Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 609 Anti-ES - Xiinx-Markant
Atlan und Barleona von Hans Kneifel Fremde an Board der ...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 609 Anti-ES - Xiinx-Markant
Atlan und Barleona von Hans Kneifel Fremde an Board der SOL Hidden-X ist nicht mehr! Und somit haben Atlan und die fast hunderttausend Bewohner der SOL die bislang gefährlichste Situation auf dem an Gefahren reichen Weg des Generationenschiffs fast unbeschadet überstanden. Doch was ist mit dem weiteren Weg der SOL? Die Verwirklichung von Atlans Ziel, das schon viele Strapazen und Opfer gekostet hat – das Ziel nämlich, in den Sektor Varnhagher-Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen –, scheint nun außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu liegen. Denn beim entscheidenden Kampf gegen Hidden-X wurde Atlan die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrags entzogen: das Wissen um die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst. Doch Atlan gibt nicht auf! Im Bemühen, sich die verlorenen Koordinaten wieder zu besorgen, folgt der Arkonide einer vagen Spur, die in die Randgebiete der Galaxis Xiinx-Markant führt, wo die SOL in neue, erbitterte Kämpfe verwickelt wird, die, wie man inzwischen weiß, auf das unheilvolle Wirken der sogenannten »Mental-Relais« zurückzuführen sind. Nach der Ausschaltung eines solchen Relais ist denn auch im Umfeld der SOL Ruhe eingetreten. An Bord selbst ist jedoch weiterhin für Hochspannung und Unruhe gesorgt. Schuld daran sind ATLAN UND BARLEONA …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide kümmert sich intensiv um eine Frau. Barleona - Eine seltsame Fremde an Bord der SOL. Breckcrown Hayes - Der High Sideryt sucht das Weltraumabenteuer. Lyta Kunduran - Ihr Schiff wird zur Notlandung gezwungen. Tyari - Eine Besucherin aus der Galaxis Bars-2-Bars. Tremtrin - Das Manifest D erscheint.
1. Das zernarbte, graue Gesicht des High Sideryt beugte sich hinunter. Seine Stimme grollte auf. »Nein. Das kann ich nicht glauben.« Sannys helle Stimme wurde ein wenig spitz, als sie antwortete: »Eine Produktion der Zukunft ist stets eine enge Verbindung von Hoffnung und Phantasie. Kann es sein, daß sich im Moment deine Gedanken zielstrebig auf die Zukunft richten? Auf die eigentliche Bestimmung unseres Lebensbereichs?« Hayes machte eine unbestimmte Bewegung. »Ich habe mich schon halb entschlossen, dort weiterzumachen, wo Atlan aufgehört hat.« »Er hat nicht wirklich aufgehört. Es wird nur stark abgelenkt«, sagte die Molaatin. Sie saßen in der Klause des High Sideryt. Um sie herum herrschte eine eigenartige Atmosphäre der SOL. Die Räume und Korridore waren von sauberer, kühler Luft und mildem Licht in allen warmen Schattierungen erfüllt. Unsichtbare Versorgungseinrichtungen arbeiteten in der Mehrzahl völlig lautlos. Seit undenkbarer Zeit raste die SOL durch das Universum und durch zahllose Abenteuer, die niemand an Bord je für möglich gehalten hätte. »Abgelenkt«, sagte Breck düster. »Barleona wird, hoffe ich, nicht zu einem echten Konfliktfall.«
»Ich bin sicher, daß Atlans Begeisterung für ein neues, intellektuelles Problem nicht sehr lange anhält.« »Barleona ist nicht nur eine intellektuelle Aufgabe«, grollte der High Sideryt. »Sie interessiert Atlan auch als Frau.« »Ich gönne ihm diese Freude«, wandte Sanny ein. »Er ist sich selbst gegenüber allerdings ebenso skeptisch wie wir.« »Sicherlich, ganz bestimmt sogar.« »Ich schlage vor«, meinte Sanny, »daß wir den Grund der sinnlosen Qualifikationskämpfe der Planetarier auszuschalten versuchen.« »Also die sogenannten Mental-Relais?« brummte Breckcrown. »Ja. Im Augenblick herrscht trügerische Ruhe«, unterstrich Sanny. »Wir sollten diesen Umstand ausnutzen.« Die Bordchronometer zeigten den Anfang des neunten November 3807 an. Unbehelligt und unbetroffen von den Auseinandersetzungen in Xiinx-Markant stand die SOL fernab aller Sonnen im Bereich der befriedeten Zone. Ein Mental-Relais war zerstört, und die Besatzung konnte hoffen, daß der friedliche Zustand einige Zeit erhalten blieb. Hayes grinste schief und murmelte: »Er ist gerade bei der Hypnoschulung, nicht wahr?« »Ein bewährtes Verfahren«, entgegnete Sanny und funkelte vergnügt mit ihren großen, glänzenden Augen. »Barleona ist für uns alle an Bord die große Unbekannte. Rätselhafte Herkunft, harmlos und unwissend, schüchtern und bemüht, den Anschluß an das aktuelle Leben an Bord zu finden.« »Zugegeben«, brummte Breckcrown. »Sag – kannst du Barleona ›berechnen‹?« Sanny schüttelte ihren kleinen, bepelzten Kopf. »Nichts zu machen. Ich vermag nicht festzustellen, ob sie grundsätzlich positiv oder negativ ist.« Breck lehnte sich zurück und ließ seine Blicke über die Reihen der Monitoren gehen. Sie zeigten den leeren Weltraum und Ausschnitte aus allen drei Teilen des gigantischen Schiffes. Der High Sideryt
sagte wie beiläufig, während er die Bildschirme prüfte: »Die Angehörigen des Atlan-Teams sehen es nicht so gern, daß er sich fast ausschließlich mit dem weiblichen Fremdkörper beschäftigt.« Sanny kicherte. »Fremdkörper ist gut. Du hast recht. Die anderen meinen, Barleona würde die Naive spielen. Ich bin fast sicher, sie ist wirklich naiv, im Sinn der Bedeutung dieses Wortes eurer Sprache.« Es schien den Interessierten an Bord, als ob Atlan über der Sorge für Barleona die Suche nach den Koordinaten von VarnhagherGhynnst zurückstellen würde, ebenso wie die Erkundigung der Dunkelzone. Der High Sideryt teilte die Besorgnis nicht; er meinte, daß selbst für nebensächlich erscheinende Vorgänge an Bord genug Zeit und genügend Toleranz vorhanden sein müßten. »Warten wir ab«, sagte er. »Ich werde SENECA zu Rate ziehen.« »Um andere Mental-Relais zu finden?« »Genau dazu. Es gibt viele Teilbereiche, die wir in dieser ruhigen Phase erkunden und erforschen können.« Ungeachtet der vorliegenden Probleme, die sich mit den Vorfällen entlang der SOL-Reise beschäftigten, herrschte an Bord das normale Leben. Es wurden die notwendigen Reparaturen durchgeführt, es waren Zehntausende, die unentwegt versorgt werden mußten, man sammelte Millionen von Daten und versuchte, sie mit SENECAs Hilfe zu verarbeiten. Mannschaften wurden trainiert und in Simulatoren ausgebildet, Maschinen produzierten, und sie verbrauchten riesige Mengen von Rohstoffen und Energien. Die meisten Vorgänge liefen unsichtbar und fast unhörbar ab und sicherten der riesigen Gemeinschaft im Innern der zwei Kugeln und des Zylinders das Überleben ohne »wirtschaftliche« Sorgen. Die wirklichen Probleme wurden zur Zeit von außen an die SOL und ihre Insassen herangetragen. Atlan allerdings war einer der wenigen, die daran nicht dachten. Es war mit anderen Problemen beschäftigt.
* Die Stimmung im Labor war schwer zu definieren. Gespannte Erwartung, aufgeregte Ruhe, oder auch distanzierte Skepsis zitterten förmlich in der Luft. Barleona lag ausgestreckt und regungslos unter der chromglänzenden Haube der Hypnogeräte. Einige Meter von ihr entfernt lag Atlan in seinem weiß überzogenen Kontursessel. Der Arkonide war nur äußerlich ruhig. Der Logiksektor schaltete sich warnend ein: Sehr gefährlich, Atlan, ihr das Grundwissen über die SOL und alles andere zu übermitteln. Sie erhält Informationen, die auszunutzen sind! Atlan hob als Antwort die rechte Hand und konzentrierte seinen Blick auf das Gesicht der jungen Frau. Mehr als fünfundzwanzig »terranische« Jahre gab er ihr nicht; auch wenn sie von anderen als irdischen Welten abstammen sollte, so war sie zumindest äußerlich nicht älter. Im künstlichen Licht dieses Raumes wirkte ihre Hautfarbe wie ein heller Bronzeton. Das dunkelbraune Haar lag glatt auf dem Kissen der Nackenunterlage. Ihre Brust hob und senkte sich in tiefen, ruhigen Atemzügen. Nun blinzelte sie, öffnete für kurze Zeit die Augen und starrte an das schwach leuchtende Rastermuster der abgehängten Decke. Atlan sagte leise: »Barleona! Du mußt mir antworten! Du beherrscht das Interkosmo so gut wie jedermann an Bord. Sprich mit mir, mit Atlan, der das Beste für dich will.« Sie hauchte, noch unter dem Eindruck des Stromes der Impulse stehend: »Ich habe viel gelernt. Ich danke dir.« Atlan wußte selbstverständlich, daß er einer der Hauptverantwortlichen eines wichtigen Experiments war. Seine Erfahrung, die nach Jahrtausenden zählte, sagte ihm, daß er mit der
telepathisch nicht ausforschbaren Frau seine Schwierigkeiten haben würde. Er meinte, kein zu großes Risiko einzugehen, wenn er ihr pauschale Informationen übermittelte. »Dank ist nicht angebracht«, antwortete er zurückhaltend. »Du mußt unser Leben und die Umstände kennen, unsere Zielsetzungund die gegenwärtige Position dieses gewaltigen Organismus aus Stahl und Leben, den wir die SOL nennen.« Barleona antwortete, indem sie ihren Oberkörper aufrichtete: »Auch in Interkosmo muß ich sagen, daß ich nichts weiß.« »Was bedeutet in diesem Fall nichts?« fragte er begierig. »Meine Erinnerung reicht in eine lange Zeit zurück. Diese Zeit war nicht definiert; sie kann einige Ewigkeiten betragen haben oder nur Jahre. Ich habe sie ausschließlich in jener Überlebenszelle verbracht.« Mit einigen Schwierigkeiten, die sie aber schnell besiegte, weil sie mit jedem Handgriff lernte, benutzte Barleona die Möglichkeiten ihrer Umgebung mit ständig wachsendem Geschick. Sie paßte sich schnell an. So schnell, daß es jedermann auffiel. Sie besaß ohne Zweifel eine hohe, praktisch und theoretisch orientierte Intelligenz. Gib es wenigstens dir gegenüber zu, drängte der Logiksektor. Du bist von Barleona hingerissen! »Meinetwegen«, knurrte Atlan und stand auf. Er blieb neben der Liege stehen, preßte den Finger auf einen Schalter und kippte dadurch das Oberteil der flachen Platte nach vorn, fast in die Senkrechte. »Ich will erreichen«, sagte er, »daß du zu dir selbst findest, Mädchen.« Sie betrachtete Atlan aus ihren neugierigen, großen Augen. »Ich weiß nicht, was dort zu suchen wäre. Alles ist so seltsam … leer.« »Du erinnerst dich nicht einmal an Teilbereiche?« »Ich erinnere mich an eine Abfolge von bedeutungslosen Handlungen«, erklärte sie langsam und in tiefem Nachdenken.
Immer wirkte sie, wenn die Phase der Hypnoschulung vorbei war, als ob sie aus einem abgrundtiefen Traum erwacht sei. Mitleid und Faszination, das waren die beiden wichtigsten Eindrücke, die Atlan empfand. Er sagte: »Ich werde Sternfeuer rufen. Mit ihr hast du bisher die besten Erfolge gehabt.« »Du meinst, daß sie versuchen wird, in meinem Verstand zu graben und das herauszufinden, was du nicht gefunden hast?« »So oder ähnlich.« Atlan betrachtete sie nachdenklich. Er wußte, daß seine engsten Freunde an Bord seine Bemühungen äußerst kritisch verfolgten. Er konnte sie verstehen, denn es gab wirklich andere Probleme als ausschließlich diesen weiblichen Fremdling. Barleona schwang ihre langen, schlanken Beine von der Liege und stellte die Sohlen auf den weichen Bodenbelag. Sie faltete die Hände in einer fast rührenden Bewegung im Schoß und sagte halblaut: »Ich mache viele Fehler. Ihr müßt es entschuldigen. Ich bin für jede Hilfe dankbar. Ich bin allein und fremd auf diesem Raumschiff. Sie muß riesig sein, die SOL, nicht wahr?« Atlan nickte mehrmals. »Sie ist riesig. Aber auch deine neue Heimat ist angreifbar und verwundbar. Einige von uns befürchten, daß ein Fremdkörper eine Gefahr von innen bilden kann. Jeder, den wir aufnehmen, kann ein Fremdkörper sein. Ich persönlich glaube nicht im mindesten daran, daß du ein solcher Keim sein könntest. Ich glaube dir, neige aber auch zur Vorsicht. Natürlich sorge ich mich um dich, um deine unbeholfenen Versuche, an Bord heimisch zu werden.« Schweigend blickte Atlan eine Zeitlang auf ihren Scheitel hinunter und sagte dann abschließend: »Für heute habe ich getan, was ich konnte. Ich hoffe, daß du und Sternfeuer euch gut versteht.« Mit langsamen Schritten verließ er den Raum.
* Breckcrown Hayes knurrte voller Grimm: »Dort, in dieser Dunkelzone, verbirgt sich etwas.« Was immer es war, es hielt den Weiterflug der SOL auf. Der Empfangsschirmprojektor des Mental-Relais hatte eindeutig auf das Zentrum der Dunkelzone hingewiesen, auf den Mittelpunkt von Xiinx-Markant. Das Relais war mittlerweile zerstört, aber die Informationen lagen zur weiteren Verarbeitung vor. Unmittelbar vor dem High Sideryt befanden sich die Schaltkonsole und die peripheren Geräte des SENECA-Terminals. Sämtliche Aggregate waren aktiviert. SENECAS Antwort erfolgte optisch und akustisch. »Definitiv konnte ich den Standort nur von einem Mental-Relais errechnen.« »Du hast die Daten«, antwortete 10 Breckcrown, »um den Wirkungskreis ausrechnen zu können.« »Ist bereits geschehen.« »Zeige mir, was du hochgerechnet hast!« forderte der High Sideryt auf und berührte einige Tastenfelder. Augenblicklich sprangen Darstellungen in sämtlichen Farben, sich langsam entwickelnde Grafiken und blinkende Zeilen von Zahlen und Buchstabengruppen auf die Monitoren. SENECAs Stimme sagte leidenschaftslos: »Du siehst, daß mit größter Wahrscheinlichkeit die gesamte äußere Zone dieser Galaxis von solchen Mental-Relais förmlich gespickt ist. Dies sind die neuesten Daten, die ich ermitteln konnte.« Breckcrown gab ein unterdrücktes Stöhnen von sich. »Meine Berechnungen gehen von folgender Gewißheit aus: Wenn nur jene Bereiche, in denen Auslesekämpfe beobachtet werden konnten, als Basis einer Hochrechnung benützt werden, müssen es einige Millionen der strahlenden Elemente sein.« Breckcrown stützte sein Kinn schwer in die breiten Hände und
murmelte: »Wieder einmal eine Aufgabe, die unsere Kräfte bei weitem übersteigt. Ermittle die Standorte der nächsten Mental-Relais und gib uns die Koordinaten.« Breckcrown speicherte die ersten Daten in einer Nebenanlage und sagte: »Die Daten genügen bereits, um eine Suchexpedition auf den Weg zu schicken.« »Du hast vor, einige Relais anzusteuern?« fragte SENECA. »Ja. Mit mindestens drei Kreuzern.« »Dann brauchst du nicht nur die nächstgelegenen Ziele, sondern auch Ausweichkoordinaten«, stellte SENECA fest. »Zur Sicherheit brauchen die Kommandanten der Schiffe eine Auswahl an Alternativen«, bestätigte der High Sideryt. Er schaltete eine Leitung in Atlans Räume und hielt den Ton vorläufig gedrosselt. »Hier sind sie.« Summend arbeitete der Drucker, auf den Schirmen formierten sich neue Angaben. »Drei Kreuzer«, murmelte Breck. »Und Brooklyn muß mitmachen!« Auf einem der Bildschirme stabilisierte sich die Gestalt des weißhaarigen Arkoniden. Er nickte Breckcrown kurz zu und sagte: »Du scheinst größere Dinge vorzuhaben!« »Ja. Im Gegensatz zu dir kümmere ich mich um die Vorgänge außerhalb des Schiffes.« »Das merke ich«, antwortete Atlan. »Ich halte allerdings die Beschäftigung mit Barleona für wichtiger, wenigstens im Augenblick. Du kannst es verstehen, denn wir hatten schon so oft Eindringlinge, die sich als wahre Schreckensgestalten herausstellten. Denke an die Zehnlinge! Ich muß herausfinden, was es mit der Frau auf sich hat. Glaube nicht, daß ich deswegen allen anderen Vorgängen uninteressiert gegenüberstehe!«
»Es besteht keinerlei Zweifel an deiner Loyalität«, entgegnete Breck ein wenig verkniffen. »Man ist allgemein der Auffassung, daß dich die Frau förmlich einwickelt. All dein Interesse dreht sich nur um sie.« »Nicht ganz«, widersprach Atlan. »Sonst würde ich jetzt nicht mit dir sprechen.« »Auch wahr«, brummte Breckcrown verdrossen. »Was willst du eigentlich wirklich?« »Ein unerklärliches Geheimnis lösen«, gab Atlan zurück. »Meinetwegen.« Während SENECA ununterbrochen neue Koordinaten auswarf und ausdruckte, starrten sich die beiden Männer schweigend an. Breckcrown winkte schließlich ab und rief grollend: »Ich fliege mit der KONTERMANN.« Atlan versuchte ein zustimmendes Lächeln. »Jedermann begrüßt deine Aktivitäten«, sagte er. »Ich bin das nächstemal bei einem riskanten Einsatz dabei. Für die nächsten Tage bitte ich um Entschuldigung und Verständnis.« Nach kurzem Zögern schloß er: »Mit den kritischen Stimmen an Bord und in meiner nächsten Umgebung werde ich schon fertig.« Breckcrown hob die Hand und winkte eine Art Abschiedsgruß in die Richtung des Monitors. Atlans Kopf und Oberkörper verschwanden aus dem Bild. Dann ließ sich der High Sideryt die Namen der einsatzbereiten Kreuzer geben, stellte seine Teams zusammen und bestimmte schließlich, daß die SZ-2-15, die FERNWEH, dann die STERNLOK oder SZ-2-16 und die KONTERMANN, also die SZ-2-18, startbereit gemacht wurden. SENECA speiste sämtliche Computer der drei Kreuzer mit seinen errechneten und extrapolierten Informationen und Koordinaten. »Gallatan Herts wird während meiner Abwesenheit«, verkündete Hayes, »die Verantwortung über die SOL haben. Wir rechnen damit, daß wir in drei bis vier Tagen alle wichtigen Erkenntnisse eingeholt
haben werden.« Noch während er von der Hauptzentrale aus die Einsätze und deren Teilnehmer vorbereitete, erschien Federspiel, grüßte die verschiedenen Gruppen und erklärte kurz: »Ich fliege mit.« »Ausgezeichnet«, rief der High Sideryt. »Einen Telepathen für den Fall, daß wieder einmal keine Funkverbindung möglich ist. Ich würde es begrüßen, wenn du an Bord der KONTERMANN mitfliegen würdest.« »Einverstanden.«
2. Die KONTERMANN entfernte sich in einer Geraden von der SOL. Die Besatzung ahnte ziemlich genau, in welche Gefahr sich die drei Schiffe wagten. Nur Breckcrown saß scheinbar gelassen im Kontursessel vor den Zentralschirmen. »Wir stoßen direkt zum ersten Zielpunkt vor!« bestimmte er mit Entschlossenheit. Die beiden anderen Kreuzer folgten schräg gegeneinander versetzt. Zwischen den Zentralen und den drei Ortungsabteilungen bestand Sichtfunkverbindung. Die Geschwindigkeit nahm zu, der erste Abschnitt des Fluges würde eine Linearetappe von rund dreizehn Lichtjahren erfordern. Der Pilot wandte sich herum, deutete auf die Bilder aus den Ortungszentralen und bestätigte: »Wir befinden uns nachweislich in einer ruhigen Zone. Noch. Weit und breit kein einziges Raumschiff zu orten.« »Es wird sich ändern, wenn wir das Ziel erreichen«, sagte der High Sideryt. »Diese Mental-Relais sind schuld daran, daß sich die verschiedenen Sternenvölker mit einem gewaltigen Aufwand
gegenseitig dezimieren.« Wuschel, der seltsame Freund des skurrilen Roboters Blödel, hatte den treffenden Ausdruck für die Stationen gefunden. Die Solaner bezeichneten es als Doppelrad, und die Silhouette und die ersten Echos auf den Ortungsschirmen waren unverkennbar. Zwischen den drei Schiffen gingen unhörbar Datenströme hin und her. Die Raumschiffe flogen einen parallelen Kurs und näherten sich dem Punkt, an dem sie das Linearmanöver einleiten würden. Hayes drückte die Kommunikationstaste und erhob seine Stimme zu einem befehlenden Grollen. »Und noch einmal: wir lassen uns auf keine Kämpfe ein. Unser Ziel ist in erster Linie die Aufklärung. Wenn es möglich ist, vernichten wir ein oder mehrere Relais. Klar, Freunde?« Die Kommandanten der FERNWEH und der STERNLOK nickten von den Schirmen. Nacheinander verschwanden die Kreuzer aus dem normalen Raum. Als sie, fast gleichzeitig, die Linearetappe beendeten und in das Gefüge zwischen Sonnen und Planeten hinausglitten, erschienen auf den Ortungsschirmen die ersten Impulse. Es wurden immer mehr Echos. Sie bewegten sich überraschend schnell und kamen von drei verschiedenen Richtungen auf die Schiffe zu. »Schutzschirme ausbringen!« ordnete Breckcrown an. Aus den Ortungsabteilungen kamen die ersten Warnungen. Die Linearetappe hatte eine Distanz von zwölfeinhalb Lichtjahren überbrückt. Ein halbes Lichtjahr voraus, direkt am Ende der eingeschlagenen Kursgeraden, leuchtete eine weiße Sonne. Fast synchron bremsten, während sich die schillernden Schutzschirme aufbauten, die Schiffe ihre Fluggeschwindigkeit geringfügig ab. Die Ortungsschirme füllten sich mehr und mehr mit den scharfen Echos der anfliegenden Schiffe. »Solania spricht«, kam die Stimme aus den Lautsprechern. »Es sieht für mich aus, als hätten die kleinen Flotten nur auf einen
Eindringling gewartet.« »Vermutlich sind sie alle derart motiviert, daß sie sich blindwütig auf alles stürzen, das sich bewegt.« Das war nicht nur Breckcrowns ausgesprochene Meinung. Die Ereignisse um das erste Mental-Relais sprachen für sich. »Feuerleitstelle FERNWEH«, schaltete sich ein Sprecher ein. »Im Fall eines ernsthaften Angriffs: zurückfeuern oder ausweichen?« Augenblicklich erwiderte der High Sideryt: »Wir weichen aus. Wenigstens vorläufig konzentrieren wir uns auf die ins Auge gefaßten Ziele.« Es ging allen Insassen der drei Kreuzer plötzlich ebenso wie ihm. Bei der schnellen Planung ihrer Mission war eine deutliche Komponente von Abenteuerlust nicht auszuschließen gewesen. Jetzt hatten sie ihr Abenteuer! »Ortung KONTERMANN hier. Die Auszählung ergab hunderteinunddreißig Raumflugkörper. Sie entsprechen in der Masse des einzelnen Schiffes etwa unserer Größe.« »Verstanden.« Noch flogen die Kreuzer ungehindert geradeaus. Hinter den gegnerischen Schiffen leuchteten langgezogene, eisig blaue Streifen. Jetzt glitten die fremden Schiffe auseinander und formierten sich zu einem halbkreisförmigen gekrümmten Band. Ihre Absicht war unverkennbar: Angriff. Breckcrown schwang seinen Sessel herum und starrte die Flut der Messungen auf den Bildschirmen und Displays vor sich an. Er begann rasend schnell dem Kurscomputer eine Berechnung vorzulegen. Er programmierte ein Ausweichziel, das die Schiffe in eine neue Position bringen würde. Sie mußte so beschaffen sein, daß sie ohne große Verzögerung den ermittelten Zielstern mit einem erneuten Manöver erreichen konnten. Der Rechner spiegelte die neuen Koordinaten auf einen Monitor. Der High Sideryt gab diese Informationen an die anderen Kreuzer weiter und erhielt die Bestätigungen.
