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Nicht für den Verkauf bestimmt! Version 1.0 2004-03-26
Robert Cormier schreibt seit sein...
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bookmanX
Nicht für den Verkauf bestimmt! Version 1.0 2004-03-26
Robert Cormier schreibt seit seinem 7. Schuljahr. »Ich kann mich nicht erinnern, dem Schreiben widerstan den zu haben, wenn ein Blatt Papier in der Nähe war.« Geboren in der Kleinstadt Leominster im US-Staat Massachusetts, hat er nie woanders gelebt und kann sich das auch nicht vor stellen. Cormier ist verheiratet und hat vier erwachsene Kinder. Über 30 Jahre arbeitete er als Journalist und Re porter, wurde vielfach ausgezeichnet und kam durch diese Arbeit auch zu den Stoffen für seine Bücher. »Das Thema ›Einschüchterung‹ interessiert mich beson ders«, sagte er in einem Interview. »Und die Art und Weise, wie Menschen andere Menschen beeinflussen. Und wie sie ganz offen ihre Autorität mißbrauchen.« In der Fischer Schatzinsel sind von Robert Cormier außer dem ›Der Schokoladenkrieg‹ (Bd. 80012), ›Ich bin das, was übrigbleibe (Bd. 80032), ›Gefühle sind immer dabei‹ (Bd. 80034), ›Der schwarze Kasten‹ (Hardcover, Bd. 85010) und ›Ausgeblendet‹ (Hardcover, Bd. 85038) erschienen.
Auf der Eisenbahnbrücke. An einem heißen Sommertag ent führen vier Terroristen einen Bus mit Vorschulkindern auf eine stillgelegte Eisenbahnbrücke am Rande einer Klein stadt. Aus wechselnder Sicht schildert Robert Cormier die Ereignisse dieser Geiselnahme. Miro, elternlos und ohne Hoffnung in einem Flüchtlings lager aufgewachsen, konnte nur gewinnen, als ihn Artkin in das Ausbildungslager für »Freiheitskämpfer« brachte. Der Kampf um die Freiheit seines Heimatlandes führt ihn auf die Brücke. Wie sein großes Vorbild Artkin möchte Miro leben: für das Ideal, ohne persönliche Gefühle. Artkin ist der An führer auf der Brücke. Kate ist ein gewöhnliches amerikanisches College-Mädchen. Sie hält sich nicht für besonders mutig und ist überrascht, was sie alles fertigbringt. Manchmal vertritt sie ihren Onkel am Steuer des Schulbusses. Das bringt sie auf die Brücke. Auch Ben ist kein Held. Beim Sport stößt er schnell an seine Grenzen, und mit Mädchen hat er seine Schwierigkeiten. Er ist Sohn eines Generals. Aber seinen Vater kennt er eigent lich nicht. Als die Terroristen einen Boten verlangen, schickt der General ihn. Auf der Brücke muß Ben erfahren, daß man mehr als einmal sterben kann. Der General ist ein Patriot. Das Vaterland geht ihm über alles, auch über seinen Sohn. Die Terroristen gefährden das Vaterland, indem sie die Aufdeckung geheimdienstlicher Machenschaften fordern. Das muß verhindert werden. Zu spät merkt er, dass die geheime Waffe, seine Lebensaufgabe, die er schützen wollte, ihn selbst zerstört.
Robert Cormier
Auf der
Eisenbahnbrücke
Aus dem Amerikanischen von Rudolf Herfurtner
Fischer Taschenbuch Verlag
Fischer Schatzinsel
Herausgegeben von Markus Niesen
2. Auflage: Februar 1999 Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH,
Frankfurt am Main, August 1995
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1979 unter dem
Titel ›After the First Death‹ bei Pantheon Books, New York
© by Robert Cormier 1979
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © by Verlag Sauerländer, Aarau und
Frankfurt am Main 1981
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 3-596-80033-1
Auf der Eisenbahnbrücke
1
Ich denke immer noch, ich hab’ einen Tunnel in der Brust. Den Weg, den die Kugel nahm durch Fleisch und Sehnen und ich weiß nicht was für Muskeln (ich bin nicht gerade der Macho-Muskeltyp). Die Kugel ging glatt durch meine Brust. Die Wunde ist verheilt und nicht mehr zu spüren. Die Wundmale am Ende des Tunnels sehen aus wie die alten Impfnarben an Vaters Arm. Später mal vielleicht werde ich die Wunde spü ren, wie Vater seine Wunden spürt, die aus den Schlachten des Zweiten Weltkrieges. Meine Mutter macht sich immer lustig über diese Wunden. Ach, ei gentlich nicht über die Wunden selbst. Aber er behaup tet, das Wetter voraussagen zu können, weil es in seinen Gliedern zieht und pocht. Wird meine Wunde schmerzen wie seine, wenn ich so alt bin wie er? Werd’ ich Regen voraussagen können, wenn der Schmerz durch den Tunnel in meiner Brust pfeift? Ich mache Witze, klar, aber meine Witze sind nicht zu vergleichen mit den zärtlichen Witzeleien meiner Mut 9
ter. Ich mach’ Witze, weil ich mich nicht hingestellt hätte, um ein menschliches Barometer zu werden. Aber – über wen macht man sich eigentlich lustig hier? Die erste von vielen Fragen, die meine Anwesenheit hier aufwirft. Halten Sie die Liste bereit. Mein Vater hat für heute seinen Besuch angesagt. Sein erster Besuch seit dem Bus und der Brücke letzten Som mer. Ich tippe das auf meinem Zimmer in der Burg, und es ist schön hier. Auf dem Hof sehe ich die Jungs bei einer Schneeballschlacht. Der erste Schnee. Ist spät dran, die ses Jahr. Nur noch zwei Wochen bis Weihnachten. Thanksgiving, der letzte Donnerstag im November, war trocken und kalt, mit einer blassen Sonne. Aber windstill. Wie geschaffen für ein Football-Spiel. Das traditionelle Spiel zwischen der Burg und der Rushing Academy. Die Burg gewann, und es gab eine große Feier auf dem Schulgelände. Elliot Martingale hatte diese Feuerwerkskörper aus den Sommerferien mitge bracht. Sie waren übriggeblieben von einem Unabhän gigkeitsfest, das er am 4. Juli bei seinen Eltern in Cape Cod gefeiert hatte. Wir gewannen das Spiel an Thanks giving, und er zündete die Raketen. Schön. Ich ging aufs Klo, schluckte vierzehn Schlaftabletten und legte mich aufs Bett. Ich hörte die Raketen explodieren und ein Bündel Schweizerkracher wie ein Miniaturmaschi 10
nengewehr. Und es war schön, dazuliegen und abzu driften. Und dann dachte ich an die Kinder im Bus, die herumlagen wie zerbrochenes Spielzeug, als die Schie ßerei begann. Mir wurde schlecht, und ich rannte zum Kotzen ins Klo. Bitte betrachten Sie das nicht als die Aufzeichnungen eines Selbstmitleid-Freaks, der eigentlich einen Psychi ater braucht. Ich tu’ mir nicht leid. Ich tippe hier kein Schuldbekenntnis. Ich betrachte dies auch nicht als Selbstmordbrief. Nicht mal als Vorspiel dazu. Wenn es Zeit ist, werde ich es tun, ohne Wenn und Aber. Einfach eines Nachmittags die River Road raus gehen zu Brimmler’s Bridge, ruhig aufs Geländer stei gen und mich fallen lassen ins Flußbett da unten. Ich hab’ nachgedacht über den Bus, und ich kam zu dem Schluß, daß das der beste Weg wäre, dem irdi schen Jammertal zu entkommen. Romantische Gerech tigkeit, verstehen Sie. Vielleicht hätte ich es tun sollen, als man mich zum Bus rausschickte. Der Bus stand auch auf einer Brücke. Damals hätte ich einen Abgang ma chen sollen. Die Brücke, auf der der Bus festgehalten wurde, war noch höher als Brimmler’s Bridge. Denken Sie nur, wie ich den Tag gerettet hätte, und mich. Und vor allem meinen Vater. Aber wie oft darf ein Mensch sterben?
11
Sei’s drum, um elf werden meine Eltern hier sein. Der erste Besuch meines Vaters seit dem Bus und der Brücke. Aber das hab’ ich, glaub’ ich, schon gesagt. Meine Mutter hat mich treu besucht. Meine Mutter ist nett und geistreich und hat Stil. Ganz liebende Gattin und Mutter. Sie hat so eine erstaunliche Kraft, inner lich, das hat nichts mit Muskeln zu tun. Immer hab’ ich das gespürt, sogar als Kind. Mein Vater hat auch Kraft. Aber er ist immer so verschattet gewesen, nicht festzu legen. Heute weiß ich, daß das an seinem Beruf liegt. Er deckt ihn zu und zehrt ihn auf. Auch seine Familie. So gar Mutter mit all ihrer Kraft. Im September, als sie mich zum erstenmal besuchte – das war nur ein paar Tage nach meiner Ankunft –, gab sie sich ruhig und gelassen. Und das war genau, was ich brauchte. »Willst du darüber sprechen, Mark?« fragte sie. Ich heiße Ben, mein Vater heißt Mark. Bei jedem ande ren hätte ich das eine Freudsche Fehlleistung genannt. Aber sie ist zu unkompliziert für so was. Mir war nicht klar, wieviel sie über die Ereignisse auf der Brücke wußte. »Ich würde lieber nicht darüber sprechen«, sagte ich. »Nicht gerade jetzt.« »Gut«, sagte sie sachlich. Sie setzte sich in den Besu cherstuhl und zog ihr Kleid über die Knie. Sie hat schöne Beine und ist äußerst feminin. Sie trägt nie Ho sen, nicht mal bei der Hausarbeit. Sie fragte nach der Schule und den Kursen und den Jungs, und ich antwor 12
tete, mechanisch, als hätte mein Mund überhaupt nichts mit mir zu tun. Ich erzählte von Mr. Chatham. Er ist mein Mathelehrer und hätte gut auch schon mei nen Vater unterrichten können. Das sei einer der Vor züge, wenn man die Schule seines Vaters besucht, sagte meine Mutter, als sie mich letzten Herbst hierherfuhr. So könne ich neue Einsichten über meinen Vater sam meln. Ich verschwieg ihr, daß Mr. Chatham praktisch senil ist, die Zielscheibe von tausend kindischen und weniger kindischen Streichen und Albernheiten, und daß er sich überhaupt nicht an meinen Vater erinnert. Ich hab’ es ausprobiert. »Mein Name ist Ben Mar chand«, sagte ich zu ihm, »und mein Vater war auf der Burg vor dem Zweiten Weltkrieg. Erinnern Sie sich an ihn?« »Aber ja, mein lieber Junge«, sagte er, »aber ja.« Ich glaubte ihm nicht. Aber ich log meiner Mutter etwas vor über Mr. Chatham und seine nichtexistenten Erinnerungen an meinen Vater. »Er sagt, Dad sei ein guter Schüler gewesen«, sagte ich. »Im Ernst. Nie al berte er in der Klasse herum. Ein scheuer, sensibler Bursche: das waren seine Worte.« Ich versuchte Mr. Chathams alte, rostige Stimme nachzumachen: »Ein bißchen dünn für seine Größe, Junge, aber er wird sich eines Tages auswachsen zu einem stattlichen Mann.« Ich sah sofort, daß sie mir nicht glaubte. Sie hat viele bewundernswerte Eigenschaften, aber sie taugt nicht zur Schauspielerin. 13
»Ist Dad nicht sensibel, und war er kein guter Schüler?« fragte ich. »Muß er doch gewesen sein. Er ist ein Gene ral geworden, oder?« »Du weißt, dein Vater möchte nicht, daß man ihn einen General nennt«, sagte sie. »Stimmt«, sagte ich, und ich fühlte, wie ich von ihr wegtrieb. Ich hab’ das manchmal, ich drifte ab, ohne mich zu bewegen, und die Welt saugt mich auf wie ein großes Löschblatt. »Aber er ist ein General, oder?« sagte ich hartnäckig. Plötzlich wollte ich nicht abdrif ten, nicht jetzt, ich wollte etwas klarstellen. Was? Da wurde meine Mutter ganz streng. »Ben!« sagte sie, und es war wie ein Peitschenhieb. Das brachte mich zurück auf den Boden. Und trotzdem ist er ein gottver dammter General, ob er das hören will oder nicht, und das ist der Grund, warum ich hier bin. Der Rest war normale Konversation. Über meine Kurse und die Jungs: Ja, Mutter, sie sind ein netter Haufen. Sie lassen mich in Ruhe, hauptsächlich weil ich zu spät hier aufgetaucht und nicht leicht einzuordnen bin. Aber sie sind taktvoll, was mich echt überrascht. Weil, Elliot Martingale ist ein irrer Typ mit seinen Clownereien und so, und doch kam er eines Tages zu mir und sagte: »Marchand, alter Bastard, ich hab’ neu lich alte Zeitungen durchgeblättert. Und du bist in Ordnung, weißt du das?« Ich hätte gleichzeitig heulen und lachen können, in je dem Fall hätte er mich für total verrückt halten müssen. 14
Mir war zum Heulen, weil mich zum erstenmal in der
Burg jemand direkt angesprochen und damit meine
Existenz bestätigt hatte. Ich begann nämlich schon
daran zu zweifeln. Und ich hätte lachen können, denn
was Martingale gesagt hatte, war so verkehrt. Was
über mich und den Bus und den Vorfall auf der Brücke
in den Zeitungen stand, war meilenweit entfernt von
der Wahrheit. Nicht wirklich Lügen, natürlich. Aber
Informationen, die verschleierten, vage, wo sie hätten
genau sein sollen, genau, wo sie hätten vage sein sol len. Inner Delta ist groß in solchen Sachen, natür lich.
Also, ich hab’s ausgesprochen: Inner Delta.
Den Verband von einer eitrigen Wunde gerissen.
Was natürlich Verrat bedeutet, sowohl als Sohn gegen über meinem Vater wie auch als Bürger gegenüber mei nem Vaterland.
Aber hab’ ich wirklich ein Vaterland?
Bin ich ein Bürger, irgendwo?
Soweit das Dramatische.
Mein Name ist Benjamin Marchand, Sohn von Briga degeneral und Mrs. Marcus L. Marchand. Obwohl ich
vorübergehend in der Castleton Academy in Pompey,
New Hampshire untergebracht bin, wohne ich eigent lich in 1245 Iwo Jima Avenue, Fort Delta, Massachu 15
setts. Bleiben Sie dran. Ich werd’ jeden Augenblick Ansichtskarten ausgeben. Die Sternchen bedeuten, daß Zeit vergangen ist. Von 8.15 Uhr, als ich zu tippen anfing, bis zu diesem Mo ment: 10.46Uhr. Fragen Sie nicht, was ich diese zwei einhalb Stunden gemacht habe. Aber ich erzähl’s Ihnen sowieso. Nach dem Schreiben zog ich mich an und rannte den ganzen Weg rauf zu Brimmler’s Bridge. Ich sah hinun ter auf das gefrorene Ödland, aber ich beschloß aus irgendeinem perversen Grund, zuerst meinen Vater zu sehen, bevor ich etwas Übereiltes tun wollte. Vielleicht bin ich ein Masochist. Auf dem Rückweg traf ich Biff Donateli. Er fragte mich, ob ich die Jungs heute abend bei ihrem Ausflug in den nahen Ort, nach Pompey, begleiten würde, wo eine erlesene Schar von Rittern göttliches Ambrosia schlür fen wollte. Ritter von der Burg, verstanden? Sei’s drum, Donateli redet so – Ambrosia schlürfen, du lie ber Himmel! –, obwohl er aussieht wie ein Straßenräu ber, finster und haarig. Die Einladung haute mich von den Socken. »Kann sein«, sagte ich. »Der erste vollständige Satz, den ich von dir gehört habe«, sagte Donateli und machte sich davon. Sein 16
Mantel war übersät mit Schneetupfern von den Tref fern bei der Schneeballschlacht. Ich beneidete ihn um
seine Scheinwunden.
Dann fühlte ich mich wieder unsichtbar und sah nach,
ob ich überhaupt Fußspuren hinterlassen hatte im
Schnee.
Zurück zu der Unterhaltung mit meiner Mutter.
Sie sagte: »Diese Beschreibung deines Vaters. Wie du
ihn dem alten Mr. Chatham beschrieben hast. Dir ist
klar, daß du dich selbst beschrieben hast, oder?«
»Aber Vater auch?«
»Entscheide du das, Ben.«
Die Idee mit den Ansichtskarten gefällt mir. Auch
wenn ich sie nur beschreibe.
Die erste: Fort Delta. Ein Luftbild, wie aus einem Sa telliten: Fort Delta, praktisch in der geographischen
Mitte von New England gelegen. Näher drauf: Ba racken, PX-Läden, Kasernen etc. Alle Gebäude gleich,
das Ulysses S. Grant Theater wie die John J. Pershing
School, die ich besucht habe, alles gleich und schmuck los wie die Häuser beim Monopoly.
Delta ist ein alter Armeestützpunkt, mit einer Ge schichte, die bis zum spanisch-amerikanischen Krieg
vor der Jahrhundertwende zurückreicht. Ich hab’ nicht
die Zeit, in die Geschichte einzusteigen, und doch ist
sie wichtig, will man Delta verstehen und schon gar In ner Delta.
17
Fort Delta hatte eine Bedeutung in allen amerikani schen Kriegen – Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Korea, Vietnam. Auch im Frieden. Als Ausbildungs zentrum für Fallschirmjäger und andere Spezialisten. Home sweet home – das war Delta immer für mich. Vor ein paar Jahren kursierten Meldungen, daß Fort Delta aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen würde. Das war in der Zeit, als sich eine Antikriegsstimmung im Lande breitmachte. Ich fragte meinen Vater erschrocken. Wenn ein Kind in New York lebt, nun, New York kön nen sie nicht gut dichtmachen, oder? Oder Boston? Selbst Hallowell nicht, das gleich neben Fort Delta liegt. Aber das war mein Zuhause, wo ich Ball spielte, zur Schule ging, ins Kino, zur Kirche, zweimal im Jahr an Weihnachten und Ostern, wo mein Vater arbeitete und wo meine Mutter im Offiziersfrauenverein aktiv war und ihre Blumen pflegte und die Wäsche auf die Leine hinter dem Haus hängte. Wie konnten sie daran denken, das alles zu schließen? »Mach dir keine Sorgen, Ben«, hatte mein Vater ge sagt. Ich tat es trotzdem. Aber mein Vater hatte recht. Delta wurde nicht ge schlossen und seine Aktivitäten nicht im geringsten eingeschränkt. Mein Vater sagte: »Siehst du?« Ein stiller Triumph lag in seiner Stimme. Heute weiß ich, was er wußte und mir nicht erzählen 18
konnte. Fort Delta wurde nicht geschlossen wegen In ner Delta. Inner Delta war der Schlüssel. Inner Delta war der Schwanz, der mit dem Hund wedelte. Nur ein paar Leute wußten davon. Mein Vater war einer davon. Und Inner Delta war der Grund, warum ich auf der Brücke landete und warum eine Kugel einen Tunnel in meine Brust machte und warum ich von schreienden Kindern träume. Noch eine Ansichtskarte: Mein Vater. Ein General, der keiner sein will. Mein Vater, der Patriot. Ich hab’ ihn nur das eine Mal in Uniform gesehen, als er mich in sein Büro zitierte. Er trug seine Sterne und stand hinter dem Schreibtisch. Einen Augenblick lang erkannte ich ihn nicht. Ich hatte das Gefühl, er sei gar nicht mein Vater, daß mein Vater aufgehört hatte zu existieren und ein Schauspieler seinen Platz eingenom men habe. Mein Vater sagte: »Setz dich hin, Benja min.« Es war alles sehr merkwürdig und formell, denn er nannte mich nie Benjamin, und ich war noch nie in seinem Büro gewesen. Ich hatte Herzklopfen. Ich wußte wenig über seine Arbeit, nur daß sie geheim war und Mutter und ich keine Fragen stellen sollten. Trotzdem war mir klar, daß seine Arbeit etwas sehr Spezielles war und nichts mit der üblichen Fort-DeltaRoutine zu tun hatte. Woher ich das wußte? Kleine Versprecher. Telefonanrufe, die ich mitbekam. Mein Vater sprach oft in einer Art Code, aber manchmal konnte ich ihn knacken. Zum Beispiel konnte er am 19
Telefon sagen: »Peripherisch.« Mit der Zeit begriff ich, daß das hieß, ich sei in der Nähe und er könne nicht frei sprechen. Ich kannte auch die Art seiner Tätigkeit, aber nicht die Details. Psychologisches Zeug, Verhaltensforschung oder so was. Ich stieß auf eine alte Universitätszeitung, in der er seine Theorien darlegte, und obwohl ich das meiste nicht begriff, fiel mir die Einleitung auf, in der er als Pionier auf seinem Gebiet beschrieben wurde, der einmal sogar den Nobelpreis bekommen könnte. Um das Porträt zu vervollständigen: Mein Vater war Pro fessor an der New England University in Boston, bevor er das Offizierspatent annahm und mit meiner Mutter und mir nach Fort Delta zog. Ich war damals drei Jahre alt. Sei’s drum. Ich saß im Büro, und mein Vater richtete das Wort an mich. Als wäre ich nicht sein Sohn, son dern irgendein Fremder. Ich hatte nicht daran gedacht, daß ich wegen der Geiseln im Bus hier sein könnte, bis er zu sprechen anfing. Als er sprach, spürte ich einen Schweißtropfen meine Achselhöhle hinunterlaufen, wie eine kleine, kalte Murmel. Aber zugleich war ich glücklich und aufgeregt. Angst hatte ich auch, natür lich, aber irgendwie war ich glücklich. Ich wußte, daß ich plötzlich am geheimen Leben meines Vaters teil hatte.
20
Kein Platz mehr auf der Ansichtskarte.
Gedächtnisschwund.
Emotionaler Gedächtnisschwund.
Nennen Sie es, wie Sie wollen, zum Teufel.
Übrigens, wer, zum Henker, sind Sie überhaupt, der
Sie mir von da draußen über die Schulter schauen, wäh rend ich dies schreibe? Ich spüre doch, wie Sie da auf
der Lauer liegen und warten, daß Sie hereinkommen
können. Da ist doch jemand?
Ich hab’ einmal die kürzeste Horrorgeschichte der Welt
gelesen. Ich weiß nicht, wer sie geschrieben hat. Sie
ging etwa so:
Der letzte Mensch auf der Erde saß in einem Zimmer. Da klopfte es an die Tür. Wer wird an meine Tür klopfen?
Wenn er kommt, wird mein Vater seine Uniform tra gen? Kreuzen Sie an: Ja _ Nein _ Ungewiß _
Werde ich ihm in die Augen sehen können? Kreuzen
Sie an: Ja _ Nein _ Ungewiß _
Wird er mir in die Augen sehen können ? Kreuzen Sie
an: Nein _ Nein _ Nein _
Vielleicht sollte ich einen weiteren, einen letzten Spa 21
ziergang zu Brimmler’s Bridge raus unternehmen, be vor er ankommt. Und den süßen Sturz ins Nichts wählen, und der Wind pfeift durch den Tunnel in meiner Brust und das Loch in meinem Herzen.
22
2
Miros Aufgabe war es, den Fahrer zu töten. Ohne Bedenken. Sowie der Bus an der Brücke ankam. Jeder sollte sofort wissen, daß die Entführung des Bus ses kein Spaß war. Sofortige Tötung war vorgesehen, nicht bloß eine Möglichkeit. Als Miro den Revolver von Artkin ausgehändigt bekam, lag er ihm schwer in der Hand, obwohl er die kleine automatische Waffe schon oft bei Schießübungen verwendet hatte. Auf Zielscheiben aus Papier. Jetzt würde das Ziel ein Mensch sein. Miro hatte Schwierigkeiten mit Schluk ken, als er die Trommel füllte. Der Geruch der Waffe, dieser eigenartige glatte Ölgeruch, reizte seine Nase. Er mußte fast niesen. »Du bist blaß«, spottete Artkin. Miro erwartete nichts anderes. Artkin hatte ihn immer verspottet, und Miro hatte gelernt, den Spott kommen tarlos zu schlucken. Vielleicht hätte er auch keine Ant wort gewußt, sei’s drum. Sein Hals war zugeschnürt. Er fürchtete, daß er zum Sprechen nicht genug Speichel haben und herumstottern würde. »Du machst das schon«, versicherte ihm Artkin, und 23
seine Stimme war plötzlich freundlich. Das war Artkin – grob einen Augenblick und sanft im nächsten. Er hatte auch drei Menschen getötet in den vergangenen zwei Jahren, in Miros Gegenwart. Immer kaltblütig. Jetzt war es an Miro, Artkins Beispiel zu folgen. Artkin lächelte. Aber jetzt zufrieden. »Immerhin bist du sechzehn.« Miro versuchte, seinen Ärger zu verstecken. Er spannte seine Lippen, hielt die Wangen gestrafft. Er war wü tend, daß Artkin annahm, jemanden zu töten – wen schon? einen Busfahrer? ein Nichts? – würde ihm was ausmachen. Oder vielleicht verspottete ihn Artkin nur, um ihn scharf zu halten, bissig, auf Draht. Trotzdem, Miro war sauer. Er war kein Kind mehr. Und zu töten bedeutete ihm nichts. Auch nicht der Gedanke daran. Er hatte nun vier, fast fünf Jahre lang gewartet. Wie anders sollte er seine Existenz rechtfertigen und seinem Leben einen Sinn geben, bevor man es ihm nahm? Sein Bruder, Aniel, war gestorben, ehe er sein Zeichen set zen und seine Bestimmung erfüllen konnte. Nein, Miro machte sich nichts draus, eine Tötung vorzunehmen. Seine einzige Sorge war, es wie ein Profi zu tun. »Gehn wir noch mal den Plan durch«, sagte Artkin, for mal und präzise, aber immer mit dieser Ironie um die Lippen. Wie Elvis Presley, wenn er bestimmte Lieder sang. Miro erlaubte seinen Augenlidern, sich halb zu senken. Er hörte nur mit einem Ohr, wie Artkin den Plan noch einmal wiederholte. Miro hatte gelernt, 24
stumm zu summen. Und er tat das jetzt, einen alten Presley-Song ohne Ironie, »Love Me Tender«, der war anders als die rauheren Gesänge von Elvis. Artkin wünschte keine Ablenkung, besonders wenn er seine Plane darlegte. Er besprach Pläne so gern, wie andere Leute Karten spielen. Und er billigte keine Torheiten wie Miros Begeisterung für Elvis oder anderen ameri kanischen Zeitvertreib: diese Zeichentrickfilme zum Beispiel, in denen sich Miro jeden Samstagmorgen ver lor, wenn ein Fernseher greifbar war. Miro summte weiter tonlos und hörte Artkin zu. Den Bus in unsere Gewalt bringen, zur Brücke fahren, den Fahrer töten und auf die erste Botschaft warten. Plötzlich dachte Miro: Was tut der Fahrer in diesem Augenblick? Hat er eine Vorahnung? Weiß er, daß er morgen um diese Zeit stumm sein wird, für immer? Es war still im Raum, als Artkin seinen Vortrag been dete. Miro sah auf die verschlafene Straße hinunter. Main Street. Hallowell, Massachusetts, United States of America. So weit von seinem Heimatland. Aber wir haben kein Heimatland, sagte Artkin immer, und das ist wahr. Und doch packte Miro die Einsamkeit so hef tig, daß sein Magen krampfte und er vom Fenster weg schauen mußte. Wenn es in diesem engen Raum mit seinem Geruch nach Urin und Fett und Revolveröl we nigstens einen Fernseher gäbe. Für eine Ablenkung in solchen Augenblicken, wenn das Heimweh zuschlägt ohne Warnung. 25
»Wir haben Heimweh auf ewig«, hatte Artkin einmal in einem seltenen Anflug von Empfindsamkeit gesagt, »denn unser Land existiert nicht mehr, es ist verschlun gen und besetzt von Fremden.« »Wie heißt du?« »Miro.« »Nein, dein wirklicher Name.« »Miro Shantas.« »Nein, nicht dieser Deckname, den du angenommen hast. Dein wirklicher Name.« »Ich habe keinen Decknamen angenommen. Mein Name ist Miro Shantas.« »Schau, das ist keine Übung. Ich prüfe dich nicht. Ich möchte, daß du deinen richtigen Namen nennst.« Miro zog seine Augenbrauen zusammen. Er studierte Artkin und versuchte herauszufinden, ob es Artkin wirklich ernst war oder ob er ein Spiel mit ihm trieb. Er mußte zugeben, daß Artkins Gesicht dunkel und kon zentriert war, kein Anzeichen von Spielfreude. Miro schaute weg, zur Musicbox, wo jemand die Auswahl studierte. Das Restaurant war klein, eigentlich kaum ein Restaurant, eher ein Schnellimbiß, ein Ort für Fern fahrer, Durchreisende. Wie wir, sagte Artkin. Wir blei ben nirgends, und wenn wir irgendwo haltmachen, auch nur für einen Augenblick, dann dürfen wir nicht zur Ruhe kommen. Miros Kaffee war kalt. Der Typ an der Musicbox sollte 26
endlich seine Münze einwerfen und die Musik anfan gen lassen. Etwas von den Bee Gees vielleicht. Oder Elvis. »Also«, sagte Artkin, geduldig, abwartend, der geduldigste Mann der Welt. »Sag mir deinen richtigen Namen.« Miro entschloß sich, seinen eigenen Test zu machen, einmal sein eigenes Spiel zu spielen. »Aber du kennst meinen richtigen Namen«, sagte Miro. »Wenn ich ihn wüßte, würde ich dich dann fragen?« sagte Artkin. »Ja«, sagte Miro. »Und warum sollte ich dich etwas fragen, das ich schon weiß?« »Weil du Artkin bist, und bei dir ist alles möglich.« Artkin lächelte nicht wirklich, aber die Züge seines Ge sichts veränderten sich. Etwas tanzte in seinen Augen, nicht gerade Lachen, aber ein Leuchten. Wie alt mochte Artkin sein? Dreißig, vierzig? Unmöglich zu sagen. Manchmal, am frühen Morgen vor Sonnenauf gang, wenn sie irgendwo in einem Auto ausharrten – wie damals in Philadelphia, als sie nicht in ihr Hotel zurückkonnten wegen der Polizei –, war Artkins Haut matt und grau, seine Augen wie ausgebrannte Lichter. Er sah aus wie hundert oder tausend. Aber dann, wenn er einen seiner Pläne entwarf oder auf den Beginn der Aktion wartete, wirkte er ganz jugendlich, alterslos ei gentlich, und seine Augen leuchteten aus einer inneren Kraftquelle. Aber diese Momente kamen und gingen 27
schnell. Meistens war er Artkin: gefühllos, zu jeder schrecklichen Tat fähig. Jetzt tanzte immer noch das Leuchten in seinen Augen, und Miro merkte, daß Art kin Vergnügen empfand. Ein seltener Augenblick. »Wenn du mich so gut kennst, dann mußt du wissen, daß ich deinen wirklichen Namen wissen möchte, wenn ich dich danach frage«, sagte Artkin. Seine Hände lagen auf dem Tisch – und was von seinen Fingern übrig war. Die Finger seiner linken Hand waren nur noch Stum mel von verschiedener Länge: eine Bombe war zu früh hochgegangen. »Gut, daß du Rechtshänder bist«, hatte Miro einmal gesagt, als er Artkin geschickt ein Messer mit der rechten Hand benützen sah. Artkin hatte ihm geantwortet: »Ich war Linkshänder.« Mein wirklicher Name, dachte Miro jetzt. Er hatte so lange nicht an seinen wirklichen Namen gedacht, daß er jetzt in seiner Erinnerung graben mußte. Den Namen nicht bloß vergessen, hatte der Ausbilder gesagt, son dern begraben. Begrab ihn, damit er dich nie verraten kann. Wähle einen Namen, der nichts mit dir oder dei ner Herkunft zu tun hat. Du darfst nichts an dir haben, was dich verraten könnte. Das betrifft auch deinen Na men. Miro dachte: Wie mag Artkins richtiger Name sein? Artkin sah ihn an. Er lächelte, soviel er sich davon er laubte. Miro beugte sich zu ihm über den Tisch und kippte beinahe seine Tasse um. »Mein Name«, sagte er langsam und bestimmt, »ist 28
Miro. Miro Shantas. Mein echter und einziger Name.« Musik schallte aus der Musicbox. Ein Song, den Miro nicht kannte, laut und beschwingt, Disco, die Art von Musik, die Artkin verabscheute. Wieder veränderte sich Artkins Gesicht, und jetzt zeigte es fast so was wie Bewunderung. »Ich zieh’ den Hut vor dir, Miro Shantas«, sagte er. Artkin lobte selten. Miro war plötzlich ganz zufrieden und badete in dem warmen Strom der Anerkennung. Er ließ sich tragen von der Musik. Am nächsten Morgen warteten sie in dem hellbraunen Lieferwagen an der Kreuzung Water Street/Vinton Avenue. Der Bus hatte Verspätung, aber das beunru higte sie nicht, Artkin, Miro und die anderen. Artkin hatte die Lage wochenlang beobachtet. Er wußte, daß der Busfahrplan unregelmäßig war und davon abhing, wie lang der Bus bei jedem Kind warten mußte. Es gab keinen zentralen Abholpunkt für die Kinder, sie wur den alle einzeln zu Hause abgeholt. Manche rannten dem Bus entgegen, andere trödelten. Kleine Kinder, alle unter sechs, Babys eigentlich. Der Bus brachte sie zu einem Tageslager in der Nähe eines ruhigen Teiches in Hallowell, wo sie herumtollten und badeten und al les machten, was Kinder so machen, bis zum späten Nachmittag. Es waren sechzehn Kinder. Artkin sagte, er rechne damit, mindestens zwei zu töten. Möglicher weise mehr. 29
Miro stand hinter dem Lieferwagen und beobachtete das morgendliche Getriebe auf der Water Street. Viel los war nicht. Ein Junge fuhr auf seinem Fahrrad und versuchte eine Angelrute auf der Lenkstange zu balan cieren. Ein Hund schnüffelte an einem Busch und hob das Bein. Miro wußte nicht, was für ein Hund das war und was für ein Busch. Er dachte an all die Dinge, die er nicht wußte. Seine Ausbildung war konzentriert und beschränkt gewesen, ohne Abschweifungen. Keine Zeit, Blumen oder Büsche zu bestimmen. Außerdem, die Büsche und Bäume, die Pflanzen in seinem Heimat land – ah, er hatte kein Heimatland – waren anders. Wie die Menschen anders waren. Und das Essen. Was das Essen anging, da fühlte sich Miro als Verräter. Er starb für Hamburger und Hot dogs und Kartoffelchips. Er liebte die Werbespots von McDonald’s oder Burger King. Er erzählte keinem von seinen kleinen Gelüsten. Wem hätte er es auch erzählen sollen? Miro sah auf die Uhr: fast neun. Sie warteten auf einen orangefarbenen Bus und ein blondes, plumpes Mäd chen, das aus seinem Haus rennen würde. Das letzte Kind. Miro war ungeduldig. Er wollte handeln. Wenn er dachte, wie lang er auf diesen Augenblick gewartet hatte, an dem die ewigen Übungen vorbei sein würden, die praktisch sein ganzes Leben ausgemacht hatten. Artkin sagte: »Sie haben immer Verspätung. Bei Kin dern muß man das lockerer sehen und Geduld haben.«
30
Keiner antwortete. Artkin hockte hinten. Sie hatten die Rücksitze entfernt, um Platz für vier Mann plus Ausrü stung zu schaffen. Stroll, der Schwarze, saß auf dem Fahrersitz, Hände locker auf dem Steuerrad. Er fuhr jedes Fahrzeug wie ein Dirigent. Miro hatte erlebt, wie er nach der Explosion in der Post durch die Straßen von Brooklyn kurvte, als machte er eine Vergnügungsfahrt. Er war gewöhnlich schweigsam und selbstversunken und lebte nur auf, wenn irgendeine Fahrt erledigt wer den mußte. Der andere war Antibbe, stämmig, minde stens vierzig. Er brach sich seinen Weg durch die Welt wie ein losgerissener Eisenbahnwaggon. Er sprach nur selten ein Wort. Miro spürte die Wärme der Waffe an seiner Brust. Der Morgen war heiß. Später August. Durch das Rückfen ster sah er ein Mädchen den Gehsteig entlangkommen. Sie schlenkerte die Arme, ihr schwarzes Haar glänzte, die pralle weiße Bluse leuchtete in der Sonne. Amerika nische Mädchen: er konnte sich nicht gewöhnen an ihre unverhohlene Sexualität, die hautengen Jeans, die knappen Pullover, die Freizügigkeit ihrer Gesichter, die wenig Geheimnisse offenließen. In seinem Heimat land wurde Sexualität angedeutet, nicht gerade ver steckt, aber zart verschleiert und keinesfalls öffentlich zur Schau getragen. Er hielt sich nun drei Jahre in den USA auf und war immer noch fasziniert und abgesto ßen zugleich von vielem, was er sah. So vieles war schamlos, hektisch, laut, grob und roh. Aber dann auch 31
wieder zärtlich. Wie die Musik von Elvis. Wenn ihm Artkin doch erlauben würde, den Transistor bei Opera tionen mitzunehmen. Miro beobachtete, wie das Mädchen näher und näher kam, ganz in Gedanken, vielleicht spät dran zur Ar beit, ihre Bluse bewegte sich weich im Sonnenschein. Hatte sie eine Ahnung, was ihr Körper mit Menschen machte? Vor einem Jahr hatte Artkin gesagt: »Ich werde dir eine besorgen«, als er Miros Unbehagen in der Ge genwart von Frauen bemerkte. Er wollte nicht, daß Artkin oder irgendwer sonst ihm eine Frau besorgte. Er war nicht einer von den Leuten, die in Lokale gehen, wo die Frauen ihre Kleider ausziehen. Er haßte den Times Square in New York, wo alles ordinär und laut war. Er konnte warten. Aber worauf? Das Gesetz der Wahrscheinlichkeit würde das Problem lösen. Er wußte, daß er sterben würde, bevor er zwanzig oder einundzwanzig war. Sein Bruder starb mit siebzehn bei der Detroit-Sache. Das Mädchen ging vorbei und verschwand. Und Miro widerstand dem Wunsch, sich anzufassen. Er wandte sich mit rotem Gesicht vom Fenster ab und berührte zum Trost seine Waffe. »Der Bus kommt«, sagte Artkin. Miro hörte das langsame Bremsen, als der Bus weiter oben an der Straße anhielt. Er reckte den Hals und sah das orangefarbene Fahrzeug durch die Windschutz scheibe, hundert Yards entfernt. Er schaute auf die Uhr. 32
Sie würden den Bus in sieben Minuten auf einer verlas senen Straße außerhalb der Stadt überholen. Weitere fünfzehn Minuten bis zur Brücke. Fünfzehn und sieben macht zweiundzwanzig. Geben wir drei Minuten Spiel für unerwartete Ereignisse. (Immer Spielraum lassen, sagte Artkin.) Also, in fünfundzwanzig Minuten werde ich meinen ersten Mann getötet haben. Ein Mann wird sterben durch meine Hand. Aber es stellte sich heraus, daß es kein Mann war. Als sie in den Bus eindrangen, saß ein Mädchen hinter dem Steuer. Blond, schlank, in einem verwirrenden gel ben T-Shirt. Lange Haare wie Stroh, nein, nicht Stroh, Honig, Sirup. Miro war Artkin gefolgt, nachdem Stroll den Bus über holt und zum Anhalten gebracht hatte. Artkin, Antibbe und Miro waren aus dem Lieferwagen geklettert, wäh rend Stroll am Steuer sitzen blieb, Antibbe öffnete die Bustür mühelos mit einer Brechstange und kehrte zum Lieferwagen zurück. Artkin und Miro stiegen in den Bus. Die Übernahme klappte in Sekunden, ohne einen Schrei der Kinder oder der Fahrerin. Sie starrte sie schweigend an mit offenem Mund und fassungslos gro ßen Augen. Miro kauerte sich neben ihr auf den Boden, damit ihn von der Straße aus niemand sehen konnte, während Artkin den Gang nach hinten ging, um die Kinder zu begrüßen – Hallo, ihr ... Schöner Tag, heute ... Was bist du für ein süßes Mädchen ... Mögt ihr Bonbons, Schokolade? Dabei hatte er jedes vorbei 33
fahrende Fahrzeug im Auge. Er tat den Kindern schön, lenkte sie ab, meisterhaft, ein toller Schauspieler. Miro bewunderte ihn, während er neben dem Mädchen hockte. Jetzt erst bemerkte sie den Revolver in Miros Hand. Ihr Gesicht reagierte heftig, als hätte sie etwas Obszönes gesehen. Und dann packte sie die Angst, mehr noch. Entsetzen. Der übliche Ablauf. Schock, dann Angst, dann Entsetzen. Artkin kam nach vorne und holte eine braune Einkaufstüte, die er im Eingang abgelegt hatte. Die Tüte ent hielt Süßigkeiten, die in Alufolie verpackt waren. »Süßigkeiten für euch – alle mögen Süßigkeiten«, rief er freundlich. Miro berührte Artkins Arm. Artkin hielt inne. Miro sah Artkins Schlagader pulsieren. Es war ge fährlich, Artkin zu berühren. Miro richtete sich auf. »Ich dachte, du hättest gesagt, der Fahrer ist ein Mann.« Seine Stimme war nur ein Flüstern, aber forscher, als er das wollte. »Du brauchst nicht zu denken«, sagte Artkin. Er spuckte die Worte aus, dann ging er den Gang hinunter und verteilte die Süßigkeiten an die gierigen Hände. Die Süßigkeiten waren mit einem Beruhigungsmittel behandelt, das die Kinder in ein paar Minuten fügsam und träge machen würde. Wie sonst, hatte Artkin ge sagt, könnten wir einen Bus voller Kinder unter Kon trolle halten? Es gab jede Menge Schokolade und zur Reserve Lutscher, die in das Mittel getaucht worden waren, in extra Tüten im Lieferwagen. 34
Miro kauerte sich wieder neben dem Mädchen zusam men. Ihre Knöchel waren weiß, so umklammerte sie das Steuerrad. Sie sah starr durch die Windschutz scheibe nach vorne. Ihr Kinn zitterte, und ihre Schul tern zuckten, als wäre ihr plötzlich kalt geworden. Ein mal hatte auch Miro so gezittert. Als Aniel starb. Er hatte gegen die Tränen angekämpft – ein Soldat weint nicht –, aber er hatte es nicht aushalten können, wie ihn sein Körper betrog, obwohl seine Augen trocken blie ben. Er hatte versucht, seine Gefühle zu unterdrücken, die Tatsache von Aniels Tod neutral und bedeutungslos hinzunehmen, aber es war ein merkwürdiges Schluch zen aus seinem Körper gebrochen, als hätte eine tiefe Wunde in ihm Laut gegeben. Artkin, immer zur Stelle, grub seine Hand in Miros Schulter. Er hatte die Nach richt überbracht: ein schneller, fast zufälliger Tod – ein Querschläger, zwischen die Augen. Miro hatte sich aus Artkins Griff gewunden und war aus dem Zimmer ge rannt, wütend, weil sein Körper ihn nach all den Jahren des Trainierens so im Stich lassen konnte, und verzwei felt, weil er nach dem Tod seines Bruders allein dastand in der Welt. Abgesehen von Artkin. Aber Artkin war nicht sein Fleisch und Blut. Miro schaute sich das Mädchen an. Er war so nah, daß er ihr Deodorant riechen konnte. Oder war es ihr Par füm? Sie hob ihren Arm ein wenig, und er sah den Schweißrand an ihrem Ärmelausschnitt. Also ge horchte dem Mädchen sein Körper genausowenig wie 35
