seewolf nickte, schlich auf das Schott zu und öffnete es langsam, nur um zwei oder drei Inches. Prüfend spähte er in- den Gang hinaus. Doch keine Menschenseele war in der Nähe. Ohne zu zögern, huschte Hasard hinaus, und die anderen folgten ihm auf leisen Sohlen. Kein Knarren wurde verursacht. Die Tatsache, daß die „Isabella“ ein noch junges Schiff war, hatte auch in dieser Beziehung ihre Vorteile. Am Fuß des Niedergangs, der zur Kapitänskammer und zu den Kammern von Ben Brighton und Ed Carberry hinaufführte, verharrten die Männer. Hasard verschwendete keine Sekunde. Vorsichtig einen Fuß vor den anderen hebend, enterte er auf. Schon auf halbem Weg zog er die Steinschloßpistole und packte sie beim Lauf. Nach zwei weiteren Stufen sah er den Posten. Nur ein einzelner Posten war es, der vor dem Schott zur Kapitänskammer Wache stand. Und er wandte dem Niedergang den Rücken zu. Hasard spannte die Muskeln. Die letzten Stufen überwand er blitzartig und geräuschlos. Im nächsten Atemzug schnellte er mit einem federnden Satz auf den Uniformierten zu. Der Mann zuckte zusammen, wie von einem Peitschenhieb getroffen. Doch für jede Reaktion war es zu spät. Hasard ließ den Pistolenknauf niedersausen, und der Hieb fällte den Mann auf der Stelle. Er packte den Bewußtlosen, bevor dieser hörbar zu
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Boden schlagen konnte. Behutsam ließ er ihn auf die Planken gleiten. Gleichzeitig stieß er einen Zischlaut aus, das Zeichen für die anderen Männer. Aus den Augenwinkeln heraus sah Hasard, daß sie den Niedergang heraufhuschten allen voran Al Conroy, der seine chinesischen Feuerwerkskörper mit zischender Lunte einsatzbereit in den Händen hielt. Hasard drückte das Schott zur Kapitänskammer auf und sah einen erleichterten Ben Brighton vor sich. Er war nicht einmal gefesselt. Sir Andrew fühlte sich seiner Sache offenbar allzu sicher. Der Seewolf wirbelte herum, und Ben folgte ihm sofort. Sie stürmten auf das Hauptdeck hinaus. Im selben Atemzug setzte der Feuerzauber von vorn und achtern gleichzeitig ein. Al Conroy schleuderte sein chinesisches Feuer. und die harmlosen Dinger detonierten mit ohrenbetäubendem Krachen und grellem Funkenregen, genug, um heillose Verwirrung zu stiften. Die Seesoldaten, die nicht als Wache eingeteilt waren, hatten ihre Musketen zu Pyramiden aufgestellt. Ein beträchtlicher Teil von den Soldaten war ohnehin bereits auf die „Glorious“ und die „Thames“ zurückgekehrt. Heilloses Durcheinander entstand. Schreie gellten. Die Seewölfe stürzten sich auf die Soldaten und scherten sich den Teufel um das detonierende chinesische Feuer. Dem Krachen der Explosionen folgte der donnernde Kampfruf aus Cornwall. „Ar - we - nack! Ar - we - nack !“ Einige der Männer feuerten ihre Pistolen ab, doch nur als Warnschüsse. Dann schwangen sie die Waffen herum und benutzten die eisenbeschlagenen Knäufe als Hiebwaffen. Hasard war sich darüber im klaren, daß es dennoch keine Sekunde zu verschwenden galt. Die Besatzungen der gegnerischen Schiffe durften sich nicht erst von der Überraschung erholen. Mit langen Sätzen stürmte der Seewolf über den Steuerbordniedergang zum
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Quarterdeck hinauf. Ben Brighton nahm den gleichen Weg an Backbord. Das Weitere geschah in Sekundenbruchteilen. An der vorderen Balustrade des Achterdecks sah Hasard den Ersten Offizier der „Glorious“ mit haßverzerrtem Gesicht auftauchen. Der Mann riß eine doppelläufige Pistole hoch und legte auf Ben Brighton an. Hasard brachte seine Waffe im Laufen in Anschlag. Und er war um einen Sekundenbruchteil schneller. Die Pistole ruckte wummernd in seiner Faust und spie einen grellroten Feuerblitz aus. Sir Andrews Erster wurde von einer unsichtbaren Faust herumgerissen. Der Schuß aus seiner Doppelläufigen löste sich noch, doch das Blei fuhr wirkungslos in den Morgenhimmel. Mit wenigen weiteren Sätzen war Hasard auf dem Achterdeck. Sir Andrew wich kreidebleich bis an die Heckbalustrade zurück. Er war allein. Marquess Henry hatte es offenbar vorgezogen, geruhsam auf der „Glorious“ zu bleiben. Vergeblich versuchte der Hochwohlgeborene, seine ziselierte Prunkpistole aus dem Gurt zu zerren. Der, Lauf hatte sich verhakt. Und im nächsten Moment war es zu spät. Hasard packte ihn am Oberarm, riß ihn herum, ließ die Pistole fallen und hielt ihm mit der freien Hand die Klinge des Entermessers vor die Kehle. Sir Andrew stieß einen gellenden Angstschrei aus. Kaltlächelnd bugsierte Hasard den Zitternden bis an die vordere Balustrade, so daß er sowohl vom Hauptdeck der „Isabella“ als auch von den gegnerischen Schiffen aus deutlich zu sehen war. „Bei der kleinsten Bewegung ist es aus mit ihm!