Atlan - Minizyklus 06 Intrawelt Nr. 12
Atlan, Bote des Flammenstaubs von Leo Lukas
Die Ereignisse in der geheimnisvol...
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Atlan - Minizyklus 06 Intrawelt Nr. 12
Atlan, Bote des Flammenstaubs von Leo Lukas
Die Ereignisse in der geheimnisvollen Intrawelt nähern sich ihrem Abschluss: Nach aufreibenden Abenteuern und der Konfrontation mit Peonu, dem Diener des Chaos, hat Atlan durch den Rhoarxi Tuxit endlich den sagenumwobenen Flammenstaub erhalten. Mit dieser Substanz im Körper kann er Wahrscheinlichkeiten »auswählen«, also die Realität zu seinen Gunsten verändern. Allerdings schädigt die Verwendung des Flammenstaubs den Träger – in letzter Konsequenz wird Atlan daher sterben, je öfter er den Flammenstaub einsetzt. Die einzige Ausnahme betrifft die Intrawelt selbst. Dort wirkt der Flammenstaub nicht, und dort kann sein Träger weiterleben. Wie es scheint, konnte Peonu, ebenfalls mit Flammenstaub ausgestattet, aus der Intrawelt entkommen. Atlan bleibt deshalb keine andere Wahl, als dem ChaotarchenKnecht zu folgen. Zudem wartet »draußen« nicht nur seine Gefährtin Kythara, sondern auch die Rebellen gegen die Lordrichter fiebern seinem Eintreffen entgegen – schließlich ist Atlan der BOTE DES FLAMMENSTAUBS …
Atlan, Bote des Flammenstaubs
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide verfolgt einen übermächtigen Gegner. Kythara - Die Varganin erkundet den Transfer-Trabanten. Tuxit - Der Rhoarxi ist weiterhin für Überraschungen gut. Peonu - Der Seelenhorter hat für alle Eventualitäten vorgesorgt.
Mal verliert man, und mal gewinnen die anderen. Rehakles (antik).
1. Kytharas Aufzeichnungen: Das dunkle Oktaeder Atlan war ein schöner Mann. Attraktiv sowieso, allein wegen seiner Ausstrahlung. Jedoch auch körperlich nahezu perfekt, zumindest für einen NichtVarganen: gut gebaut, alles am rechten Platz und gerade richtig dimensioniert … Ich konnte ein Lächeln nicht verkneifen, als er das letzte Kleidungsstück ablegte und sich mir, seine Befangenheit durch besonders kecke, betont unverschämte Körperhaltung überspielend, in voller Pracht präsentierte. »Wir treffen uns wieder, Arkonide«, sagte ich. In Gedanken fügte ich hinzu: Und vielleicht finden wir dann, unter günstigeren Umständen, eine bessere Verwendung für deine … Talente … Ja, Atlan war ein schöner Mann; ein schöner, toter Mann. Denn in diesem Augenblick packte ihn Teph, das Krakenwesen, mit einem viele Meter langen, kräftigen Fangarm und riss ihn brutal in die Höhe. Wie eine nackte, vor Schreck erstarrte Puppe wurde Atlan Richtung Plafond geschleudert, so rasend schnell, dass ihn der Aufprall unweigerlich zerschmettern würde. Ich schloss die Augen, weil ich nicht mit ansehen wollte, wie mein Begleiter zerschellte. Unfähig zu schreien, wartete ich
auf das Geräusch brechender Knochen, platzender Haut, berstender Organe. Stattdessen erklang ein … Schmatzen. Sub- und supersonisch zugleich schien es sowohl am unteren als auch am oberen Rand meines Gehörbereichs angesiedelt. Obzwar nicht sonderlich laut, fuhr es mir durch Mark und Bein: ein Krächzen und Würgen, gefolgt von lang gezogenem Gestöhn … und einem Rülpser, der Boden und Wände der Baracke zum Erzittern brachte. Ich schlug die Augen wieder auf. Und sah: keine Spur von Atlan. Keine entstellten Überreste, nicht der kleinste Blutfleck. Der Arkonide war weg; verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.
* Tephs rostbrauner, sackartiger Zentralleib hing nach wie vor unter der Decke. Die Hautfalten pulsierten schwach rötlich, verschoben sich apathisch, matt, erschöpft. Das Glimmen der etwa ein Dutzend Facettenaugen war nahezu erloschen. Ihr zuvor stechender Blick wirkte nun stumpf und kraftlos. So stark zitterten die schmutzig graugrünen Tentakel, mittels deren sich der Oktopode in der Schwebe hielt, dass ich befürchtete, er würde jeden Moment auf mich herabstürzen und mich unter seinem schleimigen Körper begraben. Den Kopf in den Nacken gelegt, stand ich reglos – gebannt vom Nachhall des selbst für mich, trotz all meiner Erfahrungen, ungewöhnlichen Geschehens. Scharfer, saurer Geruch lag in der Luft: ein Hauch von Erinnerung daran, dass das Dimensionsgefüge verletzt worden war, mutwillig zerrissen, gesprengt und unter immensem mentalem Kraftaufwand erneut zusammengesetzt.
4 Ich wagte kaum zu atmen. Zeit verstrich; wie viel, konnte ich nicht ermessen. Sämtliche Systeme meines Raumanzugs hatten ihre Funktion eingestellt. Langsam, ganz langsam erholte sich der Krake. Endlich sagte er mit rasselnder Stimme: »Transportvorgang erfolgreich abgeschlossen.« Die Starre wich von mir. Ich räusperte mich. »Du hast Atlan in die Intrawelt versetzt?« »Richtig.« »Er ist wohlbehalten dort angekommen?« »Ja.« Ich seufzte erleichtert. »Besteht eine Möglichkeit, mit ihm Kontakt aufzunehmen?« »Nein.« Natürlich konnte Teph behaupten, was er wollte. Seine Aussagen zu überprüfen, besaß ich keinerlei Möglichkeit. Dennoch glaubte ich ihm. Warum hätte er lügen sollen? Er war der Herr dieses Asteroiden, unangreifbar in seiner kargen Bastion, die von mindestens zwei Energiefeldern unbekannter Art geschützt wurde – und er war als »Schleusenwächter« von und zur Intrawelt tätig. »Was passiert jetzt mit mir?«, fragte ich. »Dir steht frei zu gehen, wohin es dir beliebt.« »Ich darf diesen Raum verlassen und mich uneingeschränkt auf dem Asteroiden bewegen?« Die ölig glänzenden Hautfalten zuckten. Kalt leuchteten die Facettenaugen. »Das war der Sinngehalt meiner Rede.« Ich überlegte. Selbstverständlich würde ich auf Atlan warten. Aber nicht bis in alle Ewigkeit und gewiss nicht hier in diesem kahlen, etwa zehn mal zwanzig mal fünf Meter großen Raum. Andererseits würde der Arkonide, wenn – falls! – er zurückkehrte, seinen Raumanzug benötigen, den er, fein säuberlich gefaltet, auf dem Boden abgelegt hatte. Draußen war ein Überleben ohne Sauerstoffgerät nicht möglich; der kleine Trabant der gigantischen
Leo Lukas Kunstwelt besaß keine Atmosphäre. »Kann ich die Ausrüstung meines Begleiters hier für ihn deponieren?« »Wozu? Die Wahrscheinlichkeit, dass er wiederkommt, ist verschwindend gering.« »Aha. Aber nicht gleich null?« »So gut wie.« Das klang fast trotzig, ausweichend. Ich setzte nach. »Mit anderen Worten, es ist sehr wohl bereits jemandem gelungen, die Intrawelt zu verlassen.« Er gab einen gurgelnden Laut von sich. »Bloß ein einziges Mal, vor geraumer Zeit.« »Wer? Wer hat das geschafft?« Tephs Fangarme zogen und schoben seinen Sackleib in den hintersten Winkel, wo er sich ächzend entlang der Wand zu Boden gleiten ließ. »Wer?«, insistierte ich. »Einer der Schöpfer. Nach dem Namen zu fragen stand mir nicht zu. – Geh jetzt, ich fühle mich von dir belästigt.« »Atlans Anzug«, erinnerte ich den Kraken. Unvermittelt, ohne erkennbare Anzeichen eines akustischen, gestischen oder sonstigen Befehls von Seiten der Molluske, löste sich ein kreisförmiges Segment des Bodens auf. Die Montur begann darin einzusinken wie in trüb glühenden Morast. »Halt, warte!«, rief ich hastig. »Ich will noch eine Nachricht dazulegen.« »Von mir aus. Hauptsache, du lässt mich möglichst bald in Frieden. Beeil dich aber!« Ich hätte Teph noch viel fragen wollen. Über die Intrawelt. Über Atlans Chancen, den Flammenstaub zu bergen und herauszuschaffen. Oder zum Beispiel, wie der Krakenhafte in der leeren Baracke überlebte, ohne Nahrung, Flüssigkeitszufuhr, Stoffwechseleinrichtungen … Doch er vermittelte mir unmissverständlich, dass er mich aus seinem Hort vertreiben wollte. Es war empfindlich kühl geworden und die Luft dünn wie in einer extremen Hochgebirgsregion. Das Atmen fiel mir schwer. Mein Kreislauf brach ein. Punkte tanzten vor meinen Augen.
Atlan, Bote des Flammenstaubs Schlotternd, ohne viel nachzudenken, besprach ich einen Datenträger: »Höre, Rotauge: Ich gebe mir und dir ab heute, dem 27. Juli 1225 deiner Zeitrechnung, eine Frist von vierzig Tagen, innerhalb deren ich den Asteroiden und die hier geparkten Raumschiffe erkunden will. Solltest du in dieser Zeit zurückkehren, treffen wir uns an der Landestelle unseres Beiboots. Tauchst du jedoch bis dahin nicht wieder auf, werde ich die Sternenwolke SET-3 verlassen und weitere Informationen über den Stand der Dinge in der Galaxis Dwingeloo nach Vernichtung des Dunkelsterns einholen.« Silbriger Nebel kondensierte vor meinem Mund. Ich fürchtete, den Chip mit meinen klammsteifen Fingern nicht mehr lange halten zu können. »Im Anschluss daran«, fuhr ich fort, mühsam artikulierend, »suche ich gegebenenfalls den Asteroiden in regelmäßigen Abständen auf und halte nach dir Ausschau.« Gern hätte ich noch hinzugefügt, dass ich mich über ein Wiedersehen freuen würde. Vielleicht hätte ich mich sogar dazu hinreißen lassen, dem Arkoniden anzudeuten, wie sehr ich ihn jetzt schon vermisste. Aber es war viel zu kalt für derlei Sentimentalitäten. »Fertig?«, rasselte Teph. Ich nickte und stopfte den Nachrichtenträger in eine Brusttasche von Atlans Anzug, wobei ich mir am gefrorenen Saum den Handrücken aufscheuerte. Nicht, dass ich etwas dabei gefühlt hätte. Meine Hautoberfläche war taub, von Raureif bedeckt, der sich blutrot färbte. Die Raummontur und die übrigen Ausrüstungsgegenstände versanken im Boden. »Versprichst du mir … dass mein Begleiter … seine Sachen erhält?«, stammelte ich, während ich in Richtung der Schleuse torkelte. »Ich nehme an … dass sich da unten … im Lauf der Jahrzehntausende … allerhand angesammelt hat.« »Nichts geht verloren. Obgleich ›unten‹ den Lagerort falsch definiert«, erwiderte Teph. Ich erinnerte mich an die Ergebnisse der
5 Materietaster, als wir den Asteroiden umrundet hatten: keinerlei Anlagen unter der Oberfläche. Keine Keller, keine Katakomben. Und doch musste Teph die Habseligkeiten der vielen Glücksritter, die er seit Äonen in die Intrawelt befördert hatte, auf ähnliche Weise deponiert haben wie Atlans Kleidung und Gepäck. »Kann es sein … dass dir dein Job … mittlerweile ganz schön schwer … im Magen liegt?« »Mir wurde«, orgelte der Krake, »Ablösung in Aussicht gestellt.« Ein Schwall grausigen Gestanks von Fäulnis und Pestilenz hüllte mich ein. Das Schott glitt auf. Ich taumelte in die Schleuse, schaffte es, den Helm zu schließen und die Handschuhe überzustreifen, bevor der Druckabfall einsetzte.
* Aaah. Die Lebenserhaltungs-Aggregate in den gewölbten Rückenteilen meines Schutzanzugs sprangen an. Varganische Hochtechnik, auf die ich mich verlassen kann, richtete ich mich an Vertrautem auf. Atemluft, reichlich. Wärme, wohldosiert. Injektionen zur Schockbehandlung und Stabilisierung meiner Körperfunktionen. Ich bin Kythara. Varganin. Uralt. In Atlans Galaxis – und der seines oft erwähnten Freundes Perry Rhodan – experimentierten sie auf den heute wichtigen Welten grade mal mit Faustkeilen, da war ich schon eine Veteranin der interstellaren Forschung. Meine Kombi enthielt eine Notration biosynthetischer Nahrungsmittelkonzentrate und hermetisch versiegelter Wasserkonserven, beides praktisch unbegrenzt haltbar. Hochwertige Nährstoffe, mit allen Vitaminen und Mineralien, die ein auf Eiweißbasis aufgebauter Organismus benötigte. Plus, außen befestigt, eine handliche, stabförmige Energiewaffe, wahlweise als Paralysator-,
6 Thermo- oder Desintegratorstrahler einsetzbar; sowie ein Antigrav-Modul, mit dem ich auf diesem von allen guten Geistern verlassenen Felsklotz so unbeschwert herumschwirren konnte wie ein Schmetterling um einen Blumenstrauß. Dazu die Energieschirmprojektoren im Rückenteil. Ich lebe. Etwas wackelig, aber – ich lebe. In mir. In meinem Erbe. In meinem goldenen, unzerstörbaren Varganentum. Die letzten Reste der Unsicherheit abschüttelnd, trat ich aus der Schleuse. Für den Anblick, den der Himmel bot, war ich leidlich gewappnet. Ein glänzendes Geflecht aus sechseckigen Waben, scheinbar zum Greifen nahe und alles darunter erstickend. Ein künstliches Firmament, so dominant, dass ich unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern zog, während ich mich ungelenken Schritts von dem niedrigen, schmucklosen Gebäude entfernte. Die Intrawelt … Wo Atlan jetzt ist. Wo er unerbittlich auf sein Ziel zusteuert, wie immer. Garantiert. Außer Acht lässt, was, wer oder wie viele am Weg zurückbleiben. Ich blieb stehen und sah hinauf, nach links und rechts, hinter mich und nach vorn. Überall war der Moloch, das Monster, die obszön kolossale Sphäre. Wer hat die Intrawelt erbaut? Wozu? Was hat es mit dem ominösen Flammenstaub auf sich? Atlan würde die Antworten finden. Ich hegte wenig Zweifel, was seine Mission betraf. Wenn der Flammenstaub existierte, wo auch immer verborgen und wie auch immer gesichert – der Arkonide würde ihn aufspüren und an sich bringen. Das war, was Atlan ausmachte: Stell ihm eine Aufgabe, und er wird sie erfüllen, koste es, was es wolle. Oh ja. Sie passten zusammen, die über mir aufragende, riesige Intrawelt und der vergleichsweise winzige, weißhaarige Mann, der sich soeben anschickte, ihre Geheimnisse zu enthüllen. Er würde wiederkehren, siegreich, das stand außer Frage. Und dann?
Leo Lukas Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ganz klar, Atlan würde den Flammenstaub erobern. Und was dann?
* Fahles Streulicht überzog die Oberfläche des Asteroiden mit einer Art immerwährender Dämmerung, gerade hell genug, um sich ohne Helmscheinwerfer orientieren zu können. Andererseits wirkte diese düstere Beleuchtung beklemmend unstet. Das wechselhafte Farbenspiel der Sternengeburtswolke wurde von den Waben, die den gesamten Himmel bedeckten, als zittrig milchiger Schimmer reflektiert. Hinzu kam das Flackern des gelblichen, etwa mannsdicken Energieschlauchs, der aus Tephs Baracke entsprang und sich, pendelnd und um seine Achse rotierend wie der Rüssel eines lächerlich dünnen Tornados, in Richtung der Intrawelt schlängelte. Goldflimmernde Funken wirbelten darin. Mitunter flammte der Schlauch grell auf, als sprängen Blitze zwischen diesem öden Gesteinsbrocken und der monströsen Kunstwelt hin und her. Dann ruckelten die Schlagschatten der Felsen besonders heftig. Die innere Unruhe der doch eigentlich leblosen, tristen Umgebung übertrug sich auf mich. Ich verspürte Hitzewallungen und ein unangenehmes Kribbeln in Brust und Bauch. Abermals nahm ich, um Fassung ringend, Zuflucht zu bekannten Fakten. Der Asteroid, so hatten wir während des Anflugs geortet, durchmaß etwas über hundertzwanzig Kilometer und nahm eine geostationäre Position ein. Er mochte auf natürlichem Wege entstanden sein, vielleicht Überrest eines der vielen in SET-3 untergegangenen Sonnensysteme. Seine zerklüftete Oberfläche wies einige markante Krater sowie Grabenbrüche auf, Zeugnisse von Zusammenstößen mit kleineren Himmelskörpern. Dass die Intrawelt diesen öden, malträtier-
Atlan, Bote des Flammenstaubs ten Fels irgendwann zufällig eingefangen hatte, glaubte ich nicht; schon gar nicht auf solch niedriger Umlaufbahn. Er stand knapp außerhalb der Zehnkilometerschranke, jenes Abstoßungsfeldes, das eine weitere Annäherung mit unserem Beiboot unmöglich machte. Der sich windende Schlauch stellte offenbar eine Verbindung und möglicherweise den einzigen Zugang zur Intrawelt dar. Er mochte etwa zwanzig Kilometer lang sein. Atlan und ich stimmten darin überein, dass es sich nur um die im Normalkontinuum sichtbare Komponente eines hyperphysikalischen Phänomens handelte. Ich bedauerte, nicht über die technischen Anlagen meiner AMENSOON zu verfügen. Damit hätte ich dem Schlauch, der merkwürdigen Baracke und ihrem nicht minder sinistren Bewohner wohl rasch die meisten Geheimnisse entrissen gehabt. Nun, derlei Gedanken waren fruchtlos. Ich besaß leider kein varganisches Raumschiff mehr, musste mich mit dem bescheiden, was mir geblieben war. Also gab ich mir einen Ruck, überwand endlich die Lethargie, die mich befallen hatte, und startete mein Flugaggregat.
* Bis zu der Stelle, wo wir die DYS-116 geparkt hatten, waren es dreißig Kilometer Luftlinie. Im näheren Umkreis von Tephs Behausung verhinderte ein Abstoßungsfeld jegliche Landung. Das Beiboot, das uns von der »Konterkraft« überlassen worden war, stand in einem schmalen Seitental des südlichen Gebirges (wobei Atlan die Himmelsrichtungen willkürlich nach unserem Annäherungsvektor definiert hatte). In geringer Höhe überflog ich unwirtliches Terrain, dominiert von scharfkantigen Zinnen und steil abfallenden Geröllhalden; eine kalte Wüste, bar jeder Vegetation, vollkommen ausgestorben. Jedoch gab es, an wenigen gangbaren Stellen, in der knöcheltiefen Staubschicht
7 Fußspuren, welche sich gelegentlich zur Andeutung eines Pfads vereinten. Sie wirkten frisch, konnten gleichwohl Jahrzehntausende alt sein. Wo keine Atmosphäre, da auch kein Wind, der die Spuren verweht hätte. Zudem herrschte eine erstaunlich hohe Schwerkraft von 1,1 Gravos, zweifellos künstlichen Ursprungs. Sonderbar. Wer immer diesen Asteroiden in Stellung gebracht und darauf die Transferstation installiert hat, setzt deutlich andere Prioritäten als unsereins … Ich funkte die DYS-116 an und erhielt eine prompte Statusmeldung: alles ruhig, keinerlei Vorkommnisse. Warum war ich trotzdem nicht entspannt, sondern von unerklärlicher Nervosität erfüllt? Das Beiboot kam ins Bild; desgleichen, unweit davon, ein weiteres Schiff, das wir seltsamerweise erst nach unserer Landung bemerkt hatten. Es besaß die Form eines regelmäßigen Oktaeders und durchmaß rund fünfzig Meter. Dunkel, matt, nein: farbloser als schwarz, schien es die spärliche Helligkeit an sich zu saugen und dermaßen gierig zu absorbieren, dass seine Konturen verschwammen. Als gehöre es nicht hierher, und wenn doch, dann nur als Abwesenheit von etwas, als Aufhebung, ja Negation der Landschaft … Ich zwang mich wegzusehen und blickte doch gleich wieder hin. Das düstere Oktaeder übte eine starke Faszination auf mich aus. Auch mein Volk baute Raumfahrzeuge dieser Form. Allerdings schwebten varganische Schiffe gewöhnlich, von ihren Antigravs gehalten, aufrecht in Bodennähe, als balancierten sie auf der Spitze des unteren Pols – während dieses hier auf einer Seitenfläche ruhte. Dadurch entbehrte es der üblichen Eleganz. Es kauerte vielmehr, lauerte, bullig und bedrohlich wie ein zum Sprung bereites Raubtier. Ich bemerkte, dass ich meinen Kurs geändert hatte und nun anstelle des Beiboots den
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fremden Raumer ansteuerte. Ich korrigierte dennoch die Flugrichtung nicht. Je näher ich dem mysteriösen Objekt kam, desto unklarer wurden seine Umrisse, desto irrealer seine Präsenz, desto stärker der Eindruck, die Licht schluckende Form sei bloß ein Platzhalter für etwas anderes, was meine Sinne nicht zu erfassen vermochten – weil es nicht Teil dieser Welt, dieses Universums war. Mir wurde übel. Mit jedem Meter wuchs der Drang, mich zu übergeben. Ich schluckte, konzentrierte mich auf meine Atmung. Vergeblich. Im letzten Moment, bevor ich dem Brechreiz hätte nachgeben müssen, drehte ich ab.
* In der DYS-116 erholte ich mich einige Stunden von den erlittenen Strapazen. Mehr als die körperliche Belastung machte mir die Frustration zu schaffen. Ich, Kythara, eine herausragende Persönlichkeit, eine Varganin, hatte binnen kurzer Zeit gleich zwei bittere Niederlagen eingesteckt! Ich war beschämt worden, erniedrigt. Dass weder der achtarmige Krake noch das achtflächige Schiff eine spezielle Abneigung gegen mich oder mein Volk zu erkennen gegeben hatten, machte es keineswegs besser; eher im Gegenteil. Hier war ich nichts Besonderes; sondern schlicht und einfach unwürdig. Daher wimmelte man mich ab. Das musste ich erst einmal verkraften. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, mich von meinem Anzug in Tiefschlaf versetzen und erst wieder wecken zu lassen, wenn Atlan beim Beiboot auftauchte oder die Vierzigtagefrist verstrichen war. Mein Verlangen nach weiteren Exkursionen auf diesem verdammten Asteroiden tendierte gegen null. Aber nach ausgiebigem Brüten, Hadern und Fluchen behielten Pflichtbewusstsein und Solidarität zu meinem Begleiter denn doch die Oberhand. Mich auf die faule Haut zu legen und die Zeit nicht zu nutzen wäre
grob fahrlässig gewesen. Jede Information, die ich bis zu Atlans Rückkehr ergatterte, konnte sich hinterher unvermutet als die eine entscheidende herausstellen. Der Flammenstaub war, falls die Gerüchte auf Wahrheit beruhten, eine mächtige Waffe. Aber gewiss kein Wundermittel, das von alleine unsere Feinde, die Lordrichter, besiegte. Nein. Bei aller Langmut, die mir gegeben war – ich durfte nicht tatenlos bleiben. Nicht, wenn ich meine Verantwortung gegenüber den drei bedrohten Galaxien Dwingeloo, Milchstraße und Gruelfin ernst nahm. Also brach ich, nachdem ich mich ausgeschlafen hatte, abermals auf. Das Oktaeder ließ ich links liegen; vorerst. Doch ich drohte ihm mit der Faust. Das letzte Wort zwischen uns beiden, schwor ich, ist noch lange nicht gesprochen.