Auf einem riesigen Spezialschirm erschien die erste Vergrößerung eines gegnerischen Schiffes. »Gewisse Ähnlichkeiten mit der Technologie jener Relais sind nicht zu verkennen«, sagte er halblaut. Wieder meldete sich die Ortung. »Kritische Distanz in sechzig Sekunden!« »Verstanden. In fünf Minuten führen wir Kursänderung und Linearetappe durch!« Die gegnerischen Schiffe hatten die Form von sphärischen Dreiecken, die aus einzelnen, im Querschnitt ovalen Elementen zusammengesetzt schienen. Der Körper in der Mitte zweier flügelartigen Elemente war gedrungen und wuchtig und glänzte schwach in einem metallisierenden Bronzeton. Scharfe Kerben teilten seine Flanken gegen die kleineren, schließlich wie Flügelenden auslaufenden Bauelemente ab. In diese wulstigen Teile waren aerodynamisch gutgeformte Kanzeln und Spitzen eingefügt, von denen die meisten in Antennen, Projektoren und Nadeln ausliefen. Sicherlich war ein Teil dieser Einrichtungen die Bewaffnung der Schiffe. »Xiinx-Markant!« stöhnte ein Besatzungsmitglied. »Scheint ein einziges Waffenarsenal zu sein. Und ich habe mich so auf einen grünen, lieblichen Planeten gefreut.« »Achtung!« Es schienen eher mehr als hunderteinunddreißig fremde Kampfschiffe zu sein. Im Dunkel des Weltraums blitzten die ersten Schüsse auf. Die Kommandanten der Angreifer-Schiffe hatten nicht einmal versucht, mit den Fremden Funkkontakt aufzunehmen. Aus den nadelförmigen Fortsätzen der Kanzeln schossen kurze Lichtblitze. Sie trafen zu etwa einem Drittel in die aufflammenden Schutzschirme der Kreuzer. Die beiden Enden des Halbkreises begannen sich nach vorn zu krümmen. Die gegnerische Flotte leitete eine Zangenbewegung ein. In kurzer Zeit würde sie so weit vorangetrieben worden sein, daß
für die Kreuzer eine ernsthafte Gefahr bestand. Die Ziffern der Chronometer bewegten sich unablässig. »Die Schutzschirme sind noch lange nicht überlastet«, meinte Breckcrown zufrieden. Er war nach wie vor entschlossen, das Risiko einer bewaffneten Auseinandersetzung nicht einzugehen. Hayes hob, die Ziffern der Autopiloten im Auge, langsam die Hand und rief: »Fluchtmanöver.« Sekunden später verschwanden die Schiffe aus dem Normalraum. Sie kamen einige Lichtstunden von ihrer bisherigen Position entfernt abseits eines grellen Sterns wieder aus dem Linearraum zum Vorschein. Die ersten Rundumortungen ergaben, daß der Weltraum leer war, was Flotten oder größere Schiffe betraf. Vier Planeten und eine Handvoll Monde umkreisten die Sonne. »Ruft die SOL und gebt einen Bericht und unsere neue Position durch«, ordnete Hayes an. »Hier Ortung FERNWEH«, meldete sich Lyta Kunduran, Kommandantin des Schiffes. »Unsere Spezialisten untersuchen gerade den Raum um die Sonne. Bei einer errechneten Entfernung von einer und zwei Zehntel Lichtminuten Entfernung, dort sollte das Relais zu finden sein, haben wir bisher nichts feststellen können.« »Wir suchen weiter. SENECA kann sich irren, tut es aber in der Regel nicht.« Wieder verringerten die Kreuzer ihre Geschwindigkeit, drifteten auseinander und schlugen Bahnen ein, die sie aus verschiedenen Richtungen und in unterschiedlichen Orbits um die Weiße Sonne herumführen würden. Wieder versuchten die Frauen und Männer in drei Ortungszentralen, die nähere und ferne Umgebung zu untersuchen. Die Echos der Planeten waren deutlich; erste Analysen wurden automatisch durchgeführt. Die wesentlich kleineren Monde erschienen als winzige Rasterinformationen. Vor den Schiffen begann das Lodern der Sonne durchdringender zu werden.
Breckcrown Hayes und die beiden anderen Kommandanten verglichen die ermittelten Koordinaten der Sonne mit den Berechnungen SENECAs. Die Bordcomputer bestätigten, daß die SOL-Kreuzer genau den errechneten Punkt angeflogen hatten. »Also doch kein Irrtum!« Man hatte bordintern diese Weiße Sonne Mission-A genannt, die folgenden Zielpunkte würden fortlaufende Kodenamen erhalten. »Mission-A gehört also auch zu den unerklärlichen Vorgängen in dieser Galaxis«, meinte Lyta. »Unerklärlich, warum?« fragte Solania. »Weil wir kurz vor Erreichen des Zieles von der Flotte der Dreieckschiffe angegriffen wurden. Das bedeutet für mich, daß es sich um keine friedliche Zone handelt.« Hayes begriff, worauf Lyta hinauswollte. »Verstanden, Lyta«, sagte er. »Eigentlich sollten sich, um unwissenschaftlich zu sprechen, die Planetarier im Umkreis von Sonne Mission-A friedlich verhalten. Eben deshalb, weil kein Relais vorhanden ist. Wenigstens haben wir es bis jetzt nicht gefunden.« »Genauso meine ich es«, stimmte Hayes zu. »Mir gefällt die Situation auch nicht.« SENECA hatte als Standardwerte 1,2 Lichtminuten Entfernung von der Sonnenoberfläche ermittelt. Die 15 Sektoren in Sonnennähe, die in den letzten Minuten abgesucht worden waren, hauptsächlich natürlich in dieser Entfernung, waren leer. Es gab kein MentalRelais, nicht einmal einen inaktiven Metallbrocken. Wieder vergingen ereignislos mehr als dreißig Minuten. Die Ortungssysteme liefen ununterbrochen mit voller Kraft. »Glücklicherweise«, rief Solania eine Spur erleichtert, »gibt es auch keine wildgewordenen Angreifer.« »Noch nicht, und nicht hier«, antwortete Hayes. »Aber freut euch nicht zu früh. Wir haben jede Menge an alternativen Ansteuerungspunkten.« Hayes fing an zu grübeln. Er kniff die Augen zu und brummte
einige unverständliche Worte. Dann lachte er kurz und wuchtete sich in die Höhe. »Freunde«, sagte er, »wir können noch ein Jahr lang um Mission-A herumschwirren wie die Bienen, wir finden trotzdem keinen Honig. Also müssen wir zum nächsten Ziel. Mission-B oder Beta. Der Stern ist ein paar Handbreit weiter als neun Lichtjahre entfernt von Mission-A. Allerdings bin ich sicher, daß wir dort wieder auf schießwütige Planetarier treffen. Wir werden ihnen zeigen müssen, was unsere Schutzschirme aushalten, und daß wir erste Klasse im Hakenschlagen sind. Oder hat einer von euch einen sinnvolleren Vorschlag?« »Ich nicht«, sagte Lyta, und fast gleichzeitig meldete sich Solania von Terra. »Ich sehe auch keinen Grund, warum wir die Mission schon jetzt abbrechen sollten.« »Das habe ich erwartet«, meinte der High Sideryt. »Und daher steuern wir die nächste Sonne an. Viel Erfolg, Freunde.« Die Triebwerke der Schiffe wurden hochgefahren, die Kreuzer lösten sich aus dem jeweils eingeschlagenen Orbit. Von den Planeten hatte man keinen Funkverkehr und keinerlei andere Aktivitäten auffangen können. Hintereinander jagten die Schiffe auf die zweite Zielsonne zu, einen großen gelben Stern, der sich nur wenig aus dem Hintergrund der unzähligen Sonnen dieser Milchstraße abhob. Während des Fluges wurde die Kapazität der Schutzschirme heraufgesetzt, die Feuerleitzentralen konzentrierten sich wieder auf die erwarteten Aufgaben, und an Bord der Schiffe stieg lautlos die Spannung. Dann erfolgte die Linearetappe.
* Der Logiksektor flüsterte:
Ich weiß selbst nicht, ob du der großen Zahl deiner Irrtümer nicht noch einen weiteren Irrtum hinzufügst! Atlan zuckte die Schultern und blickte skeptisch in Sternfeuers große Augen. »Nichts?« fragte er leise. Die einzige Antwort war ein stummes Kopf schütteln. Schließlich sagte Sternfeuer: »Ich habe tagelang versucht, in ihr Wesen einzudringen. Ich überwachte sie in Momenten, in denen sie sich kontrollierte, und noch öfters in Zeiten, da sie gelöst war. Nichts. Kein stichhaltiger Verdacht. Einige Momente, in denen sie sich merkwürdig verhielt, konnte ich nur als Ungeschicklichkeit werten. Zufrieden?« »Ja und nein.« »Was bedeutet: ja?« »In gewissem Sinn hast du, wie ich, eine Art Amme-Funktion für Barleona übernommen«, sagte Atlan. »Ich freue mich, daß sich meine Ansicht als vorläufig richtig herausgestellt hat.« Er wußte, daß zumindest jeder vom Atlan-Team glaubte, daß ihn Barleona halbwegs verhext hatte. Er persönlich fand Barleona sehr begehrenswert und machte daraus auch keinen Hehl. Aber da sie sich wie eine talentierte Schülerin verhielt, nicht wie eine potentielle Partnerin eines »Unsterblichen«, reichten ihre Reize nicht. Nicht für Atlan. Zumindest Sternfeuer wußte dies definitiv. »Und das Gegenteil?« »Mein Mißtrauen. Ich habe zu oft erlebt, daß ein Fremdkörper im Innern einer Gemeinschaft größere Schäden anrichten kann als ein klar erkennbarer Feind von außen. Ich kenne den Begriff des trojanischen Pferdes überaus genau. Ich erinnere mich perfekt an … lassen wir das. Es gehört nicht hierher.« »Die Ungewißheit bleibt also noch bestehen.« »Ich bin nicht überzeugt«, bekräftigte Sternfeuer. »Weder von der
potentiellen Gefährlichkeit noch von der Harmlosigkeit. Du hast recht: es bleibt die Ungewißheit.« »In einem Punkt nicht mehr. Ich bin sicher. Will sagen, das Scientologenteam ist sicher.« Atlan lächelte milde über die mittlerweile zum festen Sprachgebrauch zählende Bezeichnung. Nockemann und sein Robot Blödel, zusammen mit Wuschel, garantierten in jeder Auseinandersetzung immer wieder für eine humoristische Note. »Ihr habt sie untersucht«, sagte er. »Was hat das Team der Wunder feststellen können?« Nockemann zeigte sich von der bissigen Bemerkung keineswegs beeindruckt und erwiderte: »Ihr Körper wurde in der Vergangenheit künstlich stabilisiert.« Atlans Gesicht drückte völliges Unverständnis aus. »Wie?« »Ich meine, sie ist geistig stabilisiert worden. Jede einzelne Zelle ist davon betroffen. Künstlich, nicht durch einen meinetwegen geburtsbedingten Prozeß. Verstehst du, was ich meine? Sie ist, wie auch immer, manipuliert worden.« Atlan murmelte resignierend: »Wer von uns ist das nicht.« Hage Nockemann zwirbelte erregt die Spitzen seines Schnauzbarts und führte weiter aus: »Mit Sicherheit weiß sie selbst nicht, daß sie manipuliert wurde. Aber sie wurde stabilisiert. Deine innere Bindung ist zwar verständlich und zu begreifen, und wer von uns träumt nicht von einem Partner?« »Blödel, zweifelsfrei!« brummte der Arkonide verdrossen. »Nun gut. Aber wenn Barleona beeinflußt wurde, so hat derjenige, der dies tat, sie für etwas vorbereitet, das für uns und die SOL schädlich sein kann. Ein Zeitzünder, sozusagen. Natürlich hast du längst daran gedacht, Atlan, denn sonst wäre deine Miene etwas fröhlicher.«
»Du hast recht«, pflichtete ihm Atlan bei. »Und …?« »Es gab mittlerweile alle nur denkbaren Vermutungen. Aus der Gruppe deiner besten Freunde an Bord, Atlan, regte sich Mißtrauen, und nicht gerade wenig.« »Soll ich sie etwa erwürgen?« brauste Atlan auf. »Vielleicht beruhigt euch das endgültig!« »Niemand verlangt nach solchen Radikallösungen«, schwächte Nockemann ab. »Unter den offenen Mißtrauensbeweisen der Freunde leidet der Zusammenhalt des Teams. Gegenstand dieses Streites ist Barleona.« Sternfeuer hob die Hand und unterbrach. »Einige unserer Freunde meinen, ich könnte in der Auseinandersetzung eine Schlüsselrolle übernehmen.« Atlan begann zu spüren, daß sich innerhalb des Teams tatsächlich Zerwürfnisse anzubahnen begannen. Er senkte den Kopf und fragte: »Gegenstand des Streites soll ausgerechnet Barleona sein? Ihr wißt nicht, was ihr daherredet! Sie ist so harmlos wie nur irgend jemand. Ich weiß, daß Sanny denkt, ich vernachlässige die vordringlichen Probleme. Wer wirft mir Fehlverhalten vor?« Nockemann schluckte und murmelte: »Ich nicht.« Sternfeuer schien nicht sicher zu sein. Sie schwankte zwischen der Einsicht, daß Barleona so harmlos war, wie Atlan dachte und behauptete, und dem Verdacht, daß sich hier eine gigantische, nicht zu definierbare Gefahr aufbaute. Schließlich sagte sie zurückhaltend: »Sie ist höflich und schüchtern. Sie macht Fehler, die ein überlegener Intellekt niemals machen würde. Ich kann nichts Verdächtiges feststellen. Auch Breiskoll hat nichts gemerkt. Aber wir alle meinen, daß du ihr zuviel Zeit widmest, Atlan. Wir haben etwas dagegen, daß du die aktuellen Probleme vernachlässigst. An der Mißstimmung bist du alles andere als unschuldig, mein Freund.«
Atlan sprang auf und ging erregt in dem Raum hin und her. Er blickte von Nockemann zu Sternfeuer und zurück. Schließlich stieß er hervor: »Seit Millionen Lichtjahren versuche ich das Beste für die SOL und für alle von uns! Wegen weniger Tage, in denen ich mich um dieses kosmische Findelkind kümmere, habt ihr nichts anderes zu tun, als euch zu überlegen, ob ich nicht meine selbstgewählten Pflichten gröblichst vernachlässige! Ich weiß, daß auch Sanny nicht meiner Meinung ist. Aber warum gönnt ihr alle mir nicht das zweifelhafte Vergnügen, mich mit Barleona zu beschäftigen? Ich vergesse sicher nicht das Wohl des Schiffes!« »Es gibt Besatzungsmitglieder, die das in Frage stellen!« warnte Hage Nockemann mit ungewohntem Ernst. »Es sind nicht wenige!« fügte Sternfeuer hinzu. Atlan blickte sie ratlos und verwirrt an. »Ich freue mich«, sagte er verwirrt, »daß ihr euch um mein Wohl so sehr sorgt.« »Das Problem«, erklärte Nockemann widerwillig, »stellt sich anders dar. Die Sorge von uns allen ist, daß du über dem vorliegenden Problem alles andere vergißt.« Atlan erwiderte voller Bitterkeit: »Wie schlecht kennt ihr mich!« »Kein Vorwurf, Atlan! Ich spreche nur aus, was wir befürchten.« »Eure Befürchtungen haben keinen Sinn«, antwortete der Arkonide und wandte sich ab. »Sie sind grundlos. Wartet noch einige Zeit, dann wird sich alles von selbst aufklären.« Nockemann und Sternfeuer warfen ihm schwer zu deutende Blicke zu und verließen den Raum. Atlan blieb allein in SOL-City zurück; seine Probleme und Befürchtungen waren nicht um einen Deut geringer geworden. Er dachte an Barleona. Wann würde sich dieses Rätsel lösen lassen? Denn er war ziemlich sicher, daß die rätselhafte junge Frau nur ein Mosaiksteinchen in einem weitaus größeren Bild war, dessen
Umrisse sich nicht einmal abzeichneten.
