Peter Zumthor
Architektur Denken
Zweite, erweiterte Auflage
Birkhäuser - Verlag für Architektur Basel • Boston • Ber...
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Peter Zumthor
Architektur Denken
Zweite, erweiterte Auflage
Birkhäuser - Verlag für Architektur Basel • Boston • Berlin
Eine Anschauung der Dinge
7
Der harte Kern der Schönheit
29
Von den Leidenschaften zu den Dingen
39
Der Körper der Architektur
53
Architektur lehren, Architektu r lernen
65
Hat Schönheit ei ne Form?
7I
D ie Magie des Realen
83
Das Licht in der Landschaft
89
Eine Anschauung der Dinge
Auf de r Such e nach d e r ve rlore nen Archite ktur Wenn ich an Architektur denke. steigen Bilder in mir auf . Viele dieser Bilder stehen im Zusammenhang mit meiner Ausbildung und Arbeit als Architekt. Sie enthalten das berufliche Wissen über Architektur, das ich mir im Laufe der Zeit erwerben konnte . Andere Bilder haben mit meiner K indheit zu tun.lch erinnere mich an jene Zeit in meinem Leben, in der ich Architektur erlebte. ohne darüber- nachzudenken. Noch glaube ich, die Türklinke. jenes Stück Metall, geformt wie der Rücken eine s Löffels. in meiner Hand zu verspüren . Ich fasste es an. wenn ich den Garten meiner Tante betrat. Noch heute erscheint mir jene Klinke wie ein besonderes Zeichen d es Eintritts in eine Welt verschiedenartiger Stimmungen und Gerüche. Ich erinnere mich an das Geräusch der Kieselsteine unter meinen Füssen, an den milden Glanz des gewachsten Eichenholzes im Treppen haus, häre die schwere H austür hinter mir ins Schloss fallen. laufe den düsteren Gang entlang und betrete die Küche ; den einzigen wirklich hellen Raum im H aus. Nur dieser Raum, so will mir heute scheinen, hatte eine Decke, die nicht im Zwielicht entschwand; und die kleinen sechseckigen Platten des Bodens. dunkelrot und satt verfugt. setzten meinen Schritten eine unnachgiebige Härte entgegen. und dem Küchenschrank entströmte dieser eigentümliche Geruch von Ölfarbe. All es in dieser Küche war so. wie herkömmlich e Küchen eben sind. Es gab nichts Besonderes an ihr. Aber vielleich t ist sie, gerade weil sie auf diese fast natürliche Weise einfach Küche war, in meiner Erinnerung so sehr als Inbild einer Küche präsent. Die Atmo sphäre dieses 7
Raumes hat sich für immer mit meiner Vorstellung von einer Küche verbunden. Nun wäre mir danach, fortzufahr-en und zu erzählen: von al len Türklinken, die auf jene Klmke am Gartentor meiner Tante fo lgten, und von Böden, von weichen A sphaltflachen, von der Sonne erwä r-mt; von Steinpflästerungen, bedeckt von Kastanienblattern im Her bst, und von T üren, die auf so unterschiedlicheWeise ins Schloss fielen: die einen satt und vor-nehm, andere dünn und billig schepper-nd, wieder andere hart, grossartig, einschüchternd ... Erinnerungen dieser A rt beinhalten die am tiefsten gegründecen Arch itekturerfahrungen, die ich kenne . Sie bilden den Grundstock von architekt:onischen Scimmungen und Bildern. den ich in meiner A rbeit als Architekt auszuloten versuche. Wenn tch entwerfe. finde ich mich immer wieder eingetaucht in alte und halbvergessene Ennnerungen. und ich versuche. mich zu fragen: Wi e genau war jene architektonische Situation w irklich beschaffen. w as bedeutete sie für mich damals. und was könnte mir helfen , jene reiche Atmosphäre wie der entstehen zu lassen. die gesattigt zu sein scheint von der selbstverständlichen Präsenz der Dinge. wo alles seinen richtigen Ort und seine richtige Form hat? Daber waren gar keine besonderen Formen auszumachen. Aber dieser Anflug von Fulle wäre spürbar, von Reichtum auch, der einen denken lasse das habe ich schon einmal gesehen. während ich gleichzeitig w eiss, dass alles neu und anders ist und kein direktes Zitat einer alten Architektur das Geheimnis der erinnerungsmichtigen Scimmung verrät.
Aus Stoff gebaut Die Arbeiten von Joseph Beuys und einigen K ünstlern der A rte-poveraGruppe haben fur mich etwas Aufschlussreiches. Was mich beeindr-uckt, ist der präzise und sinnliche Einsatz des Materials in diesen Kunstwerken. Er scheint in einem alten W issen um den Gebrauch der Materialien durch 8
den Menschen verankert zu sein und gleichzeitig das eigentliche Wesen dieser Materialien. das bar jeglicher kulturell vermittelten Bedeutung ist , freizulegen. ln meiner Arbeit versuche ich, die Materialien auf ähnliche Weise einzusetzen. Ich glaube. dass Materialien tm Kontext eines architektonischen Objektes poetische Qualitaten annehmen können. Dazu ist es notwendig. tm Objekt selbst einen entsprechenden Form- und Sinnzusammenhang zu generieren; denn Materialien an sich sind nicht poetisch. Der Stnn, den es 1m Stofflichen z.u stiften gilt, liegt jenseits kompositorischer Regeln. und auch die Fuhlbarkeit. der Geruch und der akustische A usdruck der Materialien sind lediglich Elemente der Sprache. in der wir sprechen mussen Sinn entsteht dann. wenn es gelingt. im archit ektonischen Gegenstand spezifische Bedeutungen bestimmter Baumateria lien hervorzubringen, die nur in dtesem einen ObJekt auf diese Weise spürbar werden. Wenn wir auf dieses Ziel hinarbeiten, mussen wir uns immer wieder fragen. was em bestimmtes Material in einem bestimmten architektonischen Zusammenhang bedeuten kann. Gute Antworten auf diese Frage können sowohl dte An. wie dieses Material fur gewöhnlich angewendet wird, als auch seine ihm eigenen sinnlichen und sinnstiftenden Eigenschaften in einem neuen Lichte erscheinen lassen. Gelingt uns dies. können Materialien in der Architektur zum Kltngen und Strahlen gebracht werden.
Di e A r beit in den Dingen Etwas vom Etndrucklichsten an der Musik Johann Sebastian Bachs ist, sagt man. thre «Archttektur».lhr Aufbau wirkt klar und durchsichtig. Es ist möglich, dte melodischen. harmonischen und rhythmischen Elemente der Musik tm Emzelnen z.u verfolgen, ohne das Gefuhl fur die KompoSition als Ganzes, tn der alle Einzelheiten ihren Sinn finden. zu verlieren. Eine klare Struktur schemt dem Werk zugrunde zu liegen, und folgt man den einzelnen 10
Fäden des musikalischen Gewebes. so ist es möglich, die Regeln, die den konstruktiven Aufbau dieser Musik bestimmen, zu ahnen. Konstruktion ist die Kunst. aus vielen Einzelteilen ein sinnvolles Ganzes zu formen . Gebäude sind Zeugnisse der menschlichen Fähigkeit, konkrete Dinge zu konstruieren. Im Akt des Konstruierens liegt für mich der eigentliche Kern jeder architektonischen Aufgabe. Hier, wo konkrete Materialien gefügt und aufgerichtet werden. wird die erdachte Architektur Teil der realen Welt. Ich empfinde Respekt für die Kunst des Fügens, für die Fähigkeiten der Konstrukteure , der Handwerker und Ingenieure. D as Wissen der Menschen über die Herstellung von Dingen, das in ihrem Können enthalten ist. beeindruckt mich. Ich versuche darum, Bauten zu entwerfen, die diesem W issen gerecht werden und die es auch wert sind, dieses Können herauszufordern. «Da drin steckt viel Arbeit», pflegt man zu sagen, wenn man einen schön gearbeiteten Gegenstand betrachtet und glaubt, die Sorgfalt und das Können des Menschen, der den Gegenstand geschaffen hat, zu verspüren. Dass unsere Arbeit wirklich in den Dingen steckt, die uns gelingen. ist eine Vorstellung, die an die Grenzen des Nachdenkens über den Wert eines Werkes heranführe. Steckt unsere Arbeit wirklich in den Dingen? Manchmal, wenn ein Bauwerk mich berührt wie eine Musik, ein Stück Literatur oder ein Bild, bin ich versucht. daran zu glauben.
Für die Stille des Schlafs Ich liebe Musik. Langsame Säue aus Mozarts Klavierkonzerten, John Coltranes Balladen, der Klang der menschlichen Stimme in bestimmten Liedern gehen mir nahe. Das menschliche Vermögen. Melodien, Harmonien und Rhythmen zu erfinden. versetzt mich in Erstaunen.
II
01e Weit der Tone umfasst aber auch d1e Gegensatze von Melodie. Harmonie und Rhythmus. Wir kennen D isharmonien u nd gebrochene Rhythmen. Fragmente und Ballungen von Klangen. und es gibt die rein fun ktionalen Gerausche. d1e w1r Larm nennen. Oie zeitgenössische Musik arbeitet m1t diesen Elementen. Ich denke. dass die Zeltgenossische Architektur im Grunde uber einen ebenso radikalen Ansatz verfugen sollte w ie die Neue Mu sik. Dieser Forderung smd jedoch Grenzen gesetzt. Wenn die Komposition eines Bau werks auf Disharmonie und Fragment1erung. auf gebrochenen Rhythmen. Clustel·ing und Strukturbrüchen beruht, kann das W erk zwar Botschaften vermitteln. aber m1t dem Verstehen der Aussage erlischt die Neugier. und was zurückbleibt. ist d1e Frage nach der Nutzlichkeit des architektonischen Objektes fur das praktische Leben. Architektur hat 1hren eigenen Existenzbereich. Si e steht in einer besonders korperlich er, Verbmdung m1t dem Leben. ln mei ner Vorstellung ist sie zu nachst weder Botschaft noch Ze1chen, sondern Hulle und Hintergrund des vorbeiziehenden Lebens. ein sensibles Gefass für den Rhythmu s der Schritte auf dem Boden. fur die Konzentration der Ar·beit, fur die Stille des Schlafs.
Von Verlangen gezeichnet Gebaute A rchitektur hat ihren Ort in der konkreten Weit. Dort hat sie ihre Prasenz. Dort spncht sie fur sich. Architekturdarste llungen. d ie noch nicht Gebautes zum Inhalt haben. sind geprägt von der A nstrengung. etwas zum Sprechen zu bringen. das semen On in der konkreten W elt noch nicht gefunden hat. aber fur d1ese gedacht ist. Die Archi tekturzeichnung versucht, d1e Ausstrahlung des ObJektes an seinem Ort moglichst prazise ins Bild zu setzen Aber gerade die Anstrengung der Darstellung kann die Abwesenheit des realen Ob1ektes besonders deutlich werden lassen.W as dann aufkommt. ist E1nsicht rn d1e Unzulanglichke1 t jeglicher Darstellung. Neugier auf die 12
in der Darstellung versprochene Wirklichkeit und vielleicht, wenn uns das Versprochene zu berühren vermag. auch Sehnsucht nach seiner Gegenwart. Wenn Realismus und graphische Virtuosität in einer Architekturdarstellung zu gross werden, wenn die Darstellung keine «offenen Stellen» mehr enthält, in die wir mit unserer Imaginat ion eindringen können und die Neugier nach der Wirklichkeit des dargestellten Objektes aufkommen lassen, dann wird die Darstellung selber zum Objekt der Begierde. Das Verlangen nach dem w irklichen Objekt verblasst.Wenig oder nichts mehr verweist auf das gemeinte Reale. das ausserhalb der Darstellung Liegende. Die Darstellung enthält keine Versprechen mehr. Sie meint sich selber. Encwurfszeichnungen, die ausdrücklich auf eine noch in der Zukunft liegende W irklichkeit verweisen, sind in meiner Arbeit wichtig. Ich entwickle deshalb meine Zeichnungen auf jenen delikaten Punkt der Anschaulichkeit hin, an dem die erstrebte Grundstimmung fassbar wir d, ohne dass sie von Unw esentlichem abgelenkt würde. Dazu hat die Zeichnung selbst die Quali täten des gesuchten Objektes anzunehmen. Sie ist dann. ähnlich der Skizze eines Bildhauers fur seine Skulptur, nicht bloss Abbild einer Idee, sondern Bestandteil der schöpferischen A rbeit selber, die ihren Abschluss im gebauten Objekt findet. Z eichnungen dieser Art erlauben es einem zurückzutreten, zu schauen und das verstehen zu lernen, w as noch nicht ist und doch zu werden beginnt.
Ritzen im versiegelten Objekt Hauser sind künstliche Gebilde. Sie bestehen aus Einzelheiten, die miteinander verbunden werden müssen. Die QualitätdieserVerbindungen bestimmt in hohem Masse die Q ualität des fertigen Objektes. ln der Bildhauerei gibt es eine Trad ition, die den Ausd ruck der Fugen und Verbindu ngen zwischen den einzelnen Werkstücken zugunsten der Gesamtform zurücknimmt. Richard Serras Stahlobjekte zum Beispiel wirken 13
ebenso homogen und ganzheitlich w ie Skulpturen älterer bildhauerischer Traditionen aus Stein oder Holz.Viele Künstler der 60er und 70er Jahre berufen sich in ihren Installat ionen und Objekten auf die einfachsten und offensichtlichsten Methoden des Fügens und Verbindens, die wir kennen. Beuys, Merz und andere haben immer wieder mit lockeren Setzungen im Raum. mir Umwicklungen, Faltungen oder Schichtungen gearbeitet, um aus den Teilen das Ganze zu bilden. D ie direkte und scheinbar selbstverständliche Art. in der diese künstlerischen Objekte gefügt sind, ist aufschlussreich. Es gibt in diesen Arbeiten keine Störung des Gesamteindruckes durch kleine Teile, die nichts mit der Aussage des Werkes zu tun haben. Die W ahrnehmung des Ganzen wird nicht durch unwesentliche Einzelheiten fehlgeleitet. Jede Berührung. jede Verbindung, jede Fuge ist da. um der Idee des Ganzen zu dienen und die ruhige Präsenz des Werkes zu verstärken. Wenn ich Gebäude entwerfe. versuche ich, diesen eine ähnliche Präsenz zu verleihen. Anders als der bildende Künstler muss ich dabei jedoch von den funktionalen und technischen Aufgaben ausgehen, die jedes Bauwerk zu erfüllen hat. Architektur ist herausgefordert, aus unzähligen Einzeltei len. die sich in Funktion und Form. im Material und in der Grösse unterscheiden. ein Ganzes zu bilden. Für die K anten und Fugen, dort wo di e Flächen des Objektes sich schneiden und die verschiedenen Materialien aufeinander treffen . sind sinnvolle Konstruktionen und Formen zu suchen. Mit diesen Detailformen werden die feinen Zwischenstufen innerhalb der grossen Proportionen des Baukörpers festgelegt. Einzelheiten bestimmen den fo rmalen Rhythmus. die Feinmassstäblichkeit des Gebäudes. Details haben auszudrucken, was die Grundidee des Entwurfs an der betreffenden Stelle des Objektes verlangt: Zusammengehörigkeit oder Trennung, Spannung o der Leichtigkeit, Reibung, Festigkeit, Zerbrech lichkeit . .. Details. wenn sie uns glücken, sind nicht Dekoration. Sie lenken nicht ab, 15
sie unterhalten n1cht. sondern sie fuhren hin zum Verstandnis des Gan-
zen. zu dessen Wesen sie unabdingbar gehoren. Es wohnt eine magische Kraft m Jeder m s1ch geschlossenen Gestaltung. Es ist. als erläge man dem Zauber e1nes voll entwickelten architektonischen Korpe rs. Vielleicht fallt unser Blick erst jetzt auf ein Detail und verharrt m Erstaunen: D iese zwei Nagel im Boden.d1e die Stahlplatten neben der abgenutzten Schwelle halten. Gefühle kommen hoch. Etwas beruhrt uns.
je ns eits de r Zeic he n «All es 1st moglich», hort man in der Welt der Macher. «Mainstreet is almost all nghm. sagt Venrun. der Architekt. «N icht s geht mehr>>. sagen jene. d1e an der Unwwtllchkelt unserer Zeit leiden. D 1ese Aussagen stehen fur w1derspruchl1che Meinungen, wenn nicht fur w iderspruch liehe Tatsachen. Wir schemen uns daran zu gewohnen, m1 t W iderspruchen zu leben, und w 1r konnen auch ein1ge Grunde dafur benennen:Traditionen losen sich auf. es g1bt keme geschlossenen kulturellen ldemitaten mehr. W irtschaft und Politik entwickeln eine Dynamik, die niemand wirklich zu verstehen und zu kontrollieren scheint. Alles vermengt sich mit allem, und die Massenkommunikation erzeugt eine kunstliehe Welt der Zeichen. BeliebigkeiL Vielleicht kann man das postmoderne Leben so beschreiben:AIIes, w as über unsere personliehen biographischen Daten hinausgeht. erscheint vage , verschwommen und wgendwie unwirklich. D1 e Welt ist voll von Zeichen und Informat ionen, die fur Dinge stehen, d1e niemand vollauf versteht, weil auch drese s1ch letztlich w1ederum nur als Zeichen fur ande re D inge erweisen. Das wahre Dmg ble1bt verborgen. Niemand bekommt es je zu sehen. Trotzdem, ich bin uberzeugt. dass, wenn auc h gefahrdet, noch wahre Dmge ex1st1eren. Es g1bt Erde und Wasser. das L1cht der Sonne. Landschaft und Vegetation. und es gibt vom Menschen gescha ffene Gegenstände w ie Maschinen.Werkzeuge oder Musikinstrumen te, die sind. was sie si nd, die kei16
ne künstlichen Botschaften tragen. deren Gegenwart selbstverständlich ist. Wenn w ir Gegenstande oder Bauwerke betrachten, die in sich selbst zu ruhen scheinen. wird unsere Wahrnehmung auf eine besondere Weise ruhig und stumpf. Das Objekt, das wir wahrnehmen. drängt uns keine Au ssage auf, es ist einfach da. Unsere Wahrnehmung wird still, unvoreingenommen und nicht besiuergreifend. Sie liegt jenseits der Zeichen und Symbole. Sie ist offen und leer. Es ist, als ob man etwas sähe. das sich nicht ins Zentrum des Bewusstseins rücken lässt. Jetzt, in diesem Vakuum der Wahrnehmung, kann im Betrachter eine Erinnerung auftauchen. die aus der Tiefe der Zeit zu stammen scheint. Das Objekt sehen. heisst jetzt auch, die Welt in ihrer Ganzheit erahnen; denn es ist nichts da, was nicht zu verstehen wäre. Es liegt eine besondere Kraft in den gewöhnlichen Dingen des alltäglichen Lebens, scheinen die Gemälde von Edward Hopper zu sagen. Man muss nur lange genug hinschauen. um sie zu sehen.
