TIM SULLIVAN
ANGRIFF AUF LONDON
TO CONQUER THE THRONE V – Die Außerirdischen 4
GOLDMANN VERLAG
Aus dem Amerikanisc...
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TIM SULLIVAN
ANGRIFF AUF LONDON
TO CONQUER THE THRONE V – Die Außerirdischen 4
GOLDMANN VERLAG
Aus dem Amerikanischen übertragen von Andreas Brandhorst Deutsche Erstveröffentlichung Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann Made in Germany • 7/88 • 1. Auflage
© 1987 by Warner Bros. Inc. © der deutschsprachigen Ausgabe 1988 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Druck: Elsnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 23715 Lektorat: Christoph Göhler Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3-442-23715-7
London ist von der sadistischen Kommandantin der Außerirdischen als Brückenkopf für die Invasion der Erde ausgewählt worden. Das Parlament ist bereits infiltriert, und der Plan der Visitors scheint aufzugehen. Gabriela Nicks, eine Amerikanerin in England, schließt sich der zersplitterten und uneinigen britischen Widerstandsbewegung an. Sie versammelt alle Widerstandskräfte, um die Erde zu retten. Mit einer handvoll Kämpfer stellt sie sich der erdrückenden Übermacht der Feinde entgegen…
Für Susanna Nicholson In Liebe
ERSTER TEIL
1. Kapitel
Durch das Fenster ihrer kleinen Wohnung im Erdgeschoß sah Gabriella Nicks das Aufblitzen eines Laserstrahls, und fast gleichzeitig hörte sie einen Schrei. Sie duckte sich hinter einen breiten Sessel und ließ sich auf die Knie nieder. Dabei stieß sie jedoch gegen ein Hindernis: Die Stehlampe neben ihr fiel auf den hölzernen Boden, und unstete Schatten tanzten über die Wände. Gabriella zitterte vor Furcht, roch Qualm und hörte in der Ferne das Heulen von Sirenen. Sie hoffte, daß die Polizei bald eintreffen würde – und erstarrte entsetzt, als sie hinter den Gardinen einen Schatten bemerkte. Jemand näherte sich der Tür! Hastig kroch sie über den Teppich und versuchte, die Tür vor dem Unbekannten zu erreichen. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie nicht abgeschlossen hatte, und sie preßte sich an das massive Eichenholz und tastete nervös nach dem Schlüssel. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie ein dumpfes Pochen hörte. Rasch blickte sie sich um und suchte nach einem Stuhl, dessen Lehne sie unter den Knauf klemmen konnte, doch nur einen Sekundenbruchteil später drang eine leise Stimme an ihre Ohren. »Gabby!« Gabriella zögerte, zitterte noch immer am ganzen Leib und sagte sich, sie müsse sich getäuscht haben. Aber dann… Es war Nigels Stimme. Sie hätte sie überall wiedererkannt. Sie schob den Riegel beiseite, und die Tür schwang auf. Nigel Smythe-Walmsley, Sprößling einer der ältesten Familien
in Großbritannien, wankte auf sie zu, stolperte und fiel zu Boden. Gabriella beugte sich über ihn und sah überall Blut. Es strömte aus einigen tiefen Wunden, und an manchen Stellen schien Nigels Haut verbrannt zu sein. »Himmel, was ist mit dir geschehen?« fragte sie. »Die Tür…« Nigel stöhnte, hob unsicher den Arm und deutete in die Londoner Nacht. Ein weißgrauer Nebelfetzen driftete herein, bevor Gabriella die Tür mit einem lauten Klacken ins Schloß fallen ließ. Sie eilte wieder zu Nigel und hob vorsichtig seinen Kopf an. »Ich rufe einen Arzt«, sagte sie. »Nein!« Nigel schnappte nach Luft, und sein ebenmäßiges, blasses Gesicht wurde zu einer schmerzverzerrten Fratze. »Dann würden sie mich schnell finden.« Gabriella starrte auf sein schweißnasses, zerkratztes Gesicht. Bisher hatte sie Nigel für einen unbeteiligten Zuschauer gehalten, für jemand, der sich abseits hält und nicht selbst in das Geschehen eingreift. Was hatte es zu bedeuten, daß er ausgerechnet jetzt zu ihr kam, während draußen in den Straßen gekämpft wurde? Gleichzeitig erinnerte sich Gabriella vage daran, daß der Kirchenangestellte in St. Paul’s, dem sie ihre monatliche Miete zahlte, behauptet hatte, dieser Teil Londons sei besonders ruhig. Vermutlich lag es an den Visitors: Seit ihrer Ankunft konnte sich niemand mehr sicher fühlen. Was jedoch nicht Nigels Lage erklärt, fügte Gabriella in Gedanken hinzu. Wenn er vorhatte, mich zu besuchen – warum hat er dann nicht vorher angerufen? »Nigel, bist du…« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, dachte an die gefährlichen Konsequenzen ihres Verdachts. »Ja, ich gehöre zur Widerstandsbewegung«, antwortete er schlicht.