3. Mission-B stand dreißig Lichtminuten weit entfernt vor den Schiffen im Raum. Wieder flogen die Kreuzer die Orbits ihres Suchkurses. Augenblicklich liefen die Ortungen an. Konzentriert blickten die Besatzungsmitglieder auf die Bildschirme und Tastermonitoren. Die nähere Umgebung der Sonne war leer. Die KONTERMANN schwebte auf die Sonne zu, änderte ihre Richtung und schlug einen Kurs ein, der wieder einer Entfernung von 12 Lichtminuten entsprach. Noch während die Geräte versuchten, in Sonnennähe das Mental-Relais zu entdecken, meldete sich die FERNWEH. »Wir haben mindestens drei Planeten feststellen können, die zu dieser Sonne gehören. Es gibt deutliche Anzeichen, daß zumindest zwei von ihnen bewohnt sind. Wir melden uns wieder.« Der Kreuzer schwang in einer weiten Kurve um die Sonne herum. Sekunden später ertönte in das gespannte Schweigen der Zentrale der Summer, der ein Signal der Ortungsabteilung war. »Achtung! Gerade voraus … eindeutig ein Mental-Relais.« Die Bildschirme der Panoramagalerie zeigten auf einer Seite die stark gefilterte Lichtflut der Sonne, auf der gegenüberliegenden Front das Dunkel des Weltraums, und dort erkannten die Besatzungsmitglieder bereits mit dem bloßen Auge einen scharf leuchtenden Lichtblitz. Auf den Bildschirmen erschien wenige Sekunden später die Vergrößerung des Relais. »Eindeutig!« sagte Breckcrown. »SENECAS Berechnungen sind offensichtlich nicht hundertprozentig gewesen.« Die FERNWEH und die STERNLOK meldeten ebenfalls den
Ortungskontakt und schlossen in einem schnellen Manöver auf. Die Kreuzer verließen die Umlaufbahn und jagten auf das funkelnde und blitzende Doppelrad zu. Wieder meldete sich zuerst die Ortungsabteilung von Hayes' Schiff. »Die Station baut einen Schirm auf. Achtung, hier sind die Messungen!« »Ein Defensivschirm«, erklärte der High Sideryt. »Wir sind also entdeckt worden. Warten wir ab, was geschieht.« Die Schiffe hatten ihre Eintauchfahrt abgebremst und schwebten auf das Mental-Relais zu. Neue Daten über die Planeten trafen ein und wurden ausgetauscht. Einwandfrei wurden die Bahnen von drei Welten festgestellt, und die Welten Zwei und Drei besaßen atembare Lufthüllen. Etwa im gleichen Sektor, in dem sich das Relais und die Kreuzer befanden, rotierte der Planet Eins auf seiner sonnennahen Bahn. »Ich weiß noch nicht genau«, murmelte der High Sideryt und beugte sich hinüber zum Piloten, »was wir unternehmen sollen.« Die Ortungsabteilung spielte eine Analyse des sonnennächsten Planeten auf die Bildschirme. Eine kleine, dichte Welt mit einer nicht für Solaner atembaren Gashülle, ohne die Spektrallinien von Chlorophyll, offensichtlich unbewohnt. Der Planet war mondlos und drehte sich träge um die Polachse, die senkrecht zur Bahn dieses reizlosen Gesteinsbrockens stand. Es gab keinerlei Aktivitäten oder Strahlungen, die auf intelligente Bewohner schließen ließen. Dennoch warnte Lyta: »Wir vermuten, daß viele Völker die Raumfahrt kennen. Möglicherweise befinden sich auf dem Planeten irgendwelche Stationen oder verborgene Hangars. Ich traue dieser Ruhe nicht.« »Damit bist du nicht allein«, kam es aus der STERNLOK. SENECA hatte einen winzigen Faktor in seinen Berechnungen falsch extrapoliert. Zwar schien es sich bei der Entfernung zwischen Sonnenkorona und Mental-Relais um einen Standardwert zu handeln, denn eins Komma zwei Lichtminuten war auch das erste
Relais entfernt gewesen. Aber der Zielpunkt Mission-A, dreizehn Lichtjahre, war durch eine um neun Lichtjahre weiter entfernte Sonne abgelöst worden. Die Verteilung der Relais fand also nach anderen Kriterien statt, zumindest nach einer anderen Streuung. Diese Erkenntnis reduzierte die mögliche Anzahl von Relais in Xiinx-Markant. Die Kreuzer flogen mit geringer Geschwindigkeit auf das Relais zu, das sich in die schimmernde Blase der Verteidigungsschirme gehüllt hatte. Die Solaner warteten förmlich darauf, daß sich das Schema der Angriffe wiederholen würde. Sie brauchten nicht lange zu warten. Zusätzlich zu den graphisch dargestellten Messungen der gewaltigen Energieflut, die vom Relais aus der Sonne abgezapft wurde, kondensierten winzige Echos im Hintergrund. Sie wurden an zwei weit auseinanderliegenden Stellen jenes Schirmes sichtbar, der die Ergebnisse der Rundum-Ortung erkennbar machte. »Die Angreifer! Die Kriegsstrahlung wirkt unverändert!« Die Kreuzer schwenkten herum und wichen dem Strom der fließenden Hyperenergie aus. Die Echos wurden schärfer, als sich die Antennen auf die beiden fernen Planeten richteten. Schwärme kleiner Objekte näherten sich; es wirkte während der ersten, noch nicht genau zu präzisierenden Beobachtungen, als würden kleine Schiffe oder Raketen nacheinander gestartet und auf das Ziel gelenkt. »Die Kriegsstrahlung wirkt, obwohl der Defensivschirm des Relais steht?« murmelte Breckcrown ungläubig. Mit einem Blick überzeugte er sich, daß der sonnennächste Planet keinerlei Aktivitäten zeigte. Dann befahl er: »Solania! Lyta! Steuert einen Kurs, der euch in die Lage bringt, auszuweichen und euch zu verteidigen.« »Wird bereits unternommen!« Die Kreuzer, die bisher in geringem Abstand voneinander geflogen waren, beschleunigten und jagten auseinander. Jetzt
wurden die Echos deutlicher. Die vorläufig letzte Analyse besagte, daß es schlanke, außerordentlich schnelle Flugkörper waren, eine besondere Form von Raketen, die offensichtlich entweder ferngesteuert wurden oder einen hochempfindlichen Suchkopf besaßen. Die ersten Projektile, die immerhin rund ein Drittel lichtschnell flogen, änderten ihren Kurs und folgten den Kreuzern. »Reger Verkehr in der Nähe von Mission-B«, sagte Solania nervös. »Wir scheinen im Schutz unserer Schirme sicher zu sein.« Die Geschwindigkeit der Kreuzer wurde abermals gesteigert. Jedes Schiff raste in eine andere Richtung und steuerte einen spiraligen Kurs. Die Kapazität der Schutzschirme wurde heraufgesetzt, die Besatzungen der Feuerleitzentralen schalteten ihre Zieloptiken ein und erfaßten diejenigen Raketen, die ihnen am nächsten waren. Lyta meldete sich und sagte: »Der innerste Planet kommt näher. Er ist unter seiner fahlleuchtenden Gashülle schwarz, voller Krater und Sprünge. Wir haben ihn Granite genannt. Ich beabsichtige, die FERNWEH dort irgendwie zu verstecken oder jedenfalls die Geschosse auszumanövrieren.« »Ausgezeichnet, Lyta«, gab Hayes zurück. »Du bleibst also in der Nähe von Mission-B.« »Ich versuche, wenn wir Ruhe haben, das Relais zu beobachten.« »Einverstanden.« Die FERNWEH schraubte sich rechts von der Flugbahn der KONTERMANN in das Dunkel zurück, schlug eine große Kurve ein und raste auf den innersten Planeten zu. Breckcrown Hayes fragte in der Funkzentrale nach. »Haben wir irgendwelche Signale oder Aufforderungen aufgefangen?« »Nichts. Nur eindeutige Steuerimpulse für die Raketengeschosse.« Es waren insgesamt rund vier Dutzend dieser Projektile, die sich in zwei Gruppen aufgeteilt hatten. Die beiden Schwärme verfolgten in einer unregelmäßigen Kette die Kreuzer. Die Solaner waren
wachsam, aber sie waren nicht wirklich beunruhigt. Die Geschwindigkeit ihrer Schiffe war ohne weiteres zu steigern, und sie vertrauten auf die Stärke der gestaffelten Schutzschirme. »Wir sind klar zum Abschuß, Breck«, rief der Chef der Feuerleitzentrale. »Dann zerstört die Projektile an der Spitze! Feuer frei!« »Ziel erkannt, Breck! Verstanden.« Die Strahlgeschütze feuerten ihre Lichtblitze durch winzige Strukturlücken der Schirme. Die ultrahellen Strahlen trafen auf die scharfen Spitzen der Geschosse. Fast gleichzeitig trafen vier vernichtende Waffenstrahlen, Sekundenbruchteile später verwandelten sich die vier bedrohlich nähergekommenen Projektile in riesige, grelle Sonnen. Die Raumfahrer beobachteten schweigend die Bildschirme. Die Steuerung der Projektile war ungewöhnlich gut. Abermals teilten sich die heranrasenden Schwärme. Zugleich nahm die Geschwindigkeit zu. Breckcrown ordnete an: »Schießt alle Projektile ab, die uns zu nahe kommen. Der Kurs wird beibehalten. Unser Ziel ist das Mental-Relais.« »Wird gemacht.« Während die Erschütterungen der Projektoren durch das Schiff dröhnten und die Kampfstrahlen zu den Verfolgern hinüberzuckten, jagten die Kreuzer weiter auseinander, flogen unregelmäßige Ausweich- und Fluchtmanöver und vernichteten eine Rakete nach der anderen. Während die STERNLOK und die KONTERMANN in einem weit ausgeschwungenen Bogen von der Sonne weg jagten und wieder zurück, folgten ihnen die Projektile. Der Weg der Kreuzer wurde durch eine unregelmäßige Kette riesiger Glutbälle markiert, die schließlich zu dünnen Gasschleiern wurden. Ortung und Feuerleitzentralen arbeiteten zusammen, und die Menge der Projektile verringerte sich von Lichtminute zu
Lichtminute. Langsam wuchs vor den Raumschiffen der Glutball der Sonne. Ohne daß die Solaner es bemerkten, hatten sich vor Minuten einige Raketen aus der Kette gelöst, waren schneller geworden und irgendwo im sonnennahen Raum verschwunden. Plötzlich, als gleichzeitig zwei Raketen detonierten, schrie ein Besatzungsmitglied aus der Funkzentrale: »Breck! Die FERNWEH ist in Schwierigkeiten.« Jenseits der dünnen, sich auflösenden Gaswolken erschien in der Entfernung, vor dem großgerasterten Echo des Planeten Granite, eine Doppelexplosion. »Hier FERNWEH«, hörte man Lyta Kundurans Stimme. »In unseren Schirmen sind …« eine Störung machte die nächsten Worte unverständlich, »… eingeschlagen. Triebwerksschaden.« »Verdammt!« brüllte Hayes. »Gebt acht. Wir messen in den Detonationswolken Gammastrahlen und eine vernichtende Hitze.« »Das haben wir gemerkt. Einige Triebwerke haben ernsthafte Störungen zu verzeichnen.« »Versucht ihr etwa eine Notlandung?« »Noch zu früh. Wir zerstören die Projektile.« »Aushalten«, rief der High Sideryt. »Bleibt in Funkverbindung.« »Wir versuchen …«. Wieder eine schwere Störung. Auch über die Bildschirme zuckten farbige Schleier und Balken. Eine Minute später trafen die Waffenstrahlen der KONTERMANN die letzten Raketen. Hayes befahl eine Kursänderung. Das Schiff schwang herum, beschrieb vor der riesigen gelblodernden Kugel von Mission-B eine enge Kurve und beschleunigte in die Richtung auf den innersten Planeten. Solania meldete sich und zeigte ein sorgenvolles Gesicht. »Die Geschosse sind für uns keine Gefahr mehr. Obwohl der Defensivschirm des Relais steht, scheint unverändert die Kriegsstrahlung zu herrschen. Planet Zwei, wir haben die Bezeichnung Surpriseworld gewählt, schickt neue Truppen, Breck!«
»Einen Moment.« Die Richtstrahler schwenkten herum. Bild und Ton der Verbindung zwischen KONTERMANN und FERNWEH stabilisierten sich wieder. Lyta, inzwischen im leichten Raumanzug, blickte bleich, aber beherrscht in die Objektive. Hinter ihr hantierten die Männer an den Schaltungen. »Breck, hör zu! Wir sind in einer ziemlich üblen Lage. Fast alle Triebwerke sind von einer atomaren Explosion in zu großer Nähe zerstört worden. Wir …« »Keine langen Reden! Ihr müßt notlanden?« »Ich denke, wir schaffen es noch bis Granite. Wir orten so etwas wie einen Gasozean oder irgendeine Flüssigkeit.« »Wir holen euch ab! Konzentriert euch auf eine weiche Landung!« »Verstanden. Was war das mit den ›neuen Truppen‹?« Anstelle des High Sideryt antwortete Solania von Terra. »Planet Surpriseworld und der andere starten riesige Flotten. Der Geschwindigkeit und den Echos nach zu urteilen sind es hochmoderne Schiffe.« »Kümmert euch nicht um die FERNWEH. Wir sind das schwächste Glied in der Mission.« »Klar. Viel Glück!« knurrte Breckcrown in die Mikrophone. Dann starrte er auf die Ortungsschirme. Die Erfassungsoptiken waren auf Surpriseworld und die andere Welt gerichtet. Hayes gab dem Planeten den Namen Aggression. Die Schwärme der scharfzeichnenden Echos wurden unübersehbar. Die Antriebseinheiten dieser hochmodernen Schiffe entsprachen mindestens den Qualifikationen der SOL-Kreuzer. Der High Sideryt entschied: »Viele Hunde sind des Hasen Verderben! Wir versuchen, dieser Doppelarmada zu entkommen. Schnell, Solania, wir werden uns im Ortungsschatten von Mission-Beta verstecken.« »Gut. Falls sie uns nicht vorher einholen. Sie sind verdammt schnell, diese Planetarier.«
»Das sehe ich.« Zwischen den Planeten Aggression und Surpriseworld und der Sonne herrschten die zu erwartenden Abstände. Sieben Komma drei Lichtminuten beziehungsweise bis zur Bahn des dritten Planeten acht Minuten und vierzig Lichtsekunden. Beide Welten bewegten sich in der ökologisch sicheren Zone und besaßen SauerstoffStickstoff-Atmosphären. Innerhalb weniger Stunden hatten beide Planetenvölker ein beachtliches Abwehrpotential gestartet und zumindest einen Kreuzer schwer beschädigt. Die kriegerischen Welten von Xiinx-Markant – auch hier wurden die Planetarier durch die Strahlung des Mental-Relais motiviert, einander und jeden denkbaren Gegner zu bekämpfen. Eine mörderische Evolution der Waffen und der Kampfeswut fand hier statt.
* Stabsspezialistin Lyta Kunduran zuckte zusammen, duckte sich und hörte voller Erleichterung das dumpfe Dröhnen einiger überlasteter Triebwerke. Auf dem Bildschirm rasten schwarze Kegel heran, lange gewellte Abhänge und bänderförmige Bergflanken. Im letzten Augenblick gewann das Raumschiff einige hundert Meter Höhe und jagte über die Felsbarriere hinweg. »Landestützen fahren!« meldete der Kopilot. »Sucht diesen verdammten Tümpel!« rief sie. Die FERNWEH war, technisch gesehen, fast ein Wrack. Die Flut der sonnengleichen Hitze hatte die Hülle versengt und die Triebwerke zu mehr als zwei Dritteln so schwer beschädigt, daß sie nicht mehr funktionierten. Ein Rekonstruktionsversuch hatte ergeben, daß eines der Projektile seine Detonationsenergie durch mehrere Strukturöffnungen der Schirme abgegeben hatte. Das letzte rumpelnde und fauchende Geräusch, die langwelligen
Vibrationen der hydraulischen Anlagen hörten auf. Sämtliche Landestützen waren ausgefahren. Die Gashülle heulte und jaulte in den Verstrebungen, als das Schiff mit stotternden Triebwerken langsam an Höhe gewann und über die schrundigen Felsformationen der Granite-Oberfläche hinwegröhrte. Das Gas hatte sich in einen trüben, in fahlen Farben glühenden Nebel verwandelt, der sämtliche Täler und Klüfte ausfüllte. Dort, wo das Licht der Sonne nicht auftrat, waren die Felsen von einer grünen Schicht aus gefrorenem Gas bedeckt. Die Sonnenhitze ließ an anderen Stellen dieses erstarrte Gas aufkochen; es bildete riesige, schräge Fahnen und Säulen, die wie rauchende Vulkanschlote wirkten. »Dort ist der Ozean!« schrie Lyta. »Schaffen wir es?« »Ich versuch's!« Ein riesiger Talkessel zeigte sich, eingesäumt von Felsformationen in phantastischen Formen und sämtlichen Schattierungen von Grau und Schwarz. Unter den treibenden Gasnebelfetzen trieben riesige Schollen aus bläulicher Materie in einer tiefschwarzen Masse. Die Gase waren ein Gemisch aus Schwefel, Methan und ähnlichen vulkanischen Ausschüttungen. Das Schiff kippte leicht nach hinten, und wieder brüllten die überlasteten Triebwerke auf. Ein donnernder Krach kam aus dem Unterschiff. »Runter! Solange das Schiff noch dicht ist!« Mit einem verzweifelten Schwung hob die FERNWEH sich über eine scharfgezackte Barriere, schaukelte hin und her und sackte dann schwer durch. Knapp über den langsam kreiselnden Schollen fing sie sich wieder. Die Landeteller schlugen gegen die Schollen und zerbrachen sie in tausend krümelige Trümmer. »Ich muß ans Ufer …«, stöhnte der Pilot. Ein Drittel des merkwürdigen Sees lag im tiefen Dunkel, zwei Drittel wurden von den Sonnenstrahlen erreicht. Eine Vielzahl von schäumenden Furchen und breiten Rissen durch die Schollen ziehend, raste die FERNWEH schräg in den See hinein.
Die Berührung der Landeteller mit dem zähflüssigen Medium bremste das Schiff ab und ließ es nach vorn kippen. Die Unterschale schlug mit einem gewaltigen Geräusch auf, wurde hochgeprellt, und jedermann an Bord, der nicht angegurtet war, wurde von den Beinen gerissen. Dann schob sich der riesige Körper des Kreuzers in den See, schob eine riesige Welle aus zäher Flüssigkeit und berstenden Schollen vor sich her und kam mit einem torkelnden Ruck nach etwa hundert Metern zum Stehen. Das Geräusch, mit dem die Landeteller abbrachen und über den felsigen Seeboden schrammten, war nervenzerfetzend und verwandelte die Schiffszelle in das Innere eines dröhnenden, kreischenden und klirrenden Stahlbehälters. Mit einem schauerlichen Ächzen stand die FERNWEH. »Oh verdammt!« sagte der Pilot und wischte sich mit dem Unterarm über sein schweißtriefendes Gesicht. »Wir haben großes Glück gehabt«, sagte Lyta und löste das Schloß des breiten Gurtes. »Irgendwelche Meldungen über Verletzte?« dröhnte es aus einem übersteuerten Lautsprecher. Irgendwo stöhnte jemand langgezogen. Lyta blickte in pedantischer Gründlichkeit von einem Bildschirm zum anderen und versuchte, die Situation klar abzuschätzen. Das Schiff stand etwa zu einem Drittel in dem See aus undefinierbarer Flüssigkeit. Träge Wellen liefen nach allen Seiten, brachen sich wie in Zeitlupe an den schwarzen Felsen und verwandelten sich dort in schneeweiße Kristallstrukturen. Die oberen zwei Drittel des Raumschiffs warfen einen runden Schatten, das Licht fiel im schrägen Winkel ein; Vormittag oder Nachmittag auf dieser Welt. Der Talkessel begann sich mit einem seltsamen Nebel zu füllen. Jeder der vielen unterschiedlichen Dichtezustände der Gasmassen hatte eine andere Pastellfarbe. »Immerhin: sämtliche Innensysteme scheinen zu funktionieren«, sagte der Pilot und kippte eine Reihe von Schaltern.
Innerhalb weniger Minuten stellte sich heraus, daß die Notlandung keine ernsthaften Verletzungen unter der Besatzung hervorgerufen hatte. Ein paar verstauchte Gelenke, einige Abschürfungen und eine leichte Gehirnerschütterung, das war alles. Zugleich mit der erzwungenen Ruhe machte sich Erleichterung breit. »Wir werden warten müssen, bis eines der beiden Schiffe uns herausholt«, sagte Lyta über die Interkomanlage. »Ich sehe gerade auf den Ortungsschirmen, daß wir noch einen ungehinderten Blick auf das Mental-Relais haben.« »Also werden wir Untersuchungen anstellen!« »So gut es uns die Entfernung und die Gase hier gestatten. Wir werden miterleben, was Solania und Hayes dort draußen schaffen können.« Der Kreuzer FERNWEH stand ruhig und offensichtlich unverrückbar fest am jenseitigen Rand des runden Sees. Die Schutzschirme waren abgeschaltet worden. Auf der Hülle des kugelförmigen Raumschiffs kondensierten die Gase und kristallisierten entlang irgendwelcher Nietenreihen und Vorsprünge in langen, weißen Bändern aus. Das Schiff war im Augenblick sicher und geschützt; langsam erholte sich die Besatzung von dem Schock und sagte sich, daß sie von allen drei Kreuzern wohl die beste Karte gezogen hatten. Lyta schlug vor: »Wir sollten die Ereignisse dort draußen genau verfolgen und gleichzeitig das Relais beobachten. Je mehr wir über die Urheber der Kriegsstrahlung wissen, desto besser ist es für die SOL.« Nach und nach richteten sich alle Antennen des Schiffes auf das Relais, das dicht neben der Sonne in einem langsamen Orbit schwebte.
*
»Wir müssen den Versuch später riskieren!« rief der High Sideryt und hieb schwer mit der flachen Hand auf das Pult vor dem Schirm. »Vergessen wir im Moment die FERNWEH.« Leise, aber deutlich sagte Lyta: »Aber vergeßt uns nicht ganz. Seid ihr in ernster Gefahr, Breck?« »Es scheint so: Jedenfalls flüchten wir mit äußerster Geschwindigkeit!« Vor der strahlenden, grellen Kugel der Sonne war die KONTERMANN für jede Ortungsanlage schwer zu entdecken. Verglichen mit der riesigen, aktiven Oberfläche des Sterns war das Schiff nicht mehr als ein Staubkorn. Dasselbe galt auch für die STERNLOK die den Stern von der anderen Seite her anflog. Dennoch waren sie von den Kampfschiffen geortet worden. Die Schiffe waren von den beiden Planeten aus weit in Sonnennähe vorgedrungen und nahmen die STERNLOK und die KONTERMANN unter Beschuß. Noch hatten die solanischen Schiffe nicht die schützende, unmittelbare Nähe des Gestirns erreicht. Hayes war bisher nicht in die Verlegenheit gekommen, sich ernsthaft wehren zu müssen. Gegen die heranrasende Armada, deren Waffenstrahlen und Projektionsentladungen an den Schiffen vorbei in die Helligkeit der Sonne gefeuert wurden, hatten die zwei Kreuzer ohnehin keine Chance – außer der Flucht. Mission-Beta bot die beste Versteckmöglichkeit. Es war ein uralter Trick der Solaner, sich in der Sonnenkorana zu verbergen. Die Schiffe mit voll hochgefahrenen Schutzschirmen rasten parallel zu den hochgeschleuderten Solarfackeln, schlüpften in die leuchtenden Gasschichten hinein und versteckten sich hinter den Schleiern und zuckenden Wolken des äußersten Sonnenrands. Die Energien, die der Stern aussandte, überfluteten die Ortungsantennen der Kampfeinheiten und ließen auf den Schirmen nichts als Störungen erkennen.
Die schweren, schnellen Schiffe rasten weiter und hielten stets den gleichen Abstand zu den heißen Gasmassen. Die Solaner versuchten, auf ihren Schirmen etwas zu erkennen und wagten einzelne, kurze Vorstöße aus den Gasmassen hinaus, um notdürftig Ortungen durchzuführen. In kurzen Momentaufnahmen ließ sich erkennen, daß die Kampfverbände in unmittelbarer Sonnennähe scharfe Richtungsänderungen ausführten. Einige Minuten später: die Schiffe sammelten sich erneut in zwei Verbänden. Die nächste Ortung, mitten aus der Flut der Hyperenergien heraus erfolgt, ließ erkennen, daß die Angreifer einen neuen Kurs flogen. Er führte an dem Mental-Relais vorbei und auf das Innere des Planetensystems zu. Kurze Zeit danach sahen die Frauen und Männer der KONTERMANN, daß sich keines der Schiffe um das Relais kümmerte und die Flotten in zwei militärisch exakten Formationen in die Richtung der Planeten Surpriseworld und Aggression davonrasten. Die KONTERMANN schoß auf einer Parabel aus der Sonne heraus, funkte die STERNLOK an und setzte sich, noch immer in der Zone des Sonnenverstecks, in die Nähe des anderen Schiffes. Breckcrown Hayes sagte zufrieden: »Vorläufiger Abschluß der Aktion, Freunde. Wir müssen warten, bis die Flotten wieder gelandet sind.« »Und Lyta?« »Keine allzu große Sorge«, sagte die Stabsspezialistin, und ihr Gesichtsausdruck ließ erkennen, daß die Lage an Bord ihres Schiffes nicht sehr ernst war. »Wir untersuchen den Satelliten. Wann holt ihr uns ab?« »Das bedeutet, daß dein Schiff nicht mehr flugfähig ist?« fragte Solania. »Wir können nicht mehr starten. Wir sind in einigen Stunden bereit, von euch gerettet zu werden. Wir nehmen alles mit, was uns
wichtig erscheint.« »Einverstanden. Wir warten, bis kein einziges Schiff mehr innerhalb des Systems zu orten ist.« »Das ist wohl das beste!« antwortete die Kommandantin der FERNWEH.
* Breckcrown Hayes und sein Team in der Zentrale schwiegen, dachten nach und versuchten, eine vorläufige Analyse zu ziehen. Bisher hatte der Vorstoß der drei Schiffe so gut wie nichts Handfestes eingebracht. Im Gegenteil: ein älterer Kreuzer mußte zurückgelassen werden. Zwar waren einige nicht unwichtige Erkenntnisse gewonnen worden, aber nicht einmal das Relais konnte zerstört werden. Nur Theorien, halbe Gewißheiten und einige Zahlen waren bestätigt worden. Man wußte, daß wohl der gesamte Außenbezirk dieses riesigen Sternsystems vom MentalRelais und deren Kriegsstrahlung beherrscht war. Die SOL befand sich unverändert am selben Standort, zweiundzwanzig Lichtjahre entfernt, und an Bord des großen Schiffes gab es nichts Berichtenswertes. Einige Stunden vergingen mit normaler Bordroutine. Die Bildfunkverbindung zwischen den drei Schiffen beschränkte sich auf die unumgänglich notwendigen Mitteilungen. Die Solaner wollten nicht riskieren, daß man auf die Eindringlinge aufmerksam wurde. Die Reaktion der beiden Planetenflotten hatte eindeutig bewiesen, daß die Planetarier meinten, die Fremden wären geflüchtet. Die Landemanöver, von der Fernortung der Solaner einigermaßen deutlich zu beobachten, gingen langsam vor sich. Die fremden Raumfahrer waren gründlich, und ein Schiff nach dem anderen entfernte sich aus dem Planetenorbit und landete auf den
unbekannten Sauerstoffwelten. Noch zögerte der High Sideryt, einen blitzschnellen Vorstoß zum ersten Planeten, Granite, zu unternehmen. Er wollte nicht eine erneute kriegerische Aktion herausfordern, die nichts erbrachte außer möglichen Verlusten oder gefährlichen Kämpfen. Die Losung hieß: warten ohne Panik.