Vervollständigte Landschaften Die Gegenwart bestimmter Bauten hat für mich etwas Geheimnisvolles. Sie scheinen einfach da zu sei n. Man schenkt ihnen kei ne besondere Beachtung. Und doch ist es schier unmöglich, sich den Ort, an dem sie stehen, oh ne sie vorzustellen. Diese Bauten schei nen fest im Boden verankert zu sei n. Sie wirken als selbstverständlicher Teil ihrer Umgebung, und sie scheinen zu sagen: «Ich bin so, wie du mich siehst. und ich gehöre hier hin.» Gebäude entwerfen zu können, die im Laufe der Zeit auf diese selbstverstandliehe Weise mit der Gestalt und Geschichte ihres Ortes verwachsen, weckt meine Leidenschaft. M1t jedem neuen Bauwerk wird in eine bestimmte historische Situation eingegriffen. Fur die Qualität dieses Eingriffes ist es entscheidend. ob es gelingt. das Neue mit Eigenschaften auszustatten, die in ein sinnstiftendes Spannungsverhältnis mit dem schon Dagewesenen treten. Denn damit das
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Neue semen Platz fi nden kann. muss es uns erst dazu anregen. das Bestehende neu zu sehen. Man wrrft emen Stem ins Wasser. Sand wirbelt auf und setzt sich wieder. De r· Aufr uhr war notwendig. Der Stein hat seinen Platz gefunden. Aber der Terch rst nicht mehr derselbe wie vorher·. Ich glaube. dass Gebaude. dre von rh rer Umgebung allmah lich angenommen werden. dre Fahrgkert besrtzen mussen. Gefuhl und Verstand auf vielfaltige Weise anzusprechen. Unser Fuhlen und Verstehen aber wurzelt in der Vergangenheit. Deshalb muss der Sinnzusammenhang, den wir mit einem Gebäude schaffen. den Prozess des Ennnerns respektieren. Das Erinnerte jedoch ist nicht mrt dem Endpu nkt am Schluss einer Linie vergleichbar. sagt John Berger
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semem Buch ube r das Sehen. «Es grbt verschiedene Mog-
li chkeiten. die zur Ennnerung fuhren und
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ihr zusammenlaufen. Bilder.
Strmmungen. Formen.Worter. Zerehen und Vergleichemussen Möglichkeiten der Annaherung eroffnen. Um das Werk im Zentrum muss ein strahlenform iges System der Annaherung gelegt werden. so dass wir es gierehzeitig unter verschiedenen Aspekten betrachten konnen: historisch. asthetiSch. funktronal. alltaglrch. personlrch. lerdenschaftlrch.»
Die S pannung im lnn e rn e in e s Körpe r s Von all den Zeichnungen. die Archi tekten hervorbrrngen, mag ich die Werkzeichnungen am besten.Werkzerchnungen smd ausfuhrlieh und sachlrch. Gerrchtet an dre Fachleute. dre dem erdachten ObJekt matenelle Gestalt verleihen. sind sre frer von assozrativer Darstellungsregre. Sie versuchen nicht meh r· zu uberzeugen und einzunehmen wre Projektzeichnungen. lhr Merkmal sind dre Gewissheit und Zuversrcht. Sie scheinen zu sagen: <
Kunst des Fügens, verborgene Geometrien, die Reibung der Materialien, die inneren Kräfte des Tragens und Haltens. die menschliche Arbeit, die in den Dingen steckt. Für eine Documenta in Kassel errichtete Per Kirkeby eine Backsteinskulptur in der Form eines Hauses. Das Haus hatte keinen Eingang. Sein Inneres war unzugänglich und verborgen. Es blieb ein Geheimnis, das der Skulptur zusammen mit anderen Eigenschaften eine Aura mystischer T iefe verlieh. Ich denke. dass die verborgenen Tragstrukturen und Konstruktionen eines Hauses so anzulegen sind, dass sie den vollendeten Körper in einen Zustand der inn eren Spannung und Vibration verseuen. Geigen sind so gebaut. Sie erinnern uns an die lebendigen Körper in der Natur.
Une rwartete Wahrheite n ln meiner Jugend hatte ich die Vorstellung. Poesie sei eine Art farbige Wolke von mehr oder weniger diffusen Metaphern und Anspielungen, die unter Umständen zu geniessen, aber nur schwer an eine verbindliche Sicht der Welt zu knüpfen sei. Als Architekt habe ich gelernt zu verstehen, dass das Gegenteil dieser jugendlichen Definition von Poesie der Wahrheit wohl näher kommt. Ein Bauwerk kann über künstlerische Qualitäten verfügen, wenn seine vielfältigen Formen und Inhalte in einer starken Grundstimmung zusammenfallen. die uns zu berühren vermag. Diese Kunst hat nichts mit interessanten Konfigurationen oder Originalität zu tun. Sie handelt von Einsicht,Verstand und vor allem von Wahrheit. U nd viellei cht ist Poesie die unerwartete Wahrheit. Ihr Auftreten bedarf der Stille. Dieser stillen Erwartung Gestalt z.u verleihen. 1st die klinstlerische Aufgabe der Architektur. Denn das Bauwerk selber ist niemals poetisch. Es mag lediglich über diese delikaten Qualiciten verfugen. die uns in besonderen Momenten etwas verstehen lassen. was wir zuvor noch nie so verstehen konnten. 19
Begierd e Um ein Bauwerk klar und logisch aufzubauen, ist es notwendig, nach rationalen und objektiven Kriterien zu entwerfen.Wenn ich es zulasse, dass der sachliche Ablauf des Entwurfsprozesses immer wieder von subjektiven und unreflektierten Ideen durcheinander gebracht wird , anerkenne ich die Bedeutung persönlicher Gefühle beim Entwerfen. Wenn Architekten über ihre Bauten sprechen, passt dies oft nicht genau zu dem, was uns ihre Bauten erzählen. Vermutlich hängt das damit zusammen, dass sie viel über die durchdachten Aspekte ihrer Arbeiten sagen und wenig von den geheimen Leidenschaften zu erkennen geben, die ihre Arbeit wirklich beseelen. Der Vorgang des Entwerfens beruht auf einem ständigen Zusammenspiel von Gefühl und Verstand. Die Gefühle. die Vorlieben. Sehnsüchte und Begierden, die aufkommen und Form werden wollen. sind mit kritischem Verstand zu prüfen. Ob abstrakte Überlegungen stimmig
sind. sagt uns das Gefühl.
Entwerfen heisst zum grossenTeil verstehen und ordnen. Aber die eigentliche Kernsubstanz der gesuchten A rchitektur entsteht durch Emotion und Eingebung. denke ich. Die kostbaren Augenblicke der Eingebung stellen sich bei geduldiger Arbeit ein. Mit einem plötzlich auftauchenden inneren Bild, einem neuen Strich auf der Zeichnung scheint sich das ganze Entwurfsgebäude in Bruchteilen von Sekunden zu verändern und neu zu formieren. Es ist, als ob man mit einem Male die Wirkung einer seltsamen Droge verspürte. Alles, w as ich noch eben zuvor über das zu schaffende Objekt wusste, erscheint in einem hellen, neuen Licht. Ich empfinde Freude und Leidenschaft. und etwas in mir scheint zu sagen: «Dieses Haus will ich bauen!»
ln den Raum geschrieben Geometrie lehrt die Gesetzmässigkeiten der Linien. Flächen und Körper im Raum . Geometrie kann uns helfen zu verstehen, wie w ir in der Architektur 21
m1t dem Raum umgehen kennen. Die Architektur kennt zw ei grundsätzl iche Mögltch keiten der Raumbildung: den geschlossenen Korper. der in sei nem lnner n Raum 1sohert. und den offenen Korper. der einen mit dem unendlichen Ko ntinuum verbundenen Raumteil umschliesst. D 1e A usdeh nung des Raumes kann durch offen in die Tiefe des Raumes gese tzte oder gereihte Korper w1e Platten oder Stabe sichtbar gemacht werden. Ich nehme nicht tn Anspruch zu wissen, was Raum w irkli ch bedeutet. Je län ger ich uber das Wesen des Raumes nachdenke. des to geheimnisvo ll er erscheint er mir. Eines jedochweissich bestimmc:W enn w ir un s als A rchitekten mit dem Raum beschäfttgen. dann befassen w ir uns lediglich mit einem kleinen Teil dieser Unendlichkeit. die die Erde umgibt. A ber jedes Bauwerk bezeichnet e1nen Ort tn d1eser Unendlichkeit. M1t dieser Vorstellung zeichne tch die ersten Grundnsse und Schnitte meiner Entwürfe. Ich ze1chne raumliehe Diagramme und einfache Korper. Ich versuche. d1e erdachten Korper als prazise Objekte im Raum zu sehen, und es ist mir w tchttg zu spuren. wie sie aus dem Raum. der sie umgibt. einen Innenraum ausgrenzen oder w1e sie das unendliche RaumkontintJ um in der An eines offenen Gefasses einfangen. Gebäude, die uns beeindrucken. vermitteln uns immer ein sta rkes Gefühl für ihren Raum. Sie umschliessen diese geheimnisvolle Leere, die wi r Raum nennen. auf eine besondere Weise und bringen sie zum Schwingen.
P ra kti sche Ver nunft
Entwerfen hetsst erfinden. Damals, tn der Kunstgew erbeschule versuchten wtr, d1esem Gr undsatz nachzuleben. Wtr suchten fur Jedes Pro blem eme neue Losung AvantgardiStisch zu sein, war uns WIChtig. Spat er er st musste 1ch feststellen. dass es im Grunde nur wenige archi tektonisc he Probleme gtbt, fur dte ntcht schon fruher etnmal gultige Losungen gefunden wurden Im Ruckblick kommt mir meine Entw urfserziehu ng ahi storisch
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vor. Unsere Vorbilder waren die Pioniere und Erfinder des Neuen Bauens. Architekturgeschichte verstanden wir als Allgemeinbildung, die kaum in unsere Entwürfe einfloss. So erianden wir häufig das bereits Erfundene und versuchten uns vielfach am Unerfindbaren. Die hier geschilderte Art der Entwurfsausbildung hat ihre didaktischen Werte. Spätestens als praktizierender Architekt tut man jedoch gut daran, sich des immensen Wissens und der Erfahrung zu versichern. die in der Geschichte der Arch itektur enthalten sind. W enn wir diese in die Arbeit einbeziehen, denke ich. wird unsere Chance grösser, einen eigenen Beitrag zu leisten. Nun ist das Entwerien allerdings kein linearerVorgang. der aus der Architekturgeschichte heraus gleichsam logisch und direkt zu einem neuen Gebäude führen würde. Auf der Suche nach der Architektur. die mir vorschwebt, erlebe ich immer wieder diese schalen Momente der Beengung. Nichts, was ich kenne, scheint zu dem w passen, was ich will und von dem ich noch nicht weiss, wie es sein soll.ln diesen Situationen versuche ich mich von meinem architektonischen Schulwissen. das mich nun plötzlich behindert. zu befreien. Dieses Verfahren hilft. Mein Atem wird freier. Ich rieche die altbekannte Luft der Erfinder und Pioniere. Entwerfen is t nun auch wieder Erfinden. Der schöpferische Akt. in dem ein architektonisches Werk entsteht, geht uber geschichtliches und handwerklichesWissen hinaus.ln seinem Zentrum steht die Auseinandersetzung mit den Fragen der Zeit. Architektur ist im Moment ihrer Entstehung auf eine besonder e Weise mit der Gegenwart verbunden . Sie widerspiegelt den Geist ihrer Erfinder und gibt ihre eigenen Antworten auf die Fragen der Z eit, nämlich mit der Form ihrer Nutzung und Erscheinung. mit ihrem Verhältnis zu anderen Architekturen und mit ihrer Beziehung zum Ort, an dem sie steht. Oie Antworten auf diese Fragen, die ich als A rchitekt zu formulieren vermag, sind beschränkt. Unsere Zeit des Umbruchs erlaubt keine grossen 23
Gesten W1r alle teilen nur noch wemge gemeinsame W erte. auf die sich bauen liesse. Ich pladiere darum fur eme Architektur der p•·aktischen Vernunft. die ausgeht von dem. w as w1r alle noch kennen. verstehen und fühlen konnen. Ich berrachte d1e gebaute Weit genau und versuche mit meinen Bauten aufzunehmen. was m1r w ertvoll erscheint. zu korrigieren . was stört, und neu zu schaffen. was uns fehl t .
Melancholische W ah rn ehmung Ettore Seclas Film Le bal zeigt einen Tanzsaal. in dem die ganze Handlung stattfindet.Wenn 1ch m1ch ncht1g ennnere. hat der Film weder gesprochene D ialoge noch Szenenwechsel; es g•bt nur Mus1k und Menschen in Bewegung. Man s1eht immer denselben Saal. m den d1eselben Leute treten. um zu tanzen, wah rend d1e Zeit vergeht und die tanzenden Menschen älte•· werden . Im Zentrum des Films stehen die handelnden Personen. Aber es is t dieser Tanz.saal mit se1nem plattenbelegten Boden und seiner T äfelung. dem Treppenaufgang im Hmtergrund und der Lowenpranke auf der Seite. der die dichte Atmosphare des Films entstehen lasst. Oder sind es umgekehrt die Leute, die dem Raum d1ese eigenartige Stimmung verleihen? Ich stelle hier diese Frage. weil ich uberz.eugt bin, dass ein gutes Gebäude fahig sem muss. die Spuren des menschlichen Lebens zu absorbieren. und dass es dadurch emen besonderen Re1chtum annehmen kann. Naturlieh denke 1ch h1er an d1e Pa tma des Alters auf den Materialien. an die z.ahllosen klemen Schrammen m den Oberflachen. an den swm pf und bruchig gewordenen Glanz des Lackes und an die von der Abnutzung polierten Kanten. Aber wenn 1ch meine Augen schliesse und versuche. alle diese phys1schen Spuren und meme ersten Assoz.iationen ausser Acht zu lassen bleibt noch em anderer Emdruck. ein tieferes Gefuhl zuruck es ISt em Bewusstsem fur das Verstromen der Z e1t und em Gefuhl fur das menschl1che Leben. das s1ch an Orten und in Räumen vollzieht und 24
diese auf eine besondere Weise auflädt. Die ästhetischen und prakt ischen Werte der Architektur werden nun zweitrangig. Ihre stilistische oder historische Bedeutung hat in diesem Moment keine W ichtigke it mehr. Was jetzt zäh lt. ist allein dieses melancholische Gefü hl. das mich er·greift. A rc hitektur ist dem Leben ausgese tzt. Ist ihr Korper em pfi ndlich genug, kan n sie eine Q ualität entwickeln, die die W irklichkeit des verga ngen en Lebens verbürgt.
Hi nter sic h gelassene Schri t t e Wenn ich an einem Entw urf arbeite, lasse ich mich vo n erinner-ten Bildern und Stimmungen leiten. die ich mit der gesuchten A rchitektu r in Verbindung bringen kann. Die Bilder, die mir einfallen, gehen in der Mehrzah l auf meine persönlichen Erlebnisse zuruck und sind deshalb nur selten mit einem erinnerten architektonischen Kommentar versehen. W ährend ich entwerfe, versuche ich herauszufinden, was sie bedeuten, um daraus zu lernen , wie man bestimmte bildhafte Formen und Stimmungen erzeugt. Nach einer gewissen Z eit nimm t das Entwurfso bje kt in der Vorstellung bestimmte Eigenschaften der verw endeten Vorbilder an. Und wen n es gel ingt, diese Eigenschaften sinnvoll zu Liberiagern und mit einander zu verschränken, gewinnt das Objekt Reichhal t igkeit und Tiefe. Um diese W irkung zu erreichen. müssen die Eigenschaften, die ich in den Entwurf ei nbr·inge, mit der konstruktiven und formalen Strukt ur des fertigen Hauses widerspru chslos verschmelzen . Form und Konstrukt ion, Erscheinung und Fu nktion können nun nicht mehr venemander getrennt werden. Sie gehö ren zusammen und bilden ein Ganzes. jetzt bet rachten wrr das Bauwerk. U nser Blick. vom analytischen Versta nd geleitet, schweift ab und sucht sich an Einzelheit en fesczuhalten. Aber die Synthese des Ganzen gewährt kein erschöpfendes Ver ständnis im Einzelnen. Alles verweist auf alles. 26
ln di esem Moment treten die ursprünglichen Motive des Entwurfes in den Hintergrund. Die Vorbilder. Worte und Vergleiche, die nötig waren, um das Ganze zu schaffen, verblassen . Sie erscheinen nun wie hinter sich gelassene Schritte. Der neue Bau steht im Zentrum und ist sich selbst. Seine Geschichte beginnt.
