ANTHONY BURGESS
1985 Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
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ANTHONY BURGESS
1985 Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 5981 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der englischen Originalausgabe 1985 Deutsche Übersetzung von Walter Brumm
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1978 by Anthony Burgess Copyright © 1982 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München Umschlagbild: Ulf Herholz, Berlin Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs & Schütz, München ISBN 3-453-01448-0
INHALT
ERSTER TEIL 1984 EIN KRITISCHER ESSAY Katechismus Absichten 1948: Gespräch mit einem alten Mann Engsoz ins Auge gefaßt Kakotopia Staat und Superstaat: Ein Gespräch Bakunins Kinder Uhrwerk-Orangen Der Tod der Liebe ZWEITER TEIL 1985 EIN ROMAN 1. Das Julnachtsfeuer 2. Tucland das Prächtige 3. Du warst im Fernsehen 4. Aus 5. Kultur und Anarchie 6. Freie Briten 7. Ertappt 8. Das Gerichtsurteil 9. Eine Schau von Metall 10. Zwei Welten
11. Eine Aufwallung von Uneinigkeit 12. Die geballte Faust des Arbeiters 13. Ein Fehler im System 14. Mein Leben und mein Gut 15. Ein Bewunderer von Engländerinnen 16. Streiktagebuch 17. Seine Majestät 18. Auf Lebenszeit EPILOG Ein Interview
2+2=5 Eine während des ersten Fünf jahresplanes in Moskau angeschlagene Notiz, welche die Möglichkeit andeutete, daß die Arbeit in vier Jahren getan werden könnte, wenn die Arbeiter sich ins Zeug legten.
Die in diesem Buch aus George Orwells 1984 zitierten Passagen wurden der im UllsteinVerlag erschienenen deutschen Übersetzung von Kurt Wagenseil entnommen.
Für Liana
ERSTER TEIL
1984 Ein kritischer Essay
KATECHISMUS Wann begann der Alptraum des zwanzigsten Jahrhunderts? 1945, als er für viele Leute geendet zu haben schien. Wie begann er? Mit dem ersten Einsatz von Atombomben, die mit Dringlichkeit entwickelt worden waren, um rasch einen Krieg zu beenden, der zu lange gedauert hatte. Aber mit dem Ende des Konflikts zwischen den faschistischen Staaten und der freien Welt (deren Freiheit zu wünschen übrig ließ, weil ein großer Teil von ihr totalitär war) war die Bühne frei für die Inszenierung der entscheidenden Begegnung des Jahrhunderts. Die kommunistischen Mächte standen den kapitalistischen Mächten gegenüber, und beide Seiten verfügten über einen nahezu unbegrenzten Vorrat an Nuklearwaffen. Und was folgte daraus? Was eingesetzt worden war, um einen Krieg zu beenden, wurde nun eingesetzt, um einen weiteren zu beginnen. Welches war der Ausgang des Großen Atomkrieges der fünfziger Jahre? Ungezählte Atombomben wurden auf die industriellen Zentren Westeuropas, Amerikas und der Sowjetunion abgeworfen. Die Verwüstung war so schrecklich, daß die herrschenden Eliten der Welt zu der Einsicht gelangten, daß die nukleare Kriegführung, indem sie die organisierte Gesellschaft zerstörte, ihre eigene Fähigkeit zur Machterhaltung zerstörte. Und was folgte daraus? Das Atomzeitalter wurde in allseitiger Übereinstimmung beendet. Künftige Kriege sollten wieder mit konventionellen Waffen von der Art, wie sie während des Zweiten Weltkrieges entwickelt wurden, ausgefochten werden. Daß es weiterhin zu Kriegen kommen würde, auch im Weltmaßstab, wurde als selbstverständlich vorausgesetzt.
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Von welcher Art war die Lage der Nationen am Ende des Großen Atomkrieges? Das Ende jenes Krieges sah die Welt aufgeteilt in drei große Machtblöcke oder Superstaaten. Nationen existierten nicht mehr. Ozeanien bezeichnete das Reich, das die Vereinigten Staaten, Lateinamerika und das ehemalige Britische Commonwealth umfaßte. Der Mittelpunkt der Autorität war wahrscheinlich, aber nicht mit Gewißheit, Nordamerika, obgleich die Ideologie, welche die Territorien des Superstaates vereinte, von britischen Intellektuellen entwickelt und als Englischer Sozialismus oder Engsoz bekannt war. Die alten geographischen Benennungen hatten ihre einstige Bedeutung eingebüßt; tatsächlich wurde ihre Verbindung mit kleineren nationalen Loyalitäten und traditionellen Kulturkreisen als schädlich für die neue Rechtgläubigkeit angesehen. Was wurde beispielsweise aus Großbritannien? Das wurde in Luftstützpunkt Eins umbenannt – eine neutrale Kennzeichnung, die keine Geringschätzung ausdrücken sollte. Und die anderen Machtblöcke? Die zwei anderen Superstaaten waren Eurasien und Ostasien. Eurasien war durch Eingliederung ganz Kontinentaleuropas in die Sowjetunion entstanden. Ostasien bestand aus China, Japan und dem südostasiatischen Festland, sowie aus Teilen der Mandschurei, der Mongolei und Tibets, die an die Territorien Eurasiens grenzten und je nach den Wechselfällen des Kriegsgeschehens in erzwungener Loyalität zwischen beiden Seiten schwankten. Des Kriegsgeschehens? Der Krieg zwischen den Superstaaten begann 1959 und ist seither im Gange. Also Krieg mit konventionellen Waffen? Richtig. Begrenzte Rüstung und Berufsheere. Die Armeen sind, gemessen an den Verhältnissen früherer moderner Kriege,
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vergleichsweise klein. Die kämpfenden Parteien sind nicht imstande, einander zu vernichten: Könnten sie es, wo würde der Krieg enden, und der Krieg darf nicht enden. Warum darf er nicht enden? Krieg bedeutet Frieden, womit gesagt sein soll, daß der Krieg eine Lebensweise des neuen Zeitalters ist, wie der Friede eine Lebensweise des alten war. Eine Lebensweise und ein Aspekt politischer Philosophie. Aber worum geht es in dem Krieg? Lassen Sie mich zuerst sagen, worum es in dem Krieg nicht geht. Es gibt keine materielle Ursache zu kämpfen. Es gibt keine ideologische Unvereinbarkeit. Ozeanien, Eurasien und Ostasien vertreten alle das gemeinsame Prinzip einer einzigen herrschenden Partei bei totaler Unterdrückung der individuellen Freiheit. Der Krieg hat nichts zu schaffen mit gegensätzlichen Weltanschauungen oder mit territorialem Expansionsdrang. Aber worum geht es in dem Krieg? Vorgeblicher Beweggrund zur Führung des Krieges ist die Herrschaft über ein ungefähr rechteckiges Territorium mit den Eckpunkten Tanger, Brazzaville, Darwin und Hongkong. Innerhalb dieses Gebietes gibt es ein unerschöpfliches Reservoir an billigen Arbeitskräften, Hunderte von Millionen Männer und Frauen, die harte Arbeit und Hungerlöhne gewohnt sind. Der Kampf um diese Beute wird in Äquatorialafrika, dem Mittleren Osten, Südindien und dem Malaiischen Archipel geführt und verlagert sich kaum in Gebiete außerhalb des umstrittenen Bereichs. Es gibt auch Kämpfe im Randbereich der Arktis, wo man wertvolle Bodenschätze vermutet. Vorgeblich. Und das wahre Ziel? Um die Erzeugnisse des industriellen Apparats aufzubrauchen, die Räder in Bewegung, den Lebensstandard aber niedrig zu halten. Denn der wohlgenährte, materiell zufriedene Bürger,
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dem ein weiter Bereich von Konsumgütern zur Verfügung steht und der das Geld hat, sie zu kaufen, ist ein schlechter Untertan für einen oligarchischen Staat. Wer sich den Bauch mit Fleisch füllen kann, kehrt den dürren Knochen politischer Doktrin den Rücken. Hingegen neigt der materiell Bedürftige eher zu fanatischer Ergebenheit. Überdies sind Loyalität und was man Patriotismus zu nennen pflegte, am einfachsten aufrechtzuerhalten, wenn der Feind vor den Toren zu stehen scheint. Welcher Feind? Eine gute Frage. Ich sprach von ständigem Krieg, aber es ist, um genau zu sein, nicht immer derselbe Krieg. Ozeanien ist bisweilen mit Eurasien gegen Ostasien verbündet, manchmal mit Ostasien gegen Eurasien. Und manchmal sieht es sich einer Allianz der beiden anderen gegenüber. Die Bündniswechsel kommen erstaunlich rasch zustande und erfordern entsprechend schnelle Umorientierungen der Politik. Aber es ist notwendig, daß der Krieg von offizieller Seite stets als derselbe Krieg dargestellt wird, und daraus folgt, daß auch der Feind stets einer und derselbe sein muß. Der Feind muß zu jedem gegebenen Zeitpunkt der immerwährende Feind sein, der vergangene und der zukünftige Feind. Unmöglich. Unmöglich? Die herrschende Partei übt eine totale Kontrolle über das kollektive Gedächtnis aus und vermag die Vergangenheit durch Veränderung oder »Berichtigung« der archivierten Unterlagen mühelos mit der Gegenwart in Einklang zu bringen. Was heute wahr ist, muß immer wahr gewesen sein. Wahrheit ist Aktualität. Aktualität ist jetzt. Da haben wir einen weiteren Grund für das Bedürfnis nach einem immerwährenden Feind, doch sollte diese Erwägung am besten zurückgestellt werden. Bis…?
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Bis Sie das wahre Ziel des Engsoz richtig verstehen. Beschreiben Sie die ozeanische Gesellschaft. Sie ist sehr einfach geschichtet. Fünfundachtzig Prozent der Bevölkerung sind proletarisch. Die Proles, wie sie offiziell genannt werden, sind verächtlich, weil ungebildet, apolitisch und bei aller murrenden Unzufriedenheit träge. Sie führen die meisten niedrigen Arbeiten aus und begnügen sich mit den viehischsten Ablenkungen. Die restlichen fünfzehn Prozent bestehen aus Parteimitgliedern, wobei zwischen Innerer und Äußerer Partei unterschieden wird. Die Innere Partei ist eine gewählte Aristokratie mit der Aufgabe, die Metaphysik des Engsoz ins Werk zu setzen. Die Äußere Partei besteht aus Funktionären, einer Art unterer Beamtenschaft, deren Angehörige in den vier Hauptabteilungen der Regierung beschäftigt sind – den Ministerien für Liebe, Überfluß, Wahrheit und Frieden. Frieden? Eigentlich Krieg. Aber Krieg bedeutet Frieden. Wer steht an der Spitze der Partei? Eine Großer Bruder genannte Persönlichkeit, die, da sie nie geboren wurde, niemals sterben kann. Der Große Bruder ist Gott. Man muß ihm gehorchen, ihn aber auch lieben. Ist das möglich? Es ist notwendig. Aber kann man dazu gebracht werden, daß man auf Befehl liebt? Es gibt Mittel und Wege. Die Ausschaltung der ehelichen Liebe, der Liebe zwischen Eltern und Kindern, die Zerstörung der Freude an der Sexualität und Hilfe bei der Umorientierung dessen, was man als ein emotionales Bedürfnis betrachten kann, auf einen geeigneten Gegenstand. Die Existenz des Verräters Emmanuel Goldstein, der immer mit dem Feind im Bunde ist, den Großen Bruder haßt und die Vernichtung Ozaniens
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betreibt, garantiert eine fortwährende Verbreitung von Furcht und Abscheu unter der Bevölkerung und bewirkt gleichzeitig eine ausgleichende Verehrung des Mannes, der allein beschützen und erretten kann. Was ist die Metaphysik des Engsoz? Die letzte Realität hat – wie der Urgrund, das heißt Gott – keine Existenz außerhalb des Bewußtseins, das sie beobachtet. Sinneseindrücke und Ideen sind in gleicher Weise bloß subjektive Phantome. Das Bewußtsein ist jedoch kein individuelles, sondern ein kollektives. Das Bewußtsein des Großen Bruders enthält alle anderen. Seine Sicht der Realität ist die wahre, und alle anderen sind falsch, häretisch, eine Gefahr für den Staat. Das Individuum muß lernen, die Sicht der Partei ohne Frage und ohne Zögern zu akzeptieren, indem es eine als »Zwiedenken« bekannte Technik verwendet, um scheinbare Widersprüche miteinander in Einklang zu bringen. Nach außen zur Schau getragene Konformität ist nicht ausreichend. Eine völlige und aufrichtige Untertanentreue ist vonnöten. Steht die individuelle Erinnerung an die Vergangenheit im Gegensatz zur Parteigeschichte, so muß das Mittel augenblicklicher Gedächtniskontrolle angewendet werden. Jeder Widerspruch kann und muß aufgeklärt werden. Zwiedenken – völlig instinktiv, aufrichtig und uneingeschränkt – ist ein wesentliches Instrument der Orthodoxie. Was, abgesehen von metaphysischem Idealismus und der Vollkommenheit seiner Verbreitung durch die Gliederungen der Partei, ist das wahre Ziel des Engsoz? Wenn Sie demagogische Heuchelei erwarten, werden Sie sie nicht bekommen. Herrschaft ist nicht an der Wohlfahrt der Beherrschten orientiert. Herrschaft dient der Machtausübung. Die Partei verlangt völlige Kontrolle von allem, was außerhalb ihrer selbst ist, verdaut die gesamte äußere Realität in ihrem Organismus, ist aber mit Bedacht abgeneigt, ihre Feinde zu
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absorbieren. Der Krieg gegen Ostasien oder Eurasien oder beide wird niemals enden, der verräterische Geldstein niemals sterben, weil Engsoz Feinde braucht wie ein Nußknacker Nüsse. Nur mittels Feinden kann Macht zufriedenstellend ausgeübt werden. Die Zukunft ist ein Stiefel, der immerfort das Gesicht eines Opfers zermalmt. Alle anderen Genüsse werden mit der Zeit dem Genuß der Machtausübung untergeordnet sein – Essen, Kunstausübung, Naturgenuß und vor allem Sex. Will niemand gegen diese Verweigerung menschlicher Freiheit revoltieren? Niemand. Ausgenommen natürlich einzelne Verrückte. Der Große Bruder ist bestrebt, solche Abweichler mit liebevoller Fürsorge zur Vernunft zu bringen. Und sie dann als Fehler im Gesamtmuster zu vaporisieren, in Unpersonen zu verwandeln. Rebellion ist eine Ausdrucksform der überlebten alten Verhaltensweisen. Und was ist diese menschliche Freiheit? Freiheit wovon? Freiheit wozu? Man kann frei von Krankheit sein, wie ein Hund frei von Flöhen sein kann, aber Freiheit als ein Absolutes ist Freiheit im luftleeren Raum. Die Losungen alter Revolutionen waren immer Unsinn. Freiheit. Gleichheit. Brüderlichkeit. Das Streben nach Glück. Tugend. Wissen. Macht ist anders. Macht ergibt einen Sinn. Gott ist Macht. Macht ist beständig…
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ABSICHTEN Es gibt viele, die Orwells Roman 1984 nicht gelesen haben, aber Begriffe wie »Zwiedenken«, »Neusprache« und »Großer Bruder« kennen und vor allem die Zahl 1984 mit einer Situation verbinden, in der das Individuum sein Recht auf eine moralische Wahl (das ist, was mit Freiheit gemeint ist) verloren hat und der willkürlichen Machtausübung einer herrschenden Gruppe – nicht notwendigerweise des Staates – unterworfen ist. Daß das Jahr 1984 ohne die Verwirklichung des Alptraums kommen und gehen mag – vielleicht sogar mit einer Vermehrung der persönlichen Freiheit und einem Verfall korporativer Macht -, wird die grausige Identifikation nicht zwangsläufig entwerten. Zwiedenken, das die Kunst der Erfindung begünstigen kann, bringt es zuwege, daß wir uns mit den dreistesten Ungleichheiten abfinden. In Stanley Kramers Verfilmung des Romans On the Beach von Nevil Shute geht die Welt 1962 zu Ende. Betrachten wir den Streifen im Querausschnitt alter Filme im Fernsehen, so schaudert uns noch heute angesichts dessen, was in den sechziger Jahren geschehen wird. Selbst in einem idyllischen Jahr 1984 wird das 1984 der Orwellschen Zukunftsvision noch immer als ein Symbol der schlimmsten Befürchtungen der Menschheit dienen. 1984 wird als eine etwas unbestimmte Metapher sozialer Tyrannei gebraucht, und man muß die Unbestimmtheit bedauern. Aufgefordert, im Unterrichtsraum kein Marihuana zu rauchen und ein wenig zu lesen, haben amerikanische Collegestudenten gesagt: »Wie 1984, Mann!« Die Bezeichnung »Orwellsch« wird vom Computerausdruck bis zur funktionalen Kälte eines neuen Flughafens auf alles angewendet. Dabei gibt es im Luftstützpunkt Eins keine Computer, und die meisten Gebäude, von denen wir lesen, sind viktorianisch oder frühes zwanzigstes Jahrhundert und in einem Zustand des mehr oder weniger fort-
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geschrittenen Verfalls. Das heutige Leningrad mit seinen renovierungsbedürftigen Fassaden und seinen kariösen Lagerhäusern ist dem London des Großen Bruders näher als, sagen wir, der Flughafen von Dallas. Für Orwell muß hier Wells stehen – insbesondere die Ausstattung des 1936 gedrehten Films Things to come. Der springende Punkt ist der, daß es völlig unwichtig ist, wie die urbane Szenerie 1984 aussieht, da die Wirklichkeit ganz auf der geistigen Ebene liegt. Und es ist nichts »Orwellsches« an bestimmten Entbehrungen, wie etwa einem Kopulationsverbot in der Straßenbahn: Es ist die totale und absolute, planmäßige und philosophisch folgerichtige Unterordnung des Individuums unter das Kollektiv, die Orwell in eine Zukunft projiziert, die, wenngleich im Jahre 1984 angesiedelt, jeden Zeitpunkt zwischen unserer Gegenwart und 1962 besetzen könnte, wenn Nevil Shute die Welt untergehen läßt. Wir haben die folgenden Aufgaben. Die wachend erlebten Ursprünge von Orwells schlechtem Traum zu verstehen – in ihm selbst und in dem Abschnitt der Geschichte, der ihn prägen half. Zu sehen, wo er irrte und wo er recht gehabt zu haben scheint. Ein alternatives Bild der Verhältnisse zu gewinnen, auf welche die ausgehenden siebziger Jahre hinzusteuern scheinen und die sehr wohl in einem realen 1984 bestehen mögen – oder, um dem Vorwurf des Plagiats zu entgehen, 1985. Orwells Geschichte spielte in England, und das wird auch die meinige tun. Ehe sie den umgekehrten Chauvinismus dieses Autors beklagen, mögen ausländische Leser bedenken, daß Großbritannien mit der gleichen Zerstreutheit, die ihm sein Weltreich eintrug, gewöhnlich dem sozialen Wandel die Wege gebahnt hat. Dem Wandel zum Schlechteren ebenso wie dem zum Besseren. Die Franzosen sind gescheiter als die Engländer. Sie sind geschickt in der intellektuellen Arbeit, neue Verfassungen zu Papier zu bringen, aber die Formen neuer Ordnung müssen
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zuerst in England hervorkommen. Montesquieus L’Esprit des lois, das starken Einfluß auf die Verfassung der Vereinigten Staaten hatte, hätte nicht geschrieben werden können, wenn es in England nicht einen bestehenden Gesellschaftsvertrag gegeben hätte – einen, den Montesquieu nicht ganz verstand. Die Briten verstehen ihre politischen Systeme auch nicht allzu gut, aber sie behaupten nicht, gescheit zu sein. Der Nationalökonom und politische Schriftsteller Walter Bagehot beschrieb die Briten als dumm. Es ermangelt ihnen der kollektiven Intelligenz, mit der die Franzosen sich brüsten, aber sie leiden nicht merklich unter diesem Mangel. Die französische Verstandeskraft mag etwas mit der französischen Kapitulation von 1940 zu tun gehabt haben; britische Dummheit riet zum Widerstand gegen Hitlerdeutschland. Aus Dummheit, die als Intuition bemäntelt werden mag, kam es zur Revolution des siebzehnten Jahrhunderts und der Regelung von 1688 mit der Begrenzung der Macht der Exekutive und der Bill of Rights. Aus dem verfahrenen Durcheinander des zeitgenössischen Großbritanniens mag sehr wohl das Grundmuster der Zukunft des Westens zum Vorschein kommen. Es ist ein Muster, das viele von uns beklagen müssen, aber nur Engsoz und der Große Bruder werden imstande sein, es zu brechen.
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1948: GESPRÄCH MIT EINEM ALTEN MANN Orwells Buch ist ein im wesentlichen komisches Buch. Ein was? Überlegen Sie. Meine Bücherregale sind in Unordnung. Als ich 1984 wieder lesen wollte, konnte ich zuerst nur die italienische Ausgabe finden. Diese mußte einstweilen genügen. Aber mit dem ersten Satz stimmte etwas nicht. Era una bella e fredda mattina d’aprile e gli orologi batterono l’una. Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen eins. Es sollte battevano tredici colpi heißen: Sie schlugen gerade dreizehn. Lateinische Logik, sehen Sie. Der Übersetzer konnte nicht glauben, daß Uhren dreizehn schlagen würden, selbst 1984, da kein vernünftiges Ohr jemals mehr als zwölf Glokkenschläge gehört hatte. Also mußten die italienischen Leser gezwungenermaßen auf ein Signal des Komischen verzichten. Richtig muß es heißen: »Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen gerade dreizehn« Man lacht, oder lächelt. Oder schaudert? Oder schaudert wohlig. Wie am Anfang der besten Gruselgeschichten, wenn in einer vertrauten Welt seltsame, schreckliche und unglaubliche Dinge geschehen. Die Welt des englischen Aprilwetters, zunächst. Ein rauher Wind, der den Sonnenschein Lügen straft. Staubwirbel an Straßenecken. Hochgerissener Sand und Schmutz, der einem auf der Haut prickelt, ins Auge gerät. Eine heruntergekommene, müde Stadt am Ende eines langen Krieges. Baufällige Wohnblocks, der Geruch von gekochtem Kohl und feuchten Fußmatten im Treppenhaus. Komisch, um Himmels willen! Komisch in der Art der alten Tingeltangelvarietes. Die Komödie des allzu Erkennbaren. Um 2964 zu würdigen, muß man sich erinnern, wie es 1948 war. 1949 – das war das Jahr, als das
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Buch herauskam – erzählte mir jemand, daß Orwell es 1948 hatte nennen wollen. Aber das wollten sie ihm nicht zugestehen. Sie erinnern sich an die ersten Buchbesprechungen? Ja. Meistenteils lauwarmes Lob. Nur Bertrand Russell sah, daß hier etwas Seltenes vorlag, ein philosophischer Roman. Die anderen sagten, daß Mr. Orwell mit seinem gekochten Kohl und den abgetretenen Fußmatten überzeugender sei als mit seinem Totalitarismus. Daran ist etwas Wahres. Orwell war bekannt als eine Art komischer Poet des Heruntergekommenen und Schäbigen. Down and out in Paris and London. The Road to Wigan Pier. Wigan Pier – das war immer ein großer Spaß im Kabarett*. Orwell war gut in Dingen wie den Wohnküchen von Arbeitern, starkem Tee von Mahagonifarbe, dem neuesten Mordfall in der Zeitung News of the World, Fisch und Chips, verstopften Abflußrohren. Er verstand die Atmosphäre von 1948 einzufangen. Ein Gefühl von schmieriger Unsauberkeit, Überdruß und Mangel. Aber diese Dinge waren nicht tragisch. Alle Tragödie war damals reserviert für die Vernichtungslager der Nazis. Und für Stalins Todeslager, aber an die sollte man nicht denken. Folglich waren unsere eigenen Schwierigkeiten komisch. Sie meinen, wenn eine Sache nicht tragisch ist, dann müsse sie komisch sein? In der Kunst, wenn nicht im wirklichen Leben. Lassen Sie mich mehr über 1949 erzählen, als ich Orwells Buch über 1948 las. Der Krieg war seit vier Jahren beendet, und wir vermißten die Gefahren – zum Beispiel die V-Waffen. Man kann Entbehrungen ertragen, wenn man den Luxus der Gefahr hat. Aber nun litten wir schlimmeren Mangel als während des Krieges, *
Der Scherz solcher Anspielungen besteht darin, daß Wigan Pier in Wirklichkeit nicht existiert, es sei denn als ein schmaler Steig oder Treidelpfad entlang einem kleinen Kanal (Anm. d. Übers.) 19
und es schien von Woche zu Woche schlechter zu werden. Die wöchentliche Fleischration war auf ein paar Schnitten fettigen Corned Beefs geschrumpft. Ein Ei gab es, und nicht selten war es schlecht. Ich glaube mich zu erinnern, daß man Kohl ziemlich leicht bekommen konnte. Gekochter Kohl war ein wohlriechendes Hauptnahrungsmittel. Zigaretten konnte man nicht bekommen. Rasierklingen waren vom Markt verschwunden. Ich erinnere mich an eine Kurzgeschichte, die mit den Worten begann: »Es war der vierundfünfzigste Tag der neuen Rasierklinge« – da haben Sie die Komödie. Allenthalben sah man die Auswirkungen der deutschen Bombardierungen, und auf den Trümmerhaufen und in den Kratern leuchteten SchattenSteinbrech und Weiderich. Alles das können Sie bei Orwell nachlesen. Wenn ich Sie recht verstehe, wollen Sie damit sagen, daß 1984 nicht mehr als eine komische Umschreibung des London der ersten Nachkriegsjahre ist. Nun ja. Der Große Bruder, zum Beispiel. Wir alle waren über den Großen Bruder im Bilde. Die Anzeigen für das Fernstudium durch Bennett-Korrespondenzkurse waren ein Merkmal der Vorkriegspresse. Da gab es ein Bild von Bennett pere, einem netten alten Herrn, schlau aber wohlwollend, der sagte: »Lassen Sie mich Ihr Vater sein«. Dann kam Bennett fils daher, übernahm das Geschäft von seinem alten Herrn, ein sehr brutal aussehendes Individuum, und sagte: »Lassen Sie mich Ihr Großer Bruder sein«. Und diese Geschichte mit der Haßwoche. Der Held des Buches, Winston Smith, kann den Aufzug zu seiner Wohnung nicht nehmen, weil der Strom abgeschaltet worden ist – das waren wir alle gewohnt. Aber 1984 ist der Saft abgedreht als Teil einer Sparaktion in Vorbereitung auf die Haßwoche – typische Regierungsinkonsequenz. Organisierter Haß war uns damals allen vertraut. Als ich in der Armee war, wurde ich zu einem Kurs in eine Haßschule geschickt. Sie
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wurde von einem verdächtig jungen Oberstleutnant geleitet – Liebster welches einflußreichen Sadisten, eh? Man lehrte uns Haß auf den Feind. »Los, ihr Kerle, haßt, in Gottes Namen! Seht euch diese Bilder von den Greueltaten der Hunnen an! Sicherlich wollt ihr den Bastarden die Kehlen durchschneiden! Spuckt auf die Schweine, gebt es ihnen mit dem Stiefel! « Eine Menge verdammten Unsinns. Dann ist der Widerspruch in diesem Abschnitt des Buches auch komisch gemeint? Widerspruch? Der Strom ist ausgeschaltet worden, aber der Televisor posaunt Erfolgsstatistiken in die leere Wohnung. Es ist schwierig, die Vorstellung von zwei verschiedenen Stromversorgungsnetzen zu akzeptieren. Daran hatte ich nicht gedacht. Ich glaube, niemand denkt sich etwas dabei. Aber Sie haben recht – eine notwendige Ausschaltung des Zweifels, wie sie einer Art komischer Märchengeschichte angemessen ist. Und der Fernsehschirm, der einen anschaut – den hatte Orwell in Chaplins Film Moderne Zeiten entdeckt. Aber es ist gleichwohl prophetisch. Wir leben bereits im Zeitalter des Supermarkts, wo wir bei unseren Einkäufen von Fernsehkameras überwacht werden. Gab es in England damals Fernsehen? Sind Sie verrückt? Ende der dreißiger Jahre hatten wir schon Fernsehen. Das System Baird, das James Joyce die »Bairdbombardementbehörde« oder so nannte. Logie Baird, sein Name scheint noch undeutlich in Yogi Bear nachzuhallen. Ich sah das allererste Fernsehspiel der BBC: Pirandello, L’uomo dal fiore in bocca. Der Baird-Bildschirm brachte die Bildübertragung, den Ton lieferte das Radio dazu. Aldous Huxley übertrug dieses System auf seine Brave New World -1932, soweit ich mich erinnere. Wohlgemerkt, es ist niemals notwendig gewesen, tatsächlich Fernsehen zu haben, um sein Potential zuer-
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kennen. In Schneewittchen hat die Königin einen Fernsehschirm, der bloß eine Werbesendung ausstrahlt. In seiner Komödie Friar Bacon and Friar Bungay hat Robert Greene einen Fernsehschirm oder magischen Spiegel zu Spionagezwecken. Das war um 1590. Das Wort existierte vor dem Ding. Um 1948 war das Ding wieder da, glaube ich. Es war zu der Zeit deutlich, daß Fernsehen ein Teil von jedermanns Leben sein würde. Unter den Fantasievollen gab es ein Gefühl, daß die Gesichter, die aus dem Bildschirm sprachen, einem tatsächlich ins Wohnzimmer sahen. Das Fernsehen war zudringlich. Die ersten Nachkriegsprogramme waren mehr lehrhaft als unterhaltend. Der Bildschirm war für große Gesichter, nicht für die winzigen Gestalten alter Filme. Die Anpassung des Sehvermögens, die wir heute für selbstverständlich halten, war anfangs nicht einfach – ich meine die Fähigkeit, vor einem transportablen Kleinempfänger eine napoleonische Schlacht anzusehen. Der Fernsehempfänger in der Ecke des Wohnzimmers war ein Auge, und es mochte einen tatsächlich anschauen. Es war ein Familienmitglied, aber auch der Agent einer großen und mächtigen Organisation. Ich erinnere mich, daß viele Leute eine Scheu zeigten, sich vor dem Gerät auszuziehen. Sie finden das komisch? Passen Sie auf… Es bestand natürlich keine Möglichkeit festzustellen, ob man in einem gegebenen Augenblick gerade überwacht wurde. Wie oft und nach welchem System die Gedankenpolizei sich in einen Privatapparat einschaltete, blieb der Mutmaßung überlassen. Es war sogar möglich, daß jeder einzelne ständig überwacht wurde. Auf alle Fälle aber konnte sie sich, wenn sie es wollte, jederzeit in einen Apparat einschalten. Man mußte in der Annahme leben – und man stellte sich tatsächlich instinktiv darauf ein -, daß jedes Geräusch, das man machte, abgehört und, außer in der Dunkelheit, jede Bewe-
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gung beobachtet wurde. Nein, nicht komisch, aber auch nicht so beängstigend wie alles das. Die Möglichkeit, von dem elektronischen Auge erwischt zu werden, stellt die eigentliche Zudringlichkeit dar. Winston Smith wird vom Großen Bruder nicht in die Küche oder die Toilette verfolgt – jedenfalls nicht in viktorianischen Mietshäusern. (Übrigens kommt es mir ganz und gar falsch vor, daß es ihm erlaubt sein sollte, allein in einer Wohnung zu leben. Würde es nicht eher eine Angelegenheit von Schlafsälen sein, mit einem Muskelmann der Polizei im letzten Bett?) In der nächtlichen Geborgenheit des Bettes kann es reichlich subversives Denken geben. Die Überwachung durch den Televisor ist vielleicht keine wirkliche Bedrohung – ebensowenig wie das Abhören für diejenigen, denen es bekannt ist, eine Bedrohung darstellt. Es ist eine Metapher für den Tod privater Zurückgezogenheit. Entscheidend ist, daß der Televisor nicht abgeschaltet werden kann. Es ist wie musikalische Dauerberieselung, eine ständige Erinnerung an die Gegenwart der großen Körperschaft, des Staates, des Antiselbst. Aber Winston wird tatsächlich beobachtet. Die Leiterin der Morgengymnastik tadelt ihn aus dem Bildschirm, weil er sich nicht genügend anstrengt. Ja, aber der Anlaß ist komisch. Wir sind hier nicht weit von den Billy-Butlin-Ferienlagern, die in den Nachkriegsjahren so beliebt waren. Morgens scheuchte man die Feriengäste mit scherzhaften Rufen aus den Betten und verleitete sie zur Frühgymnastik bei lauter Musik. Wußte Orwell von diesen Ferienlagern? Nein, er starb, bevor sie in Mode kamen. Und die Organisatoren wußten nichts von ihm. Aber das Interessante daran ist, daß diese Ferienlager eine Zeitlang ungemein populär waren, und das in einer Zeit, wo der Begriff Lager und der bloße Gedanke
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an Reglementierung, und sei sie noch so harmlos, jeden durchschnittlichen Briten hätte anekeln sollen. Natürlich waren solche Ferien vergleichsweise billig. Aber das allein reichte nicht hin, um sie zu empfehlen. Männer kamen aus der Armee, um vierzehn Tage Sommerferien mit Frau und Kindern in einer Umgebung zu verbringen, die sehr viel Militärisches an sich hatte – morgendliches Wecken, Feldküchen, Speisesäle, organisierte Unterhaltung, körperliche Übungen (ein Aspekt des militärischen Lebens, den die meisten Soldaten mehr verabscheuten als ein Frontkommando). Es gab uniformierte Lageroffiziere, die Rotröcke genannt wurden – ein Name, der unangenehm an Rotmützen gemahnte, wie die Militärpolizei genannt wurde. Und stets dröhnte diese laute großbrüderliche Stimme aus dem Lautsprecher und ermunterte alle, glücklich zu sein. Späte Zecher, die sich zur Polizeistunde noch in der Kantine an ihren Gläsern festhielten, wurden von weiblichen Rotröcken in einer schlauen Conga-Reihe hinaus und zu ihren Quartieren getanzt. Die Butlin-Ferienlager bewiesen, daß das britische Proletariat Disziplin nicht wirklich ablehnte. Der arbeitende Mensch stellte dem Soldatenleben nicht so sehr die zivile Freiheit gegenüber, als vielmehr die Beimischung von Herzlichkeit in die Reglementierung. Das Nachkriegsproletariat akzeptierte die Ferienlager so bereitwillig wie es amerikanische Armeeinheiten in englischen Dörfern, endlose Schlangen vor den Geschäften und die Unverschämtheit von subalternen Bürokraten akzeptierte. Und das beweist was? Ich weigere mich, eine Moral daraus zu ziehen. Die Moral, die Orwell aus dem zog, was er vom britischen Arbeiter sah, ist schrecklich und übertrieben. Ich beharre darauf, nach der Komödie zu suchen. Und nach einer Identifikation von 1984 mit 1948? Ja, weil sie Teil der Komödie ist, einer Komödie, die biswei-
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len ein wenig abschreckend ist und der es an schwarzem Humor nicht fehlt. Und einem Anflug von Pathos. Man möchte über Winston Smith weinen, so kenntlich ist er als ein Engländer der vierziger Jahre, hervorgegangen aus der arbeitenden Klasse – »eine abgezehrte, gebrechliche Gestalt… seine Haut rauh von der groben Seife, den stumpfen Rasierklingen und der Kälte des gerade überstandenen Winters«. Abgehärtet gegen Kälte und Entbehrung, durch eine Tradition von Armut und schlechter Ernährung unter der normalen Größe. Er blickt »mit einer Art undeutlichen Abscheus« auf London hinaus… »hatten da immer diese langen Reihen heruntergekommen aussehender Häuser aus dem neunzehnten Jahrhundert gestanden, deren Mauern mit Balken gestützt, deren Fenster mit Pappendeckel verschalt und deren Dächer mit Wellblech gedeckt waren, während ihre schiefen Gartenmauern kreuz und quer in den Boden sackten«? Die Antwort ist: nicht immer. Dies ist das London der Kriegszeit oder kurz danach. Ganz gewiß ist es nicht ein London prophetischer Vision. Sicherlich. Wie steht es mit den Ministerien für Liebe, für Wahrheit und so weiter? Nun, das Ministerium für Wahrheit könnte durchaus als das Rundfunkgebäude gesehen werden, wo Orwell während des Krieges arbeitete. Hauptquartier der BBC. Die anderen Ministerien brauchen bloß wie dieser Prototyp auszusehen. Im Ministerium für Liebe gibt es jenen furchtbaren Raum, wo das Schlimmste geschieht – Zimmer 101. Zimmer 101 im Erdgeschoß des Rundfunkgebäudes war der Raum, wo Orwell Propagandasendungen für Indien zu produzieren pflegte. Nicht weit vom Rundfunkgebäude war – und ist noch immer – eine Schankwirtschaft, die »das George« genannt wird und sich bei den BBC-Angestellten einiger Beliebtheit erfreut. Sir Thomas Beecham taufte dieses Lokal den Leimtopf, weil seine Musiker darin kleben blieben. Auch dieser Name ist hängengeblieben.
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Nun, in 1984 gibt es ein übel beleumundetes Lokal, das Cafe Zum Kastanienbaum, wo Winston Smith am Ende vor seinem mit Gewürznelken aromatisiertem Gin sitzt und auf die Kugel wartet. Es ist ein und dasselbe Lokal, obwohl das Cafe Zum Kastanienbaum einen Beigeschmack vom Mandrake Club hat, einem Ort, wo man Gin von geheimnisvoller Provenienz trank und Schach spielte. Seltsamerweise entstand die unheilvolle Atmosphäre des George erst nach Orwells Tod. Es war das Lokal, wo man mit Dylan Thomas, Louis MacVeice oder Roy Campbell trank und beim nächsten Besuch erfuhr, daß sie tot waren. Beachten Sie das Lied, das aus dem Televisor dringt, als Winston seinen Gin trinkt und sich den Kopf über ein Schachproblem zerbricht: Wo die Kastanie breitet sich verriet ich dich, verrietst du mich… Wir assoziierten das – natürlich nicht mit diesen unerfreulichen Worten – immer mit König George VI. in seiner Eigenschaft als Pfadfinderführer. Das Lied wurde sogar zu einem Tanz wie dem Lambeth Walk gemacht und war schrecklich harmlos und bukolisch. Orwell vergiftet wirklich die Vergangenheit, wenn er den höhnischen gelben* Klang hineinbringt, um seine Worte zu gebrauchen. Nicht lustig. Überhaupt nicht komisch. Davon abgesehen würden Sie aber sagen, daß das Buch eine übertriebene Darstellung einer schlechten Zeit sei, nicht mehr? Oh, sehr viel mehr, aber ich muß feststellen, daß Orwell nicht wirklich die Zukunft voraussagte. Romane werden aus Sinnesdaten gemacht, nicht aus Ideen, und für mich ist es der sinnliche Eindruck dieses Romans, der zählt. Ich meine den Gin, der »einen ekligen öligen Geruch ausströmte, wie von chinesi*
Im Sinn von feige (Anm. d. Red.) 26
schem Reisschnaps«. (Wie konnte Winston das wissen? Das ist der Autor selbst, vormals bei der Polizei in Burma, der hier dazwischenkommt.) Die Knappheit von Zigaretten, und daß die einzigen zugeteilten Zigaretten Victory heißen – dieselbe Marke, die während des Krieges an unsere in Übersee stationierten Truppen ausgegeben wurde – sporadisch. Der Betrug der Sinne mit minderwertiger Nahrung, schlechtem Fusel und Zigaretten, die derbe Kleidung, die grobe Seife, die stumpfen Rasierklingen, das Gefühl, ungepflegt und unsauber zu sein – es war alles da für die fiktive Umsetzung. Eine schlechte Zeit für den Körper. Man verlangte nach dem Brot minimaler Bequemlichkeit und bekam statt dessen den Stein des Fortschritts. Fortschritt. Das bringt uns zum Engsoz, nicht wahr? Ja. Das eingerissene Plakat an der Straße, unruhig im Wind flatternd, mit dem einzigen Wort ENGSOZ darauf. Englischer Sozialismus. Ich erinnere mich, daß der englische Sozialismus 1945 an die Macht kam, durch einen Erdrutschsieg für die Linke. Bei der Eröffnungssitzung des Parlaments sangen sie »Die Rote Flagge«. »God Save the King« und »Rule Britannia« und »Land of Hope and Glory« gingen darin unter. Winston Churchill, Kriegspremier und Kopf der Konservativen Partei, war zuerst verblüfft, daß das Land ihn zurückgewiesen haben sollte, den Mann, der es durch das Tal der Schatten zu den sonnigen Hochländern eines eingeschränkten Triumphs geführt hatte, und später sprach er von Verrat. Die Rechtfertigung seiner Zurückweisung lag in dieser selben Überraschung: er schien einfach nicht zu verstehen, was vorgegangen war. Warum wird Winston Smith so genannt? Darauf kommen wir noch. Wir haben jetzt schwierige Gewässer zu befahren. Ist Englischer Sozialismus das gleiche wie Engsoz? Glaubte Orwell es? Schließlich wollte er den Sozialismus. Wir alle wollten ihn. Man sagt, der Englische Sozialismus habe 1945 dank der Stimmen der Streitkräfte den Sieg
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davongetragen. In Militärlagern und an Bord von Schiffen auf der ganzen Welt wurde ein sorgfältig ausgearbeiteter Apparat in Gang gesetzt, um die Angehörigen der britischen Streitkräfte in die Lage zu versetzen, daß sie ihr Stimmrecht ausübten. Sehr wenige nahmen an der Wahl nicht teil. Sehr viele – sogar jene, die, wie ich selbst, in einer konservativen Tradition aufgewachsen waren und später zu ihr zurückkehren sollten – wählten ohne Zögern Labour. Warum ? Ach, Winston Churchill selbst hatte etwas damit zu tun. Das höhere Offizierskorps schätzte ihn, aber bei der Truppe war er nicht so sehr beliebt. Er hatte viele von den Qualitäten, die einen Volkshelden auszeichnen – exzentrische Farbigkeit, eine Gabe für Derbheiten und rauhen Witz, eine Sprechweise, die volkstümlicher klang als diejenige gewisser Labourführer -, obwohl es in Wirklichkeit das aristokratische Näseln eines früheren Zeitalters war. Er hatte eine enorme Aufnahmefähigkeit für Branntwein und Zigarren. Aber es war unklug von ihm, die letzteren zu rauchen, wenn er die Truppen besuchte. Manche von uns hätten zu Zeiten ihr Seelenheil für einen Zug an einer Victory-Zigarette hingegeben. Was, abgesehen von den Zigarren, war mit ihm los ? Er liebte den Krieg zu sehr. Zur Zeit der Parlamentswahlen von 1945 trugen viele von uns seit beinahe sechs Jahren Uniform. Wir wollten sie endlich ausziehen und unser eigentliches Leben wiederaufnehmen – oder, und das galt für die meisten von uns, endlich beginnen. Churchill predigte über die Gefahren einer allzu hastigen Auflösung der Wehrpflichtigenarmee. In Mitteleuropa war der eiserne Vorhang heruntergegangen; der russische Verbündete war wieder in seine alte Rolle der bolschewistischen Bedrohung geschlüpft. Wir einfachen Soldaten wußten nichts von den neuen Entwicklungen in der internationalen Politik, den jähen Verschiebungen der Gewichte. Wir
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hatten geglaubt, Rußland sei unser großer Mitkämpfer gegen die faschistische Tyrannei, und nun war es der Feind geworden. Wir waren naiv genug, uns einzubilden, daß Krieg für große Staatsmänner genauso wie für uns ein notwendiges, aber schmerzliches Zwischenspiel sei. Wir wußten nicht, daß große Staatsmänner den Krieg als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln betrachten. Wir hatten genug von Churchill. Er weinte, als wir ihn zurückwiesen. Aber Orwell bewunderte ihn offensichtlich. Andernfalls hätte er seinen Helden nicht nach ihm benannt. Nein, nein, nein. Namentlich unter den amerikanischen Lesern von 1984 herrschte anfangs der Eindruck vor, daß Winston Smiths Name ein Symbol für eine edle freiheitliche, nun für immer verlorengegangene Tradition sei. Aber es war nichts dergleichen. Es war wieder Komödie. Der Name Winston Smith ist komisch: er bringt britische Leser zum Lachen. Er deutet auch etwas vage Unanständiges an, einen politischen Dilettantismus, der gegen die neuen Profis niemals eine Chance hatte. Die Ablehnung Churchills muß sicherlich ein untergeordneter Aspekt der Ursachen sein, die 1945 zu der allgemeinen Hinwendung zum Sozialismus führten. Gab es während des Krieges nicht obligatorischen Unterricht in Staatsbürgerkunde? Trug dieser nicht dazu bei, daß in den Angehörigen der Streitkräfte der Wunsch nach einem Regierungswechsel wach wurde? Bis zu einem gewissen Grade ja. Der größere Teil der britischen Bevölkerung war an Politik niemals sonderlich interessiert gewesen, aber während des Krieges gab es tatsächlich eine obligatorische staatsbürgerliche Erziehung, besonders in der Armee, mit wöchentlichen Diskussionen, die von den Zugführern geleitet wurden. Diese bekamen dafür aktuelles Material vom Army Bureau of Current Affairs – ABCA, ein Vorge-
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schmack des neuen Zeitalters, das schwangere Akronym. Es gab sogar ein aufrüttelndes Lied, das niemand sang: ABCA – sing es oder sag es – weist den Weg zu einer prächtigen neuen Welt. Bis über Europa, befreit von den Ketten wieder entrollt wird der Freiheit Flagge, soll nicht erlöschen die Fackel der Demokratie, soll versengen die Schwingen dieser Nacht der Schande – allen die Freiheit des Handelns und der Rede: ABCA ruft euch im Namen der Freiheit. Gott sei uns gnädig. Auch gab es Vorträge von Ausbildungsoffizieren oder Sergeanten über etwas, was British Way and Purpose genannt wurde. Es wurde sogar ein bekenntnishafter Versuch unternommen, die Idee einer wohlinformierten Bürgerarmee nach dem Vorbild von Cromwells Rundköpfen wiederzubeleben, die angeblich gewußt hatten, wofür sie kämpften. Schließlich gab es offene Anleihen bei der Sowjetarmee, mit ihren Wandzeitungen und politischen Kommissaren. Um des historischen Interesses willen, was war der oder die British Way and Purpose? Ich bin mir nicht sicher. Die Sache scheint gespalten gewesen zu sein, sogar schizophren. Oder vielleicht waren die Art und das Ziel nicht so einfach miteinander zu vereinbaren. Viel von dem zur Verfügung gestellten Material war befremdlich reak-
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tionär, mit seiner Verherrlichung eines Kolonialsystems, das sich bereits im Prozeß der Auflösung befand, aber redegewandten Angehörigen des militärischen Publikums stand es frei, während der wöchentlichen Sitzung den Imperialismus zu brandmarken und Kameraden zu beeinflussen, die kaum gewußt hatten, daß ein Britisches Weltreich existierte. Anderes Material behandelte den Aufbau des Wohlfahrtsstaates mit einem vereinheitlichten nationalen Versicherungssystem, das Lord Beveridge, der Liberale, von Bismarcks Deutschland geborgt hatte und das als der Beveridge-Plan bekannt wurde. Ich denke, die Britische Art war demokratisch, und das Britische Ziel war die behutsame Durchsetzung eines Gleichheitsprinzips, wo immer dies möglich war. Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, daß manche reaktionären Obristen sich weigerten, in ihren Regimentern ABCA- oder BWP-Indoktrination zuzulassen, und erklärten, daß das alles »Sozialismus« sei. Gab es keine revolutionären Obristen? Nicht in der britischen Armee. Hingegen gab es viele Revolutionäre unter den Mannschaften, nicht zu vergessen den vereinzelten Leutnant vom Londoner Institut für Volkswirtschaft. Allgemein gesprochen, fand das britische Klassensystem seinen groteskesten Ausdruck in der britischen Armee. Die Berufsoffiziere der höheren Rangstufen stellten traditionelle Erscheinungsformen der Sprache und des gesellschaftlichen Verhaltens zur Schau: ein Offizier hatte ein Herr zu sein, was immer ein »Herr« war. Zweifellos gab es eine, gelinde gesagt, allgemeine Antipathie von Seiten der Truppe gegen ihre Offiziere, eine enorme Kluft zwischen den Manieren, der Sprache, den gesellschaftlichen Wertvorstellungen, einen Abgrund zwischen denen, die führen mußten, und jenen, die nicht geführt sein wollten. Noch heute, mehr als dreißig Jahre nach der Demobilisierung, träumen zahlreiche ehemalige Soldaten, Korporale und Sergeanten davon, wie sie sich für alte Beleidigungen,
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Ungerechtigkeiten und Nuancen von Oberklassen-Verachtung rächen. Bis auf den heutigen Tag ist etwas von der »Offiziersstimme« im Gedächtnis geblieben – die schnarrenden Vokale von Feldmarschall Lord Montgomery, zum Beispiel -, was eine hoffnungslose Wut aufrührt. Die Struktur der Armee war wie eine grobe Parodie auf die Klassenstruktur der zivilen Vorkriegsgesellschaft. Wenn ein Mann als ein sanfter Linker in die Armee eintrat, erwartete er die Wahl von 1945 als ein rasender Radikaler. Ein walisischer Sergeant faßte es für mich zusammen: »Als ich Soldat wurde, war ich rot. Jetzt bin ich dunkelpurpur.« Hätte die britische Kommunistische Partei mehr Kandidaten aufgestellt, so wäre die Zusammensetzung dieses ersten Nachkriegsparlaments möglicherweise sehr interessant gewesen. Und das war alles, was es damit auf sich hatte? Die britischen Truppen brachten die Labour Party an die Macht, weil sie Churchill nicht mochten und eine Abneigung gegen die Art und Weise hatten, wie die Streitkräfte geführt wurden? Nein, es war viel mehr als das. Zu den radikalen Gefühlen gesellte sich eine Art von Utopismus, der für kämpfende Soldaten notwendig ist. Sie mußten glauben, daß sie für mehr kämpften als den bloßen Sieg über einen Feind. Sie verteidigten nicht eine gute Sache gegen eine schlechte, sondern eine schlechte Sache gegen eine schlechtere. Der moderne Krieg zerreißt die zivile Gesellschaft und macht es einfacher, neu aufzubauen statt wiederherzustellen. Von Grund auf neu bauen, um eine allzu lang verzögerte soziale Gerechtigkeit zu sichern – das war ein Traum des Ersten Weltkriegs gewesen, mit seinem Schlagwort »Ein Land, das für Helden zum Leben taugt«, aber der Traum war unerfüllt geblieben. Entlassene Soldaten in Slums oder Lazaretten, arbeitslos und ohne Hoffnung, wünschten, sie wären an der Somme gefallen. Das sollte nicht wieder geschehen, sagten die Briten, und tatsächlich wiederholte es
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sich nicht. 1945 bekam das gewöhnliche britische Volk vielleicht zum erstenmal in der Geschichte, was es verlangte. Bekam Orwell, was er verlangte? Orwell war ein guter Sozialist und begeistert, endlich eine sozialistische Regierung an der Macht zu sehen. Aber seine Antwort war, daß er einen furchterregenden Roman schrieb, in welchem der Englische Sozialismus bei weitem schlimmer erscheint als der deutsche Nationalsozialismus oder der sowjetrussische Sozialismus. Warum? Was ging schief? Ich weiß es nicht. Der Englische Sozialismus, der 1945 an die Macht gelangte, hatte nichts von Engsoz an sich. Es gab da natürlich Machthunger, ebenso wie Korruption, Schlamperei, eine Liebe zur Kontrolle um ihrer selbst willen, ein starrsinniges Vergnügen an der Verlängerung der Sparsamkeitspolitik. Der britische Radikalismus hat sich nie von seinen puritanischen Ursprüngen freimachen können, und hat es vielleicht nie gewollt. Eine typische Gestalt der sozialistischen Nachkriegsregierung war Sir Stafford Cripps, der Schatzkanzler. Er war ein säuerlicher Verfechter eines Fortschritts ohne Annehmlichkeit, über den Winston Churchill einmal sagte: »Dort, wäre nicht die Barmherzigkeit Gottes, geht Gott.« Von der einfachen Bevölkerung wurde er als eine Art Scherz behandelt. Röstkartoffeln (engl. crisps) wurden ihm zu Ehren einer Buchstabenversetzung für würdig befunden, und in Lokalen pflegten die Gäste eine Packung »Sir Staffs« zu verlangen. Aber er war kein Scherz, und der britische Puritanismus ist immer ein zu halsstarriger Zug gewesen, als daß man ihn mit einem Lachen hätte abtun können. Der Puritanismus von 1984, der bis zur Grenze geht – nicht einmal Sir Stafford Cripps konnte die Erotik abschaffen -, schuldet 1948 viel. Mit der Politik der Einfachheit und Sparsamkeit ging eine anmaßende Bürokratie einher, wie ich gesagt habe, und sie war um so anmaßender, je näher sie dem einfachen Bürger war, wie etwa im örtlichen
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Ernährungsamt, aber es gab keinen Großen Bruder. Unter den ersten Lesern, die Orwells Buch in Amerika fand, gab es nicht wenige, die vermuteten, hier handle es sich um eine bittere Satire über Großbritannien unter der Labourregierung; selbst einige der einfältigeren britischen Konservativen rieben sich schadenfroh die Hände darüber, was Orwell für die konservativen Stimmen zu tun schien. Niemand von ihnen schien zu wissen, was jedermann zugänglich war, nämlich, daß Orwell ein überzeugter Sozialist war und es bis zu seinem Tode blieb. Das Paradoxon des englischen Sozialisten, der vom englischen Sozialismus abgestoßen ist, harrt noch der Aufklärung, und diese ist ein verzwicktes Geschäft. Ich denke, ich kann es aufklären. Wie? Hören Sie diesen Auszug aus The Road to Wigan Pier. Orwell schaute aus dem Zugfenster in den Hinterhof eines nordenglischen Slums: Eine junge Frau kniete auf den Steinplatten und stocherte mit einem Stock in das bleierne Abflußrohr hinauf. Ich hatte Zeit, alles an ihr zu sehen – ihre Schürze aus Sackleinwand, ihre ungefügen Holzschuhe, ihre von der Kälte geröteten Arme. Sie blickte auf, als der Zug vorüberfuhr, und ich war fast nahe genug, um ihren Blick aufzufangen. Sie hatte ein rundes blasses Gesicht… und es zeigte, in der Sekunde, in welcher ich es sah, den verlassensten, hoffnungslosesten Ausdruck, den ich je gesehen… Was ich in ihrem Gesicht sah, war nicht das unwissende Leiden eines Tieres. Sie wußte recht gut, was mit ihr geschah – verstand so gut wie ich, welch ein trübseliges Geschick es war, in der bitteren Kälte auf den Steinplatten zu knien und mit einem Stecken in einem verstopften, stinkenden Abflußrohr zu stochern. Das gleiche Bild kommt in 1984 vor, wie Sie sich entsinnen
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werden. Mrs. Parsons, im ersten Teil des Buches. Ihr Ausguß ist verstopft, und Winston Smith behebt den Schaden für sie. Es ist eine Art Sisyphos-Bild. Das hoffnungslose Los der Arbeiterfrau. Orwell sah, daß die Loyalität eines guten Sozialisten der Frau zu gelten hatte, die sich mit dem Ausguß abmühte, und nicht den großen Männern der Partei. Und doch, wie konnte man ihr helfen, ohne die Partei an die Macht zu bringen? Nun ist die Partei an der Macht, aber der Ausguß bleibt verstopft. Es ist die Disparität zwischen der Lebenswirklichkeit und den Abstraktionen der Parteidoktrin – das ist es, was Orwell krank machte. Das ist ein Teil davon. Aber drücken wir es anders aus. Eine der Schwierigkeiten des politischen Engagements ist, daß keine politische Partei die volle Wahrheit über die Bedürfnisse des Menschen in der Gesellschaft sagen kann. Könnte sie es, würde sie keine politische Partei sein. Und doch muß der rechtschaffene Mann, der für die Verbesserung seines Landes arbeiten möchte, einer Partei beitreten, und damit enttäuscht akzeptieren, was auf eine bloß teilweise Wahrheit hinausläuft. Nur die Niederträchtigen und die Einfältigen können einer Partei totale Loyalität entgegenbringen. Orwell war ein Sozialist, weil er in einem Andauern des traditionellen laissez faire keine Zukunft sehen konnte. Aber es ist sehr schwierig, angesichts der realen Sozialisten, die den Sozialismus mit makelloser Logik bis zur äußersten Grenze vorantreiben wollen, einen wackeligen, liberalen, von besonderen Abneigungen und Empfindlichkeiten geprägten persönlichen Sozialismus aufrechtzuerhalten. Sie meinen, Orwells Sozialismus sei eher pragmatisch als doktrinär gewesen ? Betrachten Sie es so. Als er für die linksgerichtete Zeitung Tribune arbeitete, mußte er den Angriffen orthodoxer Leser widerstehen, die seine Artikel über Literatur ablehnten, welche »die Sache« in ihren Augen eher behinderten als förderten –
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zum Beispiel die Gedichte des königstreuen Anglikaners und konservativen T. S. Eliot, oder die eingewachsenen Sprachexperimente eines James Joyce. Er mußte sich beinahe entschuldigen, wenn er seine Leser bat, hinzugehen und sich die ersten Märzenbecher im Park anzuschauen, statt einen weiteren Samstag mit der Verteilung linker Flugschriften zu verbringen. Er wußte, was es mit dem Marxismus auf sich hatte. Er hatte in Spanien Schulter an Schulter mit den Marxisten gekämpft, aber er war, anders als die röteren britischen Sozialisten nicht bereit, vor dem die Augen zu verschließen, was Stalin im Namen des Marxismus anrichtete. Sein Radikalismus war von der Art des neunzehnten Jahrhunderts, mit einem kräftigen Beigeschmack von etwas Älterem – dem eigenwilligen, widerborstigen Denken Defoes und dem humanistischen Zorn Swifts. Swift war, so erklärte er, der Schriftsteller, den er mit der geringsten Reserve bewunderte, und daß Swift Dechant von St. Patricks in Dublin war, bedeutete keine Herausforderung seines Agnostizismus’. Es gibt ein schlechtes, aber rührendes Gedicht von Orwell, worin er sich in einer früheren Inkarnation als Landpfarrer sieht, der in seinem Garten meditiert und seine Walnüsse gedeihen sieht. Sein Englischer Sozialismus war mehr englisch als Sozialismus. Sehr hübsch, und es ist etwas Wahres daran. Er liebte sein Land mehr als seine Partei. Ihm mißfiel die Tendenz der orthodoxeren Sozialisten, sich eine Welt reiner Doktrin zu schaffen und die Realitäten einer ererbten nationalen Tradition zu ignorieren. Orwell schätzte seine englische Herkunft – die Sprache, die Wildblumen, Kirchenarchitektur, Cooper’s OxfordMarmelade, die unschuldige Obszönität der in den Seebädern verkauften Bildpostkarten, anglikanische Kirchenlieder, bitteres Bier, eine gute starke Tasse Tee. Sein Geschmack war bürgerlich, mit einer Neigung zur Arbeiterklasse.
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Aber er konnte sich nicht mit den Arbeitern identifizieren. Es ist abscheulich, daß er die Arbeiter für seine Unfähigkeit, sich ihnen anzuschließen, verantwortlich zu machen scheint. Ich meine, diese totale Verdammung der Proles in 1984… Vergessen Sie nicht, er war krank und hoffnungslos. Er versuchte die Arbeiter zu lieben, konnte es aber nicht. Schließlich war er am Rand der herrschenden Klasse geboren, besuchte Eton, sprach mit dem Akzent eines Patriziers. Wenn er seine intellektuellen Kollegen aus der Mittelklasse aufrief, sich eine Stufe abwärts zu bequemen und die Kultur der Bergleute und Fabrikarbeiter zu umarmen, sagte er: »Ihr habt nichts zu verlieren als eure Anlaut-H’s.» Aber gerade diese waren es, die er nicht verlieren konnte. Die gerechte Sache der Arbeiterklasse lag ihm am Herzen, aber er konnte die Arbeiter nicht wirklich als richtige Leute akzeptieren. Sie waren Tiere – edel und kraftvoll, wie das Pferd Boxer in Animal Farm, aber im wesentlichen aus einem anderen Stoff gemacht als er selbst. Er kämpfte durch verzweifelte Akte der Selbstenteignung gegen seine Unfähigkeit, sie zu lieben, ließ sich in Paris und London völlig auf den Hund kommen und verbrachte die Saison in der Hölle, wovon sein Buch The Road to Wigan Pier Zeugnis ablegt. Er bemitleidete die Arbeiter oder Tiere. Er fürchtete sie auch. Es steckte ein starkes Element von Sehnsucht in ihm – Sehnsucht nach dem Leben der Arbeiterklasse, das ihm verwehrt war. Man könnte es Nostalgie in dem Sinne nennen, der ein frustriertes Heimweh bedeutet. Diese Nostalgie vermischte sich mit einer anderen. Sie meinen, nach der Vergangenheit. Einer vagen und unwiederbringlichen englischen Vergangenheit. Einer Dickensschen Vergangenheit, die seinen Sozialismus entkräftete. Sozialismus sollte die Vergangenheit als schlecht abweisen. Sein Blick sollte ganz auf die Zukunft gerichtet sein. Sie haben recht. Orwell stellt sich eine unmöglich behagliche
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Vergangenheit vor – die Vergangenheit als eine Art Bauernküche, wo geräucherte Schinken von den Deckenbalken hängen und es nach dem alten Hund riecht. Als Sozialist hätte er die Vergangenheit mit Argwohn betrachten sollen. Sobald man anfängt, sich nach liebenswürdigen Polizisten zu sehnen, nach reiner Luft, geräuschvollen Diskussionen in Kneipen, Familien, die zusammenhalten, Roastbeef und Yorkshire Pudding, der muffigen Luft des alten Varietes, dann ist man verloren. Es hört damit auf, daß man vor dem Landjunker die Kappe zieht. Stellen Sie dieser Vergangenheit eine Gegenwart voll von politischen Dogmen, bewaffneten Polizisten, verfälschtem Bier, Angst vor Abhörwanzen und Fischwürstchen gegenüber. Sie erinnern sich an den Helden in Corning up for Air. Er beißt in eines von diesen Schreckensdingern und sagt, es sei, als beiße man in die moderne Welt. Da haben wir einen Teil von Orwell, der die Zukunft fürchtet. Selbst wenn sie sozialistisch, fortschrittlich, gerecht und gleichmacherisch ist. Er möchte ihr die Vergangenheit gegenüberstellen, als wäre sie eine reale Welt von fester Gegenständlichkeit. Die Zukunft ist es, die als subversiv gilt. Doch Winston Smiths Subversion liegt ganz in der Vergangenheit. Nun, die Vergangenheit ist subversiv in dem Sinne, daß sie doktrinären Werten pragmatische Werte gegenüberstellt. Das Menschliche, nicht das Abstrakte. Betrachten wir selbst die am wenigsten bedeutenden und am neutralsten scheinenden Gebiete, wie zum Beispiel Maße und Gewichte. 1984 ist durchaus prophetisch, indem es ein Großbritannien darstellt, das dem metrischen System nachgegeben hat. Am Ende des Krieges hatte es noch keine offiziellen Vorschläge zur Ersetzung der traditionellen Rechnungseinheiten durch die kartesianischen Abstraktionen aus Frankreich gegeben, aber jedermann spürte, daß die Veränderung in der Luft lag. Zoll und Fuß und Elle beruhten allzusehr auf Daumen und Gliedmaßen, um in einer
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wahrhaft rationalen Welt annehmbar zu sein. Ein proletarischer Biertrinker, dem Winston Smith begegnet, beklagt sich, daß er liter- oder halbliterweise trinken muß: er möchte den traditionellen Schoppen. Aber trotz der Proteste traditionell gesinnter Bürger mußte Großbritannien eine Dezimalwährung bekommen. Orwell wußte, daß es geschehen würde: er steckte Dollars und Cents in Winstons Tasche. Wie die Briten wissen, ist die Realität der schwere Dollar, der noch Pfund genannt wird und hundert neue Pence oder P enthält – schändliche Liquidation -, aber die Enthumanisierung bleibt. Die Amerikaner haben ein monetäres System, das von einer Aureole revolutionärer Notwendigkeit verklärt ist, und werden nie verstehen, wie tief der Verlust der alten Schillinge und Halben Kronen und Guineen britische Herzen verwundete. Denn der wesentliche Punkt des traditionellen Systems war, daß es auch empirischem gesundem Menschenverstand entsprang, nicht der abstrakten Rationalität. Sie konnten durch jede Zahl teilen – 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9... Wenn Sie jetzt versuchen, durch 3 zu teilen, erhalten Sie eine periodische Dezimale. Sieben und neun? Ja. Sie fügten einem Pfund einen Schilling hinzu und erhielten damit eine Guinee. Ein Siebentel von einer Guinee war drei Schillinge. Ein Neuntel von einer Guinee war zwei Schillinge und vier Pence, oder ein malaiischer Dollar. Solange die Woche sieben Tage, der Monat vier Wochen, das Jahr zwölf Monate hatte und eine Stunde durch drei und ihre Vielfachen teilbar war, ergab das alte System einen Sinn. Aber es mußte verschwinden: es war zu vernünftig, zu menschlich. Es verleitete auch zu dem ernsten Fehler, alte Volksüberlieferungen am Leben zu erhalten. »Oranges and lemons, say the bells of St. Clement’s. You owe nie five farthings, say the bells of St. Martin’s.« Dieses alte Lied ist ein geheimnisvolles Bindeglied zwischen dem London des Großen Bruders und dem Alten,
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Begrabenen der Kirchen und ihren Glocken und der Freiheit des Gewissens. Aber 1984 weiß niemand mehr, was ein Farthing ist. 1960 hörten alle auf, es zu wissen. »Sing a song of sixpence« – daß bedeutet nichts mehr. Das gleiche gilt für Falstaffs Rechnung in der Schenke zum Wilden Schweinskopf: Item, ein Kapaun 2 Schilling 2 Pfennig; item, Brühe 4 Pfennig; item, Sekt, zwei Maß 5 Schilling 8 Pfennig; item, Sardellen und Sekt nach dem Abendessen 2 Schilling 6 Pfennig; item, Brot 2 Pfennig. Warum läßt Orwell seinen Winston Smith mit dem Namen Shakespeare auf den Lippen aufwachen? Shakespeare, wiewohl von der Partei noch nicht geächtet, ist subversiv. Gott weiß, wie die neusprachliche Version von ihm ist, aber Shakespeare in der Altsprache ist voll von Privatleben und individuellen Entscheidungen. Shakespeare steht für die Vergangenheit. Aber wir sehen, daß Winston Smith die Vergangenheit in einer weit gefährlicheren Art und Weise beschwört. Er kauft für zwei Dollar fünfzig ein schönes Buch voller leerer Seiten, dessen Papier von einer festen, sahnigen Glätte ist, die seine moderne Welt nicht kennt – und, was das angeht, auch das zeitgenössische Sowjetrußland nicht. Auch kauft er ein archaisches Schreibgerät – einen Federhalter mit einer richtigen Stahlfeder zum Aufstecken. Er beschließt, ein Tagebuch zu führen. Er meint das halbwegs ungefährdet tun zu können, weil sein Schreibtisch in einem kleinen Alkoven außerhalb des Televisorbereichs ist. Zuerst schreibt er aufs Geratewohl, dann läßt er seine Gedanken schweifen. Er blickt auf die beschriebene Seite und entdeckt, daß er völlig automatisch in großer klarer Blockschrift immer wieder die Worte NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER hingemalt hat. Mrs. Parsons, die Frau mit dem verstopften Ausguß, klopft an die Tür, aber Winston weiß, daß es bereits die Gedankenpolizei sein könnte. Wie er zur Tür geht, bemerkt er, daß er das Tagebuch aufge-
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schlagen liegengelassen hat. »Es war eine unvorstellbare Dummheit. Aber er stellte fest, daß er es sogar in seinem Schrecken nicht über sich gebracht hatte, das weiße Papier dadurch zu besudeln, daß er das Buch zuklappte, solange die Tinte noch naß war.« Die subversive Handlung und die Materialien, mit deren Hilfe sie ausgeführt worden ist, sind zu einem Ding geworden. Die Vergangenheit ist ein Feind der Partei. Folglich ist die Vergangenheit wirklich. Nachdem er sich Mrs. Parsons’ Sorgen angenommen hat, kommt er zurück und schreibt: Einer Zukunft oder einer Vergangenheit, in der Gedankenfreiheit herrscht, in der die Menschen voneinander verschieden sind und nicht jeder für sich lebt – einer Zeit, in der es Wahrheit gibt und das Geschehene nicht ungeschehen gemacht werden kann, schicke ich diesen Gruß aus einem Zeitalter der Gleichmachung und der Vereinsamung, dem Zeitalter des Großen Bruders, dem Zeitalter des Zwiegedankens. Wir können zu der Vergangenheit sprechen, wie wir zu der Zukunft sprechen können – zu der Zeit, die tot ist, und der Zeit, die noch nicht geboren ist. Beide Handlungen sind absurd, aber die Absurdität ist notwendig für die Freiheit. Umgekehrt ist damit bewiesen, daß die Freiheit selbst absurd ist. Ja, ja. Für einige von Orwells Zeitgenossen war Freiheit sicherlich eine archaische Absurdität. Großbritannien und seine Verbündeten hatten gegen den Faschismus gekämpft, der die persönliche Freiheit völlig den Forderungen der Gemeinschaft und des Staates unterordnete, aber einer dieser Verbündeten war gegenüber der persönlichen Freiheit so repressiv wie der Feind. Als Sowjetrußland zu einem Freund der westlichen De-
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mokratien wurde… ZM einem kurzlebigen freund. Ja. Da glaubten diejenigen, die ein empfindliches Gewissen hatten, daß der Krieg seinen Sinn verloren habe. Zu der Zeit war es für die Engländer in Ordnung, Stalin zu lieben und das Sowjetsystem zu preisen. Es gab gewisse Intellektuelle, insbesondere jene, die der linksgerichteten Wochenzeitschrift The New Statesman verbunden waren, die sogar einem Totalitarismus nach stalinistischem Modell das Wort redeten. Kingsley Martin zum Beispiel, der Schriftleiter. Orwell faßte Martins Ansicht etwa folgendermaßen zusammen: Stalin hat haarsträubende Verbrechen begangen, aber im ganzen diente seine Herrschaft der Sache des Fortschritts, und man sollte nicht zulassen, daß einige Millionen Liquidationen diese Tatsache verdunkeln. Der Zweck heiligt die Mittel. Das ist in hohem Maße die moderne Betrachtungsweise. Orwell glaubte, daß die meisten britischen Intellektuellen zum Totalitarismus neigten. Er ging zu weit. Nun, überlegen Sie. Es liegt in der Natur eines Intellektuellen, fortschrittlich zu sein, was bedeutet, daß er dazu neigen wird, ein politisches System zu unterstützen, das durchgreifende Reformen unbefriedigender Verhältnisse im Land verspricht. Mit dieser Neigung verbindet sich dann häufig eine Geringschätzung des schwerfälligen alten demokratischen Verfahrens mit seiner Toleranz von Opposition. Eine Staatsmaschine, die die Vergangenheit einstampfen und eine rationale Zukunft schaffen kann, ist eine sehr intellektuelle Idee. Es hat Intellektuelle gegeben, die Orwell faschistisch erschienen, weil sie mit autoritären Rezepten liebäugelten oder sie zum mindesten tolerierten – Schriftsteller wie Eliot, Yeats, Evelyn Waugh, Roy Campbell, sogar Shaw und Wells -, aber die Intellektuellen, die nicht zum Faschismus neigten, waren im allgemeinen Kommunisten, was im Sinne von Staatsmacht,
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Repression, dem Einparteiensystem und so weiter auf das gleiche hinauslief. Begriffe wie Faschismus und Kommunismus verkörpern keine wahre Polarität, trotz des Krieges. Sie konnten beide, meinte Orwell, unter einer Bezeichnung wie oligarchischer Kollektivismus zusammengefaßt werden. Dennoch ist jede fortschrittliche Idee eine intellektuelle Schöpfung. Ohne die Intellektuellen mit ihren Rufen nach größerer sozialer Gerechtigkeit, Abschaffung des Profitmotivs, gleichen Einkommen, der Beseitigung ererbter Privilegien und so weiter – würde es da überhaupt noch einen Fortschritt geben? Aber ist ihr Gerede von Fortschritt wirklich uneigennützig? Orwell wußte – wie übrigens auch Arthur Koestler – genug von den Quellen politischer Autorität in Europa. Niemand, so meinten sie, strebt allein aus Altruismus nach politischer Führerschaft. Koestler wurde von dem System, das er unterstützte, ins Gefängnis gesteckt. Orwell kämpfte in Spanien für die Freiheit und mußte um sein Leben laufen, als der russische Kommunismus den katalanischen Anarchismus verdammte. Intellektuelle mit politischen Ambitionen mußten verdächtig sein. Denn in einer freien Gesellschaft gehören die Intellektuellen zu den Unterprivilegierten. Was sie als Lehrer, Universitätsdozenten, Schriftsteller und Journalisten anbieten, ist nicht sehr gefragt. Wenn sie mit der Einstellung ihrer Arbeit drohen, regt das niemanden sonderlich auf. Die Weigerung, einen Band mit freien Versen zu veröffentlichen oder einen Kurs in struktureller Linguistik zu übernehmen – das ist nicht mit der Unterbrechung der Stromversorgung oder der Einstellung des öffentlichen Nahverkehrs zu vergleichen. Ihnen fehlt die Macht des Kapitalistenbosses auf der einen Seite, und die Macht des Gewerkschaftsbosses auf der anderen. Sie fühlen sich mehr und mehr frustiert. Rein intellektuelle Freuden erscheinen ihnen unzulänglich. Sie werden zu Revolutionären. Revolutionen
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sind meistens das Werk enttäuschter Intellektueller mit einem tüchtigen Mundwerk. Sie gehen im Namen des Bauern oder des Arbeiters auf die Barrikaden. Denn »Intellektuelle aller Länder, vereinigt euch« ist kein sehr mitreißendes Schlagwort. Aber warum fürchtete Orwell die Intellektuellen? Sie saßen Ende der vierziger Jahre nicht in der Labour-Regierung. Nein. Die Labourführer waren keine New-Statesman- fanatiker. Sie hatten kein Verlangen, das Land in eine Miniaturausgabe des stalinistischen Rußland zu verwandeln. Aber es wurde über die Gefahren gemunkelt, die aus mehr und mehr Staatskontrolle erwachsen, aus einer aufgeblähten Bürokratie und der Entwertung der Individualität, die unausweichlich einer Gleichheitsdoktrin folgt. Genau genommen, kann eine sozialistische Regierung ihr Ideal totaler Vergesellschaftung der Produktionsmittel und des Handels nur verwirklichen, wenn sie ein immerwährendes Mandat erhält. Schon die Idee des Sozialismus ist undemokratisch, wenn wir unter Demokratie ein Parteiensystem mit allgemeinen freien Wahlen in periodischen Abständen verstehen. Das Parlament hat zunehmend die Aufgabe, Gesetzesvorhaben der regierenden Partei durchzudrükken, und ignoriert solche Anliegen wie die Rechte des Individuums, zu deren Schutz die Parlamentsabgeordneten in erster Linie da sein sollten. Orwell lebte nicht lang genug, um den Kompromiß zu sehen, den der Englische Sozialismus mittlerweile darstellt: ein Minimum an öffentlichem Eigentum, einen zu kostspieligen Apparat sozialer Sicherheit, eine Menge »gleichmacherischer« Gesetze, die nicht leicht durchsetzbar sind, und zwangsläufig eine Entmutigung individueller Anstrengung – im Gegensatz zur kollektiven. Aber nicht einmal in jenen ersten ungestümen Tagen des Sozialismus konnte die Vorstellung vom Engsoz zu keimen angefangen haben – es sei denn in der Behausung eines Universitätsdozenten. Sie meinen, es war nur ein Namenstrick?
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Ja, die durchaus zynische Aneignung eines ehrenhaften Namens, um ihn dann herabzuwürdigen. Wer kann nach Hitler noch ohne Schaudern vom Nationalsozialismus reden? Die Verbindung zwischen dem Englischen Sozialismus von 1948 und demjenigen von 1984 ist rein nominell. Wir müssen uns vorstellen, daß eine Gruppe von New-States-manIntellektuellen nicht nur England, sondern die gesamte englischsprechende Welt unter ihre Herrschaft gebracht haben. Da England, oder Luftstützpunkt Eins, nicht mehr als ein Satellit Amerikas sein kann, muß man annehmen, daß die NewStatesmen-Oligarchen zuerst in den Vereinigten Staaten zur Herrschaft gelangten und dann, mit Macht gerüstet, zurückkehrten. Nichts könnte absurder sein, und Orwell wußte es. Es hat einen großen Atomkrieg gegeben, aber er hat vieles vom Viktorianischen London stehen gelassen – eine weitere Absurdität. Es gibt vage Erinnerungen an politische Säuberungen in den fünfziger Jahren, aber was davon in Winston Smiths Gedächtnis – und in den Gedächtnissen praktisch aller anderen – haften geblieben ist, ist von der konturenlosen Undeutlichkeit eines verblassenden Traumes. Absurdität. Jedermann scheint von Amnesie befallen, selbst wenn er sich nicht in »Gedächtniskontrolle« geübt hat. Ein Gegenstück dazu findet sich in unserer Akzeptanz, daß wir nicht wissen, noch sonderlich daran interessiert sind, wie die Revolution zustande kam. Sie ist nichts weiter als ein notwendiges Vehikel, um die Intellektuellen an die Macht zu bringen. Absurd, komisch. Ich bin wieder da, wo ich angefangen habe. Sie meinen also, daß an 1984 nichts authentisch »Zukünftiges« ist, daß alles 1948 da war und nur darauf wartete, aufgegriffen zu werden? Ja, in gewissem Sinne. Was nur in den Zeitungen oder den offiziellen Verlautbarungen stand – wie Folter und Konzentrationslager -, mußte nach Großbritannien importiert werden. Der
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intellektuelle Totalitarismus mußte romanhaft verwirklicht werden. Aber Romane sind tatsächlich aus tagtäglicher Erfahrung gemacht, und Winston Smiths Frustrationen waren auch die unsrigen – schmutzige Straßen, verfallende Gebäude, widerwärtiges Essen in Fabrikkantinen, die Schlagworte der Regierung an den Wänden – Schlagworte? Wie FREIHEIT IST SKLAVEREI UND UNWISSENHEIT IST STÄRKE? Nicht ganz wie diese. Das sind bewußte Überzeichnungen. Aber ich entsinne mich, daß das erste Plakat der Nachkriegsregierung, das ich nach meiner Rückkehr vom Militärdienst in Übersee sah, eine abgehärmte trauernde Frau in Schwarz zeigte, mit der Unterschrift: HALTET DEN TOD VON DEN STRASSEN FERN. Natürlich hatte jemand das durchgestrichen und ersetzt durch: SIE WÄHLTE SOZIALISTISCH. Wir waren Plakate gewohnt, die vom Informationsministerium ausgegeben wurden und meistens amateurhaft waren, nicht subtil zweideutig wie die Engsoz-Plakate. DEIN MUT, DEINE GEDULD, DEINE AUSDAUER WERDEN UNS DEN SIEG BRINGEN. Dein und uns, sehen Sie. Kein Wunder, daß wir alle purpurrot wurden. SEI WIE VATER, ERHALTE MUTTER. Das provozierte beinahe einen Aufstand unter den in Lohnarbeit stehenden Müttern. Schlagworte waren ein Teil der britischen Lebensart geworden. Orwell gab uns nichts Neues. War denn die Warnung nicht neu? Welche Warnung? Er sagte uns nur, was John Milton dem England Cromwells sagte: Haltet an euren Freiheiten fest. Vielleicht nicht einmal das. Der spielte das intellektuelle Spiel, ein Arbeitsmodell von einem Utopia oder Kakotopia zu konstruieren. Wie weit, scheint er zu sagen, kann ich die Dinge treiben, ohne das mit Sorgfalt errichtete Gebäude einstürzen zu sehen? Er hatte bereits Tiere die russische Revolution spielen lassen.
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Ein weiteres Spiel. Er gab sich als der Swift unserer Tage. Amüsiere dich, errichte dir deine eigene grauenhafte Zukunft. Das Ding funktioniert, und Orwell muß davon befriedigt sein. Aber die Befriedigung hat nichts mit Politik zu tun. Ich danke Ihnen, Mr. Burgess.
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ENGSOZ INS AUGE GEFASST Es ist ohne Zweifel eine Oligarchie von verfeinertem Intellekt, welche die Geschicke Ozeaniens lenkt. Sie kultiviert eine scharfsinnige solipsistische Philosophie; sie versteht Sprache und Gedächtnis und durch diese die Natur der wahrgenommenen Realität zu manipulieren; sie ist sich der Gründe ihres Machtwillens vollkommen bewußt. Sie hat gelernt, wie persönlicher Ehrgeiz im Interesse der Kollektivregierung unterdrückt wird. Es gibt keinen an Hitler oder Stalin gemahnenden Personenkult: der Große Bruder ist eine Erfindung, eine fiktive Persönlichkeit und daher unsterblich, und jene, die in ihm enthalten sind, nehmen an seiner Unsterblichkeit teil. Die Oligarchie hat gelernt, wie man Gegensätzlichkeiten miteinander vereinbart, nicht durch Dialektik, die diachronisch ist und das Fehlen der Herrschaft über die Zeit zugibt, sondern durch die synchronische Technik des Zwiedenkens. Engsoz ist die erste professionelle Regierung, und folglich die letzte. Ihre Doktrinen beruhen auf einer Metaphysik, nicht einer bloßen Ethik. Ein politisches System zu schaffen, das logisch aus einer Realitätsvorstellung erwächst, ist natürlich so alt wie Platon. Das Schwierige an der Realitätsvorstellung des Engsoz ist, daß sie eher einem einzelnen als einem kollektiven Verstand angemessen ist. Ehe die Metaphysik Gültigkeit annehmen kann, muß ein Kollektiv die Technik lernen, in der Art eines einzelnen Verstandes zu denken. Solipsismus – das aus den lateinischen Wörtern solus und ipse (alleiniges, einsames Selbst) -, ist eine Lehre, für die Wirklichkeit nur im Selbst existiert; nur das Selbst kann definitiv bekannt und verifiziert sein. Dies bedeutet, daß von keiner Erscheinung der äußeren Welt angenommen werden kann, daß sie eine unabhängige Existenz hat. Sie geht weiter als der bloße Idealismus, für den der Geist wirklich und Materie nicht mehr
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als die Idee ist, verwirft aber nicht unbedingt die Existenz von vielen Geisteseinheiten und – in letzter Instanz – den einigenden Geist Gottes. Der Solipsismus lehrt jedoch, daß andere Geisteseinheiten als die des SO/MS ipse in ihrer Existenz nicht nachgewiesen werden können. Andererseits geht er nicht so weit, zeitliche oder räumliche Diskontinuität innerhalb des individuellen Geistes zu gestatten, Logik zu leugnen, Widersprüchlichkeit oder Unvereinbarkeit zuzulassen. Wenn das einzelne Selbst wirklich ist, können seine Erinnerungen nicht Illusionen sein. Die Vergangenheit ist nicht dehnbar: sie hat wahre Existenz im Bewußtsein und kann von der Gegenwart nicht verändert werden. Mathematische Lehrsätze haben unveränderte Gültigkeit, und 2 + 2 ergibt immer 4. Der kollektive Solipsismus des Engsoz läßt das nicht gelten. 2 + 2 mögen gelegentlich 4 ergeben, es ist aber geradesogut möglich, daß sie 3 oder 5 ausmachen. Das klingt wie Wahnsinn, aber die Partei lehrt, daß Wahnsinn ein Attribut des individuellen Bewußtseins ist, welches nicht mit dem Kollektivbewußtsein verschmelzen und seine Sicht der Wirklichkeit annehmen will. Winston Smith hält an der einfachen Arithmetik fest, weil sie eine Wahrheit für ihn ist, die selbst für die Partei unangreifbar bleibt, aber ein Teil seiner Rehabilitation besteht darin, daß er lernt, wie man sich überzeugen läßt und nicht bloß äußerlich und mechanisch akzeptiert, daß 2 + 2 ergibt, was immer die Partei sagt. Shakespeare, der das meiste voraussah, sah auch dies voraus: PETRUCHIO: Ich sag’, es ist der Mond. CATHARINA: Natürlich ist’s der Mond. PETRUCHIO: Ei wie du lügst! S’ist ja die liebe Sonne! CATHARINA: Ja, lieber Gott! es ist die liebe Sonne! Doch nicht die Sonne, wenn du’s anders willst: Der Mond auch wechselt, wie es dir gelüstet, und wie du’s nen-
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nen willst, das ist es auch, und soll’s gewiß für Catherinen sein. Der eigensinnige Winston Smith muß gezähmt werden, und O’Brien ist sein Petruchio. Der Solipsismus der Partei ist weit vernünftiger – oder jedenfalls sehr viel schlüssiger – als alles, was der Begriff traditionell enthält. Das solus ipse, könnte man sagen, umschloß den Raum, doch lag die Zeit außerhalb und war eine der Bedingungen seiner Existenz. Aber logischerweise muß das einzelne Selbst, wenn es die alleinige Realität ist, alles enthalten, und das schließt die Zeit mit ein. Es schließt auch die Logik ein. Die Sinne sind bloße Instrumente, die dem Selbst dienen, und sie unterliegen dem Irrtum. Niemand wird die Existenz von Sinnestäuschungen leugnen, aber wie können wir zwischen Illusion und Wirklichkeit unterscheiden? Es ist unklug, sich überhaupt auf das Zeugnis der Sinne zu verlassen. Nur das Selbst, diese immaterielle, doch nachweisliche Einheit, kann feststellen, was wirklich ist und was nicht. Um dem Selbst das eine Attribut zu verleihen, das es benötigt, um letzte Realität zu erlangen – unveränderlich, unsterblich wie Gott zu sein-, ist nur vonnöten, dieses Selbst zu einem kollektiven zu machen. In dieser Vorstellung einer unsterblichen, allmächtigen, allwissenden, alles beherrschenden menschlichen Einheit ist etwas, was das Herz erhebt, statt es niederzudrücken. Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte eines ausdauernden Ringens um die Beherrschung ihrer Umwelt, und Versagen erwächst stets aus der Beschränktheit des Individuums, dessen Gehirn ermüdet und dessen Körper verfällt. Erhöht man das Kollektiv und verkleinert man das Individuum, so wird die Geschichte eine Prozession menschlicher Triumphe sein. Und genau das ist die Geschichte des Engsoz. Wenn das Kollektiv in der Art und Weise eines einzelnen
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Selbst funktionieren soll, müssen alle seine Mitglieder oder Zellen darin übereinstimmen, was sie beobachten oder an was sie sich erinnern. Die als Zwiedenken bekannte Technik ist ein Mittel, um individuelle Beobachtung und Erinnerung auf das auszurichten, was immer die Partei in jedem gegebenen Augenblick als die Wahrheit dekretiert. Der gegebene Augenblick ist es, der die Wirklichkeit enthält. Die Vergangenheit bestimmt nicht die Gegenwart; die Gegenwart verändert die Vergangenheit. Das ist nicht so ungeheuerlich wie es scheint. Die Erinnerung des kollektiven Verstandes muß in Aufzeichnungen enthalten sein, und es liegt in der Natur von Aufzeichnungen, daß sie veränderbar sind. Gehen wir noch einen Schritt weiter: die Vergangenheit existiert nicht, folglich steht es uns frei, sie zu erschaffen. Sollte eine geschaffene Vergangenheit mit einer anderen nicht übereinstimmen, so muß das Zwiedenken eingesetzt werden. Es ist in dem Emmanuel Goldstein, Ozeaniens notwendigem und daher unverwundbarem öffentlichen Feind, zugeschriebenen Buch Theorie und Praxis des Oligarchiechen Kollektivismus präzise definiert: Zwiedenken bedeutet die Gabe, gleichzeitig zwei einander widersprechende Ansichten zu hegen und beide gelten zu lassen. Der Parteiintellektuelle weiß, in welcher Richtung seine Erinnerungen geändert werden müssen. Er weiß deshalb auch, daß er mit der Wirklichkeit jongliert. Aber durch das Einschalten von Zwiedenken beschwichtigt er sich auch dahingehend, daß der Wirklichkeit nicht Gewalt angetan wird. Das Verfahren muß bewußt sein, sonst würde es nicht mit genügender Präzision ausgeführt werden, es muß aber auch unbewußt sein, sonst brächte es ein Gefühl der Falschheit und damit der Schuld mit sich. Zwiedenken ist der eigentliche Wesenskern von Engsoz, denn das grundlegende Verfahren der Partei besteht darin, eine bewußte Täuschung auszuüben
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und dabei eine Zweckentschlossenheit zu bewahren, wie sie restloser Ehrlichkeit eignet. Bewußte Lügen zu erzählen, während man ehrlich an sie glaubt; jede Tatsache zu vergessen, die unbequem geworden ist, um sie dann, wenn man sie wieder braucht, nur eben so lange, als notwendig ist, aus der Vergessenheit hervorzuholen; das Vorhandensein einer objektiven Wirklichkeit zu leugnen und die ganze Zeit die von einem geleugnete Wirklichkeit in Betracht zu ziehen – alles das ist unerläßlich notwendig. Die Existenz von Goldsteins Buch – ebenso wie Goldstein selbst eine Schöpfung der Partei – mag als ein Akt des Zwiedenkens von einer sehr subtilen Art verstanden werden. Die Partei klagt sich selbst durch das Sprachrohr eines erfundenen Feindes buchstäblich der Verbreitung von Lügen an. Sie enthüllt das Motiv der Täuschung hinter dem Aussprechen der Wahrheit. Sie verschmilzt zwei unversöhnliche Prozesse – den bewußten und den unbewußten. Sie ist das Behältnis aller Tugend und räumt doch die Möglichkeit von Schuld ein. Zwiedenken wird angewendet, um Zwiedenken zu definieren. Zwiedenken sollte nicht als eine Frösteln erzeugende Fantasie des Autors mit Lachen oder Schaudern abgetan werden: Orwell wußte, daß er nicht viel mehr tat als einen Gedankenprozeß zu formulieren, den der Mensch seit jeher »unerläßlich notwendig« gefunden hat – und keineswegs nur einen Gedankenprozeß: mehr als wir wissen, sind wir es gewohnt, in unseren emotionalen, selbst unseren sensorischen Erfahrungen Gegensätze zu vereinbaren. »Odi et amo«, sagte Catull: ich liebe und hasse dasselbe Objekt und zur gleichen Zeit. Orwell selbst wies einmal darauf hin, daß Fleisch zugleich köstlich und widerwärtig sei. Die Ausführung des Sexualaktes ist eine Sache des freien Willens; gleichzeitig wird man von einem biologischen Trieb dazu gedrängt; er ist ekstatisch, er ist auch bestialisch.
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Die Geburt ist der Beginn des Todes. Der Mensch ist ein zwiespältiges Geschöpf, in welchem das Fleisch dem Geist widerspricht und der Instinkt dem Streben entgegensteht. Orwell erkannte seine eigene Zwiespältigkeit sehr scharf. Er war sowohl Eric Blair als auch George Orwell, ein Randprodukt der herrschenden Klasse, das sich mit den Arbeitern zu identifizieren suchte, ein Intellektueller, der Intellektuellen mißtraute, ein Verwender von Worten, der Worten mißtraute. Zwiedenken, obschon zu Recht als ein Instrument der Bedrückung dargestellt, scheint auch eine recht vernünftige Technik zu sein. Unsere eigene Einstellung zum Zwiedenken ist unausweichlich von Zwiedenken voll. Kaum eines einzelnen Menschen Erfahrung ist unzweideutig. Die Philosophen des Engsoz sagen etwa: Wir erkennen, daß das menschliche Leben zu einem guten Teil ein Jonglieren mit Gegensätzen ist. Wir wünschen, daß diese neue Art von Menschenwesen, das Kollektiv, als eine Einheit funktioniere. Einheit des Denkens kann nur erreicht werden, indem eine wohldurchdachte Technik zur Bewältigung von Widersprüchen geschmiedet wird. (Beachten Sie, daß Sie, als Sie zu dem Wort schmieden kamen, einen sehr raschen Akt von Zwiedenken vollziehen mußten. Sie waren in einem Zusammenhang, der Betrug suggerierte, bereit, ihm die Bedeutung von Scheckfälschung oder Falschmünzerei zu verleihen. Aber dann mußten Sie ihm diesen primären Sinn von »machen«, »anfertigen« geben, dem eine grobschmiedhafte Rechtschaffenheit innewohnt.) Laßt uns Phänomene beherrschen, nicht von ihnen beherrscht werden. Laßt vollkommene Harmonie zwischen Vergangenheit und Gegenwart sein. Was ist die Vergangenheit, diese leblose, schlecht verstandene Masse von unbestimmten Geschehnissen, daß sie einen solchen Einfluß auf die sonnenbeschienene Wirklichkeit des Jetzt ausüben sollte? Es ist eine Frage, wer Herr sein soll. Zwiedenken ist die ernste Formulierung einer Art von geisti-
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ger Kontrolle, aber es ist auch ein finsterer Scherz. Orwell ist, wie wir alle, angewidert von den Lügen der Politiker, aber er weiß, daß solche Lügen selten einem echten Zynismus oder einer Verachtung der Bevölkerung entspringen. Ein Politiker ist seiner Partei ergeben und muß Möglichkeiten suchen, die schlechtere Sache in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Er will nicht lügen, aber er muß. Er kann schamloser Unwahrheit durch Geschwafel oder Euphemismus ausweichen, durch Zweideutigkeit oder Neudefinition. Es gibt nur eine Sünde, und die ist, sich erwischen zu lassen. Das Volk klagt über hohe Preise und Arbeitslosigkeit und erhält die Auskunft: «Das sind die Wachstumsschmerzen eines neuen Aufschwungs.» Während seiner Amtszeit als Premierminister wurde Sir Harold Wilson aufgefordert, Beweise für den wirtschaftlichen Fortschritt unter der Labourregierung zu erbringen. Er sagte: »Sie können einen Elan nicht quantitativ bestimmen.« Das Pentagon zeigt eine Vorliebe für Ausdrücke wie vorgreifende Vergeltung«, womit ein unprovozierter Überfall gemeint ist. Die Kommunisten verwenden den Begriff »Demokratie« in einem Sinne, der das Gegenteil dessen bezeichnet, was Demokraten darunter verstehen. Orwell beklagt ironisch das Fehlen von System, Logik und Schlüssigkeit in politischen Äußerungen. Verglichen mit den amateurhaften Ausflüchten der meisten Staatsminister entbehrt das Zwiedenken nicht einer gewissen Vornehmheit. Engsoz mag als ein System gesehen werden, das der eigenen Stärke zu sicher ist, um zu Unehrlichkeit zu neigen. Es schätzt verbale Verwirrung nicht; es besteht auf der äußersten Klarheit des Ausdrucks, sei es in Wort oder Schrift. Zu diesem Zweck hat es eine besondere Art des Englischen hervorgebracht, die »Neusprache« genannt wird. Diese zeichnet sich durch grammatische Regelmäßigkeit, syntaktische Einfachheit und ein Vokabular aus, das von unnötigen Synonymen und verwirren-
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den Nuancen befreit ist. Starke Verben sind verschwunden, so daß alle Vergangenheitsformen und Partizipien die gleiche Endsilbe aufweisen. Die Steigerung von Adjektiven geschieht immer nach dem Muster von gut, guter, am gutesten. Plurale enden stets mit einem -n oder, wenn das Substantiv bereits mit einem Zischlaut endet, -en. Diese Rationalisierung der Sprache wäre früher oder später vielleicht von selbst zustande gekommen, ohne die aktive Unterstützung des Staates, aber das völlige Kontrolle über alle menschlichen Aktivitäten beanspruchende Engsoz-System hat den Prozeß in verdienstvoller Weise beschleunigt. Die Begrenzung des Vokabulars ist ein unverhoffter Glücksfall: in der herkömmlichen Sprache gibt es viel zu viele Wörter. »Schlecht« ist unnötig, wenn wir »ungut« haben können, und Verstärker lassen sich auf »plus« und – falls besonderer Nachdruck vonnöten – »doppelplus« reduzieren. »Doppelplusungut« ist eine sehr zweckmäßige Art und Weise, etwas »schrecklich oder extrem Schlechtes« auszudrücken, und »plusunlicht« drückt aus, was es mit tiefer Dunkelheit auf sich hat. Aber das Hauptziel der Engsoz-Philologen ist nicht so sehr, die Sprache zu einer ansehnlichen und geziemenden Schlankheit zu beschneiden, als ihr vielmehr die Fähigkeit zu geben, die Rechtgläubigkeit der Staatsdoktrin aus so vollem Herzen auszudrücken, daß kein Schatten von Häresie sich einschleichen kann. »Frei« existiert noch immer, zusammen mit »unfrei« und »freisein«, aber der Begriff kann jetzt nur ein relativer sein, wie etwa in »frei von Schmerzen«. »Frei« im Sinne von »politisch frei« kann keinen Sinn ergeben, da der Begriff nicht mehr existiert. Eine Erklärung über politische Freiheit, wie die Unabhängigkeitserklärung, kann nicht gut in Neusprache übertragen werden: Folgende Wahrheiten halten wir für selbstverständlich: daß
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alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; daß zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; daß, wann immer irgendeine Regierungsform sich als diesen Zielen abträglich erweist, es Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen… Orwell sagt, daß es die nächste mögliche Annäherung an eine Übersetzung in die Neusprache wäre, wenn man »die ganze Passage in dem einzigen Wort ›Denkverbrechen‹ zusammenfasse. Eine volle Übersetzung könne nur eine ideologische Übertragung sein, durch welche Jeffersons Worte zu einer Lobeshymne auf die absolute Regierung verändert würden.« Versuchen wir es trotzdem: Wir sagen, daß geschreibte Wahrheit ungeschreibte Wahrheit ist, daß alle Menschen dieselben sind, daß ihre Vätern und Muttern sie so machten, daß sie lebendig sind, frei von allen Krankheiten und nicht auf Nahrung aus, sondern auf das Gefühl, Nahrung gegeßt zu haben. Sie sind so von ihren Eltern gemacht, aber der Große Bruder macht sie so. Der Große Bruder kann nicht getötet werden, aber er muß getötet werden, und an seiner Stelle wird er selbst sein… Es ist Unsinn, als wollte man sagen, daß die Sache bei Nacht hervorkommen werde. Oder, was das angeht, daß der Große Bruder doppelplusungut sei, wenn er es doch per definitionem nicht sein kann. 1984 befinden wir uns erst im Anfangsstadium der Gedankenkontrolle durch Sprache. Die drei Schlagworte des Staates
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sind: KRIEG BEDEUTET FRIEDEN; FREIHEIT IST SKLAVEREI; UNWISSENHEIT IST STÄRKE. Orwell hat uns informiert, daß der Begriff »Freiheit« keine absolute oder politische Bedeutung haben kann, und doch steht er hier mit genau dieser Bedeutung, eingeprägt in die Münzendes Staates. Damit nicht genug, verwendet der Staat das Paradoxon in einer untypisch witzigen Art und Weise: wir müssen annehmen, daß es die letzten Zuckungen des Witzes sind, bevor die endlose Nacht hereinbricht. Es wird uns sehr prägnant mitgeteilt, daß Krieg der normale Zustand des neuen Zeitalters ist, wie Friede derjenige des alten war, und daß wir durch die Bekämpfung des Feindes am besten lernen, die Ruhe unserer Knechtschaft zu lieben. Uns selbst überlassen zu sein, um unsere eigene Lebensweise zu wählen, ist eine unerträgliche Last; die Qual der freien Wahl gleicht dem Kettengeklirr der Knechtschaft an der Umgebung. Je mehr wir wissen, desto leichter fallen wir den Widersprüchen des Denkens zum Opfer; je weniger wir wissen, desto besser sind wir zum Handeln befähigt. Alles das ist wahr, und wir segnen den Staat, daß er uns der unerträglichen Tyrannei der Demokratie entledigt hat. Männer und Frauen der Partei haben nun die Möglichkeit, sich mit intellektuellen Spielen zu beschäftigen. Winston Smiths Arbeit ist ein intellektuelles Spiel und ein höchst anregendes dazu. Es besteht im Ausdrücken von Zwiedenken durch Neusprache. Er muß Irrtümer in alten Ausgaben der Times korrigieren – in Unengsoz-Begriffen, er muß Lügen ersinnen – und seine Korrekturen, die häufig ganze Nachrichtenbeiträge ausmachen, in einer Sprache abfassen, die durch strenge Beschränkung semantischer Wahl Scharfsinn und Erfindungsgabe fördert. (Übrigens dürfen wir fragen, warum separate Exemplare der Times zum Vertrieb zugelassen werden, da das spätere Einsammeln zur Vernichtung sehr umständlich und lästig sein muß. Warum sollte sie nicht als angeschlagene
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Wandzeitung erscheinen?) Der Reiz ist der gleiche wie bei der Abfassung eines langen Telegramms. Tatsächlich beruht die Neusprache erkennbar auf der Stilform von Pressekabeln. Orwell muß den Austausch zwischen Evelyn Waugh und der Daily Mail genossen haben, als dieses große und beliebte Massenblatt ihn als Kriegsberichter nach Abessinien schickte. WARUM UNNACHRICHTEN – UNNACHRICHTEN GUTNACHRICHTEN – UNNACHRICHTEN UNJOB – EINSCHIEBEN JOB ARSCHWEISE. Neusprache ist, Gott sei uns gnädig, lustig. Zwiedenken ist, Gott sei uns abermals gnädig, anregende Gedankenakrobatik. Das Leben im Jahre 1984 mag mancherlei Gefahren mit sich bringen, aber langweilig muß es nicht sein. Vergegenwärtigen wir uns die Situation von fünfundachtzig Prozent der Bevölkerung – der Proles. Ein Krieg ist im Gange, aber es gibt keine allgemeine Wehrpflicht und keine Aushebungen, und die einzigen Bomben, die auf die Stadt fallen, werden von der Regierung geworfen, nur um die Bevölkerung daran zu erinnern, daß ein Krieg im Gange ist. Herrscht Mangel an Konsumgütern, so ist das eine unvermeidliche Begleiterscheinung des Krieges. Es gibt Kneipen, wo das Bier in Maßkrügen verkauft wird, es gibt Kinos, eine staatliche Lotterie, einen volkstümlichen Journalismus und sogar Pornographie (von einer Abteilung des Wahrheitsministeriums mechanisch serienproduziert). Es gibt keine Arbeitslosigkeit, es gibt genug Geld, es gibt keine bedrückenden Vorschriften – tatsächlich gibt es überhaupt keine Gesetze. Die gesamte Bevölkerung, Proles und Parteimitglieder, ist unbehelligt von Verbrechen und Gewalt nach dem demokratischen Modell. Man kann bei Nacht durch die Straßen gehen, ohne Belästigungen befürchten zu müssen – außer vermutlich durch Streifenwagen der Polizei nach dem Vorbild von Los Angeles. Es gibt keine Inflationssorgen. Eines der Hauptprobleme unserer Zeit, Rassenvorurtei-
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le und Intoleranz, fehlt. Wie Goldstein uns verrät, »sind Juden, Neger, Südamerikaner von reinem Indianerblut in den höchsten Positionen der Partei anzutreffen.« Es gibt keine geltungssüchtigen Politiker, keine zeitraubenden politischen Debatten, keine lächerlichen Wahlveranstaltungen. Die Regierung ist effizient und stabil. Es gibt sogar Maßnahmen mit dem Ziel, die alten Qualen der Sexualität und die Bedrückungen familiären Zwanges aus dem Leben zu eliminieren. Kein Wunder, daß das System allgemein akzeptiert wird. In seiner treuherzigen Besessenheit von dem Verlangen, sagen zu dürfen, daß 2 + 2 stets 4 ergibt, und seiner Überzeugung, daß die ganze Armee bis auf ihn aus dem Tritt gekommen ist, stellt Winston Smith ein Geschwür, ein Furunkel am glatten Körper des Kollektivs dar. Es ist ein Zeichen von menschenfreundlicher Nachsicht des Staates, daß er sich bemüht, ihn von seiner Verrücktheit zu heilen, statt ihn kurzerhand als ein Ärgernis zu vaporisieren. Während des Zweiten Weltkriegs schrieb Orwell mutig, daß weder Hitler noch seine Art Sozialismus als bloßes Übel oder als krankhaft abgeschrieben werden könnten. Er sah die attraktiven Elemente in der Persönlichkeit des Führers ebenso klar wie die Anziehungskraft eines politischen Systems, das einem ganzen Volk Selbstachtung und Nationalstolz zurückgegeben hatte. Nur ein Mann, der fähig war, die Vorzüge einer Oligarchie zu würdigen, konnte ein Buch wie 2954 schreiben. In der Tat, jeder Intellektuelle, der über das armselige Ergebnis von Jahrhunderten der Demokratie enttäuscht ist, muß eine doppeldankvolle Haltung zum Großen Bruder einnehmen. Böte sich die Gelegenheit, möchte mancher Intellektuelle angesichts des Schauspiels von Hunderten von Millionen Menschen, die fröhlich, resigniert oder ohne allzu bittere Klagen unter Verhältnissen leben, die der Westen Knechtschaft nennt, sehr wohl über die Mauer springen und in der einen oder der anderen Spielart des Engsoz
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seinen Frieden finden. Und das Argument gegen den oligarchischen Kollektivismus beruht vielleicht nicht auf einer vagen Tradition von »Freiheit«, sondern ist abgeleitet vom Bewußtsein der Widersprüche im System selbst. In den Kellern des Ministeriums für Liebe spricht O’Brien zu Winston von der Welt, die die Partei aufbaut: Eine Welt der Angst, des Verrats und der Qualen, eine Welt des Tretens und Getretenwerdens, eine Welt, die nicht weniger unerbittlich, sondern immer unerbittlicher werden wird, je weiter sie sich entwickelt. Fortschritt in unserer Welt bedeutet Fortschreiten zu größerer Pein. Die alten Kulturen erhoben Anspruch darauf, auf Liebe oder Gerechtigkeit gegründet zu sein. Die unsrige ist auf Haß gegründet. In unserer Welt wird es keine anderen Gefühle geben, als Haß, Wut, Frohlocken und Selbstbeschämung. Alles andere werden wir vernichten – und zwar alles. Wir merzen bereits die Denkweisen aus, die noch aus der Zeit vor der Revolution stammen. Wir haben die Bande zwischen Kind und Eltern, zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mann und Frau durchschnitten. Niemand wagt es mehr, einer Gattin, einem Kind oder einem Freund zu trauen. Aber in Zukunft wird es keine Gattinnen und keine Freunde mehr geben. Die Kinder werden ihren Müttern gleich nach der Geburt weggenommen werden, so wie man einer Henne die Eier wegnimmt. Der Geschlechtstrieb wird ausgerottet. Die Zeugung wird eine alljährlich vorgenommene Formalität wie die Erneuerung einer Lebensmittelkarte werden. Wir werden das Wollustmoment abschaffen. Unsere Neurologen arbeiten gegenwärtig daran. Es wird keine Treue mehr geben, außer der Treue gegenüber der Partei. Es wird keine Liebe geben, außer der Liebe zum Großen Bruder. Es wird kein Lachen geben, außer dem Lachen des Frohlockens über einen besiegten Feind. Es wird
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keine Kunst geben, keine Literatur, keine Wissenschaft. Wenn wir allmächtig sind, werden wir die Wissenschaft nicht mehr brauchen. Es wird keinen Unterschied geben zwischen Schönheit und Häßlichkeit. Es wird keine Neugier, keine Lebenslust geben. Alle Freuden des Wettstreits werden ausgetilgt sein. Aber immer – vergessen Sie das nicht, Winston – wird es den Rausch der Macht geben, die immer mehr wächst und immer raffinierter wird. Dauernd, in jedem Augenblick, wird es den aufregenden Kitzel des Sieges geben, das Gefühl, auf einem wehrlosen Feind herumzutrampeln. Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft ausmalen wollen, dann stellen Sie sich einen Stiefel vor, der in ein Menschenantlitz tritt – immer und immer wieder. Winstons Herz gefriert bei diesen Worten, seine Zunge versagt: er kann nicht antworten. Aber unsere Erwiderung könnte sein: der Mensch ist nicht so, der simple Genuß der Grausamkeit ist ihm nicht genug; der Intellektuelle – denn nur Intellektuelle, die der Macht lange entsagen mußten, können ein solches Konzept artikulieren – verlangt nach einer Vielfalt von Genüssen; Sie sprechen von einer Verfeinerung des Machtrausches, aber mir scheint, Sie reden von einer Vereinfachung; diese brutale Simplifikation hat sicherlich eine Abnahme des intellektuellen Scharfsinns zur Folge, der allein imstande ist, das EngsozSystem zu erhalten. Genüsse können nach der Natur der Dinge nicht statisch bleiben; haben Sie nicht von abnehmenden Erträgen gehört? Das ist ein sehr statisches Vergnügen, von dem Sie sprechen. Sie sprechen von der Abschaffung des Wollustmoments, scheinen aber zu vergessen, daß Genuß von Grausamkeit ein sexueller Genuß ist. Wenn Sie die Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem Häßlichen beseitigen, werden Sie keinen Maßstab zur Bewertung der Intensität des Grausamkeitsgenusses haben. Doch auf all unsere Einwände würde
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O’Brien erwidern: Ich spreche von einem neuen Menschen. Genau das tut er. Es hat nichts mit der Menschheit zu tun, wie wir sie seit mehreren Jahrtausenden kennen. Der neue Mensch ist ein Science-Fiction-Konzept, eine Art Marsianer. Ein bemerkenswerter Quantensprung ist nötig, um vom Engsoz – der philosophisch auf einer sehr altmodischen Betrachtungsweise der Wirklichkeit und politisch auf altvertrauter staatlicher Unterdrückung gründet – zum Machtmenschen, oder wie immer man das neue Konzept benennen will, zu gelangen. Außerdem muß diese angenommene »Welt des Tretens und Getretenwerdens« mit den fortdauernden Prozessen der Regierung in Einklang gebracht werden. Die Verpflechtungen und Abhängigkeiten in einem funktionierenden Staatsapparat sind kaum zu vereinbaren mit der – nicht notwendig geisteskranken – Vorstellung einer mit genießerischer Verfeinerung gepflogenen Grausamkeit. Der Machtgenuß hat viel zu tun mit dem Genuß des Regierens, mit der Vielfalt der Möglichkeiten und Methoden, den Regierten einen individuellen oder kollektiven Willen aufzuerlegen. »Ein Stiefel, der in ein Menschenantlitz tritt – immer und immer wieder« – das ist eine Metapher der Macht, aber es ist eine Metapher in einer Metapher. Winston, der die Beredsamkeit hört, mit welcher der Engsoz-Traum vorgetragen wird, glaubt die Stimme des Wahnsinns zu hören – um so erschreckender, weil sie seine eigene scheinbare Vernünftigkeit einschließt. Aber Wahnsinn schließt Vernunft niemals ein; das vermag nur die Poesie, die den oberflächlichen Anschein ‘von Wahnsinn hat. Was O’Brien macht, ist dichterische Verherrlichung. Wir, die Leser, sind durchschauert von Erschrecken und Faszination, aber wir nehmen die Dichtung nicht wörtlich. Wir alle wissen, daß kein Politiker, Staatsmann oder Diktator die Macht um ihrer selbst willen sucht. Macht ist eine Position, ein Ziel, ein Herausragen, eine Herrschaftssituation, die, wenn total, Genüsse vermittelt, welche die Belohnung der Macht
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sind: den Genuß zu wählen, ob man gefürchtet oder geliebt sein, Schädliches oder Gutes tun, verdammen oder begnadigen, tyrannisieren oder Wohltaten erweisen will. Wir erkennen Macht, wenn wir eine Wahlfreiheit sehen, die von äußerlichen Faktoren uneingeschränkt ist. Wenn Autorität sich allein durch Übeltat ausdrückt, dann bezweifeln wir die Existenz der Wahlfreiheit und folglich die Existenz der Macht. Die höchste Macht ist nach ihrer Begriffsbestimmung die Macht Gottes, und sie würde nicht existent scheinen, wäre sie darauf beschränkt, Sünder in die Hölle zu verdammen. Ein Caligula oder ein Nero wird als eine zeitweilige Verirrung betrachtet, eine krankhafte Erscheinung, die sich nicht lange an der Macht halten kann, weil sie nichts als das Destruktive zu wählen vermag. Die Träume eines Marquis de Sade leiten sich von einer Unfähigkeit her, den Orgasmus durch normale Mittel zu erreichen, und wir nehmen hin, daß ihm nichts übrig bleibt als mit der Peitsche oder dem heißen Omelett zuzuschlagen. Solches Verhalten leuchtet eher ein als O’Briens vom Drang nach dem Orgasmus befreiter Sadismus. O’Brien spricht nicht von Macht, sondern von einer nicht eindeutig verstandenen Krankheit. Krankheit tötet ihrer Natur nach oder sie wird geheilt. Und wenn diese Krankheit nicht Krankheit, sondern eine neue Art von Gesundheit für eine neue Art von Menschheit ist – nun, so sei es. Aber wir gehören der alten Art von Menschheit an und sind nicht übermäßig interessiert. Tötet uns, wenn es schon sein muß, aber laßt uns nicht vorgeben, daß wir von einer höheren Ordnung der Wirklichkeit eliminiert werden. Wir werden bloß von einem Tiger zerrissen, oder von einem marsianischen Todesstrahl pulverisiert. Wirklichkeit findet im kollektiven Gehirn der Partei statt: die Außenwelt kann ignoriert oder nach dem Willen der Partei geformt werden. Versagt die Stromversorgung, die die Foltermaschinen nährt, was dann? Fließt der Saft dann, in irgendei-
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ner mystischen Weise, trotzdem weiter? Und wie, wenn die Ölversorgung aufhört? Kann der Verstand behaupten, daß sie noch immer funktioniert? Es gibt keine Wissenschaft, da der empirische Gedankenprozeß geächtet worden ist. Technologisches Können wird allein für die Waffenproduktion und die Eliminierung der persönlichen Freiheit nutzbar gemacht. Neurologen arbeiten an der Aufhebung des Orgasmus, und wir müssen annehmen, daß verwandte Spezialisten andere Mittel zur Lustabtötung oder Schmerzverstärkung ersinnen. Keine Präventivmedizin, keine Fortschritte in der Heilkunde, keine Organtransplantationen, keine neuen Arzneimittel. Luftstützpunkt Eins würde außerstande sein, eine unbekannte Epidemie einzudämmen. Freilich bedeuten Verfall und Tod einzelner Bürger wenig, solange der kollektive Körper gedeiht. »Das Individuum ist nur eine Zelle«, sagt O’Brien. »Die Schwäche der Zelle ist die Stärke des Organismus. Sterben Sie etwa, wenn Sie Ihre Fingernägel schneiden?« Dennoch muß diese gepriesene Kontrolle der äußeren Welt beeinträchtigt erscheinen, wenn unheilbare Krankheit den Geist zum Exitus auffordert, weil er die Mietdauer des Körpers überlebt hat. Natürlich können Körper ganz verschwinden, worauf der Große Bruder sich in der Position der Ecclesia triumphans sieht, Seelen oder Seele auf immer und ewig statisch im Lichthimmel, doch ohne Fleisch, das durchgewalkt und ohne Nerven, die zum Zerreißen gebracht werden können. Wie unsere Generation erfahren mußte, versteht die ignorierte oder mißhandelte Natur sich darauf, ihren berechtigten Groll in oft unerwarteter Weise auszudrücken. Umweltverschmutzung, sagt die Partei, existiert nicht. Dem wird die Natur machtvoll widersprechen. Erdbeben lassen sich mit Zwiedenken nicht abtun. Kollektiver Solipsismus stellt eine Hybris dar, welche die Götter der natürlichen Ordnung rasch mit Mißernten und endemischer Syphilis bestrafen würden. Orwell schrieb
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zu einer Zeit, als die Atombombe mehr gefürchtet wurde als die Zerstörung der Umwelt. Engsoz entstammt jedoch einer noch früheren Zeit, der Wellsschen, als die Natur für leblos und formbar angesehen wurde, ein Rohstoffreservoir, mit dem der Mensch tun konnte, was immer ihm in den Sinn kam. Selbst die Prozesse linguistischer Veränderung sind ein Aspekt der Natur, finden sie doch unbewußt und doch, wie es scheint, autonom statt. Es gibt keinerlei Garantie, daß die staatliche Schöpfung der Neusprache unempfindlich gegen allmähliche semantische Verzerrung, Lautverschiebung und den Einfluß der reicheren Altsprache der Proles existieren könnte. Wenn »doppelplusungut« oder, mit Macbethscher Würze, »doppeldoppelplusungut«, auf ein verdorbenes Ei angewendet wird, werden wir einen stärkeren Ausdruck brauchen, um schlimme Kopfschmerzen zu beschreiben. »Ungroßerbruderartig«, »unengsozisch«, »doppeldoppeldoppelplusungut« zum Beispiel. »Großerbruderartig« kann als Verstärker so neutral wie verdammt sein. Da der Große Bruder die einzige Gottheit ist, kann er angerufen werden, wenn wir uns mit dem Hammer auf den Daumen schlagen oder von einem Regenguß überrascht werden. Solcher Sprachgebrauch muß ihn zwangsläufig verkleinern. Pejorative semantische Veränderung ist ein Merkmal der gesamten Sprachgeschichte. Aber man vergißt allzu leicht, daß man es mit einer neuen Art von Menschenwesen und einer neuen Art von Wirklichkeit zu tun hat. Wir sollten nicht über etwas spekulieren, was hier nicht geschehen kann. Wir müssen 1984 nicht nur als eine Swiftsche Spielerei nehmen, sondern als eine erweiterte Metapher der Furcht. Als Projektion einer möglichen Zukunft besitzt Orwells Vision eine rein fragmentarische Gültigkeit. Engsoz kann nicht Wirklichkeit werden: es ist das nicht zu realisierende Ideal eines Totalitarismus, welches unvollkommene menschliche Systeme
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unbeholfen nachahmen. Was bleibt, ist die bildliche Kraft: das Buch ist nach wie vor ein apokalyptischer Kodex unserer schlimmsten Befürchtungen. Aber warum hegen wir diese Befürchtungen? Wir sind so schrecklich pessimistisch, daß wir Engsoz beinahe herbeiwünschen. Wir fürchten den Staat – immer den Staat. Warum?
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KAKOTOPIA »Ihr seht schon: es gibt dort keinerlei Möglichkeit zum Müßiggang und keinerlei Vorwand, sich vor der Arbeit zu drücken: keine Weinstube, keine Bierschenke, nirgendwo ein Freudenhaus, keine Gelegenheit zur Verführung, keinen Schlupfwinkel, keine Lasterhöhle. Vor aller Augen vielmehr muß man seine gewohnte Arbeit verrichten oder seine Freizeit anständig verbringen.« Das ist ein Zitat aus Thomas Morus’ Utopia. Im lateinischen Original hört es sich nicht so schlimm an, doch in der Umgangssprache hat es einen Beigeschmack von Engsoz. Der Begriff »Utopia«, den Morus erfand, hat immer eine Nebenbedeutung von Bequemlichkeit und Komfort gehabt, eine Art Lotusland, aber er bedeutet nicht mehr als jede imaginäre Gesellschaft, gut oder schlecht. Die griechischen Elemente, aus denen das Wort besteht, sind OM, was »nein« oder »nicht« bedeutet, und topos, womit ein Ort gemeint ist. In vielen Köpfen ist das ou mit eu – »gut«, »angenehm«, »wohltätig«, verwechselt worden. Eupepsie ist Leichtverdaulichkeit, Dyspepsie kennen wir alle. Dystopie ist der Eutopie gegenübergestellt worden, doch fallen beide Begriffe unter den Überbegriff Utopie. Ich ziehe es vor, Orwells imaginäre Gesellschaft ein Kakotopia zu nennen – im Sinne von Kakophonie oder Kakodämon. Es klingt schlimmer als Dystopie. Unnötig zu sagen, daß keiner dieser Begriffe in der Neusprache zu finden ist. Die meisten Zukunftsvisionen sind kakotopisch. George Orwell war ein Liebhaber kakotopischer Fiktion, und wir können sein 1984 als einen Beitrag im Wettrennen um die Schlimmste aller imaginären Welten ansehen. Es hat mit vielen Längen Vorsprung vor dem nächstschlimmen, unter Atemnot leidenden Nachtmahr gesiegt. Aber ohne dieses andere Buch hätte Orwell vielleicht nicht die Neigung verspürt, an dem Wettbewerb teilzunehmen.
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Das Buch ist Wir, von Jewgenij Samjatin. Orwell besprach es am 4. Januar 1946 in der Tribüne, nachdem er es endlich, mehrere Jahre, nachdem er von seiner Existenz erfahren, in die Hände bekommen hatte. Es war immer ein schwer faßbares Buch, und wenn es heute in den meisten Sprachen ohne weiteres erhältlich ist, dann liegt es daran, daß Orwell von ihm beeinflußt wurde. In der russischen Originalausgabe ist es anscheinend nicht aufzutreiben. Samjatin war ein russischer Romanschriftsteller und Kritiker, der 1937 in Paris starb. Schon 1906 von der zaristischen Regierung eingekerkert, wurde er 1922 von den Bolschewisten in eine Zelle im selben Korridor des gleichen Gefängnisses gesteckt. Er hegte eine Abneigung gegen die meisten Regierungen und neigte zu einer Art von primitivem Anarchismus. Der Titel seines Buches scheint auf ein Schlagwort von Bakunin, dem Vater des Anarchismus, anzuspielen: »Ich will kein Ich sein, ich will ein Wir sein.« Das soll offenbar heißen, daß die Antithese des mächtigen zentralisierten Staates nicht das Individuum ist, sondern die freie anarchische Gemeinschaft. Wir wurde um 1923 geschrieben. Es handelt nicht von Rußland; tatsächlich porträtiert es überhaupt kein existierendes politisches System, nicht einmal in versteckter Form, aber seine Veröffentlichung wurde mit der Begründung abgelehnt, daß es ideologisch gefährlich sei. Trotz der Zügellosigkeit der Fantasie und der Entlegenheit des Milieus kann man sehen, warum. Wir befinden uns im sechsundzwanzigsten Jahrhundert, und der Schauplatz der Handlung ist ein Utopia, dessen Bürger ihre Individualität so gründlich verloren haben, daß sie nur durch ihre Nummern bekannt sind. Sie tragen Uniformen und werden nicht Menschen genannt, sondern »Einheiten«. Da der Orwellsche Televisor noch nicht erfunden ist, wohnen sie in Glashäusern, so daß die Staatspolizei, als »die Wächter« bekannt, sie einfacher überwachen kann. Sie essen synthetische
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Nahrung und zur Erholung marschieren sie zu den Tönen der Nationalhymne, die aus Lautsprechern dröhnt, herum. Es gibt keine Ehe, aber Geschlechtsverkehr ist in bestimmten Abständen gestattet. Für die »Sexstunde« ist es erlaubt, in den Glaswohnungen Vorhänge zuzuziehen. Es gibt eine Sexzuteilungskarte mit rosa Abschnitten: der Partner des Akts signiert den jeweils fälligen Abschnitt. Der Einzige Staat, wie er genannt wird, ist beherrscht von einer Persönlichkeit, die so unbestimmt und unzugänglich wie der Große Bruder ist: er ist als der Wohltäterbekannt. Er wird zur Macht gewählt, hat aber keine Gegner. Die Philosophie des Einzigen Staates ist einfach. Es ist nicht möglich, zugleich glücklich und frei zu sein. Freiheit erlegt dem Menschen die Qual der Wahl auf, und Gott in seiner unendlichen Barmherzigkeit versuchte diese Qual auszuschließen, indem er Adam und Eva in einen wundervollen Garten einsperrte, wo sie alles hatten, was sie brauchten. Aber sie aßen die verbotene Frucht der Wahl, wurden aus dem Garten vertrieben und mußten für den freien Willen mit Unglücklichkeit bezahlen. Es ist die Pflicht aller guten Staaten, das Paradies zurückzubringen und die Schlange der Freiheit unschädlich zu machen. Der Held und Erzähler ist 0-503, ein Ingenieur, der sich bemüht, ein guter Bürger zu sein, zu seinem Schrecken jedoch von atavistischen Impulsen übermannt wird. Er verliebt sich, was verboten ist. Damit nicht genug, verliebt er sich in eine Frau – 1-330 – , die im Untergrund eine Widerstandsbewegung leitet, welche Lastern wie Tabak und Alkohol und dem Gebrauch der Einbildungskraft ergeben ist. 0-503, der kein wahrer Revolutionär ist, erhält die Gelegenheit, sich der Einbildungskraft, die der Staat zu einer Krankheit erklärt hat, durch Röntgenbestrahlung zu entledigen. Geheilt, verrät er die Verschwörer an die Polizei und sieht unbewegt zu, wie gefol-
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tert wird. Alle Dissidenten werden schließlich hingerichtet – mittels der Maschine des Wohltäters, die sie in ein Rauchwölkchen und eine Wasserpfütze verwandelt: buchstäbliche Liquidation. Orwell kommentiert: Die Hinrichtung ist in Wahrheit ein Menschenopfer und der Autor verleiht der Szene mit Bedacht den Anstrich der finsteren Sklavenzivilisation des Altertums. Dieses intuitive Erfassen der irrationalen Seite des Totalitarismus – Menschenopfer, Grausamkeit als Selbstzweck, die Verehrung einer Führergestalt, der göttliche Attribute beigelegt werden – ist es, das Samjatins Buch über Huxleys hinauswachsen läßt. Dieser Hinweis gilt natürlich Aldous Huxleys Brave New World,das, ebenso wie 1984, unter dem Einfluß von Wir geschrieben wurde. Orwell lehnte Brave New World als mögliche Rißzeichnung selbst einer fernen Zukunft ab: er warf Huxley Mangel an politischem Bewußtsein« vor. In Erinnerung an Samuel Johnsons scharfer Kritik am unbekümmerten Gebrauch eines Begriffs, der die Seligkeit des Himmels ebenso auszudrücken hat wie die Freude eines kleinen Mädchens über ein neues Kleid, ist die Bezeichnung Zufriedenheit vielleicht besser. Pränatale biologische Techniken und Paw»owsche Konditionierung sind in der Lage, den Bürgern der Zukunft ein Gefühl der Zufriedenheit mit dem Los, das der Staat ihnen zugedacht hat, zu vermitteln. Es ist keine Gleichheit. Die Gesellschaft ist starr geschichtet, vom Alphaplus-Intellektuellen bis hin zum Ypsilon-minus-Schwachsinnigen, aber die Starrheit ist in das System biologisch eingebaut. Die Familie, die nach Freuds Meinung mehr als alles andere für menschliche Unzufriedenheit verantwortlich ist, wurde abgeschafft; Kinder werben in Reagenzgläsern erzeugt; alle Sexualität ist zufällig und steril. Es ist eine vollkommen stabile Gesellschaft, deren vor-
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herrschende Philosophie der Hedonismus ist. Aber Orwell meint, daß eine solche Gesellschaft nicht dynamisch genug sein würde, um zu überdauern. »Es gibt keinen Machthunger, keinen Sadismus, keine Härte irgendwelcher Art. Diejenigen, die an der Spitze stehen, haben keine starke Motivation, dort zu bleiben, und obgleich jedermann in einer inhaltlosen Weise glücklich ist, ist das Leben so sinnentleert»und zwecklos geworden, daß es schwierig ist, an den Fortbestand einer derartigen Gesellschaft zu glauben.« Das Streben nach Glück ist danach zwecklos. Ist es die Freiheit auch? Das Ringen darum vermutlich nicht. Orwell vermag sich keine Gesellschaft vorzustellen, deren Herrscher nicht von dem Wunsch beseelt sind, den Beherrschten ihre durch und durch übelwollenden Absichten aufzuzwingen. Das ist politisches Bewußtseins Die Dynamik der Gesellschaft besteht in einem Widerstand der Beherrschten gegen den Willen des Herrschers – von diesem begrüßt als eine feindliche Triebkraft, die Unterdrückung verdient, mit all ihren begleitenden sadistischen Genüssen. Mit der Feststellung, daß es dies sei, was es mit der Gesellschaft auf sich habe, hat Orwell die Geschichte auf seiner Seite. Warum suchen Menschen andere zu beherrschen? Gewiß nicht zum Besten jener anderen. Davon überzeugt zu sein, heißt »»olitisches Bewußtsein« zu zeigen. Gleichwohl hat es Utopisten gegeben – H. G. Wells, um nur einen zu nennen -, die glaubten, daß die gerechte Gesellschaft aufgebaut werden könne. Die Wellssche Zukunft wird in 1984 verhöhnt – eine saubere, unschuldige Vision von einer Welt voll hellenischer (oder mussolinischer) Architektur, vernünftiger Kleidung und arbeitssparender Vorrichtungen, in welcher die Vernunft regiert und niedrige Emotionen wie Machtgier und die Ausübung von Grausamkeit mit der gebotenen Strenge kurzgehalten werden. Wäre Orwell ein anglikanischer Pfarrer gewesen, so hätte er gewußt, welchen Begriff er für die Be-
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schreibung hätte wählen müssen. Er hätte gesagt, daß die rationale Gesellschaft, in welcher der wissenschaftliche Sozialismus triumphiert, »pelagianisch« sei. Die Begriffe »pelagianisch« und »augustinisch« sind, wenngleich theologisch, nützlich zur Beschreibung der gegensätzlichen Pole des menschlichen Glaubens in bezug auf die eigene Natur. Der britische Mönch Pelagius oder Morgan (beide Namen bedeuten »Mann vom Meer«) war Urheber einer Häresie, die von der Kirche in den Jahren 411 und 431 n. Chr. verurteilt wurde, aber niemals aufgehört hat, einen Einfluß auf die Moralvorstellungen des Abendlandes auszuüben. Die gegensätzliche Anschauung vom Menschen muß dem aufgeklärten Zeitgenossen unserer Tage höchst unwahrscheinlich vorkommen, obwohl sie sich damals durchsetzte und seitdem ein Teil der traditionellen christlichen Glaubenslehre ist. Diese behauptet, daß der Mensch die Welt im Zustand der »Erbsünde« betritt, die er aus eigener Anstrengung allein nicht überwinden kann: er bedarf Christi Erlösung und der göttlichen Gnade. Die Erbsünde verknüpft einen gewissen menschlichen Hang zum Bösen mit dem Verbrechen des Ungehorsams, das Adam im Paradies beging. Wie Samjatin uns erinnert, wünschte Adam nicht glücklich zu sein; er wünschte »frei« zu sein. Ihn verlangte nach freiem Willen, nach dem Recht, zwischen Handlungsweisen zu wählen – Handlungsweisen, über die ein moralisches Urteil abgegeben werden konnte. Er begriff nicht, daß er, einmal frei, eher das Falsche als das Rechte wählen würde. Seiner Natur nach aber würde er lieber die Befriedigung des eigenen Ego ins Auge fassen, als das, was Gott wohlgefällig ist. So verdammte er sich selbst zu göttlicher Bestrafung, von der ihn nur Gottes Gnade entsühnen konnte. Pelagius leugnete diese furchtbare Mitgift. Für ihn war der Mensch frei, die Erlösung wie auch die Verdammung zu wäh-
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len: er war nicht von vornherein dem Bösen zugeneigt, es gab keine Erbsünde. Noch war er notwendig dem Guten zugetan: die Tatsache völliger Wahlfreiheit machte ihn neutral. Aber er besaß zweifellos die Fähigkeit, ungehindert von sündhaften Kräften in ihm ein gutes Leben zu führen und durch eigene Anstrengungen schließlich Erlösung zu erlangen. Der hl. Augustinus, Bischof von Hippo, der die orthodoxe Lehre der Erbsünde und die Notwendigkeit, um göttliche Gnade zu beten, bekräftigte, wurde nicht müde, Pelagius und seine Anhänger zu verurteilen, und setzte sich am Ende durch. Aber Pelagius hat sich in mehr als fünfzehnhundert Jahren nicht ganz zum Schweigen bringen lassen. Bei der Übertragung dieser Ansichten vom Menschen in unsere weltliche Betrachtungsweise neigen wir dazu, die Sünde zu vergessen und uns darauf zu konzentrieren, was gut für die Gesellschaft ist und was nicht. Die Wellssche Art von Pelagianismus machte für kriminelle Impulse die Umweltbedingungen verantwortlich. Was Priester die »Erbsünde« nannten, sei eine Reaktion auf Armut, Slumwohnungen, erzwungene Unwissenheit und Schmutz. Ein wissenschaftlicher Sozialismus würde ausrotten, was Verbrechen genannt wurde. Der Mensch sei nicht bloß moralisch neutral: als ein soziales Wesen habe er das Verlangen, ein »gutes« oder verantwortungsbewußtes Mitglied der Gesellschaft zu sein; nur hätten seine Lebensbedingungen ihn daran gehindert. Doch wenn es weltliche Pelagianer gibt (wenn auch nicht so viele wie etwa vor 1933), scheint es keine weltlichen Augustinisten zu geben. Leute, welche die Möglichkeit moralischen Fortschritts leugnen und auf den destruktiven, libidinösen Trieben des Menschen als einem unverbesserlichen Aspekt seines Zustandes beharren, nehmen notwendigerweise einen traditionell theologischen Standpunkt ein. Wenn etwas zur Verbesserung des Menschen getan werden kann, dann muß es von außen kommen – von Gott, oder der
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Lebenskraft, oder einem wundersamen außerirdischen Virus, der von einem UFO mitgebracht wird. Die Polarität ist jedoch nicht ganz so streng. Wir alle sind sowohl pelagianisch als auch augustinisch, entweder in zyklischen Phasen oder, durch eine Art von Zwiedenken, zur gleichen Zeit. Als Sozialist war Orwell Pelagianer, als Erfinder des Engsoz aber dachte er augustinisch. Manchmal scheint es, daß das politische Leben einer freien Gemeinschaft sich im folgenden Zyklus bewegt: ein pelagianischer Fortschrittsglaube bringt eine Art von liberalem Regime hervor, das ins Wanken gerät, wenn sich zeigt, daß die Menschen offensichtlich nicht zu bessern sind und dem liberalen Vorstellungsbild nicht gerecht zu werden vermögen; das Regime bricht zusammen und wird gefolgt von einem Obrigkeitsstaat, in welchem der Mensch gemacht ist, um gut zu sein; man sieht ihn nicht in einem so schlechten Licht, wie die augustinische Philosophie es lehrt; der Weg für die Rückkehr des Liberalismus ist damit frei. Wir neigen zum augustinischen Prinzip, wenn wir von unserer eigenen Selbstzucht angewidert sind, zum pelagianischen, wenn wir uns gut benommen zu haben scheinen. Der freie Wille ist ein Wesenszug des Pelagianismus; der Determinismus (die Erbsünde macht, daß wir für unser Handeln nicht voll verantwortlich sind) ein Wesenszug des Augustinismus. Keiner von uns ist sicher, wie frei wir wirklich sind. Mit der Anrufung zweier gegensätzlicher, aber einander durchdringender Arten von Theologie sehen wir uns mit Begriffen wie »gut« und »böse« liebäugeln. Abgelöst von ihrer Grundlage, werden diese sehr leicht semantisch vage, dabei stark gefühlsbetont. Es ist peinlich, einen Politiker zu hören, der sie gebraucht, weniger peinlich – wenn auch noch immer beunruhigend – zu hören, wie er mit »recht« und »unrecht« jongliert. Genau genommen liegt die moralische Zweiheit, die diese Wörter verkörpern, innerhalb der Domäne des Staates,
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während »gut« und »böse« sich auf theologische Beständigkeit beziehen. Was ist recht, was ist unrecht? Was immer der Staat sagt. Es ist richtig, Ostasien zu hassen, und dann, im nächsten Atemzug, unrecht. Es ist recht, in einer Zeit der Vollere! Kartoffeln zu essen, unrecht, sie in Hungerzeiten zu essen. Die Konservativen haben unrecht, und wir, die Sozialisten, haben recht – eine Frage der Prämisse. Die Gesetze des Staates werden ständig geändert, und mit ihnen ändern sich die Bewertungen von Recht und Unrecht. Die Notwendigkeit, den flatterhaften Urteilen des Staats unveränderliche Werte entgegenzusetzen, macht uns bereit zu sagen, daß diese gesetzliche Verfügung gut sei, selbst wenn sie falsch ist, und daß jene, wenngleich richtig, schlecht sei. Es ist immer einfacher gewesen, auf Beispiele des Bösen zu verweisen, als auf solche des Guten. Ein Anhänger des Augustinus könnte sagen, daß dies zwangsläufig so sein müsse, da das Böse in unserer Natur ist, das Gute hingegen nicht. »Gut« ist ohnedies ein Wort mit einem breiten Bedeutungsspektrum: wir laufen Gefahr, das ethisch Gute mit dem durcheinanderzubringen, was wir mangels eines besseren Begriffs das ästhetisch Gute nennen müssen. Eines der großen Rätsel der menschlichen Natur soll durch die Vernichtungslager der Nationalsozialisten dokumentiert sein. Ein Lagerkommandant, der tagsüber die Liquidierung von Tausenden von Juden überwacht hatte, ging abends nach Hause, um seine Tochter eine Schubertsonate spielen zu hören, und weinte vor Ergriffenheit. Wie war das möglich? Wie konnte jemand, der sich so dem Bösen gewidmet hatte, ohne Schwierigkeit in eine Welt des göttlich Guten überwechseln? Die Antwort ist, daß das Gute der Musik nichts mit Ethik zu tun hat. Kunst erhebt uns nicht zu Wohltätigkeit. Sie ist moralisch neutral, wie der Geschmack eines Apfels. Statt eine verbale Verwirrung zu erkennen, grübeln wir über eine Anomalie nach oder behaupten mit George Steiner,
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daß eine innige Liebe zur Kunst den Menschen unempfindlich für moralische Imperative mache. »Manche Männer, die über Werther oder Chopin Tränen der Rührung vergossen, gingen, ohne es zu bemerken, durch eine buchstäbliche Hölle.« In Wahrheit ist nichts Geheimnisvolles daran. Was meinen wir, wenn wir sagen: »Gott ist gut?« Vermutlich, daß Gott wohltätig ist und unmittelbar an seiner Schöpfung arbeitet, um ihr glückliches Gelingen zu sichern. Aber es ist schwierig, sich das vorzustellen, und noch schwieriger, es zu glauben. Bei weitem einfacher ist es, Gottes Güte als etwas zu begreifen, was irgendwie der Güte eines gegrillten Steaks oder einer Mozartsinfonie analog ist – ein Anlaß zu immerwährender Freude, und von einer unendlichen Fülle; selbstgenügsam obendrein, da die Sinfonie sich selbst hört und das Gegessene zugleich der Esser ist. Die Güte von Kunst, nicht die von Heiligen, ist die bessere Abbildung göttlicher Güte. Die Güte eines Musikstücks und die Güte einer wohltätigen Handlung haben eins gemeinsam – Uneigennützigkeit. Der sogenannte gute Bürger befolgt lediglich die Gesetze und nimmt hin, was der Staat ihm als Recht oder Unrecht einredet. Güte hat wenig mit Bürgerrecht zu schaffen. Sie ereignet sich nicht aus Gehorsam gegenüber dem Gesetz, um Lob zu erhäschen oder der Bestrafung zu entgehen. Die gute Tat ist die uneigennützige Tat. Sie wird nicht hinausposaunt und erwartet keine Belohnung. Man kann erkennen, wie es möglich ist, einen eingebildeten Zusammenhang zwischen der Güte von Beethovens Neunter Sinfonie – komponiert in Taubheit, Krankheit und Armut – und derjenigen des Heiligen zu sehen, der seinen Mantel dem Nackten gibt, den Leprakranken umarmt und stirbt, um andere zu retten. Aber Beethovens Güte ist außerhalb des Aktionsbereichs, dem der Heilige sich so selbstlos widmet. Kunst ist eine unentgeltlich gewährte Vision des Himmels. Da sie sozusagen göttlich ist, liegt sie jenseits
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menschlicher Belange. Anders als der Himmel der christlichen Heilslehre ist sie dem moralisch Bösen ebenso frei zugänglich wie dem moralisch Guten: das Äquivalent der göttlichen Gnade des hl. Augustinus, unparteiisch gewährt. Dies macht sie dem engherzigen Moralisten verdächtig. Was also ist die gute Tat? Die Nackten zu kleiden, die Kranken zu pflegen, die Hungrigen zu ernähren, die Unwissenden zu lehren. Diese separaten Handlungen summieren sich zu der Sorge, in einem lebendigen Organismus dessen angeborene Fähigkeit zu freiem Wirken innerhalb der Grenzen seiner natürlichen Lebensbedingungen zu fördern oder wiederherzustellen. Diese Handlungen sind immer gut, aber sie sind nicht immer richtig. Unwissenheit ist Stärke, sagt Engsoz. Die Nazis sagten: Laßt die Juden frieren, hungern und sterben. Die gute Tat läßt keine Differenzierungen nach Rassen oder Spezies in ihren Zielen zu. Es ist gut, den gebrochenen Flügel eines Vogels zu heilen oder das Leben eines Gauleiters zu retten. Die Güte des Heiligen ist von völliger Uneigennützigkeit gekennzeichnet; die Güte geringerer Menschenwesen mag unterschiedliche Motive haben, die nicht bewußt oder zumindest nicht klar verstanden werden; aber die gute Tat neigt zu Wildwuchs und steht in keiner Beziehung zu Nützlichkeit, Politik oder Gesetz. Die gute Absicht kann, wie wir nur zu gut wissen, schlimme Folgen haben. Als Charles Dickens einmal Zeuge eines Eisenbahnunglücks war, ging er umher und schüttete den Verletzten unterschiedslos Branntwein in die Kehlen, womit er mehrere tötete. Er war jedoch kein Mörder. Aber die Fähigkeit, die wahrhaft gute Tat auszuführen, ist mit einem hohen Maß von Intelligenz und Wissen verbunden. Fortschritt kann als eine allmähliche Zunahme der menschlichen Fähigkeit zum Verständnis von Motivationen und der Befreiung guter Absichten vom Übel der Unwissenheit betrachtet werden. Das Böse in seiner reinsten Form teilt mit dem Guten diese
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Eigenschaft der Uneigennützigkeit. Wenn das Gute um die Förderung der Fähigkeit eines lebendigen Organismus zu freier Entfaltung besorgt ist, so muß dem Bösen daran gelegen sein, solche Freiheit wegzunehmen. Wenn wir Pelagianier sind, akzeptieren wir, daß der Mensch völlige Freiheit der moralischen Entscheidung hat. Der Entzug dieser Entscheidungsfreiheitbedeutet Entmenschlichung. Das Böse ist am augenfälligsten, wenn es seine Freude daran hat, ein fühlendes und denkendes Wesen in ein manipulierbares Objekt zu verwandeln. Tötung ist schlimm genug, aber Folter ist stets als schlimmer angesehen worden. Der Staat hat ein beträchtliches Interesse an Entmenschlichung. Er neigt dazu, sich in allen Fragen moralischer Entscheidung das letzte Wort anzumaßen und sieht es nicht gern, wenn das Individuum sich selbst eine Meinung bildet. Es ist notwendig, daß Machthaber zwischen dem Willen der Herrschenden und dem Willen der Beherrschten unterscheiden. Der Wille der Herrschenden muß im Idealfall völlig frei sein; derjenige der Beherrschten hingegen mehr oder weniger eingeschränkt, je nach der stärker oder schwächer ausgeprägten autokratischen Natur des Staates. Der Staat ist das Instrument, wodurch die Herrschenden Macht über die Beherrschten ausüben. Insoweit dieses Instrument in der Ausführung seiner Funktionen auf so wenig Opposition wie möglich stoßen soll, läßt sich sagen, daß das Böse, wie es sich im Staat manifestiert, niemals gänzlich uneigennützig sein kann. Aber Orwells Kakotopia stellt die Errichtung einer Autorität dar, die ihrer selbst so sicher ist, daß sie es sich leisten kann, ihr Hauptvergnügen in der Ausübung des Bösen um seiner selbst willen zu finden – das heißt, Männer und Frauen langsam und mit Bedacht zu hirnlos nachplappernden, ihrer Menschenwürde beraubten Kreaturen herabzuwürdigen. Das ist die letzte und höchste Form der Kakotopia, zu der das nationalsozialistische Deutschland, Sowjetrußland und eine Menge kleiner Gewaltherrschaf-
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ten Ansätze entwickelten, die sie aber niemals zu erreichen vermochten. Es ist vielleicht typisch für Orwells ganz und gar weltliche Kultur, daß er die Möglichkeit des Bösen nur im Staat sehen konnte. Das Böse war nicht für das Individuum, die Erbsünde eine Lehre, der Spott und Verachtung gebührte. Orwells Sozialismus erlaubte, bestand sogar darauf, daß der Mensch moralischer ebenso wie ökonomischer Vervollkommnung fähig sein sollte. Sein augustinischer Pessimismus galt nur jener Projektion des Menschen, die als der oligarchische Staat bekannt ist. Der Staat ist der Teufel, aber es gibt keinen Gott. Die Ansicht, daß das Böse irgendwie außerhalb des Individuums sei, hält sich noch immer in einem Abendland, das all seine traditionellen Glaubensanschauungen bis auf ein paar Fetzen weggeworfen hat. Das Böse ist akzeptiert, wie sich am My-Lai-Massaker, den Schlächtereien eines Charles Manson und den täglichen Vergewaltigungen und Morden zeigt, die die Straßen amerikanischer Großstädte beleben. Aber es ist tröstlich zu glauben, daß dieses Böse dem Menschen nicht imanent ist, wie Augustinus dachte, sondern von außen kommt, wie eine Krankheit. Der Teufel und sein Dämonengefolge besitzen das Monopol des Bösen, und ihnen geht es um den Besitz menschlicher Seelen, die sie mit der ganzen Ausstattung des Bösen herausputzen, von der Blasphemie bis zum Kannibalismus. Sie können vielleicht exorziert werden, aber das Böse gedeiht nicht im Menschen selbst. Die Abergläubischen kommen leichter über ihr eigenes Versagen hinweg, wenn sie es dem Vater der Lügen zuschreiben können. Die Orwell-Anhänger geben alle Schuld dem Großen Bruder. Orwell schien zu glauben, daß die reale Welt, im Gegensatz zu derjenigen seiner fiebrigen und wahrhaft kranken Fantasie, größeren und schlimmeren Kakotopias entgegengehe. Größere und mächtigere Staaten, ausgerüstet mit der teuflischsten Un-
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terdrückungstechnologie, würden das Individuum mehr und mehr zu einem schnatternden Humanoiden reduzieren. Die Zukunft werde einen ungleichen Kampf zwischen dem Menschen und dem entpersönlichten Staat bringen, und die daraus resultierende Niederlage des Menschen werde ebenso total wie demütigend sein. Wir müssen jetzt sehen, ob seine Prophezeiung sich bewahrheitet.
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STAAT UND SUPERSTAAT: EIN GESPRÄCH Wie verhält sich die heutige Welt internationaler Politik zu derjenigen, die Orwell ins Auge faßte? Sehr verschieden. Es gibt Supermächte, aber sie haben es nicht leicht, Kontrolle über die kleineren Staaten auszuüben. Diese sind von den großen nicht aufgesaugt worden. Die Epoche der Nachkriegszeit zeichnet sich durch einen Geist des Übergangs aus, durch einen umfassenden Auflösungsprozeß kolonialer Herrschaft und die Errichtung zahlreicher unabhängiger Tyranneien, Oligarchien und echter Demokratien. Gewiß, wir sprechen viel von Einflußsphären, ineinandergreifenden Systemen und so weiter, aber es gibt keine gewaltigen zentralisierten Machtblöcke nach dem Orwellschen Modell, die allesamt ähnlichen Ideologien anhängen. Und wo liegt die Macht? Die buchstäbliche Kraft, die Maschinen antreibt, schläft in islamisch beherrschtem Öl. Für Orwell war der Mittlere Osten lediglich Teil der etwa trapezförmigen Zone, die als Reservoir billiger Arbeitskräfte zum Zankapfel der Superstaaten geworden ist. Tatsächlich trägt der Islam die Merkmale eines echten Über-Staates, getragen von einer mächtigen und wiederauflebenden religiösen Ideologie, deren gepanzerte Faust einst das Christentum seines orientalischen Nährbodens beraubte und in die dunkle Isolation des Frühmittelalters stieß, und die sich vielleicht noch einmal über ein Abendland erheben wird, das dank dem Zweiten Vatikanischen Konzil eines festen und kämpferischen Glaubens verlustig gegangen ist. Du liebe Zeit. Aber Sie müssen zugeben, daß Orwells Prophezeiung sich in groben Umrissen bewahrheitet hat. Die Vereinigten Staaten, Sowjetrußland und China sind sicherlich geeignet, die Stelle der drei alptraumhaften Großmächte einzunehmen, bis an die Zähne bewaffnet, zum Ausbruch bereit. Aber ohne auszubrechen. Es ist nicht zu gefährlichen unmit-
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telbaren Zusammenstößen gekommen. Zu Wortgefechten, ja, aber nicht zu Atomangriffen auf New York oder Moskau oder Peking. Kein Zustand ständiger kriegerischer Verwicklungen? Gewiß, durchschnittlich zwei kleinere Kriege im Jahr. Indien kämpft gegen Pakistan, Israel gegen Ägypten, Jordanien gegen Syrien. Schießereien und Bürgerkrieg in Palästina, Zypern, Kenia, Südjemen, Java, Indochina, Algerien, Angola, Mozambique, Goa, Tibet, Nigeria, Griechenland, Niederländisch Neuguinea, in Zaire und in Rhodesien. Aber abgesehen von Korea und Vietnam kein direktes Engagement der Supermächte, sondern Einsatz von Stellvertretern. Sogenannte sowjetische Militärberater 1967 auf den Golanhöhen. Sowjetische und chinesische Ausbilder für die Guerillas der Volksbefreiungsfront im Südjemen. Nicht zu reden von den amerikanischen Militärberatern und Ausbildern in allen Teilen der Welt. Aber sowjetische Streitkräfte haben unmittelbar und offen nur in ihrem eigenen Machtbereich eingegriffen – um die Ostberliner Unruhen von 1953 zu unterdrücken, den ungarischen Aufstand von 1956 niederzuschlagen und die tschechische Reformbewegung 1968 abzuwürgen.* Aber da haben wir den Keim von Orwells Eurasien – das sowjetisierte Europa. Wieviel von Europa? Westeuropa wurde des autoritären Obrigkeitsstaates nach generationenlangen Erfahrungen mit Hohenzollern, Habsburgern, Faschisten und Nationalsozialisten endlich überdrüssig. Rußland könnte Eurasien nur durch Gewalt errichten. Und es scheut sich, zuviel Gewalt anzuwenden. Das gleiche gilt für die Vereinigten Staaten. Das große Paradoxon des Zeitabschnitts seit 1945 ist die Unerschrockenheit der kleineren Mächte in der Führung ihrer begrenzten Kriege und *
Das Buch erschien vor der sowjetischen Invasion in Afghanistan. (Anm. d. Red.) 82
der Widerwille der Großmächte, einander unmittelbar entgegenzutreten. Der Koreakrieg und die Kubakrise 1962 sahen in meinen Augen sehr nach direkten Konfrontationen aus. Aber Orwells Annahme – und er war damit nicht der einzige -, daß ein großer Atomkrieg in die stillschweigende Übereinkunft münden würde, die Auseinandersetzung in einem begrenzten konventionellen Krieg weiterzuführen, scheint einer recht fernen Vergangenheit anzugehören. Wir alle fürchteten die Bombe: sie war unser täglicher Alptraum. Sehen Sie sich die Literatur an, die in den späten vierziger und den fünfziger Jahren herauskam. Nehmen sie Aldous Huxleys Ape and Essence mit seiner Vision eines Kalifornien nach dem Atomkrieg, eines in Barbarei zurückgefallenen Landes, wo mutierte Krüppel nach der Geburt umgebracht werden, jährliche Paarungszeiten eingeführt sind und der Herr der Fliegen, der Bombenbringer, mit Gebeten und Opfergaben gnädig gestimmt wird. Nehmen Sie L. P. Hartleys Facial Justice, mit einer von Schuldgefühlen gequälten postatomaren Welt, in welcher jeder nach einem Mörder benannt ist und jeglicher Unternehmungsgeist zum Erliegen gekommen ist, weil alles, was wir tun, böse ist. Nehmen Sie Dr. Strangelove, noch in den frühen sechziger Jahren. Nehmen Sie Romane wie Fail-Safe. Orwell vermochte nicht zu sehen, daß der Schrecken um sich greifen würde, ehe ein Atomkrieg ausbrechen könnte. Wie ihm erging es allen anderen. Er vermochte auch nicht zu sehen, daß auf bloße Atombomben rasch thermonukleare Waffen von weit schrecklicherem Potential folgen würden. Ich meine, man könnte das Nuklearzeitalter so zusammenfassen: die Großmächte unter dem Druck gegenseitiger Bedrohung geneigt, ihre Konflikte durch Stellvertreter auszutragen, es sei denn, um in ihren eigenen Einflußbereichen zu intervenieren; die kleinen Nationen um die
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unbeweglichen Füße der Riesen herum in kriegerische Auseinandersetzungen verstrickt. Die Riesen sind sich der Leichtigkeit bewußt, mit der ein Atomkrieg entfesselt werden könnte, sind sich auch der folgen bewußt – nicht nur Dutzende von Millionen Toten, sondern die Vernichtung unersetzlicher Werte auf beiden oder allen Seiten; die Pygmäen hingegen arglos in ihrer herkömmlichen Kriegführung. Nicht so sehr arglos als vielmehr in schlauer Kenntnis, wie weit sie gehen können. Und wie weit ihre jeweilige wirtschaftliche Lage ihnen zu gehen gestattet. Es ist übrigens interessant festzustellen, daß Orwells rationale Grundlage des Krieges im Nuklearzeitalter nicht funktioniert hat. Ich meine den Verbrauch der Industrieerzeugnisse in einem verschwenderischen Krieg, um den Lebensstandard niedrig zu halten. Eine vergleichbare Restriktionspolitik wurde vom nationalsozialistischen Deutschland propagiert: Kanonen statt Butter. Die Wirtschaft der westlichen Industrienationen in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg ist gekennzeichnet von kolossalen Rüstungsausgaben, begleitet von einer stetigen Zunahme des zivilen Verbrauchs. Es ist, als hätte das enorme wirtschaftliche Wachstum der zweiten industriellen Revolution die Devise Kanonen und Butter möglich gemacht und trüge die Interkontinentalrakete wie den Farbfernseher. In dieser Phase industrieller Entwicklung kann man die wissenschaftlich – technischen Entwicklungen, die tödlichen Zwecke, und jene, die angeblich dem Leben dienen, kaum noch auseinanderhalten. In der Tat, man könnte unser Zeitalter als eine betrügerische Synthese beider Entwicklungen sehen. – Sie wissen, was ich meine: den gemütlichen Abend vor dem Fernseher, mit dem Vietnamkrieg als Teil der farbigen Unterhaltung; oder den Kauf neuzeitlicher Unkrautvernichtungsmittel, mit denen man anderwärts Wälder entlaubt hat, für den Garten. Die amerikanischen Kriegsabenteuer haben der Welt die Vorzüge des Konsums nahegebracht.
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Mit Orwells Visionen hat das nichts zu schaffen. Aber der amerikanische Imperialismus hat durchaus Orwellsche Züge – die Errichtung einer Art von Ozeanien, dessen Machtzentren wie diejenigen von Orwells Engsoz sonderbar versteckt, verstreut und anonym sind. Die CIA als eine Art Gedankenpolizei. Das Zwiedenken in der Demokratie, Selbstbestimmung, Freiheit der Rede und des Handelns verbunden mit Einschüchterung und Brutalität. Ein freies und unabhängiges frankophones Quebec? Undenkbar, erschießt die Dissidenten. Da oben ist zuviel amerikanisches Kapital investiert. Eine kommunistische Regierung in Italien? Nicht daran zu denken, mag sie auch demokratisch zustande gekommen sein. Eher veranstalten wir einen Staatsstreich. Ich, ein harmloser und unpolitischer britischer Schriftsteller, der in Rom lebte, wußte recht gut, daß die CIA mein Telefon abhörte. Taten ihre Arbeit zweifellos im Namen der Freiheit, die Reisenden der Gedankenpolizei. Seien wir vernünftig. In den Traditionen der Vereinigten Staaten gibt es nichts, was sie für den Obrigkeitsstaat europäischer Prägung empfänglich macht. Der hysterische Antikommunismus kann als ein – wenngleich unerfreuliches und gefährliches – Symptom eines eingefleischten Hasses gegen jede zentralisierte Staatsgewalt und alle gegen das Privateigentum gerichteten Tendenzen gesehen werden. Sie können nicht leugnen, daß die Vereinigten Staaten viel getan haben, um die demokratische Selbstbestimmung in Westeuropa voranzubringen. Truman, Acheson, der Marshallplan. Nicht zu übersehen ist freilich auch eine Art von arroganter Anmaßung von Seiten der Vereinigten Staaten, daß sie es am besten wüßten und daß Gott sie mit einer moralischen Überlegenheit ausgestattet habe, die der Lohn einer aufgeklärten demokratischen Tradition sei. Aber das ist sehr verschieden von kollektivistischer Tyrannei. Nun, eins ist wahr der Obrigkeitsstaat ist kein Monopol der
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großen Mächte. Afrika ist voll von unangenehmen kleinen Tyranneien. Territorien, von denen man glaubte, daß sie unter dem kolonialen Joch gestöhnt hätten, errangen die Freiheit und hatten nichts Eiligeres zu tun, als Diktaturen zu errichten. Gehen Sie nach Singapur, wo Herr Lee Juan Yew über ein sauberes, malariafreies Freihandelsparadies regiert. Seine politischen Gegner sind im Ausland oder im Gefängnis, wo sie Studien nachgehen, die »Selbsterziehung« genannt werden. Die Polizei schleppt langhaarige lugendliche zu den vorgeschriebenen Barbierstühlen. Die Medien haben jene glatte, affirmative Qualität, die einem aus Franco-Spanien geläufig ist – Hochzeiten der oberen Zehntausend, hübsche Babys, Kätzchen mit Seidenbändern. Offenheit im Film wird Pornographie genannt. In Malta lebte ich einige Jahre in einer Atmosphäre von zensierter Literatur und verbotenen Filmen, wo aus eingeführten britischen Zeitungen die Anzeigen für Damenunterwäsche gewissenhaft herausgeschnitten wurden, damit die Jugend Maltas nicht entflammt werde. Die maltesische Regierung konfiszierte mein Haus, war es doch noch immer voll von möglicherweise belastenden Büchern und Papieren. Repressive Regierungen gibt es allenthalben und die Heuchelei, das zu tun, was als »das Beste für das Volk« betrachtet wird, regt ihre Tyrannei an. O’Briens offenes Eingeständnis, daß Engsoz die Macht um ihrer selbst willen anstrebe, ist, verglichen mit den kleinen tyrannischen Lügnern, geradezu erfrischend. Verweilen wir noch einen Moment bei den größeren, älteren, echten Demokratien. Es kommt darauf an, nach Anzeichen von Übergriffen auf die persönliche Freiheit Ausschau zuhalten. Es besteht kein Zweifel, daß Unterdrückungstechnologien einer Art existieren, die Orwells schnüffelnde Gedankenpolizei sehr primitiv erscheinen lassen. Was mir Sorgen macht, das ist die Schwierigkeit, gegenüber diesen Technologien zu einer klareren Position zu gelangen. Ich möchte mich nicht zu einer Ver-
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dammung der Technologie an sich verleiten lassen. Nehmen wir den Computer. Norbert Wiener und Warren McCulloch entwickelten ihn im Zuge einer legitimen philosophischen Untersuchung der Wirkungsweise des Gehirns. Sie wollten sehen, inwieweit eine Maschine ein menschliches Gehirn simulieren kann; was dann übrig bliebe, wäre das eigentlich Menschliche. Aber es war unvermeidlich, daß die Kybernetik zu einer nützlichen, weil angewandten Wissenschaft wurde, und wir alle wissen, wie Nützlichkeit im elektronischen Bereich gern interpretiert wird – nämlich in Sinne von Kontrollfunktionen über alles, was kontrolliert werden kann, und das heißt meistens: über Menschen. Ein Computer ist ein neutrales Gerät. Information ist eine neutrale Ware. Je mehr Information wir haben, desto besser. So sehe ich die Datenbanken und was es noch gibt. Aber sobald der Staat sich der Computertechnologie bemächtigt, führt der Weg unausweichlich zur Sammlung von Informationen über die Bürger. Ich weiß nicht, ob das an sich schlecht ist, aber ich muß daran denken, was 1971 im sicheren, freien, demokratischen kleinen England geschehen ist… Sie meinen die Volkszählung? Sehen Sie sich nur an, was der Staat alles wissen wollte. Status des Haushaltsvorstandes, Beziehung zu anderen Mitgliedern des Haushalts, wie viele Automobile im Besitz des Haushaltes, besitzt die Küche einen Backofen, befindet sich die Toilette im Haus oder außerhalb, Herkunftsland, Herkunftsland der Eltern, frühere Anschriften, Ausbildung, Personenstand der Haushaltsmitglieder, Zahl der Kinder, und so weiter. Einige weigerten sich, das Formblatt auszufüllen, aber die überwiegende Mehrheit kam dem Ansinnen demütig nach. Achthundert Tonnen Papier, einhundertfünftausend beamtete und freiwillige Helfer, zehn Millionen Pfund Steuergelder. Aber nur fünfhundert gerichtliche Verfolgungen. Die Nichtbeantwortung der
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Fragen wurde mit einer Geldstrafe von maximal fünfzig Pfund geahndet. Alan Sillitoe, der Schriftsteller, gab sein Alter mit einhundertein Jahren an und wurde zu einer Geldbuße von fünfundzwanzig Pfund verurteilt. Ein Mann von dreiundsiebzig und eine Frau von Sechsundsechzig waren nicht in der Lage, die mit ihrer Leidenschaft für die Geheimhaltung ihrer persönlichen Daten verknüpfte Geldstrafe zu bezahlen und gingen beide ersatzweise ins Gefängnis. Dann wurde vom Büro des Leiters des Statistischen Amtes zugegeben, daß ein Teil dieser geheimen Informationen an kommerzielle Organisationen zur Verwertung weitergegeben werde. Eine Firma brüstete sich damit, daß sie bis 1980 Einzelheiten über neunzig Prozent der gesamten Bevölkerung in ihren Datenbanken gespeichert haben würde. Die Polizei hat sowieso fast ungehinderten Zugang zu diesen gespeicherten persönlichen Daten. 152800 Menschen, die als Patienten in psychiatrischen Krankenanstalten waren, müssen sich damit abfinden, daß die intimsten Einzelheiten ihres Lebens in Dateien festgehalten sind. Intelligenzgrad, ob sie vor ihrer Einlieferung jemals im Gefängnis waren oder nicht, der Grad von Zwang, der notwendig war, um ihre Einlieferung zu bewerkstelligen, eine volle Diagnose des jeweiligen Leidens, spezielle Einzelheiten über Drogenabhängigkeit, Epilepsie, Alkoholismus… Aber was an der Wahrheit ist so unheilvoll und finster? Und, was das angeht, an der Verletzung der Geheimhaltung l Wenn junge Leute an öffentlichen Orten ungeniert kopulieren, wer sind wir, daß wir uns gegen die Veröffentlichung unserer Biographien sträuben? Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Aber überlegen Sie: der Staat ist nur ein Instrument. Alles hängt davon ab, wer die Kontrolle über dieses Instrument ausübt, das sich so leicht in eine Waffe umwandeln läßt. Trotz unserer erhöhten Wachsamkeit gegenüber der Tyrannis wäre es unklug anzunehmen, daß die Tradi-
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tion des Liberalismus fortbestehen werde. Ein neuer Hitler könnte in Europa erstehen und hochbeglückt über die Informationen sein, die von einem in den alten Begriffen von Zurückhaltung und demokratischen Rechten denkenden Beamtenapparat gesammelt und geordnet worden sind. Zweifellos sind die Juden in den Datenspeichern der Welt säuberlich aufgeführt, ebenso wie gefährliche intellektuelle Freidenker. Und schon jetzt besteht Gefahr. Nehmen wir an, ein Verbrechen wurde begangen, und ein Mann mittleren Alters wird verdächtigt, einer, der an Epilepsie leidet und vier falsche Schneidezähne hat… Blutgruppen und Rhesusfaktor sämtlicher Bürger werden erfaßt. Der Staat kennt die Anschriften aller Männer mit rotem Haar. Sie sagen, daß niemand geeignet sei, Wissen über andere zu erhalten. Wir müssen solche Dinge in Kauf nehmen. Ich bestehe auf der Neutralität des Wissens. Die Wahrscheinlichkeit, daß Gerechtigkeit waltet, ist stets ebenso groß wie die, daß Ungerechtigkeit geschieht. Außerdem sehe ich überall Anzeichen dafür, daß der Staat Macht verliert, statt sie zu gewinnen. In Rußland? In China? In den kleinen Republiken, die keine Nachrichten herausgeben? Ich meine in den Gegenden, wo der Luxus der Freiheit seit langem für selbstverständlich genommen wird, genauso wie reines Wasser und Stromversorgung. Ich vergesse übrigens nicht, daß das Wesentliche im Leben darin besteht, irgendwie zu leben. Wenn der Aufenthalt in einem stinkenden Gefängnis die einzige Möglichkeit ist, jeden Tag eine Schüssel Reis zu bekommen – nun, dann macht auf und laßt mich ein. Ich vergesse auch nicht, daß der Gegenbegriff zur Staatstyrannei in manchen Teilen der Welt nicht persönliche Freiheit ist, sondern unpersönliches Chaos. Nein, ich meine das zivilisierte Abendland. Nordamerika, Großbritannien, Westeuropa. Wir haben seit langem keine charismatischen Führergestalten mehr
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gesehen. Politiker werden allgemein verachtet, Staatsmänner verhöhnt und die Präsidenten der Vereinigten Staaten sind es gewohnt, Zielscheibe der Kritik zu sein. Orwell glaubte, daß die Medien, insbesondere die neuartigen wie das Fernsehen, in den Händen des Staates sein würden, und daß sich diesem damit ein geeignetes Instrument für Propaganda, Brandreden und herrscherliche Anweisung biete. Die Entwicklung ist in eine ganz andere Richtung gegangen. Politik kann mit Fußballübertragungen oder alten Filmen nicht konkurrieren. Die Plakate und Schlagworte, die wir sehen, betreffen Konsumprodukte, nicht den allmächtigen Großen Bruder. Wir haben einen bärtigen Südstaatenoberst, der uns nichts Tyrannischeres als Brathühnchen anbietet, wir haben sportlich-ansehnliche Raucher von Kool oder Kent. Der Staat kann den Geschmack oder das Gefühl nicht zufriedenstellen, noch kann er Tränen des Mitleids wecken oder das Zwerchfell erschüttern. Er weiß, daß er unsere Seelen nicht haben kann. Alles, was er bekommen kann, ist unser Geld, und das ist zugegebenermaßen eine wirkliche Bedrückung, die Orwell nicht zu interessieren schien (obwohl er, wenn ich recht informiert bin, den Versuch unternahm, sich in eine Gesellschaft mit begrenzter Haftung zu verwandeln, um seine Tantiemen aus 1984 und Animal Farm zu schützen). Der Staat übt seine Macht über uns hauptsächlich durch fiskalische Tyrannei aus, mit der Unverschämtheit brutaler Forderungen, nicht höflicher Bitten, mit der Unsittlichkeit, Geld für Dinge zu nehmen, die vom Zahler durchaus nicht immer gewünscht werden, und alles das ohne Vertrag: gib uns dein Geld, oder du kommst ins Gefängnis; was wir mit dem Geld machen, ist unsere Sache, Bruder. Der Staat ruft die jungen Leute auf, Kriege zu führen, die außer dem Pentagon und der Rüstungsindustrie niemand will. Am dreistesten aber zeigt der Staat sein häßliches Gesicht in der Polizei, die zunehmend Methoden anwendet, die sie von den totalitären Folterern gelernt hat, sich
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gleichzeitig aber mehr und mehr nicht als ein Arm des Staates, sondern vielmehr als eine halb autonome Streitmacht zeigt, welche es sich leisten kann, zuerst zu schießen und nachher Fragen zu stellen. Dennoch werden wir nicht allzu energisch in die Rechtgläubigkeit geprügelt, hauptsächlich weil es keine Rechtgläubigkeit gibt. Sie meinen, daß es eine Menge Macht gibt, die aber nicht nach dem Vorbild des Engsoz zentralisiert ist. Daß es Kräfte gibt, die tatsächlich zu jeder Zeit bestrebt sind, die Macht des Staates einzuschränken, obgleich sie in ihrer Art nicht weniger bedrückend sind als dieser. Multinationale Konzerne, die Regierungen machen und stürzen können, aber keinen Pfifferling für Fragen der Verantwortung geben, denen jegliche Rücksichtnahme auf gewachsene Strukturen, Moral, Tradition, Gesundheit, Empfinden, Kunst fremd ist. Das sind die Manipulateure, die wirklichen Erforscher der Macht der Propaganda, die Experten des Zwiedenkens, die Einflüsterer und Erwecker unbewußter Wünsche, die uns im Bereich unserer unmittelbaren Lebensbedürfnisse unfrei machen. Auf nationaler Ebene dann die Gewerkschaften und Interessen-Verbände. Schließlich die Minderheitengruppen aller Art, von den Kämpferinnen für die Gleichberechtigung der Frau bis zu den Homosexuellen. Und wo wir erwarten, daß der Staat, der unser Geld nimmt, uns vor den schädlicheren der anarchischen Kräfte der Gemeinschaft schütze, finden wir den Staat eigenartig machtlos. Ich nehme an, Sie denken dabei an die Banden, die die Straßen der Slumbezirke mit Vandalismus, Raub und Vergewaltigung unsicher machen. Solche gibt es in Orwells Ozeanien nicht, weil die der Jugend innewohnenden aggressiven Instinkte kanalisiert und dem Staat nutzbar gemacht werden, wie es auch in Deutschland unter Hitler der Fall gewesen ist. Wenn Sie dieser gewalttätigen Jugendbanden Herr werden
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wollen, müssen Sie eine immer zahlreichere und rücksichtslosere Polizei in Kauf nehmen, die sich auch darauf versteht, mit dem Stiefel zuzutreten. Nun, für die meisten von uns in den westlichen Demokratien ist die Situation vom technologischen Fortschritt und dem Vormarsch der Gewalt zweckmäßig geregelt. Was ist Leben? Arbeit, gefolgt von Fernsehen. Wir wagen abends nicht auszugehen, aber warum sollten wir, wird uns doch die Fülle des Lebens an den häuslichen Herd gebracht. Das ist alles, was daran ist, ein farbiges Fernsehbild – der heimische Herd. Als wir in diesem Herd noch Kohlenfeuer brennen durften, sahen wir weit schönere Bilder in ihnen. Stumpfheit gefolgt von Stumpfheit. Echter Schlaf und zwei Arten von Ersatzschlaf. Vielleicht würden wir glücklicher sein, wenn wir den Großen Bruder liebten. Sagen Sie das nicht, um Gottes willen. Denken Sie es nicht einmal. Denn gerade wenn wir die Unzulänglichkeit unserer privaten Verhältnisse einräumen, ist der Staat nur zu gern bereit, einzuspringen und das Vakuum auszufüllen, das Sie Stumpfheit nennen. Eine Nacht unterwegs mit den Männern vom Rollkommando, mein Lieber. Stiefelputzen. Es muß aufregend gewesen sein, eine Hakenkreuzbinde anzulegen und mit Kampfliedern und Sieg Heil zu einer Kundgebung zu marschieren. Das Leben sollte aus zureichender Ernährung und erträglicher Langeweile bestehen. Das ist Zivilisation. Und wenn uns die Langeweile wirklich nicht gefällt, dann ist es am besten, wir tun etwas für die Erweiterung unserer Fantasie. Wir können zu einem Abendkurs über George Orwell gehen. Natürlich bewaffnet gegen die Streitsüchtigeren unter unseren Mitbürgern. Ich glaube, wir sind nicht fair zum Staat. Wenn er uns nicht angst macht, verhöhnen wir ihn. Glauben Sie, daß der Staat – nun, wohltätig sein kann? Der Wohlfahrtsstaat, den Großbritannien hat, nicht aber
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Amerika, obwohl es die Briefkästen mit Sozialhilfeschecks füllt, die allzuleicht geplündert werden können. Es ist gut, eine staatliche Rentenversicherung zu haben, aber was wird aus der Ausübung von Wohltätigkeit? Wir können nicht freundlich und hilfreich zu den Armen sein, wenn der Staat selbst den Begriff der Armut abschafft. Industrien werden verstaatlicht und die Arbeiter werden Angehörige des öffentlichen Dienstes, praktisch unkündbar und infolgedessen ineffizient und gleichgültig. Ohne Zähne und Klauen kein Antrieb zur Arbeit. Alle verstaatlichten Industrien sind unproduktiv. Überhaupt, wie kann der Staat wohltätig sein, wenn er anderer Leute Geld benutzt? Bürokratien sind selbstverewigend, hochmütig und wenig leistungsfähig. Wozu brauchen wir den Staat? Für die Aufrechterhaltung einer Außenpolitik, was den Unterhalt einer Armee bedeutet, und für die Erhaltung des inneren Friedens, das heißt, die Polizei. Immer Schießeisen und ein Karteisystem. Wie dem auch sei, nehmen wir an, daß der Staat in den westlichen Industrieländern sich nicht in eine Orwellsche Richtung bewegt. Wir lesen, was wir wollen, sehen Pornographie in den Auslagen, können Plastikscheiße kaufen und dem Geschlechtstrieb frönen, ohne von amtlicher Seite daran gehindert zu werden. Wir heulen nach immer größeren Teilfreiheiten und bekommen sie gewöhnlich. Doch der Staat bleibt ein Ungeheuer. Besonders für die Jungen. Ach, die Jungen.
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BAKUNINS KINDER Dem Staat zu mißtrauen oder ihn zu fürchten, ist nichts Neues. In dem Verlangen, ihn als Unterdrückungsinstrument abzuschaffen, war das neunzehnte Jahrhundert dem unsrigen voraus. Denker wie John Stuart Mill sahen den Krieg als eine typische Hervorbringung des Staates, ein schreckliches Übel, das Individuen oder freien Menschengemeinschaften unmöglich sei, und aus sich selbst heraus eine Rechtfertigung, den Staat als ein unnatürliches Monstrum zu betrachten. Karl Marx fand in ihm die Maschinerie für kapitalistische Tyrannei und glaubte, daß er von selbst absterben werde, wenn das Proletariat erst an die Macht gelangte. Michail Bakunin, Marxens Zeitgenosse, widmete sein Leben dem Sturz des bösen Riesen, und sein Geist weilt noch immer unter uns – oder, besser gesagt, er wurde von den Jungen, häufig ohne es zu wissen, wiederentdeckt. Marx sah in ihm einen Dummkopf und Wichtigtuer, wenn nicht gar einen zaristischen Geheimagenten. Die Geschichte nennt ihn, ein volles Jahrhundert nach seinem Tode, den Vater des revolutionären Anarchismus. Ihm gebührt das Verdienst, daß im Anarchismus immer Obertöne von Gewalt mitschwingen: man kann in dem Wort beinahe Kordit riechen. Aber es löst sich ruhig und harmlos in seine griechischen Elemente auf: an, »ohne«; archos, »ein Herrscher««Bakunin, ein russischer Adliger, dick, haarig, gefühlvoll und gutherzig, sich selbst widersprechend, ungeschickt und heroisch, hat dem Begriff seine eigene Persönlichkeit aufgeprägt. Im Gegensatz zu Marx war er unfähig zu systematischem Denken, und dies führte ihn zu der impulsiven doppeldenkvollen oder doppelfühlvollen Übernahme von Ungereimtheiten in das, was er für seine Philosophie hielt. Er liebte die Menschen, er predigte weltumspannende Bruderschaft, und doch verabscheute er Juden und Deutsche. Sein Heroen-
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kult um den anarchistischen Helden, der mit flatterndem Bart auf den Barrikaden steht, hatte einen Zug von vorweggenommenem Faschismus. Er lehnte Autorität ab, was ihn nicht hinderte, für einige Zeit revolutionäre Diktatur nach dem leninistischen Modell zu predigen. Er war das saftige Fleisch in einem mehr rationalen anarchischen Sandwich, schmackhafter als das trockene Brot der Theorie, das Proudhon vor und Kropotkin nach ihm feilboten. Ohne ihn wäre der Anarchismus wahrscheinlich utopisches Denken in wenig gelesenen Büchern geblieben: er vermenschlichte und heroisierte ihn. Er machte den Anarchisten zu einem Byron. Bakunin wurde 1814 geboren, ehe Napoleon sein Waterloo erlebte. Der noch immer auf Europa lastende Despotismus fand ein Gegenstück in Bakunins Mutter, deren berüchtigte Tyrannei nach Bakunins eigenen Worten der Grund dafür war, daß er später alle Beschränkungen der Freiheit verabscheute. Andere haben – mit vielleicht mehr Überzeugungskraft – darauf hingewiesen, daß seine Kindheit sehr idyllisch gewesen sei und daß es sich bei seinem späteren Anarchismus um einen unbewußten Versuch gehandelt habe, in das verlorene Paradies zurückzukehren. Er war der älteste Sohn in einer elfköpfigen Familie, vergöttert von seinen Schwestern und Brüdern, erkannte aber die Verschiedenartigkeit der Geschmäcker und Talente, die in einer kleinen menschlichen Gemeinschaft möglich sind, ebenso wie das Vermögen der Gemeinschaft, trotz der zentrifugalen Kräfte zwischen den gegensätzlichen Temperamenten den Zusammenhalt zu wahren. Warum sollte die größere menschliche Gemeinschaft der Stadt, der Nation und schließlich der Welt nicht an dieser Qualität der Familie teilhaben? Spät in seinem Leben bekannte Bakunin eine inzestuöse Leidenschaft für seine Schwester Tatjana, eine Schlange im Paradies, doch scheint es diesem haarigen Koloß, der gleichwohl nicht unempfänglieh für weibliche Reize war, an norma-
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ler sexueller Kapazität ermangelt zu haben. Er heiratete, aber seine Frau suchte andere Betten und einen anderen Vater für ihre Kinder. Vielleicht träumte er Lust und Revolution im gleichen Sektor seines Gehirns. Seine Worte waren immer feuriger als seine Taten. Er wurde Kadett in der russischen Armee und traf im Hinblick auf den Krieg eine Feststellung, die zu akzeptieren viele von uns Heutigen zu heuchlerisch wären: nämlich, daß Männer nicht kämpfen, um zu siegen, sondern um in den Hormonausschüttungen der Gefahrensituation zu schwelgen: Schlachten sind besser als die brutale Monotonie des Alltagslebens der meisten Menschen. Auf der anderen Seite war ihm klar, daß Kriege auch eintönige Disziplin und demütigende Reglementierung bedeuten, und sein Widerstand gegen diesen Aspekt des militärischen Lebens war es, der seine revolutionäre Leidenschaft entzündete. Er nahm seinen Abschied und ging an die Berliner Universität, um bei Hegel zu studieren. Die Hegelianische Definition des menschlichen Geistes – »ein Ich, das ein Wir ist, und ein Wir, das ein Ich ist« – scheint in Bakunins eigenem »ich will kein Ich sein, ich will ein Wir sein« widerspiegelt, welches Samjatins Titel Wir wiederum eine Bedeutung verleiht. Hegels Vorstellung von der Geschichte als einer Bewegung zur Enthüllung der Wahrheit, einem dialektischen Prozeß des Ringens zwischen Ideen, nicht einer bloßen Tretmühle von Ereignissen, befeuerte viele aus Bakunins Generation, eine Philosophie abzulehnen, die allzu fest in der Welt des Geistes angesiedelt war, und ein System anzunehmen, das auf die Welt der seelenlosen Materie angewendet werden konnte. Der Sozialismus benötigte eine metaphysische Geschichtsinterpretation, und Hegels Dialektik lieferte das Gerüst zu ihrem Aufbau. Bakunin verfertigte eine Dialektik für seinen eigenen Hausgebrauch. Die Geschichte bewegte sich in die Richtung einer besseren Welt, darum waren neue Dinge besser als alte.
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Zerstörte man Altes, so konnte Neues seinen Platz einnehmen. Machen wir uns also daran, das Alte zu zerstören. Dieser Gedankengang ist es, der dem Begriff des Anarchismus solch schreckliche – und attraktive – Obertöne verlieh. Bakunin machte den revolutionären Anarchismus zu seinem Lebensinhalt. 1848 war das große Jahr der bürgerlichen Revolution in Europa (das heißt, die Aufstände wurden von Intellektuellen im Namen des Volkes in Szene gesetzt), und Bakunin folgte den Ereignissen von einem Land zum anderen, wobei das Unglück es wollte, daß er die großen Augenblicke meist verpaßte. Er kam zu spät, um auf die Pariser Barrikaden zu steigen, zeigte in der Hauptstadt der neuen französischen Republik jedoch solch revolutionären Eifer, daß er von ihrer Regierung nach Polen geschickt wurde, um dort eine Revolution in Gang zu bringen. Unterwegs machte er in Prag Station und organisierte blutige Straßenkämpfe – unterdrückte Tschechen gegen die habsburgische Herrschaft, deren Ausgang vorauszusehen war. Während seines Aufenthalts in Dresden – es war ihm noch immer nicht gelungen, Warschau zu erreichen – geriet er in den sächsischen Aufstand, wurde von den Streitkräften der Krone gefangen und zum Tode verurteilt. Nach seiner Begnadigung wurde er der zaristischen Polizei übergeben, unter menschenunwürdigen Umständen in St. Petersburg eingekerkert und schließlich nach Sibirien geschickt. Er entkam, versuchte endlich Polen zu befreien, erlitt einen Mißerfolg, führte die vierundzwanzigstündige revolutionäre Kommune von Lyon, organisierte ungezählte Geheimgesellschaften, machte Karl Marx die Führung der Ersten Internationale streitig und versuchte zuletzt, auf den Barrikaden von Bologna den Heldentod zu sterben. Die italienische Erhebung brach schmählich zusammen, und Bakunin rettete sich in die Schweiz, wo er im Bett starb. Er war desillusioniert, überzeugt, die Kräfte der Reaktion seien zu mächtig, um vom revolutionären Anarchis-
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mus aus den Angeln gehoben zu werden. Aber der Anarchismus marschierte. Oder vielmehr, er hinkte, mit gelegentlichen spastischen Sprüngen. Die unmittelbaren Nachfolger Bakunins, besessen von der Zerstörung des Alten, damit das Neue automatisch seinen Platz einnehmen könne, warfen Bomben, legten Feuer, ermordeten Würdenträger des Imperialismus und verschreckten nicht nur die Bourgeoisie, sondern auch das Proletariat, dessen anarchistisches Zukunftsreich bald anbrechen sollte. Der Anarchismus hatte eine schlechte Presse und wurde von den Kräften der Reaktion in arge Bedrängnis gebracht. Fürst Pjotr Kropotkin gab ihm etwas von dem philosophischen Prestige zurück, das er verloren hatte, indem er die intellektuellen und utopischen Elemente hervorhob und sie gleichzeitig als eine Doktrin für die arbeitende Klasse plausibel machte. Und so erzielte eine Philosophie, die vielleicht nur von Aristokraten hatte ersonnen werden können, allmählich eine ernstzunehmende Wirkung, besonders in Spanien, wo sie geschickt mit der Gewerkschaftsbewegung in Einklang gebracht wurde. Kollektivismus und Genossenschaftswesen schienen zu funktionieren, als der Spanische Bürgerkrieg ausbrach. George Orwell ging nach Spanien und kämpfte an der Seite katalanischer Anarchisten. Zwanzig Jahre vorher hatte es auch in Rußland zur Zeit der Revolution kämpferische Anarchisten gegeben, die von der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung aus Gründen der Zweckdienlichkeit vergessen wurden. Auch sie hatten hart und unter Opfern für die Revolution gearbeitet, weigerten sich aber hinterher, eine bolschewistische Diktatur hinzunehmen. Sie wurden als Verräter und Abweichler erschossen, und in Spanien ging es einigen von ihnen zu Orwells unvergeßlichem Schrecken nicht besser. Während des ganzen Bürgerkriegs belasteten die ständigen Reibungen und Rivalitäten zwischen Kommunisten und Anarchisten den Abwehrkampf der Repu-
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blik. Der Anarchismus ist für die Marxisten wie für die Kapitalisten ein unannehmbarer Bettgenosse. Vielen erscheint er noch immer als zu romantisch, zu sehr ein Produkt seines Jahrhunderts, um zu überleben. Und doch bringt er an unerwarteten Orten unverhofft Heilige hervor. Sacco und Vanzetti gehören ohne Zweifel zu den kanonisierten Heiligen der Arbeiterbewegung, und nicht nur für ihre anarchistischen Gesinnungsgenossen. In unserer Zeit ist der Anarchismus wiedererstanden, aber hauptsächlich bei den Jungen. Es ist charakteristisch, und wahrscheinlich bewundernswert, daß junge Leute sich vom Sozialismus wie vom Kapitalismus zu lösen wünschen, da beide Polizeistreitkräfte, Gesetze, ein Interesse am Materialismus und Respekt vor dem Eigentum haben. »Eigentum«, sagte der Proto-Anarchist Proudhon, »ist Diebstahl.« Junge Leute neigen zum Idealismus, welcher ein Symptom der Krankheit sein mag, die Jugend genannt wird, aber auch das Wiederaufleben der Romantik in der Literatur hervorbrachte. Auch neigen sie zur Rebellion gegen ihre Eltern, die langweilig sind, sich ewig um Geld sorgen und einen ungesunden Appetit auf Besitztümer haben. Damit nicht genug, muten die Eltern ihnen zu, in möglichen kriegerischen Verwicklungen, die sie selbst anzetteln, für ihr Land zu kämpfen und zu sterben, also für Eigentum, das den Jungen nicht gehört und das sie ohnedies nicht wollen. Der Staat ist, und man muß gähnen, wenn man es sagt, eine Vaterfigur. Die großen Spaltungen in der Welt sind nicht nationaler oder religiöser oder wirtschaftlicher Natur; diese lösen sich alle in eine Spaltung auf, und das ist die zwischen Jugend und Alter. Diese Spaltung wurde mir vor einigen Jahren in Westberlin mit sanfter Eindringlichkeit vor Augen geführt. Nachdem ich die Mauer in ihrer ganzen Länge inspiziert hatte, setzte ich mich vor einer Bierstube namens Moby Dick an einen Tisch, um auszuruhen und ein Glas zu trinken. Das Lokal wurde von
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jungen Leuten geleitet und frequentiert. Niemand kam, mich zu bedienen. Nach einer halben Stunde ging ich zur Theke und fragte nach dem Grund. »Weil«, sagte ein blonder junger Mann mit einem Herrenvolk-Profil, »Sie zu der Generation gehören, die den Krieg anfing.« Es schien ein fairer Grund. Der Kampf zwischen Jugend und Alter – oder, genauer gesagt: zwischen Pubertät und Reife – erzeugt eine Dynamik, regt den Adrenalinfluß an, bringt Spannung ins Leben. Es ist ein annehmbareres Ringen als das zwischen Klassen oder Nationen, und es ist romantisch eingebettet in alte Mythen. Doch taucht dabei ein Problem auf, das wir in den älteren Spaltungen nicht finden. Wenn wir um Land oder Geld kämpfen, dann kämpfen wir um feste Objekte im Raum. Der Konflikt zwischen Jugend und Alter ist ein Zeitkrieg. Die Jugend wird von der Zeit zum Narren gehalten, sie ist ein Stoff, der nicht von Dauer ist. Er wird zu Reife oder Alter, ihrem Gegensatz und Feind, und niemand vermag mit Gewißheit zu sagen, an welchem Punkt die Grenze überschritten wird. Auch das Alter ist nicht von Dauer, aber es endet im Tod, der abrupt und unwiderruflich ist. Jugend ist Teil eines Prozesses, aber es ist wichtig für die Jungen, daß sie als eine Art von Dauerzustand dargestellt werde, als etwas Statisches. Junge Leute kommen und gehen, aber die Jugend bleibt. Jeder junge Mensch bedarf der Bestätigung seiner Jugend durch Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft der Jungen. Ist er mit den Jungen, und sie akzeptieren ihn, so weiß er, daß er jung ist. Die Alten haben keine kommunale Bestätigung nötig, daß sie alt sind, und rechnen damit, allein zu sterben. Das Interesse der Jugend ist weniger auf das Tun als auf das Sein gerichtet. Sie kann sich nicht selbst in Begriffen einer Kontinuität der Mitgliedschaft definieren, noch gibt es eigentlich eine Kontinuität der Kultur. Es kommt darauf an, herumzusitzen und zusammen jung zu sein. Am Rand des Nichtstuns
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gibt es Aktivitäten wie den Genuß leichter Narkotika oder Halluzinogene und das Anhören von Popmusik – beides Ersatzmittel für Kunst und Lernen. Ein schmeichelndes Gefühl der Entfremdung von den Gesetzen und der Kultur der Alten kann befriedigen, ohne daß es nötig wäre, die Entfremdung durch Aggression zu betonen. Unglücklicherweise sind es die Agenten der Gerontokratie oder Altmännerherrschaft, die aggressiv sind und konformes Verhalten verlangen. Die Jugend, zufrieden, einfach da um jung zu sein, muß vom Wesentlichen auf das Existentielle übergehen. Die Gruppe bestimmt sich in der Art und Weise einer Erwachsenengesellschaft – mit Politik und einer Rangordnung und dem, was als Gegenkultur bekannt ist. Sie ähnelt einer anarchistischen Kommune des neunzehnten Jahrhunderts, die sich gegen die etablierte Ordnung stellt, anders als Bakunin jedoch keine Hoffnung hat, sie umzustürzen. Das ist natürlich eine übermäßige Vereinfachung. Wenn die Jugendbewegungen der ausgehenden sechziger und der siebziger Jahre in Begriffen eines primitiven Anarchismus beschrieben werden können, dann bedeutet dies, daß der Anarchismus empfänglich für zu viele Begriffsbestimmungen ist. Es hat junge Leute gegeben, die aus ihrem Gefühl der Entfremdung eine intelligente, rational begründete politische Erklärung gemacht haben, wie etwa die pragmatischen Anarchisten« Deutschlands und Skandinaviens, überwiegend junge Intellektuelle. 1968 unterdrückte die Zentralregierung der Volksrepublik China in der Provinz Yünnan eine anarchistische Jugendbewegung. Junge Leute in Amerika und Europa beschworen insbesondere Bakunin und trugen das vergrößerte Fotoporträt des Propheten bei Kundgebungen für die Verdammung und Abschaffung von allem, was die Alten produzierten – Polizei, Fernsehen, Konserven, Autobahnen, Krieg, wahlloses Töten, Gefängnisse. Bakunin bietet sich als der Schutzheilige einer jeden Bewegung an, die zu zwangloser Mitgliedschaft einlädt und der Beunruhi-
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gung des Staates geweiht oder zumindest bemüht ist, seine Existenz zu ignorieren. Aber der ganze Zweck der anarchistischen Bewegung des neunzehnten Jahrhunderts war es, dem Staat als Herrschafts- oder Unterdrückungsinstrument eine echte Alternative gegenüberzustellen. Jugendkommunen und sogar langjährige Kibbuzim müssen, ob sie wollen oder nicht, die Existenz des Staates anerkennen; sie selbst existieren von der Gnade und Duldung des Staates. Es gibt heutzutage keinen Ort, wo der Staat nicht ist. In jeder Diskussion über die politische Zukunft der Länder der freien Welt müssen wir ernstlich die Gefahr berücksichtigen, welche die Jugendbewegungen für die Sache der traditionellen Freiheit darstellen. Eine solche Feststellung wird der Jugend selbst unsinnig erscheinen, hält sie sich doch für den alleinigen Wächter der Freiheit in einem Zeitalter, wo die Alten von dem Wunsch beseelt scheinen, sie mehr und mehr einzuengen. Es ist wahr, daß das Alter die Freiheit der Jugend zu begrenzen sucht, aber nur weil diese Freiheit eigentlich Zügellosigkeit ist. Wenn Menschen frei geboren sind, dann nur in dem Engsoz-Sinn, daß auch Tiere frei geboren sind: die Freiheit, zwischen zwei Handlungsmöglichkeiten zu wählen, setzt die Kenntnis dessen voraus, was die Wahl nach sich zieht. Wir gewinnen Wissen durch direkte Erfahrung, wie das gebrannte Kind, das das Feuer fürchtet, oder aber durch die Erfahrung anderer, die in Büchern enthalten ist. Die Stimme der NeoAnarchisten ist die des Filmemachers Dennis Hopper: »Bücher? Da ist nichts drin, Mann«, oder die des englischen Popsängers, der sagte: »Die Jugend braucht keine Ausbildung. Die Jugend knobelt die Dinge schon allein aus.« Nachdem er einem Exponenten des Primitivismus zugehört hatte, sagte der berühmte englische Schriftsteller der Aufklärung Samuel Johnson: »Das ist elendes Zeug, Sir. Das ist viehisch.« Es ist freilich eher kuhartig als löwenhaft. Es dauert lange, um durch das
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Abweiden einer Wiese die Proteine zusammenzubringen, die in einer Fleischmahlzeit enthalten sind. Wir Alten bieten das Fleisch der Ausbildung; die Gegenkultur geht zum Gras zurück. Ausbildung besteht darin, daß man der Speisekammer, die Vergangenheit genannt wird, ausgewählte und rationelle Mahlzeiten entnimmt. Bakunin, mit seiner exzentrischen Interpretation Hegels, verwarf die Vergangenheit, die nach seinen eigenen Begriffen schon deshalb falsch sein mußte, weil sie nichts Neues war. Die Jungen verwerfen die Vergangenheit ganz logisch, weil sie für Leute, die in einer immerwährenden Gegenwart leben, nutzlos erscheint. Und wenn die Alten anfangen, die Jungen zu unterdrücken, dann geschieht es natürlich im geheiligten Namen der Vergangenheit, daß die Knüppel geschwungen werden. Die Jungen lehnen Ausbildungseinrichtungen jedoch nicht notwendig ab, denn das Lernen bringt es mit sich, daß sie mit ihresgleichen zusammen sind, wobei die Wissensvermittlung eine Belanglosigkeit ist, oder eine Versorgung mit Dingen, die abzulehnen sind und, da sie Anlaß zu Protesten geben, dem Idealismus der Jugend willkommen erscheinen. Es ist lehrreich festzustellen, in welchem Maße der NeoAnarchismus der Jugend sich seit dem ersten Erscheinen von 1984 gegen Behörden und Regierungen hat durchsetzen können. Kein Student des Jahres 1949 hätte sich träumen lassen, daß Universitätsbehörden zwanzig Jahre später bereit sein würden, die traditionelle Disziplin aufzugeben. Die Studenten haben allein durch das einfache Verfahren, sie zu fordern, bemerkenswerte Freiheiten und Konzessionen gewonnen. Die Frage der Alten lautete: Warum? Die Jungen fragten zurück: Warum nicht? In einer der Vernunft gewidmeten Einrichtung ist es schwierig, gute Gründe dafür anzuführen, daß Mehrbettzimmer von Studentenwohnheimen nicht gemischt belegt werden, un-
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terschiedslose Kopulation nicht überhandnehmen, Rauschmittel nicht reichlich genommen werden sollten. In einer Gesellschaft, die sich dem Konsum ergeben hat, wird es für verwirrte Akademiker schwierig, das Lernen von anderen verkäuflichen Artikeln zu trennen. Wenn Studenten Petromusikologie (die Ästhetik und Geschichte der Rockmusik), Kisuaheli oder die Poesie Bob Dylans studieren wollen, dann müssen sie, als die Konsumenten, ihren Willen bekommen. Daß Ausbildung dann am wertvollsten ist, wenn wir ihren Inhalt nicht allzu wählerisch in Zweifel ziehen, ist schwierig klarzumachen. Studenten müssen das Vorbringen ihrer Wünsche und Abneigungen natürlich an gewählte Führer delegieren. Selbst Anarchisten benötigen Führer, wie schon Bakunin erkannte, nicht ohne an sich selbst zu denken. Wie seine Nachfolger nahm er an, daß neue Formen von Führerschaft von den Lastern unbefleckt bleiben würden, welche den Oberhäuptern der alten Tyranneien und Oligarchien anhafteten; ein Führer freier Männer und Frauen würde das Sprachrohr ihrer Bedürfnisse sein, nicht ihr Unterdrücker, da schon die Idee von Unterdrückung einer abgetanen Vergangenheit angehörte. Ein Phänomen unserer Tage, und ein sehr bizarres dazu, ist der Aufstieg der Studentenführer – junger Leute wie Daniel Cohn-Bendit, Held der Barrikaden während der Pariser Studentenrevolte von 1968, und Jerry Rubin, Gründer der Internationalen Jugendpartei. Namen, an die man sich heute kaum noch erinnert, pflegten für kurze Zeit in den Nachrichten aufzutauchen, als die niederländischen Provos und die Spontanen Maoisten der französischen höheren Schulen die Tugenden des Ladendiebstahls, des Inzests und des Tötens als acte gratuite priesen. Wir sollten fragen, was alles das mit Ausbildung zu tun hat. Die wahren Führer der Jugend sollten ihre Pädagogen sein, qualifiziert, den jungen Leuten klarzumachen, was sie zu lernen haben, um als Mitglieder einer zivilisierten Gemeinschaft zu überleben. Die
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Logik der Qualifiziertheit Jugendlicher zur Wahl ihrer eigenen Führer wird unausweichlich auf die Spitze getrieben, wenn Kinder von zwölf Jahren gleichaltrige Sprecher zur Proklamierung ihrer Rechte finden. Es steht zu befürchten, daß wir mit dieser Erweiterung von Rechten die Altersskala abwärts noch nicht am Ende sind: es kommt nur darauf an, Führer zu finden. Die in der Presse zitierten Studentenführer sind größtenteils schwülstig daherredende Extremisten von einer eklektischen Sorte, die in Anfällen von Weitschweifigkeit Marx und Bakunin, Zen und die Hobbitts miteinander vermischen, ohne ein echtes Programm außer mehr und mehr Zügellosigkeitfür die Jungen. Die Gefahr ist immer, daß sie allzu leicht von reiferen, wirklich radikalen Köpfen, die wissen, was sie wollen, manipuliert werden können. Die Sache der Schüler und Studenten wird zu der universalen Sache, die in letzter Zeit gerade aktuell geworden ist. Die jugendlichen Rebellen des Mai 1968 in Paris wurden in großem Umfang von erwachsenen Agitatoren gelenkt. Jugendgruppen sind sehr nützliche Maschinen: junge Leute besitzen Energie und Aufrichtigkeit – und Unwissenheit. Sie haben alle Qualitäten, die sie für die berufsmäßigen Agitatoren, die eine Art von Engsoz einführen möchten, wertvoll machen. Die Jungen könnten mit Leichtigkeit dazu gebracht werden, den Großen Bruder als einen Feind der Vergangenheit und der Alten zu lieben. Schließlich ist er vorsichtig genug, sich nicht Unser Vater zu nennen. Die Orwellsche Welt könnte auf die Jungen anfangs sehr anziehend wirken. Sie hat einen auffallend anarchischen Wesenszug – ein absolutes Fehlen von Gesetzen. Sie behandelt die Vergangenheit als einen Leerraum, der mit allen Mythen angefüllt werden kann, die die Gegenwart sich einfallen läßt. Sie etabliert, als eine verabscheuungswürdige Gruppe, eine riesige Menge in der Barbarei jenseits der Grenzpfähle, überlebten Traditionen ergeben, reaktionär und konservativ, eben alt. Die
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Altsprache wird abgelehnt, da sie jene immerwährende Gegenwart, welche die Domäne der Jugend wie auch der Partei ist, nicht auszudrücken vermag; die Neusprache hat den lakonischen Zungenschlag der Jugend. Das Programm, wenn auch nicht die spätere Realität, würde seine entschlossensten Anhänger zunächst unter den Jungen finden, die allesamt mit Freuden bereit wären, die Vergangenheit zu zerstören, nur weil sie die Vergangenheit ist, und die Engsoz-Revolution zu akzeptieren, wie sie bereits die vermischte Mythologie von Mao, Che Guevara, Castro und Bakunin selbst akzeptiert hat. Die Aussicht auf Revolution ist es, die zählt, mit ihren Begriffsinhalten der Abschaffung des Überlebten mit der Herrlichkeit des Neuanfangs. Was nach der Revolution kommt, ist eine andere Sache. Wenn andererseits das Neue selbst den unschuldigen und unwissenden Jungen irgendwie verdächtig vorkommt, kann es nur im Licht von Maßstäben untersucht werden, die der Vergangenheit entstammen. Ich meine natürlich jene ausgesiebten Goldkörner, die insgesamt ergeben, was wir vage eine Tradition nennen und womit wir ein kulturell geprägtes Menschenbild meinen, das andere Werte als diejenigen einer rein animalischen Subsistenz verkörpert. Dieses Bild ist leider theozentrisch und beruht auf einer Annahme, die nicht zu beweisen ist – nämlich der, daß Gott den Menschen machte, um ihn als das Wertvollste seiner Geschöpfe zu schätzen, das ihm selbst am ähnlichsten war. Es ist nicht die Gesamtheit der Menschen, die dem göttlichen Zustand nahekommt, sondern das einzelne Menschenwesen. Gott ist eins und allein und abgesondert, und der Mensch ist es auch. Gott ist frei, und der Mensch ist es auch, aber seine Freiheit beginnt erst wirksam zu werden, wenn er die Natur der Gabe versteht. Die Freiheit des Menschen ist das ehrwürdigste von allen Diskussionsthemen: es vermag Studentenversammlungen noch
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immer in Bewegung zu bringen, obwohl es häufig ohne Begriffsbestimmung, theologische Kenntnis oder metaphysische Einsicht diskutiert wird. Augustinus und Pelagius geraten über die Frage aneinander, ob der Mensch frei ist oder nicht; Calvinisten und Katholiken brüllen einander nieder; selbst in Miltons Hölle diskutieren die Fürsten der Finsternis über freien Willen und Prädestination. Die Weisen der Prädestinationslehre behaupten, daß Gott, da er allwissend ist, alles weiß, was ein Mensch jemals tun kann, und daß jede zukünftige Handlung eines Menschen bereits vorbestimmt ist, weshalb er nicht frei sein kann. Die Opposition überwindet dieses Problem, indem sie feststellt, daß Gott die Gabe des freien Willens dadurch gültig mache, daß er aus freien Stücken darauf verzichte, die Zukunft vorauszusehen. Führt ein Mensch eine Handlung aus, die vorauszusehen Gott unterlassen hat, so bediene Gott sich der Erinnerung seines Vorherwissens. Kurz, Gott ist allwissend, aber er nützt seine Allwissenheit nicht aus. Die Argumente für und gegen den freien Willen können auf die weltliche Ebene übertragen werden. Soundso viel vom Menschen ist genetisch bestimmt, seine Umwelt setzt ihm ebenso Grenzen wie sein physikalischer und psychologischer Aufbau; eine scheinbar freie Tat mag durchaus das Endprodukt eines Prozesses sein, der von einer Vielzahl von unbewußten und biochemischen Faktoren war. Der Mensch kann seine Reaktion auf einen Reflex nicht kontrollieren. Die Geschichte ist eine zyklische Bewegung, und der Mensch folgt dem Zyklus: er sucht alte Stätten wieder auf und wiederholt alte Handlungen. Der Mensch ist ein soziales Geschöpf, und die Gesellschaft ist eine Negation individueller Freiheit. Und so weiter. Die Betrachtungsweise des Menschen als eines unfreien Wesens ist schwierig zu widerlegen, und sie wird überdies von Freud gestützt, der meinte, daß die Handlungen Erwachsener von Kindheitsereignissen motiviert seien, die im Unbewußten
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fortlebten, sowie von Marx, der die Geschichte als eine riesenhafte Dampfmaschine sah, gebunden an einen Schienenstrang und ein Ziel. Die Verfechter der menschlichen Freiheit räumen eine große Zahl von Begrenzungen ein, beharren aber darauf, daß es Bereiche gebe, wo sie wirksam sein müsse, oder der Mensch höre auf, Mensch zu sein. Vor allem beruhe die besondere Natur des Menschen auf seiner Fähigkeit, auf der Basis bestimmter Kriterien bestimmte Urteile abzugeben. Er kann diese Kriterien an der Erfahrung festmachen; er kann die Kriterien aus einer Kombination von Erfahrung und Einsicht lernen. Er ist völlig frei in ihrer Anwendung. Daher hat er die freie Wahl, ein Ding für schön oder häßlich zu erklären, für gut oder böse, wahr oder falsch. Winston Smith schreibt in sein Tagebuch, die Freiheit bestehe darin, daß einer in der Lage ist, zu sagen, daß zwei und zwei vier ergeben, aber das ist nur eine von drei möglichen Freiheiten. Es ist wichtig, die drei Kategorien auseinanderzuhalten, so daß eine Sache nicht für häßlich erklärt wird, weil sie unmoralisch ist oder (mit Erlaubnis von John Keats) wahr, weil sie schön ist. In alledem ist ein Anflug von Religion: wir werden erinnert, daß Wahrheit, Schönheit und Güte Attribute Gottes sind. Aber selbst bei einer rein empirischen Betrachtungsweise würde niemand leugnen, daß dies unbestritten gültige Bereiche des menschlichen Urteils sind. Wenn der Mensch frei ist zu bewerten, ist er auch frei, nach seinen Bewertungen zu handeln. Aber er kann ohne Wissen nicht bewerten, und daher nicht ohne es handeln. Ausbildung besteht im Erwerb sowohl des Wissens als auch der Kriterien einer Urteilsbildung. Daher sind wir nicht frei, keine Ausbildung zu erwerben. Sie ist die erste Bedingung der Freiheit. Aber Ausbildung, die lehrt, wie man zu einem Urteil kommt und was zu beurteilen ist, kann nicht als eine tyrannische Bürde angesehen werden: es ist bloß die Tradition, oder die Vergan-
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genheit, die zur Gegenwart spricht. Behauptet eine neue politische Lehre, daß es die Pflicht der Herrscher sei, die Beherrschten von der Bürde der Entscheidung, was gut, wahr oder schön ist, zu befreien, dann wissen wir, daß sie abgelehnt werden muß, da solche Entscheidungen nur vom Individuum getroffen werden können. Verurteilt eine politische Partei ein Kunstwerk, weil es falsch (das heißt in Widerspruch zum Realitätsbegriff der Partei) oder unmoralisch ist (das heißt in Widerspruch zu den Ansichten der Partei über sittliches Verhalten), dann haben wir ein augenfälliges Beispiel eines Übergriffs auf das Recht des Individuums, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Solche Urteile können nicht einem Kollektiv überlassen werden; sie können nur für den einzelnen sinnvoll und verbindlich sein. Der Mensch ist nicht nur frei, nach seinen eigenen Urteil zu handeln, sondern auch frei, nicht danach zu handeln. Vor allem aber, und dies ist wirklich das Wesen seiner Menschlichkeit, ist er frei, entgegen seinem Urteil zu handeln. Ich bin ein starker Raucher, da ich in mir jedoch keines der Symptome von Abhängigkeit finde, halte ich mich für frei, zu rauchen oder nicht zu rauchen. Ich bin gründlich über die Gefahren des Rauchens unterrichtet und schließe daraus, daß Rauchen schlecht für mich ist. Nichtsdestoweniger widersetze ich mich meinem eigenen Urteil und fahre fort zu rauchen. Die fehlende Bereitschaft, mit einer schlechten Angewohnheit zu brechen, sieht stets nach Sklaverei und nicht nach Freiheit aus, aber sie stellt jene menschliche Hartnäckigkeit der Wahl dar, mit der resigniert und sogar mitfühlend zu leben die Kirche, wo nicht der Staat, gelernt hat. Ohne sie würde es sehr wenig Literatur geben, sei sie tragisch oder komisch. Die alten Theokratien von Genf und Massachussetts machten sich erbötig, den Menschen durch Strafen und Züchtigungen von seiner Versklavung an die Sünde – womit schlechte Gewohnheiten gemeint waren – zu
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befreien. Die weltlichen Theokratien oder Sozialistischen Staaten machen das gleiche Angebot, nur ersetzen sie die Bestrafung durch »positive Verstärkungen« Sie machen sich anheischig, die Gesundheit wie die private Moral des Bürgers in ihre Obhut zu nehmen. Damit aber können sie bei weitem nicht allen gerecht werden; es gibt gewisse Urteile, die nur der einzelne für sich selbst fällen kann. In Unkenntnis der Natur menschlicher Freiheit und der Bedingungen ihrer Ausübung sind viele junge Leute geneigt, sich Doktrinen politischer Unterdrückung zuzuwenden. Wenn sie die Tradition und ihre Weitergabe durch Ausbildung ablehnen, verschmähen sie ihren einzigen Schutz gegen die Tyrannei. Sie können nicht beurteilen, was Unterdrückung bedeutet. Indem der Anarchismus die Vergangenheit ablehnt und annimmt, daß das Neue kraft einer Art von Hegelianischen Notwendigkeit besser als das Alte sei, bereitet er der Tyrannei den Weg. Überdies sieht der Anarchist im Staat eine Verkörperung des Bösen und vermag nicht einzusehen, daß die sogenannte freie Gesellschaft auch eine Technik entwickeln muß, die sie zusammenhält. Bakunin sah klarer als die meisten seiner Nachfolger, daß die Gefahr nicht nur im Staat liegt, sondern darüber hinaus in jeder Machtgruppe, die weiß, was sie will – einer Bruderschaft von Bankiers oder Wissenschaftlern zum Beispiel. Es ist nichts Magisches an dem Staat, was eine einzigartige Machtgier in ihm hervorriefe. Eine Tyrannei kann aus jeder sozialen Gruppe geboren werden. Ich habe in den Vereinigten Staaten Beispiele von »Kommunen« junger Leute gesehen, die aus zwei Gründen gefährlich waren. Sie lebten in Unkenntnis der Grundprinzipien der Landwirtschaft. Wie man Getreide anbaut oder Schweine hält, kann man aus der Vergangenheit lernen, und die Vergangenheit wird abgelehnt. Sie lebten in Unkenntnis der Prinzipien, die eine Gemeinschaft, wie klein sie auch sei, zusammenhält.
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Sie setzten das Vorhandensein eines allgemeinen Willens in der Gruppe voraus und entdeckten dann, daß sie nicht mehr war als ein Haufen sich zankender Individuen. Das stärkste der Individuen wurde zum Führer und verlangte Gehorsam. Häufig wurde Gehorsam irrational und gleichsam mystisch gefordert. Die Gruppe um Charles Manson war ein extremes Beispiel eines Führers, der sich die Eigenschaften eines blutrünstigen Messias anmaßte. Die Untaten seiner Anhänger waren naturgemäß weniger zahlreich als diejenigen einer totalitären Gewaltherrschaft, aber Quantität ist nicht der Maßstab, mit dem das Böse gemessen wird. Es gibt keine Garantie, daß eine gesellschaftliche Gruppe, welche die Gesetze des Staates ablehnt, sich besser benehmen wird als jene, die den Staat beherrschen. Wegen der Unkenntnis der Tradition, die Grundlage anarchistischer Gruppen ist, spricht alles dafür, daß sie sich schlimmer benehmen würden. Die Anomalie jeder Kommune, Kibbuz-Gemeinschaft oder Gruppe von Walden-Jüngern ist (in Übereinstimmung mit den Vorstellungen der Behavioristen) die, daß sie den größeren gesellschaftlichen Körper gleichzeitig nicht anerkennt und akzeptiert: sie hat sich von dem größeren Gewebe losgerissen und bleibt doch ein Teil von ihm. B. F. Skinners Waiden Two baut die eigene Nahrung an und erzeugt den Energiebedarf selbst, kann aber weder neuzeitliches Werkzeug noch Maschinen herstellen. Sie kann kein Sinfonieorchester unterhalten, nimmt aber das Recht in Anspruch, Beethoven und Wagner von Schallplatte oder Tonbandkassette zu hören. Sie hat eine Bibliothek, kann aber keine Bücher veröffentlichen. Radikale Jugendkommunen in den Vereinigten Staaten haben ihre Behausungen aus Coca-Cola-Kisten und Autowracks gemacht – den Hinterlassenschaften der Konsumgesellschaft, die sie verabscheuen. Antonionis Film Zabriskie Point endet mit einer apokalyptischen Vision der Konsumgesellschaft, wie sie, ganz
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im Sinne Bakunins, in die Luft gesprengt wird, aber die Vision spielt sich im Bewußtsein eines Mädchens mit Wagen und Autoradio ab. Anarchismus ist nicht möglich. Bakunin ist ein toter Prophet. In demokratischen Gesellschaften wie den Vereinigten Staaten und Großbritannien, deren Hauptverbrechen in den Augen der Jugend blinde Konsumideologie und aggressive Intoleranz sind, gelingt es Aussteigergesellschaften und Randgruppen nicht selten, die eiserne Abwehr der etablierten Kräfte einzubeulen. Im Laufe der Zeit erreichen sie Gesetzesänderungen und sogar eine Vermehrung der Bürokratie. Die streitbaren Gruppen der Emanzipationsbewegung und der Homosexuellen machen Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt zu einem Verbrechen, was nicht mehr als recht und billig ist, aber sie sind auch bestrebt, die Sprache durch Machtspruch zu modifizieren, was zur Folge hat, daß ich Gefahr laufe, juristisch belangt zu werden, wenn ich als Schriftsteller Worte gebrauche, die auch nur grammatisch eine Diskriminierung verraten. Das gleiche gilt natürlich für Körperschaften wie den Rat für Rassenbeziehungen in Großbritannien, der Bigotterie, Diskriminierung und »rassistische« Sprache zu Recht verurteilt, den einzelnen aber, der die erlaubten Grenzen seines Handelns und Urteilens nicht immer übersieht, beträchtlich verunsichert. Die Gewerkschaften, vor allem in Europa, sind ein hervorragendes Beispiel für die Macht, die Kollektive innerhalb des größeren Kollektivs der Nation erreichen können. Manchmal besteht die Machtposition zu Recht, manchmal nicht. Eine Regierung kann nicht moralische Prinzipien beschwören, wenn sie es mit den vielleicht unvernünftigen Forderungen einer mächtigen Interessenvertretung zu tun hat. Und außerhalb des Bereichs legitimer oder geduldeter Gruppenaktion gibt es die politisch motivierten Menschenräuber und Flugzeugentführer, die Regierungen in
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einer Art und Weise erpressen, die in Luftstützpunkt Eins unvorstellbar wäre. Nicht lange, so sagt man uns, und unsere Großstädte werden zu Geiseln gemacht. Das wäre dann der Endpunkt der von Bakunin eingeleiteten Entwicklung. Der Karikatur-Anarchist der alten Tage, bärtig wie der heiligmäßige Gründer, eine schwarze Bombe mit brennender Zündschnur wie ein Weihnachtsgeschenk in der Hand, hat sich zu einem tödlichen Ungeheuer gewandelt. Die Revolutionäre, die Engsoz schaffen wollen, unterscheiden sich von traditionellen Anarchisten nur im Mangel an Unschuld und dem Besitz hoher Intelligenz. Engsoz kann in keinem unserer bestehenden westlichen Regierungssysteme Wirklichkeit werden: er wartet draußen, gesegnet von Bakunin aus dem Himmel. Allein das Individuum kann ein echter Anarchist sein. Orwell erkannte dies, als er 1984 schrieb, das eine Allegorie des immerwährenden Konflikts zwischen jedem Individuum und jedem Kollektiv ist. Winston Smith, obgleich achtunddreißig Jahre alt, ist sehr jung in seiner Unwissenheit, wenn diese auch nicht allein seine Schuld ist. Die einzige Freiheit, die er sich vorstellen kann, ist das Recht zu sagen, was wahr und was falsch ist. Wie O’Brien richtig bemerkt, hat er der Doktrin des Staates keine Metaphysik entgegenzusetzen. Selbst wenn er ein zusammenhängendes Glaubenssystem hätte, könnte er sich gegen die massive Parteimaschine nicht behaupten. Zumindest aber hätte er, wie die Helden Senecas, die stoische Befriedigung gehabt, genau zu wissen, wofür er in dem Kampf, den er verlieren mußte, sein Leben einsetzte. Die Situation ist eine melodramatische Aufblähung derjenigen, in welcher sich jedes freiheitsliebende Individuum heutzutage befindet, selbst in einer permissiven Demokratie. Der einzelne, für den Thoreau der wahre Schutzpatron ist, steht immer gegen den Staat, und seine Freiheiten werden unausweichlich in dem Maße reduziert, wie die Interessengruppen mehr Freiraum gewinnen. Zeit,
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die der Vervollkommnung seines Wissens gewidmet werden könnte, wird von Formularausfüllen und hoffnungslosem Ringen mit Bürokraten in Anspruch genommen. Sein Geld wird ihm genommen. Er kann die Welt nicht freizügig bereisen, weil die Bestimmungen zur Devisenkontrolle seinen Zugang zu ausländischen Währungen begrenzen. Tröstungen wie Tabak und Alkohol werden ihm durch ständig steigende Verbrauchssteuern vergällt. Aber er kann noch immer sein freies Urteil über erkenntnistheoretische, ästhetische und moralische Fragen bilden und nach solchen Urteilen handeln oder es unterlassen. Er kann ins Gefängnis gehen, weil er Kriegsgegner ist. Er kann töten, wenn er nach langer Überlegung meint, daß Töten die einzig mögliche Antwort auf einen Angriff auf seine Person oder seine Angehörigen oder seinen Besitz ist. Er kann stehlen, verleumden, Obszönitäten schreiben oder zeichnen oder sich zur Schau stellen. Er muß natürlich bereit sein, für die Ausübung des freien Willens zu büßen, unter Umständen mit dem Leben. »Nimm dir, was du willst«, sagt das spanische Sprichwort, »und zahle dafür!« Es kommt darauf an, daß er nicht handelt, ohne sich über die Bedeutung seines Handelns im klaren zu sein. Das ist die Bedingung seiner Freiheit.
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UHRWERK-ORANGEN Ich bin mir bewußt, daß der oben wiedergegebenen Ansicht von menschlicher Freiheit etwas unerträglich Romantisches innewohnt. Sie errichtet eine unverletzliche Zitadelle im menschlichen Schädel, wo die Werte des Individualismus überdauern, mag der Feind die äußeren Befestigungen noch so heftig berennen. Steinerne Wände machen noch kein Gefängnis. Das ist sehr altmodisch und verrät einen Mangel an Kenntnissen über die Möglichkeiten und Hilfsmittel moderner Tyrannei. Der erste der beiden Filme, die nach dem Roman 1984 gedreht wurden – inzwischen, glaube ich, aus dem Verkehr gezogen – endete mit Winston und Julia, die vor dem Erschießungskommando stehen und »Nieder mit dem Großen Bruder« rufen. Dieser Schluß verfälschte ganz und gar die Absicht des Buches. Die Partei ist nicht vordringlich an der Liquidierung ihrer Feinde interessiert, sondern an ihrer Verwandlung in gute Bürger. Die Bestrafung ist nicht wichtig, aber das Ausbrennen der Häresie ist unentbehrlich. Der siebente Schleier des widerspenstigen Geistes muß fallen und die endgültige Nacktheit bloßgestellt, geschändet und geschwängert werden. Doch obwohl sie wissen, daß es keine unerreichbare Zitadelle gibt, wollen viele von uns nicht von dem Glauben lassen, daß es in jedem Menschen einen innersten Kern gebe, der dem Tyrannen unzugänglich bleibt. Engsoz weiß alles über die christlichen Märtyrer, deren Leiber vernichtet wurden, ohne daß es gelang, ihre Stimmen zum Schweigen zu bringen. Ein Märtyrer ist im etymologischen Sinne ein Zeuge. Die Justiz des neuen Staates erlaubt keine Zeugen. Es gibt heutzutage manche unter uns, die nicht vorsätzlich ins Gefängnis wollen, aber davon träumen, hineingeschickt zu werden, um, so paradox es klingen mag, sich wahrer Freiheit zu erfreuen. Die Anspannungen des zeitgenössischen Lebens
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werden unerträglich, und wir geben nicht nur dem Staat die Schuld daran. Rechnungen sind zu bezahlen, Maschinen werden defekt und können nicht repariert werden, Dächer sind undicht, Busse lassen auf sich warten, eintönige Arbeit ist zu tun, es will nicht gelingen, mit dem Geld auszukommen, Versicherungsprämien werden fällig, Krankheit stellt sich ein, täglich bietet die Presse das Panorama der gottlosen Welt. Man sehnt sich im Stil Kafkas nach Bestrafung für ein Verbrechen, das man nicht begangen hat, für das schuldig zu fühlen man nichtsdestoweniger bereit ist, und möchte alle Verantwortung abwerfen. Es gibt einen Traum von Einzelhaft, um ungestört Die Reise des Pilgers oder Die Ballade vom Lesegefängnis zu schreiben. Es gibt sogar ein Verlangen, ohne Bücher, Papier, Bleistift, Licht und gezwungen zu sein, seine geistige Gesundheit zu erhalten, indem man ein endloses episches Gedicht in heroischen Reimpaaren ersinnt. Auch nicht Eisen versperrt das Gefängnis. Was man in der Gefangenschaft tut, ist die wahre Probe, wie frei man ist. Engsoz weiß jedoch alles über den unverbesserlichen Eigensinn des Menschen und wird uns ins Verlies werfen, ehe er es sich gemütlich macht. Obgleich Orwells Kakotopia die Inhaltsangabe aller unfreien Gesellschaften ist, hören wir doch sehr wenig über die wissenschaftliche Eroberung des freien Geistes. Was 1990 und 2000 oder später geschehen wird, ist noch nicht klar, aber 1984 gibt es noch keine Anzeichen dafür, daß das Gehirn durch chirurgische Eingriffe oder psychotechnische Konditionierung verändert wird. Zugegeben, wir haben eine Episode in den Kellern des Ministeriums für Liebe, wo O’Brien dem Häftling Winston Smith zeigt, daß es möglich ist, einem das Realitätsverständnis der Partei ins Gehirn zu sprengen. »Diesmal wird es nicht weh tun. Halten Sie Ihre Augen in meine gerichtet.«
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In diesem Augenblick erfolgte eine furchtbare Explosion, oder was eine Explosion zu sein schien, obwohl es nicht sicher war, daß ein Lärm zu hören war. Zweifellos hatte ein blendender Blitz aufgezischt. Winston war nicht verletzt, nur niedergeschmettert… Ein furchtbarer, schmerzloser Stoß hatte ihn flach niedergepreßt. Auch in seinem Kopf war etwas vor sich gegangen. Als seine Augen wieder richtig eingestellt waren, erinnerte er sich, wer und wo er war und erkannte das Gesicht wieder, das in seines starrte. Aber irgendwie machte sich eine große Leere geltend, so als sei ein Stück von seinem Gehirn herausgenommen worden… O’Brien hielt die Finger seiner linken Hand, den Daumen versteckt, empor. »Hier sind fünf Finger. Sehen Sie fünf Finger?« »Ja.« Und er sah sie wirklich, einen flüchtigen Augenblick lang, bevor sich das Bild vor seinem Geist wieder gewandelt hatte. Er sah fünf Finger, und ihnen haftete nichts Mißgestaltetes an. Dann war wieder alles normal, und die alte Furcht, der Haß und die Verwirrung kehrten wieder zurück… »Sie sehen jetzt«, sagte O’Brien, »daß es in jedem Falle möglich ist.« Das ist allerdings nicht mehr als ein Trick, eine Demonstration, wozu das Gehirn imstande ist, wenn es sich bemüht. Und es wird uns klar, daß die Unfreiheit des Engsoz in einer durchaus nicht paradoxen Art und Weise von der Beharrlichkeit traditioneller Geistesfreiheit abhängt. Denn die Ausübung von Grausamkeit hängt, wenn wir O’Briens Darstellung des Parteiprogramms Glauben schenken, von ihrer zuverlässigen Fähigkeit ab, auf den freien Verstand einzuwirken. Es mag Leute geben, die aus der Grausamkeit zu einem Hund Befriedigung beziehen, aber es ist sicherlich eine geringere Befriedi-
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gung als aus der Grausamkeit zu einem Menschen gewonnen werden kann, insbesondere dann, wenn dieser Mensch sich des Geschehens und seiner Gründe bewußt ist. Am liebsten würden die Folterknechte der Partei sich einen Shakespeare, einen Goethe, einen Einstein vornehmen, einen Mann von scharfem Intellekt und ungeschwächtem Verstand, um ihn zu einer kreischenden, zuckenden Masse Fleisch und Hirngewebe zu reduzieren. Offenbar verwendet die Partei Techniken, mittels welcher ein Zustand von Hoffnungslosigkeit und Leere erzeugt wird, aus dem das freiwillige Geständnis von – auch nicht begangenen – Verbrechen und eine Haltung gefühlvoller Reue hervorgehen. Und Zimmer 101 stellt den rohen Gipfelpunkt mechanistischer Terrorisierung dar, denn es ist »das Schlimmste auf der Welt« und kann nicht ausgehalten werden, gleichgültig wie die inneren Reserven des Opfers beschaffen sein mögen. Die Technik beruht auf Irrationalität, der Reaktion auf einen Reiz, der von Opfer zu Opfer variiert wird – Ratten für Winston Smith, Schlangen oder schwarze Käfer oder das Kratzen von Fingernägeln auf Samt für andere, und die Materialien des Schrekkens werden nach liebevoller Untersuchung der jeweiligen Idiosynkrasie ausgewählt. Es ist spektakulär, aber nicht einleuchtend. Nicht einleuchtend in der Wirkungsweise, nach Winstons Reaktion zu urteilen. Der Käfig mit den ausgehungerten Ratten wird an sein Gesicht herangebracht, man schickt sich an, das trennende Gitter zu entfernen: gleich werden sie auf sein ungeschütztes Gesicht losspringen, seine Augen angreifen und sich durch die Wangen wühlen und die Zunge zerfressen. Alles, was O’Brien daran hindern wird, den Käfig zu öffnen, sind die richtigen Worte aus Winstons Mund. Er hat seine Geliebte nicht verraten; nun muß er bitten, daß sie von den Ratten gefressen werde, nicht er. Das reicht. Die Ratten werden entfernt.
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Er hat jetzt alles und jeden verraten. Er ist geheilt. Doch wir wissen, daß erzwungener Verrat kein Verrat ist, daß das Gewissen sich sehr rasch von Schuld freisprechen und statt dessen das Nervensystem verantwortlich machen wird, das nicht unter der Kontrolle des Intellekts ist, und daß eine noch stärkere Treue – gekräftigt durch erneuerten Haß auf die Peiniger – die Folge sein wird. Tatsächlich ist die Kenntnis der Techniken zum Zerbrechen individuellen Widerstands, wie der Engsoz sie hier verrät, ungeschliffen und elementar. Aber sie steht im Einklang mit einer auf Zwiedenken beruhenden Philosophie. Der Große Bruder wünscht totale Kontrolle, zugleich aber wünscht er sie nicht. Das Opfer ist kein wahres Opfer, wenn ihm nicht ein Mindestmaß von Hoffnung verbleibt. Der Sieg des Staates über Winston Smith wird nicht durch eine systematische oder Pawlowsche Reduktion seiner Persönlichkeit auf den Status einer bloßen Masse konditionierter Reflexe erreicht. Wie Orwell klarmacht, muß er seinen Widerstand gegen den Großen Bruder durch eine eigene Willensanstrengung überwinden, wobei ihm das Ministerium für Liebe behilflich ist. Man muß ihm die Unzulänglichkeit seiner eigenen geistigen Reserven vor Augen führen, sind sie doch im Vergleich mit der rigorosen Metaphysik der Partei wie nichts – ein bloßes Bündel von unvollkommenen und kraftlosen Willensimpulsen und Schlagworten. Man hat ihm die Leere seines Wesens vor Augen geführt, und nun weiß er, daß sie mit dem einzigen angefüllt werden muß, das zur Verfügung steht: Ergebenheit gegen die Partei und Liebe zum Großen Bruder. Engsoz hängt damit von einer Art Übung des freien Willens ab, denn die Akzeptanz seiner Autorität ist nichts wert, solange sie nicht freiwillig ist. Während eines im Klub verbrachten Abends muß Winston sich eine schwachsinnige Vorlesung über die Beziehung zwischen Engsoz und Schach anhören. Wir erfahren nicht, welches
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der Inhalt dieser Vorlesung ist, wissen aber, daß die Beziehung zwischen dem Staat und seinen Mitgliedern etwas Schachähnliches an sich hat, da auch in den intellektuellen Techniken, die das System stützen, etwas Schachähnliches vorhanden ist. Der Gebrauch des Zwiedenkens gleicht dem Schachspiel: man plant eine Gedankenstrategie und zieht ihre unerwartete Zerstörung durch eine nicht vorhergesehene Aktion der Partei in Betracht; der Gebrauch der Neusprache ist wie ein kompliziertes Spiel mit einer begrenzten Zahl von semantischen Figuren. Das Spiel, das vom Staat gegen Winston geführt wird, hat vorgeschriebene Züge, wenn auch keine Begrenzung der Dauer. Man gewährt ihm Manövrierfreiheit, aber er hat keine Hoffnung, gegen den stärkeren Spieler die Oberhand zu gewinnen. Am Ende der Geschichte sitzt Winston im Cafe Zum Kastanienbaum und grübelt über einem Schachproblem in der Times: Weiß zieht und setzt Schwarz in zwei Zügen matt: Winston blickte zu dem Bildnis des Großen Bruders empor. Weiß setzt immer matt, dachte er mit einer Art von dunklem Mystizismus. Immer, ohne Ausnahme, ist es so eingerichtet. Bei keiner Schachaufgabe seit Entstehung der Welt hat jemals Schwarz gewonnen. Symbolisierte das nicht den ewigen, unabänderlichen Sieg des Guten über das Böse? Das riesige Gesicht blickte voll ruhiger Macht auf ihn zurück. Weiß setzt immer matt. Weiß setzt immer matt, weil der bessere Spieler die weißen Figuren gewählt hat. Aber es steht Schwarz frei zu gewinnen, wenn es kann. Darin, daß es seinen Bürgern freisteht, das Spiel der Gedächtniskontrolle zu spielen und die Kunstgriffe der Orthodoxie herauszufinden, steht der Orwellsche Staat in direkter Beziehung zu dem, worin der englische Sozialismus, nicht
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Engsoz, wirkt. Das Wesen des Menschen ist nicht verändert worden, weder pränatal noch durch Konditionierung im Kleinkindalter, wie es in der Schönen neuen Welt Aldous Huxleys geschieht. Orwell sah richtig, daß es der Neo-Pawlowschen Gesellschaft, deren Mitglieder durch sexuelle oder soziale Frustration die Fähigkeit zum Glücklichsein verloren haben, an jener Dynamik des Konflikts gebricht, die den wirklichen Totalitarismus beseelt – eines Konflikts, der vom Bewußtsein des Individuums von der Schwächung des freien Willens durch den Tyrannen abhängig ist. Auf der anderen Seite fiel ihm nicht ein, daß die Erhaltung der Macht selber ein Produkt von Konditionierung sein könnte, daß der Alpha-plus-Spitzenfunktionär des Weltstaates genausowenig aus der ihm vorgegebenen Rolle ausbrechen kann, wie der Gamma-minus-Straßenkehrer. Orwell war ein eingefleischter Verfechter des freien Willens und machte sogar seinen Alptraum daraus. Daß Huxleys Utopia auf Zufriedenheit statt auf Furcht beruhen sollte, schien ihm ein Indiz für fehlenden Elan. Diktatur ohne Elend gibt es nicht. Die Techniken zur totalen Manipulation des menschlichen Bewußtseins standen 1932, als Schöne neue Welt erschien, bereits zur Verfügung. Iwan Petrowitsch Pawlow hatte noch vier Jahre zu leben, er hatte seine Arbeit getan und war noch imstande gewesen, etwas von den Möglichkeiten ihrer gesellschaftlichen Anwendung zu sehen. Wie sein Landsmann Bakunin war Pawlow ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts, geprägt von einer Periode des intellektuellen Optimismus, dem zaristische Unterdrückung nichts anzuhaben vermochte. Tatsächlich wirkten Zensur und Obskurantismus als positive Anregung auf die Revolution des Denkens. Bakunin glaubte, daß der Mensch bereits gut sei; Pawlow glaubte, daß der Mensch gut gemacht werden könnte. Ein Materialist vom echten Schlage seines Jahrhunderts, sah er das Gehirn als ein Organ, das Gedanken sekretiert wie die Leberzellen Galle, und für den
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wissenschaftlichen Forscher nicht geheimnisvoller als jedes andere Organ des Körpers. Das Gehirn, Sitz der Gedanken und Empfindungen, Anreger von Handlungen, konnte sondiert, zerteilt und radikal verändert werden, doch mußte diese Veränderung stets in Richtung auf einen effizienteren Mechanismus erfolgen, auf eine Maschine, die dem verbesserten Funktionieren ihres Eigentümers als menschlicher Organismus gewidmet ist. Das war der höchste Pelagianismus. Die Vervollkommnung des Menschen sollte nicht nur eine fromme Hoffnung sein, sondern ein wissenschaftliches Programm. Er arbeitete mit Hunden und entdeckte, daß ihre Reflexe konditioniert werden konnten: läutete man eine Glocke, wenn man das Futter brachte, so speichelte der Hund in freudiger Erwartung; läutete man die Glocke, ohne Futter zu bringen, speichelte der Hund trotzdem. Das Potential dieser Entdeckung war enorm, und Huxley erkannte es klar. In Schöne neue Welt muß den kleinen Kindern der niedrigsten Gesellschaftsschicht ein Haß gegen die Konsumgüter, die sie sich niemals werden leisten können, eingegeben werden. Die Kinder werden ermuntert, auf schöne bunte Spielsachen zuzukrabbeln; in dem Augenblick, wo sie die begehrten Dinge anfassen wollen, schrillen Klingeln, heulen Sirenen, werden von den Spielsachen elektrische Schläge ausgeteilt. Ein paar Übungsstunden einer solchen Konditionierung, und die Kinder werden Spielzeug hassen. In der gleichen Weise kann man sie später dazu bringen, daß sie Champagner und Kaviarersatz verabscheuen. Das ist negative Konditionierung, die im Dienste der Ablehnung angewendet wird, aber es wird auch positive Konditionierung gebraucht. Man läßt Mülltonnen süße Düfte und liebliche Musik entsteigen, und das Kind ist bereit, sein weiteres Leben im Dienste der Müllabfuhr zu verbringen. Der Sowjetstaat wünschte den Menschen zu erneuern, und wenn man die Russen kennt, kann man es verstehen. Pawlow
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beklagte die wildblickende, schlampige, romantische, undisziplinierte, untüchtige, anarchische Struktur der russischen Seele und bewunderte die kühle Vernunft der Angelsachsen. Auch Lenin beklagte sie, aber sie existiert noch immer. Angesichts der Faulheit der Kellner in russischen Restaurants (bisweilen vergehen drei Stunden zwischen der Annahme der Bestellung und ihrer Ausführung), der manischen Depression russischer Taxifahrer, des Schluchzens und Heulens russischer Betrunkener kann man manchmal glauben, daß dieses Volk ohne den Kommunismus nicht hätte überleben können. Aber vor Lenins Plan, mit Pawlows Hilfe den gesamten russischen Charakter umzuformen und damit die Werke Tschechows und Dostojewskis für Leser einer entfernteren Zukunft unverständlich zu machen, schreckt man schaudernd zurück. Lenin gab Befehl, daß Pawlow und seine Familie in kapitalistischem Luxus untergebracht, mit Sonderrationen verpflegt und dem Meister jedes erdenkliche technische Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden sollte, damit er Mittel und Wege finden könne, den neuen sowjetischen Menschen herzustellen. Pawlow fuhr fort, mit seinen Hunden zu arbeiten (»Wie ähnelt doch dem Hund der Mensch«, wie Shakespeare, hätte er B. F. Skinner gelesen, gesagt haben könnte), hielt im zerebralen Cortex nach dem Samen des Lebens Ausschau, fügte den Tieren Krankheiten des Nervensystems zu und heilte und pflegte sie mit der größten Zärtlichkeit (denn niemand liebte Hunde mehr als Pawlow). Unterdessen ging die sowjetische Polizei Andeutungen über die Induktion von Neurosen nach, dem Treiben der russischen Seele zum Zerreißpunkt. Und es wurde die alte Feststellung gemacht, daß nichts aus sich selbst heraus gut oder schlecht ist, nur der Gebrauch, den fehlbare Menschen davon machen. Freilich wurde der Humanismus Lügen gestraft: der Mensch kann verändert werden; der Verbrecher kann zu einem verantwortungsbewußten Bürger gemacht werden; der Ab-
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weichler kann orthodox werden; der verstockte Rebell kann gebrochen werden. Aber der Neue Mensch wurde nicht gemacht. Von Pawlow und B. F. Skinner, einem der Hauptvertreter des Behaviorismus, wird heute nicht mehr viel gesprochen, doch leben Teile der behavioristischen Erkenntnisse und Methoden in der Lerntheorie und der modernen Verhaltensforschung weiter. B. F. Skinner schrieb in seinem Buch Beyond Freedom and Dignity über die Bedingungen, unter denen allein die menschliche Gesellschaft überleben kann. Zu diesen Bedingungen gehört die Veränderung des Menschen durch eine Batterie von positiven Verstärkungen. Es genügt nicht, dem Menschen in der Annahme, daß er ein rationales Wesen sei, die rationalen Vorteile zu demonstrieren, die der Verlust seiner aggressiven Tendenzen und die Entwicklung eines sozialen Gewissens für ihn haben würde. Nur indem eine bestimmte Verhaltensweise mit Vergnügen oder Genuß assoziiert wird, kann sie als wünschenswert hingestellt werden. Die andere, negative Methode, in welcher eine unerwünschte Verhaltensweise mit Schmerz assoziiert wird, ist inhuman. Aber in alledem ist eine Unbekümmertheit von der Art und Weise, wie Zirkustiere abgerichtet werden: mit Zuckerbrot und Peitsche. Die Abrichtung selbst ist es, die uns stört. Wir machen einen Unterschied zwischen Schulung und Konditionierung. Wenn ein Kind die Schule schwänzt oder sich die Ohren zuhält oder den Lehrer anspuckt, dann sind das wenigstens Zeugnisse des freien Willens. In uns allen ist etwas, was sich für den widerspenstigen Schüler erwärmt. Zieht man jedoch Hypnopädie oder Lernschlaf (der in Schöne neue Welt gleichfalls dargestellt wird), Kleinkindkonditionierung, Reflexbeeinflussung bei Jugendlichen und den Rest des behavioristischen Arsenals in Betracht, so bleibt Bestürzung über den Verlust an individueller Freiheit, selbst wenn er mit Zuckerstücken belohnt wird. Skinners Titel erschreckt
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schon an sich. Jenseits der Wahrheit, jenseits der Schönheit, jenseits der Güte, jenseits von Gott, jenseits des Lebens. Der Große Bruder geht nicht so weit. Arthur Koestler, ein Mann, der kommunistische Einkerkerung und Folter ertragen hat und daher vor dem bloßen Gedanken an Gehirnmanipulation zurückschreckt, scheint jetzt nichtsdestoweniger zu glauben, daß etwas wird getan werden müssen, um die Menschheit zu ändern, wenn sie überleben soll. Der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki leitete ein neues Zeitalter ein – eines, in dem wir uns der Möglichkeit des Untergangs der Rasse gegenübersehen. Wegen seiner seltsamen zerebralen Struktur können die vom Menschen geschaffenen Wunderwerke Mittel zur Selbstzerstörung sein: das höchste Produkt des Verstandes ist in den Händen des Unverstandes. In seinem Buch Janus weist Koestler auf die »paranoide Spaltung zwischen rationalem Denken und irrationalem, auf Emotion beruhendem Glauben« hin und meint, daß in der biologischen Entwicklung des Homo sapiens ein schrecklicher Defekt eingetreten sein müsse. Er zitiert die Theorie von Dr. Paul D. MacLean vom National Institute for Mental Health in Bethesda, Maryland, die von der Tatsache ausgeht, daß die Natur den Menschen mit drei Gehirnen ausgestattet hat – einem reptilischen, einem von den niederen Säugern ererbten, und einem dritten, einer späten Entwicklung, »die dem Menschen zu seiner Eigentümlichkeit verhelfen hat«. Diese drei Gehirne arbeiten miteinander nicht zusammen: auf das Zentralnervensystem des Menschen muß der Begriff »schizophysiologisch« angewendet werden: der Mensch ist eine fehlerhafte Entwicklung. »Der Mensch kann die Erde verlassen und auf dem Mond landen«, sagt Koestler, »aber er kann nicht von Ost- nach Westberlin gehen. Prometheus greift nach den Sternen, mit einem wahnsinnigen Grinsen im Gesicht und einem Totem-
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symbol in der Hand.« Es ist nicht bloß eine Sache der Unfähigkeit der Großhirnrinde, das alte Tiergehirn zu beherrschen, die den Menschen zu dem macht, der er ist. Es ist auch der Umstand, daß er eine bemerkenswert lange Periode frühkindlicher Hilflosigkeit durchmacht, deren Erlebnisse und Erfahrungen prägend für sein weiteres Leben sind. So ist er leicht geneigt, sich allem zu fügen, was ihm angetan wird, und das führt zu der blinden Unterwürfigkeit gegenüber jeder Form von Autorität, die von Diktatoren und Kriegsherren weidlich ausgenutzt wird. Der Mensch zieht nicht in den Krieg, um seinen persönlichen Aggressionstrieb zu befriedigen; er tut es im blinden Glauben daran, was ihm als die gute Sache dargestellt wird. Und die Sprache, diese zeitumspannende Schöpfung, die womöglich höchste Errungenschaft der höheren Hirnzentren, begünstigt das irrationale, trennende Element, das sich durch Krieg ausdrückt. Sprache, aus der hohe Kunst gemacht wird, ist auch »im Hinblick auf explosives gefühlsmäßiges Potential eine ständige Bedrohung des Überlebens«. Koestler lehnt die »reduktionistische« Behandlung des Menschen ab, die ihn zum gefügigen Material behavioristischer Techniken macht. Aber er befürwortet die Anwendung von Drogen: Die Medizin hat für bestimmte Formen von schizophrenen und manisch-depressiven Psychosen Abhilfe gefunden; es ist nicht länger utopisch zu glauben, daß sie eine Kombination wohltätiger Enzyme entdecken wird, die dem Neocortex ein Veto gegen die Torheiten des archaischen Gehirns erlaubt, den augenfälligen Fehler der Evolution korrigiert, Emotion und Vernunft miteinander versöhnt und den Durchbruch vom Wahnsinnigen zum Menschen bewirkt. Diese Sicht vom Menschen als einer defekten Kreatur wird von
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Skinner und Koestler geteilt, und beide sind einhellig der Meinung, daß dringend etwas getan werden muß, von welcher Art Methode und Therapie auch sein mögen. Der Mensch lebt von geborgter Zeit; er braucht Behandlung, denn es wird Nacht. Seltsam, daß die sachkundigen Experten, welche die Behandlung verabfolgen sollen, selbst Menschen sind. Können wir den Diagnosen und Abhilfen dieser irrationalen Geschöpfe wirklich trauen? Aber die Voraussetzung ist offenbar, daß zwar alle Menschen defekt sind, manche aber weniger als andere. Bezeichnet man der leichteren Unterscheidbarkeit zuliebe die weniger defekten als gesund, so haben wir zwei Arten von Menschen – uns und die anderen. Die anderen sind krank, wir müssen sie heilen. Das Bewußtsein dieser Trennung zwischen uns, den Gesunden, und ihnen, den Kranken, gab mir 1960 Anlaß, einen Roman mit dem Titel A Clockwork Orange* zu schreiben. Es ist meiner Ansicht nach kein sehr guter Roman – zu didaktisch, sprachlich zu exhibitionistisch -, aber er stellte aufrichtig meinen Abscheu vor der Ansicht dar, daß manche Leute kriminell seien und andere nicht. Die Leugnung des Universalerbes einer Ursünde ist charakteristisch für pelagianische Gesellschaften wie diejenige Großbritanniens, und dort geschah es um 1960 herum, daß angesehene Leute über das Anwachsen der Jugendkriminalität zu murmeln begannen und meinten, nachdem sie gewisse sensationelle Artikel in gewissen Zeitungen gelesen hatten, daß die überhandnehmenden jungen Kriminellen – oder solche auffälligen Gruppen wie die Mods und Rocker, die mehr spielerisch aggressiv als wahrhaft kriminell waren -, eine irgendwie unmenschliche Brut seien und entsprechend behandelt werden müßten. Gefängnis war für erwachsene Gesetzesbrecher, und die Jugendvollzugsanstalten halfen nicht viel. Es gab unverantwortliche Leute, die von Aversionstherapie spra*
Anthony Burgess: Uhrwerk Orange, Heyne Taschenbuch 01/928 127
chen, dem Ausbrennen des kriminellen Impulses an den Wurzeln. Wenn jugendliche Delinquenten mit Hilfe von Elektroschocks, Drogen oder einer rein Pawlowschen Konditionierung unfähig gemacht werden könnten, antisoziale Handlungen zu begehen, dann würden unsere Straßen nachts wieder sicher sein. Wie immer, wurde die Gesellschaft an die erste Stelle gesetzt. Die Delinquenten waren natürlich keine vollwertigen menschlichen Wesen: sie waren Minderjährige und hatten kein Stimmrecht; sie waren im Gegensatz zu uns, die wir die Gesellschaft verkörperten, die anderen. Bestimmten Sittlichkeitsverbrechern war die sexuelle Aggression bereits auf drastische Weise ausgebrannt worden, nachdem sie Gelegenheit erhalten hatten, eine freie Willensentscheidung zu treffen, was vermutlich bedeutete, daß sie eine vage gehaltene Erklärung unterzeichneten. Vor den Tagen der sogenannten Befreiung hatten sich verschiedene Homosexuelle freiwillig einer Mischung von negativer und positiver Konditionierung unterworfen, die darin bestand, daß auf einer Kinoleinwand abwechselnd nackte Jungen und Mädchen gezeigt und gleichzeitig elektrische Schläge beziehungsweise angenehme Gefühle genitaler Massage verabfolgt wurden, je nach dem gezeigten Bild. Ich dachte mir eine experimentelle Institution, in der ein junger Übeltäter, der jedes Verbrechens von Vergewaltigung bis zum Mord schuldig war, eine Aversionstherapie erhielt und unfähig gemacht wurde, eine antisoziale Handlung zu erwägen, geschweige denn auszuführen, ohne ein Gefühl von überwältigender Übelkeit zu verspüren. Das Buch bekam seinen Titel A Clockwork Orange aus verschiedenen Gründen. Ich hatte immer eine Vorliebe für die Cockney-Redensart »schräg wie eine aufgezogene Orange«, denn das war das Absurdeste, was man sich vorstellen kann, und ich hatte die Wendung jahrelang aufgespart und gehofft, sie eines Tages als Titel verwenden zu können. Als ich das
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Buch zu schreiben begann, sah ich, daß dieser Titel für eine Geschichte über die Anwendung von Pawlowschen oder mechanischen Gesetzen an einem Organismus, der wie eine Frucht, zu Farbe und Süßigkeit fähig war, geeignet sein würde. Aber ich hatte auch in Malaya gedient, wo das Wort für ein menschliches Wesen »Orang« ist. Der Name des Antihelden ist Alex für Alexander, was »Verteidiger der« Menschen bedeutet. Alex hat noch andere Nebenbedeutungen -a lex: ein Gesetz (für sich selbst); a lex(is): ein Vokabular (von ihm selbst); a (griechisch) lex: ohne ein Gesetz. Schriftsteller achten im allgemeinen sehr genau auf die Namen, die sie ihren Figuren beilegen. Alex ist ein klangvoller und edler Name, und ich wollte seinen Träger sympathisch, bedauernswert und auf hinterlistige Weise identifizierbar mit uns, im Gegensatz zu den anderen, machen. Aber ich schweife ab. Alex wird nicht nur der Fähigkeit beraubt, sich für das Böse zu entscheiden. Als Musikliebhaber hat er auf die Musik reagiert, welche, als Emotionsverstärker gebraucht, die von Gewalt strotzenden Filme begleitet, deren Vorführungen Teil der Therapie sind. Eine in seinen Blutkreislauf injizierte chemische Substanz verursacht Übelkeit, während er die Filme sieht, doch wird die Übelkeit auch mit der Musik assoziiert. Es war nicht die Absicht seiner staatlichen Therapeuten, diesen Bonus oder Malus einzuführen: es ist reiner Zufall, daß er von nun an automatisch auf Mozart oder Beethoven reagieren wird, wie er es auf Vergewaltigung oder Mord tun wird. Der Staat hat sein wichtigstes Ziel erreicht: Alex die freie moralische Entscheidung zu verweigern, die, für den Staat, eine Entscheidung für das Böse bedeutet. Aber er hat eine nicht vorausgesehene Bestrafung hinzugefügt: die Pforten des Himmels sind dem Jungen von nun an verschlossen, da Musik ein Symbol himmlischer Seligkeit ist. Der Staat hat eine doppelte Sünde auf sich geladen: er hat ein Menschenwesen zerstört, da
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Menschlichkeit als Freiheit zu moralischer Entscheidung definiert wird; er hat auch einen Engel zerstört. Der Roman ist nicht gut verstanden worden. Leser und Besucher des Films, der nach dem Buch gedreht wurde, haben angenommen, daß ich, ein überaus friedliebender Mann, in die Gewalt verliebt sei. Das bin ich nicht, aber ich bin der Entscheidungsfreiheit verpflichtet, und das heißt, daß, wenn ich nicht die Freiheit habe, mich für das Böse zu entscheiden, ich mich auch nicht für das Gute entscheiden kann. Es ist besser, mörderische junge Strolche machen unsere Straßen unsicher, als die individuelle Entscheidungsfreiheit zu leugnen. Es fällt schwer, das auszusprechen, aber es wurde mir auferlegt von der moralischen Tradition, deren Erbe ich als ein Mitglied des abendländischen Kulturkreises bin. Von welcher Art die zur Erhaltung der Gesellschaft notwendigen Bedingungen auch sind, die grundlegende menschliche Ausstattung darf nicht verleugnet werden. Die bösen oder nur falschen Produkte des freien Willens können bestraft oder durch Abschreckungsmittel in Schach gehalten werden, aber die Fähigkeit selbst darf nicht beseitigt werden. Die unbeabsichtigte Zerstörung von Alex’ Fähigkeit zum Musikgenuß symbolisiert das unvollkommene Verständnis (oder die gewollte Unwissenheit) des Staates von der ganzen Natur des Menschen und von den Folgen seiner eigenen Entscheidungen. Wir sind vielleicht nicht in der Lage, dem Menschen – das heißt, uns selbst – über den Weg zu trauen, aber dem Staat dürfen wir erst recht nicht trauen. Es ist beunruhigend zu sehen, daß das Prinzip von der Manipulation menschlichen Verhaltens gerade in den westlichen Demokratien, die auf der Prämisse von der Unverletzlichkeit des freien Willens gegründet sind, zur allgemeinen Akzeptanz gelangen könnte. Im Luftstützpunkt Eins scheinen keine Drogen gebräuchlich, es sei denn ein billiger und schlechter Gin, der vorübergehend
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den Verstand benebelt. Ein starker, zentralisierter Staat mit adäquaten Unterdrückungsinstrumenten und der Entschlossenheit, sie einzusetzen, kann die Straßen von Strolchen und Totschlägern freihalten. (Das Elisabethanische England hängte randalierende Lehrlinge am Schauplatz des Aufruhrs.) Unsere demokratischen Gesellschaften werden schwach. Es gibt eine große Bereitschaft, sich von Interessengruppen aller Art, einschließlich Straßenbanden und aggressiven Studenten, beeinflussen zu lassen, so daß ein Autoritätsverlust die unausweichliche Folge ist. Dem Fehlen einer Philosophie der Mitte entspricht eine Unschlüssigkeit in der Behandlung von Verbrechen. Das ist menschlich; wir überlassen drakonische Strafen und Abschreckungsmittel den totalitären Staaten. Es besteht jedoch die Gefahr, daß die demokratische Reaktion auf das Verbrechen zu guter Letzt diejenige sein wird, welche als die menschlichste oder mitfühlendste Methode von allen dargestellt werden könnte: die verrückte Spaltung des Menschen, die ihn bewundernswert schöpferisch und bestialisch zerstörerisch macht, als eine echte Krankheit zu betrachten und seine Schizophrenie mit Drogen oder Schocktherapie oder behavioristischer Konditionierung zu behandeln. Jugendliche Straftäter zerstören den Frieden des Staates; erwachsene Straftäter drohen die menschliche Rasse zu zerstören. Das Prinzip ist für beide das gleiche: die Krankheit ausbrennen. Wir müssen, sagen Koestler und Skinner, die Notwendigkeit einer Änderung akzeptieren. Eine neue Rasse, der Homo sapientior, muß erschaffen werden. Aber, ich sage es noch einmal, wie weit können wir den Therapeuten trauen, die so unvollkommen sind wie wir selbst? Wessen Blaupause vom neuen Menschen müssen wir folgen? Wir wollen sein, wie wir sind, ungeachtet der Konsequenzen. Ich bin mir bewußt, daß das Verlangen, an der sündhaften Natur des Menschen festzuhalten, die Möglichkeit eines Fortschritts zu leugnen und die
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Maschinerien einer erzwungenen Verbesserung abzulehnen, sehr reaktionär ist, aber beim Fehlen einer neuen Philosophie vom Menschen muß ich mich an das klammern, was ich bereits habe. Und was ich habe, ist, allgemein gesprochen, ein christlich-jüdisch-hellenisch-humanistisches Menschenbild. Es ist die Weltsicht, die der Wilde in Schöne neue Welt, der mit einem Band von William Shakespeare in der Wildnis aufgewachsen ist, in das stabile Utopia von AF 632 bringt: »Ich will keine Bequemlichkeit. Ich will Gott, ich will Poesie, ich will wirkliche Gefahr, ich will Freiheit, ich will Güte. Ich will Sünde.« Der Weltkontrolleur Mustafa Mond faßt es für ihn zusammen: »Tatsächlich beanspruchen Sie das Recht, unglücklich zu sein.« Oder das Recht, vielleicht, das Leben nicht langweilig zu finden. Vielleicht muß die Art von Menschheit, die Hamlet, Don Giovanni, die Psalmensinfonie, die Relativitätstheorie, Antonio Gaudi, Schönberg und Picasso hervorbringen kann, als eine notwendige Folgeerscheinung auch fähig sein, sich selbst mit Nuklearwaffen in Angst und Schrecken zu versetzen. Was ich insbesondere habe, ist eine Art von Restchristentum, das zwischen Augustinus und Pelagius schwankt. Wer oder was Jesus Christus auch immer war, die Menschen bewunderten ihn, weil er »mit Autorität lehrte«. Es hat in unserer Welt sehr wenige Lehrer gegeben, die durch ihre Autorität Maßstäbe setzten, aber es hat viele autoritäre Demagogen gegeben. Es ist vielleicht gerade noch möglich, daß durch die Anwendung der Techniken der Selbstbeherrschung, die Christus lehrte, etwas gegen unsere Schizophrenie – deren Anerkennung bis auf die Schöpfungsgeschichte zurückgeht – erreicht werden kann. Ich glaube, daß der Ethik des Evangeliums eine weltliche Anschauung gegeben werden kann. Ich bin überdies sicher, daß das noch nie ernsthaft versucht worden ist. Die Basis der Lehre ist so realistisch wie Professor Skinners,
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wenn die Begriffe auch ziemlich gefühlsmäßig sind. Sünde ist der Name, der dem gegeben wird, was die Behavioristen gern mit Konditionierung, Schocktherapie oder Drogen austreiben würden. Es gibt eine Parallele zwischen dem Zusammenhalt des Universums und der Einheit des Menschen. Dies ergibt aus der Lehre der Menschwerdung heraus eine Art von Sinn. Damit die Einheit des Menschen mehr sei als eine bloße Sehnsucht, müssen Nächstenliebe, Wohltätigkeit und Duldsamkeit mit Vorsatz und Bedacht praktiziert werden. Die Technik der Nächstenliebe muß wie jede andere Technik erlernt werden. Die Praxis der Nächstenliebe muß wie ein Spiel angegangen werden. Zuerst ist es nötig zu lernen, daß man sich selbst liebt, was schwierig ist: die daran anschließende Nächstenliebe wird dann jedoch leichter sein. Wenn ich lerne, meine rechte Hand als ein Wunderding der Struktur und der psychoneuralen Koordination zu lieben, fällt es mir leichter, die rechte Hand des Gestapo-Vernehmungsoffiziers zu lieben. Die Forderung, daß man seine Feinde lieben soll, ist schwierig zu erfüllen, aber die Schwierigkeit gehört zu den Dingen, die das Spiel interessant machen. Die ernsthaften Praktiker des Spiels, oder ludus amoris, werden es nützlich finden, sich in kleinen Gruppen oder Gemeinden zusammenzutun und in regelmäßigen Abständen zur gegenseitigen Ermutigung und Inspiration zu treffen. Vielleicht werden sie es wertvoll finden, den Geist des Begründers des Spieles anzurufen. Tatsächlich könnten sie aus einer solchen Beschwörung seiner – in gewissem Sinne realen -Gegenwart in der Gestalt eines Stückes Brot und einer Flasche Wein Kraft beziehen. Wenn sie an die göttliche Herkunft des Gründers glauben, werden sie ihr Bewußtsein der Notwendigkeit, die Menschenliebe zum Zweck menschlicher Einheit zu fördern, stärken können, weil diese eine äußere Erscheinung der Einheit des göttlich geschaffenen Kosmos ist. Männer und Frauen
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müssen die Technik der Nächstenliebe in der realen Welt des Alltags praktizieren und sollten sich nicht in Kommunen oder Klostergemeinschaften abschließen. Die Existenz des Staates wird anerkannt, aber es versteht sich, daß er mit dem wirklichen Sinn des Lebens wenig zu tun hat. Cäsar hat seine eigenen Affären, die er für ernst erachtet, die in Wahrheit aber nichtig sind. Die Praxis der Menschenliebe hat nichts mit Politik zu tun. Lachen ist erlaubt, es wird sogar ermutigt. Der Mensch wurde von Gott zusammengefügt, wenn es ihn auch viel Zeit kostete. Was Gott zusammengefügt hat, mag es gleich die unheilige Dreifaltigkeit des menschlichen Gehirns sein, soll der Mensch nicht trennen. Lasset uns beten für Dr. Skinner. Möge Pawlow ruhen in Frieden. Amen.
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DER TOD DER LIEBE Wenn Winston Smith an der vorgeschriebenen täglichen Haßübung teilnimmt, ist er sich bewußt, wie effizient die zweiminütige Montage von Geräuschen und Bildern die Empfindung mörderischen Abscheus in ihm auszulösen vermag. Er ist sich auch bewußt, wie der Haß, der ihm eingegeben wird, als eine gleichgültige Waffe gebraucht werden kann, die sich gegen alle und niemand richtet. Dies war vielleicht eine der großen Entdeckungen der Periode, in der Orwell 1984 plante und schrieb: daß Haß, einmal wachgerufen, wie eine Schrotflinte auf jeden Gegenstand gerichtet werden konnte, der vom Staat als hassenswert dekretiert wurde. Es ist natürlich notwendig für das Zwiedenken, daß Emotionen automatisch von einem Gegenstand auf einen anderen übergeleitet werden können, ohne lange zu überlegen, warum das Hassenswerte nun das Liebenswerte geworden ist, und umgekehrt. Ostasien wandelt sich unversehens vom Freund zum Feind, und die emotionale Umstellung muß augenblicklich geschehen. Orwell dachte zweifellos daran, wie die Einstellung seines eigenen Landes zu Sowjetrußland, einst so verhaßt wie Hitlerdeutschland, nun Verbündeter und Mitopfer nationalsozialistischer Aggression, über Nacht geändert werden mußte. Das große Zeitalter der Heuchelei hatte begonnen. Im letzten Drittel seines Buches Sword of Honour erinnert uns Evelyn Waugh, wie Sowjetrußland nicht nur ein Hort demokratischer Freiheit wurde, sondern geradezu ein heiliges Gefäß. Der britische Staat ordnete an, daß zu Ehren der Verteidiger von Stalingrad ein juwelenbesetztes Schwert geschmiedet werde, und dieses Excalibur wurde in der Westminster Abtei feierlich zur Schau gestellt. Die freie Welt, die Stalin verabscheut hatte, nannte ihn jetzt Onkel Joe und liebte ihn. Mit dem Ende des Krieges war natürlich wieder Haß angebracht. Das
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ungehemmte Herumschwenkender Emotion, wie in einem Geschützturm, war zu einer der regulären Techniken des modernen Zeitalters geworden. Von alters her haben wir etwas gehaßt, weil es uns seinem Wesen nach hassenswert erschien. Das Christentum fordert Liebe zu den Mitmenschen, doch befiehlt es andererseits Haß gegen bestimmte Eigenschaften, die ihnen innewohnen mögen – Grausamkeit, Gier, Ketzertum und so weiter. Es gab eine Zeit, da wußten wir, welches die hassenswerten Eigenschaften waren; heutzutage sind wir unserer Sache nicht mehr so sicher. Traditionelle Laster werden in den Massenmedien als Tugenden hingestellt. Ein Mann, Filmstar oder Industriemagnat, der eitel, habsüchtig, ehebrecherisch, neidisch und hartherzig ist und sich durch die Übung solcher Laster einen Namen in der Welt gemacht hat, ist ein Held, kein Ungeheuer. Toleranz ist Schwäche, Feigheit ist Klugheit. Der moralische Maßstab ist unbestechlich und paßt darum nicht mehr in eine kommerzialisierte Welt, in der alles manipulierbar geworden ist; der Begriff charakterlicher Widerwärtigkeit ist abgeschafft. Daraus scheint zu folgen, daß auch Liebenswürdigkeit nicht mehr existiert. Liebe kommt in 1984 vor, aber sie ist weder die uneigennützige, verallgemeinernde Liebe des Evangeliums noch die romantische Liebe der Romanschriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts. Sie ist ganz gewiß keine Liebe, die mit Eheversprechen zusammengeht. Winston erhält eine Notiz von einem Mädchen, das er nicht einmal beim Namen kennt. Sie lautet einfach: »Ich liebe dich.« Sofort zittert er vor Angst und Aufregung. Die Liebe, die das Mädchen, dessen Name sich als Julia herausstellt, für ihn zu empfinden behauptet, beruht auf der Beobachtung, daß seine politische Rechtgläubigkeit unvollkommen ist, und in der Erwartung, daß seine Unzufriedenheit sich in der einzigen Form ausdrücken werde, die sie kennt – einer Bereitwilligkeit zur Unzucht. Unzucht ist vom Staat
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verboten, da sie einen Genuß bietet, den der Staat nicht kontrollieren kann. Körperliche Liebe ist ein Akt der Rebellion. Dies bürdet dem Sexualakt ein Bündel von Tugenden auf, die er aus sich selbst nicht gut tragen kann. Aber die Erklärung »Ich liebe dich« hier ebenso sehr eine Verhöhnung der traditionell an die Wendung gebundenen Werte, wie es die staatliche Einrichtung eines Ministeriums für Liebe ist. Hier liegt die Hauptschwäche der Romankonzeption. Der Konflikt zwischen dem Liebesbegriff des Individuums und dem des Staates bleibt unzulänglich. Winston und Julia setzen dem Großen Bruder nicht die Kraft einer wahren Ehegemeinschaft und, durch Erweiterung, die Werte der Familie entgegen. Sie haben heimlich Unzucht getrieben und sind nackt auf frischer Tat ertappt worden. Es gibt einen traurigen Augenblick, als Julia, deren einzige Vorstellung von Freiheit das Recht auf sexuelle Promiskuität ist, Winston eine kurzgefaßte Übersicht über ihre Liebesabenteuer gibt. Winston ist erfreut über ihre Verderbtheit, und Orwell scheint der falschen Antithese Vorschub zu leisten und stellt den moralischen Schlechtigkeiten des Staates die moralischen Schlechtigkeiten des Individuums gegenüber. Und doch wissen wir, daß Orwells eigenes Liebesleben von Vertrauen und Aufopferung geprägt war: er projizierte keine persönliche Enttäuschung in sein Werk. Vielleicht war er nur prophetisch. Im Jahre 1984, ob es einen Großen Bruder geben wird oder nicht, wird die traditionelle Vorstellung von Liebe verschwunden sein, und nicht etwa durch die Schuld des repressiven Staates. Eine der Errungenschaften amerikanischer Zivilisation ist die Entwertung der Institution Ehe. Das hat viel mit der puritanischen Verdammung des Ehebruchs als einer Todsünde zu tun gehabt; das Bild des scharlachroten A auf der Stirn der Ehebre-
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cherin* ist in die amerikanische Seele eingebrannt. Scheidung ist dem Ehebruch vorzuziehen, auch wenn sie bisweilen ein Euphemismus für reihenweise Polygamie ist. Aber die Scheidung wird im amerikanischen Roman oder im amerikanischen Leben selten als die ganz und gar beklagenswerte, unvermeidliche und als letztes Mittel angewendete chirurgische Operation dargestellt, als die eine weniger permissive Tradition sie sah. Liebe wird als eine Art Automobil betrachtet, das gelegentlich durch ein neueres Modell ersetzt werden muß. Sie ist eine Glühbirne, deren Brenndauer begrenzt ist. Sie wird, wie im Denken von Orwells Julia, mit sexuellem Verlangen gleichgesetzt. Sexuelles Verlangen stirbt nicht, aber es benötigt einen Wechsel des Objekts. Wie der Haß, ist es eine Waffe. Liebe hingegen könnte als eine Disziplin bestimmt werden. Sie ist groß genug, um vorübergehende Phasen von Gleichgültigkeit, Abneigung und sogar Haß zu umfassen. Ihr bester physikalischer Ausdruck ist sexuell, aber der Ausdruck sollte nicht mit dem Wesen, das Wort nicht mit dem Ding verwechselt werden. Winston und Julia lieben in dem Sinne, daß sie eine in sich abgeschlossene Gemeinschaft bilden, deren Hauptaktivität der Sexualakt ist. Der Akt und seine Begleitumstände erzeugen Zärtlichkeit, ein Gefühl menschlicher Nähe und andere wohltuende Empfindungen. Winston und Julia wissen jedoch, daß die Beziehung nicht von Dauer ist; ihre einzige Disziplin ist darauf gerichtet, eine Entdeckung zu verhindern. Es ist eine kurze Phase oberflächlicher Zärtlichkeit, die ihr Ende durch Bestrafung finden wird. »Wir sind die Toten«, sagt Winston, und Julia betet ihm getreulich nach. »Ihr seid die Toten«, sagt die Stimme von der Wand. Die Beziehung trug von Anfang an ihren eigenen Tod in sich. Genauso verhält es sich mit vielen Beziehungen in unserem permissiven Zeitalter, und der Tod ist *
A für ›adultery‹ = Ehebruch. Das Bild stammt aus dem Roman The Scarlet Letter des amerikanischen Autors Nathaniel Hawthorne (Anm. d. Übers.) 138
nicht von außen auferlegt; er ist selbst verursacht. Trennt man den Sexualakt von Liebe, so ist die Sprache der Liebe entwertet. Ein Aspekt unserer Freiheit ist unser Recht, die Sprache völlig zu entwürdigen, so daß ihre Syntagmen bloßes Geräusch werden. Der Große Bruder, mag er auch die Promiskuität bedauern, der unsere Gesellschaft sich hingegeben hat und die von unseren Filmen und Zeitschriften begünstigt wird, sollte mit Befriedigung die Schwächung der ehelichen Werte sehen. Der chinesische Kommunismus hat zeitweilig unter großen Schwierigkeiten versucht, die Familie auszuschalten, da sie das Original ist, von dem der Staat eine grotesk vergrößerte Kopie zu machen sucht; es ist bei weitem einfacher und besser, wenn die Familie sich selbst auslöscht. Die Reduktion der Liebe auf den Sexualakt und dann auf die wahllose Abfolge von Sexualakten hat die Reduktion der Sexualpartner zu bloßen Objekten zur Folge. Es wird dann leicht, alle Menschenwesen, in welchem sozialen Zusammenhang sie auch stehen mögen, als Objekte zu betrachten, an denen wir jede Emotion auslassen können, die uns zweckdienlich erscheint. Ein Objekt besitzt kein individuelles Wesen; es ist ein gewöhnliches Substantiv. Verallgemeinerungen folgen – Frauen, nicht diese Frau und jene; Arbeiter, die arbeitende Klasse. Die erschreckende Degradierung von Millionen individueller Persönlichkeiten zu einer verallgemeinerten Klasse, die die »Proles« genannt wird, ist, nach der Entwertung der Liebe, das vielleicht Schrecklichste an Orwells Buch. Wenn wir eine derart menschenverachtende Verallgemeinerung für unwahrscheinlich halten, akzeptieren wir sie gleichwohl als Grundbedingung für die Errichtung einer Oligarchie wie derjenigen des Engsoz. Müssen hundert Prozent der Bevölkerung durch Gedankenpolizei und Fernsehkameras überwacht werden, kann der oligarchische Staat nicht überleben; seine Hilfsmittel werden nicht ausreichen, um alle niederzuhal-
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ten. Daher muß der Staat voraussetzen, daß die Proles zu dumm, eingeschüchtert oder einfallslos sind, um jemals eine Gefahr für die Stabilität zu werden. Sollte, was ganz und gar unwahrscheinlich ist, ein Demagoge aus den Reihen der Proles erstehen und den Aufstand predigen, kann er mit Leichtigkeit herausgeschossen werden. Aber die ganze Mystik und Technik des Engsoz akzeptiert ohne Frage die träge Unbeweglichkeit von fünfundachtzig Prozent der Bevölkerung. Wir akzeptieren sie auch; andernfalls würden wir die Möglichkeit, daß der Alptraum des Engsoz sich bewahrheiten könnte, nicht fürchten. Und mit »wir« meine ich nicht nur die Leser von Büchern wie diesem; ich meine die Mitglieder der arbeitenden Klasse, die nach einer Fernsehverfilmung von 1984 in einer Kneipe ihr Bier trinken und über den Großen Bruder scherzen, der sie vermutlich beobachtet. Die Handlung ist auf eine Trennung gegründet, die kein bloßer romanhafter Kunstgriff ist – etwas, das wir dem Handlungsablauf zuliebe zu akzeptieren bereit sind, wie etwa das Fehlen einer Schiffahrtsversicherung in Shylocks Venedig. Nein, es war Orwells Vergeltung an den Arbeitern von 1948. Sie hatten ihn enttäuscht. Damit nicht genug, war es die ererbte Akzeptanz einer unwandelbaren sozialen Trennung, die er sowenig ablegen konnte wie seine Oberklassenaussprache. Die Idee zu seinem Buch Animal Farm kam Orwell, als er einen kleinen Jungen sah, der ein stämmiges Suffolk-Zugpferd beaufsichtigte. Wie, wenn diese kraftvollen Tiere sich ihrer Macht bewußt würden und gegen ihre schwächlichen menschlichen Herren wendeten? In der kleinen Fabel erheben sich die Tiere der Farm gegen Mr. Jones und seine Familie und gründen die erste Tierrepublik. Aber es war Orwell überhaupt erst möglich, das Buch zu schreiben, indem er sich ein revolutionäres Proletariat als verschieden von der Menschheit vorstellte, die er und seine Klasse verkörperten. Die gewöhnlichen Leute unter-
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schieden sich von der Mittelklasse, waren eine andere Art von Tier. Eine andere Art von Tier sind sie auch noch in 1984. Es steckt kein wirkliches menschliches Leben in ihnen. Zugegeben, Winston Smith nährt die romantische Hoffnung, daß eine Veränderung, sollte sie jemals eintreten, von den Proles kommen werde. Aber es ist eine unbestimmte Hoffnung, sentimental und unwürdig. Wenn die Proles nicht wie Tiere sein sollen, dann müssen sie eine Art von edlen Wilden sein: es ist ihnen nicht erlaubt, gewöhnliche menschliche Wesen wie Winston und sein Schöpfer zu sein. Winston beobachtet im Proles-Milieu eine fette Frau, die Wäsche aufhängt und dazu einen Schlager singt: Die Vögel sangen, die Proles sangen, aber die Partei sang nicht. In der ganzen Welt, in London und New York, in Afrika, Brasilien und in den geheimnisvollen verbotenen Ländern hinter den Grenzen, in den Straßen von Paris und Berlin, in den Dörfern der endlosen russischen Weite, in den Basaren von China und Japan – überall stand die gleiche feste, unerschütterliche Gestalt, unförmig geworden durch Arbeit und Niederkünfte, die von der Wiege bis zum Grabe schwer schuftet und dennoch singt. Aus diesem mächtigen Schoß mußte eines Tages ein Geschlecht wissender Menschen hervorgehen. Ihr seid die Toten; die Zukunft gehört ihnen. Aber man konnte teilhaben an dieser Zukunft, wenn man den Geist lebendig erhielt, so wie sie den Leib lebendig erhielten, und die geheime Lehre weitergab, daß zwei und zwei gleich vier ist. »Die gleiche feste, unerschütterliche Gestalt… aus diesem mächtigen Schoß« – die Worte sind so beleidigend wie der Leitsatz von Animal Farm. Und die Hoffnung ist absurd, wie O’Brien ihm mit beredten Worten klarmachen wird.
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Romantisierung des Arbeiters durch Vergöttlichung, was auf Entmenschlichung hinausläuft, oder Verachtung des Arbeiters – das waren für einen Intellektuellen wie Orwell die einzigen Alternativen. Er war vom rechten Engsoz-Schrot und Korn; er las The New Statesman, während die Arbeiter Blighty und den Daily Mirror lasen. Die Arbeiter kauften seine Bücher nicht. Die Arbeiter kaufen meine Bücher auch nicht, aber ich klage nicht. Noch begehe ich den Fehler anzunehmen, daß das Leben der Einbildungskraft dem des Körpers in irgendeiner Weise überlegen sei. Der Hafenarbeiter und der Romanschriftsteller gehören zum selben Organismus, Gesellschaft genannt, und die Gesellschaft, was immer sie denken mag, kann nicht ohne uns beide auskommen. Orwell hatte das Pech, am Rande der herrschenden Klasse im spätimperialistischen Großbritannien geboren zu werden. Die Kluft zwischen ihm und den unteren Klassen, die eine vulgäre Sprache gebrauchten und schrecklich rochen, konnte nur durch Herablassung überbrückt werden, durch eine Art von ritueller Identifikation, durch die schriftstellerische Fantasie. Am Ende seiner literarischen Laufbahn ließ Orwell allen Anschein, an die arbeitende Klasse zu glauben, endgültig fahren. Dies bedeutet unvermeidlich den Verlust des Glaubens an alle Menschen und an die Möglichkeit, daß Liebe wie ein Funke fähig sei, die Unermeßlichkeit – fünf Zoll oder fünf Millionen Meilen – zwischen einer menschlichen Identität und einer anderen zu überspringen. 1984 ist nicht so sehr eine Prophezeiung, als vielmehr ein Zeugnis der Verzweiflung. Nicht Verzweiflung an der Zukunft der Menschheit; einer persönlichen Verzweiflung an der Fähigkeit zu lieben. Hätte Orwell die Menschen geliebt, so wäre O’Brien nicht in der Lage gewesen, Winston Smith zu foltern. Die große Mehrheit der Männer und Frauen sieht wiederkäuenden Rindern gleichgültig zu, während Winston schreit und der Tod der Freiheit Bestätigung findet. Das ist eine mon-
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ströse Karikatur menschlicher Wahrscheinlichkeit. So etwas wie das Proletariat gibt es nicht. Es gibt nur Männer und Frauen von verschiedenen Graden gesellschaftlichen, religiösen, intellektuellen Bewußtseins. Diese im marxistischen Begriffen zu betrachten, ist ebenso entwürdigend wie aus der vizeköniglichen Karosse auf sie herabzusehen. Wir sind nicht verpflichtet, die Kluft der Herkunft, der Erziehung, des Akzents und des Geruchs durch einen bußfertigen Ehevertrag außerhalb unseres Milieus oder auch nur durch das Erdulden eines feuchten Montags unterhalb Wigan Pier zu überbrücken. Aber wir haben die Pflicht, Abstraktionen wie Klasse und Rasse nicht zu Bannern der Intoleranz, der Furcht und des Hasses zu machen. Wir müssen versuchen, uns zu erinnern, daß wir leider alle ziemlich dasselbe sind, das heißt, recht abscheulich. Orwell hat in 3984 eine Kluft geöffnet, die nicht existieren kann, und in diese Kluft hat er seine unwahrscheinliche Tyrannei hineingestellt. Sie ruht auf Luft, wie eine Fata Morgana. Wir sind von ihr dermaßen fasziniert, daß wir die auflösende Kraft des Unglaubens, die sie lautlos in sich zusammenstürzen ließe, nicht gebrauchen. Das Jahr 1984 wird ganz und gar nicht so sein.
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ZWEITER TEIL
1985 Ein Roman
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1 DAS JULNACHTSFEUER Es war die Woche vor Weihnachten, Montagmittag, mild und dumpfig, und die Muezzins von London-West jodelten, daß es keinen Gott außer Allah gebe: »La ilaha illa’ha. La ilaha illa’ha.« Bev Jones stieß sich durch die gemischtrassige Menge der Kauflustigen, vorbei an der heulenden Diskbutik, dem mit Flitterwerk geschmückten Supermarkt, der ehemaligen Wirtschaft, die nun ein Reisebüro war, das sich auf Mekkareisen spezialisierte, aber immer noch als Al-Bulnbush bekannt war, bog um die Ecke der Tolpuddle Road in die Martyr Street und gelangte zum Hogarth-Hochhaus. Hier wohnte er, aber, so dachte er trübe und mit schwindendem Mut, man würde es kaum glauben, nicht mit dieser Bande aggressiver Jugendlicher, die den Eingang sperrte. Kumina-Banden wurden sie genannt, dieser Schrecken der Straßen, denn kumi na war in Suaheli die Vorsilbe für zehn und durch Erweiterung, die Teenagerzeit. Normalerweise würden sie zu dieser Stunde ihre Schulkantinen terrorisieren, aber die Lehrer streikten. Das war auch der Grund, warum Bev Jones heute nicht in seiner Kantine zu Mittag aß. Seine Tochter Bessie war zu Hause und unbeaufsichtigt; seine Frau Ellen lag im Krankenhaus. Er mußte die Küche aufsperren und Bessie zu Essen geben. Dreizehn Jahre alt und körperlich frühreif, war sie sonst für ihr Alter eher zurückgeblieben. Die Ärzte der Nationalen Gesundheitsbehörde machten Yenethlia dafür verantwortlich, eine Substanz, die zur Erleichterung von Geburten verschrieben worden war und deren Nebenwirkungen man nicht vorausgesehen hatte. »Niemandes Schuld«, hatte Dr. Zazibu gesagt. »Die Medizin
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muß voranschreiten, Mann.« Bev grinste die sieben Kumina-Jugendlichen einnehmend an, aber seine Lachmuskeln reagierten wie auf das Aussaugen von Zitronen. Er kannte keinen von ihnen; sie wohnten nicht hier. Und sie waren immer gefährlich, um so mehr, als sie intelligent waren – einige von ihnen sogar mehr als intelligent, geradezu gelehrt. Das war das Dumme: wenn der Staat das Lernen nicht mehr förderte, wurde es zu einer antisozialen Sache. Bev sagte: »Wennes Ihnen nichts ausmacht, meine Herren – ich wohne hier.« Er erreichte die zweite Stufe der Steintreppe; höher ließen sie ihn nicht steigen. »Und ich habe es ein bißchen eilig«, fügte er hinzu. »Festina lente«, antwortete lächelnd ein kakaofarbener Jüngling in einer Trainingsbluse, die einen fliegenden Shakespeare mit wehendem Umhang und mächtigen Fäusten zeigte, dazu die Unterschrift WILLENSKRAFT. Dann packten sie ihn bei den Armen, daß er sich nicht mehr bewegen konnte. Der Latein sprechende Bursche filzte seine Taschen und sang dazu: »Gaudeamus igitur, juvenes dum su-u-mus.« Er hatte einen guten Tenor, natürlich und wohltönend. Er fand nicht viel in Bevs Taschen – eine Kreditkarte der Interbank, eine fast leere Pakkung Hamaki Mild, ein Wegwerffeuerzeug, drei Pfundnoten, fünf Groschen. Er steckte alles ein, bis auf das Feuerzeug. Dieses zündete er und ließ die Gasflamme nach Bevs Augäpfeln stechen, als wollte er seine Pupillenreflexe prüfen. Dann gähnte er, und in seinem Bauch kollerte es. »Also los, Tiger!« sagte er. »Wir essen.« Dann zündete er Bev das Haar an und überließ es seinen Gefährten, die Flammen mit den Fäusten auszuschlagen. Schließlich verabschiedeten sie sich der Reihe nach mit Fußtritten, die nicht allzu hart waren und die balletthafte Anmut langer Übung erkennen ließen. Es hätte schlimmer ausgehen können. Träge verzogen sie sich. Als Bev in den Hausflur kam, sah er eine Erklärung für die Trägheit. Unweit der Aufzugtür
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lag der junge Irwin, fast nackt, braun und blau geschlagen, nicht allzu blutig. Es war ein mehrfacher päderastischer Überfall gewesen, eine siebenfache Einführung. Der arme Junge. Die Irwins wohnten im zehnten Stockwerk, und natürlich funktionierte der Aufzug nicht. Bev läutete die Hausmeisterglocke. Mr. Withers kam kauend heraus, Marmelade am Kinn. Kauend blickte er auf den blutigen Jungen. »Haben Sie nichts gehört?« sagte Bev. »Sind die Irwins zu Hause?« »Nein«, sagte Mr. Withers. »Auf beides.« »Nichts auf Ihren Bildschirmen gesehen?« »Die Bildschirme gehen nicht. Warte noch immer, daß jemand vorbeikommt. Es ist Sache des Mieterausschusses, den Leuten Dampf zu machen. Sind Sie nicht im Ausschuß?« »Nicht mehr«, sagte Bev. »Rufen Sie lieber einen Krankenwagen.« »Es ist eine verdammte Frechheit, die ganze Geschichte.« Bev stieg zum dritten Stock hinauf. In diesen Zeiten war es zwecklos, allzu mitfühlend zu sein. Man konnte den ganzen Tag und die Nacht damit verbringen, den Opfern von Überfällen auf den Straßen, in Hauseingängen und Wohnungen Mitleid zu bezeigen. Mitleid begann in den eigenen vier Wänden. Er langte vor seiner Wohnung an. 3 B. Daheim. Läuten hatte keinen Sinn, nicht bei Bessie. Sie kam mit den komplizierten Mehrfachschlössern nicht zurecht. Er gab einem trüben roten Auge in einer Wandvertiefung seinen Namen. Das Gerät verglich seine Stimme mit der gespeicherten Aufzeichnung und aus dem Ausgabeschlitz fiel im klimpernd sein Schlüsselbund in die Hand. Er brauchte vierzig Sekunden, um aufzusperren. Bessie saß mit gespreizten Beinen vor dem Fernseher am Boden. Bev sah, daß sie unter ihrem einteiligen Schulkittel nichts anhatte. Er seufzte. Wahrscheinlich hatte sie zu irgendeiner Fleischbeschau auf dem Bildschirm masturbiert. Jetzt flackerte,
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blökte und explodierte ein Zeichentrickfilm für Kinder auf dem Bildschirm – todbringende Gewalt, aber niemand wurde dabei ernstlich verletzt, geschweige denn zu Tode gebracht. Der sechs Jahre alte Porson-Junge aus dem zwölften Stock war, nachdem er Pillhuhn das Wunder ohne Schaden von einem hundertzwanzigstöckigen Wolkenkratzer hatte springen sehen, in fröhlichem Selbstvertrauen in den Treppenschacht gesprungen. Das war vor einem Jahr gewesen; die Porsons waren darüber weggekommen; sie hatten nicht einmal ihren Fernseher abgeschafft. Bev sagte behutsam: »Hast du im Krankenhaus angerufen?« »Was?« Ihr Blick wandte sich nicht von den zuckenden Bildern. »Das Krankenhaus, wo deine Mutter ist. Hast du angerufen?« »Geht nicht.« »Was geht nicht?« fragte er geduldig. »Unser Telefon? Die Vermittlung im Krankenhaus?« »Geht nicht«, sagte sie, und ihr Mund öffnete sich in schwächlich albernem Vergnügen, als eine Maus in einem Hut von einem Dampfhammer geplättet wurde und weiterlebte, um quietschend Rache anzudrohen. »Ich hab’ Hunger«, fügte sie hinzu. Bev ging zum Telefon in die kleine Diele. Er wählte die Nummer des Krankenhauses, die er auswendig kannte, und ein automatischer Anrufbeantworter meldete sich mit höflicher Stimme: »Hier ist das Allgemeine Krankenhaus Brentford. Die Rettungs- und Evakuierungsarbeiten sind noch im Gange. Persönliche Anfragen können vorerst nicht beantwortet werden. Hier ist das Allgemeine Kranken…« Sein Herz hatte sich noch kaum von der dreifachen Aufregung erholt. Zuerst die Schläge und die balletthaften Tritte, dann der Anblick des Irwin-Jungen, schließlich das hastige Treppensteigen. Nun pochte es dumpf und hart gegen die Rip-
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pen. Er stürzte zum Fernseher und begann die Kanäle abzusuchen. Bessie winselte und jammerte; sie schlug mit den Fäusten auf seine Beine ein. Er bekam die Nachrichten. Ein Mann mit wenig Kinn und viel Haar sagte, vor einem Hintergrund vergrößerter Flammen: »…als eine sehr ernste Angelegenheit bezeichnet. Man vermutet, daß der Brand von unverantwortlichen Elementen gelegt wurde, die noch nicht ermittelt werden konnten, obwohl Scotland Yard bereits Nachforschungen eingeleitet hat und wie es heißt, bedeutsamen Anhaltspunkten nachgeht. Es wird vermutet, daß der Streik der Feuerwehrleute, der nun in die dritte Woche gegangen ist, und die Sympathiestreiks, die gestern in den Armeekasernen des Londoner Raumes begonnen haben, von den Brandstiftern vorsätzlich ausgenutzt wurden. Während des vorübergehenden Fehlens berufsmäßiger Brandbekämpfungsdienste, sagte Mr. Halifax, der Minister für Öffentliche Sicherheit, sollten die Bürger auf der Hut vor weiteren Akten willkürlicher Brandstiftung sein und sich gleichzeitig mit dem Informationsmaterial zur Feuerverhütung vertraut machen, das von allen öffentlichen Behörden und Dienststellen bereitgehalten wird.« Bev, der mit trockener Kehle »O mein Gott« schluchzte, war schon draußen und fummelte an den Schlössern, während der Ansager verkündete: »Und nun zum Fußball. Die heutigen Veranstaltungen«, und Bessie, wie immer langsam von Begriff, winselte schon wieder, bis es ihr gelang, durch ein Dutzend Sender zu ihrem Zeichentrickfilm zurückzuschalten. Ein alter Popeye-Film fing gerade an. Sie war zufrieden. Und dann fiel ihr der Hunger ein. Aber Bev war aus der Wohnung, bevor ihre Klagen laut wurden. Schluchzend und stolpernd rannte er die Treppe hinunter. Der Irwin-Junge, noch immer bewußtlos, lag da und wartete noch immer auf einen Krankenwagen. Mr. Withers war offenbar wieder beim Mittagessen. Bev rannte zur Chiswick High
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Street. Er sah keine Taxis. Aber dann machte er einen Bus der Linie aus, die nach Brentford fuhr, der im Verkehr festsaß. Er stieg ein und erinnerte sich nachträglich, daß er kein Geld hatte, den Fahrpreis zu bezahlen. Zum Teufel damit; der Schock des brandhellen, rauchverhangenen Himmels, seine eigene Not und Bedrängnis, war das nicht Bezahlung genug? Es erwies sich so, als der Bus weiterkroch. Der schwarze Schaffner sagte: »Sie sehen ziemlich mitgenommen aus, Mann. In Ordnung, zahlen Sie ein andermal.« Und dann war er dort, versuchte, den Polizeikordon zu durchbrechen, denn die Polizei befand sich gegenwärtig nicht im Streik, und rief: »Meine Frau, meine Frau, ich will zu meiner Frau, verdammt, laßt mich durch!« Der Himmel war braunrot, pflaumenfarben, blaßgelb, lachsfarben, narzissengelb, brodelnd von Rauch. Ascheteilchen stiegen wie dünne schwarze Engel empor, und die Hitze war wie ein riesiger, vorwärtsdrängender Raufbold. Ein paar Fenster waren rechteckige Augen, leer von allem außer Flammen, traurig, bis sie mit dem einstürzenden Mauerwerk zerfielen. Einige zu Tode erschöpfte Ärzte in angesengten weißen Kitteln wankten zwischen Betten und Tragbahren, die auf Auslieferungsfahrzeuge der nahen Brauerei verladen wurden. »Meine Frau«, rief Bev. »Mrs. Jones, Ellen Jones, Station 14 C.« Die Ärzte schüttelten den Kopf, als verursache das Kopfschütteln ihnen körperliche Schmerzen. »Sie da!« rief Bev zu einer alten Frau, die schlaff und nackt unter einer Decke lag, das graue Haar abgesengt, »Sie kennen mich, Sie kennen meine Frau.« »Laß es ihnen nicht durchgehen!« röchelte eine bekannte Stimme. »Mein Gott, Ellie! Ellie…« Bev warf sich neben der Bahre, die aufs Verladen wartete, auf die Knie. Seine Frau und nicht seine Frau. Es gibt Teile des Körpers, die sich der Verbrennung widersetzen, aber sie sind größtenteils Knochen. Er kniete ne-
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ben ihr, dann warf er sich mit verzweifeltem Schluchzen über sie, suchte sie zu umarmen, und unter seiner Hand löste sich verkohlte Haut und geschmortes Fleisch. Sie konnte nichts mehr fühlen. Aber das war ihre Stimme gewesen. Ihr letztes Wort war nicht »Lieber« gewesen, »kümmere dich um Bessie«, Gott, welch ein Unglück, wir sehen uns wieder. Es hatte gelautet: »Laß es ihnen nicht…!« »Meine liebe arme Ellie«, schluchzte er. »Die da«, sagte eine müde Stimme hoch über ihm, »für LH. Hat es besser so. Viele von ihnen wären so besser dran.« Die Brauereifahrzeuge waren mit Kreide gekennzeichnet. LH und EV. Leichenhalle und Evakuierung. Bev wurde von rücksichtsvollen Händen auf die Beine gezogen. »Da kann man nichts machen, Freund«, sagte eine gutmütige rauhe Stimme. »Es ist eine himmelschreiende Schande, das ist alles. Es ist die Welt, in der wir leben.« Er kehrte nach Hause zurück. Diesmal ging er zu Fuß, sah in den Ladenfenstern Bev Jones, das Haar von einer kleinen Flamme versengt, prophetisch, eine Botschaft, das Kinn herabhängend, den Mund formlos, wildblickende Augen. Im Hausflur vom Hogarth-Hochhaus lag noch immer der bewußtlose Junge und wartete noch immer auf einen Krankenwagen, der jetzt wahrscheinlich nicht mehr kommen würde. Bev stieg die Treppe hinauf. Es war nicht einfach, Bessie klarzumachen, was geschehen war, daß sie nun ohne Mutter war, daß ihre Mutter von unverantwortlichen Elementen zu Tode geröstet worden war. Daß diejenigen, deren Aufgabe es war, Feuer zu löschen, vor ein paar Wochen wegen höherer Löhne in den Streik getreten waren. Daß die dienstverpflichteten Armeeinheiten gemeutert hatten, eingeschüchtert oder aber aus der echten ideologischen Überzeugung, daß es rechtmäßig sei, die Arbeit zu verweigern. Aber Meuterei war ein altmodisches Wort, dessen Klang allen-
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falls Gedankenverbindungen mit alten Filmen über die Kriegsmarine früherer Zeiten auslöste. Es gehörte zu Worten wie Ehre und Pflicht. Daß Männer und Frauen zur Durchsetzung berechtigter Forderungen und aus grundsätzlichen Erwägungen die Arbeit verweigern konnten, war als ein Grundrecht allgemein anerkannt, und dieses Recht war (nach einigem sinnlosen Hin und Her über Ehre und Pflicht) von den Fabrikhallen und Büros endlich auf den Kasernenhof übergegangen. Einstweilen wollte er Bessie noch nichts sagen. Er hatte wahrhaftig genug zu überlegen, von seinem Leid nicht zu reden, und fühlte sich der Strapaze, in Bessies Gehirn nach einem Denkzentrum zu forschen, einfach nicht gewachsen. Bessie sah gerade einen alten Kriegsfilm über die Amerikaner an, wie sie gegen die Japaner kämpften. Sie hatte Getreideflocken aus einer Schachtel gegessen, in die sie ungeachtet des Durchleckens Milch gegossen und Zucker gestreut hatte. Soviel war dem Boden um sie her anzusehen. Es war dazu gekommen, weil er in seiner Eile vergessen hatte, die Küche wieder zuzusperren, wo man Bessie nicht trauen konnte. Er ging wortlos in die Küche und machte sich daran, eine warme Mahlzeit für sie zu bereiten. Jeder hatte mittags ein Recht auf eine warme Mahlzeit. Die Essenszeit war längst vorbei, aber das Recht blieb unberührt von den kraftlosen Argumenten der Uhr. Was ihn betraf, so wollte er heute nicht mehr an die Arbeit zurückkehren. Morgen würde es etwas anderes sein. Etwas ganz anderes. Er briet Würste, verarbeitete Trockenkartoffel zu einem Püree und machte Tee. »Bessie, Liebes«, sagte er, als er ihr den Teller ins Zimmer brachte. Armes, mutterloses Kind. Die Yankees heizten den Japsen tüchtig ein. Er setzte sich in den abgenutzten, auberginefarbenen Sessel, faltete die Hände und sah ihr beim Essen zu. Ohne zu sehen, was es war, schaufelte sie alles in sich hinein. Zuletzt stieß sie kräftig auf und kratzte sich die entblößten
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Schamhaare. Armes, mutterloses, unschuldiges Kind. Als mit triumphaler Marschmusik ENDE kam, schaltete er mit freundlicher Bestimmtheit das Gerät aus. Sie ließ einen Tierlaut der Empörung vernehmen und streckte die Hand aus, aber er nahm die Hand zärtlich in die seine und sagte: »Ich muß dir etwas sagen.« »Aber jetzt kommen Spiro und Spero.« »Spiro und Spero, wer immer sie sind, müssen warten. Ich muß dir sagen, daß deine Mutter tot ist. Sie verbrannte in einem Feuer im Krankenhaus. Verstehst du mich, Bessie? Deine liebe Mutter, meine liebe Frau. Wir werden sie nie wiedersehen.« Dann weinte er und schnupfte: »Tut mir leid, ich kann mir nicht helfen«, als er nach seinem Taschentuch suchte. Aber die Kumina-Bande hatte ihm auch das weggenommen. Seine schwimmenden Augen sahen Bessie, die ihn anstarrte und zu begreifen versuchte. Sie war bemüht, sich ein Leben ohne Mutter vorzustellen. Sie sagte: »Wer wird uns dann das Weihnachtsessen kochen?« Es war ein Anfang: sie faßte eine Zukunft ins Auge, in der es gewisse vertraute Annehmlichkeiten nicht mehr geben würde. »Du kochst nicht so gut wie Mama«, sagte sie. Dann begann sie zu heulen. Allmählich schien es ihr aufzugehen. »Arme Mama«, schluchzte sie. »Arme Bessie.« »Ich werde lernen, wir werden zusammen lernen. Jetzt müssen wir zwei zusehen, Bess, mein Mädchen.« Und er richtete einen Blick grimmigen Mitleids auf sie, ein Kind von dreizehn, das wie zwanzig aussah, und fette zwanzig, was das anging, überreif, um für das Vereinigte Königreich, oder Tucland*, wie Bill, die Symbolfigur des Werktätigen, es nannte, schwachsinnige Arbeiter auszutragen. Was ihre Fähigkeit anlangte, etwas anderes als die Nummern auf den Knöpfen der Fernsehbedie*
von T.U.C. = Trade Unions Congress, dem Dachverband der britischen Gewerkschaften (Anm. d. Übers.) 153
nung zu lernen, so gab er sich keinen Illusionen hin. Sie war ein Opfer schlechter Medizin, schlechter Luft, schlechter Nahrung, possenhafter Ausbildung und einer jämmerlichen Popkultur. Ein Gehirn, das eine Entwicklungsstufe von sieben Jahren erreicht hatte und dann zum Stillstand gekommen war. Vergangenes Jahr war ihr ein Intrauterinpessar eingesetzt worden, tief genug, daß sie mit den Fingern nicht darankam. Nun, das war nur vernünftig, dachte er, durchaus in Ordnung… Laß es ihnen nicht durchgehen. Wenn er das System herausfordern wollte, durfte er nicht erwarten, daß Bessie ihm eine nützliche Helferin sein würde. Nachdem sie die Aussicht auf eine gewisse zukünftige Leere halbwegs verstanden hatte, wandte Bessie sich wieder der Gegenwart zu, indem sie den Schluß von Spiro und Spero einschaltete. Bev seufzte und schüttelte den Kopf. Spiro und Spero waren zwei Trickfilm-Delphine, die Pidginenglisch sprachen: Du sagen er nicht kommen ich wissen er kommen ich wissen er kommen bald. Er wußte, daß der Schock bald einsetzen würde, also sorgte er für ein Polster. Im Küchenschrank war eine halbe Flasche australischer Weinbrand (vor ausländischen Nachahmungen wird gewarnt) für Notfälle. Er nahm sie heraus, setzte sich an den Küchentisch und nahm einen Schluck. Der Wasserhahn tropfte eintönig, wie das Leben. Der Kalender ihm gegenüber zeigte bronzefarbene nackte Mädchen im Schnee, die Münder aufgerissen in einem starren Lachen winterlicher Freude, daß man die Backenzahnfüllungen sehen konnte. DEZEMBER 1984. Ellen hatte den 10. Dezember als den Tag, an dem sie sich im Krankenhaus einfinden, und den 20. Dezember als den Tag der voraussichtlichen Entlassung eingekreist. Es war dabei um die Toyesche Krankheit gegangen, und sie hatte langwierige Tests über sich ergehen lassen müssen, um zu sehen, ob Dr. Zazibus Diagnose richtig gewesen war. Für den Fall, daß die
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Ergebnisse positiv ausfielen, war die Ausschneidung der Milz vorgesehen. Eine völlig sichere Operation, hatte der Chirurg Dr. Manning gesagt, doch seine Augen hatten die Worte Lügen gestraft. Danken Sie Ihrem guten Stern, junger Mann, daß es den Nationalen Gesundheitsdienst gibt. Aber Bev war in die öffentliche Leihbücherei gegangen und hatte nachgesehen, was es mit der Toyeschen Krankheit auf sich hatte. Ganz und gar nicht sicher. Er hielt die Tränen zurück und trank den Weinbrand. Ein Geschmack von verbranntem Zucker war die Vorsilbe zu dem großen brennenden Wort im Magen, und das Wort begann ein vage romantisches oder sentimentales Gedicht reinen Gefühls: es gibt einen Plan, eine Bedeutung, eine alles voraussehende Fügung. Er ließ die Tränen kommen und begann die Erleichterung zu spüren, die sie brachten. Ganz und gar nicht sicher. Und dann wußte er, daß es keinen Schock geben würde. Tatsächlich war nichts Unvorhergesehenes geschehen. Die Toyesche Krankheit. »…Entfernung der Milz kann zu einer zeitweiligen Rückbildung der Symptome führen, aber die Prognose ist in 85 Prozent aller Fälle negativ.« Er hatte erwartet, daß Ellen sterben würde, wenn auch nicht so brutal. Was ihre letzten Worte anging, die Konsequenzen, die er zu ziehen hatte – nun, eine Frage des Prinzips war nun mit scharfen Zähnen versehen worden. »Die letzten Worte meiner Frau, Brüder, muß ich der Bitte nicht nachkommen, die meine Frau im Sterben an mich gerichtet hat?« Aber das Prinzip selbst hatte schon vor fünf Jahren scharfe Zähne gehabt, wenn sie auch bald abgestumpft waren… Sein Onkel George und die Tante Rosa waren in den sechziger Jahren nach Australien ausgewandert. Sie waren in Adelaide, dieser ziemlich pedantischen und prüden Stadt, recht zufrieden gewesen, waren zur Kirche gegangen, hatten Austern gegessen, und George war als Maschinensetzer an der Linotype
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eine tüchtige Kraft. Fast zwanzig Jahre lang war es so gegangen, beide waren längst alteingesessene Australier und hatten dem England, das sie zurückgelassen, nie eine Träne nachgeweint. Und dann war Rosa 1978 krank geworden, die allerschlimmste Krankheit, eine Lähmung, die bedeutete, daß sie in eine eiserne Lunge gesteckt werden mußte, wie der große, ungefüge Atemtank genannt wurde. Eine eiserne Lunge als Teil der Wohnzimmereinrichtung im Haus an der Parkside Avenue. Dann traten die Elektriziträtsarbeiter unerwartet in den Streik. Es war nicht genug Zeit, sie und ihre eiserne Lunge zum Krankenhaus zu transportieren, wo es ein Notstromaggregat gab. Da der belebende Strom fehlte, mußte sie sterben. War sie ermordet worden, hatte George geschrien. Und dann – ach ja, es hatte alles in den Zeitungen gestanden. Er hatte Jack Rees, den Streikführer wegen Mordes angeklagt. Die Gewerkschaft selbst wies jede Schuld von sich. Es war ein mit der Gewerkschaftsführung nicht abgesprochener, wilder Streik gewesen. Ja, schrie sein Onkel, aber wer erfand die Waffe? Meine Flüche über das ganze Gewerkschaftssystem, in die tiefste Hölle mit dem Syndikalismus. Und da ich schon dabei bin, lassen Sie mich sagen, daß niemand das Recht hat, seine Arbeitskraft zurückzuziehen, unter keinen Umständen, denn nur durch seine Bereitwilligkeit zu arbeiten bestimmt der Mensch sich als Mensch. In diesem Zustand offensichtlicher Wahnhaftigkeit erschoß Onkel George den Generalsekretär der Elekfrizitätsarbeitergewerkschaft von Australien, Alfred Wigg, als dieser vor seinem Haus aus seinem Dienstwagen stieg. Jack Rees wurde freigesprochen. Onkel George verbrachte den Rest seiner verwirrten und bisweilen gewalttätigen Tage in einer von angenehmem Grün umgebenen Anstalt mit dem Namen PatrickWhite-Asyl. Und es gab noch etwas – eine Geschichte, die aus journalistischer Diskretion oder Einschüchterung oder Bestechung oder
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der vertraulichen Beschwörung irgendeiner Bestimmung über die Wahrung der öffentlichen Ordnung nie in die Zeitungen Großbritanniens oder Tuclands kam. In Minneapolis, Minnesota, USA (was, wie manche Leute – vielleicht im Scherz – behaupteten, für Unglückliches Syndikalisiertes Amerika steht) wurde eines schönen Januartages, als die Temperatur minus zwanzig Grad betrug, angedroht, die Stromversorgung der ganzen Stadt für unbestimmte Zeit zu unterbrechen, es sei denn, den Mitgliedern der Elektrizitätsarbeitergewerkschaft würden auf Anordnung des Präsidenten sofort sehr beträchtliche Lohnerhöhungen bewilligt. Fünfzehntausend Tote durch Unterkühlung, sehr schwierig zu vertuschen, waren die Folge der Ablehnung des Ultimatums. Und dann, wie nicht anders zu erwarten, bekamen die Arbeiter, was sie wollten. Darauf probierten andere Gewerkschaften die gleiche höllische Technik in anderen Bereichen lebensnotwendiger Versorgung aus – Gas, Wasser, Heizöl, Lebensmitteltransport. Die Nationalgarde, die dem Begriff Meuterei noch immer eine Bedeutung beilegte, war mobilisiert worden. Schlägereien mit Streikposten, Schüsse, schließlich Beschämung und die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung, nachdem der Sohn des großen Jim Sheldon brutal ermordet worden war. Bev hatte alles erfahren. Sein Vetter Bert lebte seit langem in Duluth, Minnesota. Er hatte Briefe geschrieben. Wenn Briefe nicht durchkamen, lag es nicht an der Zensur, sondern nur an Streiks der Postbediensteten. Zu der Zeit hatte es keinen solchen Streik gegeben, und die Briefe waren durchgekommen. Und so waren jene letzten Worte – »Laß es ihnen nicht durchgehen!« – in Wirklichkeit das Echo auf ein altes Lied. Bev seufzte über der fast leeren Flasche mit australischem Weinbrand, als er sein Bemühen voraussah, eine seit langem in ihm rumorende Unzufriedenheit in Aktion umzusetzen. Er wollte kein Märtyrer für eine Freiheit sein, an die sowieso nur
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noch wenige glaubten, wenn sie sie überhaupt verstanden. Aber ihm war, als kaufe er eine Fahrkarte für einen Zug, dessen Bestimmungsort er nicht kannte, dessen einziger Passagier er war. Er wußte nur, daß die Reise notwendig war.
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2 TUCLAND DAS PRÄCHTIGE Devlin blickte auf den Computerausdruck. »Bev?« sagte er. »Ist das wirklich dein Vorname? Keine Abkürzung für Beverley oder was?« »Es könnte für drei Namen stehen«, erwiderte Bev. »Beveridge, Bevin oder Bevan. Zu der Zeit, als ich geboren wurde, waren das große Namen. Im Sozialismus, meine ich. Mein Vater war ein großer Sozialist.« »Beveridge war ein Liberaler«, sagte Devlin. »Aber gut, die Sozialversicherung war ihrem Wesen nach eine radikale Idee.« »Eine radikale Idee, die von Bismarcks Deutschland übernommen wurde«, sagte Bev. Devlin blickte ihn stirnrunzelnd an und sagte: »Du redest wie ein gebildeter Mann«. Schon die Bezeichnung klang altmodisch, aber Devlin war über sechzig, und sein Vokabular hatte mit der Sprachentwicklung nicht immer Schritt gehalten. »Du redest nicht wie ein…« – er blickte wieder auf den Ausdruck – »… wie ein Schokoladenarbeiter. Und – ach ja, natürlich, da steht es. Du lehrtest Europäische Geschichte. An einer Gesamtschule. Aber hier steht nicht, warum du es aufgegeben hast.« »Ich gab den Schuldienst wegen der ministeriellen Weisung auf«, sagte Bev. »Sie schränkte die Stundenzahl und den Inhalt des Geschichtsunterrichts ziemlich drastisch ein. Ich wußte, daß die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung nicht das A und O der Geschichte war, nicht einmal ihr wichtigster Teil. Aber ich behielt meine Gedanken für mich. Ich erhob keinen öffentlichen Protest. Ich sagte bloß, daß ich mich verbessern wolle.« Devlin grinste. »Den Kindern die Mägen verderben, statt ihre
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Gehirne zu trainieren. Das würden die von der Arbeitsplatzbewertung dazu sagen.« »Ich habe mich verbessert«, sagte Bev. »Ich habe zwanzig Pfund die Woche mehr. Und nächstes Jahr werden es dreißig Pfund die Woche sein.« »Außer«, sagte Devlin, »daß du im neuen Jahr nicht mehr in Penns Schokoladenfabrik arbeiten wirst. Nicht, wenn du auf diesem, diesem Atavismus beharrst.« »Ich muß darauf beharren. Würdest du es nicht tun, wenn du die ganze verdammte Schurkerei hättest erleben müssen, die daraus geworden ist? Was als Selbstschutz angefangen hat, ist zu einem unmoralischen Machtblock geworden. Wir träumen und merken es nicht, und dann erwachen wir. Sie hat meine Frau umgebracht, die verfluchte, schmutzige Unmoral davon. Erwartest du, daß ich diese schleimige, von allen Selbstzweifeln unberührte Sündhaftigkeit noch länger ertrage? Ich sah mit eigenen Augen, wie meine Frau in verbrannte Knochen und verkohlte Haut verwandelt wurde. Und du willst, daß ich den unmoralischen Streik dieser verfluchten, dreckigen Feuerwehrleute unterstütze?« »Niemand will, daß du dergleichen tust«, sagte Devlin freundlich. Er schob eine Packung Zigaretten über den Tisch. Bev schüttelte den Kopf. »Ich muß es selbst aufgeben«, sagte Devlin, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an. »Wer, zum Teufel, kann es sich noch leisten?« Die Abbildung auf der Zigarettenpackung war eine anschauliche, wenn auch kleine Wiedergabe einer krebszerfressenen Lunge. Anordnung des Gesundheitsministeriums. Verbale Warnungen hatten niemals viel geholfen. »Die Feuerwehrleute gehen ihren eigenen Weg. Die Armee geht ihren eigenen Weg. Im Prinzip sind wir selbstverständlich für die Streikwaffe. Sie ist das einzige wirksame Kampfmittel der Arbeiter. Sei vernünftig und gib die Schuld am Tode deiner Frau nicht einem notwendigen Instrument des
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gewerkschaftlichen Prinzips. Gib sie dem verkommenen Schwein, das das Krankenhaus angezündet hat.« »Oh, das tue ich«, sagte Bev. »Aber indem ich es tue, greife ich das Prinzip des Bösen an. Denn wer immer die Täter waren, sie waren eine üble Bande mörderischer Teufel. Wären sie gefangen worden, hätte man sie dafür büßen lassen – nein, nicht büßen, das ist altmodisch, nicht wahr? Resozialisiert. Aber selbst wenn ich sie erwischen und umbringen könnte, und du weißt, wie ich sie umbringen würde…« »Du wirst darüber wegkommen«, sagte Devlin. »Selbst wenn ich sie brennen sehen könnte, schreien, wie meine Frau geschrien haben muß, würde ich mich in meinem Innersten unfähig fühlen, unbefriedigt, weil ich wüßte, daß Böses auf Böses antwortete, daß ich der Summe des Bösen etwas hinzugefügt hätte, und daß das Böse weitergehen würde – unausrottbar, unzerstörbar, als erstes und letztes.« »Das ist nicht unser Fach«, sagte Devlin. »Das ist Theologie, Kirchenzeug. Du bringst das recht gut, sehr wortgewandt. Natürlich, so etwas ist nützlich, wird es in gewisser Weise immer sein. In meinen frühen Tagen machte ich es genauso, bloß sagte ich Sachen wie ›Das Übel des Kapitalismus muß zerschlagen und liquidiert werden.‹ Gute Metaphern, theologische Sprache. Aber entschuldige, ich habe dich unterbrochen.« »Laß es mich so ausdrücken«, sagte Bev. »Ein Mann wird auf der Straße überfallen – beraubt, ausgezogen, verprügelt, sogar sexuell mißbraucht. Leute stehen herum und gaffen, aber niemand kommt ihm zu Hilfe. Findest du nicht, daß diese Untätigen, die ihm ihre Hilfe verweigern, genauso schlimm sind wie die Übeltäter?« »Nicht genauso schlimm«, sagte Devlin. »Sie tun nichts Schlechtes, sie tun gar nichts. Man beschuldigt Leute, weil sie etwas Schlimmes tun, aber nicht, weil sie nichts tun.« »Falsch«, sagte Bev. »Wahrscheinlich beschuldigt man sie
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noch mehr als die eigentlichen Übeltäter. Denn diese sind ein bleibender Teil der menschlichen Verhältnisse, sie beweisen, daß das Böse existiert und nicht durch Gesetze oder Reformen oder Strafen beseitigt werden kann. Aber die anderen haben die Pflicht, die Ausführung des Bösen zu verhindern. Erst durch diese Verpflichtung werden sie zu Menschenwesen. Vernachlässigen sie diese Pflicht, müssen sie zur Rechenschaft gezogen und bestraft werden.« »Es gibt keine Pflicht mehr«, sagte Devlin. »Du weißt das. Es gibt nur Rechte. Menschenrechtskommission – das ergibt einen Sinn. Menschenpflichtenkommission – verdammter Unsinn, nicht? Es war immer verdammter Unsinn, und du weißt das so gut wie ich.« »Pflicht gegenüber der Familie, Pflicht gegenüber dem Beruf, der Kunst oder dem Handwerk. Pflicht gegenüber dem Vaterland. Verdammter Unsinn. Ich verstehe.« »Die Pflicht, darauf zu sehen, daß unsere Rechte respektiert werden«, sagte Devlin. »Das gebe ich zu. Aber wenn du sagst, ›das Recht, darauf zu sehen, daß unsere Rechte et cetera‹, nun, es hört sich nicht so sehr viel anders an. Nein, deine Pflicht lasse ich nicht gelten.« »Also haben die Feuerwehrleute das Recht, untätig dabeizustehen«, sagte Bev hitzig, »wenn ein Krankenhaus niederbrennt. Dabeizustehen und zu sagen: ›Gebt uns unsere Rechte, das heißt soundsoviel Prozent mehr, und das wird nicht wieder vorkommen. Jedenfalls nicht bis zum nächsten Mal.‹ Ich sage, das ist ein schlimmeres Übel als die Niedertracht der Brandstifter.« »Nun ja«, sagte Devlin und drückte seine Kippe aus, »vielleicht interessiert es dich, zu erfahren, daß dieses Feuer in Brentford die ersten positiven Resultate erbracht hat. Die Vertreter der Feuerwehrleute setzen sich heute zu Beratungen mit dem Tarifausschuß zusammen. Gut möglich, daß der Streik
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morgen beendet wird. Denk darüber nach, bevor du anfängst, darüber zu toben, was du das Böse nennst. Nichts, was das Los des Arbeiters verbessert, kann böse sein. Denk darüber nach! Schreib es dir in das Vorsatzblatt deines Tagebuchs für 1985!« »Und du, schreib dir dies in dein Tagebuch«, versetzte Bev. »Schreib: DIE MENSCHEN SIND FREI. Ihr Leute habt vergessen, was Freiheit ist.« »Die Freiheit zu verhungern, die Freiheit, ausgebeutet zu werden«, sagte Devlin mit einer alten, mehr der Erinnerung angehörenden Bitterkeit. »Das sind Freiheiten, die – und ich bin sehr froh darüber – nur in den Geschichtsunterricht gehören, den du nicht geben wolltest. Du hast eine ziemlich sonderbare Gesinnung, mein Lieber«, sagte Devlin, und ein grollender Unterton kam in seine Stimme. »Du bist ein verdammter Reaktionär, Genösse. Du verlangst deine Art von Freiheit, und beim toten oder lebendigen oder nichtexistenten Jesus Christus, du sollst sie kriegen.« Er wedelte mit der offiziellen Mitteilung, die Bevs Vertrauensmann ihm gegeben hatte. »Die schmutzigen alten Zeiten, wo jeder mit uns machen konnte, was er wollte, sind vorbei, mein Junge«, sagte er, und sein irischer Akzent kam zum Vorschein. »Außer für dich und Reaktionäre wie dich. Du hast aufgehört, Geschichte zu lehren, und der Geschichte den Rücken gekehrt. Vielleicht magst du dich nicht daran erinnern, daß deine und meine Gewerkschaft noch vor fünfzig Jahren nicht existierte? Es kostete harte Kämpfe, um ihr zur Geburt zu verhelfen, und, bei Gott, sie wurde geboren, unter Schmerzen, aber auch im Triumph! Männer an den Maschinen, die Tafelschokolade und Schokoladenriegel und Kokosraspel und was noch alles produzieren, sind in einer schlechteren Verhandlungsposition als die Bergarbeiter und Eisenbahner und Stahlwerker. Warum? Wegen Reaktionären wie dir, mit deinen Werturteilen.« »Du weißt selbst, daß das Unsinn ist«, sagte Bev ruhig.
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»Du weißt verdammt gut, was ich meine«, rief Devlin erregt. »Eine archaische und im wesentlichen bourgeoise Wertskala machte es gefährlich, die Bergarbeiter zu lange streiken zu lassen, hätten sich doch die feinen Herrschaften bei fehlender Versorgung genauso die Ärsche abgefroren wie die kleinen Leute, aber was unwesentliche Dinge und Luxusgüter und dergleichen genannt wurde, konnte zur Hölle fahren, und die Süßwarenarbeiter gleich mit. Nun, damit ist es vorbei, mein Junge. Wenn wir streiken, streiken die Bäcker mit uns. Kein Verhandlungsangebot auf eine vernünftige Lohnforderung unserer Gewerkschaft, und die Leute bekommen kein Brot. Und diesmal können keine dummen Reaktionäre daherkommen und sagen, laß sie Kuchen essen, denn wenn du das eine nicht haben kannst, dann kannst du auch das andere nicht haben. Und die Zeit wird kommen, und zwar bald, vielleicht schon vor 1990, wo jeder Streik ein Generalstreik sein wird. Wenn ein Zahnbürstenarbeiter in den Streik treten kann, weil seine gerechte Forderung nach einem menschenwürdigen Lohn abgelehnt worden ist, und wenn er das in dem Vertrauen darauf tun kann, daß die Lichter ausgehen und die Leute frösteln und die Züge nicht mehr fahren und die Schulen geschlossen sein werden. Das ist das Ziel, worauf wir uns zubewegen, Bruder. Holistischer Syndikalismus, wie Pettigrew es mit seiner Liebe zu großen Worten nennt. Und du hast die Stirn und den Nerv und die Dummheit und reaktionäre Niedertracht, von der Freiheit zu reden, unter deren Herrschaft Zwölfjährige in der Nachtschicht arbeiten mußten.« Er schnaufte heftig und zündete sich mit ungeduldigen Bewegungen eine weitere Zigarette an. Bev blieb ruhig. »Ich verlange nur die Aufhebung des Gewerkschaftszwanges. Als freier Mensch verlange ich das Recht zu arbeiten, ohne zur Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft gezwungen zu sein. Ist das nicht vernünftig? Leute wie ich, die den Gewerkschaftszwang aus moralischen Prinzipien ableh-
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nen…« »Du weißt verdammt gut, daß das kein moralisches Prinzip ist. Dahinter steckt kein Denken und keine Überzeugung, sondern nur der Zorn, und ich mache dir keinen Vorwurf daraus, ich würde niemandem einen Vorwurf daraus machen. Was ich dir aber vorwerfe, ist, daß du den Zorn in etwas umwandelst, was du für einen Glauben hältst. Ich mache dir einen Vorschlag: warte bis nach Weihnachten. Betrink dich, stopf dich mit Truthahn voll, pflege deinen Katzenjammer – und dann komm zurück und streue Haselnußstückchen auf deine Schokoladenkrem oder was immer es ist…« »Mein Zorn«, sagte Bev, »wie du es richtig nennst, ist nichts als der emotionale Höhepunkt eines seit langem gewachsenen Glaubens, daß der Gewerkschaftszwang von Übel ist, daß es ungerecht ist, Menschen zu einem Dasein als bloße Zellen in einem riesigen fetten Körper zu zwingen, der das Träge mit dem Raubtierhaften vereint, daß ein Mensch das Recht zu arbeiten hat, wenn er arbeiten will, ohne nach der Pfeife des Betriebsobmanns tanzen zu müssen, und daß der Mensch unter gewissen Umständen die Pflicht zu arbeiten hat. Die Pflicht, ein Feuer zu löschen, wenn das sein Handwerk ist. Die Pflicht…« Er wollte sagen: Haselnüsse auf Schokoladenkrem zu streuen, sah aber noch rechtzeitig die Absurdität ein. Doch dann schien es ihm wieder nicht absurd. Angenommen, ein Kind war dem Tode nahe und wünschte sich nur eins: eine Schachtel von Penns gemischten Pralinen. Und alle streikten, und auf der ganzen Welt gab es keine Pralinenschachtel mehr. Bis der trotzige Arbeiter ungeachtet der Drohungen und Schläge zu seiner Maschine ging und… Nein, das war nichts. Prinzip, auf das Prinzip kam es an. Devlin stand auf und ging zu seinem Wasserkühler. Sein Büro war sehr nüchtern, ausgestattet mit dem nötigsten Billigmobiliar in Grundfarben, und es war sehr trocken und warm. An
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der Wand hing ein eingerahmtes Plakat – das Original von Bill, der Verkörperung des Werktätigen, nicht bloß der erste Abzug, sondern die Farbzeichnung selbst, angefertigt von einem Mann namens Tilson. Bill war ein ansehnlicher, energisch und intelligent aussehender Arbeiter mit scharfem Blick, einer Mütze, unter der lockiges Haar hervorquoll, einem blauen Overall und einem unbestimmten Werkzeug wie ein Schraubenschlüssel in der Hand. Als Devlin im Licht des Fensters stand und Wasser aus einem Papierbecher trank, sah Bev, daß Devlin durchaus für diesen Bill Modell gestanden haben mochte, als er vielleicht dreißig Jahre jünger gewesen war. Er fragte: »Bist das du?« Devlin warf ihm einen scharfen und, wie es schien, unheilvollen Blick zu. »Das? Der? Bill? Nicht ganz, nein. Mein Sohn.« In seinem Ton war etwas, das Bev erlaubte zu fragen: »Tot?« »Für mich, ja. Mit seiner verdammten Ballettanzerei und seiner geckenhaften Geziertheit.« »Homosexuell?« »Was weiß ich? Könnte gut sein. Die Typen, mit denen er Umgang hat, könnten gut aus der Ecke sein, der Teufel soll sie holen!« Devlin sah, daß er über sein unmittelbares Gesprächsthema mit diesem verdammten Renegaten hinausgegangen war, der nun ziemlich ekelhaft grinste und sagte: »Das muß zu einem schrecklichen Konflikt in dir geführt haben, Kollege Devlin – das Wissen, daß die geckenhaften Zierbengel genauso im Korsett ihrer Gewerkschaft stecken wie die Kesselschmiede und die Lastwagenfahrer. Männliche Modelle, meine ich, und Tänzer, und sogar die Homoprofis.« »Die Homo was?« »Die homosexuellen Prostituierten. Mindestraten und so weiter. Ich bin altmodisch genug, um ein gewisses ironisches Vergnügen zu verspüren, wenn ich höre, daß Bill der Werktätige
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dort wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben einen Schraubenschlüssel in der Hand hält. Welch eine Welt habt ihr gemacht.« »Ich glaube, das hat jetzt lange genug gedauert«, sagte Devlin. Er ging zurück an seinen Schreibtisch und nahm die Mitteilung auf, die Bevs Vertrauensmann abgeliefert hatte. »Du hast deine Mitgliedskarte vor allen Kollegen zerrissen. Du hast laut deine Unzufriedenheit mit dem System erklärt. Deine Kollegen waren tolerant, denn sie wußten, daß du nach den jüngsten Ereignissen nicht ganz bei Sinnen warst. Ich glaube auch nicht, daß in Anbetracht der Umstände disziplinarische Maßnahmen erforderlich sein werden…« »Was für disziplinarische Maßnahmen?« »Lies die Satzung! Paragraph fünfzehn Abschnitt d Unterabschnittzwölf. Eine Geldbuße von nicht weniger als dem Doppelten und nicht mehr als dem Fünffachen deines Jahresbeitrags. Wir lassen das auf sich beruhen. Das Zerreißen der Mitgliedskarte hat nichts zu sagen. Es ist wie in den alten christlichen Zeiten, als die Leute getauft wurden. Du konntest deinen Taufschein ruhig zerreißen, das machte dich nicht ungetauft. Du bist Gewerkschaftsmitglied, und damit hat es sich.« »Bis ich anfange, meine eigenen Wege zu gehen und nicht nach der Pfeife zu tanzen.« »Du bist Gewerkschaftsmitglied und du kannst es nicht ungeschehen machen. Das steht in den Akten, und die Akten sind wie die Gesetzestafeln des alten Moses. Aber…« Und er faßte Bev streng ins Auge, ein kahlköpfiger Mann mit einem müden fleischigen grauen Gesicht, humorvollen Augen trotz der Strenge des Ausdrucks, einem beweglichen Mund, der jetzt Luft zu kauen begann, oder einen winzigen Rückstand vom Frühstück, der sich in einem hohlen Zahn festgesetzt hatte und nun freigekommen war. Bill die Verkörperung des Werktätigen lächelte freundlich und ermutigend auf Bev herab.
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»Aber«, vervollständigte Bev, was tatsächlich schon bedeutungsvoll genug war, »wenn ich es nächstens unterlasse, an gewerkschaftlichen Aktionen teilzunehmen…« »Am Weihnachtsabend beginnt ein Streik der Mühlenarbeiter«, sagte Devlin. »Ich hoffe, du wirst diesen Unsinn bis dahin überwunden haben. Wenn nicht, kannst du sagen, daß dein Pulver damit verschossen ist.« »Du wirst es sehen«, sagte Bev und stand auf. »Du bist derjenige, der sehen wird, Kollege, ich hoffe nur, daß dir davon die Augen nicht übergehen werden.« Bev verließ das Büro des Generalsekretärs seiner Gewerkschaft, oder seiner ehemaligen Gewerkschaft, und nahm den Aufzug vom dreiundzwanzigsten Stock zur Eingangshalle, die immer noch das Aussehen vom alten Hilton-Hotel hatte, welches dieses Gebäude früher gewesen war. Es gab nicht eine Gewerkschaft im syndikalistischen Netzwerk des ganzen Landes, die hier nicht vertreten war, von den Kaminkehrern bis zu den Komponisten von elektronischer Filmmusik. Über dem Empfangsschalter hing ein großes Schild mit der Aufschrift THE TRADE UNIONS CONGRESS OF THE UNITED KINGDOM. Darunter war ein Siegel – eine vereinfachte Karte des Landes mit der einfachen Inschrift TUK = TUC. Dies war die Ursache, warum Großbritannien von einem scherzhaften Leitartikler der Times Tucland getauft worden war. Diese Namengebung war von den Gewerkschaftsführern oder ihren Textern dankbar aufgenommen worden und erschien sogar in der Hymne der Arbeiter: Die Muskeln zäh, der Schritt geschwind, Die Herzen fest im Sturmeswind, Im Freundschaftsbund vereint wir sind, Von der Wiege zur Bahr.
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Des Jenseits Himmel wir verschmähn; Hier soll aus Freude er erstehn, Festgefügt und nie vergehn Tucland immerdar. Unnötig zu sagen, daß nur wenige Arbeiter den Text auswendig wußten. Draußen setzte ein warmer Nieselregen ein. Bev blickte die turmhoch aufragende fleckige Fassade hinauf zu der Flagge, die oben gegen den Mast klatschte – ein silbernes Zahnrad auf blutrotem Hintergrund, da Hammer und Sichel nicht mehr die Internationale der Arbeiterbewegung verkörperten, sondern für den fortgeschrittenen Sozialismus standen, wie er sich im geheiligten Namen der Arbeiterklasse in vielen Ländern Europas etabliert und repressive Staatssysteme errichtet hatte, die den Syndikalismus ablehnten. Angurin Bevan – wahrscheinlich der erste, der als Bevs Namengeber in Frage kam, weil Bev ein Sohn von Wales war, ebenso wie Bevan es gewesen war – hatte einmal, wenn auch nicht in der Öffentlichkeit, weise Worte gesprochen: »Syndikalismus ist nicht Sozialismus«. Wo die Arbeiter ihre eigenen Arbeitgeber sind, gibt es niemanden, den man zur Wahrung der eigenen Interessen bekämpfen kann. In Tucland hielt sich die alte Trennung von Kapital und Arbeit weiterhin, und dabei würde es wahrscheinlich bleiben, ob der Kapitalist nun Privatunternehmer (eine rasch an Bedeutung verlierende Figur) oder der Staat war. Bev konnte nicht umhin zu lächeln, als er, den Kopf in den Nacken gelegt, zur flatternden Zahnradflagge aufblickte und sich erinnerte, daß das Eigentum an Produktionsmitteln mit der Philosophie der Gewerkschaften stets unvereinbar gewesen war, und daß der TUC dieses Gebäude von den Arabern gemietet hatte. Wo würde Tucland ohne die Araber sein? Aus den Ländern der islamischen Welt strömte (zu immer höheren Preisen) das Öl herein und hielt Tuclands Industrien in Gang. Und
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was man die islamische Welt nannte, umfaßte nicht nur die heißen Wüstenländer des Nahen Ostens, sondern auch den kalten Ozean, denn das Nordseeöl war für einen Staatskredit an die Araber verpfändet worden, als der Internationale Währungsfonds Großbritannien zum letzten Mal einen Kredit verweigert hatte. Als die Rückzahlung fällig geworden war und nicht hatte geleistet werden können, war die Pfandverschreibung für verfallen erklärt worden, und nun flatterten die Halbmondfahnen von den sturmumtosten Bohrinseln. Die Araber etablierten sich im Lande. Ihnen gehörten die renommierten Hotels, die Al-Dorchester, Al-Claridge, Al-Brown, verschiedene Al-Hiltons und Al-Idayinns mit alkoholfreien Getränken in den Bars und ohne Speck zum Frühstück. Ihnen gehörten Fabriken und Anlagen, von denen niemand wußte, daß sie in ihrem Besitz waren, einschließlich Destillerien und Brauereien. Und in der Great Smith Street sollte sich bald das Symbol ihrer wachsenden Macht erheben – die Masjid ul-Haram oder Große Moschee von London. Um die Bevölkerung daran zu erinnern, daß der Islam nicht etwa nur eine Religion für die Reichen sei, strömten zahlreiche hart arbeitende Pakistanis und ostafrikanische Moslems ungehindert ins Land, denn die Anpassung der Einwanderungsgesetze (das zu viele einengende Quotenklauseln gehabt hatte) zugunsten der islamischen Völker war eine notwendige politische Konsequenz der finanziellen Unterstützung durch die Araber. Doch von den Arbeitern, die ihr Christentum vergessen hatte, wurde erwartet, daß sie sangen: »Des Jenseits Himmel wir verschmähn«. Sie sollten, dachte Bev in einem hellsichtigen Augenblick, sich mehr als sie es taten vor einem Volk fürchten, das an einen Himmel im Jenseits glaubte.
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3 DU WARST IM FERNSEHEN Wie gute Moslems, schlugen die britischen Mühlenarbeiter, die erzeugten, was die Bevölkerung immer noch Mehl nannte – einen feinen weißen Staub mit Karzinogenen, aber wenig Nährwert -, bei Sonnenuntergang zu, nicht erst am nächsten Morgen. Als der Heiligabend anbrach, gab es kein Brot, denn die Bäckerarbeiter hatten sich dem Streik angeschlossen. Auch die Arbeiter der Süßwarenindustrie traten in den Streik. Hausfrauen, die noch nicht in einer Gewerkschaft zusammengeschlossen waren, wurden zornig, als sie entdeckten, daß es weder Brot noch Kuchen zu kaufen gab, und rotteten sich auf den Hauptstraßen zusammen. Um drei Uhr am Nachmittag reagierte die eilig zusammengetretene Lohnkommission auf die Situation, indem sie eine wohlwollende Prüfung der Lohnforderungen nach Verdreifachung der Nachtzuschläge versprach, und der Streik wurde eine halbe Stunde vor dem Beginn der Weihnachtsferien für reguläre Tagschichtarbeiter beendet, so daß alle noch Zeit hatten, auf die bevorstehenden Festtage miteinander anzustoßen. Aber damit gab es immer noch kein Brot für Weihnachten. Bev, Schultern zurück, Brust raus, Beine wie Wasser, fand sich an diesem Tag wie gewöhnlich um acht Uhr früh vor dem Werkstor von Penns Schokoladenfabrik ein. Streikposten erwarteten ihn. Auch Polizisten waren zur Stelle und kauten auf ihren Kinnriemen. Sie nahmen, wenn auch widerwillig, einen Mann fest, der einen kleinen Stein nach Bev geworfen und ihn verfehlt hatte. »Ihr Scheißbullen, auf wessen Seite steht ihr?« wurde gerufen. »Ihr kennt die Gesetze so gut wie ich«, sagte der Sergeant
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unglücklich. Ein Übertragungswagen von Thames Television fuhr vor. Bev wartete. Seine Aktion wäre umsonst, wenn sie nicht die Welt zum Zeugen hätte. Das war die neue Art. Die Dinge sind erst richtig Wirklichkeit, wenn sie auf dem Bildschirm zu sehen sind. Jeff Fairclough stieg aus, die Hände tief im modischen Burberry vergraben, das rote Haar im Wind wehend. Ein Mann mit einer Handkamera und ein Aufnahmetechniker mit einem Stellavox-Gerät folgten. Fairclough und Bev nickten einander zu. Er hatte Fairclough am Vorabend angerufen. Fairclough war früher ein Kollege von ihm gewesen, ein Englischlehrer, den die Heraufkunft der neuen, an der Umgangssprache des Volkes orientierten Rechtschreibreform aus dem Beruf gegrault hatte. (»Der Sprachgebrauch ist das einzige Gesetz. You was ist die Form, die von 85% der britischen Bevölkerung gebraucht wird. Darum ist you was korrekt. Der Pedant mag sich darüber Gedanken machen, daß dies schon im achtzehnten Jahrhundert die von Pedanten wie Jonathan Swift verwendete reguläre Form war.«) Bev und das Aufnahmeteam marschierten durch das offene Werkstor. Die Streikposten veranstalteten mit geschüttelten Fäusten und Flüchen ein großartiges Schauspiel für die Kamera, aber der Tontechniker nahm die Szene nicht auf. Die einschlägigen Verwünschungen, Pfiffe und Obszönitäten konnten sie aus dem Archiv nehmen. Bev ging voraus zum Verwaltungsgebäude. Der junge Mr. Penn, sehr nervös, kam heraus, um sie zu empfangen. Der Aufnahmetechniker setzte seine Kopfhörer auf, schaltete ein und gab Fairclough ein Zeichen mit erhobenem Daumen, und Fairclough sagte: »Aufnahme.« »Guten Morgen, Mr. Penn. Ich bin wie gewöhnlich zur Arbeit erschienen.« »Sie können nicht arbeiten, wissen Sie, wir haben geschlossen. Das Werk wird bestreikt.«
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»Ich streike nicht, Mr. Penn. Ich beanspruche meine Rechte als freier Mann. Ich bin hier, um zu arbeiten.« »Aber das geht nicht. Sie wissen recht gut, daß das nicht geht. Seien Sie vernünftig.« »Verweigern Sie mir mein Grundrecht als Arbeiter?« »Stellen Sie sich nicht so dumm! Sie wissen recht gut, wie die Lage ist.« »Sind Sie ein Quäker, Mr. Penn – ein Mitglied der Gesellschaft der Freunde?« »Ich sehe nicht, was, zum Kuckuck, das mit den Dingen hier zu tun haben sollte. Nun verschwinden Sie!« »Sie entlassen mich, Mr. Penn? Mit welcher Begründung? Bin ich überflüssig? Unfähig? Verweigere ich die Arbeit?« »Ich entlasse Sie nicht. Ich gebe Ihnen den Tag frei.« »Sie leugnen einen der Grundsätze der QuäkerSchokoladenfabrikanten – das Recht eines Beschäftigten auf Arbeit, seine völlige Immunität gegen jeden äußeren Zwang, der ihn davon abhalten will?« »Sie kennen die Situation so gut wie ich. Sie arbeiten in einem Betrieb, wo Gewerkschaftszwang herrscht. Sie können nichts daran ändern, und ich auch nicht. Wollen Sie nicht wenigstens so tun als ob?« »Mit Vergnügen. Machen Sie auf und lassen Sie mich an meine Maschine!« Mr. Penn war in großer Bedrängnis. »Aber der Strom ist abgeschaltet, Mann. Lieber Himmel, nun gehen Sie schon!« »Finden Sie das gerecht?« sagte Bev. »Finden Sie, daß Sie in dem Sinne gerecht sind, wie Ihre religiösen Vorväter gerecht waren?« »Jetzt fängt er wieder davon an. Darum geht es nicht, das sagte ich Ihnen schon. Wir leben in der modernen Zeit.« »Sie und ich, Mr. Penn, sind einen Arbeitsvertrag eingegangen. Als Arbeitgeber und Beschäftigter. Haben Sie die Absicht,
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diesen Vertrag zu brechen?« Mr. Penn seufzte grimmig. »Kommen Sie mit!« Und er führte ihn (der Kameramann rückwärtsgehend vorneweg) zur Fabrikhalle. Kurz darauf stand Bev an seiner kalten Maschine zwischen anderen kalten Maschinen und wurde von Jeff Fairclough interviewt. »Mr. Jones, dies also ist Ihre Methode, gegen das Prinzip des Gewerkschafszwanges und des Streiks im allgemeinen öffentliche Anklage zu erheben. Finden Sie nicht, daß Sie ziemlich altmodisch sind?« »Ist Gerechtigkeit altmodisch? Sind Mitgefühl und Pflichtbewußtsein altmodisch? Wenn die moderne Einstellung den Feuertod unschuldiger Menschen billigt, während Feuerwehrleute untätig dabeistehen und auf ihr Streikrecht pochen, dann bin ich froh, altmodisch zu sein.« »Ist Ihnen klar, Mr. Jones, daß Sie Ihre Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis herausfordern? Daß Sie darüber hinaus so gut wie keine Möglichkeit haben werden, einen anderen Arbeitsplatz zu finden? Daß der Gewerkschaftszwang eine Tatsache des Lebens ist und sich auf jede Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer erstreckt?« »Der einzelne Arbeiter hat das Recht zu entscheiden, ob er seine Arbeitskraft zur Verfügung stellt oder nicht. Meinen Fluch über den Syndikalismus!« »Sie haben sich damit selbst zur Dauerarbeitslosigkeit verurteilt.« »So sei es!« Die Kamera hörte auf zu schnurren. Der Tontechniker schaltete aus und packte zusammen. »War ich einigermaßen?« fragte Bev. »Sie waren gut«, antwortete Fairclough grinsend. »Aber Gott helfe Ihnen!« Sie verließen das Werksgelände. Die Streikposten, zurück-
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gehalten von unglücklichen Polizisten, höhnten und drohten. Bev wurde vom Aufnahmewagen der Thames Television mitgenommen und vor seiner Bank abgesetzt, wo er 150 Pfund abhob und feststellte, daß ihm noch ein Guthaben von 11.50 Pfund verblieb. Er machte sich auf, die Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Die arme mutterlose Bessie sollte nicht um ihr Recht gebracht werden, sich festtagsmäßig vollzustopfen. Sie wußte, was es mit Weihnachten auf sich hatte. Ihre Klassenlehrerin, Mrs. Abdulbakar, hatte ihnen die ganze Geschichte erzählt. Nabi Isa, der letzte der großen Propheten vor Mohammed (gesegnet sei sein Name), den Jesus zu nennen die Verfasser der Heiligen Schrift berechtigt waren, war geboren worden, um der Welt die Güte und Gerechtigkeit Allahs des Allerhöchsten zu predigen. Zum Angedenken mußte man sich mit guten Dingen vollstopfen, bis einem übel wurde. Bev war in der Küche und trank zur Feier des Heiligabends Whisky, als er Bessie rufen hörte: »Papa, Papa, da ist ein Mann, der wie du aussieht.« Er ging ins Wohnzimmer und sah sich selbst in den Fernsehnachrichten, aber er hörte sich nicht sprechen. Zweifellos das Werk der Gewerkschaft der Rundfunk- und Fernsehtechniker, die für den Fall, daß es der Häresie erlaubt würde, sich der Welt mitzuteilen, vermutlich mit Streik gedroht hatte. Für ungefähr zehn Sekunden sah er sich selbst mit Mr. Penn und an seiner stillgelegten Maschine, Teil eines kurzen Abschnittes mit Regionalnachrichten, und er hörte den geschwätzigen Sprecher etwas sagen wie: »Hier ist ein Mann, dem wir frohe Weihnachten wünschen können, aber kein glückliches neues Jahr«, und dann blendeten sie zu den Klängen von Chopins Trauermarsch auf Wa-wa-Posaunen zu einer mit Kreide gekritzelten Wandzeichnung über, die einen Mann am Galgen zeigte. Und damit sind wir am Ende der Lokalnachrichten. Bessie sagte: »Der ist wie du gewesen, Papa.« »Muß er wohl, Mädchen«, sagte Bev. »Das war nämlich ich.«
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Bessie sah ihren Vater mit einer Ehrfurcht an, die sie nie zuvor gezeigt hatte: mein Papa im Fernsehen. »Warum warst du denn im Fernsehen?« Bev seufzte und überlegte, ob er ihr alles erzählen sollte. Nein, laß sie warten. Laß sie ihr Weihnachten haben, das arme Kind. Also saßen sie an diesem Abend zusammen vor dem Fernseher, kauten Datteln und knackten Walnüsse, und Bessies Blick haftete am Bildschirm, während der seine unruhig umherwanderte, wenn er es nicht vorzog, unglücklich die Augen zu schließen, und sie sahen White Christmas mit dem heiligen Bing und Rosemary Clooney, und als die Arabische Stunde begann, schalteten sie um auf eine neue Musical-Version von Charles Dickens’ A Christmas Carol, in welcher Ebenezer Scrooge nicht zu dem Modell eines väterlichen Arbeitgebers reformiert wurde, sondern, verängstigt von seinen gespenstischen Besuchern, eine Vision hatte, wie die Macht der Arbeiterklasse sein würde, und den zweiten Weihnachtstag feierte, indem er von der neuen Gewerkschaft der Klerikalen Arbeiter unter ihrem Führer Bob Cratchit eingeschüchtert wurde. Dann servierte Bev auf dem Boden vor dem Fernseher das Abendessen, während das elektrische Feuer im Kamin glühte, ein hübsches, großes kaltes Heiligabend-Essen aus Schinken und Mixed Pickles, gefolgt von süßem Sherryauflauf, den er aus trockener alter Sandtorte, Vanillesoße und Sherry gemacht hatte, und dazu tranken sie australischen Sherry (Vor ausländischen Nachahmungen wird gewarnt) und eine große Kanne mit gesüßtem Tee. Ganz spät gab es noch einen Film mit dem Titel Die Glocken von St. Mary, wieder mit dem heiligen Bing, diesmal als katholischer Priester mit Strohhut, und Ingrid Bergman als Nonne, aber er war so zusammengeschnitten, daß er nicht viel Sinn ergab, und dann ging Bessie in ihr schmuddeliges Bett (Bev hatte die Wäsche vernachlässigt) und weckte ihren Vater um vier Uhr früh mit Geschrei über einen Mann
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mit Krallen und drei Köpfen. In ihrer Angst hatte sie ins Bett genäßt und Bev ließ sie mit einigem Unbehagen in seins, das er mit der armen Ellen geteilt hatte. Das arme Mädchen war nackt, da es das bereits beschmutzte Nachthemd naßgemacht hatte, und dies vermehrte Bevs Unbehagen. Als sie den Alptraum endlich aus dem Kopf hatte (außer dem dreiköpfigen Mann gab es darin noch andere Einzelheiten wie scheußliche weiße Schlangen und Hände, die sich aus schmutzigen Wasserpfützen reckten), wurde sie ruhig und sagte: »Du warst im Fernsehen, Papa.« Dann näherte sie sich ihm in einer ungenierten Verliebtheit, die er abwehren mußte. Das arme Kind, es wurde mehr und mehr zu einem Problem. Er beschloß sie abzukühlen, indem er ihr die Situation erklärte. Es konnte ihr das Weihnachtsfest nicht verderben, denn bis morgen früh würde sie alles vergessen haben. Er sagte: »Nun hör gut zu, Liebes!« »Ja, ich höre schon zu. Tu deine Hand da hin!« »Nein, das werde ich nicht tun. Paß auf, Kind! Schlechte Zeiten stehen uns bevor. Ich werde arbeitslos sein. Wir werden überhaupt kein Geld mehr einnehmen, nicht mal von der Versicherung. Wahrscheinlich werden sie uns aus dieser Wohnung werfen, weil ich die Miete nicht werde zahlen können. Die schlimmen Zeiten kommen, weil es meine Dummheit ist, die mich arbeitslos macht – das ist jedenfalls, was sie dir sagen werden…« »Wer wird es mir sagen? Tu deine Hand da hin!« »Deine Lehrer und die anderen Kinder, deren Eltern ihnen alles darüber erzählen werden. Aber du mußt verstehen, warum ich es tue, Bessie. Niemand muß sich kreuzigen lassen. Jesus hätte es vermeiden können. Aber es gibt Dinge, denen man sich nicht unterwerfen kann, und ich kann mich nicht dem unterwerfen, was die Gewerkschaften im Sinn haben. Verstehst
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du?« »Was ist kreuzi oder was? Warum willst du die Hand nicht dahin tun?« »Weil du meine Tochter bist, und es gibt gewisse Dinge, die zwischen Vater und Tochter nicht erlaubt sind. Ich möchte, daß du verstehst, was ich dir sage, Bessie. Deine arme Mutter sagte, als sie im Sterben lag: ›Laß es ihnen nicht durchgehen‹, und obwohl es dir verrückt erscheinen muß, das ist der Grund, warum ich mich gegen die ganze Macht der Gewerkschaften stelle. Ich kann sie nicht schlagen, aber wenigstens kann ich ein Märtyrer für die Sache der Freiheit sein, und eines Tages, vielleicht erst, wenn ich längst tot bin, werden die Leute sich an meinen Namen erinnern und vielleicht eine Art von Wahlspruch daraus machen und die Ungerechtigkeitbekämpfen, für die die Gewerkschaften stehen. Verstehst du mich, Bessie?« »Nein. Und ich finde dich gemein. Warum willst du die Hand nicht…« »Nun, vielleicht wirst du dies verstehen, Bessie: Du wirst in ein Heim müssen.« »Was?« »Ein Haus, wo der Staat sich um dich kümmern wird, um dich und andere Mädchen, mit denen du zusammenwohnst, bis du alt genug bist, um Arbeit zu finden.« Darüber dachte sie mindestens eine Minute lang nach, dann fragte sie: »Gibt es da Fernsehen?« »Natürlich wird es dort Fernsehen geben. Kein Heim ohne Fernsehen, nicht mal ein staatliches Erziehungsheim für Mädchen. Du wirst schon zu deinem Fernsehen kommen.« »Vielleicht haben sie sogar einen von diesen neuen breiten.« »Sollte mich nicht wundern.« »Auf denen können sie die großen breiten Bilder zeigen, wie dieser eine Film, den wir sahen, den mit den Ungeheuern.« »Du meinst Raub am Himmel?«
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»Hieß er so? Du und ich und Mama sahen ihn.« Ein Ton, der beinahe sieghaft hätte genannt werden können, kam in ihre Stimme. »Und jetzt bin ich hier, und nicht Mama. Tu deine Hand da hin! Du mußt!« Bev wälzte sich unglücklich auf die andere Seite und tat, als schliefe er ein. Bessie hämmerte ihm eine Weile mit den Fäusten auf dem Rücken herum und schien sich dann mit Masturbation zu begnügen. Je eher sie in das Heim käme, desto besser. Je eher… Von der Moschee in Chiswick drang der erste waktu des Tages herüber. Kein Gott außer Allah. Am nächsten Tag briet Bev den gefüllten Truthahn und kochte den Blumenkohl (dieser hatte 3.10 Pfund gekostet) und die Kartoffeln und wärmte den Weihnachtspudding aus der Dose, während Bessie ihre Aufmerksamkeit auf das Fernsehen und ihre Geschenke verteilte – eine Transistorpuppe mit langen, aufreizenden Beinen und frechem Blick, einen StereoRadioempfänger mit Kopfhörern, das Fernsehjahrbuch für 1985. Nach dem Essen, von dem Bessie einräumte, daß es genauso gut gewesen sei wie Mamas Zubereitung, hörten sie die Ansprache des Königs im Fernsehen. König Charles III. ein ziemlich untersetzter Mann Ende der dreißig, mit abstehenden Ohren, beinahe gleichaltrig mit Bev, sprach von dieser glücklichen und geheiligten Zeit und Gott segne euch alle, und am Ende winkte er lächelnd mit gekrümmtem Zeigefinger zur Abseite, und Ihre Majestät die Königin (nicht zu verwechseln mit Elisabeth II. der abgedankten Königin und jetzigen Königinsmutter) kam ins Bild, eine bemerkenswert hübsche Frau mit vielen Perlen, die auch lächelte. Der König legte ihr den Arm um die Schultern, und beide winkten den Fernsehteilnehmern zu, als ob diese mit einem Zug davonführen. Dann erklang »God Save the King«. Am Abend, als sie ihren kalten Truthahn und Schinken und aufgebratene Kartoffeln und Blumenkohl aßen, dazu moussie-
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renden Apfelwein tranken und im Fernsehen Holiday Inn sahen, wieder mit dem heiligen Bing (den Bessie für eine obligatorische Weihnachtserscheinung hielt), fiel der Strom aus. Der Film sauste mit Lichtgeschwindigkeit zu einem Horizont, wo er zu einem stecknadelkopfgroßen Lichtpunkt wurde und dann verschwand, das elektrische Kaminfeuer glühte trüber und dunkler und ließ dann gereizte Knistertöne vernehmen. Sie hatten keine Kerzen, sie saßen wirklich im Dunkeln. Bessie heulte und winselte in echter Angst. »Vestehst du jetzt?« knurrte ihr Vater. »Siehst du jetzt, wogegen ich kämpfe?« Sie heulte, daß sie es zu sehen glaube, aber das arme mutterlose Kind war unfähig zu verallgemeinern. Die Medizin muß voranschreiten, Mann!
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4 AUS Am 27. Dezember ging Bev wieder zur Arbeit, und sofort gab die Dampfpfeife das Signal zur Arbeitseinstellung. Die Werksleitung hielt sich an den Vertrag mit der Gewerkschaft und entließ Bev. Er ging zum Arbeitsamt, wo er darauf bestand, den Direktor zu sprechen, nicht die schwatzenden jungen Sachbearbeiterinnen mit nachweihnachtlichen dunklen Ringen unter den Augen. Er informierte den Direktor über seine Lage, und der Direktor erklärte ihm brüsk, daß er beim Arbeitsamt nicht registriert werden könne, da er nicht bereit sei, die fundamentale Voraussetzung für eine Beschäftigung in irgendeinem der eingetragenen Berufe zu erfüllen, worunter sämtliche Beschäftigungsverhältnisse zu verstehen seien. Nunmehr auch formell arbeitslos und unvermittelbar, beantragte Bev Arbeitslosenunterstützung nach den Bestimmungen des Gesetzes über die Volksversicherung. Er bekam die Auskunft, daß er keinen Anspruch auf Unterstützung habe, da er eine Arbeitsaufnahme nach den Beschäftigungsbedingungen der gesetzlichen Verordnung über die Zwangsmitgliedschaft in den Gewerkschaften von 1979 mutwillig verweigere. Bev sagte: »Ich habe Beiträge zur Arbeitslosenversicherung abgeführt. Jede Woche, seit ich mit zwanzig Jahren zu arbeiten begann.« »Warum haben Sie so spät angefangen?« fragte die boshaft aussehende, fette, blauhaarige Frau hinter dem Gitter und klopfte mit dem Bleistift gereizt auf den kleinen Schaltertisch. »Ich besuchte die Universität. Ich habe einen akademischen Grad erworben.« »Die vom Lohn einbehaltenen Zahlungen an die Volksversicherung, der die Arbeitslosenversicherung angeschlossen ist,
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berechtigen Sie nicht automatisch zum Bezug einer Unterstützung. Bestimmte Bedingungen müssen erfüllt werden, und Sie sind dazu nicht bereit.« »Was soll ich dann tun? Soll ich verhungern?« »Erfüllen Sie die Bedingungen.« Bev ging in eine Wirtschaft, trank ein kleines Bier und aß ein kaltes Würstchen mit kostenlosem Senf. Er rief den für seinen Wahlkreis zuständigen Parlamentsabgeordneten an, oder vielmehr seine Sekretärin, und erreichte eine Verabredung für den Nachmittag. Das Parlament tagte nicht; die Weihnachtsunterbrechung dauerte noch an. Mr. Prothero würde Mr. Jones ab drei Uhr in seiner Sprechstunde empfangen. J. R. Prothero war ein eleganter, geschmeidiger Mann frühen mittleren Alters, wie für ein Wochenende auf dem Land in Tweed gekleidet und nach einem Rasierwasser duftend, daß aggressiv städtisch war. Er rauchte eine Pfeife, die er nur unter Schwierigkeiten in Gang hielt; der Aschenbecher vor ihm war ein Massengrab abgebrannter Zündhölzer. Er hörte sich Bevs Geschichte an und sagte: »Was soll ich nach Ihrer Erwartung für Sie tun? Das Gesetz ändern?« »Gesetze werden geändert. Es ist ein langwieriges Geschäft, ich weiß. Das Unterhaus, so habe ich gelernt, ist der Ort, wo ungerechte Gesetze abgelehnt und gerechte Gesetze eingebracht werden.« »Es muß lange her sein, daß Sie das gelernt haben.« Er hatte seine Pfeife jetzt angezündet und saugte zwei oder drei Male daran. Dann ging sie wieder aus. »Verflixt und zugenäht.« »Warum geben Sie es nicht auf?« fragte Bev. »Was soll ich aufgeben?« fragte Mr. Prothero scharf mit jäh erwachtem, verteidigungsbereitem Argwohn. »Das Rauchen. Es lohnt sich nicht, bei drei Pfund fünfzig für
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die Unze, und Sie haben offensichtlich keinen Genuß dabei.« Mr. Prothero entspannte sich. »Ich dachte, Sie meinten -Sie wissen schon.« »Nun«, sagte Bev, »Sie müssen sich oft genug die Frage vorgelegt haben, wozu das Parlament gut ist. Ich gebe zu, daß ich ohne Hoffnung zu Ihnen gekommen bin. Wie ein Dummkopf, nehme ich an, der in der Vergangenheit lebt, als die Abgeordneten sich um ihre Wähler kümmerten. Aber ich muß eine bittere Befriedigung aus der Hoffnungslosigkeit von alledem saugen. Ich muß so tun, als glaube ich noch an die Existenz demokratischer Freiheit. Es ist wie der Versuch, an die Treue der Ehefrau zu glauben, wenn man sie mit dem Milchmann auf dem Kaminvorleger kopulieren sieht. Bis der Tod uns scheidet. Regierung für das Volk. Einfältig, nicht wahr? Nostalgie.« Er sah, daß Mr. Protheros Erfolglosigkeit beim Pfeifenanzünden in gewisser Weise Absicht war. Er riß ein Streichholz nach dem anderen an, und sein fruchtloses Bemühen gab ihm die Gelegenheit, das Beantworten peinlicher Fragen hinauszuschieben oder, wie jetzt, auch das geringste Entgegenkommen zu vermeiden. Endlich aber legte er die noch immer kalte Pfeife aus der Hand und sagte: »Gegen die Geschichte können Sie nicht ankämpfen.« »Ach, interessant. Und wer macht Geschichte?« »Bewegungen. Trends. Begeisterungen. Prozesse. Nicht wer – was. Was in Großbritannien geschehen ist, ist nicht durch eine blutige und verschwenderische Revolution zustandegekommen. Wir sind unseren demokratischen Weg gegangen und haben im Prozeß der Veränderungen keine gewalttätigen Zeichen des Wandels gesehen. Und dann wachen wir eines Morgens auf und sagen: Die Herrschaft des Proletariats ist Wirklichkeit geworden. Was in Ländern, wo schlimme Revolutionen in dieser Richtung stattfanden, noch immer nicht geschehen ist, ist hier ohne Schwierigkeiten und Konflikte
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vonstatten gegangen. Ich weiß nicht, was Karl Marx sagen würde, wenn er wiederkehrte, aber…« »Marx würde sagen, daß die angestrebten Verhältnisse nicht erreicht, die Produktionsmittel nicht in den Händen der Arbeiter, die kapitalistischen Strukturen nicht zerstört seien.« »Sie werden zerstört«, sagte Mr. Prothero. »Der Prozeß ist im Gange. Es gibt kaum noch ein Großunternehmen im Lande, das noch nicht in die Hände des Staates übergegangen ist. Der Staat ist der große Arbeitgeber.« »Genau. Und dem Arbeitgeber steht der Arbeitnehmer gegenüber. Der Staat ist der schmutzige, verabscheuungswürdige Kapitalist, und die Gewerkschaften bekämpfen ihn, als trüge er einen Zylinder. Und immer gewinnen sie, das ist das Dumme. Die Regierung ist eine bloße Maschine zum Druck von Papiergeld. Sehen Sie sich die Inflationsrate an. Und gibt es im Parlament eine einzige Stimme, die gegen den bevorstehenden Ruin des Landes erhoben wird? Es ist höchste Zeit, daß einige von Ihnen ihre Abgeordnetendiäten riskieren und sich für Freiheit und Anstand und – ja, für altmodischen gesunden Menschenverstand einsetzen.« Mr. Prothero nahm seinen alten Feind vom Tisch und versuchte wieder, ihn in Brand zu setzen. Der Friedhof ausgegangener Zündhölzer erhob sich zu einem Grabhügel. Er gab verbittert auf und sagte: »Sicherlich ist Ihnen bekannt, daß es Einpeitscher gibt. Und den Fraktionszwang. Wir stimmen einfach ab oder enthalten uns der Stimme. Unsere Wahlbezirke sind nicht mehr regional bestimmt. Unsere Wählerschaft ist ein Querschnitt des ganzen syndikalistischen Systems. Es nützt nichts, sich darüber zu beklagen. Das ist der historische Prozeß, dem niemand sich entgegenstellen kann. Es ist nicht wie in den Tagen so bedeutender Parlamentarier und politischer Persönlichkeiten wie Fox und Burke und Wilkes. Es gibt nur zwei Kollektive.«
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»Es könnte genausogut eins sein. Die Idee von Opposition ist eine Farce. Sozialisten und Konservative – nichts als Namen mit einer nostalgischen historischen Bedeutung. Welchen Unterschied gibt es heute zwischen Ihren Indeologien? Wer immer die Regierungsgeschäfte leitet, die organisierten Arbeiter können ihn zur Unfähigkeit verurteilen. Tu, was wir sagen, oder wir streiken!« Seine Stimme wurde tief und rauh. »Dann gibt es einen oder zwei Tage lang einen symbolischen Widerstand im Namen der Inflationsbekämpfung oder der Aufrechterhaltung unserer internationalen Konkurrenzfähigkeit. Anschließend wird mehr Geld gedruckt, das durch nichts gedeckt ist. Symbolischer Widerstand, um zu zeigen, daß die Regierung wirklich ihres Amtes waltet. Außer daß es kein symbolischer Widerstand für diejenigen ist, die an Unterkühlung sterben, oder, Gott sei uns gnädig, an Überhitzung.« »Ich bedaure das, was geschehen ist«, sagte Mr. Prothero mitleidslos. »Ich kann Ihre Bitterkeit verstehen. Die Feuerwehrleute kehren morgen an die Arbeit zurück, wenn das ein Trost ist.« »Unglücklicherweise habe ich nicht noch eine Frau, damit sie sie vor dem Verbrennungstode bewahren können. Aber lassen wir das, ich muß es vergessen. Ich bin zu Ihnen gekommen, um zu bitten – zu verlangen, besser gesagt -, daß Sie etwas für mich tun. Einen wahrscheinlich für immer Arbeitslosen, ohne Anspruch auf staatliche Hilfe, weil er dem Diktat seines persönlichen Gewissens gefolgt ist und sich geweigert hat, dem kollektiven Willen nachzugeben.« »Sie wissen verdammt gut, daß ich nichts für Sie tun kann«, sagte Mr. Prothero, der grämlich seine Pfeife umklammerte. »Sie stemmen sich gegen den Gang der Geschichte. Ich habe mehr gesunden Menschenverstand, als daß ich versuchen würde, es Ihnen nachzutun. Genauer gesagt, es ist mir verwehrt, auch nur der Form halber für Sie einzutreten, denn Sie stehen
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außerhalb des Gesetzes. Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft ist eine Grundbedingung der Bürgerrechte. Sie sind nicht mehr vertreten.« »Dann gehöre ich also zu den alten Damen und den Verrückten und den Kriminellen?« »Es gibt eine Gewerkschaft älterer Mitbürger, in die alle Arbeitnehmer mit Erreichen des Rentenalters übernommen werden, wie Sie recht gut wissen. Was die Verrückten und die Kriminellen angeht… ja, ich nehme an, daß diese Begriffe anwendbar sind. Sie sind auf sich selbst angewiesen, Bruder.« Es war nicht klar, ob er unter dem Druck sozialistischer Gewohnheit »Bruder« sagte, oder mit der geringschätzigen Ironie, mit der das Wort bisweilen in alten amerikanischen Filmen gebraucht wurde. Jedenfalls machte es Bev seinen Zustand von Bruderlosigkeit hinreichend deutlich. »Ich habe alles das natürlich erwartet«, sagte Bev. »In gewisser Weise fordere ich meinen eigenen Ruin heraus. Nennen Sie mich einen Zeugen, was auf griechisch martyr ist. Aber ich mußte so tun als ob – vorgeben, daß eine Maschine noch arbeitet, obwohl sie nur ein unbeachteter Gegenstand in einem Museum ist. Ich hoffe, meine Situation wird Ihnen schlechte Träume verursachen, Mr. Prothero. Rutschen Sie mir den Bukkel hinunter. Und sehen Sie zu, daß Sie diese verdammte dumme Pfeife loswerden.« Darauf ging er. Er kehrte nach Haus zurück, wo Bessie, die noch Ferien hatte, die Reste des kalten Truthahns mit den Fingern aß und im Fernsehen Red, Rod und Rid anschaute. Er setzte sich müde nieder und überlegte, ob es etwas gebe, was er verkaufen könnte, um den unerbittlich näherrückenden Tag der gerichtlichen Vertreibung aufzuschieben. Es gab nichts außer Ellens Kleidern und einigen alten Koffern. Das Mobilar gehörte dem Vermieter, einem gesichtslosen Kollektiv mit Computern, das keinen Appel an solche menschlichen Schwächen wie Mitleid duldete. Der Räumungs-
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bescheid würde in einer Woche oder so kommen und dann würde auch die Wohnungspolizei nicht mehr lange auf sich warten lassen. Er war nicht einmal Eigentümer des Fernsehapparates; der war von Visionem Ltd. gemietet. Das Monatsende, das mit dem Jahresende, zusammenfiel, rückte heran. Tag der Wiederinbesitznahme. Er sagte: »Bessie, ich glaube, die Zeit ist gekommen. Pack deine Sachen zusammen.« »Wozu? Gleich kommt Disch und Dasch.« »Meinetwegen. Nach Disch und Dasch, wer sie auch sein mögen. Es ist Zeit, daß wir gehen, du weißt schon, wohin.« »Wohin?« Ihr Blick hatte den Bildschirm nicht verlassen. Bev ging in die Küche und trank den Rest aus der Whiskyflasche. Gab es hier etwas, das er verkaufen könnte? Er öffnete eine Schublade: alles Besteck gehörte zur Wohnungseinrichtung. Die bittere Wahrheit war, daß er die Zwangsräumung nicht abwarten konnte, weil ihm das Geld fehlte, um Bessie zu ernähren. Er mußte sie im Heim unterbringen. Moment, was war das? Ein Springmesser, ein ziemlich gutes, scharf und solide, mit einer Klinge, die auf den Knopfdruck blitzschnell heraussprang. Er hatte es in die Schublade getan, um es von Bessie fernzuhalten. Aber wo hatte er es her? Ach ja – von zwei kleinen Jungen unten auf der Straße, die ein fünfjähriges Mädchen bedroht hatten. Warum? Aus keinem besonderen Grund, außer um ihr Angst zu machen. Er hatte die Jungen – keiner der beiden war älter als sechs oder sieben gewesen – geohrfeigt und das Messer an sich genommen. Wenn sein Parlamentsabgeordneter ihn mehr oder weniger den kriminellen Elementen zurechnete, konnte er sich geradesogut wie ein Krimineller bewaffnen. Er steckte das Springmesser in die Hosentasche. Dann ging er ins Wohnzimmer, um Bessie von der Sendung fortzuschleppen, die auf Disch und Dasch folgte. Bessie jammerte nicht; es waren bloß Nachrichten. »Wir müssen schnell machen«, sagte sie. »Nachher kommt Sex Boy.« Da-
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heim war überall, solange es einen Fernseher gab.
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5 KULTUR UND ANARCHIE Das neue Jahr kam mit unfreundlichem Wetter. Bessie war geborgen in einem Mädchenheim in Islington, von wo sie täglich in einem Virginibus, wie ihr Vater ihn ironisch nannte, nachdem er einige ihrer Mitschülerinnen gesehen hatte, zur Schule gefahren wurde. Nach dem Unterricht wurde sie zurücktransportiert zu Tee und Fernsehen. Bev selbst schlief, wo er konnte – in Übernachtungsasylen der Heilsarmee, in Bahnhöfen und einmal in der Westminster-Abtei. Sein weniges Geld- 7.50 Pfund in Noten und Münzen – ging bald auf die Neige. Die Münzen waren Decker zu zehn Pence, Nachkömmlinge des alten Florin, der in viktorianischer Zeit im Hinblick auf eine später vernünftigerweise aufgegebene Dezimalisierung der Währung eingeführt” worden war – zehn auf einen Sovereign. Die Dezimalisierung der 90er Jahre, die Großbritannien mit dem Rest der Europäischen Gemeinschaft in Reih und Glied zwingen sollte, hatte hundert neue Pence gebracht (mit schändlicher Geläufigkeit P genannt), doch hatten diese mit fortschreitender Inflation bald ihre Bedeutung verloren. Zehn Decker auf ein Pfund, und keine feinere Teilung. Bev sah voraus, daß das Tucland-Pfund bald wie die italienische Lira sein würde, nur theoretisch teilbar. Für einen Decker konnte er eine kleine Schachtel Zündhölzer kaufen, wenn er wollte, obwohl er den Sinn nicht einsah. Tabak, der Tröster der Einsamen und Müßiggänger, war jenseits seiner Möglichkeiten. Eine Korinthensemmel oder ein Sandwich kostete mindestens 100 Pfund. Die Heilsarmee gab ihm unter der Voraussetzung, daß er zuvor darüber betete, eine Schüssel dünnen, armseligen Eintopf. Er kam ziemlich herunter, wurde schmutzig und bärtig. Er hatte sich vorgenommen, einen großen Teil seiner Zeit in den Lese-
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räumen öffentlicher Bibliotheken zu verbringen, aber es gab heutzutage nicht viele öffentliche Büchereien, und diejenigen, die es noch gab, waren voll alter schnarchender Männer. »Die Arbeiter brauchen keine Büchereien«, sagte ein Kumirva-Junge. »Sie brauchen Wubs, « »Klubs? Kloppe brauchen die Bastarde«, knurrte ein anderer. Eine kleine Bande von Jugendlichen hatte Bev mit der deutlichen Absicht angehalten, ihn zusammenzuschlagen und zu berauben. Aber Bev verspürte keine Furcht, und die Jungen mußten es gefühlt haben. Er lehnte an einem halb heruntergerissenen Plakat, das Bill, die Verkörperung des Werktätigen, zeigte, und hatte die rechte Hand in der Tasche, wo sie das Springmesser umklammerte. Er lächelte und sagte: »Sunt lachrimae rerum, et mentem mortalia tangunt.« Daraufhin umringten sie ihn, musterten und beschnupperten ihn. »Kannst du auch Griechisch, Mann?« »Me phunai ton hapanta nika logon. Sophokles«, sagte Bev. »Aus Ödipus auf Kolonos.« »Und es bedeutet?« »Es ist das Beste, nicht geboren zu sein.« Ein paar der Jungen atmeten tief aus, als hätten sie die Luft angehalten. Der Kumina-Anführer, schwarz, mit arischem Profil, zog eine Packung Savuke Finns hervor und sagte: »Willst du einen Krebsspargel?« »Danke, aber ich mußte es aufgeben.« »Du arbeitslos? Ärger mit der Gewerkschaft? Gegen den Staat?« »Ja, ja, ja.« Die Bande bestand aus sieben von diesen Kumina-Jungen, und nicht alle von ihnen waren Schwarze. Der Anführer sagte: »Ah.« Denn auf der anderen Seite der Great Smith Street in Westminster, wo die Fundamente der neuen Moschee in Rauh-
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reif gehüllt lagen, ging ein unkluger Mann allein und zielbewußt seiner Wege, ein Mann, der wußte, wohin er wollte. »Ali und Tod«, sagte der Anführer. Die zwei Genannten gingen hinüber, brachten den Mann fachmännisch zu Fall, traten ihn in die linke Seite und filzten ihn, als er hilflos am Boden lag. Sie kamen mit fünfunddreißig Pfundnoten zurück. »In Ordnung«, sagte der Anführer. »Du kommst mit, Tod. Die anderen um elf bei Soapy, okay?« »Okay, Tuss.« Und so brachten Tuss und Tod, ein dünner, schwächlich aussehender Bursche von gelblicher Farbe, der vor Kälte von einem Bein aufs andere hüpfte, Bev zur Arbeitslosenkantine abseits von der Westminster-Brücke. Hier fütterten sie ihn mit Schinkensemmeln, Würstchen, Makkaroni und Tomatensuppe. Die Frau hinter der Theke sagte, sie müßten ihre Arbeitslosenausweise vorzeigen, bevor sie zu den niedrigen, staatlich subventionierten Preisen essen könnten, aber die Halbwüchsigen nahmen eine drohende Haltung ein, und es blieb bei den Worten. Als Bev das Essen hinunterschlang, sagte Tuss: »Hast du schon mal von Mizusako gehört?« »Japaner? Erfinder einer neuen Methode des Violinspiels?« »Das ist gut, Mann. Aber du liegst ein paar Buchstaben daneben. Violenz kommt eher hin. Und Methode ist richtig, ja.« Tod sagte ernsthaft: »Das Dumme, sagte er, ist die Trennung der Kultur von der Moral. Weil Kultur von Gesellschaften entwickelt ist, und das bringt sie dazu, soziale Werte zu predigen. Ich meine, er will damit sagen, daß Bücher nicht Gemeinheit predigen. Sie predigen, daß man gut sein soll.« »Bücher sollten eigentlich überhaupt nichts predigen«, sagte Bev kauend. »Wissen und Schönheit – die sind außerhalb der Ethik. Wer ist dieser Mizusako?«
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»Er sitzt im Knast, irgendwo in den Staaten«, sagte Tuss, der eine sehr aromatische Zigarette rauchte. »Er zog von einer Universität zur anderen und predigte Uneigent… Uneigentnütz… Scheiße…« »Uneigennützigkeit?« »Ein Mundvoll, woran man sich verschlucken kann. Aber das ist es, ja. Freies Lernen, freie Aktion. Er wollte eine UU gründen.« »Eine was 7« »Eine Untergrunduniversität. Die Kosten sollten durch Bankraub und dergleichen aufgebracht werden, was Gewalt bedeutet. Nutzlose Sachen sollen gelehrt werden, die anderswo abgeschafft worden sind. Latein, Griechisch, Geschichte. Die Schulbildung, die wir kriegen, ist doch beschissen, oder?« »Richtig.« »Beschissen, weil sie Labour ist. Beschissen, weil sie alles einebnet. Kluge Jungen sind nicht erwünscht. Gewisse Dinge gibt es einfach nicht, weil es heißt, sie könnten den Menschen in der modernen Arbeitswelt nicht nützen. Daraus folgt doch, daß die Dinge, die sie in den Schulen nicht zulassen wollen, die einzigen sind, die zu wissen sich lohnt. Verstehst du?« »Darin steckt eine Art von Logik.« »Wir gehen zur Schule, bis wir sechzehn sind. Das ist gesetzlich vorgeschrieben. Okay, wir gehen hin, aber wir hören uns den Scheiß nicht an, den sie Sozialkunde und Umgangsenglisch nennen. Wir sitzen hinten und lesen unter der Bank Latein.« »Wer lehrt euch Latein?« »Es gibt diese Lehrer, die gegen den Staat sind. Du auch einer?« »Geschichte. Sehr nutzlos.« »Na ja, da gibt es diese Leute, die sie aus den Schulen geworfen haben, weil sie den Scheiß nicht lehren wollten, den sie
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lehren sollten, nicht? Manche von denen treiben sich herum wie du. Wir stecken ihnen gelegentlich Moos zu, und sie geben uns dafür Unterricht. Richtigen Unterricht – nicht den Scheiß, den sie in den staatlichen Schulen verzapfen.« »Wollt ihr jetzt was?« »Ja, eins«, sagte Tod. »Wie sind wir in diese Schweinerei hineingekommen? « Bev holte tief Luft, bekam Makkaronistückchen in die Luftröhre und hustete. »Die Werktätigen sagen nicht, daß es eine Schweinerei ist. Sagen eure Eltern, daß es eine ist?« »Die sagen nichts«, antwortete Tuss. »Die sagen nie was. Sie konsumieren. Aber es muß eine Schweinerei sein, weil es so beschissen langweilig ist.« »Das kann ich verstehen.« Bev konnte nicht umhin, über die Offenheit der Feststellung zu lächeln. »Laßt mich das kurz erklären. Seit es Geschichte gibt, hat es Besitzende und Habenichtse gegeben. In der Politik entwickelten sich zwei Lager mit ihren jeweiligen Parteien: das eine, um dafür zu sorgen, daß die Besitzenden auch weiterhin besitzen und sogar mehr bekommen sollten, das andere, um die Habenichtse in Besitzende zu verwandeln. Nicht reich, nicht arm, nur eben genug für alle. Einebnung, Gleichmacherei, die gerechte Gesellschaft. Sozialismus, Wir haben jetzt einen sozialistischen Staat. Mit einigen Unterbrechungen haben wir ihn seit 1945. Wer waren die Habenichtse? Die Arbeiter, das Proletariat. Sie wurden von den Besitzenden, oder Kapitalisten, unterdrückt. Die Arbeiter aber organisierten sich in Körperschaften, die den Kapitalisten eigene Machtmittel entgegensetzen konnten. Die Gewerkschaften. Nun, die Kapitalisten versuchten ihre Machtposition zu erhalten, indem sie unorganisierte Arbeitnehmer beschäftigten. Die Zeit kam, als diese Praxis für rechtswidrig erklärt wurde. Damit bekamen die Gewerkschaften die Oberhand. Den bis dahin Ausgebeuteten geht es gut. Was ist dagegen einzuwen-
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den?« »Es muß etwas faul sein«, sagte Tuss, »wenn das Leben so beschissen langweilig ist.« »Ich will dir sagen, was faul ist«, erwiderte Bev. »Früher gab es in England die Unabhängige Labour Party, die alte ILP. Dann kam die neue Labour Party, die die alte aushöhlte und zerstörte. Die neue Labour Party begann als der politische Arm des Dachverbandes der britischen Gewerkschaften. Ein Teil der Gewerkschaftsbeiträge wurde zur Unterstützung der Partei aufgewendet – sehr vernünftig. Nun, das Ziel des Sozialismus ist die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Die Abschaffung des Privateigentums daran, soweit dies möglich ist. Statt zuzulassen, daß die riesigen Profite aus dem Betrieb von Bergwerken, Eisenbahnen und Stahlwerken allesamt in die Taschen reicher Aktionäre fließen, werden sie an den Staat abgeführt, der auf diese Weise Sozialprogramme verwirklichen, den Arbeitern mehr Geld geben und Mittel für Entwicklungen und Verbesserungen bereitstellen kann. Das einzige Problem dabei ist, daß verstaatlichte Industrien so gut wie nie Gewinn abwerfen. Warum nicht? Weil die Konzernleitungen verbürokratisieren und nicht mehr unter Erfolgszwang stehen. Früher mußten Fabrikdirektoren mit der Entlassung rechnen, wenn sie keine Gewinne vorweisen konnten.« »Wir wissen das alles«, sagte Tuss ungeduldig. »Bürokraten – und niemand wird gefeuert, und alle machen sich ein schönes Leben.« »Nun komme ich zum Großen Wiederspruch«, sagte Bev. »In einem sozialistischen Staat braucht man, genaugenommen, keine Gewerkschaften mehr. Warum nicht? Weil die Arbeiter offiziell an der Macht sind, und gegen wen haben sie sich zu verteidigen? Der osteuropäische Sozialismus hat nur Staatsgewerkschaften, die eine Verbindungsfunktion von Staatsapparat und Arbeiterschaft haben, aber keine wahre Vertretung der
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Arbeiter sind. Aber der britische Syndikalismus, nachdem er einmal in Gang gekommen ist, muß weiterleben. Er braucht seinen Gegner noch. Natürlich gibt es nach wie vor Privatunternehmen, aber der Staat ist der Hauptarbeitgeber. Die alte Dichotomie von Arbeitgeber und Arbeitnehmer besteht fort. Die Arbeiter müssen ihre eigene politische Exekutive nicht als einen Aspekt ihrer eigenen Macht sehen, sondern als etwas, dem sie sich entgegenstellen müssen. Das tun sie, und die Opposition muß nachgeben, weil es keine wahre Opposition ist. Daher werden alle Lohnforderungen bewilligt, und die Inflation blüht.« Beide Jungen schauten mißmutig und unzufrieden drein. »Das erklärt nichts«, sagte Tod. »Es erklärt nicht den Scheiß, den wir in der Schule vorgesetzt kriegen. Es erklärt auch nicht, warum wir hier sitzen.« »Also gut«, sagte Bev. »Der Kampf der Arbeiter im neunzehnten Jahrhundert war nicht nur ein Kampf um wirtschaftliches Überleben unter Bedingungen schlimmster Ausbeutung – er hatte auch eine kulturelle Seite. Warum sollte die Bourgeoisie das Monopol des Geschmacks und der Schönheit haben? Leute wie Ruskin und William Morris wollten die Arbeiter aufklären. Der Marxismus betont, daß Kultur und Geschichte nur Teile eines Überbaus sind, der auf ökonomischen Grundlagen beruht und von diesen bestimmt wird. Nun, unter dieser Voraussetzung schienen hübsche Tapeten und kostenlose Leseräume nicht so wichtig. Ausgewählter Verbrauch, die Bemühungen von Arbeiterbildungsvereinen um die Schaffung einer spezifischen Arbeiterkultur – alles das verschwand in dem Maße, wie die wirtschaftliche Lage des Proletariats sich verbesserte. Konsumieren lautete jetzt die Devise – aber was? Was immer die leichteste und rascheste Befriedigung versprach. Verwässerung des Geschmacks. Die Hersteller sind stets mit irgendeiner verwässerten Parodie einer echt individuellen
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Schöpfung zur Stelle. Kaufen soll Befriedigung verschaffen. Du kaufst ein Buch, das du nicht verstehst, und du wirst ärgerlich. Du solltest es verstehen, schließlich hast du dafür bezahlt, nicht wahr? Die Dinge müssen zu einfachen, leichten Quellen der Befriedigung gemacht werden, und das bedeutet Nivellierung nach unten. Jeder Arbeiter mit Geld hat ein Anrecht auf das Beste, was dieses Geld kaufen kann, also muß das Beste neu definiert werden als das, was um den Preis der geringsten Anstrengung Befriedigung verschafft. Jedermann hat dieselben kulturellen und ausbildungsmäßigen Anrechte, also beginnt die Nivellierung. Warum sollte jemand klüger sein als jemand anders? Das ist Ungleichheit. Es gibt keine Fortschrittler des neunzehnten Jahrhunderts mehr, die sich bemühen, den Arbeitern die Schönheiten von Homers Versen nahezubringen. Wie ihr wißt, gab es in der Blütezeit der Arbeiterbildungsvereine Arbeiter, die tatsächlich Griechisch lernten, und andere alte Sprachen. Das wurde Selbstausbildung genannt. Aber es bedeutet auch, daß manche sich weiterbilden, und andere nicht. Ungeheuerliche Ungleichheit. Daher euer lausiger Lehrplan in der Schule. Daher die Langeweile. Napoleon mag ein Ungeheuer gewesen sein, aber er war wenigstens nicht langweilig. Was können große Männer wie Julius Cäsar und Jesus Christus für den Arbeiter tun?« »Wir sind nicht in Jobs«, sagte Tuss bitter, »und wir werden es nie sein. Wir sind keine Schafe, wir folgen nicht der Glocke des Leittiers. Wir haben ein Leben voll Gewalt und Verbrechen vor uns. Kultur und Anarchie. Ich wünschte wirklich, ich könnte die beiden zur Übereinstimmung bringen. Vergil lesen und dann irgendeinen Kerl zerreißen. Was mir nicht gefällt, das ist… das ist… wie heißt das richtige Wort?« »Unvereinbarkeit«, sagte Tod. »Die könnt ihr nicht vermeiden«, sagte Bev unbehaglich, »wenn ihr Menschen seid. Wenn ihr gegen den Staat der arbei-
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tenden Bevölkerung seid, dann seid ihr dem Verbrechen anheimgefallen. Das hat mir mein Parlamentsabgeordneter erklärt.« »Verschiedene Arten von Verbrechen«, sorgte sich Tuss. »Zum Beispiel ein Raub im Stil Robin Hoods, wie du es heute sahst. Der acte gratuit.« »Wer hat euch vom acte gratuit erzählt?« »Ein Kerl namens Hartwell«, sagte Tuss. »Er redete irgendwo mit uns, ich weiß nicht mehr, wo es war. Hatte eine große Schwäche für den Gin. Erzählte uns über Camus – einen Algerienfranzosen, einen Fußballer, vielleicht hast du von ihm gehört. Dieser Kerl bringt einen anderen um, und dann weiß er erst, daß er ein Mensch ist. Er hat etwas getan, wofür es keinen Grund gibt, und er sieht, daß es das ist, was ihn frei macht. Nur Menschen können den acte gratuit ausführen. Alles andere, und das heißt, das ganze riesenhafte Universum und alle Sterne, alles muß Gesetzen folgen. Aber die Menschen müssen zeigen, daß sie frei sind, indem sie einander zusammenschlagen und kaltmachen.« »Was wir tun, ist nicht gratuit«, sagte Tod. »Kann es nicht sein. Wenn wir gegen den Staat sind, dann müssen wir richtig gegen ihn sein. Das heißt, gegen die Gesetze verstoßen, weil sie staatlich sind. Latein und Griechisch zum Beispiel sind gegen den Staat. So gehen Gewalt und Shakespeare und Platon zusammen. Sie müssen zusammengehen. Und Literatur lehrt Vergeltung. Als ich den Don Quixote las, ging ich herum und legte mich mit jedem Kerl an, der nicht dünn und groß und ein bißchen wie ein Träumer war. Auch die kleinen Dicken ließ ich in Ruhe.« »Was war noch dieses große griechische Wort, das du gestern sagtest?« sagte Tuss zu Tod. »Symbiose?« »Das ist es. Wie würden die Christniks ohne uns zurecht-
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kommen?« Bev schwindelte es. Auf einmal stürmten all diese Dinge auf ihn ein. »Kannst du das erklären?« fragte er. »Diese Kinder«, sagte Tuss ein wenig gönnerhaft, »die das mit den UC oder Untergrundchristen angefangen haben. In dem Teil der District Line, der abgesperrt ist. Da veranstalten sie, was sie ein Liebesmahl nennen, richtig mit Plüsch und allem, Jungen und Mädchen, aber das Festmahl ist nur Mkate und ein paar Tropfen Vino. Manchmal organisieren wir ihn für sie. Sie sagen, das Brot und der Wein seien wirklich Jesus. Dann gehen sie los, um zu sehen, wo es Ärger gibt.« »Christliche Gewalt?« sagte Bev, der mittlerweile bereit war, alles zu glauben. »Nein, nein. Sie gehen los, weil sie einen auf den Kürbis haben wollen. Dann praktizieren sie das ›Liebet eure Feinde‹. Dafür brauchen sie natürlich solche wie uns. Das Dumme ist, man lernt sich kennen und freundet sich an, langt nicht hart genug hin. Nächstes Mal sollen sie sich ihren Vino selber holen«, sagte er mit jäher Bösartigkeit. »Die einzigen Dinge, auf die es ankommt«, sagte Bev, dessen Unbehagen noch nicht wieder gewichen war, »sind subversiv. Kunst ist subversiv. Philosophie auch. Der Staat tötet Sokrates.« »Ja, ich weiß«, sagte Tuss stirnrunzelnd. »Kriton, wir sind Aeskulap einen Hahn schuldige« »O Kriton«, sekundierte Bev, »to Asklipio opheilmen alektruona.« »Noch mal«, sagte Tuss mit plötzlicher Heftigkeit und packte Bev bei den Aufschlägen seines abgetragenen Wintermantels. »Mensch, das sind die echten Worte, das ist wirklich der arme Kerl, der da spricht.« Bev, der noch immer einen Füllfederhalter besaß, schrieb die Worte in lateinischer Umschrift auf Tuss’
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Zigarettenpackung. Tuss verschlang die Worte mit seinen Blikken, dann sagte er: »Jedesmal, wenn ich die Worte auf Englisch lese, läuft mir ein Schauer über den Rücken. Von nun an wird er mir nicht mehr nur über den Rücken laufen, sondern von den Haarwurzeln bis in die Zehenspitzen. Deswegen mußte ich es diesem Griechen besorgen, der das stinkende Restaurant in Camberwell hatte. Ich erfuhr nämlich, daß der Scheißkerl sich Sokrates nannte. Eine Verhöhnung, sagte ich und nagelte ihn richtig zusammen.« Bev erschauerte innerlich, als sich das Bild des mißbrauchten und blutig geschlagenen Irwin-Jungen in sein Bewußtsein drängte. Er hatte gelitten und war womöglich gestorben, obwohl sein Name mit keiner Gestalt der Literatur zu tun hatte. Oder vielleicht hatte er es gewollt, weil er ein extremer Christnik war? Wer konnte wissen, was in den dunklen Herzen der Menschen vorging? »Habt ihr keine Angst, erwischt zu werden?« fragte er. »Ins Jugendgefängnis gesteckt zu werden?« »Nein.« Tuss schüttelte viele Male langsam den Kopf. »Keine Angst. Das ist der höchste Test, zu sehen, ob du wie allein in deinem Schädel leben kannst. Das ist ein Grund dafür, daß man ihn mit Vorräten versieht: um zu sehen, ob er sich selbst ernähren kann. Das ist echte Freiheit, allein in einer Zelle zu sein und das ganze Gehirn für sich zu haben, um darin wie in einem Land herumzureisen. Aber niemand wird erwischt. Die Nguruwes gehen uns aus dem Weg.« »Das Wort kenne ich nicht. Polizei?« »Schwein auf Kisuaheli. Die Chanzirim – das ist arabisch und noch schlimmer – haben nicht gern Blut an den Uniformen. O Kriton«, begann er von der Zigarettenpackung abzulesen, »to Asklipio…« »Darum zahle die Schuld. Vernachlässige es nicht«, sagte Bev. »So geht es weiter.«
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»Gib es mir in Griechisch, wie es richtig ist. Ich will die Vergangenheit vor mir haben, als ob sie wirklich da wäre.« »Tut mir leid, ich kinn mich an den Rest nicht erinnern«, sagte Bev. »Aber du hast recht, was die Vergangenheit angeht. Wir sind der Gegenwart oder der Zukunft nichts schuldig. Erhalte die Vergangenheit am Leben, zahle die Schuld. Jemand muß es tun.«
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6 FREIE BRITEN Am folgenden Abend kam Bev durchgefroren zu einer stillgelegten Fabrik abseits vom Hammersmith Broadway. Im Fabrikhof, der mit Gittern und Toren gegen die Straße abgeschlossen war, saßen zerlumpte Männer um ein Feuer. Der Duft gebratenen Fleisches ließ Bev das Wasser im Mund zusammenlaufen. Das Tor stand offen. »Kein Platz, kein Platz!« sagte ein wie ein Gelehrter aussehender Mann in einem fleckigen alten Überzieher, wollenen karierten Hosen und schlammbeschmierten Gummistiefeln. Aber sein Blick war freundlich. Bev setzte sich unaufgefordert auf ein altes Ölfaß. »Alles Staatsfeinde?« fragte er. Sie musterten ihn argwöhnisch. »Ihr Beruf?« sagte der gelehrt aussehende Mann. Bev sagte es ihm, und der andere nickte. »Ich heiße Reynolds«, sagte er. »Ich bin neunundfünfzig. Wäre ich bereit gewesen, noch ein paar Monate den Mund zu halten, so hätte ich auf die normale Art und Weise in den Ruhestand treten und meine Pension beziehen können. Gesamtschule Willingden. Hauptlehrer für Literatur, Sir.« »Hör zu, Prof. das haben wir alles schon gehört«, winselte ein glotzäugiger Mann mit einem völlig runden Kopf, der geschoren und rasiert war, als hätte er sich einer Behandlung gegen die Ringelflechte unterzogen. »Du kannst es nicht oft genug hören, Wilfred. Außerdem spreche ich zu Mr. Jones hier. Die vorgeschriebenen Bücher für die staatliche Abschlußprüfung waren die folgenden. Dichtung: die Liedtexte eines Jungen namens Jed Foote, Mitglied einer Gesangsgruppe, die sich ›The Come Quicks‹ nannten und sie vortrugen; ein Band mit Liedtexten von jemandem, Ameri-
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kaner, glaube ich, namens Rod Soundso. Drama: ein Schauspiel mit dem Titel Die Mausefalle von der verstorbenen Agatha Christie – anscheinend läuft das Stück vierzig Jahre nach seiner Premiere noch immer in einem Theater im West End. Romanliteratur: ein Roman mit dem Titel The Carpetbaggers – oder, um genau zu sein, eine gekürzte Ausgabe von The Carpetbaggers von Harold Robbins, und irgendein Unsinn über die Irrtümer sozialen Aufstiegs, von einem Sir John Braine. Ich bitte Sie! Literatur? Dazu wollte ich mich nicht hergeben. Ich nahm meinen Abschied.« Er blickte in die Runde, als erwarte er Applaus. »Sehr mutig«, sagte Bev. »Könnte ich ein wenig von dem Fleisch da haben? Ich bin ausgehungert.« »Soll er sich doch selbst was klauen«, knurrte ein Farbiger. »Barmherzigkeit, Nächstenliebe«, sagte Reynolds. »Er wird morgen seinen Teil zum Allgemeinwohl beitragen, wenn er sich unserer Bande anschließt. Hier, Sir, das ist Fehlrippensteak und hart zu kauen, aber nahrhaft. Ich glaube, irgendwo zwischen den kaltblauen Holzkohlenstücken ruht eine gebratene Zwiebel.« Er stocherte mit einem Eisendraht danach und rollte sie aus der Asche zu Bev. Durch ihre geschwärzte Schale sickerte Saft. Bev aß dankbar. Reynolds’ auffordernder Blick bewegte den widerstrebenden Wilfred, Bev eine Flasche mit fuselhaftem Whisky zu reichen, von dem jeder Schluck für einen Hustenanfall gut war. Sie redeten und aßen. Ein magerer Mann mit einer Mütze, der Timmy genannt wurde, las zum stöhnenden Mißvergnügen der anderen aus einem zerlesenen Taschenexemplar des Neuen Testaments. »Jeden verdammten Abend haben wir das«, sagte Wilfred. »Ich tue das, um es dir einzubläuen«, erwiderte Timmy. »Der Herr selbst hat uns das Feilschen verboten«. »Hast du nicht für einen Pfennig eingewilligt?« Das ist klar genug, und es ist das Wort Gottes, also merk es dir!«
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»Wenn schon laut vorgelesen werden muß«, sagte Reynolds, »dann hört das Wort von Alexander Pope.« »Wir wollen kein katholisches Zeug«, winselte Wilfred. »Sehen Sie?« sagte Reynolds. »Sie gesellen sich zu den Unwissenden. Aus der öffentlichen Leihbücherei von Ealing verbannt, weil der Vorsitzende des zuständigen Ausschusses irgendwelchen Unsinn über den säkularisierten Staat sagte, und wer Päpste wolle, der solle nach Rom gehen. Aber hören Sie nur, mein Freund!« Und er deklamierte mit offensichtlichem Behagen: »Dein fruchtbar Reich, o Chaos, ist erstanden; Vor deinem Wort wird selbst das Licht zuschanden; Deine Hand, großer Anarch! Daß der Vorhang falle Und kosmisches Dunkel begrabe uns alle«. »CHAOS«, sagte Bev. »Consortium zur Herbeiführung der Auslöschung Organisierter Gesellschaft. Pope brauchte nicht gegen die Gesellschaft zu kämpfen. Er frohlockte in ihrer Lobpreisung. Natürlich meinte er die elitäre Gesellschaft. Unterdessen wurden die Brotdiebe gehängt, und die Bettler kratzten sich die Wunden.« »Macht es Ihnen was aus?« fragte der religiöse Mann. »Ich esse gerade.« Reynolds sagte: »Was entsteht aus allgemeiner Gerechtigkeit? Pope hat das kosmische Dunkel nie gekannt. Aber er wußte, welches der große Feind des Lebens war und ist.« »Langeweile«, sagte Bev. Reynolds blickte erfreut auf. »Ah, keine Langeweile jetzt. Willkommen, Szigeti, willkommen, Tertis.« Zwei Männer mit Geigenkästen gesellten sich zu der Gruppe. Einer von ihnen zog ein Kilo Schweinswürste aus seiner Manteltasche.
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»Stecht sie vorher an«, sagte Reynolds. »Ich kann dieses Aufplatzen nicht ertragen.« Die Neuankömmlinge aßen und öffneten dann ihre Geigenkästen. Eine Violine und eine Viola. Sie spielten ein bezauberndes Duo von Mozart, und dann eine zweiteilige Invention von Bach. Ihr Anspruch war hoch; sie waren sehr reife Männer, Berufsmusiker ohne Gewerkschaftsausweise. »Man konnte schon 1977 sehen, wohin die Reise ging«, sagte Tertis. »Covent Garden, ich war erste Viola. Nach dem zweiten Akt brachen sie die verdammte Oper ab. Sagten, die Aufführung dauere zu lange. Sie seien nicht bereit, Überstunden zu machen, sagten sie, alles ginge sowieso für Steuern weg. Ich protestierte.« »Das war nichts«, sagte der Konzertgeiger. »Drei Takte nach dem Beginn des letzten Satzes der Neunten gaben sie das Pfeifensignal. Die Sänger hätten zu Hause bleiben können. Und das Pfeifensignal war nicht einmal in der richtigen Tonart. Royal Festival Hall, September 78. Gott sei uns gnädig!« Laß es ihnen nicht durchgehen! Die Stimme seiner Frau knisterte aus dem Feuer. Bev seufzte. »Was tun wir?« »Wir warten«, sagte Reynolds. »Wir warten auf eine der kleinen Überraschungen, die die Geschichte bereithält. Ich schlage vor, daß wir uns zurückziehen, meine Herren.« Zu Bev gewandt, fügte er hinzu: »Diese Fabrik machte zu, als sie die neunundsiebziger Lohnforderungen nicht erfüllen konnte. Die Regierung fand es nicht lohnend, den Betrieb zu übernehmen. Es war eine Matratzenfabrik. Im Lagerhaus fanden wir eine Menge moderner Matratzen. Wenn Sie hier schlafen, werden Sie sich wie die Füllung eines Sandwich vorkommen. Trevor«, sagte er zu dem Farbigen, »du sagtest, daß du ein paar Decken abstauben wolltest.« »Nicht so einfach, Mann.« »Du mußt unsere Situation wirklich mehr ernst nehmen, Tre-
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vor!« Zu Bev: »Haben Sie eine besondere Spezialität, Sir?« »Im Diebstahl?« »Wir schätzen dieses Wort nicht. Wir ziehen es vor, Euphemismen wie ›abstauben‹, ›organisieren‹, ›finden‹, ›mitgehen lassen‹, ›nehmen‹ und ›besorgen‹ zu gebrauchen. Waren Sie je beim Militär?« »Ich wurde in den frühen Tagen des langen Friedens geboren«, sagte Bev. »Ich verstehe. Mir gab mein Militärdienst, so kurz er war, eine gesunde Einstellung zum Eigentum mit. Nun, wir werden sehen. Kommen Sie! Wir werden einen Schlafplatz für Sie finden.« Er brachte einen Kerzenstummel zum Vorschein und entzündete ihn am Feuer. Das leere Gehäuse der Fabrik war höhlenartig und rostig. Es hallte hohl und verlassen. Mit seinem Kerzenstummel zündete Reynolds eine rußende Öllampe an. Er zeigte Bev, wie er am besten schlafen konnte – auf einer Matratze, zugedeckt mit zwei weiteren quergelegten Matratzen. Bev fühlte sich warm aber schmutzig. »Wäscht man sich?« fragte er »Erfolgreiches Abstauben hängt sicherlich von einer anständigen äußeren Erscheinung ab.« »Im Einzelhandel, ja. Im Großhandelsgeschäft tut Schmutz keinen Schaden, solange man nicht absolut heruntergekommen aussieht. Wenn ein Kühlwagen mit Fleisch entladen wird, hält man seine schmutzige Schulter hin und bekommt eine Rinderhälfte daraufgelegt, die man durch den betreffenden Supermarkt oder Laden und zum Hinterausgang hinausträgt. Manchmal entstehen Probleme. Sie können es morgen auf die einfache Art und Weise versuchen, wenn Sie wollen. Ein Bart schadet nicht. Eine Katzenwäsche mit kaltem Wasser. Aber anständige Kleidung ist unbedingt erforderlich, wenn man im Supermarkt Waren mitgehen läßt. Wir haben hier, was wir C & A nennen, Wilfreds kleinen Scherz – Mantel und Hut, sauber,
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gepflegt und in Plastik eingehüllt. An Plastik herrscht keine Knappheit, das gibt es überall, kostenlos und unzerstörbar, wie Gott. Ah, akkurat auf das Sitchwort, wie man sagt. Pater Parsons, Dr. Jones.« »Mister, Mister«, protestierten beide zugleich. Parsons, der gerade hereingekommen war, offensichtlich betrunken, verneigte sich höflich, ein skeletthaft magerer Mann, annähernd zwei Meter groß und warm eingehüllt. »Ein beinahe rundum zufriedenstellender Abend«, sagte er. »Ein paar jugendliche Strolche aus Camden Town hielten mich im Austausch gegen einen Vortrag über Kirchengeschichte mit Whisky frei. Sie waren aufrichtig interessiert. Sehr für Latein. Sehr gegen das Abendmahl als bloßes Gedenken. Dann sagte der Kneipenwirt, keine Religion hier drinnen, und auch keine Politik. Einer der Jungen sagte darauf, was es denn sonst gebe, worüber zu diskutieren sich lohne. Mach keinen Scheiß, Kumpel, oder willste Putz haben? Darauf Krawall, Schlägerei, ein paar zaghafte Polizisten. Verdarb dann den Rest des Abends.« Er gähnte laut und herzhaft: »Yarawwwgh.« Dann fiel er angekleidet auf seine Matratze und schlief ein. Nach und nach füllte die trostlose Höhle sich mit Schläfern. Schnarchen, Husten, Stöhnen, gemurmelte oder geächzte Worte. Kein Leben, dachte Bev, bevor auch er einschlief, kein Leben für einen Menschen. In der Dunkelheit des Morgens stahl Trevor von einem Molkereiwagen Milch und Joghurt zum Frühstück. Bev wusch sich in einer zur Hälfte mit Regenwasser gefüllten Tonne, trocknete sich an etwas ab, was Reynold »Das Handtuch« nannte. Dann wurde er mit Mantel und Hut ausstaffiert – einem ordentlichen, offenbar erst vor kurzem organisierten Burberry und einem kecken Filzhut – und war bereit, in einem Supermarkt Eßwaren abzustauben. »Ein guter Wilderer achtet darauf, daß die Manteltaschen nicht zu stark ausgebeult sind«, sagte Reynolds. »Flache Packungen und Gegenstände sind am sichersten. Hier
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ist ein Pfund.« Er reichte ihm eine Münze, die vom jungenhaften Lächeln König Charles III. des fröhlichen Monarchen, erstrahlte, und fügte hinzu: »Etwas werden Sie natürlich kaufen müssen.« Und so ging Bev, weil dies sein erstes Verbrechen war, mit heftig pochendem Herzen in den nächstbesten Supermarkt und verstaute Trockengemüse und Suppenpackungen, aufgeschnittenen Schinken, Käse und Dosenfleisch in den geräumigen Manteltaschen. Der Laden war voll von einkaufenden Frauen. Eine, in metallenen Lockenwicklern unter dem Kopftuch, sagte zu einer anderen: »In den Zeitungen steht sowieso nichts, die Seite mit den Witzen ist das einzige, was mir gefällt, aber heute abend ist im Fernsehen Coronation Street, und ich finde, sie sollten mehr Rücksicht nehmen, die faule Bande.« Es schien, daß ein Streik die Massenmedien lahmgelegt hatte. Warum? Bev kaufte einen Brotlaib zu einem Kilo für i.oo Pfund. Niemand beanstandete seine doch recht prallen Manteltaschen. In gehobener Stimmung ging er hinaus. Auf dem Fabrikhof brannte ein hübsches Feuer. Reynolds wußte alles über den Streik. »Teebeutel?« fragte er Bev. »Gut, wir brauen ihn in diesem schmutzigen Kessel. Ich mag den Rostgeschmack. Ja, nun, davon war schon seit Tagen die Rede. Wie Sie wissen, dürfen nur Mitglieder der Journalistengewerkschaft für die Zeitschriften und Zeitungen schreiben. Letzte Woche brachte die Times eine Besprechung irgendeines Buches – amerikanisch, versteht sich – über Ägyptologie. Die Besprechung war unter aller Kritik, ein Dokument der Unwissenheit und des schlechten Stils, aber ihr Autor war ein Gewerkschaftsmann. In einer der nächsten Ausgaben hatte die Times die Stirn, einen langen Leserbrief – ungefähr fünfzehnhundert Worte – von einem Wanderer wie uns zu veröffentlichen, worin auf die unübersehbaren Schwächen jenes Artikels hingewiesen wurde. Offen gestanden, ich weiß nicht, wie der
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Leserbrief während des Herstellungsprozesses den Argusaugen der Setzer, Korrektoren und Drucker entgehen konnte. Darum der Streik, von dem alle Nachrichtenmedien betroffen sind. Es muß eine unterwürfige Entschuldigung geben. Und wahrscheinlich eine Spende für die Kasse der Journalistengewerkschaft, um die herbe Beleidigung zu versüßen.« Derek, ein hellhaariger junger Mann in anständigen Kleidern, kam lächelnd zum Feuer. »Ich habe einen Job«, sagte er. »Heute abend fange ich an.« »Das kann nicht sein«, sagte Wilfred. »Und ob es sein kann«, versetzte Derek. »Eine private Drukkerei, Schnellpresse, sehr geheim. Tosh, ihr kennt ihn, ich traf ihn vorhin in einer Seitenstraße vom Broadway. Gab mir den Tip im Vorbeigehen. Ein gut angezogener Typ, sagte Tosh, habe ihm ein Pfund in die Hand gedrückt und ihn gefragt, ob er Drucker und Setzer kenne. Natürlich ganz klammheimlich, wie ich sagte. Privathaus an der Hooper Avenue. Ich werde um neun an der .Ecke abgeholt.« Seine Hände waren bereits dabei, einen imaginären Winkelhaken mit Bleilettern zu füllen. »Wieviel?« fragte Reynolds. »Fünf Pfund über Tarif.« Der lange Tag erwies sich als nicht so langweilig, wie Bev erwartet hatte. Es gab intellektuelle Gespräche mit Reynolds, Pater Parsons und einem neuen Mann, einem ehemaligen Assyriologen namens Thimblerigg, der für den Staat unnütz geworden war. Wilfred organisierte oder fand einen kleinen Sack Kartoffeln, die sie in der heißen Asche des Feuers rösteten. Ein Klarinettist wärmte sein Instrument am selben Feuer und spielte dann den ersten Satz der Brahms-Sonate. Pater Parsons legte seinen klerikalen Kragen an und beschaffte mit einer gefälschten Kreditkarte Meßwein aus einem Geschäft, das auf die Belieferung von Kirchen und religiösen Institutionen spezialisiert war. Trevor erbeutete auf einem Straßenmarkt zwei in Plastik
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gehüllte Decken. »Morgen mehr, Trevor«, sagte Reynolds, als er die synthetische Wolle befingerte. Am folgenden Morgen waren die Straßen voll von Exemplaren einer neuen Zeitung, die kostenlos verteilt wurde. Pater Parsons brachte mehrere Exemplare mit, als er vom Milchholen kam. Die Zeitung war betitelt Der freie Brite, und es gab ein Exemplar für jeden der Gesellschaft, die um das Feuer saß, Tee aus alten Konservendosen trank und Speck und Brot röstete. Das Blatt bestand aus nur vier Seiten, aber die Schrift war von einer beinahe vergessenen Eleganz, die dem aufrührerischen Inhalt eine eigene Würze verlieh. Es war eine Zeitung ohne Nachrichten, sah man von dem Aufruf ab, eine Armee Freier Arbeiter zu bilden. Weil Trevor ein langsamer Leser war, las Reynolds ihm einen Teil des Leitartikels laut vor: »»Dieses einst große Land hat durch die Trägheit, Gleichgültigkeit und die regelrechte Obstruktion der Gewerkschaften genug gelitten…«« »Was bedeuten diese großen Worte, Mann?« »Es ist besser, ich fasse das zusammen, Trevor. Da gibt es einen Herrn, der sich Oberst Lawrence nennt.« Reynolds überlegte eine Weile. »Ein Pseudonym? Natürlich könnte es auch sein wirklicher Name sein. Trotzdem, er scheint anzudeuten – aber lassen wir das. Dieser Herr will eine Privatarmee aufbauen. Er bezeichnet die Streitkräfte Seiner Majestät als nicht länger vertrauenswürdig. Da sie gewerkschaftlich organisiert und bereit seien, beim ersten falschen Ton eines schlecht geblasenen Trompetensignals in den Streik zu treten, besteht nach der Meinung dieses braven Obristen die Notwendigkeit, eine verläßliche paramilitärische Organisation aufzubauen, die außerhalb des Gesetzes steht – eines Gesetzes jedoch, das Oberst Lawrence durch einen großen allgemeinen Entrüstungsschrei des Volkes geändert wissen möchte, wozu dieses Volk der Unterstützung und Ermutigung durch die Freie Britische Armee,
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wie sie genannt werden soll, bedarf. Das Offizierskorps für diese Armee soll zum Teil bereitstehen, aber es fehlt an Freiwilligen für die unteren Dienstgrade. Die Rangbezeichnungen sind folgende: Gemeiner Freimann, Gefreiter, UnteroffizierZugführer, Kompaniefeldwebel, Batallionshauptfeldwebel. Die Offiziersränge scheinen der herkömmlichen Gliederung zu entsprechen – Leutnant, Oberleutnant, Hauptmann, Major und so weiter. Rasche Beförderung ist möglich und hängt mehr von den Fähigkeiten als von der bloßen Dienstzeit ab. Der Sold scheint unglaublich hoch.« »Wieviel, Mann?« »Der Gemeine Freimann bekommt hundertfünfzig Pfund die Woche, aber die Soldzahlung ist an die Inflationsrate gekoppelt.« Reynolds runzelte nachdenklich die Stirn. »Die Freie Britische Armee setzt sich das Ziel, lebenswichtige Dienstleistungen aufrechtzuerhalten, wenn Streikbewegungen das teure Heimatland, wie der Oberst es nennt, erschüttern. Die Freien Soldaten leisten einen feierlichen Eid, ihren Vorgesetzen in allem unbedingten Gehorsam zu leisten. Sie geloben, ihrem Land in unwandelbarer Treue zu dienen. Es gibt sogar eine Hymne: ›Ich weihe dir, o Vaterland, mein Leben und mein Gut…‹ Kommt mir bekannt vor, das. Eine sehr schöne Melodie, glaube ich mich zu erinnern, von einem Schweden oder so.« »Gustav Holst«, sagte der Musiker Tertis. »Engländer, trotz seines Namens. Die Melodie kommt von Die Planeten. Der Jupitersatz. Es Dur, drei Viertel, Maestoso.« »Und wo meldet man sich?« fragte Trevor. »Trevor«, sagte Reynolds ernst, »ich hoffe, du denkst nicht daran, dich einer faschistischen Organisation anzuschließen. Freiheit, Freie Briten, Gemeiner Freimann – alles Augenwischerei. Dieser Lawrence möchte gern Hitlers Machtergreifung nachmachen. Ich bitte dich um Christi willen, halte dich da
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heraus!« »Ich könnte das Geld gebrauchen.« »Woher kommt das Geld?« fragte Bev. »Natürlich, daran hätte ich denken sollen«, sagte Reynolds. »Sehen Sie auf Seite vier nach – ganz unten.« Bev schlug die Seite um und las: Laßt uns stets einer Wahrheit eingedenk sein, die zu vernachlässigen der syndikalistische Staat uns empfiehlt, ja, sogar zwingt. Über unserer Pflicht gegen das Vaterland steht unsere Pflicht gegenüber Gott, und die höhere Pflicht schließt in einem mystischen Sinne die niedrigere in sich ein. Gott schuf uns, damit wir auf Erden in unserem Handeln die göttlichen Eigenschaften erfüllen, an welchen unsere Natur teilhat – die Fähigkeit, Schönheit, Wahrheit und Güte über Gewinn und Genuß zu stellen. Ich meine nicht den cricketspielenden, herrenmäßigen Gott, den die Anglikaner geschaffen haben. Ich meine den Gott der Propheten, von Abraham bis Mohammed… »Nun«, sagte Reynolds. »Sehen Sie wo das Geld herkommt?«
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7 ERTAPPT Bev war ehrgeizig. Unerfahren im Abstauben oder Mitgehenlassen, fühlte er sich durch seine kleinen Erfolge in Supermärkten übermäßig ermutigt und wurde leichtsinnig. Er hätte nicht versuchen sollen, die Flasche Burnetts Silver Satin zu 15.00 Pfund an sich zu bringen. Die Fernsehkamera erwischte ihn, wie er sie einsteckte. Als er sich mit einem halben Laib Mischbrot zu 50 P vor der Kasse anstellte, gesellte sich ein entschlossen blickendes hübsches Mädchen mit attraktivem, streifig blondem Haar, das dem der armen Bessie nicht unähnlich war, zu ihm und sagte: »Sie haben da eine ziemlich ausgebeulte Manteltasche. Darf ich bitte hineinsehen?« »Ausgebeult? Was? Wo? Mein Privateigentum. Ich betrachte das als eine unerträgliche Verletzung des… des…« »Sie wurden beobachtet, als Sie eine Flasche Gin vom Getränkeregal nahmen. Haben Sie die Absicht, dafür zu zahlen?« »Ich habe die Absicht, sie zurückzustellen.« Bev zog die Flasche hervor und versuchte das Spirituosenregal anzusteuern, wo er sie genommen hatte. Viele Leute starrten ihn an. Eine alte Frau schnalzte mißbilligend. »Nachdem ich mein Geld gezählt habe, entdecke ich, daß ich doch nicht genug bei mir habe. Unerhört teuer, das Zeug.« Das Mädchen vertrat ihm den Weg. Der Geschäftsführer erschien, grimmig wie ein Chirurg in einem weißen Arbeitskittel. »Ich stelle sie zurück«, sagte Bev, »wenn Sie freundlichst gestatten.« Aber sie wollten nicht. Der Geschäftsmann sagte: »Das könnte Ihnen so passen. Auf frischer Tat ertappt. Rufen Sie die Polizei, Miß Porlock.« »Ja, Mr. Allsop.« Sie eilte fort, ein hübsches Mädchen mit hübschen Beinen.
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»Hören Sie!« sagte Bev, »Sie machen sich nur lächerlich. Ich habe nichts gestohlen. Es wäre Diebstahl, wenn ich an der Kasse vorbei wäre, nicht wahr? Aber das bin ich nicht. Sie werden es verdammt schwierig finden, etwas zu beweisen.« Und er unternahm einen weiteren Versuch, die Flasche zurückzustellen, wo er sie gemopst hatte. Der Geschäftsführer stieß ihn zurück und rief: »Alwyn! Geoffrey!« Zwei junge Männer in weißen Kitteln kamen von ihrer Arbeit an den Warenregalen. Es war, als sollte Bev für einen gefährlichen chirurgischen Eingriff gefügig gemacht werden. Er geriet in Panik, riß sich los und versuchte zu fliehen, die Ginflasche in der Hand. Dann wandte er sich in einer Aufwallung von Ehrlichkeit zurück und versuchte sie Alwyn in die Hand zu drücken, der mitfühlend aussah, wahrscheinlich selbst ein schlauer Langfinger. Alwyn, als wolle er jeden Verdacht von Komplizenschaft von sich weisen, stieß die Flasche zur Seite. »Halten Sie ihn, Geoffrey!« rief Mr. Allsop. Alwyn, der, wie sich nun zeigte, in Wahrheit Geoffrey war, wollte Bev festhalten. Das ließ Bev sich nicht gefallen und wehrte die zugreifenden Hände mit dem stabilen Flaschenboden ab. Miß Porlock traf mit zwei Polizisten ein, jungen Männern mit Gangsterschnurrbärten. Sie gingen ohne Umschweife auf Bev los und atmeten ihm heißen, süßlichen Teegeruch ins Gesicht. Bev wollte sich nicht im Polizeigriff abführen lassen und verteidigte sich wieder mit der Flasche. Sie wurde ihm von einem der Beamten entwunden, der sie Miß Porlock gab. Bev wehrte sich. Die Kunden schauten zu. Das war beinahe so gut wie im Fernsehen. Es gelang Bev, sich ein zweites Mal loszureißen, und er versuchte die Schlange der Kunden vor der Kasse zu durchbrechen, wurde aber von mehreren Händen zurückgestoßen. Die Polizisten bekamen ihn wieder zu fassen. Bev kratzte und zappelte. Er hatte sich seit Weihnachten nicht die Fingernägel geschnitten, und es gelang ihm, eine linke Wange blutig
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zu ritzen. »Ah, nein«, sagte der Polizist, »nicht das, Freundchen.« Ein Kniestoß in den Unterleib machte ihn kampfunfähig, und er wurde mit dem Kopf nach unten fortgeschleppt. Der Polizeisergeant im zwei Straßen entfernten Revier schlürfte Tee und knabberte ein kremgefülltes Hörnchen, während er Bevs verschiedene Missetaten handschriftlich zu Papier brachte: versuchter Diebstahl, Widerstand gegen die Staatsgewalt, tätlicher Angriff auf einen Polizisten, unerlaubter Waffenbesitz (sie hatten das Springmesser gefunden), ohne festen Wohnsitz. »Gertie«, sagte der Sergeant zu einer Polizistin, »fordern Sie vom ZR die Unterlagen über diesen stinkigen Penner an.« ZR war Zentralregister, wo Bevs gesamter Lebenslauf lag und nur darauf wartete, daß ein Computer ihn augenblicklich ausspuckte. »Jones, B.« »Nummer?« fragte die Polizistin. »Was ist deine Nummer, Kerl?« »Welche Nummer? Gewerkschaft? Geburtsurkunde?« »Alle deine Nummern, Freundchen.« »Zum Teufel mit Nummern«, sagte Bev. »Ich bin ein menschliches Wesen, keine Nummer!« »Sei vernünftig«, sagte der Sergeant, »ganz London wimmelt von Typen, die Jones heißen. Schwierig zu finden, selbst mit dem B. Also komm schon, Junge, zier dich nicht!« »Warum sollte ich einer verdammten Maschine helfen?« sagte Bev. Einer der beiden Konstabler knuffte ihn. »Auch gut«, sagte der Sergeant und schrieb in sein Protokoll. »Keine Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Also erkennungsdienstliche Behandlung. Zuerst die Fingerabdrücke.« Sie zwangen ihn, tintige Wirbelmuster auf eine Karte zu drücken, worauf die Karte in einen Datenanschluß gesteckt und seine Fingerabdrücke über Fototelex an die ZR durchgegeben wurden. »Hast du was vergessen?« sagte der Sergeant zu einem der Konstabler. »Bist du sicher, daß du die Ge-
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schichte vollständig beisammen hast? Hat er vielleicht das Messer gegen euch gezogen?« »Das ist nicht wahr«, sagte Bev. »Du mußt kooperieren«, sagte der Sergeant freundlich. »Kooperation ist das halbe Leben, mein Junge. Auch ihr Penner müßt das eines Tages einsehen. Schafft ihn raus, Jungs!« Bev wurde in der üblichen Weise zu den Zellen gestoßen. Er stieß zurück. Der Sergeant, seufzend, als verkörpere Bev die unverbesserliche Torheit des Menschen, machte eine neue Eintragung ins Protokoll. Dieses war zu einem ansehnlichen Dokument angewachsen. »Dahinein!« sagte der Polizist, den Bev im Supermarkt gekratzt hatte. »Viel zu gut für einen verlausten Arsch wie deinen. Du wartest hier, bis du morgen vor den Richter kommst!« Er stieß Bev in einen kleinen Himmel von Wärme und Reinlichkeit, mit zwei einfachen, aber sauber bezogenen Betten und einem Nachttopf. Es gab sogar ein Waschbecken und ein rauhes Handtuch und ein Stück Kernseife. Was die eisernen Gitterstäbe anging, so schlössen sie den Rest der verrückten und schlimmen Welt aus, nicht ihn ein. Er zog sich aus und wusch sich von Kopf bis Fuß. Ein griesgrämiger Mann mit einer Schürze brachte ihm einen Teller Pichelsteiner ohne Fleisch, aber mit Zwiebeln und einer Kanne gesüßten See. Er legte sich auf das obere Bett und meditierte. Die frühwinterliche Dunkelheit kam, und eine in die Decke eingelassene Leuchtstoff röhre verbreitete gleichmäßig matten Schein. Er schlief. Laute Geräusche weckten ihn. Zwei andere Konstabler und ein neuer Sergeant manövrierten mit einiger Mühe einen schmutzigen Betrunkenen in die Zelle. Sie schienen ihn gut zu kennen. »Komm schon, Harry«, sagte der Sergeant, »sei ein guter Junge! Dein Bett wartet schon auf dich. Zieh deinen verdammten Schädel ein!« Der Schädel des Mannes war kahl und narbig und wies Stellen runzliger Haut auf, als wäre er einmal
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voller Brandwunden gewesen. Der Mann sang: »Sie stießen ihn hin und tränkten’s ihm ein, Bis die Schale am Überfließen. Und bis zu des Morgens frühem Schein, Ihre Hähne das Krähen nicht ließen.« Er durchsetzte seine unmelodiös gelallten Verszeilen mit »Leck mich am Arsch, Kumpel! « und »Wenn das nicht der alte Bert ist, Bert ist mein Kumpel, ist er« und »Noch einen, ja, aber nicht – nicht so wenig« und »Heute hab’ ich den Kanal voll, hab’ ich.« Er wurde auf das untere Bett geworfen. Bev seufzte mit der Aussicht auf eine schlaflose Nacht. Der Sergeant, ein dünner Mann mit dem Aussehen eines Methodistenpfarrers sagte: »Wir wissen alles über dich, du Verräterbastard. Ich habe dein kleines Dossier gelesen, und es war eine ekelhafte Lektüre. Du wirst morgen früh den alten Ashthorn bekommen, und ich hoffe zu Gott, daß er dich pulverisieren wird.« Darauf sperrte er die Zellentür zu und sagte zu dem Betrunkenen: »So ist’s recht, Harry, laß die alte Rübe ausrauchen.« Harry schnarchte. Bev versuchte wieder einzuschlafen. Die Schnarchtöne wurden zu dem angenehmen Geräusch einer Sägemühle auf dem Lande: die Sonne schien heiß, selbst für den August, und er und Ellen saßen am Ufer des Baches, die Füße im freundlichkalten, kieselgrundigen Element. Die kleine Bessie, vier Jahre alt verfolgte einen Schmetterling. Wie schön Ellen war: helle Haut, große grüne Augen und eine Stupsnase, ein lachender breiter Mund; ihr Körper mager, aber wohlgestaltet in ihrem boskopbraunen Sommerkleid. Rebhühner quarrten im Gesträuch. Die Sägemühle hatte aufgehört. Bev wurde unsanft wachgerüttelt. Harry stand vor dem Bett und bearbeitete ihn mit derben Fäusten.
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»Hast du einen Tropfen für einen alten Kumpel?« sagte er. »Ich habe einen Durst, der kratzt. Ich kann ihn kratzen hören wie eine Raspel.« »Da drüben ist Wasser«, sagte Bev und versuchte sich umzudrehen. »Wasser? Wasser für mich? Tausende und Millionen Liter von dem Zeug sind durch meine Hände gegangen, zu meiner Zeit, aber niemals ein Tropfen durch die Kehle, außer durch Zufall. Na schön, wenn du nicht helfen willst, dann laß es bleiben und leck mich am Arsch!« Bev, hellwach jetzt, sagte: »Was war das mit dem Wasser?« »Ich rühre es nicht an, außer im Job.« »Und was für ein Job ist das?« fragte Bev und stieg von seinem Bett herunter. »Könntees vielleicht der Job eines Feuerwehrmannes sein?« »Richtig geraten, Kumpel. Station B- fünfzehn. Hier, ich bin ausgedörrt.« Er ging zur Zellentür und schrie durch die Gitterstäbe: »Ich sterbe vor Durst. Bier ist in Ordnung. Ich weiß, ihr habt welches draußen, ein Dutzend Charringtons, ich hab’ sie gesehen, ihr Bastarde.« Es gab keine Antwort. Alles war dunkel. Bev stand mit hängenden Armen vor ihm und sagte: »Mörder. Du hast meine Frau ermordet, du verdammter Mörder.« »Eh?« Harry wandte sich schwankend und verdutzt um. »Kenn’ deine Frau nicht, Kumpel. Nie im Leben eine Frau ermordet. Vielleicht hab’ ich der einen oder der anderen aus Güte geschadet, aber das ist was anderes. Was willst du überhaupt? Gott, ich glaube, es muß sein.« Und er ging zum Waschbecken, füllte einen Plastikbecher und ließ das Wasser durch die Kehle gluckern. »Furchtbares Zeug«, keuchte er. »Ihr habt gestreikt«, sagte Bev. »Ihr habt das Krankenhaus in Brentford niederbrennen lassen. Meine Frau war dort Patientin. Ich sah sie. Ich sah sie, kurz bevor sie starb.« Er
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ging auf Harry los, die Daumen erhoben, um sie ihm in die Augen zu stoßen. Harry war betrunken, auch hatte er einen Bierbauch, aber es fiel ihm nicht schwer, Bevs Hände beiseitezustoßen. »Du hast sie wohl nicht alle«, sagte er. »Wir machen kein Feuer, wir löschen es. Kapiert?« »Dies eine Feuer habt ihr nicht gelöscht. Du Bastard, du Mörder.« Er schlug zu, verfehlte jedoch Harrys Gesicht. Es war ein Gesicht, das vielleicht besser aussehen mochte, wenn man es von oben sah. »Ihr hattet euren Streik und ließet die Leute unter Qualen sterben.« »Hör zu!« sagte Harry. »Gib den Teufeln die Schuld, die das Feuer gelegt haben, in Ordnung? Die verdammten Iren waren es, die IRA. Einer von meinen Kumpeln hörte sie darüber reden, in einer Kneipe in Shepherd’s Bush. Er ging auf sie los und wurde kaltgemacht. Tatsache. Das hatte er davon. Wir haben Feuer nicht gern, Kumpel. Je weniger Feuer es gibt, desto besser gefällt es uns. Also reg dich nicht darüber auf, klar?« »Ihr habt gestreikt«, sagte Bev, »das ist alles, was ich weiß. Sie war nur noch verbrannte Knochen und verkohlte Haut. Meine Frau. Das habt ihr mit eurem verdammten Streik angerichtet.« »Hör zu!« sagte Harry, nun ziemlich nüchtern geworden. »Du mußt tun, was sie dir sagen, nicht? Du hörst unten die Glocken und saust die Stange hinunter und stellst keine Fragen. Genauso ist es, wenn der Streikaufruf kommt. Die Vertrauensleute sagen, daß gestreikt wird. Also streikst du. Wenn du es nicht tust, bist du draußen, nicht wahr? Ich habe fünf Kinder. Ich habe eine Frau, die Zeter und Mordio schreien wird, wenn ich morgen früh nach Haus komme. Ich habe einen Beruf, und er ist das, was ich tun kann. Ich muß es tun. Ich brauche das Geld, und wie die Preise in die Höhe gehen, brauch ich die ganze Zeit mehr. Was tust du in dieser
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Lage? Du machst allen Leuten Angst, indem du streikst, und dann kriegst du, was du willst. Was gibt es dagegen zu sagen? Außerdem ist es nicht so, daß meine Kumpel und ich sagten, Schluß jetzt, wir streiken! Es wird uns gesagt, und wir müssen es tun.« »Verdammte Mörder«, sagte Bev schwächlich, zweifelnd. »Ich weiß, wie dir zumute ist. Der Brand hätte gelöscht werden sollen, das ist wahr. Wir dachten, die Armee würde es tun. Gott, dafür ist eine Armee da, nicht? Dann streiken diese Bastarde, was wir nicht erwartet hatten. Wir wollen deren verdammte Sympathie nicht. Schiß vor dem Job haben sie gehabt, sage ich dir, darum haben sie sich davor gedrückt, indem sie von der Sache unserer Brüder bei der zivilen Feuerwehr redeten. Beim Militär wird erwartet, daß du rangehst, und wenn du es nicht tust, stellen sie dich an die Wand. Das hat mein Vater immer gesagt, er war bei den Wüstenratten, wie sie genannt wurden, und bei Gott, er hatte recht. So sollte es sein. He, hört mal, ich habe ihn ausgeschlafen, ich will raus!« Er begann lärmend an den Gitterstäben zu rütteln und schrie: »Bert, Phil, Sergeant Mac Auster!« Bev setzte sich auf den wackligen Holzstuhl und schluchzte ohne Tränen.
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8 DAS GERICHTSURTEIL Wie vorausgesagt, leitete der alte Ashthorn die Verhandlung. Er war ein grimmig dreinblickender, gestrenger alter Mann über siebzig, kahlköpfig, aber mit Haarbüscheln wie Wattebäuschen über den Ohren und Kehllappen unter dem Kinn. Seine Beisitzerin war eine unscheinbare, flachbrüstige Frau mit einem mausgrauen Hut auf dem Kopf. Der Gerichtsschreiber war laut und anmaßend. Bev wurde einfach als Jones angeredet. Der Konstabler mit dem blutigen Kratzer auf der Wange, der, Bev hätte es schwören mögen, geschickt mit Lippenstift nachgezogen worden war, las Bevs Verfehlungen in der umständlichen, gestelzten Sprache vor, in die der Revierleiter sie gekleidet hatte. Sie hörten sich ziemlich schlimm an. Miß Porlock vom Supermarkt bestätigte alles bis auf die Ereignisse, die auf dem Weg zum Polizeirevier und danach stattgefunden hatten. Der Gerichtsschreiber reichte das Springmesser dem alten Ashthorn hinaus, der die Klinge mit beängstigender Geschicklichkeit immer wieder heraus springen ließ. Sie war mit getrockneten Blutflecken präpariert, vermutlich von der Polizei. Er forderte Bev auf, sich gegenüber den Beschuldigungen zu rechtfertigen. »Ich gebe den versuchten Diebstahl zu«, sagte Bev. »Aber ich habe keine Arbeit. Der Arbeiterstaat verweigert mir Arbeitslosenunterstützung. Ich muß leben. Ich muß stehlen.« »Sie müssen Gin stehlen?« sagte der alte Ashthorn und drehte die Flasche (Beweisstück A) im künstlichen Licht. »Kein Brot, aber Gin. Und eine sehr gute Marke obendrein.« Er legte seine langen kräftigen Skelettfinger zusammen und runzelte streng die buschigen Brauen. Seine Beisitzerin las aufmerksam das Flaschenetikett. Wie in Ehrfurcht nickte sie zur Lektüre der
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langen Beteuerungen höchster Qualität. »Sie versuchten sich der rechtmäßigen Festnahme zu entziehen«, sagte der alte Ashthorn. »Sie trugen eine blutige Waffe bei sich.« »Nicht blutig. Ich habe dieses Messer niemals benutzt.« »Sprechen Sie nur, wenn Sie dazu aufgefordert sind, Jones!« rief der Gerichtsschreiber. »Nichts anderes habe ich getan«, versetzte Bev. »Er sprach die Unwahrheit, und ich berichtigte sie. Gibt es daran etwas auszusetzen?« Die Beisitzerin flüsterte ausführlich zum alten Ashthorn, der immer wieder dazu nickte. »Sie haben Gesetze dieses Landes gebrochen«, sagte der alte Ashthorn. »Die Gesellschaft muß vor Leuten Ihres Schlages geschützt werden.« Bev erreichte den Siedepunkt so rasch wie eine Pfanne voll Alkohol. »Meines Schlages?« fuhr er auf. »Was soll das heißen, meines Schlages? Ich bin ein Gelehrter, dem es nicht erlaubt ist, seine Gelehrsamkeit weiterzugeben. Ich bin ein Witwer, dessen Frau im Feuer zu Tode kam, während die Londoner Feuerwehrleute auf ihren Ärschen saßen und sich in den Zähnen stocherten.« »Sie werden sich für den Gebrauch dieses Wortes bei Mrs. Featherstone entschuldigen«, brüllte der Gerichtsschreiber. »Ich bitte um Entschuldigung, Mrs. Featherstone«, sagte Bev zu der Beisitzerin, »daß ich dieses Wort gebrauchte. Worte sind schreckliche Dinge, nicht wahr? Bei weitem tödlicher als Feuer, die ungehindert weiterbrennen dürfen, während Feuerwehrleute auf ihren Fundamenten sitzen. Ich bin nicht dieses oder jenes Schlages, Euer Ehren oder Hochwürden oder wie immer Sie sich gern nennen lassen. Ich bin ein menschliches Wesen, dem es verwehrt ist, zu arbeiten, weil ich zu einem Prinzip stehe. Ich habe etwas dagegen, ein von der Gewerkschaft gehütetes und gegängeltes Schaf zu sein.« »Sie verstehen, was Sie da sagen?« sagte der alte Ashthorn.
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»Durchaus. Die Gerechtigkeit ist vom Syndikalismus korrumpiert worden. Nicht nur die Gerechtigkeit im weiteren Sinne, sondern auch die Justiz, wie sie in den Gerichtshöfen angewendet wird. Schicken Sie einen Gewerkschaftsmann ins Gefängnis, und Sie haben einen Streik am Hals!« »Das ist eine Unverschämtheit!« rief der Gerichtsschreiber laut und unverschämt. »Sagen wir lieber«, meinte der alte Ashthorn, »daß es lediglich unwahr ist. Sollten wir die Dinge nicht als verständige Menschen sehen?« sagte er, zu Bev gewandt. »Das Gesetz ist auf Vernunft gegründet. Es wäre unvernünftig, Sie zu einer Geldstrafe zu verurteilen, da Sie keine Mittel haben, sie zu bezahlen. Dies ist Ihr erstes Vergehen…« Er warf einen Blick auf Bevs Lebenslauf, wie der Computer ihn aufbereitet hatte. »Ihr Verhalten läßt ohne weiteres den Schluß zu, daß Sie bisher noch nicht vor Gericht gestanden haben. Ich bin nicht ermächtigt, Sie zu einer Gefängnisstrafe zu verurteilen. Selbst wenn die Möglichkeit dazu bestünde, würde eine Haftstrafe Ihre Situation in keiner Weise verändern. Sie sind, so sagen Sie, gezwungen, Ihren Lebensunterhalt durch Diebstahl zu bestreiten. Die Gerechtigkeit im weiteren Sinne verlangt, daß Ihre Lebensumstände dergestalt verändert werden, daß der Antrieb zur Verübung weiterer Straftaten unterdrückt und eliminiert wird. Ich verfüge deshalb Ihre bedingte Freilassung. Sie werden unter Aufsicht gestellt. Mr. Hawkes, würden Sie die Güte haben, dem äh… äh… Beschuldigten die Verfahrensweise zu erläutern?« Ein strahlend eleganter Mann stand auf. Bev hatte ihn für einen müßigen Besucher von Gerichtssälen gehalten; nun zeigte sich, daß er eine Art Gerichtsbeamter war. Pausbackig und ebenso makellos wie geschmackvoll gekleidet, erinnerte er in seiner selbstzufriedenen Art an einen »Erquicke dich, mein Volk« singenden walisischen Tenor. Sein Akzent war wali-
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sisch. Er sagte: »Ja, Euer Gnaden.« Er wandte sich lächelnd zu Bev und fuhr fort: »Ersetzen wir den Begriff ›unter Aufsicht stellen‹ durch das bedeutsame Wort Rehabilitation. Haben Sie von Crawford Manor gehört?« »Nein«, sagte Bev, »habe ich nicht.« »Sir«, sagte Hawkes in einem entschuldigenden und gutmütigen Ton, »Crawford Manor ist ein Rehabilitationszentrum, das vom TUC eingerichtet worden ist und vom Staat mitfinanziert wird. Sie werden dort Gelegenheit erhalten, Ihre Position zu überdenken. Sie werden in keiner Weise gezwungen sein, Ihre frühere Mitgliedschaft bei der Gewerkschaft wiederaufzunehmen. Der Verlauf Ihrer Rehabilitation wird, darauf vertrauen wir, die Natur der Rechte, welche Sie als tyrannische Zwänge zu betrachten scheinen, so überzeugend darlegen, daß Sie, daran zweifle ich nicht im mindesten, nur zu gern bereit sein werden, sich wieder in der freundschaftlichen Geborgenheit der arbeitenden Klasse dieses Landes willkommen heißen zu lassen. Haben Sie etwas zu sagen?« »Ich werde nicht gehen«, sagte Bev. Die Beisitzerin sagte: »Ich fürchte, Sie haben keine Alternative.« »Ihr Freund hier«, sagte Bev, »erklärte eben, daß es keinen Zwang geben werde.« »Keinen Zwang im Rehabilitationsprozeß«, schränkte Mr. Hawkes lächelnd ein. »Aber ich fürchte, die Einweisung ist obligatorisch. Schließlich können Sie nicht leugnen, daß Sie gegen die Gesetze des Landes verstoßen haben, nicht wahr?« Bev dachte darüber nach. Er sah ein, daß es nicht folgenlos abgehen konnte. Irgend etwas war fällig – eine Geldstrafe aus seiner Tasche, eine Freiheitsstrafe im Gefängnis. Man beging ein Verbrechen und akzeptierte damit die Folgen, die eine Festnahme nach sich zog. »In Ordnung«, sagte der alte Ashthorn. »Nächster Fall.«
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Die Polizisten bedachten Bev mit mörderischen Blicken, als er die Anklagebank verließ. Mr. Hawkes lächelte. »Kann ich jetzt gehen?« fragte Bev verdrießlich. »Sie fahren in drei Stunden. Sie werden den Zug um dreizehn Uhr zwanzig von Charing Cross nehmen. Crawford Manor liegt in der Nähe des Dorfes Burwash in Sussex. Es ist dafür gesorgt, daß am Bahnhof Etchingham ein Transportmittel für Sie und den Rest der Abteilung bereitstehen wird. Mr. Boo…« »Welch ein Durcheinander«, unterbrach ihn Bev. »Es gab eine Zeit, da hatten wir Gewaltenteilung. Jetzt beherrscht ihr Bastarde die Rechtsprechung ebenso wie die…« »Mr. Boosey, wie ich zu sagen versuchte, erwartet Sie vor dem Gerichtssaal. Er ist der Vollzugsbeamte, der Sie begleiten wird.« Plötzlich änderte sich Mr. Hawkes’ Ton und Haltung. Er trat näher an Bev heran und sagte mit halblauter zischelnder Stimme: »Komm zur Vernunft, Junge! Du kannst nicht gewinnen. Wir haben dich am Schlafittchen, vergiß das nicht!« »Leck mich am Arsch, du Scheißer!« sagte Bev. »Das ist schon besser, Freundchen. Jetzt sprichst du wie ein Arbeiter. Los jetzt, du Stromer, schaff deinen unorganisierten Lausebalg hinaus!«
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9 EINE SCHAU VON METALL Sie waren zwanzig Mann im Zug, dazu Mr. Boosey, ein Mann wie ein gescheiterter Privatdetektiv, der dasaß und eine große, sommersprossige Faust pflegte, als sei sie eine Waffe, die zu gebrauchen er kaum erwarten konnte. Aber als er im Bahnhof Charing Cross gegähnt und sich gereckt hatte, da hatte er, vielleicht absichtlich, ein ledernes Schulterhalfter unter der Jacke hervorschauen lassen. Die meisten seiner unfreiwilligen Schützlinge bezweifelten, daß eine Schußwaffe darin steckte. Man war in England, wo nur Verbrecher bewaffnet gingen. Die meisten der Zwanzig waren gebildete Leute, einige von ihnen sanft und hoffnungslos, andere rebellisch und reizbar, Männer, die an Prinzipien hingen wie an einer verfallenen Kreditkarte. Nur wenige sehr junge Leute gehörten der Gruppe an, doch gab es verschiedene religiöse Fanatiker und verschrobene Wirrköpfe, darunter einen mit buschigen Brauen, der es sich von Tonbridge ab zur Aufgabe machte, Mr. Boosey herauszufordern: »Sag, du einfältiger Roßbollen, meinst du, unser Herrn Jesum Christum Wort ist nichts als Runtzen und Platschieren?« Er fuchtelte mit seiner Bibel zum unsauberen Waggonfenster, jenseits dessen sich des Herrn Schöpfung ausbreitete, freilich größtenteils verdeckt von baufällig aussehenden alten Fabriken und schmutzigem Rauch. »Eh, stinkiger Iltis?« »Versteh’ kein Wort von deinem Gefasel, Witzbold«, sagte Mr. Boosey. »Wenn du pinkeln willst, mußt du warten, bis wir ankommen.« »Ach«, höhnte der andere, »er ist nichts als ein elender Büttel und ein gottloser Schocherkopf.« Darauf ging seine Stimme um eine Tonlage hinauf, und er sagte: »Ich will damit klarmachen, Unseliger, daß Gott des Herrn Wort für dich
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und deinesgleichen bloß Gewäsch ist, und daß der Herr Jesus, wenn er heute lebte, die Zimmerleute zum Streik aufrufen würde.« »Wenn du die Vorteile von dem, was in der Bibel steht, ausposaunen willst, dann warte, bis wir am Ziel sind. Ich bringe dich bloß hin, klar?« Ein junger, halbverhungert aussehender Mann mit großen blaßblauen Augen begann »Vorwärts, christliche Soldaten« zu singen. Niemand fiel ein. Dann sagte er in winselndem Ton: »Werfen uns den Löwen vor. Die Märtyrer des zwanzigsten Jahrhunderts.« Niemand sagte etwas. Mr. Boosey zog eine Schachtel mit Halstabletten hervor und nahm eine, bot den anderen aber keine an. Er begann zu lutschen. Der Eiferer fing wieder an: »Ach, ihr diebischen Blutsauger. Ihr losen Molsamer Sefel.« »Gib du acht, was du sagst, Knallkopf!« sagte Mr. Boosey lutschend. Der Zug hielt in Tonbridge Wells. Ein hageres Mitglied der Reisegesellschaft in einem schwarzen Regenmantel stand auf und sagte: »Sicherlich steigen wir hier um.« »Hinsetzen!« befahl Mr. Boosey. »Ich habe mich erkundigt. Wir steigen nicht um.« »Befehlen Sie mir, daß ich mich setze?« »Ich sage es Ihnen.« »Ich denke«, sagte der Lange mit einem sehr kühlen Blick zu Mr. Boosey, »ich werde trotzdem aussteigen.« »Versuchen Sie’s«, sagte Mr. Boosey. »Los, versuchen Sie’s!« Und dann bestätigte sich, daß das lederne Schulterhalfter unter seiner Jacke nicht bloß zum Herzeigen war. Mr. Boosey griff hinein und richtete eine schwarze, ölig glänzende 45er Sougou auf den Mann im Regenmantel. Der Mann setzte sich. Alle staunten. Mr. Boosey sagte: »Man muß euch daran hindern, daß ihr
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Kriminelle seid.« »Ich hätte es nie für möglich gehalten«, sagte Bev verwundert. »Das Gesetz der Waffe. Sagen Sie, Boosey, was für eine Art von Hermaphrodit sind Sie?« »Nur nicht frech werden!« sagte Mr. Boosey. »Für Sie immer noch Mr. Boosey!« »Ich meine damit keine sexuelle Beleidigung«, sagte Bev. »Kipling verwendete die Bezeichnung für die Marinesoldaten, Seiner Majestät Matrosen, Soldaten und auch Seeleute. Sie sind Justizbeamter und Funktionär des TUC. Eine Bestätigung erreichter Tyrannei in einem Zug nach Etchingham.« »Kiplings Haus«, sagte ein Mann mit Sonnenbrille, »ist vom Staat übernommen worden. Sie können es sehen, wenn wir nach Burwash kommen. Wo einst der Dichter des Imperiums wohnte, ist jetzt ein regionales Computerzentrum. Möge der Troll von Pooks Hill es mit einer elektrischen Maul- und Klauenseuche schlagen.« »Hört zu, alle miteinander!« sagte Mr. Boosey mit unterdrückter Wildheit. »Ich tue meine Arbeit und nichts weiter, ist das klar?« Er blickte über den Mittelgang zur anderen Seite, um den Rest seiner Schutzbefohlenen ins Auge zu fassen, selbst diejenigen, die still und brav dasaßen und Der Freie Brite lasen. »Meine Arbeit, das ist alles!« Mehr schien er nicht mitzuteilen zu haben. Ein Uniformierter kam durch den Zug und rief: »Alles aussteigen! Der Zug fährt nicht weiter. Wir streiken.« Die Häftlinge waren interessiert an Mr. Booseys Reaktion darauf. Von Rechts wegen hätte er sagen sollen: »Gut, Kollege.« Doch anscheinend war der Tag des ganzheitlichen Syndikalismus noch nicht angebrochen, denn er schien nicht daran zu denken, sich der Streikaktion seiner Eisenbahnerkollegen anzuschließen. Andererseits war sein ärgerliches Stirnrunzeln sicherlich unangebracht.
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»Führe uns!« sagte der hagere Mann im schwarzen Regenmantel und erhob sich abermals. »Führe uns, Bruder, wohin uns zu bringen du wünschst!« »Hören Sie!« sagte Mr. Boosey zudem Beamten. »Sind die Telefone in Betrieb?« »Gerade eben, als die Nachricht von der Eisenbahnergewerkschaft durchkam arbeiteten sie noch, aber wenn Sie telefonieren wollen, würden Sie gut daran tun, ein wenig Lebendigkeit hineinzulegen.« »Kipling«, sagte der Mann mit der Sonnenbrille, »ist noch nicht tot.« »Aber wenn Sie an einen Bus oder was denken«, sagte der Zugführer, »werden Sie wenig Glück haben. Sie kennen den Standpunkt so gut wie ich.« »Herr im Himmel!« sagte Mr. Boosey. »Das ist nicht der Ton eines Gläubigen«, bemerkte der junge Mann, der gesungen hatte. »Hier ist Endstation«, erklärte der Bahnbeamte. »Kommen Sie, Herrschaften, steigen Sie schon aus!« Mr. Boosey blickte gefährlich, als er seine Schützlinge auf dem Bahnsteig der Station Tonbridge Wells um sich versammelte. Es begann zu regnen. In der Ferne grollte Donner. Ein dunkelhäutiger, untersetzter Mann, der bisher nicht ein Wort gesprochen hatte, sagte: »Tonnerretruenotuonotrovaotunetdonnerdonder…« »Halt’s Maul, du!« knurrte Mr. Boosey ergrimmt. »Mich hält niemand zum Narren.« Der Zugbegleiter war ihnen hinausgefolgt und lauschte interessiert. »Ausländer, was?« sagte er. Und dann: »Sie wollen zum Schloß, wie es genannt wird? Wenn es so ist, dann sieht es danach aus, als müßten Sie zu Fuß hingehen. Lassen Sie die Leute den Bahndamm entlangmaschieren, das ist nicht verboten. Die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten.«
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Ein rothaariger Mann in einem sehr schmierigen Wettermantel, dem ein Exemplar des Freien Briten aus der Tasche ragte, sagte scherzend: »Verdammter Sauhaufen, in Kolonne angetreten und ohne Tritt marsch!« Ehe Mr. Boosey das Kommando übernehmen konnte, war die Abteilung vom Bahnsteig auf die Schienen hinuntergesprungen und begann nach Süden zu marschieren. »Hier her! Hier her! Was fällt euch ein!« rief Mr. Boosey. Der Zugführer amüsierte sich. Sie marschierten in Zweierreihen. Bevs Partner war der große hagere Mann im schwarzen Regenmantel, ein früherer Bibliothekar namens Mifflin. Es regnete eintönig. Mr. Boosey holte sie fluchend ein. Bei Stonegate sagte der Rothaarige: »Jede Stunde fünf Minuten Pause. Armeevorschrift.« »Weitergehen! Ihr seid nicht beim Barras.« Als die kleine Kolonne sich Etchingham näherte, sagte Mifflin: »Sollen wir es riskieren und ausreißen?« »Er hat eine Pistole.« »Stimmt. Sehen wir, ob sie geladen ist. Los!« Die Pistole war geladen. Bev hörte das peitschende Krachen und fühlte etwas an seinem Kopf vorbeipfeifen. Er und Mifflin kamen belämmert von der breiten grünen Böschung zurück, die sie hatten überwinden wollen. »Jetzt wißt ihr Bescheid«, schnaufte Mr. Boosey. »Jetzt ist euch hoffentlich klar, daß die Zeit für euren verdammten kindischen Unfug endgültig vorbei ist.«
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10 ZWEI WELTEN Mr. Pettigrew stand nahe dem blockierten Kamin des staatlichen Raumes, der früher einmal Joshua-Reynolds-Salon genannt worden war, und überblickte sein hundertfünfzigköpfiges Publikum. Seine Zuhörer wußten alle, wer er war: selbst wenn es ihnen verhaßt war, konnten sie nicht umhin, sich geschmeichelt zu fühlen. Der große TUC-Theoretiker, der Vorsitzende des TUC-Zentralrates, flachshaarig und mit einer pferdeartigen Stirnlocke, jünger aussehend als seine vierzig Jahre, strahlte sie an und beäugte sie kurzsichtig, während er seine Brille am Schlips putzte (blutrot mit goldenen Schwungrändern). Er setzte die Brille wieder auf, und sofort sah man die Augen scharf und von einem schrecklich klaren Grau. Furchtbare Augen, dachte Bev. »Brüder«, sagte Mr. Pettigrew mit einer etwas schrillen, gravitätischen Stimme. Dann lächelte er und zuckte mit überzeugender Anmut die Achseln. »Es fällt mir schwer, den Begriff mit der nötigen Aufrichtigkeit zu gebrauchen. Schwestern, nein, das wird nicht taugen, wie?« Die ungefähr siebzig Frauen im Publikum schienen derselben Meinung zu sein. Gekicher und unterdrücktes Lachen verrieten es. »Eine Arbeitskollegin ›Schwester‹ zu nennen, scheint die Ausschließung dessen zu verkünden, was unsere amerikanischen Freunde eine ›bedeutungsvolle Beziehung‹ nennen. In unserem – ziemlich unsinnig mit dem Spitznamen Tucland bezeichneten – Vaterland ist Raum für viele Dinge, aber ich denke, Inzest gehört nicht dazu.« Gelächter. Vorsicht! Vorsicht! sagte Bev zu sich selbst; lach nicht, laß dich von dem Charme nicht verführen, er ist der Feind! »Also sage ich: meine Damen und Herren. Es gibt hier keine offiziösen Vertrauensmänner, die mich zurechtweisen
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könnten. Meine Damen und Herren, Sie sind hier zusammengerufen worden, weil Sie außergewöhnliche Leute sind. Sie würden sich selbst vielleicht Individualisten nennen, denen die einzelne menschliche Seele wichtiger ist als jene seltsam abstrakte Gruppeneinheit, die man das Kollektiv der Arbeiter nennen könnte. Sie haben Mühsal und Schmerzen erfahren. Das Prinzip der einzigartigen Bedeutung der individuellen menschlichen Seele, des ungebundenen freien individuellen Willens, hat die meisten von Ihnen in einen Zustand verzweifelter Einsamkeit geführt – der Einsamkeit des Ausgestoßenen, des Kriminellen, des Landstreichers, der Vernünftigen Seele, die durch die Gitterstäbe des Gefängnisses schreit, das die Unvernunft um sie errichtet hat. Keiner versteht das besser als ich. Sie haben sich jeden Tag und schlimmer noch, jede Nacht in den Verzerrungen schlimmer Träume mit dem unerträglichen menschlichen Dilemma auseinandergesetzt. Ich habe das auch getan, vielleicht mit weniger Mut als Sie. Welches ist die Natur dieses Dilemmas? Sie ist dies: daß die Menschheit zwei Werte begehrt, die miteinander unvereinbar sind. Der Mensch wünscht nach seinen eigenen Bedingungen und Begriffen von einem menschenwürdigen Dasein zu leben, zugleich aber nach den Maßstäben, die von der Gesellschaft gesetzt werden. Es gibt eine innere Welt, und es gibt eine äußere Welt. Die innere Welt nährt sich selbst mit Träumen und Visionen, und eine von diesen Visionen heißt Gott, der Inbegriff aller Werte, das Ziel des Strebens der einzelnen Seele nach Vollkommenheit. Es ist gut, und es ist menschlich, diese innere, private Welt zu pflegen: ohne sie sind wir Geschöpfe aus Stroh, unglücklich, unerfüllt. Aber, und ich muß dieses aber betonen, wir dürfen der inneren Welt niemals erlauben, auf die äußere Welt überzugreifen. Die Geschichte ist voll vom Elend, von der Tyrannei, von der Unterdrückung und den Schmerzen, die hervorgerufen wurden
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von einer der Allgemeinheit auferlegten inneren Vision. Es begann vielleicht mit Moses, der eine Vision Gottes in einem brennenden Busch hatte und dadurch die lange Prüfung der Israeliten einleitete. Der heilige Paulus suchte seine abnorme Vision vom auferstandenen Christus einer ganzen Welt aufzuerlegen. Ähnliches taten Calvin, Luther, Savonarola – muß ich die Reihe der Beispiele noch verlängern? Und im weltlichen Bereich haben wir das von der erzwungenen Durchsetzung eines mystischen Staatsbegriffs auf ungezählte Millionen Menschen in Europa und Asien verursachte Elend gesehen oder von ihm gelesen. Habe ich mich ein wenig verständlich machen können? Ich habe nichts gegen die innere Vision, so lange sie beherrscht wird von einem Verstand, der sie hinter verschlossenen Türen hegt und pflegt. Die Außenwelt kann die innere Vision nicht ohne Schmerzen akzeptieren, denn die Werte der Außenwelt sind von einer Substanz, die derjenigen der inneren Welt so wenig gleicht, daß sie wie weißer Phosphor und Luft nicht zusammenkommen dürfen, ohne einen gefährlichen Brand zu entfachen. Nun, werden Sie fragen, welches sind die Werte der äußeren Welt? Sie sind einfach, und ihre Einfachheit ist das unausweichliche Attribut einer Allgemeinheit. Sie bestehen in dem, was allen Menschen gemeinsam ist – der Notwendigkeit zu leben, das heißt, der Notwendigkeit zu arbeiten und für diese Arbeit bezahlt zu werden. Wenn wir von einem Staat der Werktätigen oder von einem Kollektiv der arbeitenden Menschen sprechen, dann würden wir diese Begriffe, wenn wir es könnten, gern von den zynischen politischen Nebenbedeutungen freihalten, die ihnen durch die marxistischen Oligarchien hinzugefügt worden sind. Unter einem Staat der Werktätigen verstehen wir nicht mehr als ein System, in welchem dem Grundrecht auf Arbeit und angemessene Bezahlung für diese Arbeit zum Durchbruch verhelfen wird. Die Konzeption impli-
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ziert vielleicht einen Widerspruch. Denn wenn der Staat im Besitz der arbeitenden Bevölkerung ist, dann hat diese ihr langes Ringen um Gerechtigkeit gewonnen, da die Mittel zur Durchsetzung und Ausübung der Gerechtigkeit in ihren Händen sind. Dennoch sehen wir jeden Tag die Zeichen einer Fortdauer des Ringens, und dieses Ringen wird niemals ein Ende nehmen. Der Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten ist ein grundlegendes Merkmal unseres Systems. Der Staat wird in zunehmendem Maß der Arbeitgeber, daher ist, der einfachen Logik zufolge, in der Praxis gegen die Menschen, was theoretisch für die arbeitende Bevölkerung ist. Ich wiederhole es, diese Dichotomie ist wesentlich. Wesentlich, weil eine Dynamik notwendig ist, um die fortschreitende Verbesserung der Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung aufrechtzuerhalten, und weil eine Dynamik nur aus dem Gegensatz erwachsen kann. Ich denke, es sollte Ihnen inzwischen klar sein, daß diese einfache Philosophie von den Rechten der arbeitenden Menschen nicht mit der Philosophie des Sozialismus identifiziert werden muß. Es ist wahr, daß der Sozialismus die arbeitende Bevölkerung mehr begünstigt, als die glücklicherweise absterbende Metaphysik des Egoismus und der kapitalistischen Privilegien es tat; in der Tat beruht die sozialistische Bewegung auf dem Streben nach Gerechtigkeit für die arbeitende Bevölkerung. Aber eine Bewegung unterscheidet sich von einem inthronisierten System. Eine sozialistische Regierung, insbesondere eine, die wie die unsrige praktisch ohne Opposition herrscht, hat aufgehört zu kämpfen. Und doch ist sie verpflichtet zu kämpfen, um ihre Dynamik zu erhalten. Infolgedessen ringt sie um die Erhöhung des Bruttonationalprodukts und gleichzeitig um die Dämpfung der Inflation, was auf eine Disziplinierung der arbeitenden Bevölkerung hinausläuft. Der Arbeit gewidmet, setzt sie kein sonderliches Vertrauen in den Arbeiter. Auf
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der anderen Seite sorgt eine grundlegende Philosophie, die dem Kollektiv der arbeitenden Bevölkerung und der sozialistischen Exekutive gemeinsam ist, zuverlässig dafür, daß die Befriedigung bestimmter fundamentaler Bedürfnisse der Bevölkerung durch die Maschinerie der Regierung mehr oder weniger zureichend gesichert wird. Zu diesen Grundbedürfnissen zählt etwa die Einrichtung eines Nationalen Gesundheitsdienstes und eines Erziehungssystems, das den allgemeinen Anforderungen gerecht wird, aber die besonderen von Individualisten wie Ihnen, meine Damen und Herren, nicht erfüllt. Dazu gehört ferner ein Netz sozialer Sicherheit, von dem Sie, meine Damen und Herren, sich durch Ihr Versäumnis, eine streng überwachte Grenze zwischen der inneren und der äußeren Welt zu errichten, leichtfertig abgeschnitten haben.« Er lächelte, als zitiere er ironisch eine offizielle Ansicht, mit der er nicht in allen Punkten übereinstimmte. Sein Lächeln nahm einen etwas träumerischen Ausdruck an, als er fortfuhr: »Ich zweifle nicht daran, daß wir schon bald, fast unmerklich und ohne den Rauch und Lärm der Revolution (denn Revolutionen werden immer in der inneren Welt ausgebrütet), ein Dahinwelken der ungeschriebenen politischen Verfassung erleben werden, die immer für eines der instinkthaften Meisterstücke Großbritanniens gehalten wurde. Wie Sie wissen, ist das Parlament zu einer zeitvergeudenden Formalität geworden. Wir brauchen nur eine gut eingespielte Exekutive. Eine politische Hochschule, in der die Spitzenbeamten der Zukunft ausgebildet werden sollen, befindet sich bereits im Aufbau. Diese Exekutive wird, um die Kontinuität zu gewährleisten, ein permanentes Oberhaupt benötigen. Wenn Sie meinen, dies werde Bill, die Verkörperung des Werktätigen sein, so befinden Sie sich selbstverständlich im Irrtum. Eine Monarchie genügt, eine Einheit, die außerhalb der Politik steht. Die Zuneigung der britischen Arbeiterklasse zur königlichen Familie ist seit langem
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bekannt und drückt ein instinktives Gefühl für den Wert einer nominellen Exekutive aus, die jenseits der hektischen, verschwitzten Welt der Berufspolitiker ist. Unsere Arbeiterkollegen in Amerika wenden sich bereits gegen das rupublikanische Prinzip und sehen in der Präsidentschaft lediglich einen monströsen Absolutismus, der die letzte Erfüllung des schmutzigen Ringens um politische Macht ist. Wer weiß, ob die Unabhängigkeitserklärung nicht schon bald widerrufen wird und die englisch sprechenden Völker der Welt durch eine gemeinsame Sache unter einem gemeinsamen Oberhaupt wiedervereint werden? Aber das wollen wir der Zukunft überlassen, und ich bitte Sie, meine Damen und Herren, um Entschuldigung für eine Abschweifung, die nicht unserem unmittelbaren Zweck dient. Welches ist unser unmittelbarer Zweck? Welches Ziel suchen wir während Ihres – leider erzwungenen; ich wünschte, es wäre freiwillig – Aufenthalts in Crawford Manor zu erreichen? In erster Linie möchten wir, daß Sie in Ihrem Herzen fühlen, was Sie mit dem Verstand zu akzepieren vielleicht schon bereit sind. Wir möchten, daß Sie die Gleichheit gewissermaßen in den Poren fühlen. Die Gleichheit der äußeren Welt, in der es kein Privileg gibt und wo die bloße Vorstellung des Ausnahmemenschen – eines Hitler, Bonaparte oder Dschingis Khan – eine Ungeheuerlichkeit ist. Aber wie verhält es sich mit dem außergewöhnlichen Künstler, mögen Sie sagen, mit dem genialen Wissenschaftler, dem Denker, dessen neue Vision das Überkommene abzulösen droht? Solche Menschen werden nach der Geburt nicht erdrosselt, des versichere ich Ihnen, während das egalitäre Prinzip die Kraft gewinnt, die zu erlangen es noch gegen mancherlei Widerstände ringt. Die Ausübung der Kunst, das philosophische Denken und die Forschung gehören jedoch der inneren Welt an, dem privaten Sektor des Lebens.
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Das außerordentliche Genie, das, vom Geltungsbedürfnis getrieben, in die Außenwelt drängt, ist nicht erwünscht, doch heißt das keineswegs, daß sein Wert nicht geschätzt würde. Aber der Wert eines solchen Menschen gehört nicht der Welt des arbeitenden Volkes an und muß seine Ermutigung und Befriedigung in jener inneren Welt suchen, die Sie, meine Damen und Herren, mit der größeren zu verwechseln suchten, einer Welt, die Sie abzulehnen meinten, während Sie, wie sich zeigt, von ihr abgelehnt werden.« Er wurde auf einmal streng und laut, und Bev merkte, daß er wahrscheinlich verrückt war. »Sie haben gesündigt«, rief Mr. Pettigrew. »Ja, gesündigt. Gesündigt gegen die Gleichheit, gesündigt gegen die Brüderlichkeit…« »Aber nicht gegen die Freiheit.« Bev blickte verdutzt umher, um zu sehen, wer den Redner so rüde unterbrochen hatte. Zu seiner Verblüffung wurde ihm klar, daß er selbst es gewesen war. Ein Murmeln ging durch das Publikum, und es schien zu wachsen. Bev vermochte nicht zu sagen, gegen wen die Unruhe sich richtete. Aber Mr. Pettigrew nahm das Wort sogleich auf und zog alle Blicke auf seine gestikulierende Gestalt. »Freiheit«, rief er. »Sie kennen nicht einmal die Bedeutung des Begriffs. Sie haben das dreifache Losungswort einer fehlgeleiteten ausländischen Revolution im Stück hinuntergeschluckt, und nun liegt es Ihnen unverdaulich im Magen. Sie haben nicht gesehen, daß zwei dieser Begriffe der äußeren Welt angehören, aber daß der dritte keine Bedeutung außer in der inneren Welt hat. Freiheit – wer verweigert Ihnen Freiheit? Freiheit ist ein Bestandteil des privaten Universums, das Sie erforschen oder nicht, je nachdem, wie es Ihnen gefällt, das Universum, wo selbst Naturgesetze aufgehoben sind, wenn Sie es so wollen. Was hat das mit der Welt des Arbeitens und Brotverdienens zu schaffen? Sie wählten eine unmögliche Freiheit, die Sie in der äußeren Welt suchten, und Sie fanden
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nichts als ein Gefängnis.« Es folgte eine frostige Stille, in der die Blicke von Bev abgewendet wurden, als könnten sie eine gefährliche Ansteckung bringen. Mr. Pettigrew entspannte sich mit beängstigender Schnelligkeit, grinste jungenhaft, nahm die Brille ab und putzte sie wieder an seinem Schlips. »Freiheit«, sagte er, kurzsichtig ins Publikum blickend. »Seine Verwendung in der Umgangssprache ist die einzig richtige. Ich habe mir die Freiheit genommen, heute abend länger als beabsichtigt zu Ihnen zu sprechen. Ich habe den langweiligen Volksredner gespielt. Ich versichere Ihnen, das ist nicht meine wahre Stärke. Ich hoffe, wir werden Gelegenheit haben, während Ihres Aufenthalts hier zusammenzukommen und unsere gesegneten inneren Welten eine Zeitlang miteinander zu teilen. Gute Nacht.« Dies sagte er wieder bebrillt, mit scharfem Blick. Und er ging, begleitet von Applaus. Bev beteiligte sich nicht daran.
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11 EINE AUFWALLUNG VON UNEINIGKEIT Es gab in Crawford Manor einige Räume, wo innere Welten aufgesucht werden konnten. Ein paar von diesen Räumen zählten Betten zu ihrem Mobiliar und konnten von innen zugesperrt werden. Es schien weder verborgene Kameras noch Abhöranlagen zu geben. Dort durfte man sich während der Freizeitperioden Freiheiten herausnehmen. In einer Unterrichtsstunde über Arbeitersprache, abgehalten von dem sehr humorvollen und belesenen Mr. Quirk, hatte Bev gelernt, daß die Begriffe »Freizeit« und »Vergnügen«, obgleich etymologisch verschieden, in der Arbeitersprache wechselweise gebraucht werden konnten. In der Praxis war das erstere Wort allerdings im Begriff, das letztere zu verdrängen. Daß beide Begriffe sich auch zu dem sehr angenehmen des »Freizeitvergnügens« verschmelzen ließen, daran dachte Bev jetzt, als er eine liebenswürdige junge Frau namens Mavis Cotton unterhielt und gleichzeitig von ihr unterhalten wurde. Er kannte sie von früher, als sie und er einen Fortbildungskurs für Geschichtslehrer in Ambleside besucht und darin übereingestimmt hatten, daß es ein Haufen dummes Zeug sei. Sie lagen nackt und vor Befriedigung wohlig seufzend auf dem Bett. Bev mußte sich eingestehen, daß er in den fünf oder sechs Zusammenkünften mit Mavis in diesem Zimmer mehr sexuelle Befriedigung erlebt hatte als in all den Jahren seiner Ehe mit Ellen. Bevor Bessie zur Welt gekommen war, hatten sie ein angenehmes Jahr zusammen gehabt, wenn auch niemals ekstatisch. Nach dieser Geburt, die schwierig gewesen war, hatte sie seine Umarmungen gescheut. Er war treu, aber frustriert gewesen. Schließlich war Sex nicht alles, hatte er sich gesagt. Nun sah er, daß Sex eine ganze Menge sein
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konnte. Es war eine Ironie, daß er diese Entdeckung ausgerechnet an einem Ort machen sollte, der jener äußeren Welt geweiht war, die allem Ekstatischen abhold war. Aber nein, natürlich keine Ironie: dieses Paradies der Nerven war allen zugänglich, es gab nichts Elitäres daran. Aber vielleicht gab es nicht bloß eine Arbeitersprache, sondern auch eine Art von Arbeitersex, der nichts mit Selbstverbesserung und erotischer Erziehung im Sinn hatte – Sex mit hornigen Händen, brutal und viehisch? Vielleicht würde es eine Vorlesung darüber geben, bevor der Kurs endete. »Du warst gut«, sagte Mavis. »Du hast das richtig gemacht.« Er schaute sie an, lächelnd und stirnrunzelnd. »Ich weiß nie, ob du mich aufziehst oder nicht.« »Ach, ja und nein. Vielleicht weiß ich es selbst nicht. Ich glaube, ich habe das von meinem Vater, bei dem man oft nicht wußte, woran man war, auch mit der Sprache. Er hatte eine Schwäche für Straßenjargon. Wer war es, der einmal sagte, wie leicht die Mittelklasse proletarisiert werden könnte? Ihr habt nichts zu verlieren als eure Aussprache, so ungefähr sagte er.« »George Orwell«, antwortete Bev. »Mein Onkel kämpfte mit ihm in Spanien. Gott, das liegt fünfzig Jahre zurück. Orwell starb auf sehr unangenehme Art und Weise in Pamplona oder irgendwo. Plante, so sagte mein Onkel, ein Buch zur Huldigung Kataloniens, bis zu dem Tag seiner Erschießung. Er sprach sehr gebildet, sagte mein Onkel.« »Was willst du machen?« fragte Mavis. »Was willst du machen? Haben sie dich schon überzeugt?« Mavis sagte nichts. Sie umwickelte ihre wohlgeformten, ziemlich rosigen Finger mit einer langen Strähne ihres schwarzseidenen Haares. »Ja und nein«, sagte sie dann. »Ich kann mir vorstellen, daß ich vor einer Klasse stehe und von den Märtyrern von Tolpuddle spreche und die Expansion des Imperialismus und dem Schiffbauer Brunel und die Weltausstellung
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von 1851 übergehe. Ich kann mich sogar hören, wie ich es in der Sprache meiner Schüler tue: ›Sie standen unheimlich auf ihre Rechte, darin hatten die damals was drauf, aber die anderen wollten ihnen diese Rechte nicht geben.‹ Denn anschließend kann ich nach Hause gehen und meine Bartokplatten spielen und Proust lesen. Die innere Welt.« »Und wenn deine Bartokplatten abgespielt sind, wer wird neue pressen? Wer wird Bartok spielen? Das Innere ist auf das Äußere angewiesen. Bücher müssen gedruckt werden. Ich wette, du mußtest lange in den Antiquariaten suchen, um Proust zu finden. Die ganze Geschichte beruht auf falschen Voraussetzungen. Es gibt nur eine Welt. Wenn es dir nicht gelingt, irgendein Kind in einer Klasse mit einer Begeisterung für den Geschichtsschreiber Gibbon zu erfüllen, wer wird ihn dann in dreißig Jahren noch lesen?« »Ich kann immer ein paar Randbemerkungen über den Verfall und Untergang des Römischen Reiches bringen und einen Abschnitt aus Gibbons Werken vorlesen und…« »Wenn du noch etwas von Gibbon findest. Und dann nimmt der Direktor dich beiseite, hält dir vor, daß du den Kindern irrelevantes bourgeoises Zeug vorsetzt, das im Lehrplan nicht vorgesehen ist, und geben Sie in Zukunft besser acht, Kollegin, dies ist schon das zweite Mal, daß ich Anlaß habe, Sie zu ermahnen. Siehst du nicht, wie es sein wird, wie es zwangsläufig sein muß? Die Universitäten werden ihre Mittel gekürzt bekommen, wenn sie sich nicht in Zentren für Fortgeschrittene Technologie verwandeln, und ein Zentrum für Fortgeschrittene Technologie wird nicht die Genehmigung erhalten, Literatur als eine Technologie zu betrachten, obgleich sie es ist. Sieh dir die Autoren an, die vergriffen sind und es wahrscheinlich bleiben werden. Die Nivellierung wird sich auf alle Bereiche ausdehnen. Nicht einmal technische Brillanz in den darstellenden Künsten wird erlaubt sein. Diese Typen, die singen und Gitarre
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spielen, haben doch echt was drauf, oder? Machen unheimlich starkes Geld, obwohl die Steuer ihnen den ganzen Scheiß wieder abnimmt, und dabei haben sie nie richtig was gelernt, in Musik und so.« »Du machst das sehr gut. Den Jargon, meine ich.« Sie wälzte sich halb über ihn, und ihr süßer warmer Atem und ihre suchende Zungenspitze liebkosten sein Ohr. »Und das andere«, sagte sie. Sie blickte auf ihre Armbanduhr, das einzige Kleidgungsstück, das sie anhatte. »Ach du meine Güte! Es ist fünf vor vier. Das Seminar!« Sie sprang vom Bett und ergriff ihr einteiliges Kleidungsstück – den Sirenenanzug oder Uniformoverall, den sie nach ihrer Ankunft von einem jovialen Kammerbullen mit den Worten erhalten hatten: »Einige von euch armen Teufeln sehen ein bißchen arg mitgenommen aus. Hier, ein hübsches Stück Drillich mit den Empfehlungen des Hauses.« Bev sagte: »Und wenn man nicht zum Seminar geht?« »Wenn ihr nicht geht, ihr Armleuchter, kriegt ihr eine saubere Abreibung in einem Keller, wo man die Schreie nicht hört und starke Lampen eure veilchenblauen Augen anstrahlen.« Sie hatte den Ton noch nicht ganz richtig getroffen; die allzu präzise Aussprache verdarb ihr Demotisch. Bev verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schaute sie ein wenig mißvergnügt an. Sie würde es noch lernen, und sie war nicht die einzige. Einige hatten bereits gelernt. Dieser Spinner mit seiner Bibel, zum Beispiel, war von einem echten Theologen mit einleuchtenden Argumenten bearbeitet worden, die ihn überzeugt hatten, daß die zwölf Apostel die erste Gewerkschaft gewesen seien, daß Christus für das Prinzip der Koalitionsfreiheit den Tod erlitten habe, und daß das Königreich des Himmels eine proletarische Demokratie bedeute. Dann gab es einen alten Mann, der sie alle etwas gelehrt hatte – ein bekehrter Dissident, der nun zum Personal dieses Rehabilitationszentrums gehörte.
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Er hatte einen sehr bewegenden Bericht über seine Leiden gegeben und erzählt: »Ich habe bis zur Grenze des Möglichen ausgehalten, Brüder und Schwestern. Und nachdem ich sechs Monate lang gebettelt und die Straßen abgeklappert und hinter Hecken und im Knast und wieder draußen geschlafen hatte, sah ich endlich ein, daß ich ein verdammter Dummkopf und ein hirnrissiger Idiot war. Ich hatte einen Beruf, und einen guten – Kontrolleur hydraulischer Pressen -, und hier lebte ich wie ein Hund und tat nicht, wofür ich hätte gutes Geld verdienen können, und das Geld wurde die ganze Zeit besser, das konnte ich den schmutzigen Zeitungsfetzen entnehmen, die ich hier und dort aufsammelte. Ich ruinierte meine Gesundheit und mein Leben, und, was noch schlimmer war, ich enthielt anderen meine Kenntnisse und Erfahrungen vor; in einer Weise vergeudete ich damit die Hilfsquellen der Gemeinschaft. Vergebt mir die langen Worte, aber es sind die richtigen Worte, Brüder und Schwestern, und wenn ihr bessere ausdenken könnt, dann laßt es mich einfach wissen. Ich hielt nichts davon, nach der Pfeife zu tanzen, aber dann sah ich das Licht. Ich hörte sogar wie eine Stimme vom Himmel. ›Es ist deine Hand, die die Pfeife hält‹, schien sie zu sagen, ›es ist dein Atem, der sie ertönen macht. Es gibt nicht so etwas wie einen alleinigen Arbeiter, ihr alle seid ein großer Körper. Wie schrecklich ist die Vorstellung, daß ein Organ des menschlichen Körpers beschließen würde, seiner eigenen Wege zu gehen. Du möchtest eine hübsche heiße Tasse Tee an die Lippen haben und freust dich darauf, weil du vor Durst wie ausgedörrt bist, und dann fängt dein Daumen an zu rebellieren und sagt, er wolle nicht mithelfen, sie zu heben. Furchtbar, furchtbar.‹ Das waren die Worte, oder etwas so ähnliches, daß es keinen Unterschied macht. Ich sah ein, daß es nicht jemand anders war, der mich nach der Pfeife tanzen machte, sondern daß ich selbst es mir durch den Mund eines anderen sagte, den ich dafür abgestellt hatte. Ich hatte Visionen
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von Arbeitern, die gemeinsam marschierten. Ich sah die Kraft von ihnen ausgehen wie eine Feuerflamme. Es hatte eine Zeit gegeben, als die Regierung gesagt hatte: ›Ha ha, macht ihn fertig, er ist bloß ein verdammter Arbeiter, wir haben den Bastard in unserer Gewalt‹, aber ich sah, daß nun alles anders war. Ich sah, daß ich die Macht hatte, und meine Kumpel mit mir, und seitdem bin ich ein anderer. Ich habe nie mehr zurückgeblickt.« Sehr bewegend, beinahe so bewegend wie die Filme, die man ihnen vorführte, sehr gut gemachte Erzeugnisse der TUCFILM in Twickenham, historische Filme über das Ringen der Arbeiterklasse, die einen so mit Erbitterung und Zorn erfüllten, daß man am liebsten laut aufgeschrien hätte. Aber niemand, weder in Filmen noch in Vorlesungen oder in Gruppendiskussionen hatte bisher gewagt, die Erklärung abzugeben, die alles verweigerte, alle Geschichte, alle Jahrhunderte religiöser und humanistischer Lehre: das Recht des Menschen auf Einsamkeit, Überspanntheit, Rebellin, Genie; der Vorrang des Menschen vor den Menschen. »In Ordnung, Liebes, ich werde springen«, sagte Bev, und er sprang aus dem Bett und legte seine Uniform mit der TUCPlakette eines silbernen Schwungrades auf blutrotem Grund an. Er fuhr in die gleichfalls zur Verfügung gestellten Hausschuhe. Die 16.00 Uhr-Glocke schrillte. Sie küßten sich und gingen auseinander, sie zu ihrem Seminar, er zu seinem. »Ich weiß, was noch immer in den Köpfen der meisten von Ihnen steckt«, sagte Mr. Fowler zu seiner Gruppe von zwölf Personen. Sie saßen zwanglos in einem Raum, der in den Tagen der aristokratischen Schloßbesitzer das Blaue Zimmer gewesen war. Jetzt war das alte Mobiliar verschwunden, die Wände isabellfarben getüncht, und sogar die alten barocken Stuckgesimse waren abgeschlagen. »Sie sind noch immer in der traditionellen Vorstellung befangen, daß die unbedingte
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Treue zu einem Kollektiv unvermeidbar sei mit den persönlichen Rechten eines Menschen. Viele von Ihnen hegen Vorurteile und wehren sich gegen etwas, was sie als die Philosophie des Ameisenhaufens betrachten.« Mr. Fowler strahlte, aber er zeigte sich nur in diesen Seminaren als ein fröhlich strahlender Mann; wenn er draußen im Park spazieren ging, furchte er oft die Stirn und murmelte zu sich selbst. Jetzt hingegen konzentrierte er seinen strahlenden Blick auf Bev. »Diese Ameisenverächter unter Ihnen müßten, so sollte man meinen, ein Argument haben, das überzeugend genug ist, um uns Kollektivisten aus der Fassung zu bringen, aber keiner unter Ihnen hat bisher etwas dergleichen vorgebracht. Habe ich nicht recht, Bev alter Freund?« Bev knurrte mißvergnügt, dann sagte er: »Ich möchte diese Angelegenheit aus einem vielleicht illegitimen Blickwinkel betrachten…« »Machen Sie Ihrem Herzen ruhig Luft.« »Ich meine Sie, Mr. Fowler. Sie sind kein Arbeiter. Ich würde sagen, daß Sie aus einem bürgerlichen Elternhaus kommen, vielleicht war Ihr Vater ein Geistlicher, der Ihnen eine Mittelklassen-Erziehung angedeihen ließ…« »Mein Vater«, sagte Mr. Fowler, »war ein Agnostiker. Ein Bankbeamter, wenn Sie es wissen möchten. Was meine Erziehung angeht…« »Mittelklasse«, sagte Bev. »Sie haben nie ein Handwerk ausgeübt, habe ich recht?« »Lehren ist ein Handwerk, wie Sie wissen. Bücher sind die Werkzeuge dieses Handwerks. Was die Klasse betrifft, so ist Ihre Bezeichnung veraltet. Es gibt nur Arbeitnehmer und Arbeitgeber.« »Was ich meine, ist«, sagte Bev, »warum stellen Sie die Allgemeinheit über das Individuum? Warum verkünden Sie so leidenschaftlich diesen Glauben an die syndikalistische
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Gesellschaft?« »Ich habe alles das erklärt. Weil es der Wille der Mehrheit ist und weil es die Hoffnungen und Wünsche der Mehrheit sind, die in unserem modernen Zeitalter zählen müssen, daß der Kult um elitäre Minderheiten, Macht, Interessen, kulturelle Privilegien…« »Natürlich weiß ich das alles«, rief Bev. »Was ich wissen will, ist dies: was haben Sie davon?« »Ich habe nichts davon, ausgenommen die Befriedigung, erfüllt zu sehen…« »Hören Sie schon auf, Fowler! Sie mögen die Mehrheit nicht. Bier, Fußballtoto und Wurfspiele lassen Sie kalt. Die Arbeit in einer Fabrikhalle würde Sie neurasthenisch machen. Sie geben keinen roten Heller für die Sache der Arbeiter. Was haben Sie von alledem? Und was das angeht, was hat der großmächtige Mr. Pettigrew davon?« »Was ich davon habe, Mr. Jones?« Es war Pettigrews eigene Stimme. Alle wandten sich um. Pettigrew saß auf einem einfachen Holzstuhl neben der Tür. Er war während der Diskussion unbemerkt hereingekommen, offenbar in stillschweigendem Einvernehmen mit Mr. Fowler, der auf seine Ankunft weder mit einem Lächeln, Kopfnicken oder Verneigen reagiert hatte. Auch Bev wandte sich betreten um, aber dann sagte er standhaft: »Macht.« Der Bibliothekar Mifflin und der andere Reisegefährte aus der Gruppe, die vor vierzehn Tagen angekommen waren, der junge Mann, der ›Vorwärts, Christliche Soldaten‹ gesungen hatte, machten beide Mundbewegungen, als sagten sie: Jetzt ist er dran.« Auch die anderen Teilnehmer der Gruppe tauschten lächelnde und erwartungsvolle Blicke: dieser Kerl ist reif für den Fleischwolf. Pettigrew stand auf und kam nach vorn, nickte Fowler freundlich zu. Er nahm einen der Einheitssessel und sagte:
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»Natürlich. Macht. So offensichtlich, daß man sich nicht einmal die Mühe macht, darüber nachzudenken. Warum werden Leute Vertrauensmänner, Gewerkschaftsführer, Vorsitzende von Organisationen und Gruppen? Weil sie Macht wollen. Eine interessante Frage ist: warum wollen sie Macht? Können Sie die beantworten, Mr. Jones?« »Weil die Machtausübung das berauschendste Narkotikum ist«, sagte Bev. »Sexuelle Macht, die Macht des Reichtums, die Macht, die mit einem bloßen Aufheben des Fingers eine ganze Industrie zum Stillstehen bringen kann, die eine ganze Nation in Furcht und Sorge halten kann, die Macht des Erpressers – was macht es aus, von welcher Art die Macht ist? Sie ist immer die gleiche wirksame Droge, um ihrer selbst willen begehrenswert. Und gewöhnlich ist sie ein Ersatz für eine gesündere Art von Erfüllung. Eine Kompensation für das Fehlen kreativer Fähigkeiten, oder Potenzschwäche, oder weil die Mutter einen nicht genug geliebt hat.« »Weil Ihre Mutter Sie nicht genug geliebt hat«, sagte Pettigrew. »Gewöhnen Sie sich dieses unbestimmte Pronomen ab. Es ist das verdrießlichste Überbleibsel des bourgeoisen Englisch. Ja«, sagte er dann, »eine Art von Macht an Stelle einer anderen. Sie haben uns nichts Neues erzählt, Mr. Jones. Es muß eine Dynamik geben. Aber die den Führern der neuen Gemeinschaft übertragene Macht ist, wie Sie zugeben müssen, nicht zerstörerischen Zielen geweiht. Es ist keine Macht, wie sie von Hitler oder Stalin ausgeübt wurde. Wir haben keine Konzentrationslager oder Gaskammern. Die Macht der Führer unseres Kollektivs ist die Macht des Kollektivs selbst. Sie hat niemals etwas bewirkt, das diesem Kollektiv nicht genützt hätte. Die Streikwaffe, dieses wesentliche Machtinstrument, hat ohne Ausnahme zumindest in den letzten vierzig Jahren immer eine Besserung des Loses der Arbeiter erreicht. Können Sie das leugnen?«
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»Ja«, sagte Bev, »ich kann. Die Besserung ist allzuoft rein nominal gewesen. Die Löhne gehen in die Höhe, und die Preise folgen. Die Lohn-Preisspirale, wie man sie zu nennen pflegte. Kleine Firmen können neue Lohnforderungen nicht verkraften oder müssen aufgeben, weil sie bestreikt werden und ihre Aufträge nicht ausführen können. Gut, manche von ihnen werden verstaatlicht, es findet eine Bluttransfusion mit öffentlichen Mitteln statt. Aber woher kommt dieses Geld wirklich? Aus Steuererhöhungen, gegen deren lohnmindernde Auswirkungen die Arbeiter sofort streiken. Es ist kein echtes Kapital, es ist nur Papiergeld.« »Wie altmodisch Sie sind, mein lieber Bev«, erwiderte Mr. Fowler mit strahlendem Lächeln. »Kapital ist nicht Geld. Kapital, das sind Ressourcen, das ist Energie, der Wille zu schaffen. Geld ist nichts.« »Interessant«, strahlte Bev zurück. »Geld ist nichts, und doch ist es das einzige, was die Arbeiter interessiert.« »Tauschen Sie es gegen das Wort Konsum aus«, sagte Pettigrew, »und Sie haben alles gesagt, was über das äußere Leben gesagt werden muß. Ja, die Arbeiter wollen konsumieren, sie haben ein Recht zu konsumieren, und der syndikalistische Staat setzt seine Macht ein, um die Verwirklichung dieses Rechts zu garantieren. Während jener glorreichen historischen Epochen, mit denen Sie die Köpfe der Kinder nicht vollstopfen konnten, weil Sie zu Ihrem fortdauernden Verdruß daran gehindert wurden, hatten die Arbeiter herzlich wenig Gelegenheit zu konsumieren.« »Konsum«, sagte Bev bitter, »und was für ein Konsum! Farbfernsehen und denaturiertes Essen ohne Geschmack oder Nährwert, verdummende Fetzen, die sich Zeitungen nennen und Nachrichten durch nackte Mädchen ersetzen, Schmierenkomödianten in Arbeiterklubs, minderwertige, schlecht verarbeitete Möbel und Kühlschränke, die defekt werden, weil
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niemandem mehr daran liegt, anständige Arbeit zu leisten. Nichts als zusammengeschluderter Ramsch. Konsum, Konsum und kein Stolz auf die Arbeit, kein schöpferischer Rausch, kein Verlangen, etwas zu schaffen, zu bauen, zu verbessern. Keine Kunst, kein Denken, kein Glaube, kein Patriotismus…« »Mein lieber Bev«, sagte Mr. Fowler, »Sie vergessen eine sehr einfache Wahrheit. Nämlich die, daß die modernen Herstellungsverfahren weder Freude an der Arbeit noch Stolz darauf zulassen. Der Arbeitstag ist ein Fegefeuer, und der Arbeiter, der sich ihm unterwirft, will dafür gut bezahlt sein, in Geld und in Annehmlichkeiten. Der wahre Tag beginnt, wenn der Arbeitstag um ist. Arbeit ist eine üble Notwendigkeit.« »Für mich war sie es nicht«, entgegnete Bev. »Ich hatte Freude an meiner Arbeit. An meiner Arbeit als Lehrer, meine ich. Meine Arbeit als ein besser bezahlter Ausstreuer von Haselnüssen auf Schokoladenmasse war ein Nichts, eine Abfolge einfacher Körperbewegungen, über denen mein Geist sich in Spekulation, Meditation und Traum erhob. Aber junge Menschen zu erziehen, ihre geistige Entwicklung zu fördern und zu nähren…« »Mit überflüssigem Unsinn zu nähren«, sagte Pettigrew. »Mit nährwertlosen Fasern oder regelrechtem Gift zwangsweise zu ernähren. Ihre Schokoladencremes waren ein ehrliches Futter, Mr. Jones. Hören Sie mich an, Sir!« Dieses Sir war wie ein Versprechen von Stahlruten. »Es war falsch, daß Sie Freude an Ihrer Arbeit hatten. Selbst die Bibel sagt, daß Arbeit Mühsal und Not ist: ›Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen.‹ Sie sind wieder bei Ihrer alten Beschäftigung, zwei Welten durcheinanderzubringen.« »Es gibt nur eine Welt«, rief Bev. »Eine Welt wird kommen«, sagte Pettigrew und nickte, »aber nicht die eine Welt, die Sie meinen. Der holistische Syndika-
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lismus, die Erfüllung des alten Schlachtrufes an die Proletarier aller Länder, sich zu vereinigen. Sie erwähnten den Patriotismus, der bedeutet, was er immer bedeutete – die Verteidigung des Eigentums von einem Sektor der internationalen Bourgeoisie gegen einen eingebildeten Feind, denn der einzige Feind des Arbeiters war die herrschende Klasse, die ihn auf die Schlachtfelder der Welt schickte, um dort gegen andere Arbeiter zu kämpfen. Das ist altes Zeug, Mr. Jones. Das Zeitalter der Kriege ist vorüber, zusammen mit dem Zeitalter der aufgeblasenen nationalen Führergestalten. Das Zeitalter der von oben propagierten mystischen Vision, der Verrücktheit, des Zynismus. Vorbei, erledigt!« »Und nun haben wir das Zeitalter der Langeweile«, sagte Bev. »Ich frage mich, wie lange es dauern kann? Denn ewig kann es nicht währen. Es gibt etwas im Menschen, das sich nach der großen Vision sehnt, nach Wandel, Ungewißheit, Schmerz, Aufregung, Farbe. Es steht bei Dante, nicht wahr? ›Bedenkt eure Ursprünge. Ihr wurdet nicht gemacht, um gleich Tieren zu leben, sondern um der Tugend und Gelehrsamkeit zu folgen.‹ Sicherlich haben Sie Dante gelesen. Gelesen und verworfen, weil er den Arbeitern nichts zu sagen hat. Homo laborans ersetzt Homo sapiens. Caliban verstößt Ariel.« »Meine Herren«, sagte Pettigrew zu der Gruppe, denn es gehörten ihr keine Damen an, »ich bin froh, daß Sie diese Gelegenheit hatten, die Argumente einer Art von Dissident zu hören. Gut möglich, daß einige von diesen Argumenten auch einmal die Ihren waren. Wir kommen zum Ende dieses Rehabilitationskurses. Nächste Woche wird, nach einer viertägigen Pause für das Personal, der nächste beginnen. In diesen letzten Tagen habe ich die Aufgabe, Ihre Diskussionsgruppen zu besuchen und Ihnen die unumwundene Frage vorzulegen: wie steht es jetzt mit Ihnen? Einfache Entscheidungen sind von Ihnen zu treffen, bevor Sie in die Welt der Arbeit zurückkehren. Erstens,
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die Wahl eines Arbeitsplatzes. Unsere Arbeitsvermittlerin, Miß Lorenz, steht mit einer Liste von offenen Stellen zu Ihrer Verfügung. Zweitens, die Ausgabe einer neuen Mitgliedskarte der Gewerkschaft, was gleichbedeutend ist mit einer Wiederherstellung, einer Wiedereinsetzung der Bürgerrechte von Tucland. Drittens und letztens, ein formaler Widerruf der Häresie – hauptsächlich, das sage ich ganz offen, für unsere eigenen Propagandazwecke. Eine aufrichtige Annahme des Gewerkschaftszwanges als Prinzip und eine Absage an den Wahn eines Rechts auf einseitige Aktion.« »Damit«, sagte Bev, »verlangen Sie von uns die Einrichtung einer neuen Moral. Ein Krankenhaus brennt nieder, und die Feuerwehrleute stehen untätig dabei und warten auf ihre zwanzig Pfund Lohnerhöhung. Wir hören die Schreie der Sterbenden und sagen: Das ist in Ordnung, das ist Recht, das Wichtigste zuerst.« »Nein!« rief Pettigrew mit solcher Kraft, daß das Wort von der gegenüberliegenden Wand zurückgeworfen wurde. »Nein und wieder nein«, fügte er ruhiger hinzu. »Sie sehen den Zusammenhang eines öffentlichen Dienstes und bedauern, daß dies geschieht. Sie bedauern die Engstirnigkeit des öffentlichen Arbeitgebers, der die Dinge so weit hat kommen lassen, der sich geweigert hat, den gerechten Forderungen der Arbeiter nachzukommen und sie nun gezwungen hat, die äußere Waffe zu gebrauchen. So sehen Sie die Wirklichkeit jenseits Ihres unmittelbaren Eindrucks.« »Für einen Mann, dessen Frau in einem brennenden Gebäude elendiglich zugrunde gegangen ist«, sagte Bev bitter, »ist es schwierig, eine solch mystische Betrachtungsweise zu erreichen.« »Und doch«, sagte Pettigrew, »hat es Augenblicke gegeben, und erst in jüngster Zeit, da Sie zu sich selbst sagten: Ich kann nicht ganz und gar bedauern, was geschehen ist.«
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»Was wollen Sie damit sagen?« In seinem Magen war plötzlich ein harter, schmerzender Knoten, und das Blut pochte ihm in Kehle und Schläfen. Pettigrew blickte ihn stählern an. »Sie wissen, was ich damit sagen will. Wir hier haben ein Recht zu wissen, welche inneren Welten Sie betreten. Schließlich sind Sie in unserer Obhut.« Er wandte sich zum Rest der Gruppe. »Trägt jemand von Ihnen noch immer Bedenken? Falls es so ist, sprechen Sie sie offen aus!« Niemand antwortete, denn alle waren ganz in Anspruch genommen von dem Anblick Bevs, der aufgesprungen war, sich auf den großen Mr. Pettigrew stürzte und ihn mit den Fäusten bearbeitete. Pettigrews Brille flog davon und landete mit feinem Klirren am Boden. Zwinkernd und keuchend versuchte er von dem Stuhl hochzukommen, wo Bev ihn festgenagelt hatte. Fowler, nun ohne sein strahlendes Lächeln, warf sich von rückwärts auf Bev und enthüllte Kräfte, die keiner der normalerweise von ihm Angestrahlten vermutet haben würde. Niemand kam Bev zu Hilfe. Zwei Männer, Metallarbeiter, und einst sehr aufsässig gesinnt, kamen Fowler zu Hilfe. »Ihr verdammten Verräter«, schnaufte Bev, während Pettigrew bekümmert seine zersprungene Brille betrachtete und Fowler keuchend seine Krawatte zurechtzog. Einer der Metallarbeiter sagte: »Du bist verrückt, Kumpel. Ein Fall von schwerem Dachschaden, weißt du das?« »Vielleicht könnten Sie mir meine andere Brille holen, Fowler«, sagte Pettigrew. »In der linken Schreibtischschublade im Büro.« Fowler ging. Pettigrew versuchte seinen kurzsichtigen Blick auf Bev zu konzentrieren. »Es mag Ihnen komisch vorkommen oder nicht«, sagte er, »aber wir werden Ihnen aus diesem Zwischenfall keinen Strick drehen. Es ist eine letzte Aufwallung von Uneinigkeit. Ich denke, Sie werden sich geheilt finden. Nun, für heute machen wir Schluß. Wir werden morgen wieder
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zusammenkommen.«
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12 DIE GEBALLTE FAUST DES ARBEITERS Das Abendessen war eine solide Arbeitermahlzeit aus tiefgefrorenem Kabeljau in geschlagenem Teig, mit Pommes frites und einer Auswahl von Soßen in Flaschen, gefolgt von totem Baby (blasser Pudding, aus dem rotes Gelee sickerte), dazu reichlich Vanillesoße. Tee wurde wie gewöhnlich in Halbliterkannen serviert. Alle schauten Bev seltsam an, offenbar im Zweifel, ob sie sein kriegerisches Verhalten billigen sollten oder nicht, da niemand Pettigrew wirklich mochte, und alle ihn fürchteten. Manche schienen für Bev das Schlimmste zu befürchten und zeigten ihm bedenkliche Mienen, als sie ihre vorletzte Zigarette des Tages anzündeten. Pettigrew war am Speisetisch der Graduierten, wie er es scherzhaft zu nennen pflegte, nicht anwesend. Als sie nach dem Abendesssen zusammen in den Kinosaal gingen, sagte Mavis zu Bev: »Wie konnte er es erfahren haben?« Bev pfiff ein paar Takte von »Die Amsel, die Amsel, sie hat es gesungen.« »Sei kein verdammter Idiot«, fuhr Mavis auf. »Ich bin keine Klatschtante. Glaubst du wirklich, ich würde herumgehen und dem Personal erzählen, mit wem ich schlafe?« »Mit wie vielen schläfst du?« »Das geht dich einen Dreck an, Jones!« »Bist du sicher, daß du nicht die offizielle Hure des Rehabilitationszentrums bist?« Dafür gab sie ihm eine schallende Ohrfeige und ließ ihn stehen, um sich zu einigen von den Mädchen zu setzen. Bev, dem die Wange prickelte, saß allein, aber nicht vernachlässigt. Viele traurige oder verwunderte Blicke erreichten ihn, ehe die Lam-
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pen abblendeten. Der Vorhang öffnete sich und zeigte eine blutigrote Leinwand mit einem sich drehenden silbernen Schwungrad, während die ersten zwei Takte der TuclandHymne im stereophonen Klang von Jagdhörnern ertönte. TUCFILM präsentierte Der Zorn der Lebenden. Die Handlung war konventionell, bezog jedoch schmerzhafte Eindringlichkeit aus einer in den siebziger Jahren vom ParamountExperimentalstudio entwickelten Technik, wobei die winzige Schwärze zwischen den Bildern, normalerweise von der Kontinuität der Sicht ausgefüllt, eliminiert worden war und die Bilder auf der Leinwand den Eindruck unbearbeiteter Wirklichkeit machten. Das Thema hätte eigens für Bev ausgewählt sein können, denn es handelte von einer Werksfeuerwehr, die für bessere Arbeitsbedingungen und Ausrüstung in den Streik trat und vom Rest der Belegschaft durch einen Sympathiestreik unterstützt wurde. Die schmutzigen Arbeitgeber setzten ihr eigenes Lagerhaus in Brand, dessen Abbruch im Rahmen eines Investitions- und Erweiterungsprogramms ohnehin geplant war, doch nicht ohne vorher dafür zu sorgen, daß die hübsche junge Frau von Jack Latham, einem der Streikenden, in einem Waschraum dort eingesperrt war. Niemand glaubte es, als davon geredet wurde: ein niederträchtiger Trick der Arbeitgeber, nichts weiter. Die Streikenden sahen zu, wie das Lagerhaus brannte, und dann hörte Jack Latham seine Frau schreien: »Jack, Jack, rette mich, Jack!«, und sah kurz darauf tatsächlich ihre Arme und ihr Haar inmitten von Flammen und Rauch in einer Fensteröffnung, aber seine Kollegen hielten ihn zurück: ein elender Trick, schau nicht hin, achte nicht darauf. So brannte das Lagerhaus vollkommen aus, und der Streik dauerte ungebrochen an, und die Arbeiter hatten gewonnen. Aber in den verkohlten Ruinen fand Jack die Erkennungsmarke seiner Frau und wurde wild vor Kummer und Zorn und griff seine eigenen Kollegen an. Und diese gaben es zu: ja, sie hatten es gewußt.
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Aber ein ruhiger, weiser Alter, ein Veteran der guten Sache, rückte ihm den Kopf zurecht: die Sache braucht Märtyrer, die Sache ist durch ihr Blut und ihre schwarzen, himmelwärts fliegenden Aschenteilchen geheiligt. Aber warum die Unschuldigen? Warum sollten die Unschuldigen… Jack kreischte von den vier Wänden und der Decke des Kinosaals. Bev ging hinaus. Bev ging hinaus, etwas bislang nicht Dagewesenes, und traf auf zwei athletisch gebaute Männer in offiziellen Overalls. Einer von ihnen sagte: »Nun, Kumpel, nicht zufrieden mit der gebotenen Unterhaltung?« »Ich habe alles das schon mal gesehen«, sagte Bev. »Ich habe es sogar durchlebt.« Und er ging weiter zu den Schlafräumen. »In der Tat, in der Tat«, sagte der andere, ein Mann mit ungewöhnlich eng beisammenstehenden Augen und ohne Lippen. »In der Tat.« »Nun, es kommt noch dazu«, sagte der erste und versperrte Bev den Weg. »Wir finden nicht nett, was du heute Mr. Pettigrew angetan hast. Keiner von uns hier.« »Wer«, fragte Bev, »ist wir?« »Mr. Pettigrew«, sagte der zweite, »ist der Chef.« »Es gibt keine Chefs mehr«, sagte Bev. »Es gibt Repräsentanten, Delegierte, Sekretäre, Vorsitzende. Aber keine Chefs.« »Für deinen Typ«, sagte der erste, »muß es Chefs geben. Chefsprache ist alles, was dein Typ versteht. Hier entlang!« Bev war in einer schwermütigen Weise erfreut, daß die Organisation, wie er es immer geargwöhnt hatte, schließlich doch das Gesicht der Gewalt zeigen würde. Er wurde zu einem Aufzug gestoßen, den er bis dahin nicht in Betrieb gesehen hatte. Die Kabine sank abwärts, wie zu erwarten war. Sie hielt und öffnete sich unmittelbar in einen Keller, der noch Weinregale enthielt, wenn auch längst leer. In der Mitte des Raumes standen ein einfacher Holztisch und drei Stühle unter eingeschalte-
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ten Leuchtstoffröhren. Ein dritter Mann, nicht brutal aussehend, stand gedankenvoll unter dem Licht und säuberte sich die Fingernägel mit einem Zündholz. »Ah«, sagte er, ohne Enthusiasmus aufblickend. »Ist er das?« »Das ist er, Charlie. Fühlt sich als was Besseres. Er wird Mr. Pettigrew einen hübschen Gefallen tun. Das wird Freudentränen in Mr. Pettigrews Augen bringen, soviel ist sicher.« »Ach, das«, sagte Charlie. Er steckte das Zündholz in die Brusttasche seines Overalls und brachte aus der breiten und tiefen Hüfttasche ein gefaltetes Blatt Papier zum Vorschein. »Das hier ist zu lesen und dann zu unterschreiben. Aber lies zuerst. Setz dich und lies es sorgfältig durch.« Bev setzte sich und las: Hiermit bestätige ich, daß ich nach einem außerordentlich nützlichen Rehabilitationskurs im Ausbildungszentrum des Trade Unions Congress, Crawford Manor, Hast Sussex, zu einer klaren Erkenntnis der Irrtümer gelangt bin, denen ich früher in bezug auf die Ziele und die Organisation des britischen Syndikalismus anhing. Ich zögere nicht, diese Irrtümer hiermit zu widerrufen und wünsche – wenn nötig, öffentlich – bekanntzumachen, daß ich in Zukunft ein kooperatives Mitglied meiner Gewerkschaft und ein loyaler Anhänger der Prinzipien sein werde, für die sie, mit ihren Brudergewerkschaften, steht. Datum:……………….Unterschrift:…………………………. Bev sagte: »Über dieses Verb am Ende bin ich nicht allzu glücklich. Mr. Pettigrews Werk?« »Es ist hübsch und einprägsam«, sagte Charlie. »Ein guter, klarer Text. Hier ist was zu schreiben.« Er hielt ihm einen Kugelschreiber hin. »Du brauchst nichts weiter zu tun als deinen Schnörkel hinzumalen. Das Datum setze ich dann
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ein.« »Passiert das allen so?« fragte Bev. »Muß jeder hier herunterkommen, um zu unterschreiben? Oder bin ich besonders bevorzugt?« »Einige kommen hierher«, sagte Charlie, »aber nicht viele. Sieht so aus, als wärst du der einzige von Kurs dreiundzwanzig. Die übrigen haben gute Zensuren, aber du scheinst ein hartnäckiger Teufel zu sein.« »Hat Mavis euch das erzählt?« fragte Bev. »Namen brauchen nicht genannt zu werden. Und wenn du meinst, dies sei Mr. Pettigrews Idee, dann befindest du dich im Irrtum. Mr. Pettigrew steht über diesen Kellergeschichten. Es bekümmert ihn, wenn jemand als derselbe gesinningslose Bastard von hier fortgeht, als der er gekommen ist. Mr. Pettigrew ist unschuldig und muß vor den rauhen Seiten des Lebens geschützt werden. Nun, du weißt jetzt, was zu tun ist, Freundchen, und was geschehen muß, wenn du es nicht tust, also bringen wir es hinter uns, nicht?« Sie nickten bekümmert, als Bev das Schriftstück zerriß. Der lippenlose Mann sagte: »Charlie hier hat noch viele von den Dingern.« »Nicht allzu viele«, sagte Charlie. »Fangt besser an, Jungs!« Sie fingen an. Sie waren gut in ihrer Arbeit, die keine Spuren hinterließ. Bev lag keuchend am Boden, versuchte Luft zu holen und konnte einfach keine bekommen. »Komm schon, Mann!« sagte Charlie. »Du brauchst nur zu unterschreiben. Du kannst tun, was du willst, wenn du nicht mehr hier bist, aber in Gottes Namen, Junge, benimm dich gegen Mr. Pettigrew nicht wieder so schweinemäßig, wie du es schon getan hast!« Bev fand genug Luft, um »Arschloch« zu sagen. »O weh, o weh«, sagte Charlie. »Sehr ungezogen. Versucht
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es noch mal!« »Hast du die Zange bei dir, Bert?« fragte der erste Schläger. »Die Zahnarztzange? Dieser Kerl hat noch hübsch viele Zapfen in der Futterluke.« »Hab’ sie oben gelassen«, sagte der ohne Lippen. »Soll ich sie holen?« zu Bev gewandt, erläuterte er: »Als ich bei der Polizei war, hab’ ich immer die Zange gebraucht. Schmerzt mehr als bloßes Aus schlagen und fällt weniger auf.« »Später vielleicht«, sagte der andere. »Wir werden sehen, wie wir vorankommen.« »Vielleicht will er jetzt unterschreiben«, sagte Charlie. »Komm schon, Mann, sei vernünftig!« »Bastardelecktmichamarsch.« »Oh, auch gut, undankbares kleines Schwein.« Ich kann die Unterschrift jederzeit widerrufen, sagte Bevs Gehirn, als er getreten und geschlagen wurde. Ich werde unterschreiben, aber noch nicht gleich. Ich werde warten, bis sie mit dem Zahnziehen anfangen. Dies kann ich ertragen, ich halte jede Menge von… Das Gehirn war erstaunt, als seine Lichter auszugehen begannen, und hatte gerade noch Zeit zu sagen: »Nun brauche ich doch nicht zu unterschreiben.« Dann gab es nichts mehr.
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13 EIN FEHLER IM SYSTEM Bev war der einzige Patient in dem kleinen Krankenzimmer gewesen; tatsächlich war er beinahe der einzige Insasse von Crawford Manor gewesen. Sein Kurs war planmäßig zu Ende gegangen, die gebesserten Kursteilnehmer waren in die Welt der Arbeit und des Konsums und der Gewerkschaftstreue zurückgekehrt, das Personal hatte seine viertägige Erholungspause genommen. Aber Bev hatte eine männliche Krankenschwester mit der Telefonnummer eines Arztes gehabt, und die männliche Krankenschwester hatte ihm derbe Mahlzeiten aufgetischt, die größtenteils aus Corned Beef und Zwiebeln bestanden, keine Invalidendiät. Aber Bev war nicht länger ein Invalide. Morgen, wenn der neue Kurs anfinge, würde er in die Freiheit entlassen. Aber Mr. Pettigrew wollte ihn nicht gehen lassen, noch nicht gleich. Mr. Pettigrew gönnte sich keine Unterbrechungen. Er arbeitete die ganze Zeit. Er und Bev, der letztere in einem institutseigenen Morgenmantel, waren drei Tage lang beinahe ständig zusammengewesen, entweder im Krankenzimmer oder in dem winzigen Aufenthaltsraum für die nicht mehr bettlägerigen Patienten. Bev wollte Näheres über das ärztliche Gutachten wissen, Mr. Pettigrew wollte, daß Bev den Widerruf unterschreibe. »Ich sage es noch einmal, Bev: Sie wurden im Zustand der Bewußtlosigkeit nachts auf dem Gelände des Zentrums aufgefunden. Unser Hausarzt diagnostizierte eine leichte Anämie. Unser psychiatrischer Gutachter meint, daß der Verlust des Bewußtseins sehr wohl von einem starken psychischen Spannungszustand hervorgerufen sein könnte, einem Kampf zwischen gegensätzlichen Selbsten, wenn man so will. Ich neige zu der letzteren Ansicht.«
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»Ich wurde zusammengeschlagen. Ich möchte, daß das in die Akten aufgenommen wird.« »Das ist nicht auszuschließen. Ich kann gut verstehen, daß einige Ihrer… ah… Kurskollegen das Verlangen verspürt haben mochten, gegen Sie gewalttätig zu werden. Aber die Unterstellung, daß hier, offiziell, Gewalt angewendet worden sei, ist ganz und gar absurd. Gewalt ist keine proletarische Waffe. Sie ist das Monopol des Kapitalismus und Totalitarismus. Außerdem wies Ihr Körper keine Spuren irgendwelcher Gewaltanwendungen auf – abgesehen von Spuren, die offensichtlich von Ihrem Sturz auf einen Kiesweg herrührten.« »Das Fehlen von sichtbaren Prellungen, Blutergüssen und so weiter«, sagte Bev zum zehnten Mal und mit deutlichem Überdruß, »ist ein sicheres Zeichen professioneller Gewaltanwendung. Aber wie kann die Wahrheit eines einzelnen sich durchsetzen?« »Das ist beinahe ein vernünftiger Aphorismus«, sagte Mr. Pettigrew. »Wie kann ein einzelner sich in irgend etwas durchsetzen? Wahrheit und Tugend und die anderen Werte können nur im Kollektiv ruhen. Was mich wieder auf unser unerledigtes Geschäft bringt. Ich möchte Sie sauber und reformiert aus den Händen geben. Die Gesamtschule B fünfzehn ist nur zu gern bereit, Sie wieder in ihren Lehrkörper aufzunehmen. Ihre Mitgliedskarte der Gewerkschaft liegt bereit. Unterschreiben Sie! Bitte, bitte unterschreiben Sie!« »Nein«, sagte Bev. »Sie kennen die Konsequenzen. Die Konsequenzen wurden Ihnen sehr freimütig und offen auseinandergesetzt.« »Ich weiß«, sagte Bev erschöpft. »Ich bin ein hartgesottener Krimineller. Ich kann nur überleben, indem ich das Leben eines Kriminellen führe. Und wenn ich das nächste Mal erwischt werde, wird es keinen Rehabilitationskurs geben.«
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»Nächstes Mal«, sagte Mr. Pettigrew ernst, »könnte es sich um unbegrenzte Sicherungsverwahrung handeln. Ich sage nicht, daß es so sein wird, aber ich sage, daß…« »Wie bitte?« unterbrach ihn Bev ungläubig. »Sie meinen, wenn ich wieder eine Flasche Gin stehle – oder es versuche; mein Gott, das war alles, was ich letztes Mal tat: ich versuchte… Sie wollen sagen, ich würde dafür lebenslänglich kriegen? Das kann ich nicht glauben. Gott, Mann, das hieße ins achtzehnte Jahrhundert zurückkehren.« »Im achtzehnten Jahrhundert hätten Sie für den Diebstahl eines Brotes gehängt werden können, nicht zu reden von einer Flasche Gin.« »Gin war damals billig«, sagte Bev in der schulmeisterischen Art, die nicht einmal der bevorstehende Tod unterdrücken kann. »Betrunken für einen Penny, sturzbetrunken für zwei, sauberes Stroh umsonst.« »Damals wurde bedenkenlos hingerichtet. Wir leben nicht im sogenannten Zeitalter der Aufklärung.« »Gewiß nicht. Universale Finsternis bedeckt alles.« »Sie sollten wissen, daß der Strafvollzug in den letzten zehn Jahren eine drastische Veränderung erfahren hat. Der TUC hat die Abschaffung von Zuchthäusern und Zwangsarbeit durchgesetzt. Arbeit, von welcher Art sie auch sei, bedarf der Vertretung durch eine Gewerkschaft. Wir können nicht zulassen, daß die Insassen von Gefängnissen ausgebeutet werden. Heutzutage gibt es praktisch nur eine Art von Haft.« »Sie meinen Einzelhaft? Lebenslängliche Einzelhaft?« »O nein, nichts dergleichen. Der TUC würde keiner derart unmenschlichen Bestrafung zustimmen. Ich möchte es so ausdrücken: der Unterschied zwischen der Strafvollzugsanstalt und dem Heim für Geisteskranke muß notwendigerweise abnehmen, bis er eines Tages ganz verschwindet. Das Heim für Geisteskranke stellt, soweit es die Annehmlichkeiten der er-
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zwungenen Einschließung betrifft, eine Verbesserung dar. Heime für Geisteskranke werden nicht wie Gefängnisse, will ich damit sagen – es ist andersherum. Sie können sehen, daß es dazu kommen mußte.« Bev starrte ihn wenigstens fünf Sekunden lang mit Entsetzen in den Augen an. »Die Klapsmühle? Die Irrenanstalt? Unmöglich, dazu muß Geisteskrankheit festgestellt werden.« »Wäre das in Ihrem Fall so schwierig? Sie sind rückfällig, atavistisch, ein hartnäckiger Krimineller, eine Gefahr für die Gesellschaft. Sie lehnen die Vernunft der Arbeit ab.« »Ich lehne die Unvernunft ab, die in Ihrem syndikalistischen Staat mit Arbeit einhergeht«, sagte Bev kleinlaut. »Ich habe ein Recht auf meine exzentrische Philosophie.« »Sie geben zu, daß Sie exzentrisch sind? Ja, natürlich, das müssen Sie. Die Lücke zwischen exzentrischem Verhalten und Wahnsinn ist leicht zu überbrücken. Machen Sie sich das klar, Bev! Sie werden mit paranoiden und schizophrenen und Fällen hochgradigen Schwachsinns bis zur Idiotie in einer Anstalt leben. Nicht unbegrenzt und zur Bestrafung, sondern weil es unmöglich ist, die Zeit in Begriffen eines richterlichen Urteilsspruchs zu quantifizieren. Sie werden auf unbestimmte Zeit eingewiesen werden, und unbestimmt bedeutet: bis jemand es für lohnend hält, den langen bürokratischen Prozeß Ihrer Entlassung einzuleiten, weil hinreichende familiäre Überwachung und Fürsorge gewährleistet sein werden. Unbestimmt kann also soviel wie unbegrenzt heißen, es kann aber auch eine wesentlich kürzere Periode bezeichnen. Schließlich gibt es keine Gewahrsamsperiode, die kürzer wäre als eine unbestimmte. Alles eine Frage der Sorge und Aufmerksamkeit, die für Sie aufgewendet werden. Der Staat aber wird sich nicht um Sie kümmern. Der TUC auch nicht. Warum sollte er sich für jemanden einsetzen, der sich vorsätzlich seines Schutzes und seiner Fürsorge entledigt
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hat? Was Familie betrifft – Sie haben keine Familie, Bev.« »Ich habe eine Tochter.« »Sie haben eine Tochter – Elizabeth oder Bess oder Bessie. Sie stellt ein weiteres Problem dar. Die staatlichen Institutionen für elternlose, schwer erziehbare und verwahrloste Kinder sind unglücklicherweise überfüllt und führen Wartelisten, deren strikte Einhaltung ein Gebot der Gerechtigkeit ist. In der Dokumentation, welche die Aufnahme Ihrer Tochter in das Heim für Jugendliche G-Sieben in Islington begleitete, scheint ein Fehler unterlaufen zu sein. Sie gaben anscheinend zu Protokoll, daß Sie durch den Tod Ihrer Frau verstört und unfähig seien, sich um Ihre Tochter zu kümmern. Das wurde natürlich im Sinne eines vorübergehenden Arrangements aufgefaßt. Es wurde nicht mit wohlwollendem Verständnis aufgenommen, daß Sie anschließend der Gesellschaft den Rücken kehrten und sich den Bettlern, Herumtreibern und Kriminellen anschlössen. Sie gehören nicht zu den legitim Arbeitslosen. Sie haben keinen Anspruch auf die kostenlosen Dienstleistungen des staatlichen Erziehungssystems. Ihre Tochter muß das Heim wieder verlassen. Sie kann Ihnen natürlich in Ihrer hoffnungslosen Verwahrlosung Gesellschaft leisten, aber ein Kind solchen Lebensumständen zu unterwerfen, ist in sich selbst ein Verbrechen. Unterschreiben Sie, Bev! Kehren Sie in die Gemeinschaft der Werktätigen zurück! Lehren Sie, was Sie zu lehren haben! Beziehen Sie Ihr Gehalt! Organisieren Sie freiwillige Abendkurse über die Geschichte der Renaissance und der Reformation! Zeigen Sie Vernunft! Unterschreiben Sie!« Er hatte den Widerruf und einen Füllhalter bei der Hand. Der Füllhalter war sympathisch, ein gedrungener Tintenbehälter aus altmodischem Vulkanit, die Feder stabil und vergoldet und schwärzlich feucht. »Nein«, sagte Bev. Pettigrew blieb beherrscht. »Nun gut«, sagte er. »Es bleibt
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Ihnen Zeit bis morgen. Noch etwas. Der Arzt sagt, daß Sie auf Ihr Herz achtgeben müssen. Er war nicht allzu glücklich über das, was er feststellte. Sie sind gesundheitlich nicht in der Verfassung, das anstrengende Leben des Ausgestoßenen zu führen. Morgen früh können Sie sich Ihre eigenen Sachen anziehen und sich um neun bei mir im Büro melden. Wenn Gebete angebracht wären, würde ich beten, daß ein Engel der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes in der Nacht auf Sie herabkommen möge.« Er stand auf, elegant in seiner Tweedkleidung (denn man war schließlich auf dem Lande), rückte die Brille auf der Nase zurecht und schob die Stirnlocke zurück, bevor er zum Abschied traurig den Kopf schüttelte. Bev sagte: »Nachdem es scheint, daß ich in dieser oder jener Form in die Außenwelt zurückkehren werde, könnte ich vielleicht Nachrichten daraus bekommen? Wir sind die letzten Wochen völlig abgeschlossen gewesen und…« »Der Streik der Nachrichtenmedien dauert an, und mit Recht. Sie brauchen keine Nachrichten von draußen. Sie haben heute abend genug zu tun und brauchen weder Zeitungen noch die Glotze. Denken Sie, Mann! Denken Sie!« Und er ging. Bev dachte nicht. Er grübelte lediglich über verschiedene mögliche Versionen der Zukunft nach. Er war fest entschlossen, niemals nachzugeben. Wenn es zum Schlimmsten käme, böte London viele spektakuläre Gelegenheiten für den Selbstmord eines Märtyrers. Aber was sollte aus der armen Bessie werden? Er wälzte sich lange schlaflos herum, doch irgendwann schlummerte er ein – und er träumte ungeachtet seiner Sorgen von Engelsposaunen, die über die Stadt hinbliesen (natürlich, Pettigrew hatte ihm Engel in den Kopf gesetzt), und dann von einer lauten Stimme, die rief: »Das Königreich ist erfüllt«! Arbeitsmänner in seltsamen Gewändern schlugen Fässer auf, und goldene Flüssigkeiten stürzten heraus, um blasenwerfend durch
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die Rinnsteine zu fließen. Banner mit unverständlichen Inschriften wehten von hohen Gebäuden. In der Ferne war der donnernde Hufschlag Berittener zu vernehmen und näherte sich, obwohl die Reiter unsichtbar blieben. »Sie kommen«, rief Ellen, wiederhergestellt und ganz, »aber um des Allerhöchsten willen, laß es ihnen nicht durchgehen!« Dann dröhnte der Huf schlug ohrenbetäubend laut. Der Himmel, blutrot, wurde fahlgelb. Bev erwachte schwitzend. Nach dem Licht zu urteilen, schien es ungefähr sieben Uhr früh zu sein. Er stand auf, wusch und rasierte sich und zog seine alten Kleider und Schuhe an. Den zerlumpten Mantel über dem Arm, verließ er die Krankenstation und durchwanderte die Korridore und ging die Treppe hinunter, die zum Speisesaal führte. Zerstreut beklagte er den heruntergekommenen Zustand, in den dieses Schloß des achtzehnten Jahrhunderts geraten war. Was in Wänden, Säulen, Treppenschwüngen an Schönheit der Proportionen, der Linienführung und des Materials geblieben war, war mit gelbbrauner Leimfarbe, Plakaten, billigen Bodenbelägen aus Kunstfaser und einer drei Meter hohen ausgeschnittenen Darstellung von Bill der Verkörperung des Werktätigen mutwillig ausgelöscht worden. All diese Schönheit, all jene ausgesuchten Besitztümer der von den Steuern ruinierten Crawford-Familie waren fort, verkauft an Amerikaner oder Araber. Kein Raum für Schönheit, denn Schönheit war immer nur für Minderheiten. Pettigrew und seinesgleichen waren wenigstens konsequent: keine Überbleibsel der privilegierten Vergangenheit verdienten erhalten zu bleiben, selbst wenn dies eine selbst zugefügte Wunde für jene sein mußte, die in der Kenntnis dessen, was Privileg bedeutete, auch wissen mußten, daß die Vehikel des Geistes und der Fantasie, die zu liquidieren sie begonnen hatten (all dieser Unsinn über die innere Welt!) das waren, was menschliches Leben ausmachte. Perversion, Masochismus, Märtyrertum. Geschmack
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und Intelligenz lärmend von denjenigen geleugnet, die sie besaßen und wußten, daß sie die höchsten Güter waren. Solche Männer waren fanatisch. Solche Männer waren gefährlich. Als er sich dem Speisesaal näherte, spürte Bev in seinen Eingeweiden, daß er bis zum letzten verfolgt werden würde. Verfolgt von seinesgleichen. Zwei Tische waren bereits besetzt von Neuankömmlingen für den nächsten Rehabilitionskurs. Als Bev die Theke entlangging und sein Tablett füllte – Tee, Joghurt, Butter und lepraweißen, pappigen Toast -, sah er Mr. Boosey, den Transportbegleiter, seinen Tee schlürfen, während er auf drei frisch gebratene Spiegeleier wartete. Mr. Boosey erkannte ihn und lächelte unangenehm. »Haben sie dir den Kopf zurechtgesetzt, wie? Ein guter Junge jetzt?« »Schieb ab!« sagte Bev. »Steck dir deinen Ballermann hinten rein und drück ab, du Bastard!« Mr. Boosey knurrte. Bev hielt nach einem Platz Ausschau und sah Mr. Reynolds, der ihm zulächelte. Bev setzte sich zu ihm, und Reynolds sagte: »Ja, ich dachte mir, daß Sie hier gelandet sein müßten. Man hat mir gesagt, daß es früher oder später allen so ergeht. Sind Sie bekehrt?« »Nein. Wobei hat man Sie erwischt?« »Ich ließ einen ganzen Schinken mitgehen. Aß außerdem zuviel davon, mit einigen von unseren alten Freunden der Gemeinde. Dann kamen die vom Lebensmittelgeschäft mit der Polizei und sagten: Das ist der Mann. Ecce homo. Werde ich es hier amüsant finden?« »Viele werden bekehrt«, sagte Bev. »Seien Sie auf der Hut!« »Drogen im Tee? Positive Verstärkungen? Folter?« »Ich wurde gefoltert«, sagte Bev. Reynolds wurde blaß wie der Dotter seines Spiegeleis. »Aber ich gehe von hier, wie ich kam.«
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Reynolds nickte und nickte. Er sagte: »Sie erinnern sich an meinen kleinen schwarzen Freund, den Trevor? Analphabet, oder jedenfalls beinahe, aber sehr hartnäckig, wenn es um die persönlichen Rechte geht. Nun, er schloß sich dieser freien Armee an, oder wie sie sich nennt. Kam vorbei und zeigte eine Flasche gekauften Gin und seinen ersten Monatssold vor. Ein großzügiger Junge, freute sich wie ein Schneekönig. Keine richtige Armee, Mann, sagte er. Wir haben keine Waffen. Eine schlaue Organisation, würde ich sagen. Nicht leicht zu verbieten. Man kann nicht mal eine richtige Uniform nennen, was sie tragen. Sieht aus wie ein eleganter Freizeitanzug – grün, mit Gürtel und einem gelben emaillierten Rangabzeichen am Aufschlag. Grün für England, nehme ich an…« »Und gelb für Islam«, sagte Bev. »Sie schienen interessiert. Dachten Sie daran, sich zu melden?« »Lieber junger Freund, in meinem Alter? Mit meiner Arthritis? Wie alt sind Sie übrigens?« »Achtunddreißig, im Februar.« »Denken Sie darüber nach. Sie brauchen Ausbilder, sagen sie, aber wofür, weiß allein der liebe Gott. Gewerbe, denke ich. Trevor hatte früher auf dem Bau gearbeitet. Ich bin bei den Pionieren, Mann, sagte er mit stolzgeschwellter Brust. Hört sich natürlich besser an als Mörtelträger oder Handlanger. Vielleicht brauchen sie auch Geschichtsuntericht. Es war doch Geschichte, was Sie lehrten, oder? Warten Sie…« Er griff in seinen ruinierten braunen Anzug und zog ein zerknittertes Exemplar des Freien Briten hervor. »Alle lesen das Blatt«, erläuterte er. »Es gibt sonst nichts zu lesen. Angeblich strahlen sie auch Radio- und Fernsehprogramme aus. Schrecklich tüchtige Leute. Sie werden Anschriften und Telefonnummern irgendwo da drinnen finden. Die Telefone sind allerdings noch nicht wieder in Betrieb. Die Eisenbahnen fingen gerade rechtzeitig
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für unsere Reise hierher wieder an. Welch ein elendes Durcheinander.« »Haben Sie Geld?« fragte Bev. Reynolds blickte ihn streng an. »Nicht hier«, sagte er. »Ist es verboten, unbegleitet zu den Toiletten zu gehen?« In der Toilette händigte Reynolds ihm drei Zehnpfundnoten aus. »Das ist ein kleines Verbrechen, das unentdeckt blieb. Nicht einmal die alles durchschnüffelnde Polizei fand die Scheine. In die Socken schauen sie einem selten, und erst recht nicht in einen Gummistrumpf… In gewisser Weise bedaure ich die Tat. Eine alte Dame, die von der Bank kam. Trotzdem, sie haben uns dazu getrieben, die Schweine. Tut mir leid, daß es nicht mehr ist. Sie werden damit nicht sehr weit kommen.« Mit keckem Selbstbewußtsein ging Bev um punkt neun Uhr zu Mr. Pettingrews Büro. Die nächsten ein, zwei Tage brauchte er nicht Hunger zu leiden. Er würde sich überlegen, ob er den Freien Briten beitreten sollte. Ehe Pettigrew den Mund auf tun konnte, sagte er: »Nein. Ich unterschreibe nicht.« Pettigrews kleines Büro hatte etwas von einem klerikalen Besprechungszimmer, obwohl kein Kruzifix an der Wand hing und der muffige Geruch ungewaschener Soutanen fehlte. »Manchmal wird ein besonderer Erlaß gewährt«, sagte Pettigrew seufzend. »Sie sind mehr als willkommen, den Kurs zu wiederholen. Miß Cotton würde Ihnen helfen. Sie scheint wirklich Gefallen an Ihnen…« »Nein«, sagte Bev. »Gut«, sagte Pettigrew und erhob sich zur Androhung göttlicher Strafen, »dann muß ich das weltliche Äquivalent eines Bannfluches aussprechen. Alles Menschenmögliche ist für Sie getan worden. Als ich heute früh auf die Badezimmerwaage stieg, bemerkte ich, daß ich mehrere Kilo verloren habe. Mein Appetit hat nachgelassen. Noch nie ist mir eine derart peinliche Verstocktheit untergekommen.«
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»Habe ich Anspruch auf eine Freikarte für die Rückfahrt?« »Gehen Sie zu Miß Lorenz, damit habe ich nichts zu tun. Besorgen Sie sich Ihre Freikarte und verschwinden Sie! Lassen Sie sich nie wieder blicken! Sie sind ein Fehler im System, ein Mehltau! Der Tod wird Sie bald ereilen, täuschen Sie sich da nicht! Sie haben sich vom Blutkreislauf der Gemeinschaft abgeschnitten und müssen abfallen, ein Stück stinkenden, brandigen Fleisches. Ich kann Ihre Fäulnis von hier riechen. Gehen Sie, Sie Stück vom Tod!« »Sie sind verrückt, Pettigrew«, sagte Bev. »Sie prophezeien mein Ende, also lassen Sie mich das Ihrige prophezeien, und das Ende des Systems, das Sie und Ihresgleichen ins Leben gerufen haben…« »Gehen Sie! Jetzt! Auf der Stelle! Oder ich lasse Sie hinauswerfen!« »Sie werden an der Realität scheitern, Pettigrew. Es wird nicht mehr genug Waren zu konsumieren geben, keinen Treibstoff mehr zu verbrennen, kein Papiergeld mehr, das seinen Wert hat und inflationiert werden kann. Sie werden scheitern an der wiedergewonnenen Vernunft der Arbeiter selbst, die in ihren Herzen wissen, daß dies nicht lange so weitergehen kann. Und Sie werden scheitern an der Realität des Eindringlings, dessen Wahn fanatischere Kräfte freisetzen wird, als die Ihrigen es sind. Wenn ich sterben muß, sage ich: so sei es. Aber Sie glauben, daß Tod tatsächlich Leben sei…« »Charlie!« rief Pettigrew mit lauter Stimme. »Phil! Arnold!« Sein Ruf war überflüssig, denn er hielt einen Knopf an seinem leeren Schreibtisch mit dem Finger niedergedrückt. »Ah«, sagte Bev und lächelte. »Die Schläger kommen. Ich bin fertig, Pettigrew. Ich gehe.« »Fertig, ja, ja. Fertig und erledigt, das sind Sie, fertig und erledigt und verloren!« Bev ging gerade, als die Muskelmänner hereinkamen. Charlie
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nickte ihm ohne Groll zu. »Noch immer nicht unterschrieben?« fragte er. »Noch nicht«, sagte Bev. »Mr. Pettigrew scheint euch zu benötigen. Ein kleiner Anfall von Hysterie.« Und er eilte fort, um seine Fahrkarte zu holen. Tief sog er die freie Januarluft ein, als er Crawford Manor verließ. Er schritt kräftig aus und kam zu Batemens, Kiplings altem Wohnhaus, das nun ein kybernetisches Zentrum beherbergte. Jemand dort hatte sich des Dichters erinnert, denn nahe der Grundstückseinfahrt stand eine Art Gedenkstein am Straßenrand, dessen Inschrift so lautete: S’ ist Tommy hin und Tommy her und Tommy pack dich schnelle, aber s’ ist danke Mr. Atkins, wenn aufspielt die Kapelle. Bev ging weiter in das Dorf Burwash, weil er einen Bus brauchte, um die Station in Etchingham zu erreichen. Der nächste Bus war erst in drei Stunden fällig. Er stellte sich an den Straßenrand und winkte den vorbeifahrenden Wagen, von denen es in Anbetracht der Benzinpreise nicht viele gab. Endlich hielt ein grüner Spivak. Ein hagerer Mann beugte sich zum Fenster und fragte: »Wohin?« »Nun, London.« »Wo in London?« »Irgendwo.« Bev erkannte, daß er wirklich nicht wußte, wohin er wollte. Islington war ein Ziel, das er ansteuern mußte, aber noch nicht gleich. »Steigen Sie ein!« »Danke.« Der hagere Mann war ein geschickter Fahrer. Seine ethnische Herkunft war schwierig zu bestimmen: Armenier? Grieche?
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Irgendein obskures Völkchen aus Nordindien? Aber er war es, der die Fragen stellte. »Einer von den Dissidenten, die sie im Schloß behandeln?« »Richtig. Immer noch Dissident.« »Beruf?« »Arbeiter in einer Süßwarenfabrik. Davor Schulmeister.« Der Mann verdaute das. »Und Ihnen gefallen die Dinge nicht, wie sie sind«, sagte er schließlich. »Nun, da sind Sie nicht der einzige. Es muß alles anders werden.« Auch sein Akzent war schwierig zu plazieren. Scharf und herrenhaft, aber mit einem gerundeten ausländischen o, das von überallher kommen konnte. »Sie werden es bald sehen, denke ich. Veränderungen stehen bevor, schreckliche Veränderungen.« »Was ist Ihr Gewerbe?« fragte Bev. »Oder Ihr Beruf?« »Ich arbeite für die Baufirma Bevis«, sagte der Mann. »Wir haben uns auf die Errichtung von Moscheen spezialisiert. Ich habe überall auf der Welt Moscheen gebaut. Zum Beispiel die bei der Via della Conciliazione in Rom. Kennen Sie Rom?« »Unglücklicherweise habe ich es mir nie leisten können, zu verreisen.« »Es lohnt sich nicht, Rom zu kennen. Nicht mehr. Dort können Sie sehen, was Bankrott wirklich ist. Gegenwärtig arbeite ich an dem Projekt in der Great Smith Street.« »Ah«, sagte Bev. »Die Masjid ul-Haram.« »Sie sprechen arabisch?« »La. Ma hiya jinsigatuk?« Der Mann schmunzelte. »Zuerst sagen Sie nein, dann fragen Sie mich, von wo ich bin. Sagen wir, daß ich islamisch bin, das genügt. Der Islam ist ein Land, genauso wie Ihr Tucland ein Land ist. Glaube und Ideen, das ist der Stoff, aus dem Länder gemacht sind. Der große Unterschied zwischen dem Islam und den materialistischen Staaten ist der Unterschied zwischen Gott und einer Flasche Bier. Finden Sie das schockierend?«
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»Überhaupt nicht.« Bevs Traum kam in kleinen Stücken wieder hoch. »Sie fröstelten. Ist Ihnen kalt? Soll ich die Heizung aufdrehen? « »Nein, nein, danke. Sie sprachen von schrecklichen Veränderungen. Ich reagiere verspätet.« »Mich schaudert es auch, wenn ich daran denke«, sagte der Mann. »Aber mich schaudert nicht aus Sorge um mich selbst. Nein, nein, das nicht.« Leichtes Schneetreiben setzte ein.
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14 MEIN LEBEN UND MEIN GUT Die Anschrift war Glebe Street 41 in Bevs früherem Stadtteil Chiswick. Er verglich sie nochmals mit der letzten Zeile des Freien Briten, bevor er läutete. Es war ein sehr schäbiges flachgedecktes Terrassenhaus mit vernachlässigtem Vorgarten und überquellender Mülltonne. Ein kauendes Mädchen, gekräuseltes Kastanienbraun in einem grünen Anzug mit gelbem Abzeichen, öffnete ihm. »Sie werden dort warten müssen«, sagte sie mit einer Kopfbewegung zu einer Tür rechts von ihr. Über die läuferlose Treppe kam ein schnurrbärtiger Mann leichtfüßig herunter, Papiere in den Händen, grüne Hosen, weißes Hemd. Er warf Bev einen schnellen, schlauen Blick zu, während er die Papiere dem Mädchen gab und sagte: »Fünf von jedem, Bery. Großer Gott, kenne ich Sie nicht?« Das war zu Bev. Dieser sagte: »Warten Sie. Sie machten die letzte Inspektion für die Schulaufsichtsbehörde. Ihr Name ist Forster.« »Faulkner. Ja, in der Tat, ich war bei der Schulaufsichtsbehörde. Waliser sind Sie, nicht? Irgendein walisischer Name. Kommen Sie wegen eines Jobs?« »Ich bin gekommen, um mich über die Möglichkeit einer Anstellung zu erkundigen. Jones ist mein Name. Magister der philosophischen Fakultät, Universität von…« »Augenblick, ich hole meine Jacke«, sagte Faulkner. »Sehr stickig da drinnen. Ich bin reif für eine Pause. Und ich habe einen Durst, den ich um keinen Preis verkaufen würde – Beryl, sagen Sie dem Hauptfeldwebel, daß er ein Weilchen allein weitermachen soll, ja? Dieser Herr und ich sind im Feathers.« In der Klubbar des Feathers trank Faulkner, dessen gelbem Rangabzeichen das schwarze Viereck eines Majors erhaben
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aufgeprägt war, durstig seinen Gin Tonic und bestellte noch einen. Bev machte sich über einen Teller mit Käsesandwiches und Würztunke her und nippte von einem doppelten Scotch. »Der Preis davon«, sagte Faulkner. »Immerhin, es wird nicht mehr lang dauern.« »Sie meinen, die Preise werden heruntergehen?« »Ich meine, daß es einfach nichts mehr geben wird«, sagte Faulkner. »Es wird ein Mordsspektakel geben, aber es muß sein. Aber das tut nichts, das Wichtigste zuerst.« Er musterte den schäbigen, wenn auch glattrasierten Bev. Er selbst war schmuck und ansehnlich, mit schlauem Blick und kurzem pomadig glänzendem schwarzen Haar, das wie mit einem Lineal gescheitelt war. »Dann sind Sie einer von den unartigen Jungen? Schon gut, erzählen Sie es mir nicht! Ich hatte Verdruß wegen meines hundertseitigen Berichts über die Situation des naturwissenschaftlichen Unterrichts in der Sekundarstufe. Wenn es Ihnen nicht gefällt, sagte ich – den Rest können Sie sich denken. Hinter was für einem Job sind Sie her?« »Was für Jobs gibt es?« »Zugänge für das Offizierskorps werden von der obersten Instanz bearbeitet. So will seine Lordschaft es. Ich kann im AlDorchester anrufen, aber er wird morgen bestimmt dort sein. Ich kann Ihnen ein Empfehlungsschreiben mitgeben.« »Seine Lordschaft?« »Ja, so nennen wir ihn. Den Boß. Kommandierender Oberst. Lawrence ist nicht sein richtiger Name. Er ist nicht einmal Anglo-Ire, oder was immer sein Namensvetter T. E. Lawrence war. Das Geld ist gut. Sehr sehr gut.« » Unterbringung? « »Sind Sie verheiratet?« »Meine Frau kam kurz vor Weihnachten bei einem Großbrand ums Leben. Als die Feuerwehr streikte. Ich habe eine Tochter. Dreizehn. Geistig zurückgeblieben. Ein Opfer einer
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dieser die Schwangerschaft erleichternden Drogen. Sagen Sie, könnte ich noch einen haben?« Das Whiskyglas zitterte in seiner Hand. »Selbstverständlich.« Er winkte dem Barmann. »Ist sie ein hübsches Mädchen?« »In einer üppigen Art und Weise – ach Gott, ich sollte nicht so über meine eigene Tochter sprechen. Sexuell frühreif, natürlich. Fernsehsüchtig.« »Da wird sie nicht anders sein als viele Mädchen mit dreizehn«, sagte Faulkner. Nach einem Augenblick fügte er hinzu: »Wenn Sie zum Al-Dorchester gehen, nehmen Sie sie mit.« »Warum? Danke.« Er nahm seinen neuen doppelten Scotch und spritzte Soda hinein. »Dort werden sie alles wissen wollen«, sagte er unbestimmt. »Ich schreibe Ihnen jetzt schnell die Empfehlung.« Er zog einen Block mit vorgedrucktem Kopf aus der Brusttasche, schrieb etwas, riß das Blatt ab, faltete es und gab es Bev. Dann fragte er: »Wie religiös sind Sie?« »Religiös? Ist das wichtig?« Faulkner wartete. »Nun, ich wurde als Methodist erzogen. Ließ das später fallen. Jetzt bin ich nichts. Gott hat die Menschheit aufgegeben.« »Ah«, sagte Faulkner. »Das würde nicht jeder sagen. Ich bin Unitarier. Das hilft. Seine Lordschaft wird es wissen wollen. Er wird über eine Gesellschaft herziehen, die vom Materialismus verrückt geworden ist. Er glaubt, die einzige Antwort sei eine Rückkehr zu Gott. Er wird wissen wollen, wie Sie dazu stehen.« »Unterbringung?« fragte Bev wieder. »Das übliche. Keine Doppelzimmer, fürchte ich. Aber bringen Sie Ihre Tochter zum Al-Dorchester. Fragen Sie nach der Abu-Bakr-Suite. Wo wohnen Sie?« »Ich bin gerade erst aus Crawford Manor entlassen worden. Mein Rehabilitationskurs blieb erfolglos. Aber ich habe dreißig
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Pfund.« »Damit werden Sie nicht weit kommen. Wir haben eine Übernachtungsstelle beim Bahnhof Turnham Green. Nur für Offiziere. Ich kann Ihnen dort eine Übernachtungsmöglichkeit verschaffen, wenn Sie wollen.« »Das ist nett von Ihnen.« »Nein, ich tue nur meine Arbeit. Wir brauchen gute Offiziere. Für die unteren Ränge fehlt es nicht an Rekruten. Eine Armee zu führen ist immer das Problem.« »Taugt die Armee etwas? Wie ist sie? Danke.« Er hatte einen dritten doppelten Scotch bekommen. Faulkner musterte ihn kühl, ehe er antwortete. Dann sagte er: »Wie die Heilsarmee – in gewisser Weise. Aber wir sind nicht für Penner und Alkoholiker da. Wir sind für das Vaterland da. Wir sind der alternative Staat. Wir haben keine Waffen. Wir haben nicht den Wunsch, außerhalb der Gesetze zu operieren. Es sei denn, die Legislative stellt sich selbst außerhalb der Vernunft.« »Das hat sie bereits getan«, sagte Bev trübe. »Nein. Gebrauchen Sie Ihre Fantasie. Oder warten Sie einfach ab. Ich glaube nicht, daß Sie allzu lange werden warten müssen. Die Ereignisse haben ihre eigene Dynamik. Was immer der Geist sich vorstellt, er bleibt eine zögernde, unschlüssige Maschine. Warten Sie! Noch einen für unterwegs?« Die Übernachtungsstelle war früher Teil einer kleinen Keksfabrik gewesen. Bev fand mehrere Sechsbettzimmer, sehr saubere Waschräume und eine Küche, die Brot und Käse und sehr starken Tee bereitstellte. Es gab keine Offiziersbar. Im Gespräch mit den Leutnants Brown und Derrida, Hauptmann Chakravorty und dem stellvertretenden Major Latimer erfuhr Bev, daß sie Posten in Provinzkasernen antreten sollten und auf ihre Marschbefehle warteten. Ihre Zielorte waren Darlington, Bury St. Edmunds, Durham und Preston. Chakravorty schätzte
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die Stärke der Freien Briten auf gegenwärtig über fünfzigtausend, doch leide die Armee unter einem ernsten Mangel an Offizieren. Das Problem der Anlage von Waffenlagern machte Latimer Sorgen. Er war überzeugt, daß es bald notwendig sein werde, bewaffnet zu sein. Er empfahl Schnellkurse im Gebrauch automatischer Waffen, notfalls mit Waffenattrappen. Aber sie benötigten ein Netz von Waffenlagern und mußten in der Lage sein, den ungehinderten Transport von Waffen sicherzustellen. »Wir werden bis zum G-Tag warten müssen«, sagte er. »Aber das könnte sehr knapp werden.« »G-Tag?« wunderte sich Bev. Sie sahen ihn wie einen an, der ein unverzeihlicher Ignorant war, aber dann sagte Derrida: »Natürlich, Sie sind neu und können es nicht wissen. G-Tag ist der Tag des Generalstreiks. Es wird ein harter Kampf werden.« »Und woher werden die Waffen kommen?« fragte Bev. Sie unterdrückten ihr Lachen, aber Chakravorty sagte: »Das ist etwas, was Sie wissen sollten. Für diese Art von Ahnungslosigkeit gibt es keine Entschuldigung.« Mehr sagte er nicht. Er gähnte hinter vorgehaltener Hand und sagte, es sei Zeit zum Schlafengehen. Er mußte einen Zug um 5.15 Uhr nehmen und eine halbe Stunde vorher eine Kanalreinigungsabteilung abholen. Bev war früh genug auf den Beinen. Er mußte Bessie holen, bevor der 8.15-Uhr-Virginibus sie zur Schule brächte. Er fuhr mit der Untergrundbahn von Turnham Green zur Bank und stieg dort in die Linie nach Highbury und Islington um. Das Mädchenheim war in einer Seitenstraße der Essex Road. Er hatte in Turnham Green eine Zeitung gekauft, da der Medienstreik beendet war, und fand sie voll von leeren Stellen, wo Drucker und Setzer die Veröffentlichung bestimmter Artikel nicht zugelassen hatten. Die Nachrichten der Titelseite betrafen den für diesen Tag vorgesehenen Streikbeginn der Bauarbeiter.
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Eine Abbildung zeigte Jack Burlap den Gewerkschaftsführer in kämpferischer Pose, und im begleitendem Text erklärte er, daß die gesunde Vernunft nichts gefruchtet habe, und die Forderungen nach der Zwanzig-Stunden-Woche und der Erhöhung der Facharbeiter-Ecklöhne um 20.00 Pfund in einer gemeinsamen Sitzung der Nationalen Produktivitätskommission und der Nationalen Lohnbehörde brutal abgelehnt worden sei. Die Herrschaften hätten wissen sollen, welches die einzig mögliche Antwort auf diese Provokation sei, und nun hätten sie sie. Bessie, die mit ihren Freundinnen auf den Virginibus wartete und mit vollen Backen auf etwas kaute, während sie rauher Rockmusik aus dem Transistorradio eines zigeunerhaft aussehenden Mädchens lauschte, erkannte ihren Vater nicht gleich. Dann sagte sie »Papa« und umarmte ihn zärtlich. Sie war sauber und trug einen kurzen blauen Rock und einen herausfordernden roten Pullover. Sie hatte deutlich abgenommen, nur die Oberweite war geblieben. »Er war im Fernsehen, mein Papa«, erzählte sie ihren Freundinnen. »Der Streik ist vorbei«, sagte sie zu ihrem Vater. »Es war furchtbar ohne Fernsehen, nicht, Linda? Aber heute abend ist Straßenflittchen.« Das Zigeuner-Mädchen drehte die Einstellskala. Einen Augenblick kam Sprache durch, dann wieder und wieder, als sie weiterdrehte und Geräusche suchte: »Scheich Abdul Rahman sagte, er sei… unter keinen Umständen würde zugelassen, daß der Streik… in der Great Smith Street sei noch für dieses Jahr geplant…« Und dann krachte Musik aus dem Lautsprecher, rauh und stampfend. Bev sagte: »Stell die Nachrichten wieder an. Es schien etwas Wichtiges zu sein.« »Sie können mich mal«, sagte das Zigeunermädchen. »Der Bus kommt, Bess.« »Du, Bess, kommst mit mir«, sagte Bev. »Pack deine Sachen!« Bessie heulte. Ihre Freundinnen stiegen in den Bus und
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mimten einen Überfall mit versuchter Notzucht auf den Fahrer, der sie überdrüssig abwehrte und sagte: »Nun hört schon auf und setzt euch auf die Plätze!« Bessie versuchte den Mädchen in den Bus zu folgen. Ihre Freundinnen stiegen wieder aus, um Bev mit Fäusten und Fingernägeln zu bearbeiten. Bev sagte: »Was hast du gegen einen freien Tag? Mittagessen, Kino.« »Heute abend ist Straßenflittchen.« »Ich rede vom heutigen Tag.« »Also brauche ich nicht zu packen?« »Vielleicht nicht.« Bev und der Busfahrer tauschten ein frustriertes Kopfnicken. »Wir werden dir Sachen besorgen.« »Lippenstift? Haarglanzspray?« »Komm mit!« sagte Bev. Nach seiner Fahrt mit der Untergrundbahn hatte er noch fünfundzwanzig Pfund in der Tasche. Er führte sie zu einem Imbißstand und sah zu, wie sie Würstchen mit den Fingern aß. Dazu erzählte sie ihm von ihrem Leben im Mädchenheim, was hauptsächlich bedeutete, welche Fernsehprogramme sie gesehen hatte. Der Streik war schrecklich gewesen, Streiks sollten verboten werden, aber Miß Bottrell hatte Filme vorgeführt. Und sie hatten dort keinen Breitbildfernseher, was ein großer Betrug war, und es gab nur ein Gerät, und fast jeden Abend gab es Streit mit Kratzen und an den Haaren ziehen und Stoßen, weil sie sich nicht einigen konnten, was sie anschauen sollten. Aber heute abend würde es keinen Ärger geben, weil alle Straßenflittchen sehen wollten. Sie schien sich nicht an ihre Mutter zu erinnern; als er von der alten Wohnung sprach, schien es nur vage Reminiszenzen in ihr wachzurufen; an ihren Vater erinnerte sie sich, weil er im Fernsehen gewesen war. Sie sprach von Azel, Nell und Liz und dem Abend, als sie einen Jungen in Schlafraum B gelockt und seine Kleider aus dem Fenster geworfen und ihn gezwungen hatten, Sachen mit ihnen zu machen, aber er konnte nicht viel tun, und es war nicht so gut wie das Fernsehen gewesen. Bev
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seufzte. Er spendierte ihr ein Mittagessen in einem Schnellrestaurant an der Tottenham Court Road und sah zu, wie sie Würstchen mit den Fingern aß. Dann verzehrte sie zwei Portionen Cremespeise mit Schokoladensoße. Bev hatte noch genug Geld übrig, um mit ihr in die Ein-Uhr-Vorstellung von Sexplanet zu gehen, und als der Film zu Ende war, wollte sie ihn noch einmal sehen, aber er sagte: »Nein, wir wollen jetzt Tee trinken«, obwohl er wußte, daß daraus nichts werden konnte, es sei denn, jemand hielt sie frei, »und zwar in einem der feinsten Hotels der Welt. Und frag’ nicht, ob sie dort Fernsehen haben, denn das ist selbstverständlich.« Er zählte seine Groschen. Bis Green Park konnten sie sich die Fahrt leisten. Von dort mußten sie zu Fuß gehen. Beim Eingang zur U-Bahn-Station wurde der Evening Standard verkauft. Eine Schlagzeile sagte: STREIKBRECHER FÜR DIE MOSCHEE? Bev konnte sich kein Exemplar leisten. Hoch über dem Al-Dorchester an der Park Lane wehte eine gelbe Flagge mit dem Namen des Hotels in schöner arabischer Schrift, und Flutlichtlampen bestrahlten es mit ihrem Schein. Bev und Bessie gingen durch die Klapptüren. Das Foyer war voller Araber, teils in ihren weiten Burnussen, teils in schlecht geschnittenen Anzügen. In dem weitläufigen Gesellschaftsraum wurde Tee getrunken. Bessie sagte: »Schau nur, das schöne Gebäck!« Ermüdete britische Kellner legten mit silbernen Zangen Cremehörnchen und Cremekuchen auf die Teller hochmütiger Araber. Bev sagte: »Setz dich da hin!« Und er drückte sie in einen kanariengelben Sessel, worauf er zum Empfang ging und sich nach Oberst Lawrence erkundigte. Oberst Lawrence werde jeden Augenblick erwartet, wurde ihm gesagt. Er kehrte zurück zu Bessie. »Du hast gesagt, wir würden Tee trinken«, beschwerte sie
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sich. »Ich will welche von den Kuchen.« »Sei still, Kind! Ich habe nicht genug Geld.« »Du hast es versprochen!« Sie schlug mit kräftiger Faust gegen seine Brust. Einige teetrinkende Araber blickten erheitert. Ein Mann, in schneeweißen Gewändern und einem Kopfschmuck aus doppelter, golddurchwirkter Kordel auf dem halbverhüllten Haupt, blickte lange und ohne erkennbaren Ausdruck durch dunkle Brillengläser herüber. Dann sagte er etwas zu einem großohrigen jungen Mann in einem abscheulich braunen Anzug. Dieser verneigte sich, kam herüber zu Bev und sagte: »Seine Hoheit lädt Sie zum Tee ein.« »Nun, ich…« Bev wußte nicht, was er sagen sollte. »Seine Hoheit?« fragte Bessie. »Er lädt Sie zum Tee ein.« »Klar gehen wir«, sagte Bessie. Sie stand auf und zog Bev energisch aus seinem Sessel. Sie gingen hinüber. Bev verneigte sich vor Seiner Hoheit. »Nehmen Sie Platz«, sagte Seine Hoheit. Er machte eine auffordernde Handbewegung, dann klatschte er in die beringten Hände, und zwei Kellner erschienen mit silbernen Teekannen und feinem Gebäck. Bessie konnte nicht auf die Kuchenzange warten; sie griff zu. Seine Hoheit lächelte mit widerwilliger Nachsicht. Er sprach lange und mit vielen Knacklauten und häufigem Räuspern zu einem fetten Landsmann in einem marineblauen Zweireiher, der seine Körperfülle kaum zu bergen vermochte. Der fette Mann lauschte aufmerksam der arabischen Rede des anderen, dann nickte er und sagte: »Gamil, gamil, Harusun?« »Was genau… ah… ist…«, fing Bev an, dann hielt er inne und blickte zum Foyer hinüber, wo Bewegung entstanden war. Eine wichtige Persönlichkeit mußte eingetroffen sein. »AI Orens«, sagte Seine Hoheit. Bev erhob sich und sagte:
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»Entschuldigen Sie mich. Eine Verabredung. Ich…« »Sie lassen sie ruhig«, sagte der fette Araber. »Sie essen. Sie sicher sein.« Wie um dies zu bekräftigen, klatschte er in die Hände, um Kellner herbeizurufen. Bev sah Oberst Lawrence zum ersten Mal. Er war ungemein groß, hatte eine mediterrane Nase und eine nördliche Blässe, war in einen grünen Anzug mit diskreten gelben Litzen an den Aufschlägen gekleidet, trug einen schwarzen Umhang und hatte ein Gefolge von fünf oder sechs Männern weißer, brauner und schwarzer Hautfarbe. Zu einem Adjutanten mit auberginefarbenen Gesicht sprach er fließend arabisch. Unterwegs zu den Aufzügen verneigte er sich mit grimmiger Ehrerbietung vor den arabischen Teetrinkern im Gesellschaftsraum. Er trug eine Reitgerte. Als die Gruppe bei den Aufzügen anlangte, trat Bev näher, zog sein Empfehlungsschreiben hervor und wandte sich an den Adjutanten: »Major Faulkner schickt mich…« »Gut, kommen Sie mit hinauf. Vielleicht dauert es länger, vielleicht nicht. Viel zu tun. Sie nehmen den nächsten Aufzug.« Zu groß für die Aufzugkabine, mußte Oberst Lawrence den Kopf einziehen und schien sich vor Bev zu verbeugen. Die Türen schlossen sich. Bessie mußte mittlerweile bei ihrer siebten Cremeschnitte angelangt sein. Seine Hoheit ermunterte sie freundlich, zu essen. Bev nahm den nächsten Aufzug. Der Raum, wo er warten mußte, war ein aufwendig eingerichteter Salon, der halb in ein Büro umgewandelt worden war. Oder eher wie ein Lagerraum oder Kartenzimmer. Zwei Mädchen in Grün, von denen eines Bev mit »Hallo« begrüßte, bedienten einen Fernschreiber und eine Schreibmaschine, deren Wagen sich in der falschen Richtung bewegte (natürlich: arabisch). Eine Landkarte des Vereinigten Königreichs war an einer Wand befestigt, an einer anderen ein Stadtplan von London mit Vororten. Beide Übersichtskarten waren mit kleinen Papierfähnchen an Stecknadeln besetzt. In der Gegend von
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Westminster war ein schwarzer Rhombus mit dem islamischen Halbmond in der Mitte zu sehen. Natürlich, die neue Moschee. Die Stenotypistin, sehr rosig und englisch und doch von bewunderungswürdiger Fertigkeit im Geklapper arabischer Schrift, stand auf und nahm eine Colaflasche aus einem Kühlschrank mit Getränken. Eine zweite Flasche bot sie mit wortloser Geste Bev an. Er war durstig. So stand er da, die Colaflasche einfältig in der Hand, als Oberst Lawrence hereinkam. Die Augen, die auf ihn herabblickten, waren gefleckt und blitzten unregelmäßig und verwirrend auf. »Es ist wenig Zeit«, sagte er in einem schnarrenden Tenor mit unbestimmt schottischem Akzent, »für Formalitäten. Die Dinge kommen in Bewegung. Ich habe hier eine Empfehlung von Major… Major…« » Faulkner«, sagte der auberginenfarbene Adjutant. »Sie sind, wie ich der Empfehlung entnehme, hochgebildet. Haben Sie journalistische Erfahrung?« »Ich habe ein Jahr lang die Studentenzeitung unserer Universität herausgegeben. Aber hören Sie, Sir, ich würde gern…« »Sie würden gern Näheres über Einstellungsbedingungen et cetera et cetera hören. Ich sagte schon, es ist keine Zeit. Dies ist der Vorabend des Streiks. Wir brauchen umfassende Informationen von Augenzeugen, fertig zum Druck bis spätestens zweiundzwanzig Uhr. Wir möchten, daß Sie in die Great Smith Street gehen.« »Ich fürchte, ich…« »Sie fürchten? – Ah, ich verstehe. Geben Sie ihm Geld, Redzwan. Geben Sie ihm… ah… einen von unseren anonymen Regenmäntel. Nehmen Sie ein Taxi. Vergessen Sie nicht, Notizbuch und Bleistift mitzunehmen. Sie scheinen, wenn ich so sagen darf, nichts zu haben. Bald, das verspreche ich Ihnen, wenn Sie gehorsam und treu sind, werden Sie alles haben.« Oberst Lawrence, gefolgt vom Adjutanten, schritt zurück in
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den benachbarten Raum. Bev runzelte die Stirn und trank aus seiner Colaflasche. Die Stenotypistin sagte, ohne aufzublicken: »So ist er.« Bessie stopfte sich noch immer mit Kuchen voll, aber langsamer. »Draßenphlittchen«, sagte sie kauend, während die gesamte arabische Gesellschaft wohlwollend zuschaute. »Ernsehn.« »Ich muß leider gehen«, sagte Bev. »Arbeit. Für Oberst Lawrence…« »Sie hier sicher.« Bessie, benommen von Schlagsahne und Creme, blickte zu ihrem Vater auf und schien ihn nicht zu erkennen. Vielleicht lag es am weißen Regenmantel und der übergroßen Melone, die tatsächlich ein leichter Stahlhelm war. Bev ging zur Tür, und der Portier pfiff ihm ein Taxi herbei. Bev drückte ihm eine Fünfpfundnote in die Hand. Verwöhnt von islamischer Großzügigkeit, quittierte der Mann das Trinkgeld mit finsterem Blick. Bev fuhr durch den Winterabend davon. Der Verkehr war nicht stark. Der Benzinpreis, die Anschaffungskosten von Autos. Heyde Park. Grosvenor Place. Victoria Street. Der Taxifahrer sang irgendein bitteres Rezitativ vor sich hin. Die Ecke der Great Smith Street, gerade voraus die Westminster-Abtei. Natürlich, die Große Moschee muß eine Herausforderung sein für den alten Tempel der Leute der Heiligen Schrift, britische Filiale. Bev hörte den dumpfen Lärm einer Menschenmenge. Er gab dem Fahrer eine Zehnpfundnote und sagte ihm, er solle das Wechselgeld behalten. »Was heißt Wechselgeld?« Bev gab ihm das Doppelte. »Danke, Kamerad.« Und dann hatte er es vor sich: den Beginn der großen Konfrontation. Die Menge war erregt und konnte von einem Polizeikordon nur mit Mühe zurückgehalten werden. Berittene Polizisten klapperten die Straße auf und ab. An Licht fehlte es nicht. Große Generatorenwagen speisten ganze Batterien von Flut-
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lichtlampen, in deren Schein die Männer auf der Baustelle arbeiteten. Wie viele waren es? Hundert, mehr? Zwei himmelhohe Baukräne waren in gemessener Bewegung, schwenkten ihre Ausleger und plazierten schwere Blöcke von Mauerwerk mit behutsamer Präzision. Betonmischmaschinen mahlten und rumpelten. Arbeiter mit Aluminiumhelmen kletterten Leitern hinauf und herab. Eine elektrische Hebeplatteform hob eine ganze Maurerkolonne zu einem Laufgang im Baugerüst. Die Menge der Streikenden schrie Beschimpfungen zu den Streikbrechern hinauf. Ein Lautsprecherwagen rollte in die Great Smith Street, und eine Stimme dröhnte widerhallend über die Menge hin: »Der Bau der Moschee muß weitergeführt werden. Es ist nicht ein Supermarkt oder ein Block mit Hochhauswohnungen. Es ist ein Tempel, der Gott geweiht ist. Dem Gott der Juden und Christen und Moslems. Dem einen wahren Gott, dessen Propheten Abraham und Jesus und Mohammed waren. Ich wiederhole, die Arbeit muß weitergeführt werden. Der gebotene Lohn liegt zwanzig Pfund über der neuen Forderung der Bauarbeitergewerkschaft. Zeigt euch als freie Briten, tut die Arbeit, auf die ihr euch versteht. Wir brauchen eure Kenntnisse, eure Kraft, euren Arbeitseifer.« Eine Fernsehkamera auf dem Dach eines Übertragungswagens saugte die Reaktionen der Streikenden ein: zornig geschüttelte Fäuste, unschlüssig geriebene Stoppelwangen. Die Stimme Jack Burlaps antwortete. Der Gewerkschaftsführer war selbst gekommen und stand auf einem Lastwagen, ein Megaphon wie eine Sauerstoffmaske vor dem Gesicht. »Hört nicht auf das Schwein, Kollegen! Es ist der alte kapitalistische Trick. Keine Garantie, kein Vertrag, keine Sicherheit, kein Streikrecht. Und ihr Streikbrecher da oben, hört auf die Stimme der Vernunft! Legt diese schmutzige Arbeit nieder! Ihr spielt nur den Bastarden in die Hände. Ihr seid erledigt, ihr habt
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eure Freiheit aufgegeben, sie können euch auf die Straße setzen, wenn sie wollen. Es ist das Geld dieser Kameltreiber, es ist schmutziges arabisches Öl. Ihr seid erledigt, Kollegen, ihr dummen Schweine, ihr habt euer Geburtsrecht aufgegeben.« »Hört ihr die Stimme der Vernunft!« rief der Lautsprecherwagen. »Es ist viel mehr die Stimme der Intoleranz, des Rassismus und Chauvinismus. Ihr Moslems, ihr habt gehört, wie ihr schmutzige Kameltreiber genannt wurdet. Ihr Juden und Christen, wollt ihr zulassen, daß eure Brüder in Gott beleidigt und bespien werden? Seid frei, werft eure Ketten ab, ehrliche gottgefällige Arbeit erwartet euch!« Eine Gruppe von Streikenden versuchte den Lautsprecherwagen umzuwerfen. Die Polizei hinderte sie daran. Jack Burlap wandte sich an die Uniformierten: »Wendet euch nicht gegen eure Kameraden und Kollegen, ihr Männer von der Polizei! Tut eure Pflicht! Ihr kennt das Gesetz, und ich meine nicht das Gesetz der Gerichtshöfe und der Statuten. Ich meine das Gesetz der Arbeit. Auch ihr seid Arbeiter. Schließt euch euren Brüdern an! Was hier geschieht, ist ein flagranter Übergriff. Laßt es nicht zu…« Seine Stimme ging in einem gleichsam überirdischen Geschmetter von Musik unter. Alle sperrten die Münder auf und reckten die Hälse, um die Quelle ausfindig zu machen. Lautsprecher, aber wo? Ein tausendstimmiger gemischter Chor, ein Berlioz’sches Orchester, verstärkt durch Blaskapellen: Ich weihe dir, o Vaterland, Mein Leben und mein Gut… Unversehrt und heil und lauter, Der Liebe Herzensblut… Ein Polizeisergeant zu Pferde zügelte sein Tier, um besser zu hören, was aus seinem Funksprechgerät kam. Nachdem er ei-
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nen Augenblick lang gelauscht hatte, ließ er das Gerät sinken und nickte einem wartenden Konstabler zu. Dieser stieß dreimal in seine Trillerpfeife. Alles wegtreten! Die Polizei war im Streik. Jack Burlap schien gegen die Musik anzujubeln, als habe er einen persönlichen Triumph errungen. Vielleicht waren Gewerkschaftsführer jetzt auswechselbar, das unausweichliche Resultat eines ganzheitlichen Syndikalismus. Die Polizeiabsperrung löste sich auf. Polizisten nahmen die Helme ab, um sich verschwitzte Stirnen zu wischen. Die Berittenen trabten davon. Die Liebe, die nicht Fragen stellt, Die standhält jeder Prüfung Grad, Die niederlegt auf den Altar Das Beste, was sie hat… Die Streikenden gingen mit Geheul und Geschrei gegen den geheiligten Bauplatz vor. Die Musik brach ab. Und dann… Eine Abteilung Männer in uniformähnlichen grünen Anzügen kam die Great Smith Street heruntermarschiert, Leutnant und Zugführer an der Spitze. Eine Motorradeskorte blubberte und röhrte. Der ersten folgte eine zweite Marschabteilung. Die ungeordnet abziehende Polizei schritt nicht ein. Die grünen Männer trugen keine Waffen. In Reih und Glied kämpften sie sich durch das wogende Durcheinander, um neue Absperrketten zu bilden. Bev bemerkte jetzt, daß sie alle grüne Handschuhe trugen. Die rechten Hände, die zur Abwehr und zum Zurückdrängen Streikender gebraucht wurden, schienen ungewöhnlich schwer. Wenn sie zuschlugen, gab es harte, dumpfe Geräusche. Ein Handschuh traf einen Schädel. Der Getroffene schwankte, stürzte zu Boden, wurde niedergetrampelt. Schlagringe, natürlich. Bev verspürte Übelkeit. Eine weitere grünuniformierte Abteilung kam um die Ecke, diesmal im Sturmschritt. Die bei-
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den Baukräne fuhren fort, ihre Lasten zu heben und niederzusetzen. Beton ergoß sich wie Haferbrei in die Verschalungen, und die Bauarbeiten nahmen ohne Unterbrechung ihren Fortgang.
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15 EIN BEWUNDERER VON ENGLÄNDERINNEN »Nicht bewaffnet«, sagte Oberst Lawrence. »Das ist wichtig.« »Ich sagte bewaffnet«, widersprach Bev. »Waffen sind nicht unbedingt Schußwaffen. Ihre Truppen wendeten Gewalt an.« »Ein hartes Wort«, sagte Oberst Lawrence. »Versuchen Sie diese Sache in der richtigen Proportion zu sehen… ah…« Sein Telefon läutete. »Unmöglich«, sagte Bev. Der Oberst nahm den Hörer ab. Er lauschte, und seine Nasenflügel blähten sich triumphierend. Er lächelte. »Ihr Stenograf ist bei Ihnen? Gut. Mr. Jones wird quittieren.« Zu Bev gewandt, sagte er: »Diese Leitung bleibt für Sie offen. Unsere Zeitung wird morgen mit acht Seiten herauskommen. Also an die Arbeit!« Bev improvisierte flüssig nach seinen Notizen. Er hatte nie gedacht, ein Zeitungsschreiber zu werden, aber es war einfach, Geld für Spielerei. »Das«, sagte Oberst Lawrence, »steht im Widerspruch zu meinen Anweisungen.« Er hatte Bevs Diktat aufmerksam zugehört. »Nicht bewaffnet. Macht nichts, Major Campion wird wissen, was er zu tun hat.« Er nahm den Hörer an sich, sagte ein paar Dankesworte hinein und legte auf. »Zensur, wie?« sagte Bev. »Der also doch nicht so ganz Freie Brite.« »Mr. Jones«, sagte Oberst Lawrence, »wir werden später über die wahre Natur der Freiheit diskutieren. Und, im Hinblick auf Sie selbst, über die freiwillige, selbstauferlegte Zurückhaltung militärischer Disziplin. Der ›Mister‹ bedeutet übrigens Leutnant. Kann ich Ihnen einstweilen die Abfassung des Leitartikels anvertrauen? Telefonieren Sie den Text durch, und Major
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Campion wird, soweit erforderlich, Korrekturen vornehmen. Er kennt meinen Stil. Ich muß jetzt gehen.« Er schüttelte seinen Adjutanten Redzwan, der in einem Sessel eingenickt war. Redzwan sprang sofort auf. »Ich muß die schwer getroffene Stadt in Augenschein nehmen.« Er ging zum Fenster und blickte auf ein schwarzes London hinaus. Hier im Al-Dorchester gab es jedoch Licht. Es war trüb und flackernd, versprach aber sich zu bessern: im Keller arbeitete man bereits an der Einstellung der Generatoren. »Die Situation ist Ihnen bekannt – bis morgen früh wird der Streik allgemein sein. Der erste britische Generalstreik seit 1926. Weisen Sie auf den großen Unterschied zwischen damals und heute hin. Heute gibt es kein Nachrichtenwesen, weder Gesetz noch Ordnung. 1926 gab es wenigstens eine Armee, die an ihrem Treueid festhielt, und eine nicht gewerkschaftlich beeinflußte Polizei. Unsere Organisation ist heute als einzige imstande, ein Minimum an Dienstleistungen aufrechtzuerhalten. Bringen Sie zum Ausdruck, daß den TUC-Anführern, sobald sie zur Vernunft kommen, die Gastfreundschaft dieser Zeitungsspalten willkommen sein wird.« »Ist das Ihr Ernst, Oberst? Ihre Organisation profitiert von einem TUC, der nicht zur Vernunft kommt. Sie wollen, daß dieser Streik beendet wird? Vergessen Sie nicht, Sie oder Ihre islamischen Herren haben ihn ausgelöst.« »Ihre Organisation, Ihre Herren. Morgen müssen wir uns darum kümmern, daß Sie formell den Treueid ablegen.« Das Telefon läutete. Redzwan nahm den Hörer ab. Er sperrte den Mund auf und starrte Oberst Lawrence bestürzt an, als er ihm den Hörer reichte. Oberst Lawrence meldete sich, dann machte auch er ein langes Gesicht. »Allah ta’ala«, betete er. »Ja. Ja. Ich stimme Ihnen zu.« Er legte auf und bedachte Bev mit einem tragischen Blick. »Tungku Nik Hassan ist ermordet worden«, verkündete er.
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»Tungku…?« »Ein Malaye. Aus Brunei. Leiter der Panislamischen Kommission im Haymarket. Wie es scheint, durchziehen Banden streikender Arbeiter die Stadt und greifen verschiedene Gebäude an, auf denen die Flagge des Halbmonds weht. Vielleicht war es unvermeidlich. Ich dachte nur nicht, daß es so bald anfangen würde. Erwähnen Sie in dem Leitartikel den beklagenswerten Rassismus und die Bigotterie, und natürlich auch den Atheismus, der in der Gewerkschaftsbewegung einen fruchtbaren Nährboden…« »Warten Sie!« sagte Brev. »Wie wurde er getötet?« »Er wurde mit einem Bleirohr auf den Kopf geschlagen. Der Tungku ging mutig in die Menge und versuchte, die Leute zur Vernunft zu bringen. Er war ein wortgewaltiger Mann und von großer Überzeugungskraft, auch wenn er englisch sprach. Erwähnen Sie seine Vorzüge…« Der Oberst holte tief Atem und seine Nasenflügel weiteten sich. »Sie wittern eine besondere Gefahr, nicht wahr?« sagte Bev. »Das Land steht dem strafenden Invasor offen. Die Streitkräfte befinden sich im Streik. Die NATO wird zögern, die angeschlossenen Länder um ihre Ölversorgung bangen. Werden die Araber kommen?« »Die Araber sind hier, Mr. Jones.« Oberst Lawrence richtete seinen Blick auf den Stadtplan von London und Umgebung. »Vergeltung, Mr. Jones. Glauben Sie, der Heilige Krieg habe im Mittelalter sein Ende gefunden?« »Sagen Sie, Oberst, Sir, was streben Sie eigentlich an? Ein freies Großbritannien, oder ein islamisches Großbritannien? Ich muß das wissen. Sie haben mich zu Ihrem provisorischen Sprachrohr ernannt.« »Der einzige Ausweg aus den Schwierigkeiten unseres Landes, Mr. Jones, ist eine Rückkehr zu Verantwortlichkeit, Loyalität, Religion. Eine Rückkehr zu Gott. Und wer kann uns heute
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Gott zeigen? Die Christen? Das Christentum wurde durch das Zweite Vatikanische Konzil abgeschafft. Die Juden? Sie verehren eine blutrünstige Stammesgottheit. Ich brauchte lange, um zum Islam zu finden, Mr. Jones. Zwanzig Jahre als einer der Militärberater Seiner Majestät des Königs von Saudi-Arabien, und die ganze Zeit hielt ich am Presbyterianismus meines Vaters fest, wie es mein gutes Recht war. Dann erkannte ich, wie der Islam alles enthielt, und doch so einfach und scharf und hell wie ein Schwert war. Ich hatte nicht von einer islamischen Revolution in Großbritannien geträumt, sondern eher von einer allmählichen Konversion, unterstützt durch eine islamische Infiltration, die sich hauptsächlich im Sinne islamischen Reichtums und moralischen Einflusses ausdrückte. Langsam, in Form eines allmählichen Übergangs. Das Bier des Arbeiters wird schwächer, da viele Brauereien über Holdinggesellschaften sozusagen anonym in arabischen Händen sind. Man kann ein Alkoholverbot nicht plötzlich durch den Erlaß eines einfältigen Gesetzes Wirklichkeit werden lassen. Schweinefleisch drängt sich durch seinen stetig steigenden Preis selbst aus dem Markt. Aber manchmal verlangt das nordafrikanische Blut, daß ich von meiner lieben verstorbenen Mutter habe, nach raschem Handeln, während die schottische Seite meines Wesens zur Vorsicht rät, festina lente. Wir werden morgen mehr über diese Dinge sprechen. Aber einstweilen fürchte ich den Stoß des Schwertes.« Er wandte seine Augen, die Funken zu versprühen schienen, von Bev zu seinem Adjutanten. »Die heimgesuchte Stadt«, sagte er. »Kommen Sie!« Allein im Raum, denn die beiden Mädchen waren gegangen, um irgendwo auf Feldbetten ein paar Stunden zu schlafen, lehnte Bev sich im Sessel zurück und gähnte, die Arme über den Kopf gestreckt, vor sich die Aufgabe, einen Leitartikel zu verfassen. Es klopfte, und die Tür wurde geöffnet. Herein kam ein schlanker Araber in einem dezenten grauen
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Schneideranzug und bequemen Schuhen von Gucci. An seinen Handgelenken blitzten goldene Manschettenknöpfe und eine goldene Armbanduhr. »Mr. Jones?« sagte er mit einem sehr klaren britischen Oberklassenakzent. »Ich glaube nicht, daß ich das Vergnügen hatte…« Der Araber setzte sich anmutig auf einen harten Stuhl. »Mein Name ist Abdul Khadir«, sagte er. »Privatsekretär Seiner Hoheit. Welcher Hoheit, werden Sie wissen wollen. Die Antwort ist: Seiner Hoheit Scheich Jamaluddin Shafar Ibn Al-Marhum Al-Hadschi Yussuf Ali Saifuddin. Sie hatten zuvor die Ehre, Tee mit ihm zu trinken, sagte er mir. Die Frage, die ich an Sie richten möchte, ist: besitzt sie einen Reisepaß?« Bev starrte ihn an. »Wer? Warum? Wovon reden Sie? – Ach du lieber Gott. Ich hatte sie glatt vergessen. Wo ist sie?« »Sie schläft. Zufrieden, denke ich. Und allein, möchte ich hinzufügen. Sie hat das Fernsehprogramm verfolgt. Der Streik begann erst einige Zeit nach dem Schluß eines bestimmten Programms, das zu betrachten ihr sehr am Herzen lag. Sie sah es. Sie aß viel. Ich glaube, ich kann sagen, sie schläft zufrieden. Seine Hoheit wird morgen abreisen… ah… ich sehe, es ist bereits morgen. Da sie zum Gefolge Seiner Hoheit gehören wird, wird ein Reisepaß vielleicht nicht vonnöten sein. Dennoch, Seine Hoheit ist stets in demokratischer Weise bemüht, den Bestimmungen Rechnung zu tragen.« »Ich… ah… ich weiß nicht«, sagte Bev. »Ich glaube nicht, nein, sie hat keinen Reisepaß. Hatte nie einen. Bitte«, sagte er, »erläutern Sie.« »Ich muß Ihnen zuerst sagen, was es mit Seiner Hoheit für eine Bewandtnis hat. Er ist gegenwärtig Vorsitzender der UIOS. Wie Sie wissen werden, handelt es sich um ein Amt, das turnusgemäß neu besetzt wird.« Bev hatte keine Ahnung, wovon der Mann redete. »UIOS?« »Union Islamischer Ölexportierender Staaten. Im Arabischen
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sind die Initialien selbstverständlich andere. Die Territorien Seiner Hoheit umfassen, wie Sie wissen werden…« »Ersparen Sie mir Näheres. Ein heißes Land, mit Öl und Allah, Muezzins und Gesichtsschleiern. Es ist nicht nötig, mir genau zu erklären, wo er seinen Vorsitz führt und den mineralischen Reichtum hervorsprudeln sieht. Sagen wir, irgendwo in Arabien.« »Sehr gut, wie Sie wünschen. Irgendwo in Arabien.« »Und was wünscht Seine Hoheit von meiner Tochter? Sie hat, weiß Gott, wenig genug zu bieten.« »Konkubinat für eine Probezeit. Und dann die Ehe. Seine Hoheit hat bereits vier Frauen, eine Zahl, die der gesetzlichen Bestimmung entspricht. Es ist ein probeweises Konkubinat vorgesehen, bis eine eheliche Vakanz arrangiert ist. Haben Sie Einwände?« »Was sagt Bessie dazu?« »Besi hat keine Einwände. Sie kennt das Wort nicht. Besi hat ohnedies keine Option, als ihrem Vater zu gehorchen. Ich darf sagen, daß sie bereits eine sehr hohe Meinung von Seiner Hoheit hat. Wie sie uns zu verstehen gab, hat sie niemals zuvor eine solche Großzügigkeit erlebt. Sie wird in Ghadan noch Gelegenheit haben, seine Bibliothek von Videokassetten kennenzulernen. Westliche Fernsehprogramme sind im Gynäkeum Seiner Hoheit sehr beliebt. Seine Hoheit reist viel innerhalb der islamischen Welt, aber auch in viele andere Länder. Sein Geschmack ist aufgeklärt. Aber die meiste Zeit verbringt er in den islamischen Ländern. London besucht er häufig.« »Sie scheinen London als Teil der islamischen Welt zu betrachten.« »Es ist das kommerzielle Zentrum der islamischen Welt, Mr. Jones. Ich habe ein Dokument in Vorbereitung, um es Ihnen zur Unterschrift vorzulegen. Es wird im Moment in englisch und arabisch ins Reine geschrieben. Vielleicht könnten
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wir uns zum Frühstück hier treffen. Es gibt hier selbstverständlich keinen Streik. Dieses Haus wird als islamisches Territorium angesehen.« »Ist bei alledem etwas für mich drin?« fragte Bev plump. »Die Befriedigung«, antwortete Abdul Khadir, »daß Ihre Tochter gut versorgt ist. Ich glaube nicht, daß Ihr England ein geeigneter Ort ist, um eine Tochter aufzuziehen. Es sei denn, der Vater ist begütert. Oder dachten Sie an Geld? Erwarten Sie Bezahlung? Betrachten Sie Ihre Tochter als ein Objekt, das zum Verkauf steht? Darf ich Sie erinnern, daß Sie nicht gebeten wurden, eine Mitgift beizusteuern?« »Sie sagten etwas von Konkubinat. Werden Konkubinen nicht gekauft und verkauft?« »Probeweises Konkubinat. Das ist in Großbritannien nicht unüblich, und hier wird in solchen Fällen überhaupt nicht von Geld geredet. Aber Sie dürfen es als Gewißheit nehmen, daß die Ehe zustande kommen wird. Seine Hoheit bringt Engländerinnen eine große Wertschätzung entgegen.« »Sie… sie ist noch ein Kind.« »Sie ist dreizehn Jahre alt, Mr. Jones!« Bev seufzte, und dann spürte er, wie eine gewisse Erleichterung und Gehobenheit in ihm die Oberhand gewann. Er war frei, bei Gott oder Allah! Er hatte jetzt nur noch die Bürde seiner selbst zu tragen. »Wenn die Bar noch offen wäre«, sagte er, »könnten wir darauf trinken.« »Die herkömmliche Bar hier ist seit langem abgeschafft, Mr. Jones. Alkohol ist in unserem Glauben haram. Auf der anderen Seite habe ich unten in meinen Räumen ein hinreichend ausgestattetes Getränkekabinett für Gäste und Besucher. Wenn Sie wünschen…« »Danke«, sagte Bev. »Bei genauerer Überlegung muß ich sagen, lieber nicht. Ich habe zu arbeiten. Im Namen Allahs und eines Freien Britannien.«
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»Dann werden wir uns beim Frühstück treffen. Ihre reizende Tochter freut sich auf das Frühstück, sagte sie uns. Sie hat eine große Vorliebe für die naknik… nein, das ist nicht richtig. Sougou ist das richtige Wort.« »Sou…?« »Würstchen. Es ist eine unter westlichen Kindern verbreitete Vorliebe. Sie wird natürlich keine Würstchen bekommen, die Schweinefleisch enthalten, aber der Unterschied wird ihr kaum zu Bewußtsein kommen. Auch heute abend bemerkte sie ihn nicht.«
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16 STREIKTAGEBUCH Erster Tag: Bei der Schuhcremefabrik in Chiswick bekam ich den ersten unmittelbaren Eindruck von der Feindseligkeit der Streikenden gegenüber dem Islam. Drei Bentleys fuhren zum Flughafen Heathrow, Stander mit Halbmond und Stern auf den vorderen Kotflügeln. Der Scheich saß im mittleren, Bessie und ich im dritten, Vater und Tochter beim Abschiednehmen. An der Kreuzung Devonshire Road mußten wir halten, um zwei Lautsprecherwagen vorbeizulassen. Ein Dutzend Streikende, die an der Straßenecke herumlungerten, bewarfen uns mit Steinen, schrien »Kameltreiber«, »Bastarde«, »scheißt euch weg zu Allah« und so weiter. Eins von den rückwärtigen Seitenfenstern unseres Wagens zeigte plötzlich einen großen Stern von Sprüngen, und nach dem Lärm zu urteilen, wurde die Karosserie von einem Pflasterstein verbeult. Bessie war begeistert, als hätte jemand sie am Kragen gepackt und mitten in eine gewalttätige Fernsehszene gestoßen. Ich erwartete, wir würden es mit einem Achselzucken abtun und weiterfahren, aber Seine Hoheit dachte nicht daran. Im Nu war er aus dem Wagen und gab Befehle auf arabisch. Zwei Chauffeure, wahrscheinlich Pakistanis oder Opfer der fremdenfeindlichen Krawalle am East End, nahmen zwei Sturmgewehre aus dem Kofferraum des zweiten Wagens. Entsicherten sie und warteten auf den Feuerbefehl. Ich sprang hinaus und schrie Nein Nein Nein um Gottes willen, und kam in die Schußlinie. Die Steinwerfer gaben Fersengeld, ein Pakistan! lief ein paar Schritte und gab einen Feuerstoß auf sie ab, traf einen ins Bein, den anderen in die Brust. Einer bestimmt tot. Seine Hoheit zuckte die Achseln, Sonnenbrille auf der Nase, Zigarette in Dunhillspitze. Die Waffen wurden verstaut, die Fahrt ging weiter nach Heathrow. Ein Toter und ein
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Verwundeter blieben zurück. Bessie sagte, es sei wie Grimms Gesetz oder irgend so ein verdammter Fernsehunsinn, dann überlegte sie, ob sie zeitig genug ankommen würde, um am Abend Pornmann zu sehen. Keine Vorstellung vom Ziel ihrer Reise. Heathrow Abfertigungsgebäude 3, islamische Ecke (wo niemand streikt). Wir fuhren gleich aufs Rollfeld. Privatjet des Scheichs wartete bereits. Die großen Passagiermaschinen alle auf Abstellplätzen, außer Betrieb. Keine Fluglotsen im Turm, kein Zoll, keine Ausreiseformalitäten. Eine ganze Luftlandearmee könnte hier herunterkommen, ohne auf Widerstand zu stoßen. Verspürte Anflug von Besorgnis. Zwei arabische Transportmaschinen standen da, von Mechanikern gewartet, während Kisten entladen wurden. Major Latimer, den ich in Turnham Green kennengelernt hatte, war mit Reitgerte und zwei Lastwagen zur Stelle, Kommando in Preston widerrufen. Waffen, sagte er. Eine richtige Armee, jetzt. Wenn die Bastarde Ärger wollen, können sie ihn haben. Wind fuhr Bessie unter den Rock und hob ihn bis zum Hintern. Latimer schnalzte in vulgärer Soldatenmanier. Meine Tochter, sagte ich. Tut mir leid, alter Junge, hübsche Portion das, Tochter oder nicht. Ich sagte ila allaqaa zu Seiner Hoheit, meinem zukünftigen Schwiegersohn, küßte die arme oder glückliche Bessie. Sie sagte: Ich hab’ Hunger, Papa. Wenn du an Bord bist, Bessie, wird es ein zweites Frühstück geben. Aber ich hab’ jetzt Hunger! Die letzten Worte, die Bessie zu mir sagte. Fuhr im beschädigten Bentley Nummer 3 zurück in die Stadt. Generalstreik wird absolut und total befolgt. Ging herum und sammelte Eindrücke. Regen, Unrat, zunehmend verschmutzte Straßen. Gedränge streitender Frauen vor einem Supermarkt, den Freie Briten offenhielten. Seltsam anzusehen waren einige Streikende, die halfen. Ein Hoffnungsschimmer. Verdammter ideologischer Unsinn der Gewerkschaftsführung muß eines
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Tages versagen, Arbeiter im Grunde anständig, werden zur Vernunft kommen. Stieß später auf Spirituosengeschäft mit eingeschlagenen Scheiben, aber nicht Streikende kamen mit Schnapsflaschen beladen heraus, sondern Freie Briten. Ihre Unteroffiziere und Feldwebel versuchten sie zur Vernunft zu bringen, brüllten Befehle, bekamen das übliche »Du kannst mich mal, Jack« und so weiter zu hören, dann legten sie Schlagringe an und traten dazwischen. Sehr häßlich, sehr notwendig. In der Great Smith Street geht Arbeit an Moschee weiter, aber die Bauleute sind offensichtlich unglücklich, daß sie in geschlossener Kolonne zur und von der Arbeit marschieren müssen, eskortiert von Freien Briten in Kompaniestärke, die sie vor wütender Menge schützen. Wie lang kann das so weitergehen? Feile an den Nachrichten, schreibe Leitartikel, vorsichtig, kein Wort über Bewaffnung oder die Notwendigkeit von Gewalt. Habe Bargeld bündelweise in den Taschen, aber der Wert sinkt ständig. Laib Brot 5.00 Pfund. Eine Portion Hacksteak 9.50 Pfund. Eine Freie Britische Bäckerei soll, wie es sich gehört, in der Bread Street eröffnet werden. Habe eigenes Schlafzimmer im Al-Dorchester. Zweiter Tag: Schlecht gedrucktes Bulletin mit Faksimileunterschriften zuständiger Minister im Umlauf, verkünden, daß Forderungen der Bauarbeiter erfüllt worden seien – 20-StundenWoche, 20.00 Pfund Lohnerhöhung. Das ist, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Mr. Pettigrew selbst erscheint in Great Smith Street, beschwört über Lautsprecher Moscheearbeiter. Schließt euch den Kollegen an, verlaßt diesen illegalen Arbeitstrupp, kehrt zurück in die Gewerkschaft, eure Aktion lahmt das ganze Land. Einige der Moscheearbeiter kratzen sich die Köpfe, zweifelnd, unglücklich, aber UnteroffizierVorarbeiter brüllen herum und treiben sie wieder an die Arbeit. Was ist schlimmer – Unteroffizieren und Offizieren gehorchen,
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oder nach der Pfeife des Betriebsvertrauensmannes tanzen? Aber bessere Bezahlung bei den Freien Briten: Anschlag am Bauplatz verkündet 25.00 Pfund Lohnerhöhung, die auch für Soldaten der Freien Briten gilt. Halbherzige Hochrufe. Lebensmittelversorgung bleibt ein Problem, doch nicht im gut bevorrateten Al-Dorchester, nun durch Stacheldrahtverhaue und bewaffnete Posten geschützt. Oberst Lawrence sagt, es sei nur Übungsmunition mit Platzpatronen ausgegeben worden, aber ich glaube es nicht. Er will, daß ich Treueid ablege und unter militärische Disziplin komme, wie es sich gehört, aber ich sage, keine Zeit, zuviel zu tun. Ein gewisser Sayed Omar, Mufti für London-Mitte, kommt ins Büro, um Erklärung abzugeben, die der Freie Brite veröffentlichen soll. Oberst L. übersetzt für mich. Inhalt: Es muß Klarheit bestehen, daß Bau der Moschee heiliges Werk ist. Unterliegt nicht weltlichen Gesetzen oder Verträgen. Bauplatz mag geographisch oder topographisch auf britischem Boden liegen, doch in tieferem geistigen Sinne ist es heiliger Boden, der ganzen islamischen Welt verehrungswürdig. Die Große Moschee von London, größter Moslemtempel des Westens, wird mit großen Feierlichkeiten am ersten Tag des Shawwal eingeweiht. Versprechen muß gehalten werden, Streiks und soziale Streitigkeiten ganz allgemein höchst unangebracht. Bevölkerung und Regierung müssen verstehen, daß Verzögerungen am Bau und sonstiger verdammter Unfug (oder heiligmäßige Worte gleicher Bedeutung) nicht hingenommen werden können. Auf der Rückfahrt vom Al-Dorchester wird Sayed Omars Wagen mit Steinen und Unrat beworfen. Gründung eines freiwilligen Sicherheitsdienstes. Kleine Patrouillen durchstreifen die Stadt, bewaffnet mit Pistolen, Messern, Knüppeln etc. allesamt Moslems – Pakistanis, sogar Nordchinesen, angelsächsische Konvertiten, auch Frauen, aber keine Araber. Freie Briten haben nichts damit zu tun, beschützen moslemische Geschäfte,
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Wohnungen, Moscheen. Eine Infanterieabteilung der Lockheed-Kaserne marschiert gegen die Anweisungen der ArmeeVertrauensleute bewaffnet in östliche Stadtbezirke und versucht die Verteilung von Mehlvorräten für kommunale Straßenbäckereien zu organisieren. Kerzen, wenn erhältlich, kosten 10.00 Pfund das Stück. Viel Zerstörung von Eigentum – Mobiliar, Ladeneinrichtungen etc. -, um Straßenfeuer zu entzünden. Heute überall gefrorener Schlamm, ausgleitende und fluchende Menschen. Wachposten der Freien Briten glitt vor AlDorchester aus und stürzte, wobei sich Schuß aus seiner Waffe löste und eine Frau tödlich verwundete, die sich als Lady Belcher erwies, Gemahlin eines TUC-Adligen. Furchtbarer Krach. Durch Birminghams Straßen sollen Panzer rollen. In Heathrow und anderen Flughäfen Entladung weiterer Waffenlieferungen. Aus den Provinzen Meldungen über Aufruhr, Plünderungen, Explosionen, undichte Gas- und gefrorene Wasserleitungen. Hitziger Streit mit Oberst L. wegen seiner Lüge, daß nur Platzpatronen verwendet würden. Er sagt: Ich hasse Gewalt, aber Sie sehen selbst, wie die Situation ist. Sie sehen auch, daß in Sachen Moschee kein Kompromiß möglich. Ich sage, Ende des Streiks in Ihren Händen und denen Ihrer Befehlshaber, wer und wo sie sein mögen. Rufen Sie Streikbrecher und Freie Briten zurück, lassen Sie organisierte Arbeiter weitermachen. Er sagt: Das also Ihre Ansicht, wie? Sie haben sich geändert, bei Allah. Wirklich nicht, sage ich, habe immer an ein Minimum von schützender gewerkschaftlicher Organisation geglaubt, bin schließlich Historiker, wehre mich aber gegen Starrheit. Er sagt: Ein für allemal, kein Kompromiß möglich, islamische Führer werden organisierte Arbeitskräfte nicht akzeptieren, die Führer britischer Gewerkschaften müssen zur Vernunft gebracht werden. Sollen sie Vernunft in Gewehrmündungen finden? sage ich. Gefällt mir überhaupt nicht, diese Situation, sage ich.
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Seltsames Ereignis in Piccadilly. Devlins Sohn, Modell für Bill die Verkörperung des Werktätigen, tauchte bei Erosstatue auf, gekleidet wie auf Plakat und daher wiedererkannt. War stockbetrunken, zog sich trotz Kälte nackt aus und tanzte herum und gab sich als homosexuell zu erkennen, sagte Scheiß auf die Arbeiter, kommt Arbeiter und laßt es euch besorgen. Darauf wurden Plakate, die Bill die Verkörperung des Werktätigen zeigten, überall im Stadtgebiet heruntergerissen oder mit obszönen Darstellungen und Worten besprüht. Traf Frau auf der Straße, die schluchzte und mich um Hilfe bat. Sagte, sie müsse nach Darlington, habe kein Geld, Schreckliches geschehe in Darlington, verheiratete Tochter dort, sehr besorgt. Ich gab ihr meinen in Crawford Manor ausgestellten Reiseausweis, nicht ausgefüllt aber unterschrieben, und sie hätte mir vor Dankbarkeit bald die Füße geküßt. Wirklich lächerlich. Nach Norden fahren Züge nur bis Leamington, bemannt von Freien Briten. Reiseausweis wahrscheinlich nutzlos. Aber alles, was wie der von der staatlichen Eisenbahnverwaltung ausgegebene Reiseausweis das königliche Staatswappen trägt, ist wie ein Talisman der Vernunft und Stabilität. Eines Tages wird sie ihn vielleicht gebrauchen können, die arme Frau. Erinnerte mich an Kumina-Jungen (so lang scheint es her!), die mir von UU oder Untergrunduniversität erzählten. Sah heute eine in Aktion, in einem zerschlagenen und ausgeplünderten Supermarkt. Vortrag über lateinische Literatur vor Bande aufmerksamer Strolche. Streikende Mittelschullehrer kommen und protestieren gegen »schwarze« Ausbildung, scholastische Streikbrecher etc. und UU-Stundeten zeigen, daß Gewalt notwendig ist, um ihr Recht auf Virgil und Horaz zu schützen. Gesta sanguinaria (?). Dritter Tag: Es ist ganz sicher, daß schwache Regierung nicht mehr in Existenz. Mr. Sheen, Premierminister, sprach gestern
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über Radio Freies Britannien, forderte beide Seiten zur Vernunft auf. Islamische Behörden und TUC sollten Fanatismus in eigenen Reihen mäßigen. Heute Meldung, daß er zurückgetreten sei, der König aber nichts unternommen habe, um andere zur Regierungsbildung aufzufordern. Macht keinen Unterschied. Schlüssiger Beweis, daß wir in Tucland nie eine Regierung hatten, außer zu dem Zweck, von TUC geforderte Verordnungen der Form halber hinauszuzögern. Verfassungsmäßige Situation trotzdem interessant. Hat Monarch das Recht, Land ohne Regierung zu lassen? Nach Tradition muß er ein Mitglied der Mehrheitspartei, gewöhnlich empfohlen vom zurücktretenden Premierminister, zur Bildung eines neuen Kabinetts auffordern. Wird nächstes Stadium vielleicht Absetzung des Königs und Ausrufung von Mr. Pettigrew als (provisorisches?) Staatsoberhaupt sein? Ende der Verfassung? Bevölkerung verlangt immer häufiger, daß Araber Großbritannien verlassen, besonders vor Bauplatz der Moschee Great Smith Street und Gebäude der Vereinigten Arabischen Botschaft. Schmeißt verdammte Araber raus ,etc. Rassenkrawalle in kleinem Maßstab, vielleicht um größer zu werden. Freie Briten machen offen von der Waffe Gebrauch. Meldung von Panzern in Birmingham unzutreffend. Im Al-Dorchester werden die Lebensmittel knapp. Von der Ostküste laufen Gerüchte über arabische Flugzeuge ein, oder wenigstens Flugzeuge mit Stern und Halbmond, die zu landen versuchten, aber von NATO-Streitkräften abgewiesen wurden. Zu fantasievoll um wahr zu sein. Bomber? Transportmaschinen? Ich glaube nichts von diesem Unsinn. Vierter Tag: Hunger, Chaos, tauender Schlamm überall, Schutt und Unrat, Wasserrohrbrüche, inoffizielle Warnungen vor Wasserverseuchung, Gasexplosionen. Unruhe unter Freien Briten. Da heute Zahltag, bildeten sich vor den FB-
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Dienststellen pünktlich um neun Uhr Schlangen von Freien Briten. Aufschub der Zahlungen. Kein Bargeld vorhanden. Gewalttätigkeiten. Konferenz im Festsaal des Al-Dorchester. Scheich Isa Ta’ala (Name scheint zweifelhaft) hält in Oxfordenglisch Vortrag über Bewußtsein von Unpopularität bei Arabern und Moslems allgemein im unruhigen, streikgeschüttelten Großbritannien, doch habe Islam während seiner langen Existenz immer Feindschaft erlebt, und es bestehe nicht die Absicht, arabische Anwesenheit rückgängig zu machen. Viel arabisches Geld im Land investiert. Der Scheich, die standesgemäße dunkle Brille auf, Zigarette in Dunhillspitze von Adjutanten in braunem Anzug angezündet, schien voll Unbehagen. Von Gesprächen zwischen hochrangigen Freien Briten, anderen Arabern und anonymen Persönlichkeiten, die vom TUC oder Parlamentsmitglieder oder höhere Beamte gewesen sein mochten, daß es ernsthafte Diskussionen über eine Art panislamische Machtergreifung unter Sultan oder Kalif oder Präsident gegeben habe, gemäß Anweisung des Propheten, die Fahne des Heils im Land der Ungläubigen aufzurichten. Befürchtete Opposition von US-Konzernen mit großen, wenn auch zurückgehenden Investitionen in Großbritannien. Viel Gerede von KIE, was ich nicht verstand. Erfuhr später, daß die Buchstaben für Kanalinsel-Experiment stehen. Kann nicht glauben, was man mir erzählte. Anscheinend hatte sich eine französischsprechende algerische Streitmacht in Avignon und Orange versammelt und, unterstützt von saudiarabischem Geld, vor einigen Monaten die Inseln Alderney und Sark besetzt. Presse und Radio unter scharfer Kontrolle, keine Nachrichten gelangten zum französischen oder britischen Festland. Durchsetzung islamischer Gesetze, Schließung von Bars und Wirtschaften, zerschlagen von Bier- und Whiskyfässern auf den Straßen, Verbot von Schweinefleisch und Schweinefleischprodukten, Umwandlung der
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Kirchen in Moscheen, Umbenennung von Jesus Christus in Nabi Isa, dem vorletzten großen Propheten, aber nicht mehr. Starke Feindseligkeit von Seiten der Einheimischen, nach Bier und Whisky floß Blut durch die Rinnsteine. Allgemeine Schlußfolgerung, daß Experiment Fehlschlag sei, erzwungene Konversion undurchführbar. Französische Regierung überredete die Feudalherrschaften von Sark und Alderney, die für Frankreich peinliche Episode zu vertuschen. Wie wenig wir wissen, Gott sei uns gnädig! Wie wenig wir erfahren! Es scheint jedoch unwahrscheinlich, daß es hier Versuche zur Zwangsbekehrung geben wird. Festina lente. Fünfter Tag: Heute sehr schlimmer Zwischenfall und sehr unangenehmen Streit mit Oberst L. Fünf oder sechs MoscheeBauarbeiter wollten auf hören. Sie hatten genug davon, zwischen Baustelle und Gemeinschaftsquartier hin- und herzumarschieren und angeschrien, verflucht und bedroht zu werden. Sie wollten in die Reihen der organisierten Bauarbeiter zurückkehren und von den Freien Briten nichts mehr wissen. Wurden unter schwerer Bewachung abgeführt und nicht wieder gesehen. Ich wollte wissen, was aus ihnen geworden ist. Oberst L. wußte es, wollte es aber nicht sagen. Disziplinarische Maßnahmen gegen Delinquenten notwendig, sagte er. Keine Armee ohne Disziplin. Welche disziplinarischen Maßnahmen wurden ergriffen? wollte ich wissen. Unwichtig, sagte er. Sie sind bestraft worden. Meuterei absolut unzulässig. Sind sie erschossen worden? Nein, natürlich nicht, wir erschießen nicht unsere eigenen Leute. Aber diese, sagte ich, sind nicht Ihre eigenen Leute, es sind bloß Leute, die wegen der Bezahlung dabei sind. Sagen Sie es mir, verlangte ich zu wissen. Sie haben kein Recht, es zu wissen. Es ist an der Zeit, daß Sie den Treueid leisten. Sagen Sie es mir, erwiderte ich, und zum Teufel mit Ihrem verdammten Eid.
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Werden Sie nicht ausfallend, Leutnant Jones, und so weiter. Ich beschloß, daß ich ohne Aufhebens meiner Wege gehen würde. Ich kann mich den Plünderern zugesellen, oder den Toten. Ich kann in einer der Untergrunduniversitäten Geschichte lehren. Es herrscht große Verwirrung, eine zunehmende Unklarheit des Konflikts, eine Verwischung der Fronten. Freie Briten ziehen ihre Uniformen aus, legen geplünderte Zivilkleidung an und vermischen sich mit den Streikenden, um ›wieder ein bißchen menschlichen Anstand‹ hineinzubringen Viele Streikende möchten wieder arbeiten. Es gibt ein starkes kollektives Verlangen nach einem ordentlichen Stück Fleisch, einer in Ruhe genossenen Flasche Bier, einem Abend vor dem Fernseher. Gewerkschaftsredner auf Lastwagen (inzwischen weniger zahlreich, da es kein Benzin gibt) werden niedergeschrien. Aber anderswo wird ihnen auch zugejubelt. Die Arbeiter auf der Baustelle der Moschee tun verdrossen ihre Pflicht. Sie werden von Unterführern bewacht, die Pistolen tragen, aber Gummiknüppel benutzen. Die Krankheit muß behoben werden. Aber wie?
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17 SEINE MAJESTÄT Die dreizehnte Nacht des Generalstreiks war die Nacht der großen Feuer. Wer glaubte, daß diese von den Söhnen des Propheten angezündet worden waren, wurde vom Schauspiel der hellodernen Zerstörung des hohen schmalen Gebäudes am Strand (einem so schlanken und spitz zulaufenden Gebäude, daß die Araber es Mibrad Azafir oder »Nagelfeile« nannten), das der islamischen Volkskultur gewidmet war, von seinem Irrtum befreit. Tatsächlich wurde jetzt vielen klar, warum die Freien Briten mit arabischem Geld unterstützt wurden: eine Organisation, die außerhalb des gewerkschaftlichen Bereiches stand, bot in unruhigen Zeiten wie diesen noch am ehesten die Möglichkeit, arabisches Eigentum zu schützen oder zu retten. Die Feuerwehren brachen den Streik nicht ab, stellten ihre Ausrüstungen zur Brandbekämpfung jedoch Kräften zur Verfügung, die Feuer löschen wollten, wenn sie auch murrten, daß dies ein Unterlaufen des Generalstreiks sei. Die Freien Briten mußten beinahe buchstäblich mit blanker Waffe zur Brandbekämpfung getrieben werden, doch mitten in der Nacht, als die Brände den Himmel über der Stadt erhellten, erschien plötzlich Geld aus unbekannten Quellen und wurde den Männern der unfreiwilligen Feuerwehren auf den Straßen ausgezahlt. Ein Teil dieses Geldes ging im weiteren Verlauf der Brandbekämpfung unglücklicherweise in Flammen auf, aber die Feuerwehrtrupps setzten sich von nun an wenn nicht sachkundiger, so doch bereitwilliger ein. Es war natürlich das Werk der IRA, der Irisch Republikanischen Armee. Aber war es dieselbe Gruppe der ewig und vernunftwidrig Unzufriedenen, die die Bombenflugzeuge schickte? Die Feuer, die in der Nacht des dreizehnten Streikta-
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ges ausgebrochen waren, waren augenscheinlich von Brandstiftern gelegt worden, doch die Brände, die in der folgenden Nacht um 2.35 Uhr im Hafengebiet wüteten und sogar einige der an den Kais festgemachten Frachter erfaßten, waren durch Einwirkung aus der Luft zustande gekommen. Nun hatte es, so sagten die Experten, in der Geschichte nur einen irischen Piloten gegeben (denjenigen, welchen W. B. Yeats in einem berühmten Gedicht feierte); die IRA war im wesentlichen eine Landstreitmacht; wo sollte sie das Geld finden, um Bombenflugzeuge zu kaufen oder zu mieten? Verwirrt und beunruhigt folgten die Londoner einem unsichtbaren und unhörbaren Leithammel am Morgen des fünfzehnten Streiktages zum Trafalgar Square. Dieser war das traditionelle Forum, wo Kummer und Sorgen Ausdruck finden, Verdrießlichkeiten Luft gemacht, von diesem oder jenem Führer Worte der Ermutigung gesprochen werden konnten. Vier folgsam hingekauerte Löwen brüteten vor sich hin, und hoch in der Luft schien der einäugige, einarmige (und, wie der vulgäre Volksmund wissen wollte, einarschige) Held einer großartigen Seeschlacht die Luft in sich hineinzutrinken, die an diesem Tag wie gekühlter Pouilly Fume war. Bev stand an der Peripherie der großen, murmelnden, abgerissenen, mitgenommenen, genesenden – konnte man wirklich genesenden sagen? fragte er sich – Menschenmenge. Dicht gedrängt und von mürrischer Geduld. Aber auch in hoffnungsvoller Erwartung. Auf der Fußplatte der Säule war noch niemand. Aber natürlich wußte niemand etwas aus offizieller Quelle. Es hatte hartnäckige Gerüchte von einer Massenversammlung hier am Trafalgar Square gegeben, aber an Gerüchten hatte es in den vergangenen Wochen nie gefehlt, und die meisten hatten sich im nachhinein als unbegründet erwiesen. Die Lautsprecher blökten einfältig über den Platz hinaus. Welch ein Ziel, dachte Bev, für eine Bormberstaffel. Aber der Himmel war heiter und leer. Bev
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sah Mr. Pettigrew in der Menge, zusammen mit stämmigen Gewerkschaftsführern. Was hinderte sie daran, dort hinaufzusteigen und eine Brandrede gegen dies oder das zu halten? Aber alle warteten. Die Luft war voller Tauben, die die Menge mit kittfarbenem Mist bombardierten oder vergeblich niedrig gelegene Landeplätze suchten. Es gab ironische Hochrufe, als jemand eine von ihnen mit einem Luftgewehr traf, tödlich genau. Auch gab es Gebrumm, daß man die armen Vögel in Ruhe lassen sollte. Dann entstand eine Unruhe, ein anschwellendes, erwartungsvolles Gemurmel, ungläubiges Staunen. Fahrzeuge kamen die Mall entlang. Einige besonders bewegliche Londoner sprangen auf die Säulenbasis um besser sehen zu können. »Es ist der König!« schrie jemand. Alle lachten, niemand glaubte es. Und dann glaubten einige, und bald alle, und die Hochrufe setzten ein. Ein paar ungezogene Kinder nicht weit von Bev, begannen zu singen: »God save our gracious cat Rub his belly in bacon fat God save our…« Der königliche Rolls-Royce mit der Königs Standarte fuhr langsam auf den Platz, gefolgt von einem neutralen Lieferwagen. Sobald beide Fahrzeuge im Schrittempo durch die bereitwillig zurückweichende Menge bis an den Fuß der Säule vorgedrungen waren, stiegen Techniker in Overalls mit dem Monogramm CIIIR aus. Warum streikten die Kerle nicht wie jeder andere? Königliches Dienstpersonal ohne Streikrecht. Ein Mikrofon wurde aufgestellt, Kabel nachgezogen. Fahrer und Beifahrer verließen die königliche Limousine und öffneten die rückwärtigen Türen. Seine Majestät König Charles III. stieg aus. Drahtige schnurrbärtige Männer in guten Anzügen eskortierten ihn zur Säulenbasis. Seine in einem Wollhandschuh
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steckende Hand umfaßte das Mikrofon. Er trug einen knappen dunkelblauen Wintermantel, dessen Schnitt an eine Marineuniform gemahnte. Es gab Hochrufe von allen Seiten. Der König lachte. Seine Ohren waren rosig von der Kälte. Er sagte, und alle lauschten: »Was ich hier tue, ist gegen das Gesetz, nehme ich an, aber mir scheint, daß wir alle in letzter Zeit ein wenig gegen das Gesetz gehandelt haben. Ich will damit sagen, daß ich kein verfassungsmäßiges Recht habe, hier zu stehen und zu sprechen. Als Monarch ist man nur eine Art Galionsfigur und darf nur sagen, was die Regierung einem aufträgt. Das Problem besteht darin, daß wir gegenwärtig keine Regierung zu haben scheinen. Hat jemand von Ihnen in letzter Zeit eine Regierung gesehen? Ich schaute heute morgen unter das Bett, aber was ich dort auch fand, eine Regierung war es nicht.« Das sollte er nicht tun, dachte Bev, er sollte nicht auf einen Heiterkeitserfolg abzielen. Aber die Leute lachen. Wann werden wir verdammten Briten lernen, die Dinge ernstzunehmen? »Da es keine Regierung gibt«, fuhr der König fort, »und da ich das verfassungsmäßige Staatsoberhaupt bin, dachte ich, daß ich hierherkommen und ein paar Worte sagen sollte. Weil gegenwärtig niemand arbeitet, können Sie alle die Zeit erübrigen, um mir zuzuhören. Nicht, daß ich eine lange Rede halten werde. Eins muß ich allerdings sagen, nämlich, daß Sir Malcolm McTaggart, der königliche Leibarzt, ein verdammter Streikbrecher ist. Heute früh brach er gegen die Anweisungen der Vertrauensmänner der Britischen Gesellschaft für Medizin den Streik ab, als ich ihn darum ersuchte. Ich mußte es tun. Sehen Sie, meine Frau, das heißt, die Königin, ist gerade im Begriff zu entbinden. Jede Minute können wir jetzt Familienzuwachs bekommen. Ich denke, wir könnten ihn Bill nennen.« Ein herzliches Gebrüll beantwortete seine Ankündigung. Ein kleiner Mann mit vorspringendem Kinn und Brille, der gerade
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vor Bev stand, schrie: »Noch ein verdammtes Maul zu füttern.« »Was ich sagen möchte, ist dies«, sagte der König, »und vielen Dank für diesen loyalen Ausdruck von… ah… Sie wissen, was ich meine. Nun, was ich sagen möchte, ist, daß dieser Unsinn lange genug gedauert hat. Ich meine, es ist an der Zeit, daß wir alle wieder an unsere Arbeit gehen.« Hochrufe und Pfiffe. »Und soweit es die Streitkräfte betrifft, so bitte ich sie nicht etwa höflich darum, ihren Dienst wieder aufzunehmen, sondern ich befehle es ihnen. Wenn sie nicht wollen, daß der König ihr Oberkommandierender ist, dann sollten sie lieber aufhören, sich die königliche Armee, Luftwaffe und Marine zu nennen. Ich erwarte, daß alle Waffengattungen unverzüglich wieder ihren Dienst versehen. Tun sie es nämlich nicht, so könnte es ein bißchen spät werden, das zu tun, wofür sie bezahlt werden, nämlich die Verteidigung des Landes. Was in den vergangenen Nächten geschehen ist, muß meiner Meinung nach als ein Warnzeichen gesehen werden. Das gesamte Land liegt jedem Eindringling offen und schutzlos zu Füßen. Wir im Buckingham-Palast sind keine Schlafmützen, jedenfalls nicht alle. Einige von uns wissen, was vorgeht. So gibt es zum Beispiel auf hoher See vor unseren Küsten bemerkenswerte Ansammlungen von Kriegsschiffen und die gehören nicht den Söhnen des Propheten, das dürfen Sie mir glauben. Vor Cromarty ist ein Flugzeugträger gesichtet worden, und jeder weiß, daß die Araber nicht über solches Material verfügen. Ich glaube, jeder von Ihnen kann sich denken, wem diese Schiffseinheiten gehören. Nein, nicht der IRA, der nicht. Vergessen wir nicht, daß es in diesem Land eine große Zahl bedeutender amerikanischer Geschäftsinteressen und Investitionen gibt, und das bedeutet, daß man damit Geld verdienen und nicht verlieren will. Glauben Sie nicht, daß die NATO von Nutzen für uns sein wird; ich vermag mir vorzustellen, daß der Vertrag in einer Situation wie derjenigen, in der dieses Land sich zur Zeit befindet, Ausle-
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gungen zuläßt, die manch einer als überraschend empfinden dürfte.« Buhrufe, Hochrufe, Gelächter. Der König fuhr fort: »Wie dem im einzelnen auch sein mag, ich möchte sehen, daß die Angehörigen unserer Streitkräfte an ihre Plätze springen und Sir rufen und sich an die Arbeit machen. Wir wissen alle, daß in letzter Zeit eine kleine Armee von sich reden gemacht hat, aber mit einer eigenen einsatzbereiten Armee haben wir keinen Bedarf für Privatarmeen, vielen Dank. Diese Organisation ist daher mit diesem Augenblick als aufgelöst zu betrachten, und jeder, der ihr angehört und Waffen und Munition hat, tut gut daran, diese beim nächsten Polizeirevier abzuliefern. Das bedeutet, daß wir mit dem Augenblick, da ich von dieser Plattform hier steige, wieder unsere tüchtigen Polizisten im Dienst sehen wollen. Was die Arbeiten angeht, die in der Great Smith Street, der alten Kolonialbehörde und nun dem Standort der neuen Moschee, ausgeführt werden, so ist das von nun an eine reine Gewerkschaftsangelegenheit. Gestern abend speiste ich mit einigen unserer arabischen Freunde. Es war ein ganzer Hammel, und sie verehrten mir das Auge, daß sie für eine große Delikatesse halten. Nun, ich weiß nicht. Ich ließ es in meiner Tasche verschwinden, als sie nicht hinschauten, muß es noch bei mir haben – aber das tut hier nichts zur Sache. Die Sache ist, daß eine Moschee ein geheiligter Ort sein mag, aber solange sie nur aus Ziegeln und Mörteln besteht, unterscheidet sie sich nicht von der Baustelle eines Supermarkts oder einer öffentlichen Bedürfnisanstalt – nur größer ist sie natürlich. Nach der Fertigstellung mag sie so heilig sein, wie ihre Erbauer es sich wünschen. Es tut mir leid, meine Herren, sagte ich, aber Sie sehen selbst, was geschieht, wenn wir anfangen, Ausnahmen von der Regel zuzulassen. Das sahen sie auch ein, denn sie sind anständige und wohlmeinende Leute und durchaus bereit, uns auf unsere Art weitermachen zu las-
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sen. Es ist mir bekannt, daß es in letzter Zeit zu harten Worten und vereinzelten Tätlichkeiten gekommen ist, aber beide Seiten haben sich entschuldigt und die Entschuldigungen der anderen Seite angenommen und sind bereit, es damit sein Bewenden haben zu lassen. Wenn Sie mir nicht glauben wollen, daß es von nun an wieder nach unserer Art läuft, dann gehen Sie zur Great Smith Street, und Sie werden finden, daß alles hübsch normal ist und niemand einen Finger rührt. Und noch etwas: Wir müssen allen Streitigkeiten und Unzuträglichkeiten zwischen den verschiedenen Rassen ein Ende machen. Es sollte wirklich nicht nötig sein, daß ich Ihnen das sage. Ich meine, der zukünftige Friede der Welt hängt davon ab, daß jeder die Hautfarbe und den Glauben und die Lebensgewohnheiten jedes anderen respektiert. Rasse bedeutet wirklich sehr wenig. Wenn ich an die rassische Mischung meiner eigenen Familie denke, wird mir schwindlig. Schottisch und deutsch und griechisch und Gott weiß was noch. Wer weiß, ob in künftigen Zeiten nicht noch jüdisches und arabisches Blut hinzukommen wird – das heißt, wenn ihr erlaubt wird, weiterzumachen und konstitutionelle Staatsoberhäupter hervorzubringen. Aber das liegt bei Ihnen. Alles liegt an Ihnen. Das ist es, was das große Wort Demokratie bedeutet. Ich denke, alles sollte jetzt in Ordnung sein. Heute abend, so wird mir gesagt, werden die Fernsehsender wieder Programme ausstrahlen. Natürlich nicht die, die in den Fernseh- oder Programmzeitschriften gedruckt sind – ich kaufe nie eine, ich schalte bloß an und sehe, was es gibt, wenn ich es nicht überhaupt vorziehe, schlafen zu gehen -, sondern BBC eins bringt Vom Winde verweht, ungekürzt, und das scheint eine hübsche Art und Weise zu sein, den Abend zu verbringen. Natürlich brauchen wir dazu ein bißchen Elektrizität, doch bezweifle ich nicht, daß wir die bis zum Mittag haben werden. Das ist einstweilen alles, denke ich. Wahrscheinlich wird man mir nun
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Vorwürfe machen und erklären, ich hätte meine Kompetenzen überschritten, aber ich sehe im Moment nicht recht, von wem sie kommen sollten, da wir noch keine Regierung haben. Nun gut, das tut nichts zur Sache…« Einer der schnurrbärtigen Männer flüsterte ihm eine Nachricht zu. Jungenhafte Freude übergoß die Züge des Königs, als er lauschte. Dann wandte er sich wieder an seine Untertanen: »Es ist geschehen. Ich bin Vater eines gesunden Jungen. Mutter und Kind sind wohlauf. Gott segne Sie alle!« Er winkte mit der behandschuhten Rechten und stieg von der Säulenbasis. Sein Chauffeur hielt ihm den Schlag. Langsam fuhr der Wagen durch die heranwogende Menge davon. Als die Nationalhymne aus den Lautsprechern ertönte, fielen alle inbrünstig mit ein. Dann fingen sie an, sich mit der Möglichkeit zu beschäftigen, wieder zur Arbeit zu gehen.
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18 AUF LEBENSZEIT »Jones«, sagte der alte Ashthorne, der wie zuvor im Gerichtssaal Nummer 3 amtierte, »Sie haben schon mindestens einmal vor mir gestanden…« »Höchstens einmal«, berichtigte ihn Bev. Der Gerichtsschreiber, laut und unverschämt, brüllte: »Werden Sie nicht unverschämt, Jones!« Die Beisitzerin, eine einfache, flachbrüstige Frau mit einem unscheinbaren Hut auf dem Kopf, wenn auch nicht dieselbe Frau wie in der früheren Verhandlung, flüsterte dem alten Ashthorn etwas zu. Dieser nickte mißmutig und sagte: »Sie scheinen es noch immer nicht für nötig befunden zu haben, gründlich über die… ah… ah… Irrtümer Ihres Verhaltens nachzudenken. Die Anklageschrift, die mir hier vorliegt, ist ein Protokoll der Widerspenstigkeit und der Rückfälligkeit und… ah… ah… was ist das für ein Wort?« »Atavismus, wahrscheinlich«, sagte Bev. »Ich erkenne den Stil des großen Mr. Pettigrew.« Der alte Ashthorn grunzte und schnaufte und sagte dann: »Sie haben jede Gelegenheit zur Besserung erhalten, jede Hilfe. Trotzdem sind Sie geblieben, was Sie waren, und was hier… ah… im einzelnen aufgeführt ist. Was haben Sie diesmal zu Ihrer Rechtfertigung zu sagen?« Als Bev nicht gleich antwortete, brüllte der Gerichtsschreiber: »Reden Sie schon, Jones! Wir haben eine Menge Arbeit zu bewältigen.« »Ja, natürlich, der Streik der Richter und Gerichtsbeamten hat zu einem schlimmen Rückstau geführt. Meinen Glückwunsch, übrigens, zu Ihrer letzten Gehaltserhöhung. Nun, ich möchte meine Befriedigung darüber ausdrücken, daß ich diesmal we-
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gen vollendeten Diebstahls vor Gericht stehe, statt, wie letztes Mal, nur wegen versuchten Diebstahls. Boodles Gin, Euer Ehren, ist ein gutes herzstärkendes Mittel, und ich habe es genossen. Ich möchte auch sagen, daß ich die Rechtsprechung dieses Gerichtshofes nicht akzeptiere. Die britische Justiz mit all ihren Verzweigungen ist längst zum bloßen Rechtsinstrument des Staatssyndikalismus geworden. Lassen Sie mich hinzufügen…« »Alles das steht hier auch«, sagte der alte Ashthorn. »Und es ist alles… ah… irrelevant, um nicht zu sagen impertinent.« »Sehr gut, dann protestiere ich gegen das Urteil, das zu verkünden Sie jetzt gezwungen sind…« »Sie wissen nichts, Sir, von dem Urteil, bis es verkündet worden ist. Ich denke, Sie haben genug gesagt.« Die Beisitzerin flüsterte ihm zu. »Ja, ich bin ganz derselben Meinung«, sagte der alte Ashthorn. »Sie haben mehr als genug gesagt, Angeklagter. Das Urteil dieses Gerichtshofes lautet, daß Sie auf Lebenszeit in einer staatlichen Anstalt festgehalten werden sollen.« »Ich kannte das Urteil«, sagte Bev, »bevor Sie es verkündeten. Ich protestiere!« »Abführen!« brüllte der Gerichtsschreiber zu den Polizeibeamten. Er hatte seine Sache wirklich nicht allzu schlecht gemacht, dachte Bev, als er in einem geschlossenen Wagen nordwärts reiste, neben sich einen Krankenwärter im weißen Kittel und einen Vollzugsbeamten in grauer Uniform neben dem Fahrer. Es war Frühling geworden, Shakespeares Geburtstag stand nahe bevor, und er hatte beinahe den ganzen harten Winter trotz zunehmender Verwahrlosung als freier Mann gelebt. Er hatte sich den Schweinen nicht unterworfen. Und was seine gegenwärtige Lage anging, war er wirklich geschlagen? –
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Kaum, da er trotz all ihrer Überredungsversuche und Knüppeleien unbeugsam geblieben war. Er wußte genau, was ihm bevorstand. »Da sind wir«, sagte der Wärter. »Sl-fünf, vormals Purfleet Castle. Hör nur die Vögel singen, sieh das viele Grün und die Märzenbecher«, denn die Hecktüren des Wagens waren nun offen. »Kannst dich verdammt glücklich schätzen, hier zu sein und nicht im verdammten Knast.« »Jeder hat freien Eintritt«, sagte Bev, »solange er bei klarem Verstand ist.« »Schnauze!« sagte der begleitende Vollzugsbeamte. »Steig endlich aus!« Bev wurde von dem Wärter irrt weißen Kittel ein paar Männern in noch weißeren Kitteln übergeben. Die Herren hatten Schreibunterlagen mit Klemmvorrichtungen und das Stirnrunzeln der Überarbeiteten. Bev wurde einer körperlichen Untersuchung unterzogen. »Nun machen Sie schon, Mann, bücken Sie sich richtig. Wir müssen richtig hineinsehen können. So ist es besser.« Unterernährt, Untergewicht, Allgemeinzustand bedenklich, Flecken auf der rechten Lunge, weiterer Überwachung bedürftig, Zähne sehr schlecht, Bad und Entlausung dringend notwendig. Ein gesäuberter Bev in einem von der Anstalt bereitgestellten Bademantel wurde von einem Doktor Schimmel und einer Doktor Kilburn auf seinen Geisteszustand untersucht. Doktor Kilburn war eine blasse Blondine mit übermüdeten, scharfen Zügen. Er versuchte die Schablonentests falsch zu machen, aber seine Fehler waren so konsequent und übereinstimmend, daß sie als gewollt erkannt wurden. Dr. Schimmel sagte: »Was ist los mit Ihnen, Mann? Sie könnten ein vernünftiges, gesundes, produktives Leben führen, wenn Sie wollten.« »Ich weiß. Aber das würde die Billigung einer ungesunden,
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krankhaften, verfaulten Staatsphilosophie erfordern.« »Das ist undemokratisch. Ihre Geisteskrankheit läßt sich als eine Ablehnung der Mehrheitsethik definieren. Mit Ihren Worten und Handlungen proklamieren Sie diese Geisteskrankheit.« Beide Doktoren blickten ihn stirnrunzelnd über das dicke Dossier hinweg an, das Bev auf seiner Reise begleitet hatte. »Was werden Sie mit mir machen?« fragte Bev. Sie antworteten nicht. »Ich kann nicht einsehen, daß ich falsch gehandelt haben sollte«, sagte Bev. »Ich wurde in einer bestimmten Tradition erzogen, die als vernünftig betrachtet wurde. Ich bin unter einem Regierungssystem aufgewachsen, das als der Triumph von Jahrhunderten des gesunden Menschenverstandes betrachtet wurde. Ich sehe die Welt verändert. Bin ich verpflichtet, mich mit ihr zu ändern?« Beide musterten ihn mit stiller Befriedigung, als stelle die Frage eine verschlüsselte Bestätigung seiner Geisteskrankheit dar. Dr. Kilburn sagte: »Sie sind Teil dieser Welt. Ihr Irrtum besteht in der Annahme, daß der menschliche Beobachter von dem beobachteten Ding oder Geschehen getrennt werden könne. Ihre Abirrung, um einen wohlwollenden Begriff zu gebrauchen, besteht in Ihrem Widerstand gegen Veränderung.« »Ich werde der Veränderung, die die Welt wieder zur Vernunft zurückbringt, keinen Widerstand leisten. Unter Vernunft verstehe ich eine Akzeptanz der Gerechtigkeit und der Bekömmlichkeit von geistigen und ästhetischen Idealen.« »Ja?« sagte Dr. Schimmel ermutigend. »Betrachten Sie die britische Verfassung«, sagte Bev. »Ich glaube, daß die Bevölkerung repräsentiert werden sollte, wie es jahrhundertelang der Fall gewesen ist. Alles, was wir jetzt haben, ist im Oberhaus eine gesetzgebende Versammlung aus TUC-Adligen auf Lebenszeit. Das Unterhaus welkt dahin. Der Monarch, als Oberhaupt der Exekutive, präsidiert einem Kabi-
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nett, das aus Schülern der politischen Hochschule des TUC besteht. Das Prinzip der Wahl ist verschwunden.« »Die Bevölkerung«, sagte Dr. Schimmel, »wählt ihre Gewerkschaftsvertreter. Ist das nicht genug?« »Nein«, sagte Bev, »denn das Leben ist mehr als das, was heutzutage als Arbeit angesehen wird. Mehr als ein gerechter Lohn und eine schrumpfende Auswahl schlecht gemachter nutzloser Konsumgüter, um das verdiente Geld wieder auszugeben. Leben ist Schönheit, Wahrheit, geistiges Streben, Ideale, Überspanntheit…« »Ah«, sagten beide gleichzeitig. Bev fühlte sich sehr müde. »Es hat keinen Zweck. Vergessen Sie es! Es ist, als redete ich an zwei Ziegelmauern hin. Tun Sie, was getan werden muß. Ich bin Ihnen ausgeliefert.« »Laß es ihnen nicht durchgehen!« Der Mann, der im Bett nebenan schlief, früher ein Schildermaler von Beruf, schrieb diese Worte in schöner, sauberer Fraktur mit Ober- und Unterlängen auf eine Tafel, die aus dem Deckel einer Hemdenschachtel geschnitten war. Bev befestigte das Schild mit Erlaubnis des Oberpflegers mit Reißzwecken an der Wand über seinem Nachttisch. Niemand erkundigte sich, was die Worte bedeuteten: sie wurden als ein Ausdruck von Bevs geistiger Verwirrung betrachtet. Das Essen war einfach und ausreichend. Das weitläufige Anstaltsgelände verfügte über einen Sportplatz, wo Fußball- und Cricketspiele abgehalten wurden. Es gab sogar eine Bibliothek aus Büchern, die im Zuge der Übernahme alter aristokratischer Landsitze durch den Staat der Beschlagnahme entgangen waren. Bände mit Predigten aus dem siebzehnten Jahrhundert, Thomsons Die Jahreszeiten, Pope, Cowper, Die Rechte des Menschen, John Milton, nichts später als 1789. Laß es ihnen nicht durchgehen! Laß wem was nicht durchge-
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hen? Mit Nachrichten aus der Außenwelt gaben sie sich selten ab. Mr. Thresher, der Nachrichtensprecher beim Fernsehen gewesen war bis er die Gewohnheit angenommen hatte, die verlesenen Meldungen mit respektlosen Randbemerkungen zu garnieren, versuchte auf rührende Art und Weise in Übung zu bleiben, indem er im Tagesraum Meldungen vortrug, die vielleicht ausgedacht waren, vielleicht wahr: »Die britische Inflationsrate hat fünfundfünfzig Prozent im Jahr erreicht. Dies wurde inoffiziell von Dr. Erlanger, dem Wirtschaftsberater der Weltbank, bei einer Konferenz in Chicago mitgeteilt. Die Zahl wurde von den Behörden Tuclands weder dementiert noch bestätigt.« Oder: »Die Nationale Vereinigung der Schüler von Gesamtschulen hat mit der Lehrergewerkschaft eine einvernehmliche Regelung in bezug auf die Abordnung von Lehrern als Berater in der Durchführung staatlicher Ausbildungsprogramme getroffen. Die Hilfe der Lehrer bei der Entwicklung von Lehrplänen einer realistischeren Art als jenen, die bisher galten, wird gern akzeptiert, sagte Ted Soames, Landesvorsitzender der Schülervereinigung auf einer Pressekonferenz, aber die Schüler werden sich nicht verpflichtet fühlen, die Vorschläge zu verwirklichen…« »Ach, hör auf!« pflegte Mr. Cauldwell, ein ehemaliger Kesselschmied, zu rufen, wenn die Nachrichten seine Aufmerksamkeit von seinem Schachspiel mit Mr. Toomey, einem ruinierten Schuhmachermeister, abzulenken drohten. »… von den geplanten Erweiterungen des Lehrangebots in der Sekundarsfufe der Gesamtschulen sind vor allem fortgeschrittene Sexualerziehung sowie harte und weiche Pornographie zu erwähnen, ferner die Anwendung von Elementen der Comicliteratur auf den Unterricht in der Geschichte der Gewerkschaften…«
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»Hält’s Maul, oder ich hau’ dir die Jacke voll!« Aber Mr. Cauldwell fürchtete sich vor Mr. Ricordi, einem mageren und gebrechlichen Mann, der einen Buchladen geleitet hatte und dem man nachsagte, er habe den bösen Blick. Mr. Ricordi brauchte ihn nur auf den armen Mr. Cauldwell zu richten, und dieser schluckte und machte hastig abwehrende Handzeichen und beugte sich wieder über sein langsames Spiel. Oder: »Die Islamisierung der Insel Man, oder Gazira-ulRagul, konnte dank dem unermüdlichen Glaubenseifer von Nabi Mohammed Saleh bin Abdullah, vormals Joseph Briggs, vergleichsweise reibungslos durchgeführt werden. Proteste gegen die Einführung des totalen Alkoholverbotes waren zu erwarten, doch wissenschaftliche Demonstrationen, die den Nachweis erbrachten, daß der Alkoholgehalt des einheimischen Bieres gleich Null und seit langem durch die als Stimulans wie als Beruhigungsmittel wirksame Substanz LMP ersetzt worden ist, überzeugten die Bevölkerung, daß ihr keine tatsächliche Härte auferlegt wurde.« »Halt jetzt das Maul, oder du kriegst meine Faust in deine verdammte Visage!« Mr. Ricordi war für einen Augenblick hinausgegangen. Laß es ihnen nicht durchgehen! Sie würden nicht ungestraft davonkommen, nicht für alle Zeit. Das war nicht möglich. Man kann nicht nehmen, ohne gleichzeitig zu geben. Bev war bereit, wieder hinauszugehen und zu kämpfen, zu predigen, seine eigene Armee zusammenzubringen. War das ein Zeichen von Geisteskrankheit? Die einzige Möglichkeit, aus der Anstalt herauszukommen, war ein Antrag seiner Familie auf Entlassung ihres Ernährers, verbunden mit der Versicherung, alles zu tun, um sein soziales Verhalten zu bessern. Das bedeutete Bessie. Er schrieb einen Brief an Bessie und schickte ihn über die Londoner Agenten des arabischen Herrschers, der sein Schwiegersohn war, potentiell
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oder tatsächlich, oder auch lediglich der Mann, der seine Tochter zur Unzucht verführt hatte und sie in Abständen vielleicht noch immer ausnutzte. Sechs Monate später bekam er eine Postkarte, deren Hochglanzreproduktion Dromedare und Straßenbettler zeigte: »liber Papa mir get es gut Pensen hier ser gut alles ok vile Grihse Besi.« Auf seinen nächsten Brief erhielt er die folgende Antwort: Werter Herr, ich bin beauftragt, Ihnen mitzuteilen, daß niemand mit Namen Elizabeth (Bessie) Jones im Haushalt Seiner Hoheit wohnhaft ist. Möglicherweise irren Sie sich entweder in bezug auf den Namen oder die Adresse, vielleicht in beidem. Mit vorzüglicher Hochachtung gegeben im Astana zu Ghadan, am 12. Tag des Monats Shaaban, im Jahr 1364 der Hedschra. Mr. Coombes, ein Zeuge Jehovas, unternahm einen Fluchtversuch. Er wurde energisch daran erinnert, daß er einer zeitlich unbegrenzten Zwangsinternierung unterworfen war. Der Umfassungszaun war elektrifiziert. Die Anstalt hatte ihre eigenen Generatoren; es bestand keine Hoffnung, daß die Einzäunung durch einen Streik zu einem harmlosen Hindernis werden könnte. Mr. Commbes, ein zäher Mann Ende der fünfzig, erlitt Verbrennungen. Einer der Ärzte sagte ihm, er könne von Glück sagen, daß er ein kräftiges Herz habe. Auch gab es große Hunde, deren nächtliches Gebell und Geheul Bev zuweilen hören konnte. Vermutlich konnte die Überwachung der Insassen diesen Tieren überlassen werden, falls das Personal in einen Streik treten sollte. Hunde hatten bislang keine Gewerkschaft. Wie auch immer, die Beschäftigtender Anstalt hatten es angenehm
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und zeigten kein Verlangen, dem Allgemeinwohl zu entziehen, was sie euphemistisch ihre Arbeit nannten. Die langen Tage, die zu Monaten und Jahren zusammenwuchsen, wurden belebt durch die Todesfälle älterer Insassen und, sehr sporadisch, der Entlassung einiger von ihnen in die Obhut ihrer Familien: in solchen Fällen gab es Abschiedsfeiern mit Tee und Kuchen. Neueingelieferte Insassen brachten Nachrichten von der Außenwelt; sie interessierten Veteranen wie Bev nicht allzusehr. Eines Tages erschien kein anderer als Oberst Lawrence. Er war des Totschlags überführt worden. Nach der Auflösung seiner Armee hatte er als Dolmetscher für die Regierung Arbeit gefunden, und zwar unter seinem wahren Namen Charles Ross. Aus diesem oder jenem Grund frustriert, hatte er mit der Gewohnheit einer Abstinenz gebrochen, die ein Vierteljahrhundert gewährt hatte, und war, betrunken in einer Wirtschaft, mit einem Perser in Streit geraten. Er habe den Perser nicht töten wollen, sagte er; bei der Autopsie habe sich gezeigt, daß der Schädel seines Opfers unnatürlich dünn und zerbrechlich gewesen sei. Da war er jedenfalls. Die Perser, sagte er, seien im Begriff, gegen die Araber Krieg zu führen. Die islamische Union sei zerbrochen. Die Iraner betrachteten sich als Arier, während die Araber bekanntlich Semiten seien, und Blut sei eben ein anderer Stoff als eine Sure aus dem Koran. Der Iran sei wohlversehen mit nuklearen Optionen, wie es in der Sprache des Pentagons heiße. Die Araber hingegen, die wegen ihrer Feindschaft zu Israel niemals zu den begünstigten Kunden der amerikanischen Rüstungsindustrie gehört hätten, würden dem Iran auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein. Der Iran werde alle Ölfelderdes Mittleren Ostens übernehmen. Unterdessen zögen die Araber, denen die amerikanische Parteilichkeit zugunsten Israels und des Irans nicht verborgen geblieben sei, ihre enormen Dollareinlagen von den amerikanischen Banken zurück. Dies habe in den Vereinigten
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Staaten zu einer Finanzkrise geführt, da die kleinen Kunden in Panik ihre Guthaben zu Bargeld zu machen suchten und entdeckten, daß ihre örtlichen Banken teilweise zahlungsunfähig geworden seien und ein Moratorium erklärten. Die Notenbank bemühe sich, die rasch um sich greifende Panik zu ersticken, und drucke zuviel Geld, was bereits zu einer starken Erhöhung – tatsächlich zu einer Verdoppelung – des Bargeldumlaufs geführt habe. Zuviel Bargeld in den Vereinigten Staaten. Die doppelte Geldmenge gegenüber einer unveränderten Menge von Kosumgütern. Manche Geschäfte seien leergekauft, die meisten Geschäftsleute aber nutzten die sprunghaft gestiegene Nachfrage zu kräftigen, häufig willkürlichen Preiserhöhungen. Allen wirtschaftlich Gebildeten sei klar, daß die Inflation wie ein südkalifornisches Buschfeuer um sich greife. Andere Währungen würden mit in den Sog der Dollarinflation gerissen. Die Situation des Pfund Sterling sei unvorstellbar, der Staatsbankrott nur noch eine Frage der Zeit. Das Ende des Syndikalismus? Tucland zähle mindestens dreieinhalb Millionen Arbeitslose. Von Mr. Pettigrew höre man in diesen Tagen nichts mehr. Abgesetzt? Ermordet? Ein bulliger Typ namens Big Tim Holloway mache viel von sich reden, eifere über die Einheit der Arbeiterklasse und die niederträchtigen Kapitalisten. Bev hatte die Gewohnheit angenommen, einer kleinen interessierten Gruppe Vorträge über Geschichte zu halten. Er begann mit einem Kurs über das elisabethanische England und gab jeden Nachmittag eine Lektion in einem der Aufenthaltsräume. Darauf ließ er einen Kurs über England im siebzehnten Jahrhundert folgen. Es schien nur folgerichtig, von da aus weiterzugehen, alles aus einem Gedächtnis heraus, das immer lükkenhafter wurde. Selbst ihm kam es manchmal vor, als behandle er die Geschichte eines anderen Planeten. Aber er und seine Schüler flohen täglich in diese unwirkliche Vergangen-
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heit, als böte sie ihnen Zuflucht vor einem beißenden Wind. Der Erste Weltkrieg, die wirtschaftliche Erholung, der Börsenkrach in der Wall Street und die Weltwirtschaftskrise, Aufrüstung, der Aufstieg des Totalitarismus. Der Zweite Weltkrieg und die Zeit danach. Die Geschichte begann sich gefährlich der Gegenwart zu nähern. Die Gegenwart konnte nicht zusammengefaßt, erklärt oder auch nur klar verstanden werden. Ein mächtiger Strom schien sich unerklärlich in eine ungeheure Zahl von lehmigen kleinen Bächen und Rinnsalen aufzulösen. Eines Nachmittags saß er hoffnungslos vor seiner Klasse – Mr. Tyborn, Mr. Gresham, Mr. Hooker, Mr. Merlin, Mr. Lyly und anderen. »Sollen wir wieder anfangen?« fragte er. »Sollen wir zum Aufstieg des Kapitalismus zurückkehren und noch einmal versuchen, die Risse im Gebäude nachzufahren und zu entdecken, wo alles anfing schiefzugehen?« Mr. Hooker sagte: »Ich glaube, wir haben genug.« Bev nickte, und nickte wieder. Nach dem Abendessen ging er hinaus durch die Anlagen, welche die Anstalt umgaben. Das Herz war schwach ein Herz, auf das man achtgeben mußte. Er stolperte durch ungemähtes Gras zu jenem Teil des elektrifizierten Zaunes, der von zwei knorrigen Apfelbäumen eingerahmt war. Diese Bäume hatten lange ihre sauren kleinen Holzäpfel gegeben. Sie würden eine Weile überleben, und das war ein kleiner Trost. Der von der Politik geschändete Mond, dessen Poesie längst im Meer der Stürme untergegangen war, war erst vor kurzem aufgegangen. Bev richtete gewisse bedeutungslose Worte an ihn. Aber natürlich kamen sie alle damit durch; so würde es immer sein. Die Geschichte war eine Aufzeichnung des langen und mühseligen Trecks vom Garten Eden zum Land des Schlafes, und unterwegs gab es nichts als die Wüsten der Ungerechtigkeit. Schlafen. Einschlafen. Er nickte dem Mond ein
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Lebewohl zu. Dann entblößte er seine magere Brust dem furchtbaren Schmerz des elektrifizierten Zaunes und überlegte einen Moment lang, warum man der Gemeinschaft der Lebenden kündigen mußte, um sich dem Streik der Toten anzuschließen. Dann fühlte er, wie ihm das Herz aus dem Mund sprang und zwischen das Fallobst fiel.
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Epilog Ein Interview
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Meinen Sie wirklich, daß es so kommen wird? Eine Frage, die sich von selbst beantworten wird, wenn wir einige Jahre warten. Es ist immer töricht, eine romanhafte Prophezeiung zu schreiben, welche die Leser sehr bald werden nachprüfen können. Sehen Sie es so, daß ich lediglich bestimmte Tendenzen dramatisiere. In Großbritannien werden die britischen Gewerkschaften zweifellos stärker und unduldsamer. Aber mit den Gewerkschaften meine ich wahrscheinlich nur die betont kämpferisch auftretenden Gewerkschaftsführer. Ich lasse auch, wie Orwell es noch augenfälliger tat, den gesunden Menschenverstand und die Menschlichkeit des durchschnittlichen Arbeiters außer Betracht. Ich bin Amerikaner, und es erscheint mir absurd, daß die USA jemals ein Unglückliches Syndikalisiertes Amerika werden könnten. Die amerikanische Gesellschaft wird niemals von den Gewerkschaften tyrannisiert werden. Wahrscheinlich nicht. Ich verarbeitete gewisse eigene Erfahrungen auf dem Gebiet des amerikanischen Schaugeschäfts in der Form einer Extrapolation. Die Tyrannei der Musikergewerkschaft am Broadway, um ein Beispiel zu nennen. Es ist schwierig, die Zukunft der Vereinigten Staaten zu prophezeien. Sinclair Lewis’ ›It can’t happen here‹ scheint mir noch immer die einleuchtendste Projektion zu sein, obwohl es schon in den dreißiger Jahren geschrieben wurde. Zumindest zeigt es, wie durch die Verfahrensweisen der amerikanischen Demokratie eine Tyrannei zustande kommen kann, mit einem Präsidenten, der so amerikanisch ist wie Apfelkuchen, wie man sagt – einer Art von jovial-schulterklopfendem grobschlächtigschlitzohrigem Will-Rogers-Typ, der den spießbürgerlichen, antiintellektuellen Kern der amerikanischen Wählerschaft anspricht. Kern? Mehr als den Kern, die ganze Frucht mit Ausnahme der dünnen Haut von Liberalismus. »Mein alter Vater pflegte zu sagen: Junge, es gibt keine guten Bücher außer der
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Heiligen Schrift. Zeit, daß diese langhaarigen Tagediebe ihre Abreibung kriegen«, und so weiter. Und so werden Bücher verbrannt, radikale Lehrer erschossen, progressive Zeitungen zensiert. Jede repressive Handlung wird aus dem Alten Testament gerechtfertigt und im jovialen Spucknapf-Stil scherzend entschuldigt. Ich denke, wir sind über die Naivität hinaus, bloßen Romanschriftstellern das Prophezeien zu überlassen. Das sind Phantasten, die Trends und Entwicklungen nicht wirklich untersuchen. Die Arten von Zukunft, die sie präsentieren, können ihre Wurzeln nicht in der Gegenwart haben, wie wir sie kennen. Richtig. Die Romanschriftsteller haben das Schreiben von Zukunftsfiktion aufgegeben. Sie überlassen das den Futurologen. Fantasy-Schriftsteller stellen sich heutzutage gern eine Vergangenheit vor, in der die Geschichte eine andere Wendung nahm als diejenige, die sich historisch nachweisbar vollzogen hat, und schaffen dann eine alternative Gegenwart, die auf jener abweichenden Vergangenheit beruht. Keith Roberts’ Pavane*, zum Beispiel, und Kingsley Amis’ The Alteration setzen beide voraus, daß die Reformation niemals zu den Angelsachsen gelangte, mit dem Ergebnis, daß der imperialistische Geist abgetrieben wurde, was wiederum die Entwicklung von Wissenschaft und Technik verhinderte. Und so bietet sich das Bild einer modernen Welt ohne Elektrizität, regiert von einer mächtigen Theokratie in Rom. Amüsant und anregend, aber Zeitspielerei. Prophezeiungen fallen nicht mehr in den Bereich romanhafter Einbildungskraft, wie wir festgestellt haben. Die Frage ist: sind die Futurologen vom MIT und anderswo die besseren Propheten? Es ist nicht eine Frage von Prophezeiungen. Professor Toff*
deutsch: Die folgenschwere Ermordung Ihrer Majestät Königin Elisabeth I. (Heyne Buch Nr. 06/3327) 329
ler erklärt, daß die Zukunft bereits hier sei, nämlich in dem Sinne, daß uns eine Technologie und eine Lebensweise auferlegt werden, die weder der Vergangenheit noch der Gegenwart angehören. Viele Leute, so sagt er, gerieten angesichts von Dingen und Entwicklungen, die sie in ihrer Gegenwart als fremd empfänden, in einen Schockzustand. Wenn das Denken und fühlen und vor allem das Nervensystem bestimmte Innovationen zurückwiesen, dann sei die Zukunft eingetroffen, und man habe die Aufgabe, sie einzuholen. Die Symptome der Ablehnung äußerten sich in form von Hysterie oder Apathie oder beidem. Ich glaube, darin hat er recht. Die Leute befördern sich mit Hilfe von Rauschmitteln aus der Gegenwart, die in Wirklichkeit die Zukunft ist, oder sie suchen das Exil in vorindustriellen Kulturen. Gewalt, Flucht in den Wahn, Neurosen aller Art im Überfluß. Wir definieren die Zukunft kaum noch in zeitlichen Begriffen, sondern in Begriffen der neuen Herausforderungen, die bis zum Wahnsinn überstimulieren. Die Zukunft ist ein fester Körper, den wir nie zuvor gesehen haben – etwas, was eines Tages an den Strand geworfen wird, daß die mißtrauischen Eingeborenen es argwöhnisch beschnüffeln und davor weglaufen. Dann kommen sie wieder, sehen was es ist, und akzeptieren es. Die Zukunft ist Gegenwart geworden. Dann erwarten wir die nächsten neuen festen Körper, und wieder wird sich das unvermeidliche Syndrom vorübergehender Ablehnung manifestieren. Aber was wir von der Zukunft fürchten, sind nicht neue feste Körper, sondern Krieg und Tyrannei. Die mittels fester Körper funktionieren. Wird es in den Vereinigten Staaten eine Tyrannei geben – nicht eine Tyrannei der Gewerkschaften, wie Ihr britisches Szenarium es uns vorführt, sondern einen guten altmodischen Großen Bruder nach dem Orwellschen Rezept? Sollte es geschehen, wird es durch Krieg geschehen.
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Wird es einen Krieg geben – nicht einen der kleinen, begrenzten Kriege, von denen wir durchschnittlich zwei im Jahr haben, sondern einen wirklich großen Krieg von der Art des Zweiten Weltkrieges? Ihre Landsleute Kahn und Wiener von jenem Hudson Institute, das sich der Futurologie verschrieben hat und in der Vergangenheit mehrfach durch zutreffende und weniger zutreffende Prophezeiungen hervorgetreten ist, haben eine Tabelle entwickelt, die zeigen soll, wie begrenzte und totale Kriege ein alternierendes Muster im Zeitablauf bilden. Die wechselnde Abfolge von Zeitabschnitten, in denen dieser oder jener Typ kriegerischer Auseinandersetzungen vorherrschte, sieht so aus: 1000-1550 Begrenzter Krieg – feudal, dynastisch 1550-1648 Totaler Krieg – religiös 1648-1789 Begrenzter Krieg – kolonial, dynastisch 1789-1815 Totaler Krieg – revolutionär, national 1815-1914 Begrenzter Krieg – kolonial, kommerziell 1914-1945 Totaler Krieg – national, ideologisch Und seit 1945 haben wir mehr als dreißig Jahre begrenzter Kriege gehabt, die aus verschiedenen, häufig untergeschobenen Gründen geführt wurden – territorialen, antikolonialen, ideologischen, was Sie wollen. Sollte der geschichtliche Ablauf wirklich einem alternierenden Muster folgen, dann können wir nicht eine immerwährende Periode begrenzter Kriege haben. Dann muß irgendwann wieder ein Ausbruch im Weltmaßstab stattfinden. Bedenken Sie, daß dreißig Jahre die längste Zeit sind, die der modernen Welt ohne einen großen Krieg beschieden gewesen ist. Vielleicht rühren unsere wirtschaftlichen Schwierigkeiten wie etwa die unerklärliche Verknüpfung von Rezession und Inflation von dem Umstand her, daß wir nicht
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wissen, wie wir eine krisenfreie Friedenswirtschaft unter kapitalistischen Vorzeichen zustande bringen können. Kriegswirtschaft ist etwas anderes – eine Frage der Organisation des Verwaltens und Verteilens, wofür es Präzedenzfälle gibt. Ich habe von einem malthusianischen Weltkrieg geträumt, der mit konventionellen Waffen geführt wurde – einem Weltkrieg, der nur ausbrechen kann, wenn die Planer der Welt erkennen, daß die globale Lebensmittelerzeugung nicht ausreichen wird, die Weltbevölkerung zu ernähren. Anstelle von Hungersnöten und Aufständen haben wir den Vorwand nationalistischer Kriegführung, deren wahres Ziel die Ausrottung von Millionen, oder Milliarden, von »überzähligen« Menschen der Weltbevölkerung ist. Ich schrieb sogar ein Buch, worin Enspun gegen Chinspun Krieg führt . Was sind diese, um Himmels willen? Die Englisch Sprechende Union und die Chinesisch Sprechende Union. Die dritte Großmacht ist Ruspun, und Sie wissen, was das ist. Tatsächlich besteht der Krieg aus örtlich begrenzten Ausrottungskampagnen, Schlachten genannt, in denen Männer gegen Frauen kämpfen. Ein regelrechter Krieg der Geschlechter. Und dann werden die Kadaver abtransportiert und zu Konserven verarbeitet. Der vor einigen Jahren bekannt gewordene Fall von erzwungenem – und nachträglich sogar vom Papst gebilligtem – Kannibalismus in den Anden, wo Passagiere eines abgestürzten Flugzeugs längere Zeit überleben konnten, indem sie ihre beim Absturz umgekommenen Mitpassagiere verzehrten, beweist, daß menschliches Fleisch sowohl eßbar wie auch nahrhaft ist, trotz der neuen diätetischen Tabus, die es kurzerhand zu Gift erklären möchten. Das verarbeitete Menschenfleisch wird in Supermärkten verkauft und Schmatz oder Mampf oder was genannt. Heutzutage essen die Leute alles. Aber ich meine, im Ernst.
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In gewisser Weise war und ist es mir ernst. Diese Art von Krieg würde ein gerechter und ein nützlicher Krieg sein. Aber die Welt wird bis zum Jahr 3000 warten müssen, um ihn zu erleben. Was den neuen Weltkrieg betrifft, der im Schoß der Zeit schlummert, ein kräftig entwickelter Fötus, wer kann sagen, was ihn auslösen und wie zerstörerisch er sein wird? Wir haben auf diesen Krieg bereits in Film und Roman angespielt, was darauf hindeutet, daß es in uns etwas gibt, das ihn herbeisehnt. Welchen Unsinn reden Schriftsteller und Filmemacher zusammen, wenn sie sagen, ihre schrecklichen Visionen seien als eine Warnung gemeint. Nichts Warnung, es ist reine Wunscherfüllung. Krieg, sagte jemand einmal, ist ein Zivilisationsmuster. Er ist ein legitimes Mittel kultureller Übertragung, obwohl die übertragene Kultur gewöhnlich nicht diejenige ist, die wir erwarten oder wünschen… Wieso? Um ein triviales Beispiel herauszugreifen: in den vierziger Jahren und danach überflutete die lateinamerikanische Volksmusik mit ihren Liedern, Tänzen und Rhythmen Nordamerika und Europa, weil in den Vereinigten Staaten das Bedürfnis bestand, Lateinamerika zu einem »guten Nachbarn« zu machen: wir wissen, wieviel Sympathie dem nationalsozialistischen Deutschland beispielsweise in Argentinien entgegengebracht wurde. Dies bedeutete, daß wir alle Die Drei Caballeros und Carmen Miranda sehen, Congas und Sambas tanzen, Brazil und Boa Noite singen mußten. Aber das ist nur ein trivialer Aspekt. Die Amerikanisierung Japans und Deutschlands ließ sich am besten bewerkstelligen, indem man sie besiegte und ihre Nachkriegsproduktion auf friedliche Konsumgüter beschränkte. Sowjetrußland übertrug seine Art von marxistischer Steuerung und Lenkung auf Osteuropa. Krieg ist die sicherste und schnellste Methode zur Übertragung einer Kultur oder Zivilisation, genauso wie Fleischessen die sicherste
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und schnellste Methode zur Aufnahme von Protein ist. Früher war es möglich, den Krieg als eine wirtschaftliche Form von Exogamie in großem Maßstab zu sehen – man verbreitet seinen Samen und bringt lebendige neue Mischungen hervor und vermeidet den ermüdenden Inzest einer immerwährenden Endogamie, welche die langweilige Frucht des Friedens ist. Das größte Kriegsbild von allen stellt den Raub der Sabinerinnen dar. Internationale Politik ist bloßes Instrument und Vorwand für die Erfüllung eines tief im Menschen wurzelnden Bedürfnisses nach Krieg, das zuzugeben er sich fürchtet, weil er die Erhöhung des Lebensgefühls nicht gern mit der Zumessung von Tod in Zusammenhang bringt. Der Dritte Weltkrieg? Er könnte überall anfangen. Er wird sich als ein ideologischer Krieg darstellen. Er wird sich konventioneller Waffen bedienen. Wenn er in einem Waffenstillstand endet, werden Millionen von Männern und Frauen tot, die großen Städte aber unberührt sein. Fleisch ist billig und wird ständig billiger. Großstädte enthalten wertvolle Dinge, die teures Geld kosten und besser nicht zerbombt werden. Computer, zum Beispiel. Aber wir haben genug hypothetische Darstellungen des nächsten Krieges gelesen; Sie werden nicht noch eine wollen. Was mich interessiert, ist, wie in den Vereinigten Staaten durch Unbehagen über den Feind vor den Toren eine Art von Totalitarismus entstehen könnte. Eine kommunistische Revolution in Mexiko, unterstützt von Chinesen oder Russen, könnte die Vereinigten Staaten derart in Nervosität versetzen, so daß sie überall Spione zu sehen glauben und ihre immensen kybernetischen und elektronischen Hilfsmittel einsetzen, um die Bürger zu überwachen. Vermehrte Machtbefugnisse für den Präsidenten, die zeitweilige Auflösung des Repräsentantenhauses. Zensur. Abweichende Meinungen als unamerikanisch und unpatriotisch zum Schweigen gebracht. Und alles im Namen
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der Sicherheit. Ein Krieg ist nicht notwenig, nur die Drohung des Krieges, und die Vorstellung von einem Feind, sei er wirklich oder potentiell, kann in gut Orwellschem Stil das Vehikel zur Rechtfertigung zur Tyrannei sein. In diesem Punkt hatte Orwell recht. Krieg ist der notwendige Hintergrund staatlicher Unterdrückung. Krieg als Landschaft oder Wetter oder Tapete. Die Sache ist unwichtig, der Feind kann jeder sein. Wenn wir an einen zukünftigen Weltkrieg denken, werden wir der Ausarbeitung der Ursachen und ihrer Einzelheiten rasch überdrüssig, weil diese buchstäblich von jeder Art sein könnten. Indien wirft eine Atombombe auf Pakistan. Israel wirft Atombomben auf seine arabischen Gegner. Bei Unruhen in der DDR wird die Berliner Mauer niedergelegt. Kanada widersetzt sich der Überfremdung durch US-Kapital und US-Militäranlagen und fordert die Vereinigten Staaten zum Rückzug auf. Sie erinnern sich, wie H. G. Wells den Zweiten Weltkrieg beginnen ließ? In der Mitte der dreißiger Jahre schrieb er ein Buch mit dem Titel The shape of things to come, eine Geschichte der Zukunft und – wie nicht anders zu erwarten – größtenteils absurd. Aber er ließ den Krieg 1940 im Polnischen Korridor beginnen, was erstaunlich genau den Tatsachen nahekam. Ein polnischer Jude ißt eine Haselnuß, und ein Stück verklemmt sich in einem hohlen Bakkenzahn. Er versucht das Stück mit dem Fingernagel herauszuholen, und ein junger Nazi interpretiert die Grimasse als eine Verhöhnung seiner Uniform. Er feuert einen Schuß ab. Der Jude stirbt. Der Krieg beginnt. Daß die Ursachen eines Krieges so vage sind, daß der auslösende Zwischenfall so trivial sein kann, wie er will – haben wir darin nicht einen Beweis, daß wir den Krieg um seiner selbst willen wünschen? Ich wurde 1951 geboren, aber kürzlich hatte ich einen sehr lebhaften Traum über den Ersten Weltrkieg. Nicht über Schlachten. Ich war in einem Londoner Restaurant, und an der Wand hing ein Kalender, der mir zeigte, daß es Februar im
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Jahre 1918 war. Das Lokal war gedrängt voll, und ich trank Tee, sehr schwachen Tee, an einem Tisch, wo zwei Damen sich unterhielten. Sie waren nach der Mode der Zeit gekleidet, wie ich sie in filmen und auf Fotografien gesehen habe – die »Dekoration« des Traumes war verblüffend genau. Eine der Damen sagte etwas wie: »Ach, wann wird dieser schreckliche Krieg zu Ende sein?« Natürlich wußte ich genau, wann. Ich hätte fast gesagt: »Am elften November dieses Jahres«, hielt mich aber gerade noch rechtzeitig zurück. Das ist jedoch nicht die Pointe des Traumes. Die Pointe ist, daß ich die damalige Zeit fühlte. Ich konnte den Achselschweiß der Damen riechen, den Staub am Fußboden. Die Glühbirne schien jener Zeit anzugehören, und keiner anderen. Wenn ich über die Zukunft nachdenke, sind mir die allgemeinen Züge – die Regierungsform und dergleichen – ziemlich gleichgültig. Ich möchte etwas Existentielleres, die Qualität des alltäglichen Lebens, verstehen Sie? Ich verstehe Sie sehr gut. Wenn Träume Ihnen nicht dazu verhelfen können, dann sollten Schriftsteller und Dichter es wenigstens versuchen. Wir sitzen hier in diesem Zimmer in dieser Wohnung in London. Das Jahr ist 1978. Ich arbeite in diesem Raum seit 1960, und er hat sich nicht sehr verändert. Schreibtisch und Stuhl sind dieselben, auch der Teppich, der, weiß Gott, schon abgetreten genug war, als ich ihn auslegte. Es sollte möglich sein, bis zum Jahr 2000 an diesen Möbeln, wenn auch nicht an dieser Schreibmaschine, festzuhalten. Sofern es nicht zu einem alles verzehrenden Brand kommt oder die Stadtplaner den Abriß dieses Wohnblocks beschließen, besteht eine Art Garantie, daß die Dinge in diesem Raum bleiben werden, wie sie sind. Ich kann natürlich sterben, aber diese toten Dinge werden mich überleben. Sie sehen also, daß wir bereits in der Zukunft sind. Wir verlassen dieses Zimmer und gehen in andere Zimmer. Was wird sonst noch dasselbe sein? Der Fern-
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seher, das ist ziemlich gewiß, wird bis zum Jahre 2000 viele Male ersetzt worden sein. Ich sah ein Foto von Präsident Carter und seiner Frau beim Fernsehen. Sie schauten drei Programme gleichzeitig an. Da kam mir der Gedanke, daß das die Art und Weise künftigen Fernsehens sein könnte. In den Vereinigten Staaten, wo es so viele Kanäle gibt, wäre es sicherlich jammerschade, wenn man sich auf einen beschränken müßte. Wir werden uns die Gabe mehrfachen Sehens und Hörens antrainieren. Das wird eine entschiedene Änderung in unserem Reaktionsverhalten auf Reize zur Folge haben… Aber es wird nichts an unserer Annahme ändern, daß der häusliche Bildschirm die wichtigste Quelle von Information und Unterhaltung sein wird. Der Tod des Breitwandkinos und sein Ersatz durch den Farbfernseher mit großer Bildröhre. Mehr und mehr Zeitungen stellen das Erscheinen ein. Stereoskopie? Ein teures Vergnügen, noch für lange Zeit. Das wird die Schwierigkeit bei sehr vielen Neuerungen sein – der Preis. Ich sehe keine nennenswerte Erhöhung des Lebensstandards. Ich sehe auch keine konkrete Chance, die Inflation in den Griff zu bekommen, nicht einmal bis zum Ende des Jahrhunderts. Es sei denn, ein neuer Keynes käme daher. Ich glaube, daß die Regierungen die Preise für Alkohol und Tabak bis zur Grenze der Unerschwinglichkeit anheben werden, um uns vor uns selbst zu schützen, zugleich aber den freien Verkauf von harmlosen Anregungs- und Beruhigungsmitteln gestatten werden. Etwas wie Aldous Huxleys Soma… Was sehen Sie auf Ihrem Großbildschirm? Alte Filme. Zwei oder drei gleichzeitig, wie Sie anregten warum nicht? Casablanca und Emile Zola und vielleicht einen Stummfilm, wie Fritz Langs Metropolis. Neue Filme, die wenig offene Gewalt zeigen, aber keine Hemmungen haben werden, den Sexualakt bis zum Äußersten ins kommerzielle
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Erfolgsrezept einzubeziehen. In Presse und Fernsehgesprächen am runden Tisch langwierige Diskussionen über den Unterschied zwischen Erotik und Pornographie. Auch Nachrichten. Unsicherheit und Unruhe in der Wirtschaft, Inflation, Aufrüstung (das heißt, daß unser totaler Krieg näherrücken könnte). Entführungen von Menschen und Flugzeugen durch Gruppen von Dissidenten. Mikrobomben von enormem Zerstörungspotential in öffentlichen Gebäuden. Gründlichere Personenkontrollen auf Flughäfen und vor Kinoeingängen und auf Bahnhöfen – kurz, überall. Beschneidung der Bewegungsfreiheit und Einschränkung der Menschenwürde im Namen der Sicherheit. Neue Streiks und Verteilungskämpfe, aber die Masse des Öls und des Reichtums weiterhin in den Händen der Araber. Mehr und mehr islamische Propaganda. Islamischer Religionsunterricht in den Schulen als Bedingung zur Lieferung von Rohöl. Die Suche nach einem Ersatzbrennstoff geht weiter. Benzin sehr kostspielig. Flugreisen mit SuperConcordes, schneller denn je, doch so teuer, daß die Zahl der Benutzer weiter schrumpft. Das Leben hauptsächlich Arbeit und Fernsehen. Und außerhalb des Hauses, in dem Sie vor dem Fernseher sitzen? Fortgesetzter Abriß von alten Gebäuden, mehr und mehr Hochhäuser. Alle Städte sehen gleich aus, aber es fehlt ihnen der liederliche Glanz des alten Manhattan. Nach Einbruch der Dunkelheit sind die Straßen wegen der unkontrollierbaren Gewalttätigkeit der Jungen menschenleer. Frauen in Hosen und Männer in Schottenröcken – nicht alle, natürlich. Yves Saint Laurent macht den Schottenrock zu einem beliebten und billigen Kleidungsstück, indem er argumentiert, daß Männer im Gegensatz zu Frauen anatomisch ungeeignet seien, Hosen zu tragen. Und wie wird das Jahr 2000 riechen und schmecken?
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Die Luft wird sauberer aussehen. Es ist ein Zeichen von Erleuchtung, daß man sich in Amerika früher als anderswo der Gefahren der Umweltverschmutzung bewußt geworden ist, während in vielen Teilen Europas, Italien zum Beispiel, die Umwelt weiterhin verseucht wird, ohne daß es öffentliche Meinung und Regierung zu kümmern scheint. England erlitt 1951 einen furchtbaren Schock, als der Smog nicht nur menschliche Bronchitispatienten dahinraffte, sondern erstmals auch preisgekrönte Zuchttiere der Leistungsschau in Smithfield – Kühe und Bullen, die bei weitem wertvoller waren als irgendwelche Menschen. Dies durfte sich nicht wiederholen, also wurde London zu einer rauchlosen Zone gemacht. Die Londoner Luft ist heutzutage atembar, was sie zu Dickens’ Lebzeiten nicht war, und angeblich kehren Fische in die Themse zurück. Wenn wir hinreichend schockiert sind, dann sind wir auch bereit zu handeln. Die Gefahr schleichender und nicht gleich dramatisch sichtbarer Umweltschädigungen durch Schwefeldioxide, Stickoxide, Schwermetalle und chemische Umweltgifte, deren zerstörerische Wirkung auf die Pflanzenund Tierwelt erst allmählich und in Umrissen deutlich wird, dürfte gerade deshalb weiter anwachsen und uns vor Probleme stellen, von denen wir heute kaum etwas ahnen. Wenn die Luft der Zukunft nach nichts riecht, wird dies also noch längst kein Indiz für ihre Gefahrlosigkeit sein. Leider wird das Essen immer weniger nach Natur und immer mehr nach künstlichen Aromastoffen, chemischen Zusätzen und Konservierungsstoffen schmecken. Der stetige Niedergang der Geschmacksqualität des Essens, den ich seit meiner Jugend festgestellt habe (ich erinnere mich, wie das Essen in den zwanziger Jahren schmeckte), nimmt seinen Fortgang. Der menschliche Körper wird zu einem besser umsorgten Instrument geworden sein, aber er wird weniger genießen als der syphilitische Körper der Renaissance. Selbst der Geschlechtsgenuß hat nachgelassen, da
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er zur Alltäglichkeit verkommen ist. Für mich als jungen Mann war er unerschwinglicher Kaviar. Nun ist er zur Frikadelle geworden, und zehnjährigen Kindern ist erlaubt, davon zu essen. Das permissive Zeitalter wird die Jahrtausendwende überdauern, und Filme und Zeitschriften werden hart gefordert sein, neue Variationen über das alte Grundthema Kopulation zu ersinnen. Es gibt auch dort eine Grenze, sollte ich meinen. Und es gibt das Gesetz der verminderten Erträge. Abtreibung wird einfach und billig sein. Eine herrlich passende Wechselbeziehung zwischen der Beseitigung des Fötus und der Verfügbarkeit des Geschlechtsgenusses, da beide die Wohlfeilheit menschlichen Fleisches verkünden. Religion? Die christliche ökumenische Bewegung wird ihre Grenze erreicht haben, das heißt, daß der Katholizismus sich zum Protestantismus und dieser sich zum Agnostizismus gewandelt haben wird. Die Jugend wird noch immer dem Bizarren und Mystischen verfallen, und neue geschäftstüchtige Gurus und »Erlösergestalten« wie San Myung Mun werden den Idealismus der Jugend mit Verheißungen und Scharlatanerie mißbrauchen. Aber der Islam wird nichts von seiner Strenge und Geschlossenheit verloren haben. G. K. Chesterton veröffentlichte am Anfang des Jahrhunderts einen Roman mit dem Titel The Flying Inn, worin er fantasievoll ein England unter der Fahne des Propheten schilderte, wo Alkohol verboten ist und zwei Männer und ein Hund ein Faß Rum durch die Straßen rollen, in ständiger Gefahr, von der moslemischen Polizei gefaßt zu werden, um die Erinnerung an den Schnaps lebendig zu halten. Ich sehe eine bestimmte Möglichkeit, daß die Vision sich erfüllen wird, vielleicht um 2100. Wie die Natur bestrebt ist, ein Vakuum auszufüllen, so wird auch die Übernatur auf den Ausgleich eines Übervakuums bedacht sein. Mit dem Absterben des institutionalisierten Christentums wird die Ausbrei-
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tung des Islams einhergehen. Ich würde sagen, daß universaler Kommunismus wahrscheinlicher ist. Fungiert der Begriff »Kommunismus« im Denken der meisten Amerikaner nicht als eine Art von Gegenstück unbestimmten Inhalts, stark emotional besetzt, lauter Obertöne und kein Grundton? Vielleicht wird die Geschichte nicht viel später als um die Jahrtausendwende den Beweis liefern, daß die vom Marxismus postulierte Abfolge falsch war. Er meinte, die Revolution werde in den hochindustrialisierten Ländern kommen, wo die Arbeiter sich gegen den kapitalistischen Unterdrücker erheben würden. Die Antwort auf kapitalistische Unterdrükkung ist der Syndikalismus gewesen, und nicht die Revolution. Zu Revolutionen kommt es in den unterentwickelten Ländern, und es mag sein, daß die historische Abfolge Armut, Kommunismus, Kapitalismus lautet, was freilich noch zu beweisen wäre. Bisher ist noch kein Land vom Kommunismus zum Kapitalismus übergegangen. Treffen Sie Ihre Wahl unter den Tyranneien, es steht Ihnen frei. Ich für meine Person ziehe die sanfte Tyrannei des Konsumdenkens vor. Die unterentwickelten Länder haben keine Wahl. Sie werden ausgesaugt von einheimischen Oligarchen und ausländischen Kapitalisten. Der Kommunismus ist ein erfolgversprechendes Rezept für arme Länder, nicht für die Vereinigten Staaten. Orwell sagt, daß die Neusprache von fundamentaler Bedeutung für den Engsoz sei, daß sie in einem Sinne sogar selbst Engsoz sei. Ist es nicht möglich, daß wir angesichts der Art und Weise, wie unsere Sprache sich entwickelt – oder wie sie verkommt -, auf dem besten Weg sind, die Fähigkeit zu rationaler Abstraktion und vernunftgemäßen Entscheidungen einzubüßen? Und daß dann irgendeine totalitäre Philosophie in dieses geistige Vakuum eindringen kann, um es auszufüllen? Es gibt eine ungeheure Spaltung in der Sprache, einen Bruch.
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Auf der einen Seite haben wir die strengen Maßstäbe von Wissenschaft und Technologie, wo Begriffe oder Worte oder Symbole genau das bedeuten, was sie aussagen, auf der anderen Seite haben wir zunehmende Unbestimmtheit, ein Oszillieren zwischen völliger Sprachlosigkeit und vielsilbigem, hochgestochenem Kauderwelsch. Im amerikanischen Englisch ist es zu einer peinlich schizoiden Koppelung von Slang und Fachjargon gekommen. Ich bemerke eine Neigung zu reinem Verbalismus und zu nichtssagenden Weitschweifigkeiten, besonders in öffentlichen Äußerungen, die wir dann unweigerlich als lügnerisch oder ausweichend empfinden. Eine Erklärung kann sich anhören, als ob sie eine Bedeutung hätte, solange es eine verständliche syntaktische Struktur gibt. Die Wörter müssen bloß in Mustern dieser oder jener Art organisiert werden, aber was sie bedeuten ist unwichtig. Zum Beispiel? Nun, ein Reporter fragt einen Regierungschef oder Minister, ob es zum Krieg kommen werde, und die Antwort darauf lautet etwa so: »Es gibt verschiedene Faktoren und Möglichkeiten, die unter dem Aspekt der grundsätzlichen Verständigungsbereitschaft natürlich sorgfältig geprüft werden müssen. Dabei sollte sich niemand der Täuschung hingeben, daß unser Bündnissystem nicht willens und in der Lage sein würde, im Konfliktfall die notwendigen Konsequenzen aus einer uns von der anderen Seite aufgezwungenen Situation zu ziehen.« Darauf bleibt dem Reporter nur noch die Möglichkeit, sich zu bedanken oder ein anderes Thema anzusprechen. Außer dieser von manchen Politikern bis zur Vollkommenheit entwickelten Technik, die wir die Sprache der berufsmäßigen Ausflucht nennen können, gibt es selbst im gewöhnlichen Sprachgebrauch eine zunehmende Neigung, technische Sprache zu gebrauchen, die nicht klar verstanden wurde. Wendungen wie »eine sinnvolle Beziehung«, worunter vermutlich ein Liebes-
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verhältnis zu verstehen ist, oder »deine Überreaktionen«, was wahrscheinlich bedeutet: du bist nervös und unnötig gereizt. Dann gibt es alle die Unsitten, die eine Sprache verhunzen, vor allem die bei Werbeagenturen und Medien beliebte Übernahme fremdsprachiger Wörter um des bloßen modischen Effekts willen, aber auch das immer verklausulierter und unverständlicher werdende »Fachchinesisch« der verschiedenen Wissenschaftszweige und Technologien, das die so notwendige interdisziplinäre Verständigung eines Tages ganz »verunmöglichen« wird. Wie wird die englische Sprache sagen wir, im Jahr 3000 sein? In der Lautbildung? Als Semanteme und Morpheme? Betrachten wir zuerst den Sprachlaut. Es gibt viele Formen von Englisch, alle mit einer gleich ehrwürdigen Tradition, doch scheint es, daß wir auf beiden Seiten des Atlantik eine Art von Bildungsspräche annehmen – nennen wir es das Zeitungsleserenglisch. Es ist in London nicht sehr viel anders als in New York. Das New Yorker Englisch ist in seinem Lautbild konservativ; es steht dem Englisch der Pilgerväter oder dem Shakespeareschen Englisch näher. Das Londoner Englisch hat sich weiterentwickelt, bringt das lange a von baaath in die Sprache ein, um nur ein Beispiel anzuführen, und läßt home wie heum klingen. Ich sage immer, daß Chaucer, hätte er von der inhärenten Labilität langer Vokale gewußt, um das Jahr vierzehnhundert imstande gewesen wäre, vorauszusagen, wie die Sprache im Jahr 2000 sein würde. Er hätte etwa gewußt, daß mouse, das er noch wie das französische mousse aussprach, schließlich wie das deutsche Maus klingen würde. Ich will damit sagen, daß es möglich ist, ungefähre Prognosen über phonologische Änderungen des Englischen zu machen, übrigens kann man die Veränderung sicherlich nicht dadurch aufhalten, indem man die Sprache auf Film und Tonband und Kassette
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fixiert. Die gesprochene Sprache geht ihre eigenen Wege. Ich will nur eine Voraussage über die Vokallaute im Jahr 3000 machen: sie werden alle eine Tendenz zur Verlagerung in die Mitte des Mundes zeigen, entsprechend etwa dem ä und weiteren Abstufungen zwischen a und e. Die Konsonanten haben sich seit dem Jahr 1000 nicht sehr verändert, und ich glaube nicht, daß sie es in den kommenden tausend Jahren tun werden, aber die Vokale dürften einander immer ähnlicher werden. Ähnlich klingende Wörter werden hauptsächlich durch die Endkonsonanten unterschieden, alles das muß leichtfertig klingen, aber Sie möchten wissen, wie die Zukunft sich anfühlt… Wie wird es mit der Bedeutung der Sprache aussehen? Ist Ihnen bei der Lektüre von 19184 auch ein seltsamer und eher rührender Zug aufgefallen – der Hang zu ländlichen Metaphern oder Vergleichen, den Orwell an seine Charaktere weitergibt? O’Brien spricht davon, daß der Mutter das Kind genommen werde, wie wir der Henne ein Ei nehmen. Die drei Superstaaten werden mit drei Heuschobern auf einer Wiese verglichen, die aneinanderlehnen, um sich gegenseitig aufrecht zu halten. Winston und Julia zweifeln keinen Augenblick daran, daß der Vogel, den sie singen hörten, eine Drossel war. In dieser Geschichte einer nicht mehr zu überbietenden Stadtkultur steckt bei weitem zuviel Kenntnis ländlicher Dinge. Tatsächlich ist in unserer Sprache bereits seit längerem ein Prozeß zu beobachten, der sich in Zukunft noch beschleunigen wird, nämlich die stetige Ausmerzung ländlicher Einzelheiten und Besonderheiten, so daß Ulme und Eiche und Bergahorn am Ende keine sehr klare Bedeutung mehr haben und alle Bäume summarisch als Baum bezeichnet werden. An die Stelle der vielgestaltigen Vogelnamen wird der Gattungsbegriff Vogel treten. Das gleiche Schicksal wird die Namen der Blumen, Gräser und Sträucher ereilen. Das Vokabular der Sprache wird mehr und mehr abstrakt werden, und ihre Sprecher werden sich
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dagegen von Zeit zu Zeit mit immer ausgesuchteren Zoten aufbäumen, aber auch Zoten werden sehr generisch sein. Ein großes technisches Alltagsvokabular wird das alte natürliche ersetzen -Wörter für die Teile eines Kühlschranks, eines Kassettendecks und so weiter. Aber die Sprache wird von ihren Wurzeln in der grundlegenden körperlichen Erfahrung abgeschnitten sein. Sprache des Gehirns, statt Sprache des Körpers. Wie verhält es sich mit Wörtern wie, Liebe, Ehre, Pflicht, Gott, Treue, Verrat, Haß, Schlechtigkeit? Es wird beim Fehlen eines traditionellen Systems moralischer Werte äußerst schwierig sein, Worten wie diesen eine genaue Bedeutung zu geben. Jedes ist behaftet mit einer vagen emotionalen Bedeutung, aber nicht viel mehr. Hier liegt die Gefahr. Jedes diktatorische Regime kann diese Wörter aufnehmen, die emotionale Reaktion ausbeuten, die sie auslösen, aber seine eigenen Definitionen dazu liefern. »Gott ist das höchste Wesen. Ich bin das höchste Wesen. Darum bin ich Gott.« Ja, Mann, aber du bist nicht wie geistig, weißt du. »Was verstehst du unter geistig?« Das erzähl du mir, Mann. »Mit Vergnügen.« Koestler sagt, wir könnten uns nationaler Feindschaften, die auf internationalen Mißverständnissen beruhen, nur entledigen, indem wir eine Weltsprache schaffen. Ist das möglich? Wir haben bereits eine weltumspannende Hilfssprache Englisch. Es ist beispielsweise die Sprache des Handels und des Luftverkehrs. Ogden und Richards entwickelten in den dreißiger Jahren eine auf ungefähr 850 Wörter reduzierte Form des Englischen, die sie Basic English nannten. Die britische Regierung erwarb die Rechte daran, und in diesem Umstand sah Orwell die Möglichkeit einer klaren, einfachen und orthodoxen Sprache, die der Bevölkerung vom Staat aufgeprägt würde. Es kann eine einvernehmliche Verbreitung einer Art Basic English in den Ländern der Erde geben – als erste und obligatorische Fremdsprache in den Schulen. Aber so etwas
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kann niemals die Muttersprache ersetzen. Können Regierungen überhaupt vorschreiben, welche Worte gebraucht und welche nicht gebraucht werden sollen – wie es mit der Neusprache der Fall ist? Zweifellos schreiben die Regierungen uns vor, welche Worte wir nicht gebrauchen dürfen. Und es sind nicht so sehr die Regierungen selbst, als vielmehr die Interessenverbände, die sie beeinflussen. Ich glaube, daß es in Großbritannien zu einem Gesetz gegen den Mißbrauch der Sprache kommen wird. Früher so alltägliche und überall sichtbare Wörter wie Kolonialwaren sind heute nirgends mehr zu entdecken. Bestimmte rassistische Begriffe, von denen Nigger der schlimmste ist, sind bereits tabu, wie es früher die gern gebrauchten Obszönitäten waren, und der nächste Schritt wird sein, daß man sie offiziell für illegal erklärt. Die Befreiungsbewegung der Homosexuellen wird verlangen, daß Bezeichnungen wie Schwuler, Warmer, Hinterlader und so weiter gesetzlich verboten werden. Und dann gibt es die Streitkräfte der Frauenbefreiungsbewegung, die eine Neuorientierung geschlechtsspezifischer Pronomen verlangen, so daß das unbestimmte Pronomen man, einem, einen durch eine künstliche Monstrosität wie manfrau oder, besser, frauman ersetzt werden muß. »Wenn frauman diese Musik einmal gehört hat, läßt sie eine nicht mehr los.« Halbherzige Angleichungen wie Amtmann/Amtmännin, Landsmann/Landsmännin werden sicherlich dem Verdammungsurteil der Frauenbewegungs-Philologinnen anheimfallen, die vielleicht schon an so kniffligen Problemen wie Talisman arbeiten. Wir bewegen uns in die Richtung verstärkter Einschränkungen des Sprachgebrauchs und der Handlungsfreiheit, aber wenige dieser Einschränkungen entspringen einer Lust an zentralisierter Lenkung, wie sie für die Welt des Großen Bruders kennzeichnend ist. Sie entstehen aus einer demokratischen Situation, wie man es wohl nennen muß.
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Dann haben wir eine Anomalie vor uns – erpreßbare Regierungen, die sich ihrer Schwäche bewußt sind, und gleichzeitig ein zunehmender Verlust der Freiheit. Die Regierungen des Westens – und das mag bald auch auf die Regierungen der Ostblockländer zutreffen – sind um politische Rechtgläubigkeit weniger besorgt als um ihre Steuereinnahmen. Fiskalische Tyrannei ist nicht die schlimmste Tyrannei, unter die man geraten kann, aber sie ist verdrießlich genug und wird gewiß noch verdrießlicher werden. Das betrifft nur Leute mit Geld, denn die große Mehrheit der Bewohner unserer Erde verdient zu wenig, um besteuert zu werden. Sollten wir nicht besser aufhören, engstirnig über die Zukunft des Westens nachzudenken, und ob es dort mehr oder weniger Freiheit geben wird, und uns lieber auf die Zukunft des Planeten konzentrieren? Das ist zuviel. Wie Voltaire sagte, wir müssen unseren angestammten Garten der Hesperiden kultivieren. Hesperiden? Nymphen, die im äußersten Westen im Göttergarten den Baum mit den goldenen Äpfeln hüten. Fortschritt wird nicht durch Verdünnung bewirkt, indem alle zusammen arm sind. Sind Sie pessimistisch über die Zukunft des Menschen? Der Mensch hat die ersten drei Jahrzehnte des Zeitalters der Bombe überlebt. Er wird auch überleben, was ihn an neuen Schrecken erwartet. Er ist bemerkenswert erfinderisch und anpassungsfähig. Und wenn er nicht überlebt? Es bleibt das Leben. Sie erinnern sich an die Worte der Lilitham Schluß von Shaws Back to Methuselah? Ich erinnere mich daran. »Nur vom Leben gibt es kein Ende; und obgleich von seinen Millionen Sternenwohnungen viele leer sind, und viele noch unerbaut, und obwohl sein weites Reich noch unerträglich wüst ist, soll meine Saat es einst füllen bis zu den äu-
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ßersten Grenzen. Und für das, was jenseits von ihnen liegen mag, ist das Augenlicht von Lilith zu schwach. Es ist genug, daß es ein Jenseits gibt.« Das ist es, woran ich glaube – an den Geist, den freien Geist, der sowohl sich selbst wie auch die Welt außerhalb von ihm zu verstehen sucht, und zum Teufel mit den kleinen Geistern, die freies Untersuchen und ungehindertes Nachforschen zu unterbinden suchen, und der Staat ist alles, worauf es ankommt, und niemand hat das Recht, Beethoven zu hören, während die Dritte Welt hungert. Sie sind festgenommen. Wie bitte? Sie sind festgenommen. Sie scherzen. Ja, scherzen. Ich wußte irgendwie, daß Sie scherzten. Aber für einen Augenblick dachten Sie, ich meinte es ernst. Ja, das ist wahr. Gott helfe mir, ich dachte es. Meinen Sie, selbst das Recht auf freie Meinungsäußerung könnte ein Einschläferungsmittel des Großen Bruders sein? Meinen Sie, daß er uns wirklich beobachtet? Daß er als die Verkörperung eines riesigen multinationalen Konzerns hervortreten wird, ein internationaler Krake, gerade wenn wir ihn am wenigsten erwarten? Wir müssen auf der Hut sein. Wir müssen auf der Hut sein.
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