Sie hielt seinen Kopf und drückte ihn behutsam an sich. »O Nigel, warum hast du dich auf so etwas eingelassen?« Heiße Tränen quollen Gabriella aus den Augen und rollten über ihre Wangen. »Es blieb mir keine Wahl. Die verdammten Reptilien aus dem All zerstören die Heimat meiner Vorfahren. England ist nicht mehr frei, Gabriella.« »Ich weiß. Aber die Herrschaft der Echsenwesen wird irgendwann ein Ende finden. Denk nur an das Gift, den roten Staub.« »Das genügt nicht. Das englische Klima ist so feucht und mild, daß die Visitors hier problemlos überleben können… Und außerdem entwickeln sie derzeit Methoden, um die Wirkung des Giftes zu neutralisieren.« Nigel hustete und spuckte Blut. Entsetzen regte sich in Gabriella, als sie begriff, daß Nigel in ihren Armen sterben würde, wenn sie nicht sofort dafür sorgte, daß er ärztliche Hilfe bekam. Andererseits wußte sie, wie stur er sein konnte – stur genug, selbst dem Tod entschieden entgegenzutreten. Sie holte tief Luft, entschlossen dazu, ihn zur Vernunft zu bringen. »Deine Wunden müssen behandelt werden«, sagte sie fest. »Unter allen Umständen. Du könntest sterben, Nigel.« »Irgendwann kommt jeder von uns an die Reihe.« »Hör endlich auf, die Rolle des edlen und tapferen Ritters zu spielen. Sei kein Narr, Nigel. Du brauchst einen Arzt.« Doch er schien sie überhaupt nicht zu hören und starrte nur ins Leere. »Nigel!« rief Gabriella. Er ächzte dumpf und blinzelte mehrmals, als er versuchte, sich auf sie zu konzentrieren. Er schien Mühe zu haben, sie zu erkennen, aber wenigstens lebte er noch. In diesem Augenblick klopfte jemand laut an die Tür.
»Aufmachen!« zischte eine befehlende Stimme. »Im Namen der Königin – öffnen Sie die Tür.« »Die Visitors«, hauchte Nigel. »Diesmal durchsuchen sie das ganze Viertel.« »Nun, ich werde sie nicht hereinlassen«, erwiderte Gabriella. »Ich bin Amerikanerin, und daher gehen mich die Gesetze der Königin und der Visitors nichts an.« »Durch den Hinterausgang«, stöhnte Nigel. »Vielleicht wissen sie nichts von dem Hof.« »Bist du übergeschnappt, Nigel? Ich kann dich nicht allein zurücklassen, wenn sich diese Ungeheuer hier herumtreiben.« »Du mußt. Es hat keinen Sinn, daß wir beide sterben. Ich kann nicht fliehen, Gabby. Du aber… Mach dich auf und davon und führe den Kampf weiter. Für mich.« Sie wollte widersprechen, biß sich jedoch auf die Lippe, als blaue, tödliche Laserenergie aufblitzte. Der Geruch verbrannten Holzes stieg ihr in die Nase. Offenbar waren die Visitors fest entschlossen, sich den Zutritt gewaltsam zu verschaffen. Nigel gab keinen Ton mehr von sich, und Gabriella sah in seine Augen. Sein gebrochener Blick ging durch sie hindurch. Er war tot, aber sie konnte es noch nicht fassen, weigerte sich, diese Erkenntnis zu akzeptieren, und klammerte sich an eine absurde Hoffnung: Wenn sie ihm Mut zusprach, ihn tröstete, ihm einen Kuß gab… Doch es blieb ihr keine Zeit mehr. Ein kobaltfarbener Strahl durchsengte die Tür und traf eine Vase auf dem nahen Tisch. Porzellan platzte auseinander, und Dutzende von Splittern jagten wie winzige Geschosse durchs Zimmer. Es konnte nur noch wenige Sekunden dauern, bis die Visitors die Tür aufgebrochen hatten. »Leb wohl, Nigel«, flüsterte sie und küßte ihn sanft auf die Lippen. Vorsichtig ließ sie seinen Kopf zu Boden sinken, stand
auf und sah nicht zurück. Sie hörte, wie die schwere Tür aus massivem Eichenholz aus den Angeln sprang, als sie durch den hinteren Ausgang eilte und ungesehen das Apartmenthaus am Amen Court verließ, das die Visitors fast vollständig umstellt hatten. Gabriellas dunkle Gestalt verschmolz mit den Schatten der St. Paul’s Cathedral.
