NEUES FORUM FÜR ALLGEMEINE UND VERGLEICHENDE LITERATURWISS EN SCHAFT
Herausgegeben von Horst-Jürgen Gerigk Maria Moog-Grünewald Band 16
APOKALYPSE Der Anfang im Ende Herausgegeben von MARIA MOOG-GRÜNEWALD VERENA OLEJNICZAK LOBSIEN
Universitätsverlag WINTER
Heidelberg
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UMSCHLAGBILD
Odilon Redon, Der Engel, der den Satan für
ISBN
1000
Jahre binden wird.
3-8253-1293-3
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INHALT
V ORBEMER.K.UNG ..........................................................................
VII
GÜNTER BADER: Aedificans Hierusalern Dominus - Über die Weise der Herabkunft der himmlischen Stadt in der Apokalypse ...
1
JOHANNES HOFF: Annäherung an die ,Apokalypse' ausgehend von Derridas Lektüre der Offenbarung des ,Johannes' ........................
15
MARIA MOOG-GRÜNEWALD: Conversio - Zu einem ,apokalyptisch' figurierten Topos autobiographischen Schreibens ..............
37
HOLT MEYER: Mariographisch-apokalyptische Techniken im Bayern und Polen des 17. Jahrhunderts.............. ................. .. . ...
61
VERENA LOBSIEN: Multi per transibunt, oder: das versprochene Ende - Inszenierungen frühneuzeitlicher Apokalyptik in Shakespeares King Lear . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
103
ROBERT ANDRE: "Und weit, wohin ich nimmer / Zu kommen gedacht" - Hölderlin liest Johannes in Patmos ............................
129
HEINZ J. DRÜGH: Entblößung, Unterbrechung, Verfremdung Die Struktur der Apokalypse in Adalbert Stifters Prosa ................
157
MICHAEL PADEN: Apokalyptiker, Utopisten und die Propheten des Pessimismus - Geschichtsphilosophie und Ästhetizismus um die Jahrhunderwende ......................................................................
181
DOERTE BISCHOFF: Krieger, Mütter, Cyborgs - Apokalypse und Geschlechterperformanz im Diskurs um den Ersten Weltkrieg....
203
TIM MEHIGAN: "Ordentliche Kunst" - Zum Motiv der Apokalypse in Goethes Wahlverwandtschaften und Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall.....................................................................
231
DETLEF KREMER: Ohne Ende - Virtuelle Apokalypse im zeitgenössischen Film: Godard, Greenaway, Kubrik, Lynch ........
245
BURKHARD MEYER-SICKENDIEK: Der Untergang des Fe~ischismus - Zum biblischen Subtext zweier moderner Endzeiterzählungen: Heart oJDarkness und Apocalypse Now ..........................................
259
ANDREA GEIER: Problematische Apokalypse - Modelle von Ideologiekritik und Sinnstiftung bei Ulla Berkewicz und Anne Duden .......................................................................................
279
BETTINE MENKE: Pol-Apokalypsen, die Enden der Welt - Im Gewirr der Spuren .....................................................................
311
VORBEMERKUNG
Dem Chor derjenigen, die durch Kolloquien, Ausstellungen, Features, Happenings und andere Festivitäten der mit chiliastischer Signifikanz aufgeladenen Jahrtausendwende ihren schnellebigen Tribut gezollt haben, eine weitere - verspätete - Stimme beizugesellen, ist nicht primäre Absicht des vorliegenden Bandes. Viehnehr ist es die Intention, ,Apokalypse' als eine basale Denk- und Argumentationsfigur herauszustellen, als Konfiguration, die die abendländische Kultur in herausragendem Maße prägt. Im ästhetischliterarischen Bereich erscheint seit der Spätantike, vermehrt seit der Frühen Neuzeit und afortiori in der Moderne ,Apokalypse' vielfach als Thema, Motiv und Topost, zugleich aber und vor allem auch als Struktur: die ,apokalyptische' Struktur ist gekennzeichnet von der Setzung des absolut Anderen, des radikal Neuen unter der Voraussetzung der Nichtung des Alten. In anthropologischer Hinsicht hat -lange vor Ernst Bloch - Pico della Mirandola 2 die adäquate Formel gefunden: Der Mensch ist, was er noch nie war und was er werden will. Descartes wird seinerseits von diesem Konzept einer radikalen Voraussetzungslosigkeit seine ,Methode' ableiten und in ihm das erkenntnistheoretische Cogito gründen. Und spätestens die Kunst des 19. und des 20. Jahrhunderts präsentiert das ästhetische Analogon. Die Avantgarden des 20. Jahrhunderts vermeinten, die auch nun deutlich die Politik, Ökonomie und Technik beherrschende Gesetzmäßigkeit des fortgesetzten gründungsfreien Neuanfangs durchbrechen zu können, und bemerkten doch nicht ihre Korrelation: ,Apokalypse' wurde zu einem geradezu ubiquitären Strukturelement moderner Kunst und Literatur3 ; ihr Signum ist die ,Wendung' (Katastrophe) in ein Noch-Nicht auf dem Grund eines Nicht-Mehr. Modell ist - wie absichtsvoll auch immer - die Apokalyptik, jene große und bis in früheste Zeiten reichende literarische Gattung der Apokalypsen, in denen Vorstellungen von den Ereignissen des Welt-Endes, näherhin des Weltgerichts und der neuen Erde und des neuen Himmels, in mythischVgl. dazu aus der Fülle: Apokalypse - Weltuntergangsvisionen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, hg. von Gunter E. Grimm, Werner Faulstich und Peter Kuon, Frankfurt a. M. 1986; Paul Konrad Kurz: Apokalyptische Zeit - Zur Literatur der mittleren 80er Jahre, Frankfurt a. M. 1987; Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland, München 1988; Untergangsphantasien, hg. von Johannes Cremerius u.a., Würzburg 1989 (= Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 8); Poesie der AjJOkalypse, hg. von Gerhard R. Kaiser, Würzburg 1991; Rainer Rotermundt:Jedes Ende ist ein Anfang - A'1.ffassungen vom Ende der Geschichte, Darmstadt 1994; Apocalypse, ed. by Fritz Gysin, Tübingen 1999. In De dignitate hominis. Siehe dazu insbesondere Angela Jurkat: Apokalypse - Endzeitstimmung in Kunst und Literatur des Expressionismus, Alfter 1993.
viii
Vorbemerkung
phantastischen Bildern zum Austrag kommen. Apokalypse meint im Wortverständnis - nicht oder nicht nur ,Weltuntergang'4, sondern Enthüllung. Als Enthüllung ist sie Offenbarung von ,Eigentlichem', ist sie endgültige Unterscheidung von Gut und Böse, Richtig und Falsch, Gerechtigkeit und Unrecht. Zugleich wird diese Differenz sichtbar gemacht im Jüngsten Gericht, das das Versprechen einer ewigen Einrichtung einer neuen Ordnung enthält. Paradigma par excellence ist die Offenbarung des J ohannes. Auch den prophetischen Büchern des Alten Testaments liegt diese Denkfigur zugrunde. Allerdings ist hier in der theologischen Konkretion nicht nur eine utopische Imagination herausgefordert, vielmehr geht es darum, die Vorstellung des Neuen als eines ethisch wie ästhetisch Unüberbietbaren - eben nicht nur als dies irae, sondern zugleich als eines Jüngsten Tages' - erfahrbar zu machen. Von Interesse ist nun, daß die Kunst und Literatur insbesondere der Moderne - verstanden als longue dun~e - sich die primär eschatologischgeschichtsphilosophische Denkfigur zu eigen gemacht hat in einer erneuten ,Wendung': vom Ethischen ins Ästhetische. Der ,apokalyptische' Modus wird reflektiert als Textstruktur, die ihrerseits motiviert sein kann durch das Thema resp. den Topos der ,Apokalypse '5. Doch wesentlich ist, daß die ,apokalyptische' Konfiguration zum Ermöglichungsgrund einer Literatur und Kunst wird, die jegliche Referentialität zugunsten einer Autopoiesis aufzuheben intendiert, die - mit anderen Worten - das Eschaton ästhetisch immanentisiert und damit in seiner Negativität positiviert. Gemeint sind e.g. jene nur vordergründig ikonoklastischen Tendenzen avantgardistischer Kunst, die gekennzeichnet sind von einer Komplementarität der Destruktion und Konstruktion, aber auch - gemäßigter - jene poietischen Findungen, die sich einer radikalen Sprachskepsis verdanken und nicht selten das sprachliche Medium ins Pikturale oder Musikalische zu transgredieren suchen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes thematisieren ,Apokalypse' im Alten und Neuen Testament, sie weisen insbesondere ,Apokalypse' als Thema und Struktur in Texten der Spätantike, der Frühen Neuzeit und der Moderne aus, und sie zeigen, daß vornehmlich die Literatur der Moderne gekennzeichnet ist durch die ästhetische Reflexion der ,Apokalypse': es ist die ,apokalyptische' Konfiguration, die zu einem Merkmal moderner Kunst wird.
4
Bezeichnend daftir der Titel der Züricher Ausstellung sowie des gleichnamigen von Ernst Halter und Martin Müller besorgten Bandes Der Weltuntergang, Zürich 1999. Herausragendes Beispiel ist die Literatur der sog. ,Decadence'. Vgl. dazu Maria MoogGrünewald: Poetik der Decadence - Eine Poetik der Moderne, in: Fin de siede, hg. von Rainer Warning und Winfried Wehle, München 2002 (= Romanistisches Kolloquium), 165-194.
Vorbemerkung
ix
Es ist faszinierend zu sehen, daß das, was zu einem Merkmal der Moderne geworden ist, bereits dem herausragenden biblischen Text der JohannesApokalypse eignet. Durchaus nach einhelliger Meinung findet die Apokalypse des Johannes ihren Höhepunkt in der Herabkunft des neuenJerusalem. Keine der alten Überlieferungen vom himmlischen J erusalem ist ausführlicher als diese. Doch - so die ingeniöse Einsicht des Beitrags Aedificans Hierusalem
Dominus - Über die Weise der Herabkunft der himmlischen Stadt in der Apokalypse von GÜNTER BADER: während im Text diese Herabkunft als ein Erbautwerden der Stadt durch Gott beschrieben wird, geschieht bei näherer Betrachtung vor allem dieses: Ein Text breitet sich aus und gewinnt durch die Beschreibung Struktur. Dies gibt Anlaß, die spezifische Textur der Apokalypse und deren Verhältnis zur göttlichen Architektur zu bedenken. Der Beitrag von JOHANNES HOFF, Annäherung an die ,Apokalypse' ausgehend von Derridas Lektüre der Offenbarung des Johannes', zeigt seinerseits am Beispiel des Textes Gesetzeskraft von Jacques Derrida, daß die apokalyptische Vorstellung einer bedingungslosen Gerechtigkeit von einer tiefen Ambivalenz geprägt ist: Sie befindet sich in Gefahr, politisch funktionalisiert zu werden; gäbe man allerdings diese Vorstellung ganz auf, dann würde man den "Wert des Menschen" (Derrida) verraten. In Auseinandersetzung mit Schriften von Kant und Benjamin, die von dieser Ambivalenz geprägt sind, zeigt Derrida darüber hinaus, daß sich das ,Apokalyptische' nicht als bloße Textgattung bestimmen läßt, vielmehr eine grundlegende ,Krisenhaftigkeit der Sprache' selbst bezeichnet. Ein für das autobiographische Schreiben konstitutiver Modus ,eschatologisch-apokalyptischer' Konfiguration ist die ,Conversio', das lateinische Äquivalent von gr. ,epistrophe' resp. ,metanoia'. MARIA MOOG-GRÜNEWALD weist in ihrem Beitrag Conversio - Zu einem ,apokalyptisch ( figurierten Modus autobiographischen Schreibens am Beispiel der autobiographischen Schriften von Sartre, Augustinus und Rousseau nach, daß die ,Conversio' die Figur par excellence ist, die auf der Ebene de.s Dargestellten wie des Darstellens die textuelle Konstitution einer Ich-Identität, primäre Raison d'etre der Autobiographie, erst ermöglicht, und dies in einer spezifischen Wendung vom Theologisch-Philosophische ins Ästhetische. Gegenstand des Beitrags von HOLT MEYER, Mariographisch-apokalyptische Techniken im Bayern und Polen des 17. Jahrhunderts, sind barocke Darstellungen der Apokalyptischen Frau aus Apk. 12, die immer auch mit Blick auf die Jungfrau Maria gedeutet wurde. Am Beispiel u.a. von Rubens' Gemälde Die apokalyptische Frau, der Münchner Mariensäule und dem Jungfrauengarten Wespazjan Kochowskis werden Techniken und Strategien der medialen Repräsentation der Bibelstelle untersucht. Dabei geht es besonders um die
x
Vorbemerkung
Spannung, die sich aus der ästhetischen Entpragmatisierung der ursprünglich aus rituellen Kontexten stammenden mariographisch-apokalyptischen Ikonographie ergibt. Im Unterschied zu zeitgenössischen Pragmatisierungen der Apokalypse verzichtet Shakespeares King Lear auf jede Vorstellung eines wie auch immer gearteten Neuanfangs. In ihrem Beitrag Multi pertransibungt, oder: das ver-
sprochene Ende - Inszenierungen Jrühneuzeitlicher Apokalyptik in Shakespeares "King Lear((, zeigt VERENA LOBSIEN, daß das Drama zwar bestimmte Strukturen des apokalyptischen Diskurses aufgreift, sich jedoch auf allen Ebenen seiner Konstitution weigert, Verborgenes zu offenbaren und es damit zur chiliastischen Pragmatisierung freizugeben. Dessen unbeschadet transformiert Shakespeare apokalyptische Themen in textuelle Verfahren. Er läßt zum einen Weltuntergangsszenarien zu subjektiven Wahnvorstellungen werden und demonstriert andererseits, daß die apokalyptischen Zeichen, die das Ende zu versprechen scheinen, unzuverlässig sind, weil die Evidenzen trügen, res und verba sich trennen. So werden die Zeichen disponibel, während das Jenseits, von dem sie sprechen, der Verfiigbarkeit entzogen wird. Hölderlin wiederum unterscheidet in dem Gedicht Patmos die unmittelbare von der immer nur vermittelten Offenbarung, die sich aus den Deutungen der Heiligen Schrift ergeben kann. Die Analyse ROBERT ANDREs, "Und
weit, wohin ich nimmer / Zu kommen gedacht(( - Hölderlin liest Johannes in "Patmos((, kann evidenzieren, daß letztere Form der Offenbarung eine systematisch bedingte Ungewißheit und Gefahr mit sich fuhrt: Im Deuten überläßt sich das Subjekt den unvorhersehbaren Wegen der Lektüre; ob aber die Deutung am Ende ihr Ziel erreicht oder ob sie vielleicht nur zu einem jähen Abbruch fuhrt, bleibt ungewiß. Patmos reflektiert diese Problematik der deutenden Offenbarung und die Ambiguität ihres Endes. Stifters Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842 steht nicht nur wegen einiger von dort übernommener Formulierungen in enger Beziehung zur Offenbarung des Johannes, sondern vor allem, weil die ambivalente Struktur dieses Textes auch Stifters Prosaskizze prägt. Die Ausfuhrungen von HEINZ J. DRÜGH unter dem Titel Entbliif3ung, Unterbrechung, Verfremdung - Die Struktur der Apokalypse in Adalbert Stifters Prosa legen dar, daß die apokalyptische Epiphanie des erwarteten Ereignisses nur als Effekt ästhetischer Verfahren, die das Eintreten des Ereignisses verschieben, zur Darstellung kommen kann. In der Reflexion auf diesen Sachverhalt wird Stifters Beschreibung selbstreferentiell und stellt ihre Verfahren und ihre Schriftlichkeit aus. Stifters neuerdings oft bemerkte Modernität wird als Resultat dieser ,apokalyptischen' Struktur kenntlich gemacht - eine Beobachtung die in einem Überblick über das Spätwerk profiliert wird. In der Zeit zwischen der Reichsgründung und dem Ersten Weltkrieg gewinnen apokalyptische Vorstellungen in Philosophie und Literatur an
Vorbemerkung
xi
Bedeutung. Diese Entwicklungen beschreibt und erläutert der Beitrag von MICHAEL P AUEN, Apokalyptiker, Utopisten und die Propheten des Pessimismus Geschichtsphilosophie und Ästhetizismus um die]ahrhundertwende, im Vergleich mit geschichtsphilosophischen Entwürfen der Aufklärung und des Idealismus. Sind diese durch den Glauben an eine Rationalität der Geschichte geprägt, so betonen die Apokalyptiker deren radikale Sinnlosigkeit. Dies ermöglicht ihnen eine Berücksichtigung des individuellen Leids, das nicht mehr aus der Perspektive einer höheren Vernunft legitimiert wird, sondern nur durch einen radikalen Umbruch beendet werden könnte. Der Erste Weltkrieg ist auch der Fokus des Beitrags von DOERTE BISCHOFF, Krieger, Mütter, Cyborgs: Apokalypse und Geschlechtetpeiformanz im Diskurs um den Ersten Weltkrieg. Bereits die Zeitgenossen erkannten den Ersten Weltkrieg als radikalen Umbruch und Neuanfang, verkörperte er doch das Phantasma einer zivilisatorischen Neugeburt aus dem Geist der Technik. Mit dieser apokalyptischen Auffassung des Krieges geht eine Recodierung des Weiblichen einher: So wird die Mutter mit Tapferkeit und Stärke assoziiert und enthält ,männliche' Merkmale. Dadurch werden die Geschlechterrollen in ihrer Perfonnativität bewußt. Das Weibliche steht daher nicht mehr als naturhaftes Substrat männlicher Symbolisierung zur Verfügung - diese wird vielmehr entgrenzt und unkontrollierbar, wo sich ihr das wesenhaft Andere entzieht. Diese Entwicklungen werden anhand von Kar! Kraus' Die letzten Tage der Menscheit und Arnold Zweigs]unge Frau von 1914 reflektiert. Der Beitrag von TIM MEHIGAN, "Ordentliche Kunst((: Zum Motiv der
Apokalypse in Goethes "Wahlverwandtschaften (( und Thomas Bernhards "Ausläschung. Ein Zeifall((, kontrastiert Goethes Wahlverwandtschaften mit Bernhards Roman Die Ausläschung und fragt nach der beiden Romanen immanenten ,Logik des Endens'. Goethes Wahlverwandtschaften stellen ein Experiment dar, das zunächst von einem positiven Konstruktionswillen ausgeht, indem es den Nachweis der Identität von Kultur und Natur erbringen möchte. Doch am Ende erweist sich der Versuch, eine ganzheitliche Ordnung zu stiften, als tödlich - der Ordnungswille der Kunst siegt über das Leben und löscht es aus. Hieran anknüpfend setzt Thomas Bernhard dem Goetheschen Kunstbegriff einen destruktiven Gestus entgegen: Die Ausläschung beabsichtigt eine gänzliche Zerstörung aller Traditionen, die auf die Idealität der Kunst abzielen. Bernhard steht damit insofern in der Tradition der Apokalypse, als diese Zerstörung die Gewinnung eines neuen Kunstbegriffs intendiert, der die Endlichkeit der menschlichen Existenz radikal zur Anschauung bringen soll. Der Ort der Apokalypse in der Gegenwart ist die Kunst: Während religiöse Endzeiterwartungen heute kaum noch von Bedeutung sind, wird das Szenario von Untergang und Auferstehung ästhetisch inszeniert. Wie der Beitrag von DETLEF KREMER, Ohne Ende - Virtuelle Apokalypsen im zeitgenässi-
xii
Vorbemerkung
schen Film: Godard - Greenaway - Kubrick - Lynch, zeigt, geschieht dies besonders im zeitgenössischen Film. Die apokalyptische Defonnation alles Bestehenden findet in der Fonnsprache des Films ihr Widerlager. In den Filmen von Lynch, Godard, Kubrick oder Greenaway wird oft der, totale Untergang heraufbeschworen, der sich aber immer nur virtuell ereignen kann. Das Ende wird durch seine Darstellung aufgeschoben. Zu den dämonischen Gegenspielern Gottes gehören in der Apokalyptik die Dämonen und Götzen, deren totale Vernichtung versprochen wird. Insofern läßt sich die Apokalypse als gewaltsamer Akt der Zerstörung einer als fetischistisch beschreibbaren Religiosität durch den monotheistischen Glauben verstehen. Wie der Beitrag von BURKHARD MEYER-SICKENDIEK, Der
Untergang des Fetischismus - Zum biblischen Subtext zweier moderner Endzeiterzählungen: "Heart qf Darkness{( und "Apocalypse Now({ zu erhellen vennag, macht sich Joseph Conrads Novelle Heart qf Darkness dieses Schema in ambivalenter Weise zu eigen: Einerseits weist Conrad fetischistische Elemente in der venneintlich zivilisierten eigenen Kultur auf, andererseits wird der Untergang der kongolesischen Ureinwohner und ihrer Fonn des Kultes von den Protagonisten herbeigesehnt. Der diesem Dualismus von Fetischismus und Vernunft inhärente Rassismus wird in Francis Ford Coppolas filmischer Verarbeitung Apocalypse now durch eine radikale Ästhetisierung der Gewalt vermieden. Als ,Modelle von Ideologiekritik und Sinnstiftung' liest ANDREA GEIER die Erzählungen Michel} sag ich von Ulla Berkewicz und Übergang von Anne Duden. Die Erzählungen nehmen jeweils Elemente aus dem topischen Inventar der ,Apokalypse ' -Vorstellungen auf und aktualisieren sie. In Michel} sag ich wird das revolutionäre Geschehen nach dem apokalyptischen Schema von Untergang und Erneuerung gedeutet, zugleich aber das Schema selbst reflektiert und unterminiert. Dagegen fungiert in Übergang die Apokalypse als Erklärungsmuster fur einen katastrophischen Geschichtsverlauf, was eine problematische Sinnstiftung fiir den Holocaust impliziert. Überraschendes fordert der Beitrag von BETTINE MENKE, Pol-Apokalypsen} die Enden der Welt - Im Gewirr der Spuren zutage, insofern er plausibilisiert, daß selbst das Phantasma der Polarfahrten eine apokalyptische Struktur besitzt: Solange die Pole noch unentdeckt waren, konnten sie als der Ort gelten, an dem alle Zeichen und Spuren an ihr Ende gekommen sind. Mit diesem Ende der Welt verbindet sich die Vorstellung, an den unentdeckten Polen würde sich eine neue oder unbekannte Welt enthüllen. Doch zugleich bleiben die literarischen Gestaltungen dieses Phantasmas auf die intertextuellen Vor-Fahren verwiesen. So entfaltet sich eine paradoxe Struktur, in der das Ende als Anfang immer nur in der Weise des Aufschubs gedacht werden kann.
Vorbemerkung
xiii
Die vorliegenden Beiträge gehen auf Vorträge zurück, die vom 16. -18. März 2000 im Rahmen eines Symposions des Tübinger Graduiertenkollegs
PragmatisierungjEntpragmatisierung - Literatur im Spannungsjeld autonomer und heteronomer Bestimmungen gehalten wurden. Hinsichtlich des Rahmenthemas des Kollegs scheint Apokalypse - ob nach einzelmenschlichem Maßstab oder als Weltgeschehen gedacht - auf den ersten Blick Tenninus einer unüberbietbaren Entpragmatisierung, Ende und Bruch jeglichen Handlungszwecks, Aussetzungjeglicher funktionaler Kontinuität. Auf den zweiten Blick wird eine Dialektik sichtbar, die diese Absolutheit subvertiert und der potentiellen Refunktionalisierung, gar simultan zu der ihr gegenläufigen Geste, zuarbeitet. Ist doch die apokalyptische Verneinung zweige sichtig in der Gleichzeitigkeit von (entpragmatisierender ) Destruktion und (potentiell repragmatisierender) Konstruktion. Diese dialektische Figur wurde im Rahmen des Kollegs bereits anderweitig offengelegt, so im Hinblick auf das Verhältnis von Ethik und Ästhetik, die Korrelation von Kontingenz und Ordo in der Narrativik, die spezifische Verwiesenheit von Bild und Text. 6 Bei der technischen Einrichtung und bei der sachverständigen Lektoriemng der Beiträge des Bandes haben Anke Kramer, M.A. und Dr. Steifen Schneider mit äußerstem Engagement und in souveräner Kompetenz mitgewirkt. Ihnen sei dafür sehr herzlich gedankt. Tübingen und Berlin, im Dezember 2002
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DIE HERAUSGEBERlNNEN
Vgl. Etho-Poietik - Ethik und Asthetik im Dialog: Erwartungen, Forderungen, Abgrenzungen, hg. von Bernhard Greiner und Maria Moog-Grünewald, Bonn 1998; Kontingenz tmd Ordo - Selbstbegründung des Erziihlens in der Neuzeit, hg. von Bernhard Greiner und Maria Moog-Grünewald, Heidelberg 2000; Behext von Bildern? Ursachen, Funktionen und Perspektiven der textuellen Faszination durch Bilder, hg. von Heinz]. Drügh und Maria Moog-Grünewald, Heidelberg 2001.
Günter Bader
n,n" C~rl1'i" n~':J iEDIFICANS HIERUSALEM DOMINUS
Über die Weise der Herabkunft der himmlischen Stadt in der Apokalypse Während das irdische Jerusalem; dieser Zankapfel, nach Worten des Psalters, die von ferne in den Ohren klingen, eine Stadt ist, "in der man zusammenkommen soll" (Ps. 122,3), und der einer Etymologie zufolge gewünscht wird: "Es möge Friede sein in deinen Mauern/ und Glück in deinen Palästen!" (Ps. 122,7), habe ich bei meinen Ausfuhrungen zur himmlischen Stadt gleichen N amens, die wahrscheinlich für den Ort eines viel untrüglicheren, da ewigen Friedens gehalten werden dürfte, allen Anlaß zur Furcht, nichts als Streit zu stiften. Bei diesem Thema an sich schon in der Gefahr, mich anzulegen mit Apokalyptikern und Kennern der Apokalyptik, mit Theologen und solchen, die die Theologie ganz genau verstehen, bin ich jetzt vollends drauf und dran, es mit den Kennern der bonae litterae zu verderben. Um den Schaden im vielseitigen Verstreitungszwang so kalkulierbar wie möglich zu halten, werde ich, in der Hoffnung, zur Sache wenigstens eine Bemerkung zuwege zu bringen, mit zwei Vorbemerkungen beginnen, wobei die endliche Bemerkung den Umfang einer Vorbemerkung um nicht viel übersteigen wird. Schon lange wollte ich dem Himmlischen J erusalem gern ein paar Worte widmen. Wer wollte nicht? Das Verlangen der Frommen gilt - ich weiß nicht warum - der "hochgebauten Stadt"l. Aber das Wenige, was dazu ausgeführt werden kann, darf nicht ohne Vorbereitung sein. 1. Vorbemerkung: Was ist Apokalypse?
Zunächst soll- in Aufuahme ~on Trends der zeitgenössischen Apokalyptikforschung 2 - unterschieden werden zwischen Apokalyptik und Apokalypsen.
Evangelisches Gesangbuch, Stuttgart 1996, Nr. 150. Originalfassung bei Erich Trunz: Johann Matthiius Meyfart - Theologe und Schrtftsteller in der Zeit des Dretßigjiihrigen Krieges, München 1987, Taf 30. Außerdem: Waltraut-Ingeborg Sauer-Geppert: Jerusalem, du hochgebaute Stadt ... - Ein quellenkritischer Vergleich, in: Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung (FS Fritz Tschirch), hg. von Karl-Heinz Schirmer und Bernhard Sowinski, Köln und Wien 1972,249-263; Johann Anselm Steiger: Rhetorica sacra Seil biblica - Johann Matthä'us Meyfart (1590-1642) lind die D~fizite der heutigen rhetori;chen Homiletik, in: Zeitschrißfiir Theologie lind Kirche 92 (1995), 517-558. Stefan Beyede: Die Wiederentdeckung der Apokalyptik in den Schrt.ften Altisraels und des Frii~;udentums, in: Verkiindigung und Forschung 43, Gütersloh 1998, 34-59, 37ff.; ders.: Von der Löwengmbe ins himmlische Jemsalem - EnJlcigungen zur Jiidischen Apokalyptik, in: Glaube lind Lernen 14, Göttingen
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Günter Bader
Wenn dies geschehen ist, steht der Weg von den Apokalypsen zu der Apokalypse erst noch bevor. ,Apokalyptik' - ein Tenninus des 19. Jahrhunderts 3 - ist eine Sammelbezeichnung fur diverse apokalyptische Vorstellungen, Bilder und Gedanken, insbesondere aber fur die möglichst kohärente Zusammenstellung solcher Gedanken. Der Terminus wird speziell gebraucht im Blick auf gewisse Milieus des Frühjudentums und Frühchristentums rund um die Zeitwende, dann aber auch generell weit über diese Epoche hinaus. Apokalyptisches Material erscheint auf den ersten Blick verwirrend, kraus, bizarr, vor allem ohne sammelnde Einheit. Doch bei näherer Hinsicht zeigt sich mit einer gewissen Gleichförmigkeit ein ganz bestimmter Kreis von Themen. Dazu gehören: Determination des Geschichtsverlaufs und unmittelbare Erwartung des Endes aller Dinge, Universalismus der Weltsicht bei besonderer Aufmerksamkeit fiir das individuelle Schicksal, Weltpessimismus und J enseitshoffnung. 4 Sämtliche Einzelthemen berühren sich schließlich in dem einen, das alle umfaßt: im eschatologischen Dualismus der Zwei-Äonen-Lehre. Darin erkennt man "das wesentlichste inhaltliche Merkmal der Apokalyptik"s. Dieser und der kommende Äon: dieser bald vollends vergehend, dagegen der kommende ganz und gar jenseitig, ohne Übergang zur bisherigen Welt. Das 20. Jahrhundert, das sich zumindest aus der Perspektive der Theologie häufig als Jahrhundert der Wiederentdeckung der Apokalyptik verstand, hat hierzu divergierende Interpretationsmodelle entworfen. Einerseits das Plädoyer fiir konsequente Entmythologisierung der befremdenden apokalyptischen Vorstellungen, wozu gehören: Auferstehung der Toten, Wiederkehr Christi, Jüngstes Gericht, Weltbrand und Entrückung der Übrigbleibenden durch die Luft. Anstößig erschien dabei immer das Grobe und Vorstellungshafte. 6 1999,23-34. - Herrn Privatdozent Dr. Stefan Beyerle bin ich für freundlich gewährten Rat sehr zu Dank verbunden. Nach der Prägung durch earl Inmlanuel Nitzsch (Bericht an die Mitglieder des Rehkop.fSchet1 PredigerVereins über die Verhandlunget1 vom Jahre 1820, Wittenberg 1822, 29-35) hat Friedrich Lücke den Terminus "Apokalyptik" in die Wissenschaftssprache eingeführt (Commentar über die Schriften des EvangelistenJohannes lVI1 - Versuch einer vollständiget1 Einleittmg in die QtfenbarungJohannis und in die gesammte apokalyptische Litteratur, Bonn 11832, ix). Dazu Werner Zager: Begr(ff und Wertung der Apokal]lptik in der neutestamet1tlichen Forschung (EHS XXIII/358), Frankfurt a. M. 1989, 21-40. Philipp Vielhauer: Apokalypset1 lind VeruJandtes, in: Neutestamentliche Apokryphen II, hg. von Edgar Hennecke und Wilhelm Schneemelcher, Tübingen 31964, 407-427; auszugsweise wiederabgedruckt in: Apokal]lptik, hg. von Klaus Koch und Johann Michael Schmidt, (WdF 365) Darmstadt 1982, 403-439. Vielhauer gliedert die "Vorstellungswelt" der Apokalyptik in 1. Zwei-Äonen-Lehre, 2. Pessimismus und Jenseitshoffuung, 3. Universalismus und Individualismus, 4. Determinismus und Naherwartung, 5. Uneinheitlichkeit (ebd., 408-417 bzw. 403-411). Ebd., 413 bzw. 405. Rudolf Buhmann: Neues Testament und MJ'thologie - Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, in: ders., Qtfenbanmg und Heilsgeschehen (BEvTh 7), München 1941,27-69; wiederabgedruckt in: Kerygma lind Mythos, hg. von Hans-Werner Bartsch (ThF 1) I, Hamburg 11948, 51967, 15-53; Neuausgabe (BEvTh 96) München 1985. Ferner ders.: Jews
Aedificans Hierusalem·Dominus
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Andererseits die Bewillkommnung der Apokalyptik als hervorragendes Paradigma rur existentiale7 oder geschichtstheologische 8 Entwürfe, die in der These gipfeln, die Apokalyptik sei "die Mutter aller christlichen Theologie"9. Das Problem von Apokalyptik im Aggregatzustand bloßer Vorstellung ist ihre Flüchtigkeit. Vorstellungen kommen und gehen. Was gibt ihnen Halt? Worin materialisieren sie sich? Hierauf antwortet das zweite Stichwort. Apokalyptik materialisiert sich in Apokalypsen. ,Apokalypse' - ein Tenninus ·des ersten christlichen Jahrhunderts lO - wird meist als literarische Gattung verstanden. Hierzu bedarf es literarischer Kriterien. Apokalypsen sind identifizierbar durch gewisse Formen wie Pseudepigraphie, Himmelsreise, Visionsbericht, Geschichtsbericht (als vaticinium ex eventu). Oder der Auftritt von Heils- und Offenbarungsmittlern, von Messias und Engeln gilt als apokalyptisches Signal. Was sind Apokalypsen? Die Antwort, die zur Diskussion gestellt wird, durchläuft in definitorischer Absicht eine ganze Abstraktionshierarchie von oben bis unten und vollzieht den Spagat von Text überhaupt bis zum letzten Sub text so: Apokalypsen sind, was die ,Schreibweise' anlangt, Texte der narrativen Art, was den ,Texttyp' betrifft, so gehören sie zur Offenbarungsliteratur, und unter den mannigfaltigen ,Gattungen' von Offenbarungsliteratur - Prophetie, Weisheit, Mantik, Orakel - ist schließlich die Apokalypse eine, die dann ihrerseits ,Untergattungen' wie die erwähnten kleineren Formen umfaßt. 11 Aber man darf wohl Zweifel in die Aussagekraft eines solchen scholastischen Definitionsverfahrens nach genus und difforentia specifica setzen. Seine solenne Leere fuhrt immer in die Gefahr, letztlich nicht mehr gesagt zu haben als: Apokalypsen sind Literatur überhaupt, und dies klingt nicht sonderlich originell. Es wäre die Frage zu klären: Wie gelangt man von Schreiben überhaupt, diesem ungefähren Kennzeichen von Literatur, zum Schreiben von Apokalypsen? Die vorgeschlagene Definition läßt den Zusammenhang von
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Christus und die Mythologie, Hamburg 1964; wiederabgedruckt in: ders., Glaube und Verstehen N, Tübingen 11965, 31975,141-189. Ulrich H.J. Körtner: Weltangst und Weitende - Eine theologische Interpretation der Apokalyptik, Göttingen 1988; ders.: Die Entdeckung der Endlichkeit - Zur theologischen Herau~fordertmg apokalyptischen Denkens an derjahrtausendwende, in: Glaube und Lernen 14 (1999),35-46. Qtfenbanmg als Geschichte, hg. von Wolfhart Pannenberg, Göttingen 11961, 51982; ders.: Gnmdzüge der Christologie, Gütersloh 1964. Ernst Käsemann: Die Anfinge christlicher Theologie, in: Zeitschriftfiir Theologie und Kirche 57 (1960), 162-185; wiederabgedruckt in: ders., Exegetische Versuche und Besinmmgen II, Göttingen 11964, 31970,82-104, hier 100. Morton Smith: On the History 01 AIJOKAA YIJTil and AIJOKAA Y'PII, in: Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near Bast - Proceedings C!f the International Colloquium on Apocalypticism Uppsala, August 12-17,1979, ed. byDavidHellholm, Tübingen 1983, 9-20. David Hellholm: Art. Apokalypse I - Form und Gattung, RGG 4 I, Tübingen 1998, Sp. 585-588, 586.
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logischem Genus und literarischer Gattung ungeklärt. Sie nimmt außerdem keine Notiz davon, daß Apokalypse an ihrem allerersten Ort keine Gattung ist, sondern Solitär, also ein Individuum. Es gibt nur eine, und diese beginnt mit der Selbstbezeichnung12 : :A1tOKaA.U"'t~ 'IllO"oi) XptO"'toi), . Von ihr haben auf dem Weg bloßen Generalisierens alle übrigen ihren Namen: Hier wäre die Frage zu beantworten: Wie gelangt man von der Gattung zum Individuum? Offenbar läßt die Frage: Was sind Apokalypsen?, die auf die literarische Gattung zielt, die andere noch offen, die lautet: Was ist Apokalypse? Kant hat der bestimmenden Urteilskraft, mit der wir bisher dabei waren, immer detailliertere Phänomene unter immer detailliertere Allgemeinbegriffe zu subsumieren, die reflektierende Urteilskraft entgegengesetzt, die zum gegebenen Besonderen oder gar Individuellen das Allgemeine erst noch suchen muß. 13 Dies führt zu nicht weniger als zu einer vollständigen Umkehrung der bisherigen Abstraktionshierarchie und zur Neumischung ihrer Elemente. Dabei wird sich zeigen müssen, wie das bisher Unverbundene, Apokalyptik und Apokalypse, sich zu verbinden beginnt, und zwar so, daß literarische Form und Vorstellungsinhalt in ein Verhältnis gegenseitiger Bedingung treten. Was ist Literatur? Wenn es erlaubt ist, so schlicht und am Rand der Undeutlichkeit zu reden: Literatur überhaupt ist Schreiben und Lesen. Und was ist Apokalypse? Die Antwort, die gegeben werden muß, klingt ärgerlich und äffisch: Apokalypse ist Schreiben und Lesen. Zwei Gesichtspunkte hierzu: 1. Schreiben Apokalyptiker schreiben halt noch. Aber Schreiben ist hier nicht bloß allgemeines Genus, sondern es ist die charakteristische, individuell apokalyptische Tätigkeit. Apokalypsen werden geschrieben. 14 Sie sind durchweg nichts als Textgenituren. Dies impliziert eine Wechselbeziehung zwischen Text und Apokalypse von der Art: Nicht nur sagt Text überhaupt etwas über das Wesen von Apokalypse, sondern die Apokalypse sagt auch etwas über das Wesen eines Textes. Der Text der Apokalypse muß durch sein bloßes Dasein das schwarze Loch der -Diskontinuität zwischen den beiden Äonen ausfüllen. Einerseits mehr als der Horror der vergehenden Welt, ist er andererseits 12
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Apk. 1,1. Während Hellholm mutmaßt, 'A1tOK6:A.\)"'t~ "dürfte nicht nur als Teil eines Titels, sondern auch als Hinweis auf eine Gattung gedacht sein" ([s. Anm. 11] 586), urteilt David E. Aune (Revelation 1-5, World Bib/ical CommentarJ' 52A, Dallas 1997, 12) vorsichtiger: ,John is not describing his composition as belonging to a literary type called ,apocalypse', since he characterizes his work as a ,prophecy' (1:3) or a ,prophetic book' (22:7; 10, 18-19). On the basis ofits occurrence in Rev 1:1, and particularly because the term became the title for John's composition, ,Apocalypse' came to be applied to a literary report if visions similiar to those narrated in Revelation (cf. Canon Muratori 71-72, which refers to Apocalypsis ... Johannis et Petn ... )." Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, B XXVf. Z.B. Apk. 1,3; cf. 22,19 (Rahmen); 14,13; 19,9; 21,5 (Schreibbefehl rur besondere Worte).
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weniger als die Herrlichkeit der kommenden. Der apokalyptische Text ist das einzige Stück Welt, das dank seiner unterschiedlichen - wenn nicht gar aufgehobenen 15 - Verfallsgeschwindigkeit dem allgemeinen Vergehen der Welt sei es um eine Nasenlänge, sei es um eine Handbreit voraus ist. Kurz: Apokalypse ist so sehr Text, daß man sagen darf Sie ist nichts als Text. In ihrer Textlichkeit hat sie ihre unübertreffliche, maximale Seinsart. Ihr geht dabei nichts verloren, vielmehr gewinnt sie alles, was überhaupt noch zu gewinnen ist, in eben dieser Weise. 2. Lesen Apokalyptiker lesen halt noch. Aber Lesen ist hier nicht einfach das allgemeine, abstrakte Genus, in dem apokalyptische Texte wie Texte überhaupt rezipiert werden. Sondern Lesen ist die charakteristische, ganz und gar individuelle Tätigkeit, die auf genau so etwas wie Apokalypse reagiert. Apokalypsen werden gelesen. 16 Man kann nicht viel mehr tun, als sie zu lesen. Oder genauer: Alles, was überhaupt noch zu tun ist, ist: sie lesen. Apokalyptisch nannten wir denjenigen Text, der sich von der vergehenden Welt zu seiner eigenen Gangart verabschiedet hat. Versiegelt oder unversiegelt liegt er nun da und kann gut warten, bis er gelesen wird. Wird er aber geöffuet, so entsteht in, mit und unter dem Lesen die kommende Welt, und ohne Zweifel entsteht sie "in Kürze"17. Unser Vorhaben ist aber nicht Apokalypse schlechthin, sondern das Himmlische J erusalem.
11. Vorbemerkung: Was heißt JEDIFICANS HIERUSALEM DOMINUS? Ob wir wohl unserem Kontext etwas Gutes damit tun, daß wir diesen alten, fremden Text aus dem Buch der Psalmen herbeizitieren? Er importiert zwei Namen, die hier bisher noch nicht im Gebrauch standen: einen toponymischen und einen theonymischen. Was die Toponymie anlangt: Jerusalem ist nicht bloß ein apokalyptisches Thema unter anderen. Sondern in der traumatischen Katastrophe dieser Stadt und im fortwährenden Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten dieser Katastrophe liegt wenigstens eines der Motive, ohne das Apokalyptik nicht zu denken wäre. 18 Das personifizierte Jerusalem, gefallen, wiedererstehend. In 15 16
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Mk. 13,31; Mt. 24,35; Lk. 21,33. Apk. 1,3. Vgl. Günter Bader: "Selig ist, der da liest ... " - Zu Melancholie, Acedie und Nichtlesenkönnel1, in: Zeitschrfftfiir Ästhetik und Allgemeine Kll/1stUlissel1schqft 44 (1999), 91-101. Apk.1,1;22,6. 587 v. ehr. fand der Fall Jerusalems und die Zerstörung des ersten Tempels statt. Bezogen auf die Eroberung Jerusalems 70 n. ehr. und die Zerstörung des zweiten Tempels: Pierre-Maurice
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äußerster Zuspitzung kann man behaupten, daß mit dem bekannten Spruch
surge illuminare / stant vp jherosalem inde erheylf dich inde wirt erluchtet 19 die Apokalyptik sich sprachlich zu formieren beginnt. Jerusalem, Zion, Tempel avancieren zum zukünftigen Weltmodell. Aber daß in apokalyptisch-poetischer Anschauung Frau Jerusalem20 sich erhebt, ist eines. Ein anderes ist es, zu machen, daß Jerusalem sich erhebt. Jerusalem wird sich kaum erheben können, ohne daß es gebaut wird. Das findet mit dem nehemianischen Mauerbau auch in Tat und Wahrheit statt. Man darf vermuten: Wenn erst einmal, wie Nehemia eindrücklich schildert, die Krone der Stadtmauer bis zur erwünschten Höhe emporgefuhrt sein wird21 , dann dürften sich die apokalyptisierenden Neigungen langsam legen. - Immerhin haben wir auf dem bisherigen Wege etwas erfahren: Jerusalem will nichts als gebaut werden. Man kann nicht mehr rur Jerusalem tun, als über seinen Ruinen auszurufen: aedificaberis! (Is. 44,28) Aber ebenso gilt: Man darf nicht weniger fur Jerusalem tun, als es Stein um Stein zu bauen. Wobei klar ist: Es sind immer Menschen, die J erusalem bauen, wer sonst! Als toponymisches Wort bereitet J erusalem keine Schwierigkeit. Es ist gut rur Ortsverzeichnisse geeignet. Schwierigkeiten dagegen bereitet die Theonymie Dominus . Wenn wir irgend an Bewahrung von Kontexten interessiert sind, so muß es unser Bestreben sein, den Namen Gottes auf Abstand zu halten, solange es nur geht. Hat sich einmal der Gottesname in einen Text eingeschlichen, so ist nicht mehr auszuschließen, daß eben dieser Text abstürzt, und zwar sogleich. Daß ein Gott baut: das zu verhindern sind Baugenossenschaften da. Von allen Bau-
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Bogaert: LA mine de Jerusalem et les apocalypses juives apres 70, in: Apocalypses et Theologie de l'Esperance, pub!. par Louis Monloubau (LeDiv 95), Paris 1977, 123-141; Hans G. Kippenberg: Ein Vergleich jüdischer, christlicher und gnostischer Apokalyptik, in: Apocalypticism [Anm. 10], 751-768. Is. 60,1 (Tritojesaja) in der Vulgata-Fassung und in der Übersetzung durch Meister Eckhart, Predigt 14, DW (Quint) I, Stuttgart 1958, 230,4; Paul Celan: LichtzUJang, Frankfurt a. M. 1970, 101. Zu Jes. 60 Odil Hannes Steck: Der Grundtext vonJesaja 60 und sein Atifbau, in: Zeitschriftfiir Theologie und Kirche 83 (1986), 261-296. Steck stellt fest, "daß es der TextJes. 49 in seiner Abfolge vor allem ist, an dem sich die Aussagenfolge von Jes. *60 orientiert; sogar die Gliederung in Abschnitte ist jeweils von einer direkten Bezugnahme auf Aussagen in der Abfolge vonJes. 49 gespeist" (296). Er erkennt zwischen Deutero- und Tritojesaja eine Verlagerung des Interesses von der Heimkehr der Exilierten auf eschatologische Themen (294). Überhaupt gilt rur die Beziehung Tritojesajas zur bisherigen Prophetie die These der "redaktionellen Fortschreibung": "Alle Tritojesaja-Texte sind von Anfang an Buchtexte, schriftlicher Ausdruck produktiver Aneignung bereits bestehender Prophetenbücher. Nicht aufgezeichnete Prophetenworte, sondern Redaktionstexte, entsprungen nicht prophetischer Verkündigung, sondern prophetisch-schriftgelehrtem Tradentenwirken, das sich fortschreibend insbesondere hier am Ende literarisch vorgegebener Prophetenschriften aufs neue äußert": ders., Studien zu Tritojesaja (Beihifte zur Zeitschriftfiir die alttestamentliche Wissenschqft 203), Berlin 1991, Vf. Odil Hannes Steck: Zion als Gelände und Gestalt, in: Zeitschriftfiir Theologie und Kirche 86 (1989), 261-281; wiederabgedruckt in: ders., Gottesknecht und Zion - Gesammelte Atifsiitze zu Deuterojesaja, Tübingen 1992, 126-145; Hans-Jürgen Hermisson: Die Frau Zion, in: Studies in the Book qfIsaiah (FS Willem A.M. Beuken), ed. by].T.A.G.M. van Ruiten (Bibliotheca ephemeridum theologicarum Lovaniensium 132), Leuven 1997, 19-39. Neh. 1-7,3.
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weisen wäre - Berichte über aXEtp01tot1l'ta. hin oder her - diese die unwahrscheinlichste. Bauen wäre nicht mehr Bauen, wenn sogar Götter bauten. Tritt daher ein deus architector oder deus artifex 22 an die Stelle von veritablen Architekten und Handwerkern, so ist jed~ Bauen entnervt. Nun zeigt sich aber im Alten Testament, und zwar soviel ich sehe ausschließlich in den Psalmen, eine Reihe von Sätzen, die wider besseres Wissen Gott als Erbauer J erusalems bezeichnen. Vor Beginn des nehemianischen Mauerbaus, als Gebet, optativisch, an Gott gerichtet: aedificentur muri Hierusalem (ps. 50,20).23 Nach der Vollendung des Baus, perfektisch: Ierusalem, quae aedificata est (ps. 121,3)24. Oder mit expliziter Nennung des Gottesnamens: quia aedificavit Dominus Sion (ps. 101,17). Sätze von derartig mythopoetischem Überhang lassen sich nicht rezipieren, ohne daß wir entweder entmythisierend verfahren und uns unseren Teil dabei denken oder daß wir uns damit zufrieden geben: Nisi Dominus aedificaverit domum/ in vanum laboraverunt qui aedificant eam (ps. 126,1).25 Immerhin, nach Durchfiihrung einer der beiden Operationen können wir nicht mehr daran zweifeln, daß allen bisherigen Sätzen im Kern die weltbeschreibende Absicht nicht abzustreiten ist. Dagegen zu dem Zeitpunkt, an dem der Psalmvers aedificans Hierusalem Dominus ("Bausachverständiger26 in Sachen Jerusalem ist der HErr") an seinen jetzigen Ort (ps. 146,2) gelangte, dürfte Jerusalem schon längst wiedererbaut gewesen sein. 27 Weder optativisch noch perfektisch, sondern zeitlos und ohne Bezugnahme auf Aktuelles - wir ertappen den Psalmsatz offenbar genau in dem Moment, da er beginnt, sich von der allerersten Satzpflicht, der Realitätsbezogenheit, zu dispensieren. Anstatt Welt zu beschreiben, wendet er sich Deus artiJex wird deshalb primär auf Gottes eigenen Bau, die Schöpfung, bezogen; vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948), Bern 91978, 527-529; Otto von Simson: Die gotische Kathedrale - Beiträge zur ihrer Entstehung und Bedeutung, Darmstadt 11968, 31979, 47.50.55(, 60.139; Taf 8; Heinrich Lausberg: Das Augustin-Zitat iiber ,Joseph als Zimmermann und Gott als Architekt" bei Gracian, in: Romanische Forschungen 87 (1974), 350-352; wiederabgedruckt in: ders., Opera minora, Stuttgart 1993, 739-741; Friedrich Ohly: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungiforschung, Stuttgart und Leipzig 1995, 556, Anm. 2; Joachim Ringleben: Gott als Schriftsteller - Zur Geschichte eines Topos, in: Johann Georg Hamann - Autor und Autorschqft, Acta des sechsten Internationalen Hamann-Kolloquiums im Herder-Institut zu Marburg a. d. Lahn 1992, hg. von Bernhard Gajek, Frankfurt a. M. 1996, 215-275,238, Anm. 21. 23 Klaus Seybold: Die Psalmen (HAT I/15), Tübingen 1996,211: "der Hinweis auf den wegen fehlender Stadtmauern provisorischen Tempelbetrieb in 20f (als terminus ad quem) ... [läßt] ausnahmsweise eine ungefähre Datierung zwischen Tritojesaja und Nehemia, also zwischen ca. 520 und 450 zu." 24 Passivum divinum! - Lateinischer Text nach Psalterium Monastieum, Solesmes 1981, 288. 25 Die Planung des Mauerbaus ist vom persischen König bewilligt (Neh. 1,6), aber zur Durchführung gibt Gott das Gelingen (Neh. 2,20; 6,16). Alle aktiven verba aedificandi bekommen dadurch eine passive, kausierte Konnotation: "aedificare" wird zu "concede, Domine, aedificari". 26 Siegfried Wagner: Art. n;~, ThWATI, Stuttgart 1973, 689-706, 695. 27 Franz Sedlmeier: Jerusalem - Jahwes Bau. Untersuchungen zu Komposition und Theologie von Ps 147 (Forschungen zur Bibel 79), Würzburg 1996.
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um, von der Welt ab, und übt sich, unter Verwendung eines hymnischen Partizips, in der Aufmerksamkeit auf das, was "der HErr" tut. Es ist daher nicht verwunderlich, daß eben derselbe Vers, der sich im 147. Psahn als überschüssig zeigt in Relation zum fertigerbauten J erusalem, sich sogleich als überschüssig erweisen wird gegenüber dem zerstörten und endgültig unbetretbar gewordenen J erusalem, und deshalb wird er kurz nach der Zerstörung der Stadt wortwörtlich in die 14. Beracha des ,Semone (Esre' aufgenommen, die mit der Eulogie endet: "Gesegnet du, JHWH [Adonaj], Erbauer Jerusalajims".28 Ein Text, der sich auf solche Weise von seiner Referenz gelöst hat und somit keine bessere Referenz mehr besitzt als die des bloßen Geschriebenseins und Gelesenwerdens, dreht sich nur noch um sich selbst. Genau in diesem Sinn dreht sich seither der Psahnvers täglich und mehrmals täglich in der synagogalen Liturgie; in der alten römischen und monastischen Liturgie dreht er sich immerhin noch in wöchentlichem Abstand 29 , während er im Protestantismus, der fur Modernität steht, nur noch diejenige Drehung vollfuhrt, die die Rotationspresse vorgibt. Jetzt kann präzisiert werden, was vorhin damit gemeint war, daß Texte gut warten können. Wartende Texte, das heißt Texte, die sich einstweilen, da in Suspension versetzt, nur noch um sich selbst drehen, sind im wesentlichen solche, die durch liturgisches Arrangement in Drehung gehalten werden, ebenso wie sie ihrerseits die Liturgie in Bewegung halten. Liturgie30 , so zeigt sich, ist präzis derjenige Aufwand, der unter vorherrschenden Verfallsgeschwindigkeiten erforderlich ist, um einen Text, dessen Dasein gerade noch darin besteht, daß er fortgeschrieben und fortgelesen wird, unter Darbringung von Leibern31 zu perpetuieren, zu installieren, zu inszenieren usw. Das Ganze nennt man, schon hörbar, Gottes-Dienst. Hieraus ergibt sich: 1. J erusalem Baut der HErr Jerusalem, dann ist Jerusalem nicht mehr Jerusalem, sondern, wohin man blickt, nichts als J erusalemmetaphern von ungezügelte ster Art. 28
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Sidur Sifat Emet, Basel 1995, 44: C?101i"l m1:J il1i1"1 i1n~ l1i::J. Das Achtzehngebet wurde ca. 90100 n.Chr. von Gamaliel 11. zusammengestellt (TRE 12, 43, 44ff.; 13,389,33). Zum Achtzehngebet: "Jerusalem wird darin als Angelpunkt des Landes Israel und als Zielort der Rückkehr Gottes und der Umkehr des Volkes und damit als der Ort, an dem alle ,Risse' in Israel geheilt werden, bestimmt. Da dieses Gebet zweimal täglich zu beten ist, hat es wie kein anderes Gebet die Israelmentalität des Judentums geprägt." (Clemens Thoma: Art. Israel lI-Frühes und rabbil1ischesJudentum, TRE 16, 1987,379-383; 382, 41ff.) - Dieselbe Eulogie erscheint zudem im täglichen Tischsegen: C"I?101i"l 1"1r.lni::J m::J il1i1"1 i1n~ l1i::J "Gesegnet du, JHWH, in seinem Erbarmen Erbauer Jerusalajims" (Sidur, 282). Psalterium Monasticum [Anm. 24] 348 (Dominica ad I Vesperas). Zum liturgischen Ort der jüdischen und christlichen Rede vom Himmlischen Jerusalem s. Klaus Thraede: Art.Jentsalem 11 (Sinnbild), RAC 17 (1996), 718-764, 725f
Röm. 12,1.
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Diejenige Stadt, die ausschließlich von Gott erbaut wird (civitas cuius conditor et artifox Deus; Hebr. 11,10), ist das Himmlische Jerusalem (Hierusalem caelestis; Hebr. 12,22). 2. Bauen Baut der HErr Jerusalem, dann ist Bauen nicht mehr Bauen, sondern, wohin man nur blickt, nichts als Baumetaphern, in ungezügeltem Spenden und Empfangen (Vrbs Hierusalem beata/ dicta pacis visio/ quae construitur in caelis/ vivis
ex lapidibus). 32 Das Himmlische Jerusalem ist aus Text erbaut.
III. Die Weise der Herabkunfl der himmlischen Stadt Zur Weise der Herabkunft der himmlischen Stadt in der Apokalypse ist zu fragen: Was sehen wir, wenn gezeigt wird "die heilige Stadt Jerusalem, herniederfahrend aus dem Himmel von Gott" (Apk. 21,2.10)? Die Antwort muß lauten: Durchaus kein Jerusalem! Vielmehr sehen wir, wie sich vor unseren Augen ein Text Zeile um Zeile ausbreitet, von links nach rechts und von oben nach unten. Nach allem, was aus den beiden Vorbemerkungen hierzu zu erfahren war, ist dies kein Zufall, sondern es hat System. Apokalypse, lautete die erste Vorbemerkung, wird wesentlich geschrieben und gelesen. Und die zweite lautete: Das Himmlische Jerusalem wird wesentlich erbaut aus Text. Um davon richtigen Gebrauch zu machen, müssen wir auf etwas verzichten, was uns als Nächstliegendes erscheint. Wir sind nicht Archi-Tekten, nur Texter. Architekten behändigen sich des Textes vom Neuen Jerusalem und lesen ihn, als ob er eine Baubeschreibung wäre. Diese mutiert in ihren Händen alsbald zur Skizze, die Skizze zum Plan, der Plan zur Ausführung. Gewiß wird man die Übersetzungsleistung, die ein Architekt dabei erbringt, nicht als Eins-zu-Eins-Übertragung schmähen. Aber sie ist jederzeit auf Analogie und Proportion ausgerichtet, wie es auch das Nächstliegende ist. Der gelehrte Architekt aus Haifa, der sich der Qumranfragmente über das Neue J erusalem in der Absicht einer umfassenden Rekonstruktion angenommen hat, verfährt genau so. 33 Aber unglücklicherweise hat er am Ende ein N eues Analecta Hymnica Medii Aevi, hg. von Guido Maria Dreves SJ und Clemens Blume SJ (Leipzig 1886ff.; repr. London und NewYork 1961) II, Leipzig 1888, 73(; LI, Leipzig 1908, 110ff.; The OxIo~d Book qfMedieval Latin Verse, ed. by Stephen Gaselee, Oxford 11928, 31946, Nr. 22; Liber hynmarius, Solesmes 1983, 247f Dazu Henry Ashworth OSB: "Urbs beata Ierusalem (( - Scriptural ami Patristic Sources (Ephemerides Liturgicae 70), Rom 1956, 238-241. 33 Michael Chyutin: The NeU' Jentsalem Serollirom Qumral1 - A Comprehel1sive Reconstntctiol1 (loumalIor the Study qf the Pseudepigrapha, Supplement Series 25), Sheffield 1997; ders.: Die Architektur des 32
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J erusalem rekonstruiert, das sehr zum Mißvergnügen des Lesers direkt an die Bauweise altägyptischer Sklavenstädte erinnert. Statt N eues zu bringen, ist ftir das Neue Jerusalem das Archaischste gerade gut genug. 34 Und unglückseligerweise bleibt die architektonische Rekonstruktion in ständiger Abhängigkeit von der philologischen, überwiegend paläographischen Rekonstruktion eines Textmaterials, das in dem Zustand, in dem es aus Höhle Q11 ans Licht gebracht wurde, durchaus keine Vision des Neuen Jerusalem darstellte, sondern "einen versteinerten Klumpen [... ], von dem nur ein abstehendes Stück abgetrennt werden konnte, das dabei in Fragmente zerbrach"35. Dagegen hegen Texter keine Neigung, sich von der Versteinerung zur Wiederversteinerung zu bewegen. Sie hätten alles gerne Text in Text. Sobald wir einmal in den Verzicht eingewilligt haben, es gehe nicht um Tektonisches, sondern um Textliches 36 , ist der Übergang gemacht, den Quintilian und die antike Rhetorik von der "structura lapidum", die jederzeit rur substantiell geachtet wird, zur "structura quaedam vocum" vollzogen haben, die auf ihre Weise vom Lapidaren zehrt. 37 Aber rur Liebhaber des Himmlischen Jerusalem genügt es nicht, mit der Rhetorik "Wörter wie Steine [zu] behandeln "38, sondern es gilt, sich endlich mit der Apokalyptik - und das heißt am Rande dieses Äon - zu der Umkehrung zu entschließen, Steine wie Wörter zu behandeln, gegen alle nächstliegende Evidenz. Hier kommt allerdings das steile Wort von der Apokalyptik als Mutter aller Theologie wieder ins Spiel, wenngleich in gründlich gewandeltem Sinn. Denn alles, was wir über Apokalyptik und J erusalem bisher in Erfahrung bringen konnten, läuft darauf hinaus, Steine und ihre Fügungen ihrer Vergänglichkeit wegen rur weniger Neuen Jentsalem - Urbanistische Deutung der ,NeU' Jerusalem Serail' aus Qumran, in: Neue Zürcher Zeitung 266 (15./16.11.1997), 52. Der Terminus "reconstruction" ist dabei bezogen sowohl auf die Arbeit am Text (36.75.144) wie auf die Arbeit an der Architektur (70), ja kann in einem unbedachten Moment beides umfassen (101). Nachlässigkeit? Oder naheliegender Übergang von "text" zu "urban texture" (126)? 34 Chyutin zu den Sklavenstädten ebd., 113(, Fig. 20(; zum Archaischen: "It is probable that the author of the Scroil wished to create an archaic mode of description of the city, and to return to an ancient tradition of city building." (Ebd., 127.) 35 Johann Maier: Die Tempelrolle 110m Toten Meer und das "Neue Jentsalem " - 11Q19 und 11Q20; lQ32, 2Q24, 4Q554-555, 5Q15 und 11Q18. Übersetzung und Erläutentng. Mit Cntndrissen der Tempelhcifanlage und Skizzen zur Stadtplanung (UTB 829), München und Basel 31997, 328. 36 Der Verzicht geht mit großer Bequemlichkeit einfach der Etymologie entlang. Dazu Maximilian Scherner: Art. Text, HWP 10, 1998, 1038-1044, 1038: "Der Begriff ,Text', der sich etymologisch auf die handwerkliches Herstellen bezeichnenden Wörter oder Wortstämme: griech. 'teK* (bauen, zimmern), lat. texere (weben, flechten) und altind. taksati (zimmert) zurückfuhren läßt, gründet in der Übertragung dieses Bedeutungsgehaltes auf das Verfertigen von Gebilden aus sprachlichem Material, d.h. von ,Gewebe' aus Rede oder aus Schrift." 37 Quintilian: Inst. or. I 10,23: "structura quaedam ... vocum"; VIII 5,27: "structura [sc. orationis]"; VIII 6,63: "ut in structuris lapidum"; IX 4,27: "sicut in structura saxorum". Ausfuhrlich hierzu Godo Lieberg: Der Begriff ,stmctura' in der lateinischen Literatur, in: Hermes 84 (1956), 455-477; Gunter Scholtz: "Struktur" in der mittelalterlichen Hermeneutik, in: ABC 13 (1969),73-75. 38 Lieberg [Anm. 37]. 469, c( 465.
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substantiell zu halten als Fügungen aus schlichtem Wort. Dies findet konsequenterweise seinen Ausdruck darin, daß wir in Umkehrung von Quintilian primär von der "structura verborum" sprechen und dann erst zusehen, wie so etwas wie die "structura quaedam saxorum" ihre Festigkeit daraus bezieht. Anders als die Qumranfragmente zum Neuen Jerusalem verlangt der Text des Himmlischen Jerusalem Apk. 21f - der ausführlichste Text, der hierzu aus der Antike überliefert ist39 - weder vorausgehende Manipulationen noch nachfolgende. Man muß ihn nur lesen, um zu erkennen: Dieser Text steht auf völlig texternen Beinen. Wohl selten kann man bei einem biblischen Text im selben Maß zeigen, wie der Leser sich nahezu von Wort zu Wort, von Fügung zu Fügung auf der Zinne eines stattlichen Textgebäudes bewegt, das in zahlreichen Etagen aus Apokryphen vielfältigster Art, aus Hagiographen und besonders aus den Psalmen, aus Propheten und noch einmal Propheten aufgefiihrt ist, aber auch aus der Tora. 40 Bereits von außen erweist sich somit das Himmlische Jerusalem als Textbau von erstaunlicher Höhe, wenn man nicht gar der Intention des biblischen Kanons folgen will und einen Bau annimmt, der sich von Genesis 1 bis Apokalypse 22, das heißt von Schöpfung bis N euschöpfung41 erhebt. Aber noch mehr von innen beweist der Text Struktur. Er löst sich von den am Ideal der Einsinnigkeit orientierten Poetiken der Analogie und der Proportion und errichtet in freier Digitaliät und Figürlichkeit ein textimmanentes Gebäude von vielfaltigsten Dimensionen. Während ehemals der vierfache Schriftsinn starr ein vierfaches Jerusalem mit dem himmlischen als Spitze präsentiert hatte,42 entsteht nun eine Sinnarchitektur, die genau so oszillierend ist wie die minutiöse Figürlichkeit des Textes. Jetzt läßt sich der bisherige Satz, das Himmlische Jerusalem sei im wesentlichen aus Text erbaut, präzisieren. Das Himmlische J erusalem ist aus nichts als aus Metaphern erbaut. Ich versuche diese beiden Gesichtspunkte mit Elementen aus der Texttheorie Paul Ricreurs zu fassen.
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Peter Söllner: Jerusalem, die hochgebaute Stadt - Eschatologisches und Himmlisches Jerusalem im Frühjudentum und imfriihen Christentum (TANZ 25), Tübingen 1998, 188: "Die Schilderung der vom Himmel herabkommenden Stadt Jerusalem in Apk. 21E ist die mit Abstand ausfiihrlichste und detailgenaueste Rezeption der Vorstellung vom eschatologischen Jerusalem in der Antike. " Es wäre nicht nur Spielerei, den Text Apk. 21E versuchsweise einmal so zu schreiben, daß er sich Wort fiir Wort immer gerade soweit erhebt, wie die Textverweisungen auf vorausgesetzte Traditionen ihn tragen. Günter Bader: Alles neu - Eine poetisch-theologische Reflexion über Schöpfung und Neuschöpfung, in: Das Neue - Zu einer Den~figur der Modeme, hg. von Maria Moog-Grünewald, Heidelberg 2002, 2. Henri de Lubac SJ: Exegese mMiellale - Les quatre sens de l'ecriture I, Paris 1959,645-650; Manfred Kienpointner: Art. Anagoge, HWR I, Tübingen 1992,472-479.
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1. Vom Text überhaupt zum apokalyptischen Text Text überhaupt - ich meine denjenigen, der nichts Ursprünglicheres ersetzt, sondern selbst das Ursprüngliche ist43 - folgt dem Gesetz zunehmender Loslösung. Unnötig zu sagen: Der Text löst sich vom Autor. 44 Auch dem Leser tritt er als solcher gegenüber, der seiner nicht bedarf. 45 Beide Luslösungen folgen einer fundamentalen Umkehrung. Die Erwartung, der Text gehöre primär dem Autor oder habe sich um Bedürfnisse des Lesers zu kümmern, wird von Grund auf enttäuscht. Noch mehr: Zunehmende Loslösung auch von der Situation, die der Text beschreibt. Textgeschichte und Geschichte verzweigen sich. Hervorstechendste Eigentümlichkeit des Textes ist die Suspension der Referenz. 46 - Apokalypsen geben den sich an sich schon beschleunigenden Textverhältnissen in allen drei Punkten vollends die Sporen. 47 Mit der Versiegelung entzieht sich der apokalyptische Text Verfassern und Lesern, und diese Entzogenheit ist die Weise seiner andauernden Beziehung zu beiden. Und indem die Situation des apokalyptischen Textes sich entgrenzt zu dieser Welt überhaupt, entsteht ein Nonplusultra an Loslösung des Texts von der Welt, und genau dies ist die Weise seiner anhaltenden Beziehung zu ihr. Aber damit ist auch die Grenze erreicht: Ein apokalyptischer Text kann absoluter Text nie werden48 , und es wäre ein grobes Mißverständnis, Apokalypse und absolutes Buch zu verwechseln. 49 43
Paul Ricreur: Qu'est-ce qu'un texte?, in: Hem1eneutik und Dialektik (PS Hans-Georg Gadamer), hg. von Rüdiger Bubner, Konrad Cramer und Reiner Wiehl, Tübingen 1970, II, 181-200; wiederabgedruckt in: ders., Du texte ('action - Essais d'hemleneutique II, Paris 1986,137-159,138: "La fixation par l'ecriture survient a la place meme de la parole, c'est-a-dire a la place Oll la parole aurait pu naitre. On peut alors se demander si le texte n'est pas veritablement texte lorsqu'il ne se borne pas a transcrire une parole anterieure, mais lorsqu'i! inscrit directement dans la lettre que veut dire le discours. " Paul Ricreur: LAJonction hemleneutique de la distanciation, in: Du texte l'action [Anm. 43], 101-117, 111 (1. Loslösung): "D'abord l'ecriture rend le texte autonome a l'egard de l'intention de l'auteur." Damit vollzieht sich die Korrektur an der romantischen Hermeneutik und ihren Nachfolgern. Ebd., 111[ (2. Loslösung): "Cet affranchissement a l'egard de l'auteur a son parallele du cote de celui qui re<;:oit le texte. A la difference de la situation dialogale, Oll le vis-a-vis est determine par la situation meme de discours, le discours ecrit se suscite un public qui s'etend virtuellement a quiconque sait lire." Auf dieser Ebene liegt die kritische Aufgabe des Strukturalismus. Ebd., 112 (3. Loslösung): "L'ecriture trouve ici son effet le plus considerable: l'affranchissement de la chose ecrite a l'egard de la condition dialogale du discours; il en resulte que le rapport entre ecrire et lire n'est plus un cas particulier du rapport entre parler et ecouter." - Nötigt die "Sache" oder die "Welt des Textes" zum Schritt über Romantizismus und Strukturalismus hinaus? "La reponse a cette question nous eloigne autant du structuralisme que du romantisme; la tiche hermeneutique principale echappe a l'alternative de la genialite ou de la structure; je la relie a la notion de ,monde du texte'." (Ebd., 113.) Ebd., 114: "Mais c'est essentiellement avec l'apparition de certains genres litteraires, generalement lies a l'ecriture, mais non pas necessairement tributaires de l'ecriture, que cette abolition de la reference au monde donne est conduite jusqu'a ses conditions les plus extremes. C'est, semble-til, le role de la plus grande partie de notre litterature de detruire le monde." Ricreur, Qu'est-ce qu'rl/1 texte? [Anm. 43], 141: "Le mouvement de la reference vers la monstration se trouve intercepte, en meme temps que le dialogue est interrompu par le texte. Je dis bien
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Aedificans Hierusalem Dominus
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2. Vom apokalyptischen Text überhaupt zum Text über das Himmlische Jemsalem Als Text ohne Welt und am Rande der Welt ist die Apokalypse ein Gebilde, das buchstäblich in der Luft hängt. 5o Aber die Referenz ist nur unter-, nicht abgebrochen. Durch Suspension der Referenz ersten Rangs wird eine Referenz zweiten Ranges allererst hervorgetrieben. 51 Ja, es bedarf einer Suspension der stärkeren Art, um die Blickrichtung eines Textes zu wenden von dieser auf die kommende Welt. Texte beziehen sich wesentlich auf eine abwesende Welt. Sie tun dies, sofern sie ihre eigene Welt haben. Die Welt des Textes ist der virtuelle Raum, der aus innerer Spannung und Figürlichkeit aufgerichtet wird. An sich neigt dieser Raum immer dazu, sogleich flach in sich zusammenzufallen. Er bedarf, um erbaut zu sein, ständig der Zufuhr neuer Energie. - Das ist der Ort, an dem im apokalyptischen Text der Text über das Himmlische J emsalem beginnt. Hier wären, beginnend beim Gmndriß des Baus und beim Baumaterial, die bekannten Figuren von Apk. 21f. auf ihre exzessive Absurditätsproduktion hin zu analysieren. 52 Das heißt, daß überhaupt die metaphorischen Transfers ins Auge zu fassen wären und die Transfertypen 53 , die die Strukturen des Himmlischen Jerusalem bilden. Ganz zu schweigen davon, daß - "Kein Aug hat je gespürtj kein Ohr hat mehr gehört"54 - das Himmlische Jerusalem in eminentem Maß aus Synästhesien errichtet ist. Aber davon ist nicht jetzt zu handeln.
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intercepte et non supprime; c'est la Olt je me separerai tout a l'heure de ce que j'appelle des maintenant l'ideologie du texte absolu, qui prod:de, par une hypostase indue, a un passage a la limite subreptice, sur la base des justes remarques que nous venons de faire. Le texte, nous le verrons, n'est par sans reference; ce sera precisement la tache de la lecture, en tant qu'interpretation, d'effectuer la reference." Nach Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1981, 267ff. ist das absolute Buch erst seit der Romantik bezeugt. Ricreur: Qu'est-ce qu'un texte? [Anm. 43], 141: "le texte est en quelque sorte ,en l'air', hors nlOnde ou sans monde". Ricreur: LAfonction hermeneutiqtle de La distanciation [Anm. 44], 114: "Ma these est ici que l'abolition d'une reference de premier rang, abolition operee par la fiction et par la poesie, est la condition de possibilite pour que soit liberee une reference de second rang, qui atteint le monde non plus seulement au niveau des objects manipulables, mais au niveau que Husserl designait par l'expression de Lebensl/lelt et Heidegger par celle d'etre-au-monde." In Weiterftihrung dieser These in die biblische Hermeneutik bestimmt Ricreur die Sache des biblischen Textes als das neue Sein: "si la Bible peut etre dite revelee, cela doit etre dit de la ,chose' qu'elle dit; de l'etre nouveau qu'elle deploie." (Hermenetltique philosophique et hermenefltique biblique, in : ders., Du texte a I'action [Anm. 43], 119-133, hier 127.) Außerdem ders.: La mhaphore vive, Paris 1975,273-321. Z.B. Engelmaß als Menschenmaß (Apk. 21,17); Tore, bestehend aus einer einzigen Perle (Apk. 21,21); Gold, aussehend wie lichtes Glas (Apk. 21,12); Licht, das weder Sonne noch Mond, weder Tag noch Nacht kennt (Apk. 21,23; 22,5). Nelson Goodman: Sprachen der Kunst - Entwwj einer Symboltheorie, Frankfurt a. M. 1975, Kap. Ir 6-8. Evangelisches Gesangbuch, Stuttgart 1996, Nr. 147.
Johannes Hoff DIE VISION DES WELTGERICHTS Annäherung an die ,Apokalypse' ausgehend von Derridas Lektüre der Offenbarung des J ohannes
Keine biblische oder apokryphe Schrift hat die Endzeitphantasien der abendländischen Kunst- und Kulturgeschichte so sehr inspiriert wie die Offinbarung des Johannes. Doch ihre theologische Autorität erweist sich als grenzwertig. Während das Christentum des Ostens ihr jahrhundertelang jede Anerkennung versagtel , beriefen sich in der zunehmend etablierten westlichen Tradition nach einer Blütezeit christlicher Apokalyptik, in der die Kirche noch selbst als eine verfolgte Minderheit erschien, vor allem kirchliche und gesellschaftliche Randgruppen auf die Johannesapokalypse: Kirchenkritiker und Millennaristen, die Radikalreformatoren um Thomas Müntzer oder auch die befreiungstheologisch inspirierten Basisgemeinden Lateinamerikas. 2 Kommt in dieser rezeptionsgeschichtlichen Traditionslinie vor allem das utopische Potential apokalyptischer Diskurse zum Zug3 , so verbindet sich ihre Wirkungsgeschichte allerdings zugleich mit einem gegenläufigen Rezeptionsphänomen. Von den apokalyptisch aufgeladenen militärisch-politischen Auseinandersetzungen zwischen Papst und Kaiser im Hochmittelalter, über die antijudaistisch konnotierten ,Antichrist-Spiele' des Spätmittelalters bis hin zu Ronald Reagans Kampf gegen das ,Reich des Bösen' oder der sexistischen Ausbeutung der Bildersprache der Johannesoffenbarung4: Die abendländische Wirkungsgeschichte apokalyptischer Gerichts- und Endzeitvisionen läßt sie zugleich als Instrument im Dienste politischer Herrschaftsstrategien erscheinen. Damit ist der erste Problemkomplex umrissen, mit dem sich Jacques Derrida in seinen wiederholten Annäherungen an apokalyptische oder eschaVgl. August Strobel: Art. Apokalypse des Johannes, in: TRE III, 175-189, 175. Vgl. hierzu Elisabeth Schüssler Fiorenza: Das Buch der Qffenbantng - Vision einer gerechten Welt, Stuttgart u.a. 1994, 23, 28-30, 123-125; Robert Konrad: Art. Apokalyptik/Apokalypsen - VI. Mittelalter, in: TRE III, 275-280; sowie Gottfried Seebaß: Art. Apokalyptik/Apokalypsen - VII. R~fomJation und Neuzeit, in: TRE III, 280-289. Vgl. hierzu: Schüssler Fiorenza: Das Buch der qffenbarttng [Anm. 2], 44; K. Müller: Art. Apoka1 lyptik - I. Geschichtliche Entwicklung derfriihjiidischen Apokalyptik, in: LThK 814-817; Jürgen-Christian Lebram: Art. Apokalypsen/Apokalyptik - 1I. Altes Testament, in: TRE III, 192-201, 195, 199; Pablo Richard: Apokalypse - Das Buch von HC!.tfnung lind Widerstand, Luzern 1996, 42ff.; sowie John]. Collins: From Prophecy to Apocalyplicism, in: The Enzyclopedia ifApocalypticism I, ed. by John ]. Collins, NewYork 1999,129-161. Vgl. hierzu Konrad: Art. Apokalyptik/Apokalypsen [Anm. 2]; sowie: Schüssler Fiorenza: Das Buch der Qffenbarttng [Anm. 2], 26-28, 30-33,157.
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tologische Diskurse auseinandersetzt. 5 Er fragt nach ihrem subversiven Potential und enthüllt zugleich ihre ethisch-politische Ambivalenz. Der zweite, grundlegendere Problemkomplex berührt den akademischen Umgang mit apokalyptischen Texten und steht in engster Beziehung zum ersten: Hier geht es um die Aporien, in die sich jeder Versuch verstrickt, das Apokalyptische auf ein bestimmtes literarisches Genre einzugrenzen. 6 Seit seiner frühen Auseinandersetzung mit Edmund Husserl erforschen Derridas Arbeiten eine Krisenstruktur der Sprache, die im Prinzip jedem Diskurs ein apokalyptisches Potential verleiht. In Derridas Vortrag Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie findet dieses Forschungsinteresse seine prägnanteste Formulierung7 : "Ist das Apokalyptische nicht eine transzendentale Bedingung eines jeden Diskurses, selbst der Erfahrung, jeder Markierung oder jeder Spur?" Derrida eröffuet damit eine Perspektive fur das Apokalyptische, die sich sowohl fur die Literaturwissenschaft als auch fur die Theologie als folgenreich erweist. Denn sie untergräbt jeden Versuch, das Apokalyptische auf ein theologisch qualifiziertes Textgenre einzugrenzen, das fur die säkulare Literaturwissenschaft nur von marginalem Interesse ist, und schwächt im Gegenzug zugleich den Geltungsanspruch von Diskursen, die bei der Artikulation eschatologischer Gerichts- und Gerechtigkeitsvisionen allzu eindeutig der Versuchung erliegen, einen ,apokalyptischen Ton' anzuschlagen. Der nachstehende Abschnitt (I.) erörtert zunächst die systematischen Grundlagen von Derridas Frage nach dem ,apokalyptischen Apriori' der Sprache. Der daran anschließende Abschnitt (11.) diskutiert Derridas Ausfuhrungen zur ethisch-politischen Ambivalenz apokalyptischer Diskurse und erörtert die daraus resultierende Schwächung ihres Geltungsanspruchs. Der letzte Abschnitt (111.) widmet sich der Frage nach den Grenzen des apokalyptischen ,Genres'.
Vgl. hierzu neben der im folgenden angeftihrten Literatur: Jacques Derrida: Die Postkarte, Berlin 1982/87; ders.: No Apocalypse, not now, in: Apokalypse, Wien 1985, 91ff.; ders.: Marx' Gespenster, Frankfurt a. M. 1995. Zur Kontroverse um das apokalyptische Genre: vgl. Schüssler Fiorenza: Das Buch der Qffenbanll1g [Anm. 2], 43-46; J. Marböck: Art. Apokalypsen, in: LThK3 I, 807ff.; Erhard Güttgemanns: Die Semiotik des Traums in apokalyptischen Texten am Beispiel von Apokalypse Johannis, in: Linguistica Biblica 59 (1987),7-54, 16; Apocalypse - The Morphologie cf a Genre, ed. by J.J. Collins, in: Semeia 14, Missoula 1979; Johann Maier: Apokalyptik im Judentum, in: Apokalyptik und Eschatologie, hg. von Heinz Althaus, Freiburg u.a. 1987, 43-50. Jacques Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie, in: Apokalypse [Anm. 5], 9fI
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I. Das apokalyptische ,Apriori ( der Sprache Der Versuch einer Rekonstruktion der systematischen Grundlagen von Derridas Thesen zur Apokalyptik kann sich an seinen frühen Arbeiten über die Zeichentheorie Edmund Husserls orientieren. 8 Im Anschluß an Husserl vollzieht Derrida dort eine folgenreiche Begriffstransformation, wenn er zwischen der jeweils singulären Bedeutungsintuition, die ich ,hier und jetzt' mit dem Gebrauch eines Zeichens verbinde, und seinem allgemeinverständlichen Ausdruckswert bzw. der Bedeutungsintention unterscheidet, die ein intersubjektiv vermitteltes Sagen-Wollen zum Ausdruck bringt. Derridas Analysen nötigen dazu, den zeitlichen Charakter dieser Unterscheidung ernstzunehmen. Der allgemeine Ausdruckswert von Zeichen wird nicht synchron als ein Nebeneinander verallgemeinerbarer Einzelfalle, sondern diachron als Wiederholbarkeit (Iteration) beschrieben. Unter den Bedingungen von Geschichte können wir gewissermaßen immer nur nacheinander sprechen. Einen Ausdruck oder einen Text verstehen, heißt folglich idealisierend zu unterstellen, daß dieser Vorgang zu jedem anderen Zeitpunkt wieder holt werden kann, ohne seinen universalen Charakter zu verlieren. Die Artikulation von Zeichen nötigt mich als Subjekt des Zeichengebrauchs dazu, meine augenblicklichen, subjektiven Intuitionen zu transzendieren: Nur wenn der Sinn der Worte, die ich hier und jetzt niederschreibe, prinzipiell auch dann noch wiedervergegenwärtigt werden kann, wenn ich gestorben bin, kann ich unterstellen, sie erfolgreich artikuliert zu haben. Derrida geht aber noch einen Schritt weiter: Das Zeichen transzendiert sogar die Ebene intersubjektiv vermittelbarer Bedeutungsintentionen. Im Prinzip müßte der Text, den ich hier und jetzt schreibe, sogar in fremden Kontexten ,identisch' reproduziert und rezitiert werden können, ohne auch nur von einem einzigen Subjekt mit einer lebendigen Bedeutungsintention erfüllt zu werden. Denn jede dieser subjektiven Aneignungsformen bliebe gemessen an der universalen Bezeichnungsfunktion des Textes - ein partikulärer Einzelfall. Im Sinne einer kontrafaktischen Unterstellung muß ich mich folglich darauf verlassen können, daß die Zeichen, die ich gebrauche, autonom ,funktionieren', daß sie sich wie ein Computerprogramm gegenüber den Subjekten des Zeichengebrauchs verselbständigen können, ohne dadurch ihre Verläßlichkeit als Träger einer virtuellen Bedeutung zu verlieren. Weil sich dieser gegen subjektive Bedeutungsintuitionen und -intentionen indifferente Allgemeinheitscharakter des Zeichens klassischerweise an der Vgl. insb. ]acques Derrida: Husserls Weg in die Geschichte am Lei~raden der Geometrie, München 1987; ders.: La voix et le phenomene - Introduction au probleme du signe datlS la phenomel1ologie de Husserl, Paris 1967; ders.: Ral1dgänge der Philosophie, Wien 1988, 159ff., 291ff.
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,geistlosen' Rezitation ,toter Buchstaben' (vgl. 2 Kor. 3,6) ablesen läßt, bezeichnet Derrida das Zeichen auch als Schrift oder Gramma 9 : Jedes Zeichen hat apriori den Charakter eines Gramma, das sich unabhängig von den Subjekten des Zeichengebrauchs mechanisch reproduzieren oder rezitieren läßt. Eine zweite Bedingung erfolgreichen Zeichengebrauchs steht in Spannung zu dieser ,grammatologischen' Forderung. Denn es muß zugleich die Chance gewahrt bleiben, daß dem Gramma eine subjektive Bedeutungsintention entsprechen könnte: Ohne die unbestimmte Möglichkeit, fur ein Subjekt verständlich zu sein, wäre es seiner Bezeichnungsfunktion beraubt - es wäre nur noch ,chaotische Buchstäblichkeit'lO und damit zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Da dies aufgrund der ersten Bedingung niemals als gesichert gelten kann, endet die Forderung nach Wiederholbarkeit in einem Krisenszenario: Sie artikuliert nicht nur eine Bedingung der Möglichkeit erfolgreichen Zeichengebrauchs, sondern läßt zugleich die konstitutive subjektive Bedeutsamkeit von Zeichen als gefährdet erscheinen. Wie Derrida gezeigt hat, liegt hierin allerdings gerade die Pointe seiner Zeichen theorie: Ein Zeichen wird -erst dadurch fur mich bedeutsam, daß es sich gegenüber meiner subjektiven Intention verselbständigen kann und mir auf diese Weise meine virtuelle Abwesenheit vor Augen fuhrt. Seine jemeinige subjektive Bedeutung hat den Charakter eines Er-eignisses, einer Zu-eignung, die sich nur vor dem Hintergrund eines krisenhaften Ent-eignisses ereignen kann. Die "Möglichkeit meines Verlöschens" muß von mir "in einer bestimmten Weise erlebt werden [doit etre d'une certaine maniere vecue], damit eine Beziehung zur Präsenz überhaupt sich einstellen kann "11. Nur wenn ich mich der Tatsache stelle, daß ich möglicherweise nicht (mehr) existiere, kann das Gramma ,fur mich' hier und jetzt Bedeutung erlangen. Das Subjekt, fur das es etwas bezeichnet, wird gleichsam durch die beunruhigende Konfrontation mit seinem möglichen Ende aus dem Nichts ins Sein gerufen - einem Bewußtlosen vergleichbar, dem eine apokalyptische Stimme zuruft: ,Komm!' Die Frage nach dem Er- oder Ent-eigniswert apokalyptischer Stimmen steht folglich nicht zufällig im Mittelpunkt von Derridas späterer Lektüre der J ohannesoffenbarung. In subtilen Analysen ihrer ineinander verschachtelten Diskursebenen wird sie als ein krisenhaftes Labyrinth von Stimmen beschrieben, in dem wiederholt der Ruf eines ,Komm' ergeht, "wobei es vielleicht an den Ort ermahnt, wo das Ereignis [... ] und das Enteignis die Bewegung der Eignung entfalten" 12. Ähnlich wie das apokalyptische ,esto vigilam' oder der
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Vgl. hierzu insb.: Jacques Derrida: Gram matologie , Frankfurt a. M. 1974; sowie ders.: Die Schrifl und die D[fforenz, Frankfurt a. M. 1976 . Derrida: Husserls Weg in die Geschichte [Anm. 8], 178. Derrida: La voix et le phenomene [Anm. 8], 60. Derrida: Apokalypse [Anm. 5], 86; vgl. ebd., 64f., 67[, 80ff. Zur Bedeutung des apokalyptischen ,Komm' vgl. Jacques Derrida: Pas, in: Gestade, Wien 1994, 21ff.; ders.: Überleben, in: ebd., 119ff;
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Vergleich des kommenden Menschensohnes mit einem Dieb (Offb. 3,3 16,15; Mt. 24,42f; Lk. 12,39f; 1 Thess. 5,2f; 2 Petr. 3,10)13 exemplifiziert das ,Komm' eine performative Grundstruktur der apokalyptischen Schreibweise: Angesichts der Drohung meines möglichen Endes inszeniert es jenen Überraschungseffekt, der nach Derrida das Ereignis von Subjektivität an einen Enteignisvorgang bzw. an eine äußerliche ,Schriftszene' bindet. Dies erklärt einerseits den ostentativen Schriftcharakter apokalyptischer Texte (vgl. Offb. 1,11; 1,19; 5,3ff; 10,lff; 17,8; 19,9; 20,12ff; 21,5; 22,10ff)14 und berechtigt andererseits dazu, Derridas frühe, systematisch strengeren Analysen zum ,grammatologischen' Charakter von Sprache nachträglich als Beitrag. zum Thema Apokalypse zu lesen - bedient sich doch bereits Derridas erste Publikation, sein umfangreicher Kommentar zur dritten Beilage der ,Krisis'-Schrift Edmund Husserls (1962)15, zur Verdeutlichung ihrer semiotisch folgenreichen Grundeinsichten unverkennbar einer apokalyptischen Sprache. Weil der Sinn von Zeichen apriori an das autonome Spiel ,toter Buchstaben' gebunden bleibt, die sich gegenüber der lebendigen Bedeutungsintention ihrer Subjekte verselbständigen können müssen, kann die zeitlose Geltung der durch sie artikulierten ideellen Wahrheiten nicht als gesichert gelten. Selbst Husserl müsse vielmehr, so Derrida in dieser Frühschrift, die Möglichkeit einräumen, "daß ein allgemeiner Weltbrand, ein Abbrennen der Weltbibliothek, eine Katastrophe, die über das Monument oder das ,Dokument' hereinbräche, die [... ] kulturellen Idealitäten innerlich verwüsteten"16. Der Himmel der Ideen, in denen die Menschheit ,ewige Wahrheiten' entdecken zu können hoffte, hat Teil an einem geistlosen Buchstabenspiel, das - gleich einer Pergamentrolle - jederzeit durch einen allgemeinen Weltbrand vernichtet werden könnte: "und der Himmel entschwand, wie eine Buchrolle, die sich zusammenrollt und alle Berge und Inseln wurden von ihren Stellen gerückt." (Offb. 6,14) Der zentrale Gesichtspunkt dieser ,apokalyptischen' Dimension von Sprache (ihre Krisenhaftigkeit) erhellt damit die in der exegetischen Literatur zur
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sowie ders.: Eben in diesem Moment in diesem WerkJindest du mich, in: Uvinas - Zur Möglichkeit einer prophetischen Philosophie, hg. von M. Mayer und M. Hentschel, Gießen 1990, 42ff. Vgl. hierzu Derrida: Apokalypse [Anm. 5], 65-67, 74(; Ulrich B. Müller: Die Qffonbanmg des Johannes (Ökumenischer Taschenbuch-Kommentar zum Neuen Testament, 19), Würzburg 1984,93(,125,282; Schüssler Fiorenza: Das Buch der Qffonbanmg [Anm. 2], 67(, 74, 106( "Für die apokalyptischen Offenbarungen ist ihr schriftlicher Charakter konstitutiv." Güttgemanns: Die Semiotik des Traums in apokal)'ptischen Texten [Anm. 6], 20. Vgl. Edmund Husserl: Die Krise der europäischen Wissenschaft und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana VI), The Hague 1954, 365ff.; sowie Derrida: Husserls Weg in die Geschichte [Anm. 8]. Zur Bedeutung dieser Arbeit rur die Genese von Derridas Werk vgl. Robert Bernet: Vorwort zur deutschen Ausgabe; sowie ders.: D[fforenz und Anwesenheit, in: Studien zur neuerenJranzäsischen Phänomenologie, Freiburgi. Br. u.a., 1986,51-112, 83f[ Derrida: Husserls Weg in die Geschichte [Anm. 8], 125, vgl. 120ff.; dazu Bernet: Vorwort zur deutschen Ausgabe, 19-22.
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Johannesapokalypse wiederholt diskutierte Frage, ob und in welchem Umfang ihre Gerichtsvisionen als Reaktion auf eine reale Krisenerfahrung zu bewerten seien. 17 Die Apokalyptik ist nicht in erster Linie als Reaktion auf eine ,außersprachliche' Krise zu deuten, sondern muß als "Selbstdarstellung" (auto-presentation) eines Krisen-Apriori der Sprache gelesen' werden. Die Apokalypse, so Derrida, könne "als exemplarische Offenbarung dieser transzendentalen Struktur"18 gedeutet werden; ein Satz, der in einem streng terminologischen Sinne gelesen werden muß: Ein apokalyptischer Text kann immer nur in einem exemplarischen, niemals aber in einem typischen Sinne als apokalyptisch gelten. Denn das Irritierende und Befremdliche, das ihn als Ausdruck einer Krisenerfahrung erscheinen läßt, zwingt zu einer idiomatischen Sprechweise - sein singulärer ,Ton' ist dazu bestimmt, jede typisierende Erwartung zu durchkreuzen. Per definitionem anders als das, was die Konvention erwarten läßt, inszeniert die Apokalypse das ereignishafte ,Erwachen der Sprache', indem sie eine befremdliche ,Abweichung' (ein semiotisches ,Ent-eignis ') in Szene setzt. Wie Derrida hervorhebt, berührt diese konstitutive Fremdheit apokalyptischer Diskurse auch das Verhältnis zwischen den Absendern und Empfängern apokalyptischer Botschaften. In der Apokalypse offenbart sich der Ruf eines/ einer Anderen an eine(n) Andere(n) - die befremdliche Stimme eines/ einer Unbekannten, die das Ich zu einem Exodus aufruft, der seine Identität aus den Fugen geraten läßt 19 : ",Komm' richtet sich nicht an eine im voraus bestimmbare Identität. Es ist eine Ableitung/Abweichung, die nicht mehr abgeleitet werden kann [une derive inderivable]." Die Spur der Stimmen, die ein apokalyptischer Text in Szene setzt, verweist apriori auf ein ,anderswo'. Es kann nicht einmal als gesichert gelten, daß sie auf einen göttlichen Absender verweisen (von daher die Bedeutung englischer Boten, die an Gottes Stelle die Stimme erheben). Und so erweist sich die Apokalypse als paradigmatisch fiir ein Verständnis von Sprache, das mit Derrida die Autonomie des (Schrift)Zeichens akzentuiert20 : Von dem Augenblick an, wo man nicht mehr weiß, wer spricht oder wer schreibt, wird der Text apokalyptisch. Und wenn die Sendungen immerzu auf andere Sendungen ohne entscheidbare Bestimmung verweisen, wobei die Bestimmung immer zukünftig bleibt, ist diese gänzlich enge1hafte Struktur, d.h. diejenige der Johannitischen Apokalypse, nicht auch die eines jeden Schauplatzes der Schrift im allgemeinen?
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Vgl. hierzu Schüssler Fiorenza: Das Buch der Qtfenbarung [Anm. 2], 74-78, 123f., 150-153; Müller: Die Qtfenbamng des Johannes [Anm. 13], 257-260; sowie Gerbern S. Oegema: Zwischen Hc1Jmmg rmd Gericht - Untersuchungen zur Rezeption der Apokalyptik im jriihm Christentum und Judentum, Neunkirchen-Vluyn 1999, 354:ff. Derrida: Apokalypse [Anm. 5], 72. Ebd. 87 (Übers. modifiziert, J.H.; vgl. D'un ton apocalyptique [Anm. 7], 95); vgl. auch ebd. 75-77. Ebd. 71f., vgl. 66-72.
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Orientiert mah sich an klassischen Texten der apokalyptischen Tradition, so spiegelt sich dieses Widerstreben gegen die Forderung, die Bedeutung von Aussagen eindeutig zu fixieren oder sie auf die Aussageintention eines bestimmten Absenders festzulegen, vor allem in ihrem verwirrenden Schwanken zwischen zeitgeschichtlichem Realismus und mythologischem Spiritualismus. Wie Erhard Güttgemanns gezeigt hat, kann dieses Phänomen als ein durchgehendes Stilmerkmal gelten, das die Apokalypse als Äquivalent der ,phantastischen Literatur' erscheinen läßt, eines literarischen Genres, das von Tzvetan Todorov durch die Kriterien der interpretatorischen Unschlüssigkeit und des Nicht- oder unschlüssig Allegorischen definiert wurde. 21 Derridas Analyse des krisenhaften Schriftcharakters von Sprache unterstreicht damit den literarischen Stil apokalyptischer Texte - eine Perspektivenverschiebung, die weitreichende Konsequenzen für ihre Auslegung hat. Denn sie läßt die für die Theologie der Moderne charakteristische Dichotomie zwischen historischkritischen und spiritualisierend- oder psychologisierend-archetypischen Deutungen als Folge einer irreführenden Problemstellung erscheinen. 22 Die apokalyptische Schriftszene ist mit einer eindimensionalen Lektüre unverträglich. Während das zeitgeschichtlich Historische ,archetypischen' Bildern des Unendlichen einen Index zeitlicher Gebrochenheit verleiht, läßt das mythologisch Archetypische historische Bezüge in einem surrealen Licht erscheinen. Der exemplarische Charakter der apokalyptischen Krisenszene ist, ein Effekt dieser wechselseitigen Verfremdungsdynamik. Isoliert man hingegen eines ihrer konstitutiven Momente, so verliert das apokalyptische Szenario seine Signifikanz.
11. Die ethisch-politische Ambivalenz apokalyptischer Gerichtsvisionen Neben der für die apokalyptische Schreibweise prägenden Krisenhaftigkeit des Zeichens wird bereits in der zitierten, Husserl gewidmeten Frühschrift Derridas eine nicht weniger elementare, ethisch relevante Dimension des Zeichengebrauchs zur Diskussion gestellt. Nachdem der Bestand idealer ,geistiger' Gegenstände nicht als gesichert gelten kann, problematisiert Derrida auch Husserls Ansätze zu einer Letztbegründung der subjektiven Bedeutungsintention, die nach dem Sinn philosophisch-idealisierender Aussagen fragt. Bleibt doch auch die Konstituierung von subjektiven Frageperspektiven an die krisenhafte Vermittlung durch Zeichen gebunden. Daß Subjekte überhaupt nach dem geistigen oder metaphysischen Sinn von Zeichen oder litera-
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Vgl. dazu Güttgemanns: Die Semiotik des Traums [Anm. 6], 28-35; sowie Tzvetan Todorov: Eif!:fiihrung in dieJantastische Literatur, München 1972,25-69. Vgl. hierzu Schüssler Fiorenza: Das Buch der OIfenbantng [Anm. 2], 34-39, 46, 50.
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rischen und philosophischen Texten fragen, kann sich folglich nicht länger von selbst verstehen. Obwohl Derridas ,Theorie des Subjekts' an Husserls Ansätze zu einer Phänomenologie ethischer Verantwortung anknüpft, führt ihn diese Beobachtung (parallel zu Emmanuel Levinas) schon in jener Frühphase über Husserl hinaus. 23 Das Fragen nach Sinn ist dem Subjekt nicht angeboren. Es empfangt den Antrieb, nach dem Sinn idealer Gegenstände zu fragen, vielmehr aus jener bereits skizzierten sprachlichen Krisenerfahrung, die Derrida später von einem apokalyptischen Apriori der Sprache sprechen läßt. Als entscheidend für das Verständnis von Derridas Subjekttheorie erweist sich dabei (wie bei Levinas) der Begriff der Verantwortlichkeit: Indem das (Schrift-)Zeichen von den Ideen und Idealen der Vergangenheit ,nichts als die Namen' archiviert, läßt es ihren lebendigen Sinn als bedroht und mich selbst als verantwortliches oder autonomes Subjekt erscheinen. Das Subjekt konstituiert sich in der Berufung, dem Verlöschen seines lebendigen Sinns zu widerstehen. In der Einleitung zu seiner Lektüre der Johannesoffenbarung erinnert Derrida an diese paränetische Dimension von ,Schriftzeichen' oder ,Namen' durch ein Zitat aus dem Johanneischen Sendschreiben an die Gemeinde von Sardes24 : "Ich weiß Deine Werke, daß Du den Namen hast, Du lebst, und doch tot bist. Wache!" (Offb. 3,1-2; HervorhebungJ.H.) Kommt diese fundamentalethische Dimension der Derridaschen Konzeption von Subjektivität schon in seinen frühesten Texten zur Sprache, so wird sie von ihm allerdings erst in seinem 1990 publizierten, der Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Text Zur Kritik der Gewalp5 gewidmeten Vortrag GesetzeskraJp6 ausdrücklich zur Diskussion gestellt. Benjamins Philosophie steht in der Tradition Kants. Zur Erhellung des apokalyptischen und fundamentalethischen Kontextes von Derridas Benjaminlektüre soll deshalb zunächst eine für das Verständnis beider Autoren grundlegende kantische
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Vgl. Derrida: LA voix et le phenomene [Anm. 8], 59, 79-82; ders.: Husserls Weg in die Geschichte [Anm. 8], 180ff., 198; sowie Bernet: Vorwort zur deutschen Ausgabe, 22ff. Die Grundlinien von Derridas späterer Konzeption dieser ,ethischen Wende' lassen sich bereits an den einschlägigen Kapiteln seiner Grammatologie ([Anm. 9], 178-243) und seinem frühen richtungsweisenden Essay über Emmanuel Levinas (ders.: Die Schrift und die Differenz [Anm. 9], 121ff.) ablesen. Derrida: Apokalypse [Anm. 5], 66; zur Interpretation dieser Passage vgl. Müller: Die qffenbarung desJohannes [Anm. 13], 122:ff. Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, in: Gesammelte Schrfften II, Frankfurt a. M. 1977, 179:ff. Derrida: Gesetzeskraft - Der ,mystische Grund der Autorität', Frankfurt a. M. 1991; frz. Force de loiLe Jondement mystique de l'autorite' (zweisprachig), in: Decol1struction and the Possibility ~f Justice, Cardozo LAw Review, New York 1990. Zu den apokalyptischen Dimensionen der Gerechtigkeitsproblematik von Gesetzeskraft vgl. auch ders.: Apokalypse [Anm. 5], 74-77.
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Problemstellung entfaltet werden, an die Derrida bereits in seinem Apokalypse-Text (1983) erinnert: die Diskussion um den Ort des (moralischen) Gesetzes. Im Mittelpunkt der Kantischen Ethik steht bekanntlich die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit moralischer Autonomie. Die Radikalität dieser Konzeption von Autonomie läßt sich dabei an einer grundlegenden begrifflichen Differenzierung ablesen: an der Unterscheidung zwischen Handlungen aus Pflicht und pflichtmäßigen Handlungen. 27 Nur eine Handlung "aus Pflicht" kann als autonom gelten. Die bloße "pflichtmäßige" Anpassung an ein System moralischer Regeln bleibt hingegen heteronom. Sie erfolgt aus der Sache äußerlichen, "pathologischen" Motiven, statt sich aus aufrichtiger "Achtung fiirs Gesetz"28 zur Einhaltung moralischer Normen bewegen zu lassen. Um der Reinheit der Achtung des Gesetzes willen erscheint es deshalb als naheliegend, mit Kant alle sinnlich-vorrationalen Neigungen und Bedürfnisse aus der Reflexion auf das Sittengesetz auszuschließen. Denn es sind diese ,pathologischen' Motive, die - sobald sie zur Vorherrschaft gelangen - eine Handlung als heteronom erscheinen lassen. Wider Willen verstrickt sich Kant aber in ein double binJ29: Indem er fiir das Gesetz Partei ergreift, erliegt er selbst einer pathologischen Neigung. In seinem Apokalypse-Text exemplifiziert Derrida diesen Selbstwiderspruch am Beispiel von Kants kleiner Schrift Von
einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie. 3D Auch diese Schrift verfolgt das Anliegen, die Achtung des Gesetzes vor der Verunreinigung durch ,pathologische' Motive zu bewahren. Kants Kritik richtet sich hier allerdings gegen eine spezifisch moderne Erscheinungsweise ,pathologischen' Handelns: die Meinungsfiihrerschaft gewisser poetischmetaphorischer Schwärmer, die den Menschen die ,Enthüllung' eines Geheimnisses versprechen, und denen er ironisch vorwirft, einem "vornehmen" oder - wie Derrida übersetzt - "apokalyptischen" Ton verfallen zu seinY Nicht ohne Polemik warnt Kant vor dem mystischen Platonismus dieser
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Vgl. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., Werke IV, hg. von W. Weischedel, Darmstadt 1956, BA 8-16; sowie ders.: Kritik der praktischen Vernul?:fr, ebd., A 144f.; hierzu Derrida: Gesetzeskrqft [Anm. 26], 35. Kant: Grundlegung [Anm. 27], B 14ff. Derrida entlehnt diesen Begriff der von Gregory Bateson entwickelten Theorie Schizophrenie erzeugender Situationen (vgl. u.a. Gregory Bateson: Schizophrenie und Familie - Beiträge zu einer neuen Theorie, Frankfurt a. M. 41992). Das double bind hat dort den Charakter einer Beziehungsfalle, die durch gleichzeitige Verwendung widersprüchlicher Beziehungsmuster entsteht (z.B. wenn eine Mutter ihr Kind nonverbal aggressiv behandelt, zugleich aber erklärt, aus reiner Liebe und Fürsorge zu handeln). Immanuel Kant: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, in: ders., Werke In, hg. von W. Weischedel, Darmstadt 1964, 377-402 (im folgenden: Ton); zur Interpretation vgl. Derrida: Apokalypse [Anm. 5], 17-62. Vgl. Kant: Ton [Anm. 30], A 387-391.
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"Mystagogen"32: Unter Verletzung der Freiheit und Gleichheit in Sachen Vernunft würden sie sich über die mühselige Verstandesarbeit ihrer "Zunftgenossen "33 erheben, indem sie sich auf eine "mystische Erleuchtung" (intellektuelle Anschauung)34 beriefen. Wie Derrida hervorhebt, richtet sich diese Polemik gegen einen gewissen Schlosser, der gerade die platonischen Briefe ins Deutsche übersetzt hatte; indirekt aber zielt sie aufJacobi. 35 Vor dem Hintergrund der Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts beklagen diese Philosophen den Verlust der poetischen Dimension philosophischen Denkens und warnen vor den Folgen dieses Verlustes, indem sie das nahe Ende der Philosophie verkünden. Die Philosophie, so Kants Einwand, dürfe sich aber nicht von poetischen Gefühlen oder Ahnungen leiten lassen. Ihr Denken habe sich am unbestechlichen Maßstab des Gesetzes zu messen, dem "wahren Geheimnis" der Menschheit, das durch (der moralischen Sache äußerliche) poetische Ahnungen nicht erhellt werden könne. 36 Kant gesteht zwar zu, daß das einmal erkannte Gesetz "hinten nach" durch eine Symbolsprache untermalt werden könne, bestreitet aber das Recht, Symbolen und Metaphern bei der Beantwortung philosophischer Fragen eine Leitungsfunktion einzuräumen. Doch indem er sein Verdikt über den apokalyptischen Ton der mystagogischen Verdunkler des Gesetzes ausspricht, fällt Kant selbst in einen apokalyptischen Ton. In metaphernreichen Wendungen warnt er vor der Gefahr "in eine schwärmerische Vision zu geraten", weil sie den "Tod aller Philosophie "37 bedeute. Und auch er beruft sich auf eine Erleuchtung: Der ,vornehme Ton' seiner Kontrahenten wird im Namen des Mysteriums der ,Aufklärung' (les lumieres) entmystifiziert, die der "Stimme der Vernunft"38 Gehör verschafft, indem sie an die ,Wachsamkeit' der Menschen appelliert und den eschatologischen Geist einer entgrenzten Fortschrittsutopie beschwört. 39 Orientiert man sich an der Derridaschen Semiotik, so ist dieses double bind nicht auf einem Nebenschauplatz anzusiedeln, der dem ,eigentlichen' philosophischen Werk Kants äußerlich bliebe. In ihm verrät sich vielmehr eine unhintergehbare Aporie. Das Gesetz könnte von der Philosophie in der Tat nur dann unverstellt zur Sprache gebracht werden, wenn ihre Diskurse unabhängig von ,pathologischen' Motiven verständlich wären, die der ,eigentlichen' Sache äußerlich sind. Das Gesetz (der kategorische Imperativ) verpflichtet das Subjekt un-bedingt und ab-solut, d.h. los-gelöst von allen zufälligen 32 33 34
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Ebd., A 409. Ebd., A 399; vgl. dazu Derrida: Apokal}lpse [Anm. 5], 28-31. Kant: Ton [Anm. 30], A 407; vgl. Derrida: Apokalypse [Anm. 5], 28f. Ebd.,39f. Vgl. Kant: Ton [Anm. 30], A 399-403, A 405-407, A 409-413. Ebd., A 424, vgl. A 407. Ebd., A 417.
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Kontextvorgaben, die seine Geltung als be-dingt erscheinen lassen. Bis zu einem gewissen Punkt deckt sich diese idealisierende Forderung mit den von Derrida erarbeiteten Voraussetzungen erfolgreichen Zeichengebrauchs: Der Diskurs über das Gesetz muß gleichsam unabhängig von situationsbedingten Bedeutungsintuitionen in jedem beliebigen Kontext identisch wiederholt werden können. Doch diese Forderung erweist sich als unvollständig. Denn sie vernachlässigt das zweite Moment des Derridaschen Wiederholungsprinzips: Eine Sprache ohne subjektive Intuition bliebe bedeutungslos - sie gliche einem toten Mechanismus. Kant scheint zu ahnen, daß an diesem Punkt eine Gefahr lauert, wenn er (gleichsam ,hinten nach') am Ende der Dialektik seiner Kritik der praktischen Vernunft die Bedeutung der subjektiven Gesinnung würdigt. Könnten wir das Gesetz unverstellt erkennen, so würde dies den ethischen Charakter unseres Handelns zerstören 40 : "Das Verhalten der Menschen, solange ihre Natur, wie sie jetzt ist, bliebe, würde also in einen bloßen Mechanismus verwandelt werden, wo, wie im Marionettenspiel, alles gut gestikulieren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde." Auf den Ausgangspunkt von Kants Text, die Formulierung des "Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft"41 bezogen, läßt dieses Zugeständnis folgendes Paradox aufbrechen: Die um der Reinheit des Gesetzes willen geforderte Unterwerfung unter eine universalisierbare (und d.h. nach Derrida mechanisch wiederholbare) Regel wäre nicht mehr von einer bloßen pflichtmäßigen Handlung zu unterscheiden. Soll ein bloß mechanischer Gesetzesgehorsam ausgeschlossen werden, so erscheint es folglich als notwendig, einen gewissen Mehrwert des Gesetzes zu markieren: eine ethische Differen'z, die das Handeln dem System objektivierbarer, "pflichtmäßig" wiederholbarer Regeln entzieht. Nur eine Abweichung von der Logik reproduzierbarer Regeln könnte ihm den Charakter eines Aktes unvertretbarer Verantwortung verleihen. Es genügt nicht, vom Gesetz in verallgemeinerbaren Formeln zu sprechen. Der harte Kern des Gesetzes hat den Charakter eines Idioms~ Er läßt sich nicht begrifllich objektivieren; man kann von ihm nicht sprechen, ohne in einen "apokalyptischen Ton" zu verfallen und sich der exemplarischen poetischen oder literarischen Glücksfälle zu erinnern, die uns das Nicht-Objektivierbare zumindest erahnen lassen. In seiner Schrift Prtijuges erinnert Derrida an einen derartigen Glücksfall: Franz Kafkas Erzählung Vor dem Gesetz. Ein "Mann vom Lande" bittet um Einlaß in das Gesetz, das sich - von einem mächtigen Türhüter bewacht hinter einer Pforte zu verbergen scheint. Nach langen Jahren des Wartens hat der Türhüter das letzte Wort. Es antwortet auf die Frage des Mannes: "Wieso 39
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Vgl. Derrida: Apokalypse [Anm. 5], 54f., 58-60. Kaut: Kdp V [Aum. 27], A 265. Vgl. ebd., A 54ff.
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kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?" Da der Türhüter erkennt, daß der Mann, der über die Jahre schwerhörig geworden ist, schon an seinem Ende ist, brüllt er ihn an 42 : "Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur fiir dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn. " Der idiomatische Kern des Gesetzes offenbart sich im Angesicht des Todes als inkommunikabel. Vergeblich hatte der Mann vom Lande um Einlaß gebeten. Denn das Gesetz ist kein Gegenstand des Konsenses, die Entscheidung, die Pforte des Gesetzes zu passieren, keine Handlung, über deren Zulässigkeit man sich mit ,Gesetzeshütern' verständigen könnte. Kants Forderung, sich bei der Beurteilung moralischer Handlungen am unbestechlichen Vorbild des Naturgesetzes zu orientieren43 , wird deshalb von Derrida durch die gegenläufige Forderung ergänzt, jede moralische oder politische Entscheidung, die sich auf die Werte von Verantwortung und Autonomie beruft, der "Probe der Antinomie"44 zu unterziehen: Nur wenn ihre Möglichkeit nicht als gesichert gelten und aus keiner konsensfahigen Regel erschlossen werden kann, bleibt der Möglichkeitsraum von Autonomie gewahrt. Die philosophiegeschichtliche Tragweite des eschatologischen Kantianismus Walter Benjamins wird erst vor diesem Hintergrund begreiflich: Das Gesetz, das mich zur Autonomie beruft und ,kritisch' zwischen Recht und Unrecht scheidet, entzieht sich dem Bereich objektivierbarer oder wiederholbarer Aussagen. Das ,Gericht', das das Gute vom Bösen scheidet, hat vielmehr den Charakter eines Bruchs: "wie ein Dieb" (Ojfb. 16,15; 1 Thess. 5,2; 2 Petr. 3,10) überkommt es das Subjekt, um es zu einer Verantwortung zu rufen, deren Möglichkeit nicht vorhergesehen werden kann. Um zumindest eine Ahnung von dieser eschatologischen Dimension des Gesetzes zu vermitteln, fuhrt Benjamin in seinem Aufsatz Zur Kritik der Gewalt allerdings erneut eine kritische Unterscheidung ein. Er scheidet die Gerechtigkeit des zu-künftigen Gesetzes von der innergeschichtlichen Gewalt des Rechts, die sich (gewollt oder ungewollt) stets als "ein ,Vor-recht' der Könige und der Großen "45 erweist. Indem das historische Recht den Hütern des Gesetzes zugesteht, in kalkulierbarer Weise zwischen Recht und Unrecht zu scheiden, pervertiert es die Forderung nach Gerechtigkeit. "In dämonischzweideutiger Weise"46 läßt es jede Übertretung des Rechts zugleich zu einer Herausforderung an die Macht derer werden, die über die Gewalt verfugen, Gesetze zu erlassen oder zu sanktionieren. Der Hüter des Gesetzes hütet 42
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Franz Kafka: Erzählungen, Frankfurt a. M. 1994, 121; vgl. Derrida: Prejuges - Vor dem Gesetz, Wien 1991. Vgl. Kant: KdpV[Anm. 27], A 122. Jacques Derrida: Das andere Kap - Die vertagte Demokratie, Frankfurt a. M. 1992,53. Benjamin: Zur Kritik der Gewalt [Anm. 25], 198. Ebd., 198.
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immer auch den Thron, der ihn zum Hüter werden läßt. Und so verwandelt sich seine Rechtsprechung unter der Hand in die schicksalhaft-mythologische Gewalt einer Macht, deren wahre Interessen undurchsichtig bleiben. Das Recht wird, gerade indem es sich als kalkulierbar erweist, zu einem (heteronomen) Werkzeug von Rache und Willkür. Dieser pervertierenden Gewalt stellt Benjamin die reinigende Gewalt Gottes gegenüber: Die Zukunft eines Gerichts, welches den Kreislauf von Schuld und Sühne durchbricht, indem es über das Leben allein "um des Lebendigen willen "47 richtet und die Sprache des Ursprungs wieder herstellt eine Sprache, die nicht über Menschen und Dinge urteilt, sondern sie bei ihrem unverwechselbaren Namen ruft. 48 Klingt hierin die erlösende Dimension der Benjaminschen Gerechtigkeitsidee an, so vergißt er allerdings nicht, an den Zorn Gottes zu erinnern. Die reinigende Gewalt Gottes kann um des Lebendigen willen auch Leben fordern. Das göttliche Gericht rechnet nicht Schuld gegen Sühne auf, aber es macht ebenso wenig Halt vor dem Schlag, der um der Entsühnung willen Leben vernichtet. Benjamin exemplifiziert diese "schlagende Gewalt" durch eine Anspielung auf die biblische Erzählung vom Gericht über die Rotte Korah (Num. 16,32)49: "Es trifft bevorrechtete Leviten, trifft sie unangekündigt, ohne Drohung, schlagend, und macht nicht Halt vor der Vernichtung. Aber es ist zugleich eben in ihr entsühnend und ein tiefer Zusammenhang zwischen dem unblutigen und entsühnenden Charakter dieser Gewalt nicht zu verkennen." Num. 16 erscheint als Beleg rur den "unblutig-entsühnenden" Charakter göttlicher Gewalt ungeeignet. 50 In der Sache hat Benjamins Gedankengang allerdings eine gewisse Plausibilität. Das Gericht Gottes unterscheidet sich von der mythologischen Gewalt des Rechts, weil es "entsühnend" ist. Es vergilt nicht Gleiches mit Gleichem, sondern stellt die Gerechtigkeit wieder her, indem es die Spuren vergangenen Unrechts auslöscht. Bewußt oder unbewußt knüpft Benjamin damit an einen klassisch-apokalyptischen Motivkomplex an: Den Gerechten wird ein untilgbarer, ewiger Name verliehen werden Ues. 56,5; Offb. 2,17; 3,5; 3,12; 21,27),51 die Namen der Verworfenen aber werden im Buch des Lebens nicht verzeichnet sein. Sie werden das
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Ebd., 200; vgl. Derrida: Gesetzeskrqft [Anm. 26], 106ff. Vgl. Walter Benjamin: Über die Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen, in: Gesammelte Schriften H, Frankfurt a. M. 1977, 140-157. Kritisch dazu Derrida: Gesetzeskrqft [Anm. 26], 103ff.; sowie Dominick LaCapra: Gewalt, Gerechtigkeit und Gesetzeskrqft, in: Gewalt und Gerechtigkeit, hg. von Anselm Haverkamp 143ff., 156f. Benjamin: Zur Kritik der Gewalt [Anm. 25], 199. Vgl. hierzu Samuel Weber: Dekonstruktion vor dem Namen, in: Gewalt tmd Gerechtigkeit [Anm. 48], 191-193. Vgl. hierzu Müller: Die qffenbarungdesJohannes [Anm. 13J, 114f 126f, 347, 363.
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Geschick des "zweiten Todes" (Offb. 2,11; 20,14f.; 21,8) erleiden - nicht den Tod jener Wesen, um die die Hinterbliebenen trauern, sondern den Tod derer, deren Spuren aus dem Gedächtnis der Lebenden getilgt wurden. 52 Benjamins Exemplifikation der göttlichen Gewalt steht allerdings nicht in einem primär theologischen, sondern in einem zeitgeschichtlich-politischen Kontext. Seine Gewaltkritik antwortet auf die Weimarer Krise des Parlamentarismus, die damals mit einer in linken wie in rechten Kreisen gleichermaßen verbreiteten Kritik der repräsentativen Demokratie einherging. 53 Ihr wie auch immer exemplarischer Versuch, die gerechte Gewalt von der mythischen Gewalt des juridischen Kalküls zu scheiden, kann insofern nicht als unschuldig gelten. Welche Kriterien leiten die Wahl der Exempel, die von der Differenz zwischen der schlagenden Gewalt Gottes und der pervertierend-schicksalhaften Gewalt des Rechts Zeugnis geben? Folgt man Derridas Benjaminlektüre, so ist es allein das Blut, das die böse von der guten Gewalt kritisch zu scheiden erlaubt. Die entsühnende Gewalt Gottes erscheint als Inbegriff eines unblutigen Opfers. Doch dieses Kriterium muß rückblickend beunruhigende Assoziationen wecken 54 : "Wenn man an die Gaskammern und die Brennöfen denkt, läßt einen diese Anspielung auf eine Vernichtung, die entsühnend sein soll, weil sie unblutig ist, erschauern. " Derrida widerspricht nicht der Benjaminschen Kritik des juridischen Kalküls. Selbst die Berechtigung von Benjamins Anspielungen auf den Zorn Gottes könnte nach Derrida nicht ohne Schaden bestritten werden. Aus christlicher Sicht mag man geneigt sein, Bilder, die einen zornigen Gott in Szene setzen, an den Rand des ,eigentlichen' Kanons zu drängen: Das Christentum hofft auf einen Gott, der vergibt. Doch es ist gefährlich, mit seiner Vergebung zu re c hn e n. Derrida erinnert daran in einem seiner jüngsten Interviews zur spätmodernen Inflation des Vergebungsrituals 55 : "Man kann oder sollte nur dort vergeben, es gibt nur Vergebung - wenn es sie denn gibt -wo es Unverzeihbares gibt. Was soviel bedeutet wie, daß das Vergeben sich als gerade Unmögliches ankündigen muß. Es kann nur möglich werden, indem es Un-mögliches tut." Der Möglichkeitsraum von Gnade bleibt nur gewahrt, wo sich die Hoffuung auf Vergebung mit dem Bewußtsein ihrer schlechthinnigen Unselbstverständlichkeit verbindet. Das Strafgericht der Apokalyptiker ist deshalb fiir jede Vergebungsvision konstitutiv - ohne die Zukunft eines Dies irae würde sich ihre Verheißung in ein leeres Kalkül ver52
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Vgl. hierzu ebd., 108E Zur Problematik des Eigennamens vgl. auch Derrida: Grammatologie [Anm. 9], 178-243. Vgl. hierzu Derrida: Gesetzeskrq.ft [Anm. 26], 95-100. Ebd., 124. Zur kontroversen Diskussion um Derridas Benjarnininterpretation: Gewalt und Gerechtigkeit [Anm.48). Jacques Derrida und Michel Wieviorka:Jahrhundert der Vergebung: Verzeihen ohne Macht - unbedingt und jenseits der Souveränität, in: Lettre Intemationa/48 (2000), 10-18, 11.
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wandeln. Und so wird die Forderung nach Gerechtigkeit stets als ein Balanceakt erscheinen, der zwischen der unmöglichen Möglichkeit göttlicher Gnade und der augenscheinlichen Möglichkeit des "zweiten Todes" schwankt, ohne eine definitive Vorentscheidung über das Zukünftige treffen zu können. Liegt hierin eine gewisse Rechtfertigung von Benjamins Versuchen, exemplarisch zwischen mythologischer und göttlicher Gewalt zu unterscheiden, so trägt der Diskurs über die Gerechtigkeit aber auch Verantwortung rur das Risiko, das er bei der Wahl seiner Exempel eingeht. Indem er ,kritisch' zwischen Gut und Böse unterscheidet, riskiert er, sich in die Komplizenschaft mit der schlimmsten Gewalt zu verstricken: mit der mimetischen Gewalt einer Vernichtung, die die göttliche Gewalt imitiert und das erhoffte Gericht auf unheimliche Weise verdoppelt. 56 Angesichts der skizzierten Nähe von Benjamins Gerichtsvision zu den Gerichtsvisionen der klassischen Apokalyptik untergräbt diese Beobachtung Derridas nicht nur die Vertrauenswürdigkeit einer fast vergessenen marxistischen Philosophie. Auch die messianischen Verheißungen des Christentums erinnern an ein mimetisches Vernichtungsprogramm, wenn sie ein Gericht herbeisehnen, das die Eigennamen der "Diener des Antichristen" dem "zweiten Tod" und ihre Leiber dem Feuer überantwortet. Rückblickend überlagert sich diese Vision mit der Erinnerung an das historisch beispiellose ,Programm', den Namen jenes Volkes auszulöschen, das bereits der Antijudaismus des Mittelalters mit dem Bild des Antichristen assoziierte - die Konturen göttlicher Entsühnung verblassen hinter dem Gedächtnisbild der Vernichtungslager, in denen man die Eigennamen der Verfolgten durch KennNummern ersetzte und die sprachlosen Spuren ihrer Existenz in "Feuer und Asche"57 aufgehen ließ. Mit dem Beispiel Walter Benjamins verbindet die christliche Apokalyptik allerdings auch ein zweiter Zug. Benjamin scheint um die prekäre Situation zu wissen, in die er sich durch die visionäre Niederschrift seiner Kritik der Gewalt begibt. Da Derrida damit rechnet, fragt er gegen Ende von Gesetzeskraft nach dem Autor der Benjaminschen ,Apokalypse'. Wer könnte ihre ,Gewaltkritik' besiegeln, wer ihre Visionen unterzeichnen, ohne sich an der Verantwortung, die er damit übernimmt, zu überheben? Offenbar sprechen die letzten Worte der Benjaminschen Kritik nicht zufällig von Insignium und Siegel. Sie warnen vor der Versuchung, den Namen Gottes zur Rechtfertigung innergeschichtlicher Gewaltakte zu instrumentalisieren, um mit einer 56
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Vgl. Derrida: Gesetzeskrqft [Anm. 26], 115; vgl. hierzu Derrida: Apokalypse [Anm. 5], 29[, 86[ Vgl. hierzu Jacques Derrida: Feu la cendre, Paris 1987; sowie Dietz Bering: Gewalt gegen Namen Ein sprachwissenschqftlicher Beitrag zur Geschichte und Wirkung des Alltagsantisemitismus, in: Muttersprache 99 (1989), 193-212; Jean Fran<;:ois Lyotard: Der Widerstreit, München 1987, 173[; ders.: Heidegger und ,diejuden', Wien 1988.
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verblüffenden offenbarungstheologischen Wendung zu schließen 58 : "Verwerflich aber ist alle mythische Gewalt, die rechtsetzende, welche die schaltende genannt werden darf Verwerflich auch die rechtserhaltende, die verwaltende Gewalt. Die göttliche Gewalt, welche Insignium und Siegel, niemals Mittel heiliger Vollstreckung ist, mag die waltende heißen." Derrida nennt diesen Schluß einen "Theater-Coup"59: Benjamin spekuliert auf den Überraschungseffekt, den ihm das Wortspiel zwischen dem N amen des Waltenden und dem Siegel seines eigenen Namens zuspielt, indem er sich als ,Walter, der Waltende' verabschiedet. Doch seine Abschiedsgeste ist (Derrida bestreitet das nicht) zugleich mehr als ein Spiel60: "Wir wissen nämlich, wie sehr sich Benjamin - vor allem in seiner Abhandlung über Goethes Wahlverwandtschaften - rur die zufälligen und bedeutsamen Übereinstimmungen interessiert hat, deren eigentlicher Ort die Eigennamen sind." Benjamins revelatorische Abschiedsgeste läßt sich nicht auf einen "TheaterCoup" reduzieren. Doch sie verliert damit ebensowenig wie die entsprechenden Gesten der klassischen Apokalyptik ihren ,grenzwertigen' Zug. 61 Derrida erinnert in seinem Apokalypse-Text daran, daß das Wort UJCOKUA:UJCLCO, mit dem die Septuaginta durchaus treffend das hebräische Verb nt,!\62 übersetzt, neben seiner religiösen auch eine profane Bedeutung hat. Es benennt nicht nur religiöse Offenbarungen, sondern auch die Entschleierung von Körperteilen - z.B. der Schamteile 63 : "Apokekalymmenoi logoi, das sind anstößige Reden. Es geht also um das Geheimnis und die pudenda." Der Ruch des ,Grenzwertigen ' haftet der apokalyptischen Tradition seit ihren Anfängen an. Ein Blick auf die klassische Apokalyptik erlaubt, diese Beobachtung literaturwissenschaftlich zu konkretisieren. Denn die Ambivalenz ihrer ,göttlich autorisierten Enthüllungen' spiegelt sich indirekt in der narrativen Rahmung klassisch-apokalyptischer Texte wider: Dem Schreiber der Apokalypse wird durch ein außerirdisches Wesen eine Offenbarung übermittelt. 64 Konzipiert in der Absicht, die Metaphorik apokalyptischer Texte als Spur eines religiösen Erschließungsereignisses auszuweisen, läßt diese theatralische 58
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Benjamin: Zur Kritik der Gewalt [Anm. 25], 203. Derrida: GesetzeskrC!ft [Anm. 26], 111. Ebd., 114, Anm. 31. Wie Samuel Weber gezeigt hat, dürfte auch Benjamin um die tiefe Ambivalenz seiner Abschiedsgeste gewußt haben. Vgl. Weber: Dekonstruktion vordem Namen [Anm. 50], 185f[ Zum Bedeutungsspektrum von n?ZI: vgl. Walter Baumgartner: Hebräisches und aramäisches Lexikon zum alten Testament, Leiden 1958, 182[; zur griechischen Übersetzung: vgl. Traugott Holtz: Art. WrolCaAvJrTOJ, in: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hg. von Horst Balz, Köln 21992, 312-318. Derrida: Apokalypse [Anm. 5], 12. Vgl. Collins: From Prophec)' to Apocal)'pticism [Anm. 3], 146f.; sowie: Apocalypse - The Morpholog)' cf a Genre [Anm. 6].
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Geste den apokalyptischen Boten in den Augen seiner Adressaten zugleich als verdächtig erscheinen - ihre Form ist allzu, typisch', als daß sie ohne weiteres als kreditwürdig gelten könnte. 65 Wie Erhard Güttgemanns am Beispiel der Johannesapokalypse gezeigt hat, kann das Spiel apokalyptischer Metonymien und Metaphern deshalb immer auch als Spur eines Verdrängungsvorgangs gelesen werden - ihre Bildersprache erscheint dann nicht als Ausdruck eines Enthüllungsereignisses, sondern im Gegenteil als eine mehr oder weniger unbewußte Strategie, die verräterische Kehrseite der Apokalypse (ihre mimetischen Gewaltphantasien) zu verhüllen. 66 Das apokalyptische Szenario gleicht einem Vexierbild (wir sehen entweder zwei Gesichter im Profil oder eine Vase), das zwischen einem göttlich autorisierten ,Enthüllungs szenario , und einem zweifelhaften ,Mystagogenspiel' changiert, ohne daß eine letztgültige Entscheidung über seine ,wahre' Bedeutung getroffen werden könnte. Unter den Bedingungen der Geschichte darf dies aber auch nicht geschehen: Wie Derridas Arbeiten zur Gerechtigkeits- und Vergebungsproblematik zeigen, erlaubt allein die Ungewißheit über die definitive ,Bestimmung' der apokalyptischen Schriftszene, jene innere Spannung aufrechtzuerhalten, die sie zur Spur einer (un)möglichen Zukunft werden läßt. Die Bedingungen der Möglichkeit apokalyptischer Enthüllungen über das zukünftige Gnadengericht fallen mit den Bedingungen ihrer Unmöglichkeit zusammen.
III. Die Entgrenzung des apokalyptischen, Genres ( Was bleibt von der Apokalypse nach ihrer Dekonstruktion? Die Derridasche Dekonstruktion begreift sich als Versuch, eine Lehre aus den Erfahrungen der 65
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Zur literaturwissenschaftlichen Analyse derartiger Aporien vgl. Derrida: Gestade [Anm. 12],258261. Vgl. Güttgemanns: Die Semiotik des Traums [Anm. 6], 14-16, 36ff; Schüssler Fiorenza: Das Buch der Qtfenbanmg [Anm. 2], 157-163; Jacques Derrida: Glas, Paris 1974, 222b (vgl. ders.: Apokalypse [Anm. 5], 79). Vor dem Hintergrund von Benjamins Gewaltkritik berechtigt dies allerdings nicht zu den weitreichenden Folgerungen, die Güttgemanns aus seiner Analyse zu ziehen scheint. Die Metaphorik der Johannesoffenbarung ist weder auf das Produkt eines unschuldigen "Erschließungsereignisses" (Jüngel/Ricceur), noch auf das Resultat der metaphorischen Verschleierung eines "Willen(s) zur Macht" (Güttgemanns, ebd., 38) zu reduzieren. Güttgemanns stützt sich auf die Freudinterpretation Lacans, wenn er mit Blick auf den Autor der Johannesoffenbarung das ,verdrängte' Begehren mit dem ,wahren' Begehren des Subjekts identifiziert. Wie Slavoj Zizek in seinen freilich erst Mitte der 90er Jahre erschienenen Arbeiten gezeigt hat, scheitert diese Deutung aber bereits am Buchstaben der Lacanschen Schriften. Die Tendenz, das ,eigentliche' oder ,wahre' Begehren des Subjekts im Unbewußten zu lokalisieren (vgl. ebd., 38f., 42f.) , markiert nicht nur den neuralgischen Punkt der mit dem Namen Lacan assoziierten psychoanalytischen Bewegung (vgl. Jacques Derrida: Die Postkarte 11, Berlin 1987, 193ft). Der Name Lacans steht auch ftir einen Ausweg aus dieser metapsychologischen Sackgasse: Die Frage nach dem ,wahren' Ort des Subjekts wird von ihm schließlich (ähnlich wie bei Derrida) konsequent in der Schwebe gehalten. Vgl. Slavoj Zizek: VemJeilen beim Negativel1, Wien 21995, 76ff.
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Geschichte zu ziehen67 , nämlich "die, daß wir die mögliche Mitschuld all dieser Diskurse am Schlimmsten (hier geht es um die Endlösung), die mögliche komplizenhafte Verbindung, die zwischen diesen Diskursen und dem Schlimmsten besteht, denken, erkennen, vorstellen, formalisieren, beurteilen müssen". Es ist dieser Anspruch, der Derrida bereits angesichts seiner Lektüre der Johannesoffenbarung von einer "Apokalypse ohne Apokalypse" träumen läßt: von einer "Apokalypse ohne Vision, ohne Wahrheit, ohne Offenbarung, d.h. Sendungen [... ], Adressen ohne Botschaft und ohne Bestimmungsort, ohne entscheidbaren Absender oder Empfänger, ohne jüngstes Gericht, ohne eine andere Eschatologie als den Ton des ,Komm', seine differance selbst, eine Apokalypse jenseits von Gut und Böse"68. Aber auch Derrida schließt das Unmögliche nicht aus 69 : "Es gibt keine Chance mehr außer dem Zufall - für ein Denken des Guten und des Bösen, dessen Verkündigung käme, sich neu zu sammeln, um sich in einer Offenbarungsrede wiederzufinden; keine Chance mehr - außer per Zufall, dem Einzigartigen, dem Zufall selbst." Die Chance dieses einzigartigen Zufalls könnte nicht ausgeschlossen werden, ohne daß die Dekonstruktion selbst als eine ,apokalyptische' Katastrophe erschiene. 70 Und so drängt sich Derrida eine rhetorische Gegenfrage aue 1; ,,[W]elche hermeneutische Kompetenz berechtigt sie zu sagen, daß diese selbst, diese Katastrophe der Apokalypse, nicht diejenige ist, die [... ] von dieser oder jener apokalyptischen Schrift beschrieben wird? Zum Beispiel von der aus Patmos, die damals der Aufgabe geweiht war, aus sich herauszugehen injene aleatorische Irrung?" Mit dieser Frage leitet Derrida das Ende seiner Schrift zur Apokalypse ein, nicht ohne daran zu erinnern, daß das Buch mit den Sieben Siegeln, das von der Johannesapokalypse, über die seine Schrift schreibt, beschrieben wird, "innen und außen" (OjJb. 5,1) beschrieben war. Die Beschriftung des apokalyptischen ,Urtextes' überbordet den Rahmen eines Buches. 72 Und so scheint die J ohannesoffenbarung, die immerhin das Ende der Heiligen Schrift markiert, bereits aus eigener Anschauung auf jene aleatorische Irrung 73 hin angelegt zu sein, in deren Spur sich nach Derrida u.a. die Schriften von Hölderlin und
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Derrida: Gesetzeskrq(t [Anm. 26], 124f. Derrida: Apokalypse [Anm. 5], 87f. Ebd., 88. Vgl. ebd., 55f. Ebd., 89; vgl. auch ebd., 73f. Die Formulierung von Qtfb. 5,1 orientiert sich an Ez. 2,10, wo von einer Schriftrolle die Rede ist, "vorn und hinten beschrieben, und auf ihr standen geschrieben Klagen, Seufzen und Wehe." Die Buchrolle - so Müller (Die Qtfenbarung desjohannes [Anm. 13], 153f.) - ist "auf der Vorderund Rückseite benutzt, um ihren überquellenden Inhalt anzuzeigen". Derrida, Apokalypse [Anm. 5].
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Heidegger (Patmosf4 bewegen. Einem Exerzitium vergleichbar, dessen interne Wiederholungs bewegung (Wiederholung von Visionen, Plagenserien und Hymnen, mehrfache Ankündigung des nahen Endes USW.f5 in die apokalyptische Schreibweise einfUhrt, markiert das letzte Buch der Bibel nicht das ,Ende des biblischen Kanons', sondern den Anfang einer literarischen Serie, in deren Gefolge dasselbe in fremder und mitunter pervertierter Gestalt wiederkehrt. Wenn die Dekonstruktion das befremdliche Sprachspiel der Apokalypse nicht überwindet, dann also deshalb, weil es per definitionem kein ,Ende der Apokalypse' geben kann. Die Geschichte der biblischen ,Offenbarungen' findet in der Geschlossenheit des biblischen Kanons nicht zu ihrem definitiven Abschluß. Zahllos sind die Texte und Erzählungen, die sich seiner autoritativen Textgestalt nachträglich eingeschrieben haben, indem sie seine Bilder und Symbole wiederbelebten oder ihre Ausdruckskraft verblassen ließen, ohne daß sich ein Ende dieser "aleatorischen Irrung" abzeichnen würde. Statt einen mächtigen Schlußakkord zu setzen, fuhrt das ,letzte Buch der Bibel' ein in die von unkalkulierbaren Zufällen unterbrochene Bewegung einer ,Nachfolge', die ihre kanonischen Texte in verwirrter Ordnung immer wieder empfangt 76 : "Evangelium und Apokalypse gewaltsam zerschnitten, zerteilt, neu angeordnet, mit Leerstellen, Akzentverschiebungen, Zeilensprüngen und -verschiebungen, als wenn sie uns durch einen kaputten Fernschreiber erreichten oder über die Schalttafel einer überlasteten Telephonzentrale ... " Paradoxerweise könnte Derridas Vergleich der Wirkungsgeschichte des biblischen Kanons mit einem kaputten Fernschreiber sich sogar auf den Wortlaut des abschließenden ,Kanonisierungsgebots' der ]ohannesapokalypse stützen, das denjenigen mit Strafe bedroht, der "die prophetischen Wortes dieses Buches" verändert (Offb. 22,18f.; vgl. Dtn. 4,2). Unter den seit der Antike bekannten Figuren der Texttransformation werden dort nämlich lediglich die Hinzuftigung (Insertion) und Entfernung (Delition) von Textelementen, nicht aber deren Umstellung (Permutation) oder Ersetzung (Substitution) untersagt - eine alles andere als zufällige Auslassung, handelt es sich bei den ausgesparten Figuren doch um die elementaren Verfremdungs- und 74
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Der Toponym "Patn1Os" markiert bereits eine Serie (oder genauer: eine Seriatur; vgl. Derrida: Eben in diesem Moment in diesem Werk findest du mich [Anm. 12]) von apokalyptischen Texten, die von der Johannesapokalypse über Hölderlins Gedicht Pa tm os ("Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch") bis hin zu Heideggers Hölderlinlektüre reicht (vgl. Derrida: Apokalypse [Anm. 5], 56-58). Zur neuheidnischen ,Apokalyptik' Heideggers vgl. ebd. Anm. 78. Vgl. hierzu sowie zur dramaturgisch elaborierten Dynamik dieser textimmanenten Wiederholungsstruktur Güttgemanns: Die Semiotik des Traums [Anm. 6], 25(; Schüssler Fiorenza: Das Buch der O.ffonbamng [Anm. 2], 55ff.; Müller: Die Offenbanll1gdesJohannes [Anm. 13], 31-73, 54. Derrida: Apokalypse [Anm. 5],79; das Zitat zitiert eine Passage aus Derridas Buch Glas [Anm. 66] 220b.
