Seewölfe Taschenbuch 48
Die Seereisen des Howard Bonty, der einer Preßgang in die Hände fiel und seine Laufbahn als Sch...
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Seewölfe Taschenbuch 48
Die Seereisen des Howard Bonty, der einer Preßgang in die Hände fiel und seine Laufbahn als Schiffsjunge begann. Fred McMason
Auf Befehl der Company
16. November 1634 im Jahre des Herrn. Liegeplatz der Ostindischen Handelsgaleone „King Charles": Faktoreihafen von Madras/Indien. Masulipatam wurde der Faktoreihafen genannt, in dem wir lagen. Er lag abseits vom anderen Hafen und war kleiner. Aber das Gedränge und Geschiebe war fast unerträglich. Mindestens hundertzwanzig indische Hafenkulis hatten unser Schiff regelrecht überschwemmt und waren dabei, die Ladung zu löschen. Weitere fünfzig Kulis schleppten Kisten, Ballen und Fässer zur Lagerhalle der Faktorei hinüber. An der hölzernen Pier standen zwei riesige, vollbepackte Elefanten dösend in der sengenden Sonne. Die Kulis rannten geschäftig hin und her. Die meisten trugen nur einen knappen Lendenschurz, dazu einen Turban oder Reisstrohhut. Wie man bei dieser unerträglichen Hitze und dem aufgewirbelten heißen Staub noch schwere Lasten schleppen konnte, war mir fast unbegreiflich. Ich schwitzte schon beim Zusehen und kriegte kaum Luft. Auch lief ich immer wieder zum Wasserfaß unter der Back, um meinen ewigen Durst zu löschen. Unser Zweiter Offizier, Mister Pickens, kam heran, wischte sich den Schweiß von der Stirn und ächzte leise. „So heiß war es hier noch nie", behauptete er. „Man kriegt ja kaum noch Luft. Mir tun die Kerle leid, die sich da die Seele aus dem Leib schuften. Ich werde ihnen eine Pause verschaffen, sonst kippen die noch um. Und zu trinken kriegen sie auch." Das war Pickens' gute Absicht, aber die Inder dachten gar nicht daran, sein Angebot anzunehmen. Sie wollten keine Pause einlegen. Sie wollten Rupien und Paise verdienen, die Hitze juckte sie nicht, und das Lastenschleppen war ohnehin ihr täglich Brot, wie einer der Hindus .Jonny trocken erklärte. Also ging das Gewimmel ungehindert weiter, wobei sich die „King Charles" unmerklich höher aus dem Wasser hob. Ich sah, daß Jonny unseren Zweiten von der Seite her musterte, unauffällig, wie er glaubte. Er schien etwas auf dem Herzen zu haben, und Pickens merkte das längst und grinste. „Ich glaube, da möchte jemand um Landurlaub nachsuchen", sagte Pickens dann, immer noch leicht grinsend. „Genau", erwiderte Jonny erleichtert. „Genau das hatte ich vor. Na prima, daß das so schnell bewilligt wird."
„Davon habe ich noch nichts gesagt, Jonny. Es war nur eine Feststellung. Die Bewilligung ist eine andere Sache." Manchmal konnte Jonny wie ein kranker Hund blicken, und dieser Blick, in dem alles Leid der Welt gebündelt war, traf Pickens jetzt. „Also gut", sagte Pickens seufzend, „ich kann diesen Blick einfach nicht ertragen. Verschwindet. Für vier Mann ist Landgang genehmigt. Sucht euch noch zwei Männer. Morgen mittag, Punkt zwölf, seid ihr wieder an Bord. Es gibt ja noch viel zu tun." Yes, Sir, Pickens war ein feiner Kerl. Wir bedankten uns und suchten noch zwei weitere Männer. Aber China-Harry und Pete Bird waren noch einmal mit dem Beiboot zu Master Fleets „Explorer" gepullt, um etwas zu holen. El Pomado wollte zu unserem Erstaunen nicht mit. Er hockte lustlos, matt und total abgeschlafft an einem schattigen Plätzchen. „Ihr habt vielleicht Nerven", sagte er müde, „bei dieser Affenhitze in die Stadt? No, Sir, das halten ja nicht mal die Elefanten aus. Wenn ich mich bewegen muß, breche ich glatt zusammen." „Du bist vielleicht ein dösiger Trankopp", sagte Jonny, „keine Lust auf indisches Essen, feine Getränke und hübsche Mädchen?" „Mädchen?” fragte El Pomado schläfrig. „Glaubst denn du Bambuskacker, daß es hier keine gibt?" Aber auch die Verlockung konnte El Pomado nicht reizen. Vielleicht lag das an seinem neuen Haarschnitt, den Master Fleet ihm verordnet hatte. Sonst waren seine schwarzen Haare immer glatt und ölig dicht an den Schädel geklebt. Jetzt standen sie nach allen Seiten ab, wie die Borsten eines großen Besens. Jonny und ich tauschten bei Pickens zwei Goldmünzen gegen indische Silber-Rupien ein und zogen los. Von den anderen Kerlen wollte ebenfalls keiner mit, die wollten den Abend abwarten. Sollten sie, so heiß war es schließlich doch nicht, wenn ich mir das richtig überlegte. Als wir das Gelände der Faktorei verlassen hatten und stadteinwärts gingen, wurde die Luft noch stickiger und heißer. Mir standen dicke Schweißperlen auf der Stirn. Bei Jonny machte ich wieder die eigenartige Entdeckung, daß ihn die Hitze nicht störte. Er war knochentrocken im Gesicht. Ich blieb stehen und sah mich um. „Weiter", brummte Jonny, „ich habe Durst. Wir werden kühle gewürzte Schokolade trinken." „Ich wollte mir nur die Gegend merken, damit wir uns nicht verirren, Jonny. Scheint ein ziemlich großes Städtchen zu sein."
„Ein großes Dorf", korrigierte er lässig. „Ich habe hier mal gearbeitet und kenne mich aus." „Hier – in Madras?” „Klar, in den Pfeffermühlen. Ich zeige dir später mal eine der Mühlen. Hier war ich fast ein halbes .Jahr." Das Umfeld der indischen Städte kannte ich schon von Bombay her. Auf den lehmigen knochentrockenen und staubigen Straßen herrschte trotz der fürchterlichen Hitze ein unglaubliches Gewühl. Menschen aller Schattierungen rannten durcheinander, als hätten sie es furchtbar eilig. Tamilen boten uns lautstark bedruckte Tücher an. Ein fast schwarzhäutiger Inder mit einem blaugrauen Turban wollte uns unbedingt fladenartige Kuchen verkaufen. Ein dritter wollte uns die Haare schneiden und wurde so aufdringlich, bis Jonny auf ihn losging. Erst dann zog er sich zurück. Ein Gemüse- und Früchtemarkt tat sich vor uns auf. Es war ein großer staubiger Platz, wo die Marktkörbe direkt auf dem Boden standen. Neben einem räudigen Burschen verkaufte ein blatternarbiger Kerl Fische. Der Geruch war so penetrant, daß wir uns die Nasen zuhielten. Zu allem Überfluß hielt er uns auch noch eins seiner stinkenden und knochentrockenen Exemplare hin. Etwas weiter roch es schon lieblicher. Da zogen alle Gerüche des Orients auf und vermischten sich zu einem undefinierbaren Duft aus Vanille, Nelken, Zimt, Ingwer und Curry. Beim Anblick der herrlichen duftenden Früchte kriegten wir Appetit. Wir kauften ein paar Mangos, eine Handvoll Lichees und große Melonenstücke, aus denen der Saft troff. Dann stellten wir uns etwas abseits von der turbulenten Menge hin und langten kräftig zu, denn Früchte waren für uns eine Rarität, die wir leider nicht oft zu sehen kriegten. Jonny wollte gerade genüßlich in eine Melonenscheibe hineinbeißen, als ein kleiner schmieriger Bengel angewetzt kam, ihn angrinste und ihm die Melone aus der Hand riß. Der Bengel verschwand mit affenartiger Geschwindigkeit um die nächste Ecke. „Verdammt noch mal", fluchte Jonny. „Paß bloß gut auf. Hier ziehen sie dir das Hemd aus und du merkst es nicht einmal." „Ja, immer schön aufpassen", sagte ich grinsend, „du bist. ja der Indien-Spezialist." Der Bengel kam wieder herangetobt. Jonny drehte sich zu spät um, und war seine Mangofrucht los.
Daraufhin begann er lästerlich zu fluchen, weil ausgerechnet ihm das passiert war. Wir gingen neue Früchte holen. Diesmal paßte Jonny wie ein Luchs auf, doch der schmierige Bengel kam nicht wieder. Wir schlenderten an zeternden, kreischenden und schreienden Händlern vorbei, die uns gewaltsam ihre Waren aufzudrängen versuchten. Im Staub der Straßen hockten Barbiere vor ihren Bretterbuden, Bettler, Schreiber und ein Schlangenbeschwörer. Zwischen ihnen rannten kleine Kinder und räudige Hunde herum. Wegen der Hitze trugen fast alle nur das Dhoti, das kleine Hüfttuch, und eine Kopfbedeckung, meist einen Turban. Wir fielen überall auf. Die Leute starrten uns hinterher' oder drängten sich ungeniert heran, denn wir trugen bei dieser Hitze Leinenzeug, offene Hemden und leichte Schuhe. Jonny sagte mir, in Madras sei es drei Monate im Jahr heiß, und neun Monate sehr heiß. Er war immer noch knochentrocken. Auf seinem Gesicht zeigte sich kein einziger Schweißtropfen. An einer kleinen Bretterbude tranken wir gekühlte und gewürzte Schokolade, die genau so erfrischte wie das Obst. Dann schlenderten wir weiter, und ich zeigte auf einen Tempel, der weit vor uns aufragte und im grellen Sonnenlicht funkelte. „Das ist der Parthasarathi-Tempel", erklärte Jonny, „der ist schon vor über hundert Jahren erbaut worden. In ihm steht der tanzende Schiwa Nataraja, er ist ganz aus Bronze." „Kann man sich das ansehen, Jonny?" „Natürlich. Du darfst im Innern nur nichts berühren, sonst gehen dir die Tempelwächter an den Kragen. Und für die Priester, Weisen und Gurus mußt du ein Scherflein herausrücken. Aber das weißt du doch von Bombay her, von dem Labyrinth-Tempel, in dem die Leichen aufgebahrt waren. So ähnlich ist es auch hier." Ja, an den wundersamen Tempel erinnerte ich mich wieder, wenn auch mit gelindem Schauer, denn damals war Jonny in den Labyrinthen spurlos verschwunden, und ich hatte ihn tagelang gesucht und doch nicht mehr gefunden. Dafür war ich durch Kammern gestolpert, in denen man goldoder silberfarbene Leichen buchstäblich gestapelt hatte. Die Gold- und Silberfarbe hatte sie konserviert. Diese Tempel hatten von jeher etwas Faszinierendes für mich und übten eine starke Anziehungskraft auf mich aus. In ihrem Innern gab es immer interessante und geheimnisvolle Dinge zu sehen.
Als wir dichter heran waren, funkelten die Türme noch greller. Einige waren mit Blattgold überzogen, andere zierten kostbare Kacheln aus Keramik, und manche strahlten schneeweiß. Wir mußten unsere Schuhe ausziehen und traten dann ins dämmerige Innere, das nur von kleinen Öllampen erhellt wurde. Angenehme Kühle empfing uns. Auf mehreren Altären qualmten Sandelhölzer in silbernen Gefäßen. Der Duft war betäubend und stieg einem schnell zu Kopf. Zudem zog ein süßlicher Jasminduft durch den Tempel. Wir legten ein Silberstück auf den Altar und ernteten von einem glatzköpfigen verschrumpelten alten Inder ein mildes Lächeln. Dann bestaunte ich die Figuren, Götzen und Götter, die uns anstarrten. Manche waren mit Schmuck behangen, andere hielten Schalen in den Händen, die bis an den Rand mit Silberstücken gefüllt waren – Opfergaben gläubiger Menschen, die für ihren Gott opferten, während sie selbst darbten. Das Prunkstück in dem Tempel war der Schiwa Nataraja, aus Bronze, überzogen von einer jahrhundertealten Schicht Patina, die ihn fremd und geheimnisvoll schimmern ließ. Der Gott stand in einer bedrohlich wirkenden Tanzpose da. Ein Bein war abgewinkelt., die Arme ebenfalls. Er war so eindringlich gestaltet, als würde er sich jeden Augenblick bewegen und wäre nur vorübergehend in dieser Haltung erstarrt. Aber seine Augen waren genau auf uns gerichtet, und wenn man etwas zur Seite trat, dann schien der Blick aus diesen drohenden Augen einen zu verfolgen. Die seltsamen Augen waren es, die ihm Leben einhauchten. „Das ist er", sagte Jonny leise, „der vedrische Gott Rudra der Hindus. Dort drüben steht Brahma und neben ihm Wischnu. Trimurti nennt man diese Götterdreiheit." „Schiwa gilt als Weltzerstörer, wie ich hörte, und der andere als der Schöpfer der Welt." „Richtig, so sieht man es hier. Siehst du den bronzenen Stier da drüben?" Ich sah ihn. Er hielt den Kopf gesenkt, ein mächtiges Tier, und schien mit dem rechten Huf zu scharren. „Das ist Nandi, sein Reittier. Der steht in jedem Tempel. Übrigens ist Schiwa nicht nur der Weltzerstörer. Für die, die ihn ausschließlich als ihren einzigen Gott verehren, ist er ein Gott der erlösenden Gnade. Das gilt aber nur für die Schaiwas."
Jonny kannte sich ja verdammt gut aus, dachte ich. Der war auf das südliche Indien spezialisiert wie Harry auf China, weshalb er hauptsächlich seinen Spitznamen China-Harry hatte. Wir sahen uns noch ein wenig um und strebten dann wieder dem Ausgang zu. Dort lief uns ein älterer Priester über den Weg. Er trug einen langen weißen Bart und ein Schultertuch. Der Mann wirkte steinalt und sah sehr weise aus. Er musterte uns kurz und blieb dann stehen und sah Jonny an. In seine Züge trat grenzenlose Überraschung. Er erstarrte fast zur Salzsäule, bewegte sich dann jedoch langsam, trat auf Jonny zu und grüßte so respektvoll, als sei er Schiwa persönlich. Dann umarmte er Jonny gerührt und murmelte ein paar Worte. Kleine Hölle grinste sehr verlegen, ihm war das offenbar sehr peinlich, und er wollte sich hastig verabschieden. Doch das ließ der Alte mit dem weißen Bart nicht zu. Er legte uns freundschaftlich die Arme um die Schultern und führte uns zu einer Ecke des Tempels, wo ein gemauerter Altar stand. Darauf stand nochmals Schiwa, offenbar aus Gold und nicht größer als eine Hand. Aber rechts und links von ihm standen zwei fürchterlich anzusehende Dämonen mit grimmigen Gesichtern. Offenbar schienen sie etwas zu bewachen. Der Weißbart verneigte sich wieder, holte unter dem Schultertuch einen Schlüssel hervor und öffnete ein bronzenes Gitter in dem Altar. Eine kleine Kammer tat sich auf. Darin hing eine ovale Lampe, die trübes geheimnisvolles Licht verbreitete. Unter der Lampe lag auf einem Sockel ein großes blaues Seidenkissen, und auf dem Seidenkissen ruhte ein kleines Röhrchen aus Glas, in dem es gelblich funkelte. Das Röhrchen war an beiden Enden blutrot versiegelt. Der Alte zeigte es uns, als wären dort die gesamten Schätze der Welt verborgen. Er starrte das Röhrchen lange an, kontrollierte die Lampe und verschloß alles sehr sorgfältig und genau. Jonny wurde erneut umarmt. Die beiden sprachen leise miteinander, aber ich verstand natürlich kein Wort. Kurz darauf verabschiedete Jonny sich auffallend schnell. Der Weißbart zog sich in Demutshaltung zurück und verschwand im Tempelinnern. Ich begriff überhaupt nichts mehr, als wir unsere Schuhe anzogen und Jonny mich einfach fortzog. „Jetzt zeige ich dir etwas, was du so schnell nicht wieder zu sehen kriegen wirst", sagte er. Er warf noch einen Blick über die Schulter zurück, ehe wir in der nächsten Gasse verschwanden.
„Jonny, was war da los, verdammt? Ich verstehe überhaupt nichts. Der Priester hat dich gekannt und so achtungsvoll begrüßt, als seist du der Sultan von Golkonda." „Sicher hat er mich mit jemanden verwechselt." „Aha, und du wolltest ihn nicht enttäuschen, was?" „Genau, laß ihm doch seine Freude." Der Kerl log, daß sich die Balken bogen, und ich sagte ihm das auch auf den Kopf zu. „Was war in dem Röhrchen drin? Weshalb war es so wichtig? Das schien mir ein besonderes Heiligtum zu sein." „Vielleicht war da heiliges Schlangengift drin", behauptete er. „Hast du Hunger, Bonty?" Ich blieb stehen und sah ihn von der Seite her an. „Ich kenne dich lange genug, Jonny. Mir machst du nichts vor. Also raus mit der Sprache. Ich habe dir auch immer alles gesagt." Er druckste noch eine Weile herum. „Weißt du", begann er dann, „das ist eigentlich nicht gerade das hellste Kapitel meines Lebens. Zugegeben, ich kenne den Priester, aber ich habe nicht geglaubt, daß er noch lebt. Ist auch schon verdammt lange her, Bonty. Da war ich hier in Madras und es ging mir verdammt drekkig, ich wäre glatt verhungert." „Und was ist in dem Röhrchen nun wirklich drin?" Jonny sah an mir vorbei auf eine weiter hinten aufragende riesige Kathedrale. „Öl von der Lampe des Heiligen Grabes in Jerusalem". murmelte er mit dumpfer Stimme. * Ich war im ersten Augenblick wie erschlagen. Dann gingen wir zu einem Baum hinüber und hockten uns in seinen Schatten. „Und du hast das besorgt?" fragte ich ungläubig. „Wie bist du denn nach Jerusalem gekommen?" „Mir ist damals mein Schiff abgehauen", erzählte Jonny, „die hatten es verdammt eilig zu verschwinden, weil ihnen die Portugiesen im Genick saßen. Mich ließen sie hier zurück, und ich fand keinen Engländer mehr, der mich mitnahm. Also suchte ich Arbeit, aber ich fand keine, und mit der Sprache sah es auch schlecht. bei mir aus. Ein paar Tage später lernte ich dann zwei portugiesische Seeleute kennen. Sie wollten das Grab des Apostels Thomas besuchen, aber wir landeten im
falschen Tempel. nämlich in diesem hier", sagte Jonny und wies auf den Schiwa-Tempel. „Und dann?" „Der eine hatte das Glasröhrchen in der Tasche und zeigte es mir. Das sah zufällig der Priester, und er starrte das Röhrchen wie eine Erscheinung an. Der eine erzählte ihm, daß sein Vater das Röhrchen besorgt habe, unter vielen endlosen Strapazen. Aber es sei ihm gelungen, ein paar Tropfen vom Öl der Lampe des Heiligen Grabes zu erstehen. Na, da wurde der Bursche ganz wild, sah uns überglücklich an und bot uns eine Menge Rupien für das Heiligtum. Die Portus ließen sich zwar lange bitten, aber dann verkauften sie es zu einer idiotischen Summe." „Und dir gaben sie von dem Geld ab?" „Ja, das taten sie, und ich nahm es auch. Ich war kurz vorm endgültigen Verhungern. Außerdem war ich mir nicht bewußt, etwas Unrechtes begangen zu haben. Schließlich habe ich das Öl ja nicht selbst aus Jerusalem besorgt." Das war wieder mal typisch Jonny, dachte ich. „Glaubst du denn, daß es wirklich Öl vorn Heiligen Grab ist?" „Damals haben sie Zebulon Holzsplitter vom Kreuze Christi angedreht", meinte Jonny, „oh das echt ist, kann ich nicht beurteilen. Aber ich kann auch nicht hingehen und die Portus der Schwindelei bezichtigen. Das würde den Weißbart bis ans Ende seines Lebens enttäuschen. Du siehst ja, daß er das Öl wie eine Reliquie verehrt und aufbewahrt und es sogar einmauern ließ. Soll ich etwa ganz Indien gegen mich aufbringen? Eigentlich gehört das Öl ja in die San Thorne-Kathedrale, aber er gibt es nicht aus der Hand. Jetzt hat er sich wieder an mich erinnert und natürlich herzlich begrüßt." „Erzähl bloß Zebulon nichts davon, Jonny. Was hast du dann mit dem Geld getan?" „Ich habe ein paar Wochen ganz gut gelebt, jedenfalls für hiesige Verhältnisse. Aber ich fand keine Heuer, weil die Engländer hier nicht Fuß fassen konnten. Für den Rest habe ich mir eine Arbeit in der Pfeffermühle gekauft." „Eine Arbeit gekauft?" fragte ich erstaunt. „Ja, du kriegst da nur Arbeit, wenn du dich anteilmäßig einkaufst. Das Geld ist natürlich verloren, aber dafür kriegst du jede Woche ein paar Rupien und kannst einigermaßen gut leben. Du mußt nur verflucht hart arbeiten, und das fiel mir anfangs schwer."
Nun kannte ich einen weiteren kleinen Abschnitt von Jonnys Lebensgeschichte, mit der er nur sehr spärlich herausrückte. Egal, ob das Öl nun echt war oder nicht, Jonny hatte es nicht verkauft und nur die Hand aufgehalten, als es ihm dreckig erging. Die Portus waren vermutlich ausgefuchste Schlitzohren gewesen, genau wie die Kerle mit dem Holz vom Kreuze Jesus. „Ich wette, daß Zebulon morgen wie ein Irrer an Land rennt, und drüben in der Kathedrale verschwindet", sagte Jonny. „Weshalb sollte er das?" „Dort drüben befindet sich das Grab des Apostels Thomas, der hier ganz in der Nähe in Mylapore den Märtyrertod erlitt. Das war der Apostel, der an der Auferstehung Jesus zweifelte, daher der ungläubige Thomas. Er gilt hier als Apostel Indiens, und die Kathedrale hat man genau über seinem Grab errichtet. Das wird unseren Bibelmann ganz sicher stark interessieren." „Hoffentlich ist das nicht auch wieder so ein Ding wie mit den Holzsplittern oder dem Öl des Heiligen Grabes", bemerkte ich. „Keine Sorge, das stimmt wirklich. Wir können ja mal hinüber gehen. Um diese Zeit ist es da drinnen fast kühl." „Dann gehen wir. Nicht wegen der Kühle, aber wegen der historischen Stätte." Wir verließen unser schattiges Plätzchen und gingen zu der Kathedrale San Thome hinüber. „Hoffentlich hast du da nicht auch irgendetwas verhökert", sagte ich beklommen. „Ich glaube, darin verstehen die keinen Spaß." Jonny versprach hoch und heilig, nichts dergleichen getan zu haben. In den domartigen Bogengängen war es nicht nur kühl, sondern es herrschte eine auffallende Stille, eine Ruhe, wie ich sie lange nicht mehr gewöhnt war. Man konnte es Grabesstille nennen, und über allem lag ein feierlicher Hauch mit dem Odem vergangener Jahrhunderte. Hier war es so still, daß ich mich nicht einmal traute zu husten oder etwas zu sagen. Auch hier gab es wieder unzählige Gottheiten, die uns drohend anzustarren schienen, daß wir es wagten, die Heilige Stätte zu betreten. In der Grabeskirche befanden sich nur ein paar Inder, die sich still und unauffällig verhielten. Niemand wollte an diesem geweihten Ort Aufmerksamkeit erregen, und so schienen alle wie erstarrt.
Selbst auf Jonny übertrug sich diese eigentümliche Atmosphäre. Still und in sich gekehrt ging er lautlos voraus, wo dicht vor einem steinernen Altar eine modrig riechende Treppe in die Finsternis führte. Vor der Treppe löste sich aus einer Mauernische ein Wächter oder Priester, der mit stummer Geste auf ein Silberkästchen neben der Treppe deutete. Wir bezahlten unseren Obulus in Form von zwei Silbermünzen. Der Wächter nahm eine Fackel aus einer Halterung, hielt sie an eine kleine Schale mit brennendem Öl und entzündete sie. Dann reichte er sie Jonny und zog sich wieder in die Nische zurück. Kein einziges Wort war dabei gesprochen worden. Jetzt ging es zur Krypta hinunter, wo es immer kühler wurde, die Luft aber auch gleichzeitig den Geruch vergangener Jahrtausende annahm. Die Treppen hatten kein Geländer und führten steil und ziemlich tief nach unten, wo ich nach einiger Zeit einen schwachen Lichtschimmer bemerkte. Ich wagte kaum noch zu atmen, als wir einen fast quadratischen Raum betraten, der von vier hohen Säulen gestützt wurde. Die Krypta war so gut wie gar nicht geschmückt, sondern bewußt schlicht gehalten, ohne jeglichen indischen Pomp. Gerade das war wieder beeindruckend, denn diese Schlichtheit war irgendwie rührend. Vor uns befand sich ein hoher steinerner Altar. Hinter den Säulen brannte in kleinen Schalen Öl, die Flammen tauchten die Krypta in aufund niederflackernde Helligkeit mit tanzenden Schatten. Vor dem Altar befand sich eine in den Boden eingelassene Steinplatte mit indischer Beschriftung, die offenbar besagte, daß hier der Apostel Thomas begraben liege. Es war ein seltsames Gefühl, hier unter mir die Gebeine jenes Mannes liegen zu wissen, der mit Christus durchs Heilige Land gepilgert war, um das Christentum zu verkünden. Es war ein Augenblick, in dem ich versuchte, das alles zu erfassen und zu begreifen, und es war wie ein Blick in eine ferne Vergangenheit. Lange standen wir so da, tief in Gedanken versunken. Dann blickte ich wieder hoch und schrak leicht zusammen. Ich hatte die Gestalten an den Wänden gar nicht bemerkt. Sie fielen mir erst jetzt auf. Sie standen an der hinteren Wand der Krypta, unbeweglich, wie erstarrt, als sei jegliches Leben aus ihnen gewichen. Sie waren in farbige Gewänder gehüllt und trugen Turbane, die von einem großen Edelstein über der Stirn zusammengehalten wurden. Jede der vier
Gestalten hielt einen Arm weit von sich gestreckt, der eine Waffe wie eine riesige Hellebarde trug. Zwei der Wächter kreuzten jeweils die Hellebarden übereinander wie Schildwachen. In den bärtigen Gesichtern erkannte ich im zuckenden Schein der Flammen kohlschwarze fanatische Augen mit einem fast mörderischen Blick. Immer noch standen sie bewegungslos da, und ich war mir tatsächlich nicht sicher, ob es nun Menschen oder Nachbildungen waren. Mich fror plötzlich, ein kühler Schauer rann über meinen Rücken. Jonny drehte sich langsam um, hielt die Fackel zur Seite und verließ die Krypta wieder. An der schmalen Treppe sah ich mich ein letztes Mal um. Nein, dachte ich, das waren Figuren, Gestalten, die einem Menschen bis aufs Letzte nachgebildet waren, stumme Wächter, die über das Grab des Apostels wachten, symbolisch gesehen. Oben bliesen wir die Fackel aus und steckten sie in die Halterung. Dann verließen wir die Kathedrale und standen unvermittelt im grellen Sonnenlicht. Mir war, als befände ich mich wieder in einer völlig anderen Welt voller Leben, während die da unten eine schweigende des Todes war. Auch Jonny stieß hörbar die Luft aus. „Da unten fühlt man sich beklommen und hilflos", meinte er, „da bedrückt einen die Vergangenheit. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber das Gefühl habe ich immer wieder." „Mir ging es genauso, Jonny. Hast du die Gestalten an der hinteren Wand gesehen? Die sahen auch verdammt echt aus." „Die sind auch verdammt echt", sagte Jonny zu meiner Überraschung. „Das sind Grabwächter, die aus religiöser Überzeugung ihr Leben lang in der Gruft des Apostels verbringen. Sie wechseln sich nur alle zwei Tage ab. Sie bleiben achtundvierzig Stunden reglos stehen, ohne zu essen, zu trinken oder zu schlafen. Erst dann ruhen sie sich den dritten Teil eines Tages aus, und alles beginnt von vorn. Diese Grabwächter sind religiöse Fanatiker, die ihren Heiligen bewachen. Sie würden jeden zerfleischen, der das Grab auch nur berührt oder sich ungebührlich benimmt. Sie können es ohnehin nicht ausstehen, daß Besucher in die Krypta vordringen, und es hat deshalb schon viel Streit gegeben." Mir war das alles neu, und so lauschte ich begierig Jonnys Worten, der mir alles genau und ausführlich erzählte. „Hast du Hunger?" fragte er anschließend. „Nein, noch nicht, es ist noch zu heiß. Später vielleicht, Jonny."
„Gut, warten wir noch bis zum späten Nachmittag, dann gehen wir etwas essen. Und um die kleinen Mädchen müssen wir uns auch noch näher kümmern", setzte er grinsend hinzu. Während wir langsam weitergingen, sah ich, daß Kleine Hölle die Aug en zusammenkniff und über die Schulter blickte. „Ist was, .Jonny?" „Weiß nicht genau. Dahinten treiben sich ein paar Tamilen herum, die mir nicht gefallen. Sie belauern uns schon eine ganze Weile und suchen offenbar nach einer Möglichkeit, um uns ein bißchen auszuplündern. Ich kann mich aber auch irren." Vier Kerle waren es, hellhäutige Inder, die Hüfttuch und Turban trugen. In der Dhoti, das sah ich deutlich, hatten sie Krummdolche stecken. Sobald wir aber in ihre Richtung blickten, gaben sie sich betont harmlos und unterhielten sich angeregt. „Schön im Auge behalten, die Kerle", empfahl Jonny. „Wenn du willst, können wir uns jetzt einmal die Pfeffermühle ansehen, in der ich gearbeitet habe." „Klar, würde mich brennend interessieren." Die Sonne knallte immer noch heiß und brüllend herab, und mir brach wieder der Schweiß aus allen Poren. Wir gingen kreuz und quer durch schmutzstarrende Gassen, wurden von Kötern angekläfft und zogen einen Rattenschwanz von Kindern hinter uns her, die uns anbettelten. Die vier Kerle folgten uns in größerem Abstand, ließen uns jedoch nicht aus den Augen. Die Gegend wurde noch armseliger, trostloser und öder. Eine halbe Stunde später hatten wir eine Gegend erreicht, wo nur noch ein paar armselige Palmen ihr Leben fristeten und wo die Hütten aus Lehm gebaut waren. Von dieser Stelle aus konnte man linker Hand auch wieder das Meer sehen, aber es war weit entfernt. Hütte um Hütte mit schmutzstarrenden Kindern und im Schatten dösenden Alten war ringförmig um ein hölzernes Gebäude angeordnet, auf das Jonny jetzt zuhielt. Das Gebäude sah aus wie ein zehn Yards hoher Turm, der jeden Augenblick an Altersschwäche zusammenbrechen würde. Davor standen Eselskarren, es gab ein Wasserloch als Brunnen, in das ein riesiger staubbedeckter Elefant gerade seinen Rüssel hängte. Kleine braune Männer rannten geschäftig hin und her, luden Säcke auf die Karren oder brachten neue Karren heran, die ebenfalls mit Säcken beladen waren.
Diese Ecke war schlichtweg der Arsch der Welt, so konnte man sie getrost bezeichnen. Hier hatten Einsamkeit, Armut und Hunger einen großen Namen. „Das ist sie", sagte Jonny, „die Pfeffermühle, die mich ein halbes Jahr meines Lebens gekostet hat." „Hier hast du gelebt?" fragte ich entsetzt. „Aber die Mühle hat ja überhaupt keine Flügel." „Hier weht ja auch kein Wind. Und die Flügel werden durch reichlich viele Hände ersetzt." Den Elefanten hatte in diesem Augenblick wohl irgendein Vieh in den Rüssel gestochen, denn er hörte auf zu saufen, trompetete laut, drehte sich herum und rannte auf uns zu, als wollte er uns zertrampeln. Ich rief Jonny eine Warnung zu, tat einen riesigen Satz und sprang neben eine der Hütten, um von dem wildgewordenen Koloß nicht zermalmt zu werden. Kleine Hölle blieb zu meinem großen Entsetzen stehen und wartete gelassen ab, bis das Monstrum heran war. Was ich dann sah, verschlug mir glatt die Sprache. Ich glaubte, Jonny würde jeden Augenblick zertrampelt werden, denn der riesige Graue trompetete noch furchterregender und walzte mit seinem Gewicht noch dichter heran. Dann blieb er stehen, in einer Wolke aus aufgewirbeltem trockenen Staub. Der gewaltige Rüssel senkte sich, fuhr Jonny leicht klatschend um die Lenden, schlang sich dann um seine Hüften und hob das Kerlchen hoch in die Luft. Jetzt hat er ihn zerquetscht, dachte ich noch, doch dann sah ich Kleine Hölle auf dem Koloß sitzen und niederträchtig grinsen. „Meine alte Freundin Simba", erklärte er aus großer Höhe wie selbstverständlich. „Die kennt mich noch, die hat mich noch nicht vergessen. Bist doch ein treues Mädchen", sagte er gerührt. Die Inder ließen ihre Pfeffersäcke stehen und kamen näher. Aus der Mühle kamen weitere Männer. Ich stand immer noch wie vom Donner gerührt da und konnte es nicht fassen, denn der Elefant begann sich leicht im Kreis zu drehen und ein Freudentänzchen aufzuführen. Das ging eine ganze Weile so, dann rief Jonny etwas, der Rüssel fuhr hoch, er stieg über den mächtigen Schädel und ließ sich dann sanft auf den Boden setzen. Die Inder starrten uns aus kohlschwarzen Augen an, musterten uns und fragten sich vermutlich, ob wir vom Himmel gefallen seien, und was wir hier überhaupt wollten.
Aber einer war unter ihnen, der erkannte Jonny wieder. Es war ein hagerer, ausgemergelter Mann mit einem dünnen, faserigen Bart. Seine Augen begannen zu leuchten, dann rannte er auf Jonny zu und begann ein endlos langes Palaver. Der Ausgemergelte war so eine Art Vorarbeiter und hieß Shabu, wie Jonny mir sagte. Er war schon seit zwanzig Jahren in der Pfeffermühle und der einzige, der aus der damaligen Zeit noch übrig geblieben war. Wir kriegten gesüßten, fast heißen Tee angeboten, der ungemein aromatisch duftete und schmeckte. Dieses heiße Getränk bewirkte zu meinem Erstaunen, daß ich zu schwitzen aufhörte und mir die Hitze auch nicht mehr soviel ausmachte. Danach zeigte Jonny mir die Mühle. Shabu lief immer mit, sichtlich erfreut über das Wiedersehen, während die anderen Männer wieder ihre Arbeit aufnahmen. In der Mühle herrschte ein Geruch, der einfach nicht zu beschreiben ist, weil er mit nichts vergleichbar war. Da wurde Pfeffer aus Schoten gemahlen, grob gemahlen, Öl aus Pfeffer gepreßt, und was der Dinge mehr waren. Der Pfeffer kam in Säcken an und verließ die Mühle nach der Bearbeitung in kleinen Fässern, die wiederum an die Portugiesen, Holländer, Franzosen oder Engländer geliefert wurden. Es gab weißen, grünen und schwarzen Pfeffer, und so erfuhr ich nebenbei eine ganze Menge über das begehrte Gewürz, dessentwegen schon Handelskriege ausgebrochen waren und um das sich immer noch alle Welt stritt. Aber Arbeit wie diese wurde eigentlich nur von Sklaven verrichtet, dachte ich, die hielt kein Europäer durch. Die Mühle hatte mehrere gezahnte Holzkränze, schwere Räder, die alle mit der Hand gedreht wurden. Es war so ähnlich wie am Bratspill oder der Winsch eines Schiffes. Wurden in das hölzerne Mahlwerk die Pfefferkörner geschüttet, dann trabten die Inder im Kreis an und drehten das schwere Rad, das mit Spillspaken bestückt war. Dann begann ein höllisches Konzert. Da war ein Knarren und Grunzen, ein Ächzen und Stöhnen, und dazu kam dieser unbeschreibliche Geruch auf, der mich fast betäubte. Das ging so von morgens bis abends, immer im Kreis herum. War der Pfeffer gemahlen, dann wurde mit kleinen Holzschaufeln alles aus dem unteren Teil zusammengekratzt und in Fässer verstaut. Dabei biß und kratzte es furchtbar in den Augen.