2. Bericht Atlan: Katzenjammer »Begreifst du, wieso er uns am Leben gelassen hat?« »Weshalb hätte er uns töten sollen?«, antwortete mir Tuxit krächzend mit einer Gegenfrage. »Um seinen Triumph bis zur Neige auszukosten.« »Er hat alles, was er wollte.« Mühsam hob der kurz nach mir aus der Bewusstlosigkeit erwachte Rhoarxi einen zerrupften Flügel und zeigte auf das Tor zur Flammenstaub-Kammer, das nun noch ein wenig weiter offen stand. »Das ist leider richtig. Dennoch – nach dem, was ich über Peonu weiß, wäre es so richtig nach seinem Geschmack«, bei diesem Wort erschauerte ich, »den Sieg damit zu krönen, dass er die Übertrumpften mitten in deren Allerheiligstem tötet.« Ich räusperte mich und setzte zu einer Erklärung an, dass ich mir keineswegs anmaßte, die Kathedrale von Rhoarx als mein innerstes Sanctum zu reklamieren; dass jedoch aus Sicht des Seelenhorters wir beide, Tuxit
Atlan, Bote des Flammenstaubs und ich, auf derselben Seite … Der Oberste Brüter winkte mit einem schlappen Flügelschlag ab. »Ich verstehe, was du meinst.« Stöhnend richtete ich mich auf. Mein Kopf dröhnte; der Aktivatorchip in meiner linken Schulter pochte heftig. Und da war weiterhin diese Leere in meiner Brust, diese Wunde, dieses Wurmloch in meinem Selbstbewusstsein … »Immerhin könnten wir ihm folgen.« Während ich meine Glieder streckte, erstellte ich eine flüchtige Selbstdiagnose. »Schätze, wir waren etwa fünf, sechs Stunden außer Gefecht. Uneinholbar groß ist sein Vorsprung nicht.« »Ich fürchte, doch.« Tuxit legte den Vogelkopf schief, wartete. Horchte. Simultan zuckten wir zusammen, als überlaut ein wohlbekanntes Knacksen ertönte. Ich wusste, was das bedeutete, und stieß einen Fluch aus. Die Kunstsonne sprang an oder genauer: Die Photosphärenschicht der KosmokratenMembran baute sich auf. Mittlerweile verstand ich, auf welch exotische Weise das Licht, das die Intrawelt erhellte, tatsächlich generiert wurde. Doch das half mir kein bisschen. Was zählte, war: Überall auf der Innenfläche der eine Lichtsekunde durchmessenden Hohlwelt wurde es soeben Tag – und rings um uns unerträglich heiß, wie man es von einer Sonne auch erwarten sollte. Und daher konnten Tuxit und ich die Kathedrale in der Sonne nicht mehr verlassen, bevor erneut die Nachtphase anbrach. Für die nächsten sechzehn Stunden saßen wir fest.
* Am Fuß des scheinbar turmhohen Portals, hinter dessen halb geöffnetem Flügel Nebel waberten, lag Jolos Leichnam. Ich ging hin und fuhr dem kleinen Echsenmann mit der Hand über die starren Kulleraugen. Doch es gelang mir nicht, sie zu
9 schließen. Ein friedlicher Ausdruck lag auf seinem zeitlebens so wandlungsfähigen Gesicht. »Hast du ihn getötet?«, fragte ich über die Schulter. »Weiß nicht … Ich glaube, als ich in Ohnmacht fiel, lebte er noch.« »Egal. Spielt keine Rolle.« Tuxit hatte sich in Notwehr verteidigt; die Attacke war von Jolo ausgegangen. Ich verschränkte die Hände und murmelte ein arkonidisches Gebet. »Du trauerst um ihn?«, keckerte der Rhoarxi verwundert. »Obwohl er mich verraten hat, und das mehr als einmal? – Ja. So war er halt. Außerdem stand er unter Peonus Einfluss.« Ich erklärte Tuxit, was es mit dem Lutveniden und seiner Fähigkeit des Seelenhortens auf sich hatte. »Wir müssen davon ausgehen«, schloss ich, »dass auch Peonu zu den wenigen gehört, die den Transferschlauch in beide Richtungen benutzen können.« Dem Obersten Brüter sträubte sich das Gefieder, als er den vollen Ernst der Lage erkannte. »Ein Elitekämpfer der Chaotarchen befindet sich auf bestem Weg, die Intrawelt mit einer Portion Flammenstaub zu verlassen?«, gackerte er schrill. »Das ist furchtbar. Er wird Tod und Verderben über das Universum bringen! Und ich trage die Hauptschuld daran. Ich hätte euch niemals Zugang zur Kathedrale gewähren dürfen!« »Wenn jemand die Verantwortung für dieses Desaster auf sich nehmen muss, so bin ich das«, erwiderte ich bedrückt. »Es … tut mir schrecklich Leid, mein Freund.« »Leid! Ha!« Er warf den Kopf vor und zurück, als wollte er mit dem Schnabel auf mich einhacken. »Leid! Leid unvorstellbaren Ausmaßes droht den Bewohnern Dwingeloos und aller anderen erreichbaren Galaxien. Flammenstaub im Besitz eines Chaotarchendieners!« »Eines ehemaligen …« Tuxit überging meinen Einwurf und begann, sich büschel-
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weise Federn auszureißen. »Oh wehe dir, wehe mir! Wehe uns allen, wehe, wehe …«
* Es dauerte geraume Zeit, bis ich den Obersten Brüter der Wanderstadt Aspoghie einigermaßen beruhigt und davon überzeugt hatte, dass gegenseitige Vorwürfe oder Selbstbezichtigungen nichts einbrachten. Stattdessen mussten wir alles daransetzen, Peonu abzufangen, bevor er den Zugang zum Transferschlauch erreichte. Der Weg dorthin war weit, versuchte ich mich in positivem Denken. Tuxit mit Zweckoptimismus anzustecken fiel mir nicht leicht; zumal mich selber stetig wiederkehrende Verzweiflungsschübe plagten. Seelenqual im wahrsten Wortsinn: denn natürlich war es der von Peonu geraubte Teil meiner ÜBSEF-Konstante, dessen Fehlen die Anflüge von Melancholie und Depression verursachte. Vielleicht gab es ja, so argumentierte ich, eine schnellere Route zurück zur Parzelle Poricium. Gewiss, Peonu hatte sich ein Heer von Gefolgsleuten unterworfen: »Seelenhäppchen«, die ihm bei der Flucht behilflich sein würden. Aber Tuxit als einer der drei Regenten des Volkes, das die Intrawelt erschaffen hatte, musste sich mit deren Gondelsystem und sonstigen Transportmöglichkeiten doch wohl um einiges besser auskennen als ein noch so gewiefter Fremdling! Mitnichten. Bis zur Hochstation OB-66 bestand keinerlei Möglichkeit, den Vorsprung von mehr als zwanzig Stunden zu reduzieren, entgegnete der Rhoarxi. Er wirkte vergrämt, älter und abgezehrter denn je. Aber wenigstens hatte ich ihn nun so weit, dass er sich, wenngleich widerwillig und fatalistisch, an meinen Überlegungen beteiligte. Gesetzt den Fall, das Glück wäre uns hold, sodass wir Peonu doch noch einholten – was nützte das? Wie sich vorhin überdeutlich gezeigt hatte, kam ich auch mit einem Überraschungsangriff nicht gegen ihn an.
Der Lutvenide hatte mich verhöhnt und gedemütigt, mit mir regelrecht gespielt wie die Raubkatze mit der gefangenen Tanzmaus. »Jede Niederlage birgt in sich den Keim für künftige Siege«, sprach ich Tuxit – und mehr noch mir selbst – Mut zu. »Ich glaube eine Ahnung davon zu haben, wie ich in einer weiteren Auseinandersetzung gegen Peonu bestehen könnte.« Das wusste ich aber, ätzte mein Extrasinn. »Ach ja?«, zweifelte auch Tuxit. »Mit einer Chance von wie viel Prozent?« »Kann ich derzeit noch nicht sagen. Es handelt sich um eine vage Idee, die sich erst konsolidieren muss.« Mir war bewusst, wie unglaubwürdig das klang. »Fünfzig Prozent? Zwanzig?« Ich schwieg. »Zehn? Fünf? Na?« Mir platzte der Kragen. »Auch wenn's nur eins zu einer Million wäre, mussten wir es wagen!«, schrie ich, wobei sich meine Stimme überschlug. »Und stoppen wir ihn nicht hier, so stelle ich ihn draußen.« »Im Normaluniversum? Wo die Kraft des Flammenstaubs voll zur Geltung kommt?« »Ich trage den Stoff ebenfalls in mir.« »Stimmt; jedoch wird er sich bei diesem Ekel Peonu ungleich verheerender auswirken. Es macht einen Unterschied, ob eine nahezu ultimate Waffe, welche die Wahrscheinlichkeiten zugunsten des Trägers verändert, von einem ethisch hochstehenden Idealisten eingesetzt wird oder von einem skrupellosen Massenmörder!« Der greise Rhoarxi hatte Recht. Leider. Eine neue Welle der Mutlosigkeit schwappte über mich hinweg. Man könnte es auch Einsicht nennen, versetzte der Logiksektor spöttisch. Oder Akzeptieren der Realität. Vor Wut darüber, dass mir meine eigene innere Stimme in den Rücken fiel, drängte ich die Verzagtheit beiseite. »Und überhaupt«, keuchte ich, mich an den letzten Funken Hoffnung klammernd: »Auf dem Asteroiden habe ausnahmsweise
Atlan, Bote des Flammenstaubs einmal ich einen Trumpf in der Hinterhand, von dem der Gegner nichts weiß.«
3. Kytharas Aufzeichnungen Als Erstes nahm ich mir den goldenen Diskus vor, der uns beim Anflug aufgefallen war. Insbesondere Atlan hatte sich daran interessiert gezeigt. Für ihn stach das schnittige kleine Schiff aus der Masse der anderen hier gestrandeten Raumer heraus: weniger wegen der Farbe denn wegen seiner Bauart. »Eine terranische Space-Jet!«, hatte er verblüfft ausgerufen. Sogar noch in maximaler Vergrößerung hatte er geglaubt, einen in seiner Galaxis weit verbreiteten Schiffstyp zu erblicken, sich aber dennoch überzeugen lassen, den Fund vorläufig zu ignorieren. Deshalb begann ich meine Nachforschungen hier. Obwohl mir persönlich die fünfunddreißig Meter durchmessende Scheibe nicht mehr oder weniger bedeutete als jedes beliebige der, grob geschätzt, insgesamt etwa zehntausend über den Asteroiden verstreuten Vehikel. Die Farbe des Anstrichs besaß nur sehr geringe Ähnlichkeit mit Varganen-Gold; außerdem blätterte sie an vielen Stellen ab, was bei einem Schiff meines Volkes niemals vorkam. Ich ortete; mit dem Ergebnis, dass der Diskus ebenso energetisch tot war wie alle übrigen Raumer, die ich auf dem Weg hierher passiert hatte. Auch die Individualtaster und UHF-Spürer meines Anzugs schlugen nicht an. Als ich allerdings das Alter der »Jet« feststellen wollte, lieferten die Analysegeräte einen überraschenden Befund: »Nicht definierbar, da äußerst widersprüchliche Messungen, vor allem manche Partikel an der Außenhülle betreffend. Schwankungsbreite zwischen einigen Dutzend und einigen Millionen Jahren.« Zeitreisende?, schoss es mir durch den Kopf. Eine andere Erklärung für das Versagen varganischer Technik fiel mir auf die
11 Schnelle nicht ein. Freilich war meine Neugierde geweckt, und ich landete auf der Oberseite der Raumyacht. Ein Segment der halbkugelförmigen, transparenten Kuppel ließ sich problemlos von Hand aufklappen. Das Glas war staubfrei, was auf eine Antihaftbeschichtung schließen ließ. Darunter befand sich der enge, kaum sechs Meter durchmessende Leitstand. Abermals versuchte ich eine Altersbestimmung, mit demselben Resultat. Dann stieg ich vorsichtig in die Pilotenkapsel hinab. Deren linke Hälfte wurde fast vollständig von einer Sitzgelegenheit eingenommen, die für Riesen gemacht war. Mindestens drei Meter groß musste der Pilot gewesen sein, sehr voluminös und schwer. Die Fülle der klobigen Bedienelemente deutete auf ein Wesen mit mehr als vier Extremitäten hin. Aufschriften zu entziffern gelang mir nicht; einige grafische Symbole verstand ich, doch die abstrakten Buchstaben entstammten keiner der mir bekannten Sprachen. Auf der rechten Seite wiederum waren sieben winzige Kontursesselchen angeordnet, geeignet für Humanoide mit einer Körpergröße von maximal vierzig Zentimetern. Ein Riese und sieben Zwerge …?, dachte ich verwundert. Möglicherweise aus einer anderen Zeitebene? Wenn nicht überhaupt aus einem Paralleluniversum? Wie auch immer, von der ungleichen Besatzung fehlte jede Spur. Ich fand auch keinerlei Hinweise auf ihre Herkunft oder Geschichte. Die Anordnung der Steuerelemente war logisch und naheliegend. Ich hätte den Diskus wohl ganz passabel fliegen können, wären seine Speicherbänke nicht völlig leer gewesen, inklusive der Notstromaggregate. Als hätten die Unbekannten bewusst jegliche Energie entweichen lassen, bevor sie ausstiegen. Verrückt. Wer beraubt sich absichtlich seiner Ressourcen und Rückzugsmöglichkeit? Pilger? Religiöse oder sonstige Eife-
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Leo Lukas
rer? Selbstmörder? Aber im weiten Umkreis hatte ich keine Leichen geortet, weder eine große noch sieben kleine … Falls der Diskus, wie ich vermutete, über eine Anlage zur Hyperzapfung verfügte, hätte ich diese eventuell mittels meiner Anzugbatterien in Gang bringen können. Jedoch lief ich dabei Gefahr, meine eigenen Reserven einzubüßen; daher ließ ich es bleiben. Ein Versuch, auf diese Weise den Bordrechner zu aktivieren, zeitigte keinen Erfolg: Die zugeführte Energie versickerte ebenso rasch wie wirkungslos. Ich fand mich damit ab, auch dieses Rätsel nicht lösen zu können. Verflixt, hielt der blöde, namenlose Asteroid denn lediglich Enttäuschungen für mich bereit? Missgelaunt stieg ich aus, verschloss die Kuppel wieder und flog weiter.
* Das größte künstliche Gebilde, das wir bei der Umrundung des Trabanten entdeckt hatten, bestand aus fünf je achthundert Meter durchmessenden Kugeln, hintereinander angeordnet, verbunden durch kurze, wuchtige Röhren. Mir hatte sich spontan die Assoziation aufgedrängt, es handle sich um ein Fern- beziehungsweise Generationenraumschiff. Sein Standort befand sich zirka fünfzig Kilometer vom Diskus und doppelt so weit von Tephs Baracke entfernt. Auf dem Hinflug kam ich an mehreren Hochebenen vorbei, auf denen sich Hunderte Flugkörper unterschiedlichster Größe und Konstruktion drängten. Nirgendwo registrierte ich Energieemissionen oder Spuren von Leben. Die Annahme, der ganze Asteroid stelle einen gewaltigen Schiffsfriedhof dar, schien sich zu bestätigen. Viele Raumer waren auf den ersten Blick als Wracks zu erkennen, die nie mehr freies Weltall gewinnen würden. Der Verbund der fünf Kugeln hingegen wirkte, als wäre er erst vor kurzem einge-
troffen und könne jeden Moment wieder abheben. Wie ein stählernes Gebirgsmassiv ragte er vor mir empor, sodass sogar die allgegenwärtige Intrawelt in den Hintergrund gedrängt wurde. Nichts deutete auf Beschädigungen hin, die den fast fünf Kilometer langen Koloss hier festhielten. Andererseits konnte ich keinerlei Aktivitäten beobachten. Kurios. Ein derartiger Schiffsgigant musste eine vieltausendköpfige Besatzung beherbergen. Schwer vorstellbar, dass Teph auch nur einen Bruchteil davon zur Intrawelt transportiert hatte. Wo war der Rest, wenn nicht an Bord? Hinter einem Kraterwall verborgen, zusätzlich geschützt durch ein Deflektorfeld, erwog ich, ob und wie ich in den Verbundraumer eindringen sollte. Da schlug mein Anzugorter an. Im Äquatorbereich der mittleren Sphäre bildete sich eine kreisförmige Öffnung. Plötzlich lieferten meine Analysegeräte zahlreiche Messergebnisse. Offenbar besaß die Außenhülle der Kugeln eine vollständig abschirmende Wirkung. Derlei Emissionen neutralisierende Legierungen waren mir im Prinzip bekannt; sie wurden von einigen technologisch recht hochstehenden Völkern verwendet. Nun, da eine Lücke entstanden war, ortete ich vielerlei Streustrahlungen und Individualimpulse. Müßig, darüber zu mäkeln, dass die Instrumente der AMENSOON von der Tarnschicht sicherlich nicht so leicht überlistet worden wären wie jene der DYS-116. Jedenfalls wimmelte zumindest die mittlere Sphäre von Leben und Betriebsamkeit. Aus der Öffnung schwebte ein siebenundzwanzig Meter langes, hantelförmiges Raumboot, das rasch Fahrt aufnahm und hinter einer Hügelkette verschwand. Die Geräte meines Anzugs behielten es problemlos in der Ortung und errechneten wenig später einen hypothetischen Kursvektor. Mir stockte der Atem. Das aus zwei je neun Meter durchmessenden Kugeln und einem ebenso langen Verbindungsrohr bestehende Luftfahrzeug flog
Atlan, Bote des Flammenstaubs schnurgerade in Richtung unseres Standplatzes!
* Ich traf eine Stunde nach dem Hantelschiffchen dort ein. Ohne Eile; denn die DYS-116 hatte mich via Rafferfunk davon informiert, dass die Unbekannten zwar gleich daneben niedergegangen waren, sich jedoch passiv verhielten. Sie stiegen weder aus, noch überschwemmten sie das von der Konterkraft zur Verfügung gestellte Beiboot der DYKESTRA mit irgendwelchen Impulsen. Sie warteten. Offensichtlich besaß jener, der die Hantel befehligte, alle Zeit dieser kümmerlichen Welt. Oder … hatten sie mich schon auf den Schirmen, seit ich aus Tephs Baracke gekommen war? Aber wozu sollten sie mir dann hier eine Falle stellen? Mich einzukassieren, hätte sich ihnen in unmittelbarer Nähe des Verbundschiff-Giganten allemal eine bessere Gelegenheit geboten. Vorsicht ist besser als Nachsicht, sagte ich mir, doch kann man's mit der Paranoia auch übertreiben. Ich entschloss mich, das Versteckspiel zu beenden. Schließlich wollte ich Informationen sammeln. Dafür brauchte ich – mangels zugänglicher, relevanter Archive – willige Gesprächspartner. So, wie es aussah, fand ich die noch am ehesten in den fünf Kugelraumern. Also schaltete ich das Deflektorfeld ab, nicht jedoch den Schutzschirm, und schwebte gemächlich auf das kleine Hantelschiff zu. Gleichzeitig ließ ich den Anzugsyntron das übliche Erstkontakt-Protokoll abwickeln: Übermittlung sprachlicher sowie mathelogischer Basisdaten für etwaige Translatoren, darauf aufbauend eine kurze Grußbotschaft mit der Bitte um friedliche Verständigung et cetera. Keine zwei Sekunden später erhielt ich Antwort. Diese lautete: »Friede und Freude, fremde
13 Einheit! Die Vielheit der Zweiheiten heißt dich in der Freiheit mehrheitlicher Wahrheit mit Geehrtheit willkommen.« Na, das konnte ja heiter werden.
* Sie nannten sich Hemeello. Ich leistete ihrer Einladung, an Bord zu gehen, ohne langes Zögern Folge. Selbstverständlich scannte ich davor ihr Raumboot mit den Analysatoren meines Anzugs. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass die Hantel nichts mit sich führte, was der Offensiv- und Defensivbewaffnung meiner varganischen Montur annähernd gleichwertig gewesen wäre, landete ich in der Schleuse, die sich im Mittelstück der Hantel aufgetan hatte. »Wir mögen die Außenheit nicht so gerne«, erklangen absolut synchron zwei helle, flötende Stimmen in einem Intervall, das in der Milchstraße als Tritonus bezeichnet wurde. »Sintemalen, wenn sie einer Luftleerheit entspricht.« Das Schott glitt zu, erbärmlich knirschend und kreischend. Ich sah mich um. Wohin mein Blick schweifte, war Schmutz. Mist. Müll. Abfall weicher Konsistenz reichte mir bis zur Hüfte. Zotten verrotteter Gewächse hingen von der niedrigen Decke. Was ich zuerst, gutwillig, an den Wänden für künstlerische Reliefs gehalten hatte, entpuppte sich bei näherer Betrachtung als Schimmelkulturen. Ich hatte schon viel erlebt. Aber noch nie zuvor hatte ich ein Raumfahrzeug betreten, das dermaßen vor Dreck starrte. Korrektur: Während ich fassungslos glotzte, beschlich mich das Gefühl, der Dreck starre zurück. Mein Anzugsyntron teilte lakonisch mit, dass die Schleuse inzwischen mit atembarer Atmosphäre geflutet worden war. Er riet jedoch »aufgrund gewisser olfaktorisch bedenklich penetranter Beimengungen« davon ab, den Helm zu öffnen. Ich werde mich hüten, dachte ich. Mit anderen Worten: Hier stinkt es zum Steiner-
14 weichen. Dagegen war die Wohnstatt des Kraken ein Luftkurort. Das Innenschott fuhr unter ähnlichen akustischen Begleiterscheinungen zur Seite wie vorher das äußere. Ich watete in einen Gang, besser: einen Schlammkanal, eine Kloake. Deren Inhalt zu schildern, fehlen mir die Worte. Um dem Eindruck gegenzusteuern, ich sei eine zimperliche Zicke, möchte ich anmerken: Ich habe mehr als bloß ein paar Jahre auf Planeten oder in Habitaten verbracht, die eigentlich für meinesgleichen nicht geeignet waren. Aber dabei handelte es sich um Ökosphären, in denen sich Giftgasatmer heimisch fühlten oder Silikatwesen oder … Die Hemeello hingegen waren, was die objektiven Parameter betraf, also erträgliche Temperatur; Gravitation; Feuchtigkeitsgehalt, Druck und sonstige chemische wie physikalische Beschaffenheit der Luft; und so weiter und so fort … fast wie wir. Sie besaßen auch eine axiale Körpersymmetrie und vier Gliedmaßen. Allerdings liefen sie nicht; dazu eigneten sich die kurzen, in organischen Propellern endenden Beinstummel wohl kaum. Sondern sie bewegten sich paddelnd fort, drifteten auf dem grässlichen Matsch, den sie mit großen, schaufelartigen Händen zerteilten. Zwischen den je fünf Fingern spannten sich kräftig gefärbte lila Schwimmhäute. Auf dem einen Meter langen, braunvioletten, kegelförmigen Rumpf saß als Kopf eine perfekte Kugel mit einem Duchmesser von vierzig Zentimetern: grellpink, von einem schmalen Mundschlitz an der Vorderseite halbiert, doch ohne erkennbare Sinnesorgane. Ganz oben entsprang eine Art weißlicher Darm … … welcher, extrem bieg- und dehnbar, die beiden Hemeello verband. »Ich sind die Grdur/Shmeli-Zweiheit«, ertönten die bereits gehörten Stimmen, durchaus wohlklingend, wobei die Kopfschnur vibrierte und in allen Spektralfarben schillerte. »Bitte verzeih, aber unserzwei bekommt selten Besuch. Deshalb ist gerade nicht aufge-
Leo Lukas räumt.«
* Ich blieb zu meinem eigenen Erstaunen freiwillig drei volle Tage in der fliegenden Müllhalde. In dieser Zeit freundete ich mich mit Grdur/Shmeli an, und auch mein Translator lernte ihre eigentümliche Sprache und Lebensweise besser zu verstehen. Freilich ließ ich Montur und Helm fest geschlossen. Die angebotene Nahrung, die ich nicht vom übrigen in der zähen Brühe des Wohntümpels treibenden Unrat unterscheiden konnte, lehnte ich dankend ab. Meine Gastgeber zeigten sich keineswegs beleidigt. Später, als sie ihrerseits mehr über mich wussten, klärten sie mich darüber auf, dass die Hemeello blind, taub und ohne Geruchssinn waren. Sie nahmen ihre aus meiner Sicht schrecklichen Lebensumstände genauso wenig als bedenklich wahr wie wir Humanoide die zahllosen Mikroorganismen, die unsere Körper bewohnen. Grdurs/Shmelis Stimmen kamen übrigens nicht aus den Mündern, sondern aus hinter Schimmel und Moder verborgenen Wandlautsprechern. Untereinander verständigten sie sich entweder quasitelepathisch oder via Bordrechner, der die Vibrationen und Farbwechsel der Kopfschnur interpretierte. Über diese praktisch zeitverlustfreie Umleitung kommunizierten sie auch mit mir; meine Antworten übersetzte der Rechner mittels kinetischer Projektoren wieder in taktile Reize. Die Hemeello waren Raumnomaden. Seit unzähligen Generationen durchstreiften sie den Kosmos. Wann und von wo das uralte Verbundschiff, dessen Eigenname »Fünfheit« bedeutete, aufgebrochen war, kümmerte sie längst nicht mehr. Friedliebend, genügsam und vollkommen autark, mischten sie sich nicht in die Belange anderer Völker. Zusätzliche Rohstoffe, die sie nur sehr selten benötigten, holten sie sich ausschließlich auf unbewohnten Planeten, wobei sie Acht gaben, deren Ökosyste-
Atlan, Bote des Flammenstaubs me nicht nachhaltig zu schädigen. Zu expandieren, weitere Schiffe zu bauen, Planeten zu besiedeln oder gar ein Sternenreich zu errichten fiel den Hemeello im Traum nicht ein. Grdur/Shmeli hatten beträchtliche Schwierigkeiten, meine diesbezügliche Frage überhaupt zu begreifen. Wozu sollten sie nach mehr streben, wenn samt und sonders alle Bewohner der fliegenden Siedlung seit urdenklichen Zeiten rundum zufrieden waren? In ihren Worten hieß das: »Die Vielheit der Zweiheiten in der Fünfheit hat schon vor Ewigkeiten die Glückheit der mehrheitlichen Wahrheit gefunden.« Selige Idioten? Mag sein. Dennoch machte mich die Begegnung mit Grdur/Shmeli nachdenklich. Hatte dieses unbedeutende Völkchen den Schlüssel zum Paradies gefunden, die Formel für ein wahrhaft erfülltes Leben? Sie waren unzweifelhaft hochintelligent. Andererseits entbehrten sie jeglicher missionarischer Inbrunst. Deshalb gestaltete sich der Gedankenaustausch mit ihnen so angenehm. Unvoreingenommen und fröhlich diskutierten sie jedes Thema, das ich aufwarf. Niemals wichen sie aus oder lenkten ab. Tabus schienen sie nicht zu kennen und nur einen einzigen moralischen Imperativ: Wenn du in Frieden gelassen werden willst, lass andere in Frieden. Woher kam diese Demut, diese für Intelligenzwesen außergewöhnliche, wunschlose Bescheidenheit? Von einer Königsidee ihrer Ahnen, erzählten Grdur/Shmeli. Der Arterhaltungsund Reproduktionstrieb dominierte die Vorfahren der Hemeello genauso wie alle mir bekannten höher entwickelten Organismen. Infolgedessen beanspruchten die Suche nach Sexualpartnern – und nicht selten der Kampf um diese – sowie die Eroberung und Sicherung von Territorium als Lebensraum für den Nachwuchs fast die gesamte Lebenszeit und Energie des Individuums. »Welch Dummheit, Blödheit, Borniertheit!«, kicherten Grdur/Shmeli vergnügt.
