Buch Über Nacht wird das Unfaßbare zur Gewißheit: Ein Asteroid rast auf die Erde zu. 18 Tage bleiben, um das Ende der M...
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Buch Über Nacht wird das Unfaßbare zur Gewißheit: Ein Asteroid rast auf die Erde zu. 18 Tage bleiben, um das Ende der Menschheit abzuwenden. Die NASA stellt eine Crew um den legendären Erdölspezialisten Harry S. Stamper zusammen und bildet sie innerhalb von 10 Tagen zu Astronauten aus. Sie sollen auf dem Astroiden landen, eine Bohrung anbringen und ihn nuklear sprengen. Die apokalyptische Uhr tickt. Niemals zuvor standen Menschen vor einer vergleichbar extremen Herausforderung ... wurde von Regisseur Michael Bay und Produzent Jerry Bruckheimer verfilmt. Neben Bruce Willis spielen in dem spektakulären Science-fiction-Thriller Billy Bob Thornton, Liv Tyler, Ben Affleck, Will Patton, Peter Stormare, Keitli David und Steve Buscerni. ARMAGEDDON
M.C. BOLIN
ARMAGEDDON Das Jüngste Gericht Roman zum Film Nach der Idee von Jonathan Hensleigh und Robert Pool und nach dem Drehbuch von Jonathan Hensleigh Aus dem Amerikanischen von Cecilia Palinkas
GOLDMANN
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel »Armageddon« bei Hyperion, New York
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Das Papier enthält Recycling-Anteile. Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann Deutsche Erstveröffentlichung 7/98 Copyright © 1998 by Disney Enterprises, Inc. All rights reserved. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1998 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagmotiv: © Buena Vista International (Germany) GmbH Satz: DTP Service Apel, Hannover Druck: Elsnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 44290 Redaktion: Alexander Groß V. B. • Herstellung: Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-44290-7 1 3 5 7 9 10 6 4 2
PROLOG Vor 65 Millionen Jahren spazierten Dinosaurier auf der Oberfläche eines reichen und fruchtbaren Planeten. Ein komplexes und hochentwickeltes Ökosystem gedieh. Dann raste ein Stück Felsen, nur sechs Meilen im Durchmesser, durch den Weltraum und veränderte die Geschichte der Natur für immer. Ein Asteroid. Er schlug auf die Erde mit der Kraft von zehntausend Atombomben, die gleichzeitig explodieren. Durch die Wucht wurden eine Trillion Tonnen Dreck und Gestein in die Atmosphäre geschleudert. Eine Staubdecke überzog den gesamten Planeten und verdeckte die Sonne für zehn Jahrhunderte. Es wird wieder geschehen. Es ist nur die Frage, wann es geschieht.
1 65 Millionen Jahre später Pete Shelby fluchte leise vor sich hin und hoffte, daß ihn die mehreren hundert seltsamen Lauscher nicht hören konnten. Er wünschte, er hätte den Schweiß, der von seinen Augen troff, erreichen und abwischen können, was aber in einem Raumhelm leider unmöglich war. Er wurde fast verrückt dabei, so den Satelliten reparieren zu müssen, und wünschte sich nichts sehnlicher, als schnell zurück ins Raumschiff zu kommen und sich in dem Häuflein Sicherheit aus Schrott zu verkriechen. »Wäre ich bloß Bibliothekar geworden wie meine Mutter«, murmelte er und versuchte sich wieder zu sammeln und weiterzumachen. Er konnte seinen Herzschlag in den Ohren, seinen keuchenden Atem und den vermaledeiten Schweiß, der ihm aus den Poren lief, nahezu hören. »Ja, Houston«, antwortete er. »Ich versuche es noch einmal.« Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston, 4 Uhr 47 morgens, Ostküstenzeit
Kontrollstation,
Dan Truman lehnte sich über die Schultern seines Chefpiloten Walter Clark und beobachtete das Video. »Wir haben jetzt Verbindung, Pete«, sagte Clark. »Wir geben euch das Zeichen von hier aus, wenn die Ausrichtung stimmt.«
Shelbys Stimme kam schnaufend und angespannt durch das Mikrophon. »... klingt gut. . . ja, wirklich ...« Truman verzog das Gesicht. Er mochte die Art nicht, wie Shelbys Stimme jetzt klang. Er zupfte an Clarks Schulter und rutschte in den Sitz, während der Chefpilot sich auf einen Stuhl setzte. »Pete, hier ist Truman. Wir machen uns ein wenig Sorgen um deine Gesundheit hier unten. Versuch ein bißchen auszuspannen. Wir haben genug Zeit, Kumpel.« Hoch über der Erde schwebend, nur eine verdammte Wäscheleine zwischen ihm und der unendlichen Tiefe des Nichts, dachte Shelby: Scheiße, du hast gut reden! Aber er zwang sich, sich zu beruhigen, während er mit den empfindlichen Instrumenten kämpfte. Er kam sich vor wie ein Herzchirurg mit Boxhandschuhen. »Gut, Houston«, antwortete Shelby. »Gebt eure Anweisungen.« Truman sprach langsam, ruhig und bestimmt. »Berühre nicht den Goldbelag. Wir können keinen Kurzschluß gebrauchen!« Shelby nahm einen tiefen Zug aus dem Sauerstoffbehälter und bewegte das Instrument unaufhörlich und langsam in Position. Mach es langsam und leicht, sagte er zu sich selber, so wie der Boß es sagt. Langsam... und... - Rumms! Shelbys letzter Blick war die Reflexion der Erde auf der Sichtblende seines Helms, die spinnwebenartig in ein Dutzend Risse zersprang. Sofort kochte das Blut des Astronauten und dampfte seine Seele hinaus in jene Tiefen, über die er gerade noch nachgedacht hatte. Die blinden Augen seines Leichnams haben niemals gesehen, was ihn traf, aber der Zusammenprall wurde von der Kamera auf seiner Schulter, die weitersummte und
alles, was passierte, aufzeichnete, übertragen. Das Raumschiff, mit dem er durch ein Seil verbunden war, wurde plötzlich von einem Hagelsturm aus Tausenden kleinen, schnellen Meteoritenkristallen zerfetzt. Das NASA-Logo war zerstört, und die Haut des großen Schiffes pellte sich bis auf das Gerippe. Das Cockpit füllte sich mit einem Feuerball. Und schließlich .. . ... explodierte das Raumschiff und schmückte die dunkle Leere mit Feuersplittern wie das gute alte amerikanische Feuerwerk am 4. Juli. Unten auf der Erde, in der Kontrollstation, wurden die Monitore schwarz. Jeder erzitterte, war sprachlos, keiner begriff. Ein schrecklicher Moment der Stille erfaßte den Raum - eine Stille, gefüllt mit einer Million und einem Gedanken, und keiner davon verhieß Gutes. Plötzlich kam ein Techniker zu sich und krächzte in die Stille hinein. »Alle Systeme sind unten!« Das brach die Starre. »Totales Versagen!« berichtete ein anderer Techniker. »Wir haben verloren .. .« Seine Worte wurden durch die übliche Aufregung in der Kontrollstation verschluckt. Techniker ließen die StyroporKaffeebecher fallen und schwangen sich in ihre Sitze. Hände flogen über die Tastaturen. Technikergeschwätz überdeckte alle anderen Geräusche. Mitten in diesem Sturm stand Dan Truman wie angewurzelt da, jenseits vom Lärm, und wollte es nicht glauben. US-Raumfahrt-Befehlszentrale, 4 Uhr 49 morgens, Ostküstenzeit
In einem dunklen Raum, vollgestopft mit der modernsten Technologie des Planeten, beeilte sich eine Kampfstaffel zu ihren Posten zu gelangen. Kleine gelbe Radarechos füllten mehrere große Fernsehmonitore. »Sektor fünf-neun meldet drei... nun fünf ... acht... ich wiederhole, acht unbekannte Spuren!« »Wachhund!« meldete ein anderer. »Ich habe vier, nein neun ... jetzt elf unbekannte ...« Scheiße! »Ich habe alles voller Spuren!« Von einem Laufsteg brüllte ein verstört aussehender Sektionsdirektor herunter: »Es könnte ein überraschender Raketenangriff sein! Steigt in die Adler!« Otis-Luftwaffenbasis, Massachusetts, 5 Uhr 03 morgens, Ostküstenzeit Zwei Dutzend aufgeschreckte Piloten und Mannschaften setzten sich in Bewegung und kletterten in die dunklen, eisigen Flugzeughallen, wo die F-15-Eagle-Kampfmaschinen auf sie warteten. Konferenzraum der Nationalen Sicherheitsbehörde, 5 Uhr 06 morgens Die Konsolen leuchteten auf. Ein junger Berater hielt drei Telephonhörer und sprach auf einer Sicherheitsleitung: »General Kimsey«, sagte er nervös, »ich habe hier General Vladic von der Russischen Luftverteidigung. Er will wissen, was wir treiben.« NASA, Kontrollstation, 5 Uhr 09 morgens, Ostküstenzeit
Dan Truman schritt durch den vollgestopften Raum und gab Befehle in alle Richtungen. Die Hölle brach los, und er war der Verantwortliche, um das alles zu bewältigen. »Ich brauche drei Gruppen. Gruppe eins - für interne Fehlfunktionen. Übertragt die Bordbänder und arbeitet alles von vorne bis hinten durch. Vielleicht ist es ein Fehler. Gruppe zwei - ich brauche NORAD, das Raumkommando und die fünfzigste Taktische, damit sie den ganzen Plunder von Spuren im All vergleicht, in jeder Umlaufbahn. Laßt sie alles untersuchen, dann noch einmal, und dann arbeitet alles wieder durch. Gruppe drei - alles und jedes.« Er atmete tief durch und starrte wütend in den Raum. »Los! Laßt uns anfangen.« Sedona, Arizona, 5 Uhr 38 morgens Dottie wachte auf und hatte Angst, die Augen zu öffnen, bevor sie die andere Seite ihres Doppelbettes anfaßte. Die Bettlaken waren so kalt wie Eis. Sie murmelte etwas Obszönes, hob ihre steifen alten Beine aus dem Bett und steckte die kalten Füße in ihre pelzartigen Hausschuhe. Sie griff zu der Plastiktaschenlampe neben ihrem Bett, knipste sie an und stolperte durch den engen Wohnwagen. Sie blieb nur so lange, bis sie den kleinen runden Tisch angeleuchtet hatte, dann marschierte sie hinaus in die Dämmerung zu dem garagengroßen, 1920 gebauten Amateur Observatorium. »Karl!« schrie sie in die Dunkelheit hinein. Sie fand ihn schließlich im Observatorium, ihren schrulligen achtzigjährigen Nichtsnutz von Ehemann, Karl, die Augen dicht am Teleskop. »Es ist verdammt noch mal 5 Uhr 30 morgens!« keifte sie. »Deine Pastete steht schon seit zehn Stunden auf dem Tisch. Du kotzt mich an. Ich meine das ernst. Ich will die Scheidung!«
Karl hielt ein Auge wie festgeklebt am Teleskop. »Ich dachte, wir wären schon geschieden«, murmelte er. »Wann war das?« schrie Dottie. Aber Karls Aufmerksamkeit richtete sich auf einen neuen Feuerball. »Das ist irgend etwas Neues«, sagte er. »Dottie, hol das Telephonbuch.« »Entschuldige bitte!« erklärte Dottie. »Bin ich etwa >Karls Sklave« »Geh und hol das verdammte Telephonbuch!« Washington, D. C., Pennsylvania Avenue, 5 Uhr 45 morgens Auf dem Rücksitz einer eskortierten Militärlimousine wandte sich der Generalleutnant der Luftwaffe, General Kimsey, Vorsitzender der Verbindungsoffiziere, seinem Stellvertreter zu. »Das Weltraumkommando bestätigt weltweite zeitgleiche Einschläge. Es könnten Teile der Raumfähre sein, die wieder in die Atmosphäre eintreten.« »Ja, und es könnte Santa Claus sein!« Kimsey grunzte. »Ich verlange eine genaue und zuverlässige Bestätigung. Beeilt euch!« 59ste Straße, Bridge, Manhattan Island, 6 Uhr morgens Ein Motorradbote kreuzte, einen Rap-Song singend und im Takt schlenkernd, durch den stehenden Verkehr. Er streichelte die Bulldogge im Korb seines Motorrades. Er parkte und schlenderte die Straße entlang. Es war so cool, in dieser aufregendsten Stadt der Welt - nein, des Universums zu leben! Die Dogge zerrte an der Leine und schlabberte den Bürgersteig ab. Er schüttelte den Kopf über die Männer in den Anzügen, die ihre Nasen wie immer in
Zeitungen steckten. Hey, denen fehlte doch was - das Leben war auf der Hauptstraße, nicht in der Wall Street. Er kam an einem Laden für elektronische Geräte vorbei, vor dem sich eine Menschenmenge versammelt hatte. Vielleicht das Spiel mit den drei Karten, dachte er. Nein, dafür waren es zu viele Menschen. Er preßte sich durch die Menge und quetschte sich in die Lücken, in die normal gewachsene Menschen nicht hineinpaßten. »Was ist los?« fragte er. »Die Raumfähre«, sagte jemand neben ihm. »Wumm! Einfach weg. Sie ist verdunstet, pulverisiert.« Gerade in dem Augenblick hob die Dogge das Bein und salutierte mit einem langen Strahl an einem Schuh, der zu einem großen Mann aus Samoa gehörte. Der Samoaner trat den Hund, und der Hund knurrte. »Hey!« beschwerte sich der kleine Hundebesitzer. »Hey, du hast meinen Hund getreten!« »Kleiner Mann!« schrie der Samoaner. »Was kannst du schon dagegen tun?« »Ich werde dir ein paar Luftraketen in die großen ...« Seine letzten Worte gingen in einem gigantischen Knall über ihren Köpfen unter. Der große TV-Bildschirm brummte und wurde schwarz. Der Samoaner sah hinauf zu einem Hagel aus Glas, als ein riesiges Stück, so groß wie ein Basketball, ihn auf den Bürgersteig schmetterte und auf dem Straßenpflaster zerbarst. Die Glasscheibe des Schaufensters explodierte, die Fernseher zerbarsten, und die Leute begannen zu schreien, zu brüllen und auf die Fahrbahn zu rennen, so daß sich die Autofahrer veranlaßt sahen, das Ganze mit einem Hupkonzert zu untermalen. Und dann ... ... war es vorbei. Dampf zischte aus einem über fünf Meter breiten Loch.
Der kleine Mann verkroch sich in eine Nische des Geschäftes. Er hielt das eine Ende der Leine, deren anderes Ende in einem neuen Krater verschwand. Auf dem Boden des etwa zwölf Meter tiefen Kraters zischte ein kochender, rauchender, rotglühender Meteorit. Und dort, an der Leine, über dem Rand des Kraters, hing die Bulldogge. »Little Richard!« brüllte der kleine Typ. »Mein Gott! Ich rufe 911! Halte durch!* In der ganzen Stadt kam der Verkehr zum Erliegen. Ein Taxifahrer namens Stu steckte den Kopf aus dem Fenster und fragte sich, was zum Teufel jetzt schon wieder passiert war. »Was gibt es für Probleme?« fragte ein asiatischer Tourist auf dem Rücksitz des Taxis. »Kann alles mögliche sein«, sagte er. »Schießerei, Stecherei, Mord«, er zuckte mit den Achseln. »Es ist Freitag, Zahltag. Wahrscheinlich irgendein Spinner.« Plötzlich pfiff ein Projektil von der Große eines Lastwagens durch den Himmel und zerschnitt vor ihren Augen mit einer geraden Linie drei Gebäude zu ihrer Rechten. Mehrere Geschosse explodierten an der Kreuzung und verwüsteten alles zu ihrer Linken. Fahrzeuge fuhren ineinander und hinterließen aufgetürmte Schrotthaufen. Die fünf oberen Stockwerke eines Gebäudes brachen ab wie die obere Schicht eines Hochzeitskuchens und schlugen auf die Straße. Steine und Ziegel flogen durch die Luft, und überall zerbarsten Hydranten. NASA, Kontrollstation, 7 Uhr morgens »Die Bildschirme sind wieder einsatzbereit«, rief ein Techniker. »Sir«, meldete ein anderer, »es war ein Meteoritenschwarm in der nördlichen Hemisphäre.«
»Bleibt am Ball«, befahl Truman. »Wir brauchen eine Übersicht der Flugbahnen ...« »Aber Sir!« meinte der Techniker. »Das könnte über eine Woche dauern, die ...« »Los, findet sie heraus. Ich will wissen, ob das Schlimmste vorbei ist oder noch kommt...«, raunzte Truman sie an. »General Kimsey an Apparat vier«, rief eine Stimme quer durch den Raum. »Ausgezeichnet.« Truman drückte den aufleuchtenden Knopf und griff nach dem Telephon. »Ja, Truman am Apparat.« General Kimsey rief vom Nationalen Sicherheitsbüro an, umringt von seinen Verbindungsoffizieren. Fernsehnachrichten plärrten im Hintergrund. Der Stuhl des Präsidenten war unübersehbar leer. »Wir haben Einschläge von Finnland bis nach Südcarolina. Wir wissen, daß es keine Raketen sind. Also, was zum Henker ist das?« bellte Kimsey in die Leitung. »Meteoritenschwarme. Die haben auch die Raumfähre weggerissen«, erklärte Truman. »Nun«, sagte Kimsey, »die wichtigste Frage, die der Präsident der Luftwaffe beantwortet haben will, lautet: Ist es jetzt vorbei mit den Einschlägen?« »Je früher sie mich vom Telephon lassen, desto früher weiß ich es. Wir rufen Sie zurück.« Er legte auf, ohne sich zu verabschieden, und wandte sich wieder dem Chaos in seinem Büro zu. Draußen auf den Korridoren eilte Dr. Ronald Quincy mit einem Stapel Papiere durch den Flur. » Quincy!« rief ein Techniker. »Ich habe Karl aus Sedona am Telephon. Er sagte, er hätte dich auf einem Kometen-Seminar getroffen. Ich glaube, du solltest den Anruf annehmen.«
Quincy gab Karl eine Minute und stellte ihn dann zu Truman durch. Während Truman mit Karl sprach, senkte sich der Geräuschpegel im Raum. »... Nein, nein, nein, nimm dir Zeit, Karl«, sagte Truman ins Telephon. »Ich möchte es lieber sehr exakt als zu schnell.« Aber was er wirklich wollte, war beides. »Nein, nein, du bist wirklich der erste ... Ja, wir haben alle die Nachrichten gesehen. Ich bin bereit. Mach weiter.« Truman knirschte mit den Zähnen und verwandelte seine gerunzelte Stirn in ein freundliches Lächeln. »Ja, ich habe einen Stift. Erzähl weiter.« Während er zuhörte, berichtete ein Techniker auf einer zweiten Leitung: »Das FBI hat sein Observatorium blokkiert.« Clark hörte über ein zweites Telephon mit. »Er sah eine Explosion im Weltraum. Er beobachtete ein verschwommenes Objekt über zwei Wochen lang. Die Chance steht eins zu einer Million, aber vielleicht hat der Junge irgend etwas gesehen.« »Karl«, sagte Truman ruhig, »ich möchte, daß du da bleibst, wo du bist, verstanden? Wir schicken dir jemanden. Vielleicht ist es nichts Besonderes, aber im Augenblick zähle ich auf dich, daß du nichts verrätst. Behalte alles, was du gesehen hast, für dich. Es ist streng geheim, verstehst du?« »Ja, Sir«, antwortete Karl. »Sir, ich bin Rentner. War in der Navy. Ich weiß, was klassifiziert heißt - aber noch eins. Die Person, die es gefunden hat, kann es selber benennen, ist das korrekt?« »Ja. Das ist richtig«, antwortete Truman und freute sich über den Alten. »Ich werde es DOTTIE nennen, nach meiner Frau«, sagte Karl. »Das ist nett, Karl.«
»Huh!« schoß Karl zurück. »Sie ist ein böswilliges Miststück, vor der es keine Rettung gibt.« Hmmm, treffend, dachte Truman. Zwei STI-Techniker vom Raumbeobachtungs- Institut übernahmen das Hubble-Teleskop und stellten das Beobachtungsfenster auf den Satelliten ein, um einen Blick auf Karls Entdeckung zu werfen. »Neue Houston-Information - Koordinaten 712 und 345. Laßt uns schnell auf hohe Bildauflösung einstellen.« Die Bilder wurden über das Hubble-Teleskop auf einen hoch auflösenden Drucker übertragen. Die Techniker griffen sich die Ausdrucke, räumten die Bedienungskonsole frei, damit sie die Bilder auslegen und zusammenfügen konnten. Die beiden starrten ehrfurchtsvoll auf das zusammengestellte Bild. »Leck mich am ...« »Genug mit dieser anomalen Pferdescheiße«, grollte der Präsident über das Telephon. »Was ist das für ein Ding?« »Ein Asteroid, Sir«, sagte Truman. »Ich schaue hier auf einen Laptop«, beschwerte sich der Präsident. »Über welche Größenordnungen reden wir?« Truman stierte auf den Tisch. Einer der Proportionsanalytiker sprach es aus. »Unsere genauesten Annahmen im Augenblick sind 96,5 Billionen Kubikkilom ...« Truman winkte mit der Hand ab und murmelte in sich hinein: »Einfach.« »Oh, es handelt sich um die Größe von Texas, Mr. Präsident.« »Und wir konnten es vorher nicht kommen sehen?« wunderte sich der Präsident.
»Unser Budget ist grundlegend gekürzt worden, Sir«, bemerkte Truman, »Sie wissen, daß man mit 700.000 Dollar keine großen Sprünge machen kann. Wir können drei Prozent des Himmels beobachten, und, Sir, entschuldigen Sie, es ist ein riesengroßer Arsch von Himmel.« »Was war heute morgen? Wie groß waren die?« wollte Kimsey wissen. »Nichts Besonderes«, antwortete Truman, »Kieselsteine - es waren basketball- bis volkswagengroße Meteoriten.« »Wird er uns treffen?« fragte der Präsident. »Das versuchen wir gerade jetzt zu berechnen, während wir hier sprechen.« »Wie groß wird der Schaden werden ...« »Total, Sir, so was nennen wir einen Global-Killer. Das Ende der Menschheit. Es spielt kein Rolle, wo er uns trifft, nichts wird überleben, selbst die Bakterien nicht«, antwortete Truman sachlich. »Mein Gott, was sollen wir tun?« Der Präsident schnappte nach Luft. »Unsere Ängste bestätigen, unsere Möglichkeiten prüfen und die beste Wahl treffen, die wir haben.« Plötzlich öffnete sich die Tür am anderen Ende des Raums. Truman und jeder andere im Raum blickten dorthin und starrten den Mathematiker an, der einen Ausdruck in der Hand hielt. Scheiße, dachte Truman. Der Junge brauchte keinen Ton von sich zu geben. Er wußte, daß das schlechte Nachrichten waren. Der Mathematiker räusperte sich und würgte die Nachricht heraus: »Wir haben noch achtzehn Tage.«
2 Harry S. Stamper stieß einen Ballhalter ins Gras, küßte den Golfball und plazierte ihn behutsam in die kleine Ausbuchtung. Es gab doch nichts Besseres, um den Tag zu beginnen, als einen in den Sonnenschein zu jagen. Mit Geduld und Konzentration nahm er das Ziel ins Visier und bereitete den Schlag vor. Ausatmen, entspannen, schwingen - Twack. Genau ins Ziel. Tschonk!! Der harte weiße Ball knallte auf das Dach des GreenpeaceBootes und riß die Protestler, die im Steuerhaus schliefen, aus dem Schlaf. »Aufstehen und lächeln! Es ist ein schöner Tag!« rief Harry ausgelassen, als sie ihn mit frechen Sprüchen bombardierten. Sie protestierten weiter, während er den nächsten Ball vom Deck der Bohrinsel vorbereitete. Hinter ihm runzelte Charles »Chick« Chapple, ein knorriges Rauhbein von einem Mann, der seit zwanzig Jahren für Harry arbeitete, die Stirn. »Das Boot ist hundert Meter zu nah. Ich hole Massey - erinnerst du dich? Unser Sportsfreund von der Navy. Er wird diese Kinder in Null Komma nichts dort rausholen.« Wumms! Harry schoß einen anderen Ball auf das Deck des Schiffes. »Guten Morgen. Wie geht's ? Ich weiß, wir sind die Bösen! Nach Öl zu bohren ist wirklich schlimm! Wißt ihr, wieviel Diesel euer Scheißboot in einer Stunde frißt?« Chick übergab seinem Boß das Klemmbrett mit einem
Bericht. »Ich rufe meinen Freund an. Er ist einfach toll. Dieser Bastard ist so brutal, daß selbst seine Mutter ihn haßt.« »Ach was! Greenpeace liebt Wale, und ich liebe Wale. Ich mag es nur nicht, wenn sie sich in meinem Fahrbereich aufhalten.« Harry überprüfte schnell den Bericht. »Warum wurde an der Zwei gebohrt?« »Knabberte 180 Fuß gestern nacht«, antwortete Chick. »Ich habe sie schließen lassen«, sagte Harry. »Wer zum Teufel hat Bohrungen an der Zwei veranlaßt?« »Zweimal darfst du raten, aber du wirst es schon beim ersten Mal erraten«, meinte Chick. Harrys Gesicht wurde rot vor Zorn, und er knirschte mit den Zähnen. Er brummte, schwang den Golfschläger und warf ihn ins Meer. »Harry? Das war mein Fünfer-Eisen«, betonte Chick. Harry stampfte über die Insel und brüllte: »A. J.! A. J.! Schieb deinen Arsch hier raus!« Mehrere Leute schauten von dem Rohr auf, das sie gerade versenkten. »Was hat er denn diesmal angestellt?« lachte einer von ihnen in sich hinein, während Harry zum Oberbau marschierte. In der Nähe des Eingangs saß ein Geologe des Schlammauffangsystems, der auf den Namen Rockhound hörte, in Boxershorts, mit einem Grubenhelm auf dem Kopf und in leichten Turnschuhen. In seinen behandschuhten Händen hielt er einen großen Fisch. Als Harry vorbeieilte, rief er: »Hey, schau dir das mal an! 43 Pfund schlankes Wasser Leben in der verdammten Nahrungskette! « »A. J., wo ist er?« rief Harry. »Warum?« Rockhound war plötzlich sehr ernst. »Hey, haben wir getroffen? Gott sei Dank! Sind wir hier fertig?« Aber Harry eilte weiter und ignorierte ihn.
»Du kennst mich doch«, rief er hinter ihm her, den Fisch in der Hand. »Ich fange an zu fischen, und das ist der wichtigste emotionale Indikator dafür, daß ich ein bißchen durchgeknallt bin! Beruhig dich!« Im Konferenzraum der Kontrollstation Alle Augen waren auf Dan Truman gerichtet, der den Bericht des Mathematikers vorlas. Die Zahlen machten es zu sicher –zu real. Er sah sich im Raum um und hoffte, daß das, was er empfand, nicht auf die anderen im Raum übersprang. »In Ordnung, genau das werden wir unternehmen.« Seine Stimme war ruhig, und sie hörte sich angenehm an in dem ruhigen Raum. »Ich will jede Strategie hören, die uns gegen Kollisionen mit erdnahen Objekten zur Verfügung steht. Ich meine jede Idee, jedes Programm, jede Skizze auf jeder Serviette und auf jeder Pizzaschachtel. Vierzig Jahre lang haben sich alle gefragt, wozu die NASA gut ist«, fuhr er fort. »Heute werden wir ihnen die Antwort liefern.« Einen Herzschlag später explodierte der Raum förmlich vor hektischer Aktivität. Es galt jetzt alles zu durchforsten, was sie seit der ersten Klasse gelernt hatten, jede Strategie, die sie auf der High-School beim Fußballspielen angewandt hatten, jede Sekunde Training, die sie von der NASA erhalten hatten jedes Gebet, an das sie sich erinnerten oder sich ausdenken konnten, um das größte Problem, mit dem die Erde je konfrontiert worden war, zu lösen.
3 Harry Stamper konzentrierte seinen ganzen Zorn darauf, die Tür aufzureißen. Als er die Türöffnung ausfüllte, durchsuchte er den kleinen dunklen Raum und hatte nicht wenig Lust zu spucken. Er hätte wissen müssen, daß er den leitenden Ingenieur hier finden würde, immer noch im Bett zusammengerollt wie ein alter Hund. Er machte zwei große Schritte, bis er vor dem Bett stand, und trat dagegen. »Steh auf, bevor ich dich rausschmeiße«, grollte er. A. J. setzte sich aufrecht hin, versuchte seine Furcht mit einem unschuldigen Blick zu verbergen und wünschte, er wäre an einem anderen Ort. Das Ergebnis davon waren Glubschaugen. »Hey, gut, du bist besoffen. Ich hab's...« »Nein. Du kennst mich, wenn ich besoffen bin«, schnaufte Harry. »... aber jetzt, du weißt nicht, was los ist. Ich habe Nummer zwei geschlossen. Das ist los!« »Was?« A. J. erstarrte wie ein zum Tode Verurteilter mit dem Gouverneur an der Strippe. »Oh...« Er begann langsam zu verstehen. »Oh! Das.« » Yeah, das!« bellte Harry. »Wenn du acht Millionen Dollar deines Vermögens auf einen Vertrag gesetzt hast - und es dein Arsch ist, der angebrannt wird, wenn du in 19.000 Fuß Tiefe das Öl nicht findest, dann kannst du von mir aus tun, was dir gefällt. Du wirst nie mehr meine Befehle mißachten!« »Oh, klar, Mann«, antwortete A. J. Er klang viel zu fröhlich
für einen Mann, der gerade einen Anschiß von seinem Boß erhalten hatte. »Du hast natürlich recht. Ich zieh mich an«, fuhr er fort und zog die Decke weiter hoch. »Ich bin in zwei Minuten oben.« Harry wunderte sich über A. J.s sonderbare Bescheidenheit, aber er war viel zu wütend, um weiter darauf einzugehen. »Sechs Worte will ich von dir hören, und zwar jetzt. Sechs Worte.« A. J. runzelte die Stirn und zählte, als er sprach. »Tut mir leid, Harry.« Das waren nur vier. »Sehr leid?« »Ich werde es niemals wieder tun!« blökte Harry. A. J. nickte eifrig. »Ich werde es nicht. . . du weißt es, ich werde es nicht wieder tun. Wer hat Scheiße gebaut? Ich. Ich hab's versaut. Verdammt, Harry, alles, was du denkst, ist richtig.« Er grinste in sich hinein wie ein Verkäufer von Billigartikeln, der einen wütenden Kunden beruhigen wollte. »Wir treffen uns in fünf Minuten bei den Bohrarbeiten. Okay?« Harrys Augen wurden schmal, während er A. J. ununterbrochen musterte. Irgend etwas stank hier ganz gewaltig. A. J. spielte zu sehr den Reumütigen. Irgend etwas ging hier vor. »Ich habe dir vor fünf Jahren diesen Job verschafft, A. J. In diesen fünf Jahren hast du dich niemals so schnell entschuldigt wie jetzt. Das sieht mir zu sehr nach einer eiligen und unüberlegten Reue aus. Ich sage dir, es macht mich nervös. Es ist verdächtig.« Er kam näher und blickte direkt in die verschlagenen Augen seines Gegenübers. »Sag's mir lieber jetzt! Was ist noch falsch gelaufen?« »Nichts, Harry, Ich schwöre...« A. J. schwor voller In-
brunst. »Ich bin, wie du siehst, gerade dabei, eine neue Bettdecke zu beziehen.« Harry grunzte und wollte gehen. »Hatschi...« Das klang nach einem leichten und mädchenhaften Niesen. A. J. zuckte und schniefte und wischte sich die Nase. Er grinste. Oh. . . oh. . . Harry drehte sich um, grinste wie ein Krokodil. »Was ist da unter der alten Bettdecke?« sagte er und zog die Decke hoch. Da lag in einem sexy Pyjama eine schöne junge Frau, etwa 23, mit zerzausten rotbraunen Haaren. Harrys Kiefer fiel herunter. »Grace ...?« »Harry ...!« quiekte sie. »Ich dachte, ich hätte dir gesagt, daß du mich Dad nennen sollst!« Kurz bevor Harrys vor Wut rot angelaufenes Gesicht sich in ein düsteres Gewitter verwandelte, stürmte A. J. aus dem Raum. Sekunden später riß Harry ein Gewehr aus der Halterung an der Wand und zielte auf A. J. »Harry? Harry!« brüllte A. J. »Ich kann vollkommen verstehen, daß du unter solchen Umständen irrational handelst, aber...« Rumms! Es dauerte einen Moment, bis er sich vergewissert hatte, daß der Schuß in den Himmel und nicht in seine Eingeweide . . . Jesus . . . es war geladen... »Heilige Scheiße, Mann!« »Ich habe für dich gebürgt, damit du aus dem Knast kommst!« schrie Harry und lud das Gewehr nach. »Ich habe dein Leben gerettet! Ich gab dir ein Ziel, und so zahlst du es mir zurück?«
»Warte! Stop!« schrie A. J. »Hör mir doch endlich zu!« Aber Harry war nicht der Typ, der warten konnte. A. J. krabbelte auf den Ausleger oberhalb des Decks und kletterte auf die Metallsprossen. Grace folgte ihm, nur in ein Bettlaken gehüllt. »Harry, hör sofort auf damit!« schrie sie ihren Vater an. »Du bist ja geisteskrank!« »Liebling«, antwortete er, ohne sich umzudrehen, »geh und zieh dir was über.« »Du kannst nicht mein Leben kontrollieren, klar!« »Ich weiß. Zieh dich an. Jetzt!« Dann war er wieder hinter A. J. her. »Schau«, meinte A. J. und keuchte schwer, als er mit schmerzverzerrtem Gesicht barfuß die Metallsprossen hocheilte, »ich kann dir nur eines sagen: leg die Knarre weg!« Rumms! A. J. wurde fast bewußtlos, als er das Geschoß an seiner Unterwäsche vorbeizischen hörte. Jesus, wo zum Teufel zielt der Typ hin? Harry lud das Gewehr nach und zielte. Dann aber wurde sein Blickfeld durch eine riesige Masse verdeckt. Es war Jayotis »Bear« Kurleenbear, einer von Harrys Festangestellten, der den Spitznamen nicht nur als verkürzte Form seines Nachnamens erhalten hatte, sondern auch wegen seiner Erscheinung - er rasierte und duschte sich so oft wie sein wildlebender Namensvetter. »Warum legst du nicht die Knarre weg, Boß?« sagte er ruhig. »Du willst doch nicht etwa auch eine verpaßt haben, Bear. Du weißt, wovon ich rede?« Bear grinste. »Teufel ja, ich versuche nur, meinem Mann einen Vorsprung zu geben.« Harry schüttelte den Kopf und schob Bear beiseite. A. J. kletterte immer noch um sein Leben.