“ brüllte der Seewolf -laut genug, daß es auch auf den Schiffen der Hochwohlgeborenen zu hören war. Alles Weitere wurde beinahe im Handumdrehen erledigt. Auf den Befehl des Seewolfs zogen die Soldaten von der „Isabella' ab und begaben
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sich eilends zurück auf die „Glorious“ und die „Thames“. Zwei Mann schleppten den schwerverwundeten Ersten Offizier hinüber auf das Flaggschiff. Bei sofortiger Behandlung durch den Feldscher würde er die Schulterwunde aber fraglos heil überstehen. Hasard hielt den angstschlotternden Sir Andrew weiterhin deutlich sichtbar als Geisel. Dann, als der Seewolf ihnen einen schneidenden Befehl zubrüllte, wurden auf den beiden Karavellen und den beiden Galeonen eilends die Segel gesetzt, und folgsam segelten sie auf Nordwestkurs davon. Ihr Gehorsam wurde vermutlich noch durch einen weiteren Umstand beflügelt, denn über der südlichen Kimm tauchten jetzt zahlreiche Mastspitzen auf. Es gab kein großes Rätselraten, um welche Schiffe es sich handelte. Siri-Tong und die anderen hatten die erwartete Entscheidung getroffen. Der Verband des Seewolfs kehrte zurück. Und jetzt gab es für die „Glorious“ und ihre Begleitschiffe keinen Vorteil mehr, der aus einem heimtückischen Hinterhalt resultierte. Ben Brighton rief seine energischen Kommandos, und auf den Decks der „Isabella“ eilten die Männer an die Schoten und Brassen. Die Segel füllten sich mit Wind, sehr rasch gewann die schlanke Galeone an Fahrt. Auf dem „Roten Drachen“, der den restlichen Verband mit langen Kreuzschlägen anführte, wurde die neue Lage schnell erkannt. Die beiden Viermaster und die drei Galeonen leiteten eine Wende ein und gingen auf den ursprünglichen Kurs. Kurze Zeit später hatte die „Isabella“ bereits unter Vollzeug aufgeschlossen. Jubelgebrüll ertönte von Bord der Schiffe. Alle sahen den kreidebleichen
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Hochwohlgeborenen, für Hasard waren nur ein paar Handzeichen nötig, um sich mit den anderen zu verständigen. ' Eine halbe Seemeile vor Land's End ließ der Seewolf backbrassen und die kleine Jolle abfieren. „Zeit für den Abschied auf Nimmerwiedersehen“, sagte Hasard kalt und spürte, wie Sir Andrew unter seinen Fäusten erneut zusammenzuckte. „Ich rate Ihnen, jetzt keinen Ton von sich zu geben. Sonst könnte es passieren, daß Sie dieses Schiff trotz allem nicht lebend verlassen.“ Der Hochwohlgeborene schluckte krampfhaft und nahm die Drohung für bare Münze. Dann, als er an Land gepullt wurde, schickten die Seewölfe ihm ein dröhnendes „Arwenack!“ hinterher. Diesmal waren sie sicher, daß sie den feinen Gentleman zum letztenmal ausgesetzt hatten. Nachdem die Männer mit der Jolle zurückgekehrt waren und die „Isabella“ gemeinsam mit dem übrigen Verband wieder auf Kurs ging, sahen sie den sehr ehrenwerten Sir Andrew Clifford noch lange am Ufer stehen. Daß er vor ohnmächtiger Wut bebte, konnten sie nur ahnen, doch es war ziemlich sicher. Dann aber, mit zunehmender Distanz, verloren sie den einsamen Mann aus den Augen, und auch ihre Gedanken entfernten sich von England. Hasard war froh, daß es nicht zum Äußersten gekommen war. Die Versenkung der „Crown“ lag ihm ohnehin noch schwer im Magen. Alles hing jetzt von den Verhandlungen Lord Clivedens in London ab. Aber je mehr die Küste Südenglands im Morgendunst verschwand, desto mehr verblaßten auch die Überlegungen, die das Intrigenspiel der adligen Cliquenwirtschaft betrafen. Kurs auf die Karibik lag an. Nur das zählte jetzt...
ENDE