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J ohannes Hoff
Entstellungsstrategien der von Derrida als "Schauplatz der Schrift"77 gedeuteten Traumszene Sigmund Freuds: Substitution und Permutation entsprechen den beiden syntaktischen Operationen, durch die der Traum Metaphern und Metonymien entstehen läßt. 78 Die Johanneische Aussparung von Substitution und Permutation kann folglich als eine Öffnung des Kanons gelesen werden. Sie überantwortet den Buchstaben des biblischen Textes den Visionen und Träumen der Literaten, Künstler, Philosophen, Politiker und Poeten, die "Evangelium und Apokalypse" in entstellter und vertauschter Ordnung wiederempfangen, um in ihnen eine andere Schriftszene wiederzuentdecken. Wie Derrida hervorhebt, gehören zu den Spuren, die die aleatorische Irrung der Apokalypse antizipieren, schließlich auch die Worte von Offb. 22,10: "Versiegle dieses Buch mit seinen prophetischen Worten nicht!" Anders als die vOljohanneischen Apokalypsen soll diese Offenbarung hier und jetzt gelesen und nicht versiegelt werden. 79 Das Verbot zu versiegeln besagt aber noch ein zweites: Es untersagt dem Adressaten der Apokalypse (und auch J ohannes erscheint in der Überschrift von Offb. 1,1-3 nicht als Autor, sondern als Adressat dieses Buches), sich ihre Offenbarungen zu eigen zu machen oder sich zu ihrem Herrn und Urheber zu erklären8o : "Versiegle nicht, d.h. verschließe nicht, aber auch: unterzeichne nicht. " Entgegen diesem Befehl sollte bereits das späte zweite Jahrhundert das letzte Buch der Bibel unter dem Titel Offenbarung des Johannes zitieren und seinen Verfasser als einen identifizierbaren Autor behandeln. 81 Folgt man Derrida, so war dieses Geschick zu erwarten. Indem der Befehl, nicht zu unterschreiben, J ohannes dazu aufforderte, dem Gesetz des Eigennamens zu entsagen, verlangte er das schlechthin Unwahrscheinliche 82 : "Es ist das double bind eines Befehls, dem Johannes nur zuwiderhandeln konnte, um ihm zu folgen." Doch dieser ,Verrat' konnte die aleatorische Irrung der Apokalypse nicht zum Stillstand bringen. Die apokalyptische Traumszene hat keinen Ort 77
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Vgl. Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift, in: ders., Die Schrift und die Differenz [Anm. 9], 302ff.; sowie unter Anspielung auf diesen Text: Derrida: Apokalypse [Anm. 5], 71f. Vgl. hierzu das Kapitel zur "Traumarbeit" in: Sigmund Freud: Traumdeutung, in: ders., Gesammelte Werke II/III, Frankfurt a. M. 31961, 283-512; sowie mit Blick auf das Kanonisierungsgebot derJohannesoffenbarung Güttgemanns: Die Semiotik des Traums [Anm. 6],20, 39ff. Vgl. hierzu Müller: Die Qffenbanmg desjohannes [Anm. 13], 369. Derrida: Apokalypse [Anm. 5], 90. Zum double bind dieses Befehls vgl. ebd., 82(; zum Begriff der Versiegelung vgl. Tim Schramm: Art. mppay[c;, in: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, 758-761. Der geläufige Titel Qffenbanmg des johannes entspricht nicht dem ursprünglichen Text. Dessen Titel lautet vielmehr Qffenbanmg jesu Christi (Qffb. 1,1; vgl. Müller: Die Qffenbanmg des johannes [Anm. 13],65; Schüssler Fiorenza: Das Buch der Qffenbanmg [Anm. 2]; Derrida: Apokalypse [Anm. 5], 69(). Zur Bedeutung der Problematik des Titels für die dekonstruktive Lektüre philosophischer und literarischer Texte vgl. Derrida: Titel (noch zu bestimmen), in: Gestade [Anm. 12], 219ff. Derrida: Apokalypse [Anm. 5), 82.
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im Netz identifizierbarer Eigennamen. Resistent selbst gegen die Konvention der Namengebung kehren ihre Visionen stets an unbekannten Orten wieder - bewacht von einem mächtigen Türhüter, der uns den Zugang zu ihrem Gesetz verweigert, wo immer wir auf einen Konsens über den Weg durch die ,Pforte des Gesetzes' spekulieren. Ob das Gesetz sich überhaupt hinter der Pforte verbirgt, hinter der Johannes seinen unverlöschlichen Glanz vermutete - die Antwort auf diese Frage wird unseren Diskursen auf unabsehbare Zukunft verschlossen bleiben. "Es gibt keine Chance mehr - außer dem Zufall - rur ein Denken des Guten und des Bösen [... ]".83 Sollte aber das Unmögliche geschehen und der Ruf des Gesetzes ergangen sein, so wird es uns verpflichtet haben, auf das Walten eines unbestechlichen Richters zu hoffen.
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Ebd., 88.
Maria Moog-Grünewald CONVERSIO
Zu einem ,apokalyptisch' figurierten Topos autobiographischen Schreibens*
Les Mots von Jean-Paul Sartre können als ,piece maitresse' autobiographischen Schreibens gelten: Sie stellen den Kulminationspunkt und in bestimmter Weise auch den Endpunkt eines literarischen Genres dar, als dessen Beginn allgemein Augustinus' Confessiones 1 und als dessen idealtypische Realisierung Rousseaus Confessions erachtet werden 2 . Es ist üblich, diese und andere autobiographische Schriften in Interferenz zu bringen, die jeweiligen Besonderheiten literarischer Bezugnahmen unter dem Rubrum der ,Intertextualität' resp. - genauer - der ,Gattungsreferenz' zu verhandeln. Nicht üblich ist es, literarische Werke, die in nachfolgenden ihre Entfaltung und Steigerung erfahren, als Präfigurationen in litteris aufzufassen, mithin fiir sie die typologische Lesart in Anschlag zu bringen. Das Kennzeichen einer typologischen Relation ist - im Unterschied zu einer schieren intertextuellen bzw. gattungsreferentiellen - vor allem darin zu sehen, daß das Frühere erst durch das Spätere erkannt und verstanden wird: in seinem Sinn, in seiner Verweisungskraft und in seiner Voraussetzungshaftigkeit. Die früheste autobiographische Schrift, die Confessiones des Augustinus, als Präfiguration herausragender nachfolgender Autobiographien wie der Sartres oder Rousseaus, zu lesen, mag überraschend sein, und doch wird diese Lektüre möglich dank eines Merkmals, das die Confessiones wiederum von allen vorausgegangenen Schriften autobiographischen Charakters unterscheidet und das zugleich die Autobiographie als moderne literarische Gattung initiiert: der Conversio. Die die Augustinischen Confessiones strukturierende Figur der Conversio wird in ihrer eminenten Tragweite erst evident in der variierten, ja invertierten Aufnahme durch Rousseau, mehr noch durch Sartre, aber auch durch Petrarca, Descartes, Pascal, Paul Valery und Nathalie Sarraute - um nur diese zu nennen. Ist doch - wie zu zeigen sein wird - die Conversio die Figur par excellence, die auf der Ebene des Dargestellten wie des Darstellens die textuelle Konstitution einer Ich-Identität, primäre Raison d'etre der Autobiographie, erst ermöglicht. Zudem aber ist die Conversio eine Denk- und Argumentationsfigur, die der Moderne - verstanden als ,longue duree'
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Für aufmerksame Lektüre und kluge Hinweise danke ich Judith Holstein und Anke Kramer. Georg Misch: Geschichte der Autobiographie, I-IV, Frankfurt a. M. 1949-1969; 1/1 (1949), 19(; 1/2 (1950),637-677: "Drittes Kapitel: Die Bekenntnisse Augustins". Philippe Lejeune: Le Pacte autobiographique, Paris 1975, 49f[
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eignet, ja mehr noch das proprium der Moderne überhaupt ausmacht: der Anfang im Neuen setzt das Ende im Alten voraus3 , das Noch-Nicht gründet im Nicht-Mehr4 • Insofern diese die Moderne konstituierende Denkfigur zugleich zu einem Strukturelement der Autobiographie wird, impliziert die Autobiographie mit dem Ich-Entwurf immer auch einen Welt-Entwurf, präkonisiert sie eine Ideologie im engeren und im weiteren Sinne - sei diese nun theologisch, philosophisch-erkenntnistheoretisch, ästhetisch bestimmt. Im Mittel der Conversio wird der Selbst-Entwurf somit zu einem Reflex des Welt-Entwurfs, ist die Konstitution des Ich Ausdruck der Ideologie, die auch die Welt konstituiert. Ihr Strukturelement ist die Conversio. Drei Beispiele sollen diese einführenden Bemerkungen evidenzieren: Les Mots von Jean-Paul Sartre, Augustinus' ConJessiones und Rousseaus ConJessions. 1.
Bereits der Titel der Sartreschen Autobiographie ist im oben formulierten Verständnis Konzept und Programm: eine Welt, die sich in ,Wörtern' und als ,Wörter' präsentiert, die mithin nicht anders denn als ,geschriebene' und ,gelesene' erfahren wird, kann wiederum nicht anders denn im ,Schreiben' entworfen und dem ,Lesen' überantwortet werden; "Lire" und "Ecrire" sind denn auch die beiden etwa gleichgroßen Kapitel von LesMots überschrieben in manifester Bezugnahme auf den Titel, der seinerseits die sie bestimmende Ko-Relation vorstellt: die unaufhebbare Übergängigkeit von ,Lesen' und ,Schreiben' und vice versa von ,Schreiben' und ,Lesen' im Mittel der ,Wörter'. Ein geschlossener Kosmos in litteris scheint inszeniert, zugleich eine in sich geschlossene Werktotalität geschaffen. Dies um so mehr, als der zweite Teil "Ecrire" weder logisch noch chronologisch auf den ersten Teil "Lire" folgt, vielmehr ist der zweite Teil - in freilich minimer zeitlicher wie sachlicher Verschiebung - eine variierte Reduplicatio des ersten Teils: insgesamt wird ein Zeitraum von sieben Jahren - näherhin die Jahre 1909 bis 1916 - thematisiert, wobei der erste Teil auf die Jahre 1909 bis 1914 Bezug nimmt, der zweite Teil auf die Jahre 1912 bis 1915 rekurriert. Damit wird die totalisierende Tendenz des auf Geschlossenheit zielenden Gesamtwerkes in dessen beiden Teilen jeweils reflektiert, in gewisser Weise verdoppelt, doch in der Doppelung, die tatsächlich zugleich eine Veränderung ist, wiederum auf3
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Damit werden die geschichtsphilosophischen Thesen von Hans Blumenberg (Die Legitimitiit der Neuzeit [zuerst Frankfurt a. M. 1966]) radikalisiert, zugleich das Foucaultsche Konzept des Bruchs als ein seit der Frühen Neuzeit sich manifestierender iterativer Prozeß reklamiert. Vgl. dazu auch die Beiträge in Das Neue - Eine Denkfigur der Moderne, hg. von Maria Moog-Grünewald, Heidelberg 2002. So rur die Ideologie der Moderne gültig Blochs ,Utopie des fundamental Neuen' in Geist der Utopie (1918 und 1923) sowie in Das Prinzip Hq.tfnung (geschrieben 1938 bis 1947).
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gebrochen. Mit dieser den Text strukturierenden Bewegung der Geschlossenheit, Übergängigkeit und Veränderung gelingt es, über den in Rede gebrachten begrenzten Zeitraum der Kindheit des autobiographischen Ich hinaus auf die nachfolgenden, wiederum je in sich geschlossenen Lebenszeiträume resp. -abschnitte zu verweisen, ja diese in jenem (mit) zu konfigurieren: Die Folge dieses paradigmatischen Verfahrens aber ist immer erneute Ablösung des einen Abschnitts durch den anderen, ist Erneuerung in der Wiederholung, die zugleich Überschreitung des Vorgängigen ist. Conversio ist der Begriff, den das autobiographische Ich an einer prominenten Stelle verwendet, um jene für Les Mots spezifische Prozessualität der Ich-Konstitution zu bezeichnen. Die Passage in ihrer vollen Länge zu zitieren und zu analysieren, verlohnt nicht zuletzt auch mit Blick auf nachfolgend zu untersuchende Textes: Ne d'une attente future je bondissais, lumineux, total et ehaque instant repetait la eeremonie de ma naissanee: je voulais voir dans les afTeetions de mon ereur un erepitement d'etineelles. Pourquoi done le passe m'eut-il enriehi? 11 ne m'avait pas fait, e'etait moi, au eontraire, ressuseitant de mes eendres qui arraehais du neant ma memoire par une ereation toujours reeommencee. Je renaissais meilleur et j'utilisais mieux les inertes reserves de mon ame par la simple raison que la mort, a ehaque fois, plus proehe, m'eclairait plus vivement de son obseure lumiere. On me disait souvent: le passe nous pousse mais j' etais eonvaineu que l' avenir me tirait; j' aurais deteste sentir en mai des forees douees a l'ouvrage, l'epanouissement lent de mes dispositions. J'avais fourre le progre!s eontinu des bourgeois dans mon ame etj'en faisais un moteur a explosion; j'abaissai le passe devant le present et eelui-ci devant l'avenir, je transformai un evolutionnisme tranquille en un eatastrophisme revolutiannaire et discontinu. On m'a fait remarquer, il y a quelques annees, que les personnages de mes pieces et de mes romans prennent leurs decisions brusquement et par erise, qu'il suffit d'un instant, par exemple, pour que l'Oreste des Mouches aeeomplisse sa Conversion 6. Parbleu: e'est que je les fais amon image; non point tels que je suis, sans doute, mais tels que j' ai voulu etre.
Die Passage nimmt Bezug auf einen Lebensabschnitt des autobiographischen Ich, der aus der erzählten Zeit der Kindheit herausfallt, diese aber - wie noch zu zeigen ist - in Wiederaufnahme transfiguriert: Es sind die unmittelbar anschließenden Jahrzehnte, die hier in Rede stehen7 , eine erste Epoche literarischer Proliferation. Das autobiographische Ich nimmt fur sich in Anspruch, im Spiegel der von ihm geschaffenen Bühnen- und Romanfiguren eine Conversio vollzogen zu haben, richtiger: iterativ Conversiones zu vollziehen - "brusquement et par crise", wenn nicht in der Wirklichkeit, so doch 5 6
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Jean-Paul Sartre: Les Mols, Paris: Gallimard 1964, 197f Hervorhebung von MMG. Ob in der Tat die Seiten 211 bis 214 (nach der Ausgabe Gallimard folio) nur die Jahre 1916 bis 1939 in der Erinnerung aufrufen, wie Lejeune [Anm. 2], 211 behauptet, ist fraglich. Widerlegt werden diese Versuche einer klaren zeitlichen Einteilung durch die reiterierende Struktur und Semantik des Gesamttextes selbst. Aber auch die oben zitierte Passage widerspricht dieser zeitlichen Einschränkung: Die Figuration der Conversio wird hier den 1943 erschienenen Les Mouches zugeordnet, implizit ist auch auf spätere Bühnenstücke wie auf die früheren erzählenden Werke Le Mur und La Nausee verwiesen.
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imaginär. Aufmerksamkeit verdient die Begrifflichkeit resp. die Metaphorik, mit der der Akt der Conversio umschrieben ist: es ist die Plötzlichkeit des Umschwungs, ja der katastrophische Umsturz, abrupt, diskontinuierlich, revolutionär, explosiv - mithin das Andere eines ruhigen, kontinuierlichen Fortschreitens, eines allmählichen Sich-Entfaltens. Dem entspricht die ausschließliche Orientierung auf die Zukunft, vor deren Recht weder Vergangenheit noch Gegenwart Bestand hat. Die Ermöglichungsstruktur der zukunftsorientierten Conversio aber ist die inszenierte Autogenese des Ich. Gegründet ist der Ursprung, die Geburt, genauer: das Geborensein paradoxerweise in der Zukunftserwartung: "Ne d'une attente future je bondissais, lumineux, total et chaque instant repetait la ceremonie de ma naissance." Die unhintergehbare Folge dieser ,Geburt aus der Zukunft' ist aber fortgesetzte Wiederholung: Aus dem Nichts geboren wie ,Phönix aus der Asche' ist der Akt der Selbstschöpfung auf Resurrectio, auf die Iteration des (Neu)Anfangs angelegt8 . ,Ressusciter', ,recommencer', ,renaitre' sind denn auch die Begriffe, die den Modus der Creatio bezeichnen und die deutlich machen, daß Creatio in einem unaufhebbaren Wechselverhältnis zu Conversio steht. Das Verhältnis als ein dialektisches 9 zu kennzeichnen, verbietet sich angesichts seiner Spezifik: denn es handelt sich nicht um ein einfaches ,Umschlagen' von ,These' in ,Antithese', allgemeiner um ein oppositives Verhältnis, vielmehr um ein ,Hervorgehen' des einen unter der Voraussetzung des ,Vergehens' des anderen. Um in der Bildlichkeit der oben zitierten Passage zu bleiben: die ,Asche' ist Voraussetzung des ,Wiedererstehens', das ,Nichts' Voraussetzung des ,Erinnerns': "c'etait moi, au contraire, ressuscitant de mes cendres qui arrachais du neant ma memoire par une creation toujours recommencee." Auch anders: Das Ende ist Bedingung des Anfangs, der Tod Bedingung des Lebens. Semantisch-strukturell findet diese Figuration splendiden Ausdruck im doppelten Oxymoron des Satzes: ,,[ ... ] la mort, a chaque fois, plus proche, m'ec1airait plus vivement de son obscure lurniere." Das spezifische, hier metaphorisch inszenierte oxymorale Verhältnis von Ende und Anfang, vom Anfang
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Diese die radikale Moderne kennzeichnende - nicht nur - ästhetische Konfiguration hat insbesondere Th.W. Adorno in seiner Asthetische[n] Theorie, Frankfurt a. M. 1973 u.ö., 404 treffend charakterisiert: "Die Kategorie des Neuen fällt als abstrakte Negation der des Beständigen mit dieser zusammen: ihre Invarianz ist ihre Schwäche." Lejeune [Anm. 2], 197ff. konstatiert als formales Merkmal par excellence von Les Mots die "dialektische Struktur". Die Insistenz auf der Dialektik im Hegeischen Verständnis erstaunt, insofern Sartre im ersten Teil von L'Etre et le Neant - Essai d'ontologie phenomenologique, Paris 1943, in "Le probleme du Neant", die "conception dialectique du Neant" von der "conception phenomenologique du Neant" unterscheidet und letztere bekanntlich für seinen phänomenologischen Entwurf in Anspruch nimmt. Grundlegend auch Jean-Paul Sartre: Critique de la raison dialectique (prieMe de Question de methode), I: Theorie des ensembles pratiques, Paris 1961.
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im Ende ist daher weniger ein ,dialektisches' als ein ,apokalyptisches': ein Neues, Anderes entsteht und tritt an die Stelle dessen, was nicht (mehr) ist lO . Conversio, auch im Verständnis von Creatio, wird - dies macht die zitierte Passage evident - Z:l einem Topos der Selbstschöpfung, näherhin zu einem ,Ort' autobiographischer Selbstkonstitution. Der ,apokalyptisch' inszenierte Topos der Conversio-Creatio wird aber zugleich zu einem ,Ort', in dem das autobiographische Schreiben gründet und den es begründet. Das zeigt in geradezu ausgreifender Exemplarizität die in Rede stehende Passage, der die Funktion einer mise en abyme zukommt: sie spiegelt in nuce Struktur und Intention des Gesamttextes von Les Mots, die ihrerseits wiederum ein autobiographisch 11 konzipiertes Exemplum der phänomenologischen Ontologie sind, wie sie als komplexe Reflexion in L )Etre et le Neant dargelegt und in reduktionistischer Vereinfachung in L)Existentialisme est un Humanisme formuliert ist12 . Das autobiographische Ich ist entworfen, ja imaginiert 13 nach dem Philosophem des ,etre-pour-soi': Das ,Für-sieh-sein', der reflektiert voluntative Selbstentwurf, setzt sich an die Stelle des nurmehr kontingenten ,DaSeins' resp. ,An-sieh-Seins', des ,etre-en-soi'. Eine Dialektik zwischen beiden Seinsmodi, verstanden als oppositive Verwiesenheit, hat nicht statt, vielmehr ist ihr Verhältnis durch eine doppelte Nichtung bestimmt14 : "Le pour-soi correspond [... ] a une destruction decomprimante de l'en-soi et l'en-soi se neantit et s'absorbe dans sa tentative pour se fonder. "15 Es ist nun das seiner kontingenten Gründung implizite Spezifikum des ,Für-sieh-seins', daß es in keinem Moment abgeschlossen ist, vielmehr auf fortgesetzte Erneuerung drängt 16 , mithin jene ,renaissance' und ,resurrection' erzwingt, die die Conversio als Creatio kennzeichnet und Conversiones in Reihe generiert. Das soll knapp erläutert werden.
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Zur ,apokalyptischen Figuration' als einer Struktur der Kunst der Moderne vgl. Vfin: Poetik der Decadence - eine Poetik der Moderne, in: Fin de siede, hg. von Rainer Warning und Wilfried Wehle, München 2002 (= Romanistisches Kolloquium), 165-194. In analoger Weise sind bekanntlich die Biographien Ba udela ire, Paris 1947, L'Idiot de la familie. Gustave Flaubert de 1821 a 1857, Paris 1971, Saint Genet, comedien et martyr, Paris 1952, konzipiert. Christoph Miethings groß angelegte Studie zu Les Mots (Saint-Sartre oder der autobiographische Gott, Heidelberg 1983), ist der eindrucksvolle Versuch, die autobiographische Schrift als Ausdruck und Formulierung der Sartreschen Philosophie zu lesen. Vgl. in der oben zitierten Passage die Wendung: ,,[ ... ] je les fais amon image; non point tels que je suis, [... ] mais tels que j'ai voulu etre." L'Etre et le Neal1( [Anm. 9],122. Um eine weitere Passage von mehreren möglichen zu zitieren, ebd., 120: ,,[ ... ] cet en-soi englouti et neantise dans l'evenement absolu qu'est l'apparition du fondement ou surgissement du pour-soi [ ... ].". Ebd., 121: ,,[ ... ] le pour-soi est soutenu par une perpetuelle contingence, qu'il reprend a son compte et s'assimile sans jamais pouvoir la supprimer. Cette contingence perpetuellement evanescente de l'en-soi qui hante le pour-soi et le rattache a l'etre-en-soi sans jamais se laisser saisir, c' est ce que nous nommerons la facticite du pour-soi."
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Gewiß nicht ohne Ironie und doch in genauer Applikation der in L'Etre et le Neant formulierten Philosopheme der ,Situation' und der ,Freiheit'17 stilisiert sich das autobiographische Ich als frei von Anbeginn 18 : "La mort de JeanBaptiste fut la grande affaire de ma vie; elle rendit ma mere a ses chaines et me donna la liberte. 'd9 Die individuell-persönliche Freiheit, mithin auch die geistige - Existenz im Sartreschen Sinne wird durch den Tod dessen gewonnen, der fur das - nur physische - Dasein20 einsteht. Auch anders: Der Tod des ,Erzeugers' ist Voraussetzung nicht nur rur die Freiheit des Ich, vielmehr bereitet er erst die ,Situation', aus der heraus das Ich sich selbst schaffen, sich ,entwerfen' resp. sich ,wählen' kann. Die biographisch motivierte Aussage ist daher vor allem die Metapher eines weiteren Basistheorems der Sartreschen Philosophie 21 : "La liberte, c'est precisement le neant qui est ete au creur de l'homme et qui contraint la realite-humaine a se faire, au lieu d'etre." Die ,apokalyptische' Denkfigur eignet beiden Formulierungen, und man geht nicht zu weit, wenn man feststellt, daß im ganzen der Reflexions- und Argumentationsmodus sowohl der phänomenologischen Ontologie L'Etre et le Neant wie - in Anlehnung - der autobiographischen Schrift Les Mots ,apokalyptisch' figuriert ist. Die bedeutende Differenz freilich besteht darin, daß die große Metaerzählung, die ja der autobiographische Text in bezug auf die philosophische Schrift darstellt, die Kontingenz des "se faire", mithin die Unhintergehbarkeit seiner Wiederholung, in ihrer paradigmatischen Struktur selbst poietisch zur Anschauung bringt. Zum Exempel: Der erste Teil von Les Mots, "Lire", endet mit einem Passus, der eine Variation der oben zitierten Passage zu Ende des zweiten Teils ist, der zugleich eine Variation des phänomenologisch-ontologischen Grundtheorems von "Sein und Nichts" darstellt und in der variierten Wiederaufnahme das Konzept der Wiederholung reflektiert22 : [... ] Fils de personne, je fus ma propre eause, eomble d'orgueil et eomble de misere; j'avais ete mis au monde par l'elan qui me portait vers le bien. L'enehainement parait clair: feminise par la tendresse matemelle, affadi par l'absenee du rude MOlse qui m'avait engendre, infatue par l'adoration de mon grand-pere, j'etais pur objet, voue par exeellenee au masoehisme si seulement j'avais pu eroire a la eomedie familiale. 17 18 19
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Vgl. insbesondere das erste Kapitel des vierten Teils: "ihre et faire: la liberte", ebd., 487-615. Les Mots [Anm. 5], 11. Es ist in der Sartre-Forschung üblich - durchaus zurecht -, in dieser wie in der oben nachfolgend zitierten Aussage eine ironische Distanzierung von der Psychoanalyse Freudscher Observanz zu sehen. Dessen ungeachtet wird diese auch durch die Biographie realiter gebotene Möglichkeit dazu genutzt, das Ich von Anbeginn frei, bindungslos, gar ohne Erzeuger zu inszenieren (ebd., 11): "Par chance, il [sc. le geniteur] est mort en bas age; au milieu des Enees qui portent sur le dos leurs Anchises, je passe d'une rive al'autre, seul et detestant ces geniteurs invisibles acheval pour toute la vie; [... ]" Die ,apokalyptische' Relation von ,pour-soi' und ,en-soi' wird hier erneut figuriert. Ebd., 495. (Kursivierung im Original) Les Mots [Anm. 5], 91f.
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Mais non; elle ne m'agitait qu'en surface et le fond restait froid, injustifie; le systeme m'horrifia, je pris en haine les pamoisons heureuses, l'abandon, ce corps trap caresse, trop bouchonne,je me trouvai en m'opposant,je mejetai dans l'orgueil et le sadisme, autrement dit dans la generasite. Celle-ci, comme l'avarice ou le racisme, n'est qu'un baume secrete pour guerir nos plaies interieures et qui finit par nous empoisonner: pour echapper au delaissement de la creature, je me preparais la plus irremediable solitude bourgeoise: celle du createur.
Die ,apokalyptisch' figurierte Conversio erfährt hier eine weniger auffällige, doch um so raffiniertere Inszenierung: die der Wendung von "creature" in "createur", vom ,en-soi' eines· "pur objet" in das handelnde Subjekt des ,pour-soi', von der Passivität in die Aktivität. Auf der temporalen Ebene findet die Wendung ihren Ausdruck im abrupten Wechsel von Imparfait bzw. Plus-que-parfait in Passe simple - ausgelöst von der zwischen Passivität und Aktivität schwankenden Erfahrung des Erschreckens bzw. des Grauens: "le systeme m'horrifia, je pris en haine [... ], je me trouvai en m'opposant, je me jetai [... ]." Die Wendung ist mithin Folge einer plötzlichen 23 extremen Gefuhlsregung, eines außergewöhnlichen Erschreckt- und Abgestoßenseins. Im Rahmen dieser umfassenden Conversio haben nun mehrere Conversiones statt. Bemerkenswerterweise ist nämlich der Ausgangspunkt eine Situation, die keiner Conversio bedürfte: die ,Situation' der ,Freiheit' resp. des ,Freiseins': "Fils de personne, je fus ma propre cause [... ]." Die Aussage steht in genauer Korrespondenz zum letzten Satz der oben zitierten Passage, in den wie wir feststellten - die Conversio mündet: ,,[ ... ] je me preparais la plus irremediable solitude bourgeoise: celle du createur." Allerdings ist zu sehen, daß die eingangs benannte ,Freiheit' der ,Selbstschöpfung' aufgrund der geschilderten Umstände (,,[ ... ] feminise [... ], affadi [... ], infatue [... ]") wiederum umschlägt in die ,Situation' reinen ,masochistischen' Objektseins, eine Situation, die ihrerseits eine radikale Änderung, auch ,Nichtung' durch den ,Sadismus'24 provoziert, somit die Handlungsautonomie des ,Selbstschöpfers' wiedergewinnt. Die Iteration der Conversiones ist begründet in der Kontingenz der einzelnen Conversio, in Sartrescher Begrifflichkeit: in der Kontingenz der Gründung des ,pour-soi'. Der Befreiungsschlag, den das Ich fuhrt, ist denn auch nicht eine "veritable Revolte", eine "Rebellion" , insofern genau das, wogegen revoltiert wird, als Mittel der Revolte eingesetzt
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"le systeme m'horrifia" steht - wie die unmittelbar folgenden - im Passe simple, während alle vorausgegangenen Verben im Imparfait stehen. Über die Semantik des Wortes "m'horrifia", hinaus erhält das gewählte Tempus semantisierende Funktion. Vgl. dazu die Studie von Andrejs Petrowski: Weltverschlinger, Manipulatoren und Schwärmer Problematische Individualität in der Literatur des späten 18. Jahrhunderts, Heidelberg 2002, die eindrucksvoll- unter anderem am Beispiel de Sades - die ,aufklärerischen' erkenntnistheoretischphilosophischen Voraussetzungen einer Subjektkonstitution mittels Machtausübung und (sexueller) Gewalt aufzeigt.
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wird. Mit den Worten aus Les Mots 25 : "On ne confondra pas ce coup de barre avec une veritable revolte: on se rebelle contre un bourreau et je n'avais que des bienfaiteurs. Je restai longtemps leur complice. Du reste, c'etaient eux qui m'avaient baptise don de la Providence: je ne fis qu'employer a d'autres fins les instruments dont je disposais. " Die philosophische Erläuterung ist in L'Etre et le Neant gegeben26 : "Reste que cet en-soi englouti et neantise dans l'evenement absolu qu'est l'apparition du fondement ou surgissement du pour-soi demeure au sein du pour-soi comme sa contingence originelle. [ ... ] L' evenement absolu ou pour-soi est contingent dans son etre meme. " Gibt es eine Möglichkeit, die Kontingenz aufzuheben, sie zumindest zu bannen? Die Antwort: Les Mots, näherhin "Lire" und "Ecrire". Der kleine Poulou macht sich und den anderen etwas vor, indem er sich als Dichter geriert, doch nur Kopist ist: die ersten Romane sind Abschriften von Romanen. Gleichwohl ist dies der Anfang27 : ,Je suis ne de 1'ecriture. [... ] Ecrivant, j'existais [... ] je n'existais que pour ecrire et si je disais: moi, cela signifiait: moi qui ecris." Und so besteht auch kein Unterschied zwischen dem jungen Hochstapler und dem älteren, Originalität beanspruchenden und ruhmessüchtigen Schriftsteller: denn das "verrückte Unterfangen des Schreibens"28 hat seine eigene Realität: die Realität der Wörter. Im Rückblick scheint das autobiographische Ich skeptisch gegenüber der Auffassung, daß Welt und Sprache eine Einheit sind, genauer: daß das eine fur das andere steht29 , mehr noch: daß Sprache Welt ,schreiben' kann, neue Welten eingravieren in die unendlichen ,Tafeln des Wortes' - im Sinne von ,Verbum' resp. ,Logos'3o. Es scheint belustigt bei dem Gedanken, daß es als ,Körperhaftes' den physischen Tod zu sterben gedachte, um in der ,Schrift' quasi spirituell wiederaufzuerstehen31 : "Je renais, je deviens enfin tout L1:n hornrne, pensant, parlant, chantant, tonitruant, qui s'affirme avec 1'inertie peremptoire de la matiere. [... ] On me lit, je saute aux yeux; on me parle, je suis dans toutes les bouches [ ... ] je suis, enfin! je suis partout: parasite de 1'humanite, mes bienfaits la rongent et l' obligent sans cesse a ressusciter mon absence." Und es erklärt gegen Ende der autobiographischen Schrift mit Blick auf die frühen
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Les Mots[Anm. 5], 92. L'Etre et le NtEant [Anm. 9], 120. Les Mots [Anm. 5], 127. Ebd., 160: ,,[ ... ] l'entreprise folle d'ecrire pour me faire pardonner mon existence, je vois bien qu'elle avait, en depit des vantardises et des mensonges, quelque [(~alite: la preuve en est quej'ecris encore, cinquante ans apres." Ebd., 151: ,,[ ... ] pour avoir decouvert le monde a travers le langage, je pris longtemps le langage pour le monde." Ebd.: "Exister, c'etait posseder une appellation controlee, quelque part sur les Tables infinies du Verbe; ecrire c'etait y graver des etres neufs ou - ce fut ma plus tenace illusion - prendre les choses, vivantes, au piege des phrases [ ... ]." Ebd., 161(
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Jahre32 : "Voila mon commencement", und mit Blick auf die jüngere Vergangenheit: "J'ai change." Die Änderung aber ist tatsächlich nur mehr eine variierte Wiederholung33 : ,J'ai desinvesti mais je n'ai pas defroque: j'ecris toujours. Que faire d'autre?" Ob bluffender Kopist oder inspirierter, ingeniöser Schriftsteller: Lesen und Schreiben, die Schrift bleibt das Medium, den Hoffnungen, Ernüchterungen, den immer neuen ,Projekten' Ausdruck zu geben: als Schöpfung des Menschen par excellence ist sie sein Werk und sein Spiegel zugleich34 : ,,[ .•. ] il s'y projette, s'y reconnait; seul, ce miroir critique lui' offre son image." Noch im Bild einer ,kritischen' Selbst(be)spiegelung wird jene das Werk strukturierende mise en abyme vielzähliger Conversiones aufgerufen, näherhin das Thema der Ablösung und Auslöschung des einen ,Projekts' durch den Entwurf des nächsten sowie die dem Thema analoge Struktur der infiniten Gegenwendigkeit von Geschlossenheit und Offenheit. So ist es denn auch die Schrift, die autobiographische Schrift Les Mots, die noch im Scheitern das Gelingen manifest werden läßt - nicht, daß es gelungen wäre, die Kontingenz aufzuheben, vielmehr ist es gelungen, der Kontingenz eine adäquate Form zu geben: in der ,apokalyptischen' Figuration, die iterativ die Semantik und die Struktur des Textes prägt und die als Topos die freilich immer nur kontingente - Identität des autobiographischen Ich gewährleistet. Noch das Ende von Les Mots ist - wie der gesamte Text - von der Struktur der conversiven Iteration geprägt35 : in der vielfältig variierten Formel ,J' ai change' hat sie ihren geradezu emblematischen Ausdruck.
11. "Convertisti enim me ad te [... ]"36 - so die Formel des Ich der Augustinischen Confessiones 37 : sie faßt das berühmte Bekehrungserlebnis unter dem Feigen32 33 34 35
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Ebd., 207 und 210. Ebd., 211. Ebd. In seiner Analyse der letzten zehn Seiten von Les Mots erörtert Philippe Lejeune (Le point final de I'autobiographie: l'epilogue des "Mots", in: Geneses desfins - De Balzac cl Beckett, de Michelet cl Fonge, textes reunis par Claude Duchet et Isabelle Tournier, Saint-Denis: PUV 1996, 29-43) das grundsätzliche Problem des Endes einer Autobiographie und konstatiert zwei Enden: eine "conclusion saint Augustin" und eine "conclusion Rousseau". Die These besteht darin, daß mit der Vervielf
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baum im Mailänder Garten zusammen. Die Differenz zur Sartreschen Formel ist eklatant: Dort der autonome Gestus der Selbstbestimmung, der voluntative Akt der Selbstschöpfung, hier die Anerkenntnis eines Schöpfergottes, der das Ich leitet, ja mehr noch: dem das Ich ausgesetzt ist. Die entscheidende Conversio-Szene 38 hat folgenden Wortlaut39 : [ ... ] flebam amanSSlma contntlOne cordis mei. Et ecce audio vocem de Vlcma [divina?] domo cum cantu dicentis et crebro repetentis quasi pueri an puellae, nescio: "Tolle, lege; tolle, lege." Statimque mutato vultu intentissimus cogitare coepi, utrumnam solerent pueri in aliquo genere ludendi cantitare tale aliquid, nec occorrebat omnino audisse me uspiam repressoque impetu lacrimarum surrexi nihil aliud interpretans divinitus mihi iuberi, nisi ut aperirem codicem et legerem quod primum caput invenissem.
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besorgten zweisprachigen Ausgabe der Co"!fessiones [Anm. 36], 989: " [die Bekenntnisse] sind [... ] in Einem Erzählung und Hymnus, Bericht und Spekulation, psychologische Forschung und mystischer Bundesschluß einer Seele mit ihrem Gott." Oder entschiedener noch Andre Mandouze: Se/nous/le conJesser? Question Cl Saint Augustin, in: Individualisme et autobiographie en Occident, sous la direction de Claudette Delhez-Sarlet et Maurizio Catani, Bruxelles 1983,73-83). Dazu ist knapp anzumerken - und mit vergleichendem Blick bspw. auf die Consolatio philosophiae des Boethius -, daß eine literarische Gattung, hier die Autobiographie, zwar konstitutive Merkmale hat bzw. haben muß, um sie als solche zu erkennen und zu ,verorten', daß aber auch die Autobiographie - wie jede literarische Gattung - historisch differente Realisationen kennt. Vor Beginn der Frühen Neuzeit ist aus Gründen, die diese Epoche (verstanden als longue duree) ja wesensmäßig unterscheidet von der Antike und der Spätantike, eine Thematisierung des eigenen Ich nur um der Darstellung des eigenen Ich willen nicht möglich. Die Confessiones sind denn auch bekanntlich - ganz der Semantik des Begriffs ,confessio' entsprechend - Sündenbekenntnis, Glaubensbekenntnis und Lobpreis Gottes zugleich. Die Inszenierung der Conversio-Szene allerdings nimmt - wie wir zeigen wollen - ein modernes Verständnis von Subjektivität voraus, ,präfiguriert' es. Auch hier ist noch eine Anmerkung vorab zu machen: Die gleichfalls häufig und kontrovers in der Augustinus-Forschung diskutierte Frage, ob sich die Conversio-Szene im Mailänder Garten des Jahres 386/87 tatsächlich wie in den Confessiones geschildert zugetragen habe (den Anstoß zu dieser Kontroverse gab bereits der evangelische Dogmenhistoriker Adolf von Harnack zu Ende des 19. Jahrhunderts, wieder aufgenommen von Courcelle: Recherches [Anm. 46]), mag für Augustinus' ,biographie intellectuelle' resp. ,theologique' von Belang sein. Doch die Theologie wird von der Philologie resp. der im engeren Sinne literarischen Textwissenschaft nicht nur zur Kenntnis nehmen müssen, daß es sich ganz offenkundig um eine Stilisierung post festum handelt, daß vielmehr diese Stilisierung - wie wir zeigen wollen - die Funktion hat, die Gnadentheologie zu authentifizieren. Von Interesse für unseren Zusammenhang ist die Bemerkung von Joseph Ratzinger (Originalität und Überliifenmg in Augustins Begriff der ,conJessio', in: Revue des Etudes Augustiniimnes 3 (1957), 375-392, Augustinus habe den traditionellen kirchlichen BekenntnisBegriff dadurch vertieft, daß er ihn "in das Gefüge der Gnadenlehre einbaute" (391). Dazu auch, wenngleich wenig pointiert und alles Bekannte wieder aufuehmend, Cornelius Petrus Mayer: Augustins Bekehnmg im Lichte seiner "Bekenntnisse"; Ein Exempel der kirchlichen Gnadenlehre, in: Augustinian Studies 17 (1986), 31-45. Ebd., VIll,12,29. Dt. Übers.: ,,[ ... ] ich [... ] weinte in der bittersten Zerknirschung meines Herzens. Da auf einmal höre ich aus dem Nachbarhaus die Stimme eines Knaben oder Mädchens im Singsang wiederholen: ,Nimm' es, lies es, nimm es, lies es!" Augenblicklich machte ich andere Miene, gespannt besann ich mich, ob unter Kindern bei irgendeinem Spiel so ein Leierliedchen üblich wäre, aber ich entsann mich nicht, das irgendwo gehört zu haben. Ich hemmte die Gewalt der Tränen und stand vom Boden auf: ich wußte keine andere Deutung, als daß mir Gott befehle, das Buch zu öffuen und die Stelle zu lesen, auf die zuerst ich träfe."
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Das Ich der Augustinischen Confessiones ist in Tränen aufgelöst, das Herz ist zerknirscht - doch plötzlich tritt ein Ereignis ein, das augenblicklich die vollkommene Veränderung des Ich bewirkt: "statimque mutato vultu" - eine Veränderung, die den ganzen Menschen, sein Denken, sein Handeln, sein Leben umfaßt. Die Besonderheit der Veränderung aber liegt darin, daß sie geschieht: sie wird erlitten, nicht aktiv herbeigeführt. Es ist nun gerade die Insistenz auf der Passivität, die die Augustinische Conversio kennzeichnet. Der Conversio-Szene voraus geht die vielfach wiederholte Beteuerung, daß die Bemühung, die Anstrengung, der Wille, die Lebensform zu ändern, mithin Gott zu erfahren, bislang ohne Erfolg geblieben ist; im ganzen wird eine komplex perspektivierte Reflexion über das Vermögen resp. Unvermögen des Willens entfalteeo: Si vulsi capillum, si percussi frontern, si consertis digitis amplexatus sum genu, quia volui, feci. Potui autem vene et non facere, si mobilitas membrorum non obsequeretur. Tarn multa ergo feci, ubi non hoc erat vene quod posse: et non faciebam, quod et inconparabili affectu arnplius mihi placebat et mox, ut vellem, possem, quia mox, ut vellem, utique vellem. Ibi enim facultas ea, quae voluntas, et ipsum vene iam facere erat; et tarnen non fiebat, faciliusque obtemperabat corpus tenuissimae voluntati animae, ut ad nutum membra moverentur, quam ipsa sibi anima ad voluntatem suam magnam in sola voluntate perficiendam.
Die Behauptung, daß der Wille letztlich nichts vermöge, ist - über die inszenierte lebensweltliche Erfahrung hinaus - zum einen zu verstehen als Kritik am ethischen Intellektualismus der Stoa, näherhin an der durch Pelagian vertretenen, stoisch beeinflußten Vorstellung, daß der menschliche Wille grundsätzlich frei und fähig sei, das Gute zu tun. Zum anderen aber und komplementär - ist sie Voraussetzung der neuen augustinischen Gnadentheorie. Nach dieser Gnadentheorie vermag der menschliche Wille von sich aus nichts - in Aufnahme und leichter Abwandlung des zuletzt zitierten Satzes: ,ipsa sibi anima ad voluntatem suam magnam in sola voluntate non perficit'. Der Wille - so Augustinus - muß bewegt werden, und dies ist nur möglich, wenn ihm etwas ,geschieht'. Daß dem Menschen aber etwas ,geschieht', liegt nicht in seiner Macht; mithin liegt der Ursprung seines Wollens außerhalb seiner. So heißt es an anderer Stelle in den Confessiones 41 :
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Ebd., Vm,8,20. "Wenn ich mir das Haar raufte, wenn ich an die Stirne schlug, wenn ich mit ringenden Händen das Knie umspannte, so tat ich's, weil ich wollte. Ich hätte es wollen, aber nicht tun können, wäre mir die Beweglichkeit der Glieder versagt gewesen. So tat ich vieles, wo Wollen nicht dasselbe war wie Können: das aber tat ich nicht, was mir unvergleichlich mehr am Herzen lag, und was ich, so bald als ich nur wollte, auch gekonnt hätte, weil ich es so bald, als ich es wollte, - eben gewollt hätte; denn hier war eins der Wille und die Macht, das Wollen selbst schon Tun. Und doch geschah es nicht. Leichter gehorchte der Körper dem leisesten Willen der Seele und bewegte auf ihren Wink die Glieder, als die Seele sich selbst gehorchte, um ihren großen Willen auch nur im Willen durchzusetzen. " Ebd., X,29,40.
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"Da quod iubes et iube quod vis." Und das bedeutet: Wem die Gnade zufällt, der gewinnt den freien Willen; der unbegnadete Wille vermag nichts. Damit wirken freier Wille und Gnade zusammen. Auch anders: Die Möglichkeit menschlicher Selbstbestimmung ist an das Faktum göttlicher. Gnadenwahl gebunden. Mit Blick auf die stoische Tradition bedeutet dies: An die Stelle der Vernunftautonomie des Weisen tritt der begnadende Gott. Und mit Blick auf die plotinisch gefaßte Vernunft-Metaphysik besagt dies: Der Wille ist nicht mehr Selbstbezug, nicht mehr Bewegung des Geistes, der sich der wahren Realität, der Ideenwelt, zubewegt, die er im Grunde schon ist; vielmehr wird der Wille von außen, von Gott bewegt. Die Mailänder Conversio-Szene aber inszeniert in treffender Anschaulichkeit den Akt der Gnade: so plötzlich wie unabweisbar ist der einzelne ihm ausgesetzt. Strukturelles Modell ist ganz offensichtlich die Bekehrung des Saulus auf dem Wege nach Damaskus, wie sie in der Apostelgeschichte tradiert ist42 : 3Et eum iter faeeret eontigit ut appropinquaret Damaseo et subito eireumfulsit eum lux de eaelo 4et eadens in terram audivit voeem dieentem sibi: Saule, Saule quid me persequeris. Squi dixit: quis es Domine. et ille: ego sum Iesus quem tu persequeris. 6 sed surge et ingredere eivitatem et dieetur tibi quid te oporteat faeere. 7viri autern illi qui eomitabantur eum eo stabant stupefaeti audientes quidern voeern neminern autem videutes. 8surrexit autem Saulus de terra apertisque oeulis nihil videbat [ ... ] g et erat tribus diebus non videns et non rnandueavit neque bibit [... ].
Das Faszinosum, das diese Stelle auf den Augustinus der Confessiones ausgeübt hat, sie zum Modell seiner Conversio hat werden lassen, ist in der Tat zu erklären durch die Spektakularität des Ereignisses: eine göttliche Gewalt bricht ein in das menschliche Leben: "Paulum [... ] non sola voce conpescuit, verum etiam potestate prostravit" - schreibt Augustinus um 395. Insgesamt aber ist das spektakulär inszenierte Ereignis nur mehr bildhafter Ausdruck einer eschatologischen Auffassung von Geschichte, wie sie der Apokalyptik jüdisch-christlicher Tradition zugrunde liegt. Beide Szenen weisen konstitutive Merkmale der Apokalyptik auf: Dazu zählt zunächst der Ruf von außen, die göttliche Stimme, die sich plötzlich in der Welt vernehmbar macht 42
Biblia sacra vulgata, 2. verb. Aufl., Stuttgart 1975,1712: Actus Apostolomm 9,3-8. Dt. Übers. nach: Die Bibel - Altes und Neues Testament (Einheitsübersetzung), Freiburg im Breisgau 1980, 1237: Apostelgeschichte 9,3-8: "Unterwegs aber, als er sich bereits Damaskus näherte, geschah es, daß ihn plötzlich ein Licht vom Himmel umstrahlte. Er stürzte zu Boden und hörte, wie eine Stimme zu ihm sagte: Saul, Saul, warum verfolgst du mich? Er antwortete: Wer bist du, Herr? Dieser sagte: Ich bin Jesus, den du verfolgst. Steh auf und geh in die Stadt; dort wird dir gesagt werden, was du tun sollst. Seine Begleiter standen sprachlos da; sie hörten zwar die Stimme, sahen aber niemand. Saulus erhob sich vom Boden. Als er aber die Augen öffnete, sah er nichts. [... ] Und er war drei Tage blind [.. .]." Pierre Courcelle: Source Chretienne et Allusions Pai'ennes de l'episode du " Tolle, Lege" (Saint Augustin, "Confessions" VIII, 12,29), in: Revue d'Histoire et de Philosophie Religieuses 32 (1952), 171-200, hier 176 zitiert - in berechtigter philologischer Genauigkeit - diese Stelle in leicht verändertem Wortlaut nach einer frühen afrikanischen Version.
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und die gehört wird; dazu zählt weiterhin, daß das Hören der Stimme augenblicklich eine Veränderung bewirkt - "statimque mutato vultu" - eine Veränderung, die - wie wir schon bemerkt haben - nicht Folge aktiven Handelns ist, vielmehr erlitten wird 43 : der apokalyptische Stil ist, wie Jacob Taubes 44 feststellt, passiv. 45 Somit läßt sich in erster Zusammenfassung sagen: Die Conversio-Szene im achten Buch der Confessiones ist rhetorisch stilisiert nach dem Modell eschatologisch-apoklayptischer Rede 46 : Gott selbst offenbart sich durch seinen Ruf, ruhrt das Ende der Zeit herauf und gewährt mit der Gnade und in der Gnade Erlösung und ewiges Heil. Es ist von Bedeutung, daß die augustinische Conversio-Szene nicht allein dem Vorbild paulinischer Bekehrung folgt, viel-
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Eben diese Elemente fehlen in der Schilderung, die Pontician von der Bekehrung des Antonius sowie seiner eigenen Bekehrung im VIII. Buch der ConJessiones (VIII, 6,15) gibt. Jacob Taubes: Abendländische Eschatologie - Mit einem Anhang, München 1991, 33 u.ö. Wilhelm Geerlings: Bekehnmg durch Belehrung - Zur 1600. Jahrfeier der Bekehrung Augustins, in: Theologische Quartalsschrifl 167 (1987), 195-208, erstellt u.a eine Art Typologie der Bekehrung, nennt näherhin vier "Wesensmerkmale" (196): (1) "Bekehrung ist ein Vorgang der plötzlichen Umkehr". (2) "Bekehrung läßt einen neuen Wert aufscheinen". (3) "Bekehrung meint: Änderung des Lebens". (4) "Bekehrung ist ein stark emotionaler Vorgang". Die von uns reklamierte ,apokalyptische' Konfiguration bleibt allerdings außer Betracht. Pierre Courcelle zeigt in seiner minutiösen, wenn auch in manchen Einzelheiten durch die nachfolgende Forschung kontestierten Studie (Recherches sur les IJ ConJessions (( de Saint Augustin Nouv. ed. augm. et ill., Paris 1968 [zuerst Paris 1950],188-202: "Le ,tolle, lege'; fiction litteraire et realite") in Form einer Synopse, daß die Schilderung derselben Conversio-Szene in De beata vita und in De utilitate credendi in Ton und Ausdruck erheblich variiert: ,,11 est curieux de noter comment il a successivement traduit de maniere tres differente, selon les epoques, cette crise decisive." (ebd., 188) Die von uns so benannten ,apokalyptischen' Elemente finden sich allein in der Schilderung der Cor~fessiones. Allerdings scheint uns die Differenz in der Darstellung weniger durch den jeweiligen Lebensabschnitt bedingt - wie Courcelle meint -, als eben durch die jeweilige literarische Gattung, hier: durch die dem autobiographischen Schreiben überantwortete Funktion einer philosophisch-theologischen Ich-Konstitution. Ein anderes noch ist in Anschlag zu bringen: Wiederum in einer Art mise en abyme wird in die Augustinische Schilderung der Conversio-Szene die Ponticianische Schilderung der Conversio von zwei kaiserlichen Hofbeamten in einem Garten in Trier ,eingeblendet' (Conf VIlI, 6,15): Auslöser ist die Lektüre der Vita Antonii. An die detaillierte Ponticianische Erzählung erinnert sich das autobiographische Ich noch im Verlauf der eigenen Conversio. Somit scheint sie ganz offensichtlich Vorbild zu sein - so auch die Auffassung Courcelles [s.o.], 200: "La scene dujardin de Milan paralt donc s'expliquer toute entiere [... ] par l'influence de la Vie d'Antoine." Der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, daß der Hofbeamte - "subito repletus amore sancto et sobrio pudore iratus" (ebd.) zum einen die Macht seines eigenen Willens hervorhebt (,,[ ... ] si voluero, ecce nunc fio" [ebd.]), zum andern - doch damit eng verbunden - allein infolge der Lektüre der Vita Antonii konvertiert. Hingegen muß das Ich der ConJessiones immer wieder erfahren, daß der Wille nichts vermag (vgl. auch in diesem Kapitel [VIII, 8,20] die einläßliche Erörterung der ,zwei Willen'); sodann hat die Lektüre von Mt. 19,21 ihre ,konvertierende' Wirkung erst nach der Anrufung durch ,Stimmen', die göttliche Stimme. Es ist das Vernehmen der Stimmen, das die Veränderung ("mutato vultu") hervorruft und den Vernehmenden instand setzt, der evangelischen Aufforderung ("vade, vende quae habes [ ... ] et veni sequere me.", ebd.) zu folgen. Mithin ist der Moment der Anrufung durch die Stimme auch der Moment der Gnade. So wird gerade in der Gegenüberstellung der bei den Szenen die scheinbar minimale, doch eminent basale Differenz deutlich, wird die spezifische ,apokalyptische' Figuration der Szene erst evident.
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mehr zugleich auf eine Passage aus dem 14. Kapitel der Johannes-Offenbarung anspielt. Es ist - soweit ich sehe - die einzige Anspielung auf die Johannes-Apokalypse in den Confessiones, was um so bemerkenswerter ist, als die übrigen, an Zahl geradezu exuberanten Zitate sämtlich wörtliche Übernahmen aus dem Neuen und dem Alten Testament, insbesondere der Genesis, sind. Die alludierte Stelle aus der Johannes-Apokalypse hat - verkürzt zitiertfolgenden Wortlaut47 : et vidi et ecce agnus stabat supra montem Sion et cum illo centum quadraginta quattuor milia habentes nomen eius [... ] et audivi vocem de caelo tamquam vocem aquarum multarum et tamquam vocem tonitrui magni et vocem quam audivi sicut citharoedorum citharizantium in citharis suis et cantabant quasi canticum novum [... ] et audivi vocem de caelo dicentem scribe beati mortui qui in Domino moriuntur [... ]
Nicht allein der Ruf des "tolle, lege" kann als eine intendierte Variante der hier formulierten Aufforderung des "scribe" gelten; manifest wird die Bezugnahme in "sicut citharoedorum citharizantium", mithin im Begriff der Citharoeden, die - wie Pierre Courcelle in einer minutiösen philologischen Analyse erwiesen hat48 - identisch sind mit "pueri an puellae", den ,continentes', den ,Enthaltsamen', ,Weltabgewandten', ,Makellosen'. Stimmen wie die ihren vermeint das autobiographische Ich der Confessiones zu hören "audivi sicut"; tatsächlich ist es aber der Ruf der göttlichen Stimme: divinitus. Es ist nun rur unsere auf das autobiographische Schreiben fokussierten Reflexionen von Belang, daß Augustinus die Confessiones in den Jahren schreibt, in denen er die neue, ja revolutionäre Gnadenlehre theoretisch formuliert: in den Jahren 396 bis 398. Die Confessiones sind insgesamt zu lesen als die groß angelegte Demonstration der Wirkung göttlicher Gnade auf einen einzelnen Menschen. Sie beschreiben exemplarisch eine individuelle Lebensgeschichte, "deren eingestandene Zerrissenheiten so ungeheuer sind, daß sie einer Zusammenrugung durch menschliche Weisheit widerstehen"49: es bedarf der göttlichen Einwirkung, des Aktes der Gnade. Dieser Akt selbst wird in den Confessiones inszeniert als Conversio im eschatologischapokalytischen Modus, als plötzlicher Einbruch nicht allein in das individuelle 47
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Biblia sacra vulgata [Anm. 42], 1895(: Apocalypsis Iohannis 14,1-3; 13. Dt. Übers. nach: Die Bibel [Anm. 42], 1402(: Die Qtfenbanmg desJohannes 14,1-3; 13: "Und ich sah: Das Lamm stand auf dem Berg Zion, und bei ihm waren hundertvierundvierzigtausend: auf ihrer Stirn trugen sie seinen Namen und den Namen seines Vaters. Dann hörte ich eine Stimme vom Himmel her, die dem Rauschen von Wassermassen und dem Rollen eines gewaltigen Donners glich. Die Stimme, die ich hörte, war wie der Klang der Harfe, die ein Harfenspieler schlägt. Und sie sangen eine neues Lied vor dem Thron [... ] Und ich hörte eine Stimme vom Himmel her rufen: Schreibe! Selig die Toten, die im Herrn sterben, von jetzt an [... ]." Pierre Courcelle: Recherches [Anm. 46], 188-202: "Le ,tolle, lege'; fiction litteraire et realite"; ders.: Source Chretienne [Anm. 42]; ders.: Les JJ Voix" dans les Confessions de Saint Augustin, in: Hermes 80 (1952), 31-46. Kurt Flasch: Augustin -Einfiihrnng in sein Denken, Stuttgart 1980, 258(
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Leben, vielmehr auch in die Zeit, die zur Endzeit wird: "punctum ipsum temporis" nennt Augustinus diesen zeitlichen Moment, in dem man "dem Tod stirbt und dem Leben lebt" - "mori morti et vitae vive re "50. Es ist also dieser Zeit-Punkt göttlicher Gegenwart, zu dem das Ich aus dem Tod zum Leben übergeht51 • Das "punctum ipsum temporis", mithin der Zeitpunkt der Conversio, ist aber auch der Moment, in dem das Ich seine Identität nicht so sehr erfährt, als vielmehr - so die These - seine Identität stiftet. Und dies nicht etwa trotz des Theologoumenons der Gnade, vielmehr in Applikation der Struktur dieses Theologoumenons, die eine - im abstrahierten Sinne ,eschatologisch-apokalyptische' ist: begründungsfrei und voraussetzungslos erfähtt das Ich den Akt der Gnade, der seinerseits begründungsfrei und voraussetzungslos von eben diesem Ich als Konzept instituiert worden ist. 52 Zur Stützung der These ist es wesentlich zu sehen, daß Augustinus mit der Inszenierung der Conversio-Szene im VIII. Buch der Confessiones auch die Semantik des Begriffes ,Conversio' verändert: gegenüber dem traditionellen Gebrauch, aber auch gegenüber dem eigenen an anderen Stellen in den Confessiones und den übrigen Schriften. ,Conversio' so ist knapp 53 zusammenzufassen - meint ,Umkehr' im Sinne von ,Rückkehr'; es ist das-
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Conf VIII ,11 ,15. In der Augustinus-Forschung wird wiederholt, umfänglich und auch redundant darauf verwiesen , daß Augustinus mehrere ,Conversiones' vollzogen habe: von der ,Philosophie' (Lektüre von Ciceros Hortensius) über den Manichäismus und den Neuplatonismus zum Christentum selbst. (Dazu insbesondere die zahlreichen Studien von RobertJ. O'Connell, S.j., von denen hier nurals Summa - angeftihrt sei: Images oJ Conversio in St. AugustineJs C0'1fessions", New York 1996. Die Positionen faßt in knapper Übersicht mit entsprechenden bibliographischen Angaben zusammen: Madec: ,CONUERSIO' [Anm. 53], Sp. 1289-91.) Der These von Robbins [so Anm. 57], die wohl nur um der modernen Beispiele willen formuliert worden ist, ist entgegenzuhalten: die intellektuelle resp. geistige Biographie Augustins ist zwar keineswegs von einem radikalen Bruch gekennzeichnet, vielmehr prägen platonisch-neuplatonische Philosopheme und - e contrario manichäisches, pelagianisches, auch epikureisches Gedankengut die nach 386/87 verfaßten Schriften mit; gleichwohl ist die in Buch VIII der Conftssiones ,apokalyptisch' inszenierte Conversio ein Unikat, das zugleich zum Exempel der Gnadenwahl stilisiert ist, mithin zum augustinischen Theologoumenon par excellence. Die Funktion der Mailänder Bekehrungsszene ist und hierin kann sie ihrerseits als mise en abyme der CO'1fessiones insgesamt gelesen werden -, ein theologisches Schema in einem literarisch, ja ästhetisch stilisierten Biographismus persuasiv zur Vorstellung zu bringen. Vgl. hierzu, wenngleich weit weniger prononciert, Flasch, Augustin [Anm. 49], 47ff.; mit nicht überzeugenden Argumenten wendet sich dagegen: Wolf Steidle: Augustins CO'1fessiones als Buch (Gesamtkonzeption und Atifbau), in: Romanitas - Christianitas: Untersuchungen zur Geschichte und Literatur der römischen Kaiserzeit, Berlin und New York 1982, 436-527, hier: 470. Die These scheint angesichts der über die Jahrhunderte eminent kontrovers und äußerst komplex gefuhrten gnaden theologischen Diskussionen, die hier nicht in extenso expliziert werden können, kühn. Doch kann unsere textphilologische und diskurstheoretische Lektüre die primär hermeneutische Methode der theologischen Exegese ergänzen, ja in oben formuliertem Sinne korrigieren. Ich beziehe ich mich auf folgende Artikel: H. Jacobsohn: ,CONUERSIO', in: TLL 4 (1906-1909), }J
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späte - lateinische Äquivalent der beiden griechischen Wörter 'EJtlOTgO<j>i] und ~ETavOla, die ihrerseits nicht synonym sind, doch aufeinander verweisen: 'EJtWTgO<j>i] meint Änderung der Richtung und impliziert die Vorstellung der Rückkehr, sei es zum Ursprung, sei es zu sich selbst; ~ETavOla meint eine Änderung des Denkens, ein Neudenken und impliziert die Vorstellung der Mutation und der Wiedergeburt. Somit ist das lateinische Wort ,conversio' semantisch von der Polarität ,Rückbezug' und ,Bruch' geprägt. In den Schriften Augustins ist die Fülle des Verständnisses von ,conversio', die die hellenistische, näherhin stoische und neuplatonische Philosophie und die von diesen geprägte christliche Theologie in je differenter Akzentuierung herausgebildet hatte, entfaltet. Nur mehr in Kenntnis dieser Tradition wird ein Satz wie der folgende aus dem XIII. Buch der Conftssiones einsichtig54 : "Ja, auch wir, der Seele nach geistige Schöpfung, waren abgekehrt von Dir, unserm Licht, in solchem Dasein ,einst Finsternis'" ; und: ",Das Gut' rur ihn (sc. den Geist) ,aber ist Dir anzuhangen' allezeit, damit er das Licht, das er gewonnen durch Hinkehr, nicht durch Abkehr verliere [... ]" - ,,[ ... ] ne quod adeptus est conversione aversione lumen amittat [... ]." Die Kreatur - so wäre dieser Satz allgemein zu erläutern - "befindet sich zuerst in einem formlosen Zustand, der danach strebt, sie von der göttlichen Einheit zu entfernen; Form gewinnt sie, wenn sie sich wieder ihrer Quelle zuwendet, zu ihr sich zurückwendet; sie ist dann erleuchtet und vollendet"55. Diese allererst kosmologische Bedeutung geht über den Neuplatonismus auf Platon zurück (Timaios). Bei Platon bezeichnen Wörter der Wortfamilie OTgE<j>ELV die vollkommene Bewegung par excellence, die Kreisbewegung, die den Göttern, dem Himmel und der Welt gleichermaßen eigentümlich ist wie der Vernunft und dem Verstand, dem vou<; und der <j>g6vllaL<;, an denen jene teilhaben, von denen. sie regiert
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Sp. 853-856; ders.: ,CONUERTO', in: ib., Sp. 858-869; Henry Pinard de la Boullaye: ,CONVERSION', in: Dictionnaire de Spiritualite ascetique et mystique [... ], 11, Paris 1953, 2224-2265; Pierre Hadot: ,CONVERSIO', in: HWPh 1 (1971), Sp. 1033-1036; ders.: Conversion, in: Exercices spirituels et philosophie antique, Paris 1981 (= Etudes Augustiennes), 175-182; ders.: Epistrophe et metanoia dans l'histoire de la philosophie, in: Histoire de la philosophie - Methodologie, antiquite et Moyen Age, Amsterdam 1953 (= Actes du Xieme Congres international de philosophie, Bruxelles, 20.-26. aout 1953 -vol. XII); Goulven Madec: ,CONUERSIO', in: Augustinus-Lexikon 1 (1986-1994), Sp. 1282-1294. Conj, VIII, 2,3: "Nam et nos, qui secundum animam creatura spiritalis sumus, aversi a te, nostro lumine, in ea vita fuimus ,aliquando tenebrae' [ ... ]." Hadot: CONVERSIO' [Anm. 53], Sp. 1035. Zu diesem Problem siehe auch die ausführliche Studie von Marie-Anne Vannier: JJCreatio", JJConversio", JJFormatio" chez Augustin, Fribourg 1991. Die Conclusio ist - abgekürzt zitiert - folgende (178f.): "Lorsque de converti il (sc. Augustin) devient convertisseur, [... ] il orienta [... ] toute sa reflexion autour du scheme creatio, conversio,Jormatio, qui des les livres XI a XIII des Confessions apparait comme l'une des composantes essentielles de son ontologie theologale. [ ... ] Par le terme de creatio, Augustin exprime, en effet, le don de l'etre par Dieu. Ce don de l'etre,l'homme le perc;:oit et il est appele ay participer au moment de sa conversion [... ]. Si, par un libre choix, il coopere au projet createur, alors il s'achemine vers laJormatio, par laquelle il recevra la constitution de son etre par un libre don du createur."
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sind. Mithin hat 'EJtLa-rQO
Um so auffalliger ist es, daß die Mailänder Conversio-Szene nicht nach dem Schema der 'EJtLO-rQO
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Das dem zitierten Satz inhärente Conversio-Verständnis zeigt noch einmal deutlich, daß die Confessiones auch neuplatonisch geprägt sind. Die heftig diskutierte Frage, ob sich Augustinus im Mailänder Garten zum Neuplatonismus oder zum Christentum bekehrt hat (vgl. dazu bspw. Prosper Alfaric: L'evolution intellectuelle de saint Augustin 1. Du manicheisme au neoplatonisme, Paris 1918, 399: ,,[ ... ] moralement comme intellectuellement c'est au Neoplatonisme qu'il [sc. Augustin] s'est converti, plut6t qu' a l'Evangile"; dagegen Courcelle, Recherehes [Anm. 46], 136, 253 und 138: ,,[ ... ] Ambroise l'initiait en meme temps au spiritualisme chretien et au doctrines plotiniennes"), könnte mit dem Verfolg der Semantik des Begriffs ,converti' in den Co"!tessiones beantwortet werden: in Kontext der Mailänder Conversio-Szene ist ,converti' resp. ,conversio' im Verständnis von j.lE"tavOla gebraucht, in vielen anderen Verwendungen insbesondere bis Buch X im Verständnis von 'EJtlO"t(lOepiJ. Weitere Beispiele siehe Anm. 61. Von daher ist die These von Jill Robbins (Prodigal Sonl Eider Brother - Interpretation and Alterity in Augustine, Petrareh, Kajka, Levinas, Chicago and London 1991, 21-48: "Progidal Son and EIder Brother: The Example of Augustine's Confessions"), die Mailänder Conversio-Szene sei nach dem Vorbild der Parabel vom verlorenen Sohn gestaltet, fragwürdig: Denn obgleich in Confessiones VlII,3,6 die drei Parabeln aus u. 15 vom verlorenen Schaf, von der verlorenen Drachme.und vom verlorenen Sohn erwähnt werden, ist doch entscheidend die Passage, die Augustinus mit Blick auf den verlorenen Sohn zitiert: "quoniam mortuus erat et revixit, perierat et inventus est" (u. 15, 24: "quia hic filius meus mortuus erat et revixit, perierat et inventus est"): während die Geschichte vom verlorenen Sohn selbst eine Conversio im Sinne einer 'EJtLO"t(lOepiJ erzählt, verweist der vom Vater gesprochene, ,apokalyptisch' figurierte Satz auf eine Conversio im Sinne einer IlETavOla. Ganz in diesem Sinne konstatiert Hadot, Epistrophe et metanoia [Anm. 53], 32: "La conversion chretienne est metanoia, c'est-a-dire bouleversement de l'esprit, renouveau radical,
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bisherigen Leben und radikaler Neubeginn 58 wird in Szene gesetzt: "mutato vultu" steht als pars pro toto für das endlich und endgültig konvertierte Ich. Die ,apokalyptische' Gegenwendigkeit findet so dann noch einmal Ausdruck in dem die Conversio-Szene im engeren Sinne abschließenden Satz 59 : "Statim quippe cum fine huiusce sententiae quasi luce securitatis infusa cordi meo omnes dubitationis tenebrae diffugerunt."6o Es ist auffällig, daß insbesondere in den Büchern XI bis XIII der Confessiones ,conversio' im Sinne einer !lc'tUVOlU verstanden wird, während in den vorausgegangenen Büchern das neuplatonisch geprägte Verständnis im Sinne von 'cJtLO'tQOepi} überwiegt61 • Im XIII. Buch - um ein letztes treffendes Beispiel anzufuhren - schreibt Augustinus 62 : ,,[ ••• ] et conversi sumus ad te", und er fügt in zitierender Aufnahme aus der Genesis und aus dem Paulinischen Brief an die Epheser hin~u: ",et facta est lux'. Et ecce fuimus ,aliquando tenebrae, nunc autem lux in domino'" (Gen. 1; Eph. 5,8). Der gleichfalls von Augustinus zitierte Kontext dieser biblisch autorisierten Reflexionen ist aber eschatologisch-
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reenfantement [.. .). [... ] la metanoia qu'inspire la foi au Crucifie est absolument radicale: c'est une mort vecue en esprit et non symbolisee par des rites. Et c'est un homme absolument nouveau qui en renah. L'epistrophe est eveil d'un sommeil, souvenir d'une veille: anamnesis; la metanoia est mort et resurrection: anastasis. (( Ganz im Verständnis von Apc. 21,5 (Biblia sacra vulgata [Anm. 42], 1903): "et dixit qui sedebat in throno ecce nova facio onmia [... ]. " Conf. VIII,12,29. Hervorhebung von MMG. Um es hier noch einmal an einer prima vista nicht evidenten Formulierung zu zeigen: Die ,Finsternis des Zweifels' ist gewichen, ,getilgt', ,genichtet', und erst unter dieser Voraussetzung kann das ,Licht der Gewißheit' strahlen, ,dasein', existieren'; das Verhältnis ist mithin nicht ein ,dialektisches', ein Umschlagen des einen in das andere, vielmehr ein ,apokalyptisches': das eine ist ,da' unter der Voraussetzung des ,Nicht-mehr-Daseins' des anderen. Hierzu einige weitere Beispiele: XIII,2,3: ,,[ ... ] ne quod adeptus est conversione aversione lumen arnittat et relabatur in vitam tenebrosae abysso similem." - XIII,3,4: ,,[ ... ] ut et quodcumque vivit et quod beate vivit, non deberet nisi gratiae tuae, conversa per conmutationem meliorem ad id, quod neque in melius neque in deterius mutari potest" - XIII,s,6: "Et multa diximus de ,caelo caeli' et de ,terra invisibili et inconposita' et de ,abysso tenebrosa' secundum spiritalis informitatis vagabunda deliquia, nisi converteretur ad eum, a quo erat qualiscumque vita, et inluminatione fieret speciosa vita et esset ,caelum caeli' eius, quod inter aquam et aquam postea factum est." Hingegen in V,2,2: "Ipsi convertantur et quaerant te, et ecce ibi es in corde eorum, in corde confitentium tibi et proicientium se in te et plorantium in si nu tue post ,vias suas difficiles' [... ]." Neuplatonisch auch folgende Wendung (XIlI,2,3): "Aut quid te promeruit inchoatio creaturae spiritalis [... ], nisi per idem verbum converteretur ad idem, a quo facta est [... ]." Desgleichen (XIlI,4,s): ,,[ ... ] cui restat converti ad eum, a quo facta est [... ]." DOPPelPolig das Verständnis in folgender Wendung (VI,s,8): "Quam misera erat (sc. anima mea)! Et sensum vulneris tu pungebas, ut ,relictis omnibus' converteretur ad te, ,qui es super omnia' et sine quo mulla essent onlnia, converteretur et sanetur." Von Interesse auch, daß an einer einzigen Stelle, an der nicht von einer ,echten' Conversio hin zu Gott, vielmehr allgemein zum ,Geistigen' im neuplatonischen Sinne die Rede ist, das Verbum ,convertere' (verstanden als menschliche, nicht göttliche Handlung) im Aktiv gebraucht ist (IV,15,24): "Et converti me ad animi naturam, et non me sinebat falsa opinio. " ConJ, XIII,13,12.
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apokalyptisch63 : ",Fiat lux; paenitentiam agite, appropinquabit enim regnum caelorum'. ,Paenitentiam agite, fiat lux. '" Es ist nun die die augustinische Conversio der ConJessiones kennzeichnende ,apokalyptische' Struktur, die den nachfolgenden autobiographisch inszenierten Conversiones zum Modell wird64 . Daß sie zum Modell werden konnte, hat seinen Grund und seinen Ursprung im ,eschatologisch-apokalyptisch' überformten, tatsächlich aber höchst subjektivistisch instituierten Gnadenkonzept Augustins. Ob Conversio verstanden als Akt der Gnade oder inszeniert als Epiphanie bzw. Illumination oder stilisiert als Akt ,freier Wahl': Conversio wird zu einem autobiographischen Topos der Ich-Begründung. Allerdings unterscheiden sich die zeitlich nachfolgenden Conversiones -'wie am Beispiel von Sartres Les Mots bereits zu sehen war und am Beispiel von Rousseaus ConJessions in aller Knappheit noch zu zeigen ist - darin, daß bei ihnen das Eschaton philosophisch resp. ästhetisch immanent gewendet ist. Das hat Folgen sowohl fiir die Art und Weise der Inszenierung der Conversio wie fiir die Textorganisation insgesamt. Denn das philosophisch resp. ästhetisch immanentisierte Eschaton ist notwendig seiner letztendlichen Erfiillung benommen, ist damit unabweisbar aufgeschoben: Reiterierung ist die Folge. Genau dies trifft auf die ConJessiones nicht zu: Bei aller subjektivistischen Instituierung des Gnadenkonzepts hält Augustinus daran fest, daß mit dem Gnadenakt selbst, der sich in der Conversio manifestiert, der Mensch errettet ist: "Convertisti enim me ad te, ut nec uxorem quaererem nec aliquam spem saeculi [... ] convertisti luctum [... ] in gaudium" - versichert das autobiographische Ich einmal mehr am Ende des VIII. Buches65 • Das Ix. Buch berichtet noch durchaus autobiographisch über den Tod der Mutter, das X. Buch rekapituliert Sinn und Zweck der Bekenntnisse, ist vor allem aber eine Reflexion über die Macht des Gedächtnisses, das letztlich als Stätte Gottes verstanden wird. Die letzten drei Bücher sind im weiteren Sinne eine GenesisExegese. Theologisch-philosophische Reflexionen dieser Art scheinen prima vista in einem autobiographischen Text verfehlt. Tatsächlich aber haben sie zumindest zwei wesentliche Funktionen. Zunächst: Es war die Absicht der autobiographischen Niederschrift, im Gespräch mit Gott das vergangene Leben zu erinnern und zugleich den äußerst schwierigen Weg bis zur entscheidenden - Conversio nachzuzeichnen. Mit der Erfahrung der Gnade ist das irdische Leben zu seinem Zielpunkt gekommen, sind zugleich die äußeren Belange des Lebens ohne Interesse. Es ist daher nur folgerichtig, mit 63 64
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Ebd. Unter anderem Focus siehe die Studie von Anne Hunsaker Hawkins: Archetypes The Autobiographies oJAugustine, Bunyan, and Merton, Lewisburg and London 1985. Conj, Vm,12,30.
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der Conversio und ihren unmittelbaren Folgen die autobiographischen Notate zu beenden und neu zu beginnen mit der Entfaltung der philosophisch-theologischen Erörterungen, zu denen die Erfahrung der Gnade gefuhrt hat66 . Somit reflektieren die Confessiones auch in ihrer Gesamtanlage 67 die ,apokalyptische' Struktur der Conversio-Szene. Sodann :...- und damit komme ich zur zweiten Funktion, die mit der ersten in engstem Zusammenhang steht: Wie der autobiographische Teil der Confessiones über die Conversio der Seele Augustins berichtet, so ist die Genesis, näherhin deren erstes Kapitel, die Geschichte der Conversio der ganzen ,Creatura', der ganzen geschaffenen Welt. Nachträglich oder richtiger: teleologisch wird das Individuelle ins Allgemeine überfuhrt, wird das Menschliche im Göttlichen aufgehoben. Zu Beginn des Ix. Buches der Confessiones und damit in Weiterführung der Conversio des VIII. Buches spricht das autobiographische Ich zu Gott die Worte in Aufnahme von Ps. 34,3 68 : ",Dic animae meae: salus tua ego sum'." In Konsequenz der ästhetisch immanentisierten Conversio endet hingegen das autobiographische Ich von Les Mols mit den Worten69 : "Si je range l'impossible Salut au magasin des accessoires, que reste-t-il? Tout un hornrne, fait de tous les hommes et qui les vaut tous et que vaut n'importe qui."
III. "A l'instant de cette lecture [... ] je devins un autre homme."7o Die ConversioSzene im VIII. Buch der Confessions des Jean-Jacques Rousseau ist nach der 66
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Um noch einmal von vielen möglichen ein weiteres Beispiel ,apokalyptisch' figurierter Rede im Kontext der Gnadenlehre resp. der Bestimmung der Wirkung der Gnade zu g~ben, sei eine Äußerung zu Beginn des XIII. Buches zitiert (XIII,l,l): "Tu enim, domine, delevisti omnia mala merita mea, ne retribueres manibus meis, in quibus a te defeci, et praevenisti omnia bona merita mea, ut retribueres manibus tuis, quibus me fecisti." (dt.: "Ja, Du, Herr, hast all mein Mißgetanes ausgetilgt, auf daß Du meinen Händen nicht vergelten müssest ihr Werk des Abfalls von Dir, und bist zuvorgekommen all meinem Wohlgetanen, auf daß Du Deinen Händen vergelten könntest ihr Werk, der Hände, die mich erschufen. "). Die - schlechten, vom konfessionalen Ich zu verantwortenden - Handlungen vor der Gnadenwahl ("mala merita mea") werden getilgt, zerstört, damit Gott die - guten - Handlungen ,begründen', schaffen kann: ,,[ ... ] delevisti omnia mala merita mea [... ] et praevenisti omnia bona merita mea [... ]." Die Struktur und die Gestaltungsprinzipien der Confessiones untersucht in einläßlicher Auseinandersetzung mit der ebenso umfangreichen und komplexen, aber auch redundanten Forschung Steidle [Anm. 51]. Steidle erkennt allerdings weder die spezifischen Merkmale der ,Mailänder Conversio' und ihre Bedeutung im Kontext der konfessionalen Darstellung noch die von uns thematisierte ,apokalyptische' Struktur. Im Gegenteil ist Steidle der Auffassung, daß die Confessiones eben eine ,Confessio' sind, nicht der Bericht einer ,Conversio'. Wir hingegen wollten zeigen, daß die Confessiones um der Darstellung der ,Conversio' willen geschrieben sind, daß die ,Conversio' mithin die Confessiones ,begründet' und insofern strukturbildend wird; m.a.W.: das Motiv der ,Conversio' motiviert eine Struktur der ,Conversio'. ConJ,Ix,l,1. Les Mots [Anm. 5], 213. Jean-Jacques Rousseau: Les Confessions, texte etabli et annote par Bernard Gagnebin et Marcel
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Conversio-Szene im VIII. Buch der Confessiones des Augustinus modelliert wie im ganzen der ältere Text Palimpsest des jüngeren ist. Sie ist an gleicher Stelle des Buches plaziert; auch sie gibt vor, ein Leben vor der Conversio von einem Leben nach der Conversio zu trennen; auch sie impliziert darüber hinaus, daß erst die Conversio ein Schreiben über das eigene (vorgängige) Leben möglich mache'. Doch wichtiger als dies: auch sie ist ,apokalyptisch' konfiguriere:!: Cette annee 1749 l'ete fut d'une chaleur excessive. On compte deux lieues de Paris a Vincennes. Peu en etat de payer des fiacres, a deux heures apres-midi j'allois a pied quand j' etois seul, et j' allois vite pour arriver plus tot. Les arbres de la route toujours elagues a la mode du pays ne donnoient presque aucune ombre, et souvent rendu de chaleur et de fatigue, je m'etendois par teITe n'en pouvant plus. Je m'avisai pour moderer mon pas de prendre quelque livre. Je pris un jour le Mercure de France et tout en marchant et le parcourant je tombai sur cette question proposee par l' Academie de Dijon pour le prix de l'annee suivante: Si le progres des sciences et des arts a contribue a corroll1pre ou aepurer les mreurs? A l'instant de cette lecture je vis un autre univers et je devins un autre homme. Quoique j'aye un souvenir vif de l'impression que j'en receus, les details m'en sont echappes depuis que je les ai deposes dans une de mes quatre lettres a M. de Malesherbes. [ ... ] Ce que je me rapp elle bien distinctement dans cette occasion c'est qu'arrivant a Vincennes, j'etois dans une agitation qui tenoit du delire. Diderot l'apperyut; je lui en dis la cause, et je lui lus la prosopopee de Fabricius ecrite en crayon sous un Chene. Il m'exhorta de donner l'essor a mes idees et de concourir au prix. Je le fis, et des cet instant je fus perdu. Tout le reste de ma vie et de mes malheurs fut l'effet inevitable de cet instant d'egarement.
Die Rahmensituation ist eine habituelle: Jean-Jacques ist auf dem Weg von Paris nach Vincennes, um den dort inhaftierten Denis Diderot zu besuchen. Er ist allein unterwegs. Es ist zwei Uhr mittags - die Hitze ist außerordentlich, exzessiv - die Stunde des Pan. Die Bäume spenden kaum Schatten - sie sind modisch gestutzt. Um seinen üblichen schnellen Schritt zu
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Raymond, in: (Euvres completes I: Les Confessions - Autres textes autobiographiques, ed. publiee sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, Paris 1959 (= Bibliotheque de la Pleiade), 351. In einem sehr allgemeinen (dekonstruktivistischen) Sinne versteht Geoffiey Galt Harpham (Conversion and the Language C?f Autobiography, in: Studies in Autobiography, ed. by James Olney, Oxford 1988, 42-50) in Übernahme und leichter Modification von Paul de Man (Autobiography as De:facement, in: Modern Language Notes 94 [1979], 919-30) Autobiographie als "the conversion of experience into narrative" (42), ja mehr noch ,Sprache selbst als Konversion'. Er unterscheidet zwei aufeinander verwiesene Conversiones: "Conversion 1 is a token of literary form experienced as a change in the character oflife; conversion1 is a literary act that takes its character from events in life." (43) Und: ,,[ ... ] the Word creates and converts, so that not only the autobiographer but the world is already the product of conversion." (43) Er berücksichtigt hingegen nicht den Aufsatz von John Freccero: Autobiography and Narrative, in: Reconstructing Individualism - Autonomy, Individuality, and the Se[f in Western Thought, ed. by Thomas C. Heller, Marton Sosna, and David Wellbery, Stanford 1986,16-23. ConJessions [Anm. 70], 350(
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mäßigen, nimmt Jean-Jacques Lektüre mit auf den Weg. Eines Tages hat er den Mercure de France bei sich - und da fällt sein Blick beim Gehen auf jene berühmt gewordene Preisfrage der Akademie von Dijon: ,Ob denn der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zur Verderbnis oder zur Veredelung der Sitten beigetragen habe': "A l'instant de cette lecture je 'vis un autre univers et je devins un autre homme. " Jean-Jacques gerät augenblicklich in eine Erregung, die an Verwirrtheit grenzt: ,,[ ... ] j'etois dans une agitation qui tenait du delire. " Die näheren Umstände, Einzelheiten sind nicht mehr erinnerlich: denn - so die bemerkenswerte Erklärung - sie sind zwischenzeitlich niedergeschrieben in einem Brief an Malesherbes. Dort liest man73 : Si jamais quelque chose a ressembl€ a une inspiration subite, c'est le mouvement qui se fit en moi a cette lecture; tout a coup je me sens l' esprit €bloüi de mille lumieres; des foules d'idees vives s'y presenterent a la fois avec une force et une confusion qui me jetta dans un trouble inexprimable; je sens ma tete prise par un etourdissement semblable a 1'ivresse. Une violen te palpitation m'oppresse, souleve ma poitrine; ne pouvant plus respirer en marchant, je me laisse tomber sous un des arbres de l'avenue, etj'y passe une demie heure dans une telle agitation qu'en me relevantj'apperyus tout le devant de ma veste mouill€ de mes larmes sans avoir senti que j' en repandois.
Jean-Jacques - so erhellt aus der Brief-Stelle noch deutlicher als aus der analogen Passage der Confessions - erleidet eine heftige seelische und körperliche Erschütterung, die als ,plötzliche Eingebung' erfahren wird, ja als ,sonnenhelle Erleuchtung des Geistes'; er läßt sich niederfallen und verharrt etwa eine halbe Stunde, Tränenströme vergießend, in äußerster Erregtheit. Man erkennt leicht: Die Szene ist bis in Einzelheiten modelliert nach dem Vorbild der Conversio-Szene des Augustinus und des Saulus: physischpsychische Erschütterung, heftige Tränenausbrüche, plötzliche Erleuchtung und ,Umkehr' - eine Veränderung findet statt im Sinne einer ~.l,E'tavola. Doch das auslösende Moment der Conversio Jean-Jacques' - man ist übereingekommen, sie Illumination zu nennen - ist nun nicht eine Stimme, ein Ruf, vielmehr ein Text, ist - allgemeiner - Schrift, die nicht gehört, sondern gelesen wird. Schrift - konkret wie metaphorisch - steht aber ein fiir jene Entfremdung des Menschen von seiner ihm eigenen und ursprünglichen Natur, die wenn nicht zu restituieren so doch in ihren vorgeblichen Voraussetzungenoffenzulegen Rousseau in den Jahren nach der Conversio seine drei gesellschaftskritischen Schriften verfassen wird74 • Zudem: Schrift ist jenes
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Jean-Jacques Rousseau: Fragments autobiographiques et dowments biograhiques: Lettres a Malesherbes, texte etabli et anno te par Marcel Raymond et Bemard Gagnebin, in: CEuvres completes I: Les Confessions - Autres textes autobiographiques, €d. publiee sous la direction de Bemard Gagnebin et Marcel Raymond, Paris 1959 (= Bibliotheque de la Pleiade), 1135. Lettres Malesherbes [Anm. 73], 1136: "Tout ce que j 'ai pu retenir de ces foules de grandes verites qui dans un quart d'heure m'illuminerent sous cet arbre, a ete bien foiblement epars dans les trois principaux de mes ecrits, savoir ce premier discours, celui sur l'inegalite, et le traite de l'education,
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Medium, dem sich die Verdunkelung, die Vereitelung von Transparenz verdankt, die wiederzugewinnen Jean-Jacques im Augenblick seiner Conversio - hier im Sinne von 'cJtLOTQO
IV. Sartres Les Mots rekurrieren strukturell auf Augustins Confessiones und Rousseaus Confessions: die allererst als Theologoumenon erkannte Conversio wird zum Ermöglichungsgrund autobiographischen Schreibens. Ihre ,apokalyptische' Struktur erlaubt nicht allein die Darstellung des ,Noch-nichtKonvertierten' durch den ,Konvertierten', näherhin der lebensweltlich verbürgten Erfahrung der göttlichen Gnade - wie im Falle Augustins -, vielmehr erzwingt sie, ästhetisch immanentisiert, ihre textuelle Wiederholung, insofern ,Heil' als Ziel und Ende ausgeschlossen ist. "Tout le reste de ma vie et de mes malheurs fut l'effet inevitable de cet instant d'egarement" - beurteilt Rousseau die Folgen seiner als Illuminatio inszenierten Conversio. Daß seine Existenz sich verdüsterte, weil er sie der Verbreitung des Lichts gewidmet
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lesquels trois ouvrages sont inseparables et forment ensemble un meme tout." Siehe hierzu Jean Starobinski: Rotlsseatls Anklage der Gesellschaft, Konstanz 1977 (= Konstanzer Universitätsreden). ConJessions [Anm. 70], 351. Ebd.,3. Daß die Preisfrage, wenngleich von einer Akademie der ,Provinz' gestellt, bejaht werden sollte, zeigt die Reaktion Diderots, der seinerseits Rousseau überredet, die unkonventionelle Position einzunehmen. Davon weiß - neben anderen - Jacques Henri Meister zu berichten in Lettres sur I 'Imagination. 1799 [11794]. Vgl. dazu Maria Moog-Grünewald: Jakob Heinrich Meister und die "Correspondance litteraire" - Ein Beitrag zur At~fkliirung in Europa, Berlin und New York 1989, 123126. Über die Lektüre von Jacques Derrida: De la Grammatologie, Paris 1967, 143ff.: "Deuxieme Partie: Nature, Culture, Ecriture" gehen unsere Anmerkungen insofern hinaus, als die Conversio-Struktur die iterative Supplementierung der Schrift durch die Schrift begründet und zugleich erklärt.
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hatte 79 , hat aber seinen Grund in der Säkularität dieses Lichts: ein Ausweg aus der Immanenz, näherhin aus einer ,Schrift' gewordenen Existenz ist versperrt. "Ecrire, ce fut longtemps demander a la Mort, a la Religion sous un masque d'arracher ma vie au hasard. Je fus d'Eglise. Militant, je voulus me sauver par les reuvres"80 - so Jean-Paul Sartre am Ende von Les Mots - 'nurmehr der Anfang neuer Wörter.
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So Starobinski : ROHsseaHs Anklage [Anm. 74], 13. Sartre: Les Mots [Anm. 5], 209.
Holt Meyer MARIOGRAPHISCH-APOKALYPTISCHE TECHNIKEN IM BAYERN UND POLEN DES 17. JAHRHUNDERTS
.. .il n'y a qu'un pas ...
Das Ende am Anfang Pour moi, je me ne suis jamais considef(~ comme un chercheur. Comme 1'a dit un jour Picasso, au grand scandale des gens qui l' entouraient - Je ne cherche pas, je trouve. J. Lacan: L'excommunication' Quand je vous ai dit, au debut de nos entretiens - Je ne cherche pas, je trouve, cela veut dire que, dans le champ de Freud, on n'a qu'a se baisser pour ramasser ce qu'il y a a trouver. Le nachträglich, par exemple, a ete dans sa reelle portee neglige, encore qu'il ffit la et qu'il n'y avait qu'a le ramasser. J. Lacan: L'aphanasi/
Le Seminaire. Livre IX: Les quatre conceptsfondamentaux de la psychanalyse, publ. par J.-A. Miller, Paris 1973, 16. Es handelt sich hier um das Vorwort zum Band, der das 9. "seminaire" (1964) dokumentiert, was zugleich der ersten Sitzung des Seminars zu den "vier fundamentalen Konzepten der Psychoanalyse" entspricht. Der Begriff "Exkommunikation" bezieht sich hier vordergründig auf den schweren Stand Lacans in offiziellen psychoanalytischen Vereinigungen. Dieses Vorwort heißt aber auch deshalb "Die Exkommunikation", weil es die Affinität zwischen der Psychoanalyse und dem "registre religieux" anspricht. Denkt man diese beiden Momente zusammen, so gelangt man an den Punkt, von dem aus der in meinen Ausfiihrungen behandelte Umgang mit dem Apokalyptischen betrachtet werden soll: einem solchen, der in die Domäne nicht der (,suchenden') Forscher, sondern in diejenige der mit den Werkzeugen von Topik und inventio ,findenden' Setzer einer ,brauchbaren', weil rhetorisch darstellbaren Apokalypse hingehört. Bei einer solchen Betrachtungsweise tritt die Organisation des Wissens und seiner Darstellung in den Vordergrund. Darin liegt die enorme Wichtigkeit von Lacans Aufmerksamkeit fiir die pragmatische Position des Analytikers und das Eindringen dieser pragmatischen Position in den Gehalt des Wissens. Zum Verwechseln ähnliche Verfahren lassen sich im religiösen Bereich finden, insbesondere in der katholischen Kirche. Es ist nicht auszuschließen, daß Lacan an katholische Verweisverfahren direkt anschließt. Die Tatsache, daß ausgerechnet Picasso hier zitiert wird, also die Bezugnahme auf die Avantgarde-Kunst als eine ,findende' und nicht ,suchende', will hier als historische Selbsteinordnung Lacans festgehalten werden, kann aber nicht wieder kommentiert werden. Ebd., 241. Das hier zitierte Seminar geht demjenigen zum "Sujet suppose savoir" voran und bereitet dieses vor. "Das Subjekt, dem das Wissen unterstellt wird" ist wiederum das Grundkonzept, das die Affinität zwischen Lacans Vorstellung der Analyse und einer bestimmten Art von religiöser Repräsentation belegt. Nicht zufällig thematisiert Lacan immer wieder in jenem Seminar den (Kartesischen) Zweifel als einen Reflex, der im Rahmen der Psychoanalyse überdacht werden muß. Dem Typus von Wissenschaft, welche auf suchendem Zweifel fußt, setzt er denjenigen Typus entgegen, dem eine Gewißheit unterstellt werden muß, damit er überhaupt funktioniert. Die Wiederaufnahme des Picasso-Spruchs bringt ebenfalls nicht zufa:llig "le nachträglich", d.h. die Nachträglichkeit, als Beispiel fiir die Dinge, die offenliegen und bloß "gefun-
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Holt Meyer
Im (marianischen) Anfang wird das apokalyptische Ende (immer schon enthalten) sein. Der in diesem ersten Satz meines Textes enthaltene syntaktische Parallelismus mit dem Mosaischen und Johanneischen Schriftanfang soll nicht als Hybris verstanden werden. Mit diesem Verfahren wird in einem ersten Schritt (dem Motto dieser Studie nach: le premier pas 3 ) ein bestimmtes apokalyptisches den und aufgesammelt" werden müssen. Denn die Grundhaltung des Analytikers Lacanscher Provenienz ist die nachträgliche (oder, grammatikalisch umgekehrt, aber sinngemäß identisch: im ßtturum exactum operierende) Gewißheit, i mm e r Re c h t geh abt hab e n zum ü s sen. Die Nachträglichkeit als Gesamtphänomen figuriert ihrerseits in einer größeren Arbeit mit dem Titel Fons signatus, iIlibatae virginitatis thesaurus: Aporien und Reichtümer der barocken literarischen Mariographie. Das übergeordnete Anliegen dort ist das Umreißen der grundsätzlichen Verfahren der ,marianischen Rhetorik' und der Spezifika des ,mariographischen Schubs' in der Kunst und Literatur der Frühen Neuzeit unter Berücksichtigung der pragmatischen Bedingungen der Entstehung der westlichen Konfessionen. Unter den rhetorischen Verfahren, welche hier eine herausragende Rolle spielen, sind das Paradox und die Metalepsis. Letzteres Verfahren, welches als falsche oder verkehrte Metonymie definiert werden kann (sie ist gekennzeichnet durch die übermäßige Entfernung oder verdrehte Zeitlichkeit bzw. Kausalität im Verhältnis zwischen dem eigentlichen Sachverhalt und dem uneigentlichen Begriff), ist für die Figur der Nachträglichkeit, die in dieser Studie herausgearbeitet wird, von konstitutiver Bedeutung. Es geht nicht in dieser Studie und schon gar nicht der der größeren Arbeit darum, auf stereotype aufklärerische Manier die frühneuzeitliche Mariographie der ,Unlogik' oder gar der ,Irrationalität' zu überführen, und auch nicht - wie in Albrecht Koschorkes Die heilige Familie ,md ihre Folgen (Frankfurt a. M. 2000) darum, eine neue ,eigentliche' und säkularisierbare Logik zu skizzieren. Vielmehr ist das Ziel der Analyse im Herausarbeiten der grundlegenden Repräsentationsstrategien, der (möglichst weit gefaßten) Rhetorik und der ,Literarizität' der Mariographie der genannten Zeit zu sehen. Wenn irgendein Effekt auf un~.ere Gegenwart unterstellt wird, dann ist es nicht, wie bei Koschorke, durch die unmittelbare Ubertragung der ,Familienverhältnisse' unter Gott-Vater, Christus, Maria und Joseph auf die gegenwärtige gesellschaftliche Lage - z.B. die Familie und das Beamtentum des heutigen Sozialstaats. In möglicherweise weniger spektakulärer Weise geht es um die Beziehung zwischen Kunsttext und Gebrauchstext, um die rhetorische Repräsentation des Sakralen sowie die Wirkungen der Ästhetik des 16. Jahrhunderts und der Konfessionalisierung. Der Ort dieses Abschnitts der Arbeit im übergeordneten Unternehmen in systematischer Hinsicht ist das Herausarbeiten der Gemeinsamkeiten zwischen Repräsentationsstrategien der Apokalyptik und derjenigen der Mariographie - auch im Sinne der Metaleptizität -, welche die marianische Lektüre der Apokalyptischen Frau nahelegen. Im konkreten Sinn geht es darum, das im Mittelpunkt der Arbeit stehende und weiter unten wiederholt zitierte Werk Wespazjan Kochowskis kulturell, rhetorisch und medial zu verorten. Dabei erscheint Kochowskis maßlose Anhäufung von Marienattributen und deren lyrische Literarisierung als besondere Ausprägung, als ein Ausreizen der Distanz zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem, das nicht nur deshalb funktioniert, weil eine rechtgläubige Sanktionierung in Anspruch genommen wird, sondern - und dies ist der entscheidende Punkt - auch und v.a. deshalb, weil die rechtgläubige Ritualität wesentlich metaleptisch ist. Meine Unterstreichung der Differenz zwischen der Absenz im permanenten Aufschub (Derrida) und der Präsenz im ,nachtragenden' Ritual (Lacan), welche durch die beiden Bedeutungen des französischen Wortes "pas" als Negationspartikel (in verstärkter Form: point) und als (hier ritueller) ,Schritt' vertreten wird, trägt diese Verhältnisse in theoretische Positionen der Gegenwart ein, was als eine weitere Quelle etwaiger Aktualität betrachtet werden könnte. Die im Motto des Textes und im weiteren einige Male wiederholte Anspielung auf den Spruch "Du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas", den Napoleon mehrmals auf dem Rückzug aus Rußland 1812 geäußert haben soll, hat zwei Funktionen in diesem Beitrag. Erstens soll auf den kleinen Schritt hingewiesen werden, der zwischen heute lächerlich (ridicule) erscheinenden Bräuchen und ,Bildern' im marianischen Bereich und der Erhabenheit, welche diese Sachverhalte erhalten, wenn sie in rituelle Zusammenhänge eingebettet und pragmatisiert werden. Außerhalb dieser Pragmatisierung sind die Spuren der barocken Marienfrömmigkeit dem Vorwurf der Lächerlichkeit ausgeliefert - ähnlich wie Napoleon auf dem Rückzug. Diese rituellen Zusammenhänge kommen - hier eine weitere Bedeutung des "pas" und eine weitere Analogie zur Napoleonischen Situation - wiederum durch Schritte (etwa im liturgischen Ablauf) zustande. Zweitens soll die Synonymie zwischen "pas" als "Schritt" und "pas" als "nicht" unterstrichen werden, welche in meinem Beitrag produktiv gemacht wird. Der rituelle Schritt ("pas") ist argumentativ bzw. vernunftmäßig nicht ("pas"). Generell ist dieser ambivalente Gebrauch der
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Verhältnis zwischen Anfang und Ende markiert. Das Verhältnis besteht in einem performativen Setzen des Endes als (oder im) Anfang. Dieses Setzen wiederum schließt Vorwegnahme und Nachvollzug (etwa in Form jeweils von typologischer Lektüre des AT und ritueller Wiederholung des V orweggenommenen) ohne ,dazwischen'-liegendes gegenwärtiges Geschehen miteinander kurz. Der Johanneische Schriftanfang (Apk. 1) enthält freilich explizit und der mosaische Schriftanfang implizit diese paradoxale ,epochale' Zeitlichkeit des absolut neuen, aber immer schon angelegten AnfangjEndes. 4
*** [12.1] Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen.
französischen Vokabel von Jacques Derridas Text Pas (in: ders., Parages, Paris 1986) inspiriert und wurde von mir entsprechend in meiner Dissertation zur ,Textwanderung' (Romantische Orientimmg, München 1995) bereits einmal eingesetzt. Derridas vollkommen unübersetzbarer "pas" (diese Unübersetzbarkeit wird wiederholt thematisiert) in "Pas" (einer Lektüre der Schriften von Maurice Blanchot, u.a. des Buches Le pas au dela) ist für seine Apokalyptik überaus einschlägig. Dies ist u.a. dadurch gegeben, daß er mit jenem "viens" ("komm!", "ich komme", "du kommst") verknüpft wird, der das Schlüsselwort in Derridas explizit apokalyptischer Schrift Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie (in: ders., Apokalypse, hg. von Peter Engelmann, Wien 1985) bildet. In Pas liest man z.B. : "pour lui donner le pas pas, le fonctionnement logique ou semantique du-ne pas, en le separant normalement et de la semantique du pas de marche et de la non-semantique (contaminations, anomalies, delire, etc.), on s'interdit tout ce qui reconduit la problematique du logique, de la dialectique, du sens, de l'etre de l'etant (la philosophie et son pas au-defa, la pensee) vers un venir de l'evenement (comme e-loignement du proche) [Ereignis, Enffemung, Enteignis] ,devant' lequelle philosophique et son pas au-dela, la pensee, s'efforcent, sans y reussir jamais, de se eiore. Or ce venir ou cette venue de l'evenement - allervenir plutöt que va-et-vient - ne parait pas ,a partir' de l'onto-logique du ne-pas, mt-elle non dialectique. L'onto-logique procede de l'evenement (a venir et plus que passe) d'un viens dont nous recitons ici, toi et moi, le pas. Au-dela car a l'instant ouje dis viens, sije le dis, tout le systeme des limites (faut pas) qui interdiraient de mettre un pas dans l'autre (par exemple le pas de marche dans le pas de negation et reciproquement), se trouve d'un seul pas franchi, sans meme que le pas, l'activite de marche, ce qu'on fait avec les jambes (voir plus haut) ait lieu. Le pas au-dela: ,LA transgression transgresse par passion, patience, passiviM'. (( (53) Da~."dire ,viens"', um das es hier geht, ist aber beziehbar und wird bezogen auf das "Komm!", das das Offuen der Siegel in Apk. 6 begleitet (z.B. "Und ich sah, daß das Lamm das erste der sieben Siegel auftat, und ich hörte eine der vier Gestalten sagen wie mit einer Donnerstimme: Komm!" [Apk. 6,1], usw.). In Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton (80) stellt Derrida fest, daß er sich beim Schreiben von Pas - im Gegensatz zu den späteren Schriften Survivre und En ce moment meme dans cet ouvrage me voici - dessen nicht "sogleich bewußt" war, daß "ein Verweis auf die Apokalypse des Johannes" hier vorläge. In Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton merkt Derrida zu Apk. 6 an: "Das Ereignis dieses ,Komm' geht dem Ereignis voran und beruft es. Es wäre dasjenige, von dem her es das Ereignis, das Kommen, die Zukunft des Ereignisses gibt, das sich nicht unter der gegebenen Kategorie von Ereignis gibt, das sich nicht unter der gegebenen Kategorie von Ereignis denken läßt." (83) Und ,,,Komm' kündigt nicht diese oder jene Apokalypse an: In ihm hallt bereits ein gewisser Ton wider, es ist an sich die Apokalypse der Apokalypse, Komm ist apokalyptisch." Zieht man eine Linie von der "pas"-"viens"-Verbindung in Pas zu dieser soeben zitierten apokalyptischen Schrift hin, so kann man von einem "Nicht-Schritt" sprechen, welcher der bereits in Derridas dtfforance angelegten impliziten Apokalypse-Auffassung zugrundeliegt. Dies hat Eckhard Lobsien in seinem Buch Wörtlichkeit und Wiederholung - Phänomenologie poetischer Sprache, München 1995 gezeigt.
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Holt Meyer [12.2] Und sie war schwanger und schrie in Kindsnöten und hatte große Qual bei der Geburt. [12.3] Und es erschien ein anderes Zeichen am Himmel, und siehe, ein großer, roter Drache, der hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern sieben Kronen, [ ... ] [12.5] Und sie gebar einen Sohn, einen Knaben, der alle Völker weiden sollte mit eisernem Stabe. Und ihr Kind wurde entrückt zu Gott und seinem Thron. [ ... ] [12.7] Und es entbrannte ein Kampfim Himmel: Michael und seine Engel kämpften gegen den Drachen.
1 Kat OT]~ELOV ~Eya &
8T] EV tep oupavep, yuv~ JCEPLßEß"'T]~EVT] toV ~"'LOV, Kat ~ OE"'~VT] uJColcenw tetlV JCOÖetlV autf\~ Kat EJCt tf\~ KEa"'f\~ autf\~ OtEavo~ aOtEpwv ÖWÖEKa, 2 Kat EV yaOtpt Exouoa, Kat KpaSEL wötvouoa Kat ßaoaVLSO~EVT] tEKELV. 3 Kat &8T] ä",,,,o OT]~ELOV EV tep oupavep, Kat töou öpaKWV ~Eya~ JCupp6~ EXWV KEa"'o.~ EJCto. Kat KEpata C>EKa Kat EJCt to.~ KEa"'o.~ autov EJCto. ÖLaö~~ata, ( ... ) 5 Kat EtEKEV ut6v äPOEV, ö~ ~E"''''EL JCOL~atvELv JCavta to. EeVT] EV paßöq> OLÖT]P~. Kat ~pJCao8T] to tEKVOV aUtf\~ JCpo~ tOV 8EOV Kat JCPO~ tOV 8p6vov autov. ( ... ) 7 Kat EYEVEtO JC6"'E~0~ EV tep oupavep, 6 MLxa~", Kat OL äYYE"'OL autov tOV JCO"'E~f\OaL ~Eto. tOV ÖpaKOvtO~. Kat 6 öpaKwv EJCO"'E~T]OEV Kat OL äYYE"'OL autov.
In den folgenden Ausfiihrungen wird es um mediales Umsetzungen dieser berühmten Stelle zu Beginn des 12. Buchs der Apokalypse des Johannes gehen, insbesondere um diejenigen, die im Rahmen des konfessionalisierten Christentums entstanden sind und die ikonographische Tradition fortfuhren, in der "Frau, mit der Sonne bekleidet" (mulier amicta sole) die Jungfrau Maria zu sehen und zu repräsentieren. Dabei steht die Problematik der Pragmatisierung und Entpragmatisierung des Verweisens im Mittelpunkt. Diese Stelle wird in bestimmten religiös-konfessionellen (liturgischen, rituellen) Zusammenhängen gebraucht und zugleich von ihrer ursprünglichen Bestimmung losgelöst und auch noch fur ästhetische Konfigurationen tauglich gemacht. Konkreter Grund für die Betonung des Mediums und der Medialität, obwohl das Thema im weiteren nur am Rande behandelt wird, ist die Markierung eines Desideratums, das in diesem Versuch unerfüllt bleiben muß. Im größeren Zusammenhang, in dem diese Studie steht, meinem Buch Fons signat~ls über die barocke Marienrepräsentation, wird dieser Sachverhalt ausfiihrlieh thematisiert. Die Ausdifferenzierung der einzelnen Medien (die Schrift, die Malerei, die Skulptur, die Musik usw.) wäre fiir meine Thesen durchaus von Belang. Die Differenz zwischen Zeit- und Raummedien wäre beispielsweise ein Kriterium rur die Beurteilung der Stellung und Ausdrucksweise der Nachträglichkeit. Hier wäre Günter Hess' Arbeit, Ut pielura poesis' (in: Handbuch der Literatur in Bayern, hg. von Albrecht Weber, Regensburg 1987, 207-220) über Jacob Baldes Gedicht zum Rubens-Gemälde Die apokalyptische Frau zu berücksichtigen, denn hier wird - unter Hinweisen auf Lessing, deren Richtigkeit zu prüfen wäre - die Transposition der räumlichen Darstellung der Malerei in die Sukzessivität der Dichtung und damit wohl die wichtigste Mediengrenzüberschreitung angesprochen. Zur systematischen Bedeutung dieses Sachverhaltes und zum ,medialen Ausblick' vgl. die letzte Anmerkung in der vorliegenden Studie.
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ausgedrückt: Sie wird mariographisch 6 in Anschlag gebracht und büßt damit scheinbar ihre multivalente allegorisch-prophetische Bedeutung ein. Insofern wird das Ende an den Anfang gesetzt. Daher kann man auch sagen, daß die Problematik der Pragmatisierung und Entpragmatisierung des Verweisens im Mittelpunkt steht. Die von diesem Ende her gedachte Strategie der Marienrepräsentation wurde im Rahmen der Konfessionalisierung (v.a. auf der katholischen Seite, beispielsweise in Form von Mariensäulen) zum ,Prinzip' (principium) der Mariographie überhaupt, war aber schon längst erstrangiger Gegenstand der ästhetisch-künstlerischen Darstellung. Die Schriftstelle fungiert bis heute in dieser Eigenschaft. "Bezeichnend und deshalb auch erwähnenswert ist die Tatsache, daß eine der wichtigsten päpstlichen Verlautbarungen zur Marienverehrung nach dem 2. Vaticanum - und insbesondere nach der Verkündung der "Dogmatischen Konstitution" Lumen gentium (21.11.1964), an deren 8. Kapitel ("Die selige jungfräuliche Gottesmutter Maria im Geheimnis Christi und der Kirche") die Verlautbarung explizit anschließt -, nämlich die Enzyklika vom 13. Mai 1967,1 von ihrem Incipit den Titel Signum magnum 8 erhält, also von exakt jener Stelle in der Apokalypse in ihrer marianischen Lektüre ausgeht, um die es mir hier geht. Unter diesem "großen Zeichen" stehen u.a. drei päpstliche Feststellungen, die ich hier unterstreichen möchte: erstens, daß Maria "die Zeit und den Raum transzendiert", zweitens - im nächsten Satz - daß wir in der "marianischen Epoche" leb(t)en, und drittens, daß der Heilige Stuhl des 25. Jahrestags der Weihe der ganzen Kirche der "Jungfrau Maria und ihrem unbefleckten Herzen" gedenkt und diese bereits 1964 bestätigte Weihe abermals bestätigt. Mit dem dritten Punkt erreicht die Enzyklika ihren Höhe- und Schlußpunkt. 9 Bezeichnend sind diese drei Konstatierungen deshalb, weil sie die Paradoxalität der Repräsentation der Gottesmutter in Raum und Zeit zum Ausdruck bringen und zugleich diese Paradoxalität selbst zu einem Repräsentationsprinzip machten, das durch die Weihe das Wesen der Kirche und der Katholizität konstitutiv bedingt. Nebenbei belegt diese Schrift die
Ich habe diesen Begriff in die Diskussion eingeführt, um eine Alternative zum v.a. theologisch besetzten Terminus "Mariologie" bzw. "mariologiseh" zu erläutern. Die Mariographie ist das Aufzeichnen bzw. Einschreiben der Jungfrau Maria und die systematische Beschäftigung mit diesem Aufzeichnen und Einschreiben. Die Systematik besteht selbstverständlich auch in einer Berücksichtigung der theologischen Mariologie, geht aber darüber hinaus, um ,säkulare' Systematiken wie etwa die Ritualforschung, die Semiotik, die Psychoanalyse, die Dekonstruktion, die Diskursanalyse, die Anthropologie, die Kunstanalyse u.a. einzubeziehen. Dazwischen lagen die Enzykliken Mense maio (30.4.1965) zum Thema des Maifeiertages und Christi matri (15.9.1966) über Friedensgebete. Der Gehalt des weitaus umfangreicheren Signum mag/U/m ist prinzipiellerer Art. In englischer Sprache lesbar in: http://listserv.american.edu/catholic/church/papal/paul.vi/signum. ase. Der eigentliche Anlaß der Enzyklika ist der 50. Jahrestag der Vision von Fatima.
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Beharrlichkeit der marianischen Lektüre dieser Passage bis in allerneueste Zeit. lO Zu den vielen medialen Umsetzungen des 12. Buchs der Apokalypse zählen die Visualisierungen entweder der gesamten Szene oder der einzelnen Akteure (v.a. der Apokalyptischen Frau und/ oder des Erzengels Michaelll ) im katholischen Europa des 17. und 18. Jahrhunderts. Sie sind so zahlreich, daß man von Massenproduktion unter den Bedingungen der technischen Reproduzierbarkeit - genauer gesagt, der liturgisch-rituell-technischen Reproduzierbarkeit - sprechen kann. Diese liturgisch-rituelle Reproduzierbarkeit wird den Kern meiner Argumentation zu den medialen Umsetzungen bilden, denn - so viel kann ich im Vorgriff formulieren - sie ist die Grundvoraussetzung fur die wes e n tl ich e Na c h t r ä g li c hk e i t der Prä sen z 12 der Go t t e sm u t t er. Diese Eigenschaft kann wiederum als Movens der (konfessionell bedingten) Verweisstrategien betrachtet werden, welche die medialen Umsetzungen in Anschlag gebracht haben. Diese wes e n tl ich e N ac h trägli chkei t in und als Übung und Aus übung 13 de s 10
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Vgl. auch die Fortführung dieser Lektüre zwanzig Jahre später in der zentralen Enzyklika von Johannes Paul H. vom 25.3.1987 Redemptoris Mater: "Dank [... ] besonderen Bandes, das die Mutter Christi mit der Kirche verbindet, erklärt sich besser das Geheinmis jener ,Frau', die von den ersten Kapiteln des Buches Genesis bis zur Apokalypse die Offenbarung des Heilsplanes
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Sakralen 14, d.h. als sakrales Ritual ist die Spielart bzw. Arbeitsweise des Apokalyptischen, mit der man es bei der ins Feld der konfessionellen Auseinandersetzung geschickten und v.a. von der katholischen Seite mit der Jungfrau Maria identifizierten Apokalyptischen Frau zu tun hat. Es handelt sich bei der mit der Jungfrau Maria identifizierten Apokalyptischen Frau nicht um eine marginale bzw. bloß historische Erscheinung, sondern um eine, die einem auf Schritt und Tritt begegnet. In der Orleansstraße im Münchner Osten ist beispielsweise ein quasi-emblematisches Ergebnis dieser Massenproduktion zu bestaunen. Die Visualisierung der eindeutig als Jungfrau Maria - und zwar als Patrona mit Szepter und Jesuskind - dargestellten Apokalyptischen Frau 15 zeigt die Gestalt, wie sie, auf der Mondsichel stehend und mit zwölf Sternen gekrönt, über der bayerischen Hauptstadt schwebt (vgI. Abb. 1). So greift die topisch-ikonographisch gestaltete Gottesmutter auf mehreren Ebenen unmittelbar in die (städtische, lokale) Raumgestaltung ein und läßt sie sub specie aeternitatis, d.h. mit ,metaphysisch-ritueller Zeitverschiebung' , auftreten. Das gesamte Eckhaus ist mit Bildern und Sprüchen geschmückt, wobei ein eindeutiger apokalyptischer Spruch um die Ecke von der Apokalyptischen Frau-Abbildung - neben einer im gleichen Stil gefertigten Darstellung des HI. Wolfgang (des Patrons der nahegelegenen Pfarrkirche) - auffallt (vgI. Abb. 2): "Wenn dieses Haus so lange steht / Bis aller Neid und Hass vergeht / Dann bleibt' s fiirwahr so lange stehn / Bis diese Welt wird untergehn. "
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f:illt auf eine knappe Formel eben dieses Textes. Der Psalter - heißt es da - sei nichts als "affectuum quaedam palaestra et exercitium". "Beim Abklopfen dieser Wendung mag entfallen, was überflüssig ist. Dann entsteht ,psalterium affectuum palaestra': Dem Versuch, aus dieser Formel noch einmal etwas loszulösen, widersetzt sich diese mit Erfolg. Wir sind bei etwas Irreduziblem angelangt: Luthers Psalterformel." (Ebd., 31.) Gerade dieses "Irreduzible" ist die Unhintergehbarkeit des Übungscharakters des Textes und eines jeden Umgangs mit ihm. Meine Frage hier wäre, inwieweit dieses Schema auf die Marienpsalmodie in Bildern applizierbar ist - d.h. inwieweit die permanente Vorschule beispielsweise in katholischen Gebetspraktiken in Nachträglichkeit umgesetzt wird. Es wird bewußt der Begriff "sakral", und nicht "heilig" verwendet. Meine Arbeitsdefinition: Das Sakrale ist per definitionem diskursiv, während das Heilige auch Nicht-Diskursives einschließt. Mit dieser Festlegung folge ich Roy Rappaport: Ritt/al and Religion in the Making of Httmanity, Cambridge 1999. Diese Abhandlung ist überhaupt für die Auffassung des Rituals, das in dieser Studie zum Tragen kommt, von zentraler Bedeutung. Hervorzuheben sind folgende Momente: die Kodierung durch andere als die Sprecher ritueller Worte, die Mischung aus symbolischer und indexikalischer Zeichenfunktion, die Kombination der Kanonizität mit der Selbst-Referentialität und die Rolle der Performativität. Die Eigenschaft des Sakralen als notwendig ritualisiert und damit auch institutionalisiert ist fur das diesem Versuch zugrundeliegende Anliegen überaus wichtig. Das von Anthropologen und Religionswissenschaftlern abgesteckte Kriterium des Heiligen (etwa nach den Maßgaben ,rational-irrational' wie bei RudolfOtto in seinem grundlegenden Werk Das Heilige [1917], in dem er den Begriff des "Numinosen" fur das vom Menschen als heilig Erfahrene in die Religionswissenschaft einführte) grenzt oft das Sakrale als weniger ergiebig bzw. aJ;lthropologisch weniger aussagekräftig aus. Mir hingegen geht es gerade um institutionalisierte Techniken der sakralen Repräsentation. Die Typen der Patrona (Bavariae), der Maria vom Siege, der Immaculata und teilweise der Assumptata und der Coronata sind auf die mariographische Lektüre von Apk. 12 zurückzuführen. Aus methodologischen Gründen wird diese gemeinsame Basis in der Apokalyptischen Frau in den Vordergrund gerückt.
Abb. 1: Die Apokalyptische Frau, Kreuzung Rosenheimer-JOrleansstraße, München
Abb. 2: Der apokalyptische Spruch ums Eck von der Apokalyptischen Frau, Kreuzung Rosenheimer-JOrleansstraße, München
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Ich habe von einer quasi-emblematischen Anordnung gesprochen. Nach dem konventionellen Muster des Emblems wären die Worte, die auf Spruchbändern über und unter der Abbildung geschrieben stehen, als das Lemma (inscriptio) zu lesen: auf dem oberen Spruchband: "Schutzfrau Bayerns"; auf dem unteren: "behüte Stadt und Land". Als das Epigramm (subscriptio) wären die soeben zitierten Verse "Wenn dieses Haus ... " einzuordnen. Und die Darstellung der Apokalyptischen Frau als Patrona und Maria (und umgekehrt) wäre dann selbstverständlich die pictura. 16 Ich werde dieses relativ triviale Beispiel nicht eingehender analysieren, obgleich gerade seine Trivialität - d.h. seine topische Darstellbarkeit, seine Denkbarkeit und sein tatsächliches Vorhandensein an vielen vergleichbaren Kreuzungen (triviae) , zumindest in einer katholisch geprägten Stadt - programmatisch ist. 17 Einige weitere Merkmale würde ich freilich gerne hervorheben. Die subscriptio arbeitet mit dem futurum exactum: Dieses Haus wird unter bestimmten Bedingungen bis ans Ende der Zeit hier gestanden haben. Die Hauptbedingung wird in der zweiten Zeile angegeben: "Bis aller Neid und Hass vergeht". Liest man diese subscriptio in einer Beziehung zur inscriptio, so wäre letztere dahingehend zu interpretieren, daß die Schutzfunktion der Gottesmutter mit dem "Neid und Hass" zusammenhängt, und zwar wohl so, daß eines von zwei Dingen bewirkt wird: Entweder schützt die Gottesmutter vor dem Zorn Gottes angesichts der Allgegenwart dieser Laster, oder sie ruhrt die Menschen zum glücklichen Ende der Zeit, das sich durch das endgültige Verschwinden von "Neid und Hass" auszeichnet. Letztere plausible Deutung ist ftir meine Ausftihrungen besonders interessant, denn die in ikonographisch sofort erkennbarer Form dargestellte Apokalyptische Frau/ Gottesmutter ist ihr zufolge durch ihre ,klischeehafte', d.h. virtuell eingeprägte Erscheinungs16
17
Die von Wolfgang Neuber (Lows, Lemma, Motto - Entwurf zu einer nmemonischen Emblematiktheorie, in: Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400 - 1750, hg. von J.J. Berns und W. Neuber, Tübingen 1993,351-372) aufgeworfene Diskussion um den Primat des Lemmas, der auf eine Relativierung des Dreierschemas hinausläuft und den anderen beiden, letztlich fakultativen Teilen v.a. eine mnemotechnische Funktion gegenüber der inscriptio zuweist, ist insofern weiterführend, als sie dem Trugschluß vorbeugt, es handele sich bei den Schriftzügen um die Apokalyptische Frau herum lediglich um ,Begleitschreiben'. Bei der Apokalyptischen Frau stellte sich allerdings immer die Frage, ob nicht die inscriptio immer Apk. 12,lff. ist, auch wenn die Stelle, wie im hier angegebenen Fall und in den meisten Fällen, nicht explizit zitiert wird. Damit wären sämtliche Visualisierungen (bzw. ästhetische Umsetzungen) der Stelle potentiell latent emblematische Ensembles zum Zwecke des Memorierens der entscheidenden apokalyptischen Stelle. Wir haben es hier in gewisser Weise mit einem ,Rückfall' hinter die von Hans Belting (Bild lind Kult: eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst [1990), 5. Aufl., München 2000) postulierte und beschriebene Grenze zwischen Kult und Kunst zu tun, soweit diese Grenze als eine zeitliche betrachtet wird, was wohl aus dem Kunst-Kanon der Kunstgeschichte zwingend hervorgeht. Ich würde anhand solcher Erscheinungen und im Sinne meines Ansatzes daftir plädieren, die Grenze zwischen Kult und Kunst nicht als eine historische, sondern als eine systematisch-pragmatische zu betrachten. Denn eine apodiktische Herabsetzung ,alltäglicher' kultischer Repräsentationen in die (nicht mehr zeitgemäße) Trivialität bzw. in den Bereich ,bloßer' Gebrauchskultur kann - übrigens auch im Hinblick auf die komplexe Differenz zwischen Pragmatisierung und Entpragmatisierung der Kunst und Literatur - nicht zu einer sach- geschweige denn einer zeitgemäßen Auseinandersetzung mit ihnen führen.
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form eine Garantin der endgültig-apokalyptischen Erlösung im futurum exactum, d.h. gewissermaßen vorgreifend-nachträglich. Mit anderen Worten: Gerade die Ikonographizität der Darstellung, die gleichzeitig mit der Gottesmutter und damit auch als die Gottesmutter durch die Spruchbänder angesprochen wird, sichert die begehrte Handlung imfuturum exactum ab und damit den Erfolg der Anrufung. Die Tatsache, daß das Haus noch steht, was ja eine Grundvoraussetzung rur die Wahrnehmbarkeit der gesamten Raumordnung ist, ist Bestandteil dieses futurum exactum und zeigt gewissermaßen performativ an, daß das Haus zum endzeitlichen Heil unterwegs ist und immer schon unaufhaltsam unterwegs gewesen sein wird.
Schritt und Kanon ecce signum certissimum futurum ipsius gloriae 18 HI. Germanus: Predigt zur Darstellung des Herrn
Die soeben erläuterte Konfiguration weist zwei Eigenschaften auf, deren Relevanz für meine Beschreibung des Apokalyptischen hier unterstrichen werden soll: erstens die Positionierung und ,triviale Konkretisierung' der Nachträglichkeit und zweitens das Verhältnis zum Kanon(ischen). Beide Eigenschaften tangieren das ,Hohe', unendlich ,Entfernte' und das ,Erhabene' am Apokalyptischen. In vieler Hinsicht streichen sie diese Sachverhalte bzw. die zugeordneten Konzeptionen durch. Was die Positionierung und, triviale Konkretisierung' der N achträglichkeit angeht, so möchte ich diese im Rahmen einer grundsätzlichen theoretischen Unterscheidung erörtern: die zwischen dem für die Dekonstruktiop. charakteristischen, vom Ursprung her gedachten permanenten Aufschub einerseits und dem in einer ,heilenden und/ oder heiligenden' Praxis (sei sie liturgisch oder psychotherapeutisch) vom Ende her gedachten und gesetzten Nachvollzug andererseits. Dies ist die Differenz zwischen Derrida und Lacan/ Zizek. In diesem Punkt folge ichJohannes Hoff, der zeigt, wo Derrida nicht mehr ausreicht und Lacan, Certeau und Zizek ihren großen Auftritt haben (sehr groß: als [Theoretiker des] "sujet suppose savoir").19 Hierher gehört Zizeks wieder18
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Es handelt sich hier um ein Encomium zur Gottesmutter (Migne: Patrologia Graeca, XVIIIC, Sp. 310 - hier auch das griechische Original: t80u O"T]I-luv'tpov UKptßT]C; 'tT]C;). "Die Arbeiten von Derrida und Foucault bleiben unter bestimmten Gesichtspunkten, die insbesondere die [... ] Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer ,Institution des Glaubens' betreffen, unzureichend, das Projekt einer ,Grundlegung' katholischer Theologie umzusetzen." Oohannes Hoff: Spiritualitcit und Sprachverlust - Theologie I1afh Foucault Imd Derrida, Paderborn u.a. 1999,23). In diesem Zusammenhang nennt HoffLacan, Zizek, Certeau und auch noch Levinas, wobei er insbesondere Certeau als notwendiges "Interface" hervorhebt, und zwar insbesondere fiir die Fälle, wo es darum geht, "die philosophischen Einsichten von Derrida, Foucault und Lacan in einen stärker theologisch akzentuierten Kontext zu übersetzen oder in theologisch konstruktiver Perspektive fortzuschreiben." (Ebd.) Später hebt Hoff die ",Verdrängung' des Non-Verbalen durch die moderne Subjekthermeneutik" (ebd., 257) als einen Bereich
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holte Aussage, es handele sich bei Derridas Lektüre des Lacanschen "Purloined letter" -Seminars um ein gewaltiges Mißverständnis von Seiten Derridas. Zizek fuhrt aus 20 : "In diesem Sinne sollte man Lacans These, daß ,der Brief immer einen Bestimmungsort erreicht', begreifen: Weil er erst durch das Geschicktwerden selbst erzeugt wird." Dies, gekoppelt mit der Nachträglichkeit nonverbaler liturgischer Handlungen, bildet ein Gegenprogramm zu Derridas jüdisch-messianisch strukturierter Apokalypse. Zizeks naturgemäß in psychoanalytischer Terminologie formulierte Grundthese drückt dies deutlich aus: " ... daß ein traumatisches Element ,wirklich existiert oder nicht, hat nur wenig Bedeutung', wichtig ist allein, daß es sichtbare Effekte zeitigt, daß es eine Serie struktureller Effekte produziert (Verschiebungen, Wiederholungen, etc.) und deshalb den Punkt darstellt, der konstruiert werden muß, wenn wir den gegebenen ,Stand der Dinge' erklären wollen. "21 Mit diesem
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hervor, in dem die Certeausche Korrektur dringend notwendig ist. Bedeutender ftir mein Anliegen ist freilich Hoffs Charakterisierung Lacans, und zwar im Sinne der "Selbstauflösung der Subjekthermeneutik" sowie der "Entdeckung der Institution" (ebd., 264): "Das Subjekt soll sich zwar gerade von der Vorstellung verabschieden, daß es der Eigentümer seiner Sprache ist. Doch es muß sich zumindest zu eigen machen, daß es das nicht ist. Man versteht vor diesem Hintergrund die Bedeutung der Lacanschen Metapsychologie ftir die ihr entsprechende Therapie. jene lehrt, daß das Unbewußte eine Sprache ist; diese leitet den Patienten an, zu bejahen, dqß das so ist. Lacans Hermeneutik ist damit paradigmatisch fur alle jene ,negativen' Philosophien und Theologien, die glauben machen, man könne ein bloßes Dqß bejahen, ohne zu wissen, was man damit affirmiert. Man kann darauf gehen, daß sich hinter der Rede von einem bloßen Daß stets eine Metatheorie verbirgt, die genau weiß, was mit diesem Dqß bejaht wird. Das Beispiel Lacans zeigt außerdem, warum die Festlegung eines derartigen Was stets mit einer normativen Vorentscheidung einhergeht: Sie bestimmt das Telos einer pädagogisch-therapeutischen Praxis." (Ebd., 268; Hervorhebung von jH.) Dies ist wiederum die Basis der ",negativen' Anthropologie" Lacans: "Wie der Name Gottes, in dem sich das Geheimnis der Kirche ausspricht, macht das ,es spricht' das Mysterium namhaft, um das sich die Gemeinschaft der Psychoanalytiker versammelt. Die Macht des ,Es' mag als unkontrollierbar erscheinen und dem Willen zum Wissen entzogen sein. Doch sie muß hinreichend deutlich erkennbar sein, um die Existenz einer therapeutischen Institution zu autorisieren, die auf die Diskursivierung dieses Geheimnisses spekuliert." (Ebd.; Hervorhebung von jH.) Hoff glaubt in einer Passage in Derridas Postkarte (II, 308) eine Kritik an dieser Position zu erkennen, die es erlaubt, "die psychoanalytische ,Bewegung' in ihren politischökonomischen Kontext einzuordnen". (Ebd., 269.) Ob dem so ist, ist fur mein Anliegen meines Erachtens nicht mehr erheblich. Hoffs Anliegen ist es, eine ethisch und theologisch motivierte Machtkritik in Anschlag zu bringen. Meines ist es, Repräsentationsstrategien theoretisch adäquat zu erfassen. Daher ist Hoffs generelle Theorie bm:r: Theoretisierung des "Platzhalters" (so der Titel des entsprechenden Kapitels) im Sinne der Aquivalenz zwischen dem kirchenamtlichen Umgang mit dem Namen Gottes und dem therapeutisch bedingten Positionieren der Geheimnisse des Es unter Berufung auf ein institutionell verbrieftes Wissen - gerade im Gegensatz zu Derrida, dem Hoff aufgrund seines soeben skizzierten Anliegens mehr Durchblick und ethische Überlegenheit bescheinigt - von großem Wert. Es wird übrigens wohl niemand behaupten wollen, daß die katholische Theologie des 17. jahrhunderts ftir Machtkritik sonderlich v empfinvdlich gewesen wäre. Slavoj Zizek: Liebe dein Symptom wie dich selbst, Berlin 1991, 85. Vgl. auch Zizeks Ausftihrungen zu Derridas Grenzen mit Blick auf Hegel in: ders., Denn sie wissen nicht, was sie tun - Genießen als ein politischer Faktor, Wien 1994. Folgendes Argument kann man exemplarisch anfuhren: "Das Subjekt ist auf den reinen Punkt [... ] reduzierte Substanz [... ]. [DJies ist der Schritt, den die Derridasche ,Dekonstruktion' scheinbar nicht vollziehen kann. Das heißt, Derrida variiert unablässig das Motiv, demzufolge die Selbstidentität unmöglich sei, wie sie immer konstitutiv, aufgeschoben, gespalten sei, wie die Bedingtheit ihrer Möglichkeit die Bedingung ihrer Unmöglichkeit sei [... ]. Die von Derrida durch die harte Arbeit dekonstruktiver Lektüre ans Licht gebrachte Unmöglichkeit, welche die Identität subvertieren soll, bildet geradezu die Definition der Identität." (Ebd., 48-49.) Zizek 1991,129.
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Ansatz will ich den methodologischen Ausgangspunkt der Medialisierung und Theatralisierung des Apokalyptischen umreißen, wie er sich in den hier behandelten Umsetzungen gestaltet, nämlich als liturgisch-rituell-architektonisch ausgerichtet, also affirmativ pragmatisiert. Um damit theoretisch fertig zu werden, wird die Figur des wesentlich Nachträglichen in Anschlag gebracht, insbesondere in der Form, die man von den Positionen Lacans und Zizeks ableiten kann. Wird wie bei Derrida die Figur des endlosen Aufschubs als Repräsentationsinstrumentarium gewählt, so erhält man eine endlose Kette von Nachträgen, wovon keiner der erste Schritt (pas) sein kann. ,,11 n'y a qu'un pas", allerdings muß "pas" im Sinne von "nicht" aufgefaßt werden, und zwar als Nicht-Urprung, der eine endlose, weil nicht logisch zu-Ende-denkbare Differenzialität erzeugt. Entscheidet man sich daftir, ,pas' als tatsächlichen Schritt zu denken, so werden Anfang und Ende nicht weniger paradoxal, aber sie werden in eine Repräsentationstechnik eingebettet, deren Funktionieren - wider jedwede Logik und als rhetorischer Akt - einfach (und wieder buchstäblich) vorausgesetzt wird. Diese Setzung der Autorität, welche die Grundlage von Lacans therapeutischem Ansatz darstellt22 - ob bewußt oder unbewußt, kann ich nicht feststellen - scheint Berührungspunkte mit der katholischen aufzuweisen. Der Kern in beiden Fällen ist das Setzen eines konkreten, wenn auch paradoxalen Endes. Damit kann man von zwei apokalyptischen Modellen, die von der poststrukturalistischen theoretischen Konfiguration zur Verftigung gestellt werden, ausgehen; und es stellt sich die Frage, auf welcher theoretischen Basis man das Apokalyptische betrachtet. Als übergeordnete Konstante, innerhalb derer alle hier in Betracht gezogenen Varianten definiert werden, möchte ich das Ende (der Zeit) hinstellen. Ich schlage folgendes Schema vor:
22
Vgl. die konkreten Unlstände der Entstehung dieser Methode in Elisabeth Roudinescos LacanBiographie (Jacques ucan - Bericht iiber ein Leben, Geschichte eines Denksystems, Frankfurt a. M. 1999). Einschlägig fiir mein Anliegen ist die Beschreibung der äußerst kontroversen "Kurzsitzung" , welche laut Roudinesco die "Allmacht des Analytikers" unterstreicht. Aufgrund der Konflikte, in die er wegen dieser Methode geraten war, suchte er im Herbst 1953 u.a. die Unterstützung der katholischen Kirche und bemühte sich sogar (vergeblich) um eine private Audienz bei Papst Pius XII., nahm nach dem Scheitern des Vorhabens aber trotzdem an einer öffentlichen Audienz in Castel Gandolfo teil (Roudinesco, 312). Roudinesco unterstreicht unmißverständlich die Tatsache, daß es hier nicht um eine echte innerliche Annäherung an die katholische Spiritualität ging, sondern um ein politisches Taktieren. Die von Lacan empfundene Analogie seiner Methode zum Katholizismus ist unabhängig davon ein wichtiger Befund.
Ma riographisch-apoka iyp tische T ec hn iken
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Das Ende der Zeit pas I (,nicht') (Derrida, Benjamin) ~
- differenziell - unmöglich -logisch - vom Ursprung her gedacht
~
pas II (Schritt) (Lacan, Zizek)
------ medial - technisch - rhetorisch - vom Ende her gedacht
Man kann innerhalb dieses Paradigmas zwei grundsätzliche Möglichkeiten entwerfen, die man verkürzt als das strukturelle Nicht-Eintreten-Können und das Eintreten-Können oder besser gesagt Eintreten-Müssen der Apokalypse formulieren könnte. Ich sage verkürzt, da die Apokalypse als Ende der Zeit per definitionem in der Zeit nicht eintreten kann - es sei denn, sie tritt buchstäblich im Modus pas II (also gewissermaßen mit mindestens einem Fuß in der Zeitlosigkeit) ein. Das Nicht-Eintreten-Können (also pas 1) kann man als skeptische oder auch jüdisch-messianische Version der Apokalypse bezeichnen, die mit Benjamin (v.a. in der Schrift zur Kritik der Gewalt 23 ) und Derrida assoziiert und mit den Begriffen differentiell, unmöglich und metasignifikativ zu versehen wäre. Die andere Möglichkeit (pas 11) kann man als die ,technische' bezeichnen. An sich handelt es sich hier, insofern man von der katholisch-liturgischen Art und Weise, mit dem Apokalyptischen zu arbeiten, spricht, um mehr als eine Möglichkeit. Denn dies ist die liturgisch-rituelle Technik selbst. Der liturgische Nachvollzug der heiligen Handlung ist der absolut zentrale Vorgang nicht nur rur die religiösen Werke, die ich hier anspreche, sondern auch rur das Apokalyptische, wie ich es insgesamt beschreibe. Bei einem solchen Nachvollzug, zumal im katholischen Zusammenhang, fragt man nicht nach dem Sinn, sondern nach der technischen Operationsweise der ausund vorgestellten apokalyptischen Repräsentationen, was sich auch auf den Text der Apokalypse des Johannes bezieht. Diese Gegebenheiten (und erst recht eine solche Betrachtungsweise der apokalyptischen Konfiguration) sind mit einem messianisch ausgerichteten skeptischen Aufschub der Apokalypse letztlich nicht vereinbar.
23
Hier geht es mir um die Differenz zwischen der irdischen, verwaltenden und der göttlichen, waltenden Gewalt, wobei letztere apokalyptisch-messianisch in unendlicher zeitlicher Ferne gesetzt wird.
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Das Kanonische als Schlüsselvorstellung der Apokalyptik: Mariologische und mariographische }Wackelkontakte ( in und mit der Schriftexegese Dans la meme tradition spiritualiste quelques commentateurs introduisent une precision importante: la femnie d' Ap. 12 est bien l'eglise, mais elle est aussi la Vierge Marie qui en est la figure ou le type. 24
Ich komme nun zum eigentlichen Material der Studie zurück, und zwar im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem Problem des Kanons. Bisher war von einem extrem nicht-kanonischen Werk die Rede. Dieser Anfang ist aber, wie bereits erläutert, aus der Sicht der rituellen Apokalyptik durchaus adäquat. Denn "Kanon" ist auf zunächst unscheinbare Weise eine Schlüsselvorstellung der Apokalyptik in der hier ausgefiihrten Auffassung, und zwar aus folgenden Gründen: Die Nicht-Zugehörigkeit der Wandmalereien in München/ Haidhausen zum Kunst-Kanon, d.h. zum Kanon der Kunstgeschichte, wird nicht nur - wie soeben ausgeftihrt - durch ihre Teilhabe an einer gerade auf der buchstäblichen Tri-via-lität der rituellen Wiederholung fußenden liturgischen Kanonizität 25 aufgefangen, sondern auch durch die Kanonizität der illustrierten Quellentexte. Der Kunst-Kanon wirft wiederum die Frage nach jener Grenze auf, welche von Belting stark historisierend als die Epochenschwelle zwischen dem Zeitalter des ,Kultes' und dem Zeitalter der ,Kunst' beschrieben wird, aber unter Ausklammerung dieser Historizität als systematische Differenz zwischen zwei Quellen der Kanonizität aufgefaßt werden kann. Die aufgeworfene Frage lautet wie folgt: Inwieweit und ab wann ist der Kunst-Kanon ein Säkularisat?26 Wird das Problem des Kanons als eines der Zentralität eines Werkes für ein bestimmtes Kulturgebiet gesehen, so kann man einen Vergleich zu jener buchstäblich-räumlichen, d.h. topographischen Plazierung der Repräsentation ziehen, welche die später zu besprechenden, jeweils im Mittelpunkt einer politischen und religiösen Anordnung stehenden kanonischen Darstellungen kennzeichnen. 24
25
26
Pierre Prigent: Apocalypse 12: histoire de l'exegese, Tübingen 1959. Es handelt sich dabei um das Standardwerk zur Geschichte der Exegese von Apk. 12. Für eine ausführliche Erläuterung der Deutung der Apokalyptischen Frau als die Kirche und Maria zugleich vgl. Altfrid Kassing: Die Kirche und Maria, München 1959. Ein ausführliches Nachzeichnen der Entwicklung der Mariologie insgesamt findet sich bei W. Delius: Geschichte der Marienverehrung, München und Basel 1963. Vgl. dazu Hubert Cancik: Kanon, Ritus, Ritual- Religionsgeschichtliche Anmerkungen zu einem literaturwissenschqftlichen Diskurs, in: Kanon und Theorie, hg. von Maria Moog-Grünewald, Heidelberg 1997,1-20. Dieselbe Frage kann an die Kunst-Theorie gestellt werden. Zur engen Verknüpfung von Kanon und Theorie vgl. Maria Moog-Grünewalds Einftihrung in Kanon und Theorie, ebd., vii-viii.
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Die Entscheidung, mit Trivialem zu beginnen und auf dieser Basis das Nicht-Triviale zu kommentieren, kann man auch als Bestandteil einer ,apokalypsenfOrmigen' Strategie betrachten, welche das Ende (das Letzte) - auch im Sinne des auf der Kunstskala ,Untenstehenden' - im konkreten Objektbereich an den Anfang setzt und in den obersten Rang holt. Das apokalyptische Prinzip des Endes im Anfang soll auch diese Bedeutung haben, denn sie steht im Einklang mit dem Primat der Wiederholung. Das bisher Gesagte kann auch ~uf die kanonischen apokalyptischen Quellen in der Heiligen Schrift und ihren Stellenwert angewandt werden. Das Kanonische ist nämlich auch in bezug auf die marianische Präsenz in der Heiligen Schrift aus der Perspektive hermeneutisch-philologischer Betrachtungsweisen problematisch, was allerdings eher den Status und die Adäquatheit hermeneutisch-philologischer Bibellektüre als die marianische Präsenz in der Heiligen Schrift und die daraus hervorgehenden mariographischen Strategien in Frage stellt. Einige Bibelwissenschaftler werden möglicherweise der Meinung sein, ich hätte bestimmte Schritte zwischen der Stelle in der Schrift und der spätbarocken Literarisierung ausgelassen. Einige Schritte zwischen den beiden Schriften will ich auch nachholen, allerdings nicht unbedingt diejenigen, die eine Bibelwissenschaft oder gar eine historische Ikonographik vermissen würde. Es ist aber nicht als grundsätzliche Kritik gemeint, sondern als Ergebnis eines ganz anderen Forschungsanliegens (nämlich eines von der Figur der Apokalypse ausgehenden) zu sehen, wenn ich den radikalen Ausschluß der marianischen Lektüre seitens der modernen Bibelphilologie ebenso gnadenlos ausklammere. Ich verweise hier auf eine exemplarische Stelle aus dem ausdrücklich ökumenisch ausgerichteten Kommentar Ulrich Müllers 27 : Wer ist nun die Frau? Bei der Beantwortung dieser Frage wird man sich zunächst darauf konzentrieren, den Sinn der Gestalt im jetzigen Zusammenhang zu bestimmen. [ ... ] In der Forschungsgeschichte tauchen verschiedene Interpretationen auf, wie die Frau des Visionsberichts zu verstehen ist. a) Die mariologische Deutung, die in der katholischen Exegese beherrschend war (z.B. Kosnetter), geht von der einfachen Feststellung aus, daß die Geburt des Kindes in 12,5 die irdische GeburtJesu meine und deshalb die Frau Maria sein müsse. Die Schwierigkeiten dieses Verständnisses beginnen bei dem Zweifel, ob denn die Frau der Vision wirklich eine Einzelperson darstellt, und enden mit dem Einwand, daß nach 12,17 die Frau noch andere Kinder hat, und zwar die Christusgläubigen überhaupt (Wilkenhauser, Gollinger, Lohse). Hilft man sich damit, die Frau zugleich auf Maria und die Kirche zu beziehen (z.B. Kassing), stellt sich die berechtigte Frage, ob man die Frau nicht besser gleich auf die Kirche deuten sollte, wenn manche Ein-
27
Ulrich Müller: Die OIfenbarul1g desJohal1l1es, Gütersloh 1984, 229 (meine Hervorhebung).