Wid erstand Ich glaube. dass sich die Architektur heute auf ihre ureigenen Aufgaben und Möglichkeiten besinnen muss. Architektur ist kein Vehikel oder Symbol für Dinge. die nicht zu ihrem Wesen gehören. ln einer Gesellschaft, die das Unwesentliche zelebriert. kann Architektur in ihrem Bereich Widerstand leisten, dem Verschleiss von Formen und Bedeutungen entgegenwirken und ihre eigene Sprache sprechen. Die Sprache der Arch itektur ist in meinen Augen keine Frage eines bestimmten Baustils. Jedes Haus wird für einen bestimmten Zweck, an einem bestimmten Ort und für eine bestimmte Gesellschaft gebaut. Die Fragen, die sich aus diesen einfachen Tatsachen ergeben, versuche ich mit meinen Bauten so genau und kritisch. wie ich kann , zu beantworten.
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D er harte Kern der Schönheit
Vor zwei Wochen habe ich zufallig in eine Radiosendung über den amerikanischen Dichter William Carlos Williams hineingehört. D ie Sendung trug den Titel: Der horte Kern der Schönheit. D ieser Sat z liess mich aufhorchen. Dass die Schönheit einen harten Kern hat, stelle ich mir gerne vor, und an Architektur denkend, kommt mir dieser Z usammenhang von Schönheit und hartem Kern vertraut vor. «Die Maschine ist ein D ing. das keine überflüssigen Teile hat», höre ich. soll W illiams gesagt haben. U nd ich glaube sofort zu wissen. was er damit mein t. Es ist ein Gedanke, den Peter H andke anspricht. denke ich. wenn er sinngernäss sagt, dass die Schönheit in den naturhaften, naturwüchsigen Dingen liege. die nicht von Z eichen o der Botschaften beseut sind, und dass er verst immt sei, wenn er den Sinn der D inge nicht selber entdecke. entdecken könne. Und dann erfahre ich weiter aus dieser Sen dung, die Poetologie von W illiams ber uhe auf der Anschauung, dass es keine Ideen gebe, ausser in den Dingen, und dass es in seiner Kunst darum gehe. die sinnliche W ahrnehmung auf die dingliche Welt zu richten, um sich diese anzuverwandeln. BeiWilliams,so sagt der Radiokommentat or,geschehe dies scheinbar emotions los und lakonisch und gerade deswegen entwickelten seine Texte eine derart starke emotionale Kraft. Was ich da höre. spricht mich an: Emotionen mit Bauwer ken nicht hervo rru fen wollen , sondern Emotionen zulassen, denke ich mir. U nd: Hart an der Sache selber bleiben, nahe am eigentlichen Wesen des D inges, das ich zu schaffen habe. und darauf vertrauen, dass das Bauwerk, ist es nur präzise genug fur seinen Ort und seine Funktion erdacht, seine eigene Kraft entw ickelt. die keiner kunstlerischen Z utat bedarf. 29
Der harte Kern der Schönheit: konzentrierte Substanz. Aber wo liegen die Kraftfelder· der Architektur, die ihre Substanz jenseits von Oberflächlichkeit und Beliebigkeit ausmachen? Itala Calvino berichtet in seinen Lezioni americane vom italienischen Dichter Giacomo Leo pard i, der· die Schö nheit eines Kunstwerkes. in seinem Falle die Schönheit der Literatur, im Vagen, im Offenen und Unbestimmten ans iedelt, weil es die Form fur vielfaltige Sinnerfüllungen offen hält. LeopardisAussage leuchtet zu nachst einmal ein. Dinge, Kunstwerke , die uns beruhren, sind vielschichtig, haben vrele, vielleicht unendlich viele Bedeutungsebenen, die sich überlagern und verschränken und die sich im Lichte der unterschiedlichen Betrachtungsweisen ver-ä ndern. Aber wie erreicht man diese Tiefe und Vielschichtigkeit in einem Bauwerk, das man als Architekt zu schaffen hat? Lässt sich das Vage und Offene entwerfen? Liegt hier nicht ein Widerspruch vor, zum Anspruch auf Genauigkeit. den der Ansatz von W illiam s zu implizieren scheint? Calvino gelangt anhand eines Textes des D ichters Leopandi, der dasVage fo rdert. zu einer überraschenden Antwor t: Er stellt fest. dass dieser Liebhaber des Unbestimmten sich in seinen Texten mit Akribie und Treue an die Din ge hält, die er beschreibt und beschreibend hervorbringen will, und kommt zum Schluss: «Dies also ist es, was Leopardi von uns verlangt, damit w ir die Schönheit des Unbestimmten und Vagen geniessen können! Er fordert eine äusserst genaue und pedantische Aufmerksamkeit bei der Komposition jedes Bildes, bei der minutrösen Definition der Details, bei der Wahl der Objekte, der Beleuchtung und Atmosphäre, um die erwünschte Vagheit zu erreichen.» Calvino schliesst mit dem scheinbar paradoxen Ausruf: «Der Dichter des Vagen kann nur der Dichter der Präzision sein!» Was mich an dieser Geschichte. die Calvino berichtet. interessiert, ist nicht die Aufforderung zur geduldigen Kleinarbeit und Präzis ion, die w ir alle kennen, sondern der H inweis darauf, dass Vielschichcigkeit und Reichtum aus 30
den Dingen selber sprechen. wenn wir sie genau erkennen un d zu ihrem Recht kommen lassen. Ins Architektonische gewendet, heisst das für mich. Kraft und Vielschichtigkeit aus der Bauaufgabe entwickeln, das heisst, aus den Dingen, die sie ausmachen oder eben: be-dingen. John Cage sagt in einer Vorlesung sinngemäss, er sei kein Komponist. der im Geiste Musik höre und dann versuche, diese aufzuschreiben. Seine Arbeitsweise sei eine andere. Er erarbeite sich Konzepte und Strukturen und lasse sie aufführen. um erst dann zu erfahren, wie sie tönen. Als ich diese Aussage las, ist mir in den Sinn gekommen, wie wir unlängst im Atelier ein Projekt für ein Thermalbad in den Bergen entwickelten, ohne uns zunächst einmal geistige Bilder für diese Bauaufgabe vorzugeben und diese dann auf unsere Bauaufgabe bezogen abzuwandeln, sondern wie wir versuchten. grundsätzliche Fragestellungen zu beantworten, die den Ort., die Bauaufgabe und die Baumaterialien- Berg.St ein.Wasser - betreffen und die zunächst nicht bildhaft waren. Erst nachdem es uns möglich geworden war. die Fragen an den Ort. das Material und die Bauaufgabe schrittweise zu beantworten, sind nach und nach Strukturen und Räume entstanden. die uns selber überraschten und von denen ich glaube, dass sie das Potenzial einer ursprünglichen Kraft haben. die hinter das Arrangieren von stilist isch vorgefertigten Formen z.urückreicht. Sich mit den Eigengesetzlichkeiten von konkreten Dingen wie Berg, Stein, Wasser auf dem Hintergrund einer Bauaufgabe zu befassen. birgt die Möglichkeit in sich. etwas vom ursprungliehen und gleichsam «zivilisatorisch unschuldigen» Wesen dieser Elemente zu fassen, zum Ausdruck zu bringen und eine Architektur zu entwickeln, die von den Dingen ausgeht und zu den Dingen zuruckkehrt.Vorbilder und stilistisch vorgefertigte Formvorstellungen kennen den Zugang hier nur versperren.
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Meine Schweizer Kollegen Herzog und de Meuron reden davon, dass es ich zitiere sinngernäss -die Architektur als Ganzheit heute nicht mehr gebe und sie deswegen künstlich , sozusagen im Kopf des Entwerfers, in einem Akt des Denkens. herzustellen sei. Die beiden Arch itekten leiten aus diesem Ansatz ihre Theorie der Architektur als D enkform ab, einer A rchitektur. die, so nehme ich an. ihre erdachte und somit künstliche Ganzheit auf eine besondere Weise reflektieren soll. Die Architektur als Denkform-Theorie dieser Arch itekten möchte ich hier nicht weiter verfolgen , wohl aber die dieser Anschauung zugrunde liegende Annahme, dass es die Ganzheit eines Bauwerkes im alten. baumeisterliehen Sinne heute nicht mehr gebe. Ich persönlich glaube an die sich selbst genügende, körperliche Ganzheit des architektonischen Objektes, wenn auch nicht als se lbstverstän dliche Gegebenheit, sondern als schwieriges, jedoch unabdingbares Ziel meiner Arbeit. Aber wi e ist es möglich, diese Ganzheit in der A rchit ektu r zu erreichen. in einer Zeit. in der das sinnstiftende Gottliehe fehlt und die W irklichkeit sich 1m Strom der vorüber ziehenden Bilder und Zeichen aufzulösen droht? Bei Peter Handke lese ich vom Bemühen. Texte. Beschreibungen Tei l der Umgebung werden zu lassen, von der sie handeln.Wenn ich seineAussagen richtig verstehe, begegnet mir h1er nicht nur das mir bekannte Bewusstsein von der Schwiengkeit. den in einem künstlichen Akt zu schaffend en Dingen ihre Künstl ichkeit zu nehmen und sie der W elt der alltäglichen und naturhaften D inge anzuverwandeln, sondern auch und einmal mehr der Glaube daran, dass die Wahrheit in den Dmgen selbst liegt. Ich denke, dass in künstlerischen Prozessen, die nach der Ganzheit ihrer H ervor bringungen streben, immer w ieder versucht wird, diesen eine Präsenz zu verleihen, wie sie den Dingen in der Natur oder in der gewachsenen Umgebung e1gen ist. 32
So verstehe ich gut. wenn Handke, der sich im selben Interview als ein Schriftsteller der Orte bezeichnet, von seinen Texten verlangt: «D ass da keine Z utat passiert, sondern eine Erkenntnis der Einzelheiten und deren Verknüpfung zu einem ( ... ) Sachverhalt.» Das Wort Sachverhalt, das Hand ke hier wählt, erscheint mir erhellend im Hinblick auf das Ziel, ungekünstelte, ganzheitliche D inge zu schaffen: Genaue Sach-Verhalte herstellen. Bauwerke als Sach-Verhalte denken, deren Einzelheiten richtig erkannt und in ein sachliches Verhältnis zueinander gebracht werden müssen. Ein sachliches Verhältnis. Was hier aufscheint, ist die Reduktion auf die Sachen und D inge, die sind. Handke spricht in diesem Zusammenhang auch von der Treue zu den D ingen. Er möchte, so sagt er, dass seine Beschreibungen als Treue zum Ort, den sie beschreiben, erlebbar sind und nicht als zusätzliche Färbung oder Farbigkeit. Säue dieser Art helfen mir, mich mit der Unlust abzufinden, die mich häufig überkommt, wenn ich neuere Architektur anschaue. Immer wieder begegne ich Bauten, die mit A ufwand und dem Willen zur besonderen Form gestaltet sind, und bin verstimmt. Der Architekt, der das Ding gemacht hat, ist zwar nicht anwesend, aber spricht zu mir oh ne Unter lass aus jedem D etail des Gebäudes. und er sagt mir immer das Gleiche, das mich doch so rasch nicht mehr interessiert. Gute Architektur sollte den Menschen aufnehmen, ihn erleben und wohnen lassen, nicht ihn beschwatzen. Warum, denke ich oft,wird das Naheliegende, Schwier-ige so selten versucht? Warum begegnet man in jüngeren Architekturen so wenigVertrauen in die ureigensten D inge. die A rchitektur ausmachen: Material, Konstruktion. Tragen und Getragenwerden, Erde und Himmel, und Vertrauen in Räume. die wirkliche Räume sein dürfen; Räume. zu deren raumbildender Umhüllung und raumprägender Stofflichkeit, zu deren Hohlform, deren Leere, Licht, Luft, Geruch.A ufnahmef.ihigkeit und Resonanzfähigkeit man Sorge trägt?
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Personlieh stelle ich mir gerne vor, Hauser zu emwerien und zu bauen. aus denen ich mich als Encwerier am Ende des Bauprozesses gleichsam zurückziehe und dabei ein Bauw erk zurücklasse. da s sich selber ist, das dem Woh nen dient als Teil derWeltder Dinge. das ohne meine personliehe Rhetorik auskommt. Es gibt für mich ein schönes Schweigen von Bauten. das ich verbinde mit Begnffen w1e Gelassenheit, Selbstverstandlichkeit, Dauer, Prasenz und Integrität, aber auch W ärme und Sinnlichkeit: sich se lber sein, ein Gebäude sein, nicht etwas darstellen. sondern etwas sein.
Say that it is a crud e effect. black reds. Pink yellows, orange whites. too much as t hey are To be anything else in ehe sunlight of ehe room ,
Too much as they are co be changed by mecaphor. Too actua l, th ings that in being real Make any imaginings of them lesser things.
Dies ist der Anfang des Gedichtes Bouquet of Roses in the Sunlighc des amerikanischen «Lyrikers des stillen Schauens». Wallace Stevens. Wallace Stevens, so lese ich im Beglei ttext zum Gedichtband. hat sich der Herausforderung gestellt, lange. geduldig und genau hinzuschauen und die D inge zu entdecken. ganz zu verstehen . Seine Gedichte sind nicht Protest oder Klage um d1e verlorene Ordnung, auch nicht Ausdruck einer Verscorung. sondern sie suchen eine dennoch mögliche Harmon ie, die m seinem Falle - nur die des Gedichtes sein kann. (Calvino argumentiert ahnlich. wenn er sagt. dass er dem Verlust an Fo rm. den er überall konstatiert. nur eine einzige Abwehr entgegenzusetzen habe: eine Idee der Literatur.) 34
Für Stevens ist die Realität das gesuchte Ziel. Der Surrealismus, so wird er· zitiert, beeindrucke ihn nicht, denn er erfinde, ohn e zu entdecken. «Eine Muschel Akkordeon spielen zu lassen, heisst erfinden, nicht entdecken». sagt er. Hier erscheint er noch einmal, dieser Grundgedanke, den ich von W illiams und Handke zu kennen glaube und den ich auch aus den Bildern Edward Hoppers herauszuspüren vermeine: Nur zwischen der Wirklichkeit der Dinge und der Imagination zündet der Funke des Kunstwerkes. Wenn ich den eben zitierten Satz ins Arch itektonische übersetze, sage ich mir: Nur zwischen der Wirklichkeit der Dinge, von denen ein Bauwerk handelt. und der Imagination zündet der Funke des geglückten Bauwerks. Und der Satz ist mir keine Offenbarung, sondern Bestätigung einer Erfahrung. die ich in meiner Arbeit immer wieder mache. und Bestätigung eines Wollens. dessen Wurzeln in mir se lber zu liegen scheinen. N un nochmals die Frage: Wo finde ich die Wirkl ichkeit. auf die ich meine Einbildungskraft richten muss. wenn ich versuche. ein Gebäude für einen bestimmten Ort und Zweck zu entwerfen? Ein Schlüssel zur Antwort auf diese Frage liegt in den Wörtern Ort und Zweck. glaube ich. ln seinem Aufsatz «Bauen Wohnen D enken» sagt Martin Heidegger: «Der Aufenthalt bei den D ingen ist Grundzug des Menschseins», was ich so verstehe, dass wir uns niemals in einem Abstraktum, sonder n immer in einer Dingwelt befinden, auch wenn w ir denken. Und weiter lese ich bei H eidegger: «Der Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zu den Räumen beruht im Wohnen.» Der BegriffWohnen, so weit gefasst w ie das H eidegger tut als Leben und Denken an Orten und in Räumen, enthält einen genauen Hinweis auf das, was Wirklichkeit für mich als Architekt bedeutet. Es ist nicht die Wirklichkeit der von den D ingen abgelösten Theor ien, es ist die Wirklichkeit der konkret en Bauaufgabe, die auf dieses Wohnen zielt, 36
die mich interessiert, auf die ich meine Einbildungskraft richten w ill. Es ist die Wirklichkeit der Baumaterialien - Stein. Tuch, Stahl, Leder ... - und die Wirklichkeit der Konstruktionen, die ich verwende, um das Bauwerk aufzurichten, in deren Eigen schaften ich mit meinerVorstellungskrafteinzudringen versuche, um Sinn und Sinnlichkeit bemüht, damit vielleicht der Funke des geglückten Bauwerkes zündet. das den Menschen zu behausen vermag. Oie Wirklichkeit der Ar·chitektur ist das Konkrete, das Form-, Masse- und Raumgewordene, ihr Körper. Es gibt keine Idee, ausser in den Dingen.
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Von den Leidenschaften zu den Dingen
Es ist mir wichtig, über A rchitektur nachzudenken, Di stanz zu nehmen von der tagliehen Arbeit, zurückzutreten und zu schauen, was ich mache und warum ich es so mache. Ich liebe das und brauche es wohl auch. D enn ich bin kein Architekt. der von der Theorie ausgeht, der von einem theoret isch umrissenen Standort aus sozusagen in die Architekturgeschichte hinein entwirft, sondern ich bin vielmehr dem A rchitektur-Machen, dem Bauen, dem perfekt gemachten D ing verfallen, so w ie ich als Junge meine Dinge, die einer innern Vorstellung zu genügen hatten, gemacht habe. D inge, die so und nicht anders sein konnten, aus Gründen, die ich eigentlich nicht kenne. Es gab nur immer schon dieses sehr persönliche Gefühl für die Gegenstände. die ich fur mich herstellte, die andere Menschen herstellen. Dieses Gefühl ist mir nie als etwas Besonderes aufgefallen. Es war einfach immer da. Heute w eiss ich, dass ich in mein er Arbeit als Architekt im Grunde diesen frühen Leidenschaften, vielleicht sogar Obsessionen nachspüre, sie besser zu verstehen un d zu verieinern versuche. Und wenn ich mir heute überlege. ob seit meiner Jugend nicht doch auch neue Bilder und Leidenschaften zu den alten getreten sind. so will mir scheinen, ich hätte den gefühlsmässigen Kern des neu Entdeckten irgendwie schon immer gekannt.