15 Als sie dieses Problem erkannt hatten, veränderten die Hemeello gezielt ihr Erbmaterial dahin gehend, dass nur noch Zwillinge geboren wurden, physisch wie auch psychisch vereint durch die flexible Kopfschnur. Man kam also mit seinem Idealpartner bereits auf die Welt. Inzest? Keineswegs. Befruchtungen erfolgten von da an ausnahmslos künstlich; ergo hatten Lust und Liebe nichts mehr mit Fortpflanzung zu tun, und von Blutschande konnte keine Rede sein. Für mich als überwiegend einsame Einheit, meinten Grdur/Shmeli rücksichtsvoll, sei klarerweise nur schwer begreiflich, um wie viel erfüllter und zugleich entspannter es sich in permanenter Zweiheit lebe. Verglichen mit anderen Völkern, die sie unbemerkt aus der Ferne studiert hatten, mochten sie vielleicht ein wenig dumpf, ja phlegmatisch erscheinen. Aber das war ihnen gleich. Dann fragten sie jovial, wie es denn um mein Beziehungs- und Sexualleben stünde. Ich verweigerte höflich, aber bestimmt die Auskunft. Vor meinem geistigen Auge erschien Atlan, wie er in Tephs Baracke sein Gewand abstreifte. Als »Beziehung« hätte ich unser Verhältnis allerdings nicht bezeichnet. Und Sex hatte zwar das eine oder andere Mal in der Luft gelegen, jedoch … »Aber warum«, schnitt ich hastig ein anderes Thema an, »habt ihr dann eure noble Zurückhaltung aufgegeben und die Sternengeburtswolke beziehungsweise die Intrawelt angesteuert? Das passt nicht zu dem bisher Erzählten. Und was hält euch noch auf diesem öden Himmelskörper? Außerdem seid ihr beide, Pardon: ist eure Zweiheit geradewegs hierher geflogen und bei meinem Beiboot gelandet. Wieso?«
4. Lose Chronik der Hemeello: Ein verhängnisvoller Fund Wie vor uns Tausende Generationen von Zweiheiten nach dem Großen Aufbruch
16 kreuzten wir gewöhnlich ziellos durch die Weiten des Alls. Der Rechnerverbund der Fünfheit wachte über uns und hielt uns von anderen Zivilisationen fern. Wann immer sich eine Zweiheit aus einer Laune heraus bemüßigt fühlte, den Kurs zu ändern, so geschah dies; vorausgesetzt, der Moralische Imperativ wurde dadurch nicht verletzt. So gelangten wir, nach langer Unbehelligtheit im Leerraum zwischen den Sterneninseln, auch nach Dwingeloo. Zuerst dünkte sie uns eine Galaxis wie viele andere auch. Doch dann bemerkten wir die fatalen Auswirkungen des so genannten Dunkelsterns, und wir schnappten Gerüchte über die Machenschaften gewisser »Lordrichter« auf. Gewaltige Flotten wurden zusammengezogen, mordlüsterne Heerscharen rüsteten zum Krieg … Dies war, wurde uns klar, kein geeigneter Aufenthaltsort für die Fünfheit der Hemeello, trotz unserer guten Tarnung und generell diskreten Verhaltensweise. Schon hatten wir auf Wunsch von Bölv/ Haiciez einen Kurs gesetzt, der uns, weit abseits der betroffenen Gebiete, wieder aus Dwingeloo hinausbringen sollte. Da fingen wir einen Notruf auf. Nun verfolgen wir zwar eine strenge Politik der Nichteinmischung; die Sünde der unterlassenen Hilfeleistung wollten wir gleichwohl nicht auf uns laden. Deshalb flogen wir die beigefügten Koordinaten an, zumal sich in weitem Umkreis keine sonstigen Raumfahrzeuge oder bewohnten Sonnensysteme befanden. Es handelte sich um eine kleine Einheit, ebenso sphärisch wie jedes unserer fünf Segmente, aber nur mit einem Sechzehntel des Durchmessers. Sie informierte uns, dass sie in eine Hyperanomalie geraten und manövrierunfähig war, und bat inständig, sie zu bergen. Andernfalls sei sie dem sicheren Untergang geweiht. Abermals ging die Initiative von Bölv/ Haiciez aus; abermals widersprach niemand. Das fremde Schiff wurde an Bord genommen und in einem freien Rohstoff-Hangar
Leo Lukas untergestellt. Damit nahm das Unheil seinen Lauf.
* Zuerst waren keinerlei Veränderungen zu bemerken. Allerdings mieden ich, Grdur/ Shmeli, in jenen Tagen die Gemeinschaftsräume und mischten sich nicht in die Belange der Mehrheit ein. Ich erwogen nämlich, Nachfahren auszutragen. Zwar sind ich nach den Maßstäben solistischer Lebewesen doppelt männlichen Geschlechts, was aber bei Hemeello kein Hindernis darstellt. Unlängst waren mehrere Zweiheiten der Altersschwäche erlegen, und mir hätte einer der frei gewordenen Bevölkerungsplätze zugestanden. Eine solch gravierende Entscheidung wollte gut überlegt sein. Über all dem Abwägen der Vor- und Nachteile bekamen ich gar nicht mit, dass die Fünfheit umkehrte. Folgendes ließ sich später rekonstruieren: Das singuläre Wesen aus dem von uns aus Raumnot geretteten Kugelschiff verließ selbiges und suchte das Gespräch mit diversen Zweiheiten. Irgendwie brachte es einige der sich gerade als Wortführer Betätigenden dazu, den Moralischen Imperativ zu negieren. Dies war ein Traditionsbruch sondergleichen. Ein Sakrileg, eine nie da gewesene Übeltat, die in ihrer Gewichtigkeit anfangs von der Mehrheit gar nicht erfasst wurde. Man muss wissen, dass wir einem komplizierten hormonellen Zyklus unterliegen. Während wir uns in manchen Phasen von der Allgemeinheit zurückziehen und die Wohntümpel unserer persönlichen Raumboote so gut wie nie verlassen, suchen wir in anderen Perioden die intensive Auseinandersetzung der Kleingruppe, und in wieder anderen schwingen wir uns zu temporären Schiffskapitänen auf. Aber das geht normalerweise bald wieder vorüber. Nicht so diesmal, insbesondere bei Bölv/ Haiciez.
*
Atlan, Bote des Flammenstaubs Als es sich bei der Vielheit herumgesprochen hatte, dass wir uns keineswegs aus Dwingeloo absetzten, sondern ein durchaus brisantes Gebiet innerhalb dieser so gefährdeten, so gefährlichen Galaxie ansteuerten, war es bereits zu spät. Bölv/Haiciez oder vielmehr der fremde Einzelgänger, der wie ein Schatten durch die Fünfheit geisterte, diktierte inzwischen das Geschehen. Wir drangen in die Sternengeburtswolke ein; fanden die Intrawelt; landeten auf ihrem Trabanten. Unmittelbar danach erwies sich, dass der vermeintlich Schiffbrüchige gelogen hatte. Obwohl er unsere Offerte, seinen Raumer zu reparieren, mit dem Verweis auf irreversible Schäden ausgeschlagen hatte, verließ ebendieser nun aus eigener Kraft, ohne jegliche Anzeichen einer erlittenen Havarie, den Hangar. Und die Einheit nahm etwas mit sich. Was genau? Frage nicht, ich wissen es nicht. Schlimm genug, dass es fehlt. Denn die Harmonie, die Freiheit mehrheitlicher Wahrheit, ist seitdem empfindlich gestört. Wir arbeiten hart daran, sie wiederherzustellen. Ob der Vielheit in der Fünfheit Erfolg beschieden sein wird, lässt sich nicht absehen. Aber vielleicht kannst du uns ja weiterhelfen?
5. Kytharas Aufzeichnungen: Jetzt erst recht! »Wie – ich?« Die im gräulichen Gemisch aus Nährstoffen und Ausscheidungen plantschenden Dualwesen besaßen keine Gesichter, keine Mimik. Vibrationen und Farbwechsel ihrer Kopfschnur vermochte ich nicht zu interpretieren. Um die Körpersprache deuten zu können, kannte ich die Hemeello schlichtweg nicht lange genug. Ich war gezwungen, auf die grobe verbal-akustische Übersetzung zu vertrauen; Feinheiten entgingen mir. Daher glaubte ich einige Sekunden lang irrtümlich, beim letzten Satz ihrer Geschich-
17 te hätte es sich um eine Schlussfloskel gehandelt. Erst als sie mich – augenlos! – entschieden erwartungsvoll fixierten, dämmerte mir, dass sie mich mit dem hinterhältigen Unbekannten in Verbindung brachten. »Hier liegt ein Missverständnis vor«, sagte ich langsam und deutlich. »Ich habe von dieser kugelförmigen Einheit und ihrem heuchlerischen Piloten soeben zum ersten Mal gehört.« »Und wieso hast du dein Vehikel dann direkt neben dem seinen geparkt?«
* Die Erkenntnis traf mich wie ein Schock. Sie meinten das Loch in der Landschaft, das alles Licht schluckende Objekt. Mir stellte es sich als Oktaeder dar. Weil mir, der Varganin, dieses Design vertraut war. Und Atlan, der mit Raumern verschiedenster Bauart zu tun gehabt, sich aber zuletzt wochenlang in der AMENSOON aufgehalten hatte, war wohl derselben Illusion erlegen wie ich. Den Hemeello erschien die düstere Einheit logischerweise als Kugel. Ein Volk, das perfekte Ausgewogenheit anstrebte, konnte auf gar keine andere Idee kommen. »Euer … Findling. Der Kerl, der euch schamlos missbraucht hat«, sagte ich rau. »Das da draußen, neben meiner DYS-116, ist sein Schiff?« Sie bejahten. Nachdem die Landung eines zweiten verhältnismäßig kleinen Flugkörpers in dem engen Tal beobachtet worden war, hatte die aktuelle Führung der Hemeello Freiwillige gesucht, die vor Ort Nachschau hielten. Denn der Schatten, der ihre geruhsame Existenz dermaßen durcheinander gebracht hatte, war entweder verschollen oder nicht gewillt, auf ihre flehentlichen Anfragen zu reagieren. Alle Versuche, sich dem Objekt zu nähern, waren gescheitert. Keine Zweiheit, keine Mehrzahl von Zweiheiten hatte dem psychischen Druck, der nunmehr von dem
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irrealen Schiff ausging, standhalten können. Wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein, dass in den exakt parallel geführten Flötenstimmen, die aus den hoffnungslos verschmutzten Wänden drangen, Enttäuschung mitschwang: »Wir dachten, du wärst von derselben Art wie die grausam egoistische Einheit. Und würdest sie, wenn wir dich recht schön bitten, dazu bewegen, uns wiederzugeben, was sie uns geraubt hat …«
* »Bedaure, Freunde. So einfach ist das nicht.« Andererseits … Ich hatte mit meinem derart abweisenden, unnahbaren Nachbarn eine Rechnung offen. Die Frage, ob es Zufall oder Fügung gewesen war, dass wir, Atlan und ich, uns gerade diesen Landeplatz ausgesucht hatten, stellte ich zum gegebenen Zeitpunkt hintan. Jedenfalls konzentrierte sich momentan alles auf das mysteriöse Etwas oder besser Nichts, das wenige Dutzend Meter talaufwärts die ohnehin trostlose Gegend noch weiter verunstaltete. »Ich werde«, versprach ich Grdur/Shmeli, »dorthin gehen. Dieses … Ding mag mich nicht; und ich hatte wirklich, glaubt mir das, bislang nichts damit zu tun. Aber es soll und wird mich kennen lernen. Bleibt bitte noch ein Weilchen in der Nähe. Möglicherweise benötige ich eure Hilfe.« Die durchaus sympathische HemeelloZweiheit sicherte mir zu, mich nach Kräften zu unterstützen. Wenngleich sie sich noch nicht vorstellen konnte, wie. Wir verabschiedeten uns formlos. Ich watete aus dem Wohntümpel. Durch den Gang. In die Schleuse. Atmete auf, als ich draußen war. Zwinkerte im Widerschein der Intrawelt. Da stand die DYS-116. Und da, wenn ich den Kopf drehte, lag geduckt, auf der anderen Seite, das Gebilde, das sich mir als dunkles Oktaeder darbot. Es sicherte sich durch ein Abwehrfeld, welches unter ande-
rem Übelkeit bewirkte. Hass geht, wie man bei uns sagt, durch den Magen. Wegen des überwältigenden Brechreizes hatte ich es beim ersten Anlauf vorgezogen, unverrichteter Dinge kehrtzumachen. Die Vorstellung, mich in meinem Anzug, soll heißen: in meinen Helm übergeben zu müssen, bereitete mir auch jetzt Unbehagen. Selbstverständlich reinigte sich eine varganische Raumkombi binnen weniger Sekunden von selbst. Aber die Schmach! Der bittersauer-scharfe Geschmack von Verletzlichkeit, von Anfechtbarkeit … Selbstreinigung war ein gutes Stichwort. Ich hatte nur wenige Stunden geschlafen; schwebend, vom Antigrav meiner Montur über der grausigen Plörre gehalten, die in den Räumen des Hantelschiffchens träg hin und her schwappte. Endlich im Freien, dem Pfuhl der Hemeello entronnen, verspürte ich das dringende Bedürfnis nach einer Dusche. Regeneration war angesagt. Und danach: Rehabilitation. Ich würde dieser düsteren Nicht-Gestalt, egal ob äußerlich Kugel oder Oktaeder oder sonst was, beweisen, wozu ich imstande war. Ich, eine Varganin. Ich. Kythara.
6. Bericht Atlan: Die Verfolgungsjagd Während unserer Reise durch die Intrawelt hatte ich den kleinen, frechen, nicht selten lästigen Jolo oftmals auf den Schultern getragen. Nun trug ich ihn wieder, ein letztes Mal. Eine Stunde vor Ablauf der Tageslichtphase nahmen wir den Rückweg durch die Kathedrale von Rhoarx in Angriff. Tuxit hatte versichert, dass wir die Strecke rasch bewältigen würden; und so war es auch. Unsere Blessuren und mittlerweile verschorften Wunden behinderten uns kaum. Es gab auch keinerlei sonstige Schwierigkeiten,
Atlan, Bote des Flammenstaubs keine Sinnestäuschungen oder Visionen. Wir wanderten auf ebenem Grund dahin, durch eine Umgebung, die unwirklich eigenschaftslos und indifferent war. Nach weniger als zwanzig Minuten erreichten wir den Ausgang und den Anbau mit der Gondelstation. Erneut hieß es warten. Ich lud Jolos Leiche ab. »Besitzt dein Cueromb eine Desintegratorfunktion?«, fragte ich den Obersten Brüter. »Ja. – Möchtest du, dass ich damit die sterbliche Hülle des Echsenmannes zerstrahle?« »Ich denke, das wäre in seinem Sinn. Auf diese Weise bekommt er gewissermaßen die exklusivste Grabstätte der ganzen Intrawelt.« Und fällt uns nicht weiter zur Last, ergänzte mein Extrasinn. Sentimental, wie du bist, würdest du, unten angekommen, den Leichnam nicht einfach wegwerfen, sondern an einem adäquaten Ort verscharren wollen. Was uns wertvolle Zeit kosten würde. Tuxit erfüllte meine Bitte und betätigte das Multifunktionsgerät, das er am rechten Flügelarm trug. Jolos Leib löste sich auf, zerfiel zu Staub und war nicht mehr. »Danke«, sagte ich. Dann harrten wir schweigend des Knackens, das anzeigte, dass sich die Sonne abschaltete. Ich horchte in mich hinein. Spürte ich eine Veränderung durch den Flammenstaub, den ich absorbiert hatte? Nein, da tat sich nicht viel; höchstens ein leichtes Zwicken und Zwacken in der Magengegend. Das konnte aber auch Einbildung sein; so, wie es einen fast unweigerlich zu jucken beginnt, wenn jemand Flöhe oder Läuse erwähnt … Niemand wusste, inwieweit sich ein Nicht-Rhoarxi mit dem Flammenstaub zurechtfand. Möglicherweise musste ich eine Art Anpassungsphase durchlaufen. Und vielleicht, hoffentlich!, galt das ja auch für Peonu. Wir zuckten zusammen, als es endlich knackte.
19 Ich wollte sogleich losstürmen, doch Tuxit hielt mich zurück. Er bestand darauf, eine weitere halbe Stunde zuzuwarten, bis sich das Sonnenumfeld ausreichend abgekühlt hatte. Erst dann ließen wir die Kathedrale hinter uns.
* Der Oberste Brüter behielt Recht. Auf der Route zur Ultrastation D-1 und weiter zur Hochstation OB-66 konnten wir keine Zeit gutmachen. Die Gondeln fuhren nun mal nicht schneller, auch wenn sie eine der ranghöchsten Personen der ganzen Intrawelt transportierten. In OB-66 tobte eine Schlacht. Maulspindler kämpften gegen Maulspindler, verbissen und mit allem, was sie in die Klauen bekamen. Das Innere der Station war bereits weitgehend verwüstet. Peonus Werk, konstatierte der Logiksektor, während ich Tuxit in Deckung zog. Er hat einen Teil der Besatzung zu Seelenhäppchen gemacht und gegen ihre Artgenossen gehetzt, um unser Fortkommen zu verzögern. Also rechnete er damit, dass wir ihn verfolgten. Aber warum hatte er dann nicht gleich oben in der Sonne kurzen Prozess mit uns gemacht? Vergiss nicht, dass der Lutvenide eine Spielernatur ist. Er war bei einer Truppe, die sich »Xpomuls Champions« nannte, und besetzte als »Nummer zehn« sogar die Schlüsselposition. Bitter: Der widerliche Schuft sah das Ganze offenbar als eine Art sportlichen, wenngleich keineswegs fairen Wettkampf. Und er fühlte sich so siegessicher, dass er sich noch möglichst lange einen Spaß mit uns machen wollte. Zu Recht. Peonu ist dir tatsächlich in allen Belangen überlegen. Eins gegen eins sowieso; darüber hinaus befehligt er zahllose Hilfstruppen. Und was hast du? Einen altersschwachen, zerrupften, flügellahmen
20 Gockel! Neuerlich stichelte der Extrasinn erfolgreich. Er fachte meinen Widerspruchsgeist an, und der Depressionsschub, der aus der schmerzlichen Leere in meiner Mitte entsprungen war, verebbte wieder. Inzwischen hatten wir uns in der Halle orientiert. Etwa fünfundzwanzig Maulspindler, rund ein Drittel der Besatzung, droschen wie die Berserker auf die Einrichtung des Gondelbahnhofs und ihre schockierten Kollegen ein. Obwohl in der Überzahl, vermochten diese die Wütenden kaum zu bändigen. Klar. Sie kämpfen um nichts weniger als ihr Seelenheil. »Enthält dein Cueromb auch einen Paralysator?«, zischte ich Tuxit zu. »Oder sonst etwas, womit wir die ganze Bande auf einmal flachlegen könnten?« Ich traute mir durchaus zu, die Unbeeinflussten so zu kommandieren, dass sie mit der Zeit Oberwasser gewannen. Aber Zeit hatten wir nicht. »Nein. Nur einen Bann-Emitter.« »Einen was?« »Ein Mikroaggregat, das Strahlungen aussendet, welche jegliche mobile Lebensform vertreiben.« »Prima. Ich bin zufällig ebenfalls eine mobile Lebensform.« »Ich kann den Emitter so kalibrieren, dass er erst in einer Entfernung von drei Metern wirksam wird.« »Dann tu das bitte. Nein, halt – wenn sämtliche Maulspindler die Flucht ergreifen, haben wir keinen mehr, der uns von hier wegbringt.« Tuxits Vogelkopf ruckte herum. Er sah aus dem Fenster, dann keckerte er: »Auf dem Faden dahinten kommt gerade eine Gondel herein. Die könnten wir nehmen. Ich begrenze die Wirkung des Emitters auf zwanzig Meter, dann wird der Maulspindler, der sie führt, nicht tangiert.« »Gut. Los!« Kaum hatte er sein Gerät aktiviert, spritzten die Kunstwesen panisch auseinander, als
Leo Lukas wäre eine Bombe explodiert. Wir liefen quer durch die Halle und hinaus auf die Plattform. Sobald die Gondel auf dreißig Meter heran war, schaltete der Oberste Brüter den Bann-Emitter wieder ab. Das Gefährt legte an. Wir stiegen ein. Drinnen in der Station begannen die Kampfhandlungen aufs Neue. Sinnloses Blutvergießen. Aber das hat Peonu noch nie gestört. Ganz im Gegenteil.
* Ich bemühte mich gar nicht erst, im überaus komplexen, ebenso filigranen wie monumentalen Gondelsystem, das die gesamte Hohlwelt durchzog, den Überblick zu behalten. Diesbezüglich verließ ich mich voll und ganz auf Tuxit. Er hatte sich bereit erklärt, mich bis zur Mündung des Transferschlauchs zu begleiten. Dazu hatte es keiner großen Überredungskunst bedurft. Schließlich war die Intrawelt von den Rhoarxi und ihren Hilfsvölkern errichtet worden, um genau das zu verhindern, was nun drohte: dass der Flammenstaub ins Normaluniversum gelangte und bösen Mächten in die Hände fiel. Den Lordrichtern beispielsweise, in deren Sold Peonu stand. Oder den Chaotarchen, für die der Lutvenide früher tätig gewesen war. Wenn wir ihn nicht doch noch im letzten Moment erwischen … Ob wir flott oder schleppend vorankamen, vermochte ich nicht zu beurteilen. Was hieß schon »voran« auf einem dreidimensionalen Zickzackkurs? Tuxit weigerte sich, eine Prognose abzugeben; sagte bloß, er täte sein Möglichstes. Offenbar hatte er eine andere Route als der Seelenhorter gewählt. Denn uns begegneten weder weitere Hemmnisse, noch konnten die Maulspindler in den Bahnhöfen etwas mit dessen Personenbeschreibung anfangen. Beim Umsteigen hielten wir uns nur so lange auf wie unabdingbar. Verschnauf-, Essens- und Schlafpausen gönnten wir uns ausschließlich während der Gondelfahrten.