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Holt Meyer zelheiten auf Maria nicht passen (z.B. die Bewahrung in der Wüste) und nur auf Umwegen eine Erklärung finden (Michl).
Ich unterstreiche die Worte "war", "einfach" und "enden". Hier wird eine Endgültigkeit suggeriert, welche philologisch nachvollziehbar .ist, aber bei einer Berücksichtigung der apokalyptischen Gesamtkonfiguration eventuell zu relativieren wäre 28 . Ein konkretes Detail mag dies illustrieren: die aufgrund der Einzelheiten, die "aufMaria nicht passen" formulierte "berechtigte Frage, ob man die Frau nicht besser gleich auf die Kirche deuten sollte", darf zwar gestellt werden. Die unübersehbare Bedeutung der sich - gerade mit Blick auf die konstitutive Bedeutung von Ritual und Liturgie - gegenseitig ergänzenden Deutungen auf Kirche und Maria würde durch ein solches Verfahren ausgeblendet. Damit wird die höchst bedeutsame Möglichkeit des Wörtlichnehmens der Frau als Frau kampflos preisgegeben. Die Frage ist also ebenso berechtigt, ob diese Verarmung der nicht nur historisch signifikanten Bedeutungsspanne der Stelle einfach in Kauf genommen werden soll. Dies ist nicht der Ort, die gesamte Tradition der Apokalyptische-FrauExegese aufzurollen. Hier gilt es, bestimmte Tendenzen der bisherigen Lesarten zu unterstreichen. Würde ich eine ausfiihrliche Lektüre der Lektüren durchfuhren - und ich behaupte mit aller Entschiedenheit, daß eine relecture sub specie apocalypsis ein Desiderat ist -, so würde ich beim Augustinus-Schüler Quodvultdeus (t453) einsetzen29 , über Cassiodorus und Albert den Großen zu Bonaventura fortschreiten. Bonaventuras exegetische Position ist aus zwei Gründen fiir mein Anliegen von Bedeutung, nämlich erstens aufgrund der Tatsache, daß Bonaventura als erster seinen ganzen Kommentar der Apokalypse auf die Endzeit hin richtet, und zweitens deshalb, weil Bonaventura in der Apokalyptischen Frau nach dem sensus mysticus die Kirche und nach dem sensus litteralis die Jungfrau Maria sieht30 . Das erste Moment ist nicht nur inhaltlich, sondern historisch wichtig, denn es wird in der von den Jesuiten formulierten mariologischen und mariographischen Antwort auf die lutherische zeitgeschichtlich-allegorische Deutung, die den Papst mit dem Antichrist gleichsetzt, wieder aufgegriffen. Den Schluß des Berichtes würde dann die mit den marianischen anderthalb Jahrhunderten zwischen 1815 und 1965 zusammenhängende mariologische Ausrichtung der Exegese bilden31 . 28
29
30 31
Dieselbe Relativierung gilt für mythologische Deutungen wie z.B. die in Peter Busch: Der g~fallene Drache - M}'thenexegese am Beispiel von Apokalypse 12, Tübingen 1996, die alles Transrationale in den mythologischen Bereich verschiebt und damit implizit der Legitimität entzieht. Als Urheber der "ersten marianischen Exegese des zwölften Kapitels der geheimen Offenbarung" wird Quodvultdeus beispielsweise in Hilda Graefs autoritativer Darstellung der Marienverehrung (Maria - Eine Geschichte der Lehre Imd Verehnmg, Freiburg u.a. 1964, 123) identifiziert. Vgl. Prigent [Anm. 24], 33. Ohne der neueren Mariologie eine ausschließlich politische Motivation zugrunde legen zu wollen, muß man anmerken, daß die Marienverehrung in der Zeitspanne zwischen der postnapoleonischen Restauration (d.h. der im September 1815 gegründeten Heiligen Allianz, der die
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Eine Nuance dieser Deutung soll im Zusammenhang mit meinem Anliegen unterstrichen werden, und zwar exakt jene Nuance, die im Motto dieses Abschnitts angesprochen wird. Die marianische und mariographische Umsetzung von Apk. 12 ist von Anfang an ein Korrelat zur Deutung der Apokalyptischen Frau als der Kirche, und zwar dergestalt, daß die Gottesmutter als "Typus der Kirche" figuriert. Diese Nuance ist deshalb wichtig, weil die Gottesmutter damit als Allegorie (cl.h. als Konkretisierung und als sakraler Leib) der Kirche erscheint, was sie in eine besondere B~ziehung zum kirchlichen Ritual setzt. Denn jenes kirchliche Ritual, das den Text der Apokalypse des J ohannes marianisch, mariologisch und mariographisch einsetzt, hat eine fast identische verweistechnische Funktion. Die Gottesmutter als "Typus" tritt weniger als (mit AT -Figuren vergleichbare) bloße Präfiguration der Kirche denn als deren Quintessenz auf, als deren affirmative und nicht - wie die Figuren aus dem AT - als umgekehrt-metaphorisch zu ersetzende ,uneigentliche' Gestalt, die durch die ,eigentlichen' neutestamentarischen heiligen Figuren als "Antitypen" zu ersetzen sind. Es kristallisiert sich heraus - und dies ist der Hintersinn der ikonographischen Verknüpfung der Apokalyptischen Frau mit der Gottesmutter -, daß die Jungfrau Maria das ewige Eigentliche ist, das in den kirchlich-liturgischen Ritualen vergegenwärtigt wird; diese sind insofern ,uneigentlich', als sie sich in der Zeitlichkeit wiederholen, können aber fur sich genommen nicht ,uneigentlich' genannt werden. Somit ist die sich in der sakralen Kunst und im Kult wiederholende apokalyptische Attributik der Gottesmutter - d.h. das Ensemble der Gegenstände und Sachverhalte, mit denen die sakrale Institution der Gottesmutter zu Leibe rückt - ein pragmatisches Bindeglied zwischen der sakralen Handlung und dem angesteuerten sakralen Typus. Eine kritisch-philologische ,Widerlegung' tangiert nicht im geringsten eine derartige marianische Lektüre der Apokalyptischen Frau. Genausowenig die an sich bemerkenswerte Tatsache, daß mit der Apokalypse und dem Canticum canticorum ausgerechnet dasjenige Buch jeweils des NT und des AT zu den mit Abstand wichtigsten Quellen der Mariographie werden, die den problematischsten Status im jeweiligen Kanon haben. Insgesamt möchte ich hier die rhetorische Frage stellen, ob die heute übliche exegetische Vorgehensweise die Schrift der Apokalypse wirklich als eine apokalyptische Schrift behandelt, womit die noch rhetorischere Frage nach Wiedereinsetzung der jesuitenordens 1814 vorausging) und dem Abschluß des 2. Vatikanischen Konzils im Dezember 1965 tendenziell mit konservativen - d.h. ,anti-modernistischen' - weltanschaulichen (vgl. den 1910 vom Papst Pius X. verfaßten ,Antimodernisteneid') und kirchlichen (vgl. die auf dem ersten Vatikanischen Konzil 1869-1870 verkündete Unfehlbarkeitslehre und die ihr um 15 jahre vorangehende, mit ihr eng verknüpfte Lehre von der jungfräulichen Geburt Marias) Ansichten verknüpft war. Die Marienverehrung dieser Zeit ausschließlich auf weltliche und Kirchenpolitik zurückzuführen, wäre aber zu stark vereinfacht. Die ausführliche historische und theologische Argumentation, die erforderlich wäre, um dies zu belegen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
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der Vereinbarkeit von (hermeneutisch ausgerichteter Bibel-)Wissenschaft und Apokalyptik im Raum wäre. Damit komme ich auf die bereits im Vorgriff formulierte Bestimmung des Apokalyptischen im Sinne eines wesentlichen pragmatisch-rituellen Nachvollzugs zurück, denn er scheint in der Tat mit gewöhnlichen wissenschaftlichen Vorstellungen der Kausalität und der Quellenkritik unvereinbar zu sein. Der Widerspruch zu literaturwissenschaftlichen Konzepten fällt allerdings weniger dramatisch aus. Denn eine pragmatisch-kontextbezogene Lektüre eines Textes muß zwar nicht als solche legitimiert werden. Wenn aber eine große Menge von Texten und medialen Umsetzungen diesem Ursprungs text aufgeschichtet werden, so können sie weder vom Literatur-, noch vom Kunst-, noch vom Religionswissenschaftler und schon gar nicht vom Theologen ignoriert werden. Die Geschichte der christlichen Apokalyptik hat im Rahmen einer solchen Aufschichtung stattgefunden. Die Freilegung des ,nackten' Ursprungstextes ist daher keine fiir apokalyptische Zwecke adäquate Lektürestrategie. Adäquat ist einzig und allein die Arbeit mit dem Ursprungstext als Palimpsest. Der an Apokalyptik interessierte Literatur- und Religionsforscher darf und muß daher die Schrift der Apokalypse anders befragen, als die wissenschaftlich-akademische Bibelexegese dies tut. Ich darf mariographische Umsetzungen, Übersetzungen und Textstrategien nicht als ,unzutreffend' und ,überholt' ausklammern, wenn es mir um Kunstwerke, Schriften und Positionen geht, die von der Mariographie als selbstverständlichem Umgang mit Apk. 12,lff. ausgehen. Der Verlust oder zumindest die Abschwächung dieser Selbstverständlichkeit in späteren Epochen kann zur Kenntnis genommen, aber auf keinen Fall zum Maßstab der Analyse erhoben werden ..Denn die mariologische und mariographische Umsetzung der Worte der Apokalypse im 17. Jahrhundert - abgesehen von der systematisch-methodologischen Betrachtungsweise, um die es im weiteren gehen wird - muß man historisch ,von hinten', nicht ,von vorne' kommend betrachten. Die durch eine (im oberdeutschen Raum bis in die heutigen Stadtszenerien vorhandene) spätestens seit dem 15. Jahrhundert geradezu allgegenwärtige Apokalyptische FrauIkonographie bis ins absolut Unhinterfragbare bestärkte Assoziation mit der Gottesmutter, deren Effekte man etwa bei Albrecht Dürer in zahlreichen Zeichnungen, Druckgraphiken und Gemälden auffinden kann, stützt sich auf exegetische Autoritäten, die kein Mensch vor der Reformation und kein Nicht-Protestant (,Katholik'), aber auch kaum ein Anhänger der lutherischen Reform in den ersten beidenjahrhunderten danach in seinen wildesten Träumen in Frage gestellt hätten. 32 Die Jesuiten33 als große Meister und Kenner 32
VgL beispielsweise Reintraud Schimmelpfennigs Artikel: "Luther und Lutherische Marienverehrung", in: Marienlexikon 4, hg. von Remigius Bäumer und Leo Scheffczyk, St. Ottilien 1992,
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der Topik34 konnten nicht umhin, sich dieses unstrittig patristisch verbürgten und rituell-liturgisch vielfach kanonisierten Materials zu bedienen.
Du ridicule au sublime? Nun wird der bereits im Exkurs zur Exegese angedeutete Sprung ins 17. Jahrhundert zurück vollzogen, d.h. in die Zeit, in der die bereits 1200 Jahre alte mariographische Lektüre von Apk. 12 und die sich seit 200 Jahren immer mehr potenzierende und verbreitende ikonographische (d.h. mariographi-
33
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190-191 bzw. 191-194. Hier wird u.a. folgendes festgestellt: "Die lutherischen Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts halten trotz sonstiger gegensätzlicher Lehrauffassungen unter Hinweis auf die Entscheidungen der alten Kirche fest an der Gottesmutterschaft Marias und an ihrer dauernden Jungfräulichkeit. Maria wird als »Theotokos« bezeichnet, als »sacra Dei genetrix« (F. Lambertus Aven., In Divi Lucae Evang. Commentarii, 43 a), »sancta virgo« und »Deipara« (Hollatz, Examen Theologicum [dies eine Quelle aus dem Jahre 1763! - H.M.], 669). Die Verurteilung des Nestorius wird allgemein gebilligt. Wie bei Luther wird aus dem Glauben an die Inkarnation des Gottessohnes der Glaube an die immerwährende Jungfrauschaft Marias abgeleitet." (Ebd., 191.) Zur hier anstehenden konkreten Frage führt Schimmelpfennig aus: "Nach dem ref. Grundsatz »sola scriptura« bleibt auch die Lehre von der Aufuahme Marias in den Himmel an der Peripherie. Die Argumentation lautet gewöhnlich: da in der Schrift nichts berichtet wird über die Art, wie der Herr Maria zu sich genommen hat, so ziemt es uns auch nicht, danach zu fragen. Doch gibt es auch hier einige positive Stimmen: Brenz und Herberger schließen wiederum aus der Schrift, daß, wie Enoch und Elia in den Himmel gefahren sind, das auch und weit mehr an der Gottesmutter geschehen konnte." (Ebd.) Eine entscheidende Wendung in der lutherischen Marienverehrung - also die Entwicklung zur heutigen Situation hin, die keineswegs auf die hier behandelte Zeit (d.h. das 17. Jahrhundert) zurückprojiziert werden darf-kommt erst in der Aufklärung, d.h. "nachdem Christus nicht mehr als der menschgewordene Gottessohn geglaubt wird, sondern man in ihm nur einen Lehrer oder Religionsstifter sieht" (ebd., 192). Zur allgemeinen Wichtigkeit der Jesuiten in der hier besprochenen historischen, religiösen und rhetorischen Konstellation vgl. den Abschnitt über "Die über Jahrhunderte hindurch zu verfolgenden frömmigkeitsgeschichtlichen engen Beziehungen der Societas Jesu zum Münchner Hof', in Gerhard P. Woeckel: Pietas Bavarica - Wallfahrt, Prozession und Ex-voto-Gabe im Hause Wittelsbach in Ettal, Wessobnmn, Altötting und der Landeshauptstadt Miinchen von der Gegenrt;formation bis zur Säkularisation und der "Renovatio Ecclesiae", Weissenhorn 1992, 45. Auch wenn Roland Barthes sicherlich in der Feststellung recht hat, es ginge Ignatius in den Exerzitien um die "Erfindung einer Sprache" bzw. darum, "die Ausübung einer Sprache vor[zu]bereiten" (Sade Fourrier Loyola, Frankfurt a. M. 1986, 59), und den Einsatz einer assoziativen "freien Topik" (ebd., 70) geltend macht, ist ebenso deutlich, daß Ignatius topische ,Bilder' benutzt und V.a. durch Wiederholung ("ein entscheidendes Element in der Pädagogik der Exerzitien" - ebd., 71) eine Topizität gewissermaßen produziert, die sich in den ersten Jahrzehnten der Existenz der "Societas Iesu" festigt. Eine einschlägige Quelle rur die Zentralität der Topik [ur die Jesuiten gerade im 17. und im frühen 18. Jahrhundert ist Andre Collinots und Francine Mazieres Auseinandersetzung mit Rhetorik-Lehrmaterialien und -programmen aus französischen Jesuitenkollegs (vgl. Andre Collinot und Francine Mazieres: L'exercice de la parole - Fragments d'rme rhetorique .jesuite, Paris 1987). Hier nimmt der Candidatus rhetoricae von Joseph Jouvency (1710) als Fazit der gesamten Entwicklung eine herausragende Stellung ein. Insbesondere in Verbindung mit der ampllficatio (ebd., 87-147), die in Jouvencys Candidatus nach inventio, dispositio und elocutio eine besondere Abteilung der Rhetorik ("une quatrieme partie distincte", ebd., 87) und damit den krönenden Abschluß der Schaffung der Rede bildete, kommt die natürlich schon in der inventio behandelte Topik zum Tragen. Die ampltficatio ist ihr "zweiter Ort", und zwar in der Funktion des "Ausmalens" des Sachverhaltes "in den lebendigsten Farben" ("La deuxieme pI ace du lieu commun dans le discours est dans l'amplification, quand, apres le recit et l'exposition du sujet, l'orateur s'emporte contre le crime, et le peint des plus vives couleurs"). Collinot und Maziere betonen zu Recht die Zentralität dieses Nexus zwischen "Heux communs" und amplißcatio in der jesuitischen Rhetorik und leiten ihn direkt von den "inspirateurs" (ebd., 88) der jesuitischen Rhetorik, Cicero und Quintilian, aber auch von der Arbeit mit Bildern in Ignatius' Exercitia ab. Ohne die volle Tragweite dieser Verbindung beschreiben zu können, möchte ich unterstreichen, daß die ikonographisch-topische Figur der Apokalyptischen Frau als Paradebeispieljesuitischer konfessioneller ampltficatio-Strategien gesehen werden kann.
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sche) Tradition noch einmal gewaltigen Auftrieb erhielt. Es wird um zwei etwas ältere und kunstgeschichtlich kanonische visualisierende Umsetzungen und eine schriftliche Entfaltung aller erdenklichen Marienattribute gehen, auch all derjenigen, die von der Apokalyptischen Frau ausgehen. Die Beziehungen zwischen diesen drei Umsetzungen stehen in meinen weiteren Überlegungen im Mittelpunkt. Es handelt sich hier insofern um einen Schritt vom Lächerlichen zum Erhabenen (man könnte unter Umkehrung des Napoleonischen Spruches sagen: "du ridicule au sublime"35), als die Trivialität beiseite gelassen wird und die ,Spitzenleistungen' des europäischen Barock ins Blickfeld geraten. Die Zusammenftihrung eines bayerisch ,gesponsorten ' Meisterwerkes der flämischen Malerei, einer ,rein' bayerischen Mariensäule und einer überbordenden polnischen Barockschrift soll u.a. suggerieren, daß es sich bei allen dreien um Exempla einer relativ einheitlichen gegenreformatorischen mitteleuropäischen Strategie handelt, der die Grundtendenz der hier thematisierten rituellen Praktiken gleichermaßen zugeschrieben wird.
Zwei kanonisch-bayrische Visualisierungen Bei der ersten visuellen Umsetzung handelt es sich um ein Gemälde von Peter Paul Rubens mit dem Titel Die Apokalyptische Frau (Abb. 3). Das Ölgemälde war fiir den Hochaltar des Mariendoms zu Freising bestimmt, der im Zuge der totalen Neugestaltung des Innenraums der Kirche zwischen 1621 und 1630 entstanden ist (vgl. das Gemälde im Kontext des gesamten Altars, Abb. 4).36 Vermittelt wurde der Auftrag an Rubens im Jahre 1623 durch den Münchner Jesuiten Jakob Keller37 . Das Anliegen der Auftraggeber war die Anfertigung eines Bildes, dessen Figur "sich auf alle Marienfeste anwenden
35 36
Vgl. dazu Anm. 3. Vgl. dazu Leo Weber SDB: Die Erneuerung des Domes zu Freising 1621-1630 - mit Untersuchungen
der Goldenen-Schnitt-Konstntktionen Hans Krumppers und zum Hochaltarbild des Peter Paul Rubens, 37
München 1985. Zu Jacob Keller (1568-1631) berichtet das Biographisch-Bibliographische Kirchenlexikon (http://www.bautz.de/bbkl/): "K. wurde 1588 Mitglied des Jesuitenordens. Nach seiner Priesterweihe lehrte er Philosophie und Theologie an verschiedenen Orten. 1606 wurde er Rektor in Regensburg und 1607 in München, wo er ein einflußreicher Berater des Kurfürsten Maximilian 1. wurde. Als Kontroverstheologe machte sich K. einen Namen."
Abb. 3: Peter Paul Rubens, Die Apokalyptische Frau (1623)
Abb. 4: Altar des Mariendoms zu Freising
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ließe "38. Die Auftraggeber waren also offensichtlich der Meinung, daß gerade eine mariologische bzw. mariographische Umsetzung von Apk. 12 für diesen Zweck am geeignetsten war. 39 Ich halte zwei Eigenschaften der gegebenen Konstellation fest. Erstens war das Gemälde als ein integraler Bestandteil eines für liturgisch-rituelle Praktiken bestimmten Ensembles gedacht, das den Mittelpunkt der Meßfeier bilden sollte. Man bedenke hier die Tatsache, daß die am zentralen Altar in der zentralen Kirche des Bistums Freising (als des höchstrangigen bayerischen Bistums) gehaltenen Messen, die gerade im katholischen Verständnis als Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers Jesu Christi aufgefaßt werden, ausgerechnet vor diesem Bild stattfinden sollten. Die im Mittelpunkt des Gotteshauses befindliche ,Opferstätte' , die das kirchlich-institutionelle ground zero 40 sakraler Praktiken in Bayern und damit im führenden Land der "katholischen Liga" bildet, stellt eine essentielle Verbindung zwischen der Vergegenwärtigung Christi im Rahmen der Eucharistie und marianischen Vergegenwärtigungsstrategien her, die gerade im gegenreformatorischen 17. Jahrhundert virulent waren. Zweitens: Das essentiell Marianische ist in diesem Zusammenhang apokalyptisch aufzufassen; hier ist das essentiell Apokalyptische ebenfalls marianischer Provenienz. Narrativ gesehen schildert das Gemälde gleichzeitig die Entrückung des Kindes aus Apk. 12,5 und den Kampf der Engel gegen den Drachen aus 12,7. Das Gemälde ist nachweislich beeinflußt durch Tintorettos gleichnamige Darstellung und Albrecht Dürers Holzschnitte mit dem Titel Apocalypsis cum jiguris. (Abb. 5) 38
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Ebd., 81-82. Vgl. dazu auch Konrad Renger: Peter Paul Ruhens: Altäre für Ba)'er~, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Studio-Ausstellung, München, Alte Pinakothek, 9. November 199013. Januar 1991, München 1990, 68f[ Renger äußert sich vorsichtiger, aber in dieselbe Richtung: "Es wäre denkbar, daß die Jesuiten, denen die Marienverehrung ein besonderes Anliegen war, und der erwähnte Münchner Rektor Keller hier Einfluß hatte. Möglicherweise wollte man in Freising mit dem Marienthema auch einen zeitbezogenen, speziell mit der bayerischen Politik verbundenen Gedanken ausdrücken." (Ebd., 71.) Die - in meinen Arbeiten lange vor dem 11.9.2001 gepflegte - Verwendung des Begriffs grat/nd zero hat prinzipielle Bedeutung, ist aber auch bewußt als vieldeutiges Wort zu lesen. Es handelt sich bei den beiden kanonischen bayerischen Visualisierungen der Apokalyptischen Frau um zwei ,absolute 'Zentren' des bayerischen politisch-religiösen Territoriums, nämlich um den Freisinger Dom und um den späteren Marienplatz. Diese Bestimmung trifft sich mit der Position der Gottesmutter in der Heilsgeschichte, denn sie ist der letztendliche Ausgangpunkt der irdischen Ereignisse, welche die Erlösung bewirken. Durch diese Tatsache hängt die Jungfrau Maria auch mit einer ,strukturellen' Positionierung als grmmd zero zusammen, welche das Verfahren der ,Vertikalisierung' bedingt und informiert. Denn mit diesem Punkt im ,Syntagma des Weltlaufs' wird nicht nur der Umschlag von den ,Minus zahlen , in die ,Pluszahlen' der Zeitrechnung eingeleitet (das zeitliche gral/nd zero), sondern auch und vor allem jener Punkt erreicht, an dem die zeitliche Sequenzialität in eine gewöhnlicherweise (z.B. in der Barockmalerei) auf der vertikalen Achse visualisierte Relativierung der Zeitlichkeit umkippt. Diese Kippbewegung bedingt auf konstitutive Weise das Apokalyptische, ja ist mit ihr in gewisser Weise gleichzusetzen. Jedenfalls scheint der nach unten stoßende und nach vorne schreitende Fuß, d.h. der ambivalente pas der
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Abb. 5: Albrecht Dürer, Apokalypsis cum}igul'is (1498)
Die Apokalyptische Frau hat - ähnlich wie Dürers Illustration zu Apk. 12,lff - Flüge141 , ist aber ikonographisch durch die Farbgebung der Kleidung und pragmatisch durch die Bestimmung fur den Freisinger Mariendom eindeutig mit der Gottesmutter zu identifizieren. Die ausgeprägte Dynamik der Repräsentation rührt, ähnlich wie in Tintorettos Gemälde (Abb. 6), von der Aufwärtsbewegung der Apokalyptischen Frau / Gottesmutter mit Kind samt Engel rechts und der Abwärtsbewegung des vom Hl. Michael samt Entourage nach unten gedrängten Antichrist samt Kohorten her. Die Engel rechts reichen Mutter und Kind die Attribute des Siegs, in deren Mittelpunkt der Lorbeerkranz zu sehen ist. Diese Dynamik hat allerdings einen Gegenpol in der ruhigen Freisinger Landschaft im unteren Bereich bzw. im Hintergrund des Bildes (Abb. 7); in dieser Landschaft wird der Domberg mit dem Doppelturm
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marianisch in Szene gesetzten apokalyptischen Frau das gro/md zero im ,strukturalen' Sinne zu visualisieren. Dürer wurde bei der Erteilung des Auftrags als Vorbild ausdrücklich genannt. Renger beschreibt das Verhältnis zum Bild so: "Mit dieser bewegten Formulierung hat Rubens einen Höhepunkt in der langen Tradition von Apokalypsedarstellungen erreicht und einen für lange Zeit gültigen Maßstab gesetzt. Um so erstaunlicher, daß ihm zu Beginn seiner Beschäftigung mit dem Thema mit Dürers Holzschnitt ein der späteren Ausführung gar nicht entsprechendes Vorbild vor Augen stand, wie wir aus dem Brief Kellers an Veit Adam erfuhren. Die Berufung aufDürer ist um so bemerkenswerter, als eine formale Abhängigkeit fehlt. Bei Dfuer steht in einem Blatt die apokalyptische Frau, ausgestattet mit Sternenkrone und Sonnenmandorla, auf der Mondsichel neben dem Drachen, den Michael auf dem folgenden Blatt in die Tiefe stößt. Für Rubens, der beide Themen in einem Bild zusammenfaßt, dürfte eher Tintorettos Dresdner Gemälde Vorbild gewesen sein, das er wahrscheinlich in Venedig gesehen hatte. Es war ihm jedenfalls gut bekannt, eine Zeichnung danach wurde - wenn nicht von ihm selbst angefertigt - zumindest von ihm retuschiert." (Ebd., 73-74.)
Abb. 6: Jacopo Tintoretto, Der heilige Michael kämpft mit dem Drachen (um 1592)
Abb. 7: Detail des Freisinger Doms
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des Mariendoms, also dem Standort des Bildes, in der unteren linken Ecke des Bildes unverkennbar abgebildet. Dadurch wird die pragmatische Verortung des Bildes doppelt markiert. Die Apokalyptische Frau/ Gottesmutter ist ikonographisch orthodox durch eine flammende Oreole als "amicta sole" markiert. Ihr Kopf ist mit Sternen umgeben: die sechs sichtbaren Sterne deuten die im Text der Apokalypse vorgeschriebenen zwölf an. Das Attribut des "luna sub pedibus" wird durch die (ebenfalls orthodoxe) Kontamination durch Gen. 3,15 ("ipsa conteret caput tuum ... "), also mit einer ,zwischengeschalteten' Schlange abgebildet, die hinter dem Kopf unter dem handähnlichen Fuß 42 der Apokalyptischen Frau / Gottesmutter zerdrückt wird und sich in Todesqualen windet. Dieses Element wiederholt sich unmittelbar darunter in einer Schlange, die sich in der Hand eines nach unten gedrängt werdenden teuflischen Wesens befindet. Der Fuß befindet sich, wie Leo Weber gezeigt hat (vgl. Abb. 8), exakt an der Stelle des vertikalen ,goldenen Schnittes' des Gesamtbildes und damit im Mittelpunkt der Aufinerksamkeit des Betrachters. Es besteht außerdem eine kompositionelle Parallele zum Fuß des sich an der Apokalyptischen Frau/Gottesmutter abstützenden Gesus)Kindes. Die ikonographisch gewöhnliche und in beiden Dürer-Abbildungen zu sehende Mondsichel wird als Bestandteil einer vollständigen Mondkugel variiert43 , die auf deren Unterseite in Sichelform leuchtet bzw. beleuchtet wird. Der sichelformige beleuchtete Unterteil der Mondkugel wird links durch die von einem Kopf des Antichrist gespieenen Flammen verfärbt. Im dunklen Mittelteil der Mondkugel ist außerdem direkt unter der zerdrückt werdenden Schlange ein glänzender Lichtreflex zu sehen, der in Richtung des Erzengels Michael deutet. Das ohnehin vieldeutige Motiv des Mondes (z.B. als Allegorie der lichtempfangenden Gottesmutter, als Stütz-Punkt der Apokalyptischen Frau, aber zugleich als Metapher rur die von der buchstäblich
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Der handähnlich greifende Fuß kehrt 200 Jahre später in Delacroixs berühmtes Darstellung der dem kämpfenden Volk voranschreitenden Freiheit (1830) wieder. Freilich ist es nicht die Schlange des Bösen, sondern die zu überwindende Barrikade, die vom Fuß ergriffen wird. Ich würde argumentieren, daß die Suggestivität dieses sehr ungewöhnlichen Revolutions-Gemäldes durch seine apokalyptische Anordnung zu erklären ist. Zu Delacroixs Bild vgl. Marina Warner: Monuments & Maidens - The Allegory C!fthe Female Form, London 1986, 270ff. Es ist bestimmt kein Zufall, daß das ebenfalls von Warner besprochene Skulptur-Ensemble Der Triumph der Republik von Jules-Aime Dalou (endgültige Ausfiihrung auf der Place de la Nation in Paris, 1899) ein weiteres Motiv aus dem apokalyptisch-ikonographischen Repertoire enthält: die Frau, die auf dem Globus steht. Hier wie dort wird der Anfang einer neuen Zeitrechnung durch einen "pas". Renger führt hier verschiedene Deutungen an: "Der Mond ist nicht, wie bisher allgemein üblich, als goldene Sichel dargestellt, sondern diese ist der dunkleren Mondkugel angepaßt. Hier reagiert Rubens auf eine ganz neue Entdeckung Galileis, der mit seinem Fernrohr auch die im Schatten liegende Kugel gesehen und danach eine Zeichnung angelegt hatte. Der mit dem Physiker engverbundene Maler Lodovico Cigoli hat diese Zeichnung 1610/12 für den Mond seiner Immaculata in Sta. Maria Maggiore verwendet. Rubens seinerseits könnte von Cigolis Bild oder von Galileis Beobachtung gehört haben. Die naturwissenschaftlich exakte Wiedergabe wird Rubens gereizt haben. Die Form des Mondes kam aber auch seiner Bilderzählung entgegen; die runde Kugel gibt Maria gleichsam einen Anstoß und verstärkt das Motiv des Entschwebens in die Wüste." (Ebd., 73.)
(Freising/München, Alte Pinakothek).
Die Übereinstimmung wichtiger Gliederungshöhen mit markanten Goldene SchnittPunkten ist überraschend; am meisten wohl, daß die Apokalyptische Frau und ihr Kind genau zwischen den beiden Leitlinien (obere und untere M-m-Grenze) plus nächstliegendem oberen RI-Wert eingeordnet sind; obendrein, daß die Frau und ihr Kind jeweils auf der unteren bzw. oberen M-m-Grenze stehen. Damit sind sie am günstigsten plaziel't und zur optischen Wirkung gebracht. 119a
Zug-Marke
Gegenzug-Marke RI-Wert
Abb. 8: "Goldene Schnitt-Testanalyse", in: Leo Weber, Emel/emng [Anm. 36]
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rur die Ewigkeit stehenden Gottesmutter niedergetretene Zeitlichkeit) erhält damit durch Position und Technik der Visualisierung ein besonderes Gewicht. Die zweite medial-visualisierte Umsetzung dieser Stelle, die ich besonders hervorheben will, ist die etwas mehr als ein Jahrzehnt später errichtete Münchner Mariensäule. 44 Deren Entstehung ging auf die Initiative des glühendsten Marienverehrers und 'NOh! energischsten und überzeugtesten Gegenreformators der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zurück: des Herzogs Maximilian I. von Bayern 45 , Haupt der Katholischen Liga im Dreißigjährigen Krieg. Auch hier waren Jesuiten maßgeblich am Unternehmen ·beteiligt. Ich betone dies deshalb, weil ich die Jesuiten als die frühneuzeitlichen Meister jener sinnreichen und wesentlich nachträglichen Ritualisierung vorfuhren will, die im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht. Anhand eines zeitgenössischen Holzschnitts (vgl. Abb. 9) kann man sich überzeugen, daß diese Mariensäule auch zum Mittelpunkt von Andachten und anderen religiösen Handlungen wurde, die z.T. von Maximilian I. persönlich angeordnet und geleitet wurden. 46 Wenn ich von der Mariensäule spreche, so spreche ich nicht nur von der vergoldeten Figur der Gottesmutter von Hubert Gerhard 47 , die das Ensemble krönt, sondern von dem gesamten Ensemble, das in gewisser Weise ganz Bayern einschließt. Denn dieses Marienensemble wurde im 17. Jahrhundert zum "Nullpunkt der Kilometerzählung der von der Bayerischen Landeshauptstadt
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Die Marienfigur auf der Münchner Mariensäule wurde im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts modelliert, vom Goldschmied Hans van der Pracht ziseliert und im gleichen Jahr auf dem Hauptaltar des Doms, (also der Frauenkirche) erstmals aufgestellt. Sie wurde also erst 30 Jahre nach ihrer Entstehung (1638) auf die Mariensäule aufgesetzt. 1573-1651; Herzog seit 1597; Kurfürst seit 1623. Ein Beispiel des strengen Regimes von Maximilian war beispielsweise das 1601 eingeführte obligatorische Führen des Rosenkranzes, sowie der Verfügung, jeder Untertan müsse beim Aveläuten, "sei er nun zu Pferd, Fuß oder Wagen, in Andacht niederknien" (Woeckel 1992, [vgl. Anm. 33), 49; vgl. allgemein zu Maximilian Um Glauben und Reich - Kwfiirst Maximilian 1., hg. von H. Glaser, München 1980). Die Mariensäule war nach ihrer Errichtung 1638 häufig Schauplatz von Andachten, an denen der Kurfürst und seine Fanulie teilnahmen. Jacob Balde, der drei lyrische Texte der Säule widmete, schrieb beispielsweise 1640 eine Marienode aus Anlaß der Teilnahme der Kurfürstin Maria Anna an einer solchen Andacht. Aus gleichem Anlaß widmete J. Bartolomäus Kilian der Kurfürstin einen zwischen 1655 und 1665 entstandenen Kupferstich (ebd., 80). Die Säule war aber nicht nur ein Mittelpunkt kurfürstlicher religiöser Repräsentation., sondern auch Gegenstand spontaner Volksfrömmigkeit. Prozessionen und Bittgänge, die damals in der Woche in den Straßen Münchens stattfanden, machten stets an der Mariensäule halt. Der Fürstbischof von Freising mußte sogar ein Jahr nach der Errichtung der Säule den Dekan des Frauenkirchenstiftes anweisen, "in Zukunft dafür Sorge zu tragen, daß von jetzt ab an den Samstagabenden nur mehr eine Litanei gesungen werden dürfe anstelle der vielen, die sonst bis spät in. die Nacht mn ein ,von vielen unterschiedlichen Parteien' angestimmt worden seien" (ebd.). "Die Veduten, auf denen die Mariensäule erscheint, lassen an Ort und Stelle ein über viele Jahrhunderte währendes und nie unterbrochenes religiöses Brauchtum erkennen." (Ebd.) Im Fall der Münchner Mariensäule wurde die Schlange gewissermaßen im Nachhinein ausgelagert und der Fuß direkt auf die Mondsichel gesetzt. Dies ist für spätere Mariensäulen, beispielsweise in Prag, modellbildend.
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ausgehenden Straßen" gemacht. 48 Damit steht die Maria auch in diesem konkret-geographischen Sinne aufground zero. Die Errichtung dieses Bauwerks 49 löste eine wahrhaftige Flut von ähnlich gestalteten Säulen im ganzen katholischen Mitteleuropa aus, zu dessen prominentesten Vertretern die Votivsäule in Wien und die Mariensäule auf dem Altstädter Ring in Prag zählen (Abb. 9)50. Der Bau der Mariensäulen verfolgte das Programm einer Sakralisierung des städtischen Raums, und zwar durch dessen buchstäbliche ,Zentrierung' auf mariographische Anordnung. Entsprechende mariographische Schriftordnungen fiihrten diese Programmatik nach den demjeweiligen Medium eigenen Gesetzen 51 fort.
Polnische Verschrifllichung Zu den Umsetzungen von Apk. 12 zählen auch die einschlägigen Passagen einer barocken Schrift, des Jungfrauengartens (Ogr6d paniefzski) des Wespazjan Kochowski (1633-1700), den man als den polnischsprachigen Angelus Silesius bezeichnen könnte 52 . Das Werk aus dem Jahr 1681 besteht aus 16 sog. Blumenbeeten (poln. "kwatery"), in denen jeweils exakt 100 lateinische Beinamen der Gottesmutter Maria, ausgestattet mit Quellenangaben und mit
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Woeckel: Pietas Bavarica [Anm. 33], 60. Der Autor einer kleinen Monographie zur Mariensäule (Michael Schattenhofer: Die Mariensiiule in MÜllchen, München und Zürich 1971) spricht - wie an dieser Stelle in Pietas Bavarica zitiert - von einem "zeitlosen, unverrückbaren Symbol" Münchens, und weiß vielleicht nicht, wie programmatisch diese Aussage ist. Die Münchner Mariensäule, die von der vergoldeten Patrona Bavariae gekrönt ist (die Vergoldung verweist auf das Sonnenkleid), verteilt die Stellen der Schrift anders und delegiert den Kampf gegen den Drachen, dem ,Verstärkung' in Form einer Schlange, eines Basilisken und eines Löwen beigegeben wird (sie repräsentieren jeweils Hunger, Pest, Krieg und Häresie), an vier Heldenputten, die jeweils ein Untier energisch angreifen. Die Prager und Wiener Mariensäulen des 17. Jahrhunderts weisen eine entsprechende Grundstruktur auf. Während das RubensGemälde den Mittelpunkt der Neuordnung eines Kirchenraums bildet, ist die Mariensäule in der Konzeption Maximilians I. als Ausgangspunkt der Neuordnung eines als sakral gesetzten städtischen Raums zu denken. Dasselbe gilt für die Plazierung der Mariensäule auf dem zentral gelegenen Altstädter Ring in Prag, wobei das Münchner Original als eine Kultstätte intendiert ist, welche die Bewohner der Stadt - und nicht nur die Besucher des sakralen Raums - in buchstäbliche Mit-Leidenschaft zieht. Trotzdem herrscht dieselbe grundsätzliche Anordnung und Bewegungsrichtung vor: Maria strebt mit Kind nach oben in Sicherheit und Triumph, sakrale (und wohl auch heilige) Kämpfer stoßen das (nunmehr konkretisierte und politisierte) Böse nach unten. Die agonale Apokalyptik wird auch hier - wenn auch weniger emphatisch - mit dem Setzen des Fußes auf die Mondsichel verknüpft. Letztere wurde 1918 durch einen anarchistischen Anschlag zerstört. Daß ich zwei bayerische Visualisierungen und eine polnische Schrift als Beispiele heranziehe, ist nicht ganz zufallig. Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts in Polen ist eine Zeit der Rückeroberung des Landes für den Katholizismus nach den Wirren und Verwüstungen der nach Ende des Dreißigjährigen Kriegs einsetzenden Schwedenkriege. Die Selbstvergewisserung durch sprachliche Rhetorik sp!.elte dementsprechend eine größere Rolle. Die auffalligste Ahnlichkeit ist die Neigung zum scharfsinnigen Zweizeiler. Auch die Liebe zur mariographischen Paradoxalität könnte man als weitere Gemeinsamkeit hervorheben. Es ist außerdem der Umstand hervorzuheben, daß Angelus Silesius in seinem Cherubinischen Wal1dersmal1l1 ebenfalls auf ca. 1600 Kurzgedichte gekommen ist.
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meist zweizeiligen polnischen Versen in der Eigenschaft als ,Blüten' enthalten sind. Diese Art von überbordender Marienattributik hat ihre Wurzeln in der Blüte der lateinischen Marienpoesie ab dem 11. Jahrhundert, die wiederum auf den Beginn der Wirkung des wohl im 6. Jahrhundert in Byzanz entstandenen und Anfang des 9. Jahrhunderts ins Lateinische übersetzten Hymnos akathistos 53 zurückzuftihren ist. Diese Hymne besteht u.a. aus in Strophen geordneten Anreihungen von jeweils mit "XatpE vu~
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Vgl. auch die Angaben in Jedins Handbuch der Kirchengeschichte III: Die mittelalterliche Kirche: Erster Teil: Die Kirche unter der Herrschaft der Laien, 878. (Digitale Bibliothek Band 35: Handbuch der Kirchengeschichte, 4350ff. = HKG 3,1, Freiburg 1985, 361.) Im 11. Jahrhundert ist das tägliche OIficium parvum beatae Mariae Virginis schon weit verbreitet. Seit dieser Zeit übt auch der aus Byzanz stammende Hymnus akathisttls mit seiner langen Reihe von Ehrentiteln für Maria einen zunehmenden Einfluß aus, der sich von da an in einem Frühling der Marienpoesie kundgibt und später u.a. zu den marianischen Litaneien verdichtet. Das Wortspiel "vu~qHl avu~q>€en;" wird so wiedergegeben, da die Lautähnlichkeit einen Eindruck des Originals vermittelt.
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ihre besondere barocke Ausprägung vollkommen undenkbar wären. Diese ikonographische Tradition wiederum wäre ohne die Einbindung des ganzen 12. Buchs der Apokalypse in bestimmte rituell-liturgische Praktiken der Kirche (insbesondere der katholischen Kirche als Heimat affirmativ-mariologischer Theologie und v.a. Liturgie) genauso unvorstellbar. Hier denke ich beispielsweise an die Rolle von Apk. 12 als Evangelium des Festes Mariae Himmelfahrt. Meine bereits im Vorgriff formulierte Hauptthese soll nun auf dieser Basis vertieft werden, und zwar wie folgt: Gerade diese Abhängigkeitsverhältnisse machen das Apokalyptische dieser Umsetzungen aus, und zwar als einen wesentlichen Nachvollzug im Sinne der rituell-affirmativ e n Par a d 0 x a I i t ä t .55 Diese rituell-affirmative Paradoxalität ist das herausragende Merkmal der konfessionalisierten Mariologie und Mariographie der frühen Neuzeit, wie sie sich im Umgang mit den drei wichtigsten marianischen Paradoxien ausdruckt: Maria ist erstens jungfräuliche Mutter, zweitens Mutter des eigenen Schöpfers und drittens leitet sie den Tod des Todes ein. In allen drei Fällen tritt sie post-zeitlich auf, und ist daher eminent apokalyptisch, wenn man das Apokalyptische als das Ende oder das Beenden der Zeit betrachtet, und das ist meine Arbeitsdefinition. Ich stelle also eine enge Verbindung zwischen der marianischen Paradoxalität und dem Apokalyptischen fest, die der mariologischen und mariographischen Umsetzung von Apk. 12. ihre Logik verleiht. Ich wende mich nun einigen charakteristischen Aspekten der Kochowskischen Schrift zu. Zunächst erinnere ich an einschlägige Einzelheiten in der Geschichte, auf die sich Kochowski (und Rubens) beziehen. Kochowskis lateinisches Zitat und dementsprechend auch die Schlange bei Rubens sind dem ersten Buch Mose entlehnt. In einer praktisch-exegetischen Verkörperung des Anfangs im Ende wurde die Schlangenzertreterin aus Genesis 3,15 in der Vulgata in die Visualisierung dieser Stelle integriert: "Ipsa conteret caput tuum"56. Im SS
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In ähnliche Richtung argumentiert Jochen Hörisch in den Ausführungen zur paradoxalen Zeitlichkeit und Institutionalisierung des Abendmahls in seinem Buch Brot und Wein - Die Poesie des Abendmahls, Frankfurt a. M. 1992. Hörisch schreibt von der "Paradoxie der Institutionalisierung des Unerhörten und der Heiligung des Supplements" (ebd., 103), vom "Paradox einer sinnlichen Gewißheit, die so sinnlich gewiß nun auch wieder nicht ist" (44) und vom "Ritual, das die Differenz, auf der sie ruht, tilgt, indem die zeitlichen Zeichen, die auf ,anderes' verweisen, verzehrt werden" (88), wobei diese Paradoxien für den Verfasser mit einem Makel verbunden zu sein scheinen. Dabei ist die Paradoxalität, und zwar sowohl logischer als auch rhetorischer Art, wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe (vgI. ,Ecce attentatum' : Heimsuchungen von 1 Text' und ,Bild' in zwei Gedichten des polnischen Friihbarock, in: Behext von Bildern?, hg. von Heinz]. Drügh und Maria Moog-Grünewald, Heidelberg 2001) ein selbstverständlicher Bestandteil und Grenzwert der christlichen Orthodoxie. Seit Tertullian wird diese Stelle aufMaria gedeutet. Die Tradition wurde durch Laktanz, Ambrosius von Mailand, Petrus Chrysologius, Leo den Großen, Gregor den Großen, Beda, Petrus Damianus, Bernard de Clairvaux und viele andere fortgeführt (vgI. Aufstellung in PL 219, Index LXXI, Sp. 500).
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Hebräischen handelt es sich bei der schlangenzertretenden Gestalt um ein grammatikalisch männliches Wesen. Ausschlaggebend hier ist aber die Vulgata. Damit wird Apk; 12 zugleich als Lektüre von Gen. 3,15 hingestellt. 57
... il n'y a qu'un pas Conterens caput serpentis (XI/46)
W~ZU, brzydka gadzino, nie podniesiesz glowy, Boc hardy leb, tej stopa kruszy bialej glowy.
Scl1lange, hi!ßliches Reptil, du wirst den Kop{11icht heben, Denn deinenjesten Schädel zermalmt der Ft!ß der / einer Frau [des / eines, Wefßkopfs 'j.
In diesem ersten Textbeispiel verweise ich auf die Stellung von Kopf und Fuß. Der Fuß - poln. stopa - ist exakt in der Mitte der zweiten Zeile, d.h. auf der 6. und 7. Silbe der 13-silbigen Zeile und direkt vor der Zäsur, also an einer Stelle höchster Aufmerksamkeit. Damit ist er an einer Stelle verortet, die detjenigen des marianischen Fußes im Rubensgemälde (mithilfe der Technik des ,Goldenen Schnittes') analog ist. In beiden Fällen rückt die Technik des jeweiligen Mediums den Fuß in ein wichtiges Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Kopf tritt dagegen epiphorisch, also doppelt und im anderen Aufinerksamkeitszentrum auf, und zwar in einem identischen Reim eines (in der polnischen Grammatik merkmallosen) genitivus negativus mit einem genitivus possessivus. Die Köpfe treten damit u.a. in die Stellung einer räumlichen Vertikalität ein. Der erste Kopf gehört der Schlange, der zweite ist Teil einer damals verbreiteten polnischen Bezeichnung ftir Frau - biala glowa - wörtlich: "Weißkopf' (die etymologische Herkunft ist umstritten). So entsteht der kuriose Ausdruck "der Fuß des Kopfes". Durch die Inversionen der Satzfolge und die Metaphorisierung des Begriffes "Kopf' ist aber die Hierarchie von Kopf und Fuß in einem Schwebezustand. Beide Verfahren will ich als pro57
Hier wäre die Stelle, von der aus man Linien zu Eckhard Lobsiens Analyse des Schöpfungsberichts und seiner Wiederholungen (ebd.) ziehen könnte. Die Serie der Wiederholungen innerhalb des biblischen Schöpfungsberichtes, die zusammen mit der Wiederholung dieser Wiederholungen bei Milton und deren Wiederholung bei Blake nachvollzogen wird, wird von Lobsien unter anderem als Symptom der (poetischen, ästhetischen) Verschriftlichung behandelt. Ohne hier die sehr wichtige Differenzierung zwischen rhetorischer und ästhetischer Wiederholung berücksichtigen zu können, kann man den in Lobsiens Analyse unter expliziter Bezugnahme auf Mircea Eliades Mythos-Theorie (in Le mythe de I'hemel retour) genannten "Willen zur Entwertung der Zeit" bzw. die "Aufhebung der Geschichte" und den Status der Vergangenheit als "Präfigurierung der Zukunft" (ebd., 24f) als Grundfigur betrachten, auch wenn Lobsien angibt, "die Analogie archetypischer und poetischer Zeitlichkeit nicht zu weit" treiben zu wollen (ebd., 26). Daher wäre es nur folgerichtig, die Wiederholung des absoluten Anfangs in der Apokalypse als Ende der Zeit in die Serie einzubeziehen, zumal die Apokalyptische Frau als die Schlangentreterin aus Gen. 3,15 einer Metapher der zeitlichen Verkettung den Kopf (also ihr Prinzip) zerdrückt. Die Frage wäre hier, ob die (marianisch gelesene) Apokalyptische Frau als Sieg des absolut Paradigmatischen und damit als Krönung und zugleich als Abschluß des Poetischen schlechthin betrachtet werden könnte.
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grammatische lesen. Die zweitgenannte Verunsicherung der Hierarchie ließe sich sogar als Allegorie der Ambivalenz der Hand- und Fußarbeit des Liturgischen und der Kopfarbeit des Theologischen lesen. Das Rubensgemälde zeigt, wie bereits erwähnt, eine Übergängigkeit vom Fuß zur Hand auf, und zwar durch eine Deformation und Funktionszuteilung des Fußes. Damit werden Schritt und Tritt nicht nur zum Angelpunkt der apokalyptischen Bewegung (als ground zero, auch im Sinne der Koordinatenachsen), sondern auch zum ,handwerklichen Faktor', d.h. zum Prinzip der technischen Repräsentation des Apokalyptischen. Dieses Prinzip kann man beim Kochowskischen Zweizeiler auch voraussetzen, allerdings mit wesentlichen Erweiterungen, und zwar solchen, welche den Kurzschluß zwischen der Repräsentation des marianischen Leibes und dem liturgisch-rituellen Handeln sinnhaft anreichern. Mit anderen Worten: zur Hand- und Fußarbeit kommt eine sich selbst vorführende Strukturierung der sakral-liturgischen Sprache, die exakt durch die Äquivalent-Setzung von Kopf und Fuß ausgedrückt wird. Der buchstäbliche Vers-Fuß (die polnische Prosodie des 17. Jahrhunderts kennt keine Syllabotonik, also auch keine Versfuße im heutigen, d.h. übertragenen Sinne) in Form des Begriffes "stopa" im Mittelpunkt der zweiten Zeile ver-körpert aus dieser Sicht gewissermaßen die Vergegenwärtigung im liturgischen Wort. Der tautologische Reim auf "glowy" (des Kopfes) soll in diesem Zusammenhang noch einmal besehen werden. Denn es stellt sich heraus, daß dieser das soeben Ausgefiihrte überaus raffiniert unterstreicht, ja die eigentliche Pointe des kurzen Textes ist. 58 Das vorliegende Wortspiel könnte man folgendermaßen umschreiben: "Kopf ist (nicht) gleich Kopf". Die Frau als "Weißkopf" macht den Sündenfall nach der Logik Eva-Ave rückgängig. Dieses spätestens im Marienlied "Ave maris stella " belegte Verfahren wird mit anderen Mitteln wiederholt. Auf typologische Art und Weise wird der zerdrückte Kopf der Schlange hervorgeholt und durchgestrichen. Der hier vorgefiihrte Fuß und damit der (liturgische) Schritt des Kopfes wird damit zum Instrumentarium eines Hervor- und Wiederholens der besonderen Art. Daß dasselbe Wort durch die Wiederholung die entgegengesetzte Bedeutung erlangt, ist ein Verfahren, welches das Problem der Ähnlichkeit anspricht und die Macht der aufhebenden Wiederholung demonstriert. Die Differenz zwischen den beiden laudich identisch angegebenen "Köpfen" wird durch die Äquivalenz der beiden vor der jeweiligen Zäsur der beiden Zeilen stehenden und dadurch stark markierten Worte "gadzino" (,Reptil' - vocativum) und "stopa" (Fuß) angegeben. Das Reptil hebt den Kopf 58
Ein tautologischer Reim diente als Ausgangspunkt einer anderen von mir unternommenen Analyse einer polnischen Marienrepräsentation in Versen, nämlich in ,Ecce attentatHm' [Anm. 55].
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nicht, während der Fuß-Tritt ein Sich-Erheben des Kopfes über den Kopf bedeutet. Die beiden Zeilen sind damit zwei verschiedene, übereinandergelegte und damit das Hinuntertreten ikonisch abbildende Welten. Die zweite Zeile ist unten und damit zeitlich nachgeordnet, womit sie aber eine Stellung der Priorität erlangt. In der ,Zeile danach' ist der Kopf der Schlange kein Kopf mehr, sondern ein Schädel (leb). Er muß einer Kopf-Fuß-Konfiguration weichen und ,verliert' dabei sozusagen ,den Kopf. Der Kopf der zweiten Zeile ist aber auch kein richtiger Kopf, sondern Bestandteil einer Bezeichnung rur Frau, welche sie mit dem Attribut ,weiß' identifiziert. Hier kann man von einer Aktivierung und Realisierung dieses Attributs als Farbe der Reinheit und Unbeflecktheit ausgehen: Die nach dem Muster "notre Dame" / "our Lady" angesprochene Gottesmutter verdichtet sich in ihrem Schritt auf den Schädel der Sünden-Schlange. n n'y a qu'un pas: beim Kopf gibt es eigentlich nur den Schritt/Tritt der Frau als ,Weiß-Kopf. "Pas" kann man hier nicht nur als Schritt, sondern auch als Negationspartikellesen: Es gibt nichts außer einem Nicht. Der KopfSchritt ist nichts als ein Vernichter des Bösen, d.h. des ,bloßen Schädels', mit anderen Worten: der todgeweihten, nicht erlösten Materie.
Erste Schritte im nachträglichen Sonnenkleid Ich komme nun zu den anderen beiden Kochowski-Stellen, die hier besondere Aufinerksamkeit erhalten, nämlich zum doppelten Vorkommen des Beinamens Mulier amicta sole. Die Stellen sind wie folgt: Mulier amicta sole I (I/51)
Mulier amicta sole 11 (X/78)
Strojnas, 0 pani moja, mod&. dose bogat
Diese Wiederholung zählt zu den insgesamt zwölf Marienbeinamen, die im
Jungfrauengarten zweimal vorkommen - dazu zählen u.a. Fons signatus} Mater admirabilis} Mater consolationis} Mater sanctae spei} Inveniens gratiam} Ante saecula creata usw.
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Die Doppelung der Beinamen, die imJungfrauengarten eine seltene Ausnahme ist, erlaubt es Kochowski, zwei semantische Schwerpunkte zu setzen, nämlich einerseits die materielle Pracht und andererseits die bestechende Vorstellung von einem Sonnenkleid, das aus dem Stoff der Gerechtigkeit gemacht ist. Damit werden die Materialität des Apokalyptischen und insbesondere des mit ihm verbundenen Eintritts der absoluten Gerechtigkeit unterstrichen. Nun kurz zum Sinn des Sonnenkleids, bzw. zu dessen Relevanz fur meinen Ansatz und für dessen Einsatz in den hier vorgeführten Umsetzungen. Dazu sei eine weitere Kochowskische ,Blüte' angeführt: Virgo sole vestita (VI75)
Panno w slonce ubrana: bo gdy Boga rodzisz, Na slonce swi~ci patrz~ a Ty w sloncu chodzisz. Du Jungfrau, in die Sonne bekleidet: denn wenn Du Gott gebierst, Schauen die Heiligen auf die Sonne, aber Du läuftt in der Sonne
Zur Pracht und zum "Stoff der Gerechtigkeit" kommt hier eine quasi-dramaturgisehe Verräumlichung des Motivs. Diese Verräumlichung betrifft auch den Fuß, auf dem die Jungfrau in der ersten Stelle buchstäblich aufgetreten ist. Er wird im weiteren eine große Rolle spielen. Da Maria den mit der Sonne gleichgesetzten Gott geboren hat, läuft sie in dieser Sonne. Damit werden die Verhältnisse von Innen und Außen umgekehrt und die Komplexität und Multivalenz dieses Motivs wird signalisiert. Es kann unter anderem als Visualisierung der paradoxalen Eigenschaft der Gottesmutter als Mutter des eigenen Schöpfers gewertet werden. Das Sonnenkleid ist das Äußerliche, das gewissermaßen nachträglich das innerste Wesen der Figur bestimmt. Das Sonnenkleid ist auch das am konstantesten, wenn auch am variabelsten (als Mandorla, als von der Gestalt ausgehende Strahlen, als - wie bei der Mariensäule - Vergoldung der Figur, usw.) auftretende Merkmal in den Visualisierungen der (marianischen) Apokalyptischen Frau. Deshalb kann man ihm die Bezeichnungsweise der Allegorisierung bzw. Figuralisierung des Innerlichen der Gottesmutter im Äußerlichen und damit auch der Figuralisierung der buchstäblichen ,Präsentierung' (im Ritual) zuschreiben. Damit führt die so in Szene gesetzte Sonne ihre Eigenschaft als ambivalente Metapher (bzw. zur Metalepse tendierende Metonymie 59) der Meta-
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Die Sonne als Metapher der Metaphorizität (und eigendiche jede Figuralisierung der Metaphorizität) hat die Neigung, Ursache und Wirkung umzudrehen, denn der Primat verschiebt sich immer in Richtung der Figur zu ungunsten des Figurierten, womit der Bezeichnungsprozeß verdreht wird. Damit steht die Sonne umgekehrt ursächlich und damit metaleptisch ,neben' (d.h. zeitlich umgekehrt sequentiell) der Metapher in ihrer Bezeichnung der Metaphorizität. Eine analoge Struktur findet sich aber bei den Marienparadoxien, etwa der Bezeichnung "Tochter des eigenen Sohnes" (vgl. die Formulierung "Vergine Madre, figlia deI tuo figlio" am Anfang des 33. Gesangs von Dantes Paradiso).
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phorizität selbst auf - hier beziehe ich mich auf Derridas Mythologie blanche, wo folgendermaßen argumentiert wird 60: Worin liegt nun das Eigentliche, das spezifische Merkmal der Sonne? In der Topik [des Aristoteles - HM] wird diese Frage als Beispiel gestellt. Ist das Zuf~ll? War dies in der Poetik bereits bedeutungslos? Wir wurden, ohne es zu wollen, durch diese die Sonne in der Metapher zum Drehen bringende Bewegung ununterbrochen mitgerissen; oder wurden durch das, was die philosophische Metapher zur Sonne hin gerichtet hat, angezogen. Ist diese Blume der Rhetorik nicht (wie) eine Sonnenblume? ist sie nicht sogar - aber eben nicht genau ein Synonym - ein Analogon zum Heliotrop? [... ] Die heliotropischen Metaphern sind immer unvollkommene Metaphern. Sie vermitteln uns allzu wenig Erkenntnis, apriori einem der Termini, die in der Substitution (die sinnlich wahrnehmbare Sonne) direkt oder indirekt mitenthalten sind, das Eigentliche nicht erkannt werden kann. Was ebenso bedeutet, daß die sinnlich wahrnehmbare Sonne immer un-eigentlich gekannt und daher un-eigentlich genannt wird. Das sinnlich Wahrnehmbare im allgemeinen begrenzt die Erkenntnis nicht aus Gründen, die der Form der Präsenz des sinnlich Wahrnehmbaren innewohnen; zunächst aber, weil das aistheton sich inliner nicht zeigen, sich verstecken, sich entfernen kann. Es präsentiert sich nicht auf Befehl und seine Präsenz ist nicht beherrschbar. Nun, von diesem Gesichtspunkt aus ist die Sonne das sinnlich wahrnehmbare Objekt schlechthin. Sie ist das Paradigma des sinnlich Wahrnehmbaren und der Metapher: sie dreht (sich) und versteckt (sich) fortwährend. Da der metaphorischen Trope immer ein sinnlich wahrnehmbarer Kern innewohnt oder vielmehr etwas, das wie das sinnlich Wahrnehmbare jederzeit vermag, konkret oder in persona nicht präsent zu sein, und weil in dieser Hinsicht die Sonne der sinnlich wahrnehmbare Signifikant des sinnlich Wahrnehmbaren schlechthin ist, das sinnlich wahrnehmbare Modell des sinnlich Wahrnehmbaren (Idee, Paradigma oder Parabel des sinnlich Wahrnehmbaren), wird die Drehung der Sonne immer die Bahn der Metapher gewesen sein.
Die Rolle der Sonne als "Metapher der Metapher" ist insofern hier einschlägig, als das Changieren der Gottesmutter und damit auch der Mariographie zwischen zwei an sich unvereinbaren Rollen, nämlich als Subjekt und Objekt der ,Sonnenfunktion' , auf eine Frage nach ,eigentlichem' und ,uneigentlichem' Ausdruck, d.h. nach Wörtlichkeit und Metaphorizität, zurückgeführt werden kann. Die ,klassische' Bildanordnung bzw. Rollenverteilung, wonach Christus durch die Sonne als Lichtquelle und Maria durch den Mond als Empfänger des Lichts (als Verweis auf die Empfängnis Christi und die übergeordnete Rolle Christi) figuriert, gerät immer wieder dadurch ins Wanken, daß Maria unmittelbar mit der Sonne identifiziert wird. Damit kann man konstatieren, daß das paradoxale Verhältnis zwischen Heliotrop und Sonne hinsichtlich des Primats und der Eigentlichkeit eine Strukturähnlichkeit mit dem Gebrauch der Sonne in der Marienrepräsentation aufweist. Als der von der Sonne bestrahlte Mond, die den Mond nach unten Tretende, die Sonne selbst und die in der Sonne bekleidete (verklei60
Jacques Derrida: Die we[ße Mythologie, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, 205-258; hier: 240-242.
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dete?) weist sie ein programmatisch paradoxales Verhältnis sowohl zur Sonne als auch zu Christus als ultimativem Referenten auf So wird, nebenbei gesagt, der konfessionelle Verdacht des Primats der Gottesmutter zu einem Problem der Repräsentation. Der marianische Fuß auf dem Mond ist im Grunde ein Sinnbild und eine buchstäbliche Ver-Körperung dieser Tendenz: der (wechselhafte) Mond wird der (ewigen) Jungfrau untergeordnet, wodurch Maria buchstäblich den ,Stand-Punkt' der Sonne einnimmt. 61 Was die Derridasche Argumentation anbelangt, so ist es rur mein Anliegen von zentraler Bedeutung, die Zentralität der ihr innewohnenden Figur des Aufschubs, und zwar des permanenten Aufschubs unter die Lupe zu nehmen. Allgegenwärtig ist die fUr Derrida charakteristische Struktur des Immerschon-wohin-unterwegs-gewesen-und-niemals-dort-angekommen-Seins. Fragen wie "Sind Sie sicher zu wissen, was ein Heliotrop ist?" markieren diese Struktur. Feststellungen wie die folgende sind rur sie unverkennbare Belegstellen: "Das Natürlichste in der Natur enthält in sich selbst etwas, mit dem es aus sich herausgehen kann; es stimmt sich auf das ,künstliche' Licht ab, es verschwindet, macht sich undeutlich (sJellipse)J ist immer ein anderes gewesen." Diese Argumentationsfigur kann man als ,negativ apokalyptisch' bezeichnen. Sie verweist auf einen ewig weit in der Zukunft gelegenen, also niemals eintretenden bzw. denkbaren Punkt, wo die Ausrichtung auf den anderen nicht mehr Pflicht ist, wo Sonne von der Andersbezogenheit erlöst wird. Es stellt sich nun die Frage, ob der permanente Aufschub, inzwischen eine kanonische theoretische Figur, die einzige Argumentationsfigur - sogar die einzige apokalyptische Argumentationsfigur - ist, zu der Derridas Erkenntnisse fUhren können bzw. müssen. Ich habe bereits im Abschnitt "Konkretisierungen in Schritt und Kanon" argumentiert, daß es hier Alternativen gibt.
Faux pas Nun wiederhole ich die bereits begangene Pietätlosigkeit (d.h. einenfaux pas), indem ich wieder auf den schreitenden/ tretenden Fuß der Gottesmutter verweise. Um diesen (faux) pas komme ich nicht herum, denn er bildet fast immer den Mittelpunkt des Mittelpunktes.
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Dies ist ein häufiger Standpunkt der Exegese, und zwar unabhängig von der Auslegung der Apokalyptischen Frau als Maria oder als die Kirche. Prigent referiert die Position von Gregor dem Großen (7. Jahrhundert) und von Hugo von St. Cher (gest. Mitte des 13. Jahrhunderts) beispielsweise jeweils wie folgt: "La femme est l'eglise, le soleil designe le Seigneur, la lune les choses temporelles et changeantes" (Prigent: Apocalypse 12, [Anm. 24] 21); "La femme est la bienheureuse vierge Marie en qui tout n'est que darte et qui meprise tout ce qui est terrestre (lune)." (Ebd., 35.)
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Dies ist besonders deutlich im Falle des Rubens-Gemäldes. Die Thesen Leo Webers zum Fuß der apokalyptischen Frau und des sich abstützenden Kindes und dem goldenen Schnitt - nämlich die Tatsache, daß sich beide Füße an entscheidenden, nach den Goldenen-Schnitt-Berechnungen lokalisierten Stellen befinden - wurden bereits erwähnt. In weiteren Berechnungen hat Weber feststellt, daß sich diese Zentrierung nach dem goldenen Schnitt auf die Komposition des gesamten Hochaltars erstreckt. Damit ist eine überdeterminierte Vertikalisierung zu verzeichnen. Der sich auf die Mondsichel stützende Fuß der Gottesmutter auf der Mariensäule ist aufgrund seiner Position als geographisches, politisches und religiöses ground zero von ganz Bayern ein pragmatischer Mittelpunkt ganz anderer Art. Als ground zero und als Schauplatz eines mehrfachen goldenen Schnittes wird der Fuß zum Angelpunkt des Apokalyptischen. Man könnte aber dabei die Frage stellen, inwieweit ein so aufgefaßter Fuß überhaupt noch als Fuß zu fassen ist bzw. als Fuß Fuß fassen kann. Der marianische Fuß steht auf dem Mond, schiebt ihn aber als Sinnbild der Zeitlichkeit nach unten weg. Der Fuß fußt also auf einem Grund, den er buchstäblich unter-druckt - so funktioniert auch der Begriffground zero 62 . Der apokalyptische Fuß gelangt durch das Wegschieben der Grundlage zu einer absoluten Affirmation, zu einem Anfang im Ende, aber gleichzeitig zu einer Auslöschung jedweder denkbarer Grundlage, auf der das Wegschieben einer Grundlage stattfinden, d.h. einen Ort haben könnte. Dies ist die Paradoxie der, Vertikalisierung' 63. Die Verbindung der Vertikalisierung mit der Bewegung des Wegschiebens mit dem Fuß hat zwei konkrete Bedeutungen. Erstens in Verbindung mit dem Thema des Engelsturzes: Hier wird die Schlange, stellvertrete~d fur den Drachen und alle anderen vom Himmel auf die Erde geschleuderten Wesen in Apk. 12 mit der Mondkugel zusammen nach unten befordert. So haben wir es mit einer axiologisch-metaphysischen Besetzung von Oben und Unten zu tun, die aber narrativ begründet ist. Ambivalenter und deshalb auch wichtiger ist das Setzen des Fußes auf den Mond. Der Mond - ähnlich wie die Sonne - kann zwar fast alle Plätze im marianischen Schema besetzen, u.a. als von der als Christusallegorie figurierenden Sonne beleuchteter Himmelskörper; damit würde Maria auf oder über einem affirmativ besetzten Attribut stehen und metonymisch mit diesem bezeichnet werden. Wichtiger ist hier aber die weit verbreitete Auslegung des Mondes als Metapher der Veränderbarkeit, welche die Gottesmutter durch ihren Tritt vernichtet. Damit wird die syn62
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Der "Punkt, über, unter oder an welchem eine Atombombe gezündet wird" (so die gängige Lexikon-Definition). Man könnte versucht sein, sich bei der mariographischen Apokalyptischen Frau auf einer Suche nach den apokalyptischen Wurzeln von Jakobsons poetischer Funktion im Sinne der Projektion der Selektion auf die Sequenz zu begeben.
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tagmatisch-narrative Begründung selbst potentiell zunichte gemacht. Es stellt sich eine gewissermaßen absolute Metaphorizität ein, die den Anspruch auf totale Präsenz erhebt.
Running, it never runsfrom us away (Säulen der Argumentation) Meine abschließenden Bemerkunge:rr zu Kochowski tragen ein Motto aus John Donnes Anniversaries64 . Das nicht vorankommende Laufen, das sich bei Donne auf die Liebe bezieht, ist' ein geeigneter Anlaß dafür, ein letztes Mal die absolute Vertikalisierung der Syntagmatik als Ende der Zeit aufzurufen. Ich will nämlich hier an die übereinanderliegenden Köpfe im eingangs besprochenen Schlangengedicht erinnern, sowie an die ambivalente Rolle des Mondes. In diesem Zusammenhang möchte ich über die Texte sprechen, in denen die Säule explizit einbezogen wird: Beet Blüte II
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Attribut
Angeg. Kochowskis Gedicht Quelle Septuplex Alphons Kolumn&.s Panno swi~ta, na kt6rej si~ zmiesci columna Rodrig. Hieroglifik wyrzni~ty siedmi twych bolesci. Du Heilige Jungfrau, Du bist eine Säule, auf der sich befindet Eine Hieroglyphe, eingeritzt durch deine sieben Schmerzen. Columna ignis Exod. Slup Pana gorej&.cy, pewne grzesznym haslo, Biezmy w skok, by zbawienne znami~ to nie zgaslo. Die brennende Säule des Herrn, den Sündern ein sicheres Signal, Laufen wir schnell, damit das rettende Zeichen nicht erlischt. Columna nubis Exod. Slup, kt6ry to W obloku zda si~ byc ognisty, Ten do ojczyzny wiedzie grzesznych wiekuistej. Die Säule, die in der Wolke zu brennen scheint, Dieseführt die Sünder in die ewige Heimat. Columna amorisAvancin. Panna kolumn&.jedn~ na kt6rej kolumnie, Dei B6g milosc sw&. ku czleku odrysowal szumnie. Die Jungfrau ist eine Säule, und auf dieser Säule Hat Gott seine Liebe zum Menschen ruhmreich gezeichnet.
Nirgends bei Kochowski steht Maria auf einer Säule, sondern sie wird implizit oder explizit mit der Säule gleichgesetzt. Hier haben wir es mit einer ähnlichen Ambivalenz wie beim Mond zu tun, mit dem sie metonymisch gleichgesetzt wird. 64
The Anniversary ist ein Liebesgedicht; es besingt die Liebe des Ich in apokalyptischen Kategorien, denn sie ist immer absolut neu, hat aber keine Zukunft. Das Gedicht beginnt wie folgt: "All kings, and al1 their favourites,/ All glory ofhonours, beauties, wits, / The sun it self, which makes time, as they pass, / 1s eider by a year now than it was / When thou and I first one another saw. / All other things to their destruction draw, / Only our love hath no decay ; / This no to-morrow hath, ncr yesterday; / Running it never runs from us away, / But truly keeps his first, last, everlasting day." John Donne: The Comp/ete English Poems, Middlesex/N.Y. 1971,42.
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Die Gottesmutter steht auf ground zero, bezeichnet ground zero, ist zugleich selbst ground zero. Ich beschränke mich auf den ersten und den letzten Text aus dem jeweils zweiten und zweitletzten Blumenbeet von Kochowskis Jungfrauengarten. 65 In beiden polnischen Gedichten Kochowskis wird ausdrücklich gesagt, daß die Jungfrau (poln. "panna") eine Säule ist. In beiden Fällen ist ihr etwas von Gott eingeschrieben worden, und zwar im ersten Fall die sieben Schmerzen 66 , und im zweiten die Liebe zum Menschen und damit implizit Christus selbst als Eingeschrie benes. Der meta-mediale Charakter dieser Texte soll betont werden. Denn auch darin ist die Übergängigkeit der Kochowskischen Schrift zu den bisher besprochenen Bildern bzw. Bild-Schrift-Ensembles gegeben. Sowohl die Hieroglyphe auf der ersten Säule als auch die "ruhmreichen" (der polnische Begriff ist synästhetisch, ist vom Wort für "Lärm" [szumnie] abgeleitet) Zeichen des liebenden Gottes sind sichtbare materielle Zeichen, welche die Medialisierung der Gottesmutterschaft 67 als Säule nachträglich zu einem wesentlichen Vorgang machen. Die gezeichnete Säule in beiden Beispielen ("Hieroglyphe, eingeritzt durch deine sieben Schmerzen"; "auf dieser Säule I Hat Gott seine Liebe zum Menschen ruhmreich gezeichnet") als Apotheose der Vertikalisierung und damit als großes Zeichen des Endes der Zeit erhält in ihrer Gleichsetzung mit der Gottesmutter ihren Sinn. Die sieben Schmerzen am marianischen Leib werden - unter offensichtlicher Bezugnahme der geläufigen Darstellung der Schmerzensmutter mit einem von oben geführten, auf ihr Herz gerichteten Schwert - durch einen Schreibvorgang metaphorisiert. Damit wird das Ende der Zeit durch eine göttliche Zeichenstunde und eine affirmativ-mediale Unterweisung eingeleitet. Das "große Zeichen" wird zum "großen Zeichnen".
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Ich will nicht unerwähnt lassen, daß der Jesuit Nicolaus Avancinus als Quelle des zweiten Marienbeinamens "Columna amoris Dei" genannt wird. Damit kommt, wie bei Rubens' Gemälde und der Münchner Mariensäule, der ,Auftraggeber' der Ausfiihrung aus den Reihen der Jesuiten. Die sieben Schmerzen Marias sind: die Beschneidung, die Flucht nach Ägypten, das Verschwinden des zwölfjährigen Jesus und sein Auftauchen unter den Gelehrten im Tempel, die Kreuztragung Christi, die Kreuzigung Christi, die Betrachtung Christi am Kreuz, die Beweinung des toten Christi. Dieses ikonographische Ensemble kann man im Sinne der Vorführung des marianischen Leibes als einer aktiven Schreibfläche auslegen. In meinen Ausführungen spreche ich drei mediale Gegenstandsbereiche an, nämlich die Malerei, die Architektur bzw. die urbane Raumgestaltung und die Literatur. Was hat das Mediale zu bedeuten? Hier sollte man die Tatsache nicht außer acht lassen, daß sich die Apokalypse des Johannes durch eine ausgesprochene Medienvielfalt bis hin zum Verschlingen des Datenträgers der Schrift auszeichnet (Apk. 10,10: "es war süß in meinem Mund wie Honig, und als ich's gegessen hatte, war es mir bitter im Magen"). Man darf durchaus die Frage stellen, welches Medium das Apokalyptische, was es auch immer sein mag, am besten repräsentiert (Francis Ford Coppola antwortet: der Film), oder ob die Frage nach dem Apokalyptischen nicht letztendlich eine mediale ist, d.h. ob das in Ritual eingebettete ,Apokalyptisch-Visionäre' primär als Visualisierung der Schrift bzw. als Meta-Rhetorik und Meta-Tropologie der Schrift-Visualisierung überhaupt zu lesen wäre.
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Die Identifikation der Jungfrau Maria mit einer be-zeichneten Säule ruhrt also ein Aufzeichnungs- und Raummodell vor, das nicht nur das Problem der Vertikalisierung maßgeblich einbezieht, sondern den besonderen und paradoxalen Charakter der marianischen ,aktiven Schreibfläche' verdeutlicht. Wirdso die Lehrmeinung - ihr das Verbum Dei bei der Verkündigung eingeschrieben, so hebt ihr aktives Einverständnis jedwede einseitige Passivität auf. Im Fall der mit Maria gleichgesetzten Säule wird dieses Modell des marianischen Daseins auf den Endpunkt der Marienvita gesetzt und implizit in die Technik der Repräsentation übertragen. Denn die mit der Himmelfahrtsvisualisierung verbundene Figur der Apokalyptischen Frau auf der Säule wird in die Säule ver- und übersetzt; die so beschaffene Säule wird dann zum Gegenstand des Aufzeichnens. Denkt man diese Darstellungsstrategie mit all dem zusammen, was bisher über den marianischen "pas" gesagt worden ist, so erhält man eine Transposition des sich an den Mond abstützenden Abstoßens des Mondes in den Bereich der Darstellung selbst, also eine Repräsentation der Marienrepräsentation als mise en abyme. "Running, it never runs from us away": Die Äquivalenz des marianischen Schrittes und Trittes mit der Fläche bzw. dem Objekt des Schreitens/Tretens ist ein Begleitumstand der paradoxalen marianischen Bewegung insgesamt, die wiederum als Repräsentation der Paradoxie des apokalyptischen Raums, der apokalyptischen Zeit und vor allem deren Repräsentation gesehen werden kann. Durch die Verbindung mit der sakralen, ja liturgisch einschlägigen Mariensäule wird diese Konfiguration aber an rituelle Praktiken, also an die liturgische Hand- und Fußarbeit rückgekoppelt und die unterstrichene und unterstellte endlose Spiegelung wieder durchgestrichen und umstellt. Ich breche hier diese Analyse ab in der Hoffnung, umrissen zu haben, welche Gestalt die Übergängigkeit zwischen dem Marianischen und dem Apokalyptischen in den betreffenden Stellen annimmt.
Schlußbemerkung Das Rubens-Gemälde und die Mariensäule haben u.a. den ikonographischen Weg von der Schrift der Apokalypse zur Schrift Kochowskis gezeigt. Ich möchte aber alle drei als Zeichen der gewissermaßen ante saecula einprogrammierten nachträglichen Materialisierung der mariologischen und mariographischen Apokalyptik lesen. Ich betrachte dies als notwendigen ersten Schritt zur Ausdifferenzierung der Medien, wobei ich eine Medienkonkurrenz aufgrund der hier präsentierten Argumentation ausschließen würde. In allen drei Fällen treten Ende und Anfang im Zeichen des Endes der Zeit auf Das bedeutet, daß sie in eine metonymische Beziehung des Verweises aufeinander treten, und zwar buchstäblich t r e te n. Denn dieser Schritt oder
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Tritt befindet sich dort, wo Fuß und Schlange, Fuß und Mond oder Fuß und Globus, um die drei Hauptvarianten zu nennen, einander tangieren. Das Sonnenkleid, sei es in Form des Goldes, einer strahlenden Mandorla oder der Metaphorisierung als Stoff der Gerechtigkeit präsent, komplimentiert diese Konstellation in eine meta-metaphorische mediale Sphäre hinein: All dies findet unter den Bedingungen einer ins Absolute erhobenen Rücksicht auf Darstellbarkeit der rituell-sakralen Vorwegnahme des Endes der Zeit (Lacan und Zizek- insbesondere in ihrer Differenz zu Derrida - habe ich genau zum Zwecke der Beschreibung und Einordnung dieses Sachverhalts einbezogen) und des Nachvollzugs von dessen marianischem Ausgangspunkt statt.
Verzeichnis der Abbildungen: Abb.l Abb.2 Abb.3 Abb.4 Abb.5 Abb.6 Abb.7 Abb.8
Die Apokalyptische Frau an der Kreuzung Rosenheimer-/ Orleansstraße in München (Haidhausen) Der apokalyptische Spruch ums Eck von der Apokalyptischen Frau an der Kreuzung Rosenheimer-/Orleansstraße Peter Paul Rubens: Die apokalyptische Frau (1623), Alte Pinakothek München Altar des Mariendoms zu Freising Albrecht Dürer: Apocalypsis cum figuris (1498) Tintoretto: Der heilige Michael kämpft mit dem Drachen (um 1592), Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden Detail des Freisinger Doms Leo Weber: Die Erneuerung des Domes zu Freising 1621-1630: mit
Untersuchungen der Goldenen-Schnitt-Konstruktionen Hans Krumppers und zum Hochaltarbild des Peter Paul Rubens, München 1985: Abb.9 Abb.l0
"Goldene Schnitt-Testanalyse" Zeitgenössischer Stich der Münchner Mariensäule (um 1640) Prager Mariensäule
Verena Olejniczak Lobsien MULTI PERTRANSIBUNT, ODER: DAS VERSPROCHENE ENDE Inszenierungen frühneuzeitlicher Apokalyptik in Shakespeares King Lear
1. Die Jrühneuzeitliche Apokalyptik um 1600
Shakespeares Drama hat eine notorisch komplizierte Textgeschichte. Abgesehen davon, daß hinsichtlich des Entstehungsdatums lediglich ein ungefahres ,1605 bis 1606' vermutet werden kann 1 , gibt es zwei Druckfassungen, die sich erheblich voneinander unterscheiden: die erste Quarto-Ausgabe von 1608 (gedruckt im Dezember und Januar 1607/1608 unter dem Titel M.
William Shak-speare: His True Chronicle Historie oJ the life and death oJ King Lear and his three Daughters [... ] As it was played before the Kings Maiestie at Whitehall vpon S. Stephens night in Christmas Hollidayes. [ ... F) und der Druck in der ersten Folio-Ausgabe von 1623 (unter dem Titel The Tragedie ofKing Lear). Zudem liegt die frühe Auffiihrungsgeschichte des Stückes weitgehend im Dunkeln. Vielleicht weisen die Veränderungen, die den Folio-Text kennzeichnen, auf weitere Auffiihrungen nach 1608 hin; nachgewiesen ist jedoch nur eine einzige (1610 in Yorkshire). Eine präzise historische Verortung bzw. ein genauer Bezug auf zeitgenössische Aktualität erscheint damit erschwert. Versucht man, das Stück im Diskurs frühneuzeitlicher Apokalyptik in England zu Einer der wichtigsten Prätexte, The True Chronicle History cf King LEIR and his three da ughters , findet sich im Mai 1605 zum ersten Mal im Stationers' Register eingetragen und wird in diesem Jahr zum ersten Mal publiziert; vermutlich ist dieses Stück bereits im April 1594 aufgeführt worden; im Jahr 1603 werden zwei weitere Prätexte - Florios Montaigne und Harsnetts Declaration C?f Egregious Popish Impostures - veröffentlicht. Weiterhin finden in diesen Jahren zwei Gerichtsprozesse statt, die einige Aufillerksamkeit auf sich ziehen: 1603-4 der Fall des Brian Annesley, den seine älteste Tochter für wahnsinnig zu erklären und zu entmündigen gesucht hatte, und der dank der Intervention seiner Jüngsten, Cordell, rehabilitiert wurde; 1604-5 der Prozeß, mit dem der uneheliche Sohn Robert Dudleys, des Earl ofLeicester, vor der Star Chamber seine Legitimität zu erstreiten suchte. - Vgl. hierzu die Einleitung des Herausgebers in: William Shakespeare: King Lear, ed. by R.A. Foakes, Walton-on Thames 1997, 89-92. Ich zitiere im folgenden nach dieser Ausgabe, allerdings ohne Foakes' Markierungen der Folio- und Quarto-Versionen im Text zu reproduzieren. Stellenangaben zum Text des Stückes erfolgen nach dem Schema (Akt. Szene. Zeile) in arabischen Ziffern direkt nach dem jeweiligen Zitat im Haupttext. - James L, 1603 zum König gekrönt, wurde im Oktober 1604 in Westminster zum König von Großbritannien ausgerufen; hierzu und zu der topischen Beziehung zur Frage einer möglichen Reichsteilung vgl. ebd., 15, 91: Ganz im Gegensatz zu Lear scheintJames allerdings eher die Einheit des Reiches am Herzen gelegen zu haben. In der an seinen Sohn gerichteten Schrift Basilikon Doron (1599) warnt er diesen ausdrücklich vor einer Aufteilung der drei Königtümer England, Schottland und Wales unter seine Erben (zitiert ebd., 15). Gemeint ist der 26. Dezember 1606; das erhellt aus dem Eintrag im Stationers' Register vom 26. November 1607: "A booke called Mr William Shakespeare his historye ofKinge Lear as yt was played before the kinges maiestie at Whitehall vppon st Stephans night at christmas Last [ ... ]" (ebd., 110).
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situieren, so läßt sich gleichwohl rur den Zeitraum um die Jahrhundertwende und etwa die ersten zwei Jahrzehnte nach ihr der auf den ersten Blick einigermaßen überraschende Eindruck festhalten, daß King Lear in einer Zeit erscheint, in der die apokalyptische Erregung auf dem erreichten Plateau zu stagnieren scheint. Wir befinden uns zwischen zwei Millenniaiismus-Schüben, vor einem erneuten größeren Anschwellen, das nicht zuletzt durch eine gravierende qualitative Veränderung gekennzeichnet sein wird. Ich will versuchen, einige Besonderheiten dieser mentalitätsgeschichtlich bemerkenswerten Situation zu skizzieren. Auch in England ist die frühneuzeitliche postreformatorische Apokalyptik vor allem eine Angelegenheit des radikalen Protestantismus. Sie ist in erster Linie Medium anti-römischer Polemik und der Selbstlegitimation evangelikaler Ungeduld. Fester Bestandteil protestantischer Deutungen der Offenbarung des Johannes ist etwa die Identifikation des siebenköpfigen Tiers und der Hure Babyion mit Rom und dem Papsttum sowie des Papstes mit dem Antichrist3 ; messianische Hoffnungen auf einen "godly prince" werden gehegt4 ; vor allem aber liefert die Offenbarung ein Modell providentieller Historiographie und prophetischer Rechtfertigung der ,wahren Kirche' und ihrer Glieder auf ihrem von Gott begleiteten Weg durch die Zeit. 5 Dabei tragen sowohl kontinentale Ereignisse wie z.B. die Münsteraner Wiedertäuferaufstände 6 und innerenglische Entwicklungen wie die Protestantenverfolgung unter Königin Maria ("Bloody Mary") zu einer Verschärfung der Antagonismen bei. Insbesondere die Marianischen Verfolgungen schüren Ängste vor einer Rückkehr Englands zum Katholizismus. Berühmtestes Produkt jener Jahre ist wohl Foxe's Book of Martyrs, die 1563 zum ersten Mal auf Englisch veröffentlichte Martyrologie des John Foxe, die die Geschichten des Lebens und vor allem Sterbens der Streiter rur die ,wahre Kirche', insbesondere der fast dreihundert zwischen 1555 und 1558 unter Mary ums Leben gebrachten Protestanten detailliert aufzeichnet. Der vollständige Titel dieser englischen Ausgabe, Elizabeth 1. gewidmet, markiert die endzeitliche Dringlichkeit des Werkes7 : Actes Hil'!rzu (und exemplarisch zu den Schriften des David Pareus und des Joseph Mede) Michael Murrin: Revelation and Two Sellenteenth-Century Commentators, in: The Apocall'pse in English Renaissance Thought and Literature: Patterns, Antecedents and Reperwssions, ed. by C.A. Patrides, and Joseph Wittreich, Manchester 1984 (im folgenden: Patrides/Wittreich), 125-146. Vgl. Bernard Capp: The Political Dimension '?fApocalyptic Thought, in: Patrides/Wittreich, hier 94ff. Vgl. hierzu - insbesondere auch zu Literalisierungstendenzen in der englischen protestantischen Apokalyptik in der Auseinandersetzung mit stärker allegorisierenden Auslegungstraditionen auch Katharine R. Firth: The Apocall'ptic Tradition in R~formation Britail1 1530-1645, Oxford 1979. Zur erwarteten Wiederkehr des Goldenen Zeitalters in den Schriften von Thomas Brightman und John Napier vgl. ebd. 251-253. Hierzu und zu früheren Millenniarismen vgl. Norman Cohn: The Pursuit '?f the Millennium, London 1957. Zitiert nach Joerg O. Fichte: Foxe's Acts and Monuments - The Spirit's Triumph oller the Flesh, in: The Bodl' and the Soul in Medieval Literature, ed. by Piero Boitani and Anna Torti, Cambridge 1999, 167. - Bis zum Ende des Jahrhunderts sollen an die 10.000 Exemplare dieses Buches im Umlauf
Multi pertransibunt
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and Monuments of these latter and perilous dayes, touching maUers of the Church, wherein are comprehended and described the great persecutions & horrible troubles, that haue be ne wrought and practised by the Romishe Prelates, speciallye in this Realme of England and Scotlande, from the yeare of our Lorde a thousande, unto the tyme nowe present. Shakespeare, geboren 1564, gehört zu einer Generation, die unter Elizabeth eine gewisse Stabilisierung der konfessionspolitischen Lage und vergleichsweise klare Stellungnahmen der Krone gegen den Katholizismus erlebt. Der Sieg über die Armada und damit über den katholischen Erzfeind Spanien trägt nach 1588 (ebenso 'wie die Hinrichtungjesuitischer Recusanten) zu einer Beschwichtigung radikalreformerischer Kräfte bei. Dennoch treten auch unter Elizabeth selbsternannte Messiasse auf,8 bestärken astrologisch signifikante Ereignisse wie die ,Nova' von 1572, das Erdbeben von 1580, die Saturn-Jupiter-Konjunktion von 1583 oder die Sonnen- und Mondfinsternisse von 1605 viele in der Überzeugung, das Ende stehe unmittelbar bevor. 9 Anti-römisches Ressentiment und entsprechende Repressionen leben weiter; auch verringert sich die Anzahl der in diesem Zeitraum gedruckten polemischen und exegetischen Texte kaum. lO Ab etwa 1626 jedoch wird quantitativ und vor allem in der Qualität des apokalyptischen Diskurses eine deutliche Veränderung sichtbar. Sie nimmt ihren Anfang in Schriften, die vor diesem von Charles Webster vorgeschlagenen Stichdatum entstehen, ihre Wirkung aber erst mit Verspätung entfalten. ll Am Beispiel zweier Autoren - Francis Bacon undJohn Dee - soll das Profil dieser Texte kurz vorgestellt werden.
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gewesen sein; vgl. auch Joseph Wittreich: The Apoealypse: a Bibliography, in: PatridesfWittreich [Anm. 4], 369-440, hier 379. Vgl. Keith Thomas: Religion and the Deeline C!.f Magie - Studies in Popular Beliifs in Sixteenth- and Seventeenth-Century England, Harmondsworth 1991, 157-162. Gloucesters Rede von "These late eclipses in the sun and moon [ ... ]" (1.2.103) spielt möglicherweise auf diese Verfinsterungen an; siehe hierzu die Ausführungen weiter unten. - Zu elisabethanischem "belief in the imminence of Doomsday" vgl. Thomas: Religion [Anm. 8], Kapitel 5. "Prayer and Prophecy" (hier z.B. 167: "In the reign of Elizabeth many learned men agreed that the world was in its dotage and that the end could not be far off"). - Auch Capp: The Politieal Dimension C!.f Apoealyptie Thought, in: PatridesfWittreich [Anm. 4], hält die Überzeugung "that the end of the world was at hand" auch unter Elizabeth für dominant, sieht elisabethanische Autoren auf der Suche nach Zeichen des Endes und meint, der Sieg über die Armada habe noch dazu beigetragen, militaristische und aggressive Tendenzen im apokalyptischen Protestantismus zu verstärken: "It was the defeat of the Armada [ ... ] which fused apocalyptic excitement and patriotic fervor." (97) Unter den weitest verbreiteten Schriften wären wohl vor allem zu nennen John Napier: A Plaine Diseover]' ifthe Whole Revelation C!.fSaintJohn, Edinburgh 1593 (weitere Drucke: 1594, 1600, 1603, 1605, 1607, 1611, 1615, 1627, 1642, 1645), Arthur Dent: The Ruine C!.f Rome; or an Expositio/1 upon the Whole Revelation (1603, 1607 und öfter bis 1841), und Thomas Brightman: Apoealypsis Apoeal)'pseos, Frankfurt 1609 (1611, 1612, 1615, 1618, 1641, 1644), engl. A Revelation if the Apoealyps, 1611. Alle Angaben nach Wittreich: The Apoealypse: a Bibliograph]' [Anm. 7]. Zum folgenden vgl. Charles Webster: The Great Instauration: Scienee, Medicine and R~form. 16261660, -London 1975. - Webster wählt 1626 als Stichdatum, ab welchem von einer wirklichen Konsolidierung der puritanischen Opposition die Rede sein könne: 1626 ist das Todesjahr Bacons, zugleich das Jahr der Erstveröffentlichung seines utopischen Fragments New Atlantis sowie der beginnenden Rezeption seiner Schriften in den Kreisen der puritanischen Intelligenz und ihrer zunehmenden politisch-revolutionären Utilisierung durch diese. Weiterhin werden
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Der ,neue' Millenniarismus, der sich hier präpariert, weist nicht nur die bekannten Züge jeder politisch instrumentalisierten Apokalyptik auf, die die im endzeitlichen Paradigma enthaltenen prophetischen Momente in Imminenz übersetzt und sie zu Verfahren der Selbstvergewisserung und Medien diesseitiger Erfolgshoffnung macht. 12 Vielmehr verschärfen sich bis zur Jahrhundertmitte die traditionellen Pragmatisierungen durch das Hinzutreten neuer Ingredienzien. Diese sind ihrerseits bereits bestimmt durch radikale Absagen an jegliche - akademisch-scholastische, theologisch spekulative oder auch literarisch-rhetorische - Selbstzweckhaftigkeit, charakterisiert durch plakative Bereitschaft zur Funktionalisierung im Rahmen durchgreifender gesellschaftlicher Verbesserungen und beflügelt von einem neuen Universalismus. Jetzt nämlich beginnt Bacons Projekt einer Instauratio Magna, zusammen mit den pansophistischen Idealen des Comenius, wissenschafts- und konfessionspolitische Sprengkraft zu entfalten; jetzt verquicken sich in der Befindlichkeit der revolutionären Puritaner die Programmatiken der neuen Naturwissenschaften, Medizin und Technologie mit weiter gepflegten Modi providentieller Historiographie und den dazugehörigen eschatologischen Hoffnungen zu einer brisanten Mischung. 13 Begleitet von geradezu obsessiver Reitera-
1627 erstmals zwei außerordentlich wirkmächtige rnillenniaristische Kommentare publiziert: der
Clavis Apocalyptica des Joseph Mede und Johann Heinrich Alsteds Mille Annis Apocalypticis Diatribe,
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die vor allem in den 1640er Jahren, übersetzt und neu herausgegeben, als Teil eines "torrent of millennial tracts" die öffentliche Diskussion bestimmen sollten (ebd., 5). Webster sieht in den Jahren 1626 bis 1628 ,intellektuelle Trends' ihren Anfang nehmen, die mit dem Beginn der puritanischen Revolution 1640 ihren größten Einfluß erlangen (ebd., xv). - Vgl. auch Ernest Lee Tuveson: Millennium and Utopia - A Study in the Background qf the Idea qf Progress, Berkeley and Los Angeles 1949 (Reprint Gloucester, Mass. 1964, 1972). - Unter anderen Gesichtspurikten siedelt auch Hans Blumenberg Bacons Novum Organum und den frühen Traktat Valerius Terminus auf einer Schwelle im "Prozeß der theoretischen Neugierde" an, deren epochale Bedeutung sich aus der hier vorgeschlagenen Perspektive frühneuzeitlicher Apokalyptik nochmals bestätigt; vgl. Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1997. Vgl. Cohn: Pursuit qfthe Millennium [Anm. 6], 1: "Originallyall these prophecies were devices, by which religiousgroups, at first Jewish and later Christian, consoled, fortified and asserted themselves when confronted by the threat or the reality of oppression." Ähnlich auch mit Bezug auf frühchristliche Naherwartungen: "Like the Jews, the Christians suffered oppression and responded to it by affirming ever more vigorously, to the world and to themselves, their faith in the imminence of the messianic age in which their wrongs would be righted and their enemies cast down." (Ebd., 7.) Vgl. Webster: The Great Instauration [Anm. 11], 2, 21ff. - Offenbar eigneten sich Bacons pragmatisierender Umgang sowohl mit naturwissenschaftlicher Erkenntnis als auch mit literarischen Gattungen und rhetorischen Verfahren und der Erkenntnisoptimismus des Comenius, der ihn auf eine Wiederkehr des Goldenen Zeitalters dank der einzuführenden Universalwissenschaft hoffen ließ, vorzüglich zur Konstruktion synkretistischer Formationen im Dienste der parlamentarisch-revolutionären Sache zu einem Zeitpunkt, zu dem sich konfessionspolitisch revisionistische Tendenzen durchzusetzen drohten: "The eschatological doctrines dominant among the English Puritans during the first decades of the seventeenth century were appropriate for aperiod of retrenchment. After aperiod of militancy and consolidation in the previous century, the tide turned and under the early Stuarts the Anglican church drifted away from the course of reformation. Antichrist appeared to be undergoing one ofhis periodic revivals." (Ebd., 7.)
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tion des Daniel-Verses 12,4 - Multi pertransibunt et multiplex erit scientia 14 - formieren sich Mentalitäten, in denen radikalrefonnatorischer Elan, getrieben von der Furcht vor einem Rückfall hinter venneintlich bereits erreichte Positionen, sich verbündet mit naturforscherischem Optimismus und Meliorisierungsglauben. Beispielhaft, insbesondere fur die beiden zuletzt genannten Parameter, erscheint Francis Bacons unvollendete Programmschrift von 1603, die unter dem Autorennamen Valerius Terminus und versehen mit den Annotationen des ebenfalls pseudonymen "Hermes Stella" eine Abhandlung Of the Interpretation of Nature verheißt. Erst 1734 publiziert und nur in wenigen Kapiteln ausgefuhrt, antizipiert diese Schrift Grundgedanken der Instauratio Magna, nicht zuletzt den, daß erst die ,richtige' Benennung der Dinge ihre Beherrschung ennäglicht. 15 Der Valerius Terminus beginnt mit einer Rechtfertigung der auf die Natur gerichteten Wißbegierde. Wie fur alles Erkenntnisstreben gelte auch fur diese der Grundsatz "That all knowledge is to be limited by religion, 14
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So in Bacons Redargutio Philosophiantm, zit. ebd., 24. Auf dem Titelbild der Instauratio Magna in der Erstausgabe von 1620, das die Durchfahrt durch die Säulen des Herkules zeigt, lautet die Unterschrift "Multi pertransibunt & augebitur scientia"; im Text des Advancement C!.f Leaming (1605) heißt es: "Plurimi pertransibunt, & Multiplex erat Scientia", und im 1603 verfaßten Fragment Valerius Terminus wird die "prophecy of Daniel" zitiert als "Man)' shall pass to and fro, and science shall be increased" (Abbildung des Titelkupfers der Instauratio Magna in: Francis Bacon: Neues Organon, I, Lateinisch-deutsch, hg. von Wolfgang Krohn, Hamburg 1990, 1. The Advancement C!.fLeaming wird zitiert nach der von Michael Kiernan besorgten Ausgabe, Oxford 2000, 71. Valerius Terminus ifthe Interpretation C!.f Nature liegt vor in einer englisch-deutschen Ausgabe: Francis Bacon: Valerius Terminus - Von der Interpretation der Natur mit den Anmerkungen von Hermes Stella, hg. von Franz Träger, Würzburg 1984, 40.) - In der Authorized Version lauten die zentralen Passagen der Verse 12,3 und 4 wie folgt: ,,(3) And they that be wise shall shine as the brightness ofthe firmament [ ... ] (4) [ ... ] many shall run to and fro, and knowledge shall be increased". Vgl. auch Blumenbergs Bemerkung über Bacons interpretatio naturae, ,,[ ... ] daß die Lösung aller Probleme nicht die Beschreibung, sondern die Nennung ist. [ ... ] Denn Bacon hat im Hintergrund seiner Erinnerung die Schöpfungsgeschichte, die nichts anderes ist als die Summe der Befehle an die bei Namen genannten Wesen: zu sein. Der paradiesische Mensch wiederholt also die Namen, die im Schöpfungsbefehl Gottes vorgekommen waren. Diese sind die wahren Namen der Dinge, bei denen sie zu rufen bedeutet, daß sie genauso gehorchen, wie sie im Schöpfungsakt gehorcht haben, aus dem Nichts hervorzutreten." (Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1981, 87.) In der Tat ist Bacons utopisches Projekt das der Wiederherstellung eines paradiesischen Zustands auf Erden. - Zur nachfolgenden Lektüre des Valerius Terminus [Anm. 14] vgl. auch Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit [Anm. 11], 451-456. - Valerius Terminus enthält - wie andere Schriften Bacons - im übrigen auch zahlreiche Beispiele fiir die Vorbehalte der Protagonisten der neuen Naturwissenschaft gegenüber den Wirkungen und Produkten einer nicht zu Lehr- und Vermitdungszwecken utilisierten poetischen Einbildungskraft ("vanity of credulous imaginations", ebd., 66). Deren verderbliche Auswüchse werden in erster Linie der aristotelisch geprägten Naturphilosophie (verächtlich tituliert als "sciences of conceit", ebd. 50) zugeschrieben. Vgl. die Invektiven gegen die alte, den Spekulationen der eigenen Imagination verfallene Lehre der ,Schulen', die sich nicht scheuten, "to invocate a man's own spirit to divine and give oracles unto him" und auf diese Weise "to vanish in the mixture of their own inventions" und die sich der Idolatrie des Selbstgeschaffenen derart verschrieben hätten, daß "they [ ... ] adored the deceiving and deformed imagery which the unequal mirrors of their own minds have represented unto them". (Ebd., 46.) - Zu Bacons eigener Funktionalisierung des rhetorischliterarischen Inventars vgl. auch die Einleitung zu Francis Bacon, ed. by Brian Vickers, Oxford
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and to be referred to use and action. "16 Da das Verlangen nach "natural knowledge" aber zu keiner metaphysischen Gefährdung fuhre, vielmehr zu verstehen sei als "an emptiness or want in nature and an instinct from GOd"17, dürfe, ja müsse man ihm nachgeben. 18 Dieses Lesenwollen im Buch der Natur läßt sich leiten von der Vision eines ,adamitischen' Ausbuchsfabierens der Schöpfung analog zu jener Situation, in der der erste Mensch den Geschöpfen Gottes ihre Namen gibt - ,,[ ... ] to speIl and so by degrees to read in the volumes ofhis creatures [ ... ]"19. Als Wiedereinsetzung des Menschen in einen prälapsarischen Zustand, in eine Situation paradiesischer Vollmacht, ist solches Buchstabieren ein apokalyptisch getöntes Vorhaben. Eben dies sei das ,wahre Ziel des Wissens'2o: ,,[ ... ] a restitution and reinvesting (in great part) of man to the sovereignty and power (for--whensoever he shall be able to call the creatures by their true names he shall again command them) which he had in his first state of creation." Daß solche "amplification of the power and kingdom of mankind over the world "21 tatsächlich dem Anspruch nach ein endzeitliches, in seinen Früchten und Hervorbringungen nicht überholbares Unternehmen ist, das es jetzt, in dieser ,herbstlichen' Zeit zu verwirklichen gilt, wird unter Anspielung auf die jüngst durch die Seefahrt ermöglichten Explorationen und unter ausdrücklichem Rekurs auf die Prophezeiung in Daniel12,4 bekräftigt22 : ,,[ ... ] bya special prophecy" sei dieses große Erneu-
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1996. Interdependenzen zwischen naturwissenschaftlichem und poetischem Diskurs beschreibt auch Richard Nate: Wissenschqft und Literatur im England derfriihen Neuzeit, München 2001. Valerius Temlimls [Anm. 14], 34 (Kursivierung im Original). Ebd., 38. ,,[ ... ] far behold it was not that pure light of natural knowledge, whereby man in paradise was able to give unto every living creature a name according to his propriety, which gave occasion to the fall; [ ... ]." (Ebd., 36.) Vielmehr führte eine Art moralisch-spekulativer Ehrgeiz des Menschen zum Sündenfall, sein "aspiring desire to attain to that part of moral knowledge which defineth of good andevil, whereby to dispute God's commandments and not to depend upon the revelation of his will [ ... ]". (Ebd.) Dieser transgressiven Vermessenheit ist zu wehren durch die Vorschrift ,,[ ... ] attend his will as himself openeth it, and give unto fäith that which unto faith belongeth; [... ]" (ebd., 34); der auf Naturerkenntnis gerichtete Wissensdurst ist von dieser Beschränkung ausgenonlnlen. Ebd., 46, vgl. auch 84. Eben darin, die Wesen, die ihrerseits Ausdruck der Schöpfermacht Gottes sind (vgl. 40), bei ihren eigentlichen Namen nennen zu können, liegt "power or dominion" des ersten Menschen (vgl. 32). Ebd., 42. Ebd., 44. Ebd., 40. - Auch im Advancement cf Leaming hat Bacon keinerlei Bedenken, seine eigene Zeit in Analogie zu dem bei Daniel vorgestellten Anbruch der Vollendung und letzter Enthüllung zu sehen. Dort heißt es, wiederum in Anspielung auf die vor kurzem noch für unmöglich gehaltenen Erdumrundungen auf dem Seewege: "And this Proficience in Nauigation, and discoueries, may plant also an expectation of the fluder proficience, and augmentation of all Scyences, because it may seeme they are ordained by God to be eoeva lls , that is, to meete in one Age. For so the Prophet Daniel speaking ofthe latter times foretelleth: Plurimi pertransibunt, & Multiplex erit Scientia, as if the opennesse and through-passage of the world, and the encrease of knowledge were appointed to be in the same ages, as we see it is already performed in great part, the learning of these later times not much giuing place to the former two Periods ar Returnes of learning, the one ofthe Gr;ecians, the other ofthe Romanes." (Advancement, ed. by Kiernan [Anm. 14], 71.)
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erungswerk "appointed to this autumn of the world: for to my understanding it is not violent to the letter, and safe now after the event, so to interpret that place in the prophecy of Daniel where speaking of the latter times it is said, Many shall pass to and fro, and science shall be increased; as if the opening of the world by navigation and commerce and the further discovery of knowledge should meet in one time or age. " Beflügelt vom Plus ultra,23 mit dem Bacons Zeitgenossen die "columnes [ ... ] fatales" des Tradierten, die ihrem Erkenntnisdrang nicht länger Grenzen zu setzen vermögen 24 , durchfahren, affirmieren sich naturwissenschaftliche Utopien der Entdeckung, Erneuerung und Vermehrung des Wissens und apokalyptisch gestimmter konfessioneller Eifer wechselseitig. Vorstellungen von Naturbeherrschung und fortwährender Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen 25 bis hin zu einer Wiederherstellung paradiesischer Zustände und einer Restitution jenes Goldenen Zeitalters, das die von ihrer uneinholbaren Verspätung gegenüber den Alten überzeugte Renaissance verloren gegeben zu haben schien, spiegeln Visionen eines endgültigen Siegs und einer dauernden Herrschaft der Gerechten über die Gegner der puritanischen Revolution und verleihen ihnen zusätzliche legitimierende Kraft. 26 Vermittelt und in den Bereich des tatsächlich und bald Implementierbaren gerückt werden hier Vorstellungen von Apokatastasis 27 - allerdings ganz entschieden nicht
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Im Kontext der ebd. [Anm. 22] zitierten Passage spricht Bacon ausdrücklich vom "Plus ultra in precedence of the ancient Non vitra" (Advancement, 71). Zu einigen Stationen der Geschichte dieser Verwandlung eines Verbots in einen Aufiufbzw. eine Art Schlachtruf der neuen Naturwissenschaften vgl. die Anmerkung des Herausgebers in dieser Ausgabe, 249; weiterhin Blumenberg: Die LegitimitCit der Neuzeit [Anm. 11], 394-397. So in der Vorrede zur Instauratio Magna: "Quare sunt et suae scientiis columnae tanquam fatales; cum ad ulterius penetrandum homines nec desiderio nec spe excitentur." (Bacon: Neues Organon [Anm. 14], 13.) Vgl. die entsprechenden Formulierungen im Valerius Terminus [Anm. 14]: Zweck der Wissenschaften ist es, das Los des Menschen auf Erden zu verbessern, d.h. es geht um "the benefit and relief of the state and society of man" (ebd., 42) bzw. um "endowment of man's life with new commodities". (Ebd., 44.) "Milleniarism emancipated reformers from any obligation of respect for long-established institutions or of operation within the boundaries imposed by current intellectual values. [ ... ] Indeed, there was a positive inducement to think in utopian terms, given the biblical assurance that the saints were guaranteed success even in their most radical experiments. [ ... ] Implementation of these schemes was expected to initiate a gradual improvement in social organisation which would ultimately lead to a replication ofthe conditions oflife associated with the Garden of Eden. [ ... ] In general terms, it [i.e. milleniarism] induced an increased confidence in the capacity of the human intellect; spectacular advances could be anticipated in all fields of learning. Hence the millennial doctrine promoted a confident, active and exploratory approach to nature in reaction against the sceptical and pessimistic attitude associated with the form of Christian humanism which had dominated the previous generation ofpuritan intellectuals." (Webster: Great Instauration [Anm.ll], 8.) - Zur Funktionalisierung wissenschaftlicher Erkenntnis vgl. auch ebd., 30: "Science was pursued not as an end in itself, but for its value in confirming the power of providence and for its applicability to social amelioration." Apg. 1,6 (vgl. auch 3,21). - Zur Apokatastasis sowie zur möglichen Funktion dieser Vorstellung in bestimmten Strömungen des nonkonformistischen Universalismus im frühneuzeitlichen England:
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im Sinne einer ,Wiederbringung Aller', sondern eines restaurativen Neuanfangs fur jene, die sich auserwählt wissen, unter Restitution der ihnen zustehenden Machtbefugnisse. Die Baconsche Naturwissenschaft bezieht ihre Legitimation von Anfang an aus ihrer Pragmatisierbarkeit. Darin und in ihrem manipulativeri Zugriff auf die Natur ähnelt sie einer überkommenen Kulturtechnik, mit der sie ansonsten nichts gemein haben möchte: der Magie. 28 Wie eng das Tun des in den okkultistischen artes bewanderten opifex mit dem des Naturforschers neuen T yps29 verwandt ist und welche erstaunlichen Affinitäten beide zur Apokalyptik um die Wende zum 17. Jahrhundert unterhalten, mag auch ein Blick auf eine der schillerndsten Figuren der europäischen Renaissance veranschaulichen - den Astrologen, Astronomen, Alchemisten, kabbalistischen Naturphilosophen und Mathematiker John Dee (1527-1608/9).30 Einerseits läßt sich Dee der älteren, hermetistischen Naturforschung zurechnen, die die das Korrespondenzuniversum durchwaltenden Beziehungen spekulativ zu ergründen und Zwecken der ,weißen' Magie nutzbar zu machen suchte. Andererseits antizipiert er die neue Naturwissenschaft in einigen seiner astronomischen und mathematischen Studien, nicht zuletzt auch im reform-orientierten31, universalistischen Anspruch seiner Forschungen, die in einer ,Kabbalah der Natur' gipfeln. Er verkörpert in seiner Person eben die spannungsund auf lange Sicht erfolgreiche Kombination von naturforscherischem Eifer und hochfliegender endzeitlicher Hoffuung, die die spätere puritanische Apokalyptik prägen sollte. 32 Daß das Weltende mehr oder minder unmittelbar bevorsteht, ist ein wiederkehrender Topos in den erhaltenen Schriften Dees. Nicht zuletzt sind auch die Gespräche mit Engeln, die er (mit wechselnden
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C. Andresen und P. Althaus: Art. "Wiederbringung Aller", in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3., völlig neu bearb. Aufl., VI, Tübingen 1962, Sp. 1693-1696. "Ohne Zweifel" - bemerkt auch Hans Blumenberg - "ist Bacons Idee der Wissenschaft eine Art überhöhter Umsetzung der Grundidee der Magie." (Die Lesbarkeit der Welt [Anm. 15], 88.) Den sein Wissen zu diversen "operations" befahigt; vgl. Valerius Tem1imls [Anm. 14], 42, 62 und öfter. Vgl. zum folgenden auch Deborah E. Harkness: John Dee's Conversations UJith Angels - Cabala, Alchemy, and the End o..f Nature, Cambridge 1999. Dees Tagebuchaufzeichnungen und Protokolle sind zugänglich in: The Diaries o..fJohn Dee, ed. by Edward Fenton, Oxford 1998. Zum Okkultismus als Reformbewegung vgl. Frances A. Yates: The Occult Philosophy in the ElizabethanAge, London 1979. "With the Book ofScripture in hand and the Book ofNature before him, Dee was attempting to refashion the identity of the natural philosopher to include areinterpretation of knowledge, a universal reform of institutions, and a restitution of nature and all things. In his angel conversations, the Old Testament prophet receiving revelations from God merged with the New Testament magus responsible for interpreting nature. This combination provided a new direction for natural philosophy that eventuall shaped the aspirations of many seventeenth-century natural philosophers. At the same time, however, Dee's approach remained faithful to the ideas of the past. Just as his angel conversations served as a liminal exchange between celestial and terrestrial, so Dee emerges [ ... ] as a liminal figure between medieval and modern, magical and scientific, Protestant and Catholic." (Harkness: John Dee's Conversations ,pith Angels [Anm. 30], 6. - Zur Apokalyptik Dees vgl. ebd., 133-156.)
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Gehilfen, sog. scryers) zwischen 1581 und 1586 und dann wieder 1607 fuhrte und aufzeichnete, geprägt von einem apokalyptischen Ton. So spricht beispielsweise der Engel Uriel in einem Eintrag im Tagebuch Dees vom 6. April 158333 : URIEL: ,Four months are yet to come: the fifth is the beginning of great misery to the heavens, to the earth and to all living creatures. Therefore must thou needs attend upon the will of God. Things must then be put in practice. In 40 days must the book of the secrets and key of this world be written.' ,Therefore have I brought it· to the window of thy senses, and doors of thy imagination: to the end he may see and perform the time of God his abridgement. That shalt, thou, write down in his proper and sanctified distinctions. This other,' (pointing to E.K.) ,shall have it always before him, and shall daily perform the office to him committed. Which ifhe do not, the Lord shall raze his name from the number of his blessed. '
Gott werde, so Dees Überzeugung, Zeichen des imminenten Endes einigen ausgewählten Individuen (wie ihm selbst) zukommen lassen; dies mit der unüberbietbaren Gewißheit, wie sie allein die Mitteilungen von Engeln bieten können. 34 Voraussetzung des Gelingens solcher Kommunikation ist die Bereitschaft und die Fähigkeit, das Buch der Natur richtig, mithilfe angelischer Instruktion, numerologischer Erschließung und kabbalistischer Permutation zu lesen und zu interpretieren. Einmal mehr werden auch in dieser okkultistischen Version Merkmale einer Formation sichtbar, die fur die Renaissance-Apokalyptik charakteristisch erscheint: In ihren Versuchen, das Buch der Kreaturen endgültig zu entziffern, erhebt sie revelatorischen Anspruch, zugleich entfaltet sie im Zuge des Bemühens, die Grundlagen neuartiger szientifischer Naturverfugung und -alterierung bereitzustellen, restitutive Ambitionen, die offen sind fiir Indienstnahmen ganz unterschiedlicher Art. Shakespeares Lear nun erscheint in äußerst kritischer Situation: zum Ende der Tudor-Ära, vor der Institutionalisierung des neuen naturwissenschaftlichen Denkens und auf der Schwelle zu einer korrespondierenden Verschärfung konfessionspolitischer Agitation; noch vor dem Hintergrund prekärer Latenz einer in der letzten Hälfte des 16. Jahrhunderts gehegten endzeitlichen Grundstimmung und kurz vor einem erneuten Auffiammen des radikalprotestantischen Millenniarismus, geschürt durch empiristische, okkultistische und andere Pragmatisierungen des Eschatologischen. Lear scheint auf eben dieser Schwelle zu balancieren. Ostentativ von der Tagespolitik in die Vorgeschichte Britanniens entrückt, ist dies nicht nur deshalb ein apokalyptischer 33
The Diaries ofJohn Dee [Anm. 30], 64. - "E. K." ist der scryer Edward Kelly. Weitere einschlägige Passagen: ebd., 78, 133, 150, 217-218. Zu Dees naturwissenschaflichen Praktiken vgl. auch 90, 246, 304, 308-309. Zu Dees 48 Claves angelicae, die weitere Beispiele fiir diese Topik und ihren revelatorischen Gestus enthalten, vgl. Harkness, John Dee's Conversations UJith Angels [Anm. 30], 41ff.
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Text, weil er vom spektakulären Ruin eines einzelnen und vom katastrophischen Zerbrechen eines Gemeinwesens handelt. Im eigentlichen Sinne millenniaristische Momente und ihre visionären Entsprechungen fehlen indes völlig. Ja, ihre Absenz und mit ihr die imaginative Askese im Blick auf ein mögliches Telos der vorgefuhrten Apokalypse ist derart auffallend, daß sich Fragen nach dem Grund der Aussparung jeglicher, auch nur andeutungsweise hoffnungsfroher Zuversicht in das Offenbarwerden der ,richtigen' Wahrheit und eines würdigen Herrschers aufdrängen. Wie also verfährt Shakespeares Drama mit einem kulturellen Inventar von derart hohem zeitgenössischem Belang? Welche Modellierung erfährt dieses und welches Wirkungspotential ist darin angelegt? Daß King Lear irgendwie etwas ,Apokalyptisches' an sich hat, hat die Forschung immer wieder behauptet. 35 Was das über das Vorkommen bestimmter endzeitlicher Motive hinaus bedeutet, ist eher unklar geblieben. 36 Hier besteht jedoch nicht nur schlichter Klärungsbedarf Man muß, so meine ich, dieses Lear-Klischee in bestimmtem Sinne kategorisch bestreiten. Hier findet keine Bühnen-Apokalypse statt. Und doch ist dies ein apokalyptischer Text. Gerade seine Eskamotierung des Topischen in dessen beliebiger Einholbarkeit, die Art und Weise, wie dieser Text im Wortsinne ,nichts' repräsentiert, sondern Schemata der Wieder-Vergegenwärtigung außer Kraft setzt und in die Schwebe bringt, indem er apokalyptische Zeichen setzt - Zeichen des Nicht-Bezeichnens und (An-)Zeichen des Endes wie Cordelias "Nothing" (1.2.87?7 -, 34
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"Only angelic revelations could begin to satisfy Dee's hopes far attaining certain knowledge ofthe Book ofNature." (Ebd., 136.) Ein prominentes Beispiel ist Jan Kott, dessen einflußreiche Projektion existenzialistischeschatologischer Thematiken auf Lear und Endgame aber ebenfalls weitgehend im Suggestiven bleibt; vgl. Shakespeare Our Contemporal)', Garden City and New York 1966. - Einen Überblick über die Forschung enthält auch Joseph Wittreich: ,Image qfthat horror': the Apocalypse in King Lear, in: PatridesfWittreich [Anm. 3], hier v.a. 187f. Wittreichs eigene Überlegungen konzentrieren sich auf vermeintlich redemptive Schemata in Lear, und er gelangt - allerdings nicht auf dem Wege der Textanalyse, sondern in erster Linie auf der Grundlage der Diskussion vorliegender Meinungen - zu einem Fazit, das der Position, die ich im folgenden vortrage, diametral entgegengesetzt ist, insofern es in Formulierungen wie der folgenden genau jene machbarkeits-ideologischen Hoffuungen auf innerweltliches "betterment" (ebd., 200) auf den Text projiziert, gegen die dieser meiner Ansicht nach Widerstand leistet: "So for Shakespeare, the essential task is to rescue the Apocalypse and read it back into the real world; and his way of dealing with that problem is to demystify the Apocalypse and thereby humanize it - is to turn responsibility for the shaping of history over to man and thereby secularize the Christian prophecy." (Ebd., 195.) Das gilt auch für neue re Beiträge wie Wolfgang Iser: Die Präsenz des Endes - King Lear - Maebeth, in: Das Ende - Figuren einer DenkJorm, hg. von Karlheinz Stierle und Rainer Warning, München 1996, 359-383, oder auch den ansonsten an suggestiven Beobachtungen reichen Aufsatz von Klaus Reichert im gleichen Band (Endlose Enden - Zu apokalJ'Ptisehen Figuren bei Beekett und Shakespeare, ebd. 495-514). Zu Cordelias "Nothing" als verweigerte Signifikanz vgl. auch Brian Rotman: Signifying Nothing The Semioties qf Zero, London 1987, v.a. den Abschnitt "King Lear and ,Nothing'" , 78-86. Rotman sieht in der dramatischen ,Reduktion auf Null', wie sie King Lear praktiziere, wie sie durch Lears fatale Quantifizierung und Konullodifizierung von Liebe eingeleitet und durch Cordelias "Nothing" und dessen Echos im Subplot des Stücks in destruktive Bewegung gesetzt werde, allerdings keinerlei Bezüge zur zeitgenössischen Apokalyptik, sondern zuletzt eine Analyse
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macht ihn zugleich zum paradigmatisch literarischen Text. Eine der zahlreichen interessanten Suggestionen, die Frank Kermodes langer Essay The Sense of an Endini 8 eher mitfUhrt, als daß er sie systematisch explizierte oder an einzelnen Texten erprobte, ist die Annahme, es sei ein Signum moderner Literatur, Vorstellungen unmittelbar bevorstehender Apokalypse in tex tu elle Immanenz zu verwandeln. Angeregt durch diese Vermutung will ich versuchen zu skizzieren, wie in King Lear die anthropologische Elementarfiktion überwältigender Konkordanz39 zu ebenso konsistenter wie verstörender Textualität wird, die, indem sie Apokalypse suspendiert, diese zugleich ästhetisch erfahrbar macht. King Lear ruft Strukturen des apokalyptischen Diskurses auf, aber fragmentiert und modelliert diese zugleich in einer Weise, die sich einer pragmatisierenden Indienstnahme, wie sie der Epochenkontext nahegelegt hätte, radikal verweigert. Diese Resistenz zeigt sich nicht nur im Ausbleiben bestimmter Elemente auf der Ebene der histoire, die zur vollständigen Realisierung der paradigmatischen apokalyptischen Narration erforderlich wären - am skandalösesten wohl im Tod Cordelias,40 in einem Ende ohne die Genugtuung vollzogener Gerechtigkeit und in der Abdunkelung jeder Besserungsaussicht oder
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des ,Renaissance-Kapitalismus': "Lear registers, he acts out, he is, the rupture in the medieval world brought about by the transactions ofRenaissance capitalism." (Ebd., 86.) The Sense
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Alterierungsmöglichkeit. Die Apokalypse erscheint hier auch und vor allem insofern suspendiert, als dieser Text nicht nur eine punktuelle epoche übt, sondern sich auf allen Ebenen seiner Konstitution weigert, Verborgenes zu offenbaren und es damit zur chiliastischen Pragmatisierung freizugeben.
II. ,Js this the promised end? (( WeItende als textuelle Immanenz Als in der letzten Szene des letzten Akts Lear mit der im Kerker ermordeten Cordelia auf den Armen hereintaumelt, sprechen die drei, die das katastrophische Geschehen auf der Bühne übrig läßt - Kent, Edgar und Albany -, Worte, die sie einerseits als die ,letzten Menschen' ausweisen, als welche sie hier figurieren, andererseits diese endzeitliche Funktionalisierung zugleich in die Schwebe bringen: KENT EDGAR ALBANY
Is this the promised end? Or image of that horror? Fall, and cease. (5.3.261-262)
Albanys Wunsch - "Fall, and cease" -, um Lears willen sein Aufgeben ersehnend, dabei das Ende als Aufhören ohne Erlösungshoffnung generalisierend, macht zugleich deutlich, daß ein solches Ende des Unerträglichen immer noch ausstehtY Auch Kents Frage - "Is this the promised end?" - und ihre Reformulierung durch Edgar - "Or image of that horror?" - rücken persönliche Erfahrung in eine eschatologische Perspektive, die das Ende als verheißenes, Erfüllung wie Entsetzen in Aussicht stellend, evoziert. Daß das Ende als kairos in Frage steht, ja erwogen wird, die vorgeführten, kaum mehr steigerbaren Schrecknisse seien vielleicht nur potentiell täuschende. Abbilder, Vorschein jenes ultimativen Horrors, ist das eigentlich Bemerkenswerte an diesen Kommentaren. Insofern sie zudem einen möglichen Zuschauerrespons artikulieren, suggerieren sie auch diesen als von Zweifel angesteckt. Solche Ungewißheit aber, die an dieser Stelle des Dramas in einen Abgrund sinnund endlos fortsetzbarer Tortur blicken läßt und die ausgerechnet das unbestreitbarste aller singulären und unhintergehbaren Ereignisse überzieht, erweist sich lediglich als einer in einer quäle~d langen Reihe ähnlicher wirkungsstniktureller Momente, durch die dieses Stück Finalität zersetzt, Einmaliges wiederholbar, Letztgültiges revidierbar erscheinen läßt und das Ereignis der Apokalypse in einen textuellen Prozeß verwandelt.
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Darüber hinaus ruft die Wendung "Fall, and cease" nochmals schmerzhaft in Erinnerung, was Gloucesters durch Edgar vereitelter Todessturz von den Klippen von Dover bereits vorgeführt hatte: daß einem ,Fall' eben nicht inmler das erhoffte Ende folgt; daß nicht einmal ein solches Beenden des eigenen Lebens ein Akt ist, der vollständig in der menschlichen Verfügung steht. Auch diese Worte assoziieren also in erster Linie Ausgangsungewißheit und potentielle Vergeblichkeit.
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Daß die Verwandlung von kairos in chronos in Form einer N egativsteigerung, die das Ende als Tiefstpunkt immer weiter entrückt, eines der Grundprinzipien dieses Textes ist, wird nicht nur gezeigt, sondern auch expliziert. Zu Beginn des 4. Aktes sucht sich Edgar, verstoßen von seinem Vater, vogelfrei, verkleidet als Poor Tom, mithilfe entsprechender Gemeinplätze über seine Lage zu trösten: EDGAR
Yet better thus, and known to be contemned Than still contemned and flatte~ed. To be worst, The lowest and most dejected thing offortune, Stands still in esperance, lives not in fear. The lamentable change is from the best, The warst returns to laughter. Welcome then, Thou unsubstantial air that I embrace, The wretch that thou hast blown unto the worst Owes nothing to thyblasts. (4.1.1-9)
Daß er sich in der Hoffuung aufBesserung getäuscht, ja das Schlimmste nicht nur noch vor sich hat, sondern daß dieser Superlativ vielleicht überhaupt nie eintritt, weil diesseits des endgültigen Verstummens im Tod immer noch eine weitere Vertiefung des Leids vorstellbar ist: das muß er wenige Momente später einsehen, als er seinem geblendeten Vater begegnet: EDGAR [aside]
o gods! Who is't can say ,I am at the worst?' I am worse than e'er I was. OLD MAN [ta Gloucester] 'Tis poor mad Tom. EDGAR [aside] And warse I may be yet; the warst is not So long as we can say ,This is the worst.' (4.1.27-30) Drama und Apokalypse sind einander darin parallel, daß beide etwas sichtbar werden lassen: Die Apokalypse rückt, im Dies irae lakonisch auf die Formel gebracht, Verborgenes endgültig in das Angesicht des Richters - Judex ergo cum sedebit / Quidquid latet, apparebit; das Drama zeigt, was zuvor noch nicht war. Dieses Drama nun weist wiederholt das mit Finalitätsanspruch zutage tretende Latente als Vorletztes, Provisorisches, Überholbares aus. Damit macht es apokalyptische Strukturen zur Grundlage seiner Performanz und entkleidet sie zugleich ihrer Geltung. Die Offenbarung ist hier kein Moment unüberbietbarer Enthüllung und Erfüllung, sondern Evidentwerden eines chronischen Verlaufs: auf Dauer gestellter Komparativ. In dem Ingenium, mit dem dieser Text immer noch Schlimmeres inszeniert, präsentiert er sich indes zugleich als das, was er ist: als Anleitung zu ästhetischer Erfahrung, zur imaginativen Realisierung des unvordenklich Neuen, damit zuallerletzt vielleicht doch als Vorschein dessen, was sichjeglicher Machbarkeit entzieht.
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Um sofort einem Mißverständnis vorzubeugen: Die Apokalypse, die King Lear vollzieht, ist - das ist eine ihrer bis heute irritierendsten Dimensionen nicht goutierbar. Nicht zuletzt eben deshalb, weil sie sich auf der Ebene textkonstituierender Aktivitäten abspielt, verwehrt sie die Distanznahme, die es erlaubte, Apokalyptisches als Spektakel zu konsumieren. 42 Die Apokalypse des King Lear verweigert sich einer genießerischen Einstellung, die aus der Bestätigung des Topischen Befriedigung zieht, aber auch, insofern sie bestimmte erwartbare Befriedigungen vorenthält: so etwa die der poetic justice, der metaphysisch abgesicherten Unterscheidung zwischen Guten und Bösen und einer entsprechenden gerechten Vergeltung bzw. Belohnung. Zwar kommen Edmund, Regan, Goneril, Oswald und Cornwall auf die eine oder andere grausame Weise zu Tode, aber ohne daß ihr Sterben von Einsicht in eine hierin sich triumphal zeigende Wertordnung begleitet wäre; vielmehr scheinen ihre Tode auf das Konto einer blinden Kontingenz zu gehen, die paradoxerweise am ehesten dem Erfolg ihrer Bosheit entspringt und der unnötigerweise auch Gloucester und Cordelia zum Opfer fallen. 43 Indes warten wir nicht nur vergebens auf das Offenbarwerden einer Gerechtigkeit garantierenden und vollziehenden Instanz - es bleibt überhaupt jegliche Offenbarung aus. Die textuelle Apokalypse in Lear rückt an die Stelle der Enthüllung von Wahrheit die Entfaltung eines Verblendungszusammenhangs. Hier wird keine verborgene Wahrheit aufgedeckt, sondern allenfalls deren Unverfiigbarkeit wieder und wieder zur Erfahrung gebracht. Um diese Prozessualität angemessen verdeutlichen zu können, müßte ich dieses sehr lange Drama Szene fur Szene kommentierend durchgehen ,-- eine 42
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Ein weiteres, moralistisches Mißverständnis mag dem heutigen Rezipienten ferner liegen. Es erscheint ebenfalls als abgewiesene Möglichkeit: das Drama als stoisch getönte Durclihaltepredigt. Es ist wieder Edgar, der von seiner Anhänglichkeit an die entsprechenden Gemeinplätze nicht lassen zu können scheint und der meint, seinem Vater - in gern zitierter, in diesem Zusammenhang aber unerträglich altkluger Formel - den nur allzu verständlichen Lebensüberdruß ausreden zu müssen: "What, in ill thoughts again? Men must endure / Their going hence even as their coming hither. / Ripeness is all." (5.2.9-11) Die Entgegnung des Geblendeten pointiert, ebenso ergeben wie sarkastisch, die unbestreitbare ,Wahrheit' dieses wie jedes Klischees: "And that's true too." Eben die Erfiillung der Zeit ("Ripeness"), ja ihre Erfiillbarkeit ist es, die vom Verlauf dieses Dramas radikal in Frage gestellt wird. - Ähnliches gilt für die ebenfalls stoizistische Mahnung, die Lear schon vorher an Gloucester richtete und deren abgegriffene ,Weisheit' dadurch poch grotesker wirkt, daß sie von einem Wahnsinnigen vorgebracht wird, dem die Geduld, die er Gloucester ansinnt, selber in spektakulärer Weise mangelt: "If thou wilt weep my fortunes, take my eyes. / I know thee well enough, thy name is Gloucester. / Thou must be patient. We came crying hither: / Thou knowst the first time that we smell the air / We wawl and cry. I will preach to thee: mark me. [ ... ] When we are born we cry that we are come / To this great stage of fools. [".]" (4.6.172-179) - Es gibt hier keinen Grund mehr, weshalb das Unerträgliche noch weiter ertragen werden sollte; vor dieser Chronifizierung des Leids versagt das zeitgenössisch zu Gebote stehende Weltwissen, weil es eine zeitliche Ordnung voraussetzt, deren ,natürliche' Teleologie auf eine Erfiillung (,Reife') zuläuft. Besonders deutlich wird die Inapplikabilität des Vergeltungsgedankens, wenn Albany ihn vor der Leiche Cordelias zitiert: "All friends shall taste / The wages of their virtue and all foes / The cup of their deservings." (5.3.301-3) Diese Zeilen werden überdies szenisch krass konterkariert dadurch, daß sie die letzten sind, die vor Lears Agonie gesprochen werden und direkt zu dieser überleiten.
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Methode, die sich offenkundig verbietet. Ich will daher das fur Lear bestimmende Verfahren einer a-klimaktischen Syntagmatisierung und einer ingeniösen Steigerung des nicht Steigerbaren wenigstens exemplarisch andeuten und dies unter zwei Problemtiteln versuchen: ,Subjektivierung' und ,Das falsche Zeichen'. A. Subjektivierung Shakespeares Drama spielt virtuos auf der Klaviatur apokalyptischer Semiotik. Gleichwohl ist dies kein schlichtes Repetieren der einschlägigen Topik und Schemata auf der Bühne und auch keine einfache Theatralisierung der (ohnedies schon hoch dramatischen) Abläufe, wie sie die kanonischen und apokryphen Texte vorsehen. Vielmehr wird das Weltende am Untergang einzelner vorgefuhrt; erscheinen traditionelle Vorstellungen außerhalb der gewohnten Reihenfolge, in verändertem Kontext und mit entscheidenden Modifikationen. Gericht, Urteilsspruch und Vollstreckung des Urteils; Entzweiung von Geschwistern und Bundesgenossen, Außerkraftsetzen der familiären Bande, Perversion sozialer und öffentlicher wie privater und geheimer Beziehungen; Vorzeichen des Endes, Trompeten, Prophezeiungen; Absetzung des Herrschers, Ruin des Reiches, Konkurrenz der Usurpatoren; Dämonen, Monster und Teufel; der Antichrist; wunderbare Errettungen, Rückkehr von Totgeglaubten; unterlassene und praktizierte Barmherzigkeit; katastrophische Naturereignisse, Ausschluß, Verstoßung und Verfolgung der Unschuldigen, Triumph der Bösen in Gestalt von Machtgier und depravierter weiblicher Sexualität (im Gegensatz zu idealisierter Weiblichkeit44 ), fragwürdige und echte Bekehrungen, Kampf guter mit bösen Mächten, die Entscheidungsschlacht: Alles das - und mehr - kommt vor, aber kein Element erfullt genau das ihm assoziierte Schema. Zwar bedient sich der Text des apokalyptischen Repertoires, aber er rearrangiert und alteriert es radikal. Ein bemerkenswerter Aspekt in der Transformation von Themen in Verfahren, die sich hier beobachten läßt, ist ihre entpragmatisierende Meta-
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Cordelia kann ebenso als mutier amicta sole gelesen werden wie - im Blick auf ihr Verhalten im ersten Akt und die von ihr berichtete "demonstration of griefe in 4.3.10-33 - als Inbegriff protestantischer Innerlichkeit; vgl. hierzu auch Robert Weimann: Shakespeare und die Macht der Mimesis - Autoritiit und Repriisentation im elisabethanischen Theater, Berlin und Weimar 1988, 208(, mit Bezug auf 1.1.: "Während also die Wortzeichen bei Goneril und Reagan [sic] ein konventionelles Signifikat und eine reine Zeremonie (unabhängig von einem Wahrheitsgehalt) erfüllen, benutzt Cordelia die Zeichen ihrer Sprache zu einem mehr individuellen Ausdruck ihres Empfindens. Zwei Repräsentationsmodelle prallen aufeinander, in denen feudalpolitische, machiavellistische moderrie und protestantisch verinnerlichte Autorisationsformen des Diskurses sich begegnen und schließlich lebhaft miteinander kollidieren. Wie zweifelhaft hier indes jegliche Idealisierung wie jede konfessionelle Vereindeutigung erscheint, ist nicht zuletzt daraus ersichtlich, daß ja auch Cordelia das am Schluß von Edgar formulierte, seinerseits keineswegs eindeutige Präzept ("Speak what we feel [ ... ] ") nicht zu erfüllen vermochte. 11
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morphose zu Bewußtseinsgegenständen. Besonders eindrucksvolles Beispiel solcher ,Interiorisierung' und Rhetorisierung apokalyptischer Bestände sind Lears storm speeches. Ausgesperrt von Goneril, Regan und Cornwall, der Attribute seiner Königswürde entkleidet, rasend vor Wut über den Undank seiner Töchter und bereits am Rande des Wahnsinns erscheint Lear mit seinem Narren als einzigem absurden Rest seines Hofstaats auf der Heide. Indem er gegen den Gewittersturm monologisiert, macht er sich zugleich zu seinem Medium: LEAR Blow winds and crack your cheeks! Rage, bIow! Y ou cataracts and hurricanoes, spout Till you have drenched our steepIes, drowned the cocks! Y ou suiphurous and thought-executing fires, Vaunt-couriers of oak-cleaving thunderbolts, Singe my white head! And thou, all-shaking thunder, Strike flat the thick rotundity o'the world, Crack nature's moulds, all germens spill at once That make ingrateful man! [ ... ] Rumble thy bellyful! Spit fire, spout rain! Nor rain, wind, thunder, fire are my daughters; I tax not you, you elements, with unkindness. I never gave you kingdom, called you children; Y ou owe me no subscription. Why then, let fall Your horrible pleasure. Here I stand your slave, A poor, infirm, weak and despised old man. But yet I call you servile ministers That will with two pemicious daughters join YOll high-engendered batdes 'gainst a head So old and white as this. 0 hol 'tis foul. (3.2.1-24)
Doch nur auf den ersten Blick scheinen sich hier Mikro- und Makrokosmisches wechselseitig zu affirmieren, bespiegelt sich Lears Zorn im Toben der Elemente. Viehnehr motiviert gerade die relative Zaghaftigkeit des kataklysmischen Geschehens Lears Tirade; wäre der Aufruhr seiner Geruhle nicht ungleich viel zerstörerischer als das äußere Chaos, müßte er dieses nicht zu apokalyptischer Destruktivität anspornen. Vernichtend, von misogynem Haß gegen weibliche Prokreativität erfüllt und versessen darauf" That things might change, or cease" (3.1.7), erscheint Lears Wut als eigentlicher Ort des Weltuntergangs, seine extreme Leidenschaft als Ursprung apokalyptischer, stark gnostisch gefarbter45 Phantasien. Entgrenzend, katastrophisch transgressiv46 ist
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Vgl. die korrespondierenden Passagen in Akt 4, in denen der Ehebruch Gloucesters (von Lear mit makabrem Witz als "blind Cupid" [4.5.134] angeredet) den Anstoß fur die entsprechenden Assoziationen bietet, z.B. 4.6.106-127. Die zynische Tirade ("Let copulation thrive [. 00]") nimmt unzweideutige Schuldzuweisungen fur sexuelle Promiskuität vor und weiß auch genau, wo die eigentliche Hölle zu finden sei: "The fitchew, nor the soiled horse, goes to't with a more riotous appetite. Down from the waist they are centaurs, though women all above. But to the girdle do the gods inherit, beneath is all the fiend's: there's hell, there's darkness, there is the sulphurous pit,
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vor allem die Art und Weise, wie hier das Ende fingiert wird - fur das sprechende Selbst wie für jene, denen es die eigene Kränkung zur Last legt. Daß das Unwetter für Lear weniger bestätigendes Analogon als Projektionsfläche einer Befindlichkeit ist, die aggressiv überbordet und zugleich im Begriff ist, sich mit der empfangenen Verletzung einzuschließen, zeigt auch seine Schelte der Elementarkräfte als Handlanger der perniziösen Töchter. Je stärker sich Lears Einbildung im Selbstmitleid auf das ihm zugefügte Heteronomieerlebnis fokussiert, desto mehr vertieft sich sein cholerischer Wahn - bis zur völligen Interiorisierung des Sturms, flir die dessen Toben nur ein zunehmend entbehrlich werdender Stimulus im aus den Fugen geratenen Haushalt der Passionen ist: [... ] this tempest in my mind Doth from my senses take all feeling else, Save what beats there, filial ingratitude. (3.4.12-14)
Solche Subjektivierung des Weltuntergangs zu wahnhaft überschießender Einbildungskraft führt zugleich Konsequenzen einer visionären Instrumentalisierung der apokalyptischen Rede als pathologisch vor Augen. Diese fungiert zunehmend als bloße Lieferantin von Bildmaterial flir eine melancholischcholerisch derangierte Imagination. So erscheint zuletzt der Zustand, in den sich Lear immer tiefer hineinmanövriert, indem er sich mit immer größerer Ausschließlichkeit, unterbrochen nur von transitorischen Schein-Konversionen 47 , auf die eigene Befindlichkeit konzentriert, selbst dem verzweifelnden
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burning, scalding, stench, consumption! Fie, fie, fiel Pah, pah! Give me an ounce of civet, good apothecary, to sweeten my imagination. There's money for thee." (120-126) Die in der neueren Forschung diskutierte, auffallend misogyne Unterströmung nicht nur der Learschen Wahnreden (wiewohl sie dort am deutlichsten zutage tritt) ließe sich aus der hier vorgeschlagenen Lektüreperspektive vielleicht noch einmal anders erklären als aus einer psychoanalytischen Sicht, die mit Lears Verdrängung des Weiblichen und seiner Weigerung argumentiert, seine Töchter als Teile seiner selbst anzuerkennen: Lears Abscheu vor weiblicher Körperlichkeit und Geschlechlichkeit erscheint als Teil eines Syndroms von Leibfeindlichkeit kombiniert mit Faszination durch Wiedervergeltungsvorstellungen, wie es sich vor allem in den gnostisch beeinflußten apokryphen Apokalypsen (Petrus- und Paulus-Apokalypsen, Sybillinen) findet. Die dort geschilderten Visionen befassen sich - wie die Lears - vorzugsweise und mit großer Ausfiihrlichkeit mit den körperlichen Qualen, die jene erleiden, die sich sexueller Vergehen schuldig gemacht haben. Grenzüberschreitung ist auch der Tenor der weiteren Momente in der Deskription des Learschen Choler durch den Knight: der Wettbewerb mit den Elementen ("Contending with the fretful elements"), der Wunsch nach einer Sintflut, die See und Land ununterscheidbar machte ("ür swell the curled waters 'bove the main "), oder die Absicht, mikrokosmisch den äußeren Tumult zu überbieten ("Strives in his little world of man to outscorn / The to and fro conflicting wind and rain; [... ]") (vgl. 3.1.4-15). Solche Momente scheinbarer Einsicht stellen sich beispielsweise auf der Heide ein: 3.4.25-36 ("Poor naked wretches [ ... ]"). Lears berühmte Selbstermahnung an dieser Stelle "Take physic, pomp, / Expose thyself to feel what wretches feei" , bleibt folgenlos, denn das einzige, wozu er imstande ist, als in Gestalt von Edgar / Poor Tom ein "wretch" auftritt, ist, sich in dessen Situation zu spiegeln: "Didst thou give all to thy two daughters?" (48) Foakes [Anm. 1] kommentiert entsprechend: "A poor naked wretch suddenly appears, and Lear projects onto him his own grievances." - Ähnlich kurz daraufin derselben Szene (99-106): Lears Ausfiihrungen zur menschlichen Unbehaustheit ("Unaccommodated man [ ... ]") werden dadurch ironisch konterkariert,
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Gloucester als unüberbietbare alienatio: ,,0 ruined piece of nature, this great world / Shall so wear out to naught." (4.6.130f) Wird der wahnsinnige Lear hier zum Weltuntergangsemblem erhoben, so wähnt er kurz darauf, bei der Wiederbegegnung mit Cordelia und in vorübergehender Sistierung seines Abstiegs in saturninische Verdüsterung,48 schon gestorben zu sein und, wieder auferweckt, "a soul in bliss" vor sich zu haben, die ihn doch von seinen Höllenqualen nicht retten kann49 - "You are a spirit, I know; where did you die?" Nicht nur scheitert hier die Anagnorisis, oder genauer: ihr Zeitpunkt verschwimmt im Aufdämmern und Vergehen eines lucid interval. Lears Eschatologie schließt genaugenommen ein glückhaftes Wiedererkennen aus, indem er sich und Cordelia in Bereichen auf ewig getrennter Jenseitigkeit imaginiert. Die Apokalyptik erweist sich auf diese Weise als Reservoir desperater Rhetorik und Medium des Wahns. Sie wird als Fundus von Metaphern präsentiert, die vor allem den Verblendeten und den Blinden zu Gebote stehen und die daher keinerlei Anspruch auf literale Geltung erheben können. 50 Das
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daß der, den er vor sich hat, keineswegs "the thing itself' ist, sondern Edgar als Poor Tom; und auch hier folgen keineswegs Akte der Barmherzigkeit, sondern nur Versuche, sich selbst zu einem "poor, bare, forked animal" zu machen, indem er sich die Kleider vom Leibe reißt. Lear erscheint nicht erst hier als Figur des gestürzten Chronos, des entmachteten, entmannten und in die Unterwelt verbannten Kinderverschlingers am Ende des von ihm beherrschten Weltalters: Man mag hierin ein weiteres mythologisch-allegorisches Angebot des Textes erblicken, dessen Annahme und Absolutsetzung zugleich von eben diesem Text untersagt wird; ein gleichsam ankerlos gewordenes, ,täuschendes' Zeichen (s.u.), das nicht zur Totalerklärung taugt. - Eine detaillierte, im einzelnen außerordentlich suggestive Suche nach "Spuren Saturns in King Lear" (allerdings mit dem zumindest implizit erhobenen Anspruch, aus dieser Perspektive das Drama umfassend erhellen zu können) findet sich im entsprechenden Kapitel bei Peter Sillem: SatuYl1s Spuren - Aspekte des Wechselspiels von Melancholie lind Volkskultur in der Frühen Neuzeit, unveröffentl. Diss. Frankfurt a. M. 2000. "You do me wrong to take me out o'the grave. / Thou art a soul in bliss, but I am bound / Upon a . wheel of fire that mine own tears / Do scald like molten lead." (4.7.45-48) Umgekehrt verlieren die Momente literalen Vollzugs apokalyptischer Motive wie etwa die Blendung Goucesters ihre eschatologische Pointe. (Abgesehen davon, daß die Bestrafung durch Blendung die zumindest nach mittelalterlichem Verständnis ,richtige' Vergeltung für einen Vergewaltiger war; daß Gloucesters ehebrecherischer "act of darkness" auch im Kontext des Stückes dadurch ,adäquat' vergolten wird, daß er ins Dunkel gestürzt wird, kommt die spiegelnde Strafe des Augenausstechens auch in der Petrus-Apokalypse (etwa 150 n. Chr.) vor; dort allerdings als Strafe für Lästerung des "gerechten Weges", vgl. Kap. 13 der griechischen Fassung der Apokalypse Petri in: Das Neue Testament fmd frühchristliche Schriften, übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, Frankfurt a. M. 1999, 1167.) In King Lear ist die Blendung, wenn sie geschieht, nichts als ein Akt brutalster Grausamkeit; erst die Anspielungen Lears im vorletzten Akt (4.6.109ff. - s.o. - und 134) und Edgars verurteilende Worte zu Edmund über seinen und dessen Vater nach seinem Sieg im Zweikampf suggerieren einen Vergeltungszusammenhang: "The gods are just and of our pleasant vices / Make instruments to plague uso / The dark and vicious place where thee he got / Cost him his eyes." (5.3.168-171) Im einen Fall erscheint der Tun-Ergehens-Konnex als nachträgliche Identifizierung Edmunds mit einem von Anfang an und schlechterdings Bösen, die uns Edgar als fragwürdige Lichtgestalt darstellt, die sich zum Sprachrohr einer Gerechtigkeit ohne Gnade macht, im anderen Fall erscheint er als Produkt ,wahnsinniger' Hellsichtigkeit. In beiden Fällen ist der Effekt der einer Relativierung des Vergeltungsgedankens. - Auch der vereitelte Klippensturz Gloucesters ließe sich in diesem Sinne als Kontrafaktur zu einem gnostischen Motiv lesen (das wiederholte Herabstürzen ist ebenfalls eine der Höllenqualen, die die Petrus-Apokalypse - Kap. 10 und 11 der äthiopischen Fassung beschreibt).