Miro damals der seine, dieses eine Mal. Wie jeder Kör per einmal schwach wurde, vielleicht. Und Artkin? Würde ihn sein Körper jemals im Stich lassen? Miro schaute auf die Schläfe des Mädchens, wo der gelbe Haarstrom ansetzte. Der Plan sah vor, den Fahrer vom Bus wegzuführen aus der Sicht der Kinder, ihm die Pistole an die Schläfe zu setzen und abzudrücken, mit aller Sorgfalt. Schnell, hatte Artkin geraten, und ohne Zaudern. Artkin betonte immer wieder, daß sie nicht interessiert seien an unnötiger Grausamkeit. Sie hatten eine Arbeit zu verrichten, und die Arbeit schloß den Tod mit ein. Erledigt sie so gründlich wie möglich. Wir sind schließlich keine Tiere, sagte er, sondern nur ein Werkzeug. Alles, was wir tun, hat seinen Sinn. Miro streckte die Hand aus, um die Schläfe des Mäd chens zu berühren oder wenigstens ihr Haar. Aber dann hielt er sich zurück. Artkin hatte die Süßigkeiten verteilt und lachte und al berte nun mit den Kindern. Aber Miro wußte, daß es in seinen Augen kein Lachen gab. Das Beruhigungsmittel sollte zu wirken beginnen, wenn sie an der Brücke anka men. Miro überlegte, ob sie der Schuß aus seinem Re volver wieder aufwecken würde. Als Artkin wieder nach vorne kam, holte das Mädchen tief Luft und drehte sich um zu ihnen. »Was soll das alles?« fragte sie, und dabei nahm sie all ihre Kraft, ih ren Mut und ihre Empörung zusammen, ohne zu mer ken, wie pathetisch sie wirkte. 36
»Keine Aufregung«, sagte Artkin sanft. »Wir möchten nur, daß der Bus für ein paar Minuten seine Route ver läßt. Und niemandem passiert was.« Miro bewunderte Artkins Überzeugungskraft. Er kann te das schon, wie er seine Stimme besänftigend, fast zart klingen ließ. Er hatte diese Stimme noch lebhaft im Ohr, von damals, als Artkin kurz darauf mit einer Ladung aus seinem Revolver das Gesicht des Polizeioffiziers in De troit zerfetzte. »Warum fahren Sie den Bus heute?« fragte Miro. Er wußte, daß diese Frage Artkins Unmut erregen würde – unnötige Unterhaltungen während einer Opera tion! –, aber Miro war durcheinander. Er wollte nicht, daß etwas schiefging bei seiner ersten Tötung. »Mein Onkel ist krank. Ich springe manchmal für ihn ein. Ich hab’ einen Spezialführerschein.« Wie ein Schul mädchen, das seine Lektion hersagt. Artkin warf Miro einen mißbilligenden Blick zu und sagte dann zu dem Mädchen: »Ich bin sicher, Sie sind eine vorsichtige Fahrerin, Miss, und das ist gut so. Wir wollen nicht, daß den Kindern was zustößt. Sie brau chen nur so weiterzufahren, daß die Kinder sich nicht aufregen.« Seine Stimme war immer noch beruhigend, vernünftig. Das Mädchen lächelte Artkin sogar an, ein vages Lächeln nur, unsicher vielleicht, aber immerhin ein Lächeln. Artkin schaute auf die Uhr. Miro sah sich flüchtig nach 37
den Kindern um. Einige schienen schon müde und sa ßen schlaff in ihren Sitzen. Wie stark waren diese Dro gen? überlegte Miro. »Du hast noch siebzehn Minuten«, sagte Artkin zu ihm. Miro nickte. Für einen Augenblick hatte ihn Art kins Freundlichkeit den Ernst der Lage vergessen las sen. Er sah auf die Uhr. In siebzehn Minuten – nein, in sechzehn – würde er dieses Mädchen töten. Wie alt mochte sie sein? Achtzehn? Siebzehn? So alt wie er? Das Mädchen legte den Gang ein, als der Lieferwagen vor ihr anfuhr. Die Kinder bewegten sich kaum. Miro bemerkte, daß Artkin die Kinder nachdenklich beob achtete. Er sah unsicher aus. Das kam bei Artkin selten vor. Waren die Drogen zu stark gewesen? Oder war Artkin nur in Gedanken und wählte die möglichen Opfer aus: Wer würde sterben, wer am Leben blei ben? Artkin merkte, daß Miro ihn beobachtete. »Kümmere dich nicht um die Kinder«, sagte er. »Paß auf sie auf.« Er wies mit dem Kopf auf das Mädchen. »Du hast noch knapp fünfzehn Minuten.« Miro spürte das Gewicht des Revolvers unter seiner Jacke wie einen ständig wachsenden Tumor. Sie war wütend auf sich. Ihre Hose war naß – eigentlich ihr Höschen, aber sie haßte das Wort Höschen irgend wie –, und ihre Finger schmerzten, so umklammerte sie das Steuerrad, und sie merkte, wie ihre Migräne be 38
gann, eine Nadel aus Schmerz, die über der rechten Augenbraue in ihrer Stirn saß. Aber das spielte alles keine Rolle. Was sie wütend machte, war, wie sie da hockte die ganze Zeit, stumm und dumm, während diese Tiere den Bus entführten. Und sie tat nichts. Und diese nasse Hose. Die Haut zwischen ihren Bei nen kühlte sich ab. Ihre Blase, die Muskeln – immer schon eine Schwachstelle. Ein Niesen konnte es auslö sen oder ein plötzliches Lachen, und sie spürte diese kleine Erregung des Heraussickerns. Sie besaß sech zehn Hosen – also gut, Höschen –, aber, verdammt, das mußte reichen. Sie behielt, wie befohlen, den Lieferwagen vor sich im Auge. Eigentlich haßte sie Befehle, zu Hause oder in der Schule, aber gewöhnlich befolgte sie sie. Noch eine Schwachstelle. Und hier war sie wieder fügsam und folgte den Anweisungen, die sie ihr gegeben hat ten. Nicht sie, er. Der Ältere. Der die Befehle gab. Ko misch, man hätte denken sollen, daß sie mehr Angst vor dem Älteren haben müßte, aber es war der Junge, der ihr Sorgen machte. Sogar jetzt, wo er nur neben ihr kauerte, konnte sie seinen Eifer spüren. Obwohl er seinen Revolver eingesteckt hatte, irgendwo in der Jacke, fühlte sie sich bedroht. Er hatte sie mit seinen tiefbraunen, fast schwarzen Augen angesehen, und sie hatte das Gefühl, als nehme er Maß für einen Sarg. Gott, was für ein Gedanke! Aber sie dramatisierte im mer. Der Mann schien vernünftig, rational, nicht wie 39
der Junge, der etwas von einem Tier an sich hatte, wie ein Hund, der an seiner Leine zerrte. Der Lieferwagen bog plötzlich links ab. Old Vineyard Road. Sie war irritiert, die Straße führte nirgendwo hin. Sie hatte ihr ganzes Leben in Hallowell verbracht und kannte die Gegend wie ihren Augapfel. Sie versuchte sich vorzustellen, wo sie der Lieferwagen hinführen würde. Nach Brook’s End? Zu dem alten Gartenhaus, wo man früher in der Big-Band-Ära Tanzveranstaltun gen abgehalten hatte, von denen ihre Eltern immer er zählten? Sonst gab’s nichts da draußen. Alles konnte passieren da draußen in den Wäldern. Sie hielt sich am Steuerrad fest, um nicht zu zittern. Mach dich nicht verrückt, sagte sie sich wieder, denk an die armen Kin der. Sie sah flüchtig in den Rückspiegel. Die Kinder waren gebändigt, sie zappelten und quasselten nicht wie sonst. Sie sah, daß ein Mädchen offensichtlich schlief, das Kinn war ihr auf die dünne Brust gesunken. Ein anderes Kind döste mit offenem Mund, sein Unter kiefer hing schlaff herunter. Sie wußte sofort, daß man die Kinder betäubt hatte. Die Süßigkeiten waren offen sichtlich mit Drogen behandelt. Während ihr Blick zwischen dem Lieferwagen vor ihr und dem Rückspie gel hin- und herwanderte, sah sie, wie ein Junge besin nungslos, wie in Zeitlupe aus seinem Sitz in den Gang kippte. Sie schrie auf. Der ältere Mann hatte den Jun gen auch fallen sehen und konnte ihn auffangen, bevor er auf dem Boden aufschlug. Er nahm den Jungen hoch 40
und wiegte ihn in seinen Armen. Er setzte sich mit dem Jungen im Arm auf die Bank und strich ihm über die Stirn wie ein Vater. Und doch war der Mann zweifellos ein Monster. Einen Bus entführen und den Kindern ir gendwelche Drogen geben! »Schauen Sie auf die Straße«, sagte der Junge. Seine Worte waren präzise, jedes Wort in perfekter Beto nung. Zu perfekt. Er hatte einen schwachen Akzent, irgendwas Antiquiertes. Englisch war offensichtlich nicht seine Muttersprache. Sie sah ihn flüchtig an, trot zig. Sie würde nicht immer gleich springen, wenn er etwas befahl. Sein Haar war schwarz, kleine Locken wie ein Helm. Seine Haut war braun mit einem Schimmer ins Kupferne, als wäre er zu lange in der Sonne gewe sen. Er konnte alles mögliche sein. Von sonstwo her. Jetzt mußte sie sich aufs Fahren konzentrieren, denn die Straße war ungeteert und eng. Schlaglöcher brach ten den Bus zum Schwanken, und der Junge wurde leicht gegen sie geworfen. Sie spürte seinen Körper an ihrer Schulter, nur einen Augenblick lang, aber es machte sie schaudern. Sie schaute in den Spiegel. Der Pickel wuchs am rechten Nasenflügel. Verdammt. Sie hatte den Pickel schon am Morgen bemerkt, und bis zu ihrer Periode waren es noch zwei Wochen hin. Die Mi gräne fraß sich wie Säure in ihre Stirn. Sie würde doch nicht etwa zu früh ihre Periode kriegen, hier im Bus? Sie hätte weinen mögen wie als kleines Mädchen, als Weinen noch die Probleme löste. 41
Wohin fahren wir?« fragte sie, um ihren Gedanken zu entkommen. »Fahren Sie nur weiter«, sagte der Junge, »wir sind schon fast da.« Sie sah über den Lieferwagen hinaus und suchte nach einem möglichen Ziel. Es ging steil bergauf, und sie merkte, daß der Bus Mühe hatte, die Steigung zu schaf fen. Sie schaltete in den Zweiten runter, was für einen Augenblick ihre ganze Kraft in Anspruch nahm. Es war ein alter Bus, ohne Automatik, und das Getriebe blok kierte beim Schalten. Ihre Gedanken flogen voraus. Oben auf dem Hügel führte die Straße in vielen Kurven in den Wald hinein. Sie kreuzte eine stillgelegte Bahnstrecke. Es gab dort irgendwo eine alte, baufällige Eisenbahnbrücke, längst aufgegeben und gesperrt. Die Züge von Boston fuhren nicht mehr so weit. Güterzüge nahmen andere Strek ken, und die Pendlerzüge von Boston verkehrten nur bis Concord und Lexington, zwanzig Meilen entfernt. Es war eine Hängebrücke hoch über dem Moosock Ri ver, der auch nur noch ein schmales Rinnsal bildete. Manchmal trieben sich Jugendliche auf der Brücke herum, feierten ihre Bierparties dort und warfen die leeren Flaschen in den Fluß hinunter. Sie hatte an sol chen Parties nie teilgenommen, dennoch war ihr Ruf legendär in der Schule von Hallowell. Der Bus rumpelte den Berg hinauf, als wollte er jeden Augenblick den Geist aufgeben. Was würden sie dann 42
machen? Sie sah auf den Zündschlüssel herunter. Wenn sie ihn einfach rausziehen und aus dem Fenster werfen würde? Würde das ihren Plan zerstören, wie immer er auch aussehen mochte? Oder würde das die Gefahr für sie und die Kinder nur noch erhöhen? Der Mann schien vernünftig. Sollte sie ihm glauben, daß der Bus nur mal eben einen Umweg nehmen sollte? Sie schaute wieder in den Rückspiegel. Die Kinder la gen in ihren Sitzen, schlafend, dösend, mit schweren Augenlidern. Ich hab’ die Verantwortung für sie, sagte sie sich. Ich darf nichts tun, was sie noch mehr gefähr det. Sie spürte die Anwesenheit des Jungen neben sich, roch seine Plastikjacke. Er griff jetzt in seine Jacke: nach dem Revolver? Die Migräne war ein Dolch über ihrem rechten Auge. »Wir sind fast da«, sagte der Junge. Und der Revolver war wieder in seiner Hand. Er war auf sie gerichtet. Der Lieferwagen hatte oben auf dem Hügel angehal ten. Der Mann hatte dem Jungen befohlen, auf die Kinder aufzupassen, und sagte: »Der Lieferwagen wird wen den und rückwärts auf die Brücke fahren. Sie werden ihm folgen.« »Soll ich auch wenden?« fragte sie und konnte sich nicht vorstellen, so ein Kunststück fertigzubringen auf diesem schmalen Feldweg. 43
»Nein, Sie folgen ihm nur. Der Lieferwagen wird an halten und Sie auch, Kühler an Kühler.« »Das ist eine Eisenbahnbrücke«, sagte sie. »Und alt und brüchig. Wird sie uns aushalten?« »Ja, wir haben das erst vor kurzem getestet. Sie ist nicht zu schmal, das werden Sie sehen. Sie hat Platz für zwei Gleise. Aber fahren Sie langsam. Es wird holprig, da wir über Schwellen fahren müssen. Die Brücke ist etwa dreihundert Fuß lang, die Länge von einem eurer Foot ball-Felder.« Ihr fiel auf, daß er das Wort ›eurer‹ benutzte. Welcher Nationalität mochte er sein? Er war dunkel und braun wie der Junge. Der Lieferwagen hatte irgendwie gewendet, aber dabei einige Büsche umgefahren. »Jetzt folgen Sie ihm«, sagte der Mann. »Und dann wird für Sie alles vorbei sein.« »Darf ich dann gehen? Die Kinder – was ist mit de nen?« Er berührte freundlich ihre Schulter. »Machen Sie sich keine Sorgen. Alles kommt in Ordnung.« Sie folgte dem Lieferwagen auf die Brücke. Die Fahrt war holprig, der Bus ruckte über die hölzernen Schwel len. Sie hatte plötzlich ein Gefühl von Höhe, und ihr wurde klar, daß die Brücke mindestens hundertfünfzig Fuß über dem Flußbett lag. Die Lücken zwischen den Schwellen verstärkten diesen Eindruck von Höhe noch. Wenn sie sich vorbeugte, sah sie durch die Lücken den 44
Fluß. Auch zu Fuß wäre man sehr vorsichtig gewesen auf dieser Brücke. Sie fuhr einen Bus, und sie wußte eine wackelige Konstruktion unter sich und verrottende Schwellen und einen gähnenden Abgrund. Wenigstens sahen die Geländer einigermaßen solide aus, schwarz, aus Eisen, ein bißchen Sicherheit. Ihr Fuß berührte kaum das Gaspedal, während sie den Bus in der holpri gen Spur des Lieferwagens zu halten versuchte. »Gut«, sagte der Mann, »gut.« Schließlich hielt der Lieferwagen, und sie legte die Bremse ein. Sie sah über das Flußtal zu dem alten Gar tenhaus hinüber. Das Gebäude klebte verlassen und schief, wie eingefroren in einem trunkenen Schwanken, an einer Böschung auf der Höhe der Brücke. Es schien weit weg, drei oder vier Football-Felder. »Schalten Sie den Motor aus«, sagte der Mann. Sie tat es, und der Mann beugte sich über sie, um den Schlüssel abzuziehen. Er steckte ihn in die Tasche. »Das haben Sie ausgezeichnet gemacht«, sagte er. »Miro«, rief er. Aber Miro reagierte nicht. Doch, er hörte Artkins Stimme wie aus weiter Ferne. Er starrte auf eines der Kinder, einen Jungen. Der Junge war allein in seiner Bank, nicht wie die andern paarweise. Er lag quer über den Sitzen, wie schlafend. Aber seine Haut schimmerte bläulich, als hätte jemand Farbe in seine Venen inji ziert. Seine Brust bewegte sich nicht. 45
»Artkin«, rief Miro. Er war nicht in der Lage, den Blick von dem Jungen zu nehmen. »Ja?« erwiderte Artkin scharf, ungeduldig. Miro brachte es endlich fertig, den Blick von dem Jun gen abzuwenden und Artkin heranzuwinken. Unmutig ging Artkin den Gang nach hinten zu Miro. »Du bist jetzt an der Reihe«, sagte er. Miro zeigte auf den Jun gen. Artkin stieß einen Fluch aus, in der alten Sprache, ein altes Wort für Entsetzen und Abscheu. Miro hatte noch nie so ein Wort von ihm gehört. Dann handelte Artkin schnell. Er untersuchte die Brust des Jungen nach Le benszeichen, fühlte den Puls an seinem zerbrechlichen Handgelenk, legte das Ohr an seinen Mund. Der Junge regte sich nicht. »Ist was los?« rief das Mädchen mit ängstlicher Stimme. »Ist ein Kind nicht in Ordnung?« »Überprüfe die anderen Kinder«, sagte Artkin zu Miro. »Sieh nach, ob es ihnen gutgeht.« Dem Mädchen rief er zu: »Einen Augenblick, Miss.« Miro sah sich schnell bei den Kindern um. Einige dösten, andere schliefen fest. Aber alle schienen regel mäßig zu atmen. Artkin war mit dem Jungen beschäf tigt, als Miro ihm Bericht erstattete. Er massierte dem Jungen die Brust, versuchte Mund-zu-Mund-Beat mung. Miro sah nach dem Mädchen. Sie hatte sich in ihrem 46
Sitz umgedreht und beobachtete Miro und Artkin mit Sorge. Miro merkte, wie Wut in ihm hochstieg. Wenn das mit diesem Kind hier nicht passiert wäre, dann würde er jetzt seine Aufgabe erfüllen. Zuerst saß die ses Mädchen auf dem Platz des Fahrers und kein Mann, wie vorgesehen. Und jetzt diese Panne. Sein Magen krampfte. Er sah noch einmal zu dem Jungen hin. So schnell konnte der Tod kommen. Er wandte sich ab von diesem bläulichen Gesicht. Warum sollte ihn dieser Tod aufregen? Er hatte den Tod schon an ders gesehen, brutal und ekelerregend. Er dachte an den Mann bei der Detroit-Operation, der seine Hosen besudelt hatte, kurz bevor er starb. Der Gestank im Auto. Aber dieses Kind wirkte so schutzlos, sein Tod erfüllte keinen Zweck. Artkin hatte den Tod von ein paar Kindern eingeplant, wenn es nötig sein würde und wenn damit der größtmög liche Effekt erzielt werden konnte. Außerdem: Artkin schätzte keine ungeplanten Entwicklungen. Mit das Wichtigste an seiner Operation ist Voraussicht, sagte er. Keine Überraschungen. »Miro«, sagte Artkin, »komm her.« Das Mädchen rief noch mal: »Was machen Sie da? Geht es jemandem nicht gut?« »Einen Augenblick, bitte«, sagte Artkin zu ihr. Und dann sagte er zu Miro flüsternd, ohne den Blick von dem toten Kind zu heben: »Das Kind ist tot, Miro, und wir müssen diesen Tod in unsere Pläne mit einbe 47
ziehen. Wir können unseren Vorteil daraus ziehen. Letztlich ist das günstiger als der Tod des Mädchens. Es wird sie schockieren, ein totes Kind, aber es wird ihnen auch zeigen, daß wir es ernst meinen.« Er stand auf und sah Miro ins Gesicht. »Wir müssen improvisieren, Miro. Für den Augenblick machen wir nichts mit dem Mädchen, außer sie im Auge zu behal ten. Ich habe Sorge wegen der Drogen. Sie sind sehr stark, stärker, als ich dachte. Ich möchte ihnen erst mal keine weiteren Drogen geben. Wir wollen nicht einen Bus voll toter Kinder. Sie sind unser Faustpfand. Also werden wir warten. Das Mädchen kann uns helfen, sie ruhig zu halten.« »Aber ...« Miro wollte protestieren. Seine erste richtige Aufgabe, eine Aufnahmeprüfung in die Bruderschaft, und jetzt sollte das einfach zurückgestellt werden. Er hatte sich bereit gemacht für diesen Augenblick, hatte jahrelang gewartet. Und jetzt sollte es verschoben wer den, vielleicht sogar abgeblasen. »Du wirst deine Chance bekommen, Miro«, sagte Art kin freundlich. »Wenn wir sehen, daß die Drogen kei nem andern Kind geschadet haben, werden wir ihnen mehr davon geben. Dieser Junge war möglicherweise allergisch. Oder hatte ein schwaches Herz. Eine Aus nahme.« Er schaute das Mädchen an, das sie immer noch besorgt beobachtete. »Das Mädchen muß sterben, Miro. Sie hat uns ohne Maske gesehen. Und sie wird sterben. 48
Aber nicht jetzt, noch nicht. Hab Geduld. Sie nützt uns mehr, wenn sie lebt, vorerst.« Miro beruhigte sich. Der Entschluß war vernünftig. Er wußte: wichtig war der Plan und nur der Plan, und alles andere hatte zurückzustehen. Ihre Aktionen waren be deutungslos, ohne Wert, eigentlich Greueltaten ohne den Plan. »Sag jetzt dem Mädchen, was passiert ist. Erklär ihr, daß es ein Unfall war. Find ihren Namen heraus, alles, was du über sie in Erfahrung bringen kannst. Gewinn ihr Vertrauen. Ich muß mich um andere Dinge küm mern.« Miro nickte und ging nach vorne. »Und setz die Maske auf, Miro. Es ist Zeit. Inzwischen sind die Botschaften überbracht, und wir können jeden Augenblick mit Aktion rechnen.« Die Maske. Miro liebte die Maske und haßte sie zu gleich. Eigentlich war es gar keine Maske, sondern eine Art Skimütze. Aus Stoff mit einem Futter aus Kunst stoff, wie ihn die Amerikaner so geschickt herzustellen verstanden. Das Futter hielt die Haut kühl und saugte irgendwie den Schweiß auf. Die Maske hing an einem Knopf auf der Innenseite sei ner Jacke. Die Jacke trug er immer bei den Einsätzen. Dunkelbraun, versteckte Taschen, zwei Nummern zu groß, gut, um extra Ausrüstung darunter zu tragen: das Schweizer Armeemesser, die Zangen, einen Satz Schraubenzieher. Plus das Halfter für den Revolver. 49
Miro griff nach der Maske, beschloß aber, zuerst mit dem Mädchen zu reden. Ehrlich gesagt, fühlte er sich manchmal wie ein Gefangener in der Maske, als wäre er darin eingeschlossen und würde in die Welt hinaus schauen, ohne zu ihr zu gehören. Natürlich bedeckte die Maske nicht die Augen oder seine Nase oder den Mund. Sie hatte kaum erkennbar zwei kleine Öffnun gen an den Ohren, und der netzartige Stoff behinderte das Hören nicht. Aber er fühlte sich trotzdem nicht im mer wohl in der Maske. Aber es gab auch wieder Dinge, die er mochte an der Maske. Als er zum erstenmal mit der Maske in den Spie gel schaute, er war damals ungefähr dreizehn, da ent deckte er, daß man sein Alter nicht mehr erkannte. Er hätte dreiundzwanzig oder dreiunddreißig sein kön nen. Jedenfalls kein Junge mehr. Männer wurden bleich, wenn sie mit dieser Maske konfrontiert wurden, Männer, die viel älter und größer und stärker waren. Die Maske gab ihm ein Gefühl von Stärke und Autori tät. Manchmal aber brachte ihn die Maske auch zum Grübeln. Waren denn die Operationen etwas Unehren haftes, daß man sie mit verborgenen Gesichtern ausfüh ren mußte? Wenn es heldenhaft ist, was wir tun, unser Volk befreien und unser Heimatland neu begründen, warum müssen wir verstecken, wer wir sind? hatte er einmal Artkin gefragt. Und Artkin hatte ihm erklärt, daß es viele Gesetze gebe in der Welt, gute und schlechte, 50
rechtmäßige und unrechtmäßige. Nach den unrecht mäßigen Gesetzen wurde ihre Mission verurteilt. Aber das waren die Gesetze ihrer Feinde. Um frei zu bleiben unter diesen feindlichen Gesetzen, mußten sie sich also verkleiden. Miro hielt nun die Maske in der Hand. Sie war schwarz, die Öffnungen für Augen, Nase und Mund rot eingefaßt. Der Augenblick, wenn er bei einer Operation zum er stenmal die Maske überzog, war immer aufregend. Es war eine Geste, die einen Schnitt in sein Leben machte. Ohne die Maske war er Miro Shantas, der Junge, der nicht mal einen richtigen Namen hatte für die Welt. Mit der Maske war er Miro Shantas, der Freiheitskämpfer. Er fragte sich oft, wer er nun wirklich war. Okay. Keine Panik. Sie hörte dem Jungen zu und nahm sich vor, hart, wachsam, auf der Hut zu sein und die Flinte nicht ins Korn zu werfen. Sie wußte, der Name des Jungen war Miro, der des Mannes Artkin. Sie hatte die Namen einen Moment zuvor aufgeschnappt, und zu wissen, daß sie Namen hatten, nahm ein bißchen die Spannung von der Situation. Miro, Artkin, das war viel besser als der Junge, der Mann, machte sie mensch licher. Und trotzdem war das, was ihr der Junge na mens Miro jetzt sagte, alles andere als menschlich, eine Horror-Geschichte. Das Kind war tot. »Ermordet«, sagte sie. Das Wort kam fremd über ihre 51
Lippen. Sie hatte es nie in seiner wirklichen Bedeutung ausgesprochen. »Kein Mord, Miss«, sagte der Junge. »Ein Unfall. Man hat uns erklärt, daß die Drogen sicher wären, aber die ser Junge starb.« »Heißt das, daß die andern Kinder auch in Gefahr sind?« »Nein. Wir haben sie alle untersucht. Sie sehen ja sel ber, sie sind alle in Ordnung. Vielleicht hatte der Junge ein schwaches Herz. Oder er war allergisch.« Er sprach ›allergisch‹, als wären es drei Wörter. Kate drehte sich nach den Kindern um. Sie waren still, betäubt, obwohl einige gähnten und sich unruhig in ihren Sitzen wälzten. »Wir möchten, daß Sie uns mit den Kindern helfen«, sagte der Junge. »Kümmern Sie sich um sie. Sehen Sie nach, ob sie was brauchen. Das zeigt Ihnen, daß wir den Kindern nichts Böses wollen.« »Wie lang werden wir hier sein ?« fragte sie. Sie wies mit dem Kopf auf den Mann, der von Sitz zu Sitz ging, die Stirn und die Wangen der Kinder berührte und sanft beruhigend auf sie einredete. »Er hat gesagt, daß alles vorbei sein würde, wenn wir die Brücke erreicht hät ten.« Miros Gedanken rasten. »Wir haben unsere Pläne geändert. Wegen des toten Jungen. Wir werden uns ein bißchen länger hier aufhalten.« »Wie lang?« fragte sie, hartnäckig, weil sie plötzlich eine Unsicherheit bei dem Jungen spürte. 52
Er zuckte die Achseln. »Keiner weiß das genau. Paar Stunden.« Da erregte ein Geräusch an der Tür ihre Aufmerksam keit. Dieser Rammbock von einem Mann, der die Tür mit dem Brecheisen aufgestemmt hatte, stand wieder vor der Tür. Er schlug die Scheiben mit einem Felsbrocken ein. »Was macht er?« fragte sie. Der Mann brach das Glas mit finsterer Entschlossen heit heraus, ohne das Mädchen oder Miro anzu schauen. »Er bricht die Fenster heraus, um ein Schloß an die Tür zu legen, damit man sie nicht mehr mit diesem Hebel hier öffnen kann«, sagte Miro. Ihr Blick wanderte automatisch zum Notausgang links auf halber Höhe des Ganges. Der Junge übersah nicht, welchen Weg ihre Augen nahmen. Er lächelte nicht. Er schien nicht in der Lage zu lächeln. Aber seine Augen hellten sich auf. »Der Notausgang wird mit einer Klam mer verschlossen«, sagte er. »Und die Fenster – wir werden sie zukleben. Es hat keinen Sinn, an Flucht zu denken.« Sie spürte einen Anflug von Klaustrophobie und fühlte sich durchsichtig – der Junge konnte geradewegs in ihre Gedanken sehen. Sie wandte sich ab und sah den Mann neben der Sitzbank des toten Kindes. Sie über legte, welches Kind tot sein könnte, und wollte es doch eigentlich nicht wissen. Ein anonymer Tod schien we niger schrecklich. Sie kannte eigentlich keines der Kin 53
der wirklich, nur vertraute Gesichter von den paar Ma len, wo sie ihren Onkel vertreten hatte. Sie hatte ein paar Namen gehört – Tommy, Karen, Monique. Aber sie konnte keinen der Namen mit einem Gesicht in Ver bindung bringen. »Darf ich das Kind sehen?« fragte sie. Und merkte, daß sie das eigentlich gar nicht wollte. Kein totes Kind. Aber sie spürte, daß es ihre Pflicht war, es zu sehen, auch um die Tatsache seines Todes bewältigen zu kön nen. Miro dachte nach. »Wie heißen Sie?« fragte er. »Kate. Kate Forrester.« »Mein Name ist Miro«, sagte er. Ihm fiel auf, daß das wahrscheinlich das erste Mal war, daß er sich irgend jemandem vorgestellt hatte. Gewöhnlich blieb er an onym. Oder Artkin sagte: »Der Junge heißt Miro«, wenn sie mit Fremden zusammenkamen. Kate tat so, als hätte sie den Namen vorher noch nie gehört. »Und Ihr Freund?« »Artkin«, sagte er. Der stämmige Mann vor der Tür prüfte nun das Schloß. Kate wollte seinen Namen nicht wissen. Das hätte ihm nur einen Platz in ihrem Kopf eingeräumt, und sie wollte den ekligen Kerl gar nicht zur Kenntnis nehmen. Sie schaute zum Lieferwagen hinüber und sah den schwarzen Mann am Steuerrad, der traumverloren ins Leere starrte, als gäbe es weder den Bus noch die Brücke. 54
»Bitte«, sagte Kate. »Darf ich das Kind sehen?« Miro zuckte die Achseln. »Wir werden eine Weile zu sammen in diesem Bus sein. Sie sollten mich Miro und ich Sie Kate nennen.« Es fiel Miro schwer, das zu sa gen, zu einem Mädchen, und einem amerikanischen noch dazu. Aber Artkin hatte gesagt, er solle ihr Vertrauen gewin nen. Das Mädchen antwortete nicht. Miro drehte sich verwirrt um und gab ihr das Zeichen, ihm zu folgen. Kate holte tief Luft und sah auf das Kind hinunter. Es lag still, wie eingeschlafen. Miro überlegte, ob sie wohl je ein totes Kind gesehen hatte. Wahrscheinlich nicht, nicht in ihrer wohlgeordneten amerikanischen Welt. Das Mädchen zitterte leicht. »Kommen Sie«, sagte Miro. Ihr Blick war dankbar, als sie sich von dem Kind abwandte. Wenigstens war sie nicht ohnmächtig ge worden. Nur blaß, aber das machte ihr blondes Haar nur noch strahlender. Miro dachte, daß amerikanische Jungs sie sicher schön gefunden hätten. Artkin ging mit ihnen nach vorne. »Was passiert jetzt?« fragte Kate. Würde sie je dieses blaue Kind auf dem Bussitz vergessen können? »Sie werden hauptsächlich warten, Miss«, sagte Artkin. »Ein paar Stunden. Wir haben Botschaften ausge schickt und warten auf Antwort. Inzwischen passen Sie auf die Kinder auf. Sie werden bald wach werden.« 55
Kate schloß die Augen. Die Migräne meldete sich wie der. Die ganze Tragweite dessen, was hier vorging, wurde ihr plötzlich bewußt. »Ich weiß, was Sie sind«, sagte sie. Sie erkannte ihre Stimme nicht wieder: sie war schrill, zu laut, fremd. »Sie haben uns als Geiseln genommen und Forderungen gestellt. Sie sind ...« Sie zögerte, brachte das Wort nicht heraus: Entführer. Ihr Kopf war voll von Schlagzeilen über Entführungen auf der ganzen Welt, Schießereien und Bombenanschläge, unschuldige Tote, sogar Kinder. »Das ist nicht Ihre Angelegenheit«, sagte Artkin, seine Stimme war kalt. »Die Kinder sind Ihre Angelegenheit, sonst nichts. Sehen Sie nach den Kindern.« Artkin und Miro zogen die Masken über und waren plötzlich groteske Monster.
56
3
Noch eine Ansichtskarte aus der Sammlung Benjamin Marchand: Nettie Halversham. Ich koloriere die An sichtskarte, um ihrer Schönheit gerecht zu werden: blaue Augen, glänzende, schwarze Haare, Erdbeerlip pen. Und ein Herz, so schwarz wie die Haare. Eingerahmt ist die Ansichtskarte mit Schuld. Die Schuld, die mich zu Brimmler’s Bridge treibt, statt daß ich mit Schneebällen nach Martingale zielen oder mit Donateli das ambrosische Gebräu in Pompey genießen würde. Die Schuld fängt an mit Nettie. Weil – während der ganzen Dauer der Busentführung, während die Fern sehstationen ständig Bulletins herausgaben und Fort Delta in Alarmbereitschaft war – Leibwächter hatte man sogar abgeordnet für mich und Jackie Brenner und alle andern Kinder von wichtigen Vätern in Delta –, also, während der ganzen Zeit dachte ich nur an mich und meine eigene Minderwertigkeit, ich saß da und starrte auf das Telefon, stundenlang. Einmal wollte ich anrufen, da fragte mein Wächter: »Wen rufst du an?« Er saß mir die ganze Zeit auf der Pelle. Ich zuckte die 57
Achseln und ließ es. Es wäre sowieso sinnlos gewesen. Denn ich wollte Nettie anrufen. Aber ich tat es nicht. Es gibt da ein altes Lied, das geht so: »What Is This Thing Called Love?« Ja, was ist Liebe? Ich hatte mich nicht viel darum gekümmert, bevor ich Nettie traf. Und dann dachte ich, es müßte was Wechselseitiges sein: ich verliebe mich, sie verliebt sich. Also, ich traf Nettie und verliebte mich Knall auf Fall. Ich war mit Jackie Bren ner an einem Samstagmorgen im CVJM in Hallowell. Das gab’s in Fort Delta auch, aber es war einfach dufte, mal wegzukommen aus dem Stützpunkt. Ich war ja bis vor wenigen Jahren völlig beschränkt auf Delta. Ich war auch nicht wie die andern Kinder in Hallowell in die Schule gegangen, sondern im Stützpunkt: immer kleine Klassen, individuelle Betreuung und die erziehe rische Überwachung, die mein Vater selbst eingeführt hatte. Wegfahren hatte was Befreiendes, andere Gesich ter, andere Straßen, keine Baracken. Im letzten August traf ich Nettie. Sie stand vor dem CVJM mit einem Mäd chen, das Jackie kannte. Ich sah sie, und meine Knie wurden flüssig. Ich ertappte mich dabei, daß ich wie ein Irrer alles mög liche Zeug redete. Und dauernd dieses Glücksgefühl, weil sie mich anschaute und über meine Witze lachte. Ich war der Größte. Ich schaute sie an und wußte, ich war verliebt. Unwiderruflich. Ich ging davon aus, daß nicht nur ich, sondern auch sie verliebt war, wie das eben so sein sollte. 58
Der Bus kam, und sie stieg mit ihrer Freundin ein, und ich sagte: »Wir sehen uns!« Sie lächelte intim (dachte ich), und ich ließ mir ihre Nummer von Jackie geben, um sie anzurufen und einzuladen. Zu einer Verabredung. Ich wußte nicht genau, was ich auf einer Verabredung zu tun hatte, aber das Schicksal würde mich leiten. Drei Tage vor der Entführung rief ich sie an. Beim Wäh len schlug mein Herz wie in einem Liebeslied. Als ich ihre Stimme hörte, zerfloß ich. Ich sagte, wer ich sei. Sie sagte: »Wer?« Ich sagte meinen Namen noch mal und daß wir uns vor dem CVJM getroffen hätten, und sie sagte: »Ach ja.« Sie überließ mir das Reden, sagte nur »Ja« und »Mann!« und »huch«, bis mir die Themen ausgingen. Ich wollte nicht immer nur meine eigene Stimme hören, hatte aber Angst vor der Stille, die mit Sicherheit eintreten würde. Schließlich fragte ich sie, ob sie mit mir ins Kino gehen würde. Pause. Und dann: »Oh, ich glaube nicht.« Diese niederschmetternden Worte und ihre gelangweilte Stimme. Hätte sie nicht lügen können: ›Ich würd’ ja gerne, aber ...‹ Statt dessen gab sie mir das Gefühl, nicht einmal ein Mitglied der menschlichen Rasse zu sein. Ich stotterte noch ein bißchen herum, und sie sagte nichts und ließ mich zappeln, bis ich endlich auflegte. Und jetzt das Furchtbare: ich liebte sie noch immer. Hey, das gibt’s doch nicht. Warum lieb’ ich sie und sie mich nicht? Die Welt war aus dem Gleichgewicht. Tilt. 59
Drei Tage später, ich war immer noch eine Ruine und
war bereit für fünfzig Jahre Agonie, läutete das Telefon.
Es war nicht Nettie. Es war mein Vater. Das war unge wöhnlich. Er rief nie von seinem Büro in Delta an.
»Ben, bist du in Ordnung?« fragte er.
Mein Gott, dachte ich, er weiß es: Nettie Halversham
und meine Agonie.
»Okay«, sagte ich, wie man okay sagt, auch wenn die
Erde unter dir wackelt.
Und dann berichtete er mir von der Busentführung.
Und den Kindern.
Welcher Bus? Was für Kinder? Was hatte ich damit zu
tun?
Dieser Bus: ein orangefarbener Schulbus mit sechzehn
oder achtzehn Kindern aus Hallowell, auf dem Weg zu
einem Sommerlager namens Kris Kringle Camp am
Rande der Stadt. Die Entführer waren unbekannt, min destens drei, vielleicht mehr. Der Bus stand auf einer
ausgedienten Eisenbahnbrücke in einer Waldgegend
auf der Linie Hallowell–Crenshaw. Ein Lieferwagen
war an der Entführung beteiligt. Er stand jetzt auch auf
der Brücke.
Die erste Nachricht brachte ein zehnjähriger Junge in
die Polizeistation von Hallowell. Ein Mann hatte ihm
einen Dollar gegeben, damit er den Brief hinbrachte.
Der Junge beschrieb den Mann als etwa vierzig und
ganz schwarz: die Haare, die Kleidung, der Schnurr 60
bart, die Brille. Der Brief war adressiert an Brigade general Rufus L. Briggs, Inner Delta, Fort Delta, Mas sachusetts. Auf dem Umschlag stand: ›Überbringen Sie diesen Brief binnen einer Stunde – es geht um Le ben und Tod.‹ Das war es, was mir mein Vater am Telefon erzählte, obwohl er zu der Zeit noch nicht alle Details wußte. Weil es um Fort Delta und Kinder ging, machte er sich Sorgen um mich. Ich versicherte ihm, ich sei in Ord nung und wollte ihn im übrigen daran erinnern, daß ich nicht mehr fünf war. Aber natürlich meinte er es gut. Ich sagte ihm, daß ich vorhätte, mit Jackie auf dem Ge neral Bradley Ball zu spielen. Er sagte, ich solle mich nicht vom Fleck rühren; ja, er würde jemanden rüberschicken, um mich zu bewachen. »Was ist mit Mom?« fragte ich. Sie war am Morgen nach Boston zum Einkaufen gefahren und wollte am Nachmittag ins Kino gehen. »Ich schicke jemanden nach Boston, um sie zu finden«, sagte mein Vater. »Sieh mal, Ben, das ist vielleicht eine Überreaktion, aber ich will einfach nichts riskieren, denn ...« Das ›denn‹ hing in der Luft. Aber ich wußte, was da nach kommen mußte. Denn Fort Delta war in die Sache verwickelt, und das hieß möglicherweise: die geheime Arbeit meines Vaters. »Aber was wollen die Entführer, Dad?« »Wir wissen es noch nicht, Ben. Sie haben uns nur wis 61
sen lassen, daß wir weitere Nachrichten abwarten sol len.« Mir wurde klar, daß mir mein Vater noch nie so viel über irgend etwas erzählt hatte. Oh, wir redeten über Sport und meine Noten und so, aber nie über ihn. »Also bleib im Haus, Ben. Ich weiß, das ist hart, aber wir dürfen kein Risiko eingehen mit solchen Leu ten.« »Okay«, sagte ich. »Da ist noch was. Wer ist General Briggs? Ich hab’ nie was von ihm gehört.« Ich hörte, wie er Luft holte, und dann Stille in der Lei tung. Und ich dachte: Mein Gott, General Briggs ist er, mein Vater, sein wieheißtdasgleich, Deckname, ver dammt. »Ich kann nicht mehr sagen im Augenblick, Ben«, sagte mein Vater. »Also bleib zu Hause und mach dir keine Sorgen.« Ich hängte ein. Der Hörer war feucht von meinem Schweiß. Der Bus, die Kinder, die Entführer, und mein Vater hatte einen Decknamen die ganzen Jahre in Delta. Und: Was war Inner Delta? Ich bemerkte, daß ich die letzten drei Minuten nicht an Nettie gedacht hatte. Ein Rekord an diesem Unglücks tag. Komisch. Ich sehe Netties Gesicht nicht mehr. Ist das schon so lange her?
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Aber weil wir gerade von Zeit reden, es ist 11.15 Uhr, und sie sind überfällig. Meine Eltern, mein’ ich. Sie sag ten, sie würden um elf da sein. Zur Burg fährt man drei Stunden von Delta aus. Vielleicht hat mein Vater seine Meinung geändert und will nun doch nicht kommen. Vielleicht hoffe ich das. Denn sonst muß ich ihm ge genübersitzen und ihm in die Augen sehen. Und das kann ich nicht. Noch nicht, noch nicht. Von meinem Schreibplatz aus kann ich über den Hof sehen. Zwischen der Hunter Hall und Old Ivy kommen die Besucher durch, die zu den Schlafsälen oder zu den Klubräumen wollen. Ich halte nach meinen Eltern Ausschau. Die Schnee ballschlacht ist vorbei, der Hof leer. Ich tippe ganz langsam, Wort für Wort, und zwischen den Wörtern, zwischen den Buchstaben warte ich darauf, daß sie auf tauchen, daß er auftaucht. Ich hoffe, er taucht auf. Und ich hoffe, er tut’s nicht. Und dann denke ich, er ist schon hier in diesem Zim mer, er beobachtet mich und wartet. Mein Vater, das Phantom.