* Lyta Kunduran hätte etwas darum gegeben, Bjo Breiskoll jetzt an Bord zu haben. Sie hatte keinen Beweis für ihre Befürchtungen, aber auf Granite schien etwas Ungewöhnliches vorzugehen. Die Ortungsstation war voll besetzt; alle Pulte, Antennen, Detektoren und Schirme konzentrierten sich auf das ungewöhnlich geformte Objekt. Die Mengen der abgezapften Hyperenergie wurden gemessen, die Intensität des Schutzschirms wurde getestet, man fertigte Aufnahmen von allen Teilen des Doppelrings an und versuchte mit sämtlichen Möglichkeiten der hochempfindlichen Instrumente, hinter möglichst viele Aktivitäten des Relais zu kommen. Plötzlich schalteten sich die Defensivschirme des Mental-Relais ab. Ungehindert fiel das grelle Sonnenlicht auf die bizarren Teile der Konstruktion, und tiefschwarze, übergangslose Schatten entstanden. Wieder summten die automatischen Kameras auf und tasteten jede Handbreit des sichtbaren Bauwerks ab, das sich auf einem Sonnenorbit mit fast nicht wahrnehmbarer Eigenrotation bewegte. Und dabei entdeckte ein schweres Teleobjektiv das winzige Objekt, das mit mehr als der Hälfte der Lichtgeschwindigkeit auf das Mental-Relais zusteuerte. Lyta rief sofort Solania und Breckcrown.
4. Sofort handelte der High Sideryt. »Danke für den Hinweis, Lyta. Mit dem Rettungseinsatz wird es vorläufig noch nichts.« »Einverstanden. Wir betreiben weiterhin Fernbeobachtung. Achtung, ich sehe gerade, daß das Objekt nicht mehr als fünfzig Meter Durchmesser hat. Wenig Energiemission!« »Wir kümmern uns um diese Attraktion.« Die beiden Kreuzer entfernten sich noch mehr von der schützenden Sonnenoberfläche und riskierten einen Vorstoß in die Richtung auf das Relais. Ohne Defensivschirm bot der Fremdkörper den einfachoptischen Beobachtungsgeräten und erst recht den Speziallinsen seine ganze, tiefschwarze und glänzende Konstruktion dar. Ein strahlendes, kugelförmiges Objekt näherte sich auf einem Kurs, der das Relais tangieren würde, und es war übergangslos aus den Tiefen des Planetensystems aufgetaucht. Vergrößerungen zitterten auf den großen Monitoren. Ein Techniker rief in die Zentrale hinunter. »Die Hülle scheint aus geformter Energie zu bestehen, oder aus Formmaterie. Sie ist, wie ihr seht, ziemlich transparent. Wir haben im Innern ein regungsloses Wesen entdecken können; es scheint humanoid zu sein.« Die KONTERMANN nahm die Verfolgung des fremden Objekts ohne Rücksicht auf Entdeckung auf. »Dieses Objekt paßt nicht in das Schema!« knurrte Hayes. »Seht zu, daß wir möglichst nahe herankommen.« »Selbstverständlich, Chef. Wir sind selbst mehr als neugierig.« In diesen Sekunden kreuzte die leuchtende Kugel die Bahn des innersten Planeten und raste geradeaus weiter. Die Triebwerke des Kreuzers schleuderten das Raumschiff weiter von der Sonne fort, auf einen Punkt zu, an dem sich die eigene Flugbahn und die des Eindringlings kreuzen würden. Die Beobachtungen elektrisierten
förmlich jeden Raumfahrer – diese Kugel, in deren Innern sich dünne, ebenfalls transparente Wände und Decks abzeichneten, paßte wirklich nicht in das Schema, paßte nicht in die Welt der Raketen und bewaffneten Kampfflotten. Es war eindeutig eine exotische Erscheinung. Unaufhörlich wechselten Bilder und Ausschnittvergrößerungen auf den Monitoren. Die Kugel strahlte wie ein mit Gas gefüllter Leuchtkörper. Die Farbe war ein dunkles, bernsteinfarbenes Gelb. Die Decks und Einstellungen zeichneten sich dunkelgrau ab. »Achtung«, meldete sich der Ortungscomputer in sämtlichen Stationen des Schiffes. »Vor den Planeten starten einzelne Schiffe. Der Eindringling wurde offensichtlich schnell entdeckt.« »Die rätselhaften Vorfälle reißen nicht ab.« »Immerhin gibt's hier wenig Langeweile.« Daß die Hülle aus Formmaterie oder Formenergie bestand, war mehr eine Vermutung als eine Gewißheit. Daß der Durchmesser nur fünfzig Meter betrug, war inzwischen bestätigt worden. Es gab keinen sichtbaren Antrieb; das Objekt wurde von unsichtbaren Kräften vorwärtsbewegt, deren Quellen oder Ansatzpunkte nicht feststellbar waren. Im Zentrum der Kugel, in einem ebenfalls kugelförmigen Raum von nur wenigen Metern Ausdehnung, ruhte auf einer großen, glatten Fläche ein knapp zwei Meter großer Körper. Die Geschwindigkeit der KONTERMANN nahm zu, der Abstand zwischen beiden Körpern verringerte sich. Die Bilder wurden deutlicher und plastischer. »Bestätigung! Der Kurs führt genau auf das Mental-Relais zu!« rief der Diensthabende der Ortungsabteilung. »Das haben …«, begann Breck, aber im selben Moment sah er auf den Schirmen der Panoramagalerie, daß sich die Defensivschirme der Station wieder aufbauten. »Die Schirme aktivieren sich. Also betrachtet jemand oder etwas in
dem Relais die Kugel als Angreifer, als Gefahr!« faßte der High Sideryt seine Meinung zusammen. Nach und nach fügten sich die Teile der Schirmfelder zu einer geschlossenen, undurchdringlichen Hülle zusammen. Dahinter waren die Einzelheiten nunmehr weniger scharf zu erkennen. »Das Ding zielt genau auf das Relais«, überlegte Breckcrown laut. »Bis die Schiffe heran sind, dauert es sicher nicht weniger als fünfzehn Minuten. Die Kugel wirkt auf mich wie ein Geschoß.« »Augenscheinlich auch auf das Mental-Relais.« Viele Vorgänge waren schwer zu begreifen, aber auf ihre seltsame Weise einigermaßen logisch. Zwischen den Planetariern mit ihren Raketen und Flotten, dem Mental-Relais und dem seltsamen, leuchtenden Neuankömmling bestand ein unsichtbares Netz von Bezügen und Abhängigkeiten. Gegenseitig erkannten sie sich als Angreifer und Verteidiger. Das Mental-Relais ließ sich von den Bewohnern der Planeten Aggression und Surpriseworld verteidigen, und die Solaner waren so gut wie sicher, daß die leuchtende Kugel einen Angriff auf das Relais flog. »Die Seltsamkeiten summieren sich«, brummte Breckcrown. »Die Schiffe rasen heran, als müßten sie den letzten Kampf kämpfen. Machen wir, daß wir wegkommen.« »Vorsicht ist die bessere Seite der Tapferkeit, wie?« »Richtung.« Wieder ging die KONTERMANN auf einen Fluchtkurs. Diesmal – während sich der andere Kreuzer noch im Schutz der solaren Gashülle befand – steuerte Hayes in einer wilden, nicht berechenbaren Kurslinie auf Granite zu. Er gab nur eine einzige knappe Mitteilung durch und bekam zur Antwort, daß die Bergung der Gestrandeten nicht ganz einfach werden würde. Während Hayes sich Granite näherte, erreichte die Vorhut der schweren schnellen Kampfschiffe die seltsame Kugel. »Sie scheinen ohne Warnung anzugreifen!« meinte der Pilot. »Verrückt! Sie feuern auf alles, was sich bewegt. Aber warum auf
dieses winzige Kügelchen?« »Falls sie uns anfunken, kannst du sie fragen«, grinste der High Sideryt. Vor ihnen schälte sich die beleuchtete Halbkugel von Granite aus der Schwärze. »Weiterhin Funkstille?« fragte ein Besatzungsmitglied. »Ja. Es ist sicherer.« Die KONTERMANN verschwand hinter der gewaltigen Krümmung des felsigen Planeten. Sie schob sich in eine sichere Position in die Dunkelheit der anderen Hemisphäre. Das Schiff bremste stark ab und flog eine enge Kurve. Zwischen der KONTERMANN und der kleinen Flotte der Verteidiger befand sich die Masse des steinernen Planeten. Über die Rundung aus Schwarz, glühenden Gasen und irisierenden hellen Flächen hinweg beobachteten die Solaner die Geschehnisse nahe dem Mental-Relais. Das Mental-Relais schwebte, scheinbar abweisend und unangreifbar, in seiner Position. Von den Schiffen der Planetarier verfolgt und beschossen, raste die kleine Kugel unverändert auf ihr Ziel zu. Die Hülle der Kugel widerstand spielend allen Angriffen. Gewaltige Energiemengen wurden gegen den Eindringling geschleudert. Immer wieder verwandelte sich das kleine Raumschiff in eine gleißend helle Kugel, von deren Wandung riesige Blitze nach allen Seiten überschlugen. Riesige Glutbälle bildeten sich, und aus dem Inferno der einschlagenden Strahlen schoß immer wieder, völlig unversehrt und nicht einmal aus der Flugbahn geworfen, das winzige Objekt. Es hielt unverändert Kurs auf das Relais. »Es ist unglaublich«, meinte ein Spezialist aus der Funkabteilung. »Dieses winzige Stück Materie widersteht allen Angriffen. Wir wären jetzt schon völlig durchlöchert und so weiter.« »Hauptsächlich letzteres«, gab der High Sideryt zu. Aus dem Inferno schob sich mit einem letzten, gigantischen Satz die seltsame Kugel. Sie raste auf die Schutzschirme des Mental-
Relais zu, durchstieß sie mühelos und traf das Relais. Die Linsen wurden geblendet. Bevor die Filtersätze sich aktivierten, überflutete die grelle Helligkeit einer gewaltigen Detonation die Bildschirme. Die Raumfahrer rissen die Arme vor die Augen. Aus der riesigen Explosion, die sekundenlang eine zweite Sonne entstehen ließ, schoß unversehrt die Kugel hervor. Ein gigantischer Glutball breitete sich aus. Eine Unmenge Trümmerstücke wirbelten aus dem Glutkern hervor. Die Antennen des Schiffes verfolgten den weiteren Flug des seltsamen Ankömmlings. Die Kugel, die in den Ausläufern der Glutwelle einen langen Kanal gerissen hatte, flog jetzt nicht mehr einen geraden Kurs, sondern bog in einer weiten Kurve ab und nahm direkt Ziel, so schien es wenigstens, auf die Objektive des SOL-Beiboots. »Sie kommt hierher!« murmelte Hayes. »Ausgerechnet! Dieses fremde Schiff scheint völlig unversehrt zu sein.« »Wir können keinerlei Beschädigungen feststellen«, meldete die Ortung. Während der rund fünfzehn Minuten, die von der leuchtenden Kugel gebraucht wurden, um Granite zu erreichen, steuerte Breckcrown sein Schiff über die seltsame Landschaft des Planeten zu dem Ammoniaksee, in dem die FERNWEH stand. Hinter dem Schiff verglühten die letzten Ausläufer der Gaswolke. Der Weltraum war übersät von driftenden Trümmern. Zwischen diesen Resten bahnten sich langsam die gepanzerten Schiffe der Planeten ihren Weg – zurück zu ihren Heimatbasen. Was die Solaner am meisten verblüffte, war der Umstand, daß nicht eines der Schiffe versucht hatte, mit dem Fremden in Verbindung zu treten. Die leuchtende Kugel steuerte nunmehr, etwas langsamer geworden, auf den innersten Planeten zu. Wer immer sie steuerte: er schien genau zu wissen, wohin die Solaner wollten.
Breck knurrte: »Dieses Abenteuer wäre etwas für Atlan! Er hat entscheidende Dinge versäumt, und das alles wegen dieser Barleona.« Mehrere Monitore fielen aus und zeigten nur schwarze Hintergründe statt der holographischen Abbildungen. »Achtung … Ausfall von Bild und Ton!« rief jemand aus der Funkzentrale. »Verbindung mit der FERNWEH vorübergehend abgerissen.« »Wir fliegen trotzdem die Rettungsaktion!« bestimmte Hayes. »Nachdenken können wir später.« Er war nicht wenig befriedigt darüber, daß das Mental-Relais zerstört und seine Wirkung auf die unbekannten Planetarier damit endgültig aufgehoben worden war. Die Solaner hatten nichts dazu getan, aber es war in ihrem Sinn. In siebentausend Meter durchschnittlicher Höhe schwebte das Raumschiff auf den zuletzt ermittelten Standort der FERNWEH zu. Immer wieder wurde die Flugbahn des rätselhaften Eindringlings angemessen, der die Flotten überhaupt nicht mehr interessierte. Die Kugel folgte der KONTERMANN, machte aber keinerlei Anstalten, anzugreifen oder schneller zu werden. »Also, ruhmreiche Raumfahrer der KONTERMANN«, rief Breck. »Wir versuchen in der Nähe des Wracks zu landen und Lyta und ihre Leute zu übernehmen.« »Du bist sicher, daß wir in diesem Sonnensystem keine wichtigen Dinge vergessen haben?« »Was wollen wir mehr?« gab Breck zu bedenken. »Wenn wir die Raumfahrer geborgen haben, hinterlassen wir friedliche Eingeborene, ein nicht mehr existierendes Mental-Relais und ein Sonnensystem, dessen Normalisierung nichts mehr im Wege steht. Ich habe vor, die Zielsonne Mission-C anzufliegen. Hat jemand eine Idee, was wir sonst noch hier zu suchen haben?« Es gab keine Antwort. Seine Argumente waren schlagend. Noch während der Pilot den Kreuzer in einer weiten Kurve um
den Ammoniaksee herumsteuerte und alle Erfassungsgeräte sich auf das halb versunkene Wrack richteten, raste die kleine Kugel heran. »Noch kein Funkkontakt?« »Nein. Aber wir können in ein paar Minuten Handzeichen austauschen!« Breckcrown sagte scharf: »Die Kugel! Ich möchte, daß du noch einige Runden fliegst, und daß die Ortung versucht, alle Vorkommnisse genau zu dokumentieren.« »Alles klar, High Sideryt.« Die Raumfahrer des Kreuzers und die Insassen des Wracks wurden in den nächsten Stunden Zeugen eines überraschenden und unerwarteten Geschehens; die glühende Kugel raste heran, beschrieb um die Rundung des gestrandeten Schiffes einige Kurven und landete dann auf dem breiten, eisverkrusteten Felsvorsprung, an dem sich die träge Dünung des Sees aus schwarzweißen Mustern brach.
* Lyta Kunduran fühlte sich aus mehreren Gründen unbehaglich, aber sie sagte sich, daß sie im Augenblick an ihrem Schicksal nichts ändern konnte. Sie vergaß vorübergehend, daß sich der kunststoffauflösende Eindringling ausbreitete wie rasend schnell wucherndes Moos. Sie sah, daß das Raumschiff langsam über dem See kreiste und nach einer Landungsmöglichkeit suchte. Sie sah aber auch, daß die leuchtende Kugel zwischen den Schroffen und Granitwänden heranschwebte, die Gaszusammenballungen durchdrang und einen Steinwurf weit von der Schiffswandung regungslos in den treibenden Gasschleiern stehenblieb. »Sie hat das Relais zerstört und schien offensichtlich genau zu wissen, wo wir sind«, sagte sie nachdenklich. »Wir brauchen sie gar
nicht erst anzugreifen, denn die Kugel hat dem konzentrierten Feuer der fremden Schiffe mühelos widerstanden.« »Richtung. Sieh auf die Schirme – im Innern der Kugel bewegt sich etwas.« Langsam, lautlos und ohne irgendwelche aufregenden Aktionen änderte sich die Szene. So nahe, daß es keiner Vergrößerung bedurfte, schwebte die Kugel. Zuerst änderte sich die Färbung der Hülle und der vielen Zwischenwände und Schotte. Sie wurden zuerst gelb, dann fast weiß, und alle Einrichtungsgegenstände zeichneten sich als dunkle Verdickungen ab. Aufgeregt und voller Spannung sahen es die Solaner. Im Innern der Kugel, ziemlich genau im Mittelpunkt aller dieser Linien, Flächen und Verkantungen, bewegte sich plötzlich eine Gestalt. Sie wirkte, soweit dies zu erkennen war, menschenähnlich. Als die Helligkeit und Transparenz ihren größten Wert erreicht hatten, sahen die Solaner, daß sich dort eine vermutlich weibliche Gestalt bewegte, deren weißes Haar bis zu den Hüften reichte. Sie blieb stehen und führte irgendeine Schaltung aus. Die Kugel begann sich zu verändern. Während sie schrumpfte, wechselte ihr fast farbloser Korpus das Aussehen und wurde zunächst lichtgrau, dann hellgrau und schließlich blieb er, nur noch wenige Meter in Durchmesser, stumpfgrau. Die Vorgänge liefen geräuschlos und ohne Hast ab. Dadurch wirkten sie natürlich und ungefährlich. Aber dies konnte sich als tödlicher Irrtum herausstellen. Aus den Lautsprechern der Interkom-Anlage kam ein hohles Summen. Die Monitore begannen zu flackern. Lyta faßte ihre Eindrücke zusammen und flüsterte: »Auf mich wirkt der Vorgang, als würde die unbekannte Insassin erst jetzt aufgewacht sein. Ich bin sicher, daß es eine Frau ist. Aber wer …?« Die graue Kugel schwebte langsam auf die Bordwand der
FERNWEH zu und berührte sie im oberen Drittel. Obwohl die Solaner miterlebt hatten, daß dieses seltsame kosmische Gefährt jeder Art von massierten Beschuß mühelos widerstanden hatte, richteten sich aus der KONTERMANN schußbereite Projektoren auf die grautransparente Kugel. Atemlos warteten die Solaner ab, was jetzt geschah. In Lytas Schiff funktionierten plötzlich wieder die Nachrichtenverbindungen. Lautsprecher knisterten protestierend. Eine wohlmodulierte Stimme, die einer etwa dreißigjährigen Terranerin entsprach, fragte in Interkosmo: »Wo finde ich Atlan?« Die Solaner erstarrten. Der Umstand, daß diesem Fremdling Atlans Name bekannt war, setzte voraus, daß der seltsame Gast über weitaus mehr Informationen verfügte. Woher? Welche? Der Schrecken und die Erstarrung wichen vorübergehend, als auf einer Vielzahl von großen Bildschirmen und kleineren Monitoren das Bild der Fremden auftauchte. »Tatsächlich! Eine Frau!« brummte der High Sideryt. Alles in ihm verkrampfte sich für eine lange Schrecksekunde, als er das Bild sah und alle Einzelheiten erfaßte. »Ich bin Tyari«, sagte die junge Frau, schätzungsweise hundertachtzig Zentimeter groß oder ein paar Fingerbreit kleiner. Ihr Körper war schlank und unverkennbar weiblich, obwohl er unter dem straff anliegenden Gewebe eines Hosenanzugs erkennen ließ, daß er außerordentlich gut trainiert und mit sichtbaren Muskeln ausgestattet war. Trotz aller weiblichen Attribute wirkte Tyari sehr exotisch. »Warum«, fragte Lyta in ihr Pultmikrophon, »hast du uns gesucht?« »Ich komme aus jener Galaxis, die ihr Bars-Zwei-Bars nennt.« Der High Sideryt hoffte im Stillen, daß es Federspiel gelingen möge, ihre Gedanken zu erkennen. Vorläufig aber starrte er wie
jeder andere Solaner auf das ungewöhnliche Bild. Tyari wirkte, als sei sie eine weibliche Kopie des Arkoniden! Das schlohweiße Haar war gewellt und lockig, ließ die Stirn frei und reichte bis zur Hüfte. In dem Licht von unbekanntem Spektrum, das in der Kabine ihres Raumgefährts herrschte, leuchteten ihre Augen einmal leicht rötlich, dann wieder hellbraun, fast golden. Als die Hand Tyaris sich nach einer weiteren Frage Lytas hob, erkannte man, daß ihre Fingernägel überlang gehalten waren. »Warum ich hier bin, was meine Aufgabe ist, werde ich zur gegebenen Zeit erklären.« Ihr Gesicht war straff, glatt und voll, die Lippen und die Mundpartie ließen auf Willensstärke und Jugend schließen, verbunden mit Härte und Erfahrung. Am linken Ohrläppchen schaukelte ein schleifenähnlicher Ring, darin sahen die Solaner einen länglichen Apparat, der technische Bedeutung haben konnte – aber es war vielleicht auch ein seltsames Schmuckstück. Kein Ziergegenstand hingegen war die halblange, gedrungene Waffe, die einem Kombistrahler verdächtig ähnlich sah. Tyari trug die Waffe in einem leichten, ebenfalls exotisch wirkenden Halfter unter der linken Achsel. Tyari wirkte erstaunlich selbstsicher und nicht im geringsten so, wie man es von einer Fremden erwarten mußte, die bisher schlafend in ihrer Raumschiff-Kugel gelegen hatte. »Was willst du von uns?« fragte Lyta konzentriert. »Die Zeit, Erklärungen abzugeben, ist noch nicht da. Ich habe gemerkt, daß noch zwei Raumschiffe hier oder im Anflug sind. Ich habe ein anderes Ziel. Wir werden uns bald wiedersehen, denke ich.« Die graue Kugel löste sich langsam von der Bordwand, glitt schräg durch die Gasschichten und über die Zacken und Kliffs aufwärts in den Weltraum. Dann, nachdem die Kugel beschleunigt hatte, verschwand sie ganz plötzlich.