Atlan, Bote des Flammenstaubs Dennoch benötigten wir über dreißig Stunden bis zu jener Bodenstation, die der Übertrittsstelle am nächsten lag. Sie befand sich in der Parzelle Karaporum. So wie Peonus als Einsiedelei getarnte Basis. Wo er mich zum ersten Mal überwältigt und mir ein Fragment meiner Seele geraubt hat …
* Die Station XACK-331, ein schlanker Turm, nicht viel mehr als ein verstärkter Mast, stand auf dem Gipfel eines niedrigen Tafelbergs, Ringsum breitete sich gelbviolette Savanne aus. Hier hatte vor knapp einem Monat – war es wirklich noch nicht länger her? – der Maulspindler Abertack residiert. Doch nicht er nahm uns in Empfang, sondern ein anderes, deutlich jüngeres Exemplar. Das Kunstwesen begrüßte uns artig, wenn auch auffällig nervös, stellte sich als Kozalack vor und gab bereitwillig Auskunft. Ja, ein Reisender, auf den unsere Beschreibung passte, sei hier angekommen. Als hätte er den übersehen können! »Wann?«, fragten Tuxit und ich wie aus einem Mund. »Vor elf Stunden.« Beinahe hätte ich dem Obersten Brüter aus lauter Enthusiasmus auf den Buckel geschlagen. Mit Rücksicht auf seine Gebrechlichkeit bremste ich mich gerade noch ein. »Wir haben ganz schön aufgeholt. Respekt, alter Mann!« »Freu dich nicht zu früh«, entgegnete der Rhoarxi. Er kniff die Augen zusammen. »Dein Konkurrent scheint ein kleines Begrüßungskomitee organisiert zu haben.« Ich folgte seinem Blick. Am Fuß des Rundkegels erhoben sich soeben Gestalten aus dem Gras. Viele Gestalten; sehr viele, sehr grimmige. Obwohl dicht an dicht und in mehreren Reihen hintereinander stehend, bildeten sie eine Kette, die den ganzen Tafelberg umschloss. Es mussten Tausende sein. Sie trugen Waffen; und nicht bloß Schwerter, Hel-
21 lebarden und Wurfspieße. »Eine Armee«, flüsterte ich. »Der Bastard hat eine ganze verdammte Armee mobilisiert.« In so kurzer Zeit?, zeigte sich der Logiksektor skeptisch. Ich würde einmal nachprüfen, ob all die Soldaten real sind. Vielleicht fallt ihr ja auf ein Trugbild herein. »Wie lange dauert diese Belagerung schon an?«, fragte ich Kozalack. »Seit …«, der Maulspindler verdrehte die Augen, »zehn Tagen massieren sie sich hier. Stündlich kamen und kommen mehr dazu. Sie haben Lager errichtet und schweres Gerät in Stellung gebracht.« Zwischen den Schlagetots, die den verschiedensten Völkern entstammten – das Einzige, was sie vereinte, waren die Mordwerkzeuge, die sie mit ihren Händen, Tentakeln, Stahlprothesen, Greiflappen, Rüsseln, Scheren, Saugnäpfen, Magnetfeldern, Schlingzungen und so weiter hielten –, entdeckte ich Katapulte, Mörser, Kanonen; klobige Maschinengewehre; Rohre, die bedenklich an Granatwerfer oder primitive Raketenabschussbasen erinnerten … ein Arsenal, das Freunde archaischer Kriegführung in helle Begeisterungsstürme versetzt hätte. Mir hingegen war nicht danach. Bedaure, gab sich der Extrasinn ungewohnt kleinlaut. Wäre auch zu schön gewesen, wenn es sich um eine Halluzination gehandelt hätte. Tja, Peonu muss gespürt haben, dass sich die Sache zuspitzt. Also hat er für alle Fälle Vorkehrungen getroffen. Dem Maulspindler war merklich unwohl in seiner Haut. Noch, erzählte er uns mit gesenkter Stimme, fahrig an seinem Faden kauend, hatten die versammelten Rabauken keine aggressiven Aktionen gesetzt. Aber immer wenn eine Gondel eintraf, stellten sie sich in Positur. Und heute Morgen hatte jener Reisende, für den wir uns interessierten, zu den vielen Tausendschaften gesprochen. Gleich nach seiner Ankunft hatte er eine Rede gehalten. »Lass mich raten. Wenn sie garantieren, dass niemand nach ihm die Station verlässt,
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wird er ihnen schon bald zurückerstatten, was er ihnen weggenommen hat?« »Genau«, bestätigte mir Kozalack verblüfft. »Woher weißt du das?« »Sagen wir, uns verbindet eine gemeinsame Geschichte.« Und ein Ziehen in der Brust. Eine Hohlheit, eine Sehnsucht … Tuxit trippelte hin und her, klapperte mit dem Schnabel, zappelig, flatterig, unsicher. »Dieser Bann-Emitter deines Cuerombs«, wandte ich mich an ihn. »Wie weit reicht sein Einflussbereich?« Der Rhoarxi blieb stehen und legte den Kopf schief. »Nicht annähernd weit genug.« Mit einer tatterigen Flügelbewegung umfasste er die Phalanx, die sich am Fuß des Rundkegels formiert hatte und, bedrohlich still, zu uns heraufstarrte. »Töricht, einen Ausbruch zu versuchen. Wir kämen nicht weit.« »Wir könnten sie an einer Stelle zur Seite drängen.« »Das ist richtig. Aber sie haben Fernwaffen. Reichlich. Und da wir mit dem Emitter nur einen Bruchteil erfassen können, würden die vielen davon nicht Betroffenen uns binnen weniger Augenblicke pulverisieren.« Endstation, kommentierte mein Logiksektor. Sieh es ein: Peonu hat dich abgehängt. Das Spiel ist aus. Vorüber, vorbei. Na ja, Zweiter hinter einem Champion, dafür braucht man sich nicht zu genieren, oder?
7. Kytharas Aufzeichnungen: Der Henker Ich ging zu Fuß. Dies war keine Frage von Schnelligkeit, sondern von Willenskraft. Auf halber Strecke zwischen der DYS116 und dem, was sich in der Form des dunklen Oktaeders verbarg, setzte die Übelkeit ein. Ich ging weiter. Wieder verschwammen die Konturen dessen, was sich mir als Doppelpyramide darstellte. Wieder erfasste mich Ekel.
Ich ging weiter. Kickte mit meinem Stiefel einen faustgroßen Stein zur Seite. Er kullerte in eine Felsspalte. Mit jedem Schritt wurde der Brechreiz stärker. Bald würde es mir den Magen umdrehen. Na und? Dann erbreche ich mich eben. Ich bin Kythara, eine Varganin. Ich habe nicht Jahrhunderttausende überstanden, um vor einem simplen Psychotrick zu kapitulieren. Primaten, sagte ich mir, reagierten auf ausgefallene Sinneseindrücke, indem sie sich übergaben. Warum? Weil »ungewohnt« für sie nicht selten »verdorben« bedeutete. Giftige Substanzen mussten ausgeschieden werden, bevor sie größeres Unheil anrichten konnten. Aus demselben Grund machten sich nicht wenige, ach so hoch entwickelte Intelligenzwesen in die Hose, wenn ein entsicherter Strahler auf sie gerichtet wurde. Genau diesen vererbten Reflex aktivierte das Abwehrfeld des Pseudooktaeders. »Besser abhauen!«, brüllte es. »Du wirst dich besudeln. Willst du das?« Ich wollte das nicht. Aber es war mir relativ egal. Ich ging weiter. Schritt für Schritt setzte ich Fuß vor Fuß. Bauchkrämpfe setzten ein und Würgen im Hals. Dennoch ging ich weiter. Schritt für Schritt. Links – rechts. Links – rechts. »Ich bin stärker als du!«, schrie ich tonlos dem Nicht-Objekt entgegen, das sich vor mir längst in einen hässlichen, Licht schluckenden Klecks verwandelt hatte. »Ich bin nämlich sogar stärker als ich selbst!« Linker Fuß, rechter Fuß. Linker Fuß, rech… beinahe wäre ich gestolpert. Macht nichts, ich gehe weiter. Für Grdur/Shmeli. Für Atlan. Für mich. Weil ich es wissen will. Und ich ging weiter. Bis ich auf einen rauen, grobporigen Widerstand stieß. Im gleichen Augenblick schwächte sich der Effekt ab. Unwohl war mir immer noch. Aber bloß so, als hätte ich am Vortag schlechten Trinkalkohol zu mir genommen.
Atlan, Bote des Flammenstaubs Sehen konnte ich nichts mehr außer Schwärze. Ich tastete mich an dem entlang, was meine Fingerkuppen ertappten. Immerhin, es gab eine Grenze zwischen innen und außen. Etwas haptisch Wahrnehmbares. Eine Fuge. Eine Tür. Die zur Seite glitt, geräuschlos. Oder sich entmaterialisierte. Wie auch immer. Ich ging weiter. Schlug mir das Schienbein an, stieg über die Schwelle. Licht flammte auf. Geblendet schloss ich die Augen. Euphorie überflutete mich – Endorphine, klar, nach der extremen Deprivation. Ich hatte es geschafft. Ich war drin. Gut. Weiter.
* Das Schiff hatte mich eingelassen, ohne einen Sicherungskode zu verlangen. Spekulierte der Besitzer dieses Objekts einzig und allein auf die abschreckende Wirkung des Psycho-Feldes? Dann hatte er sich verrechnet. Oder jedenfalls keine Varganin erwartet. So. Tief durchatmen. Ich war drin, in einem einzigen großen Raum. Es gab keine übliche Struktur mit Decks, Gängen und Räumlichkeiten. Die Wand, die ich soeben durchdrungen hatte, nässte. Dunkelgraue Flüssigkeit drang hervor, troff aus unsichtbaren Poren, wie Schweiß. Ich griff hin, wollte ein wenig von dem glitschigen, ölähnlichen Firnis aufnehmen, um ihn mit den Mitteln meines Anzugs zu analysieren. Doch das Zeug verdunstete innerhalb von Sekundenbruchteilen, sobald ich es von der Wand entfernte. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich wusste nun mit Bestimmtheit, dass dies kein varganischer Raumer war. In achthunderttausend Jahren mochten meine Leute zwar allerhand Neues entwickelt haben. Aber ein derartiges Schiffsdesign … Da hätte schon ein Irrsinniger am Werk gewesen sein müssen.
23 Das mir nach der vollkommenen Dunkelheit grell erschienene Licht war, als meine Augen sich daran gewöhnt hatten, kaum mehr als trüber Dämmerschein. Ich scheiterte an dem Versuch, die Dimensionierung des Innenraums abzuschätzen. Er hätte fünf, aber auch fünfzig oder fünfhundert Meter durchmessen können. Boden und Wände trafen sich in unmöglichen Winkeln, deren nähere Betrachtung die Übelkeit verstärkte. Es gab keine Möbel, Maschinen oder Bedienelemente, nur gähnende Leere. Einzig ganz hoch oben, an der Decke, ließen sich einige wenige, undefinierbare Gerätschaften ausmachen. Ich wollte hinauffliegen, doch mein Antigrav streikte. Der Anzugsyntron teilte mit, dass auch die anderen hyperenergetischen Anwendungen ausgefallen waren. Die Lebenserhaltungssysteme hingegen funktionierten klaglos. Einstweilen. Noch. Sollte ich umkehren? Was hätte ich dann erreicht? Gar nichts. Nein, so schnell gab ich nicht klein bei. Dieses Schiff faszinierte mich. Es strahlte etwas Widerliches und zugleich Bewundernswertes aus. Wie ein hässlicher Drache, der einen Juwelenschatz bewacht. Ich marschierte zur gegenüberliegenden Wand, die nicht ganz lotrecht aufragte, sondern sich ein wenig nach hinten neigte. Trotzdem war sie viel zu steil und glatt, als dass ich an ihr hätte hochklettern können. Sie wies auch keinerlei Vorsprünge oder Spalten auf. Obwohl ich mir der Sinnlosigkeit meines Treibens bewusst war, presste ich mich gegen den Glitsch und versuchte mich in die Höhe zu ziehen. Im nächsten Moment lag ich flach auf dem Bauch. Aber nicht ich war umgekippt, sondern die Wand. Besser gesagt, der Schwerkraftvektor hatte sich abrupt verändert. Die Geräte befanden sich nun nicht mehr hoch über, sondern weit vor mir. Ich erhob mich und ging auf sie zu.
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* Drei etwa mannshohe Säulen ragten schief aus dem Boden. Aus ihnen wuchsen Stäbe wie verkrümmte Äste, an deren Enden unregelmäßig geformte Kristalle hingen. Monitoren, Lämpchen oder sonstige Anzeigen waren nicht zu erkennen, desgleichen keine Hebel, Knöpfe oder Schaltflächen; von Aufschriften oder Bedienungshinweisen ganz zu schweigen. Ich studierte die Anordnung lange, ohne auch nur den Schimmer einer Eingebung zu bekommen, wie damit umzugehen wäre. Schließlich berührte ich wahllos eines der Kristallelemente. Schlagartig wurde es heller. Auch der Flüssigkeitsausstoß nahm frappant zu. Und aus der dickflüssigen Masse, die nun in allen Farben changierte, formte sich eine Gestalt. Offenbar handelte es sich um eine Art von Nano-Substanz. In wenigen Augenblicken wuchs sie zu einem hünenhaften Mann heran, einem Varganen mit langem rotblondem Haar. Sein tiefblauer Mantel trug das Zeichen der Dimensionen, ein gelbes Möbiusband innerhalb eines schwarzen Kreises. Ich kannte ihn. Jeder Angehörige meines Volkes hätte ihn sofort identifiziert. Er war der leibhaftige Alptraum, seit fünfzigtausend Jahren gefürchtet wie kein Zweiter. Magantilliken, der Henker.
* Selbstverständlich wusste ich, dass nicht der echte Magantilliken vor mir stehen konnte. Dennoch durchfuhr mich eisiger Schreck. Der Henker der Varganen hatte Jagd auf »Abtrünnige« gemacht. Er hatte sie allesamt erwischt und getötet. Vor ihm gab es kein Entrinnen. Wer ihn zu Gesicht bekam, musste mit dem Leben abschließen. Nun war ich an der Reihe … Ich zwang mich, Ruhe zu bewahren. Mein Verstand sagte mir, dass der Pseudo-
Magantilliken mich nur verscheuchen sollte. Durch die Berührung des Kristalls hatte ich einen weiteren Verteidigungsmechanismus ausgelöst. Das Schiff holte sich Ängste aus meinem Unterbewusstsein und realisierte sie mittels der Nano-Substanz. Äußerst lebensecht, das musste ich zugeben. Der Henker bückte sich geschmeidig nach einem Schwert, das sich soeben aus dem Sirup gebildet hatte, ergriff es und schwang es prüfend, dass die Stahlklinge blitzte. Bei diesem Anblick nicht in Panik zu geraten war kein Leichtes. Klar, es handelte sich um eine Projektion – aber um eine materielle. Ob mich der echte Magantilliken enthauptete oder seine Nachbildung, machte wenig Unterschied, solange die Schneide des Schwerts real war. Der Energieschirm meines Anzugs ließ sich weiterhin nicht aufbauen; auch der Kombistrahler versagte den Dienst. Langsam wich ich zurück, die Hände erhoben. »Immer mit der Ruhe«, sagte ich mühsam beherrscht. »Hab's verstanden, dass ich hier unerwünscht bin. Dann werde ich mich eben wieder zurückziehen, in Ordnung?« Die Figur des Henkers antwortete: »Wer Magantilliken erblickt, muss sterben.« »Das ist eine Schauergeschichte, ein Mythos. Nicht wörtlich zu nehmen. Sonst hätte sich der Typ ja niemals in einem Spiegel anschauen dürfen, oder? Du kommst aus meinem Hirn, daher weißt du das ebenso gut wie ich.« Ich war mir längst nicht so sicher, wie ich vorgab. Der Fluchtreflex wurde immer stärker. Andererseits – wenn dieser Nano-Golem mit mir redete, ergab sich vielleicht doch noch die Chance, Informationen zu ergattern. Er kam näher, mit der flachen Seite des Schwerts lässig gegen den Oberschenkel klopfend. »Du wirst dieses Schiff nur als Leiche verlassen.« »Hör mal, ich weiß, dass ich unbefugt eingedrungen bin. Das ist nicht die feine Art, und ich entschuldige mich dafür. Aber da ich weder ein Verbotsschild missachtet
Atlan, Bote des Flammenstaubs noch ein Schloss geknackt, noch sonst etwas beschädigt oder entwendet habe, erscheint mir die Todesstrafe für ein solch geringes Vergehen doch unangemessen hoch.« Während ich diese Sätze heraussprudelte, wuchs meine Angst, und im selben Ausmaß wuchs Magantilliken. Er war nun schon mehr als doppelt so groß wie ich; ganz so, als nähre sich das grauenhafte Nano-Wesen von meiner Panik. Schweiß tropfte mir von der Stirn. Ich begriff, dass ein fataler Teufelskreis entstand. Je übermächtiger die Präsenz der Horrorgestalt wurde, desto größer meine Furcht, desto stärker wiederum Magantilliken … Riesenhaft ragte er vor mir auf. Starr vor Entsetzen, fühlte ich mich außerstande, davonzulaufen. Ich war gebannt, gefangen; wie in einem Albtraum, wenn du rennen willst, doch deine Beine versagen. »Knie nieder«, befahl der Henker, »und stirb!«
25 mentierte sarkastisch mein Logiksektor. »Aber was wollt ihr dann tun? Hier könnt ihr beim besten Willen nicht dauerhaft bleiben. Dann wird es wohl das Beste sein, ihr reist zu einer anderen Station.« Der Maulspindler machte sich offensichtlich Sorgen, die bunt zusammengewürfelte Armee könnte in Bälde doch zum Sturm auf XACK-331 ansetzen. »Nein.« Tuxit, der währenddessen unablässig hin und her getrippelt war, blieb stehen. Er schien sich zu einer Entscheidung durchgerungen zu haben. »Wir werden fliegen.« »Ausgezeichnete Idee«, höhnte ich. »Könnte von mir sein. Aber übersiehst du nicht eine Kleinigkeit? Wir besitzen kein Fluggerät. Oder willst du aus Maulspindlerfaden Ballonseide weben? Das dürfte die eine oder andere Woche in Anspruch nehmen.« Der Oberste Brüter überging meinen Spott. »Ich habe Flügel«, sagte er.
8. Bericht Atlan: Zwischen Hölle und Finsternis Peonus Armee, ein waffenstarrender Ring um den Tafelberg, verharrte stumm und lauernd. »In seiner Rede«, sagte Kozalack, der Maulspindler, »hat er denjenigen, die sich im Kampf besonders auszeichnen, hinterher bevorzugte Behandlung versprochen.« Ich nickte. »Mit anderen Worten: Falls wir uns da runterwagen, macht jeder einzelne der Soldaten Jagd auf uns. Und dabei hat Peonu sie betrogen, so wie unzählige andere Opfer vor ihnen. Denn er wird nicht mehr zurückkehren. Sie werden mit dem Verlust leben müssen.« Oder daran zugrunde gehen … »Kannst du ihnen das nicht einfach erklären? Vielleicht ziehen sie dann ab.« »Das glaube ich kaum. Sie sind dem Seelenhorter hörig und klammern sich verzweifelt ans letzte Quäntchen Hoffnung.« Hier weiß jemand, wovon er redet, kom-
* Ungläubig starrte ich den alten Rhoarxi an. »Du? Du willst fliegen? Noch dazu mit mir auf dem Rücken?« Er musste den Verstand verloren haben. »Wir kämen keine drei Meter weit.« »Täusche dich nicht, Atlan da Gonozal. Und unterschätze weder deine Feinde noch deine Freunde. Auch ich trage Flammenstaub in mir. Ich kann ihn zur Verstärkung nicht nur meiner geistigen Kräfte einsetzen, sondern auch meiner körperlichen.« Ich fasste es nicht. »Und damit rückst du erst jetzt heraus?« »Dieses … Doping ist nicht ganz ungefährlich für mich, zumal ich nicht mehr der Jüngste bin. Es wäre mir lieber, wir hätten eine andere Lösung gefunden. Da aber, wie du richtig bemerkt hast, eine solche nicht in Sicht ist, werden wir auf das Erbe meiner Vogel-Vorfahren zurückgreifen müssen.« Er breitete die Flügel aus, die mir viel zu klein erschienen, um ihn allein durch die
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Lüfte zu tragen, geschweige denn uns beide. »Bist du sicher, dass es funktionieren wird?« »Ziemlich.« Du wirst dran glauben müssen, spöttelte der Extrasinn. So oder so. Was blieb mir übrig, als Tuxit zu vertrauen und mich auf den Höllenritt einzulassen? Von einer anderen Gondelstation aus hatten wir nicht die geringste Chance, den Lutveniden noch einzuholen. Umgekehrt kamen wir im Flug, wie wackelig auch immer sich dieser gestalten mochte, wahrscheinlich deutlich schneller voran als am Boden. »Wie hat sich eigentlich Peonu von hier wegbewegt?«, fragte ich den Maulspindler. »Mit einem Drogg, dem größten Exemplar, das ich je gesehen habe. Einer seiner Untertanen hat es für ihn bereitgestellt.« »Ein weiterer Grund, schleunigst aufzubrechen«, keckerte Tuxit. »Also los, steig auf!«
* Ich erkundigte mich gar nicht erst, wann der Oberste Brüter zum letzten Mal von seiner Flugfähigkeit Gebrauch gemacht hatte. Es musste jedenfalls schon länger her sein als bloß ein paar Tage. Wir starteten von der Plattform der Station. Entgegen aller physikalischer Vernunft stürzten wir nicht sofort wieder ab, sondern schraubten uns, den leichten Aufwind nutzend, sogar noch einige Dutzend Meter in die Höhe. Dann ging Tuxit in einen keineswegs sanften Gleitflug über. Elegant sah das ganz sicher nicht aus. Mehr als einmal musste ich mich mit aller Kraft festhalten, um nicht von seinem Rücken gebeutelt zu werden. Als uns die Soldaten entdeckten, brachen sie in wütendes Gebrüll aus und eröffneten das Feuer mit allem, was sie hatten. Glücklicherweise waren wir für Wurfwaffen und die meisten Geschosse zu hoch. Einige Kanonenkugeln und zwei Dinger, die wie handgeschnitzte Boden-Luft-Raketen aussa-
hen, verfehlten uns. Dann hatten wir den Belagerungsring und die dahinter liegende Zeltstadt überquert. Sobald die Armee außer Sicht war, ging Tuxit tiefer und verlangsamte das Tempo seiner Flügelschläge. Er atmete pfeifend und rasselnd. An seinem Hals, um den ich die Arme geschlungen hatte, konnte ich spüren, wie sein Puls raste. »Verausgabst du dich nicht zu sehr?«, schrie ich in sein Ohr. »Geht schon … noch ein … Weilchen«, keuchte er. »Will den … Rest des … Tageslichts nutzen.« Unter uns erstreckte sich die endlose Savanne Karaporums. Ich hatte sie mit Ritz Toyd, Vischgret und der Hohen Frau Albia durchwandert und natürlich mit Jolo. Keiner meiner Weggefährten war mehr bei mir, sie alle waren auf der Strecke geblieben. Die meisten von ihnen waren getötet worden – um einiger Unzen eines Stoffes willen, der mich vermutlich ebenfalls umbringen würde. War es das wert? Bis weit in die Dämmerstunde hinein flog Tuxit. Erst als die Nacht anbrach, landeten wir. Der Rhoarxi war vollkommen ausgepumpt und zitterte vor Erschöpfung. Dennoch kündigte er an, nach einer Erholungspause von vier Stunden weiterfliegen zu wollen. Peonu fuhr mit dem Drogg, einer Art biologischer Lokomotive, sicherlich die Nacht durch. Wir verspeisten etwas von unserem Proviant. Der Oberste Brüter nahm mir das Versprechen ab, ihn unter allen Umständen zu wecken, wenn der Cueromb piepte. Er aktivierte auch seinen Bann-Emitter, um etwaige nächtliche Räuber abzuhalten.