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Erschrecken, das diese Tragödie auszulösen vermag, liegt nicht zuletzt darin, daß der in solcher Metaphorik implizit evozierte Ruin fiir den Verlauf des Dramas dennoch prognostische Kraft zu entfalten scheint. Was also hat es zu bedeuten, wenn diese Anatomie der apokalyptischen Imagination die eschatologische Macht der ins Spiel gebrachten Vorstellungen einerseits schwächt und damit mögliche Pragmatisierungen abwehrt, andererseits ihnen aber in solchem Suspens durch Textualisierung offenbar doch zutraut, Wirklichkeiten zu schaffen? Was können wir über die zeichenhafte Verfaßtheit dieser Wirklichkeiten sagen und wie schließen sich unter diesem Gesichtspunkt Beginn und kryptischer Schluß dieses Stückes zusammen? B. Das falsche Zeichen Das Drama beginnt mit einer Gerichtsszene. Lear schickt sich nicht nur an, nunmehr seinen "darker purpose" (1.1.35) in Zusammenhang mit der Teilung des Reiches und seinem Rücktritt vom Herrscheramt bekanntzugeben, er macht sich auch zum Richter über das Maß an Liebe, das ihm jede seiner Töchter entgegenbringt und an welchem dann das jeweilige Erbe sich bemessen wird. Die Frage "Which of you shall we say doth love us most" (1.1.51) leitet ein höfisches Spiel ein, einen rhetorischen Wettbewerb der Liebesbeteuerungen, auf den Goneril und Regan offenbar gefaßt sind und den sie mit Bravour meistern. Ausgerechnet die Lieblingstochter Cordelia weigert sich jedoch, hier mitzuspielen - eine Weigerung, die die Grenze zum Ungehorsam deutlich überschreitet und den Bannfluch Lears auf sich zieht. Cordelias Verhalten mutet nicht nur unhöfisch an, es verstößt auch gegen die Grundnormen patriarchalischer Familienräson. Vor allem aber fällt auf, wie sich der Fokus der Szene verschiebt: Was als Frage nach der Intensität eines Gefiihls einzusetzen schien, wird zur Konkurrenz um das rechte Wort. Goneril und Regan verstehen dies auch sofort und entledigen sich ihrer Aufgabe mit versierter Eloquenz, wobei Regan Gonerils Unsagbarkeitstopos ("Sir, I do love you more than word can wield the matter," [1.1.55]) durch ein virtuoses Arrangement von Negationen überbietet, mit denen sie beteuert, ihr Glück allein in der Vaterliebe zu finden. Anstatt sich nun ebenfalls an dieser risikolosen, schlimmstenfalls ein wenig kindischen Lotterie zu beteiligen, in der die Preise im Grunde bereits vergeben sind, bleibt Cordelia absichtlich sprachlos. Was sie beiseite spricht, scheint ein Wissen um die Unvereinbarkeit zwischen sprachlichem Zeichen und dem zu Bezeichnenden zu markieren, das derart fundamenta151 ist, daß sie nicht einmal im Spiel bereit ist, es zu 51
Nachgerade apokalyptisch: Ihre asides "What shall Cardelia speak?" und "Then poar Cordelia, / And yet not so, since I am sure my love's / More ponderous than my tongue" (1.1.62 und 76-78) scheinen mit den entsprechenden Echos des Dies irae aufgeladen: "Quid sum miser tunc dicturus? / Quem patronum rogaturus, / Cum vixjustus sit securus?"
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verleugnen. Da sie weder ihrem Vorsatz "Love, and be silent" (1.1.62) folgen kann, noch das Gefiihl und dessen innere Gewißheit zur Sprache bringen mag, bleibt ihr nur die ebenso schroffe wie unziemliche Ablehnung jeglicher Rede mit der bekannten fatalen Konsequenz: [LEAR]
[... ] But now our joy, [... ] what can you say to draw A third more opulent than you sisters? Speak. CORDELIANothing, my lord. (1.1.82-87)
Die Tragödie nimmt ihren Lauf, weil auch die suspendierte Beredsamkeit die Wahrheit, die es zu sagen gälte, nicht zum Ausdruck zu bringen vermag: "Unhappy that I am, I cannot heave / My he art into my mouth." (1.1.91f.) Das Verborgene findet hier keine Evidenz. Hamlet vergleichbar und mit ähnlicher Provokanz besteht Cordelia darauf, nicht zeigen zu können, wovon sie - und, wie sie wähnt, nur sie - zuinnerst weiß. 52 Aber welches Zeichen vermöchte das auch adäquat zu repräsentieren?53 Die Beunruhigung über das Auseinanderfal1en von Wort und Sache, res und verbum, die hier aufbricht, ist nicht nur eine erz-pyrrhonische. 54 Daß menschliche Zeichen außerstande sind, die Dinge wahrhaftig zu vergegenwärtigen, diese Einsicht in die nominalistische Gebrochenheit jeder Rede also hat auch eine apokalyptische Dimension. Denn wenn Zeichen und Bezeich-
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Vgl. Hanuets Worte "I have that within which passeth show." (1.2.85) Vgl. zur verweigerten Signifikation auch Rotman: SigntfYing Nothing [Anm. 37], 80f - Rotman betrachtet Cordelia als Verkörperung einer älteren "conception of natural love as love in action", die in unversöhnlichen Gegensatz zu Lears Kommodifizierungsmanövern gerate. Probleme ergeben sich für diese Lesart allerdings daraus, daß nicht ganz ersichtlich ist, weshalb äies "natural love" ist; weiterhin daraus, daß Cordelia als Vertreterin der ,alten Ordnung' zum spektakulären Verstoß gegen eben diese (in Gestalt der Gehorsamspflicht) genötigt ist; daß schließlich unerklärt bleibt, weshalb gerade die ältere Generation in Gestalt Lears hier als Vertreter des neuen Merkantilismus auftritt. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Rosalie L. Colie: Reason and Need: King Lear and the ,Crisis' qf the Aristocrac]', in: Some Facets qf King Lear - Essays in Prismatic Criticism, ed. by Rosalie L. Colie and F.T. Flahiff, London 1974. - Fragwürdig erscheint Rotmans Interpretation auch deshalb, weil auch Cordelia bei näherem Hinsehen zu genau den Ökonomismen neigt, die ihr Vater hier'ins Spiel bringt. Stephen Booth weist in seiner präzisen, die Verunsicherungsstrategien des Dramas in den Vordergrund rückenden Lektüre deutlich darauf hin: "Her ideas are only a variation on Lear's; she too thinks of affection as a quantitative, portionable medium of exchange for goods and services [00'] Moreoever, she sounds priggish." (Stephen Booth: King Lear, Macbeth, lndiflnition and Tragedy, [1983], zit. nach On the Greatness qfKing Lear, in: William Shakespeare's King Lear, ed. by Harold Bloom, New York 1987, 67.) Booth hält allerdings die auf diese Weise erzeugte Wertungsungewißheit nicht fur grundsätzlich verstörend. Vgl. die Zeichenkritik des Sextus Empiricus im Grundrtß der p]'rrhonischen Skepsis (eingel. und übs. v. Malte Hossenfelder, Frankfurt a. M. 1985), II, 97-133. - Ein Zusammenhang zwischen Skepsis und Nominalismus ließe sich in zahlreichen Dramen Shakespeares nachweisen, beispielsweise in Hamlet und Othello; vgl. auch Vf [V.O.L.]: Skeptische Phantasie, München 1999, sowie Vf: ,The word and not the thing': Shakespeare und die Macht der Zeichen - AlI's Weil that Ends Weil als skeptischnominalistisches Experiment, in: Zeitschrift fiir Ästhetik tll1d Allgemeine Kunstwissenschqft 45/1 (2000), 49-74. Alf's Weil that Ends Weil erkundet gleichsam die produktive Kehrseite der in Lear entfalteten ,nominalistischen' Semiotik.
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netes in keinerlei ,naturwüchsiger' Beziehung zueinander stehen, dann müssen Enthüllungen, die vor jener letzten Offenbarung erfolgen, zweifelhaft erscheinen. Das aber gilt dann auch fiir den Topos (veritasfilia temporis), auf den Cordelias parting shot gegen ihre Schwestern anspielt: "Time shall unfold what plighted cunning hides, / Who covert faults at last with shame derides." (1.1.282f).55 Die Zeit - auch die Spielzeit dieses Dramas - entfaltet nichts Verläßliches. Was hier in der folgenden, ,chronischen' Verschlimmerung auseinandergelegt wird, ist, seinen apokalyptischen Suggestionen zum Trotz, von Ungewißheit und Täuschung durchsetzt. Wie die Wahrheit zu sagen sei, bleibt bis zum Schluß unsicher. Zu zeigen, daß sie nur als unsichere und vorläufige und zuletzt vielleicht gar nicht zu sagen ist, ist die Wahrheit des Dramas. 56 Die Apokalypse besitzt nicht nur ihre eigene Semiotik, sie ist auch selbst ein Zeichengeschehen. Sie kündigt sich an in Vorzeichen 57 , und sie läuft auf eine Offenbarung des Verborgenen und eine Enthüllung des Eigentlichen zu. Das Ende ist, in diesem Sinne, stets ein ,versprochenes'; es ist Verheißung des Endes und deren zugesagte Einlösung. In King Lear dagegen treten Verkleidungen an die Stelle von Enthüllungen: Kent kann der treue Diener und aufrichtige Ratgeber, der er ist bzw. als welcher er sich Lear gegenüber bereits erwiesen hat, nur sein, indem er sich verkleidet. Erst Edgars Rollenspiel als Poor Tom und diverse Verstellungen ermöglichen es ihm, seinem Vater als guter und ergebener Sohn zur Seite zu stehen und ihn vor dem Selbstmord zu bewahren. Wenn umgekehrt Verborgenes aufgedeckt wird,58 so geschieht dies entweder zu spät - etwa im Falle der Wiederbegegnung Lears mit Cordelia bzw. seiner Einsicht in ihren "most small fault" (1.4.258)59 - oder mit töd-
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Weitere Beispiele für in diesem Sinne ,apokalyptisch werdende' Zeichen finden sich in dieser Szene etwa in Lears Selbstpräsentation als apokalyptischer Drache ("Come not between the dragon and his wrath!" [1.1.123]) oder als apokalyptischer Reiter ("The bow is bent and drawn; make from the shaft" [1.1.144], vgl. Qffb. 6,2). Zugleich zeigt sich aber in der eigenartigen Austauschbarkeit dieser typologischen Markierungen ebenso wie im Flottieren des apokalyptischen "nothing" zwischen unterschiedlichen Figuren (der Fool etwa nennt Lear "an 0 without a figure; [... ] thou art nothing" [1.4.133f], und Kent beschimpft Oswald als "Thou whoreson zed, thou unnecessary letter" [2.2.62]), wie die apokalyptischen Zeichen gleichsam von ihren Referenzen gelöst, flexibilisiert und beweglich geworden sind. Damit aber verlieren sie jede Eindeutigkeit und die Qualität von mit Gewißheit einzulösenden Verheißungen: Diese Topik ist ortlos geworden. Und des Narren (zu Lear): "I marvel what kin thou and thy daughters are. They'll have me whipped for speaking true, thou'lt have me whipped for lying, and sometimes I am whipped for holding my peace." (1.4.173-175) - Es erscheint bezeichnend, daß der Narr, der diese Aporie zunächst noch mit komischer Wirkung artikuliert, im Laufe des dritten Akts (ab 3.6.82) aus dem Stück verschwindet. Die - wie das "Zeichen des Feigenbaums", das Christus den Jüngern zur Kenntnisnahme empfiehlt (z.B. Mt. 24,32-33) - ihrerseits in erster Linie auf ihre eigene Zeichenhaftigkeit verweisen. Kent schiebt seine Identifikation Lear gegenüber mit der Begründung, die Zeit hierfiir sei noch nicht gekommen (4.7.9-11), solange auf, bis es fraglich erscheint, ob ein Wiedererkennen tatsächlich stattfindet (5.3.276-292); vgl. Albanys Bemerkung zu Lears Umnachtung: "He knows not what he says and vain is it / That we present us to him." (291f) An dieser Stelle beklagt Lear lediglich seine Torheit in der Vergabe des Reiches an Goneril und Regan, hält aber Cordelias verweigerte Schmeichelei immer noch für "ugly", seinen Liebesentzug
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licher Wirkung: Gloucesters Herz bricht, als sich Edgar ihm - ebenfalls zu spät60 - zu erkennen gibt. Gute Absichten bleiben so bis zuletzt unerkannt, böse undurchschaut, bis es zu spät ist. Die signifikante Außenseite der Dinge scheint die Mitteilung ihrer wahren Bedeutung eher zu hindern als zu ermöglichen. Die Separierung von Wort und Welt und die systematische Entwertung der Vorstellung ihres apokalyptischen Übereinkommens setzt umgekehrt eine beunruhigende Produktivität frei. Während die Guten nicht das richtige Wort finden (Cordelia), nicht den rechten Ton treffen (Kent), die Wahrheit der Klugen trotz komischer Verstellung kein Gehör findet (der Narr), verfugen, so scheint es, diejenigen, die wie Edmund nach der Macht gieren, über eine Eloquenz, die sich die Kluft zwischen Wort und Welt skrupellos zunutze macht, um Wirklichkeiten herzustellen, die ihren Zwecken entsprechen. Ja, man könnte vielleicht sogar sagen, daß die Verleumdung, mit der Edmund die Intrige gegen seinen Bruder ins Werk setzt, seiner Einsicht in die Arbitrarität der Zeichen entspringt: "Why brand they us I With base? With baseness, bastardy? Base, base?" (1.2.9f.) Legitimität - "Fine word, ,legitimate'!" (18) wie Illegitimität erscheinen ihm als willkürliche Zuschreibungen, denen keine Realität entspricht. Da diese Zeichen nirgends verankert sind, können sie indes gefiigig gemacht und zum Fingieren anderer, manipulativer Signifikanzen eingesetzt werden: "Let me, if not by birth, have lands by wit; I All's meet with me that I can fashion fit." (1.2.181-182)61 Ein nicht nur strukturell, sondern auch thematisch einschlägiges Beispiel fiir solches jashioning und die semiotischen Umkehreffekte, die es in diesem Drama auslöst, ist mit den astrologischen Endzeitprognosen gegeben, denen Gloucester anhängt: GLOUCESTER These late eclipses in the sun and moon portend no good to uso Though the wisdom of Nature can reason it thus and thus, yet nature finds itself scourged by the sequent effects. Love cools, friendship falls off, brothers divide: in cities, mutinies; in countries, discord; in palaces, treason; and the bond cracked 'twixt son and father. This villain of mine comes under the prediction - there's son against father. The King falls from bias of nature - there's father against child. We
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und seinen unversöhnlichen Zorn ("gall") für gerechtfertigt (vgl. 258-264). Von der Vergebungsbitte in 4.7.83f und 5.3.11 ist er noch weit entfernt. Vgl. Edgars "brief tale" in 5.3.180-197: "Never - 0 fault! revealed myselfunto him / Until some half-hour past [ ... ] But his flawed heart, / Alack, too weak the conflict to support, / Twixt two extremes of passion, joy and grief, / Burst smilingly." (191-197) Die Produkte der verleumderischen Aktivität Edmunds sind im übrigen nicht nur sprachlicher Art, auch sein eigener Körper taugt zum falschen Zeichen: Eine selbstzugefügte Verwundung dient zum Beweis seiner opferbereiten Loyalität Gloucester gegenüber und zugleich zur Anklage seines Bruders, den er am Vatermord gehindert zu haben vorgibt; vgl. 2.1.29-85. - Sein verleumderischer Bericht über den Hergang legt Edgar genau den ,realistischen' Glauben in die Macht der Nomina in den Mund, gegen den er sich selber empört hat: ,,[ ... ] He replied, / ,Thou unpossessing bastard, dost thou think, / If I would stand against thee, would the reposal / Of any trust, virtue or worth in thee / Make thy words faithed? [... ]" (66-70)
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have seen the best of our time. Machinations, hollowness, treachery and all ruinous disorders follow us disquiedy to our graves. [ ... ] And the noble and true-hearted Kent banished, his offence honesty! 'Tis strange, strange! (1.2.103-117)
Edmund hat fiir die apokalyptische Gutgläubigkeit seines Vaters nichts als Spott übrig. Sein verächtlicher Kommentar ist indes zynisch und zugleich eminent vernünftig. Er durchschaut Gloucesters Vertrauen auf die Tragfähigkeit analogistischer Korrespondenzen als deterministisches Ausweichen vor Eigenverantwortlichkeit: "An admirable evasion of whoremaster man, to lay his goatish disposition on the charge of a star." (1.2.126f)62 Und er benutzt den Endzeitdiskurs sogleich, um seinen Bruder damit zu düpieren. Er spielt ihm düstere Vorahnungen und Besorgnis darüber vor, das Schicksal könne sich gegen Edgar wenden und ihn die Gunst des Vaters verlieren lassen: ,,0, these eclipses portend these divisions." (1.2.136f) Ironischerweise bestätigt der weitere Verlauf die apokalyptische Prognostik in allen Einzelheiten. 63 Oder genauer: der Text erweist sie einerseits als unglaubwürdig, negiert ihre Geltung, indem er sie als bloßes Spielmaterial fiir den Lügner und Verräter vorfuhrt, und er affirmiert sie andererseits als Beschreibungsmodell fiir ein katastrophisches Geschehen. Er gibt damit sowohl der nominalistischen Hellsichtigkeit Edmunds als auch Gloucesters Blindheit recht und erweist sie zugleich beide als verkehrt. Der paradoxe Effekt entsteht indes nicht nur daraus, daß die dramatische Bekräftigung des Apokalyptischen dessen metaphysisches Dementi mitfuhrt. Er entsteht vielmehr gleichsam kumulativ: In diesem Stück scheint es nur noch falsche Zeichen, unzuverlässige Evidenzen zu geben, ohne daß wir zu sagen vermöchten, welches die richtigen wären und worin die Wahrheit unbezweifelbar ans Licht träte. Das gilt fiir die emblematisch anmutende Gestalt Kents im Stock - einerseits Inbegriff von Virtue Locked Out64 , andererseits und ebenso emphatisch aber auch einer, der die Fußfessel nach seiner unmotiviert gewaltsamen Attacke auf Oswald nicht gänzlich unverdient trägt -, es gilt auch ftir Edgars gespielte Besessenheit, die in mehrfacher Hinsicht
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Vgl. die gesamte astrologiekritische Passage (1.2.118-133). - Edmunds luziferische Bosheit ist nicht zuletzt durch seine Intelligenz, seinen parodistischen Witz und seine Fähigkeit, nicht nur die Verblendung anderer zu durchschauen, sondern auch sich selbst illusionslos wahrzunehmen, so überzeugend: "My father compounded with my mother under the dragon's tail and my nativity was under Ursa Major, so that it follows 1 am rough and lecherous. Fut! I should have been that 1 am had the maidenliest star in the firmament twinkled on my bastardizing." (128-133) Vgl. die vollständige Version der Vorhersagen aus dem Munde Edmunds: "I am thinking, brother, of aprediction I read this other day, what would follow these eclipses. [ ... ] I promise you, the effects "he writes of succeed unhappily, as of unnaturalness between the child and the parent, death, dearth, dissolutions of ancient amities, divisions in state, menaces and maledictions against King and nobles, needless diffidences, banishment of friends, dissipation of cohorts, nuptial breaches and 1 know not what." (1.2.140-149) Vgl. den Kommentar Foakes' zu 2.2.153-171.
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duplizitär erscheint: Als solche lenkt die Obsession durch Dämonen65 schon die Aufinerksamkeit auf das Phänomen einer Separation von Körper und Stimme, einer Nichtidentität von Sprecher und Sprache, von Wort und ,okkulter', verschlossener res; als prätendiertes eröffuet das dämonische Andersreden die Möglichkeit eines Redens ,in Zungen', dessen Worte auf figurativen Umwegen doch wieder Wahres und Treffendes sagen können. Die Scheidung zwischen wahren und falschen Signifikanzen ist jedoch ebenso wenig mehr eindeutig durchführbar wie die apokalyptisch klare Sortierung von ,Guten' und ,Bösen' - sie hätte im Bewußtseins eines Lesers bzw. einer Zuschauerin zu erfolgen, dem der Text kein Kriterium liefert. Die Suspension dualistischer Ordnungsschemata, ineins damit einer apokalyptisch pragmatisierbaren Gnosis zeigt sich vielleicht am eindrucksvollsten in jener Szene, in der Edgar I Poor Tom seinen geblendeten Vater auf die Klippen von Dover fuhrt. Gloucester will sich von dort zu Tode stürzen. Das Publikum ,sieht' auf der leeren Bühne des Shakespearetheaters eben das, was der unerkannte Sohn den blinden Vater imaginieren läßt: EDGAR
Come on, sir, here's the place. Stand still: how fearful And dizzy 'tis to cast one's eyes so low. The crows and choughs that wing the midway air Show scarce so gross as beetles. Half-way down Hangs one that gathers samphire, dreadful trade; Methinks he seems no bigger than his head. The fishermen that walk upon the beach Appear like mice, and yon tall anchoring barque, Diminished to her cock, her cock a buoy Almost too small for sight. The murmuring surge That on th'unnumbered idle pebble chafes, Cannot be heard so high. I'lllook no more, Lest my brain turn and the deficient sight ToppIe down headlong. (4.6.11-24)
Bis zu Gloucesters Sprung in die Tiefe, den er unverletzt übersteht, bleibt unbestimmt, ob wir uns - den Konventionen des zeitgenössischen Theaters folgend - beide tatsächlich am Rande des Abgrunds stehend vorzustellen haben oder ob Edgar die Einbildungskraft des Vaters entsprechend manipuliert, um ihn vom Selbstmord abzuhalten. Wir befinden uns effektiv in der Situation des Blinden, angewiesen auf potentiell täuschende sprachliche Zeichen. Mehr noch: Edgar inszeniert diese Täuschung zwar in der ausdrücklichen Absicht, Gloucester durch sie zu heilen,66 aber zugleich in dem Bewußt-
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Ausführlich hierzu F.W. Brownlow: Shakespeare, Harsnett, and the Devils C!f Denham, Newark, London and Toronto 1993, sowie Stephen Greenblatt: Shakespeare and the Exorcists, in: Shakespearean Negotiations, Oxford 1988, 1990,94-128. "Why I do trifle thus with his despair / Is done to cure it." (4.6.33f.)
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sein, daß auch der eingebildete Sturz ("conceit"67) den Verzweifelten töten könnte. Und schließlich läßt er auf diese Vorspiegelung nicht etwa eine Klärung, sondern ein weiteres Rollenspiel folgen, indem er den Vater in dem Glauben läßt, er sei tatsächlich von der Klippe gesprungen, habe den Sturz, zu welchem ihn ein Dämon verfuhrt habe, aber wunderbarerweise überlebt. Im Guten wie im Bösen sind die Zeichen hier radikal disponibel geworden. Selbst Tod und Auferstehung scheinen in ihre Macht - die Macht der von ihnen gefuhrten Imagination - gegeben zu sein. Was sie uns, den blinden Zuschauern dieses apokalyptischen Dramas nicht nur auf den Klippen von Dover vor Augen fuhren, ist die paradoxe Evidenz des Unsichtbaren in Bildern, die weder wahr noch falsch sind, aber nachhaltig verstören: "image of that horror", wie es nur die Literatur zu zeigen vennag. Das Ende ist und bleibt in King Lear ein versprochenes - und das heißt: ein aufgeschobenes. Die Schlußworte des Dramas, in der Folio von Edgar, in der Quarto-Version von Albany gesprochen, formieren sich zu einer letzten Antiklimax. Indem sie die unmögliche Identität von Sprechen, Fühlen und Sehen in einer Pseudo-Maxime zusammenziehen, verlegen sie eben das, was auch die überlebenden Figuren nicht werden einlösen können, in ein Jenseits des Textes, das eben dieser Text endgültig der Verfugung entzogen hat68 : The weight of this sad time we must obey, Speak what we feel, not what we ought to say. The oldest hath borne most; we that are young Shall never see so much, nor live so long. Exeunt with a dead march
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"And yet I know not how conceit may rob / The treasury of life when life itself / Yields to the theft. Had he been where he thought, / Ey this had thought been past. [ ... ]" (4.6.42-44) 5.3.322-325.
Robert Andre J)
UND WEIT, WOHIN ICH NIMMER / ZU KOMMEN GEDACHT"
Hölderlin liest Johannes in Patmos Das bist du ganz in deiner Schönheit apocalyptica. Friedrich Hölderlin Der Buchstabe ist der wahre Zauberstab. Friedrich Schlegel
1. Die Apokalypse ist nicht zu fassen. Ganz gleich ob man sie schlechterdings als das unheilvolle Ende der Welt oder zugleich auch als den Anfang der Enthüllung des verborgenen Gottes versteht. 1 Wenn sie aber käme, dann würde sie ohne Zweifel uns Erdenbürger erfassen. Sie ist der aus menschlicher Perspektive nicht vorherzubestimmende Zeitpunkt, in dem aller gemachten Erfahrungen zum Trotz das mit Schrecken erwartete Wunder geschieht, daß der Gott in die Welt tritt und der Lauf der irdischen Dinge eine substantielle Wende nimmt. Von der Apokalypse wird erwartet, nicht zuletzt weil sie per definitionem nicht zu bestimmen ist, daß sie allverwandelnd ist. All die unzähligen menschlichen Handlungen seit jeher, sämtliche historischen Prozesse sollen durch sie in ein grundlegend anderes Licht gestellt werden. Die bisher herrschenden Mächte sollen niedergeworfen und statt dessen ein nie dagewesenes Neues freigesetzt werden. Und zwar dahingehend - so der die apokalyptischen Visionen generierende Wunsch -, daß mit dem Erscheinen Gottes schließlich die selbstherrlichen weltlichen Mächte, die als Sieger meinen, Recht über andere sprechen zu können, nun ihrerseits ihren Richter finden und sich dadurch aufletzter und höchster Ebene göttliche Gerechtigkeit auf
Klaus Vondung hebt in seinen Studien zur Apokalypse hervor, daß selbst in den sogenannten kupierten Apokalypse-Vorstellungen in der Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts die alten Hoffuungen auf einen Neuanfang virulent sind. Vgl. ders.: Die Apokalypse in Deutschland, München 1988, llf.
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Erden manifestiert. 2 Wenn in diesem Sinne der Gott naht, ist rur die Sterblichen Gefahr in Verzug. Denn das erwartete Jüngste Gericht - so wie es Johannes in seiner Offenbarung ausmalt - wird ein finales Urteil fällen, das alle begangenen Taten einbezieht. Selbst die lange schon Gestorbenen werden sich vor diesem kommenden Richterspruch zu verantworten haben3 : "Und die Toten wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben steht, nach ihren Werken." Friedrich Hölderlins Hymne Patmos bezieht sich nicht nur im Titel auf die im Ägäischen Meer gelegene Insel Patmos, wo der "Knecht Johannes" "die OffenbarungJesu Christi, die ihm Gott gegeben hat" ,4 niederschrieb, sondern die ersten Sentenzen von Hölderlins großem Gedicht nennen auch wesentliche Momente, welche die Vorstellungen in der jüdisch-christlichen Tradition von der kommenden Apokalypse bestimmen. Das ist zum einen die Gefahr, die mit der Entbergung des verborgenen Gottes verbunden ist, weil sich nur im Untergange des Alten das Neue zeigen könne. 5 Zum anderen ist das die Ahnung, daß dieses Ereignis unmittelbar bevorstehe. In der Offenbarung des J ohannes äußert sich diese endzeitliche Dringlichkeit in der wieder-
Vgl. das Wort, das der Prophet Habakuk von Gott erhalten hat, na!=hdem er sich bei diesem darüber beklagte, daß die Gesetze im Neubabylonischen Reich "ohnmächtig" seien, und die "rechte Sache" nie gewinnen könne, weil Gott es zulasse, daß "der Gottlose" "den Gerechten" ungestraft übervorteile und also "Gewalt vor Recht" geht (vgl. Hab. 1,2-4). Gott erwiderte darauf (Hab. 2,3-5): "Die Weissagung wird ja noch erfüllt werden zu ihrer Zeit und wird endlich frei an den Tag kommen und nicht trügen. Wenn sie sich auch hinzieht, so harre ihrer; sie wird gewiß kommen und nicht ausbleiben." - Im folgenden wird aus der Bibel zitiert nach: Die Bibel, nach der Übersetzung Martin Luthers, revidierte Fassung von 1984, Stuttgart 1990.
Qtfb. 20,12. Vgl. ebd., 1,1. Siehe in diesem Zusammenhang auch Hölderlins poetologisches Fragment Das untergehende Vaterland, in: Friedrich Hölderlin: Siimtliche Werke und Britje [im folgenden: SWB] II, hg. von Michael Knaupp, München und Wien 1992,72-77. In diesem um 1799/1800 geschriebenen Text, der einen tiefgehenden Umbruch in Hölderlins geschichtsphilosophischen Denken markiert, heißt es (SWB II, 72): "Denn die Welt aller Welten, das Alles in Allen, welches immer is t und aus dessen Seyn alles angesehen werden muß, stellt sich nur in aller Zeit - oder im Untergange oder im Moment, oder genetischer im werden des Moments und Anfang von Zeit und Welt dar, und dieser Untergang und Anfang ist wie die Sprache, Ausdruk Zeichen Darstellung eines lebendigen aber be~ondern Ganzen, welches eben. wieder in seinen Wirkungen dazu wird, und zwar so daß in ihm, sowie in der Sprache, von einer Seite weniger oder nichts lebendig Bestehendes von der anderen Seite alles zu liegen schei~t." Dieser Satz verlangt - wie dieses Fragment überhaupt einen eingehenden Kommentar. Hier sei nur auf den im wahrsten Sinne apokalyptischen Gedanken hingewiesen, daß der verborgene Grund - "die Welt aller Welten" - sich gerade "im Untergange" offenbare und dieser Moment dann "wie die Sprache" zum "Zeichen" dieses verborgenen Grundes wird. Hölderlins Überlegungen implizieren auch, daß die Sprache und insbesondere die Dichtung selbst zu einem solchen offenbarenden "Zeichen" des "Ganzen" werden kann. Vgl. auch ]ohann Kreuzer: Erinnerung - ZlIm Zusammenhang von Hölderlins theoretischen Fragmenten ,Das untergehende Vaterland ... ' und, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist ... " Königstein i. Ts. 1985.
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holten Warnung6 : "denn die Zeit ist nahe." Hölderlin nimmt diese Geste auf und beginnt sein Gedicht wie folgt (v. 1-4f: Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch.
Der auftaktlose, trochäische Beginn des Gedichts legt nahe, daß der schwer zu fassende Gott im Kommen ist. Er ist schon "Nah" und wird wohl noch näher kommen. Diese Bewegung suggerieren die ersten beiden Verse durch den Abstand zwischen der unvermittelten Ankündigung am Anfang, "Nah ist", und dem dann schließlich nach einer Verzögerung genannten "Gott" am Ende der zweiten Zeile. In welchem Verhältnis aber steht der dann folgende zweite Satz dieses Gedichtanfangs zu den ersten beiden Versen? Der Einwand "aber" (v. 3) legt zumindest einen zu beachtenden Zusammenhang zwischen den ersten beiden Sätzen des Gedichts nahe. Denn dieses "aber" dürfte sich nicht nur satzintern auf die paradoxe genetische Einheit ("wächst") von Gefahr und Rettendem beziehen, so als würde es heißen, ,Wo Gefahr ist, wächst aber das Rettende auch', sondern die Entgegnung "aber" weist auch, eben weil sie gleich am Vers- und Satzanfang steht, auf den Anfang der Hymne zurück. Dann aber ist im dritten Vers nicht nur von einer allgemeinen, immer und überall möglichen gefährlichen Situation die Rede, sondern es ist genauer nachzufragen, worin denn diese "Gefahr" besteht?8 Liest man also die ersten vier Verse als zwei Aspekte eines Zusammenhangs, dann stellt sich die Alternative, ob die Gefahr auf den nahen und im Kommen begriffenen "Gott" zurückzufiihren ist oder ob sie daraus resultiert, daß der Gott "schwer zu fassen" ist, obgleich er "Nah ist"? Von Anfang an gibt der Text durch diese syntaktische Offenheit und durch die angedeutete, verheißungsvolle und zugleich gefährliche Begegnung mit dem nahen "Gott" eine unübersichtliche und mithin beunruhigende Dringlichkeit zu erkennen, die dem dann in der
Qffb. 1,3; vgl. auch 1,1; 22,6 u. 22,20. Patmos wird zitiert nach SWB I, 447-453. Vgl. auch Friedrich Hölderlin: Siimtliche Werke - Grqße Stuttgarter Ausgabe [im folgenden: StA] II, hg. Friedrich Beißner, Stuttgart 1943-1985, 165-172. Ich beziehe mich vor allem auf die sogenannte Widmungsreinschrift, die im Januar 1803 "Dem Landgrafen von Homburg" übergeben wurde. Zitate aus Patmos werden direkt im Text unter Angabe des Verses ausgewiesen. In der im Hamburger Folioheft niedergeschriebenen Fassung von Patmos heißt es denn auch noch: "Wo aber die Gefahr ist [ ... ]". Vgl. Hölderlin: Siimtliche Werke -Frankfurter Ausgabe [im folgenden: FRA] VII: Gesiinge I, hg. von Dietrich E. Sattler et al., Frankfurt a. M. 2000,238(, Hervorh. R.A.; siehe auch SWB III, 273. Eine solche bestimmte Gefahr fordert geradezu dazu auf, die möglichen Korrespondenzen zum ersten Satz der Hymne zu bedenken. Die sich daraus ergebende Spannung zwischen "Gott" und "Gefahr" wird freilich immer dann ausgeblendet, wenn die zum Sprichwort gewordenen Verse drei und vier bloß für sich zitiert werden.
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Hymne entwickelten politisch-poetologischen Programm Bedeutsamkeit gibt. Diese Dringlichkeit hat sowohl erkenntnistheoretische als auch geschichtsphilosophische Implikationen, die zusammen das apokalyptische Moment von Hölderlins Gedicht ausmachen. Die Apokalypse ist geftirchtet und wird gleichwohl ersehnt. Denn sie verspricht, daß mit ihr das offenbar wird, was sich allenfalls sub specie aeternitatis zeigen könnte. Was den an die Erde gebundenen "Söhne[n] der Alpen" (v. 7) nicht einsichtig werden kann, könnte die göttliche Offenbarung ermöglichen. Der Wunsch, daß die Apokalypse geschehen möge, resultiert nicht nur daher, daß sowohl Juden als auch Christen unter tyrannischen Fremdherrschaften litten und aufgrund dieser Ohnmachtserfahrungen eine göttliche Gewalt herbeisehnten, die radikal und endgültig mit den Ungläubigen abrechnet, sondern dieser Wunsch ist auch Reflex des erkenntnistheoretischen Dilemmas, daß den Erdenbürgern die himmlische Sicht auf die Dinge verborgen ist und allenfalls Ausnahmesituationen den Blick auf das verborgene Ganze freigeben. Hölderlins Hymne Patmos erinnert hieran gleich zu Beginn und folgerichtig steht das epistemologische Unvermögen - "schwer zu fassen" buchstäblich vor "Gott" (v. 2). Diese Erkenntnisgrenze hat ftir die jüdische Tradition nicht nur eine theologische, sondern zugleich auch eine rechtliche und politische Dimension. Lassen sich doch erst mit dem kommenden Messias die religiösen und weltlichen Gesetze der Thora voll befolgen, weil erst durch ihn die Gebote im ganzen Umfang verständlich werden; und zwar dahingehend, daß sich mit dem Erscheinen des Messias die Gesetze der Heiligen Schrift erübrigen. 9 Weil vom Messias erwartet wird, daß er in diesem grundlegenden Sinne die irdischen Verhältnisse gänzlich neu gestaltet, sind auch die christlichen Urgemeinden, die in Jesusja bereits den Gesalbten sehen, von der Vorstellung bestimmt, daß der Gottessohn erst noch (wieder-)kommen muß, damit dieser sie endgültig von ihren irdischen Nöten erlöse, die trotz Jesu Auferstehung immer noch andauern. Daß die Christen insbesondere des 1. Jahrhunderts auf jüdisch-apokalyptische Visionen zurückgreifen, ist darin begründet, daß die erhoffte Seinsftille respektive das Reich Gottes wider Erwarten noch aussteht. Die Briefe von Paulus an die Thessalonicher dokumentieren, welches Gewicht für die noch jungen christlichen Gemeinden die Frage hat, wann endlich die mit der Auferstehung Jesu versprochene Parusie einsetze, welche schließlich alle Gläubigen beglücken soll. Das Vertrauen in die kommende Fülle (pleroma) wird nämlich nach und nach dadurch beschädigt, daß die ersten Christen schon gestorben sind, ohne jedoch selbst die Parusie erlebt zu haben. Paulus Vgl. Gersham Schalem: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in: ders., Judaica, Frankfurta. M. 1963,7-74, hierinsb. 43.
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versucht wegen der laut werdenden Klagen der Hinterbliebenen, tröstende Worte zu finden und sichert den Gläubigen zu lO : Denn wenn wir glauben, daß Jesus gestorben und auferstanden ist, so wird Gott auch die, die entschlafen sind, durch Jesus mit ihm einherführen. / Denn das sagen wir euch mit einem Wort des Herrn, daß wir, die wir leben und übrigbleiben bis zur Ankunft des Herrn, denen nicht zuvorkommen werden, die entschlafen sind. / Denn er selbst, der Herr, wird, wenn der Befehl ertönt, wenn die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen, herabkommen vom Himmel, und zuerst werden die Toten, die in Christus gestorben sind, auferstehen. / Danach werden wir, die wir leben und übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden auf den Wolken in die Luft, dem Herrn entgegen; und so werden wir bei dem Herrn sein allezeit. / So tröstet euch mit diesen Worten untereinander.
Für Paulus steht fest, daß er und die anderen Christen noch zu Lebzeiten erleben werden, wie der Herr "vom Himmel" "herabkommen" wird. Für ihn ist es allenfalls eine Frage der Zeit, wann das himmlische Losungszeichen erscheint, wann also endlich "die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen", um alle Gläubigen an die Seite des auferstandenen Herrn zu entrücken. Folglich bittet er die Beunruhigten um Geduld und schließt folgende Zeilen an, deren inadäquater Vergleich allerdings weniger Vertrauen in das Kommende ausstrahlt, denn die Erklärungsnot des Apostels unterstreicht l1 : "Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Brüder, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; denn ihr selbst wißt genau, daß der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht." Das Ausbleiben der Wiederkunft des Gottes erweist sich als der Anfang von Paulus' Eschatologie und ist zugleich, weil diese Abwesenheit fortbesteht, der Anfang aller weiteren theologischen Debatten. Die eigentümliche Zeitlichkeit der christlichen Apokalypse ergibt sich denn auch aus dem erklärungsbedürftigen Mißstand, daß der Christ zwar schon dagewesen ist, er aber gleichwohl - als Tröster/ Paraklet12 - erst noch wiederkommen müsse, damit das, was rur ihn und seine engsten Jünger wahr geworden sei, sich endlich auch rur die Gläubigen realisieren könne. In diese von Hoffnungen und Enttäuschungen bestimmte Diskussion greift in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts auch Hölderlin mit seiner Hymne Patmos ein. Indem er konstatiert, "daß nirgend ein / Unsterbliches am Himmel zu sehn ist oder / Auf grüner Erde" (v. 149-151), wirft er die Frage auf (v. 151): "was ist diß?" Was hat diese Abwesenheit des Gottes zu bedeuten und wie könnte der "Sohne des Höchsten" (v. 77) erinnert und wieder sichtbar "gemacht werden? Ist also unter diesen Bedingungen eine Offenbarung des
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1. Thess. 4,14-18. Ebd., 5,1-2. Vgl.Joh. 14,16.
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Göttlichen überhaupt noch möglich? Hölderlin nähert sich diesem fundamentalen Problem dadurch, daß er zwei Weisen von göttlicher Offenbarung voneinander unterscheidet und diese Unterscheidung als Grundbedingung fur seine Dichtung, ja für die Moderne überhaupt, zu bedenken gibt. Denn von jener Offenbarung, die den Jüngern von Jesus unmittelbar zuteil wurde, als diese "Das Angesicht des Gottes genau" (v. 80) sehen konnten, unterscheidet Hölderlin in dem Gedicht Patmos grundlegend die immer nur vermittelte Offenbarung, die sich aus den guten Deutungen der Heiligen Schrift ergeben kann. Indem Hölderlin nachzuweisen versucht, daß nur letztere Weise der Offenbarung gegenwärtig möglich ist, stellt er sich zwar gegen im engeren Sinne apokalyptische Vorstellungen, wonach nur eine radikale Vernichtung der Welt das erhoffte "neue Jerusalem"13 freisetzen könne, gleichwohl ist auch die von Hölderlin favorisierte Offenbarung durch die Vermittlung der Schrift notwendigerweise gefährlich und nur insofern offenbarend, als sie im buchstäblichen Sinne und auf beunruhigende Weise auch die Möglichkeit des ,Endes' in sich birgt. Was also aus der Unterscheidung von unmittelbarer und vermittelter Offenbarung für Hölderlins "deutsche[n] Gesang" (v. 226) folgt und warum das Gedicht Patmos zugleich Einblick in die theologischen und geschichtsphilosophischen Aspekte des Lesens gibt, das soll nachfolgend erörtert werden. Zunächst aber sei in knappen Zügen angegeben, in welchem Umfeld Hölderlin das Gedicht Patmos schrieb. 1I.
Patmos steht im Kontext der "größere[n] Gedichte", an denen Hölderlin seit 1800 arbeitet, deren "Inhalt unmittelbar das Vaterland angehn solJ- oder die Zeit"14 und welche die Bedingungen für eine "Wende der Zeit"15 reflektieren. Diese Wende möge als "vaterländische Umkehr" geschehen, mit der Hölderlin, wie es in den Anmerkungen zur Antigonä heißt, "die Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen "16 verbindet. Diese grundlegende Umkehr der politischen und kulturellen Verhältnisse kann aber nur dann gelingen - und schon darum liegt Hölderlins Dichtung ein apokalyptisches Moment zugrunde -, wenn die himmlischen Kräfte (wieder) erscheinen. Der Gott muß in die Geschichte eintreten, er muß sichtbar werden, weil ohne ihn alles politische Handeln defizitär bleibt und kaum mehr als ein kaltes mechanisches Regel13
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Vgl. Qtfb. 3,12 und 21,2. Vgl. Hölderlin: Briefan Friedrich Wilmans, 8. Dezember 1803, StA VI, 435. Hölderlin: Blödigkeit, StA 11, 66. Zu diesem Nachtgesang vgl. auch Vf: Hölderlins At!f-Gabe und die Ode ,Blödigkeit', in: Das Denken der Sprache und die Petjomlal1Z des Literarischen, hg. von Stephan Jaeger und Stefan Willer, Würzburg 2000,55-73. Vgl. Hölderlin: Anmerkungen zur Antigol1ii, StA V, 271.
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werk hervorbringen kann. Schon in seinem Briefroman Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797/1799) macht Hölderlin auf die Notwendigkeit der Wiederkehr der Götter aufinerksam. Während aber im ersten Band des Romans noch die Annahme waltet, daß trotz aller Unvorhersehbarkeiten die ersehnte "Begeisterung" vom "Himmel" "gewiß" kommen wird, so daß "die neue Kirche" offenbar werden kann 17 , geht der Ausarbeitung der vaterländischen Gesänge ein differenzierteres und skeptischeres Geschichtsverständnis einher. Denn die anvisierte Erhebung "über das physisch und moralisch nothwendige" zu den "zartern und unendlichern Verhältnisse[n]" , die "aus dem Geiste betrachtet werden"18 müssen, ist alles andere denn gewiß. Um die ]ahrhundertwende 1800 hebt Hölderlin hervor, daß die Geschichte vielmehr ein offener Prozeß mit ungewissem Ausgang ist. 19 Gerade weil es keine sichere Kenntnis über das Zukünftige gibt, wird es fUr Hölderlin vordringlich, einen "höheren Zusammenhang"20 zu gewinnen, von dem her die politisch-geistige Situation dieses "arme[n] geist- u. ordnungslose[n] ]ahrhundert[s]"21 erfaßt und erneuert werden könnte. Es bedarf, wie er formuliert, einer "äußeren Sphäre", die sich der Dichter "in harmonische[r] Entgegensezung" frei zu wihlen habe. 22 Nur durch das frei gewählte Heraustreten aus der unreflektierten Identität mit der Welt könne der verhängnisvolle Zustand überwunden werden, der immer wieder dazu fUhrt, in "fruchtlosen Widersprüchen mit sich selber sich auf[zu] reiben. "23 Dies soll durchjene Sphäre ermöglicht werden, fUr die das "Vaterland" steht, das in diesem Sinne nicht mit dem "Nationellen" identisch ist. 24 Die Entäußerung auf das Vaterland entspricht vielmehr dem, was Hölderlin seit seiner Zeit im Tübinger Stift mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel das "Reich Gottes"25 nennt. Denn das Vaterländische ist die von den Himmlischen beseelte Sphäre. Und nur der in diesem Sinne auf das Vaterland bezogene Gesang hat die Möglichkeit - und dann auch die Aufgabe -, die "Revolution der Gesinnun17
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Vgl. Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland, StA III; nach der Zählung der Originalausgabe, Bd. I, Tübingen 1797, 53. Vgl. Hölderlin: Über Religion, StA IV, 277f. Das unterstreicht schon der Schluß des zweiten Hyperion-Bandes und ist insbesondere das Ergebnis der Arbeit am Empedokles-Drama, die Hölderlin bereits 1797 in Frankfurt begann und Anfang 1800 in Bad Homburg abbricht. Vgl. Hölderlin: Über die VeifahnmgsUleise des poetischen Geistes (1800), StA IV, 255. Hölderlin: Brief an Christian Ludwig Neuffer, 16. Februar 1797, StA VI, 235. Vgl. Hölderlin: VeifahnmgsUleise, StA IV, 255f. Ebd. Vgl. Ulrich Gaier: Hölderlins vaterländische Sangart, in: Hölderlin-Jahrbuch 25 (1986/87), 12-59. Zur Unterscheidung zwischen "Vaterland" und "Nationellem" siehe insb. 24-30. Zum Begriff des Vaterlands bei Hölderlin vgl. auch AdolfBeck: Hölderlins Weg zu Deutschland - Fragmente und Thesen, Stuttgart 1982, und Gerhard Kurz: Mittelbarkeit und Vereinigung - Zum Verhältnis von Poesie lind Revolution bei Hölderlin, Stuttgart 1975, insb. 138-143. Hölderlin: Brief an Hegel, 10. Juli 1794, StA VI, 126f.
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gen und Vorstellungsarten"26 vorzubereiten. Daß diese Aufgabe insbesondere dem "deutsche[n] Gesang" (v. 226) zukommt, daran läßt Hölderlin unter dem Eindruck des Verlaufs der französischen Revolution und der Koalitionskriege zwischen Frankreich und dem alten Europa keinen Zweifel. Hölderlins späte Dichtung untersteht diesem pragmatischen Zweck. Für die Hymne Patmos in der Reinschriftfassung, so wie sie im Januar 1803 dem Landgrafen Friedrich V. Ludwig von Hessen-Homburg an läßlich dessen 55. Geburtstags übergeben wurde, gilt dies im besonderen Maße. Der Homburger Landgraf hatte zunächst gegenüber dem durch das große Epos Der Messias ausgewiesenen Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock den Wunsch geäußert, dieser möge fiir ihn ein großes Gedicht zur Verteidigung des Christentums schreiben. 27 Nachdem Klopstock dem nicht nachkommen wollte, dürfte Friedrich V. an Hölderlin mit seinem Anliegen herangetreten sein, mit dem er durch Isaac von Sinclair bekannt wurde. War dieser Auftrag auch der entscheidende Anstoß, die Hymne Patmos zu schreiben, so ist der in ihr ausgetragene Konflikt charakteristisch rur Hölderlins späte, große Gesänge überhaupt. Von der ersten bis zur letzten Zeile ist das Gedicht Patmos von der Spannung bestimmt, einerseits den Versuch zu unternehmen, einen durch Jesu Tod verbürgten heilsgeschichtlichen Plan nachzuweisen, der auch Hölderlins eigener Dichtung eine theo-politische Funktion gibt und auf diesem Wege zugleich die religiöse Haltung des Landgrafen von Hessen-Homburg würdigt, andererseits aber ist dieser Text von einer Skepsis durchzogen, die der sich nach spekulativ-idealistischem Muster fortsetzenden Heilsgeschichte mißtraut. 28 Diese geschichtsphilosophische Skepsis, die weiterhin poetologische Konsequenzen hat, resultiert auch aus den Erfahrungen, die Hölderlin seit seiner Arbeit am Hyperion machte. Denn in seinen langjährigen Auseinandersetzungen mit dem antiken Griechenland ist Hölderlin bewußt geworden, daß der einfache Rückgriff auf die vergangene "griechische Vortrefflichkeit" - von der Hölderlin einst hoffte, wie er sich gegenüber Casimir Ulrich Böhlendorff ausdrückte, das Gesetz der Geschichte
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Hölderlin: Brief an Johann Gottfried Ebel, 10. Januar 1797, StA VI, 229. Zu den biographischen und politischen Begleitumständen der Entstehung der Hymne vgl. Wolfgang Binder: Hölderlins Patmos-Hymne, in: ders., Hölderlin-At!fsätze, Frankfurt a. M. 1970,362402; Werner Kirchner: Hölderlin-At!fsätze zu seiner Homburger Zeit, Göttingen 1967, insb. 59, 6367; Karlheinz Stierle: Dichtung und At!ftrag - Hölderlins Patmos-Hymne, in: Hölderlin:Jahrbuch 22 (1980/81),47-68 und SWB III, 276f - Klopstock avancierte am Ende des 18. Jahrhunderts zu einem Autor, dessen Dichtung und insbesondere dessen Lesungen als religiös-kultische Ereignisse verehrt wurden. Vgl. Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit VI/1: Empfindsamkeit, Tübingen 1997, 440f[ Charles de Roche betont zu Recht, daß es sich bei dem Gedicht Patmos, "der eindrücklichen formalen Geschlossenheit zum Trotz, um einen Text handelt, der Unvereinbarstes [siel] zu vereinen versucht". Ders.: Patmos-Das scheidende Erscheinen des Gedichts, München 1999,49.
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und die gültigen "Kunstregeln " "abstrahiren "29 zu können - nicht hinreichend ist, die aktuellen politischen und poetologischen Fragen zu lösen. Diese Einsicht dokumentiert nicht nur der viel beachtete Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801, sondern ebenso folgendes Fragment aus dem Homburger Folioheft, das Hölderlins errungenes Problembewußtsein mit dem im Hyperion-Roman noch zum Ideal erklärten, untergegangenen Athen in diesen Versen zusammenfaßt30 : meinest du, Es solle gehen, Wie damals? Nemlich sie wollten stiften Ein Reich der Kunst. Dabei ward aber Das Vaterländische von ihnen Versäumet und erbärmlich gieng Das Griechenland, das schönste, zu Grunde. Wohl hat es andere Bewandtniß jezt.
zum Dämon
Durch die Eingangsfrage an den "Dämon" wird der mögliche eigene Bildungsgang "jezt" mit der bereits Geschichte gewordenen Entwicklung des alten Griechenlands konfrontiert. Wird sich dieser Untergang nun nördlich der Alpen wiederholen? Warum ging das schönste Griechenland "damals" erbärmlich zu Grunde? Und was kann aus diesem Vergleich fur ein Schluß gezogen werden? Die Antwort auf diese Fragen ist, daß die Griechen das "Vaterländische" "Versäumet" haben, als "sie" ihr "Reich der Kunst" "stiften" wollten. Doch die Kunst allein war fiir die Bildung des angestrebten Reiches nicht hinreichend und konnte darum diese Vernachlässigung nicht ausgleichen. Wie "damals", so ist zu schließen, kommt es auch ,jezt" auf das rechte Zusammenspiel von Vaterländischem und Kunst an. Daß es aber damit "andere / Bewandniß jezt" hat, heißt, daß eben dann, wenn heute der Versuch unternommen wird, das Vaterländische in seinen lebendigen Verhältnissen neu zu konstituieren, andersherum gilt, das Reich der Kunst - wozu vornehmlich die Dichtung gehört - nicht zu versäumen. Heute wie damals gilt es, die Dialektik zwischen Kunst und Vaterländischem zu beachten - ,jezt" jedoch unter anderem Vorzeichen. Die Hölderlin besonders am Herzen liegende "Rede vom Vaterland"31 sollte darum nur im Zusammenspiel mit der
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Vgl. Hölderlin: Brief an Böhlendorff, 4. Dezember 1801, StA VI, 426; siehe hierzu auch Peter Szondi: Übent,;ndung des Klassizismus - Der Bri~f an BöhlendodJ vom 4. Dezember 1801, in: ders., Hölderlin-Studiel1- Mit einem Traktat iiber philologische Erkenl1tnis, Frankfurt a. M. 1967, 85-104. SWB I, 430f Vgl. auch StA 11, 228 u. 861f Nach Dietrich E. Sattler hat Hölderlin das Homburger Folioheft "Ende Oktober oder Anfang November 1802" angelegt, also genau in der Zeit, als die ersten Vorstufen zu Patmos entstehen. Vgl. Sattler: 0 Insel des Lichts! Patmos und die Entstehung des Homburger Foliohefts, in: Hölderlin-Jahrbuch 25 (1986-1987),213-225, hier 213 u. 217. Vgl. StA 11, 337: "Mein ist / Die Rede vom Vaterland. Das neide / Mir keiner."
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Kunst, ja genauer, nur in der Kunst geftihrt werden. Denn das gleichermaßen politisch und theologisch konnotierte Vaterland, das Hölderlin im Sinn hat, darf nur verhüllt in der Schrift der Dichtung erscheinen. Das Vaterländische muß offenbar werden, damit es politisch werden kann, es muß aber auch verhüllt bleiben, damit es nicht in den herkömmlichen politischen Geschäften verloren geht. Darum ist ftir die verhüllte Offenbarung des Vaterländischen die Kunst unerläßlich. Entsprechend heißt es am Schluß der vorletzten Strophe des Gesanges Germanien, der ebenfalls nach 1800 geschrieben wurde, vom Wahrem32 : "Dreifach umschreibe du es, / Doch ungesprochen auch, wie es da ist, / Unschuldige, muß es bleiben." Wie sehr Hölderlin die differenten Möglichkeiten der politischen Re d e einerseits und der das Geheimnis bewahren könnenden S chr ift der Dichtung andererseits beschäftigen, unterstreichen folgende Sätze, die er im Februar 1798 seinem Bruder Karl schrieb 33 : "Ist es Dein Ernst, als Schriftsteller auf den deutschen Karakter zu wirken und diß ungeheure Brachfeld umzuakern und anzusäen, so wollt' ich Dir rathen, es lieber in oratorischen} als poetischen Versuchen zu thun. Du würdest schneller und sicherer zum Zweke gelangen." Diesem Rat liegt die Erfahrung zugrunde, daß die Rede im politischen Felde hoffen darf, schnell Wirkungen zu erzielen. Dagegen muß die Poesie auf einen langen Atem vertrauen, weil sie sich nicht unumwunden zeigen darf Hölderlin rät seinem Bruder aber vor allem deshalb, sich in "oratorischen [ ... ] Versuchen" um die Erftillung der gesetzten "Zweke" zu bemühen, weil er ihm die mit dem Dichterdasein verbundenen finanziellen und sozialen Ungewißheiten ersparen will. Hölderlin selbst folgt allerdings trotz dieser Ungemach nicht der Maxime, nach der er "schneller und sicherer zum Zweke gelangen" würde, weil er nicht unter den anderen Bedingungen ,jezt" das gleiche Versäumnis wiederholen will, das dem schönsten Griechenland unterlaufen ist. Hölderlin besinnt sich darum auf die Literatur und insbesondere auf den die Dichtung ermöglichenden Buchstaben (littera) , um auf diese Weise zu ermessen, warum "jezt" (v. 197) - nachdem Jesus schon lange von dieser Erde geschieden ist - vor allem durch den "veste[n] Buchstab" der Schrift (v. 226) und nicht durch den "lebendige[n] Laut" der Rede, der längst "Verhallt" ist (v. 159), das Göttliche offenbart werden könne. Hölderlin bedenkt die spezifischen Qualitäten der Dichtung, gerade weil diese nicht an den unmittelbaren,
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Hölderlin: Germanien, StA II, 152, v. 94-96, Hervorh. R.A. Hölderlin schrieb die Hymne vermutlich 1801, vgl. Beißners Kommentar, StA 11.2, 738 und den Kommentar in SWB III, 232. Daß das "Vaterland" nur schweigend genannt werden darf, ist auch dem Fragment Einst hab ich die Muse gr;fragt ... zu entnehmen. Dort heißt es (StA II, 220): "Vom Höchsten will ich schweigen. / Verbotene Frucht, wie der Lorbeer, aber ist / Am meisten das Vaterland. Die aber kost' / Ein jeder zulezt." Hölderlin: Brief an den Bruder, 12. Februar 1798, StA VI, 263.
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aber ephemeren Moment gebunden ist, sondern auf vielschichtige Weise verschiedene Zeitebenen miteinander verschränken kann und damit das freilegt, was bereits einmal offenbar lag. Allerdings nur diejenige Dichtung, die ihre Grenzen und Möglichkeiten selbst poetologisch reflektiert, kann das Unmögliche ermöglichen, daß der notwendigerweise verborgene Gott wieder sichtbar in die Welt tritt, daß also in anderen Worten Apokalypse statthat. Die oft gedeutete Schlußsentenz der Hymne Patmos zielt vor diesem Hintergrund auf das gespannte Wechselverhältnis zwischen dem benötigten, aber verborgenen Vater(ländischen) Und der zugänglichen, aber immer mit dem Mangel des ,Noch-nicht' bzw. des ,Nicht-ganz' versehenden Buchstäblichkeit des Gesanges. Bevor auf den Verlauf der Hymne insgesamt näher eingegangen wird, sei hier vorweg der programmatische Schluß der Hymne vorgestellt (v. 222-226): [ ... ] der Vater aber liebt, Der über allen waltet, Am meisten, daß gepflegt werde Der veste Buchstab, und bestehendes gut Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.
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Der liebende "Vater" waltet "über allen" (v. 222f). Doch weil er über allen ist, muß anderes ihn auf Erden vertreten. Er ist auf die Buchstaben angewiesen, denen Festigkeit und Bestand zugesprochen wird und die darur sorgen sollen, daß "bestehendes" (v. 225) bleibt. Des Vaters Liebe geht darum insbesondere an jene, die den "veste[n] Buchstab" pflegen. 34 Doch daß dieser "Buchstab" gepflegt und wie das Bestehende "gut / Gedeutet" werden muß, offenbart zugleich, daß das herrliche Walten des Vaters durch Deutungen bedingt ist. Entsprechend exponiert der letzte Vers der Hymne an seinem Anfang das Verb "Gedeutet" und stellt dieses damit zugleich in Spannung zum Prädikat des letzten Satzes: "folgt". Durch diese Versbildung wird das statisch-konservativ anmutende Begehren nach der Deutung des Bestehenden, das im zeitlichen Wandel unverändert stehen zu bleiben scheint, genauer als 34
Die Liebe des Vaters zum "veste[n] Buchs tab " kann auch als Reaktion auf die Maximen der pietistischen Tradition angesehen werden, welche die ,geistvolle Unmittelbarkeit' göttlicher Erfahrung proklamierte und die Buchstaben der Letternkultur entsprechend abwertete. Doch die mit ,Geist' und ,innerem Geftihl' inspirierten Prediger öffuen auch der Willkür Tür und Tor. Nicht nur Immanuel Kant polemisiert gegen den "philosophus per inspirationem" und beharrt in seiner Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796) auf den "feste[n] Punkt, woran die Vernunft ihren Hebel ansetzen kann" (vgl. Kants gesammelte Schriflen VIII, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1912, 387-406, hier 389 u. 403), sondern auch Hölderlin tritt mit seinem Wort vom "veste[n] Buchs tab " dem pietistischen Leitwort des Paulus entgegen, wonach "der Buchstabe tötet, aber der Geist [... ] lebendig [macht]." (2. Kor. 3,6; vgl. auch Röm. 7,6.) Zur Epoche der Empfindsamkeit und zum kontrovers
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ein Prozeß lesbar, der die verschiedenen Dimensionen der Zeit miteinander verschränkt. Denn die Deutung des Bestehenden ist nur als ein Folgen möglich. Dieser Vorgang ist darum aber nicht die Wiederholung bereits applizierter exegetischer Prozeduren, sondern je von neuem muß der "veste Buchstab" in das Jetzt der jeweils akuten Situation gestellt werden. Die folgende Deutung erweist sich darin als das Unternehmen, eine Zeit-Spanne herzustellen, die - frei nach Walter Benjamin - im überlieferten "Buchstab" "bestehendes" (v. 225) im "Augenblick seiner Erkennbarkeit"35 blitzartig offenbar werden läßt. Dieser Vorgang, den der Gesang leistet, indem er sich deutend auf gegebene Buchstaben bezieht, ist aber nicht nur ein Rückbezug auf Tradiertes, sondern zugleich ein Antizipieren. Den alten Buchstaben folgen heißt, daß sie von neuem vorangehen und dadurch das Künftige eröffnen. Dieser Logik folgt Hölderlins "deutscher Gesang", der eben nicht nur darum als deu tscher bestimmt ist, "um der betont deutschen Gesinnung des Landgrafen "36 zu gefallen, sondern der Gesang ist vor allem darum "deutsch" zu nennen, weil er deu tet und selbst wiederum gedeutet werden muß. 37
111. Was es heißt, den Buchstaben deutend-folgend in der Schrift der Dichtung eine Zeitspanne zwischen einst und jetzt herzustellen, macht das Gedicht Patmos selbst eindrucksvoll vor. Um beschreiben zu können, wie Hölderlin die Überblendung weit auseinander liegender Zeiten gestaltet, sei zunächst die formale und inhaltliche Gliederung der aus funfzehn Strophen bestehenden Hymne näher vorgestellt, die nach Pindarischem Vorbild triadisch strukturiert ist. Die erste Strophe skizziert nach den ersten vier Versen, welche gleich zu Beginn die eschatologische Dimension des Gedichts hervorheben, den desperaten Status quo der Jetztzeit (v. 5-15): Im Finstern wohnen Die Adler und furchtlos gehen Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg Aufleichtgebaueten Brüken. Drum, da gehäuft sind rings
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diskutierten Zusammenhang derselben mit dem Pietismus vgl. auch Kemper: Empfindsamkeit [Anm. 27], insb. 1-16. Walter Benjamin: Über det1 Begrf.ff der Geschichte, in: ders.: Gesammelte Schriftet1 I, hg. von RolfTiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974,691-704, hier 695. So Binder: Patmos-Hymne [Anm. 27], 397. Deutet1 ist von der Form ze diute abgeleitet, was heißt, vom Lateinischen in die Volkssprache übersetzen, etwas verdeutschen und auf deutsch sagen. Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch II, Leipzig und München 1854-1984, 1038. Vgl. auch Andrzej Warminski: PatmosThe Sense o.flnterpretation, in: Modem Language Notes 91 (1976),478-500, hier 481f[
}} Und weit} wohin ich nimmer / Zu kommen gedacht (( Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten Nah wohnen, ermattend auf Getrenntesten Bergen, So gieb unschuldig Wasser, o Fittige gieb uns, treuesten Sinns Hinüberzugehn und wiederzukehren.
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Der resignierende Zustand, der sich besonders in den Zeilen kund gibt, die von den "Liebsten" berichten, die "ermattend auf / Getrenntesten Bergen" wohnen, soll überwunden werden. Entsprechend wird in einem zweifachen Bittruf - "So gieb", "gieb uns" - von einer noch nicht ausgewiesenen Erzählstimme darum gebeten, daß sowohl "unschuldig Wasser" als auch die "Im Finstern" wohnenden "Adler" mit ihren "Fittige[n]" helfen mögen, eine Verbindung zu den separaten "Gipfel der Zeit" herzustellen, die "rings" schier unerreichbar aufragen. Doch daß diese Gipfel "da gehäuft sind", gibt Anlaß, darauf zu hoffen, daß es möglich werde, "treuesten Sinns / Hinüberzugehn und wiederzukehren". Während aber die "Söhne der Alpen" es sich ,leicht' machen und "über den Abgrund weg / Auf leichtgebaueten Brüken" gehen, ist bei der mit Hilfe der "Adler" anvisierten Bewegung zu den "Gipfel[n] der Zeit" eine gänzlich andere Art von Brückenschlag notwendig. Worum es bei dieser die physikalischen Raum- und Zeitdimensionen aufhebenden Bewegung geht und warum sich die nicht näher bestimmten Zeit-Gipfel nur dann miteinander verspannen lassen, wenn zugleich in finstere Abgründe eingekehrt wird, welche die furchtlosen Alpenbewohner mißachten und buchstäblich übergehen, das erläutert und vollzieht das Gedicht dann in seinem Fortgang. Mit den Adlern ist ein erster Hinweis auf den Evangelisten Johannes gegeben. Zugleich aber stehen die Adler fur die Bewegung des Geistes der Geschichte, die in der Antike im Südosten ihren Anfang genommen hat und nun nördlich der Alpen anzukommen hofft. In der Hymne Germanien heißt es in diesem Sinne vom "Adler" nach Korrektur der Reinschrifr3 8 : "auf beiden Seiten / Den Fittig spannend mit gespaltenem Rüken überschwingt er / Die Alpen zulezt und sieht die vielgearteten Länder." In der Hymne Patmos wird diese Bewegung aus der nördlichen Perspektive dargestellt. Denn in der zweiten Strophe wird unerwartet und plötzlich das sich nun zu erkennen gebende lyrische "Ich" des Gesanges in eine ihm fremde Welt "entfuhrt" (v. 16). Diesem abrupten Vorgang entspricht, daß das "Ich", das den Alpenländern zugehören dürfte, weniger "treuesten Sinns", denn von der südlichen "Sonne" (v. 29) "geblendet" (v. 31) in eine sowohl räumlich als auch zeitlich ferne Region versetzt wird. Es findet sich unversehens und ohne jede Vermittlung auf den
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Hölderlin: Germaniel1, SWB I, 406, v. 46-48.
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inselreichen Gewässern vor "Asia" wieder (v. 31 u. 46) und gelangt schließlich nach eigenem Wunsch auf die Insel Patmos (v. 51-68): Und da ich hörte Der nahegelegenen eine Sei Patmos, . Verlangte mich sehr, Dort einzukehren und dort Der dunkeln Grotte zu nahn. Denn nicht, wie Cypros, Die quellenreiche, oder Der anderen eine Wohnt herrlich Patmos, Gastfreundlich aber ist Im ärmeren HauBe Sie dennoch Und wenn vom Schiffbruch oder klagend Um die Heimath oder Den abgeschiedenen Freund Ihr nahet einer Der Fremden, hört sie es gern; [ ... ]
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Vom grellen Licht des Südens "geblendet" und darum allein auditiv orientiert - "da ich hörte" (v. 51) -, sucht das lyrische Ich, das aus seiner Heimat dämmerndes "Zwielicht" und "schattige[n] Wald" gewohnt ist (v. 20-22), nun in jener bestimmten "dunkeln Grotte" (v. 56) Zuflucht, in der einst auch der "gottgeliebte" "Seher" ]ohannes (v. 74f) in schwieriger Zeit "Gastfreundlich" (v. 61) Asyl fand. Nicht die "quellenreiche" Insel "Cypros" lockt (v. 57f), wohin Paulus zusammen mit Barnabas 46 n.Chr. seine erste Missionsreise machte, sondern in das "ärmere Hauß" (v. 62) Patmos mit seiner "dunkeln Grotte" möchte das lyrische "Ich" einkehren (vgl. v. 55), ~eil dieser ,finstere Abgrund' (vgl. v. 5-7) nicht nur ein Versteck in der Not, sondern auch ein Ort der Umkehr ist. 39 "Dort" (v. 55) verschränken sich dann auch die verschiedenen Zeit-Gipfel des Gedichts. Mit dem dann folgenden Verweis auf den "Seher" (v. 75) gibt sich das "ich" indirekt als Leser jener biblischen Texte zu erkennen, die rur Hölderlin und seine Zeitgenossen ein und derselbe Autor geschrieben hat: das sind die Offenbarung und das Evangelium des ]ohannes. 4o Denn ]ohannes ist nicht nur
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Zur semantischen Nähe von Einkehr, Umkehr und Wende bei Hölderlin vgl. auch Blödigkeit, StA II, 66, s.o. Anm. 15. Daß die von Hölderlin erhoffte Wende ihren Anfang im Abgnmd nimmt, sagt ausdrücklich der HymenentwurfMnemosyne (StA II, 193): "Nicht vermögen / Die Himmlischen alles. Nemlich es reichen / Die Sterblichen eh' an den Abgrund. Also wendet es sich / Mit diesen. Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre." Gegen die von der zu Hölderlins Zeit vertretenen Lehrmeinung, daß die Q{tenbarung und das Evangelium vom selben Autor stammen, wendet der Theologe Hans Conzelmann nicht nur
)) Und weit) wohin ich nimmer / Zu kommen gedacht ((
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darum der "Seher", weil er die apokalyptische Vision vom Jüngsten Gericht im hohen Alter aufPatmos um das Jahr 96 n.Chr. niederschrieb, sondern er ist auch im konkreten Sinn "Seher", weil er leibhaftiger Zeuge der letzten Tage von Jesus wurde, mit dem er "unzertrennlich" "in seeliger Jugend" "Gegangen" war (v. 75-77). Aus der Perspektive dieser Zeugenschaft wird dann im Mittelteil der Hymne in geraffter, wenn auch die Chronologie der Ereignisse verkehrender Weise zunächst die Ostergeschichte von Jesus und daran anschließend das Schicksal seiner Jünger erzählt. 41 Dieses geschieht in den Strophen 6-9, nachdem zuvor in der fünften Strophe (v. 61-72) die Topographie und das Charakteristische der Insel Patmos näher dargelegt wurde. Zwischen der neunten und zehnten Strophe setzt das Gedicht eine tiefgreifende Zäsur, die durch einen Gedankenstrich (,,-") am Ende von Vers 135 deutlich markiert ist. Danach setzt im Gedicht eine Reflexion ein, die zwischen den Ereignissen in Jerusalem um das Jahr 33 n.Chr. und der Jetztzeit einen inneren Zusammenhang herstellt. Dieser besteht wesentlich darin, daß "die Ehre / Des Halbgotts und der Seinen / Verweht" (v. 145-147) ist, seitdem Jesus von der Erde schied. Mit dieser Feststellung gelangt das Gedicht auf eine neue Ebene, die zusätzlich dadurch betont wird, daß die zehnte Strophe abweichend von allen anderen nicht nach 15, sondern erst nach 16 Versen endet (v. 136-151): Wenn aber stirbt als denn An dem am meisten Die Schönheit hieng, daß an der Gestalt Ein Wunder war und die Himmlischen gedeutet Auf ihn, und wenn, ein Räthsel ewig füreinander Sie sich nicht fassen können Einander, die zusammenlebten Im Gedächtniß, und nicht den Sand nur oder Die Weiden es hinwegnimmt und die Tempel Ergreifft, wenn die Ehre Des Halbgotts und der Seinen Verweht und selber sein Angesicht Der Höchste wendet
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historisch-praktische Gründe ein, sondern betont vor allem den systematischen Unterschied, daß die Qtfenbanmg von einer futuristischen Eschatologie bestimmt sei, während dasJohannes-Evangefit/m eine präsentische Eschatologie habe. Da Ostern die eigentliche Parusie sei, so Conzelmann, stelle das Ausbleiben der Wiederkunft des Gottes, das Paulus und die jungen Gemeinden in Erklärungsnot brachte, im Evangelium kein theologisches Problem dar. Vgl. Conzelmann, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart V, hg. von Kurt Galling, Tübingen 31957, 131. Dem wäre allerdings entgegenzuhalten, daß auch die Abschiedsreden von Jesus im Evangelium des Johannes (loh. 13,31-17,33) auf den erst noch zukünftigen Moment verweisen, in dem die zurückgebliebenenjünger durch den Paraklet gerettet werden sollen (vgl.Joh. 14,16ff.). Zur verkehrten Darlegung der Geschehen vgl. Karin Wilcke: Christi Himme!fahrt - Ihre Darstellung in der europiiischen Literatur von der Spiitantike bis zum ausgehenden Mittelalter, Heidelberg 1991,408: "Auf die Emmausepisode (StA, 179, 9-17) folgt die Ausgießung des Hl. Geistes (StA, 179, 1823), und erst danach, quasi retrospektiv, verweist [Hölderlin] auf die Himmelfahrt."
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Robert Andre Darob, daß nirgend ein Unsterbliches am Himmel zu sehn ist oder Auf grüner Erde, was ist diß?
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Ausgerechnet in der überhängigen Zeile, welche diese Strophe formal von den anderen abhebt, wird die knappe, aber alles entscheidende Frage gestellt - so als hätte sie eine Außensicht auf die eigene Strophe -: "was ist diß?" Mit dieser deiktischen Geste veranlaßt Hölderlin seine Leser, erneut auf die zehnte Strophe zurückzuschauen, die als ganze die Frage aufwirft, was die lange Abwesenheit der Unsterblichen zu bedeuten habe. 42 Diese Rückschau unterstreicht, daß die abschließenden sechs Strophen des Gedichts insgesamt die Gemütslage und den Komplex der politisch-theologischen und poetologischen Debatten der nachchristlichen hesperischen Epoche widerspiegeln. Ist doch die Jetztzeit fiir Hölderlin und seine Zeitgenossen wesentlich auf die Ostergeschichte bezogen. Die letzten beiden der fiinf Triaden der Hymne erweisen sich damit im wörtlichen Sinne als ein Nach-Denken post Christum. Wesentliches Moment dieser Gliederung - I. Kurzcharakteristik der Jetztzeit (Strophe 1), H. Versetzung und Hinfiihrung nach Patmos (Strophen 2-5), IH. Schilderung der letzten Tage von Jesus in Jerusalem (Strophe 6), IV. Darstellung der Not der Jünger nach Jesu Tod (Strophen 7-9) und schließlich V. Erörterung der quälenden Frage, wie dieser Tod heute zu deuten und zu bewerten sei (Strophen 10-15) - ist, daß das lyrische "Ich" im Mittelteil der Hymne zwischen der vierten und elften Strophe zugunsten einer anderen Erzählperspektive zurücktritt und erst in dem Moment wieder das Wort ergreift, als das Gedicht eine Antwort auf das zu geben versucht, was die zehnte Strophe zu bedenken gibt. In der elften Strophe ist das "Ich" also, wie in der ersten Strophe beschworen, wiedergekehrt (vgl. v. 15) und versucht nun, "treuesten Sinns" (v. 14) das zu verstehen und zu bewahren, was zuvor via die fremde Insel Patmos zu erfahren war, zu der es auf wundersame Weise "entfiihrt" wurde (v. 16). Diese formale Strukturierung des Gedichts hebt hervor, daß Patmos in mehrfacher Hinsicht ein vermittelnder Mittelpunkt ist: topographisch, weil die Insel zwischen Jerusalem (Strophe 6-9) und den Ländern der Alpen (Strophe 1) liegt, chronologisch, weil die Ereignisse der Ostergeschichte aus der Perspektive des Lieblingsjüngers und Zeugens Johannes erzählt werden und vor allem erkenntnistheoretisch und poetologisch, weil Hölderlins Darstellung impliziert, daß Johannes erst im fernen Exil erkennen konnte, was er in seiner "seelige[n]" Jugend aus unmittelbarer Nähe "sahe" (v. 79). Erst die Erfahrung des Fern- und Getrenntseins nötigte ihn zum Schreiben. Und nur auf diesem
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Vgl. auch Sabine Doering: Aber was ist d[ß? - Formen und Funktionen der Frage in Hölderlins dichterischem Werk, Göttingen 1992, 130 u. 138-143.
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Wege konnten auch sein Evangelium und seine apokalyptischen Visionen überliefert werden. Patmos ist darum zusammengenommen die Chiffre fur die Ferne, durch die überhaupt erst jene historischen Ereignisse dem Abendland nahe gebracht werden konnten, welche rur die christliche Welt so bestimmend sind. Wer also wissen möchte, was auf dem "Gipfel der Zeit" (v. 10) Jerusalem Anno Domini 33 geschah, der muß paradoxerweise Patmos aufsuchen. Dieses vermittelnde Moment mit seinen erkenntnistheoretischen und poetologischen Implikationen ist mitzulesen, wenn das sowohl temporal als auch lokal zu verstehende Adverb "Nah", mit dem das Gedicht einsetzt (v. 1), zweifach im unmittelbaren Zusammenhang mit der "nahegelegenen " Insel Patmos erwähnt wird, deren "dunkel[er] Grotte" sich das "ich" zu "nahn" versucht (vgl. v. 52-56). So wie die Insel Patmos zugleich nah und fern ist, so vermittelt auch das Gedicht mit dem Namen Patmos die Nähe des historisch Fernen zur Gegenwart.
IV Der Name der Insel Patmos steht ftir die an diesem Ort niedergeschriebenen Texte, das sind das Evangelium und die Offenbarung, durch die Johannes zum Zeugen und Visionär wurde. Patmos ist damit mehr als bloß der kontingent erscheinende historische Ort, an dem Johannes "die Offenbarung Jesu Christi"43 empfangen hat. Patmos ist vielmehr wesentlich der vermittelnde Mittelpunkt, durch den Jesu Tod nachhaltige Bedeutung erlangt. Diese erschließt sich aber nur, wenn diese Texte auch gelesen werden. Hierauf macht Hölderlins Gedicht aufinerksam, indem es sowohlJohannes Vermittlungsfunktion als auch die erforderliche - und problematische - Vermittlungsleistung des Lesens inszeniert. Patmos ist darum auch der Ort, an dem die Apokalypse, die Entdeckung des nahen Gottes, unter bestimmten Bedingungen von neuem stattfinden kann. Um diese Bedingungen erkunden zu können, setzt sich Hölderlins Gedicht als literarischer Text damit auseinander, welche theologischen Implikationen J esu Tod zu einem epochemachenden Ereignis haben werden lassen und welche poetologischen Konsequenzen sich hieraus fur seinen "deutsche[n] Gesang" (v. 226) zu Beginn des 19. Jahrhunderts ableiten. Um diese Thesen überprüfen zu können, sei auf den zentralen Mittelteil der Hymne näher eingegangen, der am Ende der funften Strophe eingeleitet wird (v. 73-90):
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Q{fb. 1,1.
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Robert Andre [ ... ]. So pflegte Sie einst des gottgeliebten, Des Sehers, der in seeliger Jugend war Gegangen mit Dem Sohne des Höchsten, unzertrennlich, denn Es liebte der Gewittertragende die Einfalt Des Jüngers und es sahe der achtsame Mann Das Angesicht des Gottes genau, Da, beim Geheimnisse des Weinstoks, sie Zusammensaßen, zu der Stunde des Gastmals, Und in der großen Seele, ruhigahnend den Tod Aussprach der Herr, und die lezte Liebe, denn nie genug Hatt' er von Güte zu sagen Der Worte, damals, und zu erheitern, da Ers sahe, das Zürnen der Welt. Denn alles ist gut. Drauf starb er. Vieles wäre Zu sagen davon. Und es sahn ihn, wie er siegend blikte Den Freudigsten die Freunde noch zulezt,
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Aufschlußreich bei diesem Enjambement über die Strophengrenze hinweg ist die Verschiebung des Subjekts der Aussage. Unversehens und übergangslos wechselt das Gedicht in die Perspektive des "Sehers" Johannes (v. 75). Am Ende der fünften Strophe ist noch von der die Exilierten pflegenden Insel Patmos - "Sie" (v. 74) - die Rede, die nicht nur Johannes aufnahm, sondern zu der auch das "ich" "entführt" wurde (v. 16). Dann rückt mit der sechsten Strophe - aber noch immer im selben Satz - der "Jünger" (v. 79) in den Mittelpunkt und schließlich präsentiert der Text den Moment, der J esus zu Christus werden ließ. Drei sehr kurze, aufeinanderfolgende Sätze markieren die Leerstelle, die der Tod von Jesus hinterläßt (vgl. v. 88f). Diese Verdichtung am Ende der sechsten Strophe wird besonders augenfällig durch den vorhergehenden Satz, der sich über fünfzehn Verse und eine Strophengrenze hinweg ausbreitet, um dann in dem knappen und apodiktischen Urteil, in dem Schlußwort schlechthin, zu münden (v. 88): "Denn alles ist gut" . Dieses Fazit hebt sich deutlich ab, weil es nicht wie der vorhergehende und nachfolgende Bericht in der Vergangenheitsform, sondern im Präsens gebildet ist. Es ist das Vermächtnis, das über die Erzählung der Ereignisse hinaus Gültigkeit beansprucht. Fraglos zitiert Hölderlin mit dem Ausspruch "alles ist gut" die Prämisse der Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz. Dessen berühmtes "tout est bien" wurde nicht zuletzt durch die Kontroverse weithin bekannt, die Voltaire 1756 mit seinem Lehrgedicht Poeme sur le desastre de Lisbonne auslöste, das den Untertitel examen de cet axiome: tout est bien fuhrt und sich auf Leibniz' 1710 in Amsterdam erschienenes Buch Essais de theodicee
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bezieht. 44 Doch der Kontext des Gedichts läßt keinen Zweifel, daß Hölderlin mit dem Vers 88 insbesondere auf das Johannes-Evangelium anspielt, wonach Jesu Worte vor seinem Tod waren45 : "Es ist gut fur euch, daß ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster [Paraklet] nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden. / Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht." Die Frage, ob Hölderlin an dieser Stelle Leibniz, Augustinus oder das Johannes-Evangelium zitiert, ist insofern bedeutsam, als von ihrer Beantwortung abhängt, worauf sich der Platzhalter "alles" (v. 88) bezieht. Denn das Wörtchen "alles" meint durchaus nicht schlechthin alles, sondern vielmehr die im Gedicht beschriebene und in Szene gesetzte Ent-Scheidung, daß Jesus weggehen muß, damit ein anderes kommen kann. Jesus weiß, daß er sich entfernen muß, damit der dann kommende Geist "der Welt die Augen auftun" kann. J esus offenbart durch sein freiwilliges Scheiden, daß er gerade darum der "Christ" (v. 166) ist, weil er über den gegenwärtigen Moment, der durch "das Zürnen der Welt" (v. 87) bestimmt ist, hinaus sieht. Doch können dieser Weitsicht auch seine an das irdische Dasein gebundenen Freunde und Jünger folgen, von denen Hölderlin ausdrücklich schreibt (v. 94-96): "sie liebten unter der Sonne / Das Leben und lassen wollten sie nicht / Vom Angesichte des Herrn"? So ist die entscheidende Frage nach Jesu Tod, ob dieses letzte Wort, daß alles gut sei, auch aufgenommen werden kann. Denn wenn es das letzte gültige Wort ist, dürfte ihm streng genommen kein weiteres folgen, außer eben der Paraklet selbst. Doch solange dieser ausbleibt und das letzte Wort nicht der Anfang eines gänzlich Neuen ist, muß wenigstens einer dieses letzte Wort als ein solches der Nachwelt überliefern. Die im Gedicht unmittelbar anschließende Synkope "Drauf starb er" (v. 88, Hervorh. R.A.) - eine Verkürzung, die den kürzesten Satz des Gedichts noch kürzer macht lenkt denn auch die Aufmerksamkeit darauf, daß das nun Folgende unangemessen ist, weil es nicht nur die unerschöpfliche Bedeutung dieses Ereignisses zu einem bloßen Sachverhalt verkürzt, sondern auch noch dem Schlußwort ins Wort fillt und dessen Bedeutung damit performativ zu negieren
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Daß Hölderlin an dieser Stelle insbesondere den Theodizeegedanken anfuhrt, betont der Kommentar von Jochen Schmidt, in: Hölderlin: SWB I, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 1992, 982f. Johann Kreuzer erinnert an das Wort von Aurelius Augustinus: "Ergo quaecumque sunt, bona sunt [ ... ]" (Co'!tessiones VII,12, 18), vgl. ders.: "Alles ist gut. " Anmerkungen zu einem Satz in Hölderlins Patmos-Hymne, in: Wechsel der Orte - Studien zum Wandel des literarischen GeschichtsbeUJt~ßtsdns. Festschrift fur Anke Bennholdt-Thomsen, hg. von Irmela von der Lühe und Anita Runge, Göttingen 1997, 14-22, hier 16. Joh. 16,7f Hervorh. R.A.
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droht. 46 So unterbricht denn auch der nächste Satz, "Vieles wäre / Zu sagen davon" (v. 88f), den Bericht, und der Konjunktiv spricht de facto die Unmöglichkeit aus, an dieser Stelle weiter sprechen zu können. Mit dieser Feststellung berührt der Text sein zentrales Anliegen. Denn trotz der paradoxen theologischen Wahrheit, daß Jesu Tod notwendig und gewollt, ist, weil sich nur auf diesem Wege "die lezte Liebe" (v. 84) zukünftig wird realisieren können, und trotz der poetologischen Einsicht, daß sich Hölderlins vaterländische Dichtung genau diese paradoxe Logik zu eigen machen muß, um sich selbst den höchsten Auftrag verleihen zu können, sieht sich Hölderlins Dichtung vor allem mit dem Unvermögen konfrontiert, hier angesichts dieses Auftrages wieter Sprechen zu können. Als "deutscher Gesang", der weniger spricht denn den "vesten Buchstab" pflegt und deutet (vgl. v. 224-226), nimmt er aber gleichwohl diese Aufgabe auf sich. Was heißt das? Und wie ist das möglich? Hölderlin konzentriert sich in seiner Darstellung auf die Abschiedsreden des Evangeliums, die Johannes just an der Stelle einfügt, wo die synoptischen Evangelien die apokalyptische Vision Jesu wiedergeben. 47 Es ist nun bemerkenswert, daß Jesu Reden und der dann stumm mit einem letzten Blick vollzogene Abschied das Grundmuster für die dialektische Aufhebung darstellt, die Hegel um die Jahrhundertwende in Auseinandersetzung gerade auch mit dem Johannes-Evangelium in Frankfurt an Main und in Jena entwickelt. Trägt doch in der dialektischen Spekulation ebenfalls der Geist durch die Negation des Bestehenden den Sieg davon. Wenn es in Patmos also heißt (v. 88-90, Hervorh. R.A.): [... ] Drauf starb er. Vieles wäre Zu sagen davon. Und es sahn ihn, wie er siegend blikte . Den Freudigsten die Freunde noch zulezt,
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dann scheint Hölderlin - wie Hegel -, diesen tödlichen Augenblick als siegende Aufhebung des vergänglichen Leibes zu deuten. Jesus muß gehen, damit er als Christus auferstehen und als Geist wieder erscheinen kann. Ganz in diesem Sinne deutet zweifellos Hegel das Johannes-Evangelium. Während Hölderlin es bei der Andeutung - "Vieles wäre / Zu sagen davon" (v. 88f) 46
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Auf diesen performativen Widerspruch, daß von einem ,letzten ' Wort schlechterdings nicht berichtet werden kann, hebt das Gedicht eigens dadurch hervor, daß das letzte Wort dieser sechsten Strophe das Adverb "zulezt" (v. 90) ist, ohne daß jedoch mit diesem Wort der Satz formal abgeschlossen wird. Obwohl die neue Strophe mit einem neuen Aspekt anhebt, fuhrt Hölderlin den Satz über die Strophengrenze hinweg mit einem Komma weiter, um so zu unterstreichen, daß es an dieser theologisch-poetologisch ent-scheidenden Stelle keinen abschließenden Punkt geben kann. Vgl. Mt. 24; Mk. 13; Luk. 21 u. 17.
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beläßt, kommentiert Hegel die Bedeutung der Ostergeschichte In seinen frühen Schriften zum Geist des Christentums ausführlich48 : Wie Jesus ewiges Leben in sich hat, so sollen auch die Gläubigen an ihn Ooh. 6,40) zum unendlichen Leben gelangen. Am klarsten ist die lebendige Vereinigung Jesu in seinen letzten Reden bei Johannes dargestellt; sie in ihm und er in ihnen; sie zusammen Eins; er der Weinstock, sie die Ranken; in den Teilen dieselbe Natur, das gleiche Leben, das im Ganzen ist. Diese Vollendung seiner Freunde ist es, worum Jesus seinen Vater bittet und die er ihnen verheißt, wenn er von ihnen entfernt sein werde. Solange er unter ihnen lebte, blieben sie nur Gläubige; denn sie beruhten nicht auf sich selbst; Jesus war ihr Lehrer und Meister, ein individueller Mittelpunkt, von dem sie abhingen; sie hatten noch nicht eigenes, unabhängiges Leben; der Geist Jesu regierte sie; aber nach seiner Entfernung fiel auch diese Objektivität, diese Scheidewand zwischen ihnen und Gott; und der Geist Gottes konnte dann ihr ganzes Wesen beleben. Wenn Jesus Ooh. 7,38/39) sagt: ,Wer an mich glaubt, aus dessen Leibe werden Ströme des Lebens quellen', so macht Johannes die Anmerkung, daß dies erst von der noch künftigen durchgängigen Belebung durch den heiligen Geist gemeint gewesen sei, den sie noch nicht empfangen hatten, weil Jesus noch nicht verklärt war.
Erst das Ende von Jesus ist der Anfang des Geistes des Christentums. Jesus, so Hegel, entfernt sich von dieser Welt, damit die Gläubigen künftig ein "eigenes, unabhängiges Leben" erlangen können. Dieser Prozeß der "Vollendung seiner Freunde" ist nur möglich, wenn eine Vergeistigung einsetzt, die den Übergang von dem leiblich anwesenden "Lehrer und Meister" zur christlichen Religion vollzieht. Daß für Hegel in diesem Prozeß zugleich auch der Übergang von der Religion zur Philosophie angelegt ist, weil jene sich schließlich nur in dieser vollenden kann, macht er an anderer Stelle deutlich. Die Philosophie hat den Inhalt der Religion durch ihre philosophische Arbeit zu erfassen und im spekulativen Begriff zur konkreten Geistigkeit zu gestalten, um auf diese Weise die Bewegung des Geistes zu sich selbst fortführen zu können. Die Philosophie muß, wie Hegel 1802 schreibt, das historische Ereignis von Jesu Tod in einen "spekulativen Karfreitag" verwandeln 49 : Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muß den unendlichen Schmerz, der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht - das Gefühl: Gott selbst ist tot [ ... ] -, rein als Moment, aber auch nicht als mehr denn als Moment der höchsten Idee bezeichnen und so dem [ ... ] eine philosophische Existenz
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Der Geist des Christentums (1799/1800), in: Werke I: Friihe Schrfften, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1971,317-418, hier 384( Vgl. auch Hegel: Der Geist des Christentums. Schriften 1796-1800, hg. und eingeleitet von Werner Hamacher, Frankfurt a. M., Berlin und Wien 1978,484. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Glauben und Wissen oder die Riflexionsphilosophie der Subjektivitiit in der Vollsti:indigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, in: Werke 2: Jenaeer Schriften 1801-1807, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1970, 287-433, hier 432( Vgl. auch Jochen Hörisch: Brot und Wein - Die Poesie des Abendmahls, Frankfurt a. M. 1992, 199.
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Robert Andre geben und also der Philosophie die Idee der absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Karfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein [ ... ] die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend und in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muß. "
Das unerträgliche "Gefuhl", daß der "Gott selbst [ ... ] tot" ist, so Hegel, ist in seiner "ganzen Wahrheit und Härte" auf den philosophischen Begriff zu bringen. Diese spekulative Arbeit hat zu erweisen, daß dieser "Abgrund des Nichts" lediglich ein "Moment der höchsten Idee" ist, daß also dieser Tod nicht das Ende des Gottes respektive das Ende schlechthin ist. Nur unter dieser Bedingung wird der Karfreitag "spekulativ". Die Auferstehung findet mithin im Denken statt, weil es den singulären Moment ins Allgemeine aufhebt. Hegel und Hölderlin kommen in ihrer Bewertung des Karfreitags darin überein, daß beide das Scheiden von Jesus als notwendig verstehen, weil nur unter dieser Voraussetzung es künftig zu einer Offenbarung des Göttlichen kommen könne. Und sowohl Hegel als auch Hölderlin leiten aus diesem theologischen Verständnis ihre jeweilige Aufgabe und Berufung als Denker respektive Dichter ab. Beide versuchen also, Jesus nach seinem Tod zu beerben und an seiner Stelle seine Mission fortzuführen. Während aber Hegel die "Wahrheit und Härte" des Karfreitags als Moment der Selbstbewegung des absoluten Geistes begreift, ermißt Hölderlin die "Wahrheit und Härte" dieses Ereignisses gerade dadurch, daß er über die Möglichkeiten und Grenzen einer künftigen Offenbarung der Himmlischen dichterisch nachdenkt. Wie Hölderlin dieses poetische Nach-Denken in seinem Gedicht Patmos durchfuhrt, wie er also einerseits, darin Hegel gleich, seine eigene Position als Dichter von ~er Ostergeschichte herleitet und wie er andererseits, anders als Hegel, auch auf die Möglichkeit der Unmöglichkeit einer Fortfiihrung des Geistes des Christentums hinweist, das sei abschließend erörtert.
v. Von der ersten bis zur letzten Strophe wird Hölderlins Gedicht durch die ganze Bandbreite der Licht- und Schattenmetaphorik strukturiert. So auch in der mittleren, achten Strophe, die den Moment des endgültigen Scheidens von J esus aufruft, nachdem dieser sich seinen Jüngern noch einmal als Aufgestandener zeigte (v. 106-120): Izt, da er scheidend Noch einmal ihnen erschien. Denn izt erlosch der Sonne Tag Der Königliche und zerbrach
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Den geradestralenden Den Zepter, gättlichleidend, von selbst, Denn wiederkommen sollt es Zu rechter Zeit. Nicht wär' es gut Gewesen, später, und schroffabbrechend, untreu, Der Menschen Werk, und Freude war es Von nun an, Zu wohnen in liebender Nacht und bewahren In einfeiltigen Augen unverwandt Abgründe der Weisheit. Und es grünen Tief an den Bergen auch lebendige Bilder.
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Mit der Lichtmetaphorik wird der "Zepter" (v. 111) des als ,König der Juden' Gekreuzigten verknüpft, dessen Königreich, wie J esus klarstellt, "nicht von dieser Welt" ist. 50 Dieser Zepter ist gleich "der Sonne Tag" "geradestralend" und damit ebenso blendend wie das grelle Licht in "Asia" (vgl. v. 31), welches das lyrische "Ich" veranlaßte, in der "dunkeln Grotte" auf Patmos "einzukehren" (v. 55f). Damit die Macht, welche der Zepter symbolisiert und verheißt, zukünftig "wiederkommen" (v. 112) kann, zerbricht Jesus diese Insignie "göttlichleidend, von selbst" (v. 111). Denn das Licht, das alles illuminiert, ist selbst solange unsichtbar, wie es gerade strahlt. Bricht es sich aber an anderem, insbesondere an "Menschen Werk" (v. 115), dann kann es auch von "einfältigen Augen unverwandt" (v. 118) wahrgenommen werden. Gleiches gilt rur Jesus, von dem Johannes schreibt51 : "Ich bin das Licht der Welt". Auch Jesus muß sich selbst brechen, damit es zu einer Vermittlung kommen kann zwischen der königlichen Sonne und den Augen, die "wohnen in liebender Nacht" (v. 117). Wie sich nun durch diesen Bruch der "geradestralende" Zepter buchstäblich selbst transformiert und wie dieser, als Gebrochener, es ermöglicht, zwischen den Himmlischen und den Sterblichen zu vermitteln, das demonstriert der weitere Verlauf der Hymne. Die Etymologie des Wortes ,Zepter' geht auf das griechische Wort rur Stab, skeptron, zurück. 52 Diese Verwandtschaft zwischen Stab und Zepter nimmt das Gedicht auf, um schon auf der lexikalischen Ebene eine Verbindung herzustellen, durch die der Zepter/Stab von J esus über den "vesten Buchstab" (v. 225) der heiligen Schrift bis zum "Stab / Des Gesanges" (v. 182[) - und damit bis zum Dichter des deutschen Gesangs - gereicht wird. Dieser "Stab / Des
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Vgl.Joh. 19,19 und 18,36f. Joh. 8,12; vgl. auchJoh. 9,5. Das deutsche Wort Zepter ist dem lateinischen "sceptrum" entlehnt, das aus griechisch "skeptron" (wörtlich: Stütze, Stab) hervorging, vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (1883), bearbeitet von Walther Mitzka, Berlin 18 1960, 882. - Das Papier, auf dem Hölderlin im Oktober 1802, aus Regensburg kommend, seinen Vorentwurf zu Patmos schreibt, hat im übrigen das Wasserzeichen "doppeladler mit krone, krummschwert und szepter", vgl. FHA VIII, 644f.
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Gesanges" winkt schließlich in der 13. Strophe, welche die abschließende Triade der Hymne einleitet, das "Loosungszeichen" zur Umkehr. Mit diesem "Loosungszeichen" wird gesagt, in welcher Form nach Christi, wenn überhaupt, Offenbarung möglich werden könnte und was der Gesang des Dichters dazu beitragen kann (v. 179- 196): Wenn nemlich höher gehet himmlischer Triumphgang, wird genennet, der Sonne gleich Von Starken der frohlokende Sohn des Höchsten, Ein Loosungszeichen, und hier ist der Stab Des Gesanges, niederwinkend, Denn nichts ist gemein. Die Todten weket Er auf, die noch gefangen nicht Vom Rohen sind. Es warten aber Der scheuen Augen viele Zu schauen das Licht. Nicht wollen Am scharfen Strale sie blühn, Wiewohl den Muth der goldene Zaum hält. Wenn aber, als Von schwellenden Augenbraunen Der Welt vergessen Stillleuchtende Kraft aus heiliger Schrift fallt, mögen Der Gnade sich freuend, sie Am stillen Blike sich üben.
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Dem "scharfen Stral" (v. 189) mag sich außer den "Starken" (v. 181) keiner aussetzen. 53 Doch auch die lichtscheuen Augen sollen sich an der "Gnade" (v. 195) erfreuen können. Ihnen gibt der "Stab / Des Gesanges" das "Loosungszeichen", das gleich der apokalyptischen Posaune, die Paulus den Thessalonichern versprach, die Auferstehung der "Toten, die in Christus gestorben sind "54, ankündigt. In Anspielung auf das Jüngste Gericht heißt es' vom Stab des Gesanges (v. 184f): "Die Todten weket / Er auf". Den an die Erde Gebundenen soll Mut gemacht werden, sich auf die "Stillleuchtende Kraft aus heiliger Schrift" (v. 194) zu besinnen. Denn diese gemilderte und damit vermittelte Leuchtkraft können die "scheuen Augen" (v. 187) wahrnehmen, sofern sie geschützt "Von schwellenden Augenbraunen" (v. 192), die wie Scheuklappen helfen, das blendende Licht abzuhalten und die "Welt" zu vergessen, ihre Aufmerksamkeit ganz den heiligen Buchstaben schenken.
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Daß der Dichter einer dieser "Starken" ist, spricht Hölderlin in dem Entwurf Wie wenn am Feiertage ... (1800) deutlicher noch aus. Dort faßt er die Vermittlungsfunktion der starken Dichter in folgenden Versen (SVVB I, 263, v. 54-60): "Und daher trinken himmlisches Feuer jezt / Die Erdensöhne ohne Gefahr. / Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, / Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen, / Des Vaters Stral, ihn selbst, mit eigner Hand / Zu fassen und dem Volk' ins Lied / Gehüllt die himmlische Gaabe zu reichen." 1. Thess. 4,16, vgl. auch oben Anm. 10.
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Die derart anvisierte Offenbarung geschieht folglich nicht durch eine katastrophale Weltvernichtung, sondern vollzieht sich diesseits der Welt "Am stillen Blike" (v. 196) im Moment der Lektüre. Doch diese Form der Apokalypse ist gleichwohl fur die Lesenden voller Risiken. Selbst die äußerlich unaufgeregte Lektüre der "heilige[n] Schrift" (v . 194) impliziert unvermutete und unwägbare Gefahren. Denn offenbarend ist das Lesen erstens nur unter der Voraussetzung, daß sich das Subjekt der Lektüre auf gänzlich Unvorhersehbares einläßt und also bereit ist, kein ,Subjekt' mehr zu sein. Es gilt also gleich dem lyrischen "Ich", sich dem "Schiffer" anzuvertrauen, der "In ungewisser Meeresebene" "die Inseln" kennt (vgl. v. 48-50). Ob es zweitens aber fur diesen Einsatz am ,Ende' ein Resultat oder eine neue Gewißheit gibt, das bleibt zudem ungesichert. Ja es ist sogar fraglich, und hierin besteht die eigentliche Gefahr, ob das angestrebte Telos ,Apokalypse' schließlich das Ziel oder schlicht das jähe Ende der lesend begonnenen Reise ist. Was es heißt, sich lesend auf Unbekanntes einzulassen, spricht gleich der Beginn der zweiten Strophe aus (v. 16-20): [... ] da entführte Mich schneller, denn ich vermuthet Und weit, wohin ich nimmer Zu kommen gedacht, ein Genius mich Vom eigenen Hauß'. [... ]
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Die Lektüre gleicht einer Entfuhrung zu einem unbekannten Terrain "nimmer kannt' ich die Länder" (v. 24) -, von dem man nicht als der Selbe zurückkommt. So ergeht es auch dem "ich", das durch einen "Genius" nach Patmos "entfuhrt" wurde und am Schluß der Hymne insofern verändert auf das "eigene Hauß" blickt, als es nun als "deutscher Gesang" dem "vesten Buchstab" deutend "folgt" (vgl. v. 225f.). Während sich der "Zepter" von Jesus in den "Stab / Des Gesanges" transformiert, geht das lesende "ich" im "deutsche[n] Gesang" verwandelt auf. Am Telos angekommen ist es aber darum noch nicht. Das gilt auch fur Hölderlin, der die dem Homburger Landgrafen übergebene Widmungsreinschrift später mehrmals noch überarbeitet und dabei unter anderem zweimal den Komparativ "schneller" (v. 17), der den Vorgang der unerwarteten Entfuhrung nach Patmos als einen außergewöhnlichen bestimmt, ersetzt: zunächst durch das Wort "unermeßlicher" und schließlich durch die Steigerung "künstlicher"55. Hölderlin intensiviert in den Überarbeitungen nicht nur den Komparativ, sondern gibt vor allem ausdrücklich zu verstehen, daß es die Kunst respektive die Dichtung ist, welche die Lesenden entfuhrt, um dergestalt eine Überblendung der getrennten" Gipfel der 55
SWB I, 454 u. 460. Vgl. auch Rainer Nägele: Fragmentation undjester BuchStAbe - Zu Hölderlins ,Patmos'-Überarbeitungen, in: Modern Language Notes 97 (1983),556-568, insb. 561.
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Zeit" (v. 10) zu ermöglichen, wodurch wiederum eine Analyse und Überwindung der in Resignation verfallenden Jetztzeit (vgl. v. 5-15) möglich werden soll. Doch auf beunruhigende Weise bleibt ungewiß, wohin einen die "Stillleuchtende Kraft aus heiliger Schrift" (v. 194) fuhrt. Denn im Unterschied zur unmittelbaren Gotteserfahrung, von der J ohannes berichtet, liegt in der durch die Schrift vermittelten Enthüllung des Göttlichen eine systematisch bedingte Ungewißheit. Diese nicht auszuschließende Fragwürdigkeit macht ausgerechnet die elften Strophe bewußt, die eine Antwort auf die resignierende Frage "was ist diß?" (v. 151) zu geben scheint und mit zwei Bildern aus dem Matthäus-Evangelium Hoffnung macht, daß tatsächlich trotz der offensichtlichen Not nach Jesu Tod ,alles gut' sei und daß der verborgene Gott mit seinen Werken doch in den Verlauf der Geschichte eingreife. Denn ausgerechnet diese Verse erinnern daran, daß die leibliche Abwesenheit des "Lehrer[s] und Meister[ s] "56 auch rur die Lektüre fundamentale Konsequenzen hat (v. 149161)57: [... ], daß nirgend ein Unsterbliches am Himmel zu sehn ist oder Auf grüner Erde, was ist diß? Es ist der Wurf des Säemanns, wenn er faßt Mit der Schaufel den Waizen, Und wirft, dem Klaren zu, ihn schwingend über die Tenne. Ihm fallt die Schaale vor den Füßen, aber Ans Ende kommet das Korn, Und nicht Übel ists, wenn einiges Verloren gehet und von der Rede Verhallet der lebendige Laut, Denn göttliches Werk auch gleichet dem unsern. Nicht alles will der Höchste zumaI.
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Nach Matthäus prophezeite Johannes der Täufer Jesus und das kommende Himmelreich im apokalyptischen Ton. Der Täufer warnte die Sünder, rechtzeitig Buße zu tun, weil jener, der nach ihm komme, eine radikale Entscheidung herbeiruhren werde 58 : "Er hat seine Worfschaufel in der Hand; er wird seine Tenne fegen und seinen Weizen in die Scheune sammeln; aber die Spreu wird er verbrennen mit unauslöschlichem Feuer." Der derart Angekündigte unterscheidet dann tatsächlich jene, die zwar hören, doch nicht verstehen, von den Gläubigen, die seine gesäten Worte annehmen. Wie das geschieht, erläu-
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Hegel: Der Geist des Christentums [Anm. 48], 384. Hölderlin bezieht sich auf Mt. 3,11f u. 13,3-23. Zum Bild des Sämanns vgl. auch Mk. 4,3-20, Lk. 8,5-15 und bereitsJer. 4,3. Mt. 3,12.
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tert Jesus in seiner Deutung des von ihm gegebenen Gleichnisses vom Sämann59 : "Wenn jemand das Wort von dem Reich hört und nicht versteht, so kommt der Böse und reißt hinweg, was in sein Herz gesät ist." Mit dieser Erläuterung gibt Jesus nicht nur zu erkennen, daß er sinnbildlich spricht, sondern droht auch jenen, die das Gesagte nicht als Gleichnis verstehen, sondern, statt zu hören, möglicherweise der dem Bild eigen Logik folgen und sich dann fragen, ob denn nach dem Sämann nicht immer der Sensenmann kommt, der die Halme des Korns mäht und allegorisch an das Ende der Zeit gemahnt? Und tatsächlich könnte ausgerechnet Hölderlins Richtung und Ziel versprechender Vers, "Ans Ende kommet das Korn" (v. 156), dem Bild eine solche konterkarierende Wende geben, wonach das "Ende" nicht der Anfang des Reiches Gottes, sondern buchstäblich das Ende ist. Das "Ende" wäre dann nicht der den chaotischen Geschichtsverlauf aufhebende höhere Sinn, sondern im Gegenteil schlicht das Ende aller Möglichkeiten, der Tod ohne Danach. Hölderlins Verse provozieren zumindest auch diese Deutung und machen damit auf die nicht zu vermeidende Unangemessenheit der auf Gleichnisse angewiesenen Rede aufmerksam. Diese Inkonzinnität ist insbesondere dann virulent, wenn die das Gleichnis auflösen könnende Autorität nicht mehr anwesend ist,60 wenn also der Gott nicht sichtbar und präsent ist (vgl. v. 149151). So ist denn auch die Situation nach dem Tod von Jesus die, daß seine Jünger in schmerzlicher Trauer und in großer Zerstreuung auf der Erde zurückbleiben. Auch das Pfingstereignis - "Drum sandt' er Ihnen / Den Geist" (v. 100f) - kann diese Verwirrung nicht beheben. Diese bewirkt, daß "da und dort / Unendlich hin zerstreut das Lebende Gott" (v. 121f). In dieser furchtbaren Situation, in der nicht einmal mehr auszumachen ist, ob das Lebende Gott zerstreut oder umgekehrt Gott das Lebende, und in der der Grund, auf dem Neues wachsen könnte, erodiert ist - "Weiden es hinwegnimmt" -, weil nicht nur Jesus gestorben ist, sondern auch die "Tempel" ergriffen und zerstört sind (vgl. v. 144f), steht dem "Wurf des Säemanns" nichts Gesammeltes, sondern allein die zerstreuende Kontingenz gegenüber. Hölderlins Wortwahl suggeriert zwar, daß der "Säemann" den "Waizen" "faßt", daß der Wurf "dem Klaren zu" geht und daß sich hierbei "die Schaale" vom "Korn" scheidet. Doch schon die im Anschluß geäußerte Beschwichtigung, "Und nicht Übel ists, wenn einiges / Verloren gehet" (v. 157f), rechtfertigt weniger, daß der Weg zum "Klaren" ein unvermeidlicher Prozeß der Auslese sei, sondern gibt vielmehr zu verstehen, in welchem Maße "der Wurf des Säemanns" nur blind sein kann.
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Mt. 13,19. Vgl. auch Mt. 13,3-9. Vgl.Mt.13,19ff.
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Diese ausweglose Situation bestätigt aber andersherum nochmals eindringlich, daß dergleichen wie eine umfassende Apokalypse erforderlich wäre, um von einer fundamental gewandelten Perspektive her verstehen zu können, warum Hölderlin mit Jesus gerade auch auf das "Verloren" gegangene "Korn" setzt. Heißt es doch bei Johannes 61 : "Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht."
61
Joh. 12,24.
Heinz J. Drügh ENTBLÖSSUNG, UNTERBRECHUNG, VERFREMDUNG
Die Struktur der Apokalypse in Adalbert Stifters Prosa
Prolog Zugegeben: In Berlin, dem Ort' der Handlung von Gabriele Goettles aus Anlaß der - horribile dictu - Millenniums-Sonnenfinsternis 1999 verfaßter Glosse Sonnenfinsternis bei OBI\ hat die sichtbare Verfinsterung unseres Zentralgestirns lediglich 88% betragen. Doch muß man deshalb gleich die Sonnenfinsternis auf dem Areal einer Baumarkt-Filiale betrachten, wo die Figuren mit nur wenigen Ausnahmen das Naturschauspiel fiir nicht weiter beachtenswert halten und ihrem business as usual nachgehen? Und ist es nicht des Desinteresses ein bißchen viel, wenn bei Goettle weit mehr über die bei OBI feilgebotene Warenpalette, über Gegenstände zweifelhaften Nutzwerts wie ein "Hamsterlabyrinth[ ... ] aus Holz", einen "Katzenfernhaltezerstäuber" und sogar einen "Damenspaten" zu lesen steht als über die Sonnenfinsternis? Der wenig emphatische Ton des Textes läßt sich indessen nicht nur als satirische Absage an die grassierende Sonnenfinsternis-Hysterie interpretieren, er könnte auch den vorläufigen Endpunkt einer literaturhistorischen Entwicklung markieren, in der die Sonnenfinsternis, stellvertretend fur das apokalyptische Sujet, nach und nach vermeintlich an Bedeutung verloren hat. Zunächst, so wäre dieser Gedanke zu konkretisieren, büßt die Apokalypse ihre Stellung als theologische Leitfigur ein, um nurmehr als farbenreiches Bildarsenal zu fungieren. Und diese Ästhetisierung, fiir die sich in der Literatur und den Künsten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts eine Fülle von Beispielen findet, sieht sich ihrerseits im Zeitalter postmoderner Lakonie nurmehr als ein Gegenstand der Warenwelt unter vielen anderen, meist interessanteren. Der in dieser Skizze insinuierten Epochenabfolge werde ich im folgenden widersprechen. In der Auseinandersetzung mit Adalbert Stifter - einem Autor, dessen Werk die vermeintliche Schnittstelle zwischen theologischer und ästhetischer Interpretation der Apokalypse, zwischen "klassisch-mimetischer" und "modem-aleatorischer"2 Schreibweise besetzt - versuche ich Indizien dafur zu sammeln, daß das Apokalyptische sei t seinen Anfangen von einer höchst ambivalenten Struktur bestimmt wird. Das systematische Gabriele Goettle: Sonne'!finsternis bei OBI, in: die tageszeitung vom 30.8.1999. Hans-Joachim Piechotta: Aleatorische Ordnung - Untersuchungen zu extremen literarischen Positionen in den Erzählungen und dem Roman JJ Witiko" von Adalbert Stifter, Gießen 1981, VIIff
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Ziel einer solchen Lektüre ist es, mit dem Apokalyptischen exemplarisch eine gewisse Modernität im vermeintlich Vormodernen zu betonen oder umgekehrt den Rapport hervorzukehren, in dem die Moderne, was die Orientierung an grundlegenden Denkfiguren anbelangt, mit einer gar nicht so traditionellen Tradition steht. Daß dies keine ahistorische Nonchalance impliziert, hat der Altphilologe D.P. Fowler betont3 : It is most important not to accept the characterization of ,reading against the grain' as necessarily unhistorical; to accept the conscious formulation of its own values by a culture (or some members of it) as authoritative looks more like a denial of history. One must both resist the simplification of ancient attitudes and accept that the critic may at times stress elements that members of a culture neglected precisely in the name ofhistory.
Den erforderlichen Balanceakt zwischen Bodenhaftung und Innovation, zwischen dem "Fundament in der Sache" undjener Art von "neuen Lektüren des Alten "\ die Erkenntnisgewinn versprechen, versuche ich durch ein Vorgehen in drei Analyseschritten zu gewährleisten. Zunächst arbeite ich im Hinblick auf den Grundtext der Apokalypse, die biblische Offenbarung des Johannes, eine ambivalente Struktur heraus: die Ankündigung und sukzessive Verschiebung des Endes (1.). In den Horizont dieses Befundes stelle ich anschließend ein dose reading von Stifters Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842 und perspektiviere die Ergebnisse sowohl literarhistorisch als auch systematisch (H.). Dies fuhrt zu den Termini Entblößung, Unterbrechung und Entfremdung, mit denen ein Strukturmerkmal von Stifters Prosa insgesamt benannt wird - exemplarisch vorgefuhrt im Kap. IH anhand der Texte: Die Mappe meines Urgroßvaters, Mein Leben und Aus dem bayrischen Walde (IH.). I. Die Struktur der Apokalypse Selig ist, der da liest und die da hören. (Olfb. 1,3) -Ich bezeuge allen, die da hören die Worte der Weissagung in diesem Buch: Wenn jemand etwas hinzuftigt, so wird Gott ihm die Plagen zuftigen, die in diesem Buch geschrieben stehen. Und wenn jemand etwas wegnimmt von den Worten des Buchs dieser Weissagung, so wird Gott ihm seinen Anteil wegnehmen am Baum des Lebens und an der heiligen Stadt, von denen in diesem Buch geschrieben steht. (Olfb. 22,18f).
Folgt man diesen Formulierungen aus der Offenbarung des Johannes, die im ersten und im letzten der zweiundzwanzig Abschnitte mit Nachdruck die Aufmerksamkeit der Leser fur den integralen Wortlaut der geschilderten
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D.P. Fowler: Narrate and Describe: The Problem 01 Ekphrasis, in: Journal o.f Roman Studies 81 (1991), 25-35, hier: 28. Vgl. Nikolaus Wegmann: ,Wer von der Sachen nichts versteht, macht Theorie': Ein Topos der philologischen ,Curiositas', in: Literaturwissenschaft und Wissenschqftiforschung, hg. von Jörg Schönert, Stuttgart 2000,509-528, hier: 526.
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Vision einfordern, was liegt dann näher, als diesen Text beim Wort zu nehmen, und das heißt: die Logik seiner Verfahrensweise zu beachten. Diese besitzt ihre Pointe darin, daß in der Johannesapokalypse, die den Kanon der biblischen Schriften abschließt, durchweg vom Ende die Rede ist, und zwar nicht nur im neutralen Sinn als eines kontingenten temporalen Abschlusses, sondern in emphatischer Teleologie. Genauer: Dieser Text prätendiert, begleitet von den Trommelwirbeln opulent ausgemalter Katastrophen, ,hier und jetzt' den heilsgeschichtlichen Endpunkt zu offenbaren, er vermag diesen jedoch bei genauerem Hinsehen immer nur zu ver-sprechen, in die Zukunft zu projizieren. Denn aufgrund seiner Schriftlichkeit zeigt dieser Text, ob er will oder nicht, immer eine Kluft zwischen demjenigen an, was er ist, und demjenigen, was er bedeutet oder bedeuten wird. Strenggenommen kann das Ende also textuell nicht offenbart werden, zumindest dann nicht, wenn Offenbarung im starken Sinne als jenes Geschehen verstanden wird, das - gemäß der jüdisch-christlichen Apokalyptik - nach der Vernichtung dessen, was bis dahin gewesen ist, die Karten des So-Seins ein für allemal auf den Tisch legt. Die strukturelle Problematik der apokalyptischen Gattung liegt also - in aller Kürze gesagt - darin begründet, daß sie auf der einen Seite als Offenbarung so redet, als träte das Beschriebene gerade ein, und aus diesem Grunde so nachdrücklich auf der Dignität und Unveränderlichkeit ihrer Worte bestehen muß. Auf der anderen Seite kann sie dieses Ende aber immer nur ankündigen, es niemals selbst verkörpern. Der Versuch, emphatisch von einem Ende der Dinge zu sprechen, trifft demnach auf ähnliche Schwierigkeiten, wie sie auch die Rede vom Anfang aller Dinge kennzeichnen - Eckhard Lobsien hat dies in seiner Analyse der biblischen Genesis vorgefiihrt. 5 Das erste Buch Mose, so Lobsien, zerredet den präsentierten Anfang allen Seins schon mit seinen ersten Worten. Wie jeder Text setzt nämlich auch die Genesis einen in die Zukunft gerichteten Sprachfluß in Gang, versucht dabei aber, den Verlust des Anfangspunktes in Figurationen der Wiederholung zu kaschieren bzw. zu kompensieren. Im Zuge dieser repetitiven Vertextung wird der Anfang aber nicht nur als entscheidendes Datum präsent gehalten, sondern vervielfacht und somit depotenziert. Analog läßt sich im Hinblick auf das apokalyptische Ende behaupten, daß dieses zwar der Rede bedarf, einer Rede, die es als wesentlichen Zielpunkt der Heilsgeschichte annonciert. Genau besehen nimmt eine solche textuelle Offenbarung das Ende aber seinem wirklichen Eintreten vorweg und multipliziert es dadurch. Der christlichen Orthodoxie zufolge hieße das: Zu jedem Zeitpunkt erweist sich die Schöpfung als ein perfektes System, nämlich insofern, als jedes Ereignis auf das Ganze verweist, mit dem Anfang und dem 5
Vgl. Eckhard Lobsien: Wörtlichkeit und Wiederholung - Phänomenologie poetischer Sprache, München 1995,85-108.
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Ende der Dinge in Kontakt steht: "Ich bin das A und 0, spricht Gott der Herr, der da ist und der da war und der da kommt, der Allmächtige" (Offb. 1,8) - so lautet die entsprechende Formel in der Offenbarung. Das Sein Gottes und der Schöpfung ist also nicht bloß aktuell: In ihre jeweilige Präsenz ist vielmehr der gesamte Heilsverlauf in Form einer Vergangenheits- und einer Zukunftsekstase eingezeichnet. Dies verleiht allen Gegenständen einen eschatologischen oder anagogischen Hof und macht, konsequent weitergedacht, jeden christlichen - nach Derrida sogar jeden am Diskurs der Wahrheit orientierten, also jeden philosophischen - Text strukturell zu einem apokalyptischen Schriftstück6 : "Die Wahrheit selbst ist das Ende, die Bestimmung, daß die Wahrheit sich enthüllt, ist die Vollendung des Endes. Die Wahrheit ist das Ende und die Instanz des jüngsten Gerichts. Die Struktur der Wahrheit wäre [... ] also apokalyptisch." Bei dem Wort Instanz ist daher nicht nur an eine Gerichtsinstanz, an ein hier und jetzt gesprochenes Urteil zu denken, sondern ist genauso ein Hineindrängen des zukünftigen Endes oder, noch paradoxer formuliert, ein Beharren des Noch-Nicht im Jetzt mitzuhören. Als Verheißenes ist das Ende in jeder Rede schon da, was aber umgekehrt bedeutet: In der Sprache ist das Ende nie anders zu haben als entstellt. Daß eine solche Vervielfachung des Endes - immerhin des entscheidenden Moments im Heilsverlauf - nichts anderes impliziert als die Unmöglichkeit, von ihm zu reden, reflektiert die Offenbarung des Johannes denn auch als literarisch ambitionierter und poetologisch aufmerksamer Text. Er leistet dies nicht nur durch die sprichwörtliche Dunkelheit oder Poetizität seines Tons, durch sein Partizipieren an ,heidnischen', orientalisch-babylonischen7 oder hellenistischen8 BildweIten, sondern auch mikro strukturell durch einen auffällig zur Wiederholung neigenden Duktus. So findet die Gott z~geschrie bene, gleich zu Beginn des Textes zu lesende Äußerung "Ich bin das A und das 0" (Offb. 1,8) ihren Wiedergänger im abschließenden zweiundzwanzigsten Abschnitt (Offb. 22,13). Einen ähnlichen Rahmen formieren die eingangs erwähnte Anweisung zur adäquaten Lektüre und ihre ermahnende Wiederaufnahme am Schluß des Textes. Ein repetitiver Redegestus findet sich indessen auch in parallelistischer Form, am deutlichsten in Gestalt der auffälligen Siebenerreihen: den sieben heidenchristlichen Gemeinden, auf welche die "Visionsreihen der jeweils sieben Siegel, Posaunen und Zornschalen" folgen. Diese, so haben Exegeten betont, "beschreiben [... ] nicht aufeinanderfolgende geschichtliche Ereignisse [... ], sondern in parallelen, jeweils 6
Jacques Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie, in: ders., Apokalypse, hg. von Peter Engelmann, übers. von Michael Wetzel, Graz 1985, 64. Hermann Gunkel: Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit - Eine religionsgeschichtliche Untersuchung über Gen. 1 und Ap.Joh. 12, Göttingen 21921. Franz Ball: Aus der QtJenbanmgJohannis - Hellenistische Studien zum Weltbild der Apokalypse, Leipzig 1914.
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neu einsetzenden ,Rekapitulationen' dieselben Stationen des eschatologischen Dramas"9. Ein wenig zu vorsichtig bezeichnet Dieter Gutzen diese Struktur als ein "Verhältnis von Vorläufigkeit und Endgültigkeit"IO, denn zugespitzt läßt sich sagen, daß die Wiederholungsmaschinerie nichts anderes impliziert als eine Aporie: die Tatsache, daß Sprache nicht endgültig zu sein vermag und daher ein dargestelltes Ende immer wieder neu und anders zum Ausdruck gebracht werden muß. Wem dieses Argument insofern überspannt erscheint, als die Siebenerreihen durchaus auch als Klimax interpretiert werden können, als spannungsvolle Hinleitung auf den tatsächlichen Endpunkt des Textes bzw. der Heilsgeschichte, der oder die sei auf die größte strukturelle Merkwürdigkeit der Offenbarung verwiesen: den Umstand, daß deren wirkliches Ende - the very end - seinerseits verdoppelt ist. Denn nach dem dies irae, der Vernichtung Babyions, des Tiers und des falschen Propheten, wird bekanntlich das millennaristische Intermezzo eingeschaltet, jenes tausendjährige Reich, fiir das einzig und allein die Märtyrer von den Toten erweckt werden. Danach muß der während dieses Zeitraums gefesselte Satan noch einmal fiir "eine kleine Zeit" (Olfb. 20,3) losgelassen werden, ein merkwürdig retardierendes Moment, das - sieht man von der kirchengeschichtlich oder -politisch zu begründenden Auszeichnung der Märtyrer ab - keinen anderen Grund hat, als daß damit erneut Anlaß fiir eine Szenerie der Überwindung und fur einen Neuanlauf auf das emphatische Ende geliefert wird. Es läßt sich - so bleibt aus dieser skizzenhaften Strukturanalyse zu schließen - schlecht zu einem Ende kommen mit dem Ende. Dennoch bietet dieses einen höchst effektvollen Erzählanlaß: Ihm eignet ein hohes Verfiihrungspotential, da in seinem Dunstkreis die Überzeugungskraft lehrhafter Botschaften zu wachsen scheint. Die Beschreibung des Endes bedeutet daher in mancher Hinsicht keinen finalen Paukenschlag, sondern einen Aufbruch, einen Anfang, der aber nicht notwendig pragmatisierend im Sinne eines moralischen Lehrstücks verfahren muß, sondern der sich auch als denkbar geeigneter Ausgangspunkt fiir ästhetische Innovationen eignet. Nicht umsonst ist die Apokalypse - mehr als 1600 Jahre nach der endgültigen Aufnahme der johanneischen Vision in den Kanon der Bibel- auch als künstlerisches Sujet ein echter Evergreen.
II. Stifters Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842 Adalbert Stifters Beschreibung der Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842, ein nur wenige Seiten umfassendes Feuilleton, das im selben Jahr in der Zeitschrift für
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Otto Böcher: DieJohannesapokalypse, Darmstadt 41998, 3f. Dieter Gutzen: IJ Und ich sah den Himmel atifgetan [. ..}" (Qffb. 19,11) - Zur Poesie der Olfenbanmg des Johannes, in: Poesie der Apokalypse, hg. von Gerhard R. Kaiser, Würzburg 1991, 33-61, hier: 54, herv. von H.D.
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Kunst, Literatur, Theater und Mode erschienen ist, gehört neben der sogenannten ,Eisgeschichte' in der Mappe meines Urgrcij3vaters und dem ,Schneeinferno' im autobiographischen Bericht Aus dem bayrischen Walde in die Reihe jener Texte, in deren Zentrum ein katastrophales Naturereignis steht. Dessen Schilderung zieht nicht nur alle Register apokalyptischen Schreibens, sondern birgt auch eine grundlegende ästhetische Reflexion. In mehrfacher Hinsicht rekurriert die Beschreibung der Sonnenfinsternis auf die Offenbarung desJohannes. Zunächst spielt ihr Sujet, die Eklipse, auf jene Szenerie an, die der biblische Text bei der Öffuung des sechsten Siegels erwähnt: "Und die Sonne wurde finster wie ein schwarzer Sack und der ganze Mond wurde wie Blut." (Offb. 6,12) Eine weitere Reminiszenz des Textes gilt dem apokalyptischen Tier, indem er die allmähliche Verfinsterung als "bleigraues Licht" schildert, das "wie ein böses Tier heran[schleicht]". (SI 506)11 Auch die Vernichtung Babyions, jenes übel beleumundeten Handelszentrums, Hort der konsumtiven "Üppigkeit" (Offb. 18,3) und des "Überflusses" (Offb. 18,19), wird alludiert, wenn Stifter "das Gerassel der Wägen", das städtische "Laufen und Treiben" erwähnt, dem die Kontemplation der "betrachtende[n] Menschen" (SI 505) entgegenstehtY Zwar "wimmelt[ ... ] das Fahren und Reiten wie sonst [über die Brücke], [... ] indessen oben der Balsam des Lebens, das Licht, heimlich wegsiech[t]" (SI 506); nur kurze Zeit später ist das geschäftige Leben aber ebenfalls wie erstorben: "Alles Rasseln hatte aufgehört, über der Brücke war keine Bewegung mehr; denn jeder 11
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Ich zitiere Die Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842 im laufenden Text nach der Winkler-Ausgabe: Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters - Schilderungen - Bri~fe, München 1986,501-512, mit der Sigle Sf Deutlicher hat Stifter seine Kritik am großstädtischen, sich scheinbar selbst erschaffenden und reproduzierenden Moloch, an der "Wechselmarter: Erwerben und Verzehren", in einer anderen jener Stadtbeschreibungen Aus dem alten Wien, dem Textpanorama Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansturmes (in: Adalbert Stifter: Die Mappe meines UrgrC!ßvaters - Schilderungen Brj~ [Anm. 11], 281-301, hier 290, zitiert im laufenden Text mit der Sigle Steph.) zu Papier gebracht: ,Jene schweren Wagen, die du siehest, bringen vielnamige Waren in die Stadt, [... bringen] unabläßlich und unermüdlich jenes Materiale, woraus sich dieses riesige Häusergewimmel nach und nach erbaut hat." (Steph. 288.) "Da fähren die Wagen, und bringen in tausend kleinem Gefäßen das Weltmeer ,Milch', das heute verzehrt werden soll - Stand an Stand drängt sich auf dem Markte mit Lebensmitteln belastet. Eine Million Tiere ist heute Nachts gestorben, daß alle diese unten zu essen haben; ein Wald von Pflanzen wurde abgemähet und hereingebracht - da gehen die Mägde mit ihren reinlichen Einkaufskörbchen und tauchen hinein in das wogende Gesurre." (Steph. 295) Und geradezu marxistisch avant fa fettre analysiert Stifters Text die Ursache fur die moderne Rastlosigkeit: es ist "das Geld", der große Entwerter der realen Dingwelt, "ein hohler unbedeutender Vertreter der wahren Güter" (Steph. 290), der sich schnell zum "Nervengeist der Volksverbindungen" (ebd.) emporgeschwungen hat. Und schon steigert sich das Raisonnement des Textes zu einem Staccato von Topoi der kritischen Gesellschaftsanalyse mit Stichwörtern wie Akkumulation, Mehrwert oder Konsum: "Sein [= des Geldes] leichter Verkehr [... ] reizt zur Anhäufung, sein Allwert lockt zum Erwerb, dieser, der saure, zum Genuß als Lohn; und dieser als Afterglück reizt zur Steigerung, weil keiner dem lechzenden Herzen hält, was er versprach, und so geht es fort; wieder Erwerb, wieder Genuß, immer steigend, immerzugrößerer Gewinn, größrer Genuß [... ]." (Ebd.)
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Wagen und Reiter stand, und jedes Auge schaute zum Himmel." (SI 508) Und getreu der apokalyptischen Abfolge aus. Zerstörung - d.h. in diesem Falle: Stillstellung - und Offenbarung begreift der Erzähler diesen "Moment" als einen solchen, "da Gott redete, und die Menschen horchten" (SI 508), mehr noch: In den Augen des Erzählers ist es "nicht anders, als hätte Gott auf einmal ein deutliches Wort gesprochen". (SI 503) Freilich deutet der Irrealis an, daß auch dieser Text, genausowenig wie die johanneische Offenbarung, in unangefochtener Evidenz mit einem erfüllten Ende zu schließen vermag, und sb zieht der Erzähler ein interpretatives Register, demzufolge sich aus der Erfahrung des Schrecklichen eine Zukunftsperspektive gewinnen läßt. Es handelt sich dabei um die Kategorie des Erhabenen aus Kants Kritik der Urteilskraft, nach der die Erfahrung des Schrecklichen als wirksames Stimulans der praktischen Vernunft zu begreifen ist. Die "Furchtbarkeit" und "Erhabenheit" (SI 503) der Eklipse bedeutet denn auch in den Augen des Erzählers nichts anderes als "moralische Gewalt" (SI 504). So betont er, daß die beschriebene Szenerie ihr Vorbild nicht etwa in jenem Text findet, der ihm zunächst in den Sinn gekommen ist: Lord Byrons Endzeitgedicht Darkness, sondern - wie soll es anders sein - in den Worten der Bibel: "Byron war viel zu klein - es kamen, wie mit einmal, jene Worte des heiligen Buches in meinen Sinn, die Worte bei dem Tode Christi: ,Die Sonne verfinsterte sich, die Erde bebte, die Toten standen aus den Gräbern auf, und der Vorhang des Tempels zerriß von oben bis unten. ce, (SI 509) Die Struktur des christlichen Opfers verklammert ebenso wie die Apokalypse ein Ende mit einem Anfang: Christi Tod mündet in dessen Auferstehung und Himmelfahrt und verweist weiter auf das Ende der Heilsgeschichte, auf die Wiederkehr des Heilands: "Und als sie ihm nachsahen, wie er gen Himmel fuhr", so formuliert es die Apostelgeschichte, "siehe, da standen bei ihnen zwei Männer in weißen Gewändern. Die sagten: Ihr Männer von. Galiläa, was steht ihr da und seht zum Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg gen Himmel aufgenommen wurde, wird so wiederkommen, wie ihr ihn habt gen Himmel fahren sehen." (Apg. 1,1 Of. ) Um nachvollziehen zu können, daß die christliche Teleologie nicht ohne Konterkarierung bleibt, bedarf es keines allzu großen hermeneutischen Scharfsinns. Denn deutlich vernehmbar spricht der Text auch eine dezidiert ästhetisierende Sprache. Die erhabene Szenerie wird nicht nur gegen Kant als "wunderbare Magie des Schönen" (SI 506) bezeichnet, Stifters Beschreibung stellt auch einen im Wortsinn ästhetischen, an den Sinnen und genauer am Optischen orientierten Text dar. 13 So betont
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VgL Walter Erharts Einschätzung, derzufolge die poetische Realisation des Erhabenheitstopos keineswegs radikal von seiner vermeintlichen Gegenkategorie, dem Schönen, getrennt ist. (Walter Erhart: Verbotene Bilder? Das Erhabene, das Schöne und die modeme Literatur, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschqft 41 [1997], 79-106.)
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der Erzähler eingangs, daß er die Verfinsterung fasziniert "mit eigenen Augen" (Sj 503) angeblickt habe, und verwendet im folgenden nicht wenig Raum für eine überaus farb- und bildprächtige Ausschmückung der Eklipse, und zwar ausgerechnet ,jene[r] zwei Minuten" (Sj 508) der größten Verfinsterung, in denen "Scheibe [... ] deckend [... ] auf Scheibe steht" (Sj 507): Die Horizontwolken, die wir früher gefurchtet, halfen das Phänomen erst recht bauen, sie standen nun wie Riesen auf, von ihrem Scheitel rann ein ftirchterliches Rot, und in tiefem kalten schweren Bau l4 wölbten sie sich unter und drückten den Horizont - Nebelbänke, die schon lange am äußersten Erdsaume gequollen, und bloß mißfarbig gewesen waren, machten sich nun gelten, und schauderten in einem zarten furchtbaren Glanze, der sie überlief - Farben, die nie ein Auge gesehen, schweiften durch den Himmel; - der Mond stand mitten in der Sonne, aber nicht mehr als schwarze Scheibe, sondern gleichsam halb transparent wie mit einem leichten Stahlschimmer überlaufen, rings um ihn kein Sonnenrand, sondern ein wundervoller, schöner Kreis von Schimmer, bläulich, rötlich, in Strahlen aus einander brechend, nicht anders, als gösse die oben stehende Sonne ihre Lichtflut auf die Mondeskugel nieder, daß es rings aus einander spritzte - das Holdeste, was ich je an Lichtwirkung sah! - Draußen weit über das Marchfeld hin lag schief eine lange, spitze Lichtpyramide gräßlich gelb, in Schwefelfarbe flammend, und unnatürlich blau gesäumt; es war die jenseits des Schattens beleuchtete Atmosphäre, aber nie schien ein Licht so wenig irdisch und so furchtbar, und von ihm floß das aus, mittelst dessen wir sahen. Hatte uns früher Eintönigkeit verödet, so waren wir jetzt erdrückt von Kraft und Glanz und Massen. (Sj 508)
Der Erzähler lädt das Naturschauspiel also assoziativ mit den unterschiedlichsten Bildwelten auf. So liest er - ähnlich wie Goyas apokalyptisches Gemälde Der Koloss (1808-1812) (Abb. 1) - in die Wolkenbildung die Gestalt eines Riesen hinein oder evoziert mit der Schwefelfarbe das Bild der Hölle und metaphorisiert dieses wiederum durchaus zeittypisch als Industriemaschinerie, genauer: als Stahlgießerei. Was dabei die ästhetische Programmatik anbelangt, so ergreift diese Passage deutlich die Partei nicht-mimetischer, autonomer Kunst, wenn sie von "unnatürlich[en] [... ] Farben" spricht, "die nie ein Auge gesehen" (Sj 508) hat. Und es mag ein wenig erstaunen, im Text eines Schriftstellers, der zu Recht als Virtuose der Ereignislosigkeit gilt, den schönen Schrecken mit den Worten beschrieben zu finden: "Hatte uns früher Eintönigkeit verödet, so waren wir jetzt erdrückt von Kraft und Glanz und Massen." (Sj 508) Keine Frage: Stifters Sonnenfinsternis-Beschreibung ist ästhetisch kühner, als dies seine konservativen, eher am veIDleinten weltan-
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Die Ausgabe Adalbert Stifter: Gesammelte Werke XIV, hg. von Konrad Steffen, Basel 1972, 109, fuhrt an dieser Stelle die Variante "Blau".
