Roy Palmer Auf Kaperfahrt
1. »Schlag zu!« Rolando Garcia y Marengo sagte es laut, aber ohne jegliche Emotion. Gelassen...
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Roy Palmer Auf Kaperfahrt
1. »Schlag zu!« Rolando Garcia y Marengo sagte es laut, aber ohne jegliche Emotion. Gelassen, die Beine leicht abgewinkelt und die Arme vor der Brust verschränkt, so stand er an der vorderen Schmuckbalustrade des Achterdecks und blickte auf die Kuhl. Die komplette Mannschaft seiner ›Libertad‹ hatte sich dort versammelt, um der Züchtigung beizuwohnen. Das gemeine Schiffsvolk, wie er diese Männer zu nennen pflegte. Er verachtete sie. Er schikanierte sie, wo und wann er konnte, weil er nur so seine Position als Kommandant des kleinen Geleitzuges halten und festigen konnte - meinte er. Juan Maria Ortuno, der erste Offizier, war hinter ihn getreten. Er war ein ziemlich junger Mann mit markanten Zügen und sicherem Auftreten, einer von der schneidigen Sorte. »Der Profos zögert«, sagte er. »Er scheint Skrupel zu haben.« Die Augen des Kommandanten wurden schmal. »Schlag zu, Buacel!« rief er seinem Stockmeister unten auf der Kuhl noch einmal zu. »Auf was wartest du, du Hund?« Buacel nickte. Er schwitzte. Aber es war nicht die Sonne der Karibik, die ihm zusetzte. Es war sein innerer Zustand. Die Mannschaft umringte ihn im Halbkreis, aber er sah keinen von den Burschen an und schaute auch nicht zu Rolando Garcia y Marengo, dem ersten Offizier und den anderen Offizieren zum Achterdeck hoch. Er blickte nur auf den halbnackten Mann unter ihm und versuchte, sich so etwas wie Wut auf ihn einzureden. ›Libertad‹ hieß diese Galeone Seiner Majestät, König 2
Philipps II. von Spanien, »Freiheit«. Aber dieser Name war der reine Hohn, denn was das Prinzip vom Zuckerbrot und der Peitsche betraf, so hatte der Kommandant nur letztere gewählt, um sich den nötigen Respekt zu verschaffen. Dicht neben Buacel standen der bullige Arnolde, der hagere Jorge und Laverda, einer, der immer hämisch zu grinsen pflegte - auch jetzt. Sie befanden sich in vorderster Reihe. Schweigend schauten sie dem verdammten Schauspiel zu. Aber Buacel wußte ganz genau, daß sie sich am liebsten auf ihn gestürzt hätten. Hinter ihnen drängten sich die anderen, rund zwei Dutzend Männer. Viel zu wenig für das große, schwer beladene Schiff. Ja, sie war total unterbemannt, die ›Libertad‹, und bei den anderen vier Galeonen des kleinen Konvois war es nicht viel besser. Nur zwei oder drei Männer reckten die Hälse, um von hinten besser sehen zu können. Das Gros spuckte heimlich aus und fluchte, denn keiner hatte dabeisein wollen, wie einer von ihnen ausgepeitscht wurde. Aber Rolando Garcia y Marengo hatte es so angeordnet. Buacel hob die neunschwänzige Katze. Drohend verharrte sie einen Augenblick in der Luft, dann sauste sie auf den Rücken des Verurteilten nieder. Seine Kameraden hatten ihn halb ausziehen und auf der Kuhlgräting festbinden müssen. Mit dem Bauch nach unten. So fest, daß er keinen Finger mehr rühren konnte. Der Kommandant hatte es befohlen. Die Lederstriemen der Peitsche klatschten auf den bloßen Rücken. Der Mann brüllte auf. Er hieß Santino. Juan Maria Ortuno hatte ihn beim Stehlen in einer der Vorratskammern erwischt, und dann hatte Garcia y Marengo diese drakonische Strafe verhängt. Auf dem Achterdeck stieß der Kommandant einen verächtlichen Laut aus. »Hört euch diesen Weichling an. 3
Gleich beim ersten Hieb fängt er an zu schreien, dabei hat er noch neunzehn zu schlucken.« Er hob die Stimme. »Hombre, du bist ein Feigling! Ein altes Waschweib, kein Seemann! Schämen solltest du dich!« Santino lag mit zusammengepreßten Zähnen da. Tränen der Wut standen in seinen Augen. »Mach weiter, Buacel«, zischte er. »Ich werde nicht mehr schreien, keinen Ton geb ich mehr von mir, ich schwör’s dir.« Und Buacel hieb wieder zu. Garcia y Marengo hob den Kopf und schob dabei das Kinn etwas vor. Seine Augenbrauen hatte er leicht hochgezogen, sein Blick glitt wie gelangweilt über die prall gebauschten Segel des Schiffes. Es war eine Geste größter Überheblichkeit, eine Demonstration von Arroganz und uneingeschränkter Macht und zugleich Selbstdarstellung. Er, Kapitän Rolando Garcia y Marengo, Befehlshaber über diesen Konvoi, duldete keine Unbotmäßigkeiten an Bord, und handelte es sich auch um die geringsten Kleinigkeiten. Wieder und wieder klatschte die Geißel auf Santinos Rücken. Aber er schrie nicht mehr. Er gab keinen einzigen Wehlaut mehr von sich. Beim zwölften Hieb wurde er besinnungslos. Arnoldo, der Bullige, stöhnte vor ohnmächtiger Wut. Die Mannschaft stand mit verzerrten Mienen. »Fester!« rief Garcia y Marengo Buacel zu. »Besorge es ihm ordentlich, oder ich lasse dich auch noch auspeitschen, du Bastard!« Buacel duckte sich unter diesen Worten. Der Schweiß lief ihm in Rinnsalen den Körper hinab. Er befand sich im schwersten Konflikt mit sich selbst, denn innerlich hielt er mehr zu der Besatzung als zu jenem bornierten Schuft oben auf dem Achterdeck. Aber er mußte sich beugen. Meuterei? Daran war gar nicht zu denken. Die Offiziere hatten die Hände auf den Kolben ihrer Pistolen und warteten fast darauf, daß so etwas ausbrach. 4
Sie würden jeden Aufstand im Ansatz ersticken. Buacel wußte, daß Widerstand sinnlos war. Also schlug er zu. Was blieb ihm anderes übrig? Noch heftiger als zuvor tanzten die Lederriemen der Gerte über Santinos Rücken. »Das Klauen wird dem Kerl vergehen«, sagte Rolando Garcia y Marengo zu seinem ersten Offizier. »Und so wie ihn lasse ich jeden dieser Halunken durchwalken, der sich einbildet, solche Extratouren reiten zu können.« »Verdient hätten sie’s alle«, erwiderte Ortuno schadenfroh. »Sie sind Bastarde. Der Abschaum der Menschheit.« »Man sollte sie alle hinrichten«, sagte der Kapitän. »Aber wir brauchen sie ...« »Leider. Und sie sind noch viel zu wenig, diese Teufel.« »Wir hätten noch mehr Leute pressen sollen«, sagte Ortuno. »Es ist unsere heilige Pflicht gegenüber der Krone, den Geleitzug sicher nach Havanna zu führen.« Garcia y Marengo wandte sich ihm zu und musterte ihn kalt. »Wem sagst du das, du Aufschneider? Hältst du mich für einen Narren?« »Um Himmels willen, nein, Senor«, beeilte sich Ortuno zu versichern. »Ich meinte nur, es wäre gut, die Mannschaft zu vergrößern.« »Jetzt noch? Wie denn? Willst du irgendeine verfluchte Insel anlaufen und ein paar stinkende Indianer zusammentreiben? Erstens ist es unter unserer Würde, diese Tiere an Bord zu nehmen, außerdem verstehen sie nichts von der Seefahrt.« »Wir könnten uns nach Hispaniola wenden. Dort finden wir Weiße, die wir für unsere Zwecke pressen können.« »Kein schlechter Gedanke, aber wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.« Der Kapitän blickte wieder zur Kuhl hinunter. Dort hatte Buacel mit dem Auspeitschen aufgehört. Der Seemann Santino hatte seine Strafe abgebüßt, aber damit gab sich Garcia y Marengo noch nicht zufrieden. 5
Er suchte förmlich nach einem Vorwand, Santino noch weiter zu traktieren und zu erniedrigen. Vollgestopft mit Eßbarem hatte sich dieser Bastard, und dann hatte er sich auch noch die Taschen mit Proviant aus der Vorratskammer gefüllt, um die Kameraden zu versorgen. So hatte Ortuno ihn ertappt. Für den Kapitän war es eine fluchwürdige, zutiefst zu verabscheuende Tat, waren doch die Nahrungsmittel an Bord der ›Libertad‹ ohnehin knapp bemessen. So knapp, daß die Rationen für die schwer arbeitende Mannschaft einfach nicht ausreichten. Überdies war die Qualität der Verpflegung miserabel. Aber diese Tatsachen unterschlug Rolando Garcia y Marengo auch sich selbst gegenüber, sie belasteten nur unnötig sein Gewissen. »Ortuno«, sagte er zu seinem Ersten. »Geh nach unten und jage dieses Drecksvolk weg. Ich will es nicht mehr sehen. Buacel soll einen Kübel Seewasser über dem Verbrecher ausleeren, damit der Hund zu sich kommt.« Ortuno salutierte zackig, stieg den Niedergang zur Kuhl hinunter und gab seine barschen Anweisungen. Es erfüllte ihn mit Befriedigung, die Mannschaft auseinanderspritzen und verschwinden zu sehen. Wie die Kerle parierten! Der Kapitän sollte zufrieden mit ihm sein und keinen Grund zur Kritik finden. Einzig und allein das war für Juan Maria Ortuno wichtig. Nur solange er kompromißlos unterwürfig und brutal die Befehle Garcia y Marengos befolgte, durfte er oben auf dem Achterdeck auch mal ein Wörtchen mitreden. Buacel hatte Seewasser in einem Holzkübel von außenbords heraufgezogen. Jetzt eilte er heran, baute sich breitbeinig vor dem immer noch festgeschnallten Santino auf und goß das Naß auf Ortunos Wink hin über dem armen Teufel aus. Es deckte den zerschundenen Körper ein, rauschte über Deck und lief durch die Speigatten wieder ab. Der Kapitän stelzte den Niedergang hinunter. 6
Santino war zu sich gekommen. Er hielt die Zähne immer noch zusammengebissen und blickte durch einen nebelartigen Schleier. Das Salz brannte in seinen Wunden. Garcia y Marengo drehte sich neben der Kuhlgräting um und schaute ihm in die Augen. Er las kalten Haß darin. O ja, Santino hätte sich sehr wohl auf ihn gestürzt, wenn er gekonnt hätte. »Du Hund«, sagte der Kapitän. »Dein Widerstand und deine Aufsässigkeit sind immer noch nicht gebrochen. Glaubst du, du kannst mir etwas vorheucheln?« »Nein«, sagte Santino kaum verständlich. Garcia y Marengo fuhr zu seinem Ersten und dem Profos herum. »Ihr habt es gehört. Das Schwein hat mich beleidigt. Das ist ungeheuerlich.« »Si, Senor«, erklärte Ortuno prompt. »Ich habe es auch vernommen. Ganz deutlich.« »Senor«, sagte Buacel. »Ich ...« »Was willst du?« fragte der Kapitän. Sein Gesicht hatte einen verschlagenen, lauernden Ausdruck angenommen. »Sprich ruhig weiter.« Buacel ließ eine Art Seufzer vernehmen. »Ich wollte nur fragen, ob ich den Mann weiter auspeitschen soll.« »So billig kommt er nicht davon«, entschied Garcia y Marengo. »Seine Dreistigkeit ist unglaublich. Ich habe so etwas noch nicht erlebt. Ein Exempel muß statuiert werden.« »Knüpfen wir ihn an der Großrahnock auf«, sagte der erste Offizier. Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist zu wenig. Ich erwarte einen besseren Vorschlag, Ortuno. Laß dir was Originelles einfallen, zum Teufel noch mal.« »Kielholen.« »Ich beginne an deiner Intelligenz zu zweifeln, Ortuno.« Juan Maria Ortuno trat jetzt auch der Schweiß auf die Stirn. So wie dem Profos. Krampfhaft dachte er nach und verlagerte 7
dabei das Körpergewicht von einem Bein auf das andere. »Ich hab’s«, sagte er schließlich. »Wir setzen ihn in dem kleinsten Beiboot aus, das wir mitführen. Wir können es entbehren. Der Zimmermann soll den Boden des Kahns anbohren. Der Schurke hier wird gefesselt, damit er sich nicht bewegen kann. Und dann, wenn wir ihn los sind, kann er raten, welche Todesart eher eintritt, das Ertrinken oder das Zerreißen durch die Tiburones, die Haie.« Der Kapitän lachte. »Sehr gut. Wir brauchen jeden Mann an Bord, aber auf Diebe, Mörder und Rebellen müssen wir verzichten. Es soll den anderen eine Lehre sein. Buacel!« »Senor?« »Verfrachte diesen Delinquenten in das Beiboot und fiere es ab. Ich lasse das Schiff in den Wind gehen, damit wir an Fahrt verlieren und die Nußschale nicht gleich umkippt, wenn sie im Wasser aufsetzt. Ich will nicht, daß dieser Hund sofort absäuft, verstanden? Sobald er treibt, kappst du die Vorleine, die das Boot hält. Und daß du mir nicht vergißt, den Boden anbohren zu lassen, sonst lasse ich dich zur Abwechslung mal fesseln und dir das Fell gerben.« Buacel hatte nicht übel Lust, diesem Sadisten von einem Kapitän die Neunschwänzige durchs Gesicht zu ziehen. Aber er bezwang sich. Er sah, daß Ortuno die Hand auf die kostbare Radschloßpistole in seinem Gurt gelegt und den Hahn bereits gespannt hatte. Nein, Buacel wollte nicht sterben. An diesem Vorsatz änderte auch der flehende Blick nichts, den Santino, der Todeskandidat, ihm zuwarf. * Die ›Isabella VIII.‹ hatte einen neuen Schiffsjungen, einen richtigen Moses, der erst fünfzehn Jahre alt und ›noch nicht ganz trocken hinter den Ohren‹ war, wie Edwin Carberry das 8
ausdrückte. Der Junge hieß Bill. Er nahm Dans alten Platz ein, aber das änderte nichts an Dans Funktion als bester Ausguck. So hockte Dan O’Flynn nach wie vor im Großmars und ließ seine adlerscharfen Augen nach allen Seiten schweifen. Er fand, daß Bill ein feiner Kerl war, aber er wäre eifersüchtig auf den Neuling geworden, wenn dieser ihm den luftigen Posten streitig gemacht hätte. Dan blickte zu Arwenack, der ihm gegenüber auf der Segeltuchverkleidung des Großmarses saß. Der Schimpanse leistete ihm Gesellschaft wie meistens. Sie waren so gut wie unzertrennlich geworden. Arwenack hatte, bevor er aufgeentert war, der Kombüse einen Besuch abgestattet und etwas von seinem Lieblingsfutter ergattert: getrocknete Weintrauben. Aus den Geheimvorräten des Kutschers. Rosine um Rosine schob Arwenack sich zwischen die Zähne. Ganz uneigennützig bot er auch Dan ein paar von den süßen Dingern an, aber Dan schüttelte den Kopf. »Nein, danke, das süße Zeug mag ich nicht. Bin mehr für handfeste, herbe Sachen. Rotwein, Rum, Bier.« Arwenack traf Anstalten, wieder nach unten zu sausen, aber Dan hielt ihn zurück. »Laß das bloß. Ist ja nett von dir, daß du was zu trinken besorgen willst. Aber das Saufen im Dienst gestattet Hasard nur, wenn er es selbst angeordnet hat. Und ich will keinen Ärger mit dem Seewolf, kapiert?« Arwenack nickte so ernsthaft, als hätte er wirklich verstanden. Dan schickte wieder seinen Blick in die Runde. »Tja, scharfe Augen muß man haben, dann ist man dem Gegner immer um Längen voraus. Ich sage dir, nichts ist mehr wert als ein anständiges Paar Glotzwerkzeuge, mein Junge.« Arwenack legte die eine Vorderpfote abschirmend über die Augen, blähte die Lippen und stierte angestrengt nach Norden dorthin, wo die Windwardpassage lag. 9
Dan bemerkte es und lachte. »Gib dir keine Mühe, du siehst ein anderes Schiff ja doch erst, wenn es auf eine Kabellänge heran ist.« Empört begann der Affe zu schnauben. Irgendwie entnahm er dem Tonfall Dans, daß die Bemerkung abwertend war. Dan hob die Hand. »Schon gut, sei nicht gleich beleidigt. Ich nehme alles zurück und behaupte das Gegenteil.« Worauf Arwenack die Zähne zeigte. Er zog dabei die Mundwinkel in die Höhe und ahmte wirklich großartig das Grinsen eines Menschen nach. Anschließend schob er sich wieder eine Rosine auf die Zunge und zerdrückte sie. Dans Gestalt straffte sich plötzlich. Er hatte das Spektiv ans Auge gehoben und hielt in Richtung Nordwesten Ausschau. Seine Miene wurde starr. Er hatte etwas entdeckt, einen schwarzen Fleck, der sich nur undeutlich von der sonnendurchflirrten Kimm abhob. »Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt«, murmelte Dan. Arwenack gab eine Art Grunzen von sich. Dan ließ den Kieker sinken, schaute den Affen an und registrierte, daß dieser sich einen Finger in die Nase geschoben hatte und angelegentlich bohrte. Dan ahmte die Stimme von Profos Carberry nach. »He, du Rübenschwein, brich dir bloß nicht den Finger ab. Und sag Bescheid, wenn du Gold findest, verdammt noch mal.« Arwenack unterbrach sich irritiert. »Ich kann zwar nicht hinter den Horizont schauen wie ein Jonas«, sagte Dan O’Flynn, »aber da ist was an der Kimm, das zumindest verdächtig aussieht.« Er richtete sich halb auf, beugte sich über die Segeltuchverkleidung und legte beide Hände als Schalltrichter an den Mund, um nach unten zu brüllen. Unter den stolz geschwellten Segeln der ›Isabella VIII.‹ bewegten sich auf Oberdeck die Gestalten der Männer. Braun 10
glänzten ihre nackten Oberkörper. Sie hatten die Hemden abgelegt und waren beständig am Schuften, denn der Wind sprang dauernd um, blies aus wechselnden Richtungen, und Carberry purrte sie an die Brassen und Schoten. Mal pflügte die ›Isabella‹ mit achterlichem Wind die Dünung, mal kriegte sie ihn raumschots, mal von der Seite. »Deck!« schrie Dan O’Flynn. »Deck, Achtung! Backbord voraus treibt ein Beiboot oder etwas Ähnliches!« Hasard stand gerade auf dem Quarterdeck, unweit des Ruderhauses. Er hob den Kopf und nahm Dans Meldung auf. Dann eilte er zum Backbordschanzkleid. Rasch nahm er den Kieker zur Hand und hielt nun seinerseits Ausschau, konnte aber nichts in der von Dan angegebenen Richtung entdecken. Ben Brighton, sein erster Offizier und Bootsmann, trat näher. »Teufel, wie das Bürschchen das jetzt wieder entdeckt hat. Und dann diese präzisen Angaben. Wie hat er bloß auf die Entfernung rausgefunden, daß es sich um ein Boot und nicht um ein Schiff handelt?« »Erfahrung, Ben. Immerhin fährt Dan ja auch nicht erst seit gestern auf der ›Isabella‹.« »Trotzdem wundere ich mich immer wieder.« »Noch was, Ben. Dan ist kein Bürschchen mehr.« »Richtig, das vergesse ich immer wieder.« »Er legt aber großen Wert darauf, als voll tauglicher und sturmerprobter Seeman eingestuft zu werden«, sagte Hasard lächelnd. »Außerdem haben wir ja jetzt Bill, dem wir mit väterlichem Ratschlag auf die Schultern klopfen können.« Er spähte wieder nach Nordwesten. Inzwischen hatte sich auch für ihn das Objekt in der Ferne so weit über die Kimm geschoben, daß er es sehen konnte. »Wir gehen näher ran«, entschied der Seewolf. »Profos, anluven, wir nehmen Kurs Nord-Nordwest!« »Hölle und Teufel«, dröhnte Carberrys mächtiges Organ über Deck. »Laufen wir jetzt schon wieder Kuba an? Was meinen 11
Bedarf betrifft, ich hab die Schnauze gestrichen voll von dieser Scheißinsel, auf der es von Dons nur so wimmelt und ...« »Profos«, unterbrach Hasard ihn. »Soll das ein Aufruf zur Meuterei sein?« »Ich - nein, Sir - ich meinte nur ...« »Backbord voraus treibt ein Boot, das ich näher untersuchen will, falls du’s noch nicht begriffen hast«, polterte Hasard zurück. »Geht dir jetzt ein Licht auf?« »Aye, Sir.« »Dann beweg dich und befolge meine Befehle, sonst ziehe ich dir die Haut in Streifen von deinem Affenarsch!« »Aye, aye, Sir!« Die Männer auf der Kuhl bogen sich vor Lachen, besonders, weil der Seewolf soeben Carberrys Lieblingsspruch angewandt hatte. Dann aber war der Profos mitten zwischen ihnen und ranzte sie an: »Ihr Himmelhunde, ihr Kanalratten, ihr Bäckerburschen, was steht ihr rum und glotzt Löcher in die Luft? Wollt ihr wohl springen, oder soll ich euch anlüften, was, wie? Ihr Pökelheringe und Saufsäcke, braßt an, packt zu, hopphopp, daß die Schwarte kracht, sonst bringe ich euch verlausten Decksaffen die Flötentöne bei!« Dieses Gebrüll war sozusagen Tradition an Bord der ›Isabella VIII.‹ und einfach nicht mehr wegzudenken. Mehr noch, Carberrys Flüche wären von den Männern vermißt worden, hätten sie gefehlt, denn sie wußten ja, daß er es nicht so meinte, wie er’s schrie, und außerdem war er im Grunde seines Herzens eine Seele von Mensch. Hasard hatte seinen Platz am Backbordschanzkleid des Quarterdecks nicht verlassen. Unausgesetzt blickte er jetzt durch das Spektiv und beobachtete. Die ›Isabella‹ lief raumschots bei aus Südwesten einfallendem Wind und segelte auf das gesichtete Boot zu. 12
»Dan hat recht«, sagte Hasard. »Es ist so was Ähnliches wie ein kleines Beiboot. Liegt sehr tief im Wasser.« »Kommt mir verdammt merkwürdig vor«, meinte Ben Brighton. »Spanisch, wolltest du wohl sagen«, sagte der alte Donegal Daniel O’Flynn. Er war auf seinen hölzernen Krücken herangehumpelt. »Wenn ihr mich fragt, das ist ein Trick der Dons, um uns reinzulegen.« »Abwarten«, erwiderte Hasard. »Erst mal sehen wir uns das Boot an. Ich bin ein von Natur aus neugieriger Mensch. Manchmal hat mir das Schätze, manchmal knüppeldicken Verdruß eingebracht, aber, was soll’s!« Punktum und basta. Der Seewolf verstand in gewissen Dingen nun mal keinen Spaß und duldete keinen Widerspruch. Es war eine feine Sache, die gesamte Mannschaft in Besprechungen miteinzubeziehen und stets jedem Mann die Achtung zu schenken, die er verdiente. Aber ein Kapitän blieb nun mal der Kapitän an Bord eines Segelschiffes. Daran gab es nichts zu rütteln. Falle oder nicht, Hasard mußte sehen, was es mit dem Boot auf sich hatte. »Deck!« schrie Dan aus dem Großmars. »In der Nußschale liegt ein Mann. Zwischen den Duchten, deswegen seh ich ihn erst jetzt. Und, verflucht und zugenäht, ja - der Kahn sauft ab!« Hasards Stirn legte sich in Falten. Die Angelegenheit gefiel ihm immer weniger. Konnten die Spanier diese List ausgeheckt haben? Sie ließen einen »Schiffbrüchigen« von der ›Isabella‹-Crew auffischen, und dieser Bursche war dann ein Spion, ein Saboteur. Na schön, und wenn es so war? Hasard wollte es wissen. Von einem einzelnen Mann ließ er sich schon nicht übers Ohr hauen. Vielleicht hatte sich herumgesprochen, was er und seine Männer jüngst auf Jamaica erlebt hatten. Die Spanier würden 13
ihm liebend gern die Schuld an allem in die Schuhe schieben, das war ja ihre Spezialität. Als die ›Isabella‹ an Jamaica vorbeigesegelt war, hatte Dan in einer Bucht Rauchzeichen entdeckt. So hatten sie schließlich Bill und dessen Vater gefunden. Beide waren von einem spanischen Schiff geflüchtet, auf dem sie, Engländer, zur Bordarbeit gepreßt und ständig schikaniert worden waren. In einem günstigen Augenblick waren sie geflohen. Bills Vater war jedoch bereits sterbenskrank gewesen, für ihn gab es keine Rettung mehr. Er hatte Bill dem Seewolf überantwortet und ihm das Geheimnis des von ihm versteckten Schatzes offenbart. Danach war er aus dem Diesseits geschieden. Eine Zauberin war aufgetaucht, eine alte Frau, die den Voodoo-Kult der Eingeborenen von Hispaniola beherrschte. Sie hatte von Hasards drei Kindern gesprochen, hatte Arkana erwähnt und gezeigt, wie Hasard sich mit dem Stachel des Armreifs in Trance versetzen konnte. Später hatte sie den spanischen Kapitän Rafael Virgil zum Tode verurteilt und symbolisch umgebracht. Am darauffolgenden Morgen war Hasard mit jenem Virgil zusammengestoßen. Eine Schlacht war entbrannt, die Seewölfe hatten den spanischen Segler geentert. Als Hasard sich Virgil vor die Degenklinge hatte holen wollen, war dieser tot zusammengebrochen. Der Fluch der alten Frau hatte sich erfüllt. Wirklicher Zauber oder Mummenschanz? Hasard wußte es nicht, und er wollte auch nicht mehr Gedanken daran verschwenden als notwendig. Nur eins war logisch. Virgils jähes Ende hatte den Haß der Spanier gegen die Seewölfe neu genährt. Die ›Isabella‹ hatte nach dem Verlassen Jamaicas Kurs auf die Schlangeninsel genommen. Dort wollte Hasard Siri-Tong, Thorfin Njal und Jean Ribault treffen. Die Rote Korsarin und der Wikinger hatten sich mit dem schwarzen Segler zur Schlangeninsel begeben. Sie mußten dort 14