* Ich fand keinen Schlaf. Zeit zum Ausruhen hatte ich während der elenden Gondlerei mehr gehabt, als mir lieb war. Nach wie vor spürte ich keine Auswirkungen des Flammenstaubs. Aber laut Tuxit
Atlan, Bote des Flammenstaubs sollten diese ja bei mir erst im Normaluniversum einsetzen. Wie mochte es sein, stets Glück zu haben? Auch ohne den Stoff aus dem »Ort zwischen den Orten« hatte ich mich bislang selten als Pechvogel gesehen. Im Gegenteil, das Schicksal war mir oft gewogen gewesen, zumindest in wirklich wichtigen Momenten, bei den entscheidenden, finalen Konfrontationen. Und wie würde es diesmal sein? Falls es nicht gelang, Peonu noch vor dem Transferschlauch abzufangen – würde ich ihn auf dem Asteroiden überwältigen können? Vielleicht war der Lutvenide ja längst verschwunden, wenn ich aus der Intrawelt dort eintraf. Dann würden auch die Lordrichter und ihr »Schwert der Ordnung« über Flammenstaub verfügen. Dann kamen schwere Zeiten auf Dwingeloo, Gruelfin und die gute alte Milchstraße zu … So brütete ich vor mich hin, immer wieder Attacken von Melancholie niederkämpfend. Grund zur Hoffnung gab mir einzig der Gedanke an Kythara. Sie würde gewiss auf meine Rückkehr warten. Aber was geschah, wenn sie auf Peonu traf, bevor ich den Asteroiden erreichte? Würde er sie nicht ebenfalls zum Seelenhäppchen machen? Er hatte ein Faible für attraktive Frauen. Gewöhnlich ertrugen sie seine Zuneigung nicht sehr lange: Bei der Einsiedelei hatte ich einen ganzen Friedhof voller ehemaliger Gespielinnen gefunden. Ich ballte die Hände bei der Vorstellung, der grausame Seelenhorter könnte sich an Kythara vergreifen. Sie bedeutete mir viel, vielleicht mehr, als ich mir bisher eingestanden hatte. Erst in jener Nacht kam mir das so richtig zum Bewusstsein. Ich empfand Erleichterung, als endlich der Weckton des Cuerombs erklang. Allein davon wäre Tuxit nicht aufgewacht; ich musste ihn ganz schön lang schütteln, bis er zu sich kam. »Tut mir Leid, mein Freund«, sagte ich. »Aber du hast mich ausdrücklich gebeten
27 …« »Schon gut.« Er gähnte herzhaft. »Willst du wirklich jetzt weiterfliegen?« »Jede Minute ist kostbar. Ich schaffe das schon.« »Es ist stockdunkel. Wie willst du dich orientieren?« »Der Cueromb enthält eine Art KompassFunktion. Er nimmt Kontakt zu Funkfeuern auf, die in der Schale der Welt verborgen sind.« »Ihr habt an alles gedacht, wie?« Tuxit seufzte. »Ich wünschte, das hätten wir.«
* Der Flug in der Schwärze der sternenlosen Nacht war ein eigentümliches Erlebnis. Als schwebe man durch ein Weltall, in dem es Atemluft gab. Obwohl mich fror, genoss ich es. Die Zeit schien stillzustehen, die ganze Intrawelt den Atem anzuhalten. Als sich weit, weit vorne ein rötlicher Schimmer zeigte, dachte ich für einen Moment, der Sonnenaufgang kündige sich an. Wie dumm! Hier kannte man keinen Horizont, und die Kunstsonne blieb immer am gleichen Platz im Zentrum der Hohlkugel. Aber was war dann das für ein Leuchten? Der Oberste Brüter drehte seinen Kopf nach hinten. »Ein Steppenbrand«, klärte er mich auf. »Das ist gut.« »Warum?« »Wegen der aufsteigenden Hitze. Direkt darüber würden wir geräuchert, aber in der Randzone fällt das Fliegen leichter. Mit etwas Glück bekommen wir sogar Rückenwind.« »Poricium, die nächste Parzelle, ist deutlich kühler. Wie funktioniert das eigentlich mit den Klimaunterschieden?« »Nicht jetzt. Muss Atem sparen.« Für eine gute Stunde flogen wir über einer zweigeteilten Welt. Zur Linken lag die Schwärze der Nacht; zur Rechten tobte das Savannenfeuer. Rechts die Hölle, links die Finsternis.
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Welch eine Alternative! Nicht gerade des beste Omen für deine Zukunft, Narr. Der Extrasinn. Was wäre ich ohne ihn … Die Kunstsonne sprang an und erreichte nach einer Dämmerstunde ihre volle Helligkeit. Drei Stunden später rief Tuxit die nächste Pause aus. In diesem Rhythmus ging es weiter. Acht Stunden Flug, dann halb so lange Rast. Mit der dritten Etappe erreichten wir den Grenzfluss Zanf, der Karaporum von Poricium trennte. Auf der anderen Seite erstreckten sich bewaldete Hügel. Je näher wir unserem Ziel kamen, desto verkniffener hielt ich nach Peonu Ausschau. Doch ich konnte weder ihn noch seine lebende Lok erspähen.
* »Ich fürchte, dein Einsatz war vergeblich, mein Freund«, raunte ich Tuxit ins Ohr, während wir auf die Lichtung einschwebten, auf der ich die Intrawelt betreten hatte. Vor der Basaltwand, in welcher der Transferschlauch mündete, stand das Drogg; tatsächlich ein wesentlich voluminöseres Exemplar als jenes, mit dem der Kaufmann Schuon gereist war. Von Peonu war nichts zu sehen. Am Fuß der Felswand lagen auf einem Haufen Kleidungs- und Ausrüstungsstücke. »Der ist weg«, sagte Tuxit müde und enttäuscht. Nachdem er aufgesetzt hatte und ich abgestiegen war, ließ sich der Rhoarxi zu Boden plumpsen wie ein nasser Sack. Ich hockte mich neben ihn. »Wir haben es zumindest versucht.« »Ein schwacher Trost.« Jetzt erst, da die Anspannung der Hetzjagd von ihm abfiel, zeigte sich, welchen Tribut der alte Rhoarxi gezollt hatte. Er wirkte abgezehrt, nur noch wie ein Schatten seiner selbst. Krämpfe schüttelten ihn. Vom Schnabel, durch den er röchelnd Luft einsog, troff von rötlichen Fäden durchzogener Schaum. Ich schwankte zwischen der Sorge um den Kameraden und dem Impuls, mich auf der Stelle in den Transferschlauch zu stür-
zen. Auch das Drogg war vollkommen abgekämpft und dampfte vor Hitze, ein Indiz dafür, dass wir Peonu nur knapp verfehlt hatten. Meine Augen suchten das Loch im Basalt – und fanden es nicht. Eine Einkerbung befand sich an der Stelle, die ich in Erinnerung hatte; aber kein goldenes Irisieren, kein sich drehender Schlund ins Nirgendwo. »Die Mündung«, sagte ich tonlos zu Tuxit. »Sie ist verschwunden.«
9. Kytharas Aufzeichnungen: Irrsinn hoch zwei »Du wirst dieses Schiff nur als Leiche verlassen.« Magantilliken, der Henker der Varganen, drohte mir mit dem Schwert. Seine titanische Präsenz erfüllte den metadimensionalen Innenraum und reduzierte mich auf ein schlotterndes Nervenbündel. Meine Selbstsicherheit und mein Stolz waren wie weggeblasen. Übrig blieb ein schutzloses Kleinkind, geschüttelt von kreatürlicher Furcht. Mit einem letzten Rest Rationalität erkannte ich, dass das Schiff es nicht darauf anlegte, mich durch die aus meinem Unterbewusstsein inspirierte Nano-Figur physisch hinzurichten. Vielmehr sollte ich zu Tode erschreckt werden, in den totalen Zusammenbruch getrieben. Darüber nachzudenken, warum das Abwehrsystem so programmiert war, wenn nicht aus purem Sadismus, besaß ich weder die Zeit noch die mentale Energie. Denn ich spürte, dass die Falle zugeschnappt war, dass sich die Schlinge rasch enger und enger zog. Ich hatte mich in einer letalen geistigen Umklammerung verfangen, in einer Rückkoppelungs-Schleife, die ich aus eigener Kraft nicht mehr durchbrechen konnte. Zur Angst vor dem Phantom, dem dämonischen Popanz aus der kollektiven Erinnerung meines Volkes, gesellte sich die Angst davor, noch mehr Panik zu entwickeln. Als wäre man in einem Backofen eingesperrt, dessen Temperatur sich erhöhte,
Atlan, Bote des Flammenstaubs je stärker man schwitzte. Unmöglich, aus diesem Teufelskreis zu entkommen. Ich war verloren; und ich sah es ein. »Du wirst dieses Schiff nur als Leiche verlassen.« Das bedeutete: Der Terror würde erst aufhören, wenn ich meinen Geist aufgegeben, meine Seele ausgehaucht hatte. Auf dieses Ende steuerten wir unweigerlich zu. Bald, sehr bald war es so weit. Ich fühlte es kommen. Der Wahnsinn griff nach mir, und alles, was ich ihm noch entgegenzusetzen hatte, war der sehnliche Wunsch nach schneller Erlösung, nach Vergehen im Nichts. Der Nano-Golem lachte triumphierend. »Es ist vorbei, Abtrünnige. Niemand entkommt Magantilliken. Kein Fluchtweg steht dir offen außer dem nach vorne: in den Tod.« Und so starb ich.
29 programms und zum Schein mein eigenes Hinscheiden akzeptierte. Mein Ich aber kollabierte nicht, sondern floh. Wie auch immer die Wandung des düsteren Raumers beschaffen sein mochte, sie setzte mir kein Hindernis entgegen. Angesichts der Effektivität der übrigen AbwehrEinrichtungen hatte der unbekannte Eigner darauf verzichtet, einen Paratronschirm oder dergleichen zu errichten. Aus der Erfahrung des ersten Mals wusste ich, dass ich meinen reinen Geist nur sehr kurze Zeit stabil zu halten vermochte. So, wie der allein gelassene Körper bald abzusterben drohte, würde auch mein Ich verwehen, wenn es sich nicht schleunigst anderswo einquartierte. Zum Glück befanden sich geeignete »Gastgeber« in unmittelbarer Nähe: Grdur/ Shmeli, die Hemeello.
* * Ich schlüpfte aus meinem Körper, streifte meine fleischliche Hülle ab. Bereits einmal war mir das gelungen, vor etwa zwei Monaten an Bord des Kardenmoghers. Allerdings hatte ich mich damals im Einflussbereich einer starken Psi-Quelle befunden. Nun, in höchster Not, ging mein Geist abermals auf Reisen. Es war eine Verzweiflungstat, doch die einzige Chance. In meinem hochgradig konfusen Zustand wäre ich gar nicht darauf gekommen, diese neu entdeckte Fähigkeit anzuwenden, hätte mir nicht die Magantilliken-Gestalt den entscheidenden Hinweis geliefert. Keinen Fluchtweg gab es, hatte der Henker betont, außer dem nach vorn, kein Verlassen des Mörderschiffes, es sei denn als Leiche – also als leblose, unbeseelte Zellballung. Daher ließ ich meinen Leib verwaist zurück, wie tot. Als bloßes Bewusstsein entzog ich mich dem psychisch-psionischen Würgegriff, indem ich den Sieg des Verteidigungs-
In die Zweiheit einzudringen fiel mir leicht; mich darin zu behaupten umso schwerer. Dabei reagierte das Dualwesen nach einer Schrecksekunde durchaus wohlmeinend und hilfsbereit. Es nahm mich erfreut auf, wehrte sich nicht gegen meine ungebetene Anwesenheit; jedenfalls nicht vorsätzlich. Doch die Doppelgleisigkeit seines Denkens begann an mir zu zerren und mein Bewusstsein ohne böse Absicht entzweizuspalten. Hätte ich entweder bei Grdur oder bei Shmeli Unterschlupf finden können, wäre das womöglich eine interessante, erbauliche und nach dem Horror der Psycho-Falle sogar erholsame Erfahrung geworden. So aber kam ich, wie Atlan gesagt hätte, vom Regen in die Traufe. Der pausenlose Dialog der beiden Gehirne, die durch die Kopfschnur zur mentalen Zweiheit verbunden waren, drängte mein daran nicht gewöhntes, singuläres Ego in die Schizophrenie. Dem Wahnsinn eben erst entronnen, rang ich erneut darum, nicht ver-
30 rückt zu werden. Hemeello sahen, hörten, rochen nicht. Umso intensiver verarbeiteten sie die Wahrnehmungen des Tastsinns und die ebenfalls taktil übermittelten Informationen ihres Bordrechners. Ich fühlte all das mit, und zwar doppelt, als schiele meine gesamte Hautoberfläche. Der Effekt war unbeschreiblich, eine Reizüberflutung sondergleichen, irre im wahrsten Sinn des Wortes. Beinah jede Orientierung ging mir verloren. Es grenzte an ein Wunder, dass ich überhaupt etwas von dem mitbekam, was um mich geschah. Das Raumboot der Hemeello meldete, dass eine undefinierbare schwarze Masse sich aus dem düsteren Schiff ausstülpte, blitzschnell in die Länge streckte und sofort wieder zurückzuckte. Der Fortsatz hatte, etwa in der Mitte zwischen den drei Vehikeln, einen Körper in einem Schutzanzug abgelegt. Meinen Körper! Das Abwehrprogramm hatte sich, wie der Pseudo-Mantilliken angedeutet hatte, der Leiche entledigt. Keine Sekunde zu früh. Immens erleichtert entwich ich aus Grdur/Shmelis Zweiheit und kehrte in meinen eigenen Leib zurück. Psyche wie Physis waren schwer angeschlagen. Was Wunder nach dem, was ich durchgemacht hatte: Nur um Haaresbreite war ich dem Verderben entgangen. Ach, es tat so gut, wieder ich selbst zu sein, wieder ganz bei mir … Aber hier durfte ich nicht liegen bleiben. Obzwar gerettet, war ich noch keineswegs in Sicherheit. Ich versuchte, auf die Beine zu kommen; vergeblich. Auch der Antigrav ließ sich nicht aktivieren. Dass wenigstens die Lebenserhaltungssysteme des Anzugs funktionierten, davon konnte ich mich gerade noch überzeugen. Ich kroch auf allen vieren, wenige Meter weit. Dann holte mich die Erschöpfung ein, und ich fiel in Ohnmacht.
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* Ich erwachte mit fürchterlichen Kopfschmerzen. Außerdem bekam ich kaum Luft. Der Gestank drohte mir gleich wieder die Sinne zu rauben. Schlimmes ahnend, schlug ich die Augen auf. Sah zuerst nichts, weil sie so verklebt waren. Wischte sie mit den Fingern frei. Dann starrte ich entsetzt meine bloßen Hände an. Sie steckten nicht in Handschuhen. Mein nackter Körper schwamm in warmer Jauche. Nur mein Kopf wurde durch eine Art Kissen, das den Hals umschloss, über der zähen, schleimigen, erbärmlich stinkenden Pampe gehalten. Ich schloss die Augen, hoffte inständig, dass sich dies als schlechter Traum herausstellen würde; und wusste doch, dass ich bei vollem Bewusstsein war – und im Schiff der Hemeello. Himmel! Alles, nur das nicht … Einige Sekunden und mehrere würgende Atemzüge benötigte ich, bis ich mich imstande sah, mich meiner Situation zu stellen. Offenbar war ich in bewusstlosem Zustand von Grdur/Shmeli geborgen worden. Aber warum hatten sie mich entkleidet? Dass mein Anzug, wahrscheinlich wegen der Nachwirkungen der Störstrahlung im Oktaeder, nichts dagegen unternommen hatte, konnte ich mir zusammenreimen. Die Beweggründe des Dualwesens hingegen waren mir schleierhaft. Ich drehte vorsichtig den Kopf, damit möglichst wenig von der Schlammbrühe in mein Gesicht schwappte, und blickte mich um. Der in mattes grünes Licht getauchte Raum erstreckte sich viele Meter weit; jedenfalls mehr als neun, was der Durchmesser eines der Segmente des Hantelboots gewesen wäre. Mir wurde klar, was das bedeutete. Erneut kämpfte ich gegen Schock, Ekel und Verzweiflung an. Ich befand mich im Hauptschiff! Wie lan-
Atlan, Bote des Flammenstaubs ge schon? Was hatte, wer immer hier die Befehle gab, mit mir vor? Etwas behinderte die Bewegung meines Kopfs. Ich griff hinauf und ertastete keine Haare, nur Stoppeln. Sowie, aus dem höchsten Punkt meines Schädels entspringend, eine weiche, biegsame Röhre. Die bebenden Finger glitten daran entlang, immer weiter … Mit einem Schrei riss ich den Kopf in den Nacken. Das weißlich schillernde, darmähnliche Gebilde spannte sich mehrere Meter nach oben, bis es in der Decke verschwand. Eine Stimme erklang in meinem Gehirn: Wie schön, dass du endlich wach bist, o künftige Gemahlin.
10. Lose Chronik der Hemeello: Das letzte Experiment Nachdem wir auf dem Asteroiden gelandet waren und der heuchlerische Findling sich abgesetzt hatte, blieb die Vielheit in der Fünfheit bestürzt und konfus zurück. Das Gleichgewicht, über unzählige Generationen aufs Feinste austariert, war gestört, an die Stelle der sphärischen Harmonie eine beständig anschwellende Missstimmung getreten. Etliche Zweiheiten plädierten dafür, die Sternengeburtswolke unverzüglich zu verlassen und, wie vormals geplant, Kurs auf die Sicherheit des Leerraums zwischen den Galaxien zu nehmen. Dies scheiterte jedoch am Machtwort von Bölv/Haiciez und einigen anderen, die sich inzwischen im Bereich der Hauptzentrale der Fünfheit festgesetzt hatten. Die Mehrheit der Vielheit war ihnen ausgeliefert, denn sie kontrollierten den Verbundrechner und somit das gesamte Schiff. Dass eine Minderheit von Zweiheiten die Herrschaft über die Allgemeinheit an sich riss, war in der bekannten Geschichte unseres Volkes ohne Beispiel. Daher gab es auch keinerlei Schutzvorkehrungen gegen diesen Putsch, der die fein ausgeklügelte innere Ordnung vollends aus den Angeln hob.
31 Wobei keineswegs die gesamte Bevölkerung den Umsturz als solchen registrierte: Viele Zweiheiten durchliefen gerade die hormonelle Phase des Rückzugs in die Privatheit, viele andere vollzogen jene Periode, während der wir nur in sehr kleinen Zirkeln verkehrten. Diejenigen extrovertierten Zweiheiten, welche gegen Bölv/Haiciez aufbegehrten, wurden mit nie gekannter Brutalität zurückgewiesen und diszipliniert. Was war in die selbst ernannten Führer gefahren? Was trieb sie nur dazu, gegen die Interessen der Vielheit auf dem öden Felsbrocken zu verweilen? Nun, sie waren nicht mehr ganz bei Trost, nicht länger vollständig. Der Schiffbrüchige, der keiner war, hatte ihnen einen Teil ihres Selbst entwendet. Damit zwang er sie, auf seine Rückkehr zu harren und währenddessen in seinem Sinne zu agieren. Ob die folgenden Frevel von ihm initiiert worden waren oder aber ganz allein der Verstörtheit der Gruppe um Bölv/Haiciez entsprangen, entzieht sich unserer Kenntnis. So oder so begann das Volk der Hemeello, sich auf eine Weise zu versündigen, die unserem pazifistischen Charakter ganz und gar zuwiderlief.
* Wenn, so lautete die Überlegung der Tyrannen, das Unheil von außen gekommen war, also daraus resultierte, dass wir einen Fremden aufgenommen hatten – dann ließ sich eventuell auf ähnlichem Wege auch Heilung finden, oder nicht? Alle Zweiheiten, die sich in der Periode des Erkundungsdrangs befanden, wurden über den Asteroiden ausgeschickt. Wir suchten andere Lebensformen. Wir machten regelrecht Jagd auf sie. Viele waren es nicht, die sich auf dem Trabanten niedergelassen hatten, weil sie ähnlich wie Wir auf die Wiederkunft einer Bezugsperson hofften. Die wenigen aber fanden wir, überlisteten sie auf diese oder jene Weise und brachten sie an Bord der Fünf-
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heit. In der vierten Sphäre hatte der Rechner, selbstverständlich auf Anweisung von Bölv/ Haiciez, ein xenomedizinisches Großlabor eingerichtet. Hier setzte man den betäubten Fremden Kopfschnüre ein. Die Idee dahinter war, sie zusätzlich in eine Zweiheit einzubinden, also eine Dreiheit zu schaffen. Wenn es gelang, dergestalt Bewusstseinskomponenten zu integrieren, vermochten vielleicht die Lücken geschlossen zu werden, die der gemeine Seelendieb verschuldet hatte. Dann waren Bölv/Haiciez und die übrigen Betroffenen nicht mehr von dessen Gnade abhängig, und wir konnten uns endlich wieder aus der Sternengeburtswolke und der Galaxis Dwingeloo zurückziehen. Dieses Endziel teilte die Vielheit. Obgleich zahlreiche Zweiheiten keineswegs die Auffassung vertraten, der Zweck heilige die Mittel, ließen sich die meisten Mobilen dafür einspannen. Möge uns die kosmische Geschichte verurteilen – aber wir wollten einfach nur weg, zu unserem geruhsamen Leben in konfliktfreier Abgeschiedenheit zurückkehren.
* Die Experimente mit den Fremdwesen verliefen nicht gut. Über kurz oder lang siechten sie allesamt dahin, obwohl wir ihnen nur beste Nahrung zuführten und umsichtige Pflege im bequemsten Schlammpfuhl angedeihen ließen. Aber wir besaßen nun mal keine Erfahrung im Umgang mit Andersartigen. Umgekehrt waren sie offenbar nicht für das zweioder mehrheitliche Denken geschaffen. Inzwischen hatten wir den Asteroiden, sieht man vom Raumer unseres Peinigers und der unzugänglichen Baracke des Krakenwesens ab, entvölkert. Unsere Zuversicht war auf den Nullpunkt gesunken. Wir schienen tatsächlich der Willkür des Seelendiebs ausgeliefert. Da landete direkt neben dessen Düsterschiff ein neuer Kleinraumer. Die Pilotin
zeigte sich nicht bloß kommunikativ, nein, sie stellte auch die seltene Fähigkeit unter Beweis, ihren Geist kurzfristig in eine Hemeello-Zweiheit zu versetzen! Damit brachte sie unzweifelhaft bessere Voraussetzungen für die Einbindung in eine Dreiheit mit als alle Versuchspersonen vor ihr. Es wäre sträflich gewesen, diese Gelegenheit verstreichen zu lassen. Ebenso wie bei ihren Vorgängern nahm die Einpflanzung der Kopfschnur eine längere Zeitspanne in Anspruch, während deren wir die Einheit, die sich Kythara nannte, im künstlichen Koma hielten. Erst als die Abstoßungsreaktionen des Gewebes überwunden waren, erweckten wir sie aus der Narkose. Sie zeigte sich nicht erfreut.