Schon nach einer halben Stunde fühlte ich, wie alles in mir auszutrocknen begann, daß meine Augen brannten und ich kaum noch Luft kriegte. Dabei war ich nur Zuschauer, der nicht arbeitete. Jonny zeigte mir dann, wie er die Karren entleert und die Säcke in die Mühle geschleppt hatte. Sie wogen verdammt schwer. Ich war zu der Zeit gewiß kein Schwächling mehr, aber nach einem Tag in dieser höllischen Pfeffermühle hätte ich die Waffen gestreckt und wäre von der Arbeit davongelaufen. Jetzt erst begriff ich richtig, weshalb Jonny solche unglaublichen Kräfte besaß, warum er so zäh und ausdauernd war, warum ihm die brüllende Hitze nichts ausmachte. Diese Knochenarbeit hatte ihn geprägt bis ans Ende seines Lebens. Die Pfeffermühle hatte ihm ihren Stempel für alle Zeiten aufgedrückt. „Jetzt begreife ich manches, Jonny", sagte ich. „Und du hast ja nicht nur in dieser einen Mühle geschuftet." „Fast drei Jahre waren es", sagte er, „aber es war trotzdem eine nette Zeit. In der Vergangenheit sieht man das immer etwas rosiger. In Wahrheit ging es mir beschissen, und ich habe da drüben in einer der Buden zusammen mit Ratten, Stechmücken und Fliegen gehaust. Und jeden Tag nach Feierabend bin ich ans Meer gegangen und habe Ausschau nach Schiffen gehalten, oder ich war am Hafen, bis mir dann alles zum Hals raushing." Der Elefant, oder genauer, die Elefantendame Simba, ließ Jonny nicht in Ruhe. Immer wieder erscholl ihr fast klagendes Geschrei, wenn sie zu einem trompetenähnlichen Brüllen ansetzte. Jonny mußte das alte Mädchen streicheln, beklopfen und ihr zu fressen geben. Kleine Hölle war über diese Anhänglichkeit sichtlich gerührt, und konnte sich von dem Koloß nur schlecht trennen. Später kehrten wir zurück. Während der Zeit, die wir in der Mühle verbracht hatten, sahen wir die Tamilen nicht, aber jetzt kreuzten sie wieder auf. Es war offensichtlich, daß sie etwas von uns wollten. * „Mach dich auf was gefaßt", raunte Jonny. „Die Kerle haben alle Krummdolche und verstehen es auch, damit umzugehen. Behalte die Hand immer dicht am Entermesser." „In Ordnung, Jonny."
Einer der Tamilen brach von einem Strauch neben einer Hütte eine rote Blüte ab, die wie Hibiskus aussah. Dann hielt er sie hoch und sah uns grinsend entgegen, wobei er etwas rief. Die anderen drei standen ebenfalls grinsend da und sahen jetzt ganz freundlich aus. „Gut Freund", übersetzte Jonny, „sie wollen uns die Blume schenken, weil sie gute Freunde sind." Ich war schon vorgewarnt und hatte die Hand in der Nähe meines Messers stecken. Unbeirrt gingen wir weiter, während die „guten Freunde" uns hartnäckig begleiteten und dabei palaverten. Dann überreichte der eine Jonny grinsend die Blume. Kleine Hölle blieb jedoch stehen, hob die Hand und ließ den Burschen gar nicht erst herankommen. Dann brüllte er sie an, sie mögen verschwinden und uns in Ruhe lassen. Ich sah die funkelnden Augen, die gierigen Blicke, mit denen sie uns abtasteten, und erwartete einen Angriff. Doch damit ließen sie sich noch etwas Zeit. Zwei der Kerle gesellten sich an meine Seite, die beiden anderen trabten neben Jonny her und redeten auf ihn ein. Warum wir ihre Freundschaft zurückwiesen, wollten sie wissen. Sie wollten uns nur Blumen schenken, weiter nichts. Jonny hatte mir das natürlich hinterher übersetzt. „Wir brauchen keine Blumen", erklärte ich schroff und abweisend. Doch die Kerle wurden immer lästiger, ihre Worte wurden heftiger und die Stimmen lauter. Dabei funkelten ihre Augen noch mehr. „Wenn du unsere Freundschaft nicht willst, dann gib uns Geld. Wir haben gesehen, daß ihr Geld habt. Ein paar Rupien, und wir gehen wieder weg." Das klang nachdrücklich und fordernd. Jonny grinste freundlich. Er sah ganz harmlos aus. Aber ich kannte dieses harmlose Grinsen, bei dem immer zwei Falten um seinen Mund standen. Das war Schießpulver, kurz bevor es in die Luft flog. Da rempelte einer der Tamilen mich leicht an. Das war das Signal zum Überfall für die anderen. Ich hörte ein leises Zischen, als die Krummdolche aus den Scheiden gezogen wurden. Dann sah ich sie in der Sonne grell aufblitzen. Alle vier Kerle hatten die spitzgeschliffenen Dolche gleichzeitig in der Hand. Es ging wieder einmal um Leben und Tod, und zum Glück war ich darauf vorbereitet. Ich hatte auch nicht die Absicht, die geringste Rücksicht walten zu lassen. Die Kerle hatten es auch nicht verdient, denn sie würden uns der paar Rupien wegen kaltblütig abstechen.
Ich zog das Entermesser so, daß dem Kerl gleichzeitig -mein rechter Ellenbogen hart ins Gesicht krachte. Er zuckte zusammen und stieß an seinen anderen Kumpan, der ins Taumeln geriet. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Jonnys Schuh hochflog und im Magen des einen Tamilen landete. Jonny hatte schon sein Messer in der Hand, trat noch einmal nach und drang wütend auf den anderen Kerl ein, der sein Messer hob. Ich konnte mich nicht weiter darum kümmern, denn ich hatte genug zu tun, um mir die Kerle vom Leib zu halten. Sie stießen jetzt vor Wut heisere Schreie aus, und der eine sprang mit. seinem Krummdolch vor, um ihn mir von unten in den Leib zu stoßen. Eine wüste Holzerei begann. Die Kerle konnten zwar mit ihren Dolchen umgehen, aber sie hatten nicht die Erfahrung, wie wir sie aus zahlreichen Schlägereien und Kämpfen besaßen. Ich hörte einen wilden Schrei, dem sofort ein zweiter folgte. Einer der Inder hatte seinen eigenen Krummdolch in der Brust, taumelte über den staubigen Weg und brach zusammen. Den zweiten bearbeitete Jonny gerade mit der Faust, und noch ehe ich meinen Gegner flachgelegt hatte, war Kleine Hölle schon heran und schnappte sich den Kerl, der den Stoß mit dem Ellenbogen abgekriegt hatte. Der Inder drang mit lautem Geschrei und wüsten Beschimpfungen auf mich ein. Sein Stoß wurde so schnell geführt, daß mir kaum noch Zeit blieb, ihm auszuweichen. An meinem Leinenhemd ratschte es leise, und gleich darauf hing ein Fetzen Tuch herunter. Zum zweiten Stich kam der rasende Tamile nicht mehr. Als er wieder ausholte, bückte ich mich, rammte meinen Schädel in seinen Magen und rannte los, bis an die Lehmwand einer Hütte. Dort krachte der Inder dagegen, wankte benommen und wollte wieder hoch. Ich verpaßte ihm ein Ding unter das Kinn, das ihn buchstäblich in die Höhe trieb. Ein zweiter harter Schlag beendete den Kampf. Ich sah mich keuchend um. Alle vier Tamilen lagen am Boden und waren schwer mitgenommen. Der eine, mit dem eigenen Krummdolch in der Brust, lebte noch und kniete im Straßenstaub. Er versuchte, sich den Dolch aus der Brust zu ziehen. Ein anderer hockte benommen am Boden, sah uns aus glasigen Augen an und wußte anscheinend nicht, in welchem Land er sich zur Zeit befand. Sein Blick war verständnislos auf uns gerichtet, er war noch total benommen, denn Jonnys harte Faust war ihm an die Ohren geflogen.
Neben ihm lag noch die Blume der Freundschaft, die er uns schenken wollte. Jonny hob sie auf, besah sie sich, steckte sie dem Kerl dann ins halboffene Maul und schloß es mit einem kurzen harten Schwinger. Der Inder fiel auf den Rücken und blieb liegen. „So, meine Freunde", sagte er, „das war's wieder einmal. Wenn ihr uns nochmals über den Weg lauft, dann bringt gleich eure Särge mit, ihr verlausten Bastarde." „Hast du was abgekriegt?" fragte ich. „Nee, hat ja keiner einen ausgegeben", erwiderte Jonny in seiner schnodderigen Art. „Und du?" „Nur das Hemd, weiter nichts." „Ein kaputtes Hemd fällt hier sowieso nicht auf", meinte er, „die laufen hier alle so herum, als ob sie kaputte Hemden anhätten. Jetzt gehen wir etwas essen, und dann kümmern wir uns um die Mädchen, falls du noch Lust hast." „Na klar doch. Hunger habe ich auch." Wir sahen uns noch einmal nach den Kerlen um. Der eine lag bewegungslos im Staub. Die Blume der Freundschaft hatte er offenbar verschluckt und war halb daran erstickt. Zwei andere standen wieder etwas wacklig auf den Beinen, und der vierte Kerl hatte es endlich geschafft, sich den Dolch aus der Brust zu ziehen. Der Bursche mußte unwahrscheinliches Glück gehabt. haben. Sie wollten nichts mehr von uns, sie waren restlos bedient. Auch die paar Zuschauer waren inzwischen verschwunden. Wir zogen weiter und klopften uns den Staub aus den Klamotten. Es war jetzt später Nachmittag, doch immer noch so heiß. Jonny zeigte mir wieder eine ganz andere Ecke von Madras. Es war das Freudenviertel, aber mit keinem der europäischen zu vergleichen. Hier standen Bretterbuden, vor die man kleine Öllampen gehängt hatte, die in allen Farben schimmerten. Es gab meist keine Türen, nur Vorhänge, oder einen Paravent, der auf winzigen Holzrollen lief und so den Eingang abschloß. Wir hatten es meist so gehalten, daß wir die Mädchen im Freudenviertel zum Essen einluden, denn die meisten waren arme Dinger, die nicht viel mehr als eine Handvoll Reis zum Essen hatten. Für unsere Verhältnisse war das Essen also spottbillig. Und wenn wir schon mal an Land waren, dann wollten wir ja auch etwas von den Silberlingen auf den Kopf hauen, oder „naß machen", wie Jonny sagte.
Ständig wurden wir von Indern angepreit, ob wir nicht schöne Mädchen haben wollten. Manche der Schlepper versuchten uns in die Bretterbuden hineinzuziehen, aus denen Musikgedudel erklang, um die Freier anzulocken. Jonny winkte ab. Er hatte offenbar ein ganz bestimmtes Ziel vor Augen. „Ich weiß nicht, ob es die Kneipe noch gibt", sagte er, „aber da gab es früher immer nette saubere Mädchen." Es gab die Kneipe noch, und auch die netten sauberen Mädchen. Es war eigentlich nicht viel mehr als ebenfalls eine Bretterbude, aber hier waren die Inder nicht mehr so aufdringlich. Die Kneipe war leer bis auf einen älteren Inder, der auf einer Bastmatte im Hintergrund hockte. Er hatte die Beine gekreuzt und entlockte einer Holzflöte schauerliche Melodien. Als er uns sah, trötete er weiter, diesmal aber etwas leiser. „Keine Mädchen da", stellte ich fest. „Wir sind hier auch nicht in Bombay", sagte er, „die hocken hier nicht in den Spelunken herum. Aber das haben wir gleich." Auf Jonnys leisen Pfiff tauchte aus dem Halbdunkel ein schlanker Hindu auf, der nach unseren Wünschen fragte und überaus zuvorkommend und höflich war. Jonny verklarte ihm, was wir wollten, und ich ließ mich wieder einmal überraschen. Der Inder verschwand und kehrte kurz darauf mit vier anmutig aussehenden Mädchen zurück, die sich vor uns verneigten und dabei die Arme über der Brust kreuzten. „Du kriegst wohl nie den Hals voll, was?" raunte ich. „Wir sollen uns doch nur jeder eine aussuchen, Mann. Ich weiß selbst, daß die hier immer wie Ware angeboten werden, aber wir sind eben auch in Indien, und da ist manches anders. Also such dir eine aus." Das Angebot war verlockend, und mir fiel die Wahl schwer. Schließlich deutete ich auf eine dunkelhaarige junge Frau mit einem ebenmäßigen, fast bronzefarbenen Gesicht und ganz schwarzen Augen, die mich rätselhaft ansahen. Sie trug einen bunten Sari und gehörte der Kaste der Hindu an, das sah ich an ihrem roten Punkt über der Stirn. Auch die anderen Mädchen gehörten dieser Kaste an. Jonny wählte ebenfalls und sagte wieder etwas zu dem Inder. „Ich habe ihm gesagt, er soll den beiden anderen Mädchen das gleiche zu essen bringen, was wir auch bestellen", erklärte er mir, „sozusagen als Entschädigung, weil sie leer ausgingen. Ich hoffe, du bist damit einverstanden."
„Klar, bin ich.” Wir saßen auf weichen Matten, neben uns die Mädchen, und bestellten etwas zu trinken. Die Konversation bewegte sich wieder einmal ziemlich eingleisig, denn mit meinen paar indischen Brocken kam ich nicht weit. Jonny mußte immer wieder hilfreich als Dolmetscher eingreifen. Jonnys Mädchen hieß Gurinda, meins hatte einen fast Unaussprechlichen Namen. Sie hieß Sanyay Djawchid Soheili, und dabei brach ich mir fast die Zunge ab. Ich merkte mir nur ihren Vornamen. Aber sie war verteufelt hübsch und sehr exotisch. Der Trötenspieler hockte immer noch auf seiner Matte und blies uns die Ohren voll. Um das Gedudel nicht ständig ertragen zu müssen, gab Jonny ihm einen aus, und dann war der Kerl mit Trinken beschäftigt und nervte uns nicht mehr so sehr. Der Inder schob einen niedrigen Tisch zwischen uns. Dann wurde das Essen aufgefahren. Es gab Indian Kabab. Das waren scharf gewürzte Fleischbrocken, dick mit heißer Papaya-Paste überstrichen. Dazu gab es Mutton Do Pyaza in Ingwersoße, dann ungemein scharf gewürzten Curry-Reis. Zwischendurch wurden Früchte aufgefahren, Korma, Kokossaft und stark gesüßter Pudding folgten. Die indische Küche war reichhaltig, und die Esserei artete langsam in ein Gelage aus. Jonny schaufelte wieder einmal Unmengen in sich hinein. Ich fragte mich ernsthaft, wo das alles blieb, wie ein Kerl von seiner Statur solche gewaltige Mengen verschlingen konnte. Die Mädchen waren über die Esserei sichtlich erfreut. Immer wieder schoben sie uns die besten Brocken in den Mund, bis ich wirklich nicht mehr konnte und aufgab. Nach dem Essen gab es vergorenen Palmwein. Als wir dann bezahlten, kroch der Inder fast in den Boden vor Dankbarkeit. Soviel Rupien hatte er schon lange nicht mehr verdient. „Dann wünsche ich dir was", sagte Jonny grinsend. „Sanya wird dir den Raum zeigen. Irgendwann morgen früh sehen wir uns hier unten wieder, und dann geht es zurück." „Ich wünsch dir auch Mast- und Schotbruch", sagte ich feixend. „Um Gottes willen, bloß das nicht", rief er entrüstet. „Das kannst du mir auf dem Schiff wünschen, aber nicht hier." Wir stiegen eine Art Hühnerleiter hinauf und verschwanden dann in fast dunklen Räumen. Diese Nacht mit dem Indermädchen Sanya blieb wieder einmal unvergeßlich, denn sie erwies sich als eine Liebesdienerin mit sehr viel
Geschick. Sie war für die Liebe geboren, wild und feurig, zart oder leidenschaftlich. Eng umschlungen schliefen wir irgendwann ein. Es muß schon fast Morgen gewesen sein. Als ich erwachte, hatten wir noch etwa eine Stunde Zeit, bis wir wieder an Bord sein mußten. Wir wuschen uns im Hinterhof der Bude, aßen mit den Mädchen noch eine Kleinigkeit zusammen und verabschiedeten uns dann, denn die Zeit drängte. Als wir den Mädchen noch ein paar Rupien in die Hand drückten, waren sie überglücklich. „Wir schaffen es noch, nur keine Panik", sagte Jonny, „bis zum Hafen brauchen wir höchstens eine halbe Stunde." „Das war wieder mal ganz nach meinem Geschmack", sagte ich. „Die Kleine war himmlisch." Jonny grinste ebenfalls und sah mich von der Seite her an. „Landgang ist an der Seefahrt das beste, Bonty. Man kommt viel rum und lernt nette Leute kennen." Etwas später erreichten wir den Hafen und erlebten eine herbe Enttäuschung. Wir konnten es einfach nicht glauben. Die „King Charles" war weg. Auch die anderen Schiffe lagen nicht mehr da. Fassungslos starrten wir uns an. * Das Schlimmste, was einem Seemann in einem fremden Land passieren kann, ist sein davongesegeltes Schiff. Daher glaubte ich im ersten Augenblick zu träumen. Ich sah mich schon in der Pfeffer- und Gewürzmühle jahrelang Säcke schleppen und dachte mit kaltem Schaudern an Jonnys Vergangenheit. Kleine Hölle wirkte bestürzt, wie ich ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte. Immer wieder stierte er auf den Faktoreihafen und schüttelte den Kopf. „Kneif mich mal", sagte er tonlos. „Ich träume doch. Die können doch nicht ohne uns abgesegelt sein. Und gleich alle drei!" Er begann laut zu fluchen, dabei stierte er immer noch auf die Stelle, an der die „King Charles" gelegen hatte. Mir schnürte es fast die Kehle zu, ich kriegte kaum ein Wort heraus. Hier mußte etwas vorgefallen sein, das wir nicht begriffen, und das alle drei Schiffe zu schnellster Abreise gezwungen hatte.
„Was jetzt?" fragte ich tonlos. Meine Stimme hatte keinen Klang mehr, meine Kehle war wie zugeschnürt. Jonnys Gesicht sah alt und faltig aus. In seinen Zügen lag ein fast panischer Ausdruck. Er schluckte mehrmals hart. Im Augenblick waren wir alle beide ziemlich kopflos. Wir wußten einfach nicht, was wir tun sollten. So kamen wir auch nicht auf die naheliegendste Idee: Wir hätten in der Faktorei nachfragen sollen, denn ganz sicher hatte man dort eine Nachricht hinterlassen. Unser Schock war so gewaltig, daß wir überhaupt nicht daran dachten. Jonny hockte sich auf den abgesägten Stumpf einer Palme und stützte sein Kinn in beide Hände. „Das gibt es nicht", sagte er, „das darf doch nicht wahr sein. Wir sollten hier doch Ladung nehmen. Die müssen gleich nach dem Löschen losgesegelt sein. Aber warum nur?" Ja, warum nur? Hätte ich nur die Antwort gewußt, ich hätte sehr viel darum gegeben. „Jetzt geht der ganze Scheiß wieder von vorn los", sagte Jonny. „Wir hocken in dieser mistigen Stadt und wissen nicht weiter. Das Geld haben wir auf den Kopf gehauen bis auf ein paar lausige Rupien." Mir fiel etwas ein, das mich unendlich erleichterte. „Mann, Jonny, im anderen Hafen liegt doch das Kriegsschiff, der Viermaster ,Royal Eagle'. Da fragen wir mal nach, vielleicht wissen die etwas." Er sprang hoch, wie von einer Schlange gebissen. „Klar, die nehmen uns auch mit, die lassen doch keinen Landsmann hier in Madras zurück. Das ist unsere Hoffnung, Mann. Los, zeigen wir dem Hafen hier die Hacken." Wir rannten wie zwei Irre los, wetzten wie Diebe durch die Menschenmenge und erreichten schließlich den anderen Hafen. Dort traf uns der nächste Keulenschlag. Auch die Kriegs-Galeone war weg – verschwunden! Das war einfach zuviel für uns. Die allerletzte Hoffnung zerplatzte wie eine Seifenblase. Glauben Sie mir, Sir, ich hätte sogar als Bilgenputzer auf der alten „Liberty" angeheuert und die schmählichste Behandlung in Kauf genommen, nur um hier wieder abzukanten. Aber damit war es jetzt wohl endgültig vorbei. Wir konnten nicht mal als Deckhands auf einem Auslegerboot anheuern, denn niemand würde uns nehmen. Der Schreck saß uns jetzt noch gewaltiger in den Knochen. Wir waren wie betäubt, halb erstickt über diese Gewißheit. Wir konnten uns auch
nicht hinsetzen und auf den nächsten Ostindien-Fahrer warten, denn das konnte Monate dauern. Ich überlegte krampfhaft, weshalb die Schiffe verschwunden waren. Hatten wir uns in der Zeit geirrt? Hatten wir einen Tag und eine Nacht halb besoffen durchgemacht? Nein, das erschien mir einfach unmöglich, das gab es nicht, so voll war ich noch nie gewesen. Immer noch kam mir nicht einmal annähernd der Gedanke, mich bei der Faktorei zu erkundigen. Auch Jonny dachte nicht daran. Dabei hätte jeder Dummkopf dort zuerst nachgefragt, anstatt trauernd herumzusitzen. Wir mußten also zwei ausgesprochen große Dummköpfe sein. Wir suchten die Reede ab, stierten zur Kimm, blickten wieder in den Hafen. Aber das zauberte die Kriegs-Galeone auch nicht herbei, und die anderen Schiffe erst recht nicht. Mal sah ich ratlos zu Jonny, dann wieder zur Kimm, wo die Schiffe verschwunden waren. Einen richtigen klaren Gedanken konnte ich immer noch nicht fassen. Es war zum Verzweifeln! „Hier, in Masulipatam, erfahren wir bestimmt nichts", sagte Jonny, „wir werden mal am anderen Hafen die Stauer fragen. Möglich, daß die uns weiterhelfen können. Der eine oder andere hat vielleicht erfahren, wohin die Schiffe gesegelt sind." „Wenigstens ist das ein Hoffnungsschimmer", meinte ich. „Ich bin heilfroh, daß du die hiesige Sprache sprichst. Mich selbst würde bestimmt niemand verstehen." Jonny grinste etwas verzerrt. Dann gingen wir los und trabten wieder zum Faktoreihafen. Von den Kulis, die die „King Charles" gelöscht hatten, sahen wir tatsächlich einige, die mit Umstauen in den großen Lagerhallen beschäftigt waren. Jonny redete mit einem, dann mit dem anderen. Ich sah ihn immer wieder nicken. Schließlich kehrte er zurück und wirkte unendlich erleichtert. „Alles klar, Bonty. Unser guter alter Eimer liegt eine knappe Meile weiter von hier. Die anderen sind heute morgen bei Sonnenaufgang in See gegangen. Es gibt hier noch einen Hafen, von dem ich überhaupt nichts weiß. Fort St. George heißt er, ein ganz neuer, im Bau befindlicher Stützpunkt von uns."
„Das waren die nettesten Worte, die ich von dir gehört habe", sagte ich. Auch ich war erleichtert und fühlte mich wieder unbeschwert. Ein riesiger Stein war mir von der Seele gefallen. Wir gingen noch einmal zu den Indern hin und gaben ihnen die restlichen paar Rupien, die wir in den Taschen des Gürtels hatten. Danach marschierten wir los und nahmen einen lehmigen Pfad, der dicht am Wasser entlangführte. Hinter einer Landzunge sahen wir dann die aufragenden Masten. Jetzt liefen wir schneller, bis wir auch den Hafen und die „King Charles" endlich erkennen konnten. „Geschafft", hörte ich Jonny murmeln. „War doch ein verdammt lausiges Gefühl, so allein dazustehen. Da liegt das gute alte Mädchen." Der Hafen, in dem die „King Charles" lag, war noch nicht ausgebaut und glich eher einer Bucht, die gerade befestigt werden sollte. An Land waren ein paar Hütten gebaut worden. Ein riesiger Zaun umschloß das Baugelände, ein Zaun aus hohen Palisaden, wie sie jede unserer Faktoreien umgaben. Unzählige Inder arbeiteten dort. Ein Teil des Waldes war gefällt und gerodet worden. Im Hintergrund wurden Pflanzungen oder Plantagen angelegt. In die Mitte der Bucht war eine lange hölzerne Pier vorgetrieben worden. Sie bot vier Schiffen von der Größe unserer „King Charles" bequem Platz. Dort war unser Dreimaster vertäut und wurde wieder entladen. Aber er ragte 'jetzt schon sehr hoch aus dem Wasser. Viel konnte nicht mehr in den Laderäumen sein. Wir marschierten über die lange Pier und gingen über die Stelling an Bord, wo uns Mister Pickens grinsend empfing. Auch die anderen grinsten und sahen uns an. „Muß ein schlimmes Gefühl sein, wenn man zurückkehrt, und das Schiff verschwunden ist", sagte unser Zweiter. „Aber wir hatten von der Faktorei Order, die Ladung in Fort St. George zu löschen. Das erkläre ich euch später noch genauer. Ihr habt ja gleich den richtigen Weg gefunden." „Das war auch ein Schreck", gab ich zu. „Aber Jonny sprach zum Glück Indisch und so fragte er einfach." „Der Mann in der Faktorei spricht Englisch, dem ich die Nachricht hinterlassen hatte", sagte Pickens. „Seid ihr denn nicht in der Faktorei gewesen? Das ist doch die natürlichste Sache der Welt, dort zuerst nachzufragen."
O Großlord! dachte ich erschüttert. Nachdem die „King" verschwunden war, hatte bei uns ganz einfach etwas ausgerastet. Klar, wir hätten in der Faktorei nachfragen sollen. Idiotisch war das. Aber das konnten wir vor Pickens doch nicht zugeben. Wir hätten uns bis auf die Knochen blamiert, und die anderen wären vor Lachen aus den Stiefeln gekippt. Aber Jonny war ein Schlitzohr und fing sich sehr schnell wieder. Er wurde nicht einmal rot dabei. „Der Mann, der Englisch spricht, war gerade nicht da", sagte er ungerührt. „Deshalb wandte ich mich an die anderen, aber die sprechen nur Hindustani. Es war jedenfalls ganz einfach." Verdammtes Schlitzohr, dachte ich und verbiß mir mühsam genug das Grinsen. „Es ist immer von unschätzbarem Wert, andere Sprachen wenigstens teilweise zu beherrschen", meinte Pickens anerkennend. „Und wie war es an Land?" Wir erzählten es ihm kurz. Er sagte, daß er sich das Grabmal des Apostels auch noch ansehen würde, denn wir hätten noch genügend Zeit. „Wo sind die anderen Schiffe geblieben?" fragte ich dann. „Master Fleet ist mit seiner Prise heute nacht losgesegelt, ebenso die Kriegsgaleone. Ich soll euch Grüße von ihm, Master Nemo, Pater Erijk und den anderen ausrichten. Fleet hatte es wieder mal sehr eilig. Er will sich um seinen Neubau kümmern, der bald fertig sein soll, wie er sagte. Trägt der Kerl eigentlich auch in der Koje seinen verdammten Zylinder?" fragte er dann vertraulich. „Das wissen wir nicht so genau", sagte Jonny, der die Abneigung Pickens gegen Fleet genauso gut kannte wie ich. „Aber vermutlich hat er für die Nacht einen Spezialzylinder mit eingebauter Traumfüllung." „Das würde mich bestimmt nicht wundern. Bei dem Herrn ist alles möglich." „Und Pater Erijk ist auch fort?" erkundigte sich .Jonny. „Ja. Fleet wird einen holländischen Hafen anlaufen und ihn dort absetzen. Wir haben dem Pater sehr viel zu verdanken. Auch von ihm soll ich ausdrücklich Grüße bestellen." „Danke, Mister Pickens." Jetzt waren sie also alle weg. Schade, dachte ich, ich hätte ihnen gern noch einmal die Hände geschüttelt. Aber vielleicht sahen wir sie ja später in England wieder.
Während wir wieder an unsere Arbeit gingen, wurde gerade der Rest aus dem vorderen Laderaum gelöscht. Jetzt wurde dieser Raum gefegt und anschließend ausgewaschen. Bei der Hitze rissen sich die Kerle geradezu um diese Arbeit, denn das gab eine Wasserschlacht von gigantischem Ausmaßen. „Fleet geht mir mit seinem Neubau mächtig auf die Nerven", sagte Jonny nachdenklich. „Ich habe so das lausige Gefühl, als würden wir auf dem Kahn bald mal wieder in Uniform und Zylinder herumstehen. Der Alte grinste immer so katzenfreundlich, wenn er den Neubau erwähnte. Fiel dir das nicht auf?" „Doch. Ich dachte auch oft daran. Wir haben viel bei ihm gelernt, aber ich kann auch eine ganze Weile ohne ihn leben." Vorerst war Master Fleet jedoch außer Sicht. Und bis wir wieder auf ihn trafen, war eine Menge Wasser die Themse hinabgeflossen. Wir stiegen in den Raum hinab, um an der allgemeinen Wasserschlacht teilzunehmen. Zebulon war schon unten, Harry, die Katze, El Pomado und Kid Holloway. Pfützen wurden von außenbords gehievt und vom Deck nach unten in den Raum gereicht. Wir trugen nur noch unsere Leinenhosen. Hemden und Schuhe hatten wir abgelegt. Die erste Pütze Wasser klatschte donnernd an die Wand und löste die Staubschicht. Die zweite Pütz voll goß mir der Riese Zebulon mit einem gutmütigen Grinsen über den Schädel. Ober uns stand Mister Finn am Laderaum und schien sich zu amüsieren. „Wie war's denn?" wollte der Bibelmann wissen. „Prächtig", sagte ich, und erzählte ihm, was wir erlebt hatten. Nur das mit dem Öl von der Lampe verschwieg ich. Als ich das von dem Apostelgrab berichtete, sank dem Riesen der Unterkiefer herab. „Waaas?” rief er ungläubig, „hier in Madras befindet sich das Grab des Apostels Thomas? Das habe ich nicht gewußt. Da muß ich unbedingt hinpilgern." „Du brauchst nicht zu pilgern", sagte Jonny, „du brauchst nur in die Stadt zu gehen, bis du die große Kathedrale siehst. In dem Dom geht es dann zur Krypta, wo der Altar steht. Da unten befinden sich indische Wächter. Du darfst nichts anfassen, sonst bringen sie dich um." Zebulon war ganz aufgeregt. Der Besuch der Grabeskirche würde einer seiner Höhepunkte im Leben werden, wie er sagte. Ich glaubte es ihm, denn Zebulon war ein sehr frommer und gottesfürchtiger Mann, der das Alte Testament auswendig hersagen
konnte. Er las viel und oft in der Bibel und trug sie meist auch mit sich herum. „Ist das auch wirklich wahr?" fragte er, noch mit einem letzten Rest Mißtrauen behaftet. Wir versicherten ihm hoch und heilig, daß alles stimme. Von da an war er sehr nachdenklich und grübelte vor sich hin. Schließlich plagte ihn die Neugier so, daß es ihm keine Ruhe mehr ließ. „Ich muß mal mit Mister Pickens reden", sagte er, „vielleicht gibt er mir ein paar Stunden Landurlaub." Er enterte auf und verschwand. Eine halbe Stunde später sahen wir ihn wieder. Er war rasiert, hatte sein graues, bis fast zur Schulter fallendes Haar sorgfältig gekämmt, sich frisches Leinenzeug angezogen und war abmarschbereit. In seinem Gürtel steckte die in Leder gebundene Bibel. Er sah richtig selig aus. „Ich habe Landgang", sagte er strahlend. „Also bis zur großen Kathedrale, habt ihr gesagt?" „Es ist die größte in Madras. Du kannst sie nicht verfehlen, Zebulon, sie ist unübersehbar." Er nickte uns strahlend zu und verschwand. Und er kehrte auch erst spät in der Nacht zurück, so lange hatte er am Grabe des heiligen Apostels verbracht. Als der Laderaum ausgewaschen war, wurden die Grätings darüber gelegt, damit das Holz trocknen konnte und belüftet wurde. Da war es schon Nachmittag, und es gab kaum noch etwas zu tun. Master Flanagan war in seiner Kammer und erledigte den Schreibkram. Außerdem war er damit beschäftigt, den neuen Stauplan zu erstellen. Der Erste war in der neuen Faktorei. Pickens war allein an Deck, und so bot sich wieder die Gelegenheit zum Fragen. Er saß unter einem Sonnensegel, das wir wegen der großen Hitze auf der Kuhl gespannt hatten, und hakte hin und wieder auf einer Liste das ab, was noch gelöscht wurde. Viel Spaß schien er daran nicht zu haben, denn er hockte da und starrte alle Augenblicke aufs Meer hinaus. „Ist die Frage gestattet, weshalb wir in diesen Hafen verholt haben, Mister Pickens?" sprach ich ihn an. „Darüber haben Sie sich bestimmt gewundert, was? Nun, das ist ganz einfach zu erklären, Bonty. Das hier, was jetzt noch im Aufbau ist, wird das neue Fort der Company. Es nennt sich St. George und soll sehr großzügig ausgebaut werden. Die andere Faktorei in Masulipatam bleibt natürlich bestehen. Aber da hier alles neu erbaut wird, erhielten
wir die Order, unsere Ladung hier zu löschen. Dann muß das ganze Zeug nicht über Land geschleppt werden." „Ist die alte Faktorei zu klein geworden?" „Nein, das nicht. Es ist eine rein geschäftliche Angelegenheit, denn die Company breitet sich hier unaufhaltsam aus. Vor zwei Jahren gelang es den Engländern, dem Sultan von Golkonda sehr günstige Handelskonzessionen abzuringen. Für die Company ist das ungeheuer wichtig, denn damit sind die Portugiesen endgültig aus dem Geschäft geworfen. Sie ziehen sich auch bereits aus dem Süden zurück. Diese Handelskonzession kostet die Company jährlich genau eintausendsiebenhundertundfünfzig Rupien. Ein lächerlicher Betrag ist das, ein Spottpreis. Für uns Engländer ist das jedoch ein einmaliges Geschäft." Sehr viel konnte ich mir unter diesen Konzessionen allerdings nicht vorstellen. Ich hatte nicht viel Ahnung von Geschäften dieser weittragenden Art, bei denen es um Monopole ging. Pickens nahm mir aber meine naive Fragerei nicht übel – im Gegenteil, er freute sich immer, andere an seinem Wissen teilhaben zu lassen. „Diese Konzession gestattet es uns von nun an, in allen Häfen, die zum Königreich Golkonda gehören, ungehinderten und ungestörten Handel zu treiben, egal in welchem Umfang. Wir kriegen jetzt den besten Pfeffer von der Koromandelküste und brauchen dafür nichts mehr extra zu bezahlen. Verständlicherweise läßt sich die Company dieses Geschäft nicht entgehen, und so wird ein Fort nach dem anderen errichtet." Pickens hakte wieder etwas auf seiner Liste ab. „Ich glaube", sagte er. „dieses neue Fort St. George wird alle anderen einmal überflügeln und der Hauptsitz der britischen Niederlassungen an der indischen Ostküste werden. Das habe ich einfach so im Gefühl." Wenn ich das heute alles niederschreibe, denke ich oft an Pickens, unseren gutmütigen und leutseligen „Fatboy". Er hatte wieder einmal in die Zukunft gesehen, denn fünf Jahre nach seiner Prophezeiung, Anno 1639, war das Fort St. George endgültig befestigt und hatte tatsächlich alle anderen Niederlassungen überflügelt. Will Pickens hatte dafür einen sechsten Sinn bewiesen. „Vielen Dank für die Auskunft, Mister Pickens." „Keine Ursache", sagte er lächelnd, „ich glaube, ich werde mit meiner Vermutung recht behalten." Yes, Sir, er behielt recht. Sie können sich erkundigen. In den Annalen der East-India-Company ist das alles genau verzeichnet.