inzwischen auch eingetroffen sein. Ribault indes befand sich nach Hasards Berechnungen ziemlich in der Nähe. Er hatte vor der Schlangeninsel noch Tortuga anlaufen wollen, um dort ein paar »Kleinigkeiten« zu erledigen. Es ging dabei um Ausrüstungsgegenstände für den schwarzen Segler, das einstige Schiff des legendären Piraten El Diabolo. Die ›Isabella‹ hielt auf das kleine Boot zu. Es sank, das Wasser stand bereits fast bis zu seinen Duchten. Der Mann im Inneren war bis auf die Haut durchnäßt. Warum unternahm er nichts? Dan O’Flynn gab die Antwort auf die stumme Frage Hasards. »Der Bursche ist ja gefesselt!« rief er verblüfft aus. »Teufel auch, so eine Schweinerei!« »Ja«, sagte Hasard. »Er ist mitten in der Windwardpassage ausgesetzt worden, damit er ein grausiges Ende findet. Er wird nicht ertrinken, Männer, ihm steht etwas noch Schlimmeres bevor. Seht doch.« Ja, sie erblickten jetzt alle die schwarzen Dreiecke, die lautlos durch die See strichen und den bedauernswerten Mann einkreisten. Es waren die Rückenfinnen von Haien. Hasard dachte zunächst, der arme Teufel sei bewußtlos. Aber dann löste sich ein Schrei aus dem Boot und wehte zur ›Isabella‹ herüber. Ein erschütternder Laut. »Himmel, das kann keine Berechnung sein!« stieß Hasard hervor. »Unmöglich. Der Mann ist des Todes, wenn wir ihn nicht auffischen. Profos, anluven! Nehmt Fahrt aus dem Schiff, fiert ein Boot in Lee ab und pullt sofort mit mir zu dem Fremden hinüber!« Kurze Zeit später saß Hasard selbst auf der Heckducht des Beiboots und hielt die Ruderpinne, während sechs seiner Männer - darunter Carberry und Big Old Shane - mit aller Kraft pullten. Hasard sah, wie ein Hai sich besonders nahe an das sinkende Boot heranschob. Von dem Boot ragte gerade nur noch das 15
Dollbord aus den Fluten auf, in den nächsten Minuten würde es gänzlich verschwinden. Der Hai glaubte, leichts Spiel zu haben. Er schob tatsächlich sein Mördermaul ein Stück aus dem Naß. Ein mit nadelspitzen Zähnen bewehrtes Maul klaffte auf. Hasard erhob sich. Mit einem Ruck riß er die doppelläufige sächsische Reiterpistole aus dem Gurt. Er spannte den Hahn, zielte und drückte ab. Der RadschloßMechanismus setzte sich in Bewegung. Schnurrend lief das Rad ab, Funken sprühten, das Zündkraut fing Feuer. Dann brach der erste Schuß. Der Hai zuckte. Seine Schwanzflosse peitschte im Wasser und wühlte es zu Gischt auf. Hasard mußte auch den zweiten Schuß aus dem Lauf jagen. Erst da ließ das Tier von seinem Opfer ab und tauchte in die Tiefen der See. Seine Artgenossen folgten ihm. Sie hatten das Blut gewittert und brachen auf, den Angehörigen der eigenen Art zu reißen. »Ho!« schrie Dan O’Flynn aus dem Großmars. »Arwenack!« Die Crew wiederholte den alten Schlacht und Siegesruf der Seewölfe. Hasard grinste. Zum Nachladen der Pistole blieb keine Zeit, er würde es später erledigen. Jetzt ging es erstmal um den gefesselten Mann im Meer. Sie gingen bei dem absaufenden Boot längsseits, und Hasard kriegte den armen Teufel selbst mit sicherem Griff an den Schultern zu fassen. Er zerrte ihn hoch. Dabei mußte er aufpassen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als er ihn über das Dollbord hinweghievte, geriet ihr Boot bedrohlich ins Schwanken. Hasard lachte nur. Sie scherten sich einen Dreck darum. Carberry, Shane und die anderen legten sich nur in die Riemen und versetzten das Boot in neue Fahrt. Hasard bettete den Fremden zwischen die Duchten. Erst jetzt bemerkte er die blutigen Striemen auf dessen Rücken. Frische Wunden. Spuren einer grausamen Prozedur, der Behandlung mit der neunschwänzigen Katze. 16
Trotz der Schmerzen und der Ängste, die er durchgestanden hatte, konnte der Mann noch grinsen. »Gracias«, sagte er als erstes. »Danke. Das werde ich euch nie vergessen.« Hasard grinste zurück und antwortete in perfektem Spanisch: »Schon gut, Mann. Gern geschehen. Nicht der Rede wert. Schone dich jetzt, du hast es nötig.«
2. Das Beiboot wurde wieder auf die Leeseite der ›Isabella‹ gepullt und sehr schnell übergenommen. Hasard ließ den Spanier der Einfachheit halber im Boot mit hochhieven. Er und die sechs Ruderer enterten an der Jakobsleiter auf. Wenig später nahm die ›Isabella‹ wieder ihren alten Kurs auf. Während sie durch die Windwardpassage lief, verband der Kutscher den zerschundenen Spanier. Trotz der Ermahnungen Hasards und des Kutschers redete der Mann fast unausgesetzt. Sie erfuhren seinen Namen - Santino. Er berichtete, wie ihm mitgespielt worden war, erzählte von dem aus fünf Galeonen bestehenden Konvoi und von Kapitän Rolando Garcia y Marengo. »Dieser Hund!« Er ballte die Hände, daß das Weiße an den Knöcheln hervortrat. »Wie gern möchte ich dem gegenüberstehen, ohne Fesseln, mit einer Waffe in der Hand ...« »Langsam, langsam«, sagte Hasard. »Wir können dich gut verstehen. Wir haben auch schon vieles durchgemacht, sind als Rudersklaven und Gefangene ausgepeitscht und getreten worden. Einige von uns haben als Zwangsarbeiter auf Hispaniola arbeiten sollen, und sie wären elend dabei verreckt, wenn wir sie nicht befreit hätten.« »Genau«, sagte Old O’Flynn grimmig. »Und ich weiß, wie 17
das ist, wenn man in einem Boot mutterseelenallein auf offener See treibt. O Hölle, und ob ich das weiß!« Santino hatte schon wieder die Kraft und den Willen, sich aufzusetzen. Er hockte auf den Planken der Kuhl und blickte die Seewölfe an, einen nach dem anderen. »Du sprichst mit Akzent«, sagte er zu Old O’Flynn. »Wer seid ihr eigentlich? Doch keine Spanier.« Hasard schüttelte den Kopf. »Engländer. Korsaren Ihrer Majestät, Elisabeth I.« »Der Himmel steh mir bei«, flüsterte Santino. Hasard musterte ihn. »Du glaubst doch wohl nicht, daß wir dich erst aus dem Teich fischen, um dich dann umzubringen. So was tun wir nicht. Bleib also ganz ruhig und reg dich nicht auf.« »Bei uns ist auch mal ein Spanier gefahren«, erklärte der Profos in seinem holprigen Spanisch. »Valdez hieß der.« Matt Davies grinste so freundlich wie ein Haifisch. »Fehlt bloß noch, daß du ihn jetzt fragst, ob er Valdez kennt, Ed.« »Könnte ja sein ...« »Allmächtiger«, sagte Matt. »Erzähle mir mehr über diesen Konvoi«, forderte Hasard Santino auf. »Der muß sich doch jetzt vor uns befinden und bereits seit einiger Zeit die Windwardpassage hinter sich gebracht haben.« Santino senkte den Blick. »Ja. Aber ich möchte kein Verräter sein. Ich hasse Garcia y Marengo und seine Offiziere. Aber ich denke auch an meine Freunde.« »Was haben wir denn deiner Meinung nach vor?« fragte Ferris Tucker den Spanier. Santino schaute wieder auf und fixierte den rothaarigen Riesen. »Ganz einfach. Mit diesem schnellen Schiff werdet ihr den Geleitzug mühelos einholen. Und dann überfallt ihr ihn und kapert, was es zu kapern gibt. Das wird ein Massaker, nicht wahr?« 18
»Moment«, sagte Hasard. »Jetzt schätzt du uns falsch ein. Gut, wir ziehen gegen Spanien ins Feld und sind praktisch deine Feinde. Aber setze uns nicht mit irgendwelchen blutrünstigen Piraten auf eine Stufe. Man kann nicht alles über einen Kamm scheren.« »Du willst damit sagen, Korsaren sind anders als Piraten?« »Ja. Wir haben einen Kaperbrief der Königin.« Santino lief dunkel an. Er war ein mittelgroßer, nicht besonders kompakt gebauter Typ mit kurzem Haarschopf. Aber es steckte mehr Energie in ihm, als man ihm auf den ersten Blick zutraute. Schon hatte er sich halbwegs von dem Schock und seinen Schmerzen erholt. »Kaperbrief!« rief er anklagend. »Und damit glaubt ihr, das Recht verbrieft zu haben, über uns herfallen zu dürfen? Was unterscheidet euch denn in Wirklichkeit von den Piraten auf Tortuga, von den Vogelfreien, den Galgenvögeln und mordenden Teufeln?« Carberrys Miene verfinsterte sich. »He, Amigo, nun halt aber mal langsam die Luft an.« »Ihr könnt mich nicht zwingen, meinen Landsleuten in den Rücken zu fallen«, stieß Santino erregt hervor. »Ich habe gedacht, ihr seid Spanier. Wenn ich geahnt hätte, daß ihr Feinde seid, dann, dann ...« »Dann hättest du dich lieber von den Haien zerfleischen lassen«, ergänzte Ben Brighton den Satz. »Das wolltest du doch sagen, oder?« Der Mann beruhigte sich etwas, aber seine Stimme klang immer noch leidenschaftlich. »Nein. Natürlich nicht. Ich bin euch für die Rettung unendlich dankbar. Aber ich schätze, wir verstehen uns nicht.« Hasard ergriff wieder das Wort. »Ich verstehe dich besser, als du denkst. Gibt es bei dem Konvoi denn überhaupt etwas zu holen?« Santino senkte den Blick und schwieg. 19
»Du willst also nicht reden«, sagte Hasard. Santinos Stimme klang gepreßt. »Foltert mich doch. Na los, auf was wartet ihr noch?« Der Seewolf schüttelte den Kopf. »Siehst du, da sind die feinen Unterschiede zwischen Korsaren und Piraten. Aber denke von mir aus über uns, wie du willst. Daran kann ich dich nicht hindern.« Er beugte sich etwas vor, seine Stimme wurde eindringlich. »Nur versuche jetzt mal, die Dinge von einer anderen Seite zu betrachten. Dieser Kapitän Garcia y Marengo ist dein Todfeind geworden. Ihr beide habt noch ein Hühnchen miteinander zu rupfen. Gern würdest du ihm eins auswischen, habe ich recht?« Ruckartig hob Santino den Kopf. Sein Blick war flammend vor Zorn, aus seiner Miene sprach das heißblütige, rasch aufbrausende Wesen des Südländers. »Si, Senor. Und ob ich das will. Vor die Klinge würde ich ihn fordern.« »Dazu verhelfen wir dir«, sagte Hasard gelassen. »Und ganz nebenbei vereinnahmen wir die Ladung der Schiffe. Ohne deinen Kameraden etwas anzutun. Ist das ein Angebot?« Santino erhob sich ruckartig. Er stand gekrümmt und gab ein recht jämmerliches Bild ab mit seinen Verbänden, der zerfetzten Kleidung und dem gequälten Gesichtsausdruck. Hasard tat er leid, aber er konnte ihm diese Auseinandersetzung nicht ersparen. Immerhin spielte er, Hasard, mit offenen Karten und meinte es ehrlich mit dem Mann. Aber Santino begriff es nicht. »Darauf läuft es also hinaus!« schrie Santino. »Betrügen willst du mich! Das hätte ich mir gleich denken können, du verfluchter Engländer!« »Das geht zu weit, Bursche!« rief der Profos. Er streckte schon die Hände aus, um Santino zu packen. Hasard stoppte Carberry durch eine Gebärde. »Nicht, Ed. Laß ihn. Sein Verhalten spricht für ihn. Er hat Charakter - und Mut. Ich an seiner Stelle hätte mich nicht anders benommen.« 20
Santino lachte höhnisch auf. »Willst du mir jetzt Honig um den Bart schmieren? Darauf falle ich nicht herein. Ich bin nicht so dumm, wie du denkst, Hund von einem Engländer!« Hasard erwiderte ruhig: »Nur weiter, Santino. Übrigens nennt man mich El Lobo del Mar, den Seewolf.« »Der Seewolf!« Der Spanier taumelte rückwärts. Seine Augen waren so weit aufgerissen, daß sie hervorzuquellen drohten, sein Blick flackernd. »Das muß mir passieren, ausgerechnet mir! O Santa Maria, Dios, steht mir bei.« Er wich zurück, als sei Hasard ein Geist. Hasard wurde es zu bunt. Er schritt dem Mann nach - quer über die Kuhl zum Backbordschanzkleid. »Jetzt ist es genug, Santino«, sagte er. »Laß uns Frieden schließen und nicht mehr darüber reden. Du kriegst eine Kammer im Achterkastell und dann ...« »Nein!« Mit diesem Schrei warf sich der Spanier herum. Er rannte zum Schanzkleid, wollte wahrhaftig auf die Handleiste springen, darüber hinwegturnen und außenbords hechten. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, den Heldentod zu sterben. Lieber von den Haien zerrissen werden als vom Seewolf, so dachte er wohl. Carberry wirbelte zu spät herum. Shane, Blacky und ein paar andere ebenfalls. Nur Hasard stürmte wie der Teufel höchstpersönlich hinter dem Spanier her. Mit drei Panthersätzen war er neben ihm und erwischte ihn noch vor dem Schanzkleid. Santino schoß zwei, drei wilde Fausthiebe auf seinen Retter ab. Hasard riß seine Rechte hoch. Die Knöchel trafen Santinos Kinnspitze. Mit einem Ächzer sank er zusammen. Hasard fing ihn auf, damit er sich nicht noch beim Hinfallen Schaden zufügte. »Tut mir leid, Amigo«, sagte er. »Aber das mußte sein. Du spielst ja verrückt.« 21
Carberry stapfte wütend heran. »Einen Schwabberdweil sollte man diesem Strolch um die Ohren hauen, links und rechts.« »Laß mal, er besinnt sich irgendwann schon«, sagte Hasard. »Ed, du bringst ihn in eine Kammer des Achterkastells. Kutscher, du kümmerst dich um den Mann. Falls er wieder zu tanzen anfängt, sperrt ihr ihn kurzerhand ein. Und wenn er zu aufsässig wird, fesselt und knebelt ihr ihn.« »Aye, aye, Sir«, sagten die beiden gleichzeitig. Hasard wandte sich ab und stieg zum Quarterdeck hoch. Er stattete Pete Ballie, dem Rudergänger, einen Besuch ab und prüfte Kurs, Position und Segelstellung. Etwas später trat er nach vorn an die Balustrade zur Kuhl und hielt eine kurze Versammlung ab. »Woher der Konvoi kommt, wissen wir nicht«, sagte er. »Aber er will nach Havanna. Dort wird er sich dem großen Geleitzug anschließen, der um diese Zeit wieder zusammen gestellt wird. Und in ein paar Tagen brechen die Dons heim nach Spanien auf. Dieser Kapitän Rolando Garcia y Marengo gehört mit seinen Schiffen sicherlich zur Tierra-Ferma-Flotte. Bestimmt haben die Kerle in Kolumbien und Venezuela herumgestöbert und auch die Inseln unter und über dem Wind einer Expedition unterzogen. Daher sind sie garantiert randvoll mit Schätzen. Bis unter die Halskrause.« »He!« rief Dan O’Flynn von oben aus dem Hauptmars. »Heißt das, daß wir uns die fünf Schiffe vorknöpfen?« »Wie hast du denn das so schnell herausgekriegt?« fragte der Seewolf grinsend. * Rund zwanzig Seemeilen nordöstlich des kubanischen Cabo Maisi, also schon außerhalb der Windwardpassage, holten sie den kleinen Geleitzug ein. Das war am Morgen des Tages nach Santinos Lebensrettung. 22
Der Spanier war inzwischen wieder recht gut zu Kräften gelangt. Das schmackhafte Essen, das der Kutscher ihm brachte, war eine zu große Versuchung für ihn. Nach dem Fraß, den er auf der ›Libertad‹ heruntergewürgt hatte, mußte ihm die ›Isabella‹ mit ihrer ausgezeichneten Verpflegung wie das Paradies auf Erden erscheinen. Sonst verhielt er sich ruhig. Hasard hatte ihn aber vorsichtshalber doch in der Kammer einsperren lassen, damit er seine Landsleute nicht durch irgendein Zeichen warnen konnte. So gewaltig sein Haß auf den Kapitän auch war, so groß war gleichzeitig sein Kameradschaftsgeist. Hinzu kam ein Schuß Patriotismus - kurzum, Hasard konnte ihm nicht trauen, so sehr er ihn auch verstand. Hasard hatte den Großmars erklommen und hockte nun zwischen Dan und Arwenack. In der Optik des Kiekers, den er vors Auge gehoben hatte, nahmen sich deutlich die Erkennungszeichen der fünf feindlichen Schiffe aus. Die Toppen mit den Flaggen erhoben sich aus einem blassen Morgendunst, der sich allmählich verlor. Stolz flatterten die Flaggen - die der spanischen Galeonen mit einem gekrönten schwarzen Adler und dem Band des Ordens vom Goldenen Vlies bei allen fünfen, die ›Libertad‹, das Flaggschiff, war sofort an der zusätzlichen Standarte zu erkennen, die sie im Großtopp führte. Das war die Fahne des spanischen Königs mit den Wappenzeichen von Kastilien und Leon, Aragon, Sizilien, Granada und Portugal auf der einen und einem Kreuz auf der anderen Seite. »Ehrgeizig und eingebildet ist er, der Kapitän«, sagte Hasard. »Die Flagge des Königs hißt man sonst nur, wenn ein Flotte einen Hafen verläßt, während einer Schlacht und am Festtag des heiligen Jakob, des Schutzpatrons Spaniens.« Dan sah ihn verdutzt an. »Wenn man dich so reden hört, kann man dich glatt für einen waschechten Don halten. Wie du das 23
weißt.« »Je besser man den Feind kennt, desto eher überlistet man ihn«, erwiderte der Seewolf. »Der Konvoi segelt mit Backstagswind Kurs West-Nordwest. Das Ziel ist Havanna. In der Beziehung hat Santino uns also nicht angeschwindelt.« »Aber über die Ladung hat er nichts sagen wollen.« »Siehst du denn nicht, wie tief die Schiffe liegen?« »Ja. Scheinen wirklich randvoll zu sein. Hoffentlich nicht mit Tabak und Gewürzen.« Hasard grinste, er war seiner Sache sicher. »Ach, Unsinn. Ich frage mich nur, wie die Galeonen armiert sind. Ich will sie angreifen und mir eine nach der anderen herauspicken. Aber die Sache kann auch ins Auge gehen.« »Hissen wir doch die spanische Flagge«, sagte Dan. »Ganz sicher tun wir das. Wir sorgen dafür, daß Santino sich mucksmäuschenstill verhält und seine Landsleute nicht warnen kann. Dann spielen wir Dons und pirschen uns an. Aber trotzdem ...« »He«, sagte Dan. »So kenne ich dich ja gar nicht. Wieso hast du denn plötzlich Bedenken?« »Irgendwas behagt mir nicht. Ich schätze, es könnte noch eine böse Überraschung für uns geben. Ich habe so ein dummes Gefühl. Sonst gebe ich nicht viel darauf, aber dieses Mal glaube ich, es ist etwas daran.« »Die Zauberin von Jamaika hat schuld«, sagte Dan O’Flynn finster. »Und der Jonas, dieser Hund. Der hat uns Unglück gebracht.« Hasard wandte sich mit dem Spektiv nach Osten und suchte die Kimm ab. »Rede keinen Blödsinn. Ich finde nur, wir könnten Verstärkung gebrauchen. Nach meinen Berechnungen befindet sich Jean mit der ›Le Vengeur‹ irgendwo achtern von uns. Verdammt, wenn wir doch bloß auf ihn warten könnten.« Dan schüttelte den Kopf. Arwenack auch. »Geht nicht«, sagte Dan. »Wenn wir stoppen, verlieren wir 24
den Geleitzug aus den Augen.« Hasard setzte den Kieker ab und sah die beiden an. »Wem sagt ihr das, ihr Schlauberger?« Er steckte das Fernrohr weg, schwang sich über die Segeltuchverkleidung und enterte in den Luvhauptwanten ab. Wenig später hatte er das Gros seiner Crew auf Oberdeck versammelt, um das Problem noch einmal durchzusprechen. Die spanische Flagge hatte er vorsorglich hissen lassen. So konnte Rolando Garcia y Marengo, der sie ebenfalls bestimmt schon gesichtet hatte, keinerlei Verdacht schöpfen, sie wollten ihm an den Kragen. Er mußte sie für Landsleute halten. »Vielleicht sind die Schiffe stärker armiert, als wir glauben«, sagte Hasard noch einmal. »Das bedeutet, daß wir in einem knallharten Raid, wie ich ihn vorhabe, baden gehen könnten. Und ich will die ›Isabella‹ und meine Mannschaft nicht für etwas Derartiges opfern, bei dem wir noch nicht einmal mit Sicherheit wissen, wie die Beute aussieht. Mit anderen Worten: Wir müßten irgendwie Jean Ribault verständigen und zur Verstärkung rufen.« Bill, der neue Schiffsjunge, meldete sich zu Wort. »Signalisieren können wir Jean Ribault nicht. Zurückbleiben auch nicht, weil der Konvoi uns sonst durch die Lappen geht.« Carberry entblößte seine großen Zähne. »Kluges Bürschchen. Aus dir wird noch mal was.« »Ich melde mich freiwillig!« rief Bill. »Freiwillig?« sagte Hasard. »Wozu?« »Ihr setzt mich in einem Boot aus, bis die ›Le Vengeur‹ meinen Kurs kreuzt«, erklärte Bill. »Jean Ribault kennt mich nicht, aber er nimmt mich bestimmt an Bord. Auf diese Weise berichte ich ihm alles und teile ihm euer Anliegen mit.« Carberry staunte nicht schlecht. »Ho, du bist wohl des Teufels, Knabe, was, wie? Jetzt schießt du glatt übers Ziel hinaus. Steck zurück, oder ich trete dir in deinen Achtersteven.« 25
»Nein«, sagte Bill. »Ihr könnt hin und her überlegen, mein Vorschlag ist der einzig brauchbare, um die ›Le Vengeur‹ heranzuholen.« »Naseweis«, röhrte Carberry. Er streckte schon wieder die Pranken aus. »Ich finde die Idee nicht schlecht«, sagte Smoky. »Und Bill will sich doch bewähren, um so schnell wie möglich ein richtiger Seewolf zu werden. Hab ich recht, Bill?« »Hast du«, erwiderte der Junge strahlend. Hasard hatte Bedenken. »Es gibt zu viele Wenn und Aber. Was ist, wenn Jean einen anderen Kurs nimmt oder aufgehalten worden ist? Was ist, wenn dich irgendein zufällig aufkreuzender Spanier oder Piratensegler zu packen kriegt? Hast du daran auch gedacht, Bill?« »Habe ich. Für den Fall lasse ich mir ein paar Ausreden einfallen.« Carberry lachte spöttisch auf. »Die ziehen dir das Fell über deine grünen Ohren, bevor du Piep sagen kannst. Schieb ab, Knabe, schnapp dir den Dweil und schrubb die Planken, bis sie spiegelblank sind.« »Hasard«, sagte Bill fast flehend. »Gib mir doch die Chance. Ich bin keine Memme. Ich habe das Recht, eine Mutprobe abzulegen. Bitte, sag doch ja.« Er gab keine Ruhe mehr, bis Hasard endlich zustimmte. Es wurde ein denkwürdiger Moment, als dann das Boot abgefiert und mit dem Jungen in der See zurückgelassen wurde. Nur eine sanfte Dünung bewegte das Wasser, aber dennoch war es Hasard nicht sehr behaglich zumute. Bills Vater hatte ihm doch die Verantwortung für den Jungen übertragen. Andererseits: Bill konnte nicht mit Samthandschuhen angefaßt und ewig geschont werden. Er mußte auch die Härten des Seemannslebens kennenlernen. Vielleicht war dies wirklich der richtige Augenblick dafür. 26
Bill wußte, was er Jean Ribault zu sagen hatte. Hasard hatte ihm alles noch einmal genau eingeschärft. Das Boot blieb im phosphoreszierenden Kielwasser der ›Isabella‹ zurück und wurde immer kleiner. Die Seewölfe segelten dem Geleitzug nach. Sie hatten keine Schwierigkeiten, Fühlung zu halten. Die spanischen Galeonen waren wegen ihrer Ladung langsam und behäbig wie fette Seekühe.