* Ihre Proteste waren verständlich, jedoch fruchtlos. Sie stellte unsere letzte Hoffnung dar, uns von dem verbrecherischen Seelenfresser zu emanzipieren. Kytharas Organismus vertrug das Implantat einwandfrei. Die wenigen Geschwüre ihrer Oberhaut sprachen ausgezeichnet auf unsere Behandlung mit Wundschlick an. Auch der Stoffwechsel funktionierte zufrieden stellend. Ihr Geist allerdings rebellierte einige Zeiteinheiten lang. Wir sedierten nicht, sondern warteten einfach ab. Dies erwies sich als richtig. Nachdem er sich ausgetobt hatte, versank er in Passivität. Eine weitere Flucht aus dem eigenen Körper versuchte er nicht. Nun wurde die Kopfschnur, die bislang an einen Nährtank angeschlossen gewesen war, mit jener von Bölv/Haiciez gekoppelt. Eine entsprechende Schnittstelle war ja seit den früheren Anläufen vorhanden. Den Ritus der Vermählung, wie er üblicherweise bei der Geburt einer neuen Zweiheit stattfindet, ließen wir entfallen; die aufwändige Zeremonie hatte bei keinem der Vorgänger etwas gebracht. Bölv/Haiciez zeigten sich anfangs ent-
Atlan, Bote des Flammenstaubs täuscht, weil sich Kythara keineswegs so kontaktfreudig verhielt wie bei der zweimaligen Begegnung mit Grdur/Shmeli. Ihr Bewusstsein schottete sich gegen das der Zweiheit ab, und als es die Barriere nicht länger aufrechterhalten konnte, wich es in den hintersten Winkel seiner Singularität zurück. Auch entzog es sich oft und oft der Einflussnahme, indem es eine Ohnmacht induzierte. Immerhin, die psychosomatische Allianz blieb bei zureichender Gesundheit. Der Kythara-Teil magerte nur wenig ab und entwickelte kaum nennenswerte Gebrechen. So erfreulich war keines der früheren Experimente verlaufen. Das Ziel schien greifbar nahe, seine Erreichung bloß noch eine Frage der Geduld. Erstmals verbreitete sich in der Vielheit der Fünfheit wieder so etwas wie Optimismus. Da kehrte der schreckliche Seelenräuber zurück.
* Euphorie erfüllte die Wohntümpel derjenigen, welche zur Allgemeinheit Verbindung hielten. Nun konnte die unfreiwillige Anhaltung so oder so nicht mehr lange währen. Dachten wir. Der diebische Findling jedoch rückte seine Beute nicht heraus. Nicht sofort; zuvor forderte er einen weiteren Dienst. Er werde nämlich, behauptete er, von einer anderen, noch ungleich bösartigeren Einheit verfolgt. Deren Nachstellungen vermöge er sich allein nicht zu erwehren. Wir mussten ihm gegen diese äußerst gefährliche Person Beistand leisten, zumal sie unverhohlen Mordabsichten hege. Bei dieser Aussage ging ein bestürztes Vibrieren durch die Fünfheit. Wiewohl sich der Findling mitnichten als Wohltäter erwiesen hatte – er durfte auf keinen Fall einem Anschlag zum Opfer fallen, sollten die entwendeten Seelenfragmente nicht unwiederbringlich verloren sein. Eifrig sicherten wir ihm vollste Unterstüt-
33 zung zu und gelobten, seine Anweisungen peinlich genau zu befolgen.
11. Bericht Atlan: Ein Abschied für immer? Meine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Peonu war entkommen; wie es aussah, endgültig. Denn die Mündung des Transferschlauchs existierte nicht mehr. Tuxit rappelte sich hoch und starrte ebenfalls zur Basaltwand hinüber. Schwankend hantierte er mit dem Cueromb. »Du irrst«, krächzte er. »Teph benötigt nur eine gewisse Regenerationszeit. Anschließend wird die Übertrittsmöglichkeit wieder gegeben sein.« »Bist du sicher? Was hat die Befindlichkeit des Kraken damit zu tun?« »Sein Volk wurde von den Rhoarxi speziell für diese Aufgabe entworfen und gezüchtet.« »Das musst du mir etwas genauer darlegen.« Er seufzte. »Diese Lebewesen weilen gleichzeitig auf verschiedenen Daseinsebenen. Der Transferschlauch entspricht einer hyperdimensionalen Extremität, die infolge exakter genetischer Kalibrierung den Normalraum mit der Intrawelt verschränkt.« »Die … Brücke ist ein Körperteil von Teph?« »Ja. Er ernährt sich dadurch aus dem Hyperraum, obwohl er auf dem Trabanten manifestiert ist.« »Die Intrawelt besitzt demnach eine andere Strangeness als das Normaluniversum?« »In der Tat. Daher resultieren auch gewisse Anpassungsschwierigkeiten.« Toll, dass man endlich einmal etwas Konkretes erfährt, ätzte mein Logiksektor. Jetzt, da es nicht mehr wichtig ist … Ich kämpfte die Mutlosigkeit, die er evozierte, nieder und fragte den Obersten Brüter: »Wie lange? Wann kann ich dem Schurken hinterher?« »In einigen Stunden, denke ich. Nach ei-
34 nem Transport in die Gegenrichtung, der ja eigentlich gar nicht vorgesehen und für Teph sehr unangenehm ist, muss sich seine ›Hypermuskulatur‹ unbedingt erst wieder ausreichend entkrampfen. Würdest du den Transfer früher erzwingen, so wäre dies dein sicheres Ende.« »Hm. Und was geschieht, falls Peonu, sobald er draußen wieder bei Sinnen ist, den Kraken einfach killt?« Tuxit stieg unsicher von einem Fuß auf den anderen. »Bis Ersatz installiert wäre, müsstest du hier verbleiben. – Aber so leicht ist Teph nicht auszuschalten.« »Klar. Immerhin habt ihr ihn erschaffen – während Peonu bloß das Produkt einer chaotarchischen Kaderschmiede darstellt.« Wütend trat ich nach einem Pilz, der in einer Wolke aus Sporen verging. Der Rhoarxi senkte den Schnabel auf die Brust und nuschelte: »Wir alle haben Fehler begangen und Schuld auf uns geladen.« Ich atmete tief durch. »Verzeih. Ich wollte dich mit meinem Zynismus nicht verletzen. In Wirklichkeit übertünche ich so meine Selbstvorwürfe. Schließlich habe ich den Lutveniden zum Flammenstaub geführt und bin indirekt für zukünftige Katastrophen verantwortlich.« Tuxit widersprach nicht. Er setzte sich auf einen Baumstrunk und fing an, greisenhaft tatterig sein Gefieder zu putzen. Ich ging zu der Stelle, wo Peonus Bündel lag, und wollte mich schon danach bücken, als ich einen haarfeinen Draht entdeckte, der sich zur daneben stehenden Bio-Lok spannte. Alarmiert hielt ich inne, dann bewegte ich mich rückwärts, sorgsam darauf bedacht, keine Erschütterung zu verursachen. »Vorsicht. Lass uns lieber in Deckung gehen.« Ich zog Tuxit hinter einen der Baumstämme am Rand der Lichtung. Dann hob ich eine faustgroße Frucht auf und warf sie nach dem Bündel. Die Explosion blendete mich, dann schleuderte uns die Druckwelle ins Unterholz.
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* »Der Kerl nützt wirklich jede Chance, seine Perfidie unter Beweis zu stellen«, schnarrte Tuxit mürrisch, nachdem ich ihm wieder auf die Beine geholfen hatte. Wir waren unverletzt geblieben. Vom Drogg und dem Rest der Ausrüstung des Lutveniden aber waren nur noch rauchende Fetzen übrig. »Kannst du nachvollziehen, dass ich ihn manchmal um seine Skrupellosigkeit beneide?«, fragte ich. »Ich meine, es ist irgendwie unfair. Die Bösen dürfen immer alles. Wir Guten hingegen müssen …« »Gib Acht, Atlan da Gonozal, dass du diesen Unterschied nie vergisst. Wenn du draußen bist und allmählich die Wirkung des Flammenstaubs einsetzt …« In seinen Augen funkelte es. »Schwöre mir, deine Macht nur nach reiflicher Überlegung zu nutzen!« Verwundert ob des plötzlichen Pathos, tat ich ihm den Gefallen. Hatte er mir etwa schon wieder einen wichtigen Teil der Wahrheit verschwiegen? Mittlerweile war das Loch im Basalt neu entstanden; ein schwaches Irisieren und eine leichte Rotation hatten eingesetzt. »Noch etwa zwei Stunden«, beantwortete der Rhoarxi meinen fragenden Blick. »Könntest du mich eigentlich nach draußen begleiten? Schließlich ist die ganze seltsame Vorrichtung euer Werk.« »Theoretisch ja. Aber ich wäre dir, da mir dort vollends die Orientierung fehlt, keine Hilfe. Außerdem ist mein Platz in der Intrawelt, am Steuer der Wanderstadt Aspoghie.« »Akzeptiert. Wir werden uns also nicht wiedersehen?« »Ein weiteres Treffen ist so gut wie ausgeschlossen. Die Intrawelt sollte in einigen Jahrzehnten, maximal Jahrhunderten fertig gestellt sein. Aber schon lang davor werden wir den Zugang endgültig verschließen.« Ihm sei bewusst, fuhr Tuxit fort, dass viel Wiedergutmachungsarbeit auf sein Volk zukäme. Sie hatten manches schleifen lassen,
Atlan, Bote des Flammenstaubs andererseits allzu rigorose Maßnahmen gesetzt und in vielen Punkten das Maß des moralisch Vertretbaren bei weitem überschritten. »Wir verhindern, dass jemand seine Technologie über ein bestimmtes Niveau hinaus entwickeln kann. Umgekehrt erlegen wir unserer eigenen Gentechnik keinerlei Einschränkungen auf. Zu guter Letzt stellen wir wie selbstverständlich Forderungen und Bedingungen, ohne die Mitbewohner der Intrawelt über das Warum zu informieren. So kann das nicht weitergehen.« »Oho! Wirst du auf deine alten Tage zum Revolutionär?« »Warum nicht? Mir bleibt nicht mehr viel Lebenszeit; die möchte ich nützen. Ich bin willens, auf sanfte, aber entschiedene Weise einiges zum Besseren zu verändern. Große Umwälzungen darf man freilich so schnell nicht erwarten, zumal die Obersten Brüter von Zirnatim und Benenses auch noch ein Wörtchen mitzureden haben.« »Wenn jemand eine Wende einleiten kann, dann du, mein Freund. Ich wünsche dir dafür aus ganzem Herzen alles Glück dieser wunderbaren Welt.« Der Rhoarxi kröpfte gerührt auf. »Sie hat dir also doch ein wenig gefallen?« »Na ja. Unter einem Paradies stelle ich mir etwas anderes vor. – Aber im Großen und Ganzen ist euch dieses Monstrum ganz gut gelungen. An den Details solltet ihr allerdings noch ein wenig feilen.« »Das werden wir. Ich bin, nicht zuletzt nach der gemeinsamen Reise mit dir und der Hohen Frau Albia, fest entschlossen, allen Bewohnern der Intrawelt ein Leben in Würde und Selbstbestimmung zu ermöglichen.« »Wohl gesprochen, alter Gockel. Und danke für alles!« Unbeholfen umarmten wir uns. Ich würde den komischen Vogel vermissen, den ich als Erzähl-Sklaven kennen gelernt hatte und von dem ich mich nun als Oberster Instanz der gewaltigen Kunstwelt verabschiedete. Die Mündung des Transferschlauchs leuchtete wieder mit voller Kraft. Bevor mir
35 der Anblick des schwarzgoldenen, sich rasant drehenden, scheinbar in die Unendlichkeit führenden Lochs die Besinnung rauben konnte, riss ich mir die Kleider vom Leib und warf mich hinein.
* Ich tauchte in Lichtkaskaden. Ein Feuerwerk aus Farben und Helligkeitsstufen empfing mich, durchströmte mich, zerlegte mich in einzelne Körperzellen, Moleküle, Atome, Elementarteilchen, in pure Energie. Der Übergang ging faszinierend langsam vonstatten, ganz anders als bei einer Teleportation, Transition oder sonstigen mir vertrauten Formen der Bewegung durch den Hyperraum. Ich empfand das Paradoxon einer »gebremsten Zeitlosigkeit«, eines »verzögerten Null-Moments«. Die unendlich vielen Teile meiner Existenz drifteten auseinander und davon. Das war auch beim Transfer in die Intrawelt so gewesen. Doch während ich mich damals auf einer Woge unendlichen Wohlbefindens reitend gefühlt hatte; in ewiger Wonne unzerstörbarer Seligkeit geschwebt war; mich all der Wunder der Schöpfung entsonnen hatte, die zu bestaunen mir je vergönnt gewesen war; ja sogar vermeint hatte, für einen Augenblick Einsicht in die Weisheit und Herrlichkeit des ewigen kosmischen Plans nehmen zu dürfen – während ich also diese fantastische Reise genossen hatte wie kaum ein Erlebnis zuvor, löste der Übertritt zurück ins Normaluniversum völlig gegensätzliche Wahrnehmungen und Gefühle in mir aus. Qualen litt ich. Pein widerfuhr mir, weit jenseits jeglichen menschlichen oder arkonidischen Vorstellungsvermögens. In dieser Richtung war der Transfer kein sanftes Gleiten, sondern eine Marter, eine Schinderei, ein Ringen um jedes Quäntchen Raumgewinn. Das unbegreifliche Medium, in dem und als Teil dessen ich mich voranplagte, setzte mir heftigen Widerstand entgegen. Das Äquivalent einer Reibung auf höherdimensionaler und zugleich mikrokosmischer
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Ebene fügte mir myriadenfachen Schmerz zu. Wieder wurden Visionen ausgelöst, aber diesmal ausschließlich Erinnerungen negativer, niederschmetternd trauriger Natur. Alles, was ich in meiner langen Lebensspanne verdrängt oder als einigermaßen bewältigt niedergehalten hatte, kam wieder hoch. Sämtliche Gespenster der Vergangenheit suchten mich heim. Das Fegefeuer der terranischen Mythologie – ich kann mit Fug und Recht behaupten, es durchlitten zu haben.
* Hinzu kam – als hätte es einer weiteren Steigerung bedurft! – die Erkenntnis, dass ich nicht nur gegen ein hyperphysikalisches Phänomen ankämpfte, sondern auch gegen eine konkrete Person: Teph. Die Kreatur, die sich im Normalraum als Krake darstellte, lehnte mich ab, wollte mich nicht. Nicht entgegen der üblichen, »natürlichen« Flussrichtung. Nicht so kurz nach einem anderen »verbotenen« Transfer. Und schon gar nicht mit dem Stoff, den ich in mir trug, der sich in meinem Innersten eingenistet hatte: Flammenstaub. Obwohl körperlos, nahm ich die Substanz wahr, und ich spürte die Intensität, mit der sich Teph dagegen wehrte. Auch ahnte ich, dass dies kein bloßes Kräftemessen war, sondern vielmehr ein Kampf auf Leben und Tod. Ich begriff: Indem ich die Überfahrt erzwang, schädigte ich ungewollt das Wesen, das Fährmann und Fähre zugleich verkörperte. Ich brachte Teph an den Rand seiner Existenz. Es hieß er oder ich, und das war uns beiden bewusst. Wie lange wir rangen, hätte ich nicht zu sagen gewusst. Vielleicht gab den Ausschlag, dass der Hyperkrake vom Rücktransport Peonus geschwächt war; oder es lag an meiner Ritteraura, dem unsichtbaren Mal der Kosmokraten. Außerdem hatte es immer ge-
heißen, nur wer schon hinter den Materiequellen war, dürfe die Intrawelt wieder verlassen. Diese Bedingung erfüllte ich; dennoch verlangte mir die Tortur, der Teph mich aus reinem Selbsterhaltungstrieb unterwarf, das Letzte ab. Nett von dir, gegenüber deinem Folterknecht auch noch ein schlechtes Gewissen zu entwickeln, höhnte eine bekannte Stimme. Wie auf der Hinreise durchbrach auch jetzt der Logiksektor die Absolutheit der mich umgebenden Irrealität. Nur war ich diesmal ungleich dankbarer, dass er das Ende des Transfers ankündigte. Aus dem Allesnichts entstanden wieder Elemente, Fasern, Sinne, Massen. Das grenzenlose Unglück zersplitterte und entschwand. Erleichterung, Erleuchtung, Licht kehrte zurück, umspülte mich, schwemmte mich voran, hinweg, hinaus. Ich war wieder ich. Hart schlugen Kopf und Schulter auf, doch der Schmerz erschien mir lächerlich gegen das, was ich eben durchgemacht hatte. Ich besaß wieder eine Stimme. Daher schrie ich, bis meine Lungen brannten.
12. Kytharas Aufzeichnungen: Drei, zwei, eins … Wir waren nun zu dritt, und wir machten alles gemeinsam. Als Bölv/Haiciez/Kythara, die Dreiheit. Weiterhin gelang es mir, notfalls durch »Selbstausschaltung«, die intimsten persönlichen Bereiche meines Bewusstseins vor den Anführern der Hemeello zu verstecken, ihnen den Zugang zu meinem Gedächtnis zu versperren. Meine Seele bekamen sie nicht; wohl aber erzwangen sie Zugriff auf meine untergeordneten Hirnregionen und damit die Möglichkeit, meinen Körper beliebig zu steuern. Es gehört zu den schaurigsten Erfahrungen, in wachem Zustand mitzuerleben, wie der eigene Leib von einem fremden Willen
Atlan, Bote des Flammenstaubs beherrscht wird. Noch dazu von einem exotischen Dualwesen, das völlig andere Lebensumstände gewohnt ist und so gut wie keine xenopsychologische Vorbildung besitzt! Es war, als zupfe jemand an den Fäden einer Marionette, der ihre Funktionsweise nur mangelhaft verstand und sie ständig verhedderte. Hätte ich nicht immer wieder korrigierend eingegriffen, ich wäre hundertmal ertrunken, zu Tode gestürzt oder von meinen eigenen Armen stranguliert worden. Eines allerdings muss ich Bölv/Haiciez zubilligen: Sie versuchten nie absichtlich, mich mittels solcher Zwischenfälle aus der Reserve zu locken, um daraufhin überfallartig ihr Bemühen um vollkommene Vereinigung zu intensivieren. Auch erpressten sie mich nicht, drohten niemals mit Mord. Derlei Perfidie kannten sie schlichtweg nicht. Dabei hätten sie mit Leichtigkeit, durch wenige Gedankenbefehle, beispielsweise mein Herz überlasten oder meinen Atem zum Stillstand bringen können. Aber sie wollten mich ja lebend und in optimalem Zustand. Also wozu mich misshandeln? Falschheit war ihnen fremd. Tötungsabsicht vorzugeben, um mich zur Aufgabe meiner geistigen Barriere zu nötigen, kam ihnen deshalb gar nicht in den Sinn. Ich hütete mich weidlich, sie auf entsprechende Ideen zu bringen … Was sie mir in bester Absicht antaten, war ohnehin schlimm genug. Wir machten alles gemeinsam. Als grotesker Basilisk staksten und dümpelten wir kreuz und quer durch die fünf Kugeln des riesigen Verbundschiffs. Wir schliefen und aßen zusammen, und natürlich erledigten wir auch alle übrigen täglichen Verrichtungen in trauter Dreisamkeit. Wobei pikanterweise nur ich sehen, hören und nicht zuletzt riechen konnte. Wenn Bölv/Haiciez sich genießerisch suhlten, wollte ich am liebsten aus der Haut fahren. Das hätte ich wohl auch getan, wenn ich es vermocht hätte. Aber alle meine Versuche, kurzfristig Geist und Körper zu verteilen, scheiterten kläglich; keine Ahnung, woran.
37 Vielleicht war ich einfach zu zerrüttet von der nicht enden wollenden Mühsal. Denn obwohl sich die Hemeello rechtschaffen anstrengten, mir den Aufenthalt in ihrem Generationenschiff so heimelig wie möglich zu machen – unsere Vorstellungen von Gemütlichkeit und Wohlbehagen unterschieden sich denn doch frappierend. Urlaub war das jedenfalls keiner. Auch keine Schönheitskur. Vor dem, was mir entgegenglotzte, wenn wir an spiegelnden Flächen vorbeikamen, grauste mir beinahe ebenso sehr wie vor allem Übrigen.
* Es versteht sich, dass ich rund um die Uhr Fluchtpläne entwarf. Ich musste hier raus, unbedingt, eher heute als morgen. Wie viel von der Frist, die ich mir und Atlan gesetzt hatte, bereits verstrichen war, wusste ich nicht. Der Großteil, befürchtete ich. Zwar hegte ich keine Zweifel, dass sich der Arkonide nach seiner Rückkehr auf die Suche nach mir machen würde. Aber konnte er mich denn finden? Anhaltspunkte hatte er so gut wie keine. Meine über die bei Teph deponierte Nachricht hinausgehenden Aufzeichnungen waren nur im Syntron des Raumanzugs gespeichert. Als ich die DYS-116 zuletzt aufgesucht hatte, war es mir nicht notwendig erschienen, das Logbuch des Beiboots zu aktualisieren. Ich hatte ja noch kaum Ergebnisse vorzuweisen gehabt, und die Hemeello hatte ich als harmlos und relativ unbedeutend eingestuft. So kann man sich täuschen … Auf Atlan verließ ich mich also besser nicht. Ich musste mich aus eigener Kraft befreien. Nur wie? Selbst wenn ich es schaffte, Bölv/Haiciez zu übertölpeln – etwas sagte mir, dass die Durchtrennung und Entfernung der Kopfschnur eine Operation darstellte, die man lieber nicht unsachgemäß durchführen sollte. Zweitens brauchte ich meine Montur, wo
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immer sie sich derzeit befinden mochte. Drittens musste ich zuvor lernen, mich wenigstens so weit in dem Gigantraumer zurechtzufinden, dass ich so etwas wie einen Fluchtweg überhaupt entwerfen konnte. In Summe waren es keine sonderlich guten Karten, die ich in der Hand hielt, von Trümpfen gar nicht zu reden. Dennoch machte ich mein Spiel.
* Einen einzigen Punkt gab es, in dem ich meinen Entführern gegenüber einen Vorteil besaß: Heimtücke. Selbst Bölv/Haiciez, die binnen kurzer Zeit mehr Gesetze ihres Volkes gebrochen hatten als die meisten Generationen vor ihnen, begegneten mir naiv und leichtgläubig. Generell waren die Hemeello, wohl wegen ihrer lebenslangen dualen Vertrautheit, zu ungefähr so viel Argwohn fähig wie ein varganischer Säugling. Mit anderen Worten: Ich hatte nur dann eine Chance, wenn ich sie schamlos ausnutzte und übertölpelte. Um sie überlisten zu können, musste ich allerdings mehr Kontakt, mehr geistigen Austausch zulassen. Und das, ohne meine hinterhältigen Absichten zu verraten. So begann ein nervenzerfetzendes, minuziöses Taktieren. Mit aller Konzentration und Präzision, die ich in dieser unerquicklichen Lage aufzubringen vermochte, schuf ich winzigste Strukturlücken in meinem vielfach gestaffelten, mentalen Schutzschild. Millimeter um Millimeter wagte ich mich aus meiner Höhle, tastete mich vor, näherte mich Bölv/Haiciez an. In unermesslich kleinen Teilschritten öffnete ich mich dem Trialog. Meine Partner reagierten verzückt. Endlich, so frohlockten sie, lohnte sich ihre Geduld. Sie schütteten Endorphine aus, die bis in meinen eigenen Blutkreislauf durchschlugen und mich gefährlich euphorisch werden ließen. Eilends zog ich mich wieder zurück. Aber ein Anfang war gemacht.
* Auf diesen Grundstein legte ich, sobald wir uns wieder beruhigt hatten, mit größter Vorsicht weitere Bauklötze. Das gemeinsame Haus wuchs, stückweise zwar und zögerlich, doch es gewann an Form, Ausdehnung und Statik. Meine Mitbewohner brachten mir ein Höchstmaß an Kooperation entgegen. An Bereitwilligkeit mangelte es ihnen keineswegs; eher entwickelten sie allzu viel Überschwang. Ich bremste, beschleunigte gleich darauf behutsam, lud ein und brach sofort wieder ab, sobald es mir zu viel wurde. Dies geschah häufig. Nach wie vor war die exotische Wahrnehmungs- und Denkweise meiner Gesponse für mich nur schwer zu verkraften, obwohl ich mich leidlich an Bord der Fünfheit eingelebt hatte. Und immerzu musste ich mich vorsehen, musste entscheiden, was ich hergab im Gegenzug dafür, dass ich mehr und mehr an unserer Dreiheit teilhaben durfte. Der Austausch erfolgte ja keineswegs einseitig; die Membranen an der Weiche unserer Kopfschnüre waren semipermeabel. »Zeigst du mir deins, zeig ich dir meins …« Zeit verging. Ich lernte. Wir lernten. Wir machten alles gemeinsam und immer mehr zu unserer Gemeinsamkeit. Immer weniger krallte ich mich an meinem egozentrischen Weltbild fest. Hatte denn nicht die Dreiheit so viel Beglückenderes zu bieten? Stand mir/uns nicht in der Vielheit der Allgemeinheit eine völlig neue Welt offen, gegen die jene alte, deren fader Nachgeschmack allmählich verblasste, ärmlich und einsam wirkte? Ich mochten uns schließlich, trotz Kytharas Vorbehalten, die ich zusehends unbegründeter fanden. Ich fühlten uns wohler und wohler, verschmolzen inniger und inniger, verwoben meine/ihre/unsere Denkinhalte dichter und dichter. Bis ich bereit waren, die letzten Schran-
Atlan, Bote des Flammenstaubs ken fallen zu lassen. Ich entschlossen sich, endgültig drei in einem, eins aus dreien zu werden. Ich rangen mich dazu durch, nichts mehr zu verbergen, alles offen zu legen, jede Eigenheit in das wundervolle neue Triolwesen einzubringen.
