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In der gleichen Ausstattung wie der vorliegende Band erschienen als Heyne-Anthologien Band 1 • 13 KRIMINAL-STORIES (1. Folge) Band 2 • 20 SCIENCE FICTION-STORIES Band 3 • 21 WESTERN-STORIES Band 4 • 13 KRIMINAL-STORIES (2. Folge) Band 5 • 16 SCIENCE FICTION-STORIES Band 6 • 15 GRUSEL-STORIES Band 7 • 13 KRIMINAL-STORIES (3. Folge) Band 8 • 8 SCIENCE FICTION-STORIES Band 9 • 22 WESTERN-STORIES Band 10 • 13 KRIMINAL-STORIES (4. Folge) Band 11 • 10 SCIENCE FICTION-KRIMINAL-STORIES Band 12 • 12 GRUSEL-STORIES Band 13 • 13 KRIMINAL-STORIES (5. Folge) Band 14 • 9 SCIENCE FICTION-STORIES Band 15 • 12 WESTERN-STORIES Band 16 • 22 HORROR-STORIES Band 17 • 7 SCIENCE FICTION-STORIES
20 WESTERN STORIES Herausgegeben von NELSON NYE und STEPHEN PAYNE
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-ANTHOLOGIEN 18
Titel der amerikanischen Originalausgaben: THE PICK OF THE ROUND-UP und THEY WON THEIR SPURS Aus dem Amerikanischen übertragen von Walter Brumm THE FORT GREER MULES by Bill Burchardt; Copyright © 1963 by Bill Burchardt. MOUNTAIN MAN ON A MULE by William R. Cox; Copyright © 1963 by William R. Cox. THE FAR CRY by Max Evans; Copyright © 1963 by Max Evans. MELODY ON THE RANGE by John L. Shelley; Copyright © 1963 by John L. Shelley. THE PROMISE OF THE FRUIT by Ann Ahlswede; Copyright © 1963 by Ann Ahlswede. BEAT THE DRUMS SLOWLY by Richard Wormser; Copyright © 1963 by Richard Wormser. THE DEEP VALLEY by Lucia Moore; Copyright © 1963 by Lucia W. Moore. UNCLE JEFF AND THE GUNFIGHTER by Elmer Kelton; Copyright © 1963 by Elmer Kelton. COMANCHE WOMAN by Fred Grove; Copyright © 1963 by Fred Grove.
THEY WALKED TALL by T. V. Olsen; Copyright © 1963 by T. V. Olsen. STORM ROPE by Leslie Ernenwein; Copyright © 19S5 by Stadium Publishing Corporation. WHEN THE CHILDREN CRY FOR MEAT by Noel M. Loomis; Copyright © 1962 by Noel M. Loomis. MAN ON THE WAGON TONGUE by Elmer Kelton; Copyright © 1962 by Elmer Kelton. NIGHT RUN by Bill Gulick; Copyright © 1957 by Grover C. Gulick. OUTLAW’S BOOTS by Thomas Thompson; Copyright © 1954 by The Curtis Publishing Company. A WISE OLD COWMAN TOLD ME by Stephen Payne; Copyright © 1962 by Stephen Payne. A DEAL WITH A LADY by S. Omar Barker; Copyright © 1958 by The Curtis Publishing Company. MIRACLE AT CIRCLE SEVEN by Will C. Brown; Copyright © 1954 by Stadium Publishing Corporation. WASTED YEARS by L. P. Holmes; Copyright © 1952 by Standard Magazines. BOSS OF THE BOTTOMS by Frank C. Robertson; Copyright © 1928 by Climax Publishing Corporation.
Copyright © 1966 der deutschen Ausgabe beim Wilhelm Heyne Verlag, München Copyright der amerikanischen Ausgaben 1962 und 1963 by Western Writers of America Printed in Germany Umschlag: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung; Ilmgaudruckerei
INHALT
BILL BURCHARDT Die Maultiere von Fort Greer (THE FORT GREER.MULES) WILLIAM R. COX Stadt in Angst (MOUNTAIN MAN ON A MULE) MAX EVANS Der ferne Ruf (THE FAR CRY) ANN AHLSWEDE Das Duell (THE PROMISE OF THE FRUIT) JOHN L. SHELLEY Die Stampede am Alder Creek (MELODY ON THE RANGE) LUCIA MOORE Ein Mann überwindet sich (THE DEEP VALLEY) FRED GROVE Die Frau des Comanchen (COMANCHE WOMAN)
T. V. OLSEN Kampf um Land (THEY WALKED TALL) ELMER KELTON Onkel Jeff und der Revolverheld (UNCLE JEFF AND THE GUNFIGHTER) RICHARD WORMSER Der Mexikaner (BEAT THE DRUMS SLOWLY) LESLIE ERNENWEIN Im Schneesturm (STORM ROPE) FRANK C. ROBERTSON Der König der Täler (BOSS OF THE BOTTOMS) S. OMAR BARKER Das Mädchen auf der Farm (A DEAL WITH A LADY) WILL C BROWN Der Trail (MIRACLE AT CIRCLE SEVEN) L. P. HOLMES Verlorene Jahre (WASTED YEARS)
STEPHEN PAYNE Die alte Ranch (A WISE OLD COWMAN TOLD ME) NOEL M. LOOMIS Die Büffeljagd (WHEN THE CHILDREN CRY FOR MEAT) BILL GULICK Die Postkutsche (NIGHT RUN) ELMER KELTON Der Mann auf der Wagendeichsel (MAN ON THE WAGON TONGUE) THOMAS THOMPSON Geächtete (OUTLAW’S BOOTS)
Bill Burchardt begann seine erfolgreiche schriftstellerische Karriere nach dem Zweiten Weltkrieg. Von 1961 bis 1962 war er Präsident der Schriftstellervereinigung »Western Writers of America«. Seit einigen Jahren ist er der Herausgeber der Zeitschrift »Oklahoma Today« und außerdem Ehrenhäuptling des Stammes der Kiowa-Indianer sowie Mitglied des »Western Heritage Award« Komitees. Er habe, sagt er, die Gestalt des Ka-it-sen-ka Wilde Graugans nach dem Kiowa-Häuptling Satanta gezeichnet, mit dessen Enkel er befreundet ist.
Bill Burchardt
Die Maultiere von Fort Greer Die Stiefel des Majors fuhren raschelnd durch das frische Stroh auf dem Stallboden, dann blieb er plötzlich stehen. »Captain Hazlitt, was sollen diese viereckigen Löcher da in der Wand?« Hazlitt, ein baumlanger, zum Sarkasmus neigender Offizier, grinste ungeniert. »Sie sind da, Sir, damit die Maultiere in die verbrannte Steppe hinausschauen können. Auf die Weise wissen sie ihr Quartier besser zu schätzen.« »Ich verstehe«, sagte der Major trocken. »Für brauchbare Schießscharten liegen sie zu niedrig, und außerdem sind sie zu groß, um Schutz zu bieten.« Er zuckte die Achseln. »Da Ihre Maultiere von den Indianern gestohlen worden sind, scheinen mir Ihre Fenster nun ziemlich nutzlos.« Die Sonne brannte mit mörderischer Glut auf den wei10
ten, schattenlosen Exerzierplatz, und der Major blieb in der sengenden Hitze stehen, um seinen Hut abzunehmen und das Schweißband trockenzuwischen. »Ich werde nach dem Essen zur Agentur reiten, Captain. Vielleicht ist der Agent in der Lage –« »Unnötig, Sir«, unterbrach Hazlitt den Major. »Ich habe Leute ausgeschickt, um den Kriegshäuptling der Kiowas zu verhaften. Sie werden Ihnen den Mann zum Verhör vorführen.« Major Ross betrachtete den Adjutanten neugierig. »Wann haben Sie diese Aktion angeordnet, Captain Hazlitt?« »Am Tage vor Ihrer Ankunft, Sir.« Die Augen des Majors wurden so dunkel wie sein dichter schwarzer Vollbart. Sorgfältig setzte er seinen Hut auf, rückte ihn zurecht und blickte zu den Unterkunftsbaracken hinüber. »Keine gute Methode, um unter den Indianern für Frieden und Zusammenarbeit zu werben.« »Sie werden sehen, Sir, daß ein Begriff wie Zusammenarbeit für einen Wilden etwas völlig Unbekanntes ist. Sie bevorzugen die Logik der Gewalt.« Sommerhitze und Trockenheit waren in diesem Jahr einen Monat früher eingetroffen als gewöhnlich. Mit Ausnahme der tanzenden Staubwirbel und des berittenen Wachtpostens, der vor Hitze schlaff und erschöpft im Sattel hing und mechanisch seine Runden drehte, lag das Fort wie verlassen im Sonnenglast des Mittags. Um zwei Uhr begannen die Barackendächer schmale Schatten zu werfen, und Major Ross stellte seinen Feldstuhl in einen solchen Schattenstreifen. 11
Er hatte eine Karte des Territoriums bei sich, entfaltete sie aber nicht. Er fühlte sich so schläfrig wie alle anderen. Geräusche verklangen in dieser alle Sinne abstumpfenden Hitze fast völlig, und das dünne Grillengezirp nahm man mit dem Bewußtsein kaum noch wahr. Unvermittelt knirschten die Räder eines Pritschenwagens vor der Baracke, und der Major blickte eben noch rechtzeitig auf, um zu sehen, wie dieser wilde Kiowa die Zügel über das Fußbrett legte und vom Fahrersitz herunterkletterte. Auf der Ladefläche des Wagens befanden sich zwei Soldaten, die einen wenig schönen Anblick boten. Der Major legte seine Karte so ruhig zur Seite, als ginge es nur darum, eine Dame zum Tee zu empfangen. Der Kiowa kam näher, stieß ein kurzes Grunzen aus und wies mit einer verächtlichen Handbewegung zum Wagen. Einer der Soldaten lag rücklings auf der Ladefläche, seine Uniform war bis zu den Stiefeln mit Erbrochenem beschmutzt. Der andere saß schwankend neben ihm, fixierte den Offizier aus starren, glasigen Augen und lallte mühsam »n’Abend, Sir.« Dann versuchte er von der Ladefläche zu springen, fiel jedoch zu Boden und kam nur mühsam wieder auf die Beine. Major Ross stand auf. »Holen Sie Captain Hazlitt und einen Dolmetscher.« Hazlitt kam über den Exerzierplatz gerannt und zog sich im Laufen die Hosenträger über das Unterhemd. »Captain Hazlitt«, sagte der Major mit schneidender Stimme, »ist das die Abteilung, die Sie ausgeschickt haben, um die Verhaftung vorzunehmen?« Captain Hazlitts Gesicht lief rötlich an. »Ja, Sir.« 12
»Verdammt!« Der sonst stets beherrschte Mann wurde wütend. »Sorgen Sie dafür, daß die beiden zur Ausnüchterung in die Arrestzelle kommen; dann schicken Sie sie zu mir.« Pease Dave, Dolmetscher und Kundschafter der Truppe, schlurfte aus der Kantinenbaracke herbei und nahm nachlässig Haltung an. Der Major wandte sich ungeduldig an ihn. »Fragen Sie den Mann nach seinem Namen!« Hazlitt sagte: »Ich spreche Kiowa, Sir.« »Führen Sie meinen Befehl aus, Captain.« Der Indianer stand währenddessen ruhig da und würdigte weder die Offiziere noch die betrunkenen Männer eines Blickes. Er war untersetzt und kräftig und trug einen Halsschmuck aus den braun und weiß gemusterten Stacheln des Stachelschweins. Sein fettglänzendes, schwarzes Haar war in kleine Zöpfe geflochten, und an seinem Hinterkopf steckten zwei Schwanzfedern eines Raubvogels. »Das ist Wilde Graugans«, erklärte Pease Dave. »Er ist Häuptling der Ka-it-sen-ka, der Krieger der Kiowas.« »Fragen Sie ihn, woher die Soldaten den Schnaps haben.« Der Kiowa hob die Schultern, sagte etwas und Pease Dave erklärte: »Er sagt, die weißen Soldaten hätten immer Schnaps.« Der Indianer blickte nun Major Ross an, und Pease Dave übersetzte seine Worte: »Der Häuptling der Gelbbeine wünschte mich zu sprechen. Es war nicht nötig, daß er seine Soldaten schickte. Diese Männer haben das verrückte Wasser getrunken, und ich hätte ihnen leicht entkommen können. Aber ich habe sie zurückgebracht. Ich habe nichts 13
zu verbergen. Du willst wissen, wer deine Maultiere gestohlen hat. Das ist leicht zu beantworten. Ich habe sie gestohlen, und ich habe die Absicht, sie zu behalten.« Major Ross sah Pease Dave ungläubig an, als bezweifelte er die Richtigkeit der Übersetzung. Der alte Kundschafter zog ein dunkelbraunes Stück Kautabak aus der Hosentasche und biß etwas davon ab, während Major Ross sagte: »Machen Sie ihm klar, daß es unehrenhaft ist, zu stehlen. Daß eine solche Handlung eines Mannes unwürdig ist.« Wilde Graugans hörte zu. Seine Antwort kam ohne Zögern. »Es ist unehrenhaft für weiße Männer, unsere Büffel zu stehlen. Die weißen Jäger töten sie schneller, als die Sterne am Morgen verblassen können. Es ist nicht unehrenhaft, gegen die Gelbbeine zu kämpfen. Ich habe es mein ganzes Leben lang getan. Ich kann es besser als alles andere.« Der Major sah sich da einem Problem gegenüber, das in seinem Handbuch für die Anwendung des Kriegsrechts nicht erwähnt war. Er nahm sich Zeit, seine Antwort sorgfältig zu überlegen. »Sagen Sie ihm, daß ich ihn nicht festhalten will, weil er von sich aus gekommen ist. Aber sagen Sie ihm auch, daß diese Maultiere von uns benötigt werden. Ich gebe ihm drei Tage Zeit, sie zurückzugeben, dann werde ich sie mir holen. Wenn er kämpft, werden viele seiner Krieger verwundet werden, und manche werden das Leben verlieren.« Hazlitt kam zurück und trat schweigend zu dem Major, während Pease Dave zum Stall ging, um ein Pferd für den Häuptling zu holen. Der Major sagte nachdenklich: »Mir scheint, Captain, 14
Sie waren ein wenig zu optimistisch, als Sie die beiden Männer losschickten, um diesen Indianer zu verhaften. Ich kann ihnen nicht verdenken, daß sie sich betrunken haben. Vielleicht sollte ich doch lieber zu dem Agenten reiten.« Die Indianeragentur für die Kiowa-Reservation befand sich in einem ungestrichenen zweistöckigen Holzhaus, etwa dreißig Meilen vom Fort entfernt. Der Agent Pennington war ein lebhafter kleiner Mann, dessen ovale Brillengläser ihm das Aussehen eines Schulmeisters verliehen. Die unaufhörliche Hitze und die ständigen trockenen Winde hatten ihn ausgedörrt wie eine Heuschrecke. Nachdem er und der Major sich eine Weile auf der Schwelle unterhalten hatten, gingen sie in Penningtons Büro. Der Agent ließ von einer Wichita-Squaw einen Krug mit kaltem Quellwasser bringen, während sich der Major auf einen Stuhl fallen ließ. »Hazlitt schickt jeden Morgen eine Abteilung los, die nichts anderes zu tun hat als den Rindern Pfeile herauszuziehen«, sagte er. »Die Kowa-Krieger schleichen nachts zu den Pferchen und spicken unsere Kühe mit Pfeilen. Pease Dave meint, die Friedenspfeife sei für diese Indianer nichts als ein Vorwand, Tabak zu stehlen. Am Tag vor meiner Ankunft haben sie die Wachen mit Kriegsgeschrei abgelenkt und sämtliche Arbeitsmaultiere weggetrieben.« Pennington füllte die Wassergläser und wischte sich den Schweiß aus seinem runzligen Gesicht. »Wenn Sie mir die Frage gestatten, Sir: Was für Aufgaben hatten Sie, bevor Sie dieses Kommando übernahmen?« Der Major gab offen Auskunft. »Ich habe vier Jahre Stabsarbeit geleistet. Und ich sage es Ihnen ganz ehrlich, in 15
dieser Zeit ist der Kontakt mit der Feldtruppe etwas zu kurz gekommen. Nachdem ich den Befehl bekommen hatte, Fort Greer zu übernehmen, habe ich Custers und Sheridans Berichte gelesen, aber auch die Aufzeichnungen Fettermans und Carringtons. Mir scheint, daß Vorurteile und mangelndes Verständnis für die Indianer sich wie ein roter Faden durch diese ganzen Indianerkriege ziehen.« Der heiße, trockene Wind raschelte in den Papieren auf dem Schreibtisch des Agenten. Die Hitze hatte etwas so Lähmendes, daß sogar nahe Stimmen fern und unwirklich erschienen. Über dem trockenen braunen Steppenland erhob sich eine Staubfontäne, hing eine Weile in der Luft und schien sich dann dem Haus zu nähern. »Sie haben vollständig recht«, sagte Pennington. »Aber die Indianer reagieren aus ihren eigenen Schwierigkeiten heraus falsch. Sie beantworten Ungerechtigkeiten mit der Ermordung irgendeiner Siedlerfamilie, die ihnen nichts getan hat, und da fällt es dann den Leuten im Osten nicht schwer, angesichts solcher Brutalitäten die Indianer für unwissend und vernachlässigt zu erklären. Es ist nicht so einfach, wenn man einmal die verstümmelten Körper von Frauen und Kindern gesehen hat.« Die Staubfontäne bewegte sich mit zunehmender Geschwindigkeit über die verdorrte Prärie. »Es ist eine tragische Situation«, fuhr Pennington fort. »Und nur Geduld und Verständnis können sie zum Guten verändern. Ich würde gern mit dem Indianer reden, bevor Sie sich entschließen, die Maultiere mit Gewalt zurückzuholen.« Hinter der Staubwolke erschien ein Reiter, der sein Pferd 16
in einem halsbrecherischen Galopp durch die glühende Hitze jagte. Nach etwa einer Minute war seine blaue Uniform deutlich zu erkennen, gleich darauf auch die gelben Hosenstreifen. Seinen Hut schien er unterwegs verloren zu haben. »Ich will fair sein«, sagte der Major, »aber auch fest. Männer wie dieser Kiowa Wilde Graugans können viel zu einer guten Lösung beitragen. Wenn es gelingt, solche Männer richtig anzusprechen und einen Zugang zu ihnen zu finden –« Das Trommeln der Pferdehufe ließ ihn aufmerken. Er stand von seinem Stuhl auf und trat in die Tür. Der Reiter schwang sich eben aus dem Sattel; sein Pferd war völlig erschöpft; es stand schweißbedeckt auf zitternden Beinen da und ließ den Kopf bis fast zur Erde hängen. Der Soldat rannte die Stufen herauf, salutierte knapp und reichte dem Major seine Botenmappe. Der Major las schweigend, während der heiße Wind Schaumflocken vom Maul des Pferdes blies. »Gut gemacht«, sagte er dann zu dem Soldaten. »Führen Sie Ihr Pferd ein bißchen auf und ab.« Er wandte sich an den Agenten: »Kann einer von Ihren Leuten diesen Mann und sein Pferd versorgen?« Der Soldat salutierte jetzt wieder und machte kehrt, um einem alten Indianer zu folgen, der das Pferd an den Zügeln nahm. »Mein Adjutant meldet, daß eine Kriegerbande unter Wilde Graugans einen unserer Männer getötet hat, der eine halbe Meile vom Fort beim Heumachen war«, sagte der 17
Major. »Können Sie mich zum Dorf der Indianer führen?« Pennington zögerte. »Das kann ich schon – aber ich würde doch vorschlagen –« »Mein Adjutant ist bereits mit einer Kompanie Kavallerie ausgeritten, Mr. Pennington. Und Captain Hazlitt ist ein Mann schneller Entschlüsse. Jede unüberlegte Handlung könnte in dieser Situation äußerst ernste Folgen haben.« Pennington blickte den Major besorgt an. »Vielleicht haben Sie recht. Hazlitt spricht die Sprache der Kiowas, aber er scheint trotzdem wenig Verständnis für sie zu haben. Lassen Sie sich Ihr Pferd bringen. Ich mache mich inzwischen reisefertig.« Agent Pennington wußte, wo er seine Indianer zu suchen hatte, aber die Sonne näherte sich bereits dem Horizont, als er und Major Ross das Indianerdorf im Windschatten der Beaver-Mountains vor sich sahen. Hazlitt hatte seine Kompanie über den Höhenzug geführt und befand sich nun auf einem vorgelagerten Hügel etwa eine halbe Meile talaufwärts. Einige Reiter und die im Wind knatternde Fahne zeichneten sich schwarz gegen den Abendhimmel ab. Das Gros der Kompanie wartete hinter der Hügelkuppe. Der Major durchritt den schäumenden Bach und galoppierte den Hang hinauf, wo ihn Hazlitt kampflustig erwartete. Er drängte sein tänzelndes Pferd an die Seite des Majors und salutierte. »Sie kommen gerade rechtzeitig, Sir.« Major Ross atmete tief auf. »Gott sei Dank, Captain, ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Manöver. Von hier aus beherrschen Sie das ganze Tal.« »Wir sind zum Angriff bereit, Sir«, sagte Hazlitt. 18
Der Major nahm seinen Feldstecher aus dem Futteral und richtete ihn auf das Dorf. Zwischen den Zelten blinkten einige Feuer durch die Dämmerung. Ein größeres Feuer im Zentrum der Siedlung ließ für einen Augenblick eine einzelne Gestalt erkennen, die rhythmische Bewegungen vollführte. Der inzwischen ein wenig kühler gewordene Wind trug Bruchstücke eines schrillen Singsangs herauf. »Soll ich die Kompanie aufsitzen lassen, Sir?« drängte Hazlitt. Major Ross antwortete nicht sofort und spähte weiter durch das Glas. »Es scheint nur ein Tänzer bei dem Feuer zu sein. Was halten Sie davon, Pennington?« »Die Kiowas verabscheuen den Kampf bei Nacht, Major.« »Trifft sich das nicht großartig?« Hazlitts Worte klangen sehr laut in der Stille. Pennington fuhr fort: »Ich glaube, daß da irgendein Krieger einen privaten Siegestanz aufführt, Major.« »Wahrscheinlich dieser Wilde, den Sie heute morgen freigelassen haben, Sir«, ergänzte Hazlitt, »Hornist!« Der Major hob schnell die Hand. »Augenblick, Captain Hazlitt!« unterbrach er scharf das Kommando. »Wir sind hier, um ein paar Mörder zu verhaften, nicht um eine Metzelei anzurichten.« »Aus Eiern, Sir …« »Werden Läuse« ergänzte der Major knapp. »Ich kenne Colonel Carringtons Ansichten.« Er steckte den Feldstecher ein. »Mr. Pennington, wollen Sie mit mir ins Dorf reiten? Captain, suchen Sie vier Männer aus, die uns begleiten.« »Aber, Sir –« 19
Der Major wendete sein Pferd, bis er dem Adjutanten voll ins Gesicht sehen konnte. »Mr. Hazlitt«, sagte er ruhig, »ich habe Ihre Personalakte auf meinem Schreibtisch liegen, und ich werde meine Eintragung vervollständigen, sobald wir wieder im Fort sind.« Es blieb einige Sekunden still, dann murmelte Hazlitt: »Jawohl, Sir.« Am Rand des Dorfes sprangen ihnen die Hunde entgegen. Major Ross saß so aufrecht im Sattel, als habe er ein ganzes Regiment hinter sich. Hinter ihm ritten Pennington und Hazlitt, denen man ihr Unbehagen deutlich ansah, und den Schluß bildeten Pease Dave, Sergeant Rizzocki und ein Soldat namens Koslow. Der Major trabte durch die bellende und japsende Meute, als befände er sich auf einer Routineinspektion. Einmal wich sein Pferd gerade noch den Fangzähnen eines Hundes aus, aber Ross ritt unbeirrbar weiter, bis er Wilde Graugans vor seinem Zelt hocken sah. Das Pferd des Indianers stand mit Waffen behängt neben dem Zelt, und der Häuptling hielt die Zügel in seinem Schoß. Pease Dave verhielt neben Major Ross und sprach ein paar Begrüßungsworte, erntete aber nur Schweigen. Der Major ritt weiter bis zu dem großen Feuer in der Mitte der Siedlung. Der einzelne Krieger hatte zu tanzen aufgehört und hielt jetzt eine Rede. Er war ein sehniger, ganz mit Farbe bedeckter Bursche. Von seiner Lanzenspitze baumelte ein frischer roher Skalp. Ein paar Krieger und mehrere alte Männer hatten sich um das Feuer versammelt. Weiter hinten hockten fünf oder 20
sechs Squaws im Schatten und sangen einen monotonen, oft abbrechenden und wieder einsetzenden Singsang, als antworteten sie wie in einem kirchlichen Wechselgesang den Worten des Kriegers. Pennington dirigierte sein Pferd an die Seite des Majors. »Das ist Hwi-tan, Verbranntes Haar«, sagte er. »Er scheint zu berichten, wie er zu seinem Skalp gekommen ist.« Pease Dave lauschte eine Weile, bevor er sagte: »Lauter Angeberei! Verbranntes Haar brüstet sich damit, daß er mit den beiden dort drüben, Kleines Pferd und Sonnenseher, den Skalp erobert hat. Die zwei scheinen jedoch über diese Reklame nicht sehr glücklich zu sein.« Der Kundschafter lauschte wieder. »Wie er es erzählt, hatte Wilde Graugans eine Bande Krieger in die Berge geschickt, um das Fort zu beobachten. Sie scheinen geplant zu haben, sämtliche Pferde zu stehlen. Verbranntes Haar und seine Gefährten kamen im Morgengrauen am Lagerplatz der zum Heumachen abkommandierten Soldaten vorbei und konnten der Versuchung nicht widerstehen. Sie erbeuteten den einen Skalp, aber der andere Mann entkam ihnen und konnte sich zum Fort durchschlagen.« Der Major bekam allmählich Kopfschmerzen, aber er wartete, bis Pease Dave seinen Bericht abschloß. »Verbranntes Haar macht sich über Wilde Graugans lustig; er sagt, er sei ängstlich geworden und habe den Überfall abgeblasen. Verbranntes Haar erklärt, jetzt müsse er selbst zum Häuptling der Ka-it-sen-ka gewählt werden.« »Sehr schön«, sagte der Major. Er ritt in den Lichtschein des Feuers, bis sein Pferd einen Meter vor dem Indianer 21
stand, dann zog er seine Pistole und hielt sie mit dem Lauf nach oben in die Luft. Seine Stimme drang laut durch die gespannte Stille. »Mr. Pennington, bitte sagen Sie diesen Indianern, daß Wilde Graugans, Verbranntes Haar, Kleines Pferd und Sonnenseher verhaftet sind. Ich nehme sie mit zum Fort. Wenn sie sich weigern, drücke ich ab und lasse meine Soldaten angreifen. In diesem Fall muß ich die Verantwortung für das dann folgende Gemetzel ablehnen.« Noch lange, nachdem die Worte des Agenten verklungen waren, blieb es im Dorf still. Wilde Graugans erhob sich, kam ans Feuer und wendete sich direkt und ohne die Umstehenden zu beachten an Verbranntes Haar. Es gab einen kurzen und heftigen Wortwechsel zwischen den beiden, dann wandte sich der Häuptling ab, und Verbranntes Haar spuckte auf die Erde. Einer der alten Männer trat zum Feuer. Wieder kam es zu einem Wortwechsel in dem kehligen, gutturalen Idiom der Kiowas, in den sich auch einige der zahnlosen Patriarchen einmischten. Der Major wartete schweigend, die Pistole immer noch erhoben, bis sich der alte Mann schließlich umdrehte und erst zu Wilde Graugans, dann zu Pennington einige Worte sagte. »Sie sind bereit«, dolmetschte der Agent. »Die Squaws gehen ihre Pferde holen.« Als sie sich der Furt des Beaver Creek näherten, sagte Major Ross plötzlich: »Hören Sie, Pennington, es hätte ihnen glatt gelingen können, unsere Pferdeherde wegzutreiben. Dieser Wilde Graugans ist kein übler Stratege.« Pennington und der Major ritten an der Spitze der klei22
nen Kolonne. Pease Dave hielt sich zehn Schritte hinter ihnen, und noch weiter hinten ritten die Gefangenen, bewacht von Rizzocki auf der rechten und Koslow auf der linken Seite. Captain Hazlitt bildete den Schluß. »Die Pferdeherde wäre für die Kiowas ein Vermögen gewesen«, bemerkte Pennington. »Der ganze Stamm hätte die Reservation verlassen und wäre nach Texas gezogen, um die Pferde und Maultiere gegen Waffen und Munition einzutauschen.« »Wenn es Tag wird, schicke ich eine Abteilung nach den Maultieren aus«, sagte der Major grimmig. »Es ist schade, daß Sie die Sprache der Indianer nicht beherrschen, Major«, meinte Pennington, »sonst hätten Sie den Streit verstehen können. Wilde Graugans wußte, die Soldaten würden zu seinem Dorf kommen, sobald der Überlebende der beiden Heumacher das Fort erreichte. Er erwartete einen Angriff, blies den Überfall ab und kehrte ins Dorf zurück, um seine Leute zu verteidigen, obwohl er wußte, daß er und seine Krieger in der Minderzahl waren.« »Ich würde etwas darum geben«, warf der Major ein, »wenn ich diesen Kiowa auf meiner Seite hätte.« Pennington nickte. »Verbranntes Haar hat sich in eine üble Lage manövriert. Die alten Männer haben gedroht, ihn aus dem Stamm auszustoßen. Wilde Graugans hat sich viel Anerkennung erworben, als er die Maultiere stahl und dann offen nach Fort Greer kam, um Sie herauszufordern. Verbranntes Haar hat in seinem Übereifer, etwas Ähnliches zustande zu bringen, den geplanten Pferdediebstahl zunichte gemacht, und nun hat er mit seiner Prahlerei auch noch 23
seine Freunde mit hineingerissen. Ich fürchte, sein Neid hat ihn zu weit getrieben.« Ein Ruf war zu hören, ein wütender, heiserer Schrei, der alarmierend wirkte. Der Major, der eben durch das reißende Wasser des Beaver Creek ritt, drehte sich um, dann riß er an den Zügeln und bearbeitete die Flanken seines Pferdes mit den Sporen. Weiter hinten, wo die Gefangenen ritten, war ein plötzliches Durcheinander entstanden. Pferdeleiber und fluchende Reiter hatten sich verknäult, dann brach ein Reiter aus dem Gewirr und galoppierte im blassen Mondlicht querfeldein zu den bewaldeten Hügeln. Ein anderer jagte ihm nach, und für einen Augenblick sah es aus, als bräche die Gruppe ganz auseinander. Aber ein zweiter Ruf, rauh, hart und in der Sprache der Kiowas, erhob sich über den Tumult und brachte die Reiter zur Ruhe. Der Major jagte an Pease Dave vorüber, der abgestiegen war und seinen Karabiner aus dem Futteral am Sattel zerrte. Der fliehende Indianer war durch seinen Verfolger Captain Hazlitt gegen Kugeln abgeschirmt. Der gezogene Säbel des Captains blitzte im Mondlicht, und sein zornig gebrülltes Kommando, anzuhalten, klang gedämpft und undeutlich. Als der Major die übriggebliebenen Gefangenen erreichte, zog der flüchtende Indianer scharf die Zügel an. »Vorsicht, Sir!« brüllte Koslow erschrocken hinüber. »Er hat meine Pistole!« Hazlitt war schon über dem wartenden Indianer und schwang den Säbel. Ein Schuß peitschte durch die Nacht, das Echo rollte durch die Hügel und Hazlitt lehnte sich im Sattel zurück, wie ein Mann, der mit aller Kraft die Zügel 24
an sich reißt; dann ließ er den Säbel fallen und rutschte aus dem Sattel. In diesem Augenblick krachte ein Gewehrschuß, denn der fallende Hazlitt hatte Pease Dave das Ziel freigegeben. Der Indianer versuchte sein Pferd wieder zu den Hügeln zu wenden, aber er war getroffen. In die Pferdemähne verkrallt, vermochte er sich nur noch ein paar Sekunden auf dem Tier zu halten, dann verlor er das Gleichgewicht und stürzte mit ausgebreiteten Armen zu Boden. Die beiden reiterlosen Pferde liefen noch ein Stück weiter, blieben aber bald stehen und begannen zu grasen. Der Major, gefolgt von Pennington und Pease Dave, trieb sein Pferd das sanft ansteigende Gelände hinan. Als er angekommen war, steckte er seine Pistole ein und stieg vom Pferd. Er stand da, hielt die Zügel in der Linken und beugte sich über den toten Hazlitt. Mit einem Seufzer richtete er sich wieder auf. »Pennington, ein tapferer Mann sollte nicht auf eine solche Weise sterben.« Dann schritt er zu dem reglosen Körper des Indianers hinüber und erkannte Verbranntes Haar. Der Major wälzte den Leichnam mit der Stiefelspitze herum, bis der Tote auf dem Gesicht lag. Inzwischen hatten Rizzocki und Koslow die Gefangenen heraufgebracht. »Sergeant«, fragte der Major plötzlich ruhig, aber mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme, »wer hat eben die linke Flanke bewacht?« Der Sergeant rutschte unruhig im Sattel hin und her. »Niemand, Sir.« Major Ross blickte fragend auf. Rizzocki zögerte. »Captain Hazlitt ritt zwischen die Ge25
fangenen, Sir, und sagte etwas in Kiowa, dann ließ er sich wieder zurückfallen und befahl Koslow zu sich. Das ließ die linke Flanke offen, und als Koslow sein Pferd wendete, brach der Kiowa aus. Captain Hazlitt war zu weit hinten, um zu sehen, wie der Indianer Koslows Pferd rammte und ihm die Pistole wegnahm. Ich weiß nicht, warum die anderen nicht geflohen sind.« Pennington stellte den Indianern eine Frage und bekam Antwort von Wilde Graugans. Dann sagte er zum Major: »Captain Hazlitt ritt zwischen die Indianer und sagte ihnen, er wolle ihnen eine Chance zur Flucht geben. Wilde Graugans hielt das für eine schlechte Chance und befahl den anderen, zu bleiben. Nur Verbranntes Haar hörte nicht auf seinen Befehl.« Penningtons Gesichtsausdruck veränderte sich. »Vielleicht sollte ich noch etwas erwähnen, Major. Als bekannt wurde, daß Sie hier das Kommando übernehmen sollten, erklärte mir Hazlitt bitter, man habe ihn übergangen. Er war der Meinung, man hätte ihn zum Fortkommandanten ernennen sollen.« »Die Militärbehörden hätten mich mindestens mit einem Verweis bestraft, wenn den Gefangenen die Flucht gelungen wäre«, sagte der Major. Pennington nickte. »Und wenn es Hazlitt gelungen wäre, den Indianer wieder einzufangen, wäre ihm die Beförderung ziemlich sicher gewesen.« Major Ross starrte nachdenklich in die Nacht hinaus. »Mr. Pennington«, sagte er, »liegt die Verantwortung für den Tod des Heuschneiders nach Ihrer Meinung allein bei Verbranntes Haar?« Der Agent nickte. »Davon bin ich überzeugt, Major.« Major Ross schwang sich in den Sattel. »Sergeant«, be26
fahl er, »lassen Sie die Gefangenen in ihr Dorf zurückkehren. Fangen Sie Captain Hazlitts Pferd ein und schaffen Sie ihn selbst zum Fort.« Die Abteilung, die nach den Maultieren suchen sollte, verließ Fort Greer im Morgengrauen des nächsten Tages. Sie war noch nicht zurückgekehrt, als gegen Mittag neun Krieger der Kiowas auf der Straße auftauchten, die von Nordosten zum Fort führte. Sie trieben die ganze Herde der gestohlenen Maultiere mit sich. Während die Herde von den Indianern auf dem Exerzierplatz zusammengetrieben wurde, ritt Wilde Graugans auf seinem gescheckten Hengst vor die Bürobaracke und wartete, bis man Pease Dave geholt hatte. »Hier sind deine Maultiere«, sagte der Kiowa dann. »Wir geben sie zurück, weil wir es so wollen. Wir glauben, daß der Krieg nicht mehr viel nützen kann. Vielleicht sind die alten Tage vorüber. Wenn die Kiowas nun einmal den Boden bebauen und das Fleisch zahmer Kühe essen sollen, werden wir versuchen, es zu tun.« Major Ross stand auf der Schwelle und blinzelte in die Sonne. »Wie ich Wilde Graugans kenne, wird er bald so viele weiße Freunde haben, wie er jetzt rote hat. Und wenn er seine Leute im Frieden so gut führen kann, wie er es im Krieg getan hat, werden die mageren Zeiten nicht lange dauern.« Ein schwaches Lächeln überflog das schmale Gesicht des Indianers. »Die Soldaten, die du auf die Suche nach den Maultieren ausgeschickt hast, sind weit im Süden, in der Nähe des Red River«, sagte er. »Sie hätten sie nie ge27
funden.« Er lenkte sein Pferd herum, nickte kurz und winkte seinen Gefährten mit der Lanze. Die neun Krieger der Ka-it-sen-ka galoppierten aus dem Lagertor in die Steppe hinaus und ließen hinter sich eine lange rote Staubfahne.
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William R. Cox begann 1940 für Zeitschriften zu schreiben. Später verfaßte er außerdem Drehbücher für Filme und Fernsehstücke. Er hat über zweihundert Kurzgeschichten veröffentlicht und arbeitete als Berater an mehreren Westernfilmen mit. In den letzten Jahren erschienen einige größere Romane von ihm sowie eine Biographie des bekannten Western-Schriftstellers Luke Short.
William R. Cox
Stadt in Angst Als Luke Pepper zehn Jahre alt war, konnte er außerordentlich schnell laufen. In Dodge City war dies ein großer Vorteil, besonders dann, wenn die als harte Schläger gefürchteten Jungen aus den Elendsquartieren über die Bahnlinie hinaus vordrangen und die Stadt durchstreiften. An diesem Sommernachmittag glich der Himmel einer riesigen, umgestülpten Messingschüssel, und der Schweiß rann ihm übers Gesicht, als er schnaufend in Sam Semples Eisenwarenladen raste. »Abe Lubbeck ist unterwegs hierher«, keuchte er. »Ich habe es dem Marshal schon gesagt.« Sam Semple war ein kleiner Geschäftsmann, kein Kämpfer. Er war aus New Jersey gekommen, blaß, mager und bereits in mittleren Jahren, ein gutmütiger Mann, der keinem etwas zuleide tat. Er befeuchtete seine trockenen Lippen und blickte auf Luke hinab. Das Reden war nicht gerade seine starke Seite. »Nehmen Sie sich ein Gewehr«, drängte Luke. »Beeilen 29
Sie sich. Er wird Sie umbringen und Mama zwingen, mit ihm zu gehen. Bitte!« »Das kann ich nicht machen.« Sam warf einen Blick auf die zum Verkauf ausgestellten Waffen, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Sie haben Angst«, sagte Luke, dem ein Schluchzen in der Kehle saß. Auch er hatte Angst. »Ja, ich habe Angst«, sagte Sam Semple langsam. Luke rannte zur Ladentür und sah sie im gleichen Augenblick auch schon vor das Haltegeländer auf der gegenüberliegenden Straßenseite reiten; Lubbeck, den Besitzer einer Ranch in Nordtexas, und drei von seinen wetterharten, rücksichtslosen Viehtreibern. Abe Lubbeck war stämmig und rotgesichtig, mit borstigen Haaren im Nacken und auf den Rücken seiner schweren Hände. Luke kannte das Gewicht dieser Hände, Abe hatte ihn oft genug auf den Rücken geschlagen und, während Luke husten mußte, versprochen: »Ich werde dich nach Texas mitnehmen und einen Mann aus dir machen, du wirst es sehen.« Luke hatte immer nur Angst vor diesem Mann gehabt. »Sam, wollen Sie nicht für Mama kämpfen?« fragte er mit unsicherer Stimme, dem Weinen nahe. »Komm, lauf durch den Hinterausgang«, sagte Sam Semple hastig. Doch im gleichen Augenblick kam Lubbeck auch schon hereingetrampelt. Seine Sporen klirrten, der schwere Revolver klatschte rhythmisch auf seinen rechten Schenkel. Luke versteckte sich hinter aufgestapelten Schubkarren, weglaufen konnte er nicht. Seine Fäuste waren geballt, seine Augen brannten. Er war hilflos und verloren. 30
Abes laute Stimme hämmerte: »Ich habe dich gewarnt, Semple.« »Du hast kein Recht, mir irgendetwas vorzuschreiben.« Sams Stimme klang im Vergleich zu Lubbecks Organ dünn und zittrig, aber auch er versuchte nicht wegzulaufen. Er stand einfach da. »Ich habe dir gesagt, du sollst dich von Molly Pepper fernhalten.« »Das hat allein Molly zu entscheiden«, sagte Sam mannhaft. »Du hast kein Recht, so zu tun, als gehöre sie dir. Molly will nichts von dir wissen. Sie –« Weiter kam er nicht. Lubbeck schlug ihn zurück zwischen die Pfannen und Töpfe, von denen einige aus den Regalen fielen und einen gewaltigen Lärm verursachten, dann packte er ihn und zerrte ihn auf die Straße hinaus. Luke verbarg sich in der Menge, die innerhalb weniger Sekunden zusammengeströmt war. Er hielt verzweifelt nach dem Marshal Ausschau und zitterte trotz der Hitze, als die Viehtreiber anfingen, ihren Boß mit lauten Rufen und rohem Gelächter anzufeuern, als täte er etwas Gutes und Großartiges. Die Leute aus Dodge City schauten schweigend zu. Ihre Gesichter waren verschlossen und beherrscht. Der Marshal war anwesend, lehnte jedoch völlig unbeteiligt an einer Hauswand. Er war ein großer, dünner Mann: Slim Long, ein guter und schneller Schütze, ein Eigenbrötler und Grübler. Er durfte sich in einen fairen Zweikampf zwischen zwei Männern nicht einmischen, das war gegen die Regeln, was immer diese auch wert sein mochten. Luke mit seinen zehn Jahren verstand nichts davon. 31
Abe Lubbeck hatte seinen Patronengurt abgelegt. Er stand breitbeinig da und schlug mit seinen schweren Fäusten auf Sam ein. Sam stand mehrmals wieder auf, aber das hatte nicht den geringsten Sinn; er war zu schwach, seine Gegenwehr blieb unwirksam, und bald blutete er stark. Luke trat von einem Fuß auf den anderen und wünschte, er hätte den Mut, in den Laden zu laufen, ein Gewehr zu holen und Abe Lubbeck zu erschießen. Er wußte aber, daß er das nie fertigbrächte. Ein alter Mann auf einem spanischen Maultier ritt die Straße herauf und hielt am Rand der Menschenmenge. Er hockte auf einem seltsamen, länglichen und hochgeschweiften Sattel mit schuhartigen Steigbügeln, in denen seine kleinen, mit Mokassins bekleideten Füße steckten. Er war drahtig und gebräunt, mit langem weißem Haar, und er trug weiche Wildlederkleidung wie ein Jäger oder Fallensteller aus dem Norden. Der Mann hatte seinen alten Hut aus der Stirn geschoben, so daß Luke seine blauen, sonderbar leuchtenden Augen sehen konnte. Er wirkte wie aus einer anderen Zeit und schien in einer Stadt wie Dodge City fehl am Platz zu sein. Sam Semple fiel schwer zu Boden und lag still da. Abe Lubbeck trat heran und begann ihn mit Stiefelspitze und Spornrad zu bearbeiten. »He!« sagte der alte Mann auf dem Maultier. »Nun reicht’s aber.« Seine Stimme drang klar und scharf durch die Stille. Die Treiber drehten sich um und tasteten nach ihren Revolvern. Lubbeck hob den Kopf und stierte den anderen an wie ein gereizter Bulle. 32
Der alte Mann hielt einen alten Armeerevolver in der kleinen Faust. Er zielte auf niemanden, sondern hielt ihn nur vor sich. »Es geht nicht an, daß du den Mann umbringst«, sagte er. »Kümmere du dich um deinen eigenen Dreck, alter Ziegenbock!« schrie Lubbeck. Aber dann stieß sich der Marshal von der Hauswand ab und sagte: »Der Mann hat recht, Abe.« Die Umstehenden zogen sich nun sehr eilig zurück und suchten Schutz vor dem zu erwartenden Feuergefecht. Die vier Texaner standen in der Straßenmitte, herausfordernd und wütend. »Das hier ist meine Privatangelegenheit!« bellte Lubbeck. »Nein«, sagte der Marshal. »Sam ist ein Bürger dieser Stadt. Ich schlage vor, daß du dich mit deinen Leuten hinter die Bahnlinie zurückziehst und nicht mit Waffen behängt hier in der Stadt herumläufst. Du kennst mich, Abe. Ich schlage es dir wirklich dringend vor.« Es war ein ziemlich starkes Stück, Abe Lubbeck über die Bahnlinie zurückzuschicken, denn Abe war Ranchbesitzer und ein wohlhabender Mann. Luke wußte, daß nur die Kartenspieler, die geschminkten Damen und die Viehtreiber in den Vierteln jenseits der Bahnlinie bleiben mußten. Slim Long nahm den fast unausweichlichen Konflikt in Kauf, weil Sam Semple sein Freund war. Der alte Mann auf dem Maultier hielt seinen Revolver gelassen in der Hand. Lubbeck blickte erst ihn und dann den Marshal an. Zuletzt betrachtete er Sam, der anfing, Lebenszeichen zu geben und sich im Straßenstaub krümmte. 33
»Denk daran, Marshal«, sagte Lubbeck drohend, »du hast angefangen. Du hast mich herumkommandiert. Ich dachte, ich hätte meine Geschäfte in dieser Stadt erledigt. Aber jetzt sehe ich, daß ich dir auch noch einen Denkzettel verpassen muß.« Slim war kein Mann von vielen Worten. Er beugte sich schweigend über Sam Semple und untersuchte ihn. Lubbeck wandte sich wütend ab, schnallte den Patronengurt um und machte laute Bemerkungen, daß die Viehzüchter ihr Geld ausgäben, um Dodge City die Existenz zu ermöglichen, daß es höchste Zeit sei, es den eingebildeten Stadtleuten einmal zu zeigen und daß alles, was nun passieren würde, auf Marshal Longs eigenes Konto ginge. Dann winkte er seinen Treibern und ritt davon. Nur der Marshal blieb bei Sam Semple zurück, die Zuschauer verliefen sich rasch. Luke war zum Weinen zumute, als der alte Mann sein Maultier näherlenkte und ihn genau musterte. »Junge, bist du vielleicht Molly Peppers Sohn?« »Ja, Sir.« Das zerfurchte braune Gesicht kam näher. Luke bekam einen starken Geruch von Leder und Gewürzen in die Nase, und fühlte sich plötzlich hochgehoben und auf den breiten Sattelknopf gesetzt, wo er von kräftigen Händen gehalten wurde. Die blauen Augen waren traurig, freundlich und forschend zugleich. »Du siehst ihm ähnlich. In deinem Alter sah er fast genau so aus.« »W-wer?« Angesichts dieser freundlichen alten Augen verlor sich Lukes Furcht. 34
»Dein Vater. Joe. Joe Pepper. Ich bin dein Großvater, kleiner Luke.« »Hobe Pepper? Du bist Hobe Pepper?« Es war unerhört, fast nicht zu glauben. Erst wurde Sam verprügelt, dann bedrohte Abe Lubbeck seine kleine Welt, und nun war dieser runzlige alte Mann da sein sagenhafter Großvater Hobe Pepper. Das also war der Gebirgsbewohner, der Freund von Carson und Bridger, der Waldläufer und Kämpfer, der die Indianer liebte und lange unter ihnen gelebt hatte, dieser kleine Alte auf einem Maultier. »Du könntest mir zeigen, wo du mit deiner Mama wohnst«, sagte seines Vaters Vater mit leiser, fast flüsternder Stimme. Das Maultier lief mit langen, gleichmäßigen Schritten zu einer Seitenstraße, wo ungestrichene, lieblos zusammengehauene Holzhäuser standen. Das mit dem traurigen kleinen Garten war Lukes Heimat. An einem Fenster stand in weißer Schrift: MOLLY PEPPER, DAMENHÜTE. Luke krabbelte herunter. Er war wegen der Neuigkeiten schrecklich aufgeregt und völlig unfähig, seine Stimme zu beherrschen. »Mama! Mama! Sam ist von Abe verprügelt worden – und alle Leute haben Angst vor Abe – und hier ist Großvater, und was sollen wir jetzt machen, Mama?« Er lief vor Hobe Pepper zur Tür, stieß sie auf und sah mit feuchten Augen, wie seine Mutter sich mit ablehnender Miene nach Hobe Pepper umwandte. Sie waren Fremde, und was sie gemeinsam hatten, waren schmerzliche Erfahrungen. Sie gingen in die Küche, wo Molly den Tisch mit Filzstücken, Nähzeug und Bändern bedeckt hatte. »Wenn ich wenigstens gewußt hätte, daß du kommst«, sagte sie. 35
»Ich meine – ich habe dich nie erwartet –« Sie war erregt und gleichzeitig weit weg mit ihren Gedanken. Luke hoffte, daß sie sich um Sam Semple Sorgen machte. Hobe Pepper legte seinen Hut auf die Küchenbank und setzte sich. »Es fiel mir plötzlich ein, daß ich den Jungen einmal sehen wollte.« »Früher scheinst du diesen Wunsch nie gehabt zu haben, denn du hast ihn noch nie gesehen.« »Ich war in Kalifornien, weit im Süden. Da hörte ich, daß Joe – nun, daß er gestorben ist.« »Joe ist vor einem Jahr gestorben.« »Die Nachrichten verbreiten sich nur langsam.« »Wir kommen zurecht«, sagte sie unvermittelt und trotzig. »Wir brauchen dich nicht.« Er nickte langsam. »Mich hat nie jemand gebraucht. Ich hätte eben nicht heiraten sollen. Dann taten wir es aber doch, und Joe kam.« »Aber du bist von ihr weggelaufen.« »Sie wollte es nicht anders. Sie mochte die Städte, und das konnte ich nie begreifen. Taos, ja, das war eine Stadt, aber nicht für sie. Ich wußte nicht, daß sie immer Leute in der Nähe haben wollte.« »Und was hat dir deine Wildnis genützt?« Luke hatte seine Mutter noch nie so verärgert gesehen. »Immerhin – ich bin am Leben. Die Stadt hat Joe umgebracht, oder etwa nicht?« Plötzlich begann Molly zu weinen. Großvater hatte recht, dachte Luke. Eine Bandsäge war gesprungen und Joe Pepper auf der Stelle tot gewesen. Die Stadt hatte ihm seinen Vater genommen. 36
»In den Bergen gibt es keinen Staub, keinen Dreck, kein Geschrei«, sagte Hobe Pepper. »Wir hatten einst den Traum von einem Land ohne Städte, ein Land, in dem man sich frei bewegen konnte. Nun, es konnte nichts daraus werden, es war ja nur ein Traum. Weinen hilft da nicht, Molly.« Molly Pepper blickte durch Tränen auf. »Es ist die Angst, die einen fertig macht.« »Die Städte brüten die Angst aus.« Großvater Pepper betrachtete Luke. »Es gefällt mir nicht, den Jungen voller Furcht zu sehen.« Sie warf ihren immer noch schönen Kopf zurück. »Ich mache es nicht länger mit. Ich kann nicht immer mit dieser Angst leben. Ich werde Abe Lubbeck heiraten.« Jetzt fing Luke wirklich an zu heulen. »Nein, das darfst du nicht!« brüllte er. »Du willst Sam heiraten. Du mußt hier bleiben und Sam heiraten.« Dann rannte er in die winzige Schlafkammer, die seine Zuflucht in schweren Stunden war, warf sich auf sein Bett und vergrub sein Gesicht im Kopfkissen. Er hatte schreckliche Angst vor Texas, vor Lubbecks großen, haarigen Händen und einer Zukunft, die er nicht verstehen, sondern nur fürchten konnte. Er wußte nicht, wie lange er so dalag, aber als seine Mutter ihn zum Abendessen rief, war Hobe Pepper fort. Molly hatte sich wieder gefangen, ihre Stimme klang kalt. »Der hält es unter keinem Dach aus. Böse und giftig ist er, ein nichtsnutziger alter Kerl! Er ist nur gekommen, um mir Schwierigkeiten zu machen. Iß jetzt, in Texas wird alles gut werden.« Er konnte das gebratene Fleisch und die Kartoffeln nicht 37
hinunterbringen. Sein Magen rebellierte, und seine Augen brannten und schmerzten. »Du wirst dein eigenes Pferd bekommen und noch viel mehr«, sagte sie. »Abe hat ein großes Haus, alles was wir uns wünschen könnten.« Nun, Abe Lubbeck war groß und stark, und er hatte Männer, die ihm gehorchten. Vielleicht gehört es zum richtigen Leben, daß man brüllt, kämpft und die Leute bedroht, dachte Luke. Er würgte sein Essen herunter und schlich in seine Kammer zurück, wo er sich von neuem seinem Kummer überließ. Später hörte er Sam Semples vertrauten Pfiff von der Straße und die Schritte seiner Mutter. Er kroch ans Fenster, spähte hinaus und lauschte. »Sam«, sagte sie. »Sam, du bist verletzt. Dein Gesicht –« Ihre Stimme klang jetzt anders als vorher, ganz weich. »Ich bin verletzt, weil ich es nicht mit ihm aufnehmen konnte«, sagte Sam. »Ich bin verletzt, weil ich ihn nicht erschossen habe.« »Ach, Sam, es hat keinen Sinn. Er wird dich nicht noch einmal zusammenschlagen. Ich – ich werde ihn heiraten, Sam.« Sam schwieg eine Weile, während Luke angestrengt lauschte. »Er hat uns alle eingeschüchtert.« Sams Stimme klang, als sei er ein alter Mann, älter als Großvater Pepper. »Wenn ich es nicht tue, wird er dich noch umbringen und vielleicht dem Jungen etwas antun. Er ist so. Wenn er bekommt, was er will, ist er in Ordnung. Was ihm gehört, wird er beschützen.« 38
»Mit Schießeisen und Fäusten.« »Wie sollte er es sonst tun, in diesem Land?« Sam sagte: »Ich will es nicht, Molly. Bitte, ich liebe dich doch.« Luke spähte hinter dem Vorhang hervor und sah die beiden Gestalten miteinander verschmelzen, aber er sah noch mehr. Auf der anderen Straßenseite stand sein Großvater neben dem langbeinigen Maultier und beobachtete die Szene. Aber nach einem kurzen Augenblick führte Hobe Pepper das Tier um die nächste Ecke und verschwand. Mama weinte wieder. Luke raste in die Küche, kletterte aus dem Fenster, sprang und rannte hinter Hobe Pepper her. Seine Angst war vergessen, er hatte viele Fragen im Kopf und glaubte plötzlich fest daran, daß sein Großvater die Antworten wußte. Er erspähte den alten Mann und folgte ihm die Front Street entlang, am Dodge House und an Sams Laden vorbei zu den Schienensträngen der Santa Fe-Eisenbahn. Hobe band sein Maultier an einen Gartenzaun und ging geräuschlos und schnell weiter, wobei er die Füße einwärts stellte wie ein Indianer. Luke gab sich Mühe, ungesehen zu bleiben, wechselte von einer Straßenseite zur anderen, rannte und versteckte sich in Häuserschatten. Er wußte, daß auf dieser Seite der Eisenbahnlinie alle möglichen Gefahren lauerten, aber solange er sich so weiterbewegte, war seine Erregung größer als seine Angst. Er sah zahllose Saloons und helle Lichter, und er hörte seltsame Geräusche. Frauen und Männer drängten sich auf der Straße und in den Lokalen, wo Pokerchips klapperten, Karten auf Tischplatten geknallt wurden und Flüche und 39
Gläsergeklirr durch die offenen Türen drangen. Wenn die großen Herden verladen wurden und die vergnügungshungrigen Viehtreiber hereinströmten, war hier der Teufel los. An den Haltegeländern standen die gesattelten Pferde in langen Reihen, und Luke sah, wie Hobe Pepper hier und da stehenblieb, um ein Brandzeichen zu entziffern. Als er die Pferde mit dem eingebrannten L Abe Lubbecks fand, verschwand der alte Mann von der Straße und tauchte in einer dunklen Einfahrt unter. Die Pferde standen vor einem Saloon, und Luke wußte, wie er das Haus umgehen und zu dessen Rückseite gelangen konnte. Neben dem Gebäude war es stockdunkel und still, aber durch die Fenster hörte er Abe Lubbecks bellende Stimme, und wieder packte ihn die Angst. Zitternd zog er sich zurück. Eine Zigarre glühte im Dunkeln auf, und Hobe Pepper kam aus der Einfahrt. Marshal Slim Long war bei ihm und paffte blaue Wolken. Der Marshal sagte: »Die Kaufleute wollen Geschäfte machen. Ich sage ihnen immer, daß die Texaner eines Tages die Stadt überschwemmen werden und daß dann alles vorbei sein wird. Dann werden sie nämlich mehr zerschlagen als sie jemals bezahlen werden. Und dann ist es mit Dodge City aus.« »Du wirst da rechtzeitig einen Riegel vorschieben müssen.« »Ich habe ein paar Männer, vielleicht vier oder fünf. Sie werden kämpfen, wenn es darauf ankommt. Aber dabei wird es Wunden und Sachschaden geben. Das Dumme ist, daß die Stadt jetzt eingeschüchtert ist. Wenn die Leute 40
einmal richtig Angst bekommen haben, werden sie sich nicht so schnell aufraffen.« Hobe Pepper sagte: »Du solltest deine Männer zusammenholen. Lubbeck läßt die Niederlage nicht auf sich sitzen. Er wird sich Mut antrinken und einen Versuch machen.« »Und wahrscheinlich wird er ihm gelingen«, sagte der Marshal. »Immerhin, es war schön, dich wiederzusehen, Hobe.« Er machte sich auf den Weg, und Hobe sagte: »Du kannst jetzt herauskommen, Junge.« Luke hätte geschworen, daß er gut versteckt war. Als er hervorkam, brannte sein Gesicht vor Scham. »Kannst du schnell laufen, Luke?« fragte Hobe Pepper. Luke nickte heftig. »Hast du Angst?« »Nicht sehr. Nur – wenn alle sich verkriechen, wird Mama sicher Abe Lubbeck heiraten und mich mitnehmen.« »Daran habe ich schon gedacht, Junge. Lauf jetzt los und such Sam Semple. Sag ihm, er soll in seinem Laden auf mich warten. Ich muß hier noch ein bißchen horchen.« Sie konnten Lubbecks Stimme wieder hören; sie dröhnte wie eine Pauke. »Wird Sam helfen können?« fragte Luke zweifelnd. »Wenn ein Mann eine Frau gern hat, bringt er manches fertig. Er versucht sogar, in einer Stadt zu leben«, sagte Hobe. »Nun lauf.« Luke rannte davon, aber er hielt die Augen offen. Er sah Marshal Long mit Doc Fordryce, dem Herumtreiber und Spieler; er sah den kleinen Duke Post auftauchen und wuß41
te, daß man sich zu sammeln begann. Er sah die Viehtreiber und Rancher in Gruppen beisammen stehen und diskutieren und hörte Pferdegetrappel bei der Brücke. Hinter ihm kam Abe Lubbeck aus dem Saloon und ritt mit seinen Leuten in die Nacht hinaus. Luke wußte, daß sie bald zurückkommen würden. Als er die Schienen überquerte, gingen in den Tanzhallen und Saloons der Südseite die Lichter aus. Vor ihm verrammelten die Bürger der Stadt ihre Türen und Fenster. Er traf Sam Semple vor seinem Laden, und der Mann zog ihn sofort hinein. »Ich habe von deinem Großvater gehört, Luke«, sagte Sam. »Aber alle haben Angst. Deine Mama wird Abe Lubbeck heiraten.« »Großvater hat gesagt, daß ein Mann, der eine Frau gern hat, alles mögliche fertigbringt.« »Das hat er gesagt?« Sam straffte sich ein wenig. »Und du meinst, er glaubt daran?« »Er ist alt und ziemlich klein, aber irgend etwas ist an ihm«, sagte Luke. »Marshal Long kennt ihn, und sie unterhielten sich wie Freunde.« »Er und seinesgleichen haben das Land erschlossen. Aber dann kamen die Lubbecks und nahmen es in Besitz. Man verliert den Mut, wenn man mit ansieht, wohin das alles läuft. Das Gesetz braucht mächtig lange, bis es sich überall durchsetzt.« »Marshal Long sorgt schon dafür.« »Nicht richtig«, sagte Sam. »Er ist zu schwach. Immerhin – mit Hobe Pepper sähe es schon anders aus.« 42
Plötzlich kam der alte Mann herein, leise wie eine Katze. Er sah von Luke zu Sam und sagte: »Ich möchte mir ein Gewehr leihen. Ich brauche das größte Kaliber, das am Lager ist.« »Ich habe eine Sharps«, antwortete Sam. »Mit der kann man ein Haus in die Luft jagen.« »Das wird genügen.« »Aber du kannst auch damit gegen zwanzig oder dreißig Viehtreiber nichts ausrichten.« »Kommt darauf an.« Im Zwielicht des Ladens, mit dem schweren Gewehr in den Händen, sah Hobe Pepper plötzlich jünger aus. »Ich habe einen Jungen hier, der meinen Namen trägt«, sagte er. »Ich will nicht, daß er Angst hat. Der Name eines Mannes – nun, das ist beinahe alles, was er hat.« »Mein Name ist hier soviel wie Dreck«, erwiderte Sam bitter. »Ich kann mit meinen Fäusten niemanden niederschlagen.« »Wieso, du hast doch ein ehrliches Geschäft, oder nicht? Du bezahlst deine Steuern, behandelst die Leute anständig?« »Ich gebe mir jedenfalls Mühe.« »Dann ist dein Name nicht schlechter als andere. Willst du die Mutter des Jungen heiraten?« »Das ist so ungefähr alles, was ich mir wünsche.« »Dann steck dir eine Waffe ein, nimm den Jungen und geh die Front Street hinunter. Du brauchst nichts zu tun, nur da zu sein. Ein Revolver wird genügen.« »Ich könnte keinen Menschen erschießen.« »Das habe ich auch nicht verlangt. Sei einfach da, das 43
langt schon.« Der alte Mann verschwand so leise aus dem Laden, wie er gekommen war. Sam stand einige Sekunden zögernd da, dann holte er einen 45er Trommelrevolver und lud ihn mit zitternden Händen. Dann nahm er Lukes Hand, und sie gingen auf die Straße hinaus. Fast im gleichen Augenblick erschien Molly Pepper mit einem Schal um die Schultern. Sie war vom Laufen ganz außer Atem und rief ihnen etwas zu, so daß sie stehenblieben. »Sein Großvater hat gesagt, ich solle ihn mitnehmen«, sagte Sam Semple. »Hobe Pepper ist ein Wilder. Er wird töten und heute nacht selbst getötet werden. Sind denn alle verrückt geworden?« »Geh entweder nach Haus oder begleite uns«, sagte Sam scharf. »Dein zukünftiger Ehemann hat vor, die Stadt zu stürmen und den Marshal umzubringen. Das wirst du dir doch sicher nicht entgehen lassen wollen, wie?« Sie zuckte unter seinen Worten zusammen und sah ihn aus aufgerissenen Augen an. Luke nahm ihre Hand, dann ging sie mit ihnen in Richtung auf die Bahngeleise. Die Straße schien menschenleer, aber sie konnten den Marshal, Doc, Duke und noch ein paar andere sehen, die sich mit Gewehren im Schatten der Häuser herumdrückten. Hobe Pepper war nirgendwo zu sehen, und auch sein Maultier war vom Haltegeländer verschwunden. Es war sehr still, unnatürlich still für eine Stadt wie Dodge City. Sam blieb vor dem Mietstall im Schutz eines kleinen Heuschobers stehen, und sie warteten eine Weile. Das Warten fiel Luke schwer; er konnte es kaum aushalten. Das Vorgefühl des Unheils hatte die Leute in ihre Häuser getrieben, wo sie 44
zitternd die weitere Entwicklung der Dinge abwarteten. Es war wie vor einem Sturm. Neben dem Schuppen roch es nach Staub, trockenem Holz und Heu. Leise Geräusche klangen laut durch die Stille und ließen Luke zusammenfahren. Einmal fiel Sam der Revolver aus der Hand, aber zum Glück ging er nicht los. Die erste Warnung kam mit dem hohlen Trommeln vieler Pferdehufe auf der Holzbrücke. Nach einem kurzen Abschwellen wurde das Geräusch lauter und lauter. Molly legte ihren Arm um Luke und drückte ihn fest an sich, während sie schweigend warteten und in starrer Angst schwitzten. Dann tauchten die Reiter auf, ein ganzer Haufen. Es waren junge Raufbolde aus den Viehzuchtgebieten des Südens, sie hielten die Zügel in den Zähnen, der Schnaps stachelte sie an, und sie waren voll ungezügelter Wildheit und voller Stolz auf Texas oder was immer Texas ihnen bedeutete. Kurz nach dem Überqueren der Eisenbahnlinie begannen sie ihre Revolver abzufeuern. Fenster zerklirrten, Türfüllungen splitterten. Molly wimmerte leise. Sam trat aus der Deckung, hob den Revolver und feuerte. Luke war sicher, daß die Kugeln über die Köpfe er Reiter hinweggingen, aber immerhin war Sam Semple der erste, der das Feuer erwiderte, der erste, der sich der Gefahr entgegenstellte. Dann schossen auch die Männer des Marshals, und ein Reiter flog aus dem Sattel und wälzte sich im Dreck der Front Street. Luke entschlüpfte dem Arm seiner Mutter, verkroch sich hinter der Pferdetränke und spähte über den Rand. Er hielt nach Hobe Pepper Ausschau. Zwar konnte er den alten Mann nicht ausmachen, aber er sah Abe Lub45
beck, der seine Leute abschwenken und umkehren ließ, um einen neuen Angriff vorzubereiten. Diesmal kamen sie langsamer und hielten ihre Gewehre schußbereit, um genauer zielen zu können. Plötzlich erhob sich Luke, so unvermittelt, daß er fast in den Trog gefallen wäre. Er hatte Großvater Pepper gesehen. Es gab keinen Zweifel, das war sein langbeiniges Maultier, seine kleine, in Wildleder gekleidete Gestalt. Großvater ritt mit den Angreifern. Er bewegte sich inmitten der schreienden und schießenden Viehtreiber und hielt sich an den Flügel, wo Lubbeck ritt. Luke bemerkte, daß er gerade eine halbe Pferdelänge hinter Lubbeck ritt, der wie ein Stier brüllte und auf Fenster und Türen feuerte. Plötzlich kreischte irgendwo eine Frau auf. Hobe Pepper war jetzt neben Lubbeck. Er beugte sich tief über den Hals seines Maultiers, hielt die Sharps in der linken Hand und langte mit seiner rechten nach unten. Luke sah es genau, jede Einzelheit. Er sah, wie die kleine Hand Lubbecks Stiefelabsatz umfaßte und kräftig anhob. Er sah den großen, schweren Rancher keine zehn Schritte vom Wassertrog entfernt im Straßendreck landen und das Gewehr verlieren. Auch Hobe Pepper war aus dem Sattel geglitten und ließ das Maultier weiterlaufen. Marshal Long und seine Leute hatten ihr Feuer eingestellt und warteten. Die Cowboys ritten ein kleines Stück weiter, dann zügelten sie ihre Pferde. Offenbar vermißten sie die lauten Kommandos ihres Anführers. Luke sah Lubbecks Gewehr und holte es. Die Waffe war so schwer, daß er sie kaum 46
heben konnte, trotzdem gelang es ihm, den Lauf auf den Trogrand zu legen. Hobe Pepper griff Abe Lubbeck mit einer Hand unter die Achsel und hob ihn auf die Füße, was eine erstaunliche Kraftleistung für einen so kleinen Mann war. Luke sah ihn die kanonengleiche Mündung der Sharps in Lubbecks breiten Rücken stoßen, und dann hörte er die Stimme seines Großvaters, die so hell und durchdringend war wie der Wind in den Bergen. »Paß auf, Lubbeck. Das hier ist eine Sharps. Du weißt, was für ein Loch sie machen kann.« Lubbeck hustete. »Wer – wer bist du?« stammelte er und wand sich wie ein Wurm am Angelhaken. »Ich bin derjenige, der dir sagt, daß du deine Strolche zurückpfeifen sollst«, erklärte die gefährliche Stimme. »Ich bin Hobe Pepper, und ich werde mit dir und einer ganzen Armee texanischer Frauenmörder fertig. Möchtest du gern in zwei Hälften sterben, Lubbeck?« Die Reiter hatten jetzt alle angehalten. Der Anblick des breiten, massigen Texaners und des kleinen alten Mannes hinter ihm verwirrte und verblüffte sie. Sam trat mit vorgehaltenem Revolver auf die Straße hinaus. Der Marshal und die anderen Männer kamen von der gegenüberliegenden Seite und stellten sich den Reitern im Halbkreis gegenüber. Luke stand stolz auf und kam, ohne auf die ängstlichen Rufe seiner Mutter zu achten, hinter dem Trog hervor, den Finger am Abzug des Gewehrs. Lubbeck schien ein wenig zusammenzuschrumpfen. Er hob hilflos seine dicken Hände und sagte: »Er hat mich, Jungs. Seht ihr nicht, daß er mich hat?« 47
Sie hätten Hobe Pepper natürlich erschießen können – sie hatten genug Gewehre. Lubbeck und viele andere wären bei der Schießerei ums Leben gekommen, vielleicht auch Luke. Aber die Stimme des alten Mannes ließ ihnen keine Zeit, sich zu beraten. »Kriecht in eure Zelte zurück, Jungs. Singt eure Kälbchen in Schlaf. Besauft euch und erzählt euren Kindern und Enkeln, daß ihr Hobe Pepper gesehen habt, der keine Angst hatte und der nicht wollte, daß man seine Verwandten und Freunde einschüchtert. Sagt ihnen, daß ihr auf Frauen und Kinder geschossen habt, und daß Hobe Pepper euch in eure schmutzigen Decken zurückgescheucht hat. Jetzt macht euch fort, oder ich puste euren Boß in so viele Stücke, daß ihr sie nie wieder zusammenklauben könnt.« In einigen Häusern wurde Licht gemacht. Hier und dort öffneten sich Türen, und Leute kamen mit Waffen in den Händen heraus. Die Reiter begannen ernüchtert die Köpfe hängen zu lassen. Schließlich waren sie weder Banditen noch Killer, sondern nur junge Männer voll Abenteuerlust und Schnaps, angeführt von einem Mann, dessen haßerfüllte Gefühle sie kaum teilten. Sie wendeten ihre Pferde und ritten zurück über die Bahngeleise und die Brücke. Lubbeck blieb allein inmitten einer rasch anwachsenden Menschenmenge. Er fühlte Hobe Peppers Gewehrmündung im Rücken, drehte mühsam den Hals von rechts nach links, um zu sehen, wer ihn in Schach hielt und vermochte es doch nicht. Die Angst trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Luke empfand Mitleid für den Mann, der fürchtete, gelyncht zu werden. »Wenn ein Mann wie ein Bär herumläuft«, sagte Hobe Pepper, »wird er wie ein Bär behandelt. 48
Du hast dich verdammt stark gefühlt, Lubbeck. Wie ist dir jetzt zumute?« »Du kannst mich nicht in den Rücken schießen.« »Jemand anders kann es vielleicht nicht, aber Hobe Pepper kann.« »Marshal«, rief Lubbeck. »Das darfst du nicht zulassen!« »Wenn er es will, kann ich ihn kaum daran hindern«, erwiderte Long achselzuckend. »Er kann abdrücken, bevor ich meine Hand hebe.« »Du fragst den Marshal?« Der alte Mann lachte und trat einen Schritt zurück. »Du bettelst um seine Hilfe? Wie das? Vor einer Minute wolltest du ihn noch umbringen. Es ist ein Unterschied, nicht wahr, Lubbeck, wessen Ochse am Spieß steckt?« Marshal Long sagte: »Hör zu, Abe, er wird dich nicht umbringen, wenn du freiwillig mit zum Gefängnis gehst.« Abe Lubbeck drehte langsam den dicken Nacken und starrte Großvater Pepper mit einem Blick an, der Luke an den eines Ochsen erinnerte. Dann musterte er die schweigende, feindselige Menge und ließ sich mit hängendem Kopf vom Marshal abführen. Der Bann war gebrochen, die Leute atmeten auf und begannen zu sprechen und zu lachen. Luke sah, wie Lubbeck unter dem Spott der Stadt förmlich zusammensackte, und wieder fühlte er eine Regung von Mitleid, diesmal gemischt mit dem Widerwillen gegen jene, denen es nichts auszumachen schien, einem geschlagenen, hilflosen Mann den Hals umzudrehen. Er blickte auf das Gewehr, das schwer und bedrohlich in seinen Händen lag. Hobe Pepper kam und nahm es ihm weg. 49
»Das war für eine Nacht wohl doch ein bißchen viel für einen kleinen Jungen.« Er gab das Gewehr und die Sharps Sam Semple, und Molly kam herbei und umarmte Luke erleichtert. Sein Großvater zwinkerte ihm zu, dann wandte er sich an Molly und Sam. »Ich nehme an, ihr werdet jetzt bald heiraten, nicht?« »Morgen schon, wenn es ihr recht ist«, sagte Sam. »Es wird ihr recht sein. Die Sache mit den Leuten ist die, daß man ihre Angst ausnützen muß. Jeder hat Angst. Bei manchen, wie bei Lubbeck, sitzt sie ganz tief, und wenn sie einmal zum Vorschein kommt, macht sie sie ganz besonders klein und häßlich.« Jemand brachte das Maultier. Hobe Pepper nahm die Zügel und fuhr fort: »Was mich angeht, so konnte ich nicht mit ansehen, daß der Junge nach Texas verschleppt werden sollte, wo seine Angst vor diesem Lubbeck und seinen Krawallbrüdern nur noch größer geworden wäre.« »Du – du willst doch jetzt nicht gehen?« fragte Molly zaghaft. »Ich habe ein Stück Land in Südkalifornien, nicht weit von einer Stadt und ganz nahe am Ozean. Wenn du mich sehen willst, Junge, komm zu mir, reite durch die Berge und schaue dir das Land an. Wenn sich allerdings dort mehr Siedler niederlassen, ziehe ich weiter. Aber du brauchst bloß die Leute zu fragen, mein Junge, und du wirst den Weg zu Hobe Pepper finden.« Er zwinkerte Luke zu und stieg auf sein Maultier. »Städte muß es wohl geben. Der Traum konnte nie wahr werden. Lern mit den Menschen zu leben, Luke. Aber wenn du genug von ihnen hast, 50
dann komm und besuch deinen nichtsnutzigen Großvater.« Er ritt die Front Street hinunter und war nach wenigen Augenblicken verschwunden, ein kleiner alter Mann auf einem hochbeinigen Maultier. Für Luke aber konnte das Leben nie wieder so sein, wie es vorher gewesen war. Vielleicht werde ich noch oft Angst haben, dachte er. Aber nie wieder werde ich mich hilflos und verloren fühlen.
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Max Evans ist im Südwesten der Vereinigten Staaten geboren und aufgewachsen. Er arbeitete in vielerlei Berufen, unter anderem als Cowboy, Rancher, Bergmann und Verwalter. Bevor er die Schriftstellerei hauptberuflich ausübte, verdiente er sich seinen Lebensunterhalt als Maler von Ölbildern, die das moderne Ranchleben zum Inhalt hatten. Neben Western-Romanen schrieb er bisher zwei Filmdrehbücher. Er lebt in Taos, New Mexico.
Max Evans
Der ferne Ruf Sonderbarerweise verspürte Jim Tatum keine Müdigkeit, als es ihm unter großen Mühen gelungen war, seine kleine Viehherde den steilen und gewundenen Weg zum Plateau der Piney Mesa hinaufzutreiben. Sein Pferd stolperte vor Erschöpfung, aber Tatum hatte die Befriedigung, daß das fette Gras hier auf der Hochfläche seinen Tieren für den ganzen Sommer Nahrung im Überfluß bieten würde. Frances und ich, wir können uns freuen, daß wir dieses gute Weideland haben, dachte er. Wenn es jetzt noch mit dem Regen klappt und wir unten in der Ebene eine gute Heuernte bekommen – »Was ist das da drüben?« sagte er laut. »Ein Gewitter braut sich zusammen. Es wird Zeit, daß ich mich auf den Rückweg mache.« Damit wendete er seinen schwarzen Wallach und ritt vorsichtig den abschüssigen und zertrampelten Weg hinunter, der zwischen Gestrüpp, felsigen Rinnen und horstarti52
gen Ständen alter Schwarzkiefern verlief. Während er es seinem Pferd überließ, den richtigen Abstieg zu suchen, liefen seine Gedanken weiter: Wenn die ersehnten Juniregenfälle kämen, würden die verdorrten und leeren Weideflächen in der Ebene zu einem dichten grünen Grasteppich werden. Dann konnte er mehrere Wagenladungen Heu einbringen, und es blieb immer noch genug Winterweide übrig. Tatum erreichte die tieferen Hanglagen und kam durch einen lichten Wald aus Zedern und Pinien. Am Morgen hatte er noch Kaninchen beobachtet, die durch das Unterholz davonflitzten; Blauhäher hatten ihn ausgescholten, und eine Elster hatte ihn mit ihrem rauhen Gekrächz begrüßt. Nun war alles still. Ein merkwürdiges, drückendes Schweigen lag über den weiten, sonnendurchglühten Hängen. Tatum spähte über die Ebene hinaus, wo mehrere Meilen entfernt sein Haus stand. Er konnte den Rauch aus Frances’ altem Eisenherd sehen. Er stieg nicht in die Höhe, sondern stand dicht über dem Boden; ein gutes Anzeichen für Regen. Seine Frau würde sich genau so wie er über die Feuchtigkeit freuen. Lange magere Jahre hatte sie an seiner Seite ausgehalten, Dürreperioden, Rückschläge aller Art hatten sie betroffen. Er blickte zum Himmel empor. Die Wolken waren jetzt doppelt so groß und viel näher als zuvor. Sie waren voll Wasser! Dieser Regen würde das Land für den ganzen Sommer fruchtbar machen. Ein paar Gewitterschauer im August, und seine Sorgen wären für dieses Jahr vorbei. Er könnte die Rechnungen bezahlen. Er wäre ein gemachter Mann! 53
Mit Ungeduld wartete er auf den Tag, an dem Billy ihm bei der Rancharbeit helfen könnte. Lange würde es nicht mehr dauern. Mit seinen sechs Jahren konnte der Junge schon reiten, aber die Anstrengungen eines Viehtriebs hielt er doch noch nicht aus. Jackie war erst drei und mußte noch lange in der Obhut seiner Mutter bleiben. Tatum fühlte den Wind und sah die Baumwipfel schwanken. Er drückte sich den Hut fester auf den Kopf und bemerkte, daß die Ebene weit unter ihm bereits im Schatten der Wolken lag, die sich rasch über den ganzen Himmel verbreiteten. »Wir werden nasser werden als bei einer Taufe, Nig«, sagte Tatum zu seinem schwarzen Wallach. »In drei Minuten wird es junge Hunde regnen. Hoffentlich denkt Frances daran, das Windrad abzustellen!« Die lange Mähne des Pferdes wurde vom Wind hin und her bewegt. Die Wolkenränder wirkten jetzt wie ausgefranst und schoben sich übereinander. Der Wind wurde immer heftiger und zerrte an Tatums Kleidern. Es war, als füllte sich die Luft mit unheimlichem Sausen und Brüllen. »Es sieht schlecht aus«, sagte Tatum grimmig. »Nig, alter Junge, wir sollten uns beeilen. Das könnte ein Wirbelsturm werden.« Während er das Pferd mit aufmunternden Rufen hangabwärts zum Fuß der Mesa trieb, sah er aus den schwarzen Wolken den trichterförmigen Schlauch einer Windhose erscheinen, wieder hochgehen und noch einmal zustoßen. Er erreichte noch nicht die Erde, aber nun wurde das Licht zusehends fahler, und Blitze zuckten von einem Horizont zum anderen. 54
»Hoffentlich stellt Frances das Windrad ab und löscht das Herdfeuer. Ein Hurrikan kann das Haus niederbrennen, selbst wenn er es nicht wegbläst.« Eine schwarze Zunge schnellte vom Himmel herunter und leckte über die Erde. Trotz des nun einsetzenden Regens sah Tatum die gelben Staubwolken dort hochsteigen, wo sie über die Erde gefegt waren. Donner und Blitze folgten rasch aufeinander, bis das Land in einer beständigen, weißlich flackernden Beleuchtung dalag und das bedrohliche Grollen nicht mehr abriß. »Hoffentlich hat Frances die Kinder in den Keller gebracht.« Der Wind drückte das Pferd zur Seite und hätte Tatum beinahe aus dem Sattel gerissen. Blaugraue Regenvorhänge senkten sich wie lange Schleppen von den schwärzlichen Wolken, während der Sturm zwischen Tatum und seiner Ranch durchzog. »Nig, hoffentlich denkt Frances daran, Fleisch, Mehl und ein paar Kleider in den Keller zu schaffen. Und ein paar Lampen und Petroleum. Mir scheint, der Keller wird unser neues Heim werden, Nig.« Acht schwerer Jahre voller Entbehrungen und Plackerei hatte es bedurft, um die kleine Ranch dahin zu bringen, wo sie jetzt war. Erst im vergangenen Jahr hatten sie die letzten Raten für die Windpumpe bezahlt. Frances und er hatten sich abgerackert wie ein Paar Zugpferde. Tatum verjagte den Gedanken an ihr weiches braunes Haar, ihre Augen, ihre zärtliche Stimme, ihre geduldige Fürsorge für die Kleinen und ihn, ihre Liebe. Er mußte an andere Dinge denken. 55
»Mann, wenn das Windrad entzweiginge … Die Pumpe erspart uns soviel Arbeit.« Sie hatten die Windpumpe erst seit drei Jahren. Vorher hatten sie alles Wasser zum Trinken, Waschen und für die Milchkuh von einer Quelle vier Meilen im Osten heranschleppen müssen. Heute schien es Tatum, als hätte er damals fast die ganze Zeit mit Wasserholen verbracht. Aber in diesen letzten drei Jahren hatte er die Ranch ausgebaut. Er hatte einen Gemüsegarten angelegt, neue Pferche mit Wassertrögen errichtet, und das Hausdach war abgedichtet und leckte nicht mehr, wenn es regnete. Was für ein Tag war es gewesen, als der Brunnenbauer ihm gesagt hatte: »Du sitzt auf einem schönen Grundwasservorkommen, Jim. Dein Brunnen wird nie austrocknen.« Ein noch größerer Freudentag war es gewesen, als die Arbeiter über der Bohrstelle das Eisengerüst aufgerichtet hatten und das schimmernde neue Windrad anschraubten. Leitungen und Pumpe waren schon fertig, der Wind begann die Radflügel zu drehen und das Wasser lief in einem klaren, süßen, fast armdicken Strahl in den gemauerten Behälter. Und je stärker der Wind blies, desto mehr Wasser lieferte der Brunnen. Aber nun sah es so aus, als wollte der lebenspendende Wind alles mit sich fortreißen. Die Windhose tauchte aus der brodelnden Schwärze herunter und blieb unten. Sie riß das Gras aus dem Boden, fegte Staub, Zweige, Insekten und alles Leben in ihrer Bahn zusammen und wirbelte es hoch und immer höher. Alles was Tatum besaß, alles was er je besitzen würde, war dort unten in der Ebene. Hilflos mußte er nun zusehen, wie der unheimliche Trichterschlauch über das Land zog, wo 56
sein Haus und seine Familie waren. Er schrie Instruktionen für seine Frau in den Wind, obwohl er wußte, daß sie ihn nicht hören konnte. Aber wenn er dabei an sie dachte, wenn er fest und intensiv an sie dachte, könnte sie ihn vielleicht hören. Sie würde es fühlen. »Nig! Schneller, Nig!« Tatum gab dem keuchenden Tier die Sporen, und es streckte sich mit letzter Kraft. Einmal strauchelte es und ging in die Knie. Tatum riß die Zügel zurück, das Pferd kam wieder hoch, brachte die letzten Ausläufer der Geröllfelder hinter sich und jagte über die Ebene in den Sturm hinein. Der Wind und der rauschende Regen, der Donner und die pausenlos knatternden Blitze, das Pferd und sein Reiter, alle waren eins. Tatum riß sich den Hut vom Kopf und stopfte ihn unter seine Jacke. Ein guter Hut kostete viel Geld. Er fühlte das Pferd unter sich, spürte, wie es immer wieder vom Sturm aus der Richtung gedrängt wurde und sich von neuem gegen den Wind warf. Tatums Augen waren mit aufgewirbeltem Dreck verklebt, so daß ihm nichts anderes übrig blieb, als die brennenden Lider fest zu schließen und an Zügel und Sattelknopf geklammert blind weiterzureiten. Zweige, kleine Steine und andere, vom Wind hochgewirbelte Gegenstände prasselten gegen seinen Körper. Ein mächtiges Vakuum sog und zerrte an Reiter und Pferd, wollte ihnen die Luft aus den Lungen pressen. »Wenn sie doch nur daran denkt, die Windpumpe abzustellen!« Seine Brust schien wie von Eisenbändern eingeschnürt. »Frances!« rief er in verzweifelter Angst. »Geh in den Keller! Bring die Kinder in den Keller!« Er merkte nicht, daß er die Worte heulte, daß auf seinen Wangen sich 57
Tränen mit Regenwasser und Schmutz vermengten. Für eine kleine Ewigkeit fühlte er nichts und sah nichts. Die Schwärze war dunkler als jede Nacht. Vielleicht schwebten sie hoch oben in den Sturmwolken und würden mit dem Nachlassen des Orkans auf die zerrissene, kahlgefegte Erde hinunterstürzen? Wenn er überhaupt jemals wieder nachließ … Irgend etwas änderte sich. Er konnte seine eigene Stimme wieder hören, die wie von selbst Stoßgebete und Beschwörungen an seine Frau schrie. Lauter rief er: »Frances, Billy, Jackie!« und seine Stimme wurde immer deutlicher. Schließlich konnte er die regendurchtränkte Erde sehen. Der Wind ließ nach, und er sah, wie Nigs flatternde Mähne zu beiden Seiten des Pferdehalses herunterfiel. Jetzt wußte er, daß der Sturm vorüber war. Die Erde war schlüpfrig und schlammig, er selbst durchnäßt und bis auf die Knochen ausgekühlt. Das Wasser rann ihm in Bächen aus dem strähnigen Haar in Augen und Mund. Die Sicht wurde schnell besser, der Himmel begann sich aufzuklären. Zuerst sah er die Scheune; sie stand noch! Aber wo waren die Pferche mit der Unterstandshütte? Sie waren verschwunden. Er trieb das taumelnde Pferd vorwärts. Das Haus war noch da! Und Frances stand auf der Kellertreppe vor der offenen Tür. Er ließ sich aus dem Sattel fallen und lief die letzten Meter zu Fuß. Dann hielt er sie lange schweigend in den Armen. »Die Kinder?« fragte er endlich. »Sie sind noch im Keller. Ich habe ihnen erzählt, das sei ein neues Spiel. Es war der größte Spaß, den sie seit langem hatten.« 58
Tatum stolperte die Kellertreppe hinunter. »Pappi, schau her!« rief Jackie. »Ich habe einen Frosch!« »Aber die Hälfte von ihm gehört mir«, sagte Billy. Seine großen braunen Augen glänzten im Licht der Petroleumlampe. »Können wir hier unten bleiben und spielen, Pappi?« »Ja, mein Junge. Du darfst hier bleiben, solange du willst.« Tatum sah das Gewehr, die Konservendosen, das Fleisch und die Kleider, die Frances in den Keller geschafft hatte. Langsam und nachdenklich stieg er die Treppe hinauf. Viel hatte nicht gefehlt. Nur die Pferche waren zerstört. Hatte Frances seinen fernen Ruf gehört? Als er das Windrad stillstehen sah, glaubte er daran.
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Ann Ahlswede entstammt einer alten Pionierfamilie, die um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts New York verließ, auf einem Frachtboot den Ohio abwärts fuhr, in den Jahren des Goldrausches in den Westen verschlagen wurde und später im Bürgerkrieg kämpfte. Schon in früher Jugend interessierte sie sich für amerikanische Geschichte, besonders für die Periode der Landnahme im Westen. Von ihren Büchern haben »Day of the Hunter«, »Hunting Wolf« und »The Savage Land« größere Verbreitung und Beachtung gefunden.