Orte Ich arbeite in Graubünden. in einem Bauerndori, umgeben von Bergen, arbeite aus diesem Ort heraus. wohne dort. Manchmal frage ich mich. ob diese Tatsache meine Arbeit beeinflusst, stelle mir auch nicht ungern vor. dass dem so sein konnte. 39
Wurden meine Häuser anders ausschauen. wenn ich die letzten 25 Jahre nicht in Graubünden. sondern in meiner Jugendlandschaft am Juranordfuss mit ihren welligen Hügeln. Buchenwäldern und der vertrauten Nähe zur Urbanität der Stadt Basel gear beitet hätte? Sobald ich beginne. über diese Frage nachzudenken, merke ich, dass meine Arbeit von vielen Orten geprägt ist. Wenn ich mich auf einen bestimmten Ort konzentriere. für den ich zu entwerfen habe, wen n ich versuche. diesen Ort auszuloten. seine Gestalt, seine Geschichte und seine sinnlichen Eigenschaften zu begreifen, dann beginnen in diesen Prozess des genauen Hinschauens schon bald Bilder von anderen Orten einzudringen: Bilder von Orten, die ich kenne. die mich einmal beeindruckt haben. Bilder von alltäglichen oder besonderen Orten. deren Gestalt ich als Inbil d bestimmter Stimmungen und Qualitäten in mir trage; Bilder von Orten oder architekt onischen Situationen auch, die aus der Welt der bildenden Kunst. des Films. der Literatu r. des T heaters, stammen. Sie fallen mir zu. diese anderen, auf den ersten Blick oft unpassenden oder fremden Orts-Bilder unterschiedlichster Herkunft. Oder ich zwinge sie herbei. Ich brauche sie. Erst w enn ich im Geiste in den konkreten Ort einstrahlen lasse. was diesem ähnlich, verwandt oder zunächst fremd ist, entsteht dieses vielschichtige und t iefenschade Bild des Lokalen. das Bezüge freilegt. Kräftelinien erkennen lässt, Spannungen aufbaut; es entsteht der entwerferische Malgrund, das Netz der unterschiedlichen Wege der Annäherung an den Ort kommt zum Vorschein, was mir die Entscheid ungen des Entwerfens ermöglicht. So tauche ich in den Ort meines Entwurfes ein. spure ihm nach. und gleichzeitig blicke ich nach aussen, in die W elt meiner anderen Orte. Von Bauwerken. die an ihrem Ort eine besondere Präsenz entwickeln, habe ich oft den Eindruck. sie stünden unter einer inneren Spannung, die über
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den Ort hinausweist. Sie begrunden ihren konkreten Ort indem sie von der Welt zeugen. Das aus der Welt Kommende tst in ihnen eine Verbindung eingegangen mit dem Lokalen. Schöpft ein Entwurf alleine aus dem Bestand und der Tradition. wiederholt er das, was sein Ort ihm vorgibt, fehlt mir die Auseinandersetzung mit der Welr, fehlt mir die Ausstrahlung des Zeitgenössischen. Erzählt ein Stück Architektur nur Weltläufiges und Visionäres. ohne ihren konkreten Ort zum Mitschwingen zu bringen, vermisse ich die sinn liche Verankerung des Bauwerkes an seinem Ort. das spezifische Gewi cht des Lokalen.
Beobachtu ngen I Wir stehen um den Zeichentisch und reden uber ein Projekt, das ein Architekt verfasst hat, den wir alle schätzen. Ich finde das Projekt in verschiedener Hinsicht interessant, erwähne es in der D iskussionsrunde bestimmter Qualitäten wegen und füge dann noch bei. dass ich es vor einiger Zeit einmal - ohne das positive Vorurteil meiner Wertschätzung für den Projektverfasser - angeschaut habe und dabei feststellte, dass es mir als Ganzes eigentlich gar nicht gefallt. Wir erörtern die möglichen Gründe für meinen Eindruck, werden fündig in Einzelheiten. ohne aber zu einem Gesamturteil zu gelangen, bis dann einer der jungen Architekten aus der Run de sagt: Dieses Gebäude ist aus emwurfstheoretischen, konstruktiven und anderen Gründen interessant; das Problem ist , es hat keine Seele. Wochen später spreche ich mitAnnalisa beim Kaffee unter freiem Himmel uber Hauser, dte eine Seele haben. Wir lassen viele Bauten, die wir kennen, Revue passieren. beschreiben sie uns gegenseitig. Wenn wir dabei auf Bauten stossen, die der gesuchten Qualität entsprechen, und uns das Besondere, das sie an sich haben. in Erinnerung rufen, merken wir, dass wir bestimmte Häuser lieben.Viele sind es nicht. die uns in den Sinn kommen. Und obwohl wir jew ei ls rasch w issen. welche in die gesuchte Kategorie gehören.
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tun wir uns schwer damit, die dafür massgebenden Merkmale auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Unser Versuch zu verallgemeinern, z.u abstrahieren, scheint den individuellen Bauten ihren Glanz, ihre Lebendigkeit zu nehmen. Da mich das Thema nicht loslässt, nehme ich mir vor, anhand von persönlichen Erlebnissen, in denen ich eine Beziehung zu meiner Arbeit sehe, kleine Beschreibungen, fragmentarische Annäherungen zu versu chen und mich dabei im Rahmen der Kategorien zu bewegen, mit denen ich arbeite, wenn ich mich um den Gehalt eines Bauwerks bemühe.
2 D ie Haupträume des kleinen Berghotels liegen an der breiten Seite des länglichen Baukörpers und schauen ins Tal. Zu ebener Erde befinden sich nebeneinander zwei holzgetäfelte Stuben, beide vom Gang aus zu betreten und untereinander durch eine Tür verbunden. Oie kleinere scheint zum bequemen Sitzen und Lesen einzuladen, die grössere ist offensichtlich der Raum , in dem gegessen wird: Darin fünfTische. alle schön plauien. lm mittleren Stock befinden sich Gästezimmer mit tiefen, schattigen Holzlauben davor und zuoberst Gästezimmer hinter offenen Balkonen. ln den oberen Zimmern würde mir der freie Himmel, der weite Ausblick zu den Bergketten am Horizont gefallen. denke ich, als wir uns dem Haus zum ersten Mal nähern. Aber auch die Vorstellung, eines der unteren Zimmer zu erhalten und die Intimität der Lauben am späten Nachmittag beim Lesen oder Schreiben zu geniessen, scheint verlockend. Am Fuss der Treppe. die von den 9beren Stockwerken zum Eingang hinunterführt. ist in der Stubenwand eine Öffnung angebracht. Eine Durchreiche fur Speisen. Auf dem Simsbrett der Durchreiche stehen am frühen Nachmittag Früchtekuchen und weisse Teller fur die Gäste bereit. Der Duft der frischen Kuchen überrascht uns. als wir die Treppe herunterkommen. Die Tür zum gegenüberliegenden Raum steht halb offen. Küchengeräusche dringen heraus. 43
Nach ein. zwei Tagen kennen w1r uns aus. Auf derjenigen Seite des Hauses, die an die grosse Wiese angrenzt. sind Liegestühle gestape lt. Drüben. 1m Halbschatten des Waldrandes bemerken wir in einem solchen Stuhl eine lesende Frau. Wir nehmen zwei Liegen und suchen uns auch einen Platz. Tagsüber setzen wir uns zum Kaffeetrinken meist an einen der Holzklapptische auf der schmalen Veranda vor· den Stuben. Die schmalen Holzbretter der Klapptische sind in regelmässigen Abständen an de r vorderen Brüstung der Veranda angebracht. Gut zum Lesen , diese kleinen, an die Brustung angeschmiegten Tisch-Orte. der Ellbogen ruht auf dem breiten Verandasims. Das Brett hat dafür die richtige Höhe. Bei den Gesprächen mit anderen Gasten des Hauses in der Dämmerung sitzen wir meist an einem der grösseren Verandatische . Diese sind an der Hauswand aufgereiht und geschützt durch die vorspringenden oberen Teile des Hauses. N ach dem Abendessen wird die Fenstertür zur Veranda geöffnet. man vertritt sich die Füsse, schaut ins Tal, trinkt noch etwas, kommt ins Gespr-äch und setzt sich hin in der N ähe der Wand. d1e noch warm ist von der Sonne des Tages. Nur einmal sitzen wir abends am grossen Ecktisch am unteren Ende der Veran da. der zum Eingangsbereich des Hauses gehört und der tagsüber mehrheitlich von Leuten benutzt wird, die zum Haus zu gehören scheinen. Den Stunden an jenem Tisch ging eine E1nladung voraus. dort nach dem Essen zusammenzukommen. Am Morgensonnentisch am anderen Ende der Veranda war ich nie. An den sonnigen Morgentagen sass dort meist jemand und las. Wenn ich an Gebäude denke. die mrr auf ungezwungene und natürliche Weise räumliche Situationen anbieten, die zum Ort, zum Tagesabla uf. zu meiner Tätigkeit und meinem Befinden passen, wenn ich mir Architektur vorstelle. dre m1r Raum zur Verfugung stellt. mich wohnen lasst. die meine Bedurfnisse vorausahne und sie ohne grosses Aufheben erfullt. dann kommt 44
mir dieses Berghaus in den Sinn. Gebaut hat es ein längst verstorbener Maler für sich und seine Gäste.
3 Aufgr und des ersten Eindruckes von aussen. bevor wir hineingingen, rechneten wir mit der Möglichkeit , etwas Besseres als die anderen Lokale an der Hauptstrasse des Touristenortes zu finden. Wir werden nicht enttäuscht. Durch den engen Windfang. der, wie sich herausstellt, in der Art eines Holzverschlages von innen vor die Eingangstür gebaut ist, betreten wir einen grossen Raum. saalartig. hoch, die Wände und Decken sind mit dunklem. matt glänzendem Holz verkleidet: Rahmen, Fü llungen, regelmässig gegliederte Paneele, Sockelleisten, Gesimse, profilierte Balkenumerzüge. die auf in Voluten auslaufenden Konsolen ruhen . Die Stimmung im Raum ist dunkel. solange sich die Augen nicht angepasst haben sogar düster. Der düstere Eindruck verliert sich rasch . das Licht im Raum wirkt nun mild.Tageslicht, das im Rhythmus der hohen Fenster einfallt . hebt Raumzonen hervor. während andere Tei le des Raumes, die nicht vom Abglanz des Tageslichtes auf der Täfelung profitieren. im Halbschatten liegen und zurücktreten. Der Saal hat in der Mitte der grossen Stirnwand einen Schwerpunkt. der meinen Blick schon beim Eintreten angezogen hatte: eine halbkreisförmige A usweitung des Raumes. eine Ausbuchtung der Aussenwand, so gross. dass fünfTis che. entlang der Wandrundung an die Fenster gerückt, gut in ihr Platz. finden. Der Fussboden in dieser raumhohen Nische liegt eine niedrige Stufe höher als der restliche Saalboden. Keine Frage, dort möchte ich sitzen. Zwei oder drei T ische in dieser Nische sind noch frei, drei sind besetzt. Oie Leute. die dort sitzen. ohne Zweifel gewöhnliche Gäste, kommen mir privilegiert vor. Wir zögern , entscheiden uns schliesslich für einen Tisch im fast leeren Hauptsaal,lassen uns dort aber doch nicht nieder. sondern gehen lange We-
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ge auf der Suche nach einer Bedienung. Nach einerWeile tritt ein Mädchen aus einer Tür in der Täfelung der Innenwand und führt uns gleich zu einem Tisch in der Nische. Wir setzen uns hin. Die leichte Irritation. hervorgerufen durch unser Eindringen in die vorhandene Gesellschaft der Gäste, klingt rasch ab. Wir rauchen unsere ersten Zigaretten und bestellen W ein. Am Nebentisch führen zwei Frauen ein angeregtes Gespräch. Oie eine spricht amerikanisches Englisch, die andere Schweizerdeutsch. Keine der beiden sp1·icht je ein Wort in der Sprache der anderen. Die Stimmen der Gruppe am übernächsten Tisch klingen angenehm entfernt. Ich schaue gelegentlich in die Runde und nehme allmählich die Stimmung auf. Ich geniesse es. im L1cht zu sitzen. eines der Fenster. die nun noch höher wirken. neben mir zu haben. in die abgedunke lte Weite des Saals zu schauen. Die Leute, mit ihren Gesprächen und Verrichtungen beschäftigt. scheinen gerne hier zu sein. geben sich naturlieh und fühlen sich bei gerade noch spürbarer Rücksichtnahme, die ihrer Haltung einen Anflug von Würde verleiht, durch die Anwesenheit der anderen nicht gestört. Ab und zu begegnet mein Blick ihren Gesichtern. und mit meinem eigenen Tun beschäftigt, weiss ich sie nicht ungern neben mir, in diesem Raum, in dem wir alle gut aussehen.
4 Wir fahren auf einer kalifornischen Küstenstrasse und finden schliesslich die Schule. die der Architekturführer ohne besonderen Nachdruck auflistet: weitläufige Pavillonstruktu ren auf einer grossen Abflachung des Geländes hoch über dem Pazifik. Kaum Bäume. durch die Grasnarbe druckt der karstige Fels. wenige Häuser in der näheren Umgebung. Asphaltierte Wege, überdeckt mit Betonplatten auf Stahlstützen. verbinden d1e meist emgeschossigen, aber hohen Trakte, deren flache Dachscheiben an vielen Stellen weit überstehen. W ir gehen durch die offenen Verbindungsgänge. Das Gefüge der Wege und Pavillonzeilen. die die Klassenzimmer zu enthalten scheinen, ist regelmässig. bricht dann aber
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plötzlich ab bei Gebäuden, deren besondere Funktion wir mehr erahnen als erkennen. Der Ort ist menschenleer. es ist Ferienzeit. Einen Blick in die Klassenräume zu werfen ist schwierig, ihre Fenster liegen hoch. Irgendwo steht ein grosses Metalltor ein klein wenig offen, das einen seitlichen Hofraum abschliesst, der zu einem Klassenzimmer zu gehören scheint. Hier gelingt uns ein Blick in den Raum mit den Tischen und der Wandtafel. Die Ausstattung ist nüchtern. Die Wände und der Boden zeige n Spuren intensiver Benutzung. Das hoch einfallende Tageslicht verleiht dem Raum eine Stimmung. die ich als mild und konzentriert empfinde. Schutz vor der Sonne. Schutz vor dem Wind, sinnvoller Umgang mit dem Licht. denke ich und weiss, dass ich damit längst nicht alle Besonderheiten dieser Architektur verstanden habe, weder ihre einfache bauliche Struktur zum Beispiel, die an industrielle Betonvorfertigung erinnert, noch ihre Grosszügigkeit oder das Fehlen von pädagogisch gedachten Verschönerungen, die ich von europäischen Schulhäusern kenne. Der Besuch hat sich gelohnt. Ich nehme mir einmal mehr vor, in meiner Arbeit an die einfachen und praktischen Dinge zuerst zu denken, sie gross. gut und schön zu machen, sie zum Anlass für die besondere Form zu nehmen, wie ein Baumeister, der sein Metier versteht.
5 Mit 18 Jahren. meine Lehrzeit als Möbelschreiner näherte sich dem Ende, baute ich mir meine ersten, selbst entworfenen Möbel. Normalerweise stellten wir in der Werkstatt Möbel her, deren Form und Konstruktion der Meister oder die Kunden bestimmten und die mir nicht gefielen. Auch das Holz, das wir für alle besseren Stücke verwendeten, gefiel mir nicht: Nussbaum. Fur meine Möbel wählte ich die helle Esche. und die einzelnen Stücke arbeitete ich so. dass sie von allen Seiten gut aussahen: hinten und vorne waren sie mit derselben Sorgfalt und mit dem gleichen Material verfertigt. Über den Brauch der Schreiner, Rückseiten von Möbeln etwas 47
billiger und weniger aufwendig auszufüh ren , weil sie ja sowieso niemand sieht. setzte ich mich hinweg. Endlich konnte ich nun auch die Kanten meiner Möbel nur ganz wenig abrunden, ohne korrigiert zu werden. Leicht und rasch fuhr ich mit dem Schleifklotz über die Kanten der fertig zusammengebauten Heizkörper. um ihnen die störende schneidende Schärfe zu nehmen und die Eleganz der feinen Linie zu erhalten. Die Ecken. in denen jeweils drei Kanten des Körpers zusammenlaufen, berührte ich mit dem Schleifklau kaum. Mit minimalen Fugen baute ich die Tür des kleinen Schranks in den Rahmen der Front, so dass sie mit einem sanften Reibungswiderstand und einem schwach wahrnehmbaren Luftgeräusch bündig schloss. Meine Gefühle bei jener Arbeit waren gut. Die präzisen Formen und satten Fugen herzustellen, versetzte mich in einen Zustand der Konzentration, und die fertig gestell ten neuen Möbel brachten etwas Frisches in meine Umgebung.