* Ja. So war das. Um ein Haar hätte ich mich verloren. Was mich als Kythara schlussendlich rettete, war ausgerechnet jene frivole Untat, die den Ablauf der Ereignisse ursprünglich in Gang gesetzt hatte. Die Wunde, die der Seelendieb verursacht hatte, behinderte und verunmöglichte meine Vermählung mit Bölv/Haiciez. Unstillbare Sehnsucht nach dem Verlorenen dominierte deren Zweiheit so sehr, dass ich letztlich, gegen mein eigenes Begehren, abgestoßen wurde. Offenbar traf der grausame Räuber Vorsorge, dass die Leere im Sein seiner Opfer durch nichts und niemanden aufgefüllt werden konnte. Es gab keinen Ersatz. So blieb ihre totale Abhängigkeit von seiner Willkür unter allen Umständen gewahrt, selbst wenn er sich unendlich weit entfernt aufhielt. Zum Beispiel in der Intrawelt. Ich war halb betäubt, wie paralysiert von der Ernüchterung, dem plötzlichen Abbruch unserer rauschhaften, unmittelbar bevorstehenden Vereinigung. Und doch fielen mit einem Mal die Mosaiksteinchen an ihren Platz. Es ergab sich ein klares, messerscharfes Bild. Jener ominöse Findling verfolgte dasselbe Ziel wie Atlan. Bloß hatte er sich weit früher, weit besser auf den Vorstoß in die Intrawelt vorbereitet. Der Arkonide war mit nicht mehr hierher gekommen als einem schmächtigen Beiboot und einer einzigen, ebenso spärlich informierten Begleiterin: mir. Dem anderen hingegen standen ungleich reichere Ressourcen zur Verfügung. Er hatte kaltschnäuzig ein komplettes Hilfsvolk rekrutiert, das ihm, willenlos ergeben, den Rücken deckte und seinen Abzug sicherte. Zweifelsohne würden die beiden unten/
39 drüben/drinnen aneinander geraten. So viel wusste ich inzwischen über den gnadenlosen Seelenräuber, und Atlan kannte ich sowieso: Wie groß die künstlich geschaffene Hohlwelt auch sein mochte – die Jagd nach dem Flammenstaub, das Wettrennen um jenes Wundermittel, von dem möglicherweise das Schicksal dreier Galaxien abhing, würde zwischen ihnen entschieden werden. Bis zu diesem Punkt waren meine Überlegungen gediehen. Da gab der Zentralrechner der Fünfheit … des fünfteiligen Generationenschiffs bekannt, der lang Ersehnte sei zurückgekehrt.
* Bölv/Haiciez waren ebenso benommen wie ich, ja sogar noch übler dran. Sie hatten mehr investiert: nämlich doppelt so viel. Varganische Nahkampf-Ausbildung, Grundstufe, erste Unterrichtsstunde: Wenn sich in der Deckung deines Widersachers unvermutet eine Blöße auftut, schlag zu. Das tat ich. So, wie die Zweiheit lange Zeit meinen Körper kontrolliert hatte, übernahm nun ich die ihren. Gleich linkisch, ähnlich tollpatschig dirigierte ich die scheinbare, jedoch unvollständige Dreiheit in die Befehlskuhle der Hauptleitzentrale. Mit Verweis auf die charakteristischen Sinnes-Rezeptoren »meinunserer« KytharaKomponente brachte ich den Verbundrechner dazu, ein Hologramm des soeben Eingetroffenen zu projizieren. Er stand in einem der Bodenhangars der vordersten Sphäre. Humanoid, groß gewachsen, sehr schlank. Die langen Arme und Beine verfügten über drei Gelenke, deren jeweils unteres ein Kugelgelenk war. Das erklärte die eigentümliche, »verdreht« und zugleich provokativ lässig anmutende Haltung. Der Fremde trug einen anthrazitfarbenen Overall, der in seiner Leichtigkeit und Schlichtheit auf hoch entwickelte Technologie schließen ließ. Am auffälligsten war der Kopf, der von einer durchsichtigen Blase geschützt wurde. Etwa so groß wie der eines
40 Varganen, besaß er keine Ohren, Augen oder Nase im herkömmlichen Sinn. Dafür schwammen auf einem feucht glänzenden Überzug unzählige Facetten, teils dunkelgrau bis schwarz, meist aber hellbeige. Sie bewegten sich ständig und gruppierten sich immer wieder um. Ich vermutete, dass sie Wahrnehmungsorgane darstellten: Ommatidien, Schallreflexkörper, Riechknöpfe und dergleichen. An der Unterkante der Kopfvorderseite befand sich eine halbkreisförmige Öffnung. Sie schien unbeweglich, in einem starren Grinsen eingefroren. Zwei blutrote Zahnreihen waren sichtbar, dazu eine breite, überdimensioniert lange Zunge, die mal mehr, mal weniger weit heraushing. Insgesamt strahlte der Seelendieb Souveränität, hohes Charisma und Führungsstärke aus. Er war merklich gewohnt, Befehle zu erteilen, und dass diese unverzüglich und widerspruchslos befolgt wurden. Hinzu kam eine raubtierhafte, latente Gefährlichkeit. Den Eindruck eines angenehmen Zeitgenossen erweckte er bei mir jedenfalls nicht. Zum Glück erfolgte die Bildübertragung einseitig, sodass er mich nicht bemerkte. Die Kommunikation lief wie üblich über den Verbundrechner. In der Zentrale hielten sich weitere Zweiheiten auf, die der Findling von sich abhängig gemacht hatte. Sie »befühlten« mich ein wenig besorgt, da ihnen meine Unsicherheit während der Begrüßung nicht entging. Jedoch schrieben sie die Symptome den bekannten Koordinationsschwierigkeiten unserer Dreiheit zu, und außerdem überwog ihre Hochstimmung. Der Fleckenköpfige äußerte kühl sein Begehr. Ich garantierte ihm im Namen der Hemeello-Vielheit unsere vollste Unterstützung und gelobte, seine Anweisungen peinlich genau zu befolgen. »Brav, Jungs«, sagte er. »Ihr seid zwar alles andere als eine Spitzenmannschaft, aber die Übermacht wird wohl den Ausschlag geben. Wie viele von euren Dreckschleudern könnt ihr bemannen und in Einsatz brin-
Leo Lukas gen?« Da ich zögerte, antwortete eine der Zweiheiten neben mir: »Rund sechshundert persönliche Wohnhanteln enthalten hormonell geeignete …« »Das reicht. Die Dinger sind mit ganz ordentlichen Traktorstrahlern bestückt, wenn ich mich richtig erinnere?« Das Dualwesen bejahte. »Na bestens. Dreihundert positionieren sich entlang des Perimeters, den der Schirm der Krakenhütte definiert. Klar? – Hundert nehmen im Nahbereich meiner DEKAPINON Aufstellung. Der Rest verteilt sich über diese Karikatur eines Himmelskörpers; für alle Fälle. Sobald sich irgendetwas rührt, ergeht per Richtfunk Meldung an meine Yacht. Kapiert? – Wiederholen!« Ich betete ihm den Sermon herunter in der Gewissheit, dass diese Maßnahmen gegen niemand anderen als Atlan gerichtet waren. Doch wie hätte ich sie verhindern sollen? »Geht doch! Also los, schickt die Greifkommandos aus! Und vergesst niemals – mein Feind ist euer Feind!«
* Die Hantelschiffchen schwirrten davon. Bis auf eine Dualität namens Entar/Sugorrly und uns hatten alle Beraubten die Zentrale verlassen, um sich an dem Unternehmen zu beteiligen. »Noch jemand da?«, fragte der Seelenräuber. »Eine Zweiheit und eine Dreiheit überwachen die Vielheit in der Fünfheit«, gab ich zurück, beinahe wahrheitsgemäß. »Sehr gut, setzen. Ich bin zufrieden«, sagte er. »Alles wird gut. Was nun kommt, ist Routine. Mein Gegenspieler, der vielleicht sogar eine passable Reservenummer zehn abgeben würde, trägt gleich mir großes Potenzial in sich. Allerdings wurde mir von den Lordrichtern versichert, dass das Zeug seine Wirkung erst mit einer gewissen Verzögerung entfaltet. Da ich Risiken minimiere, bevor sie schlagend werden, sollte bis da-
Atlan, Bote des Flammenstaubs hin längst alles besprochen sein. Ihr seid also auf der Seite des sicheren Siegers.« Grußlos trat er aus der Schleuse. Eine Ballung derselben Schwärze, die das Düsterschiff umgab, hüllte ihn ein und riss ihn hinweg, noch ehe ich über den Verbundrechner die Sensoren der Außenbeobachtung nachjustieren konnte. Bölv/Haiciez kamen allmählich wieder zu sich. Die Zweiheit fing an, gegen meine Bevormundung aufzubegehren. Meine Zeit wurde knapp, zumal mit Atlans Wiederkunft demnächst zu rechnen war. Ich wandte unsere drei Körper Entar/ Sugorrly zu und übermittelte die dringliche Bitte, mich in den Labortrakt der vierten Sektion zu begleiten.
13. Bericht Atlan: Wiedersehen macht Freude Der Transportvorgang war äußerst anstrengend gewesen. Ich fühlte mich gerädert und ausgelaugt. Meine Haut schlackerte um saure Muskeln und morsche Knochen. Zudem breitete sich, vom Solarplexus her, ein leichtes Prickeln in mir aus. Als begännen meine Synapsen zu kokeln. Der Flammenstaub … Dieses Empfinden genauer zu erfassen oder gar zu beeinflussen misslang mir. In meinem geschwächten Zustand war nichts Konkretes damit anzufangen. Die von Tuxit befürchteten Allmachts-Phantasien stellten sich jedenfalls noch nicht ein. Unweit von mir lag Teph. Im Sterben, so mich meine bescheidene Erfahrung nicht trog. Wohl wissend, dass ich es war, der den finalen Nagel in seinen Sarg gehämmert hatte, trat ich zu ihm. »Tut mir Leid. Es war nicht persönlich gemeint. Hast du mir noch etwas zu sagen? He, hörst du mich überhaupt?« Der Krake gab keine Antwort. Ich sah mich in der Baracke um. Keine Spur von Kythara oder meinem Raumanzug. Wie leistet man einem Riesen-Calamar mit sechs Meter langen Greifarmen erste
41 Hilfe? Ich war splitternackt, trug nichts bei mir … Meinen Abscheu überwindend, drückte ich mich an den schleimigen Körper und tätschelte ihn sacht, minutenlang. Schließlich verschoben sich einige Hautfalten, und todmüde Augen erschienen. »Es lag nicht in meiner Absicht, dich so übel zuzurichten. Aber mir blieb keine Wahl. Das verstehst du doch? Teph, ich flehe dich an: Ist hier irgendwo meine Ausrüstung hinterlegt?« Wortlos erbebte der Krake. Ein Arm entrollte sich und schob mich weg, ungefähr in die Mitte des Raums. Dort veränderte sich der Boden. Etwas diffundierte hindurch und blieb auf einer kreisförmigen Erhöhung liegen. »Äh … Was immer das darstellen soll, es ist nicht mein Schutzanzug.« Die Scheibe mit dem undefinierbaren Gerümpel verschwand und wurde von einer identischen ersetzt. Wieder handelte es sich um die Hinterlassenschaft eines anderen Abenteurers: eine Art kleiner Bob auf Kufen, eindeutig nicht für Wesen meiner Gestalt geeignet. Aber die zweischneidige Kampfaxt auf der Ladefläche lachte mich irgendwie an. Teph erhob keinen Einspruch, als ich sie herunternahm; der Krake delirierte, agierte wie in Trance. Deshalb hatte er wohl auch Probleme mit der »Gepäckrückgabe«. Beim sechsten Versuch tauchte endlich der richtige Anzug auf. Erleichtert schlüpfte ich hinein. Meinen Dank nahm der Oktopus apathisch hin. Ich fand Kytharas Nachricht und las sie. Vierzig Tage, soso. Ich wusste nicht, ob die Zeit in der Intrawelt synchron zum Normaluniversum ablief, aber wenn dem so war, hatte meine varganische Gefährtin den Asteroiden eventuell bereits verlassen. Ich konnte nur hoffen, dass das nicht auch für Peonu galt. Wenn den Lutveniden der Transfer ebenso mitgenommen hatte wie mich, legte er vielleicht eine Ruhepause ein, bevor er sich davonmachte.
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Die durfte ich mir leider nicht vergönnen. Nachdem ich die Baracke verlassen hatte und meine Raummontur wieder funktionierte, startete ich flugs in Richtung der DYS116.
* Das auf Neue Galaktische Zeitrechnung eingestellte Chronometer zeigte den zweiten September 1225. Somit waren seit meinem Übertritt in die Intrawelt siebenunddreißig Tage vergangen. Kythara musste noch hier sein! Und ich spürte auch Peonus Präsenz. Die perverse Sehnsucht, die ich nach ihm empfand, war wieder stärker geworden. Dass ich das unsichtbare Band zwischen uns so deutlich wahrnahm, wertete ich als Indiz dafür, dass sich der Seelenhorter in der Nähe aufhielt. Sieht aus, als stünde das finale Duell unmittelbar bevor. Bist du sehr beleidigt, armer Narr, wenn ich auf Peonu setze? Ich konnte meinem Logiksektor den Pessimismus nicht verübeln. Die Favoritenrolle nahm ich, in dieser erbärmlichen Verfassung, gewiss nicht ein. Bestenfalls Außenseiterchancen gestand ich mir zu. Plan hatte ich auch keinen nennenswerten. Dafür kannte ich die derzeitigen Verhältnisse auf dem Trabanten zu wenig. Improvisation war angesagt. Und eine Riesenportion Glück. Angeblich sollte der Flammenstaub genau das bewirken. Noch merkte ich nichts davon. Ich schwebte gerade über einen Wall aus schroffen Zinnen hinweg, als plötzlich zahlreiche Kleinraumschiffe auftauchten. Sie besaßen die Form von Hanteln. Und sie fingen mich ohne viel Federlesens ein.
* Von mehreren Traktorstrahlern gefesselt, wurde ich in das Tal transportiert, das ohne-
hin mein Ziel gewesen war. Obwohl ich unablässig auf allen Frequenzen die Hantelboote anfunkte, erntete ich keinerlei Reaktion. Die DYS-116, das Beiboot, das uns der Daorghor Reshgor-1 zur Verfügung gestellt hatte, stand noch am alten Platz. Der Syntron meldete Bereitschaftsstatus und dass sich niemand an Bord aufhielt. Wo steckte Kythara? Ich bekam ihren Anzug nicht in die Ortung. Auch die DYS-116 besaß keine aktuellen Informationen über den Verbleib der Varganin. Zuletzt, vor mehr als einem Monat, habe sie … Da riss die Funkverbindung ab. Die Hanteln hatten mich, weiterhin kommentarlos, zu dem benachbarten Schiff bugsiert, jenem auf bedrückende Weise Licht schluckenden Oktaeder, das schon vor uns hier geparkt hatte. In der dunklen Wand, deren Konturen verschwammen, bildete sich eine Ausstülpung, die auf mich zusprang und mich umschlang wie eine fette schwarze Wolke. Ein saugendes Geräusch ertönte. Als die Wolke verschwand und ich wieder sehen konnte, befand ich mich in einem Raum, dessen Dimensionen sich permanent zu verzerren schienen. »Willkommen im Freudentempel!«, sagte Peonu.
* Von den nässenden, lumineszierenden Wänden ging ein enormer psychischer Druck aus. Ich hatte Mühe, mich auf den Beinen zu halten. »Welch Glanz in meiner frugalen Stube!« Der Lutvenide vollführte die Parodie einer Verbeugung. »Der Bote des Flammenstaubs höchstpersönlich. Wie war die Reise? Konntest du sie genießen, mein Lieber?« »Spar dir die süffisanten Witzchen. Du hast etwas, das mir gehört, und das will ich zurück.« Meine Kehle war wie ausgedörrt; meine Stimme hörte sich alles andere als
Atlan, Bote des Flammenstaubs überzeugend an. »Ach. Und wie gedenkt Herr da Gonozal, mich zur Rückgabe seines Seelenfragments zu bewegen? Mit dem Hackebeilchen an deiner Hüfte? Ts, ts, ts. Du solltest dich sehen, Weißhaar. Oh, das lässt sich bewerkstelligen.« Aus dem Nichts erschien ein ovaler Spiegel in einem protzig kitschigen Goldrahmen. Er zeigte mir einen Atlan, dessen schweißnasse Gesichtszüge von Anstrengungen und Entbehrungen schwer gezeichnet waren. »Mal ganz ehrlich, du bist hier nicht in der Position, Forderungen zu stellen«, höhnte Peonu. »Warst hohen Stressfaktoren ausgesetzt, Kosmokratenknecht. – Haben dir die kleinen Sonderprüfungen Spaß bereitet, die ich für euch eingebaut habe?« »Du wolltest mich gar nicht aufhalten«, begriff ich. »Bloß zermürben.« »Aber ja doch. Ich war mir völlig sicher, dass du alle Hürden bravourös bewältigen würdest. Und siehe, mein in dich gesetztes Vertrauen ist nicht enttäuscht worden.« »Warum? Warum hast du das getan?«, keuchte ich. Mir war übel, Sterne wirbelten vor meinen Augen. »Du hättest mich schon oben in der Sonnenkathedrale töten können. War es wirklich nur Sadismus, dass du mich und Tuxit am Leben gelassen hast?« Noch während ich die Frage aussprach, erkannte ich schlagartig die Antwort.
* »Es verhält sich genau umgekehrt«, sagte der Seelenhorter. »Du trägst etwas, das mir zusteht.« Ich schwieg. Die Einsicht, dass und wie er mich ausgetrickst und für seine Zwecke benutzt hatte, verschlug mir den Atem. »Du hast tatsächlich geglaubt, ich hätte ebenfalls vom Flammenstaub genascht, nicht wahr? Bloß, weil ich den Türflügel ein wenig weiter aufgeschoben habe … Atlan! Wo bleibt deine viel gerühmte Intelligenz, deine ach so immense Erfahrung?« Mein Gesicht im Spiegel verfaulte, wurde
43 zum Totenkopf. Dann verschwand der Spiegel. Der Schädel aber blieb. Er lag nun in Peonus Hand. Ein billiger, abgeschmackter Effekt; der gleichwohl seine Wirkung nicht verfehlt. Dein Widersacher hat dich fest im Griff. Er kann mit dir machen, was er will. Ich glaube zu wissen, was ihm vorschwebt … Der Lutvenide schlenkerte, gespielt entrüstet, mit den Armen. »Hältst du mich ernstlich für so bescheuert, selbst Flammenstaub in mich aufzunehmen? Nach all den Warnungen von Seiten der Lordrichter und deines gefiederten Kumpels? Ich bitte dich! Das ist ja geradezu beleidigend. Nein, mein Bester: Du hast für mich den Kurier gemacht und den Stoff herausgeschmuggelt. Ich würde doch niemals mein eigenes Leben riskieren. Stets ausschließlich das von anderen …« Amüsiert glucksend warf er den Totenschädel in die Luft. Als er ihn wieder auffing, hatte dieser sich in eine kreisrunde, mattsilbern glänzende Schale verwandelt, die an der Oberseite spitz in einen Trichterhals zulief. »Sobald du das Zeitliche gesegnet hast – was in sehr absehbarer Zeit der Fall sein wird –, tritt der Flammenstaub wieder aus. Bekanntlich würde er binnen etwa hundert Minuten deflagrieren, sofern er keinen neuen Träger findet. Oder aber man fängt ihn in diesem Spezialbehälter auf, der mir von meinen Klienten freundlicherweise mitgegeben wurde. Du siehst, du kannst dich beruhigt zurücklehnen, mein liebstes Seelenhäppchen: Es wurde an alles gedacht.« Speichel tropfte von seiner heraushängenden Zunge, als er das silberne Gefäß sinnend betrachtete. »Allerdings bin ich mir mit mir selbst noch ein wenig uneins, ob ich dieses sagenhafte Zeug tatsächlich den Lordrichtern überbringen werde. Unter uns – das sind doch Stümper. Soll ich etwas derart Wertvolles und Mächtiges solchen ProvinzHäuptlingen in die Griffel drücken?« Er wog sein Facettenhaupt hin und her.
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Die Flecken wanderten permanent, nur das verhasste, starre Grinsen blieb unverändert. »Hmmm … schwierige Entscheidung, was? Wie du weißt, spiele ich in einer anderen, wesentlich höheren Liga. Mit läppischen drei Galaxien hätten sich Xpomuls Champions gar nicht erst abgegeben. Und dies hier«, er schwenkte die Schale, »ist das Ticket, das mir wieder den zustehenden Platz in meiner Truppe sichern wird. – So. Genug geplaudert. Ich danke vielmals für die Mitarbeit.« Sprunghaft erhöhte sich der Mentaldruck, den die Wände aussandten, um ein Vielfaches. Zugleich troff immer mehr der öligen Flüssigkeit zu Boden und sammelte sich in Pfützen. Aus einer davon wuchs eine schlanke Stele empor, auf der Peonu die Schale abstellte. »Vergib mir bitte, dass ich nicht persönlich Hand an dich lege. Ohne deine Eitelkeit über Gebühr verletzen zu wollen: Du duftest mir etwas zu penetrant nach Kosmokratenbrut. Daher wird das meine DEKAPINON übernehmen. Aber keine Sorge, ich werde der Exekution bis zum Ende beiwohnen. Das bin ich unserer Freundschaft schuldig.« Er schnippte fröhlich mit den Fingern. »Mal sehen, was für hübsche Drangsale wir aus deinem reichen Wissensschatz hervorkitzeln können …«
14. Kytharas Aufzeichnungen: Wie war das mit der Kavallerie? Der Schnitt, die Trennung von Bölv/ Haiciez, schmerzte mehr, als ich erwartet hatte. Auf meine Anweisung führten Entar/ Sugorrly, unterstützt vom Rechnerverbund, die Amputation mit Lokalanästhesie durch. Eine Vollnarkose wollte ich nicht riskieren. Ich hatte Angst, Bölv/Haiciez könnten früher als ich aus der Betäubung erwachen, mich ausschalten und die Aufspaltung der Dreiheit gleich wieder rückgängig machen. Als die Kopfschnur gekappt wurde, verspür-
te ich keinen körperlichen Schmerz. Psychisch jedoch setzte es mir erstaunlich zu, plötzlich wieder auf meine Einsamkeit zurückgeworfen zu sein. Ich fühlte mich so verlassen, so abgenabelt, so schrecklich allein … Obwohl unsere Dreiheit zu keinem Zeitpunkt vollständig und allumfassend gewesen war, vermisste ich die zusätzlichen Empfindungen, die ergänzenden, wenngleich oft widersprüchlichen Ansichten. Adieu, du beide!, dachte ich betrübt. Eigentlich verrückt, wenn man sich vergegenwärtigte, dass Bölv/Haiciez einen Massenmord veranlasst hatten. Ihretwegen war, Teph ausgenommen, die gesamte Bevölkerung des Asteroiden ausgerottet worden, noch dazu durchaus qualvoll ums Leben gebracht. Aber die Zweiheiten hatten nur das Beste für alle Beteiligten gewollt. Tragisch. Ausgerechnet die Hemeello wurden zu Serienkillern! Dabei waren sie die sanftmütigsten Wesen, die ich je kennen gelernt hatte … Die Anästhesie klang ab. Keine Zeit, den Rest der Kopfschnur zu beseitigen. Diesen schönheitschirurgischen Eingriff würde ich später nachholen, sobald ich wieder auf adäquate Technologie zugreifen konnte. Jetzt kam ein kritischer Moment. Als Dreiheit sprechend, hatte ich Entar/ Sugorrly mit dem Argument überzeugt, die Kythara-Komponente sei leider doch erkrankt und müsse entfernt werden. Was angesichts dessen, dass der Seelenhalter zurückgekehrt war, keinen großen Verlust darstelle. Wenn aber nun statt Bölv/Haiciez ich die Initiative ergriff, musste selbst die gutgläubigste Zweiheit Verdacht schöpfen … Ich sammelte meine Kräfte und sprang aus der Operationskuhle. Schnappte mir das vorbereitete Narkoplast und drückte es Entar/Sugorrly gegen die Kopfschnur. Sie erschlafften und fielen in die Schlammbrühe. Mit Bölv/Haiciez, die bereits desorientiert mit ihren Propellerfüßen zu strampeln be-
Atlan, Bote des Flammenstaubs gonnen hatten, verfuhr ich ebenso. Ich stellte sicher, dass beide Zweiheiten gegen das Ertrinken gefeit waren, dann machte ich mich auf den Weg.