»Ich kann noch nicht glauben, was ich gesehen habe«, murmelte Lyta. Sie hob den Arm und winkte Breckcrown. »Ich glaube, es wird am besten sein, wenn wir mit Gleitern und Fluganzügen von Schleuse zu Schleuse umsteigen. Einverstanden?« »In Ordnung. Macht euch bereit.« »Wir kommen.«
* Die aggressiven Gase und die ätzenden Flüssigkeiten hatten die Dichtungen zersetzt, waren in die winzigen Gleitlager eingedrungen und hatten in den winzigen Rissen und Schrammen genügend Platz gefunden, um sich auszubreiten, zu wachsen und ein völlig neues Leben zu entwickeln. Die Schale des Schiffrumpfs, die unzähligen kleinen Hohlräume, selbst Teile der Maschinen, alles war mit der Atemluft aus der Versorgungsanlage gefüllt. Diese Luft enthielt Bakterien, eingekapselte Sporen, eine Vielzahl von Edelgasen und Bestandteilen, die aus einzelnen Stationen der langen SOL-Irrfahrt stammten. Die ersten Kristalle begannen in der Wärme zu wachsen. Sie verwandelten Schmieröl ebenso wie die winzigen Reste, die in den Fugen übriggeblieben waren und jeder noch so gründlichen Reinigung widerstanden. Völlig neue Lebensformen entstanden aus dem Zusammenwirken der planetaren Elemente und dem Fremdkörpern innerhalb des Raumschiffs. Besonders die vorgewärmte Atemluft bildete reiche Nahrung für die wachsenden Kristalle. An einigen hundert Stellen des Schiffes, das bis zum Ringwulst in den See aus verflüssigten Gasen eingetaucht war, wucherten seltsame Gewächse. Zuerst krochen sie aus den winzigen Fugen, sogen gierig das Licht auf und wuchsen zu kristallinen Formen aus. Wie Schneeflocken
streckten sie Ausläufer in alle Richtungen, und auch die Ausläufer wuchsen und wucherten. Im Licht färbten sich die Kristalle und zeigten tiefe, glühende Farben. Das Geräusch, mit dem die Eindringlinge wuchsen, war ein feines, dünnes Knistern, das zuerst in den vielfältigen Betriebsgeräuschen innerhalb der FERNWEH unterging. Etwa zu der Zeit, als sich die beiden noch flugfähigen Kreuzer nahe der Sonne versteckten, bemerkte der Pilot des Schiffes, daß er nichts zu tun habe. Lyta hatte selbstverständlich nichts dagegen, daß er sich in seiner Kabine ausruhte. Langsam verließ Harm Kylian die Zentrale, winkte einigen Besatzungsmitgliedern zu und sah, einige Korridore weiter, wie Solaner in offenen Raumanzügen ihren persönlichen Besitz fortbrachten und besonders wertvolle Teile der Einrichtung abmontierten, stapelten und in raumfesten Kleincontainern verstauten. »Im Gegensatz zu dir«, bemerkte einer grimmig, »fängt unsere Arbeit jetzt an.« »Dafür habe ich euch eine wunderschöne Bruchlandung gezeigt«, gab er zurück und gähnte. »Woher kommt dieser komische Geruch?« »Keine Ahnung. Frage die Klimatechniker.« »Werde ich tun, nachher!« Er ging weiter, hörte zum erstenmal hier das fahle, helle Knistern. Er befand sich etwa an der Stelle, wo der Ringwulst der Triebwerke die beiden Halbkugeln verband, nur wenige Meter von der Innenwand entfernt. Als er um eine Ecke bog, sah er eine Bewegung vor sich am Boden. Er stutzte und lief darauf zu, die Hand am Griff der Waffe. »Das ist neu!« brummte er überrascht. Unter der hellen Verkleidung der Korridorwand, die mit wuchtigen Schraubelementen an den Trägern befestigt war, schien eine blaue, blütenreiche und etwa halbmannshohe Pflanze
herauszuwachsen. Die Bewegung, die er wahrgenommen hatte, kam von den Enden der mehr als handtellergroßen »Blätter«. Er beugte sich hinunter und sah im Licht der Korridorbeleuchtung die kristalline Struktur. Die Enden der Blätter wuchsen; er konnte sehen, wie mehr und mehr blaugefärbte Kristalle sich ansetzten und nach allen Seiten wucherten. An den Schnittpunkten der Blätter mit den Schäften entstanden Gebilde, die weißen Gipsrosen nicht unähnlich sahen. Die falsche Pflanze gab ein raschelndes, fast glasartig klirrendes Flüstern von sich, und sie roch stechend nach Äther, Ammoniak und Fäulnisgasen. Kylian griff nach den Schrauben, drehte sie auf und stellte die Platte aufrecht an die Wand. Zwischen den Kabeln und Röhren, den Bündeln verschiedenfarbiger Leiter und den Würfeln der Verstärker und Sicherungselementen gab es nichts anderes als wuchernde Kristalle. Sie waren weiß, fast phosphoreszierend. Er begriff: hier fehlte das Licht. Als er zur Seite trat, strahlte die Flächenbeleuchtung voll in die knisternden Kristalle hinein. Sie färbten sich langsam dunkelblau, und als die Farbmuster über und durch die Kristalle glitten, war es, als ob die Strukturen wirklich leben würden. Kylian ging zum nächsten Interkom, wählte die Zentrale an und sagte entschlossen: »Lyta! Ich habe interessante Dinge hier. Komm bitte sofort auf Deck sieben. Der Gassee schlägt zu.« »Sofort. Ich komme.« Dreißig Sekunden standen Lyta und eine Handvoll anderer Raumfahrer vor dem geöffneten Wandelement und der unverändert wachsenden Kristallpflanze. Inzwischen waren sämtliche Leitungen von den Kristallen überwuchert und zugedeckt. Auf der Oberfläche der Kristalle entwickelten sich im Verlauf der nächsten dreißig Sekunden lange, dunkelgrüne Mooshaare. Kylian wandte sich an Lyta.
»Vermutlich sieht es an zahllosen Stellen des Schiffes so aus. Wir kämen in Teufels Küche, wenn wir die FERNWEH nicht aufgeben müßten.« Er berührte eines der zitternden, sich vergrößernden Blätter mit drei Fingern. Ein scharfes, gläsernes Klirren ertönte. Das Blatt löste sich in einzelne Scherben auf, die noch während der Falles völlig zerfielen und als Staub liegenblieben. Kaum war das Staubgerinnsel zur Ruhe gekommen, fügte es sich wieder zusammen, zeigte erste, grobe Kristallstrukturen und begann in atemberaubenden Tempo zu wachsen. »Kein Raumschiff, und ganz besonders ein älteres Modell wie die FERNWEH, ist völlig luftdicht. Oder gasdicht, wie in diesem Fall«, sagte Lyta betroffen. »Außerdem sind mit Sicherheit bei der Bruchlandung Risse entstanden, andere Löcher aufgebrochen und eine Menge Stellen undicht geworden. Die ersten Kristalle waren gasförmig, denke ich.« »Möglich. Jedenfalls wuchert der Eindringling überall.« »Schäden sind noch keine verzeichnet worden. Ausgefallene Leitungen oder ähnliches.« »Noch nicht. Wir befinden uns auf einem fremden Planeten, und es kann jede denkbare Überraschung geben.« »Die Ausscheidungen der Kristalle sind jedenfalls bereits in der Atemluft zu spüren.« »Das könnte zum Gefahrenfaktor werden.« Tatsächlich befand sich ein Spezialist der Umwälz- und Filtermaschinerie bei Lyta. Er versprach, sich um die Filter zu kümmern und den Luftdurchsatz heraufzusetzen. Langsam sagte Lyta zu den Umstehenden: »In ein paar Stunden holt uns Breck ab. Hört zu! Ich gebe von der Zentrale aus die Anordnung, daß sich jeder mit seinem Gepäck und den wichtigsten Einrichtungsteilen bereithält. Niemand geht ein Risiko ein, klar?«
»Ich ganz bestimmt nicht.« Der Pilot nickte. Niemand an Bord rechnete mehr damit, daß die FERNWEH noch einmal würde starten können. Noch einige Sekunden lang betrachtete die kleine Gruppe die wachsenden Kristalle, dann wandte sich Lyta um und lief in die Zentrale zurück. Sämtliche Interkome des Wracks schalteten sich ein. In jedem Raum wurde die Durchsage gehört. »An alle! Hier spricht Lyta, die Kommandantin. Wir haben einen Eindringling an Bord …« Sie schilderte die Beobachtungen und die Schlußfolgerungen. Während sie erklärte, meldete sich aus elf anderen Stellen des Kreuzers einzelne Mannschaften und berichteten von ähnlichen, teilweise weitaus spektakuläreren Einbrüchen der Kristalle. Lyta schloß: »Es ist nichts mehr zu machen. Wir gehen folgendermaßen vor: jeder von uns zieht den Raumanzug an, checkt ihn durch und hält ihn bereit, den Anzug zu schließen und zur KONTERMANN auszuschleusen. Wir warten auf Breckcrown. Wir verpacken unsere persönlichen Habseligkeiten und machen mit der Demontage der teuren Schiffsteile weiter. Beladet die Shifts und die Gleiter. Breck hat sicher noch Platz in seinen Schleusen. Ich erwarte nicht, daß wir ein leergeräumtes Schiff hinterlassen. Falls das Kristallwachstum anhält, weichen wir zurück. Das bedeutet, daß wir uns im Zentrum versammeln. Sorgt bitte dafür, daß die Zugänge zu den Schleusen und Hangars freibleiben. Die Kristalle sind mit mechanischer Gewalt vorübergehend zu zerstören; sie zerfallen zu aktivem Staub. Achtung! Macht weiter. Ich erfahre gerade, daß sich die KONTERMANN auf dem Flug hierher befindet. Keine Panik, dazu besteht nicht der geringste Grund.« Nur Kylian und einige andere Besatzungsmitglieder fanden eine alte Erfahrung wieder einmal bestätigt.
Es schlief sich lausig schlecht im Raumanzug.
* Die Tiefstrahler und Richtscheinwerfer beider Schiffe schickten ihre dicken Strahlen durch die Nebelschwaden. Zwischen den Schiffen schien das Gas in vielen Farben zu brennen. Fast regungslos schwebte die KONTERMANN in wenigen hundert Metern Entfernung vom Wrack. Hinter dem letzten, schwer beladenen Gleiter schloß sich langsam die Schleuse. Der High Sideryt hatte angeordnet, daß jede Schleuse und jeder Hangar nach dem Abheben von Granite bakteriologisch einwandfrei gereinigt werden mußte, einschließlich der Raumfahrer und der mitgebrachten Gegenstände. Im Wrack ging das Wachstum der Kristalle weiter. Inzwischen waren einige Gänge an der inneren Peripherie der FERNWEH unpassierbar geworden. Die Raumfahrer mit ihrem persönlichen Gepäck und schweren Tragelasten hielten sich in der Zentrale, entlang des Fluchtkorridors und in den kleineren Schleusen auf. Aus den Helmlautsprechern dröhnte die Stimme Brecks. »Wir haben keine Energieprobleme. Trotzdem solltet ihr euch ein bißchen beeilen. Über alles andere sprechen wir später.« Wieder lösten sich einige Raumfahrer vom Wrack und schwebten mit flammenden Triebwerken ihrer Flugaggregate durch die Gasschwaden und vorbei an den Schollen aus Ammoniak, die sich langsam an der Bordwand des Wracks auftürmten. Männer der anderen Besatzung, ebenfalls in Raumanzügen, fingen sie auf und schoben sie in die Schleusen hinein. Es herrschten gemäßigte Eile und beträchtliche Aufregung. »Ortung KONTERMANN«, meldete sich über sämtliche Empfänger eine trockene Stimme. »Wir registrieren die Annäherung der STERNLOK. Sie sichert die Übernahme, und anschließend
werden wir dieses System verlassen.« Eine zweite, größere Gruppe, deren Mitglieder sich durch eingehakte Verbindungstaue gesichert hatten, schwebte im Konvoi hinüber zu einer weit geöffneten Schleuse. Der Hangar dahinter war strahlend hell ausgeleuchtet. Hayes fragte über Helmfunk: »Ausgezeichnet. Wieviel hast du noch, Lyta?« »Noch achtzehn Mann und zwei schwere Container.« »Gut. Ich schicke einen meiner Gleiter hinüber für das Gepäck. Mittlerweile werde ich ungeduldig.« Das Schiff leerte sich. Lyta schaltete in der Zentrale die verschiedenen Interkome ein und sah in einer ständig wechselnden Folge einzelner Bilder, wie die Kristalle, die falschen Moose und andere, ebenso erstaunliche Gewächse, die Herrschaft über das Wrack antraten. Einige Interkome waren bereits ausgefallen. An anderen Stellen fingen grellrote Ranken und Finger an, Plastik zu absorbieren und als Nahrung zu verwenden. Die Hohlräume füllten sich, vom trüben Licht zugewachsener Rasterleuchten und Tiefstrahler durchdrungen, mit phantastischen Gewächsen und knisternden, klirrenden und summenden Kristallen. Der Gleiter wurde in der Schleuse beladen. Die künstliche Schwerkraft wurde desaktiviert; die Lasten wurden mit wenig Mühe verstaut. Aus einer Schleuse der KONTERMANN drangen die ersten Wolken der versprühten Reinigungsflüssigkeit. Über allem schwebte mit aufgeblendeten Scheinwerfern der dritte Kreuzer. Die letzten Schiffbrüchigen schwebten aus der FERNWEH. Lyta, die am Rand einer der höchstgelegenen Schleusen stand, warf einen letzten Blick auf die Szenerie. Sie war froh, das Schiff endlich verlassen zu können. Die Dutzende von Scheinwerfer verwandelten die schwarze Brühe, die triefenden Felsen, die Schollen und die Gasansammlungen des Talkessels in eine falsche, vielfarbige Idylle. Die Begleitmusik zu diesem Rückzug waren die vielen Stimmen, die
unaufhörlich aus den Helmlautsprechern kamen, die Flüche und das Keuchen schwer arbeitender Raumfahrer. Lyta sah zwei Gestalten in Raumanzügen, die einige Gepäckstücke mit sich zerrten, an sich vorbeischweben. Nach einigen Sekunden fragte sie mit Nachdruck: »Ich rufe Hayes. Ist deine Zählung abgeschlossen?« Die Antwort kam sofort. »Sogar mit namentlicher Kontrolle. Du bist die einzige. Los! Wir warten auf dich. Um die bakteriologische Dekontaminierung kommst allerdings auch du nicht herum.« »Will ich auch nicht. Ich komme.« Sie schwang sich hinaus, schaltete das Flugaggregat und schwebte durch die flammenden Nebelwolken hinüber zur nächsten hellen Öffnung, wurde von ein Paar Händen gepackt und ins Innere der Schleuse gezogen. Die Außentür schloß sich, Warnlichter flackerten. Kommandos rasten durch das Schiff, Bestätigungen trafen ein, dann erschütterten die vertrauten Vibrationen den stählernen Boden unter ihren Füßen. Die KONTERMANN und die STERNLOK entfernten sich langsam von der Oberfläche Granites. Jeder Raumfahrer erwartete, die rätselhafte Insassin der merkwürdigen Kugel bald wiederzusehen. Ihr Verhalten hatte diese Gewißheit herausgefordert. Die letzten Schleusen wurden verriegelt. Die Kreuzer beschleunigten und starteten zu einer neuen Linearetappe. Das dritte Alternativziel SENECAS wurde angesteuert. »Zur Kenntnis aller Raumfahrer: Wir setzen an Herts einen kurzen Hyperspruch ab. Folgender Text: Mental-Relais nahe Sonne Mission-Beta durch Einwirkung von Tyari, Insassin einer veränderlichen-Formenergie-Raumschiffkugel, vernichtet. Tyari sucht Atlan. Sie ist bemerkenswert informiert. Unser Verdacht: starke Telepathin oder von unseren Gegnern informiert. Unangreifbar, mit Bordgeschützen der Planetarier-Flotten nicht abzuwehren. Wir versuchen
nach verlustloser Aufgabe von Kreuzer FERNWEH die Lage bei Sonne Mission-C zu klären. Anschließend Rückflug zur SOL geplant. Ende – Hayes.« Die Kreuzer rasten davon. Kein einziges Raumschiff der Planetenflotten versuchte, ihnen zu folgen. Tyari mit ihrem seltsamen Raumgerät war spurlos verschwunden.
5. Für achtzig Prozent aller Besatzungsmitglieder hatte sich in den vergangenen achtundvierzig Stunden nichts oder fast nichts geändert. Unverändert schwebte die SOL an dem gewählten Standort. Erst als in SOL-City ein Summer zu hören war, der Interkomschirm sich erhellte und das Gesicht des Stabsspezialisten Gallatan Herts auftauchte, erfuhr Atlan, daß die Zeit der Ruhe offensichtlich ihrem Ende entgegenging. Trotz seiner Versuche, ausschließlich auf Barleona konzentriert, hatte er dies erwartet. »Ich höre«, sagte er und schaltete das Lesegerät ein. »Hast du Probleme, Gallatan?« Herts, älter als hundertzwei Jahre, nickte schweigend. Er war im Moment noch nicht überfordert. Aber sein zerfurchtes Gesicht drückte unverkennbar Sorge aus. »So sieht es aus. Kannst du bitte in die Zentrale kommen? Dein Rat und deine Erfahrungen werden dringend benötigt. Breiskoll und Sternfeuer sind bei mir.« »Ich komme sofort.« Atlan war gewohnt, bereits bei einem Gang durch das Schiff die herrschende Stimmung aufnehmen zu können wie ein Jagdhund die Witterung. Aber jetzt merkte Atlan nichts. Keine Fragen, kein Flüstern, kein Ausdruck von Sorge oder Angst bei den Solanern.
Das Schott zur Zentrale glitt geräuschlos auf und schloß sich wieder hinter ihm. In dem riesigen runden Raum, von Technik überfüllt, befanden sich fast alle, die an Bord etwas zu sagen hatten oder meinten, besondere Fähigkeiten zu besitzen. Atlan blieb hinter einem leeren Sessel stehen, blickte in die Runde und hielt sich am Kopfteil fest. Breiskoll deutete auf einen Bildschirm. Dort standen die Lettern des Funkspruchs, versehen mit genauem Datum und den Koordinaten der Sonne Mission-Beta. Langsam las Atlan, versuchte aus den wenigen Sätzen sämtliche Informationen herauszulesen, strengte seine Phantasie an und sagte schließlich: »Tyari. Tut mir leid, ich kann mir nicht im geringsten vorstellen, warum sie mich sucht – und wer mich da sucht. Keine Ahnung, Freunde.« »Etwas anderes macht uns weit mehr Sorge«, sagte Breiskoll bedächtig. »Sternfeuer und ich sind uns darüber einig, daß wir das Manifest D spüren.« »Manifest C!« korrigierte Atlan. Sternfeuer schüttelte energisch den Kopf. »Nein! Nicht C wie Ceres, sondern D wie Doradus!« Atlan blickte ihn stirnrunzelnd an. »Manifest D. Also, was wißt ihr darüber? Und welchen Rat wollt ihr von mir?« Breiskoll sagte: »Wir spüren es. Es ist bereits in unmittelbarer Nähe der SOL, es ist, sozusagen, drohend und anwesend. Das Manifest nennt sich TREMTRIN.« Herts beugte sich vor und warf ein: »Du kennst doch Foster St. Felix, Atlan?« »Den Sohn von der Buhrlo-Frau?« »Einer von beiden. Er hat schon mehrere Male Ahnungen oder Visionen gehabt. Auch er hat behauptet, daß eine gräßliche Gefahr da ist.«
Atlan fragte, mittlerweile tief beunruhigt: »Genauer hat er sich nicht ausgedrückt?« »Nein. Keiner von uns weiß, was er wirklich gemeint hat. Seine Warnung war sehr dramatisch, aber nicht genau. Wir wissen selbst nicht, was wir davon zu halten haben.« »Gefahr«, sagte Atlan nach einigen Sekunden, »damit kann verschiedenes gemeint sein. Manifest D, oder meinetwegen Barleona, vielleicht auch diese rätselhafte Tyari. Gibt es draußen irgendwelche besonderen Beobachtungen?« Herts bewegte den Kopf in einer hilflosen, unsicheren Geste in die Richtung auf den Block der Ortungsschirme. »Nichts. Es gibt keine Warnungen. Wir haben nichts anmessen können. Rundherum herrscht tiefe Ruhe. Ich möchte fast sagen, eine geradezu unheimliche Ruhe.« »Von Ruhe halte ich viel«, sagte der Arkonide und richtete seinen Blick auf die Molaatin. »Du hast auch nicht etwas errechnen oder berechnen können?« »Obwohl ich Bjo und Sternfeuer förmlich ausgequetscht habe. Nichts.« Atlan sagte zu Herts: »Ich kann nur einen Rat geben. Versetzt die drei Teile der SOL in vorläufigen Alarm. Wir können nichts anderes tun als warten. Oder gibt es einen besseren. Vorschlag.« »Ich fürchte, niemand hat einen besseren Vorschlag.« Atlan breitete in einer resignierenden Geste die Hände aus. Hage Nockemann rief aus dem Hintergrund: »Nicht einmal Blödel weiß etwas, womit sich etwas anfangen ließe.« »Das allerdings ist der sichere Beweis für unsere Ratlosigkeit«, antwortete Atlan bissig. Der Verantwortliche für die SOL war ebenso ratlos wie alle anderen. Da Sternfeuer und Breiskoll ihre Behauptungen nicht zu präzisieren vermochten, blieb die Unsicherheit groß. Auch eine neue
Anfrage in sämtlichen Ortungszentralen ergab nicht den geringsten Hinweis auf eine zu erwartende Störung von außen. Schließlich einigten sie sich auf Atlans Vorschlag. Für die SOL wurde bedingter Alarm gegeben.