Abb. 1: Francisco Goya, Der Koloß (1808-1812)
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schaulichen Gehalt der Texte als an deren Struktur orientierten Interpreten lange Zeit haben wahrnehmen wollen l5 • Denn Stifters Text markiert durch eine Schriftmetapher, daß die Pracht der Phantasmagorie zu einem nicht unbeträchtlichen Teil ihm selbst zu danken ist, daß er sie gleichsam "mit der Schneide eines Federmessers in das Dunkel geritzt" (Sj 507) hat: Entsprechend selbstbewußt verhandelt die Beschreibung denn auch die Frage nach der Autorschaft des Spektakels, sieht sich der Erzähler doch gleich von mehreren Instanzen zu Wort gerufen. Die deutliche Botschaft, die Gott während der Eklipse spricht, scheint exklusiv rür den Erzähler verständlich zu sein, der nach dem Spektakel "von der Warte herab[steigt], wie vor tausend und tausend Jahren etwa Moses von dem brennenden Berge herabgestiegen sein mochte". (Sj S03f) Und finden die Menschenrnassen keinen Ausdruck fiir die Finsternis als Tränen, Ohnmachten oder "unartikulierte Laute" (Sj 509), so ist dies dem Erzähler Auftrag genug, mit seinem Text der commemoratio Sprache zu verleihen: "Wir schüttelten uns die Hände, wir sagten, daß wir uns zeitlebens daran erinnern wollen." (Sj 510) Nicht nur von Gott und den Menschen, sondern auch von der Natur als einer dritten Instanz erhält der Erzähler seine Schreiborder, auch wenn diese Lizenz insofern weniger hochgemut tönt, als sie sich womöglich einem zeitlebens exzessiv betriebenen Studium im Buch der Natur verdankt: Gebe Gott, daß der Eindruck recht lange nachhalte. [... ] Ich weiß, daß ich nie, weder von Musik noch Dichtkunst, noch von irgend einem Phänomen oder einer Kunst so ergriffen und erschüttert worden war - freilich bin ich seit Kindheitstagen viel, ich möchte fast sagen, ausschließlich mit der Natur umgegangen, und habe mein Herz an ihre Sprache gewöhnt, und liebe diese Sprache, vielleicht einseitiger, als es gut ist. (Sj 511)
Die Tatsache, daß jene Botschaft, der die Finsternis-Beschreibung ein Gefäß gibt, mehrere Absender aufweist, spiegelt die Vermitteltheit des Sprachtransports ganz analog zum Verfahren der Johannes-Apokalypse: "Dies ist die OffenbarungJesu Christi, die ihm Gott gegeben hat, seinen Knechten zu zeigen, was in Kürze geschehen soll; und er hat sie durch seinen Engel gesandt und seinem Knecht J ohannes kundgetan." (Offb. 1,1) In dieser Schachtelung von Erzählinstanzen ist aber nicht nur eine Verewigung des Schreibers als des letzten Gliedes im göttlichen Informationsfluß zu sehen1\ sondern die verwir-
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So etwa - stellvertretend - Friedrich Wilhelm Korff, wenn dieser Stifters biedermeierlich-christlichen "Wille[n] zur Bewahrung" als entscheidendes Gegenmittel zum ästhetischen "Wagnis", dem ",tentamen' des dichterichen Unglaubens" in Form der ",cupiditas experiendae potestatis suae'" begreift. (Friedrich Wilhelm Korff: Diastole und Systole - Zum Thema Jean Paul und Stffter, Bern 1969, 34.) So Gutzen: JJ Und ich sah den Himmel ... "[Anm. 10], 39.
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rende Redevielfalt läßt sich auch als Depotenzierung der auktorialen Kontrolle über den Text interpretieren17 : Man weiß in der Apokalypse nicht mehr genau, wer seine Stimme oder seinen Ton dem anderen leiht, man weiß nicht mehr genau, wer sich an wen richtet. Aber durch eine katastrophische Umwälzung, die hier notwendiger denn je ist, kann man auch genau denken: Von dem Augenblick an, wo man nicht mehr weiß, wer spricht oder wer schreibt, wird der Text apokalyptisch. Und wenn die Sendungen immerzu auf andere Sendungen verweisen, wobei die Bestimmung immer zukünftig bleibt, ist diese gänzlich engelhafte Struktur, d.h. diejenige der johanneischen Apokalypse, nicht auch die eines jeden Schauplatzes' der Schrift im allgemeinen?
Die Katastrophe der Autorschaft, die zum einen in der Ortlosigkeit des Absenders und zum anderen in der Unmöglichkeit besteht, dem Ende im Text Präsenz zu verleihen, wird bei Stifter freilich nicht in offensiven Worten gefeiert, sondern in letzter Instanz als Defizit der erzählerischen Materialbewältigung zur Disposition gestellt. In Form eines Räsonnements zur ut pictura poesis- Forderung räumt die Sonnenfinsternis-Beschreibung nämlich ein, daß der Reichhaltigkeit des Visuellen sprachlich nicht beizukommen ist. Intermediale Zuflucht sei vielmehr bei einer anderen Nachbarkunst zu suchen, der Musik: "Ihr aber, die es im höchsten Maße nachempfunden, habet Nachsicht mit diesen armen Worten, die es nachzumalen versuchten, und so weit zurückblieben. Wäre ich Beethoven, so würde ich es in Musik sagen; ich glaube, da könnte ich es besser." (Sj 511) Nach diesem Fazit erstaunt es wenig, daß Stifters Text, der sich schon mit seinen Eröffnungsworten als Etüde in Nachträglichkeit, als künstlerischGhristliche Wiederverzauberung der naturwissenschaftlich durchrationalisierten Welt inszeniert hat 1S , an seinem Ende die Perspektive noch einmal justiert und nun einen ästhetisch-programmatischen Neuanfang in Aussicht stellt, dessen apokalyptische Logik mit den Schlagwörtern Entbli.jßung, Unterbrechung und Veifremdung zu bezeichnen ist: 17
IS
Derrida: Apokalypse [Anm. 6], 71f. Vgl. den Textbeginn: "Es gibt Dinge, die man fiinfzig Jahre weiß, und im einundfünfzigsten erstaunt man über die Schwere und Furchtbarkeit ihres Inhaltes. So ist es mir mit der totalen Sonnenfinsternis ergangen, welche wir in Wien am 8. Juli 1842 in den frühesten Morgenstunden bei dem günstigsten Himmel erlebten. Da ich die Sache recht schön auf dem Papiere durch eine Zeichnung und Rechnung darstellen kann, und da ich wußte, um so und so viel Uhr trete der Mond unter der Sonne weg, und die Erde schneide ein Stück seines kegelfOrmigen Schattens ab, welches dann wegen des Fortschreitens des Mondes in seiner Bahn, und wegen der Achsendrehung der Erde einen schwarzen Streifen über ihre Kugel ziehe, was man dann an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten in der Art sieht, daß eine schwarze Scheibe in die Sonne zu rücken scheint, von ihr immer mehr und mehr wegnimmt, bis nur eine schmale Sichel übrig bleibt, ·und endlich auch die verschwindet - auf Erden wird es da immer finsterer und finsterer, bis wieder am anderen Ende die Sonnensichel erscheint und wächst, und das Licht auf Erden nach und nach wieder zum vollen Tage anschwillt - dies alles wußte ich voraus, und zwar so gut, daß ich eine totale Sonnenfinsternis im Voraus so treu beschreiben zu können vermeinte, als hätte ich sie bereits gesehen." (Sj 503)
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Zum Schlusse erlaube man mir noch zwei kurze Fragen, die mir dieses merkwürdige Naturereignis aufdrängte. Erstens. Warum, da doch alle Naturgesetze Wunder und Geschöpfe Gottes sind, merken wir sein Dasein in ihnen weniger, als wenn einmal eine plötzliche Änderung, gleichsam eine Störung derselben geschieht, wo wir ihn dann plötzlich und mit Erschrecken dastehen sehen? Sind diese Gesetze sein glänzendes Kleid, das ihn deckt, und muß er es lüften, daß wir ihn selber schauen? Zweitens. Könnte man nicht auch durch Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge von Lichtem und Farben eben so gut eine Musik rur das Auge wie Töne rur das Ohr ersinnen? Bisher waren Licht und Farbe nicht selbständig verwendet, sondern nur an Zeichnung haftend; denn Feuerwerke, Transparente, Beleuchtungen sind doch nur noch zu rohe Anfange jener Lichtmusik, als daß man sie erwähnen könnte. Sollte nicht durch ein Ganzes von Lichtakkorden und Melodien eben so ein Gewaltiges, Erschütterndes angeregt werden können, wie durch Töne? Wenigstens könnte ich keine Symphonie, Oratorium oder dergleichen nennen, das eine so hehre Musik war, als jene, die während der zwei Minuten mit Licht und Farbe an dem Himmel war, und hat sie auch nicht den Eindruck ganz allein gemacht, so war sie doch ein Teil davon. (Sj 511[)
Die erste Frage verhandelt zwar thematisch das Problem der Vermittelbarkeit von naturwissenschaftlicher Akkuratesse mit religiösem Staunen, kreist aber grundsätzlich um die Frage einer Ästhetik epiphanischen bzw. apokalyptischen Schreibens. Deren Verfahren werden als plötzliche Störung oder Unterbrechung des Gewöhnlichen gekennzeichnet. Statt daß also Epiphanie als demütig-passiver Empfang in Aussicht gestellt wird, erklärt Stifters erste Frage die Offenbarung zum Effekt einer aktiven Darstellung, als nicht eben sanfte Aussetzung des Geltenden. Die Gewaltsamkeit dieses Unternehmens klingt im folgenden in der einigermaßen seltsamen Metapher an, durch welche die Kontaktaufuahme mit der Gottheit als deren Entblößung dargestellt wird. Stifters Text weist mit dieser merkwürdigen Phantasie auf nichts anderes als auf die hebräische Referenz des griechischen Wortes apokalypsis - auf das Verb gala', dessen semantisches Spektrum nicht nur Bedeutungen wie ,etwas klar machen', bzw. ,klar werden', jemandem die Augen oder Ohren öffnen', sondern auch ,ein Körperteil entblößen'19 umfaßt. Mit Jacques Derrida ist daher im Auge zu behalten, daß "Apokekalymmenoi logoi [... ] anstößige Reden (des propos indecents) [sind]. Es geht also um das Geheimnis und die pudenda"20. Ich kehre dies hervor, weil die zweite Frage von Stifters Finale wegen ihres vermeintlich offenen Plädoyers fur die bildende Kunst der Moderne durchweg die der Coda seines Textes gewidmete Aufinerksamkeit absorbiert hat. Fast zu verfuhrerisch ist nämlich der Schluß, daß die Anstößigkeit des vermeintlichen Biedermeier-Autors Stifter darin besteht, eine autonome Ästhetik zu propagieren, welche die bildende Kunst von der Pflicht zum Mimeti-
19 Derrida: Apokalypse [Anm. 6],9. 20 Ebd., 12.
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schen lossagt und ihre formalen Grundbausteine "Licht und Farbe" unabhängig von aller Gegenständlichkeit zur Geltung bringt. Stifter scheint sich damit jener Partei der Landschaftsmalerei anzuschließen, die in Caspar David Friedrich und seinem höchst umstrittenen, bis auf eine winzige menschliche Figur und einige Krähen fast ungegenständlichen Gemälde Der Mönch am Meer (1809/1810) (Abb. 2) einen berühmten ersten Vertreter gehabt hat - ein Bild, dessen "Einförmigkeit und Uferlosigkeit" dem Blick kaum noch einen Halt gibt und das Heinrich von K1eist nicht umsonst zu der Bemerkung motiviert hat21 : "Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen, wie die Apokalypse da." In bezug auf die Geschichte der Malerei ist K1eists Assoziation hellsichtig, erweist sich das Apokalyptische doch als ein bevorzugtes Sujet ungegenständlicher Darstellungsweise - das berühmteste Beispiel ist wohl William Turners Gemälde Shade and Darkness - The Evening of the Deluge (um 1843) (Abb. 3). K1eists Bemerkung schließt aber auch die Literatur ein, und zwar insofern, als sie formuliert, daß das Bild nicht etwa dahängt, sondern wie ein schwer entzifferbarer Text daliegt. Damit weist K1eists Ekphrasis die Richtung fur eine wahre Konjunktur von Dichtungen des 19. Jahrhunderts von der Spätromantik bis zum Symbolismus - Autoren wie Jean Paul, Edgar Allen Poe, Victor Hugo oder Charles Baudelaire, um nur die bekanntesten zu nennen -, welche die in ihnen aufkeimenden modernen Verfahren apokalyptisch einkleiden. 22 Muß man also Stifters Sonnenfinsternis-Beschreibung mit ihrem poetologischen Ende als frühes Zeugnis ästhetizistischer Entpragmatisierung der Apokalypse werten, als programmatischen Text, in dem bereits Fanfaren wie aus wie aus Friedrich Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft anklingen?23 Und deutet Heinrich von Kleist: Empfindungen vor Friedrichs Seelandschcift, in: Sämtliche Werke und Briife III, hg. von Klaus Müller-SaIget, Frankfurt a. M. 1990,543. 22 Näheres dazu bei Claudia Becker: Der Traum der Apokalypse - die Apokalypse ein Traum? Eschatologie und/oder Ästhetik im Ausgang von Jean Pauls ,Rede des toten Christus', in: Poesie der Apokalypse [Anm.8] 129-144; Aage A. Hansen-Löve: Apokalyptik und Adventismus im russischen Adventismus derJahrhundertwende, in: Russische Literatur an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, hg. von R.G. Grübel, Amsterdam 1993, 231-325; Werner von Koppenfels: Le Coucher du Solei! Romantique Die Imagination des Weitendes aus dem Geist der visionären Romantik, in: Poetica 17 (1985), 255-298; Robert Minder:Jean Paul in Frankreich, in: Dichter in der Gesellschaft - Erfahrungen mit deutscher und französischer Literatur, Frankfurt a. M. 1972, 101-125. 23 Vgl.: "Das grösste neuere Ereignis, - dass "Gott todt ist", dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist - beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen. Für die Wenigen wenigstens, deren Augen, deren Argwohn in den Augen stark und fein genug für dies Schauspiel ist, scheint eben irgend eine Sonne untergegangen. [... und die] nächsten Folgen dieses Ereignisses [... ] sind, umgekehrt als man vielleicht erwarten könnte, durchaus nicht traurig und verdüsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermuthigung, Morgenröthe. " Friedrich Nietzsehe: Die fröhliche Wissenschaft, in: Kritische Studienausgabe III, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 21988, 573( Vgl. dazu: Hendrik Birus: Apokalypse der Apokalypsen - Nietzsches Versuch einer Destruktion aller Eschatologie, in: Das Ende - Figuren einer Denkform (Poetik und Hermeneutik XVI), hg. von Karlheinz Stierle und Rainer Warning, München 1996, 32-58, hier: 45. 21
Abb. 3: William Turner: Slwde al1d Darkne5s
The Evening ifthe Deluge (um 1843)
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sich in Stifters stilisiertem Erlebnis einer "Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge von Lichtem und Farben" (Sj 511, herv. v. H.D.), wenn man dieses nicht nur als musikalisch-bildkünstlerischen Grenzgang liest, sondern seine poetologische Valenz hervorstreicht, nicht sogar Roman Jakobsons Bestimmung der poetischen Funktion an, nämlich insofern, als auch dort die Projektion der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse der Sprache, die Interaktion eines statischen Archivs mit der sukzessiven Schriftbewegung, zur Debatte steht? Setzt Stifter also offensiv ein autonomes und selbstbezogenes Formenspiel an die Stelle der referentiellen Orientierung der Schrift? So sympathisch mir der durch diese Fragen implizierte Gedanke ist, werde ich ihm dennoch in den folgenden Bemerkungen widersprechen. Das bis heute ,Anstößige' an Stifters apokalyptischer Prosa besteht nämlich nicht darin, daß sie programmatisch den Weg moderner Vertextungsstrategien einschlägt2 4, sondern daß sich ihre spezifische Modernität weniger der Überschreitung als dem Rekurs auf die Denkfigur des Apokalyptischen verdankt. Deren Entpragmatisierung läßt sich folglich nicht als Zeugnis einer literaturgeschichtlichen Teleologie begreifen, derzufolge Texte immer weniger welthaltig und - entsprechend - die Versuche zur Etablierung von Sinn immer prekärer werden, sondern als Resultat eines in der Struktur des Apokalyptischen genuin verankerten Wechselspiels zwischen dem Wunsch nach der Orientierung an ewigen, letzten Dingen auf der einen und deren Auflösung in Schrift auf der anderen Seite. Um diesen Gedanken wenigstens ansatzweise zu profilieren, will ich im folgenden die am Ende des Eklipsentextes in die Debatte geworfenen Figuren des Apokalyptischen - die Entblößung, die Unterbrechung und die Verfremdung - noch einmal, in einem Streifzug durch Stifters Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters 25 , die Autobiographie Nachgelassene Blättey26 sowie den auto . . . biographischen Reisebericht Aus dem bayrischen Walde (1867) unter die Lupe nehmen und zeigen, daß das Apokalyptische fiir Stifter kein wohlfeil ästhetisierbares Spielmaterial darstellt. In seiner ambivalenten Struktur als ebenso gefiirchtet-begehrtes wie versagtes Ende des Bedeutens vermag es eine bislang übersehene Erklärung fiir die spezifische Art der Verklammerung zentraler
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Vgl. auch Eva Geulens Einschätzung, daß "manches gegen eine rückwirkend modernisierende Deutung" Stifters spreche. (Eva Geulen: Worthörig wider Willen, München 1992, 17.) Ich beziehe mich mit einer Ausnahme auf die zweite Auflage der Studienfassung von 1848 und zitiere nach der von Karl Pörnbacher herausgegebenen Reclam-Ausgabe, Stuttgart 1988, im laufenden Text mit der Sigle M. Helmut Pfotenhauer hat sich zu Recht dagegen verwahrt, diesen Text ob seiner nur sechs Druckseiten als "autobiographisches Fragment" zu werten. (Helmut Pfotenhauer: ,Einfach ... wie ein Halm' - Stifters komplizierte kleine Selbstbiographie, in: DVjs 64 [1990], 137.)
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Sujets in seinem Werk wie Familie, Herkunft, Erinnerung, Schrift, Natur und Liebe anzubieten.
III. Wo nichts los ist? - Entblößung, Unterbrechung, Verfremdung Aus dem Katalog der Sujets sticht in der Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters die Liebe hervor: etwa im Rahmen einer Episode, die, obwohl nur wenige Seiten umfassend, aufgrund ihrer extremen Schattierung zum Eindrücklichsten in Stifters Erzählung gehört. Die Beziehung zwischen Casimir Uhldom, dem sanftmütigen Obristen, und seiner bezeichnenderweise nicht mit Namen genannten Ehefrau präsentiert nämlich unter dem Deckgeschehen der (verweigerten) Liebe die apokalyptischen Parameter der Versagung, also des immer wieder nur verheißenen Endes, des Opfers sowie einer als Entblößung inszenierten Offenbarung. Im Rückblick räumt Uhldom ein, daß seine Frau ihn zum Zeitpunkt der Heirat "nicht geliebt" (M 47f.) und im folgenden - "demütig wie eine Braut und aufmerksam wie eine Magd" (M 48) - eher "neben"27 als mit ihm gelebt hat. Bei den Spaziergängen, welche die bei den in ihrer Freizeit unternehmen, überwiegt ein distanziertes und ritualisiertes Verhalten zwischen den Ehepartnern, beispielsweise in Form des bei Stifter so beliebten Repetitoriums von Vokabeln aus dem Buch der Natur, das Ordnung und Orientierung verheißt: "oft saß sie neben mir und fragte, wie dieser und jener Stein heiße und warum diese und jene Blume nur immer im Schatten wachse" (M 49). Seltsam genug, vermeint der Erzähler, daß diese zeremoniöse Interaktion auf seiten der Ehefrau mehr und mehr "Freude" und sogar "Lust" erzeuge, die, deutlich erotisch getönt, an die Stelle der vormaligen bloßen "Gefälligkeit" (M 49) gegen den Ehemann tritt. Was von dieser Einschätzung zu halten ist, erweist sich freilich kurze Zeit danach, als die Ehefrau während einer gemeinsamen Wanderung beim Überqueren einer Riese - einer Transportrinne fur geschlagenes Holz - ein Schwindelgefiihl überkommt, das sie in den Tod stürzen läßt. Und um den Mann nicht zu erschrecken und ebenfalls zu gefährden, erträgt sie dies, ohne auch nur einen einzigen Hilfe- oder Verzweiflungsschrei von sich zu geben. Am nächsten Tag entdeckt der Ehemann, begleitet von einigen Waldarbeitern, die Leiche seiner Frau: Erst, als die Sonne schon fast hoch in das Tal hineinschien, entdeckten wir sie. Es lag ein Häufchen weißer Kleider neben einem Wachholderstrauche, und darunter die zerschmetterten Glieder. - Es war nicht möglich: von dieser Höhe kann kein Mensch herunterfallen, und nur einen Hauch des Lebens behalten. [... ] - Wir gingen näher,
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Dieser Begrifffillt in der sog. Letzten Mappe aus dem Jahr 1864, zit. nach: Adalbert Stifter: Werke und Brif!.fe - Historisch-Kritische Gesamtausgabe VI,l, hg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald, Stuttgart 1998, 177.
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Heinz J. Drügh und denkt Euch - auf den Kleidern saß das Hündlein, und war lebend und fast unversehrt. Das Weib hatte es vielleicht während des Falles emporgehalten, und so gerettet. Aber es mußte über die Nacht wahnsinnig geworden sein; denn es schaute mit angstvollen Augen umher, und biß gegen mich, da ich zu den Kleidern wollte. Weil ich schnell mein Weib haben mußte, gab ich zu, obwohl ich mir das Tierchen hatte aufsparen wollte, daß es einer der Knechte mit der Büchse, die sie zuweilen tragen, erschieße. Er hielt schräge hin, damit er die Leiche nicht treffe - und das Hündchen fiel herab, kaum daß es ein Füßlein rührte. - Ich beugte mich nun nieder, und riß das weiße Mieder auf, das sie anhatte; aber die Schulter war schon kalt, und die Brust war so kalt, wie Eis." (M 53)
Die Passage verdeutlicht, in wie starkem Maß das Opfer der Ehefrau - analog zum christlichen Kreuzestod - im Sinne eines Widerlagers nach einem glücklichen Ende verlangt. Dieses Telos wird in fur Stifter ungewöhnlich deutlicher Weise erotisch aus buchstabiert, und zwar als Casimirs bis dato versagte sexuelle Wünsche. Dabei bricht sich ein Begehren Bahn, das sich nicht mehr auf die lange Bank schieben lassen will, sondern nach Befriedigung hier und jetzt verlangt. Die Gewaltsamkeit des Wunsches kommt in der sich merkwürdig zwanghaft abspielenden Tötung des Hundes zum Ausdruck, mit dem nicht nur Casimirs Nebenbuhler beseitigt wird - der "stete [... ] Begleiter" der Frau, mit dem sie weit angeregter und zwangloser "plauderte" (M 49) als mit dem Ehemann. Die Exekution des Tierchens gehorcht auch einer gattungstheoretischen Logik. Denn mit der Errettung des Hundes, die einem Wunder gleichkommt, ist das' Genre der Legende aufgerufen, das zum einen semantisch als "das zu Lesende" auf einen medialen Prozeß weist statt auf unmittel-· bare Erfullung und das zum anderen infolge der darin kultivierten Heiligenverehrung (cultus duliae) von einem fur den in Heftigkeit geratenen Casimir inakzeptablen Aufschub des Göttlichen geprägt ist; nämlich insofern, als "der Mensch", wie Hellmuth Rosenfeld formuliert, "im Bewußtsein seiner Sündhaftigkeit nicht wagt, unmittelbar" - und das heißt: apokalyptisch - "vor Gott zu treten" und sich aus diesem Grund als eines Umwegs "der Fürbitte der Heiligen"28 zu versichern sucht. Mit dem Hund beseitigt der Text das lebendige Indiz fur die fortgeschriebene Verweigerung der Erfüllung von Angesicht zu Angesicht, von Körper zu Körper, und ferner jenes Lebewesen, das als Geleittier der Verstorbenen gilt. Der Versuch, die Frau symbolisch am Leben zu halten,. schlägt jedoch fehl. Casimir stürzt sich auf eine Tote, deren Leichnam seinen Begierden Hohn spricht, und so muß er sich nach diesem fur Stiftersche Figuren durchaus seltenen Ausbruch von Leidenschaft wieder mit einer ideologischen Stillstellung seiner in skandalöser Weise zutage getretenen Wünsche begnügen. Der autosuggestive Charakter dieser Operation ist dabei deutlich markiert: "Seht", fuhrt Casimir aus, "ich habe mir damals einge bildet, Gott brauche einen Engel im Himmel und einen guten Menschen auf 28 Hellmut Rosenfeld: Legende, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 11, Berlin 1965, 13.
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Erden: deshalb mußte sie sterben". (M 55, herv. v. H.D.) Das bezeichnete Projekt, ein guter Mensch zu werden, zielt mithin auf eine Duldung des Schicksals, fordert den Verzicht auf die unmittelbare Erfiillung der Wünsche, ein Vorgang, den Stifters Erzählung an anderer Stelle mit der üblichen geschlechtsspezifischen Staffage als entscheidendes Moment im Drama des Erwachsenwerdens kennzeichnet: "Ach, ich bin ja sonst nicht so zornig - es ist meine Art nicht so. Ein Rückfall in meine Kindheit mußte es sein, wo mich, wie der Vater sagte, meine früh verstorbene Mutter verweichlichte, daß ich oft, wenn mir ein Hindernis entgegenkam, mich zu Boden warf und tobte." (M 165f.) Solch heftigen Emotionen und Ausbrüchen ist nach Casimir am wirkungsvollsten mit einem Schreib- und Leseexerzitium zu begegnen, durch das die Begierde abgebaut und deren Erfiillung vertagt wird: Das "Mittel [... ] [zum] Heil [... ] besteht [nämlich Uhldom zufolge] darin, daß einer sein gegenwärtiges Leben, das ist, alle Gedanken und Begebnisse, wie sie eben kommen, aufschreibt, dann aber einen Umschlag darum siegelt und das Gelöbnis macht, die Schrift erst in drei bis vier Jahren aufzubrechen und zu lesen". (M 44) An die Stelle der katastrophalen, offenbarenden Entblößung rückt dadurch eine Form der Unterbrechung, die nicht auf ein emphatisches Ende gerichtet ist, sondern in der allein der Wechsel, das AndersWerden Bestand hat. So muß der Obrist bei der ersten Lektüre der fiinfJahre alten Notizen feststellen: "alles war anders geworden, als ich einst gedacht hatte". (M 45) Die vorangegangene "Feßlung der Blätter" (M 21), das durchaus zwanghafte Zusammenschnüren des Geschriebenen zu dem Zweck, "die Schrift zu sperren" (M 26), als Zeugnis zu bewahren und vor übereilter Auslegung zu schützen, ruft dabei deutlich die Erinnerung an die Schlußworte der Johannes-Offenbarung wach, mit denen diese die Dignität und Unveränderlichkeit ihres Wortlauts einklagt und die Leser - mit Hölderlins Patmos gesprochen - darauf verpflichtet, den "veste[n] Buchstab" "gut" zu deuten. 29 Die Schrift stellt sich mithin als immer wieder anders zu lesendes Medium zwischen das auf Unmittelbarkeit drängende Begehren und dessen Erfiillung. Unterbrechung und Indirektion prägen die Logik jenes nicht nur in der Mappe meines Urgroßvaters, sondern auch in der berühmten Vorrede zu den Bunten Steinen propagierten Projekts schriftstellerischer Sanftmut, das sich statt starken Emotionen wie "Haß" oder begehrender Liebe - texttheoretisch gesprochen: an der Stelle von action, wie sie Erving Goffinan definiert30 - vor29 30
Vgl. den Beitrag von Robert Andre in diesem Band. Goffman definiert action als "Handlungen, die folgenreich [... ], ungewiß" sind und sich als "Ausnahme~' (M 13) vom Gewohnten "nicht in alltäglichen routinemäßigen" Verrichtungen finden lassen. Erving Goffinan: Wo was los ist - wo es action gibt, in: Interaktionsrituale - Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt a. M. 1973, 203 bzw. 213. Vgl. dazu Heinrich Bosse: Geschichten, in: Literaturwissenschqft - Einführung in ein Sprachspiel, hg. von Heinrich Bosse und Ursula Renner, Freiburg 1999, 299-320.
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wiegend Gegenständen zuwendet, die Glieder "einer langen unbekannten Kette" sind, einer Überlieferung, die prima fade den Anschein der reinen "Bedeutungslosigkeit" (M 13) hat. Die Angst vor dem Entschwinden der Bedeutung durch die Revolte des eigenen Materials, der Sprache, ist also nicht die einzige Ursache jener zeremoniösen, unterkühlten und zur Starte neigenden Sprech- und Handlungsweise von Stifters Figuren und Texten 31 , sondern ambivalenter, im Sinne apokalyptischer Logik gedacht, genauso die Scheu vor dem Gewaltsamen der Offenbarung. Eine literarische Technik, die von dieser Programmatik wie keine andere ausgezeichnet wird, ist die literarische Deskription. Symptomatisch genug, wird einer solchen sogar auf den nur sechs Druckseiten von Stifters Autobiographie ein Platz eingeräumt, und zwar in Form der Beschreibung eines Tisches, die im Hinblick auf die zu schildernde Vita merkwürdig funktionslos scheint32 : Der Tisch war genau viereckig, weiß und groß, und hatte in der Mitte das rötliche Osterlämmlein mit einem Fähnchen, was meine außerordentlichste Bewunderung erregte. An der Dickseite des Tisches waren die Fugen der Bohlen, aus denen er gefugt war, damit sie nicht klaffend werden konnten, mit Doppelkeilen gehalten, deren Spitzen gegeneinander gingen. Jeder Doppelkeil war aus einem Stück Holz, und das Holz war rötlich wie das Osterlamm. Mir gefielen diese roten Gestalten in der lichten Decke des Tisches gar sehr. Als dazumal sehr oft das Wort ,Konskription' ausgesprochen wurde, dachte ich, diese roten Gestalten seien die Konskription.
Mit dieser Passage setzt Stifter der literarischen Beschreibung (gegen den poetologischen Trend nach Lessing) eine Art geheimes Denkmal. Nicht nur, daß dieser Text selbst deskriptiv verfährt, er setzt mit der Willkürlichkeit kindlicher Assoziation den Begriff ,Konskription' an die Stelle des Osterlämmleins - des zentralen Symbols christlicher Passion. Per Kontigliitätsprinzip wird dadurch jene Logik der auf ein Ziel projizierten Katastrophe, die auch in der heute geläufigen Bedeutung von Konskription als Einberufung zum Kriegsdienst manifest ist, durch den Wortsinn ersetzt, der in Zedlers Universal-Lexicon noch ausschließlich angegeben wird: durch ,Beschreibung' oder - charmanter - durch ,viel Schreibens machen'33. Diese Wendung bezeichnet treffiich die betuliche Sorgfalt, die sich nicht nur im Bild des fest 31
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Dies ist die These des wegweisenden AufSatzes von Koschorke und Ammer, über den es nicht übertrieben ist zu sagen, daß mit ihm in der Erforschung des späten Stifter ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde (Albrecht Koschorke und Andreas Ammer: Der Text ohne Bedeutung oder die Erstammg der Angst - Zu Stifters letzter Erzählung "Der fromme Spruch ", in: DVjs 61 [1987], 676719). Adalbert Stifter: Nachgelassene Bliitter, in: Die Mappe meines Urgroßvaters - Schildentngen - Bri~fe [Anm. 11], 604f. Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Kiinste, welche bißhero durch menschlichen Verstand [. . .] erfunden [. .. ] worden 1-64, hg. von Johann Heinrich Zedler, Halle und Leipzig 173254. Letztgenannte Bedeutung ist die Substantivierung der Erläuterung zum Lemma "conscribiren".
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verfugten Tisches, sondern in den zur Wiederholung und Tautologie neigenden Textverfahren manifestiert, so, wenn die Autobiographie verrät: "jeder Doppelkeil war aus einem Stück Holz, und das Holz war rötlich" oder wenn sie über die "Fugen der Bohlen, aus denen er [= der Tisch, H.D.] verfugt war" (Hervorh. von H.D.), spricht. Dieses literarische Handwerk, in dem sich die Faktur, das Materielle des Textes, über das gewohnte Maß zur Geltung bringt, ist denn auch in dem Sinne als Ausgangspunkt der Verfremdung in Stifters Prosa zu verstehen, wie Roman Jakobson diese definiert hat, nämlich als Erhöhung der "Spürbarkeit der Zeichen "34. Wie das Ende der Sonnenfinsternis-Beschreibung landet auch die Analyse Stifterscher Prosa ~ei deren poetischer Funktion, d.h. bei der Vorstellung von Literatur als eines autonomen und selbstreferentiellen Systems. Das verfremdende Spiel der Sprache mit sich selbst stellt sich jedoch nicht als programmatisch moderner Aufbruch, sondern als Effekt der literarischen Reflexion über eine uralte Denkfigur, die Apokalypse, heraus. Diese wird von Stifters Texten beispielhaft in ihrer strukturellen Ambivalenz als zugleich begehrtes und gefurchtet-aufgeschobenes Ende vorgefuhrt. Die Verselbständigung der Signifikanten in Stifters Prosa verdankt sich also nicht der Tatsache, daß er der Faszination durch das Formlose einfach erläge; dies haben theoretisch ambitionierte Stifter-Lektüren in den letzten Jahren zwar ein um das andere Mal im Hinblick auf die Schneekatastrophe in Stifters Aus dem bayrischen Walde behauptet, wenn sie diese metaphorisch als "Gewirr" von "Signifikanten" 35 gedeutet haben. Das Stiftersche Buchstabengewimmel ist jedoch präziser als Effekt eines an der Ordnung unscheinbarer Dinge und deren akribischer, nicht selten zwanghafter Verfugung orientierten Schreibens zu verstehen. Dies läßt sich abschließend durch eine Passage dokumentieren, die der literarischen Topographie - also des Gegenteils von Unordnung - gewidmet ist36 : Links, wenn man über das Haus hinblickt, zieht sich die ungemeine Mächtigkeit des Rückens des Sesselwaldes fort, der gegen seinen Rand hinauf einige entblößte GeröllsteIlen hat, die aber in der Nähe ein Gewirr häusergroßer Granitblöcke sind. Rechts ist die noch höhere Seewand mit noch mehr solchen GeröllsteIlen. An ihrer entgegengesetzten Seite liegt der Blöckensteiner See. Die Breite des sogenannten wilden Waldes beträgt in jener Gegend zwei bis drei Meilen. Überall, wo man in den reizenden Gefilden herum geht, und es sind der Wanderwege unzählige, einer lieblicher als der andere, zieht die Würde des Waldes den Blick an sich, und die Gegend, deren Anmut man vielleicht auch anderwärts anträfe, erhält durch diese Würde erst ichre Erhabenheit. An den Wänden des Waldes rinnen allwärts Quellen herab und strömen in den tiefen, mitunter sehr scharfen Schluchten, die zwischen den weichen 34
35
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Roman Jakobson: Linguistik und Poetik, in: Poetik - Ausgewählte Atifsätze 1921-1971, hg. von Elmar Holenstein, Frankfurt a. M. 1979,93. Isolde Schiffermüller: Buchstäblichkeit und Bildlichkeit bei Adalbert Stifter - Dekonstnlktive Lektiiren, Bozen 1996,88. Adalbert Stifter: Aus dem bayrischen Walde, in: Die Mappe meines UrgrC?ßvaters - Schilderungen - Briife [Anm. 11], 572f.
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Kissen und Matten sind, dahin, so daß man an stillen Abenden durch die offenen Fenster das Rauschen in die Zimmer hört. Das Wasser ist glashell, daß man den Sand und die Steinchen des Grundes herauf schimmern sieht, und daß dort, wo es sich etwa still in einem Grunde des Waldes zwischen Steinen sammelt, und ruht, die Grenzfläche zwischen Wasser und Luft, wenn man in den Schlund hinein sieht, nicht zu erkennen ist.
Akribisch wie ein gehorsames Schulkind vor dem Überqueren der Straße blickt diese Passage gleich zu Beginn nach "rechts" und nach "links" als den Parametern räumlicher Orientierung. Was dort identifiziert wird, die Berge, Seen und Wiesen, scheint fernab von allen menschlichen Händeln gleichsam ewige Beständigkeit zu garantieren. Blickt man jedoch auf das Textverfahren, dann wird schnell deutlich, daß die immerwährende Ordnung der Natur in der Stifterschen Präsentation auf merkwürdige Weise mit ihrem Gegenteil, der völligen Unordnung, im Bunde steht. Diese findet im Schneetreiben ihren Ausdruck, das gebannt anzustarren der Erzähler nicht aufhören kann. Nur prima facie bedeutet dabei die Charakterisierung, derzufolge sich im Schneeinferno "immer dasselbe, das Außerordentliche"37 ereigne, ein Oxymoron. Denn das Flirren läßt keine Unterscheidungsmöglichkeit zu und entzieht jedem Ordnungsraster die Möglichkeit des Zugriffs. Etwas, das immer dasselbe ist, läßt sich nicht benennen, nicht kategorisieren und auch nicht durch Zeichengebrauch bannen. Dennoch müht sich Stifters Erzählen wieder und wieder um die Etablierung eines sprachlichen ordo. Dieser aber produziert infolge seiner Wiederholungsmanie statt eines wohlunterschiedenen Kosmos immer dasselbe oder zumindest in einem Maß Redundanzen, das dem Lesefluß nicht eben zuträglich ist. Repetition ist sowohl das Resultat der katastrophal hereingebrochenen Unordnung als auch jener Bestrebung, die dem Chaos entgegenwirken soll. So nimmt es nicht Wunder, daß schon die Eingangssequenz des Zitats neben einer gewissen stilistischen Umständlichkeit in Form des eingeschobenen Konditionalsatzes sowie der Verkettung von Relativsätzen eine Zwanghaftigkeit der Ordnung offenbart, die im gesamten Abschnitt vor allem in den Lexemwiederholungen wie den eingangs doppelt aufgefuhrten "Geröllstellen " Gestalt gewinnt. Dieses Verfahren wird mikrostrukturell auf der Ebene der Buchstaben wiederholt, und zwar dadurch, daß den "Geröllstellen" sogleich ein "Gewirr" von "Granitblöcke[nJ" zur Seite tritt. Insgesamt weist der zitierte Abschnitt nicht weniger als sechs Repetitionen von Lexemen auf - "Wald", "Würde", "Wasser", "Stein", "still", "Grund" -, deren Lautlichkeit sich wiederum in einer Reihe von Assonanzen und Alliterationen spiegelt, wie in der Rede von einem "wilden Walde[ ... J", von "Wanderwege[nJ", "scharfen Schluchten" oder einer "Anmut", die man "auch anderwärts anträfe". Selbst die Wahrnehmung eines eigentlich 37 Ebd., 583.
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unspektakulären Begriffs wie "Gegend" wird gleichsam von der Wiederholungsmanie infiziert, und es scheint, als habe er nicht zuletzt aufgrund seiner repetitiven Lautlichkeit Platz im Wortensemble von Stifters Text gefunden. Die Textur von Stifters ordnungsbeflissener Landschaftsbeschreibung produziert ironischerweise eine solche Menge lautlicher Selbstbezüglichkeiten, daß der Blick auf den Referenten zunehmend verstellt wird. Statt Perspektive: Durchblick, wird "Rauschen" produziert, in dem die klare Distinktion von Einheiten genauso schwerfällt wie auf der Ebene des Sujets die Bestimmung einer "Grenzfläche zwischen Wasser und Luft". Unter der Hand macht sich in Stifters Versuch, die bedrohliche Unmittelbarkeit des Apokalyptischen zu bannen, also exakt dasjenige breit, vor dem sich seine Prosa stets gefurchtet hat: eine Nähe zum Gegenstand, die keine Möglichkeit zu seiner semiotischen Beherrschung mehr zuläßt. Nennt man diesen Effekt mit Christian Begemann eine "Apokalypse des Zeichens"38, so ist Stifters Prosa ein Musterbeispiel fur Apokalyptisches, das seine Ursache im Versuch hat, die Apokalypse zu bannen.
38
Christian Begemann: Die Welt der Zeichen - Stifter-Lektüren, Stuttgart 1995, 56.
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Michael Pauen ApOKALYPTIKER, UTOPISTEN UND DIE PROPHETEN DES PESSIMISMUS
Geschichtsphilosophie und Ästhetizismus um die Jahrhundertwende Was uns hier in seiner stümperhaften und dann rachsüchtigen Hand hat: hemmend, verfolgend, verblendend, die Spiime, das Fressen und Gefressenwerden, der Giftskorpion, der Würgeengel, der Zufalls-, Unfall-, Todesdämon, die Heimatlosigkeit alles Sinnvollen, das dicke, banale, kaum zu durchschlagende Trennungsgebirge vor aller Vorsehung, der Zauberer des ,frommen' Panlogismus - das alles kann nicht dasselbe Prinzip sein, das einst Gericht halten will. [... ] Aber das Ziel dieses Kampfes ist allerdings, daß der Wegnahme der physischen Welt dereinst mit reingewordenen Seelen, mit dem endlich gefundenen Ueberhaupt der Seelen, mit dem unzerrissenen parakletischen Genius des Innersten, des Ingesindes, mit dem Wort aus dem Wesen, mit dem Stichwort jenes heiligen Geistes begegnet werde, der an sich schon die Natur, diesen Schutthaufen des Irrtums, so völlig verschwinden lassen möchte, daß man rur die Bösen wie fur Satan nicht einmal einen Leichenstein, geschweige denn eine Hölle brauchte. [... ] Jedoch damit das seelische Leben auch über die Vernichtung der Welt hinausschwinge, dazu muß es im tiefsten Sinn ,fertig' geworden sein und seine Taue mit Glück um die Pfosten der jenseitigen Landungsstelle geworfen haben, soll nicht [... ] das Ziel verfehlt werden, auf das es bei der Organisierung des Erdenlebens vor allem ankommt: unser Haupt, das ewige Leben, [... ] die Restitutio in integrum aus dem Labyrinth der Welt. 1
Könnte man das Böse durch den Donner bloßer Worte in die Flucht schlagen, dann wäre Ernst Bloch mit dieser Philippika aus dem Schlußkapitel von Geist der Utopie wohl der endgültige Triumph über Unheil und Leid gelungen, und wir kämen heute bereits in den Genuß des ewigen Lebens. So aber bleibt es bei einem bloßen Programm, einem Programm allerdings, das an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig läßt: Die bestehende Welt ist von Grund auf schlecht, und so muß sie vollständig zerstört werden, bevor etwas Neues wirklich werden kann. Bloch spart auch hier nicht mit prophetischem Pathos: An die Stelle des schlechten Bestehenden wird ein paradiesisches Reich der Erlösung treten. Blochs erstes Hauptwerk stellt einen geradezu paradigmatischen Fall jener apokalyptischen Denkfigur dar, die zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende in der Philosophie und in den Künsten erneut an Bedeutung gewinnt. A1t01<::aA'\)\jIt~ heißt bekanntlich lediglich ,Offenbarung', doch wie in der wohl berühmtesten Schrift der Gattung, der Johannesapokalypse aus dem Neuen Testament, bezieht sich die Offenbarung auf einen fundamentalen Umbruch des Bestehenden: Die alte Welt muß zerstört werden, um das paradiesische ,Neue Jerusalem' entstehen zu lassen. Es ist daher kein Zufall, wenn wir heute Ernst Bloch: Geist der Utopie (1923), Berlin 21923, 360-361.
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unter einer Apokalypse eher den Umbruch selbst als die Offenbarung verstehen, die diesen Umbruch verkündet. Die Verfechter des modernen apokalyptischen Denkens wenden sich vor allem gegen die traditionellen geschichtsphilosophischen Entwürfe, wie sie in Aufklärung und Idealismus u.a. von Kant, Schelling, Fichte urid Hegel entwickelt worden waren. Kennzeichnend rur diesen Gegensatz zwischen der traditionellen Geschichtsphilosophie und der modernen Apokalyptik sind vor allem drei Punkte: - Betrachten Kant und seine Nachfolger die Geschichte als einen k 0 n ti nuierlichen Prozeß, so konzentriert sich das apokalyptische Denken auf den einen, alles entscheidenden Um b r u c h. Dabei wird das schlechte Bestehende vollständig zerstört und an seine Stelle tritt das schlechthin Neue, Andere. - Der zweite wichtige Unterschied betrifft das W iss e n von diesen Ereignissen: Während die traditionelle Geschichtsphilosophie davon ausgeht, daß ihre Erkenntnisse über den historischen Verlauf rational begründbar und allgemein zugänglich seien, berufen sich die modernen Apokalyptiker auf ein höheres Wissen, eben die, Offenbarung'. Diese ist häufig einer Elite vorbehalten und allenfalls in Ansätzen rational begründbar. Offen bleibt dabei in der Regel auch, wie der Zustand der Erlösung nach dem apokalyptischen Umbruch aussehen wird. - Wichtig ist drittens schließlich ein Per s p e k t i vw e c h sei, der die modernen ,Apokalyptiker' und Pessimisten von der traditionellen Geschichtsphilosophie trennt: Kant und seine Nachfolger argumentieren nämlich in der Regel aus der Perspektive des Ganzen. Der Fortschritt, den si~ prognostizieren, ist stets ein Fortschritt der menschlichen Gattung, der rur das einzelne Individuum mitunter katastrophale Folgen haben kann. Im Gegensatz dazu machen sich die modernen ,Apokalyptiker' die Perspektive des einzelnen zu eigen: Untergehen muß die bisherige Welt in den apokalyptischen Feuersbrünsten vor allem deshalb, weil sie den Bedürfnissen und Forderungen der individuellen Subjekte nicht gerecht wird. Dieser Perspektivwechsel gibt gleichzeitig Aufschluß auch über die Gründe rur die große Verbreitung solcher Untergangsvisionen, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den Fortschrittsoptimismus aufklärerischen Typs in Frage stellen. Die bislang geläufige Erklärung rur diesen Wandel lautet, daß es sich hier um die Reaktion auf eine Krise handle: Wenn apokalyptische Visionen an die Stelle der Fortschrittshoffungen treten, so liege dies daran, daß die Hoffnungen von Kant, Schelling, Fichte und Hegel an den Krisen und Katastrophen der historischen Realität zerbrochen seien. So liegt in den Augen von Walter Schulz "das Wesentliche der Umwandlung, die sich nach Hegels Tod im
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späteren 19. Jahrhundert vollzieht, [ ... ] darin, daß das Vertrauen auf die Vernünftigkeit der Welt hinfällig wird"2. "Krise", so heißt es bei Thomas Nipperdey, ist "ein Faktum; die Wirkung ist nicht überraschend: Die in und mit der Kultur lebenden Bürger verlieren ihr älteres, in sich ruhendes, sozusagen selbstverständliches Bewußtsein vom Bestand und Wert der Kultur und ihrer eigenen Rolle darin, sie werden - verunsichert"3. Selbst in Klaus Vondungs maßgeblicher Arbeit Die Apokalypse in Deutschland wird ein sehr enger Bezug zwischen Krisenerfahrung und apokalyptischem Denken hergestellt4 : "Auslöser fiir apokalyptische Visionen' sind in der Regel Erfahrungen einer ,Krise': Erfahrungen politischer und sozialer Unterdrückung, existentieller und spiritueller Gefährdung, Erfahrungen der Sinnlosigkeit des Lebens und der Geschichte. " Nun ist es völlig unstrittig, daß in den pessimistischen und apokalyptischen Szenarien Krisen verarbeitet werden. Es wäre abwegig, wollte man ernsthaft daran zweifeln, daß in den Theorien von Schopenhauer, Hartmann, Klages und Bloch negative historische Erfahrungen zum Ausdruck kommen. Für die skizzierte Hypothese ist damit allein jedoch noch nichts gewonnen. Eine Erklärung fiir die Entwicklung vom Optimismus der traditionellen Geschichtsphilosophie zu Pessimismus und Apokalyptik würde sich aus dieser Beobachtung schließlich erst dann ergeben, wenn man zeigen könnte, daß es solche oder ähnliche Erfahrungen in der Aufklärung nicht oder zumindest nicht im gleichen Maße gab. Eine Erklärung würde also voraussetzen, daß sich die historische Situation merklich zugespitzt hat. Hierfiir, so werde ich im folgenden deutlich machen, gibt es jedoch keinerlei Belege - im Gegenteil: Nach allen verfiigbaren Maßstäben kommt es fur die große Mehrheit der Menschen in dem Jahrhundert nach Kant zu einer entscheidenden Verbesserung der Lebensumstände. Ich möchte daher im folgenden zeigen, daß es nicht ein realer historischer Niedergang ist, der erklärt, warum die Apokalyptiker und Pessimisten zu einer ganz anderen Beurteilung der bestehenden Welt gelangen als ihre optimistischen Vorgänger in Aufklärung und Idealismus. Ausschlaggebend ist vielmehr, daß erst aufgrund des genannten Perspektivwechsels die negativen Erfahrungen des einzelnen Subjekts berücksichtigt werden können; Erfahrungen, die die Aufklärer zwar kannten, jedoch als unerheblich marginalisiert hatten. Nicht das Leiden hat sich vermehrt; vermehrt hat sich vielmehr die Be-
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Walter Schulz: Das Problem der Angst in der neue ren Philosophie, in: Aspekte der Angst, hg. von Hoimar v. Ditfurth, Stuttgart 1965,13-27, hier: 17. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte I: 1866-1918 -Arbeitswelt und Biirgergeist, München 21991, 824f Klaus Vondung: Die Apokalypse i,1 Deutschland, München 1988, 446f Vondung weist jedoch ausdrücklich darauf hin, daß zwischen Erfahrung und Apokalyptik kein mechanischer Zusammenhang bestehe. Vgl. dazu ebd., 246.
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reitschaft, das Leiden ernstzunehmen, ja den Wert des Ganzen an den Erfahrungen des Individuums zu messen. Meine zentrale These lautet daher, daß Pessimismus und Apokalyptik nicht durch eine Veränderung oder Zuspitzung der historischen Realität selbst entstehen, sondern vielmehr durch eine veränderte In terpre ta tion J einen Wechsel also in der Deutung dieser Realität. Um diese These und den von mir behaupteten Perspektivwechsel zu belegen, werde ich im ersten Teil meiner Ausfuhrungen zunächst eine kurze Skizze der kantischen und idealistischen Geschichtsphilosophie geben, um danach die Entwicklung pessimistischer und apokalyptischer Vorstellungen im neunzehnten Jahrhundert zu verfolgen. Im zweiten Teil stelle ich zwei Autoren vor, die meiner Meinung nach repräsentativ sind fur das apokalyptische Denken im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts, nämlich Ludwig Klages und Ernst Bloch. Zum Abschluß gehe ich dann kurz auf die Ursachen des Perspektivwechsels ein.
I. Geschichtliche Hintergründe A. Traditionelle Geschichtsphilosophie Vom apokalyptischen Denken unterscheidet sich die optimistische Geschichtsphilosophie der Aufklärung zum einen dadurch, daß sie Geschichte als einen kontinuierlichen Prozeß betrachtet; ihr Vorbild ist dabei, wie Karl LöwithS gezeigt hat, die christliche Idee der Heilsgeschichte. Der zweite wichtige Unterschied betrifft die Perspektive, aus der hier argumentiert wird: Anders als die Apokalyptiker nehmen die Aufklärer die Perspektive des Ganzen ein. Sie argumentieren also nicht aus der Sicht des Individuums, sondern aus der der menschlichen Gattung, letztlich aus der des weisen und liebenden Gottes, der das Leid nur zuläßt, weil er damit einen höheren Zweck verfolgt. Die negativen Erfahrungen werden damit zu bloßen Randerscheinungen eines wohlgeordneten Ganzen, Leibniz spricht von einem "Beinah-Nichts". Die Existenz eines weisen Schöpfers schafftjedoch nicht nur die Möglichkeit zu einer solchen Sinnstiftung, vielmehr übt sie einen regelrechten Z w a n g in dieser Richtung aus: Wer bestreitet, daß Leid und Unglück einen höheren Sinn besitzen, der zweifelt damit gleichzeitig an der Güte und Weisheit Gottes. Diese Annahmen finden sich nicht nur bei Leibniz und Wolff, sie gelten auch noch fur Kant und die Idealisten, bei denen die Gottesvorstellung in
Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen - Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1953 (zuerst Chicago 1949). Zur Kritik dieser Vorstellung siehe: Hans Blumenberg: ,Siikularisation' - Kritik einer Kategorie historischer Illegitimität, in: Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt - Verhandlungen des Siebten Deutschen Kongresses ßir Philosophie, hg. von Helmut Kuhn und Franz Wiedman, München 1964,240-265.
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säkularisierter Form, etwa als die Natur oder das Absolute 6 , auftaucht. So ist Kant letztlich überzeugt, daß der historische Prozeß einen kontinuierlichen Fortschritt zum Besseren bringen werde. 7 Maßstab ist dabei jedoch nicht etwa die Situation des einzelnen, entscheidend sind vielmehr die Interessen und Ziele der Gattung, deren Entwicklung die Natur im Sinne hat. 8 Kant betont ausdrücklich, daß der Fortschritt dem einzelnen Individuum keineswegs ein besseres Leben ermöglichen werde - im Gegenteil. Zum einen erfordert die Entwicklung immer wieder die Aufopferung individueller Interessen beispielsweise in Kriegen oder in innergesellschaftlichen Konflikten, von denen allererst die Dynamik zum weiteren Fortschritt der Gattung ausgeht. Zum zweiten betont Kant, daß mögliche Verbesserungen mehr als aufgewogen würden durch die gesteigerte Empfanglichkeit des einzelnen rur die verbleibenden Konflikte, aber auch durch die gesteigerten Ansprüche, die diese Entwicklung mit sich bringe. Der Fortschritt, so folgert Kant, werde also eher eine Abnahme der individuellen Glückseligkeit mit sich bringen9 : Die Plagen aber wachsen im Fortschritte derselben [der Kultur] [... ] aufbeiden Seiten [in der gesellschaftlichen Unter- und in der Oberschicht] gleich mächtig, auf der einen durch fremde Gewaltthätigkeit, auf der andern durch innere Ungenügsarnkeit; aber das glänzende Elend ist doch mit der Entwickelung der Naturanlagen in der Menschengattung verbunden, und der Zweck der Natur selbst, wenn es gleich nicht unser Zweck ist, wird doch hiebei erreicht.
Die Dominanz der Perspektive des Ganzen läßt sich ebenso durch Äußerungen Popes, Rousseaus oder Hegels illustrieren. lo Fichte spricht davon, daß das "vernünftige Leben" darin bestehe, "daß die Person in der Gattung sich vergesse, ihr Leben an das Leben des Ganzen setze, und es ihm aufopfere"lt, und bei Schelling heißt es 12 : "Alle meine Handlungen gehen als auf ihren letzten
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Vgl. hierzu Rolf-Peter Horstmann: Die Grenzen der Vernunft - Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des Deutschen Idealismus, Frankfurt a. M. 1991,221-244. Siehe hierzu die bekannte Stelle aus dem Streit der Fakultäten: "Es ist also ein nicht bloß gutgemeinter und in praktischer Absicht empfehlungswürdiger, sondern allen Ungläubigen zum Trotz auch für die strengste Theorie haltbarer Satz: daß das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei, und so fernerhin fortgehen werde." Immanuel Kant: Gesammelte Schriften VII, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902ff., 88 [im folgenden: AA). Vgl. zu den einzelnen Varianten der Kantischen Position: Pauline Kleingeld: Fortschritt und Vemul'!ft - Zur Geschichtsphilosophie Kants, Würzburg 2001. Vgl. zur Bedeutung der Gattungsperspektive in der aufklärerischen Geschichtsphilosophie allgemein Johannes Rohbeck: Die Fortschrittstheorie der At!fklän/l1g - Fral1zösische lind englische Geschichtsphilosophie in der zUleiten Hälfte des tB.Jahrhunderts, Frankfurt a. M. und NewYork 1987. Kant: AA V, 432. Vgl. hierzu Michael Pauen: Pessimismus - Geschichtsphilosophie, Metaphysik und Moderne von Nietzsche bis Spengler, Berlin 1997, 30-84. Johann Gottlieb Fichte: Die Gnmdziige des gegenwiirtigen Zeitalters (1804), hg. von Fritz Medicus, Hamburg 21922, 41. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus, in: ders., Ausgewählte Schr[ften I, Frankfurt 1985, 664.
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Zweck auf etwas, das nicht durch das Individuum allein, sondern nur durch die ganze Gattung realisirbar ist; wenigstens sollen alle meine Handlungen darauf gehen. " Festzuhalten bleibt daher, daß die Fortschrittsvorstellungen in Aufklärung und Idealismus eben gerade nicht gleichzusetzen sind mit heutigen Ansichten über eine Steigerung der individuellen Wohlfahrt. Den Aufklärern und Idealisten geht es um die Entwicklung des Ganzen, und dieser Entwicklung können die Interessen des Individuums zum Opfer fallen, ja es kann sein, daß auch das Ergebnis dieser Entwicklung vom Standpunkt des nach Glück und Bedürfnisbefriedigung suchenden Individuums einen eindeutigen Rückschritt darstellt. B. 19 . Jahrhundert Kant selbst war sich über die Probleme dieser Auffassung durchaus im klaren 13 ; auch einige seiner Zeitgenossen wie Herder oder Mendelssohn bemerkten, daß diese Konzeption den Interessen des einzelnen Subjekts nicht gerecht wird. 14 Eine grundsätzliche Kritik dieser Auffassung findet sich jedoch erst bei Schopenhauer, der ganz entschieden die Partei des einzelnen ergreift. Systematisch ist dabei von Bedeutung, daß rur Schopenhauer der blinde und ignorante "Wille" an die Stelle des weisen und liebenden Gottes der metaphysischen Tradition tritt: Damit verliert Schopenhauer die Möglichkeit, dem Leid einen höheren Sinn zuzuweisen; gleichzeitig befreit er sich aber auch von dem Zwang, die negativen Erfahrungen als bloße Randerscheinungen in einem von Gott insgesamt wohlgeordneten Ganzen abzuqualifizieren. Schopenhauer weist daher immer wieder auf die fatalen Konsequenzen hin, die sich aus der faktischen Hegemonie der Gattungsinteressen übe~ die Be-
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"Befremdend bleibt es immer hiebei: daß die ältern Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäfte zu treiben, um nämlich diesen eine Stufe zu bereiten, von der diese das Bauwerk, welches die Natur zur Absicht hat, höher bringen könnten; und daß doch nur die spätesten das Glück haben sollen, in dem Gebäude zu wohnen, woran eine lange Reihe ihrer Vorfahren (zwar freilich ohne ihre Absicht) gearbeitet hatten, ohne doch selbst an dem Glück, das sie vorbereiteten, Antheil nehmen zu können." Kant, AA VIII, 20. Herder etwa spricht angesichts der Kantischen Geschichtsphilosophie von einem "kindischen Plan, daß der Mensch fur die Gattung u. die vollkommenste Staatsmaschiene am Ende der Zeiten erschaffen sei". Johann Gottfried Herder: Briife - Fünfter Band, September 1783 -August 1788, Weimar 1979, 106 (an Hamann, 14.11. 1785). Eine ähnliche Kritik an einem Optimismus, der auf Kosten der Interessen des einzelnen geht, findet sich bei Moses Mendelssohn, der, so Norbert Hinske, bereits erkannt hat, "daß der Lösungsvorschlag Kants das Individuum gewollt oder ungewollt zum bloßen Mittel des gesellschaftlichen Fortschritts degradiert." Norbert Hinske: Das stillschweigende Gespräch - Prinzipien der Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Mendelssohn und Kant, in: Michael Albrecht: Moses Mendelssohn: 1729-1786. Das Lebenswerk eines jiidischen Denkers der AtdklärHng, Weinheim 1986, 35-156, hier 155. In Mendelssohns Augen ist die "Vervollkommnung des Menschen, des Individui" die "Absicht der Natur". Konsequenterweise setzt Mendelssohn an die Stelle des linearen Fortschritts eine zyklische Geschichtsvorstellung. Vgl. hierzu ebd., 154.
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dürfnisse des Individuums ergeben 15 : "In der That fuhrt der Genius der Gattung durchgängig Krieg mit den schützenden Genien der Individuen, ist ihr Verfolger und Feind, stets bereit das persönliche Glück schonungslos zu zerstören, um seine Zwecke durchzusetzen." Schon hier läßt sich die behauptete Perspektivverschiebung erkennen. Weit entfernt davon, das Leid zu relativieren oder gar zu rechtfertigen, billigt Schopenhauer ihm grundsätzliche Bedeutung zu: Eine Welt, in der solches Elend möglich ist, ist nicht die ,beste', sondern die ,schlechteste aller möglichen Welten'16, ja eine Welt, die im "Grund nicht seyn sollte". Entscheidend fur dieses pessimistische Urteil ist - wie gesagt - nicht etwa eine Zuspitzung der historischen Situation, vielmehr verschafft sich Schopenhauer durch seinen Perspektivwechsel allererst die Möglichkeit, das auch zuvor schon bestehende Leid zu würdigen. Schopenhauer vertröstet das leidende Subjekt also nicht mehr mit den höheren Zwecken des Ganzen, sondern nimmt dessen konkrete Erfahrungen in ihrer ganzen Härte und Sinnlosigkeit ernst17 : Daneben nun betrachte man, was dem Menschen, an Befriedigungen jeder Art, in der Regel, wird: es ist meistens nicht mehr, als die, mit unablässiger Mühe und steter Sorge, im Kampf mit der N oth, täglich errungene, kärgliche Erhaltung dieses Daseyns selbst, den Tod im Prospekt. - Alles im Leben giebt kund, daß das irdische Glück bestimmt ist, vereitelt oder als eine Illusion erkannt zu werden.
An die Stelle des aufklärerischen Optimismus tritt bei Schopenhauer damit ein tiefer Pessimismus. Dennoch gibt der Autor die Möglichkeit einer Veränderung des Bestehenden nicht grundsätzlich auf, allerdings unterscheidet sich diese Veränderung tiefgreifend von den Entwicklungen, die die Aufklärer prognostiziert oder erhofft hatten. Da in deren Augen die Realität prinzipiell vernünftig war, mußten sie auch die Teleologie des historischen Prozesses in der Realität selbst suchen. Insofern lag es nahe, hier einen kontinuierlichen, zu einem vernünftigen Ende fUhrenden Prozeß zu postulieren, der sich aus den Prinzipien dieser Welt selbst ableiten ließ. Schopenhauers Pessimismus, der die Welt auf ein unvernünftiges und ignorantes Prinzip wie den ,Willen' zurückfUhrt, kann dagegen allenfalls noch auf einen Umschlag hoffen: In der ,schlechtesten aller möglichen Welten' ist eine Dynamik, die zu einer substantiellen Verbesserung fUhren würde, völlig ausgeschlossen. 18 Diese Welt muß daher überwunden werden, bevor auch nur die hypothetische Möglichkeit einer anderen, besseren Wirklichkeit denkbar wird. Beschrieben werden kann 15
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Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellul1g [im folgenden: WVV], in: ders., Werke il1 fiil1fBäl1den II, hg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1988, 647. Schopenhauer: WW II, 678. Schopenhauer: WWII, 666. Von einem prozessualen Charakter kann man hier allenfalls insofern sprechen, als der Umbruch eingeleitet wird durch die Verneinung des Willens zum Leben durch einzelne Individuen, von der man annehmen kann, daß sie sich über einen gewissen Zeitraum hinzieht.
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diese nur noch durch die Negation des Bestehenden, von dem sie sich in jeder denkbaren Hinsicht grundsätzlich unterscheidet. Schopenhauer ist sicherlich kein Apokalyptiker im engeren Sinne, dennoch schafft er mit seinem Pessimismus wesentliche Voraussetzungen fur die ,Apokalyptik' der Jahrhundertwende, mit der er überdies in der Auffassung übereinstimmt, daß eine Befreiung vom gegenwärtigen Elend nur um den Preis der Zerstörung alles Bestehenden zu haben ist. Schopenhauer, dessen 1819 erschienenes Hauptwerk erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in größerem Umfang rezipiert wird, trägt bei zu einer lebhaften Debatte über den Pessimismus, die ihren Höhepunkt im Jahrzehnt nach der Reichsgründung von 1871 erreicht. Im Verlauf dieser Debatte gewinnen auch apokalyptische Vorstellungen an Bedeutung. Dies gilt etwa fiir Philipp Mainländers Philosophie der Erlösung, und es gilt besonders fiir Eduard von Hartmann, der 1869 seine pessimistische Philosophie des Unbewussten publiziert und damit auf rege Resonanz stößt. Hartmanns Pessimismus ist ebenso wie derjenige Schopenhauers metaphysisch begründet; entscheidend ist also, daß die Welt ihren Ursprung einem negativen Prinzip verdankt - bei Hartmann ist es das "Unbewußte". Dennoch bemüht sich der Autor um eine empirische Begründung seiner Position. Die Methode, die er dabei anwendet, mag inhaltlich fragwürdig sein, injedem Falle bildet sie einen guten Beleg fur den hier behaupteten Perspektivwechsel. Maßstab ist nämlich auch fiir Hartmann die individuelle Erfahrung, die er in sogenannten ,Glücksbilanzen ' zu erfassen sucht. Unnötig zu sagen, daß diese Bilanzen fast durchweg negativ ausfallen. Hartmann sieht hierin keineswegs ein Charakteristikum seiner eigenen Gegenwart; diese wird von ihm vielmehr vergleichsweise positiv beurteilt. In seinen Augen ist es grundsätzlich unvermeidlich, daß das Leid die positiven Erfahrungen bei weitem überwiegt. Eine Erlösung von diesem Leid gibt es daher nur noch um den Preis einer Vernichtung des Bestehenden. Dabei gipfelt seine an skurrilen Einfällen nicht eben arme Philosophie in der bizarren Vorstellung, daß die Menschheit früher oder später die Wertlosigkeit des Daseins einsehen und daher den Entschluß zu ihrer eigenen Vernichtung fassen werde. Auch hier wird man noch nicht von apokalyptischen Tendenzen im engeren Sinne sprechen können: Hartmann sieht die Vernichtung nämlich als einen graduell fortschreitenden Prozeß, an dessen Ende zudem die ersatzlose Vernichtung der gegenwärtigen Welt steht - Hartmann verzichtet also auf das bei Schopenhauer zumindest angedeutete Erlösungsszenario, wie es charakteristisch auch fiir das apokalyptische Denken ist. Auffällig an der Pessimismusdebatte der 1870er Jahre ist zudem eine unübersehbare Neigung, das diagnostizierte Grauen zu ästhetisieren. Aufschlußreich sind hier insbesondere Anthologien und populärphilosophische Schrif-
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ten, die im Verlauf dieser Debatte entstehen. Zuweilen verraten deren Titel schon einiges über die Entstehungsbedingungen dieser Diskussion. So gab es beispielsweise eine Sammlung mit dem vielversprechenden Titel Perlen der Pessimistischen Weltanschauung. Sie mußte sich die Gunst des Publikums teilen mit den Stimmen des Weltleids, einer Schrift über die Wonne des Leids und dem aus der Feder Julius Bahnsens stammenden Pessimistenhrevier. Dort heißt es 19 : Wem seine Eingebungen nicht zufließen aus einem Born, welcher in tiefinnerstem Grunde zusammensickerte aus :unzähligen Tropfen selbsterlebter Trübsal oder wer nicht schöpfte aus dem Schatze schwererkaufter Erinnerungen, der bietet Euch, im Solde des Mammon, das ekelhafte, erschlaffende Gebräu künstlicher Bitterwasser aus schmutzigen Laboratorien, statt, ohne Entgelt, magenstärkende , frische Destillate aus den natürlichen Wermuthmagazinen des Lebens, oder hält Glasperlen feil statt echter Thränen.
Derartige Einsichten waren keineswegs den Streitern aus der zweiten Reihe vorbehalten; sie finden sich in ganz ähnlicher Form beispielsweise auch bei Nietzsche, etwa im Umkreis seiner Überlegungen zum sogenannten ,Pessimismus der Stärke'20: Mit dem Wachsthum der Cultur wird dem Menschen jene pril/1itive Unterwerfungsform unter das Übel (Religion oder Moral genannt), jene ,Rechtfertigung des Übels' entbehrlich. [ ... ] Ja, es ist ein Zustand von Sicherheitsgeftihl, von Glaube an Gesetz und Berechenbarkeit möglich, wo er als Überdnifl ins Bewußtsein tritt, - wo Lust al/1 Ztifall, al/1 Ungewissen und al/1 Plötzlichen als Kitzel hervorspringt [ ... ] Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Symptom höchster Cultur - ich nenne ihn den Pessimisl/1us der Stärke. Der Mensch [ ... ] genießt das Übel pur, cru, er findet das sinnlose Übel als das interessanteste. Hat er früher einen Gott nöthig gehabt, so entzückt ihn jetzt eine Welt-Unordnung ohne Gott, eine Welt des Zufalls, in der das Furchtbare, das Zweideutige, das Verführerische zum Wesen gehört.
Vor allem in Die Gehurt der Tragödie finden sich zudem gewisse apokalyptische Tendenzen 21 , doch auch hier wird man noch nicht wirklich von ,Apokalyptik' sprechen können. Bevor ich im zweiten Teil meiner Ausfiihrungen zeige, wie sich Pessimismus und apokalyptisches Denken miteinander verbinden, möchte ich zumindest kurz auf verwandte Entwicklungen in der Literaturgeschichte verweisen. Dies gilt zum einen fiir die pessimistischen Strömungen, wie sie sich bei Flaubert, Baudelaire oder Huysmans, in Deutschland beispielsweise bei dem Verfasser der Nachtwachen von Bonaventura oder bei M. Solitaire fin-
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Pessimisten-Brevier- Von einem Geweihten [d.i.Julius Bahnsen] -Extracttlm vitae, Berlin 21881, VI. Friedrich Nietzsehe: Kritische Stt/die/1at/sgabe XII [im folgenden: KSA] , hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 21988, 466f Vgl. insbesondere den Schluß des 20. Kapitels von Die Geburt der Tragödie: "Ein Sturmwind packt alles Abgelebte, Morsche, Zerbrochne, Verkümmerte, hüllt es wirbelnd in eine rothe Staubwolke und trägt es wie ein Geier in die Lüfte. Verwirrt suchen unsere Blicke nach dem Entschwundenen: denn was sie sehen, ist wie aus einer Versenkung an's gold ne Licht gestiegen, so voll und grün, so üppig lebendig, so sehnsuchtsvoll unermesslich." Nietzsehe, KSA I, 132.
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den. Gleichzeitig werden hier Vorstellungen des ,Anderen', schlechthin ,Neuen' entwickelt; Hugo Friedrich hat dies etwa am Beispiel der Lyrik von Baudelaire und Mallarme gezeigt. 22 Diese Vorstellungen sind teilweise weit konkreter als das, was man zur gleichen Zeit in der Philosophie finden kann. Es kommt hinzu, daß vor allem um die Zeit der Jahrhundertwende eine Tendenz erkennbar wird, die von den rein ästhetischen Utopien zu Ansätzen sozialer Utopien fuhrt. An die Stelle der künstlichen Paradiese, die von Baudelaire, Huysmans oder dem frühen George entworfen werden, tritt später die Vorstellung einer realen Veränderung, bei George etwa das ,Neue Reich'. Besonders interessant ist hier zunächst Georges früher Algabal-Zyklus. Anknüpfend u.a. an Baudelaires Reve Parisien} aber auch an Huysmans A Rebours inszeniert George das utopisch Neue als reines Kunstprodukt, das geradezu provokativ der Natur entgegenstellt wird - das schlechthin Artifizielle ist hier das ,Andere'. Die künstlichen Paradiese des Algabal liegen daher unter der Erdoberfläche. Tiere, Pflanzen und Früchte sind schwarz - eine provozierende Absage an das triviale Grün der Natur, die sich fortsetzt in der willkürlichen Verfugung über Licht und Luft durch den Künstler, der ausdrücklich darauf hinweist, daß er selbst - und nicht etwa die Natur - dieses Reich geschaffen hat23 : Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme· Der garten den ich mir selber erbaut Und seiner vägelleblose schwärme Haben noch nie einen frühling geschaut. Von kohle die stämme von kohle die äste Und düstere felder am düsteren rain' Der früchte nimmer gebrochene läste Glänzen wie lava im pinien-hain.
Der Kult des Künstlichen tritt in Georges späteren Schriften in den Hintergrund, an der Vorstellung eines ,ganz Anderen', ,Neuen' hält der Autor jedoch fest. Eine Nähe zu den philosophischen Entwürfen ergibt sich vor allem daraus, daß George die zunächst ästhetisch motivierte Ausgrenzungsstrategie durch eine entschiedene, häufig sehr pessimistische Kulturkritik ergänzt: Wissenschaft, Gesellschaft und Industrie werden also nicht mehr nur deshalb abgelehnt, weil sie häßlich, sondern weil sie schlecht und kritikwürdig sind. So liest man etwa 1912 imJahrbuchfür die geistige Beweguni4 : Wenn die naturwissenschaft gerade in ihren rückhaltlosesten vertretern zu konsequenzen gelangt wie die energetik, wenn die geisteswissenschaft, nicht nur durch Hugo Friedrich: Die Stmktur der modernen Lyrik - Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigstenJahrlumderts, Hamburg 1988 (zuerst 1956). 23 Stefan George: Werke - Ausgabe in zwei Bänden I, Stuttgart 41984,47. 24 Einleitung der Herausgeber, in:Jahrbuchfiir die geistige Bewegung 3 (1912), IV. 22
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entgleisung einzelner, sondern kraft ihrer heutigen methode selbst, dahin kommt die grössten werke des geistes totzureden [ ... ] so haben wir das recht diese wissenschaft nicht nur zu verachten sondern aufs äusserste zu bekämpfen.
Gleichzeitig entwirft George unter dem Titel des Neuen Reiches den Ansatz zu einer elitären Sozialutopie. Dabei findet sich auch die fur das apokalyptische Denken charakteristische Verkoppelung von Zerstörung und Neubeginn: Das Neue Reich kann nur Wirklichkeit werden, wenn zuvor das Bestehende untergegangen ist25 : "Kein gefugter stein darf stehn I Wenn nicht der grund das ganze sinken soll." Charakteristisch fur die apokalyptische Denkfigur ist indessen nicht allein die Unbestimmtheit des ,Anderen', sondern ebenso die Bindung des Umbruchs an das Auftreten prophetischer Führer. Die Rolle dieses Propheten konnte dabei unterschiedlich besetzt werden; neben George selbst kamen hierfur unter anderem Nietzsche, aber auch ein vierzehnjähriger Gymnasiast namens Maximilian Kronberger in Frage, der aus bislang nicht vollständig geklärten Gründen das Entzücken des Meisters erregt hatte. [I.
Apokalyptische Vorstellungen in der Philosophie A. Klages
Trotz solcher Extravaganzen kommt dem Werk Georges eine gewisse Bedeutung auch fur die philosophische Diskussion zu. Besonders deutlich wird dies bei Ludwig Klages, der ursprünglich zusammen mit Wolfskehl, Schuler und George selbst dem Kreis der sogenannten ,Kosmiker' angehört hatte; ein manifestes Interesse an George ist aber auch bei Autoren wie Heidegger, Adorno oder dem frühen Lukacs bemerkbar - unbeschadet der teilweise massiven theoretischen und insbesondere politischen Differenzen. Gleichzeitig lassen sich bei diesen Autoren auch mehr oder minder deutliche apokalyptische Tendenzen beobachten. Bei Heidegger finden sie sich vor allem in den Beiträgen zur Philosophie, beim jungen Lukics in der Theorie des Romans, bei Adorno begegnet man Anklängen an derartige Vorstellungen in der Ästhetischen Theorie und in den Meditationen zur Metaphysik am Ende de,r Negativen Dialektik. In allen genannten Werken soll ein Umbruch das schlechthin Neue an die Stelle einer radikal schlechten Gegenwart stellen. Wenn ich nun in der Folge zwei andere Autoren, nämlich Ludwig Klages und Ernst Bloch, vorstellen werde, dann liegt dies nicht nur an der zentralen Rolle, die das apokalyptische Denken im Werk dieser Autoren spielt. Vielmehr eriauben die politischen Gegensätze zwischen dem späteren Marxisten
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George: Werke [Anm. 23] I, 363 (Stern des Bundes).
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Ernst Bloch und dem Konservativen Ludwig Klages eine Darstellung auch der ideologisch motivierten Nuancen des apokalyptischen Denkens. Klages' dualistische Lehre vom ,Geist als Widersacher der Seele' interpretiert die gesamte Weltgeschichte als einen Verfallsprozeß. Verantwortlich hierfur ist der, Geist', der bei Klages das vorwegnimmt, was später als ,instrumentelle Rationalität' bezeichnet wird. Erscheinungsformen des ,Geistes' sind also insbesondere die rationalen und empirischen Wissenschaften, aber auch Technik und Industrie. Den prinzipiellen Fehler des ,Geistes' sieht Klages' lebensphilosophischer Ansatz darin, daß er die ,Seele' und die Kräfte des ,Lebens' immer weiter in den Hintergrund gedrängt habe. So hätten etwa die empirischen Wissenschaften in ihrem rationalistischen Bemühen um Verallgemeinerung jeglichen Kontakt zur konkreten, individuellen Lebenswirklichkeit verloren. Deutlich kommt die zerstörerische Herrschaft des ,Geistes' auch in den von Klages schon kurz nach der Jahrhundertwende kritisierten Umweltzerstörungen zum Ausdruck. Klages gelangt daher zu einer äußerst pessimistischen Einschätzung der gegenwärtigen Situation. Dabei läßt auch er die bereits in anderen Fällen bemerkte Neigung zu einer effektvollen Inszenierung des Schrecklichen erkennen 26 : "Eine Verwüstungsorgie ohnegleichen hat die Menschheit ergriffen, die ,Zivilisation' trägt die Züge entfesselter Mordsucht, und die Fülle der Erde verdorrt vor ihrem giftigen Anhauch. So also sähen die Früchte des ,Fortschritts' aus!" Zutiefst pessimistisch ist auch Klages' Prognose der zukünftigen Entwicklung; Fortschritt ist in Klages' Augen gleichbedeutend mit einer Zunahme der Hegemonie des Geistes und daher mit einem weiter fortschreitenden Niedergang. Wenn es überhaupt noch eine Besserung geben kann, dann nicht als gradueller Prozeß, sondern allenfalls als erlösender Umbruch, an de~sen Ende eine Erneuerung des ,Lebens' stehen könnte. In diesem Falle, so prognostiziert Klages, "wäre die Fluchmacht des Geistes gebrochen, der entsetzliche Angsttraum der ,Weltgeschichte' zerränne, und es ,blühte Erwachen in Strömen des Lichts"'27. Tatsächlich finden sich bei Klages alle drei oben genannten Kriterien der apokalyptischen Denkfigur: Neben der Vorstellung von einem plötzlichen Umschlagen, das an die Stelle des gegenwärtigen Elends das ,ganz Andere' setzen soll, findet sich bei ihm zweitens die Auffassung, daß es hier auf spezifische, nicht allgemein zugängliche Erkenntnisse ankomme - auf "Wahrheiten, [ ... ] deren Inhalt und Gehalt hundertmal jenseits, richtiger diesseits aller Begreiflichkeit liegen"28. Klages läßt zudem offen, unter welchen Bedingungen sich der Umbruch vollzieht; wenig Genaues erfährt man auch darüber,
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Ludwig Klages: Mensch und Erde - Sieben Abhandlungen, Jena 31929, 20. Ludwig Klages: Vom kosmogonischen Eros, Jena 21926, 200. Ludwig Klages: Der Geist als Widersacher der Seele III/2. Leipzig 1929-32, 1418.
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wie dieses ,Andere' beschaffen sein soll. Charakterisiert wird das ,Neue' nicht durch positive Bestimmungen, sondern mehr durch seinen fundamentalen Gegensatz zum Bestehenden sowie durch die Emphase seiner Verkündigung. Klages vollzieht schließlich drittens den fur die Apokalyptiker und Pessimisten charakteristischen Perspektivwechsel. Ganz konsequent beschreibt er das Verhängnis der Gegenwart aus der Sicht des einzelnen. Während die positiven Prinzipien, also Leben und Seele, individuellen Charakter haben, ist der Geist ein schlechthin allgemeines, formales Prinzip, dem jedes individuelle Charakteristikum fehlt. Auch hie'r kommt es also zu der bereits bei Schopenhauer und Hartmann beobachteten Konfrontation des Individuums mit dem Allgemeinen, und auch hier ergreift der Autor ganz entschieden die Partei des einzelnen. 2. Bloch In den Grundzügen ähnlich, in der konkreten Ausgestaltung seiner Konzeption, in den politischen Vorstellungen, vor allem aber hinsichtlich der Zukunftserwartungen stark von Klages abweichend, argumentiert Ernst Blochs 1918 erschienener Geist der Utopie. Das Werk sollte übrigens ursprünglich Musik und Apokalypse heißen, und in der Tat handelt es sich hier um ein besonders eindeutiges Beispiel apokalyptischen Denkens. Fast alle Momente, die bislang als charakteristisch rur diese Denkfigur bezeichnet wurden, lassen sich in dieser Schrift beobachten. Gleichzeitig bekennt sich Bloch auch mit dem ihm eigenen Pathos zu dieser Denkfigu~9: "Die Apokalypse ist das Apriori aller Politik und Kultur, die sich lohnt, so zu heißen. Nur dieser denkende Wunschtraum schafft Wirkliches, tief in sich hineinhörend, bis der Blick gelungen ist. " Erkennbar ist die Affinität des jungen Bloch zum apokalyptischen Denken zunächst an seinem pessimistischen Geschichtsbegriff Zwar bemüht er sich um einen gewissen Abstand zu den Verfallsvorstellungen konservativer Autoren, dennoch betrachtet auch er die Gegenwart als einen Tiefpunkt der historischen Entwicklung, ja als die Zeit der "größten Verdunklung, [ ... ] die jemals in der Geschichte vorkam "30. Bloch verleiht dieser Behauptung Nachdruck durch eine rigide Kritik an den zeitgenössischen ökonomischen und sozialen Verhältnissen, aber auch an den empirischen Wissenschaften. So behauptet er, "daß die einzelwissenschaftliche Vernunft zu einem baren Schematismus, Reflexivismus verdorren muß, der sich sein völlig alogisch gewordenes Gegenüber nur noch in Rechnungsansätzen, in mehr oder minder ökonomischen Modellen zurechtlegt, ohne Kraft und Ehrgeiz, die Realität in ihrem
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Ernst Bloch: Geist der Utopie, München und Leipzig 1918, 341. Bloch: Geist der Utopie (1923) [Anm. 1], 212.
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alogischen Grauen, in der Totalität ihrer eingetretenen Öde selbst zu treffen "31. Bloch tritt hier noch auf in der Rolle eines Propheten, und sein heiliger Zorn richtet sich nicht allein gegen Wirtschaft und Staat, sondern gleich auch gegen die Materie selbst. Diese, so behauptet der spätere Matetialist im Anschluß an die Gnostiker, sei das Machwerk eines bösartigen und dummen Satans, der menschliche Körper gar ein "trüber Irrtum der Räume, der Materie und des bloß äußeren physischen Lichts"; es gelte folglich, diesen Irrtum "abzuschütteln" 32. Doch wenn die gesamte äußere Wirklichkeit unter dem Diktat jener finsteren Gewalten steht, dann kann die Rettung nur von innen, also aus dem Subjekt selbst kommen, und so stellt Geist der Utopie denn auch die Selbstvergewisserung des Subjekts in den Mittelpunkt. Schon in seiner frühen Schrift über Nietzsche von 1906 hatte der junge Bloch "von einem durch genaue Erforschung und Vertiefung des Selbst ermöglichten und eroberten Standpunkt der vollkommenen Autonomie"33 gesprochen und damit eine Vorstellung entwickelt, die noch sein erstes Hauptwerk bestimmt. Dabei geht es nicht etwa um einen resignierenden Rückzug in die Innerlichkeit; die Selbstvergewisserung soll vielmehr nach außen wirken und damit jenen apokalyptischen Umbruch initiieren, in dem Geist der Utopie gipfelt. Die Radikalität der Erwartungen des jungen Bloch, der hier noch ganz und gar nicht als Materialist argumentiere 4 , zeigt sich daran, daß es nicht allein um eine Revolution der gesellschaftlichen oder ökonomischen Strukturen geht. Blochs Absichten zielen weit darüber hinaus: Weil die Materie selbst schlecht ist, setzt eine Erneuerung die Zerstörung der gesamten physischen Wirklichkeit voraus. Bloch läßt es sich nicht nehmen, diese Vernichtung mit gehörigem Feuerzauber in Szene zu setzen 35 : "In Explosion fliegt auf das Draußen, in den Weg Gestelltes, Satan der Todesdämon, das krustenhafte Ritardando der Welt, alles, was nicht von uns, von dem vielen Einzelnen, sich Erhoffenden, von unserer himmlischen Herrlichkeit ist oder sie gar hindert. " Offensichtlich ist, daß Bloch sich von jener ästhetischen Faszination leiten läßt, die mitverantwortlich ist ftir die Anziehungskraft der ,Apokalyptik'. In jedem Falle sind auch bei Bloch die zentralen Kennzeichen dieser Denkfigur zu beobachten. Dies gilt erstens rur die Vorstellung eines plötzlichen, radikalen Umbruchs, der darüber entscheidet, ob die Welt "in einem absoluten Umsonst" versinkt oder zum "absoluten Überhaupt", also in den von Bloch pro-
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Ebd., 241. Bloch: Geist der Utopie (1918) [Anm. 29], 425. Ernst Bloch: Über das Problem Nietzsches (1906), in: Bloch Almanach 3 (1983), 76-80, hier 76. Vgl. zur Entwicklung Blochs in dieser Frage Anton F. Christen: Ernst Blochs Metaphysik der Materie, Bann 1979. Geist der Utopie (1923) [Anm. 1], 363.
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pagierten utopischen Zustand fiihrt. 36 Zweitens findet sich auch bei Bloch die Ansicht, daß das entscheidende Wissen nicht aus einer rational zu begründenden Geschichtsteleologie abgeleitet werden könne. Entscheidend sei neben der ästhetisch vermittelten Selbsterkenntnis des Subjekts das Wirken auserwählter Führergestalten wie jenes bereits erwähnten Propheten, der "nicht diskutiert, sondern aus der Fülle einsamster Allheit"37 seine Einsichten offenbart - man wird Bloch kein Unrecht tun, wenn man hierin ein Selbstporträt sieht. Auch Geist der Utopie läßt schließlich im wesentlichen offen, wie denn der utopische Zustand aussehen wird. Dies liegt nicht etwa an mangelnder Phantasie des Autors. Wichtig ist hier vielmehr der Subjektivismus des Werkes, mithin das dritte zentrale Kennzeichen des apokalyptischen Denkens. Bloch fordert nämlich eine weitestgehende Orientierung an den Bedürfnissen, an den Wünschen und den Vorstellungen der Subjekte38 : "Denn daß ich Ich bin, ist heilig und sowohl das Mittel der Hilfe wie der eigentliche Spiegel des Reichtums im Wir." Der utopische Zustand jenseits des Umbruchs muß daher in Blochs Augen offen bleiben, schließlich würde jede Vorgabe den Spielraum der Subjekte einschränken - auch dann, wenn diese Vorgabe durch den Autor selbst gemacht würde. Vor allem in diesem Punkt unterscheidet sich die Blochsche Utopiekonzeption konstitutiv von den Ansätzen Platons, Morus' oder Campanellas, die jeweils eine detaillierte und Veränderungen gegenüber weitgehend abgeschlossene Konzeption des utopischen Zustandes entwickelt hatten. 39 Es ist daher nur konsequent, daß Blochs Werk mit einer wahren ,Apotheose des Subjekts' endet. Geist der Utopie stellt damit das wohl eindeutigste Beispiel fur jenen Perspektivwechsel dar, der Pessimismus und moderne ,Apokalyptik' von der traditionellen Metaphysik trennt: Hatte sich diese allein an der Situation der Gattung orientiert und dabei das Leid und das Elend des Subjekts bagatellisiert, so wird nun umgekehrt das Subjekt zum Maßstab nicht nur der Beurteilung, sondern auch der Veränderung der Wirklichkeit.
III. Gründe und Konsequenzen des Perspektivwechsels Die Tatsache, daß sich ein solcher Wechsel von der Perspektive des Ganzen zur Perspektive des Subjekts vollzieht, scheint also schwer zu bestreiten. Fraglich ist allerdings, warum es zu diesem Perspektivwechsel kommt. Ich möch-
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Ebd., 357( Ebd., 270. Bloch: Geist der Utopie (1918) [Anm. 29], 358. Im Gegensatz zu einer gerade in der jüngeren Vergangenheit des öfteren geäußerten Behauptung vom totalitären Charakter >des< utopischen Denkens ist Bloch allerdings keineswegs der einzige Vertreter eines solchen offenen Utopiekonzepts. Vgl. hierzu Richard Saage: Innenansichten Utopias - Wirkungen, Entwürfe und Chancen des utopischen Denkens, Berlin 1999.
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te daher zum Abschluß nach den Gründen dieser Entwicklung und damit auch nach den Gründen fur die Verbreitung des apokalyptischen Denkens selbst fragen. Außerdem werde ich zumindest kurz die Aktualität dieses Denkens thematisieren. Wie eingangs erwähnt, wende ich mich damit gegen die in der Forschung immer noch weit verbreitete Vorstellung, die Verdrängung des aufklärerischen Optimismus durch Pessimismus und ,Apokalyptik' ließen sich aus einer krisenhaften Zuspitzung der realen historischen Situation erklären. Schon bei oberflächlicher Betrachtung zeigt sich, daß die Zeit von der Reichsgründung bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, die eine besondere Rolle fur diese Entwicklung spielt, im historischen Längsschnitt nicht als Krisenepoche aufgefaßt werden kann: Gerade im Vergleich mit der historischen Situation der Aufklärer und Idealisten, die unter anderem den Siebenjährigen Krieg, die Amerikanische und die Französische Revolution und schließlich noch die Revolutionskriege miterleben mußten, erscheint die Gründerzeit als eine Periode ökonomischer und sozialer Stabilität, in der gleichzeitig viele der von den Aufklärern nur postulierten rechtlichen und wissenschaftlich-technischen Fortschritte zur Realität wurden. Auch von einer intellektuellen oder normativen Verunsicherung kann nicht die Rede sein. Aufschlußreich sind hierfur insbesondere die 1899 und 1900 anläßlich der Jahrhundertwende erschienenen Artikel, bemühen sie sich doch, eine Art von Fazit aus der Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts zu ziehen. Von besonderem Interesse ist dabei ein Aufsatz aus der Vossischen Zeitung, der einen ausdrücklichen Vergleich zwischen dem 19. Jahrhundert und der Zeit der Aufklärung herstellt40 : Die Güter der Aufklärung, der Menschenliebe und Duldung kamen [in der Zeit der Aufklärung] einem Kreise von satten Menschen zugute. In welchem dumpfen Drucke, in welchem Mangel für Magen, Herz und Geist die ungeheuere Menge ihr Dasein zubrachte, sah man nicht. [ ... ] Hier schafft das neunzehnte Jahrhundert, das wir heute begraben, einen Wandel. [ ... ] Unter den vielen Namen, die man dem neunzehnten Jahrhundert beilegen könnte, scheint uns einstweilen der am zweckmäßigsten, daß man von dem sozialen Jahrhundert spricht.
Tatsächlich ergibt sich der Unterschied zwischen dem Optimismus von Kant und seinen Nachfolgern und dem apokalyptischen Pessimismus von Bloch, Hartmann oder Klages weniger aus der direkten Erfahrung der Wirklichkeit als vielmehr aus ihrer vermittelten Deutung. Doch warum sollte es angesichts positiver Erfahrungen und eines weitverbreiteten Optimismus zu einem solch tiefgreifenden Wandel der Deutung kommen? Nennen lassen sich hier vor allem zwei Momente. Wie schon erwähnt, waren der Glaube an die weise Vorsehung und den übergreifenden
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Vossische Zeitung No. 612 vom 31.12.1899, zit. n. Michael Salewski: ,Netljahr 1900' - Die Säkularwende in zeitgenössischer Sicht, in: Archivßir Kulturgeschichte 53 (1971), 335-381, hier: 366.
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Sinn des historischen Prozesses konstitutiv ftir den aufklärerischen Optimismus. Einer Infragestellung durch historische Fakten hatten die Theoretiker mit einer bemerkenswerten Weitsicht vorgebeugt: In den Theorien von Leibniz, Wolff, Kant und Hegelließen sich grundsätzlich alle Zwischenfälle und Katastrophen als Zeugnis einer höheren Weisheit deuten. Die Perspektive des Ganzen erlaubte stets die Rechtfertigung eines konkreten Übels durch den Rückgriff auf einen übergeordneten Zweck. Auch Erdbeben, so hatte bereits Wolffbemerkt, haben ihren guten Sinn: Wenn Gott sie nicht zu Strafzwecken benötigt, dann sind sie eben "das vornehmste Mittel, welches die Natur braucht, den Zustand der Erden zu verändern"41. Hinter dieser zum Teil recht phantasievollen Interpretation der göttlichen Absichten stand nicht zuletzt die - z.B. von Wolff ganz ausdrücklich artikulierte - Überzeugung, die Qualität einer Theorie werde an ihrer Fähigkeit sichtbar, den vernünftigen Sinn des Weltprozesses zu explizieren. 42 Eine grundsätzliche Kritik an der göttlichen Schöpfung käme unter diesen Voraussetzungen dem Eingeständnis gleich, als Theorie versagt zu haben. Schon aus diesem Grund war der aufklärerische Optimismus durch den Verweis auf konkrete historische Ereignisse gar nicht in Frage zu stellen. Um so mehr war dieser Ansatz jedoch durch Zweifel an den Grundlagen dieser Deutung bedroht, vor allem also durch Zweifel an der Weisheit des Schöpfergottes oder doch zumindest an dem Schluß von der Weisheit Gottes auf die Qualitäten seiner Schöpfung - Zweifel, die mit zunehmender Aufklärung und Säkularisierung immer massiver wurden. Neben dem Säkularisationsprozeß dürften zweitens aber auch tiefgreifende soziale Veränderungen eine Rolle gespielt haben, die in der Soziologie in der Regel als Übergang von einer stratifizierten zu einer vergleichsweise offenen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft beschrieben werden. 43 Dieser Prozeß erschwert die Erfahrung der Gattung bzw. der Gesellschaft als eines ,Ganzen'. Schwieriger wird es damit auch, die Perspektive einzunehmen, aus der Kant und seine Nachfolger argumentiert hatten. In den traditionellen Gesellschaften wurde dieses Ganze durch die geistlichen und weltlichen Herrscher repräsentiert, und jedem einzelnen kam dabei eine relativ genau bestimmte Rolle innerhalb einer vergleichsweise übersichtlichen gesellschaftlichen Hierarchie zu. Der Modernisierungsprozeß, wie er sich im Deutschland der Gründerzeit mit besonderer Intensität vollzieht44 , sorgt zum einen daftir, daß die 41
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Christian Wolff: Vemü'?fftige Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge (1726), Hildesheim u.a. 1980, 458. "Dieses ist der rechte Probier-Stein, daran man mercken kan, ob die allgemeinen Lehren von der Welt etwas nutzen, oder nicht, wenn man untersuchte, wie nach ihnen sich die Vollkommenheiten Gottes zeigen." Ebd. b3 (Vorrede). Niklas Luhmann: Soziale Si/sterne - Gnmdr{ß einerallgerneinen Theorie, Frankfurt a. M. 1987, 518f "Im Rückblick wird, nach dem Scheitern des Liberalismus, die Bedeutung dieser [70er] Jahre leicht unterschätzt. [ ... ] In Wirklichkeit aber ist das [ ... ] der Durchbruch der bürgerlichen Gesell-
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gesellschaftlichen Abhängigkeiten komplexer werden: Für den einzelnen wird es damit schwerer, seine Rolle innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen zu bestimmen. Gleichzeitig mehren sich auch die Zweifel, ob die geistlichen und weltlichen Herrscher wirklich die Repräsentanten der Gesellschaft insgesamt oder nicht doch viel eher die Vertreter ihrer eigenen partikularen Interessen sind. All dies sorgte dafür, daß das Ganze der Gesellschaft oder der Gattung, dem zuliebe der einzelne seine Interessen zurückstellen sollte, immer schwerer greifbar wurde. Noch wichtiger dürfte jedoch eine weitere Konsequenz dieses Prozesses gewesen sein: Der Verlust fester gesellschaftlicher Strukturen sorgte nämlich auch dafiir, daß der einzelne in zunehmendem Maße Entscheidungen etwa bezüglich seines Bildungsweges oder seiner Berufswahl treffen mußte, die ihm zuvor durch seine gesellschaftliche Rolle abgenommen wurde. Es leuchtet ein, daß solche Entscheidungen sinnvoll nur aus der Perspektive des Individuums zu treffen waren - insofern zwangen die skizzierten Veränderungen also jeden einzelnen mehr oder minder stark dazu, sich seiner eigenen Interessen bewußt zu werden. Die genannten Tendenzen bestärken sich zum Teil gegenseitig: Die Schwächung des Glaubens an den guten Gott schaffte gleichzeitig den Raum, der es dem einzelnen erlaubte, jenes Leiden zu artikulieren, das in der ,besten aller möglichen Welten' angesichts der alles erfassenden göttlichen Weisheit und Güte marginalisiert werden mußte. Umgekehrt dürfte die zunehmende Bedeutung der individuellen Perspektive auch dazu gefiihrt haben, daß die Zweifel, ob ein weiser und guter Gott das auf der Welt sichtbare Elend zulassen könne, immer schwerer zurückgedrängt werden konnten. Genannt sind damit jedoch allenfalls die Gründe fiir die Abwendung vom aufklärerischen Optimismus, nicht jedoch die hinreichenden Ursachen fiir die Entstehung von ,Apokalyptik' und Pessimismus. Auf die Bedeutung ästhetischer Momente und Inszenierungsformen hatte ich bereits verschiedentlich hingewiesen, doch selbstverständlich wird man auch hierin allenfalls ein zusätzliches Moment, nicht aber ein wirklich entscheidendes Motiv sehen können. Wichtiger scheint mir hier ein anderer Punkt zu sein. Vor allem die Vertreter des metaphysischen Pessimismus halten nämlich zumindest an ein e r Prämisse der traditionellen Metaphysik fest: Sie fuhren den Weltprozeß auf das Walten eines zentralen Prinzips zurück. Bei Schopenhauer ist dies der ,Wille', bei Hartmann das ,Unbewußte' . Trotz aller Gegensätze haben diese Prinzipien zumindest eine wichtige Gemeinsamkeit mit dem überlieferten Gottesbegriff: Sie teilen mit ihm die Allmacht und die Rolle des Schöpfers; grundschaft: des großen Marktes, des freien Wettbewerbs, des Kapitalismus, der Mobilität, des Leistungsprinzips, gegen alle ständischen und bürokratischen Beschränkungen, und der Durchbruch der Klassengesellschaft auch. Das war ein entschiedener Schritt in die Modernität." Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte II: 1866-1918 - Machtstaat vor der Demokratie, München 21993, 363.
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sätzlich unterscheiden sie sich von ihm in ihrer Ignoranz und Bösartigkeit, hier ähneln sie eher dem diabolischen Gegenspieler des christlichen Gottes. Es handelt sich also nicht um einen vollständigen Neuansatz, sondern lediglich um eine Verkehrung der Pole innerhalb eines überkommenen Interpretationsrahmens: Gott und Satan tauschen ihre Rollen, und so wird aus der ,besten' gleich die ,schlechteste' aller möglichen Welten: Angesichts der Dominanz jener negativen Prinzipien ist es völlig ausgeschlossen, daß sich aus dieser Welt eine Dynamik entwickelt, die zur Überwindung des diagnostizierten Elends fuhren könnte. Im Unterschied zu rein pessimistischen Theorien, die es bei dieser trostlosen Diagnose bewenden lassen, weigern sich die ,Apokalyptiker', die Hoffnung aufzugeben. Zwar können auch sie in der ,schlechtesten aller möglichen Welten' keine Ansatzpunkte finden, aus denen sich eine Entwicklung zum Positiven ergeben könnte - denkbar ist also allenfalls ein plötzlicher Umbruch. Angesichts der erbärmlichen Gegenwart muß dieser Umbruch zudem radikal sein, so daß etwas ,ganz Anderes' an die Stelle der ,schlechtesten aller möglichen Welten' treten kann. Insofern ergeben sich die Vorstellungen der Apokalyptiker also mit einer gewissen Konsequenz aus den Prämissen ihrer Theorie oder besser: Es ist die einzige Alternative zur Resignation, die unter den Pessimisten nicht eben wenige Verfechter hatte. Zusammenfassend bleibt hier festzuhalten, daß sich Pessimismus wie ,Apokalyptik' von dem Zwang lösen, das individuelle Leid um eines höheren Sinnes willen hinzunehmen und die Katastrophen ganzer Völker als Marginalien in einem wohlgeordneten und sich immer weiter verbessernden Ganzen zu bagatellisieren. Der hier vollzogene Perspektivwechsel schafft vielmehr den Raum fur die Artikulation subjektiver Erwartungen und Bedürfnisse - auch wenn diese zuweilen utopischen Charakter haben mögen. Unübersehbar sind jedoch die Probleme dieser Position. ,Apokalypse', so hatte ich bereits zu Beginn bemerkt, heißt ursprünglich ,Offenbarung'. Tatsächlich kann das Wissen, über das die apokalyptischen Texte Auskunft geben, nur in einem begrenzten Maße zum Gegenstand rationaler Begründung oder Kritik werden, gerade deshalb haben die Propheten Konjunktur. Ausgeschlossen ist jeder Komprorniß. Zwischen dem Verfechter eines utopischen ,ganz Anderen' und dem Apologeten des schlechten Bestehenden herrschen klare Verhältnisse: Hier stehen sich Gut und Böse, Wahrheit und Verblendung genauso antithetisch gegenüber wie die gegenwärtige Finsternis dem zukünftigen Licht; eine Vermittlung ist daher nicht möglich. Daraus ergibt sich gleichzeitig eine massive Dämonisierung des Bösen, die insbesondere bei Klages fatale Folgen hat. Zu den Handlangern des satanischen ,Geistes' zählt er nämlich nicht nur den Kapitalismus, die Wissenschaften und das Christentum, sondern nicht zuletzt auch die Juden. Es ist somit kein Zufall, wenn die
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Dämonisierung des Bösen bei Klages in einen massiven Antisemitismus umschlägt. Die gnostische Gegenüberstellung von Licht und Finsternis hat überdies eine Selbstimmunisierung der apokalyptischen Theorien zur Folge. Wer gegen sie die gegenwärtige Finsternis verteidigt, der zeigt damit nur, daß er selbst auf der Seite des Bösen steht. Schon in der Offenbarung des Johannes waren potentielle Kritiker als Hunde und Mörder bezeichnet worden. Wer die Wahrheit in Zweifel zieht, der gibt sich selbst als Opfer der Verblendung zu erkennen und ist daher als Diskussionspartner diskreditiert. Zweifel an der Realität jenes anderen Zustandes können das apokalyptische Denken daher nicht ernsthaft in Frage stellen; sie fallen vielmehr zurück auf den Zweifelnden selbst. Nicht zuletzt aufgrund dieses epistemologischen Radikalismus ist das apokalyptische Denken vor allem in der Gegenwart immer wieder - und wie ich meine zu Recht - von Autoren wie Habermas oder Derrida kritisiert worden: In Wirklichkeit, so Derrida, sei das Wahrheitsversprechen, das die Apokalyptiker machen, illusorisch. Erwähnenswert scheint mir schließlich noch ein dritter kritischer Punkt. Paradoxerweise fUhrt nämlich der Subjektivismus Autoren wie Bloch oder Klages dazu, nicht nur die abstrakten gesellschaftlichen Strukturen, sondern auch die sogenannten ,Massen' dem schlechten Bestehenden zuzuschlagen; schon Schopenhauer hatte sie als ,Fabrikwaare der Natur' bezeichnet. Der ignoranten Mehrheit stehen dann die auserwählten einzelnen gegenüber, die im Besitze jener ,Offenbarungen' sind. Bloch etwa spricht in diesem Zusammenhang ausdrücklich von einem ,Führer', der als ,Autorität', ,,[ ... ] als befehlende, [ ... ] noch überwiegend diktaturhaft kanonische Evidenz"45 auftritt. Auf die Gefahren derartiger Auffassungen muß nicht eigens hingewiesen werden; dennoch wird man das apokalyptische Denken und die mit ihm verwandten Richtungen nicht als bloße Sumpfblüten der Geistesgeschichte abtun können. Der entscheidende Grund hierfUr besteht in dem Perspektivwechsel, dessen Motive und Implikationen ich oben darzustellen versucht habe. Er dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, daß das Leiden und das Elend des einzelnen Subjektes nicht mehr zugunsten des angeblich guten und sinnvollen Ganzen marginalisiert werden müssen, daß wir heute also nicht mehr die Wohlfahrt des Ganzen gegenüber den berechtigten Interessen des Individuums verabsolutieren. Positiv scheint an der hier vorgestellten Tradition zum zweiten die Unbeugsamkeit gegenüber vermeintlichen Sachzwängen und die Respektlosigkeit gegenüber solchen Konventionen, die deshalb gelten, weil es sie schon immer gegeben hat. Die Hoffnungen und Erwartungen, die diese Autoren geschürt haben, mögen also häufig genug verfehlt gewesen sein, der Weg aus den künstlichen Paradiesen führte bei einigen nicht in das Neu e , 45
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sondern in das Dritte Reich. Der Respekt gegenüber dem einzelnen Subjekt, die Skepsis gegenüber der vermeintlichen Vernunft des Ganzen, aber auch das Insistieren auf der Suche nach einer Alternative scheinen mir jedoch Momente an dieser Tradition zu sein, die bewahrenswert sind.
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Doerte Bischoff KRIEGER, MÜTTER, CYBORGS
Apokalypse und Geschlechterperformanz im Diskurs um den Ersten Weltkrieg Von kaum einer Figur wird die Literatur, die den Ersten Weltkrieg ästhetisch reflektiert und präformiert, so stark geprägt wie von der Apokalypse. In zahllosen Gedichten und Essays, die um 1914 entstehen, wird der Krieg als Kraft verherrlicht, die einen umfassenden kulturellen Umsturz herbeifuhrt, indem er die Technisierung der modernen Welt und die Verdinglichung des Menschen auf die Spitze treibt und in der Zerstörung aller traditionellen Ordnungen und Orientierungen den Beginn von etwas radikal Neuem ankündigt. Bereits lange vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges prägen Kriegsmetaphern den kulturellen Diskurs. Die Manifeste des Futurismus, die die Heraufkunft des Neuen nurmehr als kriegerisches Vernichtungswerk inszenieren 1, lassen sich als besonders zugespitzte Version einer weit verbreiteten Tendenz lesen, kriegerische Aktivität nicht mehr bloß als ultima ratio, als Mittel zum Zweck zur Erreichung bestimmter politischer Ziele, sondern vielmehr als Inbegriff einer permanent mobilisierten Gesellschaft zu begreifen. 1. Die Selbstgeburt der Kriegers aus dem Geiste der Materialschlachten
Die Beschwörung, Kommentierung und Mythisierung des Krieges als katastrophisches Ereignis, das Untergang und Neuschöpfung ineinander verschränkt, prägt eine diskursive Formation aus, die politische Rhetorik, historisches Geschehen wie literarische Dokumente gleichermaßen organisiert. Eine solche diskursanalytische Perspektive wird auch den Selbstentwürfen vieler Zeitgenossen gerecht, die ihre Kriegstexte und -gedichte nicht als realitätsenthobene Imaginationen oder Reflexionen, sondern als unmittelbar wirklichkeitsgestaltende Schreib-Akte auffaßten. 2 Im Vorwort zu der berühmten Sammlung expressionistischer Gedichte, der er den Titel Menschheitsdämmerung gab, schreibt Kurt Pinthus, die Kunst sei nicht Verursacher des Vgl. Filippo Tommaso Marinetti: Mal1ifest des Futurismus: "Wir wollen den Krieg verherrlichendiese einzige Hygiene der Welt - den Militarismus [... ] die Vernichtungstat der Anarchisten [... ]." Zit. nach Mal1ifeste Imd Proklamatiol1en der europdischen Aval1tgarde (1909-1938), hg. von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders, Stuttgart und Weimar 1995, 5. Vgl. hierzu auch Doerte Bischoff: "Dieses at.!f die Spitze getriebene Manl1estum" - Kriegsrhetorik tll1d Autorschqft um 1914, in: Kathrin Hoffillann-Curtius und Silke Wenk: Mythen von Autorschqft und Weiblichkeit im 20. JahrhUl1dert, Marburg 1997, 60-72.
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Krieges gewesen, noch habe sie auf ihn reagiert. Vielmehr sei sie Symptom und Manifestation desselben radikalen Umsturzes gewesen, der alle gesellschaftlichen und kulturellen Ordnungsmuster explodieren und an der Stelle instrumenteller Bezüge "das Verknüpftsein des einzelnen mit dem Unendlichen"3 habe neu erstehen lassen. Diese Verknüpfung, die offenbar nicht mehr durch symbolische Bezugssysteme und historische Entwicklung garantiert ist, wird im jeweiligen Schreib-Akt, der als radikale Abtrennung und Zerstörung aller vorgängigen Bindungen stilisiert wird, gestiftet. Die wiederkehrende Ineinssetzung von Kunst und Krieg, die sich schon bei Marinetti4 , in abgeschwächter Form aber etwa auch in Thomas Manns 1914 publizierten Gedanken im Kriege findet S, prägt eine Rhetorik der Performanz, die dichterisches Wort und revolutionäre Tat zusammenfallen läßt. Beide erscheinen als Modi eines Kampfes, in dem sich eine nur sich selbst verpflichtete Schöpferkraft bewährt, die, gerade weil sie mit allem Überkommenen bricht, elementare Mächte entbindet. Der Krieg selbst wird sogar als schöpferisch apostrophiert, wenn er, wie in einem Artikel der Schaubühne, als "Zu-Ende-Bildner"6 moderner Kunst gekennzeichnet wird. Wo immer Kriegserlebnis und Inspiration enggefiihrt werden, ist es gerade die totalisierende Macht des modernen Krieges, die eine vermeintlich schöpferische Potentialität freisetzt, indem sie alles seiner Dynamik unterwirft. Franz Marc beschreibt den Krieg als "Fegefeuer" und "Gerichtstag", an dem alle alten Fragen neu gestellt, alle Meinungen und Glaubenssätze neu gewogen würden, damit aus ihm zuletzt "die echten, inhaltsschweren, wahren "7 geläutert und gestählt hervorgingen. Zum ersten und einzigen Male sei, so Marc, dem menschlichen Geist in diesem Krieg "das Absolute" geglückt: "sich ein Reich zu schaffen, das ,auch nicht von dieser Welt' ist und doch alles, wa~ Welt ist, fiihlend und ordnend durchdringt". Dies sei eine Zeit, die die Quelle des noch "unerschöpften" Borns, den Christus fiir die Menschheit bedeute, auf neue Weise erfahren und freisetzen könne: "Jede Zeit hat ihren eigenen Christus"8. Mehr oder weniger explizit modellieren sich die so Sprechenden Menschheitsdiimmerung - Ein Dokument des Expressionismus, mit Biographien und Bibliographien neu hg. von Kurt Pinthus, Reinbek b. Hamburg 1993, 28f Vgl. Marinetti: Manifest des Futurismus, 5: "Schönheit gibt es nur im Kampf [00'] Die Dichtung muß aufgefaßt werden als ein heftiger Angriff auf die unbekannten Kräfte, um sie zu zwingen, sich vor dem Menschen zu beugen." Thomas Mann: Gedanken im Kriege, in: ders., Von deutscher Republik - Politische Schriften und Reden in Deutschland - Gesammelte Werke in Einzelbiinden, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1984, 7-25, hier: 10. Friedrich Markus Huebner: Krieg Imd Expressionismus, in: Die Schaubühne 10 (1914), Nr. 48 (3.12.),441-443. Franz Marc: Im Fegf!feuerdes Krieges, in: Der Sturm 1 (1916/17), H. 1 (April 1916), 2. Hier zitiert nach: Expressionismus - Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920, hg. von Thomas Anz und Michael Stark, Stuttgart 1982, 305. Ebd., 304.
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und Schreibenden selbst als Reinkarnation des Messias. Sie feiern eine Souveränität, die ein endzeitliches Versprechen einlöst und selbst zur Schöpfung in einem paradoxen Verhältnis steht: kann diese aus ihrer herausgehobenen Perspektive von ihrem Ende her überblickt werden, so wird sie aus ihr heraus zugleich neu geschaffen. Dabei zielt die Emphase ihrer Proklamationen und Prophetien auf die Überwindung des Prinzips der Stellvertretung oder Repräsentation. Denn die apokalyptische Rede, die Wirklichkeit nicht mehr nur darstellen oder reflektieren, sondern regelrecht erschaffen will, lotet die Grenze ihrer eigenen Sprachlichkeit aus. Damit ruft sie sprachmagische Vorstellungen auf, die sich im christlichen Kontext mit der Idee einer adamitischen Sprache verbinden, die die Welt benennt und damit vor der Differenz von Zeichen und Dingen, vor dem Einschnitt, der das von Gott Geschaffene menschlicher Erkenntnis entzieht, angesiedelt ist. Die apokalyptische Sprache jedoch beschwört aus dem Vorgefundenen heraus, alle menschlichen Symbolisierungen überbietend, deren Ende. Man kann sie insofern als phantasmatisch bezeichnen, als sie die Position einer quasi-göttlichen Souveränität behauptet, die aus der totalen Zerstörung geboren wird und über sie triumphiert. Charakteristisch fur dieses Selbstgeburtsphantasma ist die Leugnung gerade auch der Differenz der Geschlechter. Die Kriegs-Kunst leitet sich nicht mehr von der Unverftigbarkeit eines Anderen, Rätselhaften, Weiblichen her, sondern unmittelbar aus dem Technik-Mythos der Materialschlacht, in der sich männliche Maschinenkörper selbst erzeugen. 9 Weiblichkeit, Natur und Körper erscheinen nicht mehr als Matrix und Material kulturellen Gestaltens, als das Andere, auf das männliche Produktivität zielt, von dessen Unerreichbarkeit sie aber gerade angetrieben wird. Motor ftir die apokalyptische Selbstschöpfung im Krieg ist vielmehr die Auslöschung des Weiblichen als Differenz, die dem Kriegsgeschehen einen anderen, ihm entzogenen Ort gegenüberstellt. Die traditionsreiche Unterscheidung von Front und Hinterland, die bereits im 19. Jahrhundert aufgeweicht wird 1o , verliert nun endgültig ihre Geltung. Die Rhetorik der totalen Mobilisierung weist ihre Funktion, den Krieg in bestimmten Grenzen zu halten, ihn zu ,hegen', wie Carl Schmitt
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Vgl. etwa Barbara Vinken zu Marinetti: "Die Poetik Marinettis zeichnet sich durch einen eigenartigen Kurzschluß zwischen Technik und Mythos aus. Die Technik ermöglicht, was der Mythos ersehnte. Sie machte die kühnsten Träume buchstäblich wahr: der Mann, nicht mehr muttergeboren, sondern mit Hilfe der Technik durch den Mann geboren, wird unsterblich." Barbara Vinken: Make War not Love, in: Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde - Avantgardekritik -Avantgard~forschung, hg. von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders, Amsterdam 2000,183-204, hier: 187. Vgl. hierzu Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie, Freiburg i. Br. 1987, 236: "Der totale Krieg [in Kleists Hermannsschlacht, D.B.] setzt nämlich erstens den Unterschied zwischen Frauen und Kriegern außer Kraft, er hebt zweitens das klassische Kriegsrecht des 18. Jahrhunderts auf, und er stellt drittens die Verfassungsfrage. "
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formuliert ll , vielmehr ausdrücklich zurück. Dies aber bedeutete einen "Bruch mit allen Regeln der Stellvertretung" 12, denn wo kriegerische Handlungen nicht mehr an das Militär und damit traditionell an jüngere Männer delegiert werden, die fur die Heimat kämpfen, welche wiederum mit den notorisch schutzlosen und zu verteidigenden ,Frauen und Kindern' konnotiert wird, verlieren sie den Bezug auf jenes ,Andere', das als Fluchtpunkt und Legitimationsgrund der Kämpfe fungiert hatte. 13 Der Versuch, den Legitimationsgrund einzig in sich selbst, in der sich stets selbst zerstörenden und fortzeugenden Kriegsdynamik zu suchen, fuhrt auf eine Konstellation, in der sich der Kriegsdiskurs mit einem Diskurs über die Geschlechter verschränkt, der spätestens seit der Jahrhundertwende basale Ordnungsmuster der bürgerlichen Gesellschaft aus den Angeln gehoben hatte. 14 Zu dieser Verschränkung tragen die Forderungen der Emanzipationsbewegung, die die Ontologisierung der Trennung von Öffentlichem und Privatem, politischer und häuslicher Sphäre durch die Geschlechteropposition in Frage stellen, erheblich bei. Gerade indem sie sich auf universalistische Kategorien im Sinne einer Vollendung aufklärerischer Ideale berufen, machen sie diese fur männliche Selbstbehauptungen unbrauchbar, da sie Weiblichkeit aus der Fixierung auf das Andere kultureller Produktivität herauslösen und anstelle der Differenz Mann/ Frau Widersprüche und Differenzen im (männlichen) Subjekt zutage treten lassen. 15 Die Reaktion auf diese Verunsicherung männlicher Identität artikuliert sich besonders zugespitzt bei Otto Weininger, der Weiblichkeit zu einem ,Nichts' erklärt, während er jegliche Differenz im Männlich-Absoluten aufgehoben und kontrolliert wähnt. 16 Zwar wiederholt
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Vgl. etwa Carl Schmitt: Theorie des Partisanen - Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963,17. Cora Stephan: Das Handwerk des Krieges, Berlin 1998, 211. Die klassische mythologische Folie fur diesen Zusammenhang von Geschlechterdifferenz und Krieg, der Frauen einerseits vom Kampfgeschehen ausschließt, sie aber zugleich als Auslöser und idealen Fluchtpunkt desselben modelliert, ist der trojanische Krieg, den die gegnerischen männlichen Heere um eine Frau, Helena, fuhren. Vgl. hierzu auch Stephan: Das Handwerk des Krieges [Anm. 12], 33: ,,[ ... ] man könnte sogar behaupten, daß erst der Krieg den Männerbund zusammenschweißt und daß erst im Krieg den Frauen ihre Rolle zugewiesen wird: sein Grund und sein Ziel zugleich zu sein. Grund: weil es sie zu schützen galt. Ziel: weil sie die Beute waren. " Vgl. Albrecht Koschorke: Die Mä'nner und die Moderne, in: Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde - Avantgardekritik - Avantgardeforschung, hg. von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders, Amsterdam 2000, 141-162, hier: 141: "Die Moderne-Diskussion um 1900 wird großenteils in Geschlechterkategorien geführt. " Vgl. BischofE "Dieses auf die Spitze getriebene Mannestum (( [Anm. 2], 71. Otto Weininger: Geschlecht und Charakter, München 1980, 383: "Die Frauen haben keine Existenz und keine Essenz, sie sind nicht, sie sind nichts." "Der Mann will die ganze Wahrheit, das heißt, er will nur sein." Sowie ebd., 242(: "Ein weiblicher Genius ist demnach eine contradictio in adjecto; denn Genialität war ja nur gesteigerte, voll entfaltete, höhere, allgemein bewußte Männlichkeit. Der geniale Mensch hat, wie alles, auch das Weib völlig in sich; aber das Weib selbst ist nur ein Teil im Weltall, und der Teil kann nicht das Ganze [... ] in sich schließen.
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auch Weininger die topische Polarisierung von männlicher Form und weiblicher Materie l7 , doch wird letzterer schließlich jede Eigengesetzlichkeit abgesprochen, wenn die Frau, gerade weil sie "nur Materie" sei, als Nichts apostrophiert wird. IB Der Mann hingegen "hat auch das Weib, er hat auch die Materie in sich"19, was ihn befahigt, sich selbst und seinen Körper - sowie den der Frau, der nurmehr Teil desselben ist - aus eigenem Willen zu schaffen. 20 Betrachtet man die Engftihrung von Kriegs- und Geschlechterdiskurs, deren charakteristische Wendungen sich, wie die Weininger-Lektüre andeutet, schon vor dem eigentlichen Ausbruch des Kriegs abzeichnen, aus diskursanalytischer Perspektive, so zeigt sich, daß sie keineswegs nur von männlichen Künstlern uhd Intellektuellen betrieben wird, die eine fragwürdig gewordene Männlichkeit gewaltsam zu restituieren versuchen. Zwar ist offensichtlich, daß gerade die künstlerischen Avantgarden weitgehend männlich dominiert sind und daß hier eine radikalisierte Ausgrenzung des Weiblichen betrieben wird, die nachhaltige Effekte hat. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß es sich dabei auch um Reaktionen handelt, daß es gerade die auch von Frauen betriebene Auflösung der Geschlechtergrenzen ist, gegen die angeschrieben wird.
11. )Ausweitung der Kampjzone (: Die Mobilisierung der Mütter Das Skandalon, das die bislang skizzierte, männlich dominierte Kriegsrhetorik antreibt, ist die offensichtliche Mißachtung und Überschreitung des von Nietzsche formulierten und von den Zeitgenossen vielfach aufgegriffenen 21 Diktums mulier taceat de muliere. Denn natürlich ist die Frau das prominente Thema der Frauenbewegungen, die 1914 ganz überwiegend in die allgemeine Kriegsbegeisterung einstimmen. Mit dem Argument, das große Ziel eines umfassenden Neubeginns könne nur erreicht werden, wenn auch der weibliche Teil der Bevölkerung in die Kämpfe einbezogen werde, machen sie sich den Ruf nach allgemeiner Mobilisierung zu eigen. Dahinter steht der Wunsch, den Geschlechterkampf gleichsam durch einen universaleren Kampf
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Die Genielosigkeit des Weibes folgt unabwendbar daraus, daß das Weib keine Monade und somit kein Spiegel des Universums ist." Ebd., 394: "Der Mann ist Form, das Weib Materie." Ebd., 393. Ebd., 395. Ebd., 396. Weiningers Ausführungen sind in diesem Punkt naturgemäß widersprüchlich, da er die Geschlechterdifferenz aufruft und ins Extrem treibt, sie andererseits aber zugleich zum Verschwinden bringt. Und zwar sowohl von Frauen wie von Männern. Vgl. etwa Weininger: Geschlecht und Charakter, 106; Margarete Susman: Das Frauenproblem in der gegenwärtigen Welt, in: dies., "Das Nah- und Fernsein des Fremden « - Essays und Bri~fe, hg. von Ingeborg Nordmann, Frankfurt a. M. 1992, 143-167, hier: 143.
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zu transzendieren, der einen Kollektivkörper hervorbringt, welcher weiblichmütterlicher Reproduktivität ebensoviel verdankt wie männlicher Symbolschöpfung. Die alte Formel von den zu schützenden, aus dem unmittelbaren Kriegsgeschehen fernzuhaltenden ,Frauen und Kindern', die auf ein' Jenseits der Kriegslogik verweist, auf das sie gleichwohl bezogen bleibt, wird in dem Augenblick ausgehöhlt, wo sie von Frauen (und Männern) mit der gängigen Kriegsrhetorik verwoben wird. Ganz im Sinne des vom Kaiser im August 1914 proklamierten Burgfriedens fordert etwa Lily Braun in ihrer Schrift Die Frauen und der Krieg, "Parteien, Richtungen, Vereine und Vereinchen" auch innerhalb der Frauenbewegung zu überwinden, denn nun gelte es, sich auf die ,natürlichen Quellen des Weibtums' zu besinnen, die der Krieg freigelegt habe. 22 Verknüpft diese Argumentation bereits emanzipatorische Rhetorik mit alten Weiblichkeitsmythen, so wird deren kämpferischer Einsatz noch deutlicher in einem Appell Gertrud Bäumers, der die besondere weibliche Sensibilität fiir die schicksalhafte Entfesselung von Lebenskräften durch den Krieg betont. Diese habe "der Mutterschoß [des] Volkstums tief und geheimnisvoll in sich bewahrt".23 Wo Waffengewalt "das letzte Wort in der Welt" spreche 24 , seien, so Bäumer, auch die Frauen selbstverständlich aufgerufen, ihren Anteil an der totalen Mobilmachung zu übernehmen. 25 Dieser Anteil, so legt diese Argumentation nahe, vollendet sogar erst die Totalität dieses Umsturzes von apokalyptischem Ausmaß, insofern nur die Frauen das Wesentliche, Tiefste und Verborgenste, das in allen früheren Kriegen dem Kriegsgeschehen entzogen geblieben war, zum Einsatz bringen könnten. Der Krieg, so Bäumer in einem späteren Essay, habe nicht nur dem Tod der Männer, sondern auch der weiblichen Fürsorge und Opferbereitschaft ~ine neue Dimension gegeben, in der ,heißeste, persönlichste Gefiihle mit ihrem erhabenen Anlaß' verschmölzen und zum ,innersten Anlaß einer Offenbarung' würden. 26 Thea von Harbou beschwört im Vorwort ihres bereits 1913 publizierten und in den folgenden Jahren vielfach neuaufgelegten Novellenbandes Der Krieg und die Frauen "das Riesenhafte, das Gigantische des Kriegsgedan-
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Zitiert nach Annette Kliewer: Geiste~frucht und Leibe~rrucht - Mütterlichkeit rmd weibliches Schreiben im Kontext der ersten bürgerlichen Frauenbewegung, Pfaffenweiler 1993,89-96, hier: 91( Gertrud Bäumer: Die Frauen und der Krieg, in: Das Buch vom Kriege, hg. von Hans F. Helmolt, Berlin 1915,383-391, hier: 387. Ebd., 390. Ebd., 386. Gertrud Bäumer: Die deutsche Frau in der sozialen Krieg~fiirsorge, Gotha 1916, hier zitiert nach Annette Kliewer: "Das deutsche Reich wird nach Müttern fraget1!" - Die "Miitterliche" Beteiligung von Schrfftstellerinnen am Ersten Weltkrieg, in: Krieg und Literatur 6 (1994), H. 11/12, 45-52, hier: 50. Zum häufig auftauchenden Begriff der Offenbarung vgl. auch die Beschreibung des Kriegsausbruchs durch die weibliche Protagonistin in Thea von Harbous Novelle Drei Tage Frist, in: dies., Der Krieg und die Frauen, Stuttgart und Berlin 1915,35.
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kens - das Schicksalsgewaltige, das Völker und Reiche zermalmt und erschafft".:17 Die so mobilisierte Heimatfront wird wiederholt auch als "Heer hinter dem Heer" bezeichnef~8, das Recht der Frauen, an dem universalen sinnstiftenden Kampfgeschehen beteiligt zu sein 29 , damit ostentativ eingefordert. Mutterschaft wird dabei als Inbegriff weiblicher Schöpfungsleistung regelrecht zum Kampfbegriff Gerade die Art und Weise, in der Mütterlichkeit als zentraler Aspekt weiblicher Kriegsbeteiligung stilisiert wird, demonstriert, wie traditionelle Weiblichkeitsbilder instrumentalisiert und transformiert werden. Indem das Gebären und Hergeben der Söhne rur den Krieg als weibliches Blutopfer dargestellt wird, das sogar schwerer wiege als das der Männer, deren Tod im Krieg immerhin als Tod auf dem Feld der Ehre gewürdigt werde, verschiebt sich die traditionelle Argumentation, in der der Soldaten tod als stellvertretendes Opfer rur die weiblich figurierte Heimat oder Volksgemeinschaft erscheint. Auch diese, weibliche, Rhetorik ruhrt konsequent auf eine Krise der Stellvertretung oder Repräsentation, die die Legitimation und Begrenzung des Krieges mittels einer Geschlechterontologie allmählich auflöst. Zielt diese Rhetorik einerseits auf eine absolute Gleichberechtigung beider Geschlechter im Kampf für die neue Einheit, so tendiert sie doch andererseits zu einer Aufurertung des Weiblichen, welches als umfassenderes Prinzip modelliert wird, das alle Trennungen und Differenzen in sich berge. In einer Anverwandlung weiblicher Allegorien wie der einer kämpferischen Germania und in Identifikation mit starken Frauen der Geschichte wird eine neue heroische Weiblichkeit entworfen, die zur Stelle ist, wo die "Zerstückelung" des Landes droht, weil Männer in ihrer Aufgabe, die Heimat zu beschützen, versagen. 30 Dies gipfelt gelegentlich in der Vorstellung von einem weiblichen Messias, mit dem das neue Zeitalter anbreche 31 :
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Von Harbou: Der Krieg und die Frauen [Anm. 26], 9. E~se Torge: Kaiser, Volk und Totentanz, Berlin 1916, 40; hier zitiert nach Hans-Otto Binder: Zum Opfern bereit: Kriegsliteratur von Frauen, in: Kriegseifahrungen - Studien zur Sozial- und MentalitCitsgeschichte des Ersten Weltkriegs, hg. von Gerhard Hirschfeld u.a., Essen 1997, 107-126, hier: 125. Vgl. auch Marie Elisabeth Lüders: Das unbekannte Heer - Frauen kCimp{Cnfiir Deutschland 19141918, Berlin 1936. Vgl. Emmy von Bomsdorf-Leibing: Deutscher Heldengeist im Weltkrieg, Leipzig 1916, 8: "Uns Frauen gönnt ihr euer Feldgrau nicht." Zitiert nach Binder: Zum Op{Crn bereit [Anm. 28], 121. Vgl. Karin Bruns: Das moderne Kriegsweib - Mythos und nationales Stereotyp heroischer Weiblichkeit 1890-1914, in: Frauen, Literatur, Politik, hg. von Annegret Pelz u.a., Hamburg 1988, 132-144, hier: 134f. Arthur Brehmer: Der Weg der Frau, 4. Es handelt sich um einen Beitrag in dem 1913 in Berlin erschienenen Album Die Frau imJahrhundert der Energie 1813-1913. Hier zitiert nach: Bruns: Das moderne Kriegsweib [Anm. 30], 136.
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Doerte Bischoff Aus diesem Ringen, aus welchem die eine große Frau hervorgehen muß, die alle Kraft der weiblichen HeIdin des Geistes und Herzens in sich vereint und als solche die Welt unterjocht und eine neue Zeit aufbaut: Das Zeitalter der Frau. Aus diesem Ringen heben sich jetzt schon Frauen hervor, die im Vollbringen und Können dem Manne fast gleich sind und die uns Vorläuferin der Einen sind, die kommen wird und kommen muß.
Scheint diese weibliche Apokalypse geradezu die Umkehr der von Weininger betriebenen Verabsolutierung des Männlichen zu sein, so ist sie ihr doch im Versuch, Differenzen in einer auch körperlich gedachten Einheit aufzulösen, zugleich sehr verwandt und kann als Kehrseite desselben Diskursmusters gelesen werden. Dessen typisches Merkmal ist es, mit der phantasmatischen Verherrlichung eines vollendeten, sich selbst gebärenden Mensch-MaschineKörpers zugleich die Attribute natürlicher Körperlichkeit - Verletzbarkeit, geschlechtliche Differenz und Sterblichkeit - zu verwerfen.3~ Dabei drängten sich Bilder von Verwundeten und Kriegs-Krüppeln gerade in Kriegszeiten auf, machte es der Tod von Familienvätern, Söhnen und Brüdern immer schwieriger, den Krieg symbolisch zu rechtfertigen3\ was vielen Kriegsschriften als Subtext eingeschrieben ist. Zugleich wird aber deutlich, daß dieses bedrohliche Moment nicht mehr durch den Verweis auf einen weiblich figurierten Gesamtkörper auf Distanz gehalten werden kann, fiir den die Männer sterben. In der Verknüpfung von Weiblichkeit und Krieg erscheint die Mutter gerade nicht mehr als das in sich ruhende Andere, vielmehr avanciert sie zum Inbegriff umfassender Mobilisierung. Mütterlichkeit wird ausdrücklich nicht mehr wie in Vorkriegszeiten mit Weichheit und Gefühl, sondern mit Tapferkeit, Selbstdisziplinierung und Stärke assoziiert. Wo noch das Weiche ins Spiel kommt, findet es sich mit metallisch-technischer Metaphorik verknüpfe 4 : ,,[D]er Krieg hämmert an unsern Seelen, daß sie fest werden, wie Stahl und doch auch weich wie das flüssige Metall in der Feuersglut. " Nicht der natürliche Körper, sondern Technik, Steuerbarkeit und Kontrolle sind die Referenzkategorien des "modernen Kriegsweibs".35 Wenn vom Körper die Rede ist, so im Sinne einer Gemeinschaftsvision, die an das Kriegsgeschehen geknüpft ist. So wird behauptet, die "Schule des Krieges" habe es vermocht, die Frauen zu einem "große[n] Körper des diszi32
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Eine Beiträgerin des Bismarck-Frauen-Kalenders mit dem Pseudonym Lucie Fer beschreibt die im Krieg gestählte ,Frau der Zukunft' als "ein Wesen, halb Weib, halb Maschine". Zitiert nach Bruns: Das moderne Kriegsweib [Anm. 30], 136. Da hier der größere diskursive Zusammenhang von Kriegsdiskurs und Körperlichkeit in der Moderne analysiert wird, kann auf die Veränderungen, die sich in den Stellungnahmen einzelner im Laufe des Krieges abzeichnen, indem sie Enttäuschungen artikulieren und die ursprüngliche Begeisterung relativieren, nicht näher eingegangen werden. Margarete Henschke: Der Krieg und die FralIen [Rede vor dem Berliner Handwerkerverein], Berlin 0.], 15. Vgl. Bruns: Das moderne Kriegsweib [Anm. 30], 138.
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plinierten Wohlfahrts-Frauenheers" zusammenzuschweißen, das bereit sei, in die "Frauen-Schlacht" zu ziehen. 36 Daß Weiblichkeit und Krieg nicht mehr kategorisch getrennt sind, sondern sich die Sphären vermischen, indem sie sich wechselseitig metaphorisieren, zeigt etwa auch der Vergleich eines UBootes mit einem "gesegneten Weib" im Kriegsroman einer Autorin. 37 Indem Frauen sich selbst das Etikett "Heldenmutter"38 verleihen, usurpieren sie einen Begriff von Heldentum; der von Männern angesichts der Materialschlachten und des Massensterbens in endlosen Grabenkämpfen immer weniger beansprucht werden kann. Die Wendung greift alte Muttermythen zitierend auf und transformiert sie zugunsten weiblicher Aktivität: die Mutter des Helden ist selbst heldenhaft, weil sie den Sohn oder Mann dem Krieg gegeben hat. So heißt es bei Lily Braun39 : "Hinter jedem dieser Heldenknaben, die von uns gingen, steht eine Mutter, die ihn gehen ließ." Die Entscheidung junger Kriegsfreiwilliger, sich an die Front zu melden, erscheint damit nicht als männlicher Initiationsakt, durch den sich der Sohn von der mütterlichen Sphäre lossagt, um in die männerbündische Gemeinschaft der Soldaten einzutreten. Vielmehr wird er hier von den das Wort ergreifendenMüttern als deren Opfer stilisiert, wodurch sie sich den Trennungsakt, der sie auf die kriegsferne heimatliche Sphäre beschränkt und die Söhne der männlichen Kriegsszenerie zuordnet, gleichsam aneignen. Eine ähnliche Figur findet man auch in der Kriegslyrik von Männern, etwa in Rilkes 1914 entstehenden "Fünf Gesängen" , wo es heißeo: Einmal schon, da ihr gebart, empfandet ihr Trennung, Mütter, empfindet auch wieder das Glück, daß ihr die Gebenden seid. Gebt wie Unendliche, gebt. Seid diesen treibenden Tagen eine reiche Natur. Segnet die Söhne hinaus.
Die zweite Geburt erscheint als eine, die der von Männern dominierten Sphäre des Symbolischen nicht äußerlich, sondern ihr als sinnstiftender Akt unmittelbar eingeschrieben ist. Ausdrücklich wird die Geschlechterbeziehung zudem in die Kriegsrhetorik eingeflochten, wenn individuelle Ereignisse wie Verlobung und Empfangnis im Sinne eines kollektiven Geschehens symbolisiert werden. "Bräute gehen erwählter", so heißt es in demselben Gedichtzyklus bei Rilke, "als hätte nicht Einer I sich zu ihnen entschlossen, sondern
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Henschke: Der Krieg und die Frauen [Anm. 34], 10,8, 13. Vgl. Binder: Zum Opfern bereit [Anm. 28], 115. Vgl. etwa die Kriegserzählung Wir daheim von Helene Christaller, zit. nach Kliewer: "Das deutsche Reich wird nach Mütternfragen!" [Anm. 26], 48. Lily Braun: Die Frauen und der Krieg, Leipzig 1915, 10. Hier zitiert nach Kliewer: "Das deutsche Reich wird nach Mütternfragen!" [Anm. 26], 46. Rainer Maria Rilke: Fünf Gesänge (August 1914), in: Sämtliche Werke, hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit F. Ruth Sieber-Rilke, Frankfurt a. M. 1956,86-93, hier: 88.
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das ganze I Volk sie zu fuhlen bestimmt"41. Offenbar wird hier nun auch die traditionelle weibliche Initiation, der Übertritt des jungfräulichen Mädchens in Ehe und Mutterschaft, als ein kriegsrelevantes Symbolgeschehen zelebriert. Tatsächlich rührt diese Rhetorik, die in der Engfuhrung von Krieg und Geschlechterdifferenz eine neue, totalisierende Dimension kultureller Selbstschöpfung behauptet, an den fundamentalen Bedingungen einer symbolischen Ökonomie, die auf der Unterscheidung von kultureller Wertschöpfung und natürlicher Reproduktion basierte. In der Erwählung durch den Mann hatte sich nämlich zuvor die zentrale Bedeutung der Frau ausgedrückt: als von Männern begehrtes und unter Männern getauschtes privilegiertes Objekt. 43 Während die Frau von der Teilhabe an gesellschaftlichen Tauschprozessen und symbolischen Ökonomien ausgeschlossen war, gab doch gerade die Vorstellung, daß sie einen ihnen allen zugrundeliegenden höchsten Wert verkörpere, dem Symbolischen Kohärenz und Struktur. Die unverheiratete Frau ist reiner Tauschwert, insofern auf ihren Körper jener höchste Wert projiziert wird, der als solcher nicht in Besitz genommen werden kann, da er den "Ort, das Zeichen der Beziehungen unter Männern"43 darstellt. In ihrem Marx und Levi-Strauss kommentierenden Essay Frauenmarkt schreibt Luce Irigaray über die Jungfrau, sie erscheine als ,,[b]loße Hülle zur Verschleierung des Einsatzes, um den es in der gesellschaftlichen Zirkulation"44 gehe. Demgegenüber ist die Mutter "Reproduktionsinstrument, das mit dem Namen des Vaters gezeichnet in sein Haus eingeschlossen [... ] ist, fur den Tausch verbotenes Privateigentum"45. Das Inzesttabu, das die Mutter von der Begehrensökonomie ausschließt, "repräsentiert dieses Verbot des Eintritts der Produzentin Natur in den Tausch unter Männern". Machte die Mutter Anspruch, in die Warenzirkulation einzutreten, würde, so Irigaray, "die Zerstörung der gt;sellschaftlichen Ordnung drohen "46. Solange die Arbeit der Mutter der symbolischen Produktion der Männer als deren notwendiges materielles Substrat, das selbst ohne Bedeutung ist, entgegengesetzt wird, kann die Fiktion eines allesumfassenden, idealen Zeichens, das Gott oder eben Frau heißen kann, aufrechterhalten werden. Doch die " Phallu swährung" 47 , um mit Irigaray zu sprechen, verliert in dem Moment ihren Wert, in dem der Akt, der eine vermeintlich unhintergehbare Grenze 41 42
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Ebd., 86. Vgl. die These von Levi-Strauss, jede Gesellschaft basiere auf dem Frauentausch als ihrem basalen Differenzierungsprinzip in Claude Levi-Strauss: Strrtkturale Anthropologie I, Frankfurt a. M., 5. Aufl. 1991,62. Luce Irigaray: Frauenmarkt, in: dies., Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin 1979, 177-198, hier: 192. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 182.
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zwischen Symbolischem und Realem errichteeS, im Symbolischen wiederaufgenommen wird. Wenn die männliche Symbolisierungsarbeit immer Arbeit an der Materie ist, die als an sich unbedeutende voraus-gesetzt wird 49 , muß eine Infragestellung dieser Grenzziehung weitreichende Konsequenzen haben. Denn einzufordern, daß das Gebären, weil es ,Material' rür den Kriegsschauplatz zur Verfügung stelle, selbst Teil des Kampfgeschehens sei, kommt dem Anspruch gleich, die Hervorbringung des höchsten Wertes, der im Krieg traditionell umkämpft wird, an diesen selbst zu knüpfen. Ursprüngliche körperliche Einheit· und kriegerisches Zerstörungswerk werden damit zu zwei Seiten derselben Dynamik, die Schöpfen und Zerstören als aneinander gekoppelte Aspekte kultureller Performanz ausstellt. Die Totalisierung des Krieges nimmt also in dieser Perspektive auf Geschlechterdifferenz und Körperlichkeit insofern phantasmatische Züge an, als sie den Phallus als transzendentalen Signifikanten selbst mit aufs Spiel setzt. Als solche schlägt sie sich in zwei Figuren nieder, die als zwei Seiten derselben Medaille zu betrachten sind: zum einen in Allmachtsvisionen, die mit der Einbeziehung des mütterlichen Körpers das Kriegsgeschehen zum alles entscheidenden und offenbarenden Ende der Geschichte überhöhen. Die emanzipatorischen Forderungen gipfeln hier in der beschriebenen Vorstellung einer Menschheitsapokalypse , in der alle Hierarchien und Differenzen und damit auch die der Geschlechter ausgelöscht wären. Zum anderen jedoch treibt diese rhetorisch inszenierte ,Ausweitung der Kampfzone' auch Bilder von versehrten, der kriegerischen Gewalt rückhaltlos ausgesetzten Körpern hervor, an denen jede Totalitätsvision zunichte wird. Aus der Perspektive aktueller Gender-Forschung könnte man behaupten, daß sich im Kriegs-Diskurs zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits Vorformen der von Donna Haraway beschriebenen Cyborgs herauskristallisieren. Cyborgs sind Haraway zufolge diskursive Figuren der Überbietung, die die Dichotomien von Körper und Geist, Mensch und Tier, Organismus und Maschine, öffentlich und privat, Natur und Kultur sowie Mann und Frau in Frauge stellen. 50 Sie sind die konsequente Fortsetzung, das apokalyptische telos einer westlichen Phantasie endloser individueller Ermächtigung und Besitz-
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Die Begriffe werden hier im Sinne Lacans verwendet, wobei dessen Trias Symbolisches, Imaginäres, Reales die Opposition von Kultur und Natur insofern unterläuft, als die Analogisierung von Weiblichkeit und Natur als Stabilisierung jener imaginären Grenze des Symbolischen gelesen wird, die weibliche Artikulationsweisen ausgrenzt, damit zugleich aber ein Reales konstituiert, das die geschaffenen Ordnungsmuster stört. Vgl. Irigaray: Frauenmarkt [Anm. 43], 183: "Die Waren, die Frauen, sind Wertspiegel des Mannes / für den Mann. Zu diesem Zweck überlassen sie ihm ihren Körper als stoffliche Träger der Spiegelung, der Spekulation. Sie überlassen ihm ihren natürlichen und gesellschaftlichen Wert als Ort der Einprägung, Markierung und Einbildung seiner Tätigkeit." Donna Haraway: A Cyborg Man !festo , in: dies., Simians, Cyborgs and Women - The Reinvention qf Nature, NewYork 1991,149-181, hier: 163.
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ergreifung hin zu einem "ultimate self untied at last from all dependency"51. Vollendet sich im Cyborg ein männlicher Wahn, die weibliche Natur technisch zu verdoppeln und sie in einer apokalyptischen Kriegsorgie endgültig zu vernichten 53 , so kehrt er zugleich das Phantasmatische dieser gewaltsamen Selbstermächtigung hervor. Die Aneignung des Cyborg durch den Feminismus verdankt sich der Erkenntnis, daß diesem Phantasma nicht durch ideologiekritische Entlarvung, sondern nur durch seine pointierte Inszenierung begegnet werden kann. Anstatt Weiblichkeit dem Zugriff von Mythen und Technologien zu entwinden, muß sie als hybride Figur ausgestellt werden, in der sich Körper und Maschine, Natur und Technik verschränken, ohne doch eine bruchlose Einheit zu bilden. Diese kritische Wendung, die den Bruch mit dem militaristischen und patriarchalen Erbe der Cyborgs markiert, wird in den hier betrachteten Kriegstexten weder von männlichen noch von weiblichen Autorinnen ausdrücklich reflektiert. Wie gezeigt, sind sie vor allem von einem phantasmatischen Zug endzeitlicher Ermächtigung gezeichnet, die die Differenz der Geschlechter und alle analogen Dichotomien überwindet. Allerdings läßt sich die Kehrseite, das Zutagetreten von Zerstückelungsszenarien und hybriden Körpern, die nicht mehr durch weiblich konnotierte Ursprungsvisionen auf Distanz gehalten werden können, in diesen Texten durchaus entziffern. Vor diesem Hintergrund sollen im folgenden zwei komplexere literarische Texte untersucht werden, die jeweils den Ersten Weltkrieg als apokalyptisches Geschehen gestalten. Sowohl in Karl Kraus' Die letzten Tage der Menschheit wie auch in Arnold Zweigsjunge Frau von 1914 spielt die Auflösung traditioneller Geschlechterkonzepte rur die Bestimmung dieses Geschehens eine zentrale Rolle, wobei die sich auch hier folgerichtig aufdrängende Repräs~ntations problematik in unterschiedlicher Weise reflektiert wird und im jeweiligen Schreib- bzw. Darstellungsverfahren einen Niederschlag findet.
III. Karl Kraus und der apokalyptische Ton In dem monumentalen Kriegsdrama von Kad Kraus, das anders als der Text Zweigs, der erst 1931 publiziert wurde, während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg entstand, ruhrt die Frage nach der Geschlechterdifferenz ins Zentrum der apokalyptischen Szenerie. In Die letzten Tagen der Menschheit 53 wird zwar der Krieg noch als die "natürliche Beschäftigung des Mannes" (L T
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Ebd., 150f Ebd., 154. Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit - Tragödie in}iil!fAkten mit Vorspiel und Epilog, Frankfurt a. M. 1986. Zitate aus dieser Ausgabe werden im folgenden im Text mit der Sigle LT nachgewiesen.
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267) gefeiert, werden Frauen aufgefordert, sich liebend und sorgend um die Soldaten zu kümmern. Doch offenbart der Krieg eine durch und durch marode Geschlechterordnung, in der die weibliche Sphäre keinen anderen Raum gegenüber der sich ausweitenden Sphäre des Krieges mehr behauptet, sondern bis zur Unkenntlichkeit mit dieser verschmilzt. Die österreichische Heimatfront ist mobilisiert, wie Durchhalteparolen von Hausfrauenvereinigungen zeigen, deren Mitglieder von der Überzeugung beseelt sind, daß ihr Einsatz gefragt ist, "wo Not arm] Mann ist". (LT 282) ,Not am Mann' aber ist allerorten, denn nicht selten muß eirie tatkräftige und ehrgeizige Ehefrau, die das Gesetz des Krieges durchschaut hat, ihren Gatten mahnen, ein Mann zu sein und "in diesen Tagen" nicht als "Schwächling" zu erscheinen. (L T 317, 343) Das weibliche Engagement rur die Kriegsftirsorge bleibt dem Krieg der Männer nicht mehr als sein Supplement untergeordnet, sondern verselbständigt sich und verbreitet so eine kriegerische Atmosphäre im häuslichen Alltag, die die Ehemänner überfordert, weil sie gegenüber der gewohnten Ordnung einen unerklärlichen Überschuß darstellt. 54 Die typische Kriegsenthusiastin - und um Typen und Klischees handelt es sich ausschließlich bei den Figuren dieses Dramas - hat keine Kinder und richtet statt dessen all ihre Energie auf den Krieg. 55 Andere weibliche Figuren haben Söhne, die sie stolz dem Vaterlapd opfern, womit sie auf die angestammte mütterliche Rolle, den Krieg zu beklagen und dem Sterben die ,Gabe des Lebens' entgegenzusetzen, bereitwillig verzichten. (LT 299,400,683) Die Ambivalenz dieses mütterlichen Kriegsdienstes tritt zutage, wo der mütterliche und insbesondere der schwangere Körper selbst als Chiffre eines totalisierten Krieges in den Blick kommt. Der Anblick einer Schwangeren läßt den Nörgler, jene Figur, die das Geschehen kritisch kommentiert und die gelegentlich mit dem ebenfalls durch das Drama geisternden "Fackelkraus" (LT 341) identifiziert wird, in einen elegischen Ton verfallen. ,,0 rührend Anbot in der Zeit des großen Sterbens!" (LT 285), hebt er an, um dann jedoch jede Verherrlichung dieses ,gesegneten Leibes' zurückzuweisen. Denn die "letzten Spuren von Natur" (LT 285), die er in diesem archetypischen Bild aufbewahrt sieht, lassen sich unter den Bedingungen des modernen Krieges nicht mehr im Sinne eines die Gemeinschaft insgesamt fundierenden Sinns lesen. Scheint der schwangere Körper ein heiliges Geheimnis zu bergen, das einmal Leben oder "Harmonie der Schöpfung" (LT 286) genannt wurde, so wird er nun unweigerlich als Produktionsmittel eines Heereslieferanten
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Vgl. LT 311: ,,[ ... ] du bringst mich um mit deiner Kriegsrursorg - Hilfskomitees und Zweigstellen und was weiß ich, Konzerte und Nähstuben und Teestuben und Sitzungen, wo man herumsteht, und jeden Tag Spitäler - Gott, is das noch ein Leben - (at/j sie losgehend) was - was willst du noch von mir [... ]." Vgl. LT 313. "Dein Ehrgeiz bringt mich ins Grab! - hättst du Kinder, wärest du abgelenkt!"
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instrumentalisiert. Schroff weist der Nörgler die werdende Mutter, die sich stolz in der Öffentlichkeit zeigt, an, sich zu verbergen, da ihr Auftauchen nicht anders denn als ein ,Zu-Markte-Tragen' künftigen Kriegsmaterials wahrgenommen werden könne. Ganz gleich, ob die Schwangere selbst glaubt, ein göttliches Geheimnis zu bewahren - sie wird zur ,Kriegs-Freiwilligen', die einen Jahrgang vermehrt. Ihr Körper läßt sich nicht mehr als rätselhafter, die Zweiheit in der Einheit fassender Schwellenraum auf Distanz halten, sondern wird zum Ausdruck einer restlosen Verfügbarkeit 'des Menschen, der den universellen Verwertungs zusammenhängen nichts mehr entgegenzusetzen hat. Vor diesem Hintergrund erscheint auch der Appell an die Mutter, sich vor den Blicken zu schützen, ohne Sinn, denn längst haben sich die kriegführenden Menschen "über die Schwelle jagen lassen, wo das Geheimnis beginnt, dessen Verrat kein irdischer Staat erlangen könnte". (LT 672) Wo einem irdischen Staat der Zugriff verwehrt war, bricht der exzessive moderne Krieg ein: Körper werden hier nicht mehr nur als Träger kultureller Symbolisierungen zugerichtet, verwundet, gezeichnet oder auch getötet. Sie kommen überhaupt nur als solche, nämlich als verwundete und zerstückelte, in Betracht, sind also nicht mehr als der Formung oder Symbolisierung vorgängige Substanz, deren Ursprung kulturell uneinholbar ist, zu denken. Der Krieg, der, wie es mehrmals heißt, "das Kind im Mutterleib tötet" (LT 677, 762), bewegt sich nicht mehr in den Grenzen eines denkbaren Symbolhorizontes, vielmehr setzt und zerstört er sein Fundament unablässig selbst. Inbegriff für die zerstörerische Macht, die sich am Geheimnis vergreift und alles zum Instrument und zum Zeichen werden läßt, ist bei Kraus die Presse. In ihr sieht er alle Übel einer wesenlosen Zeit verkörpert, in der die Technik sich als Selbstzweck auf den Thron gehoben hat. Anstatt über WirIqichkeit zu berichten, hat die Presse begonnen, sie durch Lügen und Vers teilungen zu schaffen. Ihre Sprache ist die der Phrase, die sich von jedem Inhalt abgelöst hat und nurmehr ständig vervielfältigt wird. Jeden Unterschied zwischen Alltagsjargon, Zeitungsartikel und Literatur einebnend, gebiert dieses Wort "fortzeugend Böses" (LT 210), da nichts mehr gegen seine totalisierende Selbstbehauptung geltend gemacht werden kann. Das gedruckte Wort, so analysiert der Nörgler, hat das Menschentum bzw. das Herz, wie es an anderer Stelle heißt, ausgehöhlt. (LT 209, 677) Was bleibt, ist der allmächtige maschinelle Schreibakt, der sich in verheerenden und endlosen Gewaltakten manifestiert: Hysterie im Schutze der Technik überwältigt die Natur, Papier befehligt die Waffe. Invalide waren wir durch die Rotationsmaschinen, ehe es Opfer durch Kanonen gab. Waren nicht alle Reiche der Phantasie evakuiert, als jenes Manifest der bewohnten Erde den Krieg erklärte? Am Ende war das Wort. Jenem, welches den Geist getötet, blieb nichts übrig, als die Tat zu gebären. (LT 676f.)
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Dieses letzte Wort, das zuletzt dem Chefredakteur der Wiener Neuen Freien Presse in den Mund gelegt wird ("ich bin des Worts Redaktor, / das an dem Ende steht", LT 752), ist wie das göttliche Wort, von dem der Beginn des Johannesevangeliums spricht, rein performativ. Es referiert nicht auf ein Außersprachliches, sondern vollzieht die Tat im Akt des Sprechens. Anders jedoch als im biblischen Prätext ist dieses Wort sozusagen nicht "bei Gott" und damit der Welt entzogen, sondern die Apotheose irdischer Mittel, die die Welt vollkommen ersetzt zu haben scheinen. 56 Indem zuletzt DIE STIMME GOTTES jene Worte spricht, mit denen der deutsche Kaiser sich selbst jede Autorität und Verantwortung abgesprochen hatte ("Ich habe es nicht gewollt." [LT 770]), erscheint der Machbarkeitswahn und die kaiserliche Selbstvergottung im Sprechakt realisiert, der den omnipotenten Sprecher im selben Moment erscheinen wie untergehen läßt. 57 Als Inbegriff lügenhafter Verstellung wird die Presse in den Letzten Tagen als Hure BabyIon allegorisiert, der die Völker und Könige der Erde - Wilhelrn 11. erscheint als "apokalyptische[r] Reiter" (LT 677) - verfallen seien: Und von dem Wollustwein ihrer Unzucht haben alle Völker getrunken, und die Könige der Erde buhlten mit ihr. Und er sprach zu ihr, der apokalyptische Reiter, den ich einstens, lange eh ers tat, durch das deutsche Reich rasen sah. [... ] Und ich sah ihn als das Tier mit den zehn Hörnern und den sieben Köpfen und einem Maul gleich dem Rachen eines Löwen. [... ] Und wir fielen durch ihn und durch die Hure von Babyion, die in allen Zungen der Welt uns überredete, wir wären einander feind und es solle Krieg sein. (LT 677)
BabyIon steht hier also, wie in der biblischen Offenbarung des Johannes, die passagenweise wörtlich zitiert wird, nicht nur rur Hurerei und Verfall, sondern auch rur die in der Genesis beschriebene Verwirrung der Sprachen, mit der die Völker den Turmbau zu Babel büßen. Die Verselbständigung des Sprachzeichens, die Vervielfaltigung und Autonomisierung der Signifikanten gegenüber dem Signifikat58 - im biblischen Prätext eine Strafe Gottes, die die Menschen auf immer von der reinen Sprache entfernt - erscheint als Quelle eines Unheils katastrophischen Ausmaßes. Damit wird einerseits die phantasmatische Leugnung der Differenz von Zeichen und Wahrheit, wie sie, dem Text zufolge, die Kriegsrhetorik prägt, angeklagt, zugleich wird aber auch Anspruch auf eben jene ehemals entzogene reine Sprache erhoben, die sich jeder Instrumentalisierung und Übersetzung entzieht. Um diesen ambiva-
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Vgl. hierzu auch Reiner Niehoff: Die Herrschaft des Textes - Zitattechnik als Sprachkritik in Georg Biichners Drama "Dantons Tod" unter Beriicksichtigung der "Letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus; Tübingen 1991, 224. Niehoff spricht von einer "Semiokratie", die "die Verwandlung des Realen in die Zeichen des Realen" betreibe. Zur Vertauschung von Kaiser und Gott vgl. auch LT 534: "Majestät sind nicht mehr das Instrument Gottes - [... ] - sondern Gott ist das Instrument Eurer Majestät!" Vgl. hierzu auch Niehoff: Die Herrschaft des Textes [Anm. 56], 231.
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lenten Gestus des Textes, der die Apokalypse nicht nur prophezeit und bezeugt, sondern selbst in gewisser Weise apokalyptisch ist 59 , genauer beschreiben zu können, soll zunächst die von ihm betriebene charakteristische Verschränkung von Sprache und Geschlecht genauer betrachtet werden. Beide werden als Prinzip einer Unterscheidung im Moment ihres Uhtergangs in den Blick genommen. Die katastrophische Entdifferenzierung koinzidiert dabei mit einem Akt der Neuschöpfung, der den Grenzfall sprachlicher oder geschlechtlicher Ordnung markiert, ohne doch in ihnen darstellbar zu sein. Als die "eigenartigste Erscheinung dieser Apokalypse" (LT 504) wird im Text die Figur der Alice Schalek vorgestellt, einer Kriegsberichterstatterin, deren Feuilletons den Zeitgenossen aus der Wiener Neuen Freien Presse bekannt waren. "Die Schalek", wie sie durchgehend genannt wird, gibt sich nicht mit der Mobilisierung der Heimatfront zufrieden - sie zieht selbst an die Front, um dem einfachen Soldaten seine Empfindungen im Krieg abzulauschen. "Man kann nicht immer im Hinterland hocken" (LT 587), erklärt sie wiederholt und ist erst zufrieden, als sie im Kugelhagel "ganz mit der Mannschaft fühlen" kann. (LT 447) Empfindungen, dem traditionellen Geschlechterklischee zufolge Frauensache, werden von der Schalek nurmehr als unpersönlich, mediatisiert und damit der Phrase ausgeliefert aufgefaßt. Nicht der eigene Körper ist ihr Quelle der Gefühle, erst der Gemeinschaftskörper des männerbündischen Kollektivs vermag sie zu einer Gefiihlsäußerung hinzureißen: die Metapher hat die ursprüngliche Bedeutung vollständig ersetzt. Eine weibliche Natur gibt es hier nicht mehr; appellieren andere Frauen an ihre Weiblichkeit, muß erst ein Mann der Schalek übersetzen. (L T 288) Einmal weist sie einen noch unerfahrenen Soldaten, der ihre Vorliebe für das "Putzen" von Schützengräben als weiblichen Sinn für Reinlichkeit, mißversteht, erbost zurecht: "Putzen heißt Massakrieren." (LT 585) Der Kamerad ist daraufhin so konsterniert, daß er ausführlichere Betrachtungen über Weiblichkeit im Krieg zitiert: "An solchen Ausartungen der weiblichen Natur können wir nicht schweigend vorübergehen, weil sie manches erklären, was zu den Erlebnissen im Kriege gehört. Diese abstoßende Unweiblichkeit, diese auf der Gasse zur Schau getragene Gemütlosigkeit sind Merkmale ernster Verwilderung." (L T 586) Er fährt fort, daß die Frau, wenn sie aus der Eigenart des Geschlechtes heraustrete, ihre Zartheit abstreife und sich zum Mannweib verunstalte, das zu einer "seltsamen Grausamkeit" neige. (LT 587) Diese ,seltsame Grausam-
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Vgl. die in mancher Hinsicht für das hier Diskutierte anregende Abhandlung Jacques Derridas: Von einem neuerdings erhobenel1 apokalyptischen Ton in der Philosophie, in: ders., Apokalypse, hg. von Peter Engelmann, Graz und Wien 1985. Umkreist wird die Erkenntnis, daß ,Jede Sprache über die Apokalypse auch apokalyptisch ist und sich von ihrem Objekt nicht ausschließen kann." Ebd., 78.
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keit' flößt gestandenen Männern Respekt, aber auch Furcht ein60 , denn in ihrer restlosen Anverwandlung an die Sphäre des Krieges, die sie zum Medium seiner Gewaltakte werden läßt, ist die Schalek nurmehr das Gespenst einer Frau, die sich über die Geschlechterdifferenz erhebt und in ihrer eigenen Substanzlosigkeit auch den Männern das weibliche Andere als Projektionsfläche ihrer Identität entzieht. Ihr Gebaren muß obszön wirken, da es gleichsam das Geheimnis des Weiblichen lüftet, das bis dahin mit dem Index des verborgenen, männlichem Zugriff nie vollständig zugänglichen Anderen versehen gewesen war. Die Offeribarungjedoch konfrontiert den Schauenden mit einem Abgrund, in den er hineinzustürzen droht. Die Verfuhrungskraft dieser apokalyptischen Hure, die innerste Gefühle und sogar das Sterben durch die Phrase ersetzt, kann nur durch das verborgene Potential derselben Sprache gebrochen werden, welches Kraus' Weltkriegs drama an ihr konsequentes Ende treibt. Denn wenn der Nörgler sich als unfreiwilliger und einziger Zeuge der finalen Selbstzerstörung der Menschheit inszeniert, so hat er doch keine Visionen, als die sich vor seinen Augen abspielenden Realitäten, in denen sich seine Prophezeiungen erfüllen (L T 644).61 Als Zeuge ohne Körperkraft (LT 671) und ohne eigene Worte (LT 300) bleibt auch ihm nur das Wiederholen der Phrasen, die er jedoch den Sprechern als den mächtigen Mediatoren einer heillosen Welt entwindet, indem er sie ,auf zwei Beine stellt' (LT 9) und auf seiner ,Weltuntergangsbühne' auftreten läßt: ,,[ ... ] den Gedanken ihrer Dummheit, den Gefuhlen ihrer Bosheit, dem furchtbaren Rhythmus ihrer Nichtigkeit gab ich die Körper und lasse sie sich bewegen." (LT 681) Die Verkörperung der Phrasen im Welt theater entlarvt also zum einen die Al1machts- und Selbstschöpfungsphantasien der Kriegstreiber, indem sie sie als solche in Szene setzt und sie gleichsam in ihrer letzten Konsequenz vorfuhrt. Den Figuren wird, so heißt es, "das Fleisch abgezogen" (LT 680f); anstatt Phrasen zu rezitieren, werden sie selbst zum Abziehbild, zur jeder Individualität entbehrenden Phrase. Die Körperwerdung der Phrasen ist dabei zugleich gewissermaßen selbst ein Schöpfungsakt, die Bühne wird zur Welt, auf der der äußerste Grenzfall zitathaften Sprechens als einer geprobt wird, an dem die Extreme einer vollständig entleerten Sprache und einer reinen, schöpferischen Sprache ineinander umschlagen. Im Akt des Zitierens nämlich, auf dem die Phrase beruht, den sie aber verleugnet, insofern sie mit Macht- und Sinnansprüchen verknüpft ist, taucht eine Körperlichkeit auf, die sich den phantasmatischen Selbstsetzungen entzieht. Dies ist, so deutet es der Text an, die Materialität des Signifikanten, der allein in der Wiederholung präsent wird, die ihn jeder 60
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Vgl. LT 155. Zwei männliche Kriegsberichterstatter verstecken sich, als die Schalek herankommt. Einer sagt zum anderen: ,,[S]chämen Sie sich vor der Schalek." Vgl. auch LT222: "Ich habe keine Überzeugungen."
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Referenzfunktion entkleidet. Die Rhythmisierung und Intonierung der Phrasen sprengt die klassische dramatische Form und produziert, indem sie durch "hundert Szenen und Höllen" (LT 9) fuhrt, eine Handlung, die "unmöglich, zerklüftet und heldenlos" (LT 9) ist, sie setzt aber dennoch einen gemeinsamen "Grundton" (L T 681) frei. Indem sie das nicht enden wollende "Kriegsgetöse" (LT 609) als Mißklang hörbar macht, bricht sie die Geschlossenheit der Zeichenketten auf und schreibt ihnen den Schmerzton der verwundeten, zugrundegerichteten Körper, die sie zu ersetzen und auszulöschen trachten, ein. Walter Benjamin hat die Zitatpraxis von Kraus mit einer ursprünglichen "Engelsprache" in Verbindung gebracht, einer Sprache also, die - von geschlechtslosen Wesen gesprochen -, offenbart, indem sie Kontexte und Sinnzusammenhänge zerbricht62 : "Im rettenden und strafenden Zitat erweist die Sprache sich als die Mater der Gerechtigkeit. Es ruft das Wort beim Namen auf, bricht es zerstörend aus dem Zusammenhang, eben damit aber ruft es dasselbe auch zurück, an seinen Ursprung." Ursprung und Zerstörung sind in dieser radikalen Auffassung des Zitats nicht zu trennen. Die Metaphorik des (Zurück-)Rufens, die Benjamin hier verwendet, personifiziert das Wort und betont so einen Überschuß, den es gegenüber der von Menschen instrumentalisierten Sprache der Vermittlung und Verständigung birgt. Bei Kraus ist es der Ton, der diesen Mehrwert birgt, in dem schöpferisches und zerstörerisches Potential der Sprache sich verschlingen. 63 Das "Wesen" dieses Tons wird einerseits mit dem Kult um das Zeichen, der Totalisierung des Supplements durch die "schwarze Magie" der Presse in Verbindung gebracht. Andererseits manifestiert sich in ihm aber der göttliche Körper, der nicht gesehen, sondern nur - gleichsam durch seine Schändung hi.ndurch gehört werden kann. Die Ambivalenz des Tons, der aus Kriegsgetöse und Höllenlärm den Sphärenklang himmlischer Offenbarung entbindet, sucht offenbar gerade jene Figur des Nörglers heim, die privilegierte Zeugenschaft und Souveränität dem Geschehen gegenüber fur sich beansprucht. Einerseits zwar stilisiert der Nörgler den eigenen Umgang mit dem Sprachmaterial, den Einsatz der eigenen Stimme, als Opfer, das Erlösung erhoffen kann, andererseits jedoch nimmt er sich selbst von der Verantwortung fur den Weltunter-
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Walter Benjamin: Karl Kraus, in: ders., Gesammelte Schriften lI/l, hg. von RolfTiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991,443-367, hier: 363. Vgl. LT 421: "Verschlungen ist der Mißton dieses Mordens vom ewigen Gleichmaß sphärischer Musik." Das Verschlingen kann hier sowohl im Sinne einer körperlich-kannibalischen Einverleibung verstanden werden, die auch Benjamin als Charakteristikum der Krausschen Satire hervorhebt (Benjamin: Karl Kral/s, 355), als auch im Sinne eines Ineinanderverwobenseins der Gegensätze. Vgl. hierzu auch Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton ;n der Philosophie [Anm. 59], 79.
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gang nicht aus, da er ja nichts getan habe, als Phrasen zu reproduzieren und sie auf die Spitze zu treiben. Ich habe das Wesen gerettet und mein Ohr hat den Schall der Taten, mein Auge die Gebärde der Reden entdeckt und meine Stimme hat, wo sie nur wiederholte, so zitiert, daß der Grundton festgehalten blieb ftir alle Zeiten. [... ] Dies ist mein Manifest. Ich habe alles reiflich erwogen. Ich habe die Tragödie, die in die Szenen der zerfallenden Menschheit zerfallt, auf mich genommen, damit sie der Geist höre, der sich der Opfer erbarmt [.. .]. Er empfange den Grundton dieser Zeit, das Echo meines blutigen Wahnsinns, durch den ich mitschuldig bin an diesen Geräuschen. Er lasse es als Erlösung gelten. (LT 681) Manifestcharakter hat der Text wohl weniger wegen der in ihm vertretenen Meinungen 64 oder der in ihm formulierten programmatischen Thesen. Der Begriff hebt hier eher den Sprech- oder Schreibakt hervor, der sich auf der Schwelle zwischen Selbstaffirmation und Selbstverlust einem Anderen anheimstellt. 65 Das emphatisch auftretende Ich kann den schwankenden Boden, auf dem es Wesenheiten behauptet und Erlösung heischt, kaum verleugnen. Dies wird auch deutlich, verfolgt man die Entdifferenzierung von Mann und Frau, die am Schluß des Dramas noch einmal eine Radikalisierung erfährt. Dort nämlich treten überhaupt keine geschlechtlich unterschiedenen Menschen, sondern nur noch MÄNNLICHE UND WEffiLICHE GASMASKEN auf, monströse Larven, die "Gesicht und Geschlecht" (LT 732) verloren haben. Der fatalen Entdifferenzierung im Weltkriegsdiskurs, die Natur und Kultur, Körper und Zeichen, männliche und weibliche Sphäre ununterscheidbar werden läßt, wird im Krausschen Drama bis zu ihrem Extrempunkt nachgespürt; sie wird keineswegs rückgängig gemacht oder lediglich moralisierend beklagt. Und doch scheint die Allegorisierung der Presse als Hure BabyIon, scheint die Schalek als Personifikation entstellter Ursprünglichkeit nicht zufällig weiblich figuriert. Sie sind es, deren Untergang der Text mit allen Registern betreibt, die Zitation des biblischen Prätextes scheint hier nicht denselben destruktiven und entlarvenden Gestus zu haben wie im Falle der vielen montierten Zitate aus zeitgenössischen Diskursen. Gerade in der Imitation des biblisch-apokalyptischen Tons manifestiert sich offenbar die Phantasie, ein nicht mehr domestizierbares Weibliches - das fur die moderne Bemächtigung des Menschen/ Mannes durch die Technik(en) einsteht - ein fUr alle Mal bändigen zu können, seinen Untergang zu betreiben. 66 64
65 66
Vgl. hierzu auch Benjamin: Kar! Kraus [Anm. 62], 343: "Wie aber Persönliches und Sachliches nicht nur im Gegner, sondern vor allem in ihm selber zusammenfällt, beweist am besten, daß er nie eine Meinung vertritt. Denn Meinung ist die falsche Subjektivität, die sich von der Person abheben, dem Waren umlauf einverleiben läßt." V gl. L T 681: "U nd hörten die Zei ten nicht mehr, so hörte doch ein Wesen über ihnen!" Zum totalitären Impuls der biblischen Apokalypse vgl. Gilles Deleuze: Nietzsehe und Pa/Iltis Lawrence IIl1dJohannes IIon Patmos, in: ders., Kleine Schrttten, Berlin 1980, 97-128: ,,[ ... ] die Apokalypse brauchte eine Vernichtung der Welt, um ihre letzte Herrschaft und ihre himmlische
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Kraus faßt das Wesen der Zeit im Bild einer Frau, die ,unweiblich' ist, insofern sie kein dem Symbolhandeln entzogenes Geheimnis mehr birgt, sondern vollkommen von diesem durchdrungen wird, seine Quintessenz verkörpert. Gleichzeitig jedoch macht sich durch diese entleerte Zeichenhülle hindurch ein Anderes geltend, welches das vom Symbolischen ausgeschlossene Geschlecht der Mutter aufruft. Die Darstellung oder Offenbarung des einen geschieht nicht durch die Überwindung des anderen, sondern beruht auf deren exzessiver Mimesis. Wenn die Sprache bei Kraus ein Weib ist, wie Benjamin ,zwischen den Zeilen' liest67 , so läßt sich dieses doch offenbar nicht eindeutig bestimmen oder positionieren. Der Versuch, sich mit ihr vollständig zu verbinden, sich mit ihrem Körper zu vereinigen, um einer wahren Präsenz des Sagens jenseits alles Ausgesagten innezuwerden, sieht sich der Notwendigkeit gegenüber, Sprache in ihrer Symbolfunktion, als wiederholendes Prinzip zu benutzen und sich damit der ihr eingeschriebenen ursprünglichen Differenz auszuliefern. Das Begehren nach Einzigartigkeit wird mit dem unhintergehbaren Prinzip der Wiederholung konfrontiert, die angestrebte Einheit von Sprache und Körper im idealen, selbst-genügsamen bräutlichen Zeichen, das auch das wiedergefundene Zeichen der Mutter ist, mit der Vielzahl der aufgezählten und zitierten Frauentypen und Weiblichkeitsbilder, von denen keine dem Ich dauerhaft Halt oder Spiegel sein kann. Das Weibliche / die Sprache oszilliert hier also zwischen den Extremen, die dem Ich vollkommene Präsenz versprechen und es andererseits in den Abgrund einer radikalen Leere stürzen, die sich hinter den Maskeraden und Verstellungen der Frauen auftut, die alles, auch männliche Rollenmuster, lediglich imitieren. Gerade indem er unablässig versucht, beide Weiblichkeitsfigurationen, himmlische Braut und babylonische Hure, voneiI+ander zu trennen, die eine zu verwerfen, um der anderen offenbar zu werden, erweist sich der schon in seiner Form monströse Text selbst einer Bewegung aus-
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Festung zu errichten, und nur das Heidentum lieferte ihr eine Welt, einen Kosmos. [... ] Und jener heidnischen Welt, die trotz allem lebendig geblieben war und fortfuhr, mit Macht auf unserem Grunde fortzuleben, schmeichelt die Apokalypse, sie beschwört sie, läßt sie wiederaufsteigen, aber um ihr den Prozeß zu machen, um sie in Wirklichkeit zu ermorden [.. .]." Die heidnische Welt aber bewahrt, wie Deleuze ausführt, die Erinnerung an die Figur der ,großen Mutter', der nun endgültig der Garaus gemacht werden soll: "Die Verwandlung der Frau - die Apokalypse erweist der großen kosmischen Mutter, die zu ihren Füßen von Sonne und Mond eingerahmt wird, noch eine flüchtige Huldigung. [... ] sie wird in die Wüste geschickt, aus der sie nicht mehr entkommt. Sie kehrt nur in der verkehrten Form der Hure von Babylon wieder: noch sitzt sie glänzend aufihrem roten Drachen, der Vernichtung anheimgegeben." (Ebd., 116f) "Die Modernität der Apokalypse liegt nicht in den angekündigten Katastrophen, sondern in der programmierten Selbstverherrlichung, der ruhmvollen Errichtung einer letzten juridischen und moralischen Herrschaft. [... ] Unfreiwillig überredet uns die Apokalypse, daß das Schrecklichste nicht der Antichrist sei, sondern jene neue Stadt, die dem Himmel entstiegen ist, die heilige Stadt, ,bereit, wie eine Braut, die für ihren Gatten geschmückt ist'. Jeder halbwegs vernünftige Leser der Apokalypse fühlt sich schon im Schwefelsee." (Ebd., 114.) Benjamin: Karl Kraus [Anm. 62], 353.
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gesetzt, die keinen Ursprung und kein Ziel hat, sondern vielmehr beide in sich birgt, ohne sie fixieren zu können. Anfang und Ende bestehen aus Zitaten, das kommentierende Subjekt, der Nörgler, kann sich selbst nur durch Wiederholen fremder Rede behaupten. So begegnet die "Hysterie", die er selbst in der verselbständigten Maschinerie der Presse erkannt hatte (LT 676), als herausragendes Merkmal seiner eigenen Rede und darüber hinaus als Merkmal der von Kraus verfaßten Letzten Tage insgesamt. Die Verkörperung von Präsenz und Wahrheit läßt sich von dem Schauspiel eines zitierenden Agierens nicht ablösen, in dem ,alles' auf dem Spiel steht. 68 Schreibt sich der Text durch Bibelzitate selbst in die Tradition der Apokalypse ein, so wird er selbst doch vor allem darin apokalyptisch, daß er die Unterscheidung von Hure und Braut, die den theologischen Prätext organisiert, nicht souverän zu kontrollieren vermag. Der einzige Zeuge, dessen Rede die Grenze des symbolischen Universums markiert, kann seine Setzungen nicht mehr aus dem Weiblichen als dem Unverftigbaren schlechthin ableiten. Vielmehr wird Weiblichkeit selbst als performative Setzung eines entgrenzten Diskurses lesbar, in dem das Ideal selbstpräsenter Körperzeichen und der verworfene Körper (der Hure) als absolut unvereinbare Erscheinungsweisen des Weiblichen auftreten, die sich zugleich zum Verwechseln ähnlich sind. Weiblichkeit erscheint vielmehr in zwei zum Verwechseln ähnliche und doch unvereinbare Erscheinungsweisen gespalten. Von dieser Heterogenität wird der Kraussche Text unablässig heimgesucht. Gerade in der Verknüpfung von Geschlecht und Apokalypse wird die Struktur eines Schreibens erkennbar, das den zeittypischen Versuch zur Schau stellt, die Grenze zwischen den Zeichen und den Körpern zu überschreiten und in der Emphase einer Rhetorik der Selbstschöpfung zum Verschwinden zu bringen. Das apokalyptische Schauspiel, das die Geschlechterdifferenz zuletzt mit dem Auftritt der Gasmasken auslöscht, wiederholt den Gründungsakt des Symbolischen, in dem die Einheit von Zeichen und Dingen / Körpern als uneinholbares Fundament gesetzt, zugleich aber eine andere / dieselbe Körperlichkeit, die diese Einheit bedroht und spaltet, indem sie ihre Gewalt erinnert, verworfen wird. 69 Indem beide Körper mit Weiblichkeit verknüpft werden, die sich letztlich nicht eindeutig fassen, als himmlische Braut oder Wahrheit der Sprache vereindeutigen läßt, fUhren sie den paradoxalen Gestus apokalyptischen Sprechens vor. Dieser nämlich bleibt in seinem Versuch, sich in der völligen Verschmelzung mit dem Anderen als einzigartiger und schöpferischer zu verkörpern, der Materialität zitierter Rede
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Zur Hysterie als entgrenzte, die Ordnung und das Gesetz insgesamt betreffende Simulation vgl. Christina von Braun: Nicht ich - Logik, Lüge, Libido, Frankfurt a. M., 3. Aufl. 1990,29,73. Zu diesem Zusammenhang vgl. Judith Butler: Bodies That Matter - On The Disctlrsive Limits cf "Sex", London andNewYork 1993, 68-72.
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ausgeliefert, deren Verwerfung niemals vollständig gelingen kann und daher immer aufs Neue vorgeführt wird. Der Diskurs über die Geschlechter erscheint hier also im Modus des Apokalypse, wie auch die apokalyptische Kriegsrhetorik in den zeitgenössischen Geschlechterdiskurs verschränkt ist. Radikale Sprachschöpfung erscheint als eine, die Sprache als Körper gebiert, die mithin eine neue Welt ohne alle Differenz erstehen läßt. Aber diese Körper sind zugleich Spaltungen und Verwerfungen ausgesetzt, die die Fixierung eines weiblich-mütterlich konnotierten Ursprungs unmöglich werden lassen, womit sie traditionsreiche Gründungsmythen männlicher Selbstbehauptung zur Disposition stellen.
IV. Arnold Zweig und der groteske Körper der Europa Zweigs Roman Junge Frau von 191470 stellt denjenigen Teil seines Romanzyklus' über den "Großen Krieg der Weißen Männer" dar, der vor allem die ,Heimatfront' und das sich verändernde Verhältnis der Geschlechter in den Blick nimmt. Dem männlichen Protagonisten erscheint der Krieg auch hier zunächst als großes Ereignis, das die erstarrte Gesellschaft zu neuem Leben erwecken und die Vereinzelung der Menschen aufzuheben verspricht. Der Schriftsteller und Bohemien Werner Bertin gibt dem Druck, den das Leben als Soldat auf ihn, den unkörperlichen und orientierungslosen Intellektuellen ausübt, widerstandslos nach. Er genießt die "Lust, Teil eines riesigen Gesamtkörpers zu sein" und mit dem Männerbund "zu einer Einheit" zu verschmelzen. UF 41) Gleichzeitig spürt er die neue Kraft, die das Soldatenleben ihm durch die Kräftigung seines eigenen Körpers verleiht: "Ferne und Fremde müssen einen Mann aus ihm machen, oder er wird nie einer." UF 109r l Im selben Maße, wie er sich durch den vom Krieg gestählten Männerkörper an seinen Platz gestellt und gegen Einflüsse gepanzert fühlt, die seinem Ich bedrohlich werden können, zerstört er jedoch die Liebesbeziehung, die seine Existenz vor Kriegsausbruch wesentlich prägte. Hatte die partnerschaftliche Gemeinschaft zwischen ihm und seiner Freundin Lenore zuvor jenseits der bürgerlichen Ordnung eine neue Form nur individuell beglaubigter Bindung erprobt, so wird diese nun ebenso wie die bürgerlichen Rituale der Werbung und der Ehe vom Krieg radikal hinweggefegt. n
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Arnold Zweig:Junge Frau von 1914, Berlin 1995. Der Roman entstand zwischen 1928 und 1931, dem Jahr seiner Erstveröffentlichung. Im folgenden wird auf diese Ausgabe im Text mit der Sigle JF verwiesen. Vgl. auch ebd., 11: "Immer mehr Spannkraft und Erwartung bebte in seinen Muskeln." Vgl.JF 339: "Die Sitten des bürgerlichen Lebens bröckelten ein, wenn man so rücksichtslos mit ihnen umging, die von Vätern und Vorvätern her alle Beziehungen zwischen den Menschen sinnvoll regelten. [... ] alles brach ein: Ehe, Sitte, Ordnung, Eigentum. Der Krieg befruchtete das Geschäft; [... ] unterwühlte er etwa gleichzeitig seine Grundfesten, die bürgerliche Welt?"
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Dies findet im Text seinen Ausdruck vor allem in einer kurzen Szene, in der Bertin die Freundin, die ihn bei seiner Einheit besucht, ,Befehle zischend' vergewaltigt. In diesem Moment beginnt Lenores Leidensgeschichte, denn als sich herausstellt, daß sie schwanger ist, wird sie von Bertin mit der Abtreibung und ihren Folgen fast völlig alleingelassen. Sein Beitrag erschöpft sich in dem Versuch, ihr Leiden vor dem Hintergrund des Zeitgeschehens zu relativieren, es in einem größeren Sinn aufgehen zu lassen: "Was du durchgemacht hast, ist schrecklich; aber die Erde, von weit schrecklicheren Wehen geschüttelt, gebiert ein neues Weltgefuhl, neue, groß aufwärts fuhrende Schöpfermächte; wir können uns nicht bei uns aufhalten." (jF 140) Und doch spürt Bertin, daß der Schmerz der Freundin die Grundlage seiner Sinngebungen in Frage stellt. Den widerstreitenden Anforderungen, die die verschiedenen Schauplätze, auf denen er gefragt ist, an ihn stellen, ist er offenkundig nicht gewachsen. Unfähig, "Übereinstimmung zwischen den beiden Tatsachen, die ihn auseinanderreißen " (jF 100) herzustellen, wendet er sich den Identifikationsangeboten des Männerbundes zu und von der Welt der Frau, in die er gleichsam den Krieg hineingetragen hat, ab. Der Krieg, so zeigt sich auch hier, ist exzessiv geworden: Er läßt sich nicht mehr auf einem begrenzten Kriegsschauplatz überblicken, sondern greift in seiner Gewalttätigkeit auf die heimatliche Sphäre über, die ihm ursprünglich als zu schützende und zu verteidigende Sinn und Zweck verliehen hatte. Dabei usurpiert und verdrängt die Metapher der sich neu gebärenden Schöpfung zum einen die Gebärfähigkeit der Frau, zum anderen aber wird das Zerstörerische dieser Geschlechterapokalypse beschrieben. Im Roman wird das Zitat aus der Apokalypse des Johannes einer Frau, der Hebamme, in den Mund gelegt. Kurz vor der Abtreibung malt diese Lenore aus, daß das christliche Europa seinem Ende nah sei: Und wenn sie Bescheid wissen wolln [... ], denn nehmen Sie man die Apokalypse vor. Das steht es und beim Propheten Daniel. [... ] Und ich sahe ein Weib auf dem Drachen sitzen, und desselbigen Weibs Gewand war rosinfarben, und hatte drei Köpfe und drei Kronen, und desselbigen Weibes Anblick war furchtbar, und hatten mit ihr gehuret die Könige der Erde." (JF 111) Kurz nach dem Eingriff phantasiert sich Lenore daraufhin selbst als liegende "Göttin Europa" , "deren Glieder gegeneinander wüteten und sich zerfleischten, den Keim der Zukunft ausreißend in ihrem Innern. (JF 126)
Die Allegorie greift eine bereits zuvor geschilderte Szene auf, in der Lenore den Krieg als Gewaltexzeß erkennt, in dem die einzelnen "Vaterländer über das große Mutterland Europa" herfallen, es knechten, entmachten, "in Nacht drück[]ep., nachdem sie mit ihm gehurt und ihre Kraft aus ihm hundertfach gezogen" haben. (jF 122) Auch in diesem Bild wird die Exzessivität der Gewalthandlungen deutlich, da sich diese offenbar nicht mehr einfach gestaltend, zurichtend, vielleicht auch verletzend auf die Materie beziehen,
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sondern diese offenkundig ganz und gar zu erschöpfen scheinen. Der Austritt aus der bürgerlichen Geschlechterordnung, den ihre voreheliche sexuelle Beziehung mit Bertin fur Lenore bedeutet, ist fursie nicht der erste Schritt zu ihrer Befreiung als Frau, sondern liefert sie rohen Kräften aus, die das Weibliche nicht mehr als Differentes behandeln und in ihre Sinnordnung integrieren, sondern auf seine Vernichtung abzielen. Dafur steht das wiederholt angefuhrte Bild von dem ins Innere des weiblichen Körpers eindringenden Krieg: "Sie hatte sich der Gewalt ausgeliefert, eingebrochen in sie wüteten nun die Folgen der Gewalt - vom Stiergott geraubt, unterjocht von der Männlichkeit, die zeugte und das Gezeugte zertrampelte, mit den Hörner die Erde aufwühlte." UF 126) Die Allegorie der geschändeten Europa, die etwa barocke Vorstellungen der im Dreißigjährigen Krieg mißbrauchten ,Frau Welt' aufruft, erscheint hier als konventionelles Darstellungsmittel eines Romans, dessen mehr oder weniger deutlich entschlüsselbare Botschaft sich aufdrängt: das christlichbürgerlich-kapitalistische Abendland kämpft seinen Endkampf; echte Emanzipation kann es nur auf kollektiver, internationaler Ebene geben. Doch auch wenn der Text die Unterordnung des Erzählten unter eine suggerierte Deutung selbst massiv betreibt, was die Lektüre zu einem sehr zweifelhaften Vergn ügen mache 3 , so bleibt doch die Engfuhrung von Weiblichkeit, Allegorie und Krieg einer näheren Betrachtung wert. Kreuzungspunkt der widerstreitenden Erzählstränge und Bildlichkeiten, die das narrative Gefuge immer wieder auseinanderbrechen lassen, ist die Figur Lenores, aus deren Perspektive über weite Strecken erzählt wird. Zum einen ist sie das passive Opfer der Vergewaltigung wie auch bloßes Material fur die erzählerische Konstitution einer apokalyptischen Weltkriegsallegorie. Zum anderen jedoch is~ sie eine ,neue Frau', die ihre Selbständigkeit erprobt und zuletzt auch insofern beweist, als sie es ist, die Bertin auf Heimaturlaub holt, um ihm einen Heiratsantrag zu machen und die alles Erforderliche fur die Hochzeit in die Wege leitet. 74 Die Schluß sequenz schildert eine kitschig-konventionelle "Hochzeit in Rosen", gestiftet von der "kindlich reine[n] Seele einer jungen Frau", die nichts als "opfernde Liebe" verkörpere. UF 364f) Dieser überhöhten weiblichen Gestalt, die auch noch den männlichen Part übernimmt und verkörpert, steht jedoch - im Roman unvermittele s - jene andere Figur gegenüber, deren benutzter Körper zum Schauplatz aller Gewaltexzesse
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Es überrascht nicht, daß der Roman von seiten der Literaturwissenschaft kaum Beachtung gefunden hat. Vgl.JF 337: "Sie hatte ihn herausgeholt - sie ihn; sich mit ihm verlobt, jetzt heiratete sie ihn. Sie ihn - und niemand ahnte irgend etwas." Zur Kritik am Schluß des Romans und einer vermeintlich "laue[n] Botschaft Zweigs" vgl. Sigrid Thielking: "Er warb nicht mehr um mich, er kommandierte ... " - Zu Amold Zweigs Roman Junge Frau von 1914, in: Krieg und Literatur 3 (1991), H. 5/6,298-309, hier: 306.
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geworden ist, denen sich die abendländische Kultur im Weltkrieg hingibt. Damit ist es dieselbe Figur, die am Ende des Romans alle Brüche in einer idealen Weiblichkeit zu transzendieren scheint und die zuvor von exzessiver Gewalt zerstört worden war. Indem sie mit dem Bildreservoir der biblischen Apokalypse in Verbindung gebracht wird, erscheint sie darüber hinaus als Hure BabyIon, die die Exzesse nicht nur erleidet, sondern verkörpert. Die impliziten und passagenweise wörtlichen Anspielungen auf die Apokalypse des Johannes kehren zugleich die Differenz hervor. Denn im biblischen Prätext werden zwei radikal verschiedene Weiblichkeitsbilder gegenübergestellt, "die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden "76 und die "heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabgekommen, bereitet wie eine geschmückte Braut fur ihren Mann". 77 Das große Gericht bedeutet den endgültigen Fall der Hure und die Ankunft der himmlischen Braut auf Erden, wobei ihre vollständige Trennung als ein Endkampf figuriert wird, der ein fiir alle Mal menschengemachten Schein, Verstellung und Verfiihrung überwindet. 78 Wiederkehrende Bilder restloser Vernichtung sind vor allem die des alles verzehrenden Brandes, aber auch der körperlichen Einverleibung, die keine Spuren zurückläßt. 79 Letztere erinnert an die christliche Symbolisierungspraxis des Abendmahls, die immer wieder aufgerufen wird, wenn der Text an die Erlöserfunktion des geschlachteten Lamms erinnert. 80 Das Anbrechen des göttlichen Reiches auf Erden jedoch bedeutet das Ende des Stellvertreter-Prinzips, welches das christliche Opfer in einer noch unerlösten Welt dargestellt hatte. Im jüngsten Gericht wird das Blutvergießen exzessiv, das Meer und die Wasserquellen werden zu Blut, das die Verdammten trinken müssen. 81 Andererseits vermählt sich das Lamm mit der himmlischen Braut und erscheint als göttliche Präsenz auf Erden, die sich in transparenten, makellosen Zeichen bekundet. Das geopferte Lamm verweist mithin nicht mehr auf eine abwesende Göttlichkeit, vielmehr wird seine Wiederkehr nun zur Chiffre fur eine Materialisierung des Göttlichen, die die Aufhebung der Differenz von Himmel und Erde impliziert. 81 Die chiliastische 76 77
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QtJb. QtJb.
17,4. (Zitiert wird nach der Luther-Bibel.) 21,2. Vgl. die ausfiihrlichen Schilderungen der Kleider und des Schmuckes, durch die die Hure Babyion charakterisiert wird, QtJb. 18,11-16. Vgl. QtJb. 17,16: "Und die zehn Hörner, die du gesehen hast, und das Tier, die werden die Hure hassen und werden sie ausplündern und entblößen und werden ihr Fleisch essen und werden sie mit Feuer verbrennen." Später ist von dem "Mahl Gottes" die Rede, zu dem die Vögel geladen werden, um "das Fleisch der Könige und der Hauptleute und das Fleisch der Starken und der Pferde und derer, die darauf sitzen, und das Fleisch aller Freien und Sklaven, der Kleinen und Großen'~ zu essen. QtJb. 19, 17f. Vgl. z.B. QtJb. 1,5; 5,12; 7,14. QtJb. 8,8; 14,20; 16,6; Vgl. die Beschreibung des himmlischen Jerusalem als reiner Wert: "Und die zwölf Tore waren zwölf Perlen, ein jedes Tor war aus einer einzigen Perle, und der Marktplatz der Stadt war aus
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Vision der Offenbarung verspricht mithin die Geburt göttlicher Präsenz aus der restlosen Vernichtung einer menschlichen Welt, in der Zeichen und Dinge nicht zusammenfallen und die stets vom Abfall vom Wahren, Göttlichen, von der Verselbständigung des Scheins und der Supplementarität bedroht ist. Zweigs Weltkriegsroman dementiert diese apokalyptische Sinnfigur, indem er seine weibliche Protagonistin mit den beiden konträren Frauengestalten der Offenbarung gleichermaßen verknüpft. Lenores Körper ist zuletzt der bräutliche, der alle Differenzen transzendiert und der als Sinnbild ,schöpferischer Liebe' (jF 365) über sich selbst und das Katastrophenszenario des Weltkrieges hinausweist. Gleichzeitig bleibt er von der Gewalt gezeichnet, die auf die Vernichtung alles Weiblich-Differenten und die Verabsolutierung eines von Männern erkämpften Gemeinschaftskörpers abzielte. Der Schein einer friedlichen Gemeinschaft, in der sich die Geschlechter harmonisch zu einer Einheit ergänzen ("die Hauptsache ist, daß jeder von uns wieder die Hälfte des anderen wird" UF 284]), wird zuletzt zwar von Lenore beschworen, zugleich kann die Schlußszene die zwischen den Geschlechtern aufgebrochene Gewalt nicht ungeschehen machen oder heilen. Anders als bei Kraus und doch strukturell ähnlich entzieht sich der weibliche Körper offenbar der allegorisierenden Sinnstiftung, indem er mit Schöpfung und Zerstörung zugleich verknüpft wird. Die Verkörperung des Göttlichen, die phantasmatische Realisierung einer präsentischen Unmittelbarkeit, die in der Bibel mit dem himmlischen Jerusalem verknüpft wird, bleibt hier an die Zerstörung des idealen, göttlichen Körpers geknüpft. Bereits in früheren Episoden wird die Körperlichkeit des monotheistischen Gottes in Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen ausdrücklich ins Spiel gebracht. Nachdem er die vielen Götter früherer Völker gefres.sen habe, so heißt es dort, streite er nun "an allen Fronten gegen sich selbst, wüte[] mit hundert Armen gegen sein eigenes Gebein aus Seele, Gebet, Geist und Glauben" (jF 124). Im Gegensatz zur Version der Bibel bedeutet die Körperwerdung Gottes hier also nicht das glanzvolle Erscheinen des Messias, denn dieser Körper ist kein Zeichen, dessen Opferspuren auf einen Akt der Stellvertretung - des Opfers des einen fur alle - hindeuten. Der fleischgewordene, gierig begehrende Gotteskörper richtet seine Gewalt vielmehr gegen die eigene Totalität. Im Roman bringt die Totalität des Krieges, der auf die restlose Unterwerfung und Aneignung der Differenz, des Weiblichen und der Natur, abzielt, den Gegensatz von väterlichem Gott und mütterlicher Erde zum Verschwinden. So wird der Krieg als Selbstzerstörungswerk, das den göttlichen Körper zum Vorschein bringt als einen, der sich selbst zerstört, auch auf weibliche Körperlichkeit bezogen: "Als rundgeschwollener trächreinem Gold wie durchscheinendes Glas. Und ich sah keinen Tempel darin; denn der Herr, der allmächtige Gott, ist ihr Tempel, er und das Lamm." Qffb. 21,21f
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tiger Bauch rollte er durchs Weltall [... ] ununterbrochen empfing sie, diese Mutter Erde, spie ein [sic!] Strom von Geschöpfen aus ihrem Schoß und verschlang sie wieder, schluckte sie in den großen Schlund der Grüfte ein, der sie auch war." UF 182) Diese monströse Bildlichkeit erinnert an Erscheinungsweisen des grotesken Körpers in Renaissance und Volkskultur, wie sie Bachtin beschrieben hat. Demzufolge zeichnet sich der groteske Leib dadurch aus, daß er "kosmisch und universal"B3 ist, "die ganze Welt zu ftillen vermag" und daß er jede Individualität abgelegt hat. Als "befruchtend-befruchteter, gebärend-geborener, verschlingend-verschlungener"B4 läßt sich dieser Leib keinem Geschlecht eindeutig zuordnen. In ihm verschränken sich die Gegensätze, werden Schöpfung und Zerstörung, Geburt und Tod zu Aspekten derselben unaufhörlichen Bewegung, die in ihrer nicht-transzendierbaren Immanenz jeden Körper zur hybriden Figur werden läßt, die ihren Untergang in sich trägt. Wie die Volkskultur sich gegenüber der offiziellen Kultur, der es auf die Errichtung von Grenzen, auf die Bestätigung individueller und staatlicher Autonomie sowie auf die Affirmation des einen, unkörperlichen Gottes ankam, subversiv verhielt, unterlaufen die grotesken Körperbilder in Zweigs Kriegsroman die Phantasmen der oben beschriebenen Kriegsrhetorik. Wird der Krieg durchaus als totalitäres Unternehmen mit dem Ziel beschrieben, das Weibliche, Andere zu usurpieren oder zu verwerfen, so bildet der weibliche Körper als ambivalenter, keiner eindeutigen Zuschreibung zu unterwerfender zugleich den zentralen Fluchtpunkt des Textes. Als Verkörperung der angestrebten Totalität (der Welt, der Erde) differiert er von sich selbst, er ist das absolute Zeichen, als das die himmlische Braut der Bibel gefeiert wird, und ist doch zugleich einer Gewalt unterworfen, die ihn in seiner Gesamtheit betrifft und die nicht - im Sinne einer Opferstellvertretung - distanziert bzw. in ein Symbolgefiige überfuhrt werden kann. Wenn auch der Roman gelegentlich Weiblichkeit mit Vorstellungen ursprünglicher Unschuld verknüpft und im Verweis auf matriarchale Strukturen ein Jenseits der als durch und durch verrohten Zivilisation aufscheinen läßt85 , so dominiert doch insgesamt der Eindruck einer Ambivalenz von Natur
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Michail M. Bachtin: Literatur ul1d Karneval - Zur Romalltheorie ul1d Lachkultur, Frankfurt a. M. 1990,18. Ebd.,19. Vgl.JF 184. Lenore stellt hier, wenn auch letztlich ohne Konsequenz, patriarchale Setzungen in Frage, indem sie die Rede von der "Vorherrschaft des Mannes" als Täuschung entlarvt: "Grub man aber unter dieser Oberfläche, wie wandelte sich da der Anblick! Ein Sonnengott, Moloch, regierte die Erde, aber erst seit der Entthronung der Frauen, Töchter der Mondgöttin. In den uralten Grabkammern weiser Völker las man noch Spuren ihrer Herrschaft ab, aus den Mythen klagte es um die abgesetzte Mutter. Die Bünde der jungen Männer hatten die Welt unters Zeichen des Schwertes gestellt und die Frauen unteIjocht, zu Trägerinnen schwangerer Bäuche und hängender Euter erniedrigt - sie, die den Ackerbau erfunden hatten, Städte gegründet, Gewebe
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und Krieg, Ursprung und Gewalt, den die beschriebenen Bilder evozieren. Indem das zentrale Körper-Zeichen Reinheit und Zerstörung symbolisiert, dementiert es die Apokalypse als christlich-patriarchale Sinnfigur, die sich über die endgültige Verwerfung der im Bild der Hure aufbewahrten Differenz konstituiert. Der Roman gibt so die zerstörerische Gewalt zu lesen, die jene Kriegsrhetorik verbirgt, welche die Kämpfe als endzeitlichen Schöpfungsvorgang überhöht. Man könnte sogar sagen, daß sich diese Gewalt auch in der Textstruktur selbst, in ihren Brüchen und Widersprüchen kenntlich macht. Der Versuch Zweigs, das Weltkriegsgeschehen mit Hilfe einer weiblichen Figur zu deuten, es darüber hinaus sogar aus weiblicher Perspektive zu deuten, kann sicherlich in vielerlei Hinsicht als gescheitert betrachtet werden. Allerdings ist gerade das Auseinanderfallen der Perspektiven und das inkohärente Nebeneinander von Weiblichkeitsallegorien, die in der christlichen Apokalypse-Erzählung radikale Gegensätze bilden, aufschlußreich. Denn anstatt eine endgültige Unterscheidung zwischen beiden herbeizuführen, betreibt offensichtlich die Rede von der Totalisierung des Krieges die Auflösung ihrer Differenz. Das aber bedeutet, daß die Realisierung oder Verkörperung idealer (quasi-göttlicher) Selbstbilder nicht mehr durch allegorische Weiblichkeit (himmlische Braut, heiliges Jerusalem) garantiert werden kann. Indem mit ihnen immer zugleich ihre jeweilige Kehrseite zutagetritt, werden alle Sinnbilder, Identitäten und Weltdeutungen von einer Differenz heimgesucht, die sie auf die gewaltsame Szene ihrer Setzungen zurückverweist.
erschaffen, Flechtwerk aus Weidenruten gelehrt, Töpfe geformt, Speisen bereitet und die Kinder erzogen."
Tim Mehigan "ORDENTLICHE KUNST"
Zum Motiv der Apokalypse in Goethes Wahlverwandtschaften und Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall Das Leben kein Argument. - Wir haben uns eine Welt zurechtgemacht, in der wir leben können mit der Ausnahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt: ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt keiner aus zu leben! Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrtum sein.
Friedrich Nietzsehe
1. Ziel der nachfolgenden Überlegungen ist es, mit Blick auf die ungebrochene Aktualität und Wichtigkeit der Apokalypse als Thema und Motiv in der Literatur1 zwei Texte miteinander zu kontrastieren: Goethes Wahlverwandtschaften aus dem Jahr 1809 und Thomas Bernhards 1986 veröffentlichten Roman Auslöschung. Ein Zerfall. Interessant an beiden Texten ist der Gebrauch der Vision einer Endzeit wie auch der Logik des Endens - Goethe vom Standpunkt des beginnenden Lebens und der Schöpfungsproblematik her, Bernhard vom Problem des Todes ausgehend. Diese beiden Autoren beziehen zum Thema ,Endlichkeit' scheinbar entgegengesetzte Positionen: Goethe folgt der Identitätsphilosophie Schellings, die die Unendlichkeit der idealen Schöpfung darstellen möchte 2 ; Bernhards "Auslöschungsprojekt" beabsichtigt dagegen nichts weniger als die gänzliche Vernichtung jeden Willens zum Unendlichen. Der Idee der mit der Unendlichkeit zusammenfallenden idealen Schöpfung in Goethes Roman, dem ein positiver Konstruktionswille zugrundeliegt, steht bei Bernhard die negative Idee des Willens zur Vernichtung gegenüber, der die Bausteine des Absoluten nicht konstruieren, In ihrem 1986 erschienenen Sammelband zum Thema ,Apokalypse' reden Grimm, Faulstich und Kuon beispielsweise von einem Paradigma, das in den siebziger und achtziger Jahren aufgegriffen und refunktionalisiert wurde. Vgl. Apokalypse - Weltuntergangsvisionen des 20. Jahrhunderts, hg. von Gunter E. Grimm, Werner Faulstich und Peter Kuon, Frankfurt a. M. 1986. Vgl. Tim Mehigan: Zur Frage der Selbstorganisation des Organischen in Goethes literarischem Experiment "Die Wahlverwandtschaften", in: Roman und Ästhetik im 19. Jahrhundert. Festschrift fiir Christian Grawe, hg. von Tim Mehigan und Gerhard Sauder, St. Ingbert 2001, 18-24.
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sondern Stück rur Stück (wieder) auseinandernehmen möchte. Darüber hinaus sind beide Werke ausdrücklich aufeinander bezogen. Der Lehrer Franz]oseph Murau kündigt nämlich zu Anfang der Ausläschung gegenüber seinem Schüler Gambetti seine Intention an, sich "das nächste Mal mit ihm über die Wahlverwandtschaften [... ] auseinanderzusetzen" (A 8? Die Signifikanz dieses von Murau angesprochenen Bezugs liegt vor allem in der zentralen Bedeutung des Motivs der Apokalypse 4 in beiden Werken.
I1. Am Anfang des 19.]ahrhunderts in einer für Goethe persönlich schwierigen Zeits entstanden, sind die Wahlverwandtschaften keinesfalls nur als Eheroman 6 Zitate in Klammern mit der Sigle A und nachfolgender Seitenangabe beziehen sich auf folgende Ausgabe: Thomas Bernhard: Ausläschung. Ein Zerfall, Frankfurt a. M. 1988. In der Qffenbanmg desJohannes, einem Buch des Neuen Testaments, werden das Aufsteigen der gläubigen Christen in den Himmel, das Reich des Antichristen, der die Welt bis zur Wiederkehr Jesu beherrscht, die Schlacht von Armageddon und die Gründung des neuen Hinmlelreichs und der neuen Erde beschrieben. Apokalyptische Vorstellungen und Motive in der Literatur stützen sich in der Hauptsache auf den in diesem Buch geschilderten Kampf zwischen Gut und Böse, der dem Sieg Christi über Satan und dem damit ermöglichten Millennium des Friedens vorausgeht. Hans Jürgen Geerdts hat die Wichtigkeit des Todes Schillers für Goethe hervorgehoben (Goethes
Roman "Die Wahlverwandtschaften (( - Eine Analyse seiner künstlerischen Struktur, seiner historischen Bezogenheiten und seines Ideengehaltes, Berlin 1966, 13-18). Darüber hinaus muß die Situation in Deutschland im beginnenden 19. Jahrhundert, insbesondere die Niederlage von Jena und Auerstedt im Oktober 1806 gegen Napoleon, Goethe sehr zu schaffen gemacht haben: "Diese Niederlage des preußischen Heeres war nicht irgendeine. Nicht nur für Preußen, auch für die mittel- und norddeutschen Territorien, deren Vormacht Preußen war, schien das Ende der politischen Handlungsfähigkeit gekommen. Eine lange Friedensepoche, eine Phase ruhiger Bildungsmöglichkeit und Kultivierungsarbeit war abgerissen: ,Alles von Jugend und Kindheit auf ward genöthigt, sich anders zu bilden; da es denn auch in einer tumulthuarischen Zeit an Verbildung nicht fehlte', schrieb Goethe noch Jahre danach." (Werner Schwan: Goethes "Wahlverwandtschaften" - Das nicht erreichte Soziale, München 1983,252.) Die Forschung zu den Wahlverwandtschqften ist sich einig, daß die Eheproblematik den zentralen Aspekt des Romans darstellt. Allerdings sind hierzu weit auseinanderliegende Deutungsschwerpunkte gesetzt worden. Die Parteinahme für die Ehe als Institution besonders in der frühen Rezeption des Romans (vgl. Oskar Walzel [1906]: Goethes "Wahlverwandtschaften" im Rahmen ihrer Zeit, in: Goethes Roman "Die Wahlverwandtschaften", hg. von Ewald Rösch, Darmstadt 1975, 35-64; bes. 46) spricht der Naturnotwendigkeit, die in dem chemischen Experiment diskutiert wird, jede für die Menschen gültige Wirkungskraft ab. Sieht man wiederum in der Natur eine für die Menschen wirksame Kraft, so scheint die Alleinherrschaft des Sozialen für ein Verständnis der Handlungen der Menschen zurückzutreten. Daher haben manche Kommentatoren, die diesen Standpunkt vertreten haben, dem Dichter eine zwischen die Macht der Natur und die Notwendigkeit des sozialen Lebens gespannte tragische WeItsicht bescheinigt (vgl. Andre Franyois-Poncet: Der sittliche Gehalt der" Wahlverwandtschqften ". Das Schicksalhafte [1909], in: Goethes Roman " Die Wahlverwandtschaften", 65-89). In derjüngsten Forschung hat man das Problematische der Ehe als Institution in den Vordergrund gerückt. "Heute", so Werner Schwan, "wo vieles von den überlieferten Deutungsmustern mit Skepsis betrachtet wird, gibt man sich gegenüber der Eheproblematik zumeist betont unlustig, so, als gelange auf diesem Weg allenfalls das Unmoderne des Romans in den Blick. Man sieht in ihr gern eine Vordergrundschicht, hinter der sich Gravierenderes verberge, z.B. das psychoanalytisch erforschbare Ungenügen der
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zu verstehen. Vor dem Hintergrund der um die Jahrhundertwende gefuhrten großen Naturdebatte geschrieben, handelt der Roman von den Bedingungen idealer Liebe. Eduard, ein "reiche[r] Baron im besten Mannesalter" (WV 7f, dem die Frage der Liebe um so wichtiger geworden ist, weil seine Ehe schon so lange währt, faßt eine heftige Neigung zu Ottilie, der elternlosen Nichte seiner Frau. Ottilie wird auf das Landgut geholt, nachdem Eduard und Charlotte - Eduards Frau - Ottilies mangelnde Fortschritte in der Schule mitgeteilt werden. Es trifft sich, daß sich Eduard schon einige Zeit mit dem Gedanken trägt, seinen guten Freund, den Hauptmann, ebenfalls zu sich auf das Landgut zu holen. Charlotte, die sich mehr Ruhe und Zeit fur sich selbst wünscht, kostet es einige Selbstüberwindung, Eduards Plan fur den Hauptmann gutzuheißen. Nach nicht überlangem Besinnen willigt sie jedoch in den Plan ein und findet schnell den Hauptmann so interessant wie Eduard die kleine Ottilie. So kann es schon im vierten Kapitel zu der chemischen Gleichnisrede kommen, in der die um die Jahrhundertwende so umstrittene Frage des Verhältnisses zwischen Kultur und Natur thematisiert wird und die dem Roman seinen Titel gibt. Dieser Gleichnisrede zufolge verhalten sich die Menschen in der Liebe wie die chemischen Elemente der Natur. Daß sich manche Menschen stark zueinander hingezogen fühlen, unabhängig davon, ob sie bereits in festen Beziehungen stehen, hat eine natürliche Basis - es ist die Chemie der Natur, die Chemie der inneren Natur der Menschen. Dieses Verhalten verläuft nicht nur analog den Naturgesetzen, es kann gleichzeitig als Zeichen rur einen höheren Plan verstanden werden, der über den Menschen steht und ihnen als solcher nicht zugänglich ist. Bereits Immanuel Kant hatte sich im ausgehenden 18. Jahrhundert in seiner Kritik der reinen Vernunft davon überzeugt, daß es dem Verstande der Menschen nicht gegeben ist, dem transzendentalen Aspekt dieser überweltlichen Berechnung auf den Grund zu sehen. 8 Was schon immer ein Problem rur die Menschen war - das Verständnis ihrer eigenen Motivation in der Liebe - soll hier Aufklärung erfahren, und zwar Beziehung zwischen Eduard und Ottilie." Vgl. Schwan: Goethes Wahlverwandtschq{ten (( [Anm. 5], 71. Zitate in Klammern mit der Sigle WV und nachfolgender Seitenangabe beziehen sich auf folgende Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlvem,andtschq{ten. Ein Roman, München 1997. Diese Ausgabe entspricht in Text und Anhang vollständig der von Erich Trunz betreuten }J
Hamburger Ausgabe. Kants "den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt[e]" Fragestellung ist folgende: der Ehrgeiz, nach der Beschaffenheit der Gegenstände zu fragen, müsse fehlschlagen, weil es uns nicht "gegeben" sei, die wahre Gestalt der Gegenstände zu erkennen; statt also nach den Gegenständen selbst· zu fragen, müssen wir nun nach unserer Etfohrung der Gegenstände fragen, und zwar deshalb, "weil Erfahrung selbst eine Erkenntnisart ist, die Verstand erfordert". Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe neu hg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1956, Vorrede zur zweiten A"fflage, 19-20.
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dank einer zunächst einfach erscheinenden Idee: Freiwillig eingegangene Verbindungen entstehen so ,natürlich', wie sich bestehende Verbindungen unter dem Druck neuer Umstände auflösen. Mit dem Augenmerk auf diese fur Naturelemente und fur Menschen geltende zwingende Logik kommentiert Eduard, sich seiner eigenen Lage durchaus bewußt: "die' Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidungen bewirken" (WV 38). Die Antwort auf die Frage, warum es unter den Menschen zu Scheidungen und neuen Verbindungen kommt, auch bei ungünstigen Bedingungen, wo entgegengesetzte Elemente aufeinandertreffen, wäre somit in jedem Fall auf der Ebene der übersinnlichen Natur zu suchen, denn, wie Charlotte hinzufugt, gerade "entgegengesetze Eigenschaften machen eine innigere Vereinigung möglich" (WV 38). Die innere Beschaffenheit der Natur, die Gründe fur das mal regelbedingte, mal sich unregelmäßig ausnehmende Verhalten der natürlichen und menschlichen Elemente ist Goethes Thema. Natur und Kultur, Kunst und Leben - schon zu Goethes Zeit getrennte Gebiete - sollen aneinander angenähert, ja miteinander gleichgesetzt werden, und zwar über das Mittel der Wissenschaft der Natur. Es geht in den Wahlverwandtschaften daher um nichts weniger als die Geburt der Idee der Wissenschaft aus dem Geist der materiellen Natur, und Goethe macht ganz in diesem Sinne von der Chemie seiner Zeit Gebrauch, um die Möglichkeit dieser Zusammenfuhrung von Natur und Kultur einer gebührenden Analyse zu unterziehen. 9 Goethes literarisches Experiment der Wahlverwandtschaften, dem die programmatische Intention zugrundeliegt, Kunst und Leben zusammenzufuhren, entzündet sich nun an einem Akt der Schöpfung, der, obwohl im Realen verankert, so doch in der Phantasie entsteht. So ist im ROl1).an bald von einer Schwängerung die Rede, die als magische Verbindung aller menschlichen Elemente der Vierer-Konstellation konzipiert ist (d.h. Eduard, seine Frau Charlotte, der Hauptmann und Ottilie). Der externen, bloß körperlichen Paarung von Eduard und Charlotte, die die Schwängerung im technischen Sinne ermöglicht, liegt eine innigere Paarung zugrunde: Eduard, so heißt es dort, umarmt Charlotte, obwohl sein geistiges Auge nur Ottilie sieht, und Charlotte nähert sich in Gedanken dem Hauptmann, obwohl es Eduard ist, den sie eigentlich festhält. In der Sprache dieser Gleichnisrede, die sich als ,~oppelter Ehebruch' verstehen läßt, verbinden sich Eduard - das ,A' des chenVschen Experiments - und Charlottes ,B' daher nur äußerlich. Der Akt der Schöpfung, der zu der Geburt des Kindes Otto im zweiten Teil fuhrt und den die Wahlverwandtschaften als Experiment zur Geltung bringen sollen, verdankt sich nicht der Logik der alphabetischen Ordnung, sondern der geheimnisvollen Rechnung der Natur. Demzufolge verbinden sich 9
Gerade dieser materielle Aspekt war es auch, der Goethes Zeitgenossen an dem Roman störte.
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Eduards ,A' und o ttilie , "das Dämchen D", Charlottes ,B' und das ,Co des Hauptmanns (d.h. AB + CD wird zu AD + BC) - ein Vorgang, über den nur die aufkeimenden Wissenschaften der Menschen Aufschluß zu geben in der Lage sind. Zugegeben: Es gibt an dieser Vorstellung idealer Vereinigung etwas, was dem modernen Verständnis nicht recht einleuchten will. Befremdlich an Goethes Projekt scheint aus unserer Perspektive der Ehrgeiz zu sein, den Menschen die Vorzüge der Chemie vor Augen zu fuhren, gerade so, als sollten diese die Unebenheiten menschlicher Liebe ausgleichen. In der Tat interessiert Goethe hier weniger die Logik der Naturwissenschaften (auch wenn man den weniger entwickelten Zustand der damaligen Chemie im Auge behält) als die Wissenschaft der Natur - d.h. das, was die Natur weiß, aber nicht offenbart, wenn zwei Menschen in der Liebe zusammenkommen. Für Goethe hat diese Frage eine zusätzliche Dimension, die im Roman bald klar wird. Könnte man den Vorgängen der Natur eine übersinnliche Logik abgewinnen, die Freiheit und Notwendigkeit miteinander verbindet, gewänne man mit einem Male Einblicke in den Wandel der Geschichte als Phänomen und den Sinn der großen Ereignisse und Umwälzungen, von denen Goethes Zeit so voll war. Dies kann einem Gespräch zwischen Charlotte und dem Gehülfen im achten Kapitel des zweiten Teils entnommen werden, wo von den "Neigungen der Zeit" (WV 182) und der "Zeit der Umwendung" (WV 183) die Rede ist. Auf die Frage, in was fur eine Welt das Kind Charlottes hineingeboren werden soll, antwortet der Gehülfe mit einem Bild, das den Sinn der Veränderung erklärlich machen möchte, gleichzeitig aber das ganze ,Erziehungsprojekt' der Wahlverwandtschaften bloßlegt. "Ein junger Zweig", so der Gehülfe, "verbindet sich mit einem alten Stamme gar leicht und gern, an den kein erwachsener Ast mehr anzufugen ist" (WV 184) - eine Anspielung auf die Philosophie Friedrich Schellings, der die Lehre von der Selbstorganisation des Organischen verbreitete und mit Goethe einen regen Briefwechsel darüber fuhrte. lO Am Anfang des Romans beschäftigt sich Goethes Held damit, "frische Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen" (WV 7). In diesem Bild 10
Daß eine enge Beziehung zwischen Goethe und Schelling in den Jahren vor dem Erscheinen der Wahlverwandtschaften bestand, ist verbrieft. Goethe stand dem jungen Schellingin den Jahren 1798 bis 1802 nahe, nachdem er ihm 1798 eine Philosophieprofessur an der Universität Jena verschafft hatte. Ein lebhafter Briefverkehr zwischen beiden stellte sich infolge der Berufung Schellings nach Jena ein, vor allem, was Fragen der Kunst und der Naturwissenschaften anbelangt. Goethe kannte Schellings 1800 veröffentlichtes Hauptwerk, das System des transzendentalen Idealismus, wie auch die frühen Schriften Schellings, die diesem Werk vorausgingen (Ideen zu einer Philosophie der Natur,1797; Von der Weltseele, 1798; Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, 1799). Im Wintersemester 1802/03 hielt Schelling eine Vorlesungsreihe an der Universität Jena - unweit von Goethes Wohnort Weimar -, in der er den Versuch machte, Naturphilosophie und Kunst miteinander zu verbinden.
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werden Fragen aufgeworfen, die ins Zentrum der Wahlverwandtschaften fuhren und der chemischen Gleichnisrede ihr logisches Fundament geben. Zur Debatte steht, ob N eues auf Altes folgen kann, ob Fremdes mit Eigenem sich vereinen kann, ob sich Elemente miteinander verbinden können, auch wenn sie nicht verwandt, sondern nur ,wahlverwandt' sind. Diese Fragen betreffen nicht nur die äußere Natur. Goethe treibt sie mit bitterem Ernst so auf die Spitze, als würde das Kunstverständnis des Dichters nur als ein naiver Effekt der Natur erscheinen. Dieser Kunstwille bleibt jedoch erkünstelt, in seine tiefsten Tiefen hinein. Der Roman, der sich aus zwei Teilen mit jeweils achtzehn Kapiteln zusammensetzt, ist mit penibler Genauigkeit aufgebaut. Wichtige Ereignisse verteilen sich auf parallel verlaufende Kapitel, was ihre Wichtigkeit noch weiter hervorheben soll (z.B. die Zeugung des Kindes im achten Kapitel des ersten Teils, die Geburt im achten Kapitel des zweiten). Eine erstaunliche Koinzidenz in der Namensgebung wird herausgearbeitet, derzufolge vier Charaktere direkt oder indirekt den Stamm-Namen Otto tragen (Eduard hieß Otto in seiner Jugend, der Vorname des Hauptmanns ist Otto, Charl-otte und Ott-ilie sind weibliche Ottos) und an der Zeugung eines funften Otto (denn so heißt das Kind) beteiligt sind. Heinz Schlaffer hat daraufhingewiesen, daß der Name Otto ein Palindrom ist. ll Dem Palindrom kam ursprünglich magische Kraft zu. Sie verleiht der Verbindung der zwei weiblichen und der zwei männlichen Ottos somit zusätzlich den Anschein von Notwendigkeit. Das Zusammenkommen der beiden Paare nimmt sich daher wie ein objektives Gesetz der Natur aus. Nach Schlaffer bezeichnen die Buchstaben "die toten, bedeutungslosen Elemente der Natur und binden sie zugleich an Form und Geist der bedeutungstragenden Sprache" 12. Natur und Kultur, Geist und B~chstabe, Objekt und Subjekt fallen damit restlos zusammen, als hauchte ihnen der liebe Gott selbst Leben ein. Der Traum von der absoluten Identität des Subjektiven und Objektiven, den Schelling in seinen Schriften bis 1806 13 verfocht und den Goethe in seinem Naturexperiment realisiert, als ob Schelling dies ihm wörtlich vorschriebe, schlägt jedoch bald ins Negative um, und zwar aus Gründen, die ins Zentrum von Goethes literarischem Programm fuhren. Die absolute Koinzidenz von Objekt und Subjekt, die sich in der Namensgebung äußert, 11
12
13
Vgl. Heinz Schlaffer: Namen und Buchstaben in Goethes "WahlverUlandtschaftenl', in: Goethes "WahlverUlandtschqften ". Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur, hg. von Norbert W. Bolz, Hildesheim 1981, 214. Ebd. Slavoj Zizek nennt die Ausrichtung von Schellings frühen Schriften sein Projekt der Identitätsphilosophie. Nach Zizeks Auffassung wird dieses Projekt jedoch bald aufgegeben, da Schelling sich nach 1807 zunehmend mit Fragen auseinandersetzt, die mit der Freiheit, dem Bösen und der Dualität des Absoluten zu tun haben. Vgl. Slavoj Zizek: The Abyss oJ Freedom/Ages qfthe World, Ann Arbor 1997.
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erweist sich als die dem ganzen Romanprojekt innewohnende antirealistische Tendenz 14 , die das Experiment dem Scheitern anheimgibt. An die Stelle der erhofften Positivierung durch die Koinzidenz von Name und Identität, die auch der Lehre Schellings zugrundeliegt, tritt keine überweltliche Transzendenz, keine durch den Namen verbürgte Substantialität, keine sich dem Subjekt spontan einschreibende objektive Essenz. Statt der Spontaneität des plötzlich erwachenden Lebens gibt es nur Leere und Entfremdung und schließlich auch Tod. Die Namensgebung zeugt in Goethes Roman letztlich nur von dem Unvermögen der Schrift, ihren Gegenstand zu benennen. Diese Kluft zwischen Natur und Kunst kann dem Verlauf der Ereignisse im Roman abgelesen werden. Erzählt wird hier von drei Todesfällen und dem Entschluß der beiden verbleibenden ,Ottos', sich nicht miteinander zu verbinden. Die Wende im Roman bringt der Tod des Kindes. In Ottilies Obhut gegeben, ertrinkt es, als sie eine hastige Kahnfahrt mit ihm über den See nach Hause unternimmt. Daran ist die Kunst schuld, handelt es sich doch um einen künstlichen See, in dem das Kind ertrinkt. Die Veränderung der Parkanlagen, die von den Figuren geplant und durchgeführt wurde, sollte für eine bessere Aussicht und angenehme Tage während der wärmeren Monate sorgen. Zu diesem Zweck entstand ein See auf den Anlagen. Die Augen der Menschen sollten sich an der im menschlichen Sinne veränderten Natur weiden. Die Ereignisse im Roman aber legen die Schlußfolgerung nahe, daß gerade das Gegenteil der Fall ist: Die Kunst in den Wahlverwandtschaften ist der Wille der Figuren zur Veränderung, die zerstörerisch auf die Natur einwirkt und in immer gravierenderer Weise Unheil stiftet. Als größter Stifter von Verwirrung erweist sich Eduard, der geborene Otto, der sich als Junge einen neuen Namen wünschte. Eduards plötzliches Erscheinen auf dem Landgut nach einer längeren Abwesenheit, dann sein Drängen, macht Ottilie an dem verhängnisvollen Nachmittag "verwirrt und bewegt" (WV221). Diese Bewegtheit hat bald Konsequenzen. Ottilies aufgeregtes Gemüt bringt das kleine Boot, mit dem sie über den See fahren will, zum Schwanken. Während sie ein Buch in der linken Hand und das Ruder in der rechten zu bewegen versucht, entgleitet ihr beides: das Ruder nach der einen Seite, das Buch mit Kind nach der anderen und damit ins Wasser. Über dieses Buch, das Ottilie zur Ablenkung mitgenommen hatte, heißt es bemerkenswerterweise: "Das Buch war eins von denen, die ein zartes Gemüt an sich ziehen und nicht wieder loslassen." (WV 218) Dem Tod des Kindes haftet also diese Ironie an: gerade die Bücher, die "an sich ziehen und nicht wieder loslassen", tragen den Keim des Endes in sich.
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Auch fiir Geerdts, Goethes Roman die JJ Wahlverwandtschciften (( [Anm. 5], 21, ist Goethes Roman letztlich als "antiromantische Dichtung" zu lesen.
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Mit dem Tod des Kindes in dem künstlich erbauten See hat es aber nicht sein Bewenden. Eduard drängt weiter und will mit Ottilie zusammen sein. Den Sinn der Wahlverwandtschaften möchte er noch bestätigt sehen. Ottilie dagegen entfernt sich jetzt von ihm. Sie will fiir den Tod des Kindes büßen und sieht in dessen Verlust mehr als einen Schicksalsschlag. Eduard kann sie aber nicht entbehren und will sich endgültig von Charlotte trennen. Diese willigt auch in die Scheidung. Ottilie hat sich aber mittlerweile entschlossen, zum Internat zurückzukehren und Eduard ganz zu entsagen. Sie quält jetzt auch das Unmoralische an einer Beziehung, deren Folgen immer noch nicht abzusehen sind. Als Eduard ihre Rückkehr verhindert, versperrt er ihr gleichzeitig die einzige Möglichkeit weiterzuleben. In die Isolation einer Liebe gedrängt, die sich nie erfüllen kann, enthält sich Ottilie jeder Nahrung und stirbt schließlich abgemagert bis auf die Knochen - ein abermaliger, schmerzlicher Verlust, den Eduard nicht verkraften kinn. Der Schluß des Romans berichtet von Eduards Tod und dessen Beisetzung neben Ottilie und nennt den freundlichen Augenblick, "wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen" (WV255). Mehr noch als die geheime Erfüllung der natürlichen Ordnung der Dinge, die durch das Gelingen des chemischen Experiments hätte anschaulich gemacht werden sollen, inszeniert der Roman letztlich das Mißlingen jedes Versuchs, der Natur eine rür die Menschen ersichtliche Ordnung abzugewinnen. Der Wille nach Ordnung entpuppt sich von diesem Aspekt her als Wunsch nach Totalität, der das Chaos der Natur weder wahrhaben will noch ertragen kann. Dies ist das erstaunliche Ergebnis des Experiments der Wahlverwandtschaften - auf der formalen Ebene der Zeichen wie auf der Handlungsebene. Daß der Name in den Wahlverwandtschaften gerade das ist, was niemals benannt werden kann, belegt das chemische Experiment ja selbst. Weder die alphabetische Ordnung der Buchstaben, noch die Ordnung der Chemie in der Natur erlaubt Rückschlüsse auf ein der Objektwelt unterliegendes inneres Sinnganzes, oder - mit Schelling zu reden - auf eine weltimmanente "zweite Natur"15. Das Zeichensystem der Sprache hat so wenig wie die Symbolsprache der Chemie ein Objekt, das es realisieren kann. Statt fester zu binden, macht das Mißlingen der Verbindung der zwei Bereiche der chemischen und sprachlichen Ordnung anschaulich, wie wenig Ordnung die Wissenschaft und Sprache der Menschen stiften. So macht sich bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts und damit an der Schwelle der Moderne das Unbehagen und die Skepsis darüber bemerkbar, was die synthetischen Ordnungsstrukturen und Systeme der Menschen zu leisten vermögen.
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Zu diesem Aspekt der Schellingschen Lehre vgl. Hans Jörg Sandkühler F. WJ. Schelling - ein Werk im Werden. Zur Eil'!:fiihrung, in: F. WJ. Schelling, hg. von H.]. Sandkühler, Stuttgart 1998, 17-18.
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Der Gedanke, den die Wahlverwandtschaften in den Mittelpunkt des Erzählens rücken, ist deshalb nichts weniger als der den menschlichen Ordnungsstrukturen innewohnende Wille zur Vernichtung aller natürlichen Ordnung. Das Ideal der großen Freiheit, das Natur und Menschen vereinen soll, der Versuch, alles Natürliche dem selbstherrlichen Subjekt zu unterwerfen, stellt die Menschen vor die Wahrheit ihres nach Selbstauflösung strebenden Vernunftwillens. So läßt Goethes Roman den "freundliche[n] Augenblick" der Wiedervereinigung der Geliebten vor der Unmöglichkeit der Erfullung dieses Augenblicks zum Tode erstarren. Charlotte, die wahre Vertreterin des Vernunftprojekts im Roman, weiß allerdings fur Abhilfe zu sorgen. Sie verhindert am Schluß einen weiteren Gebrauch des Kirchengewölbes, wo Eduard neben Ottilie begraben liegt. Sämtliche "ansehnliche[n]" Stiftungen, die sie "rur Kirche und Schule, rur den Geistlichen und den Schullehrer" einrichtet, verbieten nämlich, daß jemand weiter in diesem Gewölbe beigesetzt werde (WV 255). Diese Schenkungen stellen sich jedoch als alles andere denn als uneigennützig heraus. Sie dienen zum Schluß dazu, das zu gewährleisten, was zu Lebzeiten niemals möglich war: die Erfiillung des Willens der Menschen, sich in der Verfolgung ihres übermächtigen Kunstsinnes und Vernunftwillens von der friedlichen Natur umgeben und damit in ihren Zielen legitimiert zu sehen. In dieser Schenkung findet sich also keine Legitimation irdischer Bedürfuisse, wohl aber der Gestus der Beherrschung der Zukunft, der zwar über den Tod erhaben sein möchte, aber doch letztlich diesem alles nivellierenden Tode an heim fallen muß.
III. Daß alle Konvergenzen, selbst die scheinbar natürlichsten, in den Tod ruhren, ist auch das Thema von Thomas Bernhards Roman Auslöschung. Ein Zerfall. Am Anfang auf Die Wahlverwandtschaften Bezug nehmend, hört der Roman ebenfalls mit einer Schenkung auf, und zwar an die Israelitische Kultusgemeinde in Wien. Murau vermacht dieser Wolfsegg als "völlig bedingungsloses Geschenk" (A 650), das die Beziehung des Protagonisten zu seinem Geburtsort ganz auflösen soll. Der Roman beabsichtigt nichts weniger als eine gänzliche Zerstörung aller Traditionen, die auf Einheit zielen und von dem verlogenen Postulat der Identität von Mensch und Welt getragen sind. In zwei Teile mit den Überschriften "Das Telegramm" und "Das Testament" aufgeteilt, handelt der Roman von der Beziehung des Protagonisten Franz-Josef Murau zu seiner Familie und zu seiner oberösterreichischen Heimat. Zwei Ereignisse geben den Anlaß zu Familien treffen , die Murau aus seinem "Exil" in Rom in die Heimat zurückfuhren: zum einen die Hochzeit
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einer seiner Schwestern mit einem badischen "Weinflaschenstöpselfabrikanten ", zum anderen die Beerdigung der Eltern und des älteren Bruders, die nur wenige Tage nach der Hochzeit bei einem Autounfall tödlich verunglücken. Während des kurzen Zwischenaufenthalts in Rom nach der Hochzeit erhält Murau die Todesnachricht per Telegramm, das dem ersten Teil des Romans seinen Titel gibt. Der zweite Teil des Romans erzählt von dem Testament, das Murau infolge des Todes der Eltern und des Bruders zum alleinigen Erben des ganzen Familienvermögens macht. In beiden Romanteilen reflektiert Murau über sein Verhältnis zu dem Familiengut Wolfsegg, auf dem er aufgewachsen war, und zu seiner Familie, die - bis auf die verheiratete Schwester - nun beinahe gänzlich vernichtet worden ist. Diese Vernichtung von Familienmitgliedern und das ihm mit dem Tod seiner Eltern unvermittelt zufallende Erbe rufen in Murau komplexe Gefuhle wach. Diese Geftihle lassen sich unter die im Romantitel angedeutete ,Auslöschungsproblematik' subsumieren, werden aber auch in den langen Monologreden des Protagonisten in wechselnder Form zur Sprache gebracht. Das Erzählen inszeniert somit ein kompliziertes Schema des Endes und des Endens, das auf die Bedeutung apokalyptischer Vorstellungen rur den Roman hindeutet. Es handelt sich hier keineswegs nur um die literarische Verwendung eines religiösen Motivs. Bernhards Roman ist nämlich so sehr von der Logik des Endens beherrscht, daß sowohl seine Form wie auch sein Inhalt im Zeichen einer programmatischen ,Auslöschungsarbeit' stehen. So sind nicht nur die erzählten Ereignisse, die in der das Wolfsegger Erbe auflösenden Schenkung an die israelitische Gemeinde gipfeln, apokalyptisch zu deuten. Auch der Wille zum Erzählen erweist sich hier als dem Grundgestus des Apokalyptischen verpflichtet. Im Mittelpunkt dessen, was der Roman zerstören möchte, steht der überkommene Naturbegriff, der die nach dem Jenseits gerichteten weltlichen Projekte der Menschen legitimiert hat. Als erstes setzt sich Murau daher rur die Vernichtung dieses Naturgedankens ein: "Es ist gar nichts mehr natürlich, hatte ich zu Gambetti gesagt, nichts, überhaupt nichts mehr. Wir gehen aber immer noch davon aus, hatte ich zu Gambetti gesagt, daß alles natürlich ist, das ist ein Irrtum. Alles ist künstlich, alles ist Kunst. Es gibt keine Natur mehr." (A 125f) Die Vernichtung des Naturgedankens, die Murau in diesem Passus befürwortet, soll mit jedem Versuch der Menschen aufräumen, Kunst mit Natur zu verbinden. Gibt es keine Natur mehr, so kann es auch keine Anschauung der Idealität der Natur geben. Bernhard zielt damit ins Zentrum aller Einheitsphilosophien wie auch in den Kern des idealistischen Projekts der Spätaufklärung, das eine Teleologie der Natur zu entwickeln versuchte. Zu diesem Punkt noch einmal der Protagonist Murau: "Wir gehen immer noch von der Naturbetrachtung aus, wo wir doch schon lange nur
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mehr noch von der Kunstbetrachtung ausgehen sollten. Dadurch, hatte ich zu Gambetti gesagt, ist alles so chaotisch. So falsch. So unglücklich. So tödlich konfus." (A 126) Mit anderen Worten: Das Leben stellt die Menschen vor die Wahrheit der Todesproblematik. 16 Je ernsthafter die Menschen durch ihre Systeme und ihr Denken beabsichtigen, dem Tode zu entgehen, desto unerbittlicher und unumgänglicher wird diese Problematik. Einheitsphilosophien stellen den Versuch dar, das Leben zu verherrlichen. Dadurch werden sie aber der Realität des Lebens nicht gerecht urid geben die Menschen um so auswegloser der Wahrheit der eigenen Verlogenheit preis. Eine ähnliche Lebensabgewandtheit stellt Murau bei der Photographie fest. Die Menschen "flüchten hinein in die Fotografie, schrumpfen mutwillig auf die Fotografie zusammen, die sie in totaler Verfalschung als glücklich und schön oder mindestens als weniger häßlich und weniger unglücklich zeigt, als sie sind. Sie fordern von der Fotografie ihr Wunsch- und Idealbild, und es ist ihnen jedes Mittel, und sei es die grauenhafteste Verzerrung, recht, dieses Wunschbild und dieses Idealbild auf einem Foto herzustellen. Sie merken gar nicht, wie schrecklich und wie fürchterlich injedem Falle sie sich kompromittieren." (A 127) Das Anschreiben gegen den Tod zur Errettung der Menschen vor der eigenen Heuchelei erstreckt sich bis in die Sprache der Auslöschung hinein. Das in der Forschung häufig bemerkte Anzitieren 17 bei Bernhard ist ein Stilmittel, das zugleich darauf ausgerichtet ist, an die Falschheit stiftenden Konventionen der Sprache zu erinnern und somit vor der Verlogenheit des Erzählens zu retten. Diese Verlogenheit besteht darin, schonungslos durchgestaltete Künstlichkeit als authentisch gelebtes Leben zu stilisieren. Der Roman stellt sich nämlich als der Bericht eines unbekannten Erzählers dar, der das aufschreibt, was ihm über das Leben und die Aussagen des inzwischen verstorbenen Murau überliefert worden ist. Nichts von dem, was dieser Erzähler über Murau sagt, kann also Wahrheit für sich beanspruchen. Der Sinn des Textes - wenn er einen Sinn hat - befindet sich auf jeden Fall im endlosen Spiel des Narrativen mit sich selbst. So läßt sich das Schreiben nicht als Erfüllung von einem dem Text inhärenten ursprünglichen Sinn verstehen, 'sondern als Zeichenspiel, das letztlich nur über dessen eigene Zeichenhaftigkeit im Medium der Schrift erzählt. Bernhards Text setzt sich daher nicht die Sinnerfüllung, sondern die Destruktion von Sinn zum Ziel. Sinn
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Daß diese Tüdesproblematik nicht nur auf Auslöschung beschränkt ist, sündern einen wesentlichen Aspekt des Bernhardschen Erzählens darstellt, hat zum Beispiel Charles W. Martin am Beispiel des Nihilismus herausgearbeitet. Vgl. Charles W. Martin: The Nihilism C?{ Thomas Bernhard - The Portrayal C?{Existential and Sodal Problems in His Prose Works, Amsterdam 1995. Vgl. Gemüt Weiß: Auslöscht/ng der Philosophie - Philosophiekritik bei Thomas Bernhard, Würzburg 1993,13.
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ergibt sich - wenn überhaupt - immer nur ex negativo. 18 Sinn ist kein Konstruiertes, sondern ein Zerfall, ein entropisches Wegfallen von einem Sinnzentrum. Der Sinn eines Textes ist das, was die ,Auslöscher' nicht auszulöschen vermögen, wenn sie Texte lesen. Unter diesen ,Auslöschern' ist bemerkenswerterweise der Autbr selbst der allergrößte. Diese Erkenntnis ergibt sich aus der Logik des Erzählens, die eine zerstörerische ist. Indem Murau von dem "Herkunftskomplex" W olfsegg (A 201) erzählt, um sich selbst zu verstehen, gesteht er gleichzeitig den Willen zur Vernichtung ein, von dem das Erzählen selbst getragen ist: ,,[ ... ] Auslöschung werde ich diesen Bericht nennen, hatte ich zu Gambetti gesagt, denn ich lösche in diesem Bericht tatsächlich alles aus, alles, das ich in diesem Bericht aufschreibe, wird ausgelöscht, meine ganze Familie wird ausgelöscht, ihre Zeit wird darin ausgelöscht, W olfsegg wird ausgelöscht in meinem Bericht auf meine Weise." (A 201) Der These, dem Schreibakt bei Bernhard hafte grundsätzlich Positives an 19 , kann daher nicht ohne weiteres zugestimmt werden. Bernhards Ziel ist es tatsächlich, die Scheinhaftigkeit der Sinnvermittlung zu entlarven und dabei das Sinngeftige des Romans als Sinn-Ganzes zu destabilisieren. Allerdings bleibt dabei die essentielle Natur der Sprache unangefochten. Das Auslöschungsprojekt des Erzählens kann die Sprache nämlich nicht beseitigen, sondern nur noch entschiedener in den Mittelpunkt stellen. Die Zeichen der Sprache sind eben unlöschbar. So benennt der Romantitel gerade das, was der Roman als Programm unmöglich beenden kann. So ist das Einzige, was die Auslöschung nicht auslöschen kann, paradoxerweise sie selbst (Die Auslöschung). Silke Schlichtmann hat es so formuliert 20 : "Der Text erscheint so als Streichung des Titels durch das, was er betitelt: 9.ie Auslöschung der Auslöschung in Auslöschung durch die Auslöschung." Schreiben hat daher keine geheime Beziehung zum Absoluten, der Autor labt sich nicht an der Urquelle des Lebens. Im Gegenteil, die Schriftsteller sind die Zerstörer, schreiben ist gleichzusetzen mit: aus der Erinnerung tilgen, auslöschen. Mag diese Feststellung einerseits irritieren, wenn nicht schockieren, erwächst sie andererseits aus der Einsicht in die Systementwürfe der Autoren und Denker, die sich tendenziell über das Leben erheben und 18
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Weiß kann man sicherlich beipflichten, wenn er das Auslöschungsprojekt des Romans im Sinne einer nicht mehr ans Ziel gelangenden textualen Sinnsuche versteht: "Eine Kette von Supplementen [ ... ] kann nachgewiesen werden, die vom ausgelöschten Eigentlichen ausgehend immer weiter davon wegfUhrt. Der Versuch einer Wiederaneignung der Präsenz wird dabei unendlich fortgesetzt, ohne je ans Ziel zu kommen." Ebd., 142. Diese These hat zum Beispiel Harald Hartung vertreten in: Wolfsegg oder die hohe Schule der Übertreibung - Thomas Bernhards großes Prosa buch "Ausläschung", in: Der Tagesspiegel vom 2. November 1986. Silke Schlichtmann: Das Erzählprinzip "Ausläschung" - Zum Umgang mit Geschichte in Thomas Bernhards Roman "Ausläschung. Ein Zeljäl/", Frankfurt a. M. u.a. 1995,35.
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damit die Erfahrung von Leben verschleiert und somit unerträglich gemacht haben. 21 Die Umkehrung, rur die Bernhard plädiert, soll das Erzählen mit seinen eigenen Verdunkelungsmechanismen vertraut machen, um jede Systemlogik zu beenden. Dies geht aus einer wichtigen Passage hervor, wo Murau seine Absichten erklärt: Wenn ich ihm sage, wie die Welt in meinem Sinne zu verändern wäre, indem wir sie ganz und gar radikal zuerst zerstören, beinahe bis auf nichts vernichten, um sie dann auf die mir erträglich erscheinende Weise wieder herzustellen mit einem Wort, als eine vollkommen neue, wenngleich ich nicht sagen kann, wie das vor sich zu gehen hat, ich weiß nur, sie muß zuerst völlig vernichtet werden, um wieder hergestellt zu werden, denn ohne ihre totale Vernichtung kann sie nicht erneuert sein [ ... ] (A 209).
Zum Programm des Bernhardschen Erzählens, das die Erneuerung sucht, aber die Vernichtung zeigen muß, gehört es deswegen, den Tod in seiner ganzen Unanschaulichkeit zu zeigen. Diese Absicht ruhrt Murau in die Orangerie des Familienguts, wo die Leichen der toten Familienmitglieder aufgebahrt sind. Dabei ist es besonders die Leiche der toten Mutter, die Murau anzieht. Anders als der Vater und der Bruder, die in einem offenen Sarg liegen, befindet sich die Leiche der Mutter in einem fest zugeschraubten Sarg. Ihre bis zur Unerkenntlichkeit verstümmelte Leiche ist in einem Zustand, "der eine offene Aufbahrung unmöglich" macht (A 395). Das Verdeckte ans Tageslicht zu bringen, ist nun aber gerade Muraus Wunsch. Murau will die Leiche seiner Mutter sehen, auch dann noch, wenn - wie die Zeitungen berichten - der Kopf auf unanständige Weise vom Rumpf getrennt wurde. Daß der Text diese Verstümmelung wie auch "die Verstümmelte sichtbar [ ... ] machen" möchte (A 453), gehört zum Auslöschungsprogramm, aber auch zum Programm der Erneuerung, die die Welt wieder herstellen soll. Denn, wie Murau sagt, "ohne ihre totale Vernichtung kann sie nicht erneuert werden".
IV. Anders als Goethes Wahlvetwandtschciften, die von der Möglichkeit einer idealen Schöpfung im Bereich der Kunst ausgehen, steht bei Bernhards Roman daher ein narrativer Gestus Pate, der die Idealität der Kunst beenden möchte. So wird im Roman ein doppeltes Annullieren angestrebt: zum einen ein Annullieren der Kunst als imaginäres (künstliches) Objekt des Lebens, zum anderen als Wille zum Erzählen von Leben, der sich vom Leben ent-
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Insofern ist in diesem Kontext Slavoj Zizeks These - ",transzendentale Subjektivität' ist reinster philosophischer Antihumanismus" - unbedingt zuzustimmen. Vgl. S. Z.: Das Unbehagm im Subjekt, Wien 1998, 15.
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fernt. Dieses Projekt, das auf den Kunstsinn des deutschen Idealismus abzielt, läßt die Verschmelzung von Kunst und Natur, die in den Wahlvenvandtschaften problematisiert wird, als falsch und erkünstelt erscheinen. Daher gilt es, einen neuen Kunstbegriff zu finden: "Erst wenn wir einen ordentlichen Kunstbegriff haben, haben wir auch einen ordentlichen Naturbegriff, s"agte er. Erst wenn wir den Kunstbegriff richtig anwenden und also genießen können, können wir auch die Natur richtig anwenden und genießen." (A 34) Bernhards Auslöschungsprojekt möchte diesem "ordentlichen KunstbegrifF' das Wort reden. Es versucht, aus den Menschen, die sich selbst unmöglich geworden sind, Menschen zu machen, die sich und ihr Leben ertragen lernen, indem sie die Sinnlosigkeit ihres Daseins akzeptieren. So gesehen, kehrt Bernhard die Voraussetzungen, die in Goethes Roman angelegt sind, völlig um. Statt der Unerträglichkeit des Endlichen lehrt Bernhard die Unerträglichkeit des Unendlichen. Statt der Anschaulichkeit der unendlichen Natur bietet er die Unanschaulichkeit des Todes, fiir die die verstümmelte Leiche der toten Mutter steht, die mit dem Vater und dem Bruder in der Orangerie aufgebahrt liegt. Bernhard will gerade jene verstümmelten Menschen zeigen, über die Goethes Roman schweigen will, aber erzählen muß: das Kind, das im See ertrinkt, das Mädchen, das den sich selbst auferlegten Hungertod erleidet, den Freund, der ihr bis in den eigenen Tod nachtrauert. So ist Muraus Ziel die Erneuerung, die voraussetzen muß, daß "die Verstümmelte sichtbar" gemacht wird - eine apokalyptische AntiRomantik, die von der Virtualität des Todes im Leben ausgeht, um die Sehnsucht nach dem Tod zu beenden.
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Virtuelle Apokalypse im zeitgenössischen Film: Godard - Greenaway - Kubrick - Lynch 1. Ästhetischer Weltuntergang
Die christliche Erwartung der Apokalypse ist selbst in den hartnäckigsten Kreisen der Zeugen Jehovas, sonst Fachleute in Fragen der genauen Ermittlung des Endes, in eine unendliche Verzögerung geraten. Visionen eines Endes dieser Welt, verbunden mit dem Sieg des Guten über das Böse und der endgültigen Etablierung des Paradieses aufErden, sind der bisweilen fröhlich, bisweilen katastrophisch gerahmten Vermutung gewichen, es werde immer so weiter gehen. Wenn im folgenden von apokalyptischen Spuren im Film gehandelt wird, dann geschieht dies im Rahmen der Rede von einer ästhetischen Apokalypse. Es handelt sich um eine hochgradig metaphorische Rede. Von ,Apokalyptik' läßt sich daher durchaus in diesem Sinne sprechen, ohne das tatsächliche Ende zu identifizieren oder gar als Parusie Christi zu bewerten. Wo die christliche Apokalypse eine breitere Akzeptanz eingebüßt hat, bietet sich die Kunst als virtueller Ersatz an. Man könnte von einer säkularisierten Apokalypse sprechen, muß aber ein geschichts- bzw. zeittheoretisches Argument darin hervorheben. Christlich apokalyptisches Denken ist vordergründig zwar auf ein Ende hin konzipiert ebenso wie die Genesis einen absoluten Anfang behauptet -, genauer betrachtet untersteht es aber der zyklischen Struktur eines vormodernen Zeitbewußtseins, das das Ende der Welt als Anfang des paradiesischen Neuen Jerusalems interpretiert. Mit der linearen Prozeß- und Fortschrittsstruktur einer beschleunigten modernen Zeiterfahrung seit etwa 1800 ist streng genommen weder ein Anfang im Sinne eines absoluten Ursprungs noch ein Ende der Geschichte vereinbar. Gewiß schärft das Fortschrittsmodell schnell auch den Blick fiir Krisen oder Katastrophen: Ein Ende aller Dinge und mithin ein apokalyptisches Datum steht aber ebenso außerhalb der Denkmöglichkeiten einer beschleunigten Prozeßstruktur der Geschichte wie die Konstruktion eines Ursprungs. Fortschrittsdenken erhält sein negatives Profil in Krisenhaftigkeit und Katastrophischem; apokalyptisches Endzeitbewußtsein bleibt ihm äußerlich und greift auf einen vormodernen Geschichtsbegriff zurück. Das Ende verfugt nurmehr über einen metaphorischen Status. Unter den Bedingungen eines modernen Zeitverständnisses ist jedes Ende nur ein vorläufiges Ende. Ein Ende im strikten Sinne ist nicht mehr denkbar. Apokalypse verwandelt sich in ein ästhetisches, virtuelles
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Modell. In einer zeittheoretischen Perspektive läßt sich moderne, Autonomie behauptende Kunst als dramatischer Ort einer vormodernen, immer aber durch eine interne semiotische Differenz ausgezeichnete Wiederholungs struktur begreifen. Für ein lineares Prozeßbewußtsein von Geschichte findet die Apokalypse etwas überspitzt formuliert - in der Kunst statt, und zwar in thematischer wie in formaler Hinsicht. In dieser Bewegung verliert die Apokalypse allerdings ihren begriffiichen und existentiellen Kern. In einem strengen Sinn ist die Apokalypse in der Moderne obsolet geworden: Katastrophe und Schrecken ja, aber ohne Ende. Ästhetische Inszenierungen der Apokalypse sichern die Doppelbewegung aus Untergangsvision und Auferstehung, wenn auch nur in einem säkularen und formalen Sinn. Bereits von ihren medialen Voraussetzungen her handelt es sich um eine verzögerte, verschobene und virtuelle Apokalypse, eine, die vollzogen wird, ohne stattzufinden, eine, die von der Zerstörung und vom Ende des Körpers und der Zeichen spricht und die Wiederauferstehung des ästhetischen Körpers verspricht. Am Offenbarungsgeschehen der apokalyptischen Untergangsvision nehmen die hier zu behandelnden Filme einerseits in diesem ästhetischen Sinne teil. In einer eher thematischen Hinsicht realisieren sie andererseits den Aspekt des Entschleierns bzw. Enthüllens, indem in der Katastrophe etwas sichtbar wird, das so vorher nicht zu sehen oder zu hören war. Derrida hat eine seiner apokalyptischen Interventionen mit der Etymologie des hebräischen gala , begonnen, das mit Apokalypse übersetzt wurde 1 : "Und es [gala'] scheint in der Tat apokalypsis zu besagen, das Entdecken, Enthüllen, der von der Sache gehobene Schleier: zunächst, wenn man so sagen kann, vom Geschlecht des Mannes und der Frau, aber auch von den Augen und den Ohren." Wo ap~kalyptische Visionen das Ende aller Dinge und die Auflösung aller Formen androhen, da sind virtuelle Evokationen der Apokalypse an bestimmte Formen zurückgebunden. Sie können über potentielle Formlosigkeit nur in einem bestimmten ästhetischen Format handeln, das notwendig mit einer Depotenzierung das apokalyptischen Schreckens einhergeht. In den hier angesprochenen Filmen wird Apokalyptisches zur Darstellung gebracht, indem es mit Spuren einer Ästhetik des Grotesken und Elementen filmischer Genres, etwa des Road Movie bei Lynch und Godard, versetzt wird. Daß dieses keineswegs die einzige Weise ist, Apokalyptisches im zeitgenössischen Film darstellbar zu machen, zeigen etwa der mystische Ernst, mit dem Andrej Tarkowskij oder Theo Angelopoulos darauf zielen, die filmischen Bewegungsbilder zum Stillstand zu bringen, oder die mythische Überpointierung des Kriegsschreckens in Francis
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Jacques Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie, in: ders., Apokalypse, Graz und Wien 1985, 14.
Virtuelle Apokalypse im zeitgenössischen Film
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Ford Coppolas Apocalypse Now, dessen leitmotivischer Titelsong The End eben nicht das Ende meint, sondern nur das verschobene, immer wiederholbare Ende eines virtuellen Geschehens. Das "Grauen" - "the horror" - behält in der Schlußsequenz des Films das letzte Wort, keineswegs aber die im Titel versprochene Apokalypse. Beispiele fur Apokalyptisches an der thematischen Oberfläche finden sich bei David Lynch, Jean-Luc Godard, Peter Greenaway oder Stanley Kubrick allenthalben. Ganz zu Beginn der Autofahrt durch das Fegefeuer der amerikanischen Gegenwart in Wild at Heart (1990) schaltet Lula, die weibliche Hauptfigur, das Radio ein, um die passende Rockmusik fur ein Road-Movie zu finden. Welchen Kanal sie auch wählt, sie empfangt nur Horror-Botschaften aus einer kollabierenden Welt. In einem der hysterischen Anfalle, die den Film leitbildartig durchziehen, liefert Lula selbst den apokalyptischen Kommentar: "This is the night of the fucking living Dead!" In drei Schritten fuhrt die Autofahrt in die Enthüllung des sexuellen Körpers der Frau, die mit dem Tod des männlichen Helden und seiner phantastischen Neugeburt endet. Nach den apokalyptischen Botschaften des Autoradios geht die Fahrt durch den metaphorischen Geburtskanal der nächtlichen Autobahn unmittelbar in die Szenerie eines Verkehrsunfalls über. Bei Lynch sind häufig gerade solche Szenen besonders skandalös, in denen die Statik und unausweichliche Insistenz der Choreographie durch groteske Momente versetzt wird. In der nächtlichen Unfallszene umkreist eine tödlich verletzte junge Frau den grausigen Unfallort, um hysterisch das zu suchen, was angesichts des Todes das Unwichtigste ist: Haarspangen und Lippenstift. Die Sorge darum, daß die Mutter sie umbringen werde, wenn sie ihre Handtasche nicht finde, wird zum Skandal der Szene. In der inversen Logik des Grotesken ist es einsichtig, daß das Nebensächlichste zum Wichtigsten wird. Die dritte Station bezeichnet ein Motel in dem texanischen Ort Big Tuna. Lynch hat die gesamte Motel-Sequenz in einer alptraumhaften Atmosphäre gestaltet, die über diedurchgefuhrte Feuer-Metaphorik etwas vom Vorhof der Hölle erhält. Einem von grellen Popfarben gezeichneten und von bösen Buben, Freaks und monströs fetten Darstellerinnen eines Pornofilms bevölkerten Inferno entspricht der kryptische und obszöne Slang der Dialoge, die weniger Rede als Ausscheidung sind. In Reminiszenz an die Karnevalshölle der frühneuzeitlichen Groteske sind auch die apokalyptischen Sensationen Lynchs mit einer Komik versetzt, bei der man längst nicht sicher sein kann, ob diese Komik nicht den höchsten Grad von Grauen bezeichnet. In dieser Motel-Hölle findet die Enthüllung des weiblichen Körpers als Degradierung und Vergewaltigung statt. Sie ist in ihrer Dauer, Perfidität und Unausweichlichkeit kaum erträglich. Wiederholt nötigt der Vergewaltiger , Willem Dafoe als Bobby Peru, die Frau, in ihrem nach Erbrochenem stinkenden Motelzimmer, "Fuck me!" zu sagen, erst dann werde er gehen. Mit seinem ekligen, widerwärtig geöffneten Mund rückt er ihr ganz nahe auf den Leib, berührt sie gleichzeitig sexuell, bis Lulas gespreizte rechte
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Hand, ein weiteres Leitbild des Films, andeutet, daß ihr Widerstand gebrochen ist. Als sie sich mit einem kaum vernehmbaren "Fuck me!" unterwirft, löst der Peiniger sich abrupt von ihr, lacht und antwortet: "Some day I will, but I gotta get going." Die schrittweise Apokalypse des Liebespaares im Pop-Comic-Format endet, wenn der erschlagene Geliebte Lulas, Sailor, eine Art Purgatorium durchmacht und eine phantastische Neugeburt erlebt, die den Weg ebnet fiir die märchenhafte Vereinigung der Liebenden. Von einer monströsen Vergewaltigung des Frauenkörpers handelt auch Greenaways Film The Baby of Macon (1993). Ähnlich wie Lynch ist auch Greenaway von Francis Bacons Präsentation des menschlichen Körpers als eines beschädigten Moments in einem gewalttätigen, sexuellen Körperdrama inspiriert. 2 Der Film beginnt mit einer Totalen auf eine entfernte Figur, die zunächst als Zeichnung wahrgenommen und schließlich, bei der langsamen Annäherung der Kamera, als ausgezehrte, eklige Gestalt identifiziert wird. Die Kamerafahrt endet mit einem close-up aufKopfund Körper der Gestalt, die als apokalyptische Allegorie des Hungers auftritt. Die Kamera gibt einen Blick frei auf eine aufgesperrte, schwarze Mundhöhle, in der eine helle Zunge sich schwerfallig bewegt, um die Prophezeiung von Unheil zu artikulieren. Die Gestaltung des verdrehten, von Schwären und Ekzemen gezeichneten ekligen Leibes setzt sich im grotesken, nicht minder ekligen Zungenspiel fort, das auch die Rede als eine Körpergeburt einsichtig macht. Die Allegorie des Hungers, die nach Greenaways eigenen Worten "aus lauter Körperöffnungen zu bestehen scheint", verkündet Siechtum und Unfruchtbarkeit, als habe sie Kieselsteine im Mund. Jedes einzelne Wort wird unter Schwierigkeiten und Schmerzen geboren3 : "The crops are feeble, The animals barren, The orchards meagre, The grass is scorched, The water low. Men and women have ceased to play ... in bed ... Copulation is a serious bu.siness, ... and little results but sickness and sadness." Nachdem die Allegorie des Hungers ihre Prophezeiung gestammelt hat, stürzt sie in die Tiefe, aus der sie am Ende des Films noch einmal auftaucht, um ihre apokalyptische Vision zu wiederholen, und mithin die Vergewaltigung und Zerstörung des weiblichen, jungfräulichen Körpers, die im Zentrum des Filmgeschehens stehen, als apokalyptisches Szenario einsehbar zu machen. Die gewaltsame Öffnung des Frauenleibes in Greenaways Film enthüllt den katholischen Marien- und Jungfrauenkultus als patriarchales Machtdispositiv und als infame Kolonialisierung des weiblichen Körpers. Godard läßt die Apokalypse der bürgerlichen Zivilisation in seinem Film Weekend (1967) ganz beiläufig auf einem Wochenendausflug geschehen, den ein in die Jahre gekommenes Ehepaar unternimmt, um eine Erbschaft durch einen
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Vgl. ausführlicher DetlefKremer: D~formierte Körper- Gewalt und Groteske bei David Lynch und Francis Bacon, in: Kunst - Macht - Gewalt, hg. von Ralf Grimminger, München 2000, 209-229. Peter Greenaway: The Baby ifMdcon, Paris 1994,31.
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Mord zu sichern und um sich gegenseitig umzubringen. Die Schichten der Zivilisation werden Stück um Stück so weit abgetragen, bis hinter ihrem Schleier der permanente Kampf aller gegen alle, Rassismus, Geldgier, Vergewaltigung und schließlich Kannibalismus zu Tage treten. Wie Lynch mit Wild at Heart hat auch Godard ein Road-Movie gedreht, aber er hat sich der krassen Inversion des Genres bedient. Der Wochenendausflug kommt sofort in einem unfallbedingten Stau zum Stillstand, den Godard in einer langen, ungeschnittenen Einstellung und einer quälend langsamen Kamerafahrt parallel zum Stau, untermalt mit einem nervenaufreibenden Hupkonzert, inszeniert hat. Außer einem ironischen Spiel mit den Farben der Autos und den unsinnigen Überholversuchen des Ehepaars gibt es hier wenig Abwechslung. Ähnliches gilt rur die weitere Fahrt durch eine katastrophische Unfall-, Gewalt- und Todeslandschaft, in der phantastische, aber historisch verbürgte Figuren die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft als Degradierung vor allem der Frau und ethnischer und sozialer Randgruppen aufrufen. Das Vorfahrtsrecht auf dieser hemmungslos aggressiven Fahrt regelt sich nach einer Sophistik, derzufolge deIjenige Vorfahrt hat, der männlich,jung, reich und schön ist. Anders als die übrigen hier genannten Regisseure treibt Godard seinen Film nach etwas mehr als der Hälfte selbst in die Katastrophe und mit ihm jeden möglichen Zuschauer. Er läßt die institutionelle Vereinbarung "SpielfiJm" buchstäblich und metaphorisch in die Leere laufen, indem er den Simulationszusammenhang des Films zerstört. Er verliert sich bewußt solange in einem schauspielerischen und dramaturgischen Dilettantismus sowie einer kannibalistischen und sexuellen Ekelinszenierung, bis rur den Zuschauer nurmehr Flucht aus dem nicht mehr schönen Schein der virtuellen Bilder möglich ist. Godards politische wie ästhetische Perspektive zielt darauf, Kino als Scheinwelt zu entschleiern und den Blick dafiir zu schärfen, daß in einer kapitalistischen Gesellschaft hinter dem Schleier der vermeintlich autonomen Werte nur Tauschwerte verborgen sind, daß die kapitalistische Warenwelt die Katastrophe aller Werte und Beziehungen bedeutet. Neben der Akzentuierung apokalyptischer Spuren zeichnen sich die bislang angefiihrten Beispiele bei aller Heterogenität durch ein mehr oder minder ausgeprägtes Maß an grotesker Pointierung aus. Wenn sich die Apokalypse formal als Aufhebung und Verkehrung bestehender weltlicher Verhältnisse begreifen läßt, dann liegt eine gewisse Affinität apokalyptischer Phantasie zu grotesker Komposition nahe, die ihr gesamtes Figurenarsenal um das Modell der Inversion gruppiert hat. Klaus Vondung, der eine umfangreiche Monographie über das Thema der Apokalypse in der deutschen Literatur geschrieben hat4 , ist die Nähe von Apokalyptik und Groteskem nicht entgangen. Er gründet sie auf die Ambivalenz
4
Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland, München 1988.
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von Schrecken und VergnügenS, die beiden eigen ist. Für das Zeitalter der atomaren Vernichtungsdrohung sieht er allerdings die Funktion des Grotesken an seine Grenzen gekommen6 : Auch das Stilmittel des Grotesken stößt bei diesem Gegenstand an Grenzen. Wenn die Vorstellung maßlosen Schreckens, die das Atomzeitalter aufgedrängt hat, die äußersten Möglichkeiten grotesker Gestaltung sucht, um Ausdruck zu finden, bricht die Funktion des Grotesken zusammen. [ ... ] An der Grenze seiner Möglichkeiten erweist sich das Groteske als hilflos.
Über eine bloße Behauptung geht diese Passage allerdings nicht hinaus. Das fehlende Argument wird durch eine Verallgemeinerung der Behauptung kaschiere: "Es scheint so zu sein, daß vor den Schrecken eines Atomkrieges die Ästhetik generell versagt, zumindest in diesem Sinn, daß eine unmittelbare Verarbeitung des Gegenstands keine Werke von ästhetischem Rang zeitigt. " Ohne weiter auf diese Diskussion einzugehen, sei immerhin Kubricks Dr. Strangelove} or How I Leamed to Stop Worrying and Love the Bomb (1964) als massiver Gegenbeweis angeführt. Kubrick bedient sich hier sehr weitgehend grotesker Komposition. Er verzeichnet das erhabene Pathos des atomaren Weltuntergangs in die Niederungen sexueller Körperlichkeit. Die finale Atomexplosion, die automatisch eine sogenannte "Weltuntergangsmaschine" in Gang setzt, erscheint als letztes phallisches Gehabe von verrückten, impotenten alten Männern. Ein gewisser Major Kong, Riesenaffe, apokalyptischer Reiter, texanischer Cowboy und Kindskopf in einer Figur, "reitet sein Baby", die mit obszöner Aufschrift versehene Bombe, in das vorgesehene russische Ziel namens "Laputa", was bekanntlich auf Deutsch "Hure" heißt. Zugleich spielt Kubrick darin auf eine paradigmatische Satire und Groteske vom Beginn des 18. Jahrhunderts an: Jonathan Swifts Gulliver}s Travels (1726), dessen drittes Buch von den verrückten Wissenschaftlern auf Laputa handelt, die jeden pragmatischen Alltagsverstand eingebüßt haben. Der Signifikanz der Namen ist das apokalyptische Drama von Anfang an eingeschrieben. Der Befehl, das Abschreckungsszenario mit einem amerikanischen Erstschlag auszusetzen, geht von einem Luftwaffengeneral namensJack T. Ripper aus. Aus Angst vor einer kommunistischen und femininen Weltverschwörung übertrifft er seinen historischen Namensvetter als Frauenmörder
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Vgl. Klaus Vondung: JJ Überall stinkt es nach Leichen « - Über die ästhetische Ambivalenz apokalyptischer Visionen, in: Schönheit und Schrecken - En.tsetzen, Gewalt und Tod in alten und neuenMedien, hg. von Peter Gendolla und Carsten Zelle, Heidelberg 1990, 135: "Im Rahmen der spezifischen Ästhetik der Apokalypse vermag ein Stilmittel Lust zu erzeugen, das für die Apokalypse charakteristisch ist: das Stilmittel des Grotesken. Die erzeugte Lust ist von besonderer Art; sie ist Ausdruck der Funktion, die das Groteske im apokalyptischen Szenarium besitzt. Diese Lust ist ambivalent und verweist auf die grundsätzliche Ambivalenz der Ästhetisierung apokalyptischer Untergangsvisionen. " Ebd., 144.
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gewiß bei weitem. Sein phallisches Hantieren mit Zigarren und Maschinengewehren verbindet ihn mit dem Chef der Luftwaffe, der Turgidson, also Sohn des Geschwollenen, heißt. In einer Dreifachrolle - auch das selbstverständlich Funktion einer grotesken Irritation - verbindet Peter SeIlers einen gehbehinderten englischen Gastoffizier namens Mandrake - die aphrodisische Mandragora-Wurzel- mit dem kahlköpfigen amerikanischen Präsidenten mit Namen Muffiey als Anspielung auf ein Toupet aus weiblichem Schamhaar und dem gelähmten, deutschstämmigen Wissenschaftler Dr. Strangelove. An ihm exekutiert Kubrick auf dem dramaturgischen Höhepunkt des Films eine Strategie der Partialisierung des Körpers. Seine apokalyptische Vision von der Wiedergeburt der menschlichen Rasse in einem amerikanischen Bergwerksstollen wird gestisch versetzt durch seine in schwarzes Leder gehüllte rechte Hand, die sich wiederholt selbständig macht und zum Führergruß ausfährt. Berauscht von den sexuellen Möglichkeiten, die ein Verhältnis von einem Mann zu zehn Frauen untertags in Aussicht stellt, vervollständigt er die Erektion der rechten Hand - parallel zum Untergang der Weh - mit einer Ganzkörper-Erektion: "Mein Führer, ich kann gehen!" Die punktgenaue Simulation der Wirklichkeit macht den Film zum Medium schlechthin, Untergang und Auferstehung gleichzeitig zu verschieben und metaphorisch einzulösen. Kubricks Dr. Strangelove läßt einen Filmbetrachter Teilnehmer einer virtuellen apokalyptischen Reise sein, bietet den virtuellen Untergang und gleichzeitig ein Überleben und eine Wiedergeburt an. Zur Symphonie von Atomexplosionen intoniert die Sängerin Vera Lynn am Ende ein Wiedersehenslied: "We'llmeetagain, don'tknowwhere, don'tknowwhen, butIknow we'll meet again some sunny day."
11. Ästhetische Auferstehung Dieser Befund erlaubt es, den Zusammenhang von Ästhetik und Apokalypse von der Oberfläche des Thematischen zu lösen und formal tieferzulegen. Im virtuellen Raum des Films gelingt es, Weltuntergangs szenarien und der mit ihnen verknüpften gewalttätigen Auflösung wieder eine Form zu geben. Die atomare Apokalypse kann nicht Ereignis werden, weil, so Derrida, kein Publikum mehr da wäre, um es zu einem solchen zu machen. Die Apokalypse kann nur in der Kunst und nirgends mit so simulatorischer Überzeugunsgkraft wie im Film stattfinden. Jede ästhetische Inszenierung eines apokalyptischen Abgrunds bedarf, insofern sie Kunst ist, einer Form. Die Apokalypse wird im Kunstwerk auf eine ästhetische Funktion bezogen, die sie erneut in eine Ordnung und eine Wiederholungsstruktur -einfiigt. Über eine bestimmte Form der Darstellung ist sie immer wieder 7
Ebd.
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auf einen Grund gestellt, der als Widerlager der apokalyptischen Auflösung verstanden werden kann. Die apokalyptische Deformation wird durch eine bestimmte ästhetische Form ausbalanciert und erhält dadurch in einem virtuellen Sinne ihren Ereignischarakter. Wenn in der Apokalypse die Körperwelt zur Disposition steht, dann ist es einer der apokalyptischen Grundzüge des Films, das Ende des Körpers in einer Wiederauferstehung des Körpers aufZufangen. Das "Ende ohne ein Ende", von dem Derrida spricht, läßt sich auch und vor allem auf das Ende im Film beziehen8 : Es gibt nur die Apokalypse ohne Apokalypse. [... ] das ohne kennzeichnet eine interne und externe Katastrophe der Apokalypse, eine Umkehrung des Sinns, der nicht mit der verkündeten oder in den apokalyptischen Schriften beschriebenen Katastrophe zusammenfällt, ohne ihr jedoch fremd zu sein. Die Katastrophe wäre hier vielleicht die der Apokalypse selbst, ihre Einfaltung und ihr Ende, eine Geschlossenheit ohne Ende, ein Ende ohne Ende.
Das heißt nichts anderes, als daß Apokalypse auf den Status einer virtuellen Apokalypse zugeschnitten wurde, sofern sie je über einen anderen Status verfUgt hat. Wie Vondungvon einer "kupierten Apokalypse" zu sprechen 9 , trifft in religionssoziologischer Hinsicht vielleicht zu, in ästhetischem Zusammenhang fuhrt es in die Irre. Selbst wenn die Vision vom Untergang des Körpers nicht in einer paradiesischen Vision aufgefangen wird, bietet sich der Film insgesamt als simulatorische Wiederauferstehung des Körpers an. Greenaway hat die Apokalypse des Körpers, seinen Untergang und seine virtuelle Auferstehung als Bezeichnetes, in seinem vorletzten Film, The Pillow Book (1996), durchgespielt. Er handelt vom Körper, der erst durch Beschriftung zu einem erotischen, d.h. begehrenswerten Körper wird. Für das japanische Fotomodell N agiko Kiyohara kann sexuelle Lust sich nur einstellen, wenn der erwählte Liebhaber zugleich Kalligraph is.t, der ihr seine Liebe in formvollendeten Schriftzügen auf die nackte Haut schreibt. Die enge Verschleifung von Animation und Mortifikation im erotischen Blick auf den bezeichneten, tätowierten Körper fuhrt Greenaway aus, wenn das von kalligraphischer Hautschrift besessene Fotomodell ihren toten Liebhaber in ein Buch verwandelt, indem sie ihn beschriftet und anschließend begräbt. Der homosexuelle Verleger und Liebhaber des Toten läßt ihn später exhumieren, ihm die Haut abziehen und als Pergamentrolle archivieren. Der Körper verwandelt sich zurück in die Schriftrolle, aus der er nach sprachmagischen Vorstellungen einst geschaffen wurde, und überlebt als erotischer Fetisch des Verlegers. Gleichzeitig stellt der Körperschrift-Fetisch, der zum Pergament aufgerollte Körper des Liebhabers, die virtuelle Konstruktion und Konservierung des erotischen Körpers Derrida: Apokalyptischer Ton [Anm. 1],89.
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im bzw. als Film selbstreflexiv zur Schau. Der Film selbst und als ganzer ist die virtuelle Substitution des erotischen Körpers; er bezeichnet den Untergang und die Wiederauferstehung des Körpers in beliebiger Wiederholbarkeit, und zwar bei Greenaway in einem dreifachen medialen Arrangement: der Körper verschwindet in einer Schriftrolle, die ihrerseits in einer Filmrolle aufgeht. In umgekehrter Richtung: die Filmrolle simuliert einen beschrifteten Körper, der die Realität eines fleischlichen Körpers simuliert. lo
III. Anfong und Ende. Die Entschleierung des sexuellen Köpers Zwei Aspekte einer apokalyptischen Relation sind hier gleichsam eingeschlossen, die anfangs schon anstanden und auf die jetzt noch einmal einzugehen ist: die Inversion von Anfang und Ende sowie die Entschleierung des sexuellen Körpers. Wo Greenaway in The Pillow Book es bei der Häutung des Körpers beläßt, nimmt Lynch ein Sondieren dessen vor, was unter der Oberfläche verborgen ist. Lynchs Film-Sonde erkundet das Innere des seiner Haut entledigten sexuellen Körpers l1 . In Blue Velvet sind die Stationen von Jeffrey Beaumonts initiatorischer FilmReise wesentlich vom Skandal der Gewalttätigkeit des Sexuellen geprägt und vom noch größeren Skandal der Attraktivität anrüchiger sexueller Gewaltausübung. Im Zentrum seiner Reise in die tieferen Schichten des Begehrens liegt die Wohnung der verbotenen Frau. Den Weg dorthin beschreitet die Kamera wie ein Endoskop durch ein Labyrinth von dunklen unterirdischen Gängen und Röhren. Im durchgängig in ein rötlich-blauschimmerndes Halbdunkel getauchten Apartment kreuzen sich Spuren des Infernos mit denen des Allerheiligsten. Lynch hat dieses Initiationsdrama so offenkundig als Urszene im Freudschen Sinne eingerichtet, daß es zu kurzschlüssig wäre, den Film auf ein psychoanalytisches Motiv zu reduzieren. Interessanter ist die Art, wie Lynch diese Urszene entstellt und körperliche und virtuelle Gewalt in ein Spannungsverhältnis gebracht hat. Lynchs Familiendrama orientiert sich nicht an einer psychoanalytischen Rationalisierung, sondern an den unheimlichen Effekten des Sexuellen, die jenseits der Bilder keine andere Sprache erlauben. Gewiß, die Urszene läßt
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Vgl. Vondung: "Überall stinkt es nach Leichen" [Anm. 5], 134: "Die Apokalypse wurde kupiert." Vgl. auch Dietmar Kamper: Die kupierte Apokalypse - Eschatologie und Posthistoire, in: Ästhetik und Kommunikation 60 (1985), 83-90. Vgl. DetlefKremer: Arche und Apokalypse - Bild tmd Schrift in Peter GreenClways Filmen, in: Lesbarkeit der Kultur- Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, hg. von Gerhard Neumann und Sigrid Weigel, München 2000,503-520. Im Hinblick auf Lynchs Aufbrechen der Oberfläche stellt Slavoj Zizek eine Beziehung zu Lacans Begriff des Realen her: "Die Oberfläche der Haut schließt also das Reale der Lebenssubstanz, ihr Pulsieren, aus: Eine der Definitionen rur das Lacansche Reale ist, daß es der gehäutete Körper, das Pulsieren des rohen Fleisches sei." (Slavoj Zizek: Metastasen des Genießens - David Lynch mit Lacan, in: "Kultur" und "Gemeinsinn", hg. von Jörg Huber und Alois M. Müller, Zürich 1994,63.)
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sich rekonstruieren: der "Sohn", der sich der verbotenen "Mutter" im Allerheiligsten schon genähert hat, muß dem grausamen "Vater" weichen und Zeuge werden, wie dieser die "Mutter" sexuell mißbraucht. Gewiß ist diese Szene auch -von den abgeschnittenen Ohren bis hin zur Schere des Sadisten -von Kastrationsmotiven flankiert. Aber die psychoanalytische Übersetzung verfehlt oder verharmlost das Grauen der Bilder. Es sind eher die Entstellungen des psychoanalytischen Schemas, die die Faszination und Verstörung der Szenerie ausmachen: die Regression des sadistischen" Vaters" zu einem "Baby" , das mit einer entstellten Stimme zu "Mammi" kommen will, der erneute Wechsel der Stimmlage hin zur Rolle "Daddys", der einhergeht mit dem Überstülpen einer Hyperventilationsmaske für Asthmatiker. Mit dieser Maske hat der Sadist sich in ein hybrides insektenähnliches Monster verwandelt, das mit der Freudschen Urszene so wenig zu tun hat wie HannibalLecter aus Jonathan Demmes The Silence ofthe Lambs (1990) mit Norman Bates aus Alfred Hitchcocks Psycho (1960). Von ganz entscheidender Bedeutung fur diese Vergewaltigungs-Szene ist der Moment des Blicks, genauer gesagt des Sehens und Nicht-Gesehen-Werdens. Der sadistische Insektenmann mit dem Namen des Lincoln-Attentäters Booth besteht peinlich darauf, daß ihn das weibliche Objekt seines perversen Begehrens nicht ansieht. Sein perfides sexuelles Arrangement funktioniert nur, wenn er sein Objekt zu einem Bild virtualisiert hat, das über keinen eigenen Blick verfugt. Die eigentliche Gewalt und Macht geht vom Blick aus, vor allem dann, wenn er sich dem Blick des oder der Anderen entzogen hat, d.h. wenn ein voyeuristischer Blickkanal aufgebaut wird. Im Kern handelt es sich hier um eine BlickKonstellation, die komplex abgestuft ist. Verschiedene voyeuristische Positionen werden unterschieden, die ihren Ausgangs- und Endpunkt im Zuschauer des Films haben. Der Zuschauer beobachtet den initiatorischen Helden im Kleiderschrank und beobachtet mit ihm durch die Spalten der Lamellen den Sadisten, der sein sexuelles Objekt beobachtet. Sein ausdrückliches Begehren, nicht gesehen zu werden und damit sich selbst nicht als Monster bewußt werden zu müssen, dementiert der Film folglich gleich auf zwei Ebenen. Die einzige, die in dieser Blick-Konfiguration über keine eigene Perspektive verfugt, aber von allen zum sexuellen Blick-Objekt gemacht und damit im genauesten Sinne entschleiert und gehäutet wird, ist die Frau. Sie ist es, der im körperlichen wie im symbolischen Sinne Gewalt zugefügt wird. Sie wird weit stärker gedemütigt und degradiert als der von Frank Booth zusammengeschlagene und homosexuell markierte männliche Held. Nackt und völlig schutzlos wird sie von J effrey in eine Decke gewickelt und ins Hospital gebracht, bevor sie am Ende, wiederum in einer Art Neugeburt, mit ihrem entführten Sohn wieder vereinigt wird. J effrey selbst hat, nach seiner Initiation und nachdem er den Sadisten aus der voyeuristischen Position im Kleiderschrank heraus erschossen hat, die Männerrolle übernommen und läßt sich von seiner blonden Freundin aus dem Liegestuhl zum Essen rufen. Vorher hatte sich die Kamera aus
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dem Inneren des Körpers durchJeffreys Ohr zurückgezogen, durch das sie am Anfang des Films eine endoskopische Passage in die nächtliche, ebenso anziehende wie abstoßende gewalttätige Welt von "Deep River" - so der Name des Apartmenthauses - eröffnete. Bereits in seinem ersten Spielfilm Eraserhead (1977) hat Lynch die Inversion von Anfang und Ende als Apokalypse des sexuellen Körpers in einem weitgehend grotesken und monströsen Fonnular durchgefiihrt. Die Eingangssequenz spannt eine universale Konstellation auf, in der der Kopf des Helden Henry, dessen Haare ständig zu Berge stehen und dessen Augen staunend weit aufgerissen sind, über seine Kugelfonn mit einem Planeten zur bildlichen Deckung gebracht wird. Der Film beginnt damit, daß der menschliche Kopf und ein spenniumähnlicher Wunn in seinem Inneren in einer universalen Konfiguration gezeugt und anschließend durch einen allegorisierten Geburtskanal, zusammen mit dem Film selbst, geboren werden. Die Beziehung zwischen Henry und seiner phallischen Kopfgeburt, des, wenn man so sagen kann, grotesk verdrehten Christuskindes, bezeichnet die semiotische und dramatische Hauptlinie dieses Films. Die selbstreflexiv gewendete Geburt verspricht nicht nur eine groteske Ästhetik auf der Ebene der Figuration, sondern der Film als ganzer entwickelt sich als surrealer, phantastischer und grotesker Körper, der gewaltsam in Einzelteile zerfällt und nur zusammenwächst, um sofort wieder auseinanderzubrechen. In der sinistren Landschaft des Films hat Henry sich ein schwarzweiß gefliestes Traum-Theater geschaffen, auf dem eine im Nachspann so genannte "Frau im Heizkörper" ihre Auftritte hat. Innerhalb der bedrohlichen Welt des sexuellen Begehrens übernimmt die entstellte Heizkörperfrau die Rolle der asexuellen Gegenfrau. Zum Ende des Films hin verliert Henry hier vorübergehend seinen Kopf Henrys Kopfwird förmlich vom Rumpf gesprengt. Er fällt auf den Boden, wo er von Blut überschwemmt wird. Ursache des Kopfverlustes ist die neuerliche Geburt des bizarren Säuglings mit dem Greisenkopf, der vorher bereits zweimal, von Henry und seiner Freundin Mary X, geboren worden ist. Aus der Wunde reckt sich das bezahnte Etwas, das Henry in dieser Traumsequenz aus seinem eigenen Leib zum dritten Mal geboren hat und dasjetzt seine Stelle einnimmt. Während Henrys Kopf mit aufgerissenen Augen in der Blutlache liegt und seine Finger nervös auf einem Geländer spielen, erigiert aus seinem eigenen Rumpf der lange Hals des ekligen Monsters, das einem Gemälde von Francis Bacon entsprungen zu sein scheint. Mit dem Abplatzen des Kopfes und der Neugeburt des Monster-Babys ist die reversible Struktur der grotesken Ästhetik aber noch nicht beendet. Der Kreislauf des losgelösten metonymischen Kopfes ist noch nicht abgeschritten. Die Blutlache der fahrbaren Installation öffnet sich in einen Abgrund, in dessen Sog Henrys Kopfverschwindet. In letzter, das heißt in diesem Zusammenhang wohl apokalyptischer Hinsicht bezeichnet er den Ort, wo jede Sicherheit des Raumes und der Zeit verschwindet und wo dem Körper, gleichgültig ob im Akt
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der Geburt oder des Todes, Gewalt angetan wird. In semiotischer Hinsicht bezeichnet er den Ort der ständigen Metamorphose, wo jeder eindeutige Sinn entzogen wird. Henrys losgesprengter Kopffällt schließlich auf die Straße, wo er von einem Jungen aufgenommen und in eine Radiergummifabrik gebracht wird. Hier wird Henrys gelöschtes Haupt, wie es der Filmtitel verspricht; zu Radiergummis verarbeitet. Selbst also in Lynchs reduzierter, über weite Strecken aber noch bizarr-komischer Bestätigung des Zyklus von Geburt und Tod entsteht am Ende keine fröhliche Lebensbestätigung, sondern die negative Imagination eines Mediums der Auslöschung, sei es ein Radiergummi zur Tilgung der Schrift und Bilder - Henry ist immerhin von Beruf Drucker - oder ein magnetophonischer Löschkopf zur Auslöschung der Stimme. Kurz nach der Traumsequenz ist Henry wieder zusammengewachsen, um das monströse Baby der Mutter Mary X, auf dem er nach ihrem Verschwinden hängen geblieben ist, zu töten. Nicht nur der Name der Mutter spielt auf den christlichen Hintergrund von unkörperlicher Empfängnis und Kreuzigung an. Auch die Gestalt des Säuglings enthält eine Entstellung der christlichen Vorlage. Sie erinnert in der Tat, wie Georg Seeßlen vermutet, an einen "greisen Lammfötus"12, hinter dem das christliche Lamm durchschimmert, das zur Schlachtbank gefUhrt wird. Mit einer Schere durchtrennt Henry zunächst eine Mullbinde, mit der der hautlose Körper des Säuglings zusammengehalten wurde. Dann sticht er in den gehäuteten Körper, aus dem eine dünne Flüssigkeit spritzt und anschließend eine große Menge einer dickflüssigen, breiigen Masse quillt. Lynch hat diesen Vorgang wiederum an die Vorstellung der Öffnung des Leibes als einer Metamorphose und Neugeburt angelehnt. Die Häutung des Babys endet nämlich damit, daß die eklige Körpermasse den Raum überschwemmt. Gleichzeitig beginnt es unkontrolliert zu spucken, und sein langer Hals nimmt, unter heftigem Zucken und elektrischem Lichterflackern, monströse Ausmaße an. Nach der Häutung stirbt das Baby keineswegs, sondern transformiert sich in einen überlebensgroßen Phallus. Aus der versuchten "Kastration" folgt eine hyperbolische Erektion, die den scheuen Helden Henry förmlich an die Wand drängt. Zwischen Kastration und Erektion entwickelt Lynch den sexuellen Körper als einen gewalttätigen und fragmentarisierten. In dem Maße, wie er ohne Haut ist, fehlt ihm die äußere Grenze zur Welt. Als amorphe Masse hebt er die gewöhnliche Raumordnung auf und irritiert die Orientierung des Zuschauers in einer labyrinthartigen Fügung nachhaltig. Jede Kamerafahrt durch eine Röhre endet mit einer Öffnung, die erneut in eine Röhre fUhrt usw. Viel mehr als ein fortwährendes Oszillieren zwischen einem beweglichen Innen und einem ebenso beweglichen Außen bleibt dem Betrachter an Raumorientierung nicht. 12
Georg Seeßlen: David Lynch und seine Filme, Marburg 1997,33.
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Am Ende seiner Metamorphose ist das phallische Baby zu einer riesenhaften phantasmagorischen Gestalt aufgebläht, deren hyperbolischer Kopf wie am Anfang des Films planetarische Ausmaße annimmt. Parallel löst sich die Film-Welt, beobachtet von Henrys weit aufgesperrten Augen, in einer fur diesen Film untypischen schnellen Schnittfolge auf Der Planet zerbricht, öffnet aber am Ende einen weiteren Geburtskanal, bevor Henry sich mit seiner phantastischen Frau aus dem Heizkörper vereinigt, die, so eine Vermutung Anne]erslevs, den Zwang und die Gewalt des Geschlechtlichen überwinde und sie vor der Verfuhrung der lasziven Nachbarin schütze 13 . Immerhin ist sie es, die in ihrem Lied verspricht: "In heaven everything is fine." In Lynchs Bilderwelt verbirgt sich im Himmel aber nur eine neue Hölle, undjedes]enseits der Gewalt und des Sexuellen ist nur ein vorläufiges und flüchtiges und geht nahtlos wieder in ein Diesseits über. In Lost Highway (1996) hat Lynch die Ununterscheidbarkeit von Innen und Außen nicht nur als phantastische Grenzaufhebung zwischen Ich und Welt, Wahn und Wirklichkeit ausgefuhrt. Er beschränkt sich auch keineswegs auf eine Inversion des topographischen und architektonischen Raums oder die reversible Einbindung der chronologischen Ordnung in eine Endlosschleife, derzufolge das Ende einen verschobenen Anfang bezeichnet14 . Die Pointe der Deformation von subjektiver Identität und kinematographischer Bildlogik in Lost Highway besteht darin, daß entlang des seit Wild at Heart eingefuhrten gelben Mittelstreifens der Autobahn Raum und Zeit in eine wechselseitige Verschiebung geraten. Innerhalb der Katastrophe des Saxophonspielers Fred Madison und seiner schizoiden Konvergenz mit demjüngeren Automechaniker Pete springt die Zeit über in den Raum, und der Raum löst sich in Zeit aufund umgekehrt. Am Anfang des Films - wenn man so noch sagen darf - befindet sich Fred im Inneren seines Hauses und hört über die Sprechanlage den Satz "Dick Laurent is dead", von einem unbekannten Außenstehenden gesprochen. Am Ende steht Fred außen und wiederholt den Satz wörtlich fur einen unbekannten Hörer im Inneren. Daß dieser Satz nur eine Variation des sexuellen Begehrens ist, dessen voyeuristischer Impuls als filmische Pornographie und symbolischer Tod des Phallus - der obszöne Kern des amerikanischen "Dick" - umgesetzt wird, bestätigt sich allgemein in der gesamten Handlung von Lost Highway und speziell darin, daß die gespaltene und reversible Person Fred/Pete wechselseitig erotische Konkurrenten tötet 15 . Innerhalb einer ausweglosen Möbiusschleife, die die Ordnung des Sexu13
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Vgl. Anne Jerslev: David Lynch - Mentale Landschqften, Wien 1996, 80ff. Vgl. Petra Kallweit: Anmerkungen zu Selbstrtiflexion und Selbstrtiffrenz in "Twin Peaks" und "Lost Highway", in: "A Strange World" - Das Universum des David Lynch, hg. von Eckhard Pabst, Kiel 1998, 222-224. Vgl. Didi Neidhart: From Blue Velvet Underground to Wild Mainstream - Zur Funktion der Popsongs in den Filmen "B/He Velvet", "Wild at Heart" und "Lost Highway", in: }JA Strange World" [Anm. 14],314.
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ellen markiert, steht der Tod des Phallus von Anfang an fest, nicht minder allerdings die Unvermeidlichkeit des Begehrens: die Ermordung der schwarzhaarigen Ehefrau bedeutet nicht ihr oder das Ende, sondern nur die Verschiebung zu einer weißblonden Darstellerin von pornographischen Filmen, die zwar als eine andere Rolle angelegt ist, aber von derselben Schauspielerin, Patricia Arquette, gespielt wird. Dies bezeichnet den virtuellen Aspekt der filmischen Apokalypse, als dessen Zentrum Lynchs Film das Sexuelle ebenso behandelt wie die übrigen hier skizzierten Filme des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Und daß die sexuelle Apokalypse im Raum des Virtuellen einem grundlegenden narzißtischen Impuls gehorcht, wird noch einmal klar, wenn man bedenkt, daß der Satz "Dick Laurent is dead" nur Teil eines endlosen Selbstgesprächs ist und daß Pete und Fred nur Masken einer Figur namens "Mystery Man" sind, die man wohl nicht zu sehr trivialisiert, wenn man sie seinerseits als Maskierung Lynchs sieht. Wenn man mit der Entschleierung des Sexuellen in Lynchs Filmen Apokalyptisches assoziieren will, so muß erneut der metaphorische Status dieser Zuordnung betont werden. Auch die Verschränkung von Raum und Zeit in Lost Highway und die Verkehrung von Anfang und Ende nach dem Modell einer Möbiusschleife entkommt nicht dem Zwang einer endlosen Wiederholung, einer Wiederholung jedoch, die keine vormoderne Zyklik und Identität restituiert, sondern die entlang einer beschleunigten und gerichteten Zeit der Modeme eine grundsätzliche, nicht hintergehbare Differenz bestätigt. Lynchs Filme stellen die Katastrophe des Sexuellen vor Augen, die eine immanente Implosion des Geschlechtlichen insofern darstellt, als sie kein Außen und kein Ende zuläßt.
Burkhard Meyer-Sickendiek DER UNTERGANG DES FETISCHISMUS
Zum biblischen Subtext zweier moderner Endzeiterzählungen: Heart of Darkness und Apocalypse Now Ein zentrales Thema der biblischen Erzählungen ist die Verkündigung des Bundes, den Gott im Alten Testament mit dem Volke Israels, im Neuen Testament mit allen Menschen schloß. Es ist dies ein Bund, der wie eine Ehe Ausschließlichkeit beansprucht und die Verehrung fremder Gottheiten unter Verbot stellt. Als Gegenleistung fur die Befreiung der Stämme Israels aus Ägypten fordert Gott von seinem Volk den Bruch mit einer religiösen Praxis, die noch von dessen eigenen Vorfahren kultiviert wurde: die Verehrung fremder Götter. 1 Darüber hinaus stellt der Bund zudem den Rückgriff auf innerweltliche Medien göttlicher Verehrung unter Strafe, wie dies durch das im zweiten Gebot formulierte Bilderverbot2 zum Ausdruck kommt. Markiert der Bruch mit dem Polytheismus die Differenz zu den Kultformen der Vorväter sowie der Ägypter, so unterscheidet das Bilderverbot die geforderte Gläubigkeit von der jener Völker, die vom Volke Israels im Zuge der Eroberung und Besiedlung Kanaans entdeckt werden 3 : Ihr habt unter den Ägyptern gelebt und seid dann durch das Gebiet fremder Völker gezogen, durch das euer Weg führte. Ihr habt die verabscheuenswerten Götzen all dieser Völker gesehen, Bilder aus Holz, Stein, Silber und Gold. Gebt acht, daß niemand unter euch, kein Mann und keine Frau, keine Sippe, kein Stamm, sich heute vom Herrn, unserem Gott, abwendet, um den Göttern dieser Völker zu dienen.
Daß die Selbstoffenbarungen Gottes gegenüber seinem Volk stets auch darin bestehen, die Einhaltung dieses Gebotes zu überprüfen, zeigt nicht nur die Lektüre des Deuteronomiums, in welchem die Unheilsgeschichte Israels am Leitfaden eines zunehmenden Götzendienstes entfaltet wird. Auch diejenigen biblischen Texte, die aus formalen und inhaltlichen Gründen als ,apokalyptisch' bezeichnet werden, beinhalten stets die Ächtung religiöser Untreue und bestrafen den Rückfall in anfanglichere Kultformen. Die "Strafe rur den
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Vgl. Das BuchJosua 24,2; 24,14. Zitiert aus: Die Bibel in heutigem Deutsch. Die Gute Nachricht des Alten und des Neuen Testaments ohne die Spätschriften des Alten Testaments (Deuterokanonische Schriften/ Apokryphen), Stuttgart 1982. Das zweite Buch Mose 20,4. DasJiil?fte Buch Mose 29,15-17. Diese Passage läßt im übrigen den Ausdruck ,Bilderverbot' etwas problematisch erscheinen, da es sich angesichts der aufgeftihrten Materialien wie etwa Holz oder Stein wohl eher um das Verbot von Plastiken handelt.
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Götzendienst der Israeliten" schildert Ezechiel4, die "Reinigung des Landes von Götzen und falschen Propheten" beschreibt der Prophet Sacharja S , und auch in der ,Musterapokalypse' , dem Buch Daniel, liegt der Grund fiir den Untergang König Belschazzars unter anderem im Preisen der Götzen aus Gold, Silber, Bronze, Eisen, Holz und Stein6 : "Dem Gott aher, der dein Leben in der Hand hat und dein ganzes Schicksal bestimmt, hast du die Ehre verweigert. " Die Ächtung des Götzendienstes findet sich aber auch in den neutestamentlichen Apokalypsen: Die in der Offenbarung an Johannes prophetisch beschworene "Zeit der Versuchung", welche "über die Erde kommen und alle Menschen auf die Probe stellen wird", sie ist nicht nur eine Zeit des Mordens, des Diebstahls und der Unzucht, sondern auch eine Zeit falscher Zauberei, in welcher die Menschen nicht aufhören, "die Dämonen und Götzen aus Gold, Silber, Bronze, Stein und Holz anzubeten, diese selbstgemachten Götter, die weder sehen noch hören noch gehen können'<7. Das neue J erusalem, welches Gott nach der Zerstörung Babyions aus dem Himmel herabkommen läßt, ist somit ein Reich, das nicht nur fiir Ehebrecher und Mörder, sondern auch fiir "Götzenanbeter und alle, die das Falsche lieben und tun "8, verschlossen bleibt. Deren Vergehen ist es nicht allein, die "fremden Götter" im Sinne des Begriffes Polytheismus zu verehren. Was in der Apokalypse bestraft wird, ist eine religiöse Kultform, welche sich vielmehr mit dem Begriff Fetischismus charakterisieren ließe. So gesehen, stellt die biblische Apokalypse nicht das Weltende dar, in ihr endet vielmehr eine bestimmte Form kultischer Verehrung. Die Apokalypse markiert den gewaltsam-ereignishaften Umbruch, in dem eine als fetischistisch beschreibbare Religiosität durch eine monotheistische ersetzt wird. . 1.
Die apokalyptischen Texte des Alten und Neuen Testaments als Erzählungen über den Untergang fetischistischer Kultformen zu deuten, stellt sicherlich einen Anachronismus dar. Denn das Wort "Fetisch" entsteht erst knapp 1500 Jahre nach der Offenbarung des Johannes, es geht zurück auf das portugiesische "fetisso" bzw. "feitizo" (lat. facitius) und bedeutet verzaubertes und aus diesem Grunde kultisch verehrtes Objekt. Die Betonung des Künstlichen oder Falschen dient der Bezeichnung westafrikanischer Götterbilder und bekundet
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Der Prophet EzechieI6,2ff. Der Prophet Sacharja 13,1ff. Das Buch Daniel5, 23. Die Qffenbanmg an Johannes 9,20-21. Ebd.,22,15.
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somit nicht nur die kolonialistische, sondern auch die christlich-religiöse Perspektive; die portugiesischen Seeleute verwendeten dieses Wort also in abwertender Tendenz zur Charakterisierung heidnischer Kultformen. 9 Insbesondere diese pejorative Konnotation assoziiert den Fetischismus jedoch mit dem Begriff des "Götzendienstes", wie dieser etwa im Deuteronomium oder im Buch des Propheten Hosea verwendet wird. Insofern verwundert es nicht, daß eine der ersten Arbeiten zum Fetischismus auf eben diese Parallele verweist. In seinem 1760 erschienenen Du culte des Dieux Fhiches ou parallele de IJancienne Religion de IJEgypte avec 'la Religion actuelle de Nigritie vertritt der französische Magistrat und Schriftsteller Charles de Brosses die These, daß die ägyptische Religion der Antike vergleichbar sei mit der "croyance des Negres de l'Afrique"lO, da es sich jeweils um eine bestimmte Form des Fetischismus handele. Über den Inhalt dieser Kultform selbst heißt es bei de Brosses ll : Ces Fetiches divins ne sont autre chose que le premier objet materiel qu'il plait a chaque nation ou achaque particulier de choisir et de faire consacrer en ceremonie par ses Pretres: c'est un arbre, une montagne, la mer, un morceau de bois, une queue de lion, un caillou, une coquille, du sel, un poisson, une plante, une fleur, un animal d'une certaine espece, comme vache, chevre, elephant, mouton.
Die eigentliche Provokation dieses Werkes besteht in der Widerlegung der etwa von David Hume vertretenen Ansicht, wonach die ägyptische Religion als Polytheismus beschreibbar, ihr also ein intellektueller Gehalt zuzuerkennen sei. 12 Daß de Brosses' Begriff des Fetischismus gegen diese These gerichtet ist, zeigt dessen Charakterisierung als eine rein willkürliche und daher absurde Form der Religiosität. Damit sind dem Fetischismus drei Aspekte eingeschrieben, die rur dessen Semantik bis ins späte 19. Jahrhundert relativ konstant bleiben: die Differenz zu kultivierteren Formen religiöser Praxis, die insbesondere aus dem Vergleich zum christlichen Glauben resultierende Betonung des Willkürlich-Gesetzlosen sowie die Vorstellung vom Fetischismus als einer archaischen bzw. regressiven Bewußtseinsform. Georg Wilhelm Friedrich Hegels 1837 erstmals herausgegebenen Vorlesungen
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Zur Begriffsgeschichte des Fetischismus vgl.: Dotse Yigbe: Fetischismus als Alteriteit - Am Beispiel kolonialer Literatur über Togo: Richard Kiias, Fe!ix Couchoro und David Ananou, Bayreuth 1996, 46ff. Charles de Brosses: Du Culte des Dieux Fhiches, ou parallele de I'andenne Religion de l'Egypte avec la Religion actuelle de Nigritie, Paris 1760, 11. Ebd., 15. (Deutsche Übersetzung: "Diese göttlichen Fetische sind nichts anderes als der erstbeste natürliche Gegenstand, den eine Nation oder ein Einzelner willkürlich auswählt und von ihren Priestern ftir die Zeremonie heiligen läßt: ein Baum, ein Berg, das Meer, ein Stück Holz, ein Löwenschwanz, ein Stein, eine Muschel, Salz, ein Fisch, eine Pflanze, eine Blume, ein bestimintes Tier wie Kuh, Ziege, Elefant, Schaf" Zit. nach: Objekte des Fetischismus, hg. von J.-B. Pontalis, Frankfurt a. M. 1972, 189f.) Zu de Brosses' Du Culte des Dieux Htiches und Humes Naturgeschichte der Religion vgl. den Aufsatz von Madeleine V.-David: Histoire des religions et philosophie au XVIII' siede: le prt?sident de Brosses, David Hume et Diderot, in: Revue philosophique de la France et de I'hranger, Paris 1974,145-160.
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über die Philosophie der Geschichte bringen diese drei Momente auf den Punkt: Der Fetischismus ist keine von allen Kulturvölkern der Antike durchlebte Phase, sondern Ausdruck einer Willkür, die einzig den afrikanischen Geist kennzeichnet und Afrika daher vom Gang der Weltgeschichte ausschließt. Was diesbezüglich von Hegel zur Charakterisierung afrikanischer Kulturen aufgeführt wird - die Zauberei, der Fetischismus, der Totendienst, der Kannibalismus, die Sklaverei und die Verachtung des Menschen 13 - bleibt für den "Charakter der Neger"14 auf ewig kennzeichnend. Diesen ist der Eintritt in die Kultur- und die Weltgeschichte deshalb verwehrt, weil ihr religiöses Bewußtsein - der Fetischglaube - nicht eigentlich religiös ist 15 : Begegnet nämlich etwas Unangenehmes, was der Fetisch nicht abgewendet hat, bleibt der Regen aus, entsteht Mißwachs, so binden und prügeln sie ihn oder zerstören ihn und schaffen ihn ab, indem sie sich zugleich einen anderen kreieren; sie haben ihn also in ihrer Gewalt. Es hat ein solcher Fetisch weder die religiöse Selbständigkeit, noch weniger die künstlerische; er bleibt lediglich ein Geschöpf, das die Willkür des Schaffenden ausdrückt und das immer in seinen Händen verharrt. Kurz, es ist kein Verhältnis der Abhängigkeit in dieser Religion.
Im Unterschied zu Hegel begreift Auguste Comte in seinem die Geistesentwicklung des Menschen darstellenden Dreistadiengesetz den Fetischismus als "den wahren uranfanglichen Kern des theologischen Geistes"16, also als eine notwendige Vorstufe polytheistischer bzw. monotheistischer Religiosität. Trotz dieser Aufwertung bleibt jedoch auch bei Comte der Fetischismus an den "primitiven Zustand des menschlichen Geistes"17 gebunden und steht somit - wie bei Hegel- in einer ethnologischen Relation. Insofern ließe sich sagen, daß erst bei Marx und Freud der Fetischismus als eine Haltung identifiziert wird, die sich nicht nur bei außereuropäischen Stammes.kulturen, sondern zugleich im Hier und Jetzt der europäischen bürgerlichen Gesellschaft beobachten läßt. Bei Freud bezeichnet der Fetischismus eine Perversion der Libido, die sich auf Objekte richtet, welche einen "Ersatz für den Phallus des Weibes"18 darstellen, bei Marx liegt Fetischismus dann vor, wenn die 13
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M. 1986,120-129. Ebd., 128. Ebd., 123. ,,[ ... ] 1e fetichisme constitue necessairement 1e vrai fond primordial de l' esprit theo1ogique [ ... ]." Vgl. Auguste Comte: Cours de philosophie positive, in: CEuvres d'Auguste Comte V, 52. Lektion, Paris 1969,39. ,,[ ... ] toujours et partout ce premier regime mental de l'humanite a du necessairement commencer par un etat complet, plus ou moins prononce, mais ordinairement tre:s durable, de pur fetichisme, constamment caracterise par 1'essor libre et direct, de notre tendance primitive a concevoir tous les corps exterieurs quelconques, naturel ou artificieis, comme animes d'une vie essentiellement analogue ala notre, avec de simples differences mutuelles d'intensite." (Ebd., 30.) Sigmund Freud: Fetischismus, in: ders., Gesammelte Werke, chronologisch geordnet XIV, Frankfurt a. M. 1963,311-317, hier 312.
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bürgerliche Gesellschaft die Produkte ihrer Arbeit als Waren identifiziert und somit verdinglicht. 19 Fetischismus markiert bei Marx wie bei Freud eine Art blinden Fleck des bürgerlichen Selbstverständnisses: als Strukturprinzip der kapitalistischen Gesellschaft wie auch als Erscheinungsform einer neurotischen Störung charakterisiert der Begriff Verhaltensweisen, die nicht nur in primitiven, sondern auch in vermeintlich zivilisierten Kulturkreisen vorzufinden sind. Die eurozentrische Perspektive, wie sie bei de Brosses, Comte und Hegel vorzufinden ist, wird also bei Marx und Freud invers gewendet.
II. Die 1899 erschienene Novelle ]oseph Conrads - Heart of Darkness - soll im folgenden als ein Text gelesen werden, der gewissermaßen an der Schwelle dieser Inversion steht. Er bedient sich der Figur des Fetischismus zur Identifikation einer fremden bzw. ,primitiven' Mentalität, öffnet sich jedoch zugleich der Frage nach dem Fetischismus der eigenen Kultur. Die These ist nun, daß die Auseinandersetzung mit dem Fetischismus nicht nur inhaltlicher, sondern auch formaler Natur ist: Fetischismus ist also nicht nur Thema des Conradschen Textes, sondern zugleich ein elementarer Bestandteil von dessen eigenem Verfahren. Um diese These zu erhärten, sei zunächst einmal dargelegt, was ]oseph Conrad selbst in diesem Text als Fetischismus identifiziert, wobei gleich zu Beginn festzuhalten ist, daß der Terminus selbst von Conrad riicht verwendet wird. Dennoch aber umkreist diese Novelle eine bestimmte Form der Religiosität, die eben deshalb nicht als Mono- oder Polytheismus bezeichnet werden kann, weil sie archaischeren bzw. primitiveren Ursprungs ist. Sie ließe sich vielmehr als eine eher magische denn genuin religiöse Konkretisierung von Macht verstehen, die sich gegen die Naturmacht verhält, dieser jedoch letztlich immer unterlegen ist. Die eigentlich zentrale Figur der Novelle, der britische Handelsagent Mr. Kurtz, steht im Zentrum dieser magisch-religiösen Kultform, ist deren Träger sowie deren tragisches Opfer20 : Everything belonged to hirn - but that was a trifle. The thing was to know what he belonged to, how many powers of darkness claimed hirn for their own. That was the reflection that made you creepy all over. It was impossible - it was no good for one either - trying to imagine. He had taken a high seat amongst the devils of the land - I mean literally. You can't understand. How could you?
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Vgl. Karl Marx: Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis, in: ders., Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie I, Berlin 1989, 85-98. ]oseph Conrad: Heart cf Darkness with The Congo Diary, ed. with an Introduction and Notes by Robert Hampson, London 1995, 81. Im folgenden erscheinen die Seitenzahlen im Text.
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Die "Mächte der Finsternis", von denen in Heart of Darkness auf fast jeder Seite die Rede ist, lassen sich auf zwei wesentliche Motive konzentrieren: Finster ist die Gier nach Elfenbein als dem eigentlichen Fetisch dieser Novelle und finster ist die Atmosphäre des Ortes, aus welchem dieses Elfenbein gewonnen wird, das Landesinnere Zentralafrikas, die heutigen' Republiken Kongo bzw. ZaIre. Die Expedition hin zu diesem Ort, welche in der Binnenerzählung der Conradschen Novelle von dem Protagonisten Charlie Marlow erzählt wird, ist deshalb nicht nur eine Reise im räumlichen, sondern vor allem im zeitlichen Sinne: Es ist eine Reise zurück zu den dunkelsten, weil primitivsten Erscheinungsformen menschlichen Seins: "Going back that river was like travelling back to the earliest beginnings of the world, when vegetation rioted on the earth and the big trees were kings." (59f) Je weiter der von einer belgischen Elfenbeinhandelsgesellschaft angeheuerte Protagonist Marlow mit seinem Flußdampfer in das Innere des Landes vordringt, desto stärker wird er mit einer Welt konfrontiert, die seinem an Zivilisation und Fortschritt orientierten Denken bis dato unentdeckt blieb. Betrachtet man die Novelle zunächst auf rein inhaltlicher Ebene, so ließe sich dieser Zusammenhang konkretisieren: Was sich fur Marlow als Wahrheit offenbart, sind die menschenverachtenden Methoden der belgischen Kolonialpolitik unter König Leopold 11., welche dem zivilisatorischen bzw. missionarischen Telos der Kolonialisation Zentralafrikas auf eklatante Weise widersprechen. 21 In dem schon erwähnten Handelsagenten Kurtz ist dies angelegt; mit brutalem, vor Diebstahl, Mord und Massenhinrichtungen nicht zurückschreckendem Instinkt beutet Kurtz den ihm von der Kongo-Gesellschaft zugewiesenen Distrikt aus. An die Stelle des Zivilisationsgedankens, von dem Marlow anfanglich ausging, treten niedere Instinkte nach Macht, Gier und Ruhm, ein Umstand, angesichts dessen die Zivilisationsidee selbst als Phantasma, oder besser: als falscher Zauber entlarvt wird: The conquest of the earth, which mostly means the taking it away from those who have a different complexion or slightly glatter noses than ourselves, is not a pretty thing when you look into it too much. What redeems it is the idea only. An idea at the back of it; not asentimental pretence but an idea; and an unselfish belief in the idea - something you can set up, and bow down before, and offer a sacrifice to ... (20)
Dennoch aber ist dieses anti-imperialistische Veto höchstens die halbe Wahrheit der Novelle. Denn das eigentlich Schockierende, im Text als "something great and invincible, like evil or truth" (44) Beschriebene liegt vielmehr in dem Tatbestand, daß der mit Abstand brutalste und gewalttätigste Agent der belgischen Kongo-Gesellschaft - Mr. Kurtz - von den von ihm 21
Dieser zeitgeschichtliche Hintergrund der Conradschen Novelle findet sich erstmals umfangreich erarbeitet in: Adam Hochschild: King Leopold's Ghost - A Story oJ Greed, Terror and Heroismus in Colonial AJrica, Boston und New York 1998.
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geknechteten Farbigen angebetet und vergöttert wird. Das Schreckensregime, welches von Kurtz in der inner station der Kongoregion errichtet worden ist, basiert nicht allein auf der Androhung physischer Gewalt, sondern vor allem auf einer bestimmten Form primitiver Gläubigkeit, derer sich Kurtz zum Zwecke seiner ihn kennzeichnenden Gier nach Reichtum und Ruhm bedient. In einem Bericht, den Kurtz im Auftrag der "International Society for the Suppression of Savage Customs" anfertigt, wird eben diese Form primitiver Gläubigkeit gen au beschrieben: "The opening paragraph [... ] began with the argument that we whites, from the point of development we had arrived at, ,must necessarily appear to them (savages) in the nature of supernatural beings - we approach them with the might as of a deity.' [... ] ,By the simple exercise of our will we can exert apower for good practically unbounded'. "(83) Wenn Kurtz auf Grund seiner bloßen Erscheinung von den Kongolesen die Macht zugeschrieben wird, schönes wie regnerisches Wetter herbeiftihren zu können - "Make rain and fine weather" (56), wenn ihm zu Ehren in den nächtlichen Vigilien rituelle Menschenopfer vollzogen werden, dann ist anzunehmen, daß er in seiner inner station offenkundig den Rang eines Zauberers einnimmt. 22 Dieser sozial-religiöse Status basiert jedoch auf der von Kurtz in seinem Bericht beschriebenen Religiosität: Sie ist quasi vor-mythologisch, d.h. von einer mangelhaften symbolischen Differenziertheit, und aufgrund ihrer Unmittelbarkeit im Unterschied zur narrativen Form des Mythos als substantialistisch zu bezeichnen. Die Struktur des Bedeutens, die eine Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem, materiellem Symbol und symbolisierter Realität impliziert, scheint in den Bräuchen der Afrikaner zu fehlen. Und deshalb ist zwar die primitive Verehrung von Kurtz auch durch die ihn erklärenden Erzählungen in mythischem Sinne gerechtfertigt, primär wichtig jedoch ist nicht die Erzählung selbst, sondern der Vollzug ritueller Handlungen, der unmittelbare Kontakt mit seiner geheiligten Gestalt. Die Möglichkeiten der Missionierung und Bekehrung zum Guten, welche in dem Bericht von Kurtz dargelegt sind, berufen sich zunächst auf eben diese Form der Religiosität. Sie werden nun allerdings kontrastiert durch eine nachträglich notierte Randbemerkung, welche von Marlow auf der letzten Seite des Berichtes entdeckt wird. Die Notiz reflektiert den Ekel bzw. Abscheu desjenigen, der dem primitiven Brauchtum und dessen rituellen Kultformen zu nahe kam, sich aus Gründen der Machtausübung zu sehr auf sie einließ. Von dieser Notiz heißt es: "It was very simple, and at the end of that moving 22
In seinem Aufsatz Frazer, Conrad and the ,truth ~f primitive passion I veI;tritt Robert Hampson die These, daß der zitierte, von Marlow einem Gespräch entnommene Ausspruch - "Make rain and fine weather" - "is one of a number in the story that collectively relate Kurtz to the type of mangod whom Frazer called ,weather king. '" Vgl. Sir James Frazer and the Literar)' Imagination, ed. by Robert Fraser, Basingstoke 1990, 172-191.
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appeal to every altruistic sentiment it blazed at you, luminous and terrifying, like a flash oflightning in aserene sky: ,Exterminate all the Brutes!'" (84) Daß dieser Aufruf zum Völkermord durch die ihn einleitende Blitzmetaphorik einem erhabenen Naturereignis gleichgesetzt wird, korrespondiert einem strukturellen Merkmal der Novelle selbst: der Ästhetisierung jener Grausamkeiten, welche sich in der inner station abspielen. So etwa ist der von Kurtz verwaltete Bezirk umgeben von einer Unzahl auf Pfählen angebrachter, abgehackter Köpfe, die teils auf die rituellen Menschenopfer in den nächtlichen Vigilien, teils auf willkürliche Exekutierungen afrikanischer Rebellen zurückgehen. Die Macht, welche Kurtz in der inner station ausübt und die auf seiner Einverleibung ritueller Praktiken und primitiver Gläubigkeit basiert, ist also identisch mit dem "Grauen", von welchem er im Moment seines Absterbens spricht. Mit zunehmender Annäherung vermag auch der Protagonist Marlow dieser Macht nicht mehr mit moralischer Distanz zu begegnen; auch er verfällt den kultischen Formen, welche in der inner station praktiziert werden: [... ] the terror ofthe position was, [... ] that I had to deal witha being to whorn I could not appeal in the name of anything high or low. I had, even like the niggers, to invoke hirn - hirnself - his own exalted and incredible degradation. There was nothing either above or below hirn, and I knew it. He had kicked hirnself loose of the earth. Confound the man! he had kicked the very earth to pieces. He was alone, and I before hirn did not know whether I stood on the ground or floated in the air. (107)
111. Was heißt es nun, angesichts dieser Novelle von Fetischismus als einem literarischen Verfahren zu sprechen? Angesichts der Tatsache, daß diese Kultfonn per definitionem in einem außerliterarischen Feld angesiedelt ist, dürfte es zunächst einmal schwer fallen, diese Einschätzung zu teilen. Denn Fetischismus impliziert ja eine rituelle Praxis, deren religiöses Medium eben nicht die (Heilige) Schrift, sondern willkürlich erwählte Gegenstände bzw. manuell gefertigte Plastiken sind. Ungeachtet dessen ist jedoch festzustellen, daß die Relevanz dieser Kategorie fur die Conradsche Novelle in der Forschung bemerkt worden ist. Die These aus Patrick Brantlingers Rule of Darkness "Conrad universalizes ,darkness' in part by universalizing fetishism"23 bezieht sich auf die bereits angedeutete Bifurkation dieser Kategorie im Sinne einer nicht mehr nur fremd-, sondern auch selbstreferentiellen Kulturkritik24 : "Conrad portrays the moral bankruptcy of imperialism by showing European motives and actions as no better than African fetishism and savagery. He 23
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Patrick Brantlinger: Rule of Darkness - British Literature and Imperialism, 1830-1914, Ithaca and London 1988, 255-274, hier 262. Ebd.
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paints Kurtz and Africa with the same tarbrush." Dies ließe sich als Bestätigung der These heranziehen, nach welcher Heart of Darkness an der Schwelle der zwischen de Brosses und Hegel einerseits, Marx und Freud andererseits sich vollziehenden Inversion verortbar ist: Fetischistisch ist die Religiosität der ,Neger', aber auch der europäische Kapitalismus bzw. dessen Idee der Ware. Die Frage nach dem Fetischismus als literarischem Verfahren ist dadurch jedoch noch nicht beantwortet. 25 Um dies zu tun, konzentriere ich mich nunmehr auf den eigentlichen Fetisch von Heart of Darkness selbst, auf das Elfenbein. Dieses ist nicht nur deshalb das Leitmotiv der Novelle, weil es den Anhaltspunkt rur deren antiimperialistische Perspektive darstellt, sondern vor allem, weil es hinsichtlich der Inszenierung der Reise als einer Wall- oder Pilgerfahrt im Zentrum steht. Bis auf Marlow selbst sind fast alle Protagonisten von diesem Material besessen: "The word ,ivory' rang in the air, was whispered, was sighed. You could think they were praying to it." (44) Daß Marlows belgische Begleiter diesem als eine verhexte Pilgerschar ("bewitched pilgrims" [50]) erscheinen, liegt an der magischen Anziehungskraft des Elfenbeins bzw. des Wortes "ivory" selbst, welches entsprechend häufig mit dem Begriff "speil" als Zauberwort evoziert wird. 26 Diese Engftihrung von Elfenbein und Zauberwirkung wird auch ex negativo betont; der Direktor der Handelsgesellschaft, der dem unlauteren Wettbewerb mit dem Elfenbein wie Marlow kritisch gegenübersteht, ist von der Gier, aber auch von deren krankhaften bzw. gar tödlichen Auswirkungen "wie durch einen Zauber" geschützt: ",You have been well since you came out of this time?' he asked. The other gave astart. ,Who? I? Oh! Like a chann -like a chann. But the rest - oh, my goodness! All sick. They die so quick, too, that I haven't the time to send them out of the country - it's incredible!'" (58) Nur ein weiteres Wort der Novelle, der Name des Haupthelden "Kurtz", hat eine vergleichbar magische Konnotation und bedient somit den rur das narrative Modell der Pilgerfahrt zentralen Aspekt einer suggestiven bzw. soghaften Wirkung. Dies zeigen schon die Erzählungen, welche über Kurtz im Umlauf sind: "He is a prodigy" (47), so etwa lautet die Einschätzung eines von Marlow befragten Handelsagenten. Die Analogie zwischen dem Fetisch 25
26
Dies gilt auch rur die Arbeit von David Simpson: Fetishism and Imagination - Dickens, Melville, Conrad, Baltimore and London 1982, wenngleich Simpson die grundsätzliche Relevanz der Fragestellung unterstreicht: "Heart oI Darkness is so clearly an investigation of fetishism that it might be redundant to point it out on ce again. " (Ebd., 106.) Simpsons am FetischbegriffSigmund Freuds orientierte Lektüre bezieht sich auf das Gesamtwerk Conrads, verfolgt den Fetischismus jedoch' in eher motivanalytischer Hinsicht und blendet die im vorliegenden Aufsatz verfolgte Problematik somit aus. "The white men rushing out ofa tumbledown hovel, with great gestures ofjoy and surprise and welcome, seemed very strange, - had the appearance ofbeing held there captive by aspeIl. The word ,ivory' would ring in the air for a while." Heart ifDarkness, 61.
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und diesem Helden wird durch den Umstand bestärkt, daß das Schicksal von Kurtz aufs Engste mit dem Motiv des Elfenbeins verbunden ist; er liefert nicht nur die größten Mengen außer Landes und geht rur deren Gewinn sogar über Leichen, überhaupt liegt der Grund rur seinen so überaus langen Aufenthalt in der Kongoregion in dem "appetite for more ivory" (93). Daß "Kurtz somit vom Elfenbein im wortwörtlichen Sinne besessen ist, wird deutlich angesichts der sich stetig vervollständigenden Gestaltung dieses Protagonisten, der zu Beginn der Novelle als Gerücht, dann als Name, als Stimme, als Schrift und schließlich als reale Gestalt erscheint. Was in den ersten zwei Kapiteln der Novelle assoziativ verknüpft wird - die Zauberkraft des Wortes "ivory" sowie die des Helden Kurtz -, wird im dritten Kapitel im Moment der außenperspektivischen Beschreibung dieses Helden unmittelbar identifiziert: "The wilderness had patted him on the head, and, behold, it was like a ball - an ivory ball" (81); "I saw on that ivory face the expression of sombre pride, of ruthless power, of craven terror. .. " (112) Sowie: "I could see the cage of his ribs all astir, the bones ofhis arm waving. It was as though an animated image of death carved out of old ivory had been shaking its hand with menaces at a motionless crowd of men made of dark and glittering bronze." (97) Zum einen bestätigt diese Formulierung - "an animated image of death carved out of old ivory" - das Thema Besessenheit als Schicksalsmotiv des Haupthelden Kurtz, insofern auch dessen obsessive Gier nach Ruhm, Reichtum und Elfenbein letztlich mit dem Tod bestraft wird. Das Bild der Verschmelzung von Mensch und Material vereint Kurtz und den Fetisch jedoch zugleich unter einem gemeinsamen Vorzeichen, denn beide sind in der Lage, menschliches Handeln auf eine rational nicht faßbare Art und Weise zu beeinflussen: Die belgischen Handelsagenten verhalten sich zu dem von ihnen exportierten Rohstoff - "they were praying to it" (44) - wie die Afrikaner zu dem von ihnen vergötterten Helden Kurtz: "They adored him." (92) Dieser Vergleich basiert auf der Übertragung des Fetischcharakters von der Ware - dem Elfenbein - auf den Helden Kurtz, ein Umstand, der durch das Bild der Verschmelzung von Mensch und Material verstärkt wird. Kurtz wird somit zum zweiten Fetisch der Novelle 27 , anders als das Elfenbein ist er jedoch nicht nur der Gegenstand, sondern zugleich auch das Opfer des Fetischkultes. Der "spell" des fetischhaft vergötterten Gegenstandes wird Kurtz selbst zum Verhängnis: ,,[ ... ] the heavy, mute spell ofthe wilderness [... ] seemed to draw him to its pitiless breast by the awakening of forgotten and brutal instincts, by the memory of gratified and monstrous passions. " (106f)
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Dies bestätigt die folgende Reflexion Marlows anläßlich seiner Diskussion mit dem im dritten Kapitel auftretenden russischen Abenteurer: "The young man looked at me with surprise. I suppose it did not occur to him Mr Kurtz was no idol of mine." (95)
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Das Thema Fetischismus erhält durch Kurtz' tragischen und rätselhaften Tod also einen gänzlich neuen Aspekt: Es ist nicht länger ein falscher oder fauler, sondern vielmehr ein realer Zauber. Mit dem Ende der Pilgerfahrt in der von Kurtz verwalteten inner station wird der Fetischismus zum realen Geschehen und ist mehr als nur ein kulturkritisches Wort; der Zauber ist mit Blick auf Kurtz vielmehr wortwörtlich zu verstehen: "He had taken a high seat amongst the devils of the land - I me an literally" (81), so die Einschätzung des Erzählers Marlow. In der zuvor dargelegten, stetig sich steigernden Beseelung des zunächst nur als Name präsenten Helden Kurtz spiegelt sich somit das erzählerische Verfahren der Ergründung und Beseelung einer zunächst einmal abstrakten Kategorie. Die zitierte, auf Kurtz bezogene Formulierung - "an animated image of death carved out of old ivory" - kann daher auch als Selbstreflexion des Textes bzw. dessen Verfahrens herangezogen werden. Daß schon zu Beginn der Novelle das von Marlow erzählte Geschehen von dem "yarns of seamen"28 unterschieden wird, bestätigt diese Eigentümlichkeit der Novelle: Sie ist eben deshalb kein Seemannsgarn, weil das in ihr erzählte Thema von der Art und Weise seiner Inszenierung nicht getrennt werden kann. Das erzählerische Verfahren ist vielmehr mit der inhaltlichen Thematik einer unheimlichen, weil magischen Besessenheit verknüpft, ein Umstand, der u.a. erklärt, weshalb es dem Erzähler Marlow so schwer fällt, die von ihm erlebte Geschichte als solche zu erzählen. Denn die Ergründung des mit dem Begriff ,Fetischismus' bezeichneten Zaubers generiert eine Geschichte, deren Sinn auch rur den Erzähler Marlow nicht mehr zu ermitteln ist, weil das Erzählte selbst magische bzw. übernatürliche Ausmaße annimmt: "I fretted and fumed and took to arguing with myself wether or no I would talk openly with Kurtz; but before I could come to any conclusion it occured to me that my speech or my silence, indeed any action of mine, would be a mere futility. [".] The essential of this affair lay deep under the surface, beyond my reach, and beyond my power of meddling." (67) Ungeachtet der nicht nur thematischen, sondern auch literarischen Verarbeitung dieser primitiven Kultform bleibt jedoch festzuhalten, daß das dem Fetischismus seit de Brosses eingeschriebene pejorative Moment auch in Heart of Darkness erhalten bleibt. Die vielfach bemerkte Ambivalenz dieser Erzählung geht zurück auf die wertungsmäßige Disposition des in ihr Erzählten. Denn letztlich wird bei Conrad nicht der Fetischismus selbst affirmiert, sondern vielmehr die gewaltsamen Methoden seiner Unterwerfung, wie dies in dem Bericht über die Suppression of Savage Customs (83) dargelegt ist. Und wenngleich diese Unterwerfung scheitert, so bleibt die inner station von Kurtz 28
,,[ .•• ] the yarns of seamen have a direct simplicity, the whole meaning ofwhich lies within the shel1 of a cracked nut. But Marlow was not typical [... ], and to him the meaning of an episode was not inside like a kernel but outside [... ]." (18)
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als Tatort fetischistischer Rituale dennoch eine Gegenwelt; "a place of cruel and absurd mysteries not fit for a human being to behold" (119). Daß das in dieser Welt waltende "Grauen" im Grunde den Untergang aller europäischen Glaubens- und Zivilisationsvorstellungen beinhaltet, kann in der europäischen Heimat - dies zeigt das Ende der Novelle, der Besuch Marlows bei Kurtz' Verlobter - also schlichtweg geleugnet oder verschwiegen werden. Insofern teilt Conrad zwar die Inversion des Fetischismus im Sinne der Marxschen Verwendung dieses Begriffs, nicht jedoch jene Geste der Affirmation, welche später fur die am Primitivismus orientierten Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts charakteristisch ist. 29 Vergleicht man Heart ofDarkness hinsichtlich der Fetisch-Thematik sowie der an diese gebundenen parareligiösen Motive mit einem Text wie etwa Carl Einsteins Negetplastik, dann wird deutlich, welche Distanz in der Conradschen Novelle letztlich angelegt ist.
IV. Marlows Eintritt in die inner station beschreibt der Text als einen Prozeß, der sich mit einem Begriff aus Freuds Totem und Tabu als "Regression "30 beschreiben läßt: als Rückfall in den primitiven Glauben an die "Allmacht der Gedanken". Schon die Reise selber ist eine Form der Regression: "There were moments when one's past came back to one" (59), so die Reflexion Marlows, fur den das Vordringen in die Tiefe der Wildnis mit dem Verlust seiner kognitiven Möglichkeiten einhergeht: "We could not understand, because we were too far and could not remember, because we were travelling in the night of the first ages, of those ages that are gone, leaving hardly a sign and no memories. " (62) An Freuds Totem und Tabu erinnert zudem ein weiteres, zentrales Motiv der Conradschen Novelle, die "Ambivalenz der Gefuhlsregungen" im Sinne etwa des Begriffes Haßliebe, d.h. die gleichzeitige Anwesenheit einander entgegengesetzter Affekte, welche auf ein und dasselbe Objekt gerichtet sind. Die letzten Worte des Helden Kurtz - "the horror, the horror" (112) - sind Ausdruck solch ambivalenter Gefuhlsregungen, entsprechend deutet Marlow diese als "strange commingling of desire and hate." (113) Ambivalent ist aber auch die Reise selbst, insofern deren Zielort
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Vgl. Joachim Schultz: Wild, irre und rein: Wörterbuch zum Primitivismus der literarischen Avantgarden in Deutschland und Frankreich zwischen 1900 und 1940, Gießen 1995. In Freuds Totem und Tabu (1913) heißt es etwa: "Der Neurotiker repräsentiert uns aber regelmäßig ein Stück des psychischen Infantilismus, er hat es entweder nicht vermocht, sich von den kindlichen Verhältnissen der Psychosexualität zu befreien, oder er ist zu ihnen zurückgekehrt. (Entwicklungshemmung und Regression.) In seinem unbewußten Seelenleben spielen darum immer noch oder wiederum die inzestuösen Fixierungen der Libido eine Hauptrolle." Sigmund Freud: Totem und Tabu - Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Frankfurt a. M. 1991, 64.
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die Protagonisten stets zwischen magischer Anziehung und körperlich sich auswirkender Abscheu schwanken läßt. Dies verdeutlichen zwei semantische Bereiche der Novelle, die mit einer vergleichbaren Häufung im Text nachzuweisen sind: der Bereich des Magisch-Verzaubernden, ausgedrückt in Formulierungen wie "magic current", "charm", "charmed life", "spell", "glamour" oder "strange witchcraft"; sowie der Bereich des physisch Abstoßenden, adjektivisch umschrieben etwa mit "detestable", "pestilential", "monstrous", "inhuman", "appalling", "ugly", "beastly", "abominable" oder "atrocious", aber auch mit Begriffen wie "uneasiness", "abomination" , "powerless disgust" oder "contempt". Werden diese beiden Bereiche verschmolzen, handelt es sich in der Regel immer um die Variation eines diabolischen Motivs: I've seen the devil ofviolence, and the devil of greed, and the devil ofhot desire; but, byall the stars! these were strong, lusty, red-eyed devils, that swayed and drove men men, I tell you. But as I stood on this hillside, I foresaw that in the blinding sunshine of that land I would become acquainted with a flabby, pretending, weak-eyed devil of a rapacious and pitiless folly. How insidious he could be, too, I was only to find out several months later and a thousand miles farther. (34)
Es wäre wohl irreführend, wollte man das in Heart of Darkness vorliegende Thema ambivalenter Gefuhlsregungen im Sinne Freuds bzw. der in Totem und Tabu dargelegten Kulturtheorie auf den Vatermord durch die brüderliche Urhorde zurückfuhren. 31 Zwei rur eine solche Deutung wesentliche Motive fehlen der Novelle: der Generationskonflikt zwischen dem Vater und den Söhnen, sowie die diesen Konflikt auslösenden, von den Söhnen begehrten Frauen des Vaters. 32 Ungeachtet dessen eröffnet der im zweiten Kapitel von Totem und Tabu umfangreich beschriebene Zusammenhang zwischen dem Tabu und der "Ambivalenz der Gefuhlsregungen "33 jedoch einen wichtigen Blick auf die Conradsche Novelle. Denn in der Tat ist anzunehmen, daß auch in Heart of Darkness ein Tabu sowie dessen Bruch die zuvor beschriebenen ambivalenten Gefuhlsregungen auslöst. Es bleibt allerdings die Frage, auf welchen kulturellen Code dieses Tabu zurückgeht: Übertritt Kurtz die Verund Gebote einer ,heidnisch-primitiven' oder einer ,christlich-zivilisierten' ~ultur? Die schon angedeutete Inszenierung der Reise als Form einer Regression läßt darauf schließen, daß es sich um letzteres, d.h. um den Bruch mit Ge- und Verboten einer christlichen Zivilisationskultur handelt: Galt Kurtz anfanglich als ein Gesandter der Barmherzigkeit, der Wissenschaft und
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Vgl. dazu den 5. Abschnitt aus dem 4. Kapitel - "Die infantile Wiederkehr des Totemismus": "Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende." In: Totem und Tabu [Anm. 30], 196. Ebd., 195f. Ebd., 66-124.
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des Fortschritts - "emissary of pity, and science, and progress" (47) -, so endet er letztlich "amongst the devils ofthe land" (81). Liest man den Text genau, so fillt auf, daß das erwähnte diabolische Motiv, in welchem die polaren Affekte von magischer Anziehung und physischer Abscheu verschmelzen, auf eben diese Regression sowie den darin zum Ausdruck kommenden Tabubruch bezogen ist: Kurtz' Abkehr von seiner Funktion als "Gesandter der Barmherzigkeit" geht zurück auf die Wirkung einer diabolisch-dämonischen Macht. Die "devilish initiation" (81), welche sich an Kurtz vollzieht, steht im Widerstreit mit seiner durch das christliche Motiv der Bannherzigkeit gekennzeichneten Vorgeschichte, ein Umstand, angesichts dessen die in Kurtz waltenden Geftihlsambivalenzen eine parareligiöse Dimension annehmen: "both the diabolic love and the unearthly hate of the mysteries it had penetrated fought for the possession of that soul [.. .]." (110) Während Kurtz sich den "Mächten der Finsternis" ausliefert und somit eine Grenze überschreitet ("stepped over the edge" [113]), bleibt es Marlow dagegen vergönnt, sich diesen Mächten zu widersetzen, vor der von Kurtz überschrittenen Grenze haltzumachen (" to draw back my hesitating foot" [113]). Erst angesichts dieser parareligiösen Dimension erklärt sich, daß Marlow seine Begegnung mit Kurtz als Fonn eines "ordeal", als eine von einer göttlichen Macht ausgehenden Prüfung begreift. Die Differenz zu Kurtz beschreibt Marlow wie folgt: Believe me or not, bis intelligence was perfectly clear [.. .]. But his soul was mad. Being alone in the wildemess, it had looked within itself, and, by heavens! I tell you, it had gone mad. I had - for my sins, I suppose - to go through the ordeal of looking into it myself. No eloquence could have been so withering to one's belief in mankind as bis final burst ofsincerity. (107f.)
Heart of Darkness kann deshalb als ein apokalyptischer Text gelesen werden, weil er das Walten eben dieser diabolischen Mächte und Dämonen schildert, also dasjenige wiederholt, was eingangs als Leitmotiv biblischer Apokalyptik beschrieben wurde. Der Tabubruch, welcher in Heart of Darkness dargestellt wird, gleicht somit demjenigen, welcher in den Apokalypsen des Alten und Neuen Testaments das göttliche Strafgericht nach sich zieht: der Anbetung von Götzen und Dämonen. Das schon den Titel der Novelle prägende Motiv der Finsternis ließe sich somit auch im biblischen Sinne als Ausdruck der Gottesferne deuten. 34 Insofern verweist der unirdische Haß auf die Mysterien ("the unearthly hate of the mysteries" [110]), der gegen das diabolische Prinzip um den Besitz der Seele Kurtz' kämpft, zwar auf eine göttliche 34
In der Bibel findet sich der Gegensatz von Licht und Finsternis häufig verwendet, zumeist stellt die Finsternis die Gottesferne dar, das Licht dagegen Gott selbst, so etwa inJesaja 8,21-23; 9,1-2. Letztere Stelle wird wird von MatthCius 4,16 eigens zitiert und im Sinne des Neuen Testaments verstanden: Christus ist das große Licht für die Finsternis der Heidenwelt.
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Instanz, angesichts derer die "Mächte der Finsternis" allererst als "diabolic" , "devilish" oder "satanic" erscheinen. Daß diese Instanz sich jedoch weder als siegreich noch als barmherzig erweist, Kurtz also an die diabolischen Mächte verloren geht, belegt wiederum die Differenz dieser modernen apokalyptischen Erzählung zu den anfangs genannten biblischen Apokalysen. Analog zu diesen ist die Inszenierung der Apokalypse als dem Moment, in welchem sich der Götzenkult und die Gottesferne der Menschheit offenbart, analog ist auch die Bestrafung dieser Vergehen mit dem Tod. Offen bleibt in der Novellejedoch, ob die strafende instanz nicht eben jene dunkle Macht ist, die in den biblischen Apokalypsen stets selber untergeht. Somit ließe sich sagen, daß der in Heart of Darkness inszenierte "horror" letztlich auf die Ununterscheidbarkeit göttlicher sowie diabolischer Mächte zurückzufuhren ist. Die Konstellationen dieser parareligiösen Ebene des Novellentextes finden sich entsprechend in der Darstellung kultureller Alterität; auch diesbezüglich ist die Ununterscheidbarkeit zwischen zivilisierten und primitiven Formen menschlichen Verhaltens das eigentliche Indiz rur das Grauen. Insofern verwundert es nicht, daß das diabolische Motiv nicht nur auf die Region und deren wilde Natur, sondern zudem auf die in ihr lebenden Kongolesen übertragen wird. Erstaunlich ist jedoch, wie sehr Conrad auch hinsichtlich der Darstellung kultureller Alterität auf das Motiv der Finsternis als Form einer Gottesferne zurückgreift. Daß sich etwa ein Teil der zur Bootsbesatzung gehörenden Afrikaner von fauligem Flußpferdfleisch ("hippo-meat that went rotten" [61]) ernähren, ist nur bedingt auf deren mangelndes Hygienebewußtsein zurückzufuhren; da dieses Tier durch Zauber unverwundbar ist ("That animal has a charmed life" [52]) , ist seine Verkostung vielmehr ein weiteres Zeichen des Götzenkultes. Entsprechend sind die Kongolesen oftmals die Medien des diabolischen Prinzips, nicht allein deshalb, weil manche von ihnen Kannibalen sind, sondern vor allem, weil sie in der Lage sind, Dinge und Menschen zu verzaubern und in ihren Bann zu ziehen. Das Grauen basiert also wie beim diabolischen Prinzip selbst darauf, sich von der Inhumanität des ,Primitiven' nicht mehr unterscheiden zu können: eben dies ist jene Wahrheit, die sich Marlow in einem quasi apokalyptischen Gedanken offenbart: It was unearthly, and the men were - No, they were not inhuman. Weil, you know, that was the worst of it - this suspicion of their not being inhuman. It would come slowly to one. They howled, and leaped, and spun, and made horrid faces; but what thriiled you was just the thought of their humanity -like yours - the thought of your remote kinship with this wild and passionate uproar. Ugly. Yes, it was ugly enough. (62f.)
Das apokalyptische Motiv resultiert also nicht allein aus dem Fehlen jeglicher Formen zivilisierter Verhältnisse, obwohl Heart 01 Darkness sich auch als Text
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lesen läßt, der den "Prozeß der Zivilisation" im Sinne Norbert Elias' ex negativo vorwegnimmt. Denn gerade weil den Kongolesen all jene zivilisationsprägenden Affekte wie Peinlichkeits-, Ekel-, Angst- oder Schamgefuhl35 abgesprochen werden, erregen sie Angst und Ekel- bzw. "something altogether monstrous, in tolerable to thought and odious to the soul" (104) bei den ihnen ausgesetzten Helden, bei Kurtz und Marlow. Apokalyptisch ist aber dennoch eher der falsche Zauber, der diesen Ort, die inner station charakterisiert. Denn die Kongolesen reden nicht, sie grunzen, sie singen, sie produzieren "some weird incantation [... ], an overwhelming outbreak of a pent-up and mysterious frenzy" (104) und deklamieren "strings of amazing words that resembled no sounds ofhuman language; [... ] like the responses of some satanic litany" (108). Was Heart of Darkness angesichts dieser im doppelten Sinne dunklen Mächte zur Disposition stellt, ließe sich als apokalyptische Moral beschreiben: die Exekutierung heidnischer Kulturen, wie dies in dem Postskript von Kurtz formuliert ist: "Exterminate all the brutes!" (84) Erst vor dem Hintergrund dieses biblischen Motivs - die Apokalypse als ein heidnischen Kultformen geltendes Strafgericht - läßt sich erklären, weshalb Marlow entgegen seiner anfänglichen Überzeugung die gewaltsamen Methoden seines Gegenspielers Kurtz letztlich doch bejaht. Marlows moralischer Wandel - vom ursprünglichen Mitglied der "gang of virtue" (47) zum späteren "partisan of methods for which the time was not ripe" (101) besteht also in dem Nachvollzug dessen, was von Kurtz durchlebt und im Bericht fur die "International Society" niedergelegt wurde. An die Stelle der Hoffnung, sich die Primitivität und den Aberglauben der Kongolesen fur gute und tugendhafte Zwecke nutzbar machen zu können, tritt die Einsicht in die Unhintergehbarkeit eines faktischen Völkermordes. Und selbst we~n Marlow den im Postskript formulierten Befehl nicht durchfuhrt, sondern stattdessen wieder in die Heimat zurückkehrt, so teilt er doch die in dem Wort "brutes" angelegte Einschätzung seines Gegenspielers: Die Eingeborenen sind keine Menschen, sondern bestialische Wesen, sind der Ausdruck einer die Kongoregion umgebenden, dunklen Metaphysik.
v. Daß diese Moral der Novelle auch rassistisch ist, liegt auf der Hand; insofern verwundert es nicht, daß Heart of Darkness im Zuge einer fortschreitenden Sensibilisierung fur die politische Korrektheit literarischer Texte zu einem Streitobjekt der postcolonial-studies geworden ist. Zwar basieren die Rassismus35
Vgl. Norbert Elias: Über den Proz~ß der Zivilisation - Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, I: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt a. M. 1992,171.
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Vorwürfe des nigerianischen Schriftstellers Chinua Achebe 36 darauf, die politische Mentalität Conrads über die Aussagen sei~er Protagonisten zu identifizieren, ein wichtiges Prinzip der Novelle dürfte in dieser Kritik aber dennoch angemessen beschrieben sein. Denn jenes apokalyptische Grauen, welches in der Novelle inszeniert wird, resultiert vor allem aus der diskriminierenden Darstellung kultureller Alterität. Die Finsternis dieser Novelle ist auch eine ihrer eigenen, überaus ambivalenten Moral: "Heart of Darkness offers a powerful critique of at least some manifestations of imperialism and racism as it simultaneously presents that critique in ways that can be characterized only as imperialist and racist"37, so formuliert dies etwa Patrick Brantlinger. Wenn Marlow die falschen Methoden seines Gegenspielers Kurtz letztlich affirmiert, dann spiegelt dies also eine moralische Disposition, welcher auch der Text selber ausgesetzt ist. Denn nur durch die Bejahung seines diskriminierenden Blickes auf das kulturell Andere vermag der Text jene vorweltlich archaische Atmosphäre zu erzeugen, die im Herz der Finsternis vorherrscht. Dies ändert sich in Francis Ford Coppolas filmischer Adaption, in Apocalypse now von 1979. Vergleicht man diesen Film mit der 1993 entstandenen Verfilmung Heart of Darkness von Nicolas Roeg, so fillt zunächst dreierlei auf: Apocalypse now ist keine originalgetreue Verfilmung, insofern neben der Conradschen Novelle auch andere Quellen - T.S. Eliotts The Waste Land oder die Kriegsberichterstattung in Michael Herrs Dispatches adaptiert werden; der Film stellt eine Aktualisierung dar, da er das ,Herz der Finsternis' vor dem Hintergrund des amerikanischen Vietnam-Krieges nach Kambodscha verlagert; und zudem kann Apocalypse Now als Radikalisierung seiner literarischen Vorlage gelesen werden. Denn im Film wird eben dasjenige inszeniert, was in der Conradschen Novelle letztlich verschwiegen wird: die Apokalypse. Diesbezüglich werden zentrale Elemente der Novelle übernommen, durch die Radikalisierungstendenz, die den Film kennzeichnet, jedoch quasi ausbuchstabiert. Beibehalten bleibt das parabolische Motiv der Reise, dem eben jene Mehrdeutigkeit zukommt, welche schon in Heart of Darkness angelegt ist: Die Reise fuhrt in eine archaische Vorwelt und kann somit als Verlust zivilisatorischer Bedingungen gelesen werden. Sie beinhaltet das psychologische Motiv der Regression, insofern sie zugleich ins Innerste des Protagonisten, in die dunkelste Seite seines "Herzens" fuhrt, die Urlandschaft in Kambodscha also zum seelischen Schicksalsraum überhöht 36
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Chinua Achebe: An Image of Africa: Racism in Conrad's "Heart of Darkness", in: ders., Hopes and Impediments, London 1988, 1-20. Zur Kritik an dieser erstmals in The Massachussetts Review vom 18.4 1975 veröffentlichten Lektüre Achebes vgl. Cedric Watts: }JA bloody Racist": About Achebe's View if Conrad, in: Yearbook if English Studies 13 (1983), 196-209; sowie Pa trick Brantlinger: }JHeart ifDarkness": Anti-Imperialism, Racism, or Impressionism?, in: Criticism 27.4 (1985), 363-385. Pa trick Brantlinger: Rule ofDarkness [Anm. 23], 257.
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wird. Und sie ist zudem als Pilgerfahrt lesbar, da ihr Zielort einer geheiligten Tempelstätte gleicht, die finale Begegnung des Protagonisten Captain Benjamin Willard (Martin Sheen) mit dem Colonel Walter E. Kurtz (Marlon Brando) somit also als Form einer parareligiösen Erleuchtung interpretiert wird. Diese enge Orientierung an der Conradschen Novelle macht es zunächst einmal schwierig, in Apocalypse Now einen Anti-Kriegsfihn zu sehen, dem Fihn also eine didaktische Funktion zuzusprechen, wie dies etwa in der Analyse Werner Faulstichs 38 oder Peter Kottlorz 39 behauptet wird. Die Realität des Kriegsgeschehens wird vielmehr bewußt virtualisiert, der Krieg ist also nur potentiell anwesend, er ist im Grunde unbeobachtbar, wohl aber in seinen psychologischen Auswirkungen zu bemerken: in einer stetig ansteigenden Hysterisierung der Protagonisten. Wenn kriegerische Szenen gezeigt werden, dann sind diese stets als Inszenierungen markiert: als imitierte Kampfhandlungen rur das amerikanische Nachrichtenfernsehen oder aber als ein mit der Musik aus Wagners Walkürenritt untermaltes Spektakel. Entsprechend fehlt den Mitgliedern der Bootsbesatzung, welche Captain Willard auf seiner Reise begleiten, ein echtes Wissen darum, daß sie sich im Krieg befinden, gehen sie doch eben jenen Amerikanismen nach, welche ihr Leben schon vor dem Krieg bestimmten: sie fahren Wasserski, liegen in der Sonne, hören Satisfaction von den Rolling Stones, surfen, machen Grillfeste und nehmen LSD. Eben diese Dekontextualisierung transformiert ein bestimmtes Freizeitverhalten zum reinen Ritual, der Fihn bereitet dadurch ein Motiv vor, welches sich in seinem weiteren Verlauf systematisch steigert: Kulturelle Praktiken werden als Fetischismen identifiziert. Dies erreicht seinen Höhepunkt in einer Sequenz, in welcher drei aus der amerikanisch~n Heimat importierte Playboy-Mädchen eine Masse von Soldaten sexuell so weit aufheizen, bis diese auf die Bühne stürzen. Die sexuelle Stimulation basiert auf der Verleugnung einer Abwesenheit, einer Differenz zwischen materiellem Symbol und symbolisierter Realität. Der letzte, 47minütige Teil des Films knüpft an dieses Motiv insofern an, als er den zuvor kritisch identifizierten Fetischismus der Bootsbesatzung nunmehr affirmativ in Szene setzt. Insofern wäre es falsch, den Film in einen realistischen ersten sowie einen surrealistisch-okkultistischen zweiten Teil zu zergliedern und darin ein kompositorisches Defizit zu sehen, wie dies insbesondere in den ersten Reaktionen auf diesen Fihn häufig geschehen ist. 40 38
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Werner Faulstich: Didaktik des Grauens - Eine Interpretation von Francis Ford Coppolas "Apocalypse NoUJ ", in: Apokalypse - Weltuntergangsvisionen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, hg. von Gunter E. Grimm, Werner Faulstich und Peter Kuon, Frankfurt a. M. 1986, 246-267. Peter Kottlorz: Femsehmoral - Ethische Stnlkturen fiktionaler Fernsehunterhaltung, Berlin 1993, 276299. Vgl. etwa Wolfgang Limmer: Infahrt durch's Inferno, in: Der Spiegel, Nr. 22 (1979), 200f
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Vielmehr beschreibt der Film nun die Initiation in eine Form der Religiosität, die schon im ersten Teil kulturkritisch thematisiert wurde: den Fetischismus. Daß dieser selbst in seinen brutalsten Ausprägungen - dem Menschenopfer nicht nur fernab der Heimat, sondern auch mitten in Amerika vorherrschend ist, signalisiert der Film durch die Nachrichten über die Massaker der Charles-Manson-Sekte, welche Willards Eintritt in die Welt von Kurtz einleiten. Deren barbarisches, durch eine Unzahl von Leichen ausgest.attetes Gesicht wird der Bootsbesatzung zunächst vermittelt durch die Erzählungen eines von Kurtz erleuchteten Fotoreporters (Dennis Hopper), der die ambivalenten Methoden seines Meisters - speziell die Opferung - erklärt und legitimiert. Durch dieses sich steigernde Prinzip der Initiation in eine bestimmte Form der Religiosität wird jedoch auch die moralische Legitimation der Ermordung von Kurtz transformiert. War diese anfänglich gebunden an einen Auftrag des CIA, den Willard - entgegen seiner politischen Überzeugung - durchzufiihren hatte, so wird sie letztlich zum archaischen Akt eines rituellen Opfers, was durch die parallel montierte Schlachtung eines geweihten Stiers signalisiert ist. Was in Apocalypse now also gegeneinander ausgespielt wird, sind zwei konkurrierende Modelle ritueller Praktiken. Sie differieren aufgrund der Tatsache, daß das zweite Modell ein weitaus archaischeres darstellt, angesichts ihres Fetischcharakters sind sie jedoch strukturell vergleichbar. Das Motiv der Gegenwelt, wie dieses in Heart of Darkness vorlag, wird bei Coppola also negiert, die Unterscheidbarkeit von hoher und niedriger bzw. fort- und rückschrittlicher Kultur fällt weg. Allein dieser Tatbestand macht deutlich, daß Apocalypse now nicht nur als reine Visualisierung einer bereits bestehenden literarischen Vorlage im Sinne des Begriffes ,Verfilmung' zu lesen ist. Die Schwierigkeit, welcher sich Coppola meines Erachtens aussetzt, scheint vielmehr darin zu bestehen, die apokalyptische Motivik der Conradschen Vorlage zu reinszenieren, ohne jedoch deren diskriminierende Klischees zu übernehmen: eine Problematik, die in der Heart of Darkness-Verfilmung Nicolas Roegs übrigens nicht gesehen wird. Geht man der Frage nach, wie Coppola eben dieser Problematik begegnet ist, so läßt sich feststellen, daß deren Lösung in einer radikalen Ästhetisierung jener Gewalt liegt, die die Conradsche Novelle vorgibt. Dies ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil eben jene Ästhetisierung häufig als Verherrlichung gedeutet wurde, nicht jedoch als Strategie, die politische Ambivalenz der literarischen Vorlage zu umgehen. Denn die Gewalt von Apokalypse now ist eine abstrakte, sie läßt sich - anders als bei. Conrad - politisch wie realhistorisch kaum mehr identifizieren .. Die signifikante Variation der aus der Conradschen Novelle übernommenen Notiz von Kurtz - "Exterminate all the brutes" - hin zu "Drop the bomb, exterminate them all" verdeutlicht diese Form der Abstraktion.
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Die Vernichtung gilt nun nicht mehr den Eingeborenen, sondern allen, weshalb die Apokalypse bei Coppola nunmehr auch stattfinden kann. Denn die Worte des Colonel Kurtz, mit denen der Film in seiner Erstfassung eigentlich hätte enden sollen - "es ist das Strafgericht, was uns besiegt" - sie gelten nicht nur ihm und den Anhängern seiner kultisc"h-archaischen Gemeinde, sie beziehen auch - anders als bei Conrads Heart of Darkness - die amerikanische Heimat mit ein. Und dennoch bleibt ein tertium comparationis: die Regression und die Bejahung des faulen Zaubers, des Fetischismus. Vielleicht ist dies tatsächlich die unhintergehbare Bedingung der ästhetischen Wiederholung der Apokalypse selbst, arbeitet diese doch zumindest in den in diesem Aufsatz diskutierten Fällen mit eben jenen Mitteln, die im biblischen Original vernichtet und überwunden werden. Die Inszenierung dieses Ereignisses ist eben deshalb regressiv, weil sie das Diktum unterläuft, welches die Apokalypse selbst ausspricht: die göttliche Macht nicht mehr in willkürlichen Götzen zu repräsentieren. Sollte darin die grundsätzliche Schuld der Darstellungen der Apokalypse in der Kunst liegen, so ließe sich zumindest sagen, daß sowohl Joseph Conrad als auch Francis Ford Coppola sich dieser Schuld bewußt waren.
Andrea Geier PROBLEMATISCHE ApOKALYPSE
Modelle von Ideologiekritik und Sinnstiftung bei Ulla Berkewicz und Anne Duden
I. Modi der symbolischen Eifahrungsauslegung Ich versteh euch nicht, ich hab nicht den leisesten Schimmer, wie ihr was macht. Ich weiß aber ganz genau, daß ihr alle so weit seid, daß ihr nur noch auf das Kommando, das letzte wartet. Ihr seid alle schlacht- und schlächterreif Über euch wölbt sich nichts mehr außer der vernebelten Erwartung des Kommandos. Ihr seid die ganze Zeit schon bereit, ihr seid an euremund aller anderen Ende angekommen. 1
In diesem Zitat aus der Titelerzählung Übergang von Anne Duden (1982) kristallisieren sich zwei wesentliche Punkte einer aktualisierten ApokalypseVorstellung: die Protagonistin prophezeit als Seherin das Ende, wobei sie die Naherwartung als den Fixpunkt der apokalyptischen Botschaft2 aufgreift, und sie entwirft dieses Ende als Entscheidungsschlacht, womit sie auf den Kampf des Erzengels Michael mit dem Satan rekurriert, den die Offenbarung des Johannes schildert. 3 Die Naherwartung spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle in Michel, sag ich von Ulla Berkewicz (1984)4, sie ist das Movens der Erzählung, in der die Protagonistin nach ihrem Geliebten sucht. Auch der Erzengel begegnet uns wieder in der Figur des Michel, der mit anderen Revolutionären gegen das Böse schlechthin kämpft. Damit sind jedoch die gemeinsamen Bezüge der beiden literarischen Texten auf die apokalyptische Tradition bereits erschöpft. Der auffälligste Gegensatz besteht zwischen der U ntergangsvision in Übergang, die von einem Individuum herbeigesehnt und inszeniert wird - also einer ,kupierten Apokalypse', wie Klaus Vondung diesen auf den Untergang konzentrierten Modus nenntS -, und dem Szenarium von UnterAnne Duden: Übergang, in: dies., Übergang, Berlin 1982, 61-103, hier 101f. (im folgenden Ü). Vgl. Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland, München 1988, 86. Vgl. hierzu die weiteren Ausführungen im Abschnitt m. Ulla Berkewicz: Michel, sag ich, Frankfurt a. M. [1984] 1988 (im folgenden M). Klaus Von dung zufolge kommt diese um das Heil gekappte Apokalypse-Vorstellung in der Romantik auf. Die drohende atomare Zerstörung der Welt läßt diese Form der Apokalypse zur dominanten werden; vgl. Klaus Vondung: Apokalypse - VIII. Kunstgeschichtlich, in: Religion in Geschichte und Gegenwart - Handwärterbuch .ftir Theologie und Religionswissenschqft, I, hg. von flans Dieter Betz u.a., vierte, völlig neu bearb. Aufl., Tübingen 1998, Sp. 598. Vgl. auch Vondung: Die Apokalypse [Anm. 2], 12: "Wenn wir dennoch von der Apokalypse eines Atomkrieges sprechen, so haben wir es mit einer ,kupierten' Apokalypse zu tun. Wir können nur die erste Hälfte der herkömmlichen apokalyptischen Vision meinen; die zweite Hälfte, die Errichtung der neuen, vollkommenen Welt, die früher dem Untergang Sinn und Ziel verlieh, hat sich verflüchtigt."
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gang und Erneuerung, das den Rahmen fUr die Darstellung eines revolutionären Geschehens in Michel, sag ich abgibt. Daraus folgt, daß der Analyse kein bestimmtes Apokalypse-Modell (das unter dem Aspekt ,Erfüllung' oder ,Abweichung' zu untersuchen wäre) zugrunde zu legen ist, auch wenn die Johannes-Offenbarung als der wohl wirkungsmächtigste apokalyptische Text als Prätext beider Erzählungen angesehen werden kann. Die beiden zeitlich nahen Erzählungen - aus den 80er Jahren als dem Jahrzehnt literarischer Apokalypsen 6 - nehmen Elemente aus dem topischen Inventar der ,Apokalypse ' -Vorstellungen (wie z.B. die Entscheidungsschlacht) gestaltend auf, so daß sie als Modi der "symbolischen Erfahrungsauslegung"7 rur gegenwärtige und historische Ereignisse fungieren. Untersucht wird im folgenden, in welcher Weise beide literarischen Texte apokalyptische Strukturen und Motive als Momente der innertextuellen Sinnstiftung ins Spiel bringen. Die Darstellung des jeweiligen apokalyptischen Modells und seiner spezifischen Kontextualisierung soll dabei die These plausibilisieren, daß die Möglichkeit von Sinnstiftung in beiden Erzählungen problematisch wird: Michel, sag ich erzählt ein revolutionäres Geschehen in der apokalyptischen Struktur von Untergang und Erneuerung und fUhrt dieses Deutungsschema zugleich einer Reflexion zu, welche das Modell stillstellt und damit unterminiert. Übergang aktualisiert eine apokalyptische Vision des Endes als Erklärungsmuster fUr einen katastrophalen Geschichtsverlauf, der ausgehend von der Shoah auf einen letzten Vgl. den Band von Paul Konrad Kurz: Apokalyptische Zeit - Zur Literatur der mittleren 80er Jahre, Frankfurt a. M. 1987; für die DDR-Literatur siehe Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, erw. Neuausgabe, Leipzig 1996, Kap. 6. Die ,apokalyptische Literatur' der 80er Jahre konzentriert sich - ob in warnend-mahnender oder auch satirischer Form - auf den Untergang. Diese Tendenz scheint so evident, daß Gunter E. Grimm, Werner Faulstich und Peter Kuon davon ausgehend gar den Begriff Apokalypse auf den ,Untergang' und die ,Katastrophe' reduzieren: ",Apokalyptisch' sollen die Werke genannt werden, die - mitunter im Rückgriff auf Bildund Symbolvorräte der jüdisch-christlichen Tradition - eine sich in fortschreitender Auflösung befindliche, unaufhaltsam auf den Untergang, die Katastrophe zusteuernde Ordnung vorstellen, sei es nun die Menschheit überhaupt oder nur eine begrenzte, die Totalität der Welt repräsentierende Gemeinschaft." Gunter E. Grimm, Werner Faulstich und Peter Kuon: Einleitung, in: Apokalypse. Weltuntergangsvisionen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, hg. von Gunter E. Grimm, Werner Faulstich und Peter Kuon, Frankfurt a. M. 1986, 7-13, hier 9. Eine interessante Tendenzverschiebung zwischen den 80er und den 90er Jahren, die Wolfgang Frühwald in einem Vortrag anläßlich eines Symposions über "Deutsche Literatur an der Schwelle zum 21. Jahrhundert" feststellt, könnte geeignet sein, eine Differenzierung hinsichtlich (post-)moderner literarischer Apokalypse-Vorstellungen vorzunehmen, die die einfache Entgegensetzung von ,Untergangsgeschichten' und apokalyptischen Geschichten, die das Heil nach dem Untergang in Aussicht stellen, unterläuft: "Damals, in den 80er Jahren, war die Literatur angeftillt mit Endzeitvisionen, mit apokalyptischen Szenarien ohne Zahl, jetzt, am Ende des Jahrhunderts, lesen, sehen und hören wir Rettungsgeschichten." Wolfgang Frühwald: Wir bestehen buchstäblich aus Sternenstaub - An der Schwelle zum neuen Jahrtausend: Eifahnmgsbeschleunigung mif uniiberschaubaren Wissensstrecken, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.12.1999, Nr. 283 (Bilder und Zeiten). Frühwald meint damit, daß in den 80er und 90er Jahren dieselben Geschichten, etwa ,Titanic', einmal als Untergangs- und einmal als Rettungsgeschichte erzählt werden. Vgl. Vondung: Die Apokalypse [Anm. 2], 46.
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Kampf zusteuert. Dieses Modell enthält jedoch problematische Implikationen, welche im Text nicht reflektiert werden und damit die thematisierte Kritik am Umgang des Nachkriegsdeutschland mit der Shoah unterlaufen.
11. nMichel, sag ich ((: Parabolische Ideologiekritik Die von der Forschung bisher fast gänzlich vernachlässigten Referenzen des Textes auf das Deutungsmuster Apokalypse sind so vielfältig, daß ich hier aus der Fülle der möglichen Beispiele - nur einige strukturelle und motivische Momente herausgreife; dem folgen zwei Beispiele fur Verschränkungen mit Geschichten aus dem Buch Genesis und einer mythologischen Erzählung. Dies fuhrt zu der Frage nach der Funktion der Apokalypse als Deutungsmuster fur die aufgerufenen historischen KontexteS sowie nach der Parabelform, die in bisherigen Interpretationen zumeist unbeachtet blieb oder mißverstanden wurde. 9 Die ,Apokalypse' als das paradigmatische Modell von Untergang und Erneuerung stellt das Szenarium bereit, in dem die Suche der Protagonistin nach Michel, sag ich ist bisher vorwiegend als zivilisationskritische Erzählung und Mythologisierung von Zeitgeschichte, d.h. genauer der Studentenbewegung interpretiert worden (vgl. dazu den Artikel von SylVia Adrian: Ulla Berkewicz, in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von Heinz Ludwig Arnold, 47. Nlg. [Stand: 1.4.1994]). Die Fixierung auf die Studentenbewegung ist daraufzurückzufiihren, daß dies einer der am deutlichsten gekennzeichneten historischen Kontexte ist, die in die Erzählung eingespeist werden, hierbei vor allem die Figur des Rudi als Rudi Dutschke. Auch Maria Kublitz-Kramer, die eine Vielzahl von Referenzen und Kontexten aufzeigt, übersieht, daß die historischen und ideologischen Kontexte einen gemeinsamen signifikanten Bezugspunkt besitzen, und sich in diesem Zusammenhang eine Funktion fur die innerliterarische Referenz auf die Apokalypse nachweisen läßt. Zudem geht sie auf die Frage nach strukturellen oder konkreten inhaltlichen Aspekten der ,Apokalypse' nicht ein. Sie erwähnt lediglich, daß die Protag<:mistin die Stadt (!) als eine ,apokalyptische Endzeitvision' erlebe; vgl. Maria Kublitz-Kramer: "Sieh dich nicht um, egal was hinter dir passiert", in: dies., Frauen auf Straßen - Topographien des Begehrens in Erzähltexten von Gegenwartsautorinnen, München 1995, 182-187, hier 182. Für den Zusammenhang von Untergang und Erneuerung zieht sie Parallelen zu Matth. 10, 38 u. 39; vgl. ebd., 184. Maria Kublitz-Kramer stellt zwar heraus, daß es sich um eine Parabel handelt, bezieht dies aber letztlich nur darauf, daß die Erzählung in einem ahistorischen und exterritorialen Ort situiert ist; vgl. Kublitz-Kramer: "Sieh dich nicht um, egal was hinter dir passiert" [Anm. 8], 182. Sie meint, die ,Lehrhaftigkeit' der Parabel darin sehen zu können, daß es um die Restituierung der idyllischen Natur und die Rückholung von Michel gehe: "Ihre schnörkellose Sprache, ihr zuweilen fast abgehackt wirkender Ton unterstreicht die Lehrhaftigkeit der Parabel, die auf Wiederbelebung der Natur und Rückholung des Geliebten abzielt." (Ebd., 183) Damit erklärt Kublitz-Kramer das erzählte Geschehen zur buchstäblichen Bedeutung der Parabel und verkennt, daß die Parabel zu einem Bedeutungstran.ifCr anleitet. Das von ihr Beschriebene ist Inhalt und Movens der erzählten Geschichte, in keinem Fall aber zielt die Parabel in ihrer ,Lehrhaftigkeit' darauf ab. Im weiteren Fortgang ihrer Interpretation verliert Kublitz-Kramer die Parabel folgerichtig aus dem Blick und erklärt, ausgehend von der Verschränkung von Visionen, Träumen und Bildern, von Mythos und Geschichte, es handle sich bei der Erzählung von Ulla Berkewicz um eine ,psychoanalytische Gedächtnistätigkeit': Der Weg der Revolutionäre und der Protagonistin geht ,räumlich' in den Untergrund und fuhrt religiös-heilsgeschichtliche, psychoanalytische, politische Diskurse und mythologische Erzählungen zusammen. Vgl. ebd., 185.
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Michel und ein glückendes revolutionäres Geschehen stattfindet: 1\Ilenschen, die zumeist auf dem sogenannten "Roßplatz" erschossen worden sind lO , unterhöhlen eine Stadt, die "Frankfurt" genannt wird (vgl. M, 13 U.Ö.)l1, und können so schließlich das herrschende Terrorregime vernichten. Wie in der biblischen Apokalypse-Tradition verknüpft der literarische Text strukturell einen als notwendig und gerecht dargestellten Untergang mit der Erlösung der Gläubigen, hier: der Revolutionäre. Die von den Menschen im Untergrund herbeigeführte Vernichtung - also eine Form der "aktivistischen Apokalypse" (Vondung) 12 - wird dabei zum einen durch ihre Motive legitimiert: Die Vernichtung wendet sich gegen das Terrorregime in der Stadt, das die Menschen mit Hilfe seiner Soldaten unterdrückt und Protestierende ermordet 13 ; zugleich kommt sie der schleichenden Vernichtung des Landes durch die Stadt zuvor. Dort herrschen Dunkelheit und ewiger Winter, da die Expansion der Stadt dazu fUhrte, daß die Zeit stillgestellt wurde - die Jahreszeiten verteilten sich bipolar auf Stadt und Land und stagnierten als immerwährender Sommer und Winter, die Natur ist im Eis erstarrt, die Bewohner des Landes sind wie ihr Lebensraum in ihrer Existenz bedroht. Es gibt keine Geburten mehr, nachdem alle Männer das Lang. verlassen haben und nur noch Alte, Frauen und Kinder auf dem Land zurückgeblieben sind. Zum anderen legitimiert die Bildlichkeit, Erdbeben und Flut14 , die Vernichtung:
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"Der Michel ist bei Rudi" heißt es, und von Rudi weiß der Leser, daß er erschossen wurde; vgl. M,56. Dies läßt sich als Anspielung auf die Paulskirchenversammlung im Gefolge der Revolution von 1848 verstehen. Die Stadt Frankfurt und ihre ,Spiegeltürme' können auch als Chiffre für die Bankenwelt und die Macht des Kapitals gelesen werden. Im Kontext der Anspielung· auf die RAF (dazu weiter unten) ist auch denkbar, daß der Text auf die ,Gründung' der RAF anspielt, die mit der Befreiung Andreas Baaders in Frankfurt (1970) angesetzt wird - damit begann Ulrike Meinhofs Weg in den Terrorismus. Gerade dieses Modell von Apokalypse ist ideologisch fungibel; vgl. Vondung: Die Apokalypse [Anm. 2], 144ff. Vondung schließt an seine Ausfiihrungen zu ,modernen Apokalypsen' an: "Die genannten Beispiele zeigen, daß die moderne Apokalypse nicht einem bestimmten politischen Lager zugeordnet werden kann; die Apokalypse ist weder rechts noch links. Das Strukturmuster apokalyptischer Geschichtsdeutung [... ] kann mit unterschiedlichen ideologischen Inhalten angereichert werden." Klaus Vondung: Zwischen Melancholie und Euphorie - Die Apokalypse, in: Entzauberte Zeit - Der melancholische Geist der Modeme, hg. von Ludger Heidenbrink, München 1997,161-183, hier 165. Der Pfarrer erzählt über die Geschichte der Stadt: "Wer hinter diesen Spiegeln steht, welche Gesichter und die Namen, wußte niemand in der Stadt. Aber die drin sind, sagt der Pfarrer [... ], die drin sind, in den Türmen, die sehn raus, die sehn dir nach, die kennen deine Wege, und gehst du neue, bist du tot und hast den Mund voll Sand." (M, 58) Zur Ermordung auf dem ,Roßmarkt' vgl. M, 30, 59, 78. In der qffenbanmg des Johannes schickt Gott den Menschen ein "gewaltiges Erdbeben, wie noch keines gewesen war, seit es Menschen auf der Erde gibt" (qffb. 16,18) und vernichtet damit die ,Hure Babylon'. Im Zusammenhang mit einer religiös konnotierten Vernichtung durch Wasserfluten läßt sich auch an den Gang der Israeliten durch das Rote Meer denken, bei dem die Streitmacht der Ägypter in den Fluten vernichtet wird; vgl. Exodus 14.
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Oben auf der Straße ist über Nacht Herbst geworden. Die alten Blätter fallen. Der Boden bebt, es kracht, die Ziegel rutschen von den Dächern [ ... ]. / Der Boden bebt, die Häuser kippen [ ... ] / Ich schwimm, ich greifins Wasser wie in Leitersprossen. Auf einmal gehn die Wellen hoch und schlagen. Möwen schreien, Fische beißen, das Wasser braust. Menschen, Tiere, die großen Wagen, die Soldaten, sie schrein, sie schreien, kommen in den Fluß. Der fluß läuft über. Ein Lärm bricht los, ich faß nichts, find nichts. Und hinten hör ich Brechen und Versinken. (M,95f)
Zwar läßt sich diese Bildlichkeit zum Kern des topischen Bildinventars der Apokalypse zählen 15 , der Text stellt sprachlich allerdings selbst eine Referenz auf die religiöse Tradition her: Die Dorfbewohner, so die Erzählerin, reagierten auf die Veränderungen der Naturgewalten seit der Expansion der Stadt mit der Erklärung: ,,[ ... ] die Schöpfung wehrt sich." (M, 41) Indem die naturalisierende Darstellung den menschlichen Anteil am Untergang unsichtbar macht, legitimiert sie indirekt die ,aktivistische' Apokalypse. Diese kann als konsequente Fortsetzung einer Vernichtung verstanden werden, als deren Ursache sprachlich eine transzendente Gewalt plausibilisiert wird. Die dichotomischen Strukturen des Textes, die sich auch in der Form der Erzählung finden 16 , können unter einem qualitativen und einem zeitlichen Aspekt auf die Apokalypse bezogen werden. Wie in der apokalyptischen Tradition scheidet der Text die Welt vor dem Untergang in gut und böse - in Stadt und 'Land - und bestimmt damit, wer gerettet werden wird; zugleich scheidet er die Welt vor und nach dem Untergang: Während die Welt vor dem Untergang verderbt ist und die Gerechten unterdrückt und leiden läßt, erwartet die Revolutionäre nach dem Untergang das Paradies auf dem wieder
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Auch moderne Texte, die beispielsweise die atomare Zerstörung thematisieren, greifen zu einer ähnlichen Bildlichkeit wie die biblische Apokalypse: "Erdbeben, Feuer und Flut und andere zerstörerische Natutgewalten liefern auch in unserem Jahrhundert das Bildmaterial fiir die Vergegenwärtigung apokalyptischer Untergangsvisionen, obwohl der Erfahrungskontext nun deIjenige der modernen Zivilisation ist." Klaus Vondung: JJ Überall stinkt es nach Leichen. {( - Über die iisthetische Ambivalenz apokal]lptischer Visionen, in: Schönheit und Schrecken - Entsetzen, Gewalt und Tod in alten und neuen Medien, hg. von Peter Gendolla und Carsten Zelle, Heidelberg 1990,129-144, hier 132. Die der Johannes-Offenbarung ähnliche Bildlichkeit in modernen Texten ist nicht als Referenz auf den biblischen Text zu lesen, sondern ergibt sich aus den begrenzten "bildhaften Gestaltungsmöglichkeiten" in der "Darstellung umfassender globaler Vernichtung"; ebd., 133. Der dichotomischen Topographie von Stadt und Land korrespondiert die Form der Erzählung in den Kapiteleinteilungen und im Wechsel der Erzählzeit: die nicht-numerierten Kapitel eins und sieben - im Imperfekt erzählt -, die den erzählerischen Rahmen herstellen, handeln vom Aufbruch der Protagonistin und ihrer Rückkehr auf das Land nach der Vernichtung der Stadt. Die numerierten mittleren Kapitel zwei bis sechs - in der Numerierung der Erzählung selbst: eins bis fiinf - stellen den im Präsens erzählten Hauptteil dar und handeln von der Suche der Protagonistin in der Stadt. Die dichotomische Struktur von Land und Stadt bestimmt auch die Wahrnehmung der Protagonistin: Die Suche in der Stadt ist durchzogen von Vorstellungen und Erinnerungsbildern an das Land und von den (mythischen) Erzählungen und Ritualen der Alten, zu denen die Protagonistin Zuflucht nimmt. Dieser Erfahrungskontext dient zugleich als Folie der Bewertung. Die Protagonistin erwartet, daß jeder Michel kennt, wie dies auf dem Land üblich wäre (vgl. M, 16) und will zum Pfarrer, Bürgermeister und Doktor, den Autoritäten ländlicher Strukturen, um sie nach Michel zu fragen (vgl. M, 45).
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erblühten Land. Allerdings ist die kategoriale Differenz zwischen den beiden Welten vor und nach dem Umbruch in der Erzählung als eine innerweltliche Differenz gestaltet. Folglich geht nicht die ganze Welt in einem radikalen und vollständigen Akt der Vernichtung unter, sondern lediglich die Stadt als ihr verderbter Teil, der das Böse symbolisiert. Diese lineare Vorner-NachherStruktur des apokalyptischen Ereignisses ist mit einem tendenziell zyklischen Aspekt gekoppeltY Wie in der biblischen Tradition der Einzug der 12 jüdischen Stämme in das vollkommene, neue Reich Gottes als eine Rückkehr dieser verstreuten Stämme in ihre Heimat geschildert wird, aber eine Differenz zwischen dem alten Jerusalem und dem - eigentlich nicht beschreibbaren - ,neuenJersualem' oder ,Himmlischen Jerusalem' markiert wird (Offb. 21,2), kehrt die Protagonistin wieder auf das Land zurück, von dem sie aufgebrochen ist; die wiederhergestellte Idylle trägt jedoch auch den Charakter des N euen, da sie ihres ehedem selbstverständlichen Status' beraubt ist. Der Text betont die Differenz, indem er dem neuen Paradies die Vergangenheit ex negativo einschreibt: "Ich sah zum Frankfurt-Ufer hinüber. Wo früher hohe Häuser standen, Spiegeltürme, stand jetzt die Mittagssonne und schien übern Main." (M, 100) Das Land mit seinen wohlgeordneten Verhältnissen zwischen den Generationen wie den Geschlechtern erscheint vor und nach dem Untergang als ein archaischer Ort, der auch dem topischen Inventar der Idylle entstammen könnte. Es ist zugleich ein utopisches Gegenstück zum todbringenden ,Moloch' Stadt. 18 Deren Untergang wiederum stellt ein topisches zivilisationskritisches Motiv dar. 19
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Kublitz-Kramer betont ausschließlich den Eindruck der zyklischen Struktur ("Kreisstruktur"), da Aufbruch und Ankunft der Protagonistin denselben Raum, nämlich das Land, betreffen, vgl. Kublitz-Kramer: "Sieh dich nicht um, egal was hinter dir passiert" [Anm. 8], 182. Im Zusammenhang mit dem utopischen Moment lassen sich auch die tendenziell zyklische Struktur sowie die archaisierenden Tendenzen der Erzählung sehen; vgl. Renate BöschensteinSchäfer: Idylle, Stuttgart 1967,12. Wolfgang Braungart stellt in einem Artikel über den Zusammenhang von Apokalypse und Utopie fest: "Die moderne Apokalypse thematisiert das Ende von Kultur und Zivilisation und deshalb auch - z.B. in der Malerei - das Ende städtischen Lebens als Inbegriff zivilisierten Lebens. In der Apokalypse geht die Stadt als Inbegriff menschlicher Zivilisation unter. Und deshalb kann man auch - für die Moderne - von hier aus einen Zusammenhang zwischen Utopie und Apokalypse sehen. Die Thematisierung der Stadt als Moloch in Kunst und Literatur der Moderne trägt häufig apokalyptische Züge und läßt sich damit auch als Säkularisierung und Inversion der christlichen Heilsökonomie begreifen: aus der Stadt als Fluchtpunkt christlicher Geschichtsteleologie wird die Stadt als Symbol des katastrophischen Verlaufs säkularer Geschichte." Wolfgang Braungart: Apokalypse und Utopie, in: Poesie der Apokalypse, hg. von Gerhard Kaiser, Würzburg 1991,63-102, hier 73. Nimmt man die Johannes-Apokalypse als Bezugspunkt der christlichen Tradition, ließe sich statt von einer Inversion auch von einer Reduktion sprechen: Die moderne Apokalypse nimmt lediglich das Bild der verderbten Stadt, der ,Hure Babyion' auf, welche untergehen muß und generalisiert es zum Motiv des apokalyptischen Untergangs schlechthin; das Bild der idealen Stadt, das himmlische Reich/ die Utopie, kommt dagegen in der modernen ApokalypseVorstellung nicht mehr vor.
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Mit der Vorstellung des Landes als eines neuen Paradieses, das im siebten Kapitel der Erzählung nach dem Untergang der Stadt erschaffen wird20 , ist eine Genesis-Anspielung benannt, wie sie sich bereits im Kontext der Legitimierung der Vernichtung feststellen ließ. Eine weitere Stelle findet sich im Zusammenhang mit der Referenz auf die apokalyptische Naherwartung; ein alter Mann prophezeit der Protagonistin und Ich-Erzählerin: "Die wirkliche Schöpfung (!), sagt er, fangt nicht am Anfang, sondern jetzt, am Ende an, beginnt erst anzufangen. Jetzt beginnt sie. Jetzt, sagt er, jetzt, jetzt fangt sie an." (M, 24) In dieser Formulierung wird die Ankunft des Herrn sowohl verkündet als auch zugleich aufgeschoben (durch das fiinfinal wiederholte ,Jetzt') und so deren Verzögerung markiert: damit ist die Parusie als das Movens der Erzählung benennba~l, in der der Protagonistin immer wieder ein Treffen mit Michel - dem Erlöser - versprochen wird, das aber erst am Ende der Erzählung stattfindet22 . Nicht nur Apokalypse und Genesis, auch Genesis und Mythos sind miteinander verbunden: Die Suche der Protagonistin nach Michel in der U nterwelt, in der die Toten leben, stellt die Inversion der mythologischen Erzählung von Orpheus dar, der Eurydike aus dem Reich des Hades zurückholen wollte. 23 Ein zentrales Detail dieses Mythos ist dabei zugleich das tertium com20
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Die Siebenzahl der Kapitel ist ein weiteres Beispiel rur die Verschränkung der Texte Qffenbanmg und Genesis in Michel, sag ich. Sie läßt sich als eine allgemeine Referenz auf den religiösen Kontext lesen, in dem die Sieben die Zahl der Vollkommenheit ist. Im Kontext der apokalyptischen Strukturen könnte man die Zahl konkret auf die Johannes-Offenbarung beziehen, welche von der Siebenzahl strukturiert wird. Eine Allusion an die Genesis findet sich im übrigen auch in der Johannes-Offenbarung selbst, wenn der Satan als ,die alte Schlange' bezeichnet und damit die Paradiesesschlange aufgerufen wird, die nun endgültig vernichtet werden wird; vgl. Qffb. 20,lE Das zweite Movens der Erzählung findet sich in dem achtmal wiederholten Satz "Ich suche einen Mann, der Michel heißt" (viermal exakt: vgl. M, 14, 16, 22, 94 und viermalleicht modifiziert: vgl. M, 28, 36, 55, 85), in dem sich die beharrliche Suche der Protagonistin manifestiert. Dessen Iteration treibt die Handlung voran, da die Protagonistin auf ihre Frage mehrmals neue Anhaltspunkte rur ihre Suche findet. Hier zeigt sich bereits eine inverse Struktur, die auch rur Anspielungen auf die Genesis und den Mythos gelten wird (vgl. weiter unten): Die Protagonistin wartet nicht auf die Ankunft des Herrn, d.i. auf Michel, sondern sie bricht vom Land in die Stadt auf, um ihn zu suchen. Auch die Protagonistin geht in den ,Untergrund' und rettet sich schließlich wieder ,nach oben' (vgl. M, 94f.). Sigrid Weigel greift diese Modifizierung mythologischer Erzählungen im Sinne einer positiven Umkehr hinsichtlich der Geschlechterpositionierung heraus; vgl. Sigrid Weigel: ,,,Frauenliteratur' - Literatur von Frauen", in: Gegenwartsliteratur seit 1968, hg. von Klaus Briegleb und Sigrid Weigel, München und Wien 1992 (= Ha/mrs Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16.}ahrhundert bis zur Gegenwart; 12),245-267, hier 259. Diese Deutung nimmt Kublitz-Kramer zum Anlaß zu fragen, welchen Stellenwert das Geschlechterverhältnis in der Erzählung besitzt. Zweifelsohne läßt sich eine als restaurativ zu nennende Tendenz nicht leugnen, da die Dichotomie von Land/ Stadt sich klar auch auf das Geschlechterverhältnis beziehen läßt; die Sphären von Mann und Frau sind gegliedert in aktiv und passiv, die Rollen auf dem Land klar verteilt (vgl. M, 8), so daß die Protagonistin folgerichtig das revolutionäre Geschehen lediglich als Zuschauerin miterlebt. Sie sucht Michel und findet ihn, es geht ihr aber nicht um die Revolution. KublitzKramer wirft der Erzählung daher vor, sie überwinde nicht den patriarchalen Gestus der religiösen Heilslehre; vgl. Kublitz-Kramer: "Sieh dich nicht um, egal was hinter dir passiert" [Anm. 8], 183f.
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parationis fiir die Geschichte von Lot und seiner Frau aus dem Buch Genesis: In Michel, sag ich fordert der Pfarrer die Protagonistin auf, sich auf ihrer Flucht nicht umzudrehen, um die untergehende Stadt anzusehen: "Schwimm durch, sieh dich nicht um, egal was hinter dir passiert, schwimm weiter." (M, 92) Das Motiv wird vorbereitet durch andere Warnungen vor gefährlichen Blicken, so heißt es gleich auf der ersten Seite, als die Protagonistin nachts auf dem Land die Lichter der Stadt betrachtet: "Sieh nicht hin, sagte Michel, wer hinsieht, geht und kommt nicht wieder." (M, 7) So wie sich diese Warnung fiir alle Männer, die in die Stadt gingen und nicht wiederkamen, bestätigt hatte, erweist sich auch die zweite Warnung der Protagonistin als zutreffend. Während sie auf ihrer Flucht ans andere Ufer gelangt, weil sie den Rat befolgt, erstarrt ein Mann, der neben ihr schwimmt und - in Form einer Mauerschau - der Protagonistin den Untergang beschreibt, zu Stein und versinkt (vgl. M, 96).24 In dieser Amalgamierung biblischer und mythologischer Erzählungen 25 fällt auf, daß sich die inverse Struktur nicht nur auf die Geschlechterrollen bezieht, sondern beide Male Geschichten des Scheiterns aufgerufen werden - Orpheus muß Eurydike zurücklassen, Lot verliert seine Frau -, die innerhalb der Erzählung glücklich enden. Diese Beobachtung trifft in ähnlicher Weise auch fiir die historischen und ideologischen Kontexte zu, die über die Figuren in das Apokalypse-Szenarium eingeblendet werden und die in einem strukturellen Zusammenhang mit dem Modell der Apokalypse selbst stehen. Die Figuren des Michel und Rudi sind mehrfach ,besetzt', so daß vielfältige Assoziationen möglich sind: Wie bereits erwähnt, ist Michel als Erlöserfigur gezeichnet; überdeutliche Hinweise dafiir sind, daß Michels Mutter Marie, sein Vater Josef heißt, seine Geburt als eine außergewöhnliche Begebenheit erzählt wird (außerdem findet sich ein Hinweis auf Tiere in einem S~all), kurz bevor die Protagonistin Michel trifft, auf der Weide ein Lamm - als das
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und 186. Es ist allerdings nicht richtig, daß die Teilung in aktive revolutionäre Männer und passive Frauen die gesamte Revolution beträfe und damit auch die Erzählung strukturierte: Der Pfarrer benennt explizit, daß die Geschlechterverhältnisse fUr Stadt und Land unterschiedlich sind, und dies die Beteiligung an der Revolution bestimmt (M, 61): "die Männer von zuhaus und viele Frauen und Männer von der Stadt. Sie hören Rudis Lehren, graben, höhlen die Erde aus und sind mit ihrer Arbeit bald zuende." Zudem begegnet die Protagonistin Eltern, die sie kurzfristig fUr ihre Tochter halten, welche sich den Revolutionären angeschlossen hat und auf dem Roßmarkt erschossen wurde; vgl. M, 52ff. Orpheus blickt sich nach Eurydike um und muß sie deshalb zurücklassen. Lots Frau blickt entgegen der Warnung auf die Stadt zurück und erstarrt zur Salzsäule; Genesis 19,17: "Bring dich in Sicherheit, es geht um dein Leben. Sieh dich nicht um, und bleib in der ganzen Gegend nicht stehen!" Ebd. 19,26: "Als Lots Frau zurückblickte, wurde sie zu einer Salzsäule." In der Referenz auf die biblische Tradition findet sich die Konstellation von der Warnung an die ,Guten', die sich retten sollen, und dem Untergang des Bösen exakt wieder. Die Referenz auf Lot steht außerdem im Zusammenhang mit der Apokalypse im Evangelium nach Lukas; Lk. 17,28. Geschichte, Mythos und verschiedene biblische Erzählungen fUgen sich in der Erzählung zusammen bzw. können zugleich in einem Motiv - wie z.B. der Warnung vor dem Zurückblicken -
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Christus symbol schlechthin - geboren wird, und er derjenige ist, dessen Erscheinen die Protagonistin jeden Moment ihrer Suche erwartet. Zum anderen weist sein Name im Zusammenhang mit seinem Kampf gegen das Böse auf den Erzengel Michael, der zusammen mit seinen Engeln den Drachen besiegt (vgl. Offb. 12,7-9). Im Kontext einer Revolution in ,Frankfurt' - Stichwort: Paulskirche -läßt sich ebenso an die Figur des ,deutschen Michel' denken. 26 Rudi ist nicht nur leicht als Rudi Dutschke identifizierbar27 , sondern, da er seine Reden in der Badewanne sitzend hält, auch als] ean Paul Marat sowie als ]ohannes der Täufer, weil auch' er das Kommen des Messias, d.h. Michels, ankündigt (vgl. M, 89)28. Zwischen diesen vielfältigen und so unterschiedlichen Bezügen zeigt sich dennoch ein Konnex: Alle historischen Personen sind Visionäre , Verkünder einer neuen Zeit, die auf die eine oder andere Weise Opfer der von ihnen mit in Gang gesetzten Ereignisse wurden. Der Text ruft mit diesen Figuren indirekt die historischen Konfigurationen Christentum, Französische Revolution und Studentenbewegung auf, die sich zusammen mit den Verweisen auf den Terrorismus der RAF 29 - als exem-
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sichtbar werden, ohne sich gegenseitig aufzuheben oder hierarchisierbar zu sein. Dies läßt sich als ein formales Merkmal auf die Struktur der Parabel beziehen. Den ,deutschen Michel', den der Vormärz erwecken wollte, machte Heinrich Heine zu einer seiner liebsten (Spott-)Figuren im Kontext von Revolution; vgl. die Gedichte Erleuchtung (vgl. Heinrich Heine: Sämtliche Gedichte in zeitlicher Reihenfolge, hg. von Klaus Briegleb, Frankfurt a. M. und Leipzig 1993, 468) sowie Michel nach dem März, das endet: "Derweil der Michel geduldig und gut / Begann zu schlafen und schnarchen / Und wieder erwachte unter der Hut / Von vierunddreißig Monarchen." (Ebd., 523.) Rudi Dutschke wurde bei einem Attentat im April 1968 schwer verletzt. Dieses Attentat nimmt die Erzählung auf und macht es zur Form der Hinrichtung aller Oppositionellen, die auf dem Roßmarkt demonstrieren. Im Kontext der Studentenbewegung kann dies zugleich auch als Anspielung auf den Mord an Benno Ohnesorg gelesen werden. Johannes der Täufer kündet von einem Messias, der kommen wird, und tauft schließlich auch Jesus. Bei Matthäus heißt es außerdem, daß Herodes glaubt, Jesus sei der wiederauferstandene Johannes (vgl. Mt. 14,1f.). Auch Michel, sag ich überblendet Michel (= Christus) und Rudi (= Johannes): Als der Pfarrer mit der Protagonistin aufbricht, um in den Untergrund zu gehen, sagt er zunächst, er werde sie zu Michel bringen, kurz darauf, er werde sie zu Rudi bringen (vgl. M, 71, 79). Die Rote Armee Fraktion wird über einen von der Protagonistin erinnerten ,Mythos' eingefiihrt. Zu apokalyptischen Denkmustern bei Ulrike Meinhof und anderen Mitgliedern der RAF vgl. Vondung: Die Apokalypse [Anm. 2], 478-484. Werner Fuld sowie Paul Kersten weisen in ihren Rezensionen bereits auf die Anspielung des Textes auf die RAF hin, vgl. Werner Fuld: Die Landmaus und die Stadtmaus, in: Fran~filrter Allgemeine Zeitung vom 1.9.1984, Nr. 195; Paul Kersten: Orphea steigt hinab, in: Die Zeit vom 30.11.1984, Nr. 49, Literaturbeilage. Die Forschung hat diese Anregung jedoch nicht aufgegriffen und folgerichtig bisher nicht gesehen, daß mit der Einblendung der historischen Kontexte in die Struktur der Apokalyps~ deren ambivalentes Potential hervorgehoben wird. Auch Kublitz-Kramer entgeht der Verweis auf die Rote Armee Fraktion und die Ambivalenz der Hinweise. Dieser blinde Fleck verwundert um so mehr, als bereits die Rede von den Revolutionären, die ,im Untergrund' arbeiten, wohl einfacher als wörtliche Aufuahme eines terroristischen Vokabulars verstanden als auf die Studentenbewegung bezogen werden kann - sie läßt sich schwerlich in Einklang bringen mit Dutschkes vielzitiertem Wort von der ,Revolution als langem Marsch durch die Institutionen'. Vgl. Rudi Dutschke: Mein
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plarische Beispiele rur das problematische Verhältnis von Glaube / utopischen Zielen und Revolution/ Gewalt lesen lassen. So wie die Apokalypse des Johannes, die das Heil verkündet, in Rachephantasien gegen Unterdrücker und alle Ungläubigen schwelgt, zeigt sich in den indirekt über die revolutionären Figuren im Text eingeblendeten Kontexte jeweils das Umschlagen von Revolution in Terror bzw. Revolution als Terror. Sowohl rur die Forderung der Außerparlamentarischen Opposition, durch die Vernichtung von Kapitalismus und Imperialismus eine humane Welt schaffen zu wollen 30 , als auch rur die Französische Revolution mit ihrem Anspruch des radikalen Neuanfangs (z.B. neue Zeitrechnung) und dem selbstinszenierten Jüngsten Gericht (Verurteilung und Hinrichtung der Repräsentanten des alten Systems) läßt sich eine apokalyptische Denkstruktur bzw. Redeweise von Untergang und Neuanfang feststellen. Damit ergibt sich eine Spannung zwischen der erzählten gerechten und geglückten Revolution als einem apokalyptischen Ereignis und den mit den eingeruhrten Figuren aufgerufenen Kontexten. In diesem Zusammenhang bezieht sich die Aussage des Pfarrers: "Nicht ein Mensch mußte kommen [... ], es mußten viele sein" (M, 61) nicht nur auf den veränderte~ Status des ,Erlösers', dem die vielen Revolutionäre im Untergrund helfen, sondern wird als eine poetologische Aussage über die Funktion der Vervielfaltigung der Figuren des Michel und Rudi lesba2 1 • Sie stehen als historisch mehrfach besetzte Figuren ftir die sich in der Geschichte wiederholende Struktur, Revolutionen im Modell der Apokalypse zu denken. Apokalypse wird damit als ein ideologisch unterschiedlich besetzbares Modell rur gewaltsame Erneuerungsvisionen problematisiert. Läßt sich diese ideologiekritische Lesart aber als Deutung der Parabel ausgeben? Zwei Deutungen wären möglich: Zum einen, daß die erzählte Geschichte zwar glücklich endet, die Erzählung aber das Wissen um das proble-
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langer Marsch - Reden, Schriften und Tagebücher aus zwanzig Jahren, hg. von Gretchen DutschkeKlotz, Hehnut Gollwitzer und Jürgen Miermeister, Reinbek bei Hamburg 1980,15 u.ö. Vgl. Vondung: Zwischen Melancholie und Euphorie [Anm. 12], 168. Die VervielEiltigung wird noch unterstützt durch die Andeutung weiterer potentieller Besetzbarkeit im Motiv der undeutlich werdenden, ineinander verschwimmenden Personen; die Erzählerin beschreibt dies bildhaft in Bezug aufRudi (M, 90): "Da zeigt der, der im Wasser ist, mir sein Gesicht. Ich kenn es und ich kenn es nicht. Ich sehs und seh, wie sichs verändert. Es wird ein andres, noch ein andres, noch eins. Eins löst sich auf und läuft ins nächste über, und eins erkenne ich und rufe: Halt, dich kenn ich, du bist Rudi." Diese Vervielfaltigung läßt sich auch als Hinweis auf die lange Dauer des Kampfes und die Menge der Menschen, die für diesen Umsturz nötig sind, deuten: der Text markiert, daß unterschiedliche Generationen im Untergrund arbeiten; gemeinsam schaffen sie den Umsturz. Dagegen meinen Werner Fuld und Paul Kersten, daß es nur die ,Kinder' der Studentenbewegung seien, die das System zu Fall bringen; vgl. Fuld: Die Landmaus und die Stadtmaus [Anm. 29] sowie Kersten: Orphea steigt hinab [Anm. 29]. Das Ineinanderfließen mehrerer Figuren stellt zunächst bildhaft die Unsicherheit der Protagonistin über ihre Wahrnehmung in der Stadt dar: so erkennt sie sich am Anfang selbst nicht und spricht sich als Fremde an, ebenso verwechselt sie einen Menschen mit Michel (vgl. M, 13f.; 35) und weiß ihn ein andermal nicht mehr zu beschreiben (vgl. M, 49f.).
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matische Verhältnis von Revolution, Ideologie und Gewalt in sich aufhebt und deshalb auch die erzählte Geschichte affiziert, d.h. in ihrer Geltung zurücknimmt. Zum anderen, daß die eingeblendeten Kontexte zwar problematisierend wirken, aber das glückliche Ende einen Kampf rur die guten Ziele bestätigt und die Hoffnung auf eine mögliche Revolution - trotz allem beglaubigt. Eine der beiden Antworten auszuwählen, wäre offensichtlich eine rein ideologisch begründbare Entscheidung, da sich dafiir im Text keine eindeutigen Hinweise finden. Meine These ist, daß genau die Unentscheidbarkeit zwischen diesen Deutungen als paradoxe, aber unvermeidliche Konsequenz die eigentliche Reflexionsleistung der LeserInnen darstellt, auf die hin die Parabel zielt. Dies läßt sich aus dem Text selbst begründen: Im letzten Drittel des Textes findet sich eine ,Mythos'32 benannte Binnenerzählung. Die Protagonistin berichtet die ,verbotene Geschichte' eines jungen Mädchens, dessen Tod als Selbstmord ausgegeben wird, obwohl es angeblich erschossen wurde; dabei handelt es sich konkret um den Bezug auf die Selbstmorde der RAF-Gefangenen Ulrike Meinhof (im Mai 1976) sowie Andreas Baader und Jan-earl Raspe (im Oktober 1978) in Stammheim33 : Die Fenster warn vergittert und die Türn warn verschlossen mit einem Schlüssel, dens nur einmal gab. [... ] Da kam wer. Es geschah am frühen Morgen, oder es war mitten in der Nacht. Aufleisen Sohlen kam wer lange Gänge lang. So leis kam wer, daß davon noch nach Jahren nur geflüstert wurde. Der Wer ging an den Wächtern
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Das Zusammenschließen von Mythos und Geschichte im Sinne historischer Ereignisse lenkt den Blick auf die ,Bilderwelt' , welche in der Erzählung nicht nur als eine Anspielung auf die Bilder in den Texten der Apokalypse eine Rolle spielt (vgl. die Ausftihrungen zur Apokalypse-Tradition weiter oben), sondern ein Merkmal darstellt, das den Verlauf der Erzählung wie auch deren Sprache weitgehend bestimmt: Bilder in Form von Visionen und Träumen verleiten die Protagonistin zu ihrer Suche nach Michel (vgl. M 9, 20), während ihrer Suche ruft sie sich Bilder von zuhause und von Michel ins Gedächtnis (vgl. M, 20(, 25(, 35, 37, 44, 53, 61, 64, 74, 88); die Revolutionäre haben visionäre Bilder und Träume, die zum Teil in Büchern beschrieben sind (vgl. M, 23, 58) und die sie zu ihrer Revolution geftihrt haben und ihnen den Glauben an ihren Sieg verleihen (vgl. M, 87). Die Erwähnung von Texten, in welchen die Ideen und die Geschichte der Revolution aufgehoben sind, welche selbst wieder zum Auslöser der Revolution werden, kann dabei in Zusammenhang mit der sprachlichen Struktur des Textes Michel, sag ich gesetzt werden: die Wahrnehmungsunsicherheiten der Protagonistin, das Verschwimmen von Personen und Kontexten, die Parusie sowie die Bildlichkeit des Untergangs und das Zugleich von revolutionären Zielen, Rache-, Vernichtungs- und Erlösungsvorstellungen werden nicht nur thematisiert, sondern in der sprachlichen Form der Erzählung abzubilden versucht. Geht man vom Geschlecht der Figur und der Singularität des Ereignisses aus, könnte es sich um den Selbstmord von Ulrike Meinhofhandeln, die sich im Mai 1976 erhängte; die Veränderung der Todesart wäre dann innertextuell motiviert, da die Erzählung zugleich eine zweite Antizipation des Todes der Protagonistin darstellt, die am Roßplatz erschossen wird (erste Antizipation vgl. M,.9). Geht man von der Todesart aus, liegt eine Inversion des Geschlechts vor, da sich die Erzählung dann auf die Selbstmorde von Andreas Baader und Jan-earl Raspe im Oktober 1978 bezieht, die sich erschossen haben. Da in der ,verbotenen Geschichte' die Waffen eine Rolle spielen, handelt es sich wahrscheinlich um eine Konzentration dieser Selbstmorde zu einem paradigmatischen Fall, der sich auf die Protagonistin beziehen läßt.
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Andrea Geier dicht vorbei. Die schliefen oder machten bloß die Augen zu. Der Wer kannte sich aus und hatte einen zweiten Schlüssel von dem, den es nur einmal gab. (M,67f)
Dieser Abschnitt stützt nun gerade nicht die vorher behauptete Mordthese, denn dazu müßte man nicht nur die zweifachen Vagheitssignale übersehen (zweimaliges ,oder' bzgl. der Tageszeit und der Wächter), sondern sich auch daftir entscheiden zu glauben, daß die Wächter tatsächlich diesen anonymen Täter unterstützt haben und zugleich über den Widerspruch hinwegsehen, daß dieser Täter einen zweiten Schlüssel gehabt haben soll, den es explizit doch nur einmal gab - eine Tatsache, die der Text in kurzem Abstand sogar wiederholt und damit hervorhebt. Man müßte außerdem annehmen, daß diese Behauptung, es habe nur einen Schlüssel gegeben, selbst bereits Teil des· Komplotts ist, um den Mord später vertuschen und als Selbstmord ausgeben zu können. Davon kann aber nur geflüstert werden, weil es keinerlei Beweise gibt. 34 Es folgt die Schilderung des Mordes und das Auffinden der Toten: "Am nächsten hellichten Morgen hieß es, daß die Frau, die einmal lange Haare gehabt hatte, eine verbotene Waffe in einem Wandloch gehabt habe, und da sie den Verlust der langen Haare nicht länger ertragen habe, habe sie sich in den Kopf geschossen." (M, 68) Diese abschließende, völlig abstruse Erklärung läßt plötzlich die Mordthese wahrscheinlich erscheinen, denn warum sollte sich eine Frau umbringen, nur weil sie keine langen Haare mehr hat? Die Binnenerzählung enthält also paradoxe Signale, welche sowohl die Mord- als auch die Selbstmord-Version unglaubwürdig machen. Die ,wahre' Lösung muß offen bleiben. Dieser Mythos, in dem ein Schlüssel die entscheidende Rolle spielt, wird damit als die ,Schlüsselgeschichte' der Parabel erkennbar. Wie gezeigt, blendet der Text über die historischen Figuren zwar mehrfach exemplarische Kontexte ein, doch da diese Verweise eh<;r chiffrenartige Referenzen auf größere historische Zusammenhänge darstellen, müssen 34
Diese Darstellung bestätigt indirekt die Selbstmorderklärung, indem sie die Mordthese unglaubwürdig macht. Zur historischen Mordthese schreibt Gerhard Fels: "Die Grundthese war, die in Stammheim einsitzenden hätten sich nicht selbst umgebracht, sondern wären in ihren Zellen ermordet worden, also in einer Parallelaktion zu Mogadischu. Dabei dachte man [... ] an eine konspirative und von langer Hand vorbereitete Mordaktion mit staatlicher Billigung und Duldung durch das Wachpersonal. Die Basis dieses Verdachts lag in dem Unvermögen der Sympathisanten, einen Selbstmord ihrer Idole zu denken, und in ihrem abgründigen Haß auf den Staat." Gerhard Fels: Der Atifruhr der 68er - Zu den geistigen Grundlagen der Studentenbewegung und der RAF, Bonn 1998,261. Fels führt als Beispiel rur die Schwierigkeit, eine Mordthese zu begründen, die Waffen von Baader und Raspe an: "Obwohl man nachweisen konnte, wo und wann Christian Klar aus der 2. Generation der RAF die Waffen gekauft hatte, galt dieser Einwand aufgrund der eigenen Voraussetzungen nicht. Man konnte ja passieren lassen, was einem später nützlich war. Freilich bereitete der Gebrauch dieser Waffen durch vom Staat gedungene Mörder Schwierigkeiten. Neben dem Einverständnis des Bewachungspersonals setzte er die Kenntnis des Verstecks voraus. Die Gefangenen mußten auch vor der Tat narkotisiert worden sein, denn die Gerichtsmediziner hatten keine Anzeichen eines Kampfes entdecken können. [... ] So wurde eine Pyramide von Indizien aufgeschichtet, bei der jede Stufe aus komplizierten Hypothesen bestand, die nur deshalb gelten sollten, weil nicht sein konnte, was nicht sein sollte." (Ebd., 262.)
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sie von den RezipientInnen - je nach ideologischem Standpunkt und Wissen - nicht unbedingt alle als ambivalent erkannt oder empfunden werden. Bei der Anspielung auf die Geschehnisse in Stammheim ist eine, solche Glättung oder ein Ignorieren der Ambivalenz nicht möglich, da diese als abgeschlossene Geschichte, als ein ,Mythos' erzählt werden, der die kontroversen Deutungen, die bei den anderen Kontexten die RezipientInnen aus ihrem Weltwissen herantragen müssen, bereits selbst enthält. Die paradoxe Struktur dieses ,Mythos' muß daher zur Kenntnis genommen und kann zugleich nicht aufgelöst werden. Innerhalb der Parabel als ,global uneigentlichem Erzählzusammenhang'35 stellt die Binnenerzählung das zentrale Initialzeichen dar, das die Richtung des Bedeutungstransfers anzeigt und an das sich die anderen ,gleichgerichteten' (mehr oder weniger) ambivalenten Hinweise auf Revolutionen und Ideologien anschließen lassen. 36 Die Parabel bringt die ,Apokalypse' als Fonn der symbolischen Deutung geschichtlicher Ereignisse und Konfigurationen zur Darstellung und regt zur Reflexion der ihnen zugrundeliegenden ambivalenten und unausweichlich aporetischen Verhältnisse an, ohne eine Lehre, die wiederum nur ideologisch motiviert wäre, zu fixieren. Auch diese Deutung hebt natürlich die Deutungsoffenheit der Parabel37 in gewisser Weise auf, aber nur, um zu plausibilisieren, daß die Parabel Michel, sag ich gerade nicht in eindeutig ideologischer Weise als eine, so Paul Kersten, "parabolisch surrealistische Apotheose der gescheiterten revolutionären Studentenbewegung und ihrer anarchomilitanten Folgeerscheinungen, eine mystifizierende Verklärung der gescheiterten politischen Hoffnungen "38 vor dem Hintergrund eines apokalyptischem Szenariums gelesen werden kann. Im Ergebnis wird die Apokalypse in Michel, sag ich als symbolisches Deutungsmuster untenniniert: Der Text spielt mit den historischen und mythologischen Kontexten immer wieder neue Variationen des Scheiterns ein und stellt die ideologische Funktionalisierungsmöglichkeit39 der ,Apokalypse' für die Deutung der historischen Kontexte aus. Während von einer gelungenen Apokalypse als einmaligem Geschehen, das die Welt neu erschafft, erzählt wird, bringt der Text das Modell Apokalypse selbst zum Stillstand, indem er (
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Vgl. Rüdiger Zymner: Uneigentlichkeit - Studien zu Semantik und Geschichte der Parabel, Paderborn 1991,100. Zymner betont die Gleichgerichtetheit des Komplexes von impliziten Transfersignalen in einer Parabel, was sich hier im Hinblick auf die Ambivalenz als Merkmal aller eingeblendeten historischen Kontexte sehr schön deutlich machen läßt; vgl. Zymner: Uneigentlichkeit [Anm. 35], 94. Vgl. Zymner: Uneigentlichkeit [Anm. 35], 104. Kersten: "Orphea steigt hinab" [Anm. 29]. Paul Kersten urteilt daher: "Moderne Variation der Orpheus-Sage [... ] und visionäre Schau von Studentenrevolution und Terrorismus - das geht nicht zusammen." (Ebd.) Die ideologische Besetzbarkeit der Apokalypse hat Ulla Berkewicz weiter beschäftigt: so thematisiert sie in ihrem acht Jahre später erschienenen Roman Engel sind schwarz und we(ß (1992) apokalyptische Vorstellungen im Kontext des Nationalsozialismus.
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zeigt, daß es in jeder Wiederholung erneut scheitert - einer Wiederholung der Rede von der Apokalypse, die der literarische Text selbst darstellt.
III.
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Übergang((: Apokalypse als Sinnstiftungfür den Holo,caust
Die Titelerzählung ÜberganlO (1982) besetzt das Deutungsmuster Apokalypse doppelt: Es steht für einen katastrophischen Geschichtsverlauf ausgehend von der Shoah und zugleich fiir ein sich von daher fortsetzendes Geschehen der Vernichtung, das sich in der Gegenwart vollzieht und auf einen letzten Kampf zuläuft: Ich war gerade dreiunddreißig Jahre alt geworden, als ich mir endlich eingestehen konnte, was ich lange schon geschluckt hatte, nämlich daß es um Ausrottung ging. Die Spezies, zu der ich gehörte, kam zu allerletzt dran; es war zugleich die Spezies der Verantwortlichen. Die meisten unter ihnen wußten nicht einmal das. Auch ich war von kleinaufimmer vom Gegenteil ausgegangen. (Ü, 68; im Orig. kursiv)
Indem der Text als ,Verantwortliche' für die Ausrottung die Deutschen benennt - die Protagonistin ist Deutsche, im gleichen Textabschnitt ist von einer Hakenkreuzfahne die Rede, welche in der Nachkriegszeit zum Kleid umfunktioniert wird, der Film Nuit et Brouillard von Alain Resnais wird erwähnt41 - markiert er zugleich den Beginn der "Ausrottung": mit der Shoah 40
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Der Band Übergang besteht aus acht Erzählungen zu drei Blöcken; die Titelerzählung Übergang ist das erzählerische Zentrum des Bandes: Sie bildet als längste allein den zweiten Block und nimmt damit wie auch als vierte von acht Erzählungen die mittlere Position ein. Thematisch ist sie insbesondere mit der zweiten Erzählung Herz und Mund (Ü, 44-49) verbunden, welche sich als eine reduzierte Variation des Unfalls und seiner Folgen lesen läßt. Fast alle Erzählungen des Bandes weisen jedoch - sei es auf der sprachlichen Ebene oder der Bildlichkeit -.Verbindungen auf, zumeist über die Wiederholung bestimmter, für die Erzählungen signifikanter Wörter, Bildfelder oder Erfahrungen wie etwa ,Wahrnehmung', ,Terror', ,Auferstehung', das Bildfeld Mund/ schlucken, Qual/ Schmerz. Zwei kursiv gesetzte Abschnitte rahmen als eine Art Vor- und Nachwort die Erzählung und unterstützen damit zum einen formal den Zusammenhang aller Erzählungen, zum anderen wird die mittlere Erzählung hervorgehoben, .da sich auch hierin sieben weitere kursive Abschnitte finden, die für Kindheits- und Jugenderinnerungen oder allgemeiner zeitlich vorgängige Schilderungen und Reflexionen stehen, welche in die sonst chronologische Schilderung des Unfallhergangs, der Operation und des Heilungsprozesses eingeschoben sind (dagegen zeigen einzelne Kursivierungen von Wörtern oder Sätzen in den Texten jeweils Zitate an). Die Titelerzählung ist formal von den anderen Erzählungen auch dadurch abgesetzt, daß sie als einzige mehreren Personen gewidmet ist, womit ihr "autobiographienaher" Charakter (Alexander von Bormann: "Besetzt war sie, durch und durch (( - Traumatisienmg im Werk von Anne Duden, in: Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, hg. von Stephan Braese u.a., Frankfurt a. M. und New York 1998, 245-267, hier 255) unterstrichen wird. Die Autorin schreibt der Protagonistin eigene Erfahrungen ein: eine Kindheit mit dem Wechsel von Ost- nach Westdeutschland, eine Jugend im Nachkriegsdeutschland mit dem Film Nuit et BrouWard von Alain Resnais als der initialen Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus (Ü, 69) und nicht zuletzt einen Überfall in Berlin. Der Hinweis auf diese expliziten textuellen Markierungen ist wichtig, da die Kategorie der Verantwortlichkeit im Werk von Anne Duden eine solche spezifische Besetzung zumeist überschreitet und eher vor dem Hintergrund ihrer Beschäftigung mit der Philosophie von Emmanuel
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als "Zivilisationsbruch" (Dan Diner)42 beginnt eine Endzeit, die mit der Vernichtung der Verantwortlichen fur die Shoah zum Abschluß kommen wird. Die Protagonistin positioniert sich an dieser Stelle - es ist die erste Aktualisierung der Apokalypse als Vernichtungsvision - auf der Seite der Täter. Damit ist sie als eine typische Vertreterin der ,zweiten Generation' charakterisiert: Sie steht genealogisch auf seiten der Täter des Nationalsozialismus und hat sich moralisch fiir deren Taten zu verantworten, dabei leidet sie unter dieser schuldlos ererbten Täterschaft43 und muß daher zugleich als Opfer der Elterngeneration gesehen werden, die über diese Verbrechen schweigt und eine Normalität lebt, als ob es den Holocaust nie gegeben hätte. 44 Die folgenden Ausfiihrungen widmen sich der Verschiebung dieser Positionierung im Kontext eines Entwurfs von ,sekundärer Zeugenschaft'45 und L€vinas zu sehen ist; vgl. hierzu Anne Dudens Hinweis in ihrem poetologischen Vortrag Zungen~iferlose Mund des schreienden Schweigens - Paderborner Universitätsreden, hg. von Peter Freese, Paderborn 1996, 19 Vgl. Zivilisationsbruch - Denken nach Auschwitz, hg. von Dan Diner, Frankfurt a. M. 1988. Dan Diner begründet von der Tatsache dieses Zivilisationsbruches aus die Unmöglichkeit, ,Auschwitz' zu historisieren; dies müsse entweder in geschichtstheoretische Aporien oder in Apologien münden. Vgl. Dan Diner: Zwischen Aporie und Apologie - Über Grenzen der Historisierbarkeit des Nationalsozialismus, in: Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, hg. von dems., Frankfurta. M. 1987,62-73, hier 73. Übergang formuliert damit die Problematik einer Schuldfrage rur ,die deutsche Nation' und die Täternachfolgegenerationen, die sich in der Nachkriegszeit zwischen den Extremen von ,Kollektivschuld' und ,Schlußstrich' bewegte. Einen wichtigen Meilenstein in dieser Diskussion der 80er Jahre stellt die weltweit vielbeachtete Rede Richard von Weizsäckers zum vierzigsten Jahrestag der Befreiung Deutschlands am 8. Mai 1945 dar, in der er einer Kollektivschuld entgegentritt, aber zugleich Verantwortung und Erinnerung als unabdingbare Voraussetzung rur Versöhnung hervorhebt; vgl. Richard von Weizsäcker: Der 8. Mai 1945 - vierzigjahre danach, in: ders., Demokratische Leidenschcift - Reden des Bundespräsidenten, hg. und eingel. von Eberhard Jäckel, Stuttgart 1994, 39-56, insb. 44. Das mehrfach konnotierte Schweigen läßt sich mit Aleida Assmann als typisch rur die Verschiebung zwischen den Generationen lesen; die Elterngeneration wußte genau, worüber sie schwieg: "Aus dem kommunikativen Schweigen ist aber schon bald ein unkommunikatives, leeres Schweigen geworden, als diese Väter und Mütter starben. Und es ist heute keine Frage mehr, daß dieses Schweigen, das sie als negatives Vermächtnis weitergegeben haben, die nächste Generation belastet. Jene Generation, die ihre Identitäts-Umwandlung im Medium des Schweigens vollzogen hat, ließ ihre Kinder und Kindeskinder mit einem Vakuum zurück, das neue Identitätsprobleme schuf und jederzeit auch durch Projektionen und Angst aufgerullt werden kann." Aleida Assmann: Die Schlagworte der Debatte, in: dies. und Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit. Geschichtsversessenheit - Vom Umgang mit der deutschen Vergangenheit nach 1945, Stuttgart 1999, 53-96, hier 78. Der letzte Aspekt zeigt sich auch an der Protagonistin aus Übergang, die ihre Traumatisierung durch die verschwiegenen Verbrechen des Holocaust zu einer Angst um das eigene Leben wendet (vgl. weiter unten). Die sekundäre Zeugenschaft erörtert differenziert in ethischer wie darstellungs theoretischer Hinsicht Ulrich Baer: Einleitung, in: ,Niemand zeugtjiir den Zeugen' - Erinnenmgskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, hg. von Ulrich Baer, Frankfurt a. M. 2000, 7-31. Baer weist auf die Problematik sekundärer Zeugenschaft hin, hebt jedoch vor allem hervor, daß das Dogma der ,Authentizität' (d.h. primärer Zeugenschaft) zu einer Isolierung der Betroffenen ruhre (vgl. ebd., 19), während es doch um das Übernehmen von Verantwortung gehe: "Die Auseinandersetzung mit den Leiden der Vergangenheit und den Leiden anderer kann in verantwortlichem Handeln münden, statt in der unmöglichen Einruhlung und Identifikation mit den Toten, in Verdrängung,
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zeigen eine Opfer-Inszenierung der Protagonistin (u.a. unter christlichen Vorzeichen) auf, die im Hinblick auf den im Text kritisch thematisierten Nachkriegsdiskurs symbolisch besetzt ist; die Analyse problematisiert Effekte dieser Symbolisierung sowie der Kontextualisierung des Apokalypse-Modells, da der Text deren Implikationen nicht reflektiert. Ein Überfall in einer Berliner Kneipe, mit dem die Erzählung beginnt46 , ist Auslöser für Kindheitserinnerungen und eine Selbstreflexion der Protagonistin. Das gewaltsame Ereignis, bei dem zunächst der Bruder zusammengeschlagen wird und auf der Flucht mit dem Auto ein Stein durch die Windschutzscheibe geworfen wird, der den Kieferbereich der Protagonistin zerstört, deutet die Ich-Erzählerin vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen im Kriegs- und Nachkriegsdeutschland und im Kontext von allgegenwärtiger ,Ausrottung' und ,Vernichtung'.47 Dieses Geschehen trägt traumatischen Charakter, stellt jedoch zugleich den Endpunkt einer Entwicklung dar, die genau betrachtet zwischen zwei traumatischen Fixpunkten aufgespannt ist; das erste traumatisierende Ereignis kann damit als Initiationserlebnis der Protagonistin in ihre später Position gedeutet werden: Sie sah als Jugendliche - ebenso wie Anne Duden selbst48 - den Film Nuit et Brouillard von Alain Resnais. 49
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in politisch lähmendem Mitleid, in melancholischer Fixierung oder im stummen Entsetzen über die schockierende Fremdheit der traumatischen Erfahrung zu enden." (Ebd., 24f) Die oben verwendete vorsichtige Formulierung ist darauf zurückzuruhren, daß die Protagonistin zwar in sekundärer Zeugenschaft steht, wenn man die Verantwortung rur die Opfer betont, jedoch insofern nicht, als sie die Gewalt stellvertretend direkt am eigenen Leib erfährt und selbst traumatisiert ist. Zunächst wird der Bruder der Erzählerin von GIs in einer Kneipe zusammengeschlagen. Sie versucht, zusammen mit ihrem Freund und der Freundin ihres Bruders mit dem Auto zu fliehen. Im (zweiten) Krankenhaus findet eine Operation statt - mit der Feststellung eines Arztes ,ein Überfall also' wechselt die Perspektive zur Ich-Erzählung - und mehrere langwierige Behandlungen folgen. Elsbeth Dangel benennt richtig, daß ,,[alls Matrix rur den fortdauernden Krieg [00'] jeweils die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges" gelten; Elsbeth Dangel: Übergang und Ankunft - Positionen neuerer Frauenliteratur - Zu Anne Dudens "Übergang" und Verena Stifans " Wortgetreu ich triiume", in: Jahrbuch fiir Internationale Germanistik 22/2 (1991), 80-94, hier 88. Obwohl sie in ihrer Interpretation die Selbstinszenierung der Protagonistin als Opfer kritisch hervorhebt, erkennt sie nicht, daß in der Verquickung von Nachkriegsdiskurs und Opfer-Stilisierung die Problematik des Textes liegt. "Deutschland [00'] Ruinengrundstück und Trümmerhalde, Befehlszentrale und Massengrab, verschwiegen aufgebracht zu besichtigen, einmal in der Schule, durch Nacht und Nebel, den Film von Alain Resnais, ge- und verfolgt von den Kommentaren der Erwachsenen: ALLES NUR PROPAGANDA." Anne Duden: Zungengeu1ahrsam [Anm. 41], 20. "Auf ,den Holocaust reimen' lasse ich mich sicher nicht. Andererseits haben viele meiner Texte damit zu tun, bzw. sind viele meiner Texte in der Auseinandersetzung damit - bewußt oder unbewußt - entstanden. In jedem Fall ist der Nationalsozialismus und meine Beschäftigung damit ein Auslöser (unter anderen) meine Schreibens gewesen. [00'] Das Trauma des Überfalls damals in Berlih hat mich dann nur noch mehr sensibilisiert und radikalisiert rur die deutsche Geschichte. Zumindest hat es mir schlagartig (!) deutlich gemacht, daß das unsere Basis ist, von der sich fortzubewegen nur durch Auseinandersetzung damit geht. Im Grunde fängt bei mir das Trauma damit an, daß / als ich damals den Film von Resnais sah." Duden nach Bormann: "Besetzt war sie, durch und durch" [Anm. 40],252. "Im Mai 1955, zum 10. Jahrestag der Befreiung der deutschen Vernichtungslager durch alliierte Truppen, erhielt Resnais vom Comite d'Histoire de La Deportation de La Seconde Guerre Mondiale den
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Dieser Dokumentarfilm aus dem Jahr 1956 stellt als erster die Vernichtungsmaschinerie der nationalsozialistischen Konzentrationslager ins Zentrum; die filmische Technik wie der Einsatz von Musik spiegeln den Versuch, eine Distanz zu dem ungeheuren Verbrechen herzustellen, die eine falsche. Einftihlung in die Opfer verhindern, aber zu einer moralischen Haltung und durchaus auch zu einer emotionalen Beteiligung der RezipientInnen ruhren soll. 50 Die Protagonistin schildert ihre damalige Reaktion auf den Film: "Dann sah ich das Wegbaggern der Leichenberge in ,Nacht und Nebel' und wußte, wenn das einmal passiert ist, kaün es jederzeit wieder passieren, eigentlich allen, je nachdem. Auch mir." (Ü, 69) Das Trauma der vergangenen Vernichtung wandelt sich qua Identifikation mit den Opfern zur direkten Bedrohung durch die Wiederholung in der Gegenwart, und die Protagonistin markiert sich selbst als potentielles Opfer. Diese Identifikation wird in der Jugend somatisch vollzogen: Der Körper der Protagonistin wird zum Sammelbecken rur die verschwiegenen Verbrechen und rur alle Erfahrungen und Leiden, ftir die es in der aufstrebenden N achkriegsgesellschaft keinen Ort gibt. Die Protagonistin als Angehörige der zweiten Generation wird in einer Art sekundärer Zeugenschaft gezeigt: Sie rückt den Holocaust nicht als geschichtliche Tatsache in Distanz, sondern scheint zu ihm als einem unmittelbaren, emotionalen Erleben Zugang zu haben. 51 Dieses
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Auftrag, darüber einen Dokumentarfilm herzustellen." Albrecht Dümling: Musikalischer Kontrapunkt zur filmischen Darstellung des Schreckens - Hanns Eislers Musik zu ,Nuit et Brouillard' von Alain Resnais, in: Kunst und Literatur nach Auschwitz, hg. von Manuel Köppen, Berlin 1993, 11-123, hier 116. Den Text zum Film Nuit et Brouillard schrieb der Dichter Jean Cayrol, die Musik komponierte Hanns Eisler. Die deutsche Textfassung stammt von Paul Celan. Dümling und Erwin Leiser schildern, daß der Film ursprünglich in Cannes (1956) uraufgefiihrt werden sollte, aber die deutsche Regierung erfolgreich Einspruch erhob; er wurde dann zwei Monate später auf den Internationalen Filmfestspielen in Berlin gezeigt. Vgl. Dümling: Musikalischer Kontrapunkt, 122[; Erwin Leiser: Holocaust und Film, in: Fünfzig Jahre danach - Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus, hg. von Sigrid Weigel und Birgit Erdle, Zürich 1996 (= Zürcher Hochschulforum; Bd. 23),91-115, hier 100. Leiser hat im übrigen den schwedischen Text zu Nuit et Brouillard geschrieben; vgl. Dümling: Musikalischer Kontrapunkt, 122, Anm. 37. Albrecht Dümling hebt am Film von Resnais den Versuch hervor, sich der Distanz zu der Vernichtung bewußt zu sein; vgl. Dümling: Musikalischer Kontrapunkt [Anm. 499], 116. Vgl. dazu auch Alain Resnais u. Edouard Pfrimmer: Für Hanns Eisler, in: Hanns Eisler, Sinn und Form SonderheJt, Berlin 1964, 371-375. Allerdings ist der Text gerade am Ende des Films nicht unbedingt dazu angetan, diese Intention von Resnais zu bestärken, denn dort finden sich stark pathetisch gefärbte ,Seid wachsam!' und ,Nie wieder!'-Appelle: "Der Krieg schlummert nur. [... ] die Nazimethoden sind aus der Mode. [... ]. Wer von uns wacht hier und warnt uns, wenn die neuen Henker kommen? Haben sie wirklich ein anderes Gesicht als wir?" Jean Cayrol: Nacht und Nebel - Kommentar zum Film von Alain Resnais, in: Dein aschenes Haar Sulamith - Dichtung über den Holocaust, hg. von Dieter Lamping. München 1992, 11-20, hier 20. Die Identifikation der Protagonistin mit den Opfern (als Wechsel in der Genealogie; siehe unten) ist so deutlich gezeichnet, daß es verwundert, wenn man bei Klaus Briegleb liest, daß Übergang zwar im Kontext einer Literatur anzusiedeln sei, die Unmittelbarkeit zum Verbrechen des Holocaust herstellen möchte, aber der Text sich bewußt sei, daß dies nicht über Identifikation geschehen könne: "Mit kalter Strenge ist die Einsicht vermittelt, daß gegenwärtige Erfahrung von Gewalt durch Erinnerung des Phänomens, nicht durch Identifikation mit den Opfern der Ausrot-
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,Aufbewahren' faßt der Text in das Bild des Schluckens: "Der Vakuummund wurde zum wichtigsten Organ. Er lernte nur eines: aufzunehmen und nach innen wegzuschlucken. "52 (Ü, 70) Das junge Mädchen kann diese Erfahrungen nicht mitteilen, der Widerspruch zwischen dem Leiden in ihm und dem Schein der Normalität, den es aufrechterhält53 , ist unüberwindbar. Die Protagonistin, die mit einem Blick "wie eine Axt: spaltend und unerbittlich" (Ü, 7) ihre Gegenwart und die daraus verdrängten Leiden und Opfer wahrnimmt, verlagert so den ,Krieg' des Alltags in ihren Körper. 54 Der Überfall wird von der Protagonistin als Befreiung empfunden, da er den Übergang in ein neues Leben zu ermöglichen scheint: Wissen und Fühlen können kongruent werden, die schöne Fassade des Körpers ist zerstört, die unsichtbare Qual, die
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tungsmaschinerie ,Auschwitz' ihren Zusammenhang bekommt." Klaus Briegleb: Der Weg in die absolute Prosa - Peter Weiss, Anne Duden, in: Gegenwartsliteratur seit 1968, hg. von Klaus Briegleb und Sigrid Weigel, München und Wien 1992 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart; 12), 140-150, hier 145. Brieglebs Aussage ist isoliert auf das Reflexionen und Erinnerungen auslösende Ereignis des Überfalls bezogen richtig, das aber den Endpunkt einer Entwicklung seit der Jugend markiert, fUr die klar das Moment der Identifikation im Vordergrund steht. Dies zeigt sich insbesondere im Mechanismus des ,Schluckens' der Verbrechen und Erinnerungen wie auch in der Opfer-Stilisierung, die über den Film von Alain Resnais als ebenfalls traumatischer Erfahrung erst in Gang gesetzt werden. Identifikation und Stellvertretung stellen damit die entscheidenden Modi im Umgang mit den Opfern des Holocaust dar. Das Geschluckte formt sich inwendig zu einer "Grammatik einer schwerzungigen, nicht zu sich kommenden Sprache, einer Sprache im Traumzustand, jenseits der Sinn- und Formenschwelle. " (Ü, 70) Anne Duden stellt dieses Motiv des Schluckens als autobiographisch dar und zieht zugleich eine Entwicklungslinie vom ,Schlucken' zum Schreiben, d.h. der dann ,zu sich kommenden Sprache'; im Anschluß an die Schilderung von Kindheitserlebnissen in Deutschland schreibt sie: "Eine unsichtbare Hinterlassenschaft, ein ungreifbares Erbe, das nur durch eins einzuholen sein würde, einzuklagen, einzuheimsen, einzufordern: durch Schreiben. Ich war elfJahre alt und an Schreiben war gar nicht zu denken. Also wurde zunächst gesammelt, geschluckt. Schreiben war schlucken. Schluckgebot." Duden: Zungengewahrsam [Anm. 488,21. Die Anpassung und Kontrolle des eigenen ,Erscheinungsbildes' sind Voraussetzungen fUr den scheiternden - Versuch der Protagonistin, doch noch ,Anschluß' an die Gesellschaft zu finden und das "Glück" als das wichtigste gesellschaftliche Ziel des Lebens zu greifen; (vgl. Ü, 81). Die Jugendliche ist daher zunächst selbst darum bemüht, die ,schöne Fassade' ihres Erscheinungsbildes aufrechtzuerhalten und den Widerspruch auszuhalten, (vgl. Ü, 81). Wie stark dieser Druck zur Anpassung ist, zeigt sich noch in der Auseinandersetzung mit dem Überfall. Mit dem Fortschritt der Heilung wundert sich die Protagonistin, warum sie das Geschehene einfach nicht fassen und ihre Angst nicht bezwingen kann; sie versucht, sich an den rational klingenden Beschreibungen ihrer Verletzung zu orientieren, ihren Schmerz und das Geschehene zu objektivieren und sich wieder einzugliedern: "Ich brauchte Hilfe, wußte nicht, welche. Ich wurde gut versorgt, das Krankenhaus war erstklassig, jeder hatte es mir gesagt. Mir war nichts weiter passiert als eine Gesichtsverletzung in relativ jungem Alter. Ich würde - nach allgemeiner Erfahrung in einiger Zeit - so aussehen wie vorher." (Ü, 89) - "Vor dem dritten Ambulanztermin war ich entschlossen, wieder normal zu werden." (Ü, 99) Die Protagonistin konstatiert verwundert die vielen ,Ausnahmen'; da der Krieg nicht wahrgenommen wird, werden das Versagen und die Verletzungen von Personen individualisiert. Diese Verschiebung markiert der Text auch sprachlich (Ü, 76; im Orig. kurs., Auszeichnung von mir; A.G.): "Draußen der Krieg, über den niemand ein Wort verlor, den niemand als solchen bezeichnete. [... ] Ich der Krieg, weil ich iiberall Dinge sah, die die anderen gar nicht wahrzunehmen schienen, die also nicht da waren."