63
4
Miro haßte das Warten. Auf Flughäfen, in Busbahnhö fen, in all diesen kleinen vollgepferchten Räumen. Oder damals in Detroit, als sie in der Hotelhalle fest saßen und neun Stunden warteten, festgenagelt, ohne Essen und Trinken, einen Revolver in der Hand, bis er ein Teil von ihm geworden war, wie ein Splitter im Fleisch ein Teil von dir werden kann, in dem der Schmerz pulsiert. Wenigstens tat ihm nichts weh in die sem Bus, obwohl es ungemütlich war. Die Hitze be gann sich aufzustauen, und ein Fenster konnte man natürlich nicht aufmachen. Die Kinder waren immer noch im Tran, aber unruhig, schrien manchmal auf, und das Mädchen konnte sie nicht beruhigen. Wenn die Kinder dann wieder ruhig waren, saß das Mädchen im Fahrersitz und hielt sich am Lenkrad fest, während sie ins Leere starrte. Der Schock, ohne Zweifel. Miro war froh, daß es Befehle und Aufgaben zu erfüllen gab. Seine erste Aufgabe war es, die Plastikverschlüsse an den Fenstern anzubringen, so daß man sie nur noch mit großer Mühe öffnen konnte. Dann das Verdun keln. Miro hatte an jedem Fenster Klebeband ange 64
bracht, das nur einen dünnen Schlitz freiließ. So konn ten sie nach draußen schauen, ohne gesehen zu wer den. Sie waren in der Lage, das Gebäude jenseits der etwa tausend Fuß breiten Schlucht im Auge zu behal ten, wo laut Artkin Militär und Polizei ihr Hauptquar tier aufschlagen würden. Sie konnten auch den Wald zu beiden Seiten im Auge behalten, wegen der Scharf schützen. Miro arbeitete ruhig und sorgfältig. Er mußte über die Kinder steigen, die ihm neugierig, aber irgendwie un beteiligt zuschauten, als säßen sie vor dem Fernseher. Die Drogen, dachte Miro. Oder vielleicht sind ameri kanische Kinder schon vom Fernsehen selbst ge dopt. Beim letzten Fenster zupfte jemand an seiner Hose. Ein blonder Junge sah zu ihm hoch und lächelte. Er schien keine Angst vor der Maske zu haben. Zwei Schneidezähne fehlten ihm und ließen ihn wie ein Clown aussehen. Miro fuhr in seiner Arbeit fort. Die Kinder bedeuteten ihm nichts. Alle gleich. Kleine Menschen, die ihn nicht interessierten. Er hatte nie mit Kindern gespielt, früher. Er hatte nur seinen Bru der gehabt, Aniel. Aniel war zwei Jahre älter als er. Eine Kindheit hatten sie eigentlich beide nicht. Sie hatten sich mit Klauen am Leben gehalten im Flücht lingslager, Aniel war Meister im Organisieren. Er schwärmte am Morgen aus unter die Tausende, die ka men und gingen im Lager, und kam dann mit Essens 65
resten oder was zum Anziehen zurück. Erbettelt oder gestohlen. Einmal hatte ihn Aniel einen kleinen hölzer nen Gegenstand mitgebracht. Orangefarben. Ein Tier. »Was ist das?« hatte Miro gefragt. »Ein Spielzeug«, hatte Aniel geantwortet. Das Wort bedeutete Miro nichts. Er erkannte einen Elefanten. Irgendwie fesselte ihn der kleine Gegen stand. Er konnte sich vorstellen, wie der Elefant durch die Wüste trabte, und er ritt auf ihm, und böse Men schen waren hinter ihm her. Und dann wachte er eines Morgens auf, und der Elefant war weg. Sie suchten ihn vergeblich. Als Miro in der verlassenen Unterkunft ein geschlafen war, hatte der Elefant neben seinem Kopf gestanden, auf dem dreckigen Boden. Jemand mußte ihn gestohlen haben in der Nacht. Vielleicht einer von den Leuten, mit denen sie eine Weile die Unterkunft geteilt hatten. Miro hatte die Erklärung akzeptiert, ohne zu klagen. Stehlen war normal. Aber mit der Zeit reifte eine Über zeugung in ihm heran: häng nicht dein Herz an etwas, versuch nicht, irgendwas zu besitzen, freu dich an nichts. Früher oder später wird dir’s einer wegnehmen, wie du anderen etwas wegnimmst. Vorsichtig ging Miro nach hinten. Er wollte die Kinder nicht aufwecken. Er wollte mit niemandem in Bezie hung treten, auch nicht mit dem Mädchen. Alles, was er wollte, war Befehle ausführen und diese Operation er 66
ledigen. Die Operation beunruhigte ihn. Und er war nicht sicher, warum. War es, weil Artkin diesmal so geheimnisvoll tat? Artkin, der es liebte, über Pläne zu reden, hatte sie nur bis zu diesem Punkt eingeweiht. Entführung des Busses, Tötung des Fahrers, Betäu bung der Kinder, die Schlösser um den Bus sichern und die Verdunkelung, aber nicht darüber, wie es wei tergehen sollte. »Wenn wir auf der Brücke sind, wer den wir warten«, hatte Artkin bloß gesagt. »Wir müs sen geduldig sein. Aber unsere Geduld wird belohnt werden.« Artkin war jetzt im Lieferwagen mit Stroll und An tibbe. Legt er ihnen die Pläne dar und schließt mich aus? Miro schämte sich sofort seiner Eifersucht. Er war schon vorher eifersüchtig, bloß weil er immer der Jüngste war, der nicht Eingeweihte. Die Tötung des Fahrers heute sollte seine Mannwerdung anzeigen, seine endgültige Aufnahme in die Bruderschaft der Soldaten der Freiheit. Er betrachtete jetzt das Mäd chen mit Wut. Er ärgerte sich auch über das tote Kind, das hier auf dem Rücksitz lag, während er wartete, bis Artkin entschied, was mit ihm zu tun war. Genau darum mochte Miro nicht warten. Es ließ ihm zuviel Zeit zum Nachdenken. Zum Beispiel über das Mädchen. Er hatte versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln, wie Artkin es befohlen hatte, aber sie war nicht gesprächig. Ahnte sie, daß sie tot sein würde, ehe dieses Unternehmen vorbei war? Hatte sie Artkins Lü 67
gen durchschaut, obwohl er so gekonnt log? Belügt Artkin mich auch? dachte er plötzlich. Er schüttelte den Kopf, als könnte er so den bösen Ge danken loswerden. Er schaute durch einen der Fensterschlitze. Draußen war alles friedlich. Der Bus war so hoch, daß man über das Geländer der Brücke sehen konnte. Das Geländer würde sie schützen auf dem Weg vom Bus zum Lieferwagen. Das Gebäude jenseits der Schlucht war immer noch verlassen, keine Bewegung. Er suchte nach einem Blinken von Scharfschützenge wehren in den Wäldern, aber er sah nur Zweige, dicht im Sommerlaub. Ein Vogel schrie über ihnen. Er kannte ihn nicht. Da hörte er einen Helikopter, und sein Atem ging plötzlich aufgeregt. Das Geräusch wurde lauter. Er spürte das Blut in seinen Adern pulsieren, sein Herz klopfte schnell. Der Helikopter dröhnte jetzt so gewal tig, daß Miro dachte, er stehe unmittelbar über dem Bus und hülle den ganzen Bus in sein Dröhnen ein. Das Warten war wenigstens vorbei. Jetzt konnte es losgehen. Als Kate den Helikopter hörte, saß sie niedergeschla gen im Fahrersitz, das Lenkrad unnützerweise um klammert, unfähig, noch länger die Kinder anzusehen oder diesen Jungen Miro. Sie wußte, daß sie hilflos war. Sie wußte es von dem Augenblick an, als sie ihre Mas ken aufsetzten. Es machte sie krank, verursachte ihr 68
Brechreiz. Sie würde sie überall wiedererkennen, sie identifizieren bei polizeilichen Gegenüberstellungen, die sie aus dem Fernsehen kannte. Die Kinder bedeu teten vielleicht keine Gefahr für die Entführer. Die Aussage von Fünf- oder Sechsjährigen würde mög licherweise vor Gericht nicht zählen. Aber Kate war klar, daß man sie nicht gehen lassen konnte. Um den Gedanken und der wachsenden Panik zu ent kommen, war sie zu den Kindern gegangen, hatte ihr Haar gestreichelt oder ihre Wangen getätschelt und hatte mit denen gesprochen, die nicht schliefen. Die meisten waren nach wie vor halb gelähmt. Ab und zu regte sich ein Kind, setzte sich auf und schaute fragend umher. Ein dünner Junge mit Sommersprossen und sa frangelben Haaren zupfte sie am Ärmel. Gähnend fragte er: »Wann sind wir im Lager?« »Bald«, sagte sie. »Sehr bald.« Er lächelte sie an und verfiel in eine Art Halbschlaf mit flatternden Augenlidern. Ein Mädchen, so blond und blauäugig, wie sie in ›Das schönste Baby‹–Wettbewerben gewinnen, sah zu ihr hoch. Ihr Kinn zitterte, Tränen liefen ihr über die Wan gen. »Was ist los?« fragte Kate sanft. »Ich hab’ meinen Schnuckel vergessen«, sagte das Kind. »Wer ist Schnuckel?« »Schnuckel is’ mein Schraff.« Sie wischte sich mit ihren kleinen zitternden Händen die Tränen ab. 69
»Dein was?« fragte Kate. Sie wußte, daß der Junge Miro sie aus ein paar Schritt Entfernung beobachtete, während er die Fenster zuklebte. »Mein Schraff«, sagte das Kind schniefend. »Ich möcht’ mein Schraff.« »Sie meint ihre Giraffe«, sagte der Junge, der zusam mengesunken neben dem Mädchen hockte. Er schien fest zu schlafen. Seine Augen waren geschlossen, wäh rend er sprach. Er war ein dickes Kind, dicke Backen, dicker Bauch. »Sie hat immer ihre Giraffe dabei, aber heute hat sie sie vergessen«, sagte der Junge. Ihr Gesicht hellte sich auf. »Du kennst meinen Schnuk kel, Raymond?« fragte sie. »Natürlich«, antwortete er. Seine Stimme war tief, als käme sie von ganz weit unten aus seinem Körper. Er öffnete ein Auge und sah zuerst das Mädchen an, dann Kate. Das Auge war hell und frech und aufgeweckt. Nicht wie unter Drogen. Dann machte er das Auge wieder zu. Kate sah ihn an. Sie hatte das Gefühl, daß er dort saß, wach und aufmerksam, und wartete. »Können wir zurückfahren und Schnuckel holen?« fragte das Mädchen. »Vielleicht später«, sagte Kate. Und um das Thema zu wechseln: »Wie heißt du?« »Monique«, antwortete das Kind gähnend und rieb sich die Augen, während sein Kopf langsam zur Seite glitt. Miro hatte seinen Platz verlassen und kam auf sie zu. 70
Die Maske betonte Augen und Lippen. Sie sahen alle gleich aus in den Masken. Seine Lippen waren zuerst ganz sinnlich gewesen, jetzt waren sie bloß noch groß und dick. Seine Augen waren größer geworden: hart und dunkel und durchdringend. »Sie mögen die Maske nicht?« fragte Miro. »Sie sehen widerlich aus«, sagte Kate. Sie versuchte ih rer Stimme Nachdruck zu geben in der Hoffnung, da durch ihre Furcht verbergen zu können. Miro zog sich in sich zurück. Furcht und Schrecken wa ren ihm schon begegnet im Zusammenhang mit dieser Maske, aber noch nie so ein Haß, wie er sich auf dem Gesicht des Mädchens spiegelte. »Wir werden die Masken nicht die ganze Zeit tragen«, sagte er. Er stolperte ein bißchen über die Worte. Er war unsicher, wie das weitergehen solle. Er wollte dem Befehl folgen, ihr Vertrauen gewinnen, aber er wußte nicht, wie er diesen Haß verschwinden machen sollte. »Wir werden die Masken nur außerhalb des Busses tra gen. Wir haben ja die Fenster verklebt. Und sie könnten ja die Kinder durcheinanderbringen.« Kate wandte sich ab. Ihr Blick fiel auf das tote Kind, das sie auf den Rücksitz gelegt hatten. Der Körper war zu gedeckt mit einem Stück gebleichtem Leinen, das Art kin aus dem Lieferwagen geholt hatte. Die Füße des Kindes schauten unter dem Tuch hervor: winzige, grüne Turnschuhe, fast neu, weiße Schuhbänder mit ordentlichen Schleifen, hellgrüne Söckchen, die herun 71
tergerutscht waren. Armer Kevin McMann. Das war der Name des Jungen. Sie hatten ihr erlaubt, den Jun gen zu durchsuchen. Dabei hatte sie eine abgegriffene Karte gefunden, die ihn als Mitglied im Onkel-Otto Teevau-Club auswies. Sie wollte davonlaufen vor dem Anblick dieses Jungen, vor diesem Bus, dieser Brücke. Sie fühlte, wie die Panik wieder hochstieg in ihr, und sie konnte sie nicht stop pen. Sie zwang sich, wenigstens nach außen hin ruhig zu erscheinen, ging nach vorne und sank in ihren Sitz. Die Sonne brach durch den Schlitz in der Windschutz scheibe und tat ihren Augen weh. Ich werde nicht heu len, sagte sie sich. Ich werde nicht heulen. Eigentlich erinnerte sie sich gar nicht mehr, wann sie zum letztenmal geweint hatte. Kann sein als Kind, als kleine Katie Forrester, die ihre Mutter mit Bändern und Spitzen behängt hatte wie einen Filmstar. Das war ihre erste Verkleidung gewesen, die erste von vielen. Sie dachte oft darüber nach, wo ihre Verkleidungen auf hörten und die richtige Kate Forrester anfing. Sie war blond, hellhäutig, schlank, ohne Gewichtsprobleme und hatte es fertiggebracht, keine Pickel zu bekommen: das war die offensichtlichste, von der Natur verliehene Verkleidung. Ein gesunder Körper mit dieser einen Ausnahme: der schwachen Blase. Das war Verkleidung Nummer eins: Kate Forrester, gesundes, junges, ame rikanisches Mädchen, Ballkönigin, Sprecherin des 72
Mädchen-Schwimm-Teams und vielversprechende Schauspielerin in der Theatergruppe. Aber es gab noch andere Kate Forresters. Die Kate Forrester, die plötz lich um vier Uhr morgens aufwachte und aus unerfind lichen Gründen nicht wieder einschlafen konnte. Die Kate Forrester, die kein Blut sehen konnte. Und die Kate Forrester, die Angst vor der Achterbahn hatte und sich in aufregenden Augenblicken naß machte. Viel leicht ließ sie sich deshalb von den Jungs nicht anfassen und hielt sie nur mit Witz und Charme bei der Stange. Waren andere Leute auch so, nicht bloß eine Person, sondern mehrere, zusammengemixt? Kam die eigent liche Person dann irgendwann heraus? Aber stell dir vor, diese Person würde sich als Scheusal entpuppen? Oder als jemand, den keiner mag? War es nicht das, worum es im Leben ging – ein Suchen nach Liebe? Sie wollte jemanden finden, den sie immer lieben konnte. Aber wen? Ihre wenigen Kinderlieben waren ebenso schnell vergangen, wie sie gekommen waren. Verdiente sie Liebe? War sie gut genug? Diese Frage brachte eine weitere Verkleidung an die Oberfläche. Kate, die Drahtzieherin. Die Menschen benutzte für, oh, tau send Dinge. Von Mr. Kelliher glatte Einser in Mathe zu bekommen, ohne einen Finger krumm zu machen, bloß weil sie wußte, wie man ihn anlächeln, Interesse heu cheln oder sich frech mit ihrer Brust an seinen Arm lehnen mußte. Oder sie umschmeichelte den Leiter der 73
Theatergruppe so lange, bis er ihr die Hauptrolle in »Unsere kleine Stadt« gab. Und das bloß, damit sie die Partnerin von Gene Sherman wurde. Kate war ganz weg gewesen von ihm während der ersten Proben, ver zaubert, hypnotisiert. Bis sie dann bei einer Früh stückspause zusammensaßen – und seine Füße ro chen. Mein Gott, dachte sie später, was will ich denn? Fehler losigkeit? Und was würden ihre Freunde denken, wenn sie die geheimnisvollen Verkleidungen der Kate Forre ster durchschauen könnten? Und dann der Helikopter, das Schwirren der Rotor blätter, das Brüllen des Motors. Es kam näher, erfüllte die Luft, ließ den Bus vibrieren. Sie sprang zur Tür. Sie waren gerettet. Es kam Hilfe. Miro schrie: »Bleiben Sie auf Ihrem Platz, Miss.« Aber sie ignorierte seinen Befehl und trommelte an die Tür. Sie versuchte einen Fuß in den Raum zwischen den beiden Flügeln zu zwängen. Sie mußte da raus und winken, irgendwie die Aufmerksamkeit des Piloten wecken. Und dann tauchte Artkin vor der Tür auf. Mit schnellen, sicheren Griffen öffnete er die Verriegelung und kam herein. »Lassen Sie mich raus!« schrie Kate und wehrte sich, während er sie zum Fahrersitz zurückschob. »Es ist zwecklos, Miss«, sagte Artkin. Er packte sie un sanft an den Schultern, ihre Gesichter berührten sich 74
fast. »Sie werden früher oder später herausfinden, daß Sie hier sind, wenn sie es nicht schon wissen.« Ein hoher Heulton jetzt, über dem Dröhnen des Heli kopters. Eine Polizeisirene. »Hören Sie«, sagte Artkin. »Dieser Helikopter jetzt, und ein Streifenwagen, und dann mehr Helikopter und mehr Streifenwagen. Und Armeejeeps. Dann die Übertragungswagen für Funk und Fernsehen. Das ist nur der Anfang.« Er ließ sie los, und sie mußte sich am Steuerrad festhal ten. Die Kinder begannen zu schreien. ›Mammi‹ und ›Daddy‹ und andere Wörter, die Kate nicht verstehen konnte, Wörter aus dem speziellen kindlichen Schatz von Ausdrücken für alles Schreckliche, das sie jetzt spürten. Sie hatten endlich gemerkt, daß etwas aus dem Lot war in der kleinen sicheren Welt, in der sie noch am Morgen gelebt hatten. Jetzt zeigte ein Kind auf die Maske von Artkin und schrie erschreckt auf. Sein Schreien löste andere Schreie aus, einen Chor aus Schluchzen und Heulen, der mit dem Lärm außerhalb des Busses wetteiferte. »Kümmern Sie sich um die Kinder«, rief Artkin Kate zu. »Das ist Ihre Aufgabe. Wenn Sie das nicht fertig bringen, dann nützen Sie ihnen gar nichts. Und uns auch nicht.« Kates Slip war auf der Haut getrocknet. Die schwache Blase hatte sie nicht im Stich gelassen für eine Stunde oder so. Jetzt sickerte die Feuchtigkeit wieder, und ihre 75
aufgescheuerten Schenkel brannten, als sie den Gang nach hinten zu den Kindern ging. Miro sah durch die Schlitze aus dem Fenster. Erregung strömte durch seine Adern, als er die Szene draußen beobachtete. Sein Herz schlug schneller und pumpte Energie in jeden Teil seines Körpers. Das liebte er: Aktion, Bewegung, daß was passierte. An dem Ge bäude jenseits der Schlucht waren Polizeifahrzeuge mit Blaulicht eingetroffen, die Sirenen wildgewordener Tiere. Zwei Helikopter schraubten sich in den Him mel, Raubvögel, die über der Beute kreisten. Aber wir sind keine Beute, dachte Miro, sie sind’s, alle da drau ßen. Jetzt trafen drei Armeefahrzeuge ein, zwei Jeeps und ein Lastwagen. Drei Mann sprangen aus jedem Jeep, alle in Uniform. Sie rannten gebückt zu dem Ge bäude. Der Lastwagen kam polternd zum Stehen. Un ter dem Verdeck sprang eine Sicherungstruppe hervor und verschwand im Wald. Fünfundzwanzig oder drei ßig geschmeidige und schnelle Soldaten in Tarnklei dung, die sie Teil des Unterholzes werden ließ. Miro wußte, daß das die Scharfschützen waren. So abrupt Lärm und Bewegung gekommen waren, so plötzlich hörten sie auch wieder auf. Die Helikopter drehten ab. Die Sirenen erstarben. Die Stille war plötz lich gewaltig. Sogar die Kinder wurden ruhig. Miro sah das Mädchen zwischen ihnen herumgehen, sanft auf sie einreden und sie beruhigen. Lauter bittende Hände 76
streckten sich nach ihr aus, und sie schien nicht nachzu kommen, wieder Zuversicht unter den Kindern zu ver breiten. Aber das war nicht Miros Problem im Mo ment. Er beobachtete wieder die Szenerie draußen und suchte den Wald nach einer Bewegung ab. Er sah, wie hie und da ein Zweig wackelte. Die Scharfschützen wa ren schon in Position und warteten, warteten. Die Scharfschützen treiben immer dieses Warte-Spiel. Miro machte zwei von ihnen aus. Artkin stellte sich ans nächste Fenster. »Die Scharfschützen sind in Stellung«, sagte Miro. Artkin überflog die Szenerie mit sicherem Blick. »Ich weiß. Ich sehe fünf.« Miro war beschämt. Warum sieht Artkin immer drei oder mehr, wenn ich nur zwei sehe? Werde ich immer der Schüler sein? »Im Augenblick«, sagte Artkin, »stellen die Scharf schützen die größte Gefahr dar. Später müssen wir auf einen Angriff gefaßt sein. Jetzt sind die Scharfschützen ihre potenteste Waffe.« Artkin sprach leise, damit das Mädchen sie nicht belauschen konnte. »Die Scharf schützen haben viel Geduld, zu warten. Und zu zählen. Sie werden zählen, wie viele wir sind. Und sie zählen die Öffnungen, die Stellen, wo sie ein bißchen Haut sehen, ein bißchen Stoff, ein Auge, eine Schläfe, eine Hand. Also sei vorsichtig, Miro. Geh nicht unnötig aus der Deckung. Und sei auf der Hut. Obgleich wir in ge wissem Maße vor den Scharfschützen sicher sind.« 77
»Wieso?« fragte Miro. »Wegen der Botschaft, die wir ihnen geschickt haben. Sie besagt, daß für jeden Schaden, den man einem von uns zufügt, ein Kind sterben wird. Vielleicht glauben sie das jetzt noch nicht. Aber sie werden es glauben.« Er sah sich nach dem toten Körper auf der Rückbank um. »Bald werden sie wissen, wie weit wir zu gehen bereit sind.« Miro runzelte die Stirn. Er hatte eine Frage im Kopf, aber er hatte Angst, sie zu stellen. Er hatte Artkin nie Fragen gestellt, war immer zufrieden gewesen, Befehle zu empfangen. »Beunruhigt dich was, Miro?« fragte Artkin. Und Miro sah sofort, daß er vor Artkin nichts verber gen konnte. »Diese Operation«, sagte Miro und schwieg. Er sah wieder durch den Schlitz, weil er Angst hatte, seine Hartnäckigkeit könnte Artkins Zorn erre gen. »Was ist los mit dieser Operation?« sagte Artkin. Es lag jetzt kein Spott in seiner Stimme. Er sah Artkin nicht an, aber er sprach aus, was ihn plagte. »Diese Operation ist anders als die andern. Die andern – da schlugen wir zu und rannten weg. Die Explosion des Postgebäudes in Brooklyn, der Zusammenstoß in Detroit. Los Angeles. Wir taten, was notwendig war. Aber das hier ist anders.« Er sah weiter aus dem Fen ster, die Worte sprudelten nun aus ihm heraus. Wenn er 78
schon verurteilt werden sollte, weil er zuviel redete, dann wollte er wenigstens alles sagen, was ihm in den Sinn kam. »Wir sitzen auf einer Brücke, eingekreist. Draußen Polizei, Soldaten. Die Scharfschützen.« »Das ist ein Test unserer Ausdauer und Stärke, Miro«, sagte Artkin, immer noch der Lehrer, vernünftig, ge duldig. »Ich gebe zu, daß wir verletzbar erscheinen mö gen. Und daß wir von lauter Gefahren umgeben sind. Der Wald zu beiden Seiten der Brücke ist eine Gefahr. Dort können sie Männer in Stellung bringen, Scharf schützen und andere, mehr noch als Bäume. Und die Brücke selbst. Wir befinden uns wahrscheinlich in hun dertfünfzig Fuß Höhe und müssen mit einem Angriff rechnen von Männern, die an den Pfeilern hochsteigen können. Besonders in der Nacht. Aber wir haben Stroll und Antibbe, die uns in der Nacht bewachen. Dies ist eine Eisenbahnbrücke, Miro, und durch die Zwischen räume zwischen den Schwellen kann man sehen, was unter einem vor sich geht. Wir haben Taschenlampen und Scheinwerfer.« Seine Erklärungen brachten Miro keine Erleichterung. Im Gegenteil, sie bestätigten Miros Bedenken. »Aber vor allem, Miro, haben wir die Kinder. Sie sor gen für das Gleichgewicht der Kräfte. Sollen die Gene räle und Polizeichefs sich in dem Gebäude jenseits der Schlucht zusammenrotten, sollen sie ihr Nachrichtennetz aufbauen. Sie sind machtlos, solange wir die Kin der haben.« 79
Vielleicht hatte Artkin recht. Es hatte nie einen Grund gegeben, an ihm zu zweifeln – warum jetzt? Die Scharf schützen würden keinen Schuß abgeben, solange die Kinder gefährdet waren. Stroll und Antibbe waren Profis, sie verstanden ihr Handwerk. Das Gebäude war mindestens tausend Yards entfernt, während hinter ih nen nichts war als die Tiefe. Trotzdem, Miro machte sich Sorgen. »Wie lange wird es dauern?« fragte er. »Bis die Forderungen erfüllt sind«, sagte Artkin und sah nun wieder durch den Schlitz nach draußen. »Wie lauten die Forderungen?« Miro hörte seine ei gene Frage. Er holte tief Luft dabei, denn er wußte, daß er sich viel herausnahm. Artkin antwortete nicht gleich, sondern sondierte wei ter das Terrain. Ist jetzt mein Schicksal besiegelt? fragte sich Miro. »Du wirst älter, Miro«, sagte Artkin. »Das vergesse ich manchmal.« Er sah Miro an, aber der Junge konnte nicht erkennen, was Artkin dachte. Seine Augen verrie ten wie gewöhnlich nichts. »Ich sollte eigentlich nichts vergessen, aber es passiert mir gelegentlich. Macht dir das Mädchen Schwierigkeiten? Ist das ein Grund für deine Sorgen?« Das war Artkin: einen ungedeckt pak ken, auf dem falschen Fuß erwischen, angreifen, von wo man es am wenigsten erwartete, aus einer Richtung, die man nicht voraussehen konnte. Miro sah auf das Mädchen herunter. Er gab sich ver 80
ächtlich: »Sie macht mir Sorgen, weil sie immer noch lebt. Sie war meine Initiation und hat mich darum be trogen.« »Keine Angst. Du wirst deine Chance bekommen.« Also. Artkin hatte Miros Fragen akzeptiert ohne Zorn und Tadel. Obwohl er sie natürlich nicht beantwortet hatte. Und dann sagte Artkin: »Wenn alles wieder ruhi ger geworden ist, werde ich Antibbe nach dir schicken. Er soll dich zum Lieferwagen bringen. Dann werd’ ich dir die Operation erklären.« Freude durchströmte Miro. Artkin hatte ihn noch nie ins Vertrauen gezogen. Jetzt wollte er Artkin zeigen, wie sehr er die Ehre zu schätzen wußte. Aber er konnte sich nicht so gehenlassen. Nicht während eine Opera tion lief. Im übrigen sagt ein Kämpfer nicht solche Sa chen wie ›Danke‹. Die Kinder begannen wieder zu weinen, eine Ketten reaktion, als wäre Angst ansteckend. »Hilf dem Mädchen, hier Ordnung zu halten«, sagte Artkin, »gewinn ihr Vertrauen. Ich werde den Kindern wieder Beruhigungsmittel geben. So sind sie nicht handhabbar.« Das Geschrei der Kinder hörte nicht auf. »Es ist heiß hier drin durch die geschlossenen Fenster und Türen«, sagte Miro. »Sie werden die Hitze aushalten müssen. Mindestens bis es dunkel wird.« Artkin sah zu dem Mädchen hin. »Meinst du, daß sie brauchbar ist?« 81
»Ja«, sagte Miro. »Für eine Amerikanerin ist sie brauchbar.« Miro überprüfte sein Urteil gleich noch mal. Genaugenommen wußte er ja nicht, ob sie brauch bar war oder nicht. Sie konnte mit den Kindern umge hen, und Miro hatte keine Ahnung, was er mit ihnen alleine anfangen sollte. »Gut. Aber hab ein Auge auf sie. Versuch herauszufin den, was sie denkt. Jeden Augenblick. Sie war nicht ein geplant und stellt deshalb eine Gefahr dar, wie hilflos und unschuldig sie auch immer aussehen mag.« »Ich werde sie keine Minute aus den Augen lassen.« »Gut«, sagte Artkin und berührte Miros Schulter. »Ich verlass’ mich auf dich. Besonders bei dem, was jetzt folgt.« Miro fragte nicht: Was folgt jetzt? Er wollte keine wei teren Fragen riskieren. Artkin sah sich nach dem toten Kind um. »Es ist soweit, Miro. Unsere Zuschauer haben sich versammelt drau ßen. Sie warten. Vorhin ist ein Fernsehübertragungs wagen an dem Gebäude angekommen. Um zu einem Ende zu kommen, müssen wir einen Anfang machen. Jetzt.« Wie eine Antwort begannen die Sirenen wieder zu heu len. Ungeheuerlich. Mehr noch. Es war jenseits ihrer schlimmsten Vorstellungen. Es war – sie suchte nach dem Wort und zögerte, es zu denken: die Hölle. Nichts 82
anderes fiel ihr ein, um zu benennen, was vor ihren Au gen ablief. Und das Furchtbarste war, daß sie nicht weg schauen konnte, wegschauen von Artkin, von Artkin und dem Kind, Artkin in der Maske, das Kind hochge hoben über seinen Kopf wie ein Opferlamm für einen käuflichen Gott. Und das Kind war ja eine Art Opfer. Aber nirgendwo Gnade, nirgendwo auf der Welt. Es hatte vor ein paar Minuten damit angefangen, daß Artkin gemächlich im Bus nach hinten gegangen war und das tote Kind auf die Arme genommen hatte. Sie hatte versucht, die Kinder zu beruhigen, was ihr endlich gelungen war, als sie ihnen erlaubte, die Lunchpakete zu öffnen und zu essen, was immer ihnen ihre Mütter zu rechtgemacht hatten. Sie hätte das Essen lieber noch aufgehoben für später. Aber ihr war klargeworden, daß der Augenblick zählte, nicht die nächste Minute, die nächste Stunde, der nächste Tag. Sie hatte gesehen, wie Artkin die Kinder ansah, als er mit Miro sprach. Sie mußte sie ruhig halten, damit ihnen Artkin keine Dro gen mehr geben würde. Aber wie? Sie hatte wenig Er fahrung mit Kindern. Sie war ein Einzelkind, hatte nie eine Babysitterstelle. Aber sie merkte auch, daß die Kin der ihr halfen, weniger an die eigene Angst zu denken. Da sah sie, wie Artkin den toten Jungen hochhob und ihn wie ein Stück Fleisch über die Schulter warf. Das Leintuch hing herunter und schleifte über den Boden. Artkin verließ den Bus, ohne sie anzusehen. Sie eilte nach vorne und sah durch die Windschutz 83
scheibe. Miro hatte einen kleinen Streifen frei gelassen, so daß Kate den Raum zwischen Bus und Lieferwagen gut einsehen konnte. Artkin stand zwischen den beiden Fahrzeugen am Geländer. Das Kind hielt er an Nacken und Kniekehlen hoch über seinem Kopf. Sein maskier tes Gesicht war zum Himmel erhoben. Und diesem Himmel reichte er das Kind dar. Die Arme des Kindes hingen leblos herunter. Stille legte sich über die Szene, schneller noch als beim ersten Mal. Eine unsichtbare Hand würgte das Ah-uh, Ah-uh der Sirenen mitten im Ton ab. Die Kinder im Bus saßen da wie kleine Roboter, bei denen die Feder abgelaufen war. Artkin begann sich langsam zu drehen, seine Arme aus gestreckt, das Kind hochgehoben, drehte er sich, schneller jetzt, einen Rhythmus stampfend, als würde er zu einer unwiderstehlichen Musik tanzen, die nie mand sonst hörte. Warum erschießen sie ihn nicht? dachte Kate. Schießt doch! »Sie werden ihn nicht erschießen«, sagte Miro. Seine Stimme schallte in ihrem Ohr, obwohl er flüsterte. Er stand ganz nah neben ihr, um auch durch den engen Spalt sehen zu können. Sie sah ihn an, erschrocken. Sie hatte laut gedacht, ohne es zu merken. Jesus, dachte sie, ich verlier’ die Kontrolle über mich. »Ich würde schießen«, sagte sie. Sie mußte ihre Stim me hören, um wieder Boden unter die Füße zu be kommen. »Ich würde ihn von der Brücke pusten.« 84
»Das können sie nicht«, sagte Miro. »Aus unserer Bot schaft wissen sie, daß für jeden von uns ein Kind ster ben muß.« Und Artkin drehte sich weiter. Schneller jetzt, leicht füßig. Und drehte und drehte sich, ein Tanz böser Freude. Die Arme des Kindes schlenkerten wild herum. Kate fürchtete, daß die Fliehkraft Artkin das Kind aus den Händen reißen könnte. Es würde durch die Luft wirbeln und über das Geländer in das Flußbett hinun terstürzen. Aber es war ja tot, natürlich. Dem Kind machte es nichts mehr aus, Gott sei Dank. Es war Art kins Wahnsinn entkommen. »Er ist verrückt«, sagte Kate. »Nein, Miss. Er ist nicht verrückt. Er weiß genau, was er tut. Er zeigt ihnen, daß wir nicht nach den Regeln und Gesetzen anderer funktionieren und daß Leben uns nichts bedeutet. Weder von einem Kind noch von uns selbst.« Kate wollte nicht länger Zeuge des Vorfalls sein. Sie sah weg von Artkins Tanz und hin zu den Kindern. Sie erwiderten ihren Blick ruhig und voll Vertrauen. Schutzlos, arglos, verletzlich. Kate spürte, wie ihr Ver antwortungsgefühl wieder erwachte. »Was da draußen passiert ist, Miss«, sagte Miro, »hätte schlimmer sein können.« »Wie denn?« fragte sie mit kalter Stimme. Ein winziges Zeichen des Widerstandes. »Es hätte schlimmer sein können ...« 85
Kate schrumpfte innerlich, bewahrte aber äußerlich
Haltung. Sie würde sich ihm nicht unterwerfen. Sie
wußte, was der Junge beinahe gesagt hätte: auch du
hättest es sein können.
Als die Kinder ihren Lunch beendet hatten, fingen die
Sirenen wieder an und das Schwirren der Helikopter.
Sie haßte sich dafür, aber sie mußte die Frage stellen:
»Hat er mit seinem verrückten Tanz aufgehört?«
»Es war nicht verrückt, und es war kein Tanz«, sagte
Miro. »Aber ja, es ist vorbei.«
»Was hat er mit dem Kind gemacht?«
»Er gab es zurück«, sagte Miro.
Er ersparte ihr das quälende ›Wie‹.
»Er ließ das Kind an einem Seil auf den Boden der
Schlucht. Schließlich sind wir keine Tiere.«
Doch, das seid ihr, dachte Kate, doch, das seid ihr.
86
5
Mein Vater und ich. Im Duell. Sechs Schuß bei Son nenuntergang in der Westernstadt, und die Schatten fallen lang über die falschen Fassaden der Kulissen straße. Alles Fassade da in Hollywood, genau wie ich, der ich hier an der Schreibmaschine sitze und tippe, nur um meine Finger in Bewegung zu halten und meine Gedanken abzulenken. Sei’s drum. Wir hatten gerade unsere erste Begegnung seit dem Bus, ich und mein Vater. Ich am einen Ende der Straße, er am andern. Jeder wartete, daß der andere zuerst zog. Aber keiner machte eine Bewegung, obwohl ein paar Schüsse abgefeuert wurden. Mein Vater ist rausgegangen. Auf die Toilette am Ende des Korridors. Er muß Tabletten für den Blutdruck nehmen, und es gibt kein Wasser hier im Zimmer. Er sagte auch, er müsse mal eben bei Dekan Albertson reinschauen, wegen einer Vorlesung, die er im Winter halten sollte. Außerdem wollte er meine Mutter, seine Frau anrufen, um ihr zu sagen, daß er rechtzeitig hier angekommen sei. 87
Alles Vorwände natürlich. In Wirklichkeit wollte er nur hier raus, weg von dieser Person, die durch einen Ge burtsunfall sein Sohn ist. Ich kann’s ihm nicht verdenken. Ich sollte auch machen, daß ich hier rauskomme, und meinen Bußgang zu Brimmler’s Bridge antreten. Aber ich werde auf ihn warten, mein Wort halten, meinen Vater ehren. Außerdem, ich möchte nichts Übereiltes tun so kurz nach unserm Wiedersehen. Er könnte sich Vorwürfe machen und fragen: Hab’ ich was Falsches gesagt oder getan? Also warte ich. Wieder die Sternchen. Die Zeit vergeht langsam, in die Länge gezogen wie eine Uhr von Dalí. Aber das hat auch sein Gutes, so kann ich mich wieder einkriegen. Da, so ist es besser. Meine Hand hat zu zit tern aufgehört. Lassen Sie mich erzählen, wie ich meinen Vater zum erstenmal sah, als er heute endlich ankam. Es war genau 11.25 Uhr, als ich ihn auf dem Hof auftauchen sah. Meine Mutter war nicht dabei. Ich erkannte ihn nicht sofort, obwohl er so aussah wie immer. Aber er hatte etwas an sich, das so unerwartet war, daß ich es nicht gleich benennen konnte. 88
Ein unmerkliches Zögern. Und etwas Zerbrechliches. Sein Gesicht: ausdruckslos. Als ich ihn so über den Hof kommen sah, dachte ich: Da siehst du, was du ihm auf der Brücke angetan hast. Meine Mutter hatte recht, er sah schrecklich aus. Aus gemergelt, Abraham Lincoln, aber nicht so groß und ohne Bart. Ich empfing ihn an der Tür, und wir schüt telten uns die Hand, fest, aber verlegen. Wir haben uns wahrscheinlich kaum ein halbes Dutzend Mal die Hand geschüttelt in unserem Leben. »Ben«, sagte er und sah sofort weg und machte Be merkungen über Größe und Geräumigkeit des Zim mers, und ich bewunderte ihn, weil er so viel Herzlich keit in seine Stimme gelegt hatte. Mein Vater, der Schauspieler. Schließlich drehte er sich um und sah mich an. Sah mich richtig an. Ich überlegte, was er zu sehen hoffte – das Kind, das ich einmal war vor langer Zeit, unschul dig und makellos? Oder sah er mich als den Versager in der Jugend-Baseball-Liga? Oder sah er mich so, wie ich war im letzten Sommer vor dem Verrat auf der Brücke? »Also«, sagte er und trat zurück und musterte mich noch immer. »Ich sehe, du hast Gewicht zugelegt und ich ein bißchen verloren.« »Gute Verpflegung hier«, sagte ich automatisch, ob wohl ich kein Gramm zugenommen hatte. Und dann 89
merkte ich, daß es eine jener Unterhaltungen werden würde, bei denen man ständig nach Interpretationen, nach versteckten Botschaften, nach Doppeldeutigkei ten suchte und auf die Bedeutung eines Tonfalles lau erte. Und ich sagte mir: Geduld, steh das durch, spiel mit, spiel die Rolle des pflichtbewußten Sohnes, über laß ihm die Gesprächsführung und versuch, ihn nicht wieder zu verletzen. Ich mußte jetzt was sagen, weil sich plötzlich ein Schweigen im Raum ausbreitete, das mir den Atem nahm. Also begann mein Mund zu arbeiten, und die Wörter sprudelten heraus wie an dem Tag, als ich Net tie Halversham traf, und ich redete ununterbrochen über die Burg und die Jungs und Elliott Martingale und die Kurse und, Jesus, ich dachte, irgendwer muß mich jetzt unterbrechen, sonst geht mir die Luft aus und ich falle ihm ohnmächtig vor die Füße. Am Ende wollte ich nur noch sein schreckliches Starren zerstören, das ich mir nicht erklären konnte. Und aus mir heraus brach die Frage, die mich Tag und Nacht verfolgt hatte seit jenem August. »Wurde Inner Delta gerettet, Dad?« Es stand nichts darüber in der Zeitung, und fragen konnte ich keinen, außer meinen Vater. Ich hatte nie vom Inner Delta gehört vor der Entführung und da nach auch nicht mehr. »Es wurde gerettet, Ben«, sagte er. »Oh, es ist einiges kaputtgemacht worden natürlich. Die Schwierigkeit bei einem Unternehmen wie Inner Delta ist, daß es ab 90
solute Geheimhaltung erfordert, und darauf hatten es die Entführer abgesehen – sie wollten es an die Öffent lichkeit zerren und damit bedeutungslos machen. Au ßerdem wollten sie ihre anderen Forderungen erfüllt sehen.« Seine Stimme verlor sich. Ich wußte, wie schwer es für ihn war, über Dinge zu reden, über die er sich verpflichtet hatte zu schweigen. Zum erstenmal hatte er mich über Inner Delta aufge klärt an dem Nachmittag der Entführung. Er kam nach Hause nach dem Lunch und schickte den Bewacher nach draußen. Ich hatte gerade ein Thunfischsandwich gegessen – es schmeckte nach nichts, weil Nettie Hal versham meiner ganzen Welt den Geschmack genom men hatte – und wollte ihm auch eins machen. Aber er hatte keine Zeit zum Essen. Er wollte mit mir reden. »Hast du Mom erreicht?« fragte ich. »Ja, in Boston. Sie bleibt bei Sarah Thompson in We ston.« Er zögerte. »Wir rechnen mit möglichen Bom benanschlägen auf den Zufahrtswegen nach Delta, und ich will nicht, daß sie diese Straßen benutzt. Sie ist sicherer bei Sarah.« Sarah war eine alte Schulfreundin von Mutter, und Weston ist ein Vorort von Boston. Allmählich begriff ich, was da für ein Drama um mich herum ablief. Das Radio gab sich wortkarg und unter brach die Musiksendungen nur mit kurzen, nichtssagen 91
den Bulletins über die Entführung. Aber als ich meinen Vater so nervös und bleich vor mir sah, wie er von mög lichen Explosionen sprach und sich um die Sicherheit meiner Mutter sorgte, da bekamen die Ereignisse plötz lich Bedeutung in meinem Leben. Zum erstenmal in meinem Leben war mein Vater nicht mein Vater, son dern General Rufus Briggs ... Er sagte: »Ich werde dich einweihen, Ben, und dir soviel wie möglich erklären von dem, was hier vorgeht. Wie du weißt, halten ein paar noch nicht identifizierte Männer einen Bus voll Kinder als Geiseln fest. Die Entführung passierte heute morgen um neun. Inzwischen liegen ihre Forderungen vor. Sie stehen in einem Brief, den ein pri vater Zustelldienst aus Boston überbrachte.« »Was wollen sie, Dad?« »Sie haben drei Forderungen gestellt«, sagte er. »Num mer eins: Sie fordern die Freilassung von fünfzehn so genannten politischen Gefangenen, die verschieden lange Haftstrafen in diesem Land verbüßen. Zweitens wollen sie zehn Millionen Dollar in bar. Drittens wol len sie die Offenlegung von dem, was einigen Leuten als Inner Delta bekannt ist. Mit Offenlegung meinen sie die öffentliche Bestätigung seiner Existenz, die Enttar nung seiner Agenten rund um die Welt und den Ab bruch ihrer Arbeit.« Er machte eine Pause, seufzte und rieb sich den Nacken, als wollte er eine Verspannung lösen. Ich wagte nicht zu atmen. Oder mich zu bewegen. Ich 92
hatte das Gefühl, daß er meine Anwesenheit vergessen hatte, aber sofort abbrechen und nach Inner Delta zurückkehren würde, wenn ich mich bemerkbar machte. »Wir haben Zeit bis morgen früh um neun, um die Forderungen zu erfüllen. Oder, so sagen sie, die Kin der werden sterben, eins nach dem andern. Ich erzähle dir keine großen Geheimnisse, Ben. Das meiste davon wird heute noch in den Nachrichten kommen. Wir versuchen einen großen Medienzirkus zu verhindern, aber wir können nicht alles unter Verschluß halten.« »Kannst du die Forderungen erfüllen, Dad?« fragte ich. »Nummer eins und zwei sind praktisch kein Problem. Das Problem ist Nummer drei. Inner Delta. Ich kann dir nicht sagen, was Inner Delta ist, ich kann nur sa gen, daß seine Arbeit geheim, hoch spezialisiert und wichtig für die Verteidigung des Landes ist. Ich hab’ ihm mein Leben verschrieben. Und im Grunde auch das von dir und deiner Mutter, indem ich euch nach Delta gebracht habe. Die Offenlegung von Inner Delta ist der eigentliche Grund für die Entführung. Die Freilassung der Gefangenen und das Lösegeld sind Ablenkungsmanöver. Worum es hier geht, ist In ner Delta.« Ich holte tief Luft und fühlte mich ein bißchen be nommen, schwindelig, wie unter einer Glasglocke. Ich erwog die eine Frage, die ich meinem Vater stellen 93
wollte: Bist du General Briggs? Aber ich wagte es nicht. Mein Vater sah mich nun direkt an. Er schien entspann ter. Er sagte: »Jetzt weißt du es, Ben. Ich wollte, daß du die Wahrheit erfährst. Es wird ein Haufen Zeug über die Medien gebracht werden. Vieles davon wird falsch dargestellt sein. Einiges werden wir dementieren. Wir müssen Inner Delta beschützen. Und das bedeutet, einige Informationen zurückzuhalten oder zu tarnen. Aber ich will nicht, daß dich irgendeine Nachricht ver wirrt. Du kennst die den Fall betreffenden Fakten. Ich möchte dir versichern, daß deine Mutter sicher ist und du auch. Aber wir müssen auf Nummer Sicher gehen, Ben.« Aber eine Frage mußte ich noch stellen: »Werdet ihr die Forderungen erfüllen, Dad?« Einen endlosen Augenblick antwortete er nicht und sah plötzlich sehr müde aus. »Wir müssen abwarten, bis die offizielle Taktik bekanntgegeben wird«, sagte er. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß wir die Forderungen der Entführer erfüllen. Das wäre ein Präzedenzfall, der eine Masse von weiteren Entführungen zur Folge hätte wie in andern Ländern.« Er schüttelte den Kopf. »Aber was passiert, wenn ihr nicht nachgebt?« fragte ich. Ich dachte an die Kinder im Bus und all die Entfüh rungen in der Welt, bei denen unschuldige Menschen, auch Kinder, starben. »Wir sind nicht ganz machtlos, Ben«, sagte er. »Wir 94
haben eines der größten Ermittlungsverfahren in der Geschichte des Landes eingeleitet. Tausende von Voll zugsbeamten auf allen Ebenen sind daran beteiligt. Wir haben Anhaltspunkte – die Methode, nach der die Entführer vorgegangen sind. Wir haben Beobachter draußen, die uns Informationen geben können. Wir haben ein nationales Zentrum, in dem alle Nachrich ten zusammenlaufen und koordiniert werden. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, aber wir haben schon Fort schritte gemacht. Inzwischen müssen wir den Aus tausch vorbereiten oder wenigstens so tun, als würden wir auf den Handel eingehen. Und es gibt andere Möglichkeiten, auf die ich jetzt nicht eingehen kann. Wie auch immer, wir gehen davon aus, daß wir die Forderungen nicht erfüllen müssen und die Kinder ge rettet werden.« Dann stand er auf, langsam, wie unter Schmerzen, so als erhebe sein eigener Körper Forderungen, die er nur schwer erfüllen konnte. Er stöhnte wieder. »Ein Kind ist schon tot, Ben.« »Sie haben es umgebracht?« fragte ich wie betäubt. »Wir sind noch nicht sicher. Einer der Entführer seilte den Körper von der Brücke ab. Nachdem er einen ver rückten Tanz mit dem Kind auf seinen Armen aufge führt hatte.« »Der Entführer war klar zu sehen, warum hat man ihn nicht erschossen?« »Ihre Botschaft besagt, daß für jeden von ihnen ein 95
Kind sterben wird. Wir können kein Risiko eingehen, Ben. Und wir sind uns nicht sicher über den Tod des Kindes. Sein Körper wies keinerlei Einwirkung von Gewalt auf. Möglicherweise sind Drogen im Spiel. Man testet das gerade. Aber Tatsache bleibt, daß ein Kind bereits tot ist. Und es sind noch fünfzehn andere im Bus, plus das Mädchen, das den Bus fuhr.« Er kam auf mich zu und legte mir den Arm um die Schulter. Er hatte mich seit Jahren nicht berührt. »Ich muß zurück«, sagte er. »Aber ich bleib’ in Verbindung mit dir. Deine Mutter wird dich später auch anrufen. Wir errichten spezielle Telefon Verbindungen. Aber bleib im Haus, Ben. Und hab Geduld. Okay?« »Okay.« Halt, Pause! Wo bin ich? Wer bin ich? Eine Minute, während ich hier wie verrückt tippe, war ich zu Hause an diesem Nachmittag der Entführung. Mit meinem Vater. Aber jetzt bin ich wieder hier, und der Rücken tut mir weh vom Schreiben. Er ist schon länger als eine halbe Stunde weg. Länger, als er hier war, um mit mir zu sprechen. War er über haupt hier? Er hat nicht viel geredet. Und angesehen hat er mich auch kaum, kurze Blicke ab und zu, wenn er glaubte, ich würde es nicht merken. Und unser Ge spräch war ein Reinfall. O ja, er hat mir erzählt, daß Inner Delta gerettet wurde, aber mehr Informationen 96
ließ er nicht raus. Die alte Geheimniskrämerei. Wir sind wieder da, wo wir angefangen haben. Ich hab’ ihn gefragt, warum ihn meine Mutter, seine Frau, nicht begleitet habe. Er sagte, sie hätte einen An flug von Grippe, nichts Ernstes, aber sie wollte die lange Fahrt lieber nicht machen. Sie würde mich anru fen. Er wollte über Nacht bleiben im Pompey Inn. Viel leicht daß wir dort zusammen essen könnten. Er redete über die Schule, daß die alten, glücklichen Tage vorbei seien und sich alles verändert hätte. So sei das Leben, alles ändere sich. Ich sagte nichts, hörte zu, gespannt, wie lange er es aushalten würde, mich nicht anzu schauen. Er schaute überall hin, nur nicht zu mir. War ich überhaupt da? Und wenn er mich endlich doch an schaut, was wird er sehen? Schließlich fand er Ausreden und floh aus dem Zim mer. Jetzt sehe ich ihn. Er und Dekan Albertson gehen über den Hof. Sie trennen sich. Mein Vater winkt. Dekan Albertson trägt eine Weihnachtsgirlande. Ich hab’ Weihnachten ganz vergessen. Ist das nicht der Feiertag, an dem die Katholiken zur Beichte gehen müssen? Viel leicht ist es das, was ich brauche. Eine Beichte. Denn nach der Beichte kommt die Vergebung, oder? Und doch weiß ich, daß es nichts zu bekennen gibt. Er weiß, was ich getan habe. Auf der Brücke. Aber um Verge bung muß ich noch bitten. Wird er mir vergeben? 97
Er ist jetzt auf dem Weg hierher.
Ich weiß es. Ich spüre, daß er kommt.
Und jetzt möchte ich abhauen, raus hier und weg.
Mich verkriechen.
Aber wo?