* Abermals zeigte sich, daß SENECAS Berechnungen ein Höchstmaß an Zuverlässigkeit hatten. Die STERNLOK und die KONTERMANN sprangen aus der Linearetappe in den Normalraum des Sonnensystems Mission-C hinein und bremsten die Eintauchfahrt ab. In der Zentrale von Breckcrowns Kreuzer saß Lyta Kunduran und sagte, kaum daß die Schiffe den Linearraum hinter sich hatten: »Mit Sicherheit wird Tyari hier auftauchen. Wozu? Hast du einen Verdacht?« »Ein ganzes Bündel«, sagte der High Sideryt. »Zweifellos hat sie mit den Manifesten etwas zu tun. Sie bekämpft die Mental-Relais; das kann eine aufwendige Tarnung sein, aber auch tatsächlich die Wahrheit. Wenn es so wäre, hätten wir eine mächtige Verbündete.« Lyta lächelte skeptisch. »Bei einigen Millionen Relais ist das für sie mehr als ein Lebenswerk!« Die Raumschiffe rasten hoch über der Ekliptik der Planeten in das System hinein und versuchten, wie in jedem solchen Vorstoß, Planeten, Monde und eventuell ein Relais zu orten. Für die Frauen und Männer an den Pulten und Antennen war es mittlerweile Routine geworden. Die Sonne war ebenfalls ein gelber, ruhiger Stern, und es wurden vier Planeten festgestellt, zwei von ihnen in einem Abstand, der darauf schließen lassen konnte, daß sie Leben trugen. »Habt ihr schon den eins Komma zwei-Faktor berücksichtigt?«
fragte Hayes. »Ein schwaches, erstes Echo genau in dieser Position … aber, Achtung! Unsere seltsame Freundin! Sektor Grün, Hayes!« Alle Blicke richteten sich auf den betreffenden Sektorschirm. Dort stand ein scharfes Echo, darüber eine erste Vergrößerung. »Die kleine graue wurde wieder zu einer großen, bernsteinfarben transparenten und leuchtenden Kugel«, staunte Lyta. So war es. Einige hundert Kilometer neben den Schiffen schwebte Tyaris strahlende Kugel. Sie flog Parallelkurs. Sofort begann die Funkzentrale mit den Versuchen, mit ihr in Verbindung zu treten. Sie gab keine Antwort und behielt den Kurs unverändert bei. Verblüfft sahen sich die Solaner an. Sie meinten, daß man wenigstens mit Mitkämpfern einige Worten wechseln sollte. »Kontakt! Wir haben das Relais angemessen. Die errechnete Entfernung von eins Komma zwei Lichtminuten stimmt auch hier.« Hayes stieß ein dröhnendes Lachen aus und rief: »Wir werden nichts ausrichten können. Aber sicher hilft uns Tyari, das Relais zu zerstören. Fliegen wir unverändert weiter, solange keine Flotten oder Torpodoschwärme von den Planeten auftauchen.« Eine fremde, inzwischen aber nicht mehr unbekannte Stimme meldete sich über Funk, ohne Sichtkontakt. »Ich helfe euch auch dieses Mal.« Tyari hatte sich also in den Funkverkehr zwischen den Kreuzer und vielleicht sogar in die Bordnetze eingeschaltet. Das ließ auf eine höchstentwickelte Technik ihres Raumschiffs schließen oder – auf telepathische Fähigkeiten. »Federspiel!« fragte Lyta scharf und machte eine fragende Geste. »Ich schwöre, daß ich jede Sekunde versucht habe, etwas festzustellen. Jede Sekunde, meine ich, in der ich dazu in der Lage war. Es war, als würde ich gegen eine geistige Mauer stoßen. Wie bei der vielkritisierten Barleona! Ich habe nicht die geringste
Ahnung davon, was sich hinter dieser Frau verbirgt. Vielleicht verbirgt sich nichts, ich weiß es nicht.« Und nach einigen Sekunden murmelte er niedergeschlagen: »Ich versuche es auch jetzt. Mit demselben negativen Ergebnis.« »Wir danken dir«, antwortete der High Sideryt und fuhr fort: »Welche Ziele hast du? Warum kämpfst du an unserer Seite?« Die Antwort schien ehrlich zu sein, wich aber aus. Tyari erwiderte mit kühler Lässigkeit: »Wir haben das gleiche Ziel. Es ist die SOL beziehungsweise Atlan.« »Warum wir dieses Ziel haben, ist leicht zu erklären«, sagte Lyta und verlor jede Hoffnung, jemals eine »vernünftige« Antwort zu bekommen. »Du aber scheinst einen anderen Grund dafür zu haben.« »Das ist sicher. Viele Fragen werden sich von selbst beantworten – aber später!« Dann schwieg das Funkgerät wieder. Fünf Minuten lang herrschte in den Kreuzern ein betretenes Schweigen. Der innerste Planet zeigte sich als eine kochende, glühende Welt, kaum größer als ein großer Mond. Dort gab es kein intelligentes Leben. Von keinem der drei Planeten war bisher ein Projektil gestartet. Die Wahrscheinlichkeit, daß dieses Sonnensystem andere Überraschungen für die Eindringlinge bereithielt, lag nahe. Aber noch immer lag derselbe Kurs an. Die Distanz zum MentalRelais war inzwischen auf vierundzwanzig Lichtminuten geschrumpft. Mit knapp halber Lichtgeschwindigkeit näherten sich die drei Raumflugkörper dem Relais. Nach einer Weile faßte Breckcrown Hayes seine Überlegungen zusammen und sagte laut zu allen Anwesenden in der Zentrale: »Wir sind sieben Lichtjahre und knapp ein halbes vom Zielpunkt Mission-Beta entfernt. SENECA hat richtig gerechnet. Wenn ich alles zusammenlege, was wir erfahren und erlebt haben, so bleibt
herzlich wenig übrig. Taktisch gesehen, hätten wir uns diesen Ausflug ersparen können.« Lyta schüttelte protestierend den Kopf. »Wir haben zwar ein Schiff eingebüßt, aber so ungeheuer wertvoll war die FERNWEH auch nicht mehr. Natürlich hätte sie noch Tausende Lichtjahre durchgehalten. Aber tatsächlich haben wir doch über die Mental-Relais eine Menge neuer Informationen, Bilder und Analysen mitgebracht.« »Was nützt uns dies alles?« wollte Kylian wissen. »Eines Tages wird es uns etwas nützen. Und wenn wir nur die feste Überzeugung haben, daß es sinnlos ist, einige Millionen Relais vernichten zu wollen. Auch die SOL würde sich daran die Zähne ausbeißen.« »Nicht aber unsere neue Freundin«, warf Lyta sarkastisch ein. »Für sie ist ein Relais kein ernstzunehmender Gegner.« »Das ist nicht gerade als unser Verdienst zu werten«, schwächte Hayes wieder ab. »Eher ein eigenartiger Zufall.« Das Relais befand sich noch ungeschützt auf seiner langsamen Bahn um die Sonne. Es dauerte mehr als dreißig Minuten, ehe sich die Schirme dieses Doppelrads aufbauten. Inzwischen lag durch vergleichende Analysen das Ergebnis vor, daß sich alle bisher gesehenen Mental-Relais so stark ähnelten, daß man von völliger Identität sprechen konnte. Lediglich Kleinigkeiten wie etwa die Größe und Form weniger Sendeantennen oder irgendwelche Öffnungen oder Luken zeigten winzige Unterschiede. »Schon wieder eine neue, ungemein wichtige Information!« versuchte Lyta einen schwachen Scherz. Kurze Zeit später meldete die Ortung einen Fremdkörper, der aus der Nähe des dritten Planeten kam. Er schwebte auf die Sonne zu. Langsam und riesig, wie ein kleiner Mond oder ein großer Asteroid, kam der kosmische Brocken näher. Detektoren sandten ihre Suchstrahlen aus und meldeten zurück,
daß dieses seltsame Gebilde aus Fels bestand, aber sehr viele und massive Stahlkonzentrierungen enthielt. Die Kreuzer und Tyari flogen weiter und noch ungehindert auf das Mental-Relais zu, das fast regungslos in Sonnennähe schwebte und nicht erkennen ließ, ob es funktionierte oder sich zu wehren gedachte … das Doppelrad verbarg sich hinter den halbtransparenten Defensivschirmfeldern. Als der seltsam geformte Mond nähergekommen war, erschienen die Vergrößerungen auf den Monitoren. Das Sonnenlicht ließ auf einer Hemisphäre alle Einzelheiten erkennen. Solania meldete sich und kommentierte die ersten Analysen ihrer Ortungsabteilung. »Ein riesiger, trichterförmiger Brocken mit der Oberfläche eines Tafelbergs. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen solchen Planetensplitter gesehen zu haben.« »Keiner von uns«, knurrte der High Sideryt. »Ich halte das Ding für eine Gefahr.« »Bisher erfolgte noch nicht das geringste Zeichen für einen Angriff.« Ein riesiger, konischer Felsblock, annähernd regelmäßig geformt, kam langsam näher. Er drehte sich wie ein gigantischer Kreisel, nur viel langsamer. In den dunklen Felswänden der gerundeten Flanken befanden sich einzelne Einsprengsel aus Metall; bisher zeigten nur die Massedektoren diesen Umstand an. Undeutlich sahen die Solaner auf den Vergrößerungen kuppelähnliche Gebilde oder gerundete Kanzeln. Der Block sandte kein Licht aus, er schien das Sonnenlicht zu absorbieren. Immerhin bewegte er sich mittlerweile mit knapp einem Drittel Lichtgeschwindigkeit, und unverändert zeigte die Projektion seiner Kurslinie auf die Sonne, also auch auf die Schiffe und das Relais. Die Oberfläche war so gut wie spiegelglatt. Auch dort stellte man Massekonzentrationen von Metall fest. Schließlich meinte Lyta Kunduran: »Vielleicht ist es so etwas wie ein Fort. Im Gegensatz zu den
anderen Planetensystemen mag dieser Brocken die Funktion der Flotten haben.« Aus der Ortung kam der Einwurf: »Das würde waffentechnisch bedeuten, daß er auch über die Feuerkraft von Flotten verfügt. Die Planetarier müssen einen Vorteil in dieser Art der bewaffneten Abwehr sehen.« Schon allein die bisher entwickelte Geschwindigkeit, mit der dieser Felskegel aus der Planetennähe herandriftete, ließ auf gewaltige Energiekonzentrationen schließen. Vermutlich war er aus einem planetarischen Orbit heraus beschleunigt worden. Die Kreuzer änderten ihren Kurs noch immer nicht. Unter ihnen, in der Projektion der Ekliptik, lag die Sonne, schräg vor ihnen funkelte und leuchtete der Mental-Satellit. »Schutzschirme auf Maximum fahren!« ordnete der High Sideryt ahnungsvoll an. »Ausgeführt.« Nur wenige Minuten später reagierte der Felsenkegel. Von der glatten Oberfläche des ungewöhnlich geformten Gegners zuckten parallel zwei gewaltige dunkelrote Glutbalken. Sie wirkten wie gigantische Laserstrahlen. Sie zuckten mit Lichtgeschwindigkeit durch den planetaren Raum und trafen die Kreuzer. Beim ersten Aufblitzen, das mit einem gewaltigen Schlag zusammenfiel, hatten die Ortungszentralen Alarm ausgelöst. Die Entladung traf die Schiffe, überzog die Schutzschirme mit einer Flut aus roten Energieentladungen und schleuderte die beiden Kreuzer einige hundert Kilometer zur Seite. Triebwerke heulten auf, Lichter blinkten, die künstliche Schwerkraft fiel sekundenlang aus, und die kugelförmigen Schiffe taumelten wild durch das Vakuum. Zwischen beiden Schutzschirmen zuckten gewaltige Blitze hin und her. Die winzigen Strukturlücken veränderten ihre Ränder, faserten aus und schlossen sich dann unter wilden Lichteffekten. Die Piloten hantierten wie die Rasenden und stabilisierten die
Schiffe wieder. Breckcrown zog sich an seinem Sessel vom Boden hoch und rief: »Fluchtkurs, aber weiter auf das Relais zu!« »Verstanden!« Eine gewaltige Energieflut hatte die Eindringlinge getroffen. Sie wirbelten in spiraligen Kursen davon, nur Tyaris Kugel hielt unverändert und unbeeindruckt weiter direkten Kurs auf das Relais. Wieder warfen riesige Projektoren eine Serie von Glutstrahlen aus, die zwischen der Sonne und den Kreuzern hindurchschossen und sich in der Weite des Alls verloren. »Jetzt wissen wir es genau«, murmelte Solania. »Sie setzen eine lunare Festung ein.« »Sie sind in der Lage, uns aus dem System hinauszuprellen!« brummte Hayes und reckte sich ächzend. Die Hologramme aus der Ortung waren jetzt so deutlich, daß genügend Einzelheiten auf der Oberfläche des Gegners auszumachen waren. Die Messungen ergaben, daß er eine Länge von neunzig Kilometern und einen oberen Durchmesser von mehr als siebzig hatte. Jetzt sahen die Solaner eine Vielzahl von halbkugeligen Kuppeln deutlich im Sonnenlicht. Über den gerundeten Metallflächen lagen dunkle Schutzschirme. Sie funkelten jedesmal auf, wenn die unbekannten Geschütze feuerten. Die Strahlen hatten bisher kein zweitesmal getroffen, aber es war abzusehen, daß der Hagel von Schüssen früher oder später Erfolg haben würde. Auf einen Befehl Breckcrowns hin änderten die Kreuzer ihren Kurs und versuchten, die Masse des Zentralgestirns zwischen sich und die Steinfestung zu bringen. Sie tauchten hinter die Rundung der Sonne hinunter. Trotzdem beobachteten sie die Kugel, die einmal von einem Schuß gestreift, aber nicht aus dem Kurs geworfen oder zerstört wurde. »Sie schafft es wieder!« sagte Kylian. »Wahrscheinlich. Mittlerweile fürchte ich mich vor der
technischen Macht unserer neuen Freundin. Und nicht nur davor!« Die Kugel flog auf Kollisionskurs. Nach hundertsiebzig Sekunden berührte sie die Defensivschirme des Mental-Relais. In einer riesigen Explosion, großartig in ihrer Zerstörungswirkung und lautlos wie alle diese Vorgänge im All, zerstörte sich das Relais. Es detonierte in dem Augenblick, als die Kugel in den Schirm eingedrungen war, ohne aber eines der metallenen Teile berührt zu haben. Wieder sahen die Solaner erschüttert, wie sich Tyaris Raumschiff unbeschädigt aus dem Meer von Glut, Feuer und Trümmerstücken hervorschwang und in einer weiten Kurve wieder auf die Solaner zukam. Breckcrown Hayes machte eine resignierende Geste und sagte nachdenklich: »Ich gebe es auf. Kehren wir, wie ausgemacht, zur SOL zurück. Es hat keinen Sinn, mit zwei Schiffchen gegen diese Entfaltung von Macht und Durchschlagskraft anzukämpfen. Und gegen die Fähigkeiten Tyaris haben wir ohnehin nichts einzusetzen.« »Natürlich bin ich einverstanden«, antwortete Lyta neben ihm. »Sie hat uns gezeigt, was sie kann. Was sie von Atlan will …?« Sie beendete die Frage nicht. An Bord beider Schiffe hatten sich die Spekulationen mittlerweile überschlagen. Die wildesten Theorien wurden aufgestellt. Aber alle waren sich einig, daß es besser war, Tyari selbst unter schlechten Bedingungen zum Freund oder Verbündeten zu haben. Was sie als Gegner zu leisten vermochte, hatten sie soeben wieder gesehen. Auf den Schirmen verschwanden die Reste der riesigen Explosion. Durch die Gasschleier zuckten die Geschützstrahlen des Mondes. Aber sie wurden immer weniger, und schließlich hörte das Fort zu feuern auf. »Wir fliegen zurück! Sofort!« Tyari antwortete diesmal. Zu ihrem Erstaunen hörten die Solaner: »Ich bin sehr gespannt, was wir an Problemen bei der SOL
vorfinden werden. Atlan interessiert mich. Ich folge euch.« »Wir können«, erwiderte Solania steif, »nichts dagegen tun.« Die STERNLOK und die KONTERMANN orientierten sich an einem fernen Zielstern, beschleunigten und leiteten nach kurzer Zeit die letzte Linearetappe ihres Fluges ein. Zurück zur SOL.
6. Zuerst waren es nur einige vereinzelte Lichtblitze gewesen. Winzige Funken, die in der Finsternis des sonnenleeren Raumes aufblitzten und in Sekundenbruchteilen vergingen. Niemand merkte es, und die wenigen Buhrlos, die jene Miniexplosionen sahen, glaubten an Sinnestäuschungen oder überreizten Nerven. Schließlich wurden die Erscheinungen so häufig und so auffällig, daß niemand mehr an ihrer Existenz zweifeln konnte. Für die SOL bestand bedingter Alarm, und die Meldungen wurden richtig verwertet. Wenige Minuten nach der ersten Registrierung stießen die eingeschalteten Orterimpulse gegen ein Hindernis, rund viertausend Meter von der jeweiligen Rundung der Außenhülle entfernt. Wieder liefen zahllose Meldungen zusammen, wurden verarbeitet, und SENECA meldete sich unaufgefordert. »Die SOL befindet sich im Mittelpunkt einer Energie-Kugelhülle. Der Durchmesser dieser Schale, die allem Anschein nach absolut kugelförmig ist, beträgt zehntausendachthundert Meter.« Bisher war diese Kugel unsichtbar; schwarz oder transparent, denn die Sterne waren weiterhin im normaloptischen Bereich sichtbar. In der folgenden Minute zeichneten sich auf den Panoramaschirmen seltsame Vorgänge ab. Ihnen war eine gewisse gefährliche Schönheit nicht abzusprechen.
Gallatan Herts gab den Befehl, ein halbes Dutzend unbemannte Testsonden auszuschleusen und zu versuchen, die Natur des Schirmes festzustellen. Gleichzeitig bauten sich die gestaffelten Schutzschirme der SOL auf. Die Energiekugel entwickelte Farbe und Strukturen. Von mehreren Punkten aus wuchsen goldfarbene Schleier und Fäden nach allen Seiten, verbreiterten sich und färbten, während sie sich wie die Muster auf einer Seifenblase drehten und schlängelten, das umgebende Gebiet. Die erste Sonde traf auf die Innenseite des Schirms und löste sich in einer kleinen, kristallgrellen Flamme auf, der dünne Datenstrom riß ab. »SENECA!« rief Herts. »Um welche Energien handelt es sich?« Das Superrechengehirn schwieg. Sämtliche Ortungsstationen versuchten, die Natur des Schirms festzustellen. Die Informationen, die sie verarbeiten konnten, waren dürftig. Trotzdem meldete sich SENECA nach einer Weile und führte aus: »Die angemessenen Energien sind vorläufig nicht identifizierbar. Mit Sicherheit besitzen sie Hypercharakter.« »Das macht uns nicht klüger.« Die wirbelnden und schleifenförmigen Bewegungen der goldfarbenen Schleier gingen weiter. Mehr als ein Drittel des gewaltigen Schirms war inzwischen farbig geworden. Die Farbe hatte sich in diesen Teilen stabilisiert. Diejenigen Teile der Schale wirkten wie goldbedampftes Glas, durch das die Solaner die Sterne sehen konnten und spiegelbildliche Ansichten des eigenen Schiffes. Ratlos sagte Gallatan Herts: »Ich kann Rotalarm geben. Aber ich fürchte, daß die Energien zurückschlagen, wenn wir zu feuern anfangen.« Zwei weitere Untersuchungssonden stießen gegen die Innenflächen des Schirms und vergingen in lautlosen Glutbällen. Aus allen Teilen des Schiffes strömten die Stabsspezialisten und die Verantwortlichen zusammen und versammelten sich in der Hauptzentrale. Bjo Breiskoll hörte auf seinem Weg die Durchsagen
und die Versuche, die Situation zu analysieren, und tief in seinen Gedanken und seinem telepathischen Gefühl begannen sich deutlichere Umrisse eines neuen Schreckens abzuzeichnen. Er hatte gespürt, daß Manifest D, das sich als Tremtrin verstand, in der Nähe des Schiffes war. Irgendwo dort draußen, unsichtbar, aber körperhaft, drohend und abwartend. Jetzt war dieser Eindruck wesentlich schärfer und stärker. Dennoch glaubte Bjo nicht, daß es sich um ein und denselben Gegner handelte: für ihn war Tremtrin nicht gleichbedeutend mit dieser gesteuerten Blase aus Hyperenergien. Vielleicht würde er seine Meinung ändern müssen, aber bis zum gegenwärtigen Moment war er davon nicht überzeugt. Langsam ging er weiter. Mannschaften, die an ihre Plätze hasteten, kamen ihm entgegen und beachteten den Katzer nicht. Breiskoll, der konzentriert in die kosmische Umgebung hineinhorchte, spürte die Anwesenheit des Manifests. Und plötzlich merkte er, wie die unsichtbaren Kräfte dort draußen eine Kraftanstrengung unternahmen. Riesige Energiemengen wechselten den Zustand – von der Ruhe zur Bewegung. Es war, als würde ein schlafender Weltallgigant seine Muskeln anspannen. Bjo zuckte zusammen und beschleunigte seine Schritte. Er war in seiner Überzeugung schwankend geworden. »Bjo!« der Ruf schreckte ihn aus seiner Versunkenheit und Grübelei auf. Er erkannte zwanzig Schritte weiter voraus Atlan, der ebenfalls auf die Zentrale zulief. »Warte«, meinte Bjo und schloß auf. »Ich wußte es ja«, sagte der Arkonide skeptisch, »daß wir nicht lange Ruhe haben werden. Verdammt! Und nach dem, was ich gehört habe, sind wir diesmal in ernsthaften Schwierigkeiten.« »Etwas dort draußen«, sagte Bjo tief nachdenklich, »ballt die Faust und wird uns zerquetschen, wenn wir nichts dagegen tun.« »Hast du eine Idee?« Bjos Antwort ließ seine Unsicherheit deutlich erkennen.
»Nein. Noch nicht. Warten wir ab, bis wir drinnen«, er deutete geradeaus auf das offene Schott, »alle Informationen haben. Ich spüre deutlich, daß sich riesige Kräfte zusammenballen.« »Das Manifest?« »Möglich. Ich halte es für unwahrscheinlich. Vielleicht steuert das Manifest Tremtrin diese Hyperenergieblase.« Sie gingen in die Zentrale hinein. Im Augenblick breitete sich unter der großen Gruppe der Anwesenden ein erschrecktes Schweigen aus. Auf SENECAS Kommunikationsschirmen standen die letzten, aktuellen Daten. Eine Feststellung wurde gerade von einer aufgeregten Stimme aus der Ortung bestätigt. »Die Kugelschale aus Hyperenergie zieht sich zusammen.« Diese Meldung wurde abgelöst durch die einkommenden Parameter des Vorganges. Sie zeigten an, daß der Vorgang sehr langsam ablief. Rund hundert Millimeter pro Sekunde. Dreihundertsechzig Meter also innerhalb der nächsten Stunde. Aber schon relativierte SENECA diese Zeitangabe wieder. »Dieser Wert wurde soeben ermittelt. Selbstverständlich kann er sich ändern.« Immerhin habt ihr eine Stunde Zeit zum Nachdenken. Vergiß für sechzig Minuten deine Probleme mit Barleona! drängte der Extrasinn. Atlan blieb neben Gallatan stehen und sah nach einem langen Blick in die Gesichter der Anwesenden, daß sie mutlos geworden waren. Der Arkonide wandte sich zum Terminal, identifizierte sich und fragte das Bordgehirn: »Hast du berechnet, wie ein konzentrierter Beschuß wirken würde?« Er hatte noch nicht völlig ausgesprochen, da hörten sie alle bereits die Antwort. »Dieses Thema wurde bereits behandelt. Ich muß dringend davon abraten. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Kugelschale sämtliche
Energie zurückspiegelt, liegt bei über 98.« »Ich habe es bereits befürchtet«, sagte Atlan wie im Selbstgespräch. »Hat die Analyse der Energien, die beim Verglühen der ferngesteuerten Sonden entstanden sind, etwas ergeben?« »Spektrallinien aller Werkstoffe, aus denen die Sonden zusammengesetzt waren.« Wajsto Kölsch sagte sarkastisch: »Ununterbrochen gute Nachrichten.« Atlan versuchte sich vorzustellen, was die Folgen waren, wenn sich der riesige Kugelschirm weiter zusammenzog. Es würde einige Stunden, vielleicht länger dauern; eine Zeitspanne, in der nichts wirklich Gefährliches geschah. Abgesehen davon, daß die Besatzung der SOL in Panik und Furcht versetzt wurde. Fluchtversuche? Wenn der Kontakt mit dem Schirm die unbemannten, ferngesteuerten Sonden zerstörte, würde er auch Kreuzer und Beiboote vernichten. Die Schutzschirme boten in diesen Fällen auch keinen Schutz gegen die zerstörerische Kraft der übergeordneten Energie. Wenn das Innere des Kugelfelds die Bordwände der SOL berührte, würden sie ebenso in Mitleidenschaft gezogen wie die Testsonden. In wenigen Stunden also, vorausgesetzt die Schrumpfgeschwindigkeit vergrößerte sich nicht drastisch oder sprunghaft, würden die ersten Teile der SOL vernichtet werden. »Dort draußen lauert unser Todesurteil«, sagte Atlan. »Sanny! Du hast eine Menge Informationen gehört. Du weißt, was Bjo und Sternfeuer aufgespürt haben. Kannst du uns helfen?« Die Molaatin kauerte verloren in einem Kontursessel und öffnete, als Atlan sie ansprach, ihre großen Augen. Alle Blicke konzentrierten sich auf Sanny. Die Solaner erwarteten, daß sie etwas auf ihre kaum erklärliche Art errechnete. Aber auch jetzt wurden sie enttäuscht. »Ich versuche es schon, seit die erste Sonde explodiert ist. Mehr als SENECA kann ich auch nicht sagen. Es tut mir leid. Vielleicht später.«
»Später kann zu spät sein«, sagte Vorlan Brick. »Nicht wahr, Kleiner?« Sein Bruder schwieg und blickte die Bildschirme an. Sie zeigten, daß inzwischen die gesamte Kugelhülle eine gleichmäßige Färbung hatte. Eine runde, starre und goldfarben leuchtende Kugel von zehntausend Metern Durchmesser hatte die SOL eingeschlossen. Der Vorgang der Farbänderung war abgeschlossen. Atlan wandte sich an den Leiter der Hauptzentrale im Mittelteil des Schiffes. »Gallatan«, seine Stimme war ungewöhnlich ernst, »du vertrittst den High Sideryt. Bis er mit den beiden Schiffen und Tyari zurückkommt, wird ein Entschluß notwendig sein. Ich schlage einen Versuch vor.« »Ja? Wir haben wenig Zeit und noch weniger Auswahl, denke ich.« »Du denkst richtig«, versicherte Atlan grimmig. »Jage einen alten Kreuzer oder eine zerbeulte Korvette ferngesteuert mit hochgefahrenen Schutzschirmen gegen den Schirm. Wir werden sehen, was passiert. Sollte sie ebenso detonieren wie die Sonden, dann wissen wir etwas mehr. Überdies sind wir durch unsere Schirme noch gegen die Energieflut geschützt. Klar?« »Einverstanden. Sehr viel verspreche ich mir allerdings nicht davon.« »Ich auch nicht«, sagte Atlan. »Aber es lenkt uns ab, es zeigt uns unsere Möglichkeiten, und schließlich haben wir Gewißheit über unser Schicksal.« Gavro Yaal hob die Hand und unterbrach. »Ich kümmere mich darum. Ich habe da ein halb ausgeschlachtetes Wrack in dem Reparaturhangar …« Er rannte aus der Zentrale, nachdem er über den nächsten Interkom eine Reihe aufgeregter Anordnungen gegeben hatte. Atlan war mit seiner Auffassung nicht allein. Er glaubte nicht wirklich an einen Erfolg dieses Versuchs. Es gab
eine winzige Chance, nicht mehr. Aber vielleicht brachte dieser verzweifelte Versuch irgendwelche versteckten Ideen zum Vorschein. Oder er glückte tatsächlich. Immerhin gab es noch genügend Zeit, und vielleicht war die Lage doch nicht so hoffnungslos, wie sie sich darstellte. Atlan und die SOL und viele andere in dieser Zentrale hatten sich schon aus weitaus gefährlicheren und aussichtsloseren Lagen befreien können. Die Korvette, die einst den stolzen Namen HANNIBAL getragen hatte, schwebte langsam aus dem Hangar. Hinter den Schirmen, die sich aufbauten, als das Wrack außerhalb der Schleusenrahmen war, erkannte man deutlich, daß es wirklich halbwegs Schrott war; Landestützen fehlten ganz oder teilweise, mehrere Luken standen offen, weil die Schotte ausgebaut worden waren, und das Innere war ebenso fast aller wichtiger Teile beraubt worden. Die Schrift war unvollständig, die Bordwand zerschrammt und verbeult. Die Triebwerke sprangen an; es gab nur noch elf Stück davon. Der Rest war ausgebaut und überholt worden. Mit geringer Geschwindigkeit schwebte die Korvette auf den Schirm zu. Herts schaltete die Filter vor die Linsen derjenigen Geräte, von denen das Wrack erfaßt wurde. Die Entfernung zwischen Kugelhülle und den Schirmen des uralten Raumschiffs schrumpfte. Quälend langsam vergingen die Sekunden. Als die Rundung der Schutzschirme bis auf eine nicht mehr meßbare Spanne geschrumpft war, liefen SuperspeedAufzeichnungsgeräte an. Die Augen der Beobachter konnten nur noch erkennen, daß von dieser Berührungsfläche aus die Schutzschirme aufflammten und sich in mehrfarbigen Explosionserscheinungen auflösten. Es war eine Art fortschreitender Brand, der die Schirme und einen Sekundenbruchteil später die Bordwände und den Rest des Wracks erfaßte. Ein kugelrunder, zuckender Glutball stand zwischen den beiden Schirmfronten, derjenigen der SOL und der fremden Hyperenergie.