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bisher sorgsam versteckten "Zerrüttungsmerkmale" (Ü, 81) an ihm sichtbar geworden. 55 Der verletzte Körper ist lesbares Zeichen fiir das Leiden der Protagonistin und kann damit endlich Zeugnis vom bislang im Körper eingeschlossenen Leiden der Opfer geben. Die Befreiung wird jedoch sofort zurückgenommen durch die (unvermeidliche) ärztliche Behandlung, welche den Kiefer über eingesetzte Schienen, die verdrahtet werden, verschließt. 56 Der Körper und das Nicht-Sprechen-Können der Protagonistin sind in zweifacher Weise symbolisch besetzt: Als Aufbewahrungsraum der von der Elterngeneration verschwiegenen Verbrechen des Nationalsozialismus ist der Körper ein Gedächtnis-Grab fiir die Opfer der Geschichte. Der zerstörte Mund nach dem Überfall stellt einen sichtbaren Beweis des bisher einsam und isoliert empfundenen Leidens dar und läßt die Protagonistin als Opfer sichtbar werden, weshalb sie dieses Ereignis als Befreiung interpretiert. Das Verschließen des Mundes nach dem Überfall macht sie erneut zum Opfer, da diese Heilung die inwendigen Zerstörungen erneut verdeckt und sie daran hindert, über ihre Qual zu sprechen. 57 Dieses erzwungene Schweigen wiederholt ihre Sprachlosigkeit vor dem Unfall und verweist damit wiederum auf die Leiden der stummen Opfer in der Geschichte. Ambivalent erscheint in diesem Kontext der mimetische Charakter des symbolisch besetzten Vorgangs des ,Schluckens' im Hiftblick auf das Verschweigen der Verbrechen in der Nachkriegsgesellschaft. Das Geschluckte, das keiner Artikulation zugänglich ist, wiederholt den Effekt des Verschweigens und Verdrängens. Im Bild des Schluckens zeigt sich die schwierige Positionierung der Protagonistin: Ihr Opfer-Status ist über mehrere Stationen ihrer Jugend mehrfach bestätigt und
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"Das Loch, das Maul sollte mir gestopft werden, kaum, daß es aufgerissen worden war. Dabei konnte ich doch von Glück sagen, daß nun endlich auch meine Anatomie einen Knacks bekommen hatte, daß der Körper aufzuholen beginnen konnte, was bis dahin allein meinem Gehirnkopf vorbehalten war, nämlich dem grenzenlosen Chaos der Welt auf allen Schleichwegen und überallhin zu folgen, wo es sich bemerkbar machte, es also auch in mich einbrechen und in mir wüten zu lassen. Im Grund war ich erleichtert. [... ] Ich spürte deutlich, daß Großes, ja Bedeutungsvolles geschehen war. Etwas, das die Kraft hatte, mich aus diesem Leben in Schönheit - des Körpers und des Verstandes - endgültig, das heißt auch physisch nachweisbar, rauszuwerfen. Der Terror würde nachlassen in dem Maße, wie das Kaputte nicht zu flicken und die Unversehrtheit nicht wiederherzustellen war." (Ü, 67f) Mehrmals heißt es im Text, daß die Protagonistin nicht selbst sprechen kann, sondern nur stöhnen, so daß beispielsweise der Bruder fiir sie spricht; (vgl. Ü, 66, 82). Die Protagonistin fiihlt sich in ihrem Körper wie in einem Kerker und hat ständig Angst, zu erbrechen - was nicht nur auf die Übelkeit zu beziehen ist, sondern auch auf die ,gegessenen' Toten / ,Leichenberge' . Während die Protagonistin vorher immer nur ,schlucken' konnte, muß sie sich nun dazu zwingen, nicht zu erbrechen; die metaphorische Rede betont das Moment des Reflexhaften, gegen das die Protagonistin mit starkem Willen anzukämpfen sucht; vgl. Ü,93. Mit der Heilung wird wiederum die schöne Fassade hergestellt. "The procedure of wiring the mouth can also be read as a (failed) attempt at reconstructing woman (in a dual sense) by removing the visible traces of violence from her body through violent reconstructing of this body." Annette Meusinger: The Wired Mouth - On the Positionality cif Perception in Anne Duden's "Opening f.!f the Mouth" and "DasJudasschqf', in: Wornen in German Yearbook 13 (1997),189-203, hier 191.
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sie erfüllt eine Stellvertreterfunktion, zugleich zählt sie sich jedoch zur "Spezies der Verantwortlichen" (Ü, 68). Indem sich die Protagonistin zum Gedächtnisort der Toten macht, wechselt sie implizit gewissermaßen die Genealogie. 58 Die Identifikation mit den Opfern und die Stellvertreterposition bieten in diesem ,Dilemma' moralische Sicherheit und lassen sich auch als Flucht vor der übergroßen Schuld und Verantwortung lesen, als der Versuch, dieser tragischen Situation auszuweichen. Dies gelingt jedoch nicht vollständig, da noch das Aufbewahren des Verdrängten den Mechanismus der Verdrängung mimetisch wiederholt und das schweigende Gedächtnis ungewollt eine Entlastungsfunktion in der Gesellschaft einnimmt: "Und ich war wie eine Tafel, auf der ununterbrochen geschrieben wird, aber nie ein einziger Buchstabe stehenbleibt und nachzulesen ist: der Körper das unbeschriebene Blatt. Beweis fur das Verschwinden von Kriegen." (Ü, 77) Der Überfall bildet den Abschluß einer Entwicklung, die mit dem Trauma des Films als Initiation in die OpferHaltung begann, in somatischer Identifizierung zu einer Opfer-Stellvertretung wurde (welche jedoch noch Züge der ambivalenten Positionierung erkennen ließ), um schließlich im Überfallgeschehen (das eine eindeutige Opfer-Position bestätigte) seinen Abschluß zu finden. Der Überfall ist daher als symbolischer ,Schlußpunkt' deutbar, welche die Strafe fur die Zugehörigkeit zu den Tätern vollzieht und die Protagonistin aus ihrer enterbten Schuld entläßt. In diesem Kontext läßt sich die Christus-Identifikation - "Ich war gerade dreiunddreißig Jahre alt geworden" - als Allusion an die Passion Christi deuten, deren wichtigste Stationen (im Kontext von Schuld und Erlösung) der Text damit bezeichnet hat. Die Sakralisierung der Opfer-Positionierung drückt sich zudem in einem Prophetenstatus aus: Die Protagonistin besitzt ein privilegiertes Wissen über Vernichtung und ,Ausrottung' als geschichtlichem Verlauf und sieht das Ende voraus. Im christlichen Kontext erhält ihr Leiden - vor dem Überfall sowie aufgrund des Überfalls selbst - den Anschein einer Bestimmung, vor der sie nicht mehr die Augen verschließen kann; ihr ist ein Wissen aufgegeben, welches in ihr eingeschlossen war und wiederum gewaltsam eingeschlossen bleibt. 59 Aufgrund dieses Wissen ist sie in der Gegenwart isoliert und schon 58
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Vgl. zum genealogischen Aspekt die Arbeit von Anita Eckstaedt: Nationalsozialismus in der ,zweiten Generation' - Psychologie von Hörigkeitsverhältnissen, Frankfurt a. M. 1989. Auf ihre Studie bezieht sich insbesondere auch Sigrid Weigel mit ihrem Aufsatz Telescopage im Unbewt!ßten - Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegrfff und Literatur, in: Trauma - Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, hg. von Elisabeth Bronfen, Birgit R. Erdle und Sigrid Weigel, Köln 1999 (= Literatur - Kultur - Geschlecht; kl. Reihe; Bd. 14), 51-76. Weigel behandelt dort die Frage der Traumatisierung der zweiten Generation auf seiten der Opfer wie der Täter. Elsbeth Dangel bezieht sich in eben dieser Weise auf die Protagonistin als ,christologische Leidensfigur' und problematisiert die Inszenierung als Opfer: "Obwohl sich der Text ständig selbst kommentiert, haben seine kritischen Reflexionen eine Grenze an dieser Totalisierung der Opferhaltung. Er suggeriert vielmehr seine Wahrnehmungsperspektive als die sensiblere und insgeheim überlegene und lädt zur Identifikation ein." Dangel: Übergang und Ankunft [Anm. 477], 90.
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nicht mehr von ,dieser' Welt, wofiir der Text wiederholt das Bild des nichtgelingenden ,Anschlusses' an die Wirklichkeit wählt. Der nachgezeichnete Wechsel in der Genealogie mündet schließlich in eine apokalyptische Vision, in der sich die Protagonistin jenseits von Geschichte ansiedelt. Bevor ich jedoch zu dieser zweiten, ftir die Apokalypse-Vorstellung zentralen Textstelle komme, möchte ich zunächst nochmals auf die symbolische Besetzung der individuellen Opfer-Inszenierung60 sowie des Überfallgeschehens im Hinblick auf die Nachkriegszeit eingehen, die ein genauerer Blick auf das Textverfahren erschließen kann. Die Erzählung strukturiert sich über ein semantisches Netz, das durch die Wiederholung von Wörtern in neuen Kontexten und insbesondere das Changieren zwischen wörtlicher und metaphorischer Bedeutung eines Begriffes hergestellt wird. 61 Meine These ist, daß der Text nicht reflektiert, daß sich bei den ,Wiederholungen' die Semantik einzelner Wörtern entscheidend verändert. Der Nachweis, daß das Textverfahren problematische Folgen zeitigt, betrifft dabei auch die Motivation ftir die apokalyptischen Vorstellungen der endgültigen Vernichtung. Ausgangspunkt rur meine Darstellung ist nochmals die Frage, um welche Toten welcher Verbrechen es sich denn genau handelt, die die Protagonistin ,schlucken' muß. Zunächst drängt sich - wie bereits dargestellt - eindeutig das Verbrechen des Holocaust als Deutung auf Dies geht aus der Fonnulierung der ,nie-wieder-gut-zu-machenden' Verbrechen hervor (vgl. Ü, 80), aus der konkreten 60
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Die Tendenz der Forschung, generalisierend von der ,Schreibweise' Anne Dudens zu sprechen, da sich offensichtlich gleiche Themenkomplexe auch sprachlich in mehreren Erzählungen in ähnlicher Weise wiederfinden, verführt dazu, signifikante Unterschiede zu übersehen. So beschreibt etwa Sigrid Weigel die Protagonistin in Übergang als ein passives Opfer: "Diese hat, ebenso wie die Person im ,Judas schaf , den Charakter einer Wahrnehmenden, mit deren Tätigkeit keine Erinnerungsmodi oder Geschichtsspuren in ihrer Umgebung korrespondieren, so daß sie selbst, ihr Körper zum Gedächtnisorgan und zum Ort wird, an dem das Verdrängte verzeichnet ist und sie umtreibt, ihr keine Ruhe gönnt.'~ Sigrid Weigel: "Es ist immer Krieg" - Zum anderen Kriegsbegrflfin der literarischen Kritik von Frauen, in: dies., Bilder des kulturellen Gedächtnisses - Beiträge zur Gegenwartsliteratur, Dülrnen-Hiddingsel 1994, 135-162, hier 158. Weigel spricht, "insbesondere" für den BandJudasschcif, vom "Nicht-Anders-Können" der Figuren Dudens; vgl. ebd., 159. Zwischen den beiden Texten Dudens bestehen jedoch entscheidende Unterschiede in der Subjektpositionierung, die in Übergang als eine recht aktive Opfer-Inszenierung erscheint, sowie in der symbolischen Besetzung der erzählten Ereignisse und der Traumatisierung, die in dasJudasschqf als existentielle Signatur entworfen ist und sich nicht mit einem Modus der Identifikation verbindet. Dieses Verfahren erscheint unproblematisch, wenn es etwa die Rede von der ,Mauer' betrifft, die ich hier als ein Beispiel herausgreife. Dieser Ausdruck findet sich zum einen angewandt auf die Mauer aus Leibern der Angreifer, durch die die Flüchtenden ,hindurchmüssen' (Ü, 63), die ,Mauerlosigkeit' bezeichnet das Gefühl der Befreiung nach dem Überfall (Ü, 68), der Ausdruck ,durch-etwas-hindurchmüssen' wird im Hinblick auf das Warten vor der Operation angewandt (Ü, 70), die Musik hat die Eigenschaft, durch ,Mauern und Wände' hindurchzugehen (Ü, 74), die Qual ist wie eine Mauer, über welche die Protagonistin nicht hinweg kann (Ü, 87), das Geschehen liegt wie eine dunkle, drohende ,Wand' auf ihr (Ü, 89), am Ende fühlt sie sich isoliert in ihrem Hinterhof-Gebäude: "Nur Zuheit, Schluß, Ende. Eine Mauer hinter und vor der anderen." (Ü, 103)
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Zeitlichkeit des Nachkriegsdeutschland und aus der Nennung des Fihns Nuit et Brouillard. Die in diesem Zusammenhang bereits erwähnten ,Leichenberge' der Holocaust-Opfer nimmt eine nachfolgende Passage auf; die Erzählerin spricht wiederum von ihrem Schlucken: "Eine nie endende Arbeit, die aber nichts Tätiges war. Es war eine Form der Bereinigung, ein -Platzmachen, allerdings immer nur wieder fur das Alte, den Krieg und die Ausrottung. Ich schluckte ganze Schlachten weg, Leichenberge von Besiegten. Für einen Moment von Frieden, der nie eintrat." (Ü, 77) Zwei Worte werden in diesem Abschnitt in direkter Wiederholung (vgl. Ü, 68f) aufgenommen: ,Leichenberge' und ,Ausrottung'. Lassen sich Krieg und Ausrottung zunächst als zwei semantisch unterschiedene Worte lesen, von denen allein Ausrottung die Shoah bezeichnen könnte wie in der Referenzstelle, macht der Fortgang des Zitats deutlich, daß beide zusammen mit dem Begriff ,Schlacht' als sinnverwandte Worte aufgefaßt werden sollen: Denn das Wort ,Leichenberge', das an der Referenzstelle die Opfer der Shoah bezeichnet, wird umstandslos von dieser ,Ausrottung' auf ,Schlachten' und ,Kämpfen' verschoben, wobei die Opfer semantisch folgerichtig als ,Besiegte' bezeichnet werden. Sowohl Schlacht wie Besiegte sind jedoch Worte, die sich nicht auf die Holocaust-Opfer beziehen lassen. Aleida Assmann konstatiert im Kontext der Frage nach dem kollektiven Gedächtnis' klar die Differenz 62 : "Während Verlierer (sprich: Besiegte; A.G.) Teilnehmer von Kriegshandlungen sind, gibt es fur Opfer keine auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhenden Voraussetzungen." Tatsächlich rahmt die zitierte Passage die Schilderung eines Kampfes im Alltag: "Die Menschen, die täglich zur Arbeit gingen, waren bereits erledigt" (Ü, 76), heißt es kurz zuvor in derselben Passage und danach: "Daß dieser Mund kaum einmal stillstand, daß ich auch sie immer wieder verputzte, ihre Migränen, Kotzanfälle und Krampfadern, ih~e Niederlagen und Traurigkeiten, die Blässe ihrer Gesichter und die Schweißfuße am Abend. Daß ich wegsteckte, was sie eingesteckt hatten." (Ü, 77) Die ,Leichenberge' , die der Text wiederaufuimmt, sind also in diesem Abschnitt nicht mehr die toten und verleugneten Opfer der Shoah und damit einer konkreten ,Ausrottung', sondern metaphorische ,Leichenberge' - die Opfer entstammen der Nachkriegszeit. Die ,Aktualisierung' des Bildes von der ,Vernichtung' der Shoah und die Verschiebung zu einer sich fortsetzenden Vernichtung als ,Krieg' im Alltag63 kann man als wörtliche Anknüpfung an
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Aleida Assmann: 1998 - Zwischen Geschichte find Gedächtnis, in: Geschichtsvergessenheit. Geschichtsversessenheit [Anm. 44], 21-52, hier 44. Es findet sich eine weitere Wiederaufuahme der ,Leichenberge' , die hier zwar insofern nicht metaphorisch ist, als sie tatsächliche Leichen meint, aber auch eine Übertragung mit relativierender Tendenz hinsichtlich der Opfer enthält, da diesmal die Protagonistin als "Massengrab" tote Tiere aufgenommen hat (Ü, 94): "Ich war lange nicht mehr auf der Autobahn gewesen. Alle paar Meter ein frisch zermatschtes Tier. [... ] Ein stündlicher, minütlicher, sekündlicher Krieg, ein
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den Schluß des Fihns Nuit et Brouillard lesen, der mit einem Appell an die Wachsamkeit endet: "Der Krieg schlummert nur." Vor allem aber ist er als Versuch lesbar, Gründe fur den Holocaust zu benennen. Übergang fragt danach, wie es zu diesen Verbrechen und zum verfehlten Umgang damit kommen konnte, d.h. dem Verschweigen der Verbrechen und der Leugnung der Schuld in der Nachkriegszeit. Er legt eine Antwort nahe, indem er mehrmals die Oberflächlichkeit und den Zynismus der Ärzte darstellt, welche die Protagonistin nach dem Überfall als Material behandeln 64 und nicht als Mensch wahrnehmen. 65 Die historische Distanz zur zynischen Rede vom ,Menschenmaterial' im Nationalsozialismus, zur bürokratischen Organisation des Terrors in den Arbeits- und Vernichtungslagern, der die Menschen danach einteilte, ob sie noch nützlich sein konnten oder gleich vernichtet wurden, ist aufgehoben. Angedeutet ist damit, daß es augenscheinlich nie einen Bruch mit dieser Vernichtungslogik66 gegeben hat, und daher wird eine Kontinuität der Shoah in der Gegenwart behauptet, welche die Protagonistin - sowohl wörtlich wie metaphorisch - als ,Krieg' bezeichnet. 67 Diesen ,Krieg'
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Ausrottungsprogramm, das läuft wie geschmiert. [... ]. Zum Schluß, als wir abends in Bozen ankamen, war ich ein einziges großes Massengrab." Es ist auch einmal explizit von "Materialbrocken" d,ie Rede; vgl. Ü, 101. "Umständlich tastete der Arzt Gesicht und Schädel ab. Er sah ihr nicht ein einziges Mal in die Augen, auch nicht, als er sagte: Ja, der Kiefer ist gebrochen." (Ü, 66): "Mein Anästnesiearzt. Er gehört zu ihnen. Sie wollen mich umbringen. ! Sie dürfen nicht, ich habe Jodallergien. ! Ja, ja, ich passe auf Sie auf Er lächelte sanft. Es ist alles okay.! Okay. Er bringt mich um. Okay." (Ü, 71): "Der Arzt trat hinzu. Sie werden so aussehen wie früher, darüber machen Sie sich mal keine Gedanken. Dabei blickte er auf meine Brustwarzen [... ]." (Ü, 85) Vgl. außerdem Ü, 91f, 95,101. Vgl. zur Debatte um die moderne Rationalität als Erklärung fur das Verbrechen des Holocaust (in der Nachfolge der breit diskutierten Studie von Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992) den Aufsatz von Michael Schäfer: Die Rationalität, die Moderne und der Holocaust, in: Genozid und Moderne I: Strukturen kollektiver Gewalt im 20. Jahrhundert, hg. von Mihran Dabag und Kristin Platt, Opladen 1998, 100-122. Schäfer versucht mit Hilfe der Webersehen Typologie verschiedener ,Rationalitäten' Differenzierungen vorzunehmen und kommt zu dem Schluß, daß die Vernichtungslogik mit den Begriffen der Mittelrationalität und der Wertrationalität beschrieben werden kann: "Diese Strukturgleichheit [der bei den Begriffe; A.G.] drückt sich in der gleichsam rechtsstaatlieh enthobenen, unkontrollierten und ungehemmten nationalsozialistischen Herrschaft dann auch darin aus, daß sowohl Instrumentalität als auch Wertrationalität dort irrational werden, wo sie ohne berechnende Rücksicht auf die Folgen und die Blockade gegenüber anderen Möglichkeiten in der Verabsolutienmg ihrer Mittel bzw. Eigenwerte [Ideologie; A.G.] [... ] verharren." (Ebd., 118f) Der Gedanke, daß der Holocaust ,immer-noch-stattfindet', enthält zwei unterschiedliche Komponenten: Zum einen speist er sich aus der fortdauernden gleichen Vernichtungs logik wie auch aus der vorher erwähnten Positionierung des Textsubjekts als Angehörige der Täternachfolgegeneration, die Opfer der Gewalt in den Täterfamilien wurden. Die Frage, ob durch das Denken einer Kontinuität der Holocaust relativiert wird, läßt sich sicher nicht pauschal beantworten. So findet sich etwa die Rede vom Alltagskrieg und der Vernichtungslogik in der Nachkriegszeit prominent im Werk von Ingeborg Bachmann. Sigrid Weigel erkennt darin ein zentrales Moment der Literatur von Frauen seit 1945: "Mit ihrer Diagnose eines permanenten Gewaltzustandes ist Bachmann nicht allein geblieben. In der Literatur von Frauen, die seit Ende des ,Zweiten Weltkrieges' entstanden ist, begegnet immer wieder dieses Motiv, das dabei nicht selten mit derselben geschlechtsspezifischen Dramaturgie und Logik verbunden ist wie in ihrer
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als fortgesetzte Vernichtung faßt der Text in ein apokalyptisches Modell des Untergangs einer sich allmählich vollendenden Endzeit. Daher werden auch die - offensichtlich mit einer anderen Wertigkeit anzusetzenden - Mühen des Alltags im Muster dieses Kriegsgeschehens dargestellt, gehören sie doch zur allgegenwärtigen Verdrängung: Im Wiederaufbau der N achkrie'gsgesellschaft hat die Erinnerung, hat ein Gedenken an die Opfer keinen Ort, die Leiden der Bevölkerung legen sich gewissermaßen als eine neue Schicht der ,Kriegstoten' auf die vergessenen Opfer. Übergang thematisiert über die Protagonistin als stellvertretendem Opfer für die verdrängten Opfer der Shoah eine Kritik des Nachkriegsdiskurses. Zugleich aber desavouiert das Textverfahren dieses Anliegen, da sich im Umschwung von der wörtlichen zur metaphorischen Bedeutung der ,Leichenberge' ein für die Wirkung und Aussage des Textes verhängnisvoller Relativismus abzeichnet. In dieser Unterschiede nivellierende Rede von ,Opfern' kristallisiert sich das Dilemma des Textes, welches noch verstärkt wird, wenn man nach der überindividuellen Bedeutung des Überfalls fragt. Dieser ist ebenso wie das Leiden und die Verletzungen der Protagonistin vor und nach dem Überfall- wie bereits gezeigt - symbolisch besetzt. Die Symbolik erschließt sich über ein Detail: der Überfall auf die Gruppe junger Deutscher wird von schwarzen GIs begangen 68 , d.h. Soldaten der ehe-
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Literatur." Weigel: "Es ist immer Krieg" [Anm.60], 142. Wenn die Redeweise vom ,Krieg im Alltag' und der Vernichtungs logik in Übergang im vorliegenden Aufsatz problematisiert wird, dann geschieht dies aufgrund des spezifischen Textverfahrens und der damit einhergehenden symbolischen Besetzungen. Dies sei erläuternd angemerkt, um dem Mißverständnis vorzubeugen, es handle sich um die generelle Kritik an einer Darstellung, die im Zusammenhang mit dem Holocaust auch die Leiden der Täternachfolgegeneration thematisiert. Das Motiv der schwarzen GIs hat Anlaß zu einer heftigen Debatte um rassistische Diskurse in den Texten Anne Dudens gegeben, die von Leslie A. Adelson angestoßen wurde. Es ist zwar unbestritten, wie neben Sigrid Weigel unter anderem Franziska Frei Gerlach hervorgehoben hat, daß in den Texten Anne Dudens schwarz/ dunkel einerseits metonymisch fur Bedrohung steht und in dem gesamten Erzählband auch positive Konnotationen erhält; vgl. Franziska Frei Gerlach: Schrift
und Geschlecht - Feministische Entwürfe und Lektiiren von Marlen HaushC?fer, Ingeborg Bachmann und Anne Duden, Berlin 1998 (= Geschlechterdifferenz & Literatur; 8), 327, Anm. 64; dies betont neben Andrea Allerkamp (vgl. dies: Die Wiederherstellung des zerstörten Körpers - Anne Duden und Libuse Mon{kova, in: dies., Die innere Kolonialisienmg - Bilder und Darstellungen des/der Anderen in deutschsprachigen, französischen und Cifrikanischen Literaturen des 20. Jahrhunderts, Köln 1991, 35-44, hier 41) im übrigen auch Leslie Adelson selbst. Ich stimme jedoch Adelson zu, daß die im Verlauf des Textes erfolgende Umcodierung von Schwärze die wörtliche Bedeutung nicht einfach aufhebt; vgl. Leslie A. Adelson: Anne Duden 's )) Übergang" - Racism and Feminist Aesthetics: A Provocation, in: dies., Making Bodies, Making History - Feminism and German Identity, Lincoln and London 1993, 37-55, hier 52 u. 54. Sigrid Weigel verteidigt das Motiv der Schwärze, ohne die symbolischen Besetzungen zu erörtern, und bestreitet, daß es sich überhaupt um eine Metaphorisierung handelt: "Duden durchbricht in ihrer Schreibweise nicht nur die herrschenden Gegensatzpaare, sondern sie gibt dem Dunklen in ihrem Text seine Mehrdeutigkeit zurück. Vor allem aber benutzt sie das Dunkle nicht als Metapher, sondern ihre Schreibweise bemüht sich gerade um die Rematerialisierung und Konkretisierung metaphorischer Vorstellungen. Ihr Text spricht nicht von Symbolen, sondern von der konkreten Nacht und von konkreten Schwarzen." Sigrid Weigel: Die Stimme der Medusa - Schreibweisen von Frauen in der Gegenwartsliteratur, Dülmen-
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maligen Besatzungsmacht USA treten als Täter in Erscheinung. Die Bedeutsamkeit dieses Aspekts wird durch die Parallele mit einer Kindheitserinnerung betont: Das Kind hat Todesangst vor einem russischen Soldaten, als die Familie noch im Osten lebt. 69 Es findet sich also eine Konstellation von Angst/Bedrohung/Angriff und alliierten Soldaten. 7o Damit schiebt sich unvermittelt eine weitere Bedeutungsebene in die oben erwähnte Rede von den ,Besiegten' ein. Aus der Protagonistin als Nachkomme der ,Verantwortlichen', d.h. den Tätern des Holocaust, wird ein Opfer der Besatzungsmächte. Der Überfall durch die GIs, der von der Protagonistin zugleich als Befreiung und Vernichturig erfahren wird, erhält überindividuellen symbolischen Charakter im Hinblick auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft und den sogenannten ,Nullpunkt' 1945, der von der deutschen Bevölkerung eben als Befreiung und Niederlage erlebt wurde. 71 Der Text evoziert über die Erwähnung der ,Be-
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Hiddingsel, 1987, 129. Abgesehen davon, daß diese Argumentation in sich brüchig ist - denn entweder es geht um die Hautfarbe als ,Konkretisierung' des metaphorisch besetzten ,Dunklen' oder aber ,das Dunkle' wird entgegen einer eindeutigen metaphorischen Besetzung innerhalb der kulturellen Ordnung nun mehrfach besetzt ("Mehrdeutigkeit") -, hat Weigel insofern recht, als die erste Nennung der ,schwarzen GIs' durchaus konkret und nicht metaphorisch zu werten ist. Es ist daher zu einfach, die Verwendung von ,Schwärze' als Metapher, die sich in Diskurse mit bestimmten Konnotationen dieses Motivs einschreibt, als ,Unmöglichkeit, sich dem herrschenden Diskurs zu entziehen' zu sehen, wie Allerkamp dies möchte; vgl. Allerkamp: Die Wiederherstellung des zerstörten Körpers, 41. Allerdings zeigte sich bereits, daß das Changieren zwischen wörtlicher und metaphorischer Bedeutung ein für Übergang konstitutives Textverfahren darstellt - und dies trifft eben auch auf die ,Schwärze' zu. Es handelt sich (analog den Wörtern,Mauer' oder ,Leichenberge') zunächst um einen Wechsel von wörtlicher zu metaphorischer Bedeutung und anschließendem Changieren. Während es zu Beginn des Textes schlicht heißt: "In der Nacht von Samstag auf Sonntag wurde in einer Diskothek in West-Berlin ein 25jähriger Mann von einer Gruppe schwarzer GIs zusammengeschlagen" (Ü, 61), wird die ,Schwärze' im weiteren als Bezeichnung für Bedrohung auf dem (eben nachtdunklen) Hof der Diskothek verwendet; daß der Anästhesist im Krankenhaus ein "schwarzes Gesicht" hat (Ü, 71), löst sich schließlich von der Frage nach der (eindeutig richtigen) Referenz ab: Der Anästhesist kann ein Schwarzer sein, ebensogut kann er aber nur als ,schwarz' aufgrund der Lichtverhältnisse im Operationssaal erscheinen ("vor dem grellen Neonstrang" , ebd.) - an dieser Stelle geht es nurmehr um die Tatsache, daß der Protagonistin die wahrgenommene ,Schwärze' Todesängste verursacht, da sie nun die Operation als Fortsetzung des Überfalls versteht. "Ein Russe, der immerzu in die Luft schoß und an dem wir vorbei mußten, ich an der Hand meiner Mutter, um den Schlagbaum zu passieren. Ich schrie, er werde uns totschießen [00']." (Ü, 69) Klaus Briegleb spricht davon, daß die ,Männergruppe' der GIs im Text von Anne Duden ,jeglicher ideologischer Klassifikation entzogen' bliebe; vgl. Briegleb: Der Weg in die absolute Prosa [Anm. 51], 145. Dabei übergeht er nicht nur stillschweigend die oben geschilderte Debatte, sondern übersieht auch die symbolische Besetzung des Überfalls und der ,Männergruppe' als pars pro toto für die Alliierten. Vgl. hierzu den Band Die Stunde Null in der deutschen Literatur - Ausgewiihlte Texte, hg. von Jürgen Schröder u.a., Stuttgart 1995. Klaus Scherpe merkt zum sogenannten ,Nullpunkt' in der Literatur an: "Die vermeintliche Nullpunktsituation von 1945 wurde als Stunde der Apokalypse ausgerufen: als reinigendes Erlebnis, als ,moralischer Gewinn aus der Niederlage' [Alfred Kantorowicz; A.G.], auch als ästhetisches Faszinosum einer ,inneren' Freiheit und Gelassenheit am Rande des Abgrunds." Klaus Scherpe: Dramatisienmg und Entdramatisierung des Untergangs - zum iisthetischen Bewt!ßtsein von Moderne und Postmoderne, in: Postmoderne - Zeichen eines kulturellen Wandels, hg. von Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe, Hamburg 1986, 270-301, hier 287f. Scherpes Aussage:
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siegten' die Vorstellung der besiegten Deutschen, die im Diskurs der N achkriegszeit vor allem ihren Opferstatus betonten. 72 Da der Überfall rur die Protagonistin vor allem deshalb eine Befreiung darstellt, weil er ihren OpferStatus sichtbar macht und beglaubigt, legitimiert der Text mit seiner symbolischen Besetzung des Überfalls die Selbstwahrnehmung der deutschen N achkriegsgesellschaft als Opfer der Alliierten. Damit sind die problematischen Aspekte von Übergang benannt: Die Aktualisierung der Shoah rur einen sich fortsetzenden Prozeß der Vernichtung in der Gegenwart ist mit einer Bedeutungsverschiebung von einer konkreten ,Ausrottung' zu einer metaphorischen Rede vom ,Krieg' und mit der folgerichtigen Verschiebung von, Opfern' zu ,Besiegten' verbunden. Der Text reflektiert nicht, daß damit die Nivellierung sehr unterschiedlicher Opfer sowie die Ausweitung des Opfer-Begriffs schlechthin einhergehen, da im Kontext des ,Alltagskampfes ' in der Nachkriegszeit sprachlich dieselben ,Leichenberge ' bemüht werden, die fiir die Shoah einstehen sollen. Für die Protagonistin als Individuum zeigt der Text zunächst ein Zugleich von Täter- und Opfer-Positionierung, das als eine konkrete generationenspezifische Verstrickung in die Geschichte plausibel wäre und den Vorzug besäße, klare Opfer-Täter-Dichotomien zu durchkreuzen. Diese Ambivalenz, die sich gerade auch im Motiv des ,Schluckens' zeigt, wird jedoch schließlich in den Opferstatus aufgelöst, der zudem sakralisierend überhöht wird. Durch die symbolische Bedeutung des Überfalls und des Leidens der Protagonistin rur das Nachkriegsdeutschland entsteht eine generationenunspezifische Rede von den Opfern des Holocaust und den Opfern der Nachkriegszeit, in der Täter und Opfer ununterscheidbar werden, genauer: Die Verantwortung der Täter wird durch ihren Opferstatus verdrängt. Hiermit handelt sich die Erzählung unter der Hand schuldnivellierende Tendenzen des Nachkriegsdiskurses ein. Dieses problematische Verhältnis zeigt sich gerade auch mit Blick auf die apokalyptische Vernichtung. Die Shoah ist ein katastrophales Geschehen mit konkreten Opfern wie auch vom Text konkret benannten Tätern; die sich in der Gegenwart der Protagonistin fortsetzende ,Ausrottung' bleibt dagegen vage von derselben Vernichtungslogik bestimmt und bringt gänzlich andersartige ,Opfer' hervor, die der Text jedoch sprachlich auf eine Stufe mit den
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"Die apokalyptisch aufgeladene Nullpunktsituation von 1945 hat sich jedoch als Reizpunkt der historischen Imagination erhalten" (ebd., 289) gilt auch rur Übergang von Anne Duden, wenngleich dies nur vermittelt über die symbolische Besetzung des Überfalls aufgezeigt werden kann. Dies bezieht sich sowohl auf ,den Verftihrer' Hitler und die Verbrechen des Nationalsozialismus als auch auf die Alliierten. Vgl. hierzu Thomas Koebner: Die Schultifrage - Verganget1heitsbeUJältigung und Lebenslügen in der Diskussion 1945-1949, in: ders., Unbehauste - Zur deutschen Literatur in der Weimarer Republik, im Exil und in der Nachkriegszeit, München 1992,320-351, sowie Aleida Assmann: 1945 - Der blinde Fleck der deutschen Erinnenmgsgeschichte, in: Geschichtsvergessenheit. Geschichtsversessenheit [Anm. 44], 97-139.
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Holocaust-Opfern stellt. Die Shoah ist zum einen als der Beginn einer Vernichtung gekennzeichnet und dient zum anderen als Begründung fur die strafende Vernichtung ihrer Täter, welche zwar im Namen der Gerechtigkeit geschehen kann, diese ,Verantwortlichen' jedoch wiederum zu Opfern macht. Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, daß diese ,Verantwortlichen' letztlich entlastet werden, da diese Konzeption geschichtsteleologische Implikationen mit sich führt: ,Es geht um Ausrottung', heißt die schlichte Erkenntnis der Protagonistin, und die ,Verantwortlichen' werden als letzte in dieser Reihe der Vernichtung ermordet - erscheinen sie dann aber nicht eher als Werkzeuge einer Vernichtung, die ihnen zu vollziehen aufgegeben ist, weil ,Ausrottung' schlechthin den Geschichtsverlauf bis zu seinem endgültigen (apokalyptischen) Ende ausmacht? Die apokalyptische Endkampfvision kann möglicherweise sogar eine Erlösungshoffnung auch für die ,Verantwortlichen' beinhalten: Wie das Überfallgeschehen als individuelles apokalyptisches Geschehen aufgefaßt werden kann, da es plötzlich - wie das ,] üngste Gericht' - über die Protagonistin hereinbriche 3 und sie als Individuum, das zu den Tätern gehörte, endgültig aus dem Schuldzusammenhang erlöst und als Opfer positioniert, kann analog dazu die Prophezeiung des Endes fur das Täterkollektiv als das kommende Gericht erscheinen, das einen ,Schlußstrich' in Aussicht stellt. Die im Modell der Apokalypse aufgerufenen christlichen Motive des Gerichts im Kontext von Schuld und Vergebung lenken den Blick nochmals auf die christologische Komponente der Positionierung der Protagonistin. Mit ]acques Derrida kann man hier von dem Problem des ,Doppelgängers' sprechen. 74 In Übergang findet sich eine Reihe der Vernichtung - Passion Christi, Shoah und Vernichtung der Deutschen (vgl. Ü, 68) -, welche die Konstellation eines kreuzestheologischen Dramas aufweises: die Juden [... ] nach ihm [Christus; A.G.] sind das Volk, welches von denen, die sich zu Jesus als ihrem Messias bekannten, kollektiv und in jahrhundertelang kaum bestrittener Tradition als ,Christusmörder' oder gar als ,Gottesmörder' gebrandmarkt und somit auf die Seite der Täter, in eine klar definierte Rolle im kreuzestheologischen Drama gestellt wurden.
Im Modell der Apokalypse, die der Text eigentlich im Namen der Gerechtigkeit aufruft - die Täter des Holocaust werden vernichtet werden - gerät Übergang mit dieser Konstellation in eine irritierende Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie für die Legitimierung der ,Endlösung'. Diese bediente sich 73
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Leiden und Auferstehung Christi erscheinen in diesem Kontext als typologisches Modell fiir die individuelle Apokalypse, die der Protagonistin widerfährt: das Leiden und der Tod Christi - hier: das Überfallgeschehen - sind Bedingung fiir die Erlösung. Vgl. Jacques Derrida: Apokalypse, hg. von Peter Engelmann, Graz, Wien 1985, 86. Gregor Taxacher: Nicht endende Endzeit - Nach Auschwitz Gott in der Geschichte denken, Gütersloh 1998, 70.
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der kreuzestheologisch begründeten antijudaistischen Tradition des Christentums, um, rassisch gewendet, die Vernichtung der Juden zur Vorbedingung fur das ,Heil' der arischen Rasse zu propagieren. 76 Übergang nimmt diese Begründungs struktur implizit auf, fuhrt sie jedoch gänzlich entgegengesetzt weiter - die Deutschen werden die letzten Opfer des Vernichtungsgeschehens sein - und nimmt der Konstellation damit die legitimierende Struktur; letztlich muß die Erzählung jedoch in einer ambivalenten Geste verbkiben, da sie das zugrundeliegende heilsgeschichtliche Moment im Apokalypse-Modell fortschreibt. Die christologische Anspielung erscheint unter diesem Aspekt ebenso in zweifacher Weise: Die Identifikation der Protagonistin, die als stellvertretend fur die Holocaust-Opfer positioniert ist, kann als Umkehrung der christlichen Tradition gelesen werden, da hiermit die Juden als Opfer in die Nachfolge Christi gestellt werden; der Text versucht, den traditionellen christlichen Diskurs zu subvertieren, indem er ihn in eine umgekehrte Konstellation überfuhrt. Indem er jedoch den Gestus des christlichen Diskurses Sakralisierung des Opfers, Leid als Weg zur Erlösung - übernimmt, erliegt diese Rede einer Anverwandlung an den traditionellen Diskurs und kann ebenso wiederum als vereinnahmende Geste gewertet werden, da die Judenvernichtung einem christlichen Modell von Leiden und Erlösung eingepaßt wird und dies von seiten einer Figur aus der Täternachfolgegeneration geschieht. In der zweiten TextsteIle, die die apokalyptische Endkampfvision der Protagonistin zum Ausdruck bringt (vgl. Eingangszitat, Ü, 101 f), findet sich ein gewandelter Ton der Prophezeiung. Die ,Ausrottung' wird als selbstverschuldete Vernichtung aller anderen Täter-Opfer dargestellt, die nur darauf warten zu schlachten und dabei auch geschlachtet zu werden ("schlacht- und schlächterreif'). Der Text beglaubigt vorher mehrfach das Wissen der Protagonistin um die Vernichtung und ihren Status als einer Art Prophetin und läßt die ,Vernichtung' als Strafe fur die Schuld des Holocaust-Verbrechens erscheinen (vgl. Ü, 68); am Ende des Textes jedoch kehrt diese Vision der Vernichtung als prophetisches Rachebild wieder, aus dem sich die Protagonistin - wie die Anrede "ihr" verdeutlicht - ausnimmt. Die Opfer-Inszenierung der Protagonistin ist damit in eine Stellung jenseits der Geschichte umgeschlagen. Die Protagonistin verkündet zwar als Prophetin die Entscheidungsschlacht und das nahe Ende, aber sie selbst ist nun ganz offensichtlich aus dem Zusammenhang von Schuld und Verantwortung entlassen. Zugleich 76
Vgl. Michael Ley: Genozid und Heilserwartung - Zum nationalsozialistischen Mord am europäischen Judentum, mit e. Vorwort von Leon Poliakov, Wien 1993, insb. 185-211; vgl. Julius H. Schoeps: Erlösungswahn und Vemichtungswille - Die sogenannte ,Endlösung derJudel?:frage' als Vision und Programm des Nationalsozialismus, in: Der Nationalsozialismus als politische Religion, hg. von Michael Ley und Julius H. Schoeps, Bodenheim b. Mainz 1997, 262-271; vgl. Klaus Vondung: Die Apokalypse des
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verrät jedoch der Ton dieser zweiten Verkündung, daß diese Prophezeiung eher einem verzweifelten Rachewunsch ähnelt als daß sie Ausdruck des Wissens um eine sich unweigerlich nähernde kollektive Vernichtung wäre, die auf einen letzten Kampf zusteuert. Hier kommt die labile Subjektpositionierung der Protagonistin in den Blick: Die Tirade bringt die Wut der Protagonistin auf alle Menschen zum Ausdruck, deren ,Rechnungen aufgehen' (Ü, 80) und die ein normales Leben ohne "Zerrüttungsmerkmale" fuhren. Das behauptete seherische Wissen um den katastrophischen Geschichtsverlauf wird im Duktus einer persönlich motivierten Rache eines Individuums wiederholt, das sich als Opfer fuhlt und von der Gesellschaft isoliert ist - und markiert damit eine rein individuelle Eschatologie-Phantasie. 77 Die Apokalypse erscheint plötzlich als eine nicht unbedingt glaubhafte Inszenierung eines Individuums, das seine Rachephantasien auslebt, die von der enttäuschten Hoffnung, nicht dazu gehören zu können - oder vielleicht auch keine Gerechtigkeit finden zu können -, motiviert sind, und das seine Legitimation aus dem stellvertretend empfundenen Opferstatus bezieht. 78 Der Text ruft die Apokalypse als Modell des Gerichts im Namen der Gerechtigkeit auf, überfordert und desavouiert es jedoch durch die zweifache Besetzung, da es sehr unterschiedliche ,Opfer' umfaßt und spezifische Täter-Opfer-Konstellationen aufhebt; zugleich wird das Geschehen der Shoah implizit in ein sinnstiftendes Modell mit (unweigerlich) legitimatorischen Tendenzen eingeordnet. Die Verwendung des Apokalypse-Modells fur die Shoah unterminiert zwangsläufig die vom Text thematisierte Kritik am deutschen Nachkriegsdiskurs.
77
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Nationalsozialismus, in: Der Nationalsozialismus als politische Religion, Bodenheim b. Mainz 1997, 33-52. . Die erste erwähnte ,Erlösung' ist wortwörtlich zu nehmen. Die Protagonistin wird von Schmerzen erlöst, wenn sie die Kantate Jesu, der du meine Seele von Johann Sebastian Bach (Kantate Nr. 78) hört, deren Text ebenfalls den ,letzten Kampf des Erzengels Michael gegen den Satan aufruft: "Deiner Güte will ich trauen, bis ich fröhlich werde schauen dich, Herr Jesu, nach dem Streit in der süßen Ewigkeit." (Ü, 91) Das am Ende des Textes genannte ,letzte Kommando' ist damit motivisch bereits vorbereitet. Die Figur des Erzengels Michael wird im übrigen wiederum in Der Atiftrag die Liebe (die übernächste Erzählung des Bandes) in Text und Bild aufgenommen. Musik bezeichnet im Werk Dudens das ,Andere', wie es auch wörtlich in Übergang heißt (vgl. Ü, 70). Es ist die einzige Möglichkeit, Freude zu empfinden und von Leid und Qual zu erholen. Allein in der Musik findet die Protagonistin, die sich zwischen Leben und Tod nicht zur Welt gehörig ftihlt, ftir kurze Zeit ,Erlösung' und wird ,inwendig redselig'; vgl. Ü,90. Mit Hartmut Böhme könnte man davon sprechen, daß hier die Vorstellung der Apokalypse als ein "ästhetischer Verbrennungsprozeß" funktioniert: Die Angst des Individuums wird mit Hilfe des symbolischen Deutungsmusters ,Apokalypse' "zum Geftihl des Triumphs recycelt". Hartmut Böhme: Vergangenheit und Gegenwart der Apokalypse, in: Untergangsphantasien, hg. von Johannes Cremerius u.a., Würzburg 1989 (= Freiburger literaturpsychologische Gespräche; 8), 9-26, hier 21. Am Ende des Textes hat sich diese Vision jedoch verflüchtigt, die Protagonistin, die an den "Rändern" die "Todesmaschinerie" hört, ftihlt sich allein (gelassen): ob sie nach dem ,Endkampf zurückbleibt oder ob sie in ihrer Erinnerungswelt gefangen ist und deshalb von ,Mauern' isoliert ist, bleibt offen: "Irgendwie bin ich vergessen worden bei einer schon gelaufenen Flucht- oder sonstwas Aktion." (Ü, 103)
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IV. Problematische Sinnstiftung - Schluß Michel, sag ich verwendet das Modell Apokalypse als strukturelles und motivisches Muster fur die erzählte Geschichte von Untergang und Erneuerung, leitet jedoch durch vielfache Hinweise zugleich in eine Reflexion auf das Modell über und stellt es damit still, indem es als symbolisches Deutungsmuster problematisiert und aufgehoben wird. Übergang entwirft ein komplexes Modell von Apokalypse, das die Gegenwart der Protagonistin als Endzeit (seit der Shoah) mit nahendem Endkampf deutet; die Apokalypse als eine der großen abendländischen Narrationen mag der Autorin als geeignet erschienen sein, um die Bedeutung dieses Bruchs in der Geschichte zu markieren. Deren Implikationen werden jedoch im Text nicht reflektiert, sondern durch andere dezidiert christliche Muster wie z. B. die ,Passion' noch verstärkt, so daß das christliche Modell von Schuld, Gericht und Vergebung sich in den Text einschreibt. Zu überlegen wäre, ob die Apokalypse als symbolisches Deutungsmuster fur den Holocaust nicht an sich immer schon zu problematischen Konsequenzen fuhren muß79 , da die ,Entscheidungsschlacht' -Vision nicht nur an die nationalsozialistische Ideologie und ihre Rede vom ,totalen Krieg' und ,Endkampf denken läßt80 , sondern sogar eine Nähe zu dem von der nationalsozialistischen Propaganda entworfenen Deutungsmuster Apokalypse fur die Vernichtung der Juden selbst entsteht - unabhängig von der gleichwohl erkennbar entgegengesetzten individuellen Intention einer Autorin/ eines Autors. Im Zusammenhang mit den Effekten des Textverfahrens und den symbolischen Besetzungen des Überfallgeschehens erscheint die Apokalypse als Modell schlicht nicht vertretbar, da im Kontext eines unabwendbar erschei-
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Diese Frage ist sicher nicht generell beantwortbar: Es sind dabei verschiedene Aktualisierungen des Modells Apokalypse zu berücksichtigen, die nicht mit einem teleologischen und damit unausweichlich legitimatorischen Geschichtsmodell verknüpft sein müssen, und auch der Sprecherstatus der Autorin/ des Autors im Sinne einer primären Zeugenschaft, die lange Zeit der zentrale Gesichtspunkt für den Umgang mit der sogenannten ,Holocaust-Literatur' war; so schreibt Jan Strümpel: "Literatur zum Holocaust erschließt sich nicht allein von ihren Texten her. Text und Autor bilden eine unhintergehbare Einheit; ohne Verlaß auf die biographisch verbürgte Integrität des Autors scheint nichts Verläßliches über dessen Schreiben sagbar. Von Textautonomie keine Rede. Diese einzigartige Situation bleibt einstweilen eine Provokation für die Literaturwissenschaft und die Literaturgeschichtsschreibung. " Jan Strümpel: Im Sog der Erinnenmgskultur: Holocaust und Literatur - ,Normalität' und ihre Grenzen, in: Literatur und Holocaust, Text und Kritik 144 (1999), 9-17, hier 17. Faßt man unter ,Holocaust-Literatur' jedoch auch Texte von AutorInnen, die eine Annäherung als Nachgeborene und in ,sekundärer Zeugenschaft' versuchen, verändern sich die Bewertungskriterien entsprechend; vgl. hierzu den Band ,Niemand zeugt fiir den Zeugen' [Anm. 455]. Vgl. zu den Darstellungsproblemen des Holocaust auch die Arbeit von Sigrid Lange: Authentisches Medium - Faschismus und Holocaust in ästhetischen Darstellungen der Gegenwart, Bielefeld 1999, insb. die Einleitung. Im vorliegenden Beitrag stand daher die Analyse des Textverfahrens im Vordergrund, mit der sich die ideologiekritische Lektüre der Symbolisierungen begründen ließ. Vgl. zur nationalsozialistischen Endkampf-Rhetorik und ähnlichen apokalyptischen Versatzstücken nationalsozialistischer Ideologie Vondung: Die Apokalypse [Anm. 2], 207-225.
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nenden ,Geschichtsverlaufs' seit der Shoah die Täter am Ende in gleicher Weise zu Opfern erJrJärt werden. Die Thematik des Textes und sein durchaus deutliches moralisches Anliegen werden vom aktualisierten Modell der Apokalypse, im Kontext nicht-reflektierter symbolischer Besetzungen und einer damit einhergehenden Unterschiede nivellierenden Täter-Opfer-Rede unterlaufen.
I• I
~
J: OCEAN-CHART.
Abb. 1: Lewis Carol,
The Hunting cifThe Snark (1876)1
Bettine Menke POL-ApOKALYPSEN, DIE ENDEN DER WELT- IM GEWIRR DER SPUREN
Gegenstand der folgenden Überlegungen sind die Polargebiete als mythopoetisches Terrain, in dem ein Ende als Anfang im topos der Spurlosigkeit aufgesucht werden soll. Die Expedition ins Polargebiet wird als Übertretung, als die Überschreitung einer - aufgeschobenen - Grenze gedacht. Diese wird an jenem atopischen Ort der spurlosen Weiße der Polargebiete situiert, an dem die Überschreitung, die das Ende wäre, apokalyptisch würde: Das Ende soll in der Überschreitung einen absoluten Anfang begründet haben. Vollzogen aber wird in der Überschreitung der Entzug des telos der Bewegung; dies ist zuletzt der Entzug dieses Entzuges selbst. Denn dieses Konzept des Endes findet wiederum sein Ende im Zuendegehen jener Bewegung der Grenzsetzung und -überschreitung selbst. Auch di es e sEn d e des Endes als absoluter Anfang ist ein Leerausgehen, nun nicht mehr an jenem sich entziehenden Ort, an den die Überschreitung, die das Ende wäre, apokalyptisch verlegt wird. 2 Im Gemeinplatz "Keine weißen Flecken mehr auf In: ders., Das literarische Gesamtwerk, neu übers. von Dieter H. Stündel, Darmstadt 1998, 890. In Auseinandersetzung mit der Konjunktur des Apokalyptischen vgl. Jacques Derrida: Apokalypse, Wien 1985, und anders Norbert Bolz: Peri- Trans-Beyond, in: Arsenale der Seele - Literatur- und Medienanalyse seit 1870, hg. von Friedrich A. Kittler und Georg Christoph Tholen, München 1989,171-185, hier: 176.
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der Landkarte. [... ] Die Leeren Viertel der Arktis [... ] Überall gibt' seinen Amundsen, der vorher da war"3, wurde in diesem Sinne die typisch apokalyptische Signatur des (letzten) Jahrtausendendes noch einm_al, nun als Verspätung, ausgegeben. Polarfahrten wollen das Phantasma der Spurlosigkeit, die "als Metapher eines absoluten Anfangs ausgeprägt wird, realisieren. Gebunden aber war e n sie schon an die Spuren - von Vorläufern, Texten und Modellen. Sie folgen in den Spuren von Vorgängern. Der Ort des Anfangs, der unberührten Spurlosigkeit, wird erreicht als ein sowohl wörtliches wie metaphorisches Nachfahren, als die ausgefuhrte Nachfahrenschaft oder Intertextualität der Texte. Ins südliche Polargebiet geht - als eine Überschreitung, deren Übertretungscharakter das Scheitern der Fahrt belegt - eine "letzte Fahrt" des Ulysses im 26. Gesang von Dantes Inferno. Sie geht über die Grenze, die die Säulen des Herkules anzeigen, hinaus in ,,[un] mondo senza gente"4 zum andern Pol, und sie wird angesichts der "nuova terra", eines gewaltigen Bergs, in einem vierfachen Strudel untergehen 5 : Und immer weiter drangen wir zur Linken. Und alle Sterne schon des andern Poles Sah man zur Nacht und unsern schon gesunken, So daß er nicht mehr aus dem Meere tauchte. [... ] Da ist vor uns ein Berg emporgestiegen In dunkler Feme; der schien so gewaltig, Wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Wir freuten uns, doch ward es bald zum Unheil, Denn von dem neuen Lande kam ein Strudel [ehe dalla nuoIJa terra un turbo nacque.] Und schüttelte des Schiffes Vorderseite. Dreimal ließ er's mit allen Wassern kreisen, Beim vierten Male ging das Heck nach oben, Der Bug nach unten, wie's dem Herrn gefallen, Bis über uns die Wogen sich geschlossen.
Odysseus überschreitet mit den Säulen des Herkules, so Dantes Text, die gesetzten Zeichen 6 , "die Zeichen aufgerichtet, / Damit die Menschen
Sigrid Löffier: Wegentdeckt (als erste Folge der Rez. der ,großen Reiseberichte'), in: Die Zeit vom 30.5. 1997. So wird einerseits das Ende der apokalyptischen Enden visiert - und andererseits darin die (apokalyptische) Gefahr einer Apokalypse-Vergessenheit (vgl. anläßlich des Krieges im Kosovo etwa Claudio Magris: Der prasselnde Galopp der Apokalypse, in: taz vom 8./9. Mai 1999,7). Dante: Die Göttliche Komödie, italienisch u. deutsch, übers. u. komm. von H. Gmelin (1949), repr. München 1988 In!, XXVI, v. 117. Ebd., vv. 126-129 und 133-142. Als Übertretung haben sowohl Blumenberg als auch Borges diese letzte Reise des Odysseus aufgegriffen (Hans Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde [erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von Die Legitimität der Neuzeit], Frankfurt a. M. 1973; Jorge Luis Borges: Die letzte Reise des Odysseus (aus: Nueve Ensayos Dantescos) und Die göttliche Komödie (aus: Siete Noches) , in: Die letzte Reise des Odyssetls - Essays (1980-1982), München 1987, 7-27, 152-161, hier: 152f).
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nich t mehr wei terführen", und seine Fahrt wiederholt derart den Sündenfall, denn auch dieser ist "Überschreitung des Zeichens (il trapassar deZ segno)"7, wie Dantes Adam im Paradiso sagt. Dante läßt seinen im Südpolarmeer im Anblick nie gesehenen Landes gescheiterten Odysseus im Zwielicht der curiositas stehen, im Zwielicht von ihrer mittelalterlichen Verwerfung und deren neuzeitlicher Umwertung. 8 "Das Curiositas-Schema [... ] mit dem Effekt der Zurücknahme einer zunächst freigegebenen, dann aber im Kontrast negativierten Wißbegierde" etablierte Petrarca mit der Stilisierung seiner Besteigung des Mont Ventoux ,',zu einem symbolischen Unternehmen [... ], bei dem ans Sündhafte streifende Begierde und fromme Scheu vor dem Niebetretenen [... ] zusammenwirken". Das Schema wiederholt sich in seiner spekulativen Erkundung der "Lage der rätselhaften Insel ThuZe" in einem ein Jahr später verfaßten Brief 9 Wie Petrarca auf dem Mont Ventoux im Ausblick die ästhetische Weltneugier eröffnete und im abwendenden Blick ins autoritative Buch zurücknahm, so bricht er "nach einem eingehenden Diskurs von prunkender humanistischer Erudition", die der polaren Randzone der bewohnbaren Welt gewidmet war, "brüsk ab, konvertiert Thema und Interesse" - mit der Ab-Wendung10 : ",Mag Thule im Norden verborgen bleiben, mag im Süden verborgen bleiben die Quelle des Nils [... ]. Wenn mir auch versagt geblieben ist, diese geheimen Schlupfwinkel spähend zu erforschen und diese entrückten Fernen zu erkunden, so wird es mir genügen, mich selbst zu erkennen. Hier will ich die Augen öffnen, hierauf den Blick heften. '" Blumenberg, in dessen Analyse der "theoretischen Neugierde" die zwielichtige Nähe von Dantes Odysseus im Südpolarmeer und Petrarcas Ausblicken nachzulesen ist, bemerkt selbst nicht, daß es bei Odysseus' letzter Fahrt um eine Polarfahrt geht, wie ihre traditio erweist. Diese scheiternde Fahrt ist durch ihre vielfache Zitation als Modell der Übertretung ll vor allem in der englischsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts
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Dante: Göttliche Komödie [Anm. 4], Par. XXXVI, 117. Blumenberg: Theoretische Neugierde [Anm. 6], 139. Odysseus bewegte die Gef:ihrten mit dem Argument: " ,[Ihr] sollt [... ] euch der Erforschung [l'esperi'enza] nicht verschließen, / Der Sonne folgend, unbewohnter Länder [Dietro al sol, dei mondo senza gente]./ [... ] Ihr sollt nach Tugend und nach Wissen streben.' / Ich machte die Gef:ihrten so begierig / Durch diese kurze Rede auf die Reise, / [... ]. Wir wandten unser Hinterschiff gen Morgen, / Die Ruder hoben wir zum tollen Fluge." (Dante: Giittliche Komödie [Anm. 4]. [nI XXXVI, VV. 116ff.) Blumenberg: Theoretische Neugierde [Anm. 6]. 143. ",Der Zwiespalt ist hier so groß, daß mir die Insel kaum weniger verborgen erscheint als die Wahrheit. Aber laß es gut sein: was wir mit eifriger Mühe gesucht haben, ungestraft bleibt es unbekannt. [... ] Wir wollen also nicht allzu viele Mühe verschwenden an die Erkundung eines Ortes; den wir vielleicht mit Freuden verlassen würden, sobald wir ihn gefunden hätten. '" (Zit. ebd., 146.) Noch in Jules Vernes Le sphinx des glaces, die gleichfalls in "eine neue Welt" geht, ist es "einfach nicht erlaubt, so weit nach Süden zu fahren. Hier mag sich der Teufel zurechtfinden!" (Die Eissphinx, Frankfurt a. M. 1968, 110,59.)
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der Mythos imaginärer Polar-Fahrten geworden. 12 Diese Fort- und Weiterschreibungen produzieren eine komplexe Textur intertextuellerVerwebungen, in der Mercators Welt-Karten und die Texte von (u.a.) Schnabel, Chamisso, Cooper, Coleridge, Poe und (mit Milton) Mary Shelley und Melville sowie Rimbaud, Baudelaire und Mallarme, Verne, Laßwitz, Shakleton, Heym und Eliot einander fortschreiben, kommentieren und zitieren. 13 Darüber hinaus haben alle Metatexte dieser intertextuellen Textur schon Vorlagen an Schriften von Jorge Luis Borges und Arno Schmidt, die an dieser zugleich fortgeschrieben haben. 14 Der vierfache Wirbel am gewaltigen Berg von Dantes Pol stellt den Prototyp all jener whirlpools und Maelströme dar, in denen die säkulare Weltneugier, die discovery, geahndet und als "Scheitern am geistlichen Heil"15 ausgewiesen wird. Poe, der Dante zitiert, greift auch auf die Landkarten Mercators zurück 16 , die Dantes gewaltigen dunklen Berg als einen schwarzen Felsen an den Nordpol verlegten 17, von dem vier reißende Flüsse ausgehen, was den Pol "als Negativ des Paradieses" ausweist, dem auf den T -Karten des
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Darauf weist].L. Borges hin [vgl. Anm. 6]. Dies ist der bestuntersuchte Aspekt der literarischen Polarfahrten; vgl. Joachim Metzner: Persönlichkeitszerstörung lind Weltuntergang, Tübingen 1976 und Manfred Frank: Die unendliche Fahrt - Ein Motiv und sein Text, Frankfurt a. M. 1979 (darin: "Das Scheitern am ,Heil', die Reise ins ewige Eis", 88-102, u.a.). Johann Gottfried Schnabel: Die Insel Felsenburg - Wunderliche FATA einiger See-Fahrer [... ] entworffen von [... ] Mons. Eberhard Julio, Curieusen Lesern aber zum vermuthlichen Gemüthsvergnügen ausgefertiget, auch Par Commission dem Drucke übergeben von GrsANDERN, I-N, Nordhausen 1731-43; Edgar Allan Poe: The Narrative of Arthur Gordon Pym (1838). In Texten Poes (Pym, Maelstrom, Ms. Found in a Bottle) sind die Stränge dieser Textur verdichtet, mit Bezügen auf Schnabel, Samuel Taylor Coleridges The Rime of the Ancient Mariner (1798), James Fenimore Coopers Roman The Monikins (1836), ·Baudelaire, Jules Vernes Le sphinx des glaces (1897) u.a.; vgl. Frank: Unendliche Fahrt [Anm. 12], 118-119. Sowohl Mary Shelleys Frankenstein, or, the Modern Prometheus (1818/1831, New York 1963) als auch Herman Melvilles Moby Dick or The Whale (1851, New York 1967) haben Miltons Paradise Lost zum Subtext (zur Beeinflussung Melvilles wie Eliots durch den "dantesken Odysseus" vgl. Borges: Letzte Reise [Anm. 6], 156(,26. Kurd Laßwitz: Aufzwei Planeten (mit Anm., Nachwort, Werkgeschichte und Bibliographie von Rudi Schweikert 1897, Frankfurt a. M. 21984) bezieht sich zurück auf Schnabel, wie auch Georg Heym: Das Tagebuch des Shakleton (1911, in: Dichtungen und Schriften II, hg. von Karl Ludwig Schneider, München 1960-68, 1962), das anderseits Ernest H. Shackletons antarktische Reiseprotokolle weiterschreibt (21 Meilen vom Südpol - Die Geschichte der britischen Südpol-Expedition 1907/09, I-III, Berlin 0.]. [1909/10]); auf diese nimmt auch T.S. Eliots The Waste Land (1922, A Facsimile and Transcription of the Original Drafts including the Annotations of Ezra Pound, ed. by V. Eliot, London 1973) Bezug. Arno Schmidt: Herrn Schnabels Spur (1956), in: ders., Zur Deutschen Literatur I, Zürich 1988, 5178; ders.: Zettels Traum (Studienausgabe in 8 Heften), Frankfurt a. M. 21986. Frank: Unendliche Fahrt [Anm. 12],49. Vom aufMercators Karten eingetragenen Strudel spricht Poes Ms. Found in a Boule explizit; in A Descent into the Maelstrom wird er bei den Lofoten situiert. Vernes Le sphinx des glaces nimmt mit jener Eissphinx, die sich als Magnetberg enthüllt, an dem er [Poes] Pym erfroren auffindet, "den legendären Polfelsen Dantes" am Südpol wieder auf; vgl. Frank: Unendliche Fahrt [Anm. 12], 120.
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Mittelalters, die es verzeichneten, vier Flüsse entströmten [Abb _ 2]18. In verkehrender und erinnernder Zitation des Paradieses wird in Mercators Weltkarte ein Ort angegeben, der die systematische Grenze jerrer kartographischen Projektion markiert, die den Punkt des Pols zur Linie ausdehnen mußte und daher den Anblick des Nordpols allein durch dessen wiederholende Abbildung am Rande der Karte der Welt ermöglichte. Der Pol wird derart modelliert - noch einmal - als Ort der Grenze und der Überschreitung nun jener Begrenztheit, die die topographische Verortbarkeit im (nach Kolumbus) homogenen Raum der Karte ausmacht. Die Ex-Territorialität der Pole wurde (u.a.) durch die, nach Athanasius Kirchers Theorie
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Abb. 2: Rumold Mercator, Polarkarte (1595)
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Rumold Mercator: Polarkarte (1595), in: Korrektur der 'Weltkarte von Ge/md Mercator (1569), in: Meister der Kartographie, hg. von Leo Bagrow und R.A. Skelton, London und Berlin 1963, Taf. XCVI, 423; Metzner: Weltuntergang [Anm. 12], 27; vgl. Frank: Unendliche Fahrt [Ano1. 12], 111. The Hllnting cif the Snark (1876) verweist Linien wie "Mercator's North Poles and Equators, Tropics, Zones, Meridian Lines" zurück auf die wahre Karte: "a perfect and absolute blank" (zit. Episodes i/1 the Literal)J Conqllest oI Void During the Nineteenth n. Robert Martin Adams: Nil Cel1tllry, New York 1966, 96), eine Karte, die - leer - "North Pole", "South Pole" u.a. verzeichnet (Lewis Carol [Anm. 1], 890).
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von den zirkumpolaren Strömungen [Abb. 3P9 im 19. Jahrhundert reformulierte, ,Hohl-W elt-Lehre' ausgeprägt. Der Nicht-Ort, den die Pole figurieren, wird gedacht und besetzt als die Stelle des Übergangs, transcensus und Passage in eine verborgene, unterirdische oder extraterrestrische (wie etwa in Laßwitz' Zwischen zwei Planeten), andere Welt. Diese Übertretung, als die die Polarfahrten gedacht wurden, wird in deren Deutung als apokalyptische Reise ans Weltende, insbesondere wenn dort utopische Polreiche aufgesucht worden sein sollen, fixierend beschränkt. 20 Mit den Polarfahrten wird als Übertretung aber weitreichender die Topographierbarkeit und VerzeiAbb. 3: Athanasius Kireher, chenbarkeit eines ,Jenseits der ZeiMundus subterraneus 1 (1665) chenordnungen' verhandelt, das im Phantasma der unberührten Weiße der Polargebiete, des radikalen Anfangs gesucht wird. Die Mythen der Pol(ar)fahrt sind Modellierungen der Grenze und deren Überschreitungen. 21 Die Übertretung der Grenze, die - so Dantes Odysseus - nicht überschritten werden durfte, konnte, weil Kolumbus die terra nuova inzwischen erreicht hatte, gewendet werden zu dem affirmativen Paradigma der Entdeckung; so hat Torquato Tasso Dante neu- und gegengelesen. Im Bild der Säulen des Herkules und ihrer Weisung Nec plus ultra, die der Odysseus
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Nach dieser werden "die Wasser durch eine Öffuung am Nordpol in einem gigantischen Wirbel eingesogen und am Südpol wieder ausgestoßen" (demnach zeige Mercators Karte, "wie der Ozean von vier Öffuungen am nördlichen Pol eingesogen wird"; Schweikert, Nachwort zu Laßwitz: Atif zwei Planeten [Anm. 13], 965f.); Athanasius Kircher: Mundus subterraneus 1, Amsterdam 1665,160. So vor allem Metzner: Weltuntergang [Anm. 12], 46, 66, 112, 115, 144f. u.ö.; vgl. Frank: Unendliche Fahrt [Anm. 12], 116. Das Emblem dieser Lektüre gibt Caspar David Friedrichs Das Eismeer ("Gescheiterte Hoffuung"; so Frank, 148ff.; Peter Rautmann: C.D. Friedrich: Das Eismeer - Durch Tod zu neuem Leben, Frankfurt a. M. 1991, 29f.). James S. Romm: The Edges l?f the Earth in Ancient Thought - Geograph)', Exploration, and Fiction, Princeton 1992; Raoul Schrott: Finis Terrae - Ein Nachlass, Innsbruck 1995; vgl. Bolz, Peri- TransBe)'ond [Anm. 2], "Die Linie" 171-74; Cornelia Vismann: Terra n//llills - ZIII1I Feindbegrtff il1l Völkerrecht, in: Übertragung und Gesetz - Griindungsm)'then, Kriegstheater und Unterwerftll1gstechniken von Institutionen, hg. von Armin Adam und Martin Stingelin, Berlin 1996, 159-174, hier: 160, 166,173f.
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Dantes noch so verstanden (und mißachtet hatte), daß der Mensch sich hier nicht weiter wagen dürfe, wird nun das Wahrzeichen des neuzeitlichen, gegen das bisher Gültige gerichteten Aufbruches gefunden 22 . Das Nec plus ultra, das die Grenze markierte, wird zitierbar als Modell und Affirmation der Überschreitung: "Multi pertransibunt & augebitur scientia'" sagt und zeigt das Titelblatt von Francis Bacons De
Verulamio. Summi Angliae Ca ncellarii. Instauratio magna [Abb. 4]. Die Überschreitung zeigte sich als "wiederholbares, wenigstens imitierbares Paradigma "23 . Das durch die Übertretung modellierte Neue wird in eine Bewegung und einen Aufschub verlegt: Mit Abb. 4: Francis Bacon, Instauratio magna Plus ultra gibt der deutsche Geograph August (Titelblatt) Petermann 1874 den "Wahlspruch" zum 24 "Stand der Nordpolfrage" aus. "Arktische Expeditionen sind [tatsächlich] mit der Entdeckung Amerika' s inniger verbunden, als Manche ahnen mögen", wie 1868 ein Programm zur "Nordpolfrage" unterstrich. 25 Als Suche nach Nordwest- und NordostPassagen, eines "weißen Wegs nach Indien"26, sind Polarfahrten veranlaßt durch die Entdeckung des Kolumbus und an die mit dieser Entdeckung dessen, was er fur Indien hielt, installierte Territorial-Politik: Der Vertrag von
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So argumentiert und belegt Blumenberg: Theoretische Neugierde [Anm. 6], 141. Allerdings unterstreicht Djelal Kadir die "conjugation of the ,discovery' of the New World with the end of the world" , dessen Prophetien, topoi und Modelle im Zeichen des (non) plus ultra. (Vgl. ders.: Columbus and the Ends oJ the Earth - Europe's Prophetic Rhetoric as COl1quering Ideolog}', Berkeley, Los Angeles and Oxford 1992, 42-51, 21, 30-37, 54-58.) "Die Überschreitung der Säulen des Herkules, die Durchbrechung des ,Nec plus ultra' an1. Beginn der Neuzeit, wollte einzig und einmalig die Grenzen zu einer noch unbekannten Wirklichkeit öffnen." (Blumenberg: Theoretische Neugierde [Anm. 6], 257f) In: Geographische Mitteilungen 21. Jg, 1875,23-31, hier: 24. Unter dem Titel Die Nordpolji'age läßt Petermann einen Auszug aus Richard A. Procters Aufsatz The proposed Joume}' to the North Pole (aus Temple Bar, Nov. 1867, 536-546) in Geographische Mittheilul1gen, 14. Jg., Gotha 1868 erscheinen, den er selbst einleitet; er nimmt die Gelegenheit wahr, [Ur eine deutsche Expedition zu plädieren, während der Text Procters seinerseits eine englische Nordpolarexpedition initiieren möchte, die einer geplanten französischen zuvorkommen möge. Julius Payer: Die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872-1874, nebst einer Skizze der zweiten deutschen Nordpol-Expedition 1869-1870 und der Polar-Expedition von 1871 (mit 146 Illustrationen und 3 Karten), Wien 1876; zitiert nach Christoph Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Wien 1984, 43.
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Tordesillas, der 1494 das ,Niemandsland'27 zwischen Spanien und Portugal aufteilt, was eine päpstliche Bulle "für immer" besiegeln muß, zwang die nicht beteiligten Engländer und Holländer um die "Barriere" , die das entdeckte Amerika für das Versprechen, "den Osten im Westen auf[zu]finden", geworden wa~8, herum auf die "nördlichen Routen - die Wege ins Eis"29. Zur "Erreichung" des Paradieses des Handels sollte "selbst der verkehrteste Abkürzungsweg nicht gescheut werden [... ] - der durch das Eis" (so Julius Payer 1876), "ins Paradies" - ,Jenseits der Packeismauern". Im einen homogenen Raum der Entdeckungen, den Kolumbus' Entdeckung eröffnet haben soll, wird die heterogene Ordnung der Teleologie zitiert. Über dem Polargebiet könnte, so der Bericht über die Südpolarfahrt d'Urvilles (1838), "die berühmte Inschrift über dem Tor zu Dantes Hölle" stehen; denn "es ist eine neue Welt, die sich vor seinen Blicken auftut, aber eine starre, schauerliche, schweigende Welt"30. Im langen Scheitern und enttäuschenden Auffinden der Nordwest- und Nordost-Passagen, bis zu den Entdeckungen von Nord- und Süd-Pol und darüber hinaus wird die Überschreitung und die Un-fErreichbarkeit eines entzogenen eschaton ausgearbeitet, wird diese verlegt in das eisstarrende Terrain selbst und verschoben in eine Bewegung, die im Erreichen stets wieder ihr telos, das Überschreitung wäre, schon aufgeschoben hat. Dies geschieht in Zitation des "bis hierher und nicht weiter" und seiner affirmativen Wendung, derzufolge gerade diese nur vermeintliche Grenze überschritten werden so11- oder als (nur) jeweilige Grenze jeweiligen Packeisstandes relativiert war. 31 Dem Plus ultra entspricht der topos des Betretens dessen, was bisher ,noch' kein menschlicher Fuß betreten habe und ohne Fuß-Spur des Menschen, in dessen Metaphorik noch immer und zuletzt noch (1868) die "Nordpolfrage" modelliert wird: Mit dem "Wunsch'\ "dahin vorzudringen, wo noch kein menschlicher Fuß gestanden hat, und das zu
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Zum ,Niemandsland' (das eine Löschung ist) in juristischer und militärischer Verwendung vgl. Vismann: Terra nullius [Anm. 21], 162-164; für die "Territoria nullius" in der Politik der Polargebiete sowie die "völkerrechtlichen Grundlagen der Besitzergreifungen in den Polargebieten" vgl. K. Lampe: Die Polargebiete in der internationalen Politik, in: Arktis Vierteljahrsschrift der internationalen Gesellschaft zur Erforschung der Arktis mit ü!fifahrzeugen 3 (1930), 74-90, hier: 89( Vgl. Petermann/Procter: Nordpolfrage/North Pole [Anm. 25], 170. Hier und das Folgende Payer: Die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition [Anm. 26], zit. nach Ransmayr: Schrecken des Eises und der Finsternis [Anm. 26],43. So Jules Vernes Wiedergabe in: Die großen Seefahrer und Entdecker (Teilübersetzung von Les grands navigateurs du XVllIe siede und Les grands navigateurs du XIXe siede, Paris 1868 u. 1880), Zürich 1986, 439( earl Weyprecht (1876) zur "Practicabilität des Nordpolarmeeres": ,,,Bis hierher und nicht weiter' hat schon so mancher Polarfahrer gesagt, und sein Nachfolger ist ruhig über die Eismauern hinweggefahren, die der Vorgänger ,für die Ewigkeit gebaut' erklärt hatte." (Die Resultate der englischen Polar-Expedition, in: NeueJreie Presse, Nr. 4388 vom 11. Nov. 1876; teilw. abgedruckt in Petermanns Geogr. Mitth. 1876,457-458.)
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erreichen, was andere Menschen als unerreichbar angenommen haben "32, wird die Überschreitung, die die Polreise wäre, einerseits relativ; andererseits findet sich seit dem Ende des 19 . Jahrhunderts tatsächlich "das letzte Reservat" für die geographische Lokalisierung "neuzeitliche[r] Grenzüberschreitungen " in den Gebieten am Pol als dem letzten "Raum, der keine Spuren menschlichen Eingriffs aufzuweisen hatte "33. In bemerkenswerter Kontinuität werden als diese letzten Reservate noch immer die Quellen des Nils und die Pole genann2 4 : "Für die Wissenschaft ist es ein wahres Glück, dass der Nordpol noch nicht erreicht, die Nilquelle noch nicht entdeckt ist", gab der Geograph August Petermann den "Stand der Nordpolarfrage zu Ende des Jahres 1874" an. Das entzogene Innere als Ursprung und der Rand als Ende 35 stehen füreinander ein und bilden das Territorium aus für einen Entzug, der versucht und verspricht. Polarreisen heißen ein "Kampf um die letzten weißen Flecken der Landkarte"36. "Ausgang des 19. Jahrhunderts sind die ,weißen Flecken' auf der Erdkarte rar geworden"37, lautet der Gemeinplatz, der das Verspätetsein (schon Po es gegenüber Defoe) anzeigt38 , und mit 32 33
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Petermann / Procter: Nordpolfrage/ North Pole [Anm. 26], 170. Helmut Lethen: Lob der Kälte - Ein Motiv der historischen Avantgarden, in: Moderne versus Postmoderne, hg. von Dietmar Kamper und Willem van Reijen, Frankfurt a. M. 1987, 282-324, hier: 304. Wie seit der Antike, vgl. Romm: Edges <1the Earth [Anm. 21], 149ff.; Nilfieber - Der Wettlatifzu den Quellen, hg. von Georg Brunold, Frankfurt a. M. 1994, 26ff., 399-432; Alan Gurney: Der weijJe Kontinent - Die Geschichte der Antarktis und ihrer Entdecker, München 1999, 9 (am. Orig.: Below the Convergence: Voyages toward Antarctica 1699-1839, New York 1997). Ägypten (bzw. der Orient) und die Polregionen rücken ebenso in Po es Narrative <1 Arthur Gordon Pym zusammen, wie Vernes Le sphinx des glaces, eine Allegorie des Rätsels der Antarktis (vgl. auch Reinhard Goering: Die Südpolexpedition des Kapitän Scott, in: Prosa, Dramen, Verse, München 1961, 505-560, hier: 518), die gegenseitige Austauschbarkeit und Bestimmung von ägyptischer Wüste und Eiswüste der Pole belegt. So geraten auch "Sphynxen" und die "kalten Memnons-Säulen des Eises" ins Polargebiet Payers (Die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition [Anm. 26], 104). Die Wüsten Ägyptens und Nordamerikas sind" ,the empty quarters' which for long have successfully resisted the human imprint". (Yi-Fu Tuan: "Desert and lee", in: Landscape, Natural Beauty and the Arts, hg. von Salim Kemal und Ivan Gaskell, Cambridge 1993, 139-157, hier: 139, 154f) Und zwar metonymisch und metaphorisch, wenn das "noch nie erforschte Centralgebiet der Polarregionen" "der Bereich dieses mythischen Kreises" heißt, "ein Kreis von Geheimnissen [... ]". (Petermann/ Procter: Die Nordpolfrage, 175.) Metzner: Weltuntergang [Anm. 12], 21. Schweikert im Nachwort zu Laßwitz: Atifzwei Planeten [Anm. 13],905. Poe hatte im Januar 1836, Daniel Defoes The Life and Surprising Adventures ~f Robinson Cmsoe (1719) rezensierend, nicht mehr an solche Orte glauben mögen (Complete Works VIII, Virginia Edition, 16). "Bei seinem Alaska-Trip sehnte McCandless sich danach, Gegenden zu durchwandern, die in keiner Landkarte verzeichnet waren. 1992 jedoch gab es solche Gegenden nicht mehr - weder in Alaska noch sonst irgendwo. Aber Chris [... ] endedigte sich einfach der Karte" (im Bestseller Jon Krakauer: In die Wildnis - Allein nach Alaska, 1997; Taschenbuch 1998, 61999, 258f; amerik. Orig. Into the Wild, New York 1996). Terra Incognita - dies ist der Titel (z.B. Sara Wheeler 1999), unter dem die Arktis-/ Antarktis-Renaissance der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts stehen könnte. Auf Notwendigkeit und Möglichkeit einer (Re)Inszenierung der "Erfahrungsräume" des "anderen" setzt Wilhelm Schmid; Messners "Vorhaben" sei "es, der absoluten Stille und unberührten Weite wieder einen Ort im Gedächtnis des Menschen zu verschaffen: einen weißen Raum". (Die Erdachse quietschen hören - Reinhold Messner in der Antarktis,
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eigentümlicher Verspätung noch einmal zitierbar schien fiir das letzte Jahrtausendende: "Keine weißen Flecken mehr auf der Landkarte"39 spricht von der Katastrophe der Sekundarität, dem Ausfall des Anfangs, der als spurlose Weiße und damit apokalyptisch imaginiert wird. Der Pol hielt, solange er "noch-nicht-erreicht" war, (zuletzt) noch den Raum der geographischen Entdeckungen auf, in dem die Grenze überschritten und verschoben/ aufgeschoben wurde. 40 Er ,ist' das ,Nichts' eines abstrakten, fiktiven Koordinatenschnittpunktes als leerer Punkt der Unstetigkeit und der Indifferenz aller Bestimmungen, (Nicht-)Ort des Entzugs. 41 Nach dem Modell der geographischen Entdeckung, das er als "da oben noch ein paar Quadratmeilen [... ], die ein menschlicher Fuß nicht betreten hatte", noch hält, fungiert dies "vorenthaltene" "letzte Endchen" (wie Karl Kraus diagnostisch formulierte) als "Ultima Thule der Neugierde" und "Ersatz fur das verlorene Paradies"42. Er wäre ohne Wert, würde er erreicht: "Einmal entdeckt" wäre er "eine Stange, an der eine Fahne flattert, also ein Etwas, das ärmer ist als Nichts", bloße "Krücke der Erfullung", aber mehr noch die "Schranke der Vorstellung". 43 Die relative
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rez. Reinhold Messner: Antarktis - Himmel und HöHe zugleich, München 1991, taz vom 27.9.1991.) "Die Quellen des Nil - längst erforscht. Wonach Robert Scott sich verzehrte, der Südpol, wonach John Franklin gierte, die Nordwestpassage -längst erledigt." (Löffler: Wegentdeckt [Anm. 3].) Das Ende des Paradigmas geographischer Entdeckung für die Polarfahrten wird absehbar mit dem Projekt eines homogenen Raumes der Wissenschaft, der durch gleichmäßig verteilte Meßpunkte und vergleichbare, das heißt aber wiederholbare regelmäßige Messungen an diesen ausgesteckt würde. Dieses entwirft earl Weyprechts Die Nordpolexpeditionen der Zukunft und deren sicheres Ergebnis verglichen mit den bisherigen Forschungen auf dem arktischen Gebiete, Wien, Pest und Leipzig 1876. Sein Programm circumpolarer Beobachtungsstationen begründet eine "arktische Forschung" jenseits des Modells der geographischen Entdeckung (38-40); vgl. Fiiedrich von Hellwald: Im ewigen Eis - Geschichte der Nordpol-Fahrten von den ältesten Zeiten bis at~r die Gegenwart, Stuttgart 1881, 710. "Hier gelten also entweder alle Grundsätze zusammen oder gar keine", so Laßwitz' Auf zwei Planeten [Anm. 13]. "The North Pole (that is, the geographical pole as distinguished from the magnetic pole [... ]), is simply the point where that imaginary line known as the earth's axis - that is, the line on which the earth revolves in its daily motion - intersects the earth's surface." "East, west, and north had disappeared for uso Only one direction remained and that was south. [... ] Where we were, one day and one night constituted a year." (Edwin Peary: The North Pole, with an Introduction by Theodore Roosevelt, 1910, 259-261.) "Der Pol ist also durchaus der zentrale Punkt [ ... ], wo Tag und Nacht, Himmel und Meer nicht mehr als Gegensatz erscheinen." (Michel Butor: Essays zur modemen Literatur und Musik, München 1965, 196.) "Es ist die Stelle, an der Amundsen 1911 als erster Mensch ankam - und die er erst rechnerisch bestimmen mußte. Er brauchte daftir drei Tage. [... ] Das weiße Abenteuer war also von vorneherein geprägt von der Schwierigkeit, an einem Ort anzukommen, den es nicht wirklich gibt." (Schmid: Die Erdachse quietschen hören [Anm. 38].) "Sie haben es gewagt, diesen unerreichbaren Punkt erreicht zu haben." (Butor: Essays, 192.) Karl Kraus: Die Entdeckung des Nordpols, in: Die Fackel (Nr. 287), 1-14, hier und das Folgende: 3. ,,[D]as sofortige Erreichen solcher Kernpunkte würde gewiss in vielen Fällen auf eine PhantomJagd hinauslaufen, denn z.B. der Nordpol an sich dürfte ein unter allen Umständen wohl wenig bemerkenswerther Punkt sein, und selbst bei den heutigen Leistungen der Astronomie bleibt es abzuwarten, ob der Punkt so leicht zu finden, seine Lage mit einiger Sicherheit bestimmt werden
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Entzogenheit des Noch-nicht-Erreichten wird aber (gerade deshalb) zum topos des absolut Entzogenen als unergründet/unergründbare Polregion (und zwar ebenso als Bild der Hybris in Mary Shelleys Frankenstein 44 , wie auch als das weiße ,Sehnsuchtsbild' eines Sich-Verlierens bei Poe). Das Jenseits' wird gedacht als ,noch nicht' Betretenes, aber hypostasiert als Unbetretbares. Das Aufsuchen von Regionen, die ,noch' kein menschlicher Fuß betrat, stellt das Modell fur Polarfahrten bereit, die den (im 19. Jahrhundert einzig) noch verbliebenen "weißen Flecken" gelten, die Polargebiete wörtlich realisieren. Polarfahrten wollen das Phantasma eines Ortes ohne Spuren (des Menschen) verwirklichen. Das Nichts 45 , die leere, unberührte Weiße, die in Polargebieten aufgefunden werden soll, der geräumte Ort46 wird in Anspruch genommen und imaginiert als letzte noch verbleibende nuova terra, die am Pol ,offenbart' werde. "Jetzt ist die Zeit, wo die Decken der Vertuschung weggezogen werdenund zum Vorschein kommen zwei riesige Öffnungen da, wo man uns weismacht, daß ewiges Eis einen Pol bilde": "Die Erde ist hohl!", mit diesem Gestus apokalyptischer Ent-Deckung verbindet 1993 (noch und wieder) die erste Ausgabe der Schweizer Zeitschrift ZeitenSchrijt das Polargebiet mit einer entzogenen anderen innerirdischen Welt. 47 Lokalisiert wird (hier nochmals) der "biblische ,Garten Eden'" im verdeckten entzogenen Innenraum der erd-
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kann." (Petermann: Stand der Nordpolatfrage [Anm. 24], 23.) So wird Peary und Cook, die beide die Entdeckung des Nordpols rur sich (1908 bzw. 1909) in Anspruch nahmen, diese abgesprochen, weil ihre Positions bestimmungen und Messungen unzureichend oder fehlerhaft gewesen seien (vgl. Bertrand Imbert: Die Pole - Expeditionen ins ewige Eis, Ravensburg 1990 [frz. Orig. 1987]); zu den Breitenbeobachtungen in den 30 Stunden am Pol vgl. Peary, North Pole [Anm. 41], 258ff, 261ff u. Appendix II ("Facsimiles of original observations") 308ff); eine spätere "erneute Prüfung seiner Beobachtungen durch einen fachmännischen Ausschuß ergab, daß Peary an seinem fernsten Punkte immer noch 18 bis 32 km vom Pol entfernt gewesen sei." (Kurt Hassert: Die Polatforschung, Leipzig und Berlin 1914,96(, 100.) Dessen Überschreitung von gesetzten Grenzen stellt sich dar in "the lifeless pole, the immaculate icecap", "where it [nature] becomes meta-nature" (Peter Braoks: JJ Godlike Science / Unhallowed Arts"; Language, Nature, and Monstrosity, in: The Endurance
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inneren Welt, der Hohlwelt, an deren Mythos das 19. Jahrhundert fortschrieb. 48 Ausgeftihrt wird damit eine reterritorialisierende Nutzung der exterritorialen Entzogenheit des Polargebiets. Diese mindestens problematische Politik des entzogenen, geleerten Ortes wird durch eine weitere sekret-paranoische Version akzentuiert: Als Anhänger der sogenannten Hohlwelttheorie geht der chilenische Exdiplomat Serrano, Verfasser eines "Standardwerk[s] des Esoterischen Hitlerismus", davon aus, "daß der ,Führer' heute noch lebt und zwar in der Antarktis. [... ] 1947/48 machte sich Serrano selbst auf den Weg in die Antarktis, um dort Hitler zu suchen. ,Dort glaubte ich, in der Oase der warmen Seen, am Zugang zur unterirdischen Welt, inmitten des ewigen Eises, den Zufluchtsort Hitlers zu finden.' Serranos Antarktis-Fiktion hat einen reellen Hintergrund. 1938/1939 gab es - unter Führung von Kapitän Alfred Ritscher - eine deutsche Antarktis-Expedition. 600.000 Quadratkilometer Land wurden erforscht [... ]." Von dort aus seien "seit 1945 deutsche Ufos als Aufklärer einer gigantischen Armee unterwegs" 49. Auch dies stellt am Pol- einen Anfang im Ende vor. Die derart zitiert-genutzte Metaphorik der Ent-Deckung, einer Enthüllung, ist eine apokalyptische. Das mit "Apokalypse" übersetzte hebräische Wort gala bedeutete das Aufdecken oder Entblößen und öffentlich Bekannt-Machen eines Geheimnisses, das "Enthüllen, der von der Sache gehobene Schleier", die "Entdeckung, die das sehen läßt, was bis dahin umhüllt, zurückgezogen, zurückbehalten bleibt"so. "Nun aber" ist "für uns" die "Decke" Moses "abgethan" - so modelliert Paulus die typologische Relation von altem Bund und ,Neuern' Bund, die das ,Jetzt' einer "nun" eröffueten Lektüre etablierte; sie liest das Alte Testament, "fiir uns geschrieben", als Typos oder Figura, die im Neuen Bund 48
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ZeitenSchrift [Anm. 46], vgl. 17-21,26-28, 58-60 (mit Hinweis auf Raymond Bernard: The Hollow Earth, 1969; A Flight to the North Pole - The Missing Diary of Admiral Richard E. Byrd; Edward Bulwer-Lytton: Das Geschlecht der Zukunft, 1873; Leonhard Euler, "der schon im 18. Jahrhundert den hohlen Planeten postuliert hatte", die von ",einer hochstehenden innerirdischen Menschheit'" bewohnt sei; Symmes' Theory of Concentric Spheres (1826); Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde; vgl. die Anm. zu A. Schmidts Übers. von E.A. Poes Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket, Zürich 1994, 270; vgl. A. Schmidt: Zettels Traum [Anm. 14], 8). Die Offenheit und Wärme des Polarmeeres wird im 19. Jahrhundert nicht nur von Literaten (Poe, Verne, Heym u.a.) als Übergang zu anderen Welten, sondern auch vom Geographen Petermann vertreten; "gerade dieser Irrthum [aber sei] ein überaus glücklicher gewesen", denn "bloß ihm allein entsprang die Thätigkeit, welche sich seit 1868 innerhalb des Polarkreises entfaltete. War die arktische See wirklich schiffbar, dann durfte man hoffen, nicht bloß den Pol selbst zu erreichen, sondern auch jene Länder aufzufinden, welche alte Seefahrer ge d ich te t und auf ihren Karten verzeichnet hatten, die aber seither wieder, wie z.B. Gillis-Land, zur Mythe geworden waren". (Hellwald: Im ewigen Eis [Anm. 40], 799.) Anton Maegerle: Hitler im Ufo aber der Antarktis, in: taz, 6.7.1993. "Hitlerglaube als Religion, gepaart beispielsweise mit der Wahnidee, deutsche Ufos würden von der Antarktis aus zum letzten Gefecht rüsten und nach der Weltherrschaft greifen, findet in rechtsextremistischen Kreisen weltweit wachsenden Zuspruch." Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie, in: Apokalypse [Anm. 2], 9-90, hier: 9, 12, 14f.
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wiederholt erfilllt und als bloßer Schatten und toter Buchstabe überwunden wäre. 51 Das apokalyptische Ereignis ist Offenlegung, ist Enthüllung; aber, wie Blumenberg verdeutlicht hat, besteht es nicht darin, daß "Zeichen am Himmel" jetzt' an ihm ablesbar werden, sondern "daß der Prospekt [des Himmels] mit seiner der Erde zugewandten Gestirnseite eingerollt wird", so daß "des Himmels astrale Vorzeichen nicht mehr gelten konnten"52. Die Apokalyptik ist Enthüllung als Löschung - alles ,Etwas', das einer Zeichen- oder Bilderordnung angehörte, und Auslöschung, damit an deren Stelle ein (ganz) Anderes auftrete. Das "offenkundige Zitat" (aus jesaja) "et caelum recessit sicut liber involutas" in der johannesClpokalypse unterstreiche: "Die himmlische Schriftrolle läßt im geöffneten Zustand die Welt bestehen und ihre Geschichte ablaufen; die eschatologische Umkehrung besteht im Einrollen, nachdem zuvor die Sterne herabgefallen sind und es auf der Schreibfläche nichts Lesbares mehr gibt." Die apokalyptische 01fenbarung ist Bebilderung an (der) Stelle der Löschung (aller Zeichen und Bilder). Die unberührte Weiße wäre katastrophische Löschung, und sie soll- als letzte - zu Ort und Stelle der Eröffuung einer anderen wahren Welt werden. Diese wird, wo sie Lehre geworden sein wird, jedes apokalyptische Versprechen verstellt haben. An den Scheiteln der Pole soll (1993) die Zeichenleere ,jetzt" ,enthüllen', was selbst als Leere, als das Nichts eines Lochs zu einer anderen Welt sich (er)öffue. Noch nach aller (noch so) wiederholten Entdeckung der Pole soll das datenlose - und als solches nur im Register der Aufzeichnungen zu situierende Terrain zum Beleg fiir die Öffuung in die innere innerirdische Welt werden
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Paulus 2 Kor. 3,12-18: "wir" "thun nicht wie Mose, der die Decke vor sein Angesicht hing, daß die Kinder Israel nicht ansehen konnten das Ende des, der nicht aufhöret; sondern ihre Sinne sind verstockt. Denn bis auf den heutigen Tag bleibt dieselbige Decke unaufgedeckt über dem alten Testament, wenn sie es lesen, welche in Christo aufhöret. [... ] Nun aber spiegelt sich in uns Allen des Herrn Klarheit, mit aufgedecktem Angesichte". Die Exegese ist Modus einer Selbstbegründung des Christentums (in der Auseinandersetzung um die Heidenmission). Der (bloße) Buchstabe (des Judentums) sei die zeitliche Figura, Figuration der Erfüllung, die in seiner Fleischwerdung in Christus gekommen sei. Das alte Gesetz ist demnach Schatten und typos (geworden), ist Jetzt' aufgehoben und erfiillt abgelöst. (Zur "eschatologischen Verschärfung" in der Perspektive der ,Naherwartung' und deren ausbleibender Einlösung; vgl. Hans Blumenberg: Kritik und Rezeption antiker Philosophie in der Patristik. Strukturanalysen zu einer Morphologie der Tradition, in: Typologie - Internationale Beiträge zur Poetik, hg. von Volker Bahn, Frankfurt a. M. 1988, hier: 144f.; G. Ebeling: Art. Geist und Buchstabe, in: RGG [Religion in Geschichte und Gegenwart - Handwörterbuch fiir Theologie u. Religionsu1issenschaJt] II, 1959, 246.) "Der Himmel selbst rollt sich zusammen wie ein Buch: et complicabuntur sicut liber caeli" Uesaja) , meint "ausschließlich" "den Vorgang des Aufrollens" selbst (Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1986,24; das Folgende 25).
Geheimgehailene NASA-Au/nahmen zeigen: An ihren Polen befinden sich riesige Öffnungen, die ins Innere des Planeten führen. Diese Fotos sind relativ nell, doch das Wissen um eine hohle Erde reidll Jahrtausende !!In/eie.
Abb.5
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können [Abb. 5].53 Im Höhenprofil bietet sich die Spurlosigkeit der Datenleere dar als Leere, die im referentiellen Kurzschluß von der Daten-Leere aufs (gesuchte) Loch in der diesseitigen Ordnung als Öffuung im Realen und als Eröffuung, als Enthüllung und Erfiillung (an ihrer Stelle) fehlgelesen wird. Die Lektüre Jacques Derridas hat allerdings rur die Apokalypse des Johannes darauf aufmerksam gemacht, daß die apokalyptische Oifenbarung oder "Aufdeckung" eröffnet wird durch eine "Sendung" oder Ansprache: "die Apokalypse als Sendung der Apokalypse", die Ankündigung einer Ankunft, das ,Ereignis' des Angesprochenseins. 54 Sie wird ermöglicht durch Gesten der Rede; genauer aber noch ,ist' die Apokalypse diese Geste, d.i. Geste, die sich nicht in den Akt einer Setzung und der Einsetzung (an deren Stelle) restlos auflöst und selbst transzendiert, sondern als Kraft und Möglichkeit im Akt verbleibt. 55 Zu dieser Geste eines Anfangs verhält sich jede apokalyptische ,Vision' der Auslöschung und der Wahrheit - an der Stelle der Enthüllung - als Verstellung. Mit Derrida ist daher, "weil das die Szene eröffnende ,Komm' kein Gegenstand, Thema, keine Repräsentation werden konnte"56, eine andere ,apokalyptische' Ankündigung zu lesen, die des "Versprechen[s] oder [der] Drohung" "eine[r] Apokalypse ohne Apokalypse", "eine Apokalypse ohne Vision, ohne Wahrheit, ohne Offenbarung" . ",Komm' kündigt nicht diese oder jene Apokalypse an: [ ... ] es ist an sich selbst die Apokalypse der Apokalyse" .57 Die Ankündigung einer "Apokalypse 53
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"Der Nordpol, vom europäischen Fernerkundungssatellit ERS-l aufgenommen. ,Für den Zentralteilliegen keine Daten vor, da ERS-l nicht direkt über den Pol fliegt.' Die datenleere Fläche beginnt ziemlich genau am 83. Breitengrad, da wo das ,Loch' sich erdeinwärts neigt. Zufall? Das Relief unten zeigt ein vom Computer berechnetes Höhenprofil der Antarktis. Auch hier: Ein datenleeres Loch in der Mitte - auch es beginnt am 83. Breitengrad." (ZeitenSchrift [Anm. 47]. 18.) Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton [Anm. 50], 69, vgl. 79. Es ist das "Komm" (ebd. 81ff.). Vgl. Giorgio Agamben: Noten zur Geste, in: Postmoderne und Politik, hg. von Jutta Georg-Lauer, Tübingen 1992,97-107, hier: 106. Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton [Anm. 50], 84. Vgl. dagegen. die Geschichten der apokalyptischen Visionen und deren Neuausgaben (so im Titel von ApokalypseWeltuntergangsvisionen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, hg. von Gunter E. Grimm, Werner Faulstich und Peter Kuon, Frankfurt a. M. 1986; Die Hl!.tfnung at~f das Weltgericht, in: Die Zeit vom 30.12.1998, 13f) und Bebilderungsstrategien (Szeemanns Weltuntergang & Prinzip Hl!.ffmll1g, Zürich Sept.-Nov. 1999, Rosenthals Apokalypse in der Londoner Royal Academy Sept.-Dez. 2000 u.a.). "Ist das Apokalyptische nicht eine transzendentale Bedingung eines jeden Diskurses, selbst jeder Erfahrung, jeder Markierung oder jeder Spur? Und die Gattung der im strengen Sinne ,apokalyptisch' genannten Schriften wäre also nur ein Beispiel, eine exemplarische Offenbarung dieser transzendentalen Struktur. In diesem Fall, wenn die Apokalypse offenbart, dann ist sie zuvor Offenbarung der Apokalypse, d.h. Selbst-Darstellung [auto-presentation] der apokalyptischen Struktur der Sprache, der Erfahrung der Präsenz, sei es des Textes oder der Markierung im allgemeinen." (72) "Das Ereignis dieses ,Komm' geht dem Ereignis voran und beruft es. Es wäre dasjenige, von dem her es das Ereignis, das Kommen, die Zukunft des Ereignisses gibt, das sich nicht unter der gegebenen Kategorie von Ereignis denken läßt." (Derrida: Von einem neuer-
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der Apokalypse" wird die ,apokalyptische' Offenbarung stets schon aufgeschoben haben und trifft im Aufschub auf die Spur, die Öffnung der Szene als "transzendentale Bedingung eines jeden Diskurses~'. Sie hält sich auf zwischen jener Enthüllung, die die Rede-Geste ist, und der Offenbarung an ihrer Stelle: eine Vision, Wahrheit oder Lehre (von etwas), in 'der die Geste nicht aufgeht, die aber die Geste, die Ankündigung und das Versprechen verstellt. Apokalyptisch in diesem durch Derrida ausgewiesenen Sinne ist die "Sendung", die als solche - gegenüber/vor jeder möglichen apokalyptischen Botschaft und Offenbarung - bleibt, bzw. sich schon weiterversendet hat 58 : "Adressen ohne Botschaft und ohne Bestimmungsort, ohne entscheidbaren Absender oder Empfanger [... ]"59. Die Spannung zwischen Geste und Einsetzung tragen literarische Polarfahrten auf ihre Weise, und auch sie durch ihre textuelle Verfaßtheit, aus: Polar-Expeditionen, die dem Phantasma der spurlosen Weiße, Metapher und topos eines absoluten Anfangs in der Löschung, gelten, suchen das phantasmatische Gebiet der Spurlosigkeit, jene spurlose Weiße, in der alle Bücher apokalyptisch endeten, in den Spuren von Vorgängern auf, mit einer überbordenden Ausstattung mit Mythen und Inter-Texten, indem andere Texte fort-, weiter- und überschrieben werden. Das Polargebiet dementiert durch seine intertextuelle Verfaßtheit das, was in ihm aufgefunden werden sollte: den Ort ohne Spuren, den topos der Spurlosigkeit. Spuren müssen schon hinterlassen worden sein. 60 Sie müssen hinterlassen worden sein, damit es die polare Entdeckung gegeben haben wird. Wie Polarfahrten sich mit Texten ausstatteten und die Bibliothek ins Eis mitfiihrten, so müssen sie sich in Bibliotheken und Archiven niederschlagen. Polare Entdeckungsfahrten sind präokkupiert durch Fragen der Aufzeichnungen, deren Archivierung und Sicherung61 . Es geht um die Aufzeichnungen, Karten und Benennungen, die unbedingt zurückdings erhobenen apokalyptischen Ton [Anm. 50], 83.) Es unterliegt nicht der "Logik der Ereignisse";
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es kennzeichne "in sich weder ein Begehren noch einen Befehl, weder eine Bitte noch eine Forderung" (ebd., 85). "Von dem Augenblick an, wo man nicht mehr weiß, wer spricht oder wer schreibt, wird der Text apokalyptisch. Und wenn die Sendungen immerzu auf andere Sendungen ohne entscheidbare Bestimmung verweisen, wobei die Bestimmung immer zukünftig bleibt." (Ebd., 71f) Ebd.,87f Brian Rotman: Signifying Nothing - The Semiotics if Zero, Stanford 1987, weist "deconstructive movements" rur das Nichts fehlender Ursprünge auf: "zero/variable, vanishing point/punctum, imaginary / paper money - from originals to closures"; diese erklären sich selbst "as a loss of anteriority". Ermöglicht aber werde diese Bewegung und diese "declaration" dadurch, daß "this loss" bezeichnet, signifiziert werden könne: "in the discourses of number, vision, and money" (57). Polar-Expeditionen scheinen nicht nur "vom visuellen Ertrag her betrachtet [... ] sinnlos"; "gefeiert werden die Helden, die [... ] in die Schneewüsten eindringen, ohne Spuren ihrer Arbeit zu hinterlassen. Es ist gerade dieser sinnlose Akt", der ein (allerdings abwesendes) "Publikum der Expeditionen in seinen Bann zog" (Lethen: Lob der Kälte [Anm. 33],304).
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gebracht werden müssen, und um die Markierungen und Aufzeichnungen, die hinterlassen werden fur Nachfolger, die im Antreffen der Zeichen und Dokumente zu diesen geworden sein werden. Dem Gedächtnis, das sie erst Entdeckungen sein lassen wird, gehörten diese erst an, wenn sie als Spuren auf Karten nach Hause zurückkehrt sind und/oder wenn die Nachricht als "Nachlaß"62 und Vor-Schrift von Nachfolgern im Polargebiet angetroffen wird. Der Nachfahre(nde) ist ein Spurenlesender, der in den Spuren eines anderen folgt. Als Nachfahre in der Spur eines anderen wird der Schreibende eingesetzt: Jeder Autor, so läßt sich die Intertextualität der Texte konzipieren, schreibt schon immer als Nachkomme in einer agonistischen Interaktion mit den und gegen die Vorläufer-Texte - in deren Lektüren, Wiederholungen und Abwendungen. 63 Für Polarfahrten hat dieses Modell Jules Vernes Le Sphinx des glaces (1895) ausgefuhrt, der ein Schiff auf den Spuren von Po es The Narrative of A. G. Pym (1838) ins Eis fahren läßt: es wiederholt die Fahrt Pyms zum Südpol, setzt ihr nachfahrend Poes Roman fort und korrigiert ihn nicht zuletzt an der Stelle, an der dessen Text abbrach. Die Fahrt in der Nachfolge von Pyms Reise macht diese - gegen die selbstverständliche Voraussetzung, es handle sich bei Po es Text um Fiktion 64 - zur realen. Die Hinterlassenschaften, Nachrichten, Relikte, S puren dessen, wovon "in dem Bericht Pyms die Rede ist", werden in der Wirklichkeit des Verneschen Berichts aufgefunden, Poes Narrative damit als "Tatsachenbericht" erwiesen das "Buch Edgar Poes - also tatsächlich der Bericht Gordon Pyms" - als "der sicherste Reisefuhrer" seiner Nachfolger. Dadurch wird Poes Text als fiktiv nicht-fiktiver auf seinen Realitätsgehalt hin überprüfbar. In den Abweichungen des auf der fiktiven Fahrt Vorgefundenen von den "höchst seltsamen Beobachtungen", die der Vorläufer-Text auf der Insel Tsalal oder bezüglich des berühmten offenen Polar-Meeres gemacht haben wollte, und durch die Korrektur des ihm vor-liegenden Textes inszeniert sich Vernes Text selbstim Gestus der Überbietung - als authentischer Bericht65 ; er parasitiert derart im Effekt der Realität seiner Fiktionen an dem von ihm gelesenen Text. 62 An einem südpolaren "Felsen kahl und bloß" in Chamissos Salas y Gomez (Werke, Berlin [0.].], 1.
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Theil, 380-389, hier: 382). Chamisso selbst hatte an der "Reise um die Welt mit der Romanzoffschen Entdeckungs-Expedition in den Jahren 1815-1818 auf der Rurik unter Kapitän Otto v. Kotzebue" teilgenommen. Schrotts Finis Terme [Anm. 21] präsentiert Nachlaß und Nachfahrt(en) nach dem fiktiven Logbuch des Pytheas von Massalia, jenes "griechischen Navigators und Astronomen, der im vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung [... ] bis nach Thule gelangt war". (11f.; vgl. Romm: Edges ~fthe Earth [Anm. 21], 157f.) Harold Bloom: The Anxiety ~f Injluence, Oxford 1973; A Map ifMisreading, Oxford 1975. Verne: Die Eissphinx [Anm. 11], 22. Vernes Text begann mit: "Diese Geschichte wird niemand für wahr halten. Trotzdem veröffentliche ich sie, möge man sie nun glauben oder nicht. " (Die Eissphinx [Anm. 11], 7) - und antwortet damit der Strategie Poes, dessen fiktive Vor- und Nach-Worte vorgeben, den authentischen, aber unglaublichen Bericht als Fiktion zu maskieren.
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Im Nachfahren (von Doppelgängern und Nachfolgern auf SchreibSpuren) wird dort, wo der Vorgänger sich verliert (um eben dad\lrch sein Ziel erreicht zu haben) und abbricht, in Überschreibung des Abbruchs, ein ,Etwas' eingesetzt, etwa der südpolare topische Magnetberg als Sphinx des Rätsels der Pole oder auch das Loch eines Eingangs in die erdinnere wahre Welt. Verne folgt lesend / schreibend nach in den Spuren des Vorfahren und des schon Kartographierten, um in Fortschreibung der "bekannten Tatsachen" die "weißen Flecken auf der Landkarte" zu lokalisieren [Abb. 6]66, um sich überbietend, nachfolgend, löschend, in überschreibenden Lektüren der Vorgänger(Texte) - als zwei ter als erster - eingetragen zu haben. Dieses Modell unterstreicht wiederholend Georg Heyms Das Tagebuch des Shakleton (1911). Es gibt das Doppel einer Reise, und es doubelt einen Text, das Tagebuch Shackletons, das unter dem Titel 21 Meilen vom Südpol 1909/10 in deutscher Übersetzung erschienen war: die zitierte und fortgeschriebene, zur Fälschung erklärte und korrigierte Vorlage, die in Heyms Tagebuch einen Doppelgänger hervorbringt. Das Tagebuch des Shakleton überschreitet mit der Südpolar-Expedition, die es zu dokumentieren vorgibt, jene Grenze, die durch die Aufzeichnungen Shackletons präzise lokalisiert ist. 67 Ernest Shackleton unternahm 1907/8 einen Versuch, den Südpol zu erreichen; 21 Meilen vor dem Pol waren er und seine Begleiter gezwungen umzukehren, weil sie nur so hoffen konnten, mit dem verbliebenen Proviant die Rückkehr zu schaffen. Den Punkt der Umkehr läßt nun der ,echte Shakleton' Heyms hinter sich, wenn er am 10. Januar, an dem Shackleton und die anderen in
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Butor: Die Krise der Science-Fiction, in: Essays [Anm. 41], 220-232, hier: 223, und die Karte zu Vernes Die Eissphinx [Anm. 11], 32, wie Petermanns Projektion des Nordpolargebiets (Hellwald: Im ewigen Eis [Anm. 40], 799, als Karte der Arktischen & Antarktischen Regionen, in: Petermann's Geographische Mitteihmgen Bd. 14 (1868), Gotha, Karte 12). Weitere ,Fortsetzungen' des Poeschen Narrative, für/anstelle von dessen ,Ungewißheiten': C.A. Drake, AStrange Discovery (1897), Howard Ph. Lovecraft, At the Mountain cif Madness (1936), der im Anschluß an geheimes Wissen einen Eingang zu einer alten verderblichen Höhlenwelt am Südpol situiert; verzeichnet werden dessen "Mountains of Madness" auf der Karte Jason C. Eckhardts (1986) in W.H. Müller (enigma research): Lovecraft. Schatzmeister des Verbotenen, Bergen und Dumme 1993. Auch Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis [Anm. 26] schickt (nach hundert Jahren) einen Nachfahren in den Spuren der Expedition Payers und Weyprechts (1872-74) ins Eis. Heym: Tagebuch des Shakleton [Anm. 13], 131, vgl. 133-135. "Ich nehme an, daß das Tagebuch Ernest H. Shakletons das des wahren ist bis dahin, wo die Expedition unter 88°7' ihr letztes Lager aufschlug [... ], daß da, wo die Expedition nach dem Pseudolager gewendet hat, sie in der Tat noch nicht gezwungen war, umzukehren, daß sie vielmehr ihre Route südwärts noch fortgesetzt hat, und daß sie dabei in Gebiete gekommen ist, die von intelligenten Wesen bewohnt wurden. [... ], daß die vier Männer, die am 28. Februar 1909 wieder in das Lager am ,Cape' Royds zurückkamen, nicht dieselben waren, wie die, die es am 29. Oktober 1908 verlassen hatteri." (129).
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PtlWflltarmS Hyputhese von der al'knschr.n 1anll· & Wasser Verthei1ung. Abb.6a Jules Veme: Le sphinx des glaces (1995)
Abb.6b A. Petermann: Karte der Arktischen & Antarktischen Regionen (1868), nach Friedrich von Hellwald: Im ewigen Eis (1881)
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Abb. 6c: Karte Jason C. Eckharts (1986)
den eigenen "Fußspuren", "unserer Fährte" zurückkehrten 68, abweichend von seiner Vorlage und ihr nachträglich zuvorkommend den Weg nach Süden fortsetzt 69 : Hinter mir hinaus bis an den Rand des Horizontes, der durch die antarktische Luftspiegelung mir seltsam nahe gerückt schien, sah ich die Spuren der Schlittenkufen verlaufen. [... ] Bis hierher war der Mensch gekommen, hinter seinen Idealen her, unter entsetzlichen Leiden, Frost-Wunden und Hunger, ein Blinder der einem wahnsinnigen Führer dreintappt.
Die Vorlage weist dem Nachfolgenden - in der Re-Lektüre, die dieser nachfahrend / schreibend unternimmt - jene Stelle einer Übertretung an, an der noch einmal ein anderer, leerer: anfänglicher Raum wiederholend eröffnet und nachfahrend eingenommen werde [Abb. 7]. Heyms Das Tagebuch des Shakleton usurpiert die Stelle der Primarität - jenseits einer Übertretung, eines katastrophischen Abbruchs. Dafur aber muß sich schon jemand nachreisend
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(9. Januar) "Glücklicherweise waren unsere Fußspuren durch den Schneesturm nicht verwischt worden. Und nun heimwärts! Mag uns dies auch dauern, doch wir haben unser Bestes versucht! / Kapitel XXIV / Der Rückmarsch / 10. Januar. Aufbruch um 7.30 bei leichtem Winde." (Shackleton: 21 Meilen [Anm. 13], 473.) Daß ein "Keks, den der irische Polarforscher Ernest Shackleton 1909 von seiner Expedition in die Antarktis zurückbrachte," im April 2000 "in London rur umgerechnet rund 16.000 Mark versteigert" (taz vom 20.4.2000, 16) werden konnte, belegt, daß es (selbst hier) noch einen Rest gegeben haben wird. Heym: Tagebuch des Shakleton [Anm. 13], 133f
Abb. 7: Englische Südpol-Expedition 1907, Generalkarte mit den von der Expedition vorgenommenen Forschungsreisen und Vermessungen
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auf die Spur dieser Reise gesetzt haben. Das Tagebuch erhält einen fiktiven Herausgeber70 , der sich - insofern er Nachfahre des ,echten' (am Südpol verbliebenen) gedoppelten Shakleton ist, durch das Auffinden von dessen Tagebuch, das er "aus den knöchernen Händen des erfrorenen Flüchtlings" genommen haben will, - als "der berühmte Entdecker des Südpols'< ausweist. 71 Die Logik der Pol-Entdeckung, die den "jungfräulichen Pol/Den wir als die ersten betreten" meinte, den die vorgefundene Spur als ein "schwarzer Fleck" beschriftete, dramatisiert die Sekundarität allen Schreibens, das nur ein Nachfahren wird sein können. 72 "Ein anderer ist schon hiergewesen. [... ] So mordet dir den Zweiten der Erste", hieß dies fur den vielleicht berühmtesten Zweiten, Scott. 73 Die nicht hintergehbare Sekundarität und die Zumutung, die diese ist, stellen die Doppelgänger fur das Konzept der (geographischen) Entdeckung dar. Diese Sekundarität und deren Unhintergehbarkeit wurde ausdrücklich in Mary Shelleys Frankenstein und dessen Ende irn Polargebiet. Wenn es Frankenstein auf der Spur des Monsters seiner ,eigenen' demiurgischen, wiederholenden und verfehlten Produktion, einer sekundären ursprünglichen Schöpfung ins Polareis verschlägt, so trifft er dort auf das double seiner Überhebung im Polreisenden, den "ardent curiosity" in ein Land, "never before imprinted by the foot of man", fuhrt. 74 Den unbetretenen Ort ohne die Spuren von Vorläufern, den topos einer Selbstbegründung 70
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Diese Rahmung ist nochmals gedoppelt cturch die Inanspruchnahme eines fiktiven (inzwischen wahnsinnig verstorbenen) wissenschaftlichen Vorläufers, der die zurückgekehrten Polarforscher zu seelenlosen Doppelgängern erklärt hatte (ebd. 128; vgl. auch die Rückkehr bloß der scheinbar lebendigen Hülle Kapitän Hatteras in Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde, vgl. Butor: Essays [Anm.41], 197) und den die Vorrede mit dem folgenden ,echten' Tagebuch nachträglich ins Recht setzt. Heym: Tagebuch des Shakleton [Anm. 13], 130. "Wilson: [... ] Was siehst du? Bowers: Dort! Grauenhaft! Furchtbar! Wilson: Ein schwarzer Fleck. Scott: Im weiten Weiß! Wilson: Niemals Werk der Natur! [... ] Scott: 0 Gott! 0 ihr! 0 ich! 0 Gott! 0 Tod! 0 grauenvoll, entsetzlich. " (Goering: Siidpolexpedition des Kapitiin Scott [Anm. 34], 512,520.) Goering: Siidpolexpedition des Kapitän Scott [Anm. 34], 539. Vom Scheitern, das die Sekundarität ist, rührte das Interesse an Scott her; fiir die Bezugnahmen von Benn, Eich u.a. vgl. Metzner: Weltuntergang [Anm. 12], 106f.; vgl. Vladimir Nabokov: Der Pol. Drama in einem Akt, Uraufftihrung am 28. September 1996 an der Schaubühne in Berlin. ,,[E]inmal endeckt" ist der Pol, wie Kraus Cook sprechen ließ, weniger als nichts (Die Entdeckung des Nordpols [Anm. 42], 3). Kraus allerdings hat gegen das Unglück des verspäteten dOl/bles die "Duplizität" der Entdeckung des Nordpols - durch Cook und Peary - als ironisches Glück der Geschichte verstanden: "Doppelt hält besser" (6, 8), weil "er nämlich - doppelt - ni c h t entdeckt wurde" (5, vgl. Die Fackel Nr. 309, 30). Diese Gesetzmäßigkeit konnte Kraus durch ihre Wiederholung am Südpol (Amundsen und Scott), die "Duplizität der Duplizität der Fälle", bestätigt sehen (Die Fackel Nr. 345, 9). Unter dem Titel "Reproduction Interdite" gibt ein vor dem Spiegel, der ein verkehrtes Doppel zeigt, liegendes Exemplar von Baudelaires Übersetzung des Poeschen Narratille of Arthur Gordon Pym einen radikal umschreibenden Kommentar zum Titel, zur Doppelung im Bild und zu diesem Gemälde Rene Magrittes insgesamt. Mary Shelley: Frankenstein [Anm. 13], 15f.; das Folgende 194-197; zu Frankenstein und Walton vgl. Andrew Griffin: Fire and lce in "Frankenstein" , in: The Endurance qf Frankenstein [Anm. 44], 4973, hier: 59ff., Brooks: Godlike Seience/ Unhallowed Arts [Anm. 44], 218.
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wird der Polfahrer sowenIg wie Frankenstein erreichen, der zuletzt den Spuren des Monsters seiner sekundären ,ursprünglichen' Schöpfung, "the print ofhis huge step on the white plain", folgt. Die literarischen Polarfahrten prägen - in Doppelungen und (deren) Wiederholungen - eine Systematik der Nachfahren am unbetretenen/ -baren Ort aus. Die Nachfahrten und das nachfahrende Schreiben schreiben sich in der Spur ihrer Vorgängertexte an das Unbetretene heran; sie überschreiben/löschen die Vorgänger-Texte und schreiben diese fort, dorthin, wohin diese nicht kamen. Das double wird seinen Vorgänger dort ankommen gelassen haben, wo dieser (zuvor) nicht war, um in seinen Spuren, als sein wiederlesender / umschreibender Nachfolger den atopischen Ort fur eine grundlose Anfanglichkeit zu erreichen. Das aber, was jenseits der durch den Prätext demarkierten Grenze, im ,Reservat' des Unbetretenen, begegnet sein soll, ist Wiederholung, Zitation, Gemeinplatz. In Heyms Tagebuch des Shakleton findet sich mit dem Nachlassen des Frostes Wärme, Dunst und Nebelwand (statt all' dessen, "was vor uns über den Pol geschrieben ist von den weiten eisigen Wüsten, von der unermeßlichen Kälte der Einöden der Antarktis'(75) ein Puzzle, der aus Pyms Polarfahrt bezogenen Details. Wenn jener Dunst, von dem als "Weiße[m] Vorhang" Po es Narrative (fur den 21. März) spricht, sich bei Heym als ein solcher hebt und als "Tor der Geheimnisse" "auf einmal" sichtbar zu machen verspricht, was Poes Narrative versagt, "die Paradiese des Südpols"76, so ist "das alles in einem seltsamen Weiß"77 nichts anderes als Zitation: die "eigenartigen" " schlohweißen " Bewohner des Pols zitieren die Ojfen ba ru nl8 und ausgerüstet mit einem merkwürdigen "Köhlerbaum", an dem "einige Zeichen" "uns wie hebräische Buchstaben erscheinen", das Ende von Poes Narrative. Aber auch diese (ljede) ,Vorlage' der Texte und ihres nachfahrenden Schreibens, Poes Narrative 01Arthur Gordon Pym selbst, schreibt sich her aus anderen Texten. 79 "Auch im vorliegenden Fall POE sehe ich ein Textgewebe" , so Arno Schmidt, ein Gewebe intertextueller Bezüge. 80 75
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Heym: Tagebuch des Shakletol1 [Anm. 13], 132, 135, 141. Ebd. 137-139. So eröffnet sich auch der Blick auf den Innenraum der "Schalenwelt" der Insel Felsen bll rg, ",das schönste Lustrevier von der Welt'" (Schmidt: Schnabels Spur [Anm. 14], 60). Systematisch aufgezählt für Flora, Fauna und die Polwesen (Heym: TageblIch des Shakleton [Anm. 13], 139, 141). "sein Haupt aber und sein Haar waren weiß wie Schnee"; vgl. Peter Hoegs Fräulein Sl1lillas Gespiir {iir Schnee, München 1994,76; "die Tönung der Haut der Gestalt, war von der völligen Weißnis -des Schnees" (Poe: Pym [Anm. 48], 262; vgl. "The Whitness of the Whale" in Melvilles Mob]' Dick or The Whale [Anm. 13], 163-170). Auch- die andere Vorlage, Dantes COl1ll1ledia ist selbst ein Fall von Intertextualität mit den Prätexten Odyssee und Au/eis. Gerade an der Stelle der zitierten Rede des Odysseus ist Vergil der Dolmetscher. Vgl. auch die Hinweise auf Schnabel, Cooper, Coleridge, wie auch die Hohlweltlehre Symmes' u.a. in Zettels Traum [Anm. 14], 26, 27f Neben vielen anderen hat Schmidt die Spuren von
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Die Spurlosigkeit (des Polargebietes) wird aufgefunden nur als Nachträglichkeit, das, was nur einmal sich ereignet, in der Wiederholung. Das sagt nicht nur etwas über die Un-/Erreichbarkeit der Pole, sondern umgekehrt auch etwas über Texte und den Ort ihres unbegründbaren Ursprungs. "Nur noch das ständige Raunen der Wiederholung kann uns überliefern, was nur ein einziges Mal stattgefunden hat" (so bestimmt Foucault das Phantastische des 19. Jahrhunderts). "Es sind die bereits gesagten Worte, die überprüften Texte, die Massen an winzigen Informationen, Parzellen von Monumenten, Reproduktionen von Reproduktionen, die [... ] die Mächte des Unmöglichen zutragen. "81 Das Polargebiet, so kann im Anschluß daran formuliert werden, "dehnt sich von Buch zu Buch zwischen den Schriftzeichen aus; es entsteht und bildet sich heraus im Zwischenraum der Texte." Das Betreten des "jungfräulichen Pols", das Erreichen eines Territoriums des absoluten Anfangs in den Spuren von Vor-Fahren, durch deren Überschreibungen und Fortschreibungen, kurz: durch die Intertextualität des Textes, ist eine offensichtlich paradoxe Unternehmung. Diese Paradoxie aber macht die Fahrten ins Polargebiet (aus). Sie exponieren nicht nur die Unerreichbarkeit eines Territoriums des absoluten Anfangs, sondern werden - im Medium dieser inkonsistenten Ausführung - auch die vorausgesetzte ,Weiße' neubestimmt haben. Nicht nur kann, wie Foucault sagte, "nur noch das ständige Raunen der Wiederholung [... ] uns überliefern, was nur ein einziges Mal stattgefunden hat", sondern mehr noch wird das, "was nur ein einziges Mal" stattfinden kann, schon ein "ständige[s] Raunen der Wiederholungen" gewesen sein. ,,[E]s entsteht und bildet sich heraus im Zwischenraum der
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Schnabels Insel Fe/senburg in Po es Narrative gelesen (und: "daß auch diese ,alte Vorlage' wieder ihre Vorlage hat"), auf Coopers The Monikins (1836), Chamisso, auf den Roman von Captain Adam Seaborn [Pseudonym von John Cleve Symmes, 1780-1829 ?], Symzonia: A Voyage if DiscoIJet)' (1820) und auf Poes Nachfolge in Jules Vernes Le sphinx des glaces hingewiesen (Schnabels Spur [Anm. 14], 52ff.; Wunderliche Fata einiger Seifahrer (ebd.), 79ff.; vgl. die Nachweise zu Arno Schmidts Übersetzung Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym [Anm. 48] 269f). "Daß, wie schier stets bei ihm - (POE) - so auch=hier, im Falle ,Tsalal', ganze Quintette von Bedeutungen durcheinander klingen, ist nicht sein Verdienst: er hat es nicht, als Autor, bewußt herbeigeftihrt!" (Zettels Traum [Anm. 14], 35.) Un Jantastique' de bibliotheque, in: Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M. 1988, 157-177, hier: 160. Schmidt besteht darauf: "Gerade an so überzeugend=Exaktem kann sich die kombinierende Fantasie entzünden: das heißeste Feuer kommt aus dem Trockensten; Karten, Zahlenkolonnen, Namenslisten von Staatshandbüchern! " (Schnabels Spur [Anm. 14], 72f) "Es giebt nichts schärfer Erregendes ftir meine Phantasie, als Zahlen, Daten, Namensverzeichnisse, Statisken, Ortsregister, Karten." (Schmidt: Kosmas - oder Vom Berge des Nordens [1955], in: Das Erzählerische Werk I, Zürich 1985, 93-156, hier: 136; ftir dessen Bezug auf die ",Innere Erde"', auf Paradies und Apokalypse, vgl. Ausjulianischen Tagen, Frankfurt a. M. 1979,58-61.)
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Texte"; das heißt in den Zwischenräumen, die sich im Text öffnen, der sich und seinen Gegenstand in Bezügen auf andere Texte konstituiert. 82 Das Ende von Poes Narrative 01 A. G. Pym exploriert die Aporie des in Polargebieten realisierten Phantasmas der unberührten Weiße. Im Abbruch des Erzählens nach der nicht mehr erzählten Rückkehr des Protagonisten und Erzählers aus dem weißen Dunst des Südpolargebiets und an der Stelle des Fehlens fiktiv verlorener Kapitel handelt der Text, das Ende (der Erzählung) supplementierend83 , im Nachtrag des fiktiven Herausgebers von der Schrift. Jene Höhlengänge der Insel der Schwärze, Tsalal, von denen zuvor erzählt wurde, werden noch einmal verzeichnet und als Schriftzeichen verschiedener morgenländischer Sprachen und Schriften gelesen. Als Schriftzeichen sollen diese nun auch eben dies, das Schwarze und das Weiße, bedeuten, einer äthiopischen Wortwurzel folgend - ",To be shady,' - whence all the inflections of shadow or darkness", und - einer "Arabischen Wortwurzel" folgend - ",To be white', whence all the inflections of brilliancy and whiteness"84. Was allerdings die Erzählung an ihren fiktiven Orten, Tsalal und "the region of the south", radikal separiert ("Nothing w hi te was to be found at Tsalal, and nothing otherwise in the subsequent voyage to the region beyond"85) tritt im Nachtrag der Schriftzeichen zusammen. Damit wirdrückwirkend - die Zone des Weißen ohne anderes, in der Fahrt und Erzählung (Pyms) endeten, charakterisiert als die des Ausschlusses nicht nur von Erzählung, sondern auch aller Schriftzeichen. Diese Weiße ist aber in ihrer intertextuellen Aus- und Angewiesenheit weder die Apokalypse des Textes und aller Schrift-Zeichen, noch ist sie der leere, der geräumte Platz [ur 82
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So hat Renate Lachmann Foucault umakzentuiert. (Bach tins DialogizitCit und die akmeistische Mythopoetik als Paradigma dialogischer Lyrik, in: Das GesprCich, hg. von Karlheinz Stierle, München 1984 [Poetik und Hermeneutik 11], 490f, 496.) "Die letzten Worte der Erzählung", die vom "Sog" "berichten", sind nicht die letzten Worte (in denen "Verbot" und "Tabu über dem Eschaton" sich realisieren, so Frank: Unendliche Fahrt [Anm. 12], 116). Vielmehr ist weiterzulesen: "The loss of two or three final chapters (for there were but two or three) is the more deeply to be regretted, as, it cannot be doubted, they contained matter to the Pole itself, or at least to regions in its very near proximity [... ]. It would afford the writer of this appendix much pleasure if what he may he re observe should have a tendency to throw credit, in any degree, upon the very singular pages now published. We allude to the chasms found in the island ofTsalal, and to the whole ofthe figures upon pages 871, 872, 873." (Edgar Allan Poe: The Nan'ative C!f Arthur Gordon Pl'm, in: The Complete Tales and Poems, New York 1982, 748-883, hier und das Folgende 882f) Ebd., 883. Po es ,Weiße' ist nicht originär: "wie könnte POE auf die barocke Erklärung verfalln sein?' I ,Weil sie nichts=weniger denn ,barock' war; vielmehr aufs peinlichste ,in der Luft lag'" (Zettels Traum [Anm. 14], 31). Die ,Sprache von Tsalal', das ,Tekelili' des Schreis der fremden Polvögel, die ,3 Grundrisse der Höhlen' u.a. liest Schmidt als intertextuellen Effekt: "Schlagen Wir lieber kurz die ,Genesis' auf: dort, in der sogenannten ,Völkertafel' findesDu gleich zwei beisammen: ,Und Misraim zeugte die Ludim & Anamim ... die Pathrusim[ ... ] Und zu ,Anamim' kannsDu, in jedem besseren ,Bibellexikon', lesen: ,Wahrscheinlich soviel als NORDLAND'." (30f) Ebd.
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das "Von-Vorn-Beginnen".86 Das allen Texten exterritoriale Weiß ist vielmehr Teil des Aufgeschriebenseins jeden Textes, der Konstellation des Schwarzen und Weißen, von Buchstaben und Abständen. 87 Es wäre demnach die falsche Frage, wie der exterritoriale Ort aller Spuren und Zeichen vom Text ansprechbar wäre. Vielmehr ist zu lesen, 'daß dort, wo das spurlos Weiße wäre, wo es als reines und damit als topos des Endes aller AufZeichnungen gesucht wurde, immer schon die Spuren, das Gewimmel von Spuren gewesen ist und als Gestöber bleibt, ohne anfanglicher Anfang geworden zu sein, und sich wiederholt in jeder Geste - auch jeder löschenden. In diesem Feld, im und als Gewimmel der Spuren findet das je schon statt, was als ein radikaler Anfang gedeutet wurde und als solcher auf den Ort der Spurlosigkeit setzte. 88 Es ,ist' ,Ereignis', das die Texte erö:ffuete, aber Ereignis nicht geworden sein wird, sondern sich je schon weiter versendet hat, Sendung ohne Ankunft und Botschaft. Der (allen Büchern) ,exterritoriale' Ort ist als Zwischenraum der Texte jedem eingetragen, als jene Zwischen-Räume, in denen sich die Texte von sich selbst abheben, "innerhalb und außerhalb jener Bände, von denen man nicht weiß, ob sie offen oder geschlossen sind "89.
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Diese Geste der (heroischen) Moderne, einer in der Negativität gewonnenen Affirmation wäre mit Friedrich Nietzsches Nordpolarfahrern, die seine Diagnose der historischen Nihilisten geben (Genealogie der Moral [1887], in: Werke II, hg. von Karl Schlechta, München 1980, 895), und Walter Benjamins E~fahrung und Armut (1926) zu konzipieren (Gesammelte Schriften lI.1, hg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1977ff., 213-219; Passagenwerk, ebd. V.l, 546 [M 16,2]). Dies ist etwa zu erläutern rur und mit Mallarmes Un Coup de des; vgl. Jacques Derrida: La double seance, in: ders., La dissemination, Paris 1972, 199-318; Vf.in.: Sprachjiguren, München 1991, 302332. Für das destruktive Postulat von Benjamins neuem Barbaren: "Verwisch die Spuren" (II, 217, 349f., 367; N, 396-98, 427) sei damit die Geste selbst unterstrichen, die nicht im leeren Platz als Terrain absoluten Neu-Anfangs terminiert. Dies ist ein Lektüre-Vorschlag auch rur das von Benjamin projektierte Nicht- "Festhalten" jener, "die das von Grund auf Neue zu ihrer Sache gemacht [... ] haben. In deren Bauten, Bildern und Geschichten bereitet die Menschheit sich darauf vor, die Kultur, wenn es sein muß, zu überleben. Und was die Hauptsache ist, sie tut es lachend. " (Etfolmll1g und Armut [Anm. 86],219.) Lachend wären sie nicht bewegt vom heroischen Phantasma der (verspäteten) Polarfahrer, sondern ,wüßten' um die Wiederholtheit ihres Gestus. Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton [Anm. 50], 89.
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Abbildungen: Abb.1 Abb.2
Abb.3 Abb.4 Abb.5 Abb.6a
Abb.6b
Abb.6c Abb.7
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