98
6
»Die Toilette«, sagte Kate. »Was ist mit der Toilette?« fragte Miro. »Die Kinder. Eins von ihnen muß aufs Klo. Und das bedeutet, daß wahrscheinlich bald alle gehen müs sen.« »Es gibt keine Toilette«, sagte Miro. »Sie können nicht gehen. Das ist ein Bus.« »Sagen Sie ihnen das. Sie können Kinder nicht davon abhalten, aufs Klo zu gehen«, sagte Kate und genoß die kleine Geste des Widerstandes. Miro war verärgert. Zum erstenmal trug er Verantwor tung, und dann konfrontierte man ihn mit so einem Problem. Ein törichtes Problem. Er war trainiert, sich zusammenzunehmen. Er sah die Kinder verächtlich an. Er wollte Artkin nicht mit so einem Problem kommen. Er hätte sich zum Narren gemacht. »Also, was gedenken Sie zu tun?« fragte Kate und ge noß Miros Unbehagen. Miro wandte sich an die Kinder. »Wer muß ...« Er ge stikulierte, um den Satz zu vervollständigen. Er haßte diese rohen und gemeinen Wörter der Amerikaner. Die 99
Kinder starrten ihn verständnislos an. »Wer muß auf die Toilette?« Ein Mädchen hob die Hand. »Ich muß.« Eine zweite Hand ging hoch. Und noch eine. »Sie können hier nicht gehen«, sagte Miro wütend zu Kate. Er drehte sich noch mal zu den Kindern um. »Keiner kann gehen«, schrie er sie an. Um seinen Wor ten Nachdruck zu verleihen, zog er die Maske über und sah sie drohend an. Ein kleines Mädchen trat auf den Gang. Ein Rinnsal lief an ihrem Bein herunter und tropfte auf ihre blauen Turnschuhe. Sie fing an zu weinen. In diesem Augenblick betrat Artkin den Bus. Er nahm die Maske ab. Das Mädchen weinte immer noch, und ihr Schluchzen wurde immer lauter, während ihr der Urin am Bein herunterlief. »Was ist hier los?« fragte Artkin. »Die Kinder. Sie müssen aufs Klo. Und er hat gesagt, das geht nicht«, sagte Kate und wies auf Miro. Artkin beachtete sie nicht und wandte sich direkt an Miro. »Da kann man nichts dagegen machen. Im Lie ferwagen ist ein Plastikeimer. Bring ihn her.« Und zu Kate sagte er: »Noch eine Aufgabe für Sie, der Eimer.« Miro warf Kate einen triumphierenden Blick zu. »Wenn der Eimer ausgeleert werden muß, fragen Sie Miro, und er wird Ihnen erlauben, ihn draußen auszu leeren«, sagte Artkin. An die Kinder gewandt sagte er: »Gleich könnt ihr alle auf die Toilette gehen. Es wird 100
nicht wie zu Hause sein, aber stellt euch einfach vor, es sei ein Abenteuer. Die Dame hier wird euch helfen.« Später kam Artkin wieder mit zwei braunen Einkaufstüten. Kate wußte, was das bedeutete. »Nein«, schrie sie und sprang auf. Artkin erstarrte. Miro hielt den Atem an. Niemand hatte sich Artkin je so widersetzt, keiner sagte jemals nein zu ihm. »Aus dem Weg, Miss«, sagte Artkin. »Ich will nicht, daß Sie die Kinder wieder unter Drogen setzen. Es ist zu gefährlich«, sagte Kate. »Das ist nicht Ihre Entscheidung, Miss«, sagte er ge duldig, aber es war jene Art von Geduld, die eine War nung enthielt: Gehen Sie nicht zu weit. »Sie haben gesagt, die Kinder sind meine Verantwor tung«, sagte Kate. »Und das sind sie. Solange sie in meinem Bus sind.« »Dann sollten Sie froh sein, daß wir die Drogen haben, um sie zu beruhigen«, sagte Artkin. »Es wird ein lan ger, harter Tag für alle werden. Vielleicht noch länger als ein Tag. Zwei, drei. Die Drogen werden ihnen hel fen, wenn ihnen überhaupt etwas helfen kann.« »Aber eins ist gestorben«, erinnerte ihn Kate. »Die Droge hat ein Kind getötet.« »Ein Unfall. Das Kind hatte ein schwaches Herz, viel leicht. Eine unglückliche Reaktion. Aber den andern hat es nichts ausgemacht.« »Sie haben keine Garantie dafür«, sagte Kate, obwohl 101
sie wußte, daß ihre Einwände zwecklos waren und ihre Stimme allmählich versagte. »Für nichts gibt es eine Garantie im Leben, Miss«, sagte er und ging an ihr vorbei nach hinten. Er nahm die Süßigkeiten aus den Tüten und zeigte sie den Kin dern. Die Kinder reagierten sofort und streckten die Hände aus. Miro seufzte erleichtert. Das Mädchen war unterlegen. Miro hatte es vorher gewußt. Aber sie hatte sich Artkin erneut widersetzt, und Artkin hatte es ihr durchgehen lassen. Freilich, das wußte Miro, Artkin hatte keinen Grund zur Vergeltung. Das Mädchen war sowieso ab geurteilt. Es war früher Nachmittag, als die Kinder wieder unter dem Einfluß von Drogen standen. Sie waren träge und verschlafen, teilnahmslos und schlapp. Sie verloren ihre Identität. Vorher war Kate durch die Reihen gegangen und hatte ihre Namen erfragt, um mit ihnen in Kontakt zu kommen. Die Namen halfen Kate, die Kinder aus einanderzuhalten, aber immer noch verwechselte sie einige von ihnen. Da war Monique, natürlich, die im mer noch ihr Schmusetier verlangte, und der sommer sprossige, rothaarige Alex. Karen mit den winzigen Ohrringen und Chris, der auch ein Mädchen hätte sein können mit seinem Pony und dem fließenden braunen Haar. Raymond, der noch immer die Augen zukniff. Kimberly mit der Nickelbrille und dem Sprung im 102
Glas. Alison und Debbie und Kenneth und Jimmy, die sie immer noch nicht auseinanderhalten konnte. Mary mit den Zöpfen, die sich allmählich auflösten. Die bei den Schwestern, Ginny und Patty, die überhaupt nicht aussahen wie Geschwister, weil Ginny blaß und zierlich war und Patty dagegen dunkel und robust. P. J., mit schmalem Gesicht und traurigen Augen, der noch kei nen Laut von sich gegeben hatte (seine Initialen hatte ein anderer verraten). Und Tommy mit der Hornbrille, die ständig verschmiert war und möglicherweise dazu beitrug, daß er immer schielte. Durch die Wirkung der Drogen waren sie alle nur noch Körper. Der Bus faßte vierzig Personen, es gab also ge nügend Platz. Wer wollte, durfte eine ganze Bank ha ben. Einige hatten ihren Teddy mitgebracht oder ein anderes Stofftier. Ginny und Mary und P. J. klammer ten sich an ihre Schmusedecken. Kate dachte an ihre Eltern. Gott, was mochten sie sich denken? Sie merkte, daß sie keinen Gedanken für sie übriggehabt hatte seit der Entführung. Mag sein, daß sie sie willentlich aus ihrem Kopf ferngehalten hatte. Nachdenken trieb sie zur Panik, auch Erinnerungen. Sie mußte sich auf den Bus und die Kinder konzentrie ren, hier und jetzt. Als sie den Gang nach hinten ging, fiel ihr Raymond auf. Seine Augenlider waren geschlossen, bewegten sich aber. Sie war überzeugt, daß er nicht wirklich schlief. 103
Er saß allein in seiner Bank, den Kopf an die verhängte Scheibe gelehnt. Kate setzte sich neben ihn. »Raymond«, sagte sie. Er antwortete nicht. Sie hörte seinen Atem, sah das leichte Auf und Ab seiner Brust. »Raymond, du kannst mir nichts vormachen. Ich weiß, daß du nicht schläfst.« »Ich hab’ die Schokolade nicht gegessen«, sagte Ray mond. Seine tiefe Alt-Männer-Stimme. »Warum nicht?« »Hat mir meine Mutter verboten, Schokolade oder Kaugummi. Sogar zuckerlosen. Sie sagt, das ist schlecht für die Zähne, und eines Tages werde ich ihr dankbar sein.« Er öffnete seine Augen. Sie waren hell und wach und verwandelten sein fettes Babygesicht in das Antlitz eines intelligenten kleinen Menschen. Ein Miniaturerwachsener. Er spähte nach vorne, wo Miro Wache hielt. Dann lehnte er sich an Kate und sagte: »Nachdem ich dich mit den Männern reden gehört ha be, wußte ich, daß sie Gift oder so was in die Schoko lade getan haben. Ich hab’ zu Monique gesagt, sie soll nichts essen, aber sie hat es doch getan. Dann hab’ ich so getan, als ob ich schlafe, wie die andern. Ich hatte Angst, daß sie mich bestrafen, wenn ich nicht schlafe.« Armes Kind, dachte Kate, allein die ganze Zeit und wach. »Kommt Kevin zurück?« fragte Raymond. 104
»O Raymond«, sagte sie. Sie hatte befürchtet, daß eines der Kinder früher oder später nach Kevin McMann fragen würde. Bis jetzt war keiner neugierig gewesen. Aber verlaß dich auf Ray mond, den hellwachen Raymond. »Kevin kommt nicht zurück, Raymond.« Sie sah den Schreck in Raymonds Augen, und sie wußte, daß sie ihm nicht die Wahrheit sagen konnte. »Kevin ist krank geworden. Vielleicht von dem Zeug in den Süßigkeiten. Deshalb hat ihn der Mann in den Lie ferwagen gebracht. Sie haben ein Bett dort. Da ist er besser aufgehoben.« »Das sind böse Männer«, sagte Raymond, und seine Alt-Männer-Stimme klang plötzlich zerbrechlich. »Wird jemand kommen, um uns zu retten?« »Ich hoffe es, Raymond«, sagte Kate und suchte nach den passenden Worten. »Wir sind nicht allein, weißt du. Da draußen sind Soldaten und Polizisten. Sie haben die Brücke umstellt. Ich bin sicher, sie werden uns hier rausholen.« »Du hast nichts von der Schokolade gegessen, oder, Kate?« »Nein, ich will wach bleiben und aufpassen.« »Ich möchte auch wach bleiben und aufpassen«, sagte er. Sie berührte seine dicke rosa Backe. Sie fühlte sich merkwürdig erleichtert und wußte nicht recht warum. Vielleicht, weil sie einen Verbündeten in diesem Bus entdeckt hatte, auch wenn er nur fünf Jahre alt war. 105
Plötzlich schloß Raymond die Augen und wurde
schlaff, und sein Kopf fiel zur Seite. Einen Augenblick
später spürte Kate Miros Gegenwart neben sich. Sein
Bein berührte ihren Arm, als er vorbeiging. Ein
Schauer überlief sie, obwohl es warm war im Bus und
die Hitze immer mehr zunahm. Miro nahm wieder sei nen Platz an der Tür ein.
Raymond war ein raffiniertes kleines Kerlchen. Die Si tuation eröffnete plötzlich Möglichkeiten für Kate. Ein
dünner Faden der Hoffnung. Sie wußte etwas, das die
Entführer nicht wußten. Vielleicht konnte der Junge
eine Hilfe sein, irgendwo durchkriechen, wo ein Er wachsener nicht durchkonnte. Ihre Gedanken rasten.
Das Wichtigste war, Artkin und Miro und die andern
hatten keine Ahnung.
Sie beugte sich zu Raymond hinunter. »Spiel weiter
den Schlafenden«, flüsterte sie. »Vielleicht kannst du
mir helfen. Ich komm’ zurück, dann reden wir wei ter.«
Raymond drehte sein Gesicht zu Kate. Ein Auge ging
auf und zu.
Das Zwinkern ließ Kate lächeln.
Kates Schenkel waren wundgescheuert. Sie dachte:
Ich muß aus diesen Hosen raus. Ihr Slip war feucht,
und die Feuchtigkeit brannte sich wie Säure in ihre
Haut.
Die Kinder dösten immer noch im Zwielicht des Bus 106
ses. Der Himmel hatte sich bewölkt. Diese Scheindäm merung nahm den Dingen ihre scharfen Konturen, und Kate verspürte eine leichte Schläfrigkeit. Der Tag stand still, der Bus war eingehüllt in Stille, die nur gelegent lich von einer Sirene oder einem Helikopter unterbro chen wurde. »Wie lang wird das so weitergehen?« hatte Kate Artkin gefragt, als er vor ein paar Minuten nach dem Bus ge schaut hatte. Das tat er von Zeit zu Zeit. »Das weiß keiner. Wir müssen Geduld haben«, sagte Artkin. Und in gewisser Weise wünschte sich Kate, daß dieser Stillstand immer weiter dauern sollte. Jeder Augen blick, der verstrich, gab ihr das Gefühl, bis hierher überlebt zu haben. Sie fürchtete den Augenblick, an dem etwas passieren würde. Der Gedanke verfolgte sie: Sie können es sich nicht leisten, mich am Leben zu las sen. Sie werden mich als erste töten. Aber sie wollte nicht daran denken. Sie beschäftigte sich mit den Kin dern oder spähte durch die Fensterritzen nach einem Zeichen der Ermutigung da draußen. Erdrückend war Miros Gegenwart. Seine Augen folg ten ihr, aber er sah woandershin, wenn sie sich ihm zu wandte. Er beobachtete das Terrain draußen mit einer Konzentration, die Kate bewunderte. Er konnte ewig in einer Stellung verharren, unbeweglich und doch ir gendwie locker, als hätte er ein jahrelanges Training hinter sich. Vielleicht hatte er das auch. Gelegentlich 107
stand er auch in der offenen Tür, ließ den Blick schwei fen und trank die frische Luft. Die Luft im Bus war satt von Schweiß und Urin. Kate fürchtete, daß sie mit ih rem Urin auch zu diesem ranzigen Dunst beigetragen hatte. Sie sehnte sich nach einer Dusche. Wenn sie sich wenigstens da unten waschen könnte. Und sie mußte aus diesen Hosen raus. Miro stand auf dem Trittbrett vor der Tür, den Blick abgewandt. Sie ging nach hinten, berührte hier und da ein Kind. Die linke Hand an einer Lehne, um die Ba lance zu halten, zog sie ihre Jeans aus. Ihre Geldbörse fiel auf den Boden. Sie ließ sie erst mal liegen. Sie stieg aus den Jeans. Ihre Beine fühlten sich kühl an, trotz der Hitze im Bus. Sie schaute über die Schulter: die Kinder schliefen, und Miro war nicht zu sehen. Sie zog ihr Höschen herunter, das Nylon klebte feucht auf ihrer Haut. Sie stieg heraus. Einen Augenblick stand sie da und genoß die Luft auf der entzündeten Haut. Sie rieb die Stellen mit der Hand, als könnte sie die Haut wieder glätten und das Brennen wegwischen. Sie drehte sich langsam um und sah über die Schulter nach vorne. Miro stand am andern Ende des Busses. Er sah sie an, erstarrt, eingefroren mitten in der Bewegung, einen Fuß auf der obersten Stufe neben dem Fahrersitz. Er trug die Maske, die sowieso die Augen betonte. Seine Augen waren riesig und überrascht. Sie konnte es sogar aus dieser Entfernung erkennen. Und noch etwas war in diesen Augen. Sie kannte den Blick. 108
Wütend, sich so bloßgestellt zu sehen, mit nacktem Hintern, griff sich Kate die Jeans und zog sie mit zit ternden Fingern an. Als sie wieder hochsah, war Miro weg. Verschwunden. Als hätte er nie dort gestan den. Sie bemerkte ihre Geldbörse auf dem Boden und hob sie auf. Beim Einstecken fiel ihr der Schlüssel ein. Der Schlüssel für den Bus, den ihr ihr Onkel vor ein paar Wochen gegeben hatte und den sie noch nicht an die Kette zu ihren übrigen Schlüsseln gehängt hatte. Die sen Morgen hatte der Onkel seinen eigenen Schlüssel in der Zündung steckenlassen, als er sie bat, die Fuhre zum Kinderlager zu übernehmen. Kate nahm den Schlüssel aus dem Fach für Kleingeld, er lag kühl in der Hand. Sie drückte ihn ganz fest in ihre Faust, um sicherzugehen, daß er auch wirklich da war. Sie sah sich ängstlich um. Kein Miro. Die Kinder schliefen. Wunderbar. Sie zog einen Schuh aus und ließ den Schlüssel hineingleiten. Es war ein gutes Gefühl zwi schen den Zehen, als sie nach vorne ging. Ich habe ein Geheimnis, dachte sie mit Wonne, ihr war fast schwin delig. Nicht nur ein Geheimnis, eine Waffe. Der Schlüssel konnte den Bus starten, und der Bus konnte sie hier rausbringen. Sie kam an Raymond vorbei. Noch ein Geheimnis. Das zusammengeknüllte Höschen steckte sie in eine Gesäßtasche. Sie dachte an Miro und wie er sie ange glotzt hatte, als sie da praktisch nackt vor ihm gestan 109
den hatte. Der Ausdruck in seinen Augen. Kein Mäd chen konnte so einen Blick mißverstehen. Vielleicht hatte sie da noch eine Waffe in ihrem kleinen, kläg lichen Arsenal. Eines der Kinder schrie auf, ein Schrei in einem Alp traum, der die Stille zerriß. Kate ging zu dem Kind – Monique, die aus einem bösen Traum hochschreckte – und murmelte süße, beruhigende Laute. Süß, weil sie und die Kinder am Ende vielleicht doch nicht hilflos und ohne Hoffnung waren. Miro stieg in den Bus und nahm die Maske ab. Sein Gesicht war heiß und rot. Das Mädchen war über ein Kind gebeugt, das seine ganze Aufmerksamkeit in An spruch nahm. Er haßte die Kinder. Sie waren eine Last. Ihre Unruhe ging ihm auf die Nerven. Ihr Geschrei störte die ruhigen Momente seiner Träumereien und Erinnerungen an seine Vergangenheit mit Aniel. Die Kinder hatten die ganze Aufmerksamkeit des Mäd chens, was es ihm schwierig machte, sich ihr zu nähern, ihr Vertrauen zu gewinnen. Artkin hatte gesagt, daß das Mädchen unter seiner Verantwortung stehe, aber er hatte nicht das Gefühl, als erfülle er seine Aufgabe ord nungsgemäß. Sie wich ihm immer aus, sah ihn nicht an und suchte Zuflucht bei den Kindern. Er beobachtete sie, ihre Jeans, die jetzt die Haut be deckten, die er gerade noch entblößt gesehen hatte. Diese blaßrosa Haut. Ungeschützt. Das war sein erstes 110
Gefühl nach dem Schock, sie plötzlich nackt zu sehen, die weiße Haut im Dämmerlicht des Busses. Sie schien so ... er suchte nach dem Wort, fand es in der alten Sprache und versuchte es ins Englische zu übersetzen, kam aber nur auf: ungeschützt. Oder vielleicht un schuldig. Aber die Unschuld war verflogen, als sie sich umdrehte und ihn stehen sah. Wut jetzt. Und ihre Wut schlug ihm ins Gesicht, als wäre er ein Spanner oder einer von den schäbigen Leuten vom Times Square, die Geld dafür zahlen, um nackte Mädchen anzuglotzen. Manchmal träumte er in der Nacht von dunklen Mäd chen, rund und weich, und ihr Fleisch lockte ihn unter Fetzen von Schleiern. Genaugenommen hatte er noch nie eine nackte Frau gesehen, außer in Magazinen. Bis eben dieses Mädchen, Kate. Ihr schlanker Po, ihre Schenkel hatten ihn erregt. Er hatte immer noch ein heißes Gesicht, wenn er sie ansah. Sie wußte nichts von seiner Gegenwart, und wenn, dann tat sie so, als wäre er nicht im Bus. Einer der kleinen Jungs winkte ihm zu. Der Junge mit dem feh lenden Zahn. Miro winkte nicht zurück. Lächerlich, einem Kind zuzuwinken. Soll das Mädchen ihnen zu winken. Der Junge versuchte weiter, seine Aufmerk samkeit zu erregen. Das Mädchen sah hoch. Miro suchte Anzeichen von Wut in ihrem Gesicht, fand aber keine. Noch schlechter vielleicht: sie tat so, als wäre er gar nicht da, unsichtbar oder durchsichtig. Das Kind winkte wieder und rief: »Hi!« Fröhlich, lächelnd. Das 111
Mädchen sagte: »Er mag Sie. Warum winken Sie nicht zurück?« Miro war durcheinander. Sein Gesicht glühte. Sein Puls klopfte in den Schläfen. Er winkte dem Kind zu, aber merkwürdig unbeholfen, und brachte ein kräch zendes »Hallo« heraus. Er wollte seine Stimme fest und überzeugend klingen lassen, aber sie klang plötzlich viel zu hoch. Sein Gesicht war jetzt scharlachrot. Er drehte sich um und zog die Maske über den Kopf. Er schaute durch den Schlitz in der Windschutzscheibe und tat so, als würde er die Umgebung beobachten. Er war ver wirrt, aber in einer Ecke seines Herzens war er auch froh. Das Mädchen hatte mit ihm gesprochen, sie war nicht wütend. Und jetzt konnte er mit Lust an den Augenblick ihrer Nacktheit denken, eine Regung, die er noch nie verspürt hatte. Raymonds Mutter hatte graue Haare, sein Vater war kahl. Er hörte sie sagen: »Raymond ist ein spätes Baby.« Er mochte es nicht, wenn er hörte, wie sie das zu fremden Leuten sagten. Er wußte, was ›spät‹ bedeu tete. Nicht rechtzeitig. Und es war nicht gut, spät dran zu sein. Es kam vor, daß Raymond die Nacht wach lag und dachte, daß er zu spät gekommen sei. Er dachte auch daran, wie er mit seiner Mutter in die Stadt ging und sie Leute trafen, und jemand sagte: »Aber ein spä tes Baby ist ein Gottesgeschenk.« Raymond wußte nicht, was ein Gottesgeschenk war, aber er wußte, was 112
›zu spät kommen‹ bedeutet. Er weinte viel. Er bekam Bauchweh. Er tat alles, damit Vater und Mutter stolz auf ihn sein konnten. Er wollte das Zuspätkommen wiedergutmachen. Er räumte sein Zimmer auf. Er zap pelte nicht herum. Er aß keine Süßigkeiten, nur manch mal. Jetzt im Bus zappelte Raymond auch nicht herum. Er hatte Angst vor den Männern mit der Maske. Angst, daß sie herausfinden könnten, daß er ein spätes Baby war. Er war froh, daß das Mädchen da war. Sie erin nerte ihn an seine Mutter, obwohl sie keine grauen Haare hatte. Er würde ihr helfen, und deshalb hielt er seine Augen geschlossen. Nicht immer. Manchmal öffnete er sie. Erst eins, dann das andere. Manchmal beide, aber nur ein bißchen, so daß es keiner sah. Vor allem nicht die bösen Männer. Sie würden wütend sein, weil er keine Schokolade gegessen hatte. Und das wäre genauso schlimm gewesen, als hätten sie herausgefunden, daß er ein spätes Baby war. Endlich ließ Artkin Miro holen. Antibbe stieg in den Bus und wies mit einem Nicken auf den Lieferwagen. Antibbe sprach selten, und wenn, dann klang seine Stimme heiser, als bereite ihm das Sprechen Schmerzen. »Er will was von dir«, sagte Antibbe. »Ich pass’ auf das Mädchen auf.« Miro warf einen flüchtigen Blick auf Kate, gespannt, 113
wie sie auf diesen ungeschlachten Kerl reagieren würde. Manche Menschen sind eine Bedrohung allein durch ihre Gegenwart. Antibbe war so einer, und be sonders in der Maske. Kate sah Antibbe besorgt an. Oder vielleicht ängstlich. Es gefiel Miro, daß sie ihn nicht so ansah, sondern sich sogar zu entspannen schien in seiner Gegenwart. »Sei vorsichtig, die Scharfschützen«, krächzte Antibbe, als Miro die Maske überzog. Miro sagte zu Kate: »Ich komm’ zurück.« Er drehte sich schnell um, besorgt, daß sein Verspre chen, zurückzukommen, wie das Angebot eines Be schützers klingen könnte. Er war nun wirklich nicht hier im Bus, um sie zu beschützen. Der Lieferwagen war nur ein paar Schritte entfernt, aber er mußte vorsichtig sein. Er ging gebückt, wegen der Scharfschützen, obwohl das hohe Geländer einigen Schutz bot. Die Abstände zwischen den Schwellen machten ihm die Höhe bewußt. Er hatte kein Ver trauen in das verrottete Holz, und er setzte seine Schritte sehr behutsam. Im Lieferwagen war es noch heißer als im Bus. Er war kleiner und vollgestopft. Schaler Geruch wie von fau lenden Lebensmitteln. Stroll stand im Laderaum und sah durch den Schlitz des zugeklebten Rückfensters. Er drehte sich nicht um, als Miro in den Wagen stieg. Stroll war immer allein, als wäre sonst niemand auf der Welt. Aber er war ein wunderbarer Fahrer. 114
Artkin stand vor dem CB-Funk-Empfänger, seine ver krüppelte Hand drehte an der Skala. Er begrüßte Miro mit einem Nicken. Die Luft füllte sich plötzlich mit Le ben, ein Knacken und Knistern, atmosphärisches Rau schen, und dann eine Stimme aus dem Empfänger: »KLC. Zieht euch zurück vom Standpunkt. Dann Mel dung auf der null-neun-sechs. Wiederhole: KLC. Zieht euch zurück vom Standpunkt. Dann Meldung auf der null-neun-sechs.« Eine andere Stimme: »Parallel. Parallel.« Dann Stille. »Sie benutzen natürlich einen Code«, sagte Artkin, »aber wir kennen ihn.« »Was haben sie gesagt?« fragte Miro. »Nichts, was wir nicht schon wissen«, sagte Artkin. »Sie bringen ihre Männer in Stellung, plazieren sie an strategischen Punkten. Hauptsächlich reden sie, um was zu tun. Auch sie müssen warten.« »Und worauf warten wir?« fragte Miro kühn. Hatte Artkin nicht gesagt, er hätte Miro zu lange wie einen kleinen Jungen behandelt? »Also gut, Miro. Sag mir, was du von der Brücke aus gesehen hast, und dann sag’ ich dir, was du alles nicht gesehen hast.« »Ich sehe, daß wir eingekreist sind. Soldaten und Poli zei haben ihr Hauptquartier in dem Gebäude jenseits der Schlucht eingerichtet. Im Wald sind Scharfschüt zen. Manchmal fliegen Helikopter über uns. Wir haben 115
die Kinder im Bus. Und das Mädchen. Ein Kind ist gestorben.« Er zögerte. Was noch? »Gut«, sagte Artkin. »Du hast zusammengefaßt, was du weißt. Jetzt das, was du nicht sehen und nicht wissen kannst, Miro.« Artkin wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn. »Wir sind ein Bündnis eingegangen. Mit Leuten, die nicht von unserer Na tion sind. Wir sind nicht die einzigen Revolutionäre, Miro. In allen Ländern gibt es welche, sogar hier in Amerika, dieser sogenannten Demokratie. Ich kann dir nicht sagen, wer unsere Verbündeten sind – nicht einmal ich weiß es. Sedeete leitet diese Phase der Ope ration.« Sedeete. Die Erwähnung des Namens erfüllte Miro mit Ehrfurcht. Sedeete stand über Artkin, über allen. Er hielt alle Fäden in der Hand. Miro hatte ihn nur zweimal gesehen. Einmal bei Abschluß seiner Schu lung und vor seiner Abreise nach Amerika. Sedeete hatte ihnen allen die Hand geschüttelt mit dem alten Griff der Freiheitskämpfer. Ein kleiner Mann mit stechenden Augen und messerdünnen Lippen. Seine Hand war trocken wie alte Pappe. Das zweite Mal vor ein paar Tagen in Boston, als Sedeete mit Artkin auf einer Parkbank gesessen hatte. Miro war im Liefer wagen geblieben, während Stroll und Antibbe Wache standen. Miro hatte Sedeete nur mal kurz angeschaut, als könnte ihn sein Anblick vergiften. Sedeete war der Führer ihrer Befreiungsbewegung in Nordamerika. 116
Daß er an der Busgeschichte beteiligt war, zeigte Miro, wie bedeutend sie sein mußte. »Es reicht, wenn du weißt, Miro, daß der Plan von uns verlangt, den Bus und die Kinder zu halten, bis die For derungen erfüllt sind«, sagte Artkin. »Die Forderun gen sind diese: Wir verlangen die Freilassung von poli tischen Gefangenen hier in den USA. Wir müssen der Welt zeigen, daß man Revolutionäre nicht einsperren kann. Zweitens verlangen wir zehn Millionen Dollar. Damit wir unseren Kampf weiterführen können. Drit tens verlangen wir, daß die Amerikaner einen Geheim dienst innerhalb ihrer Regierung abschaffen. Dieser Geheimdienst arbeitet auf der ganzen Welt. Das geht uns nichts an, Miro. Für uns sind zwei Dinge wichtig. Das Geld natürlich, das wir verdammt dringend brau chen, vor allem amerikanische Dollars. Und das Fak tum, daß es uns gelungen ist, ein Bündnis einzugehen und mit andern zusammenzuarbeiten.« »Aber warum ist ein Bündnis wichtig?« fragte Miro. »Unsere Arbeit ging gut voran, Artkin. Das hast du selbst oft genug gesagt. Bombenanschläge: sie haben unsere Sache bekanntgemacht.« »Weil wir einen Schritt über die Gewalt hinaus gehen müssen, Miro«, sagte Artkin und seufzte geduldig. »Bombenanschläge und Attentate und Gefechte kön nen uns nicht unsere Heimat zurückbringen. Sie sind nur Stufen auf einem Weg. Nach dem Terror muß die Politik kommen, das Gespräch, das Wort.« 117
»Worte«, sagte Miro. Er hatte das Gerede satt. Er war für die Aktion trainiert, für die Gewalt, und jetzt fühlte er sich betrogen. Auch daß Artkin nicht das Kom mando führte, sondern Sedeete aus dem Hintergrund. Sie waren Marionetten hier auf der Brücke, und Se deete zog die Fäden. »Hab Geduld«, sagte Artkin. Vielleicht sah er den Zweifel und die zerbrechenden Illusionen in Miros Augen. »Wir leben in einer Zeit der Veränderungen. Dieses Bündnis wird uns am Ende nützlich sein. Heute helfen wir ihnen, um diesen Geheimdienst zu zerstö ren, und morgen werden sie uns helfen, unser Heimat land zurückzugewinnen. Unsere Ziele sind verschie den, aber wir können einander helfen. Es wird noch viele Brücken geben. Das hier ist erst der Anfang.« »Was ist mit dieser Operation? Was passiert jetzt? Wie lange warten wir?« Miro merkte, daß er die Fragen des Mädchens stellte. »Wenn die Forderungen erfüllt sind, wird ein Helikop ter landen. Wir werden an Bord gehen und zum Flug platz Boston fliegen. Von dort wird man uns über den Atlantik ausfliegen.« »In unser Heimatland?« fragte Miro, und eine plötz liche Welle der Hoffnung hob seine Stimmung. »Noch nicht, Miro. Die Heimat ist noch tausend Bünd nisse entfernt. Aber sie werden uns an einen sicheren Ort fliegen, wo wir uns eine Weile ausruhen kön nen.« 118
»Aber warum sollten sie uns fliehen lassen?« »Wir werden eins der Kinder mitnehmen. Ein Kind ist so gut wie sechzehn oder sechsundzwanzig.« »Wenn ein Kind so gut ist wie sechzehn, warum haben wir dann den Bus entführt?« fragte Miro. Er ließ alle Vorsicht beiseite und ließ seinem Ärger freien Lauf. »Miro, Miro, du hast vergessen, was du in der Schule gelernt hast. Die Wirkung der Operation ist der Grund der Operation. Die Gefährdung einer Geisel ist wir kungsvoll, die Gefährdung von sechzehn Geiseln ist sechzehnmal so wirkungsvoll, aber das Leben einer ein zigen Geisel und im besonderen das eines Kindes ist so wirkungsvoll wie eine sechzehnfache Drohung.« Miro wurde immer verwirrt von dieser Art der Arithmetik. »Wir brauchen die Wirkung, Miro. Wir töten nicht, wenn wir nicht eine Wirkung erzielen wollen. Ohne die Wirkung ist alles sinnlos. Also nahmen wir sechzehn Kinder als Geiseln, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Sie scheinen es nicht begriffen zu haben – und doch, wie könnten sie es nicht wissen? –, aber die Medien, Fern sehen, Radio und Presse sind unsere Verbündeten. Ohne sie wäre nichts von dem hier möglich. Ein entführ tes Kind an einem geheimgehaltenen Ort hat nicht die Wirkung wie sechzehn Kinder als Geiseln auf einer Brücke, die jedermann im Fernsehen betrachten kann.« Miro nickte. Es gab einen Sinn, aber ermüdete ihn auch. Wenigstens hatte ihn Artkin ins Vertrauen gezogen. 119
»Im Moment verhandelt Sedeete mit ihnen. Das Ulti matum ist neun Uhr morgen früh. Sind die Forderun gen dann nicht erfüllt, sterben die Kinder. Wir auch, vielleicht. Unser Risiko, seit wir in die Staaten gekom men sind. Aber Sedeete und unsere Verbündeten sind sicher, daß die Forderungen erfüllt werden. Gewalt und Blut fließen aus ihren TV-Geräten, aber eigentlich haben diese Leute einen schwachen Magen. Bis jetzt sind sie verschont geblieben von den Leiden anderer, älterer Nationen. Sie werden den Tod der Kinder nicht zulassen.« »Wie erfahren wir, daß die Forderungen erfüllt sind?« fragte Miro. »Wir bekommen ein Funksignal von Sedeete. Um sechs heute nachmittag: die Verhandlungen laufen. Um Mit ternacht: alles geht gut voran. Um neun Uhr morgen früh: die Forderungen sind erfüllt. Kommt dieses Sig nal nicht, heißt das, die Operation ist fehlgeschlagen. Das bedeutet, die Kinder töten, damit sie unsere Forde rungen beim nächstenmal erfüllen. Dann muß ich einen Weg finden, wie wir uns am besten retten, wenn mög lich. Aber wie du weißt, Miro, unsere Rettung ist nicht wichtig, es sei denn, um weiterzukämpfen. Unter sol chen Umständen zu sterben ist im übrigen unser größ tes Verdienst.« Miro wußte, daß Artkin niemals sterben würde. Seinen eigenen Tod akzeptierte er als eine mögliche Folge sei ner Arbeit. Aber es war undenkbar, daß Artkin sterben 120
könnte. Nie würden sie ihr Heimatland befreien kön nen, wenn Männer wie Artkin sterblich wären. Die Welt und damit Miros Leben würden ihren Sinn verlie ren. »Noch Fragen?« sagte Artkin. Erstaunlicherweise lag Spott in Artkins Stimme und ein Lächeln auf seinen Lippen. »Ich hab’ gemerkt, daß du ein großer Frager bist.« Miro war stolz. Er stand unwillkürlich stramm. Mit Artkin zu sterben wäre wunderbar. Er fühlte Mitleid mit denen, die ohne eine Bestimmung dahinlebten, wie so viele Amerikaner seines Alters, die er getroffen hatte. Wie das Mädchen im Bus. »Zurück in den Bus jetzt, Miro. Paß auf das Mädchen und die Kinder auf. Laß mich wissen, wenn du denkst, daß sie neue Drogen brauchen. Und das Mädchen, sieh zu, daß sie dir eine Hilfe ist mit den Kindern. Wenn nicht, laß es mich wissen, dann kannst du deine Pflicht erfüllen, wann immer du willst.« Kate fühlte sich unwohl, solange Miro in dem Liefer wagen war. Der Mann, den Miro Antibbe – An-ti-bie – nannte, ließ sie nicht aus den Augen. Unbarmherzig folgte sein Blick jeder ihrer Bewegungen. Um diesem Blick zu entkommen, beschäftigte sie sich mit den schlafenden Kindern. Sie setzte sich zu Monique. Ihre Nase lief. Kate suchte in ihrer Tasche nach einem ›Tempo‹, aber sie fand nur 121
das zusammengeknüllte Höschen. Sie wischte ihr die Nase mit dem Ärmel ab und ließ sie weiterdösen. Sie schob sich auf den Sitz neben Raymond und überlegte, ob er nun wirklich schlafe oder nicht. Er spürte ihre Gegenwart und öffnete ein waches Auge. Kate lächelte ihn an, und er machte das Auge wieder zu. Sie nahm seine Hand und hielt sie fest. Nach einer Weile wurde die Hand schlaff, und der Atem ging in regelmäßigem Schlafrhythmus. Sie hoffte, er könnte die Zeit verschla fen wie die anderen Kinder. Sie wünschte, auch sie könnte schlafen. Vielleicht hätte sie etwas von der Schokolade nehmen und sich fallenlassen sollen. Sie fühlte sich plötzlich mutlos, trotz des geheimen Schlüs sels. Sie war kein Held, ihr Leben war nicht gerade eine Übung in heldenhaftem Verhalten. Sie war gefangen in diesem Bus mit den Kindern, in der Hand dieser Ver rückten. Sie hatte sie ohne ihre Masken gesehen, also würden sie sie niemals laufenlassen. Sie bewegte den Schlüssel mit ihren Zehen. Also. Also was hatte sie denn zu verlieren? Warum sollte sie die verwegene Fahrt nicht wagen und dieses verdammte Ding hier rausbringen? Nichts zu verlieren. Es gab nur den Weg nach vorn. Warum sollte sie ihn nicht gehen? Hey, Moment mal, dachte sie, was’n hier los? Warum so ein Riesenschwall von Hoffnung, wenn ich doch ef fektiv am Boden bin? Warum nicht? Wahrscheinlich könnten die Aussichten kaum schlechter sein, aber wenn du das erst mal akzeptiert hast, kannst du mit 122
dem Hoffen wieder anfangen. Du kannst was riskie ren, verwegen sein, weil, zum Teufel, du hast nichts zu verlieren, richtig? Richtig. Sie schloß die Augen, triumphierend über diesen plötzlichen Fluß ihrer Ge danken. Zählen wir die Vorteile, dachte sie, was haben wir auf unserer Seite? Den Schlüssel. Miro, der offen sichtlich das schwache Glied in der Kette der Entführer war. Sogar den kleinen Raymond, der aufgeweckt und intelligent war. Und ihre neue Zuversicht, diese neue Hoffnung. Sie hielt den Atem an und erwog einen neuen Gedanken: Konnte Hoffnung aus der Hoff nungslosigkeit wachsen, und trugen die Dinge den Sa men ihres Gegenteils in sich – die Liebe den Haß, Gutes das Böse? Wuchsen nicht Blumen aus dem Abfall? Sie war nie eine Kanone im Philosophieren, aber jetzt spürte sie so was wie eine intellektuelle Ekstase. Über wältigt sah sie sich nach jemandem um, mit dem sie ihr Gefühl hätte teilen können. Aber natürlich war da nie mand. Sie beugte sich über Raymond und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Ganz sanft, damit er nicht aufwachte. Und dann war Miro zurück. »Warum machen Sie das?« fragte sie und versuchte ih rer Stimme alle Schärfe zu nehmen und sie freundlich und interessiert klingen zu lassen. Mit ›das‹ meinte sie den Bus, die Kinder, die Entführung, diesen ganzen Alptraum. Miro wußte, was sie meinte. »Wir müssen das tun«, 123
antwortete er in seinem maßvoll gesetzten Englisch, als vollführe er einen verbalen Drahtseilakt. »Unsere Ar beit, unsere Bestimmung.« »Sie meinen, Ihre Arbeit ist es, Kinder zu entführen, Menschen zu verletzen und sie zu terrorisieren?« Zum Teufel mit der Unterwürfigkeit, Karten auf den Tisch. »Es ist ein Krieg. Alles nur ein Teil des Krieges.« »Ich hab’ nichts von einem Krieg gehört.« Er sah so jung aus, so hilflos mit unschuldigen braunen Augen und einem sinnlichen Mund. So gar nicht die Person unter der Maske. »Wir haben immer Krieg«, fuhr Miro fort. Das war ein Thema, das er liebte. Sie hatten es oft in der Schule dis kutiert. »Wir müssen dafür sorgen, daß die Leute den Krieg nicht vergessen, daß die ganze Welt in ihn ver wickelt ist und keiner frei sein kann, bis nicht unser Heimatland frei ist.« Er wünschte sich, Artkin wäre hier und könnte hören, wie gut er seine Lektion gelernt hatte. »Wo ist euer Heimatland?« fragte Kate. »Mein Heimatland ist weit von hier. Über dem Ozean.« Kate bemerkte eine Sehnsucht in seiner Stimme. »Wie heißt es?« Miro zögerte. Er hatte dieses Wort so lange nicht aus gesprochen wie seinen Namen, so daß er sich jetzt fragte, wie es wohl klingen würde aus seinem Mund. Er 124
zögerte aber auch, weil er nicht wußte, wieviel er dem Mädchen erzählen sollte. Er wollte ihr Vertrauen ge winnen, aber er durfte nicht zum Verräter werden an sich und den andern. Wenn er seinen Namen nicht mal vor Artkin laut aussprach, wie konnte er dann diesem Mädchen den Namen seines Heimatlandes verraten? »Sie kennen es nicht. Aber es ist schön.« »Erzählen Sie mir davon«, sagte Kate. »Ich bin nie dort gewesen. Ich hab’ meine Heimat nie gesehen.« »Nie gesehen? Wie wissen Sie dann, daß Ihr Heimat land so schön ist und das Ganze – all das hier – recht fertigt?« »Ich habe den alten Männern in den Lagern zugehört, und sie sagen, daß es schön ist. Sie sagen, wenn du deine Schuhe ausziehst, dann spürst du den Reichtum der Erde unter deinen Sohlen. Die Orangenbäume sind schwer von Früchten, und der Flug der Turteltauben und der Lerchen ist Balsam für Auge und Geist.« Er zitierte die alten Männer jetzt, und seine Stimme war wie Musik. »Der Fluß dort ist sanft. Die Sonne ist eine Liebkosung für die Erde und macht die Haut golden. Der Himmel ist eine blaue Muschel nach frischem Re gen.« Kate dachte: Was für ein merkwürdiger, pathetischer Junge. Und dann erinnerte sie sich daran, daß er einen Revolver trug und ein Kind bereits gestorben war. »Katie, Katie«, schrie eins der Kinder. 125
Der Schrei brachte sie in die Wirklichkeit des Busses zurück, in die Hitze, die Bedrückung und zu dem Pla stikeimer, der nach Urin stank. Kate horchte, aber das Kind schrie nicht mehr. »Die alten Männer in den Lagern«, sagte Kate. »Was für Lager?« Miro freute sich über ihre Frage. Sie zeigte Interesse: er erfüllte seine Aufgabe gut. Aber wie konnte er ihr von den Flüchtlingslagern erzählen, diesen endlosen Rei hen von dreckigen, überfüllten Baracken, in denen sich er und Aniel die ersten Jahre ihres Lebens herumgetrie ben hatten, unbekannt und unerwünscht in einer schrecklichen Art von Anonymität? Sie hatten von der Großzügigkeit von Fremden gelebt, und wenn sie nicht auf Großzügigkeit trafen, dann stahlen sie. Aniel war der Meisterdieb. Manchmal machte Miro den Köder auf den Behelfsmarktplätzen, während Aniels flinke Hände alles einsteckten, was sie greifen konnten. Nichts war wertlos. Man konnte es für Essen eintau schen. Wie konnte er dem Mädchen all das erzählen? »Wir sind ein Volk von Ausgestoßenen, unser Heimat land ist besetzt von andern. Aber wir durften in Lagern leben«, sagte Miro. Er wollte ihr Interesse wachhalten, ohne ihr von dem Hunger, dem Stehlen und dem Betteln zu erzählen. Er wollte sich nicht erniedrigen vor ihr. »Sie haben gesagt ›wir‹«, sagte Kate. »Wer ist ›wir‹? Ihre Familie, Ihre Eltern?« 126
»Nur mein Bruder Aniel und ich. Er war zwei Jahre älter.« »Was ist mit Ihren Eltern?« Er übersetzte das amerikanische Wort Eltern in das Wort für Vater und Mutter in der alten Sprache und versuchte es gleichzeitig mit Gefühl, Emotion, mit ir gend etwas zu füllen, aber es gelang ihm nicht. »Ich kenne meinen Vater nicht«, sagte Miro, »ich kenne meine Mutter nicht.« Irgendwie fühlte er sich schuldig deswegen. Warum dieses Schuldgefühl? Er grübelte darüber nach, wenn er nachts nicht schlafen konnte. Verschwende deine Zeit nicht mit der Vergan genheit, hatte Artkin ihm einmal gesagt. Die Vergan genheit ist vorbei, begnüg dich mit der Gegenwart. Und die Zukunft wird uns unser Heimatland zurück bringen. Er hatte zu Artkin gesagt: »Mein Vater und meine Mutter sind in der Vergangenheit, und wenn ich mich nicht an sie erinnere, wer sonst soll es tun?« Und Artkin hatte sich umgedreht, ohne ein Wort zu sagen. Am Ende also wußte Artkin doch nicht alles. Jetzt sagte Miro zu dem Mädchen: »Ich habe keine Erinnerung an sie.« Ein merkwürdiger Ausdruck in ihrem Gesicht. Traurig keit? Nein. Etwas Unergründliches in ihren Augen, als würde sie im nächsten Augenblick in Gelächter ausbre chen oder sich in Tränen auflösen. Er war durcheinan der. Niemand hatte ihn je mit so einer – einer Intimität angesehen. Um seine Verwirrung zu verbergen, hörte 127
er sich erzählen: »In jenen Tagen gab es immer Über griffe an den Grenzen. Und es gab Zeiten, da wußten wir nicht, wer Freund oder Feind war. Minen gingen hoch in den Gärten. Vieh wurde niedergemetzelt bei Überfällen an den Grenzen. Flugzeuge warfen Bomben oder pflügten die Erde um mit ihren Maschinengeweh ren. Häuser wurden niedergebrannt. Aniel sagte, daß unser Vater und unsere Mutter durch eine Mine in un serem Garten umgekommen seien. Jemand hatte es ihm erzählt. Aber Aniel sagte auch: ›Laß uns nicht darüber reden. Sie leben in uns weiter. Solang einer von uns am Leben ist, werden sie nicht gestorben sein.‹ Und jetzt ist Aniel tot.« »Das tut mir leid«, sagte sie. Und er sah sie an. Suchte nach Zeichen von – er wußte auch nicht was. Sie war nur ein Mädchen, ein amerikanisches noch dazu, und sie bedeutete ihm nichts, außer daß sie sein Opfer war, seine erste Tötung. Sie sollte schon Stunden tot sein. Sie würde tot sein in ein paar Stunden. Von seiner Hand getötet. Mit seinem Revolver. Wer war sie, ihn zu bedauern? Nur ganz vertraute Menschen sollten sol che Sachen sagen. Nicht mal Artkin hatte sie gesagt und sich nur respektvoll abgewandt. Kate merkte, daß sie ihn verlor, daß sie etwas gesagt hatte, was ihn aufbrachte. Sie durfte ihn jetzt nicht los lassen. »Sie sprechen ausgezeichnet Englisch«, sagte sie. Sie schmeichelte ihm natürlich, aber die Schmeichelei war 128
begründet. »Sie müssen ein besonderes Talent für Spra chen haben.« Miro wurde rot vor Freude. Aber wie so oft mischte sich Schmerz in die Freude. Er mußte an Aniel denken. Er war gestorben, ehe seine Zeit gekommen war. Ge schickt mit Waffen, wie Miro mit Sprachen. Sogar mit bloßen Händen. Seine Hände waren auch Waffen. Er führte seine Schläge schnell und genau. Er kannte die Stellen, wo ein Körper am leichtesten zu verletzen war. Seine Hände konnten so schnell töten wie ein Messer oder eine Kugel. Aber sonst war Aniel ein langsamer Schüler. Besonders in Sprachen. Da hatte sich Miro hervorgetan. Du hättest studieren sollen, hatte sein Ausbilder einmal gesagt. In einer Zeit des Friedens hätte er das vielleicht gemacht. Das Mädchen blieb hartnäckig: »Haben Sie eine beson dere Sprachenschule besucht?« »Ich habe eine besondere Schule besucht«, sagte er und fragte sich, ob sie die Ironie in seinen Worten bemerkt hatte. Und dann hörte er sich, wie er ihr von dieser Schule erzählte, die nicht wirklich eine Schule war, die keine hübsch arrangierten Stühle und Tische hatte wie die Schulen in Amerika, die er auf Photos gesehen hatte. Das Gebäude war in die Erde gebaut und hatte keine Fenster. Die Tafel bestand aus zerknülltem Pa pier, das an die Wand gepinnt wurde. Die Ausbildung war intensiv und konzentriert. Ihr seid hier, um zu ler nen, was ihr zum Überleben braucht und was ihr wissen 129