»Aussichtslos!« fauchte Uster Brick. Er fügte einen langen Fluch hinzu und hieb mit der flachen Hand auf die Sessellehne. Die Glutwolke verlor ihren grellen, sonnenähnlichen Glanz und löste sich langsam auf. »Das war's«, meinte Atlan. Diese Hoffnung war also auch zerstört. Die Aufnahmen liefen noch einmal über die Monitore und zeigten, daß der blitzähnliche Eindruck richtig gewesen war. Die Zerstörung von energetischen Formen wie den projizierten HÜ-Schirmen und der Materie des Schiffes breitete sich vom Berührungspunkt mit dem goldfarbenen Schirmmonstrum aus, sehr schnell und gründlich. Energie und Materie wurden in ihre Atome aufgelöst und bildeten die Front der Explosion. Das Innere der Kugelhülle rückte näher heran. Zufällig fiel Sannys Blick auf Breiskoll, der verkrampft in einem Sessel lag. Sein Gesicht war mit großen Schweißtropfen bedeckt. »Bjo!« Er rührte sich unmerklich, holte dann tief Luft und flüsterte: »Es hat etwas gespürt. Das Manifest. Ich fühle, daß es sich ärgert, wütend wird, auf Rache sinnt.« »Also ist der goldfarbene Schirmball mit dem Manifest gleichzusetzen?« fragte die Molaatin sofort. Bjo riß die Augen auf und stemmte sich aus der Tiefe des Sitzes hinaus. »Ich weiß es nicht. Es ist möglich.« Wenn es so war, sagte sich der Arkonide stark beunruhigt, dann würde das Manifest Tremtrin versuchen, den Gegner zu bestrafen. Also würde sich die Geschwindigkeit erhöhen, mit der sich die energetische Hülle zusammenzog. So war es. Die nächste Information wurde eingeblendet und besagte klar, daß die Rate der schrumpfenden Bewegung nunmehr fünfhundert Millimeter pro Sekunde betrug. Cara Doz und die Uster-Zwillinge standen in einer Gruppe
zusammen. Atlan ging irgend etwas im Kopf herum, eine flüchtige Idee, von der er glaubte, daß sie etwas taugen könnte. Er wußte, daß die Situation aussichtslos erschien. »Bald berühren unsere Schirme diese Blase dort – oder umgekehrt!« sagte Vorlan. »Was können wir tun?« Niemand vermochte diese Frage zu beantworten. Die Zeitspanne schrumpfte ebenso wie der tödliche Schirm. Es war eine Gnadenfrist; als solche empfanden es die Solaner. Inzwischen war Rotalarm gegeben worden. Die SOL hatte sich – zumindest theoretisch – in eine Festung verwandelt, in einen feuerbereiten Koloß. »Drei Piloten …«, brummte Atlan, dann zuckte er zusammen und rief aufgeregt: »Es ist nicht viel, Freunde, aber ich habe eine Idee, wie wir die Gnadenfrist verlängern können.« »Einen anderen Ausbruchsversuch?« rief jemand. »Nein«, entgegnete der Arkonide. »Es ist ein verzweifeltes Manöver, das ich vorschlage. In der normalen Form beansprucht die SOL einen großen Teil des Innendurchmessers dieses Vernichtungsschirms. Wir müssen sie teilen!« Er zeigte auf die Brick-Zwillinge und auf die Emotionautin Cara. »Da stehen die Spezialisten für ein solches Manöver!« Herts nickte schweigend. Er begriff, was Atlan meinte. Aber er sah auch ein, daß dieses Experiment ihnen nur zusätzliche Zeit, aber keine Lösung bringen würde. »Verdammt«, brummte er schließlich und gab durch einige hilflose Gesten zu verstehen, daß er Atlans Vorschlag akzeptierte. »Warum ist Hayes noch nicht zurück? Wo bleibt er?« Zwar würde sich der High Sideryt außerhalb des seelenlosen Gegners befinden, wenn er die Linearetappe beendete, aber sehr viel Hilfe war von ihm auch nicht zu erwarten.
»Los!« forderte Atlan die drei besten Piloten der SOL auf. »Ihr müßt perfekt zusammenarbeiten.« »Am guten Willen soll's nicht liegen, nicht wahr, Großer?« rief Uster Brick herausfordernd. »Bestimmt nicht.« »Das Problem«, meinte Cara Doz und strich sich mit den Fingern unschlüssig durch ihr weißblondes Haar, »ist weniger unser Können. Es wird schwierig sein, auf so engem Raum zu manövrieren, denn wir stehen ja nicht in telepathischer Verbindung.« »Wir haben Ortungsstationen!« rief Uster. »Und SENECA, der die Feinabstimmung übernehmen kann.« »Also, auf die Plätze. Dort drüben schwebt deine kleidsame Haube, Cara!« sagte Vorlan, winkte seinem Bruder und verließ die Zentrale. Atlan projizierte auf den Hauptschirm, wie er sich das Manöver vorstellte. »Wenn sich alle drei Teile so wie hier dargestellt aneinanderpressen«, sagte er und zeichnete mit der Computerschaltung beide Kugelhälften der SOL dergestalt, daß die Triebwerkswülste »senkrecht« standen und die Kugeln nebeneinander, »dann sparen wir eine Menge Platz ein. Aber es muß schnell gehen. Sonst überholt uns der Schirm.« Er zeichnete einen dritten Kreis, der sich in den Hohlraum der beiden darüberschwebenden Kreise schmiegte; dies war der Mittelteil, von der Schnittfläche aus gesehen. Eine zweite Zeichnung beschrieb einen Zylinder, halb hineingeschoben in einen Kreis, also eine Seitenansicht dieser neuen SOL-Position. SENECA begann bereits das Problem zu bearbeiten und Lösungsvorschläge zu machen. »Cara!« Die Emotionautin hatte sich in den Pilotensitz gekauert. Ihre geringe Größe und die dünnen, nackten Arme ließen sie hilflos und wie ein Kind aussehen. Sie war nicht mehr in sich gekehrt als sonst,
aber auf ihrem blassen Gesicht zeichnete sich Konzentration ab. Sie nahm das SERT-Band in beide Hände, schüttelte die seitlichen Kabel frei und setzte sich den Ring auf die Schläfen. Sie aktivierte auf der Steuerkonsole eine Reihe von Verbindungen. Die Datenstation SENECAS wurde aktiviert. Ein vielfarbiges Funktionsbild der drei SOL-Komponenten erschien. Atlan zog sich in den Hintergrund zurück und überlegte: sämtliche normalerweise kabel- oder leitungsgebundenen Kommunikationsmittel wurden nun auf Funk umgeschaltet. Die riesigen Klauen und Klammern, von denen die drei Teile zusammengehalten wurden, würden sich lockern. Für den Bordrechner war es eine Lappalie, die Durchlässe abzudichten, entsprechende Warnsignale zu geben, Roboter zu aktivieren, die nötigenfalls Insassen der gefährdeten Bereiche evakuierten. »SOL-Zelle-Eins koppelt ab!« Auf dem Schaubild erschien eine Schnittlinie. Monitoren zeigten die wirklichen Vorgänge. Cara griff jetzt aktiv in die Schaltungsvorgänge ein. Alle drei Piloten korrespondierten ununterbrochen mit SENECA. Die SZ-1 löste sich von Mittelteil und schwebte in dramatischer Langsamkeit nicht mehr als hundertfünfzig Meter weit. »Halt.« Einzelne Triebwerke gaben vergleichsweise kurze und schwache Leistungsstöße ab. Jede Schaltung wurde sorgfältig berechnet und konzentriert. Die SZ-1 blieb unbeweglich stehen. Als sich die SZ-2 löste, gingen kurze, schwere Vibrationen durch die zwei Schiffsteile. Jeder einzelne Solaner verfolgte die langsamen, fast schleichenden Manöver mit. Und auf jedem einzelnen Interkom zeigte sich hinter den Ausschnitten und Teilansichten dieser verdammte Schirm. Die zweite Kugelhälfte blieb, nachdem die Verbindungen sich gelöst hatten, an ihrer Position.
»Mittelteil!« Cara Doz dirigierte den zylindrischen Teil des riesigen Schiffes in eine andere Richtung. Von beiden Kugelhälften beziehungsweise einer gedachten Verbindungslinie aus gesehen driftete der Zylinder nach »unten«. Dort begann Cara, ihn um genau neunzig Grad zu drehen. »Synchronmanöver.« Die Ortungsstationen und SENECA berechneten die Abstände zum Innern des kosmischen Angreifers. Die SZ-1 hatte den längeren Weg. Sie schwebte auf die SZ-2 zu, bis sich beide Bordwände fast berührten. Als dieses Manöver abgeschlossen war, schob sich der zylindrische Teil in den Schutz der doppelten Rundungen. »Stabilisieren.« Wieder übernahm SENECA diese Arbeit. Für einen Rechner seiner Kapazität war es weniger als Routine, Abstände zu messen und eine einmal festgelegte Position stabil zu halten. »Wir haben Zeit gewonnen«, flüsterte Atlan, »aber niemandem fällt etwas zur Rettung ein.« Sekunden, die vorher förmlich langsam getropft hatten, schienen jetzt plötzlich zu rasen. Die Zeit, die den Solanern noch blieb, wurde weniger und weniger. Dieses Mal setzte sich die Gewißheit durch, daß das Ende unmittelbar bevorstand.
* »Ich verstehe, was du mir berichtet hast. Ich habe begriffen, was ihr mit der SOL gemacht habt. Aber ich kann nicht verstehen, daß es da etwas gibt, das uns alle vernichten will.« Barleona beugte sich vor. Sie wirkte in diesen Augenblicken keineswegs naiv. Atlan zuckte die Schultern. Er nahm sich zusammen und blickte nicht auf die Ziffern des Chronometers.
»Etwas will verhindern, daß wir seine Pläne durchkreuzen«, sagte er. »Ich bin fast sicher, daß wir getötet werden. Soviel Anstrengungen – vergeblich. Nur noch eine winzige Hoffnung haben wir.« »Diese Frau, von der du mir erzählt hast?« »Ja. Tyari.« Barleona legte in einer Geste, die Atlan schon so häufig gesehen hatte, daß sie ihm nicht mehr auffiel, den Zeigefinger an ihr rechtes Kinn. »Sie ist ein Freund des High Sideryt?« »Wohl kaum. Ich könnte mir denken, daß er auch ihr gegenüber sein Mißtrauen nicht ablegt. Er hat recht. Ich bin inzwischen auch der Meinung, daß sich die Angriffe aus allen Teilen des Weltalls auf uns konzentrieren.« Bisher hatte er, um sie nicht zu verwirren und zu überfordern, nicht über Anti-ES gesprochen. Die Selbständigkeit der jungen Frau wurde von Tag zu Tag größer. Die Anzahl der Fehler, die sie im täglichen Umgang mit Solanern und der vielfältigen Technik der SOL gemacht hatte, waren mittlerweile sehr selten geworden. Die Bindung an Atlan war gewachsen. Er merkte es, selbst wenn er sich noch dagegen verschloß. »Ich kann dir nicht helfen!« sagte Barleona. »Wir müssen alle sterben, nicht wahr?« »Ich weiß es nicht.« Bjo, der unruhig im Raum hin und her ging und einen abwesenden Eindruck machte, blieb plötzlich stehen. Er fauchte flüsternd: »Da ist etwas, Atlan!« Atlan war versucht, voller Resignation abzuwinken. Aber der erste Blick in das Gesicht des Telepathen zeigte ihm, daß Bjo absolut sicher war. Bjo senkte den Kopf und sagte stockend: »Das Manifest erschrickt. Ich glaube, Hayes ist gekommen. Und ich spüre einen entschlossenen Willen, eine neue Mächtigkeit …
irgend etwas.« »Tyari?« fragte Atlan. »Weiß ich's?« Atlan machte einige Schritte, drückte die Kontaktplatte und wartete ungeduldig, bis sich das Schott geöffnet hatte. Zur Zentrale waren es nur wenige Schritte. Schon bevor Atlan, Barleona und Breiskoll das offene Schott erreicht hatten, hörten sie bereits die drohende Stimme Breckcrown Hayes' aus den Lautsprechern. »… verstanden. Natürlich weiß ich auch keine Lösung. Aber, und das ist kein Scherz, wir haben die größte Zerstörerin von Schirmfeldern bei uns. Wieviel Zeit habt ihr noch?« »Noch siebzehn Minuten«, ächzte Gallatan Herts. Die Ortung schaffte es, durch den goldfarbenen Schirm hindurch zwei große und ein winziges Echo sichtbar zu machen. Alle drei Objekte rasten auf die SOL zu und bremsten die Eintauchfahrt mit hohen Werten ab. Atlan, der in der Mitte der Zentrale stand und auf allen Bildschirmen das Verhängnis mit brutaler Deutlichkeit sah, hörte deutlich über die normale Funkverbindung eine Stimme, die ihn ebenso elektrisierte wie der Anblick Barleona. »Hier spricht Tyari. Ich wende mich an Atlan. Ich muß von ihm die Zusicherung haben, unter allen Umständen an Bord geholt zu werden, nachdem ich versucht habe, den drohenden Schirm zu zerstören.« Atlan brauchte nicht zu überlegen. Schon während der letzten Worte war er zum nächsten Pult gesprungen und drückte die Mikrophontaste. »Hier Atlan. Ich kenne dich nicht, Tyari. Ich hole dich notfalls selbst ins Schiff. Aber versuche alles, um diese tödliche Gefahr zu beseitigen! Und – tue es schnell!« »Es ist versprochen!« Atlan schloß die Augen. Seine Finger zitterten. Er fühlte, wie ein
breiter Schweißstreifen eisig kalt an seinem Rücken hinuntersickerte. Er packte die Sessellehne, die in seiner Reichweite lag und rief: »Herts! SENECA! Die Filter! Die gesamte optische Anlage wird überfordert werden!« »Verstanden, Atlan.« Sämtliches Interesse konzentrierte sich auf die Monitoren der Ortung. Das kleine Echo löste sich von den beiden größeren Schatten, wurde binnen weniger Sekunden wieder schneller und jagte auf die riesige Kugelhülle zu, schnitt sie tangential an. Eine leuchtende Kugel tauchte, ehe sich vor sämtliche Linsensysteme und Beobachtungsfelder die schweren Filter geschoben hatten, auf, wurde größer und traf den Hyperenergieschirm. Dort, wo die Kugel auftraf, erschien eine kleine Kugel solarer Helligkeit. Vibrationen trafen die Schutzschirme der drei SOL-Teile und ließen sie schwanken und beben. Von der Einschlagstelle aus fraß sich binnen weniger Sekunden eine gekrümmte Welle der Zerstörung, flammend und mit titanischen Blitzerscheinungen, über den goldfarbenen Schirm. Die Solaner bildeten sich ein, daß der Boden unter ihren Füßen bebte. Einzelne Nester, die aus kleinen Glutkernen bestanden, lösten sich in Kettendetonationen auf. Die leuchtende Kugel, Tyaris Raumschiff, verschwand in einem Ozean aus Glut, Flammen, Helligkeit und langen, rauchenden Ausläufern. Die Schutzschirme der SOL überzogen sich mit schalenförmigen Kappen in allen Farben der Glut. Es war, als würde rund um die SOL ein Stern geboren werden. Breiskoll wankte auf Atlan zu, hielt sich im Krampf an dessen Schultern fest und schrie durch das Geräuschinferno, das aus den Lautsprechern heulte und prasselte: »Todesschreie!« »Was?«
»Tremtrin! Mentale Äußerungen der Auflösung?« Atlan versuchte, durch das höllische Spektakel besser zu verstehen, indem er von Bjos Lippen ablas. »Das … Manifest Dora! Es ist gestorben, vernichtet worden. Ich hörte … mentale Todesschreie und ein Wimmern, das in den Hyperraum hinüberglitt. Ich … Tremtrin ist nicht mehr existent.« Mit einem letzten Aufheulen, das jeden Anwesenden zwang, sich schmerzgepeinigt die Ohren zuzuhalten, schwiegen die Lautsprecher. Vermutlich hatte die Sicherheitsschaltung oder SENECA eingegriffen. Die letzten Worte Breiskolls hallten in der Zentrale wider: »… ich bin ganz sicher, daß wir das Manifest vernichtet haben. Daß die fremde Frau es zerstört hat, wollte ich sagen. Das einhüllende Energiefeld ist doch Tremtrin gewesen! Wir sind gerettet!« Die Nervenanspannung löste sich in Geschrei und Jubel auf. Atlan schüttelte Breiskoll an den Schultern und stieß hervor: »Bist du sicher?« »Absolut sicher!« schrie Breiskoll. »Es hat mich mehr mitgenommen als du denkst, Atlan.« An Atlans anderer Schulter hing Barleona. Ihr Körper wurde von einem trockenen Schluchzen geschüttelt. Sie flüsterte unaufhörlich ein Wort, das Atlan nicht verstand. »Und wo ist Manifest C?« fragte der Arkonide. »Ich sehe nichts. Ich weiß es nicht!« gab der Katzer zurück. »Ist es da? Kannst du es spüren? Mann, du hast sogar gefühlt, daß Hayes aus dem Linearraum hervorzischt wie ein Racheengel!« Völlig erschöpft schüttelte Breiskoll den Kopf. »Die Frage bleibt bis auf weiteres offen«, erwiderte er. »Tut mir leid. Wenn ich etwas merke, sage ich es dir. Ich bin viel zu erschöpft, als daß ich jetzt noch klar denken könnte. Wenn du mich brauchst«, ein langer, mißtrauischer Blick glitt von Atlan zu Barleona und zurück, »weißt du, wo ich zu finden bin.«
Breiskoll wankte wie ein Greis davon, hielt sich am Gummiwulst der Schottdichtung fest und verschwand außer Sicht. Das Mißtrauen dir gegenüber ist elementar, flüsterte der Extrasinn. Atlan setzte sich auf die Armlehne des Sessels. Wie durch Watte hörte er die einzelnen Kommentare. Die BrickGebrüder und Cara, die im Funkverkehr plötzlich wieder »Engelchen« genannt wurde, desaktivierten die Schutzschirme und fügten die drei Teile der SOL wieder zusammen. Als die Verbindungen wieder standen und sich ein Schott nach dem anderen öffnete, war Atlan bereits mit einem Transportrobot unterwegs in die SOL-Zelle-Zwei.