»Du bist immer noch der gleiche dumpfe Dreckskerl, der du immer warst!« brüllte Harry. »Nur, heute bist du doppelt so alt!« »Aber Harry!« meinte A. J. und entschied sich für die Wirkung der Ehrlichkeit. »Ich liebe sie!« »Ganz falsche Antwort!« Harry schoß erneut und traf diesmal die Verteilerbox, die einen Funkenschauer auf das Deck sprühte. Im gleichen Augenblick erschien Chick und versuchte mit Harry vernünftig zu reden. »Harry, bevor du den besten Mann unserer Mannschaft erschießt, beweg deinen Arsch auf Deck.« »Ich kann dich nicht hören«, antwortete Harry. »Du sprichst, aber ich randaliere gerade - weg mit dir.« Er schob sich an Chick vorbei und jagte weiter hinter A. J. her. »Wir müssen darüber reden, Mann!« schrie A. J. »Das tun wir gerade!« antwortete Harry. Rumms! Der Schuß verfehlte nur knapp sein Ziel, und A. J. verlor das Gleichgewicht und fiel. »Nein!« schrie Grace. Er erwischte gerade noch ein Kabel. Er benutzte es, um sich in Sicherheit zu bringen, als Harry wieder auf ihn zielte. Ich will ihn ja gar nicht erschießen, dachte Harry bei sich, als er wieder auf A. J. zielte. Dann dachte er an den Dreckskerl, der mit seiner Tochter im Bett... und das genau hier, vor den Augen ihres Vaters! Berechtigter Totschlag. Es war ein klarer Fall von Pflichterfüllung, wenn in der Jury genügend Väter wären. AHHHHHHHHNNNNN! Der plötzliche Ton der Alarmsirene stoppte alle Aktivitäten. Sie ertönte nur, wenn etwas Wichtiges passierte. Harry schaute hinunter aufs Deck und sah Rockhound, der ihm zuwinkte.
»Achtung! Wir kriegen Besuch. Klienten kommen«, rief Rockhound. Die Mannschaft richtete sofort die Augen auf das Wasser, wo ein großes Schiff am Horizont erschien. Harry ließ das Gewehr sofort fallen. Das Geschäft ging vor. Der Familienkrach konnte warten. In der Kontrollstation war der Präsentationstisch übersät mit Büchern, Berichten, Maßstabsmodellen - Dutzenden von halbfertigen, theoretischen Abhandlungen, überfüllt mit vielen Wenn und Aber. Die Hände des jungen Ingenieurs zitterten, als er versuchte, eine Idee vorzubringen. »Uh, wir - damals 1974 - die Wahrscheinlichkeit, daß ein Asteroid - man könnte auch sagen, Meteor . .. obwohl, genaugenommen ist ein Meteor nur . ..« Truman verdrehte die Augen. Scheiß auf diesen Blödsinn! Sie würden so lange im Theoretischen schweben, bis ihnen jemand auf die Sprünge half. »Ich brauche jemanden, der heute morgen weniger Koffein zu sich genommen hat«, schnaufte er. »Grünberg, was habt ihr herausgefunden?« »Unser erster durchführbarer Plan war, einen gigantischen Focussier-Laser zu bauen, der die Oberfläche des Meteoriten bis zu dem Punkt erhitzt, an dem er auseinanderbricht.« »Das ist so, als wenn man mit einem Luftgewehr auf einen Frachtzug schießt«, unterbrach ihn Truman ungeduldig. »Alexander, was hast du?« »Wie war's mit elektrostatischer Abstoßung?« fragte Alexander. »Wie das wäre?« schnaufte Truman. »Wir haben zweieinhalb Wochen. Für die Elektrostatische Repulsion bleibt uns unter diesen Umständen keine Zeit. Waisler, bitte schön.« Waisler hielt eine schematische Zeichnung hoch und deutete auf mehrere gepunktete Linien, während er erklärte:
»Unser Entwurf sieht vor, ein Schiff zum Objekt hinaufzuschicken, Solarsegel aufzuspannen, um das Ziel vorsichtig umzuleiten.« »Nett. Sehr kreativ.« Waisler schaute auf den Boden. »Sie können sich mit der Idee nicht anfreunden?« Truman verzog keine Miene. »Nein. Was gibt es sonst noch, Leute?« Er schaute irritiert auf die Uhr - die offizielle NASA-Stoppuhr. Diese Uhr zeigte die Zeit in digitalen Ziffern an, bis zu einer Tausendstel Sekunde. Die Zeit bis zur globalen Vernichtung betrug: 18 Tage. 431:15:18:014. »Zeit ist ein Luxus, den wir nicht haben.« Auf der Bohrinsel versammelte sich Harrys chaotische Crew auf Deck und versuchte einen professionellen Eindruck zu machen für die drei Verwalter aus Hongkong, die von der Landungsbrücke ihrer glänzenden Yacht auf Harrys dreckige Ölplattform zusteuerten. Grace - nun vollständig bekleidet - stand scheinbar gelassen an der Seite ihres Vaters. A. J. hielt sich abseits. Grace' cooles Auftreten war reine Geschäftsfassade, die ihre innere blanke Wut verdecken sollte. »Ich verstehe, daß du durch deine natürliche Unreife gehandikapt bist, Harry ...« »Vater. Nenn mich Vater ...« »Ich möchte nicht so enden wie du - alleine, besessen von der Arbeit und ohne einen Lebenspartner .. .« »Ich habe genug Partner«, sagte Harry verletzt. »Bear ist seit zehn Jahren bei mir und Chick schon bald zwanzig.« »A. J. ist meine Wahl, Harry. Und ich möchte, daß du das respektierst.« »Er ist der einzige in deinem Alter, Liebling!« protestierte Harry und ließ die ankommenden Asiaten nicht aus den
Augen. »Das ist keine Wahl - das ist ein Mangel an Möglichkeiten.« Grace verdrehte die Augen. »Also gut. Da du der größte Experte für Beziehungen zwischen den Geschlechtern bist, sag mir, wo meine Mutter ist.« Ihre Stimme war voller Sarkasmus. »Fang nicht wieder damit an ...« »Oh, in Ordnung«, sagte Grace und gab vor, sich zu erinnern; sie genoß es und wußte in diesem Augenblick, daß sie ihn damit traf. »Niemand weiß es. Als sie verschwand, hinterließ sie keine Adresse.« »Grace«, unterbrach Chick leise, »ich glaube, du gehst jetzt zu weit.« Grace ignorierte den alten Mann und fuhr genüßlich fort, Harry zu attackieren. »Sie war eine gute Wahl, Harry. Du bist ein Experte in Beziehungsfragen.« »Hey, du sprichst über deine Mutter!« protestierte Harry. Grace schüttelte den Kopf. »Was willst du von mir, Harry? Ich kann nicht mein ganzes Leben lang dein kleines, niedliches, geschlechtsloses Maskottchen sein!« »Ich möchte, daß du mit dem Mannschaftsboot zurück aufs Festland fährst und Montag im Büro bist.« »Wirklich? Dann kündige ich.« Harry schüttelte den Kopf. Er hatte das Mädchen verzogen, sagte er zu sich selber. Gut, dann mußte er ihr eben jetzt zeigen, wer hier das Sagen hatte. Sie konnte Befehle genausogut entgegennehmen wie jeder andere auf der Bohrinsel. »Du wirst nicht den Dienst quittieren«, befahl ihr Vater. »Und du wirst A. J. nicht mehr sehen, und wir werden nie wieder darüber diskutieren. Verstanden?« Harry konnte sich nicht erklären, warum Grace jetzt lachte. »Was soll das?« Grace konnte sich das Lachen kaum verkneifen und tat
einen Schritt nach vorne, um die Kunden aus Hongkong zu begrüßen, die sie mit ihrer perfekten Aussprache auf der Stelle für sich einnahm - sie sprach fließend Kantonesisch. Harry hatte natürlich nicht die geringste Ahnung, über was sie sich unterhielten, aber er nickte und grinste und verbeugte sich. Während Grace lächelnd mit ihren Kunden verhandelte, führte sie die Diskussion mit ihrem Vater weiter. »Ich bin schon seit sechs Monaten mit A. J. zusammen.« Harry war dankbar, daß seine Kunden nicht ein Wort von alldem verstanden, was nach dieser Neuigkeit über seine Lippen kam. Dann führte Grace ihre Kunden zu einer großen Besichtigungstour auf das Schiff. Harry beeilte sich mitzuhalten. »Habe ich dich jemals an irgend etwas gehindert?« »Was bedeutet es denn, sein Leben zu leben?« sagte Grace so nebenbei, während sie ihre Kunden anlächelte. »Weißt du, ich habe gerade erfahren, daß die meisten Kinder nicht vor den Küsten von achtzehn verschiedenen Ländern leben, bevor sie neun sind. Das habe ich bisher nicht gewußt, wußtest du das ?« »Du bist ein Kosmopolit«, meinte Harry. »Du bist überall willkommen, sprichst fünf Sprachen dank mir. Ich finde, ich verdiene dafür ein Dankeschön.« »Und die meisten Mädchen müssen sich keine Rasierklingen von einem dreihundert Pfund schweren Mann namens Bear ausborgen, um sich das erste Mal ihre Beine zu rasieren. Das erste Mal, als ich meine Periode bekam, Harry, nahm mich Rockhound mit nach Taipeh, um Tampax zu kaufen. Und er mußte mir zeigen, wie man es anwendet.« Harry richtete einen starren Blick auf Rockhound, der nervös kicherte. »Ich habe ihr erzählt, wie man es benutzt, Harry. Nicht praktisch gezeigt...«
»Ich habe mit Tiefenmeßgeräten aus Titan gespielt, obwohl es angemessener gewesen wäre, mit Puppen zu spielen.« Grace fuhr unerbittlich fort: »Ich lernte die Vögel und Bienen durch Max' Tätowierungen kennen. Und ich trug mein erstes Kleid, um zu der Beerdigung eines Bohrarbeiters namens Rocky the Rhino zu gehen. Ich feierte meinen dreizehnten Geburtstag mit Chick und Max und elf Nutten in einem Bordell in Managua ...« »Ach, das weiß ich noch«, erinnerte sich Max. »Jede einzelne von ihnen .. .« »Ich war nur mit Rauhbeinen zusammen, Harry«, fuhr Grace fort. »Durch dich. Und dann bist du schockiert und kriegst fast einen Herzinfarkt, weil ich mich in einen von ihnen verliebe?« Harry schaute sie an, völlig zerschlagen. Grace sah ihm ins Gesicht, ihre Hände hatte sie auf die Hüften gelegt. »Ich bin erwachsen, Harry. Du willst es vielleicht nicht wahrhaben, oder du hast es nicht bemerkt. Aber ich werde nie wieder mit Tiefenmeßgeräten aus Titan spielen.« Harry wollte gerade etwas erwidern, als ihn plötzlich ein dumpfes Geräusch beunruhigte. Um die Pumpen herum begann es zu vibrieren. Er überprüfte schnell das Druckmeßgerät. Scheißding, es zeigte den Höchststand an. Die Nadel fiel, dann sprang sie wieder hoch - einmal - zweimal. Harrys Augen waren weit aufgerissen, als er zur Seite sprang. Grace beobachtete ihren Vater, der völlig verwirrt war. A. J. lachte Harry triumphierend an. »Ist das Nummer zwei?« erschrak Harry. »Wir haben es, Mann!« antwortete A. J. »Ein Volltreffer! Ich habe es dir gesagt!« »Ich habe sie aus einem ganz bestimmten Grund geschlos-
sen, du Knallkopf!« schrie Harry. »Das zweite Hilfsventil ist zu weit auf!« Zu Grace gewandt: »Bring die Leute hier weg!« KRA-WUUUUUSH! Öl, Rohr, Matsch - alles schoß wie eine Rakete in den Himmel. »Chick!« brüllte Harry. »Stell das Ventil ab - beweg dich! Bear, Max - dreht den hinteren Flansch zu! Los! Los! Los!« A. J. stellte sich hinter Harry. Grace brachte ihre irritierten Kunden in Deckung, als ... WHAMMM! Das Öl zersprengte eine Klappe und schoß in einer schwarzen Fontäne auf die Bohrinsel. Chick und sein Team zogen, so schnell sie konnten, an Kabeln und anderem Zubehör, um die Ölflut zu stoppen. Sie boten eine beeindruckende Vorstellung für ihre Kunden. Harry machte das Beste daraus. Er grinste durch die dicke Ölschicht auf seinem Gesicht und erklärte: »Meine Herren! Das ist ein Test. Eine Notfallübung - man kann nie gut genug vorbereitet sein!« In Houston konnte der Notfall nicht wirklicher sein. Jetzt war nicht die Zeit, sich auszuruhen, sagte Truman zu sich selbst, während er sich die Stirn rieb und sich zu dem nächsten Treffen mit General Kimsey begab. »Wegen der schnellen Annäherung des Asteroiden und dem Mangel an Zeit, uns vorzubereiten, werden wir keinen dieser Pläne anwenden können.« »Warum jagen wir nicht Hunderte unserer Sprengköpfe hoch und blasen diesen Felsen in Stücke?« fragte General Kimsey. »Gute Frage, aber eine schlechte Idee!« kommentierte ein Mann, der ihm gegenübersaß. Kimsey glotzte ihn an. »Habe ich Sie gefragt?«
»Das ist Dr. Ronald Quincy aus der Forschungsabteilung«, erklärte Truman. »Der gerissenste Mann dieses Planeten. Sie sollten ihm zuhören.« Quincy lehnte sich vor und erklärte dem General: »Stellen Sie sich Ihr Ziel vor, seine Zusammensetzung, seine Dimensionen und seine Geschwindigkeit. Sie können ihm mit all den Nuklearsprengköpfen, die Sie haben, nichts anhaben. Es wird nur müde darüber lächeln.« »Sie sollten wissen, daß die wissenschaftlichen Berater des Präsidenten einen Nuklearschlag empfehlen, der den Asteroiden aus seiner Flugbahn drängt«, erwiderte Kimsey siegessicher. »Ich kenne diese Berater. Ich war zusammen mit ihnen im M.I.T., dem Technologischen Institut in Massachusetts, und ich kann Ihnen nur raten, in einer Situation wie dieser nicht auf Leute zu hören, die ein C-Minus in Astrophysik hatten. Diese Berater liegen falsch.« »Es genügt nicht, den Asteroiden von außen zu bombardieren«, ergänzte Truman. »Was meinen Sie mit >außen« »Wenn Sie einen Feuerwerkskörper in Ihrer offenen Hand zünden, dann verbrennen Sie sich«, erklärte Quincy. »Aber wenn Sie Ihre Faust schließen und den Zünder ziehen, wird Ihre Frau für den Rest Ihres Lebens die Ketchupflasche für Sie öffnen müssen.« »Sie wollen das Ding von innen mit Kernwaffen angehen?« rief Kimsey aus. »Und wie?« »Wir bohren«, bemerkte Truman wie selbstverständlich. »Wir nehmen dafür den weitbesten Tiefenbohrer.« Der weitbeste Tiefenbohrer war zu diesem Zeitpunkt mit eigenen Problemen beschäftigt. Die Ölfontäne auf der Bohrinsel hatte die ganze Plattform überzogen und alles weitere
drum herum und machte die Bohrungen zu einer speziellen Herausforderung. Die Rohre schlitterten und rollten zwischen Harrys Füßen, als er zu einem riesigen Ventilrad rannte. Er versuchte es mit aller Kraft zu schließen, aber es bewegte sich keinen Millimeter. Es war zu schmierig. Auch Harry war bis über die Ohren ölverschmiert, so daß er fast nichts mehr sehen konnte. Es war hoffnungslos, bis A. J. sich zu Harry durchkämpfte. Zusammen schafften sie es, das Rad zu bewegen, langsam, ganz langsam den Fluß einzudämmen. Dann gönnten sie sich eine Pause und setzten sich in die schwarze Lache. A. J. lachte Harry an, seine Zähne waren weit und breit die einzigen weißen Tupfen. »Grins nicht so blöd«, raunzte Harry ihn an, rappelte sich mühsam hoch auf dem glitschigen Boden und ließ ihn stehen. Seine Miene erstarrte, als er Grace mit ihren Kunden aus ihrem Unterschlupf kommen sah - alle von oben bis unten mit Öl verschmiert. Das ist kein gutes Omen, dachte Harry. Die Männer, ihre Anzüge, ihre Schlipse, sogar ihre Yacht – alles war schwarz vom Öl. »Daumen hoch, Harry«, rief einer der Männer in gebrochenem Englisch. »Du bist ein Mann! Viele Daumen!« Harry imitierte mit einem verlegenen Lächeln die Geste des Mannes und hob den Daumen. Dann drehte er sich zu Chick um, der auf der großen Brücke stand. »Alles in Ordnung? Haben wir es im Griff?« »Wir sind die Größten, Harry«, brüllte Chick hinunter. Harry biß sich beinahe die Zunge ab, als er plötzlich einen Schlag auf seinem Rücken spürte. Er drehte sich knurrend um und fand A. J. an seiner Seite. »Du weißt, daß du mir das nächste Mal mitteilen mußt, wenn wir ein offenes Ventil haben, verst... ?« WHAM!
A. J. schlug aufs Deck, noch bevor der Schmerz, den Harrys Faustschlag in seinem Gesicht verursachte, sein Gehirn erreichte. Grace lief über die Plattform zu den Männern. »Ich habe vorhin einen Treffer gelandet, Harry!« sagte A. J. entrüstet. »Glück zu haben bedeutet nicht, daß du wirklich gut bist«, brüllte Harry. »Es hätte heute einer sterben können!« A. J. befühlte seinen Kiefer und kam mühsam auf die Beine. Grace eilte ihm zu Hilfe. »Ich habe Glück, und ich bin gut«, schoß er zurück, WHOK - WHOK - WHOK. Jeder - auch die Asiaten - schaute hinauf, als man das Geräusch der Helikopterrotoren hörte. Harry schielte in die Morgensonne und runzelte neugierig die Stirn. Ein SeahawkHubschrauber - er kreiste direkt über ihnen. Das verdammte Ding schickte sich an zu landen - mitten auf dem Deck der Ölplattform! Die Mannschaft bildete eine lockere Formation auf der Plattform, als der Hubschrauber landete. Sechs hochgewachsene Marineinfanteristen kamen aufs Deck. Ihnen folgte ein mit zahlreichen Orden dekorierter älterer Offizier. Harry hielt ihn für einen Admiral. »Wer von Ihnen ist Harry Stamper?« rief der Mann. Harry schüttelte ungläubig den Kopf. »Und es ist nicht einmal neun Uhr«, murmelte er. Dann hob er die Stimme: »Hier hinten!« Der Soldat kam auf ihn zu, watete vorsichtig durch den öligen Schlamm. »Wir müssen etwas mit Ihnen besprechen, es ist vertraulich.« Harry führte ihn ins Innere. »Mr. Stamper, ich bin Admiral Kelso, Kommandeur der Pazifikflotte. Ich komme im Auftrag des Verteidigungsmini-
steriums und auf direkten Befehl des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Dies ist ein Fall von dringendster nationaler Sicherheit. Ich muß Sie sofort in diesem Hubschrauber mitnehmen. Stellen Sie bitte keine Fragen, und erklären Sie Ihren Leuten, daß Sie freiwillig mitkommen.« Harry schielte zur Seite und grinste dann den großen Soldaten an. »Hat dich der bekloppte Willy dazu angestiftet?« »Tut mir leid, Sir, aber ich kenne keinen >bekloppten Willy<«, brummte Admiral Kelso. »Sir, dies ist eine sehr ernste Sache.« Harry grinste in sich hinein und wartete auf die Pointe. Aber als er in die reflektierenden Brillengläser des Admirals schaute, dämmerte ihm, daß er es wirklich ernst meinte. Bevor er darüber nachdenken konnte, was er als nächstes sagen sollte, stolperte Rockhound herbei. »Hör zu, ich schwöre bei Gott, sie hat mir nie erzählt, wie alt sie ist«, murmelte er, »also nahm ich an, daß sie mindestens ...« »Nein«, unterbrach ihn Harry. »Es geht um mich.« »Oh, ach so! Vergiß es ...«, antwortete Rockhound und schlich davon. Harry fällte die Entscheidung auf seine eigene Art: Er fällte sie sofort. Er schaute hinüber zu Grace und A. J., die in ein Gespräch vertieft waren. »Ich werde mit Ihnen gehen«, sagte Harry leise zu Kelso, »unter einer Bedingung ...« Grace und A. J., mitten in ihrem eigenen Drama, bemerkten nicht, daß die vier Marineinfanteristen auf sie zukamen. »Ich dachte, es lief sehr gut«, meinte A. J., »wenn man in Betracht. ..« »Was sollten wir in Betracht ziehen ?« nagelte ihn Grace fest
»Daß er mir in gewisser Weise eine Standpauke gehalten und eine Absage erteilt hat? Daß er denkt, du bist sein Sohn? Seiner Meinung nach haben wir eine Sünde begangen, A. J....« »Liebling, wir hätten einen Weg finden müssen, es ihm zu erklären, das ist alles.« »Du bist also auf seiner Seite?« entrüstete sie sich. »Der Mann hat dir gerade eine verpaßt,..« Sie wurde unterbrochen, als ein großer Wandschrank von Marinesoldat zwischen sie trat. »Miss, Sie werden ersucht, an Bord zu kommen. Nationale Sicherheit.« Grace glotzte ihn wie gelähmt an. »Nationale Sicherheit und sie wollen mich?« Grace und A. J. schauten sich verständnislos an, bis zwei Marinesoldaten sich beidseitig neben A. J. stellten, ihm unter die Arme griffen und hochhoben. Grace hatte gerade begonnen, einen Protestschrei auszustoßen, als sie ebenfalls von zwei Soldaten in die Luft gehoben wurde. Harry, der schon im Hubschrauber saß, noch ölbeschmiert, beobachtete mit einem breiten Grinsen, wie Grace zum Helikopter eskortiert wurde. »Chick!« brüllte Harry durch den Krach der laufenden Rotorblätter hindurch. »Du vertrittst mich jetzt! Laß sie heute nach Hause gehen! Mr. Fong - Sie sehen wunderbar aus in Schwarz!« NASA - Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston Grace und Harry hatten eine lange, nicht geplante Reise um die halbe Welt hinter sich, sie waren angespannt, müde und durcheinander, als sie vom Hilfspersonal in einen Versammlungsraum im Hauptquartier der nationalen Raumbehörde geführt wurden. Bis jetzt hatte niemand ihnen gegenüber ein Wort darüber verloren, was das alles sollte.
Dan Truman hielt ihnen seine Hand entgegen. »Mr. Stamper, Ms. Stamper. Ich bin Dan Truman, der Leitungsoffizier. Im Namen aller, bitte akzeptieren Sie meine Entschul. ..« »Nein«, unterbrach ihn Harry. »Keine Entschuldigungen mehr. Wir haben uns geschlagene achtzehn Stunden lang Entschuldigungen angehört. Entschuldigungen auf drei Hubschraubern, einem Flugzeugträger und zwei Militärmaschinen. Wir haben in einem halben Dutzend Zeitzonen Entschuldigungen gehört, also bitte, um Himmels willen, spucken Sie es einfach aus.« Für einen Augenblick herrschte absolute Stille, während sich die beiden Männer Auge in Auge gegenüberstanden, einander taxierten. Dann unterbrach Truman den Blickkontakt und schaute auf Grace. »Es gibt nichts auf der Welt, das ich vor meiner Tochter geheimhalte«, sagte Harry laut, »also, entweder Sie sagen es ihr, oder ich werde es ihr sagen. Sie haben die Wahl.« Truman nickte und führte sie in einen Konferenzraum. Er zeigte ihnen die hastig zusammengestellten Präsentationen und Informationen, die das Problem erklären sollten. »Ein großer Komet hat in den Asteroidengürtel eingeschlagen«, erklärte Truman, »und schoß schrapnellartige Brocken auf die Erde. Wir befinden uns zur Zeit in einem Asteroidenschauer - während der nächsten zweieinhalb Wochen. Selbst wenn der Asteroid ins Wasser schlägt, es ist eine Katastrophe. Er wird Billionen Tonnen Seewasser und Schlamm aus dem Ozean schleudern. Ein Auftreffen im Pazifik, gefolgt von einer drei Meilen hohen Flutwelle mit einer Geschwindigkeit von tausend Meilen pro Stunde, wird ganz Kalifornien zudecken und Denver wegspülen. Japan wird verschwinden, Australien ebenso. Die Hälfte der Weltbevölkerung wird durch die Hitze des Aufschlags verbrennen, der Rest erfrieren durch den nuklearen Winter.«
Es war totenstill, als das Licht langsam wieder heller wurde. Grace klammerte sich an die Hand ihres Vaters, und Harry hielt sie fest. Die beiden saßen sprachlos im Raum, benommen, schockiert. »Das passiert nicht wirklich.« Harry atmete schwer durch. »Mr. Stamper«, antwortete Truman, »realer kann es gar nicht sein.« Er nickte zwei Technikern zu, die die Vorhänge an einer Wand des Raumes öffneten, so daß man durch die Fenster das hektische Treiben in der Kontrollstation sehen konnte. »Er rast auf uns zu«, ergänzte Truman. »Jetzt in diesem Augenblick mit zweiundzwanzigtausend Meilen pro Stunde, geradewegs auf uns zu. Und keiner von uns, an keinem Ort der Welt, kann ihm entkommen.« Harry schluckte. »Ich nehme an, daß Sie nicht jeden so warnen wie uns.« »Keiner weiß es«, sagte Truman bestimmt. »Und so bleibt es. Für die nächsten zehn Tage können nur neun Teleskope auf der Welt ihn ausmachen und wir kontrollieren acht davon. Der Präsident klassifiziert diese Information als geheim ein. Das waren die Bedingungen, die sie unterzeichnet haben.« Er übergab Harry ein Notizbuch. »Eine Studie von 1987. Wenn Neuigkeiten wie diese bekannt würden, brächen weltweit alle sozialen Netze auf der Stelle zusammen. Aufruhr. Religiöse Massenhysterie. Sofortiger Zusammenbruch der zentralen Autoritäten. Das Ding liest sich wie Cliffs Bemerkungen zu den schlimmsten Stellen in der Bibel.« Harry schüttelte den Kopf. Nun kam die große Frage. »Es gibt sechs Milliarden Menschen auf diesem Planeten, und sie wollen mich. Warum?« Truman brachte sie hinaus in den Flur, begleitet von Quincy
und einer kleinen Militäreskorte. »Wir wollen auf dem Asteroiden landen, ein Loch hineinbohren, ein paar Nuklearbomben reinwerfen, dann abheben und das Ding hochjagen. Nur, wir haben ein Ausrüstungsproblem.« Die zwei bewaffneten Wachen öffneten einige Türen, und sie traten in den R&D-Hangar. »Diese Bohrausrüstung ist ein Teil eines Mondprojektes, das wir seit drei Jahren ausarbeiten«, informierte sie Quincy. »Die kürzliche Entdeckung von Wasser auf dem Mond und ...« Harry schluckte. Der Raum war überfüllt mit Technikern, die sich an einem riesigen Ungetüm zu schaffen machten. Schräg gegenüber stand ein gewaltiger Roboter-Bohrarm eine komplexe Maschine, Triebwerke und Teflonkabel. Harrys Kiefer verspannte sich, als er um die Ausrüstung herumging. Was zum Teufel... ? Er konnte nicht glauben, was er da sah. Es konnte einfach nicht sein. »Oh«, sagte Quincy nervös, »vielleicht erkennen Sie die Bohranlage.. .« »Man kann schwerlich etwas nicht wiedererkennen, was man über fünf Jahre lang selbst entworfen hat«, meinte Harry ungläubig. Es war sein Bohrturm - gemacht aus seinem Schweiß, seinen Tränen und seinen Träumen. Und ausgerechnet hier stand er, in voller Blüte, zum Leben erweckt von NASA-Technikern. Es war, als würde er seine Frau im Bett eines anderen vorfinden. »Ja, wir wollten ihn auf den Mond schicken und ...«, sagte Quincy. »Haben Sie Zugang zum Patentamt?« rief Harry. »Grundsätzlich ja«, gab Truman schroff zurück. »Ich wurde in diese Sache hineingezogen, weil Sie ihn von mir geklaut haben?« schrie ihn Harry an. »Und nebenbei, Sie haben ihn ziemlich beschissen zusammengebaut.«
»So, was stimmt denn damit nicht? Sie meinen, daß wir ihn nicht ganz korrekt zusammengebaut haben?« fragte Truman. »Nein, nein, ich sagte ziemlich beschissen«, korrigierte ihn Harry. »Lassen Sie mich raten. Als erstes haben Sie das Umkehrsystem falsch herum montiert - ihr reißt die Rotoren ab und wißt nicht einmal, warum.« »Ja, das stimmt...«, sagte Quincy erstaunt. »Die Nockensteuerungen sind alle falsch, Mr. Hexenmeister«, bemerkte Harry. »Die unteren Kabel, wie haben sie die bloß zusammengefügt? Falsch. Und was ist das? Aluminium?« »Keramiktitan«, erklärte Quincy. »Wenn Sie schon eine Blaupause klauen, dann sollten Sie wenigstens die Materialbeschreibungen durchlesen. Wie sieht denn für Sie die Kurzbeschreibung von Keramik aus?« »Was passiert, wenn die Teile anfangen, sich zu verbinden?« ergänzte Grace. »Dann gibt es keine Flexibilität mehr. Das meint er.« »Wer hat das alles ausgeführt?« fragte Harry. Truman winkte quer durch den Raum und acht NASA-Spezialisten kamen auf ihn zu. Harry verzog das Gesicht. »Was sind das für Leute?« »Wir haben sie acht Monate lang ausgebildet«, sagte Quincy. Zum ersten Mal seit zwei Tagen huschte ein Lächeln über Harrys Gesicht. »Acht ganze Monate? Wow ...« »Sie müssen die Ausrüstung umbauen und dieses Team neu ausbilden«, sagte Truman ernst. »Team?« spottete Harry. »Das ist kein Team. Es sind Kerkermeister und eine Drachenversammlung.« Er starrte das sogenannte Team an. Okay, mal sehen, ob diese Pflaumen einer Prüfung standhalten.