6 Unsere Vorstellung ist folgende: Ein länglicher, schmaler Block aus Basaltstein ragt gut drei Geschosse hoch aus dem Bod en. Der Block wird von allen Seiten her ausgehöhlt. bis nur noch eine Längsrippe in der Mitte. Querrippen und drei waagrechte Horizontalrippen stehen bleiben. Von der gedachten Masse des Blockes ist nun im Querschnitt betrachtet eine Art Baum, ein T mit drei Querstrichen. übrig geblieben: ein Steinobjekt am Rande der Altstadt. dunkel, fast scnwarz, matt glänzend - die Tragstruktur und RaumstruktUr eines dreigeschossigen Gebäudes, gegossen aus dunkel eingefärbtem Beton, fugenlos, mit Steinöl eingelassen, mit Oberflächen, die sich anfühlen wie Paraffin.Türgrosse Ausschnitte in den Rippen, Löcher im Stein. machen dessen Masse deutlich. Wir gehen sorgfaltig um mit dieser Steinskulptur, denn sie ist schon fast das ganze Haus. Das Fugenbild der Heizplatten. in denen sie gegossen wird. gestalten wir als feines Netz, das alle Oberflächen regelmässig überzieht, und 49
achten darauf. dass die Fugen. die beim abschnittsweisen Giessen des Betons entstehen, in diesem Netz aufgehen. D ünne Stahl rahmen , die wie Klingen in der Mitte der Türleibungen aus dem Steine vorspringen. halten die Türflügel. Leichte Glas- und Metallpaneele setzen wir von aussen zwischen die Konsolen der Geschossplatten,damit die Zwischenräume zwischen den Rippen zu Räumen, zu verglasten Veranden werden. Unsere Auftraggeber finden die Art und Weise. wie wir die Materialien einsetzen wollen , wie wir die Fugen und Übergänge von Bauteil zu Bauteil entwickeln. die Genauigkeit im Detail, die wir erreichen wollen, zu aufwendig. Sie möchten, dass wir mehr auf allgemein übliche Bauteile und Konstrukt ionen zurückgreifen und an die Handwerker und Techniker. die das Haus mit uns planen und bauen, nicht so hohe Anforderungen stellen - dass wir billiger bauen. Wenn ich mir die Ausstrahlung des Hauses am Ort, für den wir es erdacht haben, in fünf Jahren, in fünf Jahrzehnten vorstelle. wenn für alle Leute, die dem Haus in irgendeiner Form begegnen. nur noch zählt, was gebaut ist , fällt es mir nicht so schwer, den Vorstellungen der Auftraggeber zu w iderstehen.
7 D en Saal mit der Sitznische in der Stirnwand, der mir so gut gefallen hat, dass ich darüber schrieb. habe ich später nochmals besucht. Ich war mir nicht sicher, ob die niedrige Stufe. die den Boden der Nische vom Hauptraum abhebt, tatsächlich existiert. Es gibt sie nicht. Auch die Unterschiede in der Helligkeit zwischen N isch e und Saal sind nicht so ausgeprägt wie ich mich an sie beim Schreiben zu erinnern glaubte , und die fade Helligkeit der Wandverkleidung hat mich enttäuscht. Diese Unterschiede zwischen der W irklichkeit und meiner Erinnerung haben mich nicht überrascht. Ich war nie ein guter Beobachter, wollte nie so r ichtig einer w erden. Ich nehme gerne Stimmungen auf, bewege mich 50
gerne in räumlichen Situationen, bin zufrieden , wenn ein gutes Gefühl, ein Eindruck zurückbleibt, aus dem ich später, wie beim intensiven Betrachten eines Bildes. Einzelheiten herauslesen und mi ch fragen kann. was wohl das Gefühl der W ärme. der Geborgenheit, der Leichtigkeit oder der Weite ausgelöst hat, das mir in Erinnerung blieb. Wen n ich so zurückblicke, lassen sich A rchitektu r und Leben, die räumliche Situation und was ich in ihr erlebte. nicht mehr trennen. Auch wenn ich mich nur auf die A rchitektu r konzentriere. versuche zu verstehen, was ich sah. schwingt das Erlebte mit und farbt das Gesehene ein. Und Erinnerungen an ähnliche Erfahru ngen dringen ein. Die Bilder verwandter architektonischer Situationen überlagern sich und verdichten sich gegenseitig. D ie Stufe in der Nische hätte sein können. Vielleicht war sie sogar einmal dort und wurde nachträglich entfernt? Oder· wenn sie nie dort war. müsste man sie vielleicht einbauen, um den Raum zu verbessern? Jeut bin ich schon wieder Architekt, und ich merke, wie gern ich mi t diesen offenen Bildern arbeite und wie sie mir helfen. das Gesuchte zu finden.
SI
Der Körper der Architektur
Beobachtungen 1
Der Kurator des Museums macht ein Interview mit mir. Mit klugen und
überraschenden Fragen versucht er. mich auszuhorchen. Wie ich über Architektur denke. was mir bei meiner Arbeit wichtig ist, soll deutlich werden. Das Aufnahmegerät läuft. Ich tue mein Bestes. Am Schluss des Interviews bin ich mit meinen Antworten nicht so richtig zufrieden. Später am Abend unterhalte ich mich mit einer Freundin über den jüngsten Film von Aki Kaurismäki.lch bewundere die Sympathie und den Respekt, die der Regisseur seinen Filmfiguren entgegenbringt. Er hat seine Schauspieler nicht am Gängelband des Dirigenten, der mit ihnen ein Konzept zur Darstellung bringen will, sondern setzt vielmehr die Schauspieler selbst ins Bild. lässt uns ihre Würde. ihr Geheimnis spüren. Die Kun st Kaurismäkis verleiht seinen Filmen einen Ausdruck von Wärme. sage ich zu meiner Kollegin und weiss nun, was ich am Morgen gerne aufs Tonband gesprochen hätte. Häuser bauen zu können. so wie Kaurismäki Fi lme macht. das w äre schön.
2 Das Hotel, in dem ich wohnen soll, stammt von einem französischen Stardesigner, dessen Arbeit ich nicht kenne. weil mich trendiges Design eigentlich nicht interessiert. Aber schon beim Eintreten in die Hotelhalle beginnt seine Inszenierung, auf mich zu wirken. Kunstlicht erhellt die Halle wie einen Bühnenraum. Viel gedämpftes Licht. ln den Wandnischen auf den aus unterschiedlichen Natursteinen gearbeiteten Empfangspulten hat es helle Akzente . Wer die elegant sich abhebende Treppe zum umlaufenden Galeriegeschoss benützt, geht vor einer strahlenden Wand aus Blattgol d. Oben setzt man sich in eine der Balkonlogen. die auf die Halle hinunterschauen, 53
fur einen Drink. zum Essen. Es gibt nur gute Plätze. Christopher Alexander. der in Pattern Language von raumliehen Situationen spricht. die den Menschen mstinktiv behagen, ware wohlzufrieden.Ais Z uschauer sitze ich oben und fuhle mich gut als Tei l der Inszenierung des Designers. Es ist mir angenehm. auf den Bemeb m der Halle hinunterzuschauen, in der die Leute kommen und gehen, ihren Auftritt haben. Der Erfolg des Designers scheint mir verstandlich .
3 Sie habe ein klemes Wohnhaus von Frank Lloyd Wright gesehen, das sie sehr beeindruckt habe, sagt H. D ie Räume seien niedrig gewesen. klein und intim. Eine winzige Bibliothek habe es gehabt. mit einer besonderen Leuchte. und viele architektonische Verzierungen überall. und das ganze Haus habe diesen starken A usdruck von Horizontalität verm ittelt, wie sie es noch nie gesehen habe. und die alte Frau habe noch gelebt und das Haus bewohnt. Ich brauche
m1r das H aus nicht anzuschauen. denke ich. ich we iss. was sie
meint, kenne d1eses Gefühl für ein W ohnhaus.
4 Unserer Jury werden Bauten vorgelegt von Architekten. die sich um eine Auszeichnung für gute ArchitektUr bewerben. Ich studiere die D okumentation eines kleinen roten Holzhauses in ländlicher Umgebung. eine als Wohnhaus umgebaute Scheune. die von den A rchitekten und Bewohnern erweitert w urde. D ie Erweiterung ist gelungen. denke ich für mich. D er Baukörper unter dem Satteldach lässt den Anbau erkennen. wirkt gut modelliert und ganzheitlich. Die Fensteroffnungen sind mit Gefühl gesetzt. Alt und neu ist im Gleichgewicht. Die neuen Teile des Hauses scheinen nicht sagen zu wollen: «Ich bin neu». sondern vielmehr: «Ich bin Teil des neuen Ganzen.» Es ist nichts Spektakuläres oder Innovatives da, etwas. das ins Auge springen w ürde.Vom Pnnzip der Gestaltung her ist dies vielleicht eher eine altmodische. handwerkliche Haltung. Wir waren uns emig. dass man diesem Umbau keine Design-
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auszeichnung z.usprechen kann. Dafür ist er im architektonischen Anspruch zu besche1den.Troczdem denke ich gerne an das kleine rote Haus zurück.
5 ln emem Buch uber da s Bauen m it Ho lz w ecken Bilder von grossen Wasserflachen. auf denen dicht gedrängt riesige Felde1· von Baumstämmen schwimmen. mein Interesse. Auch das Bild auf dem Umschlag des Buches.eme Collage mitgeschnitt enen Holzern in querschnittartigen Schichtungen. spricht m1ch an. Die vielen abgebildeten Bauten aus Holz. obwohl von guter Qual itat, tun dies weniger. Die Zeit meiner eigenen Holzbauten liegt em1ge Jahre zuruck. «Wie wurdest du heute. nachdem du uber Jahre an Ba uten aus Stein und Beton. Stahl und Glas gearbei tet hast. ein H olzhaus bauen wollen?» fragt m1ch me1n junger Kollege Das Bild. von dem ich meine Antwort ableiten kann. 1st sofon da: Ein hausgrosser Block aus massivem Holz. ein dichtes Volumen aus der biologischen Masse Holz, waagrecht geschichtet, w ird ausgehehlt. mit raumhohen Nuten und prazisen Höhlungen versehen, wird zum Gebaude .. . «Und die Tatsache. dass der Körper des derart konstruierten Hauses. verursacht durch das Quellen und Schwinden des Holzes. seine Ausdehnung verandern wü rde, dass er sich bewegen würde , am Anfang betrachdlch an Hohe verl1eren wu r de. ware als Qual ität zu begreifen und im Entwurf zu thematisieren», sage ich.«ln meiner Muttersprache,auf Spanisch». g1bt mem Junger Kollege zur Antwo rt. «gibt es diese N ähe der W ö rter Holz. Mutter und Stoff: madero. modre. mateno. » W ir beginnen ein Gespräch uber d1e smnl1chen Eigenschaften und die kulturelle Bedeutung der primären Werkstoffe Holz und Stem und w ie wir diese in unseren Gebäuden zum A usdruck bnngen konnten .
6 Central Park Sout h. New York. Saal im obersten Stock. Es ist Abend. Vor m1 r hegt das nesige Baumrechteck des Parks. eingerahmt von der auf-
ragenden, steinernen. erleuchteten Masse der Stadt. Grassartigen Städten liegen klare und grosse Ideen der Ordnung zugrunde, denke ich. Das rechtwinklige Strassenraster. die schräge Linie des Broadway, die Uferlinien der Halbinsel. ln den Planquadraten drängen sich die Gebäude, wuchern in die Höhe, individualistisch, selbstverliebt, anonym, rücksichtslos, gebändigt im Raster.
7 Etwas verloren steht die ehemalige Stadtvilla in der parkartigenWeite.Ais einziges Wohngebäude des Stadtteiles hat sie die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges überlebt. Schon lange als Botschaftsgebäude benutzt. wird die Villa nach den Plänen eines fahigen Architekten um einen Drittel ihres bisherigen Volumens vergrössert. Hart und selbstbewusst steht der neue Anbau zum Altbau. Hier Hausteinsockel, Fassadenstuck und Balustraden da ein zeitgenössisch reduzierter N ebenkörper aus Sichtbeton, kontrolliert im Zuschnitt des Volumens, das sich an den alten Hauptbau anlehnt, jedoch auf dialogischer Distanz zum Alten, was die Gestaltung betrifft. Ich muss an das alte Schloss in meinem Dorf denken. Viele Male wurde es über die Jahrhunderte umgebaut und vergrössert. Es entwickelte sich schrittweise aus freistehenden Bauten zur heutigen geschlossenen Anlage mit Innenhof. Und in jedem Bauzustand wurde wieder eine neue architektonische Ganzheit hergestellt. Geschichtliche Brüche wurden nicht gestalterisch thematisiert. Das Alte wurde dem Neuen angepasst oder das Neue dem Alten, weil man offenbar ganz selbstverständlich stets die in sich geschlossene Erscheinung des neuen Zustandes anstrebte. Erst wenn man ihre Substanz analysiert, den Putz entfernt und die Fugen in de n Mauern untersucht, geben diese alten Bauten ihre komplexe Entstehungsgeschichte zu erkennen.
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Ich betrete den Ausstellungspavillon. Noch einmal die Inszenierung
der schiefen Wände. schrägen Ebenen, locker und spielerisch miteinander 57
verbundenen Flachen, der Stäbe und Seil e. die hängen. lehnen. schweben, ziehen. spannen oder auskragen. Die Komposition verweigert den rechten Wmkel. sucht em Informelles Gleichgew icht. Arch itektur, die dynamisch w irkt, Bewegung symboli si ert. Ihre Gestik beansprucht den Raum, w ill wirken und angeschaut werden. Fur mich bleibt wenig Raum. Ich folge dem gew undenen Pfad, den die A rchit ektur vorgibt. Im nachst en Pavillon begegne ich der weit ausholenden, mit grossen Linien und Formen arbei t enden Eleganz der Bauten des brasilianischen Altmeist er s N 1emeyer. Einmal mehr wecken die grossen Raume, die Leere der riesigen Platzflachen auf den Fotos mein Interesse.
9 Am Str and des kleinen Badeortes in der Region Cinque Terre. vornehmlich besucht von Italienischen Gast en. tragen auffallend viele Frauen eine Tät ow ierung auf der Haut, erzählt mir A. Man versichert sich seines Körpers. setzt ihn ein. um die eigene Identität zu behaupten. Der Körper als Z uflucht in etner W ei t, die von künstlichen Zeichen des Lehens verste llt zu sein schemt. m der Philosophen über virtuelle Realitäten nachdenken. D er menschliche Körper als Gegenstand der zeitgenössischen Kunst. N ach Erkenntnis strebende Befragungen. Offenlegungen. oder der eigene Körper als Vers icherung eigener Identität. die nur noch glückt. wenn ich ihn im Spiegel oder mit den Augen der anderen sehe? Ich besuche den Raum mi t der Ausstellung von zeitgenössischen Architekturp roJekten aus Frankre ich. Glänzende Objekte aus Glas. kantenlose, sanft geformte Korper fallen m1r auf. Elegant gespannte Rundungen, die die geomemschen Grundvolumen der Objekte an bestimmten Stellen aufwölben, deren Umnsse m1ch an lange Lin1en in den Aktzeichnungen Rodins erinnern. verlerhen den Ob1ekten die Qualität von Skulpturen. Arch1tekturmodelle. Modelle. Schone Korper. Z el ebriert wird ihre Oberflache. rhre Haut. H ermetisch und makellos umspannt sie die Körper.
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I0
Ein Glasabschluss unterteilt die Länge des schlanken Korr·idors des
alten Hotels. Ein Türflügel unten, ein festes Glas oben, keine Rahmen. die Gl äser an den Eckpunkten zwischen zwei Metallplatten festgeklemmt und gehalten. Eine gewöhnliche Ausführung, nichts Besonderes. Sicher keine Gestaltung einesArchitekten.Aber· die Tür gefällt mir. Sind es die Proportionen der beiden Gläser, die Form und Position der Beschläge auf dem Glas, der Glanz des Glases in der abgedämpften Farbigkeit des düsteren Ganges oder ist es die die Höhe des Ganges sichtbar machende Tatsache, dass das obere Glasfeld viel höher ist als der normal hohe Türflügel darunter. was mir gefallt? So r ichtig finde ich es nicht heraus.
I I Man zeigt mir Fotos eines komplex geformten GebäudesVerschiedene Felder, Ebenen und Volumen scheinen sich zu überlagern. stehen schief und gerade. sind ineinander verschachtelt. Das Gebäude, dessen ungewöhnliche Erscheinung mir keine direkten Hinweise auf seine Funktion gibt, macht auf mich einen seltsam überladenen und gequälten Eindruck. Es kommt mir irgendwie zweidimensional vor. Für einen Moment ,glaube ich. Aufnahmen eines bunt bemalten Kartonmodells vor mir zu haben. Später erfahre ich den Namen des Architekten. und mich durchzuckt ein kurzer Schrecken. Habe ich mich getäuscht. aus Unkenntnis voreilig geur·teilt? Der Architekt trägt einen international klingenden Namen. Seine sti lvollen Architekturzeichnungen sind bekannt, und seine schriftlichen Äusserungen zur Architektur der Gegenwart. die auch phi losophische Themen behandeln, das weiss ich. werden häufig publiziert.
12 Wir besuchen eine Stadtvilla in Manhattan. Sie hat eine gute Adresse und ist soeben fertig geworden. Die neue Fassade in der Strassenflucht ist nicht zu übersehen. Auf den Fotos wirkte der von Glas umrahmte Schild aus N atursteinplatten kulissenhaft. Nun, in Wirklichkeit, erscheint die Fassa60
de ganzheitlicher, mehr gebunden und in die Umgebung eingebunden. Meine Gewohnheit, das, was ich sehe, kritisch zu kommentieren, erlischt beim Betreten des Hauses. Die Qualität, mit der das Haus gebaut wurde , nimmt mich sofort gefangen. Der Architekt empfängt uns, führt uns ins Vestibül und von Zimmer zu Zimmer. Die Räume sind grosszügig, die Abfolgen logisch. Man freut sich auf den nächsten Raum und wird nicht enttäuscht. Die Qualität des Tageslichts, das über die verglaste Rückfassade und ein Oberlicht über der Treppe einfallt, ist angenehm. Der intime Hinterhof, an den die Haupträume grenzen, wirkt von Geschoss zu Geschoss in die Tiefe des Hauses hinein. Der Architekt spricht mit freundschaftlichem Respekt von den Auftraggebern,den soeben eingezogenen Bewohnern, von ihrem Verständnis für seine Arbeit. von ihren Bedürfnissen, die er zu erfüllen suchte, von ihrer Kritik an unpraktischen Dingen, die er verbessern musste. Dabei öffnet er Schranktüren, senkt die grossen Markisen aus Gitterstoff, die den Wohnraum in ein mildes Lich t tauchen, führt uns Faltwände vor und bewegt riesige Schwingtüren, die sich an zwei Zapfenbändern geräuschlos bewegen und präzise schliessen.Ab und zu berührt er die Oberfläche eines Materials, fahren seine Hände über einen Handlauf. eine Fuge im Holz, eine Glaskante.
13 ln der Stadt, die ich besuche, gibt es ein schönes Quartier. Gebäude aus dem 19. Jahrhundert und der Jahrhundertwende, massive Körper entlang den Strassenzügen und Plätzen. a1.1s Stein und Ziegel gebaut. Nichts Aussergewöhnliches. Aber typisch städtisch. Die öffentlichen Lokale sind zur Strasse hin orientiert, die Wohnungen und Arbeitsräume dagegen ziehen sich hinter den Schutz der Fassaden zurück, verbergen die Sphäre des Privaten hinter repräsentativen Gesichtern, hinter anonymen Gesichtern, hinter klaren Abgrenzungen zum öffentlichen Raum, der hart am Fusspunkt der Fassaden beginnt. 61
Man hatte mir gesagt. dass viele Architekten in diesem Quartier wohnen und arbeiten. Daran wurde ich erinnert, als ich einige Tage später in der gleichen Stadt eine von namhaften Architekten geplante Stadterweiterung anschaute und an das eindeutige H in ten und Vorne urbaner Strukturen. an genau artikulierte öffentliche Räume, an vornehm zurückhaltende Fassaden und an passgenau zugeschnittene Bauvolumen für den Körper der Stadt denken musste.
14 Über Jahre arbeiten wir am Konzept. an der Form, an den Plänen für unser Therma lbad aus Stein. Dann wird es gebaut . Ich stehe vor den ersten Blöcken, die die Maurer mit den Steinen aus dem nahe gelegenen Steinbruch aufgemauert haben. Ich bin überrascht und irritiert. A lles entspricht zwar genau unseren Plänen. Aber diese harte und zugleich weiche, diese glatte und felsähnliche, diese in vielen Grau- und Grüntönen schi llernde Prasenz der aus Steinplatten gefügten Quader habe ich nicht vorausgeahnt.
Fur einen Moment beschlei cht mich das Gefühl, unser Projekt ent-
gleite mir und verselbständige sich. weil es nun Materie wird und eigenen Gesetzmässigkeiten folgt.
15 Im Guggenheimmuseum sehe ich mir das Schaffen der Künstlerin Meret Oppenhe im an. Ihre hier versammelten A rbeiten sind in der Technik auffallend unterschiedlich. Ein durchgehender Stil ist nicht zu erkennen. Ihre Art zu denken, ihre A rt, die W elt zu betrachten und mit ihren Arbeiten in die Welt einzugreifen, empfinde ich jedoch als kohärent und ganzheitlich. So ist es wohl müssig, darüber nachzudenken. was die berühmte Pelztasse mit der aus Koh lestucken gefügten Sch lange verbindet. Jede Idee brauche ihre Form. damit sie wirksam wird. soll sie sinngernäss gesagt haben.
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Architektur lehren, Architektur lernen
Junge Menschen kommen an die Universität, wollen Architekten oder Architektinnen werden. wollen herausfinden. ob sie das Zeug dazu haben.Was vermittelt man ihnen zuerst ? Zunächst ist ihnen zu erklären. dass kei n Lehrer vor ihnen steht, der Fragen stellt, auf die er die Antwort schon im Voraus weiss. Architektur machen heisst, sich selber Fragen stellen, heisst. die eigene Antwort mit Unterstützung de r Lehrer annähern, einkreisen. finden. Immer wieder. Die Kraft eines guten Entwurfes liegt in uns selbst und in unserer Fähigkeit, die We lt mit Gefüh l und Verstand wahrzunehmen. Ein guter architektonischer Entwurf ist sinnlich. Ein guter architektonischer Entwurf ist klug. Architektur haben wir alle erlebt, noch bevor wir das Wort Architektur überhaupt kannten. Die Wurzeln unseres Arch itekturverständnisses liegen in unseren frühen Architektu rerfahrungen: Unser Zimmer, unser Haus, unsere Strasse, unser Dorf, unsere Stadt, unsere Landschaft - früh haben wir sie erfahren, unbewusst, und sie später verglichen mit den Landschaften. Städten und Häusern. die neu dazukamen. Die Wurzeln unseres Architekturverstän dnisses liegen in unserer Kindheit, in unserer Jugend; sie liegen in unserer Biographie. Die Studenten müssen lernen, mit ihren persönlichen biographischen Architekturerfahrungen als Grundlage des Entwerfens bewusst zu arbeiten. Die gestellten Entwurfsaufgaben sind so angelegt, dass sie diesen Prozess in Gang bringen. Wir fragen uns. was hat uns damals an diesem Haus, in dieser Stadt gefallen. beeindruckt, berührt - und warum? Wie war der Raum, der Platz 65
beschaffen, wie hat er ausgesehen, welcher Geruch lag in der Luft, wie haben meine Schritte in ihm geklungen, wie hat meine Stimme in ihm getönt, wie haben sich der Boden unter meinen Füssen. die T ürklinke in meiner Hand angefühlt. wie war das Licht auf den Fassaden. der Glanz auf den Wänden? War da ein Gefühl von Enge oder Weite, von Intimität oder Grösse? Bretterböden wie leichte Membranen, schwere Massen aus Stein, weiche Tücher. polierter Granit, sanftes Leder, roher Stahl, poliertes Mahagoni. kristallines Glas. weicher Asphalt von der Sonnen gewärmt - die Materialien der Architekten , unsere Materialien. Wir kennen sie alle. Und wir kennen sie doch nicht. Um zu entwerfen. um Architekturen zu erfinden, müssen wir lernen. bewusst mit ihnen umzugehen. D as ist Forschungsarbeit; das ist Erin neru ngsarbeit. Arch itektu r ist immer konkrete Materie. Architektur ist nicht abstrakt, sondern konkret. Ein Entwurf. ein Projekt, aufgezeichnet auf Papier, ist nicht Architektur, sond ern nur eine mehr oder weniger mangelhafte Repräsentation von Architektur, vergleichbar mit den Noten der Musik. Die Musik bedarf der Aufführung. Architektur bedarf der Ausführung. Dann entsteht ihr Körper. Und dieser ist immer sinnlich. A lle Entwurfsarbeiten des ersten Jahreskurses des Architekturstudiums gehen von dieser körperlichen, gegenständlichen Sinnlichkeit der Architekturen, von ihrer Materialität aus. Architektur konkret erfahren, das heisst ihren Kö rper berühren, sehen. hören. r iechen. Diese Qualitäten entdecken und bewusst damit umgehen - das sind die Themen des Unterrichts. ln allen Übungen w ird mit wirklichen Materialien gearbeitet. Die Entwurfsarbeiten zielen immer direkt auf konkrete Gegenstände, Objekte, Installationen aus w irklichen Ma terialien (Ton, Stein, Kupfer, Stahl. Filz. Stoff, Holz, Gips, Z iegel . .. ). Kartonmodelle gibt es nicht. Ja eigentlich sollen gar keine « Modelle» im hergebrachten Sinn hergestellt werden, sondern konkrete Objekte, plastische Arbeiten in einem bestimmten Massstab. 66
Auch das Zeich nen von massstäblichen Plänen soll immer von einem konkrete n Objekt ausgehen. (Der in der professionellen Architekturwelt übliche Ablauf - Idee, Plan, Modell. kon kretes Objekt - wird umgekehrt.) Die konkreten Objekte werden zuerst geschaffen und dann massstäblich aufgezeichnet. Auch das Verständnis für die verschiedenen massstäblichen Dimen sionen der Architektur w ird an konkreten Objekt en eingeübt (z.B.: Massaufnahme eines Querschnittes oder Ho rizontalschnittes durch einen Strassenzug, Detailzeichnungen eines bestehenden Innenraumes usw.). Von den Arch itekturen. die uns geprägt haben. tragen w ir Bilder in uns. Diese Bilder können w ir im Geiste wieder entst ehen lassen und befragen. Aber daraus entsteht noch kein neuer Entwurf. keine neue Architektur. Jeder Entwurf verlangt nach neuen Bildern. Unsere «alten» Bilder können uns lediglich helfen. die neuen Bilder zu finden. D as Denken in Bildern beim Entwerfen ist immer ganzheitlich. Denn das Bild zeigt naturgernäss immer das Ganze des ins Auge gefassten Ausschnittes der erdachten Realität: Wand und Fussboden. D ecke und Materialien, LichtStimmung und Farbigkeit eines Raumes zum Beispiel. Und w ir sehen auch alle Details der Übergänge vom Fussboden zur Wand und von der Wand zum Fenster. ganz w ie im Kino. Sie sind allerdings häufig nicht einfach da, diese Bildelemente, wenn wir mit einem Entwurf beginnen und uns ein Bild des erdachten Objektes zu machen versuchen. Am Anfang des Entwurfsvorganges ist das Bild meist unvollständig. So versuchen wir unser Entwurfsthema immer wieder neu zu fassen und zu klären, um die fehlenden Teile in unser Bild einzuseuen. Oder anders ausgedrückt: W ir entwerfen. Die konkrete Sinnfalligkeit unserer vorgestellten Bilder hilft uns dabei. Sie hilft uns, uns nicht in der Dürre abstrakter theoretischer Annahmen zu verlieren, sie hilft uns, den Kontakt zu den konkreten Qualitäten der Architektur nicht zu verlieren. Sie hilft uns, 67
uns nicht in die graphische Qualität unserer Zeichnungen zu verlieben und diese mit wirklicher architektonischer Qualität zu verwechseln. Innere Bilder zu produzieren ist ein natürlicher Vorgang, den w ir alle kennen. Er gehört zum D enken. Assoziatives, wildes, freies, geordnetes und systematisches Denken in Bildern, in architektonischen, räumlichen. farbigen und sinnlichen Bildern - das ist meine liebste D efinition des Entwerfens. Das Denken in Bildern als Methode des Entwerfens würde ich den Studenten und Studentinnen gerne vermitteln.
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Hat Schönheit eine Form?
Die Aprikosenbäume gibt es. Die Farne gibt es; und Brombeeren. Aber Schönheit? Ist Schönheit eine konkrete Eigenschaft einer Sache. eines Objektes. beschreibbar und benennbar. oder eher ein Geisteszustand, eine Empfindung des Menschen? Ist Schönheit ein besonderes Gefühl, ausgelöst durch eine besondere Form. Gestalt oder Gestaltung, die wir wahrnehmen? W ie ist das Ding beschaffen, das in uns die Empfindung von Schönheit auslöst. dieses Gefühl, in einem bestimmten Moment Schönheit zu erfahren, Schönheit zu sehen? Hat Schönheit eine Form?
1 Musik unterbricht mein Schreiben. Peter Conradin spielt eine alte Aufnahme von Charles Mingus. Eine besondere Stelle hat meine Aufmerksamkeit geweckt , eine Stelle voller Intensität und von grosser Freiheit im ruhigen. fast naturwüchsigen Ausschwingen des langsamen Rhythmus', in dessen Puls das Tenorsaxophon eine warme und rauhe und unhastige Rede führt. die ich fast w örtl ich verstehe. Booker Erwin mit hartgepresstem Ton, schrill aber nicht spröde, porös geblasen bei aller Härte; trockene Pizzicat i im Bass von Mingus. kein erotisch fetter «gr oove», der entwaffnen und einnehmen will. Die Musik könnte. so gehört, eigentlich auch zickig t önen, denke ich. Tut sie aber nicht. Sie ist wunderbar. <
2 Ein Bild von Rothko. vibrierende Farbfelder. reine Abstraktion. Die Erfahrung handelt allein vom Sehen, ist für mich rein visuell, sagt sie. Andere 71
Sinneseindrücke wie Geruch oder Geräusch, das Material oder der Tastsinn spielen keine Rolle. Du gehst in das Bild. das du anschaust. hinein. Der Vorgang hat etwas mit Konzentration und Meditation zu tun. Es ist wie Meditation, aber nicht mit leerem. sondern mit vollem Bewusstsein. Die Konzentration auf das Bild macht Dich frei. meint sie, Du erreichst eine andere Ebene der Wahrnehmung.
3 Die intensive Erfahrung eines Momentes. das Gefühl des völligen Aufgehobenseins in der Zeit, das kein Bewusstsein für die Vergangenheit und die Zukunft zu kennen scheint, gehört zu vielen. vielleicht zu allen Schönheitsempfindungen. Etwas, das die Ausstrahlung von Schönheit hatte, hat in mir etwas zum Klingen gebracht. von dem ich nachher. wenn es vorbei ist. sage: Da war ich ganz bei mir und gleichzeitig ganz in derWelt, zuerst und für einen Augenblick mit stockendem Atem. dann vollständig eingenommen und versun ken, staunend, mitschwingend, erregt. ohne Anstrengung und auch ruhig. gebannt vom Zauber der Erscheinung, der mich traf. Gefühle der Freude. Glück. Das Antlitz eines schlafenden Kindes, das nicht w eiss. dass es betrachtet wird. Gelassene, ungestörte Schönheit. Nichts ist vermittelt. Alles ist sich selbst. Der Fluss der Zeit ist angehalten. das Erleben geronnen zum Bild. dessen Schönheit in die Tiefe zu weisen scheint. Für die D auer der Empfindung habe ich eine Ahnung vom wirklichen Wesen der Dinge. von ihren allgemeinsten Eigenschaften, von denen ich jetzt vermute, dass diese jenseits aller Kategorien des Denkens liegen.
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Das Renaissancetheater in Vicenza. Steile Ränge. Abgegriffenes Holz.
grosse Intimität. Ein starkes Gefühl für den Raum . Intensität . «Alles stimmt zusammen». sagt sie. «so erstaunlich, so überraschend. wie eine Hand. so natürlich.» 72
Und dann später die Villa auf dem Hügel: Sie ging durch die Landschaft und erblickte plötzliche ein Juwel, das ihr den Atem stocken liess. Das Gebäude strahlte, gehörte zur Landschaft und die Landschaft zu ihm, so sei es ihr vorgekommen.
S D ie Schönheit der Natur berührt uns als etwas Grosses, das über uns hinausweise. Der Mensch kommt aus der Natur und kehrt in sie zurück. Eine Ahnung vom Mass unseres Lebens in der Unermesslichkeit der Natur tauche in unserem Bewusstsein auf, wen n wir eine Landschaft, die wir nicht domeseiziert und auf unseren Massstab gebracht haben, als schön empfinden .Wir fühlen uns aufgehoben; bescheiden und stolz in Einem. Wir sind in der Natur, in dieser grossen Form, die wir letztlich nicht verstehen und die Wir jeuc im Augenblick des gesteigerten Erlebens auch nicht zu verstehen brauchen, weil wir spüren, dass wir selbst ein Teil von ihr sind. Ich schaue in die Weite der Landschaft; ich blicke auf den Horizont des Meeres, schaue in die Masse des Wassers; ich gehe über die Felder hinüber zu den Akazien, ich betrachte die Blüten des Holunders, den Wacholderbaum. Ich werde ruhig. Sie schwimmt im sizilianischen Meer, taucht für eineWeile uncerWasser.lhr Stockt der Atem. Ein riesiger Fisch schwimmt dicht an ihr vorbei; lautlos, scheinbar unendlich langsam. Seine Bewegungen sind gelassenen und kraftvoll und elegant und von einer Jahrtausende alten Selbstverständlichkeit.
6 Sie liebt schöne Damenschuhe. Sie bewundert ihre Machart, das Material und vor allem ihre Form, die Li nien; sie schaut sich Schuhe gerne an, nicht am Fuss , sondern a ls Objekte, deren Form passgenau aus den NotWendigkeiten des Gebrauchs hervorgeht und deren Schönheit diese praktischen Anforderungen auf eine Weise überhöht, die wiederum auf den Gebrauch verweist: «Brauch mich, zieh mich an». sagen schöne Schuhe zu ihr. 73
Die Schönheit eines zweckhaften Objektes ist für mich die höchste Form der Schönheit, fügt sie bei.
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Die Schönheit eines von Menschenhand geschaffenen Objektes habe ich,
solange ich mich erinnern kann, immer als eine besondere Präsenz der Form erfahren. als ein selbstverständliches und selbstbewusstes Dasein, das dem Objekt eigen ist. Manchmal. wenn ein Objekt dieser Art sich in der Natur behauptet. sehe ich Schönheit. Dieses Bauwerk. Stadt, Haus o der Strasse. erscheine bewusst gesetzt. Es erzeugt einen Ort. Dort, wo es steht. gibt es ein Hinten und Vorne,gibt es ein Links und ein Rechts, gibt es Nähe und Entfernung, ein Drinnen und Draussen, gibt es Formen der Fokussierung. der Verdichtung oder der Bearbeitung der Landschaft. Es entsteht Umgebung. Das Objekt und seine Umgebung: Ein Zusammenklingen von Natur und künstlich geschaffenem Werk, das anders ist als reine Naturschönheit- und anders als reine Objektschönheit. Architektur, die Mutter der Künste?
8 Sie steht in einer Gruppe von jüngeren Leuten, mehrheitlich Arch itekten. Es falle ein feiner Nieselregen; die Luft ist lauwarm. Die Männer und Frauen stehen im Hof einer Villa. Ihre aufges pannten Regenschirme und die langen. halboffenen Regenmäntel verleihen ihnen erwas weltstädtisch Elegantes. Das Tageslicht, das über der Gruppe liegt, ist mild. Eine hellgraue Wolken decke, die man auch für dichten Nebel halten könnte, ist von oben erleuchtet und strahlt nach unten. Das durchscheinende Licht verwandelt die feinen Tropfen des Regens in LichtpartikeL Die Landschaft ist von einem zarten Strahlen erfüllt. Die Gesichter der dastehenden Männer und Frauen wirken heiter. Ohne Eile, fast beiläufig. werden das herrschaftliche Landhaus, der Hof. die angrenzenden Wirtschaftsbauten, die Flügel der Gittertore. die offen stehen, betrachtet. Ab und zu blicke jemand in die hügelige Landschaft. Dampf steigt 75
auf. Die Pflastersteine im Hof, die Blätter der· Bäume, die G r·äser derWiesen glanzen. Man hält Ausschau, sucht einen Weg zur Villa Rotonda von Andrea Palladio. die hier ganz in der Nähe liegen soll. Die Szene ist ihr als Bild in Errnnerung geblieben. Sie hat darüber geschrieben.
9 Ich erinnere mich an Erfahrungen von Häusern. Dörfern. Städten und Landschaften, von denen ich heute sage, sie hätten mir den Eindruck der Schonheit vermittelt. Sind mir diese Situationen damals, als ich sie erlebte, auch schon schön vorgekommen? Ich glaube ja. aber ich bin mir nicht ganz sicher. Zuerst war wohl der Eindruck da. die Reflexion darüber kam später. Und ich weiss auch, dass mir bestimmte Dinge erst nachträglich schön geworden sind, durch spätere Anregungen, Gespräche mit Freunden oder bewusstes Durchforschen meiner noch nicht ästhetisch klassifizierten Erinnerungen.Auch Schönheit. die andere erlebt haben, kann ich nachempfinden und zu einem eigenen Gefühlseindruck werden lassen. wenn ich mir von der Schonheit, von der mir die anderen erzählen, ein Bild machen kann. Die Schonhei t erscheint mir immer in gefassten Bildern, in klar begrenzten Ausschnitten der Wirklichkeit, objekthaft, oder stilllebenartig, oder wie eine in sich geschlossene Szene, auskomponiert ohne eine Spur von Anstrengung oder Kunstlich keit. Alles ist so, wie es sein soll. alles ist an seinem Plau. Nichts stbrt. kein Zuviel an Arrangement, keine Kritik, keine Anklage. keine artfremde Absicht; kein Kommentar, keine Bedeutung. Die Erfahrung ist unwillkürlich.Was ich sehe. ist die Sache selbst. Sie nimmt mich gefangen. Das Bild. das ich sehe, w irkt w ie eine Komposition. die mir ausserordentlich natürlich und in dieser Eigenschaft dann aber auch gleichzeitig wreder sehr kunstvoll vorkommt.
I 0 Sre bregt um die Ecke des kleinen Schuppens und sieht zum ersten Mal das neue Gebäude. Uberrascht bleibt sie stehen, elektrisiert. Etwas in der 76
Art, wie das neue Pfeilergebäude dasteht, wie es gebaut ist aus porösem Stein und Glas und fein jährigem Holz und wie es mit den älteren Nachbarbauten zusammen einengrossen H ofraum bildet - der neue Körper mit ungeometrischer Genauigkeit ins Gleichgewicht der Massen und Materialien des O r tes gesetzt -, vermittelt ihr ein Gefühl von Anziehung und Ausstrahlung, von Energie und Präsenz. »Es war, wie wenn sich alles. was ich sah, in einem gespannten Zustand der Schwebe befunden hätte. Und der Körper des neuen Hauses schien zu vibrieren», beschreibt sie mir.
1 1 Er steht im Portal von St. Andrea in Mantua. Ein hoher Vor raum, Licht und Schatten, einzelne Sonnenstrahlen auf den Pilastern. Eine Welt für sich, nicht mehr Stadt, noch nicht der Innenraum der Kirche. Oben im Halbschatten. wo sich die gerneisselten Figuren und Gesimse im Dunkel verlieren, fliegen die Tauben, die ich häre, aber nicht sehe. Viel D unkelheit. Das eindringende Licht macht fein ste Staubpart ikel in der Luft sichtbar. Die Luft w irkt dicht, hat fast taktile Qualität. Es kam mir vor, als hätten sich die D inge im Raum des Portals, in dem ich stehe, die ich mehr spüre als sehe, gegenseitig aufgeladen, als befanden sie sich in einem einmaligen Z ustand des Beieinanderseins, sagt er.
12 Schönheit ist eine Empfindung. D er Verstand spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Schönheit, die aus unserer Kultur hervorgeht und unserer Bildung entspricht, erkennen wir sofort, glaube ich.Wir sehen eine gefasste, zu einem Sinnbild verdichtete For m. eine Gestalt oder Gestaltung, die uns berührt, die die Eigenschaft hat, vieles, ja vielleicht alles in Einem zu sein: selbstverständlich, ru hig, gelassen, natürlich, würdevoll, tiefgründend, geheimnisvoll. anregend, aufregend. spannungsvoll... Ob die Erscheinung. die mich berührt, wirklich schön ist, ist an der Form selbst kaum je richt ig nachzuweisen. denn nicht die Form an sich, sondern 77
erst der Funke. der uberspnngt von ihr zu m1r, erzeugt d1e besondere Erregung und Tiefenscharfe des Gefuhls. die zum Schonheitserlebnis gehoren. Aber d1e Schonhe1t g1bt es. S1e tritt zwar eher selten auf und wenn sie auftritt. dann haufig an unerwarteten Orten. Und an anderen Orten. wo wir sie erwarten wurden . fehlt s1e. Aber die Schonheit g1bt es. Lasst c;1ch Schonhe1t entwerfen und herstellen? Wo sind die Regeln. die uns Schonheit für unsere Hervorbringungen garantieren? Uber Kontrapun kt, Harmonielehre. Farbenlehre. Goldener Schnitt und «Form folgt Funktion» Bescheid zu w1ssen. reicht nicht aus. Methoden und Hilfsmittel, diese schönen Instrumente. ersetzen weder die Inhalte, noch vermogen sie den Zauber der schonen Gestalt zu garantieren.
13 Meme Aufgabe als Gestalt er bleibt schw1erig. Sie hat mit Kunst und Gelingen. Intuition und Handwerk zu tun. Und mit Einlassl1chkeit . Sachlichkeit und A uchentiZitat. Um Schonhe1t zu erreichen, muss 1ch ganz bei mir sein. meine eigene Sache tun und keine andere, denn die besondere Substanz. die Schonheit erkennt und mit Gluck zu schaffen vermag. liegt in mir selbst. Andererseits muss ich die Dinge, d1e 1ch schaffen w ill. Tisch. Haus und Brücke, zu ihrem Recht kommen lassen. Ich glaube. Jedes gut geschaffene Ding hat ein ihm angemessenes Ordnungsgefuge. das seine Form bestimmt und zu seinem Wesen gehort. Dieses Wesentliche w1ll 1ch entdecken und bleibe darum be1m Entwerfen hart an der Sache selbst. Ich glaube an eine Genauigkeit der A nschauung. an emen Wahrheitsgehalt der realen s1nnlichen Erfahrung. die Jenseits von abstrakten Meinungen oder Ideen liegen. Was will d1eses Haus werden. als Objekt des Gebrauchs. als smnlicher Körper. m1t Macenal gefugt und fest konstruiert. als Gestalt. zur Form gebracht, die dem Leben d1ent? So frage 1ch mich und frage weiter : Was will dieses Haus sem. fur se1nen O rt 1n der N ebenstrasse der Stadt. in der Vorstadt.
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in der geschundenen Landschaft, am HLigel vor den Buchen, in der Anflugschneise. im Licht des Sees, im Schatten des Wa ldes?
14 «Die Aprikosenbäume gibt es. die Aprikosenbäume gibt es I Die Farne gibt es; und Brombeeren und Brom ...» DenAnfang dieses Aufsatzes wie auch den gleich nachfolgenden Schluss verdanke ich der Ly rikerin lnger Christensen, die mit diesen Wor·ten ihr mit «Alphabet» überschriebenes Gedicht beginnt; eine Dichtung, nachgebaut dem ins Unendliche ansteigenden Rhythmus der· Fibonacci-Zahlenreihe. eine Verdichtung aus Wörtern. in der sie sich der Welt versichert und dabei Partikel freilegt. die funkeln und irritieren.
«Die Junmacht gibt es. Die Juninacht gibt es ... und kerner rn diesem fliegenden Sommer. keiner begreift dass es den Herbst gibt, den N achgeschmack und das Nachdenken gibt, nur die schw indelerregenden Reihen dieser rastlosen U ltrageräusche gibt es und das Jadeohr der Fledermaus, dem tickenden Dunst zugewandt; nie war die Neigung des Erdballs so herrlich, niemals die zinkweissen N ächt e so w eiss ... »
Am intensrvsten, das kommt m ir beim Lesen dieser Ze ilen in den Sinn, strahlt die Schonhert, die aus dem Mangel hervorgehe. Ich vermisse etwas, eine Stärke des Ausdrucks, ein Mitgefühl, das mir in einer Schönheitserfahrung unvermittelt entgegentritt und von dem ich. bevor ich es erfuhr, noch nrcht oder nicht mehr wusste, dass es mir fehlte und von dem ich jetzt wieder zu wissen glaube, dass es mir immer fehlen w ird. Sehnsucht. Im Schönheitserlebnis wird mir ein Mangel bewusst. Das, was ich erfahre, das.
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was m ich berührt. enthält beides: Freude und Schmerz. Es schmerzt der Mangel und es beglückt die anrührend Form. die schon e Gestalt. die sich am Gefü hl des Mangels entzündet. Oder mit den Worten d es Schriftstellers Martin Walser: «Je mehr einem fehle, desto schöner kann werden. was man , den Mangel zu ertragen. mobilisieren muss.»
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Die M agie des Realen
Es gibt die Magie der Musik. Die Sonate beginnt. eine erste fallende Melodielinie der Bratsche, das Piano setzt ein. und schon ist sie da, die Berüh rung; die Atmosphäre aus T ön en, die mich umfangt und berührt, die mich in eine besondere Stimmung versetzt. Es gibt die Magie der Malerei und des Gedichts. des Films, der Wörter und Bilder. es gibt den Zauber der funkelnden Gedanken. Und es gibt die Magie des Realen, des Stofflichen, des Körperhaften . der Dinge, die mich umgeben, die ich sehe und berühre. die ich rieche und höre. Manchmal, in bestimmten Momenten. ist dieser Zauber, den eine bestimmte architektonische oder landschaftliche Umgebung. ein bestimmtes Milieu auf mich ausübt, plötzlich da, hat sich eingestellt. wie ein langsames Wachstum der Seele. das ich zunächst gar nicht bemerke. Es ist Gründonnerstag. Ich sitze in der langen Loggia der Tuchhalle.Vor mir das Panorama des Platzes mit Häuserfront, Kirche und Monumenten. D ie Wand des Cafes im Rücken. Die richtige D ichte von Menschen. Ein Blumenmarkt. Sonne. Es ist I I Uhr vormittags. Die gegenüberliegende Platzwand liegt im Schatten, wirkt angenehm bläulich. Wunderbare Geräusche: nahe Gespräche. Schritte auf dem mit Steinplatten belegten Platz. leichtes Gemurmel der Menge (keine Autos, kein Motor.enlärm), ab und zu entfernte Baugeräusche.Vögel, schwarze Punkte, fliegen, eifrig und freudig, so kommt es mir vor. ein kurzwelliges Linienmuster in die Luft. Die beginnenden Feiertage haben die Schritte der Menschen bereits verlangsamt. so scheint es. Zwei N onnen,lebhaft gestikulierend, gehen quer über den Platz; leichtfüssig, ihre Hauben wehen im Wind. Jede trägt eine Plastiktasche. Die Temperatur ist angenehm frisch und war m zugleich. Ich sitze auf einem gepolster83
ten Sofa aus bleichgrünem Samt. Die Bronzefigur auf dem hohen Sockel vor mrr auf dem Platz dreht mir den Rücken zu und schaut w ie ich auf die zweitürmige K11·che. Die zwei Türme der Kirche haben ungleiche Helme. beginnen unten gleich und werden gegen oben hin individueller. Einer ist höher und hat eine um die Helmspitze gelegte Goldkrone. Bald wird B. von rechts schrag über den Platz auf mich zukommen. Diese Stichworte zur Atmosphäre des Platzes habe ich m ir damals in mein Notizbuch geschrieben. weil mir· alles. was ich sah. so gut gefiel. H eute, beim Wiederlesen, frage ich mich. was hat mich denn damals so berührt? Alles! Alles. die Dinge. die Menschen, die Qualität der Luft, das Licht, die Gerausche, dieToneund Farben. Materielle Prasenzen.Texturen. auch Formen. Formen, dre ich verstehen kann. Formen. die ich versuchen kann. zu lesen. Formen. dre ich als schön empfinde. Aber war da. abgesehen von all diesen materiellen Präsenzen. den Dingen und Menschen, nicht noch etwas anderes, das mich berührte - etwas. das nur mit mir zu tu n hatte. mit meiner Stimmung. meinen Gefühlen. meinen Erwartungen von damals. als ich da sass? «The beautylies in the eyes of the beholder» - dieser Satz kommt mir jetzt in den Sinn.Will dieser Satz sagen. dass alles, was ich damals empfand. allein oder vornehmlich Ausdruck und Ausfluss meiner damaligen Verfassung. meiner persönlichen Stimmungslage war? Hatte mein Erlebnis von damals im Grunde wenig mit dem Platz und seiner Atmosphäre zu tun? Um mir diese Frage zu beantworten, mache ich ein einfaches Experiment: Ich denke mir den Platz weg und schon beginnen meine Gefühle fur die damalige Srtuation merkwürdig blass zu werden. drohen. zu verschwinden. Ohne die Atmosphare dieses Platzes. merke ich, hätte ich diese Gefühle damals so nie gehabt. Jetzt spüre ich es wieder: Es gibt eine Wechselwirkung zwischen unseren Empfindungen und den Dingen. die uns umgeben.
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Damit habe ich als Architekt zu tun. Ich arbeite an den Formen, Gestalten (Physiognomien). an den materiellen Präsenzen, die unseren Lebensraum ausmachen. Mit meiner Arbeit trage ich bei zu den realen Gegebenheiten, den atmosphärischen Secrungen im Raum, an denen sich unsere Empfindungen enuünden. Die Magie des Realen, das ist für mich diese «Alchemie» der Verwandlung von realen Substanzen in menschliche Empfindungen, dieser besondere Moment der emotionalen Aneignung oder Anverwandlung von Materie, von Stoff und Form im architektonischen Raum. Als A rchitekt ka nn ich ein Ferienhaus. Geschäftshaus oder einen Flughafen zum Funktiomeren bringen. Ich kann Wohnungen mit guten Grundrissen zu erschwinglichen Preisen bauen, kann Theater. Kunstmuseen oder Showrooms entwerfen, die von sich reden machen, ich kann meine Bauten m it Formen versehen. die die Bedürfnisse nach Innovat ion oder N euartigkeit, Repräsentat ion oder Lifestyle erfüllen. A ll dies zu tun ist nicht so einfach. Es braucht A r beit. Und Talent. Und nochmals A rbeit. A ber meine Ansp rüche an die geglückte architektonische A rbeit, geboren aus jenen besonderen Momenten der persönlichen A rch itekturerfahrung. gehen weit er und lassen mich die Frage stellen: Kann ich als Architekt auch das entwerfen, was eine architektonische Atmosphäre wirklich ausmacht, diese einmalige Dichte und Stimmung, dieses Gefühl von Gegenwart, Wohlbefinden , Stimmigkeit. Schönheit? Lässt sich das entwerfen , was in einem bestimmten Moment die Magie des Realen ausmacht, in deren Bann ich etwas erlebe und erfahre. was ich in dieser Qualität sonst nicht erleben würde? Es gibt kleine und grosse, eindrückliche und w ichtige Gebäude oder bauliche Ensembles. die mich klein machen, die mich bedrängen, die mich ausschliessen, abweisen. Es gibt aber auch Gebäude oder Ensembles. klein oder riesig. in denen ich mich gut fühle. ich denen ich gut aussehe, die mir
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ein Gefuhl von Würde und Freiheit vermitteln. in denen ich mich gerne aufhalte. die 1ch gerne benuue. Diesen Werken gilt meine Leidenschaft. So achte ich
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meiner Arbeit darauf. meine Gebäude als Körper zu den-
ken und auch so zu bauen: Als Anatomie und Haut, als Masse, Membrane, als Stoff oder Hulle. Tuch, Samt, Seide und glänzenden Stahl. Ich achte darauf, dass die Materialien zusammen klingen und zum Strahlen kommen. nehme eine bestimmte Menge von Eichenholz und eine andere Menge von Tuffstein und gebe noch etwas hinzu: drei Gramm Silber. ein Griff zum Drehen. Flächen von glänzendem Glas. damit mit jeder Materialkomposition etwas Einmaliges entsteht. Ich achte auf den Klang des Raumes. auf die Anschlagsqualitaten der Materialien und Oberflächen und auf die Stille. als Voraussetzung des Hörens. Die Temperatur des Raumes ist m1r wichtig, das Kuhle. Erfrischende und die Schattierungen der Warme . d1e dem Korper schmeicheln. Ich denke an die personliehen Dinge. die Menschen in bestimmten Räumen um sich herum versammeln um zu arbeiten. um sich zu Hause zu fühlen und für die ich Ort und Gehäuse schaffe. Mir gefällt die Vorstellung. die inneren Strukturen meiner Gebäude anzulegen in räumlichen Sequenzen, die uns führen. hinführen. aber auch loslassen und verfuhren . Architektur als Raum- und Zeitkunst zwischen Gelassenheit und VerfLihrung. Ich achte auf die sorgfaltige Inszenierung der Spannung zwischen Innen und Aussen . Offentliehkelt und Intimität. achte auf Schwellen. Ubergange und Grenzen. Und das Sp1el mit dem Massstab der Architektur, die Arbeit an der richtigen Gr osse der Dinge ist gele1tet vom Wunsch. Stufen der lntimirat.Abstufungen von Nahe und D istanz zu schaffen und ich freue mich daran, die Mater ialien. Oberflachen und Kanten. glanzend und matt. ins Licht der Sonne zu
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setzen und geheimnisvoll tiefe Massen und Abstufungen von Schatten und D unkelheit entstehen zu lassen, um den Zauber des Li chts auf den Dingen hervortreten zu lassen. Bis alles stimmt.
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Das Licht in der Landschaft
Das Licht des Monde s Das Licht des Mondes ist ein ruhiger W iderschein; gross, gleichmässig und mild. Das Licht des Mondes kommt von weit her. D as macht es ruhig. Oie Schatten. die die Dinge auf der Erde im Mondlicht w erfen, streben woh l unmerklich auseinander. stelle ich mir vor. Aber ich kann das von blossem Auge nicht sehen. Ich bin zu klein oder habe zuwenig A bstand, um die kosmischen Winkel zwischen der Lichtquelle und den angest rahlten Dingen auf der Erde erkennen zu können. Wenn ich beginne. Licht und Schatten zu studieren, Licht und Schatten des Mondes, Licht und Schatten der Sonne, das Licht und die Schattenwürfe, die von meiner Stubenlampe ausgehen, bekom me ich ein Gefühl für Massstäbe und Grössenunterschiede. Schon immer wollte ich ein Buch über das Licht schreiben. lch wüsste nichts, das mich mehr an die Ewigkeit erinnerte. sagt Andrzej Stasiuk. den ich eben lese, in seinem Buch Die Welt hinter Dukla. Ereignisse oder Gegenstände hören auf oder verschwinden oder ze rfallen unter ihrem eigenen Gewicht und wenn ich sie betrachte und beschreibe, dann nur deshalb, weil sie das Licht brechen. weil sie es gestalten und ihm eine Form verleihen, die zu begr ei fen wir im Stande sind. sagt er.
Das Licht. das von weit her auf die Erde trifft Ich will uber künstliches Licht in meinen Häusern. in unseren Städt en und Landschaften nachdenken und ertappe mich dabei, wie ich w ie ein Verliebcer ständig zum Gegenstand meiner Bewunderung zurückkehre: dem Licht , das von weit her auf die Welt trifft, auf die endlose Anzahl von Körpern, 89
Strukturen. Materialien. Fli.Jssigkeiten. Oberflachen. Farben und Formen. die aufstrahlen im Licht. D as Licht. das von ausserhalb der Erde kommt, macht mir die Luft sichtbar. Im herbstlichen Oberengadin zum Beispiel. wo der H immel schon sudlieh 1sc, die Luft aber frisch.
Aus grosser Höhe betrachtet Von oben aus grosser Hö he betrachtet, haben die künstlichen Nachtlichter der Menschen fur mich etwas Berührendes.Wir beleuchten unsere Häuser und Strassen,wir beleuchten unseren Planeten, vertreiben kleine Stücke der Finsternis, schaffen Inseln des Lichts. auf denen wir uns selbst und die Dinge. die w ir um uns herum versammelt haben, sehen können. Spüren. R1echen. Tasten. Schmecken. im Dunkeln traumen - das reicht uns nicht.Wir wollen sehen. A ber wieviel Licht braucht der Mensch, um Leben zu kennen? Und w1ev1el Dunkelheit ? G1bt es einen Seelenzustand oder Lebenszustand von besonderer Empfindlichkeit. in dem geringste Lichtmengen für ein gutes Leben ausre iche n? Oder mehr noch: Brauchen wir dunkle, verschattete Orte, das Dunkel der N acht, um bestimmte Erfahrungen überhaupt machen zu können? Zwei Jäger aus San Bernardino, die nach drei oder vier Tagen und N äc hten in ei nem unzivil isierten Seitental, nachts, bei ihrer Rückkehr auf ihr beleuchtetes D orf, das Tunnelportal. die Tankstelle und die Autos hinunrer sehen. berichten davon, dass ihnen das vertraute Dorf plötzlich verschmutzt vorkam . Tanizaki Jun'ichiro, der Autor von Lob des Schottens, hatte sich entschieden, den Vollmond be1m lsh1yama-Tempel zu betrachten. verzichtete aber auf den Besuch als er erfuhr, dass man dort zur Unterhal tung des Mondschau-Publikums die Mondschemsonate abspielen und den Ort mit Lichtern und Illuminationen ausstaffieren wolle.
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Das Licht de r Sonne Viele kleine Lichtpunkte: der Sternenhimmel. Leuchtkäfer im Wald, Kunstlicht-Nachtlandschaften auf der Erde. Kleine Lichtobjekte, die strahlen oder reflektieren. Oie Glasperlen im Kronleuchter zum Beispiel. Das Licht der Sonne, des Tages. das die Oberfläche der Erde aus dem Kosmos erreicht, ist gross und stark und gerichtet. Es ist ein Licht. Die Dunkelheit wohnt in der Erde. Annalisa hat kürzlich auf einer Bergwanderung beobachtet, dass die Farben der Alpenblumen am Wegrand kurz nach dem Einbruch der Dämmerung noch für eine Weile nachglühen. als hätten die Blumen Licht gespeichert. das sie nun noch abgeben müssen, erzählt sie mir. Oie Dunkelheit wohnt in der Erde. Sie steigt aus ihr auf und kehrt zurück wie ein starker Atem. lese ich bei Andrzej Stasiuk. Je älter ich werde. desto mehr interessieren mich die vielfältigen Erscheinungsformen des Lichtes in der Natur. Ich staune und lerne, und ich bin mir bewusst, dass es das Licht der Sonne ist, das die Gebäude. die ich mir ausdenke. beleuchtet. Räume , Materialien, Texturen. Farben, Oberflächen, Formen halte ich ins Licht der Sonne, ich fange dieses Licht ein, reflektiere. filtere. blende es ab. ich dünne es aus, um am richtigen Ort einen Glanz aufleuchten zu lassen. Das Licht als W irkstoff. es ist mir vertraut. Aber wenn ich es mir richt ig überlege. verstehe ich kaum etwas davon.
Das Licht in der Landschaft
Das Ucht in der Landschaft. Friederike Mayröcke r setzt diesen Titel als Bild über einen mir sehr autobiographisch erscheinenden, vielfach verschatteten Text. der immer wieder aufbricht und aufst rahlt, wenn das von ihr aufgeschichtete Wortmaterial innere und äussere Landschaften beschreibt und erzeugt.
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Persönliche Landschaften. Bilder und Landschaften der Sehnsucht, der Trauer, der Ruhe, des Jubels, der Einsamkeit, des Aufgehobensei ns, der Hässlichkeit, der Anmassung und Verführung. in meiner Erinnerung haben sie alle ihr beson deres Licht. Kann ich mir uberhaupt D inge vorstellen ohne Licht? Tanizaki Jun'ichiro lobt den Schatten. ln der dunklen Tiefe des traditionellen japanischen Haus es, wo in allen W inkeln die Schatten kauern. glänzt das Gold einer Lackmalerei auf. verbreitet das durchscheinende Papier, das über den feinen Holzrahmen einer Schiebetür gespann t ist. einen mild en Schein und man sieh t kaum , wo das Tageslicht herkommt, das diese Gegenstände im Halbschatten so schön auffangen und reflektieren. Jun'ichiro lobt den Schatten. Und der Schatten lobt das Licht.
Die schattenlose Moderne Wenn ich mich richtig erinnere. so habe ich Häuser der klassischen Moderne gesehen, die das Licht und die Landschaft feiern. Häuser von Richard Neutra in Kalifornien zum Beispiel. Schatten scheint in diesen architektonischen Kompositionen keine grosse Rolle zu spielen. Dafür aber Helligkeit. Licht und Luft und die Aussich t in die Landschaft, das Gefühl, in der Landschaft zu wohnen, der Wunsch, die Landschaft in den Raum hineinfliessen oder durch den Raum hindurchfliessen zu lassen - die Landschaft mit all ihren Lichtern und Schattierungen. ln diesen Häusern den Sonnenuntergang zu erleben, ist grossartig. Später, wenn das Haus nicht mehr von Aussen beschienen ist, muss es im lnnern seine eigene Lichtstimmung aufbauen. Mit Menschenlicht.
Los Angeles in der Nacht Aus dem einfliegenden Flugzeug be~:rachtet. das langsam an Höhe verliert. bietet mir das nächtlich beleuchtete Los Angeles ein zauberhaftes Bild. 92
Spater. auf dem Boden der Stadt, habe ich dasselbe Licht als fahl und kränklich erlebt, als eine unwirkliche H elle, in der die grünen Rasen und Büsche in den Vorgärten der Häuser aussahen, als wären sie aus Plastik gemacht.
Zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang Z wischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang richten w ir uns ein mit den Lichtern. die wir selber herstellen und anzünden. Mit dem Tageslicht sind diese Lichter nicht zu vergleichen, dazu sind sie zu schwach und zu kurzat mig mit ihren flackernden lntensitäten und rasch ausgreifenden Schatten. Aber wenn ich diese Lichter. die wir uns selber machen, nicht als Anstrengung zur Aufhebung der Nacht begreife. sondern sie als Lichter in der Nacht, als Akzentuierung der Nacht, als intime. vom Menschen geschaffene Orte des Lichtes in der Dunkelheit zu denken versuche, dann werden sie schön, dann können sie ihren eigenen Zauber entfalten. Welche Lichter wollen wir zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang anzünden? Was wollen wir in unseren H äusern, Städten und Landschaften beleuchten? Wie und wie lange?
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Eine Anschauung der Din ge Vorcrag. geschneben November 1988. Souehern Cahforma Insmute of Arch1tecrure. Santa Momca. Los Angeles
Der harte Ke rn der Sc hönhe it Vortrag. geschrieben Detember 1991 . Sympos1um P1ran. Slowen1en
Von den Leidenscha ften zu den Dinge n Vortrag. geschneben August 1994. Alvar Aalco Sympos1um. «Arch1tec tu re of the Essential». Jyvaskyla. Fmnland
De r Körper de r A rchite ktu r Vo rrrag. geschneben Oktober 1996. Sympos1um «Form Fellows Anythmg». Stockholm
A rchite ktur lehren, Architek ur le rnen Geschneben September 1996. Accademia d1 arch1tettura. Mendns1o
H at S chö nhe it eine Form? Le1chl uberarbeitete Fassung des Vortrages zum Thema
Die Magie des Re ale n Lewo Doctoralis, gehalten am I 0 Dezember 2003 anlassl1ch der Verlcrhung de r Laurea Honons Causa m Arch1teuura der Un1vers1ta degli Studr d1 Ferrara. Facolta d1 Ar-
chilettura
Da s Licht in der Landscha ft Vortrag. geschneben 1m Rahmen des Nationalfonds Prorektes <
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Pe te r Zumthor
1943 geboren in Basel. Ausbildung als Möbelschreiner. Gestalter und Architekt an der Kunstgewerbeschule Basel und am Pratt Institute, N ewYork. Seit 1979 eigenes Architekturbüro in Haldenstein, Schweiz. Professor an der Accademia di architettura, Universita della Svizzera italiana.
fur Ausgrabung mit römischen Funden, 1986; Caplutta Sogn Benedetg, Sumvitg. 1988; Wohnungen fur Betagte.
W ichtigste Bauten: Schutzbauten Chur.
C hur-Masans. 199 3; Thermo/bad Vo/s, 1996; Kunsthaus Bregenz. 1997;
Schweizer Pavillon Expo 2000, Hanno ver; Dokumentationszentrum . 1997 gebaute Bauteile 2004 vom Land Berlin abgebrochen; Kunstmuseum Kolumba, Köln, 2007; Feldkapelle
fur den Heiligen Bruder Klaus,
Hof Scheidtweiler. Mechernich. Deutsch land. 2007.
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© Fotographien von Laura Padgett, Frankfun:/Main. aufgenommen im Haus Zu mthor. Juli 2005
Gestaltung und Cover: Hannele Gronlund. Helsink1
© Texte: Peter Zumthor. Haldenstein
Bibliografische lnform;'ltlon Der Deutschen Bibliothek Drc Deutsche Brbhothek verurchnet drese Publikation in der Deutschen N aoonalbrbhografie: detaillierte bibliografische Daten smd rm Internet uber abrufbar. Dreses Werk rst urheberrechtlich geschut:zt. Dre dadurch begrundeten Rechte. msbesondere dre der Ubersea.ung. des Nachdrucks. des Vortrags. der Entnahme .-on Abbildungen und Tabellen. der Funksendung. der Mrkroverfilmung oder der Verv1elfaltigung auf anderen W egen und der SpeiCherung 1n Datenverarbeitungsanlagen. bleiben. auch bei nur auszugsweiser Verwertung. vorbehalten E111e Verv1elfalugung dreses Werkes oder von Te1len d1eses Werkes ISt auch 1m Emzelfall nur 111 den Grem.en der geseuhchen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetz.es in der JeWeils geltenden Fassung zulass1g. S1e 1st grundsatzheb vergutungspfhchtig. Z uwiderhandlungen unterhegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Diese Publikatton ISt auch in englischer Sprache ersch1enen (ISBN 3-7643-7497-7) Erste Auflage 1998. Verlag Lars Mull er. Baden. SchweiZ. Nachdruck 1999 und zwe1te. erwe1tene Auflage 2006. B1rkhauser -Verlag fur Architektur. Basel. Schwe1z.
© 2006 B1rkhauser
Verlag fur Architektur. Postfach 133 CH-40 I 0 B:lSel. Schwerz. Ern Unter· nehmen der Fachverlagsgruppe Spnnger Setence+Busmcss Med1a Gedruckt auf saurefre1em Pap1er. herges tellt aus chlorfre i gebleiChtem Zellstoff TCF ' Pnnted 111 Germany ISB N-10: 3-7643-7496-9 ISBN- 13. 978-3-7643-7496-9 987654 321 www b1rkhauser.ch
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Brldnachwers· 6 © Kunstmuseum Basel. Martin Bühler. Deposrtum der Gottlrred Keller-Strhung 10 Aus G E Krdder Smrth. Architecture in America. Amencan Herrtage Publtshing Co. lnc New York 1976 12 © Sammlung Ernst Brunner. Schweizerische Gesellschaft rür Volkskunde. Basel 14 © Architekturbüro Zumthor. Haldenstein 18 © Sammlung Hans Baumgartner. Fotostrltung Schwerz. Wrnterthur. VG Brld-Kunst 20 - 26 © Archrtekturbüro Zumthor. Haldenstein 22 © Architekturbüro Zumthor. Haldenstern 28 © Hel ~ne Brnet 30 © Thomas Flechtner 32 © Architekturbüro Zumthor. Haldenstern 34 - 36 © Giovannr Chiaramonte 38 © Archrtekturbüro Zumthor. Haldenstein 42 © Archrtekturbüro Zumlhor. Haldenstern 46 © Archrtekturbüro Zumthor, Haldenstein 48 © 2005. Prolrueris. Zünch 50 © Hel~ne Binet 56 © Jules Sprnatsch 58 © Archrtekturbüro Zumthor. Haldenstein 60 - 70 © Archrtekturburo Zumrhor. Haldenstern 72 © Brrdgeman Giraudon
Peter Zumthor
1943 geboren 1n Basel. Ausbildung als Möbelschre1ner. Gestalter und Architekt an der Kunstgewerbeschule Basel und am Prau Institute. New York Seil 1979 e1genes Architekturbüro m Haldenste1n. Schwe1z Professor an der Accadem1a d1 archltettura. Un1versitä della Sv1zzera 1tahana W1cht1gste Bauten Schutzbauren Iur Ausgrabung mrt römrschen Funden. Chur. 1986. Gaplu/la Sogn Benedetg. Sumv1tg. 1988: Wohnungen für Betagte. Chur-Masans. 1993; Thermalbad Vals. 1996. Kunsrhaus Bregenz. 1997 Schweuer Pav1/lon Expo 2000. Hannover. Dokumentauonszenuum . 1997 gebaute Baute11e 2004 vom land Berhn abgebrochen. Kunstmuseum Kofumba Koln. 2007 Feldkapelle fur den He1flgen Bruder Klaus. Hol Sche1dtwe1ler. Mechern1ch. Deutschland. 2007