Der Rest der Ladung war jetzt auch gelöscht, und so ging es noch einmal zur letzten Wasserschlacht in den Raum hinunter. Diesmal waren fast alle dabei, und die Arbeit wurde unter lautem Gejohle und viel Gebrüll verrichtet. Danach war Feierabend, und wer wollte, der konnte sich durch Schwimmen in der Bucht weiter abkühlen. Das taten wir ebenfalls ausgiebig. El Pomado war da ganz eifrig bei der Sache, und als wir ihn schwimmen sahen, kriegte Jonny einen Lachanfall. „Hast du Master Fleet schon mal schwimmen sehen, Bonty?" fragte er mich lachend. ,,Ja, in Südamerika einmal und später als die ,Scout` unterging." „Fiel dir dabei nichts auf?" Ich rief mir die Szenen ins Gedächtnis zurück und mußte ebenfalls laut lachen. Fleet hatte einen sehr sonderbaren Schwimmstil an sich. Er schwamm wie ein dikker Frosch, zerteilte mit den Armen mächtig das Wasser, strampelte wie wild mit den Beinen und prustete nach jedem Zug wie ein Wasserbüffel. Zerteilten seine Hände dann erneut das Wasser, so hob sich sein dicker Achtersteven aus dem Bach wie ein Hügel. Darüber hatten wir uns köstlich amüsiert, aber das durfte der Alte natürlich nicht merken, sonst wäre der Teufel los gewesen. Genau so schwamm El Pomado, immer den Hintern hoch aus dem Wasser und wie ein Büffel schnaufend. Nur war er nicht so dick wie Master Fleet. „Das ist das berühmte Master-Fleet-Gedächtnis-Schwimmen", erklärte Jonny wiehernd. Als Pickens das hörte, konnte er sich kaum beruhigen. Er schlug sich auf die Schenkel und begann dröhnend zu lachen. „Sehr gut, Jonny", brüllte er, „Master-Fleet-Gedächtnis-Schwimmen. Das werde ich mir merken. Da haben Sie einen schönen Satz geprägt. Schwamm der wirklich so?" „Ehrenwort, Mister Pickens, ganz genauso", versicherte Jonny. „Allerdings trug er dabei seinen Zylinder nicht." Pickens brüllte wieder los. Was Master Fleet betraf, da gönnte er sich großzügig die reine Schadenfreude, denn der Alte mit seinem Uniformen-Tick war so eine Art Alptraum für ihn. Pickens war heilfroh, daß er endlich abgesegelt war, und er dachte noch mit Schaudern daran, daß er einmal unter dem Fleet'schen Kommando gefahren war. Diese Reise hätte ihm Bauchgrimmen und eine Menge grauer Haare beschert, wie er ernsthaft versicherte.
Als Mister Finn zurückkehrte und auch Master Flanagan wieder an Deck erschien, hörte das Gelächter auf, und über Fleet fielen keine Bemerkungen mehr. Flanagan hätte das nicht geduldet. Er kontrollierte die Räume mit einer Pedanterie auf Sauberkeit, daß wir alle wieder ein Donnerwetter erwarteten. Doch das blieb aus. Er verlor auch kein Wort darüber, sondern wandte sich an Mister Finn, der von Pickens die abgehakte Liste übernahm. „Was hat der Trader über die neue Ladung mitgeteilt, Mister Finn?” wollte er wissen. „Wir können morgen vormittag mit dem Stauen beginnen, Sir. Wir übernehmen Pfeffer in gepechten Fässern, dann Seide, etwa achthundert Ballen, ferner ungefähr vier Tonnen Elfenbeinzähne und Silber. Der Rest des Kargos besteht aus indischem Tee erster Gütequalität. Die genaue Auflistung legt der Trader morgen vormittag vor. Der Pfeffer stammt übrigens von der Koromandelküste." „Danke. Mister Finn. Das wäre alles." Diese Reise würde für die Company einen ganz schönen Gewinn abwerfen, überlegte ich. Aber das war nicht meine Angelegenheit, denn über die Heuer war ich sozusagen ja auch am Gewinn beteiligt. Zudem würde uns in London erneut ein stolzes Sümmchen gutgeschrieben werden, das aus der Prise „Medusa" bestand. Spät in der Nacht kehrte Zebulon Prescott an Bord zurück. Wir warfen uns anzügliche Blicke zu und grinsten verstohlen, denn ganz sicher hatte der Bibelmann noch einen kleinen Abstecher unternommen. Er schüttelte jedoch lächelnd den Kopf. Dabei lag in seinen Augen wieder dieser überirdische Glanz. „Nicht, was ihr denkt", sagte er mit seiner tiefen Stimme, „ich war bis jetzt eben am Grab des Apostels, ob ihr es glaubt, oder nicht. Aber es entspricht der Wahrheit." Wir glaubten ihm, denn der Glanz in seinen Augen verschwand nicht. Er sprach auch nicht mehr viel an jenem Abend. Er war ganz in sich selbst versunken und dachte über das Erlebte nach. Wir sagten ihm, daß wir Kargo für England hätten, doch den Riesen schien heute überhaupt nichts zu interessieren. Er hörte nicht einmal richtig zu. Nach einer Weile stand er auf und ging an Deck. Dort blieb er ganz versunken noch stundenlang stehen. Wir wollten ihn auch nicht stören. Er mußte dieses Erlebnis allein auskosten und wollte dabei wohl auch nicht gestört werden. Erst lange nach Mitternacht suchten wir unsere Kojen auf.
* Am anderen Morgen waren wir schon sehr früh auf den Beinen. Im Logis war es heiß und stickig, trotz aufgelegter Gräting. Der neue Tag versprach wiederum brüllend heiß zu werden. Der Trader kam mit der genauen Auflistung und besprach sich mit Flanagan, Finn und Pickens. Auch die indischen Kulis erschienen mit Karren, die bis an den Rand bepackt. waren. Die meisten schleppten ihre Lasten jedoch auf dem Rücken und setzten sie am Ufer ab, wo sich schon bald eine ansehnliche Menge Fässer, Kisten und Ballen stapelten. „Das sind fast dreihundertachtzig tons, was wir da an Bord kriegen", sagte mein väterlicher Freund Jeremias Bunk. „Bis das Zeug gestaut ist, werden noch ein paar Tage vergehen. Wir könnten uns in der nächsten Zeit ja einmal Madras gemeinsam ansehen, Howard. Was hältst du davon?" „Aber gern, Mister Bunk. Jonny kennt sich hier prima aus. Er hat ja hier längere Zeit gearbeitet." „Ja, das hat er mir gesagt." Wir sahen den Offizieren nach, die mit dem Trader über die Pier gingen und an Land in dem kleinen provisorisch angelegten Gebäude verschwanden, das später mal der Hauptsitz einer riesigen Faktorei sein würde. „Endlich geht es mal wieder nach England", sagte Mister Bunk. „Seit wir da waren, ist schon mehr als ein Jahr vergangen, und bis wir es erreichen, vergeht nochmals eine lange Zeit. Wir werden uns entschädigen, indem wir Cookies Inn mal wieder auf den Kopf stellen." „Ja, das hatten wir vor. Wir haben ja noch die Gutschrift von Master Fleet", sagte ich. „Und da wollten Jonny und ich die ganze Mannschaft einladen. Dann wird es einen ausgewachsenen gebratenen Ochsen geben. So haben wir uns das vorgestellt, und eine riesige Sauferei." „Haltet lieber euer Geld zusammen und geht nicht leichtsinnig damit um", warnte Mister Bunk. „Trotzdem, Mister Bunk, versprochen ist versprochen. Außerdem sind das über hundertdreißig englische Pfund. Da können wir schon einmal großzügig sein." „Na, ihr müßt es ja wissen", meinte er lachend. Eine knappe Stunde später waren am Ufer noch mehr Kulis eingetroffen und es wurde pausenlos abgeladen. Auch der Bau der neuen Faktorei ging inzwischen weiter.
Pickens kehrte allein zurück und nickte uns zu. „In Masulipatam ist ein Handelsfahrer eingetroffen", erzählte er. „Ich habe mich mal ein wenig wegen Neuigkeiten umgehört. An Bord befindet sich ein deutscher Kaufmann namens Jakob Fugger. Er soll eins der größten Handelshäuser in Deutschland besitzen und will hier hauptsächlich Tuch und Seide aufkaufen. Das muß ein Nachkomme dieser Fugger-Familie sein, die schon vor mehr als hundert. Jahren das Kupfermonopol besaßen. Dieses Fürstengeschlecht beteiligt sich auch am ostindischen Gewürzhandel." „Dann kriegt die Company Konkurrenz?" fragte Mister Bunk gespannt. Pickens schüttelte den Kopf. „Ganz sicher nicht. Dieser Mann hat andere Geschäfte im Sinn. Aber er hat eine Neuigkeit über den Krieg verbreiten lassen. Wallenstein ist tot. Man hat ihn ermordet.” „Wer ist Wallenstein?" fragte Jonny. „Schon mal was von der Schlacht bei Lützen gehört, Johnny? Das war vor zwei Jahren, als König Gustav Adolf von Schweden sein Leben in der Schlacht verlor." „Ah ja, richtig", sagte Jonny etwas vage. Für Politik hatte er sich noch nie sonderlich interessiert. „War der nicht Heerführer?" „So ähnlich. Er war Herzog von Friedland und Mecklenburg, Fürst von Sagan und kaiserlicher Generalissimus, stand in militärischen Diensten der Habsburger. Ein sehr bedeutender Mann. Man hat ihn des Verrats bezichtigt, als er gleichzeitig Verhandlungen mit Sachsen, Brandenburg und Schweden aufnahm. Jetzt ist er tot. In Eger hat ihn ein irischer Hauptmann erstochen. Das passierte in der letzten Februarwoche dieses Jahres. Da waren wir gerade auf See. Ist doch ganz gut, wenn man hin und wieder etwas Neues erfährt." Ich hatte von Wallenstein, Tilly und all den anderen bedeutenden Männern gehört, denn der schreckliche Krieg zwischen den Völkern tobte schon jahrelang. Aber auf See merkte man nichts davon. Wir erfuhren diese Neuigkeiten nur dann, wenn wir wieder einmal in England waren oder jemanden trafen, der etwas Neues wußte. Nachrichten dieser Art wurden immer begierig aufgenommen und machten meist sehr schnell die Runde. Nur waren sie dann reichlich ausgeschmückt und entsprachen oft nicht mehr der Wahrheit. Wir unterbrachen unser Gespräch, als Flanagan und Finn zurückkehrten, denn der Master sah es nicht gern, wenn Pickens sich mit der Mannschaft unterhielt. Schon ein paar Mal hatte er ihn wegen seiner Leutseligkeit zur Rede gestellt. Pickens hatte in dieser Hinsicht
jedoch ein dickes Fell und neigte zu der Ansicht, daß auch andere ein Recht auf Informationen hätten und daß Wissen nie schaden könne. „Alles zum Stauen bereit?" fragte Finn. „Haben Sie sich überzeugt, daß die Räume trocken sind?" „Alles trocken", versicherte Pickens, „wir können anfangen." „Das Silber kommt zuerst an Bord", sagte der Master, „dann das Elfenbein, dann werden Pfeffer und Gewürze gestaut. Seide und Tee werden erst in den nächsten Tagen geladen. Überwachen Sie das genau, Mister Finn, und bringen Sie mir später die Listen." „Aye, aye, Sir." Das Stauen der kostbaren Ladung war ein komplizierter Vorgang, denn durch das unterschiedliche Gewicht mußte der Stauraum genau ausgetrimmt werden, damit wir nicht kopflastig oder mit Schlagseite durch die See liefen. Die kleinste Kleinigkeit mußte dabei berücksichtigt werden, daher auch immer das Anfertigen von Stauplänen. Für uns begann damit die Hölle, und mit den faulen Tagen war es vorerst vorbei. Wir mußten in den Räumen selbst stauen, denn die Kulis schleppten das Zeug nur hinunter, stellten es ab und verschwanden wieder, um Nachschub zu holen. Das war jedesmal mit Geschrei und Gebrüll verbunden. Von oben schrie Mister Finn, es müsse so und so gestaut werden, dann erschien der Master und verlangte, es müsse so und nicht anders gestaut werden, und die drei Fässer auf Backbord müßten auf Steuerbord gestaut werden. Man kam gar nicht mehr mit dem Staunen nach, denn die Kulis schleppten sich die Seele aus dem Leib. Auf der Pier wimmelte es von schwitzenden Leibern. Im Laderaum wimmelte es, da stand einer auf dem anderen, und oben an Deck wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen. Da fluchte der eine, weil ihm ein Fäßchen auf die Knochen gefallen war. Ein anderer trat einem indischen Kuli in den Hintern, weil der sein Zeug ausgerechnet auf seinem Bein abstellte. Und das alles, das Geschrei, Gefluche und Gebrüll ging bei brüllender Hitze vor sich. Hinzu kam der Staub von den Jutesäcken, der uns in Mund und Nase drang und im Hals kratzte. Das war aber noch nicht alles. Jedes Mal, wenn ein Schiff beladen wurde, tauchten wie aus dem Nichts ein paar Individuen auf, die um Heuer nachsuchten. Dabei handelte es sich um gestrandete Existenzen, die im Land hängen geblieben waren, die abgekantet waren oder sich heimlich davongeschlichen hatten. Die meisten waren
Europäer, die wieder zurück wollten. Viele waren aber auch ausgekniffene Verbrecher, Mörder und Beutelschneider, die nur vorgaben, kein Schiff mehr zu haben, oder sich auf Schiffbruch herausredeten. Gegen Mittag, als wegen der unerträglichen Hitze eine Pause eingelegt wurde, erschien auf der Pier ein total heruntergekommener schmächtiger Kerl, ein Individuum mit fettigen langen Haaren, einem dreckigen verfilzten Bart und eitrigen Augen. Offenbar war der Kerl betrunken, denn er schwankte leicht. Als Kleidung trug er nur einen schmierigen Lappen um die Hüften. Er stand vor der Bordwand und stierte uns an. „Ich bin Engländer", rief er, „ich muß wieder nach Hause. Ich möchte den Kapitän oder einen Offizier sprechen." Sein Englisch war schauderhaft. Wenn der Kerl ein waschechter Engländer war, dann konnte ich mich getrost als chinesischen Mandarin ausgeben. „Verschwinde von der Pier", sagte der Profos McCoy grob. „Der Kapitän ist nicht zu sprechen. Verzieh dich, Kerl!" Der Kerl öffnete den Mund und bettelte laut darum, den Kapitän sprechen zu dürfen. Als er die Lippen verzog, sah ich unten im Kiefer einen braunen Zahn, im Oberkiefer zwei längere braune Stummel. Er erinnerte mich lebhaft an einen alten Hasen. Kerle dieser Art kamen bei der Company sowieso nicht an Bord. Außerdem hatten wir zwei von der Sorte an Bord, die uns vollauf genügten. Auf den dreckigen stinkenden Kerl an der Pier war keiner scharf. Der würde nur für endlose Scherereien sorgen, das wußten wir alle aus reichlicher Erfahrung. Jetzt fing er an zu heulen und versuchte Mitleid zu erwecken, doch auch diese Tour zog bei uns nicht. „Ich bin aus London", behauptete er mit weinerlicher Stimme. „Vor einem Vierteljahr ist mein Schiff ohne mich losgesegelt. Nehmt. mich mit, ich flehe euch an." Sein Englisch war absolut schauderhaft, vielleicht war er Portugiese, Franzose oder Holländer. Das ließ sich nicht herausfinden. Jonny sah den Kerl nachdenklich an. Der ungebetene Gast wirkte verzweifelt, hatte Angst in diesem Land und fand wohl keine Arbeit. Jonny war es schließlich mal ähnlich ergangen. „Ich arbeite zwanzig Stunden am Tag", versicherte der Kerl. „Nur für ein Stück Brot und Wasser." Flanagan erschien an Deck.
„Was ist das für ein Geschrei?” fragte er streng. Sein Blick wurde noch härter und kälter, als er den schmierigen Kerl sah, der um eine Mitfahrt winselte. Er wollte gerade die Hand heben und dem Profos etwas sagen, als der Kerl einen Satz tat, blitzschnell an Bord sprang, und sich vor dem Master auf die Planken warf. Sein Kopfhaar wimmelte von Läusen, sein Körper war mit kleinen Geschwüren bedeckt, und von dem Mann ging ein Geruch aus, der Flanagan zurücktaumeln ließ. Da war der Profos heran, packte den Kerl am Arm, zog ihn hart zu sich heran und warf ihn über die Stellung auf die Pier. Flanagans Gesicht wurde noch eisiger. „Ich wünsche nicht", sagte er scharf, „daß derlei Gesindel noch einmal die Pier betritt, vom Schiff ganz zu schweigen. Sorgen Sie dafür, Profos, daß das Ende der Pier bewacht bleibt. Kein einziger dieser sogenannten Bittsteller wird vorgelassen. Mir reichen die beiden anderen Schiffbrüchigen an Bord." Damit waren Boomer und Leach gemeint, die an Bord von allen für entflohene Sträflinge gehalten wurden und die uns unglaubliche Scherereien gemacht hatten. Eine ganze Mission wäre durch sie fast gescheitert und geplatzt. Der Kerl rappelte sich auf, bedachte uns mit geharnischten Flüchen, von denen Hurensöhne, Drecksäue und Rattenpisser noch die vornehmsten waren, und humpelte davon. Typen dieser Art kreuzten in den nächsten Tagen immer wieder in der Nähe der Faktorei auf, aber sie wurden später gleich von zwei indischen Aufsehern, die mit Knüppeln bewaffnet waren, davongejagt. An jenem Tag, nach dem kleinen Zwischenfall, ging das Stauen weiter, bis tief in die Nacht hinein. Madras und das Freudenviertel konnten wir vergessen, denn wir waren durch Arbeit und Hitze total ausgelaugt, erschöpft und erledigt. Ich spürte jeden einzelnen Knochen im Körper. Zwei Tage später wurden Pfeffer- und Gewürzfässer gestaut. Obwohl die Fässer wasserdicht verpecht waren, drang der Geruch nach exotischen Gewürzen doch hindurch. Was da alles an Bord kam, konnte eigentlich nur Jonny genau sagen, der die indische Küche kannte. Da waren Gewürze dabei, von denen die meisten noch nie etwas gehört hatten. Seit die Company die Konzession des Sultans von Golkonda besaß, wurden wir mit unglaublichen Werten beladen. Vieles war in den
Gewürzmühlen schon gemahlen worden und roch dadurch noch durchdringender. Die Gewürzliste sah etwa so aus: Kardamom, ganze Kapseln und gemahlen. Chilipulver, Curryblätter. Koriander. Samen und gemahlen. Kreuzkümmel, gemahlen und grob. Fenchelsamen. zu Pulver gemahlen. Kurkuma, gemahlen. Acht Faß Kokosnußcreme. Muskatnuß ganz und gemahlen. (Die gemahlenen Muskatnüsse verströmten einen unglaublichen Geruch, der das gesamte Schiff aromatisch erfüllte). Muskatblüten. ein Faß. Nelken, ganz und gemahlen. Koromandelpfeffer, schwarz und gemahlen. 80 Faß ganze Körner. Weiterging es mit Nelken, ganz und gemahlen. Vier Faß echter Safran, Schwarzkümmel, Senfkörner, Zimtstangen und gemahlener Ingwer. Zum Schluß folgte eine indische TandooriMischung, die für den Königlichen Hof bestimmt war. Selbst Jonny konnte sich unter der letzten Bezeichnung kaum etwas vorstellen. Faß um Faß verschwand im unersättlichen Bauch der Galeone. Die Kulis kamen und gingen, beladen mit Fässern, Ballen, Kisten. Unten wurde alles festgezurrt, damit es später bei hohem Seegang keine Schwierigkeiten mit der Ladung gab. Über die ersten Schichten Fässer wurden bereits Dielen gelegt. Diese dicken Bohlen wurden mit Keilen verschalkt, damit sich die Fässer nicht bewegen konnten. Jonny, Pete Bird und ich waren gerade dabei, in dieser sengenden Hitze die letzten Bohlen anzubringen, als Pete Bird mich leicht anstieß. „Sieh mal, da achtern in der Ecke hat einer einen alten Lappen vergessen. Oder was ist das?" „Sieht tatsächlich so aus." Auf Händen und Knien krochen wir in die von Pete bezeichnete Ecke. Als ich nach dem schmierigen Lappen griff, erklang ein leiser Schrei, der mich zusammenzucken ließ. Ich hatte das Gefühl, eine lebende Ratte gepackt zu haben, denn unter dem Tuch begann es zu zappeln. Es war auch eine Ratte darunter, eine mit entzündeten Augen, strähnigen Haaren und giftigem Blick. Jetzt begann diese Ratte zu spucken, kreischen und zu toben. Es war der schmierige Kerl, der sich als Engländer ausgegeben hatte, und der jetzt Zeter und Mordio schrie, als wir sein Versteck entdeckt hatten. Er klemmte so zwischen ein paar Fässern, daß wir ihn glatt übersehen hätten, wäre Pete Bird nicht gewesen. Aber wie hatte der Kerl es nur geschafft, an Bord zu gelangen?
Unvorstellbar, wenn wir ihn nicht gefunden hätten. Ich wagte gar nicht, mir das auszumalen. Er wäre unter den Bohlen erstickt, verhungert oder verdurstet, denn er konnte sich überhaupt nicht bewegen. Was da in seinem Schädel vorging, begriff ich einfach nicht. In England, nach mehrmonatiger Reise, hätten wir dann seine verwesten Überreste zwischen den Gewürzen gefunden, und das hätte sich herumgesprochen. Für die Company wäre das kein gutes Aushängeschild gewesen, und wer hätte schon die Gewürze gekauft, zwischen denen eine Leiche lag. „Der ist wahnsinnig", sagte Jonny, „der kann nicht normal sein. Sich hier zu verstecken. Los, wir räumen da drüben die Fässer ab, und dann ziehen wir den Dreckspatz hervor." Der Kerl brüllte immer noch, spuckte nach uns und tobte in seinem Versteck herum, obwohl er kaum Bewegungsfreiheit hatte. Als Jonny erneut nach ihm griff, biß der Schmierige ihn in die Hand. „Verflucht", schrie Jonny, "der hat nur noch drei Zähne im Maul, aber beißen kann er wie eine Ratte." Mittlerweile hatte sich die Kunde von unserem eigenwilligen Passagier bereits herumgesprochen, und oben standen sie wie die Rachegötter. Nachdem die Fässer beiseite geräumt waren, das Stauen mußte für eine Weile unterbrochen werden, konnten wir ihn endlich packen. Jonny packte seinen rechten Arm, ich seinen linken. Pete Bird griff nach seinem ungewaschenen Hals, und so hievten wir ihn schließlich nach oben. Pickens war sauer, aber Flanagan noch mehr. Er drohte drakonische Strafen für den Fall an, daß sich das noch einmal wiederhole. Oben wurde der Kerl an den Mast gestellt, und von zwei Männern festgehalten. Er spuckte immer noch Gift und Galle. „Es ist mein Recht, nach England zu segeln", geiferte er, „und das lasse ich mir auch nicht nehmen. Ich Engländer, London", schrie er. „Fragen Sie ihn aus, wie er da unten hineinkam", sagte der Master. „Und dann belehren Sie ihn mit fünf Peitschenhieben darüber, daß er hier nichts zu suchen hat, Mister McCoy." Dem Profos war dieser Zwischenfall peinlich, weil er persönlich die Wache am Ende der Pier übernommen hatte und der Kerl trotzdem an Bord geschlichen war. Er packte ihn und beutelte ihn kräftig durch. Dann riß er ihm den schmierigen Lappen vom Schädel, der als Turban zusammengedreht war, und warf das Ding über Bord. „Wie bist du an Bord gekommen?" brüllte der Profos.
Der Kerl zeigte sich verstockt und gab keine Antwort. „Rede endlich, oder ich prügel es aus dir heraus!" Eine saftige Ohrfeige ließ den Dreckigen aufbrüllen. In seine Augen trat ein tückischer Ausdruck, aber auch Angst, und so bequemte er sich endlich zu einer Antwort. „Ich habe mich unter die Kulis gemischt", radebrechte er. Er hatte sich also in das Gewimmel der Stauer gequetscht, sich einen Ballen geschnappt und war unbehelligt bis in den Laderaum vorgedrungen. In dem unbeschreiblichen Gewühl fiel das nicht auf. In einem unbewachten Augenblick war er dann hinter den weiter achtern gestauten Fässern einfach in Deckung gegangen. Jemand reichte dem Profos die neunschwänzige Katze, die er einmal durch die Hand gleiten ließ. „Damit du dir künftig merkst, daß du hier nichts zu suchen hast, werde ich es dir fünfmal hintereinander einbläuen", sagte er mit sehr ruhiger Stimme. „Und von nun an werden die Kulis alle kontrolliert. Beim nächsten Mal endest du dort oben." Er zeigte mit dem Peitschenstiel nach oben an die Rah. Dann gab er zwei Männern einen Wink. Die ergriffen die Arme des Kerls und zogen sie auseinander. Der Profos schlug zu, fünf Mal schnell hintereinander. Schon beim ersten Hieb schrie der Kerl so laut auf, wie ich es noch nie gehört hatte. Beim zweiten und dritten Schlag zogen sich blutige Striemen über sein Kreuz, und er wand sich wild hin und her. Nach dem letzten Streich sank er wimmernd zusammen. Zwei indische Kulis ergriffen ihn bei den Armen, zerrten ihn über die Pier und trieben ihn mit Fußtritten und wüstem Gebrüll aus der Faktorei hinaus. Der Kerl tauchte nach dieser Prozedur nie wieder bei uns auf. Wir haben auch nie erfahren, wer er wirklich war. Engländer war er jedenfalls nicht. Wie gesagt, in den nächsten Tagen versuchte noch allerlei Gelichter, an Bord zu gelangen. Sie erschienen sogar in der Faktorei und gaben sich für ehrenwerte Seeleute aus. Sogar ein angeblicher Kapitän war dabei, dem sein Schiff unter dem Hintern abgesoffen war und dessen Mannschaft sich in alle Winde zerstreut hatte. Diesen „Kapitän" suchten die indischen Behörden schon sehr lange wegen Mordes, und er landete kurz darauf in einem der stinkenden Gefängnisse. Nach und nach stapelte sich die Ladung immer höher. Die „King Charles" sank wieder tiefer in ihr Element. Wenn weiterhin alles so
einwandfrei klappte, konnten wir in drei Tagen in See gehen und die Heimreise antreten. In dieser Zeit gingen wir auch noch zweimal an Land. Zebulon pilgerte wieder zum Grab des Apostels, während wir uns in dem Freudenviertel amüsierten. Bis auf zwei Ausnahmen erhielt jeder Mann Landgang. Diese beiden Ausnahmen waren Leach und Boomer. Sie durften in keinem Hafen Land betreten, auf ausdrücklichen Befehl des Masters. Sie nahmen das auch scheinbar gelassen hin, doch es sollte sich zeigen, daß der Ärger mit diesen beiden Halunken noch lange nicht vorbei war und noch schlimmere Ausmaße annahm. Tee- und Seideballen wurden dann gestaut. Der Ladevorgang neigte sich seinem Ende zu. Bereits jetzt begann an Bord fast jeder ungeduldig zu werden und der Reise über den Indischen Ozean entgegenzufiebern. Auch mich packte es wieder. Wenn man etliche Tage oder Wochen in einem Hafen gelegen hatte, freute man sich auf die Zeit, wo man wieder auf See war. War man dann lange genug unterwegs, freute man sich schon auf den nächsten Hafen und den damit verbundenen Landgang und das Amüsement. So kam wenigstens keine Langeweile auf, und wir lebten von einer Freude zur anderen. Am 24. November wurden nachmittags die letzten Luken verschalkt und seefest gemacht. Die „King" wurde einer gründlichen Reinigung unterzogen und von oben bis unten gewässert, bis auch der letzte Staub und Dreck verschwunden war. „Landgang ist für heute gestrichen", sagte Pickens. „Wir gehen morgen, noch vor der Dämmerung, in See. Aber ihr habt euch ja auch genügend ausgetobt." Er selbst war auch zwei Mal an Land gewesen, um das Grab des Apostels zu besuchen. Aber Pickens hatte nicht diesen nachdenklichen Blick drauf wie Zebulon, und ganz sicher hatte er die Kathedrale verfehlt und war im roten Viertel von Madras gelandet. Yes, Sir, dafür hatte ich einen Blick. Denn wenn er sich unbeobachtet glaubte, dann grinste unser Zweiter so verschmitzt vor sich hin. Er mußte also an den Apostel Thomas sehr nette Erinnerungen haben. An jenem Tag gingen wir ziemlich früh in die Kojen, denn morgen wurden ganze Kerle gebraucht, und keine müden Herumsteher. Alle freuten sich auf die Reise. *
25. November 1634. Als wir an Deck standen, war es noch dunkel. Doch im Osten zeigte sich bereits ein winziger Schimmer. Über das Meer zog eine leichte Brise, die es leicht kräuselte. Kurz darauf folgte schon die kurze Dämmerung. Während eine winzige Mondsichel noch am Himmel über Madras stand, begann die Sonne aufzugehen. In der Stadt herrschte noch Schweigen, es waren nur vereinzelte Menschen zu sehen. „Rahgasten, enter auf! " rief der Erste Offizier vom Achterdeck. Diesmal gehörte ich nicht zu den Rahgasten, die die Segel zu setzen hatten und Reffs lösten. Ich hatte mit El Pomado, der Katze und Harry die Leinen zu lösen und aufzuschließen. Die Rahgasten waren aufgeentert und begannen mit der Arbeit. Von oben rauschten die Segel herab. Andere standen an Fallen und Schoten, um zu trimmen. Pickens überwachte die Decksarbeiten. Achtern stand Jeremias Bunk am Ruder. Auf dem Achterdeck befanden sich außerdem Flanagan und Finn. Die Segel waren noch nicht fest, als Mister Finn „Leinen los! " rief. Pete Bird stand an Land an den Holzpollern und löste Vor- und Achterspring, die wir vom Schiff aus nachfierten. Die Brise griff bereits in die Segel, und die „King" begann unendlich langsam von der Pier abzudriften. Dann sprang die Katze mit einem Satz an Bord zurück. Er war der letzte, der seinen Fuß in Madras an Land gesetzt hatte. Die Fahrt durch die Bucht verlief quälend langsam, denn der Wind griff noch nicht richtig. So trieben wir ganz langsam mit Hartruderlage dem freien Wasser entgegen. Von der Faktorei brüllten uns noch Stimmen nach. Auf der Pier waren ein paar Gestalten zu erkennen, Bedienstete der Company, die uns einen letzten Gruß nachwinkten. „Auf Ostkurs bleiben", sagte Flanagan, als wir das Achterdeck betraten und uns zum Dienst meldeten. Wir wußten noch nicht, ob wir für den Decksdienst eingeteilt werden sollten oder Achterdecksdienst versehen mußten. Das hieß wieder: Navigation lernen, bis uns die Augen tränten, Kurse abstecken oder Routen errechnen, was Jonny mitunter buchstäblich zur Verzweiflung trieb. Aber Flanagan hatte mal versprochen, uns zu erstklassigen Offizieren auszubilden, genau wie Master Fleet das auch vorhatte. Flanagan ließ uns stehen und konzentrierte sich auf das Auflaufen des Schiffes.
Ost lag an, wie ich auf dem Kompaß erkannte. Dann griff der Wind zum ersten Mal etwas kräftiger, und die Segel blähten sich. Achteraus blieb die Bucht mit der provisorischen Faktorei zurück, die langsam kleiner wurde. „Welches Kommando folgt gleich?" fragte uns Mister Finn. „Klar bei Brassen und Schoten. Neuer Kurs Süd", sagte ich. „Zur Zeit haben wir Nordostwind." „Ging ja sehr schnell", sagte Finn anerkennend. „Nur von Ihnen habe ich nichts gehört, Mister Jonny." „Ich wollte gerade dasselbe sagen", meinte Kleine Hölle, „aber ich wollte nicht vorgreifen." Finn nickte nur. Er wußte zwar, daß es bei Jonny mit der Navigation noch immer leicht haperte, aber er war ein ausgezeichneter Seemann, und die Kommandos kannte er im Schlaf. Dazu kam noch, daß er sich hier sehr gut auskannte und folglich genau wußte, welche Manöver gesegelt wurden. Es war wirklich keine Ausrede bei ihm. „Klar bei Brassen und Schoten! " rief Finn dem Zweiten zu. Der Kurs wurde eine halbe Meile vom Land gewechselt und danach Süd angelegt. Eben noch waren wir scheinbar direkt in die aufgehende Sonne hineingesegelt. Sie stand wie ein halbierter Ball glosend rotgelb über dem Wasser, auf das man wegen des Gleißens kaum blicken konnte. Jetzt wanderte der Feuerball langsam nach Backbord aus, als der Südkurs anlag. Auf Steuerbord lag die Koromandelküste, die Gegend wo der feurige Pfeffer wuchs, von dem wir geladen hatten. Der nächste Ort an dieser Küste hieß Mahabalipuram. Ihn würden wir bei gleich bleibendem Wind etwa gegen Mittag passieren. Von dort aus ging es dann weiter durch die Palk-Straße bei Ceylon. Die mörderische Hitze wurde durch die Meeresbrise leicht gemildert. Hin und wieder pfiff der Wind etwas kühler heran, doch das dauerte leider nur Augenblicke, dann erfaßte uns auch schon wieder mal ein sehr warmer Luftzug. „Letzte Kontrolle auf Seefestigkeit", ordnete Mister Finn an. „Segellast durchlüften, ebenso das Batteriedeck. Kontrolle der Geschütze und Lafetten. Kontrolle der Pulverkammer und Magazine. Nehmen Sie sich das persönlich vor, mit der nötigen Sorgfalt, die ich von Ihnen erwarte. Beginnen Sie damit gleich nach dem Frühstück." „Aye, aye, Mister Finn."
Flanagan sagte immer noch nichts. Er stand da, hatte die Arme auf die Balustrade gestützt und blickte schweigend an den Segeln vorbei auf das glitzernde Meer, das an manchen Stellen blutrot war, dann wieder flaschengrün und schließlich tiefblau wurde. Das Frühstück fiel fast indisch aus, und das würde auch noch ein paar Tage so bleiben, denn Gofredo paßte sich immer den Gepflogenheiten des Landes an. Der Koch hatte reichlich eingekauft, und wir hatten sogar lebende Hühner in einem Schlag im Batteriedeck. Vor allem gab es in den nächsten Tagen viel frisches Gemüse und Obst, denn das mußte zuerst verbraucht werden. Später würde es dann unmerklich etwas spärlicher ausfallen, das ließ sich nicht ändern. Jonny und ich begannen mit den Kontrollen. Sie mußten sehr sorgfältig ausgeführt werden, denn einer der Offiziere sah garantiert noch einmal nach, ob wir auch nichts ausgelassen hatten. Und wenn Finn etwas auszusetzen hatte, dann sah ich es zuerst daran, daß seine Narbe im Gesicht die Farbe veränderte und rot wurde. Dann folgte meist ein Donnerwetter. Die Schotte wurden überprüft, die Niedergänge, die Verschalungen an den Luken. Die anderen Männer arbeiteten in leichtem Leinenzeug an Deck, pönten, pinselten oder labsalten das Tauwerk. „Sieh dir mal den an", sagte Jonny. Er zeigte auf Boomer, auf diesen ungeschlachten Fleischklopfer, den Schläger und Wüterich, der mit einem Pinsel in der Hand auf den Planken kniete und sie pausenlos anstierte, als sähe er kleine grüne Männchen zwischen den Fugen. „Der hat wieder diesen dösigen Blick drauf. Ob der wirklich bekloppt ist?" „Ich glaube schon. Jedenfalls ist mit ihm etwas nicht mehr ganz in Ordnung seit der letzten Bestrafung. Von da an hatte er einen Knacks weg." Die letzte Bestrafung war ziemlich hart ausgefallen, denn da wurde Boomer in ein großes Netz unter der Saling gehängt und mußte dort tagelang bei schwerem Wetter, Brot und Wasser ausharren. Als wir ihn danach an Deck hievten, war er scheinbar tot, nach einer Weile jedoch zum Entsetzen aller wieder zum Leben erwacht, gerade noch rechtzeitig in dem Augenblick, als er sein Begräbnis erhalten sollte. Seither stimmte etwas nicht mehr mit ihm. Er war dösig, wie Jonny ganz richtig sagte. Manchmal war er aggressiv und aufsässig, dann wieder schien er nicht zu wissen, wo er sich befand und stierte stundenlang auf ein und denselben Fleck, so wie jetzt.
„Oder er macht uns etwas vor", sagte Jonny. „Er spielt nur den Blöden, der nicht mehr durchblickt. Das hat auch der Feldscher Montesano nicht genau feststellen können." „Weshalb sollte er das tun, Jonny?" „Das weiß ich nicht. Bei dem Kerl blicke ich nie richtig durch, genau wie hei Leach, dessen wahres Gesicht hat noch keiner richtig gesehen. Vielleicht nimmt Boomer an, daß er in der Rolle eines Blöden besser behandelt wird oder daß sie ihn für seine Taten nicht zur Rechenschaft ziehen können." „Darin dürfte er allerdings irren." Leach warf uns aus seinen merkwürdigen Augen einen schnellen stechenden Blick zu, tat aber so, als sähe er an uns vorbei. Er konnte niemandem richtig in die Augen sehen, dann wurde er sofort unruhig und fahrig und wandte schnell den Blick ab. Er senkte den Kopf und widmete sich wieder seiner Arbeit. Boomer starrte immer noch auf die Planken. Sein Mund war leicht geöffnet, seine Hand umkrampfte den Pinsel, als wollte er ihn zwischen den Fingern zerquetschen. „Ich bin froh, wenn wir diese Halunken los sind", sagte Jonny, „die beiden sind genau so mies wie Ellerton oder Lockjaw." „Oder wie seinerzeit Daniel Hawkins." Als wir zur Segellast gingen, hockte der monströse Fleischberg immer noch reglos herum. Er saß so provozierend da, als hätte er keine Lust mehr zum Arbeiten. McCoy sah das natürlich auch schon seit einer ganzen Weile. Mit finsteren Blicken musterte er den Koloß, dann kam er langsam näher und stellte sich breitbeinig vor ihn hin, so daß sein großer Schatten auf ihn fiel. „Was stierst du so?" fragte der schwarzbärtige Profos. „Was gibt es da zusehen, Boomer?" Der Mann, der Boomer genannt wurde, verdankte diesen Namen seiner donnerähnlichen brüllenden Stimme. Er konnte einfach nicht leise sprechen, es war ihm unmöglich, und so brüllte und trompetete er immer wie ein Elefant und war bis in den letzten Winkel des Schiffes zu hören. Der Profos erhielt keine Antwort. Erst nach einer ganzen Weile, als McCoy seine Frage etwas lauter wiederholte, wandte er den Kopf von den Planken und blickte nach oben. Seine Lippen verzogen sich zu einem fast idiotischen Grinsen, sein Mund öffnete sich. Aber seine Augen starrten in die Bläue des Himmels und gingen ins Leere. Dann
schloß sich sein Mund. Er packte den Pinsel und begann ihn hin und her zu ziehen, und er wirkte wie einer, den man bei etwas Verbotenem erwischt hatte. McCoy räusperte sich unangenehm berührt, trat wieder zurück und beobachtete den Kerl aus zusammengekniffenen Augen. Auch er schien zu überlegen, ob Boomer nur simulierte, um sich auf diese Art und Weise vor der Arbeit oder weiterer Bestrafung zu drücken. Wir kontrollierten weiter und gingen ins Batteriedeck, um dort die Geschütze, Lafetten und Taue zu überprüfen. Auszusetzen fanden wir nur etwas an einem Kugelkasten und einem Wischer, der reichlich abgenutzt war. Den Wischer wechselten wir aus. In den Kugelkasten schlugen wir zwei Nägel, bis er wieder fest war. Zwei Stunden später erstatteten wir Mister Finn Bericht und vergaßen auch Kugelkasten und Wischer nicht zu erwähnen, damit alles seine Richtigkeit hatte. „Ich verlasse mich auf Ihre Kontrollen. In Ordnung", sagte er. „Was ist mit diesem Boomer?" Seltsam, aber es hieß immer „dieser Boomer" oder „dieser Leach", niemals anders. Das hob sie schon ganz bezeichnend aus der Masse der anderen hervor. „Ich kann mir da kein Urteil erlauben. Mister Finn", sagte ich, „er scheint mitunter nicht ganz richtig im Kopf zu sein. Er wirkt dann total abwesend. Ich glaube, er weiß dann nicht einmal, wo er ist." „Kann es sein, daß er simuliert.'?" „Es ist nicht auszuschließen, Mister Finn. Aber das hat selbst der Feldscher nicht herausgefunden." „Haben Sie immer ein waches Auge auf ihn. Der Kerl gefällt mir immer weniger." „Dem könnte man vielleicht etwas abhelfen", meinte Pickens versonnen. „Ich denke, es läßt sich feststellen, ob er nur vorgibt, einen Knacks zu haben, oder ob er wirklich einen hat." „Und wie wollen Sie das anstellen?" „Ich überlege noch, mir fällt schon etwas ein." „Möglich, daß das seine Art der Rache ist", meinte Finn. „Offen kann er gegen keinen vorgehen, ohne hart bestraft zu werden. So versucht er es auf diese Weise." „Wir werden es ganz sicher herausfinden", versprach Pickens. „Dann werden wir weitersehen."
Flanagan sagte gar nichts dazu. Er enthielt sich jeglichen Kommentars über Boomer und Leach. Das Thema hing ihm zum Hals heraus. Gegen Mittag tauchte der Ort. Mahabalipuram auf. Im Sonnenlicht funkelten ein paar Tempel. Am Strand liefen etliche Leute zusammen, die uns lange nachsahen. Kurz darauf war der Ort passiert, und auf Steuerbord lag wieder der Küstenstrich mit seinen langen Stränden, Palmenhainen und Hügeln. Für Jonny und mich gab es ganz schön etwas zu tun, denn Finn nahm uns gehörig in die Mangel. Wir verrichteten zwar zur Zeit keine körperliche Arbeit, aber das andere strengte fast noch mehr an. Wir mußten die Geschwindigkeit des Schiffes messen und die zurückgelegte Strecke danach in eine Kladde eintragen. Zum Messen benutzten wir ein Handlog, dessen Leine durch Knoten markiert war. Daher rührte auch der Begriff „Knoten" her, was wiederum eine Seemeile bedeutet. Diese Leine ließen wir im Wasser abspulen und erhielten so die Geschwindigkeit durch die abgelaufene Leinenlänge pro Zeiteinheit. Die Längeneinheit zwischen den Knoten betrug genau 6,84 m. Abgemessen wurde an einer speziellen Sanduhr, deren Sand 14 Sekunden lang rieselte. Wenn unsere Geschwindigkeit also einen Knoten Fahrt betrug, liefen in einer Minute 30,876 in Logleine aus. Um dieses Verfahren abzukürzen – es wäre zuviel Leine ausgelaufen –, rechnete man mit einer Viertelminute und einem Viertel der Länge. Trotz allem aber gab es da noch Ablesedifferenzen und Verzögerungen, und man mußte auch das Slippen des Logscheits berücksichtigen. Ich mußte immer wieder feststellen, daß wir uns auf langen Strecken um etliche Meilen verrechneten. Pickens, der unseren Standort peilte, nahm die Kladde immer zu Hilfe und bügelte durch seine glänzenden Kenntnisse in der Navigation unsere Fehler wieder aus. Hätten wir uns also um zwanzig, dreißig Meilen verrechnet und wollten eine der Malediven-Inseln ansteuern, wären wir an ihr vorbeigesegelt, ohne' sie überhaupt zu sehen. Yes, Sir, so kompliziert ist das für einen, der gerade mit der Navigation anfängt. Hexenwerk sei das, behaupten einige angesichts der gewaltigen Größe der Ozeane. Allein mit „diesem Scheiß", wie Jonny das nannte, waren wir stundenlang beschäftigt. Aber wir erfuhren immer als erste, wohin die Reise ging und welche Zwischenstationen angelaufen wurden. Am Nachmittag legte Flanagan uns die genaue Reiseroute bis nach Afrika vor, die aus drei Etappen bestand.
Mister Finn hatte jetzt Freiwache. Der Rudergänger hatte ebenfalls gewechselt. Jetzt stand Zebulon wieder am Ruder. „Mister Pickens wird Ihnen das genauer erklären", sagte er, „danach können Sie dann die theoretischen Berechnungen anstellen. Die Anlaufpunkte sind alle rot markiert. Das gilt natürlich für einen normalen Verlauf unserer Reise, Zwischenfälle sind verständlicherweise nicht berücksichtigt." Pickens breitete die Kurskarte vor uns aus. Sie bestand aus einem komplizierten Muster mit unzähligen Anmerkungen. Derlei Dinge arbeitete der Master immer dann aus, wenn er in seiner Kammer war, obwohl die meisten Deckhands der Ansicht waren, er würde schlafen oder sich ausruhen. Von wegen! Ein Schiff vor den Wind bringen, war kein Problem, es aber durch einen riesigen, fast endlosen Ozean wieder sicher in den Heimathafen zu bringen, war ohne Übertreibung ein Kunststück. „Wenn wir die Palk-Straße passiert haben", erklärte er uns, „nehmen wir Kurs auf die südlichste Insel der Malediven. Das ist nur als Ansteuerungspunkt zur leichteren Navigation gedacht. Sobald diese Insel in Sicht kommt, erfolgt eine Kursänderung in südsüdwestlicher Richtung zu den Chagos-Inseln. Das ist die erste Etappe. Dort wird noch einmal Frischwasser übernommen. Die zweite Etappe führt zu den Maskarenen, genau zu jener Insel hier." Er zeigte dabei auf einen Punkt der Karte, der wie Fliegendreck aussah. Jonny pfiff ganz leise durch die Zähne und sah Pickens an. „Hat das einen ganz besonderen Grund, Mister Pickens?" „Es ist ein Befehl der Company", sagte unser Zweiter, plinkerte uns dabei aber vielsagend zu. Weshalb wir die Maskarenen anlaufen sollten, verriet er jedoch nicht. Wir würden das schon selbst erfahren und herausfinden. „Die dritte Etappe führt uns zum Cabo tormentoso, zum Kap der Guten Hoffnung. Die Rundung des Kaps ist noch nicht eingezeichnet, denn bis wir diese Strecke hinter uns haben, vergehen noch ein paar Tage. Nun seht euch das genau an. Ihr müßt auf dieser Karte die zurückgelegte Strecke einzeichnen. Geschwindigkeit und Uhrzeit übertragt ihr am besten in die Kladde, sonst wird auf der Karte alles verschmiert. Jeden Abend legt ihr mir Karte und Kladde vor, damit Mister Finn oder ich es überprüfen können. Ich bitte mir dabei allerdings die größte Sorgfalt aus. Ihr tragt damit eine Menge Verantwortung. Das hier ist nicht so einfach wie Rollenschwoof oder Schiffskontrollen. Noch Fragen?" erkundigte er sich dann.
„Nein, keine Fragen, ich habe alles verstanden", sagte ich. Jonny hatte ebenfalls keine Fragen. „Dann geht jetzt Freiwache", sagte Pickens. „In zwei Stunden seid ihr dann wieder hier auf dem Achterdeck." „Aye, aye. Mister Pickens." „Bist du sicher, daß du das alles kapiert hast?” fragte Jonny. „Das wird ja immer komplizierter." „Das sieht komplizierter aus, als es ist, Jonny. Wenn man da erst einmal hineingewachsen ist, macht es direkt Spaß." Wir standen am Schanzkleid und blickten ins Wasser. Die "King Charles" segelte mit Backbordhalsen auf Steuerbordbug liegend. Die See dünte, der Bug hob sich aus dem Wasser, schüttete lange Schleier von sich und tauchte wieder ein. Zischend und sprudelnd lief das Wasser am Schiffsrumpf vorbei. Achtern entstand eine blasenwerfende schaumige Bahn, die sich nach knapp hundert Yards wieder verlor. „Ich glaube, ich habe auch schon eine Ahnung, weshalb wir die Maskarenen anlaufen", sagte Jonny. „Es ist garantiert wegen diesen beiden Lausekerlen. Es ist bestimmt kein Zufall, daß wir ausgerechnet jetzt die Insel anlaufen, in der sich die Bucht der Galgenstricke befindet." „Woher weißt du, daß das die Insel ist?" Jonny grinste etwas verschmitzt. „Ich habe Pickens unauffällig ausgeholt", sagte er, „schon auf der Reise, als wir die Halunken aus dem Bach fischten. Daher weiß ich das so genau. Außerdem hat er uns zugeplinkert." „Das ist richtig", gab ich zu, „aber das muß nicht unbedingt etwas mit den Kerlen zu tun haben." „Wir werden sehen." „Wir werden sehen", wiederholte ich, "genau das hat Master Fleet auch immer gesagt. Merkwürdig, daß fast alle Leute diesen Satz übernehmen." „Den hat Fleet schließlich nicht erfunden", brummte Jonny. * Kurz bevor wir die Palk-Straße passierten, geschahen an Bord ein paar merkwürdige Dinge. Eigentlich waren sie unerheblich, aber sie waren immerhin rätselhaft. El Pomado meldete sich frühmorgens bei Pickens.
„Ich habe heute nacht etwas Merkwürdiges beobachtet, Mister Pickens", begann er. „Ich hatte Freiwache und war noch an Deck. Da tauchte im Dunkel eine Gestalt auf, schlich von der Kuhl zur Back, und trank aus dem Wasserfaß." Pickens hob fragend die breiten Schultern. „Na und! Viele haben nachts Durst und trinken etwas." „Aber dann brauchen sie doch nicht so geheimnisvoll und gebückt zu schleichen, Sir. Außerdem fiel mir auf, daß der Kerl dann plötzlich wie ein Geist verschwand, als er wieder auf der Kuhl war. Ich habe ihn nicht mehr gesehen." Pickens runzelte die Stirn und blickte El Pomado ratlos an. „Eigenartig, aber unerheblich", sagte er. „Nun gut, er schlich also zum Wasserfaß. So schlimm wird das nicht sein." „Ich wollte ja auch nur meine Pflicht tun und das melden, Sir", meinte El Pomado gekränkt. „Vielleicht hast du wieder grüne Hunde gesehen", sagte Jonny. El Pomado zog einen Flunsch und verschwand wieder. Später meldete der grauhaarige Segelmacher Sails, daß ihm sein Entermesser abhanden gekommen sei, was er sich absolut nicht erklären könne. Diesmal wurde Pickens sehr nachdenklich. „Es verschwand schon einmal ein Entermesser", sagte er nachdenklich, „und das fand sich dann bei diesem Leach oder Boomer. Der Profos soll die beiden Kerle gründlich durchsuchen, auch die Bunks im Batteriedeck." McCoy durchsuchte daraufhin zusammen mit Sails die beiden Kerle, aber sie fanden nichts. Auch ihre Bunks im Batteriedeck wurden genau durchsucht, ebenso das Deck selbst. Es wurde kein Entermesser gefunden, und beide bestritten empört, etwas damit zu tun zu haben. Immer würde man ihnen alles anhängen, beschwerte sich Leach. „Dazu besteht auch aller Grund", sagte der Profos grimmig. Eine knappe Stunde später beschwerte sich unser italienischer Koch Gofredo wild und leidenschaftlich gestikulierend darüber, daß ihm einer aus der Kombüse Lebensmittel geklaut hätte. Aber die größte Schweinerei sei, daß er mit dreckigen Fingern im Reistopf herumgematscht, eine gehörige Portion gefressen und alles verkleckert und verdreckt habe. Beide Ohren würde er dem Dreckspatz abschneiden, versicherte er, und der Reis läge überall auf dem Boden. Sogar an Deck vor dem Kombüsenschott sei zertrampelter Matschreis gelegen.
Er war fuchsteufelswild, drohte und fluchte, versprach dem Dieb die Hölle auf Erden und drohte ihm die übelsten Strafen an. Nun war es auf der „King Charles" so, daß niemand Hunger litt. Es gab immer gut und reichlich zu essen, und jeder wurde satt. Die Vielfraße unter den Hands und Plains konnten Nachschlag erhalten, falls sie noch nicht genug hatten. Bisher hatte sich auch keiner an den Vorräten vergriffen. „Das ist sehr seltsam", sagte Pickens zu uns, „wirklich sehr eigenartig. Ich will nicht schon wieder behaupten, daß dieser Boomer oder Leach dahintersteckt. Außerdem kann ich es nicht beweisen." „Vielleicht hat jemand Hunger gekriegt", vermutete Jonny, „und hat sich in der Kombüse bedient. Es soll ja so eine Art Heißhunger bei einigen geben. Dann hat ihn wohl jemand gestört, und dadurch entstand diese Sauerei. Er wollte sich nicht die Blöße geben, heimlich am Freßtopf erwischt zu werden." „Hm". sagte Pickens. „Erst der Kerl am Wasserfaß, dann das verschwundene Messer, und jetzt der Kombüsenklau. Das paßt alles nicht so richtig zusammen. Halten Sie mal ein wenig Augen und Ohren offen, oder legen Sie sich ein paar Stunden lang auf die Lauer. Ich rechne das dann Ihrer Dienstzeit an. Und noch etwas: Lassen Sie kein Sterbenswörtchen darüber verlauten." „Gut, wir werden aufpassen, Mister Pickens", versprach ich. „Vielleicht war das auch nur ein einmaliger Vorfall." „Na ja, passiert ist noch nichts, aber das verschwundene Messer bereitet mir Sorgen. Wir grübelten gemeinsam darüber nach, wer der nächtliche Schleicher wohl sein mochte. Von denen, die wir sehr gut kannten, kam wirklich keiner in Betracht. Von den anderen, mit denen wir weniger Kontakt hatten, konnte ich mir auch niemanden vorstellen. Ich tippte genau wie Jonny ebenfalls auf Leach oder Boomer. Vielleicht wollten die Kerle für Aufregung oder Unfrieden sorgen, ohne dabei in den Vordergrund zu treten und harte Strafen zu riskieren. Zuzutrauen war ihnen das. Und dann lachten sie sich heimlich ins Fäustchen. „Weißt du was", sagte ich zu Jonny, „wir gehen heute nacht Ausguck, aber nur pro forma. Vom unteren Fockmars aus haben wir einen totalen Überblick über alle Decks. „Gute Idee, Bonty. Mir gibt zu denken, was El Pomado sagte, daß der Kerl von der Kuhl zur Back schlich, dort trank, wieder zurückschlich und spurlos wie ein Geist verschwand. Ob der sich aus Blödsinn in der
Segellast vorübergehend versteckt hat? Dann müßten dort doch Spuren zu finden sein." „Sehen wir nach. Möglich ist es ja." Wir öffneten das Schott zur Segellast. bis gleißende Helligkeit hereinfiel. Hier waren die schweren Passatsegel, die Ersatzsegel und Segeltuch gestaut, das noch nicht verarbeitet war. Man nannte diesen Raum an Bord auch die Segelkoje. Wir drehten alles um, sahen überall nach und waren am Ende so schlau wie am Anfang. Hier hatte sich niemand aufgehalten. Es gab nicht die geringsten Spuren, es fand sich auch kein einziges Reiskorn, das der Dieb hier verloren hatte, vorausgesetzt, El Pomado hatte richtig gesehen, daß der Kerl hier verschwunden war. „Er hat also doch grüne Hunde gesehen", meinte Jonny. „Nichts, absolut nichts. Aber in Luft kann sich der Kerl auch nicht aufgelöst haben, und vom Achterdeck kommt keiner dafür in Frage." Als am Abend die Ausgucks wechselten, fiel es keinem auf, daß ich in den unteren Vormars aufenterte und dort Posten bezog. China-Harry, der im Topp Ausguck ging, warf mir zwar einen fragenden Blick zu, sagte aber nichts weiter. Ich hockte mich so auf die Plattform, daß niemand meinen Schädel sah. Durch einen kleinen Schlitz in der Segeltuchverkleidung hatte ich einen herrlichen Ausblick über das Schiff in seiner gesamten Länge. Jonny hatte sich unterdessen ins Batteriedeck geschlichen, unbemerkt von Leach und Boomer, und beobachtete dort. Etwa um Mitternacht wechselten erneut die Ausgucks. Diesmal kletterte Jonny zu mir hoch, während Jo Blyss nach oben stieg. Er sah uns nicht einmal. „Ich habe im Batteriedeck nach dem Messer gesucht, es aber nicht gefunden", flüsterte er. „Entweder hat Sails es verlegt, oder die Kerle haben es ganz genial versteckt, falls sie es waren." „Was tun sie jetzt?" „Sie unterhielten sich eine Weile. Sie versuchten herauszufinden, wie unser Kurs aussieht. Und sie sprachen auch davon, daß sie in England sofort abmustern würden. Danach hörte ich sie nur noch schnarchen." Jonny hockte sich dicht neben mich. Für zwei Leute wurde es recht eng, aber es ließ sich aushalten. „Gofredo hatte die Kombüse abgeschlossen, aber ich habe ihm das ausgeredet. Er soll sie offen lassen, für den Fall, daß sich das wiederholt. Der Kerl war ganz wild darauf, sich selbst auf die Lauer zu legen, um dem Kerl die Ohren abzusäbeln."
Ich mußte grinsen, denn Gofredo war ein ganz wilder Kerl, wenn es um seine Kombüse ging. Fuchsteufelswild konnte er werden, und sein heißes Blut geriet dann in Wallung. Auf dem Achterdeck befanden sich jetzt Finn und Pickens. Ruderwache ging Terence Dexter, der anfangs bei uns als Erster Steuermann gefahren war. Ob Pickens den Ersten unterrichtet hatte, wußte ich nicht. Vom Achterdeck aus konnte man zwar auch das Schiff überblicken, aber nicht so gut wie wir, weil die Segel teilweise die Sicht auf einzelne Stellen nahmen. Nach einer weiteren Stunde verlor ich langsam die Lust. Es tat sich nichts. Jonny gähnte verhalten. Ich dachte schon, er war eingenickt, doch plötzlich stieß er mich an. „Ich werd verrückt", hauchte er. „Sieh mal, da unten!" Ich sah die Bewegung schon, noch bevor er ausgesprochen hatte. Es wirkte fast unheimlich bei dem fahlen Mondlicht, das jetzt herrschte. Aus dem großen Beiboot schob sich unter der Persenning hervor eine schmale Hand. Es war so, wie man es in den billigen Theaterstücken der Wanderbühnen immer sah, wenn sich ein Sargdeckel öffnete und eine bleiche Hand erschien. Fassungslos blickten Jonny und ich uns einen Augenblick an. Dann beobachteten wir weiter, was sich tat. Die Hand bewegte sich zögernd weiter und löste die Knoten des Segeltuches. Kurze Zeit darauf erschien ein Schädel, der sich handbreit weiter nach oben schob. In diesem Augenblick wurde der Mond wieder von rasch dahinziehenden Wolken verdeckt, und an Deck war nur noch der milchig-trübe Schein einer Deckslampe zu sehen. Diese schwache Beleuchtung reichte aber aus, um zu erkennen, was unser geheimnisvoller Besucher tat. Er blickte in die Runde, dann sah er nach oben. Haare und Gesicht waren schwarz und ließen keinerlei Rückschlüsse auf ihn zu. Er peilte sehr sorgfältig zum Achterdeck, aber von dort aus konnte man ihn nicht sehen. Dann suchte er die Kuhl ab, blickte zur Back und reckte seinen Schädel immer höher hinaus. „Kann nur ein Inder sein", sagte Jonny leise, „einer von den Hafenkulis." „Oder der andere, der sich versteckt hat." „Glaube ich nicht. Der hatte lange Haare, dieser hier nicht. Na, der Alte wird vielleicht Augen machen. Der kriegt glatt einen Tobsuchtsanfall, wenn er das erfährt."
Damit mochte Jonny ganz sicher recht haben. „Sollen wir ihn nicht kassieren, Jonny?" „Warte noch, wollen sehen, was er tut." An Deck hielt sich niemand auf. Das Kerlchen schob sich jetzt unendlich vorsichtig aus seinem vorzüglichen Versteck, sah sich wieder lauernd nach allen Seiten um und kniete sich dann neben das Boot, bis auch wir ihn nicht mehr sahen. Noch einmal sondierte er die Lage und spitzte offenbar die Ohren, denn es dauerte eine ganze Weile, bis er in gebückter Haltung zur Back schlich, wo das große Wasserfall mit der Kelle stand. Gebückt stand er im Schatten, schöpfte Wasser und trank gierig und in langen Zügen. Vom Achterdeck aus bemerkte immer noch niemand, daß wir einen Urian an Bord hatten, einen ungebetenen Gast. „Wir schnappen ihn, sobald er in die Kombüse schleicht", sagte Jonny. Der Kerl war unendlich vorsichtig, und er bewegte sich so scheu, schnell und huschend wie eine englische Kanalratte. Sein Kopf fuhr immer ruckhaft herum, sobald er ein verdächtiges Geräusch zu hören glaubte. Was der Kerl auf unserem Schiff wollte, war mir ein Rätsel. Wollte er etwa nach London? Er hatte wohl überhaupt nicht die geringste Vorstellung, was ihn dort erwartete. Der Kerl mußte verrückt sein. Wir belauerten jede Bewegung der kleinen mickrigen Bilgenlaus. Er trank noch einmal, absolut geräuschlos, und blieb Bann so lange im Schatten der Back hocken, bis es uns langsam nervte. Der Grund für sein Verweilen war jedoch der Mond, der wieder hell über das Schiff schien. Er wollte warten, bis er wieder von Wolken verdeckt war. Seit seiner Exkursion an Deck war schon fast wieder eine Stunde vergangen. Endlich verschwand der Mond wieder für eine Weile hinter einer langgestreckten Wolkenbank. Der Inder huschte los. Sein ausgemergelter Körper war nur als schmaler Strich zu erkennen. Er öffnete das nur leicht angelehnte Schott der Kombüse, schlüpfte hinein und schloß es wieder hinter sich bis auf einen kleinen Spalt. Jonny und ich enterten geräuschlos und schnell ab, huschten über die Kuhl und lauerten vor der Kombüse. Dort nickten wir uns zu, rissen das Schott weit auf und sprangen die Stufen des Niederganges hinab. „Bleib am Niedergang stehen", sagte Jonny, „damit er mir nicht entwischen kann." „In Ordnung."
Jonny tastete sich durch die Dunkelheit. Das ging eine ganze Weile so, bis er alles abgetastet hatte. „Verflucht noch mal", sagte er leise, „der Kerl ist nicht hier." „Der muß da sein, Jonny", raunte ich, „an mir kann er nicht vorbei, sonst muß er mich überrennen. Vielleicht steckt er im Gang zur Proviantlast oder in der Last selbst." „Ich zünde eine Lampe an", hörte ich meinen Freund murmeln. Etwas später wurde es in der Kombüse hell, und wir sahen uns um. „Dort drüben steckt er", sagte ich, auf das Schott der Last deutend, die von der Kombüse durch einen schmalen Gang getrennt war. Jonny gab mir die Lampe, um sich die Bilgenratte gleich kräftig vorknöpfen zu können. Dann riß er das Schott auf, während ich hineinleuchtete. Unsere Gesichter wurden immer länger. Jonny schluckte trocken. „Der Satan soll's holen", fluchte er. „Jetzt geht es uns genau wie El Pomade. Der Kerl kann sich unsichtbar machen." „Hör bloß auf zu spinnen", sagte ich. „In Indien gibt's Kerle, die solche Tricks beherrschen. Sie verschwinden spurlos vor deinen Augen, ob du es glaubst oder nicht. Ich kenne den Trick allerdings nicht." „Ist doch Quatsch, Jonny." „Siehst du ihn denn? Er ging doch in die Kombüse, oder?" „Ja, das stimmt." „Und wo ist er? Hat er sich vielleicht in einen Sack Mehl oder eine Kakerlake verwandelt? Ich fange noch an zu spinnen, Mann." „Mir ist auch ganz mulmig zumute." Dennoch durchsuchten wir noch einmal die Last ganz genau. Wir kannten jeden Winkel des Schiffes und wußten, daß es hier keine geheimen Schotte oder Türen gab. Wir boxten auch gegen die Mehlsäcke und nahmen sie von allen Seiten in Augenschein. Aber der Kerl steckte in keinem. Ich wußte tatsächlich nicht mehr weiter. Dieses spurlose Verschwinden ging einfach über meinen geistigen Horizont. Wir verschlossen die Last wieder und überlegten immer noch krampfhaft. Dabei kamen wir uns wie zwei. Idioten vor. Ich stellte die Lampe auf den eisernen Herd und lehnte mich dagegen. „Der muß an dir vorbei sein", behauptete Jonny stur. „Er ist aber nicht an mir vorbei." „Gibt keine andere Möglichkeit. Der hockt längst wieder im Boot und grinst sich eins."
Da kam mir endlich der erlösende Gedanke. Oh, Lord, das war alles doch ganz einfach. „Er ist hier in der Kombüse", sagte ich. „Im Ofenrohr, was?" höhnte Jonny verärgert. „Nicht weit davon entfernt, Jonny." „Witzbold." „Er hockt im Backofen, alles andere ist unmöglich. Dort hat er sich versteckt, als er ein Geräusch hörte oder etwas sah." Jonny holte erst einmal tief Luft, ehe er nickte. „Ich Idiot", sagte er andächtig. „Na klar!" „Wir Idioten", verbesserte ich. „Daran haben wir einfach nicht gedacht. Nun werden wir ja deinen unsichtbaren Inder gleich kennenlernen." Der Backofen, der sich an den Herd anschloß, hatte eine gußeiserne Platte mit Riegelverschluß. Meist hing aber der Riegel immer nach unten, damit Luft hinein konnte. Der Backofen war so groß, daß sogar zwei Männer darin Platz gehabt hätten. Der Riegel hing auch jetzt wieder nach unten. Jonny öffnete die breite Tür und leuchtete hinein. „Da liegt der Stinkbolzen", sagte er fassungslos. „Nun sieh dir das mal an!" Kohlschwarze Augen blinzelten verstört in die Lampe, als ich mich bückte und in den Ofen sah. Der Kerl lag auf der Seite und verzog ängstlich das Gesicht. Es war ein Inder. Er war dürr und ausgemergelt. und trug nur ein Tuch um die Hüften. Er bewegte sich nicht und sah uns nur unverwandt an. „Und so will die Ratte wohl in London rumspazieren, was", sagte Jonny. „Der hat. uns jetzt genug genervt." Er griff zu und zog den Kerl wie ein scharfgebackenes Brot aus der großen Röhre. Der Inder wehrte sich verzweifelt, doch was Jonny in Händen hielt, das ließ er nur stückweise wieder los. Er stellte den klapperdürren Kerl auf die Beine, hielt ihn mit einer Hand am Genick fest, und schüttelte ihn kräftig. Der Inder setzte sich zur Wehr. Er trat nach uns und schimpfte. Er wurde erst ruhiger, als Jonny ihm eine saftige Ohrfeige gab. Dann brachten wir ihn an Deck auf die Kuhl. Ich ging nach achtern zu Mister Pickens, der von alldem immer noch nichts gemerkt hatte. „Was — ein Inder an Bord?" rief er. „Wollen Sie mich verulken, Mister Bonty?" „Nein, Jonny hat ihn. Dort vorn steht er. Der Kerl hat sich im großen Beiboot versteckt."
„Holen Sie den Master aufs Achterdeck. Jonny, hierher mit dem Kerl", rief er dann. Ich ging nach achtern und klopfte an Flanagans Kammer. „Mister Pickens bittet Sie aufs Achterdeck, Sir.” „Ich komme gleich, Mister Bonty." Als Jonny mit dem Kerl achtern angelangt war, erschien auch der Master. Zwei Laternen wurden aufgehängt, die das Achterdeck hell erleuchteten. Flanagan sagte zuerst gar nichts. Auch Mister Finn war an Deck erschienen und betrachtete den Kerl wie ein Weltwunder. Aber der Master stand kurz vor einer Detonation, das spürte ich. Er hatte genug von unliebsamen Schmarotzern. „Deck! Land auf Steuerbord voraus", meldete in diesem Augenblick der Ausguck aus dem Großmars. „Wir sind in jenem Teil der Palk-Straße, wo die Inselkette sie vom Golf von Mannar trennt, der sogenannten Adams-Brücke. Geben Sie dem Rudergänger genaue Anweisungen, Mister Finn. Diese Ecke ist berüchtigt." Master Flanagan hatte das sehr ruhig gesagt. Jetzt wandte er sich wieder an uns. Im Schein der Lampen erkannte ich, daß sein Gesicht leicht gerötet war. Das war kein gutes Zeichen, aber es konnte ihm auch niemand seine Laune verübeln. „Berichten Sie, Mister Bonty, von Anfang an. Das ist jetzt der zweite Kerl, der sich an Bord geschlichen hat. Meine Geduld ist erschöpft." Ich erzählte in knappen Sätzen alles, was ich wußte. Mittlerweile war es vier Uhr morgens, und bald würde die Sonne aufgehen. Flanagan beherrschte sich nur noch mühsam. „Was wollen Sie hier an Bord meines Schiffes?" schrie er den zusammenzuckenden Inder an. „Er versteht kein Wort Englisch, Sir", sagte Jonny. „Dann übersetzen Sie es gefälligst." Jonny redete auf Hindustani auf den Kerl ein. Der nickte eifrig und gab einen schnellen Wortschwall von sich. „Er sagt, er liebt das Abenteuer, Sir. Er möchte die Welt sehen. Er will sich auch in England etwas umsehen.” „So, er will sich auch in England etwas umsehen", sagte Flanagan tonlos. „Das wird die Engländer sicher entzücken. Ist der Kerl eigentlich wahnsinnig?" „Nein, Sir, aber er ist rotzfrech. Er sagt, wenn Sie ihn nicht mitnehmen wollen, dann möchten Sie ihn bitte wieder nach Madras bringen, Sir."
Der sonst so kalte und fast arrogant wirkende Master war einem Schlaganfall verdächtig nahe. Ich sah, daß er nach Luft rang und so empört war wie selten. „Das ist der Gipfel der Frechheit!" Diesmal brüllte Flanagan, und da zuckte selbst Pickens zusammen. „Was denkt sich dieser Halunke eigentlich! Schleicht sich hier aufs Schiff, stiehlt. Proviant und versetzt alles in Aufruhr. Fragen Sie ihn, ob er schwimmen kann." „Er sagt ja, Sir, sehr gut sogar. Er würde auch gern noch weitere Abenteuer erleben." „Das kann er haben. Ein Abenteuer ganz besonderer Art kann er gleich erleben, sobald wir die Inseln passiert haben." Flanagans Stimme wurde ausgesprochen höhnisch. „Teilen Sie diesem Strolch mit, daß ich mich entschlossen habe, ihn nicht nach Madras zurückzubringen, aber er darf die Strecke selbstverständlich schwimmen und wird dabei seine Abenteuer erleben. Er kann hier in der Palk-Straße von Insel zu Insel schwimmen, bis er wieder auf dem Festland ist. Der Rest sind drei Tagesmärsche bis Madras. Das hier ist ein Schiff der ehrenwerten Company, Mister Jonny, sagen Sie ihm das auch, und kein Sauhaufen, bei dem jeder beliebig an Bord herumturnen darf." „Aye, Sir." Jonny übersetzte auch das. Der Inder schnatterte wieder weiter. Ich amüsierte mich köstlich. Diese kleine Bilgenlaus wußte vermutlich gar nicht, was hier los war. Er nahm wohl an, er könne eine herrliche Schiffsreise unternehmen, sich den Proviant zusammenklauen und prächtige Abenteuer erleben. Von England hatte er nicht die geringsten Vorstellungen. Vielleicht glaubte er auch, er könne dort in seinem Hüfttuch herumlaufen. Klimatische Veränderungen kamen ihm überhaupt nicht in den Sinn. Er warf auch gar nicht die Frage auf, wie es in England für ihn wohl weiterging. Er war einfach da – und basta. Sollten die anderen sehen, wie sie mit ihm zurecht kamen. Jonny platzte vor Lachen los. Er konnte einfach nicht mehr an sich halten, obwohl der Master sehr wütend war. „Was ist los?" „Verzeihung, Sir, ich übersetze nur das, was der Kerl mir gerade vorschnattert. Er will Ihnen drei Rupien geben, wenn Sie ihn nach England mitnehmen, aber nur eine, wenn Sie ihn wieder nach Madras zurückbringen." Master Flanagan war einem Zusammenbruch nahe. Um Jonnys Lippen zuckte es verdächtig. Immer wieder mußte er grinsen, denn eine
derartige Unverfrorenheit dem Master gegenüber hatte sich noch keiner erlaubt. Pickens hielt sich den Bauch. Die Situation war einfach köstlich. Da stand der kleine Tölpel, der die Welt nicht begriff, und wollte Flanagan mit drei lausigen Rupien ködern. Und eine würde er nur kriegen, wenn er wieder zurücksegelte. Auch ich konnte nicht mehr und platzte los. „Ich verbitte mir dieses Gelächter", sagte der Master. „Reißen Sie sich gefälligst zusammen. Das gilt auch für Sie, Mister Pickens. Ich befinde mich hier wohl in einem Tollhaus. Der Fall ist erledigt. Binden Sie den Kerl bis Sonnenaufgang an den Besan. Sobald es hell ist, fliegt er über Bord. Und kontrollieren Sie auch die anderen Boote, durchsuchen Sie das Schiff von vorn bis achtern und oben bis unten. Ein solches unglaubliches Vorkommnis darf es hier nicht mehr geben." Jonny band den schnatternden Inder an den Mast. Er verbiß sich immer nur noch sehr mühsam das Lachen. Inzwischen hatten auch andere Männer der Besatzung mitgekriegt, was hier vorgefallen war. Ungläubig sahen sie zum Achterdeck, wo im Schein der Lampen der zweite Passagier gefesselt am Mast stand. Dann wurde das Schiff noch einmal durchsucht, nur die Laderäume waren davon ausgenommen, denn die waren nach dem ersten Vorfall genauestens inspiziert. worden. Nach einer knappen Stunde war das Schiff bis in den letzten Winkel durchsucht worden. Jonny meldete: „Keine weiteren Inder an Bord, Sir", was den Master fast zu einem Wutausbruch trieb. Er solle gefälligst genaue Meldungen machen, brauste Flanagan auf, und keinen Blödsinn. Etwas später ging die Sonne auf. Der Inder stand am Mast und wunderte sich, daß seinetwegen so eine Aufregung herrschte. Wir hatten jetzt die ersten Inseln passiert und lavierten vorsichtig hindurch, denn die Adams-Brücke bestand aus zahlreichen winzigen Inseln und Atollen, die sich wie Perlen auf der Schnur hintereinander aufreihten. Herrliche palmenbewachsene Atolle oder winzige schimmernde Eilande waren zu sehen. Der Master gab den Befehl zum Anluven. Fast unmerklich drehte die „King Charles" in den Wind und hielt auf eine kleine palmenbewachsene Insel zu, die wie eine grüne Perle aus dem Meer ragte. Die Entfernung bis zu diesem Inselchen betrug etwa zweihundert Yards. Die nächste Insel war gut sechshundert Yards entfernt.
„Sorgen Sie dafür, daß dieser Kerl von Bord verschwindet”, befahl Flanagan dem Profos. „Schwimmen kann er ja." „Jetzt erlebt er sein erstes Abenteuer", sagte Jonny. „Auf der nächsten Insel sein zweites, und so fort, bis er wieder drüben auf dem Festland ist. Dann kann er nach Madras traben." Der Profos band den Inder los, ergriff seinen Arm und schob ihn über den Niedergang zur Kuhl. Dann zeigte er mit dem ausgestreckten Finger zu der Palmeninsel, die wir gerade passierten. Der ausgemergelte Inder nickte. Anscheinend war er von der Angelegenheit jetzt hellauf begeistert. Er grinste sogar. Der Profos packte seinen dürren Hals mit der einen Hand. Mit der anderen drehte er ihm das Lendentuch zusammen und hob das Kerlchen hoch. Dann schlenkerte er ihn gefühlvoll zweimal hin und her, nahm einen kurzen Anlauf und feuerte den Inder über Bord. In fast elegantem Bogen sauste die Bilgenlaus davon. An den Schanzkleidern standen die Männer aus der Crew und sahen aus großen Augen auf dieses seltene Schauspiel. Ein paar zuckten zusammen, als der Inder ins Wasser klatschte. Er tauchte weg, kam wieder hoch und schwamm grinsend der Insel entgegen. „Abfallen, auf Kurs gehen! " befahl Flanagan. In seinem Gesicht zuckte kein Muskel, keine Gemütsregung war ihm anzusehen. Uns belustigte das alle ungemein. Fast jeder grinste mehr oder minder heimlich. Als wir auf Kurs gingen und die Segel leicht nachtrimmten, hatte der Inder bereits den Strand der Insel erreicht. Er ruderte wild mit den Armen und schien überglücklich zu sein. „Verstehst du das?" fragte ich Jonny. „Ganz sicher nicht. Der freut sich riesig. Offenbar ist er doch nicht ganz richtig im Kopf.” „Hunger und Durst werden ihn nicht plagen", sagte China-Harry, der zu uns trat. „Da hat es soviel Kokosnüsse, daß er jahrelang davon leben kann." Die Gestalt des Inders schrumpfte zusammen, als wir uns weiter entfernten. Doch noch immer stand er am Strand und winkte uns nach. Die Reise wurde fortgesetzt, und bald darauf segelten wir in den Golf von Mannar. An Backbord lag Ceylon, die Perle Indiens, während an Steuerbord der indische Kontinent immer weiter zurücktrat. Wir nahmen Kurs auf den Indischen Ozean. *
Unser Zweiter Offizier nahm uns zwei Tage später zur Seite, damit niemand hörte, was er uns zu sagen hatte. „Boomer und Leach wollten doch unbedingt herausfinden, wohin die Reise geht", sagte er. „Richtig. Darüber haben sie sich im Batteriedeck unterhalten. Und in England wollen sie gleich abmustern", sagte Jonny. „Das könnte denen so passen. Ich möchte gern herausfinden, ob Boomer wirklich nur den Blödmann spielt, oder ob er tatsächlich nicht mehr ganz dicht im Oberstübchen ist. Lassen Sie deshalb den beiden gegenüber so ganz nebenbei verlauten, daß wir zuerst die ChagosInseln und später die Maskarenen anlaufen. Natürlich müssen Sie das recht unauffällig tun. Ich bin auf die Reaktion gespannt. Wenn Boomer das kapiert, kann ich mich darauf einstellen. Wenn er nicht begreift, weshalb wir die Maskarenen anlaufen, dann simuliert er nicht." „In Ordnung, Mister Pickens", sagte ich. „Dazu wird sich schon bald eine Gelegenheit ergeben." Um das vorwegzunehmen: Die Reaktion auf diese Ankündigung überraschte uns alle, denn niemand hatte damit gerechnet. Wir aber wußten danach, wie gefährlich die beiden wirklich waren, und daß Boomer den Dummkopf nur spielte. Die Gelegenheit dazu ergab sich am anderen Tag, als Leach und Boomer auf der Back oberhalb der Kombüse die Planken abschmirgelten, um neue Farbe aufzutragen. Wir sahen sie nicht, weil wir direkt darunter standen, aber sie konnten uns sehen und noch besser hören. Über uns war das leise Scheuern der Sandsteine zu vernehmen, mit denen sie das Deck bearbeiteten. Ein schabendes gleichmäßiges Geräusch war das, das nur hin und wieder unterbrochen wurde. „Wir müssen noch den Kurs in die Karte eintragen, den wir von der Palk-Straße aus gesegelt sind", sagte Jonny. „Weißt du eigentlich, weshalb wir die Chagos-Inseln anlaufen?" „Wir nehmen dort nur Trinkwasser", erwiderte ich. „dann geht's unverzüglich weiter zu den Maskarenen." Jonny gab sich ganz erstaunt. „Ich denke, wir segeln direkt durch nach Afrika und machen da erst wieder Station." Das Schmirgeln über uns wurde leiser. Zwei Männer spitzten jetzt neugierig die Ohren. „Was wollen wir denn auf den Maskarenen?" fragte Jonny erstaunt.
„Keine Ahnung, Jonny. Das wissen nur der Master und die Offiziere. Sie müssen wohl einen triftigen Grund haben. Aber sie unterbrachen ihre Unterhaltung sofort, als ich dazukam, und schwiegen. Offenbar soll das überhaupt nicht bekannt werden." Jonny grinste über beide Ohren. „Seltsam", meinte er, „die laufen wir doch sonst nie an." „Ja, das ist wirklich seltsam", gab ich zu. „Ausgerechnet auch noch die nördlichste Insel." „Na ja, die werden schon gewichtige Gründe haben. Mir ist das egal. Ich freue mich, wenn wir wieder in England sind.” Bei der Erwähnung der nördlichsten Maskarenen-Insel hörten die Schleifgeräusche total auf. Über unseren Köpfen wurde es still. Offenbar sahen sich die beiden Halunken jetzt entsetzt und betroffen an, denn die nördlichste Insel war jenes berüchtigte Quartier der Sträflinge und Meuterer, aus dem die beiden vermutlich ausgebrochen waren, einschließlich des geköpften Jack Gordon. Wir redeten noch über Cookies Inn, und daß wir dort kräftig feiern würden, dann gingen wir auf getrennten Wegen ins Batteriedeck, ohne uns auch nur einmal umzusehen. Beim Mittagessen gab es die erste Überraschung. Boomer, der sonst Unmengen verschlang und immer groß herumtönte, hockte mit eingezogenem Genick an der Back und war totenbleich. Er stocherte in seinem Essen herum und kriegte keinen Bissen runter. Ich sah auch, daß seine mächtigen Pranken leicht zitterten. Er stierte auf die Kumme mit dem Essen, schluckte immer wieder und stand dann auf. Er hatte so gut wie gar nichts angerührt. Leach dagegen war so fahrig und nervös, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Seine Blicke huschten unstet hin und her, als suchte er verzweifelt nach einer Möglichkeit zur Flucht. Sein von der Sonne dunkel verbranntes Gesicht hatte eine ungesunde Graufärbung angenommen. Dem Feldscher Ivo Montesano fiel das zuerst auf. „Was ist denn mit deinem dicken Kumpel los?" fragte er in unfreundlichem Ton. „Der frißt doch sonst immer für drei. Und du siehst auch nicht viel besser aus." „Laß mich in Ruhe", knurrte Leach, „das geht dich einen Scheiß an." Auch er stand auf und schob seine noch halbvolle Kumme beiseite. „Laß den Arsch doch abzittern", sagte der Koch sauer. „Wenn's denen nicht schmeckt, sollen sie Schießpulver fressen."
„Bin sowieso heilfroh, wenn ich mit denen nicht zusammen an der Back sitzen muß", sagte der Zimmermann, Bob Costigan verärgert. „Der Fleischklopfer benimmt sich beim Essen wie ein Schwein, und der andere Kerl geht mir mit seinem stechenden Blick auf die Nerven. Da wird einem ja das Essen sauer." Jonny blickte mich an. Ich blickte unauffällig zurück, und wir grinsten uns heimlich eins. Die Reaktion der beiden war wirklich erstaunlich. Als wir später wieder an Deck waren, schliffen sie weiter an den Planken herum. Beide waren übernervös, sahen sich immer wieder wie gehetzt um und flüsterten leise miteinander. „Das sind genau die Reaktionen, die ich erwartet habe”, sagte Pickens gegen Abend zu mir. „Die Kerle haben nichts mehr zu verlieren, denn auf den Maskarenen erwartet sie die Hölle. Dessen bin ich mir ganz sicher." „Es ist auch allen anderen aufgefallen, Mister Pickens. Sie haben kaum etwas gegessen, sind unfreundlicher denn je und übernervös." „Man sollte sie schon jetzt in Eisen legen", meinte Pickens nachdenklich, „aber sie geben keinen Anlaß dazu. Sie rechnen sich auf irgendeine Art und Weise wohl doch noch eine Chance aus. Boomer kann gar nicht so dumm sein, wie er vorgibt, er scheint ganz gut begriffen zu haben, was ihm blüht." An jenem Tag unterbrach Boomer seine Arbeit kaum. Er zog den Stein hin und her, war fahrig und erschien seltsamerweise auch nicht zum Abendessen. Hin und 'wieder lief es wie ein Fieberschauer durch seinen gewaltigen Körper. Er hatte Angst, hündische Angst. Ich bemerkte das an seinen gehetzten Blicken, seinen fahrigen Bewegungen und seinem schreckhaften Zusammenzucken. Er und Leach hockten jetzt wieder ständig zusammen, als müßten sie sich gegenseitig beschützen. Leach musterte auch immer wieder den Horizont und schien sich nach Land zu sehnen. Abends hockten sie schweigend im Batteriedeck. Sie würfelten auch nicht mehr, wie sie es sonst ständig taten. Sie lehnten mit dem Rücken an einem Balken und stierten die gegenüberliegende Wand an. Als Jonny und ich wieder einmal die Kanonen überprüften, gab Leach sich betont freundlich, obwohl er uns nicht leiden konnte. Aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. „Wir haben die Hühnerverschläge gesäubert", sagte er, „und die Eier dem Koch gebracht. Die Viecher müssen ja gepflegt werden auf der
langen Reise, bevor wir Land anlaufen. Und das wird ja sicher ein paar Monate dauern." Aha, dachte ich, daher weht der Wind. Der Bursche wollte uns ein wenig ausholen. „Laufen wir eigentlich vorher noch mal Land an'?" fragte er direkt. „Was heißt vorher?" „Ich meine, bevor wir England erreichen'? So, wie wir es auf der Hinfahrt taten?" „Das ist anzunehmen", sagte ich. „Irgendwo in Afrika werden wir vielleicht unsere Vorräte ergänzen." Ein flüchtiges Grinsen umspielte seine scharfen Lippen. Sein Blick ging wieder an mir vorbei. Ich sah Haß in diesem Blick, weil ich ihm keine genauen Auskünfte gab. Wir gingen weiter und ließen die beiden mit ihrer Ungewißheit allein. Jonny enterte den Niedergang auf, während ich hinter den Verschlag trat, in dem vor langer Zeit mal zwei Kühe und ein paar Schweine gehalten wurden. Die beiden nahmen an, ich sei ebenfalls verschwunden. „Von den Scheißkerlen erfährst du kein Wort", hörte ich Leach sagen. „Die wissen ganz genau, was los ist, aber sie wollen uns in Sicherheit wiegen. Dabei haben sie sich vor ein paar Tagen selbst verraten, als wir ihr Gespräch belauschten." „Mistkerle, verdammte", fluchte Boomer mit gedämpfter Stimme. „Die bereiten uns noch verdammte Schwierigkeiten. Aber was können wir nur tun?" „Weiß ich noch nicht.. Mir wird schon was einfallen." Leider schwiegen sie sich dann aus, und ich hörte nichts mehr. Lautlos und ungesehen enterte ich ebenfalls den Niedergang auf, und erzählte Jonny, was ich gehört hatte. „Die werden ganz schön schwitzen", sagte er. „Laß sie nur. Jetzt sind sie nur noch unsicherer geworden." Nochmals ein paar Tage später tauchten die südlichsten Atolle der Malediven auf. Unsere Berechnungen hatten gestimmt. Wir legten Pickens Kladde und Karte vor, und er kontrollierte alles genau nach. „Sehr gut", sagte er. „Das, was wir jetzt an Steuerbord an der Kimm sehen, ist das Addu-Atoll. Hätten wir uns jetzt um nur zwanzig Meilen verrechnet, wären wir daran vorbeigesegelt, ohne es zu sehen. Die Chagos-Inseln hätten wir dann vermutlich verfehlt und wären ins Blaue gesegelt. So was kann tödliche Folgen haben. Es hat genügend Fälle gegeben, wo die Mannschaft wegen eines solchen Fehlers in der
Navigation jämmerlich zugrunde gegangen ist, verhungert oder verdurstet. Nur wegen ein paar lumpiger Meilen." Auch Mister Finn kontrollierte noch einmal die Kladden. Er war mit uns zufrieden und äußerte sich sehr lobend, was eine absolute Seltenheit bei ihm war. Von nun an liefen wir Südkurs, um die Chagos-Inseln anzuliegen. Dort stand uns die nächste Überraschung bevor. * Wir liefen eine der nördlichsten Inseln der Chagos-Gruppe an, die sich nach den spanischen Roteiros Peros Banhos nannte. In den englischen Seekarten hatte die Gruppe noch keinen Namen. Die Banhos bestanden aus sieben oder acht kleinen Inseln, die die Form eines riesigen Haifischmaules hatten. Zwei der auseinander gezogenen in der See liegenden Inseln waren mit Kokospalmen bewachsen und hatten dschungelartige Vegetation. Auf den beiden Inseln gab es auch Trinkwasser. Mister Pickens kannte sie genau und erzählte uns das. Wir sahen von den Inseln allerdings kaum etwas, denn als wir sie anliefen, kam Nebel auf, der immer dichter wurde und nur ganz vage das Land erkennen ließ. Das letzte, was wir erkennen konnten, war eine tief eingeschnittene Bucht. Dicht vor dem immer schlechter zu sehenden Strand tobten Brandungswellen, die wir mehr hörten als sahen. Ein Einlaufen in diese Bucht, in der es noch eine gefährliche Korallenbank gab, war vorerst ausgeschlossen. Wir tuchten auf und drifteten der Bucht entgegen, bis der Befehl zum Ankern gegeben wurde. Der Profos ließ Trosse nachstecken, bis der Anker endlich hielt und wir nicht Gefahr liefen, auf die Korallenbank zu treiben. In der Bucht blies der Wind nur noch schwach. Der Nebel wurde immer dichter und hüllte bald das ganze Schiff ein. Flanagan kam das nicht gerade gelegen. „Lassen Sie das Beiboot abfieren", sagte er zu Pickens, „damit wir später keine unnötige Zeit verlieren. Sorgen Sie auch dafür, daß die Wasserfässer bereitgestellt werden, ebenso die Tragegestelle." „Aye, Sir. Sollen wir trotzdem schon mit ein paar Mann an Land pullen? Ich kenne eine Stelle, wo die Brandung nur schwach ist.”
„Nein, .das ist mir zu riskant. Der Nebel wird immer dichter. Falls Sie Ihr Ziel bei der schlechten Sicht verfehlen, verirren Sie sich zwischen den Inseln. Wir warten vorerst noch ab." Das Beiboot wurde abgefiert und am Poller vertäut. Inzwischen wurde der Nebel noch dichter. Die Sicht betrug nur noch zwanzig bis dreißig Yards. Flanagans Vorsicht war also durchaus begründet, auch wenn Pickens sich hier gut auskannte. Dichter Nebel war schon so manchem zum Verhängnis geworden. Da lagen wir nun vor dieser prächtigen Inselgruppe und konnten doch nichts sehen. Gegen Abend war der Nebel so dicht, daß man kaum noch die Hand vor Augen sah. Unsere Umgebung bestand aus einer milchigen Suppe, die so dick war, daß man sie fast schneiden konnte. Dabei war es brühwarm, und kein Lüftchen rührte sich. Undeutlich und verzerrt war nur das Tosen der Brandungswelle zu hören, die sich dicht vor dem Strand brach. Aber auch das Geräusch wurde mit dem Gezeitenwechsel ruhiger. Die Ankerwachen wurden eingeteilt. Jonny und ich waren nicht dabei. Wenn ich mit Jonny oder einem anderen reden wollte, dann mußte man ihn beim Namen rufen, bis derjenige sich herantastete. Stand er dann in unmittelbarer Nähe, sah man ihn nicht. Man hörte nur eine dumpfe, verzerrte Stimme aus der Nebelwand. Hin und wieder schlug das Beiboot ganz leicht gegen den Rumpf. Es hörte sich an, als würden Wassermänner gegen den Rumpf klopfen, oder der Klabautermann hätte hier seine Hand im Spiel. Auch das Glasen der Schiffsglocke klang eigenartig und fremd. Das war nicht mehr der vertraute Ton. Dumpf und sehr weit entfernt hörte er sich an. Der kompakte Nebel verzerrte Stimme und Geräusche zu unmöglichen, irreführenden Tönen. Wir legten uns ein paar Stunden auf die Koje, wurden dann aber wieder wach, weil die Luft im Forecastle stickig und heiß war. Harry, Jonny, Pete Bird und El Pomado gingen wieder an Deck. Ich folgte ihnen kurz darauf, denn ich konnte ebenfalls nicht mehr schlafen. An Deck stieß ich mit jemanden zusammen und fluchte leise. Ich wußte nicht, wer es war, denn der andere gab keinen Ton von sich und löste sich vor meinen Augen buchstäblich in Nichts auf. Da war nur ein Schatten, der auseinanderfloß und mit dem Nebel verschmolz. „Verdammt lustig", rief Pete Bird mit total verzerrter Stimme, „da kann man prima raten, mit wem man zusammenstößt. Welcher Eierkopf hat mich denn eben gerammt?"
Lachen erklang, denn nun begann ein Spielchen auf der Kuhl, das direkt läppisch war und wieder einmal ausartete. Jeder pirschte sich an jeden heran, tastete nach ihm und gab ihm eine Ohrfeige. Dann zog er sich blitzschnell zurück, und irgendwo aus der dicken Suppe erklang ein hämisches Lachen. „Idiot!" brüllte Jonny, als es auch ihn erwischte. Ich hörte es gleich darauf noch einmal klatschen. Jonny hatte mal kräftig hingelangt, und schon lag einer der Kerle der Länge nach im Dreck. Diesmal lachte Jonny laut und verzerrt. „Hört mal mit dem Quatsch auf", vernahm ich die Stimme von Jo Blyss, der zur Ankerwache eingeteilt war. „Ich glaube ..." Mister Finns Donnerstimme fuhr laut. dazwischen. „Wenn an Deck nicht bald Ruhe herrscht, lasse ich den Zuchtmeister antreten. Schluß jetzt mit dem Radau." Totenstille herrschte darauf, dann kam wieder Jos Stimme. „Das Beiboot ist weg, Mister Finn. Die Leine ist vermutlich gebrochen, sie hängt noch am Poller." Wir vernahmen immer nur Stimmen, zu sehen war bestenfalls mal ein undeutlicher Schatten. Aber jetzt war Flanagan ebenfalls an Deck. Auch Pickens Stimme war zu hören. Sie tasteten sich alle zur Kuhl vor. Getrappel von Stiefeln war zu hören, undeutliche Worte. „Wie ist das möglich?" Das war die Stimme von Finn. Eine Lampe wurde entzündet, doch ihr Schein nutzte nichts. Er war nur ein verwaschener Fleck in dem Nebel. „Ich habe es mehr durch Zufall entdeckt", antwortete Blyss. „Mir fiel auf, daß das Geräusch an der Bordwand seit langem ausgeblieben war, und da griff ich nach der Leine und hielt. sie in der Hand." Wieder Schweigen. Pickens stieß eine Verwünschung aus. „Das Boot kann nicht einfach abtreiben", sagte er, „und die Leine nicht einfach brechen. Da hat sich jemand einen üblen Scherz erlaubt. Aber das geht entschieden zu weit." Ich hörte, wie er die Leine einholte und auf die Planken warf. Flanagan sagte nichts, Finn äußerte sich ebenfalls nicht weiter, doch in die Stille drang erneut Pickens Stimme, und sie klang diesmal sehr frostig: „Wo sind Boomer und Leach? Sie sollen sich augenblicklich melden." Es kam keine Antwort. Alles blieb still. „Boomer und Leach, melden! " brüllte Pickens. Als sich immer noch nichts rührte, befahl er, überall nachzusehen.
„Das Nachsehen können wir uns ersparen", meinte Jonny, „die beiden Kerle sind abgeflattert. Darauf wette ich alles, was ich habe." Es wurde trotzdem nachgesehen, erfolglos natürlich, wie ich auch schon dachte. Boomer und Leach waren verschwunden, und mit ihnen das Boot. Sie hatten ihre letzte Chance wahrgenommen und sich abgesetzt. Vielleicht waren sie sogar in der Brandung gekentert und ersoffen. Sie waren jedenfalls auch das letzte Risiko eingegangen. Diese Erkenntnis hatte Pickens schon von Anfang an gehabt, denn die Vermutung drängte sich ihm geradezu auf. Vielleicht war die Idee doch nicht so gut gewesen, die Kerle auf die Anlaufpunkte hingewiesen zu haben. „Natürlich", sagte Pickens, „die Halunken haben den Nebel und die Situation ausgenutzt und sich abgesetzt. Das war bei der Suppe ja auch ein Kinderspiel. Was ordnen Sie an, Sir?" fragte er den Master. Flanagan stand in meiner unmittelbaren Nähe. Er blieb kalt und gelassen. Die Mitteilung erschütterte ihn nicht. „Ich ordne gar nichts an", sagte er. „Wir warten ab, bis der Nebel sich lichtet. Das dürfte morgen früh vermutlich der Fall sein." Danach hörten wir nur seine Schritte, die sich nach achtern entfernten. Pickens wetterte und schimpfte zwar noch eine Weile, doch als Finn dann ebenfalls nach achtern ging, wurde auch er ruhig. „Die kriegen wir schon noch", meinte er, „und wenn wir die gesamten Inseln umdrehen." Am anderen Morgen hatte sich der Nebel stark gelichtet. Ein leichter Ostwind blies ihn auseinander, bis die Insel deutlich zu sehen war. Mit dem Spektiv wurde der Strand abgesucht, erfolglos natürlich, denn so dumm waren die Kerle nicht, daß sie in Sichtweite blieben. Das zweite Boot wurde abgefiert und zu Wasser gelassen. „Anordnung vom Master", sagte Pickens. „Bonty, Jonny und Harry werden unter meinem Kommando die Insel umsegeln. Wir haben den Auftrag, die Kerle wieder einzufangen. Der Stückmeister wird euch Waffen aushändigen. Wir treffen uns dann im Boot." Pickens klemmte sich ein Spektiv unter den Arm, rief uns zu, daß wir uns beeilen sollten, und enterte ab. Jim Corcoran händigte uns geladene Pistolen und zwei Musketen aus. Mehr war nicht nötig, denn die Kerle waren unbewaffnet. Dann gingen wir ebenfalls ins Boot und setzten das Segel. Pickens übernahm die Ruderpinne und setzte sich so, daß er sie unter der Achsel hatte, um ungehindert mit dem Spektiv alles absuchen zu können.
„Diesmal werden sie wohl kaum eine gute Ausrede haben", sagte er grimmig. Wir segelten dicht am Strand entlang, hielten immer wieder Ausschau und suchten alles ab. Nach einer knappen Dreiviertelstunde war die Insel gerundet, ohne daß wir das Boot entdeckt hatten. Vielleicht hatten sie es sogar versenkt, obwohl das unwahrscheinlich war. Pickens ließ zur nächsten Insel segeln, mehr einem Atoll, das vier Meilen entfernt war und kaum Verstecke bot. „Ich vermute sie dort", sagte er, „denn sie werden sicher annehmen, daß wir zuerst die Insel durchkämmen, vor der wir ankern. Sicher nehmen sie an, daß wir sie auf dem Atoll nicht vermuten." Das Atoll wurde gerundet, und noch vor der Mittagszeit wurden wir fündig. Pickens entdeckte das kleine Beiboot. Es war ein ganzes Stück auf den Strand gezogen worden und nur notdürftig getarnt. Mit bloßem Auge sah man es kaum, erst als wir näher heran waren. Sie hatten keine Zeit mehr gehabt, das Boot zu verstecken, es war auch zu schwer, um es ins Innere der kleinen Insel zu bringen. Wir segelten bis an den Strand, und sprangen dann hinaus. Harry blieb an Bord zurück, um unliebsamen Überraschungen vorzubeugen. In den Händen hielt er eine geladene Muskete. „Dort hinüber", sagte Pickens und deutete auf ein paar Kliffs und Felsen, die aus dem Wasser ragten und sich an Land fortsetzten. Die Felsen waren nicht hoch, aber sie boten das einzige Versteck auf dem Atoll, bis auf ein paar Palmen, die von Büschen umgeben waren. Seltsamerweise entdeckten wir die Kerle auch hier nicht. Sie waren wie vom Erdboden verschwunden. Pickens räusperte sich ratlos. „Bleibt nur noch der Palmenhain", murmelte er verunsichert. Als wir dort mit schußbereiten Waffen vordrangen und die Büsche durchfilzten, wurden unsere Gesichter noch länger. Auch hier hatten sich die Kerle nicht verborgen. Jonny lachte plötzlich stoßartig auf. „Auf dem Atoll gibt es Affen", sagte er, „da oben hängt einer." Mit dem Pistolenlauf deutete er in den Wipfel einer Kokospalme. Boomer war in den Wedeln schlecht zu sehen. Aber er hing dort oben in luftiger Höhe wie ein Klammeraffe, Arme und Beine um den dünnen Stamm der Palme geklammert. Leach hatte sich ein paar Yards weiter ebenfalls in luftiger Höhe verborgen und sah hinunter, als wir ihn entdeckt hatten. „Abentern", befahl Pickens kalt. „Ganz schnell abentern und dann zum Boot."
Pistolen waren auf die beiden gerichtet. Sie gehorchten auch sofort, denn sie hatten keine Chance. Ungeschickt enterten sie ab, standen dann auf dem Boden und hoben die Hände über die Köpfe. In ihren Gesichtern stand alle Enttäuschung dieser Welt. Aber in Leachs Augen funkelte auch kalter Haß. „Zum Boot jetzt, aber schnell", rief Pickens. Sie beeilten sich höllisch und rannten zum Strand. Pickens befahl ihnen, die Palmenblätter und Buschreste zu entfernen, um das Boot ins Wasser zu schieben. China-Harry stand mit der Muskete grinsend daneben und paßte ebenfalls scharf auf. Das kleine Boot wurde mit dem großen vertäut. „Ihr setzt euch jetzt hinein", befahl Pickens, „und werdet aus Leibeskräften pullen. Falls ihr versuchen solltet, unterwegs auszusteigen, lasse ich auf euch schießen. Ab jetzt, ihr Strolche." Die beiden sagten kein Wort. Bleich und zitternd folgten sie den Anweisungen des Zweiten und nahmen im Boot Platz. Auch wir stiegen wieder ein und setzten das Segel. Jonny und ich setzten uns so auf die Ducht, daß wir die pullenden Kerle genau vor den Läufen der Musketen hatten. Sie konnten überhaupt nichts unternehmen. Dann begann die Rückfahrt zur anderen Insel und damit zum Schiff, das wir kurz nach Mittag erreichten. Leach und Boomer waren in Schweiß gebadet vorn harten Pullen. Dann mußten sie aufentern, wir folgten und wurden von einem Kreis schweigender Männer umstellt, die Boomer und Leach feindselig aus schmalen Augen musterten. Flanagan stand mit eisiger Miene an Deck. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt und ließ sich von Pickens Bericht erstatten. „Jetzt warte ich auf Ihre Erklärung", sagte er kühl. „Ich hoffe, Sie haben eine glaubhafte bereit." „Es ist mir furchtbar peinlich, Sir", sagte Leach, „und es mag sich seltsam anhören. Aber wir sind hier nicht gut angesehen, das weiß ich, und so wollten wir wenigstens etwas von dem wiedergutmachen, was wir angerichtet haben. Wir sind an Land gepullt, um den anderen die Arbeit zu erleichtern und nach 'Trinkwasser zu suchen, Sir. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen, Sir." Das war eine unverschämte Unverfrorenheit, eine Beleidigung sondergleichen. Im ersten Augenblick glaubte ich, der Master würde selbst zuschlagen, doch er rührte sich nicht.
Pickens schien sich über diese faule Ausrede wieder einmal köstlich zu amüsieren. Aber sein Grinsen wurde nur eine Grimasse, als er Flanagan ansah. Der blickte jetzt so kalt wie Gletschereis, und in seinem Gesicht stand ein Zug von grenzenloser Verachtung. „Bitte, glauben Sie uns, Sir", sagte Leach heiser vor Aufregung. „Es ist die reine Wahrheit." In Boomers Gesicht zuckte es. Der ganze Koloß war in Bewegung und flatterte am ganzen Körper. Seine Hände zitterten, seine Augen rollten, und er trat von einem Bein auf das andere. Natürlich merkten sie, daß der Master ihnen kein Wort von dieser haarsträubenden Geschichte glaubte. Es war auch eine der unwahrscheinlichsten Lügen, die wir je gehört hatten. In diesem Augenblick sahen sie wohl endgültig und für alle Zeiten ihre Felle davonschwimmen, und in genau diesem Moment rastete bei dem Fleischklopfer Boomer etwas aus. Er reagierte wie ein Tier, das man in die Enge getrieben hatte. Er stieß einen unheimlich lauten, klagenden Schrei aus, so laut und gewaltig, daß alle vor Schreck zusammenzuckten. Das war der Schrei eines tödlich verwundeten Gorillas, der jetzt angriff. Jede Reaktion der anderen kam zu spät. Boomer lief Amok. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. In seiner riesigen Pranke tauchte ein Entermesser auf, Sails Messer, das auf geheimnisvolle Art verschwunden war, wie sich später herausstellte. Mit diesem Messer säbelte er los, als hätte er eine Sense in seinen mächtigen Pranken. Er schrie immer noch laut und gellend, drehte sich wie rasend im Kreis und stach blindlings nach allen Seiten um sich, und zwar mit. einer solch mörderischen Kraft, daß die Männer nach allen Seiten auf die Planken fielen. An Bord war der Teufel los. Einem rasenden Irren gleich stach Boomer nach allen Seiten mit dem Messer zu. Er überrannte die Männer, Schaum vor dem Mund, die Augen verdreht und blutunterlaufen, krachte gegen den Mast und hieb weiter um sich. Einer aus unserer Mannschaft streckte sich schreiend auf den Planken aus. Seine Hände umkrampften seine Brust. Ein anderer brach unter dem mörderischen Anprall zusammen. Boomer rannte nicht davon. Er griff an wie ein Stier. Wo er einen Mann stehen sah, da warf er sich auf ihn, stach mit dem Messer, trat um sich, geiferte und spuckte. Dem rasenden Koloß konnte man kaum
ausweichen. Hinter jedem, der auch nur einen Schritt tat, rannte er her, brüllend tobend und schreiend, daß die Planken zitterten. Manche waren wie gelähmt vor Entsetzen, sie konnten keinen klaren Gedanken fassen und versuchten nur in verzweifelten grotesken Sprüngen ihr Leben vor dem rasenden Monster zu retten. Zwei weitere Männer wurden niedergemäht. Boomer rannte Harry mit wilden Schreien nach, hieb mit dem Messer nach ihm. Harry konnte sich im letzten Augenblick unter die Nagelbank retten. Dort fuhr der fürchterliche Gigant zähnefletschend herum. Es war kein Mensch mehr, der da mordete und stach, das war ein Urvieh, ein verrückt gewordener Irrer, ein grausames Monstrum mit den zuckenden Reflexen eines Urmenschen, der um sein Leben kämpfte. Wir hatten wirklich harte, große und starke Kerle an Bord, wie Zebulon oder Bunk, oder den Profos. Aber der bärenstarke McCoy wurde von dem Zusammenprall mit Boomer ins Want gedrückt und konnte sich kaum zur Wehr setzen. Indessen, während Boomer noch immer kreischend über die Decks tobte und nach weiteren Opfern Ausschau hielt, versuchte Leach über Bord zu springen. Er war ganz weiß im Gesicht, er fürchtete wohl selbst seinen rasenden Kumpan, der garantiert auch ihn umgebracht hätte. Als er Anstalten traf, um auf das Schanzkleid zu klettern, reagierte Pickens unglaublich hart. Seine Faust griff zu, riß Leach herunter und stieß ihn auf die Planken. Dann folgte ein so harter Schlag, daß es Leach fast den Kopf von den Schultern riß. Er stürzte schwer und blieb reglos liegen, als sei sein Genick gebrochen. Boomer raste weiter. Unter seinem Ansturm ging das schwere Kombüsenschott in Trümmer, fiel ein weiterer Mann brüllend auf die Planken, gingen zwei. Handspaken zu Bruch. Wir hatten zwar noch die geladenen Pistolen, aber es war nicht im Traum daran zu denken, sie einzusetzen. Das Chaos an Deck war unbeschreiblich. Zudem änderte sich alle Augenblicke die gesamte Szenerie wie in einem Tollhaus voller Wahnsinniger. Zebulon Prescott versuchte, den Riesen gezielt anzugreifen. Er griff sich einen Belegnagel, nahm ihn in die Faust und erregte dadurch auch prompt Boomers wilde Aufmerksamkeit. Dann ging er brüllend auf den Bibelmann los, der ihm blitzschnell den Belegnagel auf den riesigen Schädel donnerte. Es krachte laut, aber das war auch das einzige. Der harte Schlag ließ Boomers Kopfschwarte aufplatzen und das Blut hervorschießen. In einer breiten Bahn floß es ihm übers Gesicht.
Das war der Auftakt zu einem weiteren Höllentanz, denn als Boomer jetzt das Blut übers Gesicht strömte, wurde er noch wilder. Ich habe nie wieder einen solchen Wilden gesehen wie ihn. Keine zehn Männer waren in der Lage, ihn zu bändigen oder gar zu überwältigen. Er entwickelte in seinem Wahnsinnsanfall unvorstellbare Kräfte, denen nichts standhielt. In den Augen der harten Kerle stand Furcht vor diesem Ungetüm. Ich selbst flatterte auch ganz schön, selbst Jonny war blaß. Flanagan zielte verzweifelt mit einer Pistole auf ihn, doch er kam nicht zum Schuß, ohne die eigenen Leute zu gefährden. Alles brüllte, tobte, rannte fluchend hin und her. Zebulon und Bunk rissen große Handspaken aus den Halterungen und setzten sich etwas ab, um die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu ziehen. Jonny, Pete und ich rannten zum Bratspill, schnappten ebenfalls Handspaken und bildeten eine Phalanx von Verteidigern. „Haltet die Spaken fest", sagte Jeremias Bunk, „wenn er jetzt angreift, dreschen wir sie ihm von allen Seiten auf den Schädel, und wenn er tot zusammenbricht." Mir war verdammt mulmig zumute, das ließ sich nicht abstreiten, aber ich wollte nicht von dem Fleischklopfer abgestochen werden und mein Leben so teuer wie möglich verkaufen. „Boomer, du Drecksack!” brüllte Zebulon laut. Der blutüberströmte Riese blieb stehen, wirbelte dann herum, sah nur noch rot, und stürzte sich wutschnaubend auf uns. Er rannte in eine Gasse, denn wir sprangen blitzschnell zurück und ließen ihn leer laufen. Er war aber noch nicht richtig an uns vorbei, als .Jeremias ausholte und ihm die schwere Spake an den Schädel drosch. Der Schlag riß Boomer fast das Ohr weg. Er taumelte, rannte mit dem Messer in der Faust weiter und stach nach Jonny. Da donnerte ihm Zebulons Handspake so hart ins Kreuz, daß er ins Straucheln geriet. Rasend vor Wut fuhr er herum, ein blutüberströmtes Monstrum, das gellend schrie. Ich nutzte die Gunst des Augenblicks, sprang seitlich an ihm vorbei und warf ihm die Handspake zwischen die Säulenbeine. Sofort ging ich in Deckung. Der tobsüchtige Kerl verhedderte sich, stolperte über die Spake, verhakte sich noch einmal, verlor sein Messer und suchte brüllend nach Halt. Zebulon drosch wie der Erzengel Gabriel zu. Jonny und die Katze führten die nächsten Schläge. Einer krachte dem taumelnden Riesen
auf die rechte Schulter, der andere Hieb erwischte wieder seinen Schädel. Boomer krachte mit einer solchen Gewalt auf die Planken, daß die Kuhl von vorn bis achtern erbebte, als sei eine Rah herabgedonnert. Wir warfen uns mit sechs oder sieben Mann auf das wild zuckende Ungeheuer und droschen weiter auf ihn ein, bis er endlich still dalag und sich nicht mehr rührte. Jetzt hatten wir ihn wohl endgültig erschlagen, dachte ich wie betäubt, allerdings, ohne Mitleid zu empfinden. Es war wie das Erwachen aus einem Alptraum, der nur aus Schrecken und Furcht bestand. Fast ungläubig kamen die Männer näher heran. Leach lag ebenfalls reglos auf den Planken. Wir schnauften schwer und erregt. „Schließt ihn in Ketten und Eisen", sagte Flanagan krächzend, „sonst steht er gleich wieder auf." Ich sah ungläubig, daß der Kerl sich schon wieder rührte, wenn er auch noch nicht zu sich kam. Er wurde sofort schwer gefesselt und an den Mast gebunden. Mit Leach wurde ebenso verfahren, obwohl der immer noch bewußtlos war. Erst jetzt konnten wir uns um die eigenen Männer kümmern, von denen einige wie hingemäht auf den Planken lagen. Das Fazit dieses Amoklaufes ließ uns erschauern. Ein Mann war tot, sieben etwas schwerer verletzt, vier andere hatten Fleischwunden durch Messerstiche davongetragen. Die vielen Beulen und Blessuren waren dabei nicht mitgerechnet worden. Selbst Finn hatte ein blaues Auge, während die Uniform des Masters an der Schulter zerfetzt war. Auf den Planken waren überall Blutflecken zu sehen. Es sah aus, als hätte hier ein Enterkampf stattgefunden. Der Tote stammte aus Gravesend und hieß Plinky. Er war ein kleiner schmächtiger und stiller Mann, dessen linkes Auge stets zuckte, wenn er sprach. Jetzt lag er tot auf den Planken, die offenen Augen zum Himmel gerichtet, den er nicht mehr sah. Wir wußten, daß er in Gravesend Frau und zwei Kinder hatte, und das machte alles noch schlimmer. Er hatte Copper um Copper gespart, er ging nie in Kneipen und hielt sich stets zurück. Und jetzt kam so ein Schwein wie Boomer und brachte ihn um. „Ich hoffe, daß der Master ihn jetzt an die Rah hängt", sagte Zebulon, „Auge um Auge, Zahn um Zahn, so steht es geschrieben. Er hat einen oder mehrere umgebracht, also soll ihm das gleiche widerfahren."
„Diesmal wird er es ganz sicher tun, Zebulon. Jetzt ist sein Maß endgültig voll.” Alle nahmen an, daß Boomer hängen würde, viel leicht auch Leach, doch darin sahen wir uns getäuscht, als Pickens verlangte, die Kerle jetzt vor ein Bordgericht zu stellen. Flanagan sah wieder unnahbar und kühl aus. Mit der rechten Hand machte er eine abwehrende Bewegung. „Ich habe nicht vor, die Rahen meines Schiffes mit diesem Lumpenpack zu verunzieren", erklärte er. „Außerdem habe ich den Befehl der Company zu respektieren, deshalb laufen wir ja auch die Maskarenen an. Die Kerle werden dort abgeliefert und verurteilt, falls sie nicht schon längst verurteilt sind. Sollte das wider Erwarten jedoch nicht zutreffen, werden alle beide nach Beschluß des Bordgerichtes gehängt, und zwar an Land, auf einer der kleinen Inseln. Eine weitere Bestrafung halte ich ebenfalls für sinnlos. Es würde nichts an den Geschehnissen ändern." „Aber die Company ..." wandte Pickens ein, „hat doch ..." „Ich handle auf Befehl dieser Company, Mister Pickens. Sie wird ihre guten Gründe haben. Denn natürlich habe ich gemeldet, daß wir vor den Maskarenen drei angeblich Schiffbrüchige übernommen haben." „Das wußte ich nicht." „Dann sind Sie jetzt darüber informiert. Schicken Sie einen Trupp an Land, der das Trinkwasser mannt. Die Halunken werden nachher in die Vorpiek geschlossen und bewacht. Schwere Eisen, schwere Ketten. Bewachung der Pick Tag und Nacht. Der Feldscher soll sich …“ Der Feldscher war schon längst zur Stelle und versorgte die Verletzten. Ein paar mußten in den Krankenraum gebracht werden. Sie hatten empfindliche Wunden davongetragen. Das bedeutete wiederum den Ausfall von etlichen Männern für einige Tage. Ivo Montesano ließ die schwerer Verletzten abtransportieren. Die anderen würden später behandelt werden. Inzwischen ging ein Trupp Männer an Land, um Trinkwasser aus einer nahen Quelle zu holen. Der Erste begleitete den Trupp. Sein Auge war inzwischen fast zugeschwollen und lief dunkelblau und braun an. Dann wurde das Deck gesäubert und Sails Messer gefunden. Wo Boomer es versteckt hatte, fanden wir nie heraus, und er selbst sagte kein Wort dazu. Auf dem Schiff gab es allerdings genügend Verstecke für ein Entermesser. Wahrscheinlich war es doch irgendwo im
Batteriedeck verborgen gewesen, vielleicht sogar in einem Kanonenrohr. Der tote Plinky wurde eingenäht. Später sollte er der See übergeben werden, wenn wir weiter draußen in tiefem Wasser waren. Boomer und Leach wurden mit kaltem Seewasser übergossen. Dabei kam Boomer wieder zu sich. Er sah zum Fürchten aus. Das Ohr, wo ihn die Spake getroffen hatte, war so dick wie eine Faust angeschwollen. Seine Klüsen waren fast zugehauen, die Lippen aufgeplatzt, und sein Schädel ein blutverkrusteter Klumpen. „Ihr Schweine", ächzte er mühsam, „ihr verdammten Hunde. Bindet mich los, ich bleibe hier." „Wir haben einen viel besseren Platz für dich", sagte Pickens, „nämlich die Bucht der Galgenstricke. Dort wird man sehr erfreut sein, euch begrüßen zu können. Und diese Begrüßung endet am Galgen, das verspreche ich euch heute schon." Wir banden Boomer los. Der Zimmermann schlang ihm eine Eisenkette um den Hals, die er als Knebel benutzen konnte. Wenn er einmal daran drehte, blieb dem Riesen sofort die Luft weg. Seine Füße wurden ebenfalls gefesselt. Die Hände banden wir ihm auf den Rücken. Er konnte sich kaum noch bewegen. Von vier Männern wurde er in die finstere Vorpiek gebracht und dort vom Schiffszimmermann in Eisen geschlossen. So würde er lange Zeit verbringen müssen, bei halben Rationen und nur soviel Wasser, daß er nicht verdurstete. Dann war Leach an der Reihe. Er war wieder bei Bewußtsein und sah uns mit seinen stechenden Blicken haßvoll an. Er kannte die Piek bereits, denn er war hier schon einmal in Eisen geschlossen worden. Auch er wurde unter schärfsten Sicherheitsmaßnahmen angekettet und in Eisen gelegt. Er sagte kein Wort mehr, er wußte wohl, daß er jetzt endgültig ausgespielt hatte. Inzwischen hatte der Segelmacher den Toten eingenäht, der jetzt auf der Gräting lag. Wir alle empfanden Mitleid mit dem armen Kerl, der sein Leben so schnell verloren hatte. Der Haß auf Boomer und Leach saß den Männern in der Kehle, wenn sie das stumme Paket betrachteten, und die meisten hätten es begrüßt, wenn die Kerle jetzt an den Rahen baumelten. Noch am Abend desselben Tages verließen wir die Chagos-Insel. Frisches Trinkwasser befand sich an Bord. Die Männer hatten auch Kokosnüsse mitgebracht.
Als die beiden Boote wieder an Deck verzurrt waren, wurde die Reise fortgesetzt. Weit draußen auf See, drehte die „King Charles" dann noch einmal in den Wind, und das letzte Kapitel für Plinky begann. Es war die übliche Zeremonie der Seebestattung, und es gab die üblichen bedrückten Gesichter, als der Bibelmann Zebulon Prescott aus dem alten Testament vorlas. Wieder war einer von uns gegangen, ein stiller unauffälliger Mann, der drei Hinterbliebene zurückließ. Ich hoffte nur, daß die Company sich um Frau und Kinder finanziell kümmern würde, damit sie keine Not litten. Unter der Mannschaft wurde auch gesammelt, doch bei der mageren Heuer kamen nur bescheidene Beträge zusammen. Die letzten Worte wehten über das Deck: „Möge Gott seiner Seele gnädig sein. Amen." „Amen, so soll es geschehen", sagten wir. Der Lukendeckel wurde angehoben. Der Tote sauste, mit den Füßen voran und einer Eisenkugel beschwert, seinem feuchten Grab entgegen. Ein letztes Aufklatschen. Die schwere Kugel zog ihn augenblicklich in die Tiefe. Plinky verschwand – für immer und ewig. Bedrückt setzten wir unsere Reise fort. * Mascarene Islands! Länger als zwei Wochen hatten wir trotz günstiger Winde gebraucht, ehe die Maskarenen auftauchten. Am Backbord voraus lag Mauritius. Im Jahre 1507 hatten portugiesische Seefahrer ihr den Namen Schwamm-Insel gegeben, vermutlich wegen dem schwanenähnlichen Dodo-Vogel, der die Insel in großen Kolonien bevölkerte. Einundneunzig Jahre später landeten die Schiffe der NiederländischOstindischen Handels-Kompanie auf der Schwanen-Insel. Zu Ehren des regierenden niederländischen Statthalters Moritz von Nassau nannten sie die Insel dann Mauritius und nahmen sie in Besitz. Auch heute noch war das ihr Stützpunkt auf dem Weg zu ihren indonesischen Kolonialgebieten. Nördlich von Mauritius gab es drei oder vier kleinere Inseln. Eine davon hatte die englische Krone in Besitz genommen. Dieses kleine Eiland diente uns als Stützpunkt über den Indischen Ozean. Die Holländer akzeptierten das und ließen uns in Ruhe, denn die Insel gab nicht viel
her und hatte keinen Waldbestand. Eine weitere kleine Insel diente als Sträflingslager. Man nannte sie Hopeless, was soviel wie hoffnungslos oder verzweifelt bedeutete. Handelsfahrer luden hier Meuterer, Aufrührer und rebellische Kerle ab, um gefahrloser den afrikanischen Kontinent umsegeln zu können. Das war risikoloser als die Kerle in Eisen zu legen und monatelang mitzuschleppen. Auch die Holländer machten gern von dieser Möglichkeit Gebrauch und hatten sich uns angeschlossen. Hin und wieder brachten sie ein paar Sträflinge, Mörder oder Galgenstricke nach Hopeless, von wo sie nach Europa transportiert wurden. Der Name „Bucht der Galgenstricke" hatte schon seinen Grund. Wir ließen Mauritius an Backbord liegen und segelten auf die nördlichste Insel zu. Hier waren ein paar Plantagen angelegt worden, hier gab es auch Trinkwasser und man konnte sich verproviantieren, allerdings nicht gleich für eine ganze Reise. Wer hier einmal als Sträfling saß, der kam so schnell nicht wieder weg, bis auf ganz wenige Ausnahmen. Zu den Holländern konnten die Gefangenen nicht, die hätten sie sofort wieder zurückgebracht. Auf den anderen kleinen Eilanden konnten sie sich nicht ernähren, denn dort gab es nicht einmal Trinkwasser. Das Gebiet um die Inseln war haiverseucht und voller Korallen, in denen giftige Muränen hausten. Wir steuerten eine große ausladende Bucht an. Am Strand sah ich Männer zusammenlaufen. In der Bucht ankerte ein Schiff der Company, das wir nicht kannten. Es war kleiner als die „King Charles" und trug den grünen Wimpel der Company am Flaggenstock. Wir wußten auch nicht, oh es von Indien kam, vielleicht aus dem Surat, oder dorthin wollte. Aber das würden wir alles noch erfahren. Zum erstenmal sah ich jetzt die Bucht der Galgenstricke. Sie sah aus wie viele andere Buchten auch, mit langem weißen Strand, Palmen, Büschen und Dickicht. Ungewöhnlich war nur der Anblick einer riesigen Palme, deren Stamm fast waagrecht wuchs, während ihr gewaltiger Wipfel wieder zum Himmel strebte. Noch ungewöhnlicher war der Strick an der Palme, der im Wind hin und her pendelte. Es war ein Henkersstrick, daran bestand kein Zweifel. An dieser Palme hatten schon einige Kerle ihr liederliches Leben ausgehaucht. Am Strand lag ein Boot, das offenbar das Beiboot der Galeone war. Ein weiteres winziges Boot lag hochgezogen auf dem Strand. Es war mit Ketten umwickelt und offenbar mit einem Schloß gesichert. Es war nur eine Nußschale, die höchstens zwei Männern Platz bot.
Weiter zum Landesinnern hin gab es eine langgestreckte Baracke. Dicht in ihrer Nähe standen drei Hütten aus Holz, deren Dächer mit Palmenblättern gedeckt waren. Die Segel wurden aufgetucht. Dann rauschte der Anker aus und faßte Grund. Am Strand standen immer noch die Männer und starrten zu uns herüber. Mister Finn besprach sich mit Flanagan, der ein paarmal nickte. „Bringt die Gefangenen an Deck und bindet sie an den Mast!" befahl der Erste. Sein blaues Auge war genau so verschwunden wie die Blessuren bei den anderen Männern. Auch die Schwerverletzten hatten sich wieder erholt. Boomer und Leach wurden aus der Vorpiek geholt und stolperten über das Deck. Beiden waren in der Pick kräftige Bärte gewachsen. Sie konnten kaum gehen und mußten gestützt werden. Beide hielten wegen der gleißenden Sonnenstrahlen ihre Augen krampfhaft geschlossen. Sie konnten ihre Umgebung nicht erkennen und waren nach der langen Dunkelhaft vorübergehend blind. Aber das würde sich schnell geben. „Ihr befindet euch in der Bucht der Galgenstricke auf Hopeless", sagte Pickens hart. „Ich gehe sicher richtig in der Annahme, daß ihr euch hier gut auskennt." Sie gaben keine Antwort, hielten immer noch die Augen geschlossen und schwiegen sich aus. Ich sah aber, daß beide bei der Erwähnung des Namens zusammenfuhren. „Setzt das kleine Boot aus", sagte Pickens. „Der Master möchte an Land gebracht werden." Das Boot war noch nicht richtig abgefiert, als am Strand zwei wuchtig gebaute Männer erschienen, in das Boot kletterten und zu uns herüberpullten. Bei uns wurde die Jakobsleiter angebracht. „Offenbar ist einer der beiden der Insel-Kommandant", sagte der Master. „Er sieht jedenfalls ganz danach aus." Der eine schwarzhaarig, mit einem breiten Kreuz wie ein Großrah, sah eher nach einem Sträfling aus. Ich sah sein Gesicht in dem Augenblick, als das Boot bei uns anlegte. Es war ein hartes Gesicht mit hellen Augen, von der Sonne faltig verbrannt und an etlichen Stellen durch kleine Narben verunziert. Die Lippen waren schmal und hart. Im Gesicht standen schwärzliche Bartstoppeln mit einem Blauschimmer. Von dem Mann ging etwas Gefährliches aus, das sah ich auf den ersten Blick.
Sein Begleiter war gedrungen, mit rötlichen Haaren, die seinen Schädel als Kranz umgaben. Seine Nase war schief, das Gesicht voller Sommersprossen, die Lippen verkniffen. Auch mit dem war nicht gut Kirschen essen, das spürte ich sofort. Der Schwarzhaarige sah zu uns herauf und fragte mit tiefer Stimme: „Gestattet, an Bord zu kommen, Sir?” „Gestattet", sagte Flanagan knapp. Eine auffordernde Handbewegung folgte seinem Wort. Die beiden Männer vertäuten das Boot und enterten auf. Sie trugen luftiges Leinenzeug, Hemd und Hose. Schuhe hatten sie keine an. Jeder hatte eine Pistole im Hosenbund stecken. „Peachy Caine, Sir", sagte der Schwarzhaarige formlos. „Ich habe das Kommando über die Insel und die dreißig Halunken. Lieutenant im Dienst der englischen Krone. Strafversetzt wegen Mißhandlung von Untergebenen im Dienst der königlichen Flotte." Flanagan zuckte unmerklich zusammen. Der Mann war ja auf eine geradezu unmögliche Art offen und ehrlich, dachte ich. „Das ist John David", sagte er auf den Rothaarigen deutend. „Er war Polizei-Sergeant und kam freiwillig hierher." Flanagan stellte sich und die Offiziere vor, wie das üblich war. Ich sah, daß Caine neugierig zum Mast blickte, die Gefesselten aber nicht. erkennen konnte, weil sie mit dem Rücken zu ihm standen. In knappen Worten erklärte der Master, daß er auf Befehl der Company die Insel angelaufen habe. Caine hörte mit hartem Gesicht schweigend zu. John David nickte hin und wieder. Jonny sah mich an und hob fragend die Augenbrauen hoch. Er hatte sich einen Leutnant der englischen Krone wohl ganz anders vorgestellt, in Uniform wahrscheinlich, etwas eingebildet und blasiert. Aber hier galten ganz andere Gesetze. Hier war man fern von England, und Bürokratie war hier ein unbekannter Begriff, der keinerlei Gültigkeit hatte. Es ging auch alles unglaublich formlos zu. „Wir sind nur drei Leute hier", sagte Caine. „David, Stevenson und ich. Früher waren wir einmal sieben." „Und Sie bewachen dreißig Sträflinge?” fragte der Master verwundert. „Wie ich sehe, laufen die Kerle alle frei herum." „Wir haben Exekutivgewalt", erklärte Caine. „Es steht uns frei, ob wir die Kerle hängen, erschießen oder ins Meer werfen." „Oder sie nach England schicken", warf David ein. „Hängen wir sie hier, ersparen wir der Krone Kosten."
Flanagan räusperte sich. Anscheinend war er verwundert über diese Art der Justiz. „Hier sind nur mehrfache Mörder, Abschaum der Menschheit, die übelsten Galgenstricke, die es gibt", sagte Caine. „Von denen, die wir nach England geschickt. haben, ist noch jeder am Galgen geendet. Nie hat einer lebenslänglich gekriegt. Wir drei genügen völlig. Die Kerle wagen es nicht, gegen uns vorzugehen, denn sie haben keine Chance, selbst wenn sie uns umbringen. Wo wollen sie auch hin? In der Nähe wachen die Niederländer und passen auf. Sie kommen alle vier Tage einmal vorbei, und sollten sie einen von uns nicht mehr sehen, dann wird hier aufgeräumt. Bisher gelang nur ein einziger Ausbruch von dieser Insel, und daran war der Kapitän einer Handelsgaleone schuld, weil er leichtsinnigerweise sein Beiboot unbewacht nachts am Strand liegen ließ, ohne daß wir es merkten." „Ich habe Ihnen etwas mitgebracht", sagte Flanagan. „Wenn Sie sich bitte zur Backbordseite des Schiffes bemühen würden." Wir gingen zur anderen Seite hinüber, wo Leach und Boomer in ihren Ketten hingen. Als Caine und David die beiden sahen, leuchtete ein merkwürdiges Licht in ihren Augen auf. „Nun sieh dir das an, John", sagte Caine überrascht. „Es geschehen doch noch Zeichen und Wunder. Der liebe Mister Leach, und der noch liebenswertere Mister Boomer. Das darf doch wohl nicht wahr sein.” Caine sah den Master fassungslos an. Der Rothaarige begann auf eine gefährliche Art zu grinsen, die nichts Gutes verhieß. Er sah so aus, als hätte er noch höchstpersönlich ein Hühnchen mit den Kerlen zu rupfen. „Da fehlt noch einer im Bunde", sagte Caine. „Jack Gordon, ein gefährliches Galgenschwein." „Den hatten wir auch an Bord", sagte der Master. „Er fuhr bis nach Japan mit. Dort vergewaltigte er ein Mädchen und wurde von den Kriegern öffentlich geköpft." „Das war sehr freundlich von den Kriegern", meinte Caine hart, „aber doch bedauerlich, daß er mir nicht in die Hände gefallen ist. Na, um den brauchen wir uns nicht mehr zu sorgen." „Also stimmt das, was ich von Anfang an vermutet habe", sagte Pickens zufrieden. „Meine Theorie ist voll und ganz aufgegangen. Wir haben die Kerle nämlich aus dem Meer gefischt. Sie verbrannten ihr Boot, gaben sich als Schiffbrüchige aus und zwangen uns dadurch, sie an Bord zu nehmen."
„Das war sicher im März dieses Jahres", vermutete Caine, „denn da sind die Halunken geflüchtet." „Genau im März", bestätigte der Master. Caine musterte die Gefangenen wieder. Boomer stieß er den Zeigefinger vor die Brust. „Auf dich freue ich mich ganz besonders", sagte er, „du wirst hier nicht sehr alt werden, mein Freund, das verspreche ich dir. Du bist schon ein paar Mal der Palme dort drüben entgangen." Boomer war aschfahl. Leach schloß wieder die Augen. Die beiden Halunken waren am Ende ihrer letzten Reise angelangt, denn der Kommandant dieser Insel fackelte nicht lange. „Was haben Sie mit den beiden vor?” wollte Flanagan wissen. „Oder was haben sie überhaupt ausgefressen?" Caines Gesicht wurde noch härter und kantiger, als er mit dem Finger auf Boomer wies. „Der da hat bei seinem Ausbruch und der Flucht sieben Männer ermordet. Jack Gordon brachte zwei Männer um. Leach kann ich keinen Mord direkt nachweisen, aber er war wohl der Rädelsführer, und ich weiß genau, daß er auch ein paar Männer auf dem Gewissen hat." Wir hörten fassungslos zu. Das waren nicht nur Halunken. das waren Mörder übelster Sorte. „Ich sagte vorhin, daß wir einmal sieben Leute auf der Insel waren", begann Caine wieder. „Vier wurden von Boomer und Gordon ermordet. Fünf weitere Leute gehörten zur Schiffsbesatzung. Sie wollten den Ausbruch verhindern und wurden grausam niedergemetzelt. Das sind neun Tote, Sir, unschuldige Männer, die nur ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit taten. Boomer hat aber noch mehr ermordet, sonst hätte man ihn damals nicht auf die Insel gebracht." „Vor zwei Wochen hat er auf meinem Schiff ebenfalls nach einem Fluchtversuch einen Mann erstochen und etliche andere schwer verletzt", sagte der Master. „Werden Sie noch einmal Gericht über die Kerle halten, Mister Caine?" „Nein, das ist unnötig. Gerichtsverhandlungen sind hier nur in Ausnahmefällen üblich, und es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder den Strang oder Abschiebung nach England. Das kommt auf dasselbe heraus. Außerdem sind die Kerle längst verurteilt." „Für Boomer ist hier in jedem Fall Endstation", erklärte der Rothaarige lässig. „Wenn Peachy damit einverstanden ist, werden wir ihn morgen mittag mit des Seilers Tochter verheiraten."
„Morgen mittag um zwölf", entschied Caine. „Die Sache mit Leach lasse ich mir noch einmal durch den Kopf gehen." Die beiden hörten jedes Wort. Boomer hatte jetzt Angst, das sah ich deutlich an seinem wilden verzweifelten Blick. Leach hatte anscheinend wieder Oberwasser, weil Caine sich das noch einmal überlegen wollte. Seine Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen. „Es gibt nichts zu grinsen, Leach", sagte Caine kalt. „Du wirst deinen Kumpan sicher nicht lange überleben." „Ich habe keinen umgebracht", behauptete Boomer laut, „ich hin auch kein Mörder. Ihr wollt mich nur umbringen." „Natürlich wollen wir das", sagte Caine hart auflachend. „Wir hängen die Kerle nur so zum Spaß, was! Aus Langeweile", fügte er höhnisch hinzu. „Und daß du keinen umgebracht hast, wissen wir alle. Sie wollen dir nur etwas anhängen, weil du so ein armer Junge bist." Caine wandte sich wieder an den Master. „Ich kann es nicht verantworten, den Kerl nach England zu schicken, Sir. Er ist der gefährlichste Halunke, den wir je hier hatten. Sie werden das verstehen." „Natürlich, Mister Caine. Das haben Sie selbst zu entscheiden. Ich übergebe Ihnen hiermit die beiden Gefangenen ganz formell. Die Company befahl mir, sie hier abzuliefern. Offenbar waren sie dort bekannt. Ich erfuhr leider nicht den Grund, aber das ist jetzt auch nicht mehr wichtig. Ich will die Kerle endlich loswerden." Leach wurde wieder frech und rief dazwischen: „Mich kannst du nicht hängen lassen, Peachy. Ich habe niemanden ermordet, und ihr könnt mir auch nichts anhängen oder nachweisen." „Ich kann dir Anstiftertum und Rädelsführer nachweisen", sagte Caine, „schon das genügt, zu deiner Information." Von da an schwieg Leach. Er kannte wohl ganz genau die robuste Art des Kommandanten, der hier Herr über Leben und Tod war. „Sie sind dann damit aus der Verantwortung entlassen, Sir. Ich übernehme die beiden Kerle." „Vielen Dank." Caine sah einmal zum Strand hinüber, dann wandte er sich wieder an den Master. Seine Hand deutete auf die Kerle am Ufer, die immer noch herumstanden, jetzt aber von einem anderen hochgepurrt wurden, der sie mit groben Worten auseinander trieb. „Segeln Sie direkt nach London, Sir?" „Ja, auf direktem Weg."
„Hm, ich habe neunundzwanzig Sträflinge hier, die nach London gebracht werden sollen. Da drüben liegt die ,Water-level`, ein Schiff, das für die Company fährt, ihr aber nicht gehört. Sie segelt ebenfalls nach London und soll Sträflinge mitnehmen und dort den Behörden überstellen. Können Sie nicht zehn Mann mitnehmen, Sir? Fast dreißig zu allem entschlossene Kerle sind ein bißchen viel. Finden Sie das nicht auch?" Flanagan wurde direkt blaß, als er das hörte. „Um Himmels willen, Mister Caine, verschonen Sie mich damit. Diese beiden Halunken haben mir vollauf gereicht. Ich wüßte nicht einmal, wo ich die Kerle unterbringen sollte. Meine Ladekapazität ist erschöpft. Ich habe an Bord keinen Platz mehr." Dem Master kam noch eine rettende Idee, die ihn direkt erleichtert aufatmen ließ. „Zudem darf ich weder Passagiere noch Sträflinge mitnehmen. Das Schiff gehört der Company, und die Statuten verbieten das. Es sei denn, ich erhalte direkt von London aus die Genehmigung zum Transport der Gefangenen." Das war ja nicht gut möglich, dachte ich erleichtert. Und ich beneidete keineswegs die Männer von der „Water-level", die diese Halunken an Bord nehmen mußten. „War nur eine Frage, Sir", meinte Caine. „Es hätte ja sein können. Aber ich sehe das selbstverständlich ein." „Noch etwas, Sir", sagte John David. „Sie haben ein Beiboot abgefiert. Nehmen Sie es vor Anbruch der Dunkelheit bitte an Bord. Das ist äußerst wichtig. Unsere Galgenstricke werden morgen auf das andere Schiff gebracht und wissen, was ihnen bevorsteht. Sie werden jede Möglichkeit zur Flucht nutzen. Die Kerle sind unruhig, sie haben absolut nichts zu verlieren. Ich möchte nicht, daß sich eine Szene wie damals im März wiederholt." „Selbstverständlich, Mister David. Ich werde persönlich darüber wachen", versprach der Master. „Soll ich Ihnen helfen, die Kerle an Land zu bringen?" „Dankend angenommen.” Caine lächelte hart. „Ich muß zu meinem Bedauern aber auch dabei eine Bedingung stellen, Sir." „Und die wäre?" „Niemand von Ihnen darf eine Waffe tragen. Selbst ein Entermesser darf ich nicht gestatten. Es hat hier schon Amokläufe gegeben. In ihrer Verzweiflung riskieren die Gefangenen alles. Das ‚alles' betone ich dabei ausdrücklich."
„Wir haben Boomers Amoklauf erlebt, Mister Caine, und ich weiß, zu was Kerle in einer solchen Lage fähig sind. Also keinerlei Waffen, das verspreche ich Ihnen." „Vielen Dank, Sie sind sehr einsichtig." „Vorsichtig", sagte der Master lächelnd. Mir fiel auf, daß auf dem anderen Dreimaster alle Leute an Bord waren. Möglicherweise hielt sich nur ein einziger an Land auf, der mit dem Beiboot hin und her fuhr. Hier galten eigene Gesetze, hier konnte man nicht beliebig herumspazieren, denn die Gefahr war wohl zu groß. Wenn die Sträflinge, Meuterer und Mörder morgen deportiert und nach England gebracht werden sollten, dann mußte jetzt schon eine fürchterliche, unheilschwangere Atmosphäre unter ihnen herrschen. Den Kerlen stand eine unvorstellbare harte und lange Reise bevor, die manch einer nicht überleben würde. In Eisen geschlossen, lagen oder hockten sie monatelang bei Dunkelheit in engen stickigen Räumen, zusammengepfercht auf engstem Raum und wußten, daß sie am Galgen enden würden, sobald sie London erreicht hatten. Es waren Verzweifelte, gefangen wie Tiere, die nach Freiheit lechzten und jede Chance ergriffen, die sich ihnen bot. Mitleid? No, Sir, ich hatte kein Mitleid mit ihnen. Ich will damit nur sagen, wie überaus gefährlich diese menschliche Ladung war. Sie war zehn Mal gefährlicher und brisanter als eine Schiffsladung voller Schießpulver. Da ging die Angst um, da kroch der Haß durch alle Ritzen und Spalten, da lagen lebende 'Tote. Die Hölle war das! Wie nicht anders zu erwarten war, wandte sich der Master gleich darauf an Jonny und mich, weil wir ja bei ihm zur besonderen Verwendung fuhren, wie er einmal gesagt hatte. „Sie beide werden mit Mister Pickens hinüberpullen", sagte er, „und Boomer mitnehmen. Halten Sie sich strikt an die Anweisungen und Befehle des Kommandanten. Befolgen Sie alles, was er sagt, befielt oder vorschlägt. Das gilt natürlich genau so für Sie, Mister Pickens. Legen Sie jetzt ihre Waffen oder Messer ab. Es werden auch keine spitzen Gegenstände mitgenommen." Wir gaben unsere Entermesser ab. Pickens nahm die Pistole aus dem Bandelier und reichte sie Flanagan. Spitze Gegenstände hatten wir keine, nicht einmal spitze Nasen, wie Jonny grinsend erklärte. Das trug ihm vom Master einen mißbilligenden Blick ein, denn er liebte solche Scherze überhaupt nicht. Boomer wurde vom Mast gebunden, aber in Ketten und Fußfesseln belassen. Er keuchte heftig und rang nach Atem. Sein Blick war wieder
so wild wie vor ein paar Tagen, als er Amok gelaufen war. Wenn man ihn jetzt losband, würde er mit bloßen Fäusten gegen zwanzig Mann antreten. Mit einem Tau fierten Zebulon und der Profos den ungeschlachten Koloß ins Boot. Dort wurde er auf eine Ducht gelegt. Er fletschte die Zähne und knurrte uns an wie ein römischer reißender Kampfhund, und er war noch gefährlicher als eine dieser Bestien. Leach wurde ebenfalls gefesselt an einem Tampen hinabgelassen und wie ein Sack im Boot verstaut. Wir hörten, wie Caine zu ihm sagte: „Du bleibst auch weiterhin in Eisen geschlossen. Du kannst auf der Insel frei herumlaufen, falls du dich bewegen kannst. Bis morgen überlege ich noch, was mit dir geschieht." „Ihr werdet mich nicht hängen!" schrie Leach. Der Rothaarige war kalt wie eine Hundeschnauze. „Falls wir dich doch hängen, kannst du dich danach ja bei der englischen Krone beschweren. Dann kriegen wir ganz sicher einen mächtigen Anschiß." Es war mir klar, daß die beiden Männer nichts mehr erschüttern konnte, wenn sie ihr Leben zwischen Totschlägern und Mördern verbrachten. Das stumpfte ab, machte hart und manchmal auch gleichgültig. Mitleid war ihnen unbekannt, es war auch nicht angebracht, und die sogenannte Humanitätsduselei war ihnen ebenfalls fremd. Die Umwelt formt eben doch den Menschen. „Bleiben Sie direkt hinter unserem Boot", rief Caine herüber. „Am Strand warten Sie dann bitte, bis wir unseren Freund abgeladen haben." „Verstanden", rief Pickens. Dann pullten wir langsam los. Boomer wand sich wie ein Aal, drehte sich von einer Seite zur anderen und fluchte wild. Das Boot schaukelte von einer Seite auf die andere, als wollte er es zum Kentern bringen. Immer wilder wurden seine Bewegungen. „Wenn du über Bord fällst, ersäufst du", sagte Pickens. „Wir dagegen können schwimmen." Aber das sah Boomer trotzdem nicht ein. Er verstärkte seine Bewegungen noch. Pickens nahm den Ersatzriemen, der immer im Boot lag, hob ihn hoch, holte aus und knallte ihn dem Fleischklopfer ungerührt über den Schädel. Boomer stieß ein heiseres Grunzen aus und verfluchte uns in allen Tonarten.
Pickens nahm den Riemen erneut, drückte ihn Boomer an den Hals und hielt ihm das Holz so hart an die Kehle, bis der hinterhältige Kerl rot anlief und kaum noch Luft kriegte. Erst dann gab er Ruhe. Wir waren wirklich heilfroh, daß er uns den letzten Ärger bereitet hatte. Ich fühlte Haß auf den Kerl, der den armen Plinky erstochen hatte und all die anderen Männer. Boomer war so ziemlich das übelste Subjekt, das ich kannte, ausgenommen noch vielleicht Daniel Hawkins, dessen Gebeine auf der Insel Last Hope vermoderten. Das Boot vor uns erreichte den Strand. Dort stand Stevenson, ein hagerer Mann mit ernstem Gesicht und etwas melancholisch wirkenden Augen. Er starrte auf den Gefangenen und schüttelte den Kopf. „Leach", sagte er fassungslos. „Er kehrt nach langer Zeit wieder einmal zurück. Was es nicht alles gibt!" „Im anderen Boot liegt unser ganz spezieller Freund", sagte Caine. „Der Riesenaffe Boomer. Aber das werden wir dir nachher erzählen." „Ein Unglück kommt selten allein", sagte Stevenson andächtig. „Ich hin richtig gerührt, die Hurensöhne zu sehen." Er griff mit zu, hievte Leach aus dem Boot und gab ihm einen Tritt in die Kehrseite. Das war die knappe, aber unfreundliche Begrüßung. „Du bleibst hier am Strand immer in Sichtweite", sagte er dann. Caine bedeutete uns, nun ebenfalls an den Strand zu pullen. Ihm war nicht entgangen, daß Boomer uns schon wieder in Schwierigkeiten bringen wollte. Zu dritt zogen und zerrten wir den schweren Kerl hinaus. Auch ihm trat Stevenson zur Begrüßung kräftig in den Hintern. Ich konnte es ihm wirklich nicht verübeln, denn Boomer hatte sich hier ganz sicher so ähnlich aufgeführt wie bei uns. Wir sprangen an Land und stellten uns vor. Ich sah, daß Stevenson ebenfalls eine doppelläufige Pistole im Hosenbund trug. Ein paar Kerle schlichen neugierig heran, hielten sich aber in respektvoller Entfernung von uns. „Sie verweigern die Arbeit", sagte Stevenson. „Laß sie doch", meinte Caine, „das tun sie am letzten oder vorletzten Tag immer, als wäre das abgesprochen. Es kommt auch gar nicht darauf an, ob sie heute noch arbeiten oder nicht." Das klang ziemlich gleichgültig. „Was tun wir mit dem Schweinehund?" fragte Stevenson. „Wir sollten es nicht riskieren, ihn herumhüpfen zu lassen, und wenn er zehnmal gefesselt ist."
„Wir binden ihn an den Sonnenbalken", sagte Caine. „Es genügt, wenn wir ihn abwechselnd bewachen." „Was bitte ist ein Sonnenbalken?" fragte Pickens neugierig. „Das da drüben." Caine zeigte auf eine Stelle neben ein paar Palmen. Dort war ein schwerer mächtiger Eichenbalken in den Sand eingegraben. Im Balken selbst waren schwere Ringe verankert. „Wir nennen ihn so – Sonnenbalken, weil er den ganzen Tag von der Sonne beschienen wird, von morgens bis abends. Daran werden ganz besonders renitente Kerle gebunden, damit sie Zeit zum Nachdenken haben. Da sie den ganzen Tag pausenlos die Sonne bescheint, trocknet ihr Gehirn etwas ein und wird dröselig. Gegen Abend haben sie dann meist vergessen, was sie vorhatten. Sie werden ziemlich schnell ruhig und friedfertig.” „Das kann ich mir vorstellen", sagte Pickens. „In England gibt es weitaus schlimmere Strafen und Foltern." Als ein paar der Kerle Boomer und Leach erkannten, stimmten sie ein wildes schauriges Geheul an. Ein ganzer Chor aus rauhen Kehlen begrüßte den Halunken lautstark. Himmel, waren das Kerle, waren das Visagen. Sie sahen wirklich so aus, wie man sich Mörder oder Verbrecher vorstellte. Unheimliche wilde Gesellen, gescheiterte Existenzen, Abenteurer, Bucaneers, die so heruntergekommen waren, daß sie ihre eigene Mutter umgebracht hatten, wie Caine uns erklärte. Es waren alles Mörder. Viele hatten gemeutert. Einer hatte seinen Kapitän erschlagen, ein anderer im Streit seinen Bruder erwürgt, und so ging das weiter. Noch einmal ließen sie Leach und Boomer hochleben. Zwei der mörderischen Kerle näherten sich ungeniert weiter. Da war irgendwo eine unsichtbare Grenze, denn als Caine sich umdrehte, blieben sie ruckhaft stehen. Nur einer von ihnen wagte sich noch einen Schritt weiter vor und musterte uns aus kalten Augen. „Der letzte Schritt.", mahnte Caine hart. „Noch einen einzigen weiter, und du darfst morgen nicht Schiffchen fahren." Diese abgebrühten Buschräuber gehorchten Caine zu meinem grenzenlosen Erstaunen aufs Wort. Daß der Kerl morgen nicht „Schiffchen fahren" durfte, war wohl die Androhung seines bevorstehenden Todes, falls er noch einen Schritt weiterging. Er blieb auch so stehen, als sei er gegen eine Mauer gerannt, und rührte sich nicht mehr.
Vermutlich hätte Caine geschossen, das nahm ich jedenfalls an, denn was sonst sollte wohl hinter seiner Warnung stecken? Jedenfalls hatte das Gesindel einen unheimlichen Respekt vor den drei Männern, ganz besonders vor Caine. Der setzte sich mit aller Härte durch und ging notfalls über Leichen, denn nur so konnte er die Bande unter Kontrolle halten. Trotzdem wunderte es mich, daß drei Männer dreißig Schwerverbrechern gegenüberstanden und nicht die geringste Angst zeigten. Sie waren ziemlich sorglos. Hier mußte irgendwann einmal etwas vorgefallen sein, das ihnen allen noch mächtig in den Knochen steckte. Vielleicht hatte es mal einen Überfall gegeben, bei dem die Wärter umgebracht worden waren. Vermutlich waren dann die Holländer erschienen und hatten rigoros aufgeräumt und den Kerlen das Licht ausgeblasen. Das konnte schon Jahre vorher gewesen sein und hatte sich immer wieder rumgesprochen. Als Boomer an den Sonnenbalken gefesselt war, heulte die Meute ein letztes Mal wild auf. „Folgen Sie uns", sagte Caine einladend. „Aber die beiden Boote liegen unbewacht am Strand", meinte Pickens zögernd, „wenn nun … „Das haben wir gleich", sagte Caine. Er ging mitten auf die Gruppe von Totschlägern zu, die langsam zurückwichen. „Am Strand liegen zwei unbewachte Boote", sagte er laut, „falls einer von euch Kerlen die Absicht hat zu fliehen, so möge er sich bedienen. Es dürfte allerdings schwierig werden, an den geladenen Drehbassen der beiden Galeonen vorbeizukommen." Die Kerle schwiegen. Sie traten noch weiter zurück und gaben fast höflich den Weg frei. Jeder trug nur eine Hose, einen einzigen Kerl gab es, der auch ein Hemd trug. Ich sah die starren bärtigen Gesichter, die zum Strand blickten, dann auf die beiden Galeonen, dann wieder auf uns. Sie wußten — da war nichts zu machen. Niemand würde dort ausbrechen können, mochten die Boote auch noch so verlockend daliegen. Nachts war das allerdings anders, deshalb gab es auch die Vorschrift, die Beiboote an Bord zu nehmen. Wir gingen in Richtung der Hütten und hatten einen besseren Überblick über die Insel. Da waren Gärten angelegt, da gab es Palmenhaine, zwei Plantagen und riesige Beete. Alles sah sehr ordentlich und sauber aus und wirkte gepflegt..
„Wir sind fast autark", erklärte der Rothaarige uns. „Was zum Leben gebraucht wird, das wächst hier und wird angepflanzt bis auf ein paar Kleinigkeiten. Wer nicht arbeitet, kriegt nichts zu essen. Nach dieser Methode funktioniert hier alles. Hinter der Baracke, wo die Bande nachts schläft, befindet sich eine Kochstelle. Weiter hinten gibt es einen netten kleinen Friedhof. Wer nicht spurt, wird zu den Gräbern geführt, und dann kann erlesen, weshalb der Betreffende aufgehängt oder erschossen wurde. Steht auf den Schildern an den Gräbern genau drauf." Ich sah, daß auch Pickens schluckte. Aber diesen Männern, die die Justiz der Krone vertraten und auch ihre Vollstrecker waren, blieb gar nichts anderes übrig, als so zu handeln. Und als Schreckgespenst. standen im Hintergrund immer die holländischen Seesoldaten Das System funktionierte jedenfalls einwandfrei. Kamen Neue hinzu, dann fügten sie sich meist sehr schnell in die Ordnung, dafür sorgten schon die anderen. Und wer zu faul zum Arbeiten war, der hungerte eben so lange, bis die Arbeitswut ihn wieder packte. Das dauerte allerhöchstens zwei Tage. Caine und seine beiden Männer zeigten uns die kleine Insel, und was sie aus dieser Einöde gemacht hatten. Auf der anderen Insel waren noch mehr Gärten und Plantagen angelegt worden, weil das alles hier nicht reichte, wenn sich mal mehr als hundert Mann auf der Insel aufhielten. Nach einer Stunde kehrten wir beeindruckt wieder an Bord zurück. Caine bat uns, das andere Boot auf der "Water-level" abzuliefern, damit sie das eigene nicht erst umständlich zum Wasser schleppen mußten. Das taten wir auch und lernten gleich darauf ein paar Männer der anderen Galeone kennen. Sie luden uns ein, wir luden sie ein, wie das so üblich war, und weil wir uns sowieso nicht auf der Insel aufhalten konnten, feierten wir eben an Bord ein wenig. Später wurde auch noch der andere Master herübergepullt, und es wurde eine sehr angeregte Unterhaltung. Die Männer der „Water-level", was soviel wie Libelle hieß, bestätigten uns die Neuigkeiten vom Tod Wallensteins und alles andere. Es gab wirklich recht viel Neuigkeiten, und es wurde höchste Zeit, daß wir wieder mal nach Hause kamen. Mich interessierte auch vor allem, was aus meinem Vater geworden war, den ich nun schon so lange nicht mehr gesehen hatte.
Ziemlich spät in der Nacht gingen wir dann in die Kojen. Auf jedem Schiff gingen vier Mann Wache, die scharf aufpaßten, daß die Sträflinge nicht die Schiffe enterten und die Mannschaften überwältigten. Doch niemand ließ sich blicken. Der Respekt vor unseren Drehbassen war wohl zu groß. Als ich am anderen Morgen an Deck war, stand der bärtige Boomer immer noch am Sonnenbalken, während Leach nicht zu sehen war. Sicher hielt er sich noch in der Baracke auf. Die Bucht. erwachte zum Leben, denn nun begann der Abtransport der Sträflinge auf das Schiff. Die drei Insel-Kommandanten hatten das große Boot zum Strand geschoben und zu Wasser gebracht. Von der „Water-level" wurde ebenfalls das Beiboot abgefiert und zum Strand gepullt. Auch wir setzten etwas später das Boot aus, falls Caine noch weitere Unterstützung benötigte. China-Harry stand neben mir und sah zum Ufer. „Dieser Caine läßt erst die Galgenvögel an Bord bringen", sagte er, „und dann wird Boomer gehängt, damit sich die Gemüter nicht noch mehr erhitzen. Ich bin gespannt, wie er mit Leach verfährt." „Ich auch, Harry. Ich glaube, er schickt ihn nach England, weil er ihm keinen Mord direkt nachweisen kann, nur Rädelsführerei." Als die Männer der anderen Galeone den Strand erreichten, rief Caine mit. lauter Stimme die Namen der Schnapphähne auf. Gehorsam meldeten sie sich und nahmen Aufstellung. Jeweils drei Männern wurden dann die Hände auf den Rücken gebunden. Dann befahl Caine ihnen, in das Boot zu steigen und auf den Duchten Platz zu nehmen. Der erste Schub Gefangener wurde zur Galeone gepullt. Kurz darauf verschwanden die Kerle im Laderaum, wo sie angekettet wurden Das ging zwei Stunden lang hin und her. Leach war immer noch nicht beiden Abtransportierten. Caine ließ ihn bis zur letzten Minute in Ungewißheit über sein Schicksal. Zum Schluß waren noch drei Kerle übrig. Unter ihnen befand sich auch Leach. Er warf Boomer keinen einzigen Blick zu, er schien ihn nicht einmal zu sehen, oder er vermied absichtlich den Blickkontakt zu ihm. Schließlich wurden auch den letzten drei Kerlen die Hände gefesselt. Leach schien ein ganzer Felsen von der Seele zu rollen. Er atmete erleichtert auf. In seinem Gesicht standen dicke Schweißtropfen.
„Er hat noch eine Galgenfrist", sagte Mister Bunk, „obwohl er sie nicht verdient hat. Ich dachte, sie würden ihn hängen. Aber das beweist nur, daß die Männer genau abwägen, was sie tun, und sehr überlegt handeln. Also wird das Gericht in England über Leach befinden." Mit den letzten drei Mann nahm Caine eine Pergamentrolle mit, die er dem Kapitän der Galeone übergab. Ganz sicher war das die Liste, die die Verbrechen der Kerle enthielt, ihre Straftaten und alles, was sie auf dem Kerbholz hatten. Bevor Leach nach unten geführt wurde, sah er noch einmal zu uns herüber. Sein Blick war hochmütig und triumphierend. Er schien sich sehr überlegen zu fühlen. Hätten sie ihn nur gleich gehängt, dann wäre etlichen braven Männern sehr viel erspart gewesen, denn mit dem Halunken sollte es noch eine Menge Ärger geben. Kaum waren die Kerle alle verstaut und angekettet, da wurden auf der Galeone bereits die Segel gesetzt und der Anker gehievt. Sie hatten es offenbar sehr eilig, nach England zu segeln. Das konnte ihnen auch niemand verübeln, denn sie führten gefährliche und heiße Fracht in ihren Räumen, menschliches Strandgut, das schlimmer als Griechisches Feuer war. Die Männer winkten uns einen Gruß zu, riefen noch ein paar Worte herüber, daß wir uns in London vielleicht sehen würden, und segelten dann langsam aus der Bucht dem offenen Meer entgegen. Pünktlich, wie Caine es angeordnet hatte, war dann Boomer an der Reihe. Die Prozession, die sich ihm näherte, wirkte makaber. Stevenson ging links neben Caine, auf der anderen Seite ging David. Daß Caine auch persönlich als Henker fungierte, sahen wir an seiner schwarzen Maske mit Augenschlitzen, die er sich über den Kopf gezogen hatte. Das war in England Vorschrift und wurde hier genauso gehalten. Der Henker trug immer eine Maske. In einer Stadt wie London sorgte das für die Anonymität des Henkers. Hier war er nicht anonym, denn jeder kannte ihn. Aber Vorschrift war nun einmal Vorschrift. Als sie sich Boomer näherten, begann der plötzlich laut zu schreien und zu toben. Er wollte sich von dem mächtigen Balken losreißen, riß und schüttelte daran, doch erfolglos. Der schwere Rammbock bewegte sich zwar leicht im Sand, doch Boomer kam nicht los. Die Ketten und Fesseln hielten ihn unbarmherzig fest. Er schrie jetzt so laut, daß es über die ganze Bucht. hallte. Todesangst zeichnete sein Gesicht, er hörte nicht mehr auf zu schreien.
„So sind sie fast alle", sagte Pickens, „große Maulhelden. Sie morden bedenkenlos, doch wenn es ihnen selbst an den Kragen geht, dann werden sie zu erbärmlichen kreischenden Feiglingen. Widerlich ist das anzusehen." Niemand empfand auch nur eine Spur Mitleid mit dem strampelnden und zappelnden Koloß. „Ich will nicht gehängt werden", brüllte er mit seiner Donnerstimme über die Bucht. „Geht, weg, ihr Hunde, ich will leben." Als sie ihn losbanden, geschah es. Niemand hatte das erwartet, und so zuckten wir auch alle zusammen. Boomers Ketten zersprangen mit einem hellen Klirren. Ganz plötzlich hatte er die Hände frei. Dann ergriff er übergangslos und mit fürchterlichem Gebrüll seine Bewacher an. Sie waren unbewaffnet, seit die letzten Gefangenen aufs Schiff gebracht worden waren. Jetzt hatten sie den rasenden Koloß plötzlich vor sich, der mit seiner fürchterlichen Kraft die Ketten gesprengt hatte. Diese Kraft war ein letztes Aufbäumen vor dem sicheren Tod gewesen. Boomer rannte los, nachdem er Stevenson und David umgerannt hatte. „McCoy, Bunk, Prescott, sofort ins Boot", rief der Master, „der Kerl bringt die anderen sonst noch um. Schnell, Beeilung!" Die drei waren die stärksten Männer an Bord, und sie flitzten mit unglaublichem Tempo ins Boot und legten ab. Zwei Minuten später waren sie bereits am Strand. Dann begann eine wilde Verfolgungsjagd über die InseI. „Ab mit dem anderen Boot", rief Flanagan. „Bemannt es, und geht den anderen zu Hilfe. Ihr wißt ja, was das für ein Kerl ist." In fieberhafter Eile wurde das zweite Boot abgefiert. Noch während wir eilig abenterten, tobte der Riese wieder am Strand entlang, brüllend und damit drohend, alle umzubringen. Er war wie von Sinnen. Aber noch während wir pullten, hatten sie ihn bereits. Er lief auf Zebulon zu, hob die Fäuste, aber da traf ihn ein solcher Hieb, daß er mitten im vollen Lauf stehenblieb, als sei er gegen eine Mauer gerannt. Der Koloß zuckte hart zusammen. Die anderen Männer warfen sich auf ihn, griffen Arme und Beine, überwältigten ihn und schleppten ihn zur Palme, von der der Henkersstrick baumelte. Alles andere ging danach sehr schnell. Zebulon hatte von hinten seinen Hals umklammert und ließ ihn nicht mehr los. Bunk hielt seinen rechten Arm, David den linken, der Profos packte seine Beine, während David zwei Arme um seine mächtigen
Hüften schlang. Boomer brüllte wie besessen. Er schrie sich die Lunge aus dem Hals und wand sich wie ein Aal. Blitzschnell legte ihm der Henker die Schlinge um den Hals, zog sie zusammen und spannte den Strick. In diesem Augenblick hatten wir gerade den Strand erreicht und sprangen aus dem Boot. Sie brauchten unsere Hilfe jedoch nicht mehr. Wir blieben stehen und sahen auf das schreckliche Schauspiel. Als Boomer die Schlinge um den Hals hatte, sprangen David und Stevenson zur Seite, ergriffen zusammen mit Caine den Strick und zogen kräftig daran. Boomer stieg zappelnd in die Höhe. Die Palme spannte sich wie eine Sehne und begann heftig zu schwingen. Die Männer traten zurück. Drei Yards über dem Boden baumelte Boomer an seinem Strick. Sein letzter Schrei war abrupt abgebrochen, als ihm die Luft ausging. Den Strick hatte Caine am Fuß der Palme an einer eingeschlagenen Krampe verknotet. Das war Boomers Ende, sein verdientes Ende. Es war aber trotzdem furchtbar mit anzusehen, wie er zappelte, wie sein mächtiger Körper hin und her schwang. Die Palme senkte sich unter seinem Gewicht, hob sich dann wieder, senkte sich erneut, als wollte sie jeden Augenblick abbrechen. Aber sie hielt, sie war elastisch und nachgiebig. Nach einer Weile hörte das fürchterliche Strampeln auf. Der schwere Körper streckte sich. Dann hing er ruhig am Strick. Er pendelte nur noch leicht hin und her. Den abgebrühten Männern stand das Grauen im Gesicht. So was hatten selbst sie noch nicht gesehen. Auch von der „King Charles" starrten alle, die noch an Bord waren, schweigend herüber. In ihren Gesichtern erkannte ich eine ungeheure Spannung. Jetzt war alles vorbei. Der schlimmste Kerl war tot. „Morgen mittag nehmen wir ihn ab", sagte Caine heiser. Er riß sich die schwarze Maske vom Kopf und steckte sie in die Tasche. Sein Gesicht war schweißüberströmt. Auf der Insel war es jetzt totenstill geworden. Die Sträflinge waren fort, Boomer war gehängt und starrte aus gebrochenen Augen auf die Bucht hinaus, die er nicht mehr wahrnahm. Jetzt war dieses Eiland wieder ein Paradies, das nur von drei Männern bewohnt wurde. Die drei wirkten auch richtig erleichtert. Jetzt konnten sie eine Weile faulenzen, angeln, oder tun, was sie wollten, ohne die bedrückende Anwesenheit zahlreicher Mörder und Tagediebe. Aber
sehr lang würde das nicht anhalten, dann ging das ganze Theater wieder von vorn los, sobald die nächsten Sträflinge eintrafen. „Wir lassen ihn bis morgen mittag hängen", sagte Caine, „dann bringen wir ihn nach drüben." Er zeigte auf den weiter hinten liegenden Friedhof. Wir kehrten wieder an Bord zurück. Dort war Thema Nummer eins natürlich Boomers höllisches Ende. „Wir nehmen noch Proviant und füllen die leeren Fässer auf", sagte der Master, der kein Wort über Boomer mehr verlor. „Morgen früh segeln wir dann weiter." Ein paar Mal ging es mit den Booten noch hin und her. Die drei Männer sorgten dafür, daß wir unsere Fässer mit kristallklarem Wasser auffüllen konnten. Dann wurden vier Schweine geschlachtet, die auf der Insel frei herumliefen, und wir erhielten frisches Gemüse aus den Plantagen, Tomaten, Kokosnüsse, Kohl und Rüben. Am Abend lud der Master die Kommandanten zu einem Umtrunk und kleiner Abschiedsfeier ein. Sie freuten sich darauf, ein paar unbeschwerte Tage genießen zu können, denn die vielen Halunken waren doch immer eine spürbare Belastung für sie. Früh am anderen Morgen verließen wir die Bucht der Galgenstricke. Die Männer winkten uns nach. Sie standen in der Nähe der schaurigen Palme, an der der tote Boomer im Wind pendelte. Wir gingen auf Kurs nach Afrika, genauer gesagt. liefen wir dicht auf die Südostküste von Madagaskar zu. Hinter uns verschwand das Eiland der Hölle, Hopeless, das jetzt wieder ein Paradies war. * Ein paar Tage später tauchte auf Steuerbord voraus der dunstige Küstenstrich der Insel Madagaskar auf. Gleichzeitig mit dem Sichten der Landspitze gab der Ausguck eine weitere Meldung durch. „Deck! Dreimaster an Steuerbord querab. Er scheint unseren Kurs anzuliegen." An der Kimm auf Steuerbord waren feine Striche zu erkennen – die Masten und Segel des fremden Schiffes. Flanagan nahm das Spektiv, blickte hindurch und wollte es wieder in die Halterung hängen, als er es noch einmal ansetzte. Diesmal sah er sehr lange hindurch.
„Sehr merkwürdig", hörte ich ihn sagen. „Sehen Sie mal durch das Glas, Mister Pickens, und sagen Sie mir, was Sie sehen." „Eine Dreimast-Galeone", sagte Pickens bedächtig, „aber sie segelt falsch. Jedenfalls sind die Segel nicht richtig getrimmt. Mir scheint, als würde sie in der See treiben. Das Focksegel killt leicht." „Sehr richtig. Da scheint etwas nicht zu stimmen. So segelt. kein Mensch, der etwas davon versteht." Flanagan gab Anweisungen zur Kursänderung. Er wollte sich das merkwürdige Schiff aus der Nähe ansehen. Vielleicht war es sogar havariert oder sonst wie in Not. Wir gingen auf Nordwestkurs und trimmten die Segel nach. Etwas später war das Schiff schon mit bloßen Augen zu erkennen. Es segelte tatsächlich falsch. Das Großsegel war unordentlich aufgetucht, die Fock killte immer noch, und die Blinde hing schlaff an ihrer Rah. Die Galeone lief auch kaum Fahrt, sie trieb aber langsam der noch fernen Küste entgegen. Als wir noch näher heran waren, sah Flanagan wieder durch den Kieker und setzte ihn fast entsetzt ah. „Das hat gerade noch gefehlt", sagte er tonlos, „es ist die ,Water-level`, das Schiff mit den Sträflingen." Diese Nachricht schlug wie ein Blitz bei uns ein. Nach ein paar weiteren Minuten hatten wir die Gewißheit und konnten uns selbst davon überzeugen, daß es die Sträflings-Galeone war. An Deck war niemand zu sehen. Kein Mensch zeigte sich. Das Killen der Fock war bis zu uns zu hören. Pickens starrte immer wieder auf die kleine Galeone. „Was mag da nur passiert sein?" fragte er leise. „Die Kerle werden sich doch etwa nicht befreit haben? Vielleicht haben sie das Schiff verlassen, die Mannschaft umgebracht und sind längst auf der Insel an Land gegangen." „Dann müssen sie geschwommen sein", sagte der Master, „denn die beiden Boote befinden sich noch an Bord. Aber geschwommen sind sie ganz sicher nicht. Hier wimmelt es von Haien, und das wissen sie natürlich. Und trotzdem scheint das Schiff verlassen zu sein." Die „Water-level" gab uns ein großes Rätsel auf. Hilflos trieb sie in der See. An Deck war immer noch niemand zu sehen. Uns fiel nur auf, daß die vier Geschützpforten an Steuerbord hochgezogen und die Kanonen ausgerannt waren. Wir konnten nur Vermutungen anstellen, und die waren recht ungewiß.
„Sie kann auch Piraten in die Hände gefallen sein", vermutete Finn, „offenbar hat sie sich zur Wehr gesetzt und wurde geentert." „Dann müßten Tote oder Verwundete an Deck liegen", meinte der Master. „Aber nichts dergleichen." „Man kann sie über Bord geworfen haben, Sir. Als man plündern wollte, fand man die Sträflinge. Vermutlich sind die Piraten dann wieder abgezogen und haben das Schiff sich selbst überlassen." „Sie meinen, die Mannschaft ist fort, und die Sträflinge liegen noch angekettet in den Räumen?" „Es ist möglich. Kein Piratengesindel wird sich die Mühe machen und die Kerle befreien. Sie hätten dann ja Konkurrenz oder müßten die Satansbrut zumindest fürchten." Flanagan dachte angestrengt nach und nickte. Aber so richtig schien ihm Finns Theorie nicht zu gefallen. „Ich weiß nicht. Wir sollten wohl doch einmal nachsehen. Aber in einem können Sie recht haben, Mister Finn. Durch das Spektiv sind ein paar Musketen an Bord zu erkennen." Der Ausguck wurde befragt und bestätigte, daß auf den Planken Musketen lägen. Etwa ein Dutzend. „Also doch ein Kampf", sagte Finn. „Piraten pflegen Waffen mitzunehmen", hielt der Master dagegen. „Vielleicht haben sie selbst genug und brauchen sie nicht." Das war auch wieder so ein Einwand, gegen den man schlecht argumentieren konnte. „Wir werden uns überzeugen und nachsehen. Kursänderung", befahl er dann. „Wir segeln in zwei Kabellängen Abstand vorbei." In einen Halbbogen näherten wir uns der Galeone und gingen dann auf Parallelkurs. Immer noch war keine Menschenseele zu sehen. Die Galeone trieb wie ein Geisterschiff in der leichten Dünung. Als wir auf gleicher Höhe mit ihr fuhren, erlebten wir die erste höllische Überraschung. Eine der Kanonen -- sie hatte insgesamt nur acht -blitzte auf, spie einen langen Feuerstrahl aus, dem eine Wolke von Pulverqualm folgte. Brüllender Donner erklang. Während der grelle Blitz uns noch blendete, stieg ganz dicht vor der Bordwand unseres Schiffes eine Wassersäule hoch. Gischt spritzte bis hoch ans Schanzkleid. Unwillkürlich ging jeder in Deckung, denn gleich würde das zweite Geschütz feuern. Zwei Kabellängen Abstand konnten die Kanonen mühelos überbrücken.
Flanagan ließ hart anluven, um dem nächsten Schuß auszuweichen. Die Galeone konnte nicht manövrieren. Ihre Kanonen waren starr auf einen Punkt gerichtet. Der zweite Blitz folgte dem ersten kurz danach. Wieder Feuer, Rauch und Donner. Die Kugel schlug zwanzig achteraus ins Kielwasser und riß nur die See auf. Weitere Schüsse konnten uns vorerst nicht mehr treffen, ein Passiergefecht war ausgeschlossen. Flanagan hatte ganz kalte Augen, in denen es blitzte. Grimmig sah er zu der Galeone hinüber, die achteraus zurückblieb. Wir luvten wieder an, hielten aber respektableren Abstand. „Nun ist mir auch klar, was da drüben passiert", sagte der Master. „Des Rätsels Lösung ist ganz einfach. Da die Mannschaft wohl kaum auf uns feuern würde, ist es den Sträflingen gelungen, auszubrechen und die Männer zu überwältigen. Jetzt feuern sie auf alles, was sich ihnen nähert. Aber sie sind nicht in der Lage, das Schiff zu segeln. Das ist wiederum unser Vorteil." „Ja", sagte auch Finn, „jetzt ist kein Zweifel mehr möglich. Die Halunken haben sich irgendwie befreit." Mochte der Teufel wissen, wie ihnen das gelungen war, dachte ich entsetzt. Aber es war eine Tatsache, auch wenn sich niemand an Deck der Galeone zeigte. Die Kerle hockten in dem kleinen Batteriedeck an den Geschützen und luden sie vermutlich wieder nach, um jederzeit feuerbereit zu sein. Gleich darauf erhielten wir die grausame Bestätigung unseres Verdachts. Ein paar Kerle stürmten blitzschnell an Deck. Sie hoben die Fäuste und drohten uns. „Leach", sagte Pickens wie erschlagen, „der ist wieder mal der Anführer. Verdammt, hätten sie ihn nur gehängt." Leach legte die Hände an den Mund und brüllte laut herüber: „Verpißt euch, ihr Bastarde, ihr dreckigen! Wenn ihr näher kommt, schießen wir euch zusammen. Wir haben Mannschaft und Offiziere in unserer Gewalt. Segelt zum Teufel, sonst bringen wir einen nach dem anderen um." Flanagan hatte sich wieder gefangen, die Lage blitzschnell sondiert und blieb eiskalt. „Ihr Halunken habt sie längst umgebracht", rief er. „Zeigt uns einen der Offiziere oder Mannschaft." Die Antwort war ein höhnisches Gelächter von Leach. Er tippte sich mit dem Finger an die Stirn und lachte noch einmal laut.
Aus dem Innern des Schiffes drang plötzlich lautes Klopfen. Es klang wie ein Signal. Es verstummte wieder, dann klopfte es noch ein paarmal hintereinander. „Sie haben die Männer nicht umgebracht", sagte Pickens. „Vielleicht ein paar von ihnen, aber nicht alle." „Dann haben sie sie vermutlich im Laderaum eingesperrt." „Nein, Sir. Das Klopfen kam weiter von achtern, etwa in der Nähe der Pulverkammer. Ich bin mir ganz sicher. Da, man hört es wieder." Wieder war dumpfes Pochen und Klopfen zu hören. Pickens verzog überlegend und nachdenklich das rosige Gesicht und spitzte die Ohren. „Ich weiß, was da los ist", behauptete er dann. „Einigen aus der Mannschaft muß es gelungen sein, sich in der Pulverkammer oder dem Pulvermagazin zu verschanzen, Sir. Dort sitzen sie jetzt." „Und das schließen Sie aus den Klopfgeräuschen?” „Ja, sonst wären die Männer ja angekettet, und vorzeigen kann Leach keinen, sonst hätte er sicher höhnisch und überlegen getan und einem der Männer dabei das Messer an die Kehle gesetzt." Wieder überlegte der Master. „Sie können recht haben, Mister Pickens. Ja, so ähnlich würde dieser Leach handeln. Genau das traue ich ihm zu. Wenn die Männer sich aber wirklich in der Pulverkammer verbarrikadiert haben, dann ist auf diesem Schiff eine gewisse Patt-Situation entstanden. Sie könnten damit drohen, das Schiff in die Luft zu sprengen." „Ja, Sir, ich versuche mich gerade in die Lage der Männer zu versetzen. Sie drohen damit, Feuer in der Pulverkammer zu legen, denn auch sie haben nichts mehr zu verlieren. Das bedeutet, daß es keine großen Vorräte an Munition für die Meuterer gibt. Die PattSituation. ist trotzdem etwas zu Gunsten der Meuterer verschoben, denn sie sitzen am längeren Hebel. Sie werden die Männer aushungern und auch damit drohen. Ich befand mich vor Jahren in einer ähnlichen Lage." „Gut gedacht, Mister Pickens", lobte der Master kühl. „Die Sträflinge sitzen tatsächlich am längeren Hebel, denn auch sie haben nichts mehr zu verlieren. Uns gegenüber haben sie geblufft, wenn unsere Vermutungen zutreffen. Sie sind aber nicht in der Lage, das Schiff richtig auf Kurs zu bringen und zu segeln, weil die meisten nichts von der Seemannschaft verstehen. Früher oder später sind sie auf die Mannschaft wieder angewiesen." „Darf ich widersprechen, Sir?"
„Aber bitte, bitte", erlaubte Flanagan, „schließlich wollen wir ja ein brauchbares Ergebnis kriegen." „Ich sehe mich in der Rolle von Leach als Rädelsführer, Sir. Der Wind steht für mich also günstig, denn er treibt mich auf die Küste zu, wo die Galeone früher oder später stranden wird. Ich lasse sie also stranden. Die Mannschaft brauche ich nicht, ich kann mit ihr nichts anfangen, außerdem muß ich in der Angst leben, ebenfalls überwältigt zu werden. Ich kann auch auf kein Schiff mehr, ohne daß ich wieder auf der Insel lande, wo man mich sofort hängen würde. Ich bleibe also auf Madagaskar und schlage mich da schon durch. Hauptsache, ich überlebe erst einmal. Zum Teufel also mit der Mannschaft und dem Schiff. Ich zünde es an, mache ein großes Freudenfeuerchen daraus und verschwinde mit meinen Kumpanen.” „So verwerflich würden Sie handeln?" „Das war doch die Rolle von Leach, Sir", rief Pickens fast ein wenig gekränkt aus. „Ja, natürlich. Manchmal bin ich direkt froh, Sie als Zweiten Offizier an Bord zu haben, Mister Pickens." „Das ehrt mich sehr, Sir, daß Sie manchmal froh darüber sind." Zu unserem Erstaunen lachte Flanagan leise, trat einen Schritt näher an Pickens heran und legte ihm zu unserem hoch größeren Erstaunen die Hand auf die Schulter. Dabei sah er ihm direkt in die Augen. „Das haben Sie prachtvoll kombiniert", sagte er lobend, „sehr prachtvoll, mein lieber Mister Pickens. Es wird sich zeigen, ob Ihre Ahnung auch in die Praxis umzusetzen ist." Der „liebe Mister Pickens" stand da, wie vom Donner gerührt, und lief über das unerwartete Lob knallrot an. „Ich glaube das ganz sicher zu wissen, Sir." "Nun, dann werden wir unsere Gegner mal provozieren. Ich bin gespannt wie lange es dauert, bis sie ihr Pulver verschossen haben. Sollte das der Fall sein, dann weiß ich, daß Sie recht haben, und wir werden den Bastarden kräftig einheizen. Ich werde das Schiff für die Company zurückerobern, mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen. Wir fahren jetzt einen Scheinangriff. Unterrichten Sie den Stückmeister, daß wir gefechtsbereit gehen. Alle Mann auf die Stationen." Die Anweisung wurde weitergegeben, und gleich darauf begann an Bord die Hektik wie bei jedem Gefecht.
Die Stückpforten flogen hoch, die geladenen Kanonen wurden ausgerannt, und wir segelten wieder auf die Galeone zu, um sie parallel zu passieren. Hinter den Kanonen lauerten die Sträflinge. Ihnen mußte ganz schön mulmig zumute sein, als die schwerbewaffnete „King Charles" in einem gekonnten Manöver heransegelte. Aber wie ich schon sagte, es waren Kerle, die so oder so am Galgen enden würden, und denen war alles egal. Sie hatten nur noch ihr Leben, und darum kämpften sie jetzt mit dem Mut der Verzweiflung. Aber sie hatten auch nur vier Kanonen auf jeder Seite, und das war verdammt wenig. Dazu kam der Umstand, daß sie nicht manövrieren konnten, dazu waren sie nicht in der Lage. Uns gegenüber waren sie völlig im Nachteil. Wenn es darum gegangen wäre, das Schiff zu vernichten, hätten wir sie aus sicherer Entfernung zusammenschießen können, ohne einen einzigen Treffer zu empfangen. Aber darum ging es nicht. Die Mannschaft war zweifellos noch am Leben. Und dieses Leben wollte der Master retten. Kaum hatten wir sie passiert, als auch schon wieder ihre Stücke losdonnerten und Feuer und Eisen spien. Dumpf hallte der Kanonendonner rollend über das Meer. Die Entfernung bis zur Küste betrug zu diesem Zeitpunkt etwas mehr als drei Meilen. Sie war deutlich zu sehen. Die vier Kugeln klatschten harmlos in die See. Die Kerle waren übernervös und ballerten, was das Zeug hielt, wütend drauflos. Sie zielten auch kaum oder waren nicht in der Lage, die Kanonen genau auszurichten. Mindestens fünfzig Yards vor unserem Rumpf wurde das Wasser aufgewühlt. Wir sahen, wie sie die Rohre auswischten. „Noch haben sie Kugeln und Pulver", sagte der Master trocken. „Fragt sich nur, wie lange sie noch durchhalten." Ich dachte an die Männer der Besatzung. Die hatten ganz sicher keine Ahnung, daß wir hier waren. Die hörten nur das Donnern ihrer eigenen Stücke und konnten sich keinen vernünftigen Reim darauf machen. Wir feuerten nicht zurück, sondern taten so, als hätte uns das stark beeindruckt. Leach stürzte auch sofort wieder nach dem Feuern mit einigen Kerlen wutschnaubend an Deck. Er griff nach einer an Deck liegenden Muskete und feuerte auf die „King Charles". Seine Kugel traf auch diesmal nicht.
„Ich sage dir, Flanagan, daß ich die Kerle umbringe, wenn ihr nicht verschwindet", brüllte er. „Einen nach dem anderen schneide ich persönlich den Hals durch." Der Master gab keine Antwort. Er hob lediglich kurz die Hand und zeigte die Bewegung des Hängens. Das veranlaßte die Kerle drüben zu einem lauten wütenden Geschrei. Wieder feuerten sie mit Musketen nach uns, doch wir waren schon aus der Kernschußweite heraus. Flanagan befahl, die Männer ebenfalls mit Musketen auszurüsten. Zwei Mann stiegen in den Großmars auf. Von dort oben hatten sie ein besser überschaubares Schußfeld. Wir kriegten ebenfalls Musketen und stellten uns damit. an Deck. Leach und seine Schwefelbande verzogen sich wieder nach unten, uni an den Kanonen zu hantieren. Beim nächsten Scheinangriff knallte es nochmals. Diesmal feuerten nur noch drei Kanonen, was dem Master ein kühles geringschätziges Lächeln entlockte. Wir umfuhren die „Water-level" in einem weiteren Bogen und passierten sie auf der anderen Seite, die dem Land zugewandt war. Auch auf dieser Seite waren die Kanonen ausgerannt. Zu unserem Erstaunen fiel jedoch kein Schuß. Dafür stürmten weitere Kerle an Deck und schossen mit Musketen nach uns. Eine Kugel knallte gegen die Bordwand. Sie riß nicht einmal Holzsplitter heraus. Vom Großmars aus wurden zwei Musketen abgefeuert. Ein lautes Krachen, dann riß einer der Meuterer seine Arme hoch, ließ seine Waffe fallen und fiel mit einem heiseren Schrei auf die Planken. Gebrüll und Geheul erklang von drüben. Leach riß immer wieder eine Muskete hoch und zielte direkt auf das Achterdeck. Treffer konnte er jedoch nicht verbuchen. Eine Kugel durchschlug das Besansegel, doch das entdeckten wir erst später. Es war auch nur ein winziger Riß. „Grobschrot für die Drehbassen laden", befahl Flanagan. ,.Ich will nicht das Leben meiner Leute wegen dieser Halunken gefährden." Sie schossen jetzt sogar mit Pistolen, obwohl sie genau wußten, daß sie damit nicht das geringste ausrichten konnten, denn für Pistolen war die Entfernung viel zu groß. Vorn und achtern wurde Grobschrot in die Drehbassen geladen. Dann wurde das Pulver eingefüllt.
Grobschrot richtete keine großen Schäden am Schiff an. Meist gab es dabei nur ein paar Löcher. Aber die Kerle konnten nicht mehr feuern, wenn sie mit einem Hagel Grobschrot eingedeckt wurden. Jim Corcoran übernahm die eine Drehbasse auf der Back, Jo Blyss die andere. Die Stücke wurden herumgeschwenkt und zielten auf das Deck der Galeone. Diesmal näherten wir uns von achtern auflaufend der Backbordseite. Achtern befand sich kein Mensch. Etwa ein Dutzend Kerle hatten sich auf der Kuhl versammelt. Ein Sträfling hockte ebenfalls im Großmars und schoß mit einer Muskete auf uns. Für die Musketen hatten sie anscheinend noch genügend Munition, für die Kanonen sah es dagegen schlechter aus. Als wir aufliefen, brüllte ein Geschütz auf. Ein Neunpfünder heulte heran und durchschlug unser Großsegel. Das Triumphgeheul der Kerle wurde zu einem lauten Geschrei, als sie den Erfolg sahen. Im Segel befand sich ein armlanger Riß, der uns jedoch nicht behinderte. Aber sie schrien und brüllten, als hätten sie einen grandiosen Sieg errungen. „Vordere Drehbassen Feuer!" kam Flanagans nächster Befehl. Jim Corcoran hielt die Lunte an das Zündkraut, dann reichte er sie an Jo Blyss weiter. Die erste Drehbasse entlud sich donnernd und mit Getöse. Die zweite knallte ebenfalls gleich danach los. Drüben schlug es prasselnd ein. Die Kerle hatten sich zwar in Deckung hinter das Schanzkleid geworfen, als die Drehbassen auf das Deck gerichtet wurden, doch das half ihnen nicht viel. Hunderte kleiner Bleibrocken trafen das Deck. Ein paar der Sträflinge sprangen schreiend hoch, griffen sich an Brust oder Schulter und sanken dann zusammen. Drei waren auf der Stelle tot und rührten sich nicht mehr. Vier oder fünf andere waren schwer verletzt und schrien sich die Kehlen heiser. Die anderen kümmerten sich nicht um ihre verletzten und verwundeten Kumpane. Sie rannten wie aufgescheuchte Hühner hin und her und versuchten, sich nach unten in Sicherheit zu bringen. „Wenn wir davon ausgehen, daß es dreißig Kerle sind, dann können wir schon fast zehn von ihnen abschreiben", meinte Jonny. „Vier oder fünf sind zur Hölle gefahren, ein halbes Dutzend so verletzt, daß sie nicht mehr einsatzfähig sind. Die werden sich nicht mehr lange halten können."
„Zwanzig sind auch noch mehr als genug. Und es ist fraglich, ob wir die alle erwischen. Sie werden jetzt etwas vorsichtiger geworden sein und im Batteriedeck Deckung suchen." Jonny nickte. Er legte die Muskete auf das Schanzkleid, visierte einmal kurz an und drückte ab. Die Kugel traf einen Mann, der gerade am Niedergang stand. Er wurde herumgewirbelt, suchte nach Halt, schrie dann auf und stürzte die Stufen des Niederganges hinab. Ob er tot war, wußten wir nicht, schwer verletzt war er aber ganz sicher. Und damit schied ein weiterer Mann in dem Kampf aus. Einen Kerl, der sich hinter dem Schanzkleid vorsichtig erhob, traf meine Kugel. Er streckte sich sofort wieder aus und rührte sich nicht mehr. Offenbar hatte es ihn schwer erwischt. Leach war jetzt nicht mehr an Deck. Er befand sich unten. Aber wir hörten ihn schreien, fluchen und brüllen. Er feuerte die anderen Kerle an und motivierte sie mit wilder Stimme. Wir umkreisten in weiten Bogen die Galeone wie ein Adler seine Beute. Ein einziges Mal noch wummerte ein Geschütz auf der „Water-level" los, dann schwiegen die Stücke. Auch als der Master dichter heransegeln ließ, wurde mit den Kanonen nicht mehr gefeuert. „Es scheint, daß Sie recht haben, Mister Pickens", sagte Flanagan, „es kann natürlich auch ein Bluff sein, um uns näher heranzulocken, doch das glaube ich kaum. Offensichtlich haben sie ihr Pulver verschossen." „Ich bin überzeugt davon, Sir. Aber sie haben noch Munition für die Musketen und Pistolen, und solange sie sich im Batteriedeck verschanzen, kommen wir nicht an sie heran." „Dann werden wir bei günstiger Gelegenheit entern", entschied der Master. Aus dem Batteriedeck drang Geschrei. Es wurde geklopft oder gehämmert, so genau hörten wir das nicht heraus. Wir vernahmen aber auch noch andere Stimmen, die merkwürdig dumpf klangen und die noch tiefer aus dem Inneren des Schiffes ertönten. „Es scheint, als würden die Kerle versuchen, die Waffenkammer zu stürmen", sagte Finn. „Das dürfte sehr heikel werden, wenn die anderen damit drohen, das Schiff in die Luft zu jagen." Flanagan schluckte. Offenbar erwog er diese Möglichkeit jetzt auch, denn er nickte Finn kurz zu. Wir halsten und liefen erneut von achtern auf. Das Geschrei erklang noch immer. Es hörte sich an, als würde mit einem großen Hammer gegen den Schiffsrumpf geschlagen.
Weiß der Teufel, was da drüben los war. Es ließ sich einfach nicht feststellen. Kaum hatten wir die Sträflings-Galeone passiert, als aus den Stückpforten wüstes Knattern drang und kleine Blitze aufzuckten. Musketenfeuer raste heran, aus den Pforten drang graublauer Rauch in kleinen Wölkchen. Terence Dexter zuckte zusammen, verzog das Gesicht vor Schmerzen und griff sich an den rechten Oberarm. Sein Leinenhemd verfärbte sich rötlich. Eine Musketenkugel hatte ihn getroffen. Der Feldscher Ivo Montesano zerrte ihn schnell mit sich nach unten, um seine Wunde zu versorgen. Weitere Bleikugeln knallten gegen den Rumpf der „King Charles", ohne jedoch einen Schaden anzurichten. „Drehbassen Feuer", rief der Master. „Haltet genau auf die Stückpforten." Zwei Ladungen gehacktes Blei donnerten mit Getöse los. Prasselnd schlug es in Höhe der Stückpforten ein. Die Kerle lauerten mit Musketen dahinter und schossen gezielt auf einzelne Männer. Jetzt drangen Bleibrocken durch die Geschützpforten und trafen einige der Kerle. Stöhnen und Schreien war zu hören. Es hörte sich furchtbar an, als seien viele Männer verwundet worden. Drüben wurde augenblicklich das Feuer eingestellt. Bei uns lud man in aller Eile die Drehbassen nach zum weiteren Beschuß. Flanagan blickte achteraus, als wir an der Galeone vorbei waren. An Deck zeigte sich keiner der Kerle mehr. Unser Drehbassenfeuer hatte sie eingeschüchtert. Aber ein paar lagen immer noch in unveränderter Haltung hinter dem Schanzkleid. Ganz offensichtlich Waren sie tot. Mittlerweile betrug der Abstand zur Küste höchstens noch zwei Meilen. Die Galeone mußte früher oder später stranden, denn der Wind drückte sie unaufhaltsam der Küste entgegen. Flanagan hatte sich jetzt offenbar entschieden, denn auf diese Art und Weise konnten wir keine weiteren Erfolge verbuchen. „Wir gehen jetzt zum Entern über", verkündete er. „Lassen Sie die Segel so weit auftuchen, daß wir ganz schwache Fahrt laufen. Die Männer sollen sich ausnahmslos mit Handfeuerwaffen bewaffnen, ebenso mit Enterbeilen und Äxten." Das Finale begann jetzt. Als wir alle bewaffnet waren, sahen wir wie Piraten aus. Im Hosenbund trugen wir doppelläufige Pistolen, Entermesser und Blankwaffen.
Viele hielten Äxte in den Fäusten. Die Segel waren aufgetucht, und wir glitten nur noch mit kleiner Fahrt durch das Wasser. Die großen Enterhaken lagen ebenfalls bereit. Sie waren mit starken Tauen verbunden, die an den Pollern befestigt wurden. Ich sah, daß Zebulon eine mächtige Axt in den Pranken hielt und grimmig zu der Galeone hinüber blickte. Der Profos trug ebenfalls eine Axt in den Fäusten und sah noch grimmiger aus. „Wir laufen von Lee an der Vorderseite auf", sagte Flanagan. „Aus nächster Nähe werden die beiden Drehbassen abgefeuert, direkt in die Stückpforten hinein. Die Kerle werden zurückfeuern, falls sie noch genügend Munition haben. Dann muß alles sehr schnell gehen. Pardon wird nicht gegeben, die kennen auch keinen Pardon. Bis sie ihre Waffen nachgeladen haben, müssen wir bereits an Deck sein." Langsam näherten wir uns der Galeone. Alle standen auf dem Sprung. Die Spannung wurde nun immer größer, als unser Bug sich dem anderen Schiff näherte. Die vorderen Drehbassen hackten los, ihr Hagel krachte erneut in die Bordwand, fetzte Holzsplitter heraus, drang durch die Stückpforten. Kaum waren die Kanonen abgefeuert, hörten wir wieder Schreie und Stöhnen. Musketen spien Feuer, ein paar Kugeln rasten über unsere Köpfe heulend und kreischend hinweg. Dann flogen die Enterhaken und verkrallten sich hinter dem Schanzkleid der Galeone. Die Poller wurden blitzschnell belegt. Eine Horde von fünfundzwanzig Mann ergoß sich über das Deck der „Water-level". Pete Bird stürmte wie ein kleiner giftiger Teufel los. In der linken Hand hielt er die Pistole, in der rechten ein Entermesser. Jonny und ich flankten schon über den Niedergang, doch das Schott war verschlossen. Die Kerle hatten etwas geahnt und verbarrikadierten sich. Zebulon Prescott fackelte nicht lange. Er nahm die riesige Axt und hieb wie ein Wilder auf das Schott ein. „Zurück! " brüllte eine Stimme. „Die Kerle sind achtern und kommen über Deck." Das Holz zersplitterte unter dem letzten Hieb. Zebulon ließ das Schott sausen, drehte sich um und sprang in langen Sätzen nach oben. Auch ich rannte in aller Eile zurück. Fast hätten wir die Kerle im Rücken gehabt, denn jetzt rannten sie über die Kuhl und drangen mit wüstem Geschrei auf uns ein. Sie hatten Belegnägel, Handspaken, Pistolen
und Messer in den Fäusten, und sie kämpften wie der Teufel. Verloren sie, dann waren sie erledigt, und deshalb setzten sie alles dran, um ihre Freiheit zu behalten. Die ersten Schüsse krachten. Dicht vor mir warf einer röchelnd die Arme hoch und brach zusammen. Die Kugel war haarscharf an meinem Schädel vorbeigesaust. Aus den Augenwinkeln sah ich, wer geschossen hatte. Es war einer unserer Männer, der im unteren Vormars hockte und die Kerle aus dieser Position aufs Korn nahm. Er feuerte immer dann, wenn einer von uns hart bedrängt wurde. Ein Kerl mit einer Handspake drang auf mich ein. Er holte zu einem mörderischen Schlag aus, hatte das Gesicht in unvorstellbarer Wut verzogen und wollte mich erschlagen. Als die Spake noch über seinem Kopf hing, feuerte ich. Er wurde in die Brust getroffen und ließ die Spake fallen. Die Wucht der Kugel trieb ihn die zwei Schritte bis an den Niedergang zurück. Dort fiel er polternd die Stufen hinunter. Wilder und härter wurde der Kampf. Einem weiteren Kerl stieß ich das Messer in den Körper. Er traf mich trotzdem noch empfindlich mit dem Belegnagel an der Schulter. Dann brach er zusammen. Zebulon war wohl der härteste Kämpfer von allen, Jeremias Bunk mit eingeschlossen. Er hatte die Axt in der Hand und wütete damit. Er hielt sie wie eine riesige Sense in den Händen, und wer davon getroffen wurde, war auf der Stelle tot. Plötzlich stand der Profos neben mir und drückte mir seine Axt in die Hände. „Hier", schrie er, „geh zur Waffenkammer und laß die anderen Männer heraus." Ich rannte an der kämpfenden Meute vorbei, hieb mit der Axt nach einem Kerl, der Jonny bedrängte, und rannte weiter. Die Waffenkammer fand ich auf Anhieb. Sie war von innen verrammelt, und die Sträflinge hatten zusätzlich von außen ein paar Balken so vor die Kammer geklemmt, daß niemand heraus konnte. Mit der Axt schlug ich die Balken auseinander. Dabei rief ich: „Wir sind von der ,King Charles'. Wir haben die Kerle an Deck. Ihr könnt herauskommen." Das Schott wurde so schnell und heftig aufgestoßen, daß ich es fast vor den Schädel gekriegt hätte. Gerade noch rechtzeitig sprang ich einen Schritt zur Seite.
„Gott sei Dank", sagte der Kapitän der Galeone, der als erster herausrannte. „Gott sei Dank, ihr seid gerade zur richtigen Zeit gekommen." Sie waren bis an die Zähne bewaffnet, trugen Bandeliers und hatten in jedem drei doppelläufige Pistolen stecken. Unter lautem Gebrüll rannten sie an Deck. Es waren etwa ein Dutzend Leute. „Im Magazin sind auch noch welche", sagte einer. „Ich erledige das schon. Wir kommen gleich." Mich hielt nichts mehr. Ich rannte der Horde nach, die uns jetzt unterstützte. Die Männer hatten eine unglaubliche Wut im Bauch und kannten keine Gnade. Sieben weitere stürmten aus dem Pulvermagazin und mischten ebenfalls kräftig mit. Ich sah Leach, der blutend und mit mörderischen Blicken auf El Pomado eindrang. Der hatte gerade seine Pistole leergeschossen und griff nun zum Messer. Als Leach mich sah, wurde sein Blick noch grausamer. Er fuhr halb herum und ging brüllend auf mich los. Sein furchtbares Gebrüll sollte mich wohl einschüchtern. Ich drückte sofort ab, denn von Leach hatte ich nur noch den Tod zu erwarten. Außerdem hatte er einen ganz persönlichen Haß auf mich. Er zuckte zusammen, als ich ihn traf. Seine Lippen zitterten. Noch einmal versuchte er das Entermesser hochzureißen und auf mich einzudringen. Da hieb ihm El Pomado mit einer an Deck liegenden Spake hart über den Schädel. Leach taumelte, brach einmal blutüberströmt zusammen, ging in die Knie und richtete sich wieder auf. Er taumelte weiter, bis er mit dem Rücken am Schanzkleid stand. „Auf Wiedersehen", sagte Jonny trocken. Er packte ihn an den Stiefeln, hob ihn blitzschnell hoch und warf ihn über Bord. Ein heiserer Schrei, ein Aufklatschen. Leach trieb davon, hielt sich aber noch mit lahmen Bewegungen über Wasser. Er war nicht der einzige, der über Bord geflogen war. Ein paar waren schon untergegangen, ein anderer schwamm noch. Damit war der Kampf endgültig beendet. Sieben Sträflinge ergaben sich, die meisten anderen waren tot. Sie hatten der Übermacht nicht mehr standhalten können, und seit wir Verstärkung durch die andere Mannschaft erhalten hatten, war alles schnell entschieden.
Keuchend standen wir da. Ich sah über Bord und zuckte unwillkürlich zusammen, als ich zwei große Schatten sah, die in weitem Bogen um die Schiffe schwammen. Die Haie waren da, angelockt vom Blut der Männer, die über Bord gegangen waren. Pete Bird trat neben mich und sah meinen starren Blick. Auch er starrte aus großen Augen ins Wasser. Leach zappelte immer noch im Wasser. Er zog eine lange Blutbahn hinter sich her, die die Haie fast verrückt werden ließ. Ein riesiger Schatten umkreiste Leach bereits, der zweite folgte augenblicklich. Leach hatte seine Lage offenbar erkannt. Trotz seiner schweren Verletzungen hieb er wild um sich und begann zu schreien, immer lauter, immer gellender. Jetzt war der Hai deutlich zu erkennen. Dicht unter Wasser schoß er auf sein zappelndes und schreiendes Opfer zu und griff an. Der zweite Hai schoß pfeilschnell heran, und dann schien das Wasser zu kochen. Leach wurde in einem rasenden Wirbel in die Tiefe gezogen. Eine Blutwolke war zu sehen, in der die Haie wie verrückt herumtobten. Er tauchte auch nicht mehr auf. Sein Ende war schrecklich, aber keiner weinte ihm eine Träne nach. Flanagan schickte den Ersten ans Ruder und kam herüber an Deck. Master Carson von der „Water-level" schüttelte ihm dankbar die Hand. „Später", wehrte der Master ab. „Lassen Sie Segel setzen, die Küste hier weist Untiefen auf. Wir könnten auflaufen." Sofort gingen die Männer an die Arbeit. Die sieben Sträflinge wurden von uns scharf bewacht und keinen Augenblick lang aus den Augen gelassen. „Werft eure toten Kumpane über Bord", sagte Master Carson. „Danach werdet ihr in Eisen gelegt, aber so, daß ihr euch nie wieder befreien könnt." „Wie sind sie überhaupt ausgebrochen?" fragte Flanagan. „Sie waren doch angekettet." „Wir wissen es leider nicht. Offenbar war einer doch nicht sorgsam genug angekettet, konnte sich befreien und machte die anderen los. Als wir den Raum öffneten, um die Kerle einmal täglich einzeln an Deck zu führen, brachen sie mit einem Schlag aus und überwältigten einen Teil meiner Männer. Dabei gab es ein paar Tote." Carson schwieg ein paar Lidschläge lang und sah ungerührt zu, wie einer nach dem anderen über Bord flog. Die Haie waren inzwischen
zahlreicher geworden. Immer mehr Flossen durchpflügten blitzschnell die See und stießen dort hinein, wo die Toten untergingen. „Wir konnten uns buchstäblich im allerletzten Augenblick ins Magazin und in die Pulverkammer zurückziehen, denn die Kerle hatten schon die vordere Drehbasse besetzt und wollten sie gerade abfeuern." Pickens, der auch mitgekämpft hatte, sah Carson in die Augen. „Die Kerle wollten Sie aushungern, aber Sie drohten damit, notfalls das Schiff in die Luft zu jagen, nicht wahr?" Carson nickte ziemlich verblüfft. „Woher wissen Sie das?" fragte er erstaunt. „Oh, mein Zweiter Offizier weiß immer alles, oder fast alles", sagte Flanagan lächelnd.. „Es war eine Theorie von ihm, die sich bewahrheitet hat. Er ist auch auf den Bluff nicht hereingefallen, als die Sträflinge sagten, sie hätten die Offiziere in ihrer Gewalt. Er ahnte auch, daß Sie in der Pulverkammer waren und daß auf dem Schiff so eine Art Patt-Situation herrschte." „Ein bemerkenswerter Mann, Ihr Zweiter Offizier", sagte Carson anerkennend, worauf Pickens vor Verlegenheit wieder rot anlief. Flanagan und Carson unterhielten sich noch. Wir anderen kehrten wieder auf die „King Charles" zurück. Von dort aus sahen wir, wie die Sträflinge einzeln nach unten gebracht und wieder in Eisen gelegt wurden. Ein zweites Mal würde Carson dasselbe Mißgeschick ganz sicher nicht mehr passieren. Er hatte aus der grausamen Erfahrung genug gelernt. Wir tuchten ebenfalls wieder auf, blieben aber noch mit der „Waterlevel" zusammen. „Ich schlage vor, wir laufen die Bucht in der Nähe von dem französischen Fort Dauphin an", sagte Flanagan zu Carson. „Leider habe ich Ihr Schiff ein wenig beschädigt, aber das ließ sich zu meinem Bedauern nicht vermeiden." „Halb so schlimm", sagte Carson. „Das kann wieder repariert werden. Ohne Sie wären wir in ein, zwei Tagen nicht mehr am Leben gewesen. Dort drüben wären wir gestrandet, weil die Halunken gar nicht in der Lage sind, ein Schiff zu segeln oder gar zu navigieren. Wissen Sie, was uns dort erwartet hätte?" Flanagan lächelte fast unmerklich. „Mister Pickens wußte auch das, oder vermutete es. Die Kerle hätten das Schiff in Brand gesteckt und wären geflohen."
„Ja, ganz genau. Darüber haben wir auch gesprochen, das haben wir vermutet, denn mit uns konnten sie nichts anfangen und mit dem Schiff ebenfalls nicht." Carson musterte Pickens heimlich von der Seite. Aber der Zweite tat so, als habe er nichts gehört. Zusammen segelten wir weiter bis auf die Küste von Madagaskar zu. Aber wir segelten drei, vier Meilen bis unterhalb Fort Dauphin, um die Franzosen nicht zu behelligen, die hier das Land für sich in Besitz genommen hatten. Wir sahen zwar keines ihrer Schiffe, aber sie hatten zweifellos den Kanonendonner gehört und wären neugierig geworden. In der Bucht gingen wir vor Anker. Die Schäden würden morgen früh ausgebessert werden. Heute wurde auf der anderen Galeone nur noch Reinschiff gemacht. An jenem Abend gab es genug zu erzählen, und der Gesprächsstoff riß nicht mehr ab. „Hast du schon mal eine Reise erlebt, wo nichts los war?" fragte Jonny mich. „Es passiert doch verdammt nie, daß wir einmal ohne Unterbrechung von Indien nach England segeln, oder umgekehrt." „Ja, das stimmt", gab ich zu. „Bin nur mal gespannt, ob es von nun an bis England klappt." „Bestimmt nicht", versicherte Jonny, „darauf verwette ich mein ganzes Geld." Natürlich behielt er recht, denn es gab auch weiterhin noch recht unliebsame Zwischenfälle. Am anderen Morgen, kaum daß die Sonne aufgegangen war, wurde auf der anderen Galeone bereits gehämmert, gesägt und geklopft. Die Männer waren bei der Arbeit. Das stehende und laufende Gut hatte etwas gelitten und wurde ausgebessert, ebenso die kleinen Holzschäden. Carson kam zu uns herüber. „Wir haben doch beide das gleiche Ziel", sagte er, „nämlich London. Halten Sie es nicht für zweckmäßiger, Master Flanagan, wenn wir die Strecke zusammen segeln?" „Selbstverständlich, das ist ein guter Vorschlag. Wir werden jedenfalls versuchen, zusammenzubleiben, falls uns das Wetter keinen Strich durch die Rechnung macht. Werden Sie bis heute abend mit den Arbeiten fertig sein?" „Ja, ganz sicher. Sie haben mir ja noch Ihren Schiffszimmermann ausgeliehen, und der arbeitet für drei.”
„Gut", entschied der Master. „Dann schlage ich vor, wir segeln morgen früh bei Anbruch der Dämmerung los. Vergessen Sie nicht, nach den Halunken zu sehen", sagte er dann noch eindringlich. „Ganz bestimmt nicht. Das war mir eine bittere Lehre. Es wird nie wieder passieren, darauf können Sie sich verlassen. Vielleicht wäre es sogar angebracht, drei der Galgenvögel in die Vorpiek zu schließen. Sieben sind ja nur noch übriggeblieben. Was würden Sie an meiner Stelle tun?" „Ich würde sie auch nicht zusammenlassen", überlegte Flanagan laut. „Je weniger Kontakt sie zueinander haben, desto besser und sicherer für Sie und Ihre Mannschaft." „Ein guter Gedanke, ich werde das sofort tun." Drei der Galgenstricke wurden nach oben gebracht und mußten an Deck Aufstellung nehmen. Sie blickten sich verstört und ängstlich an. Einer sah schaudernd zu den Rahen, wo gerade mit Tauwerk hantiert wurde. „Die wollen uns hängen", schrie er entsetzt. Alle drei erfaßte Panik, und dann geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte. Die Kerle waren schwer gefesselt und konnten sich kaum bewegen. Gefahr ging von ihnen nicht mehr aus. Zudem wurden sie noch von vielen Männern bewacht. Der Kerl, der das mit dem Hängen gesagt hatte, verlor wohl die Nerven. Er lehnte am Schanzkleid, gab seinem Körper einen mächtigen Schwung und ließ sich nach hinten fallen. Er ersoff lieber, als gehängt zu werden. Er klatschte dumpf ins Wasser und verschwand sofort in der unauslotbar tiefen Bucht. Wie ein Stein versank er. Die schweren Ketten zogen ihn blitzschnell nach unten. Ein paar Augenblicke lang konnten wir mit Blicken verfolgen, wie er in pechschwarzes Wasser fiel, immer tiefer, bis nur noch ein paar Luftblasen nach oben kamen. Dann war er für immer verschwunden. Die beiden anderen zitterten heftig und blickten wieder zu den Rahen. Carsons Leute stießen sie vorwärts und brachten sie in die Piek, wo sie angekettet wurden. Einen weiteren Mann holten sie ebenfalls noch aus dem Raum und brachten ihn nach vorn. Jetzt waren von der wüsten Bande nur noch sechs Mann am Leben. Einer war freiwillig in den Tod gegangen, weil er einem Irrtum unterlag. Bis zum späten Abend war die „Water-level" wieder in einwandfreiem Zustand. Master Carson ließ für seine und unsere Mannschaft ein paar
Fäßchen Ruin ausgeben. Offiziere und Kapitäne waren nach achtern gegangen und feierten für sich. Es wurde kein Besäufnis. Wir unterhielten uns nur und tranken hin und wieder einen Schluck. Lediglich El Pomado war leicht angeschickert und prahlte mit seinen Heldentaten und seiner Reise unter Master Fleet, für den er einfach eine Schwäche hatte, obwohl der ihn nicht gerade sanft angefaßt hatte. In der Frühe des anderen Morgen lichteten wir die Anker, setzten die Segel und liefen aus. Wir nahmen Kurs auf das Kap der Guten Hoffnung, würden es runden und dann an der Westküste Afrikas hochsegeln. Doch wieder einmal kam etwas dazwischen, als wir nach Tagen Cabo tormentoso anliefen. Das Wetter verschlechterte sich, Sturm kam auf. Schon bald gingen die Wellen haushoch, und es wütete immer heftiger. Dann regnete es junge Hunde, wie wir sagten. Achteraus hatte die andere Galeone schwer mit dem Sturm zu kämpfen, wie wir auch. Der Wind drehte und fauchte mit fürchterlicher Gewalt am Nadelkap. Der Name Cabo tormentoso legte alle Ehre ein, es wurde ein furchtbarer Sturm. Am 2. Januar 1635 mußten wir vor Topp und Takel lenzen. Zwei Meilen weiter, an Steuerbord, war ein feiner Landstrich zu sehen, der immer wieder im Regen verschwand und unsichtbar wurde. Als wir das Land endlich wieder sahen, war das mit einem kleinen Schreck verbunden. Es war so dicht gerückt, daß man glaubte, es schon mit den Händen greifen zu können. Der brüllende Südwind schob uns immer weiter auf Legerwall und drohte uns in die aufragenden Klippen zu werfen, wo wir zweifelsfrei zerschellen würden. Aber alles ging gut. Unser Schutzengel hielt den Daumen dazwischen und bewahrte uns vor einem fast sicheren Schiffbruch. Diesmal hatte das Runden ein paar Tage gedauert. Als das Unwetter endlich vorüber war, sahen wir von der anderen Galeone nichts mehr und vermuteten, daß sie in dem schweren Sturm gesunken oder aber an Land geworfen worden war. Auch in den zwei Tagen, in denen wir nach ihr suchten, fanden wir keine Spur mehr von dem Schiff. Erst sehr viel später erfuhren wir, als wir längst in London waren, daß sie England heil erreicht hatte. Die sechs Galgenvögel waren öffentlich gehängt worden.
Aber das erfuhren wir, wie gesagt, erst in London, und bis dahin lag noch eine lange Strecke vor uns, die keinesfalls gefahrlos verlief. ENDE