»Ich hab mal eine Frage! Ihr habt in 300 Meter Tiefe eine Gastasche getroffen. Der Hauptblock ist gefroren, die Kellys beginnen zu schlagen. Ihr habt Druckverlust beim Rückwaschen, und der Ventilhebel ist in euren plumpen Händen abgebrochen. Was müßt ihr jetzt wissen?« Die verdutzten Techniker starrten sich gegenseitig an. Okay, Jungs, ihr habt fünf Sekunden... »Na los!« schrie er. »Zieht ihr das Rohr hinauf, beschleunigt oder verlangsamt ihr die Drehung, oder geht ihr zum Teufel?« Die Techniker starrten Harry an, der grinste und zählte: eins, zwei, drei... »Die Zeit ist abgelaufen. Der Bohrturm fliegt in die Luft. Wir sterben alle.« Alle verstummten. Jeder hörte auf zu arbeiten und starrte auf Harry, dann auf Truman. »Hören Sie«, meinte Harry, »meine Familie ist schon in der dritten Generation in diesem Geschäft. Ich bekam mit zwölf meine erste Lohntüte. Ich brauchte zweiunddreißig Jahre, Tag für Tag - jede verdammte Minute, um das zu lernen, was ich jetzt weiß. Und ich lerne immer noch. . .Ein Typ mit nur einer Hand hat euch vielleicht in einer Bar über das Bohren erzählt. Es sieht zwar nicht so aus, aber Löcher zu bohren ist eine Kunst. Wenn du deine Crew nicht genausogut kennst wie dich selbst, bist du tot. Ich bin der Beste, weil ich mit den Besten zusammenarbeite. In siebzehn Tagen könnte ich meinen Leuten über das Bohren nicht mehr beibringen, als ihr mir beibringen könnt, wie man ein verdammtes Raumschiff fliegt.« Harry Stampers und Dan Trumans Blicke trafen sich, und jeder der anwesenden Arbeiter wurde nachdenklich. Endlich ergriff Truman das Wort. »Haben Sie uns noch mehr zu sagen?« »Alles, was Sie tun müssen, ist bohren?« fragte Harry. »So ist es.« »Kein Raumspaziergang? Kein alberner Astronautenkram?« fragte Harry.
Truman nickte zögernd. »Nur bohren.« Plötzlich rief Grace dazwischen: »Na klar, nur bohren. Auf einem Asteroiden, der mit einer Geschwindigkeit von zweiundzwanzigtausend Meilen in der Stunde fliegt. Schmeißt die Bombe, hebt ab und zündet. ..« »So lautet der Plan«, sagte Truman. »Und wenn es nicht klappt, sterben wir sowieso alle.« »Alle, wo auch immer wir uns befinden.« »Wie viele Leute?« fragte Harry. Truman zuckte mit den Schultern, sein Gesicht war angespannt, er fühlte ein Kribbeln. »Zwei Teams, die Sie zusammenstellen werden - wir wollen zwei Shuttles hochschicken.« »Ich brauche in jeder Mannschaft acht Mann . ..« »Wir haben nur Platz für vier.« »Dann müssen wir damit leben.« Grace wurde aschfahl. Das war Irrsinn! »Das ist Scheiße, Harry. Das ist dir doch klar, oder? Das mußt du nicht machen!« Es entstand eine lange Pause, während der Harry abwechselnd auf Truman und auf seine Tochter starrte. »Doch, ich muß. Ich traue sonst keinem.«
4 »Sobald die Jungs den Bohrturm verlassen, streunen sie herum, und wir verlieren kostbare Zeit. Ich weiß nicht, wie du sie finden willst, aber ich werde mir Bear vornehmen«, erklärte Harry. An einer einsamen Stelle auf dem Highway, in einer einsamen ländlichen Gegend in Amerika knatterte eine Harley über den schwarzen Asphalt wie ein wildes Tier, das aus einem Käfig ausgebrochen war. Bear Kurleenbear tat, was er am liebsten tat: Motorrad fahren, nur den Horizont vor sich, und weit und breit keine Menschenseele. Aber dann sah er für den Bruchteil einer Sekunde eine Bewegung im Rückspiegel. Verdammt, da materialisierte sich durch die wellenartigen Schwingungen, die von der Hitze verursacht wurden und von der Straße aufstiegen, ein anderes menschliches Wesen der schlimmsten Sorte, jener Sorte, die am liebsten in Polizeiwagen herumfuhr. Es hatte sein Blaulicht eingeschaltet, und Bear war die einzig mögliche Beute. Und dann entdeckte Bear ein zweites schwarzweißes Auto auf dem Hügel. Verdammt! Irgend etwas stimmte hier nicht, und diese Typen wollten eindeutig etwas von ihm. Bear drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der Wind riß die Worte förmlich aus seinem Mund, als er vorwärts schoß und brüllte: »Kommt und holt mich, ihr Hundesöhne!«
Harry und Grace durchsuchten die Personaldateien der Stamper-Ölgesellschaft - mit einem Team von FBI-Agenten, die an jedem Wort hängenblieben. »Ox ... Cobb ... die sind ziemlich dumm«, sagte Grace. »Du brauchst intelligente Leute. Max zum Beispiel.« Max Lennert war ein Baum von einem Mann, über und über mit Tätowierungen bedeckt, die er liebevoll auf seinem Körper sammelte. Im Augenblick genoß er es, sich auf seinem massiven Unterarm ein neues Tattoo eingravieren zu lassen. Diesmal war es etwas ganz Besonderes, die Erinnerung an eine wichtige Person in seinem Leben. Max ließ die Zeitung sinken, als seine alte Mutter mit einer Schachtel Doughnuts hereinkam. »Gefällt es dir, Mom?« fragte er hoffnungsvoll. Seine Mutter schaute über die Schultern des Tattoo-Künstlers, der gerade die letzten Einstiche vornahm, um das Werk zu vollenden. IN LIEBE FÜR MOM, las sie. Mom freute sich. »Hast du mir wieder die gelben Gummibärchen mitgebracht?« fragte Max wie ein kleiner artiger Junge und griff in die Schachtel. »Maxie«, flüsterte seine Mutter und nickte sorgenvoll Richtung Vordertür. »Ich glaube, du hast wieder Probleme mit dem Gesetz ...« Max verzog das Gesicht, als er zwei FBI-Agenten durch die Tür kommen sah. »Zwei Geologen. Bringt mir Hound«, sagte Harry, ohne zu zögern. Rockhound war genauso besoffen wie der blonde Kerl, der sich neben ihm in der kleinen Finte im French Quarter von
New Orleans am Barhocker festhielt. In der einen Hand hielt er die linke Hand einer Dame, auf deren Finger ein Ring mit einem großen Stein funkelte. In der anderen Hand hielt er eine Lupe, mit der er den Stein untersuchte. »Wäre es nicht leichter, ihn abzunehmen?« schnurrte die Blondine. »Hey, nicht so schnell«, antwortete Rockhound mit einem anzüglichen Grinsen, das er für weltmännisch hielt. »Wir haben später Zeit genug dafür.« Er kicherte. »Ich mach nur Witze. Und was hat er dir gesagt, wieviel er dafür ausgegeben hat?« »Er hat zwei Karat«, sagte sie stolz. »Yeah, die Größe allein bringt es auch nicht. Obwohl, in meinem Fall ist das etwas anderes.« Er sah sie an, versuchte zu ergründen, ob sie lächelte. »Okay, also der Ring... Wie soll ich denn das verstehen? Dieser Diamant ist nicht...« Die Blondine warf ihm einen finsteren Blick zu. »Sind es nicht zwei Karat?« Verdammt, sie war unglaublich hübsch, und er haßte es, ihr Herz zu brechen, andererseits, wenn sie in Tränen über dieses Arschloch ausbrach, wer saß dann neben ihr mit Schultern, an denen sie sich ausweinen konnte? »Es ist kein Diamant.« Ihr Gesicht verzog sich wie eine zerknitterte Alufolie. Wenn sie nicht innerhalb der nächsten fünf Minuten in seinen Armen lag und diese wundervollen Brüste gegen seine Brust reiben würden ... Plötzlich richtete Rockhound die Augen auf zwei auffällige Gestalten, die sich vor ihm auftürmten - zwei Männer in Anzügen. Oje, war das vielleicht ihr Verlobter samt Bodyguard oder etwas in der Art? Er lehnte sich über die Theke und fragte sie: »Sind das deine Freunde?« Die Blonde schüttelte den Kopf. Sie kannte sie genausowenig wie er.
»Sir«, sagte einer der beiden Männer in offiziellem Tonfall zu ihm, »es handelt sich um eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit.« »Der zweite Geologe?« dachte Harry für den Bruchteil einer Sekunde. »Oskar ist der Richtige.« »Yeah«, stimmte Grace zu. »Wenn wir ihn finden ...« Auf der weiten Ebene im Südwesten der USA galoppierte ein junger Mann auf einem grauen Hengst der untergehenden Sonne entgegen - wie in einem billigen Wildwestfilm. Außer den beiden Hubschraubern, die dicht am Boden hinter ihm herflogen ... »Zwei Ingenieure. Du brauchst einen Mann als deine rechte Hand ...«, sagte Grace Harry nickte. »Chick, eindeutig.« Chick Chapple war nach Las Vegas gekommen, um etwas für seinen Ruhestand zu tun. Aber gerade jetzt, als er neben dem Würfeltisch stand und den Würfel schüttelte, sah es eher wie seine Beerdigung aus. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen, den er sonst für die Arbeit bei Harry Stamper benötigte, und warf den Würfel quer über den Tisch. Verdammt heiß! Schlangenaugen! Er sprang vor Freude in die Luft. Chick griff quer über den Tisch und zog das Geld zu sich wie ein Mann, der seine Geliebte umarmt. Nur eine Sache trübte seine Stimmung. Zwei steif aussehende Männer in Anzügen hatten sich viel zu nahe neben ihn gestellt. »Mr. Charles Chapple?« fragte einer von ihnen. »Bevor ich diese Frage beantworte, lassen Sie mich eine
Frage stellen: Hat es jemals eine Situation gegeben, in der jemand von zwei Männern in gleichen Anzügen umringt wurde, und es gab gute Nachrichten?« »Ingenieur Nummer zwei...« »Was hältst du von Freddy Noonan?« fragte Grace. »Ich habe die Krankenhausrechnung bezahlt«, antwortete Harry. »Er bezahlte für die Löcher in der Wand.« Im hellen Morgenlicht, in einer schmalen Gasse hinter einer Bar, warf Freddy Noonan jemanden gegen die kaputte Backsteinwand der Kerl schnappte nach Luft. Noonan mit seinem harten australischen Akzent wirkte einschüchternd auf den Burschen: »Die Kumpel, für die ich das Geld eintreibe, wären auch zufrieden, wenn ich dich kaltmache - es liegt bei dir. Mir soll's recht sein!« Aber dann hörte Noonan Schritte, ließ den Typ aus dem Schwitzkasten und wirbelte herum. Die beiden großen Kerle in Anzügen hatten sich lautlos an ihn herangemacht. »Ladies«, sagte Noonan mit einem Nicken, »was immer es ist, ich habe es vermutlich getan.« Sein »Klient« hatte sich wieder gefangen, glaubte, von den beiden Typen im Anzug gerettet worden zu sein, und begann scharfe Geschütze gegen ihn aufzufahren: »Dreckskerl, hirnloser Ausländer ...« WHAM! Noonan wirbelte herum und ließ ihn mit einem Schlag zu Boden gehen. Und nun kamen sie zum Unvermeidlichen. Nach einigen stillschweigenden Vereinbarungen hatten Vater und Tochter eine Wahl bis zum Schluß aufbewahrt. »Du wirst noch einen anderen Werkzeugtechniker brau-
chen«, meinte Grace, wohl wissend, daß das FBI heimlich mithörte. »Everett ist vermutlich gerade in Houston ... wie wär's mit Bennie? Er ist gut.« Harry seufzte und drehte sich weg; da spukte ein Name in beiden Köpfen. Besser gesagt, zwei Anfangsbuchstaben. Wer würde sie zuerst aussprechen - sie oder er? Grace erhob sich von ihrem Sitz. »Du willst A. J., richtig? Er ist zu leichtsinnig, großspurig und anmaßend. Und gefeuert. Also...« »Ich brauche ihn«, sagte Harry widerstrebend. »Hast du nicht gesagt, daß du ihm nicht traust?« »Hast du nicht gesagt, daß ich das könnte?« Harry seufzte erneut und schaute seiner Tochter in die Augen. »Diesen Turm habe ich entworfen. Niemand kennt ihn so gut wie ich. Außer A. J.« Grace suchte nach Argumenten, um seine Füße - und andere begehrenswerte Teile - auf der Erde zu halten. Aber sie fand keine. Ihr Vater hatte recht. Und überhaupt, was brachte es schon, wenn A. J. auf der Erde blieb, wenn ...? Sie zuckte mit den Achseln. A. J. war im Team. Harry Stamper war nie vor einem Geschäft zurückgeschreckt, egal wie hart oder ekelerregend es war. Aber es kostete all seine Kraft, um die unerwünschte Aufgabe, die vor ihm lag, anzugehen. Er mußte zu A. J. gehen und ihn bitten. A. J. steckte mit einem klugscheißerischen Grinsen den Kopf aus dem Verdeck seiner aufgemotzten Kiste aus den sechziger Jahren. »Also, was du mir eigentlich sagen willst«, sagte er und genoß die Situation ungemein, »ist - laß es mich geradeheraus sagen -, daß da ein Job ist, den Doktor Harry Stamper nicht alleine in den Griff kriegt.« Harry schmeckte Blut, weil er zu stark auf seine Zunge
gebissen hatte. Er räusperte sich. »Yeah ... mehr oder weniger.« Harry starrte in die Augen des Jungen mit einem Blick, der Wasser zum Kochen bringt. »Du und ich haben ein echtes Problem.« »Harry, da gibt es fünf Worte, die ich jetzt von dir hören will«, sagte A. J. und genoß es, Harry mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. »A. J., ich brauche dich, Mann. - Nein! A. J., du bist der Beste . .. immer.« A. J. lachte in sich hinein. »Wie war's damit: A. J., ich liebe dich.« »Ich bin nicht hier, um dein Ego aufzublasen«, grunzte Harry. »Du sollst wissen, daß es keinen Job auf diesem Planeten gibt, den ich dich machen ließe. Das meine ich.« A. J.s überhebliches Grinsen verblaßte, als er den Unterton in Harrys Worten bemerkte. Er roch es - irgend etwas Großes - und Erschreckendes. »Und... warum bist du dann hier?« fragte er ruhig. Harrys Auserwählte kamen scherzend und lachend in die Kontrollstation, ohne die Pokergesichter der Militäreskorte zu beachten, die sie umringten. Hinter der Tür wurden sie von Harry Stamper begrüßt, der jeden einzelnen von ihnen mit Truman bekannt machte. »Du solltest mir lieber sagen, was hier los ist«, sagte Chick, »weil ich meine erste Gewinnsträhne in sechs Jahren unterbrechen mußte. Bin ich besoffen oder was?« »Was läuft hier, Harry, hat die NASA Öl auf dem Uranus gefunden?« fragte Bear. Die Jungs lachten - außer Harry. Harry und Truman begleiteten sie schweigend in den Konferenzraum. Ihre schmuddelige Erscheinung paßte nicht zu dem großen langen polierten Konferenztisch. Als sich das Licht langsam verdunkelte, wollte irgend je-
mand - Harry konnte nicht ausmachen, wer - wissen, wo das Popcorn sei, aber sie wurden einer nach dem anderen ruhiger, als Harry ihnen die unglaublichen Fakten mitteilte, die er selber erst kurz zuvor gehört hatte. Und wirklich, Harry hatte seine Leute niemals zuvor so ruhig erlebt. Man konnte nicht einmal ihr Atmen hören. Er sah sich all die vertrauten Gesichter an, markante Gesichter, die sich nicht vor harter Arbeit scheuten und die man nicht so schnell aus der Fassung bringen konnte. Als das Licht der Leinwand ihre Gesichter erhellte, sah er den unverfälschten Ausdruck der Gefühle, denen er selbst vor kurzem ausgesetzt gewesen war: Schock, Faszination, Unglaube ... Angst. Als die letzte kurze Präsentation beendet war und die Lichter langsam wieder angingen, war es vollkommen still. Dan Truman wartete einen Augenblick lang auf einen Kommentar oder irgendwelche Reaktionen, aber nichts passierte. »So ist es«, sagte er ruhig, als würde er Unterricht an einer High-School geben. »Noch Fragen?« »Yeah«, keuchte Max. »Sind sie sicher, daß sie die richtigen Leute haben?« Harry warf Truman einen Blick zu. »Ich muß mit ihnen alleine reden.« Truman dachte eine halbe Sekunde nach, nickte und ging mit dem NASA-Personal vor die Tür. Als die Tür hinter ihnen geschlossen wurde, wandte sich Harry seinen Männern zu und wartete darauf, daß einer von ihnen etwas sagen würde, irgend etwas; statt dessen saßen sie wie angewurzelt da, schweigend und bestürzt, und alle sahen aus, als ob sie einen Schlag im Gesicht bekommen hätten. Dann bemerkte er einen Riß im Eis, einen Hauch von einem Lächeln in Oskars Mundwinkeln. Plötzlich erscholl Noonans australischer Akzent im Raum.
»Überrascht, was, Kameraden? Das ist ein Witz - irgend jemand hat Geburtstag.« Er richtete einen bittenden Blick in die Runde. »Bitte, wer wurde an diesem Tag geboren?« Ein oder zwei Jungs schüttelten den Kopf, und Noonans gekünsteltes Lachen erstarb. Die Zeit ist gekommen, es direkt zu sagen, entschied Harry. »Yeah, das ist die größte Scheiße, die ich selbst jemals gehört habe«, sagte er. »Und wenn wir uns entscheiden, nicht zu gehen ... dann sitzen wir hier nur herum und warten, daß dieser verdammte Felsen alles tötet, was wir kennen. Ich gehe. Keiner von euch braucht zu beweisen, was für ein Kerl er ist. Ich habe euch Sachen tun sehen, die Neil Armstrong dazu veranlaßt hätten, in seinen Raumanzug zu pissen. Also, wenn ihr nicht glaubt, daß ihr das durchhaltet, dann muß ich das wissen - ich muß wissen, wer mitmacht und wer nicht, und zwar jetzt.« Wieder vollkommene Stille. Das war etwas ganz Neues für die Crew. Aber dann fiel Chick zurück in seinen Stuhl und zuckte mit den Schultern. »Zwanzig Jahre lang habe ich dir nie etwas abgeschlagen. Ich werde jetzt nicht damit anfangen. Ich bin dabei.« Harry lächelte. »Weltraum?« fragte Noonan, und die darauffolgenden Worte hauchte er nur noch: »Ich weiß nicht, Mann ...« »Die ganze Sache erscheint mir ein wenig zu ausgeflippt, oder nicht?« flüsterte Bear. »Nein«, erwiderte Oskar. »Das ist verdammt noch mal Geschichte! Das ist der Weltraum! Der unendliche Weltraum! Zur Hölle damit, ich bin dabei!« Rockhound rieb sein Gesicht, lehnte sich nach vorne über den polierten Tisch und räusperte sich. »Ich glaube zwar
nicht, daß ich der einzige materialistisch Denkende in dieser Gruppe bin, aber glaubt ihr nicht, wir könnten hier eine Lebensversicherung an Land ziehen?« Draußen im Gang warteten Truman, Kimsey und eine Handvoll Techniker. Alle hörten das Ticken der Uhr wie eine Zeitbombe in ihren Köpfen, jede einzelne Sekunde, ein riesiger Sprung hin zum Ende der Zukunft. Truman und Kimsey überflogen die Datenkarten des wilden Haufens, mit dem Harry Stamper die Menschheit retten wollte. Vertrauen war ein erbärmlicher Ersatz für Gewißheit. »Chick war sechs Jahre bei der Luftwaffenführung ...«, betonte Truman und hielt seine Akte hoch. General Kimsey schüttelte angewidert den Kopf. »Wenn Sie versuchen, mir ein besseres Gefühl für die Situation zu vermitteln, geben Sie es auf«, knurrte er. »Einbruch, Überfall, Gefängnis, Ausbruch, Widerstand gegen die Staatsgewalt. Wir haben einen Agenten auf dieses Gesindel angesetzt, lüsternes und obszönes Benehmen in einer Telephonzelle, zwei von diesen Typen haben sogar längere Zeit im Knast...« »General«, unterbrach ihn Truman, so höflich er nur konnte. »Sie sind die Besten auf ihrem Gebiet.« »Ich auch«, antwortete der General. »Ich bin kein Optimist. Wir geben jedes Jahr 250 Milliarden Dollar für die Verteidigung aus. Drei Milliarden fließen in die Technologie, dreißig Jahre moderne Ausbildung - und wo stehen wir jetzt? Die Zukunft des Planeten hängt ab von einem Haufen Zurückgebliebener, denen ich nicht einmal eine Kartoffelkanone anvertrauen würde.« »Die NASA warnt seit zwanzig Jahren, daß ein Ereignis dieses Ausmaßes einmal eintreten könnte«, konterte Truman. »Die Welt war viel zu beschäftigt und investierte in Microsoft, anstatt zuzuhören.«
Plötzlich sprang die Tür des Konferenzraumes auf, und Harry Stamper, gefolgt von seiner abenteuerlichen Crew, kam auf den Gang. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Machten sie mit? Oder nicht? Truman spürte einen ungewohnten Kloß im Hals und fragte: »Wie lautet der Geschworenenspruch?« Harry zuckte mit den Schultern. »Sie machen es.« Truman seufzte vor Erleichterung, und das Ziehen in seiner Leistengegend wurde ein wenig erträglicher. »Sie haben aber ein paar Forderungen.« Trumans Magen begann sich zu drehen. »Und die wären?« Harry versuchte ein Lachen zu unterdrücken, als er die Liste hochhielt und sie dramatisch entfaltete. Er wiederholte das Entfalten, bis General Kimsey allmählich in Rage geriet. Truman beruhigte den General mit einem Blick. »Es ist eine ganze Menge ...«, begann Harry. »Das meiste betrifft Dinge wie ...« Er ging die Liste durch. »Oscar hat hier ein paar Strafzettel wegen Falschparkens, die gelöscht werden müssen.« »56 Tickets, in sieben Staaten«, erklärte Oskar. Truman tauschte Blicke mit Kinsey, dann zuckte er mit den Achseln. »O ja . . . geht in Ordnung!« »Noonan hat zwei Freundinnen, die amerikanische Staatsbürger werden möchten«, fuhr Harry fort. »Keine Fragen dazu? Chick will eine Woche in der Präsidentensuite des Caesar-Hotels wohnen.« Harry zuckte wieder mit den Schultern. »Und weiter so'n Zeug.« Er gab die Liste Truman und wartete auf eine Reaktion. Truman sah die Liste durch und hielt sich zunächst zurück. Sein Ausdruck aber teilte Harry das mit, was er hören wollte.
Der Mann wußte, daß er nicht in der Situation war zu verhandeln. »Dies, nun... Ich glaube, das läßt sich machen«, stimmte Truman schließlich zu. Rockhound hustete und erheischte damit Harrys Aufmerksamkeit. Die Mannschaft verfiel in aufgeregtes Tuscheln, Harry nickte ihnen erfreut zu und ging auf Truman und den General zu. »Und sie wollen keine Steuern mehr zahlen.« Die Augen des Generals traten aus ihren Höhlen. »Nie wieder«, ergänzte Harry. General Kimsey drehte sich um und stolzierte davon, bevor er noch etwas tat, was er nachher bedauern würde - irgend etwas, das diese wichtigste Mission der Raumfahrt in der Geschichte der Menschheit, mit Harry Stamper an der Spitze, hätte vereiteln können.
5 Noch bevor die Tinte unter ihrer Forderungsliste getrocknet war, wurden Harry und seine Leute zur medizinischen Untersuchung in die Klinik der NASA gebracht. »In den nächsten Tagen«, erklärte ihnen Truman, »werdet ihr jeden Tag zwanzig Stunden lang einer Reihe von körperlichen, geistigen und anderen Übungen unterworfen. Wir bereiten euch für das Überleben im Weltraum vor.« Es war genauso, wie Truman es ihnen angedroht hatte. Jeden Morgen rannten sie. Dann wurden sie getestet. Sie trainierten und rannten, dann rannten sie noch mehr. »Jesus«, sagte Chick. »Bist du okay, Freddie?« »Ja, mir geht's gut«, antwortete Noonan. »Außer meinem Arsch.« Die Oberschwester kam durch die Tür; in den Händen, die in Gummihandschuhen steckten, hielt sie ein Klistier und eine Tube Vaseline. »Mr. Chapple, Sie sind der nächste!« »Lady, ich bin hierhergekommen, um zu bohren«, protestierte Chick. »Genau das tut sie auch«, meinte Noonan. Ein paar Türen weiter saßen Harry und A. J. auf einem Untersuchungstisch, während zwei Ärzte von der NASA ihren Blutdruck maßen und miteinander schwatzten. »Wie ich schon sagte, die Annahme einer multidisziplinaren Annäherung, die sowohl biologische, soziale und physischmathematische Untersuchungen einbezieht, stellt die
primäre Grundsubstanz dar. Und weißt du, was Carver sagt?« »Was?« »Nur wenn sie mit den nationalen Plänen übereinstimmt!« Dann brachen sie das Gespräch unvermittelt ab. A. J. schaute Harry angewidert an. »Weißt du, Harry, ich finde, daß du recht hast«, sagte er sarkastisch. »Ich denke, für Grace wäre es besser, einen Arzt oder einen Wissenschaftler zu heiraten.« Harry starrte ihn kalt an. Der Mitarbeiterstab der NASA unterzog die Crew einem psychologischen Dauertest. »Als meine Frau und ich uns getrennt haben«, erzählte Chick bedrückt, »habe ich den Job geschmissen und bin in ein Hotel gezogen. Ich kassiere meinen Scheck, spiele, bis es schmerzt, und gehe dann wieder arbeiten. Manche Leute denken vielleicht, das sei traurig, aber ich sage, na ja, ich finde es traurig ...« Depressiv. »Ich lege es nie darauf an, mich zu schlagen«, erklärte Noonan, »die Schlägereien kommen zu mir. Ich bin wie ein Fliegenfänger. Macht das irgendeinen Sinn?« Psychotisch. »Mein Lieblingsessen ist Haggis«, meinte Max. »Es ist der Teil von geschlachteten Schafen, den man normalerweise wegwirft - Herz, Lunge, Leber. Man schiebt sie in den Magen des Schafes mit ein paar Zwiebeln und Hafer, und man kocht sie. Ein wenig Sauerrahm, Tabasco - das ist das Beste.« Desillusioniert. »Dinge, die ich bei anderen Menschen nicht ertragen kann?« Oscar lehnte sich zurück und dachte einen Augenblick nach. »Ich kann Menschen nicht leiden, die nur Bücher
über den Krieg lesen. Ich kann Menschen nicht leiden, die ständig das Wort >zweifellos< verwenden. Und ich kann Leute nicht leiden, die glauben, Jethro Tull wäre ein Typ aus der Band...« Zwanghaft. »Warum meine Hochzeit fehlschlug?« fragte Harry sauer. »Was soll diese Frage? Kommt meine Exfrau mit? Also, weißt du fick dich! Und warum schlug deine Ehe fehl?« Aggressiv. »Du willst unsere Gehirne vergleichen?« fragte Rockhound. »Ich gewann den Westinghouse-Preis mit zwölf. Nichts Besonderes. Habe mit neunzehn publiziert. Ja, und? Ich habe am Technischen Institut von Massachusetts meinen zweifachen Doktor gemacht, mit zweiundzwanzig. In Chemie und Geologie. Ich habe zweieinhalb Jahre in Princeton gelehrt. Also, warum mach ich das, richtig? Diese unglaublich lange Liste meiner akademischen Grade! Was ist denn mit mir passiert, richtig? Warum tue ich das? Die Bezahlung ist gut. Die Umgebung wechselt oft. Und ich habe mit Sprengstoffen zu tun. Okay?« Unter Beobachtung stellen. Harry erkannte das vertraute Muster wieder - ein Haufen Männer, die um einen Tisch herumsaßen und redeten, Truman, General Kimsey, Quincy, eine Handvoll anderer NASAMitglieder, die Harry nicht alle beim Namen kannte, und all die Ärzte der NASA, die er und seine Leute in den vergangenen Tagen kennengelernt hatten. Ein Dr. Banks schaute sich mißbilligend die Testergebnisse an. »Durchgefallen ... durchgefallen ... durch und durch durchgefallen. Eine toxische Untersuchung verriet Ketamine.« Auf Trumans fragenden Blick erklärte der Doktor: »Das ist ein sehr starkes Beruhigungsmittel.«
Harry zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Beruhigungsmittel werden ständig benutzt.« »Schön und gut, nur dieses wird bei Pferden angewandt.« Der Doktor hielt eine Zeitlang inne, um seine Schlüsse aus diesen Informationen zu ziehen. »Normalerweise stehen uns achtzehn Monate zur Verfügung für die psychologischen Voruntersuchungen, mit denen wir die Überlebensfähigkeit während einer Weltraumreise trainieren. Und wir haben Hinweise über Hinweise, die auf ein breites Spektrum mit antisozialen Tendenzen und starken Aggressionen hindeuten.« Truman winkte ab und neigte sich nach vorne. »Können Sie die Reise körperlich überstehen?« fragte er geradeheraus. »Das ist alles, was wir jetzt wissen müssen.« »Wenn Sie mich fragen, ich kann mir nicht einmal erklären, wie Sie all diese Tests überlebt haben«, antwortete Dr. Banks trocken. Er starrte auf den schwarzen Stempel DURCHGEFALLEN und stempelte damit quer über die Karteikarten der Crew, seufzte und stempelte darüber mit dem weitaus größeren roten Stempel BESTANDEN. Und plötzlich war alles real, in einer unheimlichen Weise wahr. Es konnte jeden Augenblick losgehen. Harry und seine Mannschaft waren auf dem Weg, Astronauten zu sein, und bereit, in den Weltraum geschossen zu werden. Heilige Scheiße!