3. Das Boot war groß, eine der beiden schweren Jollen der ›Isabella‹. Bill hatte auf der mittleren Ducht Platz genommen und blickte der ›Isabella‹ nach. Schon bald fühlte er sich wie ein richtiger Kapitän an Bord seines eigenen Schiffes. Erhaben kam er sich vor, erwachsen. Als aber die ›Isabella VIII.‹ hinter der westlichen Kimm verschwunden war, wurde ihm doch ein bißchen mulmig zumute. Unwillkürlich mußte er an Santino denken, den armen Teufel, der fast von den Haien gefressen worden wäre. Bill prüfte den Boden der Jolle, fand aber keine Lecks. Im stillen sprach Bill Ferris Tucker und seinen Helfern, die das Boot geteert und kalfatert hatten, seine Anerkennung aus. Es war eine ungeheure Erleichterung, sich in einem absolut dichten, dickwandigen Boot zu wissen. Schön, schwimmen konnte er, aber was nutzte das, wenn er mit der Jolle absoff? Haie würden ihn bald umzingelt haben. Wenn die ihr Opfer richtig in Panik versetzt hatten, griffen sie an. Bill seufzte. Er verscheuchte die düsteren Bilder aus seinem Geist und beschäftigte sich mit dem Proviant, den der Kutscher ihm eingepackt hatte. Immerhin konnte es einige Zeit dauern, bis die ›Le Vengeur‹ auftauchte. Vielleicht verstrich die ganze Nacht darüber. Und wenn Jean Ribault und Karl von Hutten, die beiden Eigner des 27
Schiffes, nun im Dunkeln passierten und ihn nicht sichteten? Was dann? »Hey, Mann, nun mach aber mal halblang«, sagte Bill im Selbstgespräch. »Das wollen wir doch nicht hoffen.« In den folgenden Stunden führte er mehrfach so großspurige, im Grunde nichtssagende Reden mit sich selbst, um sich Mut einzuflößen. Der Kutscher war ein netter Kerl, fand Bill. Er hatte ihm nicht nur Speckseiten, Pökelfleisch, Schiffszwieback und Wasser mitgegeben, nein, da war noch mehr im Proviantbeutel. Rosinen zum Beispiel. Bill hatte schon erfahren, wie der Kutscher die hortete und wie er sich aufregte, wenn Arwenack die süßen Dinger zu fassen kriegte. Also war es was ganz Besonderes, Rosinen mit auf den Weg zu kriegen. Bill wußte es zu schätzen. Beinahe andächtig kaute er darauf herum. Rosine um Rosine verzehrte er, dann befaßte er sich mit dem Speck, dem Fleisch, dem Zwieback, Wasser, ein paar sauren Heringen, die der Kutscher vorzüglich eingelegt hatte. Schließlich bremste sich Bill. Himmel, sein Hunger war ja nicht von schlechten Eltern! Aber wenn er so weiterstopfte, blieb von dem Proviant bald nicht mehr viel übrig. Falls er aber Tage in der Jolle zubringen mußte, sah er ganz schön dumm aus. »Teil dir den Proviant ein«, sagte er. »So geht das nicht weiter. Disziplin, Bill. Sing von mir aus ein Lied oder tu sonst etwas, aber hör mit der verdammten Fresserei auf, zur Hölle noch mal.« Und er sang. Von Kaperfahrten, Teerjacken, Beachcombern, Landhaien und Frauenzimmern. Es war ein wildes, schräges Lied, und Bill steigerte sich richtig in seinen Eifer hinein, aber dann setzte er urplötzlich aus. Entgeistert starrte er auf die Wasserfläche. Ein schwarzes Dreieck teilte das Naß sanft und strich auf ihn 28
zu. Kurz vor der Bordwand der Jolle drehte es ab, wandte sich nach achtern, glitt am Heck vorbei und dann zum Bug. Bill faßte sich an die Stirn. Seine Fingerkuppen wurden dabei feucht. Er spürte, wie ihm der Schweiß von der Stirn über das Gesicht rann. »Ein Hai«, stammelte er. »Hölle und Teufel, ein verdammter Hai.« Er hockte wie gelähmt da, nur seine Augen bewegten sich in den Höhlen und verfolgten mit ihrem Blick den Hai. Der rundete inzwischen den Bug der Jolle und schnürte gleich darauf wieder an der Bordwand entlang. Er beschrieb eine elliptische Bahn. Bill leckte sich die spröde gewordenen Lippen. Ja, konnte sein Lied denn das Tier angelockt haben? Unsinn, du siehst ja Gespenster, die Biester reagieren auf Musik nicht, sagte er sich im stillen. Es war also ein Zufall. Oder eine zwangsläufige Gegebenheit, weil nichts, aber auch gar nichts länger als ein paar Stunden in der Karibik treiben konnte, ohne die grauen Mörder mit den spitzen Zähnen anzulocken. Auf jeden Fall war der Hai kein Geist, sondern eine sehr reale Bedrohung. »He, Bill«, sagte der Junge. »Du hast doch Waffen. Verflixt, warum hast du eigentlich nicht gleich daran gedacht?« Unter den Duchten lagen eine Muskete mit Steinschloß, eine Pistole mit Schnapphahn Schloß, ein gewichtiger Schiffshauer, und außerdem hatte Bill noch ein Messer im Gurt stecken. Er klaubte die Muskete auf. Zufrieden betrachtete er sie, die Angst vor dem Hai wich wieder etwas. O ja, er konnte mit so einem Schießeisen sehr wohl umgehen und wußte, wie man es abfeuerte und nachlud. Genügend Pulver, Kugeln und Material zum Verdammen der Ladungen hatte er auch mitgenommen. Also, was wollte er mehr? Bill spannte den Hahn der Muskete und legte auf die Rückenflosse des Hais an. Der Bursche schob sich wieder an 29
der Backbordseite vorbei. Fast gemächlich sah das aus. Bill folgte mit dem Musketenlauf der Bewegung. Dann zog er etwas tiefer und brauchte nur noch abzudrücken, um das Biest zu treffen. Mit einem guten Schuß würde er den Hai womöglich sofort ins Jenseits befördern. Aber Bill zögerte. Wieder überlegte er. Das Blut des verwundeten Hais würde seine Artgenossen anziehen. Bill hatte ja bei der Rettung von Santino, dem Spanier, erlebt, wie gierig dieses Tiere waren. Sie hatten glatt den vorwitzigen Hai angegriffen, den der Seewolf mit zwei Schüssen von der Fährte des Spaniers gebracht hatte. Also. Schoß er, dann lockte er nur weitere Haie an. Außerdem war so ein Musketenschuß weithin zu vernehmen. Er konnte noch andere Gegner auf den Plan rufen. Zweibeinige. Bill legte die Muskete wieder weg und arretierte dabei den Hahn in Ruhestellung. Er futterte die letzten Rosinen auf, dann nahm er eine aufrechte, straffe Haltung auf seiner Ducht ein. Probeweise pullte er ein paar Schläge. Die Riemen wogen schwer. Man erlahmte rasch bei dieser Arbeit, aber man verschaffte sich Muskeln. Ein paarmal glitt der Hai sehr nahe unter einem der Riemen hindurch. Bill war versucht, ihm einen deftigen Hieb mit dem Holz zu verpassen. Aber er ließ es lieber. Er hatte jetzt eine neue Einstellung zu dem stummen Begleiter gefunden, so eine Art friedliches Einvernehmen. Solange der Hai nicht gerade zu ihm in die Jolle stieg, brauchte er sich nicht gegen ihn zu verteidigen. Und sein Element würde er schon nicht verlassen, das war gegen die Gesetze der Natur. Schließlich war er kein Seehund, der auch an Land herumwatscheln konnte. Bill lernte, was Selbstüberwindung war. Und Beherrschung. Ein Seewolf schoß und schlug nicht gleich wild drauflos, er wußte jede Lage abzuwägen und sich darauf einzustellen. Das also war das Geheimnis. Bill war richtig stolz auf diese Erkenntnis. Er war so tief in 30
seine Gedanken verstrickt, daß er den Segler an der östlichen Kimm erst ziemlich spät bemerkte. Als er ihn dann entdeckte, erschrak er zutiefst. Das Schiff war bereits so weit heran, daß er es mit bloßem Auge erkennen konnte. Den Kieker, den Smoky ihm zugesteckt hatte, brauchte er also gar nicht mehr anzuwenden. »Der hat dich überrumpelt, Bill«, sagte er. »Auf der ›Isabella‹ erzählst du das am besten keinem. Hölle, es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen und nicht jeder gibt einen guten Ausguck ab wie Dan O’Flynn, aber den da hätte ein Blinder mit ‘nem Krückstock auf größere Entfernung als du entdeckt.« So ging er mit sich selbst zu Gericht. Lektion zwei war aufgenommen und verarbeitet. Augen aufhalten! Das Meer bot keine Versteckmöglichkeiten, und doch konnte sich ein Schiff an einen Unaufmerksamen heranpirschen. Bill verengte die Augen zu Schlitzen. »Und wer ist das nun? Eine Karavelle, rank und schlank, zwei Masten mit Lateinersegeln an langen Gaffelruten! Mann, ich wette meinen Kopf, daß das die ›Le Vengeur‹ ist!« Er stand auf und begann zu winken. Bald konstatierte er, daß die Karavelle ihren Kurs änderte und nun direkt auf ihn zurauschte. Bill lachte und tanzte zwischen den Duchten der Jolle, daß sie zu schwanken anfing. Irgendwie griff die Stimmung auf den Hai über. Er schwamm jetzt schneller. Entweder war er nervös geworden - oder die Vorfreude stachelte ihn an. Kurze Zeit später war der schnelle Segler heran, und Bill hatte Gelegenheit, die ehemalige ›Isabella VII.‹ in ihrer vollen Größe zu bewundern. So hatte die ›Le Vengeur‹ nämlich geheißen, als Jean Ribault, Karl von Hutten und die anderen noch zusammen mit Philip Hasard Killigrew auf diesem Schiff gefahren waren, unter Hasards Kommando. Später, in Europa, hatten sich ihre Wege getrennt. Aber sie waren beste Freunde geblieben. Und ihre Kurse kreuzten sich immer wieder. Jüngst, 31
das hatte der Seewolf Bill selbst erzählt, hatten sie sich in der Bucht von Little Cayman getroffen und drei spanische Schiffe versenkt. Auf diese Weise hatten sie sich Material für die Reparatur des geheimnisvollen schwarzen Seglers beschafft. »Hallo!« rief Bill. »Wahrschau! Nehmt mich an Bord! Kapitän Ribault, Karl von Hutten - der Seewolf schickt mich!« Jean Ribault, der schlanke Franzose, stand auf dem Achterdeck der Karavelle und glaubte, seinen Augen und Ohren nicht zu trauen. Nils Larsen, der Ausguck, hatte den Jungen entdeckt, als sie in die Windwardpassage gestoßen waren. Von da ab hatten sie ihn unausgesetzt durch ihre Spektive beobachtet, aber keiner hatte eine Ahnung gehabt, wer der Junge wohl sein mochte. Und jetzt nannte dieser Teufelsbraten Hasards Namen! Karl von Hutten sagte genau das, was vor nicht allzu langer Zeit auch der alte O’Flynn an Bord der ›Isabella‹ erklärt hatte. »Vorsicht, Jean. Das könnte eine Falle der Spanier sein. Die Schurken sind zu allem fähig.« Jean lächelte. »Das Ganze riecht mir nicht nach einem Hinterhalt, mein Freund. Sei nicht zu mißtrauisch. Los, holen wir den Knaben, dann kriegen wir schon raus, ob ihn der Seewolf tatsächlich ausgesandt hat.« Schon das Beiboot erkannten sie eindeutig wieder, als sie es an Bord ihrer Karavelle hievten. »Ich freß einen Anker, wenn das nicht die Jolle der ›Isabella‹ ist«, sagte Jan Ranse, der blonde Holländer. Er war jetzt Steuermann bei Jean Ribault und dessen Miteigner. Bill kletterte strahlend an Deck. »Fein, daß ihr endlich erschienen seid«, begann er. »Ehrlich, die Zeit wurde mir allmählich zu lang. Ja, ja, ich weiß, auf See muß man Geduld haben, aber da war noch dieser idiotische Hai, dem ich am liebsten eins in die Schnauze gehauen hätte. Na, jetzt habe ich ihm ja ein Schnippchen geschlagen.« »Junge, Junge«, sagte Jan Ranse. »Deubel, nun schaut euch 32
diesen Dreikäsehoch an. Was der für eine Klappe hat!« »Wie heißt du?« wollte Karl von Hutten wissen. »Bill.« »Wie alt bist du?« fragte Jean Ribault. »Bald sechzehn.« Jean deutete eine Verbeugung an. Hinter ihm und Karl drängten sich inzwischen die Männer der Crew. Alle beäugten sie das Bürschchen wie ein fremdartiges Wundertier. »Willkommen auf der ›Le Vengeur‹, mein Freund«, sagte Jean. »Nun erkläre uns mal, was uns die Ehre dieser merkwürdigen Visite gibt. Bist du bereit, ja?« Bill verschränkte die Arme und schnitt eine ernste Miene. Dann berichtete er. Jean und Karl von Hutten kriegten immer längere Gesichter. Die Crew der ›Le Vengeur‹ verstand die Welt nicht mehr. Und Bill schien sich bei alledem prächtig zu amüsieren. Als Bill am Ende angelangt war, breitete sich erst mal belämmertes Schweigen aus. Jean Ribault brach es. Er legte den Kopf in den Nacken und rief zu Nils Larsen hoch: »He, Nils, siehst du die ›Isabella‹ etwa irgendwo?« »Nein, Sir.« »Nachsegeln müssen wir ihr«, versetzte Bill. »Setzt Vollzeug, damit wir noch rechtzeitig eintreffen, wenn der Seewolf den spanischen Konvoi aufbringt« Jean lächelte wieder. »Ganz so einfach ist das nicht. Stell dir mal vor, wir würden geradewegs in eine verdammte Falle der Spanier segeln.« »Warum denn wohl?« fragte Bill verdutzt zurück. »Die Dons sind geborene Intriganten und Schlitzohren«, entgegnete nun Karl von Hutten. »Wir müssen erst mal prüfen, ob du kein Spion bist, Freundchen. Da staunst du, was?« Ja, Bill war wie vor den Kopf geschlagen. Auf alles war er gef aßt gewesen, nur nicht auf dies! Etwas zerbrach in ihm. Er 33
hätte heulen mögen. Ja, erweckte er denn einen so zwielichtigen Eindruck? Jean und Karl schossen ein paar Fragen auf ihn ab, darunter beispielsweise : »Wie heißt der Affe?« »Arwenack«, antwortete Bill. »Wer ist die Rote Korsarin?« »Hasards Verbündete.« »Wie heißt sie?« »Siri-Tong.« »Und ihr neuer Steuermann?« »Thorfin Njal.« »Wer ist der Koch und Feldscher der ›Isabella‹?« »Der Kutscher.« »Was kann Old O’Flynn mit seinem rechten Bein alles machen?« »Es sich abschnallen und damit jemanden verprügeln, denn es ist aus Holz«, erwiderte Bill. »Stimmt«, sagte Jean Ribault. »Du hast die Schlacht gewonnen. Diese Einzelheiten kann nur einer der unseren wissen - ein Seewolf.« Damit war der Frieden wiederhergestellt. Bill strahlte über das ganze Gesicht. Einen Seewolf hatte dieser kühne Franzose ihn soeben genannt! Das war mehr wert als alles andere. »Danke, Sir«, stammelte er, und: »Verzeihung, Sir, ich meine - vielleicht war ich zu vorlaut.« Karl von Hutten lachte und klopfte ihm auf die Schulter. »Schon gut, mach dir nichts daraus, Bill. Dan, dein Vorgänger, hatte auch von jeher eine große Klappe. Trotzdem ist er ein feiner Kerl.« »Alle Segel setzen!« rief Jean Ribault. »Wir klüsen hinter Hasard her, was das Zeug hält.« Die Crew fegte nur so auseinander. Die nackten Fußsohlen der Männer trommelten einen 34
Rhythmus auf den Decksplanken. Im nächsten Augenblick hingen einige wie die Affen in den Wanten, andere wieder bedienten Schoten und Brassen. Die ›Le Vengeur‹ ging hart an den aus Süden wehenden Wind.
4. Es war eine riesengroße Frechheit. Hasard hatte sich mit seiner ›Isabella VIII.‹ einfach an die Backbordseite des Geleitzuges geschoben. Er segelte jetzt parallel zu der stolzen ›Libertad‹ und hatte die Luvposition inne. Das war ein bedeutender Faktor bei dem Gefecht, das bald seinen Lauf nehmen würde. Aber wie beginnen? Schön, sie befanden sich nur etwa anderthalb Meilen von dem Flaggschiff entfernt. Rolando Garcia y Marengo akzeptierte sie voll und ganz als vollwertigen Spanier. Wenn überhaupt, dann hätte er schon viel eher Lunte riechen müssen. Aber sie wirkten ja so überzeugend mit ihrer spanischen Flagge im Großtopp. Hasard grinste. Gut möglich, daß der Kapitän dort drüben glaubte, einen Beschützer gewonnen zu haben. Es wäre nicht der erste Irrtum dieser Art gewesen. Hasard hatte sich in der Karibik schon einmal als »Geleitschutz« angeboten. 1579 war das gewesen, vor über drei Jahren, und gar nicht weit von seiner jetzigen Position entfernt, wenn man die Distanzen in dem richtigen Verhältnis sah. Damals hatte er einen Konvoi von sage und schreibe sechsunddreißig Galeonen aufgerieben. Und dann hatte er sich die ›San Josefe‹ geschnappt, das Flaggschiff. Sie war die ›Isabella V.‹ geworden. Don Francisco Rodriguez hatte gejammert und geflucht, aber es hatte ihm alles nicht genutzt. Er war auf Grand Cayman ausgesetzt worden, genau wie die 35
Huren, die die Seewölfe auf der ›San Josefe‹ entdeckt hatten. Letzteres hatte dann hoch ein übles Nachspiel mit Caligu, dem Piraten, ergeben. »Wie, Ben«, sagte Hasard, »wie zersplittern wir diesen verdammten Konvoi am besten?« »Vielleicht unternimmt der Kapitän der ›Libertad‹ etwas, das uns die Sache erleichtert.« »Was denn? Bisher hat er nicht reagiert. So wird das auch bleiben, wenn wir nicht die Initiative ergreifen.« Blacky erklomm das Achterdeck, er war rot im Gesicht. »Hasard, ich habe gerade Wache vor der Kammer von Santino. Mit Batuti. Also, dieser Spanier führt sich wieder wie besessen auf. Er tobt herum. Ich schätze, er will das Fenster aufbrechen, das wir ihm vernagelt haben, und seine Landsleute warnen.« »Fesselt und knebelt ihn«, ordnete der Seewolf an. Hart fügte er hinzu: »Wenn er dann immer noch Scherereien macht, haut ihr ihm was auf den Schädel. Ich habe wirklich nichts gegen den Mann, aber er muß begreifen, wer hier das Sagen hat.« »Aye, aye, Sir.« Blacky drehte sich um und lief davon. »He, ho!« rief Dan O’Flynn von seinem luftigen Posten. Hasard schaute zu ihm auf und gab ihm ein Zeichen. Dan schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. Fast hätte er vergessen, daß er ja jetzt ein Spanier war - und englisch gesprochen. Gerade noch rechtzeitig fing er sich und verkündete auf spanisch: »Die ›Libertad‹ signalisiert uns!« »Ja, jetzt sehe ich es auch«, murmelte Ben Brighton. »Verdammt, die verlangen von uns, daß wir beidrehen und stoppen. Jetzt fliegt der ganze Schwindel auf.« »Gar nicht«, entgegnete Hasard. »Es kommt uns wie gerufen.« Carberry erschien auf dem Achterdeck. Er grinste. »Es geht los, was, wie? Sollen alle blonden Typen unter Deck verschwinden? Muß ich mich auch verholen? Wir alle gehen nicht als brave, gottesfürchtige Dons durch.« 36
»Du bleibst«, befahl Hasard. »Keiner versteckt sich. Es gibt auch blonde Spanier. Wer noch nicht astrein die Sprache beherrscht, der soll gefälligst das Maul halten. Das gilt auch für dich, Profos.« »Mierda - ehm, aye, aye, Sir.« Er grinste, diesmal verunglückt, aber dann sackten seine Mundwinkel ganz herunter. Drüben über der einen Stückpforte des Flaggschiffs puffte nämlich eine weiße Wolke hoch - und Carberry sah es. »Vorsicht«, brüllte er. »Die schießen!« Hasard, Ben, Carberry und alle anderen zogen unwillkürlich die Köpfe ein. Das Wummern des Geschützes hallte zu ihnen herüber. Dann heulte die Kugel heran. Sie riß dicht vor dem Bug der ›Isabella‹ eine steile Wasserfontäne hoch. Gischtend und sprühend fiel das Gebilde wieder in sich zusammen. »Diese Drecksäcke«, ächzte der Profos. »Die hätten uns beinahe die Blinde wegrasiert.« Ferris Tucker stieß ihn an. »Nicht englisch reden, du Arsch.« »Du sprichst ja auch nicht spanisch, du Bulle.« »Verdammt«, sagte Ferris. Auf spanisch. Dan meldete: »Sie signalisieren, daß wir nicht schnell genug ihr Kommando befolgt haben. Wir sollen sofort beidrehen.« »Beidrehen!« schrie der Seewolf. Er erlebte eine wirklich herbe Überraschung, und gleichzeitig sah er seine dumpfen Ahnungen bestätigt. Auf der ›Libertad‹ gingen jetzt immer mehr Stückpforten hoch. Mehr, als man vorher hatte zählen können. Die Erklärung dafür war einfach. Sehr logisch. Rolando Garcia y Marengo hatte seine dreimal verfluchte Galeone tarnen lassen. Sie wirkte wie ein ganz normaler Dreimaster der herkömmlichen Bauart, wenn man nicht gerade dicht davorstand und sich sozusagen die Nase an der Bordwand stieß. 37
In Wirklichkeit war diese ›Libertad‹ eine feuerspeiende Festung zur See. Ein Schiff, das Engländer und Piraten in der Karibik das Fürchten lehren sollte. Hasard ließ die gesamte Segelfläche wegnehmen. Rasch verlor die ›Isabella‹ an Fahrt und dümpelte auf der See. Der gesamte Konvoi war auf Garcia y Marengos Geheiß hin ins Stocken geraten. Jetzt verhielten alle fünf Schiffe. Die ›Libertad‹ drehte mit dem Bug in den Wind, so daß sie zur ›Isabella‹ parallel lag und immer in der Schußlinie der Geschütze blieb. »Vierzig Kanonen auf einer Seite«, sagte Ben respektvoll. »Wer hätte das gedacht?« »Keiner. Die Tarnung ist vorzüglich«, erwiderte Hasard. »Mir schwante so was, aber Genaues konnte ich auch nicht sagen. Schließlich bin ich kein Hellseher. Vorläufig bleibt uns nichts anderes übrig, als klein beizugeben - falls wir nicht zusammengeschossen werden wollen. Allmächtig sind wir auch nicht, Ben.« »Bestimmt nicht. Aber was wollen die Dons von uns?« Hasard antwortete nicht. Er blickte zur ›Libertad‹ hinüber. Was hatte Garcia y Marengo zu diesem plötzlichen Entschluß bewegen? Hatte er sie etwa durchschaut? * Stumm drohten die vierzig Geschütze zur ›Isabella VIII.‹ herüber. Hasard wußte den Kapitän einzustufen, bevor er ihn überhaupt richtig gesehen hatte. Überheblich, launisch, unberechenbar - das mußten nach Santinos Schilderungen die wesentlichen Charakterzüge des Kerls sein. Durchaus denkbar also, daß er plötzlich wieder losfeuerte. Aus allen Rohren vielleicht. Hasard hätte zurückschießen lassen, aber es wäre ein ungleiches Ringen geworden. Mit jeder 38
Breitseite konnte er dem Spanier nur acht 17-Pfünder Kugeln präsentieren. Und die Überlegenheit der ›Isabella‹, die sie durch die überlangen Rohre ihrer Culverinen gewann, konnte er hier wegen der geringen Distanz zwischen den Schiffen auch nicht zur Geltung bringen. Er zwang sich zur Ruhe. »Sie fieren ein Boot ab«, sagte Ben. Hasard schaute zu. »Achtung, Männer. Es darf nicht auffallen, daß wir gefechtsklar sind. Ed, die Jungs sollen sich von mir aus so vor die Geschütze stellen, daß sie fast alles mit ihren dicken Hintern verdecken. Und verplappert euch nicht.« »Nein, Sir«, erwiderte Carberry. Während er zur Kuhl marschierte, kratzte er sich an seinem Rammkinn. Teufel auch, die Sache war ihm nicht geheuer. Sie gefiel ihm nicht. Er war für klare Verhältnisse. Hasard blickte durch das Spektiv und beobachtete das Beiboot. Es hatte sich von der ›Libertad‹ gelöst und wurde von sechs Männern herübergepullt. Ein siebter hatte auf der Heckducht Platz genommen. Der Seewolf wußte seinen Namen, ohne daß er sich vorgestellt hatte. Juan Maria Ortuno, erster Offizier auf der ›Libertad‹. Santino hatte ihn erwähnt. Dieser Ortuno war ein aalglatter Typ. Dabei bissig wie ein Hund. Nach oben hin buckelte er, nach unten trat er. Hasard kannte die Sorte zur Genüge. Fast auf jedem Schiff, ganz gleich, aus welchem Land es stammte, fand man solche Typen. Stiefellecker, Bastarde, Schlitzohren. Man mußte sich höllisch vor ihnen in acht nehmen. »Das wird ein Fest«, sagte er leise. »Macht euch auf was gefaßt, Männer. Aber laßt mir um Gottes willen die Waffen im Gurt.« Das Beiboot der ›Libertad‹ ging an der Backbordseite der 39