7. Breitbeinig stand Breckcrown Hayes in der Schleuse. Vom Gürtel seines Raumanzugs bis zum nächsten Sicherheitshandgriff spannte sich eine gelbe, kunststoffbeschichtete Spirale. Das Innere des Hangars war dunkel. Von rechts oben stach der Suchstrahl eines Traktorfelds unsichtbar durch das Dunkel, beschrieb Kurven und Kreise und traf schließlich auf das geortete Objekt. Rechts vom Standort des High Sideryts wölbte sich die riesige Rundung der SZ-2. Scheinwerfer und Positionslichter rahmten die gelb leuchtende Öffnung des Kreuzer-Hangars ein. »Achtung«, sagte Breck in sein Helmmikrophon. »Wir haben das Objekt erfaßt. Zieht es herein, Jungs!« Er war von den Ereignissen ebenso mitgenommen wie jeder andere. Aber er wußte, daß er mit seinen jovialen Kraftausdrücken viel dazu beitragen konnte, diese gefährliche Stimmung zu neutralisieren. »Ortung. Klar erkannt. Muß eine Überlebenskapsel sein.« Hayes stieß ein dröhnendes Gelächter aus. »Der Inhalt ist die SOL-Retterin. Wir werden eine Tafel an den
Mittelteil schweißen, mit Datum und einer weihevollen Inschrift … Vorsicht, nicht anstoßen.« Ein Zylinder aus grauer Materie, an den Enden leicht gerundet, wurde herumgeschwenkt, in den Hangar hineingezogen und dort, indem die künstliche Schwerkraft langsam heraufgesetzt wurde, genau in die Klauenlager einer Spacejet abgesenkt. »Alles klar. Schließen, Beleuchtung und Druckausgleich«, sagte Hayes. »Und einschleusen werdet ihr wohl können, ohne daß ich euch dirigieren muß, oder?« Lyta Kundurans Stimme drückte ebenso Erleichterung aus wie seine eigene, als sie erwiderte: »Ich denke, ich schaffe es, Breck. Vergiß bei der Begrüßung deine vorgeblich exzellente Erziehung nicht ganz.« »Danke für den Tip, Kamerad Kunduran.« Äußere und innere Schleuse schlossen sich. Eine Batterie von Tiefstrahlern schaltete sich ein. Die graue Röhre, diesmal undurchsichtig, begann im Licht zu glänzen. Hayes blickte abwechselnd von seinem Armbandindikator zu der großflächigen Anzeige des Hangars. Er war mit der Rettungskapsel, die sich vorübergehend mit schneeweißem Rauhreif überzog, allein im Hangar. Genau in dem Augenblick, als beide Geräte Grünwert zeigten, öffnete sich die Kapsel. Eine knapp mannshohe Tür in der Rundung glitt zur Seite. Tyari, ohne Raumanzug, dem Bild entsprechend, das man in der FERNWEH gespeichert und in die Computer der KONTERMANN überspielt hatte, stand vor ihm. Hayes öffnete seinen Raumanzug, hob grüßend die Hand und sagte halblaut: »Wir alle danken dir, Tyari – wer immer du bist. Ich heiße Breckcrown Hayes …« »… trägst den Titel ›High Sideryt‹ und bist der Verantwortliche für das Schiff, dessen Existenz ich eben gerettet habe«, sagte sie. Er
versuchte vergeblich, in ihrem selbstsicheren Verhalten ein falsches Selbstverständnis zu entdecken. Ernüchtert antwortete er: »So ist es. Ich darf dich ins Schiff bringen?« An den Geräuschen und Vibrationen merkte er, daß der Kreuzer in die SZ-2 eingeschleust wurde. Tyari trug einen würfelförmigen Koffer mit abgerundeten Ecken. Der Behälter hatte etwa die Größe von einem knapp halben Kubikmeter. Es schien ihr Ausrüstungspaket oder ihr persönlicher Besitz zu sein. Breckcrown dachte einen Augenblick lang voller Verwirrung, daß sie bei aller Exotik hinreißend weiblich aussah, und was ihm noch mehr verblüffte, war der Umstand, daß sie wie Atlans Schwester aussah. Ihm fiel jedenfalls kein treffender Vergleich ein. Sie sagte ohne sichtbare Begeisterung: »Du bringst mich zu Atlan?« Er versuchte noch immer, sie zu einer Reaktion zu bringen, die ihm gestattete, sie genauer kennenzulernen. Rechtzeitig erinnerte er sich, daß der Verdacht ausgesprochen wurde, sie wisse alles (oder zumindest vieles) deshalb, weil sie Telepathin sei. Was immer er sagen würde, sie wußte längst die wirkliche Bedeutung hinter den schützenden Worten. »Ich bringe dich zu Atlan. In der SOL wirst du als Held des Tages gefeiert werden.« Ein Interkom aktivierte sich, und Lytas Stimme sagte: »Wir sind eingeschleust. Druckausgleich hat stattgefunden. Ihr könnt in die Polschleuse gehen.« »Danke«, rief er zurück und öffnete die Personenschleuse ins Schiffsinnere. Auf dem Weg durch die breiten Korridore bis zum Antigravschacht und in die Polschleuse starrten Dutzende von Augenpaaren den seltsamen Gast neugierig an. Tyari ließ nicht einmal zu, daß Hayes ihr die offensichtlich schwere Ausrüstung trug. »Es liegt mir nichts daran, als Heldin gefeiert zu werden«, sagte sie
mit ruhiger Stimme. Breck glaubte, immer dann, wenn er sprach, ein leises Echo seiner Worte zu hören. Und auch hin und wieder, wenn Tyari sprach, schien ihre Stimme nicht aus ihrem Mund zu kommen. Andererseits sah er kein Gerät, daß er als Translator identifizieren konnte. »Es ist aber unausweichlich. Du hast fast hunderttausend Solanern das Leben gerettet. Du weißt es!« antwortete er. Da sie neben ihm ging, konnte er nicht feststellen, was dieses Flüstern bedeutete. Sie drehte sich halb herum, zeigte mit dem überlangen Nagel des linken Zeigefingers auf das Schmuckstück an ihrem Ohr und erklärte: »Das ist kein Schmuckstück. Es ist ein Translator. Aber inzwischen brauche ich ihn nicht mehr allzu häufig.« »Ich verstehe!« Was immer sie war, woher sie wirklich kam, von welcher Welt in Bars-2-Bars, jedenfalls war Tyari eine Raumfahrerin. Ihr Verhalten war absolut lässig, selbstverständlich und offensichtlich von einer gewaltigen, tiefen Erfahrung geprägt. Sie bewegte sich, als sei sie in der SOL geboren worden. Schließlich, fast am Ende der langen Reihe müder, aber fröhlicher Raumfahrer, betraten der High Sideryt und Tyari den breiten Korridor, der jenseits der Hangarschleusen und der Bereitschaftsräume lag. »Dort steht dein gesuchter Atlan«, sagte Breckcrown, deutete auf den Arkoniden und war sich bewußt, eine Bemerkung von kolossaler Einfältigkeit gemacht zu haben. Tyari stellte ihr silberfarbenes Ausrüstungspaket auf einen niedrigen Robotgleiter, auf den auch viele andere Raumfahrer ihre Taschen und Packen warfen. Mit langsamen Schritten und dezent schwingenden Hüften ging sie auf Atlan zu. Irgend jemand stieß bei diesem Anblick einen schrillen Pfiff aus. Tyari blieb stehen, drehte den Kopf und warf dem jungen Funkspezialisten einen Blick zu, der ihn erbleichen ließ. Dann, ein beherrschtes Lächeln zeigend, streckte sie Atlan die rechte Hand entgegen.
»Ich habe dich gesucht.« Atlan war nach den Geschehnissen der letzten Stunden in einer Verfassung, die ihn gegenüber unglaublichen Zwischenfällen fast immun hatte werden lassen. Er nickte gemessen, ergriff die Hand und schüttelte sie leicht, setzte ein karges Lächeln auf und bestätigte: »Du hast mich gefunden.« Vorübergehend schien Tyari verunsichert zu sein. Aber sie erwiderte ebenso beherrscht: »Ich bin nur deinetwegen hierhergekommen.« Atlan nickte verständnisvoll, als sei dies die natürlichste Sache des Universums. Im Stillen aber richtete er einen fragenden Ruf an den Extrasinn. Kein Kommentar! sagte dieser. »Warum bist du meinetwegen hierher gekommen?« fragte er. Um Atlan, Barleona und den Neuankömmling hatte sich ein Halbkreis von rund fünfzig Solanern gebildet, die je nach persönlicher Einstellung dieses Treffen schweigend kommentierten. Keiner von ihnen schien auf seine Kosten zu kommen. »Das ist eine Frage, die sich später beantwortet«, erklärte Tyari ruhig. »Gibt es hier eine Unterkunft für mich?« Atlan wartete einige Sekunden, ob nicht Breckcrown oder Lyta oder Solania einen Vorschlag machen würde. Dann spürte er, wie sich der Griff von Barleonas Finger um seinen Oberarm verstärkte, und er sagte zuvorkommend: »In SOL-City, sozusagen meinem Reservat an Bord dieses stolzen Schiffes, ist sicher noch eine Klappliege frei oder eine nette, kleine Kabine. Wenn du damit vorlieb nehmen willst ….« Tyari ließ sich nicht provozieren. Sie warf in einer bemerkenswerten Bewegung ihr Haar aus der Stirn, strich es anschließend mit beiden Händen in den Nacken zurück und sagte: »Da ich deinetwegen gekommen bin, ist es mir mehr als recht, auch in deiner Nähe zu sein.«
Atlan wandte den Kopf, sah Barleona an und bemerkte zu seinem grenzenlosen Erstaunen, daß sie wie eine eifersüchtige Geliebte wirkte. »Es ehrt uns«, sagte er. »Gehen wir.« Ein Robot brachte die drei Personen auf dem schnellsten und kürzesten Weg nach SOL-City. Es entging Atlan keineswegs, daß alle Solaner dem seltsamen Trio unmutig, verblüfft und voller Mißtrauen nachstarrten. »Ich begreife es nicht!« sagte er laut, lehnte sich zurück und genoß ein paar hundert Meter lang das Gefühl, wie neugeboren und an der Schwelle interessanter Entwicklungen zu sein.
* Breckcrown Hayes hatte lange geduscht, hatte einen kleinen Imbiß eingenommen und sich ein großes Glas mit bernsteinfarbenem Alkohol eingeschenkt. Er saß in der Klause seines Vaters, der SENECA-Terminal war aktiviert, und ihm gegenüber saß Gallatan Herts. Beide Männer waren ruhig, entspannt und froh, für kurze Zeit die Todesängste vergessen oder verdrängen zu können. Herts trank, um seine aufgebrachten Magennerven zu beruhigen, ein noch größeres Glas warme Synthomilch mit Honig. Hayes eröffnete das Gespräch. »Barleona ist auf Tyari eifersüchtig.« »Trifft zu«, entgegnete Herts. »Aber das ist nebensächlich. Diese Fremde hat uns wirklich das Leben und das Schiff gerettet.« »Nicht ohne Eigennutz. Sie sucht seit dem Start ihrer glühenden Fünfzig-Meter-Kugel den Arkoniden.« »Wie auch immer. Du willst einen Abriß der letzten dreißig Stunden? Also …« Herts faßte zusammen, was seit dem Start der drei Kreuzer
geschehen war. Schweigend hörte Hayes zu und trank den Alkohol bedächtig in kleinen Schlucken. Er fühlte, wie langsam Ruhe in ihm einkehrte. »Gut. Du weißt von Lyta und Solania, wie es uns ergangen ist. Wir haben nicht viel erreicht.« Herts schüttelte den Kopf und meinte optimistisch: »Immerhin habt ihr eine riesige Menge Daten über die MentalRelais mitgebracht.« »Richtig. Ich bearbeite sie gerade und korrigiere meine Berechnungen«, meldete sich der Bordrechner. »Gut. Ich habe später noch einige Fragen an dich, SENECA«, sagte der High Sideryt. »Bin ich verwirrt, oder macht sich bei Atlans engsten Freunden ein gewisser Unmut breit?« »Wegen Barleona?« wollte Herts wissen. »Ja. Und jetzt sicher auch wegen Tyari. Aber Atlan ist von ihrem Auftauchen ebenso überrascht worden wie wir.« »Ich kenne ihn nicht gut«, sagte Herts ausweichend. »Wer kennt ihn wirklich? Schön – wir haben nicht eine Sekunde lang Grund gehabt, an ihm zu zweifeln. Was er für die SOL getan hat, übersteigt das Fassungsvermögen eines einzelnen.« »Zutreffend!« kommentierte SENECA. »Er wird sich in den Augen vieler Solaner noch eigenartiger verhalten«, meinte Hayes. »Jetzt hat er zwei Sozialfälle. Tyari und Barleona. Er wird versuchen, die Geheimnisse beider Frauen zu ergründen. Da sind, das sage ich dir, unendlich viele Rätsel zu lösen. Was hältst du davon, SENECA?« Drei Sekunden Pause. Dann sagte der Bordrechner mit schriller, unnatürlicher Vocoderstimme: »Könnt ihr keine intelligenteren Fragen stellen?« Herts und Hayes sahen sich mit starker Befremdung an. »Die Frage hat sehr viel mit bordinternen Vorgängen zu tun. Das weißt du besser als ich, als wir. Was soll dieses stupide Verhalten?«
Die größere Lautstärke und die höhere Sprechgeschwindigkeit SENECAS ließen erkennen, daß sich der Rechner »ärgerte«. »Es sind unqualifizierte Fragen! Ihr disqualifiziert euch, weil ihr sie stellt. Ich würde unter mein Niveau gehen, wenn ich auch nur daran dachte, einen Ansatz zur Beantwortung finden zu wollen. Das Thema ist läppisch. Ein Mann und zwei Frauen! Zwei junge Frauen und ein abenteuersüchtiger Arkonide! Stellt wichtigere Fragen und inhaltsvollere!« Breckcrown Hayes fühlte neuerliche Unruhe. Eine solche Art von Erwiderung hatte SENECA schon seit langer Zeit nicht gegeben. Waren bei der Explosion von Manifest D Rechnerteile in Mitleidenschaft gezogen worden? Oder war SENECA plötzlich weiberfeindlich geworden? »Tut mir leid«, sagte er. »Ich muß darauf bestehen, daß deine Analyse vorgelegt wird. Atlan, Barleona und Tyari sind wichtige Konstanten.« »Papperlapapp«, machte SENECA. »Seit wann sind kosmische Abenteuerinnen wichtig? Weiber!« Die Kunststimme vibrierte wie ein defekter Recorder. Dann pfiff aus dem Lautsprecher eine Tonfolge. Die Töne waren schrill, aber nicht allzu falsch. Mühsam entzifferten Hayes und sein Stellvertreter die ersten Text- und Melodieteile von Sing Boncards: Leidenschaft, sinnlosestes Tun zwischen den Sternen. Hayes sagte schroff: »Ich glaube, du brauchst auch ein paar Ewigkeiten Erholung. Schalte dich ab, Freund!« Giftig schrillte SENECA: »Gern. Ruft mich, wenn ihr wirklich relevante Probleme zu berechnen habt. Vielleicht etwas über Anti-ES.« »Wird gemacht«, schloß Breck kopfschüttelnd. Er nahm diesen Zwischenfall durchaus ernst. Diese Reaktion SENECAS hatte zweifellos etwas zu bedeuten. Aber was? Nach einer Weile sagte er:
»Atlan wird in der nächsten Zeit von den Frauen etwas stärker abgelenkt sein.« »Mit Sicherheit.« »Möglicherweise gehen von den beiden Frauen Gefahren aus, deren Größe ihm und uns unbekannt ist.« »Das ist gut möglich. Aber damit muß Atlan rechnen. Und, ich sage dir, er rechnet auch damit. Er ist ein augekochter alter Fuchs. So sehr er die Frauen liebt – er läßt sich nicht übertölpeln.« »Hoffentlich. Was unverrückbar bleibt, ist, daß Tyari das Manifest D vernichtet hat.« »Und deine Informationen über die manipulierenden, kriegserzeugende Strahlung der Mental-Relais.« »Wir wissen inzwischen etwas mehr darüber, das ist richtig.« »Was sind deine Folgerungen?« fragte Herts. Hayes hatte genügend Zeit gehabt, über diesen Problemkreis nachzudenken, mit anderen Solanern Meinungen auszutauschen und zu Ergebnissen zu kommen. Er brummte: »Es wäre eine gigantische Arbeit. Wir von der SOL schaffen es in einem Jahrhundert nicht. Möglicherweise gelingt es, die Urquelle der Strahlung im Innern der Dunkelwolke auszuschalten. Oder aber wir müßten alle Mental-Relais zerstören. Diesen Job müßte, weil wir es nicht schaffen, Tyari übernehmen. Das ist kaum ihre Absicht.« »Sicher nicht. Aber sicher ist hingegen, daß schon jetzt Tyari und Barleona das einzige hitzig diskutierte Gesprächsthema an Bord sind.« Herts schnalzte mit den Lippen und bekannte: »Nicht zu Unrecht. Selbst ich als alter, in Sittlichkeit gefestigter Mann könnte mich noch für Tyari begeistern. Barleona hingegen ist nicht mein Typ.« »Lassen wir dieses Thema«, wich der High Sideryt aus. »Warum Atlan seine selbstgewählten Probleme abnehmen? Aber mich macht die Reaktion von SENECA stutzig.«
»Weil er das Problem der beiden Frauen zu analysieren ablehnt?« »Genau deshalb. Er muß wissen, daß es an Bord Unruhe stiftet. Vielleicht hören wir in einigen Stunden etwas. Ununterbrochen geschehen seltsame Dinge, alles verändert sich, Einflüsse von außen und aus der Seele der handelnden Personen tauchen auf und erreichen ungeahnte Wichtigkeiten genau dort, wo man sie niemals vermuten würde. Ich danke dir, Herts, daß du die SOL nicht hast vernichten können.« Breckcrown verabschiedete seinen Stellvertreter mit einem festen, herzlichen Händedruck. Dann gähnte der High Sideryt und warf einen grimmigen Blick auf den Computerterminal. »Sehr merkwürdig«, brummte er und begann sich auf das Nächstliegende zu freuen – auf einen langen, möglichst ungestörten Schlaf.
* Atlan genoß das Gefühl, wie die Müdigkeit langsam von seinem Körper und seinem Verstand Besitz ergriff, langsam, wie eine Nebelbank, die ihn immer mehr einhüllte. Er lag unter der leichten Decke, hatte den Thermostat auf eine schlaffördernde Temperatur eingestellt und entspannte sich, die Hände im Nacken. Nur drüben über dem Schreibpult seiner Kabine brannte ein winziger, milder Leuchtkörper. Aus verborgenen Lautsprechern kam klassische Musik, wurde gezielt ausgestrahlt und verband sich um seinen Kopf zu einer leisen, ausdrucksvollen Klangwolke. Seine Gedanken bewegten sich mittlerweile nicht mehr in hektischen Sinuskurven und Zacken, sondern in langen, sanft geschwungenen Wellen. Er dachte abwechselnd an Tyari und Barleona, an Barleona und Tyari. Geheimnisse! Rätsel! Erinnerungen an Geschehnisse, die zwölf
Jahrtausende zurücklagen, mehr oder weniger. Einst war es ES gewesen, dessen Aufträge ihn, Atlan, durch die Abenteuer des Verstandes und des Körpers gejagt hatten. Oder seine Sorge für die terranischen Barbaren einschließlich ihrer Symbolfigur Rhodan. Jetzt … er hörte das leise Schleifen, mit dem sich das Schott öffnete. Atlan sah die hinreißende Gestalt Barleonas, ihr wehendes braunes Haar und ihre nackten Füße unter dem weißen Bademantel. Sie huschte heran und setzte sich an den Rand seiner Liege. Zu einer anderen Zeit, an einer anderen Stelle und zur anderen Stunde würde Atlan ganz anders reagiert haben. Er fragte: »Es muß irgendwo Vollmond sein. Schlaflos, Tochter der Geschehnisse?« Sie nickte. Ihre Augen, die noch immer Tiefe, Wärme, aber keine Gelassenheit mehr ausstrahlten, bohrten sich in seinen Blick. Barleona legte beide Handflächen auf Atlans Schultergelenke und flüsterte: »Wer ist diese Frau, die dir so ähnlich sieht?« Atlan genoß die flatternden Bewegungen ihrer Finger und blieb still liegen wie eine Grabskulptur, obwohl ihm allerlei verlockende Gedanken durch den Sinn taumelten. »Ich weiß über Tyari ebenso wenig wie über dich. Das ist die Wahrheit. Ich dachte, ich würde es schaffen, das Geheimnis deiner Herkunft zu entschlüsseln. Jetzt habe ich eine doppelte Aufgabe. Oder wie würdest du es sehen, wenn aus der Nachbargalaxis jemand kommt und sagt, er habe nur dich gesucht und schließlich gefunden?« Barleona war ebenso unsicher wie er. Sie fürchtete, zurückgewiesen zu werden. Er fürchtete, enttäuscht zu werden, weil dort, wo er Tiefe suchte, eine undurchdringliche Mauer stand, die er nicht aus der Welt schaffen konnte. Bedauern erfüllte ihn zutiefst, Bedauern darüber, daß es leider nicht die richtige Stunde war. Er
gähnte und hob den Kopf. »Hörst du es?« fragte er leise. Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich höre nichts. Was meinst du?« Atlan faßte in Worte, was ihm denkbar, aber unwahrscheinlich erschien. Er phantasierte, ohne zu überlegen, ob es nicht tatsächlich so sein könnte. »Irgendwo dort draußen, zwischen den Sternen«, sagte er mit der Stimme eines Märchenerzählers in irgendeiner morgenländischen Stadt der alten Erde, »führt ein mächtiges Wesen ein grämliches Selbstgespräch: Die Solaner haben die tödliche Gefahr, das Manifest D, vernichtet. Der Zufall und eine exotische, emanzipierte Raumfahrerin haben ihnen geholfen. Damit war nicht zu rechnen. Eine schauerliche Panne. Aber ich habe noch andere Geschosse in meinem Köcher … das Manifest, das Atlan vermißt, weil in seinem Alphabet das C vor D kommt. C ist unsichtbar an Bord der SOL. C ist das Instrument der Rache. Vier Manifeste! Wieviel dieser furchtbaren Waffen hat Anti-ES noch? Und wieviel werden mir zur Verfügung gestellt? Das denkt unser Gegner. Ein Traum? Vielleicht nicht. Schlafe jetzt, schönste Freundin.« Sie huschte zum Schott, blieb dort stehen und flüsterte voller Verwirrung: »Vielleicht weiß ich es nicht besser, Atlan. Wenn ich dich nicht lieben würde – ich müßte dich hassen.« Scheinbar schläfrig, aber hellwach geworden, erwiderte Atlan: »Eines Tages werden wir alle erkennen, wer da versucht, mit uns Schicksal zu spielen. Du und ich, wir sind nur Figuren in einem großen Spiel, Barleona. Wir können nur dann eigene Züge machen, wenn wir uns nicht so verhalten, wie es der Große Spieler will. Gute Nacht.« Statt einer Antwort zischte das Schott zu. Atlan entspannte sich wieder, vergaß den Zwischenfall und schlief
ein. Obwohl es scheinbar keine Möglichkeit gab, aus den Quellen eigener Phantasie diese Überlegungen oder Vorstellungen entwickeln zu können, war es so.
ENDE
Genau das, was Atlan phantasiert hatte, war nicht genau der Wortlaut, aber der Sinn des hämischen Selbstgesprächs von Anti-Homunk gewesen. Die Konflikte innerhalb der SOL streben dem Höhepunkt zu. Da sind die Querelen der beiden fremden Gäste, die für Unruhe an Bord sorgen, da ist Cpt'Carchs besorgniserregender Zustand – und da beginnt das Manifest C zu agieren … Mehr darüber berichtet Horst Hoffmann im nächsten Atlan-Band. Der Roman trägt den Titel: SENECA GEGEN SOL