6 Oberst Roger Sharp beobachtete Harry und seine schmuddelige Mannschaft, die über den geschrubbten Korridor der NASA auf ihn zuschlenderte, und fühlte, daß sich sein Kiefer unwillig verspannte. Er war ein erfahrener Militär- und Luftfahrtveteran ein Mann, der es gewohnt war, nur die Besten der Besten zu führen. Und diese Leute wurden ihm nun übergeben, um die wichtigste Aufgabe in seiner ganzen Karriere zu bewältigen. »Wir haben einfach keine andere Wahl, Oberst Sharp«, sagte Truman mit seitlich verzogener Unterlippe. »Sir«, antwortete Sharp und deutete auf die seltsame fremde Mannschaft, »Sie wollen mir weismachen, daß das Leben meiner Frau und meiner kleinen Tochter in deren Händen liegt?« »Oberst Sharp«, sagte Truman geduldig, »solange Sie nicht wissen, wie man bohrt, lautet Ihr Befehl, diese Leute zu trainieren, sie auf den Felsen zu bringen und ihre Arbeit verrichten zu lassen. Und nebenbei, auch ich habe eine Familie.« Er wußte genau, was Sharp fühlte. In einer großen Flugzeughalle auf dem EdwardsLuftwaffenstützpunkt beobachteten Harry und seine Mannschaft, wie Oberst Sharp an einen Tisch trat, der vollgestopft war mit Büchern, Datenblättern und Studien, und sie auf den Boden warf. »Sicherheitstraining - unwichtig. Notfalltraining fällt aus. Reparatur, Rettung - vergeßt es. Wenn wir versagen... wenn wir durchdrehen ... dann sterben wir alle.«
Er musterte seine »Klasse« mit einem kalten Blick. »Guten Morgen.« Harry und seine Männer nickten. »Amerikanische Astronauten trainieren jahrelang. Ihr habt zwölf Tage. Ich werde mit einem der beiden X-71-Teams zu diesem Felsen fliegen. Außerdem ist es meine Aufgabe, euch beizubringen, wie ihr die geistige und physische Anstrengung der Arbeit im Weltall bewältigt, so daß ihr auf dem Asteroiden nicht ausflippt. Nicht nur, daß wir uns auf einem Fluß ohne Paddel bewegen, Gentlemen, der Fluß ist auch voller Piranhas, und wir haben ein Magengeschwür. Sind da noch ein paar kluge Fragen, bevor wir anfangen?« »Yeah«, meinte Bear. Es war sein erster Gedanke. »Wie nimmt man eine Müllkippe mit ins All?« Chick hob die Hand. »Was ist eine X-71 ?« »Ich meine es ernst!« sagte Bear. Truman grunzte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Es war schlimmer, als er erwartet hatte. Sosehr er es auch haßte, es wurde Zeit, diesen Cowboys die Pferde zu zeigen. Sie führten sie, zusammen mit Grace, in die NASA-VAB - die gewaltige Aufbewahrungshalle für Raumfahrzeuge. Als sich die riesige Tür zur fußballfeldgroßen Flugzeughalle öffnete, fiel Harrys Kinnlade herunter. Es war ein Bild wie aus Krieg der Sterne, nur daß das hier Realität war. Das X-71-Space-Shuttle. Ein Riesenmonster von Schiff. Es leuchtete weiß und war umringt von einem Dutzend Technikern, die auf Leitern, Plattformen und Baugerüsten herumkletterten, um das Ding auf den Flug vorzubereiten.
»Ihr seid die ersten Zivilisten, die dieses Ding zu Gesicht bekommen«, erklärte Truman. »Ein Gemeinschaftsunternehmen höchster Geheimhaltungsstufe der Luftwaffe ... dieses und ihr Schwesterschiff werden morgen für den Start in Florida vorbereitet. Aber ich dachte mir, daß ihr es sehen solltet.« Harry hoffte, daß er nicht so verdutzt aussah wie seine Leute, als sie Truman zu einer Gruppe von Uniformierten folgten: Es war Sharp mit einigen anderen Piloten. »Luftwaffenoberst Davis und NASA-Pilot Tucker werden das Raumschiff Independence kommandieren. Luftwaffenoberst Sharp und NASA-Pilot Watts übernehmen die Freedom. Die Munitionsspezialisten Gruber und Halsey überwachen die Nuklear-Waffen.« »Sobald ihr auf dem Asteroiden gelandet seid, werdet ihr unsere Spezialausrüstung für den Bohrer benutzen«, meinte Quincy. »Yeah, wo habt ihr das wundervolle Design für den Bohrer her?« fragte Harry. »Wir nennen ihn das Monster Armadillo«, antwortete Quincy. Harry, Grace und die anderen beobachteten, wie die riesigen Plastikplanen, die die zwei Armadillos umhüllten, heruntergezogen wurden: flacher, größer und weitaus cooler als das alte Mondfahrzeug aus den Apollo-Tagen. »Das ist die vierte Generation von Oberflächenfahrzeugen«, erklärte Truman. »Ein bei Überdruck und aus Titanlegierung angefertigtes, abgedichtetes Führerhaus. Es ist fähig, eine Steigung von achtzig Grad zu nehmen, und es erhält seine Energie durch eine sechszellige Solaranlage. Es bewegt achthundert Turbo-Pferde bei einer Schwerkraft, die gegen Null geht.«
»Wow ...«, sagte Harry. »Ist das wahr? Können wir mal reinsehen?« Truman nickte zustimmend. Minuten später flogen Metallstücke aus dem Inneren des Armadillos, nachdem Harrys Leute in, unter und auf der metallenen Kreatur herumkletterten. »Grace«, rief Harry seiner Tochter zu, die mit einem Klemmbrett danebenstand. »Wir brauchen ein halbes Dutzend 980-Mack-Lastwagengetriebe.« Als Grace nickte und es notierte, brüllte Harry: »A. J., ich will, daß du die Überlastung prüfst, Einweg-Diaphragmen und ein paar Neunzehner-T5Ganggetriebe.« »Ich will sichergehen, daß wir bis zum 15OOsten Ausschlag Schutz haben - und einige Hurst-Fünfer-Geschwindigkeitskurzschalter«, ergänzte Chick. Harry hörte auf jemanden im Armadillo und rief dann zu Grace: »Acht Diesel-Dual-Pumpen-Tachos.« Er hörte wieder zu und ergänzte: »Zwei Rollen Kevlar-Kopfumhüllungen. Einen Kasten mit Neun-Inch-Graphit-U-Verbindungen.« Er machte eine Pause und fügte hinzu: »Acht Kisten Brathähnchen. Originalrezept.« Quincy und seine Männer beobachteten alles sprachlos und erblaßten. Ein T-38-Jäger schoß in den Himmel und vermittelte seinen Passagieren den Eindruck eines realen Raumfluges. Bear saß auf dem Hintersitz des Jets in einer fötusähnlichen Position neben Rockhound, dem fast die Augen aus dem Kopf fielen. A. J. ergänzte seine Sicherheitsgurte mit einer extrafesten Halterung über seinem Sitzpolster, während Harry sich äußerst anstrengte, sein Spezialrezept festzuhalten. Durch die ohrenbetäubenden Maschinengeräusche des Jets
dröhnte die satanische Stimme ihres Piloten und Übungsleiters, eines harten Vietnamveteranen namens Chuck jr. »Ich werde eure Augäpfel durchdrücken bis zu eurer Schädeldecke, euch drehen, wirbeln, eure Körper schinden, bis euch die Knochen schmerzen - und wenn ihr schreit, mache ich es noch schneller und härter.« Oskar liebte das. »Der Raumflug wird eure Sinne brutal angreifen!« brüllte Chuck jr. »Ich werde euch einen Vorgeschmack geben!« Als der Flug vorbei war, war Harry der erste, der aus dem Flugzeug wankte, auf die Knie fiel und den Boden küßte. Chuck jr. überraschte das nicht. Es war nichts Ungewöhnliches, daß die T-38-Passagiere Heimweh überkam. In der Zwischenzeit standen Truman, Rockhound, Oskar und Grace in der Kontrollstation vor dem Monitor für die Überwachung des Asteroiden und studierten die Ausdrucke, die über die Oberfläche des Asteroiden informierte. »Sie basieren auf einer thermographischen Bildauswertung«, sagte Rockhound, »Segment 201, Quergitter sechs, Lage 12J14 - das ist einer der primären Landeplätze, Lage 12G17 ein anderer.« In diesem Augenblick eilte Clark zu Truman, zog ihn zur Seite und redete leise auf ihn ein. »Da gibt es ein Problem. Wir können die Triebwerke des Shuttles nicht zünden. Möglicherweise kriegen wir sie nicht einmal dazu abzuheben.« Truman sah plötzlich ungemein beeindruckend aus mit der Maske aus Enttäuschung und Wut, in die sich sein Gesicht verwandelt hatte. »Gut«, sagte er eindringlich, »wann bekommen Sie das in den Griff? Morgen? Dann wird es kein Problem mehr geben.«
Am nächsten Tag stand Sharp auf der Gangway einer Boeing 707 der NASA und beobachtete Männer, die an Bord gingen, mit unverhohlener Verachtung. Jetzt sahen alle sehr proper aus in ihren Anzügen - das war ein Anfang. Sie waren für die Mission in zwei Teams aufgeteilt worden, gekennzeichnet mit roten oder blauen Markierungen auf ihren Fluganzügen. Harry, Rockhound, Chick und Max waren im blauen Team, A. J., Bear, Oskar und Noonan im roten. »Ich hoffe, ihr Spezialisten hattet ein angenehmes Mittagessen. Willkommen in der >Vomit Comet<«, meinte Sharp mit einem sarkastischen Blick. »In acht Tagen wird es ernst... heute aber fliegen wir mit diesem Vogel auf vierzigtausend Fuß und lassen uns dann in dreißig Sekunden auf zehntausend Fuß runterfallen, um die Schwerelosigkeit zu trainieren.« Acht Meilen höher hörte die Maschine auf zu steigen und fiel wie ein Stein. Harry und seine Leute hoben sich in die Luft, gewichtslos. Das machte mehr Spaß als die T-38, bis anhhhhhh - ein Summer ertönte und die Mannschaft wie ein Stein auf den Boden fiel. Nach dem Flug hastete die Mannschaft zu den Toiletten, dem Namen des Vehikels alle Ehre machend. Harry kotzte gerade ins Waschbecken, als Rockhound ihm mitteilte: »Ich habe mit dieser heißen Braut aus der Verheimlichungsabteilung gesprochen. Ich arbeite an ihr, o.k.? Tratsch es aber nicht herum - das ist ein Geheimnis.« Er hustete, schaffte es aber, nicht zu kotzen, und fuhr fort: »Grundsätzlich ist es doch so: Je näher wir diesem Felsen kommen, desto mehr wissen wir und um so weniger gefällt es uns - ich spreche hier von Vulkangasen und Eisstürmen, von seismischen Erschütterungen und Felsstücken und verdammt noch mal - ich kann das gar nicht alles ausdrücken ...« Der Geruch
von frischem Auswurf drehte ihm für einen Moment den Magen um, dann wandte er sich wieder an Harry. »Wir landen nicht nur auf diesem Psycho-Höllen-Asteroiden - das wäre ja kein Geheimnis. Das Geheimnis besteht darin, daß sie diese Raumfähren noch niemals geflogen haben. Sie haben vierhundert Flugsimulationen hinter sich, richtig? Rate mal, wie viele dieser simulierten Landungen funktionierten?« Harry ließ Wasser aus dem Spender in seinen Mund fließen, gurgelte und spuckte es ins Becken. »Jetzt erzähl mir nur noch, es war mehr als eine.« »Hat sie dir das erzählt? Bingo. Du hast den Scheißpreis gewonnen. Du kommst mit mir.« Der aufgemotzte Armadillo stand in einem ausgetrockneten Seebecken außerhalb von Houston. Harry und seine Mannschaft hatten ihn nach ihren Vorstellungen verändert, und A. J. wollte ihn noch einmal mit Quincy an seiner Seite testen, der ihnen Tips geben sollte. Wenn der NASA-Mann sich der Spannung bewußt war, die zwischen den beiden Männern herrschte, so zeigte er es nicht. »Nun möchte ich, daß Sie die Bremsen sperren«, instruierte Quincy. Harry knipste die fünf Schalter an, um den Bremsverschluß zu aktivieren. »Gut«, meinte Quincy. »Jetzt machen wir das Gegenteil Sicherheit geht vor.« A. J. begann die Antriebsprozedur. »Kann ich dich etwas fragen?« Die Worte waren an Harry gerichtet, nicht an Quincy. Harry zog eine Grimasse. »Wenn die Worte Grace, Tochter, Liebe, Termin oder Harry aus deinem Mund kommen, will ich sie nicht hören.« Er zog mit einem Ruck den Gashebel heraus.
Quincys Augen sprangen fast aus ihren Höhlen. »Warte nicht...« Plötzlich erwachte der Armadillo zum Leben. Seine riesigen Bodenzangen griffen weit aus und knallten auf den harten, verdörrten Boden. Harry und A. J. wurden gegen die Kabinenwand geschleudert. Quincy schlug mit dem Kopf hart auf. »Gut, deshalb legen wir ja Sitzgurte an«, erklärte er. Spät am Abend saß Oskar vor der Konsole in der Kontrollstation der NASA und betrachtete die Aufzeichnungen von früheren Landungen. Er hatte sich einen altertümlichen Kopfhörer über den Kopf gezogen und tat so, als ob er an der Konsole arbeiten würde. Er merkte nicht, daß Harry in den Raum gekommen war und Oskars Erzählungen lauschte: »Apollo, hier ist Houston. Machen Sie Ihren Landeantrieb bereit.« Wie ein kleiner Junge hielt Oskar die Hände vor den Mund und imitierte ein Landegeräusch. »Apollo, wir hören Sie nicht, wiederhole, wir können Sie nicht hören, over.« »Hey«, unterbrach ihn Harry. Oskar sprang auf die Beine. Er wurde ziemlich verlegen, als er merkte, daß Harry hinter ihm gestanden hatte. »Ich war gerade dabei. . . die geschichtlichen Fakten nachzuempfinden, verstehst du? Sie in mich aufzunehmen. Das ist Heldentum, Harry. Wahres Heldentum ...« »Hast du Grace gesehen?« wollte Harry wissen. Oskar nickte, froh, über etwas anderes zu reden. »Yeah, sie war mit A. J. in der Flugzeughalle, sie kennen diesen riesigen Klotz ...« Er brach plötzlich ab, als Harrys Wangen eine Farbe annahmen, die man am besten als das Rot des rasenden Zorns beschreiben konnte.
»Oh, warte! Grace? Nein, nein, das war sie nicht. Das war äh...« Aber Harry war schon aus dem Raum gerannt, bevor Oskar weitere Versuche unternehmen konnte, die Tatsachen zu vertuschen. Oskar zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, A.J.«, murmelte er. So, wie Harry aussah, hatte Oskar das Gefühl, daß das Paar ein wenig Unterstützung brauchte. Das Blut löste in Harrys Gehirn ein Kriegsgeschrei aus, während er zum Saturn-5-Hangar hastete, und es eskalierte zum Dritten Weltkrieg, als er seine Tochter und A. J. neben ein paar Kerzen aneinandergeschmiegt vorfand, versunken in inniger Umarmung. Noch dazu trug Grace ein Kleid. Er öffnete den Mund - schloß ihn wieder, als Oskar, dann Chick und dann Rockhound hinter ihm erschienen. Harry schüttelte den Kopf und drehte sich weg. Oskar, Chick und Rockhound folgten ihm beim Hinausgehen. Das Liebespaar hatte von alledem nichts bemerkt. Harry ging an der Orbiter-Prozessor-Einheit unter dem Bauch des Space-Shuttles vorbei und lief zurück zu den Baracken. Seine Männer versuchten mitzuhalten. »Was ist? Bin ich der Rattenfänger von Hameln?« schrie er über seine Schultern nach hinten. »Wir wundern uns nur«, begann Chick. »Nachdem wir die Welt gerettet haben, wird Grace dann gesteinigt?« »Verschwindet aus meinen Augen«, grollte Harry. »Grace ist alt genug, um zu wählen«, argumentierte Chick, »zu trinken und zu heiraten und sich wieder scheiden zu lassen ... weißt du ... zu tun, wann immer und was auch immer sie will... wenn sie will.« »Danke, Mr. Spock.«
»Der Mann hat recht, Harry«, ergänzte Bear. »In Ordnung. Er hat recht. Die nächsten zwei Wochen können sie tun, was sie wollen. Ich werde mich nicht einmischen. Aber wenn wir zurückkommen, wenn alles getan ist, werde ich mich um sie kümmern. Auf meine Art.« »Nicht, daß ich für A. J. Stimmung machen will, aber Harry, so geht das nicht«, begründete Rockhound seine Ansicht. »Grace ist kein kleines Kind mehr. Du hast es vielleicht nicht bemerkt, aber während wir um den Globus rasten und im Dreck wühlten, wurde aus der kleinen Grace eine erwachsene heiße...« »Ich weiß, wer und was meine Tochter ist, okay? Ich bin nicht so dumm, wie ich aussehe!« »Der Punkt ist«, meinte Oskar, »du solltest sie ihr Leben leben lassen ...« »Du bist nur fünf Minuten älter als sie, Oskar«, schoß Harry zurück. »Warum kümmerst du dich um Dinge, die dich nichts angehen?« »Gut, Harry«, warf Bear ein, »alle schulden dir Respekt, und scheiß drauf, aber... wir alle haben sie in irgendeiner Form mit großgezogen ...« »Ach ja? Also gut, du hast eine Scheißarbeit gemacht, weil sie gerade jetzt mit einem ungehobelten Kerl rummacht, dessen Haltung mir stinkt!« Er hielt an, führte seine Hand an die Lippen und schaute sich entsetzt Grace' andere Eltern an. »Schaut euch an, Leute, seht mich an. Wir leben in gottverdammten Baracken und Hütten, die irgendwo hin und her schwimmen, niemals gehen wir länger an Land als acht Wochen, sind die meiste Zeit mit Dreck beschmiert und führen ein äußerst gefährliches Leben. Und wir sind einsam.« Als er sie ansah, zerschmolz seine Angst zu etwas Undefinierbarem, irgend etwas Angenehmerem, Weicherem. »Gra-
ce«, sagte er trocken, »ist besser als wir. Das ist sie. Versteht ihr?« »In sechs Tagen fliegen wir in den Weltraum«, meinte Chick. »Im Ernst?« »Das ist nicht irgendein Job im Südchinesischen Meer«, fuhr Chick unbeirrt fort, Harrys Sarkasmus überhörend. »Nun, Rockhound hat recht, wir haben nahezu keine Chance, diesen Job zu überleben. Du weißt das. Also, hier mein ungebetener Ratschlag: Er bezieht sich auf dein >kleines Mädchen<. Du weißt, nur falls.« Harry starrte ihn an, alle nickten zustimmend. Aber er war sauer. »Danke! Nein, wirklich. Seht euch an. Ihr habt sieben Scheidungen, eine Menge Kinder, die meisten von ihnen kennen nicht einmal euren Namen, und wart zusammengenommen ein Dutzend Jahre im Knast. Und ihr wollt mir Ratschläge geben? Ich soll von Leuten Ratschläge annehmen, die es für emotionale Tiefe halten, wenn sie den Mädels Dollarscheine in die Unterhose stecken?« Er sah auf und meinte dann abschließend: »Danke für die Ratschläge. Danke für den Tritt in den Arsch. Nun, ihr werdet mich jetzt entschuldigen, ich muß in mein Zimmer, öffne eine Vene und grüble über die Perlen dieser opernreifen Weisheit, die ihr mir offenbart habt...« Oskar, Chick und Rockhound sahen sich an. Verdammt, dieser Harry wußte genau, wie man einen Kerl dazu brachte, sich wie ein Stück Scheiße zu fühlen ...
7 Am nächsten Morgen sollte die NASA-Mitarbeiterin Jennifer Watts Harry und seine Mannschaft mit der Johnson-Vakuumkammer bekannt machen. Dazu schauten sie sich zunächst den klassischen Schwarzweißdokumentarfilm über die Arbeit Neil Armstrongs auf der Mondoberfläche an. Die Jungs sahen richtig überzeugend aus in ihren Raumanzügen, aber Watts mußte sich alle Mühe geben, um die Tatsache zu ignorieren, daß Rockhound und Bear während der gesamten Vorführung miteinander tuschelten. »Dies sind ähnliche Gravitationsbedingungen wie auf dem Asteroiden. Normalerweise bleibt ein Objekt, wenn sie es irgendwohin legen, dort liegen. Aber da oben - was hochgeht, schwebt weiter. Diese neue Generation von Raumanzügen hat Beschleunigungsraketen... Bear!« schrie sie plötzlich, wirbelte herum und bedachte ihn mit einem bösen Blick. »Haben wir irgendwelche Probleme? Ich versuche euch zu erklären, wie diese DATs euren Arsch auf dem Boden halten! Das heißt, wenn ich dir in die Eier treten würde, und du würdest diesen Raumanzug nicht tragen, was würdest du dann tun?« »Wegtreiben?« riet Bear nervös. Rockhound hob die Hand. »Wann beginnen wir mit dem Training dafür?« fragte er. Watts Antwort war, daß sie einen Knopf auf der Kontrolltafel drückte, und langsam begann sich die vierzig Tonnen schwere Tür der Kammer zu schließen. »Setzt die Helme auf«,
warnte Watts, »der Sauerstoff wird in achtzehn Sekunden vollständig herausgesogen und diese Kammer in ein Vakuum verwandeln. Genau wie im Weltraum.« Die »Schüler« verzichteten auf Blödeleien und fummelten an ihren Helmen, als die Tür zuschlug. »Harry«, sagte Rockhound in seinem Helm, »was denkst du?« Harry sah auf den riesigen Windpropeller am Ende der Kammer. »Ich interessiere mich nicht dafür, wie schlecht es hier unten ist - dort oben haben wir keinen Knopf zum Abstellen.« In diesem Augenblick wurden die Fächer eingeschaltet und wirbelten sie wie Herbstblätter durch den Raum. »Ich brauche keine schlechten Nachrichten mehr«, erklärte Truman der Geologin, die mit einigen Berichten zu ihm kam. Die Frau zuckte mit den Achseln. »Er beginnt uns seine Eigenschaften zu offenbaren«, berichtete sie über den Asteroiden. »Es ist eine brutale Atmosphäre - schwere Windstürme mit Geschwindigkeitsspitzen von ca. hundertdreißig Meilen pro Stunde, Sir.« »So . . .«, sagte Truman grimmig. »Ich bitte um ein paar gute Nachrichten.« »Mein Sohn ist heute drei geworden«, sagte die Geologin mit einem bittersüßen Lächeln. Aus der Schwärze des Weltraums kommend, raste der Asteroid in Richtung Erde, umgeben von unzähligen satellitenähnlichen Felsen. Die Uhr der NASA zeigte die Zeit bis zum globalen Zusammenstoß an: 174:12:18:028.
8 Jules Verne, wo bist du, wenn man dich braucht? dachte Truman zynisch, als er sich am nächsten Tag mit dem ungehobelten Team und den NASA-Technikern traf. Tief in seinem Innern befürchtete er, daß der einzige Weg, sie auf eine erfolgreiche Mission zu schicken, wäre, sie in eine Zeitmaschine zu stecken und mit ihnen fünf oder zehn Jahre zu üben - mindestens -, in einer Zeit, in der die NASA genügend Kapital hatte und ihnen genug Zeit ließ, eine intelligente Abwehr gegen einen Asteroiden-Aufschlag auf der Erde zu entwickeln. Aber es war unmöglich, die Zeit zurückzudrehen, zu spät, die Geschichte zu beeinflussen. Zwei Wege trennten sich in einem dunklen Wald und schade, ich... Zu spät, um darüber nachzudenken. Alles, was sie hatten, war das Jetzt und die Zukunft. Egal, wie wenig davon noch übrig war. Das und die kleine Armee Menschen, die vor ihm stand. Das mußte reichen. Truman rappelte sich auf und wies auf die Modelle, die sie gebaut hatten; mit Halterungen aus Styropor befestigt, hingen sie in Sichthöhe. »Der Flugplan ist folgender: Beide Fähren starten am Dienstag um 8 Uhr 14 morgens. Siebenundzwanzig Minuten später werden die Fähren an die russische Raumstation andocken. Dort werden sie wieder mit flüssigem O2 aufgefüllt. Das ist ihr Treibstoff. Von dort fliegen sie sechzig Stunden bis
zum Mond. Wir haben nur eine Chance, um auf dem Asteroiden zu landen, und zwar dann, wenn er am Mond vorbeikommt. Dann benutzt ihr die Schwerkraft des Mondes, um eure Geschwindigkeit zu verdoppeln - wir machen einen Schleuderschuß mit euch um den Mond - ihr werdet die elffache Erdbeschleunigung erleben ...« »Oh, ich erinnere mich«, fing Harry an. »Der Kojote setzte seinen Arsch in eine Steinschleuder und gurtete eine Höhenrakete auf seinen Rücken. Aber es ging schief.« Er gluckste und stopfte die Hände in seine Taschen, während er sich umsah und in die versteinerten Gesichter der NASA-Leute blickte. Was - haben wir alle die Hosen so voll, daß wir nicht mehr lachen können? Er hob die Schultern und grinste Truman an. »Das ist gewissermaßen die Art, wie wir es machen werden, richtig?« »Wir haben bessere Raketen als der Kojote, Stamper«, sagte Truman ernst. »Nach der Roadrunner-Bewegung werdet ihr mit 22500 Meilen in der Stunde hinter dem Asteroiden herauskommen, und wir hoffen, daß die Gesteinstrümmer an seiner Spitze von der Schwerkraft des Mondes gesäubert werden. Ihr werdet da landen«, sagte er und zeigte mit dem Bleistift auf einen kleinen Ball, der den Asteroiden darstellen sollte. »Das ist er.« Oskar hob die Hand und fragte: »Laßt uns mal für eine Sekunde annehmen, daß wir tatsächlich auf dem Asteroiden landen... wie sieht es denn da oben aus?« Truman antwortete sofort. »Zweihundert Grad in der Sonne und minus zweihundert im Schatten. Die Felsen bestehen aus rasiermesserscharfem Gestein. Unstabiler Boden, unklare Gravitationsverhältnisse, unvorhersehbare Eruptionen . ..« »Aha«, unterbrach Oskar nickend. »Die schrecklichste Umgebung, die man sich vorstellen kann, danke.« Er zuckte
mit den Achseln. »Es hätte wirklich ausgereicht, wenn Sie gesagt hätten: die schrecklichste Umgebung, die man sich vorstellen kann.« Truman ging zu einem Monitor und drückte den Startknopf auf einer Computerkonsole. Er erklärte die Bilder, die der Computer als simple Graphik darstellte. »Ihr bohrt, ihr werft die Bombe, ihr haut ab. Hier ist der Schlüssel: Ihr schaltet die Zündung der Bombe ein, bevor der Asteroid diese Zone passiert: Null-Zone. Ihr jagt sie hoch, und das Gestein, das zurückbleibt, wird genug abgelenkt, um an uns vorbeizurasen.« Die Computergraphik zeigte ein Szenario, in dem die beiden Asteroidenhälften knapp an der Erde vorbeisausten. »Wenn der Asteroid die Null-Zone passiert und die Bombe noch nicht explodiert ist...« Im Raum wurde es still und alle Augen richteten sich starr vor Schreck auf den Monitor. Die Computergraphik zeigte ein Szenario, das sich ergeben würde, wenn die Bombe erst nach der Null-Zone explodieren würde. Beide Teile des Asteroiden schlugen auf der Erde ein. »Das Spiel ist vorbei«, beendete Truman die Vorstellung. Keiner sprach ein Wort. Einigen stockte der Atem. Truman wies auf zwei graphische Linien, die als nächstes erschienen. »Die Zeit für die Null-Zone und die Tiefe. Wenn dieses Meßgerät zuerst ausschlägt, habt ihr kein Loch. Ich würde sagen, ihr könnt dann einfach nach Hause fliegen«, er zuckte mit den Achseln, »aber ein Zuhause werdet ihr nicht mehr haben.« Als die Besprechung zu Ende war und die Teilnehmer den Raum verließen, blieb ein grimmiger Truman gedankenverloren mit Quincy, Sharp und Davis zurück.
»Allein die beiden Fähren vom Boden abheben zu lassen wird an ein kleines Wunder grenzen«, sagte er. »Wir haben es noch nie ausprobiert. Das ist die eine Hürde. Dann doppeltes Andocken an die Raumstation, die Übergabe von acht Tonnen O2, entflammbar wie die Hölle ... das ist eine zweite, ziemlich beschissene Hürde. Zwei Vögel, die um den Mond herumpeitschen bei einer Schwerkraft, die einen Menschen töten könnte ... das ist eine gottverfluchte Hürde. Und dann kommt der schwerste Teil. Beide Fähren müssen auf dem Asteroiden landen, der weiß Gott wie lange schon durch das Universum rast.« Er schaute die anderen an und fragte sich, ob sie das begriffen. »Ist euch klar, was wir hier versuchen?« Keiner sagte ein Wort. Ja, sie haben es begriffen. Die Dämmerung legte sich über das ausgetrocknete Seebekken, in dem die beiden Armadillos sich wie Aliens duckten. Wenn das Ganze nicht so bedrohlich wäre, dachte Harry, dann wäre es ein großer Spaß. »Ich habe um eine Ersatzausrüstung gebeten, aber wir müssen mit dem zurechtkommen, was wir haben«, erklärte Harry seiner Mannschaft. »Jedes Team erhält tausend Meter Kabel, zwei Getriebe und fünf Bohrsätze. Sobald wir gelandet sind, haben wir acht Stunden Zeit. In fünfundvierzig Minuten müssen wir aufbauen, sechseinhalb Stunden verbleiben fürs Bohren, dann wieder fünfundvierzig Minuten, um die Bombe einzuführen, und dann heben wir ab. So sieht es aus. Laßt uns mit der Simulation beginnen.« Bald war das rote Team bereit und begab sich in die neutralen Überlebenstanks, die so eingerichtet waren, daß sie die Bedingungen simulierten, unter denen sie auf dem Asteroiden arbeiten würden.
Harry überwachte die Arbeit mit einer Stoppuhr, während sie die Attrappe des Bohrarms justierten. »Gut, jetzt eine kleine Veränderung!« rief Harry. »Geh härter ran, Bear! Okay, schneller, schneller, schneller! Ihr solltet es noch schneller hinkriegen! Lad das Rohr, Oskar! A. J., fahr die Drehkraft zurück!« A. J. brachte den Bohrer auf Touren, die Uhr tickte, und ein CG-Bildschirm simulierte die Bohrung in der Tiefe sowie die Umdrehungen pro Minute, während behandschuhte Hände Kabel zogen und Rohre umfaßten. Der Schweiß lief Bear die Stirn herunter, als er sich bemühte, das Rohr schnell genug hinunterzuschieben, um so mit der Geschwindigkeit des Bohrers Schritt zu halten. »A. J., runter mit der Geschwindigkeit, Mann!« Truman prüfte alles mit einem messerscharfen Blick auf die Stoppuhr. »Er kann es vertragen«, schoß A. J. zurück. »Kannst du es auch? Ich ziehe ihn jetzt hoch!« »A. J.«, schimpfte Harry, »du bist bei sechshundert Fuß, dein Rohr ist lang, verlangsame also auf achttausend Umdrehungen!« »Wir haben keine Zeit für achttausend Umdrehungen!« brüllte A. J. »Nimm ihn zurück«, befahl Harry, »oder er frißt sich fest und zerstört das Getriebe!« Aber A. J. wollte unbedingt seine Vorstellung vom Bohren durchsetzen. »Kommt, Jungs, wir machen weiter! Wir sind das junge Team! Ich gehe auf 11000! Bear, gib der Turbine mehr O2!« Das Getriebe rüttelte wie wild, neuer Stoff wurde in die Maschine geladen. »Harry«, rief Bear dazwischen, »hörst du das?« »A. J., du bist drauf und dran, das Getriebe in die Luft zu
jagen!« schrie Harry. »Sofort runter mit der Geschwindigkeit!« »Mehr O2, Bear!« rief A. J., wie wenn er Harrys Befehl nicht gehört hätte. »Du bist jetzt in meinem Team! Es läuft bestens!« Plötzlich schlugen A. J.s Zähler aus, der Computer gab einen Alarmton von sich, und das Getriebe war zerstört. Harry schlug seine geballte Faust in die andere Hand. »Okay, holt ihn raus! Zieht ihn hoch!« Sobald A. J. den Tank verlassen hatte und das Wasser abgetropft war, stürmte Harry auf ihn zu, packte ihn und schlug ihn gegen die Wand. Chick rannte hinzu, um ihn zurückzuhalten, aber Harry fegte ihn aus dem Weg. »Dein Team, was?« schrie Harry, die Nase einen Millimeter vor A. J.s erstarrtem Gesicht. »Dein Team hat die ganze Transaktion zunichte gemacht!« »Dieser Versager von einem NASA-Computer hat sich geirrt«, stotterte A. J. und befreite sich aus Harrys Griff. »Deine Maschine - die richtige - die kann es vertragen!« »Gut, aber dieser Felsen ist nicht der Ort, um das herauszufinden!« schoß Harry zurück. »Wir haben viel zuwenig Ersatzteile dabei! Da gibt es keine Möglichkeit, es auszuprobieren, sich aufzuspielen, mit Instinkt zu arbeiten oder ein Held zu sein! Hast du das verstanden?« Er schüttelte A. J. »Sag mir, daß du das kapiert hast. Sag die Worte!« »Ich hab's kapiert. Ich hab's kapiert!« antwortete A. J. zornig. »Jesus, Maria!« Harry stieß den Finger gegen A. J.s Nase. »Ich möchte, daß du wieder da reingehst und es auf meine Art wiederholst. Kein Kampf, kein Ego, keine Fragen!« Minuten später war A. J. wieder im Wasser und tat genau das, was Harry ihm befahl. Und die Weisheit dieser Strategie
leuchtete allen, die zusahen, sofort ein. Die Computergraphik zeigte am Monitor das Bohren bei 8000 Umdrehungen pro Minute bis zu 800 Fuß tief. Es funktionierte. Harry war nicht euphorisch, nickte aber mit der Genugtuung eines Profis, dessen Kalkulation auf jahrelanger Erfahrung, Lernen, Ausprobieren und einem guten Instinkt beruhte. Aber er verspannte sich, als er merkte, daß er von Truman und Sharp wie von zwei Bücherstützen eingekeilt wurde. »Wenn Sie ein Mitglied auswechseln wollen, noch haben Sie die Zeit dazu«, meinte Sharp. Harry ignorierte ihn. Trotz allem, was passiert war - trotz der Tatsache, daß er A. J. am liebsten rausgeworfen hätte -, kein Mensch hatte ihm zu sagen, mit wem er zu arbeiten hatte. »Ich werde den Zeitplan ändern«, sagte er knapp. »Meine Leute und ich, wir ziehen morgen nacht los.« Truman wurde weiß. »Was meinen Sie mit >Sie ziehen los« »Ich meine hier raus«, erklärte Harry, als ob Truman taub oder ein Idiot oder beides wäre. »Eine Nacht. Zehn Stunden. Dann gehen wir zum Kennedy.« »Harry, ich kann das nicht zulassen«, protestierte Truman ungläubig. »Es steht zuviel auf dem Spiel. Was ist, wenn sie sich verletzen? Was ist, wenn sie quatschen?« Harry drehte sich zu ihm um, seine Augen funkelten. »Was ist, wenn sie zu ausgebrannt sind, um das Richtige zu tun? Was ist, wenn sie so angespannt sind, daß sie durchdrehen? Was ist, wenn sie vergessen, für was sie kämpfen?« Als er sah, daß Truman einen Schritt zurücktrat, riß er sich ein wenig zusammen, änderte aber seine Meinung nicht. »Sie wollen ihr Bestes, also müssen Sie sie rauslassen. Ich frage nicht, ich sage es ihnen.«
Einen Tag später, auf die Stunde genau, öffneten sich die Pforten der NASA, und Harry und seine Mannschaft wurden in einer Limousine in die Stadt entlassen.