›Isabella‹ längsseits. Carberry hatte eine Jakobsleiter oben am Schanzkleid belegen lassen. Sie baumelte fast bis zur Wasserlinie hinunter. Drei Männer enterten auf,Ortuno und zwei der Bootsgasten. Letztere blieben vor dem Schanzkleid auf der Kuhl stehen. Der Offizier schritt weiter, den Backbordniedergang zum Quarterdeck hoch und dann weiter bis aufs Achterdeck. Hier trat er vor Hasard hin. »Sind Sie der Kapitän auf diesem Schiff?« erkundigte er sich forsch. Der Seewolf schüttelte den Kopf. Er folgte einem jähen Impuls, als er das tat. Ben Brighton hielt unwillkürlich die Luft an. Er sah die tausend Teufel, die in Hasards eisblauen Augen tanzten, Hölle, den stach mal wieder der Hafer, und das ausgerechnet jetzt! Ortuno ließ einen verächtlichen Blick über das Hauptdeck schweifen. »Wo steckt der Kapitän? Etwa dort unten, unter dem gemeinen Volk? Das wäre denn wohl doch die Höhe!« Hasard wies nach achtern. »Da steht er, Senor.« Sein ausgestreckter Zeigefinger deutete genau auf Big Old Shane. Shane wäre am liebsten im Deck versunken. Verdammt, da gab es keinen Zweifel, der Seewolf hatte ihn ausgewählt, die vertrackte Rolle zu übernehmen. Warum bloß? War das eine ganz neue Masche? Oder blickte Hasard mal wieder weiter als alle anderen? »Sie«, sagte Juan Maria Ortuno. Er stelzte auf den graubärtigen Riesen zu. »Sie, Capitan, wie ist Ihr Name?« »Don Alirio de Lares«, erwiderte Shane, weil ihm gerade nichts Besseres einfiel. Woher sollte er aus dem Stegreif denn einen anderen wohlklingenden, einem Kapitän angemesseneren Namen nehmen? Da hielt er sich lieber an authentische Quellen. Alirio Lares war ein Werftbesitzer in Vigo. Ein guter Mann, der ihnen einmal ihre ›Isabella VII.‹ auf dem Trockendock überholt hatte, nachdem sie einen fürchterlichen Sturm abgeritten hatten. 40
Diesen Lares hatte Shane noch in wohlwollender Erinnerung, und deswegen erhob er ihn jetzt kurzerhand in den Adelsstand und »lieh« sich seinen Namen. »So, so.« Ortuno hatte die Hände auf dem Rücken gekreuzt und wippte auf den Stiefelspitzen. »Don Alirio de Lares. Aus welcher Region stammen Sie denn?« Shane hätte ihm am liebsten eine Maulschelle verpaßt, daß er drei Tage lang die Engel im Himmel singen hörte. Aber er wußte sich zu beherrschen. »Nordspanien. Baskenland«, erwiderte er nur. »So, so, einen Kapitän aus dem raunen Baskenland haben wir da also.« Shane fühlte, wie es in seinem Inneren brodelte. Was wollte dieser Bastard? Fangfragen stellen? Na warte, dachte er. Er tat einen Schritt auf Ortuno zu und überragte ihn glatt um Kopfeslänge. »Caballero«, sagte er grollend. »Die Höflichkeit verlangt, daß auch Sie sich vorstellen. Zumal Sie nicht der Kapitän, sondern nur der erste Offizier der ›Libertad‹ sind, wie ich sehe.« Das saß. Ortuno steckte zurück. Er nannte seinen Namen, anschließend den seines Kapitäns, und dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Sein Blick wurde lauernd. »Woher kommen Sie, Capitan?« Hasard stand bei Ben und Ferris und zerbrach sich den Kopf darüber, was dieser aufgeblasene Kerl wollte. Himmel, wenn die Spanier sie entlarvt hätten, dann hätten sie doch nicht gezögert, sie zusammenzuschießen. Big Old Shane ließ sich nicht mehr aus der Ruhe bringen. Gemütlich entgegnete er: »Wir segeln für das Handelshaus Romeronde Zumarraga in Cadiz.« »Der Name ist mir bekannt«, sagte Ortuno. Aufpassen, sagte sich Shane, Vorsicht, Falle! »Dann wissen Sie ja vielleicht auch, daß Zumarraga nicht mehr am Leben ist«, fuhr er kaltschnäuzig fort. »Er starb schon 41
vor über zwei Jahren, weil ein verdammter Engländer ihm derart zusetzte, daß er einen Schlaganfall erlitt. Der Seewolf ...« »Richtig, in ganz Spanien wurde von diesem ungeheuerlichen Überfall gesprochen. Waren Sie damals dabei, Capitan?« »Nein, wir befanden uns gerade auf See«, log Shane. O verdammt, wenn dieser Satansbraten von einem Don gewußt hätte, wer sie waren! »Zumarragas Handelshaus besteht nun auch nach seinem Tode weiter, und wir sind nach wie vor im Auftrag der Nachfolger unterwegs.« »Wohin?« »Nach Hispaniola, um Rohrzucker und Rum zu übernehmen.« »Wieviel Mann Besatzung haben Sie?« »Zwanzig«, sagte Shane. Ortuno schaute sich wieder um. Sein Blick verharrte auf Ferris, dem rothaarigen Riesen. Der grinste breit und anbiedernd und sagte: »Bin Ire, Senor. In Vigo aufgewachsen. Fühle mich mehr als Spanier und kenne meine eigentliche Heimat kaum.« Zu Irland unterhielt das spanische Königreich ausgezeichnete Beziehungen. Beide Länder waren Verbündete, und die Iren waren den Engländern spinnefeind. Ortuno schluckte, was Ferris ihm auftischte. Ferris Spanisch war ausgezeichnet, er hatte die ganzen Jahre über ja zur Genüge gebüffelt - wie die anderen auch. Am hartnäckigsten stellte sich in punkto lernen Carberry an. Hasard sah den ersten Offizier der ›Libertad‹ auch freundlich lächelnd an und dachte dabei: Ortuno, wir schwindeln dir die Hucke so voll, daß wir alle lange Nasen kriegen müßten. Mal sehen, wie groß dein Fassungsvermögen ist. »Gut«, sagte Ortuno. »Ausgezeichnet.« Shane hatte die Arme verschränkt und musterte ihn ungeniert von oben bis unten. »So, und jetzt bin ich an der Reihe, Fragen 42
zu stellen. Wieso hat der Kapitän Ihres Schiffes uns einen Warnschuß vor den Bug gesetzt?« »Das wissen Sie, wir haben Ihnen doch signalisiert.« »Natürlich, ich bin ja nicht blind. Aber es wäre nicht nötig gewesen, eine Kugel abzufeuern.« »Sie haben nicht schnell genug gestoppt.« Shanes Blick durchbohrte ihn förmlich. Ortuno war ein schlanker, ziemlich gutaussehender Mann, der höchstens dreißig Jahre alt sein konnte. Er hatte es verhältnismäßig weit gebracht und liebäugelte bestimmt mit dem Posten eines Kapitäns. Er würde alles tun, um sich die nötigen Lorbeeren für eine Beförderung zu verdienen. Er hatte scharfgeschnittene Züge und dichte schwarze Augenbrauen über dunklen Augen, sein Haar war voll und bedurfte keiner Perücke. Sein Wams und die Kürbishosen mußten so ungefähr das Teuerste und Erlesenste sein, was man derzeit in Spanien erstehen konnte. Seine weißen Strümpfe waren makellos. Ohne Flecke. Nur seine Seele war dreckig. Schwarz bis auf den Grund. »Ihr Verhalten ist anmaßend«, sagte Shane. »So was lasse ich mir nicht gefallen. Bilden Sie sich bloß nicht ein, einen Landsmann mit Kanonen bedrohen zu können. Was soll das eigentlich?« Das war nun endlich Klartext. »Zunächst dachte Kapitän Garcia y Marengo, Sie hätten sich uns angeschlossen, weil Sie auch nach Havanna wollen. Das ist nämlich unser Ziel.« »Aha. Was haben Sie denn geladen?« »Sehr wichtige Dinge, aber die stehen hier nicht zur Debatte«, erwiderte Ortuno hochmütig. »Nun, ich konnte meinen Kapitän davon überzeugen, daß Ihr Ziel, de Lares, auch woanders liegen könnte. Das brachte ihn schließlich zu einer Entscheidung.« »Und die wäre?« »Der Kapitän läßt Ihnen durch mich mitteilen, daß er sechs 43
Männer Ihres Schiffes für unseren Konvoi requirieren muß. Seine Majestät, der König von Spanien, geht hier eindeutig vor - nicht das Handelshaus Romeronde Zumarraga in Cadiz. Wir sind unterbemannt, de Lares. Wir haben es verdammt eilig, nach Havanna zu gelangen, denn dort wird ein großer Geleitzug zusammengestellt, dem auch wir angehören werden.« Shane mußte das erst einmal verarbeiten. Hasard war auch verblüfft - und wütend zugleich. Unten auf der Kuhl stand ein böse blickender Profos, der heimlich die Pranken zu Fäusten ballte und murmelte: »Hölle, ich hätte große Lust, diesem aufgeblasenen Hurenbock die Haut in Streifen von seinem Affenarsch zu ziehen.« Er konnte es nun mal nicht lassen. Hasard dachte an Ortunos letzte Worte. Ein großer Geleitzug ... Ja, sie hatten wieder genug Silber und Gold zusammen geplündert, die Dons, und jetzt scharten sie sich zusammen, um die Schätze über den Atlantik zu schaffen, zur Casa de Contrataciõn, die sämtliche Reichtümer aus der Neuen Welt verwaltete und aufpaßte, daß ein genügend dickes Stück von der Torte für sie abfiel, bevor sie die Schätze an den König weiterreichte. Shane befand sich in einer Zwangslage. Eine verdammte Zwickmühle war das. Was sollte er jetzt tun? Schon wollte er dem ersten Offizier der ›Libertad‹ eine geharnischte Antwort geben. Aber da nickte Hasard ihm zu, ohne daß Ortuno es sehen konnte. Shane schwächte seine Erwiderung also stark ab. Er begriff noch nicht, was Hasard vorhatte, aber allmählich dämmerte ihm etwas ... »Das kann nicht Ihr Ernst sein«, sagte er zu Ortuno. »Da spiele ich nicht mit, Caballero. Ich lasse mir doch meine Männer nicht wegnehmen.« Ortuno blieb unbeirrt. »Sie müssen.« 44
»Und wo kriege ich neue Leute her?« »Auf Hispaniola können Sie sich welche pressen, dort gibt es genug kräftig gebaute Männer, die nur herumlungern und Diebeszüge und ähnliche Straftaten aushecken.« »Fein haben Sie sich das ausgedacht«, sagte Shane erbittert. »Und was geschieht, wenn ich mich weigere?« Juan Maria Ortuno deutete stumm auf die drohende Breitseite der ›Libertad‹. Big Old Shane erbleichte. Ihm war klar, daß der Schuft das völlig ernst meinte. Wir sprechen uns noch, dachte er. Hasard gab ihm unterdessen wieder ein Zeichen und wies auf sich, auf Ben Brighton, den Profos, Sam Roskill, Dan und Blacky. Shane verstand. Der Seewolf hatte sich in aller Eile also einen Plan zurechtgelegt. Und schon vorher hatte er in weiser Voraussicht nicht sich als den Kapitän der ›Isabella‹ ausgegeben, denn nur so konnte er auch sich selbst requirieren lassen. Aber warum nahm er Carberry mit, der doch noch nicht einwandfrei Spanisch konnte? Nun, es ging ihm wohl mehr um die rein körperlichen Fähigkeiten. Carberry war ein Bulle von Mann, der mächtig aufräumen konnte. Wo der hinschlug, wuchs kein Gras mehr. Und irgendwie würde er sich wegen der Sprache schon durchmogeln. Shane zuckte vor Ortuno mit den Schultern. »Was bleibt mir anderes übrig, als zu kapitulieren? Bei der massiven Bedrohung habe ich wirklich keine Wahl.« »Sehr vernünftig, Capitan.« »Aber das Ganze hat noch ein Nachspiel daheim in Spanien«, versicherte ihm der einstige Schmied und Waffenmeister von Arwenack-Castle. »Ich habe auch meine Beziehungen bei Hofe, Ortuno. Wir sprechen uns wieder.« Ortuno lächelte ölig. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Capitan de Lares. Mein Kapitän erwartet die von Ihnen ausgewählten Männer in spätestens zehn Minuten unten im 45
Beiboot. Ich gehe jetzt. Lassen Sie uns nicht zu lange warten.« Er drehte sich um und marschierte wieder zur Kuhl hinunter. Als er bei seinen beiden Begleitern angelangt war, wandte er sich noch einmal um. Sein Blick glitt über das Oberdeck des Schiffes, musterte die flachen Kastelle und kletterte dann an den langen Masten nach oben. Ortuno zog die Augenbrauen hoch. Ein erstaunliches Schiff in ganz unkonventioneller Bauweise. War das die neue Art, Galeonen zu bauen? Bisher hatte er so eine Konstruktion noch nicht gesehen und auch nichts darüber gehört. Er nahm sich vor, noch genauere Erkundigungen einzuziehen. Wortlos stieg er über das Schanzkleid und enterte an der Jakobsleiter ab. Seine beiden Männer folgten ihm. Ortuno nahm unten auf der Heckducht des großen Beiboots Platz, und nach wie vor schwieg er. Seinem Kapitän drüben auf der ›Libertad‹ ließ er ein Zeichen geben, daß soweit alles geklappt hatte. Die kurze Frist lief.
5. Carberry war unterdessen zu Hasard gegangen, ihm folgten dichtauf der junge O’Flynn, Sam Roskill und Blacky. »Hasard«, zischte der Profos. »Das lassen wir uns doch nicht gefallen, oder? Wir entern, auf Teufel komm raus, und dann hauen wir ihnen auf die Schädel, daß das ganze Stroh herausfällt, oder nicht?« »Nein.« Carberry war maßlos enttäuscht, aber der Seewolf erklärte ihm: »Ich habe es Shane schon angedeutet. Ben, Sam, Dan, Blacky, du und ich, wir sechs begeben uns auf die Galeonen der Dons. Wahrscheinlich trennen sie uns, je zwei oder drei Mann werden auf ein Schiff gesteckt. Ob wir auch auf das 46
Flaggschiff kommen, weiß ich nicht. Wir vereinbaren ein paar Zeichen, durch die wir uns verständigen können.« Er setzte ihnen auseinander, was er sich in aller Eile ausgedacht hatte. Zum Schluß sagte er: »Jeder muß betonen, daß er ein guter Rudergänger ist, auf solche Leute sind die Spanier am allerschärfsten. Ihr wißt doch, wie wenig vernünftige Steuerleute es gibt. Die meisten taugen nichts.« »Denen zeigen wir’s schon«, sagte Ben Brighton. Hasard grinste. »Ich schätze, für sie gibt es noch ein bitteres Erwachen. Los, trennen wir uns jetzt, sonst kriegen die Hunde noch mit, daß wir was aushecken.« Er trat zu Shane und schüttelte ihm theatralisch die Hand. »Leb wohl, Kapitän. Übrigens hast du deine Rolle sehr überzeugend gespielt. So weiß ich in Zukunft, daß ich das noch mal mit dir tun kann.« »Um Himmels willen«, stöhnte der graubärtige Riese. »Bleibe als Fühlungshalter am Horizont, verstanden?« »Aye, aye, Sir.« »Vielleicht hat Bill mit seiner Aktion Erfolg gehabt. Ich hoffe es. Adios, Amigo, demnächst sehen wir uns wieder - oder überhaupt nicht mehr.« Hasard wandte sich ab. Er setzte sich an die Spitze seiner Handvoll Auserwählter, und sie enterten in das Beiboot der ›Libertad‹ ab. Arwenack wollte vom Großmars aus eine halbe Kokosnußschale auf das Haupt von Ortuno abfeuern. Und er hätte auch getroffen. Er war ein verteufelt guter Schütze. Gary Andrews hielt ihn gerade noch rechtzeitig zurück. »Hör doch auf«, raunte er ihm zu. »Du vermasselst uns noch alles, du Affe.« In einer Kammer des Achterkastells der ›Isabella VIII.‹ wälzte sich ein gefesselter und geknebelter Mann auf seiner Koje. Das war aber auch alles, was er fertigbrachte. Blacky und Batuti hatten ihn gut verschnürt. Wie einen 47
Ballen Frachtgut. Man wußte ja nicht, was Santino anstellte, wenn er losgelassen wurde. Entweder brüllte er dann los, diese vermeintlichen Spanier seien die berüchtigten Seewölfe - oder er schwamm zur ›Libertad‹ hinüber, um sich Rolando Garcia y Marengo zu kaufen. * Juan Maria Ortunos Arroganz kannte keine Grenzen. Blasiert musterte er die sechs Neulinge in seinem Beiboot. Er hatte seine Anweisungen und wußte schon, wie er die Männer verteilen wollte, aber er empfand es fast als eine Zumutung, mit ihnen zu sprechen. Pöbel, dachte er, niedere Gattung der menschlichen Rasse. »Ihr da«, sagte er zu Hasard und zu Ben, »begleitet mich auf das Flaggschiff. Ihr gebt in dieser Gruppe noch das beste Bild ab, zur Not kann man euch auf einem Schiff wie der ›Libertad‹ unterbringen.« »Danke, Senor«, erwiderte Hasard. »Es ist uns eine Ehre.« »Wirklich?« »Bei de Lares haben wir nicht das allerbeste Leben gehabt.« Ortuno grinste verschlagen. »Das wird auf der ›Libertad‹ ganz anders, glaubt es mir. Der Kapitän hat sich durch seine Art, mit dem gemeinen Schiffsvolk umzugehen, einen Namen geschaffen.« Das war zweideutig, aber die Seewölfe wußten es sehr wohl zu deuten. Am grimmigsten blickte Carberry drein. Er dachte: Wenn der Lump noch mehr Beleidigungen von sich gibt, trete ich ihm auf den Fuß. Er saß Ortuno nämlich genau gegenüber. Ohne den Profos, Blacky, Sam und Dan anzuschauen, fuhr Ortuno fort: »Die anderen vier werden auf zwei Schiffe des Konvois gebracht, und zwar mit diesem Boot. 48
Unter energischen Stockmeistern lassen sie sich schon zurecht biegen, diese jämmerlichen Figuren.« Plötzlich fuhr er hoch und schrie auf. Die Köpfe der Bootsbesatzung ruckten herum. Auf der ›Libertad‹ war mit einem Mal hektische Bewegung, Männer erschienen reihenweise am Backbordschanzkleid, jemand rief einen Befehl oder eine Frage. Ortuno war dunkel angelaufen. »Was ist denn los?« fragte ihn einer der spanischen Bootsgasten. »Mein Fuß ...« Carberry tat so, als werfe er etwas ins Wasser. »Senor«, sagte er aufgeregt. »Da war ein dicker Krebs. Er kroch unter der Ducht hervor und wollte Ihren Stiefel entern. Unerhört. Ich habe ihn zertreten, Verzeihung, Senor.« Ortuno sah zu Hasard. »Was ist das für ein Kerl? Der kann ja nicht mal richtig reden.« Hasard zuckte mit den Schultern. Es fiel ihm schwer, ernst zu bleiben. Am liebsten hätte er sich ausgeschüttet vor Lachen. Den Freunden ging es nicht anders. Dan zuckte verdächtig mit den Mundwinkeln. »Nehmen Sie es ihm nicht übel«, sagte Hasard. »Er kann nichts dafür, daß er so ist. Er ist ein Gepreßter, der Teufel allein weiß, wo seine Wiege wirklich gestanden hat. Vor Jahren hat ihn in einem Seegefecht ein Eisensplitter schwer am Kopf verletzt, seitdem ist er ein wenig, hm, zurückgeblieben.« »Ausgerechnet den mußte de Lares schicken?« Hasard senkte die Stimme etwas. »Der Mann ist ein guter Rudergänger. Er versteht sein Handwerk und ist sehr gehorsam.« »Wie heißt er?« »Porfirio.« »Gut, Porfirio.« Zum erstenmal sprach Ortuno den zornigen Profos direkt an. »Für dich habe ich das richtige Schiff, verlaß 49
dich drauf.« Das Beiboot ging bei der ›Libertad‹ längsseits. Ortuno schickte Hasard und Ben mit einer herrischen Geste die Jakobsleiter hinauf. Während sie aufenterten, legte das Boot schon wieder ab und wurde zu den anderen Galeonen hinübergepullt. Kaum auf Deck angelangt, wurden Hasard und Ben Brighton von einem muskelbepackten Mann in Empfang genommen. »Ich bin Buacel, der Profos«, sagte er. »Folgt mir, der Kapitän will euch sehen.« »Wir dürfen aufs Achterdeck?« fragte Hasard. Buacel schaute ihn wie ein seltenes Tier an. »Wer hat dir denn das gesagt?« »Ach so. Verstehe. Na, das fängt ja gut an.« Sie durften auf der Kuhl bis unter die Balustrade des Quarterdecks treten. Rolando Garcia y Marengo erschien über ihnen, ein großer, etwas zu kompakt gebauter Mann mit Ansatz zur Fettleibigkeit. Er hätte nicht unbedingt schlecht ausgesehen, wenn nicht sein eingebildeter Gesichtsausdruck und die unnachgiebige Härte seines Blickes gewesen wären. Vor ihm mußten die Seewölfe sich noch mehr in acht nehmen als vor Ortuno, soviel stand fest. »Das sind sie also«, sagte Garcia y Marengo zu Buacel. »Was können sie?« »Alles«, antwortete Hasard. »Sie werden mit uns zufrieden sein, mi comandante.« »Senor Commandante«, zischte Buacel. Hasard verbesserte sich, dann erklärte er: »Mein Kamerad hier heißt Urbano. Mein Name ist Serge. Wir haben auf der ›Isabella‹ alle Decksarbeiten erledigt, aber zuletzt sind wir als Rudergänger gefahren.« »Einfallslose Namen«, sagte der Kapitän abfällig. »Typisch für Kerle eures Schlages.« Buacel dachte an etwas völlig anderes. »Ist das wirklich 50
wahr?« fragte er. »Rudergänger? Ihr könntet uns sehr nützlich sein. Wir haben da einen Burschen am Kolderstock, der taugt nicht viel.« »Buacel, schweig«, herrschte der Kapitän ihn an. »Si, Senor.« »Du teilst sie dem Großmast zu, da haben sie genug zu tun.« Buacel katzbuckelte, dann führte er die beiden Neuen schnell wieder weg. Hasard beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Der Mann war fast weiß vor Zorn, aber er zwang sich mit Gewalt, nicht zu explodieren. Seine Lage war höllisch. Garcia y Marengo war ein Narr, der keine Ahnung von den Belangen der Seefahrt zu haben schien. Buacel mußte sowohl mit ihm als auch mit der Mannschaft in gutem Einvernehmen leben, das war nicht einfach. Zu beneiden war er nicht. Natürlich hätte er diese Crew knüppeln können und sich somit klar auf die Seite »derer vom Achterdeck« gestellt. Aber das schien nicht Buacels Art zu sein. »Hier«, sagte er zu einem bulligen Mann mit bloßem Oberkörper. »Diese beiden helfen euch jetzt, Arnoldo. Paß auf, daß sie sich gut einarbeiten und anpassen. Ich will keine Schlägereien und auch sonst keinen Ärger. Denk an Santino.« »Und ob ich das tue«, sagte Arnoldo grimmig. »Den armen Kerl werden die Tiburones längst zerrissen haben. Der Herr sei seiner Seele gnädig.« Er wandte sich Hasard und Ben zu. »He, ihr, ich zeige euch jetzt ein paar Schoten und Fallen, die dringend klariert werden müssen. Steht nicht so herum.« Kaum waren sie allein - Buacel hatte ihnen den Rücken zugekehrt , da klärte er sie schon auf: »Hört zu, legt euch nicht mit uns Decksleuten an, sonst gibt es Rabatz. Wir haben sowieso schon genug am Hals, wir dulden nicht auch noch Großmäuler.« »Geht in Ordnung«, sagte Ben Brighton. »Wir wollen auch keinen Verdruß.« Arnoldo warf einen huschenden Blick nach achtern, aber 51
weder der Profos noch die goldbetreßten Männer des Achterdecks beachteten sie. Er blieb stehen und betrachtete die Seewölfe geringschätzig. »So welche seid ihr also. Drücken wollt ihr euch.« »Wovor?« fragte Hasard. »Vor dem Einstand.« »Einstand? Ach so. Ganz gleich, wie wir’s anpacken, ihr wollt euch unbedingt mit uns raufen, was? Wir kriegen schon noch die Gelegenheit dazu, Amigo.« »So gefällst du mir schon besser«, erklärte Arnoldo und grinste. »Wer ist eigentlich dieser Santino, den du eben erwähnt hast?« »Wer das war, willst du wohl sagen.« Arnolde stieß schnaufend die Atemluft durch die Nase aus. »Ein feiner Kerl. So einen findet man so leicht nicht wieder. Der Kapitän hat ihn erst auspeitschen lassen, weil er was zu essen geklaut hatte, danach hat er ihn in einem leckgebohrten Beiboot ausgesetzt. Gefesselt. Dabei hatte er kein todeswürdiges Verbrechen begangen, er hat nur getan, was wir alle nötig hätten, denn die Verpflegung hier ist hundsmiserabel.« Hasard sah Ben an. Sie hätten Arnolde und die anderen Männer über Santinos Schicksal aufklären können. Aber sie verständigten sich durch einen einzigen Blick. Noch war die Zeit nicht reif. * Dan O’Flynn und Sam Roskill waren von Ortuno auf eine Galeone namens ›El Clavelito‹ gebracht worden. Jetzt waren Carberry und Blacky an der Reihe. Das Schiff, auf dem sie von jetzt an ihr Dasein fristen sollten, trug den gewichtigen Namen ›Invulnerable‹, die »Unverletzbare«. Carberry war wirklich kein As im Übersetzen schwieriger spanischer Vokabeln, aber 52
hier wußte er gleich Bescheid, weil der Ausdruck im Englischen genauso geschrieben, nur ein bißchen anders ausgesprochen wurde. Unverwundbar, das könnte dir so passen, dachte er und sah dabei auf das Schiff, als könne er es mit einem Blick zum Schmelzen bringen. Sofort fiel ihm der beklagenswerte Zustand des Dreimasters auf. Die Beplankung konnte dringend eine Überholung vertragen, um das Segeltuch war es nicht besser bestellt, und die Großrah hing tatsächlich schief. Die Armierung bestand aus sechs Geschützen an der Backbordseite, an der Steuerbordseite waren es natürlich genauso viele. Demi-Culverinen. Neunpfünder. Wahrscheinlich verlief ihre Wartung in dem gleichen Schlendrian wie alle anderen Arbeiten an Deck. Keinen Blumentopf konnte ein solcher Kahn in einem Gefecht gewinnen. Eine Breitseite der ›Isabella‹, und die »Unverwundbare« verschwand gurgelnd in den Fluten. Carberry empfand so etwas wie grimmige Vorfreude. Ortuno, sein Kapitän und die ganze Bande von Dons würden schon noch das große Zittern kriegen. Die Schaluppe schor längsseits der Galeone. Ed und Blacky mußten an der an Backbord ausgebrachten Jakobsleiter hochklimmen. Ortuno lachte hämisch und gab seinen Männern den Befehl, abzulegen und zur ›Libertad‹ zurückzupullen. Den Kapitän bekamen Carberry und Blacky überhaupt nicht zu sehen. Auf dem Achterdeck drückten sich ein paar fein geschniegelte Jünglinge herum, aber die befaßten sich erst gar nicht mit ihnen. Vielmehr baute sich ein wahrer Koloß von Kerl in der Kuhl vor ihnen auf. Trotz des Sonnenscheins und der Hitze der Karibik trug er einen gewaltigen Brustpanzer aus geschmiedetem Eisen. Das Ding war anders beschaffen als die Rüstungen, mit denen die Spanier in der Neuen Welt berühmt und berüchtigt geworden 53
waren und die die Indianer sogar in ihren Zeichnungen wiedergaben. Es mußte eine Sonderanfertigung sein. Nackt ragten die stämmigen Arme des Mannes unter dem Eisen hervor. Er hatte Hände so groß wie Ankerklüsen, Schultern, die ein ganzes Schiffsschapp verdecken konnten, und er trug eine knielange speckige Hose. Seine haarigen Waden waren dick, seine Füße riesig und ohne Schuhwerk. Ein dichter schwarzer Knebelbart und buschige Augenbrauen vervollständigten seine Originalität, aber die Krone setzte dem Ganzen das Etwas auf seinem Kopf auf. Das mußte einst ein schöner breitrandiger Hut mit einem Federbusch gewesen sein. Jetzt war er ausgefranst, seine Krempe hing traurig herunter, von dem Büschel stand nur noch ein mieser Rest. »Ich bin hier der Profos!« brüllte er sie an. »Wer nicht pariert, kriegt was auf die Schnauze!« Carberry ließ die Arme baumeln. »Das ist also die Begrüßung«, sagte er halblaut. »Nun sieh dir den Knaben an. Und so was läuft frei herum.« »Sei still«, erwiderte Blacky. Aber der spanische Profos hatte verstanden, zumindest einen Teil. »Komm her, du Sack«, sagte er zu Carberry. Carberry trat vor ihn hin. Dann geschah etwas Unvorhergesehenes, geradezu Unglaubliches. Etwas knallte mit der Wucht eines Steines gegen Carberrys Schläfe. Ehe er sich versah, lag er auf den Planken und streckte alle viere von sich. Die Schmerzen in seinem Schädel raubten ihm fast die Sinne. Der Profos zeigte ihm die Faust, mit der er zugehauen hatte. »Keiner legt sich ungestraft mit Cosmas an«, sagte er. »Entschuldige dich, du Bastard.« Carberry atmete keuchend. Er sah zu Blacky und registrierte dessen warnenden Blick. Himmel, sie konnten sich durch unbedachtes Verhalten doch nicht alles zerstören, was sie eben 54
erst begonnen hatten. »Entschuldigung«, sagte Carberry daher. »Senor.« Cosmas grinste teuflisch. »Hört sich gut an. Sag’s noch einmal.« »Entschuldigung, Senor.« »Wie heißt du?« »Porfirio.« »Por Dios, ein feiner Name! Und du, Schwarzhaariger?« »Moreno.« »Das paßt. Ist dein Freund Porfirio ein Narr, Moreno?« »Nein. Aber ein guter Rudergänger Senor.« »So? Das werden wir ja sehen.« Cosmas trat Carberry mit dem Fuß gegen die Hüfte, aber nicht sehr heftig. »Bei der nächsten Ablösung stellst du dich an den Kolderstock. Dann kannst du beweisen, daß du nicht nur ein Großmaul bist.« »Si, Senor.« »Bis es soweit ist, klart ihr die Kombüse auf. Unser Koch ist letzte Woche an so einer verdammten Krankheit krepiert, die er sich bei einem Abstecher nach Guayana geholt hatte. Seht zu, daß ihr Ordnung in das Loch kriegt. Na los, auf was wartet ihr noch? Schiebt ab. Nachher sehe ich nach, verstanden?« Sie murmelten noch einmal ihr »Si, Senor«, dann hasteten sie zur Kombüse. Loch war noch eine milde Umschreibung für das, was sie vorfanden. In der Kombüse hätte man Feuer legen müssen, um ihren Zustand wirklich grundlegend ändern zu können. »Machen wir das Beste daraus«, sagte Blacky. »Vielleicht ernennt dieses Tier von einem Profos ja einen von uns zum Koch, wenn wir was Anständiges fertigbringen.« »Kochen, meinst du?« fragte Carberry. »Erst aufklaren, dann die Holzkohlefeuer anheizen. Bei der Crew gewinnen wir bestimmt Vertrauen, wenn wir ihr etwas Genießbares auftischen.« »Meinetwegen. Hätte aber nicht übel Lust, diesen Cosmas mit 55
dem Achtersteven ins Feuer zu setzen, sobald er wieder aufkreuzt.« »Laß doch, Ed. Du kriegst schon noch früh genug Gelegenheit dazu.« Carberry fügte sich. Aber den Schlag hatte er nicht vergessen. Den zahlte er Cosmas zurück. Er schwor es sich. Bisher hatte er sich nur von einem Mann unterwerfen lassen, ohne Rache zu nehmen. Vom Seewolf. Die ›Libertad‹ setzte sich wieder an die Spitze des Verbandes. Schwerfällig segelten die Galeonen weiter. Die ›Isabella‹ blieb zurück, wie Hasard es angeordnet hatte und klebte bald nur noch als Fühlungshalter weit hinter dem Konvoi an der Kimm, ja, sie verschwand für den unfähigen Ausguck des letzten Seglers im Verband. Das war die ›Invulnerable‹. Ihr Mann im Großmars glaubte die ›Isabella‹ in immer größerer Entfernung gerückt - und schlief auf seinem Posten ein. Gary Andrew hingegen hatte auf der ›Isabella‹ den Vormars erklommen und blickte unausgesetzt mit dem Kieker zur westlichen Kimm. Die ›Invulnerable‹ blieb mit ihren Mastspitzen für ihn sichtbar. Darauf kam es an.
6. Nils Larsen, der Ausguck der ›Le Vengeur‹, stieß einen Hurra-Ruf aus. »Männer, Mastspitzen voraus! Mich soll der Henker holen, wenn das nicht die ›Isabella‹ ist!« Wieselflink enterte Bill zu ihm in den Vormars auf. Er ließ sich nieder und sagte: »Darf ich mal durch den Kieker schauen?« »Von mir aus gern.« Nils reichte ihm das Fernrohr. Durch die Optik sah Bill klar 56
und deutlich die Mastspitzen an der westlichen Kimm. Allmählich schoben sie sich immer weiter hervor, dann erschien auch der Schiffsrumpf, als ob der Segler aus der See auftauche. Es war immer wieder das gleiche Schauspiel. Einen weisen Mann namens Galileo Galilei hatte das Phänomen zu der Feststellung veranlaßt, die Erde sei rund und nicht flach wie eine Scheibe, wie man vorher angenommen hatte. Die Inquisition hätte ihn wegen dieser gotteslästerlichen Behauptung am liebsten umgebracht. Aber inzwischen hatten zumindest Seefahrer sich vergewissert, daß Galilei recht hatte. Und es war auch als Tatsache akzeptiert worden, daß sich die Erde um die Sonne drehte und nicht umgekehrt - inoffiziell. »Diese langen Masten«, sagte Bill. »Das ist die ›Isabella‹.« »Hör mal, Kleiner, ich kenne das Schiff auch«, entgegnete Nils. »Sag nicht noch mal Kleiner zu mir.« »Und wenn ich’s doch tue?« »Dann stoße ich dich aus dem Hemd«, versprach Bill. Nils wollte losprusten, aber dann besann er sich. »Ist gut«, sagte er mit erzwungenem Ernst. »Nie wieder nenne ich dich so.« Bill enterte ab, lief zu Jean Ribault und Karl von Hutten aufs Achterdeck und versicherte, daß er wegen der Identität der ›Isabella‹ keine Zweifel hätte. »Mich wundert nur, daß wir sie so mühelos einholen«, sagte Jean. »Zugegeben, sie muß hart an den Wind, was mit den Rahsegeln kein leichtes Stück Arbeit ist. Aber trotzdem müßte sie eigentlich immer noch schneller sein als wir.« »Es gibt eine Erklärung«, sagte Karl von Hutten. »Sie hält Distanz zum spanischen Konvoi und hat sich auf sein Tempo eingestellt.« Einige Zeit später erhielten sie die Bestätigung. Sie schoben sich an die Steuerbordseite der ›Isabella‹. Auf beiden Schiffen gab es ein großes Hallo. Jean Ribault lief mit seiner Karavelle 57
langsamer, dann ging er bis auf Rufweite an die ›Isabella‹ heran und verständigte sich mit Big Old Shane. »Wo steckt Hasard?« schrie der Franzose. »Auf dem Flaggschiff der Spanier.« »Gefangen?« »Ach wo - mehr oder weniger freiwillig. Ben ist bei ihm. Ed, Blacky, Dan und Sam sind auf zwei andere Galeonen gebracht worden«, erwiderte Shane. Dann erklärte er Zug um Zug, was sich abgespielt hatte. »Und ich habe vorläufig das Kommando auf der ›Isabella‹», endete er. Jean begriff Hasards Plan in allen Zügen. Wie und wann der Seewolf zuschlug, blieb noch dahingestellt. Aber wenn alles klappte, wurde es mal wieder eine Bravourleistung. Jean drehte sich zu Karl von Hutten und Bill um. »Ein tolles Ding«, sagte von Hutten lächelnd. »Das sieht Hasard ähnlich. Er gibt sich mal wieder als Wolf im Schafspelz.« »Bei Dunkelheit können wir näher aufschließen«, sagte Jean. »Wir werden keine Lichter setzen und uns anschleichen wie die Luchse. Bin mal gespannt, wie es weiterläuft.« Er drehte sich wieder der ›Isabella‹ zu. »Shane!« rief er hinüber. »Stoppt für einen Moment. Ich will euer Beiboot abfieren und euch Bill zurückschicken.« »Geht nicht, wir verlieren den Konvoi aus den Augen.« »Die Zeit müssen wir uns nehmen!« schrie der Franzose. »Ich gebe dir auch drei meiner Männer, ihr seid ziemlich unterbesetzt.« »Danke, aber ...« »Die Zeit schinden wir wieder raus, Shane. Wir segeln anschließend etwas schneller und haben den Geleitzug noch vor Dunkelwerden wieder vor uns.« »Gut, einverstanden!« Etwas später löste sich das Beiboot in Lee von der ›Le Vengeur‹ und glitt zur ›Isabella‹ hinüber. 58
Bills Begleiter in dem Boot waren Piet Straaten, Pierre Puchan und Dave Trooper. Piet gehörte zu den ehemaligen Karibik-Piraten, dem Kern von Jeans Mannschaft. Pierre und Dave waren neue Leute. Sie hatten sich aber auf der Karavelle gut eingelebt. Auch mit den Seewölfen verstanden sie sich gut. Das Beiboot wurde auf die ›Isabella‹ gehievt. Piet, Pierre und Dave hatten nun endlich einmal ausreichend Gelegenheit, die ›Isabella‹ zu bestaunen. Es gab eine herzliche Begrüßung. Besonders Bill wurde natürlich überschwenglich in Empfang genommen. Big Old Shane legte ihm die Hand auf die Schulter. »Na also, du hast die Mutprobe ja bestanden. Bist du jetzt zufrieden?« »Ja. Jean Ribault hat mich einen Seewolf genannt.« »Ist das viel für dich wert, Junge?« »Alles.« »Du bereust nicht, Jamaika verlassen zu haben?« Bill war empört. »Überhaupt nicht. Im Gegenteil. Auf der ›Isabella‹ habe ich doch eine Zukunft. Und Freunde. Eine richtige Familie.« Matt Davies lachte. »Eine Amme können wir dir aber nicht bieten.« Al Conroy hielt ihm die Faust vors Gesicht. »Noch so eine Bemerkung, und du kriegst es mit mir zu tun. Bill hat sich großartig bewährt. Da gibt es nichts zu mäkeln.« »Wer mäkelt denn?« sagte Matt beleidigt. »Ihr könnt aber auch gar keinen Spaß vertragen.« »Schluß!« rief Shane. »Wir haben schon genug Zeit verloren. Setzt die Segel, Männer, wir müssen den Geleitzug wieder einholen!« ›Le Vengeur‹ und die ›Isabella‹ hatten den Verband in der Dämmerung wieder vor sich. Stur hielten die Spanier ihren Kurs. Sie würden bald Punta Gorda passieren. Das Kap war wie ein Meilenstein auf dem Weg nach Havanna, es lag an der Nordostküste von Kuba. 59
Ein Gigant schien einen riesigen schwarzen Mantel geworfen zu haben. Er senkte sich unaufhaltsam über die See. Auf der ›Isabella‹ lachte Big Old Shane grollend in sein graues Bartgestrüpp. Auf der ›Le Vengeur‹ lachte sich Kapitän Jean Ribault ins Fäustchen. »Das ist nach meinem Geschmack«, sagte er. »Wir schieben uns jetzt dichter ran an die Dons. Dann brauchen wir nichts weiter zu tun als abzuwarten.« »Was wird Hasard deiner Meinung nach tun?« wollte von Hutten wissen. »Heute nacht zuschlagen natürlich.« »Ich lasse die Kanonen gefechtsklar machen.« »In Ordnung. Bleiben wir in höchster Bereitschaft. Wenn es gelingt, die Spanier zu überlisten, erwartet uns außer einer fetten Beute auch noch die Genugtuung, die Dons ordentlich eingeseift zu haben.« Er hob den Kieker vors Auge. Aber im fahlen Dämmerlicht war kaum noch etwas von der letzten Galeone im Verband zu erkennen. Erst die klare Nacht würde Vorteile bringen. Ohne Licht konnten die beiden Verfolger dann auf zwei Kabellängen oder noch weniger ins Kielwasser der ›Invulnerable‹ gehen und die Spektive auf ihre Bordbeleuchtungen richten, in deren Schein sicherlich einiges zu sehen war. Kein spanisches Schiff fuhr in der Dunkelheit, ohne nicht wenigstens die große Hecklaterne in Betrieb zu setzen. * Der erste Offizier Juan Maria Ortuno war nun wieder an Deck, und er hatte genügend Zeit, seinen Kapitän auf der ›Libertad‹ nach allen Regeln der Kunst zu bearbeiten. Garcia y Marengo hatte seiner Meinung nach nämlich einen erheblichen Fehler begangen. Dieser Serge, einer der beiden Gepreßten, taugte als Rudergänger garantiert mehr als der Bursche, den sie 60
derzeit am Kolderstock stehen hatten. Buacel hatte es Ortuno erzählt, daß sich der Neue als fähiger Steuermann ausgegeben hatte. Und Ortuno war es ja, der sich mit dem jetzigen Rudergänger, diesem faulen Hund, herumärgern mußte, nicht der Kapitän. Der Rudergänger hatte keine Ahnung von seinem Metier, er würde irgendwann mit dem Schiff auf ein Korallenriff oder eine andere Untiefe brummen oder überhaupt den falschen Kurs einschlagen. Mehrere Male hatte er in den letzten Tagen die Galeone aus dem Wind laufen lassen. Einmal hatte er sie bei einem Manöver viel zu weit in den Wind gedreht, und die Segel hatten wie verrückt gekillt und geknattert, daß man auf Oberdeck den Kopf einziehen mußte. Ortuno war ein Egoist. Es interessierte ihn nicht, diesem Serge zu einem besseren Posten zu verhelfen. Er dachte bei der Sache nur daran, daß er sich einen Haufen Arbeit und Verdruß ersparen konnte, wenn er einen besseren Mann an den Kolderstock kriegte. Also lobte er Serge bei Garcia y Marengo in den höchsten Tönen. »Dieser Bursche ist Gold wert«, sagte er. »Er kennt die See, ist aufrichtig und stark und stinkt nicht. Man könnte durchaus einen Versuch unternehmen und ihn ans Ruder holen.« »Er hat einen idiotischen Namen«, entgegnete Garcia y Marengo träge. Die Unterredung fand in der Kapitänskammer statt, wo er sich auf seinem Lager ausgestreckt hatte. »Der jetzige Rudergänger ist ein noch größerer Idiot«, versicherte Ortuno. »Er heißt Pedro.« »Pedro - zum Teufel mit ihm.« »Ich darf ihn also ablösen?« »Wen?« »Diesen Pedro.« »Und wer ersetzt ihn?« Ortuno war hartnäckig und ließ sich durch die irritierenden 61
Reden seines Vorgesetzten nicht beirren. »Serge. Ich verbürge mich für ihn.« »Dann tu, was du nicht lassen kannst.« Garcia y Marengo bedeutete ihm durch eine ungnädige Gebärde, daß er endlich gehen solle. Ortuno deutete einen Bückling an, verließ die Kammer und zog die Tür sanft ins Schloß. Als der Kapitän ihn nicht mehr sehen konnte, wandelte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig. Mit verdrossener Miene schritt Ortuno durch den düsteren Gang des Achterkastells in Richtung Quarterdeck. Du Narr, dachte er, warte nur, eines Tages bin ich nicht mehr von deiner Gnade abhängig. Dann tue ich, was ich will. Er stellte sich vor, wie schön es sein mußte, selbst Kapitän auf der ›Libertad‹ und Befehlshaber eines Konvois zu sein. Während er sich anschickte, das Quarterdeck zu betreten, den Rudergänger zusammenzustauchen und von der neuen Lage zu unterrichten, bahnte sich im Vordeck eine denkwürdige, fatale Szene an. Den Nachmittag über hatten Arnoldo und die anderen Hasard und Ben in Ruhe gelassen, und die beiden hatten folgsam ihre Arbeit am Großmast verrichtet. Jetzt aber waren sie im Vordeck mit den anderen zusammengepfercht, mit dem »gemeinen Schiffsvolk«, und das zeitigte sozusagen die Spätfolgen der Requisition. Die Deckswache war längst eingeteilt. Die Männer, die keinen Dienst hatten, hätten sich eigentlich in ihre Kojen legen und tüchtig schlafen sollen, denn die nächste Wache und die Arbeit am folgenden Tag verlangten ihnen sämtliche Energien ab. Aber sie schliefen nicht. Jorge, der Hagere, hatte eine kleine Tonflasche Rum zum Vorschein gebracht. Keiner wußte, wie er die besorgt beziehungsweise so lange versteckt haben konnte. Es fragte auch niemand danach. Die Männer schnalzten nur begeistert mit den Zungen: Arnoldo, Laverda und vier andere, die mit 62
Hasard und Ben die Vorschiffskammer teilten. Jorge entstöpselte die Flasche und nahm den ersten Schluck. Er setzte wieder ab, gab einen Seufzer der Zufriedenheit von sich und reichte die Flasche weiter an Laverda. Laverda grinste geradezu diabolisch. Er wischte den Hals der Flasche ab, hob sie an den Mund und trank gluckernd. Danach gab auch er sie weiter. Eigentlich wäre Ben, der gleich neben ihm auf dem Kojenrand saß, an der Reihe gewesen. Aber Laverda übersah ihn. Arnoldo nahm die Tonflasche in Empfang. Etwas später hatte der Rum die Runde gemacht, aber auch der Seewolf war bei dem Umtrunk ausgeklammert worden. Er saß zwischen zwei Spaniern, deren Namen er nicht kannte, Arnoldo genau gegenüber. »Also«, sagte Arnoldo gedehnt. »Ich weiß es jetzt, Freunde. Die beiden Neuen sind Stiefellecker. Sie wollen sich um jeden Preis anbiedern, aber nicht bei uns oder Buacel, sondern bei Ortuno. Wenn sie erst bei Ortuno einen Stein im Brett haben, wird auch Garcia y Marengo, dieses Schwein, sie anerkennen.« Laverda spuckte auf den Fußboden. »Sie sind richtige Mistfresser, die beiden.« »Kriecher wolltest du wohl sagen«, erklärte Jorge. »Arschkriecher.« Hasard blickte zu Ben. »Hab ich’s dir nicht gesagt, Urbano? Die legen es darauf an, uns zu provozieren.« »Uns zu provozieren«, äffte Laverda ihn nach. »Wie der sich ausdrückt. Por Dios, ein Bursche mit einer so geschniegelten Redeweise gehört nicht hierher, ins Vordeck. Das ist unter seiner Würde. Sein Platz sollte auf dem Achterdeck sein.« Arnoldo hieb sofort in die gleiche Kerbe. »Ja, so eine verwanzte, stinkende Koje ist nicht das Richtige für diesen Jungen. He, Serge, geh zu Garcia y Marengo und klopf artig bei ihm an, vielleicht läßt er dich dann sogar bei sich in der Kammer übernachten.« 63
»Mit Worten bist du groß«, sagte Hasard. »Nicht nur mit Worten.« »Bisher habe ich nur dein Geplärr gehört.« »Malcicho, Verdammter.« Arnoldos Gestalt straffte sich. »Jetzt wird er frech. Er riskiert eine dicke Lippe.« Laverda wandte sich im selben Augenblick an Ben. »He, Urbano, du zartbesaiteter Knabe, nun riech doch mal an der Koje, ob sie stinkt. Na los, riech schon. Willst du wohl gehorchen?« Ben traf keine Anstalten. Laverda half kurzerhand nach. Er wollte Ben Brighton beim Genick packen und mit dem Gesicht auf das Lager pressen. Aber da spielte Hasards Bootsmann nicht mit. Ben war im Grunde seines Herzens eine gutmütige Natur. Aber er konnte sich mächtig wandeln, wenn es drauf ankam. Er wußte wie sein Kapitän, daß sie sich hier behaupten mußten, sonst wurde ihr Unternehmen im Ansatz untergraben. Außerdem hatte er eine Stinkwut im Bauch, und die gab den Ausschlag. Ben hieb zu. Laverda vollführte einen Satz, schoß wie katapultiert von der Koje und stieß sich den Kopf an der gegenüberliegenden Raumwand. Er stöhnte und sackte zu Boden. Ben hatte eine kräftige Handschrift. »Das wirst du dir doch wohl nicht gefallen lassen«, höhnte Jorge. Laverda fuhr herum und rappelte sich auf. Ben ließ ihn gar nicht erst zum Zuge kommen. Er federte von der Koje weg, hechtete auf den Burschen zu und packte ihn. Sie verkeilten sich ineinander und balgten sich. Das schäbige Grinsen war plötzlich aus Laverdas Gesicht wie weggewischt. Arnoldo erhob sich, um mit zuzupacken. Aber da hatte er die Rechnung ohne Hasard gemacht. Hasard ging ebenfalls zum 64
Angriff über. Ohne Warnung. Er schoß kerzengerade hoch, schwang vor und ließ seine rechte Gerade auf Arnoldos bulliges Haupt vorzucken. Der Hieb saß, und wie! Arnoldo schüttelte seinen Schädel wie ein Stier, der vom Hammer des Schlächters getroffen worden ist. Aber er stand noch. Ehe er reagieren konnte, wuchtete Hasard ihm beide Fäuste gegen die Brust, das warf ihn zurück, auf eine der Kojen. Er begrub einen der Männer unter sich, wälzte sich und gab eine Reihe von Flüchen von sich. »Das passiert, wenn man jemand in den Rücken fallen will«, sagte Hasard. »Ich kann das nicht leiden. Seid ihr immer so hinterlistig, ihr Bastarde?« Jorge wollte eingreifen, doch die anderen Decksleute hielten ihn zurück. Nein, die vier Kämpfer sollten das allein austragen. Jorge und die anderen vier beschränkten sich darauf, zuzuschauen und aufzupassen, daß die beiden im Raum angezündeten Talglichter nicht umgestoßen wurden. Einen Brand durfte es nicht geben, sonst landeten sie alle bei den Haien. Arnoldo richtete sich wieder auf. Der Kamerad unter ihm gab einen dumpfen Laut von sich, fast wäre er zerquetscht worden. Arnoldo stieg von der Koje und warf sich dem Seewolf entgegen. Ben Brighton und Laverda landeten auf einer Koje, so hart, daß sie fast zersplitterte. Immer noch rangen sie. Sie waren wie zwei schwere Raubtiere, die sich ineinander verbissen hatten. Hasard wich nicht aus, er wartete Arnoldos Ausfall ab. Diesmal mußte er einen Schlag einstecken. Es saß gewaltige Wucht dahinter und erwischte ihn knapp oberhalb der Magengrube. Hasard stolperte rückwärts und knallte mit dem Rücken gegen die Wand. Sofort setzte Arnoldo nach. Er hatte rasch gelernt, seinen Gegner zu taxieren. Eine weitere Schlappe wollte er nicht einstecken. Der Seewolf ließ sich sinken, um Arnoldos Würgegriff zu 65
entgehen und ihn von unten zu attackieren. Aber der Bulle war auf der Hut. Er stoppte ab, änderte seine Taktik und ließ sich mit seinem vollen Lebendgewicht auf Hasard fallen. Hasard vermochte nicht mehr wegzurutschen, wie er es vorgehabt hatte. Schwer lastete der Spanier auf ihm. Er packte seinen Kopf mit beiden Händen. Die Daumenballen legten sich auf seine Augen. Unwillkürlich schloß Hasard die Lider. Arnoldo begann mit den Daumen zu pressen. Ben hatte etwas Luft gekriegt und nutzte den Vorteil, um Laverda das Knie in den Magen zu rammen. Der Bursche krümmte sich stöhnend auf der Koje. Ben glitt von ihm weg, setzte sich neben ihm auf und ließ einen gnadenlosen Hieb in seinen Nacken niedergehen. Laverda spreizte alle viere von sich, dann regte er sich nicht mehr, denn er war bewußtlos. Inzwischen glaubte Hasard, dieser verfluchte Bulle würde ihm tatsächlich die Augen aus den Höhlen quetschen. Er saß fest und konnte sich nicht rühren. Er war wie in einen Schraubstock geklemmt. Eine höllische Lage. Wut flackerte in ihm auf. Verdammt, wenn Arnoldo das hier zu Ende führte, war Hasard nicht mehr zu gebrauchen. Was konnte ein blinder Kapitän schon noch unternehmen? Etwas ließ Arnoldo verharren. Hasard begriff, was es war. Irgendwo aus Richtung der Kuhl tönte ein Geräusch herüber. Hasard nutzte sofort diese Chance. Er bäumte sich auf und drehte sich dabei, so daß Arnoldo seine Hüfte in die empfindlichste Körperregion erhielt. Arnoldo stieß einen erstickten Schrei aus. In einer Schutzreaktion zog er die Hände von Hasards Kopf weg und führte sie an den Leib. Hasards Augen brannten, aber er profitierte wieder eiskalt von dem Verhalten des Spaniers. Unter Aufbietung aller Kraft befreite er seine Hände, die unter Arnoldos Knien begraben lagen, richtete sich halb mit dem Oberkörper auf und ließ ein Trommelfeuer von Hieben auf den Mann los. Arnoldo war zu verblüfft, um parieren zu 66
können. Er steckte jeden Schlag voll ein, lehnte sich stöhnend zurück und gab den Seewolf ganz frei. Als er dann endlich die Fäuste zur Abwehr hob, war es schon zu spät. Ein vernichtender Hieb raste gegen seine Schläfe. Er glaubte, sein Schädel würde durch eine Explosion gesprengt. Seinen Aufprall auf den Planken spürte er schon nicht mehr. Der letzte Schlag des vermeintlichen Serge hatte ihm die Sinne geraubt. Jorge und die anderen vier hatten sich erhoben und standen sprungbereit. Aber sie zögerten. Durch den Gang polterten Schritte heran. »Stop, ihr Narren!« zischte Hasard den Spaniern zu. »Wollt ihr uns alle in Teufels Küche bringen? Los, helft mir!« Er packte zu, zerrte Arnoldo auf eine der Kojen, drehte ihn auf die Seite und deckte ihn sogar zu. Ben hatte längst begriffen und Laverda mit Hilfe von Jorges Unterstützung auf ein anderes Lager verfrachtet. Auf Hasards Wink krochen Jorge und die vier ebenfalls unter die Decken. Hasard löschte die Talglichter. Er legte sich aber nicht zur Ruhe, sondern kniete sich bloß hin. Ben war neben ihm. Ohne Absprache wußten beide, was sie zu tun hatten. In anderen, ähnlichen Situationen hatten sie dieses perfekte System der Zusammenarbeit gefunden, es bedurfte keiner Worte. Die Tür der Kammer schwang auf, als die Schritte davor verharrten. Jemand leuchtete mit einer Öllampe ins Innere. Hasard sah im zuckenden Lichtschein sein breites Gesicht. Es war Buacel. Hasard und Ben grinsten verlegen. »He, ihr«, sagte der Profos. »Seid ihr des Teufels? Wieso schlaft ihr nicht? Wie seht ihr überhaupt aus?« Hasard zeigte eine entschuldigende Geste. »Das ist so - wir standen beide im Dunkeln auf, weil wir mal auf die Galionsplattform und aus der Hose mußten. Tja, und da sind wir mit den Köpfen zusammengestoßen und hingefallen.« Buacel trat in den Raum. 67
»So, so. Das könnt ihr einem Schwachkopf erzählen.« »Es war aber so«, erklärte Ben. Buacel leuchtete die Gestalten der anderen Männer mit der Lampe ab. Offenbar lagen die Kerle im tiefsten Schlaf. Buacel hatte nach wie vor seine Zweifel, aber er war kein Dummkopf. Warum sollte er einer Sache nachgehen, die ihm doch nur Scherereien einbrachte? Das beste war, die Dinge auf sich beruhen zu lassen. »Serge«, sagte er. »Der erste Offizier hat mir Bescheid gegeben, daß du von nun an auf Anordnung des Kapitäns den Rudergänger ablöst. Das ist eine Probe, verstanden?« »Si, Senor.« »Also los, ab mit dir! Der Wechsel findet sofort statt.« »Kann Urbano mich begleiten?« Buacels Blick war finster. »Davon war eigentlich nicht die Rede.« Er schaute sich wieder im Raum um. Sicherlich war es besser, wenn auch der zweite Neue vorerst aus dieser Kammer verschwand, sonst gab es noch Mord und Totschlag. »Meinetwegen«, versetzte der Profos daher. »Scheinst ja sowieso keinen Schlaf zu finden, Urbano. Aber aufgepaßt, vom Decksdienst, zu dem du ab morgen früh wieder regulär eingeteilt bist, kann ich dich nicht befreien. Falls du vor Müdigkeit umkippst, hast du dir die Folgen selbst zuzuschreiben.« »Si, Senor.« »Los jetzt.« Er ließ sie aufstehen und in den Gang treten, dann scheuchte er sie vor sich her. Unterwegs brachten sie ihre Kleidung notdürftig in Ordnung und wischten sich die Gesichter ab. Die Beulen und blauen Flecke ließen sich auf diese Art natürlich nicht beseitigen. Nur das Blut konnten sie entfernen. Sie hatten Glück, Juan Maria Ortuno befand sich schon nicht mehr auf dem Quarterdeck. Der Rudergänger selbst gab den Kolderstock an Hasard ab. Er erklärte, welcher Kurs zu halten 68
sei, und Hasard entnahm seinem Gerede, daß er wirklich ein blutiger Stümper sein mußte. Hasard übernahm seinen neuen Posten. Das hatte er ja nur gewollt. Buacel schärfte ihm noch ein: »Mach deine Sache ordentlich, es ist zu deinem eigenen Besten. Bau bloß keinen Mist, halt die Augen offen, verdammt noch mal.« »Ich verspreche es«, erwiderte Hasard. Buacel musterte Ben. »He, mußtest du nicht mal aus der Hose?« »Ja ich ...« »Beweg dich. Und glaub ja nicht, daß du einen faulen Lenz schieben kannst.« Buacel grinste. »Ich ziehe einen Mann Deckswache ab. Du übernimmst seine Aufgabe. Hast es ja so haben wollen. Das kommt davon, wenn man sich freiwillig meldet.« Hasard frohlockte. Besser hätte es gar nicht sein können.
7. Um etwa sieben Glasen vor Mitternacht erschien Arnoldo auf Oberdeck. Hasard sah ihn, wie er das Vordecksschott verließ und sich prüfend nach allen Seiten umsah. Ben hatte den Mann ebenfalls gesichtet. Er versteckte sich vorsichtshalber hinter dem Großmast und unterbrach seinen Wachgang auf der Kuhl. Vorn auf der Back stand noch ein drittes Besatzungsmitglied als Posten. Arnolde winkte ihm zu. Der Mann nickte und ließ ihn gewähren. Nachdem Arnoldo sich genau vergewissert hatte, daß niemand ihn stören konnte, ging er an Ben Brighton vorbei zu Hasard aufs Quarterdeck. Ben unternahm vorläufig nichts. Hasard hatte ihm kein Zeichen gegeben, das hieß, er wollte sich selbst mit Arnoldo 69
befassen, oder er hatte irgend etwas anderes vor. Hasard grinste den Mann verwegen an. »Na gut. Du hast wohl immer noch nicht genug, du Hurensohn?« Arnoldo schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Ich wollte mich bei dir bedanken. Und entschuldigen.« »He, warum das denn?« Der Mann trat von einem Fuß auf den anderen. »Tja - nun, erstens habe ich euch beide falsch eingeschätzt. Ihr seid keine hinterhältigen, kriecherischen Typen. Daß ihr zulangen könnt, habt ihr zur Genüge bewiesen. Und daß ihr nicht gegen uns seid, habt ihr auch gezeigt. Ihr hättet uns über Buacel bei Ortuno anschwärzen können. Das hätte schlimme Folgen für uns gehabt. Aber ihr habt’s nicht getan. Es - äh, es tut mir leid, was ich ...« Hasard streckte ihm die Hand entgegen. »Ich nehme das Friedensangebot gern an, Arnoldo. Vergessen wir, was gewesen ist.« »Wir sind also Freunde?« »In Ordnung.« Arnoldo ergriff die ihm dargebotene Hand und drückte sie. Etwas später schloß er mit Ben Brighton den gleichen Pakt, und dann unterhielten sie sich. Arnoldo sah wüst aus mit seinen blauen und roten Flecken im Gesicht und den Schrammen. Er grinste schief. »Wollt ihr wissen, was ich gedacht habe? Ich glaubte, Garcia y Marengo wollte durch euch über unsere geheimen Pläne erfahren.« »Wir und Spione - du spinnst«, sagte Ben. »Das habe ich ja eingesehen. Aber man wird leicht verbohrt und mißtrauisch auf einem Schiff wie diesem. Es ist die Hölle für uns. Ihr habt ja nun auch schon gemerkt, wie es hier zugeht.« Hasard nickte. Er wußte, daß dies eine Gelegenheit war, mehr über den Konvoi zu erfahren. In die Frachträume hatten sie bisher noch keinen Blick werfen können. Erstens hatte ihnen 70
die Zeit gefehlt, zweitens waren sie verschlossen. »Hör zu«, ssgte Hasard zu Arnoldo. »Ich habe mehr begriffen, als du denkst. Ihr habt eine Gruppe von Verschwörern gebildet. Ihr wollt meutern. Das ist es doch, nicht wahr?« Arnoldo antwortete flüsternd: »Um Himmels willen, sag das nicht so laut.« »Habt ihr euch wegen der Sache mit Santino dazu entschlossen?!’ »Nein, das war eigentlich nur noch der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte.« »Wann wollt ihr losschlagen?« »Noch vor Havanna. Wir bringen das Schiff in unseren Besitz und befeuern die anderen vier Galeonen, wenn die uns angreifen. Teufel, wir müssen rigoros sein, auch gegen die Mannschaften auf den anderen Schiffen, anders geht es nicht.« »Was haben die Schiffe eigentlich geladen?« »Goldschmuck, Diamanten, Barren aus Silber und Gold alles Reichtümer, die wir bei den Indianern abgestaubt haben. Und Perlen, die wir einem französischen Piraten bei einem Überfall weggenommen haben.« Hasard lächelte. »Ihr würdet also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und auch noch reiche Leute werden.« »Ja. Aber in erster Linie kommt es uns auf unsere Freiheit an. Was ist, seid ihr mit von der Partie?« Arnoldos Blick wurde hart. »Ihr verpfeift uns doch nicht, oder?« Ben schüttelte tadelnd den Kopf. »Das ist aber nicht sehr schön, daß du immer noch an uns zweifelst.« Arnolde kratzte sich am Hinterkopf. »Ich meine das nicht so. Nimm’s mir nicht übel. Wir alle müssen uns erst auf euch einstellen.« »Hauptsache, wir sind aufrichtig zueinander«, erwiderte Hasard. »Ehrlichkeit gegen Ehrlichkeit. Ich will dir ein Geheimnis verraten, Arnoldo, damit du weißt, daß auch du uns 71
vertrauen kannst.« »Schieß los.« »Wir haben Santino.« »Wen habt ihr? Ich höre wohl nicht richtig?« Ben Brighton wußte nicht, wohin er blicken sollte, als Hasard jetzt weitersprach. Allmächtiger, wollte er diesem Spanier denn alles offenbaren, alles? »Hör gut zu«, sagte Hasard mit Verschwörermiene. »Unser Kapitän Don Alirio de Lares hat beidrehen lassen, als unser Ausguck von der ›Isabella‹ ein treibendes Boot entdeckte. In der Nußschale lag der arme Teufel Santino. Wir zogen ihn raus, bevor die Haie ihn packen konnten. Wir verarzteten ihn und päppelten ihn so richtig auf, aber dann, als wir plötzlich den Konvoi vor uns hatten, spielte er verrückt. Am liebsten wäre er rübergeschwommen, hierher auf die ›Libertad‹, und hätte sich euren Kapitän vorgeknöpft, glaube ich. Verdammt, wir mußten ihn einsperren, weil er zu sehr tobte. Unser Kapitän wollte keinen Ärger mit Garcia y Marengo, nicht, bevor er einiges geklärt hatte.« Arnoldo holte tief Luft. »Hombre, das schlägt dem Faß den Boden aus. Don Alirio wußte also durch Santino Bescheid, was für ein Schwein unser Kapitän ist. Warum hat er nichts unternommen?« »Erst mal wollte er vernünftig mit ihm reden. Aber dann hat Garcia y Marengo ihm den Warnschuß vor den Bug gesetzt und hat uns Männer requirieren lassen, wie er das nennt. Was sollte de Lares denn da noch unternehmen?« »Er kuscht also«, sagte Arnoldo erbittert. »Dabei hätten wir in ihm einen Verbündeten gehabt.« »Und du glaubst ernsthaft, ein spanischer Kapitän klagt einen anderen Kapitän an?« »Das nicht. Aber Don Alirio hätte Druck auf Garcia y Marengo ausüben können. Ich meine, er hätte ihn irgendwie zwingen können, daß wir hier nicht ganz so mies behandelt 72
werden.« »Vergiß nicht die Geschütze der ›Libertad‹.« »Ja, das stimmt auch. Na, Schwamm drüber«, meinte der bullige Mann. »Jetzt ist euer Schiff weg. Wir haben die Chance verspielt. Hombre, du hättest mir auch eher über Santino berichten können. Himmel, ich bin froh, daß er wohlauf ist. Wenn ich das den anderen erzähle!« »Vorsicht«, sagte Hasard. »Ich habe extra damit gewartet, weil auch ich Angst vor Spionen von Ortuno und Garcia y Marengo habe. Daß ich auf dich zählen kann, weiß ich jetzt. Aber legst du für alle anderen Decksleute die Hand ins Feuer? Wenn jemand die Sache an den Kapitän weiterträgt, ist der imstande und segelt noch der ›Isabella‹ nach, um Santino zurückzuholen. Was dem armen Burschen dann geschieht, weißt du genauso gut wie ich.« Arnoldo blickte verdutzt drein. »Diablo, daran habe ich nicht gedacht.« Er senkte die Stimme, daß sie kaum noch zu verstehen war. »Gut, ich berichte es also nur Jorge, Laverda und den anderen aus meiner Kammer. Für die würde ich meinen Kopf hinhalten.« »In Ordnung«, sagte Hasard. »Im übrigen kannst du dich voll und ganz auf uns verlassen.« »Wieweit?« »So weit, wie dein Vorstellungsvermögen reicht. Klar?« Arnoldo glaubte zu verstehen. »Si, si, Amigo. Bis später dann.« Er wandte sich ab und ging. An seiner Art, sich fortzubewegen und wieder im Vordeck zu verschwinden, sahen sie, daß für ihn die Welt wieder in einem völlig anderen Licht erschien. Im Licht der Hoffnung. Es war gut, neue Freunde zu gewinnen. »Irgendwie gefällt mir dieser Typ«, sagte Hasard, als Ben ganz dicht neben ihn trat. »Er ist fast so ein Haudegen wie der gute alte Valdez. Nur ahnt er eben nicht, daß es schon in Kürze 73
losgeht. Anders, als er glaubt.« »Ich dachte schon, du erzählst ihm alles über uns.« Hasard sprach gedämpft. »Soweit konnte ich nicht gehen. Das wäre zu riskant. Wenn Arnoldo hört, wer wir in Wirklichkeit sind, vergißt er vielleicht doch die Freundschaft und denkt nur noch an seinen Patriotismus. Immerhin können sich die Lissy daheim in London und König Philipp II. immer weniger riechen.« »Was meinst du, ob es Krieg gibt?« »Zwischen England und Spanien? Darüber werden wohl noch ein paar Jahre verstreichen. Aber auf die Dauer ist die offene Auseinandersetzung wohl unumgänglich.« Er drehte sich um und blickte mit dem Spektiv nach achtern. Rotgolden glänzten fünf Lichter in der Nacht, das eigene der ›Libertad‹ und die vier kleineren der weiter zurückliegenden Galeonen. Alle hatten ihre großen eisernen Hecklaternen entfacht. Gleich im Kielwasser der ›Libertad‹ rauschte die ›El Clavelito‹ dahin. Der Lichtkreis ihrer Laterne reichte bis zu dem Mann, der Ruderwache hatte und aufrecht neben dem Kolderstock stand Dan O’Flynn. »Sehr gut«, murmelte Hasard. »So habe ich das haben wollen, mein guter Dan.« Bis zu der ›Invulnerable‹, die den achteren Abschluß des Geleitzuges bildete, konnte er zwar auch noch blicken, aber er erkannte nicht den Mann am Ruder. Er hoffte inständig, daß das Carberry oder Blacky war, und er betete zum Himmel, daß sie das vereinbarte Zeichen sahen, wenn er es gab. Hasard schaute wieder nach vorn. »Wenn der Wind nicht schralt und kein Sturm aufzieht, vor dem sich der Konvoi in eine Bucht verdrücken muß, erreicht der Kapitän Rolando Garcia y Marengo wohl morgen abend Havanna.« »Wir haben also nur diese Nacht, Serge«, erwiderte Ben. »Also jetzt, Urbano. Jetzt oder nie. Was ist mit der Wache auf der Back?« 74
»Der? Der ist gerade mal auf die Galionsplattform austreten gegangen.« »Dann gib jetzt die Zeichen - für die ›Isabella‹, die ›Le Vengeur‹, die hoffentlich zu Shane gestoßen ist, und für Ed, Blacky, Dan und Sam.« »Si, Senor.« Hasard grinste. Ben auch. Ein verwegenes Gefühl hatte sie gepackt. Nichts konnte ihre Aktion aufhalten. Höchstens noch eins: die Initiative eines möglichen Lauschers. Aber Hasard verwarf den Gedanken gleich wieder. Nein, sie hatten viel zu leise gesprochen. Zudem schien sich die komplette Besatzung außer der Deckswache natürlich - im Reich der süßen Träume zu befinden. Kein Laut drang aus Vordeck und Achterkastell. Das würde anders werden. Hasard stand und hielt den Kolderstock, ein hochgewachsener, breitschultriger Mann, dessen schwarzes Haar vom Nachtwind zerzaust wurde. Kühnheit beherrschte seine Züge. Ein junges Gesicht war das, und doch schon alt, von tausend Entbehrungen und Erfahrungen, von Wind und Wetter gezeichnet und mit einer Narbe, die von der Stirn über die linke Wange verlief. Sieben Jahre Kaperfahrt hatten ihn geprägt und zu einem umsichtigen Mann und mit allen Wassern gewaschenen Kapitän werden lassen - und zu einem unerbittlichen Gegner der Spanier. Hasard hatte seine Berechnungen angestellt, so gut es ging. Sie befanden sich jetzt bald auf der Höhe der Bucht von Caibarien. Es galt, keine Zeit mehr zu verlieren. Ein Blick über die Schulter - ja, Ben Brighton hatte mit dem Signalisieren begonnen. In genau bemessenen Intervallen deckte er die Hecklampe mit seinem Hemd ab. Wenn die ›Isabella‹ und die ›Le Vengeur‹ Fühlung hielten, wie Hasard es sich ausrechnete, würden sie jetzt auch feuerbereit sein. Darauf kam es an. Wie der Blitz mußten sie zwischen die spanischen Galeonen fahren. Hasard spähte wieder nach vorn und sah die Gestalt auf der 75
Back sofort. Etwas umständlich hatte sie sich über die Querbalustrade an der Galion geschwungen, jetzt bewegte sie sich in Richtung Kuhl. Das war der Posten. Er mußte Bens Bestrebungen gleich sehen. Und auch wenn er der größte Einfallspinsel der Welt war, mußte er Verdacht schöpfen. * Hasard atmete auf. Ben hatte das Nahen des Mannes ebenfalls bemerkt und verließ die Hecklaterne. Er schritt an Hasard vorbei und schlenderte auf die Kuhl, als könne ihn überhaupt nichts bekümmern. Dann winkte er dem Burschen vom Vorkastell zu. »He?« sagte dieser. »Komm schon, ich geb einen aus«, erwiderte Ben gedämpft. »Aber schrei nicht so, sonst wacht Buacel auf.« Der Mann hatte das mit dem Ausgeben auf Anhieb verstanden. Er turnte den Niedergang zur Kuhl hinunter und trat grinsend zu Ben Brighton. Zu diesem Zeitpunkt hatte Ben sich bereits heimlich mit einem Koffeynagel bewaffnet. Er hatte ihn nur hinter seinem Rücken aus der nächsten Nagelbank zu ziehen brauchen. Den Belegnagel hob er jetzt an. Der Posten dachte wohl, das Ding wäre eine Flasche, jedenfalls reagierte er viel zu spät. Ein dumpfer, etwas hohler Laut ertönte - und der Spanier sank mit einer schwellenden Beule an Deck. Ben schleppte ihn unter eines der auf Deck festgezurrten Beiboote, damit der Bursche nicht sofort entdeckt wurde. Sodann kehrte er zu Hasard zurück. »Urbano, wie weit bist du?« fragte der Seewolf. »Unsere Nachhut weiß jetzt Bescheid.« »Dann signalisiere den vier Freunden auf den Galeonen.« 76
»Sofort?« »Sofort.« »Si, Serge.« Mit wahrhaft teuflischem Vergnügen machte sich Ben gleich darauf wieder an der Hecklaterne zu schaffen. Drei kurze Blinkzeichen glommen auf. Sie waren der Hinweis für Carberry, Blacky, Dan O’Flynn und Sam Roskill, das vereinbarte Manöver zu vollziehen. Alle Punkte, die bei dem Unternehmen zu beachten waren, hatte Hasard ja schon mit ihnen durchgesprochen, bevor sie die ›Isabella VIII.‹ verlassen hatten. Hasard handelte. Er legte den Kolderstock herum, so daß die ›Libertad‹ abfiel und platt vor den Wind ging. Somit nahm er nördlichen Kurs. Aber er hatte nicht vor, sich sehr weit aus der Nähe der kubanischen Küste fortzubewegen. Wieder warf er einen Blick über die Schulter. Ben winkte ihm zu. Es schien alles glatt zu verlaufen, und der Seewolf sah es nun auch selbst: Dan O’Flynn hatte auch das Ruder der ›El Clavelito‹ herumgelegt und schob sich jetzt praktisch im spitzen Winkel auf die Steuerbordseite des Flaggschiffes zu. In der Nacht hielten die Galeonen üblicherweise weit dichter Fühlung als bei Tag. Genau das wurde dem Konvoi jetzt zum Verhängnis. Ben Brighton stürmte von der Hecklaterne fort und legte sich am Backbordschanzkleid des Achterdecks platt auf den Boden. Hasard duckte sich, hielt den Kolderstock aber nach wie vor. Dann war es soweit. Die ›El Clavelito‹ wuchs neben der ›Libertad‹ aus der Finsternis empor. Sie trug ihr den Bugspriet entgegen, als wolle sie sie durchbohren. Es war ein gigantisches, unheimliches Schauspiel, und es leitete das Inferno ein. Die ›El Clavelito‹ rammte die Steuerbordseite der ›Libertad‹. Das krachte, mahlte und rieb sich donnernd. Holz zerbarst und 77
splitterte, Kanonen wurden aus ihren Laschings gerissen und mit Urgewalt über die Kuhl befördert. Das dröhnte, quietschte und rumpelte, und der Seewolf und sein Bootsmann dachten, über Bord geschleudert zu werden. Der Mann von der Back kam unter dem Beiboot wieder zu sich. Er stimmte ein Mordsgeschrei an, aber das konnte an den Tatsachen auch nichts mehr ändern. Schotts wurden aufgedrückt, auf der ›Libertad‹ wie auf der ›El Clavelito‹, Männer stürmten an Deck. Im Nu herrschte Zustand, ein kunterbuntes, brüllendes, händeringendes Durcheinander. Kopflos rannten die Spanier auf ihren Schiffen herum. Das Chaos hatte eingesetzt und entfaltete sich mehr und mehr. Hasard sah in einer Sekunden währenden Sequenz, wie drüben auf der Galeone Dan O’Flynn und Sam Roskill auf dem Quarterdeck lagen und bereits ihre Waffen gezückt hielten. Die ›Libertad‹ und die ›El Clavelito‹ waren ineinander verzahnt. Sie verloren rasch an Fahrt, legten sich quer zu den beiden nachrückenden Schiffen und bildeten eine Barriere. Die Distanz reichte den nachfolgenden Galeonen nicht mehr, sich an ihren Vordermännern vorbeizudrücken. Sie konnten auch nicht mehr rechtzeitig manövrieren, um auszuweichen. Die Deckswache schlief. Neues Geschrei erhob sich über der See, dann rammten rasch hintereinander auch diese beiden Segler die ›Libertad‹ und die ›El Clavelito‹. Vier Schiffe schoben sich ineinander. Das vollzog sich unter ohrenbetäubendem Krachen. Die ›Libertad‹ und die ›El Clavelito‹ hatten sich noch weiter gedreht und mittlerweile fast Gegenkurs genommen. Jetzt schor die dritte Galeone bei der ›El Clavelito‹ längsseits und empfing den Rammstoß des vierten Schiffes. Hasard sah, wie Juan Maria Ortuno heiser brüllend an Deck erschien. Weitere Offiziere folgten. Zuletzt tauchte Rolando Garcia y Marengo auf. Er trug nur die Hälfte seiner Kleidung, 78
war ohne seine Perücke und bot einen lächerlichen Anblick. Aus dem Vordeck des Flaggschiffes quollen die Leiber des »gemeinen Schiffsvolkes« hervor. Arnoldo, Jorge und Laverda befanden sich an der Spitze der Gruppe. Jetzt geschah etwas höchst Erstaunliches. Die Männer des Vorschiffs warfen sich den Offizieren und dem Kapitän höchstpersönlich entgegen und prügelten auf sie ein. Sie schrien Hurra, hieben nieder, wenn sie konnten, und gestikulierten zu den beiden Seewölfen hinüber. »Mann«, stieß Ben hervor. »Die glauben, wir hätten den Auftakt zur Meuterei gegeben.« »Laß sie«, entgegnete Hasard. »Die Hilfe können wir gut brauchen.« Buacel lief zwischen den beiden Parteien hin und her und wußte nicht, was er unternehmen sollte, um diesen Wahnsinn zu beenden. Es gab kein Ende. Es ging erst noch richtig los. Edwin Carberry war nun an der Reihe, Carberry, der den Posten des Rudergängers an Bord der ›Invulnerable‹ übernommen hatte.
8. Auf der ›Invulnerable‹ fühlte sich selbst der Kolderstock schmierig und speckig an, aber das war sowohl Carberry als auch Blacky jetzt völlig egal. Carberry stieß einen grollenden Laut aus. Hölle und Teufel, was da in der Nacht vor ihnen seinen Lauf nahm, war genau das, was er brauchte. Jetzt kriegte er den Ausgleich für die Entbehrungen der letzten Stunden und all das, was er hatte schlucken müssen. Und ob sie die Kombüse der »Unverwundbaren« geputzt 79
hatten! Blitzblank hatten sie sie gescheuert und geschrubbt, und anschließend hatte Blacky, der dem Kutscher viel abgeschaut hatte, noch einen höchst schmackhaften Eintopf für die ganze Mannschaft bereitet. Schön schwer war das Gericht gewesen, nahrhaft, fett und mit vielen Bohnen drin. Die ganze Bande hatte sich nach Herzenslust den Magen vollschlagen können. Aber jetzt schlief sie. Sehr tief, wie man das nach einem derartigen Mahl verlangen konnte. Die beiden Wachtposten auf der Back waren hellwach, sie schrien um die Wette. »Da scheißt der Henker drauf!« brüllte Carberry ihnen zu. Auf englisch. Sie stutzten, fuchtelten dann noch wilder in der Luft herum und trafen Anstalten, aufs Quarterdeck herüberzustürmen. »Blacky!« brüllte der Profos. Moreno alias Blacky lag auf den Planken und schob den Lauf einer Muskete zwischen den Taljen hindurch. Er hatte die Waffe »organisiert«, nicht sie allein, auch noch andere brauchbare Schießeisen, die ausgerichtet neben ihm ruhten. Er drückte ab. Krachend brach der Schuß. Es war nur eine Salve zur Warnung, gehacktes Blei, das über die Köpfe der beiden Spanier wegzischte. Sofort machten sich die beiden platt wie die Flundern. Zu einer Erwiderung des Schusses gelangten sie nicht mehr, denn jetzt steuerte Carberry die Galeone geradewegs mitten in das unentwirrbare Knäuel der Schiffsleiber. Als erstes knickte der Bugspriet weg, dann die Blinde, dann ging der ganze Vorsteven zu Bruch. Carberry schrie »Hurra!« und »Zur Hölle mit den Dons!« und »Hasard, wir kommen!« Blacky mußte grinsen, so dramatisch die Situation auch war. An Deck der ›Invulnerable‹ entstand nun das gleiche Tohuwabohu wie auf den anderen Schiffen des Konvois. Carberry wartete den Hauptrammstoß ab, dann ließ er den 80
Kolderstock los, an dem er sich zuletzt nur noch festgehalten hatte, um nicht quer über Deck zu segeln. Jetzt lief er noch vor Blacky den Steuerbordniedergang zur Kuhl hinunter, um sich das Durcheinander anzusehen. Ein Wirrwarr von Menschenleibern brodelte über Deck. Die beiden Männer der Back hätten gern auf Carberry gefeuert, aber sie konnten es nicht, sie hatten Angst, ihre eigenen Landsleute zu verletzen. Blacky gelangte neben dem Profos an. »Teufel, wo sind denn bloß die Figuren aus dem Achterkastell?« Er mußte brüllen, um das allgemeine Geschrei zu übertönen. »Blacky, wir haben den Kapitän bisher noch nicht zu Gesicht gekriegt«, knurrte Carberry. »Da stimmt doch was nicht.« »Es ist ein Scheißkahn, das sage ich dir.« »Ja, es ist nicht schade um ihn.« Sie mischten sich unter die Spanier und schrien selbst, was denn los wäre und ob dies der Weltuntergang sei. Trümmer flogen umher, die Schiffe verkeilten sich immer stärker ineinander. Niemand wußte so richtig, was passiert war, am allerwenigsten die Männer der ›Invulnerable‹, denn sie spürten noch die Nachwirkung des schweren, gutschmeckenden Eintopfes. Wie trunken taumelten sie herum. Carberry arbeitete sich energisch zum Achterkastell vor. Jetzt tauchten doch die ersten Jünglinge in Uniform auf. Fesche Burschen waren das, aber sie hatten mehr Angst als Verstand. Völlig verständnislos und einer Initiative unfähig blickten sie sich um. Und dann war Cosmas heran. Carberry bemerkte ihn fast zu spät. Er fuhr herum und hatte den hut und panzerbewehrten Profos genau vor der Nase. Cosmas heulte wie ein Wolf und grölte ein paar unsinnige Befehle. Er kriegte die Lage einfach nicht in den Griff. Aber er suchte wenigstens nach einem Schuldigen, den er für diese Ungeheuerlichkeit zur Verantwortung ziehen konnte. 81
Sein Blick traf Edwin Carberry. »Du!« brüllte Cosmas. »Du hast uns das eingebrockt. Satan, welcher Dämon hat mich bloß geritten, dich ans Ruder zu stellen? Na warte, du Hund, dir werde ich’s zeigen.« So rückte er auf Carberry zu. Er hob die rechte Pranke und schwang einen Morgenstern. Carberry fluchte, trat einem Nahestehenden in den Leib, daß er sich krümmte, entriß ihm die Waffe und stellte sich damit dem Kerl entgegen. Er hatte eine Axt erbeutet. Mit schwungvoller Gebärde zog er sie hoch, gerade noch rechtzeitig genug. Der Morgenstern sauste auf seinen ungeschützten Kopf nieder. Seine Eisendornen prallten gegen die Axtklinge, daß es schepperte. Sie glitten ab, ohne Schaden anzurichten. Cosmas brüllte vor Wut und drang erneut gegen Carberry vor. Der Kampf der Kolosse hatte begonnen. Cosmas legte es in seinem blinden Zorn darauf an, den vermeintlichen Porfirio zu töten. Jawohl, er hatte ihn abgeurteilt, hatte den Sündenbock gefunden und wollte jetzt auch gleich den Scharfrichter spielen. Unrecht hatte er mit seiner These, Carberry hätte an allem die Schuld, ja auch nicht. Hasards Profos hatte ursprünglich nur vorgehabt, diesem grotesken Giganten eine tüchtige Abreibung zu erteilen. Jetzt änderte er seinen Plan. Es wurde ein Kampf auf Leben und Tod. Cosmas führte Schlag um Schlag, Carberry wehrte ab. Noch hatte der Spanier die Oberhand in dem Gefecht. Und er konnte verteufelt gut mit dem verfluchten Morgenstern umgehen. Carberry geriet ins Schwitzen. Er wurde gegen die Querwand des Achterkastells gedrückt. Da stand er nun und focht mit der Axt, als wäre sie ein Schwert. Und immer wieder knallte der Morgenstern dröhnend gegen die Waffe. Carberry gelangte nicht zum Zug. Einen Schild hätte er gebraucht, um sich wirkungsvoll verteidigen und auch noch einen Angriff 82
aufbauen zu können. Er wollte sich einen der Jünglinge vom Achterdeck greifen, aber die brachten sich entsetzt in Sicherheit. Cosmas lachte gellend. Es klang siegesgewiß. Blacky wollte Edwin natürlich zu Hilfe eilen, doch plötzlich war einer der Kerle von der Back an seiner Seite. Er hatte sich mühselig durch die wabernde Menschentraube gekämpft. Jetzt hob er seine Pistole. Blacky drehte sich und riß dabei den Fuß hoch. Die Stiefelspitze erwischte den Waffenarm des Gegners. So heftig, daß dieser vor Schmerz aufbrüllte. Seine Finger waren kraftlos, wie paralysiert, die Pistole entglitt ihm. Blacky hieb ihm links und rechts was um die Ohren. Zum Abschluß rammte er ihm die Faust unters Kinn. Der Mann brach zusammen. Blacky wollte zu Carberry, aber inzwischen versperrte ihm ein gutes Dutzend Menschenleiber den Weg zur Kampfesstätte. Cosmas führte einen vernichtenden Hieb mit dem Morgenstern. Aber dann staunte er, wie er das noch nie getan hatte. Wo Carberry gestanden hatte, war plötzlich nur noch Wand. Krachend bohrte sich die furchtbare Waffe in das Holz und riß ein Trümmerstück heraus. Carberry war blitzschnell zur Seite gewichen. Diese Behendigkeit hatte ihm keiner zugetraut. Es war der Trumpf, den er noch in der Hinterhand gehalten hatte. Bevor Cosmas einmal Luft geholt hatte, ging Carberry zum Angriff über. Die Axt zuckte von unten her auf den gewaltigen Brustpanzer des spanischen Profos zu. Dann gab es einen Laut, als sei eine Kirchenglocke zersprungen. Cosmas staunte jetzt noch mehr, denn seine Rüstung war mit einem Mal zerbeult. Die Delle drückte ihm beinahe die Brust ein und raubte ihm den Atem. Nicht viel hätte gefehlt, und Carberry hätte das geschmiedete Eisen mit der Axt gespalten. Cosmas Antwort bestand zunächst aus einem fürchterlichen Heulen. Erneut hackte die Axt nach ihm, aber er war jetzt auf 83
der Hut und sprang zurück. Er schwang wild den Morgenstern über seinem Haupt, doch die Axt war wieder da, stieß vor, säbelte nach seinen Beinen. Erschrocken wich er weiter zurück. Einer der Umstehenden griff jetzt in das Geschehen ein. Er wartete, bis Carberry dicht neben ihm war. Carberry war viel zu vertieft in den Kampf, viel zu konzentriert auf den spanischen Profos, um den Hinterhalt zu bemerken. Der Mann zu seiner Seite stellte ihm ein Bein. Prompt stolperter Caberry darüber. Er fiel der Länge nach hin und hatte noch Glück, daß er sich nicht an der eigenen Waffe den Leib aufschnitt. Cosmas lachte wieder. Der Morgenstern schwang hoch, verharrte bebend über Cosmas Kopf, dann zischte er nach unten. Es lag genügend Wucht in dem Schlag, daß Carberrys Schädel zertrümmert werden mußte. Ein Beifallsschrei löste sich aus der Mannschaft der ›Invulnerable‹. Alle waren sich jetzt einig, daß dieser Porfirio der Verantwortliche für das Unglück war. Carberry rollte sich zur Seite. So unbändig war sein Überlebenswille, daß er alle Kraft in diesen letzten, verzweifelten Versuch legte. Die mit Eisendornen gespickte Kugel bohrte sich in die Decksplanken. Splitter spritzten zu den Seiten weg. Tief blieb das Mordgerät im Holz stecken. Cosmas riß zornig daran, aber er konnte den Morgenstern nicht so schnell wieder an sich bringen. Carberry stemmte sich hoch und versetzte seine Hüfte in Schwung. Er war ein Kreisel, der sich hochschraubte. Aus dieser Bewegung heraus schleuderte.er die Axt. Sie erhielt enormen Drall. Taumelnd bewegte sie sich durch die Luft. Cosmas schrie, ließ den Morgenstern los, wollte fort - viel zu spät. Die Axt ereilte ihn und traf seinen Kopf. Aufrecht torkelte er 84
bis ans Schanzkleid zurück. Er lehnte sich hintenüber, sehr langsam und stark blutend. Sein Oberkörper mit dem schweren Panzer erhielt das Übergewicht. Er fiel außenbords. Keiner mochte der entsetzlich zugerichteten Gestalt mit der Axt im Schädel nachblicken, wie sie in den schwarzen Fluten verschwand. Carberry verlor keine Zeit. Diese Mannschaft würde ihn lynchen, wenn er nicht etwas unternahm. Er boxte sich durch, geriet an das Schott zum Achterkastell und stürmte ins Innere. Blacky folgte ihm. Der Kapitän, hämmerte es wild in Carberrys Geist. Fast fiel er in dem düsteren Gang, aber er fing sich in letzter Sekunde, fluchte, verwünschte die ganze Welt, raste weiter. Die Tür zur Kapitänskammer brach fast aus ihren Eisenangeln, als er sie aufstieß. Krachend prallte sie gegen die Innenwand. In der Kapitänskammer brannten mehrere Lampen. Ein kaum bekleideter, dicklicher Mensch fuhr kreischend von seinem Lager hoch. In seiner Gesellschaft befand sich einer der adretten Jünglinge, die so wunderbare Uniformen trugen und so wenig für die Seefahrt taugten. »Jetzt wird ich doch glatt verrückt!« brüllte Carberry. Er packte sich den Übergewichtigen, bevor dieser nach seiner Pistole greifen konnte, richtete ihn auf, hielt ihn vor sich hin wie ein zappelndes Kaninchen und schrie ihm in seinem katastrophalen Spanisch ins Ohr: »Streich die Flagge, du Hund, wenn dir dein Leben lieb ist!« »Gnade«, wimmerte der spanische Kapitän. »Ich will nicht sterben. Noch nicht. Santo Dios, was ist denn nur geschehen?« »Dein Kahn gehört uns«, knurrte der Profos. »Wir verschlucken die ganze Armada.« Er stieß ihn vor sich her. Blacky hatte dagestanden und aus schmalen Augen beobachtet. Jetzt bemerkte er, wie der Jüngling ein Messer zu 85
ziehen versuchte. Er hatte es irgendwo in seinen piekfeinen Kleidern verborgen. Blacky holte aus und gab ihm eine Maulschelle, die ihn gegen die Wand beförderte. Jammernd rutschte der Bursche daran zu Boden. Blacky nahm ihm das Messer ab und durchsuchte ihn nach weiteren Waffen. Er stapfte dem Profos und dem Kapitän nach und hielt letzteren mit einer seiner »organisierten« Pistolen in Schach. Männer drängten sich im Gang. Sie wollten auf Carberry und Blacky schießen, aber Eds Brüllen stoppte sie. »Keine Dummheiten, ihr Bastarde! Ich habe euren Capitan. Der muß dran glauben, wenn ihr nicht aufsteckt. Ihr müßt ihn umlegen, um an uns ranzukommen. Ihr endet alle auf dem Richtklotz des Henkers, wenn ihr das tut.« »Nicht schießen!« kreischte der Kapitän. »Das ist ein Befehl!« Die Männer der Besatzung senkten die Köpfe. »Weg mit den Waffen!« rief Blacky. Pistolen und Musketen, Arkebusen, Säbel, Degen, Schiffshauer und Piken polterten zu Boden. * Das Durcheinander auf den ineinanderverkeilten Schiffen dauerte an. Jeder versuchte auf eigene Faust zu klarieren und vergrößerte das Chaos dadurch nur noch mehr. Aber es war immer noch nicht der Gipfel. Jede Katastrophe ist steigerungsfähig, wenn unvermittelt ein neuer Feind aus dem Dunkel hervorbricht - so, wie es jetzt die ›Isabella VIII.‹ und die ›Le Vengeur‹ taten. Mit Vollzeug segelten sie heran. Big Old Shanes wildes, grollendes Lachen tönte zu den spanischen Galeonen. Es leitete das vollkommene Chaos ein. Eiskalt nutzten Shane und Jean Ribault das Überraschungsmoment aus. Ihre Schiffe fielen hart 86
ab, es war ein kühnes Manöver, fast kollidierten auch sie mit dem Konvoi, aber eben nur fast. Und nun richteten sich die Breitseiten der zwei Segler auf die Spanier. »Feuer!« riefen Shane und Jean fast gleichzeitig. Mit Donnergetöse entluden sich die Culverinen an der Backbordseite der ›Isabella‹. Achtmal zuckte es rotgelb auf und stach auf das Flaggschiff des Geleitzuges zu. Die Ladung saß sehr hoch und hatte mehr demonstrative Wirkung. Verletzt wurde vorläufig niemand. Eine 17-Pfünder-Kugel fuhr jedoch genau in den Fockmast der ›Libertad‹ und knickte ihn. Prasselnd senkte sich der obere Teil des Mastes mit dem Vormarssegel, dem Vormars und dem Topp auf Deck nieder. Die anderen Geschosse zerfetzten die Takelage. »Daß mir keiner aufs Deck hält!« brüllte Shane. »Vergeßt nicht, daß sich Hasard und Ben dort befinden!« Die Männer hatten es sich eingeprägt. Sie belegten die ›Libertad‹ weiterhin mit Beschuß, Smoky und Al Conroy vorn auf der Back mit den Kugeln der Drehbassen, Batuti vom Hauptmars aus mit seinen Brandpfeilen. Drüben liefen die Spanier immer noch völlig planlos hin und her. Natürlich gelang es dem tobenden Ortuno, einige Männer an die Steuerbordgeschütze zu purren. Aber viele der vierzig Kanonen waren bei dem Zusammenprall mit der ›El Clavelito‹ aus ihren Brooktauen gerissen und quer über Deck geschleudert worden. Andere wieder hingen so schräg und verkantet in ihren Laschings, daß sie nicht mehr in Feuerposition gebracht werden konnten, jedenfalls nicht so schnell. Einen weiteren Teil schließlich hatte Ben Brighton während seiner »Nachtwache« heimlich unbrauchbar gemacht. Entweder hatte er die Geschütze ihrer Lunten beraubt oder er hatte die Bodenstücke beschädigt. Der Erfolg der Aktion stellte sich jetzt ein. 87
Keinen Schuß feuerten die Männer des Rolando Garcia y Marengo auf die ›Isabella‹ ab. Somit wurde es ein ziemlich einseitiges Nachtgefecht. Nur einige Spanier hatten sich mit Musketen und Arkebusen bewaffnet und versuchten ein Zielschießen von Bord zu Bord. Erste Schüsse peitschten auf. »Flachlegen«, schrie Shane. Während die Crew den Befehl befolgte und die ›Isabella‹ herumschwenkte, kauerte sich der graubärtige Riese hin und griff ebenfalls zu seinem Bogen. Pfeil um Pfeil legte er auf und ließ sie von der Sehne schwirren. Er zielte auf einzelne Spanier und traf sie auch. Seine »Spezialitäten«, die pulvergefüllten Pfeile und die chinesischen Raketen, behielt er jedoch noch in Reserve. Wenn die ›Libertad‹ brannte, dann bestand auch für Hasard und Ben äußerste Lebensgefahr. Ferris Tucker kniete auf dem Achterdeck. Aus der Wende des Schiffes heraus setzte er der ›El Clavelito‹ einen Drehbassenschuß ins Heck, der es in sich hatte. Krachend zersplitterte das Ruder. Es ging völlig zu Bruch. Damit war die spanische Galeone manövrierunfähig. Jean Ribault hatte sich die dritte und vierte Galeone vorgenommen. Auch er, Karl von Hutten und die anderen paßten höllisch auf, daß sie nicht die Decks der Schiffe mit ihren Schüssen beharkten. Noch wußten sie nicht genau, wo sich Dan, Sam, Ed und Blacky aufhielten. Nie hätten sie es sich verziehen, wenn sie einen von ihnen getroffen hätten. Die Spanier schrien in höchster Todesangst, nie zuvor hatten sie solche Panik empfunden. Durch List, Tücke und massive Gefechte hatten sie bisher in fast allen Schlachten die Oberhand behalten. Aber hier war der Spieß umgedreht, und außerdem hatten sie es nicht mit den grundsätzlich unterlegenen Indianern oder ein paar zerlumpten Karibik-Piraten zu tun. Philip Hasard Killigrews Männer bewiesen wieder einmal 88
ihren hochwertigen Kampfgeist. Er war das Produkt einer ausgezeichneten Ausbildung, von Erfahrung und von dem großen Einfühlungsvermögen seines Kapitäns. Jean Ribault und Karl von Hutten waren in die gleiche Schule gegangen und hatten dies alles auch an die neuen Männer in der Crew der ›Le Vengeur‹ weitergegeben. Was hatten die Spanier dem entgegenzusetzen? Die Kapitäne hatten ihre Mannschaften immer wie den letzten Dreck behandelt. Sie hatten sie spüren lassen, daß sie sie verachteten. Dafür kriegten sie die Rechnung präsentiert. Keiner ließ sich mehr kommandieren, es herrschte Verwirrung, Disziplinlosigkeit, totale Anarchie. Und auf der ›Invulnerable‹ räumten Carberry und Blacky mit mächtigen Fäusten auf. Einer nach dem anderen flog da über Bord. Auch die herausgeputzten Jünglinge, die Offiziere vom Achterdeck. Sie schrien um die Wette, als sie im Wasser landeten. Den Kapitän behielt Carberry natürlich bei sich. Er hatte sich etwas einfallen lassen. Nach der Aufgabe der Spanier hatte er mit ein paar Tampen, die Blacky beschafft hatte, rasch dem Capitan die Hände gefesselt. Dann hatte er seine Fußknöchel angehobbelt wie die Fesseln eines Gaules und hatte den Mann mit einem weiteren Tauende an seinem Bein festgeknotet. Entwischen konnte der Don also nicht, und keiner vermochte ihn von der Seite des Profos wegzureißen. Carberry stapfte mit erhobenen Fäusten voran. Bei den meisten Gegnern brauchte er bloß zu drohen, und sie sprangen freiwillig außenbords. Bei einigen mußte er allerdings nachhelfen. »Wir haben doch kapituliert!« rief einer der uniformierten Jünglinge verzweifelt durch den Geschützdonner, der von der ›Isabella‹ und der ›Le Vengeur‹ herüberrollte. »Trotzdem!« brüllte Ed Carberry. »Hüpfe, du Frosch!« Der Bursche wehrte sich. Carberry packte ihn, daß er in der 89
Luft zappelte, dann schleuderte er ihn übers Schanzkleid. Blacky hatte unterdessen einen Kerl mit einem Fußtritt in Richtung Schanzkleid befördert. Ein Griff und ein Ruck noch, und auch dieser Mann sauste an der Bordseite der »Unverwundbaren« abwärts. Brüllend entluden sich die zweiten Breitseiten der ›Isabella‹ und der ›Le Vengeur‹. Die Treffer in den Achtersteven, an den Masten und in den Takelagen der spanischen Schiffe ließen den Gemütszustand der Besatzungen endgültig auf den Nullpunkt sinken. Wo es noch Widerstandsgeist gegeben hatte, war jetzt nur noch blanke Angst. Kurz darauf schoben sich die ›Isabella‹ und ihre Begleiterin von Luv her ganz dicht an die Galeonen heran. Sie schoren längsseits. Kaum hatten sie Berührung, da flogen die Enterhaken, und der Kampfruf der Seewölfe ertönte. „Arwenack! Arwenack!“ Sie enterten. Für Carberry war es das größte Freudenfest, das er seit langem erlebt hatte. O, wie er die Dons durchbeutelte und sie das Fürchten lehrte! Mit Blackys Hilfe hatte er schon aufgeräumt, als Jean Ribaults Männer zu ihm aufs Deck stürmten.
9. Hasard war mit dem Unternehmen voll und ganz zufrieden. Sämtliche Offiziere der ›Libertad‹ waren niedergeschlagen worden. Die paar Ortuno-Getreuen vom Vorschiff, die dann doch an die Geschütze geeilt waren oder Musketenfeuer auf die ›Isabella‹ eröffnet hatten, waren auch von Arnolde und seinen Freunden sehr schnell überzeugt worden, daß sie für die falsche Seite Partei ergriffen hatten. Und jetzt hielt Hasard den zitternden Rolando Garcia y 90
Marengo am Schlafittchen und zerrte ihn mit sich. Ben Brighton bewachte mit der Pistole ein paar Offiziere. Einer hatte sich gleich ergeben, zwei waren inzwischen wieder zu sich gekommen. Sie kauerten mit finsteren Mienen am Backbordschanzkleid des Quarterdecks. Hasard schritt mit seinem Gefangenen über das schräge Kuhldeck. Die ›Libertad‹ lag quer, weil sich die ›El Clavelito‹ hoffnungslos in sie verkeilt hatte. Ob es Lecks unter der Wasserlinie gab, wußte der Seewolf nicht. Er hielt das im Augenblick auch für unwichtig. Buacel hatte sich auf die Seite der Meuterer gestellt. Er focht mit Juan Maria Ortuno. Er war drauf und dran, dem ersten Offizier, den er in die Enge getrieben hatte, mit dem Säbel den Garaus zu bereiten. Aber Hasard wollte es anders haben. Ortuno sollte wie Garcia y Marengo alles miterleben. Alles bis zur letzten Konsequenz. Diese Erniedrigung, diese Schande war für sie eine größere Strafe als der Tod. Hasard stellte sich neben Ortuno. Mit einem einzigen Fausthieb streckte er ihn nieder, bevor der Mann etwas gegen ihn unternehmen konnte. Buacel verharrte verdutzt. »Warum hast du das getan?« »Du sollst nicht zum Mörder werden, Buacel.« »Hör mal...« »Laß!« rief Arnoldo. »Serge hat recht. He, sieh doch mal!« Er wies nach Steuerbord. Von dort ergoß sich jetzt ein kleiner Strom Menschenleiber auf Quarterdeck und Kuhl. Shane führte die Meute, es folgten dichtauf Ferris Tucker, Smoky, Al, Gary, die drei Männer Jean Ribaults, dann Bill und sogar der alte O’Flynn. Arnoldo strahlte. »Also ist die ›Isabella‹ doch zurückgekehrt, weil Don Alirio de Lares sich vorgenommen hat, unseren Kommandanten zu stellen. Großartig! Aber wer ist der Kapitän des zweiten Schiffes?« Laverda, Jorge und ein paar andere waren in den Wanten 91
aufgeentert und löschten das Feuer. Batutis Brandpfeile hatten es entfacht, aber er ließ sich wieder ersticken. Hasard ging vorerst nicht auf Arnoldos Frage ein. Er drehte sich zu dem Kapitän um. »Das Flaggschiff ist in unserer Gewalt, Don Philip von der eitlen Gestalt. Na, wo ist jetzt deine Hochnäsigkeit?« »Wer - wer bist du?« stammelte Garcia y Marengo. Ein Schrei wehte von der ›El Clavelito‹ herüber. Dan O’Flynn hatte ihn ausgestoßen. Etwa die Hälfte der Hasard-Crew war zu ihm übergeentert, um ihm und Sam Roskill im Kampf gegen die Besatzung beizustehen, und der Kampf brandete immer noch erbittert hin und her. Aber Dan hatte eine Pulverspur gestreut. Die führte bis zu einem kleinen Faß. Was das enthielt, konnte auch ein Schwachkopf mühelos erraten. »Licht!« schrie Dan. »Damit man in der verfluchten Dunkelheit wenigstens sieht, wem man auf den Schädel hauen muß!« Das Pulver war gezündet. Eine glühende Fährte lief über Deck, dann erreichte sie das Fäßchen und ließ es hochgehen. Ein Feuerblitz, Gebrüll - es loderte hell auf. Das brennende Schiff erhellte die ganze Szene ganz beträchtlich. Mit vereinten Kräften knüppelten die Seewölfe den Rest der Spanier nieder. Arnolde sah es. »Verdammt, so geht das nicht«, entrüstete er sich. »Das sind doch auch Decksleute wie wir, die würden mitmachen bei der Meuterei, wenn wir’s ihnen nur richtig erklärten.« Er wollte hinüberwechseln auf die ›El Clavelito‹. Aber Hasard streckte ihm plötzlich die doppelläufige Reiterpistole entgegen. »Tut mir leid, Arnoldo. Ich muß dich entwaffnen. Du bist vorläufig mein Gefangener.« Arnoldo prallte zurück. »Was soll das heißen? Was wird hier gespielt? Hölle, bist du - bist du doch ein Spion? Hast du das 92
alles etwa angezettelt, um uns das Kreuz zu brechen?« Die letzten Worte hatte er geschrien. Aber Hasard schüttelte nur ruhig den Kopf. »Nein, Amigo. Du wirst mich gleich begreifen. Warte noch einen Moment.« Arnoldo wollte aufbrausen, aber er sah die Waffen, die nun alle Seewölfe auf ihn und seine Kameraden gerichtet hielten. Es blieb ihm nichts anderes übrig, er mußte aufgeben, wenn er leben wollte. »Du Hund«, sagte er zu Hasard. »Das vergesse ich dir nicht.« »Ich will nur nicht, daß du hier alles zerstörst«, entgegnete der Seewolf. Er packte Garcia y Marengo fester beim Kragen. »So, und jetzt los, mein Freund, ich habe eine Überraschung für dich.« Er schleifte ihn mit sich. Garcia y Marengo mußte ihm folgen, ob er wollte oder nicht, und es ging auf die ›Isabella‹ hinüber. Ferris und Batuti waren zur Stelle, als der Seewolf mit seinem Gefangenen das Achterkastell betrat. Sie dachten sich schon ihr Teil. Ferris sperrte die Kammer auf, in der sie Santino untergebracht hatten. Er mußte innen eine Lampe anzünden, bevor sie etwas erkennen konnten. Santino lag gefesselt und geknebelt auf seiner Koje und hatte sich in sein Schicksal ergeben. Aber jetzt zuckte er zusammen. Und der spanische Kapitän kriegte Stielaugen. Santino würgte wie verrückt. Garcia y Marengo schrie. »Das kann nicht sein - nein - ihr seid alle mit dem Teufel im Bund!« »Ferris«, sagte Hasard. »Hiermit gebe ich dir den Befehl, Santino freizulassen.« »Aye, aye, Sir.« Grinsend schnitt der rothaarige Riese dem Spanier die Fesseln durch. Er nahm ihm auch den Knebel aus dem Mund. »Santino«, sagte der Seewolf. »Ich war von Anfang an auf deiner Seite. Du bist ein feiner Kerl. Ich wollte nur nicht, daß du meine Pläne störst. Jetzt habe ich dir den Kapitän gebracht.« 93
»Danke«, erwiderte der Mann gepreßt. »Du hast mir den größten Gefallen getan, den ich mir vorstellen kann. Tut mir leid, daß ich dich nicht begriffen habe, Seewolf.« »Seewolf?« Garcia y Marengo richtete seine hervorquellenden Augen auf Hasard. »Das - ich - el Lobo del Mar - Gott im Himmel, steh mir bei.« »Also, er gehört dir«, sagte Hasard. Mit diesen Worten stieß er den Kapitän in Richtung Santinos. Santino fühlte sich noch ein wenig wacklig auf den Beinen, aber die Gegenwart seines größten Feindes stachelte ihn an. Sie verlieh ihm Riesenkräfte. Er hieb sofort auf den Kerl ein, hart, haßerfüllt, unerbittlich. Garcia y Marengos Deckung zerbrach an den Schlägen seines Gegners. Er ging höchst schimpflich zu Boden, wälzte sich, streckte alle viere von sich und flehte um Gnade. Aber Santino prügelte weiter auf ihn ein. Er wollte ihn umbringen. Hasard verhinderte es, indem er ihn von dem bewußtlos gewordenen Mann wegzog. »Das hat doch auch keinen Zweck«, sagte er leise. »Du hast jetzt deine Genugtuung.« »Laß mich gewähren, Seewolf.« »Nein. Du darfst dich nicht mit einem Mord belasten. Man würde dich hetzen wie ein Tier und nicht eher ruhen, bis du tot wärst. Will dir das nicht in den Kopf?« Santinos wilder Blick verfing sich mit dem Hasards. »Das ist mir doch egal«, stieß er hervor. »Ich will meine Rache. Was danach passiert, hat keine Bedeutung mehr.« »Du irrst dich. Deine Freunde warten auf dich. Arnoldo, Laverda, Jorge, Buacel und weitere vier.« »Aber ...« »Geh jetzt zu ihnen. Ich habe sie ins Vordeck der ›Isabella‹ bringen lassen. Leider muß ich euch noch bewachen lassen, aber das ändert sich bald. Du weißt, daß du dich auf mein Wort 94
verlassen kannst, Santino.« »Ja, das weiß ich.« Er hatte sich ein wenig beruhigt. »Erkläre den Männern alles.« »Sie wissen nicht...« »Wer ich bin? Nein. Sonst habe ich ihnen alles gesagt, auch über deine Rettung.« Santino begriff. »Ist gut. Du übergibst uns also nicht wieder Garcia y Marengo und Konsorten, nicht wahr?« »Nein, tue ich nicht.« Santino verließ das Achterkastell. Mit erhobenem Kopf schritt er über die Kuhl. Er war ein unendlich friedlicher, ausgeglichener Mann. * Außer den neun Decksleuten der ›Libertad‹ wurden sämtliche gefangenen Spanier auf die ›Invulnerable‹ verfrachtet. Das dauerte einige Zeit. Mitternacht verstrich. Die schwer bewaffneten Seewölfe pferchten die Feinde in die Laderäume der Galeone und achteten darauf, daß ihnen keiner Scherereien bereitete. Carberry schaute zu und lachte dröhnend. »Ho, dieser Dreckskahn ist genau das Richtige für euch! Mangelt’s euch an Luft da unten? Richtig durchatmen, ihr Kanalratten, mit dem Gestank kriegt ihr auch genügend Luft in die Lungen.« Er stand breitbeinig neben der Luke auf der Kuhl. Die Gräting war weggeräumt worden, damit die Spanier einer nach dem anderen in die Tiefe des Schiffsbauches springen konnten. »Heda!« brüllte der Profos. »Wenn ihr schon mal unten seid, dann reicht gefälligst auch die Gold und Silberbarren nach oben. Und was da sonst noch rumliegt, verstanden?« Sein Spanisch war greulich, aber trotzdem mußten sie ihn verstanden haben. Aber sie gaben keine Antwort. Und sie rührten sich auch nicht, um Carberrys Befehl zu befolgen. 95
Carberry kniete sich hin. Hasard stand ihm gegenüber, umringt von den meisten Männern seiner Crew und Jean Ribault und Mannschaft. Er ließ den Profos gewähren. Es war gut, wenn Edwin Dampf abließ. Außerdem mußte sein Auftreten unbedingt die Gefangenen beeindrucken. Carberry wußte, wie er’s anzupacken hatte. »Ihr da«, sagte er so ruhig wie möglich. »Ihr habt doch gesehen, was ich mit Cosmas angestellt habe, oder? Na also. Dann fangt jetzt mit dem Heraufreichen an, oder ich picke mir einen von euch raus, um das gleiche mit ihm zu tun. Garcia y Marengo zum Beispiel.« »Fangt an«, krächzte die Stimme des Kapitäns. »Adelante, ihr Hunde, arbeitet!« Meuterer befanden sich nun nicht mehr in der rund hundert Köpfe zählenden Gruppe. Die Spanier gehorchten ihrem Kapitän wieder. Sie heulten vor Wut, aber sie bildeten eine Kette aus Leibern und reichten einen Barren nach dem anderen weiter. Oben an der Luke nahmen Hasards Männer die Schätze in Empfang. »Fein!« rief Carberry. »Sehr schön! So ist es brav!« Die Spanier bissen die Zähne zusammen. Es hatte sich jetzt herumgesprochen, wer ihr Bezwinger war. El Lobo del Mar! Ausgerechnet den hatten sie sich an Bord geholt! Allein bei dem Gedanken sträubten sich ihnen jetzt noch die Haare. Unter Tränen der Wut luden sie die Barren und den vielen Schmuck und die Diamanten um, die in Kisten und Truhen gehortet waren. Die ›Isabella‹ und die ›Le Vengeur‹ lagen an Backbord und Steuerbord der ›Invulnerable‹ vertäut. Die gesammelten Reichtümer wurden also unmittelbar auf sie umgeladen und verschwanden in ihren Bäuchen. Hasard lernte das Staunen. Die Beute war wirklich so groß, daß sie noch die ganze Nacht brauchten, um alles zu verstauen. 96
Aber noch etwas kam hinzu. Die ›Isabella‹ und die ›Le Vengeur‹ konnten dieses Gewicht und Volumen nicht ganz fassen. Wohl oder übel mußte Hasard noch ein spanisches Schiff hinzunehmen, mit dem er dann zur Schlangeninsel segelte. Eigentlich hatte er das nicht vorgehabt. Doch er traf seine neue Entscheidung sehr schnell. »Männer, wir lösen die ›Libertad‹ aus dem ganzen Knäuel hier und laden sie auch noch voll. Wir packen sie voll, bis sie kurz vorm Absaufen ist, sonst kriegen wir nicht alles mit. Und bei unserem Freund Rolando Garcia y Marengo wollen wir doch nichts davon lassen, oder?« »Niemals!« riefen die Seewölfe. »Übrigens verzichten wir auf einen Teil doch«, sagte Jean zu Hasard. »Sieh mal.« Er wies zur ›El Clavelito‹. Das Schiff stand in hellen Flammen. Dan O’Flynn und Sam Roskill hatten es längst mit den Überlebenden der Mannschaft verlassen. Kein Mensch konnte jetzt noch seinen Fuß daraufsetzen. »Na gut, das ist dann eben für die Fische«, sagte der Seewolf. »Wir müssen nur aufpassen, daß das Feuer nicht auf die anderen Schiffe übergreift, bevor wir sie ausgenommen haben.« Sie schufteten die ganze Nacht hindurch. Bis zum Morgengrauen dauerten ihre Bestrebungen, dann hatten sie die ›Isabella‹, die ›Le Vengeur‹ und die ›Libertad‹ so vollgestopft, daß ihnen das Wasser tatsächlich fast bis zu den Rüsten reichte. Hasard und Jean wählten Männer aus. »Ben, Shane, Sam, Bob und Luke«, sagte Hasard. »Ihr steigt auf das Flaggschiff um und bringt es zur Schlangeninsel. Ben, du übernimmst das Kommando. Jean ist damit einverstanden.« »Aye, aye, Sir«, sagte Ben Brighton. Jean Ribault wies auf fünf seiner Leute. Es waren Jan Ranse, Piet Straaten, Nils Larsen, Sven Nyborg und Pierre Puchan, 97
außer dem Franzosen alles ehemalige Männer der ›Isabella‹. »Ihr unterstützt die Seewölfe«, sagte Jean. »Bereitet mir bloß keine Schande.« Nachdem die zehn Männer übergesetzt waren, übernahm Hasard von der ›Invulnerable‹ eine Schaluppe. Sie war erstaunlicherweise gut in Schuß und hatte auch einen Mast, der sich mit Großsegel und Fock takeln ließ. Diese Schaluppe ließ er auf die Kuhl der ›Isabella‹ verfrachten. Das zusätzliche Gewicht drückte den Dreimaster noch etwas tiefer in die See. »Wir gehen!« rief Hasard zu den Spaniern in den Frachträumen der ›Invulnerable‹ hinunter. »Macht euch keine Sorgen um eure Zukunft. Wir haben euch geschont. Ihr solltet zufrieden sein.« »Niemals«, gab Garcia y Marengo bitter zurück. »Niemals werden wir diese Niederlage rechtfertigen können.« Hasard winkte ab. »Nicht so theatralisch sein, Kapitän, das zieht bei mir nicht. Hörst du die Geräusche? Eure Fock ist schon dahin, und jetzt sägt mein Zimmermann euch auch noch den Großmast an. Keine Angst, der Besan bleibt stehen. Spart mit den Lebensmitteln, die reichen höchstens für zwei Tage. Etwas von dem Eintopf, den mein Freund Moreno euch gekocht hat, ist auch noch da. Was wollt ihr mehr? Teilt euch das Zeug ein. In zwei Tagen findet euch bestimmt jemand. Oder ihr segelt mit dem Besan hübsch gemütlich in die Bucht von Caibarien.« Er trat zurück und überließ die Spanier ihrem Schicksal. Ferris schloß sich ihm an. Rasch wechselten sie auf die ›Isabella‹ über. Der Großmast der ›Invulnerable‹ lehnte sich ächzend wie ein fallender Baum nach Luv. Die ›Le Vengeur‹ hatte schon abgelegt. Vor dem Graurot des heraufziehenden Morgens setzte die etwas ramponierte, aber durchaus noch seetüchtige ›Libertad‹ bereits ihre Segel. 98
Krachend legte sich der Großmast der ›Invulnerable‹ auf Deck. Er nahm die Takelung und das laufende und stehende Gut mit außenbords, die Galeone krängte nach Luv. In Lee dümpelte die ›Isabella‹ davon. Carberry hatte die Festmacher gelöst. Er grinste. »Die Unverwundbare - daß ich mich nicht kringelig lache!« »Profos!« rief Hasard vom Achterdeck. »Schiff klar zum Gefecht!« »Aye, aye, Sir!« Kurze Zeit darauf entbot die ›Isabella‹ der dritten und vierten Galeone des Konvois ihren eisernen Gruß. Sie zersplitterten, kenterten, nahmen Wasser über und sanken. Sie glitten in die stummen Tiefen des Ozeans, um der ›El Clavelito‹ dort unten Gesellschaft zu leisten. Jean Ribault nahm mit seiner ›Le Vengeur‹ auch an dem Zielschießen teil. Es dauerte nur Minuten. Beißender Pulverqualm und Feuerrauch strichen in Schwaden über die See. In das Jubeln der Besatzungen fiel der Ruf des Seewolfes. »Und jetzt Kurs auf die Schlangeninsel! Wir eskortieren die ›Libertad‹!« Am Nachmittag dieses Tages erreichten die drei Schiffe die Ragged Islands, unterhalb von Jumento Cays, das schon zu den Bahamas zählt. Hier ließ Hasard für kurze Zeit verweilen. Er holte Buacel, Arnoldo, Jorge, Laverda, Santino und die anderen vier Männer der ›Libertad‹ zu sich aufs Achterdeck. »Ich habe eine Schaluppe für euch hergerichtet«, sagte er. »Darauf findet ihr alles, was ihr braucht. Essen, Trinkwasser, Waffen, Munition. Ihr könnt zu den Inseln segeln und euch dort irgendwo häuslich niederlassen. Garcia y Marengo und seine Leute werden euch nie finden. Übrigens Gold, Silber und Perlen liegen auch zur Genüge verpackt unter den Duchten der Schaluppe.« Buacel sprach für alle anderen. »Ich kapiere erst jetzt, was für ein Freund du uns bist, Lobo del Mar. Schade, daß wir uns dir 99
nicht anschließen können. Es geht wirklich nicht, verstehst du?« »Ich verstehe. Auch ich kann euch nicht mit dorthin nehmen, wo jetzt mein Ziel liegt.« »Auf die Schlangeninsel?« fragte Buacel. »Ich habe dich den Namen rufen hören. Ich habe keine Ahnung, wo die liegt.« »Du wirst es auch nie erfahren«, erwiderte Hasard lächelnd. »Es ist besser so. Für alle.« Es gab eine Abschiedsszene, dann wurde die Schaluppe abgefiert und die Spanier begaben sich an Bord. Sie riefen Hasard noch ein paarmal ihren Dank zu, bevor sie ablegten, die Segel setzten und davonrauschten mit Kurs auf die Ragged Islands. Die Seewölfe und die Männer Jean Ribaults winkten ihnen nach. Anschließend nahmen sie die Fahrt wieder auf. Am folgenden Tag erreichten sie in den Abendstunden die Schlangeninsel. Hasard freute sich schon auf Siri-Tongs Gesicht, wenn sie die neuen Reichtümer sah. Sie würden sie gemeinsam entladen und in den unterirdischen Felsgrotten und dem Schlangentempel verstauen. Anschließend würden sie die ›Libertad‹ ausschlachten. Alles, was für die Ausstattung des schwarzen Seglers und für zukünftige Reparaturen von Nutzen sein konnte, wollte der Seewolf auf die Insel schaffen. Er setzte es Ben, Shane, Ferris und dem alten O’Flynn auseinander, bevor sie Unterwasserbarriere erreicht hatten, die sie nur halb entladen und mit dem Mahlstrom passieren konnten. »Und was wird anschließend aus dem Flaggschiff?« fragte Ben. »Wir versenken es vor der Nordseite der Insel«, sagte Hasard. Er blickte zu der ›Libertad‹. »Ich glaube, auch Buacel und die anderen acht Meuterer hätten dem Augenblick gern noch beigewohnt. Mit der Galeone versinkt das scheußlichste 100
Kapitel ihres Lebens ...«
ENDE
Die Bucht der Menschenfresser von Fred McMason
Im Sturm wurde der Zweimaster der Roten Korsarin kurz und klein geschlagen, und nur den Seewölfen hatten sie und ihre Crew es zu verdanken, daß die Karibik nicht zum feuchten Grab für sie alle wurde. Die Männer der ›Isabella‹ nahmen den wracken Zweimaster in Schlepp und brachten ihn in eine stille Bucht der Caicos-Inseln. Aber die Bucht war gar nicht so still und friedlich - und als sie das merkten, war es fast schon zu spät...
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