Ann Ahlswede
Das Duell Er kam mit einer einzigen Sehnsucht im Herzen aus dem großen Krieg zurück. Er war so müde wie jeder andere Soldat der konföderierten Armeen, und er wollte für immer alle jene schrecklichen Methoden vergessen, die die Menschen ersonnen hatten, um einander zu töten. Nach seiner langen und beschwerlichen Reise wünschte sich Cullen Brace nichts als Frieden und Ruhe. Er ging auf einer Straße, wo er jede Krümmung, jeden Seitenpfad und jeden Hauseingang kannte, und der Staub war fein wie immer, und die Echos klangen wie ferne, schwache Musik zum geisterhaften Fall von Konfetti, zum Lachen der jungen Mädchen und Kinder und zum Knirschen der Erde unter den Stiefeln der ausziehenden Soldaten: Wir sind eine Schar von Brüdern, 60
dem Boden der Heimat entwachsen … In der Erinnerung hörte er seine eigene Stimme, kräftig und voll in der Überzeugung, für die gute Sache in den Kampf zu ziehen. Und in der nach Grün duftenden Dunkelheit der letzten Nacht vor seinem Abmarsch hatte er, Cullen Brace, Rachel in den Armen gehalten und ihr zugeflüstert: »Du wirst es sehen! Ich werde zurückkommen, wenn alles vorbei ist. Kein Yankee wird Cullen Brace töten!« Sein ganzer Körper hatte ihm unter dem plötzlichen Gewicht der Liebe und des Abschieds weh getan; und auch unter der Last der Verwundbarkeit und Sterblichkeit, als hätte er bereits gewußt, was es hieß: im Gefecht zu sterben. Voll Inbrunst hatte er ihr zugeflüstert: »Ich werde wiederkommen!« Und er war gekommen, aber ganz und gar nicht so, wie er es mit ihr zusammen erträumt hatte. Seine alten Stiefel schlurften im unbeholfenen Schrittmaß eines am Bein verwundeten Soldaten durch den Staub, und in seinem mageren, gealterten Gesicht regte sich nichts. Er blieb stehen und verharrte barhäuptig am Straßenrand. Das Sonnenlicht drang durch die Zweige eines Maulbeerbaums wie durch einen Filter. Um ihn war der Geruch von Staub und der papierene Duft der Blätter. Wieder glaubte er aus der Ferne der versunkenen Zeit die Echos herüberklingen zu hören: … eine Schar von Brüdern. Ein Hund bellte. Cullen wandte den Kopf und befreite sich von der wehmütigen Erinnerung, um in sich aufzunehmen, wonach er sich so lange gesehnt hatte; alle diese Eindrücke, die seine Augen und Ohren bedrängten – die 61
purpurnen Blüten des Jacarandabaums vor dem Eisenwarengeschäft; die Weidengebüsche am Flußübergang; die trägen Hunde in den Schatten der Häuser, eine Frauenstimme, die nach einem Kind rief. Die Trägheit eines heißen Frühsommertages teilte sich ihm wieder mit, und aus der Taverne gegenüber sickerte das wohlbekannte Duftgemisch aus Bier, Rauch, Kaffee und altem, trockenem Holz. Über seinem Kopf hingen die jungen Früchte des Maulbeerbaums an milchiggrünen Stielen, leicht verfärbt von der beginnenden Reife, und zu seinen Füßen flogen Bienen um die bescheidenen Kelche blühenden Unkrauts. Er bürstete mit den Händen Staub von seiner zerlumpten Uniform und wartete darauf, daß die Empfindung von ihm Besitz ergriff: der Kampf sei nun endlich vorüber, er sei nach Hause zurückgekehrt. Er war zu Fuß von Missouri durch Arkansas und bis zu diesem kleinen Nest am Fluß gegangen. Vorher war er von Texas nach Norden geritten, als er dort nach der Sache in Bonham nur mit knapper Not dem Tod entgangen war. Aber er war noch immer am Leben, was er wie jeder andere, der den Krieg überstanden hatte, mehr dem Zufall verdankte als eigener Geschicklichkeit. Und nun war er zu Hause. Er richtete sich auf, bereit, immer im Bewußtsein seiner Gehbehinderung. Eines Tages würde er sich daran gewöhnen, es vergessen. Noch war es schwer, sich damit abzufinden. Manchmal träumte er sogar noch davon, schnell laufen zu können. Die Pistole, die er am Morgen in den Gürtel gesteckt hatte, drückte. Die plötzlich in ihm aufsteigende Welle des Ekels war so stark, so überwältigend, daß er die Waffe aus 62
dem Gürtel riß. Ein häßliches Ding, das Tod, Leid und Zerstörung in sich barg. Sie stand für alles, was er vergessen wollte; für alles, was ihm den Schlaf raubte. Es mußte endlich eine Zeit kommen, wo die Menschen ohne solche todbringende Waffen umhergingen. Er blickte umher, bemerkte die Astgabel und legte die Pistole dort hinauf, wo Blätter und Früchte sie verbargen. Sollte sie dort rosten und vergessen werden. Eine alte Frau mühte sich über die Straße, ihm entgegen. Er begann zu lächeln, wußte er doch nicht, ob sie ihn wiedererkennen würde, aber sie ging vorbei, ohne aufzusehen, einen Beutel an ihre Brust gedrückt. Wurzeln und Grünzeug vom Flußufer, von den Sumpfwiesen, dachte er mit einer raschen Aufwallung von Mitleid. Nahrung für hungrige Menschen ohne Zuflucht; die armseligen Knollen der Erde für die Alten, die Besitzlosen und Leidenden. Ihre trüben Augen starrten stumpf und geistesabwesend vor sich hin. Er ging weiter und blieb wieder stehen, als zwei Jungen vorbeirannten und ihn anstießen. Er hielt sich an einem Gartenzaun fest, um nicht hinzufallen, und blickte ihnen nach, sah ihre schnellen Beine, die selbstgemachten Angeln, die sie zum Fluß trugen. Andere folgten ihnen, und keiner bemerkte ihn in seinen alten Kleidern und mit seinem Heißhunger, denn immer noch wanderten Tausende wie er über die staubigen Straßen, alte junge Männer mit dem gleichen Ausdruck in ihren Gesichtern. Er wollte sagen: Ich bin daheim. Hier gehöre ich hin. Aber er ging weiter in den Schatten der Taverne und schämte sich soviel versteckter Freude. Die schattige Stille des Raums hüllte ihn besänftigend 63
ein. Winzige Staubteilchen schwebten im Licht, das durch die offene Tür hereinfiel. Langsam hinkte er an die Theke und blieb stehen. Er griff in seine schmierige Tasche und suchte nach der letzten Münze, die er für diesen Augenblick aufbewahrt hatte. Ein festlicher Augenblick, ein großer Triumph. Ich bin zu Hause. »Bier!« sagte er, und die Münze klingelte hell auf die Theke. »Bist du nicht der junge Cullen Brace?« fragte der Wirt. »Witwe Braces Junge?« »Der bin ich«, antwortete Cullen. Er erkannte diesen Mann nicht, der einen Arm verloren hatte, aber er lächelte, weil dieser Mann ihn wiedererkannt hatte. »Kannst du dich gar nicht mehr an den alten Ed Zoel erinnern, Junge?« »Zoel?« wiederholte Cullen. Dann begann er zu lachen und sah, wie die gleiche Heiterkeit Ed Zoels Mund zu einem Grinsen verzog. »Ed Zoel«, sagte Cullen sinnend, denn in all den Jahren hatte er nicht an Ed Zoel gedacht, und nun war er zurück, und auch Ed Zoel war zurück. »Jawoll, Sir«, antwortete Zoel triumphierend. »Ich bin es, und kein anderer. Auch ich habe es geschafft.« Aus einer entlegenen Ecke des Raums, wo zwei alte Männer in stillem Kampf über einem Schachbrett saßen, kamen Seufzer und ein Räuspern. Cullen wandte den Kopf und sah gebeugte Rücken, weißes, flaumiges Haar und verwitterte Hände, die die Figuren so vorsichtig und fast ängstlich berührten, daß Leben und Tod über dem Spiel zu schweben schienen. 64
Cullen kehrte ihnen wieder den Rücken zu, er war plötzlich verärgert. Es war, als blickte man in einen Raum, der ein Jahrhundert vom Leben abgeschlossen war, als sähe man in einen angelaufenen und erblindeten Spiegel. In einer plötzlichen Aufwallung von Bitterkeit haßte er die alten Männer, weil sie so furchtbar unansprechbar mitten im Leben hockten. Er, Cullen Brace, hatte gekämpft, um nach Hause zu kommen. Er hatte geblutet, er wollte sich nicht in den alten Männern wiedererkennen. Er konnte nicht glauben, daß das Leben in solchen Pastelltönen gemalt war. Für ihn und die anderen, die gelitten hatten, um weiteratmen zu können, konnte die Zeit niemals etwas so Bedeutungsloses werden, bei Gott, nein. Er seufzte und gab sich selbst den Rat, sein Bier zu trinken und den Rest zu vergessen. Aber dann dachte er an Ed Zoel, der einen Arm verloren hatte. Hatte er nicht früher einmal in Jacksons Schmiede gearbeitet und Cullens Pferd beschlagen? Das war jetzt vorbei, er konnte diesen Beruf nicht wieder ausüben. Und warum mußte die alte Frau die Wiesen und Felder durchstreifen und sich ihre Nahrung aus der Erde graben? War niemand übriggeblieben, der sich um sie kümmerte? Das Bild seiner eigenen Mutter kam ihm in den Sinn. Er stellte sich vor, wie auch sie bis zu ihrem Tod die Erde nach Wurzeln und Knollen durchwühlt haben mochte. Denk an schönere Dinge, sagte er sich. Vergiß alles das und denk an etwas Gutes, etwas Friedliches. Geh an den Fluß und wasch dich in seinem grünen Wasser, wasch den Gestank des Krieges von deinem Körper. Erinnerst du dich 65
nicht, daß du einmal eine Angelrute hattest und barfuß im Uferschlamm herumgepatscht bist, sorglos und froh? »Die Zeiten haben sich geändert«, sagte Ed Zoel. Er schob ein Bierglas unter den Stumpf seines rechten Armes und klemmte es dort fest, während er es mit der Linken abtrocknete. Dabei legte er den Kopf in den Nacken und betrachtete die Deckenbalken, wo staubige Spinnweben reglos in der heißen Luft hingen. »Jawoll, Sir, alles ändert sich.« Eine Bewegung des Lichts und der Luft sagte Cullen, daß jemand die Taverne betreten hatte. Er trank sein Bier und dachte an den heißen Nachmittag und den Fluß, an die grünen Uferstreifen und das sanft dahinfließende Wasser; er dachte an die Jungen, die dort im Sommerdunst angelten. »Du bist heute früh dran«, sagte Ed Zoel. »Ist ja gleich«, antwortete die Stimme einer Frau. Sie ging um das Ende der Theke herum und nahm einen Schal von den Schultern, die in der dämmerigen Beleuchtung kalkweiß wirkten. Sie trug ein verblaßtes Satinkleid, auf dem das Licht bei jeder Bewegung ihres Körpers spielte. Ihr Haar war von einem stumpfen Rostrot. Cullen wandte den Kopf, sah ihr Haar und ihr Gesicht, und erschrak: »Rachel?« Ihre Locken flogen, als sie sich mit einem Lächeln auf den Lippen umwandte. Aber das Lächeln gefror, als sie ihn wiedererkannte. Sie schien vor seinem Blick zusammenzuschrumpfen, bis der lavendelblaue Satin lose über ihre kleinen Brüste hing und die schwarzen Strümpfe über ihren Knien Falten bildeten. 66
»Sieh mal, wer da gekommen ist, Rae«, sagte Ed Zoel. Cullen richtete sich vor der Theke auf und reckte sich in die Höhe, um sein verkrüppeltes Bein vergessen zu machen. Trotzdem fühlte er sich nicht groß genug, nicht so groß und gerade, wie er einmal gewesen war. Aber während er wartete, daß sie das erste Wort sagte, während die Erregung wuchs, sah er ihr Kleid und begriff, was es bedeutete. Blut schoß ihm dunkel ins Gesicht, als er fragte »Wozu trägst du dieses Zeug?« Rachel Danton richtete sich etwas auf. Die Stille vertiefte sich zwischen ihnen, wie sie in ihrem häßlichen und auffallenden Kleid dastand und Cullen Brace anfunkelte, als hielte sie sich für etwas Besonderes und Wunderbares. Dann öffneten sich ihre Lippen, rote Lippen, die er geküßt hatte, als sie noch rosa gewesen waren. »Nun, so ist der große Kriegsheld also doch noch nach Hause gekommen. Wer hätte das gedacht!« Ihre hohen Absätze klapperten über den Boden, als sie näherkam. Ihre Augen schimmerten wie Juwelen im gnädigen Dämmerlicht, das ihr weißes Gesicht glatt und verlockend erscheinen ließ. »Wer hätte das gedacht!« rief sie noch einmal, als wollte sie die ganze Welt an ihrem Erstaunen teilhaben lassen. »Cullen Brace ist wieder nach Hause gekommen, wie ein armes verlorenes Schäfchen!« »Ich sehe, du hast nicht auf mich gewartet, Rachel Danton.« »Gewartet?« rief sie verwundert. »Was bildest du dir ein?« Ein Unterton von Verzweiflung trat in ihre Stimme. »Hätte ich ewig warten sollen, als hätte ich tausend Jahre zu leben, Cullen Brace? Warten, während ich alles verlor, 67
was ich jemals hatte, hungrig herumlaufen mußte und …« Sie brach ab und wandte sich unvermittelt von ihm ab, als zwei Männer in die Taverne kamen und an die Theke traten. Die Alten in der Ecke grübelten über ihrem Spiel. Ed Zoel servierte seinen Kunden Bier und ließ den Blick ziellos durch den Raum schweifen. Bittere Gedanken bewegten Cullen. Es war das mindeste, was eine Frau tun konnte, während ihr Mann fort war. Das mindeste: einfach warten. Sonst nichts. Aber, wie hatte sie gesagt, wer konnte ewig warten. Als hätten sie alle tausend Jahre zu leben, als gäbe es keinen Grund zur Eile? Als hätte er sich nicht selbst geändert und Dinge getan, deren er sich schämte? O Gott, ja! Dinge, deren er sich schämte. Also gut. Er mußte ihr sagen, daß er alles dies verstehen wollte; er wollte verstehen und alle übrigen Dinge vergessen – alles in der Welt, außer Rachel Danton und Cullen Brace und das, was sie einst verbunden hatte. »Oh, du rechtschaffener Mann«, klagte sie ihn flüsternd an. Sie beugte sich über die Theke. Ihre Gesichter waren nahe beisammen, und er vergaß alles, was er ihr sagen wollte, alle hoffnungsvollen und zärtlichen Worte, denn ihre spröde Stimme verfolgte ihn gnadenlos. »Du Heiliger! Du unschuldiger Junge! Deine Mutter ist tot, weißt du das? Weißt du, daß sie ganz allein auf der Farm gestorben ist, wie eine arme alte Kreatur, die niemanden hat, der sich um sie kümmert? Und das Land ist jetzt fort …« »Rachel«, fing er an, und das Bild seiner Mutter kehrte wieder, gemalt mit den Farben der Armut und der Verlassenheit. 68
»Nein, ich will, daß du mir wenigstens dieses eine Mal zuhörst, Cullen Brace!« rief Rachel. »Ich weiß, daß sie tot ist.« »Du weißt noch lange nicht alles, du –« »Laß das, bitte. Ich weiß, daß sie nicht mehr lebt.« »Aber du kommst zu spät, zu spät für sie, zu spät für mich, für alles zu spät!« »Sie starb, bevor der Krieg zu Ende war, und ich erfuhr es erst sechs Monate später!« Die Ungerechtigkeit ihrer Anklage trieb ihm das Blut ins Gesicht. »Selbst wenn ich am gleichen Tag losgelaufen wäre, an dem Lee kapitulierte, hätte ich sie nicht mehr zum Leben erwecken können, Rachel Danton!« »Ein Jahr ist seitdem vergangen, ein ganzes Jahr! Und ich stand in der Tür und wartete und suchte dich unter den anderen, die die Straße entlang kamen, aber du warst nicht dabei, du bist nicht gekommen!« »Ich konnte nicht zurück …« »Warum nicht?« Sie schleuderte ihm die Worte voll Triumph entgegen. »Weil du sengend und mordend mit diesem Quantrill durch das Land gezogen bist? Oh, du brauchst kein so überraschtes Gesicht zu machen, Cullen Brace. Wir haben davon gehört. Ist das der Grund, warum du nicht eher heimgekommen bist, tapferer Soldat?« Er merkte, daß die anderen im Raum auf jedes Wort lauschten. Er wußte, wie es in ihren Ohren klingen mußte, jetzt, nachdem alles vorüber war und man leicht zurückblicken und urteilen konnte; denn wenn Quantrills Name früher einmal Ruhm und Glanz ausgestrahlt hatte, so war diese Aura doch längst erloschen und hatte sich in die Vorstel69
lung von den Schlächtereien eines Mannes verwandelt, den die Konföderierten nicht mit einem Offizierspatent ehren wollten, der den Krieg zu einer persönlichen Vendetta gemacht hatte, die in Lawrence, Kansas, begann, 1863 in Baxter Springs einen Höhepunkt erreichte und in Bonham, Texas, in einem letzten Aufbegehren endete, das nur noch dem Namen nach zum Krieg der Soldaten gezählt werden konnte. Oh, ja, es gab Dinge, deren sich Cullen Brace schämte. »Sieh dich an!« Rachels Stimme drang durch seine düsteren Erinnerungen. Ihr Blick musterte ihn, suchte vergeblich nach der Frische und Helligkeit, die ihm einmal eigen gewesen waren. »Sieh mich an!« Sie streckte ihren Arm in einer Geste der Hoffnungslosigkeit aus. »Sieh dich um – sieh dir alles an!« Am Ende der Theke polierte Ed Zoel ein Glas und blickte zu den Deckenbalken auf. Die alten Männer hielten in ihrem Spiel inne, verständnislos und verwirrt, und die beiden Gäste, die unvermutet Zeugen dieser Szene geworden waren, tranken ihre Gläser leer und gingen hinaus. »Aber der Krieg ist vorbei«, sagte Cullen Brace zu Rachel. Er sprach diese bedeutungsvollen Worte, die er in seinem Herzen gehegt hatte, wie die höchste der Hoffnungen aus: »Der Kampf ist zu Ende«. Rachel lachte. »Man braucht keine Waffen mehr zu tragen«, beharrte er hartnäckig, weil er nicht an ihren Unglauben glauben wollte. »Das braucht man nicht?« konterte sie. »Denkst du das wirklich?« 70
»Ja, das denke ich. Weil es so ist.« »Du und deine Träume. Träume können die Dinge nicht anders machen als sie sind. Dreck läßt sich nicht in Träume verwandeln.« Er preßte seine Lippen zusammen, sein Gesicht nahm einen leidenden Ausdruck an. »Du glaubst, ich weiß nicht, was Wirklichkeit ist? Vielleicht stimmt es gar nicht, daß mir nur ein halbes Bein übriggeblieben ist? Vielleicht ist das auch bloß ein Traum?« »Ein halbes –«, stammelte sie. Für einen Augenblick sah sie unter ihrer Maske von Schminke kindlich jung und verwundbar aus. Ihre Augen wurden rund und feucht. »Davon hast du nichts gesagt … lieber Gott, nein, davon wußte ich nichts.« Er nahm ihre Hand, und sein Gesicht leuchtete auf. »Oh, so schlimm sollte es nicht klingen. Das Bein ist nicht weg, es ist nur lahm. Es macht mich manchmal verrückt.« Sie blickte ihm forschend ins Gesicht. Ihre Augen schwammen in Tränen. »Du bist so mager.« Ihre Hand lag fest und warm in der seinen. Er wartete, und alle Härte, alles Gealterte wich aus seinen Zügen. »Du sagst, es sei vorbei«, murmelte sie, und Tränen rannen über ihre Wangen. Der Kampf um ihre Beherrschung machte ihre Lippen spröde. »Dann mach es mich glauben. Mach, daß ich auch daran glaube.« Die Türöffnung der Schenke verdunkelte sich plötzlich. Rachel blickte an Cullens Schulter vorbei, und auf einmal wurde ihr Gesicht wieder hart und maskenhaft. »Oh, nein, Cullen Brace. Nein, es ist einfach nicht so!« Ärgerlich entzog sie ihm ihre Hand. 71
»Warum?« fragte er. »Warum ist es nicht so?« Sie lachte wieder. »Weil man nichts ungeschehen machen kann. Und weil hier Tooley Jackson kommt, um dich niederzuschießen.« Tooley Jackson war ein großer starker Mann in der Blüte seiner Jahre. Sein Haar war von vorzeitig ergrauten Strähnen durchzogen. Tiefe Linien vergangenen Kummers machten sein Gesicht beinahe häßlich, so offen lagen sie für jedermann zutage, der sie sehen wollte. Sein Mund war breit und fest, und seine dunklen Augen brannten fanatisch. Er stand im Eingang, das Nachmittagslicht hell hinter sich, und starrte Cullen unverwandt an, während es in der Taverne still wurde. »Ich suche einen Burschen, der sich Cullen soundso nennt«, sagte Tooley Jackson. »Bist du das?« Cullen sah sich unschlüssig um. Er runzelte die Stirn, denn Rachels Worte erschienen ihm sinnlos. »Ja«, antwortete er. »So heiße ich.« »Bist du der Mann, der mit Will Quantrill geritten ist?« Cullen spürte eine Kälte im Magen. Er blickte wieder zu den anderen und fragte sich, was das alles bedeuten sollte. Er sah, daß sich der Raum mit Leuten zu füllen begann, Menschen, die er sein ganzes Leben gekannt hatte, aber er hörte nicht ein Grußwort, sah kein Lächeln des Wiedererkennens. Er zögerte, verwirrt von dieser Feindseligkeit. »Nun?« fragte Jackson ruhig. Cullen blickte zu Rachel. »Ja«, sagte er dann. »Ich bin mit ihm geritten.« 72
Etwas wie ein krampfhaftes Zucken überlief Tooley Jacksons Gesicht. »Du bist also einer von diesen Plünderern und Mördern gewesen, die sich irreguläre Streitkräfte genannt haben?« »Nein, ich war Soldat«, erwiderte Cullen schnell. »Dann bist du also einer von diesen loyalen Jungen, die ihre eigenen Parteigänger aus Geldgier und zum Vergnügen beraubt und ermordet haben?« Tooley Jacksons Stimme wurde mit jedem Atemzug lauter und überdröhnte Cullens Antwort. »Nein, hör doch zu …« »Du warst einer von den vierhundert, die in Kansas gebrannt und gemordet haben?« »Nein!« »Die die Stadt Lawrence geplündert und jeden Mann dort massakriert haben?« »Ich war nicht in Lawrence dabei, ich bin erst später eingetreten!« »Du bist mit Will Quantrill geritten!« brüllte Tooley Jackson. »Stimmt’s?« »Ja, das stimmt. Aber ich war nie in Lawrence.« »Du bist mit ihm geritten!« Cullens Mund war trocken. Er riß seinen Blick von Jackson los und sah die anderen an. Er blickte in Ed Zoels leeres Gesicht und zu den beiden Alten hinüber, die ihr Spiel unterbrochen hatten und verständnislos mit offenen Mündern herübergafften. Er sah die kleinen Jungen sich durch die Menge drängen, die einen Halbkreis um ihn zu schließen begann. Er sah Rachel und alle die anderen, die ihn beobachteten und zuhörten. 73
Er fühlte den Drang, gehört zu werden, ihnen alles zu erklären: »Hört zu … hört mich doch nur an! Ich war bei dem Überfall auf Lawrence nicht dabei, mein Gott, nein. Ich war Soldat. Als wir Helena in Arkansas angriffen, wurde ich am Bein verwundet. Das war im Juli dreiundsechzig.« Die Worte sprudelten aus ihm hervor, versuchten, diese Leute und diesen, großen, verbitterten Mann zu erreichen. »Sie wollten mir damals das Bein abnehmen, aber ich sagte nein, das käme nicht in Frage, und dann sagten sie mir, wenn ich nicht daran stürbe, wäre ich nach meiner Heilung sowieso mit dem Krieg fertig.« Er fühlte ihre Blicke auf seinem Bein, spürte förmlich, wie sie ihm am liebsten das Hosenbein aufgeschlitzt hätten, um die langen, häßlichen Narben zu sehen. »Der Krieg dauerte aber noch an«, erklärte er beschwörend. »Nur konnte ich nicht mehr mitkämpfen, und es gab nichts anderes als Kampf. Nur Kampf und die Angst, getötet oder von einer verdämmten Granate zerrissen zu werden oder in Gefangenschaft zu geraten und im Lager von Rock Island zu verhungern. Oder zu verlieren, als hätten wir nicht gekämpft.« Er machte eine Pause, atemlos, weil das so furchtbar wichtig war. Sie mußten verstehen, was es hieß, nutzlos dazusitzen, wenn einem das Herz für eine Sache brannte. Hatten sie es denn vergessen? Hatten sie nie den Zorn der Niederlage gefühlt? »Ich war wie verrückt über mein Bein«, fuhr er fort und versuchte, durch ihr steinernes Schweigen zu den Dingen durchzustoßen, die ihnen allen gemeinsam waren. »Ich weiß nicht mehr, wo ich war, ich wanderte einfach weiter. Ich konnte nicht schnell gehen. Es hatte keinen Sinn, irgendwo zu bleiben. Ich dachte die ganze Zeit, daß wir wirklich den 74
Krieg verlieren würden, wie einige Leute sagten. Ich dachte immer wieder, daß dann alles Sterben umsonst gewesen wäre.« Er brach ab, betroffen und wehrlos, denn er hatte vor ihnen seine Seele bloßgelegt. Aber die Leute betrachteten ihn nur kalt. Keines seiner Worte berührte sie. Er fuhr mit der Zunge über die Lippen. Sein Zorn war echt und schmerzte. »Na schön! Vielleicht spielt das keine Rolle, vielleicht ist ja oder nein alles, was ihr hören wollt. Quantrill hat Lawrence im August überfallen, nicht wahr? Ich hörte erst davon, als dieser Yankeegeneral Ewing den Befehl gab, die Grenzgebiete von Missouri zu verwüsten, um sich für Quantrills Einfall in Kansas zu rächen.« »In Lawrence waren auch Südstaatler«, unterbrach Tooley Jackson. »Ich weiß nichts von Lawrence!« antwortete Cullen. »Wollt ihr mich wenigstens ausreden lassen?« »Ich weiß bereits alles, was ich wissen muß.« »Du hast mich gefragt, ob ich mit Quantrill geritten bin, und ich sage dir, warum ich es getan habe!« Er wartete und funkelte Jackson und die anderen wütend an. Sie hatten gefragt, und nun sollten sie ihn anhören. »Ich machte mich also auf die Suche nach Quantrill. Er kämpfte immer noch. Das dauerte einen Monat, weil ich nicht schnell gehen konnte, aber ich suchte weiter, weil er immer noch kämpfte. Es war eine Chance, nicht aufzugeben, den Krieg weiterzuführen. Deshalb ritt ich mit ihm, aber ich trat erst Ende September in seine Truppe ein. Nach Lawrence!« »Du lügst!« »Ich lüge nicht. Ich sage dir die Wahrheit, aber du willst 75
sie nicht hören. Ich bin kurz vor Baxter Springs eingetreten.« »Und was war mit Bonham, Texas?« »Als wir nach Texas kamen, wurde mein Bein wieder schlimmer, und ich mußte liegen. Bei Baxter Springs ritt ich mit ihm gegen Unionstruppen – gegen Soldaten! Aber Gott weiß, daß ich nie mit den anderen an Überfällen in Texas teilgenommen habe!« »Hört euch das an!« rief Tooley Jackson. »Er redet sich aus allem heraus.« Seine Augen glitzerten, Tränen der Wut hatten sie gefüllt. »Wir waren eine große Familie, aber der Krieg forderte uns von Anfang an Opfer ab, bei Bull Run und am Cedar Mountain. Dann kam Will Quantrill und suchte diesen Yankee-Senator Jim Lane, und Lane floh aus dem Fenster und versteckte sich im Wald. Darauf tötete Quantrill jeden Mann und jeden Jungen, den er finden konnte, jeden! Seine Leute erschossen meinen alten Vater, meine zwei Brüder und meinen einzigen Sohn, während ich im Osten an der Front kämpfte, und nun bin ich allein übriggeblieben. Ich bin der letzte aus unserer Familie.« Die Stille war drückend. »Aber ich war nicht dort«, sagte Cullen zu den Leuten. Er blickte umher, und seine Augen baten um Glauben. »Ich hatte nichts damit zu tun.« »Du bist einer von Quantrills stinkenden Schlächtern, und ich werde dich jetzt töten«, sagte Tooley Jackson. »Mach dich fertig.« Cullen starrte erschüttert in die Runde. »Glaubt ihr ihm?« fragte er sie wütend. »Oder wollt ihr das vielleicht? Wollt ihr, daß wir uns gegenseitig umbringen?« Er atmete 76
schwer. »Warum? Wem soll es nützen, was soll es beweisen? Er tötet mich und ich töte ihn, und was bleibt übrig? Was bedeutet es? Daß es einfach immer so weitergehen soll, bis niemand mehr übrig ist?« Er wartete verzweifelt auf eine Antwort, aber sie sahen ihn bloß an mit ihren leeren, stumpfen und gleichgültigen Gesichtern. Cullen fröstelte; er kam sich verlassen und verloren vor. »Das hier hat mit dem Krieg nichts zu tun«, sagte er bitter. »Wozu wollt ihr meinen Tod? Habt ihr noch nicht genug?« Tooley Jackson sagte ruhig: »Ich bin kein Revolverheld, und ich habe noch nie ein Duell ausgetragen oder einen Mann getötet, außer an der Front, wie jeder andere Soldat, der gehorchen mußte. Aber ich weiß, daß ich heute am Leben bleiben werde, weil es gerecht ist und weil das Schicksal es mir schuldig ist.« »Willst du sie alle umbringen?« fragte Cullen grimmig. Er lachte. »Alle vierhundert Mann, die Lawrence verwüstet haben?« »Ich fange mit dir an.« »Nein, mein Lieber. Ich schieße mich nicht mit dir.« Wieder wurde es still, aber jetzt lag das Schweigen wie kalter grauer Nebel im Raum. Feigling, sagte es. Elendiger Feigling. »Ich war nicht in Lawrence«, wiederholte Cullen. Er zeigte auf Tooley Jackson und wandte sich an die anderen. »Ich kenne ihn nicht einmal! Ich habe seine Verwandten nicht getötet. Ich habe nie gegen Zivilisten gekämpft, nur gegen Yankeesoldaten! Und er steht hier, möchte eine Schießerei anfangen und kann es nicht erwarten, mich zu töten. Und er irrt sich! Er irrt sich. Es ist alles für nichts.« Sie antworteten nicht, und er schrie: »Könnt ihr nicht hö77
ren? Könnt ihr nicht reden?« Aber auch jetzt bemerkte er keine Regung des Einverständnisses, nichts, und er ahnte, daß keines seiner Worte diese Mauer aus Ablehnung, Gleichgültigkeit und Schweigen zu durchdringen vermochte. »Ich werde mich nicht mit ihm schießen!« Tooley Jackson sagte: »Dann werde ich dich niederschießen, wo du stehst.« Cullens Herz hämmerte. Wie kam es, daß ihn so etwas in der Heimat erwartete, wo er doch gekommen war, Chaos und Leid zu vergessen? Er konnte kaum fassen, daß dies alles ihn anging. Er hatte gehofft, Arbeit zu finden, einen bescheidenen Lebensunterhalt, Frieden. Und nun wollte ihn dieser Tooley Jackson einfach über den Haufen schießen, und niemand war da, der diesem Wahnwitz ein Ende machen wollte. Lieber würden sie ihn danach in seinen Lumpen hinaustragen und ohne Gebet auf dem Friedhofshügel einscharren. Immer noch warteten die Leute, und seine Gedanken gingen weiter. Wie konnte man sich hinstellen und einen unbekannten Mann zu töten versuchen, wenn man geschworen hatte, nie wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen, wenn einen das alles bis zum Kotzen anekelte, weil man die Sinnlosigkeit erkannt hatte? »Willst du wie ein Hund sterben?« »Ich will überhaupt nicht sterben.« »Entscheide dich.« »Du irrst dich! Es ist ein Fehler, ein furchtbarer Irrtum …« »Entscheide dich.« Cullen blickte hilflos in Ed Zoels gleichmütiges Gesicht, 78
wartete auf eine Geste, auf ein Wort. Aber alles, was er sah, erinnerte ihn an die Vergänglichkeit. Dort saßen die beiden alten Männer und trieben ganz von selbst einem armseligen Tod entgegen. Und nur wenige Schritte davon entfernt standen die Jungen mit neugierigen Mienen, sahen zu und verstanden nicht. Cullen wollte weglaufen; er wollte seine Augen schließen und wieder öffnen und sehen, daß dies nur ein Alptraum war, eine Nachwirkung des Krieges. Aber dann erinnerte er sich, daß er nicht mehr rennen konnte, daß jeder Schritt eine Willensanstrengung erforderte. Draußen bewegte eine Abendbrise die Blätter des Maulbeerbaums. Die Luft brachte vom Fluß Kühle herauf, die mit dem Duft der Wiesen gewürzt war. »Ich warte nicht länger«, sagte Tooley Jackson. Cullen richtete sich auf. Seine Kehle war wie zugeschnürt, und er räusperte sich. »Ich habe meine Waffe draußen gelassen«, sagte er mit dumpfer Stimme. »Dann gehen wir sie holen.« Die Menge drängte ihm nach, als er wieder in das milde Nachmittagslicht hinaustrat. Er humpelte zu dem Baum und langte durch die Zweige hindurch nach der Astgabel. Als seine Finger den kalten Stahl berührten, atmete er das Grün der Blätter und das bittersüße Versprechen der Frucht ein. Er zögerte, riß eine der Beeren ab und steckte sie in den Mund. Säure drang aus der unreifen Frucht, es war zu früh, sie war noch zu grün. Er hatte es gewußt. Und doch war schon eine Ahnung von Reife da; der Geschmack, das Versprechen blieben ihm auf 79
der Zunge. Er hinkte auf die Straße zurück, wo die riesige Gestalt Tooley Jacksons auf ihn wartete. Er konnte nicht glauben, daß es geschehen sollte. Der Kampf ist vorbei, hatte er Rachel mit soviel Bestimmtheit erklärt. Es muß einmal ein Ende sein. Aber wann? Wann? Er fühlte, wie er zitterte. Er hatte mehr Angst als je zuvor in seinem Leben. Mach, daß ich auch daran glaube, hatte Rachel Danton gebeten. Er preßte seine Finger unentschlossen um den Griff der alten Pistole. Die Muskeln seiner Hand zogen sich wie im Krampf zusammen. Mach es mich glauben. Ich – aber ich bin so weit hergekommen … Wie ein Blitz durchfuhr die Angst seinen ganzen Körper, als er Tooley Jacksons Bewegung sah. Die Zeit schmolz zu einem Nichts zusammen, und er dachte verzweifelt: Ich kann nicht, ich kann nicht! In Cullens ganzem Leben war noch nie ein Geräusch so laut gewesen wie der donnernde Widerhall von Tooley Jacksons Schuß. Er hörte ihn, fühlte gleichzeitig den furchtbaren Schlag der Kugel und fiel dann hart in den Straßenstaub. Seine Arme und Beine lagen seltsam abgespreizt da, wie die losgelösten Glieder einer Puppe. Er wußte nicht, ob er die Pistole abgefeuert hatte, die Schockwellen, die seinen ganzen Körper durchliefen, nahmen ihm jeden klaren Gedanken. Er versuchte wieder aufzustehen, aber seine Glieder waren schwer, seine Bewegungen schwach und ungelenk. Sein Kopf fiel zurück, er schmeckte Staub und sah noch einmal den fernen, hohen Himmel über sich. Nacheinander kamen die Gesichter und beugten sich 80
über ihn. Er sah die Leute, die er sein ganzes Leben lang gekannt hatte. Sie starrten ihn immer noch schweigend an, während er zu ihren Füßen lag und verzweifelt nach Luft rang. Er wartete, daß Tooley Jackson auftauchte, denn die vermeintliche Rechnung war noch nicht ganz beglichen. Er versuchte sich zu erinnern, ob er die Pistole abgefeuert hatte oder nicht; er mußte es wissen. Seine Finger bewegten sich im Staub, tasteten matt umher und fanden nichts außer harter festgetretener Erde. »Warum hast du nicht zurückgeschossen, Junge?« fragte Ed Zoel aus dem Kreis über ihm. Cullen versuchte nicht, ihm zu antworten. Die Erleichterung durchströmte ihn so süß und so bitter wie der Saft der unreifen Beere, deren Geschmack er noch im Mund hatte. Aber dort oben, scharf vom Blau des Himmels abgehoben, blickten die Gesichter der beiden Jungen auf ihn, und die Süße verging und nur das Bittere blieb. Denn dies bedeutete vielleicht das Ende ihrer Unschuld; der Anblick und der Geruch von Blut, das im Staub versickerte. Zuletzt sah er Tooley Jackson wieder. Er war so groß, daß er Cullen den Himmel verdeckte und die Leute ringsum wie Zwerge erscheinen ließ. Cullen verspürte nun Schmerzen, er fragte sich, ob Tooley Jackson noch einmal feuern würde, aber es schreckte ihn nicht mehr, denn nun wußte er, wie wunderbar leicht es war, unbewaffnet zu sterben, mit leeren Händen und nur die Sehnsucht nach Frieden im Herzen. »Nein«, sagte jemand aus dem Kreis der Umstehenden. »Nicht mehr«, ergänzte eine andere Stimme. »Nicht mehr!« 81
»Es ist genug.« Tooley Jackson starrte auf Cullen hinunter. Vögel zwitscherten, der Wind fuhr leicht durch die Bäume, während Tooley Jackson den Mann zu seinen Füßen ansah. Er hob den Revolver wieder. Cullen fühlte nichts, nur ein Gefühl der Unschuld, wie es die beiden Jungen besitzen mochten. Dann war auch das fort. »Verdammt, Junge«, flüsterte Tooley Jackson endlich. Sein langer, zitternder Seufzer schien dem Wehen des Windes in den Bäumen am Flußufer zu ähneln. Er ließ den Revolver fallen, wandte sich langsam ab und schob die Leute mit seinen Händen auseinander. Der Ring teilte sich und schloß sich wieder um Cullen Brace und sein rotes Lager im Staub. Cullen spürte etwas in seinem Gesicht. Die knochigen Finger eines alten Mannes wischten den Dreck fort, der sich mit seinem Schweiß vermengt hatte. Er nahm Bewegungen und Geräusche wahr, eine Unruhe, als sei plötzlich ein lähmender Bann gebrochen. »Tragt ihn hinein«, bat die Stimme einer Frau. »Nun faßt doch mit an, bitte!« Eine piepsige Jungenstimme fragte: »Muß er sterben, Mr. Zoel?« »Nein, verdammt! Nein, er muß nicht. Nicht jetzt. Kannst du nicht sehen?« Die Worte waren für Cullen wie ein unerwartetes Geschenk. Sie waren wie eine Belohnung für den langen, harten Weg, den er gekommen war. Plötzlich schien helles Licht rot und gelb durch seine geschlossenen Lider. Er fühlte sich hochgehoben und von 82
vielen Händen getragen; von Kinderhänden und den Händen der Alten und der Verkrüppelten. Sie alle nahmen die Bürde auf sich.
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John L. Shelley arbeitete in den verschiedensten Berufen, unter anderem als Streckenarbeiter, Lastwagenfahrer, Segelmacher, Forellenzüchter, Polsterer und Bauarbeiter. Außerdem spielte er in kleinen Nachtklubcombos Klarinette und Tenorsaxophon. 1953 begann er zu schreiben und hat seitdem sechs Novellen und zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht.
John L. Shelley
Die Stampede am Alder Creek Auf der alten Bar X Ranch hatten wir noch nie Ärger mit Stampedes gehabt, weil unser Vieh gewöhnlich so fett und träge war, daß man es zum Markt förmlich zerren mußte, aber das alles änderte Miß Alvorsen mit ihrer Liga für Volksmusik. Vorher hatte es in der Gegend nur ein paar Mundharmonikas und eine oder zwei Maultrommeln gegeben. Bei den monatlichen Tanzveranstaltungen im Schulhaus wurde die nötige Musik meistens vom alten Smithers gemacht, der die Fiedel kratzte und vom kleinen Johnny Carr auf der Gitarre begleitet wurde. Aber eines Tages tauchte Miß Alvorsen mit ihrem Kombiwagen auf, der bis unter das Dach mit Instrumenten vollgestopft war. Am Tag ihrer Ankunft waren Chuck Jones in seiner Eigenschaft als Koch und ich als Vormann in der Stadt, um verschiedene Einkäufe zu machen. Sie hatte den alten Versammlungssaal der Farmergenossenschaft gemietet, und der junge Albert Mains half ihr gerade die Dinger hineint84
ragen, als wir vorbeikamen. Miß Alvorsen stellte sich vor, und wir taten dasselbe. Sie hatte blonde Haare, blaue Augen und war ein bißchen mollig. Alles in allem fanden wir sie mächtig anziehend, und sie hatte nicht viel Mühe, Chuck Jones und mich zum Zuhören zu bewegen. Es schien, daß ihre musikalische Liga beschlossen hatte, den kulturellen Verfall in den ländlichen Gebieten aufzuhalten. Um die Sache richtig anpacken zu können, sollten zunächst einige Tests durchgeführt werden. Jeder, der sich für Musik interessierte, durfte ein Instrument ausleihen, und Miß Alvorsen hatte als Lehrerin die Aufgabe, Ausbildungsabende zu veranstalten, Interessenten zu werben und festzustellen, welchen Anklang die Aktion unter der ansässigen Landbevölkerung finden würde. Einige von den Faulenzern aus der Stadt hatten sich schon vor uns eingefunden und untersuchten die Instrumente, unter denen es verschiedene gab, die keiner von uns kannte. Andy Kosic zeigte auf ein Akkordeon und sagte: »Von dem Ding da habe ich schon gehört. Wenn man es zu dicht an sich hält, zwickt man sich beim Spielen in den Bauch. Das ist nichts für mich. Ich will etwas, womit man zurückschlagen kann, vielleicht eine Trommel. Haben Sie eine große Trommel, Madam?« Sie hatte eine Trommel. Sie hatte auch ein Paar große Messingbecken, die einen verdammt zufriedenstellenden Lärm machten, wenn man sie zusammenschlug, obwohl man dabei die Nase nicht zu weit vorstrecken durfte. Weil meine Nase von Kuhhörnern und Männerfäusten schon genug mitgenommen war, und ich sie nicht noch weiter ver85
formen wollte, verspürte ich kein Verlangen, die Becken zu schlagen. Dann schleppte Albert Mains einen Kunstlederkoffer von der Größe eines Sargs für einen ausgewachsenen Bären herein, und als Miß Alvorsen den Deckel öffnete, trat ich vor. »Jungs«, sagte ich, »dieses Ding nehme ich für mich. Miß Alvorsen, was muß ich machen, um mich mit dieser großen, glänzenden Schönheit zu verheiraten?« »Sie brauchen sich nur für den Ausbildungskurs der Liga für Volksmusik einzutragen, und das Instrument gehört bis zum Ende des Kurses Ihnen. Wie war doch gleich Ihr Name?« »Rawlins, Madam.« Ich schob mich ein wenig näher an sie heran. »Wenn das nicht reicht, flüstere ich Ihnen meinen Vornamen zu, den Sie bitte geheimhalten wollen.« »Das wird nicht nötig sein«, sagte sie, und ich war ungeheuer froh, ihr nicht von dem schrecklichen Mißgriff meiner Eltern berichten zu müssen, die mich nach irgendeiner verdammten geckenhaften Romanfigur Percival getauft hatten. »Wenn Sie jetzt hier unterschreiben, können Sie das Instrument gleich mitnehmen und heute abend zur ersten Unterrichtsstunde wiederkommen.« Ich unterzeichnete den Anmeldezettel, der gleichzeitig als Leihschein für eine Baßtuba galt. Sie war wirklich eine Schönheit – die Tuba meine ich, obwohl Miß Alvorsen auch nicht gerade zu verachten war. Die Tuba hatte eine Öffnung, durch die man einen Hund hätte werfen können. Außen glänzte sie wie Silber, und in der Öffnung wie Gold. Ich fand einige geeignete Hebel und 86
wollte schon zu spielen anfangen, aber Miß Alvorsen nahm meine Finger und korrigierte den Griff. »Hier sind die Ventile«, sagte sie. »Sie müssen sie betätigen, um die verschiedenen Töne zu erzeugen. Wenn Sie erst einmal die Technik heraushaben, ist es wirklich nicht schwierig.« Ich preßte meine Lippen auf das Mundstück, blies die Backen auf und pustete mit aller Macht los. Nichts geschah, nur mein Gesicht wurde blaurot und meine Augen begannen hervorzutreten. Sie lachte, nahm mir das Instrument aus den Händen und setzte sich selbst dahinter. Ihre Finger flogen nur so über die Ventile, gleichzeitig blies sie in das Mundstück, und was aus der großen Öffnung herauskam, war reine Musik. Ich weiß nicht, was sie spielte, aber mir kribbelte es über den Rücken und bis in die Zehen. Das war eine kraftvolle, mächtige Musik, bei der man unwillkürlich an einen alten großen Bullen denken mußte, der mit seinem gewaltigen Organ die anderen Bullen zum Kampf herausfordert. In diesem Augenblick entschloß ich mich, der beste Baßtubabläser des Staates zu werden. Chuck Jones entschied sich für eine Klarinette und bekam eine Broschüre dazu, aus der die Fingergriffe zu ersehen waren, und ich nahm die Tuba gleich mit nach Haus. Es war nicht leicht, mein Pferd Roany zum Stillhalten zu bewegen, während ich mit dem Ding auf dem Rücken in den Sattel kletterte, aber schließlich gelang es mir doch. Roany verdrehte die Augen nach oben, bis man nur noch das Weiße sah, und legte dabei seine Ohren zurück, als wollte er bocken und uns beide abwerfen, aber dann über87
legte er es sich zum Glück anders. Ich kam mir ziemlich komisch vor, als ich mit diesem riesigen Stück Musikmaschinerie losritt. Aber zu mir paßte die Tuba noch am besten, weil ich selber ungefähr die Statur eines gutgenährten Nilpferdes habe. Chuck Jones dagegen hätte mit einiger Anstrengung bequem durch seine Klarinette kriechen können. Der Bürgerkrieg und die Indianerkämpfe waren nichts gegen den Aufruhr, der losbrach, als wir und die anderen Jungens unsere neuen Spielsachen nach Haus brachten und zu üben begannen. Solche Töne hatte man noch nie gehört. Die Rancher der Umgebung fluchten sich die Köpfe rot und drohten Miß Alvorsen und die Liga für Volksmusik auf Schadenersatz über zwanzigtausend Pfund Rindfleisch zu verklagen, das bei der darauf folgenden Stampede in Form lebendiger Rinder verlorenging. Es schien, als könnte das Vieh stundenlang rennen, nur um dem Schrillen der Klarinetten und dem Tuten und Schmettern der verschiedenen Hörner, Posaunen und Trompeten zu entgehen. Ich glaube, ich war der einzige, der seinen Apparat nicht mit zur Arbeit nahm, außer dem Trommler Slim Hankinson, der während seiner Arbeitspausen in der Scheune der Cross Ranch übte, wo er Pferdeknecht war. Diejenigen, die den feineren Dingen des Lebens keinen Geschmack abgewinnen konnten, stopften sich die Finger in die Ohren oder machten sarkastische Bemerkungen über gehirnkranke Sattelhopser, die anderen das Leben zur Hölle machten, aber keiner von uns schenkte ihnen Beachtung, es sei denn, wir duckten uns, wenn ein geschleuderter Stiefel allzu gut gezielt war. 88
Aber auch unter den Musikanten gab es einige, die ihre neue Passion mit Opfern bezahlen mußten. Allie Morris übte so lange auf seiner Posaune, bis seine Lippen wie von Wespenstichen anschwollen, und sein Mädchen schlug ihm ihren Nähkorb über den Kopf, weil sie glaubte, er habe eine andere zu ausgiebig geküßt. Jim Burnside blies auf seinem Horn ein langes Stück, ohne zwischendurch Atem zu holen, und wurde anschließend aus Sauerstoffmangel ohnmächtig. An jedem freien Abend kamen wir in der Stadt bei Miß Alvorsen zusammen und nahmen Unterricht. Es war kaum glaublich, aber diese kleine Frau konnte jedes dieser Instrumente spielen, und gut dazu. Wenn sie eine Fiedel in die Hand nahm, war einem zumute, als ließe man die alte Erde hinter sich und schwebte zum Himmel empor, und wenn sie in die Trompete stieß, sah man förmlich die von heulenden Rothäuten umringten Soldaten beim Kampf um ihren Skalp. Auch die Art, wie sie die Klarinette zu spielen verstand, war unvergleichlich. Chuck Jones Spiel ließ einen in den ersten Tagen an ein Schwein denken, das seinen Kopf in einen Zaun eingeklemmt hat. Sie dagegen hatte Musik in ihren Fingern und in ihrer Seele, und sie tat ihr Bestes, um uns etwas beizubringen. Aber trotz ihrer Anstrengungen kamen wir in den Unterrichtsstunden nur sehr langsam über die Anfangsgründe hinaus. Wir verscheuchten Kühe, erschreckten kleine Kinder und machten unserer Umgebung das Leben zur Qual. Außer uns Musikanten schien nur Miß Alvorsen über die ganze Sache glücklich zu sein, denn sie kam nie zu den 89
Ranches hinaus und wußte daher nichts von der dicken Luft, die dort meist herrschte. Unser verschrobener Boß Lucius Mayberry, der nichts so haßte wie Musik, ritt schließlich mit dem grimmigen Vorsatz zur Stadt, Miß Alvorsen zur Aufgabe ihrer Bemühungen zu bewegen, oder – falls gütliches Zureden nichts fruchtete – sie aus der Stadt zu vertreiben. Als ich ihn am nächsten Morgen fragte, welchen Erfolg sein Unternehmen gezeitigt habe, trat ein merkwürdiger Ausdruck in sein hartes Gesicht. »Kein Glück – bis jetzt«, gab er achselzuckend zu, und fuhr sogleich fort: »Hör zu, wir haben ein anderes Problem. In der Stadt hörte ich, daß im Norden eine Bande von Viehdieben am Werk ist. Sie scheint auf dem Weg in diese Gegend zu sein, und die Art und Weise, wie diese Burschen operieren, macht mir Sorgen. Sie treiben das Vieh nicht einfach weg und verstecken es irgendwo, wie man das früher gemacht hat. Nach dem, was ich gehört habe, sind sie mit fünf oder sechs Lastwagen unterwegs, schlachten das Vieh an Ort und Stelle, häuten es ab und verfrachten es zu Mittelsmännern, die dann mit Kühlwagen die Fleischfabriken beliefern. Wenn sie sich unsere Herde oben am Alder Creek vornehmen …« Er brauchte nicht weiterzusprechen. Wir hatten dreihundert Stück Vieh dort oben, erstklassige Ware und fett wie Butter. Und die Tiere waren so verdammt zahm, daß sie aus der Hand fraßen. Der Boß fuhr sich mit den Fingern über das Kinn, während er zu denken versuchte. »Du und Chuck, ihr nehmt euch ein paar Gewehre, wenn noch welche da sind, und seht dort oben nach dem Rech90
ten. Morton und Simms sind in der Hütte am Beaver Creek, die könnt ihr als Verstärkung mitnehmen. Ihr solltet mit dem Lieferwagen fahren und euch mit Proviant und Decken versorgen, weil es ein paar Tage dauern kann. Haltet die Augen offen. Wenn etwas passiert und es gefährlich aussieht, unternehmt ihr lieber nichts, sondern verständigt die Polizei und fahrt den Wagen nach, damit wir sehen, wo sie die Ware abliefern. Ich will keine heroische Selbstaufopferung.« Chuck und ich beluden am anderen Morgen den Lieferwagen, und weil noch Platz war und wir uns gegen Langeweile wappnen wollten, packten wir auch unsere Instrumente ein. Wir hielten den Auftrag für eine günstige Gelegenheit, ein bißchen üben zu können, ohne mit einem Auge ständig nach fliegenden Gegenständen schielen zu müssen. Chuck versuchte sogar unterwegs Klarinette zu spielen, aber als wir durch ein Schlagloch fuhren und er sich die Lippen an dem Mundstück blutig stieß, gab er es auf. Gegen Mittag erreichten wir die Hütte und trafen Simms und Morton beim Essen an. Sie erhoben ein Freudengeschrei, als sie unseren Proviant sahen, weil sie schon seit einer Woche von Bohnen und Speck gelebt hatten. Ich fragte, was aus den zwei Säcken Mehl geworden sei, die wir ihnen geschickt hatten, und sie erklärten, die verdammten Kühe hätten das Lager geplündert, die Säcke aufgerissen und alles gefressen oder zerstampft. Diese Tiere entsprachen überhaupt in keiner Weise den landläufigen Vorstellungen von frei lebenden Rindern. Statt sich davonzumachen waren sie es zufrieden, in der Nähe des Lagers herumzulungern und unsere Sachen zu 91
beschnüffeln. Ich versuchte ein Bedauern darüber zu empfinden, daß die alten Tage der wilden Langhornrinder vorbei waren, fand aber keine sehr überzeugenden Argumente. Für einige Leute mochten es die guten alten Zeiten gewesen sein, aber für mich waren sie voll schmerzhafter Erinnerungen an wundgerittene Stellen und bösartige alte Stiere, die einen am Lasso durch Dornsträucher und Kakteen schleiften. Zu viert fuhren wir weiter und kamen gegen Abend an unser Ziel. Wir lagerten im Schutz eines kleinen Waldstücks, von wo aus wir die Herde und die nähere Umgebung beobachten konnten. Gegen Mitternacht kam Morton und rüttelte an meiner Schulter. »Wir kriegen Besuch«, flüsterte er heiser. »Drei Lastwagen sind von Norden her in die Senke gefahren und halten am Bach. Ich glaube, wir haben es mit acht Männern zu tun, und ich möchte schwören, daß ich einen Gewehrlauf gesehen habe.« Ich war im Nu hellwach. Wir weckten Simms und Chuck und hielten Kriegsrat. Rasch stimmten wir überein, daß es eine Dummheit wäre, eine solche Bande zu fragen, was zum Teufel sie hier suchte. Keiner von uns hatte Lust, den Helden zu spielen und womöglich eine Kugel in den Bauch zu bekommen. »Wir könnten ihnen die Lastwagen stehlen, während sie das Vieh zusammentreiben«, schlug Ad Simms vor. Ich schüttelte den Kopf. »Sie werden jemanden als Wache zurücklassen, und beim ersten Hilferuf hätten wir sie alle auf dem Hals. Nein, es muß einen anderen Weg geben, bei dem keine Kugeln fliegen. Wer hat eine bessere Idee? Chuck?« 92
»Ich wollte gerade sagen«, erklärte Chuck Jones, »daß wir lieber hätten zu Hause bleiben sollen. Ich habe überhaupt kein Verlangen, mit Viehdieben anzubinden. Aber da wir nun einmal hier sind, müssen wir so tun, als hätten wir keine Angst.« »Wie wäre es, wenn wir einfach sitzen blieben und unsere Gewehre abfeuerten?« schlug Simms vor. »Vielleicht kriegen sie dann Angst und suchen sich eine ruhigere Gegend.« Ich sah ihn an und versuchte spöttisch zu grinsen, was mir aber nicht gelingen wollte. »Glaubt ihr denn, diese Burschen sind hergekommen, ohne vorher in der ganzen Gegend herumzuspionieren? Wahrscheinlich haben sie uns schon kommen gesehen und wissen, daß sie es nur mit uns vieren zu tun haben. Dazu brauchten sie sich nur mit einem Feldstecher auf einen der Hügel zu legen. Nein, das ist alles nichts. Jetzt laßt mich mal in Ruhe eine Minute nachdenken.« Sie ließen mich, und mit Gottes Hilfe kam ich auf eine Lösung, die narrensicher zu sein schien. Es war nicht leicht, Morton und Simms von meinem Plan zu überzeugen, aber Chuck hatte schon oft genug erlebt, daß ich recht behalten hatte und er unterstützte mich von Anfang an. Die Viehdiebe waren so selbstsicher, daß sie sich nicht so leicht einschüchtern lassen würden. Aber wenn mein Plan klappte, würden sie gegen eine der mächtigsten Kräfte der Natur zu kämpfen haben, gegen die Angst. Ich kannte einmal einen Mann, der sich glatt über einen sechs Fuß hohen Lattenzaun schwang, als ein wütender Bulle hinter ihm her war. Dabei pflegte er sonst über jede Wagendeichsel zu 93
fallen, was bewies, daß ihm nur die Angst dieses eine Mal Flügel verliehen hatte. Was mich selbst angeht, so rannte ich einmal fünf Meilen, ohne in Schweiß zu geraten, als ich dachte, eine Schlange hätte mich gebissen, und in der Eile vergaß ich sogar mein Pferd. Eines jedenfalls steht fest: Man kann einen Ochsen mästen, bis er so breit wie hoch und so träge wie ein Faultier mit Schlafkrankheit ist, aber wenn man ihm während des Schlafes mit einer Klarinette und einer Tuba in die Ohren bläst, verwandelt er sich in einen Orkan aus Muskeln und Knochen und wird genau so schnell und unberechenbar wie ein verdammter alter Langhornbulle. Ich schickte Simms und Morton mit dem Auftrag um die Herde herum, möglichst unbemerkt in die Nähe der Lastwagen zu gelangen. Wenn es losging, sollten sie in dem Durcheinander von den Wagen Besitz ergreifen. Dann nahm ich meine Tuba und Chuck seine Klarinette, und wir schlichen los. Es war keine helle Nacht, aber von der Anhöhe aus sahen wir recht gut, was unten auf den Wiesen vor sich ging, und das war nicht wenig. Diese Rinder stellten eine recht friedliche Herde dar, und sie waren nicht nur untereinander freundlich, sondern auch zu den fremden Eindringlingen. Sie blieben so dicht beisammen, als hätte man sie aneinander gebunden, und die Viehdiebe hatten nichts weiter zu tun, als die geeigneten Tiere auszusuchen und sie mit gemütlichen Klapsen auf die Hinterteile zu den Lastwagen zu treiben. Und das alles zu Fuß. Wir kletterten den Hang hinunter zum östlichen Rand 94
der Herde und blieben im Schatten einiger Büsche stehen. Ich spähte umher und sah, daß die Diebe auf der anderen Seite der Herde in einer ziemlich geschlossenen Gruppe arbeiteten, was genau das war, was ich wollte. Dann hob ich meine Hand; es war das zwischen mir und Chuck verabredete Signal. Was darauf geschah, war beängstigend. Ich habe eine ganze Reihe Stampedes miterlebt und von vielen anderen gehört, aber ich glaube, keine war mit der zu vergleichen, die wir in dieser Nacht am Alder Creek sahen. Ich bot meine ganze Lungenkraft zu einem mächtigen Stoß in die Tuba auf, und im gleichen Augenblick ließ Chuck aus seiner Klarinette den schrecklichsten Aufschrei ertönen, den er diesem Instrument jemals entlockt hatte. Es war furchtbar. Was die Tuba betraf, so sagte Ad Simms später, daß ihr donnerartiges Röhren ihn so erschreckt habe, daß er zehn Sekunden lang wie gelähmt gewesen sei. Und danach war alles schon halb vorbei. Zuerst ging ein Wald von Schwänzen hoch, dann setzte ein Angstgebrüll ein, und die Herde setzte sich in Bewegung. Ein großer Ochse sprang glatt über seinen Vordermann hinweg und galoppierte an die Spitze. Einer der Diebe kam ihm in den Weg und wurde wie ein Kornhalm niedergemäht. Der Ochse raste weiter durch die Senke, als hätte ihm jemand den Schwanz angezündet, und hinter ihm her donnerte die ganze Herde. Es war ein Glück, daß die Tiere alle enthornt waren, sonst wäre kaum noch etwas übrig geblieben, das man hätte zum Gefängnis schaffen können. Die Diebesbande wurde einfach überrannt, und wir hatten nichts weiter zu tun, als die stöhnend herumliegenden Gestalten aufzulesen einschließlich des Mannes, dem 95
Morton hinter einem der Lastwagen mit dem Gewehrlauf den Scheitel nachgezogen hatte. Irgendwie gewann ich den Eindruck, daß die Diebe froh waren, uns zu sehen. Es war ein großer Augenblick, als wir mit unserem Lieferwagen und einem der fremden Laster mit den Gefangenen über den heimatlichen Ranchhof gerollt kamen. Es stellte sich heraus, daß der Viehzüchterverband für die Ergreifung der Bande eine Belohnung von fünftausend Dollar ausgesetzt hatte, und wir vier teilten das Geld unter uns auf. Miß Alvorsen? Nun, zwei oder drei Tage nach dem Krawall mit den Viehdieben wurde sie in der Gesellschaft eines notorischen Musikfeindes namens Lucius Mayberry gesehen, und sie hinterließ auf dem Tisch im Versammlungssaal eine schriftliche Rücktrittserklärung, als die beiden in ihrem Kombiwagen das Weite suchten. Man sollte nicht versäumen, unserer Ranch einen Besuch abzustatten. Wenn einen die blondhaarige, blauäugige Dame des Hauses an der Tür begrüßt und sich als Mrs. Lucius Mayberry vorstellt, wird man in ihrer Nähe vergeblich nach dem Hausherrn suchen. Gut möglich ist es indes, daß man den alten Mann draußen im Holzschuppen findet, wo er den Kontrabaß streicht. Wir haben lange experimentiert und dabei herausgefunden, daß Kühe ausgesprochen musikliebend sind, solange es sich um sanfte Weisen handelt; sie werden fetter und sind zufriedener. Wie Mrs. Mayberry, die frühere Miß Alvorsen immer sagt, ist Musik imstande, in der wildesten Brust sanfte Ruhe zu verbreiten, und sie sollte es wissen. Der alte Mayberry ist dafür das beste Beispiel.
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Lucia Moores erstes Buch »The Wheel and the Hearth« trug ihr neben der Mitgliedschaft in der Schriftstellervereinigung einen Ersten Preis im Erzählerwettbewerb ein. Seitdem hat sie historische Studien getrieben und an einem neuen Roman gearbeitet, der sich kurz vor der Vollendung befindet. Die vorliegende Erzählung verdankt ihr Entstehen der Freundschaft mit einem baskischen Schafzüchter und der Kenntnis von Oregons Vergangenheit, in der ihre Großeltern als Pioniere eine bedeutende Rolle spielten.
Lucia Moore
Ein Mann überwindet sich Giede Petrie ritt sein struppiges kleines Pferd mit lockeren Zügeln, er war ein heiterer Mann, der mit seiner Welt zufrieden und in Einklang lebte. In seinen warmen, dunklen Augen, die das breite Tal überblickten, gab es weder Sorge noch Kummer. Manche Leute nannten es das Wolltal, und Giede, der den Grund kannte, lächelte darüber. Das Land breitete sich weit und hügelig vor ihm aus, und es war weißgesprenkelt mit vielen Hunderten feiner Merinoschafe, die er frei und unbehelligt weiden ließ, von hier bis zu den fernen Hügeln am Horizont. Giede liebte dieses Land, wie sein Vater vor ihm das Land der spanischen Pyrenäen geliebt hatte, denn die Hügel schlossen ihn von einem Amerika ab, das er nie verstanden hatte. Nach dem amerikanischen Gesetz gehörte das Land Giede und Martha zusammen, nicht aber in Gie97
des Vorstellungswelt. Nach seiner festen Überzeugung gehörte es ihm, zusammen mit dem benachbarten Yonder Valley und den anderen Hügeln und Tälern im Umkreis. Auch die Schafe gehörten ihm, die überall dort weideten. Und die Sonne, der Mond und die Sterne. Der schmale Pfad war einsam, und nur das leise Quietschen des Lederzeugs und das sanfte Klappern der unbeschlagenen Hufe waren in der Stille zu hören. »Du und ich, Freckles«, sagte er zu seinem Pferd, »wir sind glücklich, nicht? Alles dies ist unser.« Er streichelte das Tier mit einer Hand, die runzlig war wie eine Rübe, die zu lange im Kartoffelkeller gelegen hat. Seine Gesichtshaut war von der gleichen Beschaffenheit, gebräunt von der Sonne und dem Wind des Hochlands. Aber bei aller Ruhe und Zufriedenheit gab es doch eine Sorge in Giedes Herzen – eine neue Sorge. Seit Drushella herangewachsen und hübsch geworden war, zeichneten sich Veränderungen ab, die Giede beunruhigten. Obwohl sie einerseits angenehm waren, gaben sie ihm doch zu denken. Oft beobachtete er seine Tochter verstohlen, wenn sie sich über das Spinnrad beugte und die Wolle zu starken, gleichmäßigen Fäden verspann. Dann wartete er auf ihr Lachen, das in letzter Zeit nie mehr kommen wollte. Wie würde die Zukunft für seine Tochter, für Martha und ihn aussehen? Er starrte vor sich hin und achtete nicht mehr auf den hellen Morgen und die weißen Punkte seiner Schafe auf den grünen Hängen. Er und Martha und dieses Land waren der Webstuhl und die Kette. Aber was war mit dem We98
berschiffchen, was mit dem noch ungewebten Muster für ihre Tochter, deren Augen wie Marthas Augen waren – dunkel und in letzter Zeit niemals glücklich? Immer wenn er sie sah, glaubte er ein schwelendes Feuer in ihnen zu sehen, oder die grenzenlose Einsamkeit der Wälder hinter dem Fluß. Diese Sorge in seinem Herzen war erst gestern wieder neu geweckt worden. Er war gezwungen gewesen, sich das Weibergeschwätz anzuhören, das mit den Jahren zu einem festen Bestandteil seiner Tage geworden war, obwohl es ihm nicht sonderlich gefiel. Drushella hatte die Notwendigkeit des Spinnens und Webens für den Eigenbedarf bezweifelt. »Papa könnte die Stoffe auch kaufen«, hatte sie gesagt. »Habershams haben in ihrem Laden fast genau so gute Ware.« Martha hatte ihm einen vorsichtigen Blick zugeworfen und dann die Augen niedergeschlagen. »Die Fabrikstoffe sind lange nicht so haltbar.« Das Spinnrad hatte sich schneller gedreht. »Unsere eigenen sind besser, Dru.« Giede war nicht wenig erstaunt, daß Dru etwas von den Habershams und ihrem Laden wußte. Gewiß, sie ritt jeden Tag durch das Tal und über die Hügel, aber nie in die Stadt; weder sie noch Martha hatten die kleine Stadt an den Stromschnellen gesehen. Es war ein weiter Weg zum Fluß, ein harter Tagesritt für eine Frau, die ohnehin daheim besser aufgehoben war, wo es stets genug zu tun gab. Wer sonst sollte die Talgkerzen machen und sie im Schuppen zum Trocknen aufhängen? Und die Seife, die zu kochen und zu formen war, der Leim, das Lederzeug, das gegerbt, 99
zugerichtet und gefärbt werden mußte? Das alles waren Arbeiten, die ein guter Schafzüchter zu tun hatte. In der Weltabgeschiedenheit seiner Schaffarm mußte er sich selbst versorgen und zu helfen wissen. Und Giede war ein guter Schafzüchter; so gut, daß er kürzlich ein paar hundert neue Tiere hatte kaufen können. Er wußte, daß seine Schafe auch auf Land weideten, das ihm nicht gehörte, aber er machte sich deswegen keine Gedanken, genau so wenig wie ihn die Tatsache beunruhigte, daß es in fernen Tälern Männer gab, die ihn wegen der Freizügigkeit haßten, mit der er seine Schafe überall weiden ließ. Die Sonne stieg höher, und er spornte Freckles zu einem schnelleren Trott an. Der Weg verbreiterte sich zu einer staubigen Fahrstraße, dann war er in der Stadt. Er ritt direkt zu Ketters Drugstore, ließ sein Pferd an der Pumpe saufen und band es vor dem Laden an einen Pfosten. Dann stieg er die drei Stufen hinauf und öffnete die kleine, grüngestrichene Tür. Der Drogist stand an seinem Arbeitstisch und beugte sich über einige Glasröhrchen, die er mit einem gelben Pulver füllte. Er nahm sich Zeit für seine Arbeit, und erst als er das letzte Glasröhrchen verschlossen hatte, wandte er sich Giede zu. »Hast du es wieder einmal über dich gebracht, Giede? Es ist lange her, daß die Stadt dich das letzte Mal gesehen hat.« Er hinkte mit seinem Holzbein um die Theke, an deren Ende ein schöner neuer Glasaufsatz prangte, in dem er Parfüms und andere Toiletteartikel ausstellte. »Was machen deine einsamen Hügel?« Giede betrachtete den Glasaufsatz. »Sie sind nicht einsam, Ketter. Ist das Ding hier neu?« 100
Ketter nickte und deutete auf die Parfümfläschchen. »Damit könntest du deinem Mädchen eine Freude machen. Veilchen vielleicht. Sie muß ja inzwischen eine junge Dame geworden sein.« »Sie ist achtzehn«, erwiderte Giede. »Aber ich möchte nur etwas Sassafrastee, etwas Cochenille wie letztes Mal, und sechs Pfund Schwefel.« »Schon gut.« Ketter nahm das Färbemittel und den Tee aus seinen Regalen, dann wog er den Schwefel ab und verpackte die Waren. »Veilchenduft wäre gerade das richtige für ein Mädchen«, seufzte er. »Wie der Frühling.« »Wir haben aber keinen Frühling«, sagte Giede hart. Ketter hatte keine Gelegenheit zu antworten, denn die Ladentür ging wieder auf. Ein jüngerer Mann kam herein, schlank und mittelgroß, mit lässigen Bewegungen und einem frischen Sonnenbrand im Gesicht. Sein dunkles Haar hatte den fettigen Glanz alten Leders, und sein Lächeln war unbekümmert und jungenhaft. »Haben Sie Arnika, Sir?« Ketters Augen blitzten belustigt auf, als er den jungen Fremden betrachtete. »Sie sehen nicht wie einer aus, der Arnika braucht. Aber ich habe das Zeug, versteht sich.« Er humpelte zu seinem Medizinschrank und suchte zwischen Gläsern, Röhren und Flaschen. »Groß oder klein?« »Lieber groß«, sagte der Mann. »Mir tut alles weh. Der verdammte Rheumatismus macht mich noch fertig.« Er merkte Giedes Blick und wurde ernst. Die zwei musterten einander, bevor Giede kurz nickte. »Sind Sie neu in der Gegend?« Ein Ire wahrscheinlich, 101
dachte er. Und Geld hat er auch, nach seiner Kleidung zu urteilen. »Wenn man das sagen kann, ich bin schon vor ein paar Wochen gekommen.« Das kaum begonnene Gespräch versandete wieder. Giede wandte sich ab und betrachtete den bunten Kalender an der Wand. Der angeheftete Block zeigte den fünfzehnten Juni. Ketters Holzbein stieß auf die Dielenbretter; er kam an die Theke zurück und brachte eine Flasche mit Arnika. »Damit können Sie sich und noch ein paar Pferde heilen«, erklärte er. »Habe ich richtig gehört, daß Sie schon seit ein paar Wochen in der Gegend sind?« Der Mann durchsuchte seine Taschen nach Kleingeld. Nachlässig warf er ein goldenes Fünfdollarstück auf das Zahlbrett. »Das stimmt.« Ketter ließ nicht locker. »Jeder aus der Umgebung kommt früher oder später einmal in unsere Stadt. Aber Sie habe ich noch nie gesehen.« Der Fremde lächelte und zeigte blendend weiße Zähne. »Ich mußte mich einrichten. Daher der Rheumatismus. Ich bin das Landleben nicht gewohnt. Wie dem auch sei, ich habe mir ein Stück Land gekauft.« »Nun, Sie konnten nichts Vernünftigeres tun, als sich in Oregon niederzulassen«, warf Giede ein. »Das ist schon ein kleines Opfer wert. Wieviel Land?« »Zuviel.« »Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen.« »Nichts Besonderes. Es ist eine verlockende Gegend, und vielleicht habe ich mich ein wenig übernommen, das ist alles.« 102
Ketter grinste. »So ist die Jugend.« Er wickelte die Flasche ein und gab Wechselgeld heraus. »Wenn Sie finanzielle Sorgen haben und Geld brauchen, hier gibt es genug Leute, die Ihnen etwas leihen könnten.« Er warf Giede einen Seitenblick zu, aber Giede hatte sich umgedreht und blickte aus dem Fenster. »Geld brauche ich nicht, Doc. Ich nehme an, man nennt Sie Doc, wegen all der Pillen und Fläschchen?« »Manche nennen mich so. Mein Name ist Ketter.« Er streckte dem Fremden die Hand hin. »Ich heiße Jon Arrow. Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Ketter.« Der Drogist wandte sich an Giede. »Ich glaube, uns hier in Oregon fehlt nichts außer Kapital und vielleicht Zäunen. Alles andere haben wir.« Er grinste hinterhältig, und sein Grinsen war für Giede bestimmt. »Wo haben Sie sich niedergelassen, Mr. Arrow?« Der Mann machte eine Kopfbewegung nach Osten. »Im Hügelland. Yonder Valley heißt das Tal. Schöner könnte man es sich nicht wünschen, aber das ganze Land ist von Schafen überlaufen! Ich habe es für Viehzucht gekauft, sechshundert Acres!« Giede riß den Kopf herum. »Was Sie nicht sagen!« Jon Arrow nahm sein Päckchen von der Theke. »Haben Sie vielleicht ein Heilmittel für einen Mann, der dumm genug ist, Viehweide zu kaufen, ohne sie zuvor gesehen zu haben, Mr. Ketter?« Ketter vermied es diesmal, Giede anzusehen. »Nun, das kommt darauf an. Manche Leiden lassen sich durch das Anlegen von Zäunen heilen.« Er schmunzelte. »Haben Sie 103
schon Ihren Nachbarn drüben im Wolltal kennengelernt?« »Den Saukerl? Nein! Aber ich habe seine Schafe kennengelernt, und das reicht mir. Ich warte auf ihn.« Ketters Lächeln wurde ein wenig ängstlich. »Das wird nicht nötig sein. Das hier ist Giede Petrie, Mister.« Die beiden musterten einander; der eine mit faltigem Gesicht, menschenscheuen Augen und von der Arbeit gebeugten Schultern, der andere momentan erschrocken, gespannt und ärgerlich entschlossen, sich dem Mann zu stellen, den er bereits haßte. »Ich bin also ein Saukerl?« fragte Giede mit einer Stimme, deren Ruhe trügerisch war. Jon Arrow schwieg eine Weile. Als die Spannung im Raum unerträglich zu werden drohte, machte er sich mit einem Räuspern Luft. »Ein Mann hat ein Recht auf seine Schafe«, sagte er dann. »Aber er hat nicht das Recht, sie auf dem ganzen Land zwischen Dan und Beersheba weiden zu lassen. Für Schafe gibt es Zäune.« Ein Rückzieher, dachte Giede. Aber der sanfte Tonfall des anderen erstaunte ihn trotzdem. »Haben Sie schon einmal gesehen, wie Schafe über einen Zaun setzen?« fragte er ruhig. »Nein, das habe ich nicht. Aber es kommt nur darauf an, daß der Zaun hoch genug ist, möchte ich meinen.« Er ging an die Tür. »Fünf Fuß sollten ausreichen, Mr. Petrie.« Dann war er fort. Ketter machte ein erleichtertes und selbstgefälliges Gesicht. »So, Giede, steck dir das gleich hinter den Spiegel«. Giede schnaubte verächtlich. »Meine Schafe sind die besten im Land und so gut wie jedermanns Rinder.« Er ver104
staute den Tee und das Cochenillepulver in der Brusttasche seines Hemdes und nahm das Paket unter den Arm. »Diese Rasse hat schon mein Vater in Spanien gezüchtet, und ich habe mir die Zuchttiere von meinem Bruder schicken lassen.« »Spanien oder Oregon, du hast gehört, was Arrow über Zäune gesagt hat.« »Du hast von Zäunen angefangen«, erinnerte Giede den Drogisten düster. Dann fiel ihm ein, daß er versprochen hatte, sechs Meter gelbe Kaschmirwolle von Habersham mitzubringen. Er eilte hinaus, ohne Ketters Antwort abzuwarten. Habershams Textilladen war nur zwei Häuser vom Drugstore entfernt. Dazwischen lag die zerkratzte Flügeltür von Milton Jones’ Saloon. Giede ließ sich nur sehr selten dort blicken, aber jetzt schob er sich mit seinem Paket unter dem Arm in das dämmerige Innere. Das Lokal war fast leer. Milton, ein schwarzäugiger Texaner mit einem Paviangesicht, grinste, als Giede an die Theke schlurfte. »Wie ein altes Maultier kommt er daher!« bemerkte Jones und bleckte die langen Zähne. Er stellte ein abgetrocknetes Bierglas ins Regal zurück und warf sich das Geschirrtuch über die Schulter. »Was darf es sein?« Giede warf einen Dollar auf die Theke. »Ein Glas Bier und einen doppelten Schnaps.« Milton schenkte ein und stellte die beiden Gläser vor Giede auf die Theke. »Ich höre, daß du nicht mehr allein in deinen Bergen bist.« Er sah zu, wie sein Gast den Schnaps hinunterstürzte, hustete und einen Schluck Bier folgen ließ. Dann stellte Giede das Glas ab und betrachtete den 105
Schaum. »Man kann alles mögliche hören«, sagte er. Er hatte weder Lust zu reden, noch den eintönigen Stadtklatsch anzuhören. Der Schnaps wärmte ihm den Magen, und er dachte an Drushella und die sechs Meter gelbe Kaschmirwolle. Seltsam, daß es gleich sechs Meter sein mußten, und obendrein gelb. Nicht leicht sauberzuhalten, und beinahe so empfindlich wie Seide. Und teuer. Wo wollte Dru ein gelbes Kleid tragen? Auf dem Hof? Sicher nicht. Er würde sie am Abend fragen. Freilich, gelb war eine Farbe, die gut zu ihren dunklen Haaren paßte. Als er sein Bier ausgetrunken hatte, konnte er sie sich gut in dem gelben Kleid vorstellen, und ging direkt zu Habersham. Giede nickte dem alten Habersham und seiner Frau zu. »Gelbe Kaschmirwolle«, sagte er, und als der Stoff vor ihm auf dem Ladentisch lag, prüfte er ihn sorgfältig. Es war ein guter Stoff, daran war nicht zu zweifeln. »Sechs Meter.« Während Habersham mit Maßstab und Schere arbeitete, bestellte Giede drei Rolle passendes Garn und ein Stück gelbe Band dazu, das er in der Auslage entdeckt hatte. Mrs. Habersham sah bewundern zu. »Das muß ein entzückendes Kleid werden.« Giede antwortete nicht und steckte das Kleingeld ein, das von der Zwanzigdollarnote übrig blieb. Er wartete, bis der Mann den Stoff eingewickelt hatte, nahm seine Pakete, nickte wieder und ging. »Giede Petrie scheint betrunkener zu sein als er aussieht«, meinte Habers harn, während er die Stoffrolle verstaute. »Sonst hielt er sich immer etwas darauf zugute, daß Martha ihre Stoffe selbst webte.« Mrs. Habersham lächelte nachsichtig »Das ist nicht für Martha, Shammy. Es ist für Drushella. Sie muß inzwischen 106
schon achtzehn sein, und Giede wird sie nicht mehr lange in seinen Nest halten können.« Sie verschränkte die fetten Arme, zufrieden über den Verkauf und über die Neuigkeit, die sie alsbald in der Stadt zu verbreiten gedachte. Giede ritt langsam und in Gedanken versunken nach Haus. Trotz des zunehmenden Mondes war es in den waldigen Hügeln stockdunkel. Später, als er den Kamm über dem Yonder Valley entlang ritt, mußte er wieder an diesen Emporkömmling Arrow denken. Der Sohn wohlhabender Eltern, wahrscheinlich, ein Mann, der sich ohne große eigene Anstrengung eine Existenz gründen konnte. Giede beschloß, einmal hinüberzureiten und nachzusehen, was dort vorging. Die Ruine eines verlassenen Blockhauses stand geisterhaft im schwachen Mondlicht, und Giede begann in der Nachtkühle zu frösteln. Als er sein eigenes Holzhaus vor sich sah, lang und niedrig am Abhang hingeduckt, mit einem überhängenden Schindeldach, wie es in den Pyrenäen üblich war, hatte er die Gedanken an Jon Arrow längst aus seinem Bewußtsein verdrängt. Er führte sein Pferd in den Stall, sattelte ab und zog seine Stiefel aus. Dann löschte er die Laterne und tastete sich durch den langen dunklen Gang zum Schlafzimmer, bemüht, Martha nicht zu wecken. Zwei Tage vergingen, bevor er Zeit fand, einen Ritt zum Yonder Valley zu unternehmen, und es waren angenehme Tage. Das ruhige, arbeitsame Leben auf der einsamen Schaffarm erschien ihm nach seinem Besuch in der Stadt doppelt beglückend. An den Abenden nähte sich Drushella ihr neues Kleid, und mehr als einmal hörte Giede mit Erstaunen und Freude, daß sie bei der Arbeit leise vor sich hin 107
summte. Am zweiten Abend sagte sie: »Jetzt ist es bald fertig, Papa.« Ihre Stimme klang stolz, aber Giede tat, als hörte er sie nicht und starrte weiter aus dem Fenster auf die untergehende Sonne. »Papa! Ich sagte, daß mein Kleid jetzt bald fertig sein wird.« Sie hielt es hoch, und er sah, wie eng es um die Taille gearbeitet war. »Ist das die Außenseite?« fragte er, weil ihm sonst nichts dazu einfiel. Drushella lächelte. »Lieber Gott, nein! Man würde mich beim Tanz auslachen, wenn die eingenähten Stäbe zu sehen wären!« Martha, die am offenen Kaminfeuer saß, richtete sich langsam auf. Giede wandte sich vom Fenster ab und sah zuerst sie, dann seine Tochter an. »Tanz? Wer hat etwas von Tanz gesagt?« Giedes Worte klangen gefährlich. Keine der beiden Frauen antwortete. »Ihr habt mich gehört! Wer hat etwas von Tanz gesagt?« Drushella hielt den Blick auf ihre Näharbeit gerichtet. Ohne aufzusehen murmelte sie: »Ich, Papa.« Eine Weile blieb es still. Die Finger des Mädchens zitterten leicht, während sie die Nadel führten. Giedes Gesicht war dunkel geworden, aber sie sahen es nicht. Dann brach er das Schweigen. »Es wird nicht getanzt. Du hängst das Kleid hinter den Vorhang in die Ecke.« Plötzlich schlug eine schwere Faust krachend auf die Tischplatte, und die beiden Frauen zuckten zusammen. »Allmächtiger Gott! Tanzen! Es wird nicht getanzt, niemals!« Martha hob den Kopf; ihr müdes Ge108
sicht war angespannt. »Niemals ist eine sehr lange Zeit, Giede, und du bist ein Dummkopf«, sagte sie leise. Noch nie hatte sie so zu ihm gesprochen. Heiße Wut stieg in ihm hoch. Und nur die Anwesenheit des Mädchens hinderte ihn daran, Martha zu schlagen. »Ich habe es gesagt, und dabei bleibt es.« Er drehte sich mit geballten Fäusten um und sah Drushella an. »Hast du mich verstanden?« Das Mädchen blickte zu ihm auf. Ihre dunklen Augen hatten wieder diesen trotzigen Ausdruck. »Ich habe verstanden. Du brauchst Mama und mich nicht so anzuschreien. Und ich werde zum Tanz gehen, ob es dir paßt oder nicht. Morgen abend, mit John Arrow.« Für einen Augenblick war es Giede unmöglich, einen klaren Gedanken auch nur zu fassen. Es war also längst ausgemacht, und Martha hatte davon gewußt und es ihm verschwiegen! Er holte aus und versetzte Drushella zwei kräftige Ohrfeigen. Martha sprang auf und fiel ihm in den Arm. »Was fällt dir ein? Wie sprichst du zu deinem Vater?« rief er zornig. »Ich werde dir beibringen, wie du dich zu benehmen hast!« »Aber da ist doch nichts dabei, Giede!« versuchte ihn Martha zu beruhigen. »Dieser Jon Arrow, der die alte Ranch im anderen Tal gekauft hat, wird sie abholen und wieder herbringen. Die jungen Leute aus der Gegend kommen in seiner neuen Scheune zum Volkstanz zusammen. Jon hat Devonrinder für sein Land gekauft – seine Scheune ist groß und schön …« Sie hielt inne. Giede stieß sie zurück. »So! Bei euch heißt er also schon 109
Jon!« Wieder schlug er mit der Faust auf den Tisch. »Ihr hintergeht mich! Wie lange ist das schon im Gange, ohne daß ich davon weiß? Du wirst nicht zum Tanz gehen, Drushella! Das kommt nicht in Frage!« Die beiden Frauen weinten, und er fühlte sich plötzlich leer und müde. Wie ein alter Mann ließ er sich auf seinen Stuhl sinken, stand aber sofort wieder auf. Er wollte selbst nachsehen, ob das mit der Scheune und dem Vieh stimmte. Er ging zur Tür, und warf sie hinter sich ins Schloß. Voller Bitterkeit sattelte er sein Pferd. Diese Hügel, die sie vor der Außenwelt abgeschlossen hatten, schienen jetzt durchlässig werden zu wollen. Er wußte, daß weiter nichts dabei war, wenn Drushella einmal tanzen ging; aber er wußte auch, daß es nicht dabei bleiben würde, daß sie sich mehr und mehr in das Leben dort draußen verstricken würde. Und dafür war sie nicht reif genug. Noch nicht. Und wie hatte es begonnen? Dru mußte mit diesem Jon Arrow zusammengekommen sein, und das mit Marthas Wissen und ihrer Billigung! Giede ritt querfeldein, den Sonnenuntergang zu seiner Linken. Dies alles bedrückte ihn so sehr, daß die gewohnte Freude über dieses schöne Land, über das gute Gras und über sein glückliches Leben in der Einsamkeit sich nicht einstellen wollte. Nach einem langen Ritt sah er das Tal grün und weich im Abendlicht vor sich liegen und brachte sein Pferd zum Stehen. Es war keine Ranch zu sehen, keine neue Scheune. Seine scharfen Augen durchmusterten jeden Winkel, jede Baumgruppe. Nicht einmal aus dem zerfallenden Lehmschornstein der alten Ranch kam Rauch. Die seit Jahren 110
verlassenen Gebäude waren schon überwuchert, eingestürzt und kaum noch zu sehen. Er atmete tief auf. Nichts regte sich in dieser weiten Landschaft, nur das vom Wind bewegte Gras und die Bäume. Er fühlte sich wieder erleichtert und sicher, bis er von neuem an den Tanz denken mußte. Über so etwas log ein Mädchen nicht, und schon gar nicht, wenn sie sich für diesen Anlaß ein neues Kleid nähte. Vielleicht stand die neue Ranch hinter den nächsten Hügeln, wo das Tal sich verengte … Er trieb das Pferd im Galopp den Hang abwärts. Schon nach zehn Minuten sah er es, ein halbfertiges Wohnhaus und eine bereits gedeckte Scheune mit offenstehenden Torflügeln. Aber die Gebäude konnten seine Aufmerksamkeit nicht lange fesseln. Durch das Tal und die Hänge hinauf bis zum Hügelkamm erstreckte sich ein neuer Weidezaun. Selbst aus dieser Entfernung sah er die hohen Stapel zugespitzter Pfosten und die dicken Stacheldrahtrollen. Traurig und mit wehem Herzen wendete er sein Pferd, nur um erneut anzuhalten. Über dem Fahrweg, der sich durch das Tal nach Westen schlängelte, hing eine weißliche Staubwolke, die langsam vom Wind abgetrieben wurde. Er sah sie wachsen, und dann hörte er das ferne Brüllen von Vieh durch die stille Dämmerung. Er saß wie versteinert und fühlte, wie dieses Tal, das er so liebte, nackt und wehrlos dalag. Es gehörte nicht länger ihm und seinen Träumen. In düstere Gedanken versunken, ritt er nach Hause zurück, sattelte ab und hängte den Sattel über den Wandhaken. Zart strich seine schwere Hand über das glatte Leder. Es stammte von seinen eigenen Schafen, er selbst hatte es 111
gegerbt, zugeschnitten und zu einem Sattel geformt. Die Nacht war hereingebrochen, aber Giede hatte noch keine Lust, die Wohnräume aufzusuchen. Er kletterte die Leiter in der Tenne hoch und verkroch sich im duftenden Heu, wo er eine Decke verwahrte. Lange lag er wach und lauschte auf das vertraute Bimmeln der kleinen Glocken seiner Schafe. Und bevor er einschlief, wußte er, was er tun würde. Der Morgen graute, als er mit Martha zusammentraf. Er stand an der Pumpe und wusch sich, während sie mit Melkeimer und Melkschemel aus dem Haus trat. Mißbilligend betrachtete sie seine mit trockenen Halmen bedeckte Kleidung. »Du hast also im Heu geschlafen«, sagte sie mit einer sonderbar fremden Stimme. »Und du hast Jon Arrows Scheune gesehen. Dann weißt du auch, daß Drushella ihn treffen wird. Hier, du kannst die Kühe melken.« Giede ließ den Pumpenschwengel los und wandte ihr sein nasses Gesicht zu. »Wenn sie nicht gehorchen will, schmeiße ich sie raus!« knurrte er. »Dann kann sie zu ihrem Jon Arrow ziehen, wenn der sie haben will. Und du alte Kupplerin wirst sehen, was dir deine Heimlichkeiten eingetragen haben.« Während sie dastand und ihn zweifelnd und entsetzt zugleich anstarrte, trocknete er sich ab, zog sein Hemd an und nahm ihr Eimer und Schemel aus den Händen. Ohne ein weiteres Wort ging er in den Kuhstall. Den ganzen Tag konnte er an nichts anderes denken, als an den Zaun, der wie eine Schlange über die nördlichen Hügel kroch. Und wenn es ihm einmal gelang, diese Vorstellung zu verscheuchen, mußte er an Drushella und das 112
Tanzvergnügen denken, das an diesem Abend stattfinden sollte. Als er am Nachmittag von den Herden zurückkehrte, vermißte er seine Tochter und vermutete, daß sie in ihrem Zimmer war, um sich für John Arrow herauszuputzen. Er ballte die Fäuste. Offenbar nahm sie seinen Befehl genau so wenig ernst wie die Drohung mit dem Hinauswurf. Er wußte nicht, was in das Mädchen gefahren war. Ihre Aufsässigkeit, ihr offener Widerstand verwirrten ihn. Was hatte er getan, womit hatte er sich diese Feindseligkeit verdient? Er liebte seine Tochter, und wenn das Leben auf der Schaffarm auch anstrengend und eintönig war, so hatte er sie doch stets gut behandelt und sie keinen Mangel leiden lassen. Gegen Abend war er so erregt, daß er seine Hände keinen Augenblick stillhalten konnte. Nachdem Martha das Eßgeschirr abgeräumt hatte, setzte er sich vor den Kamin und zündete seine Pfeife an. Martha kam wieder herein, aber sie sagte nichts und wich seinen Blicken aus. Als er es nicht länger ertrug, stand er auf, klopfte die Pfeife aus und ging über den Hof zum Gattertor, um auf Arrow zu warten. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen, und er preßte die Lippen zusammen, um seiner Erregung Herr zu werden. Und dann sah er den kleinen Zweispänner den Weg heraufkommen. Der kleine Wagen rollte schnell, von zwei munter trabenden Grauschimmeln gezogen. Der von ihren Hufen aufgewirbelte Staub verhüllte den Fahrer, und es dauerte eine Weile, bevor Giede den Mann sah. Jon Arrow trug ein rotes Halstuch und einen breitkrempigen weißen Filzhut. Arrow brachte die Pferde vor dem Tor zum Stehen und 113
sagte: »Hallo, Mr. Petrie.« Er tippte lässig an die Hutkrempe und lächelte. »Ein schöner Abend, Sir, nicht wahr?« Giede antwortete nicht; er setzte seinen rechten Fuß auf die unterste Stange des Gatters. »Ich bin Jon Arrow«, fing der andere wieder an. »Wir sind uns schon einmal begegnet.« Er sprang aus dem Wagen und wollte die Pferde festbinden. Giede sagte: »Tun Sie das nicht.« Arrow blickte auf. »Sie werden meine Tochter nicht zum Tanz ausführen, falls Sie das vorgehabt haben.« Arrows Lächeln erstarb in seinem Gesicht. »Das hatte ich allerdings vor.« »Drushella tanzt nicht.« Giede versuchte seine Stimme ruhig und beherrscht erscheinen zu lassen, aber seine Hände öffneten und schlossen sich vor Nervosität. »Ich werde es ihr beibringen.« Arrow wollte wieder sein selbstgefälliges Lächeln aufsetzen, aber Giede trat einen Schritt auf ihn zu, und der Mann sagte: »Es täte mir leid, wenn Sie mich nicht mögen. Aber Sie können Ihre Tochter nicht einsperren.« Giedes Faust traf ihn unter das Kinn. Der Schlag kam so plötzlich und hart, daß Arrow rückwärts gegen eins der Pferde taumelte. Das Tier bäumte sich erschrocken auf, und Arrow versuchte ihm, noch benommen von dem Schlag, in die Zügel zu fallen. Als das Pferd sich beruhigt hatte, klopfte er ihm den Hals. »Nun ist es gut«, murmelte er. »Du und Mr. Petrie, ihr habt euch beide umsonst aufgeregt.« Er wandte sich an Giede. »Kein Grund, die Nerven zu verlieren, Mr. Petrie.« 114
Seine Gleichmütigkeit ärgerte Giede. »Grund genug«, versetzte er kurz. »Kehren Sie um und fahren Sie zurück in – in Ihr Tal. Dies hier ist mein Land, und ich lege auf Ihre Anwesenheit keinen Wert.« Er wartete, und als Arrow nicht reagierte, ging er auf ihn zu. »Haben Sie gehört?« Jon Arrow nahm seinen geckenhaften weißen Hut ab, und Giede sah, wie seine Finger sich in den weichen Filz bohrten. »Wir werden keine Schwierigkeiten haben, Mr. Petrie. Ich habe Drushella eingeladen, zum Tanz in meine Scheune zu kommen, und sie sagte, es würde ihr Freude machen, und nun bin ich gekommen, sie abzuholen. Entschuldigen Sie mich also, während ich an Ihre Tür klopfe.« Für Giede klang es genau so, als sagte er: »Entschuldigen Sie mich also, während ich Sie niederschlage.« Arrow legte eine Hand auf den Zaun und schwang sich hinüber. Giede stand hilflos am Gatter, während der Mann mit schnellen Schritten den Hof überquerte. Die Tür öffnete sich, und Drushella kam heraus. Ihre linke Hand hielt das gelbe Kaschmirkleid über die Knöchel gerafft, während sie die beiden Stufen herunterstieg. Sie wechselte ein paar Worte mit Arrow, dann kamen sie zusammen über den Hof zurück. Drushella hatte ihr Haar glatt aufgesteckt. Giede sah Marthas guten Schildpattkamm. Als die beiden sich ihm näherten, sah Giede sie fest an. »Du gehst nicht, Dru.« Seine Stimme hatte beinahe etwas Bittendes. Aber sie verhielt kaum ihren Schritt. Sie zog den Schal fester um ihre Schultern. »Natürlich gehe ich, Papa. Sei nicht so töricht.« 115
»Du weißt, daß ich es dir verboten habe!« Die Wut über ihren frechen Ungehorsam stieg in ihm hoch. Die beiden kamen näher. Offenbar glaubten sie, er werde sie vorbeilassen. Plötzlich rannte sie schnell zu ihm, nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und hauchte ihm einen flüchtigen Kuß auf die Stirn. »Gute Nacht.« Dabei schob sie sich gewandt vorbei und durch das Gattertor. Jon Arrow war auf der anderen Seite über den Zaun gesprungen, saß schon auf dem Fahrersitz und streckte seine Hand aus, um ihr hinauf zu helfen. Giede erkannte den Trick. »Du bleibst hier!« sagte er heiser. Drushella saß schon neben Arrow im Wagen. »Unsinn, Papa. Schließlich handelt es sich doch nur um einen Tanz in der Scheune.« Giedes Stimme bebte. »Wenn du mit ihm gehst, brauchst du dich hier nicht mehr blicken zu lassen. Ich dulde keinen Ungehorsam und keine Schwindelei. Du wirst deinen Fuß nicht mehr über unsere Schwelle setzen. Du kennst mich, es ist mein Ernst.« Damit wandte er sich um und ging schwerfällig, gebeugt wie ein alter Mann zum Haus zurück. Halb hoffte er, ihre Schritte hinter sich zu hören, aber als er die Türschwelle erreichte und sich umdrehte, war der Wagen fort, und mit ihm Drushella. Über dem Fahrweg hing der Staub wie ein dünner Schleier. Martha stand am Fenster und blickte hinaus. Natürlich hatte sie gesehen, wie Drushella ihn mit ihrem Trick hereingelegt hatte, aber von seinen Worten wußte sie nichts. »Sie sieht schön aus«, sagte Martha träumerisch, ohne sich nach ihm umzuwenden, aber Giede hörte kaum hin. Er mußte daran denken, wie er vor langen Jahren einmal 116
draußen im Schnee bei den Schafen gewesen war. Er hatte mit dem Schlitten Heu hinausgebracht, und als er heimgekehrt war, hatte er Martha mit der kleinen neugeborenen Drushella im Arm vorgefunden. Jetzt ließ er sich auf einen Stuhl fallen und vergrub für einen Augenblick das Gesicht in den verarbeiteten Händen. »Ich habe ihr gesagt, daß ich es nicht dulde. Nun ist sie trotzdem gegangen. Es wird nie wieder so sein, wie es war, Martha. Ich habe ihr das Haus verboten.« Martha war eine Frau, die nie etwas anderes getan hatte, als sich schweigend unterzuordnen. Sie schwieg lange, und Giede dachte schon, sie würde nicht wagen, gegen seine Entscheidung aufzubegehren, aber da drehte sie sich um, und er sah, daß sie weinte. »Du – du glaubst, ein Mädchen will nicht sehen, wie es hinter den Bergen aussieht, wo es noch etwas anderes gibt als Sonnenaufgang, Arbeit und Sonnenuntergang; und wo es noch andere Geräusche außer dem Blöken und dem Gebimmel von Schafen gibt. Wo nicht immer die kranken Lämmer vor dem Kamin liegen und nach ihren Müttern schreien. Du glaubst, alle wären wie du und –« »Die Schafe lammen nur einmal im Jahr«, sagte er ärgerlich. »Und wir haben noch nie viele kranke Lämmer pflegen müssen.« Die Sachlichkeit seiner Worte erregte sie noch mehr, aber sie bemerkte seinen warnenden Blick und sagte nur: »Du solltest endlich aufwachen, Giede.« »Aufwachen? Ja, das ist es wohl. Ich bin zu spät aufgewacht. Ich habe nicht gemerkt, was hier vorging, und jetzt ist es zu spät. Ich weiß selbst, daß Drushella einmal heiraten 117
wird, aber sie ist noch zu jung und zu dumm.« Er seufzte. »Sie rennt mit dem Erstbesten los, verheimlicht es mir, und du mußt das in deiner Einfalt noch unterstützen.« Sie ging in die Küche, und er hörte sie bei der Arbeit laut schluchzen. Draußen verblaßte der Tag und es wurde Nacht. Giede rührte sich nicht von der Stelle. Als Martha wieder hereinkam, schien sie ihn nicht zu bemerken. Sie trug die Lampe durch den Raum in ihr kleines Schlafzimmer, und nach einer Weile sah er kein Licht mehr durch den schmalen Spalt unter der Tür scheinen. Er stand auf, verließ den Wohnraum und ging zu den Ställen. Er hatte einen Plan gefaßt, und es war an der Zeit, ihn auszuführen. Sein Streichholz flammte auf und entzündete den Docht der Stallaterne. Sein Pferd wieherte leise, und er ging zu ihm, lehnte sich an seinen Hals und streichelte das kühle, weiche Maul. Die beständige Treue und Liebe dieses Tieres erschien ihm für einen Augenblick der einzige Halt, den er auf dieser Erde noch hatte. Er spürte ein Würgen in der Kehle. »Wir haben etwas zu tun, mein Pferdchen«, murmelte er. »Du und ich.« Dann stand er einen Moment nachdenklich da und überlegte, ob er das wirklich tun sollte. Was war mit Martha geschehen? Was mit Drushella? Der Gedanke an alles Vorgefallene erfüllte ihn mit neuem Ärger. Er nahm einen Sattel, legte ihn seinem Pferd auf und führte das Tier leise hinaus, nachdem er die Laterne gelöscht hatte. Draußen schwang er sich in den Sattel. Er fühlte sich wie ein alter Mann. Er hatte viel Zeit zum Nachdenken, aber das Nachdenken machte ihn nur noch wütender. Weder konnte er seinen 118
Zorn unterdrücken, noch wollte er es. Die Hügel glitten still vorüber, der Mond stieg auf und ließ die Sterne ein wenig verblassen. Giede brachte den letzten Höhenzug hinter sich und ritt ins Yonder Valley hinunter, und nach einer Weile hörte er das schnelle, eintönige Auf und Ab der Fiedelmusik, das Stampfen von Männerstiefeln und die näselnden Rufe des Tanzmeisters. Giede war ganz ruhig. Seine linke Hand hielt die Zügel, die andere sein langes Gewehr. Bald konnte er die Scheune sehen. Giede hielt in sicherem Abstand an und spähte durch das offene Scheunentor ins Innere. Die Tänzer wirbelten auf der Tenne durcheinander, und Drushella war der leuchtendste Farbfleck in dem Gewühl. Männer umfingen sie mit ihren Armen, wirbelten sie herum, ließen sie wieder fahren und drehten sie wieder und wieder, bis Giede nicht mehr hinsehen konnte. Immerhin, sie scheint sich nicht wenig zu amüsieren, dachte er bitter. Wahrscheinlich glaubt sie, mich morgen wieder umstimmen zu können. Die Fiedelmusik brach ab, und Giede drängte sein Pferd etwas zur Seite und näher an die Scheune heran. Es war gut möglich, daß Arrow jetzt nach draußen kam. Er, Giede, war jedenfalls bereit; das Gewehr hatte er in beide Hände genommen und brauchte es nur noch an die Schulter zu heben. Dann sah er Jon Arrow und Drushella aus der Scheune kommen. Ihre Silhouetten standen, vom Laternenlicht scharf umrissen, in der Scheuneneinfahrt. Sie unterhielten sich, aber Giede hörte nichts. Plötzlich lachte Drushella hell auf. Es war fast wie Musik, und Giede zuckte zusammen. Er konn119
te sich nicht erinnern, sie jemals so lachen gehört zu haben. Aber dieser Jon Arrow, dieser geckenhafte Mann, den er haßte und der Drushella jetzt in die Dunkelheit hinausführte, er konnte sie zum Lachen bringen. Giede zitterte. Er fühlte die Nacht und die Stille um sich. Er starrte die beiden Gestalten an und dachte: Wenn er sie anrührt, töte ich ihn. Dann fiel ihm ein, daß dies ja ohnehin seine Absicht gewesen war, und er wurde plötzlich unsicher. Dann kam das Lachen wieder, so leise und kehlig, daß er sich anstrengen mußte, es zu hören. Arrows Gesicht näherte sich dem ihren, ihr leises Lachen wurde zärtlicher, und das Gewehr in Giedes Händen wog schwer. Schließlich verstummte das leise Lachen, und der dunkle Kopf des Mannes beugte sich tiefer über Drushella. Giede blickte weg. Er sah zu den Hügeln, die das Mondlicht mit Silber übergössen hatte, und hinaus über das weite Land, und er sah dieses Land, wie er es noch nie gesehen hatte. Er sah es belebt von Menschen und ihren Häusern. Und er hörte Lachen und sah das Glück seiner Tochter. Er hörte das Echo ihres Lachens über anderen Tälern, wo es eines Tages jüngere Stimmen aufnehmen und weitertragen würden. Und in alledem hörte er seinen eigenen Namen und den Marthas. Die Fiedeln begannen von neuem, aber die zwei Gestalten standen unbewegt im blassen Mondlicht. Giede legte sein Gewehr über die Knie. Er fühlte sich auf einmal schwach und stark zugleich. Und er lenkte sein Pferd zurück in die Nacht.