9 »Bist du sicher, daß du es nicht überprüfen willst?« Der Kredithai hob den letzten Stapel Geld aus einer elektrischen Computerkasse und legte ihn auf den Tisch. Er sah skeptisch auf den Typen, der vor ihm stand. »Nein, sieht wie hundert Riesen aus«, sagte Rockhound und stopfte das Bargeld in eine zerknitterte Papiertüte. Der Kredithai griff nach seinem Handgelenk und starrte ihn mit quadratischen Augen an. »Sechzig Prozent. Keine Entschuldigungen, keine Ausflüchte - verstehst du? Oder ein paar von deinen Fingern gehören mir.« »Yadda, Yadda, Yadda«, japste Rockhound. »Du weißt, wo du mich findest. Yeah, ich hab's verstanden.« Plötzlich bekam der Kredithai Stielaugen. »Hey ... du bist nicht etwa krank... oder so? Stirbst oder so ...?« Rockhound war schon auf dem Weg zur Tür. »Laß mich nur eins sagen: nicht mehr als du.« Als sie sich in der Stadt verstreut hatten, stürmte Harry Stamper geradewegs in seine Wohnung und sah sich in seinem kleinen Büro um, das vollgestopft war mit Photographien, Trophäen und Einzelteilen von alten Ausrüstungen aus seinen früheren Tagen im Bohrgeschäft. Er fand ein paar Bilder von Grace, als sie noch ein kleines Kind war, und schaute sie an. Sosehr er sich auch dagegen wehrte, im Grunde sah er sie heute noch so: klein und süß und voller jugendlicher Unschuld. Sieht ein Vater seine Tochter jemals anders?
Er schüttelte den Kopf, öffnete den Deckel seines Schreibpultes und griff nach der alten Bibel, die er dort aufbewahrte. Dann fiel sein Blick auf eine alte Schwarzweißaufnahme von ihm als Kind zusammen mit seinem Vater, der einen Ölanzug trug; sie standen neben dem alten Wohnwagen. Harry grinste und schob das verblaßte Photo zwischen die Seiten der Bibel und eilte aus dem Haus. Die Sonne ging schon unter, als er zu seines Vaters Landhaus kam und von der Pflegerin einen flüchtigen Kuß bekam, weil er sich blicken ließ. »Wie geht es ihm?« fragte Harry und nickte in die Richtung eines alten Mannes, der auf einem Stuhl hinten im Raum saß. Die Schwester lächelte, schüttelte den Kopf. »Gesund wie ein Walroß.« »Erzähl mir etwas, was ich noch nicht weiß.« Harry ging rüber zu seinem Vater, Hollis Stamper »Grap«, so nannten sie ihn, ein hartgesottener vorsintflutlicher alter Kampfvogel, der seine anrückende Senilität tapfer bekämpfte. »Wie geht's denn so?« fragte Harry. »Behandeln sie dich gut?« Grap schaute finster drein. »Alle vier Stunden Pillen. Die Grütze alle fünf. Was Grütze ist? Du weißt, was es ist. Ich werd's dir sagen. Es ist Pudding für Weicheier. Gottverdammter Pudding für Weicheier ...« »Hey, das hält deine Verdauung auf Trab.« »Den Teufel tut es!« antwortete Grap scharf. »Ich hatte nicht einen gesunden Schiß, seit der Iran einen Schah hatte.« »Vielleicht besteht da eine Verbindung.« »Sie haben mich unterschätzt, Harry«, sagte Grap und seine Stimme wurde verschwörerisch leise. »Sie wissen nicht, was wir wissen. Ich bin bereit zu arbeiten, verdammt! Hast du einen Job in Aussicht?« »Yeah, wir haben einen ...«
»Ich habe meine Stiefel und Handschuhe«, sagte der alte Mann und bewegte sich in seinem Stuhl, als ob er aufstehen wollte. »Ich habe alles gepackt und bin bereit für die Drecksarbeit. Sag ihnen, aus welchem Holz wir geschnitzt sind. Ich bin Hollis Vernon Stamper, und ich wäre nicht so weit gekommen, wenn ich die Dinge nur halbherzig gemacht hätte.« »Ich werde es ihnen erzählen, Papa«, beruhigte ihn Harry und drückte seinen zerbrechlichen Vater zurück auf den Stuhl. Plötzlich wurde das Gesicht des alten Mannes weich, und er sah zu Harry hoch. »Wie geht es meiner Enkelin?« Harry grinste und rief: »Grace!« Dann fügte er hinzu: »Sie tanzt mir auf der Nase herum ...« »Wie ihre Mutter«, nickte Grap. »Nur ohne deren Pfennigabsätze.« »Yeah, gut so, Gott gab uns die Kinder, damit wir auch im Winter Rosen haben ...«, erinnerte ihn Grap. Harry runzelte die Stirn. Das war ziemlich poetisch für Grap, und er betrachtete den Mann genauer. Grap verzog fragend das Gesicht. »Was?« »Ich liebe dich, Vater.« Der alte Mann schien überrascht, aber gerade als seine Augen zu verschwimmen drohten, sah er ihn finster an und brüllte los: »Was für eine Scheiße ist das? Beweis es! Besorg mir was von diesem beschissenen Pudding!« Dann fingen seine Augen an zu leuchten, und Harry mußte sich nicht umdrehen, um zu wissen, daß Grace den Raum betreten hatte. In dem warmen rötlichen Licht des Sonnenuntergangs, das durch das Fliegengitter auf ihr Gesicht fiel, sah sie so schön aus wie damals, als er das erste Mal draußen vor dem über-
dachten hölzernen Portal des winzigen Hauses in Houston auf sie gewartet hatte. Aber jetzt sah sie ihn abweisend an. »Entschuldigung.« Chick glaubte, er müsse sich entschuldigen. »Ich wollte gerade ...« Sie kam aus dem Haus, beobachtete nervös jede seiner Bewegungen. »Was ist? Du brauchst Geld, richtig?« »Nein«, sagte er schnell. »Wirklich, ich bin gut bei Kasse.« Dann glitt sein Blick an ihr vorbei, durch das Fliegengitter der Tür, und fiel auf den sechs Jahre alten Jungen, der ihn mit großen Augen beobachtete. »Er ist groß geworden«, sagte Chick ruhig. »Das Gericht hat nicht erlaubt, daß du einfach so vorbeikommst«, sagte sie. »Ich weiß.« »Ma?« Die Scharniere quietschten leicht, als der Junge die Tür öffnete. »Geh ins Haus zurück!« befahl seine Mutter. »Es tut mir leid. Alles!« sagte Chick und trat zurück. Dann platzte es aus ihm heraus: »Ich habe etwas Großes vor ... weißt du ... du kannst vielleicht stolz auf mich sein.« Dann drehte er sich um und eilte davon, mit all der Sehnsucht im Herzen, die der Blick des Jungen in ihm entfacht hatte. Max Lennert saß am Tisch seiner Mutter und tat, was er am besten konnte - essen, als wenn es kein Morgen gäbe. Weil es vielleicht kein Morgen gibt, dachte Max. Er beobachtete seine Mutter, die am Herd arbeitete. Es sah so aus, als ob sie ein halbes Dutzend Töpfe mit Essen vorbereitete. Er wußte, daß er ihr nicht erzählen durfte, was er und seine Kumpels vorhatten, und es war ihm anzusehen, daß es ihn schmerzte - er hatte in seinem ganzen Leben keine Ge-
heimnisse vor seiner Mutter gehabt -, aber er wußte sich nicht anders zu helfen, als wenigstens ein bißchen darüber zu sprechen. »Hey, Mom«, sagte er zwischen zwei Bissen, »als ich ein Kind war, hättest du je daran gedacht, daß ich ein Astronaut werden könnte, wenn ich groß bin?« »Nööö«, sagte seine Mutter und schleuderte eine Handvoll Gewürze in einen zischenden Topf. »Ich habe mir niemals vorstellen können, daß du gefriergetrocknete Scheiße ißt und Seetang trinkst. Scheiße!« Oskar verbrachte seine freie Nacht auf den Knien - in einer Kirche. Im Alamo-Striptease-Club unterhielten Rockhound und Noonan alleine das ganze Lokal und übertönten die ruhigeren Gäste, indem sie versuchten, Rockhounds geliehenes Geld in einer Nacht auf den Kopf zu hauen. Alle Mädchen hatten sich in der VIP-Sektion versammelt, in der Rockhound und Noonan mit dem Geld nur so um sich warfen. »Was führt dich ins Alamo?« fragte eine der Damen, bekannt unter dem Namen Molly Mound, und schmiegte sich an Rockhound wie ein Katze. »Ein bißchen Astronauten-Training«, prahlte Rockhound. Er schüttelte ihre Hand. »Hound, Spezialist der Mission.« »Hey!« brüllte ein großgewachsener Besucher, der sich einen Weg durch die Menge bahnte. »Was zum Teufel glaubt ihr, wer ihr seid? Ihr macht euch hier zu breit!« »Hey, du Schwachkopf!« höhnte Noonan. »Verschwinde auf deine eigene Party.« »Hey, Kumpel, wieso laßt ihr uns nicht an eurem Wohlstand teilhaben?« rief ein ebenso großer Typ, ganz in Leder, mit ebenso vielen Ketten wie Muskeln. Rockhound griff nach seinem Bündel Banknoten, zog ei-
nen Schein heraus und warf ihn auf die ungebetenen Gäste. »Hier, zischt ab und kauft euch einen Lutscher.« Das genügte. Als der Biker zum Schlag ausholte, duckte sich Rockhound hinter ein paar Stripperinnen, und Noonan schwang eine Flasche. Die Hölle brach los. Fünfundvierzig Minuten später nahm die Polizei Rockhound, Noonan und zehn weitere Jungs - blutbeschmiert und mit zerrissenen Hemden - fest. »Ich sag's ihnen doch«, winselte Rockhound, »rufen sie die NASA an. Sie werden es bestätigen.« »Yeah«, meinte der Biker. »Wir sind alle Astronauten, Officer.« Die einzige Antwort, die Rockhound bekam, war eine kleine Abreibung von einem Polizisten. »Kumpel«, beklagte sich Rockhound, »sie legen sich gerade mit der Nationalen Sicherheit an ...« Die Mitarbeiter der NASA bereiteten sich fieberhaft auf einen Notfall vor. Harry, gerade zurückgekehrt, packte einen von ihnen am Arm und fragte: »Hey, was geht hier vor?« »Das Weltraumkommando hat weitere Einschläge registriert«, antwortete ihm der Mitarbeiter und rannte zur Kontrollstation. Es herrschte ein irrsinniges Durcheinander. Lichter blinkten, Telephone läuteten, Menschen rannten hin und her - und mittendrin Dan Truman. »Kann mir jemand die nächste Einschlagstelle nennen?« rief Truman über den allgemeinen Geräuschpegel hinweg. »Ostasien«, rief ein Techniker. »In elf Minuten ...« Clark griff entschlossen zum Hörer. »Wir müssen sie warn, »Wen warnen ?« bellte Truman. »Den gesamten Südpazifik ?
Der nächtliche Hafen von Shanghai war von Neonlichtern erhellt. Dschunken trieben im Wasser, und eilige Menschen gingen ihren Geschäften nach. Plötzlich riß ein ungeheurer Knall den Himmel auf und verwandelte die Nacht in Tag. Im selben Augenblick, als der Asteroid mit einem schrillen Ton in den Hafen einschlug, ergriff ein Junge die Hand seines Vaters. Die Dschunken brachen wie Streichhölzer auseinander, und mit einem Schlag verdampften eine Million Gallonen Meerwasser. Es war totenstill in der Kontrollstation. Der gesunde Menschenverstand war kaum fähig, den vollen Umfang des Schadens zu ermessen. Aber genau das mußte geleistet werden, denn das war nur die Vorstufe dessen, was passieren würde, wenn die Menschen in diesem Raum versagten. Truman fühlte sich zerschmettert. Als er sich nach Harry umsah, kam der mit einem vertrauensvollen Blick auf ihn zu. »Tu mir einen Gefallen«, bat er in ruhigem Ton, »und sag mir, daß du nie jemanden im Stich gelassen hast.« Harry rieb sich das Kinn, als überlegte er, wie ehrlich er antworten sollte. »Na ja ...« »Herrgott noch mal!« rief Truman. »Belüg mich doch einfach!« »Ich habe nie gekündigt«, versicherte Harry. »Wie gefällt dir das?« Ihre Blicke trafen sich, und für einen kurzen Augenblick hätte Truman fast gelächelt. »Ich erinnere mich an den Vor- und Nachnamen jedes Mannes, der während des ersten Jahres meines Aufenthaltes hier für das Astronautenprogramm in Frage kam«, sagte Truman. »Das ist jetzt zweiundzwanzig Jahre her. Damals war alles anders. Keine Büroarbeit und keine Politik- man mußte
nur gut sein in seinem Job. Das war in dem Jahr, als wir die Viking hinauf geschickt haben. Ich beteiligte mich an jenem Technikerprogramm, obwohl ich mir nichts sehnlicher wünschte, als oben zu sein - einer von denen mit dem Abzeichen der Mission auf dem Arm, verstehst du?« Er zuckte mit den Achseln. »Was ist aus all denen geworden, die vor Jahren aus der Verwaltung ausgestiegen sind?« Er seufzte. »Ich würde mit dir auf diese Fähre gehen, Harry, wenn ich könnte.« »Du willst da genausowenig rauf wie ich«, entgegnete Harry. »Du hast Angst... weil du nicht wirklich weißt, was uns bevorsteht.« Truman schüttelte betrübt den Kopf. »Nein, ich habe Angst... weil ich glaube, daß ich es weiß.«
10 Chick grüßte Davis und kletterte dann mit Max, der ihm auf dem Fuß folgte, auf die Tragfläche. Rockhound und Noonan trödelten hinterher. Harry beobachtete mürrisch, wie Grace und A. J. eng umschlungen zum Shuttle kamen. Truman ging zu Harry. »Die hiesigen Reporter haben unseren Funkverkehr abgehört. Diesmal hat ein französischer Satellit das Ding gefunden, folglich muß ich mehrere tausend Telephonate führen.« »Jetzt heißt es also Abschied nehmen«, sagte Harry. Truman streckte die Hand aus, und die beiden Männer schüttelten sich die Hände. »Sag das nicht«, warnte er. »Wir werden es schaffen«, sagte Harry und lächelte kaum merklich, »und du besorgst das Bier.« Truman nickte. »Hey, ich spendier sogar die Brezeln ...« Während sie zum Kennedy-Raumfahrtzentrum flogen, verbreitete sich die Story wie ein Lauffeuer in den Medien. »... die ganze Woche über vernahm man Stimmen, die die Möglichkeit eines erneuten Einschlags in Betracht zogen...« »Hohe Funktionäre des Pentagon dementierten...« »Nach seiner Rückkehr aus Camp David goß der Präsident Öl in das Feuer der Vermutungen...« »... japanischer Satellit bestätigt die Existenz eines Objektes. ..«
Harry und seine Besatzung trafen bei Einbruch der Dunkelheit im Kennedy-Raumfahrtzentrum ein, gerade zur rechten Zeit, um zu beobachten, wie ein Kettenfahrzeug eine gewaltige X-71-Rakete zum Startturm transportierte. Sie stolperten aus ihren Bodenfahrzeugen und starrten hinauf auf die riesige Raumfähre. »Wir bekommen sie ständig zu sehen«, sagte Oskar voller Ehrfurcht. »Aber es kommt uns nie in den Sinn, daß wir jemals drin sitzen könnten.« »Yeah«, hauchte Noonan, »es ist wie mit den Supermodels.« Am anderen Morgen, im Morgengrauen, stand Grace auf dem Startplatz der Apollo I, an der Stelle, wo Virgil Grissom, Edward White und Roger Chaffee lebend verbrannt waren, gefangen in ihrer Kapsel, die sich nicht einmal vom Erdboden gelöst hatte... Es sah aus wie ein verrostetes, stählernes Stonehenge. Sie sann über die Wrackteile nach, ein Relikt aus einer unschuldigeren Zeit. Hinter ihr kam Harry auf sie zu. »Hey«, rief er sanft. Grace wandte sich um, versuchte aber nicht einmal zu lächeln. »Danke, daß du gekommen bist.« »Aber klar. Um was geht's denn?« »Ich finde, wir haben einiges zu besprechen, findest du nicht auch?« fragte sie ihn. Harry seufzte. So hatte er es sich nicht vorgestellt, die vielleicht letzten gemeinsamen Minuten mit seiner Tochter zu verbringen. »Also gut, ich habe, was A. J. betrifft, vielleicht übertrieben reagiert - ich will nur nicht, daß du die gleichen Fehler machst wie ich damals. Das ist alles. Sieh dich doch an, Grace ... Was ich sehe ist... Gott sei mir gnädig ... eine zweite Chance. Ein
großes Umschwenken . . . Du mußt nicht dieses unstete Leben leben, sondern Wurzeln schlagen, Kinder aufziehen, ein Haus ... Zum Teufel damit! Schick diesen unreifen Zeitungsjungen mit seinen miesen Absichten in die Wüste ...« Seine Stimme verebbte, als er die Traurigkeit in Grace' Blick wahrnahm. »Was ich auch gesagt habe - ich habe dir nie die Schuld dafür gegeben, daß du Mutter verlassen hast«, sagte sie sanft. »Sie ist nur eine Vorstellung. Für mich gibt es nur dich. Und ich liebe mein Leben.« Dann umarmte sie ihn, drückte ihn an sich, so wie sie es früher als kleines Mädchen getan hatte, als ob sie ihn seit Ewigkeiten nicht mehr umarmt hätte. Auch er umarmte sie und glaubte beinahe, daß er, wenn er sie nur fest genug an sich drückte, die Zeit zum Stillstand bringen und die Zukunft von ihnen fernhalten konnte wie damals, als ihre Alpträume sie in seine Arme getrieben hatten. Aber nicht einmal Väter konnten das, wie sehr sie sich auch anstrengten. »Ich bitte dich um zwei Dinge.« Grace' Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. »Sie sind sehr wichtig.« Harry hielt sie um eine Armeslänge von sich und mußte lächeln, als er das Beben an ihrem sonst so energischen Kinn bemerkte. »Laß hören.« »Sorg dafür, daß es keine Reise ohne Wiederkehr wird.« Harry schluckte den Kloß in seinem Hals runter. »Einverstanden. Und das andere?« Jetzt füllten sich ihre Augen mit Tränen und benäßten ihre Wangen, aber ihr Blick blieb fest an ihm haften. »Ich möchte, daß du mit meinem Verlobten zurückkehrst.« Harry war wie vor den Kopf geschlagen, als er das hörte. Es war also nicht nur ein stures Festhalten an einer verrückten
Verliebtheit, kein Auflehnen, um ihren alten Vater in den Wahnsinn zu treiben. Diesmal hatte es sie schlimm erwischt. Sie war schon darauf gefaßt, daß Harry in Wut ausbrechen würde, aber statt dessen verblüffte er nicht nur sie, sondern auch sich selbst, und nahm sie wieder in seine Arme. Obwohl sie nie leicht geweint hatte, nicht einmal als Kind, machte sie ihre Sache recht gut, sein Hemd zu durchtränken. Und jetzt fiel sein Blick auf die Gedenktafel, die sie zuvor gelesen hatte. 1967 Der Besatzung von Apollo 1 Zum Gedenken Glücklicherweise konnte sie die Furcht nicht sehen, die über sein Gesicht huschte. Wird in Zukunft jemand eine solche Gedenktafel auch für Harry und seine Besatzung aufstellen? Oder noch schlimmer: Wird es vielleicht niemanden mehr geben, der sich an diese Zeit würde erinnern können? Während der Countdown für den Start näher rückte, zeichneten in der Kontrollstation die Mitarbeiter die Neuigkeiten auf: »... ein geheimes Raumfahrtprojekt war für das kommende Jahr vorgesehen...« »In Kürze wird der Präsident im Weißen Haus eine Ansprache an die Nation richten ...« Sie gaben sich große Mühe, die Katastrophe zu vertuschen. Aber Fernsehen und Radio hatten schon den Schrecken in Amerikas Wohnzimmer gebracht.
11 Bereit oder nicht, wir kommen... Harry und seine Besatzung hatten sich so gut wie möglich vorbereitet. Die Frist war abgelaufen, und Harry machte sich trotz seiner Befürchtungen an die Arbeit. Er und seine Leute standen bereit und warteten auf das Startsignal, während die Techniker der NASA und das Militärpersonal sie wie Paparazzi umschwirrten. Bisher hatte sie Grace auf Schritt und Tritt begleitet, aber jetzt konnte sie nicht mehr weiter. Sie verabschiedete sich von ihrer Wahlfamilie, schenkte Harry ihr süßestes Lächeln, nur von A. J. konnte sie sich kaum trennen. »Mr. Frost«, rief ihm ein Techniker der NASA zu. »Sind Sie bereit zu gehen?« »Es ist nur eine Spritztour«, witzelte er. »Ich bin in Null Komma nichts wieder hier.« »Es kommt mir schon jetzt vor wie eine Ewigkeit«, flüsterte sie. »Schließ die Augen«, sagte er zu ihr. »Fühl es, jetzt - präg es dir ein ...« Er küßte sie - es war ein langer, langsamer Kuß. »Mr. Frost, bitte«, bat der NASA-Techniker. Inzwischen sah die gesamte Belegschaft zu, wie A. J. Grace Lebewohl sagte und sich auf die Geleitfahrzeuge zubewegte. »Wir werden heiraten!« rief er. »Da kannst du Gift drauf nehmen!« erwiderte sie mit Tränen in den Augen, aber dennoch lächelnd. Harry, der es beobachtet hatte, mußte dem Jungen dafür
danken, während sie in die Transportfahrzeuge stiegen. Und dann fuhren sie davon. Der Präsident der Vereinigten Staaten blickte in die Kameras der Nachrichtensender mit seiner, wie er hoffte, ruhigsten und vertrauensvollsten Miene. Dann begann er seine vorbereitete Rede vorzulesen. »Ich spreche heute nicht als der Präsident der Vereinigten Staaten zu Ihnen, nicht als der Führer eines Landes, sondern als Bürger der Menschheit. Wir stehen vor der größten aller Herausforderungen. Manche sagen, das biblische Armageddon sei angebrochen - das Ende aller Dinge. Und dennoch, zum ersten Mal in der Geschichte dieses Planeten ist eine Spezies Herr über eine Technologie, mit der sie sich vor dem Untergang bewahren kann.« Und während der Präsident sprach, wandten sich die Kameras zu Harry Stamper und der übrigen Besatzung, die auf der Startbasis wie Helden aus den Begleitfahrzeugen stiegen. Grap Stamper, der wie immer von seiner Pflegerin vor den Fernseher gesetzt worden war, ließ seinen Brei fallen, als er sah, daß Harrys Gesicht auf dem Bildschirm aufblitzte. Der Präsident fuhr fort: »All jene, die heute mit uns bangen und beten, sollten wissen, daß wir alles menschenmögliche aufbieten, um diese Katastrophe zu verhindern ...« In Houston rief Chicks kleiner Sohn seine Mutter ins Wohnzimmer - Chick lächelte aus dem Fernseher zu ihnen herüber. »Das ist dein Vater«, flüsterte sie und starrte ungläubig auf den Bildschirm. »Das Verlangen des Menschen nach Wissen und Leistung, jeder Schritt auf der Stufenleiter der Wissenschaft, jeder kühne Griff zum Himmel, unsere moderne Technologie im Verbund mit unserer Phantasie, sogar unsere Kriege, liefern uns
das Rüstzeug, um diesen schrecklichen Feldzug zu unternehmen ...« Hinter der Flugbesatzung hatten sich die Türen der Aufzüge geschlossen, während das Personal, das für den Start zuständig war, auf der Basis geschäftig umherlief. »Durch all das Chaos unserer Geschichte hindurch, durch all das Böse, die Zwietracht, den Schmerz und das Leid, durch alle Zeiten hindurch, hat eines unsere Seelen genährt und unsere Spezies über ihren Ursprung erhoben - unser Mut...« Max' Mutter sah in ihrer Küche fern. Sie kreuzte die Hände über die Brust, als sie ihren Sohn auf dem Bildschirm entdeckte. »Heute konzentriert sich unser Traum eines vereinten Planeten auf die vierzehn mutigen Menschen, die sich in den Himmel hinauswagen ...« Der Kredithai in seiner muffigen, kleinen Behausung, Karl und Dottie in ihrem winzigen Wohnwagen hörten nicht ohne Staunen der Rede zu. »Eine gute Reise und viel Glück für euch. Mögen wir alle, die ganze Welt, mit einer Würde und Beharrlichkeit auf diese Ereignisse blicken, die dieser Herausforderung gerecht werden.« Die Sonne war gerade untergegangen, ihre letzten Strahlen glitten über das T-förmige Gitter der Abschußrampe - die Freedom an der linken, die Independence an der rechten Seite. Harry und A. J. waren die letzten, die sich in ihr Team einreihten. »Eine nette Vorstellung war das vorhin«, witzelte Harry. »Danke«, erwiderte A. J. »Bist du wirklich so mutig?« fragte Harry. »Oder hast du die Hosen voll?« A. J. warf seinem zukünftigen Schwiegervater einen festen
Blick zu und entschied sich, ehrlich zu sein zu dem Mann, der bis dahin wie ein Vater für ihn gewesen war. »Ich habe die Hosen gestrichen voll, Harry. Mein ganzes Leben habe ich mich nicht so sehr gefürchtet wie heute.« Harry grinste. »Gut. Das geht mir genauso. Und eins will ich dir sagen: Falls wir es nicht schaffen, möchte ich, daß du weißt...« »Harry, Mann, du mußt überhaupt nichts sagen, wirklich nicht.« »... daß du mich sehr enttäuscht hast. Du widerst mich an, mein Sohn. Absolut.« A. J. war völlig verblüfft. Aber bevor er antworten konnte, war Harry schon in seine Fähre gestiegen, ohne zurückzublicken. A. J. schüttelte den Kopf und stieg in die seine. In der Freedom legte ein NASA-Team Harry, Chick, Max und Rockhound die Raumanzüge an. Sharp, Watts und Gruber saßen vorne im Cockpit. In der Independence saßen A. J., Noonan, Bear und Oskar hinter Davis, Tucker und Halsey. »Wir sitzen auf vier Millionen Pfund Kraftstoff und einer Nuklearwaffe, in einem Ding, das aus 276.000 beweglichen Teilen von Billiganbietern zusammengesetzt worden ist«, bemerkte Rockhound. »Wie gefällt euch das?« Niemand machte sich die Mühe, ihm zu antworten. Oskar rieb sich die Hände. »Also bei mir. . . ist es ein Gefühl von Spannung und Angst zugleich ... Oder vielleicht zu zwei Prozent Aufregung und achtundneunzig Prozent Angst - ich kann das gar nicht beschreiben. Darum ist es ja so cool, so intensiv. Weil es so verwirrend ist.« Niemand hörte ihm zu. Der Countdown hakte die letzten Sekunden vor dem Start ab, und Truman funkte über das Summen der Maschinen hinweg:
»Ihr seid da oben unsere Kämpfer. Gott sei mit euch.« Die Motoren wurden eingeschaltet, sie zündeten, und schweres Gas strömte auf die betonierte Abschußrampe. Die Startüberwachung protokollierte den Beginn der selbsttätigen Ablaufsteuerung für den Start und Sharp bestätigte die Angaben. »Brennkammer. Die Triebwerke zünden«, registrierte er. Unter dem dunklen Himmel zündeten die Triebwerke zur gleichen Zeit, und die Shuttles stiegen nach oben. Sie hinterließen eine schimmernde Wolkenbank auf der Startbahn, während sie zu den Sternen flogen. Nachdem sie den Turm frei gemacht hatten, lenkte die Flugkontrolle die Kommunikation zurück nach Houston, wo man alles weitere über die Fernsehbildschirme der NASA verfolgen konnte, und schloß die Datenketten im gesamten Weltraumzentrum. »Freedom, Independence - ihr seht stark aus«, sagte Clark. »Maximale Schubkraft. Beide Fähren bereit für das Abtrennen der Startraketen«, berichtete ein Techniker. Truman blickte zu Quincy. Jetzt, wo sie unterwegs waren, fühlte er sich schon viel besser. Sharps Stimme kam durch das Mikrophon. »Wir beginnen mit dem Drehmanöver. Trennung der Antriebsraketen beendet, over.« Das war die Bestätigung dafür, daß beide Raumschiffe ihre doppelten Feststoff-Antriebsaggregate abgestoßen hatten. Die wiederverwendbaren Hüllen schwebten mit Fallschirmen in den Atlantischen Ozean, wo man sie bald wieder aufsammeln würde. Die Raumschiffe kämpften gegen die Gravitationskraft um Höhe. Sie schössen fünfzig Meilen über dem Kap der guten Hoffnung aus der Atmosphäre. Die Farbe des Himmels wechselte in den Fenstern von einem leuchtenden Blau zu Schwarz, die Sterne bestäubten den Himmel wie Puderzucker.