2. Kapitel
Gabriella Nicks saß in einem kleinen Zimmer des Repetitoriums Davies, Lang & Dick und trank eine Tasse Tee. Sie war über die Tottenham Court Road geflohen, wie ein flüchtiger Schatten im dichten Nebel, und nach einer Weile erreichte sie den Zugang zur Untergrundbahn. Sie ließ sich in einem der Waggons auf das Polster eines Eckplatzes fallen und fuhr die ganze Nacht durch von Endstation zu Endstation in dem verzweifelten Versuch, mit ihrer Angst fertigzuwerden: An jeder Haltestelle wimmelte es von Visitors in ihren scharlachroten Uniformen. Und irgendwie fand sie deren menschliche Masken noch abscheulicher als die grünen Schuppen der Echsengesichter, die sich darunter verbargen. Als der Morgen dämmerte, stieg sie in der Holland Park Station aus, frühstückte in einem kleinen Restaurant und machte sich dann auf den Weg zum »Einpauker«, wie man Davies, Lang & Dick auch nannte. Robert Walters traf kurz vor acht ein, und kaum hatte sie ihn endlich kommen sehen, hielt sie ihn vor seinem Übungsraum an und erzählte ihm, was geschehen war. »Das ist ja schrecklich, Gabby«, sagte Robert erschüttert. »Entsetzlich. Und du bist ganz sicher, daß Nigel tot ist?« »Daran gibt es keinen Zweifel, Robert.« Tränen schossen in Gabriellas Augen, als sie wieder an den vergangenen Abend erinnert wurde. Die Erlebnisse der letzten Stunden erschienen ihr unwirklich, doch ihr blieb schmerzhaft bewußt, daß es sich nicht nur um einen bösen Traum handelte. »Hier, Schatz«, sagte Robert und reichte ihr ein Taschentuch. »Es tut mir sehr leid.«
Gabriella schluchzte leise. »Ich bin nicht nur betroffen, Robert, sondern gleichzeitig auch ungeheuer wütend. Und ich werde dafür sorgen, daß die Visitors nicht ungeschoren davonkommen.« »Jetzt klingst du wieder wie du selbst, das temperamentvolle amerikanische Mädchen.« Trotz ihres Zorns rang sich Gabriella ein schiefes Lächeln ab. »Vielleicht habe ich zu viele John-Wayne-Filme gesehen.« »Vielleicht. Noch etwas Tee?« »Nein. Um ganz ehrlich zu sein: Ich kann das Zeug nicht ausstehen. Hast du Kräuterbier?« »Kräuterbier? Nein, leider nicht. Wenn du etwas Alkoholisches trinken möchtest: Ich habe nur Sherry.« Gabriella schüttelte den Kopf. »Kräuterbier ist ein alkoholfreies Getränk, wie Cola.« »Ach? Und wieso heißt es dann ›Bier‹?« »Weil es gebraut wird – allerdings ohne Gärungsprozeß.« »Merkwürdig.« Robert verzog das Gesicht. »Gehört wohl zu eurer Hamburger- und Hot-Dog-Kultur, was?« Gabriella grinste ein bißchen schief. »Es ist eine Art Fruchtsaft, der aus mehreren Kräutern zusammengemixt wird.« Bei dieser Erklärung schüttelte sich Robert mit einer Grimasse. Und die junge Frau fragte sich, wie sie nach den gräßlichen Geschehnissen des vergangenen Abends über derart triviale Dinge sprechen konnte. Doch diese Art von Blödelei lenkte sie ein wenig ab. Und sie schien ihr zu helfen, zumindest zeitweise in die geordnete und problemlose Welt zurückzukehren, die sie bis vor einigen Stunden gekannt hatte. »Robert…« »Ja, Gabby?« Robert beugte sich vor und musterte sie aufmerksam. »Was weißt du von der Widerstandsbewegung?«
Er sah sie überrascht an, wandte sich dann zum Fenster um und sah auf den grauen, verlassen wirkenden Platz vor der Schule. »Nun, es ist ungesetzlich, irgendwelche Kontakte zu jener Gruppe zu unterhalten.« »Ach, tatsächlich?« entgegnete Gabriella ironisch. »Und warum?« »Die Regierung meint, die Widerstandskämpfer seien Terroristen. Genügt das als Erklärung?« »Komm schon, Robert. Du glaubst doch wohl nicht an einen solchen Unsinn.« Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht nicht – obgleich es einige Hinweise gibt, die derartige Behauptungen bestätigen.« »Es sind Leute, die um ihr Leben kämpfen, ihre Freiheit, die Zukunft ihrer Heimat und der ganzen Welt«, entfuhr es Gabriella leidenschaftlich. »Das sollte dir eigentlich klar sein.« Robert drehte sich wieder um und maß sie mit einem durchdringenden Blick seiner grünen Augen. »Um ganz offen zu sein, Gabby: Bis gestern abend wolltest du von solchen Dingen nichts wissen. Doch nach Nigels schrecklichem Tod bist du plötzlich zu einer Revolutionärin geworden, die am liebsten gleich zu den Waffen greifen würde.« »So sind wir Amerikaner eben – ein Volk von Aufrührern und Demagogen.« »Gabby«, sagte Robert ernst, »ich glaube, wir sollten derzeit auf eine politische Diskussion verzichten. Du stehst noch immer unter einem Schock. Selbst mir fällt es noch schwer, ganz zu begreifen, was passiert ist. Leg dich hier aufs Sofa und ruh dich ein wenig aus. Ich komme später zurück, nachdem ich mich um meine Schüler gekümmert habe. In Ordnung?« »Ich habe wohl keine andere Wahl, oder? Wohin sollte ich sonst gehen?« Robert lächelte. »Du bist hier immer willkommen, Gabby. Selbst wenn du mit radikalen Slogans um dich wirfst.«
Gabriella stellte ihre Tasse halbvoll wieder auf den Tisch und trat an das Sofa in der einen Ecke des Zimmers. »Ich hole dir eine Decke«, sagte Robert. »Danke.« Die junge Frau setzte sich auf die Kante der Liege. Sie dachte kurz darüber nach, ob sie sich nicht doch besser hinlegen sollte, und brachte es einfach nicht fertig. Sie wollte Robert vertrauen, aber irgend etwas in der Art und Weise, wie er über Revolutionäre und Radikale gesprochen hatte, weckte dumpfes Unbehagen in ihr. Er schien voller Anteilnahme gewesen zu sein, und doch… Nein, dachte Gabriella und schüttelte den Kopf. Bestimmt war es der Schock. Die Erlebnisse des vergangenen Abends waren so entsetzlich gewesen. Dann die U-Bahn, das Rasseln und Klappern der Waggons, die Furcht vor Entdeckung – sie war die ganze Nacht über nicht zur Ruhe gekommen. Es gab noch ein weiteres Problem: In ihrer Handtasche war nur wenig Geld – sie konnte also nicht tagelang durch London wandern, sondern brauchte irgendeinen Unterschlupf. Andererseits kannte sie Robert eigentlich nicht besonders gut. Er war mit Nigel befreundet gewesen und gehörte daher zu ihrem kleinen Bekanntenkreis. Gabriella erinnerte sich an die Gerüchte über eine sogenannte »Konvertierung«, eine Art Gehirnwäsche, mit der die Visitors den Widerstandswillen ihrer Gefangenen brachen. