Clarice Lispector
Aqua viva
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Band der Bibliothek Suhrkamp
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Clarice Lispector
Aqua viva
Bibliothek Suhrkamp
SV
Band der Bibliothek Suhrkamp
Clarice Lispector Aqua viva Ein Zwiegespräch Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Sarita Brandt
Suhrkamp Verlag
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Agua Viva. © Clarice Lispector
Erste Auflage © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main Alle Rechte vorbehalten Druck: Nomos Verlagsgesellscha Printed in Germany
Es muß eine Malkunst geben, die gänzlich von der figürlichen Abhängigkeit – dem Gegenstand – frei ist, die, wie die Musik, nicht das Geringste illustriert, keine Geschichte erzählt und keinen Mythos kreiert. Eine solche Malerei gibt sich damit zufrieden, an das unmittelbare Reich des Geistes zu erinnern, wo der Traum zum Denken, wo die Linie zur Existenz wird. Michel Seuphor
Begleitet von einer so großen Freude. Das reinste Halleluja. Halleluja, schreie ich, ein Halleluja, das mit dem dunkelsten Jaulen des Menschen beim Schmerz der Trennung verschmilzt, doch ein Aufschreien vor teuflischem Glück ist. Denn niemand hält mich mehr zurück. Mein Denkvermögen ist noch da – schließlich hatte ich einst Mathematik, den Irrsinn folgerichtigen Denkens –, aber jetzt will ich das Plasma, direkt von der Plazenta will ich mich nähren. Ich habe ein wenig Angst: Angst, immer noch, mich hinzugeben, denn der nächste Augenblick ist das Unbekannte. Ob der nächste Augenblick von mir geschaffen wird? oder ob er sich alleine erscha? Wir erschaffen ihn zusammen, bei jedem Atemzug. Und wir tun es mit der Gewandtheit eines Stierkämpfers in der Arena. Ich sage Dir: Ich versuche, die vierte Dimension des Augenblicks Jetzt festzuhalten, der, derart flüchtig, schon jetzt nicht mehr ist, denn nun ist er ein neuer Augenblick Jetzt, der auch nicht mehr ist. Jedes Ding hat einen Augenblick, in dem es ist. Ich will dieses Ist des Dinges in Besitz nehmen. Diese Augenblicke, die in der Lu, die ich atme, zerplatzen: ein lautloses Feuerwerk, das am Himmel abbrennt. Ich will die Atome der Zeit besitzen. Und ich will die Gegenwart einfangen, die mir aufgrund ihrer eigenen Natur untersagt ist: Die Gegenwart entflieht mir, die Aktualität entgeht mir, die Aktualität bin immer ich im Unmittelbaren. Nur im Liebesakt – wegen der sternenklaren Abstraktheit dessen, was man fühlt – läßt sich die unbekannte Größe des Augenblicks fassen, die hart ist wie Kristall und die Lu
zum Schwingen bringt, und das Leben ist dieser unbeschreibliche Augenblick, größer als das Erlebnis an sich: in der Liebe blitzt der Augenblick gleich einem unpersönlichen Juwel in der Lu auf, eigenartige Herrlichkeit des Körpers, Materie, empfindsam geworden durch das Erschauern der Augenblicke – und das, was man fühlt, ist zur gleichen Zeit unkörperlich und doch so gegenständlich, daß es wie außerhalb des Körpers geschieht, funkelnd in der Höhe, Freude, Freude, die aus dem Stoff der Zeit und der Augenblick par excellence ist. Und im Augenblick liegt das Ist seiner selbst. Ich will mein Ist erfassen. Und ich singe halleluja in die Lu, wie der Vogel es tut. Und mein Gesang ist für niemanden. Doch es gibt keine in Leid und Liebe erlittene Passion, auf die nicht ein Halleluja folgte. Mein ema? mein Lebensthema soll der Augenblick sein? Ich versuche, mit ihm Schritt zu halten, teile mich Tausende von Malen in ebensoviele Male wie die vorbeigehenden Augenblicke auf, fragmentarisch, wie ich bin, und prekär die Momente – ich verschreibe mich nur einem Leben, das mit der Zeit entsteht und mit ihr wächst: nur in der Zeit gibt es für mich Raum. Ich schreibe Dir mit all meinen Fasern, auf der Zunge den Geschmack nach Sein, und der Geschmack-nach-Dir ist abstrakt wie der Augenblick. Auch die Bilder male ich mit meinem ganzen Körper und banne das Unkörperliche auf die Leinwand, ich, im Nahkampf mit mir selbst. Musik begrei man nicht, man hört sie. Höre mich also mit Deinem ganzen Körper. Solltest Du mich dereinst lesen, wirst Du sicher fragen, weshalb ich mich nicht auf die Malerei und auf meine Ausstellungen beschränkt habe, zumal ich so unge
schliffen und ohne jede Ordnung schreibe. Im Augenblick aber brauche ich Wörter – und was ich schreibe, ist für mich neu, weil mein wahres Wort bislang noch nicht berührt wurde. Das Wort ist meine vierte Dimension. Heute habe ich das Bild, von dem ich Dir erzählt habe, beendet: runde, sich überlagernde Linien, fein und schwarz, und Du, der Du Dir angewöhnt hast, nach dem Wieso und Warum zu fragen – warum ist mir übrigens gleichgültig, die Gründe gehören zur Vergangenheit –, wirst bestimmt fragen, warum diese feinen, schwarzen Linien? es ist wegen desselben Geheimnisses, das mich nun zum Schreiben verleitet, als schriebe ich Dir, ich schreibe rund, zu einem Knäuel geballt und lau, manchmal auch kühl wie die frischen Augenblicke, wie das Wasser eines Baches, das immer um sich selber zittert. Ob das, was ich auf diese Leinwand gemalt habe, sich mit Worten beschreiben läßt? Im selben Maße wie ein stummes Wort möglicherweise im Klang der Musik enthalten ist. Ich stelle fest, daß ich Dir nie gesagt habe, wie ich Musik höre – ich lege die Hand leicht auf den Plattenspieler, und die Hand vibriert und erfüllt den ganzen Körper mit Wellen: so höre ich den elektrischen Strom der Vibration, letztes Substrat im Bereich des Wirklichen, und die Welt erzittert in meinen Händen. Und siehe da, ich merke, daß ich das schwingende Substrat des wiederholten Wortes im gregorianischen Gesang für mich haben will. Ich bin mir bewußt, daß ich alles, was ich weiß, nicht auch sagen kann, ich kann es nur malen oder aussprechen, sinnblinde Silben von mir gebend. Und wenn
ich hier Wörter für Dich verwenden muß, so müssen sie einen fast nur körperlichen Sinn haben, ich ringe mit der letzten Schwingung. Um Dir mein Substrat auszudrücken, baue ich einen Satz mit Wörtern, die nur aus den Augenblicken Jetzt bestehen. Lies also meine Erfindung, pures Schwingen ohne Sinn, es sei denn der einer jeden pfeifenden Silbe, lies, was jetzt folgt: »Im Verlauf der Jahrhunderte verlor ich das Geheimnis Ägyptens, als ich mich in Längen, Breiten und Höhen erstreckte, angetrieben von Elektronen, Protonen und Neutronen in der Faszination, die das Wort und sein Schatten ist.« Das, was ich Dir geschrieben habe, ist eine elektronische Zeichnung und hat weder Vergangenheit noch Zukun: es ist einfach nur jetzt. Ich muß Dir auch schreiben, weil Dein Saatfeld der Diskurs und nicht das Direkte meiner Bilder ist. Ich weiß, daß meine Sätze elementar sind, ich schreibe mit einem Übermaß an Liebe für sie, und diese Liebe gleicht die Mängel aus, aber zu viel Liebe schadet der Arbeit. Dies ist kein Buch, ein Buch schreibt man ganz anders. Ist das, was ich schreibe, ein einziger Höhepunkt? Meine Tage sind ein einziger Höhepunkt: ich lebe am Rande. Beim Schreiben kann ich nicht etwas anfertigen wie bei der Malerei, wo ich mir eigenhändig die Farben mische. Aber ich versuche, Dir mit meinem ganzen Körper zu schreiben, Dir einen Pfeil zu senden, der sich tief in den zarten, neuralgischen Punkt des Wortes bohrt. Mein unerkannter Körper sagt Dir: Dinosaurier, Ichthyosaurier, Plesiosaurier, der Sinn erschöp sich im Klang, ohne daß die Wörter dadurch zu trockenem Stroh würden, wohl aber zu nassem. Ich male keine Ideen, ich male das schier unerreichbare »Für-im
mer«. Oder »Für-niemals«, es bleibt sich gleich. Vor allem male ich Malerei. Und vor allem schreibe ich Dir harte Schrisprache. Ich möchte das Wort wie mit den Händen anfassen können. Ist das Wort Gegenstand? Und den Augenblicken, denen presse ich den Sa einer Frucht aus. Ich muß mich entäußern, um des Lebens Kern und Samen zu erreichen. Der Augenblick ist der lebendige Samen. Die geheime Harmonie der Disharmonie: ich will nicht, was schon fertig ist, sondern was auf krummem Wege noch erzeugt wird. Meine taumelnden Wörter sind der Luxus meines Schweigens. Ich schreibe in akrobatischen und luigen Pirouetten – schreibe, weil ich aus tiefster Seele sprechen möchte. Wenn das Schreiben mir auch nur das ganze Ausmaß des Schweigens offenbart. Und wenn ich »Ich« sage, dann nur, weil ich es nicht wage, »Du« zu sagen oder »Wir« oder »Jemand«. Ich bin zu der Demut verpflichtet, mich zu personifizieren, indem ich mich klein mache, doch ich bin das Bist-Du. Ja, ich will das letzte Wort, das auch ein so erstes ist, daß es sich schon mit dem unfaßbaren Teil der Wirklichkeit vermengt. Ich habe immer noch Angst, mich von der Logik loszusagen, denn ich falle in das Instinktive und Direkte und in die Zukun: das Heute zu erfinden ist mein einziger Weg, die Zukun einzuführen. Ab sofort ist Zukun, und jeder Tag ist ein Stichtag. Aber was soll denn schlimm daran sein, wenn ich mich von der Logik entferne? Ich befasse mich mit dem Rohstoff. Ich bin hinter dem, was hinter dem Denken liegt. Es ist müßig, mich einordnen zu wollen: ich schlüpfe einfach durch die Maschen hindurch und lasse es
nicht zu, Genre ist etwas, was mich nicht mehr ereilt. Ich befinde mich in einem sehr neuen und wahrhaen, auf sich selbst neugierigen Zustand, der so anziehend und persönlich ist, daß ich ihn weder malen noch beschreiben kann. Er ähnelt einigen Momenten, die ich mit Dir verbracht habe, als ich Dich liebte, über die ich nicht hinausgehen konnte, denn ich war ihnen auf den Grund gegangen. Es ist ein Zustand der Verbindung mit der mich umgebenden Energie, und ich erbebe. Eine Art völlig unsinniger Harmonie. Ich weiß, daß mein Blick wohl der einer Primitiven ist, die sich mit Haut und Haaren der Welt verschreibt, genau so primitiv wie die Götter, die das Gute und das Böse nur in einem umfassenden Sinn zulassen und das mit dem Bösen wie verfilzte Haare verstrickte Gute nicht kennen wollen, dieses Böse, welches ein Gutes ist. Ich fixiere unverhoe Augenblicke, die ihren eigenen Tod in sich tragen, und andere entstehen – ich fixiere die Augenblicke der Metamorphose, und ihre Abfolge und Gleichzeitigkeit sind von schrecklicher Schönheit. Langsam wird es jetzt hell, und die Dämmerung hüllt den Sand am Meer in weiße Nebel. All das gehört also mir. Das Essen rühre ich kaum an, ich mochte nicht früher wach werden als der erwachende Tag. Schritt für Schritt werde ich fortschreiten mit dem Tag, der fortschreitend mir eine bestimmte vage Hoffnung raubt und mich zwingt, der harten Sonne ins Auge zu sehen. Ein Windstoß wirbelt meine Papiere durch die Lu. Ich höre den Wind heulen, dieses Flügelschlagen eines sterbenden Vogels in schrägem Flug. Und ich hier drinnen beuge mich der Strenge einer straffen Sprache, zwinge mir die Nacktheit eines weißen Skeletts auf,
ledig all seiner Säe. Doch ein Skelett ist ledig all seines Lebens, und solange ich lebe, durchzieht ein Zittern meine Glieder. Die endgültige Nacktheit werde ich nicht erreichen. Und noch will ich sie, wie es scheint, nicht. Das ist das Leben vom Leben aus gesehen. Zugegeben, ich mag vielleicht keinen Sinn haben, aber es ist der gleiche Mangel an Sinn, den eine schlagende Ader hat. Ich möchte Dir schreiben wie jemand, der lernt. Ich fotografiere jeden einzelnen Augenblick. Ich verleihe den Wörtern Tiefe, so als malte ich, mehr als den Gegenstand, seinen Schatten. Ich will nicht fragen, warum, man kann immer wieder nach dem Warum fragen und doch niemals eine Antwort bekommen: Ob es mir gelingt, mich der spannungsgeladenen Stille, die auf eine Frage ohne Antwort folgt, auszuliefern? Obwohl ich ahne, daß es irgendwo oder irgendwann die große Antwort für mich gibt. Und dann, nach dieser seltsamen, aber intimen Antwort, werde ich malen und schreiben können. Höre mich, höre die Stille. Was ich Dir sage, ist nie, was ich Dir sage, sondern etwas anderes. Begreife dieses Etwas, das mir entgleitet, wenngleich ich von ihm lebe und an der Oberfläche einer leuchtenden Dunkelheit schwebe. Ein Augenblick geleitet mich unmerklich zum nächsten, derweil sich das athematische ema planlos, aber geometrisch wie das vervielfachte Muster eines Kaleidoskops ordnet. Allmählich erreiche ich die Hingabe an mich selbst, zerrissen ist der Glanz durch den letzten Gesang, der sich anhört wie ein erster. Schritt für Schritt nähere ich mich dem
Schreiben, so wie ich einst vorgedrungen bin zur Malerei. Es ist eine Welt des Wirrsals, sich verschlingender Lianen, Silben, Kletterpflanzen, Farben und Wörter – es ist die Schwelle zu einer urzeitlichen Höhle, der Gebärmutter der Welt, und aus ihr heraus werde ich geboren. Und wenn ich des öeren Höhlen male, so, weil sie mein In-die-Erde-Tauchen sind, dunkel, aber von einem Lichtkreis umgeben, und ich, Blut der Natur – extravagant und gefährlich, Talismane der Erde, wo Stalaktiten, Fossilien und Gesteine zusammenwachsen und wo die Tiere, die nach ihrer eigenen bösartigen Natur streben, Unterschlupf suchen. Die Höhlen sind meine Hölle. Immerfort von ihren Nebeln träumende unterirdische Hohlformen, erschrekkende, schreckliche, esoterische, vom Moos der Zeit grün gewordene Erinnerung oder Sehnsucht? In der Tiefe der zwielichtigen Höhle flimmern hängende Mäuse mit den kreuzförmigen Flügeln von Fledermäusen. Ich gewahre schwarzhaarige Spinnen. Mäuse und Ratten huschen aufgescheucht über Boden und Wände. Zwischen den Steinen der Skorpion. Krebse, mit sich selbst identisch seit der Vorgeschichte, jenseits von Tod und Entstehen, erinnerten an bedrohliche Ungetüme, hätten sie die Größe eines Menschen. Alte Kakerlaken schleppen sich durch das Halbdunkel. Und all das bin ich. Alles ist traumschwer, wenn ich eine Höhle male oder Dir über sie schreibe – aus der Welt draußen kommt das Getrappel unzähliger zügelloser Pferde, die mit ihren trockenen Hufen die Finsternis traktieren, durch die Reibung der Hufe löst sich funkensprühender Jubel: hier bin ich – ich und die Höhle, in der Zeit, die uns führt in Verwesung.
Ich möchte das Dasein der Höhle, die ich vor einiger Zeit gemalt habe, ohne Beschreibung in Worte kleiden – doch ich weiß nicht, wie. Es sei denn, ich könnte ihr einladendes Grauen wiederholen, Höhle des Schreckens und der Wonne, Ort ruheloser Seelen, hibernal und infernal, unabsehbares Substrat des Bösen, das einer Erde innewohnt, die keine Früchte trägt. Ich rufe die Höhle bei ihrem Namen, und sie beginnt zu leben mit ihrem Pesthauch. Dann bekomme ich Angst vor mir, die ich den Schrecken zu malen weiß, ich, Höhlenassel an widerhallender Steinwand, und ich ersticke, denn ich bin das Wort und auch sein Echo. Doch der unmittelbare Augenblick letzt ist ein Leuchtkäfer, der an- und ausgeht, an und aus. Die Gegenwart ist der Augenblick, in dem der Reifen eines Automobils bei hoher Fahrgeschwindigkeit kaum noch den Boden berührt. Und der Teil des Reifens, der ihn noch nicht berührt hat, wird es in einem unmittelbar anschließenden Augenblick tun, der den gegenwärtigen ablöst und in die Vergangenheit befördert. Ich, lebendig und flimmernd wie die Augenblicke, entzünde mich und erlösche, gehe an und aus, an und aus. Nur daß das, was ich in mir einhole, jetzt, wo es in geschriebene Worte gefaßt wird, geprägt ist von der Verzweiflung, daß die Wörter mehr Augenblicke in Anspruch nehmen als der Augen Blick. Mehr als den Augenblick möchte ich seinen fließenden Lauf. Eine neue Ära, diese meine, und sie kündigt mich ab sofort an. Ob ich den Mut habe? Noch habe ich ihn: denn ich komme aus erlittener Ferne, aus dem Inferno der Liebe komme ich, doch nun bin ich von Dir frei. Von weit komme ich her – von lastender Ahnenscha. Ich, die ich von dem
Schmerz zu leben herkomme. Ich will ihn nicht mehr. Ich will das Vibrieren der Freude. Ich will die Ungebundenheit Mozarts. Doch ich will auch die Inkonsequenz. Freiheit? ist mein letztes Refugium, ich habe mich zur Freiheit gezwungen und ich ertrage sie nicht wie eine Gabe, sondern mit Heldenmut: ich bin heroisch frei. Und ich will den fließenden Lauf. Was ich Dir schreibe, ist alles andere als bequem. Ich mache keine vertraulichen Mitteilungen. Eher metallisiere ich mich. Und ich bin Dir und mir nicht bequem; mein Wort platzt in des Tages Raum hinein. Was Du von mir erfahren wirst, ist der Schatten des Pfeils, der ins Schwarze getroffen hat. Unnützerweise werde ich lediglich einen Schatten werfen, der keinen Raum beansprucht, und das einzige, was zählt, ist der Pfeil. Ich baue etwas von mir und von Dir Unabhängiges – und genau das ist meine Freiheit, die zum Tode führt. In diesem Augenblick Jetzt bin ich eingehüllt in einen vagen Wunsch nach Entzückung und nach Tausenden von Lichtreflexen der Sonne im Wasser, das aus der Rinne in das Gras eines an Düen reifen Gartens fließt; ein Garten und Schatten, die ich unverzüglich und augenblicklich erfinde und die das konkrete Mittel sind, von diesem meinem Lebensmoment zu sprechen. Meine Stimmung ist der Garten mit dem fließenden Wasser. Indem ich ihn beschreibe, versuche ich Wörter zu mischen, damit die Zeit werde. Was ich Dir sage, muß schnell gelesen werden, wie wenn man jemanden mit dem Blick strei.
Jetzt ist es Tag geworden und plötzlich von neuem Sonntag in unerwarteter Eruption. Sonntag ist ein Tag mit Resonanzen, mit heißen, trockenen Resonanzen und überall Bienenund Wespengesumm, schrilles Vogelgezwitscher und entfernt ein rhythmisches Hämmern – woher kommt dieses Echo am Sonntag? Ich, die ich den Sonntag hasse, weil er hohl ist. Ich, die ich das allererste aller Dinge will, weil es Schoß der Entstehung ist – ich, die ich die Ambition habe, das Wasser am Quell der Quelle zu trinken – ich, die ich all das bin, darf aufgrund von Bestimmung und tragischem Schicksal nur das Echo meiner selbst kennenlernen und auskosten, weil ich das Selbst an sich nicht erfasse. Ich bin erfüllt von einer berauschenden, zitternden Erwartung, einem Wunder, mit dem Rücken zur Welt, und irgendwo entflieht das unschuldige Eichhörnchen. Pflanzen über Pflanzen. Schläfrig überlasse ich mich der sommerlichen Hitze des Sonntags, der gesegnet ist mit Fliegen, die um die Zukkerdose kreisen. Farbenfroh spielt er sich auf, der Sonntag, in reifer Pracht. Und all das habe ich vor einiger Zeit, ebenfalls an einem Sonntag, gemalt. Und siehe da, diese zuvor unberührte Leinwand ist nun mit satten Farben bedeckt. Blaue Fliegen glitzern vor meinem Fenster, das sich der Lu der betäubten Straße öffnet. Der Tag ist wie die gespannte, glatte Haut einer Frucht, die den Zähnen in einer kleinen Katastrophe zum Opfer fällt, und der Sa quillt hervor. Ich habe Angst vor dem verdammten Sonntag, der mich verflüssigt. Um mich und Dich wieder zu fangen, greife ich zurück auf meine Garten- und Schattenstimmung, eine angenehm kühle Wirklichkeit, kaum kann ich mich über Wasser halten, und falls es gelingt, dann nur mit zarter Behutsamkeit.
Um den Schatten herum herrscht eine den Schweiß aus den Poren treibende Hitze. Ich lebe. Doch ich spüre, daß ich meine Grenzen noch nicht erreicht habe, Grenzen zu diesem Etwas? ohne Grenzen, dem Abenteuer der gefährlichen Freiheit. Aber ich wage es, laufend gehe ich Wagnisse ein. Ich bin voller Akazien, die sich gelb schaukeln, und ich, die ich mehr schlecht als recht mein Tagewerk begonnen habe, tue es mit einem Sinn für Tragik, errate, zu was für einem verlorenen Ozean meine Lebensschritte führen. Verrückt nehme ich meine Schlupfwinkel in Besitz, mein Irrsinn erstickt mich vor lauter Schönheit. Ich bin zuvor, ich bin nahezu, ich bin niemals. Und all das habe ich gewonnen, als ich auörte, Dich zu lieben. Ich schreibe Dir wie das Zeichnen einer Skizze für ein Gemälde. Ich sehe die Wörter. Was ich sage, ist reine Gegenwart, und dieses Buch ist eine gerade Linie im Weltraum. Es ist immer aktuell, und der Verschluß einer Kamera öffnet sich und schließt sich sofort wieder, sie bewahrt jedoch in sich den Lichtblitz. Selbst wenn ich sage, »ich habe gelebt« oder »ich werde leben«, ist es Gegenwart, denn ich sage es jetzt. Diese Seiten habe ich auch mit dem Ziel begonnen, mich auf das Malen vorzubereiten. Jetzt aber bin ich den Wörtern auf den Geschmack gekommen und kann mich nahezu von der Herrscha der Farben befreien; ich verspüre eine wahre Wollust beim Entwerfen dessen, was Dir zu sagen ist. Ich erlebe die Initiationszeremonie des Wortes, und meine Gesten sind hieratisch und dreieckig.
Ja, das ist das Leben vom Leben aus gesehen. Plötzlich aber vergesse ich, wie das, was geschieht, zu erfassen wäre, ich kann das, was da ist, nur begreifen, indem ich all das, was geschieht, egal was, hier erlebe: fast bin ich von meinen Fehlern frei. Ich lasse dem losgebundenen Pferd seinen feurigen Lauf. Ich, die ich in nervösen Trab verfalle und nur von der Wirklichkeit begrenzt werde. Und wenn der Tag sich neigt, höre ich die Grillen und bin ganz erfüllt und unbegreiflich. Später erlebe ich die hellblaue Morgendämmerung, die mit ihrem Bauch voller Vögel heraufzieht – ob es mir gelingt, Dir zu umreißen, was ein Mensch im Leben durchmacht? Und alles, was mir widerfährt, notiere ich, um es festzuhalten. Denn ich möchte in meinen Händen den bebenden, lebendigen Nerv des Jetzt spüren und daß mir dieser Nerv als jagende Pulsader antworte. Und daß er sich auäume, dieser Lebensnerv, sich winde und klopfe. Auf daß Saphire, Amethyste und Smaragde sich in die obskure Erotik des vollen Lebens ergießen: denn in meiner Finsternis zittert endlich der große Topas, ein Wort, das selbstleuchtend ist. Jetzt höre ich eine wilddröhnende Musik, fast nur Trommeln und Rhythmus, die aus einem Nachbarhaus kommt, wo drogenabhängige Jugendliche in ihren Tag hinein leben. Noch einen Augenblick dieses unauörlichen, dieses unauörlichen Rhythmus, und mir stößt etwas Schreckliches zu. Denn wegen des Rhythmus auf seinem Höhepunkt – werde ich auf die andere Seite des Lebens überwechseln. Wie es Dir sagen? Es ist schrecklich und bedroht mich. Ich spüre,
daß ich nicht mehr auören kann, und erschrecke. Ich versuche, mich von der Angst abzulenken. Doch schon seit langem hat das wirkliche Hämmern aufgehört: ich bin das unauörliche Hämmern in mir. Von dem ich mich unbedingt befreien muß. Aber es geht nicht: von der anderen Seite von mir ru es mich. Die Schritte, die ich höre, sind meine eigenen. Als entrisse ich aus der Tiefe der Erde die knotigen Wurzeln eines riesigen Stammes und als wären diese Wurzeln Fangarme, mächtig wie dicke nackte Frauenkörper, verschlungene Schlangen, in fleischlichem Begehren nach Verwirklichung lechzend, so schreibe ich dir, und all das ist ein Gebet aus einer schwarzen Messe und ein kriechendes Flehen nach Amen: denn das, was schlecht ist, ist ungeschützt und braucht die Billigung Gottes: also ist die Schöpfung. Ob ich, ohne es zu merken, auf der anderen Seite angekommen bin? Die andere Seite ist ein höllisch pochendes Leben. Doch es gibt die Transfiguration meines Schreckens: dann ergebe ich mich einem harten Leben, ganz in schwerwiegenden Symbolen, wie reife Früchte. Ich wähle verkehrte Ähnlichkeiten, die mich aber durch das Verworrene schleppen. Eine blasse Erinnerung an den gesunden Menschenverstand meiner Vergangenheit hält mich gerade noch auf der hiesigen Seite. Hilf mir, denn etwas nähert sich mir und lacht mich aus. Schnell, rette mich. Doch niemand kann mir die Hand reichen, damit ich herauskomme: ich muß die große Kra auringen – und mich abrupt losreißend, falle ich in dem Alptraum schließlich vornüber ins Diesseits. Ich bleibe auf dem rauhen Boden
liegen, erschöp, das Herz schlägt noch wie wild, ich ringe nach Atem. Bin ich gerettet? trockne ich mir die nasse Stirn. Langsam stehe ich auf, versuche die ersten Schritte einer schwachen Genesung zu tun. Ich kann das Gleichgewicht halten. Nein, dies geschieht nicht in Wirklichkeit, sondern im Bereich einer – einer Kunst? ja, einer Kunstfertigkeit, mittels deren die zarten Anzeichen einer Wirklichkeit entstehen, die in mir Bestand annimmt: die Transfiguration ist mir geschehen. Doch die andere Seite, der ich knapp entronnen bin, ist heilig geworden, und mein Geheimnis erzähle ich niemandem. Mir ist, als hätte ich im Traum auf dieser anderen Seite ein Gelöbnis abgelegt, einen Blutspakt geschlossen. Niemand wird etwas erfahren: was ich weiß, ist so flüchtig und beinahe inexistent, daß es zwischen mir und meinem Ich bleibt. Bin ich eine der Schwachen? eine Schwache, die von einem nicht abreißenden, irren Rhythmus befallen wurde? Wäre ich gefestigt und stark, hätte ich dann den Rhythmus nicht einmal vernommen? Eine Antwort finde ich nicht: ich bin. Mehr ist es nicht, was mir vom Leben kommt. Aber was bin ich? die Antwort lautet nur: was bin ich. Obwohl ich manchmal schreie: Ich will nicht mehr ich sein!! doch ich kralle mich an mir fest, und unlösbar bildet sich ein Lebensgewebe. Wer mich begleitet, der begleite mich: der Weg ist lang, ist erlitten, doch erlebt. Denn im Ernst, ich sage Dir nun: Ich
spiele nicht mit Worten. Ich verkörpere mich in den wollüstigen, unverständlichen Sätzen, die sich jenseits der Wörter umeinander schlingen. Und subtil verflüchtigt sich eine Stille beim Zusammenprall der Sätze. Zu schreiben ist also der Modus derer, die als Köder das Wort besitzen: das Wort beim Fischen dessen, was nicht das Wort ist. Wenn dieses Nicht-Wort – dieses Zwischen-denZeilen – am Haken hängenbleibt, ist etwas geschrieben worden. Nachdem man das Zwischen-den-Zeilen gefangen hat, könnte man das Wort getrost wieder ins Wasser werfen. Doch da hört die Analogie auf: das Nicht-Wort verleibt sich beim Anbeißen den Köder ein. Was hil, ist also ein leicht zerstreutes Schreiben. Ich möchte nicht der schrecklichen Beschränktheit derer verfallen, die nur von dem leben, was einen Sinn hat. Ich nicht: ich will eine Wahrheit, die erfunden ist. Was soll ich Dir sagen? Die Augenblicke werde ich Dir sagen. Ich gerate außer mir, und nur dann bin ich, auf fieberhae Weise. Welch ein Fieber: werde ich eines Tages auören können zu leben? wehe mir, die ich so viel sterbe. Ich folge dem krummen Weg der Wurzeln, die die Erde sprengen, die Leidenscha ist meine Gabe, beim Verbrennen dürrer Stämme winde ich mich in den züngelnden Flammen. Der Dauer meines Daseins verleihe ich eine verborgene Bedeutung, die über mich hinausgeht. Ich bin ein simultanes Wesen: ich vereine in mir die vergangene Zeit, die Gegenwart und die Zukun, die Zeit, die im Ticken der Uhren pocht.
Um mich zu interpretieren und zu formulieren, brauche ich neue Zeichen und neue Artikulationen in Formen, die jenseits meiner menschlichen Geschichte liegen. Ich forme die Wirklichkeit um und werde dann von einer anderen träumerischen und somnambulen Wirklichkeit erschaffen. In voller Größe rolle ich dahin, und während ich über den Boden rolle, verwachse ich nach und nach zu Blättern, ich, anonymes Werk einer anonymen Wirklichkeit, die sich nur rechtfertigt, solang mein Leben dauert. Und danach? Danach wird alles, was ich gelebt habe, von einer unnützen Armseligkeit sein. Doch zur Zeit bin ich noch umringt von dem, was schreit und wuchert. Was so subtil ist wie die unerreichbarste aller Wirklichkeiten. Vorläufig ist die Zeit, solange ein Gedanke dauert. Diese Berührung mit dem unsichtbaren Kern der Wirklichkeit ist von einer so überwältigenden Reinheit. Ich weiß, was ich hier tue: ich zähle die Augenblicke, die tropfen, dick und voller Blut. Ich weiß, was ich hier tue: ich improvisiere. Was soll schon dabei sein? ich improvisiere, wie man beim Jazz Musik improvisiert, bei einem ekstatischen Jazz, ich improvisiere vor dem Publikum. Es ist so seltsam, die Farben ersetzt zu haben durch dieses fremdartige Ding namens Wort. Wörter – vorsichtig schlängele ich mich zwischen ihnen hindurch, die sie zur Bedrohung werden können; ich kann die Freiheit genießen, fol
gendes zu schreiben: »Pilger, Händler und Hirten lenkten ihre Karawanen in Richtung Tibet, und die Straßen waren schwierig und unwegsam.« Mit diesem Satz habe ich eine Szene ins Leben gerufen, wie bei einer Momentaufnahme. Was sagt dieser Jazz, der Improvisation ist? er sagt, Arme verstrickt mit Beinen, und die Flammen schlagen hoch und ich passiv wie ein Fleisch, das dem kräigen Schnabel eines Adlers, der seinen blinden Flug unterbricht, zum Fräße dient. Mir und Dir drücke ich meine verborgensten Wünsche aus, und mit den Wörtern gelingt mir eine orgiastische, konfuse Schönheit. Bebend lustwandle ich, eingehüllt in die Neuheit, Wörter zu benutzen, die eine dichte Wildnis bilden! Ich kämpfe, um eine noch größere Freiheit an Empfindungen und Gedanken zu erringen, bar jeglichen Nutzens: ich bin allein, ich und meine Freiheit. Sie ist so riesig, die Freiheit, daß ein Einfältiger daran Anstoß nehmen kann, aber ich weiß, Du nimmst keinen Anstoß an der Fülle, die ich erlange und die keine wahrnehmbaren Grenzen kennt. Diese meine Fähigkeit, zu leben, was rund und umfassend ist – ich umgebe mich mit fleischfressenden Pflanzen und legendären Tieren, alles durchtränkt von dem rohen, linken Licht einer mythischen Geschlechtlichkeit. Ich gehe weiter auf dem Weg der Intuition, ohne eine Idee zu suchen: ich bin organisch. Und ich frage mich nicht nach meinen Motiven. Ich tauche in die Tiefe einer fast schmerzhaen intensiven Freude – und um mich zu schmücken, sprießen zwischen meinen Haaren Ranken und Blätter. Ich weiß nicht, worüber ich schreibe: auch für mich selbst bin ich nicht durchschaubar. Nur am Anfang hatte ich eine
lunare, luzide Vision, da habe ich mir den ständig sterbenden Augenblick gefangen, bevor er tot war. Es ist keine Nachricht über Ideen, die ich Dir übermittle, wohl aber eine instinktive Wollust an dem in der Natur Verborgenen, das ich errate. Dies ist ein Fest der Wörter. Ich schreibe in Zeichen, die mehr eine Geste als Stimme sind. All dies ist das, was ich zu malen gewohnt war, rührend an die intime Natur der Dinge. Doch jetzt ist es Zeit, mit der Malerei aufzuhören, um mich zu erholen, ich erhole mich in diesen Zeilen. Ich habe eine Stimme. So wie ich beim Zeichnen den Linien folge, ist dies eine Lebensübung ohne Plan. Die Welt unterliegt keiner sichtbaren Ordnung, und ich unterliege nur der Ordnung meiner Atmung. Ich lasse mich geschehen. Ich bin mitten in den großen Nachtträumen: denn das unmittelbare Jetzt ist bereits in der Nacht. Und ich besinge das Vergehen der Zeit: noch immer bin ich die Königin der Meder und der Perser und bin auch meine langsame Entwicklung, die sich wie eine Zugbrücke in eine Zukun hebt, deren milchige Nebel ich schon heute atme. Meine Aura ist Lebensmysterium. Ich gehe über mich hinaus, indem ich auf mich verzichte, und da bin ich die Welt: ich folge der Stimme der Welt, ich selbst plötzlich einstimmig. Die Welt: ein Gewirr sich sträubender Telegraphendrähte. Und die Leuchtkra, wenngleich undurchsichtig: das bin ich angesichts der Welt. Ein gefährliches Gleichgewicht, das meine, die Seele schwebt in Lebensgefahr. Ungerührt, von Grünspan überzogen und zähflüssig starrt mich die heutige Nacht an. Mit
ten in dieser Nacht, die weiter weg ist als das Leben, mitten in dieser Nacht will ich ein rohes und blutiges und speichelndes Leben. Ich will das folgende Wort: Pracht, Pracht ist die Frucht in ihrer saigen Fülle, eine Frucht ohne Traurigkeit. Ich möchte weite Fernen. Die wilde Intuition meiner selbst. Doch meine Hauptsache ist stets verborgen. Ich bin implizit. Und wenn ich anfange, explizit zu werden, verliere ich die feuchte Intimität. Welche Farbe hat die Unendlichkeit des Weltraums? die Farbe der Lu. Wir – angesichts des Skandals Tod. Leihe dem, was ich Dir sage, nur ein flüchtiges Ohr, und aus dem Mangel an Sinn wird ein Sinn hervorgehen, ebenso wie aus mir auf rätselhae Weise ein hohes, leichtes Leben hervorgeht. Die dichte Wildnis der Wörter bildet eine dicke Schicht um das, was ich fühle und lebe, und verwandelt alles, was ich bin, in etwas Eigenes, das außerhalb von mir liegt. Die Natur ist einnehmend: sie umgarnt mich mit Haut und Haaren und ist sexuell lebendig, nichts weiter: lebendig. Auch ich bin grausam lebendig – und lecke mir die Schnauze wie der Tiger, nachdem er das Reh verschlungen hat. Ich schreibe Dir zur eigentlichen Stunde an sich. Ich entfalte mich nur im Gegenwärtigen. Heute spreche ich – nicht gestern oder morgen –, sondern heute und in diesem endlichen Augenblick selbst. Meine kleine, eingegrenzte Freiheit verbindet mich mit der Freiheit der Welt – doch was ist ein Fenster anderes als die von einem Rahmen umgebene Lu?
Ich bin roh am Leben. Ich gehe – sagt der Tod, ohne hinzuzufügen, daß er mich mitnimmt. Und ich schaudere in keuchendem Atmen, daß ich ihn begleiten muß. Ich bin der Tod. In diesem meinem eigenen Wesen spielt sich der Tod ab – wie es Dir erklären? es ist ein sinnlicher Tod. Wie tot wandle ich durch das hohe Gras im grünlichen Licht der Halme: ich bin Diana, die Goldjägerin, und ich finde nur Knochen. Ich zehre von einer Gefühlsschicht unter der Haut: und recht und schlecht lebe ich. Doch diese Tage des Hochsommers der Verdammnis flüstern mir die Erfordernis der Entsagung ins Ohr. Ich entsage, einen Sinn zu haben, und süße, schmerzhae Mattigkeit ergrei von mir Besitz. Unzählige kreisrunde Formen überschneiden sich in der Lu. Es herrscht sommerliche Hitze. Ich rudere in meiner Galeere, die den Winden eines verzauberten Sommers furchtlos die Stirn bietet. Zertretene Blätter erinnern an den Boden meiner Kindheit. Die grüne Hand und die goldenen Brüste – so male ich das Zeichen Satans. Diejenigen, die uns und unsere Alchemie fürchten, entkleideten Zauberinnen und Magier auf der Suche nach dem verborgenen Zeichen, das fast immer gefunden wurde, wenngleich man davon nur erfuhr durch den Blick, denn dieses Zeichen war unbeschreiblich und unaussprechlich, selbst in der Finsternis eines Mittelalters – Mittelalter, du bist die dunkle Schicht unter meiner Oberfläche, und um lodernde Scheiterhaufen tanzt der Reigen der Gezeichneten, auf Ranken und Zweigen, auf dem phallischen Symbol der Fruchtbarkeit reitend: selbst in den weißen Messen nimmt man das Blut und trinkt es.
Hör zu, ich lasse Dich sein, laß also auch mich sein. Doch Ewigkeit ist ein sehr hartes Wort: es hat in der Mitte ein »K«, hart wie Granit. Ewigkeit: denn alles, was ist, hat nie angefangen. Mein kleiner und so beschränkter Kopf zerspringt, wenn ich an etwas denke, das weder anfängt noch endet – denn so ist das Ewige. Glücklicherweise hält dieses Gefühl nicht sehr lange an, denn ich ertrüge es nicht, wenn es dauerte, und falls es nicht vorbeiginge, würde es zum Wahnsinn führen. Doch mir brummt auch der Kopf, wenn ich mir das Gegenteil vorstelle: etwas, das angefangen hatte – wo aber hätte es anfangen können? Und das zu Ende ginge – doch was käme, nachdem es zu Ende gegangen wäre? Wie Du siehst, ist es mir nicht möglich, das Leben zu vertiefen und es in meinen Bann zu schlagen, es ist Lu, ist mein leichter Atem. Doch ich weiß wohl, was ich hier will: ich will das Unvollendete. Ich will die tiefe organische Unordnung, die aber eine darunter versteckte Ordnung andeutet. Das ungeheure Potential der Potentialität. Diese meine gestotterten Sätze werden gebaut, während sie geschrieben werden, und sie knistern, so neu und grün sind sie noch. Sie sind das unmittelbare Jetzt. Ich will die Erfahrung des Nichtvorhandenseins einer jeglichen Struktur. Obgleich dieser mein Text von Anfang bis zu Ende von einem zarten Leitfaden durchzogen ist – was für einer? der des Eintauchens in den Stoff des Wortes? der der Leidenscha? Ein haltloser Faden, ein Hauch, der die rollenden Silben erwärmt. Das Leben entflieht mir recht und schlecht, obwohl mich die Sicherheit überkommt, daß das Leben ein anderes ist und einen verborgenen Stil hat.
Diesen Text, den ich Dir gebe, darf man nicht aus nächster Nähe sehen: er bekommt seine geheime Rundheit, zuvor unsichtbar, wenn man ihn von einem Flugzeug aus sieht. Dann errät man das Spiel der Inseln und sieht Kanäle und Meere. Verstehe mich: ich schreibe Dir eine Lautmalerei, die Konvulsion der Sprache. Ich übergebe Dir nicht eine Geschichte, sondern ausschließlich Wörter, die vom Laut leben. Ich sage Dir so: »Lasziver Stamm.« Und bade mich darin. Er ist mit der Wurzel verbunden, die knotig in die Erde dringt. Alles, was ich Dir schreibe, steht unter Spannung. Ich benutze zusammenhanglose Wörter, die an sich selbst ein fliegender Speer sind: »Wilde, Barbaren, dekadenter Adel und Randfiguren.« Sagt Dir das etwas? Zu mir spricht es. Aber das wichtigste Wort der Sprache hat nur drei Buchstaben: ist. Ist. Ich bin in seinem Kern. Noch bin ich es. Ich bin in dem lebendigen, weichen Zentrum. Noch. Es flimmert und ist geschmeidig. Wie der Gang eines schwarzen, glänzenden Panthers, den ich gesehen habe und der sich samtweich, langsam und gefährlich näherte. Doch
nicht in einem Käfig – das will ich nicht. Was das NichtVoraussehbare betri – der nächste Satz ist mir nicht voraussehbar. In dem Kern, in dem ich bin, dem Kern des I, stelle ich keine Fragen. Denn wenn es ist, ist es. Nur meine Identität begrenzt mich. Ich, geschmeidige und von anderen Körpern getrennte Körperscha. In Wahrheit sehe ich den roten Faden dessen, was ich Dir schreibe, noch nicht so recht. Ich glaube, ich werde ihn nie sehen – doch ich lasse das Dunkel zu, in dem die zwei Augen des samtweichen Panthers leuchten. Die Dunkelheit ist der Nährboden meiner Kultur. Die magische Dunkelheit. Während ich das Wort an Dich richte, riskiere ich den Verlust des Zusammenhangs: unterirdisch bin ich durch meine Erkenntnisse nicht erreichbar. Ich schreibe Dir, weil ich mich nicht verstehe. Aber ich kann mir folgen. Geschmeidig wie eine Katze. Diese Wildnis, in der ich überlebe, um zu sein, ist ein solches Mysterium. Doch jetzt, glaube ich, wird es gelingen. Das heißt: ich werde den Zugang finden. Ich meine: zu dem Mysterium. Ich selbst mysteriös und im Kern, in dem ich mich schwimmend fortbewege, Protozoon. Einst sagte ich kindlich: Ich kann alles. Es war die Voraussicht, mich eines Tages loslassen zu können, um mich im Aufgeben jedweden Gesetzes fallen zu lassen. Katzenha. Der Freudentaumel: die heimliche Ekstase. Ich weiß, wie man einen Gedanken erfindet. Ich verspüre die Spannung des Neuen. Aber ich vergesse nicht, daß das, was ich schreibe, nicht mehr als ein Laut ist.
In diesem Kern habe ich den seltsamen Eindruck, daß ich nicht zum menschlichen Geschlecht gehöre. Vieles ist zu sagen, das ich nicht zu sagen weiß. Es fehlen die Worte. Aber ich weigere mich, neue zu erfinden: die, die es gibt, werden schon zu sagen wissen, was man sagen kann und was verboten ist. Was verboten ist, errate ich. Falls ich die Kra habe. Hinter dem Denken gibt es keine Worte: dort ist man. Mein Malen ist wortlos: es liegt hinter dem Denken. In diesem Bereich des Ist-man bin ich pure kristallene Ekstase. Man ist. Ich bin mich. Du bist Dich. Ich werde von meinen Geistern heimgesucht, vom Mythischen, vom Phantastischen und vom Gigantischen: das Leben ist übernatürlich. Und ich balanciere mit einem aufgespannten Regenschirm auf einem gespannten Seil. Ich gehe bis an die Grenze meines großen Traums. Ich sehe, wie die Impulse in den Eingeweiden toben: gepeinigte Eingeweide leiten mich. Das, was ich soeben geschrieben habe, gefällt mir nicht – aber ich bin gezwungen, den gesamten Textabschnitt zu akzeptieren, weil er mir widerfahren ist. Und ich zolle dem, was ich mir widerfahre, großen Respekt. Mein Kern hat keinerlei Bewußtsein seiner selbst, deshalb gehorche ich mir blind. Ich bin antimelodisch. Ich begnüge mich mit der schwierigen Harmonie der krassen Gegensätze. Wohin gehe ich? und die Antwort lautet: ich gehe. Wenn ich tot bin, ist es, als wäre ich nie geboren worden noch hätte ich je gelebt: der Tod wischt die Spuren des Schaumes am Strand weg.
Jetzt ist ein Augenblick. Schon ist es ein anderer. Und wieder ein anderer. Meine Anstrengung: augenblicklich die Zukun ins Jetzt holen. Ich bewege mich im Rahmen meiner tiefen Instinkte, die sich blindlings erfüllen. Dann spüre ich, daß ich nicht weit entfernt bin von Quellen, Seen und Wasserfällen, alle reich an Wassern. Und ich frei. Hör mir zu, höre mein Schweigen. Was ich sage, ist nie, was ich sage, sondern etwas anderes. Wenn ich sage, »reich an Wassern«, spreche ich von der Kra des Körpers in den Wassern der Welt. Begreife dieses andere Ding, von dem ich in Wahrheit rede, denn ich selber kann es nicht. Lies die Energie, die in meinem Schweigen herrscht. Oh, ich habe Angst vor dem Gott und vor seinem Schweigen. Ich bin mich. Wenngleich es auch das Mysterium des Unpersönlichen gibt, welches das »It« ist: ich habe das Unpersönliche in meinem Inneren, und es ist nicht verdorben noch verderbbar durch das Persönliche, das mich manchmal völlig durchnäßt: doch ich lasse mich an der Sonne trocknen und bin ein Unpersönliches mit einem trockenen, keimbereiten Kern. Mein Persönliches ist der Humus der Erde, und es lebt von der Verwesung. Mein »It« ist hart wie ein Kieselstein.
Die Transzendenz in mir ist das lebendige, federnde »It«, und es hat den Geist, den eine Auster hat. Ob es die Auster, wenn sie von ihrer Wurzel abgerissen wird, vor Angst und Entsetzen schüttelt? Sie wird unruhig in ihrem augenlosen Leben. Ich pflegte Zitronensa auf die lebendige Auster zu träufeln und sah dann schaudernd und fasziniert, wie sie sich darunter drehte und wand. Ich war im Begriff, das »It« lebendig zu essen. Das lebendige »It« ist der Gott. Ich werde eine kleine Pause einlegen, denn ich weiß, daß der Gott die Welt ist. Das, was existiert. Bete ich zu dem, was existiert? Es ist nicht gefährlich, sich dem zu nähern, was existiert. Das inständige Gebet ist eine Meditation über das Nichts. Es ist die trockene, elektrische Verbindung zu sich selbst, zu einem unpersönlichen Selbst. Ich bin jedoch alles andere als begeistert, wenn man Zitrone in meine Untiefen träufelt und ich mich darunter drehen und winden muß. Sind die Fakten des Lebens die Zitrone auf der Auster? Ob die Auster wohl schlä? Welches ist das erste Element? sogleich mußte es zwei werden, damit die geheimnisvolle intime Bewegung in Gang kam, aus der die Milch fließt. Ich habe gehört, daß eine Katze, nachdem sie Junge bekommen hat, ihre eigene Plazenta auffrißt und dann vier Tage lang nichts mehr anrührt. Erst später trinkt sie Milch. Laß mich einfach vom Stillen reden. Man sagt, daß die Milch einschießt. Aber wie? Und es wäre nutzlos, es zu erklären, denn eine Erklärung verlangt nach einer anderen Erklärung, die wiederum nach einer anderen Erklärung verlangen
würde, die sich ihrerseits erneut dem Mysterium öffnete. Doch ich weiß von It-Dingen über das Stillen der Säuglinge. Ich atme. Ein und aus. Ein und aus. Wie atmet die nackte Auster? Falls sie atmet, sehe ich es nicht. Gibt es das, was ich nicht sehe, nicht? Was mich am tiefsten bewegt, ist, daß das, was ich nicht sehe, trotzdem existiert. Dann habe ich nämlich eine ganze unbekannte Welt zu meinen Füßen, die, satt und voll von reichem Speichel, existiert. Die Wahrheit liegt irgendwo: doch vergeblich, darüber nachzudenken. Ich werde sie nicht finden, wenngleich ich von ihr lebe. Was ich Dir schreibe, schleicht sich nicht still und leise heran, erklimmt nach und nach einen Höhepunkt, um dann san zu verenden. Nein: was ich Dir schreibe, hat das Feuer glühender Blicke. Heute nacht ist Vollmond. Der Mond scheint durchs Fenster auf mein Bett und taucht alles in ein bläulich milchiges Weiß. Der Mond ist linkisch. Er steht auf der linken Seite dessen, der ins Zimmer kommt. Dann fliehe ich, indem ich die Augen schließe. Denn der Vollmond ist von einer leichten Schlaflosigkeit: betäubt und schläfrig wie nach der Liebe. Und ich hatte beschlossen zu schlafen, um träumen zu können, ich wartete sehnsüchtig auf die Neuigkeiten des Traums. Da hatte ich einen Traum, den ich versuchen werde wiederzugeben. Es handelte sich um einen Film, den ich mir ansah. Darin gab es einen Mann, der Filmschauspieler nachahmte. Und alles, was dieser Mann tat, wurde seinerseits von ande
ren und wiederum anderen nachgeahmt. Jede Geste. Und es lief eine Werbung für ein Getränk namens Zerbino. Der Mann nahm die Zerbino-Flasche und setzte sie an den Mund. Da griffen alle nach einer Zerbino-Flasche und setzten sie an den Mund. In der Mitte sprach der Mann, der die Schauspieler nachahmte: Dies ist ein Werbespot für Zerbino, doch Zerbino ist in Wirklichkeit miserabel. Aber das war nicht das Ende. Der Mann griff erneut nach der Flasche und trank. Und das gleiche taten alle anderen: es war fatal. Zerbino war eine Institution, die stärker war als die Menschen. Die Frauen sahen jetzt aus wie Stewardessen. Die Stewardessen sind dehydriert – man muß ihnen zum Pulver viel Wasser hinzugeben, damit sie zu Milch werden. Es ist ein Film mit automatischen Menschen, die aufs höchste und tiefste wissen, daß sie automatisch sind und daß es kein Entkommen gibt. Der Gott ist nicht automatisch: für Ihn ist ein jeder Augenblick. Er ist I. Aber es gibt Fragen, die ich mir als Kind gestellt habe und die nicht beantwortet wurden, kläglich ertönte ihr Echo: Hat die Welt sich alleine erschaffen? Aber wo hat sie sich erschaffen? an welchem Ort? Und wenn es durch die Energie Gottes geschah – wie hat es dann angefangen? ob es so war wie jetzt, daß ich bin und mich gleichzeitig erschaffe? Diese offenen Fragen bringen mich so durcheinander. Aber und und sind meine Geheimzahlen. Ich habe die Weihen empfangen, doch ohne Sekte. Nach dem Mysterium gierend. Meine Leidenscha für das Wesen der Zahlen, in denen ich den Kern ihres eigenen unbeugsamen und verhängnisvollen Schicksals errate. Und mir träumt von üppig wuchernden Größen, eingetaucht in Finsternis: Auf
ruhr des Überflusses, wo die samtblättrigen, fleischfressenden Pflanzen wir sind, die wir soeben Triebe hervorgebracht haben, gellende Liebe – nahende Ohnmacht. Ob das, was ich Dir schreibe, hinter dem Denken ist? eine Gedankenfolge ist es nicht. Wer in der Lage ist, nicht mehr zu denken – was schrecklich schwer ist –, der folge mir. Doch wenigstens ahme ich keine Schauspieler nach, und niemand muß mich an den Mund setzen oder zur Stewardeß werden. Ich muß Dir etwas gestehen: ich bin ein wenig erschrocken. Denn ich weiß nicht, wohin mich diese meine Freiheit führen wird. Sie ist weder willkürlich noch zügellos. Doch ich bin losgebunden. Hin und wieder werde ich eine leichte Geschichte einflechten – eine melodische aria cantabile, um dieses mein Streichquartett zu unterbrechen: eine figurative Stelle, um eine Lichtung in meine nährende Wildnis zu schlagen. Bin ich frei? Es gibt noch etwas, das mich festhält. Oder halte ich mich daran fest? Es ist auch so: ich bin nicht ganz frei, weil ich mit allem verbunden bin. Übrigens, ein Mensch ist alles. Es ist nicht schwer zu tragen, weil man es gar nicht trägt: man ist das Alles. Mir scheint, daß ich zum ersten Mal von den Dingen weiß. Der Eindruck ist der, daß ich nur nicht näher an die Dinge herangehe, um mich nicht zu übergehen. Ich habe eine gewisse Angst vor mir, ich verdiene kein Vertrauen und traue meiner falschen Macht nicht.
Dies ist das Wort eines, der nicht kann. Ich führe absolut nichts. Nicht einmal meine eigenen Worte. Aber das ist nicht traurig: es ist frohe Demut. Ich, die ich von der Seite lebe, bin linksseitig von dem, der hereinkommt. Und in mir erbebt die Welt. Scheint Dir dieses Wort zu undeutlich? Ich hoffe, so ist es nicht, ich bin nicht undeutlich. Aber ich bin kaleidoskopisch: meine blitzenden Mutationen, die ich hier kaleidoskopartig aufzeichne, faszinieren mich. Ich werde jetzt ein wenig unterbrechen, um mich besser zu vertiefen. Dann komme ich zurück. Ich bin wieder da. In der Zwischenzeit habe ich vor mich hin existiert. Ich habe einen Brief aus São Paulo bekommen, von jemandem, den ich nicht kenne. Der letzte Brief eines Selbstmörders. Ich habe in São Paulo angerufen. Niemand nahm ab, das Telefon klingelte und klingelte, und es hörte sich an, als herrsche in der Wohnung Totenstille. Tot oder nicht tot. Heute früh habe ich noch einmal angerufen: es ging immer noch keiner ans Telefon. Ja, tot. Nie werde ich es vergessen. Ich bin nicht mehr erschrocken. Laß mich reden, bitte, ja? Geboren wurde ich so: aus dem Schoß meiner Mutter das Leben pressend, das immer ewig war. Warte auf mich – ja? Wenn ich male oder schreibe, bin ich anonym. Meine abgrundtiefe Anonymität, die nie jemand berührt hat.
Ich habe Dir etwas Wichtiges zu sagen. Denn ich scherze nicht: It ist pures Element. Es ist aus dem Stoff des Augenblicks der Zeit. Ich verdingliche gar nichts: ich bin dabei, die wahre Geburt des It zu erleben. Mir ist schwindelig wie jemandem, der im Begriff ist, geboren zu werden. Geboren werden: ich habe einmal gesehen, wie eine Katze Junge bekam. Ein Kätzchen kommt heraus in der Fruchtblase, in der es zusammengerollt liegt. Die Katzenmutter leckt so lange an der Blase, bis diese schließlich platzt, und siehe da, ein beinah freies Kätzchen, es hängt nur noch an der Nabelschnur. Dann beißt die Katzenmutter und Schöpferin diese Schnur entzwei, und es gibt ein Faktum mehr auf der Welt. Dieser Vorgang ist It. Ich scherze nicht. Es ist mein bitterer Ernst. Denn ich bin frei. Ich bin so einfach. Ich schenke dir die Freiheit. Vorher zerbeiße ich die Fruchtblase. Dann durchtrenne ich die Nabelschnur. Und Du lebst auf eigene Faust. Werde ich geboren, bin ich frei. Darauf fußt meine Tragödie. Nein. Es ist nicht leicht. Aber es »ist«. Ich habe meine eigene Plazenta gegessen, damit ich vier Tage lang fasten konnte. Damit ich Milch hatte, um Dich zu stillen. Die Milch ist ein »Dies«. Und niemand ist Ich. Niemand ist Du. Das ist die Einsamkeit. Ich warte auf den nächsten Satz. Eine Frage von Sekunden. Da die Rede von Sekunden ist, frage ich Dich, ob Du es erträgst, daß die Zeit heute und jetzt und sofort ist. Ich halte es aus, denn ich habe meine eigene Plazenta aufgegessen.
Heute morgen um halb vier war ich wach. Sofort sprang ich katzenha aus dem Bett. Ich kam hierher, um Dir zu schreiben. Das heißt: um zu sein. Jetzt ist es halb sechs. Ich habe Lust zu nichts: ich bin pur. Ich wünsche Dir diese Einsamkeit nicht. Doch ich selbst bin in der schöpferischen Dunkelheit. Luzide Unklarheit, glänzende Dummheit. Vieles kann ich Dir nicht erzählen. Ich möchte nicht autobiographisch sein. Ich möchte »bio« sein. Ich schreibe im Verlauf der Wörter. Vor der Erfindung des Spiegels kannten die Menschen ihr Gesicht nur als Widerschein in den Wassern eines Sees. Nach einiger Zeit ist jeder verantwortlich für das Gesicht, das er hat. Ich werde mir jetzt in meines sehen. Es ist ein nacktes Gesicht. Und wenn ich denke, daß es keines auf der Welt gibt, das so ist wie meines, fahre ich erfreut zusammen. Nie wird es jemals so eines geben. Nie ist das Unmögliche. Ich mag das Nie. Ich mag auch das Immer. Was gibt es zwischen niemals und immer, das sie indirekt und innig verbindet? Im Grunde von allem gibt es das Halleluja. Dieser Augenblick ist. Du, der Du mich liest, bist. Es fällt mir schwer zu glauben, daß ich sterbe. Denn ich sprudele in einer kühlen Frische. Ich werde sehr lange leben, denn jeder Augenblick ist. Mir scheint, ich bin im Begriff, geboren zu werden, und kann es nicht.
Ich bin ein Herz, das in der Welt schlägt. Du, der Du mich liest, mögest mir helfen, auf die Welt zu kommen. Warte: es wird dunkel. Noch dunkler. Immer dunkler. Der Augenblick ist von einer totalen Finsternis. Mach weiter. Warte: ich kann etwas erkennen. Eine durchschimmernde Form. Ein milchiger Bauch mit Nabel? Warte – denn ich werde dieser Nacht entfliehen, die mich ängstigt, dieser dunklen Ekstase. Ich bin das Herz der Finsternis. Das Problem ist, daß der Vorhang meines Schlafzimmerfensters nicht in Ordnung ist. Er hakt, daher wird er nicht zugezogen. Deswegen scheint der Mond voll herein und phosphoresziert das Zimmer mit Schweigsamkeit: es ist schrecklich. Nun lüet sich der Schleier der Finsternis allmählich. Ich bin geboren. Pause. Ein zauberhaer Skandal: ich werde geboren.
Meine Augen sind zu. Ich bin reines Unbewußtsein. Die Nabelschnur wurde schon durchtrennt: ich bin frei im Weltall. Ich denke das It nicht, doch ich fühle es. Mit geschlossenen Augen suche ich blindlings die Brust: ich will dickflüssige Milch. Niemand hat mir beigebracht, sie zu wollen. Doch schon will ich sie. Mit offenen Augen bleibe ich liegen und sehe die Zimmerdecke. Drinnen ist die Dunkelheit. Ein pulsierendes Ich formt sich bereits. Es gibt Sonnenblumen. Der Weizen steht hoch. Ich ist. Ich höre die Zeit hohl dröhnen. Es ist die Welt, die dumpf entsteht. Wenn ich es hören kann, dann weil ich vor der Entstehung der Zeit bin. »Ich bin« ist die Welt. Eine Welt ohne Zeit. Mein Bewußtsein ist jetzt leicht und ist luig. Die Lu kennt weder Ort noch Epoche. Die Lu ist der Un-Ort, wo alles existieren wird. Was ich gerade schreibe, ist Musik der Lu. Die Entstehung der Welt. Allmählich kommt näher, was sein wird. Was sein wird, ist bereits. Die Zukun ist nach vorn und nach hinten und nach allen Seiten. Die Zukun ist, was immer existiert hat und immer existieren wird. Selbst wenn die Z abgescha wird? Was ich Dir schreibe, ist nicht zum Lesen – es ist zum Sein. Das Echo der Trompete der Engelwesen erschallt im Zeitlosen. In der Lu entsteht die erste Knospe. Es bildet sich der Boden, der Erde ist. Alles übrige ist Lu und ist kriechendes Feuer in immerwährender Mutation. Gibt es das Wort »immerwährend« nicht, weil es die Zeit nicht gibt? Doch es gibt das Dröhnen. Und mein Dasein beginnt zu sein. Ist es also der Anfang der Zeit? Plötzlich kam mir in den Sinn, daß, um zu leben, eine Ordnung nicht vonnöten ist. Es gibt keine Norm, die zwingend
befolgt werden muß, es gibt nicht einmal die Norm an sich: ich werde geboren. Ich bin noch nicht soweit, daß ich von einem »Er« oder »Sie« sprechen könnte. Ich liefere den Beweis für »Es«. Es ist Weltgesetz. Geburt und Tod. Geburt. Tod. Geburt und – wie wenn die Welt atmete. Ich bin pures It, das rhythmisch pocht. Doch ich spüre, daß ich bald soweit bin, von einem Er oder von einem Sie zu sprechen. Eine Geschichte kann ich Dir hier nicht versprechen. Aber es gibt It. Wer erträgt es? Das It ist weich, ist Auster und Plazenta. Ich spaße nicht, denn ich bin kein Synonym – ich bin das Nomen proprium. Es gibt einen stählernen Faden, der all das durchzieht, was ich Dir schreibe. Es gibt die Zukun. Die schon heute ist. Meine weite Nacht spielt sich im Primären einer Latenz ab. Leicht berührt die Hand die Erde und hört ein Herz warm pochen. Ich sehe die große weiße Schnecke mit Frauenbrüsten: ist es ein Menschenwesen? Ich verbrenne sie auf inquisitorischem Scheiterhaufen. Ich verfüge über die Mystik des Schattenreichs einer weit zurückliegenden Vergangenheit. Und ich überlebe diese Opferqualen mit dem unbeschreiblichen Brandmal, welches das Symbol für Leben ist. Es umringen mich elementare Kreaturen, Zwerge, Gnome, Kobolde und Genien. Ich opfere Tiere, um ihr Blut aufzufangen, das ich brauche, um meine Sortilegien zu zelebrieren. In meiner Grausamkeit bringe ich die Seele in ihrer eigenen Schwärze zum Opfer. Die Messe bereitet mir panische Angst – mir, die ich sie zelebriere. Und der wirre Geist beherrscht die Materie. Das Ungeheuer bleckt die Zähne, und
in der Ferne der Lu galoppieren die Pferde allegorischer Wagen vorbei. In meiner Nacht bete ich den geheimen Sinn der Welt abgöttisch an. Mund und Zunge. Und ein losgebundenes Pferd von einer freien Kra. Von ihm bewahre ich die Hufe in liebevollem Fetischismus. In meiner tiefen Nacht stürmt ein irrer Wind, der mir abgerissene Schreie mit sich bringt. Ich erdulde das Martyrium einer unangebrachten Sinnlichkeit. Am frühen Morgen werde ich voller Früchte wach. Wer wird kommen, die Früchte meines Lebens zu ernten? außer Dir und mir selbst? Warum scheinen die Dinge einen Augenblick bevor sie geschehen, bereits geschehen zu sein? Es ist eine Frage der Simultaneität der Zeit. Sieh, ich stelle Dir Fragen, und deren werden es nicht wenige sein. Denn ich bin eine Frage. Und in meiner Nacht spüre ich, wie das Übel mich überkommt. Was sich eine schöne Landscha nennt, gewinnt mir nur eine Müdigkeit ab. Ich liebe hingegen die Landschaen mit der versengten, trockenen Erde, den gekrümmten Bäumen und den Bergen aus nacktem Stein, alles in ein gleißendes, stehendes Licht getaucht. Ja, das ist der Ort, wo sich die verborgene Schönheit findet. Ich weiß, Du magst auch die Kunst nicht. Ich bin hart, heroisch, einsam und aufrecht geboren. Und meinen Kontrapunkt habe ich in der Landscha ohne Liebreiz und ohne Schönheit gefunden. Die Häßlichkeit ist meine Kriegsstandarte. Ich liebe das Häßliche mit einer Zuneigung von gleich zu gleich. Und ich fordere den Tod heraus. Ich – ich bin mein eigener Tod. Und niemand geht darüber hinaus. Was es an Barbarischem
in mir gibt, sucht die barbarische Grausamkeit außerhalb von mir. Ich sehe die abwechselnd in Licht und in Schatten getauchten Gesichter der Menschen, die angesichts des lodernden Scheiterhaufens ins Wanken geraten. Ich bin ein Baum, der in harter Lust brennt. Nur eine Rührung überkommt mich: die Nachsicht mit der Welt. Ich liebe mein Kreuz, das, welches ich unter Schmerzen trage. Es ist das mindeste, was ich aus meinem Leben machen kann: das Opfer der Nacht erbärmlich und erbarmend annehmen. Das Fremde übermannt mich: da spanne ich den schwarzen Regenschirm auf und gehe aufgeregt auf ein Tanzfest, wo Sterne blinken. Der tollwütige Nerv in mir, der mich krümmt. Bis die tiefe Nacht mich völlig entkräet vorfindet. Die tiefe Nacht ist riesig, und sie frißt mich auf. Der Sturm lockt mich. Ich folge ihm und erleide Schiruch. Wenn ich das Spiel, das sich als Leben entfaltet, nicht mitmache, werde ich das Leben selbst durch den Selbstmord meiner Spezies verlieren. Ich schütze mein Lebensspiel mit dem Feuer. Wenn mein eigenes Dasein und das der Welt durch die Vernun nicht mehr tragbar sind – dann reiße ich mich los und spüre einer latenten Wahrheit nach. Ob ich die Wahrheit wohl erkennen würde, stellte sie sich unter Beweis? Ich erschaffe mich. Ich bearbeite mich so lange, bis ich an den Kern komme. Was mein Ich auf der Welt angeht, möchte ich Dir von der Kra erzählen, die mich führt und die mir die Welt selbst nahebringt, und von der vitalen Sinnlichkeit klarer Strukturen und von den Kurven, die organisch an andere runde
Formen gebunden sind. Meine Schreibbewegungen und meine Windungen sind mächtig, und die Freiheit, die im Sommer weht, trägt in ihrem Schoß das Verhängnis. Die dem Lebendigen eigene Erotik ist in der Lu, im Meer, in den Pflanzen, in uns selbst, und sie breitet sich aus in der Vehemenz meiner Stimme, ich schreibe Dir mit meiner Stimme. Und die Kra eines derben Stammes ist spürbar, der Wurzeln, die tief in die lebendige Erde eindringen, die ihnen mit reicher Nahrung antwortet. In der Nacht atme ich die Energie. Und all das im Reich des Phantastischen. Das Phantastische: die Welt ist für einen Augenblick haargenau das, was mein Herz begehrt. Ich bin im Begriff, mich zu sterben und mich in neuen Zusammensetzungen wiederzufinden. Ich drücke mich sehr schlecht aus, die richtigen Wörter entgleiten mir. Meine innere Form ist von feinstem Schliff, und dennoch ist mein Zusammenhang mit der Welt von der rohen Nacktheit ungebundener Träume und großer Wirklichkeiten. Ich kenne das Verbot nicht. Und meine eigene Stärke, dieses volle Leben, das sich mir überläu, entbindet mich. Ich plane nicht bei meiner intuitiven Lebensarbeit: ich arbeite mit dem Indirekten, dem Ungeformten und dem Unerwarteten. Jetzt, im Morgengrauen, bin ich bleich und ringe nach Atem, und meine Lippen sind trocken angesichts dessen, was ich erreiche. Die Natur ein großer Choral und ich mit dem Tode ringend. Was singt die Natur? das endgültige Wort an sich, das lautet, nie mehr ich. Die Jahrhunderte werden über mir zusammenschlagen. Doch vorerst gibt es noch eine Grausamkeit des Körpers und der Seele, die sich in dem köstlichen Schmoren schwerer, sich überschlagender Wörter äußert – und etwas Wildes, Elementares und
Auegehrendes steigt aus meinen Sümpfen auf, die verdammte Pflanze, die beinahe bereit ist, sich dem Gott zu übergeben. Je verdammter, desto näher dem Gott. Ich habe mich in mich vertie und fand, daß ich blutiges Leben will, und der verborgene Sinn hat eine Intensität, die leuchtet. Es ist die geheime Leuchtkra des Wissens um das Verhängnis: der Grundstein der Erde. Es ist mehr eine Lebensahnung als Leben selbst. Ich beschwöre es und treibe es aus, indem ich die Profanen ausschließe. In meiner Welt wird mir nicht viel Freiraum gewährt. Ich bin nur frei, die fatalen Gesten zu vollziehen. Meine Anarchie gehorcht unterirdisch einem Gesetz, in dem ich insgeheim mit Astronomie, Mathematik und Mechanik zu tun habe. Die Liturgie der dissonanten Insektenschwärme, die aus den verhangenen und verpesteten Sümpfen strömen. Insekten, Kröten, Läuse, Fliegen, Flöhe und Wanzen – alles gekrochen aus dem korrupten, bösartigen Keim der Larven. Und mein Hunger nährt sich von diesen faulen, verwesenden Wesen. Mein Ritus ist kräftereinigend. Doch es gibt fürwahr Bösartigkeit in der Wildnis. Ich trinke einen Schluck Blut, und er erfüllt mich voll und ganz. Ich höre, wie Zimbeln und Trompeten und Tamburins die Lu mit Geprassel und Getöse erfüllen und das Schweigen der Sonnenscheibe und ihre Wunder dämpfen. Ich möchte einen Mantel, gewebt aus den goldenen Fäden der Sonne. Die Sonne ist die magische Spannung des Schweigens. Auf meiner Reise zu den Mysterien höre ich die fleischfressende Pflanze, die unerdenkliche Zeiten beklagt: und habe obszöne Alpträume unter kranken Luzügen. Ich bin verzaubert, verführt, von flüchtigen Stimmen mitgerissen. Die nahezu unverständlichen keilförmigen Inschrien handeln von der Empfängnis und liefern Formeln zur Ernährung von der Kra der Finsternis. Sie sprechen
von nackten, sich kriechend fortbewegenden Weibchen. Und die Sonnenfinsternis verbreitet einen geheimen Terror, der jedoch ein strahlendes Herz ankündigt. Ich befestige das Bronzediadem in meinem Haar. Hinter dem Denken – noch weiter hinten – befindet sich die Decke, zu der ich als Kind schaute. Plötzlich begann ich zu weinen. Es war Liebe bereits. Oder es war nicht einmal Weinen. Ich lag auf der Lauer. Die Decke erforschend. Der Augenblick ist das riesige Ei mit den lauwarmen Eingeweiden. Jetzt graut erneut ein Morgen. Doch wenn der Tag anbricht, glaube ich, daß wir die Zeitgenossen des nächsten Tages sind. So helfe mir der Gott: ich bin verloren. Ich brauche Dich schrecklich dringend. Wir müssen zwei sein. Damit das Korn wachse. Ich bin so feierlich, daß ich auören werde. Vor wenigen Augenblicken habe ich das Licht der Welt erblickt und bin geblendet. Die Kristalle klirren und glitzern. Reif ist das Korn: das Brot wird geteilt. Aber wird es mit Sanmut geteilt? Dies zu wissen ist wichtig. Ich denke nicht, genau wie der Diamant nicht denkt. Ich funkele edel. Ich habe weder Hunger noch Durst: ich bin. Ich habe zwei Augen, die offen sind. Zum Nichts. Zu der Decke. Ich werde ein Adagio schreiben. Lies es langsam und friedlich. Es ist ein breites Fresko.
Das Geborenwerden ist so: Die Sonnenblumen drehen langsam ihre Köpfe zur Sonne. Das Korn ist reif. Das Brot wird mit Sanmut gegessen. Meine Impulse verbinden sich mit denen der Baumwurzeln. Geboren werden: die Armen haben ein Gebet in Sanskrit. Sie bitten nicht: sie sind die Armen im Geiste. Geborenwerden: die Afrikaner haben eine schwarze, mattschimmernde Haut. Viele sind Kinder der Königin von Saba und des Königs Salomo. Um mich in den Schlaf zu wiegen, mich Neugeborene, stimmen die Afrikaner einen urtümlichen Singsang an, in dem sie monoton wiederholen, daß die Schwiegermutter, sobald sie heraustreten, kommt und ein Bananenbüschel pflückt. Sie haben ein Liebeslied, das auch monoton das Lamento anstimmt, das ich zu meinem mache: Warum liebe ich dich, wenn du mir nicht antwortest? Ich schicke dir Boten, doch vergeblich; wenn ich dich grüße, verhüllst du dein Antlitz; warum nur hebe ich dich, wenn du mich nicht einmal siehst? Es gibt auch ein Wiegenlied für Elefanten, die im Fluß baden gehen. Ich bin eine Afrikanerin: die Spur eines tristen, langgezogenen, wilden Lamentos in meiner singenden Stimme. Die Weißen schlugen die Neger mit der Peitsche. Doch wie der Schwan ein Öl absondert, das die Haut wasserundurchlässig macht – so kann der Schmerz der Schwarzen nicht eindringen und tut nicht weh. Der Schmerz kann in Lust verwandelt werden – dazu bedarf es nur eines »Klicks«. Ein schwarzer Schwan?
Doch es gibt die, die vor Hunger sterben, und ich kann nichts dagegen tun, es sei denn, geboren werden. Mein Singsang geht so: Was kann ich für sie tun? Meine Antwort lautet: in Adagio ein Fresko malen. Ich könnte den Hunger der anderen schweigend erleiden, doch eine Altstimme verleitet mich zum Singen – ich singe matt und dunkel. Das ist meine Botscha als einsamer Mensch. Ein Mensch frißt den anderen vor Hunger. Doch ich habe mich von meiner eigenen Plazenta ernährt. Und Fingernägel werde ich nicht kauen, denn dies ist ein ruhiges Adagio. Ich habe eine Pause gemacht, um frisches Wasser zu trinken: das Glas in diesem Augenblick Jetzt ist aus dickem, geschliffenem Kristall, bestückt mit Tausenden von Augenblicksfunken. Sind die Gegenstände geronnene Zeit? Es ist immer noch Vollmond. Einige Uhren sind stehengeblieben, und der Klang eines heiseren Glockenspiels rinnt die Mauer herab. Ich möchte mit meiner Uhr am Arm beerdigt werden, damit in der Erde etwas die Zeit pulsieren lassen kann. Ich bin so weiträumig nun. Ich bin kohärent: mein Lied ist tief. Langsam. Aber crescendo. Im Ton noch mehr anschwellend. Wenn es weiter so anschwillt, wird es zu Vollmond und zu Schweigen und zu gespenstischer Mondoberfläche. Der Zeit, die stehenbleibt, auflauernd. Was ich Dir schreibe, ist mein voller Ernst. Es wird zu hartem, unvergänglichem Gegenstand werden. Was kommt, ist unvermutet. Bin ich, wenn auch vergebens, ehrlich, so muß ich sagen, daß es jetzt Viertel nach sechs Uhr morgens ist.
Das Risiko – ich riskiere es, Neuland zu entdecken. Das noch nie von einem Menschen betreten wurde. Vorher muß ich die duende Pflanzenwelt durchdringen. Ich habe eine Königin der Nacht geschenkt bekommen, sie steht auf dem Balkon. Ich werde beginnen, mein eigenes Parfüm herzustellen: ich kaufe den Alkohol, um die Pflanzenteile in der entsprechenden Lösung ziehen zu lassen, und vor allem den Fixateur zum Haltbarmachen des Dustoffes, der rein tierischen Ursprungs sein muß. Schwerer Moschus. Dies ist der letzte tiefe Akkord des Adagios. Meine Zahl ist . Ist . Ist . Alles hinter dem Denken. Wenn dies alles existiert, dann bin ich. Doch woher diese Übelkeit? Sie rührt daher, daß ich nicht auf die einzige Art zu leben lebe, die es für jeden einzelnen gibt, und nicht einmal weiß, welche es ist. So unbehaglich. Ich fühle mich nicht wohl. Ich weiß nicht, was los ist. Doch irgend etwas stimmt nicht und verursacht Übelkeit. Indessen bin ich ehrlich, und mein Spiel ist sauber. Ich lasse mir in die Karten schauen. Nur die Fakten meines Lebens zähle ich nicht auf: ich bin von Natur aus geheim. Was also ist los? Ich weiß nur, daß ich den Betrug nicht will. Ich weigere mich. Ich habe mich vertie, aber ich glaube nicht an mich, denn mein Denken ist erfunden. Ich kann mich schon auf das »Er« oder »Sie« vorbereiten. Das Adagio ist zu Ende. Also beginne ich. Ich lüge nicht. Meine Wahrheit funkelt wie der Kristalltropfen eines Lüsters. Aber sie ist geheim. Ich halte es aus, weil ich stark bin: ich habe meine eigene Plazenta aufgegessen.
Wenngleich alles so zerbrechlich ist. Ich fühle mich so verloren. Ich lebe von einem Geheimnis, das lichte Strahlen verbreitet, die mich blenden würden, deckte ich sie nicht mit einem schweren Mantel aus falschen Gewißheiten zu. Auf daß der Gott mir helfe: ich habe keinen Geleiter, und wieder ist es dunkel. Muß ich aufs neue sterben, um erneut geboren zu werden? Ich akzeptiere es. Ich werde zu dem Unbekannten meiner selbst zurückkehren, und sobald ich geboren bin, werde ich von einem »Er« oder »Sie« sprechen. Vorläufig ist das, was mich stützt, ein »Es«, das ein »It« ist. Von sich selbst aus ein Wesen erschaffen ist eine todernste Sache. Ich bin mit meiner Erschaffung beschäigt. In vollkommener Finsternis zu wandeln, auf der Suche nach uns selbst, das ist es, was wir tun. Es tut weh. Doch es sind Geburtswehen: es wird etwas geboren, das ist. Es ist sich. Es ist hart wie ein trockener Stein. Aber das Innere ist weiches, lebendiges It, vergänglich, gefährdet. Leben ist elementare Materie. Da der Gott keinen Namen hat, werde ich Ihn bei dem Namen Simptar rufen. Der kommt in keiner Sprache vor. Mir gebe ich den Namen Amptala. Einen solchen Namen gibt es meines Wissens nicht. Vielleicht in einer Sprache, die älter als Sanskrit ist, in einer It-Sprache. Ich höre die Uhr ticken: also beeile ich mich. Das Ticken ist It. Ich glaube, daß ich nicht im nächsten Augenblick sterben werde, denn der Arzt, der mich gründlich untersucht hat, meinte, ich sei bei bester Gesundheit. Siehst Du? Der Au
genblick ist vorbei, und ich bin nicht gestorben. Ich will direkt in der Erde begraben werden, wenn auch in einem Sarg. Ich will nicht in eine Schublade in der Mauer gelegt werden wie auf dem Friedhof São João Batista, wo es in der Erde keinen Platz mehr gibt. Daher hat man diese diabolischen Mauern erfunden, wo man wie in einem Archiv abgelegt wird. Jetzt ist ein Augenblick. Merkst Du es? ich merke es sehr wohl. Die Lu ist It und riecht nach gar nichts. Auch das mag ich. Aber die Königin der Nacht liebe ich, denn ihr süßer Moschusdu ist eine Hingabe an den Mond. Ich habe schon Gelee aus kleinen, scharlachroten Rosen gegessen: ihr Geschmack segnet und überwältigt uns zugleich. Wie den Geschmack in Worten schildern? Der Geschmack ist einer, und der Worte sind es viele. Was die Musik betri, wohin gelangt sie, nachdem sie gespielt wurde? An Konkretem hat die Musik nur das Instrument. Weit hinter meinem Denken bin ich musikalisch untermalt. Und noch weiter hinten liegt das Herz und pocht. So also ist das tiefste Denken ein pochendes Herz. Ich möchte bei lebendigem Leibe sterben. Ich schwöre, daß ich nur sterbe, nachdem ich dem Leben den letzten Augenblick abgewonnen habe. Ein tiefes Gebet ist in mir, das irgendwann geboren wird. Ich wollte so gern vor lauter Gesundheit sterben. Wie einer, der explodiert. Eclater klingt besser: J’éclate. Vorläufig gibt es noch den Dialog mit Dir. Dann wird es ein Monolog sein. Und dann Schweigen. Ich weiß, daß es eine Ordnung geben wird.
Das Chaos bereitet sich von neuem vor, wie Musikinstrumente, die gestimmt werden, bevor die elektronische Musik einsetzt. Ich improvisiere, und die Schönheit dessen, was ich improvisiere, ist Flucht. Ich fühle, wie das Gebet, das noch nicht gekommen ist, in mir hämmert. Ich spüre, daß ich bitten werde, die Fakten mögen nur an mir abperlen, ohne mich zu durchnässen. Ich bin für das große Schweigen des Todes bereit. Jetzt gehe ich schlafen. Ich bin aufgestanden. Der Gnadenschuß. Denn es ist mir leid geworden, mich zu verteidigen. Ich bin unschuldig. Naiv sogar, denn ich ergebe mich ohne Sicherheiten. Ich bin per O geboren. Ich bin völlig ruhig. Ich atme per O. Ich habe keinen Lebensstil: ich habe das Unpersönliche erreicht, was verdammt schwer ist. In Kürze wird mir die O erteilt, das Maximum zu überwinden. Das Maximum überwinden heißt, das pure Element leben. Es gibt Leute, die es nicht ertragen: sie übergeben sich. Doch ich bin an Blut gewöhnt. Welch wunderschöne Musik höre ich in meiner Tiefe. Es ist eine Komposition aus geometrischen Strichen, die sich in der Lu überschneiden. Es ist Kammermusik. Kammermusik kennt keine Melodie. Sie ist eine Form, das Schweigen auszudrücken. Was ich Dir schreibe, ist in Kammerschri geschrieben. Und das, was ich zu schreiben versuche, ist eine Form, mich zu wehren. Ich bin zu Tode erschrocken. Wieso hat es auf dieser E einst Dinosaurier gegeben? wie rottet man eine Rasse aus?
Ich stelle fest, daß ich schreibe, als pendelte ich zwischen Schlafen und Wachen. Da merke ich plötzlich, daß ich seit langem nicht verstehe. Wird die Schneide meines Messers allmählich blind? Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es so, daß ich nicht verstehe, weil das, was ich sehe, jetzt schwer ist: heimlich nehme ich Kontakt mit einer mir unbekannten Wirklichkeit auf, in der noch keine Gedanken und erst recht keine Wörter, die sie auszudrücken vermöchten, gegeben sind: es ist wie ein Eindruck hinter dem Denken. Und da überwältigt mich mein Übel. Immer noch bin ich die grausame Königin der Meder und der Perser und auch eine langsame Entwicklung, die sich gleich einer Zugbrücke in eine Zukun hebt, deren milchige Nebel ich schon atme. Meine Aura ist aus dem Mysterium Leben. Ich überwinde mich, indem ich auf meinen Namen verzichte, und siehe da, ich bin die Welt. Einstimmig folge ich der Stimme der Welt. Was ich Dir schreibe, hat keinen Anfang: es ist Fortsetzung. Aus den Wörtern in diesem Lied, einem Lied, das meines und Deines ist, löst sich ein Lichtschein, der die Sätze transzendiert, merkst Du es? Meine Erfahrung beruht darauf, daß ich die Ausstrahlung der Dinge dereinst zu malen vermochte. Die Ausstrahlung ist wichtiger als die Dinge und die Wörter selbst. Die Ausstrahlung ist schwindelerregend. Ich ramme das Wort in die wüste Leere: es ist ein Wort wie ein dünner monolithischer Block, der einen Schatten wir. Und es ist Trompete, die verkündigt. Die Ausstrahlung ist das It.
Ich muß unbedingt noch einmal das It der Tiere spüren. Seit langem habe ich keinen Kontakt mehr zu dem primitiven animalischen Leben. Es tut mir not, die Tiere zu studieren. Ich will das It erfassen, nicht damit ich einen Adler und ein Pferd malen kann, sondern ein geflügeltes Pferd mit den breiten Schwingen eines großen Adlers. Ein Schauer läu mir über den Rücken, wenn ich hautnahen Kontakt zu Tieren habe oder einfach ihren Anblick genieße. Die Tiere phantaszinieren mich. Sie sind die Zeit, die man nicht zählt. Mir ist, als hätte ich einen Horror vor dieser lebendigen Kreatur, die nicht menschlich ist und die meine eigenen Instinkte hat, wenngleich frei und unbezähmbar. Ein Tier ersetzt nie das eine durch das andere. Die Tiere lachen nicht. Obwohl ein Hund manchmal lacht. Abgesehen von der hechelnden Schnauze, vermittelt sich das Lächeln durch die Augen, die an Glanz und Sinnlichkeit gewonnen haben, während er in freudiger Erwartung mit dem Schwanz wedelt. Aber Katzen lachen nie. Ein »Er«, den ich kenne, will von Katzen nichts mehr wissen. Er hat sie für immer satt, weil es eine bestimmte Katze gab, die an periodischer Besessenheit litt. Ihre Instinkte waren so gebieterisch, daß sie, wenn sie läufig war, sich nach langem, herzzerreißendem Miauen vom Dach warf und sich am Boden verletzte. Manchmal elektrisiere ich mich, wenn ich ein Tier sehe. Jetzt höre ich den Urschrei in meinem Innern: es ist, als wüßte ich nicht, wer mehr Kreatur ist, ob ich oder das Tier. Dann fühle ich mich völlig verwirrt. Anscheinend bekomme ich Angst, unterdrückten Instinkten ins Auge zu
sehen, die ich dem Tier gegenüber gezwungen bin, anzunehmen. Ich kannte ein »Sie«, das Tiere vermenschlichte, indem es mit ihnen sprach und ihnen die eigenen Charaktereigenschaen verlieh. Ich vermenschliche die Tiere nicht, das wäre eine Beleidigung – man muß ihre Natur respektieren –, ich bin es, die sich animalisiert. Es ist nicht schwer und geschieht ganz von alleine. Man darf nur nicht dagegen ankämpfen und muß sich einfach hingeben. Es gibt nichts Schwierigeres, als sich dem Augenblick hinzugeben. Diese Schwierigkeit ist menschlicher Schmerz. Ist unser Schmerz. Ich gebe mich in Worten hin und gebe mich hin, wenn ich male. Einen Vogel in der hohlen Hand zu halten ist schrecklich, es ist, als hielte man die zuckenden Augenblicke in der Hand fest. Der verängstigte Vogel flattert mit tausend Flügeln, und auf einmal hält man in der halbgeschlossenen Hand die feinen zitternden Federn, und plötzlich wird es unerträglich, und man öffnet die Hand geschwind, um die leichte Beute freizulassen. Oder man übergibt sie schnellstens dem Besitzer, auf daß er ihr die relativ größere Freiheit des Käfigs schenke. Vögel – ich will sie auf den Bäumen oder im Fluge, fern von meinen Händen. Vielleicht werde ich eines Tages ihre Vertraute sein und die Gunst ihrer überaus zarten Anwesenheit genießen. »Die Gunst ihrer überaus zarten Anwesenheit genießen« gibt mir das Gefühl, einen ganzen Satz geschrieben zu haben, da ich genau das gesagt habe, was ist: die Levitation der Vögel.
Eine Eule zu haben würde mir nie in den Sinn kommen, obwohl ich sie gemalt habe, in den Höhlen. Doch ein »Sie« hat im Wald von Santa Teresa ein aus dem Nest gefallenes Eulenjunges gefunden, ganz allein und ohne Mutter. Sie nahm es mit nach Hause. Sie umhegte es. Sie gab ihm zu fressen und redete ihm gut zu und entdeckte schließlich, daß es rohes Fleisch mochte. Nachdem es groß war, glaubte man, es würde sofort entfliehen, doch es dauerte, bis es sich aufschwang, seinem eigenen Schicksal zu folgen, nämlich, sich zu den Angehörigen seiner närrischen Rasse zu gesellen: denn dieser Teufelsvogel hatte die Frau liebgewonnen. Bis er sich einen Ruck gab – als läge er im Widerstreit mit sich selbst – und sich im Fluge befreite für die Tiefe der Welt. Ich habe schon Pferde unter freiem Himmel weiden sehen, wo in der Nacht der weiße Hengst – König der Schöpfung – sein langes Siegeswiehern in die hohen Lüe stieß. Einst hatte ich eine vollkommene Beziehung zu ihnen. Ich sehe mich noch, wie ich erhobenen Hauptes dastehe, genau so stolz wie das Pferd, und über sein nacktes Fell streiche. Durch seine wilde Mähne fahre. Ich fühlte mich so: die Frau und das Pferd. Ich weiß von einer vergangenen Geschichte, die sich aber jetzt erneuert. Der Er erzählte mir, daß er eine Zeitlang bei einem Teil seiner Familie gewohnt habe, der in einem kleinen Dorf in einem Tal der hohen, schneebedeckten Pyrenäen lebte. Im Winter kamen die hungrigen Wölfe auf der Suche nach Nahrung von den Bergen herunter ins Dorf. Sämtliche Bewohner waren auf der Hut, sie versammelten sich hinter verriegelten Türen und brachten die Schafe,
Pferde, Hunde und Ziegen in ihrem eigenen Haus in Sicherheit, die menschliche und die tierische Wärme – hellwach konnten sie das Kratzen der Wolfspfoten an den verschlossenen Türen hören. Die Nerven zum Zerreißen gespannt, lauschten sie. Ich bin melancholisch. Es ist am Vormittag. Aber ich kenne das Geheimnis der hellen Vormittage. Und ruhe mich in der Melancholie aus. Ich weiß von der Geschichte einer Rose. Findest Du es seltsam, von Rosen zu sprechen, wenn ich mich mit Tieren befasse? Aber sie hat sich auf eine Art verhalten, die an die Mysterien der Tiere erinnert. Jeden zweiten Tag kaue ich eine Rose und stellte sie ins Wasser, in eine extraschlanke Vase, die dafür gemacht war, den langen Stiel einer einzigen Blume zu fassen. Jeden zweiten Tag war die Rose welk, und ich ersetzte sie durch eine neue. Bis es eines Tages eine ganz besondere Rose gab. Rosarot – weder enthielt sie Farbzusätze, noch war sie das Produkt einer Kreuzung –, vom rosigsten Rosa der eigenen Natur selbst. Ihre Schönheit weitete das Herz in ungeahnte Fernen. Sie schien so stolz auf ihre voll entfaltete samtene Blumenkrone und auf jedes einzelne Blatt, daß sie nahezu hochmütig dastand. Aber nicht ganz gerade hielt sie sich: graziös neigte sie sich über den Stengel, der dünn und zerbrechlich war. Eine Liebesbeziehung entwickelte sich zwischen mir und der Blume: ich bewunderte sie, und sie schien sich bewundert zu fühlen. So erhaben sonnte sie sich im Lichte der Bewunderung und mit so viel Liebe wurde sie angesehen, daß die Tage vergingen und sie nicht welkte: immer noch war ihre Krone ganz offen und feucht, frisch wie eine soeben aufgegangene Knospe.
Ihre Schönheit und ihr Leben dauerten eine ganze Woche. Erst dann gab sie Anzeichen einer gewissen Müdigkeit. Danach starb sie. Nur mit Widerstreben ersetzte ich sie durch eine andere. Und niemals habe ich sie vergessen. Das Seltsame ist, daß die Hausangestellte eines Tages treffsicher bemerkte: »Und diese eine Rose, was?« Ich fragte gar nicht, welche. Ich wußte es. Diese Rose, die gelebt hat durch die lang erfahrene Liebe, fiel der Frau ein, weil sie die Art, wie ich die Blume ansah und ihr in Wellen meine Energie mitteilte, beobachtet hatte. Intuitiv hatte sie gespürt, daß zwischen mir und der Rose etwas geschehen war. Diese Rose – am liebsten hätte ich sie »Kleinod des Lebens« genannt, denn o nenne ich die Dinge – hatte soviel Naturinstinkt, daß sie und ich uns zutiefst hätten gegenseitig leben können, wie es nur Tier und Mensch gegeben ist. Nicht als Tier auf die Welt gekommen zu sein gehört zu dem, was eine heimliche Wehmut in mir weckt. Manchmal verlangen nach mir aus der Ferne Generationen, und meine einzige Form zu antworten ist, unruhig zu werden. Es ist der Ruf. Diese entfesselte Lu, dieser Wind, der die Seele meines Gesichtes peitscht und sie mit Beklommenheit erfüllt in der Nachahmung einer angsterfüllten, stets neuen Ekstase, aufs neue und immer wieder, jedesmal das Untergehen in einem Bodenlosen, in das ich unentwegt und ohne Ende falle bis zum Lebensende und bis mir endlich Stille beschert ist. O heißer Schirokko, den Tod vergebe ich dir nicht, dir, der du mir ein beschädigtes Andenken an Erlebtes mitbringst, das, wehe mir, sich ständig wiederholt, wenngleich in anderen und verschiedenen Formen. Das Erlebte bringt mich aus der
Fassung, fassungslos sehe ich der Zukun entgegen. Diese, wie das bereits Vergangene, ist unbegreiflich, reine Annahme. In diesem Augenblick harre ich in einer weißen Leere in Erwartung des nächsten Augenblicks. Die Zeit zu zählen ist lediglich eine Arbeitshypothese. Aber was existiert, ist vergänglich, und das zwingt einen, die unabänderliche, andauernde Zeit zu zählen. Sie hat niemals begonnen und wird niemals enden. Niemals. Ich habe von einem Sie gehört, das im eigenen Bett starb, aber laut schreiend: ich gehe zu Ende! Bis ihm die Wohltat des Komas erwiesen wurde, in dem sich das Sie von seinem Körper freimachte und kein bißchen Angst mehr vor dem Tod hatte. Um Dir zu schreiben, bestäube ich mich vorher ganz mit Parfüm. Ich kenne Dich ganz, weil ich Dich ganz lebe. In mir ist das Leben tief. Das Morgenrot findet mich blaß vor nach all den tiefgehenden Träumen, die ich in der Nacht gelebt habe. Wenngleich ich manchmal in einer trügerischen Untiefe dahinsegele, unter der sich ein Abgrund in Dunkelblau, fast Schwarz auut. Deshalb schreibe ich Dir. Angehaucht von den dicken Algen und in zart keimender Liebe. Ich werde sterben: da ist diese Spannung, wie die eines Bogens, bereit, den Pfeil abzuschießen. Ich erinnere mich an das Sternzeichen Schütze: halb Mensch, halb Tier. Der menschliche Teil spannt in klassischer Haltung den Bogen
mit dem Pfeil. Der Bogen kann jeden Augenblick den Pfeil abschießen und ins Schwarze treffen. Ich weiß, daß ich ins Schwarze treffen werde. Jetzt werde ich mir beim Schreiben freie Hand lassen: keinen Deut werde ich an dem, was sie schreibt, ändern. Das ist eine Möglichkeit, einer Verschiebung zwischen dem Augenblick und mir entgegenzuwirken: ich wirke im Kern des Augenblicks selbst. Doch eine geringe Verschiebung wird es immer geben. Es fängt so an: wie die Liebe den Tod verhindert, und ich weiß nicht, was ich damit sagen will. Ich vertraue meinem Unverständnis, das mir ein Leben frei von Verstehen gewährte, ich habe Freunde verloren, den Tod verstehe ich nicht. Die schreckliche Pflicht ist die, bis zum Ende zu gehen. Und mit niemandem zu rechnen. Mich selbst zu leben. Und um nicht so schrecklich zu leiden, mich ein wenig zu betäuben. Denn ich kann das Leid der Welt nicht mehr tragen. Was tun, wenn ich in vollem Ausmaß fühle, was andere Menschen sind und fühlen? Ich lebe sie, doch ich habe keine Kra mehr. Nicht einmal mir selbst möchte ich gewisse Dinge gestehen. Es würde bedeuten, das Man-ist zu hintergehen. Ich spüre, daß ich von einigen Wahrheiten weiß. Die ich schon jetzt vorausfühle. Doch Wahrheiten haben keine Worte. Wahrheiten oder die Wahrheit? Ich werde nicht von dem Gott sprechen, Er ist ein Geheimnis, mein Geheimnis. Heute ist ein sonniger Tag. Am Strand kam ein frischer Wind auf und eine Freiheit. Und ich war allein. Ohne irgend jemanden zu brauchen. Es ist schwer, denn ich muß mit Dir teilen, was ich empfinde. Das glatte Meer. Doch lauernd und argwöhnend. Als könnte diese Ruhe nicht dauern. Etwas ist immer im Begriff zu geschehen. Das Unvorhergesehene, improvisiert
und fatal, fasziniert mich. Ich bin Dir schon so intensiv verbunden, daß ich aufgehört habe zu existieren und bin. Du wurdest zu einem Ich. Es ist so schwer, zu sprechen und Dinge zu sagen, die sich nicht sagen lassen. Es ist so lautlos. Wie die lautlose Beschaffenheit der wahren Begegnung zwischen uns beiden übersetzen? Ungeheuer schwer, davon zu erzählen: für einige Augenblicke ließ ich meinen starren Blick auf Dir ruhen. Solche Momente sind mein Geheimnis. Es gab das, was sich vollkommene Kommunion nennt. Ich bezeichne es als hohen Glückszustand. Ich bin unglaublich bei Sinnen, und wie es scheint, erreiche ich eine höhere Ebene von Menschlichkeit, Oder von Unmenschlichkeit – das It. Was ich aus unwillkürlichem Instinkt tue, läßt sich nicht beschreiben. Was tue ich, indem ich Dir schreibe? Ich versuche, den Du zu fotografieren. Ich schreibe Dir, am offenen Fenster sitzend, in der Höhe meines Ateliers. Ich schreibe Dir dieses Faksimile von einem Buch, dem Buch von jemandem, der zu schreiben nicht fähig ist; denn in dem leichteren Bereich des Sprechens kann ich beinahe nicht sprechen. Vor allem nicht schrilich zu Dir sprechen, ich, die ich daran gewöhnt war, in Dir das meiner Stimme lauschende, wenn auch zerstreute Publikum zu haben. Wenn ich male, respektiere ich das Material, das ich benutze, ich respektiere seine primäre Bestimmung. Wenn ich Dir also schreibe, respektiere ich die Silben.
Wieder ein Augenblick, in dem ich sehe, was folgen wird. Obwohl ich, um vom Moment des Sehens zu reden, diskursiver sein muß als dieser Moment: viele Momente werden vergehen, bevor ich die vereinte, blitzschnelle Komplexität eines im Nu vergangenen Augenblicks aufschlüsseln und erschöpfen kann. Ich schreibe Dir in dem Maße, wie mein Atem es zuläßt. Ob ich die Hermetik meiner Malerei wiederhole? Denn es sieht so aus, als müsse man schrecklich explizit sein. Bin ich explizit? Was kümmert es mich. Jetzt werde ich mir eine Zigarette anzünden. Vielleicht kehre ich zur Schreibmaschine zurück, vielleicht höre ich auf der Stelle auf, für immer. Ich, die ich nie passend bin. Ich bin zurückgekommen. Ich denke an Schildkröten. Aus reiner Intuition habe ich einmal gesagt, daß die Schildkröte ein dinosaurisches Tier sei. Später habe ich gelesen, daß es tatsächlich stimmt. Manchmal passieren einem Dinge! Eines Tages werde ich Schildkröten malen. Ich bin sehr an ihnen interessiert. Alle Lebewesen, sieht man vom Menschen einmal ab, sind geradezu ein Skandal lauteren Entzückens: wir wurden geformt, und eine Unmenge Rohstoff blieb übrig – It –, und so wurden die Tiere geschaffen. Wozu ausgerechnet eine Schildkröte? Vielleicht sollte der Titel dessen, was ich Dir schreibe, ungefähr so und in der Form einer Frage lauten: »Und die Schildkröten?« Wer mich liest, würde sagen: Ja, genau, es ist eine Ewigkeit her, daß ich nicht mehr an Schildkröten gedacht habe. Plötzlich bin ich so betrübt, daß ich nicht übel Lust hätte, Schluß jetzt zu sagen und das Schreiben an Dich zu been
den, es handelt sich eher um blinde Wörter. Selbst für Ungläubige gibt es den Augenblick der Verzweiflung, der göttlich ist: die Abwesenheit des Gottes ist eine religiöse Handlung. In diesem selben Augenblick flehe ich den Gott an, mir zu helfen. Ich habe es bitter nötig. Nötiger als die Stärke der Menschen. Ich bin stark, aber auch zerstörerisch. Der Gott muß zu mir kommen, da ich zu I nicht gegangen bin. Möge der Gott kommen: bitte. Auch wenn ich es nicht verdiene. Möge E kommen. Oder vielleicht haben die es am nötigsten, die es am wenigsten verdienen. Ich bin unruhig und unwirsch und habe keine Hoffnung. Wenngleich in meinem Herzen Liebe ist. Nur, ich weiß diese Liebe nicht zu gebrauchen. Manchmal zerkratzt sie mich, als wären es Stacheln. Wenn ich so viel Liebe in mir empfangen habe und dennoch weiterhin unruhig bin, dann, weil ich es brauche, daß der Gott komme. Komme E, bevor es zu spät ist. Ich laufe Gefahr, wie jeder Mensch, der am Leben ist. Und das einzige, was mich erwartet, ist das Unerwartete. Aber ich weiß, daß ich Frieden finden werde, bevor ich tot bin, und daß ich eines Tages von der Zartheit des Lebens kosten werde. Ich werde es wahrnehmen – so wie man ißt und den Geschmack des Essens lebt. Meine Stimme fällt in den Abgrund Deines Schweigens. Schweigend liest Du mich. Doch auf diesem grenzenlosen stummen Feld breite ich die Flügel aus, frei, um zu leben. Dann akzeptiere ich das Schlimmste und dringe in den Kern des Todes ein, und dafür bin ich am Leben. Der Kern ist empfindsam. Und es bringt mich dieses It zum Vibrieren. Jetzt werde ich Dir von der Wehmut der Blumen erzählen, um die Ordnung dessen, was ist, besser zu spüren. Davor schenke ich Dir mit Vergnügen den Nektar, diesen süßen
Trank, den viele Blüten absondern und die Insekten gierig suchen. Das Fruchtblatt ist das weibliche Geschlechtsorgan der Blüte, das sich meistens in der Mitte befindet und die rudimentäre Samenanlage trägt. Pollen ist befruchtender Staub, der in den Staubblättern produziert wird und in dem Staubbeutel enthalten ist. Die Staubblätter sind das männliche Geschlechtsorgan der Blüte. Es besteht aus dem Staubfaden und dem Staubbeutel am unteren Teil, das Fruchtblatt umgebend. Befruchtung ist die Vereinigung einer männlichen Samenzelle mit einer weiblichen Eizelle, woraus die fruchtbringende Frucht entsteht. »Jahwe Gott pflanzte einen Garten in Eden, im Osten, und setzte dahinein den Menschen, den er gebildet hatte.« (Gen. ,). Ich möchte eine Rose malen. Die Rose ist die weibliche Blume, die sich ganz und so leidenschalich hingibt, daß ihr nur die Freude, sich gegeben zu haben, bleibt. Ihr Du ist irrsinniges Mysterium. Wenn man sie tief einatmet, berührt sie den intimen Grund des Herzens und durchzieht den ganzen Körper von innen mit Du. Ihre Art, sich zu öffnen und als Frau zu entpuppen, ist wunderschön. Die Blütenblätter erfüllen den Mund mit einem angenehmen Geschmack – aber ja, man braucht sie nur zu probieren. Doch eine Rose ist nicht It. Sie ist sie. Die roten sind unglaublich sinnlich. Die weißen sind der Friede Gottes. Weiße Rosen findet man sehr selten in den Blumenläden. Die gelben sind in froher Aufruhr. Die rosaroten sind meistens fleischiger und haben die Farbe par excellence. Die orangefarbenen sind das Ergebnis einer Veredelung und wirken sexuell anziehend.
Paß auf, es wäre ein Gefallen, den Du mir tust: ich lade Dich ein, in ein neues Reich überzuwechseln. Die Nelke indessen verhält sich aggressiv, was von einer gewissen Irritation zeugt. Die Spitzen ihrer Blütenblätter sind rauh und krisselig. Der Du der Nelken ist irgendwie tödlich. Rote Nelken schreien in gewaltiger Schönheit. Die weißen erinnern an den kleinen Sarg eines toten Kindes: dann wird ihr Geruch scharf, und man wendet das Gesicht ab, voller Entsetzen. Wie die Nelke umpflanzen auf die Leinwand? Die Sonnenblume ist das große Kind der Sonne. So daß sie ihre riesige Blumenkrone dem zuwenden kann, der sie großgezogen hat. Ob Mutter oder Vater spielt keine Rolle. Ich weiß es nicht. Ob die Sonnenblume eine männliche oder eine weibliche Blume ist? Ich glaube, sie ist männlich. Das Veilchen ist in sich gekehrt, und seine Introspektion geht tief. Man sagt, es verstecke sich aus Bescheidenheit. Das ist nicht wahr. Es versteckt sich, um sein eigenes Geheimnis begreifen zu können. Sein Fast-ohne-Du-Dasein ist gedämper Glanz, doch es begehrt, aufgespürt zu werden. Sein Du schreit nie. Ein Veilchen besagt Leichtigkeiten, die unsagbar sind. Die Strohblume oder Immortelle ist eine Immertote. Ihre Trockenheit strebt nach Ewigkeit. Auf griechisch bedeutet ihr Name: Goldene Sonne. Die Margerite ist ein fröhliches Blümchen. Sie ist einfach und oberflächlich. Sie hat nur eine Schicht Blütenblätter. Die Mitte ist ein Kinderspiel.
Die berühmte Orchidee ist exquisit und unsympathisch. Sie ist nicht spontan. Sie braucht eine Glasglocke. Doch sie ist verführerisches Weib, das läßt sich kaum bestreiten. Ebensowenig kann man bestreiten, daß sie eine Adlige ist, denn sie ist ein Epiphyt. Epiphyten oder Überpflanzen leben auf anderen Pflanzen, ohne ihnen jedoch die Nahrung zu entziehen. Ich habe gelogen, als ich sagte, sie sei unsympathisch. Ich liebe Orchideen. Sie werden bereits künstlich geboren, kommen schon als Kunstwerk auf die Welt. Tulpen sind nur Tulpen in Holland. Eine einzelne Tulpe ist einfach nicht. Sie braucht das offene Feld, um zu sein. Feldblumen wachsen nur auf den Feldern. In ihrer mutigen Genügsamkeit weisen sie viele Farben und Formen auf. Die Kornblume ist biblisch. In den spanischen Krippen wird sie nie vom Weizen getrennt. Wie ein kleines pochendes Herz. Doch Angeliken sind gefährlich. Sie riechen nach Kapellen. Sie führen zur Ekstase. Sie erinnern an die Hostie. Viele haben Lust, sie zu essen und sich den Mund mit dem starken, heiligen Du zu füllen. Jasmin ist die Blume der Verliebten. Am liebsten würde ich jetzt Auslassungspunkte schreiben. Hand in Hand spazieren sie umher, schwenken die Arme und küssen sich zart beim duenden Fast-Klingen des Jasmins. Strelitzen sind durch und durch männlich. Sie strotzen vor Aggressivität aus Liebe und gesundem Stolz. Als hätten sie den Kamm und das Krähen eines Hahns. Doch ohne auf das Morgenrot zu warten. Das Gewaltige Deiner Schönheit.
Die Königin der Nacht duet nach Vollmond. Sie ist gespenstisch und leicht erschreckend und für diejenigen bestimmt, die die Gefahr lieben. Sie erscheint nur in der Nacht mit ihrem schwindelerregenden Parfüm. Die Königin der Nacht ist eine, die schweigt. Es gibt sie auch an dunklen, menschenleeren Ecken und in den Gärten von Häusern mit verloschenen Lichtern und verriegelten Fensterläden. Sie ist gemeingefährlich: ein Pfiff in der Dunkelheit, etwas, was kein Mensch erträgt. Ich aber ertrage es, weil ich die Gefahr liebe. Was die saige Kaktusblüte betri, so ist sie groß und duschwanger und von strahlender Farbe. Ist die saftige Rache, die das Wüstengewächs schmiedet. Wonnige Pracht, aus despotischer Sterilität erwachsend. Ich bin zu faul, um mich über das Edelweiß auszulassen. Denn es wächst in einer Höhe von dreitausendvierhundert Metern über dem Meeresspiegel. Es ist weiß und filzig. Selten erreichbar: es ist die Aspiration. Geranien sind Blumen für Blumenkästen am Fenster. Man findet sie in São Paulo, im Stadtteil Grajaú, und in der Schweiz. Die Victoria regia gibt es im Botanischen Garten in Rio de Janeiro. Riesig und mit einem Durchmesser von fast zwei Metern. Eine Wasserpflanze zum daran Sterben. Sie ist das Amazonische: der Dinosaurier unter den Blumen. Sie strahlt eine große Ruhe aus. Majestätisch und einfach zugleich. Und obwohl sie an der Wasseroberfläche lebt, wir sie einen Schatten. Was ich Dir jetzt schreibe, ist Latein: de natura florum. Später werde ich Dir meine Studie, bereits in lineare Zeichnung übertragen, zeigen.
Die Chrysantheme ist von einer großen Freude. Die Farbe und das Zottelige an ihr sprechen uns an. Es handelt sich um eine Blume, die ungekämmt ihre eigene Wildheit kontrolliert. Ich glaube, ich muß mich entschuldigen, um zu sterben. Aber ich kann nicht, es ist zu spät. Ich habe den »Feuervogel« gehört – und bin ganz untergegangen. Ich muß unterbrechen, denn – habe ich es nicht gesagt? Habe ich es nicht immer gesagt, daß mir eines Tages etwas passieren würde? Gerade jetzt ist es passiert. Ein Mann namens João rief an. Er ist im tiefsten Amazonien aufgewachsen. Und er erzählte, es geht dort die Sage, daß es eine Pflanze gibt, die sprechen kann. Sie heißt Tajá. Ihr wird nachgesagt, daß sie, wird sie durch ein Indianerritual verzaubert, eventuell ein Wort sagt. João erzählte mir etwas, für das es keine Erklärung gibt: Eines Tages war er am späten Abend nach Hause gekommen, und als er über die Veranda ging, wo die Pflanze stand, hörte er das Wort »João«. Er glaubte, seine Mutter habe ihn gerufen, und antwortete: »Ich komme gleich.« Er ging nach oben und fand Vater und Mutter in tiefem Schlaf. Ich bin müde. Meine Müdigkeit rührt vor allem daher, daß ich ein sehr beschäigter Mensch bin: ich kümmere mich um die Welt. Jeden Tag sehe ich vom Balkon auf das Stück Strand mit Meer und gewahre, wie die dichten Schaumkronen weißer geworden sind und wie in der Nacht das Wasser unruhig näher gekommen ist. Das sehe ich anhand der Spur, die die Wellen im Sand hinterlassen. Ich betrachte die Mandelbäume in meiner Straße. Bevor ich einschlafe, kümmere
ich mich um die Welt und beobachte, daß der nächtliche Himmel sternenübersät und tielau ist, denn in manchen Nächten scheint der Himmel anstatt schwarz von einem intensiven Dunkelblau, einer Farbe, die ich einmal beim Malen eines Kirchenfensters benutzt habe. Ich mag Intensitäten. Ich kümmere mich um den neunjährigen Jungen, der nichts als Lumpen am Leib trägt und spindeldürr ist. Er wird Tuberkulose bekommen, wenn er sie nicht schon hat. Im Botanischen Garten verschwende ich mich erst recht. Ich muß mich mit meinem Blick um Tausende von Pflanzen und Bäume kümmern und vor allem um die Victoria regia. Dort ist sie. Und mein Blick begegnet ihr. Schau, ich spreche nicht von meinen Gefühlseindrücken: ich spreche ganz klar von einigen der tausend Dinge und Menschen, um die ich mich kümmere. Es ist auch kein Arbeitsverhältnis, denn Geld bekomme ich dafür nicht. Ich erfahre nur, wie die Welt eigentlich ist. Ob es sehr viel Arbeit macht, sich um die Welt zu kümmern? Aber ja. Zum Beispiel: es zwingt mich, immer wieder an das ausdruckslose und daher erschreckende Gesicht der Frau zu denken, die ich auf der Straße gesehen habe. Mit den Augen kümmere ich mich um das Elend derer, die an den Abhängen aufwärts leben. Sicher wirst Du mich fragen, wieso ich mich denn um die Welt kümmere. Es ist, weil ich mit einem Aurag geboren wurde. Als Kind kümmerte ich mich um eine Ameisenstraße: sie laufen in geregeltem Hintereinander, auf dem Rücken ein
klitzekleines Stück Blatt. Was nicht verhindert, daß eine jede der aus der Gegenrichtung kommenden etwas mitteilt. Ameisen und Bienen sind bereits It. Sie sind sie. Ich habe das Buch über die Bienen gelesen, und seitdem kümmere ich mich vor allem um die eierlegende Königin. Die Bienen fliegen und befassen sich mit Blüten. Banal? Das habe ich selber festgestellt. Es gehört zur Arbeit, das Offensichtliche zu registrieren. In die kleine Ameise paßt eine ganze Welt, die mir entgeht, wenn ich nicht aufpasse. Zum Beispiel: instinktiver Organisationssinn paßt hinein, eine Sprache, die über den Ultraschall hinausgeht, und sexuelles Gespür. Jetzt finde ich keine einzige Ameise zum Betrachten. Daß sie nicht zuhauf umgebracht wurden, weiß ich, sonst hätte ich schon davon gehört. Sich um die Welt kümmern erfordert auch sehr viel Geduld: ich muß den Tag abwarten, an dem mir eine Ameise begegnet. Ich habe nur noch niemanden gefunden, um Rechenscha abzulegen. Oder doch? Denn ich bin dabei, Dir gleich hier Rechenscha abzulegen. Jetzt sofort werde ich Dir Rechenscha ablegen über diesen einen Frühling, der unwahrscheinlich trocken war. Das Radio knisterte in Kontakt mit seiner Elektrostatik. Die Kleider klebten zusammen beim Ableiten der elektrischen Körperströme, und der Kamm sträubte die magnetisierten Haare – das war ein harter Frühling. Vom Winter völlig erschöp, grünte er ganz elektrisiert. Von einem jeden Standpunkt aus brach man auf in weite Fernen. Noch nie war so viel Weg zu sehen. Wir sprachen wenig, Du und ich. Ich habe keine Ahnung, warum
alle Welt so verärgert und geladen war. Doch geladen wofür? Der Körper schwerfällig vor Schlaf. Und unsere großen ausdruckslosen Augen wie die Augen eines Blinden, wenn sie weit auf sind. Auf der Terrasse schwamm der Fisch im Aquarium, und wir tranken eine Erfrischung in jener Hotelbar und ließen den Blick über die umliegenden Felder wandern. Der Wind führte den Traum der Ziegen mit: am anderen Tisch ein einsamer Faun. Wir betrachteten die eiskalten Erfrischungsgläser und träumten still in das durchsichtige Glas hinein. »Was hast du soeben gesagt?« fragtest Du. »Ich habe nichts gesagt.« Ein Tag nach dem anderen verging, und alles schwebte in dieser Gefahr und die Geranien so rot. Es genügte ein Augenblick des Sich-Einstellens, und wieder empfing man die elektrisierten Stacheln des Frühlings im Wind: den lüsternen Traum der Ziegen und den ausgenommenen Fisch und unsere plötzliche Lust, Obst zu klauen. Der Faun nun gekrönt in einsamen Sprüngen. »Was?« »Ich habe nichts gesagt.« Doch ich vernahm ein erstes Rumoren wie das eines Herzens, das unter der Erde schlägt. Behutsam legte ich das Ohr auf die Erde und hörte, wie der Sommer sich einen Weg unter der Oberfläche bahnte, und mein Herz unter der Erde – »Nichts! ich habe nichts gesagt!« – und spürte die geduldige Schonungslosigkeit, mit der die geschlossene Erde sich im Innern gebärend öffnete, und wußte, mit welch süßer Gewichtigkeit der Sommer allmählich hunderttausend Apfelsinen reifen ließe, und wußte, daß die Apfelsinen mein wären. Denn ich wollte es. Ich bin stolz, daß ich es immer spüre, wenn das Wetter umschlägt. Etwas liegt in der Lu – der Körper kündigt an, daß etwas Neues kommen wird, und ich gerate außer Rand und
Band. Ich weiß nicht, wozu. In ebendiesem Frühling bekam ich die Primel genannte Pflanze. Sie ist so mysteriös, daß ihr Mysterium das Unerklärliche der Natur birgt. Auf den ersten Blick hat sie überhaupt nichts Außergewöhnliches. Aber genau an dem Tag, an dem der Frühling anfängt, sterben die Blätter, und an ihrer Stelle entstehen knospende Blüten, die einen femininen und männlichen Du ausströmen, daß es einem schwindelig werden kann. Man sitzt daneben und läßt den Blick zerstreut umherschweifen. Und siehe da, nach und nach öffnen sich die Knospen und geben sich unter unseren verwunderten Augen der neuen Jahreszeit hin: es ist Frühling geworden. Aber wenn der Winter kommt, dann gebe und gebe und gebe ich. Ich packe dick ein. Ich schare Nester voller Menschen um mich und drücke sie an meine warme Brust. Und man hört die Geräusche, die vom Löffeln heißer Suppe rühren. Derzeit lebe ich Tage des Regens: die Zeit naht, in der ich geben werde. Siehst Du nicht, daß dies hier wie ein zur Welt kommendes Kind ist? Es tut weh. Schmerz ist gesteigertes Leben. Der Ablauf schmerzt. Zu werden ist ein sich ausbreitender guter Schmerz. Ist ein Sich-Recken-und-Strecken, so weit die Glieder reichen. Und das Blut dankt. Ich atme, ich atme. Die Lu ist It. Lu als Wind ist bereits er oder sie. Wenn ich mich anstrengen müßte, um Dir zu schreiben, würde ich richtig traurig. Manchmal ertrage ich die Kra des Einatmens nicht. Dann male ich atemlos. Wie gut, daß die Dinge nicht von mir abhängen.
Ich habe sehr viel vom Tod gesprochen. Doch ich werde Dir von einem Hauch Leben erzählen. Wenn ein Mensch aufgehört hat zu atmen, wendet man die Mund-zu-Mund-Beatmung an: man preßt seine Lippen auf die des anderen und atmet. Und der andere beginnt zu atmen. Dieser Atemaustausch ist eines der schönsten Dinge, von denen ich im Leben je gehört habe. In Wirklichkeit blendet mich die Schönheit dieses Von-Mund-zu-Mund. Oh, wie unsicher alles ist. Und dennoch eingefügt in die O. Ich weiß nicht einmal, was ich Dir im nächsten Satz schreiben werde. Die letzte Wahrheit spricht man nie aus. Wer die Wahrheit kennt, möge also kommen. Und sprechen. Zerknirscht werden wir zuhören. … plötzlich sah ich ihn, und er war ein so außergewöhnlich schöner und männlicher Mann, daß ich eine schöpferische Freude empfand. Nicht daß ich ihn für mich hätte haben wollen, ebensowenig wie ich den Jungen für mich will, den ich mit den Haaren eines Erzengels hinter dem Ball herlaufen sah. Ich wollte ihn nur ansehen. Der Mann würdigte mich eines knappen Blickes und lächelte souverän: er wußte, wie schön er war, und ich weiß, er wußte, daß ich ihn nicht für mich wollte. Er lächelte, weil er sich nicht bedroht fühlte. Denn die in jedem Sinne außergewöhnlichen Wesen sind viel mehr Gefahren ausgesetzt als der gewöhnliche Mensch. Ich überquerte die Straße und nahm ein Taxi. Die Brise kräuselte mir die Haare im Nacken. Und ich war so glücklich, daß ich mich in der Ecke des Taxis zusammenkauerte vor Angst, denn das Glück tut weh. Und all das hervorgerufen durch den Anblick dieses schönen Mannes. Ich wollte ihn auch jetzt nicht für mich – im Grunde mag ich
die eher häßlichen und zur gleichen Zeit harmonischen Menschen, doch er hatte mir in gewisser Weise viel gegeben mit diesem freundschalichen Lächeln zwischen Menschen, die sich verstehen. All das war mir unbegreiflich. Der Mut zu leben: ich lasse verborgen, was verborgen werden und sich im geheimen ausbreiten muß. Ich verstumme. Denn ich weiß nicht, welch ein Geheimnis ich bewahre. Erzähle mir Deines, führe mich ein in das Geheime eines jeden von uns. Es ist kein diffamierendes Geheimnis. Es ist nur eben dies: Geheimnis. Und es läßt sich nicht auf eine Formel bringen. Ich glaube, ich muß mich jetzt entschuldigen, um ein bißchen zu sterben. Du erlaubst doch – oder? Ich brauche nicht lange. Danke. … Nein. Ich habe es nicht gescha, zu sterben. Soll ich dieses »Ding-Wort« hier durch einen Willensakt beenden? Noch nicht. Ich verkläre die Realität – was nur entgeht mir? warum strecke ich die Hand nicht aus und greife zu? Weil ich im Grunde von der Welt nur geträumt habe, sie aber nie gesehen habe, darum. Das, was ich Dir schreibe, ist ein tiefes Alt. Es ist ein Negro Spiritual. Der Chor singt, und Kerzen brennen. Jetzt wird
mir schwindelig. Ich habe ein wenig Angst. Wohin wird mich mein Freisein führen? Was ist das, was ich Dir schreibe? Das macht mich einsam. Doch ich gehe und bete, und mein Freisein untersteht der O – jetzt habe ich keine Angst mehr. Was mich geleitet, ist nur der Sinn des Entdeckens. Hinter dem Hinter-dem-Denken. Mir Schritt für Schritt zu folgen, das ist es, was ich in Wirklichkeit tue, wenn ich Dir schreibe, und genau jetzt in diesem Augenblick: folge ich mir, ohne zu wissen, wohin es führt. Manchmal fällt es mir schwer, mir zu folgen. Weil ich etwas folge, das noch immer dichter Nebel ist. Manchmal gebe ich es auf. Jetzt habe ich Angst. Denn ich werde Dir etwas sagen. Warte, daß die Angst vorbeigeht. Sie ist vorbei. Es ist folgendes: die Dissonanz ist mir voller Harmonie. Die Melodie ermüdet mich manchmal. Auch, was sich Leitmotiv nennt. In der Musik und in dem, was ich Dir schreibe, und in dem, was ich male, will ich geometrische Linien, die sich in der Lu kreuzen und eine Disharmonie bilden, die ich verstehe. Pures It. Mein Wesen saugt sich voll davon, es überkommt mich eine leichte Trunkenheit. Das, was ich Dir sage, ist sehr wichtig. Und ich arbeite im Schlaf: denn dann bewege ich mich im Mysterium. Heute ist Sonntagmorgen. An diesem sonnigen Sonntag Jupiters bin ich allein zu Hause. Plötzlich klappte ich zusammen und nach vorn, als hätten die Geburtswehen eingesetzt und würden stärker – und ich sah, daß das Mädchen in mir starb. Nie im Leben werde ich diesen blutigen Sonntag ver
gessen. Es wird Zeit brauchen, um zu heilen. Und nun bin ich hier, hart, stumm, heroisch. Ohne das Mädchen in meinem Innern. Ein jedes Leben ist das Leben eines Helden. Die Schöpfung entgeht mir. Und so viel will ich gar nicht wissen. Es genügt mir, daß das Herz in meiner Brust schlägt. Es genügt mir das unmögliche Lebendige des It. Jetzt gerade spüre ich, wie das Herz in meiner Brust verstört schlägt. Es ist eine Forderung, denn in den letzten Sätzen habe ich nur an der Oberfläche meiner selbst gedacht. Dann manifestiert sich der Grund des Daseins, um die Spuren des Denkens zu umspülen und zu verwischen. Das Meer wischt die Spuren der Wellen im Sand weg. O Gott, wie ungeheuer glücklich ich bin. Was das Glück zerstört, ist die Angst. Ich bekomme Angst. Aber das Herz schlägt. Die unerklärliche Liebe läßt das Herz schneller schlagen. Die einzige Sicherheit ist die, daß ich geboren bin. Du bist eine Form, ich zu sein, und ich eine Form, Du zu sein: und die Grenzen meiner Möglichkeiten sind erreicht. Ich schwelge in einer Wonne, daß man regelrecht daran sterben könnte. Diese süße Mattigkeit, während ich zu Dir spreche. Doch da ist das Warten. Zu warten heißt, daß ich nach der Zukun giere. Du hast eines Tages gesagt, Du liebtest mich. Ich tue so, als glaubte ich daran, und lebe, von gestern bis heute, eine fröhliche Liebe. Doch sich in Sehnsucht erinnern bedeutet, von neuem Abschied nehmen. Die phantastische Welt umgibt mich und ist mich. Ich lausche dem närrischen Gesang eines kleinen Vogels und zer
drücke Schmetterlinge zwischen den Fingern. Ich bin eine Frucht, zerfressen von einem Wurm. Und ich warte auf die orgiastische Apokalypse. Ein dissonanter Insektenschwarm umschwirrt mich, Licht eines brennenden Lämpchens, das ich bin. Dann gerate ich aus der Fassung, um zu sein. Ich bin in Trance. Ich dringe in die mich umgebende Lu ein. Was für ein Fieber: ich kann nicht auören, zu leben. In dieser dichten Wortwildnis, die dick alles umgibt, was ich fühle und denke und lebe, und die alles, was ich bin, in etwas von mir verwandelt, das jedoch völlig außerhalb von mir liegt. Ich stehe neben mir und sehe mir beim Denken zu. Was ich mich frage, ist: wer in mir steht sogar außerhalb meines Denkens? Ich schreibe Dir das alles, weil es eine Herausforderung ist, die ich in Demut gezwungen bin anzunehmen. Ich werde von meinen Geistern heimgesucht, vom Mythischen und vom Phantastischen – das Leben ist übernatürlich. Und ich jongliere auf einem wackeligen Seil bis an die Grenzen meines Traums. Die von der Wollust gepeinigten Eingeweide führen mich, Tobsucht der Impulse. Bevor ich mich organisiere, muß ich mich innerlich desorganisieren. Um von dem ersten, vorläufigen Urzustand der Freiheit zu kosten. Der Freiheit zu irren, zu fallen und aufzustehen. Doch wenn ich darauf warte, zu verstehen, um die Dinge zu akzeptieren – wird der Akt der Hingabe sich niemals vollziehen. Ich muß mit einem Mal in die Tiefe tauchen, ein Eintauchen, das sowohl das Verständnis als auch vor allem das Unverständnis umfaßt. Wer bin ich denn, um das Denken zu wagen? Hinzugeben habe ich mich. Wie man es anstellt? Ich weiß aber, daß man nur beim Laufen laufen lernt und – o Wunder – in der Tat auch läu.
Ich, die ich die Zukun webe wie eine fleißige Spinne. Und das Beste von mir ist, wenn ich absolut nichts weiß und ich weiß nicht was webe. Denn auf einmal sehe ich, daß ich nichts weiß. Wird die Schneide meines Messers langsam blind? Mit großer Wahrscheinlichkeit verstehe ich nicht, weil das, was ich nun sehe, schwer ist: ich gehe heimlich eine Verbindung ein mit einer für mich neuen Realität, die noch nicht über entsprechende Gedanken verfügt, geschweige denn über ein Wort, das sie bedeute. Es ist mehr ein Eindruck hinter dem Denken. Wie soll ich es Dir erklären? Ich will es versuchen. Denn ich nehme eine verzerrte Realität wahr. Durch einen schrägen Querschnitt gesehen. Erst jetzt habe ich das Schräge des Lebens erahnt. Vorher sah ich nur durch gerade, parallele Schnitte. Ich sah den verschlagenen, schiefen Schnitt nicht. Jetzt errate ich, daß das Leben ein anderes ist. Daß leben nicht nur bedeutet, dicke Gefühle abzuwickeln – es ist etwas Glückszufälligeres und Grazileres, doch ohne seine feine animalische Stärke einzubüßen. Auf dieses ungewöhnlich schräge Leben habe ich immer wieder meine schweren Pfoten gelegt und somit erreicht, daß das Dasein erstarb in dem, was es an Schrägem und Zufälligem und doch gleichzeitig auf subtile Weise Verhängnisvollem hat. Ich habe die Fatalität des Zufalls verstanden, und darin liegt kein Widerspruch. Das schräge Leben ist sehr intim. Mehr sage ich nicht über diese Intimität, um das Denken-Fühlen nicht mit trockenen Worten zu verletzen. Um diesem Zur-Seite-Geneigten seine ungenierte Unabhängigkeit zu lassen.
Ich kenne auch eine Lebensform, die zarter Stolz ist, graziöse Bewegungen, leichte und anhaltende Frustration, gepaart mit einer Kunst des Ausweichens, die von langen alten Wegen herrührt. Als Zeichen der Revolte nur eine federleichte, exzentrische Ironie. Es gibt eine Seite des Lebens, die ist wie Kaffeetrinken auf dem Balkon im Winter, in der Kälte, eingepackt in warme Wolle. Ich kenne eine Lebensform, die leichter, im Wind flatternder und sich auf dem Boden wiegender Schatten ist: ein Leben, das fluktuierender Schatten ist, Schweben und Träumen am hellichten Tag: ich lebe den Reichtum der Erde. Ja. Das Leben ist sehr orientalisch. Nur einige von der Fatalität des Zufalls auserwählte Menschen haben von der scheuen, zarten Freiheit des Lebens gekostet. Es ist wie Blumen in einer Vase arrangieren können: ein fast unnützes Können. Diese flüchtige Freiheit des Lebens darf niemals in Vergessenheit geraten: sie muß zugegen sein wie ein Effluvium. Dieses Leben zu leben ist eher ein indirektes Sich-Erinnern als ein direktes Erleben. Es scheint eine sane Genesung von etwas zu sein, das jedoch absolut schrecklich hätte sein können. Ein Genesen von einer frigiden Lust. Nur für die Eingeweihten wird das Leben also auf zarte Weise wahrhaftig. Sodann befindet man sich im Augenblick Jetzt: man ißt die Frucht in ihrer vollen Lebenskra. Ob ich nicht mehr weiß, wovon ich rede, und alles mir entgangen ist, ohne daß ich es merkte? Ich weiß es sehr wohl – aber mit größter Umsicht, denn sonst weiß ich es um ein Haar schon nicht mehr. Ich ernähre mich höflich vom trivialen Alltag und trinke
Kaffee auf dem Balkon, auf der Schwelle zu diesem Abendrot, das nur krankha scheint, weil es süß und empfindsam ist. Das schräge Leben? Ich weiß sehr wohl, daß die Dinge sich knapp verpassen, sie prallen beinahe zusammen, es herrscht ein Sich-Verfehlen unter den Wesen, die sich einander verlieren zwischen Wörtern, die fast nichts mehr aussagen. Doch beinahe verstehen wir uns bei diesem knappen Verfehlen, bei diesem Quasi, das die einzige Möglichkeit ist, das Leben in vollem Maße zu ertragen, denn eine jähe Begegnung mit dem Leben von Angesicht zu Angesicht würde uns erschrecken, die hauchdünnen Spinnenfäden seines Netzes zerreißen. Wir sind schräghin, um nicht aufs Spiel zu setzen, was wir als unendlich anders in diesem Leben, von dem ich Dir erzähle, erahnen. Und ich lebe abseits – ein Ort, wo das Licht der Mitte mich nicht versengt. Und ich spreche ganz leise, damit die Ohren gezwungen sind, aufzuhorchen und mir zuzuhören. Doch ich kenne auch noch ein anderes Leben, Ich kenne es und verschlinge es in blutrünstigem Rausch. Es ist ein Leben von magischer Gewalt. Es ist mysteriös und verzaubernd. In ihm schlingen die Schlangen sich umeinander, während die Sterne zittern. Wassertropfen fallen in das phosphoreszierende Halbdunkel der Grotte. In diesem Dunkel verflechten sich die Blumen zu einem magischen, feuchten Garten. Und ich bin die Zauberin dieses stummen Bacchanals. Ich fühle mich von meiner eigenen Bestechlichkeit bezwungen. Und gewahre, daß ich im Innern böse bin. Nur aus reiner Güte bin ich gut. Von mir selbst besiegt. Die
ich mich auf die Wege des Salamanders führe, eines Geistes, der über das Feuer gebietet und darin lebt. Und ich bringe mich als Gabe den Toten dar. Ich spreche meinen Zauber während der Sonnenwende aus, Spuk eines exorzierten Drachens. Aber ich weiß nicht, wie ich das, was unmittelbar geschieht, begreifen soll, es sei denn, ich durchlebe ein jedes, was mir jetzt und unmittelbar widerfährt, egal was. Ich lasse das losgebundene Pferd feurig laufen aus purer edler Freude. Ich, die ich nervös laufe, und nur von der Wirklichkeit begrenzt. Und wenn der Tag zu Ende geht, höre ich die Grillen und werde ganz voll und unverständlich. Dann zieht das Morgengrauen herauf, den Bauch mit tausend zwitschernden Vögeln gespickt. Und alles, was mir unterläu, lebe ich, indem ich es aufschreibe. Denn ich möchte in meinen erforschenden Händen den lebendigen und bebenden Nerv des Heute spüren. Hinter dem Denken erreiche ich einen Zustand. Ich weigere mich, ihn in Worte zu zergliedern – was ich nicht ausdrükken kann und auch nicht will, verbleibt als das allergeheimste meiner Geheimnisse. Ich weiß, daß ich mich vor Augenblicken fürchte, in denen ich das Denken ausschalte, und es handelt sich um einen momentanen, schwer zu erreichenden Zustand, der, streng geheim, nicht mehr der Wörter, mit denen Gedanken gebildet werden, bedarf. Ist keine Wörter benutzen der Verlust der Identität? sich in der lebensnotwendigen schädlichen Finsternis verlieren? Ich verliere die Identität der Welt in mir und existiere ohne Sicherheiten. Ich realisiere das Realisierbare, aber das Un
realisierbare lebe ich, und die Bedeutung von mir und der Welt und von Dir ist nicht offensichtlich. Es ist phantastisch, und ich behandle mich in diesen Augenblicken mit immenser Zuvorkommenheit. Ist Gott eine Form des Seins? die Abstraktion, die sich in der Natur dessen, was ist, verkörpert? Meine Wurzeln sind heimisch in der göttlichen Finsternis, Schläfrige Wurzeln. Sie schwanken im Dunkeln. Unversehens spüre ich, daß wir uns bald trennen werden. Meine verblüffende Wahrheit ist, daß ich immer von Dir verlassen war und es nicht wußte. Jetzt weiß ich es: ich bin verlassen. Ich und mein Freisein, das ich nicht zu gebrauchen weiß. Die große Verantwortung der Einsamkeit. Wer nicht verloren ist, kennt die Freiheit nicht und hebt sie nicht. Was mich betri, so nehme ich meine Einsamkeit an. Die manchmal in Verzückung gerät wie beim Anblick eines Feuerwerks. Ich bin allein, und ich muß eine gewisse verborgene Herrlichkeit leben, die in der Einsamkeit zu Schmerz werden kann. Und der Schmerz zu Schweigen. Ihren Namen halte ich geheim. Um zu leben, brauche ich Geheimnisse. Wird einem jeden von uns – zu irgendeinem verlorenen Zeitpunkt im Leben – ein Aurag erteilt, der erfüllt werden muß? Doch ich übernehme nicht jeden beliebigen Aurag. Ich erfülle überhaupt nichts: ich lebe nur. Es ist so sonderbar und schwer, den Pinsel jetzt durch dieses seltsam vertraute, aber stets entfernte Ding namens Wort zu ersetzen. In ihm hegt die äußerste und intime Schönheit. Aber es ist unerreichbar, und wenn man nur die Hand da
nach auszustrecken brauchte – schon entpuppte es sich als illusorisch, weil es aufs neue und immer noch unerreichbar ist. Meine Gemälde und diese meine sich überschlagenden Worte verströmen ein Schweigen, das auch wie das Substrat der Augen ist. Es gibt etwas, das mir die ganze Zeit über entgeht. Wenn es mir nicht entgeht, gewinne ich eine Gewißheit: das Leben ist ein anderes. Es hat einen unterschwelligen Stil. Ob ich im Augenblick des Sterbens das Leben forciere in dem Versuch, länger zu leben, als ich kann? Aber ich bin heute. Ich schreibe Dir ungeordnet, ich weiß. Aber so lebe ich auch. Ich arbeite nur mit Fundsachen. Doch das Schreiben ist für mich enttäuschend: beim Schreiben handhabe ich das Unmögliche. Das Rätsel der Natur. Und des Gottes. Wer nicht weiß, was Gott ist, wird es nie wissen können. Von dem Gott hat man, wenn, dann in der Vergangenheit erfahren. Es ist etwas, was man längst weiß. In meinem Leben gibt es keine Handlung? Ich bin unglaublich fragmentarisch. Ich bin nach und nach. Meine Geschichte ist: leben. Und das Scheitern macht mir keine Angst. Mag das Scheitern mich zerstören, ich will die Herrlichkeit abzustürzen. Mein verkrüppelter Engel, linkisch nun und scheu, mein Engel, der vom Himmel in die Hölle gefallen ist, wo er lebt, indem er dem Bösen frönt.
Dies ist keine Geschichte, denn ich kenne keine solche Geschichte, aber ich kann nur immer wieder sagen und tun: es ist eine Geschichte von Augenblicken, die entweichen wie die entfliehenden Schienen, die man vom Fenster des Zuges aus sieht. Heute nachmittag werden wir uns treffen. Und ich werde Dir nichts von dem sagen, was ich schreibe, dessen Inhalt ich bin und das ich Dir schenke, ohne daß Du es liest. Nie wirst Du lesen, was ich schreibe. Und wenn ich das Geheimnis meines Seins aufgeschrieben habe – werfe ich es weg, als würfe ich es ins Meer. Ich schreibe Dir, denn es will Dir nicht gelingen, anzunehmen, was ich bin. Wenn ich meine Aufzeichnungen von Augenblicken einst zerstöre, werde ich dann zu meinem Nichts, dem ich ein Alles abgerungen habe, zurückkehren? Ich muß den Preis dafür zahlen. Den Preis eines Menschen, der eine Vergangenheit hat, die sich nur durch Leidenscha in einer seltsamen Gegenwart erneuert. Wenn ich zurückdenke an das, was ich bereits gelebt habe, ist es, als hätte ich meine Körper, einen nach dem anderen, auf den Wegen zurückgelassen. Es ist fast fünf Uhr früh. Das Licht der Dämmerung verblaßt allmählich, kalter bläulicher Stahl mit dem herben, den Mund zusammenziehenden Geschmack des anbrechenden Tages. Auf der Oberfläche der Zeit treibend, leichenblaß auch ich, ich, zur Welt kommend aus dem Dunkel, unpersönlich, ich, die ich It bin. Ich werde Dir etwas sagen: ich kann weder besser noch schlechter malen, als ich male. Ich male ein »Dieses«. Und ich schreibe mit »Diesem« – das ist alles, was ich kann. Auf
geregt. Die Liter Blut, die durch die Adern fließen. Die sich anspannenden und entspannenden Muskeln. Die Aura des Körpers bei Vollmond. Parambolisch – was immer dieses Wort bedeuten mag. Parambolisch, wie ich bin. Ich kann mich nicht zusammenfassen, denn man kann einen Stuhl und zwei Äpfel nicht zusammenzählen. Ich bin ein Stuhl und zwei Äpfel. Und ich zähle mich nicht zusammen. Von neuem beflügelt mich eine fröhliche Liebe. Was Du bist, atme ich begierig ein, Deinen wundervollen Hauch aufnehmend, bevor er sich verflüchtigt in der verdunstenden Lu. Mein frischer Wille, mich zu leben und Dich zu leben, ist das des Lebens Gespinst selbst? Ist die Natur der Geschöpfe und der Dinge – Gott? Dann höre ich vielleicht, wenn ich die Natur sehr darum bitte, auf zu sterben? Kann ich den Tod vergewaltigen und ihn einen Spalt weit zum Leben öffnen? Ich schiebe den Schmerz dessen, was ich Dir schreibe, beiseite und gebe Dir meine flackernde Freude. Und in ebendiesem Augenblick Jetzt sehe ich weiße Statuen, dahingeweht in der Perspektive weiter Entfernungen, weit entfernt – immer weiter entfernt in der Wüste, in der ich mich verliere mit einem leeren Blick, ich selbst eine Statue, um von weitem gesehen zu werden, ich, die ich mich ständig verliere. Ich fröne dem, was existiert. Schweigsam, verträumt, in meinem großen Traum. Da ich nichts verstehe – trete ich der schwankenden, bewegten Realität bei. Das Reale erreiche ich durch den Traum. Ich erfinde dich, Realität. Und höre dich wie das zittrige Geläut untergegangener Glocken in der Ferne. Bin ich im Kern des Todes? Und da
für bin ich am Leben? Der empfindsame Kern. Und es bringt mich dieses It zum Vibrieren. Ich lebe. Wie eine Wunde, eine Blume im Fleisch, ist der Weg des gepeinigten Blutes in mir offen. Mit der direkten und daher unschuldigen Erotik der Indianer von Lagoa Santa. Ich, Wind und Wetter ausgesetzt, ich, eingravierte Inschri auf der Rückseite eines Steins, in den langen Zeitabschnitten, die der Mensch der Vorgeschichte uns hinterlassen hat. Es weht der heiße Wind der großen tausendjährigen Ebenen und versengt meine Oberfläche. Heute habe ich das rote Ocker, gelbes Ocker, das Schwarz und ein wenig Weiß benutzt. Ich fühle, daß ich in der Nähe von Quellen, Seen und Wasserfällen bin, alle reich an kühlen Wassern für meinen Durst. Und ich, endlich eine Wilde und endlich frei von den trockenen Tagen des Heute: ich trabe vorwärts und rückwärts, unbegrenzt. Ich bete Sonnengottheiten an den Abhängen hoher Berge an. Doch für mich selbst bin ich tabu, unantastbar, da verboten. Bin ich ein Held, der die brennende Fackel in einem immerwährenden Lauf trägt? Kra des Existierenden, o hel mir, Ihr, die Ihr der Gott genannt werdet. Weshalb ru mich das schreckliche Grauen? was will ich mit meinem eigenen Grauen? denn mein Dämon ist mörderisch und fürchtet die Strafe nicht: doch das Verbrechen ist wichtiger als die Strafe. Ich belebe mich durch und durch in meinem glücklichen Zerstörungsinstinkt. Versuche zu verstehen, was ich jetzt male und schreibe. Ich werde es erklären: in der Malerei wie in der Schreiberei ver
suche ich strikt in dem Augenblick zu sehen, in dem ich sehe – und nicht mittels der Erinnerung an Gesehenes in einem Augenblick der Vergangenheit. Dies ist der Augenblick. Der Augenblick ist von einer Imminenz, daß er mir die Lu abschneidet. Der Augenblick ist an sich selbst imminent. Noch während ich ihn lebe, werfe ich mich in sein Werden zu einem neuen Augenblick. So habe ich das Kirchenportal gesehen, das ich gemalt habe. Du hast die exzessive Symmetrie kritisiert. Laß mich Dir erklären: die Symmetrie ist das, was mir je am besten gelungen ist. Nach der Unordnung der Inspiration habe ich die Angst vor der Symmetrie verloren. Erfahrung oder Mut ist erforderlich, um die Symmetrie wieder aufzuwerten, wo man doch so leicht das falsche Asymmetrische nachahmen könnte, eine der gängigsten Originalitäten. Meine Symmetrie in den Kirchenportalen ist konzentriert, gelungen, aber nicht dogmatisch. Sie ist durchdrungen von der Hoffnung, daß zwei Asymmetrien sich in der Symmetrie treffen mögen. Dies als dritte Lösung: die Synthese. Daher vielleicht der nackte Ausdruck der Portale, die Feinheit von Erlebtem und Nacherlebtem, und nicht diese inkonsequente Kühnheit derer, die nicht wissen. Nein, es ist nicht unbedingt Gelassenheit, was sie ausstrahlen. Es findet ein harter Kampf um das Ding statt, das sich, obgleich zerfressen, aufrecht hält. Und in den satteren Farben liegt ein blasser Schimmer von dem, was sich, wenn auch krumm, aufrecht hält. Meine Kreuze sind gekrümmt von Jahrhunderten der Geißelung. Kündigen die Portale bereits die Altäre an? Das Schweigen der Portale. Ihr grün gewordenes Metall bekommt einen Ton, als stünden sie zwischen Leben und Tod, eine Intensität von Dämmerungen.
Und in den ruhigen Farben ist etwas von Stahl und alter Bronze – und alles vergrößert durch eine Stille von verlorenen und auf dem Boden des steilen Weges wiedergefundenen Gegenständen. Ich gewahre einen langen, staubbedeckten Weg, bis das Bild seinen Platz gefunden hat. Selbst wenn die Portale sich nicht öffnen. Oder ist das Kirchenportal bereits Kirche, und man ist vor ihm schon angelangt? Ich kämpfe, um die Schwelle des Portals nicht zu überschreiten. Es sind Mauern eines abwesenden Christus, doch die Mauern stehen da und sind antastbar: denn auch die Hände haben Augen. Ich erschaffe das Material, bevor ich es male, und das Holz wird für meine Gemälde zu etwas Unverzichtbarem, genau so unverzichtbar wie für einen Bildhauer. Und das erschaffene Material ist religiös: es wiegt schwer wie die Balken eines Klosters. Kompakt, verschlossen wie eine verschlossene Tür. Doch in das Portal wurden Öffnungen geschlagen, von Fingernägeln aufgekratzt. Und diese Breschen sind es, die Einblick gewähren in das, was im Inneren einer Synthese ist, im Kern der utopischen Symmetrie. Geronnene Farbe, Gewalt, Martyrium sind die Balken, die das Schweigen einer religiösen Symmetrie tragen. Doch nun bin ich am Mysterium des Spiegels interessiert. Ich suche nach einer Möglichkeit, ihn zu malen oder mit Hilfe des Wortes über ihn zu sprechen. Doch was ist ein Spiegel? Das Wort Spiegel gibt es nicht, es gibt nur Spiegel, denn ein einziger ist eine Unendlichkeit von Spiegeln. Ob es irgendwo auf der Welt eine Grube voller Spiegel gibt? Der Spiegel ist kein erschaffenes, sondern ein entstandenes
Ding. Es bedarf nicht vieler, um die blitzende, mondsüchtige Grube zu bekommen: es genügen zwei, und einer spiegelt das Spiegelbild dessen, was der andere gespiegelt hat, in einem zittrigen Flimmern, das sich als eindringlichstumme, telegraphische Botscha übermittelt, beharrlich, flüssiger Stoff, in den man die faszinierte Hand tauchen und sie herausziehen kann, während die Reflexe dieses harten Wassers, das der Spiegel ist, von ihm abperlen. Wie die Kristallkugel der Seher führt er mich in die Leere, die dem Seher Meditationsfeld ist und in mir das Feld mehrfachen Schweigens. Ich kann kaum sprechen vor lauter in Schweigen gehülltem Schweigen. Ein Spiegel? Diese kristallisierte Leere, in der Raum genug ist, damit man für immer vorwärtsschreiten kann, ohne haltzumachen: denn der Spiegel ist der tiefste Raum, den es gibt. Und er ist ein magisches Ding: wer eine Scherbe davon besitzt, könnte mit ihr schon in die Wüste meditieren gehen. Sich selbst zu sehen ist ohnegleichen. Wie eine Katze mit gesträubtem Fell sträube ich mich vor mir selbst. Auch aus der Wüste würde ich leer, erleuchtet und durchscheinend zurückkehren und mit demselben vibrierenden Schweigen eines Spiegels. Seine Form spielt keine Rolle: es gibt keine Form, die ihn zu umkreisen oder zu verändern vermöchte. Der Spiegel ist Licht. Ein klitzekleines Stück Spiegel ist immer der ganze Spiegel. Man nehme seinen Rahmen oder den Rand weg, und er wächst genau so, wie ausgegossenes Wasser verläu.
Was ist ein Spiegel? Er ist das einzige erfundene Material, das natürlich ist. Wer einen Spiegel betrachtet, wer ihn betrachten kann, ohne sich zu betrachten, wer versteht, daß seine Tiefe aus seiner Leere besteht, wer sich in seinen durchsichtigen Raum hineinbegibt, ohne bei ihm Spuren seines eigenen Bildes zu hinterlassen – dieser eine hat folglich sein dingliches Mysterium begriffen. Dazu müßte man ihn überraschen, wenn er allein ist, wenn er in einem leeren Zimmer hängt, und düre nicht vergessen, daß selbst die feinste Nadel ihn in das simple Bild einer Nadel verwandeln könnte, so empfindsam ist der Spiegel in seiner Eigenscha als federleichte Reflexion, nur Bild und nicht Körper. Körper des Dinges. Als ich ihn malte, brauchte ich meine eigene Behutsamkeit, um ihn nicht mit meinem Bild zu durchdringen, denn ein Spiegel, in dem ich mich sehe, bin schon ich, nur ein leerer Spiegel ist der lebendige Spiegel. Nur ein sehr rücksichtsvoller Mensch kann in das leere Zimmer, in dem ein leerer Spiegel ist, eindringen, und zwar mit einer solchen Leichtigkeit, mit einer solchen Selbstvergessenheit, daß sein Bild keinen Eindruck hinterläßt. Als Auszeichnung dafür erhält dieser behutsame Mensch alsdann, in eines der unverletzlichen Geheimnisse der Dinge eingedrungen zu sein: er hat den Spiegel an sich gesehen. Und er hat die riesigen vereisten Felder entdeckt, die er in sich trägt, nur unterbrochen von dem einen oder anderen Eisblock. Der Spiegel ist Eis und Kälte. Doch es gibt die Abfolge dunkler Schatten in ihm – das zu gewahren, ist ein sehr seltener Augenblick –, und man muß Tage und Nächte auf der Lauer liegen, von sich selbst ganz nüchtern, um die
Abfolge der dunklen Schatten in ihm wahrzunehmen und zu überraschen. Mit schwarzen und weißen Schattierungen habe ich auf der Leinwand seine zitternde Leuchtkra wieder eingefangen. Mit demselben Schwarz und Weiß fange ich auch, während es mich vor Kälte schüttelt, eine seiner schwierigsten Wahrheiten ein: sein frostiges farbloses Schweigen. Man muß die gewaltige Abwesenheit von Farbe bei einem Spiegel verstehen, um ihn wiedererschaffen zu können, so als gäbe man die gewaltige Abwesenheit von Geschmack beim Wasser wieder. Nein, ich habe den Spiegel nicht beschrieben – ich war er. Und die Worte sind sie selbst, ohne den Ton des Diskurses. Ich muß unterbrechen, um zu sagen, daß »X« das ist, was in mir ist. »X« – ich bade in diesem Dies. Es ist unaussprechlich. Alles, was ich nicht weiß, ist in »X«. Der Tod? der Tod ist »X«. Aber viel Leben auch, denn das Leben ist unaussprechlich. »X«, das du in mir erschauerst, und ich habe Angst vor deinem Kammerton: du vibrierst wie die Saite eines Violoncellos, eine gespannte Saite, die bei jeder Berührung pure Elektrizität von sich gibt, ohne Melodie. Der unaussprechliche Augenblick. Eine anders geartete Empfindsamkeit nimmt das »X« wahr. Ich hoffe, Du lebst »X«, um diese Art schöpferischen Traum, der sich durch die Adern räkelt, zu probieren. »X« ist weder gut noch schlecht. Es kommt immer darauf nicht an. Aber es widerfährt nur dem, das einen Körper hat. Wenngleich immateriell, bedarf es des Körpers von Mensch und Ding. Es gibt Gegenstände, die dieses totale Mysterium
des »X« sind. Wie das, was stumm vibriert. Die Augenblicke sind »X«-Splitter, die pausenlos abplatzen. Der Überfluß von mir wird zum Schmerz, und wenn ich überfließend bin, muß ich von mir geben wie die Milch, die, wenn sie nicht abfließt, die Brust zu sprengen droht. Ich befreie mich von dem Druck und kehre zur normalen Größe zurück. Die exakte Elastizität. Die Elastizität eines seidenweichen Panthers. Eines schwarzen eingesperrten Panthers. Einst habe ich einem Panther direkt in die Augen gesehen, und er hat mir direkt in die Augen gesehen. Wir haben uns gegenseitig verwandelt, eine Transmutation. Furchtbare Angst. Als ich wegging, war ich völlig geblendet von innen, das »X« unruhig. Alles hatte sich hinter dem Denken abgespielt. Ich habe Sehnsucht nach dem Grauen, das mich überkam, als ich mit dem schwarzen Panther Blicke tauschte. Ich kann Grauen erregen. Ist »X« der Hauch des It? sein strahlender eiskalter Atem? ist »X« das Wort? Das Wort bezieht sich nur auf einen Gegenstand, und dieser ist für mich stets unerreichbar. Jeder von uns ist ein Symbol, das mit Symbolen zu tun hat – alles nicht mehr als ein Bezugspunkt zum Realen. Verzweifelt versuchen wir eine eigene Identität sowie die Identität des Realen zu erlangen. Und wenn wir uns über das Symbol verstehen, dann, weil wir über die gleichen Symbole verfügen und über die gleiche Erfahrung des Dinges an sich: aber die Realität kennt keine Synonyme, Ich spreche zu Dir in abstracto, und ich frage mich: bin ich eine aria cantabile? Nein, was ich Dir schreibe, läßt sich
nicht singen. Weshalb schneide ich nicht ein ema an, das leicht zu entschlüsseln wäre? doch nein: ich gehe mit dem Rücken zur Wand, ich unterlaufe die entschlüsselte Melodie, ich wandle im Schatten, an diesem Ort, wo so viele Dinge passieren. Manchmal rinne ich die Mauer herab, an Stellen, wo niemals die Sonne hinkommt. Würde ich mein ema ausreifen lassen, wäre es bereits eine aria cantabile – möge also jemand anderes eine andere Musik machen, die Musik zum Ausreifen meines Quartetts. Dies aber ist vor dem Reifeprozeß. Die Melodie wäre die Tatsache. Doch welche Tatsache unterliegt einer Nacht, die sich ganz auf einem Umweg abspielt, auf dem keiner wandelt, und all dies während des Schlafes, ohne daß man davon etwas merkt? Wo ist die Tatsache? Meine Geschichte ist von einer versonnenen Dunkelheit, von einer in ihrer Stärke eingeschläferten Wurzel, die einen geruchlosen Du verströmt. Und in nichts von alldem liegt das Abstrakte. Es ist das Figurative des Unbenennbaren. Es ist beinahe kein Fleisch an diesem meinem Quartett. Schade, daß das Wort »Nerven« mit schmerzhaen Vibrationen verbunden wird, sonst wäre es ein Nervenquartett. Dunkle Saiten, die, gezup, keine »anderen Dinge« erzählen, nicht das ema wechseln – sie sind in sich und an sich, geben sich hin, wie sie sind, ohne Falschheit noch Phantasie. Ich weiß, daß, nachdem Du mich gelesen hast, es schwierig sein wird, meine Musik nach dem Gehör zu wiederholen, es ist nicht möglich, sie zu singen, ohne sie auswendig zu lernen. Und wie etwas auswendig lernen, das keine Geschichte hat?
Doch Du wirst Dich an etwas erinnern, das sich ebenfalls auf der Schattenseite abgespielt hat. Du wirst an diesem ersten wortlosen Dasein beteiligt gewesen sein, wirst, wie in einem ruhigen Traum in einer ruhigen Nacht, mit dem Harz am Baumstamm herabgelaufen sein. Danach wirst Du sagen: ich habe nichts geträumt. Ob das genügt? Es genügt, ja. Und vor allem weist dieses erste Urdasein keinen Fehler auf und den ergriffenen Ton eines, der lügen konnte, es aber nicht tut. Genügt das? Es genügt, ja. Aber ich möchte auch ein ema malen, ich möchte einen Gegenstand erschaffen. Und dieser Gegenstand wird ... ein Kleiderschrank sein, denn was gibt es Gegenständlicheres? Ich muß den Kleiderschrank aufmerksam studieren, bevor ich ihn male. Was sehe ich? Ich sehe, daß der Kleiderschrank eindringlich erscheint, denn er hat zum Eindringen eine Tür. Wenn man sie aber öffnet, sieht man, daß man das Eindringen auf später verschoben hat: denn auch auf der Innenseite gibt es eine Holzfläche wie eine geschlossene Tür. Funktion des Kleiderschrankes: die Verkleidungen im Dunkeln bewahren. Natur: die der Unverletzbarkeit der Dinge. Beziehung zu den Menschen: man betrachtet sich im Innenspiegel an der Schranktür, man sieht sich wie in einem unpassenden Licht, denn der Kleiderschrank steht nie an einem passenden Platz: ungehobelt bleibt er stehen, wo er hinpaßt, immer überdimensional, geduckt, scheu und mißglückt, ohne zu wissen, wie er wohl diskreter sein könnte, denn er hat zu viel Gewichtigkeit. Kleiderschränke sind riesig, fremd, traurig, gütig. Doch siehe da, die Spiegeltür geht auf – und durch die Bewegung der Tür und die neue Anordnung des im Schatten
liegenden Zimmers dringen auf einmal in diese Komposition unzählige Glasflaschen flüchtiger Helligkeit ein. Dann kann ich das Wesen eines Kleiderschrankes malen. Das Wesen, das nie cantabile ist. Doch ich möchte die Freiheit haben, Dinge ohne Sinn zu sagen, als tiefe Form, Dich zu treffen. Nur das Verkehrte fesselt mich, und ich liebe die Verfehlung, die Blüte der Verfehlung. Doch wie es anstellen, wenn meine Mängel Dich nicht rühren können, während ich die Deinen geliebt habe. Meine Arglosigkeit wurde von Dir mit Füßen getreten. Du hast mich nicht geliebt, davon weiß nur ich. Ich war getrennt. Von Dir getrennt. Ich schreibe für niemanden, improvisiere, was es gar nicht gibt. Ich habe mich von mir losgelöst. Und ich will das Abgetrenntsein. Nur so bin ich Ich auf der Welt. Nur so fühle ich mich wohl. Fühle Dich wohl. Ich in meiner Einsamkeit werde fast explodieren. Zu sterben muß eine lautlose innere Explosion sein. Der Körper hält es nicht länger aus, Körper zu sein. Und wenn zu sterben so schmeckte wie essen, wenn man ungeheuren Hunger hat? Und wenn sterben eine Lust, eine egoistische Lust wäre? Gestern, während ich Kaffee trank, hörte ich, wie die Hausangestellte hinter der Küche die Wäsche auf die Leine hängte und dabei eine Melodie ohne Worte trällerte. Eine Art wehklagender Kantilene. Ich fragte sie, von wem das Lied sei, und sie antwortete: Nur eine alberne Singerei von mir selbst, es ist von niemandem.
Ja, was ich Dir schreibe, ist von niemandem. Und diese Freiheit von niemandem ist sehr gefährlich. Sie ist wie die Unendlichkeit, deren Farbe die der Lu ist. All das, was ich schreibe, ist so heiß wie ein heißes Ei, das man ganz schnell von der einen in die andere Hand und dann wieder von der anderen in die erste Hand legt, um sich nicht zu verbrennen – ein Ei habe ich schon gemalt. Und nun sage ich nur, wie beim Malen: Ei und basta! Nein, modern war ich nie. Und im Grunde ist es so: wenn das Gemalte mich mit Befremden erfüllt, dann ist es Malerei. Und wenn das Wort mich mit Befremden erfüllt, dann tri es den Sinn. Und wenn das Leben mich mit Befremden erfüllt, dann beginnt das Leben. Ich passe auf, damit es nicht über mich hinausgeht. All das hier unterliegt großer Zurückhaltung. Dann werde ich traurig, nur um mich auszuruhen. Ich weine sogar leise vor Traurigkeit. Danach stehe ich auf und fange von neuem an. Ich würde Dir jetzt nie eine Geschichte erzählen, denn in diesem Fall wäre es Prostitution. Und ich schreibe nicht, um Dir zu gefallen. Vielmehr mir selbst. Ich muß der klaren Linie folgen und mein It vor jeglicher Ansteckung bewahren. Jetzt werde ich Dir alles schreiben, was mir durch den Kopf geht, mit sowenig Kontrolle wie möglich. Denn ich fühle mich zu dem Unbekannten hingezogen. Doch solange ich mich habe, werde ich nicht allein sein. Es geht los: ich werde die Gegenwart in jedem sterbenden Satz benutzen. Jetzt: Oh, wenn ich weiß, daß es so ist, würde ich nicht auf die Welt kommen. Oh, wenn ich weiß, würde ich nicht auf die
Welt kommen. Der Irrsinn ist der Nachbar grausamster Vernun. Dies ist ein Gehirnsturm, und ein Satz hat kaum etwas mit dem anderen zu tun. Ich schlucke den Irrsinn, der kein Irrsinn ist – sondern etwas anderes. Verstehst Du mich? Aber ich werde auören müssen, denn ich bin so schrecklich müde, daß nur das Sterben mich von dieser Müdigkeit befreien könnte. Ich gehe jetzt. Ich bin zurückgekommen. Jetzt werde ich versuchen, mir wieder zu vergegenwärtigen, was mir derzeit geschieht – und so werde ich mich selbst erschaffen. Es geht so: Der Ring, den Du mir schenktest, war aus Glas und ging entzwei, und die Liebe war vorbei. Doch manchmal erscheint an ihrer Stelle der wunderbare Haß derer, die sich einst geliebt und gegenseitig verschlungen haben. Der Stuhl, der hier vorne steht, ist mir ein Gegenstand. Unnütz, solange ich ihn anschaue. Sag mir bitte, wie spät es ist, damit ich weiß, daß ich um diese Zeit lebe. Ich treffe mich mit mir selbst: es ist tödlich, denn nur der Tod schließt mich ab. Doch ich halte durch bis zum Ende. Ich werde Dir ein Geheimnis anvertrauen: das Leben ist tödlich. Ich muß alles unterbrechen, um Dir folgendes zu sagen: der Tod ist das Unmögliche und das Unberührbare. Der Tod ist derart zukünig nur, daß es Leute gibt, die ihn nicht ertragen und sich das Leben nehmen. Es ist, als ob das Leben folgendes sagte: und es folgendes einfach nicht gäbe. Nur der wartende Doppelpunkt. Wir verwahren dieses Geheimnis in Stillschweigen, um zu verbergen, daß ein jeder Augenblick tödlich ist. Der Gegenstand Stuhl interessiert mich. Ich liebe die Gegenstände in dem Maße, in dem sie mich nicht lieben. Aber wenn ich nicht verstehe, was ich schreibe, so ist
es nicht meine Schuld. Ich muß reden, denn reden rettet. Aber ich habe kein einziges Wort zu sagen. Was würde ein Mensch, im Wahn der Ehrlichkeit, wohl zu sich selber sagen? Aber es wäre die Rettung. Obwohl der Terror der Ehrlichkeit von seiten der Finsternis kommt, die mich an die Welt und an das schöpferische Unbewußte der Welt bindet. Heute ist eine Nacht mit einem sternenübersäten Himmel. Es hat aufgehört zu regnen. Ich bin blind. Ich mache die Augen ganz weit auf und sehe nur. Aber das Geheimnis – das sehe und spüre ich nicht. Ob ich hier eine wahrhae Orgie? eine Orgie aus Wörtern hinter dem Denken feiere? Der Plattenspieler ist kaputt. Ich sehe den Stuhl an, und diesmal ist es, als hätte auch er mich angesehen und mich gesehen. Die Zukun gehört mir – solange ich lebe. Ich sehe die Blumen in der Vase. Es sind Feldblumen, die gewachsen sind, ohne daß jemand sie gepflanzt hätte. Sie sind gelb. Aber meine Köchin sagte: Was für häßliche Blumen. Nur weil es schwerfällt, das Franziskanische zu lieben. Im Hinter-meinem-Denken liegt die Wahrheit, die die Wahrheit der Welt ist. Die Unlogik der Natur. Was für eine Stille. »Gott« ist eine so riesige Stille, daß Er mich ängstigt. Wer mag wohl den Stuhl erfunden haben? Es braucht Mut, um zu schreiben, was mir einfällt: man kann nie wissen, was kommen und einen ängstigen mag. Das heilige Monster ist tot. An seiner Stelle wurde ein Mädchen geboren, eine Halbwaise, deren Mutter tot ist. Ich weiß wohl, daß ich auören muß. Nicht weil mir die Wörter fehlen, sondern weil man diese Dinge und vor allem die, die ich nur denke und nicht geschrieben habe, nicht sagt. Ich werde von dem sprechen, was sich die Erfahrung nennt. Es ist die Erfahrung, um Hilfe zu rufen und Hilfe zu bekommen. Vielleicht lohnt es sich, geboren worden zu sein, damit man eines Ta
ges wortlos flehen und damit einem wortlos gegeben werden kann. Ich habe um Hilfe gebeten, und sie wurde mir nicht verweigert. Da fühlte ich mich wie ein Tiger mit einem tödlichen Pfeil im Fleisch, der sich langsam an die ängstlichen Menschen heranschlich, um ausfindig zu machen, wer den Mut hätte, sich ihm zu nähern und seinen Schmerz zu lindern. Und es gibt in der Tat Menschen, die wissen, daß ein verletzter Tiger nicht gefährlicher ist als ein Kind. Und sie nähern sich der wilden Großkatze ohne Angst, sie zu berühren, und ziehen den tiefsitzenden Pfeil heraus. Und der Tiger? Unmöglich, sich zu bedanken. Daher drehe ich mich langsam vor dem Menschen im Kreis und zögere. Ich lecke mir eine der Pfoten, und dann, da es nicht das Wort ist, was jetzt zählt, entferne ich mich, ohne einen Laut von mir zu geben. Was bin ich in diesem Augenblick? Ich bin eine Schreibmaschine, deren trockene Tasten in der Feuchtigkeit des anbrechenden Tages widerhallen. Schon seit langem bin ich kein Mensch mehr. Man wollte, daß ich ein Gegenstand sei. Ich bin ein Gegenstand. Der andere Gegenstände erscha, und die Maschine erscha uns alle zusammen. Sie fordert. Der Mechanismus fordert, und er fordert mein Leben. Aber ich gehorche nicht ganz: wenn ich schon ein Gegenstand sein muß, dann ein Gegenstand, der schreit. Es gibt etwas in meinem Inneren, das schmerzt. Oh, wie wahnsinnig es schmerzt und wie laut es schreit und um Hilfe ru. Doch es fehlen Tränen in der Maschine, die ich bin. Ich bin ein Gegenstand ohne Bestimmung. In wessen Händen bin ich ein Gegenstand? so ist es um mein menschliches Geschick bestellt. Was mich rettet, ist schreien. Ich protestiere im Na
men dessen, was im Herzen des Gegenstandes hinter dem Hinter-dem-Denken-Fühlen ist. Ich bin ein dringender Gegenstand. Und nun – Schweigen und leichtes Erstaunen. Denn um fünf Uhr in der Frühe des heutigen Tages, des . Juli, fiel ich in Gnade. Es war ein schlagartiges Gefühl, doch unglaublich san. Die Helligkeit lächelte in der Lu: genau das. Es war ein tiefes Aufseufzen der Welt. Ich kann es nicht erklären, so wie man einem Blinden nicht das Morgenrot beschreiben kann. Was mir in Form eines Gefühls widerfuhr, ist unsagbar: ich brauche ganz schnell Deine Empathie. Fühle mit mir. Es war ein überwältigendes Glück. Doch wenn Du den Zustand der Gnade bereits kennengelernt hast, wirst Du erkennen, was ich Dir jetzt sage. Ich meine nicht die Inspiration, ein Zustand besonderer Gnade, der so o denen widerfährt, die mit Kunst zu tun haben. Der Zustand der Gnade, von dem ich spreche, wird zu nichts gebraucht. Es ist, als käme er nur, damit man wisse, daß man wirklich existiert und daß die Welt existiert. In diesem Zustand gibt es außer der sanen Seligkeit, die Menschen und Dinge ausströmen, eine Klarsicht, die ich nur als leicht bezeichne, weil an der Gnade alles so leicht ist. Es ist die Klarsicht eines Menschen, der nicht mehr raten muß: ohne sich anzustrengen, weiß er. Nichts weiter als das: er weiß. Frage mich nicht, was, denn ich kann nur auf die gleiche Art und Weise antworten: man weiß es.
Und es herrscht eine körperliche Glückseligkeit, die sich mit nichts vergleichen läßt. Der Körper wird zu einer Gabe. Und man spürt, daß es eine Gabe ist, weil man aus direkter Quelle das plötzlich unzweifelhae Geschenk erfährt, auf wunderbare und materielle Weise zu existieren. Alles bekommt eine Art Nimbus, der keine Einbildung ist: er rührt vom Glanz der mathematischen Ausstrahlung der Dinge und von der Erinnerung an Menschen her. Man beginnt zu fühlen, daß alles, was existiert, einen äußerst feinen Schimmer Energie atmet und ausströmt. Die Wahrheit der Welt aber ist unberührbar. Es ist jedoch weit von dem entfernt, was ich mir unter dem Zustand der Gnade bei den Heiligen vorzustellen versuche. Diesen Zustand habe ich nie kennengelernt und kann ihn nicht einmal erahnen. Es handelt sich nur um die Gnade eines gewöhnlichen Menschen, die ihm mit einem Mal Wirklichkeit verleiht, weil er gewöhnlich und menschlich und erkennbar ist. Die entsprechenden Entdeckungen sind unsagbar und unvermittelbar. Und undenkbar. Daher blieb ich im Zustand der Gnade weiterhin schweigsam sitzen. Es ist wie eine Ankündigung. Der jedoch keine Engel vorausgesandt werden. Aber es ist, als käme der Engel des Lebens und kündigte mir die Welt an. Dann kam ich langsam zurück. Nicht als wäre ich in einem Trancezustand gewesen – es besteht keinerlei Entrückung –, man geht allmählich daraus hervor, mit jenem tiefen Seufzen eines Menschen, der alles hatte, und zwar so, wie das
Alles ist. Es ist auch schon ein Seufzen vor Sehnsucht. Denn wenn man es erlebt hat, einen Körper und eine Seele zu erlangen, will man mehr und mehr. Vergeblich, es zu wollen: es kommt nur spontan und wann immer es will. Dieses Glück wollte ich durch die Vergegenständlichung des Wortes zu einem ewigen machen. Gleich danach suchte ich im Wörterbuch das Wort Seligkeit, das ich als Wort hasse, und sah, daß es »Zufriedenheit der Seele« bedeutet. Von wunschlosem Glück ist die Rede – ich würde es eher Verlagerung oder Levitation nennen. Ich mag auch nicht die Fortsetzung im Wörterbuch, die lautet: »derer, die sich in mystischer Kontemplation verzehren«. Es stimmt nicht: ich befand mich keineswegs in einem Meditationsprozeß, es gab in mir keine Spur von Religiosität. Ich hatte gerade gefrühstückt und lebte so vor mich hin, während ich dasaß und die Zigarette im Aschenbecher verglühte. Ich merkte, wie es anfing und mich packte. Und ich merkte, wie es allmählich vorbeiging und dann zu Ende war. Ich lüge nicht. Ich hatte keinerlei Rauschmittel genommen, und es war keine Halluzination. Ich wußte, wer ich war und wer die anderen waren. Aber jetzt will ich sehen, ob ich festhalten kann, was mir geschehen ist, indem ich Wörter verwende. Indem ich sie verwende, werde ich das, was ich gefühlt habe, ein wenig zerstören – doch es ist unumgänglich. Ich werde das, was folgt, als »Am Rande der Seligkeit« bezeichnen. Es beginnt so, ganz langsam:
Wenn man sieht, unterliegt der Akt des Sehens keiner Form – was man sieht, hat manchmal eine Form, manchmal nicht. Der Akt des Sehens ist unsagbar. Und manchmal ist auch das Gesehene unsagbar. Und es ist so eine Art Denken-Fühlen, das ich als »Freiheit« bezeichnen werde, nur damit es einen Namen hat. Die Freiheit als solche – als Wahrnehmungsakt – hat keine Form. Und da das wahre Denken sich selber denkt, erreicht diese Art Denken ihr Ziel im Verlauf des Denkens selbst. Damit will ich nicht sagen, daß es vage oder müßig sei. Es ist so, daß das primäre Denken – als Akt des Denkens – bereits eine Form hat und sich selbst, oder besser, demjenigen, der es denkt, leichter vermittelbar ist; und von daher hat es – da es eine Form hat – eine begrenzte Reichweite. Das Denken als besagte »Freiheit« hingegen ist als Denkvorgang frei. Es ist bis zu einem Grade frei, daß dieses Denken selbst dem Denker keinen Autor zu haben scheint. Das wahre Denken scheint keinen Autor zu haben. Und die Seligkeit weist ebenfalls dieses Gepräge auf. Die Seligkeit beginnt in dem Augenblick, in dem der Denkvorgang sich von der Notwendigkeit der Form befreit hat. Die Seligkeit beginnt in dem Augenblick, in dem das DenkenFühlen das Bedürfnis zu denken des Autors überwunden hat – dieser braucht nicht mehr zu denken und befindet sich jetzt nahe an der Größe des Nichts. Ich könnte auch »des Alles« sagen. Doch »alles« ist Quantität, und Quantität ist begrenzt durch ihren eigenen Anfang. Die wahre Unermeßlichkeit ist das Nichts, das keine Grenzen kennt und dort ist, wo ein Mensch seinem Denken-Fühlen freien Lauf lassen kann.
Diese Seligkeit ist weder weltlich noch religiös. Und all das setzt nicht unbedingt das Problem der Existenz oder NichtExistenz eines Gottes voraus. Ich spreche von dem menschlichen Denken und der Art, wie dieses Denken-Fühlen einen extremen Grad der Unvermittelbarkeit erreichen kann, was – und darin liegt kein Sophisma und kein Paradoxon – gleichzeitig für diesen Menschen der Punkt der tiefsten Kommunikation ist. Er kommuniziert mit sich selbst. Der Schlaf führt uns nahe an dieses leere und doch so erfüllte Denken heran. Ich spreche nicht von dem Traum, der in diesem Falle ein primäres Denken wäre. Ich rede vom Schlaf. Zu schlafen bedeutet, sich zu abstrahieren und sich im Nichts auszubreiten. Ich möchte Dir auch sagen, daß nach der Freiheit des Zustands der Gnade sich auch die Freiheit der Vorstellungskra einstellt. Gerade jetzt bin ich frei. Und oberhalb der Freiheit, oberhalb einer gewissen Leere, schaffe ich unsagbar ruhige, sich wiederholende musikalische Schwingungen. Der Irrsinn des freien Schöpfens. Willst Du mitkommen und es sehen? Die Landscha, wo diese Musik ertönt? Lu, grüne Halme, das ausgebreitete Meer, die Stille eines Sonntagmorgens. Ein dünner Mann mit nur einem Fuß hat ein einziges großes durchsichtiges Auge mitten auf der Stirn. Ein weibliches Wesen nähert sich auf allen vieren und sagt mit einer Stimme, die aus einem anderen Weltraum zu kommen scheint, mit einer Stimme, die nicht wie die erste Stimme klingt, sondern wie ein Echo einer ersten Stimme, die man nicht vernommen hat. Die Stimme ist linkisch, euphorisch, und sie sagt kra der Ge
wohnheit eines früheren Lebens: möchtest du Tee trinken? Und wartet die Antwort nicht ab. Sie nimmt eine feine goldene Ähre und steckt sie zwischen die zahnlosen Kiefer und kriecht davon mit aufgerissenen Augen. Augen so unbeweglich wie die Nase. Der ganze Kopf ohne Knochen muß gedreht werden, um einen Gegenstand anzusehen. Aber was für einen Gegenstand? Der dünne Mann ist inzwischen auf einem Bein eingeschlafen und hat sein Auge eingeschläfert, ohne es jedoch zuzumachen. Das Auge einzuschläfern bedeutet, nicht sehen zu wollen. Wenn er nicht sieht, schlä er. In dem durchsichtigen Auge spiegelt sich die Ebene in den Farben des Regenbogens. Die Lu ist das reinste Wunder. Die Schwingungen der Musik beginnen von neuem. Jemand betrachtet die Fingernägel. Es gibt einen Ton, der aus der Ferne ertönt: Pst! pst! ... Aber der Mann-mit-einemBem könnte sich nie vorstellen, daß er gerufen wird. Es setzt ein seitlicher Ton ein, wie von einer Flöte, die immer auf der Seite zu spielen scheint – es setzt ein seitlicher Ton ein, der die musikalischen Schwingungen, ohne zu zittern, durchzieht und sich so o wiederholt, daß er mit seinem steten Tropfen den Stein höhlt. Es ist ein unerhört hoher Ton ohne Verzierungen. Ein fröhliches und langgezogenes und durchdringendes Lamento wie die hohen, nicht schrillen, süßen Töne einer Flöte. Es ist die höchste und glücklichste Note, die eine Vibration herzugeben imstande ist. Kein einziger Mensch auf der Erde wäre in der Lage, ihn zu hören, ohne wahnsinnig zu werden und für immer ein Lächeln aufzusetzen. Doch der auf einem einzigen Bein stehende Mann – schlä aufrecht. Und das am Strand liegende weibliche Wesen denkt nicht. Eine neue Figur überquert die menschenleere Ebene und verschwindet hinkend. Man hört: pst, pst! Und gerufen wird niemand.
Hier ist die Szene, die meine Freiheit geschaffen hat, zu Ende. Ich bin traurig. Ein Unbehagen, das von der Ekstase rührt, nicht in das Leben der Tage hineinzupassen. Auf die Ekstase müßte der Schlaf folgen, um das widerhallende kristallene Vibrieren zu besänigen. Die Ekstase muß vergessen werden. Die Tage. Ich bin traurig geworden wegen dieses stählernen Tageslichts, in dem ich lebe. Ich atme den Geruch des Stahls in der Welt der Gegenstände. Aber jetzt habe ich Lust, Dinge zu sagen, die mich trösten und die ein bißchen frei sind. Zum Beispiel: Donnerstag ist ein Tag, durchsichtig wie die Flügel eines Insekts im Licht. So wie Montag ein dichter Tag ist. Im Grunde, ganz weit hinter dem Denken, lebe ich von diesen Ideen, falls es Ideen sind. Es sind Eindrücke, die sich in Ideen verwandeln, weil ich gezwungen bin, Wörter zu benutzen. Selbst wenn es nur in Gedanken ist. Das primäre Denken denkt in Wörtern. Das »Freiheit« genannte befreit sich von der Sklaverei des Wortes. Und Gott ist eine monströse Kreatur. Ich habe vor Gott Angst, weil er allzu total für meine Größe ist. Und ich empfinde auch eine Art Scham in bezug auf Ihn: es gibt Sachen, die mich betreffen, die nicht einmal Er weiß. Angst? Ich kenne ein Sie, das eine solche Angst vor Schmetterlingen hat, als wären sie übernatürlich. Und der göttliche Teil eines Schmetterlings ist wirklich zum Fürchten. Und ich kenne ein Er, dem sich vor Entsetzen beim Anblick von Blumen
die Haare sträuben – er glaubt, daß Blumen so gespenstisch zart sind wie ein Stöhnen von niemandem im Dunkeln. Ich bin es, die das Pfeifen im Dunkeln hört. Ich, die ich an der Bedingtheit des menschlichen Daseins kranke. Ich lehne mich auf: ich will nicht mehr Mensch sein. Wer? wer hat Erbarmen mit uns, die wir vom Leben und vom Tod wissen, während ein Tier, das ich zutiefst beneide – unbewußt sein Dasein fristet? Wer hat Erbarmen mit uns? Sind wir Verlassene? der Verzweiflung Verfallene? Nein, es muß einen möglichen Trost geben. Ich schwöre es: es muß einen geben. Was ich nicht habe, ist Mut, um die Wahrheit zu sagen, die wir kennen. Es gibt Wörter, die sind verboten. Doch ich mache namha. Ich mache diese Schwäche namha, ich mache das berauschende Grauen zu sterben namha – und antworte auf all diese Infamie mit – genau dem, was jetzt hier stehen wird – und antworte auf all diese Infamie mit Freude. Mit der allerpursten und beschwingtesten Freude. Meine einzige Rettung ist die Freude. Eine atonale Freude im Inneren des wesentlichen It. Das hat keinen Sinn? Doch, es muß einen haben. Denn zu wissen, daß das Leben nur eines ist und daß wir als Sicherheit nicht mehr als den Glauben an das Schattenreich haben, wäre zu grausam – und weil es zu grausam ist, antworte ich mit der Reinheit einer unzähmbaren Freude. Ich will nicht traurig werden. Seien wir fröhlich. Wer keine Angst hat, sich zu freuen und wenigstens ein einziges Mal die irre, unbändige Freude zu spüren, bekommt das beste Stück unserer Wahrheit. Ich freue mich – trotz allem, oh, trotz alledem –, ich freue mich in diesem Augenblick Jetzt, der verfliegt, wenn ich ihn nicht mit Wörtern festnagele. Ich freue mich genau in diesem Au
genblick, weil ich mich weigere, mich geschlagen zu geben: also liebe ich. Als Antwort. Eine unpersönliche Liebe, eine It-Liebe ist Freude: selbst die unerfüllte Liebe, selbst die Liebe, die zu Ende geht. Und mein eigener Tod und der Tod derer, die wir lieben, muß unbedingt fröhlich sein, ich weiß zwar noch nicht, wie, aber er muß es sein. Zu leben ist das: die Freude des It. Und ein Mich-Abfinden, nicht als Besiegte, sondern in einem allegro con brio. Übrigens, ich will nicht sterben. Ich weigere mich gegen »Gott«. Wollen wir, als Herausforderung, einfach nicht sterben? Ich werde nicht sterben, hast Du gehört, Gott? Ich habe nicht den Mut, hörst Du? Bring mich nicht um, hörst Du? Denn es ist infam, geboren zu werden, um zu sterben, ohne zu wissen, wann und wo. Ich werde mich ungemein freuen, hörst Du? Als Antwort, als Beleidigung. Eines kann ich Dir sagen: Wir sind unschuldig. Und ich muß begreifen, solange ich am Leben bin, hörst Du? denn danach ist es zu spät. Ach, diese ständig aufeinanderfolgenden Lichtblitze der Augenblicke. Ist mein It-Gesang denn nie zu Ende? Ich werde aus freien Stücken damit auören, durch einen Willensakt. Doch es setzt sich in ständiger Improvisation fort, immer wieder von neuem die Gegenwart, die Zukun ist, erschaffend. Diese Improvisation ist.
Willst Du sehen, wie es weiter geht? Diese Nacht – es ist schwer, es Dir zu erklären –, diese Nacht habe ich geträumt, daß ich träumte. Ob es wohl nach dem Tod so ähnlich ist? der Traum eines Traums eines Traums? Ich bin eine Ketzerin. Nein, es ist nicht wahr. Oder doch? Aber etwas ist daran. Ach, zu leben ist so unbehaglich. Alles engt ein: der Körper verlangt, der Geist gibt keine Ruhe, zu leben ist wie todmüde sein und nicht schlafen können – zu leben ist unbequem. Weder an Leib noch an Seele kann man nackt sein. Habe ich Dir nicht gesagt, daß zu leben einengend ist? Denn ich ging schlafen, und mir träumte, daß ich Dir ein herrliches Largo schrieb, und es war wahrer noch, als ich Dir schreibe: es war ohne Angst. Ich habe vergessen, was ich im Traum geschrieben habe, alles kehrte zurück zum Nichts, kehrte zurück zur Gewalt-des-Existierenden, das manchmal Gott genannt wird. Alles geht zu Ende, aber was ich Dir schreibe, geht weiter. Was gut ist, sehr gut sogar. Das Beste wurde noch nicht geschrieben. Das Beste steht zwischen den Zeilen. Heute ist Samstag und ist aus der reinsten Lu, nur aus Lu. Ich richte das Wort an Dich als tiefe Übung und male als tiefe Übung meiner selbst. Was will ich jetzt schreiben? Ich will etwas Ruhiges, keinem Modediktat Unterworfenes. Etwas wie das Andenken an ein hohes Denkmal, das noch höher wirkt, weil es Erinnerung ist. Doch en passant
möchte ich das Denkmal wirklich berührt haben. Ich höre jetzt auf, denn es ist Samstag. Es ist immer noch Samstag. Das, was noch ein Später sein wird – ist jetzt. Jetzt ist der Herrschasbereich, der jetzt gilt. Und solange die Improvisation dauert, werde ich geboren. Und siehe da, nach einem Nachmittag voller »wer bin ich« und nachdem ich um ein Uhr nachts noch immer verzweifelt aus dem Schlaf hochgeschreckt war – da, um drei Uhr in der Nacht, wurde ich wach und bin mir begegnet. Ich ging mir entgegen. Gelassen, heiter, eine unauffällige Erfüllung. Ich bin einfach ich. Und Du bist Du. Es ist ausgerei, es wird dauern. Was ich Dir schreibe, ist ein »Dies«. Es wird nicht vorbeigehen: es geht weiter. Sieh mich an, und liebe mich. Nein: Du siehst Dich an und liebst Dich. Und das ist richtig so. Was ich Dir schreibe, geht weiter, und ich bin verzaubert.
Jedes Ding hat einen Augenblick, in dem es ist. Ich will dieses Ist des Dinges in Besitz nehmen.