Der kalte Mond vor ihnen rückte bedrohlich näher, und auf ihren Tragflächen flackerte das weiße Sonnenlicht. Nicht, daß einer vor ihnen sich gefürchtet hätte, auf diese Weise in die Szenerie eingesogen zu werden - schon die ersten starken Gravitationskraftschübe hatten sie gegen die Lehnen ihrer Stühle gerammt. Clarks ironisches Kommentar knatterte durch das Mikrophon. »Sieht ganz nett aus, Freedom.« LCC hatte den Start so gelegt, daß die Raumfähren die routinemäßige Bahn der Mir-Raumstation über dem Atlantik kreuzen würden. 1986 von den Sowjets gestartet, war die Mir das Rückrat der Bemühungen um eine internationale Raumstation. Zusammengesetzt aus Modulen, die auf der Erde von Russen und Amerikanern hergestellt und während eines Zeitraums von zehn Jahren hinzugefügt worden waren, diente die ständig bemannte Station für die Erde als Observatorium und Laboratorium mit Nullgravitation und für die Erprobung internationaler Kooperation. Auf der Außenseite der Station sammelten über einhundert Fuß große Sonnenkollektoren Licht und verwandelten es in Elektrizität, die den Betrieb aller Geräte - vom Computer bis zum elektrischen Rasierer - ermöglichte. Die beengte Station wurde ständig von russischen Kosmonauten bewohnt - in der Regel waren es zwei oder drei. Die Amerikaner kamen und gingen, brachten Verpflegung und Ersatzteile, und wechselten regelmäßig die Kosmonauten. Jene Kosmonauten der USA, die blieben, trafen Vorbereitungen für den anschließenden Flug der darauffolgenden Monate. In einem Tunnel des Komplexes arbeitete allein und nur auf sich gestellt der Kosmonaut Lev Andropov. Beizeiten verfügte er über einen ungewöhnlichen Luxus - ihm allein stand die
gesamte Raumstation zur Verfügung. Abgesehen von den mehreren Millionen Amöben des Laboratoriums, versteht sich. Erst kürzlich hatte sich Andropov dabei ertappt, daß er sich mit ihnen unterhielt - es war schon eine Weile her, daß ihn jemand besucht hatte. An diesem Tag verrichtete er, wie schon am vorausgegangenen Tag und allen Tagen davor, Reparaturarbeiten. Mit der Weitschweifigkeit eines russischen Bürokraten und einem metallenen Schlagwerkzeug machte er sich an einer optischen Signalkonsole zu schaffen. Mit anderen Worten: Er schlug mit einem Hammer auf ein Bildschirmgerät ein. Wie jeder andere Astronaut war Andropov stolz darauf, nicht nur nach dem anerkannten Regelkanon fliegen zu können, sondern auch auf seinem Hosenboden. Das war das einzige, was einem niemand beibringen konnte - seine drei Kreuze zu machen. Und manchmal war das die einzige Art, wie man mit dem Leben davonkam. Schließlich entlockte Andropov dem Monitor ein Signal und erlaubte sich ein paar erholsame Gedanken über die amerikanische Asteroid-Besatzung, die er erwartete. Deren sinnlose und lächerliche Mission war ganz sicher symptomatisch für das Bildungssystem, das sich ausschließlich auf Fernsehunterhaltung und Comicbüchern gründete. Aber darauf wollte er nicht näher eingehen, weil die nächste Reparatur anstand. Andropovs Isolation auf der Raumstation verursachte in ihm eine Gleichgültigkeit, die ihn säuerlich werden ließ - er war zurückhaltend und reizbar. Seine Berichte an die RSA die Russische Raumagentur - hatte er von Mal zu Mal strenger auf das Wesentliche gekürzt und die Station vollständig von dem monotonen Geschwafel jener Funkamateure abgeschottet, die seiner Meinung nach nur die USA hervorbringen konnten.
Seine Tage verbrachte er in der Gesellschaft der stillen Maschinen - er umsorgte sie, hegte und flickte sie, besserte sie aus, ersetzte und polierte sie . . . spielte die Herkulesversion des einundzwanzigsten Jahrhunderts im Ringen gegen die vielköpfige Schlange seiner Checkliste. Auf ihrem Weg zu der Raumstation beschrieben die Freedom und die Independence langsame Drehungen wegen der thermischen Wärmeregulierung. Während die Raumschiffe sich drehten, boten die Fenster im Cockpit ihren Insassen das Schauspiel einer strahlend blauen Atmosphäre, begleitet von der schwarzen Leere des Raums. Alles wurde vom Gequacke aus dem Funkgerät übertönt, das in Houston jede noch so unwichtige Aktion an den Kontrollkonsolen der Freedom und der Independence beschrieb. Dann waren sie angekommen. Die kurzen Schubstöße des Orbiter-Steuersystems in der Nase beider Schiffe und aus den doppelten Steuerraketen an den Bordwänden brachten die Schiffe in die Seitenlage. Die Kopplungsschleusen wurden geöffnet, um den Luftschleusemodulen auf der Mir den Zugang zu der Besatzungskabine zu ermöglichen. »Initiiere das Andocksignal«, funkte Davis von der Independence. Tucker gab die Befehlsfolge ein und bestätigte sie. »Andocksignal bestätigt.« Auf der Freedom folgten Sharp und Watts der gleichen Prozedur, sie bereiteten das Schiff für das Andocken an die beiden T-förmigen Häfen an zwei gegenüberliegenden Seiten der Station vor. »Die russische Raumstation hat ihre Raketen gezündet«, erklärte Sharp. »Das gibt ihr genug Drehkraft, um die Gravitation zu simulieren, damit wir schneller arbeiten können – es
könnte euch aber übel werden - also, macht euch darauf gefaßt.« »Ja, es wird langsam Zeit, ich habe seit einer Stunde nicht mehr gekotzt«, bemerkte Rockhound sarkastisch und rülpste. Sharp überhörte es. »Kraftstoffteam - bereitet das Entladen vor«, befahl er. Grünes Licht signalisierte den Abfall des Drucks, und die Luftschleusen zu der Raumstation wurden geöffnet. Die Besatzung der Freedom - Harry, Sharp, Gruber und Rockhound - betrat die Station von der einen Seite, von der gegenüberliegenden kamen A. J., Davis, Tucker und Oskar aus der Independence. Als sie drinnen waren, erschien Andropov im Verbindungsgang, er hing kopfüber an der Decke wie eine Fledermaus. Die dunklen Augen und die strenge Miene gaben den Amerikanern das Gefühl, unbefugt eingedrungen zu sein. »Willkommen in meinem Reich«, sagte er melancholisch. »Wer von Ihnen ist der Befehlshaber?« Colonel Sharp trat vor. Dann sagte er: »Wir müssen auf der Stelle mit der O2-Übergabe beginnen.« Die Zeit drängte - die Freedom und die Independence mußten unverzüglich flüssiges Oxygen tanken. Die Antwort des Kosmonauten klang gleichgültig: »Sie wollen diesen Plan durchführen ... einen Asteroiden in zwei gleiche Teile zu sprengen ... das ist unmöglich.« Sharp gab ihm mit einer wegwerfenden Geste zu verstehen, daß er weder die Zeit noch die Lust hatte, dieses Thema zu erörtern. »Uns bleiben nur fünfunddreißig Minuten.« »Das hier ist keine Tankstelle«, belehrte ihn Kosmonaut in barschem Ton, »sondern ein Laboratorium. Ich bin alleine hier und für die Durchführung wichtiger, außergewöhnlicher
wissenschaftlicher Experimente zuständig. Also - niemand rührt irgend etwas an. Hat das jeder von Ihnen verstanden?« Es war unglaublich. In weniger als einer Woche konnte die Welt in Rauch und Flammen aufgehen, und dieser Irre sorgte sich nur um die Unversehrtheit seiner Spielzeuge. »Gebongt«, antwortete Sharp gottergeben. »Gut«, erwiderte Andropov grimmig. Plötzlich fiel der Russe auf den Boden. »Mist!« Wütend und verlegen versuchte er sich wieder aufzurichten. »Weltraumbeine!« Der lange Aufenthalt in einem Bereich mit Nullgravitation bewirkte, daß sich die Körperflüssigkeit aus den Extremitäten zurückzog, was dazu führte, daß die Beine das Gewicht nicht mehr trugen, nicht einmal bei so einer niedrigen Gravitationskraft wie der auf der Mir. »Das passiert jedem!« winkte der Russe ab für den Fall, daß die Amerikaner den falschen Schluß zögen, nur die Russen seien anfällig für die Auswirkungen der Nullgravitation. Harry wollte ihm auf die Beine helfen, der Kosmonaut entschied sich aber aus eigener Kraft aufzustehen. »Es geht schon.« Er richtete sich unsicher auf und wackelte davon, in der Gewißheit, daß die anderen ihm schon folgen werden. A. J. wandte sich an Sharp und flötete: »Weißt du, was ich an diesem Typen mag? Er hat Persönlichkeit.« Der Korridor in der Raumstation war eng und die Decke erdrückend niedrig, die Leitungen und Rohre erinnerten Harry an ein Unterseeboot. Andropov hielt kurz vor dem Brennstoffdepot und riet ihnen zu einem Kleiderwechsel. Das Magazin des Brennstoffdepots war nicht in der gleichen Weise ausgestattet wie die Unterkünfte der Besatzung - man wollte Energie sparen. Andropov zog aus einem metallenen Spind den schweren Kälteanzug, den man drinnen benötigte, und reichte ihn A. J.
»Sie kontrollieren den Druckmesser«, befahl er ihm. Ohne sich etwas dabei zu denken, berührte Chick mit dem Finger ein undefinierbares Objekt, das auf dem Deckel eines offenen Depotbehälters stand. Der Russe eilte auf der Stelle herbei und brüllte ihn an: »Wenn ich sage, daß Sie nichts berühren sollen, dann meine ich das auch!« »Es tut mir leid, ich wollte nur...« Doch der Russe fiel ihm ins Wort: »Wenn hier etwas kaputtgeht, dann muß ich das aus eigener Tasche bezahlen.« Chick verstand die Welt nicht mehr. Hey, Andropov, dachte er, das kannst du in der Pfeife rauchen - und sagte: »Wenn der Plan, den Asteroiden zu spalten, nichts taugt, wie Sie behaupten, dann macht das auch keinen Unterschied mehr.« »Sie sind nicht halb so witzig, wie Sie glauben«, erwiderte der Russe und zog seinen Kälteanzug an. Der Durchgang, der zum Brennstoffdepot führte, war ein zehn Meter hoher Schacht. Chick kam es vor, als stiegen sie in einen Abwasserkanal. Niemand hatte daran gedacht, das Magazin zu beheizen - Menschen hielten sich dort selten auf, und die Mir war immer bestrebt gewesen, Energie zu sparen, und das, obwohl sie direkt von der Sonne beschienen wurde. A. J. folgte Lev durch das Brennstoffdepot, bis sie vor einem Differentialdruckmesser standen, der die Schwankungen der Brennstoffzufuhr aus den Depottanks zu den Gastanks in der Ladezelle der Station maß. »Sehen Sie den Anzeiger?« fragte ihn der Kosmonaut. »Sie beobachten: eins-fünfzig - gut, eins-sechzig - okay. Zweihundert - sehr schlecht. Eine Katastrophe für die Raumstation.« Die Unterbrechung der Zufuhr konnte Probleme verursachen - eine durchbrochene Leitung außerhalb der Raumstation konnte einen kurzen Schub auslösen, wie wenn man aufs
Gaspedal drückte, ohne zu lenken. Und eine Unterbrechung innerhalb der Raumstation - das wollte sich der Russe lieber nicht ausmalen. »Sie sagen Lev im Notfall Bescheid«, warnte er A. J. »Was ist Lev?« fragte A. J. »Lev, das bin ich«, erklärte Andropov. »Oberst Lev Andropov.« Es überraschte ihn, daß sein Name A. J. nicht geläufig war. »Daheim bin ich ein Held.« »Ich will mich nicht mit Ihnen streiten«, lenkte A. J. ein. Lev wandte sich wieder den Ventilen zu. »Bei über zweihundert schließen Sie. Hier.« Er deutete mit dem Finger auf einen unscheinbaren Hebel und ging hinaus. Auf dem Tragdeck über der Vorratszone traf die amerikanische Besatzung fieberhaft Vorbereitungen, um den Brennstoff in die Fähren zu tanken. Wenige Minuten später war die Übergabe in vollem Gange. LOX - Flüssigoxygen mit minus 400 Grad Fahrenheit - wurde in einen Spezialschlauch für Flüssigtreibstoff gepumpt, der über den Andockhafen zu einem Treibstoffventil in den Laderaum der Raumstation führte. Während das Gas abkühlte, kondensierte es an den Wänden des geheizten Mannschaftsraums. »Wie lange bist du schon hier oben - so allein?« fragte Rockhound Andropov. »Achtzehn Monate.« »Das ist beschissen lang«, sagte Rockhound voller Mitleid. »Eigentlich waren nur neunzehn Tage vorgesehen«, sagte Andropov. »Tja, es ist sehr einsam hier, mutterseelenallein nur mit sich selbst zu sein.« Das war das Persönlichste, was Andropov von sich gab. Damals, als er in Cocoa Beach vor dem Andocken seiner Raumfähre auf ein Wetterloch gewartet hatte, hatte er sich durch die Kanäle der amerikanischen Fernsehsender geschal-
tet - durch die Seifenopern des amerikanischen Tagesprogramms. Dort hatte er den Eindruck gewonnen, daß die USA eine hochempfindliche und reizbare Nation waren. »Ich möchte Ihnen bei dieser Gelegenheit sagen, daß ich die Umwälzungen in Ihrem Land bedaure. Es ist sicher nicht einfach ...«, sagte Oskar. Damit hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Der Russe starrte ihn nur an - dieser Junge hatte ja keine Ahnung. Unten beobachtete A. J., daß der Druck zu steigen begann. Er gab die Information auf der Stelle weiter: »Hey, Lev? Der Druck nimmt zu ...« Oskars Bemerkung hatte Lev abgelenkt. Sicher nicht einfach. Diese Formulierung veranlaßte ihn dazu, einige Überlegungen anzustellen. »Mein Vater stammte aus Mordovinia«, erzählte er Oskar. »Sie kennen Mordovinia? Früher stand dort die größte Bombenfabrik der Sowjetunion. Er montierte Aufschlagsensoren. Er mochte seine Arbeit. Heute stellen sie in Mordovinia Schlüsselanhänger her. Heute verlangt man von den Menschen, stolz auf ihre Schlüsselanhänger zu sein.« Oskar mußte zugeben, daß das eine Zumutung war. Andropovs Bemerkung über die Fabrik für Schlüsselanhänger warf in Rockhound die Frage auf, was wohl alles auf der russischen Raumfähre, auf der sie sich befanden, das Werk frustrierter russischer Fabrikarbeiter war. »Wir werden auf diesem Stück Scheiße verrecken«, schloß er. »Dieses Stück Scheiße, wie Sie es nennen, hat doppelt so lange gehalten, wie die Amerikaner vorausgesagt haben!« knurrte er. »Warum? Wegen der großartigen russischen Technologie. Darum. Und es wird die ganze Welt überleben! Ist das nicht eine wunderbare Ironie? Und wenn Sie bei diesem Asteroiden versagen, wenn meine Familie stirbt - dann werde ich Sie dafür verantwortlich machen«, sagte Andropov ver-
bittert und vermittelte ihnen eine Ahnung von dem emotionalen Druck, unter dem er stand. »Jesus, gibt es vielleicht einen russischen Ausdruck für aufheitern"!« brummte Rockhound vor sich hin. Watts holte sie brüsk zurück in die Gegenwart: »Überprüft die Schläuche, es gibt thermische Schwankungen - überprüft die Druckmesser«, warnte sie. Andropov war auf der Stelle besänftigt. »Sie sind die erste Frau, die ich seit über einem Jahr zu sehen bekomme ...« Und jetzt fiel ihm auf, daß es ein Problem gab. »Ein Leeeck! Hinaus! Raus! Raus!« brüllte er. Alle verschwanden im Nebel der Kraftstoffkondensation, die in das Innere der Raumstation strömte. »Evak! Evak! Bereitet das Loshaken der Raumfähren vor! Bewegt euch!« bellte Sharp. »Scheiße!« fluchte A. J. »Was zur Hölle ist passiert, Lev? Ich habe Sie doch gerufen!« »Schalten Sie ab!« drängte Lev. »Ziehen Sie den Hebel!« A. J. zeigte ihm das Metallstück, das er in der Hand hielt: »Hier ist er!« »Man warnt uns immer wieder: Fliegt nicht mit russischen Flugzeugen«, bemerkte Rockhound trocken. »Es war vorauszusehen.« »Ist nicht erhitzt, minus 100«, dachte der Russe laut. Dann zu den anderen: »Luft anhalten, oder die Lunge friert ein! Nichts berühren!« Davis tappte in dem dichten Nebel herum: »Wo zum Teufel sind sie?« »Steigt in die verdammte Kabine!« schrie Sharp und trieb die Astronauten durch die Luftschleuse in die Freedom. »Haben wir das ganze O2?« wollte er von Watts wissen. Sie brauchten den Brennstoff unbedingt. »Ja! Laßt uns abhauen!« brüllte Watts.
Harry stutzte. Abhauen? Sind sie denn alle verrückt geworden? »Wir müssen uns vergewissern, daß sie zurück sind!« bellte er und meinte damit die andere Mannschaft. »Dazu haben wir keine Zeit!« drängte Sharp. »Wo ist A. J.?« brüllte Harry. »Wir müssen rein, bevor das Ding sich losreißt!« rief Sharp. Er zerrte Harry zu sich und befahl Watts: »Schließ die Türen und dann weg von hier!« Harry riß sich los. »Sie sind noch da draußen!« schrie er. »Entweder sie oder wir alle! Das ist ein Befehl!« brüllte Watts. »Wir müssen weg!« stimmte Tucker zu. »Los!« befahl Sharp Und im gleichen Augenblick, als sich die Freedom losriß, explodierte die Station in einem Feuerball. Ihre Einzelteile verfehlten knapp die Raumfähre, die in Richtung Mond davonschoß.
12 »Das war der Grund, warum Sie nichts anfassen sollten«, belehrte Lev A. J. Der schaute auf den abgebrochenen Hebel in seiner Hand. »Das besprichst du am besten mit den Jungs in der Hebelabteilung«, sagte er und überreichte Lev den Hebel. Auch sie hatten die Independence rechtzeitig durch die Luftschleuse erreicht. Davis funkte den neuesten Stand der Dinge an die Freedom. »Die gesamte Besatzung der Independence ist wohlauf - wir haben sogar Zuwachs bekommen - einen Kosmonauten. Wie steht's mit euch?« Watts atmete auf. »Wir sind unversehrt, Independence. Gut zu hören, daß es euch noch gibt.« Hinter ihr ließ Chick sein Leben Revue passieren. Er blickte aus dem Fenster auf die Erde und sagte zu Harry: »Ich bin dir auf diesem Planeten überallhin gefolgt. Und jetzt sogar bis hierher.« Harry nickte nachdenklich. Chick fuhr fort: »Das spricht wohl nicht gerade für meine Intelligenz ...« Harry runzelte die Stirn und zeigte auf den blauen Planeten im Fenster. »Das mußt du dir unbedingt ansehen. Sie schwebt dahin mit all den Leuten, die auf ihr leben... das muß man sich mal vorstellen. In diesem Augenblick... all diese Menschen da unten... Kinder, die viel zu jung sind, um sich auszumalen, was wirklich los ist... ihr Leben liegt in unserer Hand. In meiner.«
Er wandte sich ab, und sein Blick fiel auf seine Bibel. Er öffnete sie und entdeckte zwischen den Seiten ein Photo. Das Photo zeigte ihn als jungen Mann und seine Tochter Grace. »Wenn ich weiter darüber nachdenke, verlier ich noch den Verstand.« Ein Schauer überlief ihn. Auch Rockhound war in sich gekehrt. »Ich habe in Gedanken alles aufgelistet, was ich liebe«, begann er. »Alle meine liebsten Erinnerungen. Ich habe sie kategorisiert, versteht ihr? Wenn alles den Bach runtergeht, ist es vielleicht gar nicht verkehrt, wenn dir in der Stunde deines Todes die liebsten Erinnerungen durch den Kopf gehen... nur für den Fall, daß es ein Jenseits gibt, natürlich ...« Chick traute sich fast nicht, danach zu fragen: »Und was ist deine liebste Erinnerung, Rockhound?« »Tja, Chickie, ich würde dir liebend gerne sagen, es sei etwas Magisches wie die liebende Umarmung meiner Mutter. Oder als ich mit meinem alten Herrn einen schönen Fisch gefangen habe. Oder als ich das erste Mal Venedig sah.« »Aber ...?« Max fand die Spannung unerträglich. »Scheiße«, gestand Rockhound. »Es ist Jackie Bisset in Die Tiefe. Wie sie in ihrem feuchten T-Shirt... schon gut, verklagt mich, wenn ihr wollt. Aber das ist etwas, woran es sich lohnt zu glauben!« Und es stimmte. Es kam direkt aus dem Herzen. Es war vielleicht klein, schrumplig und hart wie ein Stein, aber es war ein Herz. Plötzlich platzte Oskar heraus: »Wißt ihr was?« sagte er. »Ich will gar nicht zurück. Ich schwöre es. Auf der Erde bin ich ein einziges Nervenbündel. Ich meine, vielleicht liegt es an dieser Schwerelosigkeit, aber ich fühle mich auch geistig schwerelos. Ich komme hier gar nicht dazu, mir zu viele Gedanken zu machen!«
Er klang fast wie der spirituelle Führer eines neuen Kults, der die Grenzenlosigkeit des Geistes predigte. Die Independence flog hinter der Freedom und näherte sich der rauhen, düsteren Bergkette auf der gewaltigen weißen Kugel vor ihnen - dem Mond. In der Ferne und zum Teil vom Mond verdeckt, konnten sie den Asteroiden sehen. Der Asteroid - eine gewaltige, felsige Masse, umhüllt mit einem Geflecht aus Stein und Eis. Das Eis reflektierte die Sonnenstrahlen und glitzerte wie ein Bündel leuchtender Glühwürmchen. »Wir haben das Ziel gesichtet, Houston«, berichtete Sharp. Die Besatzung in den beiden Raumfähren schnallte sich in den engen Sitzen an. Vor ihnen füllte sich das Sichtfeld mit der Mondoberfläche. »Sichtkontakt mit dem Ziel verloren, Houston«, bemerkte Sharp. Die Raumschiffe näherten sich dem Horizont auf der dunklen Seite des Mondes; sie schaukelten wegen seiner Gravitationskraft. »Vierundsechzig Sekunden auf der Markierung«, sagte Watts. »Achtzehn Sekunden bis zur Funkunterbrechung«, meldete sich Houston. »Bestätige die Zündstufensequenz«, sagte Sharp. »Die Raketen sind bereit. Achtet auf die Markierung«, antwortete Watts. Trumans Stimme krächzte durch die Anlage: »Wir sehen uns drüben wieder, Freunde.« Die Verbindung brach ab. »Funkkontakt beendet. Wir sind draußen«, sagte Clark. »Neuneinhalb Gs in elf Minuten«, sagte Truman. Ein un-
geheurer Druck legte sich über die Besatzungen der Raumfähren. »Ich würde jetzt anfangen zu beten.« »Hat das jemand schon mal gemacht?« wollte Kimsey wissen. »Klar«, sagte Truman. »Vlad, der russische Affe, 1956. In sechzehn Minuten haben wir sie wieder.« »Wenn sie dann noch leben«, bemerkte Clark schwermütig. Die Kraft der Gravitation drückte die Raumfahrer in ihre Sitze. Ein Gewicht von dreihundert Pfund legte sich über ihre Arme, ihren Brustkorb, als rollte eine Dampfwalze über sie hinweg - nein, sie parkte dort und drohte sie zu zerquetschen. Sie rangen nach Luft und verloren beinahe das Bewußtsein. »Vierzehntausend ... sechzehntausend ... zweiundzwanzigtausend Meilen in der Stunde«, krächzte Watts durch die zusammengepreßten Zähne und - Blackout.
13 Eine Stimme meldete sich auf der Freedom - es war Clark. »Hier ist Houston. Kommen, Freedom, kommen, Independence, kommen.« Sharp antwortete über Funk. Die Verbindung war zwar sehr schlecht, aber Sharp konnte sich lebhaft vorstellen, daß sie außer sich waren vor Freude. Nur gut, daß man in Houston keine Bilder empfangen konnte. Deshalb sagte er nur: »Das muß man einfach gesehen haben, sonst kann man das gar nicht glauben ...« Plötzlich rief er: »Verdammt - Gesteinsbrocken!« »Was sagst du?« fragte Clark in Houston. »Asteroidenschwärme! Schwere Turbulenzen!« rief Sharp. Während die Raumfähren den Mond umrundeten, gerieten sie unter Beschuß von Gesteinsbrocken, die in einer dichten Wolke vor dem Asteroiden tobten. Ein Bombenhagel aus Felsen und Eis blitzte auf, schob Berge von der Größe von Häusern vor sich her. Felsblöcke prallten auf den Mond, zermalmten seine Oberfläche zu Pulver. Harry stellte in Gedanken eine einfache Berechnung an. Es stand fünfzig zu fünfzig Prozent, entweder von einem Felsbrocken zermalmt oder von einem Eisberg vernichtet zu werden. Plötzlich klarte es auf, doch gleich darauf wiederholte sich der Beschuß um so unerbittlicher. Von der Independence aus funkte Davis:
»Adios, du Hurensohn. Es hat uns erwischt. Wir haben die Kontrolle über den Antrieb verloren. Mayday! Mayday! Wir werden es nicht schaffen! Wir fallen!« Die Independence hüpfte wie eine Zinkkanne hinter einem Hochzeitswagen. Sie schaukelte über der Freedom hin und her, versprühte eine blaue Flamme aus ihrer Hecksteuerrakete. Sharp startete einen Sturzflug, schwenkte zur Seite und flog im Zickzack um einen riesigen Eisbrocken herum. »Alle Mann an die Lebenserhaltungsmasken« rief er. »Mayday, Houston... Mayday!...«, tönte es aus der Sprechanlage. Es war Tucker. Hinter ihm geriet Noonan in Panik und machte sich an der Notluke zu schaffen. »Weg von der Tür!« brüllte Tucker »Ich will hier nicht verrecken!« schrie Noonan. Ein Stein krachte durch die Windschutzscheibe und bohrte sich in Tucker. Druck entwich aus der Kabine, und das Vakuum des Weltraums sog ihn und Davis mit einer ungeheuren Kraft durch das Fenster. Noonan schlug gegen die Notluke, die daraufhin in den leeren Raum explodierte. Ein gewaltiger Knall zersprengte das Bollwerk zwischen der Kabine und der Vorratsbatterie und blies die schwere Ausrüstung durch die Luken der Raketenspitze wie eine Schrotflinte ihre Munition. All das passierte geräuschlos wie ein schrecklicher, unaufhaltsamer Stummfilm. Das Schiff schwebte in die Tiefe auf den Asteroiden zu, der Rumpf sprang in tausend Stücke und zerstreute das Innere über eine Geröllwüste. In der Kabine am Heck prallten A. J. und Lev wie Stoffpuppen gegen die Wände. Klatsch! In der Druckausgleichskabine der Freedom schreckten Sharp und Watts zurück, als Davis' Körper gegen die
Windschutzscheibe trommelte, gefolgt von dem Gerassel von Schläuchen und Teilen der schweren Bohrausrüstung. Harry, Sharp und Watts und die gesamte Besatzung der Freedom starrten entsetzt auf das Funkgerät; außer den statischen Geräuschen konnten sie nichts hören. Houston hatte verstanden. Die Systemanzeiger der Independence gingen aus: Druck, null, Oxygengehalt in der Kabine, null. »Systemfehler ...« Die Zukunft versprach nichts Gutes für die Freedom. Sie hatte zwar die Gesteinswolke an der vorderen Spitze des Asteroiden überwunden, aber die Oberfläche des Asteroiden zeigte so viele Gesteins- und Felsblöcke wie ein monumentaler Friedhof. »Houston«, brüllte Sharp. »Wir haben unseren Landeplatz verloren.« »Wir sind zu schnell!« warnte Watts. Sharp zündete die Feinsteuerraketen, um die Kontrolle über das Raumschiff wiederzuerlangen. Es landete schließlich auf einer Seite im Geröll, schleuderte Gesteins- und Eisklumpen in die Höhe. Dann blieb es stehen. Sharp brach die Stille. »Kabinenstatus? Ist jemand verletzt?« Er sah sich um und blickte auf ein Besatzungsmitglied, auf dessen Stirn ein tiefer Schnitt klaffte. »Gruber! Alles in Ordnung?« »Es geht mir gut.« Auch Harry sah sich prüfend um. »Euch beiden, geht's euch gut?« Chick und Max hoben die Daumen. Die Beleuchtung auf der Freedom funktionierte zwar nur flimmernd, aber sie war da. »Beginnt mit der kompletten Systemüberprüfung«, befahl Sharp. »Stellt fest, wie wir von diesem Felsen wieder wegkommen.«
In Houston saß Clark neben dem Funkgerät. »Freedom, kommen. Freedom.« Nichts. »Independence, hier ist Houston. Könnt ihr uns hören?« Truman suchte nach Grace. Als er sie fand, saß sie etwas abseits und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Ihr Leben hatte sich in einen Alptraum verwandelt. »Hören Sie, Sie sollten vielleicht nicht hierbleiben.« »Es gibt keinen anderen Ort mehr für mich.« Watts überprüfte die Druckmesser. »Motorverschluß - kontrolliert. Brennstoffverschluß kontrolliert. Druckverschluß - kontrolliert« »Wo ist bloß die andere Fähre abgeblieben?« fragte sich Rockhound laut. »Die Independence ist ausgeschieden«, erklärte ihm Sharp. »Ausgeschieden? Was ist das, ein ausgeflipptes Computerspiel? Was soll denn das bedeuten: >ist ausgeschieden« »Du hast es doch gesehen. Sie ist weg«, sagte Gruber wie ein kleines Kind, das nach einem Schock verstehen will, was passiert ist. Harry war verzweifelt. Er dachte an A. J., die Besatzung... er umklammerte seine Bibel. »Wenn ich dieses Ding gelesen hätte, wüßte ich vielleicht, was jetzt zu sagen ist. Lieber Gott, sorge für sie. Ihre Seelen mögen in Frieden ruhen.« Chick ließ den Kopf hängen. »Mein Gott! Dieses verdammte Ding...« »Das hätte uns genausogut treffen können«, sagte Harry. »Vielleicht hätte es uns treffen sollen. Aber wir haben es geschafft. Und jetzt müssen wir uns damit abfinden.« Max konnte es immer noch nicht glauben. »Leute, das ist doch nicht passiert...«, brüllte er.