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Fred Crove begann sich für die Geschichte des alten Westens zu interessieren, als er für Zeitungen Überlebende aus der Pionierzeit interviewte. Schon als Junge hörte er viele Geschichten von seinem Vater, der gegen Ende des letzten Jahrhunderts als Viehtreiber durch Texas, Oklahoma und Kansas gezogen war. Weil er im früheren Indianerterritorium von Oklahoma aufwuchs, stellt er in seinen Romanen und Kurzgeschichten gern Indianergestalten dar. 1961 wurde ihm der Literaturpreis »Western Heritage Award« verliehen.
Fred Grove
Die Frau des Comanchen Eine unerbittliche Sonne brannte auf die lang auseinandergezogene Reihe Menschen herunter, die sich langsam über die gelbyerbrannte Eintönigkeit der Prärie hinschleppte. Die langen Stangen ihrer bepackten Schleifgestelle zogen tiefe Furchen durch den staubigen, ausgetrockneten Boden. Einige gingen zu Fuß, andere ritten auf ausgemergelten Pferden, Fremde in einem Land, das einst ihnen gehört hatte. Sie folgten einem einzelnen Krieger und näherten sich der Kavalleriekompanie, die außerhalb der Lehmziegelmauern des Forts Aufstellung genommen hatte. »Glauben Sie, daß sie etwas im Schilde führen?« fragte der diensthabende Leutnant nervös. Sein jungenhaftes Gesicht wandte sich hilfesuchend zu dem verwitterten Mann an seiner Seite, dessen weißer Schnurrbart über breiten, ledern wirkenden Lippen hing und dessen Aufzug für einen 121
Armeekundschafter einigermaßen ungewöhnlich war: fettige blaue Reithosen, Kalbfellweste, Kalikohemd und einen lächerlichen alten Schlapphut mit einem Band aus abgewetztem Biberfell, der ihm schon manchen Spott eingetragen hatte und den er wie eine Art Erkennungsmarke trug. Der alte Mann – er war viel älter, als er es den Offizieren gegenüber jemals zugegeben hätte – hob eine Hand abschirmend vor die Augen und blinzelte angestrengt nach vorn. Seine Augen waren nicht mehr die besten, aber er kannte diese Schar, diese Antilopensippe. Er beobachtete den Krieger, der sie anführte, das breite Comanchengesicht mit den hohen Backenknochen und dem seltsam hellen Haar. »Keine Schwierigkeiten«, erwiderte er nach einigen Augenblicken, in denen er seinen Ärger herunterzuschlucken versuchte. »Sie würden niemals ihre Familien mitbringen, wenn sie auf einen Streit aus wären. Sie sehen hier die letzte Comanchensippe, Leutnant. Behalten Sie den Augenblick in Ihrem Gedächtnis. Der weiße Mann hat ihnen die Büffel weggeschossen. Sie sind fertig, können sich nicht mehr halten. Der Krieg ist zu Ende.« Und noch manches mehr, dachte er, und seine Gedanken sprangen plötzlich zurück und ließen längst vergessene Gestalten auferstehen, sonnenbeschienene Felsklippen und die wogende Prärie, die die Heimat dieser stolzen und unglücklichen Menschen war. Und die Heimat jener weißen Frau, die vor so langer Zeit unter ihnen gelebt hatte. Es war Spätnachmittag, und die Frauen waren mit dem Sammeln von Mesquitoholz für die Feuer beschäftigt, als es Emily zum ersten Mal gelang, in die Nähe des kleinen 122
weißen Mädchens zu kommen, das am Morgen als Bärentöters Gefangene ins Lager gebracht worden war. Sie beging den Fehler, das Mädchen am Arm zu fassen, und sofort begann das Kind vor Angst zu winseln. »Laß mich los! Laß mich los!« Sie hatte einen Sonnenbrand im Gesicht, an Nase und Stirn löste sich schon die Haut. Ihr Haar war flachsblond und schmutzig. Was Emily jedoch am meisten erschütterte, war das Entsetzen in dem schmalen Gesicht und den großen blaugrauen Augen. Sie war erst neun oder zehn Jahre alt. »Dir nicht weh tun«, sagte Emily. Sie brachte die Worte nur unbeholfen hervor. Im Laufe der Jahre hatte sie ihre Muttersprache fast verlernt. Sie wollte das kleine Mädchen an der Hand nehmen, aber die Kleine ließ ihr Holzbündel fallen und rannte weg, so schnell sie konnte. Emily fing sie mit Leichtigkeit ein. Die Gefangene wimmerte und versuchte sich loszureißen, und Emily erkannte voller Mitleid, wie schwach ihre Kräfte waren. Dieses kleine weiße Mädchen war für die Arbeit im Lager nicht stark genug. Wenn der Winter käme, würde sie wie ein hilfloser kleiner Vogel sterben. »Ich weiß – ich auch weiß«, sagte Emily, bemüht, der Kleinen ihre freundlichen Absichten verständlich zu machen. Sie hielt das Mädchen fest und zeigte auf ihre eigenen blonden Haare und blauen Augen. »Schau – ich weiß. Wie du.« Allmählich schwand die Angst des Mädchens, und erst jetzt schien sie Emilys Züge richtig wahrzunehmen. Ihre Lippen bebten, sie begann zu schluchzen und ließ sich nun 123
ohne Widerstand in die Arme nehmen. Emily streichelte ihr über das Haar und murmelte Worte, die sie seit vielen Jahren nicht mehr gesagt hatte. »Dein Name, Kind?« fragte sie dann. »Mary … Mary Tabor.« »Dein Haus – wo?« »Am Fluß, bei Fort Belknap.« »Am Brazos?« Mary wagte unter Tränen zu lächeln. »Bist du dort gewesen?« »Lange Zeit her«, log Emily, weil sie der Kleinen Mut machen wollte. »Meine Eltern …«, fing Mary an, dann verbarg sie ihr Gesichtchen an Emilys Schulter und schluchzte haltlos. Emily schüttelte den Kopf. »Nicht reden jetzt. Geh zum Lager. Indianern nicht zeigen, daß du weinst. Tapfer sein.« Am Abend sagte sie zu Springender Büffel: »Das kleine weiße Mädchen, das Bärentöter gefangen hat, hätte ich gern als Helferin in unserer Hütte.« »Sie ist nicht kräftig. Du würdest dich um sie kümmern müssen.« »Sie ist nicht kräftig, weil Bärentöter schlecht zu ihr ist. Sie hat Hunger und ist voll Sehnsucht nach ihren Leuten. Ich könnte sie vieles lehren. Sie wäre wie eine kleine Schwester für mich.« Obwohl sie nicht aufblickte, fühlte sie die dunklen Augen ihres Mannes auf sich ruhen, und es wurde ihr warm ums Herz. Sie vergaß nie, daß er Wassergesicht viele Pferde für sie bezahlt hatte. Sie war stolz auf ihn. Springender Büffel war ein mächtiger Krieger, dem es nie an Gefolgsleuten mangelte, wenn er gegen Uteindianer oder Texaner 124
zu Felde zog. Und selbst wenn sie wußte, daß er die Siedlungen der Weißen überfiel, hoffte sie auf seine Rückkehr. Sie wunderte sich oft, warum er nicht noch eine andere Frau in seinen Haushalt aufnahm, denn er war ein wohlhabender Mann und hatte nur einen Sohn. Als geübtem Jäger wäre es ihm leicht möglich gewesen, mehrere Frauen und viele Kinder zu erhalten. Nur noch selten dachte sie an ihre getöteten Angehörigen. Die Ereignisse ihrer Kinderzeit waren so fern und von der Zeit verwischt, daß sie ihr manchmal wie ein unwirklicher Traum erschienen. Er beendete das Gespräch, und sie unterdrückte gehorsam ihre Ungeduld. Zwei Tage vergingen. Dann bemerkte sie, daß die Pferdeherde ihres Mannes kleiner geworden zu sein schien. Sie sagte nichts und wartete. Am dritten Tag kam Mary Tabor, um bei ihnen zu leben. »Nun erzähl«, sagte Emily. »Wo sind deine Eltern?« Mary starrte auf ihre bloßen Zehen. »Tot«, murmelte sie. »Vielleicht ist Onkel Arnos durchgekommen, aber das weiß ich nicht.« »Eines Tages … du wirst zurückgehen«, sagte Emily freundlich. »Nicht Hoffnung aufgeben. Ich immer gehofft.« Marys große Augen blickten sie forschend und neugierig an. »Du meinst, du würdest fortgehen, wenn du könntest?« Emily blickte verlegen und erschrocken zur Seite. »Springender Büffel ist ein guter Indianer«, fuhr Mary fort. »Er hat gute Pferde für mich bezahlt. Er ist nicht gemein wie Bärentöter, der seine Frauen schlägt. Und du bist 125
auch so gut zu mir, Emily. Ich will dafür auch arbeiten. Ich kann ein bißchen nähen und kochen. Und ich kann sogar Maiskuchen backen.« »Hier kein Maismehl.« Emily lächelte und wußte, daß Mary keine Belastung sein würde. Sie half der Kleinen, ihre schmutzigen Haare zu waschen und sie zu einem Zopf zu flechten. Und in den folgenden Tagen nähte sie ihr Wildlederkleidung und verzierte sie mit den Mustern, die das Erkennungsmerkmal des Stammes waren. Marys Nähe und der ständige Umgang mit ihr weckte in Emily die Sprache ihrer Kindheit, und je mehr vergessene Worte und Ausdrücke sie wiederentdeckte, desto stärker wurde jene unbestimmte Sehnsucht nach der Welt, die sie verloren hatte. Deutlich wie schon lange nicht mehr sah sie die Quelle hinter den Palisaden, wo sie mit den anderen Kindern gespielt hatte, die blühenden Pflaumenbäume und die Gesichter ihrer Mutter und anderer Bewohner der befestigten Siedlung. Sie dachte wieder an ihren Vater, der nicht da gewesen war, als die Indianer gekommen waren. War er noch am Leben? Hatte er nach ihr gesucht, oder gar Lösegeld geboten? Sie fühlte neue Kraft in sich. Und sie widmete ihrem Sohn Gelber Vogel mehr Zeit und Aufmerksamkeit als gewöhnlich. »Friede ist besser als Krieg«, sagte sie einmal, als Springender Büffel nicht da war. »Es ist nicht gut, zu töten.« »Aber die Weißen töten uns«, erwiderte der Junge. Er hatte die Hautfarbe und die hohen, breiten Backenknochen seines Vaters, aber der volle Mund, die grauen Augen und das hellbraune, gewellte Haar verrieten, daß er auch das Blut seiner weißen Mutter in den Adern hatte. In seinem 126
Denken und Fühlen war er allerdings ein Comanche. »Es erfordert viel Tapferkeit, dem Weg des Friedens zu folgen, wenn die anderen nach Krieg und Kampf heulen«, sagte sie. Der Junge blickte verwundert auf. »Mein Vater ist tapfer«, erklärte er dann. »Und er kämpft.« Wenn die Diskussion an einem solchen toten Punkt angelangt war, sprang er gewöhnlich erleichtert auf und rannte hinaus. Aber Emily hörte nicht auf, ihn in ihren Träumen als einen weißen Mann zu sehen, der in einem Holzhaus mit Fenstern wohnte. Als die Sippe ihre Sommerwanderung zu den weiten Prärien des Llano Estacado antrat, wuchs ihre geheime Unzufriedenheit, und sie sehnte sich mehr denn je nach den Stätten ihrer Jugend. Ihr Entschluß nahm langsam bestimmte Formen an. Auf ihrer Wanderung hielt sich die Sippe für einige Zeit an einem Platz auf, der Casas Amarillas – Gelbe Häuser – genannt wurde. Es war ein von hohen Felswänden eingeschlossenes Tal, in dem früher Puebloindianer gewohnt und tiefe Höhlen in die gelben Sandsteinfelsen gegraben hatten. Der Ort war ein für den Indianerhandel wichtiger Umschlagplatz, und die mexikanischen Comancheros warteten hier mit ihren vertrauten, hochrädrigen Ochsenkarren, den Carretas, auf die Indianer. Emily vermochte sich diesmal nicht über die Abwechslung zu freuen. Mary half ihr, so gut sie konnte, beim Aufrichten der Zeltstangen, die untereinander mit Querhölzern verbunden wurden. Dann bedeckten sie das Rahmenwerk mit Büffelhäuten. Nach der Arbeit lief Mary mit den ande127
ren Kindern zu den Ochsenkarren, um die Händler und ihre Waren zu bestaunen. Schon bald kam sie zurückgelaufen. »Da draußen ist ein weißer Mann!« »Ein weißer Mann?« Emily blickte auf. »Hier ist noch nie ein weißer Mann gewesen.« Sie schüttelte den Kopf; es war nicht möglich. »Er ist bei den Händlern«, beharrte Mary. »Er hat schwarze Stiefel und einen großen runden Hut mit einem Band aus Biberfell. Die Kinder nennen ihn Biberhut.« Emily stand auf. »Und er ist weiß? Bist du sicher?« »Springender Büffel hat sich mit ihm unterhalten, und ich konnte ihn ganz aus der Nähe sehen.« »Dann wird er herkommen«, sagte Emily, mehr zu sich selbst. Sie wußte, daß es lange Palaver geben würde, bevor Springender Büffel, der mehr Pferde besaß als jeder andere Krieger, sein Geschäft zum Abschluß brächte. Zu ihrer Enttäuschung kehrte Springender Büffel allein zurück. Er machte ein geheimnisvolles Gesicht, als er unter seinen Poncho griff und etwas Glänzendes hervorzog. Sie hielt den Atem an. Es war eine silberne Halskette, an der in jedes Glied ein Türkis eingelassen war. Das Schmuckstück schimmerte in der Sonne, es war sein erstes richtiges Geschenk für sie, und es mußte ihn mindestens zwei Pferde gekostet haben. Sie bestaunte es verwirrt und wollte es sich schon um den Hals legen, als ein Gedanke sie innehalten ließ. Springender Büffel wußte nicht daß sie mit dem weißen Händler über ihre Angehörigen sprechen wollte. Sie hinterging ihn also, und da war es nicht richtig, 128
sein Geschenk zu tragen. Doch zurückweisen konnte sie es auch nicht. »Es ist zu schön, um es jetzt bei der Arbeit zu tragen«, sagte sie demütig und sah den leichten Anflug von Enttäuschung in seinen braunen Augen als er wieder ging. Sie legte die Halskette zu ihren wenigen persönlichen Habseligkeiten – den Muschelohrringen, den Nähnadeln und Ahlen aus zugespitzter Knochen, einer Spiegelscherbe und einem zerbrochenen Kamm, die sie unter den Überresten eines alten Lagerplatzes gefunden hatte. Gegen Abend des nächsten Tages trug sie eine Büffelblase zum Wasserloch am Fuß der gelben Felsen. Auf dem Rückweg blieb sie plötzlich stehen und mußte die gefüllte Blase, die sie auf dem Kopf trug, mit einer Hand festhalten, so fuhr sie zusammen. Ein knochiger weißer Mann mit einen breitkrempigen Hut schlenderte an der Seite ihres Mannes durch das Indianerlager. Sie wartete, bis die beiden das Zelt betreten hatten, dann begann sie fieberhaft nachzudenken. Hatte der weiße Mann ihre helle Haut bemerkt? Ihre blonden Haare? Sie hängte die Wasserblase an eine Zeltstange und betrat zögernd das Zelt. Im Eingang blieb sie absichtlich einen Moment stehen, damit Biberhut sie im vollen Licht sehen konnte. Als ihre Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten, sah sie ihren Mann der Türöffnung zugewandt auf seinen Decken sitzen. Zu seiner Linken, auf dem Ehrenplatz, saß der Fremde. Er schien sie nicht zu bemerken. Sie nahm den Wasserkessel und verließ niedergeschlagen und entmutigt das Zelt. Als Comanchensquaw durfte sie den fremden Mann im Lager nicht ansprechen. Man würde ihren Mann 129
auslachen, wenn seine Frau mit Fremden sprach. Aber warum sollte sie, eine Gefangene, auf ihn und seinen guten Ruf als Krieger Rücksicht nehmen? Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Gelber Vogel kam gerannt, er hatte Hunger. Sie gab ihm seine Mahlzeit und sah ihn in die Dämmerung davonlaufen, zusammen mit einem halben Dutzend gleichaltriger Jungen. Dann blieb sie am Feuer vor dem Zelt sitzen und lauschte auf die murmelnden Stimmen aus dem Inneren. Ein Gedanke kam und wollte sich nicht mehr abschütteln lassen. Sie entleerte die Wasserblase in den großen Kochkessel und ging langsam zur Quelle, um sie erneut zu füllen und dort zu warten. Die Dämmerung sank nieder. Als sie nicht länger warten konnte, ohne Gefahr zu laufen, daß man ihre lange Abwesenheit bemerkte, sah sie eine Gestalt aus dem Zelt kommen und zum Händlerlager zurückkehren. Sie erhob sich, um ihm den Weg abzuschneiden. Aber die erwartungsvolle Spannung machte rasch neuer Unsicherheit Platz, und sie ging langsamer. Was sollte sie machen, wenn er wieder so tat, als sähe er sie nicht? Sie konnte jetzt seine schweren, gleichmäßigen Schritte hören. Aber nicht einmal blickte er in ihre Richtung. Seine Augen waren in die Ferne gerichtet, und er schien ganz in seine eigenen Gedanken versunken. Der Biberhut ließ ihn größer aussehen, als er tatsächlich war. Sie beschleunigte ihren Schritt und erreichte vor ihm den Weg. Jetzt konnte er sie nicht mehr übersehen. Sie begegnete seinem Blick und wartete auf ein Zeichen, aber es kam keines, obwohl er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war. 130
Sie hob ihren Kopf. Sie war eine Weiße, keine Indianerin. Er schien ihre Gedanken erraten zu haben, denn zu ihrer Erleichterung blieb er stehen und sagte leise: »Ich weiß, Madam … Sie sind eine Weiße.« Seine Stimme klang mitleidig und hilflos zugleich. Sie legte ihre rechte Hand auf die Brust. »Ich Emily – Emily Bragg«, sagte sie plötzlich, und im gleichen Augenblick ärgerte sie sich über sich selbst. Sie hatte so lange darüber nachgedacht, was sie sagen wollte, und nun sprach sie in ihrer Aufregung stockend und unkorrekt, wie sie das vor Marys Ankunft getan hatte. »Bragg? Bragg?« Er kratzte sich das Kinn, runzelte die Stirn und wiegte nachdenklich seinen Kopf. Sein Gesicht hatte fast die Farbe seines braunen Schnurrbartes. Emily überwand ihre Nervosität. »Mein Vater heißt Josiah Bragg. Er hat an einem Fluß eine befestigte Niederlassung gegründet. Die Einwohner nannten sie Fort Bragg. Dann kam ein Überfall, und alle wurden getötet.« »Das war am Novasota, nicht?« fragte er. »Ja, ich kann mich erinnern. Sind Sie seitdem immer bei den Antilopenessern gewesen?« »Seit meinem zwölften Lebensjahr.« Er wich ihrem Blick aus. »Man hat Sie nicht getauscht oder von einem Stamm zum anderen verkauft?« »Nein.« Er schien erleichtert. »Und jetzt sind Sie – leben Sie mit Springender Büffel?« »Ich bin seine Frau«, antwortete sie, nicht ohne Stolz. »Hören Sie! Ich habe noch Verwandte. Ich weiß es. Sie 131
werden Lösegeld bezahlen.« »Ich dachte, Sie hätten gesagt, alle wären umgebracht worden.« »Mein Vater war bei den Siedlungen im Osten, als der Überfall geschah.« Sie sprudelte ihre Sätze hervor, hielt aber plötzlich inne. Sie wollte ihm doch zuerst von Mary erzählen. »Hier ist ein kleines weißes Mädchen – Mary Tabor. Ihre Familie lebte am Brazos. Vielleicht sind noch Angehörige am Leben. Die Soldaten von Fort Belknap werden es wissen. Jemand wird sich an den Überfall erinnern, er war erst in diesem Frühjahr. Ihr Vater hatte eine Viehranch.« Emily wußte nicht, ob Marys Eltern wohlhabend gewesen waren oder nicht. In ihrer Erinnerung waren im Grenzland alle Leute arm. »Ich weiß, daß ihre Angehörigen und meine Lösegelder bezahlen werden. Viele Gewehre, vielleicht auch Decken und Pferde.« »Und was ist mit Ihrem Jungen?« fragte der Mann. »Glauben Sie, daß Springender Büffel außer Ihnen auch den Jungen hergeben wird?« Sie schüttelte ausweichend den Kopf und berührte seinen Arm in einer bittenden Geste. »Ich weiß nur, daß ich von der Heimkehr träume, seit mich die Indianer gefangengenommen haben. Werden Sie sich erkundigen?« Sie wartete, während ihre Kehle sich zusammenschnürte. Der Rauch von den Feuern lag wie eine graublaue Nebelwolke vor den Felsen. Die ersten Sterne erschienen am Himmel. »Madam«, sagte der Mann endlich,, »ich habe zwar Waren mitgebracht, aber ich bin kein richtiger Comanchero. Ich bin Kundschafter für den Staat Texas. Zwischen den Staaten steht ein großer Krieg bevor.« Als sie ihn verständ132
nislos und fragend ansah, versuchte er es besser zu erklären. »Weiße gegen Weiße. Amerikaner gegen Amerikaner. Norden gegen Süden. Ein Bruderkrieg, eine schlimme Sache. Texas will, daß die Comanchen friedlich bleiben. Darum bin ich hier.« »Sie werden sich erkundigen?« wiederholte sie. Sie hatte nichts von alledem verstanden. Er antwortete nicht sofort. »Ich werde es versuchen«, sagte er schließlich. »Vielleicht kann ich jemanden ausfindig machen. Wenn ja, werde ich einen Reiter schicken. Der Mann kann sagen, daß die Tejanos zwei Weiße suchen, Mädchen in Ihrem und Marys Alter, und daß sie bereit sind, für ihre Freilassung etwas zu geben.« Sie dankte ihm mit einem Blick, weil sie kein Wort herausbrachte. »Madam, Sie sind eine tapfere Frau«, sagte der Mann. »Aber machen Sie sich keine zu großen Hoffnungen. Wenn ich keine Angehörigen finde – nun.« Er hob vielsagend die Schultern. »Außerdem kann es sein, daß der Stamm Sie nicht gehen läßt.« »Ich bin die Frau eines geachteten Kriegers«, sagte sie, »nicht die Sklavin des Stammes.« Der Mann sah sie nachdenklich und zweifelnd an, dann nickte er kurz und setzte seinen Weg fort. Emily klammerte sich an das Versprechen des Fremden, während die Tage einförmig vergingen und die Sippe von einem Wasserloch zum anderen zog. Im Spätsommer kamen die Antilopenesser nach langer Wanderschaft zu den Casas Amarillas zurück, wo das tiefe Brüllen der Bisonbullen die weiten Ebenen erfüllte und reichliche Nahrung für den kommenden Winter versprach. 133
Dort fand sie der dunkelhäutige Reiter. Emily zitterte vor Erregung, während sie ihm Essen vorsetzte und die Fragen unterdrückte, die sie bestürmten. War ihr Vater, war Marys Onkel am Leben? Sie verrichtete schweigend ihre Frauenarbeit und verließ dann das Zelt, um die Männergespräche nicht zu stören. Springender Büffel und der Fremde sprachen lange miteinander, und schließlich kehrte der Mann zu seinem angepflockten Pferd zurück und wartete. Es schien lange zu dauern, bevor Springender Büffel sie ins Zelt rief, und sie ihm im Dämmerlicht des Inneren gegenüberstand. Sie hatte ihn nie gefürchtet, aber die Sitte verbot es ihr, ihm in die Augen zu sehen, solange er sie nicht anredete. »Biberhut«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme, »schickt mir eine Botschaft von den Tejano-Häuptlingen. Sie wollen dich und das kleine weiße Mädchen loskaufen.« Sie starrte auf den gestampften Boden und hoffte, daß er ihr die Freude und Erleichterung nicht anmerkte. »Dein Heim ist hier«, fügte er hinzu. »Ich bin keine Comanche«, erwiderte sie, aufblickend. »Ich möchte zu meinen Leuten zurückkehren.« »Es wäre nicht gut. Deine Haut ist weiß, aber dein Herz ist das einer Comanchin.« »Ich bin eine weiße Frau. Ich möchte, daß mein Sohn als ein weißer Mann lebt.« Seine dunklen Augen blitzten erstaunt und zornig auf. »Mein Vater ist reich«, sagte sie. »Er wird viel für mich bezahlen.« Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen. Seine 134
Augen hatten einen Ausdruck, wie sie ihn noch nie an ihm gesehen hatte. Schweigend schritt er an ihr vorbei und verließ das Zelt. Blaß und mit zitternden Knien folgte sie ihm bis zum Zelteingang und sah, wie er etwas zu dem fremden Reiter sagte. Er gab ihr keine Erklärung, und am folgenden Morgen ritt er allein aus und nahm nur sein Medizinbündel mit sich. Nach drei Tagen kehrte er zurück, abgezehrt und hohläugig. Bald hörte sie die Stimme des Ausrufers: »Ihr Freunde des tapferen Kriegers Springender Büffel! Kommt heute abend zu seinem Zelt. Er wird euch zum Kampf gegen die Utes führen.« Emilys Herz krampfte sich zusammen. In diesem Augenblick wurde sie wieder die Comanchenfrau, die um ihren Mann fürchtete. Bekümmert sah sie, wie die Krieger ihre Schilde aufhängten, damit sie die mächtige Sonnenmedizin einsogen, und ihre Waffen überprüften; alle bis auf Springender Büffel, der lediglich seine lange Wurflanze nahm, die nur die Tapfersten trugen. Ein Lanzenträger floh vor keinem Feind, und in Emily wuchs das Gefühl der Gewißheit, daß er nicht zurückkehren würde. Den ganzen Nachmittag hörte sie ihn im Zelt die alten Kriegslieder singen und die Götter anrufen, und gegen Sonnenuntergang zogen die Krieger feierlich durch das Lager. Sie würden noch heute abend aufbrechen, denn es war schlecht, am Tage auszureiten. Als es dunkel wurde, versammelte sich die ganze Sippe um ein großes Feuer. Der Trommler begann hohlklingende Rhythmen zu hämmern, und die alten Männer erhoben ihre Stimmen zum 135
Kriegsgesang. Dann formierten sich die Krieger zum Tanz. Emily hielt sich mit den anderen Frauen im Hintergrund, aber als der Tanz zu Ende war, schenkte ihr Springender Büffel keinen Blick, und sie wußte, daß er sie aus seinem Herzen gerissen hatte. Die folgenden Tage verbrachte sie mit Selbstvorwürfen, sie hatte Angst und hegte zugleich unsichere Hoffnungen. Mehrmals erstieg sie die Felsen, um in die Ferne zu spähen und nach den heimkehrenden Kriegern Ausschau zu halten. An dem Nachmittag, als sie am südlichen Horizont eine Bewegung ausmachte, dachte sie zuerst an die Krieger. Lange beobachtete sie die Staubwolken über der hitzeflimmernden Ebene, bis sie sah, daß sie nur sehr langsam näherkamen. Das waren keine Krieger. Es waren Maultiere, die zwei hochrädrige Wagen zogen. Aber dann dachte sie an Mary und eilte ins Lager zurück. Sie standen vor dem Zelt und warteten auf Biberhut, der sich seinen Weg durch die Comanchen bahnen mußte, die seine Wagen umschwärmten. Emily nahm die Kleine bei der Hand. »Es ist alles gut«, sagte er, als er vor ihnen stand. Sein breites Lächeln kündigte eine gute Nachricht an. »Ich habe viele Dinge mitgebracht – Decken, Tabak, Kochtöpfe, Kaffee und sogar ein paar Gewehre.« Der Mann schwieg einen Augenblick, dann sah er Emily an. »Madam, Ihr Vater ist noch am Leben. Wo die alte Siedlung war, ist jetzt eine kleine Stadt entstanden.« Emily fühlte ein Würgen in der Kehle. Ihre Augen verschleierten sich. »Ist – ist er alt?« fragte sie. »Ich meine – sieht er alt aus?« In Wahrheit wußte sie nicht, was sie meinte oder sagen sollte. 136
»Sein Haar ist schneeweiß. Aber er ist ein rüstiger Mann für sein Alter. Er handelt mit Vieh und pflanzt Baumwolle. Es geht ihm sehr gut.« »Hat er – ist er –«, stammelte Emily. »Er hat nie wieder geheiratet, falls Sie das wissen wollen. Er lebt allein und er sagt, Sie seien alles, was er habe. Er möchte Sie wieder bei sich haben, Madam. Er hat nie aufgehört, nach Ihnen zu forschen.« Seine Stimme veränderte sich. »Ich denke, wir sollten morgen fahren.« Emily sah ihn erstaunt an. »Fahren … morgen? Mein Mann ist auf einem Kriegszug gegen die Utes.« Sie zögerte, und dann fragte sie: »Und mein Sohn?« »Hat Springender Büffel nichts gesagt?« fragte er verdutzt zurück. »Das ist seltsam. Er hat meinem Boten im Sommer seine Entscheidung mitgeteilt. Sie können nach Hause gehen. Sie und Mary. Mit mir. Was den Jungen angeht, so soll er selber entscheiden, ob er mitgehen oder bleiben will. Außerdem hat Springender Büffel jedes Lösegeld abgelehnt. Ihr Vater hat die Sachen trotzdem geschickt – als Zeichen seiner Freundschaft und seines guten Willens.« »Mein Mann ist fort«, sagte sie wieder. »Ich kann jetzt nicht weg. Er und seine Krieger sind schon lange unterwegs.« Biberhut zupfte an seinem Schnurrbart. Seine klugen Augen musterten sie nachdenklich. »Das ist noch nicht alles, was ich in Erfahrung gebracht habe, Madam. Ich habe mich bei der Garnison von Fort Belknap erkundigt. Von Marys Angehörigen ist keiner mehr am Leben. Tut mir leid.« 137
Marys Finger krallten sich in Emilys Handfläche. Aber die Kleine weinte nicht, wie sie es noch vor Monaten getan haben würde. »Nun, Madam«, sagte er bedächtig, »ich kann ein paar Tage warten, länger nicht. Und ich werde nie wieder hierher zurückkommen. Bedenken Sie es gut.« Damit wandte er sich ab und ging zu seinen Wagen, um die Maultiere abzuschirren. Am Nachmittag des zweiten Tages nach Biberhuts Ankunft hörte Emily aufgeregte Rufe der anderen Frauen und rannte mit ihnen zum Rand des Lagerplatzes. Noch bevor sie ihn erreichte, hörte sie die schrillen Klageschreie, und dann sah sie einen Krieger mit schwarzbemaltem Gesicht. Hinter ihm ritten die anderen Krieger, die den Feldzug überlebt hatten. Sechzehn Männer waren ausgeritten; nur neun kehrten ins Lager zurück. Springender Büffel war nicht unter ihnen, wie sie erschrocken feststellte. Sie strauchelte, der Himmel schien sich über ihr zu drehen. Als sie sich wieder gefangen hatte, bemerkte sie das Schleifgestell aus frischgeschnittenen Jungholzstämmen, das von einem der Pferde gezogen wurde. Sie lief unsicher darauf zu und sah ihn in eine Decke gehüllt auf dem Geflecht aus Zweigen liegen. Der lange Speer lag an seiner Seite, und er war nicht zerbrochen. Ein blutiger, tiefer Schnitt lief quer über seine Brust. Seine dunklen Augen standen offen, schienen sie aber nicht zu bemerken, als sie sich über ihn beugte. Einer der Krieger sagte: »Er hat viele Feinde mit seiner Lanze niedergestreckt, bevor er fiel. Er sagte, wir sollten ihn liegen lassen, aber 138
wir nahmen ihn mit uns. Seine Seele will in seinem Körper bleiben, aber sein Herz ist auf dem Grund.« Sie folgte ihnen stumm vor Schmerz, als sie ihn in sein Zelt trugen und auf sein Lager aus Büffelhäuten und Decken legten. Er hat versucht, zu sterben, dachte sie, aber er war zu stark, zu tapfer. Und sie war stolz auf ihn. Gelber Vogel saß zu Füßen seines Vaters, um ihm beizustehen. Und während Emily die klaffende Wunde wusch und verband und angstvoll auf das schwere, angestrengte Atmen ihres Mannes lauschte, schlüpfte Mary Tabor herein. Sie verhielt sich still, und wagte erst nach einer ganzen Weile, Emilys Arm zu berühren. Als Emily sich nach ihr umwandte, sah sie wieder die Angst in den großen Kinderaugen, wie damals, als sie in das Indianerlager gebracht worden war. Mary zeigte zur Tür, wo Biberhut stand und wartete. Emily beendete ihre Arbeit, dann trat sie mit Mary vor den Eingang. »Ich habe gesehen, wie sie ihn brachten«, sagte der Mann und nickte, um ihr sein Bedauern auszudrücken. »Aber ich muß jetzt Bescheid wissen, Madam. Ich verstehe, es ist in diesem Augenblick nicht leicht für Sie, die Entscheidung zu treffen.« Emily spürte Marys kleine Hand in der ihren, und die Bilder der Siedlung am Fluß und das Gesicht ihres Vaters standen wieder verlockend vor ihr. Sie sah die Gesichter ihrer Jugendzeit, die Wege zwischen den Feldern und die Umrisse der Hügel. »Nicht schwerer als damals«, sagte sie dann und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, mein Entschluß stand schon an 139
dem Tag fest. Ich wußte es bloß noch nicht. Meine Heimat ist hier.« Sie schwieg, und plötzlich kam ihr ein neuer Gedanke. »Aber Mary wird mit Ihnen gehen! Mein Vater ist alt, sie wird ihm eine Stütze und eine gute Tochter sein.« Mary schluchzte und klammerte sich fester an Emilys Hand. Der Fremde, den die Indianer Biberhut nannten, starrte sie mit offenem Mund an. Er schluckte, seine breiten Lippen schlossen und öffneten sich wieder, und er betrachtete sie nachdenklich und mit einem Anflug von Traurigkeit. Und dann tat er etwas Seltsames. Er nahm seinen Hut vom Kopf und verneigte sich leicht. Für sie war es eine ungewohnte Geste, die sie nicht verstand, weil sie sich nicht an sie erinnerte. Aber sie fühlte, daß es eine gute Geste war. Mary konnte nicht aufhören zu schluchzen. »Emily, laß mich nicht allein!« Emily ließ sich nicht beirren, sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie nahm Marys Hand und führte sie die wenigen Schritte zu Biberhut. »Geh mit ihm – und sei tapfer«, sagte sie und küßte der Kleinen die nasse Wange. »Sieh dich nicht um.« Sie sah die beiden fortgehen. Einmal schien Mary zurückblicken zu wollen. Man konnte sehen, daß sie weinte, aber sie blickte nicht zurück. Emily machte kehrt, ging ins Zelt, suchte die Halskette heraus und legte sie sich um den Hals. Als sie sich umdrehte, sah sie, daß Springender Büffel zu ihr aufblickte. Sein dunkler, warmer Blick lag mit einem Ausdruck großer Zuneigung auf ihr. »Es wird nie eine andere Frau in diesem Zelt wohnen«, sagte er. 140
Sie beugte den Kopf. Die Gesichter ihrer alten Träume waren verblaßt und vergangen. Nur die Gesichter ihres Mannes und ihres Sohnes waren wirklich.
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T. V. Olsen, eines der jüngeren und sehr aktiven Mitglieder der Vereinigung amerikanischer Western-Schriftsteller, ist Autor mehrerer Romane und zahlreicher Kurzgeschichten. Seine erste veröffentlichte Kurzgeschichte »Backtrail« wurde für das amerikanische Fernsehen verfilmt. Auf seinen Reisen und Wanderungen hat er weite Gebiete des Westens durchstreift.
T. V. Olsen
Kampf um Land »Halt den Kopf hoch«, pflegte mein Vater zu sagen. »Geh aufrecht und schau nicht auf den Boden. Es macht nichts, wenn man Angst hat, Hauptsache, man läßt es sich nicht anmerken.« Pa hatte leicht reden, denn er war so gebaut, daß er die meisten anderen Leute aus der Vogelperspektive sah. In einem Land großer, kräftiger Menschen war er einer der größten; einen Meter neunzig ohne Stiefel, breit wie ein Schrank und voller Muskeln, hart wie Hickoryholz. Nicht, daß er seine Größe und Stärke mißbrauchte; er war ein Pionier, einer, der aufbaute, kein Zerstörer. Fast immer lag ein Ausdruck in seinen Augen, der mich an ferne, blaue Horizonte erinnerte. Nur manchmal schienen kleine blaue Blitze von ihnen auszugehen. Pa war in der Armee von Virginia Infanteriehauptmann gewesen, aber nach dem verlorenen Krieg hatte er seine Heimat verlassen. »Die verdammten Yankeepolitiker und ihre halsabschneiderischen Bürokraten haben uns Südstaat142
lern in unserem eigenen Land das Leben zur Hölle gemacht«, knurrte er oft. »Und wenn man nicht einmal seinen Stolz behalten kann, ist man nicht viel besser als Dreck.« Er hatte sich in Wyoming niedergelassen, als der erste Ansturm der Goldsucher abgeebbt war und die große Zeit der Rinderbarone begann. Unter diesen Umständen war es ganz natürlich, daß Pa Viehzüchter wurde. Seine Ranch baute er mit eigenen Händen aus dem Nichts auf. Er arbeitete von Sonnenaufgang bis in die Dämmerung hinein und hatte es nach einigen Jahren so weit gebracht, daß er drei Männer einstellen konnte. Als er meine Mutter heiratete, baute er am Fuß der Absarokaberge ein stabiles Steinhaus, das mit seinen dicken Wänden im Sommer kühl und im Winter warm war. Pa übernahm sich nicht, aber er baute mit dem Blick auf die Zukunft. Er weidete seine kleine Herde auf eigenem und auf offenem Land und erwarb sich sogar Hugh Buckhorns Respekt. Der alte Buckhorn besaß die große Chainlink-Ranch, die sich über die ganze Osthälfte unseres Tals ausbreitete. Daran schloß sich das von Bergen eingerahmte Westende an, wo unsere Ranch lag. Dieser Buckhorn hatte das Land schon in den fünfziger Jahren besiedelt, und während Pa bestrebt war, seinen Besitz zu stabilisieren, war Buckhorn von einem fieberhaften Expansionsdrang besessen. Sein Weideland schloß das unsrige an drei Seiten ein, und er beanspruchte mehr von dem offenen Land, als er je gebrauchen konnte, aber er respektierte unsere Grenzen. Buckhorn war böse und hart. Pa war nur hart, aber das genügte. Die anderen kleinen Rancher saßen am Westrand des 143
Tals und im hügeligen Hinterland; sie blieben sorgfältig bemüht, ihre Herden innerhalb ihrer Grenzen zu halten. Es hatte sich alles leidlich eingespielt, bis dieser Siedler kam. Er war der erste seiner Art in unserem Tal. Joe Lynch war ein armer Schlucker, der den Versuch machen wollte, seine sieben oder acht Hektar Staatsland zu beiden Seiten des Tie Creek mit Getreide und anderen Feldfrüchten zu bebauen. Der Tie Creek bildete mit seinen zahlreichen Windungen die ungeschriebene Grenze zwischen uns und Buckhorn, so weit das offene Land reichte. Dieser Lynch übernahm eine längst verlassene und schon halb verfallene Feldhütte der Chainlink und bezog sie mit seiner abgehärmten Frau und einer Brut von fünf schmutzigen, langhaarigen Kindern. Joe Lynch war ein Arbeiter. Innerhalb einiger Wochen hatte er die Hütte instand gesetzt und vergrößert, eine kleine Scheune gebaut und seine neue Heimstatt zu einem bescheidenen Bauernanwesen gemacht. Pa fluchte und grollte etwas, aber im allgemeinen hielt er sich ans Gesetz. Nach seiner Meinung war der Boden im Tal als Bauernland ungeeignet. Ein paar Siedler mochten kommen und ein Jahr oder auch länger aushalten, aber auf lange Sicht würde das Land sie zum Aufgeben und Weiterziehen zwingen und von neuem als Weide dienen. Ich glaube, der richtige Ärger begann erst, als Joe Lynch anfing, sein Land mit Stacheldrahtzäunen zu umgeben. Das war es, was die alten, dem freien Land verbundenen Viehzüchter am meisten haßten – und vielleicht auch fürchteten, denn der Stacheldraht bedeutete das Ende einer Ära.
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In jenem Frühsommer des Jahres 1888 war ich zwölf Jahre alt. An einem sonnigen Morgen erschien ich zum Frühstück, nachdem ich wie an jedem Tag unsere Milchkuh gemolken hatte. Unser Haushalt war klein, aber gemütlich, und ich merkte sofort, daß etwas nicht stimmte. Pa saß am Küchentisch und verdrückte mit seinem üblichen Appetit gewaltige Mengen Maisbrot, Speck und Kaffee, während Ma zwischen Küchenherd und Tisch hin und her eilte. Nur Pas Augen blitzten, und Mas Haltung verriet Ärger; ihr rundes Gesicht war jedenfalls nicht nur von der Hitze des Herdfeuers gerötet. Ich drückte mich zur Brennholzkiste hinüber, legte meinen Armvoll Scheite hinein und war vorsichtig darauf bedacht, die gespannte Stille nicht durch unnötige Geräusche zur Entladung zu bringen. Dann nahm ich meinen Platz gegenüber von Pa ein. Der alte Mann aß seinen Teller leer und zündete die Pfeife an. Ich wußte, daß er auf mich wartete, darum schlang ich mein Essen schnell herunter, bis mich Ma anfuhr: »Tim, mein Gott, friß doch nicht so!« Als ich den letzten Bissen verdrückt hatte, sagte Pa ganz ruhig: »Junge, du kannst die Arbeit liegen lassen. Heute reitest du mit mir.« Ma drehte sich um, und ihre Stimme war scharf und gereizt. »Jud Tasker, du wirst den Jungen nicht mit dir nehmen. Es ist schon schlimm genug, daß du diese unchristlichen Dinge im Kopf hast! Du brauchst nicht auch noch den Jungen hineinzuziehen.« Pa tat, als hörte er nicht; das war so seine Art. Er fuhr einfach fort, als habe es keine Unterbrechung gegeben: »Du weißt warum, Timmy, eh?« 145
»Nehmen wir die Männer mit?« Meine Stimme muß recht aufgeregt geklungen haben, denn Pa lächelte ein wenig. »Nein, mein Junge. Das hier geht nur mich und Joe Lynch etwas an.« Das Lächeln verblaßte, als er zu Ma hinsah, und er machte eine Geste, die um Verständnis zu bitten schien. »Martha, jetzt habe ich dem Jungen wer weiß wie oft gesagt, daß man nie klein beigeben soll. Wenn man sie nicht durch Taten stützt, bekommen die Worte einen leeren Klang.« Ma sah ihn nicht an. Er seufzte, schob seinen Stuhl zurück und ging ins benachbarte Wohnzimmer. Als er in die Küche zurückkam, hatte er den Spencer-Repetierkarabiner in der Hand, den er vor vierundzwanzig Jahren einem toten Yankeesoldaten abgenommen hatte. Die Waffe war für moderne Patronen umgebaut, und Pa lud das Magazin. Das hatte ich schon oft gesehen, wenn er auf die Jagd ging, aber an diesem sonnigen Morgen versetzten die hellen Metallgeräusche mich in Erregung. Pa nahm seinen Hut vom Wandhaken und ging hinaus. Ich folgte ihm. Wir sattelten unten am Corral, Pa seinen stämmigen Fuchswallach, ich meine hängebäuchige alte Mähre. Wir ritten durch die wellige Talebene nach Südwesten zum Tie Creek. Auf dem ganzen Weg sagte Pa nur ein paar Worte zu mir: »Denk nur nicht, daß du jetzt nicht mehr auf deine Ma zu hören brauchst, Junge. Sie hat ein großes und gutes Herz. Sie kann diese Dinge einfach nicht verstehen, das ist alles. Die meisten Frauen können es nicht. Das soll aber nicht heißen, daß deine Ma dumm ist oder nichts 146
weiß. Hast du mich verstanden?« Ich verstand ihn schon. Er meinte, daß ich wegen dieses Vorfalls zu meiner Mutter nicht respektlos sein dürfe. Das wäre mir auch gar nicht in den Sinn gekommen, denn ich wußte, wie schnell er seinen breiten Ledergürtel abschnallen konnte. Ich räusperte mich also und sagte nur kleinlaut: »Ja, Pa.« Nach einer Stunde sahen wir den Tie Creek, der sich wie eine glänzende Schlange zwischen seinen flachen Ufern dahinwand. Pa ritt bachaufwärts zu Joe Lynchs Behausung. Wir hatten ungefähr eine halbe Meile zurückgelegt, als wir an den neuen Zaun kamen. Die frischgeschälten Pfosten waren untereinander mit drei straffgespannten Strängen Stacheldraht verbunden. Der Zaun war wie eine Wand, und ich fühlte etwas von Pas Zorn in mir. Er ritt zu einem der Pfosten, beugte sich aus dem Sattel und packte ihn mit beiden Händen. Dann zog er, daß seine starken Rückenmuskeln hervortraten, aber der Pfosten gab keinen Zentimeter nach. Er murmelte etwas vor sich hin, nahm wieder die Zügel auf und ritt im Trab am Zaun entlang. Wir kamen auf eine Bodenwelle und hatten plötzlich den klapprigen alten Wagen des Siedlers vor uns, auf dessen Ladefläche frischgeschnittene Pfosten und mehrere Rollen Stacheldraht lagen. Joe Lynch arbeitete in der Nähe mit einer Drahttrommel und legte sich mit allen Kräften ins Zeug, um den verdammten Stacheldraht straff zu spannen. Er war so beschäftigt, daß er uns nicht kommen sah. Er schlug gerade einen Stahlkrampen ein, an dem der 147
Draht befestigt werden sollte, als ihn Pas Stimme zum Erstarren brachte. Er richtete sich langsam auf. Seine Schultern waren dünn und von der Arbeit gebeugt. Er wischte sich die Hände an seiner fleckigen Hose ab. »Guten Morgen, Mr. Tasker.« Es klang vorsichtig. Pa machte nie viele Worte, und er tat es auch jetzt nicht. Er betrachtete die Pfosten und nickte, wie zu sich selbst. »Diese Dinger hier müssen wieder verschwinden. Wenn es kalt wird, zieht mein Vieh vor dem Wind talabwärts und drängt sich dann vor dem Zaun. Die vordersten werden in Stücke geschnitten, die anderen erfrieren, vier oder fünf Reihen tief.« Pa bezog sich auf den großen Blizzard von 1886, in dem Hunderttausende von Rindern umgekommen waren. Aber das war ein ungewöhnliches Ereignis gewesen, das wußte sogar ich. Selbst bei einem ähnlichen Schneesturm würde der Drahtzaun um Joe Lynchs kleines Ackerland höchstens einigen wenigen versprengten Tieren zum Verhängnis werden. Lynch schob seinen Hut aus der Stirn und schien unsicher. »Nun, das mag schon sein, Mr. Tasker. Ich und meine Familie, wir sind gerade aus Ohio gekommen, wissen Sie.« Pa schien noch ein bißchen größer zu werden. »In dieser Gegend weidet kein Vieh von mir. Dieser Zaun ist also ganz unnötig. Mann, wollen Sie mir vielleicht ein rotes Tuch vor die Nase halten?« »Wieso, nein, Sir.« Er befeuchtete seine Lippen und trat von einem Fuß auf den anderen. »Es ist nicht gegen Sie gedacht, Mr. Tasker, aber auf der anderen Seite, wo ich schon gepflügt und angesät habe, sind Mr. Buckhorns Rei148
ter gewesen. Sie haben Kühe durchgetrieben und alles zertrampelt. Meine Aussaat ist verloren. Ich will niemanden reizen, aber ich muß mich schützen. Sie sehen das sicher ein.« Pa sah nichts ein. »Haben Sie Ihre Grenze auf Buckhorns Seite schon eingezäunt?« »Wie – nein, noch nicht«, sagte Joe Lynch hilflos. »Sehen Sie …« »Ich sehe genug!« unterbrach Pa. »Sie wollten erst meine Seite einzäunen und sehen, ob es gut geht, bevor Sie sich an Buckhorn heranwagen.« Sein Gesicht war dunkelrot, und er war wütender, als ich ihn je erlebt hatte. »Das war Ihr großer Fehler, Mister. Jud Tasker läßt sich nicht drängeln. Von niemandem!« Er nahm das eingerollte Lasso vom Sattelknopf und schüttelte es aus. Dann machte er eine kleine Schlinge und warf sie über den nächsten Pfosten. »Dein Seil!« knurrte er mir zu. Meine Finger zitterten, als ich es ihm nachmachte. Dann gaben wir den Pferden die Sporen, bis die Lassos sich spannten. Es gab einen Ruck, und dann sackte der Pfosten um und wurde nur vom Stacheldraht gehalten. Pa wendete blitzschnell sein Pferd. Joe Lynch war zu seinem Wagen getreten und kramte unter dem Sitz herum. Pa lenkte seinen Fuchs so, daß er Lynch mit der Schulter rammte und der Mann zu Boden stürzte. Der alte Mann langte unter den Kutschbock des Wagens und zog eine alte Sharps Büffelflinte heraus. Er öffnete das Schloß, zog die vier Zoll lange Patrone aus der Kammer und warf das Gewehr auf den Wagen zurück. Seine Augen hatten die Farbe von Eis angenommen. 149
Joe Lynch rappelte sich hoch und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Er blickte nicht auf. »Hören Sie, Mister«, befahl Pa. »Sie reißen den Zaun jetzt nieder.« Lynch ließ die Schultern hängen. »Ja, Sir«, sagte er leise. »Wenn ich ihn wieder aufgerichtet finde, schieße ich Sie ohne Umstände über den Haufen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« »Ja, Sir.« Lynchs Stimme klang dünn und zittrig. Wir rollten unsere Lassos ein, dann wendete Pa sein Pferd und ritt davon. Ich folgte ihm. Er blickte nicht zurück, und ich tat es auch nicht. Ich mußte an den niedergeschlagenen Ausdruck in Joe Lynchs Augen denken. Er war ein abgearbeiteter, magerer Kerl, aber er war ein Mann – wenigstens, bevor er ein elender Siedler geworden war und Pa seinen Stolz gebrochen hatte. Damit schob ich den Gedanken beiseite. Außerdem bemerkte Pa später noch, man brauche diesen verdammten Siedlern nur ein bißchen Entgegenkommen zu zeigen, und sofort würden sie aufsässig und unverschämt. Zwei Tage darauf war Samstag, und das bedeutete, daß wir in die Stadt fuhren. Pa spannte den kleinen Wagen an, Ma setzte sich neben ihm auf den Kutschbock, und ich nahm meinen Platz am Ende der Ladefläche ein und ließ die Beine baumeln. Pirna Flats war eigentlich nur ein verschlafenes Kuhdorf. Eine staubige Straße ohne Gehsteige, ein Laden, in dem es alle Bedarfsartikel gab, ein Futtermittelgeschäft, eine Schmiede, ein Mietstall, ein Gemeindesaal und ein paar Saloons – das war so ungefähr alles. 150
Samstag war der einzige Tag in der Woche, an dem es in der Stadt lebhaft zuging. Als wir kamen, standen Sattelpferde und Wagen in langen Reihen an beiden Straßenseiten. Pa stellte unseren Wagen zwischen zwei andere vor Marsh Whalens General Store, kletterte herunter und reichte meiner Mutter die Hand. Die beiden hatten seit unserem Besuch bei Joe Lynch nicht viel miteinander gesprochen. Pa reckte seine steifen Glieder, dann ging er um den Wagen herum und zum Shorthorn Saloon, wo er ein paar von seinen Freunden zu treffen hoffte. Ich bummelte hinter Ma her in Whalens Laden, den ich ausgesprochen liebte. Es war dort kühl und roch nach fernen Ländern, nach Gewürzen, neuem Leder, Petroleum und Stockfisch. Um die Ladentische drängten sich schnatternde Frauen, und Ma gesellte sich zu ihnen. Einige kleine Kinder hingen an den Röcken ihrer Mütter, aber es war kein gleichaltriger Junge zu sehen, und deshalb ging ich dorthin, wo in einem großen Glas bunte Lutschbonbons an Stielen auf dem Ladentisch standen. Gewöhnlich gab mir der alte Marsh Whalen so ein Ding umsonst, wenn ich eine Weile an der Theke hing und wartete. Ich verschlang die bunten Lutschstangen mit den Augen und drehte mich nicht um, bis ich einen Mann etwas zu Marsh Whalen sagen hörte. Es war Joe Lynch, der von seiner Frau und den fünf Kindern begleitet wurde. Mrs. Lynch war eine stille, abgehärmte Frau in schäbigen Kleidern, die kaum den Blick zu heben wagte. Auch die Kinder – zwei Jungen und drei Mädchen – waren alle dünn und klein für ihr Alter und scheu wie Mäuse. Bis auf den Ältesten blieben sie immer bei ihrer Mutter und blickten mit ängstlichen 151
Augen im Laden umher. Als ich mich nun plötzlich dieser ganzen wuschelköpfigen Brut gegenübersah, wandte ich mich von den Süßigkeiten ab und warf dem ältesten Lynch-Jungen einen herausfordernden Blick zu. Ich hatte ihn noch nie aus der Nähe gesehen. Er hieß Marty und mochte wohl in meinem Alter sein, aber er war einen halben Kopf kleiner als ich und schien nur aus Haut, Knochen und verwilderten Haaren zu bestehen. Ich dagegen begann bereits meinem Vater nachzuschlagen. Er hielt meinen Blick nicht lange aus und schlug bald seine Augen nieder. Inzwischen unterhielt sich der alte Marsh Whalen leise mit dem Vater des Jungen. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen noch mehr Kredit einräumen kann, Mr. Lynch«, hörte ich ihn sagen. Er war ein freundlicher Mann, und seine Stimme klang bedauernd. »Die Leute setzen mir schon zu, weil ich Ihnen den Stacheldraht verkauft habe. Es tut mir leid, aber …« Er zog den Kopf ein und hob die Hände. »Ja, gewiß.« Joe Lynchs Stimme klang, als habe er einen Punkt erreicht, wo ihm alles gleich war. »Wenn die Leute anfangen, ihren Bedarf anderswo einzukaufen, bin ich ruiniert. Ich muß Rücksichten nehmen, verstehen Sie.« »Sicher. Ich will auch keinen Stacheldraht mehr kaufen, Mr. Whalen. Aber ich brauche Nahrungsmittel. Und auch etwas Saatgut.« »Nun ja –«, sagte Marsh Whalen, dann brach er ab, und sein altes, faltiges Gesicht nahm plötzlich einen verkniffenen Ausdruck an. Er blickte zur Tür. Ich drehte mich um und sah Hugh Buckhorn im Eingang stehen, einen unter152
setzten, bullenhaften Mann in einem knapp sitzenden schwarzen Anzug. Die Hose steckte in Schaftstiefeln, und sein weißes Haar war von einem gleichfalls weißen Stetson gekrönt. Er hielt eine teure Zigarre zwischen Daumen und Zeigefinger und benutzte den kleinen Finger, um bedächtig die Asche abzustreifen. Er sagte nichts, aber er blickte den alten Marsh Whalen unverwandt an. Hinter ihm, aber noch außerhalb des Ladens und im vollen Sonnenlicht, stand Burke Claypool, ein schlanker, elegant aussehender Mann in sauberer Cowboykleidung, der aber kein Viehtreiber war. An seinem Oberschenkel baumelte in einem schön gearbeiteten Halfter ein Coltrevolver mit schwarzem Ebenholzgriff. Burke hatte einen geheimnisvollen Ruf und war allgemein nicht gern gesehen, aber für uns Jungen war er ein Gegenstand lebhafter Neugier. Marsh Whalen schluckte ein paar Male, dann murmelte er, er könne Lynch nichts verkaufen, und es täte ihm leid. Hugh Buckhorn und sein Schatten verschwanden aus der Türöffnung und gingen weiter. Joe Lynch starrte auf seine schweren, geflickten Arbeitsstiefel und sagte nichts. Plötzlich sah ich, wie Ma zu Mrs. Lynch trat. Sie sagte leise und freundlich etwas zu ihr, und Mrs. Lynch lächelte furchtsam. Dann traten noch ein paar andere Frauen zu den beiden, während die übrigen Frauen sich abwandten und halblaute Bemerkungen fallen ließen. Joe Lynch wurde es warm unter dem Kragen. »Komm mit.« »Ich bleibe noch einen Augenblick. Bitte, Joe.« »Wie du meinst«, erwiderte Joe Lynch ärgerlich und verließ mit langen Schritten den Laden. Er mochte nicht, 153
daß seine Frau die mildtätige Freundschaft der anderen annahm, und mir war es nicht recht, daß Ma mit ihr redete. In unserer Familie gab es nur eine Hose, und die hatte Pa an. Aber Ma kümmerte sich nicht darum und war freundlich zu diesen Siedlern. Ich sah das alles mit unverhohlener Abneigung, und Ma mußte es gemerkt haben, denn sie warf mir einen tadelnden Blick zu. Dann betrachtete sie den ältesten der Lynchjungen, der immer noch zu Boden blickte und seine bloßen Zehen bewegte. Plötzlich sagte sie: »Tim, warum gehst du nicht mit Marty hinaus und spielst ein bißchen? Sicher sind auch noch andere Jungen da.« Sie unterdrückte mein wütendes Aufbegehren mit einem verweisenden Blick, und ich ging murrend hinaus. Der barfüßige Junge tappte hinter mir her. Auf der Straße blieb ich stehen und drehte mich um. »Ich will nicht, daß du mitgehst.« Er musterte mich nüchtern und vorsichtig. »Warum nicht?« »Ein Tasker gibt sich nicht mit hergelaufenem Gesindel ab.« Seine Augen blitzten auf, und er streckte sein Kinn vor. »Das nimmst du zurück!« »Was tust du, wenn ich es nicht mache, du Knirps?« Ich legte soviel Hohn in die Worte, wie ich nur konnte. »Ich wette, du bist genau so feige wie dein alter Vater.« Ich erwartete, daß er sich aufpusten würde. Die meisten Jungen machten sich vor einem Kampf mit Prahlereien Mut oder führten herausfordernde Reden. Aber dieser magere Zwerg verlor kein weiteres Wort. Er ging sofort auf mich los, und seine dünnen Arme flogen wie Windmühlenflügel. 154
Bevor ich wußte, was geschehen war, lag ich flach auf dem Rücken, und dieser Zwerg stand mit geballten Fäusten über mir. Ich hörte ein meckerndes Lachen, wandte den Kopf und sah Burke Claypool einige Schritte entfernt am Haltegeländer stehen und träge grinsen. Seine dunklen Augen funkelten. »Willst du nicht aufstehen? Du läßt doch nicht so einen Kartoffelklauber auf dir herumtrampeln, oder?« Ich wälzte mich herum, stand auf und drang mit wilden Schwingern auf den Jungen ein. Den ersten Schlägen wich er aus, dann traf ich ihn voll gegen das Ohr und legte ihn auf den Rücken. Ich setzte mich rittlings auf ihn, preßte seine Ellbogen mit meinen Knien fest in den Staub und begann sein Gesicht mit den Fäusten zu bearbeiten. Irgendeine Frau kreischte, aber ich war vor Wut wie verrückt und schlug weiter zu, bis mich eine große Hand am Kragen packte, aufhob und auf die Füße stellte. »Mein Gott, Junge«, sagte Pa ganz leise. »Mein Gott, du bist doch fast doppelt so groß wie er!« Wieder hörte ich Burke Claypools meckerndes Lachen. Ich drehte mich keuchend um, sah die Verlegenheit in Pas Gesicht, und ein wütender Protest stieg in mir auf: Und was ist mit Joe Lynch, Pa? Was ist mit ihm? Doch ich schwieg. Ma stand am Ladeneingang und sah sehr bleich aus. Mrs. Lynch kniete weinend neben Marty und wischte ihm das blutige Gesicht mit ihrem fadenscheinigen Kleid sauber. Plötzlich war meine ganze Wut verflogen, und ich stand mit einem dummen und verlegenen Gefühl da. Nun trat Joe Lynch aus der Schmiede und überquerte die Straße mit müden, schleppenden Schritten. Seine Frau rief 155
ihm etwas zu, und sein Blick fiel auf mich, aber ich glaube, er sah mich gar nicht. Dann richtete er seinen Blick auf Pa, und wieder schien es, als sähe er durch ihn hindurch. Pa blickte zur Seite. »Wenn du fertig bist, Martha«, sagte er laut, und seine Stimme klang nicht allzu sicher, »können wir nach Hause fahren.« Während der Rückfahrt und auch noch danach wurde kein Wort gesprochen. Wir aßen schweigend, und obwohl es noch Arbeit gab, rührte sich keiner von der Stelle. Ich hockte trübselig in einer Ecke. Pa saß am Tisch und paffte seine Pfeife, als wollte er die Küche einnebeln. Ma starrte auf das unberührte Essen auf ihrem Teller und machte keine Anstalten, den Tisch abzuräumen. Endlich sagte sie sehr ruhig und ohne aufzublicken: »Wir sollten alle sehr stolz auf uns sein. Bist du stolz, Tim?« »Nein«, murmelte ich. »Warum fragst du nicht mich, Martha?« Pas Stimme klang nicht ärgerlich, nur müde und ein bißchen verwirrt, als versuchte er, sich zu etwas durchzuringen. »Jud«, sagte sie sehr freundlich. »Jud, du bist der Herr in diesem Haus, und so soll es auch sein. Ich kann deine Entscheidungen nicht beeinflussen. Ich hätte das wissen sollen. Ich habe dich einmal zu überreden versucht, und das war ein Fehler. Ich werde ihn nicht noch einmal begehen.« Pa nahm die Pfeife aus dem Mund. »Sag es trotzdem. Da beschäftigt mich etwas, aber ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.« Ma beugte sich zu ihm über den Tisch. »Jud, deine 156
Selbstachtung ist das Wichtigste in deinem Leben. Das war schon so, als ich dich kennenlernte. Und nun ist sie ins Wanken geraten, und das ist nicht gut. Du hast eben nie gesehen, daß auch andere Leute ein Recht zu leben haben. Daß auch andere Leute ein wenig Stolz brauchen, um weitermachen zu können. Daß sie ein Recht auch auf diesen Stolz haben und respektiert werden möchten.« Pa seufzte. »Ja, das ist es. Martha, ich weiß nicht, ob ich mich noch einmal im Recht fühlen kann. Vorgestern habe ich meine Macht und meine Kraft benützt, um einen schwächeren Mann zu demütigen. Und noch vorgestern hätte ich Tim das Fell über die Ohren gezogen, wenn er einen Jungen verprügelt hätte, der nur halb so groß ist wie er. Aber wie soll ich dem Jungen jetzt Vorhaltungen machen? Er hat ja nur getan, was er mir abgeguckt hat.« Er zog heftig an seiner Pfeife. »Martha, man kann einen so schweren Fehler nicht ungeschehen machen. Aber man kann ihn einsehen und danach besser leben.« »Nun, Jud, du hast es alles gesagt, ganz von selbst.« Ich glaube, bis zu diesem Augenblick war mein Vater für mich wie ein Gott. Es bedrückte mich schwer, ihn nun einfach als einen großen Mann zu sehen, der auch große Fehler machen konnte. Pa war kein Gott, aber man brauchte schon ein großes Herz und sehr viel Einsicht, um in seinem Alter noch das Steuer herumzuwerfen, und er hatte seine Jugend weiß Gott schon lange hinter sich. Ich lief zu ihm, und er hielt mich eine Minute lang fest an sich gedrückt, während Ma zuschaute. Sie weinte nicht, aber ihre Augen waren ein wenig verschleiert. 157
»Komm«, sagte Pa, plötzlich wieder barsch. »Wir haben etwas zu erledigen, du und ich.« Wir gingen hinaus und holten unsere Pferde. Ich brauchte nicht zu fragen, ich wußte, wohin es gehen sollte. Am Spätnachmittag erreichten wir Lynchs Hütte am linken Ufer des Tie Creek. Pa hielt auf einer Bodenerhebung westlich des Anwesens. Man benötigte kein Indianerauge, um zu sehen, daß dort etwas nicht stimmte. Am Bachufer hatte sich eine Gruppe berittener Männer um einen großen alten Baum versammelt. Pa warf nur einen kurzen Blick auf die Szene, dann setzte er die Sporen ein und raste die Anhöhe hinunter. Ich folgte eine halbe Pferdelänge hinter ihm. Mrs. Lynch stand vor dem Eingang ihrer Hütte, und die barfüßigen Kinder umdrängten sie wie Küken eine Glucke. Ihr Gesicht war schneeweiß, und ihre Augen blickten so verzweifelt, als sollte sie jeden Moment den Verstand verlieren. Wir jagten an ihnen vorbei zu dem Baum. Die Reiter machten Platz, als wir herankamen, und wir sahen Joe Lynch auf seinem ausgemergelten Ackergaul mit einem Strick um den Hals sitzen, der so fest angezogen war, daß sein Kopf zur Seite hing und er nach Atem ringen mußte. Der Strick war über einen dicken alten Ast geworfen, und einer von Buckhorns Reitern war gerade damit beschäftigt, das freie Ende um einen anderen Ast zu knoten. Pa hielt ein paar Schritte vor den Männern und gab mir ein Zeichen, mich von ihm zu entfernen. Ich gehorchte mit dem Gefühl drohenden Unheils. Das konnte nicht gut ausgehen, ich wußte es. 158
Hugh Buckhorn löste sich aus der Gruppe und ritt auf seinem prachtvollen Rappen näher. Auch Burke Claypool schob sich wie zufällig heran. Die übrigen vier Reiter der Chainlink, einfache Rancharbeiter und Viehtreiber, blieben unter dem Baum. Ich bemerkte, daß diese Männer sich nicht sehr wohl fühlten. Sie sahen unsicher aus und schienen sich sogar zu schämen. Hugh Buckhorn legte seine schweren narbigen Hände auf den Sattelknopf. Seine befehlsgewohnte Stimme war hart. »Ich hänge ihn auf, Jud. Du wirst sicher nichts dagegen haben, nehme ich an.« »Das kommt darauf an, was für Gründe du mir sagst«, erwiderte Pa langsam. »Gründe? Vor einer Stunde haben wir diesen verdammten Hungerleider erwischt, wie er seinen Stacheldraht über mein westliches Weideland gezogen hat.« »Entlang seiner Grenze?« fragte Pa trocken. Mehr hatte Lynch nicht getan, stellte sich heraus. Anfangs war er noch so ängstlich gewesen, mit seinem Zaunbau bei uns zu beginnen. Aber nach den Ereignissen dieses Morgens hatten ihn Trotz und Zorn offenbar so weit gebracht, daß er es gewagt hatte, den großen Buckhorn herauszufordern. Hugh Buckhorns fleischiges Gesicht schwitzte, aber das lag an der Hitze. Buckhorn war ein Mann, der noch aus einer Zeit stammte, in der sich furchtsame Menschen nicht halten konnten. Er gehörte zu denen, die ihre Probleme selbst regelten, und die Jahre hatten ihn hart gemacht. »Über diesen Punkt will ich gar nicht diskutieren, Tas159
ker. Aber es gibt eine Grenze für das, was ein Mann ertragen kann«, erklärte er. »Gewiß, Hugh, da gebe ich dir recht. Du hast dein Vieh durch seine frisch angesäten Felder getrieben, nicht wahr?« »Verdammt, Mann! Du brauchst mir keine Lektionen zu erteilen. Lynch sagte, du hättest ihn vorgestern gezwungen, eine Viertelmeile Zaun einzureißen. Er sagte, es täte ihm leid, daß er sich habe einschüchtern lassen, und er würde es mit uns allen aufnehmen.« Buckhorn setzte sich im Sattel zurecht. »Die Sache gefällt mir auch nicht«, fuhr er fort, »aber wenn man nicht die Bratpfanne sein will, muß man das Feuer sein. Jeder hat seine Wahl zu treffen.« »So ist es«, sagte Pa merkwürdig sanft. »Ich bin gekommen, um mich bei Joe Lynch zu entschuldigen.« Burke Claypool stieß sein kurzes, häßliches Lachen aus. »Dann sollten Sie sich beeilen, Mr. Tasker.« Pa beachtete ihn nicht. »Warum wollt ihr ihn hier aufhängen?« fragte er Buckhorn. »Damit seine Frau und Kinder zusehen können?« »Um künftigen Siedlern eine Lektion zu erteilen. Ich möchte, daß es sich herumspricht. Das wird uns in der Zukunft eine Menge Ärger ersparen. Und nun laß uns in Ruhe, Jud, verdammt noch mal. Ich will keinen Streit mit dir.« Es hatte keinen Zweck, mit ihm zu diskutieren. Er war ein alter Mann, der zwei Frauen und drei Söhne überlebt hatte, und die Jahre hatten jedes Gefühl für Menschlichkeit in ihm getötet. Pa wendete sein Pferd, als wollte er davonreiten. Dabei zog er mit einer unheimlich schnellen Bewe160
gung seinen Karabiner aus der Sattelschlinge und brachte ihn in Anschlag. »Du wirst Lynch nicht hängen. Sag deinem Mann, er soll den Strick durchschneiden. Sofort!« Buckhorns Augen glitzerten eiskalt, und ich wußte, daß er nicht daran dachte. Ich wußte es, bevor er zwischen den Zähnen ein einziges Wort hervorstieß: »Burke!« Claypool reagierte schneller, als ich es selbst bei einem Revolvermann erwartet hätte. Seine Hand fiel nur herunter und kam wieder hoch, aber da hielt sie auch schon den gespannten Revolver. Pa gab seinem Fuchs die Sporen und ließ das Tier mit einem mächtigen Satz losschnellen, während Claypools Schuß die Stille zerriß. Es war ein glatter Fehlschuß. Nun riß Pa den Fuchs mit eiserner Hand herum und feuerte. Eine unsichtbare Faust traf Burke Claypool und wischte ihn aus dem Sattel. Er schlug schwer auf den Boden, rollte auf den Rücken und starrte aus blicklosen Augen in den Himmel. Pa legte den Repetierhebel um und richtete den Lauf auf Hugh Buckhorns breite Brust. »Nun sag, wie es weitergehen soll, Hugh. Aber sofort, denn ich warte nicht.« Buckhorns langes weißes Haar wehte wie Flaum in der leichten Brise. Kein Muskel bewegte sich in seinem steinernen Gesicht. »Du gottverdammter Dummkopf«, sagte er kalt. »Es ist mir egal, was du oder andere Leute denken. Mach ihn los, Calem.« Er war ein Mann, der seine Situation ganz nüchtern einzuschätzen pflegte. Sein legendärer Name mochte nach diesem Tag etwas von seinem Glanz einbüßen, aber ein toter Mann konnte daran erst recht nichts ändern. Schweigend 161
durchschnitt einer der Reiter den Strick über Joe Lynchs Kopf, ein anderer löste die Handfesseln. Die zwei übrigen hoben Burke Claypools Körper auf und legten ihn quer über den Sattel seines Pferdes. Dann kletterten sie auf ihre Tiere und ritten in einer dicht geschlossenen Gruppe davon. Die Nähe des Todes hatte Joe Lynchs hartnäckigen Lebenswillen nicht brechen können. Mit schleppenden Schritten ging er an uns und an seiner Familie vorbei und verschwand in seiner Hütte. Einen Augenblick später kam er mit der alten Sharps in der rechten Hand wieder zum Vorschein. »Ich möchte jetzt und endgültig wissen, ob der Streit zwischen uns zu Ende ist«, sagte er und richtete seine blassen Augen auf Pa. »Ich möchte mich für mich und meinen Jungen entschuldigen«, sagte Pa, und ich merkte, wie schwer es ihm fiel, seinen Stolz zu bezwingen. »Wir wollen gute Nachbarschaft halten, Mr. Lynch. Und wenn Sie etwas brauchen …« »Der Zaun«, fuhr Joe Lynch fort, dann zögerte er. »Wir können ihn einstweilen liegen lassen und sehen, wie es geht.« Pa nickte, lüftete seinen Hut vor Mrs. Lynch und wendete sein Pferd. Ich wollte ihm folgen, aber dann hielt ich inne. Es war meine Sache, mich zu entschuldigen, nicht Pas. Ich sah Marty Lynch an. »Willst du nicht mal zu uns kommen?« »Vielleicht.« Es klang ziemlich steif, und man konnte sehen, daß der Junge seinem Vater nachschlug. Es würde sicherlich eine Weile dauern, aber ich war überzeugt, eines Tages würde er kommen. 162
Elmer Kelton lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Texas, ist Redakteur des Landwirtschaftsteils der »San Angelo Standard Times« und hat es auf diese Weise zum Experten in Fragen der Viehzucht gebracht. Er hat bisher acht Western-Romane geschrieben, darunter die preisgekrönte Erzählung »Buffalo Wagons«. Außerdem ist er Autor zahlreicher Kurzgeschichten. In den Jahren 1962 – 1963 war er Präsident der Schriftstellervereinigung »Western Writers of America«.
Elmer Kelton
Onkel Jeff und der Revolverheld In den abgelegenen Gebieten des westlichen Texas sprechen die Oldtimer immer noch gelegentlich von der Zeit, da mein Onkel Jeff Barclay den Revolvermann Tobe Farrington verjagte. Es ist eine gute Geschichte, aber wie sie sie erzählen, ist sie doch nicht ganz vollständig. Der Grund dafür ist, daß mein Vater der einzige Mann war, der die ganze Wahrheit wußte. Papa hätte das Geheimnis fast mit sich ins Grab genommen, aber kurz vor seinem Tode brach er sein Schweigen und berichtete mir davon. Nun, wo er neben Mutter in unserem Familiengrab in Marfa liegt, kann es nicht schaden, wenn ich die ganze Geschichte ein für allemal richtigstelle. Papa war der ältere der beiden Brüder. Er und Onkel Jeff waren vor langer Zeit in diese Gegend eingewandert. Die meisten Leute wissen nicht, wie damals in Texas die Besiedlungsgesetze gehandhabt wurden. Als Texas sich 163
den Unionsstaaten anschloß, war es eine freie Republik mit einer gewaltigen Schuldenlast. Um sie abzubauen – und weil die Union keine Zuschüsse geben wollte –, erließ Texas andere Besiedlungsgesetze als die übrigen Staaten. Als Papa und Onkel Jeff den Entschluß faßten, sich im Westen von Texas niederzulassen, verkaufte die texanische Regierung an jeden Siedler, der sein Glück versuchen wollte, vier Quadratmeilen Staatsland. Gelang es dem Betreffenden mit viel gutem Willen und Schweiß, etwas aus seinem Siedlungsland zu machen, durfte er sich glücklich schätzen. Es ist kein Geheimnis, daß viele am Land und an der Trockenheit scheiterten und ihr Siedlungsland wieder aufgaben, um nicht verhungern zu müssen. Der texanische Staat aber machte in jedem Fall sein Geschäft. Nun, bei Papa und Onkel Jeff sah es anders aus. Sie bissen sich durch und erhielten die Bestätigung ihrer Besitzansprüche auf acht Quadratmeilen Land. Das Ärgerliche war nur, daß ihr Land in einem Gebiet lag, das der alte Port Hubbard schon viele Jahre lang als freie Viehweide benutzte. Die neue Entwicklung gefiel ihm ganz und gar nicht, denn er war es gewohnt, daß die Leute ihn mit Ehrerbietung behandelten und keine Ansprüche stellten. Und außerdem hatte Onkel Jeff eine unbekümmerte Art, den Leuten zu erzählen, wie er und sein Bruder dem alten Port Hubbard eins gehustet hätten und damit durchgekommen wären. Ich muß jetzt einiges über Onkel Jeff sagen, damit der Leser über ihn Bescheid weiß. Ich habe immer noch ein altes, ziemlich vergilbtes Foto, das ihn und Papa an dem Tag zeigt, als sie die Bestätigung ihrer Besitzrechte auf die 164
acht Quadratmeilen Land bekommen hatten. Papa trägt auf dem Foto einen einfachen dunklen Anzug, der aussieht, als hätte er darin geschlafen, dazu einen gewöhnlichen Hut, der sehr gerade auf seinem Kopf sitzt. Onkel Jeff dagegen hat eine dieser kalifornischen gestreiften Hosen an, die damals Mode waren, ein gleichfalls gestreiftes Hemd mit Ärmelhaltern, und dazu trägt er eine breite Krawattenschleife. Auf dem Kopf hat er einen riesigen Sombrero, der schräg auf seinem Ohr sitzt und die Gesichtszüge beschattet. Außerdem sitzt ihm an seiner rechten Hüfte ein Trommelrevolver. Der ganze Aufzug erweckt den Eindruck, als sei er unterwegs zu einem Tanzvergnügen, aber sein herausfordernder Blick verrät Kampflust. Viele Rancher wie Port Hubbard arrangierten sich mit dem Besiedlungsgesetz. Sie veranlaßten ihre Cowboys, sich für das Land einzutragen, das innerhalb ihrer Ranchgebiete lag, nur um es von ihnen anschließend für ein wenig mehr als die Kaufgebühren wieder zu erwerben. In jenen Tagen waren die meisten Cowboys weder interessiert noch finanziell in der Lage, sich zu Landbesitzern aufzuschwingen, und in vielen Gegenden war es ohnehin nicht möglich, vom Ertrag der vier Quadratmeilen zu leben. Besonders in den Dürregebieten war Ackerbau mit zu großen Risiken verbunden, und die magere Weide ernährte nicht genug Vieh. Es störte Hubbard, als Papa und Onkel Jeff aus seinem Weidegebiet acht Quadratmeilen herausschnitten. Aber er hielt sich zurück, weil er dachte, daß sie es nicht schaffen und nach einem Jahr oder so weiterziehen würden. In der Zwischenzeit hätten sie das Land für ihn nur verbessern 165
können. Als er sah, daß sich seine Erwartungen nicht erfüllten, versuchte er es ihnen abzukaufen. Doch sie lehnten ab. Hubbard hätte den Verlust vielleicht trotzdem verschmerzt und sich nicht weiter um sie gekümmert, wenn Onkel Jeff nicht so prahlerisch aufgetreten wäre. »Seit zwanzig Jahren hat er die Leute in dieser Gegend herumgeschubst«, pflegte Onkel Jeff zu sagen, und es kümmerte ihn nicht, wer ihm zuhörte und es weitertrug. »Aber wir haben ihm eine Lektion erteilt. Er hat Angst, uns gegenüber den starken Mann zu spielen.« Papa hatte immer das Gefühl, daß Port Hubbard friedlich geblieben wäre, wenn Onkel Jeff ihm nicht sozusagen ständig mit der Messerspitze vor der Nase herumgefuchtelt hätte. Aber Hubbard war ein stolzer Mann, und stolze Männer sitzen nicht herum und hören sich ewig solches Gerede an. Und so kam es, daß eines Tages Tobe Farrington auftauchte. Niemand konnte je beweisen, daß Port Hubbard ihn geholt hatte, aber keiner zweifelte daran. Farrington übernahm vier Quadratmeilen Land, die unmittelbar an Onkel Jeffs und Pas Gebiet grenzten und die er pro forma als Siedlungsland angemeldet, in Wahrheit aber von Hubbard geliehen bekommen hatte. In jenen Tagen war Tobe Farrington eine in Westtexas allgemein bekannte Gestalt. Er war nicht so berühmt wie Wesley Hardin oder Bill Longley, aber er hatte einen berüchtigten Namen zwischen San Saba und dem Pecos River. Die Leute machten einen großen Bogen um ihn, denn es war bekannt, daß mehrere Männer durch seine Kugeln 166
ins Jenseits hinüberbefördert worden waren. Viele erwarteten, daß Tobe Farrington einfach kommen und Papa und Onkel Jeff erschießen würde. Aber er ging nicht so vor. Wahrscheinlich glaubte er, sein Ruf würde die Sache von allein erledigen, ohne daß er sein Pulver verschwenden müsse. Papa erzählte, es wäre anfangs so gewesen, daß er und Onkel Jeff bloß von ihrer Arbeit hätten aufzublicken brauchen, um Tobe Farrington irgendwo in der Nähe auf seinem Pferd sitzen und sie anstarren zu sehen. Er sprach fast nie und sah sie nur an. Papa gab zu, daß ihm unter diesen kalten grauen Augen immer abwechselnd heiß und kalt geworden war. Aber Onkel Jeff blieb unbesorgt, ja, er schien unter diesem Nervenkrieg noch aufzublühen. Ich habe noch nicht erwähnt, daß Onkel Jeff früher einmal Hilfssheriff gewesen war. Der Distriktssheriff vom Pecos County hatte ihn in einem Frühjahr hauptsächlich für Botengänge eingestellt. Damals war der Sheriff nämlich meistens auch zugleich noch der Steuerbeamte. Der Job dauerte nicht lange. Im Herbst wurde der Sheriff bei den Wahlen geschlagen, und sein Nachfolger hatte bedürftige Verwandte und übernahm Onkel Jeff nicht. Aber inzwischen hatte sich Onkel Jeff an das Gefühl gewöhnt, einen Revolver an der Hüfte zu tragen. Es gefiel ihm und, was noch mehr ist, er wurde ein guter Schütze. Es machte ihm Spaß, über Land zu reiten und mit seinem Revolver Kaninchen zu erlegen. Zwei- oder dreimal geschah es, daß er dabei von seinem erschrockenen Pferd abgeworfen wurde, aber Onkel Jeff ließ sich durch solche Unfälle nicht davon abhalten. Das war seine Art. Nichts konnte ihn sonderlich aufregen, und nichts hielt ihn jemals davon ab, 167
das zu tun, was ihm gefiel. Nichts und niemand, außer Papa. Wenn Tobe Farrington vermutet hatte, seine bloße Anwesenheit werde genügen, die Gebrüder Barclay aus dem Land zu vertreiben, so wurde er enttäuscht. Daher begann er seine Taktik zu ändern. Farrington hatte eine kleine Herde von Hubbards Rindern, deren Brandzeichen geändert waren. Er behauptete, sie von Hubbard gekauft zu haben, aber ganz allgemein glaubte man, daß Hubbard sie ihm nur geliehen habe, um der Sache ein legaleres Aussehen zu geben. Farrington fing nun an, sein Vieh auf das Land der Barclays zu treiben und tat dies keineswegs heimlich. Er öffnete die Gattertore im Drahtzaun, trieb sein Vieh durch, ritt selbst hinterher und sah zu, wie die Tiere Papas und Onkel Jeffs Gras fraßen. Das Land war nicht gerade regenreich, und das Gras reichte eben für das Vieh der Barclays und manchmal nicht einmal dafür. Onkel Jeff war für Kampf. Er wollte Farringtons Vieh erschießen. Papa dagegen war für ein festes, nicht für ein selbstmörderisches Vorgehen. Er ließ seine Waffen zu Haus, nahm sein Pferd und trieb das fremde Vieh durch das Gattertor zurück, während Farrington dabeisaß und zuschaute. »Er konnte mich nicht erschießen«, sagte Pa, »weil ich unbewaffnet war. Er konnte sich keinen glatten Mord leisten. Wenn Farrington jemanden tötete, achtete er immer sehr darauf, daß er durch das Gesetz gedeckt war.« Nach zwei oder drei Versuchen gab Farrington diese Methode auf, denn Papa begegnete ihr stets auf dieselbe Weise. 168
Danach verlegte sich Farrington auf eine Politik der kleinen Nadelstiche. Das Einfangen und Werfen von Bullen mit dem Lasso war in jenen Tagen ein populärer Sport. Farrington ritt immer über Papas Land, wenn er nach Fort Stockton wollte, und bei diesen Gelegenheiten probierte er seine Fertigkeit am Vieh der Barclays aus. Es war ein roher Sport. Wenn diese schweren Tiere geworfen wurden, brachen sie sich oft ein Bein, oder sie verloren ein Horn. Farrington machte es sich zur Regel, ihnen die Beine zu brechen. Wieder war Onkel Jeff dafür, ein Schießeisen zu nehmen und Farrington zu stellen, aber Papa hinderte ihn daran. Statt dessen schrieb er eine Rechnung über die verletzten Tiere, die sie hatten töten müssen und brachte den Sheriff dazu, mit ihm zu Farrington zu reiten. Der Sheriff war zwar schrecklich nervös, aber Papa kassierte den Rechnungsbetrag. »Schießeisen sind sein Geschäft«, versuchte er Onkel Jeff klarzumachen. »Unsereiner kann gegen einen Kerl wie Tobe Farrington überhaupt nichts ausrichten. Du läßt deine Waffen zu Haus, oder Farrington bringt dich eines Tages dazu, sie zu gebrauchen. Der zweite Preis in einem solchen Schießwettbewerb ist ein Sarg.« Bevor ich fortfahre, sollte ich noch etwas über Delia Larrabee sagen. Papa war vielleicht ein wenig voreingenommen, aber er sagte immer, sie sei damals das hübscheste Mädchen im Distrikt gewesen und Onkel Jeff mußte darin seiner Meinung gewesen sein. Papa begegnete ihr zuerst, und er versuchte sie mit der ganzen altmodischen Galanterie zu betören, die er aufbringen konnte. Aber Onkel Jeff 169
war der bessere Charmeur. Es schmerzte ihn zwar, doch als Papa sah, wie die Dinge standen, zog er sich zurück und überließ Onkel Jeff das Feld. Wenn ich die alte Aufnahme betrachte, ist leicht einzusehen, warum Delia Larrabee oder andere Mädchen sich mehr zu meinem Onkel hingezogen fühlten. Er war eben ein Draufgängertyp. Tobe Farrington hatte mit seinen Provokationen kein Glück gehabt, doch als er von dem Verhältnis erfuhr, das Delia Larrabee mit Onkel Jeff hatte, mußte er sofort begriffen haben, daß hier seine Chance lag. Das große Tanzvergnügen in Fort Stockton gab ihm Gelegenheit, sie zu nutzen. Papa ging an diesem Abend nicht mit. Es schmerzte ihn noch zu sehr, Delia Larrabee verloren zu haben. Und er kannte keine anderen Mädchen, in deren Gesellschaft er sich wohlgefühlt hätte. Außerdem war er müde, denn seit zwei Tagen war er mit seinem Stutzen unterwegs gewesen und hatte versucht, einen Wolf zur Strecke zu bringen, der nacheinander zwei Kälber gerissen hatte. So ließ er Onkel Jeff allein in die Stadt reiten und beschränkte sich darauf, Onkel Jeffs Revolver in Verwahrung zu nehmen. Tobe Farrington wartete, bis das Tanzvergnügen in vollem Gange war. So konnte er mit größerer Beachtung rechnen, wenn er unerwartet auftauchte. Und er hatte sich nicht verrechnet. Die Leute sagten, es sei auf einmal totenstill geworden, als Farrington den Saal betrat. Alle tanzenden Paare blieben stehen, die Musik brach ab, und nur der alte Fiedelspieler machte weiter, denn seine Augen waren so schlecht, daß er auf zehn Meter ein Pferd nicht von einer Kuh unterscheiden konnte. Farrington blieb stehen, bis er 170
Onkel Jeff bei der Punschbowle erblickte. Dann sah er Delia Larrabee an der Wand sitzen, wo sie auf Onkel Jeff und den Punsch wartete. Farrington ging zu ihr, verbeugte sich und sagte: »Sie sind das hübscheste Mädchen hier. Ich glaube, Sie werden mir den nächsten Tanz nicht abschlagen.« Onkel Jeff kam zurückgeeilt. Er hatte seine Fäuste geballt, aber Delia Larrabee gab ihm ein Zeichen und schüttelte den Kopf. Sie erhob sich schnell und gab Farrington zu verstehen, daß sie mit ihm tanzen wollte. Sie wußte, was der Mann beabsichtigte. Hätte sie abgelehnt, wäre es zu einem Kampf gekommen. Aber Farrington dachte nicht daran, sich so schnell abspeisen zu lassen. Als der Tanz zu Ende war, hielt er sie fest und zwang sie, weiter mit ihm zu tanzen. Onkel Jeff machte Anstalten, dazwischenzutreten, doch sie winkte ab. Auch der zweite Tanz endete, und Farrington ließ sie wieder nicht gehen. Als die Fiedel von neuem aufspielte, tanzte er mit ihr weiter. Onkel Jeff hatte genug und er brüllte dem Fiedelspieler zu, er solle endlich aufhören. Zu diesem Zeitpunkt waren ohnehin nur noch Delia Larrabee und Tobe Farrington auf der Tanzfläche. Alle anderen hatten sich zurückgezogen und warteten ab. Onkel Jeff ging mit zornrotem Gesicht auf Farrington zu. »Gut, Farrington, ich spiele mit. Laß sie los.« Farrington hielt ihre Hände ein wenig fester. »Dies Mädchen ist zu hübsch, als daß sie ihre Zeit mit einem schmuddeligen kleinen Rancher wie dir verschwenden dürfte. Ich nehme sie dir ab.« 171
Onkel Jeffs Bild zeigt, daß er über kräftige Arme und breite Schultern verfügte. Wenn er seine Faust gebrauchte, hinterließ sie gewöhnlich ein blaues Mal. Tobe Farrington landete flach auf dem Rücken. Instinktiv ließ er seine Hand zur Hüfte gleiten. Aber er hatte seinen Revolver wie alle anderen am Eingang abgeben müssen. Mit einem hinterhältigen Lächeln stand er wieder auf. Delia Larrabee hatte ihre Arme um Onkel Jeff gelegt und versuchte ihn zurückzuhalten. »Jeff, er will dich umbringen!« Onkel Jeff schob sie zur Seite und sah Tobe Farrington ins Auge. »Ich habe meinen Revolver zu Haus gelassen.« »Du könntest hinreiten und ihn holen«, sagte Farrington kalt. »Gut. Das werde ich tun.« Farrington runzelte nachdenklich die Stirn. »Wenn ich es bedenke, Barclay, würde es noch Nacht sein, wenn du zurückkämst. Die Nacht taugt nicht für eine gute Schießerei. Deshalb mache ich dir einen Vorschlag: Ich reite nach Haus. Morgen nachmittag komme ich wieder in die Stadt. Sagen wir um fünf Uhr. Wenn du dann noch den Schneid hast, kannst du mich auf der Straße treffen. Wir werden diese Sache erledigen, wie es sich gehört.« Seine Augen wurden plötzlich sehr klein. »Aber wenn du dich entschließt, lieber nicht zu kommen, wird es besser sein, du verschwindest aus der Gegend. Ich werde nämlich nach dir Ausschau halten.« Sie waren nicht weit vom Eingang, wo die Waffen aufbewahrt wurden. Farrington ließ sich seinen Revolver geben, schnallte den Patronengurt um und zog die Waffe. 172
»Damit es zu keinem Mißverständnis kommt, Barclay, will ich dir zeigen, was ich kann.« Fünfzehn Meter von der Tanzhalle entfernt klebte ein Plakat mit den fettgedruckten Worten FORT STOCKTON an einem Bretterzaun. Farrington hob den Revolver, feuerte einmal und schoß seine Kugel in die Mitte des ersten O. Frauen kreischten, als der Schuß zwischen den Gebäuden verhallte. Onkel Jeff wartete ein paar Sekunden, bis der Pulverrauch sich verzogen hatte. »Laß mich das Ding einmal ansehen«, sagte er dann. Farrington zögerte, betrachtete ihn mißtrauisch, gab aber schließlich die Waffe heraus. Onkel Jeff feuerte zweimal und durchlöcherte die beiden anderen O’s. Die Leute pflegten später zu erzählen, Farrington habe ausgesehen, als hätte er aus Versehen eine Stange Kautabak verschluckt. Er wußte nicht, daß Onkel Jeff so gut schießen konnte. »Ich werde da sein«, sagte Onkel Jeff und gab ihm die Waffe zurück. »Sieh nur zu, daß du unsere Verabredung nicht vergißt.« In diesem Augenblick wäre er wahrscheinlich auch bereit gewesen, es mit Wild Bill Hickok und anderen aufzunehmen. Er kehrte an diesem Abend nicht nach Haus zurück, denn er wußte, daß Papa versuchen würde, ihn umzustimmen, und davon wollte er nichts hören. Er übernachtete bei Freunden in der Stadt. Am nächsten Morgen war er draußen in der offenen Prärie und übte mit einem geborgten Revolver. Delia Larrabee hatte zunächst versucht, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Sie sagte, sie wolle mit ihm überallhin gehen, nach Kalifornien oder auch nach Mexiko, 173
wenn er nur verschwände, und zwar gleich. Aber Onkel Jeff hatte sich nun einmal entschlossen. Schließlich hatte es nur an Papa gelegen, daß es nicht schon längst zu dieser Auseinandersetzung gekommen war. Delia lief daraufhin zu ihrem Vater und bewog ihn, sie in der Dunkelheit der ersten Morgenstunden mit dem Wagen hinauszufahren, damit sie Papa berichten konnte, was geschehen war. »Du mußt etwas tun!« rief sie. »Du bist der einzige, von dem sich Jeff etwas sagen läßt.« Papa grübelte lange darüber nach. Er kannte Onkel Jeff. Das einzige Mittel, ihn jetzt noch zurückzuhalten, wäre, ihn zu fesseln. Aber er konnte seinen Bruder nicht ständig in Fesseln halten. »Ich will versuchen, mir etwas auszudenken«, versprach Papa, »aber ich bezweifle, daß es etwas nutzen wird. Du fährst jetzt am besten nach Haus.« Lange saß er an seinem Tisch, schlürfte schwarzen Kaffee und sah die Morgensonne aufgehen. Es fiel ihm ein, daß Farrington nur einen Job für Port Hubbard erledigte, und daß Port Hubbard eigentlich weiter nichts wollte, als die Barclays das Land verlassen zu sehen. Und was das anging, so hatte Papa lieber Onkel Jeff am Leben als die besten acht Quadratmeilen im Pecosdistrikt. Er wußte, daß Jeff nicht auf ihn hören würde. Aber vielleicht ließ Farrington mit sich reden. Papa sattelte und machte sich auf den Weg zu der Bretterhütte, die Farrington bewohnte. Er hatte den Stutzen bei sich, den er bei der ergebnislosen Wolfsjagd benützt hatte. Zwar hatte er nicht die Absicht, die Waffe zu gebrauchen, aber es war möglich, daß Farrington mit dem Gedanken 174
spielte, die Barclays sozusagen auf einen Streich zu erledigen. Farringtons Hütte war ursprünglich eine Unterkunftshütte für Hubbards Reiter gewesen und hatte sich auf dem von Papa und Onkel Jeff erworbenen Land befunden. Hubbard hatte damals die Bretterhütte abgerissen auf zwei Wagen verladen und an anderer Stelle wieder aufgerichtet. Am alten Platz war nur noch eine halb zerfallene kleine Zisterne übrig geblieben, die wegen des Viehs von einem Zaun umgeben war. Papa hatte sie schon lange zuschütten wollen, aber nie die Zeit gefunden. Nun, so dachte er, wird es nicht mehr nötig sein. Sie wird wieder Hubbard gehören. Als er sich der Hütte näherte, sah er Rauch aus dem rostigen Ofenrohr aufsteigen. Farrington war zu Haus. »Farrington!« rief Papa. »Ich bin es, Henry Barclay. Ich will mit dir sprechen.« Farrington beeilte sich nicht, zum Vorschein zu kommen, und als er endlich auftauchte, hatte er den Revolver umgeschnallt. Sein Mißtrauen war offenkundig, und seine Hand schob sich näher an den Revolvergriff, als er Papas Stutzen sah. »Zum Sprechen ist es jetzt zu spät, Barclay. Es gab eine Zeit, wo wir uns vielleicht hätten einigen können, aber die ist vorbei.« »Das glaube ich nicht«, sagte Papa. »Angenommen, wir würden dir geben, was Hubbard will? Angenommen, wir verkaufen ihm unser Land und gehen fort?« Farrington runzelte die Brauen. »Was geht mich Hubbard an?« 175
»Wir brauchen uns nichts vorzumachen, Farrington. Ich weiß, warum du gekommen bist, und du weißt, daß ich es weiß. Du hast also gewonnen. Laß meinen Bruder in Ruhe.« »Du sprichst für dich, aber dein Bruder sieht die Dinge vielleicht anders.« »Er wird sie genau so sehen wie ich, und wenn ich ihn fesseln und in einem Wagen bis nach Kalifornien schaffen müßte.« Farrington dachte darüber nach. »Bis zu einem gewissen Grade klingt es ganz vernünftig, was du da sagst. Schade, daß du es nicht schon früher eingesehen hast. Inzwischen habe ich hier einiges investiert, wenn man so sagen will. Was Port Hubbard genügt, braucht mir noch lange nicht zu genügen.« »Du willst Geld? Gut, ich teile mit dir. Die Hälfte von dem, was Hubbard für das Land bezahlt. Ich will nur nicht, daß Jeff etwas zustößt.« »Die Hälfte von dem, was Hubbard gibt, wird nicht sehr viel sein.« »Dann eben alles. Als wir hierher kamen, hatten wir nichts. Wir könnten noch einmal mit nichts anfangen.« Ein trockenes und böses Lächeln breitete sich auf Farringtons Gesicht aus. »Nichts zu machen, Barclay. Ich wollte nur sehen, wie weit du kriechen würdest. Jetzt weiß ich es.« »Du willst ihn wirklich umbringen?« »Ich werde ihn abknallen wie ein Stück Vieh! Und dann werde ich kommen und dich verjagen, Barclay, und es wird Hubbard keinen Cent kosten. Du wirst die Papiere unter176
schreiben und dich davonmachen, mit nichts als den Kleidern, die du auf dem Leib trägst!« Das war es also. Papa wendete sein Pferd und tat, als wolle er davonreiten. Aber er wußte, daß er die Dinge so nicht lassen konnte. Onkel Jeff war so gut wie tot. Und um Papa stand es nicht anders, denn er hatte nicht die Absicht, sein Land zu verlassen, wenn Onkel Jeff sterben müßte. Dreißig Meter von der Hütte entfernt beugte sich Papa vorwärts, als wollte er seinem Pferd die Sporen geben. Statt dessen zog er seinen Stutzen aus der Sattelschlinge. Farrington sah die Bewegung und erkannte Papas Absicht. Er zog seinen Revolver und feuerte, gerade als Papa den Stutzen in den Händen hielt. Aber Papa riß im selben Augenblick sein Pferd herum, und die Kugel ging daneben. Papa ließ sich aus dem Sattel fallen und warf sich flach auf den Bauch. Er hatte seine Chancen vergrößert, indem er die dreißig oder vierzig Meter zwischen sich und Farrington gelegt hatte. Für den Stutzen war die Distanz günstig, aber für einen Revolver war sie ziemlich weit. Auch Farrington wußte das. Er rannte näher heran und feuerte im Laufen. So hoffte er, Papa in Schach halten zu können, bis er für einen sicheren Schuß nahe genug wäre. Aber Papa ließ ihn nicht so weit herankommen. Er zielte sorgfältig und drückte ab. Papa hatte früher viele Wölfe geschossen, und manche von ihnen aus dem Sattel, wenn sie in vollem Lauf waren. Farrington überkugelte sich wie einer dieser Wölfe. Seine Arme und Beine zuckten noch ein wenig, dann blieb er tot liegen. 177
Papa hatte noch nie einen Menschen getötet, und auch danach tötete er nie wieder einen. Aber an diesem Tag mußte er es tun, um Onkel Jeff zu retten. Trotzdem wurde ihm übel, und der ganze Kaffee, den er in der Nacht getrunken hatte, kam wieder heraus. Später, als er sich ein wenig beruhigt hatte, begann er zu überlegen, wie er dies alles erklären sollte. Onkel Jeff würde ihm wahrscheinlich nie vergeben, denn er hatte Farrington selber den Garaus machen wollen. Papa würde ihn nie davon überzeugen können, daß Farrington ihn getötet hätte. Hubbard würde Zeter und Mordio schreien, und es würde nicht leicht sein, ein Geschworenengericht vom wahren Hergang der Sache zu überzeugen. Dann kam ihm der rettende Gedanke: warum überhaupt etwas erzählen? Niemand hatte es gesehen, niemand brauchte es zu wissen. Farrington konnte einfach davongeritten sein Vagabundierende Revolverkämpfer taten so etwas manchmal. Nicht wenige bekannte Gesetzlose waren eines Tages einfach verschwunden, ohne daß man jemals wieder von ihnen gehört hatte. Ein neues Land, ein neuer Name, ein neuer Anfang … Farringtons Pferd war im Corral hinter der Hütte; es war ein Fuchs mit Hubbards Brandzeichen. Papa legte dem Tier Farringtons Sattel auf und bepackte es mit Farringtons Leichnam. Das Pferd witterte Blut und tänzelte unruhig, aber schließlich gelang es Papa, den Toten festzuzurren. Er ging in die Hütte und suchte eine Pfanne, einen Topf und verschiedene Nahrungsmittel zusammen. Er rollte die Gegenstände in Farringtons Decke und nahm sie mit sich. 178
Er machte sich wegen der Spuren Gedanken und bedeckte an der Stelle, wo Farrington gefallen war, die kleine Blutlache mit Erde. Im Norden standen Wolken am Himmel. Vielleicht würde ein Regen die Spuren auswaschen. Und wenn es nicht regnete, würde jedenfalls ein Wind aufkommen. In diesem trockenen Land konnte der Wind genau so gut Spuren verwischen wie der Regen. Papa führte das Pferd mit seiner Bürde durch die Grassteppe und hoffte nur, daß ihm keiner von Hubbards Reitern begegnete. Er hielt sich von der Fahrstraße fern und erreichte schließlich ungesehen sein eigenes Land. Hier ritt er zu der Stelle, wo früher die Feldhütte gestanden hatte, band Farringtons Körper los und zerrte ihn an den Rand der Zisterne. Dann stieß er ihn hinein und warf Sattelzeug, Decke und alles andere hinterher. Zuletzt führte er Farringtons Pferd auf Hubbards Land zurück und ließ es laufen. Papa war sonst kein Trinker, aber an diesem Nachmittag holte er sich eine Flasche aus dem Küchenschrank, setzte sich auf die Schwelle und betrank sich. Spät am Abend kam Onkel Jeff nach Haus. Auch er hatte getrunken, aber aus einem anderen Grund. Er hatte ein paar Freunde mitgebracht, die ihm feiern helfen wollten. »Hallo, großer Bruder!« brüllte er schon von weitem. »Ich bin es, der kleine alte Jeff! Der lebendigste kleine alte Jeff, den du je gesehen hast!« Er schwankte auf die Schwelle zu und sah Papa dort sitzen. »Ich wette, du hast gedacht, sie würden mich in einer Kiste nach Haus bringen. Du hast dich besoffen und gewartet, daß sie mich bringen würden. Aber ich bin hier, munter wie ein Fisch. Ich habe gewonnen. Farrington hat sich nicht blicken lassen!« 179
Papa war nicht imstande, große Überraschung zu mimen. »Was du nicht sagst!« »Ich sage es! Die ganze Stadt hat gewartet. Er kam nicht. Er hatte Angst vor mir. Tobe Farrington hatte Angst vor mir!« Papa sagte: »Das freut mich, Jeff. Das freut mich wirklich.« Dann erhob er sich schwankend und torkelte ins Haus zu seinem Bett. Im Lauf des nächsten Tages kamen zwanzig oder dreißig Leute heraus, um Jeff Barclay zu beglückwünschen. Papa bekam sie allerdings nicht zu Gesicht. Er war am Morgen ausgeritten, um die alte Zisterne zuzuschütten, bevor eine Kuh hineinfiel. In ganz Westtexas erzählte man sich, wie Jeff Barclay, ein kümmerlicher kleiner Rancher, Tobe Farrington so eingeschüchtert hatte, daß er einem Zweikampf aus dem Weg gegangen war. Die Leute entschieden, daß Farrington sich seinen Ruf erschlichen haben mußte. Noch lange danach stellten sie Spekulationen darüber an, wohin er gegangen sein mochte, denn niemand hörte jemals wieder von ihm. Gerüchte besagten, er sei nach Mexiko gegangen und habe seinen Namen geändert, weil er den Leuten nicht mehr ins Gesicht sehen konnte, nachdem er vor Jeff Barclay gekniffen hatte. Papa war mit dieser Entwicklung mehr als zufrieden und ließ die Leute in ihrem Glauben. Wie ich schon erwähnte, er bewahrte sein Geheimnis bis kurz vor seinem Tod. Aber es muß ihm keine Ruhe gelassen haben, und als er seine Zeit kommen fühlte, vertraute er es mir an. Er sagte mir mehrmals, daß er es tun mußte, um Onkel Jeff zu retten. 180
Die Ironie bestand nur darin, daß es Onkel Jeff nicht rettete. Im Gegenteil, es tötete ihn. Wie er nun einmal war, der Erfolg stieg ihm zu Kopf. Es kam soweit, daß er ständig nach einem neuen Tobe Farrington Ausschau hielt. Er wurde übermütig und streitlustig. Nach und nach entfremdete er sich seinen Freunden. Er verlor sogar Delia Larrabee. Der einzige Mensch, der zu ihm hielt, war Papa. An jenem Tag, als Onkel Jeff endlich einem Mann begegnete, der Tobe Farrington glich, konnte ihm Papa leider nicht helfen, denn er war nicht dabei. Onkel Jeff tastete noch nach seinem Revolver, als er mit zwei Kugeln im Herzen fiel. Onkel Jeffs vier Quadratmeilen gingen auf Papa über, aber er verkaufte sie, zusammen mit seinem eigenen Land – nicht an Port Hubbard. Vom Erlös kaufte er sich eine neue Ranch weiter westlich, in den Davis Mountains. Und Delia Larrabee? Sie heiratete Papa. Ich bin einer ihrer sechs Söhne.
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Richard Wormser schrieb bisher Romane, Kurzgeschichten, Drehbücher und einige Fernsehspiele. Bevor er sich hauptberuflich der Schriftstellerei widmete, arbeitete er als Rancher, Pferdetrainer, Spirituosenvertreter sowie als Beamter im staatlichen Forstdienst. Jetzt lebt er in New Mexico.
Richard Wormser
Der Mexikaner Wegen seines blonden Haars und seiner zerlumpten Cowboykleidung hielten ihn jetzt, da er sich der Grenze näherte, immer mehr Leute für einen Texaner. Und in gewissem Sinne hatten sie recht; er war nördlich der Grenze geboren, nicht weiter als einige Tagesritte von dem Laredo entfernt, das er nun vor sich wußte. Er ritt gemächlich dahin, wiegte sich in dem zerfetzten Sattel und begann leise die ersten Takte des alten Volkslieds zu singen, das ihm schon den ganzen Tag nicht aus dem Kopf wollte: »As I walked down the streets of Laredo, as I walked out in Laredo one day –« Er war sicher, daß er nicht durch die Straßen von Laredo schlendern würde. Die Straßen dieser und aller anderen Städte nördlich der Grenze waren ihm für alle Zeiten verschlossen. Denn in Texas war wegen Mordes gesucht: Ward Jones, einen Meter siebzig groß, Haarfarbe blond, Augenfarbe grau, untersetzte Gestalt, hundertfünfzig Pfund. 182
Nein, wenn die höflichen Leute im nördlichen Sonora ihn auch in schlechtem Englisch anredeten, er war Mexikaner. Seit zehn Jahren. Er war ein großer Mann in Mexiko, El Rubio, der Guerillaführer. Und er stand im Begriff, noch größer zu werden, sobald in Nuevo Laredo die Sache mit den Gewehren geregelt wäre. Am Wegrand stand eine kleine Buschhütte mit einer aus Brettern zusammengenagelten Theke, wo man Bier oder Pulque bekommen konnte, oder auch ein Paket Zigaretten und Knöpfe für ein zerrissenes Hemd. Er stieg vom Pferd und reckte sich. Im offenen Eingang der Hütte tauchte ein dunkles Gesicht auf. »Bier, Misterr?« »Se, cerveza, por favor.« »Ihr Spanisch ist gut, Señor .« »Danke.« Das Bier schäumte aus dem Flaschenhals, und er trank durstig. Wie alles Bier in Mexiko war es gut gebraut und wurde zu warm serviert. Heimweh überkam ihn. Heimweh nach der feuchten Kühle eines richtigen Schankraums mit sägemehlbestreutem Boden, schimmernder Mahagonitheke und auch nach den trägen, gedehnten Stimmen der Männer, die über Politik debattierten. Lieber Gott, ja. Er wußte nicht einmal, wer zur Zeit Gouverneur von Texas war. Seit Johnny Martins Tod gab es niemanden mehr, mit dem er über diese Dinge reden konnte. Johnny hatte eine Kugel durch das Brustbein bekommen und war am buschbewachsenen Hang eines mexikanischen Berges eingescharrt worden. Und heute abend mußte er die Geschichte der Frau erzählen, die mit Johnny Martin verheiratet gewesen war. 183
Das war ein Grund, warum er den Waffenhändler Robinson gebeten hatte, in Nuevo Laredo mit ihm zusammenzukommen. Er wollte nicht, daß Mrs. Martin tiefer nach Mexiko hineinreiste. Es war zu gefährlich. Diaz’ Truppen befanden sich überall im Alarmzustand, und ein halbes Dutzend kleiner Guerillaarmeen wie seine eigene durchzog kreuz und quer das Land. Er trank sein Bier aus und stellte die leere Flasche auf die Brettertheke. Der kleine, geduldige Mann sagte furchtsam: »Entschuldigen Sie, Señor …« »Ja?« Der kleine Mann schluckte. Seine Armut machte ihn mutig. »Ihr Hemd ist zerrissen, Señor. Und wenn Sie in eine so feine Stadt wie Nuevo Laredo reiten …« Seine Worte überstürzten sich: »Für ein paar Centavos, Señor – meine Frau, Señor, sie würde es Ihnen stopfen.« Diese armen Teufel. Nun, wenn Diaz stürzte, würden sie es vielleicht besser haben. Er knöpfte das Hemd auf, und der Mann stieß einen Zischlaut aus, womit er nach Art der Bauern seine Frau verständigte. Ward Jones reichte ihm das Hemd, und der Mann trug es hinter eine Zwischenwand aus Flechtwerk. Frauen zeigten sich nicht den Fremden, wenn es zu vermeiden war. Er zündete sich eine Zigarette an und wartete. Als er das Zündholz durch den Eingang hinauswarf, sah er, daß der Mexikaner es sorgfältig vermied, El Rubios bloße Arme anzusehen. Statt dessen starrte der Mann abwechselnd auf den Boden und auf die staubige Straße, die nach Süden führte. »Haben Sie keine Angst«, sagte Ward Jones, der nun 184
wußte, daß der andere ihn erkannt hatte. Der Mann nickte, aber er wagte es immer noch nicht, ihn anzusehen. Wahrscheinlich glaubte er ihm die friedliche Absicht nicht. Die Wahrheit war, daß El Rubio wie die meisten Guerillas nur das Beste wollte. Aber manchmal konnte er die Männer nicht mehr bändigen. Guerillas waren von Natur aus nicht die sanftmütigsten Menschen, und besonders nach Gefechten entwickelten sie mitunter einen wilden Appetit – nach Schnaps, nach Essen, nach Frauen. Er mußte zugeben, daß es Zwischenfälle gegeben hatte. Das Hemd wurde gebracht, und er zog es hastig an und knöpfte die Manschetten zu. Die texanische Polizei und die Rangereinheiten kannten diese Unterarmtätowierung. Gesucht wegen Mordes. Wegen Mordes an einem Texasranger vor zehn Jahren, aber das war nicht vergessen und würde nie vergessen werden. Der Mann wollte für das Stopfen keine Bezahlung mehr annehmen. Er schien nur noch den Augenblick herbeizuwünschen, wo der gefürchtete El Rubio seine Hütte verließ. Ward Jones seufzte. Immer wurde man für die Sünden seiner Leute verantwortlich gemacht, das war der Preis, den man als Guerillaführer zu bezahlen hatte. Er warf einen Silberpeso auf die Theke und ritt weiter. Es war viel zuviel Geld, aber vielleicht vermochte es den Eindruck zu verbessern, den der Mann von den Guerillas gewonnen hatte. Es schien Ward Jones nicht ratsam, seine Bande hierher zu führen, wo es von Regierungstruppen nur so wimmelte. Und er wollte mit Johnnys Witwe sprechen. Überdies würde man einen blonden Reiter hier oben nicht für El Rubio, sondern einfach für einen texanischen Cowboy halten. 185
Als er den Stadtrand von Nuevo Laredo erreichte, gingen überall die Lichter an; verträumte Petroleum- und grelle Gaslampen. Und weit voraus, aufgereiht wie Perlen auf einer Kette, erstreckten sich lange Reihen elektrischer Birnen. Er hatte elektrische Beleuchtung schon gesehen. In Mexiko City hatte man sie, in Torreon und in Monterry. Aber dies hier waren die Lichter von Laredo, von Texas. Die Heimat war drüben am anderen Ufer des Rio Grande. Er schmunzelte vor sich hin. Wie würden seine Leute lachen, wenn sie wüßten, daß El Rubio durch die Dämmerung Nuevo Laredos ritt und sich selbst bemitleidete. Sein Pferd, das Straßen und Städte kannte, wußte genau, daß irgendwo in der Nahe ein Stall mit Futter wartete, und es begann plötzlich zu traben. El Rubio stellte sich in die Steigbügel und kam bald zu dem Hotel, das sich »La Flor del Norte« nannte. Der Besitzer war ein Mann namens Prado; er war mit El Rubio geritten, bis ihn eine Kugel der Regierungstruppen den Arm zerschmettert hatte. Er flüsterte: »Bienvenida, Jefe«, und dann sagte er laut: »Wollen Sie ein Zimmer, Mister, oder nur eine Mahlzeit?« Aus der Bar drangen die näselnden Stimmen von Texanern. Es schien, daß Benjamin Harrison und Grover Cleveland für die Präsidentschaftswahlen kandidierten. Er dachte nach. Ja, richtig, Cleveland mußte der Demokrat sein, und er stammte aus Texas. Bueno. Er konnte an der Diskussion teilnehmen, später, wenn er Zeit hätte, mit den Jungen dort drinnen ein Gläschen zu trinken. 186
»Ich möchte ein Zimmer«, sagte er laut zu Prado. »Und eine richtige alte Badewanne.« »Gut, Sir«, sagte Prado. »Die Treppe hinauf und nach rechts. Ich bringe Ihnen Handtücher.« Der alte Bandit blinzelte ihm zu, und seine weißen Zähne blitzten für einen Augenblick unter dem hängenden Schnurrbart. Ein weißgekleideter Junge brachte El Rubios Satteltaschen herein und meldete, daß man sich um das Pferd kümmere. Dann führte er El Rubio die steile Treppe hinauf. Im Zimmer angelangt, hängte der Junge die Satteltaschen über einen hölzernen Wandhaken und wandte sich um. »Ich kenne Sie, Señor «, sagte er. »Mein Onkel Prado hat mir von Ihnen erzählt. Wenn ich alt genug bin, reite ich mit Ihnen.« »An meinem Feuer gibt es immer Bohnen für einen aus Prados Familie«, sagte El Rubio. »Aber Vorsicht. Keiner darf wissen, wer ich bin.« »Natürlich«, erwiderte der Junge. »Klar, Jefe.« Ward Jones wünschte, der Junge würde nun gehen, aber er blieb an der Tür stehen und wartete auf etwas. Ach ja. Er wollte die berühmten, tätowierten Arme von El Rubio sehen. Also zog Ward Jones sein Hemd aus, und der Junge goß Wasser in die Waschschüssel und beobachtete fasziniert, wie das blutende Herz und der Dolch gewaschen wurden. Es war El Rubios Gewohnheit, seinen Kopf unbedeckt zu lassen und die Ärmel aufzukrempeln, wenn er mit seinen Leuten eine Stadt oder einen Militärposten angriff. Das war genau so gut wie eine Extraschwadron Reiter, wenn es darum ging, die Verteidiger zu demoralisieren. Prado kam herein, die Handtücher über dem Arm, und 187
scheuchte den Jungen hinaus. »Es ist gut, Jefe, gut, dich zu sehen. Es gibt mir das Gefühl, wieder jung zu sein und zwei Arme zu haben, um dich umarmen zu können.« Er klopfte auf seinen leeren linken Ärmel. El Rubio erinnerte sich an seine guten Manieren und umarmte Prado. »Sind keine Gerüchte aufgekommen, daß ich hier bin?« »Weder hier noch jenseits der Grenze«, erklärte Prado lächelnd. »Ich habe gründliche und sehr diskrete Nachforschungen angestellt. Du bist sicher, wie in deinem eigenen Haus.« »El Rubio hat kein Haus.« »Wenn der Diktator fällt, wirst du ein Schloß haben«, sagte Prado großartig. »Schloß Chapultepec. Dein Mann, dieser Robinson, ist bereits hier.« »Ein Privatzimmer, ein Abendessen für zwei, Fundador Brandy«, sagte El Rubio. »Dein Neffe sollte uns lieber selbst bedienen … Hat sich auch eine Frau gemeldet, um mich zu sprechen?« »Ja, Jefe. Eine Rubia, eine mit blonden Haaren, wie du.« Prado verdrehte die Augen und schnalzte. Ward Jones hatte nicht erwartet, daß Johnnys Witwe ein Typ war, der Prado solche Beifallskundgebungen zu entlocken vermochte. Aber er blieb ernst. »Sie ist die Witwe von Juanito el Tejano.« Prados Gesichtsausdruck veränderte sich. »Arme Kleine«, sagte er mitleidig. »Es ist eine Tragödie, einen Mann wie Juanito zu verlieren.« Plötzlich hellte sich seine Miene auf. »Aber Juanito ist nun schon – oh, länger als ein Jahr tot. Ay, sie hat Zeit gehabt, ihn zu vergessen. Willst du sie 188
vor Robinson sehen?« »Du Halunke«, sagte El Rubio freundschaftlich. Er packte seine Satteltaschen aus. Sein guter schwarzer Anzug war zum Schutz gegen Nässe und Pferdegeruch in Ölzeug gewickelt; nun roch er danach. »Gib her«, sagte Prado. »Ich lasse ihn von einem Mädchen feucht bügeln. Eine Sache von zehn Minuten. In der Zwischenzeit könnten wir ein Gläschen zusammen trinken.« »Warum nicht?« El Rubio sah, wie Prado den Anzug über den rechten Arm legte. Er war bemerkenswert geschickt, wenn man berücksichtigt, daß er den linken Arm erst vor einigen Monaten verloren hatte. El Rubio trat ans Fenster und blickte hinunter, während Prado den Anzug hinaustrug. Auf der Straße herrschte geschäftiges Leben; Bauern aus der Umgebung, Verkäufer von Tamales, Tacos und Bier, Texaner von jenseits der Grenze, Soldaten von Porfirio Diaz’ Grenzgarnison waren zu sehen. Das Blut stieg ihm in die Wangen, als er die verhaßten Uniformen sah. Es handelte sich um ein von Deutschen ausgebildetes Regiment; alle Offiziere trugen Pickelhauben. Nun, schließlich war er auch kein Mexikaner. Er war ein gesetzloser Texaner, der für Geld kämpfte. Wenigstens war es anfangs so gewesen. Im Laufe der Jahre war das anders geworden, und jetzt glaubte er oft, aus Patriotismus für sein neues Vaterland Mexiko zu kämpfen, für die Unterdrückten und Armen, gegen die Großgrundbesitzer und die Bajonette der Regierungsmacht. »Ich hoffe, wir werden nach all den Jahren nicht zu edelmütig«, murmelte er bei dem Gedanken und grinste 189
vor sich hin. Wenn er die Augen beschattete, konnte er die elektrische Straßenbeleuchtung Laredos über den Fluß schimmern sehen. Texas machte sich. Wenn er diesen Ranger vor dreißig Jahren umgebracht hätte … Aber vor dreißig Jahren war er erst vier gewesen. Er lachte laut und schüttelte den Kopf, und Prado, der mit einer Flasche spanischen Kognaks zurückkehrte, wollte wissen, warum. »Aus verschiedenen Gründen, alter Freund. Weil ich dich wiedersehe. Weil ich die Gewehre bekommen werde, die wir so nötig brauchen. Weil ich nachher mit einer schönen Dame zusammenkommen werde, wenn der Anlaß auch traurig ist. Weil ich meinem Geburtsort heute seit zehn Jahren am nächsten bin.« Prado schenkte ein und blickte überrascht auf. »Don Rubio, du willst doch nicht etwa nach Hause gehen? Nach Texas?« »Wie könnte ich? Unten in der Sierra warten die Jungens auf mich.« »Ohne dich wären sie in ein paar Wochen tot oder im Gefängnis. Du bist ihr Gehirn, ihr Vater und ihr Vorbild. Ich trinke auf El Rubio, den Schrecken der Diktatoren.« Sie tranken. Ward Jones zögerte, seine Kleidung zu wechseln. Aber manchmal mußte man einem anderen Menschen vertrauen. Er zog seine abgetragene Hose aus, wobei Prado sich Mühe gab, die beiden Geldgürtel zu übersehen, die El Rubio unter seinem Hemd um die Hüften geschnallt hatte. Dann legte Ward Jones seinen schwarzen Anzug an, betrachtete sich prüfend im Spiegel und wandte sich an den Mexikaner. »So, Prado. Jetzt kannst du mich zum Speisezimmer 190
führen. Zuerst die Dame. Mrs. Martin, und dann, nach sagen wir zwanzig Minuten, nicht mehr, meldest du diesen Robinson.« »In Ordnung, Jefe«, sagte Prado. »Du fürchtest wahrscheinlich, daß die gute Witwe in Tränen aufgelöst sein wird. Aber du und ich, Don Rubio, wir haben schon oft die Tränen von Witwen gesehen, nicht?« Er lachte. »Ja«, sagte Ward Jones. »Ja.« Aber er lachte nicht. Prado war ein guter Guerilla gewesen, ein wilder Kämpfer und Raufbold. Aber wenn der Kampf vorbei war … Nun, jeder hatte seine eigene Methode, sich zu entspannen. Manche betranken sich und manche, wie Prado, suchten sich Frauen. Und wieder andere … Plötzlich mußte auch er lachen. Enthaltsamkeitsapostel und moralgeschwellte Methodisten waren nun einmal als Guerillakämpfer ungeeignet. »Warum lachst du, Don Rubio?« Ward Jones schüttelte den Kopf und bedeutete Prado, ihn hinunterzuführen. Die Stimmen der Texaner drangen noch immer aus der Bar: »Ich sage dir, unter den Republikanern hat der kleine Mann keine Chance.« Ward Jones fühlte sich an die Samstagabendgespräche in irgendeiner kleinen Stadt nördlich der Grenze erinnert, an die Faulenzer vor dem Barbiergeschäft und dem Mietstall, im Saloon und auf den Stufen vor dem Rathaus. Bei solchen Diskussionen kam nie etwas heraus, aber sie machten Spaß. Nun, da er seinen guten Anzug anhatte, fühlte er sich nicht mehr so sicher. Ein gutgekleideter Mann war in der Nähe der Grenze verdächtiger als ein Cowboy. Er überwand die Versuchung, in die Bar zu gehen und mit seinen Landsleuten ein Glas zu trinken, und ließ sich von Prado in 191
einen Raum führen, der nach frischer Tünche roch. An den Wänden hingen Bilder von Hidalgo und Juârez: Hidalgo, der Mexiko von den Spaniern befreit hatte, und Juârez, der die Franzosen hinausgeworfen hatte. Er trank noch einen Brandy, diesmal aus der Flasche, die Prado vorsorglich auf den Tisch gestellt hatte. Die Gläser waren fein gearbeitet und aus Kristall, die besten im Haus oder eigens angeschafft, um El Rubio daraus zu bewirten. Er hatte Teil an diesem Land, er glaubte an Mexiko! Es war sein Land! Er war ein genau so aufrichtiger Patriot wie Hidalgo oder Juârez. Die Tür ging auf. Er wandte sich rasch um, wobei er die rechte Hand in seiner Rocktasche um den Griff der kleinen Pistole legte. Er hatte sie in einem Nachttisch aus Ebenholz und Elfenbein gefunden, nachdem er mit seinen Leuten den Palast eines reichen Grundbesitzers in der Stadt Nopal erobert hatte. Nach der Plünderung hatten sie den Palast angesteckt, und der Palast war mitsamt seinen feudalen Bewohnern in Flammen aufgegangen. Auch die Dame des Hauses, deren Schlafzimmer der Nachttisch geschmückt hatte, hatte daran glauben müssen. Aber heute war ein anderer Tag und eine andere Dame. Sie war nicht größer als der kleine Johnny Martin, Juanito el Tejano, gewesen war. Er deutete eine Verbeugung an. »Mrs. Martin?« Sie hatte eine stolze Haltung, und ihre Augen waren überraschend blau. Sie trug keine Trauerkleidung, kam auf ihn zu und streckte ihre Hand aus. »Sie sind Mr. Jones?« »Ja. Ich war Johnnys Freund.« Er wies auf einen der Stühle, dann erinnerte er sich besserer Manieren und zog 192
ihr den Stuhl unter dem Tisch heraus. Sie setzte sich und schüttelte den Kopf, als er nach der Flasche greifen wollte. »Sie haben mir geschrieben, daß Sie bei Johnny waren, als er starb.« Sie sagte es ziemlich ruhig, beinahe kühl. »Ja. Hoffentlich hat Ihnen die Reise hierher keine Unannehmlichkeiten bereitet.« »Ich bin mit dem Zug gekommen.« »Die Bahnlinie führt also schon bis Laredo. Das war früher nicht so.« Es war eine dumme Bemerkung, und sie tat auch so, als habe sie sie nicht gehört. Er räusperte sich. »Johnny war mein Freund.« »Ein guter Freund und ein schlechter Ehemann«, sagte die junge Frau scharf. Sie mochte Ward Jones nicht, das war klar zu sehen. Es war lange her, daß ihn eine Frau so angesehen hatte. Mexikanische Mädchen wußten besser, wie man sich El Rubio gegenüber zu verhalten hatte. »Davon weiß ich nichts«, sagte er leicht verstimmt. »Er war ein Jahr bei mir, und er verhielt sich immer loyal.« »Ich hatte drei Jahre lang nichts von ihm gehört. Und wir waren erst zwei Jahre verheiratet, als er mich verließ. Meine kleine Tochter weiß nicht, wie ihr Vater ausgesehen hat.« »Ich wußte nicht, daß er eine Tochter hatte«, sagte er. »Wahrscheinlich hielt er es für unwichtig, davon zu sprechen«, meinte Beatrice Martin. »Ich komme auch ohne ihn zurecht.« Sie hielt ihre Hände hoch, und Ward Jones sah die zerstochenen Fingerspitzen. »Ich bin Schneiderin.« »Hören Sie«, sagte er gereizt. »Ich habe Johnny nicht umgebracht. Und ich kann nichts dafür, daß er Sie verlas193
sen hat.« »Sie haben auch jemanden verlassen«, erwiderte sie ungerührt. »Andernfalls hätten Sie mir nicht geschrieben, daß Sie die Grenze nicht überschreiten können.« Die ruhige Stimme und die kalten blauen Augen begannen ihn zu ärgern. »Hören Sie. Ich habe Sie nicht kommen lassen, um mich vor Ihnen zu rechtfertigen. Wir erledigen jetzt das Geschäftliche, und damit Schluß. Sie können Ihre Augen schließen, denn ich muß dazu mein Hemd aufknöpfen.« Ward Jones sah nicht, ob sie ihn beobachtete oder nicht. Er entleerte zwei Fächer eines seiner Geldgürtel, knöpfte Hemd und Weste wieder zu und legte die kleinen Barren vor sie auf den Tisch. »Das gehört Ihnen. Johnnys Anteil an der Beu… – an unserem Gewinn. Es ist Gold. Jeder ist tausendvierhundert Dollar wert.« Die Goldbarren schimmerten im Lampenlicht und schienen den Raum wärmer zu machen. Kaltes Metall konnte wärmer sein als die Augen einer Frau. Eine merkwürdige Entdeckung, und er mußte vierunddreißig Jahre alt werden, um sie zu machen. »Sie wollten ›Beute‹ sagen«, antwortete Beatrice Martin. »Nein, danke. Ich kann auch so für meine Tochter und mich aufkommen.« »Warum sind Sie dann hergekommen?« Er bemühte sich, seine Stimme in der Gewalt zu behalten. Nuevo Laredo war nicht der geeignete Ort, um seinem Temperament freien Lauf zu lassen. »Wollten Sie wissen, wie Johnny gestorben ist? Nun, das will ich Ihnen sagen. Er starb mit einer Kugel in der Lunge. Es dauerte eine Weile, bis er al194
les überstanden hatte. Zuerst wußte er nicht, wie schwer verletzt er war, aber als das Blut anfing, ihm aus Mund und Nase zu laufen …« Sie schlug beide Hände auf den Tisch, daß die Gläser hochsprangen. »Hören Sie auf! Ich – ich habe ihn einmal geliebt.« Die blauen Augen waren jetzt nicht mehr kalt, und ihre vollen Lippen zitterten ein wenig. Er schenkte sich Brandy ein und kippte ihn hinter. »Tut mir leid.« Sie schob ihm das andere Glas hin, und er füllte es für sie. Sie nippte und gewann ihre Selbstbeherrschung wieder. »Tut mir leid«, wiederholte er. »Ich wollte diesen Haß aus Ihren Augen herausbringen. Ich habe schon so lange nicht mehr mit einem amerikanischen Mädchen gesprochen, daß …« »Ich dachte, ihr Mexikaner verabscheut uns?« »Stimmt. Aber für mich ist es nicht so einfach. Sehen Sie, für die Mexikaner bin ich ein Gringo, und für die Gringos ein Mexikaner. Nun, ich wünschte, Sie würden das Gold nehmen. Johnny hat tapfer darum gekämpft.« Sie schwieg. Ward Jones konnte sehen, wie der Zorn in ihr wieder die Oberhand gewann. Plötzlich sagte sie: »Es ist nicht leicht, ein Kind in einer Welt aufzuziehen, wo Männer wie Sie und Johnny ein Banditenleben einem anständigen, verantwortungsbewußten Dasein als Familienvater vorziehen. Nehmen Sie das Gold und geben Sie es irgendeinem mexikanischen Mädchen. Ihre Einsamkeit hat mich gerührt.« »Ich brauche kein Geld, um Mädchen zu bekommen«, fuhr er auf. »Sie sind froh, wenn El Rubio ihnen ein Lä195
cheln schenkt.« »El Rubio! Die Frauen an der Grenze schüchtern ihre Kinder mit diesem Namen ein. Es gibt für fünf Cents ein Heft, das die Jungen kaufen und statt ihrer Schulbücher lesen. ›Der blonde Killer von Mexiko‹ heißt es.« »Das würde ich gern lesen«, sagte er. »Verdammt, wer hätte das gedacht? Der alte Ward Jones aus Pearsall als Romanheld.« »Pearsall?« fragte sie. »Als ich ein Mädchen war, haben wir eine Zeitlang in Pearsall gewohnt.« »Sie sind auch jetzt noch fast ein Mädchen.« »Vierundzwanzig.« »Sie werden einen anderen Mann finden«, sagte er. »Ein Mädchen mit Ihrem Aussehen – mein Gott, der Mann müßte verrückt sein, der Sie nicht wollte.« »Sie sagten selbst, daß Sie schon lange kein amerikanisches Mädchen mehr gesehen haben. Ich werde das Gold nehmen, Mr. Jones. Ich glaube, ich schulde das meiner kleinen Tochter.« Er nickte. »Annähernd dreitausend Dollar. Damit können Sie sich ein kleines Haus kaufen, oder einen Laden.« »Oder einen Mann«, sagte sie. »Das haben Sie nicht nötig.« Er lauschte auf Prados Schritte. Das Gespräch war beendet. Vorbei. Tot wie Johnny Martin. Noch eine Minute, und er hätte ihr vorgeschlagen, mit ihm in Mexiko zu leben, in Monterrey, Tamasinchale oder einer anderen hübschen kleinen Stadt. Sie hätte ihn ausgelacht, und er wollte nicht ausgelacht werden. »Haben Sie hier in Prados Hotel ein Zimmer genommen?« fragte er. 196
»Nein, ich wohne im Laredo Hotel, drüben, auf der anderen Seite. Es würde mich nervös machen, in einem fremden Land zu schlafen.« Er lachte, dann hörte er die Schritte, und Prado kam herein, Gott sei Dank. Immerhin – El Rubio fühlte nach der kleinen Pistole in seiner Rocktasche. Bei diesem Geschäft kam es auf Sicherheit an. Prado machte seine Sache gut. Er blieb an der Tür stehen und sagte: »Es tut mir leid, Señor, aber da wartet ein Herr auf Sie …« Ward Jones stand auf. Mrs. Martin hatte die Goldbarren in ihre Handtasche gesteckt; die Dinger nahmen nicht viel Raum ein, aber sie waren schwer. Der Bügel der Handtasche drückte sich in das weiße, feste Fleisch ihres Unterarms ein. »Mrs. Martin geht über die Grenze, Prado«, sagte er. »Hol deinen Neffen, damit er sie bis zur Brücke begleitet.« Prado verschwand, und Beatrice Martin ging zur Tür. Dort blieb sie noch einmal stehen und sah ihn an. »Es – es ist schade«, sagte sie. Ward Jones schüttelte den Kopf. »Sie sind eine merkwürdige Frau. Sie bekommen dreitausend Dollar und finden es schade.« »Ich meinte damit Sie«, erwiderte Mrs. Martin. »Womit hat es bei Ihnen angefangen – mit Kartenspielen oder mit Trinken?« »Sie sollten jetzt lieber gehen«, sagte er. Und sie ging. Die Tür schloß sich hinter ihr, und er war allein. Zorn stieg in ihm auf. Sie bemitleidete ihn! Sie bedauerte El Rubio! Dabei brauchte er bloß zu pfeifen, und Prado 197
würde sie zurückholen. Er könnte sie mit sich nach Süden nehmen, und dort würde sie sehen, was seine blonden Haare und seine tätowierten Arme bedeuteten. Sie würde einen Respekt in den Augen der Leute sehen, wie man ihn in Texas nicht einmal dem Gouverneur entgegenbrachte! Er ging zur Tür, riß sie auf und schritt durch den Korridor. Plötzlich tauchte Prado neben ihm auf. »Sie ist fort, Jefe. Willst du sie zurückhaben?« »Aber warum denn?« »Ich habe noch nie soviel Sehnsucht in deinen Augen gesehen, Don Rubio.« »Ich brauche nichts als ein Bier. Unten in der Bar,« »Du bist dort nicht sicher!« sagte Prado erregt, aber sie hatten schon die Tür zum Barraum erreicht, und er ging hinein. Vier Männer standen an der Theke. Sie trugen billige Hosen und Hemden, aber gute Stiefel und Hüte und sahen genau so aus, wie er seine Landsleute in der Erinnerung behalten hatte. Als richtige Texaner hatten sie ihre Hüte auch im Lokal aufbehalten. Ward Jones nickte dem Barmann zu. »Bier, und kalt, wenn es möglich ist. Auch für diese Herren hier. Ich habe keine Lust, allein zu trinken.« Die Texaner drehten sich um und sahen ihn an. »Besten Dank, Sir«, sagte einer. Dann hoben sie alle ihre Gläser, und Ward Jones sagte: »Auf Texas!« »Nun, ich bin zwar aus Kansas, aber wenn Sie bezahlen …«, meinte der längste unter ihnen, und alle lachten. Ward blickte den Barmann an, der die Gringos mit unverhohlener Abneigung betrachtete. Neben ihm war plötzlich Prado hinter der Theke erschienen und machte ein bedenk198
liches Gesicht. Das Bier war sehr gut, aber etwas zu warm. »Da Sie Texaner sind, Sir, fürchte ich beinahe, daß ich immer noch der einzige hier bin, der Harrison als Präsidenten sehen möchte.« Ward Jones war stolz; er hatte es nicht vergessen, daß Cleveland der Demokrat war. »Das ist Ihr Pech, Mister, und Harrisons. Zu Hause in Pearsall wußten wir überhaupt nicht, wie ein Republikaner aussieht.« Der Mann, der ihm für den Drink gedankt hatte, sah ihn aufmerksam an. »Ich bin auch aus Pearsall, Sir. Mein Name ist Randall.« »Ich bin schon eine ganze Zeit fort«, sagte Ward Jones ausweichend. In seiner Flasche war noch ein wenig Bier übrig, aber er hatte den Geschmack daran verloren. Prado hob schon die Brauen. »Ich muß wieder gehen, leider«, setzte er hinzu. »Geschäftliche Angelegenheiten.« Und er verließ die Bar durch den Seitenausgang in die Hotelhalle. Ein paar Sekunden später war Prado bei ihm. »Jetzt bin ich wieder ruhig. Wenn einer von Diaz’ Leuten hereingekommen wäre … Aber hier bist du sicher. Tejanos sind zu einfältig, um dich zu erkennen. Denk an den Preis, Jefe, der auf deinen Kopf ausgesetzt ist.« »Wartet Robinson schon?« »Ja. Ich werde das Essen selbst auftragen.« In dem Zimmer, wo er mit Beatrice Martin gesprochen hatte, war der Tisch gedeckt. Auf dem blütenweißen Tafeltuch glänzte massives Silberbesteck. Zwischen den beiden Gedecken stand eine Flasche französischer Rotwein. Robinson war fetter, als er vermutet hatte. Er wirkte 199
schläfrig und keineswegs wie ein erfolgreicher Waffenhändler, der in sechs Ländern zu Hause war und schon ganze Revolutionsarmeen ausgerüstet hatte. Er neigte den Kopf, als er vorgestellt wurde, und nach den ersten Worten merkte man, daß seine Wiege irgendwo in Europa gestanden hatte. »So«, sagte er, »geht also ein neuer Stern am Himmel Mexikos auf. Ein neuer Rebellenführer ist groß genug geworden, um Waffen zu kaufen. El Rubio.« »Die Wände sind dick«, sagte El Rubio, »und so ist es nicht gefährlich, meinen Namen auszusprechen. Ja, ich mache Fortschritte, wenn auch auf eine bescheidene Weise. Ich brauche dreihundert Gewehre. Keine belgischen.« »Englische würden Ihnen zusagen, nehme ich an«, sagte Robinson. »Gute englische Gewehre. Modern. Dreihundert? Ja, so viele könnte ich in, sagen wir: Parral hinterlegen.« El Rubio schenkte dem Händler und sich Brandy ein. Prado setzte ihnen Suppenteller vor und ging wieder hinaus, die Terrine zu holen. Nur einen Arm zu haben, ist für einen Kellner ein ebenso großes Handikap wie für einen Guerilla. »Und der Preis?« fragte El Rubio. »Sie sind sehr direkt, mi general«, antwortete Robinson lachend. »Sie scheinen es eilig zu haben. Oder nennen Sie sich selbst nicht General?« El Rubio war unangenehm berührt. Er war südlich der Grenze, und hier redete man nicht in diesem Ton mit ihm. Er sagte: »Ich bin El Rubio. Und dieser Titel genügt mir.« Robinson lachte gern, aber er lachte ohne Wärme und Freundlichkeit. »Nehmen Sie es nicht als Beleidigung auf, 200
Don Rubio. Einige der Guerillaführer lieben militärische Titel, andere nicht.« »Der Preis für die Gewehre, Señor Robinson?« Robinson schlürfte geräuschvoll seine Suppe. Prado schenkte ihnen Wein ein, und Robinson wischte sich die Lippen mit der Serviette ab, nippte vom Wein, und nickte dann zustimmend: »Ich brauche das Geld noch nicht gleich, Don Rubio. Eine Anzahlung, ja. Dafür aber etwas anderes.« El Rubio witterte Gefahr. »Und was wäre das?« »Da ist ein gewisser Guerillero. Einer, der sich de Castro nennt. General de Castro, oder vielleicht Oberst de Castro. Kennen Sie ihn?« El Rubio starrte den Mann mit gefurchter Stirn an. »Wer kennt Miguel de Castro nicht?« antwortete er. »Von uns allen, von allen Guerillaführern Mexikos ist er der einzige Gebildete. Wenn der Diktator gestürzt ist, werden wir uns in der Hauptstadt versammeln und de Castro zum neuen Präsidenten ausrufen. Er ist ein guter und großer Mann.« »Das geht mich nichts an«, sagte Robinson und schob den leeren Suppenteller weg. »Ich habe ihm drei Feldgeschütze und eine Menge Munition geliefert. Und er hat mich nicht bezahlt.« »Die Regierungstruppen setzen ihm hart zu. Wenn Diaz stürzt, wird er bezahlen.« Robinson lachte wieder. »Sie sind ein kluger Mann, Don Rubio. Aber auch ich bin intelligent. Diaz wird nicht stürzen! Nicht in den nächsten Jahren. Gehen Sie hinaus, sehen Sie sich seine Offiziere an. Sehen Sie sich seine gutgenährten und modern ausgerüsteten Truppen an. Und dann sehen 201
Sie sich Ihre eigenen Männer an, die von de Castro, von Criadilla, von allen anderen Guerillaführern! Moskitos, die einen Bullen umschwärmen. Nein, Diaz wird nicht stürzen – nicht in den nächsten fünf oder zehn Jahren, wenn wir es überhaupt erleben. Aber in der Zwischenzeit kann man im Namen des freien Mexiko Geld machen. Geld für Sie und für mich. Und Sie haben nebenbei noch das Vergnügen, frei und ungebunden durch das Land zu reiten und sich zu nehmen, was Sie begehren. Das ist mir verwehrt.« Er schlug sich mit der flachen Hand auf seinen dicken Bauch. »Daher muß ich mein Geld bekommen, wenn ich Waffen liefere. Außerdem bin ich es meinem Ruf schuldig. Keiner der Guerillaführer würde mich bezahlen, wenn einer es nicht täte und ungeschoren bliebe.« »Ich werde nicht hier sitzen bleiben und mir das anhören«, sagte El Rubio ärgerlich. »Sie wollen Ihre Gewehre«, meinte Robinson gelassen. Das Fleischgericht lag unberührt auf der Platte. »Der Preis ist einfach. Behalten Sie Ihr Geld. Aber reiten Sie in de Castros Lager. Sie mit Ihrer Reputation können es sich leisten. Töten Sie ihn für mich.« El Rubio sprang auf. Aber noch bevor er stand, stach ihn etwas in den Bauch. Wie ein Bienenstich, nicht mehr. Er sagte: »Prado!« Prado stand an der Tür und hielt einen Revolver in der Hand. »Es tut mir leid, Jefe. Aber es war nicht genug Geld da, um ein Hotel zu kaufen. Es reichte nicht, trotz der langen Jahre, die ich mit dir geritten bin. Señor Robinson ist mein Patron.« Der Bienenstich schmerzte plötzlich, und El Rubio wur202
de blaß. »Ich bin getroffen! Man hat auf mich geschossen!« »Unter dem Tisch«, erklärte Robinson gelassen. »Mit einer Federpistole – es ist nicht tödlich. Sagen Sie das Wort, und Prado holt Ihnen einen Arzt. Andernfalls … Sie haben sicher Männer gesehen, die einen Bauchschuß bekommen hatten?« El Rubio stand da. Der Mann hatte recht; ein Arzt konnte die kleine Kugel herausholen, wenn er schnell arbeitete. Und wenn er, El Rubio, sich nicht zuviel bewegte. »Ich werde mir selber einen Arzt suchen«, sagte er. »Es ist unmöglich, eine solche Operation vorzunehmen, ohne zuvor dem Patienten das Hemd auszuziehen. Die Stadt wimmelt von Offizieren, die mit einer Beförderung rechnen dürfen, wenn sie einen Leichnam mit tätowierten Armen in die Hauptstadt schicken können.« »Es tut mir leid, Jefe«, sagte Prado. »Laß mich nach meinem Arzt schicken. Er ist verschwiegen, und er versteht sein Handwerk.« »Man muß für alles bezahlen, was man auf dieser Erde bekommt«, sagte Ward Jones, mehr zu sich selbst. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie Mexiko lieben?« fragte Robinson. Sein behäbiges Lachen dröhnte wieder durch den Raum. Aber El Rubio überhörte den Sarkasmus. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Man muß irgend etwas lieben. Zu Hause wollten sie mich meine Heimat nicht lieben lassen.« Bauchverletzungen verschlimmern sich rasch. Und er hatte hier noch etwas zu erledigen. Jones hielt seine Seite, und keiner der beiden Männer fand daran etwas verdächtig. So konnte er an die kleine Pistole in seiner Seitentasche 203
gelangen. Prado schrie: »Nein, Jefe, nein!« El Rubio schoß ihn ins Herz, und der Einarmige brach zusammen. Robinson starrte wie gebannt auf die Waffe in El Rubios Hand. Der Lauf beschrieb einen Bogen, richtete sich auf seinen Bauch, und der dicke Mann keuchte vor Angst. Seine Augen traten aus den Höhlen, als er sah, daß El Rubios Zeigefinger sich krümmte. Als die Tür aufging und die Männer hereinstürzten, war Robinson von seinem Stuhl gerutscht und lag auf der Seite. Und Ward Jones, der bis zu diesem Tag der Guerillaführer El Rubio gewesen war, hielt sie mit Prados Revolver in Schach. Sie machten ihm Platz, und er gelangte unbehelligt auf die Straße, die er nach Norden, in Richtung auf die Brücke verfolgte. Es waren nicht mehr viel Uniformierte zu sehen, denn es war spät. Aber wer ihm begegnete, ließ ihn passieren. Er war El Rubio. Und auch die mexikanischen Zöllner an der Brücke ließen ihn durch, denn er war schon vom Tod gezeichnet und hielt den schußbereiten Revolver in der Rechten. Das Blut begann seine Hose zu durchtränken, als er wankend die amerikanische Seite erreichte. Die Grenzer bedrohten ihn mit ihren Pistolen, obwohl sie wußten, daß es nicht mehr nötig war. Einer von ihnen lief, einen Arzt zu holen. »Ich bin Ward Jones«, murmelte er. »Ich werde in Texas wegen Mordes gesucht.« Er sank zusammen. Einer der Grenzer stützte ihn. Auf 204
der anderen Seite der Brücke war es inzwischen lebendig geworden; mexikanische Soldaten und Offiziere liefen zusammen und starrten herüber. Offenbar begriffen sie nun, daß ihnen die Gelegenheit entgangen war, eine hohe Belohnung zu kassieren. »Das Geld«, murmelte Ward Jones. »Bringen Sie es Mrs. Beatrice Martin, Laredo Hotel. Sagen Sie ihr …« Er hustete und krümmte sich vor Schmerzen. »Sagen Sie ihr, daß es sauberes Geld ist. Sagen Sie ihr … daß ich dafür bezahlt habe.« Er konnte nicht mehr stehen, sie mußten ihn vorsichtig auf die Erde legen. Und er starb in seiner Heimat; in Laredo, Texas.
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Der vor einigen Jahren verstorbene Leslie Ernenwein stammte aus New York, verbrachte aber viele Jahre seines Lebens in Arizona. Acht Jahre lang war er Herausgeber der Monatszeitschrift »The Roundup«, außerdem verfaßte er über dreihundert Kurzgeschichten und siebenundzwanzig Romane. Für sein Buch »High Gun« erhielt er 1956 den Spur Award, einen Literaturpreis, der alljährlich für den besten Western-Roman vergeben wird.
Leslie Ernenwein
Im Schneesturm Jeff Murdock verließ seine Ranch auf der Half Moon Mesa noch vor Tagesanbruch. Die Räder seines Wagens knirschten über eine dünne, verharschte Schneedecke. Es war der vierundzwanzigste Dezember, und vier Wochen waren vergangen, seit er den Siedler am Indian Spring aufgefordert hatte, seine Sachen zu packen und zu verschwinden. Früher hatte die Weihnachtszeit auch für Jeff Murdock eine Bedeutung gehabt, aber das war, bevor eine Typhusepidemie seine Familie dahingerafft hatte. Murdock zog die Decke fester um seine kalten Beine. Dieses Wetter ließ einen das Alter stärker fühlen; die Kälte durchdrang ihn bis auf die Knochen, ganz gleich, wie warm er sich anzog. Selbst im Haus, wenn das Kaminfeuer loderte, fühlte er sich steif und unbehaglich. Murdock erinnerte sich an das, was ihm ein alter Koch einmal gesagt hatte: »Nur eins ist schlimmer als jung zu sterben, und das ist, zu lange zu leben.« 206
In seinem Alter litt man ständig unter allen möglichen Unpäßlichkeiten. Die Winter wurden kälter und die Sommer heißer. Die Tage wurden zu kurz und die Nächte zu lang. Der Morgen dämmerte grau, als Murdock die ersten Schneeflocken auf seinem Gesicht fühlte und sich daran erinnerte daß der übliche Novembersturm in diesem Jahr ausgeblieben war. Als er den Bach erreichte, fiel der Schnee so dicht, daß er die Hütte des Siedlers nicht ausmachen konnte, obwohl sie kaum hundert Meter südlich der Straße lag. Erst als er sich direkt vor ihr befand, sah er das mit Segeltuch ausgebesserte Dach. Murdock hielt an und spähte angestrengt durch den stiebenden Schnee. Aus dem Ofenrohr stieg Rauch, und an einer Wäscheleine hingen steifgefrorene Wäschestücke. Es gab keinen Zweifel. Der Siedler war nicht ausgezogen. In Jeff Murdock stieg Zorn auf. Er hatte Sam Polk genug Zeit gegeben, mit seiner zerlumpten Familie weiterzuziehen. Er war höflich zu dem Mann gewesen und hatte ihm erklärt, daß er dieses Land als Winterweide benötigte; daß sein Vieh andernfalls umkommen würde. Polk hatte nicht gesagt, ob er gehen wollte oder nicht. Er hatte erklärt, irgendwo müsse er sich schließlich niederlassen, aber Murdock hatte ihn gewarnt. »Nicht hier. Ich gebe Ihnen eine Frist von dreißig Tagen, innerhalb der Sie Ihre Sachen packen müssen.« Diese Unterredung war nun schon länger als einen Monat her. Murdock bedauerte, daß er kein Gewehr mitgenommen 207
hatte. Er mußte daran denken, daß er diese Angelegenheit früher anders behandelt hätte. Statt ihm einen Monat Frist zu geben, hätte er Polk damals einen Gewehrlauf unter die Nase gehalten und ihn auf der Stelle fortgejagt. Das war wieder eins von den Dingen, die das Alter mit sich brachte: man zögerte, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen. Ein Mann sollte sich nicht auf juristischen Hokuspokus einlassen müssen, wenn er sein Land schützen wollte. Der Ärger begleitete ihn auf seiner Fahrt in die Stadt. Er machte sich Vorwürfe, Polk gegenüber zu nachgiebig gewesen zu sein. Mit diesen wurzellosen Siedlern durfte man nicht vernünftig reden wollen. Man mußte die Waffe gebrauchen, das war die einzige Sprache, die sie verstanden. Siedler waren frech und auf ihren Vorteil bedacht; ständig gebrauchten sie ihre Frauen und Kinder als Schild gegen Gewaltaktionen. Nun, Polk würde bald merken, daß er an den Falschen geraten war, als er sich auf seinem Land breitgemacht hatte. Dreißig Tage Frist waren genug. Mittag war vorbei und es schneite heftig, als Jeff Murdock in das Büro kam, wo Sheriff Ledbetter gemütlich vor dem dicken eisernen Ofen saß, die Stiefel bequem auf den Ansatz des Ofenrohrs gestützt. Ledbetter lächelte ihm zu und zeigte auf einen Stuhl. »Frohe Weihnachten, Jeff.« »Weihnachten?« fragte Murdock säuerlich. Er schüttelte seinen Kopf und fügte hinzu: »Daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht.« Er zog die nassen Handschuhe aus, hielt seine Hände über den Ofen und sagte: »Ich habe einen Job für dich, Frank.« 208
»So?« »Ich möchte, daß du einen Ausweisungsbefehl für Sam Polk am Indian Spring ausstellst und ihn von meinem Land jagst.« Ledbetters Lächeln verflog. »Morgen ist Weihnachten, Jeff«, sagte er. »Ich finde, der Zeitpunkt ist nicht gerade passend. Schließlich hat er eine Familie.« »Ich habe ihm dreißig Tage Frist gesetzt«, beharrte Murdock. »Ich war so fair, wie man nur sein kann, aber Polk sagte, ich solle meine Spucke nicht verschwenden.« »Das hat er dir gesagt?« »Nun, nicht direkt. Aber er ist dageblieben, und das läuft auf dasselbe hinaus.« Ledbetter schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht, Jeff. Polk wollte fort, aber er wußte nicht wohin. Die Jahreszeit ist schlecht für einen verantwortungsvollen Familienvater. Wenn er weitersucht, könnte er in einen Schneesturm geraten.« Murdock winkte ungeduldig ab. »Mit solchem Gerede ist mir nicht geholfen, Frank. Du weißt, was vor ein paar Jahren am Tonto Creek passiert ist. Zuerst war nur ein Siedler da, dann waren es zwei. Und als die Viehzüchter merkten, was gespielt wurde, hatten sich sechs Familien am Bachlauf festgesetzt. Man konnte sie nur noch mit Kugeln vertreiben.« »Eine schlimme Geschichte, das ist wahr«, gab Ledbetter zu. »Das war es, und unnötig obendrein. Wenn ich Polk den Winter über am Indian Spring bleiben ließe, müßte ich vor Gericht gehen, um ihn wieder loszuwerden. Er hätte sich 209
ein Recht ersessen, und es würden noch mehr von seiner Sorte nachkommen.« Ledbetter nickte. Dies war ein Viehzuchtgebiet und kein Bauernland. »Aber es ist Weihnachten, Jeff. Das mußt du berücksichtigen.« Murdock wies das Argument mit einer knappen Geste zurück. »Wenn ich an einem Weihnachtstag eine Bank berauben oder jemanden erschießen würde, wäre das deswegen vielleicht legal?« Ledbetter zuckte die Achseln. Er stand auf und ging ans Fenster. »Wenn der Wind noch ein bißchen zunimmt, haben wir den schönsten Blizzard«, bemerkte er. Er trat an den Ofen zurück und begann, sich eine Zigarette zu drehen. »Sobald sich das Wetter aufklärt, werde ich hinausreiten und Polk sagen, daß er verschwinden muß.« Murdock akzeptierte die Ankündigung mit dem steinernen Ernst, der ihn nicht mehr verlassen hatte, seit ihm die Frau und seine beiden Söhne gestorben waren. Er ging an die Tür, legte seine Hand auf die Klinke und blickte noch einmal zurück. »Ich möchte keine Leisetreterei mit diesem Polk«, warnte er. »Wenn du ihn nicht verjagst, tue ich es – und zwar mit dem Gewehr.« »Ich werde mich darum kümmern«, versprach Ledbetter ohne rechte Überzeugungskraft. Dann fragte er: »Warum kommst du nicht Weihnachten zu mir und Madge? Wir würden uns beide freuen.« »Nein – nein«, sagte Murdock, den diese Einladung überraschte. »Ich muß nach meinem Vieh sehen. Hier in der Stadt ist morgen vielleicht Weihnachten, aber auf der Half Moon Mesa ist ein ganz gewöhnlicher Donnerstag.« 210
Er ging über die verschneite Straße zu seinem Wagen vor dem General Store. Als er im Laden ein paar Vorräte einkaufte, kam Della Trent mit einem Korb hereingeeilt. »Ich hörte, daß Sie in der Stadt sind«, sagte sie. »Ich bin gekommen, Sie um eine Gefälligkeit zu bitten.« Jeff Murdock nahm seinen Hut ab. Er erinnerte sich, wie diese Pfarrersfrau den Typhus riskiert hatte, um einer von Unheil verfolgten Rancherfamilie beizustehen. Das war nun schon zehn Jahre her, aber er hatte es nicht vergessen und sagte freundlich: »Mit Vergnügen, Madam. Was kann ich tun?« »Nun, mein Mann hat versprochen, diesen Korb rechtzeitig zu Weihnachten abzuliefern, aber er hat die Grippe und kann bei diesem Wetter nicht hinausgehen. Es liegt sowieso auf Ihrem Heimweg.« »Auf meinem Heimweg?« fragte Murdock verdutzt. Er wußte, daß es zwischen der Stadt und der Half Moon Mesa keine Ranches gab. Della Trent nickte. »Es ist für diese arme Familie am Indian Spring. Die Polks.« Murdock wich überrascht zurück. »Für diese Siedler?« fragte er ungläubig. Und als Della nickte, sagte er ärgerlich: »Es tut mir leid, aber ich muß Sie enttäuschen, Madam. Ich bedaure es sehr.« »Aber es ist ein Weihnachtskorb von der Gemeinde«, erklärte die Pfarrersfrau. »Ein Kuchen und Geschenke für die beiden Kinder. Mein Mann hat den Gemeindemitgliedern versprochen, daß er es am Weihnachtsabend hinausbringen würde. Denken Sie nur, wie enttäuscht die Kinder wären, wenn sie nichts bekämen. Sie können doch diesen 211
Kleinen nicht die Schuld daran geben, daß ihre Eltern keine Viehzüchter, sondern arme Siedler sind.« »Ich gebe ja den Kindern auch keine Schuld«, sagte Murdock bekümmert. »Aber ich betrachte mich in diesem Fall nicht als Nachbar. Es wäre – nun, wie die Dinge liegen, geht das nicht.« »Aber Mr. Murdock!« rief Della Trent aus. »Ich habe noch nie solch einen Unsinn gehört. Haben Sie vergessen, was Weihnachten für Ihre Jungen bedeutet hat?« Als er schwieg, fügte sie drängend hinzu: »Ich bitte Sie ja nicht darum, freundlich und gut nachbarlich zu den Leuten zu sein, obwohl das zu Weihnachten vielleicht ganz schön wäre. Sie brauchen ja die Hütte nicht einmal zu betreten. Stellen Sie den Korb einfach auf die Schwelle. Wahrscheinlich wird es ohnehin dunkel sein, wenn Sie hinkommen, und man wird Sie nicht einmal sehen.« Murdock gefiel die Sache nicht. Sie schien ihm eine Bedrohung seiner persönlichen Freiheit zu sein. Aber er brachte es nicht über sich, die Pfarrersfrau zu enttäuschen, die ihm in der Zeit schlimmster Not beigestanden hatte. Er nahm schließlich den Korb an, aber sein Haß auf Sam Polk verstärkte sich. Das hatte man davon, wenn man nachsichtig mit diesen Siedlern war. Ein verdammter Weihnachtsmann bin ich! dachte er erbittert. Der Schnee peitschte ihm ins Gesicht, als er aus der Stadt fuhr. Es würde eine elende Plackerei werden. Die Schneewehen türmten sich so rasch auf, daß er von Glück sagen konnte, wenn er bis Dunkelwerden den Bachlauf des Indian Spring erreichte. Er erreichte ihn nicht. 212
Drei Meilen westlich der Stadt gerieten die beiden Zugpferde in eine Schneewehe, die sie erst nach halbstündiger Mühe überwinden konnten. Der Sturm hatte stetig zugenommen und jagte die Schneemassen vor sich her, so daß man Himmel und Erde nicht mehr unterscheiden konnte. Murdock trieb die Tiere durch eine zweite Schneewehe, dann durch eine dritte. Einmal, während er den erschöpften Pferden eine Verschnaufpause gewährte, dachte er an andere Stürme, ähnlich diesem hier, die er durchgemacht hatte. Wie besorgt Effie gewesen war, als er während eines Blizzards seiner Arbeit nachgegangen war. Sie hatte darauf bestanden, daß er vom Haus zur Scheune ein Seil spannte. Und einmal, als er draußen bei der Herde von einem Schneesturm überrascht worden war, hatte sie vor Angst einen Herzanfall bekommen. Murdock schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich an den Tag, als sei es gestern gewesen; dabei waren inzwischen fünfzehn Jahre vergangen. Die Pferde kämpften sich durch heulenden Wind und immer höheren Schnee vorwärts, und Murdock verweilte bei seinen Erinnerungen. Das Haus auf der Half Moon Mesa war in diesen Tagen ein freundlicher, angenehmer Ort gewesen, und gerade in stürmischen Winternächten hatte es nichts Schöneres gegeben, als in der warmen, hellen Geborgenheit der Küche zu sitzen. Damals war das Haus noch nicht einsam gewesen, das Heulen des Windes hatte nicht traurig geklungen. Jetzt war das alte Haus leer und dunkel, und am Abend grüßte ihn kein warmer Lichtschein aus dem Küchenfenster. Die nächste Schneewehe war noch höher. Die Pferde 213
sträubten sich, wollten nicht weiterziehen, und Murdock stand auf und ließ die Zügel heftig auf ihre Rücken klatschen. Von neuem legten sie sich in die Zuggeschirre, aber die Vorderräder des Wagens saßen hoffnungslos fest. Murdock fluchte und ließ sie zurückgehen. Dann trieb er sie mit einem energischen Anlauf durch die Schneemassen, und diesmal schafften sie es. Das Tageslicht war schon den ganzen Nachmittag dämmerig und grau gewesen; nun schwand es ganz. Windböen trieben Murdock die Schneeflocken wie Nadeln ins Gesicht. Seine Augenbrauen und sein Schnurrbart waren längst mit Schnee und Eis verkrustet. Er fragte sich, wie weit er gekommen sein mochte. Es gab keine Möglichkeit, die Entfernung abzuschätzen. Seit er die Stadt verlassen hatte, war es unmöglich gewesen, Landmarken auszumachen. Es fiel ihm ein, daß er vielleicht schon am Indian Spring vorbeigefahren sein könnte, ein Gedanke, der ein flüchtiges Gefühl der Befriedigung hervorrief. Della Trent konnte es ihm nicht übelnehmen, wenn es ihm in einer solchen Nacht nicht gelang, einen Weihnachtskorb abzuliefern. Die Vermutung, daß er an der Hütte des Siedlers vorbeigefahren und einer lästigen Verpflichtung ledig sei, erfreute Jeff Murdock. Es war einfach nicht richtig, daß man ihn zwang, bei einer Siedlerfamilie den Weihnachtsmann zu spielen, die sich unberechtigt auf seinem Land niedergelassen hatte. Es war so kalt, daß seine Zähne aufeinanderschlugen und er aufstehen und kräftig von einem Bein aufs andere treten mußte. Die Pferde arbeiteten sich langsam weiter, und Murdock fragte sich, ob sie überhaupt noch der Straße 214
folgten und ob ihr Instinkt sie wohl zur Ranch führen würde. In einem Schneesturm konnte man hundert Meter an seinem eigenen Haus vorbeifahren und nichts davon merken. Wieder blieb der Wagen stecken. Murdock versuchte die Tiere mit Flüchen und Schlägen anzutreiben, aber der Wagen rührte sich nicht. Er ließ sich weder vor noch rückwärts manövrieren. Der Sturm heulte unablässig. Murdock kletterte vom Kutschbock auf die Ladefläche, kauerte sich im Windschutz des Fahrersitzes nieder und zog seine Handschuhe aus. Dann versuchte er sich eine Zigarette zu drehen, aber seine Finger waren zu steif. Er stand auf, stampfte mit den Füßen auf und schlug die Arme um sich, damit die Blutzirkulation wieder in Gang käme. Während er sich so der Kälte zu erwehren suchte und überlegte, wie er den Wagen wohl aus der Schneewehe herausbrächte, sah er in der schneerfüllten Dunkelheit voraus ein schwaches Licht blinken. Zuerst glaubte er, seine Einbildungskraft spiele ihm einen Streich; er schloß die Augen und öffnete sie wieder. Aber das Licht war noch da. »Das muß Polks Hütte am Indian Spring sein«, sagte er zu sich selbst. Aber das Licht war zu hoch, als daß es aus einem Fenster kommen konnte. Murdock sprang vom Wagen, stapfte durch den tiefen Schnee nach vorn und hakte die Zugketten aus. Dann lenkte er die Pferde auf das Licht zu, wobei er Mühe hatte, die Zügel nicht zu verlieren, denn stellenweise war die Schneewehe so tief, daß er bis zum Bauch darin versank. Als er das Licht erreichte, sah er, daß es sich um eine Laterne handelte, die an der aufgestellten Deichsel eines 215
Wagens befestigt war. Was sie bezweckte, begriff er erst, als er die Wäscheleine sah, die von der Wagendeichsel weiter führte. Eine Sturmleine, dachte er, ergriff sie mit einer Hand und zog die Pferde hinter sich her, bis sie eine fast im Schnee versunkene Bretterhütte erreichten. Jeff Murdock saß neben dem Ofen und trank heißen Kaffee, den Mrs. Polk ihm gegeben hatte. Ernst, wie ein Mann, der eine Antwort auf ein ihn bedrängendes Problem sucht, fragte er: »Warum haben Sie draußen am Weg die Laterne angebracht?« Sam Polk blickte kurz zu den beiden schlafenden Kindern, die in einer Koje an der Rückwand der Hütte lagen. »Nun, wir haben Reverend Trent erwartet und dachten, er könnte bei diesem Schneesturm ein Leuchtfeuer gebrauchen.« »Reverend Trent wollte etwas für die Kinder bringen«, ergänzte die Frau. »Der Sturm wird ihn in der Stadt zurückgehalten haben. Wir haben den Kindern erzählt, die Laterne wäre für den Weihnachtsmann, damit er uns nicht verfehlt.« »So«, sagte Murdock. Er ließ seinen Blick durch den ärmlich eingerichteten Raum gehen und wunderte sich, daß eine Bretterbude so warm und anheimelnd sein konnte. Es war seltsam. Plötzlich schämte er sich überhaupt nicht mehr, den Weihnachtskorb mitgebracht zu haben. »Ich habe den Korb auf meinem Wagen und werde ihn gleich holen gehen«, sagte er. »Bleiben Sie sitzen, Mr. Murdock. Das kann ich auch machen«, erbot sich Sam Polk. 216
Aber Murdock fühlte das Bedürfnis, seine Rolle als Weihnachtsmann zu Ende zu spielen. »Nein, das macht mir nichts aus. Wenn Sie sich vielleicht um die Pferde kümmern würden.« Er öffnete die Tür, als Mrs. Polk ein aufgerolltes Lasso von einem Wandhaken nahm und ihm gab. »Binden Sie das an Ihren Wagen und benützen Sie es als Führungsseil, falls Sie die Laterne nicht sehen können. In so einer Nacht kann man draußen innerhalb einer Stunde erfrieren, wenn man sich verläuft.« Das erinnerte Murdock daran, wie Effie immer um ihn besorgt gewesen war, und er dachte darüber nach, während er durch den Schnee stapfte, um den Korb zu holen. Es war tröstlich, zu wissen, daß sich jemand um einen Sorgen machte. Es war schön, daß es jemanden gab, dem es nicht gleichgültig war, ob man zurückkehrte oder nicht. Er arbeitete sich mit dem Korb zur Hütte zurück, als ihm einfiel, daß ihm die Behausung dieses Siedlers freundlicher und anheimelnder vorkam als sein eigenes Haus – wenigstens während der letzten zehn Jahre. Später, als Polk seiner Frau half, die Weihnachtsgeschenke für die Kinder auf der schmalen Ofenbank auszubreiten, deutete Murdock auf das Lasso. »Haben Sie einmal als Cowboy gearbeitet?« Sam Polk nickte, und seine Frau sagte stolz: »Sam kennt sich mit Vieh aus. Aber die meisten Rancher wollen einen Mann mit Familie nicht einstellen.« Murdock warf einen Blick auf die schlafenden Jungen. »Ich hatte auch einmal eine Frau und Kinder. Und seit ich sie verloren habe, ist das Leben auf der Ranch nie mehr schön gewesen.« 217
Dann, als erstaunten ihn seine Worte selbst, fügte er verlegen hinzu. »Das nämlich brauchte ich auf meiner Ranch. Einen jungen Mann mit seiner Familie.« Er bemerkte den frohen Blick, den Sam Polk seiner Frau zuwarf, und sagte lächelnd: »Das wird das schönste Weihnachten, das ich seit langem erlebt habe.«
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Frank C. Robertson, ein ehemaliger Schafzüchter und langjähriger Bewohner des westlichen Bundesstaates Utah, ist Autor von mehr als einhundertfünfzig Romanen und Novellen und noch mehr Kurzgeschichten. Sein Buch »Ram in the Thicket« wurde von der Kritik als eine der besten Charakterstudien gepriesen, die je von einem amerikanischen Western-Autor geschrieben worden sind.
Frank C. Robertson
Der König der Täler Ein brüllendes Crescendo rollte durch den Canyon und wurde von den steilen Sandsteinwänden vielfältig gebrochen und zurückgeworfen, wobei man manchmal an die Baßpfeifen einer großen Orgel erinnert wurde. Dann und wann verstummte es, nur um gleich von neuem zu beginnen. »Der alte Jim Crow fordert wieder einmal die ganze Welt heraus«, bemerkte Ken Delaney. »Ich wette, wir werden ihn bald zu sehen kriegen.« »Es wird Ärger geben, wenn er diese Herde sieht«, knurrte Chet Anderson. Der mächtige, reinrassige Herefordbulle an der Spitze der kleinen Herde begann unruhig zu werden. Er scharrte in dem sandigen Boden und schleuderte Erdbrocken und Staub über die Rücken der dichtgedrängten Herde, während er die Herausforderung mit einem ärgerlichen Brüllen beantwortete. Sein Ruf wirkte neben dem wilden Röhren aus Jim Crows Kehle nicht allzu imponierend. 219
»Es wird das letzte Jahr sein, daß wir mit Jim Crow Schwierigkeiten haben, nehme ich an«, meinte Ken. »Sie sagen alle, daß die alten Bullen ausgedient haben und diesen reinrassigen Tieren Platz machen müssen. Eigentlich tut es mir um den alten Kauz leid.« »Mir nicht«, erklärte Chet, der seine Arbeit ernster nahm und für Sentimentalitäten nichts übrig hatte. »Wenn du die guten jungen Bullen gesehen hättest, die er getötet und die Pferde, die er verkrüppelt hat, würdest du das nicht sagen.« Im gleichen Augenblick tauchte Jim Crow hinter, einer Krümmung auf, und das wütende Brüllen brach plötzlich ab, als die Gegner einander musterten. Jim Crow musterte seinen Kontrahenten kurz und verächtlich. Zehn Jahre lang hatte er dieses Land beherrscht und war nie besiegt worden. Sein dickes rostbraunes Fell war von Narben durchzogen, Erinnerungen vieler blutiger Kämpfe mit längst vergessenen Gegnern. Er wog eine gute Tonne. Was machte es, daß sein augenblicklicher Feind ein paar Pfunde schwerer war? Der Abstand betrug nur noch acht Meter, die Bullen blieben stehen, rollten die Augen und scharrten in dem Grund, daß Sand und Geröll hoch aufspritzten. Der Herefordbulle benahm sich merklich nervös. Vielleicht hatte er keinen so eindrucksvollen Gegner erwartet, jedenfalls hätte er den Zweikampf offenbar gern vermieden, wenn dies ohne Einbuße an Ansehen möglich gewesen wäre. Dabei war es ganz offensichtlich, daß er sich mit seinen kurzen, scharfen Hörnern im Vorteil befand, denn Jim Crow war schon vor langer Zeit wegen seiner Angriffslust und Bösartigkeit enthornt worden. Aber das war nicht sehr geschickt ge220
macht worden, denn die Hornstümpfe waren später bis zu einer Länge von etwa zwanzig Zentimetern nachgewachsen. Sie waren keilförmig und hatten die Stärke von Männerarmen. Trotz dieses Nachteils war es nicht Jim Crows Art, einem anderen Bullen kampflos das Feld zu überlassen. Er senkte den mächtigen Schädel und griff an. Der weißstirnige Herefordbulle zögerte keine Sekunde, den Gegner anzunehmen. Es schien eigentlich unvermeidlich, daß beim Zusammenprall der beiden mächtigen Körper irgendetwas brechen mußte, aber das täuschte. Die schweren Schädel und Hörner dröhnten gegeneinander, die Muskeln traten in dicken Strängen hervor, als die Tiere sich in den Boden stemmten. Ein paar Sekunden lang standen sie unbeweglich, dann begann der Herefordbulle nachzugeben. Sofort jedoch hatte er sich wieder gefangen, setzte sein größeres Gewicht ein und schob seinerseits den Gegner um einige Zoll zurück. Jeder suchte den anderen aus dem Gleichgewicht bringen und von der Seite fassen zu können. Und wenn ihm dies gelang, würde der Herefordbulle mit seinen spitzen Hörnern den Leib des Gegners aufzuschlitzen versuchen. Jim Crow würde sich darauf beschränken müssen, seine Hornstümpfe als Hebel einzusetzen. Unerwartet wich Jim Crow zurück, und der Herefordstier ging in die Knie. Sofort bewegte Jim Crow seinen Schädel seitwärts, drang vor und schlug die Hornstümpfe mit einem dumpfen Krachen gegen die Rippen seines Gegners. Er stieß noch zweimal zu, und beide Male antwortete der andere mit einem tiefen Grunzen. Dann kam er wieder hoch, und die Schädel prallten erneut zusammen. 221
Als sie sich diesmal voneinander lösten, bekam Jim Crow einen Denkzettel, und das Horn seines Feindes hinterließ von der Schulterspitze bis zu den Rippen eine blutige Furche in seiner Seite. Nun umkreisten sie einander mit verblüffender Gewandtheit; der Dreck flog unter ihren stampfenden Hufen in alle Richtungen. »Zurück, Ken!« rief Chet, als sein Partner zu nahe an die Kämpfenden heranritt. Ken schlug einen Bogen und brachte sich aus der Gefahrenzone. Wieder rammten die mächtigen Tiere ihre Köpfe gegeneinander, und diesmal war das Geräusch der zusammenstoßenden Hörner und Knochenwülste von einem brechenden Geräusch begleitet. Der Herefordbulle stieß ein Schmerzgebrüll aus; eines seiner Hörner war knapp über dem Schädel abgebrochen. Das war durchaus kein Zufall: Jim Crow hatte schon vor langer Zeit gelernt, die Gefahr gegnerischer Hornspitzen dadurch zu verringern, daß er eine davon abbrach. Schmerz und Erschöpfung verlangsamten jetzt die Reaktionen des Herefordstiers; ihm fehlte die Kampfkraft und das Stehvermögen des älteren Bullen. Zwei, drei Minuten lang hielt er noch tapfer stand, dann wich er zurück, erst langsam, dann immer schneller. Aber er bekam seinen Schädel nicht frei; Jim Crow hatte nicht die Absicht, den anderen nun mit den üblichen Rippenstößen zu bearbeiten. Mit einer oft erprobten Schlauheit hielt Jim Crow den Kopf seines Gegners fest. Als er immer schneller zurückwich, wurde der Nacken des Herefordbullen mehr und mehr zur Seite gedrückt, während sein übrig gebliebenes Horn ihn daran hinderte, seitlich auszubrechen und zu fliehen. Sein 222
Sturz war unausweichlich, und als es soweit war, wurde sein Schädel aufwärts und zurück gebogen, wobei eine Tonne Fleisch und Knochen ihn zurück drückten. Es folgten ein scharfes Knacken, ein triumphierendes Schnauben, als Jim Crow über seinen Feind hinwegsetzte, und der reinrassige Zuchtbulle lag mit gebrochenem Genick tot im Sand. »Paß auf!« schrie Chet. Ken sah die rostbraune Masse auf sich zustürmen, stieß seinem Pferd die Sporen in die Flanken, war aber nicht schnell genug. Der gewaltige Schädel fuhr unter den Bauch des Pferdes und riß es hoch. Das Pferd verlor den Boden unter den Hufen, balancierte einen Augenblick auf dem Nacken des Bullen und krachte dann auf den Boden. Zum Glück hatte Ken den Sattel verlassen, als der Bulle zustieß, aber er war schwer gestürzt und für den Augenblick benommen. Jim Crow wollte sich umdrehen und dem gefallenen Pferd den Rest geben, als er ein weiteres Pferd vor sich sah. Er griff sofort von neuem an, doch das Pferd wich dem Ansturm unter Chets geschickter Führung aus, und der schnaubende Koloß wurde nach und nach von der Stelle weggelockt, wo Ken und sein Pferd sich wieder hochrappelten. Zuletzt gab Chet seinem Pferd die Sporen, und Jim Crow gab die Verfolgung auf und drängte sich sieghaft brüllend zwischen die Kühe. »Nun, da haben wir es«, sagte Chet ärgerlich, nachdem er zu Ken zurückgekehrt war. »Ich wollte, ich hätte ein Gewehr bei mir – ich hätte diesen verdammten alten Teufel gleich an Ort und Stelle abgeschossen. Ein Bulle für zweitausend Dollar ist tot, und wir können die Herde nicht einmal weitertreiben, weil dieser alte Satan auf uns losgehen würde.« 223
Eine Woche verging. Jim Crows letzte Untat wurde pflichtgemäß gemeldet, und der Viehzüchterverein nahm sich des Falles in einer seiner Konferenzen an. Die Zeit des Auftriebs rückte näher, und man beschloß, Jim Crow mit dem Schlachtvieh nach Chikago zu verfrachten, wo er zu Corned beef verarbeitet werden sollte. Der Bescheid wurde den Weidereitern mitgeteilt. »Es ist leicht, Befehle zu geben«, meinte Chet mißgelaunt. »Sie auszuführen ist eine andere Sache. Ich möchte mal die Bosse sehen, wenn sie es selbst machen müßten!« Die Reiter schwärmten über das ganze Land aus, vom Portneuf River bis zur Mündung des Toponce Creek, über die Hügel zum Blackfoot River und von dort nach Süden bis zur Salzwüste. Das Land wurde ziemlich gründlich durchgekämmt, aber als der Auftrieb vorüber war, bemerkte man, daß Jim Crow nicht unter den hundertzwanzig oder hundertdreißig alten Bullen war, die mit einer dreimal so großen Zahl von Kühen abtransportiert werden sollten. Niemand hatte ihn gesehen. »Fangt ihn ein oder schießt ihn ab«, ließen die Bosse der Viehzüchtervereinigung wissen. »Es ist uns gleich, wofür ihr euch entscheidet, aber er soll nicht mehr auf unserem Land herumlaufen.« Nur wenige Reiter erinnerten sich daran, daß man Jim Crow bei den Viehzählungen vergangener Jahre nur sehr selten gesehen hatte. Die Jahre hatten den alten Bullen zum Menschenfeind gemacht, und er bezog in diese seine Abneigung auch Pferde ein. So war es seine Gewohnheit geworden, Reitern aus dem Weg zu gehen, sofern es nicht 224
einen besonderen Grund gab, der ein Zusammentreffen unausweichlich machte, wie etwa der Kampf mit einem anderen Bullen. Zur Zeit des Viehauftriebs, wenn die Reiter überall umherschwärmten, pflegte er in einem Sumpfgebiet Zuflucht zu suchen, wohin sich die Reiter niemals wagten. Sie beschränkten sich meistens darauf, die Ränder abzureiten, zu schreien und zu schießen, bis die Rinder herausgescheucht waren. Jim Crow ließ sich davon nicht beeindrucken. Er stand in seinem Versteck im Erlenbruch und spähte mit blutunterlaufenen Augen zu seinen Feinden hinüber. So kam es, daß er beim Auftrieb unentdeckt blieb und übergangen wurde. Als die Zeit der Unruhe vorüber war, durchstreifte er wieder das Land, aber wann immer er einen zufälligen Reiter sah, zog er sich zurück oder verbarg sich im Buschdickicht, bis die Luft rein war. Die Wochen vergingen, Nachtfröste setzten ein und das Gras wurde braun. Dann folgten die Herbstregen, und anschließend gefror der Boden steinhart. Das Vieh wurde unruhig, zog unter der Drohung des bevorstehenden Winters umher, und die klugen alten Kühe machten sich auf den Weg zu ihrer gewohnten Winterweide, die in den Talgründen jenseits der Gebirgskette der Portneuf Mountains und auf dem Gebiet der Indianerreservation lag. Doch in diesem Herbst hatte sich die Situation verändert. Statt ungehindert die Berge überqueren zu können, fanden sie den Weg durch Reiter versperrt, die entlang der Grenze auf und ab ritten und sie zurückscheuchten. Die Rinder konnten es nicht verstehen, aber ihre Besitzer wußten, warum es geschah. Das Büro für Indianerangelegenheiten hatte 225
ein Verbot durchgesetzt, wonach die Reservation nicht mehr als Winterweide benutzt werden durfte. Die von Jahr zu Jahr angewachsenen Herden der weißen Viehzüchter hatten die Wintersaat der Indianer zertrampelt und ihrem eigenen Vieh das spärliche Gras weggefressen. Die Viehzüchter sahen sich nun der Notwendigkeit gegenüber, ihre Herden zu verkleinern, um sie aus eigenen Mitteln erhalten zu können. Auch dies war einer der Gründe, die Jim Crow und seine Artgenossen zum Untergang verurteilt hatten. Es war viel billiger gewesen, das Vieh unten in den Talgründen jenseits der Berge überwintern zu lassen, aber es hatte auch eine winterharte, widerstandsfähige Rasse erfordert. Die reinblütigen Herefords waren den Strapazen winterlicher Gebirgsüberquerungen nicht gewachsen. Auf der anderen Seite lieferten sie mehr Fleisch und weniger Knochen, und der höhere Gewinn glich die zahlenmäßige Beschränkung reichlich aus. Tag für Tag wurde das Vieh zurückgetrieben, bis fast alle Tiere entlang der Linie zwischen dem Portneuf River und der Wasserscheide versammelt waren. Beim ersten Schnee konnte man sie ohne Schwierigkeiten flußabwärts treiben. Zu dieser Zeit kam Jim Crow mit einer kleinen Schar von Kühen an die Grenze der Reservation und wurde zur Umkehr gezwungen. Es war das erste Mal seit seinem Kampf mit dem großen Herefordbullen, daß ihn ein Reiter zu Gesicht bekam. Die Tiere ließen sich ohne Mühe zurückscheuchen, der Vorgang wiederholte sich im Lauf der nächsten Tage noch zweimal, und der alte Bulle wurde 226
immer ärgerlicher. Er wußte, daß es höchste Zeit war, durch die Berge zu kommen. Die Cowboys waren übereingekommen, daß es eine Verschwendung von Zeit und Kraft wäre, ihn vor dem ersten Schnee einzufangen, weil man annehmen konnte, daß er sich dann ohne viel Widerstand mit dem anderen Vieh zu den neuen Weideplätzen treiben lassen würde. Aber sie kannten Jim Crow nicht. Als der alte Bulle zum vierten Mal an der Grenze erschien, waren es Chet und Ken, die ihn zurücktrieben. Er war noch eine halbe Meile entfernt, als sie ihn sahen – und hörten. Er befand sich an der Spitze seiner Schar und verkündete seine Absicht mit dumpf orgelnder Stimme. »Hör ihn dir nur an«, sagte Ken. »Diesmal läßt er sich nicht abweisen.« Jim Crow marschierte unbeirrbar vorwärts, und als er in die Nähe der Reiter kam, schüttelte er wütend seinen wolligen Kopf und traf Anstalten sie anzugreifen, wenn sie ihn nicht durchließen. Ken jagte schreiend und das Lasso schwingend vor ihm her; aber auch zwei Lassos genügten nicht für den Koloß, es sei denn, die Reiter hatten Glück und arbeiteten perfekt zusammen. Jedes um diesen gewaltigen Nacken geworfene Manilaseil würde wie ein Baumwollfaden reißen. Auch das Pferd konnte zu Boden geworfen werden, und das war dann noch schlimmer. »Laß ihn gehen«, riet Chet. »Wir treiben seine Kühe zurück, dann wird er ihnen folgen.« Sie jagten die Kühe zurück, und als sie zwei Meilen entfernt waren, stand der alte Jim Crow auf einem Höhenzug, stampfte den gefrorenen Boden, daß die Erdbrocken flogen, und ließ seine wütende Herausforderung erschallen. 227
Am nächsten Tag war er wieder da – an der Spitze seiner kleinen Herde. Es wurde kalt. In der Nacht des sechsten Dezember waren fünfzehn Zentimeter Schnee gefallen, und der bleigraue Himmel verhieß noch mehr. Alle Viehzüchter waren mit ihren Reitern unterwegs. Hunderte von Fährten liefen kreuz und quer durch die Hügel und Talmulden der Vorberge. Die Reiter hatten nicht viel mehr zu tun, als das Vieh aus dem Hügelland zum Fluß hinunterzutreiben und einige verirrte Gruppen aus Buschdickichten und blinden Tälern zu scheuchen. Jim Crow weigerte sich, an dem allgemeinen Exodus teilzunehmen. Die Talgründe auf der anderen Seite der Wasserscheide waren sein gewohntes Winterquartier, und dorthin zog es ihn. Seine Artgenossen aber wurden in die andere Richtung getrieben. Jim Crow war auch nicht gewillt, vor diesen schreienden Reitern zu fliehen, die er instinktiv verabscheute. Er blieb zurück und forderte jeden heraus, der ihn vorwärtsdrängen wollte. Eine Anzahl Reiter, unter ihnen Chet und Ken, versuchte es zwei- oder dreimal, dann ließen sie ihn für den Augenblick in Ruhe, weil sie glaubten, daß er seinen Kühen nach einiger Bedenkzeit auch freiwillig folgen würde. Nach einer Woche war das Vieh im Süden auf der Winterweide, und das verlassene Hügelland lag unter einer dicken Schneedecke. Die Reiter entdeckten, daß Jim Crow immer noch nicht zur Herde gestoßen war, und Chet meldete das seinem Boß. »Nimm drei von den Jungen mit und mach dich auf die Suche. Nächste Woche versenden wir ein paar Waggons mit Nachzüglern und lahmen Tieren, und da kann er gleich mitgehen.« 228
»Und wenn wir ihn nicht erwischen?« fragte Chet. »Dann schießt ihr ihn ab.« Es war drei Uhr am Nachmittag des nächsten Tages, als sie Jim Crow ausmachten. Er hatte die Reservationsgrenze überquert und am Warm Springs Mountain Zuflucht gesucht, wo es immer noch möglich war, unter dem lockeren Schnee an das Gras heranzukommen. Offenbar hatte er sich noch nicht entschlossen, ob er allein aufbrechen oder auf seine Kühe warten sollte. Der erste Versuch, ihn nach Süden abzudrängen, endete mit dem Ergebnis, daß er sich in die andere Richtung wandte. Nach einer Viertelstunde vorsichtigen Manövrierens war Jim Crow einige hundert Meter weiter von den Reitern entfernt als zuvor. »Es gibt nur eine Möglichkeit, ihn zu kriegen«, erklärte Chet. »Wir müssen ihm sämtliche Lassos überwerfen und die Dickköpfigkeit einfach aus ihm herausprügeln.« Sie kreisten den Bullen ein, und bald zischte das erste Seil durch die Luft und fiel um seinen Nacken. Der Reiter war vorsichtig genug, die Schlinge nicht zusammenzuziehen. Als Jim Crow kehrtmachte, um diesen lästigen Quälgeist zu verfolgen, sauste ein zweites Seil über den Schnee und verfing sich um ein Hinterbein. Er drehte sich wieder um, und eine dritte Schlinge fiel vor ihm auf den Schnee. Als er mit beiden Vorderbeinen hineintrat, wurde sie hochgerissen, und alle Seile strafften sich gleichzeitig. Die Pferde hatten fünf Minuten zu tun, bis der massige rotbraune Körper am Boden lag. Im Nu hatten sie ihm die Beine gefesselt und die Lassos abgenommen. Dann fielen sie mit eingerollten Seilen und 229
Knüppeln über ihn her. Er brüllte und tobte, wütete gegen die Fesseln und blies Schaum und Speichel in alle Richtungen, aber je mehr er kämpfte, desto heftiger bearbeiteten sie ihn. Er war hilflos. Ken Delaney setzte sich schließlich auf seinen Rücken und stieß ihm grausam die Sporen in die Flanken. Zuletzt sank der gewaltige Schädel in den Schnee. Es schien, als wäre Jim Crows Kampfgeist endlich gebrochen. »Damit wir wissen, ob er endlich zahm ist, legen wir ihm einen Strick um, und ich reite ihn«, erklärte Ken Delaney. Chet wollte nichts davon wissen, aber die anderen überstimmten ihn, denn einmal freuten sie sich auf das Schauspiel, und außerdem war Ken der beste Reiter weit und breit. Man legte Jim Crow einen Strick um den Leib und löste die Fesseln. Der alte Bulle erhob sich leicht schwankend, während Ken Delaney auf seinem Rücken saß und sich mit beiden Händen an dem Strick festhielt, der hinter den Vorderbeinen den mächtigen Leib des Tieres umspannte. Die anderen Reiter waren vorsichtshalber zu ihren Pferden gelaufen. Jim Crow stand einen Augenblick bewegungslos und mit gesenktem Kopf da. Seine Würde war durch die rauhe Behandlung verletzt, aber seine blutunterlaufenen Augen funkelten wild und haßerfüllt. Nun hob Ken Delaney die Beine und bearbeitete mit den scharfen Sporen das dicke Fell über Jim Crows Rippen. Das war zuviel. Der Bulle stieß ein schreckliches Brüllen aus und sprang mit allen vieren gleichzeitig in die Luft. Darauf folgte eine Serie von Bocksprüngen, wie sie die 230
Cowboys noch nie gesehen hatten. Ken mußte seine ganze Gewandtheit und Kraft aufbieten, um nicht heruntergeschleudert zu werden, und trotzdem wurde er bei jedem Sprung in die Höhe geworfen und heftig durchgeschüttelt. Und Jim Crow ließ nicht locker. Der Mann auf seinem Rücken kämpfte angestrengt gegen Benommenheit und Übelkeit, aber schließlich ließen seine Hände den Strick fahren, er flog hoch in die Luft und landete fünf Meter vor dem Bullen auf den Schultern. Mit einem wütenden Schnauben stürmte der alte Bulle auf den reglosen Körper seines Peinigers zu. Die warnenden Schreie seiner Kameraden drangen nur unklar in Kens Bewußtsein, er öffnete die Augen, sah den gereizten Koloß angreifen und konnte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite rollen, um der vollen Gewalt der Hornstümpfe auszuweichen. Aber auch so noch traf ihn der eine hart genug, um eine oder zwei Rippen zu brechen, und Jim Crows linkes Vorderbein streifte Kens Kopf und zerdrückte ihm das Schlüsselbein. Zwei der Männer feuerten ihre Revolver ab, und die beiden Kugeln bohrten sich in Jim Crows mächtige Schultermuskeln. Er kümmerte sich so wenig darum, als wären es Insektenstiche. Er hatte sein Opfer überrannt, machte sechs oder sieben Meter hinter ihm kehrt und raste zurück, den wolligen Schädel zu einem neuen Stoß gesenkt. Es war klar, daß von Ken Delaney nur noch eine blutige Masse übrig bleiben würde, wenn dieser Angriff nicht aufgehalten werden konnte. Glücklicherweise hatte Chet die Möglichkeiten eines Revolvers schon von Anfang an skeptisch beurteilt und einen Karabiner mitgenommen; jetzt riß er ihn 231
aus dem Sattelfutteral. Für sorgfältiges Zielen war die Zeit zu kurz. Der Kopf des Bullen war nur noch zwei Meter von Kens Körper entfernt, als Chet abdrückte. Aus Angst, seinen Freund zu treffen, hatte er unbewußt ein wenig hoch gehalten, aber der gewaltige Bulle brach doch in die Knie und sackte schwer auf die Seite. Aus einem Loch nahe dem Hornansatz sickerte das Blut dunkel über die massige Stirn. Die Reiter sprangen von ihren Pferden und schleppten ihren verletzten Kameraden aus der unmittelbaren Nachbarschaft Jim Crows. Er war vor Schmerzen halb bewußtlos, und Chet schickte einen Reiter los, um den Arzt zu verständigen und einen Wagen zu holen. Dann luden sie Ken vorsichtig auf sein Pferd, um ihn aus dem unwegsamen Hügelland zur Fahrstraße zu schaffen. Aber noch bevor sie aufbrachen, warf er einen letzten Blick auf den Bullen. »Ich glaube, das ist das Ende von Jim Crow«, sagte er. »Der alte Junge ist genauso untergegangen, wie er es wollte – im Kampf.« Der alte Teufel schien tatsächlich tot zu sein. Wäre Ken nicht verletzt gewesen, hätte Chet das Tier abgehäutet, aber nun war es wichtiger, den Verletzten so rasch wie möglich zu Tal zu bringen. Die Gewehrkugel hatte den Hornansatz getroffen und war unter dem Fell bis fast zum linken Ohr abgelenkt worden. Es war eine schlimme Wunde, doch eine halbe Stunde, nachdem die Männer fortgeritten waren, begann Jim Crow Lebenszeichen von sich zu geben. Er schüttelte einige Male seinen mächtigen Schädel, erhob sich dann auf die Knie und stand nach zwei vergeblichen Versuchen auf. Er 232
wankte, aber er konnte sich auf den Beinen halten. Nach zwei oder drei unsicheren Kreisen machte er sich auf den Weg zu den Winterweiden jenseits der Berge. Als es dunkel wurde, suchte er in einer bewaldeten Mulde Zuflucht und ließ sich an einer trockenen Stelle unter den Fichten zu Boden fallen. Er war erschöpft. Seit dem Einsetzen der Schneefälle war das Futter spärlich geworden, der Kampf gegen die Cowboys hatte an seinen Kräften gezehrt, und der Blutverlust seiner drei Wunden war beträchtlich. Der alte Bulle konnte in dieser Nacht nicht schlafen; die Aufregung des Kampfes steckte immer noch in ihm. Seine Wunden schmerzten, und es dauerte nicht lange, bis er Besucher bekam – die Wölfe. Seine Blutspur hatte sie wie ein Magnet angezogen und er konnte ihre grünen Augen durch die Dunkelheit irrlichtern sehen. Allmählich kamen sie näher und näher, bis sogar ihre roten, hechelnden Zungen sichtbar waren. Ruhelos umschlichen sie ihn. Jim Crow machte sich nicht die Mühe, aufzustehen. Er kannte keine Furcht. Wann immer einer der Wölfe zu nahe kam, stieß er ein mächtiges Schnauben aus, das seine Wirkung nicht verfehlte. Hätten sie eine Kuh gefunden, die unfähig gewesen wäre, sich zu erheben, hätten sie sofort angegriffen. Aber irgendwie schienen sie jetzt die Zeit für noch nicht reif zu halten, oder vielleicht waren sie auch nicht hungrig genug. In den frühen Morgenstunden begann es zu schneien. Als das Tageslicht Jim Crow aus seinem Versteck lockte, war sein breiter Rücken mit Schnee überpudert. Er schüttelte sich und blickte umher; die Wölfe hatten sich zurückgezogen, aber er sah einige von ihnen auf 233
dem nächsten Höhenzug lauern. Er war verwundet und allein; sie dachten nicht daran, ihn zu verlassen. Als er losziehen wollte, begannen die steifen Schultern zu schmerzen; die in den Muskelsträngen steckengebliebenen Kugeln behinderten seine Bewegungen. Er war hungrig, aber das steife Waldgras schmeckte bitter und konnte ihn nicht sättigen. Mit kurzen und qualvollen Schritten stapfte er zur windabgelegenen Seite eines Hügels hinüber, wo welke Grasbüschel die dünne Schneedecke durchstießen. Um die Mittagszeit war sein Hunger soweit gestillt, daß ein Weiterziehen möglich war. Die Schultern waren etwas steif, aber in den Wunden begann es fiebrig zu klopfen. Er hob seinen Kopf zu den hohen Gipfeln der Wasserscheide, und etwas von dem gewaltigen Unternehmen, das noch vor ihm lag, schien in sein Bewußtsein einzusickern. Ärgerlich schüttelte er den mächtigen Schädel. Der Entschluß in ihm war unerschütterlich, und in seiner Hartnäckigkeit konnte er es mit einem Maultier aufnehmen. Er mußte hinüber. Am Nachmittag verschlechterte sich das Wetter, und mit dem Schnee kam Wind auf, gegen den er nur schwer vorankam und der den Schnee in den Mulden und Senken zusammenfegte, die er durchqueren mußte. Und die Wölfe blieben auf seiner Fährte. Sie schienen seine Schwäche zu wittern. Jim Crow verbrachte die zweite Nacht im notdürftigen Schutz einer überhängenden Felswand, die ihn nur teilweise gegen den Sturm abschirmte. Am Morgen lag der Schnee zehn Zentimeter hoch auf seinem Rücken, und er versank bei jedem Schritt bis über die Knie. Seine Schul234
tern hatten sich noch mehr versteift, und er fühlte sich viel schwächer als am Vortag. Er befand sich nun in dem Hochtal, das bis zum Hauptkamm des Gebirges hinaufführte. Der Schnee war zu tief, als daß er an das Gras herankommen konnte. Oben auf den windgepeitschten Höhen mochte es noch einige leichter zugängliche Grasflecken geben, aber als er mit trüben Augen hinaufspähte, sah er, daß der Aufstieg langwierig und mühselig werden würde. Der Instinkt sagte ihm, daß er weiterziehen mußte, bevor die Schneelage jedes Weiterkommen unmöglich machte. Je höher er kam, desto tiefer wurde der Schnee. Häufig mußte er stehenbleiben, um auszuruhen. Von Zeit zu Zeit vergrub er seine breite Schnauze im Schnee, fand aber keine Nahrung. Nachdem er einige Maulvoll Schnee aufgeleckt hatte, schob er seinen schneeüberkrusteten Körper weiter durch die weiße Einsamkeit. Die Wölfe waren immer mit ihm. Der Hunger drängte sie nicht zu verzweifelten Aktionen. Es gab genug Kaninchen und anderes Kleingetier, das sie jagen konnten, aber irgendein Instinkt hielt sie auf der Fährte des alten Bullen. Sie wußten, daß er verwundet war und bald schwächer werden würde. Sie sahen, daß er nur noch langsam vorankam, und waren überzeugt, daß er bald ganz steckenbleiben würde. Dann wäre ihre Zeit gekommen. Sie begannen ihn nachts zu bedrohen. Sein lautes, kriegerisches Schnauben jagte ihnen keine Angst mehr ein. Sie hüteten sich zwar, seinem mächtigen Schädel zu nahe zu kommen, aber das war auch alles. Wenn er stand, umkreisten sie ihn, und wenn er wieder weiterzog, blieben sie ihm auf den Fersen. Gelegentlich jagte der eine oder der andere 235
auf Kaninchen, aber sie kehrten immer wieder zu ihm zurück. Es gab Zeiten, wo er kaum eine Meile am Tag zurücklegte, und immer häufiger stieß er auf schulterhohe Schneewehen, durch die er sich nur unter Aufbietung aller Kräfte vorwärtswühlen konnte. An Gras war nicht mehr zu denken, doch konnte er sich hin und wieder an den zartesten Zweigen junger Birken und Espen stärken. Aber es dauerte nicht lange, und auch diese armselige Nahrungsquelle versiegte. Bald wurden die Wölfe zudringlicher und versuchten ihn von hinten zu fassen. Wenn es ihnen gelänge, ihm die Knieflechsen durchzubeißen, wäre sein Schicksal besiegelt. Anfangs drehte er sich herum und griff sie mit gesenktem Schädel an, aber nach und nach ging ihm die Vergeblichkeit solcher Anstrengungen auf. Es schwächte ihn nur, und er konnte seine Peiniger nie fassen. Er konnte sie nur dann in respektvoller Entfernung halten, wenn er sie ständig beobachtete, aber dazu mußte er seinen Kopf beständig von einer Seite zur anderen schwingen. Dies ließ ihm keine Zeit, nach Nahrung zu suchen oder den günstigsten Weg einzuschlagen. Wenn er sich niederlegte, ließen ihn die Wölfe nicht zur Ruhe kommen, und gewöhnlich stand er bald wieder auf und versuchte weiterzutrotten. Er hätte sich längst in das Unausweichliche fügen können, doch in seinem starken alten Herzen war eine grimmige Entschlossenheit, seine geliebten Talgründe auf der anderen Seite der Berge zu erreichen. Endlich kam der Tag, an dem er den Kamm der Wasserscheide erreichte. Er blieb stehen und überblickte das Land 236
wie ein Eroberer. Seine Haltung war noch immer würdevoll und achtunggebietend, obwohl er an Gewicht verloren hatte. Es war erstaunlich, wie sehr er in den letzten Wochen abgemagert war. Unter seinem struppigen Fell zeichnete sich jede Rippe klar ab, und seine Hüftknochen ragten wie ein Paar groteske, fellüberzogene Haken in die Luft. Der gewaltige Schädel war der einzige Teil seines Körpers, der nicht geschrumpft war. Am Horizont dehnte sich die große Ebene der Snake River Wüste. Hier und dort sah man das feine Silberband des Snake River, und auf dieser Seite des Flusses lagen zwischen niedrigen Buschhügeln mehrere gelbliche Talsenken, kleine und große. Es war das Mekka, von dem Jim Crow träumte. Aber zwischen ihm und seinem Ziel lag ein weißes Labyrinth aus tiefen Tälern, zerrissenen Kämmen und felsigen Schluchten. Wieder trottete er weiter und kämpfte sich durch den halstiefen Schnee auf dem Hauptkamm vorwärts. Und wieder blieben seine mordgierigen Begleiter hechelnd auf seiner Fährte. In der Nacht ruhte er in einem Winkel zwischen zwei vorstehenden Felskanten. Er bot ihm keinen Schutz gegen die Witterung, schirmte aber Flanken und Hinterteil gegen die Wölfe ab. Dort legte er sich nieder. Die Wölfe schienen irgendwie zu fühlen, daß die Stunde der Entscheidung gekommen war. Schon lange hatten sie erwartet, daß ihr Opfer zusammenbrechen würde, und seine erstaunliche Vitalität hatte sie unruhig gemacht. Vielleicht begriffen sie, daß er ihnen doch noch entgehen würde, wenn sie ihn aus dieser Felsgrotte herausließen. Sie formierten sich vor Jim Crow zu einem Halbkreis, der sich von einer 237
Felskante zur anderen erstreckte. Es waren acht Wölfe, und jeder einzelne war nur von dem Verlangen getrieben, seine Fänge in diesen großen, rotbraunen Körper zu schlagen. Zwei Stunden lang hockten die Wölfe unbeweglich auf ihren Keulen. Jim Crow konnte seine Augen nicht schließen. Es war, als hätte sein langsam arbeitendes Gehirn begriffen, daß nun die letzte und entscheidende Probe bevorstand. Das Vorgehen der Wölfe ließ erkennen, daß sie eine Belagerung vorhatten. Ihr Schweigen, ihre starren grünlichen Augen, ihr Geruch, alles das machte den alten Bullen nervös. Endlich richtete er sich auf und schüttelte ärgerlich den zottigen Kopf. Die Wölfe kamen näher. Jim Crow begann ein heiseres Grollen auszustoßen; seine breiten, schweren Hufe scharrten wütend im Schnee. Aber seine Gegner ließen sich nun nicht mehr einschüchtern. Er senkte den Kopf und versuchte einen Scheinangriff. Die Wölfe vor ihm wichen nach rechts und links aus, und die an den Flanken schoben sich näher heran. Einer von ihnen versuchte mit einem langen Satz seinen Hinterschenkel anzuspringen. Der alte Jim Crow wehrte seinen Angriff ab. Er stieß das bedrohte Hinterbein wie eine Kuh vor, die nach dem Melker stößt, aber mit weit größerer Kraft und Schnelligkeit. Die Gegenbewegung kam für den Wolf so unerwartet, daß er direkt in das Hinterbein hineinsprang. Die Hufkante traf seinen Unterkiefer und brach den Knochen entzwei. Mit einem Schmerzgeheul zog sich der Wolf aus der Kampfzone zurück. Nun verkroch sich Jim Crow in seinen Winkel, so weit er konnte. Er stand mit gesenktem Kopf, blutunterlaufenen 238
Augen und pumpenden Flanken da und brüllte seinen Zorn heraus. Zum ersten Mal in seinem langen Leben lernte er die Angst kennen. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Immer wieder kam einer der Wölfe mit ein paar hohen Sprüngen näher, als wollte er angreifen. Wenn der Bulle mit seinen Hornstümpfen zustoßen wollte, schlüpften sie jedesmal gewandt zur Seite. Der alte Kämpe hielt diesen Zustand nicht lange aus. Sie konnten ihn wohl eine Weile in der Ecke festhalten, aber nicht für immer; noch nie zuvor hatte er sich in die Defensive drängen lassen. Langsam begriff er, daß der sichere Tod ihn erwartete, wenn er blieb, wo er war. Seine einzige Chance bestand darin, weiterzuziehen, dem Flachland entgegen. Wenn er fiele, würde es im Kampf geschehen. Ein Wolf sprang zähnefletschend vor und schnappte nach Jim Crows breiter Schnauze. Wie gewöhnlich griff der alte Bulle an, und wie gewöhnlich sprang der Wolf zurück. Die Meute hatte sich bereits darauf eingestellt, daß seine Ausfälle nur kurze Vorstöße waren. Diesmal war es jedoch anders. Der Wolf sprang zurück, aber er machte den Fehler, anzunehmen, daß Jim Crow seinen Angriff abbrechen würde. Als er bemerkte, daß der wütende Bulle weiterstürmte, war es zu spät. Er wollte sich mit einem weiteren Satz in Sicherheit bringen, doch der Schnee gab unter seinen Pfoten nach, und er verlor für einen Augenblick Sprungkraft und Balance. Die Hornstümpfe des Bullen stießen zu und erfaßten den Wolf unter dem Bauch. Mit furchtbarer Gewalt schleuderten sie ihn in die Höhe, und er 239
segelte zwanzig Meter weit durch die Luft, bevor er als zuckendes Bündel auf den Schnee fiel. Die übrigen Wölfe warfen sich nun auf Jim Crow. Ihre Fänge schlitzten seine zähe Haut auf, und innerhalb weniger Sekunden blutete er an einem Dutzend Stellen. Sie konnten jetzt von allen Seiten an ihn heran, und ihre grauen Leiber schossen hierhin und dorthin und versuchten sich in seine verwundbarsten Körperteile zu verbeißen. Der alte Bulle blutete und schäumte – und er kämpfte. Im Umkreis von fünfzig Metern war der Schnee festgestampft und vom Blut gerötet, unablässig griff er seine Peiniger an, drehte seinen massigen Körper und griff wieder an. Einmal sprang ihn ein Wolf von der Seite an und verbiß sich in seinen Nacken. Einen Augenblick nur konnte er sich halten, dann wurde er abgeschüttelt und fiel herunter; und im nächsten Moment stießen Jim Crows Hornstümpfe zu und zerfetzten den Angreifer. Die restlichen Wölfe ließen plötzlich von ihm ab und zogen sich ein Stück zurück. Der Kampf verlief nicht so, wie sie erwartet hatten. Drei von ihnen waren tot oder kampfunfähig; die anderen strichen unschlüssig umher oder setzten sich auf ihre Hinterkeulen und beobachteten ihren Feind, der ihnen mit ungebrochenem Kampfeswillen gegenüberstand. Auf einmal gewahrten die Wölfe, daß die Sonne über den Kamm gestiegen war und ein kaltes, metallisches Licht über die Schneefläche warf. Sie kämpften nicht gern bei Tageslicht. Langsam und mit eingezogenen Schwänzen schnürten sie auf ihrer Fährte zurück und verschwanden.
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Jim Crow wartete, dann drehte er sich um und setzte seinen qualvollen Marsch fort. Seine Kehle war ausgedörrt, und von Zeit zu Zeit nahm er einige Maulvoll Schnee auf. Er war so geschwächt, daß er taumelte. Nur sein Wille, die Talgründe zu erreichen, hielt ihn auf den Beinen. Gegen Mittag kam er an eine kleine Quelle, die von Weidengebüsch umgeben war. Hier blieb er stehen und zermahlte Holz und Rinde der jungen Zweige zwischen seinen Zähnen. Er fraß zwei Stunden lang, trank aus der Quelle und legte sich nieder. Abends stand er auf und zog weiter. Schneeverwehungen bereiteten ihm noch immer viel Mühe, aber seine Kräfte hatten zugenommen. Wieder sah er die Wölfe auf seiner Fährte; aber solange er sich fortbewegte, wagten sie keinen Angriff. Je tiefer er kam, um so dünner wurde die Schneedecke. Am folgenden Tag fand er einen Südhang und Büschelgras, und wieder einen Tag später erreichte er die Ebene mit ihren Weidegründen, wo das üppige Sumpfgras im Überfluß wuchs. Die Wölfe waren längst zurückgeblieben, und er fraß sich einmal gründlich satt. Er ruhte, fraß und ruhte wieder. Nach zwei Wochen hatte er sich soweit erholt, daß ihn ein Verlangen überkam, zu anderen Rindern zu stoßen. Er wußte, wo er sie suchen mußte. Über die sumpfigen Flußebenen dröhnte seine tiefe, orgelnde Stimme. Bald hatte er sie gefunden, und er blieb stehen und scharrte kriegerisch den schwarzen Moorboden auf, daß die Erdbrocken flogen, und seine donnernde Herausforderung ließ die Luft erzittern. 241
S. Omar Barker, ein Ehrenhäuptling des Indianerstammes der Kiowa, erhielt 1955 für seine in der »Saturday Evening Post« veröffentlichte Kurzgeschichte »Bad Company« den Preis für die beste Western-Story des Jahres. Er wurde in New Mexico geboren, und seine Erzählungen und Gedichte sind in einer großen Anzahl amerikanischer Zeitschriften abgedruckt worden.
S. Omar Barker
Das Mädchen auf der Farm Sandy Halloran trottete auf dem alten Kiote dahin und freute sich über ihren bequemen Sattel und den kühlenden Wind, der von den nördlichen Bergen herabstrich, ohne dabei allerdings gewisse Überlegungen aus ihren Gedanken verbannen zu können, als sie von Ignacio Cabezon und José Maria Lucero überholt wurde. Die beiden mexikanischen Vaqueros ritten struppige kleine Pferde mit dem eingebrannten H der Halloran-Ranch. Ignacio war ein kleiner und drahtiger Mann mit einem dunklen Fuchsgesicht unter dem schwarzen Sombrero. Seine Augen waren schalkhaft und fast genau so schwarz. José Maria stellte dagegen ein seltenes Phänomen dar, er war ein kleiner, dicker Cowboy. Sein Gesicht glich einem braunen Mond, in dem seine dunklen Augen groß und unschuldig zu schwimmen schienen. Keiner der beiden war jung, aber sie hatten sich ihre muntere Unbekümmertheit aus der Jugendzeit herübergerettet. Das Mädchen auf dem alten, gelbbraunen Wallach war 242
grauäugig, mit braunen Locken und einer Figur, die den Blick des Betrachters nicht zu kurz kommen ließ. Zu einer Zeit, da nur wenige emanzipierte Frauen auf den Damensattel verzichteten, bestand Sandy Hallorans Kleidung aus einem schwarzen Baumwollhemd, einer blauen Drillichhose und halbhohen Reitstiefeln. Von weitem unterschied sie sich kaum von einem Cowboy, und das war sie auch von Beruf, denn als sorgengeplagte Besitzerin ihrer ererbten und mit Hypotheken belasteten Ranch konnte sie sich kein bequemes Herrenleben leisten. Ihr schwarzer Hut war nur wenig ansehnlicher als die zerschlissenen Sombreros ihrer beiden Reiter. Es bedurfte nur der leisesten Berührung der Zügel, um den alten Kiote herumzulenken, aber Sandy fühlte die Steifheit seiner Bewegungen, und das machte sie traurig. Wir sind fast im gleichen Alter, dachte sie. Wir sind zusammen aufgewachsen. Aber ich habe mein Leben kaum begonnen, und der arme alte Kiote hat das seine schon beinahe hinter sich. Es geht nicht gerecht zu! Sie klopfte ihm zärtlich den Hals, als Ignacio und José vor ihr in einer Staubwolke zum Stehen kamen, die alle drei für mehrere Sekunden einhüllte. »Por favor, Miß Sandy«, rief Ignacio. »Señor Belden ist gekommen. Er will etwas sprechen mit dir.« »Das ist schön«, sagte Sandy lächelnd. »Warum ist er nicht gleich mit euch geritten?« »Er fährt mit Wagen von der Stadt. Wagen mit rote Räder.« Ignacio zuckte die Achseln. »Ein Mann ist mit ihm gekommen.« »Mein Cousin Agapita hat auch Wagen mit rote Räder«, 243
prahlte José Maria. »Aber viel größer.« »Tonto!« tadelte ihn Ignacio zornig. »Dein Cousin Agapita hat Ochsenkarren.« »Wagen!« beharrte José. Ohne weitere Worte zu verlieren, zog Ignacio seinem Gefährten mit der einen Hand den Sombrero über die Augen und kniff Josés Pferd mit der anderen ins Ohr. Das erschrockene Pferd vollführte einen Bocksprung und ging hinten hoch, aber sein schwerer Reiter hielt sich mit Leichtigkeit im Sattel. Er schob den Sombrero zurück und ließ seine Reitpeitsche einen halben Zoll vor Ignacios spitzer Nase knallen. Dieser entrollte seine eigene zu einer geziemenden Antwort, ließ sie aber sinken, als Sandy Halloran abwinkte. »Jetzt reicht es«, sagte sie milde, denn sie wußte, daß die beiden eine Vorliebe für diesen etwas rauhen Zeitvertreib hatten und mitunter geneigt waren, darüber ihre Arbeit zu vergessen. José Maria ließ seine Peitsche in der Luft schnalzen. »Wenn ich werde wütend, ich schlage einen von zweimal mein Gewicht!« »Nun, Ignacio ist nicht einmal halb so schwer wie du, José«, sagte Sandy beruhigend. »Und außerdem bist du gar nicht wütend. Sagtest du, daß Charles jemanden mitgebracht hat?« »Ein Person«, sagte Ignacio. »Ist groß und lang.« Sandy dachte mit Unbehagen an die Mutter des Rechtsanwalts, mit dem sie verlobt war. Die alte Dame sah ihre zukünftige Schwiegertochter nicht gern in Hosen. »Du meinst Mrs. Belden?« fragte sie erschrocken. »Ein Reiter«, erwiderte Ignacio. »Name Mister Salty 244
Kinkaid. Du besser nicht zuviel lächeln, wenn ihn sehen, Patrona. Ich glaube, er ein Weiberheld.« Ignacio verdrehte seine schwarzen Augen und schickte einen schmachtenden Blick zum Himmel. »Wie Cousin Agapito«, fügte José Maria hinzu, »bevor er heiraten seine Frau.« »Dank für die Warnung«, sagte Sandy trocken. »Nun macht euch an die Arbeit. Es sind für den neuen Weidezaun Pfosten zu setzen, ihr wißt es selbst. Sagt Mr. Belden, daß ich bald komme. Kiote ist zu alt, ich will ihn nicht jagen.« Die beiden Mexikaner galoppierten in einer Staubwolke davon. Verrückte Kerle, dachte sie. Aber im selben Augenblick wußte sie auch, daß sie die zwei vermissen würde, fast so sehr wie ihr treues altes Pferd. Aber es blieb ihr kaum noch eine andere Wahl, als in die Stadt zu ziehen, wo ihr zukünftiger Ehemann ein geräumiges Haus besaß. Seit dem Tode ihres Vaters war das Leben auf der Ranch einsam geworden, und die Arbeit wuchs ihr über den Kopf. Dazu kamen noch die finanziellen Sorgen. Es war genug. Mrs. Charles Belden – das klang gut. Und Charles Belden war nicht nur ein erfolgreicher Anwalt, sondern auch ein wirklich netter Mann. Sandy kannte ihn als Rechtsberater ihres Vaters, in welcher Eigenschaft er sich als aufmerksam, zuverlässig und tüchtig erwiesen hatte. Es hatte sie nicht erstaunt, als er um ihre Hand angehalten hatte. Sie wußte schon seit längerer Zeit, daß er sie fragen und daß ihre nüchtern überlegte Antwort ein ja sein würde. »Wenn ich dich nur mit mir nehmen könnte, alter Kiote«, 245
murmelte Sandy traurig, und ihre Worte drückten ihre augenblicklich größte Sorge aus. »Aber selbst wenn Charles zustimmen würde, wäre ein enger Stall mit einem kleinen Auslauf alles, was wir dir bieten könnten. Und das würde dir nicht gefallen. Du würdest die Freiheit und das weite Land vermissen.« Kiote bewegte seine kleinen Ohren und schnaubte sanft. Charles Belden, in einem sauberen hellgrauen Anzug und schwarzer Melone, inspizierte die von einem Windrad angetriebene Pumpenanlage, als Sandy über den heißen und staubigen Vorplatz der Ranch ritt. Neben dem Anwalt stand ein hagerer, langbeiniger Mann in Cowboykleidung, mit aufgekrempelten Hemdsärmeln und einem zerdrückten Schlapphut, an dem er fortwährend rückte. Sandy stieg ab und hielt Belden ihre Wange zum Kuß hin. Der Mann drehte sich um und schnalzte geräuschvoll. »Wollten Sie etwas sagen?« fragte Sandy aufgebracht, und der Fremde grinste. »Entschuldigen Sie, schönes Kind. Ich bin nur nicht daran gewöhnt, daß hübsche Mädchen auf die Wange geküßt werden.« »Und ich bin es nicht gewöhnt, mir von Fremden Anzüglichkeiten sagen zu lassen!« »Mr. Kinkaid hat es sicher nicht so gemeint, Sandy«, sagte Belden verbindlich. »Du weißt ja, wie diese Cowboys sind. Wichtiger ist, daß er die Ranch übernehmen will, samt Inventar und Hypotheken. Vielleicht ist das die Gelegenheit, auf die wir gewartet haben.« »Ja, Charles«, sagte Sandy, aber es klang zögernd. 246
»Ich will dich nicht drängen, Sandy.« Belden legte seinen Arm zärtlich um ihre Schultern. »Aber ein baldiger Verkauf würde bedeuten, daß wir noch im Juni heiraten könnten.« Er wandte sich an den wartenden Fremden. »Miß Halloran und ich wollen heiraten, sobald sie Ranch und Viehbestand zu zufriedenstellenden Bedingungen abstoßen kann. Ich habe Ihnen eine genaue Inventaraufstellung gegeben, und Sie haben erklärt, daß Ihnen die Bedingungen vernünftig erscheinen. Ich habe die nötigen Formblätter und Unterlagen bei mir. Wenn es Ihnen recht ist, können wir hineingehen und den Vertrag gleich abschließen.« »Mister«, erwiderte Salty Kinkaid und zwinkerte mit seinen brauen Augen, »wenn Sie diese kleine Dame hier heiraten wollen, kann ich gut verstehen, daß Sie in Eile sind. Aber ich bin es nicht, ganz bestimmt nicht. Geben Sie mir eine Woche Zeit, oder auch zwei, damit ich mir die Ranch und das Land ansehen kann. Danach können wir vielleicht weiterreden. Ist Ihnen das recht, schönes Kind?« »Sofern Sie Ihre Manieren nicht ändern, nein!« entgegnete Sandy energisch. »Das richtig!« warf Ignacio ein, der seine Arbeit liegengelassen hatte, um dem Gespräch beizuwohnen. »Jemand wird frech zu Patrona, ich ihm Tritt in Hintern geben!« »Schon gut, Primo«, sagte Salty Kinkaid mit gutmütigem Grinsen. Er nahm seinen Hut ab und schwenkte ihn übertrieben, wobei er sich verbeugte. »Miß Halloran, darf ich vielleicht erklären, daß man in meiner Heimat von Natur aus galant zu den Frauen ist? Bitte, denken Sie sich nichts dabei.« Er hob fragend die Brauen und nickte zu den bei247
den Mexikanern hinüber. »Sagen Sie, schönes Kind – entschuldigen Sie – Miß Halloran, gehören diese beiden seltsamen Exemplare auch zum lebenden Inventar der Ranch, was Gott verhüten möge?« »Selbstverständlich.« Sandy nickte ernst. »Sie waren für meinen Vater wie seine rechte und linke Hand, wenn man so sagen kann. Ich erwarte von jedem Käufer, daß er sie behält – wenn sie selber bleiben wollen.« »Dasselbe mit dies Pferd«, erklärte Ignacio und nahm Kiotes Zügel. »Viele Jahre das beste Arbeitspferd auf Rancho. Miß Sandy schon als klein Kind viel gern gehabt. Aber Señor Belden sagen, kein Platz für altes Pferd, aber dies müssen hierbleiben und Gnadenbrot bekommen. Sonst Miß Sandy sagen nicht verkaufen.« Kinkaid trat auf das Tier zu und untersuchte Kiotes Zähne. »Ein alter Gaul«, kommentierte er respektlos. »Ohne die Backenzähne gesehen zu haben, würde ich ihn und seine Herrin etwa auf dasselbe Alter schätzen.« Er wandte sich an das Mädchen. »Vielleicht kennen Sie das alte Sprichwort: Ein Pferd über zwanzig taugt für einen Mann ebenso wenig wie ein Mädchen unter zwanzig.« Sandy Halloran antwortete mit einer ungeduldigen Geste. »Worauf es ankommt, ist …« »Ich weiß. Wenn ich die Ranch kaufe, soll ich sie zu einem Altersheim für zwei verschrobene Mexikaner und ein ausgedientes Pferd machen, nicht wahr? Nun gut, noch habe ich nicht gekauft; die Frage hat also Zeit. Habe ich recht, Mr. Belden?« »Gewiß«, erwiderte der Anwalt ein wenig steif. »Aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Miß Halloran 248
das Angebot nicht unbegrenzt aufrechterhalten kann. Wenn sich andere Käufer einstellen …« Er zuckte die Achseln. »Charles«, sagte Sandy, »sollten wir nicht nachsehen, ob Josefa den Kaffee fertig hat?« Sie streichelte den Hals ihres Pferdes und wurde sich schmerzlich bewußt, daß sich das Fell rauh anfühlte, nicht mehr so seidig und glatt, wie es einmal gewesen war. Kiote wandte den Kopf und rieb ihn an ihrem Arm. »Meine Dame«, sagte Kinkaid, »dieses Pferd ist verzogen und nur an Sie gewöhnt. Wo immer Sie hinziehen, Sie sollten es mitnehmen. Es gehört zu Ihnen.« Ignacio führte das Tier weg, und Sandy blickte ihm schweigend nach. »Kiote hängt sehr an mir, Mr. Kinkaid«, sagte sie schließlich. »Aber Sie wissen wahrscheinlich selber, wie Pferde mit ihrer Heimat verwachsen sind. Sie können ihn zweihundert Meilen weit bringen, und er würde wahrscheinlich sofort umkehren und den Weg in seine alte Heimat suchen. Ich kann einfach nicht …« »Entschuldige, Sandy«, unterbrach Belden sie, »aber sagtest du nicht eben etwas von Kaffee?« Tia Josefa, die rundliche Tante José Maria Luceros und Mutter seines Cousins Agapito, hatte Kaffee und Tortillas bereit. Sie strahlte, als Salty Kinkaid ihre Kochkunst in passablem Spanisch rühmte und ließ sich sogar herbei, ihm mütterlich die Schulter zu klopfen. »Gracias, Señor! Sie schmeicheln den Frauen wie mein Sohn Agapito, der leider nicht gut ist für anderes.« »So sind wir eben.« Salty zwinkerte ihr kameradschaftlich zu. »Zucker auf der Zunge, aber keinen Mumm in den Knochen. Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen, Miß 249
Halloran, dann möchte ich einen kleinen Rundgang durch die Ranch machen und mir die Umgebung ansehen. Wenn die mir genau so gut gefällt wie das, was ich schon gesehen habe, werde ich in ein paar Tagen wieder vorsprechen. Vielleicht mit einer Satteltasche voll Kleingeld. Einstweilen wünsche ich Ihnen beiden noch einen schönen Nachmittag.« »Bitte, mach dir doch keine Sorgen wegen dieses Pferdes«, sagte Belden, nachdem Kinkaid gegangen war. »Der Mann kann mir nichts vormachen, Sandy. Er hält sich zurück, weil er auf einen günstigeren Preis hofft, aber er will kaufen, das ist sonnenklar. Eine Kleinigkeit wie das Gnadenbrot für ein altes Pferd, das ohnedies nicht mehr lange leben wird, spielt dabei kaum eine Rolle bei Kinkaid.« Die Hand, die über den Tisch langte, war weiß und gepflegt, aber der Druck, mit dem sie Sandys kleine gebräunte Faust umschloß, war kräftig und fest. Vielleicht ein wenig zu fest. »Das ohnedies nicht mehr lang leben wird.« So etwas war leicht hingesagt, wenn es um ein alterndes, dummes Tier ging. Und doch schien es Sandy jetzt, als bestünde ihr ganzes Leben aus Erinnerungen, die fest mit diesem Pferd verknüpft waren, das sie nie im Stich gelassen hatte, was immer sie von ihm verlangt hatte. »… dachte, du würdest mit mir in die Stadt fahren und das Wochenende bei uns verbringen«, sagte Belden gerade in ihre Gedanken hinein. »Mutter will dir zeigen, wie sie die Möbel umgestellt hat. Und dann möchte sie dich mit einigen Nachbarn bekannt machen.« »Ich würde es gern tun – wirklich, Charles.« Sandy wunderte sich, daß ihre Stimme so ernst klang. »Aber wir 250
haben noch Kälber zu zeichnen und müssen sie mit den Muttertieren auf die Weide an den Ojitos treiben. Es tut mir leid, aber es geht nicht.« »Schon gut. Bald wirst du dich nicht mehr um Kälber und Kühe kümmern müssen, Sandy. Nun, ich habe noch in der Stadt zu tun. Wenn Kinkaid zurückkommt, kannst du den Verkauf perfekt machen, falls er keine Einwände erhebt. Rührt er sich nicht, brauchst du mir nur Bescheid zu geben, und ich klemme mich noch einmal dahinter. Wie ich hörte, hat er sich bei Tipton einquartiert. Und nun – wie wäre es mit einem Abschiedskuß?« Sandy stand mit ihm auf und hob ihr Gesicht zu ihm hoch. Seine Hände umfaßten leicht ihre Schultern, während er sich hinunterbeugte und sie auf die Lippen küßte. Fünf Minuten später stand Sandy auf der Schwelle und winkte dem rot und schwarz lackierten Einspänner nach. Als er verschwunden war, ging sie Kiote satteln. Es wurde Zeit, daß sie die Kühe und ihre Jungtiere zusammentrieben. Sie wunderte sich kaum, als ein großer, dunkelhaariger Cowboy auf einem langbeinigen Rappen von der Sabinosa Mesa heruntergeritten kam, sich zu ihr gesellte und ohne viel Umstände seine Hilfe anbot. Keiner der beiden erwähnte den Kauf oder Verkauf der Ranch. Salty Kinkaid beschränkte sich darauf, Teile irgendeines kleines Liedes vor sich hin zu summen und zu singen: »Das Leben des Cowboys, so glücklich und frei; keine Zäune, keine Frauen, kein Kindergeschrei.« Mehrmals kitzelte er seinen Rappen mit der Reitpeitsche und lachte, wenn das Pferd ein paar Bocksprünge machte. Reiter und Pferd schienen an diesen dummen Spaßen gleichermaßen Gefallen zu finden. Hier 251
zieht jemand eine große Schau ab, dachte Sandy verächtlich, bis ihr einfiel, daß ihr Vater seinerzeit ähnlichen Scherzen nicht abgeneigt gewesen war. Es dämmerte bereits, als Kinkaid das Gattertor hinter einigen Dutzend Kühen und Kälbern schloß. Bevor Sandy danken oder überlegen konnte, ob eine Einladung zum Abendessen angebracht sei, stieg er in den Sattel, tippte lässig an die Hutkrempe, sagte: »Auf Wiedersehen, schönes Kind«, und trabte davon. »Caramba!« murmelte Sandy. Sie wußte selbst nicht, was sie mit dieser Anleihe bei Ignacio und José Maria ausdrücken wollte. »Caramba!« sagte Ignacio Cabezon. »Wenn du verletzen dieses Pferd, la Patrona dich erschießen mit Schrotflinte!« »Das bezweifle ich nicht«, sagte Salty Kinkaid. »Aber ich werde ihm nicht weh tun. Ich will nur etwas an seinen Zähnen arbeiten. Hier, du kannst mir helfen, dieses Spekulum in sein Maul zu bringen.« Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und Sandy Halloran schlief entweder, oder sie hatte von den Vorgängen am Corral nichts bemerkt. Vielleicht hätte sie die Zahnbehandlung ihres geliebten Pferdes mißbilligt, vielleicht auch nicht. Immerhin schien dieser Mann zu wissen, was er vorhatte. Ignacio überwand sein Mißtrauen und beschloß, zu helfen. José Maria verhielt sich abwartend. Sie hatten keine Mühe, die mit dem Spiegel verbundene Sperrvorrichtung zwischen Kiotes Kiefer zu schieben, aber als Salty Kinkaid ihm plötzlich das Maul weit öffnete und die Sperrklinke einrasten ließ, empfand dies der alte Wal252
lach als Verletzung seiner Würde und begann bockig zu werden. Die Männer waren zu beschäftigt, ihn festzuhalten, um Sandy Hallorans eilige Ankunft zu bemerken. »He da!« rief sie aufgebracht. »Was macht ihr da mit meinem Pferd?« »Señor Kinkaid reparieren Zähne«, sagte Ignacio. »Wir sperren auf sein Maul mit Spekulum«, erläuterte José Maria. »Da sehen selbst. Schön nicht?« »Ich glaube, er würde ruhiger stehen, wenn Sie einen Arm um seinen Hals legen würden, schönes Kind«, sagte Kinkaid, ohne sich nach ihr umzusehen. »Jedenfalls würde ich es tun, wenn es mein Pferd wäre.« Kiote beruhigte sich etwas, als er Sandys Nähe und ihre besänftigende Hand fühlte, aber er rollte immer noch aufgeregt mit den Augen. »Hoffentlich wissen Sie, was Sie da tun«, sagte Sandy erregt. »Ich habe immer versucht, das zu einer meiner besten schlechten Angewohnheiten zu machen, Miß Halloran.« Er fuhr mit dem Zeigefinger vorsichtig über Kiotes Backenzähne. »Viele alte Pferde sterben nicht am Alter, schönes Kind«, erklärte er dazu. »Sie sterben an schlechten Zähnen. Manche sind zu lang, manche zu abgenutzt. Wenn wir diesem alten Herrn die Zähne auf eine gleichmäßige Höhe abfeilen, kann er besser kauen und wird ewig leben. Oder jedenfalls, bis er grau und wacklig wird. Gib mir die Feile, Ignacio. Dann nimm seine Zunge und halt sie auf die Seite.« Ignacio reichte ihm die Feile, dann aber zögerte er. »Carajo! Wenn Ding loskommen, er mir beißen Hand ab!« 253
»Dann mußt du dich eben daran gewöhnen, dich mit einer Hand zu kratzen, Primo«, antwortete Kinkaid trocken. »Aber wenn du Angst hast …« »Ich mache es, Ignacio«, sagte Sandy. »No, no, Patroncita!« Ignacio und José Maria fielen ihr in den Arm, wobei José Maria den kurzen Kampf um die Ehre gewann, seine Hand in das Maul des Pferdes stecken zu dürfen. »Ich glaube, diese Primos mögen Sie recht gern«, sagte Salty grinsend, dann machte er sich mit der langen Feile ans Werk. Sie hatten alle Hände voll zu tun, bis die Arbeit getan war, und als Kinkaid das Spekulum herausnahm und das Pferd sein Maul schließen konnte, waren sie alle vier völlig verschwitzt. »Eine rauhe Behandlung, alter Junge.« Kinkaid fuhr durch Kiotes Mähne und klopfte ihm den Hals. »Aber es wird dir gefallen, wie gut du jetzt wieder den Hafer zermahlen kannst.« »Sie mögen Pferde, nicht wahr?« sagte Sandy. »Auch alte.« »Pferde und Frauen, Madam. Aber das will nicht heißen, daß ich die Absicht habe, dieses Pferd hier in Pension zu nehmen, wenn ich Ihre Ranch kaufe.« »Dann verkaufe ich nicht!« »Das haben Sie schon einmal erwähnt. Wie ich die Dinge jetzt sehe, würde ich den Betrieb kaufen, selbst wenn ich diese beiden Schlauberger behalten muß. Aber das Pferd behalten Sie.« »Mr. Kinkaid, ich habe Ihnen schon gesagt …« »Ich weiß, ich weiß, schönes Kind. Nun, wann immer 254
Sie Ihre Dickköpfigkeit überwinden und Ihre süße Meinung ändern, lassen Sie es mich wissen.« Sandy richtete sich auf. »Mr. Kinkaid, ich danke Ihnen, daß Sie Kiotes Zähne behandelt haben. Sie können zum Frühstück mit hereinkommen, wenn Sie wollen.« »Dagegen gibt es nichts einzuwenden. Ich möchte doch gern einmal sehen, ob Tia Josefa kitzlig ist. Die meisten dicken Frauen sind es.« Es stellte sich heraus, daß auch Tia Josefa darin keine Ausnahme bildete. Und sie nahm es ihm kein bißchen übel. Genau so verhielt sich der alte Kiote, als Salty ihn mit einem Wollkrautstengel kitzelte. Das war ein paar Tage später, als sie die Kühe mit ihren frisch gebrandmarkten Kälbern zur Weide an den Ojitos trieben. Mit Salty Kinkaids Hilfe war die Arbeit schneller vonstatten gegangen, als Sandy es erwartet hatte. Kiote schien sich bereits besser zu fühlen. Er zeigte übermütige Bewegungen und legte aus lauter Mutwillen sogar einen kurzen Galopp ein, der Sandy an seine besten Tage erinnerte. Salty Kinkaid konnte es nicht lassen, den alten Wallach auf diese oder jene Weise zu sticheln und zu kitzeln, und Kiote schien es zu gefallen. »Sie platzen vor verrückten Einfällen, wie mir scheint«, tadelte sie ihn. »Verrückte Einfälle gehören zu meinen vielen schlechten Eigenschaften, Miß Halloran«, versicherte Salty Kinkaid mit einem galanten Lüften seines Schlapphutes. »Sie werden sich mit der Zeit daran gewöhnen. Oh, das Leben des Cowboys, so glücklich und frei …« »La vida del vaquero«, echote José Maria Lucero, »caramba, que pasa? No tiene mujer, ni ninos en casa!« 255
Die Junisonne zeichnete auf die glatten roten Rücken der Rinder die tanzenden Schatten des Laubgesprenkels silbriger Birken, das Junigras stand grün und hoch, und die Hänge der locker bewaldeten Hügel waren mit Vogelgezwitscher erfüllt. So war es gewesen, bevor Mike Halloran gestorben war. Sandy fühlte, wie etwas von der fröhlichen, unbeschwerten Stimmung jener Jahre zurückkehrte. Salty beugte sich aus dem Sattel, pflückte einen kleinen Blütenzweig von einem Strauch, ritt an Sandys Seite und steckte ihn in ihr Hutband. »Auf Ihr Glück!« sagte er lächelnd, und sie fragte sich, was er wohl darunter verstehen mochte. An einer kleinen, im Weidengebüsch versteckten Quelle stiegen sie ab, um die Pferde zur Tränke zu führen. Plötzlich fühlte Sandy, daß Kinkaid beunruhigend nahe bei ihr stand. In einer Art Panik, die ihr Herzklopfen verursachte, lief sie um ihr Pferd herum und stellte sich auf die andere Seite. »Je nun!« sagte der Mann mit jener schwachen Andeutung eines Grinsens, dessen Sinn sie nicht verstand. »Sie sind doch nicht etwa nervös, Miß Halloran?« Bei der Weide an den Ojitos angelangt, machte Salty Kinkaid plötzlich vor dem Gattertor halt und sagte fröhlich: »Wenn die Früchte reif sind, sehen wir uns wieder, schönes Kind«, und trabte davon. Am nächsten Tag half er Ignacio und José beim Reparieren eines Weidezauns auf der Sabinosa Mesa, mehrere Meilen vom Ranchhaus entfernt. »Sag deiner Patrona«, instruierte er Ignacio am Abend, »daß ich immer noch auf ihr Rauchsignal warte.«
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Am gleichen Tag gelang es Sandy Halloran mit Charles Beldens indirekter Hilfe, ihr Problem durch eine Entscheidung zu lösen, die ihr allerdings Gewissensbisse verursachte. Gegen Mittag erschien der fünfzehnjährige Gene Milligan, der Sohn eines Siedlers aus der Umgebung, mit einer Mitteilung. Sie war von Charles Belden und besagte, daß Mr. Milligan, der Vater des Jungen, eingewilligt habe, den alten Kiote bis an sein Lebensende zu füttern und zu pflegen, um seinem Sohn auf diese Weise zu einem Reittier zu verhelfen. Charles Belden hoffte, daß sie diese Lösung des Pferdeproblems für annehmbar halten werde. Außerdem beabsichtige er am Sonntagnachmittag hinauszufahren und wäre ihr dankbar, wenn sie Kinkaids Anwesenheit arrangieren könne, damit man den Verkauf der Ranch endlich zu einem Abschluß brächte. »Ich würde mich über das Pferd wirklich freuen, Miß Sandy«, sagte der Junge treuherzig. »Wir haben viel Hafer und gute Weide. Ich würde ihn vorsichtig reiten und gut behandeln.« Sandy kannte die Milligans gut. Es waren nette Leute, ehrlich und anständig. »Sie könnten jederzeit herauskommen und ihn reiten, Miß Sandy.« Sandy stieß einen tiefen Seufzer aus und steckte die Notiz ein. »Gut, Gene«, sagte sie endlich. »Du kannst Kiote mitnehmen. Du bist ein guter Junge, und ich glaube dir, daß du ihn gut behandeln wirst.« Sie lag noch wach, als gegen Mitternacht zu ihrem Erstaunen leise Gitarrenklänge durch das offene Fenster he257
reinwehten. Dann erklang eine Männerstimme dazu, nicht laut und johlend, wie sie es schon oft gehört hatte, sondern zart und weich wie das Mondlicht im Juni. Sie schloß die Augen, bis das alte mexikanische Liebeslied verklungen war, dann schlüpfte sie in ihren Morgenmantel und trat an das Fenster. »Salty?« Ihre Stimme zitterte komisch. »Salty, Sie sollten wirklich nicht …« Aber der Mann, der ihr das Ständchen gebracht hatte, ritt bereits fort, und eine Minute später verflossen seine Umrisse im Mondlicht mit den hell schimmernden Konturen der Büsche am Bachufer. Früh am Sonntagmorgen benachrichtigte sie Kinkaid durch Ignacio und José Maria, daß er am selben Tag gegen ein Uhr kommen möge, wenn er immer noch interessiert sei, die Ranch zu kaufen. »Señor Kinkaid sagen, er kommen«, meldete Ignacio einige Stunden später »Pardon, Patroncita, aber du traurig aussehen. Muy triste. Ich denken …« »Ich glaube, ihr werdet euch gut mit Mr. Kinkaid verstehen«, unterbrach ihn Sandy mit einem schwachen Lächeln. »Selbst wenn er euch arbeiten läßt.« »Si, Patroncita«, sagte Ignacio betrübt. »Einmal mein Cousin Agapito auch wollen verkaufen sein Rancho«, schaltete sich José ein. »Aber er wollen Frau mitverkaufen und sie niemand nehmen.« Kinkaid kam noch vor Charles Belden über den Hof geritten. Statt ins Haus zu gehen, gesellte er sich bei der zerschnitzten Bank unter den Pappeln zu Ignacio und José Maria. 258
Es dauerte nicht lange, und Sandy kam aus dem Haus zu ihnen herüber. In ihrem geblümten Baumwollkleid sah sie jünger und zarter aus als sonst. Salty Kinkaid schnalzte vernehmlich und stand auf, den Hut in der Hand. »Schöner als je zuvor«, begrüßte er sie. »Ich habe gehört, was mit dem alten Kiote geschehen ist. Die Leute werden ihm ein gutes Heim geben. Haben Sie noch immer die Absicht, zu verkaufen, Madame?« »Es gibt kein Hindernis mehr, Mr. Kinkaid«, sagte Sandy. Dann ließ sie die Maske ihrer Zurückhaltung fallen. »Salty, ich – ich muß! Mike Hallorans Tochter hält ihre Versprechen! Das heißt, wenn Sie …« »Ich habe mich längst entschieden, Miß Halloran. Ich versuche es mir zur Gewohnheit zu machen, meine Zusagen einzuhalten.« »Sieh mal, wer da nun kommen!« rief Ignacio aufgeregt und sprang unvermittelt auf. »El viejo Coyote!« echote José verdutzt. Sandy stand mit einem leisen Schreckensschrei auf und lief zum Gatter. Der Braune wieherte leise und liebkoste sie mit der Schnauze, als sie ihm Mähne und Hals streichelte und durch das Tor führte. Der alte Kiote hinkte erbärmlich, und aus einer langen Wunde an der Innenseite seines linken Schenkels rann das Blut in dunklen Streifen das Bein hinunter. Salty sprach aus, was sie alle sofort begriffen hatten. »Der arme Kerl«, sagte er, »ist über einen Stacheldrahtzaun gesprungen, um nach Hause zu kommen – und es ist meine verdammte Schuld.« »Du wirst gesund werden, mein Alter«, murmelte Sandy, 259
die ihre Wange an den staubigen Hals des Pferdes preßte. »Hauptsache, du bist wieder daheim.« Salty öffnete dem Tier das Maul und warf einen kurzen Blick auf die Zunge. »Sieht ein bißchen weiß aus. Er hat ordentlich geblutet, aber nicht zu sehr nehme ich an. Hoffentlich sind Sehnen und Gelenke nicht verletzt.« Er bückte sich und untersuchte die Verletzung. »Es sieht nicht danach aus. Bringen wir ihn in den Schatten, Sandy. Holen Sie eine große Schüssel mit warmem Wasser. Und auch Seife, wenn Sie keine Karbolsäure oder ein anderes Desinfektionsmittel haben.« Einige Minuten später kamen Sandy und Tia Josefa aus dem Haus und schleppten einen Wassereimer, eine Schüssel, saubere Lappen und eine Flasche Karbolsäure herbei. Ignacio stand am Kopf des Pferdes, José Maria hielt das verletzte Bein. Sandy sprach beruhigend auf das Tier ein, während sie und Salty die Schnittwunde sorgfältig mit dem Desinfektionsmittel betupften. Der alte Kiote bewegte seine Ohren, wandte fragend den Kopf und zuckte einige Male zusammen, aber er bewegte sich nicht von der Stelle. »Er wird keine Blutvergiftung bekommen.« Kinkaid stand auf, reckte sich und setzte seinen Hut auf. »Ich werde einmal zu Tipton hinüberreiten und sehen, was für Medizin er hat.« Er saß auf und war schon am Gatter, als ihn Sandy zurückrief. »Salty«, sagte sie ernst, »Sie wissen, was das bedeutet. Ich – ich kann jetzt nicht verkaufen und fortgehen, wo Kiote so verletzt ist. Es klingt lächerlich, ich weiß, aber …« 260
»Ich habe auch schon das eine oder andere Pferd gern gehabt, Sandy.« Kinkaid stieg ab und musterte sie abwägend. »Ich habe einen neuen Vorschlag zu machen, schönes Kind: eine Lebensgemeinschaft auf der Ranch. Dann könnten wir das Pferd behalten – zusammen!« Mrs. Sandy Kinkaid, Frau eines Ranchers … Irgendwie klang es jetzt soviel verlockender als Mrs. Charles Belden, daß es Sandy Hallorans einen Augenblick schwindelte. »Aber ich habe Charles versprochen … wir sind verlobt …« »Hör zu, Sandy, mein Kind. Von dem Augenblick an, als ich dein süßes kleines Gesicht zum ersten Mal sah, wünschte ich mir die Besitzerin mehr als die Ranch. Ich dachte mir, wenn ich den Verkauf lange genug hinauszögerte, könnte ich dich vielleicht dazu bringen, daß du deine Meinung änderst und …« »Ich weiß«, unterbrach sie ihn. »Und ich glaube, ich habe nicht sehr energisch versucht, dich abzuwehren. Aber Charles muß jeden Augenblick kommen, und er erwartet …« »Wenn er dich liebte wie ich es tue, wäre er jeden Nachmittag hierher gekommen und würde sich heute nicht verspäten. Rechtsanwälte sind in Ordnung, aber du bist das Ranchleben gewöhnt. Sicher, ich weiß, daß du dich ein bißchen zieren mußt, mein schönes Kind, aber jetzt …« Mit einem Seufzer, der alles andere als unglücklich klang, gab Sandy Halloran es auf, sich zu zieren. Eine Staubwolke auf der Landstraße enthüllte beim Näherkommen einen kleinen Einspänner, der von Charles Belden gelenkt wurde. 261
»Mein Gott!« sagte Sandy ängstlich. »Wie soll ich es ihm bloß klarmachen?« »Caramba!« rief Ignacio und rannte zu seinem Pferd. »Wir das machen, Patrona!« Er und José Maria rasten in einer Staubwolke los, den Anwalt abzufangen. Sandys Protestruf verhallte ungehört. Einige Minuten später konnte Sandy sehen, wie der kleine Wagen umdrehte und in die Richtung zurückfuhr, aus der er gekommen war. Die beiden Vaqueros kamen peitschenknallend und Hüte schwenkend herangaloppiert und wirbelten ihre Pferde in einem halsbrecherischen Manöver herum, bis sie bei dem Mädchen hielten, das ungeniert vor dem großen Cowboy stand und sich von seinen sehnigen Armen umfangen ließ. »Wir sagen Señor Belden gleich wie kleiner Junge sagen zu Chango: ›Du Affe zu lange weg, jemand deinen Zucker gestohlen.‹ Er sagen in diesen Fall einfach, halten Sache für erledigt und viele Grüße.« »Einmal ein Friedensrichter auch sagen ›Sache erledigt‹ zu mein Cousin Agapito«, bemerkte José Maria Lucero. »Aber nicht viel helfen – seine Frau ihn sperren ein trotzdem!«
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Obwohl ruhig und von sanfter Wesensart, ist Will C. Brown Texaner. Er lebt jetzt in Kalifornien und ist innerhalb der Schriftstellervereinigung »Western Writers of America« Vorsitzender mehrerer Ausschüsse. Im Jahre 1960 erhielt er für seinen Roman »The Nameless Breed« den Preis für die beste Western-Erzählung.
Will C. Brown
Der Trail Es verhielt sich so, daß der Schöpfer einen Granitbrocken in Menschengestalt formte, ihn mit einem gußeisernen Gehirn ausstattete und das Ganze mit reichlich rostigem Stacheldraht versah. Dem Resultat wurde Leben eingehaucht, es wurde Gobi Danner genannt und in Nordosttexas auf die Erde gesetzt, um auf der Circle7 Vormann zu werden. Danner sah wie ein sechs Fuß großer Gigant von einem Mann aus, aber jeder Reiter seiner Mannschaft wußte, daß er in Wirklichkeit ein Stück Roheisen auf Beinen war und daß es aussichtsreicher war, einem Bisonbullen das Spitzenklöppeln beizubringen als Gobi von irgend etwas zu überzeugen. Aber der Schöpfer wußte auch, wie man für Extreme eine Kompensation schafft. Zum Beispiel, wie auf einen März voller Schneestürme und Graupelschauer ein April mit Sonne, Kornblumen und Vogelgezwitscher folgt. Oder wie eines Tages, als die Männer der Circle7 es gründlich leid waren, einander in die häßlichen Gesichter zu schauen, Mr. Johnsons neunzehn263
jährige Nichte daherkam, hübscher als alle Kornblumen der Welt und bei weitem handfester. Sie kam, um auf der Ranch zu leben, und sie erhellte die graue Eintönigkeit des Alltags wie tausend neu installierte Lampen. Unter den Männern brach eine Epidemie hinsichtlich Haarschneiden, Rasieren und Lächeln aus, wie man sie in der Gegend weder vorher noch nachher jemals beobachtet hatte. Aber die Natur lieferte noch ein weiteres Beispiel für ihre ausgleichende Macht. Nachdem Gobi Danner die Erde ungefähr fünfundvierzig Jahre lang heimgesucht hatte, schmolz die ganze gußeiserne Fassung dieses Mannes an einem Abend dahin, und dazu war nicht mehr nötig als ein nebliger Nieselregen und ein stupsnasiger kleiner Cowboy mit Sommersprossen und strähnigem, rotem Haar, der Jimmy McDougal hieß. Mary Ellis, Mr. Johnsons Nichte, hielt bereits die ganze Crew von zwölf Mann in ihrer kleinen braunen Hand, als Jimmy McDougal kam. Sie hatte jedem einzelnen dieser verwitterten Viehtreiber fröhlich versichert, daß sie gerade ihn besonders bewundere und daß er der hübscheste Bursche sei, den sie je außerhalb des Herrenkleiderteils in einem Versandhauskatalog gesehen habe. Weil alle zwölf alt, von der Zeit mitgenommen, säbelbeinig und in ihrer Gegenwart wenig gesprächig waren, wußten sie natürlich, daß alle diese Bekundungen von Marys Seite reines Mitleid waren. Aber es machte ihr Leben freundlicher und ließ Musik durch ihre alten, harten Arterien perlen. Und nicht zuletzt erleichterte es ihnen die Hinnahme nichtendenwollender Befehle von Gobi Danner. Gobi gehörte zu jener Sorte von Männern, die von der Idee 264
besessen sind, immer recht zu haben. Aber als Jimmy McDougal kurz vor dem ersten Herdentrieb nach Kansas in die Mannschaft eintrat, war das Verhältnis zwischen ihm und Mary Ellis vom ersten Tag an ganz anders. Während sie mit den Alten lachte und prahlte und sie glauben machte, der Himmel hinge voller Geigen, war sie in Jimmys Gegenwart scheu und verlegen, und ihm erging es nicht anders. Er war ein lustiger und gutmütiger kleiner Ire, voll Energie wie ein Mustang und nur wenige Jahre älter als Mary. Der Junge war bald verliebt, und Mary auch, was jedermann leicht sehen konnte. An den Abenden saß er auf den Stufen vor dem großen Herrenhaus der Ranch herum und entlockte seiner Mundharmonika weich quäkende Liebeslieder, während Mary fünf Meter von ihm entfernt saß und zu den Sternen aufblickte. Die alten Reiter mochten Jimmy. Er war ein guter Arbeiter, und sie hatten gerade in dieser Zeit alle Hände voll zu tun, um die große Herde zu brandmarken und für den Treck zu sammeln. Außerdem war es für die Alten interessant, zu sehen, wie sich sozusagen unter ihren Nasen eine Liebesaffäre anbahnte. Sie selbst hatten zu viele Jahre vergehen und zu viele Krähenfüße anstehen lassen, um noch von eigenen Romanzen zu träumen, und so begnügten sie sich mit einer Art Vergnügen aus zweiter Hand, indem sie schmunzelnd die seltsamen Wege der Liebenden beobachteten. Alle bis auf den eisenschädligen Danner. Nach einer Woche Mondlichtidylle und schmelzender Mundharmonikaklänge teilte der Vormann Jimmy für die Nachtschicht ein und unterbrach die unerwünschte Gefühlsduselei. Und 265
auch sonst nahm er den Jungen heran, als hätte Jimmy doppelt soviel Arme und Beine. Zu allem Überfluß mußte Jimmy eine Menge gutmütiger Neckerei über sich ergehen lassen. »Danner hat gesagt«, erklärte Dude Hawley, »daß du in deiner Freizeit das Windrad entlasten und das Wasser mit der Hand pumpen sollst.« »Nein«, fiel Lige Osborn ein. »Er will, daß du auf dem Treck nach Norden jede Nacht Mundharmonika spielst, damit das Vieh so hingerissen wird, daß es gar nicht ans Durchgehen denkt.« »Darüber ließe sich schon eher reden«, sagte Jimmy grinsend. »Danner fürchtet, daß du unterwegs zuviel an Weiberröcke denkst und plötzlich krank wirst und umkehren mußt«, sagte Dude. »Und wer soll uns nach Kansas fahren, wenn du es nicht tust?« »Das tue ich schon, verlaß dich darauf«, erklärte Jimmy. »Ich habe die Karte im Kopf. Wenn Danner bloß auf mich hört …« Dude und die anderen hatten ihre Zweifel, was das betraf. Wenn jemand so vorwitzig wurde, einen Vorschlag zu machen, war Danners Lieblingsredensart: »Wenn ich etwas wissen will, werde ich dich fragen.« Er kannte sich mit Vieh aus, und das war der Grund, warum Mr. Johnson ihn als Vormann behielt. Aber weder Danner noch einer der anderen kannte die Routen nach Norden. Daß man Viehherden durch das Indianerland nach Kansas trieb, war in jenen Tagen noch ungewöhnlich. Und darum, das wußten sie alle, hatte Johnson Jimmy McDougal eingestellt. Der 266
Junge kannte die Strecke, weil er mit der ersten Herde nach Kansas geritten war, und später noch einmal. Man erwartete von ihm, daß er die besten Übergänge, den kürzesten Weg und alle gefährlichen Hindernisse wie Schluchten, Buschland und Alkaliwasser kannte. So kam endlich der große Tag, als zweitausend Circle7 Langhornrinder, ein Küchenwagen, vierzehn Männer und eine Pferdeherde von fünfzig Stück nach Norden aufbrachen. Die meisten Männer hatten ihre Reisesäcke bereits im Wagen verstaut, bevor sie die Ranch verlassen hatten, aber Jimmy und noch ein paar Leute waren bei der Herde gewesen. Jimmy ging zu Gobi Danner und sagte: »Ich möchte zur Ranch reiten und meine Sachen holen.« Danner schüttelte seinen kantigen Schädel. »Lige und Ace reiten hin. Sie können mitbringen, was du brauchst.« Die Anwesenden schworen später, Jimmys Gesicht sei bei diesen Worten mindestens drei Fuß lang geworden. Sie wußten, daß er sich nicht um seinen Reisesack kümmern wollte. Es war seine letzte Chance, sich von Mary Ellis zu verabschieden. Da erbarmte sich Stinky Petrow seiner und sagte: »Zum Teufel, ich übernehme heute nacht seine Wache, Danner.« Danner warf Petrow einen grimmigen Blick zu, und sie alle wußten,, was er jetzt sagen würde. »Wenn ich etwas wissen will, Stinky«, grollte er, »werde ich dich fragen.« Aber er sagte nichts weiter, und Jimmy machte sich mit Lige und Act auf den Weg. Er verschwand, während die anderen noch im Mannschaftsquartier herumwühlten. Die Nacht war schon angebrochen, die Prärie lag still und dun267
kel da und nur gelegentlich trug die Nachtbrise leises Brüllen von der fernen Herde herüber. Vor dem großen Haus sang eine Mundharmonika mit klagenden Tönen den Mond an, und Lige und Ace hielten inne und glaubten den traurigen Schlag der beiden jungen Herzen zu hören, die nun bis August voneinander getrennt bleiben mußten. Sie verzögerten die Rückkehr zur Herde so lange wie möglich, aber gerade als Lige sagte: »Komm, Ace, gehen wir hin, damit er sich losreißen kann«, hörten sie ein Pferd über den Vorplatz galoppieren. Kurz darauf unterbrach Danners rauhe Stimme den stillen Abschied der Liebenden. Möglich, Danner hatte von Anfang an den Gedanken unerträglich gefunden, daß eine junge Rotznase wie dieser sommersprossige irische Junge die Route durch das Territorium festlegen sollte. Vielleicht war er aber auch nur grundsätzlich gegen Liebesromanzen eingestellt. Ace Jones hatte sich schon einmal zu der Behauptung verstiegen, Danner sei früher einmal von Amors Pfeil getroffen worden, und die Wunde schmerze ihn noch immer, was ihn gegen die ganze Welt aufbringe. Gobi Danner wählte seine Worte sorgfältig, denn Mr. Johnsons Nichte war da, aber das Grollen in seiner Stimme war unheilverkündend genug, um Jimmy augenblicklich auf die Beine zu bringen. »Tut mir leid, daß ich störe, McDougal, aber du mußt zur Herde reiten. Das Vieh ist ein wenig unruhig, und ich möchte die Wachen verstärken.« Es waren genug Reiter im Lager, um die Herde zu bewachen, und wenn das Vieh durchgehen wollte, konnten es auch keine tausend Mann halten. Jimmy und Gobi Danner 268
wußten es beide. Doch Jimmy sagte nur: »Schon gut, Boß«, und wandte sich zu dem Mädchen, das auf den Stufen im Mondlicht stand. »Leb wohl, Mary. Ich werde dir von unterwegs einen Brief schreiben. Wenn uns Reiter entgegenkommen, können sie ihn mitnehmen.« »Leb wohl, Jimmy«, sagte sie mit stockender Stimme. »Und sei vorsichtig.« Sie streckte beide Hände aus, und er hielt sie für einen Augenblick fest in den seinen. Danner drängte sein Pferd ungeduldig vor und zurück, aber zuletzt brachte er doch noch die Höflichkeit auf, an seinen Hut zu tippen und zu sagen: »Well, so long, Miß Ellis.« Dann, als wollte er nicht erst den Eindruck aufkommen lassen, er sei weich, knurrte er Jimmy an: »Du solltest lieber zum Bach reiten, McDougal, diese vier Pferde suchen, die wir dort unten gelassen haben und sie zum Lager bringen. Ich habe beschlossen, sie mitzunehmen.« »Ich dachte, du wolltest, daß ich zur Herde reite.« »Überlaß das Denken mir«, gab Danner zurück. »Wenn ich deinen Rat brauche, werde ich danach fragen.« Jimmy verbrachte den Rest der Nacht damit, die halbwilden Pferde auf der dunklen Weide und in den Buschstreifen am Bachufer aufzuspüren, sie einzufangen und endlich zum Feldlager zu bringen. Aber vielleicht wäre Danner weniger beunruhigt gewesen, Jimmy einen so schwierigen Auftrag angehängt zu haben, wenn er gewußt hätte, was Lige Osborne tat. Denn als Jimmy in der ersten Dämmerung mit den Pferden ins Lager kam, war Lige bei der Pferdeherde. Er kratz269
te sich den Schädel und betrachtete den jungen Mann aus den Augenwinkeln. »Das muß ein verdammter Job gewesen sein, diese vier Coyoten im Dunkeln einzufangen.« Jimmy grinste, und eine leichte Röte stieg in seine Wangen. »Es war nicht so schlimm, Lige. Ich hatte ein bißchen Hilfe …« Einen Monat später überquerte die Herde der Circle7 den Red River und zog langsam nordwärts durch die gewaltige leere Weite des Indianerterritoriums; eine meilenlange Kette nickender Hörner und rostbrauner Tierleiber, begleitet von vierzehn abgerissenen und bärtigen Reitern. Hinter ihnen lagen Schwierigkeiten, wie sie jede Crew bedrängen und zermürben können – eine wilde Stampede über zwanzig Meilen, zwei kleinere, aber auch recht heftige, unzählige Flußübergänge, wasserlose Tage in erstickendem Staub und glühender Hitze und dann wieder tagelange Regenstürme, die ihnen keinen trockenen Faden am Leib ließen. Trotz allem blieb Gobi Danner dickschädelig und selbst in kleinen Dingen unnachgiebig. Immerhin mußten die Männer zugeben, daß er die Herde in Bewegung hielt und seine Mannschaft gut verpflegte. Aber es wurde immer deutlicher, daß es ihn als einen autoritätsbesessenen Mann, von Tag zu Tag mehr wurmte, sich die Route von dem jungen Jimmy McDougal vorschreiben lassen zu müssen. Er schikanierte den jungen McDougal mit der Anweisung entsprechender Arbeiten, meistens aber durch den Ton seiner Worte und durch seine schroffen Antworten. Und nach einer besonders hitzigen Debatte, ob sie rechts oder links an einem entfernten Bergkegel vorbeiziehen sollten, braute 270
sich zwischen den beiden ein Unwetter zusammen. Die Männer waren inzwischen in gänzlich unbekanntes Land vorgestoßen, und McDougal legte jeden Morgen den Kurs fest, der sich zwischen Wasserläufen, Hügeln, Erosionsschluchten und Buschsteppen dahinschlängelte. Sie alle hingen von der Landkarte ab, die er im Kopf hatte. Jimmys sonst so fröhlicher und unbeschwerter Gesichtsausdruck begann verkniffen und bitter zu werden. Manchmal war er drauf und dran, den Job hinzuwerfen, weil es bei jeder Entscheidung zu einer Auseinandersetzung mit Danner kam. Seine sorglose Art verwandelte sich in eine hartnäckig-irische Haltung, und es gab keinen Zweifel mehr, daß es bald zu einem großen Zusammenstoß zwischen beiden kommen mußte. Als das Unwetter sich schließlich in einer Explosion entlud, traf sie keinen unvorbereitet. Sie waren zwei Tagereisen nördlich vom Red River. Jimmy saß mit dem Rücken an einer Eiche, gerade außerhalb des Lichtscheins, den das Lagerfeuer verbreitete. Die Wachen waren ausgeritten, um zwei Stunden lang ihre Kreise um die schlafende Herde zu ziehen, und die übrigen Männer hatten es sich um das Feuer bequem gemacht. Jimmy spielte auf seiner Mundharmonika, die müden Reiter dösten und hörten mit halbem Ohr auf die wehmütigen Klänge, und sie alle wußten, wo Jimmys Gedanken waren. Danner kam von der Herde zurück. Er stieg ab und ging auf Jimmy zu. Die Männer fühlten, daß etwas in der Luft lag, und richteten sich auf. Die Musik brach ab. »McDougal, ich möchte gern wissen, wohin zum Teufel du uns auf diesem Treck zu führen gedenkst!« 271
Jimmy wischte die Mundharmonika an seinem Hemd ab, ließ sie in die Tasche gleiten und stand auf. Er mußte den Kopf in den Nacken legen, wenn er seinem Boß ins Gesicht sehen wollte. »Wieso, ich hatte die Absicht, euch nach Wichita, Kansas, zu führen. Warum?« »Dude Hawley sagt, du hättest ihm erzählt, du willst die Herde morgen früh nach Nordwesten über diese felsigen Höhenzüge treiben. Ist das richtig?« »Ja, das habe ich vor.« »McDougal, wir wollen nach Kansas, nicht nach Denver. Jede Extrameile kostet Geld und macht unser Vieh mager. Ich habe schon seit einiger Zeit den Verdacht, daß du überhaupt nicht weißt, wo wir sind – daß du uns auf immer neuen Umwegen durch dieses ganze verdammte Land führst.« Danner wandte den Kopf und sah die lauschenden Männer an, aber ihre Gesichter blieben ausdruckslos. »Ein paar Umwege lassen sich nicht vermeiden«, erwiderte McDougal steif, und seine Stimme verriet den in ihm angestauten Ärger. »In diesem Land ist der direkte Weg nicht der kürzeste.« »Darum willst du unseren Kurs wieder einmal ändern und nach Nordwesten ziehen«, sagte Danner sarkastisch. »Du scheinst zu glauben, wir gewinnen Zeit, wenn wir die Herde über diese verdammten Geröllhügel treiben!« »In diesem Fall gewinnen wir damit Zeit«, sagte Jimmy kurz. »Wenn man berücksichtigt, was hinter dem Turkey Creek liegt.« Danner grinste spöttisch, wie ein Spieler, der einen un272
vermuteten Trumpf ausspielt. »Ich habe mich heute nachmittag ein wenig umgesehen. Ich bin zehn Meilen in der Richtung weitergeritten, die wir heute genommen haben. Das Land dort oben ist eben wie ein Teller.« Er sah sich triumphierend nach den anderen um. Möglicherweise waren die Männer geneigt, sich in diesem Punkt auf Danners Seite zu schlagen. Sie hatten kurz vor Sonnenuntergang gesehen, wie die nordwestlichen Hügelketten aussahen, und kein Treiber schätzt es, mit einer Viehherde durch unwegsames Gelände zu ziehen. Sie richteten ihre Blicke auf Jimmy. Jimmy bückte sich, hob einen Zweig auf und begann Linien in die Erde zu ritzen. »Hier sind die Catclaw Hügel, im Nordwesten. Sie sind unwegsam, gut, aber wir brauchen nur einen halben Tag, um sie hinter uns zu bringen. Hier oben, in unserer Marschrichtung, würden wir gegen Sonnenuntergang hinter dem Turkey Creek in dichtes Buschgelände kommen. Dort gibt es auf anderthalb Tagereisen kein Gras, keine Weidemöglichkeit.« Er zog ein Kreuz. »Hier drüben, am Ostrand des Buschwaldes, ist ein alter Schlupfwinkel der Comanchen. Vielleicht lagern dort welche, vielleicht auch nicht. Jedenfalls habe ich lieber zwanzig Meilen zwischen mir und diesem Lagerplatz, als bloß zwei oder drei.« Er warf den Zweig weg und richtete sich auf. Danner schnaubte. »Von allen blödsinnigen Ideen, die ich je gehört habe, ist das die lächerlichste. Wir sind jetzt lange genug im Zickzack herumgekrochen! Morgen gehen wir auf direkten Kurs, und den halten wir bis Kansas. Und wenn ich noch einmal deine Ratschläge brauche, McDou273
gal, werde ich danach fragen!« Danner machte kehrt und wollte davonstampfen, aber schon nach drei Schritten brachte ihn Jimmys Stimme zum Stehen. »Danner, die Felsen in den Catclaw Hügeln sind geradezu weich, verglichen mit deinem Kopf.« Danner fuhr herum. Er war es nicht gewohnt, daß jemand so zu ihm sprach. »Laß dir deinen Lohn auszahlen und verdufte. Du bist entlassen!« Vielleicht meinte er es nicht so. Auf einem Viehtrieb feuert man nicht so ohne weiteres einen Mann, dessen Arbeitskraft man braucht. Aber ein Vormann auf einem Viehtreck ist wie ein Kapitän auf einem Schiff. Er ist die oberste Instanz, und an seinem Wort kann nicht gerüttelt werden. Möglich, daß Danner einsah, unüberlegt gehandelt zu haben, aber er war starrsinnig genug, bei seiner Entscheidung zu bleiben. Danner unterstrich diese Entscheidung sogar noch, indem er den Koch wachrüttelte, der sich unter seinem Küchenwagen schlafen gelegt hatte. »Hol McDougals Sachen aus dem Wagen und gib ihm fünf Tagesrationen Proviant.« Ohne sich umzusehen, sagte er zu Jimmy: »McDougal, dir gehören zwei Pferde in der Herde. Hol sie und sieh zu, daß du weiterkommst!« Jimmy warf Danner einen langen und nachdenklichen Blick zu. Keiner der Männer am Feuer sagte ein Wort. Achselzuckend wandte er sich ab, ging zum Wagen und schulterte seinen Reisesack. Er wartete, bis der Koch ihm 274
seinen Proviant eingepackt hatte, dann nahm er das Bündel und ließ sich von Danner den Lohn auszahlen. Eine knappe Viertelstunde nach seiner Auseinandersetzung mit Danner war er in der Dunkelheit verschwunden. In derselben Nacht begann es abzukühlen, und ein feiner Nieselregen setzte ein. Der Morgen brachte trübes Wetter, halb Regen, halb Nebel. Es hielt den ganzen Tag an. Herde und Reiter bewegten sich schemenhaft durch das neblige Zwielicht. Am Nachmittag sah Lige Osborne, der am Schluß der Herde ritt, die undeutlichen Umrisse eines Reiters zu seiner Rechten, und er lenkte sein Pferd hinüber. Als die zwei Reiter sich so nahe gekommen waren, daß sie einander erkennen konnten, pfiff Lige durch die Zähne. »Dachte, du hättest uns verlassen, Jimmy.« »Das dachte ich auch.« Die letzten Nachzügler der langsam trottenden Herde verschwanden im milchigen Nebel. »Wohin zieht ihr?« fragte Jimmy höflich. »Nach Kansas, Mann, das weißt du doch.« »Das ist interessant, Lige.« »Wohin gehst du, Jimmy? Willst du hier herumhängen und warten, ob Danner dir deinen Job wiedergibt?« »Wieso? Glaubst du, Danner würde mich wieder einstellen?« »Ich bezweifle es. Er sagt, er folgt seiner Nase nach Kansas und kommt schneller hin als du mit deinen hundert Umwegen.« »Das ist interessant«, wiederholte Jimmy. »Macht es dir etwas aus, wenn ich eine Weile hier hinten mitreite?« »Nein, wieso, es ist schließlich nicht meine Herde. Ich 275
habe nichts dagegen. Es hat mir auch nicht gefallen, wie er dich gefeuert hat, Junge. Aber Danner ist der Boß, da kann man nichts machen.« Lige grinste. »Wenn er unseren Rat braucht, wird er danach fragen.« »Lige, wie seid ihr heute morgen ausgeritten? Ich meine, hat Danner den Kurs festgelegt oder was?« »Ich weiß nicht. Ich war nicht in seiner Nähe. Es ging eben los. Die Herde mochte den Nieselregen nicht. Die verdammten Viecher standen mitten in der Nacht auf und wanderten herum. Als es hell wurde, ritten Ace und Danner aus und setzten die alten Leitbullen in Bewegung. Danner übernahm die Spitze, und die anderen folgten. Man kommt bei diesem Dreckwetter nicht gut voran, aber wenigstens sind wir in Bewegung.« Jimmy grinste breit, doch dann verflog seine Heiterkeit und er nickte nachdenklich. »Ja, wenigstens seid ihr in Bewegung.« »Ich muß die Nachzügler ein bißchen in Schwung bringen«, sagte Lige entschuldigend, hob grüßend eine Hand, und tauchte im Nebel unter. Auch andere Reiter bekamen Jimmy zu Gesicht. Er wurde hier und dort gesehen, verschwand aber immer wieder im Nebel. Die Herde trottete apathisch dahin, der Nachmittag zog sich in die Länge. Als sich die Sichtverhältnisse gegen Abend weiter verschlechterten, ordnete Danner an, die Herde für die Nacht anzuhalten. Am Lagerfeuer erklärte er zuversichtlich, sie hätten zwar keinen Geschwindigkeitsrekord aufgestellt, wären aber wenigstens einige zehn oder zwölf Meilen vorangekommen. Und das über ebenen, gut gangbaren Boden. 276
»Viel besser jedenfalls, als durch die verdammten Hügel«, schloß er selbstbewußt. Dem mußten die Männer zustimmen. Ace Jones ließ die Bemerkung fallen, daß er Jimmy McDougal gesehen habe. Andere bestätigten seine Beobachtung. »Vielleicht hat er nun seine Lektion gelernt«, brummte Danner. »Jetzt sieht er, daß wir es auch ohne ihn gut schaffen. Der Junge muß eben erst in seine Hosen hineinwachsen.« Dann, als fühlte er die untergründige Sympathie seiner Männer für Jimmy McDougal, fügte er hinzu: »Natürlich, wenn er seinen Job zurückhaben will, kann er ihn von mir aus wieder bekommen. Vielleicht hat er inzwischen gelernt, wer hier der Boß ist.« Niemand sah Jimmy in dieser Nacht. Aber am folgenden Morgen erschien er wieder hinter den Schlußmännern. Er folgte der Herde wie ein geisterhafter Schatten. Nieselregen und Nebel hielten auch an diesem Tag an. Nicht lange nach der Mittagsrast kam einer der Vorreiter zurück und meldete, daß vor ihnen ein ziemlich großer Fluß den Weg versperre. Danner galoppierte nach vorn, um sich die Sache anzusehen. Als er das Ufer erreichte, sah er Jimmy McDougal in einigem Abstand von den Vorreitern auf seinem Pferd sitzen. Danner ignorierte ihn. Er beratschlagte kurz mit seinen Reitern, schätzte Strömung und Breite des Flusses ab und sagte: »Nun, wenigstens kann das Vieh die Umrisse des anderen Ufers sehen. Es sieht nicht so schlimm aus. 277
Schwimmen wir sie hinüber, Jungs!« Lige Osborne ließ seinen Blick über die Wasserfläche gehen. »Eine ziemlich braune Suppe, nicht? Erinnert mich an den Red River.« »In dieser Gegend sind alle Flüsse braun«, antwortete einer der Männer. »Aber seht euch einmal die rote Erde hier an der Böschung an«, meinte Osborne zweifelnd. »Kümmere dich nicht um die verdammte Farbe«, fiel Danner ein. »Treibt die Herde zusammen und jagt die Leitbullen ins Wasser. Die anderen folgen ihnen dann von selber. Los, Beeilung! Wir wollen nicht erst zu Weihnachten in Kansas sein.« Dann beschloß er, Jimmy McDougals Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Als wollte er zeigen, daß er trotz allem ein freundlicher Mann sei, rief Danner zu Jimmy hinüber, der die Vorgänge interessiert beobachtete: »He, McDougal! Wenn du sowieso hinter uns her reitest, kannst du es genau so gut für Geld tun. Du kannst deinen Job wiederhaben. Schmeiß deinen Reisesack in den Wagen und mach dich an die Arbeit.« Falls er gedacht hatte, Jimmy würde auf sein Angebot mit Freuden eingehen, sah er sich getäuscht. McDougal rührte sich nicht von der Stelle und erwiderte Danners Blick nur kurz. »Ich habe mich noch nicht entschieden«, sagte er. »Ich werde wohl erst einmal abwarten, wie dieser Flußübergang vonstatten geht.« Danner wurde sofort mißtrauisch. »Warum?« wollte er wissen. »Denkst du vielleicht, sie sehen das andere Ufer nicht?« »Keine Ahnung, Danner«, erwiderte Jimmy abweisend. 278
»Erstens stehe ich nicht auf deiner Lohnliste, und zweitens wirst du mich fragen, wenn du meinen verdammten Rat willst.« Jemand kicherte. Danner wurde ärgerlich und machte seinem Zorn durch gebrüllte Befehle Luft. Fünf Minuten später wurden die Leittiere die steile Uferböschung hinab ins Wasser getrieben. Jimmy ritt beiseite und wartete, bis die ganze Herde den Fluß durchschwömmen hatte. Nachdem auch die letzten Reiter das Ufer verlassen hatten, schwamm er mit seinem Pferd hinterher und erreichte das jenseitige Ufer, wo die Männer das Vieh aus dem Buschgürtel in die offene Prärie hinaustrieben. Niemand erinnerte sich später daran, wer es zuerst bemerkte oder wie ihre erste Reaktion war. Aber die Situation blieb allen unvergeßlich. Da war Danner, der von seinem Sattel aus alles beherrschte, groß, barsch und mit harten Augen. Er war eben im Begriff, sich eine Zigarette zu drehen. Da waren Lige und Ace und Dude Hawley, der Koch auf dem hohen Fahrersitz seines Wagens und noch ein gutes halbes Dutzend anderer Reiter. Sie hockten tropfnaß in ihren Sätteln und verschnauften nach der Anstrengung der Flußdurchquerung. Das hintere Ende der Herde war noch zu sehen. Die Tiere hatten sich über die ebene Fläche verteilt und zu weiden begonnen. Da kam die Sonne heraus. Für eine Weile schien es, als hellte sich der Nebel nur auf. Er wurde weiß und blendend hell, und man konnte noch immer nicht weiter als hundert Schritte sehen. Noch ein paar Sekunden, und die Sonne erschien als grellweiße 279
Scheibe im Nebel, die weißen Schleier gerieten in Bewegung, und dann brach die Sonne hervor. »Da ist die Sonne«, sagte jemand voll Befriedigung. Jimmy McDougal saß ein wenig abseits auf seinem Pferd. Er blickte nicht zur Sonne auf, sondern sah nur Danner und die anderen Reiter an und sagte gedehnt: »Das ist wirklich interessant.« Plötzlich bellte Lige oder Ace – vielleicht war es auch einer der anderen – laut heraus: »Die Sonne – dort drüben! Was zum Teufel tut sie auf der Seite?« Die Männer verrenkten ihre Hälse und blinzelten ins Licht. Plötzlich wurde es still. Man konnte hören, wie die Rinder das Gras rupften. »Bei Judas, sie steht im Osten!« hauchte ein Mann. »Aber es geht doch schon gegen Abend!« Danners Mund stand offen. Er blinzelte umher, verletzt und vorwurfsvoll wie ein Junge, der sich zu Unrecht geschlagen fühlt. »Das – das ist Westen!« murmelte er mit halberstickter Stimme. »Wenn das Westen ist, verdammt noch mal, dann ziehen wir ja nach Süden!« »Der Fluß, dieses verfluchte rote Wasser! Wir …!« »Das war der Red River!« brüllte Lige. »Bei Gott, ich habe euch gesagt, daß er mir komisch vorkam!« »Jungs«, sagte Ace Jones gelassen, »wir sind gestern in die verkehrte Richtung losgezogen, und die verdammten Leitbullen sind einfach zurückgelaufen. Wir sind wieder in Texas!« 280
Jimmy McDougal schob seinen Hut aus der sommersprossigen Stirn. Ein leichtes Grinsen lag in seinen Mundwinkeln. »Das war ein kurzer Viehtrieb«, erklärte er. »Ich glaube, wir haben einen neuen Weltrekord aufgestellt.« Lige Osborn fing an zu lachen. Zuerst war es nur ein unsicheres Schmunzeln, dann konnte er sich nicht mehr halten, warf seinen Kopf zurück und lachte laut heraus. Ace Jones wurde davon angesteckt, und er kicherte so hemmungslos, daß er bald aus dem Sattel rutschte und brüllend umhertaumelte. Dude Hawley stimmte meckernd ein, und dann überwältigte die Komik auch die anderen. Sie tanzten herum, schlugen sich auf die Schenkel und hielten sich die Bäuche. Immer wieder zeigten sie auf die Sonne, und neue Lachsalven ließen die Luft erzittern. Jimmy preßte die Kiefer zusammen und versuchte sich zu beherrschen, aber in seinem Gesicht zuckte es. Er schien auf Danner zu warten. Und so kam es, daß Gobi Danners Dickschädeligkeit endlich bestraft wurde. Danners finstere Miene hellte sich auf. Zuerst sah er noch aus, als habe er seinen letzten Freund auf Erden verloren, dann aber verbreiterte sich sein Mund, und ein breites, verlegenes Grinsen erschien auf seinem harten Gesicht. Er lenkte sein Pferd zu Jimmy McDougal hinüber. Die Männer hatten ihren Heiterkeitsausbruch mittlerweile überwunden, und sie ahnten auch, daß Danner von diesem Tag an ein anderer Mann sein würde. Sie wußten, daß die Geschichte dieses Viehtriebs für den Rest seiner Tage untrennbar mit ihm verbunden sein würde und daß man sich 281
davon erzählen würde, wo immer Männer um ein Lagerfeuer saßen. Keiner der Reiter wollte sich entgehen lassen, was Gobi Danner zu Jimmy sagen würde, und es wurde auf einmal still. Was er dann sagte, zeigte ihnen, daß das Gewitter vorüber war. »Jimmy«, sagte Danner, »ich bin ein Mann, der einen guten Rat nötig hat, und darum frage ich dich: Wo zum Teufel geht es nach Kansas?« Jimmy McDougal zeigte mit dem Daumen über den Fluß, grinste und sagte: »Dort lang.« »Gut, willst du dann die Spitze übernehmen und uns nach Wichita führen?« Er schmunzelte. »Wir wollen die Herde noch vor Dunkelwerden auf die andere Seite bringen.« »Wird gemacht«, sagte Jimmy und ritt zur Herde. Bald hörten sie die melancholischen Klänge seiner Mundharmonika. Danner nahm die Zügel auf, hob den Kopf und lauschte einen Augenblick. »Klingt eigentlich recht hübsch«, meinte er, bevor er sein Pferd in Bewegung setzte.
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L. P. Holmes ist ein Schriftsteller, dessen Werk weite Verbreitung und Popularität gefunden hat. Er ist Autor unzähliger Kurzgeschichten und hat im Laufe seiner Karriere über achtzig Romane und Erzählungen veröffentlicht. Sein Buch »Somewhere They Die« wurde 1955 zum besten Western-Roman des Jahres gewählt.
L. P. Holmes
Verlorene Jahre Sein halbes Leben lang hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Nun, da er gekommen war, machte er ihm beinahe Angst. Der bloße Eindruck der Weite verwirrte ihn. Diese Außenwelt war einfach zu groß. Er konnte nur dastehen und aufnehmen und versuchen, sich wieder an Proportionen zu gewöhnen, die ihm während seiner langen Gefängnisjahre verlorengegangen waren. Wie unendlich der Himmel war! Wie grenzenlos sich diese Buschsteppe dehnte! Und weit draußen die blauen Umrisse von Bergen … Seit fünfundzwanzig Jahren hatte er keine Berge mehr gesehen. In seiner Kehle würgte es, und seine Augen verengten sich. Man hatte ihm einen billigen braunen Anzug gegeben, der zu weit und zu kurz war. Er stand da, groß und hager, mit leicht gebeugten Schultern. Sein langes Gesicht war gefurcht und hatte die graue, ungesunde Farbe des Häftlings, und sein kurzgeschnittenes, gelichtetes Haar war an den Schläfen reichlich von weißen Strähnen durchzogen. Zwei Meilen vor ihm lag eine kleine Stadt in der Ebene, 283
mehr eine Siedlung, und er ging langsam darauf zu. Seine ersten Schritte waren unsicher, noch gehemmt von der Gewohnheit schlurfender Fortbewegung in Reih und Glied beim täglichen Spaziergang im Gefängnishof. Wie bewegte man sich als freier Mann? Seine Schritte wurden länger und gleichmäßiger. Im Vorbeigehen zupfte er Blätter von den Salbeisträuchern, zerrieb sie zwischen den Händen und preßte sie gegen sein Gesicht, um den starken Duft einzuatmen. Außer seinem schlechtsitzenden Anzug hatte er bei seiner Entlassung ein goldenes Fünfdollarstück bekommen, das er am Stadtrand ausgab. Tabak und Zündhölzer, das Notwendigste an Nahrungsmitteln, einen Kamm und ein Stück Seife – alles das ließ er in einem alten Mehlsack verstauen, lud ihn auf eine Schulter und wanderte hinaus in die leere Ebene. Kein einziges Mal blickte er zurück zu der düsteren Festung aus Stein und Stahl, die ihm in fünfundzwanzig Jahren zur ungeliebten Heimat geworden war. In der ersten Nacht schlief er auf der nackten Erde unter den Sternen, neben dem klaren Wasser eines weidenbestandenen Baches. Auch in den beiden nächsten Nächten schlief er auf der Erde. Nach zwei durchwanderten Tagen erreichte er Buck Jeffries Viehranch, und weil er fast keinen Proviant mehr hatte, überwand er seine instinktive Scheu und wagte sich zum Haus. Buck Jeffries war weder weich noch sentimental, aber er war fair. So musterte er den Fremden zwar ernst und zurückhaltend, doch in seinen Augen lag keine Feindseligkeit. 284
»Du suchst einen Job?« knurrte er, bevor der hagere Mann ihm gegenüber den Mund aufzumachen wagte. »Was kannst du?« »Arbeiten. Jede Arbeit.« Jeffries kannte sich aus. »Deerfoot?« »Ja.« »Wie lange?« »Fünfundzwanzig Jahre.« Über Buck Jeffries’ Gesicht ging ein Zucken. Großer Gott, was für eine Zeit, herausgeschnitten aus dem Leben eines Menschen! »Weswegen?« »Postraub.« Ein schwerer Junge also. Aber immerhin ein Verbrechen, das eines Mannes würdig war, wenn man so sagen durfte. Buck Jeffries räusperte sich. »Ich möchte ein paar Meilen bachabwärts ein paar Pferche bauen. Dafür müssen eine Menge Pfostenlöcher ausgehoben werden. Wir werden sehen, was du kannst. Unter welchem Namen segelst du?« Der Fremde zögerte. »Wind River.« Jeffries zuckte die Achseln. »Mir soll es recht sein. Geh in den Küchenschuppen und laß dir zu essen geben. Sag ihnen, ich habe es angeordnet. Dann zeige ich dir deine Arbeit.« Es war Schwerarbeit für einen Mann, den die langen Jahre hinter Zuchthausmauern weich und kraftlos gemacht hatten. Tagsüber schuftete Wind River wie ein Galeeren285
sklave. Abends fiel er halbtot in seine Schlafkoje, wurde von schlimmen Träumen heimgesucht und stöhnte im Schlaf vor Schmerzen und Erschöpfung. Doch am anderen Morgen zwang er sich wieder an die Arbeit. Die erste Woche war die Hölle, die zweite kaum weniger hart, aber allmählich wurde er widerstandsfähiger und zäher. Seine aufgeplatzten, mit Blasen bedeckten Hände wurden schwielig, die Sonne brannte ihn dunkel, und seine schlaffen Muskeln begannen allmählich wieder hart zu werden. Seinen Leuten erteilte Jeffries strikte Anweisungen. »Laßt ihn in Ruhe. Keine dummen Bemerkungen, kein Spott. Der Mann muß sich durchkämpfen und wieder zurechtfinden. Außerdem ist er fleißig, ob ehemaliger Zuchthäusler oder nicht. Ich dachte, ich bräuchte drei Männer für diese Arbeit. Er macht sie allein. Wenn jeder wie er arbeiten würde, wäre ich in zehn Jahren ein reicher Mann.« So wurden die Löcher ausgehoben, die Pfosten gesetzt und die neuen Pferche errichtet. Wind River leistete die Arbeit allein. Anschließend ließ ihn Jeffries noch ein paar Weidezäune ausbessern und neu errichten sowie am Haus Reparaturen ausführen. Als alle diese Dinge getan waren, fragte Wind River, ob er gehen dürfe. »Es ist jetzt alles in Ordnung«, sagte er zu Buck Jeffries. »An einem Viehtreiberjob bin ich nicht interessiert. Du warst verdammt anständig zu mir, und du sollst wissen, daß ich mir Mühe gegeben habe, meinen Lohn zu verdienen.« »Zum Teufel!« wehrte Jeffries herzlich ab. »Du hast ihn dir mehr als verdient. Ich lasse dich nicht gern gehen, aber du wirst selbst wissen, was du zu tun hast. Die alte Fuchs286
stute und der Sattel, den du dir hergerichtet hast – sie gehören dir. Und viel Glück!« So zog Wind River weiter nach Süden, diesmal auf einem Pferd und mit Geld in der Tasche. Körperlich hatte ihn der Aufenthalt bei Jeffries zu einem neuen Menschen gemacht. Die graue, ungesunde Gefängnisfarbe war dunkler Bräune gewichen, und seine Augen hatten ihren mißtrauischen und apathischen Ausdruck verloren. Mit der Wiederkehr alter Erinnerungen war eine zielbewußte Entschlossenheit über ihn gekommen. In der nächsten Stadt, die er auf seiner Reise berührte, kaufte er sich einen Revolver. Fast zwei Jahre später ritt Wind River in die kleine Stadt Elkhorn am gleichnamigen Fluß hinein. Er hatte diese lange Zeit darauf verwendet, eine Spur wiederzufinden, die in zweieinhalb Jahrzehnten beinahe verblaßt war. Es hatte unbegrenzte Geduld, unermüdliche Energie und Zähigkeit erfordert, dieser Spur bis an ihr Ende zu folgen, aber hier war es. Am Vormittag eines warmen Tages ritt er in die Stadt ein. Vor einem Saloon, der über der Tür die Inschrift Silver Star trug, stieg er ab und ging hinein. Außer dem Barmann waren nur zwei Personen anwesend. Der eine Mann sah wie ein berufsmäßiger Spieler aus, der andere war offensichtlich ein Viehzüchter aus der Umgebung. Sie saßen einander an einem Pokertisch gegenüber und spielten eine Art vereinfachtes Poker für zwei Spieler. Wind River wollte vorbeigehen, doch dann spürte er etwas von der unheilvollen Spannung zwischen den beiden. Er blieb stehen und sah sie sich genauer an. So kam es, daß 287
er den Revolver bemerkte, mit dem der Rancher unter dem Tisch hindurch sein Gegenüber bedrohte. Der Mann sprach leise, aber seine heisere Stimme war nicht zu überhören. »Jetzt reicht’s, Bremmer. Das war einer zuviel von deinen schmutzigen Tricks. Halt deine Hände still, denn mein Revolver zielt auf deinen Bauch. Und nun wollen wir einmal sehen!« Vor jedem der Männer lagen zwei Karten, eine aufgedeckt, die andere mit dem Bild nach unten. Mit der linken Hand wendete der Rancher die verdeckt vor ihm liegende Karte um. »Zwei Asse«, sagte er. »Nun, was hast du dir selbst gegeben? Deine aufgedeckte Karte ist eine Königin. Ich wette, deine andere Karte ist auch eine. Ich wette eine Kugel in deinem Bauch, daß es sich so verhält. Wenn nicht, entschuldige ich mich. Wenn ich recht habe, kriegst du die Kugel, so wahr ich hier sitze!« Wind River schob sich näher an die Spieler heran. Der andere Mann saß still. Seine Lippen hatte er zusammengekniffen. Seine Stirn bedeckte sich allmählich mit winzigen Schweißtropfen. Er schluckte, dann sagte er mit unsicherer Stimme: »Steck dein Schießeisen ein, Jacoby. Nichts ist so ernst, daß man deswegen schießen müßte.« »Zweihundert Dollar sind für mich eine verdammt ernste Angelegenheit, wenn sie mir durch betrügerische Tricks abgenommen werden. Zwei Asse hast du mir gegeben! Hast wahrscheinlich gedacht, ich würde schwer darauf setzen, wie? Und du sitzt mit zwei Königinnen da. Und bevor wir fertig wären, hättest du dir eine dritte Königin hingelegt. So arbeitest du – wenn deine andere Karte eine Köni288
gin ist. Und darauf wette ich.« Der Rancher beugte sich vor und deckte die zweite Karte vor dem Spieler auf. Es war eine Königin. Wind River reagierte schnell und sicher: er packte den Hinterkopf des Ranchers und drückte ihn mit dem Gesicht auf die Tischplatte. Seine rechte Hand ergriff den bewaffneten Arm des Mannes und riß ihn zur Seite. Die Waffe ging los und hüllte die Männer in hellgrauen, säuerlich riechenden Pulverrauch. Die Kugel schlug in Bodennähe in die hölzerne Wandverschalung. Wind River riß den gestreckten Arm des Ranchers erst nach hinten und dann in die Höhe, und der Mann ließ fluchend den Revolver fallen. Wind River trat zurück und hob die Waffe auf. Jack Bremmer, der Spieler, sprang auf und suchte in der Brusttasche seines Anzuges nach der Pistole. Wind River schüttelte den Kopf. »Laß das Ding, wo es ist.« Bremmer gab ihm einen tückischen Blick, dann ließ er die Hand langsam sinken und brachte ein dünnes Lächeln zuwege. »Richtig, Freund. Dafür bin ich dir etwas schuldig. Wir werden später darüber sprechen.« Bremmer wandte sich zur Seite und sah den Rancher an. »Mach, daß du wegkommst, Jacoby. Laß dich nicht noch einmal in meinem Lokal blicken. Los, hau ab!« Der Rancher stand auf und wollte sich in Bewegung setzen, als draußen rasche, energische Schritte laut wurden. Ein Mann in aufrechter Haltung und mit eckigen Schultern erschien im Eingang. An seiner Brusttasche schimmerte ein Stern, und seine Stimme klang befehlsgewohnt. 289
»Bremmer, was hatte der Schuß zu bedeuten?« Der Mann mit dem Stern war noch ziemlich jung, höchstens Ende Zwanzig, aber er strahlte die Ausgeglichenheit und Selbstsicherheit eines doppelt so alten Mannes aus. Sein kühler und wachsamer Blick überflog den Raum, bevor er auf Bremmer haften blieb. Jack Bremmers Antwort kam glatt, mit einem Anflug von Spott. »Jacoby hier, er hat sich aufgeregt, weil er ein bißchen verloren hatte. Er wollte mir eine Kugel in den Bauch schießen.« Der junge Sheriff richtete seinen Blick auf Wind River. »Hast du es gesehen, Fremder? War es so, wie Bremmer behauptet?« Wind River nickte. »So ungefähr.« Der Sheriff streckte seine Hand aus. »Ich nehme Jacobys Revolver.« Aber da fuhr Jacoby auf. »Bremmer ist ein verdammter Betrüger, Robbins. Er hat mich mit einem schmutzigen Trick hereinlegen wollen.« »Dann solltest du klug genug sein, nicht mit ihm zu spielen«, antwortete der Sheriff. »Eine Schießerei ist eine ernste Sache, da verstehe ich keinen Spaß. Geh auf deine Ranch zurück und bleib dort, bis du ein wenig Vernunft angenommen hast.« Der Rancher ging wütend hinaus, und der Sheriff wandte sich an Bremmer. »Und du solltest deine Methoden ändern, Bremmer. Wenn dich jemals einer beim Spiel über den Haufen schießt, werden sich in dieser ganzen Gegend keine Ge290
schworenen finden, ihn zu verurteilen.« »Ich glaube, du übertreibst die Gefahr, Sheriff«, erwiderte Bremmer lächelnd. Doch als sich der Sheriff achselzuckend umgewendet hatte und Jacoby auf die Straße hinaus gefolgt war, kamen eine Reihe gedämpfter, obszöner Verwünschungen über Bremmers Lippen. Schließlich drehte er sich um und musterte Wind River von Kopf bis Fuß. »Das war gut gedacht und schnell gehandelt, Freund. Ich kann einen so fähigen Mann wie dich gebrauchen. Interessiert?« Wind River nickte bedächtig. »Vielleicht. Wie war doch gleich der Name des Sheriffs?« »Robbins – Burke Robbins. Warum?« »Er erinnert mich an jemanden …« Seine Worte verklangen. Er schien den anderen vorübergehend zu vergessen, während seine Gedanken sich im Nebel ferner Vergangenheit verloren. »So ist es«, sagte Bremmer leichthin. »Jeder sieht irgendwie einem anderen ähnlich. Übrigens, ich habe deinen Namen nicht mitbekommen.« »Sagen wir – Wind River.« »Großartig!« erklärte Bremmer herzlich. Der Name sagte ihm genug. Hier war ein Mann mit einer Vergangenheit, ein Mann, der seinen wahren Namen verschwieg, der kühl und schnell denken konnte. Bremmer nickte, mehr zu sich selbst. »Gehen wir auf einen Drink in mein Büro.« »Einverstanden.« Wind River hütete sich, Bremmer den wahren Grund seines Beistands zu sagen. In Wirklichkeit hätte er ruhig 291
zusehen können, wie Jack Bremmer über den Haufen geschossen wurde. Aber er hatte schon vor langer Zeit gelernt, daß man sich mit einem guten Dienst eine Gegenleistung sichern kann. Und es war nicht ausgeschlossen, daß er Jack Bremmers Hilfe brauchen würde. In der folgenden Woche blieb Wind River in der Stadt. Jack Bremmers Saloon hatte mehrere Hinterzimmer, und einer dieser Räume wurde ihm als Quartier zur Verfügung gestellt Darüber hinaus hatten nach jenem ersten Gespräch einige goldene Zwanzigdollarstücke den Besitzer gewechselt und klimperten jetzt in Wind Rivers Tasche. »Ein Vorschuß auf künftige Dienste«, hatte Jack Bremmer in seiner glatten, verbindlichen Art erklärt. »In der Zwischenzeit kannst du dich ein bißchen in der Stadt umsehen und mit den Leuten bekannt werden.« Wind River fand, daß der beste Platz, die Ereignisse auf der Straße zu beobachten, die Bank vor Petey Doans Mietstall war. Und hier, wo das überhängende Scheunendach willkommenen Schatten spendete, verbrachte er viele Stunden. Was Petey Doan sehr gefiel, denn Petey war ein schwatzhafter kleiner Mann, und er fand in diesem hageren, schweigsamen Fremden mit dem verschatteten Blick einen willigen Zuhörer. Und so erfuhr Wind River durch Petey Doan eine Menge Details über das Tal des Elkhorn River und seine Bewohner. Sheriff Burke Robbins hatte einen kräftigen Grauschimmel im Mietstall stehen. Eines Tages beobachtete Wind River, daß er außer seinem Pferd noch einen kleinen Rotfuchs sattelte. Er führte beide Tiere zu Hansons Laden 292
hinüber, wo er mit einem schlanken, blondhaarigen Mädchen zusammentraf. Sie ritten miteinander fort, und es dauerte nicht lange, bis Petey Doan auf der Bank neben Wind River Platz nahm und seine kurze Pfeife hervorholte. »Werden wohl bald heiraten, die zwei«, bemerkte er. »Nita Hanson ist ein nettes, lustiges Ding. Es muß schön sein, jung zu sein und die Zukunft so groß und offen vor sich zu haben.« In Wind Rivers Gesicht bewegte sich ein Muskel, dann war es unbewegt wie zuvor. »Robbins scheint mir für einen Sheriff ein bißchen zu jung zu sein«, sagte er nach einer langen Pause. »Das haben viele Leute gesagt, als er sich zur Wahl stellte«, antwortete Petey eifrig. »Aber er macht seine Sache gut. Bei Menschen ist es wie bei Pferden: man merkt bald, was gutes Blut ist und was nicht. Und es gibt kaum feinere Leute als Burkes Eltern – Mr. und Mrs. Frank Robbins. Sie sitzen auf der Clover Leaf Ranch, drüben am nördlichen Zufluß.« Wind River überflog die Straße mit einem Blick und sah Jack Bremmer am Eingang des Silver Star stehen. Er schien den Gestalten der beiden Reiter nachzusehen. Petey folgte Wind Rivers Blickrichtung und grinste. »Das wird Jack Bremmer wieder schwer auf den Magen schlagen. Er ist in Nita Hanson ganz vernarrt, aber er hat Pech damit. Das Mädchen sieht überhaupt nur einen Mann, und das ist Burke Robbins.« Ein paar Männer kamen, und Petey mußte sich um seine Arbeit kümmern. Wind River saß auf der Bank, rauchte eine Zigarette und hing wieder seinen einsamen Gedanken 293
nach. Ein kleines Fuhrwerk kam die Straße heraufgerattert und hielt vor Hansons Laden. Ein Mann und eine Frau kletterten vom Fahrersitz und stiegen gemeinsam die Stufen zum Ladeneingang hinauf. Der Mann war schlank, hielt sich kerzengerade und hatte ein eindrucksvolles, von grauen Haaren umrahmtes Adlergesicht. Die Frau war ebenfalls grauhaarig, etwas füllig, aber immer noch stattlich. Man sah ihr an, daß sie einmal sehr hübsch gewesen sein mußte. Wind River beobachtete sie, besonders die Frau. Er bewegte sich nicht mehr und schien sogar den Atem anzuhalten. Seine Lippen wurden schmal und hart. Die Hände lagen ruhig zwischen seinen Knien, aber als Petey Doan zurückkehrte, sah er, daß sie zitterten. »Ist was nicht in Ordnung, Freund?« erkundigte er sich besorgt. Wind River lehnte sich zurück und zwang sich zu einer gleichmütigen Miene. Er schloß halb die Augen, um zu verbergen, was ihn bewegte. »Nur ein altes Leiden«, sagte er abwehrend. »Hier und da macht es sich wieder bemerkbar.« »Das tut mir aber leid«, sagte Petey teilnahmsvoll. »Vielleicht solltest du einmal mit Doc Sandfell darüber reden. Er versteht etwas von seinem Geschäft.« Wind River schüttelte nur schweigend den Kopf. Der Mann und die Frau kamen wieder aus dem Laden. Beide waren mit Paketen und Tüten beladen. Sie verstauten ihre Einkäufe im Wagen und fuhren fort. »Weil wir gerade von Robbins gesprochen haben«, bemerkte Petey Doan, »da fahren gerade Frank und Mary Robbins, die Eltern des Sheriffs. Nette Leute!« 294
Wind River murmelte eine Entschuldigung, stand auf und ging, während Petey ihm verdutzt nachstarrte. »Ein komischer Kerl, dieser Wind River. Aber es ist etwas an ihm, ich weiß nicht, was … Hoffentlich ist sein Leiden nicht ernst.« Es war am Spätnachmittag, als ein Mann mit gelichtetem dunklem Haar und ergrauten Schläfen vor das Wohnhaus der Clover Leaf Ranch geritten kam. Hof und Corrals lagen verlassen im milden Licht der sinkenden Sonne, aber Mary Robbins saß mit einer Näharbeit unter dem Vordach. Sie hob erst den Kopf, als der Schatten des Reiters auf die Holzstufen fiel. »Wenn Sie meinen Mann sprechen wollen, der ist leider unterwegs«, sagte sie freundlich. »Aber vielleicht kann ich etwas …« »Robbins«, sagte der Fremde rauh, »kann warten. Zuerst möchte ich mit dir sprechen – Mary.« Mary Robbins starrte ihn verständnislos an. Plötzlich sprang sie mit einem erschrockenen kleinen Schrei auf, und die Nähsachen fielen zu Boden. Ihr Gesicht wurde blaß, und ihre Lippen formten ein Wort, lange bevor sie es aussprechen konnte. »Burke!« Wind River stieg ab und kam mit steinernem Gesicht die Stufen herauf. »Immerhin erinnerst du dich«, sagte er tonlos. »Nun, das ist wenigstens etwas.« »Burke!« rief Mary Robbins wieder. »Burke Standish!« »Stimmt genau. Der Mann, mit dem du einmal verheiratet warst, vor vielen Jahren. Erinnerst du dich?« 295
Mary Robbins ließ sich auf ihren Stuhl fallen, denn ihr wurde leicht schwindelig. Wind River zog sich einen anderen Stuhl heran, setzte sich und fing an, eine Zigarette zu drehen. »Du bist immer noch eine hübsche Frau, Mary.« Allmählich erholte sie sich. »Wann – wann bist du freigelassen worden, Burke?« »Das spielt doch keine Rolle. Du hast wahrscheinlich nie einen Gedanken daran verschwendet. Aber ich dachte daran. Fünfundzwanzig Jahre lang dachte ich jeden Tag daran!« Sie zuckte gequält zusammen. »Wie hast du – mich gefunden? Warum bist du gekommen?« »Das Wie ist auch nicht so wichtig. Warum ich gekommen bin? Um den Mann zu töten, der mir meine Frau gestohlen hat!« Wenn er erwartet hatte, daß diese Worte Mary Robbins aus der Fassung bringen würden, sah er sich nicht getäuscht. Aber sie reagierte nicht so, wie er es sich ausgemalt hatte. Sie stand auf und trat einen Schritt zurück, während sie ihn aus weit aufgerissenen Augen anstarrte. »Das ist eine Lüge!« rief sie zornig. »Niemand hat dir deine Frau gestohlen. Du hast sie verloren! Du hast es nicht anders gewollt. Mit Verbrechern herumzulaufen und Postkutschen zu überfallen war dir wichtiger, als ein guter Mann und Vater zu sein. Sage nicht, daß Frank Robbins je einem anderen Mann etwas gestohlen hat! Das wäre eine elende, niederträchtige Lüge!« »Sicher, es war eine Dummheit von mir, mich auf diese Überfälle einzulassen, aber selbst ein Dummkopf kann hoffen. Was ich auch tat, als ich in Deerfoot saß. Bis ich Nachricht von der – von der Scheidung bekam. Von da an 296
habe ich nur noch für ein Ziel gelebt: den Mann umzubringen, der dich mir weggenommen hat.« Sie sah ihn wütend an. »Wieder eine Lüge! Als ich die Scheidung einreichte und bekam, wußte ich überhaupt nicht, daß Frank Robbins existierte. Ich begegnete ihm erst fünf Jahre später. Als ich meine Freiheit bekam, gab es keinen Mann. Es gab für mich nur – unseren Sohn.« Ihre Stimme brach. Sie setzte sich und betupfte ihre Augen mit einem Taschentuch. Er schwieg. »Ich hörte«, sagte er endlich mit leiser Stimme, »daß er ein guter Sheriff sein soll – der Junge.« »Ja, das ist er. Ich bin sehr stolz auf ihn. Mein Sohn – und deiner, Burke«. Wind River stieß ein leises Stöhnen aus. »Das heißt, die Peitsche gebrauchen, Mary.« »So meine ich es nicht, Burke. Laß mich sprechen. Versuch zu verstehen. Du sollst nicht glauben, daß es mir Spaß gemacht hat, die Scheidung zu beantragen. Du wirst nie wissen, wie viele Tränen ich darüber geweint habe. Aber es mußte sein – für unseren Sohn.« Mary Robbins brach ab. Eine Weile schwieg sie, dann fuhr sie leise fort. »Ich sah schließlich ein, daß es auf mich nicht ankam, und auf dich auch nicht. Der Junge war wichtig. Seine Zukunft, sein Glück, seine Chancen in der Welt. Er war noch so klein, und sein Vater war ein Zuchthäusler. Ich durfte ihn einfach nicht mit diesem Makel aufwachsen lassen. Du warst aus seinem Leben gegangen; es war meine Pflicht, dich draußen zu halten. Er war zu jung, um zu verstehen, wohin du gegangen warst, und warum. Es gab nur eine Möglichkeit, zu verhindern, daß er es früher oder spä297
ter erfuhr. Verstehst du mich, Burke?« Wind River räusperte sich. »Er weiß nichts davon?« »Er ahnt es nicht einmal. Der Mann, den er als Vater liebt und ehrt, ist Frank Robbins. Er brauchte einen wirklichen Vater, Burke. Jeder Junge braucht das. Und Frank ist ihm solch ein Vater geworden, genau so, wie er mir ein lieber und treuer Ehemann geworden ist. Ich weiß, es ist grausam, daß ich dir so etwas sage …« Wind River erhob sich, trat an den Rand der obersten Stufe und starrte aus trockenen Augen ins Leere. »Liebst du Frank Robbins, Mary?« »Ja. Jede Frau würde einen so guten Mann lieben. Sicher war es dir nicht ernst mit deinen Worten – daß du ihn umbringen willst?« »Ich habe den Gedanken daran ständig mit mir herumgetragen. Es ist wie ein Feuer, das in mir brennt.« »Und wenn du ihn wirklich umbrächtest, dann würde es dein eigener Sohn sein, der dich verfolgen und töten oder zum Töten an den Staat ausliefern müßte. Du hättest nichts gelöst und nur Leid über uns alle gebracht. Burke, du kannst das nicht tun. Du bist doch ein Mensch, nicht irgendein unvernünftiges Raubtier.« Wind River drehte sich um und sah sie lange an, als wollte er sich ihre Züge einprägen, um sie in seiner Erinnerung zu behalten. Als er endlich sprach, klang seine Stimme sanft und freundlich. »Mary, du stimmst mich weich. Du warst immer eine gute Frau. Darum vergiß mich endgültig. Lebe mit deinem Glück. Ich bin froh, daß du es gefunden hast.« Bevor sie ein Wort erwidern konnte, war er im Sattel 298
und galoppierte über den Hof davon. Mary Robbins blickte ihm starr nach. »Burke!« flüsterte sie; schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Wind River ging mit schleppenden Schritten in den Silver Star. Das Lokal war leer, nur der Barmann stand hinter der Theke und polierte Gläser. Er machte eine Kopfbewegung zum Büro. »Der Boß will dich sprechen.« Wind River ging durch den Schankraum. Jack Bremmer saß mit zwei Männern in seinem Büro. Einer war breit, untersetzt und hatte einen mächtigen kantigen Schädel. Der andere war größer und breitschultrig, und hatte kleine kalte Augen. »Du kommst gerade zur rechten Zeit, Wind River«, sagte Bremmer. »Hier, ich möchte dich mit Fred Durling und Cass Ryle bekannt machen. Ich sagte dir schon einmal, daß ich über kurz oder lang Aufgaben für dich hätte. Die Zeit ist jetzt gekommen.« Bremmer schien seltsam erregt. Sein Gesicht war gerötet, und in seinen Augen lag ein hartes Glitzern. Als Wind River sich einen Stuhl heranzog, murrte Durling, der kleinere der beiden Männer: »Was weißt du über diesen Burschen, Jack? Bist du sicher, daß man ihm vertrauen kann?« »Du hast von der Sache mit Jacoby gehört«, antwortete Bremmer. »Für mich genügt das.« Wind River fühlte die durchdringenden Blicke von Durling und Cass Ryle auf sich ruhen und drehte sich mit undurchdringlichem Gesicht eine Zigarette. Er war gekommen, um Bremmer zu sagen, daß er weiterziehen und das Land verlassen wolle. Nun sagte ihm sein Instinkt, daß es besser war, noch ein wenig abzuwarten und zuzuhören. 299
Cass Ryle betrachtete ihn mißtrauisch, ein wenig spöttisch. Sicher hielt er Wind River für zu alt, um noch viel zu taugen. »Bist du einer von diesen Bluffern, wie sie überall herumlaufen, oder bist du wirklich gut mit dem Schießeisen?« fragte er. »Das kannst du selber herausfinden. Und zwar gleich wenn du willst!« Jack Bremmer schlug mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte. »Langsam! Hier wird nicht herumgeknallt. Cass, du hast eine Frage gestellt und eine Antwort bekommen. Laß es damit bewenden.« Wind River saß schweigend und in sich gekehrt da, während er Jack Bremmer seine Pläne erläutern hörte. Ein sonderbares Gefühl ergriff ihn. Was Bremmer da plante, schloß Betrug und kaltblütigen Mord ein. »Deine Aufgabe, Wind River«, endete Bremmer, nachdem er den anderen ihre Rollen erklärt hatte, »ist relativ einfach. Du hast Cass Ryle zu unterstützen und dafür zu sorgen, daß der Job richtig erledigt wird. Wenn dieser verdammte Sheriff erst einmal unschädlich gemacht ist, wird die ganze Clover-Leaf-Mannschaft in der Stadt auftauchen. Und dann beginnt Durlings Aktion. Ist das klar?« Wind River nickte mit unbewegtem Gesicht. »Was ist dabei für mich drin?« »Fünfhundert Dollar. Zufrieden?« Ein dünnes Lächeln ging flüchtig über Wind Rivers Gesicht. »Ich habe schon für weniger gearbeitet. Aber ich nehme dich beim Wort.« Bremmer lachte. »Du würdest einen guten Pokerspieler abgeben. Aber, das wär’s. Trinken wir noch einen an der 300
Bar.« Sie ließen sich von ihm eine Lage spendieren, dann schlenderte Wind River hinaus, brachte sein Pferd im Mietstall unter und setzte sich wieder auf die Bank vor der Scheune. Eine Fülle von Gedanken bedrängte ihn. Er überdachte seine Vergangenheit und sann über die Zukunft nach. Und aus diesen grauen und unbestimmten Gedanken entstand eine Entscheidung, die ihn plötzlich mit Zufriedenheit erfüllte. Petey Doan hatte in seinem Stall eine kleine Schimmelstute, die sein Lieblingspferd war. Gelegentlich, wenn er wenig zu tun hatte, legte er ihr einen Sattel auf und verschaffte ihr Bewegung. Das tat er auch an diesem Nachmittag, als es bereits kühler zu werden begann. Wind River sah ihm nach, und um seinen Mund spielte ein unmerkliches Lächeln. Denn nur er und Petey wußten, wohin Petey tatsächlich ritt und welche Botschaft er zu überbringen hatte. Kurz darauf schlenderte Wind River zu Kansons Laden hinüber und sah, daß er Glück hatte. Nita Hanson stand hinter dem Ladentisch. Sie grüßte freundlich. »Womit kann ich dienen?« Wind River lächelte ein wenig sonderbar. »Haben Sie und Burke Robbins einen schönen Ausflug gemacht?« Nita Hanson errötete verwirrt. »Ja – gewiß.« Sie sah ihn unsicher an. Wenn Burke Robbins dieses junge Mädchen heiratet, dachte er, wird sie meine Schwiegertochter. Natürlich wird sie es nie erfahren … Nur Mary Robbins und er würden es 301
wissen. Aber es war ein schöner Gedanke. »Kann ich etwas für Sie tun?« fragte das Mädchen nervös. »Ja«, erwiderte er ernst. »Sie können mir zuhören und glauben. Und dann können Sie mir helfen.« Er redete leise und eindringlich auf sie ein, und ihr Gesicht wurde blaß und ihre Augen groß und rund. Als er geendet hatte, zitterten ihre Lippen. »Aber warum – warum sollten Sie so etwas für Burke Robbins tun?« stammelte sie. »Sie sind doch ein völlig Fremder für ihn!« Wind River blickte ihr in die Augen. »Das wäre eine lange Geschichte, mein Kind. Sehen Sie es als den Wunsch an, eine gute Tat in einem Leben zu vollbringen, das nicht viele guten Taten gekannt hat. Ich brauche Ihre Unterstützung.« Sie beobachtete ihn, zwischen Mißtrauen und Glauben schwankend. Schließlich holte sie tief Atem. »Ich – ich werde tun, was Sie sagen. Ich werde Burke zum Abendessen einladen und sehen, daß er nicht auf die Straße geht.« Wind Rivers Augen leuchteten kurz auf. »Gut!« sagte er herzlich. »Nun brauche ich noch einen Hut, einen weißen Stetson, wie ihn Burke Robbins trägt.« Er probierte mehrere Hüte aus, bis er einen fand, der ihm paßte. »Tun Sie ihn in eine Tüte und legen Sie die vor die Hintertür«, wies er das Mädchen an. »Und dann geben Sie mir noch ein Päckchen Tabak, als Grund für meinen Besuch bei Ihnen.« Er bummelte zum Silver Star zurück. Cass Ryle hing in einem Stuhl, die Beine weit von sich gestreckt. Jack Bremmer saß an einem der Pokertische und legte Patience. Er wies auf das Päckchen Tabak, das Wind River in der 302
Hand hielt. »Das hättest du auch bei mir kaufen können.« »Daran habe ich nicht gedacht«, meinte Wind River. »Ich hatte keinen Tabak mehr und ging in den erstbesten Laden.« Bremmer zuckte die Achseln. »Schon gut. Ich bin wohl ein bißchen nervös. Du weißt, was du zu tun hast?« »Ich denke schon. Ryles Platz ist an der oberen Ecke dieses Hauses. Ich stehe im Durchgang auf der anderen Straßenseite. Wenn der Sheriff nicht auf Ryles ersten Schuß fällt, habe ich einzugreifen, damit nichts schiefgehen kann. Danach laufe ich hinten herum zum Stall, hol mein Pferd und reite zur Clover Leaf. Auf dem normalen Fahrweg kann ich sie nicht verfehlen. Wenn ich dort bin, sage ich ihnen, daß ein toter Sheriff in der Stadt liegt. Ist das richtig?« Bremmer nickte. »Genau.« Es war eine samtschwarze Nacht. In diesen frühen Stunden war der Mond noch nicht hinter den Bergketten aufgegangen. Wind River hockte in der finsteren Durchfahrt zwischen zwei Gebäuden, fast unmittelbar dem Saloon gegenüber, und beobachtete Jack Bremmers Gestalt, die klar umrissen vor dem Eingang stand. Der Mann zündete sich eine Zigarette an und schlenderte wie zufällig über die Straße. Seine Stimme klang leise. »Wind River?« »Hier«, flüsterte Wind River. »Ist Ryle bereit?« »Alles klar. Schieß nicht vorbei.« »Keine Angst«, sagte Wind River. »Ich treffe. Darauf 303
kannst du dich verlassen.« Bremmer ging vorüber und kehrte in einem Bogen zu seinem Saloon zurück. Wind River wartete nicht länger. Er zog sich leise zurück, erreichte die Rückseite der Häuserreihe und schlich weiter, bis er hinter Hansons Laden gelangte. Aus den Fenstern der Wohnräume drang warmer Lichtschein. Essensgeruch hing verlockend in der feuchten Nachtluft, und Wind River hörte ein undeutliches Gemurmel aus dem Innern. Man unterhielt sich. Neben der Tür lag eine braune Papiertüte. Wind River zog den weißen Stetson heraus, setzte ihn auf und warf seinen alten Hut fort. Er reckte sich und nahm die Schultern zurück. »Das ist für dich, Junge«, flüsterte er. »Für dich und Mary und für dieses prachtvolle Mädchen, das du heiraten willst.« Er ging rasch um das Haus herum und auf die Straße, die um diese Stunde menschenleer war. Mit gleichmäßigen, unbekümmert erscheinenden Schritten näherte er sich dem Silver Star. Wind River wußte, daß die Ähnlichkeit zwischen seinem Sohn und ihm groß genug war, um dem Plan günstig zu sein. Sie waren von etwa gleicher Größe, und wenn er sich aufrichtete und seine Schultern zurücknahm, konnte man ihn auch in seiner Haltung und seinem Gang mit dem Sheriff verwechseln. Natürlich gab es Unterschiede, die sich nicht verwischen ließen, wie die vollere, muskulösere Statur seines Sohnes, die er mit seiner Hagerkeit nicht vortäuschen konnte. Aber im Dunkeln würden solche feineren Unterschiede unbemerkt bleiben. Der weiße Stetson war 304
das wichtigste Zeichen, das überzeugende Merkmal, falls es eines solchen noch bedurfte. Sheriff Burke Robbins pflegte einen weißen Stetson zu tragen, und wenn Cass Ryle den hellen Fleck in der Dunkelheit ausmachte, würde er keinen Augenblick zögern. Seltsame Gefühle bewegten Wind River. Er hatte keine Angst, im Gegenteil, er war fast froh, was ihn zu äußerster Wachsamkeit befähigte. Und überdies erfüllte ihn das Bewußtsein der Wandlung, die er durchgemacht hatte. Er, der so lange außerhalb des Gesetzes gelebt hatte, verkörperte in dieser Nacht das Gesetz. Die fünfundzwanzig Jahre im Zuchthaus von Deerfoot – waren sie wirklich verloren, verschwendet? Oder waren sie der Preis, den er bezahlen mußte, um in diesem einen Augenblick richtig handeln zu können? Die Nachtluft war kühl und würzig. Seine Hand lockerte den Revolver im Halfter. Der Silver Star war jetzt nicht mehr weit, und er konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf die eine dunkle Ecke des Gebäudes. Er kam näher. Er war das Gesetz und hatte dafür zu kämpfen. Und nicht nur für das Gesetz; auch für den Sohn und die Mutter und das schmächtige Mädchen, das seines Sohnes Frau werden sollte. Für das Gute und Anständige, das endlich seinen Platz in ihm gefunden hatte. Plötzlich zerschnitt Cass Ryles Stimme scharf wie ein Peitschenknall die nächtliche Stille: »Robbins!« Hinter diesem Ruf lag weder ein Gefühl für Fairness noch 305
der Wunsch, den anderen offen herauszufordern. Es war nichts als ein kühl kalkulierter Versuch, das sich bewegende Ziel zum Stehen zu bringen und den entscheidenden ersten Schuß nicht zu verfehlen. Aber es ging nicht wie geplant. Statt stehenzubleiben, sprang Wind River nach links, zog seinen Revolver und feuerte. Er sah Ryles Mündungsfeuer aufblitzen, fühlte aber keinen Kugeleinschlag. Während er sich noch bewegte, feuerte er ein zweites und drittes Mal auf die Stelle, wo Ryles Revolvermündung Flammen spie. Dann hörte er einen Aufschrei, ein paar gurgelnde Worte. »Verdammt, Robbins! Ich … ich bin getroffen!« Mit einem dumpfen Geräusch fiel Ryle neben der Hauswand auf die Gehsteinplanken. Die Türflügel des Silver Star sprangen auseinander, und ein Mann stürzte heraus. Es war Jack Bremmer. Leise und erregt rief er: »Cass! Hast du ihn, Cass?« »Nein!« rief Wind River zurück. »Ryle ist fertig. Wie gut bist du, Bremmer?« Im nächsten Moment wußte Wind River, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er hätte schießen und nicht sprechen sollen. Er konnte Bremmers Bewegung nicht sehen, und als die Pistole in der Hand des Mannes aufblitzte, fühlte er schon die Kugel. Es war ein harter Schlag gegen die Brust, der ihn zwei Schritte zurücktorkeln ließ. Aus dem zweiten Lauf der Derringer peitschte ein weiterer Schuß, und auch diese Kugel fand ihr Ziel. Bremmer raste zurück zum Saloon. 306
Wind River schwankte wie ein Betrunkener. Er mußte die Beine spreizen, um sich auf den Füßen zu halten, aber er zielte hartnäckig auf den Salooneingang. Dann erschien die Silhouette des Spielers vor dem hellen Lichtschein, und die Türflügel schwangen auf. Wind Rivers Revolver bellte auf und der Schuß verhallte hohl und rollend über der Straße. Der Einschlag der Kugel warf Bremmer zurück. Ein Türflügel fiel zu, der andere wurde von Bremmers zusammensackendem Körper offengehalten. Wind River machte ein paar taumelnde Schritte auf den Saloon zu. Seine Kräfte ließen rasch nach, die Knie zitterten, ohne daß er etwas dagegen tun konnte, und er fühlte nur noch ein benommenes und unklares Staunen darüber, daß er flach auf dem Bauch im Straßenstaub lag. Er befand sich in einer Welt, in der nichts wirklich war, außer den Schmerzen in seiner Brust. Langsam, fast unmerklich, kehrte er aus dem Nichts zurück. Es war, als hinge er an einem Faden, der jeden Augenblick zerreißen konnte. Aber er zerriß nicht und wurde mit der Zeit stärker, bis Wind River wieder ein Bewußtsein für die Wirklichkeit bekam. Als er sich an die Schmerzen in seiner Brust zu gewöhnen begann, nahmen sie allmählich ab und vergingen. Er schlief und schlief, und eines Tages erwachte er und fand einen großen Mann mit hellblauen Augen und feuerroten Haaren über sich gebeugt. »Sie werden am Leben bleiben, alter Freund«, rief er verwundert aus. »Ich will verdammt sein, wenn ich weiß, 307
warum. Wenn Sie wüßten, wo ich diese Kugeln herausgraben mußte – es käme Ihnen wie ein Wunder vor!« Für Wind River war das Verweilen in der Wirklichkeit nun kein Ausnahmezustand mehr. Er fühlte wieder Hunger, und eine energische Frau fütterte ihn mit Suppen und anderen Speisen. Seine Kräfte nahmen zu, und der Schmerz in seiner Brust war verschwunden. Eines Tages kam Petey Doan auf Zehenspitzen in das Krankenzimmer. Wind River stützte sich auf die Ellbogen und grinste. »Ich muß höllische Schulden bei dir haben.« Petey grinste zurück. »Du schuldest mir nichts.« »Wie ist es Frank Robbins mit Durling und seiner Bande ergangen?« fragte Wind River. »Weil ich ihn rechtzeitig verständigt hatte, konnte er sie überraschen und zum Teufel jagen. Er wird es dir selber erzählen.« Frank Robbins kam am nächsten Tag. Er stand eine Weile schweigend neben dem Bett und sah zu Wind River herunter, der erstaunt war, daß er diesen Mann fast mit Sympathie betrachten konnte, nachdem er über zwanzig Jahre damit verbracht hatte, ihn zu hassen. »Das war großartig, was du da getan hast, Burke Standish«, sagte der Mann und lächelte. Wind River mußte sich räuspern. »Woher weißt du meinen wirklichen Namen?« fragte er rauh. »Von Mary«, erwiderte Robbins. »Sie hat mir alles erzählt.« »Und der Junge – weiß er es auch?« »Nein, und er wird es nicht erfahren. Du und Mary und 308
ich – wir können schweigen. Und was Durling angeht: er wartete mit sechs anderen Banditen, daß ich mit meinen Leuten in die Stadt reiten würde. Sie hatten alles vorbereitet, meine Herde durch die Berge davonzutreiben. Fünfhundert Stück Vieh! Es wäre ihm auch gelungen, wenn du Petey Doan nicht zu mir geschickt hättest. So war dann Durling derjenige, der überrascht wurde.« »Und wo ist Durling jetzt?« forschte Wind River. »Es war nötig, ein bißchen Blei zu verschießen«, sagte Robbins trocken. »Durling hat etwas davon abbekommen.« Wind River nickte. »Das macht die Liste vollständig. Bremmer muß wohl stärker an der Sache beteiligt gewesen sein, als es den Anschein hatte?« »Natürlich. Er war der Mittelsmann, der für das gestohlene Vieh Abnehmer an der Hand hatte. Wahrscheinlich hätte auch er einen hübschen Gewinn eingestrichen, wenn das Unternehmen geglückt wäre.« Der Mann zögerte verlegen. »Ich möchte dir gern die Hand drücken, Wind River.« »Warum nicht?« sagte Wind River. »Gern!« Später kamen noch andere Besucher. So Nita Hanson, die scheu an sein Bett trat und ihn aus nassen Augen anlächelte. Und wenn sie auch kaum ein Wort herausbrachte, hielt sie doch seine magere Hand zwischen ihren Händen, und sie verstanden einander. Und dann kam der Junge selbst. Burke, sein Sohn! »Ich weiß nicht, warum du das getan hast, Fremder«, sagte der junge Sheriff. »Vielleicht kannst du es mir jetzt erzählen?« »Sagen wir, es ergab sich einfach so«, antwortete Wind 309
River vorsichtig. »Es war etwas, das ich tun wollte. Vielleicht, um meine Rechnung mit dem Gesetz auszugleichen. Ich stand nicht immer – auf der richtigen Seite. Mein Name sollte es dir sagen.« Der Junge musterte ihn. »Ist zwischen dir und dem Gesetz noch etwas offen?« »Ich glaube, darauf kann ich mit nein antworten.« »Gut«, sagte der Sheriff. »Das macht es leicht. Ich habe Anspruch auf einen Deputy, denn mein Distrikt ist ziemlich groß. Interessiert?« Wind River glaubt sich verhört zu haben. »Du meinst, du willst mich – als Deputy einstellen?« fragte er ungläubig. »Ich wüßte nicht, wo ich einen besseren finden sollte.« Wo war die Vergangenheit? Wo waren die verlorenen Jahre? Deputy Sheriff im Büro seines Jungen. Um seinem Sohn zu helfen und auf seine Sicherheit zu achten, um Schulter an Schulter neben ihm zu stehen, wenn es gefährliche Situationen zu bestehen galt. Sie würden ein gutes Paar abgeben, er und sein Junge, bei Gott, es würde ein gutes, ausgefülltes Leben sein! »Wenn du mich haben willst, Sheriff«, sagte er heiser. »Abgemacht.« Mary Robbins war die letzte Besucherin. Sie kam still herein, setzte sich auf die Bettkante und sah ihn aus tränennassen Augen an. »Burke«, murmelte sie. »Was soll ich sagen?« »Sag nichts, Mary. Der Junge hat mich gefragt, ob ich sein Deputy werden will. Sein Hilfssheriff! Ich werde es tun. Was sagst du dazu, Mary?« 310
Mary Robbins war eine kluge Frau. Sie sah sofort, daß die Probleme der Vergangenheit kaum noch eine Rolle spielten. Sie fühlte, daß sie selbst an den Rand des Geschehens gerückt war, in dessen Mitte dieser Mann und sein Sohn standen. Und es machte sie nicht einmal traurig, denn sie wußte genau, daß es so gut war. »Es macht mich froh, Burke«, sagte sie. »Froher, als du dir denken kannst. Vater und Sohn … Es ist gut, daß du ihm zur Seite stehen wirst.« Sie beugte sich über ihn und küßte ihn auf die Stirn; dann verließ sie das Krankenzimmer.
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Bevor Stephen Payne entdeckte, daß er schreiben kann, arbeitete er lange Jahre als Cowboy auf einer Viehranch. So ist es nicht weiter erstaunlich, daß seine Erzählungen außerordentlich authentisch wirken. Er schrieb mehrere Romane und eine Reihe Western-Erzählungen für Jugendliche, darunter »Young Hero of the Range«, für die er 1954 einen Preis erhielt. Er hat seinen Wohnsitz in Colorado.
Stephen Payne
Die alte Ranch »Ich kann nichts essen«, erklärte Ginger mit matter Stimme. »Der Schreck ist mir auf den Magen geschlagen.« Aber Tante Lilis Drängen brachte sie schließlich doch soweit, daß sie sich zu Onkel Toby an den Küchentisch setzte. Der alte Mann blickte auf seinen Teller und mummelte das Essen unter brütendem Schweigen. Er hörte nichts von den alltäglichen Geräuschen der Farm, die durch das offene Fenster hereindrangen. Das fröhliche Gegacker der Hühner auf dem Hof, das sanfte Trillern der Feldlerchen, das satte Grunzen der Schweine in ihrem Auslauf – seine alten Ohren blieben alledem verschlossen. Er hörte auch die Hufschläge nicht. Jemand kam über den Hof geritten, und Ginger eilte zur Wohnzimmertür, bevor Tante Lili sagen konnte: »Vielleicht ist es Sam!« Aber den Besucher auf dem grauen Pferd hatte Ginger vor diesem sonnigen Junitag noch nie gesehen. Der Fremde schien ein Cowboy zu sein, aber er war unbewaffnet, und 312
hinter dem Sattel fehlte die übliche Deckenrolle, in der stellungslose Cowboys gewöhnlich ihre dürftigen Habseligkeiten zu transportieren pflegten. Seine Schultern hatten den mürben braunen Hemdenstoff an zwei Stellen gesprengt. Sie blickte verdutzt zu ihm auf. Sein Gesicht mit den breiten Lippen und den weit auseinanderstehenden braunen Augen war dunkel verbrannt, jung und nicht besonders fein geschnitten. »Sind Sie Miß Ginger Wexford?« fragte der Mann mit weicher, nasaler Stimme. Ginger nickte. »Sind Sie von Sheriff Polk geschickt, um uns zu sagen, daß man Sam gefangen hat?« fragte sie zurück. Ihre Frage blieb unbeantwortet. Er nahm seinen staubverfärbten Hut ab, wobei ungeschnittene dunkle Haare zum Vorschein kamen, und musterte sie von oben bis unten. »Hm«, meinte der schließlich. »Der weise alte Mann hatte recht. Er sagte: ›Mit zwanzig ist Ginger Wexford‹ den Rest will ich Ihnen gern ersparen, er könnte Sie in Verlegenheit bringen. Aber Sie sind hübsch wie ein Füllen auf grüner Weide.« Er lächelte, als hoffte er auf eine freundliche Antwort. Aber Ginger blieb unberührt. »Mit solchen Reden erreichen Sie bei mir nichts. Sie sind ein Cowboy, und ich mag weder die Eingebildeten, die ihren ganzen Lohn für Kleider ausgeben, noch die anderen, denen es egal ist, wie schäbig sie herumlaufen und die immer pleite sind. Von diesen Typen ist keiner für harte Arbeit zu haben.« Die Züge des Mannes verhärteten sich, dann zwinkerte er ihr zu. »Bis jetzt war ich immer ziemlich stolz auf mei313
nen Beruf, und ich glaube, daß es auch noch einen anderen Typ gibt … Um aber auf das zu kommen, was mich hierher geführt hat: Ich hörte, daß die große 2 X in der Nähe von Whetstone eine gute Ranch sein soll, und bin bis zu ihr weit geritten. Aber der Boß, Fred Carroway, sagte –« »Kommen Sie zur Sache, Mister!« »Hobart, Madame«, erklärte der Mann ungerührt. »Mein Name ist Hobart. Ein Mädchen hat mir einmal gesagt: ›Dein Name ist genau so häßlich wie du.‹« »Fred Carroway hat was gesagt?« fragte Ginger ungeduldig. »Daß er keine Leute braucht. Ich fühlte mich niedriger als eine Kröte in einem Erdloch und erklärte ihm, ich würde alles tun. Darauf blinzelte er mich hinterhältig an und gab mir einen Job, den keiner von seinen Leuten übernehmen wollte. Sie sagten, Ihr Onkel Toby hätte die Gewohnheit, Cowboys mit einer Schrotflinte zu begrüßen. Und daß einige Leute nach einem Besuch bei ihm mit Schrot in der Hose nach Hause gekommen wären.« »Onkel Toby hat nichts für Cowboys übrig«, sagte Ginger. »Aber obwohl Fred Carroway ein großer Viehzüchter ist, verkehrt er geschäftlich mit ihm. Was ist das mit diesem Job, Hobart?« Der Mann hob seine Rechte und kratzte sich unter den langen Nackenhaaren. »Der erste Teil davon gefällt mir gar nicht, Miß Wexford. Aber hier ist er: Ich soll fünfhundert Dollar kassieren, die Sie Carroway schulden.« Ginger wich zurück, als hätte er sie geschlagen. »Das Geld ist bezahlt!« rief sie schrill. Hobart stand da und zerknüllte seinen Hut zwischen den 314
Händen. Er sah die Tür hinter Ginger aufgehen und eine weißbeschürzte Frau auf der Schwelle erscheinen. Sie war dürr wie eine Heuschrecke und sah ihn abschätzend an. »Ich bin Gingers Tante Lili, und ich sage Ihnen, daß Gingers Bruder Sam am letzten Dienstag fünfhundert Dollar zur 2 X gebracht und Fred Carroway bezahlt hat.« »Heute ist Donnerstag«, erwiderte Hobart nachdenklich. »Wenn Carroway das Geld bekommen hätte, würde er sich bestimmt daran erinnern. Wo ist Sam?« Die beiden Frauen tauschten beunruhigte Blicke aus, bevor Tante Lili etwas weniger selbstsicher sagte: »Sam ist fort.« »Er wird wahrscheinlich zurückkommen«, meinte Hobart. »Ich kann ja hier auf ihn warten.« »O nein!« widersprach Ginger. »Sie reiten zur 2 X zurück!« Sie schob ihre Tante ins Haus, schloß die Tür und sagte: »Ich will dir sagen, was los ist, Tante Lili. Sam hat das Geld nicht zu Carroway gebracht. Ich bezweifle, daß er überhaupt dort gewesen ist. Am Dienstagnachmittag kam er nach Hause und sagte mir, daß die Schulden bezahlt seien und er nicht mehr bleiben wolle. Ich erinnere mich, daß er mir unter vier Augen sagte: ›Ich schulde Onkel Toby keinen Dank. In drei Jahren habe ich keinen Cent Lohn bekommen, und nicht einmal ein anständiges Pferd zum Reiten. Wenn ich es fertiggebracht hätte, Komet zuzureiten, würde ich vielleicht anders denken.‹ Sam hatte noch mehr Beschwerden, aber hauptsächlich war es dieses Pferd, das ihm nicht aus dem Sinn wollte.« Tante Lili preßte die Lippen zusammen. »Was hat dir 315
Clayt Grimshaw gesagt, als er und Sheriff Polk Mittwoch früh hier waren? Du weißt, Clayt ritt Sams alten Gaul und erzählte uns, Sam hätte sich am Dienstagabend in Whetstone betrunken und den wilden Mann gespielt.« »Ich weiß«, sagte Ginger. »Ich konnte es nicht recht glauben, aber der Sheriff sagte, Sam wäre um Mitternacht aus dem Saloon gekommen, hätte zwischen seinem Gaul und Grimshaws Kingpin die Sättel ausgetauscht und wäre auf Kingpin aus der Stadt geritten.« »Ich will wissen, was Clayt Grimshaw zu dir gesagt hat«, drängte Tante Lili. »Will er Sam wegen Pferdediebstahls verklagen, wenn sie ihn geschnappt haben?« Ginger schüttelte den Kopf. »Nein. Clayt sagte: ›Mein liebes armes Mädchen, ich weiß, wie erniedrigend und schrecklich das alles für dich ist. Glücklicherweise bin ich aber in der Lage, Sam zu retten, indem ich auf eine Klage, verzichte und sage, es wäre einfach ein Irrtum von ihm gewesen.‹« »Das ist ganz Grimshaw«, kommentierte Tante Lili bissig. »Hat er dir Bedingungen gestellt?« »Wenn ich unseren freundlichen Nachbarn heirate, wird Sam ungeschoren bleiben. Wenn nicht …« Sie brach ab, als der einundsiebzigjährige Onkel Toby, ein kahlköpfiger und eigensinniger alter Mann ins Wohnzimmer gehumpelt kam und brüllte: »Lil! Ginger! Was macht der fremde Kerl auf unserem Hof?« Ginger öffnete die Tür und sah Hobart vor dem Stalleingang stehen. Offenbar hatte er sein Pferd untergestellt und sah sich nun auf der Farm um. Im Süden der Stallungen lag die eingezäunte Weide für die Milchkühe. Diese Wiese ers316
treckte sich ein gutes Stück talaufwärts bis zum Grenzzaun von Clayton Grimshaws RG-Ranch. Grimshaws Weideland zeigte ein viel frischeres Grün als das von Onkel Tobys Farm. Die drei Zuschauer sahen, wie Hobart eine Schaufel nahm, über den Zaun kletterte und die Weide betrat. »Bei Gott!« sagte Onkel Toby. »Er will mit einer Schaufel arbeiten! Dann kann er kein Cowboy sein. Ich glaube, er will etwas tun, was ich schon lange getan hätte, wenn ich nicht alt und schwach wäre. Hast du ihm den Auftrag dazu gegeben, Ginger?« »Nein. Und ich werde dafür sorgen, daß er von unserem Land verschwindet.« Sie rannte hinaus, aber Hobarts Vorsprung war bereits zu groß, als daß sie ihn hätte einholen können. Außer Atem gab sie ihren Versuch auf und kehrte langsam zu den Farmgebäuden zurück. Es war nur eine kleine Farm, die Onkel Toby mit Gemüsebau, Milchwirtschaft und etwas Viehhaltung mühsam genug über Wasser hielt, aber seit dem Tode von Gingers und Sams Eltern vor drei Jahren war sie den beiden zur Heimat geworden. Sam war in diesen Jahren stets aufsässig und unzufrieden gewesen, wahrscheinlich, weil sein Vater Harry Wexford eine kleine Ranch im gleichen Tal besessen hatte, und weil Sams einzige Ambition war, Cowboy zu werden. Die aber konnte er auf Onkel Tobys Farm nicht verwirklichen. Ginger und Sam hatten zuerst gehofft, daß ihnen die Ranch ihres Vaters erhalten bliebe, aber sie war damals erst siebzehn gewesen, ihr Bruder vierzehn, und so hatte sie Onkel Toby als Nachlaßverwalter zu sich genommen. Ein 317
Jahr später hatte er Land und Vieh an den wohlhabenden Clayton Grimshaw verkauft, um Schulden und Erbschaftssteuern bezahlen zu können. »Hört auf zu jammern«, hatte Onkel Toby auf Gingers und Sams Klagen geantwortet. »Es gibt keinen anderen Ausweg aus dem Schlamassel, Kinder. Aber es wird ein wenig Geld übrig bleiben, und dafür kaufe ich euch fünfzig Stück Vieh.« Das hatte er getan. Und um die Herde zu verbessern, hatten er und Ginger erst vor kurzem zwei Zuchtbullen von Fred Carroway erworben. Carroway hatte Ginger immer als großzügiger Mann beeindruckt, und er schien für sie und ihren Bruder wirklich Sympathie zu empfinden. Als Zahlung für die Bullen hatte er sich einstweilen mit einem Schuldschein der Wexfords begnügt, der für die Zahlung der Kaufsumme von fünfhundert Dollar eine Frist von drei Monaten vorsah. Für kurze Zeit hatte Sam für das Vieh Interesse gezeigt, doch bald wurde er wieder unruhig und aufsässig. Er wollte auf Wanderschaft gehen und ein richtiger Cowboy werden. »Nicht mit meiner Zustimmung«, hatte Onkel Toby erklärt. »Ich habe nicht vergessen, wie ein Haufen bewaffneter Cowboys meine Farm in Nebraska zerstört und mich aus dem Land gejagt hat. Cowboys sind schlechte Menschen. Sei froh, daß ich dich zu einem guten Farmer mache, du undankbarer Bengel.« Aber Onkel Tobys Vorwürfe hatten Sams Aufsässigkeit nur noch verschlimmert, bis der Junge schließlich fortgegangen war. Sein Weglaufen ist halb so schlimm, sagte sich Ginger. 318
Wenn er bloß nicht schlecht geworden wäre. Es ist schon schlimm genug, daß er Kingpin gestohlen hat, aber noch schlimmer ist, daß er die schwer verdienten fünfhundert Dollar eingesteckt hat, die Onkel Toby, Tante Lili und ich so mühsam mit dem Verkauf von Butter, Eiern, Milch und Gemüse zusammengespart haben. Dieser Dummkopf Hobart wird jahrelang hier warten können, bis wir noch einmal fünfhundert Dollar zusammenbringen. Als sie am Stall vorbeikam, fiel ihr etwas ein. Sie sattelte ihr Pferd, führte Hobarts graue Mähre aus dem Stall und brachte sie auf das Weideland im Westen, wo sie das Tier laufen ließ. Dann ritt sie allein weiter. Nachmittags kehrte sie zurück und trieb eine kleine Schar Pferde vor sich her. Unter den Tieren befand sich auch der halbwilde Hengst Komet. Sie lächelte. Hobart mußte entweder zu Fuß seinem Pferd nachgehen und würde wahrscheinlich vor Wut nicht mehr zurückkommen, oder er würde zu zeigen versuchen, was er konnte, und Komet reiten. Und wenn Komet ihn abwarf, war er so erniedrigt, daß ihm gar nichts anderes übrig blieb, als zu verschwinden. Sie hatte das Tor des Pferchs hinter den Pferden geschlossen, als ein leichter Zweispänner, von zwei schönen Rappen gezogen, auf dem Fahrweg von Whetstone daherkam. Auf Gingers Stirn erschien eine Falte. Der Mann, der da groß und würdevoll in einem gutgeschneiderten blauen Anzug auf dem Kutschbock saß und die Zügel hielt, war Clayton Grimshaw. Bald nachdem Clayton Grimshaw ihre elterliche Ranch gekauft hatte, hatte er Ginger wissen lassen, wie glücklich 319
sie sich schätzen dürfe, daß er sie zu seiner Frau gewählt habe. Daß er doppelt so alt war wie sie, störte ihn nicht. Aber es war nicht nur sein Alter, das ihn in Gingers Augen beinahe abstoßend erscheinen ließ. Weit unerträglicher als das empfand sie seine Selbstgefälligkeit, mit der er seine finanzielle und gesellschaftliche Position herauszukehren pflegte. Dazu kam noch eine gewisse Affektiertheit in seinem Gebaren und in seiner Redeweise. Obwohl auch Tante Lili und Onkel Toby keine Sympathie für den Mann hegten, hatte Onkel Toby seiner Nichte geraten, sich mit Grimshaw gut zu stellen. »Wenn er gemein wird«, so hatte Onkel Toby seinen Standpunkt verteidigt, »kann er unsere Bewässerungsgräben trockenlegen.« Trotzdem hatte Ginger vor vier Wochen endgültig mit Clayton Grimshaw gebrochen. »Mein liebes Kind«, hatte er gesagt, »du bist noch so jung und daher mancherlei Stimmungen unterworfen und deiner selbst unsicher … Ich werde fortfahren, dein guter Nachbar zu sein und weiterhin Hoffnung in meinem Herzen tragen.« Nichtsdestoweniger hatte er sich an Ginger gerächt, indem er Onkel Tobys Bewässerungsgräben die Wasserzufuhr gesperrt hatte, und nach Sams Eskapade war er auf eine beunruhigende Weise wieder in Gingers Leben getreten. Sie zwang sich zu einem Lächeln, ging auf den Wagen zu und sagte: »Gibt es Neuigkeiten über Sams Verbleib?« »Keine, mein liebes Kind. Das Aufgebot mußte unverrichteterdinge zurückkehren. Aber ich bin überzeugt, daß man Sam fangen und – Wer zum Teufel ist der Kerl da?« Ginger wandte sich schnell um und sah Hobart, der eben 320
mit geschulterter Schaufel über den Weidezaun kletterte. Tante Lili, die den Hühnern Futter gestreut hatte, unterhielt sich mit ihm. Ginger fragte sich, was sie ihm erzählen mochte, und plötzlich kam ihr ein boshafter Gedanke: Wie, wenn es zu einer Schlägerei zwischen Hobart und Grimshaw käme? In diesem Augenblick hätte sie es gern gesehen, wenn Hobart mit Grimshaw den Hof fegen würde. Hobart kam näher, und sie sagte leise und hastig: »Clayt, das ist ein verdammter Herumtreiber, ein Landstreicher. Ich wäre dir dankbar, wenn du ihn verprügeln und von unserem Land jagen würdest.« »Hallo, Ginger!« grüßte Hobart, als wären sie gute Freunde. »Ich habe die Dämme Ihres Nachbarn angestochen und das Wasser in die Gräben zurücklaufen lassen.« Grimshaws Miene verdüsterte sich. »Sie mischen sich da in eine Angelegenheit, die Sie nichts angeht. Ich hatte die Absicht, das Wasser zurückzuleiten, wenn …« »Dann sind Sie also Gingers Nachbar Clayton Grimshaw?« unterbrach ihn Hobart. »Der bin ich, allerdings! Und Sie sind hier unerwünscht. Machen Sie sich dünn, und zwar sofort!« Hobart stieß die Schaufelspitze in den Boden. »Ich habe andere Pläne, Mr. Wasserdieb.« Ginger wußte, daß Grimshaw selten die Selbstbeherrschung verlor. Seine Stimme klang denn auch mehr verächtlich als zornig. »Sehr interessant«, erwiderte er. »Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen, wenn Sie in der Lage sind, sie zu beantworten. Wer sind Sie? Was wollen Sie? Welches sind Ihre weiteren Pläne?« »Mein Name ist Hobart. Ich bin hier, um festzustellen, 321
ob an Sams angeblichem Pferdediebstahl etwas faul ist.« Ginger hatte Mühe, ihre unbeteiligte Miene zu wahren. Fred Carroway mußte diesem Hobart alles über die Situation der Wexfords erzählt haben. »Was soll an der Tatsache faul sein, daß der junge Wexford mein Pferd gestohlen hat?« fragte Grimshaw. Hobart stellte seinen Fuß auf die Kante der Schaufel und schob seinen Hut aus der Stirn. »Carroways Cowboys haben keine so schlechte Meinung von Sam. ›Sicher, Sam ist ein junger Hitzkopf‹, sagen sie. ›Aber wir können uns nicht vorstellen, daß er ein Pferd stehlen würde.‹ Sie glauben, daß man Sam in eine abgekartete Sache hineingelockt hat, Grimshaw.« »Ho-ho! Sind Sie vielleicht von diesen idiotischen Cowboys geschickt worden, um –« »Mr. Carroway hat mich geschickt«, unterbrach ihn Hobart. »Er hat mir eine vierteilige Aufgabe gestellt. Unter anderem sollte ich Sam finden und ihn zur Vernunft bringen.« Grimshaw hob den Kopf. »Mein lieber Mann, ich selbst habe Ginger versprochen, Sam auf den rechten Weg zurückzuführen, und ich werde von einem –« Er legte eine Pause ein und lächelte verächtlich – »abgerissenen Landstreicher keine Einmischung dulden.« Jetzt muß es zu einem Kampf kommen! dachte Ginger. Hobart wird Clayt nehmen, ihn vom Wagen herunterziehen, und – Aber Hobart schien eher amüsiert als ärgerlich. »Ich glaube, ich sollte Ihnen sagen, wie der dritte Teil meiner Aufgabe lautet: ›Hol Grimshaw von seinem hohen Roß 322
herunter‹ … So werden Sie sich leider mit meiner Einmischung abfinden müssen.« Endlich explodierte Grimshaw. »Unverschämter Kerl!« schrie er. »Ich glaube kein Wort davon, daß Carroway Ihnen einen solchen Auftrag gegeben haben soll. Was für ein Unsinn. Um es noch klarer zu sagen: Sie lügen. Holen Sie Ihr Pferd und machen Sie, daß Sie weiterkommen. Gehen Sie!« Ginger sah Zorn in Hobarts Augen. »Jemanden einen Lügner nennen, ist eine Beleidigung. Kommen Sie von Ihrem Wagen runter, Grimshaw!« »Los, Clayt!« rief Ginger. »Mach ihn fertig, diesen Hobart! Aber richtig!« »Mein liebes Mädchen«, sagte Grimshaw tadelnd. »Ich muß mich über deine Ausdrucksweise wundern. Ich erniedrige mich nie so weit, daß ich mich auf Schlägereien mit primitiven Raufbolden einlassen würde.« »Große Worte und nichts dahinter«, stichelte Hobart. Grimshaw riß die Peitsche aus dem Halter und holte aus. Sie traf den Cowboy am Kopf und hinterließ einen Striemen auf Hobarts Gesicht. Hobart ließ die Schaufel fallen, sprang Grimshaw an und entriß ihm die Peitsche. Dann trat er schnell zurück und schlug sie ihm seinerseits ins Gesicht. »Jetzt reicht’s!« knurrte er. Sein zweiter Schlag traf die Hinterteile der Zugpferde, die sofort losjagten. Der Wagen raste schleudernd über den Hof, und Grimshaw bemühte sich verzweifelt, auf dem Sitz zu bleiben und die wildgewordenen Pferde zu bändigen. Vom Hühnerhof drang Tante Lilis dünne Stimme herüber: »Das war schöner als alles, was ich seit Jahren gesehen habe!« 323
Onkel Toby, der im Gemüsefeld Unkraut jätete, hatte die Auseinandersetzung gleichfalls beobachtet, aber er nahm seine Arbeit wieder auf, ohne sich dazu zu äußern. Hobart befühlte sein Gesicht und sah Ginger an. »Ihre Tante hat mir gesagt, daß Sie den Mann nicht leiden können, aber Rücksicht auf ihn nehmen müssen.« »Tante Lili hätte nicht plappern sollen«, erwiderte das Mädchen ausweichend. »Hobart, hat Mr. Carroway ihnen wirklich diese Aufträge gegeben?« »Aber gewiß, Ginger«, sagte er. »Und er war richtig aufgebracht dabei. Jemand muß sich um die Wexfords kümmern, und das ist dein Job, Hobart«, sagte er. »Wenn du Ginger begegnest, wirst du dich sowieso persönlich für dieses heikle Problem interessieren. Und er hatte recht! Nur schade, daß Sie von den Cowboys eine so schlechte Meinung haben. Wollen Sie mir nicht sagen, warum Sie so –« »Warum ich so erbittert bin?« beendete sie seinen Satz grimmig. »Ich mache die Cowboys im allgemeinen dafür verantwortlich, daß Sams Leben ruiniert ist.« »Cowboys sollen Sams Leben ruiniert haben?« »Ja! Mein kleiner Bruder hat sie zu Helden gemacht. Immer rannte er in die Stadt, um mit ihnen herumzulungern. Oder er ist zu Carroways Crew geritten, um das fröhliche, ungebundene Leben eines Viehtreibers zu genießen. Und nun sehen Sie selbst, was es ihm eingetragen hat! Als Sie kamen, Hobart, war ich so wütend und aufgeregt, daß ich platzte, weil ich wieder so einen verhaßten Typ sah.« »Es kann nie schaden, wenn man dann und wann ein bißchen Dampf abläßt«, stimmte er milde zu. »Aber als ich Ihnen rundheraus erklärte, warum ich gekommen bin, reg324
ten Sie sich nur noch mehr auf, nicht wahr?« »Und ob!« rief sie. »Selbst wenn Mr. Carroway Ihnen den Auftrag gegeben hat, sich um unsere Angelegenheiten zu kümmern, will ich nichts davon wissen. Ich möchte, daß Sie gehen. Haben Sie bemerkt, daß ich Ihr Pferd auf die Weide gelassen habe?« »Ja. Danke. Mein gutes Sattelpferd ist erst kürzlich eingegangen, deshalb mußte ich mein Zeug zurücklassen und auf mein Packpferd umsteigen. Jetzt kann es sich ausruhen und ein bißchen Fett ansetzen.« Verwirrt fing Ginger an: »Sie bedanken sich? Haben Sie denn nicht vor, sich Ihr Pferd zu holen?« Hobart grinste, und im gleichen Augenblick wich die Härte aus seinem Gesicht. »Das haben Sie sich gedacht, wie? Und nicht nur das, möchte ich wetten, als Sie diese anderen Pferde in den Pferch trieben. Habe ich recht?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging Hobart über den Hof und sah sich die sechs Pferde an. »Ginger«, rief er zurück. »Es juckt mich, diesem großen Hengst meinen Sattel aufzulegen. Ist er zugeritten?« Ginger erkannte mit Befriedigung, daß alles wie geplant ablief. Kein echter Cowboy konnte der Versuchung widerstehen, ein gutes Pferd auszuprobieren. »Komet hat schon ein Zaumzeug getragen, aber noch keinen Sattel«, rief sie zurück. »Komet ist ein guter Name für so ein Tier. Und Sam konnte ihn nicht zureiten?« »Nein. Aber er ist ganz verrückt auf das Pferd.« Hobart pfiff. »So? Da kommt mir eine Idee. Ich werde sie morgen ausprobieren. Jetzt kann ich etwas arbeiten. Sa325
gen Sie mir, was ich machen soll.« »Farmarbeit? Sie als Cowboy würden doch nie –« »Ginger, ich bin in Texas auf einer elenden kleinen Farm aufgewachsen. Bis ich fünfzehn war. Dann verschwand ich – wie das Ihr kleiner Bruder hätte tun sollen.« »Hätte tun sollen?« fuhr Ginger erbost auf. »Wieso?« Hobart lachte. »Wenn Sie sich ärgern, sind Sie noch hübscher als der Sonnenuntergang dort drüben, Ginger. Und nun lassen Sie die Milchkühe in den Stall, dann helfe ich Ihnen melken.« Ginger war insgeheim froh über die Hilfe, denn Onkel Tobys Hände taugten nicht mehr für diese Arbeit, und durch Sams Davonlaufen blieb die Aufgabe, täglich acht Kühe zu melken, an ihr hängen. Sie bat Tante Lili trotzdem, Hobart nichts zu essen zu geben, aber nachdem Tante Lili ihr anvertraut hatte: »Kindchen, ich habe das Gefühl, daß dieser kräftige Mann die Antwort auf meine Gebete ist«, konnte sie den Vorsatz nicht mehr wahrmachen. Nach dem Abendessen hackte Hobart bis zum Dunkelwerden Holz, dann suchte er sich in der Scheune ein Nachtlager. Ginger schlief unruhig und erwachte schon im Morgengrauen, gerade noch rechtzeitig, um Hobart zum Corral gehen zu sehen. Er fing Komet ein, legte ihm ein Zaumzeug an und zog ihm einen Segeltuchsack über den Kopf. Anschließend legte er dem Hengst seinen Sattel auf und schnallte den Gurt fest. Ginger, die alles vom Fenster aus beobachtete, war so gespannt, als müßte sie selbst das Pferd zureiten. Hobart 326
öffnete das Tor, stieg in den Sattel und riß dem Hengst den Sack vom Kopf. Das Tier schoß sofort davon und ging im nächsten Augenblick hinten hoch, bis seine Schnauze fast die Erde berührte. Dann krümmte es den Rücken und sprang mit allen vieren gleichzeitig in die Höhe. Nach einer Reihe wilder Bocksprünge begann es wieder hinten hochzugehen, bis es sich zu überschlagen schien. Ginger konnte sehen, daß der Kampf Hobart Spaß machte. Er blieb fest im Sattel, bis Komet zuletzt erschöpft den Kampf aufgab und seinen Kopf hochwarf. Hobart setzte dem Hengst die Sporen an, schlug ihm den Sack um die Ohren und ritt nach Osten in Richtung auf die unwegsamen Hügel davon, wo Gingers und Onkel Tobys kleine Viehherde zusammen mit Grimshaws Rindern weidete. Beim Frühstück erzählte Ginger von Hobart und dem Pferd, und Onkel Toby ächzte und schnaufte wütend. »Ihr habt mich hereingelegt. Er ist ein verdammter, hergelaufener Viehtreiber. Aber wenn er Komet reiten kann, ist er ein Mann!« »Wenn du das sagst, Toby, ist es schon etwas«, sagte Tante Lili und Ginger flüsterte sie zu: »Hobart hat die Kühe schon vor Tagesanbruch gemolken, und ich habe ihm Frühstück gegeben, bevor er mit Komet anfing.« »Oh!« Ginger errötete halb ärgerlich, halb belustigt. »Und was gedenkt er jetzt zu tun?« »Kindchen, Hobart hat die Idee, daß Sam sich irgendwo in dieser Gegend versteckt hält, weil er Angst hat, sich zu zeigen, und weil er sich hier am besten auskennt.« Ginger blickte ihre Tante verblüfft an. »Aber wollt ihr 327
denn, daß Sam gefangen wird? Sicher, da ist das Geld; aber es kann ihn den Kopf kosten, wenn sie ihn erwischen!« Zu Hobarts Enttäuschung verging der Tag, ohne daß er einen anderen Reiter ausmachen konnte. Doch er wollte die Hoffnung nicht aufgeben, daß Sam Wexford irgendwo in diesen Hügeln steckte. Vielleicht wagte sich der Junge bei Dunkelwerden aus seinem Versteck heraus. Hobart suchte sich einen Hügelrücken mit einem guten Ausblick, setzte sich auf einen im Windschutz von Krüppelkiefern liegenden Felsblock und wartete. Die Sonne war schon untergegangen, und Komet, den er neben sich angepflockt hatte, begann unruhig zu werden. In den muldenförmigen Wiesentälern zwischen den Hügeln lag weißer Nebel. Hobart fröstelte, und er überlegte schon, ob er nicht besser zurückreiten sollte, als hinter ihm eine hohe Stimme kommandierte: »Hände hoch, du da! Dreh dich um!« Hobart hob seine Hände, stand vorsichtig auf und machte kehrt. Vor ihm saß ein schlanker junger Bursche auf einem wunderbaren Fuchs. Der Junge hatte sandfarbene Haare und blutunterlaufene blaue Augen, in denen ein gehetzter und trotziger Ausdruck lag. Seine Rechte hielt einen gespannten Trommelrevolver. »Wer zum Henker bist du, und was machst du mit Komet?« fragte Sam Wexford aufgebracht. »Ich heiße Hobart«, antwortete der andere. »Ich reite Komet für deinen Onkel Toby zu, bei dem ich zur Zeit wohne.« »Das ist nicht wahr«, stellte Sam Wexford fest. »Onkel Toby duldet keine Cowboys auf seiner Farm.« 328
»Ich sage die Wahrheit. Ich habe gehofft, dich zu treffen, Sam … He, sieh dich um! Schnell!« Aus dem Gehölz ritten zwei Männer, ein massiger, schwerfällig wirkender Koloß mit einem viereckigen Schädel, und ein kleinerer Kerl, der neben ihm wie ein Zwerg wirkte. Er hatte ein Rattengesicht mit tückischen Augen, und alle beide hatten ihre Revolver auf Sam und Hobart gerichtet. Die tiefe Stimme des Giganten dröhnte: »Laß deine Räucherkerze fallen, Sam. Hobart, du bleibst, wo du bist, oder wir bohren ein paar Entlüftungslöcher in dein stinkendes Fell!« Sam ließ seinen Revolver fallen und starrte die beiden Männer entgeistert an. »Orville Bixby und Feisty Kelly!« stieß er hervor. »Was wollt ihr?« »Nichts Besonderes«, schmunzelte der Riese. »Sam, du hast vom Gesetz nichts zu fürchten. Clayt ist bereit, die Sache mit dem Sheriff zurechtzubiegen.« »Das soll ich glauben?« Sams Stimme war vor Erregung heiser und schrill. »Clayt würde mich auf Anhieb über den Haufen knallen. Und Onkel Toby auch.« »Reite zu Clayt, Junge«, sagte Bixby. »Clayt ist dein Freund. Sag ihm, daß wir Hobart aus dieser Gegend wegbringen.« Der große Mann stieg ab, trat von hinten an Hobart heran und vergewisserte sich, daß er unbewaffnet war. »Er hat nichts bei sich«, sagte er zu Kelly. »Hobart, steig auf dein Pferd. Wir bringen dich zum Medicine Pass. Aber bevor wir dich gehen lassen, kriegst du noch deine Abreibung.« »Warum nicht gleich jetzt?« fragte Hobart. »Ich wette 329
hundert Dollar, daß ich mit euch beiden fertig werde. Kelly, du bist tapfer, solange du dich hinter einem Revolver verstecken kannst, aber feige wie ein Stinktier, wenn es um einen fairen Kampf geht.« Kelly fluchte. »Nimm ihn beim Wort, Orville. Dich hat noch keiner besiegt. Hast du überhaupt soviel Geld, um die Wette zu halten, Hobart?« Hobart wandte sich an Sam Wexford. »Binde Komet an deinen Sattelknopf. Wieviel von den fünfhundert Dollar hast du noch übrig?« Sams Gesicht rötete sich. »Da du davon weißt – ich habe vierhundert. Hundert kann ich dir leihen.« Er wandte den Kopf nach den beiden Männern um. »Ihr habt gehört. Jetzt könnt ihr die Wette annehmen oder ablehnen.« Auch Kelly stieg jetzt ab. Beide Männer steckten ihre Revolver ein und zogen ihre Brieftaschen heraus. Hobart sah, daß sie mit Zwanzigdollarscheinen vollgestopft waren. »Grimshaw hat euch für diesen Job im voraus bezahlt«, bemerkte er. »Und auch noch für den anderen Job, Dienstagnacht.« »Ja«, sagte Bixby zufrieden, dann fügte er schnell hinzu: »Einen anderen Job hat es nicht gegeben. Hier ist unser Geld, Sam, von jedem fünfzig. Wir sind bereit.« Noch nie zuvor in Hobarts Leben war es bei einem Kampf um einen so hohen Einsatz gegangen, wobei der mögliche Geldverlust im Falle einer Niederlage noch das kleinste Übel war. Sam und Ginger Wexfords Zukunft stand auf dem Spiel, und außerdem noch Hobarts eigenes Leben. Er zweifelte nicht daran, daß Clayton Grimshaw diesen beiden Männern den Befehl gegeben hatte, ihn umzubringen. 330
Die Kämpfer begannen einander zu umkreisen. Feisty Kelly versuchte hinter Hobart zu kommen, um ihn festzuhalten, während Bixby von vorn angriff. Doch Hobart durchschaute das Vorhaben, wich Bixby aus und warf sich auf den kleinen Kelly. Er versetzte ihm einen kräftigen Fausthieb, rammte seine Schulter gegen ihn und warf ihn zu Boden, wo er für die nächsten Minuten kampfunfähig liegenblieb. Sofort sprang er zur Seite, wich Bixbys erstem Ansturm aus und gab ihm einen Stoß, bevor der Koloß abbremsen konnte. Bixby schoß vorwärts, stolperte über seinen Kameraden und schlug hin. Im nächsten Augenblick war Hobart über ihm. Er hoffte, ihn am Boden halten zu können, aber Bixby war zu stark, warf seinen Angreifer ab und kam auf die Füße. Nun begann ein wilder Schlagabtausch, der weniger zähen Gegnern zum Verhängnis geworden wäre. Bixbys harte Schläge drängten Hobart zurück. Der Koloß witterte seine Chance und versuchte Hobart einen Fußtritt zu versetzen, aber der wich im letzten Moment aus und packte den Stiefel seines Gegners. Bixby stürzte schwer zu Boden. Hobart wollte sich erneut auf ihn werfen, aber da sah er, daß Kelly sich aufgesetzt hatte und seinen Revolver zu ziehen versuchte. Hobart jagte mit einem Satz auf ihn zu und schlug ihm den Revolver aus der Hand. Hobart packte ihn an den Füßen, riß ihn hoch und schleuderte ihn auf Bixby, der eben aufstehen wollte. Beide stürzten miteinander zu Boden. Als Bixby wieder aufstand, wartete Hobart schon. Bevor der Mann sich abdecken konnte, traf ihn ein vernichtender Aufwärtshaken an die Kinnspitze, und er ging von neuem 331
zu Boden. Diesmal kam er nicht mehr hoch. Hobart fesselte erst Kelly und dann Bixby mit ihren eigenen Gürteln und Halstüchern die Hände auf die Rücken, bevor er seine Aufmerksamkeit Sam Wexford zuwandte. »Hilf mir, diese Stinktiere auf ihre Pferde zu laden«, keuchte er. »Wir bringen sie nach Whetstone zum Sheriff. Du reitest mit mir.« »Nein«, entgegnete Sam immer noch mißtrauisch. »Ich nicht.« Hobart blickte dem Jungen ruhig in die Augen. »War es ein Irrtum, Sam, daß du auf Kingpin aus der Stadt geritten bist?« »Natürlich war es einer! Ich war ziemlich betrunken, aber ich kann mich noch erinnern, daß ich aus dem Saloon zum Haltegeländer wankte, wo ich den alten Pete angebunden hatte. Es stand nur noch ein Pferd im Dunkeln da, und ich zog mich hinauf und ritt los. Es war schon Tag, bevor ich so nüchtern war, daß ich sehen konnte, was für ein Pferd ich unter mir hatte. Ich bekam einen Schreck, weil es Kingpin war. Niemand hätte mir geglaubt, daß es eine Verwechslung war. Wenn man mich erwischte, wäre mir der Galgen sicher gewesen, oder wenigstens das Gefängnis. Also kam ich auf den Gedanken, mich in einer Gegend zu verstecken, die ich gut kannte. Ich hätte mich gar nicht hervorgewagt, wenn ich nicht so neugierig gewesen wäre, den Mann zu sehen, der es fertiggebracht hat, Komet zuzureiten.« Hobart zuckte die Achseln. »Ein weiser alter Mann hat mir einmal gesagt: ›Wenn du einen Fehler gemacht hast, gib ihn zu und nimm die Folgen auf dich, wie unbequem 332
sie auch sein mögen.‹ In deiner Lage erfordert das schon eine Menge Schneid, Sam. Hast du soviel? Oder willst du deine Schwester und mich im Stich lassen?« »Schneid?« wiederholte Sam. Er blickte unschlüssig von den beiden gefesselten Männern zu Hobart, der mit blutender Nase und zerrissenem Hemd vor ihm stand. »Gut«, meinte er endlich, »daran fehlt es mir nicht. Meinetwegen reiten wir nach Whetstone.« Obwohl Ginger Wexford sich einredete, daß ihr Hobarts Schicksal gleichgültig sei, suchten ihre Blicke ständig den Horizont ab. Der Tag verging ohne ein Zeichen von ihm. Sie ging ihrer Arbeit nach, konnte ihre Gedanken jedoch nicht von ihm abwenden. Sie erinnerte sich, wie er ihr beim Melken geholfen und, wie er Komet gezähmt hatte, wie er aussah und was er ihr gesagt hatte. Sie wartete noch, als gegen neun Uhr ein Wagen über den Hof ratterte und eine wohlbekannte Stimme rief: »Ho, Ginger! Ginger, wo bist du?« Sie ging hinaus vor die Tür. »Hallo Clayt. Was gibt’s Neues?« »Allerhand, mein liebes Kind. Dieser unverschämte Störenfried ist fort.« Grimshaw lächelte selbstzufrieden. »Ich glaube nicht, daß er sich noch einmal hier blicken lassen wird.« »Du meinst Hobart? Er ist fort?« »Ich habe in der Stadt zwei Männer angeheuert, um ihn aus unserem Land zu vertreiben. Wir sahen Hobart nach Norden in die Hügel reiten, und diese beiden Männer haben seine Verfolgung aufgenommen. Der unangenehme Job ist erledigt.« 333
Ginger hatte sich noch nie so leer und mutlos gefühlt, wie in diesem Augenblick. »Aber – aber ich wollte eigentlich gar nicht, daß er geht!« stammelte sie. Grimshaws Stimme wurde scharf und ärgerlich. »Du weißt selbst nicht, was du willst.« »Manchmal doch«, verteidigte sich Ginger. »Meine Meinung über dich hat sich nicht geändert.« »Ginger, du bist eine perverse und flatterhafte kleine Hexe!« explodierte Grimshaw. »Meine Geduld ist zu Ende!« Er sprang vom Wagen und umfing sie mit beiden Armen. »Jetzt versprich mir, daß du mich heiraten wirst. Es ist immer noch Zeit.« »Zeit für was?« fragte eine Stimme. Ginger blieb das Herz stehen, dann hämmerte es wie wild. Hobart, Sam, Sheriff Polk und Fred Carroway kamen auf sie zu. Aber ihr Erstaunen war gering, verglichen mit dem Grimshaws. Und bevor er es überwinden konnte, sagte der Sheriff von Whetstone: »Clayt, wir alle und noch ein paar andere Leute haben von Orville Bixby und Feisty Kelly gehört, daß sie von Clayton Grimshaw zweihundert Dollar bekommen haben, um Sam Wexfords Pferd zu einem anderen Haltegeländer zu führen, dein Pferd Kingpin vor dem Saloon anzubinden und die Sättel auszutauschen. Der Satteltausch sollte mich glauben machen, daß Sam absichtlich dein Pferd gestohlen hat. Morgen früh, Clayt wirst du in dieser Gegend genauso populär sein wie ein vergiftetes Stinktier!« Ginger sah, wie Clayton zusammenzufallen schien. Er kletterte schweigend in seinen Wagen und nahm die Zügel 334
auf. Hobart stieg von der anderen Seite zu und setzte sich neben ihn auf die Sitzbank. »Mann, Sie brauchen Gesellschaft!« sagte er. »Ich begleite Sie nach Whetstone.« Der Stimmenlärm hatte Tante Lili und Onkel Toby auf die Schwelle gelockt. »Sam, du kommst sofort hierher!« rief Tante Lili. »Laß dich mal ansehen, Junge.« Sam zögerte. »Zuerst muß ich Onkel Toby und dir und Gin sagen, daß es mir leid tut. Ich habe mir schon Vorwürfe gemacht, daß ich Carroways Geld genommen habe. Aber ich gebe zurück, was davon übrig ist. Hast du verstanden, Onkel Toby?« »Ja«, knurrte Onkel Toby grimmig. »Aber was ist mit dem Rest, den du versoffen und verjubelt hast?« »Hobart hat aus Bixby und Kelly die Wahrheit herausgeholt. Unterwegs hierher haben er und Mr. Carroway überlegt, wie ich das Geld zurückzahlen könnte. Mr. Carroway würde mir einen Job auf seiner Ranch geben, damit ich es abarbeiten kann. Was meinst du dazu, Onkel Toby?« Ginger hörte die Unsicherheit in der Stimme ihres Bruders und hielt den Atem an. Der Plan war die einfachste und beste Lösung für Sams Probleme. Die Arbeit für einen Fremden und die Verpflichtung, seine Schuld abzugelten, würde vielleicht einen Mann aus ihm machen. Onkel Toby nahm sich Zeit zum Nachdenken. »Ich weiß nicht warum, aber dieser Hobart hat mich umgestimmt. Wenn du glaubst, daß du anders nicht glücklich werden kannst, Sam, geh meinetwegen hin und arbeite als Viehtreiber. Mir soll es recht sein.« Sheriff Polk und Carroway schmunzelten, als Sam seine 335
Schwester umarmte. »Oh, Gin, wie bin ich froh! Aber ich bin auch am Verhungern. Kannst du dich um Komet kümmern, während ich …« »Geh nur ins Haus«, unterbrach ihn Ginger. »Tante Lil gibt dir was zu essen.« Sie führte das Pferd in den Stall, sattelte ab und fütterte das Tier. Dann trug sie die Laterne in die Scheunendurchfahrt und ließ sich auf einen Sack Hafer fallen. Aus dem Haus ertönte Lachen, und sie dachte: Alle sind jetzt froh, und ich sollte es auch sein. Aber mein Problem ist noch nicht gelöst. Grimshaw wird wiederkommen, und er wird bösartiger sein als je zuvor. Seine Nachbarschaft wird noch unangenehmer werden. Sie wußte nicht, wie lange sie sich ihren trüben Gedanken überlassen hatte, als auf dem Hof Räderknirschen und Hufgetrappel laut wurden. Sie stand auf und spähte in die Dunkelheit hinaus. Es war Clayt Grimshaws Wagen. Hobart sprang herunter, und der Wagen rollte weiter. Hobart hatte das Mädchen in der erhellten Scheuneneinfahrt entdeckt und kam mit langen Schritten auf sie zu. Doch als er vor ihr stehenblieb, sah Ginger zum ersten Mal, daß er seine gewohnte Selbstsicherheit verloren zu haben schien. »Sie werden schon gehört haben, daß ich einen Cowboy aus Sam gemacht habe«, sagte er. »Was sagt Onkel Toby dazu? Wartet er mit der Schrotflinte auf mich?« »Nein, Hobart. Onkel Toby ist es recht.« »Das beruhigt mich sehr.« Hobart nahm seinen Hut ab und stammelte: »Ginger, ich kann Pferde zureiten, in einem Kampf meinen Mann stehen oder in einem Blizzard Vieh hüten, aber ich weiß nicht, wie … wie ich … Nun, es ist so, 336
wie mir einmal ein weiser alter Mann gesagt hat: ›Eines Tages, Hobart, wird dir ein Mädchen über den Weg laufen und du wirst vergessen, daß du eigentlich frei sein und die Welt durchstreifen wolltest. Statt dessen wirst du hoffen, daß sie …‹« Er trat von einem Fuß auf den anderen und rang nach den rechten Worten, doch sie kam ihm zuvor. »Sind Sie also wieder bei dem angelangt, was Ihnen ein weiser alter Mann erzählt hat? Nun, mir hat einmal eine sehr weise alte Frau gesagt: ›Wenn du dem richtigen Mann begegnest, laß ihn nicht wieder weg.‹« Hobarts Augen leuchteten. Er lächelte, warf seinen Hut fort und fand eine neue Aufgabe für seine großen Hände und Arme. »Hobart«, flüsterte Ginger nach einer Weile, »du hast nicht einmal ein neues Hemd auf dem Leib, aber das ist auch nicht wichtig. Wichtig bist nur du.« »Nett, daß du das sagst, Ginger. Aber wie mir einmal ein weiser alter Mann gesagt hat –« »Ich bin froh, daß weise alte Männer dir so viele Dinge gesagt haben.« »›Wenn die Gelegenheit kommt, mußt du sie schnell beim Schopf ergreifen,‹ Das war der Grund, Ginger, warum ich zu Clayt Grimshaw in den Wagen gestiegen bin. Ich war überzeugt, daß er keine Lust mehr haben würde, in dieser Gegend zu bleiben, und daß ihm ein Angebot für seine Ranch willkommen wäre, selbst von einem Mann, den er nicht ausstehen kann. Und so war es. Er hat nur den Wagen und seine Pferde für sich behalten, und morgen früh wird er schon fort sein.« Ginger lachte hell auf. »Du Lügner! Soll ich vielleicht 337
glauben, daß ein abgerissener Herumtreiber das Geld hat, Grimshaws Ranch zu kaufen?« »Wirklich, das kannst du glauben. Du wirst dich erinnern, daß ich einmal andeutete, es gäbe noch eine dritte Art Cowboys – knickerige Geizkragen, die zu schäbig sind, um sich selbst einen guten Sattel, Schnaps, Kleider oder sogar Tabak zu kaufen. Cowboys, meine ich, die ihr Geld sparen. Ich hatte ursprünglich vorgehabt, eine Weile bei Carroway zu bleiben und mir mein Bankkonto nach Whetstone überweisen lassen. So war es ganz leicht, Grimshaw auszuzahlen. Ich habe – ich meine, wir haben jetzt deines Vaters alte Ranch mit zweihundert Stück Vieh, ein paar Pferden und –« »Und mein altes Geburtshaus!« rief Ginger froh. »Oh, Hobart, ich bin so glücklich! Es kling alles so unglaublich! Der dritte Teil deines vierteiligen Problems war doch, Grimshaw loszuwerden. Ich glaube nicht, daß jemand das könnte. Darum frage ich mich jetzt, was das vierte Problem war?« »Das vierte? Oho, ja.« Hobart lachte. »Zuerst schien mir das noch schwieriger zu sein, als die drei anderen, und wenn du es dir überlegst, wirst du mir zustimmen. Es wird immer und ewig lauten: Mach Ginger glücklich.«
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Noel M. Loomis, der in Kalifornien beheimatet ist, wurde in den Jahren 1958 und 1959 zweimal mit Preisen ausgezeichnet. Den ersten erhielt er für den historischen Western-Roman »Short Cut to Red River«, den zweiten für seine Kurzgeschichte »Grandfather Out of the Fast«.
Noel M. Loomis
Die Büffeljagd Im Frühling 1844 lagerte Ikämosas kleine Schar KiowaIndianer unter den Ostabstürzen des Caprock, eines Tafelbergs im nordwestlichen Texas, und harrte hoffnungsvoll und verzweifelt zugleich auf die Regenfälle und die Wärme eines Frühlings, der in diesem Jahr länger als sonst auf sich warten ließ. Der alte Ansote, Medizinmann und Geschichtsschreiber des kleinen Stammes, der seine einfachen Symbole auf eine Büffelhaut malte, die den KiowaKalender trug, hatte den Februar den »Monat der weinenden Kinder« genannt. Dohente, der ehrgeizige Kriegshäuptling der Schar, sagte immer wieder einen trockenen Sommer ohne Wild voraus, und er vergaß nie, hinzuzufügen, daß etwas Entscheidendes getan werden müsse. Aber Ikämosa, halb Comanche und Häuptling dieses aus nur wenigen Sippen bestehenden Stammessplitters, behielt seine Sorgen für sich, weil er eine Panik zu vermeiden hoffte. Dabei war er über eine Meldung zutiefst beunruhigt, die ein durchziehender Wichita-Indianer mitgebracht hatte. Sie besagte, daß der Büffel noch nicht begonnen hatte, nach Norden zu ziehen, weil das Gras nicht grün werden wollte. 339
Der Wichita hatte sich nur kurze Zeit in ihrem Lager aufgehalten, und Ikämosa war der einzige, der sich mit ihm in seiner Stammessprache hatte unterhalten können. Bei der Weitergäbe der Nachricht an seine Leute hatte er sie ein wenig abgeschwächt, um sich Zeit zum Nachdenken zu geben. Am nächsten Morgen saß er mit gekreuzten Beinen vor einem kleinen Feuer aus Mesquitewurzeln und tat, als sei er vollauf damit beschäftigt, eine eiserne Pfeilspitze an einem geschnitzten Schaft zu befestigen. Er hätte eigentlich einen jungen Hartriegelschößling bevorzugt, weil das krummgewachsene Wurzelholz viel Schnitzarbeit erforderte, aber im Umkreis zweier Tagesritte gab es nur sehr wenige geeignete Sträucher. Er bemerkte eine Bewegung zu seiner Linken, und dann sah er, daß es Tene-badai war, seine dritte Frau. Seine schwarzen Augen beobachteten sie, wie sie mit ihrem Kind auf dem Rücken den Pfad zum Bach hinunterging. Tenebadai war erst sechzehn Sommer alt, aber Ikämosa sah jetzt zum ersten Mal, daß ihre Schultern dünn waren, und er fragte sich, ob sie eine verborgene Krankheit haben mochte, von der manche Frauen befallen wurden. Seine beiden anderen Frauen schienen trotz der spärlichen Nahrung der letzten Monate noch recht gut bei Kräften zu sein. Er befeuchtete die Sehne mit Speichel und wickelte sie fest um den gespaltenen Pfeilschaft. Er war noch nicht fertig, da erschien Dohente, der Kriegshäuptling, nickte feierlich und ließ sich zeremoniell auf der anderen Seite der Feuerstelle nieder. Die Wildlederleggings an seinen gekreuzten Beinen waren dicht mit Perlen besetzt; er hatte dieses vielbewunderte Beinkleid von einem weißen Händ340
ler erworben. Sein schwarzes Haar hing ihm in einem langen Zopf über die Schulter, und die schlauen schwarzen Augen in seinem breiten Wolfsgesicht starrten einen Moment Ikämosa an, bevor sie Tene-badai einen Blick nachsandten, die am Bach stehengeblieben war, um den Sand aus ihren Mokassins zu schütteln. In Dohentes Augen lag eine Frage, die Ikämosa nicht verstand, aber er fuhr fort, die Sehne um den Pfeilschaft zu wickeln. Dohente wandte den Kopf zurück und blickte ins Feuer. Plötzlich bemerkte er: »Unsere Frauen haben Mühe, genug Schlangen und Schildkröten zu finden, um uns vor dem Verhungern zu bewahren.« »Das ist wahr«, sagte Ikämosa und sah unwillkürlich zu Tene-badai hinunter, die nun auf ihren Knien am Bachufer kauerte. Dann paffte er langsam an der Pfeife und reichte sie dem Kriegshäuptling. Sein Blick blieb an Dohentes langem Zopf hängen. Man flüsterte sich im Lager zu, daß Dohente seine vierte Frau nur genommen habe, um ihr Haar zu bekommen und es dem seinen hinzuzufügen. »Ich habe kein Wild gefunden«, gab Ikämosa zu, »weil ich dachte, es sei nicht nötig, sehr weit zu suchen. Ich glaube, der Büffel müßte jetzt jeden Tag kommen.« Er blickte zu den gewaltigen, braunroten Felswänden hinauf, die viele Tagereisen weit wie eine mächtige Stufe das Land teilten. Unter allen Stämmen der Prärieindianer kannte man sie unter dem Namen Pasangya, Präriekante. Hinter ihr im Norden dehnten sich die weiten Trockensteppen des Llano Estacado. »Selbst die Mustangs und die Antilopen sind nicht gekommen.« »Das Gras wächst nicht ohne Wasser«, erklärte Dohente. 341
»Und in diesem Winter haben wir viel Kälte aber wenig Schnee gehabt.« Ikämosa nahm die Pfeife zurück. »Sehr wahr«, sagte er. »Ohne Gras«, fuhr Dohente fort, »wird es wenige Präriehunde und noch weniger Kaninchen geben, und die Coyoten werden in andere Gegenden ziehen. Hirsch und Antilope und Büffel werden nicht hier sein, und der Bär wird in den Wäldern des hohen Nordens bleiben. Es wird nicht einmal Ta-kiatl geben, Präriehühner.« Das war schon Sarkasmus, denn die Kiowas hatten für Geflügel wenig übrig. Ikämosa grunzte. Dohente sprach schon weiter: »Es scheint, daß wir in diesem Sommer außer Kröten und Stinktieren nichts zu essen haben werden.« Ikämosa schauderte. Stinktiere waren immer schlechte Medizin, und er sagte: »Wenn wir nicht zu einem anderen Platz ziehen.« »Wohin könnten wir gehen?« fragte Dohente. Ikämosa schwieg. Dieses Tal am Tonzu-godal P’a, dem Fluß des schnellen Wassers, war seit vielen Jahren ein idealer Lagerplatz zum Überwintern gewesen. »Wenn es hier schlecht ist, wird es überall schlecht sein«, sagte Dohente. Ikämosa versuchte aus Dohentes drängenden Worten die Wahrheit herauszulesen. Dohente war ein Jahr älter als er, und Ikämosa, der die Feindseligkeit in Dohentes Augen sah, begriff zum ersten Mal, daß Dohente ihm die Position des Stammeshäuptlings neidete. Dohente war ein guter Kriegshäuptling, aber wenn er sich nicht auf dem Kriegspfad befand, war er ein Unruhestifter. Doch Ikämosa hielt sich zurück und sah zu, wie Tene-badai 342
mit einer Büffelblase voll Wasser den Pfad heraufkam. Sie streifte ihn mit ihrem Blick, und Ikämosa glaubte Hunger in ihren Augen zu sehen. Ikämosa wandte plötzlich den Kopf und sah, wie Dohentes glitzernde kleine Augen Tene-badai nachstarrten, bis sie im Zelt verschwunden war. »Sie ist zu einer Frau geworden«, sagte Dohente. »Ja«, antwortete Ikämosa kurz, und sein Tonfall verbot die weitere Behandlung des Themas. Dohentes Interesse an Frauen war wohlbekannt. Dohente deutete mit dem Pfeifenstiel auf den Messingtopf über dem Feuer. »Dein Vater kannte eine solche Bequemlichkeit wie diese nicht. Er aß sein Fleisch roh oder ein wenig von der Glut angesengt.« »Für meinen Geschmack«, erwiderte Ikämosa nachdenklich, »ist das Fleisch besser, wenn es über der Glut gebraten wird. Gekochtes Fleisch hat wenig Aroma.« Dohente schlug die Augen nieder und sagte: »Immerhin hast du Gegenstände wie diesen Messingtopf sehr nützlich gefunden.« »Leer ist er nichts wert«, sagte Ikämosa. »Er brauchte nicht leer zu sein«, antwortete Dohente und hielt dem Häuptling die Pfeife hin. Ikämosa nahm die Pfeife und blickte in die Glut des Feuers. »Ich weiß nicht, wie du erwartest, daß Nahrung hineinkommt, wenn nirgendwo welche zu finden ist.« Dohente beobachtete Ikämosa scharf. »Man-henk’ia, der Hanpoko, der als Ohne Arm bekannt ist, von Bents Fort«, sagte er, »baut einen Handelsposten am Biberfluß. Er schickt allen Indianern Nachricht, daß sie zu ihm kommen und Handel treiben sollen, und er verspricht Mais, getrock343
netes Fleisch, Zucker, Salz, Tabak und Kaffee. Tabak – keine Weidenborke!« Seine Stimme hob sich zornig. »Und Kaffee!« rief er aus. »Den ganzen Winter habe ich keinen richtigen Kaffee getrunken.« »Ich auch nicht«, erklärte Ikämosa. Er wählte seine Worte sorgfältig. »Aber als wir unsere Sippen zusammenschlossen, stimmten wir alle überein, daß wir mit den Hanpoko, den Weißen, keinen Handel treiben würden, außer, um Pulver und Kugeln zu erhalten.« »Das ist wahr«, gab Dohente zu. »Doch ich ertrage es nicht, meine Frauen und Kinder hungrig zu sehen. Nachts höre ich ihr Schluchzen.« Dabei, dachte Ikämosa, denkst du nur daran, deinen gut gepolsterten Bauch mit heißem Kaffee zu füllen. Er schob den Gedanken beiseite, denn er verursachte auch in ihm starkes Verlangen. Er sagte: »Wir haben seit Wochen kein Fleisch gehabt, nichts als ein paar wilde Kartoffeln und Wurzeln, die meine Frauen unter den Felsen gefunden haben.« »Dann ist es ausgemacht«, sagte Dohente und erhob sich. »Wir werden zu Man-henk’ia gehen. Die Frauen und Kinder werden sich freuen!« Aber Ikämosa regte sich nicht. »Wir können ihm nichts bieten – kein weißes Eisen, kein gelbes Eisen, weder Häute noch Felle.« »Man-henk’ia wird uns vertrauen, bis wir ihm diese Dinge geben können.« »Und uns den dreifachen Preis abverlangen. Es ist ein alter Trick der Hanpoko.« »Es ist ihre Art«, gab Dohente zu. »Aber Bettler können 344
nicht wählerisch sein.« »Wir sind keine Bettler«, sagte Ikämosa gleichmütig und klopfte die Asche aus seiner Pfeife. »Es würde bedeuten, daß unsere Frauen im nächsten Herbst und Winter für ihn arbeiten müssen, daß sie Häute und Felle präparieren. Es würde bedeuten, daß wir noch mehr Mais und Kaffee von ihm brauchen, und Zinnober und Glasperlen und Bänder und Messingtöpfe …« Er stand auf. »Und dann wird Manhenk’ia uns besitzen, weil er auf Jahre im voraus unsere ganze Arbeit besitzt.« »Du kannst gegen Nahrungsmittel nichts einwenden.« »Doch, wenn wir sie auf diese Weise erwerben müssen. Mir gefallen die Dinge nicht, die damit verbunden sind«, sagte Ikämosa hartnäckig. »Die Kiowas waren immer frei, sie konnten ziehen, wohin sie wollten. Manchmal waren wir hungrig, aber wir haben selbst Anstrengungen unternommen, um Nahrung zu bekommen – und es ist uns immer gelungen.« »Die Hanpoko bringen neue und gute Dinge in unser Land …« Ikämosa machte eine verächtliche Geste. »Neue und gute Dinge sind nicht besser, weil wir über einen Ladentisch greifen und sie nehmen können. Und erst recht nicht, wenn wir Monate arbeiten müssen, um für sie bezahlen zu können. Die Hanpoko kommen zu uns mit Dingen, die wir nicht brauchen. Aber sie schaffen es, daß wir sie wollen, und dann lassen sie uns arbeiten, um sie zu kaufen.« »Man-henk’ia ist da, auch wenn der Büffel ausbleibt«, bemerkte Dohente. »Das ist wahr«, sagte Ikämosa. »Und immer hält er seine Hand auf, und immer fesselt er uns mit 345
unsichtbaren Bändern an sich und sein Lehmzelt.« »Die Eltern deiner Frauen werden schlecht von dir denken, wenn du nicht für sie sorgst, obwohl es so einfach ist.« Ikämosa blickte ihn ärgerlich an. »In einer solchen Angelegenheit werde ich selber meine Entscheidung treffen. Die Eltern haben nichts damit zu tun.« Dohente schien durch diese Ablehnung nicht entmutigt zu sein, und Ikämosa fragte sich, was er noch vorbringen mochte. Er wunderte sich auch, warum Dohente so hartnäckig auf seiner Meinung beharrte. »Statt die Arbeit und vielleicht sogar die Körper unserer Frauen an Man-henk’ia zu verkaufen«, sagte Ikämosa, »sollten wir lieber Kundschafter in alle Richtungen aussenden und dann hinziehen, wo sie Wild gefunden haben.« Dohentes Augen nahmen ein seltsames Glitzern an. »Du weigerst dich also?« fragte er vorsichtig. »Ich glaube, es gibt eine bessere Möglichkeit«, erwiderte Ikämosa. »Einige haben vorausgesehen, daß du so sprechen würdest«, meinte Dohente beiläufig. »Dann hast du mit anderen darüber gesprochen?« Dohente zuckte die Achseln. »Ein wenig.« »Wie denken die anderen darüber?« Dohente betrachtete nachdenklich das Feuer. »Einige sagten, daß es dich nicht kümmert, ob die Kiowas verhungern oder nicht, weil deine Mutter eine Comanchensklavin war.« Ikämosa sog die Luft scharf durch seine Zähne ein. »Ich wurde als Kiowa erzogen«, sagte er, »aber ich habe nie die Liebe des Comanchen zum freien Umherziehen nach eige346
nem Gutdünken verloren.« »Ich habe ihnen natürlich gesagt«, erklärte Dohente, »daß dir nur das Wohlergehen des Stammes wichtig ist, weil dein Vater ein Kiowahäuptling war, und weil du als Kiowa aufgewachsen bist.« Ikämosa leckte sich die trockenen Lippen. Er sagte nichts. Dohente blickte zu Tene-badais Zelt. »Wie werden deine Frauen denken, wenn andere Frauen Perlen und Bänder haben, und sie nicht?« Ikämosa warf den Kopf zurück. »Du bist gekommen, um eine Auseinandersetzung zu erzwingen. Das ist klar. Du wirst jetzt gegen mich sprechen, und einer von uns wird den Stamm verlassen müssen. Du hattest das im Sinn, als du zu mir kamst.« Für einen Augenblick gewann der Zorn in ihm die Oberhand. »Verlasse mein Feuer, oder ich werde dich hineinwerfen.« Dohentes schwarze Augen blitzten auf. »Vielleicht hatten sie recht – vielleicht bist du wirklich mehr Comanche als Kiowa.« Er machte kehrt und ging fort. Ikämosa blickte ihm nach. Beim Gehen rührten Dohentes hornige Fußsohlen winzige Staubwölkchen auf. Aus irgendeinem Grund hatte sich Dohente darauf versteift, mit Man-henk’ia Handel zu treiben, und Ikämosa wußte, daß der Kriegshäuptling nun mit jedem Stammeskrieger und vielleicht sogar mit den Frauen sprechen würde, um sie von seiner Ansicht zu überzeugen. Ikämosa hörte leichte Schritte hinter sich, drehte den Kopf und sah Tene-badai. Sie begegnete seinem Blick nur kurz, 347
dann trat sie an den Topf. »Ich habe einen Frosch gefunden«, sagte sie und ließ etwas in das siedende Wasser fallen. Er schauderte. Als Nahrung waren Frösche noch verächtlicher als Schlangen. »Es ist Nahrung«, sagte sie, »und deine Haut hängt wie nasse Lappen an deinen großen Knochen.« Sie wollte gehen, aber er hielt sie zurück. »Du bist nicht glücklich mit mir«, sagte er. Zum ersten Mal seit Wochen blickte sie ihm voll in die Augen. »Du hast mich nie unglücklich gemacht.« . Er runzelte die Braunen. »Deine Augen waren lange niedergeschlagen.« »Vielleicht.« »Möchtest du zu deinen Eltern zurückkehren?« Sie sah ihn überrascht an. »Ich bin jetzt eine Frau. Ich werde nicht in meines Vaters Zelt zurückgehen, solange du mich nicht fortschickst.« »Es könnte sein, daß du gegen deinen Willen zu mir gekommen bist«, sagte er langsam. Nun wurde sie zornig. »Du vergißt, daß mein Vater der Sohn von Zepko-ete ist, und daß er nie eine seiner Töchter verkauft hat, wenn sie nicht selbst gehen wollte.« Ja, jetzt fiel es ihm wieder ein. Und er erinnerte sich auch, daß er sie viele Abende außerhalb des Lagers getroffen hatte. Er erinnerte sich an ihre lachenden schwarzen Augen, und wie sie durch ihn zur Frau gereift war. Ja, er konnte sich an alles erinnern. »Aber was ist jetzt geschehen?« forschte er. Sie schlug ehrerbietig die Augen nieder und sagte leise: 348
»Ich wußte, daß wir richtig füreinander waren, und ich freute mich. Aber ich konnte nicht wissen … ich war zu unerfahren, um zu begreifen, daß deine anderen Frauen nicht erlauben würden …« Auf einmal traf es ihn wie ein Keulenschlag. Er hatte es immer für selbstverständlich gehalten, daß seine anderen Frauen gut zu ihr sein würden, und er hatte über diesen Punkt nie weiter nachgedacht. Nun wußte er, warum die Freude aus ihren Augen verschwunden war. »Ich beklage mich nicht«, sagte sie. »Es ist die Art der Frauen.« Auch er konnte sich nicht beklagen, dachte Ikämosa. Er erinnerte sich an die stillen, glücklichen Tage ihrer ersten Woche, die sie außerhalb des Lagers verbracht hatten. Frühsommerabende, deren zärtlich leichte Brise nach Mesquiteblüten geduftet hatte, während sie sprachen und sich liebten. Dann waren sie zum Stamm zurückgekehrt, und Tene-badai hatte ihr eigenes Zelt bekommen. Aber nun kam ihm auch in den Sinn, daß seine anderen Frauen, Dämätana und Agabia, bald darauf begonnen hatten, Forderungen an ihn zu stellen. Es hatte nicht lange gedauert, bis er wieder in die Angelegenheiten des Stammes und seiner eigenen Familie verstrickt gewesen war, während Tenebadai mehr und mehr in den Hintergrund getreten war. Er wußte auch, als er in ihre aufrichtigen Augen sah, daß er seine zwei ersten Frauen gekauft hatte, damit für sein Zelt, seine Medizin und seine Ehre gesorgt war – und das war geschehen; aber Tene-badai hatte er genommen, weil etwas in ihren Augen gewesen war, das ganz allein ihm gegolten hatte. Er hätte das einem anderen gegenüber niemals zuge349
geben, denn es wäre unmännlich gewesen, aber er war sich dessen in diesem Augenblick genau bewußt, und es erschien ihm nicht ganz tadelnswert. Er hörte die Stimmen seiner anderen beiden Frauen, die durch das Lager kamen, und es fiel ihm für einen Moment auf, daß ihre Stimmen wie die von Truthühnern klangen. Aber er tat den Gedanken schnell ab. Sie waren keine schlechten Frauen gewesen und hatten getan, was er von ihnen verlangt hatte. Vielleicht konnten sie nicht mehr geben, vielleicht waren sie noch nicht fähig, das zu sein, was er von einer erwachsenen Frau erwartete. Tene-badai hingegen war zu einer richtigen Frau herangewachsen, obwohl sie gerade erst halb so alt wie Dämätana war. Tene-badai hatte die Stimmen auch gehört. Sie schlug die Augen nieder, verneigte sich leicht vor ihm und kehrte in ihr Zelt zurück. Er setzte sich vor das Feuer und machte sich daran, aus Hirschhufen Leim zu kochen, den er benötigte, um die Federn am Pfeilschaft zu befestigen. Nach einer Weile hörte er das Baby winseln und schreien, und er wußte, daß Tene-badai versuchte, es aus ihren mitleiderregenden dünnen Brüsten zu nähren. Sein Herz tat ihm weh, und die Bürde ihres Hungers lastete noch schwerer auf seinen Schultern. Die beiden anderen Frauen gingen in ihr Zelt. Ihre Stimmen drangen laut und erregt zu ihm herüber, während sie über Man-henk’ia und den neuen Handelsposten diskutierten. Offenbar waren sie voll Erwartung. Das leise Wimmern von Tene-badais Baby ließ nicht nach. Zuletzt beunruhigte es ihn so, daß er zum Zelt hinüberging. Im Eingang blieb er stehen, bis sich seine Augen 350
an das Dämmerlicht gewöhnt hatten und er Tene-badai mit dem Kind in ihren Armen sehen konnte. »Ich werde Fleisch für dich beschaffen«, sagte er. Sie blickte zu ihm auf, und in ihren Augen lag keine Feindschaft. »Tue nichts, was du nicht tun möchtest«, sagte sie. Er ging bekümmert hinaus und sah, daß Bäo, der verrunzelte Vater von Dämätana und Agabia, zu seinem Feuer gekommen war. Nach den Begrüßungsformalitäten sagte Bäo: »Dohente berichtet, daß du gegen die Beschaffung von Nahrungsmitteln bei Man-henk’ia bist.« Ikämosa nickte. »Meine beiden Töchter sind dafür«, stellte der Alte fest. »Das habe ich mir gedacht.« »Es hat keinen Sinn, starrköpfig zu sein«, fuhr Bäo fort. »Wenn der Hanpoko uns Dinge auf Kredit geben will, warum sollten wir sie dann nicht annehmen?« Ikämosa sah ihn an, doch er antwortete nicht. »Was kannst du anderes tun?« fragte Bäo. »Ich kann Fleisch finden«, sagte Ikämosa. »Der Stamm wird dir nicht folgen.« »Das wissen wir noch nicht.« »Dohente wird dir nicht folgen.« Ikämosa nickte. Das hatte er erwartet. »Und du?« forschte er. Bäo zögerte, dann gab er sich einen Ruck. »Wenn meine Töchter mit dir gehen wollen … Aber auch sie müssen essen.« »Ich habe bemerkt«, sagte Ikämosa, »daß ihre Schultern 351
gut ausgefüllt sind.« Plötzlich fiel ihm ein, daß sie vielleicht insgeheim Nahrung vom Hanpoko geholt haben mochten, aber das wäre eine ernste Verletzung der Sippenloyalität gewesen, und er verdrängte den Gedanken wieder. »Wenn sie sich zu dem Hanpoko hingezogen fühlen«, sagte er langsam, »ist es wegen der Bänder und Perlen.« »Eine Frau hat ein Recht, sich mit hübschen Dingen zu schmücken.« »Das ist wahr.« Ikämosa dachte, daß Tene-badai kaum hübsche Dinge besaß. »Aber es ist eine Frage, ob sie dafür ihr Geburtsrecht eintauschen sollte. Und es ist auch eine Frage, ob man in Notzeiten unnütze Dinge kaufen soll.« Der alte Mann musterte ihn kritisch. »So bist du also gegen Man-henk’ia eingestellt?« »Ich halte es nicht für klug, mit den weißen Männern Handel zu treiben.« Bäo nickte. »Heute abend wird eine Versammlung sein, bei der alle Krieger Gelegenheit zum Sprechen bekommen werden, und bei der dann die Entscheidung getroffen werden soll.« Ikämosa nickte. Der Geruch des kochenden Frosches stieg ihm in die Nase, und er fand ihn appetitlich. Auch Bäo schnupperte. Er beugte sich über den Topf und blickte angewidert hinein. »Gibst du so etwas deiner Familie zu essen? Diesen Kadlei-Kyadlei?« fragte er grimmig. Ikämosa antwortete nicht. Nachdem der alte Mann gegangen war, fischte Ikämosa den Frosch aus dem Wasser und brachte ihn Tene-badai. »Ich kann nicht«, sagte sie. »Du hast einen großen Körper und brauchst viel mehr Nahrung als ich.« 352
Er war gerührt und legte seine Hand leicht auf ihre Schulter. »Dann iß ihn wegen der Milch«, sagte er und ließ den Frosch bei ihr. Es wurde die größte Versammlung, die es je in Ikämosas Stamm gegeben hatte. Alle zweiundvierzig Krieger waren anwesend und hatten in den ersten Reihen um das Feuer Platz genommen. Die Frauen und die Alten saßen verstreut hinter den kampffähigen Männern, und weiter draußen, schon halb in der Dunkelheit, spielten die Kinder, liefen hintereinander her und schrien. Ikämosa setzte sich und brachte mit den vorgeschriebenen zeremoniellen Bewegungen seine Pfeife in Gang, während Dohente zum Zweck der Reinigung und Läuterung zerstoßene Salbeiblätter ins Feuer warf. Ikämosa hatte Zeit, die Gesichter zu betrachten; die unverhüllte Feindseligkeit, die aus ihnen allen sprach, betrübte ihn. Ikämosa verneigte sich zu den vier Himmelsrichtungen und blies Rauchwolken für die Sonne, den Mond und die Erde in die Luft. Dann reichte er die Pfeife Dohente, der das gleiche Zeremoniell vollführte, bevor er sie an den nächsten weitergab. Es dauerte eine Weile, bis die Pfeife die Runde gemacht hatte und die Diskussion beginnen konnte, und so hielt Ikämosa nach seinen Frauen Ausschau. Dämätana und Agabia saßen bei ihren Müttern, aber Tenebadai konnte er nicht sehen. Sie war weder bei ihren Eltern noch im näheren Umkreis des Feuers. Nachdem alle Krieger geraucht hatten, nahm Dohente das Wort und sprach über Man-henk’ia, den Hanpoko. Ikämosa erinnerte an die ursprüngliche Vereinbarung, aber Dohente konterte mit dem Hinweis, daß Man-henk’ia ihnen 353
schon lange bekannt sei und sich als Freund erwiesen habe. Bäo unterstützte Dohentes Argumente, und dann sprachen nacheinander die Krieger. Mitternacht war schon vorbei, als der letzte der Männer geendet hatte. Nun gab es keinen Zweifel mehr, daß alle gegen Ikämosa standen. Dohente hatte gute Arbeit geleistet, denn keine einzige Stimme hatte sich gegen die Abhängigkeit von dem Handelsposten erhoben. Ikämosa stopfte seine Pfeife frisch und zündete sie noch einmal an. Er war noch immer unschlüssig, ob er sich den Wünschen der anderen beugen sollte oder nicht. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht. Seine Überzeugung hatte sich nicht geändert, doch sie war alles, was er der einheitlichen Meinung der Stammesmitglieder entgegensetzen konnte. Obgleich er sich keine Illusionen machte, mußte er zu ihnen sprechen, ihnen seine Gedanken und Befürchtungen klarzumachen versuchen. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und starrte ins Feuer, während er seine Medizin um Erleuchtung bat, um Weisheit für den rechten Weg und für die Kraft, ihm zu folgen. »Die Mehrheit von euch – in Wahrheit sogar jeder einzelne hier, außer mir – will mit Man-henk’ia Handel treiben«, sagte er. »Und es müßte ein hartköpfiger und starrsinniger Häuptling sein, der sich die Wünsche seines Volkes nicht anhören würde.« Der alte Bäo lächelte dünn, und auch Dohente hatte ein Schmunzeln in seinem bronzenen Gesicht, aber Ikämosa ignorierte sie. »Euer Plan ist gegen mein wohlerwogenes Urteil«, fuhr er fort, »und wenn ich auch nicht glaube, daß ihr darüber 354
froh werden könnt, ist es vielleicht doch die beste Entscheidung, um den Hunger abzuwenden.« Er schwieg. Der Nachtwind trug das leise Wimmern seines Kindes zu ihm herüber. Auch der alte Bäo hatte es gehört, und er nahm die Gelegenheit sofort wahr. »Dein eigenes Kind braucht Milch«, sagte er laut. »Aber ohne Nahrung gibt es keine Milch.« Ikämosa hörte nicht darauf. Er dachte an Tene-badai, die nicht mit den anderen um das Feuer saß. Vielleicht hatte sie bereits das Lager und ihr Kind verlassen, weil sie Hunger auf Essen und Verlangen nach dem bunten Flitter der Hanpoko hatte? Er schloß die Augen, bis er die Vorstellung überwunden hatte, dann griff er wieder nach der Pfeife. Er machte die üblichen Bewegungen des Schlußzeremoniells und legte die Pfeife auf einen Stein, um zum Ausdruck zu bringen, daß er seinen Entschluß gefaßt hatte und die Diskussion als abgeschlossen betrachtete. Er blickte auf und sah Dohentes zynische Gleichgültigkeit. Er sah die Gesichter der anderen und fand, daß ihre Motive einander glichen. Sie alle drängte es zu einem leichteren Leben, sie alle waren von der Habsucht und der Gier nach den Dingen beseelt, die der weiße Mann für sie bereithielt. »Die Hanpoko sind so zahlreich wie die Blätter an einem Mesquitebusch«, sagte Bäo. »Es mußte früher oder später so kommen.« Ikämosa richtete sich steif auf. »Ich werde mich nicht darein fügen.« Er blickte Dohente in die Augen. »Ich werde nicht mit euch gehen. Meine Familie und ich werden auf die Suche nach dem Büffel gehen. Wenn der Büffel nicht 355
zu uns kommt, werden wir zu ihm gehen.« Bäo starrte ihn zornig an. Dohente lächelte noch immer. Eine Minute lang blieb alles still. »Die Tonkawas werden dich verfolgen«, erklärte Dohente schließlich. »Sie werden deine Frauen nehmen und deine Kinder essen.« Ikämosa wußte, daß Dohente log. In Wahrheit freute sich der Kriegshäuptling, Ikämosa loszuwerden, weil der Stamm dann ihn zum neuen Häuptling wählen würde. Erbittert dachte Ikämosa: Der Stamm wird sich in einen Haufen Kaffeetrinker und herumlungernde Handlanger verwandeln, in Bettler, die vor dem Handelsposten herumsitzen und ihre Frauen ausleihen! »Ich kann gegen die Tonkawas kämpfen«, sagte er laut, »und ich habe keine Angst. Ich bin ein halber Comanche, und ich fürchte mich nicht.« Wieder blieb es eine Weile still, dann sagte der alte Bäo: »Deine Frauen werden nicht mit dir gehen.« »Meine Frauen werden gehen, wohin ich gehe.« »Deine zwei ersten Frauen sind meine Töchter«, sagte Bäo langsam. »Sie werden nicht gehen, und ihre drei Kinder auch nicht.« Ikämosa ließ sich seinen Schreck nicht anmerken. Sie hatten also bereits entschieden. Er wandte den Kopf, und der Blick seiner schwarzen Augen streifte Dämätana und Agabia. Sie starrten ihn aus unbewegten Gesichtern an und gaben ihm so zu verstehen, daß sie ihm nicht folgen würden und daß ihnen Man-henklas Perlen und Bänder wichtiger waren als die Treue zu ihm und die Freiheit des Umherziehens. Er fühlte auch, daß Tene-badai gleichfalls mit 356
dem Stamm ziehen würde, wenn diese beiden, denen er viel gegeben hatte, bereit waren, ihn zu verlassen, denn Tene-badai hatte viel weniger Besitz als sie. Der Gedanke, ganz allein zurückzubleiben, ängstigte ihn einen Augenblick, und er fragte sich, ob er nicht zu voreilig gesprochen habe. Sein Blick wanderte zu Ansote, dem Medizinmann, der in der Diskussion fast nichts gesagt hatte. Auch Ansote wurde alt und sah vielleicht ein angenehmeres Leben vor sich, wo man nicht reiten und jagen und Entbehrungen auf sich nehmen mußte, um essen zu können. Ikämosa sah den alten Giakaite, der nicht mehr reiten und jagen konnte und dessen Augen so schwach waren, daß er nicht einmal mehr Pfeile schnitzen konnte. Auch er hatte nicht mehr viel zu erwarten. Eines Tages würde man ihn mit einem Sack voll Mesquitewurzeln und einer Wasserblase in der Prärie zurücklassen und dem Tod ausliefern. Plötzlich fühlte er eine Verbundenheit mit allen diesen Gesichtern, die ihn nun so feindselig oder gleichgültig musterten. Es waren seine Leute, mit ihnen hatte er gekämpft, gehungert, gefeiert und gejagt. Da war Set-dayaite, der immer noch viele Pferde und sechs Frauen besaß – eine von jeder der einflußreichen Familien. Da war Patepte, der ein halber Mexikaner war und als einziger die Sprache der Hanpoko beherrschte. Ikämosa stand auf und ließ seinen Blick über den Kreis der Versammelten schweifen. »Wenn ihr Bettler sein wollt, wenn ihr vor der Tür des Händlers sitzen und seinen Kaffee trinken wollt, dann geht. Aber er verkauft euch Sachen, die ihr nicht braucht, und ihr bezahlt mit Dingen, die ihr nicht habt, und ihr kommt nicht mehr von ihm los. Und morgen wird irgendein anderer 357
Händler einen neuen Handelsposten errichten, vielleicht am Iyugua Pa, und vielleicht wird er Alkohol haben. Und weil ihr von den Gütern der Hanpoko abhängig geworden seid, werdet ihr auch zu ihm gehen, und während ihr dort seid, werdet ihr von seinem Alkohol probieren und eure Sinne nicht mehr beherrschen können. Und wenn ihr schließlich aufwacht, wird es euch gegangen sein wie den Tonkawas. Ihr werdet alle eure Büffelhäute bis zum nächsten Winter vertrunken haben, und es wird nichts mehr übrig bleiben, um die Perlen und Bänder zu kaufen, die eure Frauen jetzt wollen.« Er machte eine Pause und betrachtete die Männer, die so unbeteiligt um das Feuer saßen und nicht auf ihn hören wollten. Er wurde wütend. »Aber vielleicht«, rief er, »werdet ihr die Perlen und Bänder dann nicht mehr brauchen, weil ihr in der Trunkenheit eure Frauen getötet und ihre Gebeine nicht einmal mehr beerdigen werdet.« Er schwieg, um seinen Zorn abklingen zu lassen. Der alte Bäo überwand als erster das allgemeine Unbehagen, das Ikämosas düstere Prophezeiung ausgelöst hatte. »Du bist anders als wir, Ikämosa«, krächzte er. »Du bist ein halber Comanche.« »Ja, das bin ich«, erwiderte Ikämosa, »und ich fürchte mich nicht, allein zu gehen.« Er richtete seinen Blick auf den Medizinmann, der ihm gegenüber saß. »Ich respektiere dein Alter und deine Weisheit, Ansote, denn du kannst lange in die Vergangenheit zurückblicken und weißt, daß ich die Wahrheit sage. Es mag sein, daß die Hanpoko mit ihren Feuerwaffen der Grund dafür sind, daß der Büffel noch nicht gekommen ist. Ich weiß es nicht. Es mag auch sein, 358
daß die Hanpoko mit ihren Fässern voll Nahrung den Regen weggebetet haben, damit wir gezwungen sind, mit ihnen Handel zu treiben. Es mag ferner sein, daß die Hanpoko mit ihren Bändern und Perlen unsere Frauen unzufrieden gemacht haben, damit wir ihnen die noch nicht erjagten Felle und Häute dieses Sommers verpfänden. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß eines!« Er legte eine Pause ein und blickte im Kreis der Zuhörer umher. »Ich weiß, daß jedesmal, wenn wir etwas benützen, das die Hanpoko verkaufen, ein Bedürfnis nach diesen Dingen entsteht. Dann müssen wir immer wieder zu ihnen gehen und mehr davon kaufen, und weil wir diese Dinge anderswo nicht bekommen können, wird es uns nach einer Weile nicht mehr gefallen, allzu weit vom Handelsposten wegzugehen. Wo wir sind, wird das Wild immer spärlicher werden, und dann sind wir die Sklaven derjenigen, deren Güter wir nicht brauchen.« Von allen Stammeskriegern schien nur Ansote betroffen zu sein; die anderen waren von Dohente gut vorbereitet worden. Ansote murmelte: »Es ist ein Fehler; es ist ein Fehler.« »Der Preis für richtiges Handeln«, fuhr Ikämosa fort, »ist immer zehnmal so hoch, wenn ein Mann sich gegen seine eigenen Leute stellen muß. Wenn sie sich nicht sicher fühlen, wollen sie alle anderen zwingen, dasselbe zu tun, damit nachher alle in derselben Lage sind. Der Preis ist hoch, aber ich werde ihn bezahlen. Ich werde noch heute weiterziehen – innerhalb einer Stunde, wenn der Himmel im Osten hell wird. Wenn ich allein gehen muß, werde ich allein gehen.« 359
Er wartete auf eine Antwort, aber es kam keine. »Ich werde den Büffel finden«, sagte er. »Und wenn ich ihn gefunden habe, werde ich Nachricht geben. Bis dahin werden einige von euch erkannt haben, was es heißt, den Hanpoko zu gehören, und ihr werdet wünschen, wieder wie freie Männer zu leben.« Er kehrte dem Feuer den Rücken und ging, traurig über ihre Kurzsichtigkeit. Er hatte alles verloren: seine Frauen und Kinder, seinen Stamm, seine Häuptlingswürde. Er war allein, und das war ein schreckliches Gefühl. Er kam zu seiner Feuerstelle und sah den Messingtopf noch immer über der erkalteten Asche hängen. Aber sein Zelt war abgebrochen und auf seine Pferde gepackt. Es wurde ihm plötzlich warm und froh ums Herz, denn Tenebadai wartete mit dem Kind auf ihrem Rücken. Sie ging mit ihm, und das genügte ihm im Augenblick. Es tröstete ihn ein wenig über die Feindseligkeit des Stammes und machte den Gedanken erträglicher, von allen getrennt in fremdes Land aufbrechen zu müssen. Sie machten sich auf den Weg, und niemand kam, um sich von ihnen zu verabschieden. Ikämosa ging voraus und führte seine vier Pferde, und Tene-badai folgte ihm mit niedergeschlagenen Augen, das Kind auf dem Rücken, den Leitstrick ihres Maultiers in der Hand. Er schlug eine südliche Route ein, und am Abend lagerten sie an einer Quelle, die er kannte. Am nächsten Tag kamen sie in ein wild zerklüftetes Land mit steilen Hügeln, verstreuten Felsblöcken und dichter Buschwildnis. In dieser Nacht mußten sie ohne Wasser und ohne Nahrung kampieren. Auch am dritten Tag behiel360
ten sie ihre Richtung bei, und das Gelände erschwerte ihnen das Vorankommen noch mehr. An diesem Tag fanden sie eine Wasserstelle, aber kein Wild. Am vierten Tag war es dasselbe, und am fünften sah er an Tene-badais aschgrauem Gesicht, daß sie nicht mehr lange gehen konnte. An diesem Tag fanden sie wilden Honig in einem hohlen Hickorybaum. Er wußte nicht mehr, wo sie sich befanden, aber er vermutete, daß sie bereits im Gebiet der Tonkawas waren. Er war so niedergeschlagen, daß sein Stamm ihn verstoßen hatte, daß er Tene-badai in den ersten zwei Tagen kaum ansah. Dann begann der Schmerz nachzulassen und die Notwendigkeit, Wasser zu finden, das Fehlen jagdbarer Tiere, der ständig wachsende Hunger, alles das hielt seine Gedanken jetzt von früh bis spät gefangen. Auch an diesem Abend entfachte er schweigend das kleine Lagerfeuer und warf die Schnecken ins Wasser, die sie tagsüber auf ihrer Wanderung gesammelt hatten. Er sah zu, wie seine Frau das Kind an trockenen Brüsten zu stillen versuchte, und er hörte nachts das leise Wimmern des hungrigen Säuglings. Die Dämmerung des sechsten Tages fand ihn wach. Er fühlte kaum noch etwas von der Angst und der Unsicherheit. An ihre Stelle war ein merkwürdiges Gefühl von Frieden getreten. Vielleicht, so dachte er, bin ich schon im Begriff, vor Hunger zu sterben. Er mußte an Tene-badai denken, sah sie an und fand ihre Augen weit offen. »Sie haben dir nie genug zu essen gegeben«, sagte er. »Ist es so?« Sie hob die schmächtigen Schultern. »Es war ihre Art«, antwortete sie leise. 361
Er wußte es. Neid und Eifersucht waren unter den Frauen üblich. Er hätte besser darauf achten sollen. »Ich …«, fing er an. Sie blickte an seiner Schulter vorbei, ihre Augen weiteten sich, und sie flüsterte so leise, daß er seine Ohren anstrengen mußte: »Dort ist ein Kadl-hia im Tal, tausend Schritte abwärts!« Er erstarrte für einen Moment, dann sah er sich um. Büffel! Sein Gehirn arbeitete wie von selbst. Sein Büffelpferd, der schwarzohrige Takon, graste in der Nähe von Tenebadais Maultier. Ikämosa schlüpfte aus seiner Schlafdecke, steckte das Jagdmesser in den Gürtel und lief geduckt zu den weidenden Tieren. Er richtete sich erst auf, als das Pferd zwischen dem Büffel und ihm war. Um das Tier nicht zu beunruhigen, glitt er ohne Zaumzeug auf seinen Rücken. Tene-badai war schon neben ihm und brachte ihm seine Lanze. Ihr dünnes Gesicht schien im grauen Dämmerlicht des frühen Morgens noch blasser. Ikämosa dachte an seine eigene Schwäche und schloß kurz die Augen, um von den Göttern Kraft, Gewandtheit und Mut zu erflehen. Dann trieb er das Pferd zum Gehen. Nach wenigen Schritten ließ er sich vom Pferderücken gleiten, bis er durch den Körper des Tieres gedeckt war; mit der linken Hand hielt er sich an der Mähne fest, sein linkes Bein legte er über den Pferdeleib. So blieb er dem Büffel verborgen und konnte ihn doch unter dem Hals des Pferdes heraus beobachten. Der Kadl-hia war groß, ein alter Bulle, der von den jüngeren Bullen aus der Herde verstoßen worden war und als Einzelgänger lebte. Er war stark und wohlgenährt. Das Pferd näherte sich ihm langsam. Der Büffel hob den Kopf; 362
seine schwarzen, gebogenen Hörner zeichneten sich klar gegen den grauen Osthimmel ab. Er sicherte in den Wind, konnte Ikämosa aber nicht ausmachen und begann wieder zu grasen. Das Pferd war fast neben ihm, als der Büffel endlich Ikämosas Witterung bekam und sich mit einer Schnelligkeit herumwarf, die man bei seiner massigen Gestalt nicht vermutet hätte. Das Pferd hatte die Bewegung erwartet und wich seitwärts aus, um den Hörnern zu entgehen. Dann schlug es einen scharfen Bogen um den Büffel und kam von hinten herangejagt. Ikämosa schrie gellend, und der Büffel stürmte wie beabsichtigt davon. Der Takon schob sich näher an den Büffel heran und erreichte fast seine Seite. Die Hufe hämmerten dumpf über das weiche Gras. Ikämosa wurde unruhig. Hundert Schritte voraus war ein dichtes Chaparralgestrüpp, und wenn der Büffel es erreichte, wäre er für Ikämosa verloren, denn das Pferd konnte ihm dort nicht folgen. Ikämosa schlug auf das Pferd mit der linken Hand ein, und es schob sich rechts neben den dahinstürmenden Büffel. Nun beugte er sich weit hinüber und stieß die Lanze mit seiner ganzen Kraft in die weiche Stelle hinter dem Schulterblatt. Die Lanze traf auf keinen Widerstand und fuhr durch die Lunge in die Nähe des Herzens. Der Büffel taumelte, doch dann gewann er das Gleichgewicht zurück, bog nach links ab und galoppierte talaufwärts. Ober seinen mächtigen Schultern schwankte der lange Lanzenschaft. Ikämosa hielt an und beobachtete den Büffel. Wenn man ihn jagte, würde das Tier noch Stunden auf den Beinen 363
bleiben, selbst mit einer so tödlichen Verwundung. Aber wenn man ihm nicht folgte, würde sich der Büffel bald niederlegen und sterben. Ikämosa blickte sich um und sah Tene-badai, die ihm gefolgt war und in einiger Entfernung wartete. Die Lanze hielt die ständigen Schwingungen nicht mehr aus und zerbrach. Nun drehte sich der Büffel um, kam zurückgestürmt und donnerte achtzig Schritte entfernt vorüber, ohne ihn zu sehen. Ikämosa wirbelte den Takon herum und machte sich an die Verfolgung. Er war jetzt unsicher, ob er den Büffel bekommen würde. Wenn er so weiterstürmte, konnte das Pferd nicht mit ihm Schritt halten, und er würde seine Beute bald aus den Augen verlieren. Zwar befand sich der Takon in guter Verfassung, weil er lange nicht geritten worden war, aber er konnte nur zwei oder drei Stunden lang rennen, nicht länger. Es gab keinen Zweifel mehr, daß der Büffelbulle vor Angst und Schmerzen rasend war und noch lange aushalten konnte; solche Tiere waren am schwierigsten zu erlegen. Der Takon kam dem Büffel wieder näher, diesmal von der linken Seite, und Ikämosa zog sein Jagdmesser. Der Büffel schwenkte ab und rannte noch schneller weiter, und plötzlich überkam Ikämosa eine wilde Angst, das Fleisch könnte ihm verlorengehen, und er fühlte sich schwach und hilflos. Dann aber verging das Gefühl, und der Takon holte wieder auf. Als er neben dem Büffel war, beugte sich Ikämosa weit herüber und begann wie ein Besessener auf den Büffel einzustechen. Ikämosa fuhr mit dem Messer tief ins Fleisch des Büffels, schließlich bohrte er mit beiden Händen ein Loch und 364
riß eine dampfende Niere heraus. Er ließ sich vom Pferd gleiten, denn er wußte jetzt, daß der Büffel nicht mehr weit rennen konnte, und starrte die warme, blutige Niere an, während der alte Hunger erwachte und ihn für einen Augenblick taumeln ließ. Er hob die Niere mit beiden Händen in die Höhe, um seinen Göttern zu zeigen, daß er ihre Hilfe anerkannte, dann biß er ein großes Stück dampfenden Fleisches heraus und verschlang es. Seine Hände zitterten vor Gier, und er verschlang einen zweiten Bissen, bevor ihm seine Frau einfiel. Sie kam auf ihrem Maultier langsam nähergeritten, und er lief ihr entgegen und hielt ihr schweigend die Niere hin. Der Büffelbulle hatte sein Tempo verlangsamt. Ikämosa war sicher, daß er nicht weiter als bis zum Bach kommen und dann zusammenbrechen würde. Er wollte das Tier nicht hetzen und zu erneuten Anstrengungen antreiben, darum blieb er bei Tene-badai stehen und beschränkte sich darauf, die Beute zu beobachten, während Tene-badai ein Stück von der Niere aß. Sie ritten an den Bach und wuschen sich. Als sie fertig waren, sahen sie den Büffel auf den Knien. Der mächtige Kopf pendelte hin und her, die Kinnhaare strichen über den Boden. Vier Aasgeier kreisten am Himmel, und am Rand des Chaparralgestrüpps war ein Coyote erschienen. Ikämosa erreichte den Büffel, schnitt ihm die Kehle durch und wartete, bis der Koloß auf die Seite gefallen war. Nach einer Stunde hatten sie ihn abgehäutet, das Fleisch in Streifen geschnitten und in einem Haufen auf die Haut getürmt. Tene-badai ritt zurück, um die anderen Pferde zu holen, und gemeinsam schafften sie das Fleisch zum Lagerplatz. Der 365
Hunger war unerträglich, und sie aßen wieder: Rippenfleisch und Fett und Leber – alles roh. Dann brachten sie ein Feuer in Gang und verfertigten aus Weidezweigen ein Gerüst, um das Fleisch zu trocknen. Sie aßen und arbeiteten den ganzen Tag und bis in die Nacht hinein. Sie aßen gekochte Zunge, rohe Innereien und den Rest der Leber. Bis zum nächsten Morgen hatten sie zusammen fast dreißig Pfund Fleisch gegessen, und zum ersten Mal seit Monaten waren ihre Mägen voll. Die Nahrung hatte in Tene-badais kleinem Körper bereits Milch produziert, und ihre schlaffen und dünnen Brüste begannen sich zu füllen. Das Kind konnte sich endlich satt trinken und weinte nicht mehr. Am folgenden Tag brachten sie das restliche Fleisch auf das Trockengerüst. Bei dem trockenen Wetter genügten eine Nacht und ein Tag, um es vor Fäulnis zu schützen, und einer von ihnen mußte jetzt ständig Wache halten, damit die Aasgeier und die anderen Tiere nicht zu nahe kamen. Aber inzwischen konnten sie frisches Fleisch essen, soviel sie wollten. Abends saß Ikämosa zufrieden am Lagerfeuer und beobachtete Tene-badai, die unter ihrer Schlafdecke lag. Ihre Augen waren offen, und er las Erwartung in ihnen. Aber etwas machte ihm noch Sorgen. »Du hättest beim Stamm bleiben können«, sagte er, »und wärst in Sicherheit gewesen.« Sie lächelte ihn an. »Ich habe meinen Vater gebeten, er möge mich an dich verkaufen, weil ich deine Frau sein wollte.« »Wäre es dir nicht lieber«, fragte er, »wenn du jeden Tag 366
genug zu essen hättest? « »Wenn wir heute hungrig sind, werden wir morgen Nahrung haben«, antwortete sie. »Ich fürchte mich nicht, wenn ich bei dir bin.« Wieder sah er die Frage in ihren Augen, und er stand auf und ging um das Feuer. Auch sie erhob sich und erwartete ihn, und er nahm sie hungrig, aber zärtlich in seine Arme.
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Bill Gulick, der als vierter Präsident der Schriftstellervereinigung »Western Writers of America« amtierte, hat im Laufe seiner Karriere einige Dutzend Bücher und etwa einhundertfünfzig Kurzgeschichten geschrieben. Mehrere seiner Romane wurden bereits verfilmt. Er ist Ehrenhäuptling des Nez-Perce-Stammes und wurde 1958 und 1960 für seine Kurzgeschichten »Thief in Camp« und »The Shaming of Broken Horn« mit Preisen ausgezeichnet.
Bill Gulick
Die Postkutsche Regen verschleierte die Hügel östlich Lewiston, als Johnny Warner aus dem Restaurant schlenderte, um seine Nachtarbeit zu beginnen. Es war ein peitschender, böiger Frühlingsregen, der überhaupt nicht mehr aufhören wollte. Das letzte Tageslicht lag trübe über den häßlich hingeduckten Häusern längs der Straße. An einem Abend wie diesem schien es, als könnte nur ein dichtes Dach, ein warmer Ofen und ein Gespräch mit guten Freunden das Leben erträglich machen; aber Johnny, dem eine lange Nachtfahrt über eine einsame, verschlammte Straße bevorstand, fühlte sich so froh wie eine Lerche an einem strahlenden Frühlingstag. Während er zum Stall ging, wo er die Postkutsche und die Pferde abzuholen hatte, sog er an der frisch entzündeten Zigarre und summte ein fröhliches Lied vor sich hin. Er empfand den Regen in seinem Gesicht als Erfrischung; das Lampenlicht aus den Fenstern verwandelte schlammige 368
Schlaglöcher für ihn in schimmernde Silbertafeln; blecherne Klaviermusik aus einer billigen Tanzhalle klang so weich und voll wie ein Konzertflügel, und das Wimmern des kalten Windes und das Trommeln des Regens lieferten dazu gerade die richtige Begleitung. In einer solchen Nacht, dachte er, konnte so ziemlich alles passieren, und wenn man zwanzig war, gesund und verliebt in seine Arbeit und in das ganze Leben, konnte es nicht anders als aufregend und wundervoll sein. Die Torflügel der Stalleinfahrt standen offen, und eine Sturmlaterne am Boden gab dem Stallwärter Hunch Gibson spärliches Licht. Er war unter Flüchen damit beschäftigt, drei Zugpaare unruhiger Rappen vor die breite ConcordKutsche zu spannen, die vor der Einfahrt im Regen stand. Obgleich andere Fahrer solche Arbeit für unter ihrer Würde befanden, legte Johnny freundschaftlich mit Hand an. Dann, immer noch summend, prüfte er die Arbeit, gab jedem Pferd einen liebevollen Klaps und nannte es beim Namen. Gibson sah mit säuerlicher Miene, aber nicht ohne einen widerwilligen Respekt zu. »Sei vorsichtig mit dem da, Junge. Er ist hinterlistig. Das Biest hat versucht, mir den Schädel einzutreten.« Johnny grinste und kraulte das Pferd zwischen den Ohren. »Wir verstehen uns. Habe ich recht, Nig?« »Er beißt auch. Wenn du einen Augenblick nicht aufpaßt, ist ein Finger weg.« Johnny kraulte unbesorgt weiter. »Wie ist der Fluß heute abend?« »Randvoll. Ganze Bäume kommen herunter. Der Fährmann hat den ganzen Nachmittag vor lauter Verzweiflung 369
getrunken und droht, seinen Kahn anzubinden, wenn es dunkel wird.« »Er wird die Kutsche befördern. Schließlich haben wir einen Kontrakt.« »Kontrakte schützen weder den Kahn vorm Sinken noch dich vorm Ertrinken.« Johnny lachte und kletterte unbeholfen in seinem Ölzeug auf den Kutschbock. Er nahm die sechs Zügel und grüßte mit der behandschuhten Rechten. »So long, Hunch. Geh lieber hinein, bevor du einen Sonnenbrand bekommst.« Der Stallmann warf einen Blick in den schwarzen, regenerfüllten Himmel, wandte sich ab und murmelte halb ärgerlich, halb bewundernd: »Dummkopf! Verdammter junger Dummkopf!« Johnny lenkte die Pferde in einem engen und sauberen Bogen aus der Einfahrt in die Straße hinaus, so elegant, als hätte er die halbe Stadt als Zuschauer. Dann fuhr er die schlaglochübersäte, verlassene Straße hinunter. Vor der Poststation hielt er an, schlang die Zügel um den Bremshebel und sprang herunter. Fröhlich trat er in den schummrig erhellten Warteraum und rief: »Die Kutsche fährt ab! Passagiere für die Westroute Silcotts Landing, Pataha Creek, Halfway House und Walla Walla bitte einsteigen! Erster, letzter und einziger Aufruf! Wir fahren ab!« Es waren nur zwei Personen anwesend, die dem Aufruf Folge leisten konnten. Die eine war eine Frau, ziemlich jung, wie er schätzte, mit einem Samtumhang und einem roten Hut, dessen herabgelassener Halbschleier ihr Gesicht verdeckte. Die andere Person war der leichenhaft blasse, 370
immer traurig dreinschauende Postagent und Stationsvorsteher Perry Summers, der an Verdauungsstörungen, Gallensteinen und mehreren anderen Gebrechen des Körpers und des Geistes litt. Die Dame, die auf einer Bank geschlummert hatte, erwachte mit einem Ruck und begann ihre Gepäckstücke zusammenzusuchen: einen Schirm, ein kleines Handtäschchen sowie eine größere, gestrickte Tasche, die sie sicher mit sich ins Passagierabteil nehmen wollte. Johnny, der seine Zigarre zwischen den Zähnen hielt, ging zum Schalter, wo Perry Summers die Postsäcke verschnürte und plombierte. »N’Abend, Perry. Was hast du für mich?« »Eine Dame nach Walla Walla«, antwortete der Mann ohne aufzublicken. »Post, eine Kassette Expreß – und neunundneunzig Meilen Schlamm.« »Die Bezahlung ist dieselbe, ob leer oder voll, ob Schlamm oder Staub. Ich werde eben naß werden und es ertragen.« Lachend unterzeichnete er die Quittungen für die Postsäcke und die Expreßkassette, schob Perry zur Seite, als der dünne, ergrauende Mann ihm beim Tragen der schweren Stahlkassette helfen wollte, schulterte sie selbst und trug sie hinaus zum Kutschkasten. Während der Posthalter mürrisch zuschaute, kam Johnny in die Station zurück, entledigte sich seines rechten Handschuhs und seines vom Regenwasser durchnäßten Hutes und lächelte seinen einzigen Passagier an, der unschlüssig neben zwei massiven Koffern stand. »Ich werde mich um Ihr Gepäck kümmern, Madame.« 371
»Danke schön, Kutscher.« »Mein Name ist Johnny, Madame. Johnny Warner. Die meisten Leute vergessen die zweite Hälfte.« »Sie sind so liebenswürdig, Mr. Warner, daß ich sicherlich keine der beiden Hälften vergessen werde.« Die Stimme der Frau bezauberte Johnny, es war eine leise, beherrschte und etwas rauchige Stimme. Er stützte ihren Arm und half ihr hinaus und in die Kutsche. Beim Einsteigen konnte er durch den Schleier zwei große blaue Augen und schwach lächelnde rote Lippen sehen. Ihr Arm unter dem Samtumhang fühlte sich weich an, und als sie sich bückte, um in die Kutsche zu klettern, atmete er einen Hauch Parfümduft ein, der ihm fremd war. Als sie sich auf das Polster niederließ und ihren Umhang glatt strich, sah er ihre Hände zittern. »Es ist keine schöne Nacht«, sagte er beruhigend, »und die Straße ist lang und schlecht, Madam. Aber die Pferde und ich kennen sie gut. Haben Sie keine Angst!« »Das glaube ich Ihnen«, murmelte die Dame. »Ich werde die ganze Strecke schlafen.« Musik erfüllte Johnny, als er in die Station zurückging, um die Postsäcke und die Koffer der Dame zu holen. Perry blickte düster zur Decke. Ohne Johnny einen Blick zu schenken, begann er zu zitieren: »Ritter Lancelot zog gen Westen …« Johnny errötete. »Ach, hör schon auf, Perry. Ich war nur höflich zu ihr, sonst nichts.« Er hob die Postsäcke auf. »Wie heißt sie eigentlich?« »Belle Kimbrough – sagt sie.« »Wer ist sie?« 372
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« »Nun, jedenfalls ist sie eine Dame, das sieht man sofort.« Perry stützte seine Ellenbogen auf das Schreibpult und legte seine langen, dünnen Finger mit den Spitzen zusammen. »Mein Junge, das ist genau, was Lancelot dachte, als er Guinevere begegnete. Aber weißt du auch, wie es mit ihnen weitergegangen ist?« »Noch nicht. Ich habe das Buch erst halb durch, das du mir geliehen hast. Aber es ist eine tolle Geschichte. Ich kann kaum erwarten, wie sie ausgeht.« Das Lächeln des Posthalters war müde und ein wenig gequält, wie das eines Mannes, der zuviel von der Welt gesehen hat, und für den das Alter von zwanzig Jahren nur noch eine undeutliche Erinnerung ist. »Ich will deinen Wissensdurst befriedigen«, sagte er trocken. »Sie heiraten. Ritter Lancelot treibt sich herum, bis er vierzig ist oder so und von diesem Unsinn genug hat. Guinevere ist inzwischen eine zänkische alte Hexe geworden. Sie macht dem armen Lancelot das Leben zur Hölle, weil er immer Zigarrenasche auf den Teppich fallen läßt. Wenn er wenigstens etwas Grips im Schädel hätte, sagt sie ständig, hätte er sein Geld in guten, sicheren Seifenaktien angelegt, statt sich mit Drachen herumzuschlagen und den heiligen Gral zu bewachen. Er wünscht ihr und allen ihren hergelaufenen Verwandten die Pest an den Hals, stolziert in die nächste Billardhalle und –« Johnny lachte und schüttelte bewundernd den Kopf, während er zur Tür ging. »Du bist eine Karte, Perry. Ein richtiges As!« 373
»Aber aus einem Spiel, das zu oft gemischt worden ist«, murmelte der Posthalter mehr zu sich selbst. Dann verzogen sich seine dünnen Lippen zu einem Lächeln, und er rief Johnny durch die offene Tür nach: »Nimm dich vor den Drachen in acht, Johnny. In Nächten wie dieser streifen sie umher.« Aber die Kutsche rollte schon. Wenn die Straße trocken und fest war, konnte man sich darauf verlassen, daß Johnny seine Postkutsche Schlag Mitternacht in den Hof der Relaisstation Halfway House rollen ließ. Aber in dieser Nacht hatte er eine Anzahl kleinerer Wunder zu vollbringen, ehe er dort eintraf, und die Tatsache, daß die schlammbespritzte Kutsche mit nur zwei Stunden Verspätung ankam, mußte als ein ganz besonderes Wunder betrachtet werden. Der unablässig herabströmende Regen hatte das Zigarrenrauchen schon lange unmöglich gemacht. Johnnys blaue Lippen waren so steif, daß er nicht einmal ein Lied singen konnte, und er war derart durchnäßt und kalt, daß er nur noch ein kümmerliches Quietschen hervorbrachte, als er seine Pferde angesichts des schwach durch den Regen schimmernden Lichtscheins zu einem letzten Spurt aufforderte. »Hi-yah, Jungs! Jetzt zeigt, was ihr könnt!« Die ermüdeten Pferde – es war bereits sein drittes Sechsergespann auf dieser Fahrt – legten sich ins Zeug, so gut sie konnten. Die Kutsche schleuderte und schwankte die abschüssige Straße hinunter in das steinige Bachbett, durch das hoch aufspritzende Wasser, wieder aufwärts durch eine scharfe Kurve und noch ein kurzes Stück geradeaus. Dann 374
zog Johnny die Bremse an, die Räder blockierten, und die Kutsche kam rutschend und schaukelnd zum Stillstand. Johnny kletterte mit steifen Gliedern vom Kutschbock, weniger um sich, als um das Wohlergehen der ihm anvertrauten Dame besorgt. Für ihn endete die Fahrt hier, aber die Kutsche hatte nur einen kurzen Aufenthalt, damit der Fahrer und die Pferde ausgewechselt werden konnten. Obwohl sich Miß Kimbrough kein einziges Mal beschwert hatte, mußte die lange Fahrt sie angestrengt haben. Nun, dachte Johnny, eine Tasse heißen Kaffee und zehn Minuten an einem warmen Ofen werden sie wieder aufmuntern. Die Relaisstation bestand aus einem langgestreckten Stallgebäude und einem Blockhaus mit drei Räumen, das von großen Pappeln und Weiden gegen den rauhen Nordwind geschützt wurde. Die Tür sprang auf, und Mrs. McGuire spähte mit einer trübe blakenden Sturmlaterne in der erhobenen Hand in die Nacht hinaus. »Johnny – bist du es?« »Und ob ich es bin, Mutter McGuire!« »Lieber Gott, ich hätte nie geglaubt, daß du es schaffen würdest!« »Ist heißer Kaffee da? Ich habe eine Dame an Bord.« »Bring sie herein! Die Arme muß ja ganz durchgefroren sein!« Johnny öffnete den Schlag. »Miß Kimbrough, Sie können aussteigen und sich ein wenig aufwärmen, während wir die Pferde wechseln. Ein Täßchen Kaffee wird Ihnen gut tun … He, Miß Kimbrough! Schlafen Sie?« Ein leises Stöhnen war die einzige Antwort. Johnny winkte Mrs. McGuire zu sich, nahm ihr die La375
terne aus der Hand und hielt sie in das dunkle Innere der Kutsche. Miß Kimbrough war halb von der Sitzbank heruntergerutscht und lag schlaff wie eine große Puppe da. »Lieber Himmel« rief Mrs. McGuire entsetzt. »Sie ist tot!« So sah sie aus, das mußte Johnny zugeben, aber wieder hörte er ihr leises Stöhnen. Er reichte Mrs. McGuire die Laterne zurück, hob die offenbar bewußtlose Frau behutsam aus der Kutsche und trug sie ins Haus. In einer Ecke des Wohnzimmers stand ein lederbezogenes Roßhaarsofa, auf dem Mrs. McGuire eine Decke ausbreitete damit Johnny seine Last ablegen konnte. »Ist sie seekrank oder was?« »Ich weiß nicht«, antwortete Johnny. Er überlegte, wie sie beim letzten Pferdewechsel ausgesehen hatte. »Als ich zuletzt mit ihr sprach, kam sie mir noch ganz gesund vor.« »Nun, wir werden ihr das Korsett aufmachen, damit sie mehr Luft bekommt …« Mrs. McGuire runzelte die Stirn und bedeutete ihm mit einem Wink, hinauszugehen. »Das kann ich allein. Ich werde schon sehen, was ihr fehlt. In der Küche steht Kaffee auf dem Herd. Nimm dir davon, soviel du willst, Johnny.« Johnny zuckte hilflos die Achseln und machte sich auf den Weg zur Küche. Unterwegs zog er die nassen Handschuhe und das Ölzeug aus und nahm den triefenden Hut vom Kopf. Als er mit der Kaffeetasse in der Hand ins Wohnzimmer zurückkehrte, war er sorgfältig darauf bedacht, seinen Blick vom Sofa abzuwenden. Er stellte sich mit dem Gesicht zur Wand vor den Kamin und wärmte sich. Das arme Kind! Sie wirkte ziemlich zart. Wahrschein376
lich war die lange Fahrt einfach zuviel für sie gewesen. »Wo hast du so lange gesteckt –? Seit zwei Stunden warte ich auf dich!« Die massige Gestalt eines Mannes, der auf der anderen Seite des Raumes auf einer Bank geschlafen hatte, erhob sich schwerfällig und schlurfte auf den Kamin zu. Ein Marinerevolver hing an seiner rechten Hüfte, und die blutunterlaufenen Augen über dem bartstoppeligen Gesicht starrten Johnny böse an. Sie waren vom Schlaf und vom Trinken glasig und nur halb geöffnet. Johnny kannte den Mann – Lew Holtz mit Namen – und empfand kein besonderes Vergnügen, ihn jetzt zu sehen. Doch aus Gewohnheit lächelte er ihn freundlich an. »Holla, Holtz. Es hat heute nacht eine kleine Verspätung gegeben. Der Tau fällt etwas reichlich, wie es scheint.« »Also, laß uns losfahren. Ich habe in Walla Walla zu tun, und es ist wichtig.« »Immer langsam. Wir haben eine kranke Frau, auf die wir Rücksicht nehmen müssen.« »Was sagst du da? Was fehlt dem dummen Weib?« Lew Holtz hatte eine halbvolle Whiskyflasche in der Hand, und während er stumpfsinnig im Raum umherschaute, hob er sie an seine Lippen und nahm mehrere lange Züge. Johnny stellte seine Kaffeetasse ab. »Denk an deine Manieren, Holtz«, sagte er ärgerlich, »wenn du welche hast.« Holtz schlurfte knurrend zu seiner Bank zurück, setzte sich und holte eine Zigarre aus seiner Tasche. Johnny dachte an die Stahlkassette im Kutschkasten und erinnerte sich an die Gerüchte, die er über Lew Holtz und die Leute, mit 377
denen er verkehrte, gehört hatte. Warum war Holtz mitten in einer so stürmischen Nacht wie dieser gekommen, um mit einer Postkutsche zu fahren, da er doch eine ganze Anzahl guter Reitpferde besaß? Und wo, fragte er sich plötzlich, war Mrs. McGuires Mann, der die Kutsche bis Walla Walla weiterfahren sollte? Das Gemurmel von Frauenstimmen am anderen Ende des Raums erinnerte ihn an eine dringendere Sorge. Er wandte den Kopf, als er Mrs. McGuires Schritte kommen hörte. »Ist sie gesund?« »Sie wird es gleich wieder sein – trotz deiner gegenteiligen Bemühungen.« »Was habe ich denn getan?« »Sie ist fast durch das Dach der Kutsche geflogen, als du wie der Teufel in das Bachbett gerast bist. Der Stoß hat ihr das Bewußtsein genommen. Aber es geht ihr schon wieder besser.« »Vielleicht sollte sie hier übernachten und morgen weiterfahren?« »Es geht ihr schon wieder besser, habe ich gesagt«, antwortete Mrs. McGuire scharf. »Außerdem will sie nicht bleiben. Sie sagte mir, es sei nicht nötig.« Mrs. McGuires Gesicht hellte sich auf, und sie legte ihre Hand auf Johnnys Arm. »Johnny, mein Mann liegt krank im Bett. Er ist so fiebrig und schwach, daß es sein Tod wäre, wenn er in einer solchen Nacht auch nur den Kopf aus der Tür steckt. Ich fürchte das Schlimmste für ihn, wenn er die Fahrt unternähme.« »Das nehme ich ihm gern ab, Mutter McGuire.« 378
»Du bist ein guter Junge, Johnny, und ich bin dir wirklich dankbar. Aber du mußt zuerst ein bißchen ausruhen, während ich dir etwas zu essen koche.« »Ein paar kalte Bissen tun es auch. Richte mir etwas her, während ich die Pferde wechsle. Ich kann unterwegs essen.« Johnny holte eine Tasse Kaffee aus der Küche und brachte sie Miß Kimbrough ans Sofa. Sie saß jetzt aufrecht und hatte den Hut abgelegt. Das schummrige Lampenlicht warf sanfte Reflexe auf ihr Haar. Es war wie aus Gold, fand er, fein und schön gewellt. Und ihre Augen waren dunkel und warm, als sie jetzt zu ihm auflächelte. Er wurde verlegen und fühlte sich unbeholfen. »Ich glaube, Sie halten mich nun für den schlechtesten Fahrer der Welt, Miß Kimbrough.« Ihr Lächeln verwirrte ihn geradezu. »Ich möchte sagen, Mr. Warner, daß Sie zumindest der netteste Fahrer der Welt sind.« Johnny eilte glücklich hinaus, schirrte die Zugpferde ab, brachte sie in den Stall und gab ihnen Futter. Dann zäumte er die sechs Ersatztiere auf, führte sie hinaus und spannte sie vor die Kutsche. Er war im Begriff, ins Haus zurückzukehren, als ihm ein beunruhigender Gedanke kam. Was sollte er mit Lew Holtz anfangen? Wenn Holtz irgendwelche Pläne mit der Stahlkassette hatte, würde er wahrscheinlich nicht allein handeln. Jeder in der Gegend wußte, daß er Frank Garlands Mann war, und Garland, der sein Hauptquartier in Walla Walla hatte, verfügte über genug zweifelhafte Burschen, die bereit waren, eine Postkutsche aufzuhalten. War ein Überfall geplant? Nach alledem, was man 379
sich über Garland und seine seltsamen Freunde erzählte, bestand diese Möglichkeit. Doch er konnte Holtz nicht einfach zurückweisen, nur weil der Mann einen schlechten Ruf hatte. Johnny dachte nach. Wenn er Holtz an Bord nahm, saß die arme Miß Kimbrough allein mit einem Betrunkenen im Abteil. Und nicht nur mit einem Betrunkenen, sondern mit einem ungeschlachten Bären von einem Mann, der nicht den mindesten Respekt vor einer anständigen Frau hatte. Dafür konnte Johnny nicht geradestehen. Er faßte einen Entschluß, öffnete die Tür und betrat das Zimmer. »Fahren wir!« Miß Kimbrough wärmte ihre Hände am Kaminfeuer, offensichtlich bemüht, Lew Holtz zu ignorieren, der neben ihr stand und über irgendeinen rohen Scherz schmunzelte, den er gerade gemacht hatte. Nun machte er schwerfällig kehrt und wiegte sich auf seinen Absätzen, während er zu Johnny schielte. »Wir sind fertig – nicht wahr, süßes Kind?« Miß Kimbrough beachtete ihn gar nicht. Mrs. McGuire kam mit einem Päckchen aus der Küche, das sie Johnny in die Hand drückte. »Sei vorsichtig, Johnny.« Er grinste. »Das bin ich immer.« »Johnny – ich werde dir das nicht vergessen.« Holtz unterbrach sie mit seiner polternden Stimme. »Habt ihr hier eine Postkutschenlinie oder ein Kaffeekränzchen? Los, Baby, hüpf in den Wagen. Ich habe soviel Schnaps, daß wir bis Walla Walla versorgt sind.« Johnny trat zur Seite, um Miß Kimbrough an sich vorbei 380
und durch die Tür zu lassen. Er folgte ihr rasch und schob sich so zwischen sie und Holtz. Schnell öffnete er den Schlag der Kutsche und half ihr beim Einsteigen. Sie schien aufgeregt zu sein, denn plötzlich wandte sie sich zu ihm um und sagte leise, »Mr. Warner, machen Sie sich keine –« »Steigen Sie ein«, sagte Johnny, schob sie hinein und schloß den Schlag. Dann drehte er sich um und sah Lew Holtz an. »He!« rief der Mann. »Und was ist mit mir?« »Du«, sagte Johnny, »fährst mit mir auf dem Kutschbock.« »In diesem Regen?« brüllte Holtz. »Ich bin doch nicht verrückt! Geh aus dem Weg, oder ich schlage dich zusammen!« »Entweder fährst du auf dem Kutschbock«, beharrte Johnny, »oder du bleibst hier.« Holtz hob die Whiskyflasche, aber Johnny duckte den Schlag ab und versetzte Holtz einen kräftigen Schwinger. Holtz taumelte zurück, glitt im Schlamm aus und stürzte. Aus der geöffneten Haustür drang Mrs. McGuires entsetzter Schrei. Sie starrte eine Sekunde herüber, dann verschwand sie wie ein Wiesel im Haus. Holtz tastete mit schlammtriefenden Fingern nach seinem Revolver, zog ihn aus dem Leder und wollte ihn auf Johnny richten. Johnny sprang ihn an wie eine Wildkatze. Es kümmerte ihn nicht, wie viele Vorschriften seiner Gesellschaft er verletzte. Sicherlich ein Dutzend, denn keine Gesellschaft konnte sich lange im Geschäft halten, wenn sie ihren Fahrern erlaubte, zahlende Passagiere so zu behandeln wie 381
Johnny nun Lew Holtz behandelte. Zuerst entwand er Lew Holtz den Revolver und warf ihn in eine Schlammpfütze. Dann packte er Holtz’ Ohren mit Fäusten, die vom Lenken sechsspänniger Wagen eisenhart geworden waren. Er wälzte Holtz’ Gesicht herum und drückte ihn mit dem Gesicht kräftig in den aufgeweichten Boden. Schließlich riß er Holtz hoch, drehte ihn in die ungefähre Richtung des Baches und versetzte ihm einen gewaltigen Tritt mit dem Stiefel. Damit war die Auseinandersetzung für den Augenblick so gut wie entschieden. Keuchend klopfte sich Johnny die dicksten Schlammklumpen von der Hose, fuhr sich mit einem Ärmel über das Gesicht und blickte entschuldigend zu Miß Kimbrough empor, die in der geöffneten Tür der Kutsche stand und ihre gestrickte Reisetasche umklammerte. »Tut mir leid, daß Sie das mit ansehen mußten, Miß Kimbrough. Aber ich konnte ihn nicht mit einer Dame wie Ihnen allein im Abteil reisen lassen. Wenn Sie bereit sind, können wir jetzt fahren.« Mrs. McGuire senkte die doppelläufige Schrotflinte, die sie in den Händen hielt, und stand zitternd vor Angst auf der Schwelle. Sie sah, wie Johnny auf den Fahrersitz kletterte, ihr zum Abschied fröhlich zuwinkte, und in die regengepeitschte Nacht hinausfuhr. Mittag war vorbei, und im Westen begann es sich aufzuklären, als Johnny die Hauptstraße von Walla Walla hinunterfuhr. Vor dem besten Hotel der Stadt hielt er an. Obwohl Miß Kimbrough nicht gesagt hatte, daß sie hier absteigen wollte, wußte er doch, daß dies der einzige Ort für eine Dame wie sie war. Und obgleich er Verspätung hatte, war 382
er sicher, daß die Gesellschaft es ihm nicht übelnehmen würde, wenn er einem Passagier eine kleine Gefälligkeit erwies. Sein Sprung vom Fahrersitz war nicht ganz so gewandt wie gewöhnlich, denn inzwischen war er doch müde geworden. So müde, daß er Miß Kimbrough nur verschwommen sah, als er ihr den Schlag öffnete. Aber sein Lächeln war fast so hell und lustig wie gewöhnlich. »Wir sind angekommen, Miß Kimbrough.« »Ich danke Ihnen, Mr. Warner.« Er nahm ihre Koffer aus dem Kasten, setzte sie vor dem Hotel auf den Stufen ab und bedeutete einem Portier, daß er sie hineintragen solle. Miß Kimbrough schien keine Eile zu haben und zögerte, das Hotel zu betreten. Sie muß müde sein, dachte Johnny, schrecklich müde nach der langen Fahrt, und wahrscheinlich hatte der Stoß, den sie bei der Bachdurchfahrt bekommen hatte, auch nicht gerade zu ihrem Wohlbefinden beigetragen. Er drehte seinen Hut verlegen zwischen den Händen. In ihrer Gegenwart kamen ihm seine Jugend und seine Unbeholfenheit bedrückend zu Bewußtsein. »Es tut mir wirklich leid, daß Sie sich den Kopf so schlimm gestoßen haben, Madame. Ich – ich glaube, Sie haben durch mich keine schöne Reise gehabt.« »Mr. Warner«, sagte sie leise. »Es war eine Reise, die ich nie vergessen werde.« Und bevor er wußte, wie ihm geschah, küßte sie ihn schnell auf die Wange, drehte sich um und eilte mit raschelnden Röcken ins Hotel. Johnny kletterte benommen auf den Kutschbock und 383
fuhr weiter zur Postkutschenstation. Wie im Traum lud er die Postsäcke ab und trug die Stahlkassette hinein. Dann lehnte er abwesend und verträumt am Schalter. Der Vorsteher sah ihn neugierig an. »Nur einen Passagier?« »Ja«, sagte Johnny. »Aber sie war eine Dame. Eine wirkliche Dame.« Belle Kimbrough nahm ihren Hut ab, zog ihren Mantel aus und zupfte sich nachdenklich die Handschuhe von den Fingern. Sie trat ans Fenster ihres Hotelzimmers und starrte lange auf die lehmige Straße hinunter. An der Tür ertönte ein diskretes Klopfen. Ohne sich vom Fenster abzuwenden, sagte sie: »Herein.« Die Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. »Nun?« sagte Frank Garland. »Hast du es?« »Nein.« »Was ist schiefgegangen?« »Dieser Dummkopf Holtz hatte sich betrunken. Und der Kutscher beging den Fehler, mich für eine Dame zu halten.« »Du lieber Himmel!« sagte Garland. »Ausgerechnet dich!« Belle Kimbrough fuhr herum und wollte etwas sagen, doch dann sah sie das Lächeln auf seinem glatten, nicht unangenehmen Gesicht und schwieg. Er holte eine Flasche Whisky aus einer Kommodenschublade und schenkte zwei Gläser voll. Sie ging mit zögernden Schritten zu ihm, nahm das angebotene Glas und blickte unverwandt in seine ruhigen grauen Augen. 384
»Kennst du Johnny Warner?« »Ja. Ich bin ein oder zwei Male mit ihm gefahren. Warum?« »Irgend etwas ist an dem Jungen – wie er dich ansieht, wie er mit dir spricht – das dir das Gefühl gibt, genau so sauber und glücklich und jung wie er zu sein. Er ist – ach, ich rede dummes Zeug!« Frank Garland betrachtete sie forschend, dann begann er wieder zu lächeln. »Erzähl mir alles, Belle.« Sie berichtete. Während sie sprach, irrte ihr Blick von ihm ab und blieb am Frisierspiegel hängen. Sie sah gebleichte Haare, verblaßte Augen und ein Gesicht, in dem die unbarmherzigen Jahre tiefe Linien hinterlassen hatten. Ihr Blick wanderte rasch weiter. Als sie ihre Geschichte beendet hatte, stellte sie das Glas ab, griff in die gestrickte Handtasche, die vor ihr auf dem Tisch lag und zog einen kleinen, mit zierlichen Silberbeschlägen versehenen Revolver heraus. Sie hielt ihn hoch und blickte den Mann an. »Erinnerst du dich an dieses Ding, Frank? Du hast es mir vor Jahren einmal gegeben und gesagt, es könnte nötig sein, daß ich einmal einen Mann töten müßte. Gestern nacht hätte ich beinahe einen Mann getötet – Lew Holtz. Und ich werde ihn erschießen – und vielleicht auch dich – wenn du jemals zuläßt, daß Johnny Warner etwas zustößt.« Der amüsierte Ausdruck stand noch immer in Frank Garlands Augen, aber er war jetzt mit einer sonderbaren Zärtlichkeit gemischt. Er kam zu ihr und legte seine Hände auf ihre Schultern. »Ihm wird nichts geschehen, Belle. Aber ich kann immer noch nicht verstehen, was er in dir ausgelöst hat. Wenn du von ihm sprichst, siehst du aus wie 385
ein Mädchen von achtzehn Jahren, das immer noch an Märchen und an Ritter in glänzenden Rüstungen glaubt.« »Das«, sagte Belle Kimbrough leise, »ist genau meine Empfindung.« Nachdem er die Kassette und seine Postsäcke abgeliefert hatte, fuhr Johnny müde zu den Stallungen der Gesellschaft, half dem Pferdeknecht beim Abschirren, fand eine Decke und einen Platz im Heuschuppen und war nach zehn Sekunden fest eingeschlafen. Und keine Drachen schlichen durch seine Träume.
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Der Präsident der »Western Writers of America«, von 1962 bis 1963, Elmer Kelton, wurde auf einer Viehranch in Texas geboren und hat neben seiner Arbeit für die »San Angelo Standard Times« ein gutes Dutzend Romane und zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht, in denen er die Vergangenheit seiner westtexanischen Heimat schildert. Im Jahr 1957 erhielt sein Roman »Buffalo Wagons« den Preis für die beste Western-Erzählung des Jahres.
Elmer Kelton
Der Mann auf der Wagendeichsel Eine der ersten Taten, die Hall Jernigan vollbrachte, nachdem er in die Mannschaft des alten Major Steward eingetreten war, bestand darin, daß er eine starke Abneigung gegen Coley Dawes entwickelte. Er hatte dafür keinen Grund, auf den er hätte stolz sein können, aber die Abneigung war da. Vielleicht war die eigentliche Ursache nur, daß Coley Dawes existierte und daß seine Gegenwart für einen Mann von Halls Erziehung einfach eine Beleidigung darstellte. Außerdem war Coley in allem, was er anfaßte, einfach zu gut. In den sechs Wochen, die Hall mit der Crew verbracht hatte, hatte Coley mindestens zehn oder zwölf halbwilde Pferde zugeritten, und nur einmal war er dabei abgeworfen worden. Was Hall jedoch erst richtig erbitterte, war der Morgen, an dem ihn ein Pferd zweimal hintereinander abwarf. Der alte Major March Steward kam mit finsterer Miene nähergeritten, als sich Hall gerade zum zweiten Mal keuchend 387
und staubbedeckt erhob. »Coley«, sagte der Major gelassen, »du nimmst dir mal das Pferd hier vor und reitest es für den Jungen zu.« Das Wort Junge war es gewesen, denn Hall war ein erwachsener Mann und stolz darauf. Aber er war von dem Sturz so benommen, daß sein einziger Protest in einem abwehrenden Winken bestand. Coley bestieg das Pferd, und es sah aus, als bereitete es ihm nicht die geringste Mühe, im Sattel zu bleiben. Als er wieder abstieg, hatte das Pferd seinen Kampfgeist verloren. Dafür wollte jetzt Hall kämpfen. Aber da saß der alte Major auf seinem Pferd und sah gefährlich aus wie ein Adler, der auf einem frisch geschlagenen Lamm sitzt. Ein Blick auf die scharfen Augen und den eisengrauen Bart genügte, und Hall schluckte herunter, was er am liebsten gesagt hätte. Es war nicht in Ordnung, daß der Boß ihm einen anderen auf das Pferd gesetzt und ihn so beschämt hatte. Aber der Major betrieb eben eine Viehranch und keine Sonntagsschule, Er konnte beim Herdenauftrieb nicht auf irgendeinen Reiter warten, der sich nicht im Sattel zu halten vermochte. Alte Rauhbeine wie Major Steward waren mehr an ihrem Vieh als am verwundeten Stolz ihrer Cowboys interessiert. Cowboys waren billiger. Coley Dawes gab Hall die Zügel und trat ohne ein Wort zurück. Aber soviel Mühe er sich auch gab, er konnte das Lächeln in seinen Augen nicht unterdrücken. Er war stolz, etwas getan zu haben, das der weiße Mann nicht fertiggebracht hatte. Denn Coleys Haut war schwarz wie eine mondlose Märznacht. 388
Einer der Gründe, daß Hall bis dahin nie etwas gesagt hatte, war, daß die anderen Cowboys Coley Dawes akzeptierten. Nur abends im Lager und bei den Mahlzeiten konnte man erkennen, daß seine Hautfarbe nicht ganz ohne Bedeutung war. Coley trug seine Deckenrolle stets an den Rand des Lagers und schlief etwas abgesondert von den übrigen Männern. Bei den Mahlzeiten ließ er sich seinen Teller zuletzt füllen, und er setzte sich beim Essen immer allein abseits auf eine Wagendeichsel. Niemand hatte es ihm je vorgeschrieben, und wahrscheinlich würde keiner etwas gesagt haben, wenn er es nicht getan hätte. Aber er hatte seine Kindheit in Sklaverei verbracht, und das war ein Kainsmal, das er bis ins Grab mit sich herumtragen würde. Wie Hall von den anderen Cowboys erfahren hatte, war Coley bei Kriegsende ein magerer, halb verhungerter Junge von fünfzehn Jahren gewesen. Die Yankees hatten ihm gesagt, daß er frei sei, aber sie mußten damit gemeint haben, frei zum Verhungern. Niemand wollte ihn, niemand hatte ein Heim oder Arbeit für ihn. Eines Tages war der zerlumpte Junge Major Steward über den Weg gelaufen und hatte sein Mitleid erregt. Steward war damals noch kein großer Mann gewesen, weil er gerade erst mit dem Aufbau seiner Viehranch begonnen hatte. Aber er nahm den Jungen mit und gab ihm etwas zu tun. Die Lehrjahre bei Steward und seine eigene natürliche Geschicklichkeit hatten aus Coley einen erstklassigen Cowboy gemacht. Damals gab es viele Neger, die sich auf diese Weise durchs Leben schlugen. Wenn man es recht betrachtete, war es das, was Hall Jernigan am meisten warnte. Hall hatte es nicht leicht ge389
habt, seinen Beruf zu erlernen. Sein Diplom bestand aus mehreren Narben, einigen breitgeschlagenen Knöcheln und einem gebrochenen Bein, das nicht ganz gerade zusammengewachsen war. Und das hatte er alles erworben, bevor er dreiundzwanzig Jahre alt war. Und da war Coley Dawes, mehrere Jahre älter und ohne sichtbare Spuren seines Gewerbes. Coley konnte reiten und beherrschte alle Tricks, die es mit dem Lasso zu beherrschen gab. Bisher hatte Hall noch nichts gefunden, was Coley nicht ein wenig besser konnte als er. Das ging so nicht weiter. Obwohl er abgebrannt war, beschloß Hall, seinen Job hinzuwerfen und anderswo sein Glück zu versuchen. Er fand den alten Major beim Feuer, wo er zuschaute, wie die Brandeisen in der Glut allmählich die richtige hellrosa Farbe annahmen. Steward fuhr sich mit den dicken Fingern durch den filzigen Bart und schob die struppigen Brauen zusammen. »Ich nehme an, es ist wegen Doley Dawes. Ich habe es kommen sehen. Coley hat nichts gegen dich; er will dir kein Unrecht zufügen.« »Ob er will oder nicht, er hat es getan.« »Wenn du jetzt gehst, gibst du zu, daß er der bessere Mann ist.« »Ich gebe überhaupt nichts zu«, sagte Hall hitzig. »Wirklich nicht?« Die Augenbrauen des Majors senkten sich, und seine Augen schienen ein Loch durch Hall zu brennen. »Das einzige, was du gegen Coley vorbringen kannst, ist seine Hautfarbe. Habe ich recht? Wäre er weiß wie wir anderen, würdest du darüber hinweggehen und nicht einen 390
Rappel bekommen, nur weil er besser ist als du.« Hall ballte die Fäuste. »Ich habe nicht gesagt, daß er besser ist …« Er brach ab, weil er sich bewußt wurde, es indirekt schon zugegeben zu haben. Der Major verstand es auf eine unangenehme Weise, die Dinge direkt auszusprechen. Hall zuckte die Achseln und suchte nach den richtigen Worten. »Ich glaube, es ist nur, daß ich mit Leuten seiner Art noch nie etwas anzufangen wußte. Ich bin in Georgia aufgewachsen. Die reichen Pflanzer nannten uns ›weißes Pack‹ und ›Hungerleider‹. Wir haben nie Sklaven besessen. Die reichen Landbesitzer hatten Hunderte. Dann kam der Krieg, hauptsächlich wegen der Sklaven, und mein Pa mußte ins Feld ziehen und dafür kämpfen, daß die Landbesitzer ihre Sklaven behalten konnten. Die reichen Plantagenleute saßen zu Hause und lebten weiter in Saus und Braus, während Pa und viele andere arme Schlucker getötet wurden. Wir waren sieben Kinder, ich das älteste, und Ma mußte ganz allein versuchen, uns durchzubringen. Wir wären beinahe verhungert. Die reichen Leute saßen nur einfach da und ließen ihre Sklaven schuften, bis der alte Sherman mit seinen Yankees kam. All das Elend nur wegen der Sklaven. Und deshalb habe ich für einen schwarzen Mann noch nie etwas übrig gehabt. Wenn ich einen sehe, muß ich an Pa und die Hungerzeit denken.« Major Steward nickte. »Mir scheint, du richtest deinen Haß an die falsche Adresse. Diese Sklaven wurden genau so wenig gefragt wie du und dein Pa. Du bist blind wie ein Stier, der auf das rote Tuch losgeht und nicht auf den, der es schwenkt.« 391
Hall zuckte die Achseln. »Wenn die Sklaven nicht gewesen wären, hätte es keinen Krieg gegeben. Ich kann mir nicht helfen, ich denke nun einmal so. Ich wäre Ihnen dankbar, Sir, wenn Sie mich einfach auszahlen und reiten lassen würden.« Der Major schüttelte seinen eisengrauen Kopf. »Wenn du dich erinnerst, habe ich dich aus dem Gefängnis geholt. Ich habe deine Kaution bezahlt und dir Geld gegeben, damit du dich neu einkleiden konntest. Du hast noch nicht lange genug bei mir gearbeitet, um die Rechnung auszugleichen.« Hall fluchte. Diese Sache in der Stadt war nicht fair gewesen. Sie hatten ihn beim Pokern hereingelegt, und er hatte es sich nicht gefallen lassen wollen. Aber es schien, als schützte das Gesetz die Falschspieler, besonders den einen, der unter Halls harten Fäusten drei Zähne verloren hatte. »Nun gut«, sagte Hall widerwillig. »Ich bleibe so lange, bis wir quitt sind. Bis dahin, Major, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie diesen Coley von mir fernhalten würden.« So kam es, daß Hall blieb. Coley Dawes hielt sich fern von ihm, wann immer es ging. Manchmal störte es Hall, daß die anderen Cowboys unbefangen mit Coley verkehrten, sich mit ihm unterhielten, Witze machten und sich benahmen, als wäre er ein Weißer. Aber immer war da das eine Unterscheidungsmerkmal: Wenn die Essenszeit kam, saß Coley allein auf der Wagendeichsel. Nach und nach hatten die Reiter eine Ochsenherde von etwa fünfzehnhundert Stück zusammengestellt. Aus dem Osten kamen Käufer mit einem ganzen Trupp Cowboys, 392
um die Ochsen nach Kansas zu treiben. Hall Jernigan war am letzten Tag des Auftriebs den Wagen zugeteilt und sah, wie die Käufer das Vieh in Bargeld bezahlten, das sie in einem wasserdichten Segeltuchsack mitgebracht hatten. Angesichts der vielen Cowboys, die sie bei sich hatten, würde niemand einen Versuch gewagt haben, ihnen das Geld abzunehmen. Hall begann sich zu fragen, was der Major wohl mit dem vielen Geld anfangen würde. Er brauchte sich nicht lange zu wundern. Noch am gleichen Abend rief ihn der Major an das Küchenfeuer. Steward schlürfte schwarzen Kaffee aus einer Blechtasse und bedeutete Hall mit einer stummen Geste, sich zu bedienen. »Hall«, sagte er, »ich habe einen besonderen Job für dich. Was ich in der Stadt über die Schlägerei hörte, die dich ins Gefängnis gebracht hat, zeigt mir, daß du ein regelrechter Experte für Raufereien bist. Und die Jungen haben mir erzählt, daß du außerdem ein guter Schütze bist.« Hall hob die Schultern. »Ich kann ein bißchen schießen«, gab er zu. »Die meisten von meinen Cowboys könnten eine Scheune nicht auf zehn Meter Entfernung treffen. Es ist schon eine Gemeingefahr, daß sie überhaupt bewaffnet herumlaufen.« Hall nippte von dem dampfenden Kaffee und nickte. Cowboys und geladene Schußwaffen gehörten seiner Meinung nach nicht zusammen. Der Major sagte: »Ich habe eine Menge Bargeld eingenommen, und ich muß es zur Bank nach Fort Worth schaffen. Gewöhnlich bringe ich es selbst hin, und bisher hat es noch keiner gewagt, etwas zu stehlen. Aber diesmal habe 393
ich hier soviel um die Ohren, daß ich die Reise nicht machen kann. Ich muß es jemandem mitgeben, dem ich vertrauen kann.« Hall erglühte vor Stolz. »Danke für das Kompliment, Sir.« »Du brauchst mir nicht zu danken, bevor du alles gehört hast. Bei diesen Reisen habe ich immer noch einen Mann bei mir. Manchmal schicke ich ihn sogar allein, wenn es nicht viel ist, und er ist bisher noch immer durchgekommen, ohne behelligt worden zu sein. Er kennt alle Schliche, aber ich würde ihn nicht eine Kämpfernatur nennen.« »Ich werde an Ihrer Stelle auf ihn achtgeben.« Major Steward blickte Hall starr in die Augen. »Das würde ich dir auch raten. Ich spreche nämlich von Coley Dawes.« »Coley?« Hall fuhr kerzengerade in die Höhe. »Sie meinen, ich soll mit diesem Schwarzen die ganze Strecke bis Fort Worth reiten?« Er schüttete seinen Kaffee auf die Erde und stampfte mit umwölktem Gesicht ein paar Male um das Feuer. Ihm war zumute, als hätte der Major von ihm verlangt, auf die Flagge der Konföderierten zu spucken. »Nein, zum Henker! Suchen Sie sich einen anderen für den Job! Da mache ich nicht mit.« »Ich habe keinen anderen, den ich schicken könnte. Wenn du gehst, streiche ich die Schulden, die du noch bei mir hast, Hall. Ich würde dir sogar einen Extrabonus von fünfzig Dollar geben, wenn du das Geld sicher noch Fort Worth auf die Bank bringst.« Fünfzig Dollar! Hall blieb stehen und dachte angestrengt nach. Für soviel Geld war er beinahe bereit, General Sher394
man die Hand zu schütteln. »Es scheint, Sie setzen eine Menge Vertrauen in diesen Coley«, sagte er scharf. »Woher wollen Sie wissen, daß er nicht eines Tages Ihr Geld nimmt und damit durchbrennt?« »Weil er erstens zu ehrlich und aufrichtig ist. Ein solcher Gedanke würde ihm wahrscheinlich nie in den Sinn kommen. Zweitens, was sollte er damit machen? Jeder würde wissen, daß er auf normale Weise nie zu soviel Geld gekommen sein konnte. Er wäre gar nicht in der Lage, es auszugeben.« »Woher wollen Sie dann wissen, daß ich nicht einfach Ihr Geld nehme und damit verdufte?« Ein belustigtes Blitzen kam in Major Stewards Augen. Hall hatte es in all den Wochen, die er nun schon auf der Ranch arbeitete, nur sehr selten gesehen. »Aus dem gleichen Grund, Hall. Du siehst zu sehr nach einem biederen Cowboy aus. Jeder würde sofort merken, daß du eine solche Menge Geld nie auf ehrliche Art erworben haben könntest.« Hall schlug die Augen nieder. Er hatte gefragt, und nun wußte er es. Hall hatte noch nicht zugesagt, aber der Major fuhr fort, als gäbe es keinen Zweifel daran. »Und noch etwas. Coley kennt sich mit diesen Sachen aus, also ist er der Boß auf der Reise. Du tust, was er dir sagt.« »Ich soll mir von Coley Befehle geben lassen?« Es war unerhört. »Du tust, was er sagt, oder du hast dich vor mir zu verantworten.« Hall stampfte davon und murmelte Verwünschungen 395
und Flüche vor sich hin. Was ein Mann alles auf sich nehmen mußte, nur um von seinen Schulden herunterzukommen! Die Sterne standen noch kristallklar am Himmel, als Hall Jernigan und Coley ihr Frühstück beendeten und sich in östlicher Richtung vom Lager entfernten. Kurz vorher hatte Major Steward Hall auf die Seite genommen und gesagt: »Coley würde eher sterben, als jemandem die Satteltaschen auszuhändigen. Es ist dein Job, dafür zu sorgen, daß er nicht in eine solche Lage kommt. Ist das klar?« Von Anfang an hatte Hall deutlich gemacht, daß er keine Lust hatte, sich mit einem Neger zu unterhalten, also ließ Coley sein Pferd ein wenig zurückfallen und sagte kein Wort. Hall vermutete, daß der Neger vielleicht beim Reiten schlief, aber als er sich einmal umsah, merkte er, daß die Augen des Mannes ihn nachdenklich betrachteten. Es war nicht schwer zu erraten, was Coley durch den Kopf ging, denn eine gewisse stille Ablehnung lag in seinem schwarzen Gesicht offen zutage. Hall wandte sich achselzuckend wieder nach vorn. Es spielte keine Rolle, sagte er sich, was ein Mann wie Coley über ihn dachte. Stunde um Stunde ritten sie schweigend dahin, und die Stille begann an Halls Nerven zu zerren. Er hatte geglaubt, Coley würde ihm mit unsinnigem Geschwätz in den Ohren liegen. Aber Coley öffnete seinen Mund nur, um gelegentlich ein wenig Staub auszuspucken. Es kam soweit, daß sich Hall zur Ablenkung etwas Unterhaltung geradezu wünschte. Einige Male drehte er sich im Sattel um und ver396
suchte ein Gespräch anzufangen. Aber alles, was er auf seine Fragen als Antwort bekam, war ein kühles und höfliches »Ja, Sir« oder »Nein, Sir«. Zuletzt riß ihm die Geduld, und er knurrte: »Häng doch nicht immer hinter mir herum. Schließlich sind wir keine Indianer, daß wir im Gänsemarsch dahintrotten müßten.« Coley lächelte fast unmerklich. Aber das genügte schon, um Hall erneut zu verärgern. Plötzlich verlor er die Lust an einem Gespräch. Wieder hatte Coley gewonnen. Fast konnte man sagen: wie immer. Den ganzen Tag lang hielten sie die Pferde in einem stetigen Trott. Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang saßen sie ab, um sich ein Abendessen zu kochen. Hall hatte tagsüber ständig die Umgebung beobachtet, aber keinen Menschen und keine verdächtige Bewegung gesehen. Auch am nächsten Tag sahen sie nichts Bemerkenswertes. Am Nachmittag erreichten sie eine von Räderfurchen zerpflügte Fahrstraße, die sich in ungefähr östlicher Richtung dahinschlängelte. »Diese Straße«, erklärte Coley plötzlich, »führt uns nach Fort Worth.« Das war so ungefähr die einzige Bemerkung, die der Neger im Lauf der letzten zwei Tage freiwillig gemacht hatte. Hall hatte es längst aufgegeben, mit ihm eine Unterhaltung zu beginnen. Er begriff, daß Coley einen empfindlichen Stolz besaß, und daß er ihn verletzt hatte. Für wen hält er sich? dachte Hall ärgerlich. Für einen weißen Mann? Am Spätnachmittag lenkte Coley sein Pferd von der Straße. 397
»Ein Stück voraus liegt eine Siedlung«, sagte er. »Der Major und ich, wir machen immer einen Bogen um sie, wenn wir Geld bei uns haben. Der Major sagt, die meisten Leute seien ehrlich, und er wolle sie nicht in Verbindung bringen.« Hall hielt sein Pferd an und verfolgte den Verlauf der Straße. »Eine Siedlung, sagst du? Die werden doch sicher einen trinkbaren Whisky haben, nicht?« Als Coley nickte, fuhr sich Hall mit dem Handrücken über den Mund. »Bei Gott, ich habe einen Durst, der ein Maultier umbringen würde.« »Mister Hall, das können wir nicht machen. Wir müssen weiter.« »Es geht schon auf den Abend zu. Irgendwo müssen wir anhalten. Wir haben noch nichts Verdächtiges gesehen, und ich glaube auch nicht, daß wir noch irgendetwas sehen werden. Ich bin durstig.« Coley wurde unruhig. »Mister Hall, ich weiß, wie Sie über mich denken, und ich weiß, daß Ihnen meine Farbe nicht gefällt. Aber der Major hat uns einen Auftrag gegeben. Wir müssen nach Fort Worth.« Coleys höflich vorgetragener Einwand vermochte Halls Entschluß nur noch zu festigen. »Du kannst nach Fort Worth reiten – meinetwegen auch zur Hölle, wenn es dir gefällt, ich reite erst einmal in diese Siedlung.« Er gab seinem Pferd die Sporen und folgte der Fahrstraße. Er blickte nicht zurück, aber nach einer oder zwei Minuten hörte er hinter sich die Hufschläge von Coleys Pferd. 398
Es war keine große Siedlung, sie bestand nur aus ein paar zusammengewürfelter Blockhütten und Bretterbuden, und nur drei oder vier Gebäude konnte man als Häuser bezeichnen. Der ganze Ort hatte sicherlich nicht viel mehr als fünfundsiebzig Einwohner. Hall stieg vor einem kleinen Saloon ab. Als er aufblickte, sah er in Coleys mißbilligende Augen. »Kommst du mit hinein, Coley?« »Die Leute hier mögen das nicht.« »Dann werde ich dir eine Flasche rausbringen. Es wird den Leuten nichts ausmachen, wenn du hier vor der Tür sitzt.« Coley saß stocksteif im Sattel. »Ich will keine Flasche. Ich werde einfach hier warten, bis wir weiterreiten können.« Es war ein typischer Landsaloon. Eine trübe Öllampe verbreitete schummriges Licht. Im ganzen Haus schien es keinen Besen zu geben, und die roh gezimmerte Theke aus Fichtenholz konnte mit ihren Splittern einem unachtsamen Besucher gefährlich werden. Der Whisky war der Umgebung angemessen, in der er ausgeschenkt wurde. Er schmeckte wie Brennöl, aber seine Wirkung kam dem Hufschlag eines auskeilenden Maultieres gleich. Hall zahlte das Doppelte von dem, was die Flasche wert war, und trug sie an einen wackeligen Tisch. Er trank aus der Flasche, und jeder Schluck schien besser zu schmecken als der vorangegangene. Unter der Wirkung des Fusels begann er allmählich das Gefühl der Erniedrigung zu verlieren, das seit Verlassen des Lagers ihn bedrückt hatte. Jetzt kann ich es ihnen zeigen, dachte er trotzig. Viel399
leicht konnten sie ihn dazu bringen, mit einem Neger zu reiten, aber er ließ sich nicht zwingen, von dem auch noch Befehle anzunehmen. Er saß schon eine Stunde oder länger in der stinkenden Schankstube, als er rauhe Stimmen hörte, die von der Straße hereindrangen. »Dreh dich doch mal zum Licht, damit wir dich sehen können, Junge«, sagte jemand. Dann: »Du hattest recht, Hob, das ist tatsächlich Coley. Was machst du hier, Coley? Der alte Mann muß irgendwo in der Nähe sein, nicht?« Coleys Stimme klang heiser. »Mister Good, ich will keinen Ärger.« »Wir haben gar nicht vor, dir welchen zu machen, Coley. Aber dein Anblick erinnert uns daran, daß vor ein paar Tagen zwei Viehaufkäufer mit einem Haufen Cowboys hier durchgekommen sind. Offenbar wollten sie vom Major eine Herde übernehmen. Und da fällt uns ein, daß du die Ranch nur verläßt, wenn du und der alte Mann Geld zur Bank bringen. Also sag uns, wo er steckt, Coley. Wir wollen ihn begrüßen.« »Der Major ist nicht hier, und es gibt kein Geld«, log Coley. »Ich arbeite nicht mehr für den Major.« »Du arbeitest nicht mehr für ihn? Ein Schoßhündchen verläßt seinen Herrn nicht. Und das bist du – ein Schoßhündchen. Jetzt hör auf zu lügen und sag uns, wo der Major ist. Sag es uns, oder wir strecken dir den Hals mit einem Hanfseil.« Hall war plötzlich stocknüchtern. Er stand auf, zog seinen Revolver, schob sich aus der schmalen Türöffnung und stieß die Mündung dem nächsten Mann, der ihm den Rück400
en zukehrte, ins Genick. Die Berührung des kalten Metalls ließ den Mann zusammenfahren. Hall sagte: »Wenn ihr Jungs Streit sucht, solltet ihr lieber mit mir reden. Laßt Coley in Ruhe, bevor ich etwas tue, für das mich mein Gewissen plagen wird.« Die beiden Männer ließen von Coley ab. »Steig auf dein Pferd, Coley«, sagte Hall. Coley beeilte sich, wieder in den Sattel zu kommen. Hall nahm den Männern die Revolver ab und warf sie in den Straßengraben. Dann musterte er sie drohend. »So, war da noch etwas, das ihr sagen wolltet?« Keiner sprach. »Na schön«, knurrte Hall. »Dann ist ja alles klar. Wenn ihr das nächste Mal einen überfallen wollt, überlegt euch vorher, ob ihr auch den Schneid habt, es mit einem weißen Mann aufzunehmen. Und jetzt verschwindet!« Sie ließen es sich nicht zweimal sagen. Hall kletterte in den Sattel. »Coley, ich glaube, es wird Zeit, daß wir weiterreiten.« Coley nickte eifrig. »Ja, Sir, Mister Hall. Höchste Zeit.« Sie verließen die Siedlung im Schritt, denn Hall wollte nicht, daß es aussah, als hätten sie es eilig. Als aber die letzten Häuser verschwunden waren, spornten sie ihre Tiere zum Galopp an und hielten das scharfe Tempo mehrere Meilen durch. Als er merkte, daß sein Pferd zu ermüden begann, ließ er es im Trab weitergehen. »Was waren das für Kerle, Coley?« »Sie sind keine Freunde vom Major, das kann ich Ihnen garantieren. Es waren die Gebrüder Good, aber sie tragen ihren Namen zu Unrecht. Sie arbeiteten früher für den Ma401
jor, bis er herausbrachte, daß sie jedes ungezeichnete Tier aus seinen Herden stahlen, das ihnen in die Quere kam. Der Major verjagte sie. Er sagte, sie hätten Glück gehabt, daß er sie nicht einfach aufhängen ließ.« Er machte eine sorgenvolle Miene. »Sie werden uns nachreiten, glaube ich. Die haben das Stinktier im Holzstoß gerochen, das ist so sicher wie die Sünde.« Hall blickte auf Coleys vollgestopfte Satteltaschen, und er schämte und ärgerte sich zugleich. »Meine Schuld, Coley. Ich hätte nicht in die Siedlung reiten sollen. Ich habe es eigentlich nur getan, um zu zeigen, daß ich keine Befehle von dir annehmen wollte.« Coley zuckte die Achseln. »Es nützt nichts, über verschüttete Milch zu klagen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Mister Hall, glaube ich, daß wir lieber weiterreiten sollten.« »Du bist der Boß«, sagte Hall. Sie ritten bis nach Mitternacht, und als sie endlich lagerten, verzichteten sie sogar auf ein Kaffeefeuer, denn keiner von ihnen zweifelte daran, daß die Gebrüder Good irgendwo hinter ihnen waren. Da sie schon mehr als genug wußten, hätten die Goods überaus einfältig sein müssen, um sich nicht auch noch den Rest zusammenzureimen. Bei Tagesanbruch waren Hall und Coley schon wieder im Sattel. Mit etwas Glück, dachte Hall, konnten sie Fort Worth am Abend erreichen. Vielleicht hatte ihnen der lange Nachtritt ohnehin einen hübschen Vorsprung gesichert. Er und Coley hielten trotzdem die Augen offen und beobachteten ständig die Umgebung. Einmal drehte sich Coley im Sattel um, hielt plötzlich an und sagte: »Mister Hall, 402
hinter uns!« Hall machte halt und spähte. »Da ist nichts, Coley.« »Ich hätte geschworen, Mister Hall …« Sie warteten eine Weile, sahen jedoch nichts. »Vielleicht hab ich mich geirrt«, gab Coley endlich zu. »Ich bin immer noch ein bißchen nervös.« Hall nickte befriedigt. Dies war seine Domäne. Wenigstens hier konnte der Neger ihm den Rang nicht streitig machen. Sie ritten weiter und Hall sah die Unruhe in Coleys schwarzem Gesicht. Er hatte die Augen weit geöffnet, und das Weiß seiner Augäpfel zeigte sich deutlicher, als Hall je bemerkt hatte. Nach einer Weile rief Coley wieder: »Mister Hall …« Aber als Hall sich umdrehte, blickte Coley nach links zu einem Hügel hinauf und schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich glaube, es war nichts. Aber eben hätte ich schwören mögen …« Eine Kugel zischte an Halls Gesicht vorbei und schlug dumpf in den weichen Grasboden. Eine Sekunde später hörte er das scharfe Geräusch eines Gewehrschusses und sah schwarzen Pulverrauch hinter einem Busch auf dem Hügel langsam verwehen. Automatisch riß er seinen Revolver heraus und feuerte einen schlecht gezielten Schuß ab. Die Kugel schlug zwanzig Meter vom Busch entfernt weißen Steinstaub aus den Felsbrocken. »Los, Coley!« schrie er. »Reite!« Auch er gab seinem Pferd die Sporen, steckte den Revolver ein und zog den Karabiner aus seinem Futteral neben dem Sattel. Vor ihm ritt Coley Dawes tief über den 403
Hals seines Pferdes gebeugt und schlug ihm die Sporen in die Flanken. Der hat die Hose voll, dachte Hall, und sein Selbstbewußtsein wuchs. Der Boden schien unter ihm dahinzufliegen. Hall riskierte einen Blick über seine Schulter und sah einen Reiter hinter dem Busch hervorkommen und in wilder Verfolgung den steinigen Hang hinuntergaloppieren. Aber es waren zwei, dachte Hall. Wo steckt der andere? Ein Stück vor ihm stand ein abgestorbener kleiner Baum. Er brachte sein Pferd zum Stehen, sprang aus dem Sattel, legte den Gewehrlauf auf einen dürren Ast und zielte sorgfältig. Als der Schuß durch die Einöde hallte, überschlug sich das Pferd des Verfolgers, und sein Reiter kugelte durch Geröll und Gras. Zu Fuß, dachte Hall, kann er uns nicht viel anhaben. Coley hatte sein Pferd gezügelt und wartete auf ihn. Hall sprang wieder auf und ritt zu ihm hin. »Ein wirklich guter Schuß«, sagte Coley. »Man muß sich bloß auf sein Geschäft verstehen, das ist alles«, erwiderte Hall im Weiterreiten. »Aber wir haben keine Zeit, uns zu loben. Da muß irgendwo noch ein anderer stecken.« Er hatte den Satz kaum vollendet, da fühlte er, wie sein eigenes Pferd unter dem Einschlag einer Kugel zusammenzuckte. Instinktiv zog er seine Füße aus den Steigbügeln, dann fühlte er sich nach vorn geschleudert und dachte nur noch daran, den Karabiner festzuhalten. Er prallte auf steinigen Grund, hörte das Reißen von Stoff und spürte einen Schmerz an seiner Seite, wo sich ihm ein dürrer Mesquiteast in die Haut bohrte. Aber sofort 404
war er wieder auf den Beinen, duckte sich hinter einen kleinen Busch und suchte mit den Augen das Gelände ab. Über einem Mesquitedickicht vor ihm hing eine zerfließende, schmutziggraue Rauchwolke. Er riß den Karabiner hoch und feuerte in die Richtung. Als Antwort pfiff eine Kugel an ihm vorbei. Wenigstens weiß ich, wo er steckt, sagte sich Hall grimmig. Und er kann nicht aus den Büschen heraus, ohne daß ich ihm die Haut durchlöchere. »Coley!« brüllte er. »Nimm das Geld und verdufte!« Coley hatte sein Pferd hinter einem großen Mesquitestrauch zum Stehen gebracht und spähte zum Dickicht hinüber. Er saß geduckt im Sattel, und es hatte den Anschein, als wagte er sich nicht mehr weiter. »Ich kann nicht einfach losreiten und Sie hier allein lassen, Mister Hall, wenn zwei von diesen Kerlen auf Sie schießen.« »Einer ist zu Fuß, und der andere kann nicht aus seinem Versteck. Solange ich hier bin, können sie dich nicht verfolgen, Coley. Los, nun mach schon!« »Aber Mister Hall …« »Verdammt, Coley, ich habe dich in diese Lage gebracht, und ich werde dich auch wieder herausbringen. Jetzt hau ab, bevor sie dir dein Pferd abschießen!« Coley setzte sich widerwillig in Bewegung, und Hall gab ihm Feuerschutz, indem er das Dickicht unter Beschuß nahm. Ungeschoren kam Coley davon. Gut so, dachte Hall, der wird nicht mehr anhalten, bevor er in Fort Worth ist. Er blickte zurück zu der Stelle am Hang, wo er dem ers405
ten Wegelagerer das Pferd unter dem Leib weggeschossen hatte. Er konnte das tote Pferd sehen, aber nicht den Mann. »Er schleicht sich an, der Bastard«, murmelte Hall vor sich hin. Er wußte, daß er eine vorteilhaftere Stellung aufsuchen mußte. Wo er jetzt saß, war er gegen Schüsse aus dem Dickicht gedeckt, aber sein Rücken war frei. Er sah zu seinem gefallenen Pferd hinüber und wünschte sich im Besitz der Munition in den Satteltaschen. Aber um an sie heranzukommen, mußte er sich ins Freie wagen und das tote Pferd womöglich noch herumwälzen. Immerhin hatte er noch zwei oder drei Patronen im Karabiner, und danach blieb ihm noch der Revolver. Es kam jetzt darauf an, die beiden Räuber bis zum Einbruch der Dunkelheit in Schach zu halten. Bis dahin mußte Coley in Fort Worth sein. Und in der Dunkelheit konnte er selbst sich ungesehen davonstehlen. Das einzige, was Hall in diesem Augenblick wirklich fürchtete, war der lange Fußmarsch. Unweit von ihm befand sich ein ausgetrocknetes Schlammloch, wo das Wasser von den Hügeln Gras und Erde weggespült und einen kleinen Graben geschaffen hatte. In dieser Auswaschung konnte er gegen Angriffe von allen Seiten Deckung finden. Überdies wuchs beiderseits der Rinne allerlei Gestrüpp, das ihn gegen Sicht schützen konnte, ohne ihn daran zu hindern, die Bewegungen der beiden Räuber zu beobachten. Er lag still und beobachtete seine nähere Umgebung. Wenn er rannte, mußte es möglich sein, die neue Deckung in wenigen Sekunden zu erreichen. Er umklammerte den Karabiner fester, zog die Beine an und sprang hoch. 406
Er kam fast bis zu seinem Ziel, dann fuhr eine Kugel durch sein Bein, und er schlug lang hin. Verzweifelt versuchte er hoch zu kommen, aber das verwundete Bein wollte ihn nicht tragen. Eine zweite Kugel fuhr vor ihm in die Erde. Plötzlich war sein Mund trocken, und sein Herz hämmerte wie wahnsinnig. Er hatte nicht ernsthaft in Betracht gezogen, daß sie ihn während des Rennens treffen könnten. Aber nun war es geschehen. Hinter sich konnte er einen Mann hören, er war zu Fuß und kam schnell voran. Unmittelbar vor ihm stand ein knorriger, kurzstämmiger Mesquitebaum. Das ablaufende Regenwasser hatte die Erde um seinen Stamm weggewaschen und einige Wurzeln freigelegt, in denen sich Grasbüschel, Zweige und anderes Treibgut verfangen hatten. Dieses angeschwemmte Zeug und der Stamm konnten ihn gegen das Dickicht und den Angreifer von hinten einigermaßen abschirmen. Hall hörte wieder die Bewegung hinter sich, fuhr herum und feuerte einen Schuß auf den Mann ab, der wohl gehofft hatte, ihn überrumpeln zu können. Der Räuber sauste mit einem Hechtsprung in die Deckung, die Hall erst wenige Sekunden zuvor verlassen hatte. Das gab Hall genug Zeit, um zu dem kleinen Baum zu kriechen. Er mußte bald erkennen, daß die Deckung nicht so gut war, wie sie ausgesehen hatte. Das Treibgut schützte ihn nur so lange, wie er den Kopf am Boden hatte. Sobald er ihn hob, um einen Schuß abzufeuern, bot er dem hinter ihm liegenden Räuber ein gutes Ziel. Auf diese Weise hatte er gegenüber dem Mann im Dickicht jeden Vorteil eingebüßt. Hall begriff jetzt, daß er in einer Falle saß. Der Mann 407
hinter ihm hatte nichts weiter zu tun als zu feuern, damit er den Kopf unten behielt. Unterdessen konnte der andere gemütlich und unbehelligt das Dickicht verlassen, herankommen und Hall den Fangschuß geben. Die zwei Banditen brauchten nicht lange, um ihrerseits zu dem gleichen Resultat zu gelangen. Der Mann in Halls Rücken begann von Zeit zu Zeit auf das Versteck zu feuern. Die Kugeln schlugen in das lockere Treibgut oder in die weiche Erde und überschütteten Hall mit Holzsplittern und Lehmbrocken. Wenn Hall irgendwo eine Bewegung hörte, hob er vorsichtig den Kopf und antwortete mit einem hastig abgegebenen Schuß, wobei er wußte, daß alle Vorteile auf Seiten der Banditen lagen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie dem Stellungskrieg ein Ende machen und ihn töten würden, denn sie wußten ja, daß Coley mit dem Geld geflohen war. Hall sah aus den Augenwinkeln, daß der Mann hinter ihm seinen Hut schwenkte. Das war das Signal. Kurz darauf hörte er Hufschläge und das Brechen von Zweigen. Ein Pferd kam aus dem Dickicht und galoppierte auf ihn zu. Hall hob langsam das Gewehr. Vielleicht erwischten sie ihn, aber sie sollten ihn nicht billig bekommen. Eine Kugel schlug vor Halls Gesicht in die Erde und überschüttete ihn mit Sand, der in die Augen drang. Ohne das Gewehr zu bewegen, zog er seinen Revolver und feuerte auf den Schützen. Aber schon im nächsten Moment mußte er erkennen, daß seine Kugel fehlgegangen war. Er öffnete und schloß die Augenlider, bis er besser sehen konnte. Es wurde ihm klar, daß er nur noch wenige Minuten zu leben hatte, aber die Zeit war lang genug für Gewis408
sensbisse. Wenn er sich nur nicht von seiner unvernünftigen Abneigung gegen Coley hätte leiten lassen. Wenn er nicht in diese verdammte Siedlung geritten wäre. Der Mann in seinem Rücken sprang auf und raste näher. Er feuerte im Laufen. Gleichzeitig hörte Hall die Hufschläge lauter und immer lauter. Er zog das gesunde Bein an und erhob sich ein wenig. Er wußte, daß er dem Reiter damit ein Ziel bot, aber es war die einzige Möglichkeit, den anderen sicher ins Visier zu bringen. Dann hörte er einen Mann aufschreien und fast zur gleichen Zeit krachte irgendwo weiter oben ein Gewehrschuß. Er hatte seinen Mann vor dem Gewehrlauf, zog den Drücker durch, und der andere fiel auf die Knie. Er stützte sich mit einer Hand auf und versuchte mit der anderen seinen Revolver in Anschlag zu bringen, während Hall den Repetierhebel zurück riß, die rauchende Patronenhülse herausspringen ließ und eine neue Patrone in den Lauf steckte. Auf seinen zweiten Schuß brach der Mann zusammen und fiel vornüber, um sich nicht mehr zu rühren. Hall fuhr herum. Das Pferd konnte nur noch ein paar Meter entfernt sein. Das Pferd kam auch heran. Es jagte an seinem Versteck vorbei, mit schleifenden Zügeln und leerem Sattel. Dreißig Meter vor ihm lag der Reiter aus dem Dickicht bewegungslos im Geröll. Und ein anderer Reiter kam den Hang herunter, das Gewehr schußbereit über dem Sattel. Coley Dawes. Coley fing das Pferd des Banditen ein und brachte Hall zu einem Ranchhaus in der Nähe. Dort ließ er ihn zurück, während er sich allein auf den Weg nach Fort Worth machte, um das Geld des Majors abzuliefern. Auf dem Rückweg 409
kam er zu einem kurzen Besuch vorbei, aber Hall konnte nicht mit ihm reden. Das Fieber hatte seinen Höhepunkt erreicht, und er war zu keiner Unterhaltung fähig. Einige Wochen später ritt Hall um die Mittagszeit über den Lagerplatz zu Major Stewards Küchenwagen und sattelte ab. Er humpelte zum Wagen und sah sofort Coley Dawes. Der Neger saß wie gewöhnlich allein auf der Wagendeichsel. Hall Heß sich eine Portion Rindfleisch mit Bohnen geben und blieb vor Coley stehen. Coley blickte auf und lächelte breit. »Willkommen, Mister Hall. Was macht das Bein?« »Es heilt einigermaßen. Jedenfalls werde ich es nicht verlieren.« Er zog die Stirn in Falten. »Coley, du hast nie gesagt, warum du an jenem Tag zurückgekommen bist. Ich nahm an, du würdest nach Fort Worth weiterreiten.« »Ich konnte nicht einfach verschwinden und Sie in einer solchen Lage lassen, Mister Hall. Ich versteckte das Geld und ritt zurück, um zu sehen, ob ich Ihnen helfen könnte.« »Ich bin verdammt froh, daß du das getan hast. Aber du hast auch nie gesagt, daß du so gut schießen kannst.« »Ich kann mich nicht erinnern, daß Sie mich je danach gefragt hätten, Mister Hall. Es hat Ihnen nicht gefallen, daß ich reiten und mit dem Lasso umgehen kann. Ich dachte mir, Sie würden es erst recht nicht mögen, daß ich auch schießen kann.« »Coley, von nun an ist es mir egal, in welchen Dingen du besser bist als ich.« In Coleys Augen blitzte es belustigt auf. »Vielleicht können wir es eines Abends mal mit Poker probieren?« 410
Hall schmunzelte. Er blickte auf die lange Deichsel und auf den Neger, der allein darauf saß. »Rück weiter, Coley«, sagte er, »und mach mir ein klein wenig Platz.«
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Thomas Thompson ist einer der Mitbegründer der »Western Writers of America« und war lange Zeit ihr Vorsitzender. Er begründete seinen Ruf als Western-Autor mit Erzählungen und Kurzgeschichten und hat sich in den letzten Jahren besonders mit Fernsehdrehbüchern einen Namen gemacht. Seine Kurzgeschichten »Gun Job« und »Blood on the Sun« wurden preisgekrönt.
Thomas Thompson
Geächtete Der Mann an der Tür war von einer langen Reise staubig. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein, oder auch fünfzig; es war schwer zu sagen. Er hatte ein breites, zähnefletschendes Lächeln, das an eine Katze erinnerte, und er hatte ein Dutzend Namen. Der Name, unter dem Jim Carlton ihn am besten kannte, war Smiley. Smileys ermüdetes Pferd stand draußen am weißgestrichenen Staketenzaun, und Smiley betrat ohne Umstände das Wohnzimmer des kleinen Holzhauses, das Jim und Susan Carlton erst vor einem Monat gemietet hatten, hier in der Stadt, wo Susan ihr ganzes Leben verbracht hatte. Jim Carlton machte den Besucher mit seiner Frau bekannt. Er wußte selbst nicht, wie er es zuwege brachte. Smileys Stimme war tief und weich, fast schmeichelnd. Er ging mit ausgebreiteten Armen auf Susan zu, legte seine Hände auf ihre Schultern und betrachtete sie. Jim Carlton dachte: Wenn du deine schmutzigen Hände nicht von ihr nimmst, bringe ich dich um. Aber er sagte nichts. 412
»Mein Lieblingsneffe – verheiratet!« erklärte Smiley. »Ich kann es gar nicht glauben. Sie ist hübsch, Junge. Wirklich hübsch.« Susan war hübsch, das konnte jeder sehen. Aber wie hübsch sie tatsächlich war, wußte man nur, wenn man Jim Carlton hieß und sich drei Jahre lang herumgetrieben und mehr schlecht als recht durchgeschlagen hatte. Jim Carlton sah seine frisch angetraute Frau an und erwartete, daß sie auf Smileys plump-vertrauliche Begrüßung mit Verlegenheit reagieren würde. Aber sie tat es nicht. Susan wurde nie verlegen, wenn Leute ihr Komplimente machten. Sie hatte immer in einer Welt gelebt, in der die Leute einander Nettigkeiten sagten. Jim versuchte Smileys Blick zu begegnen und ihn zurückzuhalten. Er mußte grob mit Smiley sein. Es hatte keinen Sinn, an ein Gefühl für Anstand zu appellieren, das Smiley nicht kannte. »Ich nehme an, du wohnst im Hotel, Smiley«, sagte er. »Ich komme später einmal vorbei, dann können wir uns über alte Zeiten unterhalten.« »Aber das ist doch Unsinn«, sagte Susan. »Es ist hier viel bequemer als im Hotel. Wir haben Platz. Bleiben Sie nur hier, Mr. Carlton. Ich habe Ihnen nichts anderes als Limonade anzubieten, aber sie ist kalt und löscht den Durst. Außerdem werde ich nicht die ganze Zeit meines Mannes beanspruchen. Ich werde mich zurückhalten und die Männergespräche nicht stören. Wollen Sie nicht Platz nehmen, Mr. Carlton?« »Du kannst mich Smiley nennen«, erwiderte Jims Onkel. »Alle meine Freunde nennen mich Smiley, nicht wahr, mein Junge? Und außerdem sind wir jetzt miteinander 413
verwandt.« »Dann kannst du mich Susan nennen, Onkel Smiley«, sagte Susan lachend. »Willst du länger in der Stadt bleiben? Sicher kannst du mit uns zu Abend essen und hier übernachten, nicht wahr?« »Smiley ist nur auf der Durchreise«, sagte Jim steif. Er hatte die Fäuste geballt, und seine Fingernägel bohrten sich tief in die Handflächen. »Ich kann schon ein Weilchen bleiben«, meinte Smiley freundlich. »Ich finde, es ist herrlich, daß Jimmy jemanden aus seiner Familie wiedersieht«, schwärmte Susan. »Du bist der erste, der uns besucht. Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, denn alle Leute, mit denen wir zusammenkommen, sind Bekannte von mir und nicht von Jimmy.« Sie streichelte Jims Arm. »Natürlich sind sie alle jetzt auch Jimmys Freunde. Sie können gar nicht anders.« Smiley sah Susan mit seinen Katzenaugen an. »Die jungen Burschen dieser Stadt müssen dich einfach hassen, Junge«, sagte er. »Kommt hier als Fremder her und schnappt ihnen ein so schönes Mädchen wie Susan weg.« Vielleicht tun sie es, dachte Jim Carlton, aber nicht so, wie Susans Vater mich haßt. Man mußte in dieser Stadt geboren und aufgewachsen sein, um von Sheriff Andy Kennedy akzeptiert zu werden. Der Sheriff mußte über die Verhältnisse eines Mannes und möglichst noch über die Ahnenreihe bis zurück zu Adam Bescheid wissen, bevor er ihn als Schwiegersohn anzunehmen bereit war. Jim Carlton hatte er nicht angenommen. Jim zwang sich zu einem Lächeln. Um Susans willen mußte er es tun. Als sie endlich 414
das Zimmer verließ, war auch das Lächeln vergangen. »Wie hast du mich gefunden, Smiley?« fragte er. Es war ihm wichtig; es mußte es wissen. »Das ist eine komische Sache«, sagte Smiley. »Durch den Sheriff, deinen Schwiegervater. Kannst du dir vorstellen, daß ich von einem Sheriff Informationen bekomme?« Smiley fand Gefallen an der Idee und lachte darüber. »Ein Freund von mir wurde vor einem Monat oder so in dieser Stadt eingelocht«, erläuterte er dann. »Als wir uns danach wieder trafen, erzählte mir mein Freund von dem Sheriff hier und sagte, er sei ein alter Knabe, der gern redete. Er sagte, der Sheriff sei sehr bekümmert, weil seine Tochter sich mit einem Herumtreiber namens Jim Carlton verlobt habe.« Smiley schüttelte den Kopf. »Ist es nicht komisch, auf welche Weise man von manchen Dingen erfährt? Die Welt ist wirklich klein, wie man so sagt.« So einfach also, dachte Jim. Nach drei Jahren und über tausend Meilen Flucht war es so einfach. »Warum, Smiley?« fragte Jim. »Warum mußtest du hierher kommen?« »Eine merkwürdige Frage! Ich bin dein Onkel, oder etwa nicht? Meine zwei Jungs, Pinto und Strawn, sind deine Vettern. Wie denkst du dir denn das, Junge? Du verschwindest ohne einen Pieps, du heiratest und lädst deine Verwandten nicht einmal zur Hochzeit ein.« »Ich habe keine Verwandten«, sagte Jim grob. »Ich habe alles vergessen, was ich je über meine Familie wußte. Und ich erwarte von dir, daß du mich vergißt.« »Ich glaube nicht, daß ich das kann, Junge«, sagte Smiley. »Eine Familie ist eine Familie. Da gibt es unlösbare 415
Blutsbande. Und in unserer Familie haben wir immer zusammengehalten.« »Wenn du Angst hast, daß ich reden könnte, ist sie unbegründet«, wich Jim aus. »Und du wirst mir nicht zerstören, was ich hier erreicht habe, Smiley. Weder du noch Pinto, noch Strawn oder sonst jemand.« »Ich mußte damals in jener Bank einen Mann töten, weißt du das, Junge?« Smileys Stimme war wieder weich und freundlich. »Ich und Pinto und Strawn hatten es eilig, wegzukommen. Wir erreichten die Stelle, wo du mit den Pferden warten solltest, und du warst nicht da.« »Stimmt, Smiley«, antwortete Jim. »Ich war nicht da. Aber ich hatte dir vorher gesagt, daß ich mit der Sache nichts zu tun haben wollte.« »Du machst mir Sorgen, Junge«, sagte Smiley. »Du bist wie mein eigener Sohn. Ich habe dich aufgezogen. Glaubst du, ich machte mir keine Sorgen um dich?« »Mir geht es gut«, versetzte Jim. »Und ich will, daß es so bleibt.« Smiley nickte und sah sich im Raum um. »Dir scheint es wirklich gut zu gehen. Sehr gut sogar.« Er ließ sich auf einen Stuhl sinken und seufzte zufrieden. »Dieser Freund von mir, der im Gefängnis deines Schwiegervaters saß«, fing er wieder an. »Er erzählte mir, der Sheriff habe ihm gesagt, daß du einen Job in einer Bank hast. Der Sheriff soll geäußert haben, er hielte den Bankier für verrückt, weil er jemandem einen Job gab, den er nicht kannte.« Smiley streckte die Beine von sich und machte es sich bequem wie einer, der länger zu bleiben beabsichtigt. »Hast du dem Bankier von deiner Familie erzählt, Junge? 416
Hast du es deiner Frau gesagt?« »Wenn du mich einschüchtern willst, Smiley, vergeudest du nur deine Zeit.« »Wirklich? Ich dachte, es wäre sogar ziemlich einfach. Ich dachte, du wärst damals verduftet, weil du die Hosen voll hattest.« »Ich bin weggegangen, weil ich genug hatte, das ist alles«, sagte Jim. »Ich wollte wissen, ob nicht wenigstens ein Mitglied der Familie Carlton mit dem Gesetz in Frieden leben könnte.« Smiley ließ seinen Blick von neuem durch das Wohnzimmer schweifen. »Du hast es wirklich hübsch hier«, meinte er versöhnlich. »Ich nehme dir nicht übel, daß du so etwas wie das hier wolltest. Nur die Art und Weise, wie du es angefangen hast, verletzt mich, Junge. Ich und Pinto und Strawn hatten uns auf dich verlassen. Nachdem dein Bruder getötet worden war, glaubte ich, du würdest seinen Platz ausfüllen. Immer hatte ich das gedacht.« Er schüttelte bekümmert den Kopf, wie ein Vater, der seinen Sohn auf Abwege geraten sieht. »Wenn du schon Schluß machen wolltest, hättest du wenigstens mit mir sprechen sollen.« »Gewiß, Smiley«, erwiderte Jim heftig. »Ich hätte mit dir darüber sprechen sollen, wie der alte Mann es getan hat.« Jim hatte oft an den alten Mann gedacht. Der alte Mann war sein ganzes Leben lang ein Bandit, ein Geächteter gewesen, einer aus der früheren Carlton-Bande. Er hatte sich zu alt gefühlt, um das unstete Leben noch länger fortzusetzen. Er hatte Gelegenheit gehabt, als Portier in einem Saloon zu arbeiten, und er hatte den Job annehmen wollen. Weil er dazu die Bande verlassen mußte, hatte er mit Smi417
ley darüber gesprochen. Jim erinnerte sich, wie der alte Mann dagestanden hatte, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt. Er hatte geweint, und Jim konnte noch immer seine zitternden alten Lippen sehen. Smiley hatte mit einem Revolver in der Hand vor ihm gestanden, und er hatte dem alten Mann eine Kugel in den Bauch geschossen. »Gewiß«, sagte Jim. »Ich hätte dich anbetteln sollen, wie der alte Mann dich angebettelt hatte.« »Das war etwas anderes, Junge«, erklärte Smiley. »Der alte Mann gehörte nicht zur Familie, ich konnte ihm nicht vertrauen. Vielleicht hätte er eines Tages einen über den Durst getrunken. Vielleicht hätte er im Schlaf geredet, was weiß ich. Aber mit dir ist es etwas anderes, Junge. Du bist von meinem Blut.« Auf Jims Gesicht bildeten sich Schweißtropfen. Er konnte nichts dagegen machen. Susan kam mit einer Karaffe und Gläsern herein. Sie war ein zierliches kleines Mädchen mit blauen Augen und dunklen Haaren, und sie hatte ein Lächeln, das man nicht so leicht vergaß, auch wenn sie längst wieder den Raum verlassen hatte. Es war ein Lächeln, welches zeigte, daß Susan Carlton an die Menschen und an eine gute Welt glaubte. Sie war ein Mädchen, das die Sicherheit eines Heims in den festgefügten Gesellschaftsbeziehungen einer kleinen Stadt kannte, und sonst nichts. Sie war die Tochter eines Mannes, der hier geboren und seit bald vierzig Jahren Sheriff war. Sie warf Jim einen fragenden Blick zu und sagte: »Ist es zu warm hier drinnen?« Dann lächelte sie wieder. »Du darfst Jimmy nicht an alle seine alten Flammen erinnern, Smiley. Dann wird er noch unzufrieden mit mir.« Sie beugte sich über Jim und 418
küßte ihn auf die Stirn; es war die Geste einer stolzen Frau, die dem Onkel zeigen wollte, daß sein Neffe gut geheiratet hatte. »Die Mädchen sind dem Jungen immer nachgelaufen«, sagte Smiley. »Das muß ich zugeben. Wir nannten ihn immer Kid, damit er sich nicht zuviel auf seine Erfolge einbilden sollte. Das ist irgendwie hängengeblieben.« »Du solltest ihn nicht mehr Kid nennen«, sagte Susan. »Du wirst dich an die Tatsache gewöhnen müssen, daß er ein alter verheirateter Mann ist.« »Es ist komisch«, meinte Smiley sinnend. »Für uns war er nie Jim, immer nur der Junge – Kid.« »Der Name hat mir noch nie gefallen«, antwortete Susan. »Er hat so etwas Kriminelles. Du weißt schon – Billy the Kid. Oder der andere – Cimarron Kid.« Smiley warf seinen Kopf zurück und lachte. Sein Mund öffnete sich dabei weit, aber sein Lachen war weich und leise. »Etwas Kriminelles«, sagte er. »Das ist gut. Findest du das nicht auch gut, Junge?« »Er ist auch ein Krimineller, in einer Hinsicht«, sagte Susan und fuhr in Jims Haare. »Er ist ein Dieb. Er hat mein Herz gestohlen.« Sie machte immer solche Bemerkungen. Sie war stolz auf ihre Liebe, weil diese Liebe für sie das Größte war, was es auf der Welt gab. Sie war so groß, daß Susan weder gezögert noch sich beklagt hatte, als sie zwischen ihrem eigenen Vater und dem Mann, den sie liebte, zu wählen hatte. Sie hatte Vertrauen in die gute heile Welt, die sie immer gekannt hatte, und sie war voller Zuversicht. Man konnte so ein Mädchen nicht enttäuschen, dachte 419
Jim. Sie war stolz auf ihn, und er wollte sich so verhalten, daß sie Grund für ihren Stolz hatte. Darum hatte er sich den Job in der Bank erkämpft und wie ein Verrückter gearbeitet und alles getan, damit ihn diese verspießerte Stadt für voll nahm. Susan kehrte in die Küche zurück. Jim merkte, daß er die Armlehnen seines Stuhls umklammert hielt. Er mußte sich zwingen, den Griff zu lockern. »Es ist komisch«, sagte Smiley und hob sein Limonadenglas. »In der Nacht, als du fortgelaufen bist, arbeiteten ich und Pinto und Strawn in einer Bank. Drei Jahre später finde ich dich, und nun arbeitest du in einer Bank. Ist es nicht seltsam, wie sich die Dinge manchmal entwickeln, Junge?« »Du kannst mich nicht mehr herumstoßen, Smiley«, sagte Jim. »Also versuch es lieber nicht. Ich bin keine neunzehn mehr. Drei Jahre können einen völlig zum Mann machen.« Smiley musterte Jim und sah einen kräftigen jungen Mann, vielleicht ein wenig zu mager und zu hart für einen Bankangestellten, vielleicht etwas zu neu in seinem Geschäft und in der Ehe, um selbstsicher zu sein. Smiley grinste. »Ich gebe zu, daß du herangewachsen bist, Junge. Du gefällst mir so. Du würdest mir jetzt einen guten Mann abgeben.« »Vergiß, daß du hierhergekommen bist, Smiley«, sagte Jim mit unsicherer Stimme. »Reite einfach weiter und laß mich in Ruhe.« Smiley schmunzelte. Er rekelte sich in dem Stuhl, hob das Glas mit der Limonade ins Licht und blinzelte hin420
durch. »Du warst damals noch zu jung«, meinte er. »Du mußtest dir erst die Hörner abstoßen. Um in unserem Geschäft gut zu sein, muß man reif sein und Bescheid wissen. Das fehlte dir damals. Aber jetzt könntest du besser sein als dein Bruder; und der war einer der besten.« »Hau ab, Smiley.« »Nicht so laut, Junge«, sagte Smiley gelassen. »Sonst hört dich deine Frau.« »Ich habe dir gesagt, daß wir miteinander fertig sind.« »So kann ich es nicht sehen, Junge«, erklärte Smiley gemütlich. »Wir haben das gleiche Blut in uns. Daran kannst du nichts ändern. Die Carltons haben immer zusammengehalten. Es ist nicht gut, wenn einer aus der Reihe tanzt. Du wirst dich erinnern, als wir anfingen, waren wir zehn. Zehn Mann, alle aus derselben Familie. Vielleicht war es gut, daß wir nie unter dem Namen Carlton operierten, was, Junge? Hätten wir es getan, würde dein Schwiegervater jetzt womöglich dasitzen und zwei und zwei zusammenzählen.« Er zuckte die Achseln. »Na, ist ja egal. Aber damals waren wir zehn, und jetzt sind nur noch ich und Pinto und Strawn und du übrig. Nur wir vier.« »Drei«, sagte Jim. »Mehr nicht, Smiley. Drei.« »So solltest du nicht sprechen, Junge«, entgegnete Smiley. Er hatte die Angewohnheit, seine Stimme am Ende eines Satzes absinken zu lassen. »Wir haben nichts gegen dich. Wir würden dich jederzeit wieder aufnehmen.« »Wenn du gekommen bist, um mir das zu sagen, dann hast du es jetzt gesagt«, knurrte Jim. »Nun geh.« »So höre ich dich wirklich nicht gern reden, Junge«, sag421
te Smiley bedauernd. »Diese Leute hier in der Stadt, die sind nicht von deiner Art, und sie werden es nie sein. Susans Vater ist dafür der beste Beweis.« Er blickte auf, und sein ruhiger, katzenartiger Blick musterte Jim nachdenklich. Von einem Mann wie Smiley bekam man nichts umsonst. Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als wäre das möglich. Jim gab sich einen Ruck. »Sag, was du von mir willst, Smiley. Ich habe nur zehn oder fünfzehn Dollar.« »Nun, du weißt doch, daß ich niemals Geld von dir betteln würde«, sagte Smiley. »Du weißt, daß ich mehr Stolz in mir habe.« »Was willst du dann?« Smiley stand auf und trat ans Fenster. Es war Sonntagnachmittag, und die Stadt lag still und schläfrig da. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten die fahlen Fassaden der Häuser an der Hauptstraße in mildes, gelbliches Licht. Es war eine alte, gemütliche Landstadt, die sich selbst genügte, das Handelszentrum eines guten Dutzends großer Farmen und Viehzuchtbetriebe. Jim folgte Smiley ans Fenster. Die Vergangenheit griff jetzt nach ihm und drohte ihn zu ersticken. Jim blickte über Smileys Schulter und sah die beiden staubbedeckten Pferde vor der Billardhalle. Er erkannte die Pferde nicht, aber er wußte, wer sie in die Stadt geritten hatte. Smiley wandte sich langsam nach ihm um, und seine Augen waren auf einmal hart und kalt. »Ich will keine zehn oder fünfzehn Dollar von dir«, sagte er. »In einer Familie heißt es: alles oder nichts.« »Dann heißt es: nichts.« »Nein, Junge. Es heißt: alles.« 422
Smiley Carlton war jetzt völlig verändert. Bisher hatte er einen geduldigen Nervenkrieg geführt, nun gab er Befehle, wie er in dieser Familie immer Befehle gegeben hatte. »Laß die Finger lieber davon, Smiley«, sagte Jim. »Wenn du in dieser Stadt etwas versuchst, zeige ich dich an.« »Nein, das wirst du nicht, Junge«, erklärte Smiley. »Du hältst zuviel von deiner Frau. Du würdest sicher nicht wollen, daß ihre ganzen Freunde und Bekannten erfahren, daß sie Vince Bassetts Bruder geheiratet hat. Stimmt’s?« Der Name, den Jims Bruder lange verwendet hatte, bedeutete immer noch etwas, selbst in dieser abgelegenen Gegend. Jim spürte, wie ihm das Hemd am Rücken klebte. »Ich habe es ihr schon gesagt.« »Wirklich?« fragte Smiley mit gespielter Überraschung. »Da will ich sie doch gleich einmal fragen.« Er ging zur Küchentür, aber Jim vertrat ihm den Weg. Einen Augenblick lang standen sich die beiden Männer gegenüber. Das furchtbare Lächeln trat wieder in Smileys Augen. »Laß uns vernünftig sein, Junge. Vergiß nicht, daß wir miteinander verwandt sind.« Er schlug wie zufällig seinen Rock zurück, und Jim sah den Revolver, den er bei Smiley vermutet hatte. »Ich brauche ein bißchen Hilfe, Junge«, sagte Smiley. »Du wirst doch deinen alten Onkel nicht fortschicken, wenn er ein bißchen Hilfe braucht, wie?« Jim starrte Smiley an und dachte an die Bank, und er kannte die Gedanken des Banditen so gut wie seine eigenen. »Eher würde ich dich umbringen, Smiley«, sagte er 423
leise. »Das bezweifle ich, mein Junge«, erwiderte Smiley. »Sieh mal, dies hier ist eine nette, friedliche Stadt. Eine solche Stadt läßt sich keinen Mord bieten. Die Leute hätten etwas gegen die Idee, daß die Tochter des Sheriffs mit einem Killer verheiratet ist. Du würdest kein faires Gerichtsurteil bekommen, Junge. Wenn erst einmal ein Anwalt anfinge, den Fall zu bearbeiten, würde bald alles über deine Familie und so ans Tageslicht kommen. Das möchte ich dir wirklich gern ersparen, Junge. Und ich würde es außerordentlich ungern sehen, daß Susan so etwas durchmacht.« »Es gibt andere Städte«, sagte Jim. »Ich bin einmal weggelaufen, und ich könnte es wieder tun. Aber vorher würde ich dich umbringen, Smiley.« »Nein, Junge«, sagte Smiley. »Du bist zu klug. Da wären dann immer noch Pinto und Strawn. Meine beiden Jungen halten viel von ihrem Daddy. Ich stelle mir nicht gern vor, wie ihr beiden, Susan und du, ständig unterwegs wäret, immer auf der Flucht, ohne irgendwo bleiben zu können. Susan hätte das nicht verdient.« »Dann werde ich sie verlassen«, sagte Jim tonlos. »Sie scheint mir ganz der Typ zu sein, der nach dir suchen würde«, entgegnete Smiley. Jim lief der Schweiß über die Schläfen, und nun bettelte er, obwohl er kein Wort sagte. Er hatte sich gelobt, nie wieder ein Mitglied seiner Familie um etwas zu bitten. Es machte ihn krank, so dazustehen und schweigend um Gnade zu bitten, und er dachte wieder an den alten Mann, wie er mit dem Rücken am Baum stand und um Gnade bettelte. »Vielleicht hast du einen Schlüssel zu der Tür von der 424
Bank, in der du arbeitest, was, Junge?« fragte Smiley freundschaftlich. »Ich hatte nie einen Schlüssel zu einer Bank, aber es wäre einmal eine schöne Sache. Schön und bequem. Vielleicht weißt du auch die Kombination vom Safe.« »Ich habe keinen Schlüssel und ich weiß die Kombination nicht.« »Dann suchst du einen Schlüssel, Junge. Das wirst du doch sicher können, nicht? Und denk ein bißchen über die Kombination nach. Vielleicht fällt sie dir ein.« Smiley zog eine Taschenuhr aus der Weste, warf einen Blick auf das Zifferblatt, ging zurück zum Fenster und blinzelte in die untergehende Sonne. Zuletzt blickte er zu den beiden Pferden vor der Billardhalle hinüber. »Sei um sieben Uhr bei der Bank, Junge«, sagte er. »Zwing mich nicht dazu, hierher zu kommen und dich zu holen. Es würde mich in Verlegenheit bringen, Susan zu begegnen.« Er kehrte an den Tisch zurück, nahm das Limonadenglas, und trank es leer. »Sei froh, daß du eine Frau hast, die so gute Limonade machen kann. Sag ihr, daß sie mir geschmeckt hat, ja?« Smiley setzte seinen Hut auf. Er ging aus der Tür, schlenderte auf den Gehsteig hinaus und band sein Pferd los. Jim sah, wie er sich mühelos in den Sattel schwang und die Straße entlang ritt. Von den wenigen Passanten nahm kaum einer von ihm Notiz, und wenn, dann wahrscheinlich nur, um festzustellen, daß er ein Fremder war. Niemand würde darüber nachdenken, bis morgen früh, wenn die Bank öffnete. Dann würde sich plötzlich jeder an den Fremden erinnern, der in Jim Carltons Haus gewesen 425
war, und auch Susan würde sich erinnern. Jim stand da und starrte hinaus. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt, es gab kein Entkommen. Sein Herz schlug ihm bis in die Kehle hinauf, es blieb ihm keine Wahl. Er hörte die Tür gehen, dann kam Susan mit leichten Schritten aus der Küche. »Ich habe mich im Garten mit Betty unterhalten«, erzählte sie. Sie sah sich im Zimmer um. »Wo ist Smiley?« »Er mußte noch was erledigen«, sagte Jim. »Er hat sich entschlossen, im Hotel zu übernachten.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Jim Carlton! Du hast ein schlechtes Gewissen, ich sehe es dir an. Du hast deinen Onkel allein in den Saloon gehen lassen, habe ich recht?« »Ja«, sagte Jim, für den Augenblick erleichtert. »Ja, das war es. Er war ziemlich müde. Er dachte, ein kleiner Drink würde vielleicht –« »Du gehst ihm sofort nach und leistest ihm Gesellschaft!« unterbrach sie ihn. »Soll er denn denken, daß du unter dem Pantoffel stehst? Daß deine Frau dich nicht aus dem Haus läßt?« »Ja«, sagte Jim. »Ja, vielleicht sollte ich es lieber so machen.« Er blickte auf die Wanduhr. Es war kurz vor sieben Uhr. Er sah Susan an und wollte es ihr sagen. Er dachte daran, wie sie der Stadt gegenübertreten würde, in der sie aufgewachsen war; er dachte an ihren Vater, einen strengen, unnachgiebigen alten Mann, der seit ihrer Heirat nicht mehr mit seiner Tochter gesprochen hatte … »Nun gib mir noch einen Kuß und lauf los«, sagte sie. Er nahm sie in seine Arme und küßte sie leidenschaft426
lich, denn er wußte, daß es der letzte Kuß war. »Genug!« sagte sie nach einem Augenblick. »So lange wirst du doch nicht fortbleiben, hoffe ich!« Er versuchte gar nicht erst zu antworten, denn er wußte, daß seine Stimme ihm nicht mehr gehorchen würde. Er konnte sie nicht ansehen, aus Angst, ihr alle Verfehlungen seines Lebens zu offenbaren. Er nahm sich nicht die Zeit, seinen Hut aufzusetzen, und er mußte sich zwingen, nicht die Straße entlang zu rennen. Bei der Billardhalle standen jetzt drei Pferde, nur an der Seite angebunden, die der Bank am nächsten war: Smileys Pferd und die beiden anderen, die bisher vor dem Haupteingang gestanden hatten. Und dann sah Jim einen Block straßenabwärts Sheriff Andy Kennedy, Susans Vater, auf die Billardhalle zugehen. Die Stadt konnte ihre Uhren nach Sheriff Andy Kennedy stellen. Jetzt war die Zeit, da er in die Billardhalle einkehrte, ein Glas Bier trank, dem Bartender einen trockenen Witz erzählte und seine Ansichten über das Wetter kundtat. Jim dachte an Smiley und seine Söhne Pinto und Strawn, gefährliche und reizbare Burschen, die Waffen trugen und sich nicht scheuten, sie auch zu gebrauchen, wenn die Chancen nicht allzu ungünstig waren. Und gegen Sheriff Andy Kennedy waren sie es nicht: eins zu drei. Der Sheriff war alt für seine Jahre, er hatte bereits steife und knotige Hände und weiße Haare, aber er war noch immer ein Mann mit gerader Haltung, frostigen blauen Augen und einem energischen Kinn. Ein Mann, der so hartnäckig war, daß er nicht einmal einem Präriefeuer aus dem Wege ging, sagten die Leute über ihn. Und zu hartnäckig, sich von jemandem helfen zu lassen, 427
dachte Jim Carlton. Wenn es ihm gelänge, den Sheriff auf der Straße anzuhalten und davon zu überzeugen, daß die drei Fremden in der Billardhalle Bankräuber waren … Jim fühlte seine ganze Hilflosigkeit. Wenn ihm das gelänge, würde er damit nur erreichen, daß Susans Vater getötet wurde. Er sah das Bild vor Augen, wie der alte Andy Kennedy mit aufrechtem Gang und gezogenem Revolver in die Billardhalle marschierte, und wie Smiley, Pinto und Strawn ihn mit Kugeln durchlöcherten. Sie waren Männer, die vor nichts zurückschreckten, wenn sie sich in die Enge getrieben sahen. Der Sheriff würde es trotzdem versuchen, und wenn es ihn das Leben kostete, denn das war seine Art. Jim sah, daß es sinnlos war, nach einem Ausweg zu suchen. Ein Jahr lang hatte er jetzt mit einer Lüge gelebt, und nun war es damit vorbei. Er hatte alles genommen und nichts gegeben, hatte versucht, etwas zu sein, das er nicht sein konnte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Smileys Spiel zu spielen und dem Sheriff die Befriedigung zu lassen, daß er von Anfang an recht gehabt hatte. Er mußte weiterziehen und diesen Leuten ihre Stadt und ihre gute Welt lassen. Er würde für Smiley ein guter Mann sein, denn mit diesem Raub würde er wie Smiley und seine Söhne ein Geächteter werden. Susan würde ihn mit der Zeit vergessen, und wenn er niemals vergessen konnte, war das eben der Preis, den er zu bezahlen hatte. Aber Susan behielt ihre Stadt und ihre alten Freunde, und sie würde bei ihrem Vater Beistand und Trost finden. Nicht einmal das hatte sie gehabt, seit sie mit Jim Carlton verheiratet war. Jim blieb stehen, er sah den Sheriff die Straße heraufkommen, und dann traten Smiley, Pinto und Strawn aus der 428
Billardhalle. Sie sahen den Sheriff, und Smiley tippte an seine Hutkrempe und nickte ihm zu. Das war Smileys Art, er wollte keinen Ärger mit dem Sheriff. Andy Kennedy erwiderte den Gruß und ging weiter. Jim Carlton überquerte die Straße zur Bank, und es war ihm, als fliehe er vor der Zukunft zurück in die Vergangenheit. Er hatte den Schlüssel zur Bank, wie Smiley vermutet hatte, und er wußte auch die Kombination des Safes. Pinto und Strawn erwarteten ihn grinsend. »Hallo, Vetter. Es ist wirklich fein, dich wiederzusehen.« Die Straße war leer. Der Schlüssel ließ sich leicht und glatt drehen; dann sprang die Tür auf, und die vier Männer traten schnell ein und schlossen sie hinter sich, ohne abzusperren. Jim Carlton hatte noch nie an einem richtigen Bankraub teilgenommen, denn er war damals noch zu jung gewesen und hatte nur Schmiere stehen oder die Pferde halten müssen. Aber seit er sich erinnern konnte, hatte er die Gespräche der anderen mit angehört, wenn sie ihre Pläne ausheckten oder von gelungenen Überfällen erzählten. Smiley blieb mit gezogenem Revolver an der Tür stehen. Pinto knöpfte seinen Überrock auf und zog einen Mehlsack hervor. Keiner sprach ein Wort. Jim ging um den Schalter herum und ließ sich vor dem Safe auf die Knie nieder, während Pinto und Strawn neben ihm standen. Pinto hielt den geöffneten Sack bereit. Der Schweiß rann Jim beißend in die Augen, während er die Wählscheibe der Kombination einstellte. Er wischte sich die Augen mit dem Handrücken, blickte auf und sah die Uhr vor sich. Es war zwei Minuten nach sieben. Jetzt trank der Sheriff sein Glas Bier und machte seine Bemerkungen über das Wetter. 429
Jim Carltons Hände begannen zu zittern. Er verfehlte die Einstellung und mußte die Kombination zurückdrehen. Er hatte etwas vergessen. Er hatte vergessen, daß Sheriff Andy Kennedy nach seinem Besuch in der Billardhalle zur Bank zu kommen pflegte, um sich zu vergewissern, daß die Tür verschlossen war. Heute würde er es genau so machen, aber er würde die Tür unverschlossen finden. Er würde Smiley vor sich sehen, ein Grinsen im Gesicht und einen Revolver in der Hand. Jims Hände hörten auf zu zittern. Er bediente die Kombination richtig, und die Safetür ging auf. Sorgsam verschnürt lagen die Banknoten in kleinen Segeltuchsäcken aufgestapelt. Jim blickte zur Uhr hoch und begann langsam die Bündel herauszunehmen. Er händigte sie Strawn aus, statt sie in Pintos bereitgehaltenen Sack zu werfen. »Schmeiß sie hier rein!« sagte Pinto. »Beeil dich!« Er hielt den Sack mit beiden Händen, aber Strawn hatte einen Revolver in seiner Rechten. »Was ist mit dem Silbergeld?« fragte Jim. Seine Stimme klang jetzt ruhig und sicher; es war die Stimme eines Mannes, der mit sich selbst im reinen ist. »Es ist verdammt schwer.« Er sprach nicht laut, aber der Safe war nicht weit von der Tür entfernt, und Smiley konnte ihn hören. »Das nehmen wir mit«, entschied Smiley. »Strawns Pferd kann es tragen, bis wir aus der Stadt sind und die Last aufteilen. Wir halten ein Pferd für dich bereit, Junge. Ich habe mir gedacht, daß du in den Schoß der Familie zurückkehren würdest.« Jim blickte wieder auf die Uhr. Der Sheriff mußte die Billardhalle bereits verlassen haben. Er zog den ersten 430
Sack mit Silbergeld aus dem Safe und hob ihn hoch. Der Sack war schwer, aber Jim tat, als sei er noch wesentlich schwerer. Er stand mit dem Sack in beiden Händen auf, und sah Strawn dastehen, der den Revolver locker in der Hand hielt und sich Smiley zuwandte. Jim schwang mit der rechten Hand den Geldsack, der Strawns Kopf traf und ihn zu Boden warf. Der Revolver fiel Strawn aus der Hand, Jim sprang vor, ergriff die Waffe mit der linken Hand und prallte dabei gegen Pintos Beine, der erschrocken seinen Sack fallen ließ, zu verwirrt, um sofort zur Waffe zu greifen. Jim wußte, daß die Schrecksekunde nicht lange dauern konnte, aber darauf kam es nicht an. Wichtig war nur, daß Smiley dort an der Tür stand und Sheriff Andy Kennedy nichtsahnend die Straße überquerte. Jim hatte immer noch den Sack mit dem Silbergeld in der rechten Hand. Er holte aus und schleuderte ihn mit aller Kraft in das Fenster neben der Tür, wobei er sich vom Schwung mitnehmen ließ, herumwirbelte und Strawns Revolver Pinto vor die Brust hielt. Er hörte das berstende Klirren der Fensterscheibe und drückte ab. Jim sah Smiley von der Tür weg und mit einem katzenhaften Satz auf sich zuspringen. Er sah das Grinsen in Smileys Gesicht, und dann sah er das Mündungsfeuer aus Smileys Revolver fahren, ohne den Schuß zu hören. Er wurde rückwärts gegen die Wand geworfen, hatte immer noch Strawns Revolver in der Hand, richtete ihn auf Smiley und fühlte den Rückstoß, gerade als Sheriff Andy Kennedy mit vorgehaltenem Revolver zur Tür hereinkam. Smiley stand da, hatte seinen Revolver fallen gelassen und preßte beide 431
Hände gegen seinen Bauch. Es schien fast, als hätten seine Augen den gleichen bettelnden Ausdruck, wie damals die Augen des alten Mannes. Jim Carlton wurde schwarz vor Augen; er sackte an der Wand herunter, verlor den Revolver und sah wie durch einen Schleier Pinto am Boden liegen. Strawn hatte sich auf Hände und Knie erhoben und schüttelte verwirrt seinen Kopf. Jim wunderte sich, woher plötzlich alle die Leute kamen. Die Bank war voller Menschen, so schien es ihm, und alle redeten gleichzeitig. Jim lag am Boden und nahm alles nur undeutlich wie aus weiter Entfernung wahr. Aber darüber war er froh, denn Strawn überschüttete ihn mit Flüchen und Drohungen. »Du dreckiger Schweinehund, du elende Ratte!« sagte er immer wieder. »Du hast deine eigenen Verwandten verraten, wie du es schon einmal getan hast.« »Darüber will ich mehr wissen«, sagte der Sheriff zu Strawn. »Das kannst du jetzt mir erzählen, nicht ihm.« Sein Blick war ausdruckslos. »He Doc!« rief er durch den Lärm. »Du kümmerst dich um Jim, nicht wahr, Doc?« Sie brachten Jim nicht nach Haus. Sie trugen ihn in die nahegelegene Billardhalle und legten ihn auf einen der Spieltische, und der Arzt operierte ihm an Ort und Stelle die Kugel aus der Schulter. Jim wußte nicht, wieviel Zeit verging. Zuerst war es dunkel, dann wurde es wieder hell, und dann wieder dunkel; und schließlich, als er wieder bei Bewußtsein war, stand Sheriff Andy Kennedy über ihm und blickte auf ihn hinunter. »Dein Cousin, dieser Strawn. Heißt er so? Nun, der hält nicht viel von dir. Er sagt, es wäre anders ausgegangen, 432
wenn du ihn nicht niedergeschlagen und den Geldsack durch das Fenster geworfen hättest, um mich zu warnen.« »Es freut mich, daß du Gelegenheit hattest, meine Familie kennenzulernen«, murmelte Jim. »Ich weiß, daß die Familie eines Mannes für dich sehr wichtig ist.« Der Sheriff stand da, starrte ihn an und schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Ja, Junge, das ist wichtig. Manchmal dauert es ein paar Generationen, bis eine Familie das Gute hervorbringt. Und manchmal, wenn es dann durchbricht, vielleicht ganz plötzlich, in ein paar Sekunden.« Er legte seine Hand auf Jims gesunde Schulter, und sein Blick war auf einmal nicht mehr so kalt. »Susan ist hier«, sagte er. »Sprich dich mit ihr aus. Ein Mann sollte seine Frau nicht belügen.« Jim hatte das sonderbare Gefühl, daß die Dinge sich plötzlich in ihr Gegenteil verkehrt hatten – daß er und der Sheriff jetzt auf einer Seite standen. »Was soll ich ihr sagen?« murmelte er schwach. »Du sagst ihr, daß ich euch zum Abendessen besuchen werde, sobald es dir besser geht«, antwortete Sheriff Kennedy. »Du sagst ihr, daß ich gern geschmortes Rindfleisch mit Chili auf mexikanische Art hätte. Ein altes Rezept, das sich schon seit vielen Jahren in unserer Familie vererbt. Es wird dir auch schmecken, Jim.« Der Sheriff verließ ihn, und Jim sah Susan an sein Bett treten. Ihr Gesicht war blaß, und unter ihnen Augen lagen tiefe Schatten, aber sie hatte dieses sonderbare Lächeln, mit dem sie ihren Glauben ausdrückte, daß die Welt trotz allem gut und voller guter Menschen sei. Und Jim sah es und fühlte, wie die Vergangenheit für immer von ihm abfiel. Er konnte nur noch an die 433
Zukunft denken, und die Zukunft verkörperte diese kleine Stadt und Susan. Er erwiderte ihr Lächeln und ließ ihr keine Zeit zum Sprechen. »Mir geht es schon wieder gut, Susan«, sagte er. »Und dein Vater will, daß du ihm und mir Rindfleisch mit Chili nach eurem Familienrezept kochst. Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Susan.« ENDE
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