müßt, um unser Heimatland zurückzugewinnen, hatte der Ausbilder gesagt. Er war ein alter Mann mit vielen Narben im Gesicht. Er unterrichtete sie im Gebrauch von Waffen und Sprengstoff. Kampf mit Messer, Ge wehr, mit den Händen. Die Umrisse des menschlichen Körpers, auf die Tafel skizziert, waren unauslöschlich in sein Gehirn gebrannt. Auch jetzt noch kannte Miro einige Stellen des Körpers, deren Berührung ein Opfer sich vor Schmerz krümmen ließ. Aber die anderen Lek tionen mochte er lieber: Lesen und die Sprachen. Spra chen waren wichtig, weil jeder für einen bestimmten Ort ausgebildet wurde. Die Revolution sollte in die ganze Welt getragen werden. Miro und Aniel waren für Amerika bestimmt. Die Ausbildung beschränkte sich eigentlich nur auf die Grundbegriffe, genug, um Stra ßenschilder zu lesen und sich im Restaurant ein Essen zu bestellen, ohne aufzufallen, zu verstehen, was die Schlagzeilen in der Zeitung besagten oder die Nach richten im Fernsehen oder im Radio. Und das übliche Vokabular der Einschüchterung für Überfälle und An schläge: Schweine, Krieg, Hände hoch, wir töten je den, stirb ... Miro entdeckte, daß er ein Talent für Spra chen hatte. Und ein Lehrer, der früher mal in Brooklyn gelebt hatte (Miro spürte ein leises Bedauern, als sie später die dortige Post in die Luft jagten), ermutigte ihn und brachte ihm Bücher und gab ihm Nachhilfe. Er mußte heimlich studieren. Das hatte Aniel amüsiert. Die Schule selber war schon geheim; denn während die 130
Verwaltung den Flüchtlingen erlaubte, staatenlos in den Lagern zu leben, verbot sie jegliche Ausbildung und trieb damit die Schule in den Untergrund, wo sie heimlich und unter Bewachung abgehalten wurde. »Da sitzt du«, hatte Aniel gesagt, »und studierst heimlich an einem geheimen Ort. Ein Geheimnis innerhalb eines Geheimnisses.« Und doch wußte Miro, daß Aniel stolz war auf das Talent seines Bruders, genau wie Miro stolz war auf Aniels Waffengeschick. »Katie, Katie«, schrie das Kind wieder – vielleicht auch ein anderes –, und Miro schreckte hoch. Er hatte sich verloren in seinen Worten und Erinnerungen und hatte tatsächlich das Mädchen vergessen, an das er seine Worte richtete. Hatte er zuviel von sich preisgege ben? Das Kind schrie weiter. »Ich muß nach ihr sehen«, sagte das Mädchen entschul digend. Miro war froh, daß sie eigentlich nicht gehen wollte. Vielleicht konnte er sie doch endlich für sich gewin nen. Das schreiende Kind war Karen. Sie schlief noch halb, zuckte mit den Augenlidern, hatte wahrscheinlich einen bösen Traum. Kate zog sie auf ihren Schoß und drückte sie. Das Kind lallte irgendwelches Kauder welsch, die Sprache der Träume und Nachtmahre. »Ich bin ja da«, murmelte Kate, selbst benommen, noch im Bann von Miros Erzählung. Ein Junge, der 131
durch die Flüchtlingslager stolpert, elternlos, sein Bru der tot, zur Gewalt erzogen in einer Untergrund schule. Sie dachte an ihr eigenes Leben, das vergleichs weise ruhig und bedeutungslos, sicher und geborgen war. Bei allem Mitleid für den Jungen aber blieb ihr doch bewußt, daß sie das Opfer war und nicht er. Sein Leben war eine Vorbereitung auf diesen Augenblick. Ihres nicht. Er wurde ausgebildet, um zu verletzen und zu töten. Sie wurde ausgebildet für nichts. Schon gar nicht, tapfer zu sein. Das Kind döste wieder, der Traum war vorbei, sein Gesicht wieder entspannt. Trotz der Hitze im Bus be reitete ihr die Nähe des Kindes Wohlbehagen, seine weiche Wärme an ihrem Körper. Sie schloß die Augen und überließ sich einem Augenblick der Rast, ließ die Gedanken schweben und abdriften in der Dunkel heit. Dann riß sie die Augen wieder auf. Miro war wieder da, er hockte auf dem Boden neben ihr. »Mögen Sie Elvis Presley?« fragte er. Sein Gesicht war so nah, daß sie seinen leicht säuerlichen Atem riechen konnte. Die Frage kam so unerwartet, daß sie unwill kürlich lachen mußte. »Warum lachen Sie?« Er war ernst, ohne ein Lä cheln. »Tut mir leid. Ich wollte es nicht. Sie haben mich über rascht.« Mann! Elvis Presley. »Ja, ich liebe Elvis Presley.« Es stimmte nicht, er war ihr gleichgültig: er 132
war passé, Schnee von gestern, schon ein paar Jahre tot inzwischen. »Ich hätte nicht gedacht, daß Sie sogar El vis Presley kennen.« »Ich bin schon mehr als drei Jahre in Amerika. Ich habe ein Kofferradio, aber es ist verboten bei Operationen. Ich mag die Bee Gees auch. Und Disco.« Er stand unvermittelt auf und drehte sich weg, als hätte er zuviel gesagt. Kate sah ihn nach hinten gehen. Kate verstand ihn nicht. Er war in der Lage, ganz sachlich über seine Fähigkeit zu reden, einen Menschen zu tö ten, aber es machte ihn verlegen zu sagen, daß er Elvis und die Bee Gees mag. Sie bettete das Kind auf den Sitz und ging ebenfalls nach hinten. Sie mußte ihr Studium von Miro fortfüh ren. Sie durfte ihn nicht verlieren. Er saß da, wachsam wie immer, nie wirklich entspannt, immer auf der Lauer, immer auf der Hut. Sie setzte sich auf die vorletzte Bank, die Beine ausge streckt in den Gang. Der Schlüssel in ihrem Schuh. Halt ihn am Reden, sagte sie sich, halt ihn am Reden. »Wenn Sie und Ihr Bruder sich nur im Lager herumge trieben haben, ohne daß sich jemand um Sie geküm mert hat, wie sind Sie dann in der Schule gelandet?« fragte sie. Er sagte nichts. Bewegte sich nicht. Als hätte er nichts gehört. Sie war eingeschlossen in Schweigen, abgerückt von den kleinen Geräuschen der schlafenden Kinder, die ihr 133
inzwischen so vertraut waren, daß sie sie nicht mehr wahrnahm. Die Außenwelt war weit weg. »Artkin«, sagte Miro endlich. »Artkin hat uns gefun den und in die Schule gebracht.« »Wie alt waren Sie da?« Er zögerte wieder. Sollte er dem Mädchen das alles er zählen? Er hatte nie zuvor von diesen Dingen gespro chen. Und sein Alter. Da war er sich nicht mal sicher. Im Lager hatten sie ihm ein Geburtsdatum gegeben, das zu seiner Größe, seinem Gewicht, seiner Entwick lung paßte. Genau wie Aniel. So galt er jetzt für sech zehn, aber er hätte genausogut fünfzehn oder siebzehn sein können. »Ich war acht oder neun, als ich in die Schule kam«, sagte er. »Ich erinnere mich nicht mehr.« Aber er erinnerte sich daran, wie Artkin sie gefunden hatte. Sie hatten für ein paar Wochen in den Ruinen eines niedergebrannten Hauses Unterschlupf gefun den. Der Geruch von Glut lag ihnen die ganze Nacht in der Nase. Es war die kalte Jahreszeit, wenn der Wind den Sand übers Land fegt, der überall eindringt, sogar in die Poren. Aniel war älter und ein Draufgänger. Er überließ alles, was sie zum Zudecken hatten, Miro, alte Mäntel, Stoffetzen oder auch nur Papier. Artkin kam vorbei und sah sie. Zuerst hatten sie Angst vor ihm. Er beobachtete sie eine ganze Weile von der anderen Seite der Straße, als sie sich eines Morgens wieder einmal fer tigmachten, einen Tag mit der Suche nach etwas Eßba rem oder zum Tauschen zu verbringen. Artkin kam 134
über die Straße und befragte sie barsch. »Seid ihr hungrig?« sagte er schließlich, nachdem er sie über ihre Herkunft und ihre Pläne ausgefragt und nur aus weichende Antworten bekommen hatte. Die Antwor ten waren ausweichend, weil sie nur eine vage Idee davon hatten, wer sie waren, wo sie herumgezogen waren und für wie lang. Herumziehen war ihr Leben, sie dachten sich nichts dabei, wie man sich nichts dabei denkt, wenn man das Laufen lernt. Als Artkin sie fragte, ob sie Hunger hätten, gaben sie eine genaue Antwort. Er brummte und befahl ihnen, ihm zu folgen. Er brachte sie in die Schule des nahen Flüchtlings lagers. Es sah von außen aus wie all die andern Lager, aber Miro und Aniel erfuhren, daß es in Wirklichkeit ein Ausbildungslager für Freiheitskämpfer war. Artkin ließ sie dort. Das Lager und die Schule wurden ihr Zu hause für die nächsten paar Jahre. Gelegentlich be suchte sie Artkin. Er rekrutierte noch andere Kämpfer, aber Aniel und Miro waren die Jüngsten. Artkin zeigte selten eine Regung im Gesicht, aber er schien doch stolz auf ihre Fortschritte, mindestens interessiert. Schließlich bekamen sie dann ihre Bestimmung: Ame rika. Ihr Führer: Artkin. Miro zögerte jetzt. Wieder fragte er sich, ob er zuviel erzählt hatte. Kate, wie hypnotisiert von Miros Erzählung, fragte: »Was ist Ihre Bestimmung in Amerika?« »Bomben legen«, sagte Miro. »Bomben in Städten. 135
Brooklyn, die Post. Detroit, das Automobilwerk. Los Angeles ...« Schlagzeilen kamen Kate in den Sinn. Zerfetzte Men schen. Sie erinnerte sich der kurzen Empörung, die sie verspürt hatte, bevor sie auf die Unterhaltungsseite weiterblätterte, um zu sehen, was im Kino lief. Aber einen quälenden Augenblick lang war sie von dem Schrecken der Nachricht gepackt worden, und jetzt kam dieser Schrecken wieder, wo sie Miro gegenüber saß und erkannte, daß er an all diesen Anschlägen be teiligt gewesen war, bei denen unschuldige Menschen verletzt und getötet worden waren. Und in den Schrecken mischte sich auch noch ein Schuldgefühl, weil sie diese furchtbaren Ereignisse einfach so an sich hatte vorübergehen lassen, unbeeindruckt bis auf diese kleine Pause flüchtigen Mitleids, um dann nachzu schauen, welchen Film sie sich am Abend ansehen wollte. »All die Menschen, die sterben mußten«, sagte Kate. »Wie bringen Sie das fertig?« Miro sah sie geduldig an. »Aber das ist ein Krieg, Kate. Das hab’ ich Ihnen doch gesagt. Wir befinden uns im Krieg, und im Krieg sterben nun mal Men schen.« Sie wollte sagen: Nennen Sie mich nicht Kate, wagen Sie es nicht, mich Kate zu nennen. Aber sie sagte es nicht. Noch eine kleine Niederlage. »Empfinden Sie gar nichts für sie?« 136
»Für wen?« »Für die Toten? Die Mutter und das Kind in der Post. Begreifen Sie nicht, was Sie tun?« Miro sah sie verständnislos an. Was wollte sie von ihm? Was sollte er sagen? Mein Gott, dachte Kate und drehte sich weg zu dem leeren, zugeklebten Fenster. Sie zog ihre Knie unter ihr Kinn und ließ sich nach hinten auf den Sitz sinken. Sie wollte ihn jetzt nicht sehen. Er hatte sie eingewickelt mit seinen pathetischen Geschichten und sich ihre Sympathie erschlichen. Aber jetzt erkannte sie wieder, was er war: ein Monster. Und am meisten erschreckte sie, daß sie das nicht erkannt hatte. Mit unschuldigen Augen hatte er sie angesehen, während er über das Tö ten von Menschen sprach. Sie hatte immer gedacht, daß Unschuld etwas Gutes war. Aber die Unschuld, das sah sie jetzt, konnte auch böse sein. Monströs. Miro saß still da. Leer von Worten jetzt. Still, weil er dieses Mädchen nicht verstehen konnte. Aber er fragte sich auch, warum er sie verstehen wollte. Ihr Leben war eine Sache, seins eine andere. Es machte ihn wütend, daß er sie nicht sehen konnte. Sie hatte keine Augen für die Welt, wie sie war. Sie sah die Welt durch ihre be schränkten Amerikaneraugen, während sie sich durch ihre Schulzeit treiben ließ. Sein Leben hatte Zweck und Richtung. Bestimmung. Wer war dieses Mädchen, daß es diese Bestimmung verabscheuen durfte? Er stand auf und sah auf sie hinunter. Sie war zu einer 137
Kugel zusammengeschrumpft, ihr Gesicht lag im Schatten. Er suchte nach Worten, um sie wieder aufzu machen. »Das Blut, das vergossen wird, ist der Kraft stoff, der uns unser Heimatland zurückbringen wird.« Er versuchte es mit einem der Slogans, die er in der Schule gelernt hatte. »Die einen müssen sterben, damit die andern leben können. Wir sind alle Soldaten, auch wenn wir keine Uniform tragen.« »Aber die Kinder«, sagte Kate. »Sie sind keine Solda ten. Was wissen sie von der Welt und von eurem schrecklichen Krieg? Ein Kind ist schon tot. Vielleicht wäre er ein großer Mann geworden.« »Aniel wäre vielleicht auch ein großer Mann geworden, aber er ist tot, und Sie trauern nicht um ihn«, sagte Miro. Aber noch während er das sagte, kam ihm ein Gedanke, der so trostlos war wie die Lager seiner Kind heit: Trauerte er vielleicht gar nicht um Aniel, sondern um sich selbst?
138
7
Wo bist du, Ben? Ich warte hier schon mehr als eine halbe Stunde auf dich, und es kommt mir noch länger vor. Aber du tauchst nicht auf. Ich habe meine Tablette genommen und einen Augenblick mit Dekan Albertson geredet, und als ich zurückkam, war das Zimmer leer. Ein schönes Zimmer, Ben, was man eben von einem Zimmer in der Burg verlangen kann. Dein Bett ist hübsch gemacht – du warst schon immer pingelig. Dein Schreibpapier liegt in einem exakten Stapel ne ben der Maschine. Ein Aufsatz vermutlich. Die Wände sind kahl wie in deinem Zimmer zu Hause. Unord nung hat dich immer irritiert. Ich habe als Schüler im zweiten Stock gewohnt. Ich war vorhin kurz oben und stand vor dem Zimmer. Aber ich bin nicht reingegan gen. Angst vor Gespenstern vielleicht. Was natürlich lächerlich ist. Wenn ich hier auf Ge spenster treffen würde, dann wären sie freundlich. Ich habe mit die glücklichsten Jahre meines Lebens hier in der Burg verbracht. Freilich waren sie zu kurz. Zu 139
schnell vorbei. Der Krieg kam, und ich habe diesen Ort erst wiedergesehen, als sie mich vor einiger Zeit um Gastvorlesungen baten. Ich hatte gehofft, Ben, daß du hier auch glücklich sein könntest. Freunde finden wie ich. Jack Harkness war mein bester Freund. An dem Montagmorgen nach dem 7. Dezember 1941 taten wir uns zusammen und rann ten in patriotischem Fieber von hier weg nach Boston. Wir haben zusammen gedient in Übersee. Das pazifi sche Drama. Die Inseln. All diese Plätze, nach denen die Straßen von Fort Delta benannt sind. Ich gehe die Iwo Jima Avenue in Fort Delta hinunter und denke an Jack Harkness, der dort gestorben und begraben ist. Ich habe über seinem Grab geschworen, daß er nicht um sonst gestorben ist. Klingt das naiv und übertrieben pa triotisch und altmodisch? Wir waren schlecht ausgebil det damals, Ben, aber unser Patriotismus war riesig. Rein und süß und ungebrochen. Wir waren die Guten. Natürlich gibt es auch heute noch Patriotismus. Aber diese Generation stellt Fragen. Diese Generation schaut in den Spiegel, während sie ihre Pflicht erfüllt. Und fragt sich: Wer sind die Guten? Ist es möglich, daß wir die Bösen sind? Sie sollten sich niemals solche Fragen stellen, nicht mal drüber nachdenken. Tut mir leid, Ben. Ich entschuldige mich. Fürs Predi gen.
Und auch dafür, daß ich jetzt versuche, das zu sagen,
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was ich dir vorhin nicht ins Gesicht sagen konnte. Ja,
ich hatte einfach Schwierigkeiten, dir ins Gesicht zu se hen heute morgen. Ich hatte keine Angst vor dem, was
ich sehen würde. Ich hatte Angst vor dem, was du sehen
würdest.
Wo bist du, Ben?
Und wenn du zurückkommst, Ben, was soll ich dir er zählen?
Soll ich versuchen, dir alles zu erklären?
Wo soll ich anfangen?
Am Anfang. Wo sonst.
Und der Anfang war letzten August, als der Bus auf der
Brücke stand und die Kinder festgehalten wurden, und
ein Kind war schon tot ...
Wir wußten natürlich bald, mit wem wir es zu tun hat ten: mit Terroristen, die ihr Handwerk verstanden.
Mitleidlos. Fanatiker. Eine sofort eingeleitete landes weite Ermittlung ergab, was wir wissen mußten, und
begründete den Kurs, den wir einschlagen wollten. Wir
hatten unsere Lehren gezogen aus den Erfahrungen an derer Länder, was die Taktiken der Terroristen anging.
Wir kannten auch den Grundsatz: Nicht nachgeben.
Verhandeln, um Zeit zu gewinnen. Und sich weigern,
auf die Forderungen einzugehen.
In der Zwischenzeit entwickelten wir Aktivitäten, von
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denen die breite Öffentlichkeit nichts wußte. Wir hat ten eine Antiterrortruppe ausgebildet. Eine Einheit dieser Truppe wurde nach Hallowell gebracht und verteilte sich in den Wäldern um die Brücke. Sie besaß eine spezielle Ausrüstung, vor allem eine ausgeklügelte Art von Betäubungsgranate. Diese Granate sollte eine Schlüsselrolle spielen, vor allem wegen der Kinder. Wir gingen davon aus, daß wahrscheinlich nicht mehr als vier Terroristen an der Entführung beteiligt waren. Ein Mann namens Artkin, der für terroristische Aktivi täten bekannt war und einige Zeit beschattet worden war, weil man seine Beteiligung an den Bombenan schlägen von Brooklyn, Detroit und Los Angeles ver mutete. Zwei andere mögliche Beteiligte wurden identifiziert als: ein Mann namens Antibbe, der noch andere Decknamen benutzte und den Behörden in Eu ropa und im Nahen Osten als Söldner bekannt war, sowie ein Schwarzer namens Stroll, bekannt als Tech niker, Experte für Sprengstoff, Maschinen und so wei ter. Die Identität des vierten war uns zu dieser Zeit noch nicht bekannt. Ein Mann ohne Akte. Diese Person, so ergaben die Beobachtungen, hielt sich offensichtlich im Bus bei den Kindern und dem Mädchen auf. Daß wir ihn nicht kannten und deshalb seine Aktionen nicht einschätzen konnten, machte uns – besonders wegen der Kinder – zusätzlich Sorgen. Artkin, das wußten wir, war zu den schrecklichsten Gewalttaten 142
fähig. Bei seinen Bombenanschlägen waren dreißig Menschen getötet worden, sechs davon waren Kin der. Unser entscheidender Durchbruch gelang, als wir einen Mann namens Sedeete festnehmen konnten, der als Führer bestimmter Terrorgruppen in den USA und Kanada bekannt war. Er konnte uns nichts sagen. Er war schwer verwundet worden bei seiner Festnahme. Seine Festnahme machte Artkin zum Anführer. Das war sowohl ein Vorteil wie ein Nachteil für uns. Der Vorteil: Wenn wir ihn überzeugen konnten, daß Se deete festgenommen und die Operation fehlgeschlagen sei, würde er vielleicht seine eigene Freiheit gegen die der Kinder tauschen. Der Nachteil: Fanatisch wie er war, konnte er genausogut die Kinder töten und auf der Brücke sterben, um der Welt und besonders den Verei nigten Staaten zu zeigen, daß seine Sache das Sterben wert war und daß andere bereit waren, für diese Sache zu töten und zu sterben. In der Zwischenzeit hatten wir eine Taktik entwickelt, die wir in unserem Gewerbe das Botenspiel nennen. Wir gingen davon aus, daß den Terroristen nicht be kannt war, daß wir von dieser Taktik wußten. Deshalb konnten wir sie zu unserem Vorteil ausnutzen. Und das, Ben, brachte uns auf dich. Und brachte dich auf die Brücke. Und mich hier in dieses Zimmer, wo ich hin- und her renne und warte und nicht weiß, wo du bist und wann 143
du zurückkommen wirst. Und das Schlimmste: Ich
weiß nicht, ob du überhaupt zurückkommen wirst.
Schon nach eins.
Du bist schon lange weg.
Ich war kurz bei Dekan Albertson, um nach dir zu fra gen. Ob sie eine Nachricht von dir haben im Büro.
Oder ob dich jemand gesehen hat auf dem Gelände. Ich
wollte keinen Wirbel machen und dich in eine peinliche
Lage bringen. Er sagte, er würde diskrete Nachfor schungen anstellen.
Also warte ich hier.
Es schneit wieder leicht. Es ist fast windstill, und die
Flocken tanzen zur Erde wie Federn.
Wir hatten immer reichlich Schnee hier in Castleton.
Gute Skigegend. Ich lief gern durch den Schnee. An
einsamen Nachmittagen machte ich mich auf und ging
in Richtung Brimmler’s Bridge, weil man ja ein Ziel
braucht.
Wieviel Zeit habe ich auf dieser Brücke verbracht.
Ob du auch dort hinausgehst?
Wenn du nicht bald zurückkommst – sagen wir in einer
halben Stunde oder so –, sollte ich vielleicht die Gegend
absuchen, anstatt nur hier herumzusitzen. Vielleicht
hat dich mein Auftauchen nach all der Zeit durcheinan dergebracht, und du bist weggerannt aus diesem Zim 144
mer, aus der Burg und hast dich verlaufen im Wald und
im Schnee.
Dreißig Minuten noch.
Wind ist aufgekommen, und die Temperatur ist gefal len. Ich komme gerade von draußen, und meine Finger
sind noch klamm. Das Zimmer ist auch kalt. Die Hei zung war nie besonders gut hier in Castleton.
Ich habe noch einmal mit Dekan Albertson gespro chen, aber er sagt, ich solle mir keine Sorgen machen.
Die Jungs seien in Ferienstimmung. Sie seien nach
Pompey oder in den Wald oder zum Fischen gegangen.
Aber ich merke, daß er den Ernst der Lage nicht er kennt und daß er nicht weiß, was wir beide durchge macht haben seit August.
Also ging ich los, um nach dir zu suchen. Ich kannte
noch alle Wege, obwohl sie verschneit waren. Ich wi derstand der Versuchung, nach dir zu rufen. Du solltest
dich nicht vor deinen Kameraden schämen müssen,
weil dein Vater im Wald nach dir suchte, als wärst du
erst zehn Jahre alt.
Am Drachenteich war eine Gruppe beim Eisfischen. Sie
ließen eine Flasche rundgehen. Ich kauerte hinter
einem Busch und fühlte mich wie ein Spion, der seine
eigene Jugend beobachtet. Ich gab mir Mühe, aber ich
sah dich nicht unter ihnen. Das Komische ist, ich
konnte ihre Gesichter nicht erkennen, weil sie zu weit
weg waren. Aber dich würde ich überall erkennen, Ben,
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auch ohne dein Gesicht zu sehen. Ich kenne deine Hal tung, die Art, wie du den Kopf drehst, wenn du ir gendwo genau und konzentriert zuhörst. Ich war im mer überzeugt, daß ich dich besser kannte als irgend jemanden sonst auf der Welt. Besser sogar als deine Mutter, obwohl ich mit ihr natürlich intimeren Um gang pflegte. Aber ich kenne dich vom Augenblick dei ner Geburt an. Ich war Zeuge deines Heranwachsens, beobachtete deine Fortschritte. Die Schule in Delta wurde durch Monitore beobachtet mit einem Test- und Untersuchungssystem, das ich eingerichtet habe. So sah ich dein Heranwachsen sowohl als Sohn wie als Schüler. Wußte viel mehr über dich, Ben, als du dir je träumen ließest. Und liebte dich um so mehr. Ich kannte deine Schwächen und liebte dich für deine Ver suche, sie zu überwinden, weil ich wußte, daß du über deine Grenzen nicht hinauskonntest. Sosehr du es auch versucht hast. Nimm deine Baseballspiele in der Kinderliga zum Bei spiel. Unsere Messungen zeigten uns deine Fähigkei ten, dein Stehvermögen in Streßsituationen, deine Ver wundbarkeit so weit, daß ich einschätzen konnte, wie gut oder wie schlecht du in einem Spiel, in einer gege benen Situation sein wirst. Und doch habe ich dich nie einer Verhaltenstherapie ausgesetzt, um dich zu verän dern, Ben. Ich wollte dich nicht jenen Experimenten unterwerfen, mit denen man in Inner Delta zu tun hat te. Du warst kein Freiwilliger oder ein Wehrpflichti 146
ger, wie die andern Frauen und Männer dort. Du warst mein Sohn. Schließlich wurdest du nicht ausgebildet, um ins Feld geschickt zu werden. Ich bedaure natürlich, dich so zu kennen. Meine Kenntnis hat mir nie irgendeine Befriedigung bereitet – wie auch? Schließlich habe ich immer schon im vor aus gewußt, wie du dich verhalten würdest, ob du nun
zum Scheitern verurteilt warst oder nicht.
Wie ich mir wünsche, nie etwas gewußt zu haben.
Ich schweife ab. Aber im Augenblick ist nur wichtig, daß ich dich finde. Ich hatte ein Gefühl, während ich da draußen herum lief, als würde ich auch nach mir selbst suchen, weiß ich doch, daß du als mein Sohn meine eigenen Verletzlich keiten geerbt hast. Also überlegte ich: Wo könnte er sein? Und ich dachte an Brimmler’s Bridge, dieselbe Brücke, zu der ich als Schüler gepilgert war, um über das Leben und seine Mysterien nachzudenken. Ich machte mich auf den Weg zur Brücke, kämpfte mich durch Schnee und Wind, die Wege waren ver weht, und kein Mensch weit und breit. Der Wind heulte, und der Schnee machte mich ganz blind. Ich war ohne Handschuhe und Schal und vergrub meine Hände in den Manteltaschen, aber das machte das Ge hen mühselig. Schließlich mußte ich meine Hände der eisigen Luft aussetzen, um beim Gehen die Balance nicht zu verlieren. Endlich erreichte ich die Brücke. 147
Verwaist lag sie da. Der Schnee fiel so dicht, daß ich den Fluß nicht sehen konnte. Ich suchte nach deinen Fuß spuren, aber es waren keine zu sehen. Natürlich hätte sie der frische Schnee auch verwischt. Ich fand keinen Hinweis darauf, daß du zu der Brücke gegangen warst. Ich war nur meinen Instinkten gefolgt. Hatte mich an deine Stelle versetzt. Ich starrte lange in den Schnee. Ich sagte mir, daß nichts zu sehen war. Daß es keinen Grund gab, etwas zu sehen. Oder konnte ich mich selbst da unten sehen? Vielleicht war es an mir, den Schritt zu tun? Nie mehr daran denken müssen, daß ich dich auf diese Brücke geschickt hatte letzten Sommer. Eine Stimme in mir sagte: Warum nicht? Warum nicht springen? Ich horchte, der Wind heulte um mich herum wie eine Stimme, die mir zuflüsterte und ein Echo fand in meinem Herzen. Ich kehrte um, zitternd vor Kälte, und kam hierher zu rück, sicher, dich hier zu finden. Aber du warst nicht da. Bist nicht da. Überhaupt keine Spur von dir. Keine Schneereste, keine nasse Jacke. Nichts. Ich hab’ Angst, in den Schrank zu sehen. Stell dir vor, ich mach’ den Schrank auf und finde ihn leer, keine Kleider, überhaupt keine Spur von dir? Etwas anderes habe ich immerhin gefunden in diesem Zimmer. Die Blätter neben der Schreibmaschine. Es waren durchaus keine Schulaufgaben. 148
Was du da geschrieben hast, sagt mir, daß du hier warst,
und jetzt bist du fort.
Es sagt mir auch, was ich dir angetan habe.
O Ben.
Komm zurück. Bitte komm zurück. Damit ich dich um
Verzeihung bitten kann.
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»Wonach halten Sie Ausschau?« »Nach nichts.« »Sie schauen jetzt schon so lange aus dem Fenster. Se hen Sie etwas da draußen, Kate?« Sie haßte es, wenn er sie Kate nannte. »Nein, nichts draußen. Ich langweile mich nur. Dieser Bus ödet mich an, alles ödet mich an.« Das war freilich nicht die ganze Wahrheit. Sie war müde und erschöpft und angeekelt, aber sie war auch entschlossen. Wollte was tun, den Schlüssel benutzen, ihre einzige Hoffnung. Sie wußte, daß sie nicht länger auf Miro vertrauen konnte oder auf ihre törichte Hoff nung, ihn auf ihre Seite zu ziehen. Das geht nicht mit einem Monster. Sie mußte sich auf sich selbst verlas sen. Kate beschloß, die Chance mit dem Bus zu nutzen. Sie hatte nichts zu verlieren. Durch den Schlitz im Rück fenster studierte sie die Brücke, um herauszufinden, wie weit sie fahren mußte, um sie hier rauszubringen. Natürlich gab es Probleme. Sie mußte rückwärts fah ren. Und das blind. Die zugeklebten Fenster verhinder 150
ten jegliche Sicht. Sie mußte den Bus starten, sofort den Rückwärtsgang einlegen und das Steuerrad gerade hal ten, während sie über die Schwellen polterten. Wenn sie die Kontrolle verlor, konnten sie abstürzen. Ihre Augen untersuchten das Geländer. Solides Gußeisen wahrscheinlich, robust. Es sah stark genug aus, um sie vor dem Absturz zu bewahren, wenn sie aus der Spur kam. Sie seufzte und blies eine feuchte Haarsträhne von ihrer Wange. Wie weit mußte sie fahren? Sie versuchte die Distanz zu schätzen. Sie war lausig im Schätzen. Artkin hatte gesagt, die Brücke hätte die Länge eines FootballFeldes – eines von ›euren‹ Football-Feldern, hatte er gesagt –, und der Bus stand in der Mitte. Es war wie ein Touchdown-Lauf von Ron Stanley. Nicht mal so weit. Wenn Ron Stanley das mit einem Football schaffte, dann würde sie es mit einem Bus sicher auch schaffen. So lächerlich es war, der Gedanke heiterte sie auf. Sie verließ das Rückfenster, um sich vorne umzusehen, beim Fahrersitz und auf dem Armaturenbrett. Der Gang war inzwischen übersät mit den Abfällen der Kinder: Fetzen von ›Kleenex‹ voller Schokolade, fallengelasse nen Lunchtüten und Pergamentpapier, Plastikbeuteln und Papiertaschentüchern. Du bist eine lausige Haus frau, sagte sich Kate. Als sie den Abfall aufhob, fühlte sie zum erstenmal eine Erleichterung seit – ja, wie lange schon? – Ewigkeiten. 151
Miro kam und hielt ihr den Plastikeimer für den Abfall hin. Sie warf ihn hinein, ohne Miro anzusehen. Sie wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Sie spähte durch den schmalen Schlitz in der Wind schutzscheibe und sah den Rückspiegel auf dem linken Kotflügel. Er war mindestens einen Fuß hoch und einen halben Fuß breit und bot einen guten Ausblick auf die Schienen hinter dem Bus. Aber vom Steuerrad aus konnte sie nicht in den Spiegel schauen. Die ver dammten Klebestreifen. Es gab eine einfache Lösung: Sie mußte nur die Streifen herunterreißen, nachdem sie den Motor gestartet hatte. Jetzt saß sie hinter dem Steuer, Hände auf dem Steuerrad. Das war das größte Problem, der Bus selbst, den Motor anlassen. Würde er schnell genug anspringen? Der Bus war nicht gerade neu, sie wußte nicht, wie alt er war. Das Getriebe war schwerfällig und störrisch, die Gänge gingen schwer rein. Aber sie mußte ja nur den Rückwärtsgang einle gen, und fertig. Etwas anderes sprach noch für sie: Alle Busse, die für den Transport von Kindern eingesetzt wurden, überprüfte der Staat, und sie mußten in gutem Zustand sein. Sie spürte Miros Augen auf sich, ignorierte ihn aber. Er wußte nichts von dem Schlüssel. Wahrscheinlich nahm er an, sie sei nur nervös. Sollte er doch zuschauen, wie sie ihre Flucht vorbereitete. Schlüssel in die Zündung. Kupplung durchtreten. Gang rein. Klebeband vom Fenster reißen. Und Miro? Er war ein Faktor in ihrem 152
Plan. Sie mußte warten, bis er wieder mal nach draußen ging, um Luft zu schnappen. Sie untersuchte die Klebestreifen an der Windschutz scheibe und entdeckte ein oder zwei Stellen, wo sie sich vom Glas gelöst hatten. Sie konnte sie leicht abziehen und sich einen freien Blick verschaffen. Auch auf den Lieferwagen. Und wer immer in dem Lieferwagen war – Artkin oder die andern beiden –, konnte sehen, was sie machte. Aber sie mußte diese Chance nutzen. Auch wenn sie nicht wußte, ob sie am Ende wirklich den Mut dazu aufbringen würde. Er beobachtete das Mädchen. Wie er noch nie jemanden beobachtet hatte. Von überall im Bus, aus allen Perspektiven. War ›beobachten‹ das richtige Wort? Früher hatte er auf Artkins Befehl hin Türen beobachtet, Autos und Flughafeneingänge. Aber das hier war etwas anderes. Hier benutzte er seine Augen wie ein Blinder seine Hände. Wie zum Beispiel jetzt: Er kniete sich hin und tat, als müßte er seinen Schuh zubinden, aber er spähte zu ihr hoch. Sie war über ein Kind gebeugt, und er sah nur die rechte Seite ihres Gesichts. Ein Lichtstrahl hob ihr Profil hervor. Er wünschte sich, dieses Profil mit dem Finger nachzeichnen zu können, die Stirn entlang, über die Nase, die ein bißchen nach oben schaute, und über die Lippen zu dem zierlichen Kinn. Er stellte sich 153
vor – törichter Gedanke –, daß sie ihren Mund öffnete und an seinem Finger knabberte. Der Gedanke schok kierte ihn. Wo kamen solche Gedanken her? Sein Fin ger in ihrem Mund? Er stand auf und wandte sich ab. Später sah er ihr heimlich zu, wie sie ihren müden Rük ken streckte, ihren Kopf nach hinten legte und zum Dach des Busses hochschaute. Sie massierte ihre Schul tern, dann ihren Rücken. Es sah aus, als stünde sie unter der Dusche und unsichtbares Wasser spritzte auf ihren Körper. Sie warf die Arme nach hinten wie Flügel. Die Bewegung ließ ihre Brüste hervortreten, das T-Shirt spannte sich. Die sexuelle Freizügigkeit amerikanischer Mädchen brachte ihn immer noch aus der Fassung. Sie hatten kein Schamgefühl. Aber Kate wußte ja nicht, daß er sie beobachtete. Seine Augen waren halb ge schlossen, während er sich in den Sitz flezte und Des interesse heuchelte. Aber er konnte die Augen nicht von ihren Brüsten lassen. Sie waren nicht groß, aber sie zeichneten sich deutlich ab. Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er eine dieser Brüste anfassen könnte. Noch später befand sich Kate wieder hinten im Bus und sah aus dem Fenster. Miro sah, wie ihr blondes Haar über ihre Schultern floß. Ihre Taille ging sanft in ihr Gesäß über. Wie sagten die Amerikaner? Arsch. Ein ab gestumpftes, rohes Wort. Aber die Attraktivität eines runden Pos in engen Jeans konnte er nicht leugnen. Er versuchte sich an ihren Po zu erinnern, wie er ihn vor hin gesehen hatte, unbedeckt, nackt, blaß und rosa und 154
ganz rund, mit einem flüchtigen Blick, zu flüchtig. Jetzt konnte er ihren Po ohne Eile studieren, weil sie offen bar der Blick aus dem Fenster völlig gefangennahm. Er hätte mißtrauisch sein sollen, natürlich, und er wäre es auch gewesen, aber doch nicht bei einem amerikani schen Schulmädchen, so einem hohlen, ausdruckslosen Geschöpf ohne jedes Lebensziel. Sie waren schön, wie Blumen einfach schön sind, ohne Zweck. Er starrte weiter ihren Körper an, während sie aus dem Fenster sah. Sollte sie. Sie war eine Blume, und Blumen sollen ihren Neigungen folgen. Bis der Sommer vorbei ist und sie sterben. Der Nachmittag zog sich hin, die Hitze nahm ständig zu und drückte gegen die zugeklebten Fenster und auf das Dach wie die heiße Hand eines Riesen. Die Heli kopter kamen und gingen, dröhnten und stampften und flatterten, ehe sie sich wieder zurückzogen und ver schwanden. Nach einer Weile hatte Kate ihren Rhyth mus erkannt: alle fünfzehn Minuten. Gelegentlich heulte eine Sirene und füllte die Luft mit ihrem Notsi gnal: irgendwas passiert, irgendwas schiefgegangen. Ferne Rufe erreichten sie manchmal, dann spähte Kate aufgeregt durch die Schlitze, aber sie sah keine Bewe gung da draußen, keine Aktivitäten, der Wald dicht und still. Was konnten sie auch tun, solange die Entfüh rer die Kinder hatten? Gelegentlich besuchte Artkin den Bus, besprach sich 155
mit Miro, überprüfte die Fenster, warf einen teil nahmsvollen Blick auf sie und die Kinder, als mache er
Inventur in einem Warenhaus und prüfe Nummern,
Mengen, nichts sonst. Er gab den Kindern noch einmal
Süßigkeiten mit Schlafmitteln, und Kate protestierte
nur leise. Einmal bot ihr Artkin auch Schokolade an.
»Warum schlafen Sie nicht wie die Kinder?« sagte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Die Zeit vergeht schneller«, sagte er.
Sie ließ sich fast überreden. Aber sie schüttelte den
Kopf. »Nein.«
Er sah an ihr vorbei, und Kate drehte sich um, um zu
sehen, was er entdeckt hatte. Raymond hatte die Au gen offen und beobachtete sie. Diese leuchtenden Au gen.
»Hallo, junger Mann«, sagte Artkin und ging zu dem
Kind. »Du siehst ziemlich wach aus. Hast du nicht ge schlafen?«
Raymond warf einen Blick auf Kate.
»Möchtest du nicht ein paar Süßigkeiten?«
Raymond schaute Kate wieder mit fragenden Augen
an. Artkin merkte es.
»Nimm die Schokolade«, sagte er.
Raymonds Kinn begann zu zittern.
»Wie heißt du, Junge?«
»Raymond«, sagte er wispernd.
O Raymond, dachte Kate. Armer Kerl. Nimm die
Schokolade, versuch nicht, tapfer zu sein, verschlaf die 156
sen ganzen Alptraum. Sie wußte, daß es sowieso sinn los war, auf die Hilfe eines fünfjährigen Kindes zu zäh len. Sinnlos und töricht. »Magst du keine Süßigkeiten, Raymond?« fragte Art kin, diese trügerische Freundlichkeit wieder in der Stimme, einer Stimme, die sie in ihren Träumen verfol gen würde. »Meine Mutter sagt, das ist nicht gut für die Zähne«, sagte Raymond tapfer mit seiner Alt-MännerStimme. »Aber das ist etwas anderes hier, Raymond«, sagte Art kin. »Du kannst dir die Zähne putzen, wenn du nach Hause kommst, und dann bekommst du ganz bestimmt keine Löcher.« Wieder sah sie Raymond an. Kate sagte: »Nimm die Schokolade, Raymond.« Raymonds Augen füllten sich mit Tränen, als er seine Hand aufhielt. »Jetzt iß«, sagte Artkin. »Ist gut, wird dir schmecken.« Raymond steckte die Schokolade in den Mund und kaute, und die Tränen liefen ihm über die Backen. »So ist es gut«, sagte Artkin. »Und jetzt noch eine.« Kate wandte sich ab. Später schlief Raymond wie die andern Kinder. Hatte Artkin die Dosis erhöht? In den letzten ein, zwei Stun den waren sie immer zahmer geworden, wie gelähmt. Die Droge schien ihren Körper stillzulegen. Seit dem ersten Gebrauch des Eimers am Morgen hatte keines 157
der Kinder noch einmal danach gefragt. Sie wollten auch nichts zu essen. Kate fühlte sich selbst wie unter Drogen. Ihre Bluse war feucht. Ihr Haar hing in Strähnen, als hätte sie es wochenlang nicht gewaschen. Die Hitze klebte an ihrer Haut, drang durch die Poren und betäubte ihr Gefühl. Ihre Beine wurden schwer, wie nach einem langen Dauerlauf. Der Kopf sank ihr auf die Brust, die Augen fielen ihr zu, und sie war zu erschöpft, der süßen Mattigkeit zu widerstehen, die sich so wunderbar in ihrem Körper ausbreitete, so sanft. Sie schlief ein, ein tiefer traumloser Schlaf in un durchdringlicher Dunkelheit. Kein Bus, keine Kinder, keine Entführer, keine Helikopter, keine Sirenen. Nichts. Miro sah ihr beim Schlafen zu. Sie war wie eines der Kinder. Unbewacht, ungeschützt. Wenn sie wieder zum Times Square gingen, mußte Art kin ihm ein Mädchen besorgen. Er war neugierig. Kleine Schweißtröpfchen glänzten auf Kates Lippen, ein feuchter Schnurrbart. Eine Locke war über ihr Ge sicht gefallen und hatte die Schläfe freigelegt, ein Geflecht kleiner blauer Adern. Die Kugel in ihrer Schläfe würde eine Blume aus Blut hervorbringen. Trotzdem bedauerte er, daß der Busfahrer kein Mann war. Das hätte es ihm erspart, dieses Mädchen zu tref fen und den Schrecken in ihren Augen zu sehen, wenn 158
sie ihn ansah. Sie hatte gesagt: Fühlen Sie denn gar nichts? Was gab es da zu fühlen? Ein Mann lebte sein Leben und tat seine Pflicht und sah zu, daß er überlebte. Wie Artkin. Wie er sich wünschte, eines Tages wie Artkin zu sein. Das Mädchen bewegte sich, hob eine Hand an ihre Wange. Miro entfernte sich, bevor sie aufwachte und ihn dort stehen sah wie einen Spanner. Da schrie ein Kind. Kate wachte auf und wußte sofort, wo sie sich befand: im Bus, mit den Kindern und den Entführern. Sie hielt ihre Augen noch einen Augenblick geschlossen, wei gerte sich, sie zu öffnen, bevor sie die Last wieder auf sich nahm, hier im Bus zu sein. Das Echo eines Schreis drang an ihr Ohr. Sie öffnete die Augen. Waren die Kinder in Ordnung? Sie hörte ihr sanftes Schnarchen. Sie sah sich um. Sie lagen alle in ihrem Drogenschlaf. Sie bewegte ihren Fuß und spürte den Schlüssel zwi schen den Zehen. Wenn sie versuchen wollte, den Bus hier rauszufahren, sollte sie es besser jetzt tun, solange es noch hell war. Der Augenblick war also gekommen. Aber sie wußte nicht, ob sie bereit war oder nicht. Jetzt brauchte sie eine Kate Forrester, von der sie noch nichts gewußt hatte: die tapfere Kate Forrester. Sie hatte die Hände am Steuerrad, und sie war bereit zu 159
handeln: ein Fuß auf der Kupplung, der andere auf dem Gaspedal. Sie hatte die nötigen Schritte geprobt. Der Reihe nach. Sie hatte hier gesessen, fast eine Stunde lang, und gewartet. War die ganze Sache im Kopf durchgegangen. Aber es war sinnlos, würde nie funktionieren ohne Miro. Der Befreiungsversuch hing von ihm ab. Er mußte den Bus verlassen, damit sie die Tür zumachen und ihn aussperren konnte. Aber Miro machte keine Anstalten, den Bus zu verlassen, obwohl er das vorher ganz regelmäßig getan hatte. Inzwischen machte sich Kate Sorgen wegen des schwindenden Tageslichts. Im Bus breitete sich ein Zwielicht aus. Und als sie durch den Schlitz in der Windschutzscheibe nach draußen schaute, sah Kate, daß das Dach des Lieferwagens allmählich mit der ein brechenden Dunkelheit verschmolz. Wenn sie noch länger wartete, mußte sie die Scheinwerfer benutzen, was die Insassen des Lieferwagens sofort alarmiert hätte. Noch was machte ihr Sorgen: Was war mit den Polizisten und den Soldaten im Wald? Werden sie schießen, wenn sich der Bus in Bewegung setzt? Sie wußte es nicht. Sie wußte nur, daß sie die Chance nutzen mußte. Nein, sie würden nicht auf einen Bus voller Kinder schießen. Die Kinder waren Gott sei Dank ruhig. Im Moment war sie froh über die Drogen, die es ihr erlaubten, sich ganz auf ihren Plan zu konzentrieren. Sie hatte das drin gende Bedürfnis, etwas zu tun, den Plan in die Tat um 160
zusetzen, bevor sie kalte Füße bekam. Aber sie konnte nichts tun, solange Miro im Bus war. Nur warten. »Es ist heiß hier drin«, rief sie Miro zu. Er stand am Rückfenster und drehte sich zu ihr um. Sie hatte sich schon einmal über die Hitze beklagt. Da hatte er nur mit den Schultern gezuckt. Jetzt wurde Kate kühner: »Könnten Sie nicht einen Augenblick die Tür aufmachen. Es ist zum Erstik ken.« Miro kam nach vorne, und Kate fühlte sich durchsich tig. Würde er Verdacht schöpfen? Konnte er auf die Idee kommen, daß sie einen Plan verfolgte? Er konnte nicht Gedanken lesen, oder? Miro sah Kate nicht an, als er zur Tür ging. Er schloß sie auf, und Kate betätigte dann den Bügel, der die beiden Flügel der Tür aufklappte und einen Schwall frischer Luft hereinließ. »Ist das nicht besser so?« sagte Kate, und die Stimme klang viel zu scharf und schrill für ihre Begriffe. Miro antwortete nicht. Er schaute nach draußen. Kate hielt die Luft an. Ihre Hände lagen locker auf dem Lenkrad und waren bereit für die Griffolge, die ablau fen sollte, sobald er den Bus verließ. Aber er tat es nicht. Plötzlich setzte er sich auf die unterste Stufe, ließ seine Beine nach draußen baumeln und blockierte jede Mög lichkeit, die Tür zu schließen. Verdammt. 161
»Katie, Katie«, rief ein Kind.
Verdammt. Sie konnte den Fahrersitz nicht verlassen,
nicht nachdem sie Miro endlich zum Öffnen der Tür
gebracht hatte. Das war wahrscheinlich ihre letzte
Chance.
»Katie ...« Ein Kind rief.
Sie wußte nicht, wer da rief. Sie klangen alle gleich,
wenn sie aus dem Drogenschlaf aufwachten und
schrien.
»Ich komm’ sofort«, rief sie nach hinten.
Miro stand auf und schaute nach dem Kind.
»Sei ruhig«, sagte er.
Sein Kommando brachte Ruhe.
Er sah Kate freundlich an. »Die Kinder. Nie haben Sie
Ruhe vor ihnen.«
Er stand da, und Kate wagte sich nicht zu bewegen,
fühlte sich wie auf dem Drahtseil. Sie lächelte ihn an,
aber es mußte ein erbärmliches, gezwungenes Lächeln
sein.
Er setzte sich nicht hin. Stand da, reckte den Hals. Und
dann ging er wunderbarerweise die Stufen hinunter.
Und hinaus. Er war weniger als einen Schritt von der
Tür entfernt, aber draußen. Mit dem Rücken zu ihr.
Kate hörte, wie sie tief Luft holte.
Jetzt.
Sie bückte sich und holte den Schlüssel aus dem Schuh.
Das Schuhband hatte sie schon aufgemacht. Sie sah
nach Miro: er schaute immer noch weg von ihr. Kate
162
legte die Hand auf den Türbügel. Und zögerte. Sollte
sie die Tür schließen und dann den Motor anlassen,
oder umgekehrt? Wenn sie nun die Tür zumachte und
der Motor sprang nicht an? Dann hätte Miro Zeit,
Alarm zu geben. Aber wenn sie den Motor anließ,
ohne die Tür zu schließen? Er stand nur einen Schritt
entfernt und konnte leicht in den Bus zurückspringen.
Ihr sorgfältig ausgeheckter Plan löste sich auf.
Ich kann so was nicht, dachte sie. Ich bin kein Held,
bin nicht tapfer. Sie sah sich nach den Kindern um.
Möglicherweise setzte sie unnötig deren Leben aufs
Spiel.
Um Himmels willen, Kate, komm jetzt. Denk nicht
soviel. Mach es.
Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloß. Der Schlüs sel rastete mit einem befriedigenden Klicken ein.
Dann machte sie mehrere Sachen auf einmal. Trat die
Kupplung durch. Löste die Handbremse. Setzte den
rechten Fuß aufs Gaspedal. Blies eine Locke aus ihrem
Gesicht. Sie warf einen flüchtigen Blick auf Miro: im mer noch draußen, immer noch ein, zwei Schritt ent fernt.
Jetzt.
Sie legte den Rückwärtsgang ein, vorsichtig, weil er
manchmal krachte. Diesmal freilich nicht. Leise rastete
er ein. Mehr schalten mußte sie nicht. Es gab nur eine
Richtung: rückwärts.
Sie drehte den Zündschlüssel und trat das Gas durch.
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Die Maschine ächzte, ein faules, widerwilliges Ge räusch: wie ein Gähnen. Und wie ein Gähnen war es schläfrig, matt. Jesus! Sie pumpte am Gas und be merkte nun eine Bewegung in ihrem Augenwinkel: Miro. Sie zog am Türbügel. Die Tür schloß sich mit einem erleichternden Zischen. Kate drehte sich zur Seite, um zu prüfen, ob sie zu war, und sah Miros Gesicht. Es war wie immer grotesk durch die Maske, aber jetzt war es fast eine Karikatur, Augen und Mund erstaunte ovale Löcher. Mag sein, daß er etwas schrie, aber sie hörte ihn nicht. Sie hörte ihn nicht, weil der Motor angesprungen war und pulsierte und brummte. Sie hatte oft ein schwerfäl liges Tier in dem Bus gesehen, einen Elefanten oder ein Nashorn. Aber jetzt klang er wie ein Panther, ge schmeidig und weich. Oder wurde sie jetzt hyste risch? Sie trat das Gas durch und ließ die Kupplung kommen, quälend langsam, weil sie den Motor nicht abwürgen wollte. Sie sah Miro am Rand ihres Gesichtskreises, und sie merkte, daß sich die Kinder rührten. Aber sie konzentrierte sich ganz auf die empfindliche Balance zwischen Gas und Kupplung. Der Bus ruckte an. Mein Gott, das Fenster. Sie zog an der losen Ecke des Klebebandes, und es löste sich vom Fenster wie ein Pflaster von trockener Haut. Sie zog noch einen Streifen ab und noch einen und legte 164
die Fahrerseite der Windschutzscheibe frei, wobei sie die losen Enden der Klebstreifen an der rechten Seite hängen ließ. Sie brauchte nur die Sicht auf den Rück spiegel. Und die hatte sie jetzt, sie sah, wohin sie fahren mußte. Sie sah auch den Lieferwagen, dessen Wind schutzscheibe ebenfalls zugeklebt war bis auf einen schmalen Schlitz in der Mitte. Sie sah Miros Schreie, während er an die Tür trom melte. Die Kinder brüllten. Zum Teufel mit der Angst, daß sie den Motor abwürgen könnte. Sie trat auf das Gaspedal und drückte es bis zum Anschlag durch. Und sie ließ die Kupplung kommen. Der Motor heulte auf, er stampfte gewaltig, seine Schwingungen bebten durch ihren Körper und übertrugen sich auf den Bus selbst. Er ruckte noch einmal und setzte sich in Bewe gung, der Motor griff, und der Bus war nun nicht mehr die geschmeidige Katze, sondern das schwerfällige Un getüm – aber er fuhr, er fuhr. Kate sah in den Rückspie gel. Sie mußte sichergehen, daß der Bus in der Spur blieb. Sie hielt das Lenkrad fest. Los! Der Bus bebte, während er nach hinten rumpelte. Kate sah kurz zur Seite: Miro trottete neben dem Bus her. Die Kinder schrien. Eines fiel plumpsend auf den Bo den. Kate hielt den Fuß auf dem Gaspedal. Sirenen von irgendwoher. Sie sah Artkin aus dem Lie ferwagen herausspringen, unbeholfen auf die Schienen torkeln, aus der Balance wie ein schlechter Schlitt schuhläufer, und wild gestikulieren. Antibbe folgte 165
ihm, stolperte beim Aussteigen, und sein schwerer Körper schlug auf die Schienen. Sein Revolver entglitt ihm dabei wie ein Stück Seife. Der Bus bekam Fahrt. Er mahlte und röhrte und bebte. Kate hielt das Lenkrad krampfhaft fest, wäh rend der Bus rückwärts polterte bei voller Motorkraft. Sie trieb den Bus weiter, mit Vollgas. Miro trommelte noch immer gegen die Tür. Sie konnte Artkin nicht se hen, aber Antibbe war wieder auf die Beine gekom men und bewegte sich nun auf den Bus zu. Für so einen schweren Mann war er erstaunlich behende. Sie sah mit Schrecken, daß er auf die Stoßstange gesprun gen war und nun versuchte, auf den Kühler zu klet tern. Mit einem Bein suchte er einen Halt, während sein Revolver direkt auf Kate zeigte. Würde er einfach blind auf sie schießen, um den Bus zu stoppen? »Kate!« Miros Stimme drang zu ihr, ein Schrei, wie von einem Tier. Seine Hand hatte er durch die Gummipuffer der Türflügel gesteckt, während er neben dem Bus herlief. Antibbe war jetzt auf der Kühlerhaube. Vorsichtig ba lancierte er auf Händen und Knien, wobei der Revol ver irgendwie immer noch auf sie gerichtet war. Die Kinder weinten und schrien. Und sie? Schrie sie auch? Mit aller Kraft, die sie hatte, stemmte sie sich gegen das Gaspedal – und der Motor setzte aus. Ächzte und war still. 166
Der Bus stand ohne Grund, als wäre er gegen eine Mauer gefahren. Kate wurde nach vorn geworfen und mußte sich am Lenkrad festhalten, um nicht gegen die Scheibe zu flie gen. Antibbe wurde von der Kühlerhaube geschleu dert. Die Schreie der Kinder schienen eine Oktave nach oben zu gehen. Sie sah sich nach ihnen um. Sie waren alle von ihren Sitzen geschleudert worden. Kate sah mit Entsetzen, daß der Lieferwagen nur drei ßig oder vierzig Fuß entfernt war, gar nicht weit und nicht weit genug. Sie hatte das Gefühl, weiter gefahren zu sein, vielleicht bis zum Ende der Brücke. Sie ließ den Kopf hängen und sank auf dem Fahrersitz zusammen. Sie war den Tränen nahe. Wie ungeschickt. Verdammt noch mal. Sie hatte versagt. Kläglich versagt, sich und die Kinder enttäuscht und ihre beste, vielleicht einzige Chance, hier herauszukommen, vertan. Sie hatte alles nur noch schlimmer gemacht, sie vielleicht alle in Ge fahr gebracht und Vergeltungsmaßnahmen provo ziert. Und sie war wieder feucht da unten. Ihre Migräne kam wieder. All das, was sie so an sich haßte. Miro trommelte an die Tür, jeder Schlag ein Nagel in ihr Fleisch. Ohne aufzublicken, betätigte sie den Bügel und ließ Miro in den Bus.
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Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie: So, das ist es, jetzt sterbe ich. Sie schloß die Augen und wartete ab. Dann machte sie die Augen wieder auf, denn die Dun kelheit war schlimmer als Artkins Wut: Dunkelheit, das war schon fast wie der Tod. Artkins Augen waren flach und kalt und schwarz. Die Maske verstärkte ihre Kälte, ihre Mitleidlosigkeit noch. Zorn wäre ihr lieber gewesen. Statt dessen richtete sich diese kalte Wut gegen sie wie die Augen einer Schlange, die den Abstand messen, den die Fangzähne überwin den müssen, um zuzubeißen. Er hatte sie ignoriert, bis zu diesem Augenblick der Konfrontation. Als der Bus stehenblieb, war er Antibbe zu Hilfe geeilt und hatte den stämmigen, hinkenden Mann über die Schienen zum Lieferwagen gebracht. Kate wartete auf die Kugeln der Scharfschützen, aber alles blieb ruhig. Miro stand auf Artkins Befehl hin in der Tür des Busses: »Paß auf sie auf. Wenn sie sich be wegt, töte sie.« Jetzt hielt sich Kate am Lenkrad fest um des nackten Lebens willen. Die Kinder riefen nach ihr, aber sie gab keine Antwort. Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Sie spürte Miros Gegenwart neben sich. Nur ein einzi ges Mal hatte sie ihn angesehen seit ihrem mißglückten Fluchtversuch. Und er hatte weggeschaut und sich ge weigert, ihren Blick zu treffen. Sie wußte, daß er nun ihr erklärter Feind war. Sie hatte das Band zwischen ihnen zerrissen. 168
Nach wenigen Minuten kam Artkin in den Bus zu rück – hastig, geduckt, vorsichtig. Und immer noch kein Feuer von den Scharfschützen. Er gab Miro eine zerknüllte Papiertüte. »Gib sie den Kindern. Es sind die letzten«, sagte er. Er wandte sich an Kate. »Stehen Sie auf«, befahl er. Sie stand auf und stellte sich verängstigt in den Ein gang. Artkin drehte den Schlüssel in der Zündung und fuhr den Bus auf seine alte Position zurück. Der Motor lief weich. Artkin steckte den Schlüssel in seine Tasche. Er stand auf und sah sie an. »Keine Bewegung«, sagte er. Er packte sie an den Schultern. Hart. Seine Berührung widerte sie an. Seine Hände glitten an ihrem Körper herunter und durchsuchten sie. »Drehen Sie Ihre Taschen um.« Sie tat es und zog ihre Geldbörse und das zusammenge knüllte Höschen heraus. Artkin steckte die Geldbörse ein. Er faltete das Höschen auseinander und schüttelte es. Erwartete er noch einen Schlüssel irgendwo? Sie bemerkte jetzt die Kinder. Sie protestierten. Und Miro, wie er auf die Proteste reagierte. »Nimm die Schokolade, nimm sie.« Eins der Kinder würgte, ein anderes weinte. »Ich mag nichts mehr.« Und wieder ein anderes: »Mir ist schlecht.« Artkin ignorierte den anwachsenden Lärm, während 169
sich seine Hände unaufhörlich über ihren Körper be wegten, über ihren Bauch, über ihre Schenkel, ge meine, obszöne Hände, die sie schaudern machten. Die Beine hoch, über ihren Po, ganz unpersönlich, aber die Unpersönlichkeit war irgendwie verletzender und machte ihr mehr Angst, als wenn diese Hände sich Zeit gelassen hätten, zärtlich geworden wären, be merkt hätten, daß es der Körper einer Frau war, den sie da durchsuchten. Seine Hände glitten wieder hoch, unter ihre Achselhöhlen, über ihre Brüste. Ihre Brüste hätten aus Stein sein können. »Ihre Schuhe«, sagte Artkin. Sie schlüpfte aus ihren Turnschuhen. Er sah hinein, schüttelte sie und warf sie ihr vor die Füße. Sie bückte sich und zog sie wieder an, ließ sie aber offen. Sie stand wieder auf und merkte, daß Artkin sie seit die sem ersten kalten Blick nicht mehr direkt angesehen hatte. Er wich ihrem Blick aus. Und das war noch schlimmer als seine Wut. Sie hatte gehört, daß Ge schworene dem Verurteilten nicht in die Augen sehen können. Es ist schwer, jemandem in die Augen zu schauen, für dessen Tod man verantwortlich ist. Miro hatte sich von ihr abgewandt. Und Artkin wich ihren Augen aus. Wenn sie sich nicht so erschöpft gefühlt hätte, so kaputt, so völlig leer, sie hätte sich bestimmt in Panik aufgelöst. Die Kinder schrien immer lauter, klagten über Bauch weh, riefen nach ihrer Mutter oder nach Kate. Sie 170
wagte einen Blick nach hinten. Miro hielt ihnen hilflos die Tüte hin und wußte nicht, was er tun sollte. Eins der Kinder, die blonde Karen, beugte sich aus ihrem Sitz und würgte. Kate widerstand der Versuchung, zu dem Kind hinzulaufen, mit dem Eimer, damit es das ganze Gift aus sich herausspucken konnte. »Ruhe«, schrie sie Miro an. »Seid ruhig.« Aber der Lärm hörte nicht auf, das Wimmern und Wei nen und Jammern. »Das war ein schlimmer Fehler, Miss«, sagte Artkin, und sein Gesicht war nur einen Atemzug weit entfernt von ihrem. »Ein törichter Fehler. Töricht, weil die Ver handlungen laufen und Ihre Freilassung fast perfekt ist. Ihre Dummheit hätte alles ruinieren und einen Angriff auslösen können.« Sie sagte nichts. Aber ein Hoffnungsschimmer flak kerte in ihr auf. Wenn er mit ihr sprach, ihr die Hölle heiß machte, dann würde er sie vielleicht nicht umbrin gen. Nicht gleich, noch nicht. »Sie sind immer noch bis zu einem gewissen Grade nützlich für uns. Wegen der Kinder. Sie bekommen jetzt die letzten Drogen.« Er sah sich nach ihnen um. »Sie sind ziemlich durcheinander. Sie müssen sich um sie kümmern. Beruhigen Sie sie. Während die Ver handlungen laufen, können wir kein Durcheinander gebrauchen. Wir sind gezwungen, ein Kind zu töten, wenn die da draußen irgend etwas unternehmen. Und sie beobachten auch, was hier passiert.« 171
Jetzt kam die Hoffnung wieder. Zeit. Sie hatte wieder
mehr Zeit. Die kleine Karen würgte es noch immer.
»Eins der Kinder ist krank. Kann ich zu ihm gehen?«
fragte Kate.
»Keine Tricks mehr, Miss. Noch ein Trick, und Sie ster ben. Glauben Sie mir, diese Mission ist mehr wert als
Ihr Leben.«
»Keine Tricks mehr«, versprach Kate.
Artkin trat beiseite. Kate eilte zu dem würgenden Kind
und kam gerade rechtzeitig, als das Kind sich erbrach.
Eine rötliche, ekelerregende Flüssigkeit ergoß sich auf
den Boden des Busses und über die Hände und die
Jeans von Kate, die Mühe hatte, nicht selbst zu kotzen,
während sie das keuchende Kind an sich gedrückt hielt
und ihm zuflüsterte, was immer ihr an beruhigenden
Worten einfiel.
»Miro.«
Artkins Stimme war flach, kalt, tödlich.
Miro zögerte, dann stieg er über die Pfütze von Erbro chenem und ging nach vorne. Kate brachte es fertig,
eine winzige Portion Mitleid für ihn zu empfinden.
Miro würde seinen Teil der Strafpredigt abbekommen,
und Kate war schuld daran.
Er spürte den Hieb von Artkins Worten. Die Wucht.
Er fürchtete, das Mädchen könnte etwas hören, und das
hätte die Sache noch peinlicher und die Erniedrigung
noch größer gemacht. Aber obwohl Artkins Worte
scharf waren, sprach er flüsternd, erregt und voller
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Zorn, aber wenigstens flüsternd. Und die Kinder wa ren immer noch in Aufruhr, weinten und suchten die Zuwendung des Mädchens. Trotzdem hörte Miro den Hintergrundlärm kaum, weil ihn Artkins Worte so heruntermachten. Er fror in sei nen Kleidern, sein Gesicht war schamrot unter der Maske. Er wünschte, er hätte seine Augen bedecken können, um Artkins Zorn zu entgehen. Du hast deine Pflicht verletzt. Du hast das Mädchen aus den Augen gelassen. Du hast ihr Vertrauen nicht ge wonnen. Du hast beinah diese Operation zum Schei tern gebracht. Miro zuckte zusammen wie von einer Ohrfeige. Er war froh, daß Stroll und Antibbe im Lieferwagen waren und das hier nicht mitbekamen. Aber letztlich war es Artkin, der zählte, Artkin, den er nicht enttäuschen wollte, Artkin, dessen Lob er immer gesucht hatte. Ich akzeptiere Fehler, weil Menschen Fehler machen. Und von der Jugend erwarte ich nichts anderes. Aber unachtsam zu sein ist etwas anderes. Auszusteigen und das Mädchen im Bus allein zu lassen, das war mehr als ein Fehler. Artkin hatte ihn auch früher getadelt. Aber immer mit Verständnis. Wie ein Lehrer einen Schüler tadelt. Aber das hier war schlimmer. Er erteilte ihm einen Rüffel wie jedem anderen Soldaten auch. Und Miro stürzte in Verzweiflung. Er war zum Mann geworden bei dieser 173
Operation. Artkin hatte ihm vertraut. Ihn wie einen
Mann behandelt. Und er hatte Artkin enttäuscht. Er
hatte keine Zeit, auf seine Männlichkeit stolz zu sein,
weil er sie gleich dem Gespött preisgab.
»Eins hat dich gerettet«, sagte Artkin.
Miro bewegte sich nicht, hielt den Atem an, versuchte
sogar das Blut in seinen Adern zu stoppen. Was? über legte er und wagte nicht zu fragen.
»Ich selbst hätte das Mädchen durchsuchen sollen.
Oder es dir befehlen«, sagte Artkin. »Ich war auch
nachlässig. Ich bin mitschuldig.«
Gemeinsamkeit mit Artkin? Sogar in der Schuld?
Konnte er darauf stolz sein?
Und dann sagte ihm Artkin, er solle auf der Hut sein,
mehr noch als zuvor. »Lerne aus deinen Fehlern«, sagte
er mit einer Warnung in der Stimme. »Wir kommen
jetzt in eine kritische Phase. Bleib wachsam.«
Erst als Artkin schon wieder im Lieferwagen war, ka men Miro bestimmte Worte noch einmal in den Sinn.
Artkin hatte gesagt: Eins hat dich gerettet.
Und Miro dachte: Wovor gerettet?
Nacht breitete sich aus im Bus, ohne daß Kate es wahr nahm. Eigentlich vertiefte die Nacht nur die Düsterkeit
im Bus, aber sie brachte auch eine Art Erschöpfung mit
sich, die sich wie eine tröstende Decke über die Insassen
legte. Es stank nach Urin und Schweiß und Erbroche nem. Aber irgendwie war es weniger schlimm in der
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Dunkelheit, wahrscheinlich eine Täuschung der Sinne. Weil der Bus den ganzen Tag schon im Dämmer gele gen hatte, gewöhnten sich Kates Augen schnell an die Dunkelheit. Die Kinder reagierten mit ein oder zwei Ausnahmen dankbar auf die einbrechende Nacht und fielen in einen jetzt offensichtlich natürlicheren Schlummer, sie atmeten regelmäßig und schliefen ru hig ohne die Ausbrüche und Anfälle und das plötzliche Aufschrecken aus dem Drogenschlaf. Ein paar hatten sich in den Eimer übergeben, und ein paar klagten über Bauchweh. Aber Kate hatte sie beruhigen können, in dem sie ihnen versprochen hatte, daß morgen alles bes ser und sie wieder zu Hause bei ihren Eltern sein wür den. Die Hitze war immer noch drückend. Alle Fenster und Türen waren zu. Kate spürte, daß sie alles aushal ten würde. Die Tatsache, daß sie noch am Leben war, den sinnlosen Fluchtversuch ohne eine Vergeltungs maßnahme von Seiten Artkins gegen sie oder die Kin der überstanden hatte, gab ihr das Gefühl, alles überste hen zu können, Hitze und Kälte, Hunger und Durst. Es fiel ihr auf, daß sie den ganzen Tag kaum etwas geges sen hatte, außer ein paar Bissen von den Broten der Kinder. Ihr Magen revoltierte bei dem Gedanken ans Essen. Aber wenn sie nur etwas zu trinken bekommen konnte, dann würde sie sich mit allem abfinden. Vorsichtig, um die kleine Karen nicht zu stören, die zusammengerollt neben ihr auf dem Sitz schlief, streckte sich Kate hoch, um durch einen Schlitz nach 175
draußen sehen zu können. Die Fenster des Pavillons jenseits der Schlucht waren gelbe Vierecke. Dahinter flackerte ein bläuliches Licht. Der Wald lag still, ver sunken in der Dunkelheit. Kein Mond, keine Sterne. Eine Gruppe Birken leuchtete wie ausgebleichte Kno chen. Sie konnte nicht verstehen, warum keiner ge schossen hatte, als sie losfuhr. Sagte Artkin die Wahr heit? Liefen wirklich Verhandlungen? Hieß das, daß ihre Befreiung bevorstand? Kate wandte sich vom Fenster ab. Nicht meine Befrei ung, dachte sie. Sie warf einen Blick auf Miro, der hin ten im Bus saß, ein schwarzer Klotz in der Nacht. Sie hatte gehört, wie Artkin ihn runtergemacht und ihm die Schuld gegeben hatte für Kates Fluchtversuch. Da nach hatte Miro sie im Vorbeigehen mit solcher Feind seligkeit, solchem Haß angesehen, daß sie unwillkür lich das Kind fester an sich gedrückt hatte. Sie setzte sich wieder hin, ihre Glieder taten weh, ihre Muskeln waren angespannt und krampften. Gleich zeitig fühlte sie sich benommen, ihr Kopf war schwer, ihre Augen brannten und juckten. Wenn sie doch schla fen könnte, ein bißchen abschalten, diesem schreck lichen Ort für ein paar Augenblicke entfliehen. Aber sie wußte, daß sie dem Schlafbedürfnis widerstehen mußte. Schlaf war ein kleiner Tod, und der Tod war wahrscheinlich näher, als sie dachte. Sie wollte auf der Hut bleiben und wach – und am Leben –, solange sie nur konnte. 176
Miro brütete in der Dunkelheit, beobachtete und war tete. Wachsam. Jede Bewegung im Auge. Alles, was das Mädchen als nächstes tun könnte. Sie hatte sich an ein Kind gekuschelt, schlief vielleicht. Vielleicht auch nicht. Miro war unglücklich. Und verwirrt. Verwirrt, weil es für ihn etwas Neues war, unglücklich zu sein. Er hatte seinen Emotionen nie viel Aufmerksamkeit beige messen. Während all der Operationen mit Artkin hatte er nie darüber nachgedacht, ob er nun glücklich oder traurig oder gar ängstlich war. Er hatte sich auf die Operationen konzentriert und eine gewisse Befriedi gung daraus gezogen, wenn er seine Sache gut machte. Das war alles. Aber jetzt schaute er in sich hinein und erkannte ein Gefühl, das er nicht einfach Traurigkeit nennen konnte. Das Mädchen hatte gefragt: Fühlen Sie denn gar nichts? Aufgebracht von seinen Gedanken stand Miro auf und inspizierte den Bus. Er wollte nicht noch einen Fehler riskieren. Das Mädchen war intelligenter, geschickter, als er gedacht hatte. Artkin hatte gesagt: Traue nie dei nen Feinden, wie unterwürfig sie sich auch geben mö gen. Hatte er noch andere Gründe für das Nachlassen seiner Aufmerksamkeit gegenüber dem Mädchen? Er dachte an ihre unbedeckte Haut und bewegte sich durch die Dunkelheit, um dem Gedanken zu entkom men. Das Mädchen war offensichtlich eingeschlafen. Ihr blondes Haar leuchtete leicht in der Dunkelheit. Sie 177
war die Quelle seiner Schwierigkeiten. Sie hätte sein erstes Opfer sein sollen und war ihm entglitten. Sie hatte ihn schwach werden lassen mit ihren sanften Sprüchen, ihren Fragen. Und er hatte zuviel erzählt, seine Vorsicht fahrenlassen. Er klopfte leicht gegen die Tür und prüfte das Schloß. Auf dem Rückweg versi cherte er sich, daß das Klebeband noch fest auf den Fen stern haftete. Er achtete darauf, daß die Kinder und das Mädchen nicht wach wurden. Die Kinder waren eine ständige Qual für seine Nerven. Er saß bewegungslos auf dem Rücksitz. Morgen würde die Operation zu Ende gebracht werden, und dann hatte er Gelegenheit, Artkins Gunst zurückzugewin nen. Die Kinder würden freigelassen, und er würde seinen Revolver an die Schläfe des Mädchens halten. Und dann würden sie diesen Ort verlassen. Er blieb wach die Nacht und summte ein Lied von Elvis Presley vor sich hin. Genau wie er seinen Körper darauf trainiert hatte, sich zu beherrschen, wenn es keine Toi lette gab, so hatte er sich darauf trainiert, ohne Schlaf auszukommen, wenn es nötig war, wach zu bleiben und auf der Hut, den Körper in Bereitschaft zu halten, den Kopf klar und umsichtig, die Augen in der Lage, die Dunkelheit zu durchdringen und jede Bewegung wahr zunehmen, die eine Gefahr bergen könnte. Und deshalb ließ ihn die Stimme des Mädchens so hochschrecken, als sie aus der Dunkelheit zu ihm drang, 178
ganz nah an seinem Ohr. »Tut mir leid«, sagte die Stimme wie ein Geist in der Nacht. Er drehte sich nach der Stimme um und erkannte voller Schreck, daß er wieder betrogen worden war, diesmal von seinem eige nen Körper, der eingeschlafen war sogar beim Wache halten. »Sind Sie wach?« sagte die Stimme. »Ja«, antwortete er. »Ich wollte nur sagen, daß es mir leid tut. Wegen all der Schwierigkeiten, die ich Ihnen bereitet habe.« »Macht nichts«, sagte er und spürte wieder die Ernied rigung, die er erfahren hatte, als Artkin ihn runterge macht hatte. Man stelle sich vor, Artkin hätte gesehen, wie er hier hochfuhr, als das Mädchen ihn weckte. Er haßte sie dafür, und er hatte doch nie Haß empfunden, nicht mal für seine Feinde. »Ich hab’ einen Fehler ge macht. Wir lernen durch unsere Fehler.« »Und was haben Sie gelernt?« fragte sie flüsternd, und ihre Stimme hing in der Dunkelheit, als gehörte sie nicht zu ihrem Körper. »Daß man immer auf der Hut sein muß. Daß man nie mandem trauen kann. Nicht einmal sich selbst.« »Das ist traurig«, sagte sie. Er konnte sie jetzt erkennen, das Glänzen ihres Haares, das Schimmern ihrer Haut. »Warum ist das traurig? Warum sollte ich irgendeine Bedeutung für Sie haben? Wir haben nichts miteinan der zu tun.« Seine Stimme klang scharf im Vergleich zu 179
ihrer, so sollte es sein. Und doch hatte sie noch nie freundlicher gesprochen. »Es ist traurig, niemandem zu vertrauen«, sagte sie. Sie sagte das und bewies gleichzeitig die Richtigkeit seiner Erkenntnis. Denn natürlich benutzte sie ihn immer noch. Sie war vor ein paar Minuten aufgewacht mit der Gewißheit, daß diese Stunden in der Nacht ihre letzte Chance darstellten. Sie wußte, daß sie morgen nicht mehr würde entkommen können. Von Anfang an hatte sie ihren Untergang in Artkins Augen gesehen. Und jetzt haßte sie der Junge. Aber sie hatte ihn schon einmal betört. Er hatte sie an gesehen, wie tausend andere Jungs sie angesehen hat ten. Und er war ihre einzige Hoffnung. Die anderen waren Tiere. Nicht mal Tiere, Roboter. Ohne Mitleid, ohne Herz, sie würden nicht zögern, jemanden zu tö ten. Aber Miro? Dieses Verlangen in seinen Augen. Konnte sie es wieder hervorlocken? Er würde ihr nicht zur Flucht verhelfen, das war unmöglich inzwischen, aber sie als menschliches Wesen betrachten und viel leicht zögern, wenn es zum letzten kam. Sie hatte den Schlüssel nicht mehr und auch nicht Raymond, so wieso eine schwache Hoffnung. Aber sie hatte sich. Und der Versuch war besser, als hier im Dunkeln zu hocken und nichts zu tun. »Haben Sie noch nie jeman dem vertraut in Ihrem Leben, Miro?« fragte sie. Hatte sie zuvor schon mal seinen Namen benutzt? »Ich heiße nicht Miro«, sagte er, und seine Worte über 180
raschten ihn, obwohl seine Stimme so kalt und tonlos klang wie die von Artkin, wenn er zornig war. Es hätte in der Tat dieselbe Stimme sein können, dachte Kate. Wie zwei Brüder, oder Vater und Sohn. »Wie heißen Sie?« fragte sie schnell, weil sie merkte, daß sie wieder durch seine Abwehrmauer geschlüpft war. »Kann ich Ihnen nicht sagen«, sagte er und war wü tend auf diesen erneuten Betrug an sich selbst. »Warum sollte Sie das interessieren? Warum schlei chen Sie sich so in der Nacht an mich heran?« »Weil wir beide Menschen sind. Wir sind beide Men schen und Gefangene dieser schrecklichen Geschichte hier.« »Ich bin kein Gefangener«, sagte er. »Es ist mein Wille, hier zu sein. Das ist meine Arbeit, meine Be stimmung. Es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem ich in diesem Augenblick sein sollte, nur hier.« Einen Moment sagte sie nichts. Er tat ihr wirklich leid, so wie einem jemand leid tun kann, den man nicht ver steht. Er war immer noch das Monster, natürlich. Aber wer hatte ihn dazu gemacht? Diese Welt, seine Welt. Wer also hatte Schuld: das Monster oder die Welt, die ihn dazu gemacht hat? »Alles, was ich wollte«, sagte Kate, »war, Ihnen zu sa gen, daß es mir leid tut, Sie in Schwierigkeiten ge bracht zu haben. Sie waren freundlich zu mir und den Kindern.« Sie streckte die Hand aus und berührte sei 181
nen Arm in der Hoffnung, die Geste könnte ihre beab sichtigte Botschaft glaubhaft machen. Ihre Finger auf seinem Arm erschreckten ihn. Niemand hatte ihn je so vertraulich angefaßt. Er hielt still und ließ den Schauder ihrer Berührung durch seinen Kör per rinnen. Und dann war sie fort, bewegte sich in das Dunkel hin ein und weg von ihm. Miro hörte, daß jemand am Schloß herumfingerte, und war sofort wach. Er kniff die Augen zusammen, um kla rer zu sehen, auch in die hinterste Ecke. Nacht und Dun kelheit lagen noch über dem Bus, aber die Umrisse der Dinge waren ihm vertraut. Das Unvertraute würde die Gefahr sein. Er ging nach vorne und sah dabei gleich nach den Kindern. Sie schliefen. Auch das Mädchen. Er verharrte einen Augenblick neben ihr. Er berührte die Stelle an seinem Arm, wo sie ihn angefaßt hatte. An der Tür wartete Antibbe. »Er will dich sprechen«, grunzte Antibbe. Miro nickte. Ging’s endlich los? Im Lieferwagen war es heiß, drückend wie im Bus. Art kins Gesicht war bleich im scharfen Licht einer tragba ren Laterne. Aber seine Augen waren hell und wachsam wie immer. Stroll hüllte sich wie immer in Schweigen und spähte aus dem Fenster. »Wir haben Verbindung aufgenommen«, sagte Artkin. »Die Polizei, die Soldaten, sie machen Angebote.« 182
»Sind sie bereit, unsere Forderungen zu erfüllen?«
fragte Miro und stellte sich vor, wie der Hubschrauber
landen und man sie über den Ozean bringen würde,
weg von diesem Land, das er nicht verstehen
konnte.
»Es gibt – Komplikationen«, sagte Artkin.
»Was für Komplikationen?«
»Sie sagen, sie haben Sedeete festgenommen.«
»Können wir dem trauen?« fragte Miro.
»Das ist das Problem, Miro. Es gibt kein Vertrauen,
auf keiner Seite – woher auch? Aber fest steht: Wir ha ben unser Mitternachtssignal von Sedeete nicht emp fangen, das heißt, sie könnten die Wahrheit sagen.
Freilich kann Sedeete viele Gründe haben, um das Si gnal nicht zu senden.«
»Das nächste Signal kommt um neun Uhr mor gens?«
»Ja. Wenn wir dieses Signal nicht bekommen, wissen
wir, daß etwas schiefgegangen ist.«
Miro wartete. Hundert Fragen schossen ihm durch
den Kopf, aber er wollte ihnen keine Stimme geben.
Artkin hatte den Befehl, und Miro dachte, daß er wis sen müßte, was zu tun sei.
»Polizei und Militär haben sich mit uns in Verbindung
gesetzt. Sie sagen, daß das Unternehmen zerschlagen
ist, daß Sedeete und die andern, die sie verhaftet ha ben, alles gestanden hätten. Sie sagen, wir sollen die
Kinder laufenlassen, dann bekämen wir mildernde
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Umstände. Sie haben herausgefunden, daß das tote Kind wahrscheinlich an einer Überdosis Drogen ge storben ist.« Miro hatte das Gefühl, als würden sich der Lieferwa gen, die Brücke, die Erde unter seinen Füßen auflösen. In dieser Art hatten sie es noch mit keinem Feind zu tun gehabt. Sie hatten blitzschnell zugeschlagen und waren untergetaucht. Jetzt waren sie eingekreist, und fremde Leute sagten ihnen, was sie zu tun hatten. »Wir haben immer noch die Kinder«, sagte Miro. »Das ist der Punkt«, sagte Artkin. »Sie können verlan gen, was sie wollen, aber die Kinder sind das Wichtig ste.« »Was tun wir also?« wollte Miro wissen. »Vor allem müssen wir bis morgen früh warten, bis um neun das nächste Signal kommt. Kommt es nicht, dann folge ich der ursprünglichen Order. Herausfinden, wie die Situation am besten zu handhaben ist, ob die Kin der zu töten sind oder nicht. Wir müssen ihnen zeigen, daß wir trotzdem unerbittlich bleiben. Daß wir, wenn’s sein muß, auch hier auf der Brücke sterben, mit den Kindern. Wenn wir hier versagen, schaden wir unserer Sache überall.« »Also warten wir?« »Ich habe einen Beweis für Sedeetes Gefangennahme verlangt. Aber das ist nur Taktik. Sie können alles mög liche beweisen. Was wir tatsächlich brauchen, sind In formationen. Wir müssen wissen, wie lang sie bereit 184
sind, uns zu belagern, und ob sie glauben, daß wir die
Kinder wirklich töten.«
»Aber wie können wir das herausfinden?«
»Ich habe einen Plan, eine Methode, die wir schon ein mal benutzt haben.«
Das Funkgerät knackte und spuckte atmosphärische
Störungen aus.
Es folgten die Codewörter, bedeutungslose Signale für
Miro.
Und dann meldete sich eine Stimme, scharf und klar.
»Wir suchen Kontakt mit Insassen des Lieferwagens.
Bitte kommen. Bitte kommen.«
Die Stimme war unpersönlich, als käme sie aus einer
Maschine.
»Wir hören Sie«, sagte Artkin.
»Wir haben den Beweis, den Sie verlangt haben. Direkt
von Sedeete. Seine Uhr, seine Brieftasche.« Pause. »Ich
wiederhole: Wir haben den Beweis, den Sie verlangt
haben. Direkt von Sedeete. Seine Uhr, seine Brief tasche.«
»Sie müssen das nicht wiederholen«, sagte Artkin mit
einer Überheblichkeit in der Stimme, die Miro gefiel.
Artkin würde vor niemandem buckeln. »Das kann seine
Brieftasche sein oder nicht, kann seine Uhr sein oder
nicht. Die Sachen eines Mannes zu besitzen heißt nicht,
den Mann zu besitzen.« Artkin machte eine Pause.
»Was von Sedeete selbst haben Sie? Ich möchte mit ihm
sprechen.«
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»Unmöglich«, sagte die Roboterstimme. »Er liegt im
Krankenhaus. In Boston. Ohne Bewußtsein. Eine Ku gel steckt in seinem Rückgrat.«
Artkin zeigte keine Reaktion. »Ich muß mehr Gewiß heit haben. Nicht bloß eine Uhr oder eine Brief tasche.«
»Sagen Sie uns, was. Ich wiederhole: Sagen Sie uns,
was.«
Artkin hielt den Kopf gesenkt. Er dachte nach. Miro
hatte Mühe zu atmen in der dicken Luft.
»Sie haben vorhin gesagt, Sie hätten Sedeete in Boston
festgenommen. In seinem Zimmer dort?«
»Korrekt. Positiv.«
»Dann bringen Sie mir etwas aus seinem Zimmer.«
»Das Zimmer wurde durchsucht und ist jetzt versie gelt.«
Eine lange Pause.
»Was aus dem Zimmer wollen Sie?«
»Sedeete versteckte etwas in diesem Zimmer. Etwas
ganz Besonderes. Wenn Sie diese Besonderheit bringen
und sie mir zeigen, hier auf der Brücke, dann werde ich
Ihnen glauben, und wir können anfangen zu verhan deln.«
Miro preßte enttäuscht die Lippen zusammen. Er haßte
das Wort ›verhandeln‹.
»Was ist das für ein Gegenstand?«
»Im Küchenschrank, über dem Spülbecken werden Sie
ihn finden. In einer Teetasse. Schauen Sie in die Tee 186
tasse. Sie finden einen runden, grauen Stein. Ein Sou venir aus unserem Heimatland. Bringen Sie ihn her, und wir können verhandeln.« Das Funkgerät knisterte, als sei es ungeduldig und wolle das Gespräch beenden. »Es wird ungefähr eine Stunde dauern, um nach Bo ston zu kommen und eine weitere Stunde für den Rück weg. Aber warten Sie.« Die Stimme brach ab und kam wieder. »Wir werden uns über Funk mit Boston in Ver bindung setzen und den Stein kommen lassen. Geben Sie uns eine Stunde, neunzig Minuten vielleicht.« »Ich werde warten«, sagte Artkin. Er drehte sich zu Miro um, ein triumphierendes Lächeln im Gesicht. Seine Augen strahlten und blitzten, und seine Haut war jugendlich gerötet. Eine andere Stimme in der Luft, ganz anders als die erste: freundlich, besorgt, menschlich. »Geht es den Kindern gut? Dem Mädchen?« »Ja. Sie schlafen. Sie möchten nach Hause. Aber das hängt von Ihnen ab.« »Wir wollen nicht, daß ihnen etwas passiert«, sagte die menschliche Stimme. Miro dachte: Ob das der Vater des Mädchens ist? Unwahrscheinlich. »Wir auch nicht«, sagte Artkin. »Aber wenn was pas siert, dann liegt das an Ihnen, nicht an uns.« Artkin schnippte einen Hebel hoch, das Funkgerät pfiff und schwieg. »Ist das gut für uns?« fragte Miro. 187
»Besser als erwartet. Wenn irgendwas schiefgeht, dann müssen wir ausnutzen, was wir können, was immer uns einen Vorteil bringt. Das Wichtigste im Moment ist Zeit. Wir müssen bis neun Uhr warten, um zu sehen, ob wir ein Signal von Sedeete bekommen oder von jemand anderem. Wir müssen auch auf den Stein warten.« »Ist der Stein wichtig?« Artkin lächelte und sah Stroll an, als ob er und Stroll ein Geheimnis teilten. »Ja, der Stein ist wichtig. Er gibt uns die Zeit, die man braucht, um ihn hierherzubringen. Wir haben den Stein schon früher benutzt. Einen Stein aus unserer Heimat: er erfüllt seinen Zweck. Du hast gemerkt, Miro, daß ich herausbringen gesagt habe. Der Stein muß uns gebracht werden, hierher auf die Brücke. Das gibt uns noch mal Zeit. Und das gibt uns die Per son in die Hand, die den Stein bringt. Und diese Person bringt uns, ob sie das ahnt oder nicht, Informatio nen.« Miro war zufrieden, daß Artkin zufrieden war, obwohl es ihm schwerfiel, all diesen Plänen und Operationen zu folgen. Alles, was er wußte, war, daß sie um neun Uhr endlich handeln würden. Aktion, Entscheidung, statt des endlosen Wartens und Redens. »Immer nur einen Schritt auf einmal. Erst der Stein. Dann werden wir weitersehen.« Ermutigt durch Artkins Enthusiasmus, kehrte Miro in den Bus zurück. Es war immer noch dunkel, als er zum Bus hinüberlief, aber es lag der Geruch des Morgens in 188
der Luft, eine Frische in der Dunkelheit. Und eine Fri sche auch in Miros Herzen. Augenblicke später passierte es. Antibbe war zur Seite getreten, um Miro in den Bus zu lassen. »Alles ruhig«, sagte er und stand riesig neben Miro. Miro nickte. Er war froh, wieder im Bus zu sein. Er hatte ein bißchen das Gefühl, als gehörte er ihm. Nie hatte er sich für irgend etwas verantwortlich gefühlt, außer für sich selbst. Antibbe ging, ohne noch was zu sagen, und Miro si cherte das Schloß. Miro sah einen Lichtschein draußen: Antibbes Lampe. Irgendwie hatte sich Antibbes Lampe eingeschaltet und beleuchtete ihn wie ein Scheinwerfer. Miro war überrascht: Antibbe war langsam und schwerfällig, aber doch vorsichtig. Vielleicht hatte er den Schalter aus Versehen berührt. Angestrahlt stand Antibbe zwischen Bus und Lieferwa gen und war erstarrt wie eine Puppe, die man an eine schwarze Wand genagelt hatte. Augen und Mund schienen aus der Maske zu springen und allein in der Luft zu hängen. Plötzlich wurde er in die Luft gehoben, einen Fuß oder so, und dann rückwärts gerissen wie mit einem unsicht baren Lasso. Für den Bruchteil einer Sekunde hing er in der Luft, über den Schienen an ein unsichtbares Kreuz geschlagen. Dann erbebte sein Körper krampfartig, 189
Arme und Beine zuckten unkontrolliert. Die Lampe fiel ihm aus der Hand, aber beleuchtete ihn weiter vom Bo den aus. Blut quoll aus dem Loch, das eben noch sein Mund gewesen war. Spritzte über seine Brust. Seine Augen traten wild aus ihren Höhlen. Und dann flog er nach hinten in die Dunkelheit, und die Nacht ver schluckte ihn. Erst dann hörte Miro das Echo des Schusses. Der Schuß war nicht so laut, daß er das Mädchen und die Kinder weckte, aber plötzlich waren sie doch wach. Und augenblicklich wurden auch der Wald und das Ge bäude jenseits der Schlucht sowie die Brücke selbst le bendig. Scheinwerfer gingen an und tauchten die Brücke in scharfes Licht. Die Büsche bewegten sich. Sirenen heulten, und ein Jeep entfernte sich schnell von dem Gebäude. Das Gebäude selbst wimmelte plötzlich von Geschäftigkeit, Lichter gingen an, Männer kamen und gingen, Blaulichter drehten sich. Miro sah Artkin in der Tür des Lieferwagens, einen Fuß auf den Schie nen, den anderen im Wagen. Er starrte auf Antibbes Körper, als studiere er ihn wie ein späteres Beweisstück, als müsse er sich jeden Umriß, jede Linie einprägen. Die Kinder schrien, aber Miro reagierte nicht. Er spürte das Mädchen neben sich, aber er sah sie nicht an. Er hörte sie die Luft anhalten, als sie Antibbes Körper im Scheinwerferlicht liegen sah. Miro sah sie an. Sie hatte schreckgeweitete Augen. Aber Miro sah noch 190
etwas in ihren Augen, ein Blitzen von – ja was? Triumph. Er wußte, was sie dachte: Einer von ihnen ist tot, nur noch drei. Aber Miro hielt ihren Blick fest, bis sie die tiefere Wahrheit begriff: die Bedeutung, die An tibbes Tod für sie und die Kinder hatte. Auge um Auge. Die alte Formel war so frisch wie eh und je, so frisch wie Antibbes Blut. Die Augen des Mädchens zeigten, daß sie begriff. Ihr Kiefer fiel herunter. Sie hielt sich die Hand vor den Mund. »O nein!« sagte sie. Miro hatte keine Zeit mehr für sie. Er schaute aus dem Fenster, um zu sehen, was Artkin jetzt tun würde. Aber Artkin war in den Lieferwagen zurückgestiegen. Eine Sirene begann zu heulen. Wie ein Ruf zu den Waffen. Zu unseren Waffen, dachte Miro. Aktion. Endlich. Miro sah zu Antibbes Körper hin, der wie ein Haufen Abfall über den Schienen lag. Danke dir, Antibbe, sagte er zu sich selbst, wie er sich manchmal Lieder von Elvis Presley vorsang, ohne daß es jemand hören konnte. Dieser Ausdruck in Artkins Augen. Miro kannte ihn. Ein ruhiger, ernster Ausdruck. Ein Blick voller Weis heit, als hätte Artkin lange in sich hineingehört und wäre endlich zu einer Entscheidung gelangt. Er hatte diesen Blick gesehen, als Artkin endlich nach neun Stunden Belagerung in der Hotellobby in Detroit ge sagt hatte: »Wir hauen ab. Jetzt.« Sowie Artkin den Bus betrat, wußte Miro, was der Blick bedeutete, und er bekam eine Gänsehaut. Jetzt geht es los. 191
Artkin verschloß die Tür hinter sich. Er hockte sich auf die Eingangsstufen und winkte Miro zu sich. Miro kniete über ihm, den Kopf gebeugt und aufgeregt zu hörend. »Sie sagen, daß der Schuß auf Antibbe ein Versehen war. Kein Befehl. Sie haben sich sofort gemeldet und gesagt, daß ein Scharfschütze unglücklicherweise abge drückt hätte. Ein Scharfschütze, dessen Nerven überan strengt waren durch das stundenlange Aufpassen in der Nacht, der zu forsch, zu angespannt und übertrainiert war, so daß sich sein Finger am Abzug automatisch krümmte, als Antibbes Licht anging.« Die Narren, dachte Miro, so eine Entschuldigung. »Das passiert«, sagte Artkin. »Ein Reflex. Wie man eine Hand aus dem Feuer zieht, bevor noch das Gehirn den Schmerz bemerkt.« »Du glaubst ihnen?« fragte Miro. »Ich glaube ihnen«, sagte Artkin. »Sie haben zu viel zu verlieren im Augenblick, als daß sie so etwas wagen könnten. Sie haben Sedeete. Wir haben inzwischen den Boten ausgesucht, der den Stein überbringen soll. Den Sohn eines ihrer Generäle. Wir sind nah dran zu han deln.« Handeln, dachte Miro erbittert. Sie handeln, nicht wir. Wir hocken hier und warten, während sie handeln. Artkin sah zu dem Mädchen und den Kindern hin. »Sie haben uns gebeten, keine Vergeltung an den Kindern zu üben. Aber ich habe ihnen gesagt, daß das unmög 192
lich ist. Ein Kind muß sterben für Antibbe. Sonst haben sie keinen Respekt vor unserer Sache hier. Und können einen nach dem anderen von uns erschießen.« Auch Miro schaute zu den Kindern und dem Mädchen hin. Welches Kind? Es war ihm egal. Artkins Taschenlampe warf einen schwachen Licht strahl durch den Bus, der die Gesichter der Kinder be rührte und manchmal eine Sekunde länger auf diesem oder jenem verweilte. Es dämmerte, aber die Nacht ver mischte sich noch mit dem zögernden Tageslicht, das durch die Schlitze in den Fenstern sickerte. Kate blin zelte in den Strahl der Taschenlampe, als Artkin näher kam. Sie griff beschützend nach Monique und zog sie an sich. Das konnte natürlich nicht sein. Was konnte nicht sein? Sie durfte diese Worte nicht aussprechen, durfte diese Gedanken nicht laut werden lassen. Artkin schaltete die Lampe aus, als er bei ihr war. Er war ein Umriß in diesem matten Licht, unwirklich, sur real. Er sah sich um, musterte die Kinder. Die Kinder ihrerseits sahen ihn mit müden Augen an. Einige schlie fen noch. Die, die wach waren, schienen dahinzutrei ben, als wäre der Bus ein zielloses Boot. Kate sah ihre Mattigkeit und war froh darüber. So merkten sie nicht, was passierte. Was passierte denn? Nichts. Es durfte nicht sein. Sie sah zu Artkin auf. Sie war an Miro herangekommen. Ob sie auch an Artkin herankam? Er sah sie an mit lee 193
ren, mitleidslosen Augen. Dann blieben die Augen an Monique hängen. Nein, dachte Kate. Sie drückte das Mädchen an sich, als versuchte sie es ganz in sich aufzu nehmen. Artkin beugte sich über Kate. »Der Junge«, sagte er. »Wie war sein Name?« »Welcher Junge?« »Der Junge, der die Schokolade nicht gegessen hat, der kleine, dicke Junge.« Kate versuchte zu protestieren. Versuchte zu sagen: O nein! Aber die Worte erstickten irgendwo in ihr, und der Ton, den sie herausbrachte, war so fremd, daß sie dachte, sie hätte plötzlich ein neues Vokabular, eine neue Sprache gefunden, eine Sprache der Verzweiflung und der Sinnlosigkeit. »Sein Name?« Artkins Stimme in ihrem Ohr. Sie konnte seinen Namen nicht sagen. Sie würde ihn nicht sagen. Vielleicht, daß sie ihn auf diese Weise ret ten konnte. Aber Artkin wandte sich von ihr ab, machte die Ta schenlampe wieder an und suchte die Gesichter der Kinder ab. »Ah, kleiner Bursche. Da bist du. Wie heißt du?« »Raymond.« »Nein«, sagte Kate. Sie hatte das Gefühl, sie würde schreien, aber das Wort fiel nur so aus ihrem Mund. Sie nahm sich zusammen und schrie: »Das können Sie nicht!« 194
»Komm, Raymond, wir steigen jetzt aus. Und gehen
ein Stück. Hast du nicht schon genug von dem Bus,
Raymond? Du warst schon so lang hier drin.«
»Gehen wir heim?«
Kate hörte die kleine Alt-Männer-Stimme und schloß
die Augen.
»Bald. Du wirst bald nach Hause kommen. Zuerst
müssen wir aussteigen. Der Morgen ist da. Die Luft ist
frisch.«
Artkins sanfte, scheußliche Stimme.
Kate spürte etwas an ihrem Bein. Sie öffnete die Augen.
Da stand Raymond und sah sie an, sein Gesicht ver quollen und müde.
»Der Mann will, daß ich mit ihm aussteige. Ist das in
Ordnung?« fragte er. Seine Lippen zitterten. »Ich will
nach Hause.«
Nein. Das durfte nicht passieren. Das konnte sie nicht
zulassen.
Sie zwang sich aufzustehen und stand vor Artkin.
»Nein«, sagte sie. »Das können Sie nicht tun.«
»Miro«, sagte Artkin.
Und Miro war schnell bei dem Mädchen, packte sie
und hielt sie fest an sich gepreßt, so daß er ihren
Schweiß und den Hauch von Parfüm riechen konnte,
der immer noch an ihr hing.
»Bitte«, sagte sie und versuchte sich freizumachen.
Artkins Gesicht war ihr nun ganz nah. »Sie machen al les nur schlimmer für das Kind, Miss.«
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Artkin führte ihn den Gang nach vorne, er sprach sanft auf ihn ein, versprach ihm Bonbons und Lutscher und Schokolade und die Küsse seiner Mutter. Die anderen Kinder schauten gleichgültig drein, abwesend, wie aus weiter Ferne. Kate wehrte sich wild gegen Miro und versuchte sich loszureißen. »Warten Sie«, schrie sie. Irgend etwas, vielleicht die Verzweiflung in ihrer Stimme, ließ Artkin stehenbleiben. »Nehmen Sie mich. Mich, nicht ihn.« Artkin sah sich über die Schulter nach ihr um. »Ja, richtig, mich. An seiner Stelle.« Sie sprach es aus und wollte es doch nicht, wollte die Worte zurücknehmen. Gott, sie wollte leben, sie wollte hier rauskommen, diesen Alptraum überleben. Sie wollte nicht hier sterben in diesem Bus, auf dieser Brücke, an diesem Morgen, heute. Sie wollte leben. Aber sie schrie es noch einmal: »Nehmen Sie mich. Las sen Sie Raymond laufen.« Artkin hielt ihren Blick fest. Sie wehrte sich gegen Miro, aber der hielt sie fest. »Es muß ein Kind sein, Miss«, sagte Artkin wie zur Entschuldigung. Kate dachte: Ich war nahe dran. Und sie schauderte zurück. Und haßte sich. Miro merkte, wie sie in seinen Armen erschlaffte, und fürchtete, sie sei ohnmächtig geworden. Aber als er sich über sie beugte, sah er, wie ihre Augenlider flatterten. 196
Artkin hob den Jungen hoch und half ihm die Stufen hinunter nach draußen. Raymond sah über Artkins Schulter nach Kate, sagte etwas, das Kate nicht hören konnte, und war weg, nur die Erinnerung an seine hel len, intelligenten Augen und an seine Alt-MännerStimme blieb übrig. Miro merkte, wie sich ihr Körper löste, als wären die Knochen plötzlich auseinandergefallen. Er wollte etwas sagen, das sie beruhigte und ihre Sorgen zerstreute. Aber es fiel ihm nichts ein. Und dann dachte er: Warum habe ich den Wunsch, ihr solche Sachen zu sagen? Im Krieg verschafft ein Soldat seinem Feind keine Erleich terung. Später hörten sie den einzelnen Schuß.
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9
Jetzt weiß ich, Ben, daß du nicht im Wald herumirrst. Du hast dich nicht verlaufen, sondern versteckt. Ich habe Dekan Albertson über die Situation in Kennt nis gesetzt, und er hat den Sicherheitsdienst von Castle ton zu Brimmler’s Bridge geschickt. Sie sollen dich dort abfangen, wenn du auftauchst. Aber ich weiß, daß du zuerst hierher zurückkehren wirst. Bevor du etwas Ent scheidendes tun wirst. Das schreibst du hier auf diesen Blättern neben der Schreibmaschine. Du sagst, daß du deinen Bußgang zu Brimmler’s Bridge nicht unterneh men wirst, ehe du mich gesehen hast. Du sagst, du wür dest deinen Vater ehren. Ja, das wirst du tun. Kenne ich dich denn nicht besser als jeden anderen auf der Welt? Besser vielleicht als mich selbst? Ich bleibe ruhig, sogar wenn ich zur Kenntnis nehme, was du hier geschrieben hast und was ich dir angetan habe. Ich habe nicht einmal eine Blutdruckpille genom men, die, wie du wahrscheinlich schon vermutet hast, gar nicht wirklich eine Blutdruckpille ist, sondern so was wie ein Tranquilizer. 198
Hätte ich mich in dein Leben einmischen sollen, Ben? Wollte ich das überhaupt? Natürlich hatten wir miteinander zu tun, wie jeder Va ter etwas mit seinem Sohn zu tun hat, der eine mehr, der andere weniger. Ich ein bißchen mehr, weil wir in den engen Grenzen von Delta lebten und deine Klasse überwacht wurde, damit ich Daten für meine Studien über Verhaltenssyndrome weiterführen konnte. Die Aufzeichnung der Telefongespräche bei uns zu Hause war notwendig wegen Inner Delta. Die Auf zeichnung war immer ein wichtiger Teil der Operatio nen. Botschaften zu und von unserem Haus, Anord nungen, die weitergegeben oder empfangen werden sollten, alles mußte aufgenommen werden. Also zeich neten wir alle Gespräche auf und archivierten sie. Die Bänder wurden selten abgehört, nur bei gelegentlichen Stichproben. Bei einer dieser Stichproben hörte ich dein Telefonat mit diesem Mädchen, Nettie. Ich war da kein Lauscher, Ben. Ich hatte nicht die Absicht, mich in dein Privatleben zu schleichen. Aber ich habe den Schmerz in deiner Stimme gehört, als sie so grausam mit dir umging. Und habe mit dir gelitten und mich an mein eigenes Herzeleid in diesem Alter erinnert: ein Mädchen, an dessen Gesicht ich mich kaum noch erin nere, obwohl der Schmerz noch da ist. So war es also mit dir und mir, Ben. Ich kannte dich, wie jeder Vater seinen Sohn kennt, und ich kannte dich auch als Schüler, da mir täglich der Bericht über dein 199
schulisches Fortkommen vorgelegt wurde. Und ich
kannte auch die private Seite, von der ein Vater selten
was zu hören bekommt, deine Beziehung zu Freunden
wie Jackie Brenner und anderen. Und zu Nettie. Ich
habe gedacht, all das würde einen besseren Vater aus
mir machen, ich würde dich besser verstehen und mich
leichter in deine Lage versetzen können.
Statt dessen führte es uns auf die Brücke.
Und darüber hinaus.
Versetz dich in meine Lage.
Oder versetz mich in deine Lage.
Laß uns einen Tausch machen, Ben.
Mag sein, wenn du dich in meine Lage versetzt, daß du
dann verstehst, wie es war.
Wie das war, als ich dich in mein Büro kommen ließ
mitten in dieser schrecklichen Nacht ...
Ich überlegte, wieviel ich dir erzählen sollte.
Vorher hatten wir die Entscheidung aus Washington
über unser Vorgehen abgewartet. Was kam, war nicht
unerwartet. Die offizielle, veröffentlichte Politik war,
das Leben der Kinder zu sichern, um jeden Preis. Inof fiziell sollten wir die Brücke stürmen und die Kinder
rausholen. Inner Delta hatte schon einen Ersatzplan für
solch eine Operation erarbeitet. Falls der Rettungsver such fehlschlagen und mehr Kinder sterben sollten, als
gerettet werden konnten, hatte man Sündenböcke aus 200
gesucht, die die Schuld auf sich nehmen sollten. Sie würden öffentlich bekennen, daß sie gegen den aus drücklichen Befehl der Regierung gehandelt hätten. Sie sollten ihrer Ämter enthoben und möglicherweise ins Gefängnis gesteckt werden. Die beteiligten Männer waren mit der Rolle einverstanden. Siehst du, was ich mit Patriotismus meine, Ben? Das ist wahrer Patriotis mus: Unbill auf sich nehmen für das Wohl seines Lan des. Der Verräter als Patriot. War Judas auch nur ein Sündenbock? Die Festnahme des Terroristenführers Sedeete be schleunigte unsere Pläne zur Befreiung der Kinder. Aber es gab eine Komplikation, die unseren Plan hätte zerstören können. Einer der Entführer, der Söldner na mens Antibbe, wurde erschossen. Aus Versehen. Von einem aus der Spezialtruppe: vielleicht war er übertrai niert, übereifrig. Wer weiß? Die Reaktion auf der Brücke kam sofort. Ein Kind wurde getötet und auf das Dach des Lieferwagens gelegt. Aber wenigstens gingen die Verhandlungen weiter. Und der Vorschlag, dich als Boten zu verwenden, wurde von den Entführern akzep tiert. Deshalb wurdest du in mein Büro gebracht. Du warst ideal für die Rolle, die du spielen solltest. Du wußtest nichts über die Hintergründe. Nichts über un sere Pläne. Du hattest auch Angst und warst doch so tapfer, so bereit zu dienen. Du sagtest: »Was soll ich tun, Dad? Es hat mit der Brücke zu tun, nicht wahr? Und mit den Kindern?« 201
Und ich sagte: »Ja. Es hat mit der Brücke zu tun und mit den Kindern dort. Einen Botengang sollst du für uns machen. Einen sehr wichtigen.« Du hast die Stirn gerunzelt, aber ich sah immer noch die Bereitschaft in deinen Augen. Ich mußte vergessen, daß du mein Sohn warst. Ich mußte es mir versagen, dir Sicherheit zu garantieren. Ich durfte die Täuschung nicht so weit treiben. Und so hatte ich den Eindruck, daß ich dort in dem Büro zwei Unterhaltungen führte, eine mit meinem Sohn und eine mit einem Mitglied meines Stabes, dem ich einen Auftrag erteilte. Es war wichtig für mich, neutral zu bleiben. Im Dienst an dei nem Land ist es oft nötig, solche Täuschungsmanöver zu inszenieren. Ich unterrichtete dich über den Auftrag. Du solltest den Entführern den Stein übergeben als Zeichen dafür, daß Sedeete in unserer Hand war, also ihr Anführer, daß ihr ganzes Unternehmen sinnlos geworden sei und sie aufgeben, mindestens aber verhandeln mußten. Ich erzählte dir von dem Tod des zweiten Kindes. Und von dem Mann namens Antibbe. Hast du gezögert? Mit der Wimper gezuckt? Schwer zu sagen. Dein Blick war aufmerksam, bereit. »Wir müssen ein Spiel mit dem Tod eingehen, Ben«, sagte ich. »Und du als der Bote spielst mit. Der Stein, den sie wollen – kann sein, daß er bloß das Zeichen dafür ist, daß wir ihren Anführer haben. Es kann aber auch ein Trick sein.« 202
»Was für ein Trick?« »Ein Trick, um eine weitere Geisel in ihre Hände zu liefern. Oder ein Trick, mit dem sie herausfinden wollen, was wir vorhaben, ob wir verhandeln oder angreifen werden. Sie haben den Boten genau ausge sucht. Wir haben eine Reihe von Leuten aus unserer Mannschaft vorgeschlagen – sie wollten keinen von ihnen. Sie haben gesagt, sie wollten einen NichtProfi.« »Aber welche Bedeutung hat der Bote, Dad?« »Aus ihrer Sicht gibt es verschiedene Gründe. Erstens wollen sie einen, der keine Bedrohung für sie darstellt, wenn er bei ihnen auf der Brücke, im Bus oder im Lie ferwagen ist. Zweitens soll ihnen der Bote wenn mög lich Informationen liefern. Sie wissen, daß wir einen Boten schicken könnten, der für solche Einsätze trai niert ist und sie täuschen könnte. Das wollen sie nicht riskieren, also verlangen sie einen Nicht-Profi. Wie aber können sie wissen, ob wir einen Nicht-Profi schik ken oder nicht? Wir schlugen einen Pfarrer vor – sie sagten, jeder könne einen Talar tragen. Wir schlugen eine öffentliche Persönlichkeit vor, deren Gesicht jeder kennt. Auch das lehnten sie ab. Sie sagten, die Welt sei voll von Doubles. Dann schlug ich dich vor. Meinen Sohn. Sie akzeptierten. Ich nehme an, sie dachten, ein Junge deines Alters konnte nur das sein, was er war. Das haben sie wahrscheinlich auch meiner Stimme an gehört, als ich den Vorschlag machte. Der Entführer, 203
mit dem wir verhandeln, der Mann, den wir als Artkin identifiziert haben, sagte zu mir: ›Entweder sind Sie ein großer Patriot oder ein großer Narr.‹ Und ich habe ge antwortet: ›Möglicherweise beides.‹ Und dann hat er dich akzeptiert.« Wieder das Schweigen. Und wieder hast du gewartet. Und dann sagte ich zu dir: »Es besteht die Möglichkeit, Ben, daß sie dich einer intensiven Befragung unterzie hen, um herauszufinden, ob du mehr bist, als du scheinst. Ja, ich würde sagen, daß sie dich ganz sicher befragen werden.« Das Schlüsselwort hier war natür lich ›intensiv‹. Folter ist so ein antiquiertes, archaisches Wort. Wir vermeiden heute diesen Ausdruck. Es gibt andere Bezeichnungen. Intensive Befragung, methodi sche Untersuchung etc. »Aber das macht nichts«, hast du gesagt. »Du sagst, Dad, daß ich nichts weiß. Wie soll ich ihnen da was erzählen?« Das Telefon klingelte in diesem Augenblick. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie dieser Telefonan ruf unser beider Leben verändert hat. Es war ein Verbin dungsoffizier aus Washington, D. C., der mich über den Zeitpunkt unseres Angriffs auf die Brücke informierte. 0930 militärischer Zeit. Also neun Uhr dreißig mor gens. Ich hörte zu und notierte mir die Zeit auf die Schreibunterlage. Ich wollte den Zeitpunkt nicht laut aussprechen, du solltest ihn nicht hören. Ich beantwor tete die nötigen Fragen ohne überflüssige Worte, versi cherte dem Verbindungsmann, daß wir bereit seien zu 204
handeln und daß unsere Spezialeinheit auf den Befehl
wartet.
Ich legte den Hörer auf.
Ich sah, wie deine Augen über die Schreibunterlage
wanderten.
Hattest du gesehen, welche Zeit ich notiert hatte?
Zu diesem Zeitpunkt hätte ich alles abblasen sollen,
hätte dich als Boten zurückziehen, alle Abmachungen
stoppen und nach Washington telefonieren sollen, daß
ich meine Meinung geändert hätte.
Aber ich zögerte diesen Bruchteil einer Minute, und
dann ging die Tür auf, und die anderen Offiziere kamen
herein, und wir waren gefangen in den Vorgängen, die
uns auf den Höhepunkt der Entführung zutrieben.
Das Zimmer ist kalt.
Das Heizungssystem scheint noch schlechter zu funk tionieren als früher.
Als der Mann namens Artkin sagte: »Entweder sind
Sie ein großer Patriot oder ein großer Narr«, da wußte er
genau, was ich war. Was ich bin. Wie ich genau wußte,
was er war und wie weit er gehen würde. Wir kannten
einander auch über den Abgrund hinweg, obwohl wir
uns nie gesehen hatten.
Wir fuhren mit Militärfahrzeugen zur Brücke. Du und
ich, wir saßen zusammen auf dem Rücksitz, ein Colo 205
nel, dessen Name keine Rolle spielt, zwischen uns. Von dem Moment an, wo du mein Büro verlassen hat test, hattest du in den Köpfen von Inner Delta aufge hört, mein Sohn zu sein. Und ich wußte, daß es not wendig war, daß du auch für mich nicht länger mein Sohn warst, solange die Operation lief. Ich dachte an deine Mutter. Wenigstens war sie sicher in Weston. Ich sagte mir, daß alles gutgehen würde. Ich wußte nicht, ob ich je den Mut aufbringen würde, ihr von dieser Nacht und von der Rolle, die du und ich zu spielen hatten, zu erzählen. Alles würde gutgehen, sagte ich mir wieder. Artkin würde den Stein in Emp fang nehmen. Er würde auch merken, daß du genau das bist, wofür man dich hält – du hast so was Un schuldiges an dir, Ben, das nicht mal einem Mann wie Artkin verborgen bleiben kann. Trotzdem würde es zu der unvermeidlichen Befragung kommen. Er würde ein gewisses Maß an Schmerz anwenden. Aber nicht viel. Ich nahm an, daß die Schmerzen nicht zu schlimm werden würden. Männer wie Artkin benut zen diese Prozeduren nicht zum Vergnügen, weil sie grausam sein wollen. Sie sind Profis, genau wie ich. Zweckdienlich muß es sein. Ich sah flüchtig zu dir hinüber, Ben, ein schneller, heimlicher Blick im Auto, und ich sah dein blasses Ge sicht, die angespannte Stirn. Ich mußte mich zusam mennehmen, um nicht über den Colonel hinweg deine Hand zu tätscheln und dir Mut zu machen. Du hast 206
mich angeschaut, ein kurzer Blick von der Seite. Ich sah so etwas wie Vertrauen und Entschlossenheit. Dein Blick sagte: Ich werd’ dich nicht enttäuschen, Dad. Das Auto bewegte sich im Zwielicht der Morgendäm merung durch die Landschaft. Als wir beim Haupt quartier ankamen, war es heller Morgen. Der Morgen machte auch das kleine Bündel auf dem Dach des Lie ferwagens sichtbar: den Körper des Kindes, das noch nicht identifiziert war. Wir brachten dich schnell in das Gebäude, damit du den Körper nicht sofort sehen konntest. Drinnen überreichte man mir eine Meldung. Sie war kurz: ›Verbindung hergestellt.‹ Ich sagte dir nichts davon. Es war wichtig, daß du es nicht wußtest. Wir führten dich ans Fenster, von dem aus man über die Schlucht auf die Brücke, den Bus, den Lieferwagen sehen konnte. Du hast nichts gesagt, aber ich sah, wie deine Augen die ganze Szenerie überflo gen. Einer der Generäle erklärte das Vorgehen. Wir würden Kontakt mit Artkin aufnehmen und ihm sagen, daß du angekommen seist. Wenn sich nichts geändert hätte, würde man dir den Stein aushändigen, der sorgfältig eingewickelt und in eine Schachtel, etwa halb so groß wie ein Schuhkarton, gelegt worden war. Du würdest allein die Achtelmeile durch den Wald gehen. Du wür dest nur Schuhe, Socken, Unterhose, Unterhemd und 207
Jeans tragen. Der Morgen war kühl, aber Artkin hatte darauf bestanden, daß du keine Jacke oder sonst etwas tragen würdest, worunter man etwas hätte verstecken können. Die Schachtel mußte die ganze Zeit deutlich sichtbar sein. Unsere Scharfschützen würden dich die ganze Zeit im Auge haben. »Es gibt eine Änderung«, sagte der General, er wandte sich an mich, nicht an dich. »Ursprünglich sagte dieser Artkin, daß der Bote sofort nach der Übergabe des Steins zurückgehen könnte. Jetzt besteht er darauf, daß er bleibt, bis die Verhandlungen beendet sind.« Das hatte ich nicht erwartet. Oder doch? »Das ist in Ordnung«, sagtest du, und deine Stimme war jetzt klein und dünn. »Es wird nicht lange dauern, Ben«, sagte ich. »Sie wol len die Sache ebenso schnell beenden wie wir.« Du hast genickt und dich wieder gefangen. Ich war stolz auf dich. Wir gingen nach draußen, während wir noch einmal den Kontakt mit Artkin herstellten. Wir wollten nicht, daß du dabei warst, falls dieser Artkin etwas sagen würde, was dich erschrecken konnte. Als das Signal kam, sagte ich: »Es ist Zeit, Ben.« Du hast wieder genickt, immer noch standhaft und ent schlossen. Der Morgen war kühl, aber du hast nicht ge zittert. Ich auch nicht. Nichts konnte uns etwas anha ben, so sehe ich das heute, außer die Gefühle dieses Augenblicks. 208
Du sagtest: »Ich werd’ dich nicht enttäuschen, Dad. Ich will mein Bestes tun.« »Das ist alles, was wir wollen, Ben. Und du wirst uns nicht enttäuschen, was auch immer passieren mag. Ich kenne meinen Sohn.« »Ist soweit«, sagte der General, als er aus dem Haus kam. Wir haben uns förmlich die Hand gegeben, Ben, du und ich, obwohl ich dich am liebsten in die Arme ge nommen hätte. Ich ging ins Haus. Sie hielten es für besser, wenn ich deinen langen, gefährlichen Gang zur Brücke nicht mitbekommen würde. Ich setzte mich ans Funk gerät. Ich versuchte, nicht nachzudenken, aber ich wußte, ich mußte zuhören. Und ich wußte auch, daß ich bald deine Stimme aus dem Lieferwagen hören würde. ›Verbindung hergestellt.‹ Die Meldung bedeutete, daß es uns gelungen war, eine akustische Verbindung mit dem Lieferwagen herzu stellen, von der Artkin nichts wußte. Ein Mann von der Antiterrortruppe war an einem der Brückenpfeiler hochgeklettert und hatte eine direkte Leitung vom Lie ferwagen in unser Hauptquartier gelegt. Der Spezialist hatte sorgfältig gearbeitet, direkt unter dem Lieferwa gen im Schütze der Nacht. Die Operation wäre wahr scheinlich nicht möglich gewesen, wenn der Abstand 209
der Schwellen dem Spezialisten nicht den Zugang zum Boden des Fahrzeugs gestattet hätte. Das Abhörgerät würde alle Geräusche im Lieferwagen aufnehmen und auf den Empfänger in unserem Hauptquartier übertra gen. Ich wartete, während du über den Rand der Schlucht auf die Brücke gingst. Du warst jetzt ein Teil der Ope ration, beteiligt an Erfolg oder Mißerfolg. Ich wollte keinen Mißerfolg. Meine geringste Sorge dabei war, daß ich mich im Falle eines Mißerfolges als Sünden bock zur Verfügung gestellt hatte. Meine schlimmste Sorge warst du, Ben, auf deinem Weg zur Brücke. Ich stellte mir vor, wie du gingst. Das Gebäude, in dem ich stand, war still, wie auch der Empfänger. Aber dreißig Minuten später würde dieses Schweigen zerrissen werden von Schreien. Deinen Schreien. Ich höre diese Schreie noch immer, sogar hier in diesem Zimmer, nach all der Zeit, Schreie, die ebensosehr ein Teil von mir sind wie von dir. Schreie, die nie aufhö ren. Ich weiß natürlich, wo du hingegangen bist, als du die ses Zimmer verlassen hast. Ich habe es schon gesagt, ich kenne dich besser als jeden anderen, und ich hätte wissen müssen, daß du mich nur in Sicherheit wiegen wolltest mit diesen Zeilen, die be sagen, daß du nicht zu Brimmler’s Bridge gehen wür 210
dest, bevor ich nicht in dieses Zimmer zurückgekom men wäre. Dort bist du hingegangen.
Dort muß ich hingehen.
Bevor es zu spät ist!
Ist es schon zu spät, Ben?
211
10
Der Junge war nackt. Miros erste Reaktion war weg schauen. Der Junge wirkte so verloren und erbärmlich und verängstigt, daß Miro eigentlich nicht weiter in seine Intimsphäre eindringen wollte. Aber er merkte, daß ihn der Junge faszinierte, war er doch fast sein Spie gelbild, nur blond und ohne Körperbehaarung, wäh rend Miro dunkel war und schon Haare auf der Brust hatte. Der Junge wich Miros Blick aus. Seine Hände hielt er vor die intime Stelle zwischen seinen Beinen. Warum war er nackt? Artkin sagte: »Wir mußten ihn durchsuchen. Sorgfäl tig.« Er beantwortete die Frage, die Miro gar nicht gestellt hatte. »Er ist sauber. Und er hat das hier gebracht.« Er gab Miro einen grauen, glatten Stein von der Größe eines Hühnereis. Miro rieb mit dem Daumen darüber. Ein Stein aus seinem Heimatland. Würde er dieses Land jemals sehen? Es schien so weit entfernt von die ser Brücke, diesem Lieferwagen. »Wir wissen also, daß sie die Wahrheit sagen«, sagte Artkin. »Sie haben Sedeete. Aber wir haben die Kinder. 212
Und diesen Jungen.« Er wandte sich an den Jungen. »Zieh deine Kleider an.« Er warf dem Jungen seine Sa chen zu. Der Junge war nicht schnell genug, und die Sachen fielen auf den Boden. Während sich der Junge mit zitternden Händen anzog, ohne jemanden anzuschauen, studierte Miro Artkins Gesicht. Sedeete war festgenommen: Artkin hatte jetzt den Befehl, und Artkin liebte die Aktion. Würden sie jetzt endlich handeln? Aber Artkins Gesicht verriet ihm nichts. Artkin sah nur zu, wie sich der Junge anzog, als fasziniere ihn der Vorgang. Auch Miro beobachtete ihn genau. Er versuchte aufmerksam zu bleiben. Artkin hatte ihn hierherzitiert und Stroll bei den Kindern und dem Mädchen gelassen. Am besten konnte er Artkin im Augenblick dienlich sein, wenn er aufmerksam blieb. Der Junge war endlich angezogen. Sein Atem ging in kleinen, scharfen Stößen wie bei einem Dauerlauf. Seine Hände zitterten. Miro schätzte, daß der Junge ein oder zwei Jahre jünger war als er – aber dann fiel ihm ein, daß er ja gar nicht wußte, wie alt er selber war. »Also«, sagte Artkin und sah den Jungen an. »Ich hab’ ein paar Fragen. Und deine Antworten werden darüber entscheiden, ob du am Leben bleibst oder nicht. Ver stehst du das? Du mußt die Wahrheit sagen, und das schnell.« Der Junge nickte, offensichtlich erschrocken. Miro war immer fasziniert vom Schrecken in den Augen der Menschen. Miro wartete ungeduldig auf den Beginn 213
der Befragung. Als Artkin ihm gesagt hatte, daß er einen Jungen seines Alters als Boten ausgewählt hatte, waren Miros Neugier und Interesse gewachsen. Aber warum der Junge? Weil, so hatte Artkin erklärt, er einen Nicht-Profi vorzog. Als der General erklärt hatte, er wäre bereit, als ein Zeichen guten Willens sei nen eigenen Sohn zu schicken, damit die Angelegen heit beschleunigt werde und man eher mit den Ver handlungen beginnen könne, da war Artkin verwirrt gewesen. Seinen eigenen Sohn? Normalerweise war die Person, die man in solchen Situationen einsetzte, ein Pfand, Teil eines Spiels, das beide Seiten betrieben, eines Spiels, in dem man Vorteile suchte und Überle genheit ausglich. Aber vielleicht spielte der General gar kein Spiel. Vielleicht wollte er wirklich verhandeln und das Leben der Kinder nicht aufs Spiel setzen. Vielleicht war auch der Tod des kleinen Jungen als Vergeltung für den Tod Antibbes zweckmäßiger ge wesen als ein großer Racheakt. Wer verstand schon die Amerikaner? Also akzeptierte er den Sohn des Generals. Aber er befahl Miro: »Paß auf ihn auf, studiere ihn. Er ist ungefähr so alt wie du. Vielleicht siehst du was, was ich nicht sehe.« Aber alles, was Miro sah, war ein zitternder, ängst licher Teenager. »Sag uns«, sagte Artkin, »bist du der Sohn von einem dieser Generäle?« 214
»Ja«, sagte der Junge. »Ich heiße Ben Marchand. Mein Vater ist General Mark Marchand.« Seine Stimme kam so klein und dünn und zittrig aus ihm heraus, als würde ein noch kleinerer Junge in sei nem Inneren sprechen. »Erzähl uns, was du über diese ganze Angelegenheit weißt und warum dein Vater dich ausgewählt hat, um uns den Stein zu bringen.« »Mein Vater hat mich in sein Büro gerufen. Wir leben in Fort Delta. Er hat gesagt, daß man den – den Män nern auf der Brücke ein Paket überbringen müsse. Er hat gesagt, daß es einer überbringen müsse, dem beide Seiten vertrauen könnten.« »Hat er dir gesagt, daß er dein Leben in Gefahr bringt?« »Ja«, sagte der Junge und gewann ein wenig Sicherheit, als mache ihm seine eigene Stimme Mut. »Er hat ge sagt, daß es riskant ist, aber das Risiko wert. Er hat ge sagt, er glaubt Ihnen, daß Sie verhandeln wollen.« »Also, dein Vater hat dir das Päckchen gegeben und dich zu uns geschickt und dir sonst nichts erzählt?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Nichts.« Artkin warf Miro einen Blick zu, aber Miro wußte nichts zu sagen, hatte keine Frage. »Erzähle mir, was du von dieser – dieser Sache weißt.« »Ich weiß, daß Sie die Kinder im Bus festhalten. Das kam über Radio und Fernsehen. Deshalb weiß ich es. 215
Mein Vater ist den ganzen Tag beschäftigt gewesen in Delta und hier draußen. Er ist nur einmal nach Hause gekommen, um zu sehen, ob ich in Ordnung bin, und um mir zu sagen, daß ich keine Angst haben soll. Zuerst haben sie befürchtet, daß die Kinder von Offizieren aus Delta gekidnappt worden sein könnten. Er sagte, ich soll zu Hause bleiben. Sie haben eine Wache geschickt für das Haus und das Grundstück.« »Du bist zu Hause geblieben, bis dich dein Vater mit ten in der Nacht in sein Büro kommen ließ?« Der Junge nickte, sein Kinn zitterte jetzt ein bißchen. »Was hat er dir noch erzählt?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Nichts.« Seine Augen begannen zu glänzen. Miro wußte, jetzt würden gleich die Tränen kommen. Er verachtete den Jungen. Er verachtete all diese ame rikanischen Jungen und Mädchen, die ihr egoistisches, gedankenloses Leben lebten und sich so smart und überlegen vorkamen, bis sie in einer unerwarteten Si tuation ihr wahres Gesicht zeigten. Freilich, Kate hatte nicht geweint. »Hat dein Vater gesagt, ob sie verhandeln oder angrei fen wollen?« Der Junge schüttelte wieder den Kopf. Eine Ader trat sichtbar aus Artkins Schläfe. Miro über legte, ob er was gesehen hatte, was ihm entgangen war. »Es wird dir leid tun, wenn wir herausfinden, daß du gelogen hast«, sagte Artkin, eine ruhige Drohung in 216
der Stimme. Miro kannte diese Ruhe, diese Drohung. »Wir haben Möglichkeiten, das herauszufinden. Siehst du diese Hand?« Artkin hob seine verstümmelte Hand hoch. Die beiden Fingerstummel stachen böse in das Dämmerlicht des Lieferwagens. »Eine verkrüppelte Hand, aber sie kann einem Körper so manches antun. Einem zarten Körper wie dem deinen.« Der Junge zuckte zusammen bei dem Wort ›zart‹. Und die Tränen sammelten sich in seinen Augenwin keln. »Ich – ich weiß – nichts«, sagte er. »Ich kenne diese Generäle in Fort Delta, sie halten sich für wer weiß wie clever. Sie haben dich mit einer be stimmten Absicht hierher geschickt. Sie haben ge dacht, deine Jugend könnte der Absicht dienlich sein. Wie soll ich überhaupt wissen, daß du der Sohn eines Generals bist? Aber das werden wir selbstverständlich herausfinden.« Artkin gab Miro einen Wink, daß er zur Tür des Lie ferwagens gehen solle. »Denk einen Augenblick über deine Situation nach«, sagte Artkin zu dem Jungen, seine Stimme war ruhig und tödlich. »Denk sehr ernsthaft nach. Dann reden wir noch mal.« Er und Miro stiegen aus dem Lieferwagen in die Feuchtigkeit des Morgens. Obwohl es nicht geregnet hatte, lag ein Netz aus Tropfen auf den Grasbüscheln, die durch die Schwellen wuchsen. Morgentau. Artkin 217
sah auf die Uhr. »Sieben Uhr dreißig«, sagte er. »Wir müssen noch anderthalb Stunden warten.« »Obwohl Sedeete gefangen ist?« fragte Miro. »Ja«, sagte Artkin. »Meine Order ist, bis neun zu war ten und dann zu handeln. Es spielt keine Rolle, ob Se deete gefangengenommen wurde oder nicht, soweit es das Signal betrifft. Vielleicht schickt es ein anderer. Wir müssen warten.« »Was ist mit dem Jungen?« »Kann sein, daß er unschuldig ist. Mag sein, er ist, was er zu sein scheint – der verängstigte Sohn von einem dieser Generäle. Vielleicht wollen sie verhandeln. Wer kennt sich schon mit Amerikanern aus? Vielleicht lie ben sie ihre Kinder mehr als ihre Geheimdienste.« Miro sagte nichts. Also wieder warten. Er sah sich nach dem Bus um. Das Klebeband auf der Windschutz scheibe sah aus wie ein schmutziger Verband. Er war immer noch verblüfft, daß das Mädchen versucht hatte, den Bus von der Brücke zu fahren. Wer hätte gedacht, daß sie so wagemutig war, so tapfer? Er runzelte die Stirn bei dem Gedanken. Aber sie war auch verrückt, so was zu versuchen. Stroll war jetzt bei ihr und den Kin dern im Bus. Er hatte Stroll nur ungern die Kontrolle über den Bus abgegeben: der Bus war seine Verant wortung. Artkin seufzte und stieß die Luft aus seinem Mundwin kel. Ein Vogelschrei in der Luft, ein anderer antwor tete. Oder waren das Signale? Miro sah Artkin an. 218
»Wenn wir in den Lieferwagen zurückgehen, werde ich dem Jungen die Daumenschrauben anlegen. Es wird nicht lang dauern, bis wir wissen, ob er der ist, der er zu sein vorgibt. Wenn er uns nichts weiter sagen kann, werden wir bis neun Uhr warten.« Miro wollte fragen: Und dann? Aber er traute sich nicht. Er hatte Artkin heute schon mehr Fragen gestellt als in der ganzen Zeit vorher. Sie hockten sich einen Augenblick lang hin und ließen die Morgenluft über ihre Haut streichen. Die Schreie der Vögel wurden immer mehr. Eine Brise kam auf und bewegte Büsche und Unterholz. Halfen Menschen hände dabei mit? Wie sich Miro von hier fort wünschte. »Jetzt die Daumenschrauben«, sagte Artkin. Der Junge brach nach zweiunddreißig Sekunden zu sammen. Aber zweiunddreißig Sekunden unter den Daumenschrauben konnten eine Ewigkeit sein, das wußte Miro. Er war eigentlich erstaunt, daß der Junge so lang durchgehalten hatte. Er hatte nicht besonders tapfer ausgesehen und schien solche Angst zu haben, daß er hätte ohnmächtig werden können, bevor man überhaupt begann. Aber er hielt aus, all diese Sekun den. Miro zählte sie in seinem Kopf, um die Schreie des Jungen zu übertünchen, und er erinnerte sich daran, wie sie die Daumenschrauben an sich selbst ausprobiert hatten bei der Ausbildung. Nur eine Probe, hatte der Ausbilder gesagt. Aber eine kleine Probe war genug: 219
fünf Sekunden, sechs, ein unerträglicher Schmerz, der einem den Atem nahm, den Darm löste und bis in die letzten Winkel des Körpers drang. Zweiunddreißig Sekunden, und dann begann der Junge, den es würgte bis fast zum Erbrechen und dem der Speichel in den Mundwinkeln stand, zu reden. In kleinen Ausbrüchen, kurzen Schnappern, weil der Schmerz noch für einen Augenblick anhielt, nachdem die Schrauben schon entfernt waren, und der Körper eine Pause brauchte, um Atem zu schöpfen und sich zu regenerieren. Und dann erzählte er, was Artkin wissen wollte. Sie planten einen Angriff. Durch Spezialeinhei ten. Um neun Uhr dreißig. Der Junge sprach in schnellen, scharfen Brocken und stolperte vor Eifer über die Worte. Sie sind so eifrig mit dem Reden nach den Daumenschrauben, eifrig zu zei gen, daß sie kooperativ sein und alles erzählen wollen, was von Interesse sein könnte, bloß damit die Schrau ben nicht noch mal gebraucht wurden. Manchmal plap pern sie nur so, weil sie kaum was wissen. Wie der Junge. Er sagte immer wieder dieselben Worte. Der Telefonanruf. Neun Uhr dreißig. Spezialeinheiten. Das Telefon klingelte im Büro. Spezialeinheiten. Dann ver sickerte seine Stimme im Schweigen, obwohl noch im mer Laute aus ihm herauswollten, als suche er nach neuen Worten, die ihn vor den Schrauben bewahren konnten. »Details«, sagte Artkin befehlend. »Details.« 220
Der Junge gab ein winselndes Geräusch von sich wie ein kleines Tier, das seinem Herrn zu gefallen sucht und dessen Sprache nicht versteht. »Kommen sie durch die Luft? Oder von unten? Oder von den Enden der Brücke?« »Ich weiß es nicht«, sagte der Junge, er fand die Wörter wieder. »Ich weiß es nicht.« Seine Stimme klang ver zweifelt. Und dann wurde Artkin sanft, seine alte Sanftheit, die sogar Miro immer wieder unsicher machte. »Nimm’s nicht so schwer«, sagte er zu dem Jungen, und seine Stimme war plötzlich ganz freundlich. »Es tut mir leid, daß ich dir weh tun mußte, aber es war nötig. Das mußt du verstehen. Jetzt erzähl mal. Sei ganz ruhig und erzähl alles.« Der Wechsel in Artkins Verhalten hatte eine sofortige Wirkung auf den Jungen. Er seufzte und blies die Luft aus seinen Mundwinkeln. »Ich weiß nicht mehr, als ich gesagt habe. Sie haben mir nichts erzählt. Mein Vater hat mir gesagt, wenn du nichts weißt, kannst du nichts verraten. Aber das Tele fon läutete. Ich hörte ihn sagen, daß diese Spezialein heiten fertig seien. Ich merkte, daß das wichtig war, an der Art, wie er auf die Stimme im Hörer achtete. Er schrieb etwas. Versuchte es mit der Hand zu verdecken. Aber ich hab’s gesehen. Er hatte neun Uhr dreißig ge schrieben. Und dahinter: vormittags. Ich tat so, als hät te ich nichts gesehen.« 221
»Und Helikopter?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Werden sie von unten kommen oder von den Enden
der Brücke?«
Wieder Kopfschütteln.
»Du bist sicher wegen der Zeit?«
»Ja, ja.« Eifrig, eifrig, zu Diensten sein zu können.
»Er hat es aufgeschrieben?«
»Ja. Mit Tinte. Mit einem Kugelschreiber.«
»Du bist sicher, daß du das klar gesehen hast? Vielleicht
hast du einen Fehler gemacht. Vielleicht hast du es ver kehrt herum gelesen, und die Zeit war sechs Uhr drei ßig.« Aber es war schon nach halb sieben.
Artkin sagte nichts mehr, schien die Lage zu überden ken. Er sah Miro an und nickte. Der Blick besagte, daß
er die Situation überblicken konnte. Der Junge hatte
die Wahrheit gesagt. Er war sicher, daß der Junge
nichts mehr zurückhielt. Miro wußte, was jetzt kam.
Noch einmal Daumenschrauben. Keinem konnte man
trauen in diesen Zeiten. Nicht einmal Kindern. Sogar
Kinder konnten sein, was man nicht von ihnen
dachte.
Der Junge bemerkte die Botschaft in Artkins Augen,
sah, was kommen mußte. Er fing an zu wimmern, er
krümmte sich zusammen, sein Kinn bebte.
»O nein«, sagte er.
Miro wandte sich ab und konzentrierte sich auf eine
Skala am Funkgerät. Die Schreie waren wie üblich laut
222
und lang und andauernd. Miro zählte die Sekunden. Fünfzehn, sechzehn. Der Junge sackte zusammen und umklammerte Artkins Knie. »Was noch?« sagte Artkin. »Was noch?« Siebzehn. Achtzehn. Der Junge schnappte nach Luft, den Mund aufgerissen wie ein Fisch auf dem Trockenen, der in Luft ertrinkt. »Nichts«, brachte der Junge heraus. Das Wort ein er stickter Schrei, wie aus seinen Eingeweiden gerissen. »Gut«, sagte Artkin und erlöste ihn. Miro sah zu dem Jungen hin. Zum erstenmal richtete der Junge seinen Blick auf Miro. Miro hatte noch nie einen solchen Blick gesehen. Gab es ein Wort für so einen Blick? Er war jenseits von Schrecken und Angst und Qual. Ein Blick, so voller Seelenqual, so voller Bedauern. Als hätte er plötzlich sein wahres Schicksal gesehen, ein Schicksal, das über die Schrauben hin ausging, sogar über den Tod. Ein Blick, der den Jun gen ausgehöhlt, leer erscheinen ließ. Ein Blick, der sagte: Was hab’ ich gemacht? Der Blick eines Verrä ters. Miro konnte nicht mehr hinschauen. Als er den Blick senkte, wußte er nicht, warum er sich so schämte.
223
Der Angriff kam ohne Vorwarnung. Um 8.35 Uhr. Einen Augenblick bevor der Angriff begann, putzte Kate einem Kind die Nase, das leise weinend nach sei ner Mutter verlangte. Artkin saß im Lieferwagen und döste. Aber er döste nicht wirklich. Das war nur eine Übung, wie er sich ausruhen und seine Kraftreserven wieder auffüllen konnte, indem er mit locker hängen den Armen und halb geschlossenen Augen dasaß. Stroll saß in der Tür des Lieferwagens, wachsam wie immer, und sah nach unten durch die Schwellen und versuchte etwaige Aktivitäten auszumachen. Der Junge saß auf dem Boden des Lieferwagens, an die Hecktür gelehnt, und starrte mit dumpfen Augen geradeaus oder starrte vielleicht gar nicht, sondern dachte über etwas noch nie Geschehenes nach, unsichtbar in diesem vollgestopften Lieferwagen, unsichtbar, aber schrecklich. So hatte sie Miro alle gesehen, einen Augenblick vor dem Angriff. Er war zum Lieferwagen gekommen, um Artkin zu fra gen, ob nicht doch noch ein paar Beruhigungsmittel übrig wären. Die Kinder wurden unruhig, und Kate war keine Hilfe mehr. Seit der kleine Junge erschossen worden war, benahm sie sich wie eine Schlafwandlerin. Artkin hatte den Kopf geschüttelt, ohne seine Konzen trationsübung zu unterbrechen. Und Miro hatte ge seufzt, war über Stroll gestiegen und zurück zum Bus gegangen. Im Bus fing er an, Klebebänder zu erneuern, die sich abgelöst hatten. 224
Miro reagierte nicht sofort auf das fremde Geräusch, das an sein Ohr drang. Das Geräusch war keine Explo sion, sondern eine gedämpfte Eruption in der Nähe des Busses. Auf Schüsse hätte er sofort reagiert, auf eine explodierende Granate, das Pfeifen der Schüsse von Scharfschützen. Er hielt inne, lauschte. Nur Stille. Er kehrte zu seiner Arbeit zurück, glaubte sich sicher, weil doch der Junge gesagt hatte: der Angriff kommt um neun Uhr dreißig. Aber eine halbe Stunde zu spät nach Artkins Plan. Dann noch einmal das Geräusch! Dies mal hüllte es den Bus ein, und der Bus schien leicht zu schwanken. Miro griff nach seinem Revolver und rannte zur Tür. Der Eingang war plötzlich voller Nebel. Miro fingerte am Schloß herum, öffnete die Tür. Der Nebel quoll in den Eingang, schwer, dick, klebrig und feucht. Brannte sich in seine Augäpfel. »Artkin«, rief Miro. Das Gewehrfeuer begann. Mehr noch. Explosionen, das schnelle Stottern von Maschinenpistolen. Sirenen. Das Dröhnen von Helikoptern, wahrscheinlich zwei. Detonationen, die den Bus erschütterten. Eine Sinfo nie des Chaos, betäubend und nervtötend. Miro zog sich von der Tür zurück und drehte sich nach Kate um. Sie stand nur ein paar Schritte entfernt, ihre Augen plötzlich wachsam und lebendig. Trau ihr nicht, sagte er zu sich, denk dran, wie sie den Bus rausfahren wollte. Aber er brauchte sie jetzt. Sie konnte ihm hier heraus 225
helfen. Der Angriff lief. Der Junge hatte sie zum Narren gehalten, hatte Artkin zum Narren gehalten, und jetzt mußten sie den Kampf des Feindes kämpfen und nicht ihren eigenen. »Kate«, schrie Miro und drohte mit seinem Revolver. Er rannte zu ihr hin. Die Kinder schrien, aber ihre Stimmen waren kaum zu hören in dem Getöse, das sie umgab. Miro stieß Kate den Revolver in die Rippen, sah sie zusammenzucken und stieß noch fester zu. »Bleib bei mir. Eine falsche Bewegung, und du bist tot.« Er stieß sie zum Eingang. Der Wind. Die Luftwirbel der Rotorblätter verteilten den Nebel, zerfetzten ihn, als wäre er eine massive Stoffdecke gewesen. Fetzen von Stoff trieben durch die Luft. Miro riß Streifen von Klebeband von der Wind schutzscheibe. Er mußte sehen, was draußen los war, bevor er den Bus verließ. Der Bus bedeutete Sicherheit, für die nächsten paar Minuten wenigstens. Die Solda ten wußten, daß sich Kinder in dem Bus befanden, und würden deshalb nicht schießen oder Granaten werfen. Aber früher oder später würden sie hereinkommen, und Miro war klar, daß er dann hier weg sein mußte. Er sah durch die Windschutzscheibe, durch die klaren Lö cher, die der treibende Nebel freiließ. Er sah Strolls Körper auf den Schienen vor der Tür des Lieferwagens. Er war zusammengekrümmt, seine Arme umklammer ten die Brust. Miro wußte, daß er tot war: die Haltung eines toten Körpers ist unverkennbar. Antibbe, jetzt 226
Stroll. Und Artkin? Aber Artkin hatte den Jungen, wie Miro Kate hatte. Miro ging zur Tür, Kate immer noch neben sich, der Revolver in ihrer Seite. Ein Soldat tauchte vor ihnen auf, von einem Moment zum anderen. Der Soldat sprang aus dem ohrenbetäubenden Lärm, der sie um gab, als wäre er ein Teil davon. Der Soldat hielt eine Granate in der Hand. Miro erkannte sie: sie nannten das eine Betäubungsgranate. Die Betäubungsgranate streute kein Schrapnell, sondern setzte nur den Feind in ihrem Wirkungsbereich für kurze Zeit außer Gefecht, so daß man ihn überwältigen konnte. Miro durfte nicht zulassen, daß die Granate explodierte. Er hob den Re volver, aber noch ehe er schießen konnte, krümmte sich der Soldat plötzlich und fiel nach hinten, die Granate entglitt seiner Hand und fiel auf die Schienen. Durch die Windschutzscheibe sah Miro Artkin an der Tür des Lieferwagens, Revolver in der Hand, in der anderen den kraftlosen Jungen. Artkin hatte ihn geret tet. Wieder. Miro stieß das Mädchen die Stufen hinunter nach drau ßen. Er mußte raus hier. Genau wie Artkin den Liefer wagen verlassen hatte. Jeder hatte eine Geisel: ihre Fahrkarte in die Freiheit. Sollen sie die Kinder haben. Er hatte Kate, und Kate würde vor ihm sterben. Der chemische Nebel türmte sich wild um ihn herum, die Schwaden tanzten verrückt in den Luftwirbeln der Rotoren. Miro schaute flüchtig zu den Enden der 227
Brücke hin und sah nichts. Wo waren die Angreifer? Er schaute zu Artkin hin, und Artkin sah genauso verwirrt aus. Der Lärm der Helikopter nahm zu. Miro schaute nach oben und sah die Kufe eines Helikopters durch den aufgewühlten Nebel stechen. Wollten die hier auf der Brücke landen? Auf dem Dach des Busses? Das war ja Wahnsinn. Oder kommen sie von unten? Aber er sah nichts, seine Beine steckten im Nebel. Er hielt immer noch das Mädchen gepackt und bedrohte sie mit dem Revolver. Aber sie wehrte sich nicht. Kann sein, daß sie weinte, aber er hörte nichts bei dem Lärm. Er schaute zu Artkin hinüber, brauchte Antworten auf seine Fra gen. Was jetzt? Wo ist der Feind? Wann taucht er auf? Und da sah er sie endlich am Ende der Brücke, fünf oder sechs von ihnen in Tarnuniformen, das Gewehr im Anschlag, noch hinter Artkin, hinter dem Lieferwagen. Miro öffnete den Mund, um eine Warnung zu schreien, aber er wußte, daß Artkin ihn nicht hören konnte. Art kin beobachtete den Helikopter, der aus dem Nebel über ihnen tauchte. Miro nahm den Revolver von den Rippen des Mädchens und versuchte Artkins Aufmerk samkeit zu gewinnen, indem er heftig winkte und sich auf ihn zubewegte. Aber als das Mädchen merkte, daß der Revolver sie nicht mehr bedrohte, warf sie sich nach vorne. Miro packte sie. Er konnte nicht riskieren, daß er sie verlor und damit seine Chance, hier noch rauszu kommen. Er riß sie wieder an sich, ihre Körper prallten aufeinander. Er schaute wieder zu Artkin hinüber und 228
sah, wie er erstarrte, sah, wie sich seine Arme ver krampften und die Adern an seinem Hals hervortraten, als bewegten sich kleine Würmer unter seiner Haut. Miro wußte, daß Artkin getroffen war, aber er sah kein Blut, sah nur, wie der vertraute Körper plötzlich fremd wurde. Artkins Griff lockerte sich, und der Junge ent schlüpfte ihm, wobei er die Arme um seine Brust schlang, als könne er sich damit beschützen. Artkins Körper drehte sich, immer noch erstarrt, Kopf und Körper fest miteinander verbunden, wie bei einer Sta tue, die sich langsam auf einer Drehscheibe dreht. Art kins Hand, die den Revolver hielt, hob sich. Sein Arm flog zurück, als sich der Schuß löste. Miro sah, wie die Kugel in den Körper des Jungen eindrang, sah das rote Mal auf seiner Brust erscheinen. Der Junge fiel um, steif, mit aufgerissenem Mund. Artkin stürzte auch, und der Revolver fiel ihm aus der Hand. Im Fallen sah er sich nach Miro um, aber seine Augen waren schon leer. Sein Mund ein Loch, aus dem das Blut schoß, Blut, wie es Miro noch nie gesehen hatte, dick und dunkel. Miro erschrak: Artkin tot! Er hatte nie daran gedacht, daß Artkin sterben könnte wie er und die anderen. In diesem Augenblick krachte der Helikopter in das Dach des Lieferwagens und ging in Flammen auf. Die Wucht der Explosion schleuderte Miro und das Mäd chen fünf oder sechs Fuß weit von der Tür des Busses weg auf die Schienen. Miro klammerte sich an das Mäd chen. Sein Instinkt sagte ihm, daß er sie nicht verlieren 229
durfte in all dem Rauch und dem Chaos um sie herum. Seine Augen schmerzten, und seine Lungen brannten. Als er mit dem Mädchen in den Schotter stolperte, sah er überall Soldaten um sich herum, aber sie agierten, als wären er und das Mädchen unsichtbar. Befehle drangen durch den Lärm: ›Bringen Sie den Burschen hier raus ... Sehen Sie nach den Kindern.‹ Miro kam wieder auf die Beine. Er wollte Kate aufhelfen, aber sie widersetzte sich, versuchte ihm zu entkommen, Verachtung in den Augen. Er warf einen schnellen Blick auf das Ende der Brücke und sah erstaunt, daß es nicht bewacht war: das bedeutete einen klaren Fluchtweg in den Wald, raus aus dieser Hölle von Feuer und Rauch und Nebel. Der Unfall des Helikopters hatte die Solda ten abgelenkt, und ihre Sorge um die Kinder hatte sie Miro und das Mädchen vergessen lassen. Alle Aktivitä ten konzentrierten sich auf die Unfallstelle. »Komm«, sagte Miro und zeigte mit dem Revolver in Richtung Wald. Er stieß sie vorwärts, und sie stolperte los. Als Miro hinter ihr herwollte, schoß ein brennen der Schmerz durch seine linke Wade. Blut sickerte in sein Hosenbein. Eine Kugel? Ein Granatsplitter? Ein Schnitt vom Sturz nach der Explosion? Er biß die Zähne zusammen und zwang sich, hinter Kate herzu laufen, den Revolver in ihrem Rücken und die andere Hand auf ihrer Schulter, nicht so sehr, um sie an der Flucht zu hindern, sondern eher als Stütze. Der Schmerz war quälend. Er wollte schreien. Aber er 230
konnte nicht vor dem Mädchen. Sie würde seine Schwäche ausnutzen und sich befreien. Stolpernd kämpften sie sich vorwärts und erreichten das Ende der Brücke. Hier lag der Nebel dick und unberührt von den Rotoren der Helikopter. Er stach ihnen in die Augen. Mit zugekniffenen Lidern schaute sich Miro um. Der Helikopter und der Lieferwagen waren eingehüllt in Flammen und Rauch. Die Rotorblätter ragten in die Luft wie die gebrochenen Flügel eines verwundeten Vogels. Der Bus war unversehrt. Soldaten stürmten ihn. Die Kinder waren in Sicherheit. Aber nicht Artkin. Artkin war tot, Artkin, der viel mehr wert war als all diese Kinder. »Beweg dich, los«, flüsterte Miro wütend. »In den Wald.« Merkwürdig kam ihm seine Stimme vor, wie die Stimme eines Fremden. Sie waren so aneinandergedrängt, daß sich ihr Atem vermischte. Kate wußte nicht, wo ihrer aufhörte und wo Miros Atem begann. Ihre Schenkel waren naß von Urin. Ihre Blase hatte sich völlig entleert während des Angriffs. Sie war schweißgebadet. Nicht bloß Transpi ration, sondern Schweiß. Schweiß, der von ganz tief innen kam, dick und stinkend. Oder war das Miros Schweiß? Sie wußte, daß es Miros Blut war, das auf ihre Hose spritzte, als er am Bein getroffen wurde. Er hatte seine Hose aufgerissen und die Wunde freigelegt: zer fetztes Gewebe, aus dem ruhig das Blut pulsierte. Sie 231
wußte, daß er Schmerzen hatte. Sie sah es in seinen Au gen. Sein Atem war anders, besonders tief. Ihr Atem war ein erschöpftes Nach-Luft-Schnappen vom Ren nen und Sich-Wehren gegen Miro, der sie durch den Wald schleppte. Aber Miros Atem verriet mehr als nur Erschöpfung. Er keuchte, und sein Atem ging schnel ler. Sie sah die pulsierende Wunde und dachte: Viel leicht komm’ ich doch noch davon, vielleicht verblutet er. Sie befanden sich in einer kleinen, nestähnlichen Höhle aus dichtem Gebüsch und toten Zweigen, möglicher weise die verlassene Burg von irgendwelchen Kindern. Kate dachte daran, wie sie es als Kind geliebt hatte, ir gendwo hineinzukriechen und sich vor der Welt zu ver stecken. Jetzt versteckten sie sich auch. In der Höhle war nicht Platz für zwei, kaum für einen. Sie lagen zu sammengepfercht in einer unheimlichen Umarmung. Miro hatte sie zuerst in die Höhle gestoßen, und sie hatte angenommen, er würde sie hier zurücklassen, weil sie nur Platz für einen bot. Dann war er doch hereinge krochen, den Revolver trotz der bedrückenden Enge immer irgendwie auf sie gerichtet. Sie mußte sich krümmen und drehen, um ihm Platz zu machen. Jetzt waren sie ineinander verkettet, die Beine verschlungen, die Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt, sie atmeten einander fast in den Mund, und der Revolver war immer noch zwischen ihnen, unter ihrer linken Brust, und drückte ihr in die Rippen und machte ihr 232
blaue Flecken. Ihre Angst war, daß der Revolver aus Versehen losgehen könnte. Ihr Herz klopfte heftig. Oder war es das von Miro? In der Ferne hörte sie rufen, schwache Stimmen wie aus einem zu leise gedrehten Radio. Sie seufzte matt und mutlos. Aber sie wußte, sie mußte einmal anfangen, irgendwie. »Sie können nicht davonkommen«, sagte sie. »Wir sind umzingelt.« Das Sprechen machte ihr Mühe, und ihre Stimme klang wie aus einer riesigen Höhle. »Sei ruhig«, sagte Miro mit kratziger, rauher, erstickter Stimme. Wenigstens sind die Kinder in Sicherheit, dachte Kate. Wenigstens? Nein, nicht wenigstens. Die Kinder wa ren das Wichtigste von Anfang an. Und jetzt waren sie in Sicherheit, gerettet, wurden vielleicht gerade ihren Eltern übergeben. Und meine Eltern? Was ist mit mir? Ja, was ist mit mir? Sie durfte nicht in Panik verfallen. Mußte sich konzen trieren auf die positive Seite der Dinge. Sie konnte jetzt nicht aufgeben. Wenn der Rauch abzog und sich alles beruhigt hatte dort auf der Brücke, dann würden sie den Wald absuchen. Miro konnte nicht entkommen. Nicht allein. Nicht in diesem Wald, den er nicht kannte. »Mein Knöchel tut weh«, sagte Kate. »Ich hab’ mir den Fuß vertreten. Ziemlich schlimm. Vielleicht ist er ver staucht. Ich bin nur Ballast für Sie. Warum lassen Sie 233
mich nicht hier? Sie kommen schneller ohne mich voran.« Es amüsierte sie, wie sie fähig war zu lügen, sich was auszudenken. Aber es war niemand da, der ihre Fähigkeiten hätte bewundern können. Und wenn Miro das merkte, dann konnte das schlimm ausgehen. Sie dachte an den Bus und an all die Stunden, die sie ver sucht hatte durchzuhalten. Hatte sie das gut gemacht? War sie tapfer genug gewesen? Sie hatte den Flucht versuch verpatzt. Wenn sie nur mit jemandem darüber reden könnte, mit Vater und Mutter vielleicht. Wie im mer, wenn sie etwas versucht und vermasselt hatte, würden sie sagen: Nun, wenigstens hast du es versucht, Kate. Das war doch was, oder? Vielleicht, daß sie nicht tapfer genug gewesen war, aber versucht hatte sie es doch, oder? Wenn doch nur jemand da wäre, ihr das zu bestätigen. Sie hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nicht so einsam gefühlt, so verzweifelt einsam und trau rig. »Du wirst bei mir bleiben, Kate. Ohne dich erschießen sie mich wie einen Hund«, sagte Miro. Sein Atem war wieder regelmäßiger, seine Stimme fast normal. Er stieß ihr den Revolver tiefer in die Rippen. »Ich werde dich erschießen, wenn ich muß, Kate. Das war mein Befehl von Anfang an. Dich zu töten. Ich werde auch jetzt nicht zögern.« Sie erschrak, aber sie durfte ihn den Schreck nicht sehen lassen. »Warum haben Sie mich dann nicht erschos sen?« 234
»Wir haben dich gebraucht. Wegen der Kinder. Aber Artkin hat gesagt, ich würde meine Chance bekommen, bevor wir die Brücke verlassen.« Jetzt atmete er wieder stoßartig, und sein Gesicht war schmerzverzerrt. Sie hatte recht gehabt. Sie hatte ihr Schicksal in Miros Augen gesehen. Jetzt sah sie Miro an, wohl wissend, daß die Gefahr noch nicht vorbei war. Er untersuchte sein Bein. »Das Blut, es hört auf«, sagte er. »Und wenn schon, was nützt es?« sagte Kate und nahm ihre letzten Kräfte zusammen, um die Rolle weiterzu spielen, ihn am Reden zu halten und an ihn ranzukom men, wie sie ein-, zweimal im Bus an ihn rangekommen war. Aber, o Gott, war sie müde. »Keine Worte mehr, Kate, keine Spielchen.« »Ich spiele nicht. Sehen Sie den Tatsachen ins Auge. Sie sind verwundet. Der Wald ist voller Soldaten. Sie be finden sich in einem fremden Land. Es gibt keinen Aus weg.« Er antwortete nicht. Sie machte weiter. »Sehen Sie, wenn Sie sich ergeben, vielleicht kriegen Sie mildernde Umstände. Genaugenommen haben Sie doch nichts gemacht. Sie haben Raymond nicht umgebracht. Die Kinder sind gerettet. Sogar das erste tote Kind, der kleine Kevin McMann, das war ein Unfall. Das kann ich bezeugen. Ich kann ihnen erzählen, daß Sie nett zu den Kindern waren. Zu mir auch. Sie haben uns nichts ge tan. Nichts haben Sie getan.« Seine Lippen formten sich zu einem Lächeln. Einem 235
traurigen Lächeln, ohne Tiefe, bloß eine Anordnung von Muskeln. »Ach, Kate. Du hast nichts begriffen. Überhaupt nichts. Die ganze Zeit im Bus haben wir geredet, und du verstehst immer noch nichts.« »Was verstehe ich nicht?« »Daß es nicht darauf ankommt, ob ich davonkomme oder nicht. Ob ich lebe oder sterbe. Ob jemand anders überlebt oder nicht. Ich hab’ meinen Zweck erfüllt.« Jetzt war seine Stimme kräftig und bestimmt, und sie mußte gegen diese Kraft und Bestimmtheit ankämpfen. »Was für ein Zweck? Was, zum Teufel, hat Zweck mit Leben und Tod zu tun?« Wie konnte sie da durch, seine Abwehrmauer überwinden, eindringen in die Propa ganda, mit der sie ihn all die Jahre vollgestopft hatten? Sie dachte an seinen Blick im Bus, als sie ihre Jeans aus gezogen hatte. Und sie schämte sich für das, was sie noch einmal versuchen mußte. Verdammt, mußte es immer darauf hinauslaufen zwischen einem Mädchen und einem Jungen? Sie versuchte ihre Stimme zärtlich klingen zu lassen. »Was ist mit all den Dingen, die man machen kann auf dieser Welt? Möchten Sie nicht geliebt werden? Heira ten? Kinder kriegen? Was ist falsch an einem kleinen bißchen Liebe? Statt diesem Töten und Kämpfen und dem Krieg, von dem Sie immer reden.« Er starrte sie mit leeren Augen an. Ihr Körper wurde weich. Was sie da sagte – Liebe, Kinder, Familie –, war jenseits seiner Vorstellungskraft. Vielleicht sogar Sex. 236
Wieder merkte sie, wie unschuldig er war, auf diese schreckliche Art unschuldig: wie ein Monster. Aber sie durfte nicht aufgeben. »Also gut, was haben Sie noch? Was haben Sie davon, wenn Sie davonkommen? Sie sind allein. Allein in der Welt da draußen. Die beiden Männer, mit denen Sie zusammen waren, der, den Sie Antibbe nannten, und der Schwarze, sind tot. Und Artkin. Wer ist übrig? Nie mand. Ihr Bruder ist tot. Und jetzt Ihr Vater.« Er sah sie an. Verstört. Sein Atem, abgestanden und säuerlich, drang ihr in Mund und Nase. »Mein Vater – was meinst du damit? Jetzt mein Vater?« Als sie die Worte aussprach, war ihr nicht klar, was sie bedeuteten. Sie hatte das irgendwann unbewußt aufge nommen und nichts davon gewußt, bis es ihr in den Sinn gekommen war wie die Antwort bei einer Prü fung, von der man nicht wußte, wann und wie man sie gelernt haben sollte. Jetzt erst wurde ihr klar, daß Art kin sehr gut Miros Vater sein konnte, und auch, daß Miro nichts davon wußte, nie daran gedacht hatte. Freilich zweifelte auch Kate daran. Konnte das möglich sein? Und konnte sie den Verdacht zu ihrem Vorteil nutzen? »Artkin. Er war Ihr Vater, oder?« sagte sie. Sie beob achtete ihn scharf, gespannt auf seine Reaktion. »Warum sagst du das? Du weißt nichts von uns.« »Sie sehen aus wie Vater und Sohn«, sagte Kate. Sie improvisierte. Ihre Gedanken rasten. Und dann sah sie 237
die Wahrheit: »Als ich Sie in der Maske sah, jenes erste Mal, da wußte ich es. Ihre Lippen, die Augen – es wa ren die gleichen. Ich verstand nicht, warum Sie ihn nicht Vater nannten.« »Es ist nicht möglich«, schrie Miro auf und versuchte sich abzuwenden. Aber es war kein Platz, unmöglich, ihr und ihren Worten zu entkommen. »Warum nicht?« sagte Kate und befahl sich weiterzu reden, weiterzumachen. Sie hatte es wieder geschafft, Zeit gewonnen, ihn ohne Deckung, auf dem falschen Fuß erwischt. »Haben Sie nicht erzählt, daß er Sie im Lager aufgelesen und in die Schule gebracht hat? Würde ein Fremder so was tun? Vielleicht hat er all die Jahre nach Ihnen und Ihrem Bruder gesucht. Warum hat er Sie an einen Ort gebracht, wo Sie sicher waren, wo man sich um Sie kümmerte? Warum ist er später dann auf Sie zurückgekommen? Hätte er alles gemacht, wenn er nicht Ihr Vater wäre? Bloß ein Fremder?« »Mein Vater ist umgekommen. Mit meiner Mutter. Schon lange. Eine Mine ist explodiert.« Das ließ sich Miro nicht nehmen, aber es war doch ein Zweifeln in seiner Stimme. »Aber Sie haben das nicht gesehen. Jemand hat es Ih rem Bruder erzählt, und Ihr Bruder hat es Ihnen er zählt.« Artkin sein Vater? Diese Wahrheit konnte er nicht an erkennen, wenn es die Wahrheit war. Weil ihm da ein Wurm ins Gewissen kroch, ein Wurm, der sagte, daß er 238
Schuld habe an Artkins Tod. Er hatte ihn im Stich ge lassen, hatte nach dem Mädchen gegriffen, anstatt ihn vor den heranrückenden Soldaten zu warnen. Er hatte das Mädchen und seine eigene Sicherheit über Artkin gestellt, Artkin, der alles für ihn gewesen war und jetzt auch noch sein Vater. Ein Schrei drang aus seiner Brust. Er hüllte Kate ein, bis sie ein Teil dieses Schreis wurde. Er warf seinen Kopf nach hinten und heulte wie ein tödlich getroffenes Tier, das seine letzten verzweifelten Momente ankündigt. Kate wiegte ihn, indem sie ihn mit ihrem freien Arm umarmte. Sein Heulen formte sich zu einem Wort, während es aus ihrem Versteck aufstieg. Aaaarrtt kinnnnnnn! Aufstieg und erstarb in der Luft und nur noch als schwaches Echo in den Ohren fortklang. Kate wiegte ihn sanft, wie sie die Kinder im Bus gewiegt hatte. Sie summte leicht, ein Lied ohne Melodie, Worte ohne Bedeutung, aber Töne, die ihm Erleichterung und Trost bringen sollten. Sie schloß die Augen und hüllte ihn ein, umschloß ihn mit ihrem Körper, ihrer Wärme und ihrem Atem, ihrem Schweiß und ihrem Urin. Als Kate Forrester neun Jahre alt war, wäre sie beinahe erstickt. Ein Stück Fleisch blieb ihr im Hals stecken. Einen schrecklichen Augenblick lang war sie starr vor Schreck. Das Fleisch verstopfte ihre Kehle, steckte ein fach fest, ihr Atem war so plötzlich und vollständig ab 239
geschnitten zwischen Luftholen und Ausatmen, daß sie nicht mal japsen konnte. Sie konnte nur versuchen, auf die Füße zu kommen, die Augen hervorgequollen, den Mund aufgerissen. Sie konnte sich nicht bewegen, brachte keinen Laut hervor, war gelähmt und stumm und dachte: Ich sterbe, und keiner merkt es, obwohl sie hier mit mir am Tisch sitzen, meine Mutter und mein Vater. Und dann, in dem Moment, wo sie zu ersticken drohte und die Wände um sie herum verschwammen und von ihr abrückten, löste sich das Fleischstück ir gendwie auf wundersame Weise. Sie mußte husten und würgte das Fleisch in ihren Mund zurück. Sie war er löst, auch ihre starren Knochen und Muskeln. Die Luft konnte wieder in ihre Lungen strömen, und im glei chen Augenblick trat ihr der kalte, glänzende Schweiß aus den Poren. Mit dem Atemstrom stellte sich das Ge fühl ein, noch einmal davongekommen zu sein, die süße Gewißheit, daß sie nicht sterben würde, trotz alle dem, daß sie leben würde. Das Leben, das Gefühl, le bendig zu sein und fähig zu atmen, war mit einem Mal unerträglich wunderbar, wie Musik tief in ihr drinnen. Sie war außer Gefahr. Gerettet. Aber diesmal nicht. Dieses Mal war alles stehengeblieben, wie eine Uhr ste henbleibt, und der Schmerz war ihr Körper und ihr Körper war der Schmerz und sie wußte genau, was pas siert war und was jetzt passieren würde. Der Revolver war losgegangen. Wieder war sie steckengeblieben zwi 240
schen zwei Atemzügen. Der Schmerz ... ohh ... die
Luft abgeschnitten und sterben und Mama und Papa,
ich kann nicht atmen und niemand ist da, der mir sagt,
ich bin tapf ...
Als er abdrückte, ging die Kugel in ihr Herz, und sie
war sofort tot.
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11
Hallo, Dad. Ben, du bist da. Du bist zurück. Ja, ich bin da. Du hast nach mir gesucht, nicht wahr? So lang schon, Ben. Wie lang schon, Dad? Wochen? Monate? Zu lang, viel zu lang. Aber ich war immer da. Hast du das nicht gewußt, Dad? Manchmal hab’ ich daran gedacht. Du hast einfach nicht lang und genau genug hinge schaut. Ich hab’s versucht, Ben. Fest genug? Ich hab’ getan, was ich konnte, Ben. Wolltest du mich wirklich zurückholen? Aber ja doch. Vielleicht machst du dir etwas vor. Oder mir. Oder gibt’s da keinen Unterschied? Spiel nicht mit mir, Ben. Ich spiele nicht, Dad. Ich überlege nur, ob du mich wirklich zurückholen wolltest. Ich war schon mal da. Aber das hab’ ich nicht gewußt. 242
Doch, das hast du. Schau dir die Aufzeichnungen an neben der Schreibmaschine. Siehst du? Das war ich. Aber ich hab’ dich nicht erkannt. Ich sah nur Papier. Ich mußte gehen, aber jetzt bin ich wieder da. Und ich bin froh, Ben, so froh. Willst du nicht wissen, wo ich war? Das mußt du mir nicht erzählen, Ben. Weil du es schon weißt, nicht wahr? Sag nicht so was, Ben. Ich möchte, daß du es sagst. Was? Wo ich gewesen bin. Von wo ich wieder zurückgekommen bin. Aber ich kann das nicht. Doch, du kannst. Ich will es nicht sagen. Zu schade, zu schade. Es hat so lang gedauert, mich zurück zuholen. So lange Zeit. Die ganze Zeit, die du aus dem Fenster gestarrt hast, und die ganze Zeit, die du nachts wachgelegen hast und in der dir nicht mal die Pillen helfen konnten. So lange Zeit, und jetzt willst du es nicht sagen. Ich kann es nicht. Doch, du kannst. Versuch es wenigstens. Warum sollte ich? Weil du mir soviel schuldest. Also sag mir jetzt, wo ich her komme. Also gut. Von wo? 243
Mir. Von mir. Von wo in dir? Von tief drinnen. So tief, daß es schwer war, mich wieder hervorzuholen, nicht wahr? Ja, es war schwer. Aber jetzt bin ich da, nicht wahr? Bitte geh zurück, Ben. Geh zurück. Aber ich bin gerade erst gekommen. Und es hat so lang gedauert, mich hervorzuholen, so lang. Aber jetzt bin ich da. Endlich. Geh zurück, Ben. Aber warum sollte ich zurückgehen, wenn du dir solche Mühe gegeben hast, mich hervorzuholen? Weil ich müde bin, Ben. So müde. Warum wolltest du mich zurückholen, Dad? Du weißt warum, Ben. Das weißt du. Weiß ich das? Ja. Aber sag es mir. Ich möchte hören, wie du es sagst. Ich wollte dich um Verzeihung bitten. Für das, was ich dir angetan habe. Auf der Brücke. Und was hast du mir angetan? Ich habe meinem Vaterland gedient. Ich bin ein Pa triot, Ben. Ich hab’ es für mein Land getan. Nicht für mich. Ich weiß, daß du es für dein Land getan hast. Aber ich bin dein Sohn. 244
Und ich liebe dich. Aber sag mir, was du für dein Land getan hast. Ich hab’ dich auf die Brücke geschickt. Zu dem Liefer wagen. Es war eine brenzlige Situation, und die Wahl fiel auf dich. Warum ich, Dad? Warum nicht ein anderer? Weil ich dich besser als jeden anderen kannte. Ich wußte, was passieren würde auf der Brücke, was du tun würdest. Und was tat ich, Dad? Ich hab’ dir das schon gesagt. Im Krankenhaus. Erin nerst du dich? Ja, aber sag es mir noch mal. Darum bin ich doch hier, oder? Ich fuhr ins Krankenhaus, um dich zu besuchen. Du warst ohne Bewußtsein, seit dem Angriff auf die Brücke. Die Kugel hatte deinen Arm gestreift und war dann in deine Brust eingedrungen. Wir, deine Mutter und ich, besuchten dich jeden Tag. Und eines Tages wachtest du aus dem Koma auf. Wir waren allein, du und ich. Du hast die Augen aufgemacht und mich gese hen. Und zu weinen angefangen. Tränen liefen dir über die Wangen. Ich hab’ mich ganz nah über dich gebeugt. Nie habe ich dich so geliebt wie in diesem Augenblick. Du hast angefangen zu reden. Du hast gesagt, daß es dir leid tut. Daß du ihnen von dem Überfall erzählt hast. Dem Überfall um neun Uhr dreißig. Du hast gesagt, daß es dir leid tut, daß du mich enttäuscht hast, und 245
dein Land, daß du nicht tapfer genug warst. Ich hab’ dich in den Arm genommen. Ich hab’ dir gesagt, daß du dir keine Sorgen machen sollst und daß du tapfer warst. So tapfer, wie du nur sein konntest. Niemand, nicht einmal dein Land, kann mehr verlangen. Ich hab’ dir gesagt, daß wir davon ausgegangen waren, daß du den Angriff um neun Uhr dreißig verraten wirst. Das war so geplant. Genau darum hatten wir dich ausgesucht. Wir brauchten jemanden, der ihnen erzählen würde, was sie hören wollten. Der Telefonanruf in meinem Büro war geplant. Wie auch der Zeitpunkt, den ich so auf die Schreibunterlage notiert habe, daß du ihn sehen konn test. Wir wollten, daß du das Gespräch über Spezialein heiten mitanhören konntest. Daß du die Zeit siehst. Damit du ihnen etwas erzählen konntest und sie dir glaubten. Damit wir unseren Angriff früher einleiten konnten. Um sie zu überraschen und die Kinder zu ret ten. Aber was war mit mir? Wir haben nicht gewußt, daß sie dich nicht wieder frei lassen. Wir haben nicht gewußt, daß Artkin noch Zeit haben würde, um auf dich zu schießen. Wir hatten uns ein geringes Risiko ausgerechnet. Das mein’ ich nicht. Was meinst du denn? Ich meine: Was ist mit mir? Herauszufinden, daß ich nicht nur mein Land verraten, sondern daß man genau das von mir erwartet hatte. Herauszufinden, daß man davon aus 246
gegangen war, daß ich mich wie ein Feigling benehmen und nicht einmal ein bißchen Schmerz aushalten würde. Es war nicht ein bißchen Schmerz. Es war schlimmer, als wir erwartet hatten. Eine Menge anderer wären zu sammengebrochen. Aber ich bin zusammengebrochen. Und du hast das erwar tet. Ob der Schmerz nun schlimm war oder nicht, du hast gewußt, daß ich zusammenbreche. Du hast darauf ver traut, daß ich ein Feigling bin. Kein Feigling. Was dann? Verletzbar. Ein Feigling. Empfindsam. Ein Feigling. Du hast deinem Land gedient. Du hast ihm auf deine Weise gedient wie ich auf die meine. Ist ein Land so viel wert, Dad? Wie hätte ich leben sollen, mit dem, was ich getan habe? Mit dem Bewußtsein, daß ich mit meiner Feigheit meinem Land gedient habe? Was blieb da noch übrig von mir, Dad? Tut mir leid, Ben. Es tat mir sofort leid, als ich es dir erzählt hatte. Sowie ich dein Gesicht sah und erkannte, was ich getan hatte. Ich dachte: Ich mach’ das wieder gut. Und wenn es Monate und Jahre dauert. Du wirst mir verzeihen. Und dann bin ich gestorben. O Ben. 247
Eine andere Brücke, ein anderer Tag. Ich hab’ versucht, dich aufzuhalten, Ben. Aber du warst zu spät dran, nicht wahr? Ich hab’ dich verloren. Noch einmal. Aber ich hätte sowieso nicht weiterleben können, oder? Nein. Und du hast mich begraben. Ja. Zweimal. Ja. Einmal in der Erde, auf dem Militärfriedhof von Fort Delta. Und wieder in dir. Begraben tief in dir. Ja. Ich hab’ versucht zu vergessen, davonzulaufen. Aber du holst mich immer wieder hervor. Ich weiß. Um dir zu sagen, wie leid es mir tut, und um deine Verzeihung zu erbitten. Warum fragst du mich dann nicht? Weil ich Angst habe. Angst wovor? Es fällt mir schwer, das zu sagen. Ich sag’ es für dich. Du hast Angst, daß ich dir nicht verzei hen könnte. Ja. Deswegen holst du mich immer wieder hervor und schickst mich dann wieder weg. Ja. Dann laß mich es sagen. Willst du? 248
Ja. Ich sage es. Ich verzeihe dir. Danke, Ben. Siehst du? Ich habe es gesagt. Jetzt mußt du mich nicht mehr wegschicken. Jetzt kann ich bleiben. Aber ich denke, du solltest gehen, Ben. Ich bin gern hier. Ist schön. Wie in deiner alten Schule in Castleton, nicht wahr? Und der Doktor. Erinnert er dich nicht an Dekan Albertson? Du hast mir alles über ihn er zählt. Daß er soviel redete und immer vom Thema ab schweifte. Ich denke, du solltest jetzt gehen, Ben. Und die andern. Deine alten Freunde, Martingale und Donateli. Sie sind immer noch da, nicht wahr? Ich möchte, daß du gehst, Ben. Und Nettie Halversham. Das geht alles durcheinander hier, nicht wahr? Ich hab’ dir von ihr erzählt, nicht wahr? Oder hast du mir nicht zugehört, als ich von ihr sprach? Gehört sie zu mir oder zu dir? Hast du einmal ein Mädchen wie sie gekannt? Bitte, Ben, hör auf. Nein. Ich glaube nicht, daß ich aufhöre. Ich werde auch nicht wieder gehen. Du hast einmal gesagt: »Versetz dich in meine Lage, Ben.« Nun, genau das mache ich jetzt, Dad. Das kannst du nicht. Warum kann ich das nicht? Weil du nicht bleiben kannst« O doch, das kann ich. 249
Nein. Aber ich bin gern hier. Du mußt gehen. Ich glaube, ich bleibe. Ich befehle dir zu gehen. Ich sag’ dir was, Dad. Was? Du gehst. Ich muß bleiben. Das ist es. Du gehst. Nein, ich kann nicht gehen. Warum nicht? Ich will nicht. Doch, du willst. Bitte, Ben. Du hast mich hierher gebracht, aber das bedeutet nicht, daß du mich wieder wegschicken kannst. Du hast mich frü her schon zurückgeholt und mich wieder weggeschickt. Aber diesmal bleibe ich. Nein, das kannst du nicht. Das darfst du nicht. Diesmal gehst du. Nicht ich. Ich kann nicht. Doch, du kannst. Ich will nicht. Doch, du willst. Nein. Du gehst jetzt besser, Dad. Nein ... 250
Du kannst nicht länger bleiben. Bitte ... Ich bleibe hier. Nein ... Goodbye, Dad.
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Der Regen hatte aufgehört, aber das Pflaster war noch naß. Trotz des Regens war der Tag warm geblieben. Jetzt am Abend war es stickig, und die Luft war feucht. Miros Kleider klebten an seinem Körper. In der Mitte des Nachmittags hatte der Regen angefangen und bald seinen Höhepunkt in einem Wolkenbruch erreicht, um dann langsam nachzulassen. Miro war durch den Platz regen gelaufen, weil er wußte, daß er sich den Luxus einer Rast nicht erlauben konnte. Er hielt sich nah am Boden und rannte geduckt von Busch zu Busch, von Baum zu Baum. Zweimal war er auf einen Baum geklet tert, um seinen Verfolgern zu entkommen. Einmal hatte er sein Unterhemd ausgezogen und in Streifen ge rissen, um seine Wunde am Bein zu verbinden. Er emp fand keinen Schmerz mehr. Oder sein ganzer Körper tat so weh, daß er nicht wußte, wo er anfing und der Schmerz aufhörte. Er hatte weder Durst noch Hunger. Er fühlte sich weder stark noch schwach. Er existierte einfach. Er saß im Gebüsch am Rande eines Highway. Es war dunkel geworden. Die Scheinwerfer von vorbeifahren 252
den Autos bohrten sich in die Dunkelheit. Er überlegte, ob er es wagen sollte, ein Auto anzuhalten. Er sah die Gefahr. Seine Beschreibung hatte man bestimmt schon in der ganzen Gegend verteilt, im ganzen Staat, im gan zen Land. Er wußte auch, daß er furchtbar aussah, so durchnäßt und blutig. Er sah über seine Schulter. Der Wald lag dunkel und still. Ein Gestank drang ihm in die Nase. Sein eigener. Er war durch einen Fluß voller Abfall geschwommen, um seinen Verfolgern zu entgehen. Der Fluß floß an mehreren alten Fabriken und an einer Mülldeponie vorbei. Er dachte an seine Verfolger, wie nah ihre Rufe gewesen waren. Es war wie ein Spiel gewesen, aber es hatte ihm keinen Spaß gemacht. Er hatte die Fähigkei ten ausgenutzt, die er sich im Lager und bei der Ausbil dung angeeignet hatte. Und er hatte sich auch auf sei nen Instinkt verlassen. Einmal hatte er überlegt: Warum renne ich eigentlich? Warum will ich entkommen? Er hätte auf der Brücke sterben sollen mit Artkin. Sie wären ein Beispiel gewe sen für andere. Dann erinnerte er sich an all die Lektio nen, die Artkin ihm Tag für Tag, Jahr für Jahr erteilt hatte. Er erkannte, daß Artkin ihn für einen Zweck un terrichtet hatte. Es wäre ehrenvoll gewesen, mit Artkin auf der Brücke zu sterben. Aber wichtiger war es, die Arbeit weiterzutragen. So war Miro weitergeflohen mit dem festen Willen, Schmerz und Erschöpfung zu überstehen. Wenig Verkehr jetzt. Nur noch gelegent 253
lich fuhr ein Auto vorbei. Ein Laster donnerte heran und verschwand in der Nacht. Der Highway war dun kel, ohne Straßenbeleuchtung. Miro dachte, daß die Nacht sein Freund war und daß er die Dunkelheit aus nutzen sollte, um von hier wegzukommen. Er mußte nach Boston. Erst einmal dort, konnte er sich an tau send Plätzen verstecken und dann seine Kontakte knüp fen. Am besten, er bediente sich eines der vorbeifahren den Autos. Die Lösung war einfach: einen anhalten, den Fahrer töten und den Körper irgendwo rauswer fen, weiterfahren. Der Revolver steckte noch in seinem Gürtel. Er war voll geladen bis auf die Kugel, die er für das Mädchen benutzt hatte. Er dachte an das Mädchen. Und Artkin. Und wie er sie zuletzt gesehen hatte. Artkin, wie er sterbend zusam menbrach. Und das Mädchen, zusammengekrümmt im Gebüsch, das Gesicht verborgen. Beides seine Opfer. Er wußte, daß er Artkin getötet hatte, weil er nach dem Mädchen gegriffen hatte, anstatt ihn vor den anrücken den Soldaten zu warnen. Er war verantwortlich für Art kins Tod. Also war Artkin seine erste Tötung, nicht das Mädchen. Und das Mädchen. Sie hatte mit ihm ge spielt, wie im Bus. Es war unmöglich, daß Artkin sein Vater sein sollte. Einen Augenblick lang hatte das Mäd chen es fertiggebracht, daß er daran glaubte. Dieser Augenblick hatte ihn durchdrungen mit – ja, was? Irgendwas. Wie das Irgendwas, das er gespürt hatte, als sie seinen Arm berührte im Bus. Er dachte an ihre schim 254
mernde Haut im Dämmerlicht des Busses. Er war ganz voll gewesen von diesem Irgendwas, das er nicht be nennen konnte. Einmal hatte ihn das Mädchen gefragt: Fühlen Sie gar nichts? Vielleicht war er voll von Gefühl gewesen in diesem Augenblick. Er wußte es nicht. Es war ihm egal. Er würde es nicht zulassen, daß ihn jemals wieder irgend etwas erfüllte. Er würde sich freihalten, wie vorher auch. In der Nähe hielt ein Auto. Ein Kombi. Der Fahrer stieg aus. Ein Mann, klein und fett. Der Mann sah sich um und ging auf den Wald am Straßenrand zu. Er fin gerte an seiner Hose herum, offensichtlich wollte er pinkeln. Miro erkannte die günstige Gelegenheit. Er beschloß, keine weitere Kugel zu verschwenden und nur seine Hände zu benutzen. Er verließ das Gebüsch und betrat die Welt, die auf ihn wartete.