»Max«, sagte Harry entschieden. »Wir haben nur acht Stunden. Wir wollen es hinter uns bringen und zurückfliegen.« Aber die Menschen, die immer noch auf ein paar aufmunternde Worte hofften, waren jene auf der Erde, in Houston. Clark übermittelte ihnen, daß die Independence mit einem Totalausfall der Systeme umherschwebte. Es gab kein Lebenszeichen mehr. Truman wurde kreidebleich. »Sagen Sie mir nur, ob es die Freedom noch gibt«, bat er. »Es gibt Impulsfragmente«, sagte Skip. »Wenn sie leben, dann arbeiten sie gerade an ihrer Rettung.« Das war ein tröstlicher Gedanke. Im Augenblick bediente Watts die Schalttafel, und Sharp tippte mehrere Befehlsfolgen ein; er versuchte das System zu sichern. Auch Rockhound trug seinen Teil bei. Er starrte auf den Videomonitor und wartete auf Bilder von der Erde. »Wir bekommen rein gar nichts auf dieses verdammte interne Navigationssystem«, beschwerte sich Sharp. Es hatte keinen Sinn, aus der Computernavigation auszusteigen, weil es außer ihr nichts anderes gab. »Ich weiß, wo wir sind«, verkündete Rockhound. Sharps Miene straffte sich. »Finger weg von der Ausrüstung, Rock!« Er checkte einen LCD-Anzeiger wegen der Stärke der Funksignale - er stand auf Null. Watts kam ein Idee. »Ich schalte den Sicherungsgenerator an und dann wieder aus, aber so werden unsere Kommunikationssignale halbiert, bis wir die Hauptstromversorgung wieder haben.« Rockhound sagte: »Wir befinden uns im 2O2ten Segment, seitliches Raster Nr. 9, Seite 15H32, ein paar Meter mehr oder weniger. Captain America versaute die Landung um 26 Meilen.«
Sharp fuhr ihn an: »Woher weißt du das?« »Weil ich ein Genie bin«, erklärte Rockhound. Watts war völlig in ihre Arbeit versunken. »Ich kann diese Meßdaten überhaupt nicht lesen«, sagte sie gereizt. »Sie sind alle so spitz, als ob wir in eine Art Magnetfeld hineingeraten wären ...« »Wer auf diesem Raumschiff kann uns sagen, warum?« fragte Rockhound. »Der Grund, warum wir ins achte Raster geschossen wurden, ist der, daß Raster neun thermographisch als komprimiertes Eisenferrit gekennzeichnet wurde. In der Astronautensprache heißt das - du hast uns auf eine verdammte Eisenplatte gebracht.« Dann bedachte er Sharp mit einem »Danke vielmals«Blick. Armer Teufel! Es war nicht einfach, schlauer als jeder andere zu sein. »Jetzt schwenke ich die ferngesteuerte Satellitenverbindung aus«, verkündete Sharp. »Wir brauchen diesen Funk.«
14 Auf der anderen Seite der zackigen Hügelkette lag das Wrack der Independence verkehrt herum in einem Geröllbett. Dämpfe und eisige Gase entwichen aus unzähligen kleinen Bruchstellen. In der Tiefe der Trümmer bewegte sich ein dunkler Schatten. Warnlichter flackerten auf. A.J. Er hing verkehrt herum im Sicherheitsgurt und fragte sich, wer sonst noch überlebt hatte. Sie hatten Halsey verloren. Noonan auch. Und Oskar. Was war mit Bear? Bear war unverletzt, oder doch nicht? Er hing immer noch in seinem Sicherheitsgurt, genau wie A. J. - Sicherheitsgurte retten Leben -, außer, daß er einen Stiefel in etwas gerammt hatte, das aussah wie ein Gitter. A. J. befreite sich aus seiner Sicherheitsausrüstung und versuchte sich durch Schutt und Geröll zu ihm durchzukämpfen. »Du wirst mir dabei helfen müssen«, sagte er zu ihm, weil er sich nicht vorstellen konnte, wie er den Fuß des Mannes befreien sollte. »Kein Problem«, krächzte Bear. »Was brauchst du?« Er war hilfsbereit wie immer. Dann kippte er bewußtlos zur Seite. Unten im Durchgang fluchte jemand auf russisch. Andropov erschien in der Kabine, er rang nach Atem und war völlig verstört.
»Wo sind die anderen?« fragte er, aber er kannte die Antwort bereits. Sie waren tot. »Die Glücklichen . . . sie hatten sehr viel Glück...«, stieß der Russe mit Tränen in den Augen hervor. A. J. kletterte in einen Armadillo. »Okay, wir haben hier einen Monitor«, sagte er und bediente die Kontrollkonsolen. »Wir werden folgendes tun: Wir nehmen den Armadillo und werden Harry und das andere Shuttle suchen.« Andropov zweifelte. »Wieso sind Sie so sicher, daß das andere Team nicht tot ist?« fragte er. »Tja, das ist eben der Unterschied zwischen Ihnen und mir«, meinte A. J. »Sind Sie so gut und helfen mir, Bear da rauszuholen?« Rockhound und Harry versuchten sich draußen auf der Oberfläche des Asteroiden zurechtzufinden. Ein stiller, bizzarer Schauplatz umgab sie. Sie standen in einem kleinen dunklen Tal unter dem Flutlicht des Mondes. »Heilige Scheiße, Harry ...«, Rockhound schnappte nach Luft, »wir sind im Weltraum!« Harry war beschäftigt. Er suchte nach einer geeigneten Bohrstelle. Loch bohren - Bombe reinlegen - fertig. Ein Armadillo rollte von der Laderampe der Frachtzelle, Max und Chick kamen mit dem Bohrwerkzeug. Sie hielten und setzten die Geräte ab - einen Bohrarm, eine Triebwelle, eine Bohrerspitze ... »Wir bohren einfach ein Loch«, sang er, »in den verdammten Weltraum...« Der Bohrer drehte und senkte sich ins Gestein. Harry und Chick neigten den Bohrer mal gegen die eine, mal gegen die andere Wandseite des Bohrlochs. Plötzlich ... »Was zum Teufel ist...?« stutzte Harry. Die Bohrspitze war ohne Vorwarnung abgebrochen, und der Motor stand still.
Harry war entsetzt, Max starrte kreidebleich auf den Bohrer. »Harry, hast du so was schon mal gesehen?« »Nun«, witzelte Rockhound. »Es ist eben eine gottverdammte griechische Tragödie ...« Harry winkte ab. »Jeder von uns hat schon eine durchgeschmorte Bohrerspitze gesehen«, sagte er. »Aber nicht schon nach zehn Fuß ...«, wandte Chick ein. »Dann eben jetzt!« beharrte Harry. »Schafft mir dieses Ding aus den Augen! Holt mir die Deliverance und montiert eine neue Bohrspitze. Bewegt euch!« »Houston, hier... reedom ... könnt... ören?« krächzte es durch den Äther. »... Freedom ... hört ihr uns? Die Koordinaten unserer ungefähren Lage sind 15H32 ...« Watts war in Houston durchgekommen! Die Kontrollstation erbebte vor Beifallsrufen und Applaus. Grace lachte. »Die Freedoml« jubelte Truman. »Ja! Gott segne die Freedom « »Wie sieht's bei euch aus?« fragte Clark. Sharp faßte zusammen: »Die Flugtauglichkeit der Raumfähre ist noch nicht gesichert. Wir haben auch Schwierigkeiten mit der Elektronik und den Antennen, aber wir haben angefangen zu bohren.« Zumindest ein kleiner Erfolg. Rockhound und Max befestigten die neue Bohrspitze, Harry hatte die Hand auf den Schalter gelegt. »Gut. Und jetzt runter bis auf fünfundzwanzig!« befahl er und ermahnte sie, klaren Kopf zu behalten. Der große Bohrer, die Deliverance, markierte den Stein, die Klinge bohrte sich hinein, und eine Spirale aus Stein wand sich
wie eine Weinranke aus dem Bohrloch. Plötzlich stoppte es der Bohrer drängte gegen das Gestein, umsonst. »Harry ...«, begann Rockhound. »Sag jetzt nichts«, bat Harry. »Wir stoßen gerade durch eine Platte. Manche sind eben härter als andere, das weißt du. Steckt einen neuen Bohrer auf dieses Ding. Die Eiserne Jungfrau. Los!« Truman, Kimsey und eine Gruppe von Technikern von der NASA und des Militärs verfolgten auf dem Graphikmonitor eines Computers den Ablauf einer neuen Katastrophe. »Bevor der Asteroid den Mond passierte, war die Rotation mit 32 Grad auf einer X-Achse stabil.« Ein NASA-Techniker zeigte auf die entsprechende graphische Darstellung. »Und sehen Sie jetzt: Der Asteroid kommt durch die Gravitationskraft des Mondes ins Trudeln. Er dreht sich um alle drei Achsen. Damit haben wir nicht gerechnet, Sir ...« Truman fragte finster: »Was bedeutet das für unsere Verbindung zu der Raumfähre?« »Nichts Gutes«, bestätigte der Techniker seine böse Vorahnung. »Wir haben von jetzt an nur noch sieben Minuten Kontakt mit der Raumfähre. Danach ist Funkstille.« »Für wie lange?« Der Techniker schüttelte den Kopf. »Ich kann die künftige Position des Asteroiden nicht voraussagen - wir verlieren den Kontakt für mindestens neunzig Sekunden, schlimmstenfalls für ... immer, Sir.« Kimsey wandte sich an einen Kernwaffentechniker: »Falls wir die Verbindung zum Shuttle verlieren, wann verlieren wir dann die Kernwaffe?« »Die Fernsteuerung der Waffe empfängt ihre Signale von einem Milstar-Satelliten, Sir - unterschiedliche Umlaufbahn, höhere Frequenz. Bei einer Kommunikationsverbindung von
sieben Minuten bleiben uns zusätzliche fünf Minuten für die ferngesteuerte Zündung.« Mit anderen Worten - ein Blindschuß. Haltet euch bereit für die Zündung, dachte Kimsey. Und zwar jetzt. »Geben Sie mir auf der Stelle den Präsidenten.«
15 Bear senkte sich auf der Independence den zweiten Armadillo. Er litt Höllenqualen. Alle waren in der Frachtzelle eingeschlossen. »Jetzt wissen Sie, wie sicher Ihre amerikanischen Fähren landen«, bemerkte Lev. Was für ein netter Kerl! A. J. hätte ihn erwürgen können. »Hören Sie. Es ist nicht meine Fähre, verstanden? Ich bin nicht einmal Astronaut. Ich bin Ölbohrspezialist. Ich sollte gar nicht hier sein.« »Wirklich?« Der Russe gab wohl nie auf. »Dann, was tun Sie ...« Er verkniff sich auf halbem Weg den Kraftausdruck, der seinem Erstaunen Nachdruck verleihen sollte, und wiederholte: »Was tun Sie hier, A. J. ?« »Ich werde uns hier herausholen«, sagte er, als handelte es sich um eine Tatsache. Er kroch höher hinauf auf den Armadillo und zog den Rohrmantel von der Kanone. »Vielleicht möchten Sie solange untertauchen«, warnte er Lev. Der kletterte in den Armadillo, während A. J. das Geschützrohr ausrichtete und verschiedene Kippschalter betätigte. Buff! Die Kanone feuerte und blies eine Öffnung in die Metallhaut der Fähre. Ebenfalls auf dem Asteroiden, aber ein paar Meilen von A. J. und Lev entfernt, verfolgten Harry, Rockhound und Chick
das langsame Vorankommen der neuen Bohrspitze gegen den Stein. Harry sah auf die Uhr. »Die Zeit drängt«, sagte er zu Max, der im Armadillo saß. »Wir müssen ihm Dampf machen. Ich verlange, daß ihr ihn runterfahrt. Von jetzt an bohrt ihr nur noch im vierten Gang.« Max prüfte genau den Temperaturanzeiger. »Boß, er läuft schon heiß.« »Mach es, oder ich werde es selbst tun«, blaffte Harry. Max trat auf die Kupplung, und der Armadillo erzitterte. Am scharfen Ende des Antriebarms kam die Bohrspitze ins Schleudern, jagte hoch und verlangsamte - das Getriebe machte schlapp. »Was ist mit dem Transistor los?« fragte Harry. »Die gute Nachricht ist: Der erste Gang ist uns erhalten geblieben«, sagte Max. Es lief zwar langsam, aber es lief. Plötzlich regnete es eine Ladung Schrapnells - das gesamte Triebwerk platzte durch das Gehäuse. Bohrspitzen und Metallteile schössen in alle Himmelsrichtungen. »Scheißeeee!« brüllte Chick. Ein starker Windstoß erfaßte sie, gleich darauf ein zweiter, noch stärkerer, als wollte sich der Asteroid an ihnen rächen. Harry insistierte: »Wollt ihr es wirklich tun? Dann tut es!« Er blickte auf den felsigen Boden. »Drinnen habe ich ein zweites Triebwerk, ich bin gleich wieder da - dann wird es vollbracht.« Unterdessen versuchten Sharp und Gruber die Antenne der Fernsteuerung aufzustellen: keine leichte Aufgabe in der sturmgepeitschten Atmosphäre des Asteroiden. Plötzlich dröhnte Harrys Stimme in Sharps Hörmuschel. »Sharp, wir brauchen deine Hilfe.« Sharp zögerte. »Was ist passiert?« »Wir treffen uns im Shuttle.«
Im Cockpit der Freedom arbeitete Watts an den elektrischen Leitungen. Lichter erwachten zum Leben. Sie dachte an die Kontrollstation, fragte sich, wieviel sie dort von alledem über ihre Monitore zu sehen bekamen. Sharp und Harry waren zurückgekehrt. »Was gibt es?« wollte Sharp wissen. Harry runzelte die Stirn. »Ich versuche hier ein Loch zu bohren, in ein Ding, das schon zwei der stärksten Bohrspitzen, die ich je gesehen habe, gefressen hat. Und jetzt hat es sogar unser Triebwerk gekillt.« »Wie tief sind wir gekommen?« Frag lieber nicht danach. »Ich brauche eure Hilfe beim Ausladen...« Sharp insistierte: »Wir müssen erst eine Bestandsaufnahme machen. Wir müßten jetzt bei zweihundert Fuß sein. Also wie tief sind wir gekommen?« »Nicht so tief, wie wir sein könnten, wenn du aufhören würdest zu fragen und meine Zeit zu vergeuden«, brummte Harry. »Ich brauche die Daten für meinen Bericht.« Frag nicht danach, dachte Harry erneut. »Wichtig ist nur, daß du uns dabei hilfst, dieses Triebwerk hinunterzu ...« »Ich entscheide hier, was wichtig ist!« bellte Sharp. »Meine Aufgabe und meine Verantwortung ist es, zu beaufsichtigen und Bericht zu erstatten! Wir müssen ein achthundert Fuß tiefes Loch bohren, ihr bohrt seit zweieinhalb Stunden - wie tief seid ihr?» »Siebenundfünfzig Fuß!« bellte Harry. Sharp war schockiert. Das war alles? Er ging zum Funkgerät ins Cockpit. Harry brüllte hinter ihm her. »Wir stehen auf einer verdammten Stahlplatte, Sharp. Irgendwann kommen wir durch. Dann läuft es genausogut wie jeder andere Job.«
Das hoffte er. Sharp nahm eine Karte mit den Zeittabellen für Bohrungen an sich und schaltete sich in die Funk- und Videoübertragung nach Houston ein. Harry drängte sich an Watts vorbei und riß die Karte aus Sharps Hand. Sharp funkte unbeirrt weiter. »Der Austausch des Triebwerkes kostet zwanzig Minuten, die Dauer der Bohrung verschiebt sich auf zehn Stunden - das ist vier Stunden später als die Null-Zone.« Harry griff nach dem Mikrophon. »So ist das manchmal mit Bohrungen! Man weiß nie, auf was man stößt, bis man darauf gestoßen ist, es hat keinen Sinn, Panik zu verbreiten, nur weil nicht alles so glatt verläuft, wie man das gerne hätte.« Er redete ihnen gut zu, die Hoffnung nicht aufzugeben, ohne zu wissen, wieviel sie davon wegen der statischen Störungen und dem Flimmern der Videoübertragung mitbekamen. »Und jetzt brauche ich dich im Laderaum, um dieses Ding rauszuschleppen«, sagte er zu Sharp. Sharp sah fertig aus. »Das muß dir doch klar sein. Du kannst das nicht schaffen. Ich habe es von Anfang an gewußt: Dich und deine Besatzung hierherzuschicken war der größte Fehler in der Geschichte der NAS ...« Harrys Arm schob Sharps Gesicht in Richtung der Videokamera. Sharp schlug nach ihm und riß sich los. Harry starrte ihn an. »Du bleibst hier, Sharp, überwachst und berichtest. Und ich werde meine Arbeit tun.« Er wandte sich um und ging, um nach dem Transistor zu sehen. In der Kontrollstation versuchten die Techniker den Ton und das Bild zu halten. Was taten die eigentlich da oben? Kimsey beantwortete die Fragen am roten Telefon.
»Ja. Ja, Sir. Wir haben das auch gesehen. Ja, Sir, sehr schwierig, aber vielleicht sollten wir erst mal abw ...« Er horchte, und seine Miene erstarrte. »Ja, Sir. Ich verstehe.« Er legte auf und wandte sich an Truman. »Dan, schaffen Sie sie fort. Evakuieren Sie sie auf der Stelle.« Truman verstand nicht. »Was sagen Sie da?« »Ich habe Befehl erhalten, mich über die ursprüngliche Anordnung hinwegzusetzen«, erläuterte Kimsey. Zwei Militärassistenten betraten den Raum, abgeschirmt von einer Gruppe Marineinfanteristen. Sie trugen einen Befehlsverbindungs-Koffer für die nukleare Fernzündung. »Was ist das?« fragte Truman. Kimsey erläuterte: »Das zweite Protokoll. Der Präsident und seine Ratgeber haben den Eindruck gewonnen, daß die Bohrung nicht gelingen wird, und jetzt verlieren wir auch noch den Funkkontakt, vielleicht für immer... Wie dem auch sei, es bleiben uns nur wenige Minuten, diese Kernwaffe mit Fernsteuerung erfolgreich zu zünden. Wenn wir das jetzt nicht tun, dann verlieren wir die Kontrolle ...« Truman hatte genug gehört. »Sie sollten dem Präsidenten sagen, daß er a: seine Berater auf der Stelle feuern sollte. Und b: daß, wenn wir diese Bombe auf der Oberfläche zünden, er eine perfekte Bombe verliert und unsere einzige Chance, es richtig zu tun.« Es lag nicht in Kimseys Macht. »Seine Entscheidung ist gefallen.« Truman wollte nichts davon wissen. »Meine auch! Sie können das nicht tun, General!« »Es liegt nicht bei mir«, erklärte Kimsey. »Es liegt nicht bei Ihnen. Mein Oberbefehlshaber, der Präsident der Vereinigten Staaten, hat eine Entscheidung getroffen. Schaffen Sie sie fort, jetzt!« Truman stutzte. »Wir können sie nicht erreichen! Wir wis-
sen nicht einmal, ob diese Fähre noch fliegen kann!« Er riß den Hörer des roten Telephons von der Gabel... Auf dem Asteroiden versuchte Gruber still und geduldig die Empfangsantenne auszurichten. »Mr. President!« brüllte Truman ins Telephon. »Es ist ganz einfach: Wenn Sie das tun, dann töten Sie mich, töten sich selbst, töten die First Lady ...« Truman hielt inne, reichte dann den Hörer weiter an Kimsey. »Er will Sie.« Kimsey nahm den Hörer. »Ja, Sir. Ja, Sir. Ich verstehe.« Er legte auf. »Die Berater des Präsidenten sind der Meinung, daß die Explosion auf der Oberfläche den Asteroiden verlangsamen wird, so daß er die Erde verfehlt.« Truman war verstimmt. »Ich habe Ihnen Quincys Berechnungen gezeigt - es wird ihn nicht genügend verlangsamen!« »Nun«, argumentierte Kimsey, »es ist besser, als nichts tun - und das ist das, was Sie gerade jetzt tun!« Ein Techniker der NASA rief dazwischen: »Wir kommen immer noch nicht zu ihnen durch ...« »Versuchen Sie es weiter!« bellte Truman. »Der Befehl für die ferngesteuerte Detonation lautet: in dreißig Sekunden.« Er stellte den Kontakt her. Grace überlief ein Schaudern. »Aber Sie haben sie nicht einmal gewarnt!« Die Besatzung der Fähre! »Das können Sie nicht tun!« schrie sie. »Mein Vater ist da oben!« Sie wurde von zwei Soldaten zurückgehalten. Truman ließ nicht locker. »Es bleibt immer noch genug Zeit, um das Richtige zu tun! Das ist ein Befehl, den Sie nicht befolgen dürfen, und Sie wissen das verdammt gut!« rief er.
Aber die Assistenten steckten schon ihre Schlüssel in die Zündvorrichtung und drehten sie um ... Klick. Klick. Kimsey war an der Reihe. Klick. Rockhound und Max hatten das Triebwerk vom Antrieb getrennt. Harry und Chick versuchten im Laderaum der Raumfähre das neue große Gerät aus dem Lager zu manövrieren. »Ich habe es.« »Geh weiter.« Sie hatten es fast an der neun Fuß großen Kernwaffe vorbeigeschafft, als Chick auf die Uhr an dem verdammten Ding blickte. »Schau, sie tickt.« Harry verzog das Gesicht. Da stimmte etwas nicht. Vier Minuten... 3:59 . . . 3:58 ...
16 »Sharp! Komm her!« brüllte Harry. Sharp erschien im Frachtraum. Harrys Blick lenkte seinen Blick auf die Uhr der Bombe. Harry wartete auf seine Reaktion. Sharp rutschte das Herz in die Hose, und er wurde aschfahl. »Watts!« brüllte er. »Bereite das Schiff vor! Wir starten in zwei Minuten!« »Was ist passiert?« wollte Harry wissen. Gab es vielleicht ein Problem? »Zweites Protokoll!« brüllte Sharp. »Was heißt hier >zweites Protokoll?« fragte Harry. Es mußte etwas Schlimmes sein. Auch Watts war aschfahl geworden. »Ich weiß nicht, ob wir rechtzeitig abheben können!« brüllte Watts. Harry wurde ungeduldig. »Was zum Henker ist das >zweite Protokoll?« wollte er wissen. Sharp versuchte die Bombe eigenhändig hinauszubefördern. Harry und Chick kamen ihm sofort zu Hilfe ... »Sie wollen sie von der Erde aus zünden! Wir stellen sie ab und verschwinden!« Er umklammerte die Bombe. Hatte er was von >zünden< gesagt? fragte sich Harry. »Max! Rockhound!« bellte Harry in sein Mikrophon. »Zurück damit in die Fähre! Aber schnell!« Das konnten sie unmöglich tun.
»Auch ich habe einen Mann da draußen!« brüllte Sharp. »Wir haben keine andere Wahl!« Harry packte Sharp am Arm. »Wenn wir diese Bombe nicht achthundert Fuß tief in den Boden versenken, wird das nur ein äußerst kostspieliges Feuerwerk! Die glauben vielleicht, daß wir das Ding nicht versenken können, aber ich werde es tun.« Aus Sharps Gesicht war jede Farbe gewichen. »Der Befehl für die Zündung kann nur vom Präsidenten der Vereinigten Staaten kommen.« Harry meinte: »Du kannst von mir aus denken, was du willst. Ich habe diesen Schwächling nicht gewählt! Wir können es richtig tun. Schalt die Bombe ab!« Im Cockpit hatte Watts dem Bedienungsfeld ein Signal entlockt - ein Blinken. Es gab nicht genug Strom. »Der Hauptgenerator kommt nicht in Gang, Sharp!« rief sie. »Wir werden es nicht schaffen!« Sharp und Harry kämpften gegeneinander im Laderaum. Harry duckte sich und vollführte eine schnelle Drehung - er wollte die verdammte Uhr zerschlagen. Sharp richtete eine Pistole auf ihn. »Nicht!« befahl er. »Du könntest sie auslösen!« »Dann mach du es!« rief Harry. »Halte die Uhr an, damit wir unsere Arbeit tun können!« Sharp drehte fast durch. »Ich habe Befehl, die Oberflächenexplosion zu ermöglichen!« Die Kontrollstation glich einer Umkleidekabine der Verlierermannschaft während der Halbzeit. Nur einer glaubte noch an eine Chance. Und das war Truman. Er wartete auf ein Wunder. Er sah, wie das Zählwerk auf der Schalttafel der Bombe stehenblieb und ein Lämpchen aufleuchtete: AUFHEBUNG ERFOLGREICH.
Kein Knall. Kimsey konnte es nicht glauben. »Tu es noch mal«, sagte er zu einem der Marineinfanteristen. Der Soldat ging zum Computer und schob den Techniker, der dort stand, zum Stuhl zurück. Dann schaltete er die Konsole aus. Die Uhr auf der Kernwaffe war bei 1:09 zum Stehen gekommen. Harry packte eine Rohrzange, stürzte sich auf Sharp und klemmte sie um dessen Nacken. Er wollte ihm den Helm abdrehen wie einen Champagnerkorken ... Aber zuerst, dachte Harry, werde ich noch eine Erklärung abgeben. »Hast du's endlich kapiert?« brüllte er ihn an. »Der Präsident hat hier keine Entscheidungen zu treffen!« Sharp krächzte: »Sie werden es noch mal versuchen ...« »Und deshalb«, erklärte ihm Harry entschieden, während er den Griff der mechanischen Halsschraube lockerte, »wirst du jetzt die Bombe auseinandernehmen. Ich will keine Überraschungen mehr erleben!« Reines Wunschdenken. Ein Marineoffizier in der Kontrollstation glaubte, er hätte das Zündsignal doch noch ausgelöst. Watts glaubte, sie hätte den Hauptgenerator der Raumfähre wieder zum Laufen gebracht. »Wir sind wieder online!« rief Watts. »Sie läuft auf vollen Touren!« Die Freedom kam wieder in Gang. Unglücklicherweise passierte das gleiche mit dem Zählwerk der Bombe. 1:08 Harry zog die Zange fester um Sharps Nacken. 1:07 »Was bist du?« redete er auf Sharp ein. »Ein verdammter Computer? Scheißdreck! Jetzt hast du die Wahl: folgst du
einem Befehl oder willst du das Richtige tun? Es ist nämlich scheißegal, was die da unten dazu sagen. Jetzt bist du hierund du bestimmst, was geschieht - du kannst jetzt Dinge sehen, die die da unten nicht sehen! Du weißt, was zu tun ist, Sharp! Es ist das größte Risiko, das je einer auf sich genommen hat, aber ich bin schon durch Abwasser, Feuer und Steine hindurchgekommen, die so hart waren, daß sogar Bohrspitzen aus Diamant daran zerbrachen, und ich sage dir, wir werden ihn durchbohren, verdammt noch mal! Wir werden ihn besiegen!« Harry hoffte inständig, daß er erhört wurde. »Bitte.« »Schwöre, daß du es kannst«, krächzte Sharp. »Schwöre beim Leben deiner Tochter - meiner Familie...« Sie schlossen die Augen. »Schwöre bei Gott.« Harry schwor. »Ich hoffe nur, daß ich sie abstellen kann«, sagte Sharp. Sharp warf eine Hülle auf das Zählwerk und versenkte sich in ein Vogelnest aus vielfarbigen Drähten, tastete mit seinen Händen nach etwas. Da - ein Stöpsel von der Größe einer Kreditkarte. Er riß ihn heraus. Das Ergebnis von Sharps Arbeit erschien in Houston auf dem Bildschirm einer Konsole, die dem Militär unterstand. »Sir«, berichtete ein Kernwaffentechniker, »die Fernsteuerung reagiert nicht mehr auf unser Signal.« Kimsey brach der kalte Schweiß aus. »Haben wir den Funkkontakt ganz verloren?« »Nein, Sir ...«, antwortete der Techniker. Harrys Stimme durchbrach die Stille im Raum, der vor Spannung vibrierte. »Houston, Sie haben ein Problem. Sehen Sie, ich habe meiner Tochter versprochen heimzukommen! Ich weiß zwar nicht, was Sie da unten treiben, aber wir haben hier oben ein Loch zu bohren.«
Grace und Truman sahen sich an. Kimsey schloß die Augen. »Geben Sie mir den Präsidenten«, sagte er.