* Während des Gedankenaustauschs mit Bölv/Haiciez hatte ich mir alle Informationen angeeignet, die ich benötigte. Daher wusste ich mittlerweile auch, wo sich meine Raumkombination befand: nach wie vor dort, wo sie mir ausgezogen worden war, nämlich in der persönlichen Wohnhantel von Grdur/Shmeli. Das bedeutete eine fast vollständige Durchquerung zweier Achthundertmeterkugeln des Verbundschiffs. Aufgrund der vielen Umwege, die ich nehmen musste, ergab das rund drei Kilometer durchs Mist-, Matsch- und Müll-Labyrinth. In der Dreiheit hatten die haptischen Wahrnehmungen der Dualwesen meine eigenen Sinneseindrücke teilweise überlagert und dadurch erträglicher gemacht. Jetzt, als wieder »nur« Varganin, brachte ich ungleich weniger Verständnis auf für die, sagen wir mal: eigenwilligen hemeellischen Vorstellungen von Ordnung, Sauberkeit und Hygiene. Die Kloaken, Kanäle, Senkgruben und Abfallhalden erschienen mir grausiger denn je. Ich stolperte, stampfte, watete, kraulte, tauchte durch Dreck jedweder erdenklichen Konsistenz. Und erst die Melange der Gerüche, mit denen die feuchte Schwüle gesättigt war! Zugute kam mir, dass fast alle Zweiheiten, die sich derzeit in der aktiven Hormonperiode befanden, mit ihren Hanteln ausgeschwärmt waren. Es fiel mir relativ leicht, den wenigen Übrigen, die sich im Schiff bewegten, rechtzeitig auszuweichen: Ohren und Augen funktionieren auf weitere Entfernungen denn doch besser als ein noch so ausgeprägter Tastsinn. Vom Zentralrechner hatte ich nichts zu befürchten. Ich hatte ihm den Befehl erteilt,
45 mich aus dem Wahrnehmungsprotokoll auszublenden. Grdurs/Shmelis mobile Behausung ankerte neben vielen anderen Hantelbooten auf einem weitläufigen Hangardeck der Äquatorsektion. Die Zugangsschleuse war nicht gesichert und ließ sich manuell öffnen. Die Dualwesen erschraken sehr, als sie mich gewahrten. Panisch paddelten sie davon und verkrochen sich lamentierend im hintersten Schlickhaufen. Ich gab ihnen zu verstehen, dass sie keine Angst vor mir zu haben brauchten. Ich wollte nur meine Montur wieder. Sie bettelten, ich möge mich sofort entfernen. Derzeit durchliefen sie die introvertierte Phase, noch verstärkt dadurch, dass sie nun doch beschlossen hatten, Eltern zu werden. Eine schwangere Zweiheit durfte man unter gar keinen Umständen stören. Andererseits hatte ich diese grobe Unhöflichkeit ohnehin bereits begangen. »Ich bin euch nicht böse und sinne nicht auf Rache dafür, dass ihr mich gekidnappt habt«, rief ich. »Jedoch erachte ich es als fair, eine Art Wiedergutmachung einzufordern. Und ich gehe nicht weg, ehe ihr meinem Wunsch nachgekommen seid.« Das wirkte, wenngleich nicht sofort. Erst nach einem nervtötend langwierigen Wortwechsel kamen sie aus ihrem Versteck und händigten mir den Anzug aus. Welch Erleichterung, als ich ihn überstreifte! Welch Wonne, als der Syntron sich beschwerte, die Innenreinigungsfunktion sei überlastet! Welch Behagen, als der MedoCheck ergab, dass mein Gesundheitszustand in höchstem Maße alarmierend war! Grdur/Shmeli komplimentierten mich hastig hinaus. Da meldete der Zentralrechner, soeben sei der Feind aufgegriffen und zur Einheit des Seelendiebs verfrachtet worden. Atlan ist da! Und in höchster Gefahr … Um die mörderischen Einrichtungen des Düsterschiffs wusste ich nur zu gut Bescheid. Bei aller Hochachtung, die ich für den Arkoniden hegte – dort drinnen stand er gegen seinen Widersacher auf verlorenem
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Posten. Und ringsum wimmelte es von hemeellischen Hantelbooten … »Bedaure, Planänderung! Ich bin leider gezwungen, euch und euer persönliches Transportmittel noch etwas länger in Anspruch zu nehmen.«
* Sie jammerten und klagten, doch ich ließ mich nicht erweichen. Mit dem HemeelloSchiff besaß ich einfach eine bedeutend größere Chance, unbemerkt nahe an das verfluchte Oktaeder heranzukommen. Ich hatte mir geschworen, den Höllenraumer nie wieder zu betreten. Doch jetzt sah die Sache anders aus. Auf sich allein gestellt, war Atlan dort drin des Todes. Ich musste ihm zu Hilfe eilen. Der zusätzlichen Motivation, dass es auch um den Flammenstaub ging und damit um die Waffe, die möglicherweise einen intergalaktischen Krieg entscheiden konnte, hätte es gar nicht bedurft. Einen Freund in Todesnot lässt man nicht im Stich, Punktum. Die Zeit brennt mir unter den Nägeln. Doch wie hat Atlan einmal ein altes terranisches Sprichwort zitiert: »Die Kavallerie kommt nie zu spät.« Ich hoffe inständig, dass das auch für Varganen und Hemeello gilt. Grdur/Shmeli haben ihre Hantel startklar gemacht. Ende der Aufzeichnungen vom 2. September 1225 NGZ.
15. Bericht Atlan: Die Axt und der Köder Aus den Pfützen wuchsen Ballungen. Schemen verfestigten sich zu Gestalten. »Ich bezeichne sie als meine Ordonnanzen«, sagte Peonu. »Sie werden für jeden Besucher neu maßgeschneidert. – Igitt, was sind das denn für Vogelscheuchen?« Graue Kolosse stapften auf mich zu, mit fünf Augen, die ganz oben auf dem halslo-
sen Kopfwulst saßen. Maahks! Die ältesten, gefährlichsten Feinde der Arkoniden. Inzwischen längst befriedet und mit den Milchstraßenvölkern kooperierend, Narr!, beschwichtigte mich der Logiksektor. Materieprojektionen, jedoch fehlerhaft: Als Methanatmer könnten sie sich nie ungeschützt im selben Raum wie du aufhalten. Aus den Mundöffnungen strömte grünliches Gas. Mein Helm klappte auf, während sich Peonus Kopfblase schloss. Offenbar sollten mir die Pseudo-Maahks Angst einjagen. Aber ich fürchtete mich doch nicht vor Buhmännern aus ferner Vergangenheit, oder? Oder? Die feuchtkalte Atemluft schien mit jeder Wolke, die von einem der vierschrötigen Riesen ausgestoßen wurde, dünner zu werden, spärlicher, vergifteter. Absurd; trotzdem schlug ein uralter, vererbter beziehungsweise tradierter Reflex an. (»Ich hatte einen Albtraum.« »Was träumtest du, kleiner Atlan?« »Maahks haben mich entführt, und ich musste elendiglich ersticken. Da bin ich aufgewacht.«) Aus diesem Schiff hingegen gab es kein Entkommen. Panik erfasste mich. Das ist der Sinn der Übung. Lass dich nicht in Todesangst hineinsteigern. Solange du kühlen Kopf behältst, kann dir nichts passieren. Ach ja? Und warum ging ich vor Sauerstoffmangel in die Knie, hustete blutigen Schleim heraus? Warum pochte der Zellaktivatorchip in meiner Schulter wie verrückt? Die Maahks umstanden mich im Halbkreis, beugten sich herab, bliesen mir ihren Todesodem mitten ins Gesicht. Während des Übertritts aus der Intrawelt hatte ich weit abscheulichere Visionen gehabt. Dies hier war viel simpler; doch urtümlicher – und wirkungsvoller. »Kein sonderlich origineller Tod«, mokierte sich Peonu. »Du enttäuschst mich ein wenig. Ich hätte etwas Fantasievolleres erwartet als simples Ersticken. Je nun, was soll's, den Zweck erfüllt's.« Er trommelte mit den Fingern auf der
Atlan, Bote des Flammenstaubs Oberseite des silbernen Gefäßes und summte: »Warte, warte nur noch ein Weilchen …« Ich wälzte mich in Krämpfen. Spuckte mir die Lunge und die Hälfte der übrigen Organe aus dem Leib. Spürte, wie ich von innen heraus zersetzt wurde. Das wäre es dann wohl gewesen. Das Ende einer Serie, konstatierte trocken der Extrasinn, von Demütigungen und Niederlagen. Da ging eine Erschütterung durch das Schiff, ein Ruck auch durch die Methanatmer um mich. Mit einem schmirgelnden Geräusch war eine Kugel aus dem Boden gedrungen, eng daran gepresst eine humanoide Gestalt in varganischer Montur. Ich erkannte sie sofort. Kythara!
* In der drei Meter durchmessenden Kugel, deren obere Hälfte transparent war, bewegten sich mir unbekannte Aliens, an den ballonartigen Köpfen mit einer Art Darm verbunden. »Je später der Abend …«, scherzte Peonu; aber er wirkte doch ein wenig überrascht. »Sieh einer an, eine Varganin. Und die DEKAPINON meint, ihr hattet sogar schon einmal die Ehre …« Einige der Maahks zerflossen, als sich Kythara zwischen sie und mich warf, und vereinten sich neu, zu einem übergroßen, rotblonden Mann, der ein breites Schwert schwang. »Raus!« schrie mich meine Gefährtin an, einen Schritt zurückweichend. »Raus! Steh auf, rette dich!« Weitere Wesen entstanden aus der viskosen Suppe. Die meisten waren mir unbekannt, einige aber schrecklich vertraut: ein Haluter in der Raserei der Drangwäsche; die hämische Fratze meines Onkels Orbanaschol … Obwohl ich immer noch nach Luft rang, verminderte sich der Psycho-Druck ein wenig.
47 Er verteilt sich auf mehr Zielpersonen. Die Kapazität des Schiffes ist nicht grenzenlos! Kythara tobte, brüllte Unverständliches. Auch die Fremden in der Kugel warfen sich, konvulsivisch zuckend, von einer Seite zur anderen. Ihr Kopfschlauch hatte sich verknotet und war zu Armesdicke angeschwollen. Mehr! Produzier noch mehr Schreckgestalten!, forderte mich der Logiksektor ungerührt auf. Dir wird doch wohl was einfallen. Wozu besitzt du ein fotografisches Gedächtnis! Ich begriff und konzentrierte mich auf alle Nachtmahre, die mich je heimgesucht hatten. Das fiel nicht schwer; ich brauchte mich nur der Halluzinationen zu entsinnen, die mich während des Transfers geplagt hatten. Angstschauer schwappten über mich hinweg, Panikattacken schüttelten mich. Doch die Vielzahl der Bedrohungen relativierte jede einzelne. Im allgemeinen Horrorszenario gingen die Maahks unter. Meine beklemmende Atemnot wich. All das spielte sich binnen weniger Sekunden ab. Peonu hatte nicht reagiert. Er war vom Chaos rings um uns abgelenkt. Ich stemmte mich hoch, fasste die Axt und drosch auf ihn ein.
* Die Schneide der archaischen Waffe richtete gegen Peonus Bekleidung nicht das Geringste aus. Aber es war die Aggression, die zählte. Mein wuchtiger Hieb trieb den Lutveniden zwei Schritte zurück. »Du unterstehst dich?«, keifte er zornig. »Hast du vergessen, wen du vor dir hast?« Eine eiskalte Hand griff nach meinem Innersten, erweiterte das Loch in mir; höhlte, weidete mich förmlich aus. »Ich kann mir jederzeit noch mehr von dir nehmen«, sagte Peonu scharf. »Viel mehr, du Idiot!« Er hat Recht. Dazu bedarf es keiner direkten Berührung; das Mentalband
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reicht aus. Gut so. Meine Provokation fruchtete. Wenngleich nur kurz und keineswegs arg in Bedrängnis geraten, schlug der Seelenhorter zurück, auf die für ihn naheliegendste Weise. Er riss ein weiteres Stück meiner ÜBSEF-Konstante an sich. Ich überließ es ihm gerne.
Elitetruppe des Chaotarchen Xpomul verloren. Oh, der Lutvenide war immer noch stark. Aber war er stark genug für den hochspezialisierten, immens geballten Appendix meiner sechsdimensionalen Energiekonstante?
* * Der Extrasinn oder Logiksektor wird bei wenigen auserwählten Arkoniden mittels fünfdimensionaler Bestrahlung aktiviert, als Höhepunkt einer langen Ausbildung, der ARK SUMMIA. Neurologen siedelten ihn gewöhnlich in einem ehedem brachliegenden Gehirnteil an. Doch war er auch Bestandteil meiner Seele. Zudem besaß er, um getrennt von mir denken zu können, eine gewisse Selbständigkeit. Das eidetische Erinnerungsvermögen hing ebenfalls mit ihm zusammen. Was geschah, wenn diesen meinen hochgezüchteten, auf mich persönlich zugeschnittenen Extrasinn ein Bewusstsein komplett in sich aufsaugte, das nicht im Rahmen der ARK SUMMIA dafür trainiert worden war? Würde es ihn problemlos verdauen können – oder sich den metaphorischen Magen verderben? Das war der einzige Ansatz von Plan, den ich während der Rückreise von der Kathedrale zusammen mit meinem internen Dialogpartner ausgeheckt hatte: Wirf dem Seelenhorter den schwersten Happen zum Fraß vor, den du anzubieten hast – und hoffe, dass er sich daran verschluckt. Peonu nahm den Köder an. Er zeigte sofortige Wirkung. Demzufolge, was ich von seiner Biografie wusste, hatte der Letzte der Lutveniden früher, insbesondere in Jugendjahren, ungleich mehr Seelensubstanz verkraftet. Im Lauf der Zeit hatte sich seine Aufnahmefähigkeit eingeschränkt. Sie war nach wie vor enorm; doch Peonus Zenit lag hinter ihm. Darum hatte er ja auch seinen »Stammplatz« in der
Die albtraumhaften Pseudowesen drehten durch, verformten sich zu jeder Beschreibung spottenden Schimären, die einander nun auch gegenseitig attackierten. Das Schiff spielte völlig verrückt. In der gähnenden Leere, die der Extrasinn hinterlassen hatte, erklang eine andere, ebenfalls bekannte Stimme, schwach und kaum mehr verständlich: Mach schnell! Ich bin … am Ende … Kythara. Sie strauchelte, stürzte. Einer der zusehends instabileren Golems griff Peonu an, der ebenfalls zu Boden gegangen war. Ich spaltete das wabernde Ding mit der Streitaxt, dann beugte ich mich über den Seelenhorter. »Gib's mir wieder zurück!«, schrie ich. »Alles, auch den damals geraubten Teil! Sonst stopfe ich mehr und mehr und immer noch mehr in dich hinein. Selbst wenn ich dabei draufgehen sollte – ich pumpe dich voll Mentalsubstanz, bis du platzt!« Die Drohung war haltlos; ich hätte nichts, aber schon gar nichts dem Extrasinn Vergleichbares aufzubieten gehabt. Doch der Bluff wirkte. Peonus Gesichtsflecken flackerten hektisch. Er würgte etwas hervor, eine kleine, farbige Wolke. Als sie die Schutzblase durchdrungen hatte, roch ich Zimt und frische Holzspäne. Dann löste sich das Wölkchen auf. Und ich spürte, dass ich wieder ganz war, endlich wieder alleiniger Herr über mich selbst. Entladungen loderten durch den Raum. Große Flecken moosiger Masse lösten sich von den Wänden. Ich kümmerte mich nicht weiter um den Lutveniden, sondern schulterte Kytharas schlaffen Körper. Die Innenseite
Atlan, Bote des Flammenstaubs ihres Helms war von rotem Blut verschmiert. Die Überlebenskugel der Hemeello, vernahm ich die Varganin, leise wie einen Hauch: Zieh sie mit! Ich öffne uns den … Ihre telepathische Stimme erstarb. Ich schnappte eine Art Henkel, der von der Kugel abstand. Dann schlüpften wir durch die weiche Öffnung, die sich im Boden gebildet hatte.
* Oben und Unten, Links und Rechts drehten und kehrten sich um. Ich blinzelte. Wir waren im Freien. Kythara auf der Schulter, die Kugel hinter mir herziehend, schleppte ich mich, so rasch es meine immer wieder nachgebenden Beine erlaubten, von dem düster glühenden Schiff fort. Mechanisch setzte ich Schritt für Schritt, ausgebrannt, völlig leer im Kopf. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich endlich auf die Idee kam, die Antigravs unserer Monturen zu aktivieren. Über uns schwebten Dutzende Hantelboote. Doch sie begannen gerade, sich von der DEKAPINON zurückzuziehen. Dunkle, weit verzweigte Blitze schlugen aus dem Oktaeder. Plötzlich faltete er sich zusammen, als bestünde er aus dünner Folie. Einmal, zweimal, dreimal invertierte er, bis daraus eine etwa zehn Meter lange Pyramide geworden war, die taumelnd von der Oberfläche des Asteroiden abhob und sich, in pechschwarzes Wallen gehüllt, entfernte.
* Ich trug Kythara in die DYS-116 und schälte sie vorsichtig aus der Montur, ohne die Kontakte des Medo-Systems zu lösen. Schluckte, als ich sah, in welcher Verfassung sie war. Die Frau, deren Oberkörper schlapp in meinen Armen lag, besaß kaum noch Ähnlichkeit mit der bildhübschen Varganin, die ich gekannt hatte. Ihre Haut war die einer
49 Mumie, ihr Gesicht das einer Greisin. Die blicklosen Augen lagen, schwarz umrandet, tief in den Höhlen. Von der blonden Haarmähne waren nur mehr wenige Büschel und Stoppel übrig. Dafür entsprang ihrem Scheitel ein obszön unpassend wirkendes Stück Darm, ähnlich wie bei den Aliens, die sie Hemeello genannt hatte. Tränen rannen über mein Gesicht. »Was hat man dir angetan, Kythara?«, flüsterte ich. Wunden und Geschwüre bedeckten den spindeldürren, an manchen Stellen bläulich verfärbten, völlig entkräfteten und ausgemergelten Leib. Mehr als ein Drittel ihres Gewichts hatte sie verloren. Sie war sichtlich durch die Hölle gegangen. »Was musstest du ertragen, Kythara? Was hast du auf dich genommen für mich? – Sprich nicht, wenn es dich zu sehr anstrengt. Aber gib mir ein Zeichen, dass du …« Meine Stimme versagte. Die Werte, die ich vom Display der kombinierten MedoSyns ablas, lagen in den untersten Bereichen und sackten ständig tiefer. Nur noch ein Funken von Leben war in ihr. Hilf, falls nötig, den … Hemeello. Das ist … alles, was du … noch für mich … tun … »Nein, Kythara, nein!«, schluchzte ich. »Du überstehst das, wir bringen dich durch, ich päpple dich wieder auf. Die Gefahr ist vorüber, Peonu geflohen. Ich – wir haben gewonnen, verstehst du?« Die Worte klangen schal, banal, geschmacklos. Was half es mir, dass ich nun definitiv der einzige Träger des Flammenstaubs außerhalb der Intrawelt war? Dank Kytharas Hilfe hatte ich den so übermächtigen Gegner letztlich doch besiegt. Aber um welchen Preis! Gib auf … dich Acht, Atlan … da Gonozal! Bleib … dir treu, trotz des … Flammen … »Kythara, nein! Halte durch, geh nicht fort, ich bitte dich! – Oder ja, ja klar, freilich, das ist die Lösung: Spring in mich, erhole deinen Geist in mir, bis wir deinen Körper wiederhergestellt haben. Kythara! Hörst
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Leo Lukas
du?« Zu spät … keine Kraft mehr … übrig … Halt mich … Küss mich, Atlan … bitte … Weinend senkte ich meinen Mund auf ihre aufgesprungenen, von Fieberblasen übersäten Lippen. Sie seufzte. Dann sanken die Anzeigen auf null.
16. Epilog: Aufbrüche Am 3. September 1225 NGZ ließ Atlan da Gonozal an Bord des tropfenförmigen Kleinstraumschiffes DYS-116 die Intrawelt, den namenlosen Asteroiden und die Dunkelwolke SET-3 hinter sich. Wenige Stunden nach ihm startete auch die Fünfheit der Hemeello. Die Zweiheit Grdur/Shmeli hatte der Vielheit die Ereignisse im Düsterschiff geschildert. Dass sich der schurkische Findling unbekannten Ziels entfernt hatte, war sowieso evident. Überdies hatte der Arkonide glaubhaft versichert, dass Peonu noch nie daran gedacht hatte, auch nur ein einziges Häppchen zurückzugeben. Somit bestand kein Grund mehr, auf dem Trabanten der Intrawelt zu verweilen; leider auch keine Hoffnung für Bölv/Haiciez und die übrigen Bestohlenen, ihre Seelenfragmente je zurückzubekommen. Angesichts dieser Erkenntnis fielen sie in die Hormonphase der Schlafstasis. Sie würden sich wohl für lange Zeit vom Leben der Allgemeinheit fern halten. Dank ihrer guten Tarnung und Routenwahl erreichte die Fünfheit unbehelligt das Randgebiet der Galaxis Dwingeloo und stieß sogleich Richtung Leerraum vor. Allmählich kehrte in den Sphären des Generationenschiffes wieder die alte, wohl ausgewogene Ordnung ein. Grdur/Shmeli brachten eine gesunde Zweiheit zur Welt, die sie Atle/Kythar tauften.
*
Der Extrasinn schwieg. Atlan mutmaßte, dass seine innere Stimme Tage, wenn nicht Wochen der Ruhe brauchen würde, um sich zu reaktivieren. Auch stand keineswegs fest, ob alle Fähigkeiten beziehungsweise Daten, die der Logiksektor verwaltete, weiterhin in gleichem Maße abrufbar waren. Genauso wenig konnte sich der Arkonide sicher sein, dass er nicht manche persönliche Erinnerung für immer verloren hatte. Um Kythara aber, die ihr Leben für seines gegeben hatte, würde er noch lange trauern … Den mit Reshgor-1 vereinbarten Treffpunkt nahe dem Dunkelstern flog Atlan nicht an. Je deutlicher er die Macht des Flammenstaubs in sich erwachen spürte, desto weniger ratsam schien ihm, diesen so überaus kostbaren und heiklen Stoff den Sprechern der Konterkraft zu überbringen. Wer sagte ihm denn, dass die RebellenOrganisation keine vorgeschobene war und in Wahrheit, egal ob wissentlich oder nicht, ebenfalls den Lordrichtern diente? Möglicherweise hatten diese es für erfolgversprechender erachtet, zwei statt nur ein Eisen im Feuer zu haben. Das Risiko war Atlan zu groß. Außerdem hatte er beschlossen, erst einmal mit dem Flammenstaub umgehen zu lernen, ehe er, nach reiflicher Überlegung, eine Entscheidung fällen würde, was damit geschehen sollte. Er hielt sein kleines Beiboot abseits bewohnter Systeme und häufig frequentierter Regionen. Den ganzen ersten Flugtag lang begegnete er niemandem: nicht der DYKESTRA, keinen Garbyor-Raumern der Lordrichter-Truppen, keinem einzigen anderen Schiff. Nichts, rein gar nichts legte sich ihm in den Weg. Das mochte Zufall sein; vielleicht aber auch Glück.
Atlan, Bote des Flammenstaubs
51 ENDE
Zwischen den Dimensionen von Bernhard Kempen Die Abenteuer in der Intrawelt haben für Atlan und Kythara einen Abschluss gefunden. Noch offen ist hingegen zweierlei: die Abrechnung mit dem Chaotarchendiener Peonu und die Auseinandersetzung mit den Lordrichtern, um derentwillen Atlan überhaupt erst in die Intrawelt reiste.