17 Die Sonne kroch über den Horizont des Asteroiden und erhellte eine dreizackige Hügelkette - ein Schauspiel einzig zu Ehren von A. J., Bear und Lev, die im Armadillo saßen. »Ich hätte nie gedacht, daß ich je an einem schlimmeren Ort sein könnte als in der Äußeren Mongolei«, kommentierte A. J. Er lenkte das schwergepanzerte Fahrzeug um ein Schlagloch von der Größe eines Schwimmbeckens herum. »Genau das gleiche habe ich auch gerade gedacht«, stöhnte Bear. Das Ruckeln des Raumfahrzeugs machte die Schmerzen, die er sich bei dem Absturz zugezogen hatte, noch schlimmer. A. J. seinerseits mußte lachen. »Erinnerst du dich? Mein zweiter Job und Harry brachten mich in die Äußere Mongolei. Es war die Hölle.« Lev kannte die Gegend. »Du denkst also, die äußere Mongolei sei schlecht? Dann solltest du es mal mit Sibirien versuchen. Dort ist es so kalt, daß der Urin sofort gefriert, wenn man pißt. Das tut weh.« A. J. war mit dem Armadillo vor einem Hindernis zum Stehen gekommen. Sie standen vor dem Hügelkamm mit einem Gefälle von fünfzig Fuß - unmöglich, es mit dem Armadillo zu überwinden. An der Bohrstelle plagten sich Harry, Sharp und Gruber mit dem neuen Triebwerk. Hinter ihnen schwenkte die Kanone des Armadillo ruckartig herum und folgte den Kopfbewe-
gungen Rockhounds, als ob sie seinen Helm als Ziel anvisierte. Die Umgebung erbebte wegen einer unterirdischen Verschiebung. »Bin ich das«, fragte Harry, »oder ist es in den letzten zehn Minuten zwanzig Grad wärmer geworden?« Rockhound murmelte: »Die Sonne ist heiß ... Hot dogs sind's auch ...« Max lag auf dem Rücken unter dem Armadillo und mühte sich damit ab, die Halteriemen um das Gehäuse des Triebwerks strammzuziehen. »Fertig«, rief er aus. »Wir sind bereit. Schmeiß ihn an.« Chick drückte auf den Schalter, und die Bohrspitze senkte sich in die Vertiefung. »Ihr wißt, was ihr zu tun habt«, rief ihnen Harry zu. »Uns bleiben ganze zwei Stunden, um durch diese Platte zu stoßen und siebenhundert Fuß tief zu bohren! Das ist jetzt das einzige, was zählt!« Lev suchte mühsam nach den englischen Worten, um seinem bitteren Unmut Ausdruck zu verleihen. »Das hier ist die schlimmste Situation überhaupt. Ich sage euch, ihr habt die falsche Straße gewählt.« A. J. stutzte. »Straße? Welche Straße? Gibt es hier vielleicht eine Landkarte, von der ich nichts weiß?« Lev schüttelte den Kopf. »Mir macht es durchaus keinen Spaß, negativ zu sein. Ist das gut für euch?« Ohne darüber nachzudenken, was er tat, hob A. J. einen Stein vom Boden auf und warf ihn nach dem Russen. Lev duckte sich, der Stein schwebte über ihn hinweg und verschwand am Horizont wie eine Feder im Wind. A. J. fragte: »Schon mal was von Mecki Messer gehört?«
Der Bohrer fuhr tief in den Stein und tauchte immer tiefer. »Harry!« rief Chick. »Es sieht gut aus! Ich glaube, wir haben die Platte durchbrochen!« »Mach weiter, Max!« ermutigte Harry den Mann, der am Gashebel stand. »Wir sind bei hundertfünfzig Fuß - weiter so, Mann.« A. J. kletterte ins Armadillo und stellte den Rückwärtsgang ein. Die schweren AT-Reifen warfen eine Wolke aus Schotter hoch, die wie dichter Nebel über dem Wagen hing. »Feinsteuerraketen aus, wenn wir springen«, wiederholte Lev. »Feinsteuerraketen an, um runterzukommen.« »Es wird gutgehen«, sagte A. J. »Sagen Sie es.« Lev weigerte sich. »Ich bin ein Zyniker. Aber wenn wir es schaffen ... werden Sie Held sein wie ich.« A. J. ließ sich das durch den Kopf gehen. »In Ordnung.« Er stieß mit dem Fuß aufs Pedal - vor ihnen die steile Klippe. Der Armadillo hüpfte von der Kante, und A. J. schaltete die Feinsteuerraketen ab. Sie flogen. Das Fahrzeug schoß über die ausgezackte Spalte und gewann an Höhe. Lev bediente die Schalter der Feinsteuerraketen, um sie wieder hinunterzubringen. Nichts geschah. Absolut nichts. »Nicht gut«, bemerkte Lev. »Schlecht - ganz schlecht - das ist ganz, ganz schlecht.« Er wandte sich an A. J. »Die Rakete zündet nicht - wir schweben in den Weltraum!« Daraufhin wollte er zu der Luftschleuse. A. J. spöttelte. »Wollen Sie rausklettern?« Lev erklärte: »Ich werde jetzt Ihren amerikanischen Arsch retten!« »Na, dann machen Sie schon!« ermutigte ihn A. J. »Das funktioniert bestimmt, und ich werde Sie in ewigem Andenken halten.« Lev war schon draußen und krabbelte wie ein Krebs über
die Bespannung. Der Raketenabzug war mit einer Eisschicht überzogen. Er nahm einen kleinen Schweißbrenner und versuchte eine der Röhren zu enteisen. Es zischte - das war nicht gut -, und er lenkte die Flamme zu der anderen Röhre. A. J. übermittelte ihm die neuesten Vorkommnisse. »Lev! Kommen!« Eine Flotte aus Weltraumsteinen trieb auf sie zu wie Flakfeuer und bombardierte die Überdachung des Armadillo. Ein O2-Kanister explodierte und jagte Lev auf die Schlepptauwinde. Das Raumfahrzeug wurde hin und her geworfen wie bei einer schlechten Ballübergabe. In seiner Verzweiflung drückte A. J. auf einen Zünder, und die Steuerrakete zündete. Der Stoß manövrierte sie geradewegs in eine Spirale hinein, die von der Oberfläche des Asteroiden aufstieg. Der Armadillo schlug gegen die Wand und schleifte Lev hinter sich her wie einen Wasserskifahrer. Aber sie schafften es. A. J.s Kopf schnellte aus der Luftschleuse und hielt Ausschau nach Lev. Der lag wie tot in Staub und Geröll. Aber siehe da - der Russe lächelte. »Ich muß schon sagen«, sagte er, »ich liebe euer MachoSelbstvertrauen.« Zur gleichen Zeit erhielt Truman in der Kontrollstation gute Nachrichten von einem Geotechniker: Der Asteroid hatte das Gravitationsfeld des Mondes verlassen, und seine Rotation verlor an Schwung. Sie versuchten, Funkkontakt herzustellen. »Wieso schauen Sie so merkwürdig drein?« wollte Truman wissen. »Weil mir diese Wärmestrahlung nicht gefällt - irgend etwas passiert in diesem Stein, Sir. Die seismischen Aktivitäten haben innerhalb der letzten dreißig Minuten um siebenhundert Prozent zugenommen.«
An der Bohrstelle türmten sich Rohre, Werkzeuge und Schutt übereinander. Harry und Sharp schoben mühsam Rohre in den Schacht, während Rockhound das Fortschreiten der Arbeit von seinem Platz auf dem Dach des Armadillo aus verfolgte. Sein Blick trübte sich, und es kam ihm ein Gedanke ... »Macht mal Pause, Jungs«, murmelte er. »Ich mache es von hier aus.« Dann drückte er auf den Auslöser, und die Kanone feuerte. Alle warfen sich schutzsuchend auf den Boden. Der Geschützturm folgte Rockhounds Bewegungen, der das Gelände nach seinen Leuten absuchte, blies Löcher in den Boden und verfehlte Harry und Gruber nur um Haaresbreite. Harry kletterte auf die Maschine und schleuderte Rockhound zu Boden. »Was zum Teufel tust du?« »Ich habe nur in den Weltraum geschossen«, sagte Rockhound einfach. »Warum seid ihr so gereizt?« Er ist völlig übergeschnappt, dachte Harry. Unterdessen fiel die Druckstabilität am Boden des Schachtes - der Zeiger des Druckmessers im Armadillo fiel wie ein Stein auf den Nullpunkt, sprang einen Augenblick später auf das Maximum, fiel wieder ab, sprang hoch und fiel... Es bebte. Um den Bohrarm herum teilte sich der Boden unter den Männern und zog Fäden wie zersprungenes Glas. Harry hatte den Eindruck, daß sich der Arm noch einmal bewegte - wenige Millimeter - oder vielleicht doch nicht? Er hoffte, daß es nicht so war. . . Noch mal. Diesmal hatte er sich wirklich gedreht. »Zieh den Bohrer raus!« rief Harry. »Max! Mach sofort den Schacht frei!« Plötzlich erzitterte der Boden, und es fühlte sich an, als
würde er unter ihren Füßen zerfließen. Der Boden wankte, und der Bohrarm vibrierte wie eine Wünschelrute. »Weg von hier!« bellte Harry. »Chick! Zieh das Rohr raus!« Rockhound hatte überhaupt nicht gemerkt, was um ihn herum vorging. »Das ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen«, sang er wütend. »Das ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen, und es ist wunderbaaaaaar!« Harry kämpfte gerade mit der Kopplung zwischen dem Armadillo und dem Bohrarm, als die Bohranlage zu hüpfen begann und taumelte, verursacht durch das Gas, das aus dem Inneren des Asteroiden hochschnellte und sich über die Oberfläche ergoß. Er klopfte auf die Windschutzscheibe ... »Max! Komm raus da ...«, brüllte Harry, kam aber nicht mehr dazu, Max zu helfen, weil Chick nach ihm griff, um ihn vom Bohrloch wegzuziehen. Gleich darauf explodierte das Bohrloch, und das Rohr schoß hinaus wie aus einer unterirdischen Raketenabschußrampe. Die Erschütterung warf den Armadillo wie ein Spielzeug hin und her, und Max, der im Fahrzeug saß, geriet in Panik. Er stieß die Tür auf, ohne vorher für Druckausgleich gesorgt zu haben - das Vakuum sog ihn aus dem Fahrzeug wie ein Ei aus seiner Schale, und schoß ihn in die Umlaufbahn des Asteroiden. »Wir sehen uns auf der dunklen Seite des Mondes, Max!« krähte Rockhound. Das Rohr, der Bohrarm, der Armadillo - ein Trümmerfeld aus Stein und Maschinen - und Max, der in den klaren schwarzen Himmel verschwunden war. Clarks Stimme durchbrach die Funkstille auf der Fähre: »Freedom? Kommen, Freedom. Bitte um einen Bericht...«
Den bekamen sie auch schonungslos geliefert, und zwar von Watts. »Houston«, würgte sie, »hier ist die Freedom. Wir haben soeben den Armadillo verloren. Bohrung .. . beendet. Erfolglos.« Auch das Beben hatte aufgehört. Die Bohrmannschaft stand im feinen Nebel wie eine Gruppe von Geistern. Es war todesstill. Mit Ausnahme von Rockhound, der mittlerweile vollkommen durchgedreht war. »Das ist reine Mathematik. Wie stehen die Wetten, daß hier alles endet ? Ist doch klar, wir wissen nicht einmal, ob das Raumschiff starten kann. Wißt ihr was? Es wird Zeit, das Grauen zu akzeptieren. Das ist das Ende der Welt, und wir sitzen in der ersten Reihe, Mann! Wir stehen noch in der Einfahrt. Laßt uns hineinfahren. Es ist eine SurfSafari.« Sharp und Gruber sahen nach der Bombe.
18 Kimsey beobachtete die Kernwaffentechniker, die sich an der Konsole alle Mühe gaben, den Kontakt zu der Bombe wiederherzustellen. Truman kam auf ihn zu. »Wir befolgen den Befehl des Präsidenten. Ich veranlasse die Evakuierung auf dem Asteroiden. Sie zünden die Bombe mit Fernsteuerung.« »Sie glauben immer noch nicht daran, daß das funktioniert«, stellte Kimsey fest. »Was ich glaube ... spielt hier keine Rolle«, erklärte Truman ergeben. »Am besten lassen Sie sich die Lage der Bombe von der Besatzung durchgeben«, riet ihm Kimsey. Grace stellte sich zwischen Truman und die Kommunikationskonsole. »Können sie noch rechtzeitig losfliegen?« wollte sie wissen. »Wir hoffen es«, sagte Truman. »Wir können nicht beurteilen, ob...« Paff! Grace hatte ihm mitten ins Gesicht geschlagen. »Meine Familie ist da oben, verstehen Sie das?« Sie packte Truman am Hemdkragen. »Sie haben sie da hineingezogen! Und darum will ich von Ihnen nicht hören >Wir hoffen es
»Und es tut mir unvorstellbar leid«, fuhr Truman fort. »Aber es geht hier nicht nur um Ihre Familie. Es geht um uns alle. Um die Familien aller Menschen. Gibt es für sie eine Rettung? Ich bete zu Gott, daß es sie gibt.« Er wartete, bis sie ihn wieder ansah. »Und ich bete um so mehr, daß es einen Ort gibt, wohin unsere Leute zurückkehren können.« Watts arbeitete mit der ihr verbliebenen Kraft, um den Start vorzubereiten. Folgende Information funkte sie nach Houston: »Elektrizitätsversorgung instabil - zweite Vorbereitungsphase erreicht.« Draußen sah Harry Sharp und Gruber dabei zu, wie sie die Kernbombe wieder zusammenbauten. Chick gesellte sich dazu. »Jetzt kennen wir uns schon seit zwanzig Jahren, Harry«, sagte er. »Jedesmal, wenn ich glaubte, daß wir etwas nicht schaffen, hast du mir das Gegenteil bewiesen. Ich bewundere das mehr, als du dir vorstellen kannst. Verdammt, Harry ...« Chicks Stimme stockte. »Diesmal habe ich recht gehabt.« In diesem Moment wurden sie von Scheinwerferlicht angestrahlt. Der zweite Armadillo war eingetroffen! Watts hatte es schon vom Raumschiff aus bemerkt und funkte zur Erde. »Houston! Ihr werdet es nicht glauben! Der Armadillo! Der andere Armadillo ist hier!« Watts brauchte sie nicht zu hören, um sich vorzustellen, wie die Menschen in der Kontrollstation auf diese Information reagierten. Der Armadillo hielt neben dem Bohrloch, und A. J. stieg aus der Dachluke. »Es gibt eine wunderbare kleine italienische Pizzeria gleich zwei Meilen von hier entfernt!« rief er.
Harry schüttelte den Kopf, und - es grenzte an ein Wunder - er lächelte. »Seid ihr fit genug, um uns beim Bohren zu helfen?« fragte er. A. J.s Miene verfinsterte sich, als er sich an den Absturz erinnerte. »Ich habe nur noch Bear und den Kosmonauten. Die anderen haben es nicht geschafft«, sagte er düster. Harry meinte: »Wir nehmen jede Hilfe, die wir kriegen können.« »Dann laßt uns die Ärmel hochkrempeln.« Watts funkte die Neuigkeiten an die Kontrollstation. »Die Bohrung wird fortgesetzt, Houston.« Sie mußten zweihundertfünfzig Fuß tief bohren. In einer Stunde. A. J. bediente fieberhaft die Hebel auf der Plattform des Armadillo, beeilte sich, den Flansch zu drehen, bediente den Bohrer, folgte Harrys Anordnungen, der neben ihm stand. Der Asteroid erbebte. »Er hat es in sich!« rief Harry. »Mach nicht so schnell!« »Ich werde ihn durchbohren!« sagte A. J. »Nein!« »Harry«, beharrte A. J., »vertrau mir. Nur dieses eine Mal. Wir können die Geschwindigkeit nicht zurücknehmen! Dann bleibt der Bohrer stecken, und das Ding fliegt in die Luft!« Harry war anderer Meinung. »Der Arm wird dem Druck nicht standhalten.« »Du hast ihn gebaut«, sagte A. J. »Ich führe ihn! Du mußt mir vertrauen! Wenn die Spitze verschmort, dann tauschen wir sie aus! Wenn der Transistor durchknallt, schließen wir einen anderen an!« »Es gibt da etwas, was du noch nicht weißt! Uns sind die Bohrspitzen und die Transistoren ausgegangen!«
Das nahm A. J. den Wind aus dem Segel. »Oh. . . oh Scheiße.« Der Boden schwankte. »A. J.!« bellte Harry. »Gut, gut, ich überlaß es dir!« Er wandte sich um. »Nein, warte eine Minute!« brüllte A. J. hinter ihm her. »Nein, mein Junge, er gehört dir! Tu es! Durchbohre ihn!« »Scheiße ...«, murmelte A. J. und drückte auf den Schalter. Der Bohrer fraß sich durch den Stein, grub sich gleich einem Maulwurf achthundert Fuß tief. Harry war begeistert. »A. J.! Du bist... sensationell!« jubelte er. »Zieh das Rohr jetzt wieder hoch!« Was sie jetzt nur noch brauchten, war die Bombe. Gruber und Sharp legten letzte Hand an die Hardware im Inneren der Bombe. Sobald man das Loch frei gemacht hatte, wollten sie sie für den großen Knall runterlassen. A. J. schaltete den Bohrarm im Rückwärtsgang auf die höchste Stufe; der schnellte mit einem Ruck aus dem Schacht, und Teile des Rohrs flogen Harry und Bear um die Ohren. Bear rutschte aus, und sein Schraubenschlüssel fiel in das Triebwerk des Bohrers. Sechstausend Umdrehungen in der Minute! Der Motor knirschte ohrenbetäubend, das Triebwerk wechselte in den Vorwärtsgang und stampfte das Rohr wieder in das Loch. Jetzt hatten Harry, A. J. und der Rest der Bevölkerung auf der Erde ein Installationsproblem. Fünfzig Fuß unter der Oberfläche des Asteroiden und innerhalb von fünfunddreißig Minuten mußten sie das Problem gelöst haben und dann schnell verschwinden. Watts oblag die Aufgabe, die neue Wendung der Dinge den Leuten daheim zu überbringen. »Sir«, funkte sie, »es gab einen Unfall...«
Harry hatte eine Idee. »Holt mir ein Seil.« »Du wirst da nicht runtergehen«, protestierte A. J. »Und wer sagt das?« Harry hatte schon damit begonnen, ein Seil abzuspulen. »Ich bin ein besserer Kletterer als du«, sagte A. J., »und um einige Jahrzehnte jünger.« »Dafür bekommst du daheim einen Tritt in den Arsch von mir, mein Junge.« »Die Wahrheit tut manchmal weh«, sagte A. J. »Wenn wir etwas mehr Zeit hätten, könntest du es von mir aus tun.« Harry warf ihm einen Blick zu und gab ihm das Seil. »Hey!« rief ihm A. J. vom Rand des Schachtes zu. »Im allgemeinen bezahlt die Hochzeit der Brautvater, oder?« Harry runzelte die Stirn. »Besser, du kletterst jetzt runter«, knurrte er. A. J. stieg hinunter. Er hatte einen tragbaren Schneider und ein langes Stück Seil aus Kunststoff dabei. An den Vorsprüngen schlug er Ösen und zog das Seil durch. Tief im Innern des Asteroiden grollte es. »Mach schnell«, drängte Harry. A. J. steckte das Seil durch eine Öffnung in der Mitte des Hindernisses und band es fest für die Winde. Das Rumpeln steigerte sich zu einem Beben. A. J. schob vorsichtig das Rohr nach oben, betete, daß der Schacht nicht zusammenbrach. . . Eine heiße Quelle Methangas schoß zweihundert Fuß hohe Rauchfahnen in den Himmel und bahnte sich ihren Weg durch das Tal - dann noch eine - und noch eine. Eine ungeheure Flut von Gas fraß sich durch den Riß im Gestein, füllte den Schacht und schleuderte A. J. wie einen Korken aus einer Knallbüchse.
Harry bekam das Seil gerade noch rechtzeitig zu fassen. »Dieses Ding kann uns offensichtlich nicht leiden«, entschied er. Chick pflichtete ihm bei. »Er weiß, daß wir es auf ihn abgesehen haben.« Das Beben entlang des Risses hatte ein bewegtes Geröllfeld geschaffen, Volkswagen-große Steine donnerten durch die Gegend. Harry band A. J.s Sicherheitsseil am Armadillo fest; Sharp krabbelte auf dem Armadillo zur Kanone. In diesem Augenblick spie eine zweite Gasquelle einen gigantischen Feuerball aus einer Spalte neben dem Bohrloch. Eine heiße Wand aus Dampf prallte gegen Gruber und schleuderte ihn gegen den Armadillo - er war auf der Stelle tot. Sharp schoß mit der Kanone auf das Geröllfeld, aber es waren viel zu viele Steinbrocken. Sie kamen sich vor wie Ameisen zwischen riesigen Billardkugeln. Eines von diesen steinernen Ungeheuern rollte über den Enterhaken am Ende von A. J.s Strick und fuhr über das Seil wie ein Zug über eine Schiene, plättete es, warf A. J. zu Boden und rollte wie eine Dampfwalze auf ihn zu. Sharp hatte es rechtzeitig bemerkt, sprang in den Armadillo, rammte den Wagen gegen den Felsen und brachte ihn in letzter Sekunde von seinem Weg ab. Der Enterhaken hatte sich tief in den Stein gegraben, und der Stein zog A. J., der immerfort auf den Schutt prallte, im Flug hinter sich her. Einmal hatte Sharp gesehen, wie man mit einer Schleppangel Schwertfische fängt - man zieht den Köder mit einem Motorboot hinter sich her -, A. J. kam ihm vor wie ein solcher Köder. Irgendwie schaffte er es, sich aus dem Gurtwerk zu befreien. Er stolperte gerade noch rechtzeitig davon, um zu beob-
achten, wie die riesige Kugel mit einem Affenzahn über Harry und Chick hinwegrollte. Dann blieb sie stehen. Eigentlich wollte A. J. gar nicht wissen, wie der Fleck aussah, den Harry und Chick hinterlassen hatten, aber er konnte nicht anders... ... sie lebten! Eine flache Vertiefung in der Bodenoberfläche in der Art eines Schützenlochs hatte sie gerettet. Sie kamen unsicher auf ihre Beine und torkelten zum Armadillo. »Gruber ist tot«, sagte Sharp traurig. Harry sah in das Bohrloch - es war frei. »Her mit der Bombe«, sagte er. Watts hatte die Freedom startklar gemacht. Lev trat an ein Fenster und hielt Ausschau nach dem Rest der Besatzung. Für einen Augenblick flackerten im Raumfahrzeug die Lichter auf, gingen aber wieder aus. »Nein ... O Gott, nicht jetzt...«, murmelte Watts. Lev drehte sich um. »Ist es ein ernstes Problem?« Sharp traf letzte Vorbereitungen an der Bombe, Harry und A. J. sahen ihm dabei zu. Als letztes mußte er die Befehlsfolge eingeben, um den Countdown zu aktivieren - er tippte den Code ein und ... ... nichts. »Was stimmt denn jetzt nicht?« fragte Harry. A. J. war sich nicht sicher, ob er mit Sharp oder mit der Bombe sprach. Sharp rief entsetzt: »Der Zähler, die Fernsteuerung, das ganze Ding - ist tot.« »Funktioniert die Bombe nicht?« hörte A. J. sich selbst stammeln. »Der Zünder ist tot«, wetterte Sharp. »Wir haben irgend etwas daran zerstört, als wir ihn entfernt haben.« Harry ließ sich von alldem nicht aus der Ruhe bringen.
»Sharp«, insistierte er, »wie bringen wir dieses Ding zum Explodieren?« »Jetzt?« fragte Sharp. »Die einzige Möglichkeit, die wir jetzt noch haben, ist manuell.« A. J. bat um eine genauere Erklärung: »Du meinst mit der Hand?« Harry seufzte. »Er meint, daß einer von uns hierbleiben muß.« Das Stimmengewirr in der Kontrollstation verebbte beim Quietschen eines bestimmtes Stuhls, und als Truman das Wort an die Anwesenden richtete, wurde es vollkommen still. »Nur noch achtzehn Minuten bis zur Null-Zone«, begann er, »und wir haben schlechte Nachrichten. Der ferngesteuerte Zünder der Bombe ist zerstört worden ...« Die Besatzung auf dem Asteroiden hatte sich ins Raumschiff zurückgezogen. »Es braucht zwei Leute, um dieses Ding zu fliegen«, sagte Sharp. »Und ich würde liebend gern mit jedem von euch tauschen.« Rockhound klopfte gegen die Stuhllehne. »Klar, sicher würdest du das!« Die anderen forderten ihn auf, den Mund zu halten. Sharp ignorierte ihn. »Entweder wir bleiben alle hier und sterben, oder jeder von euch zieht einen Strohhalm«, sagte er. »Wir müssen keinen Strohhalm ziehen«, warf Harry ein. »Ich werde es tun.« »Bockmist!« zischte Lev. »Sie glauben doch nicht, daß ich Sie als Freiwilligen hierbleiben lasse, während ich in mein Land zurückkehre als einer, der sich nicht freiwillig meldete?« Bear unterbrach ihn. »Ich bin der Richtige für diesen Job.
Außer meinem Motorrad habe ich daheim sowieso nichts zurückgelassen.« Rockhound meldete sich zu Wort. »Jetzt werdet ihr bestimmt glauben, ich sei übergeschnappt, aber ich würde diese Verpflichtung wirklich gerne auf mich nehmen.« Harry zuckte mit den Achseln. »Jetzt zieht - und zwar schnell.« Sharp pflichtete ihm bei und streckte ihnen seine Faust mit einem Bündel elektrischer Kabel entgegen. »Wir machen es im Uhrzeigersinn«, sagte er und forderte Chick auf, als erster zu ziehen. »Ich werde nicht gegen dich ziehen, Harry«, widersetzte sich Chick. »Verdammt noch mal, Chick«, drängte Harry, »aber ich werde es tun! Und jetzt tu es!« Chick zog ein Kabelstück heraus. Dann Lev. Sie waren ungefähr gleich lang. »Ist das gut oder schlecht?« fragte Lev. Man kannte dieses Spiel in seiner Heimat nicht. Dann war A. J. an der Reihe, und sein Kabelstück war deutlich kürzer. Dann Harry, dann Bear. A. J.s Kabel war entschieden kürzer als die anderen. »O Mann ...«, seufzte er. Harry fiel ihm ins Wort. »A. J., hör mal...« »Es ist entschieden«, sagte A. J. »An mir ist es, die Welt zu retten.« Er sah auf seine Uhr. »Noch acht Minuten. Bringen wir es hinter uns.« Sharp zeigte ihm die Zündkapsel. »Diesen Stöpsel hier steckst du in diese Buchse und drückst auf diesen Knopf. Das ist alles.« A. J. nickte. Ein wandelnder Toter.
Harry und A. J. verließen das Cockpit, um die letzten Meter, die sie von der Bombe trennten, zusammen zu gehen. A. J. trug schicksalsergeben die Zündkapsel. »Tu mir einen Gefallen«, es fiel ihm nicht leicht, Harry darum zu bitten, »und sag Grace ...« »Nein«, sagte Harry. A. J. konnte einfach nicht glauben, daß sie sich immer noch nicht nähergekommen waren. Nicht nach alldem, was sie zusammen durchgemacht hatten. »Harry, bitte«, flehte A. J., dem Weinen nahe. Nein. Harry packte das Abzeichen, das am Ärmel seines Raumanzuges steckte, trennte es ab und schob es in A. J.s Anzugtasche. »Gib das Truman«, befahl er. Dann riß er A. J.s Luftschläuche heraus, wodurch er seine Luftzufuhr auf der Stelle abwürgte, stieß die Tür des Cockpits auf und griff nach der Zündkapsel. »Jetzt bin ich an der Reihe«, ließ er A. J. wissen. A. J. schlug um sich und rang nach Luft, während Harry ihn in den Aufzug schob und die Tür hinter ihm zuschlug. A. J. hämmerte im Aufzug gegen die Tür. »Scheiße! Das ist mein Job!« brüllte er. Harry stand ruhig vor der Luke. »Geh und gib gut acht auf mein kleines Mädchen«, sagte er zu A. J. »Das ist dein Job. Geh und werde der Ehemann, den Grace verdient hat.« A. J. tobte. »Ich werde mir einen anderen Anzug besorgen!« Harry schob seinen Kopf vors Fenster. »Vorhin, als ich sagte, daß du eine Enttäuschung seist...«, sagte er und hielt inne. Er lächelte verschmitzt. »Das habe ich ehrlich gemeint.« Sie sahen sich direkt in die Augen - A. J. wußte, was Harry wirklich meinte. Harry streckte die Hand aus ... drückte auf den Knopf und schickte A. J. damit nach oben.
Als die Tür des Aufzugs geöffnet wurde und A. J. herausfiel, wußte Chick sofort, was Harry getan hatte. »Dieser störrische Eisenarsch von einem Bastard!« fluchte er voller Zuneigung. Harry ging allein durch einen Sturm aus Eis und feinem Schutt, der von der vorderen Spitze des Asteroiden herüberwehte.
19 »Ist er es? Kommt er durch?« fragte Grace sorgenvoll und meinte damit ihren Vater. »Sie haben den Plan geändert«, sagte Truman ruhig. Harrys Stimme war zu hören. »... ört... ch?... urch? Grace?... nst du mich hören?« Ein Techniker reichte Grace ein Mikrophon und machte ihr Platz. Sie starrte auf den Monitor, der wegen der statischen Störungen flimmerte. Harrys Gesicht verschwand und tauchte wieder auf; Grace konnte seinen angespannten, müden Ausdruck erkennen. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Vater«, begann sie, dann rannen ihr die Tränen über die Wangen. »Ich weiß, ich habe dir versprochen heimzukehren«, sagte er ihr, »aber ich kann dieses Versprechen nicht halten.« Grace wollte davon nichts wissen. »Wieso können die ...?« »Liebes, hör mir zu«, sagte Harry. »Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich will dir nur eins sagen .. . Ich habe dich belogen. Als ich dir gesagt habe, daß ich mitgehen wollte, weil ich niemandem trauen kann ... das war gelogen.« Das Bild flackerte. »... bin hier, weil ich dich liebe«, sagte er. Er versuchte, nicht zu weinen. »Auch ich habe dich belogen«, erwiderte Grace. »Weißt du noch? Als ich dir sagte, daß ich nicht so sein will wie du? Ich
bin wie du. Wir sind wie zwei Erbsen in einer Schote. Ich habe alles, was in meinem Leben gut ist, von dir bekommen, und ich möchte, daß du das weißt. Weil ich mich jetzt so sehr fürchte ...« Harry warf einen flüchtigen Blick auf die Erde - sie schwebte im nächtlichen Himmel wie ein blauer Ballon. »Nichts wird passieren, wovor du dich fürchten müßtest... auch um mich solltest du keine Angst haben, Liebes. Es wird mir gutgehen. Es ist so wunderschön hier oben.« Er hielt inne, um kurz zum sternenbehangenen Himmel über ihm zu schauen, auf den leuchtenden weißen Mond. »Ein weiser Mann hat mir einmal gesagt, daß Gott uns Kinder schenkt, damit wir im Dezember Rosen zu sehen bekommen. Du warst mir ein ganzer Garten voller Rosen, Grace. Ja, das warst du ... Ich möchte, daß du gut für deinen Mann sorgst. Ich wünschte, ich könnte dich zum Altar führen ... ich werde von Zeit zu Zeit zu dir hinunterschauen. Ich liebe dich, Grace ...« Er brach die Verbindung ab, und statische Störungen flimmerten wieder über Graces Bildschirm. Ihre Finger berührten den Bildschirm, sie bekam weiche Knie und ... Watts Stimme berichtete kühl über Funk: »CV Ventile geschlossen, Druckventil geladen ...« Dann sagte Sharp: »Maschinenanzeige grün.« Harrys Stimme wurde aus der Nähe des Bohrlochs hörbar: »Ihr habt zwei Minuten, Sharp. Ich werde nicht warten.« Es war einen Moment lang still. Dann sagte Sharp: »Initiiere die Feinsteuerraketen.« Clark aus Houston: »Freedom, es wird Zeit für die Zündung ...«
Die Kraftstoffventile! dachte Watts. Sie schnallte sich verzweifelt von ihrem Sitz los und krabbelte Richtung Frachtraum. Die Kraftstoffventile.' Unten im Steuerzentrum kämpfte sie fieberhaft mit den Ventilen. Lev erschien und schaute ihr über die Schulter. »Es klemmt, oder?« »Zurück!« brüllte Watts. »Sie kennen sich nicht aus mit den Einzelteilen!« Sharp bediente in einem fort den Schalter der Feinsteuerraketen. Nichts passierte. Harry: »Was zum Henker macht ihr da drinnen? Ihr müßt weg von hier!« Keine Antwort. »Glaubt nur nicht, daß ich diesen Knopf nicht drücken werde!« Watts war mit den Nerven am Ende; es gelang ihr nicht, die Ventile zu öffnen. »Treten Sie beiseite!« rief Lev. »Zurück!« warnte ihn Watts. »Beschissene russische Einzelteile sind wie beschissene amerikanische Einzelteile! Ich habe eineinhalb Jahre auf einer russischen Raumstation verbracht! So reparieren wir jedes gottverdammte Ding!« Lev schob sie aus dem Weg und schlug mit einem Schraubenzieher immer und immer wieder gegen die Maschinen. BOING! BOING! BOING! WROMM! Es zündete! Die Freedom stieg auf und flog in Richtung Heimat.
20 »Jetzt gibt es nur noch dich und mich, und jetzt bin ich an der Reihe«, sprach Harry zu dem Felsen. Ein Feuerball brennenden Gases stieg in den Himmel. »Beklag dich, soviel du willst.« Er hob die Zündkapsel und wollte auf den Knopf drücken und... ... WUSSSSSCH! Gleich drei Gasquellen schössen unter seinen Füßen in die Höhe und rissen die Zündkapsel aus seiner Hand. Harry wurde in das Loch geschleudert. Den Arsch zuerst, dachte er und versuchte sich durch das Rohr hindurchzuzwängen, um den Absturz zu verhindern. Er knallte gegen die Wand und verlor seine Luftzufuhr. Clark über Funk: »Freedom. Wir stehen dreißig Sekunden vor der Null-Zone. Wo bleibt die Explosion?« Sharp: »Irgend etwas stimmt nicht. Wir müssen zurück.« Watts: »Es gibt kein Zurück! Dann bleibt uns nicht genug Kraftstoff, um heimzukehren!« »Irgend etwas stimmt nicht!« »Selbst wenn etwas nicht stimmen sollte, wird Harry nicht aufgeben. Er kann hier nicht weg.« Harry rannte, schnappte nach Luft, suchte nach der Zündkapsel. Einen letzten Blick noch auf diese wunderbare Erde. Er
hoffte, daß er nicht träumte. Hoffte, daß er nicht tot war, dort unten in diesem Loch. Er drückte auf den Knopf... »Ich habe gewonnen.«
21 Die Druckwelle erfaßte den hinteren Teil der Freedom und schlug mit ihr einen wütenden Salto - ihr Inhalt wurde dementsprechend durchgeschüttelt. »Eine Schande, jetzt zu sterben!« klagte Chick. »Sprich nur für dich selbst!« beschwerte sich Rockhound. »Du schuldest keinem beschissenen Italiener hundert Riesen.« Im Gegensatz zu Rockhound waren sie daheim frei. Das Raumschiff drang wieder in die Atmosphäre und heulte durch die Luft; es glühte. Es überließ sich widerstandslos dem freien Fall - einer Landetechnik, die bei jedem anderen Flugzeug nur im Notfall angewandt worden wäre. Der Staub zischte, als die Reifen Beton berührten, aufschlugen, hüpfend auf das Ende der Landebahn zurasten, verlangsamten, stoppten ... Sie hatten es geschafft. »Laßt mich raus aus diesem gottverdammten Ding«, jauchzte Chick. »Alle herhören!« rief Sharp. »Bleibt in euren Sitzen, bis sie uns sagen, was zu tun ist - es warten eine ganze Menge Leute da draußen. Das wird sein wie im Irrenhaus - und wir stecken mittendrin, klar?« A. J. wandte sich an die anderen. »In Augenblicken wie diesen solltet ihr euch immer fragen, was Harry getan hätte!«
Die Türen der Raumfähre wurden vor einer riesigen jubelnden, singenden und tobenden Menschenmenge geöffnet. Lev schien gerührt. »Es würde mich interessieren, ob hier meine Familie die Staatsangehörigkeit bekommen könnte ...« »So, wie es aussieht«, erklärte Rockhound, »könnte deine Familie sogar ihre eigene Talk-Show bekommen, Kumpel.« Grace löste sich vom Empfangsbereich und wurde von A. J. entdeckt. Beide rannten aufeinander zu und fielen sich in die Arme. Sie küßten sich und weinten. »Er war ein großartiger Mensch, Grace«, sagte A. J. »Das weiß ich«, sagte sie. Sie wurden von Sharp unterbrochen. »Miss Stamper?« Grace und A. J. lösten sich voneinander, und sie wandte sich ihm zu. »Colonel Roger Sharp, Luftwaffe der Vereinigten Staaten, Ma'am«, sagte er. Er salutierte. »Ich bitte um die Erlaubnis, der Tochter des tapfersten Mannes, den ich je getroffen habe, die Hand schütteln zu dürfen.« Grace lächelte. Ihre Augen waren wieder trocken. Sie streckte sich und gab ihm die Hand. Truman kam, und A. J. reichte ihm Harrys Missionsabzeichen. »Harry wollte Ihnen das geben«, sagte er. Trumans Augen wurden feucht. »Ich danke Ihnen«, sagt er zu A. J. Dann blickte er zu Harry Stamper hoch und sagte ... Danke.
Ende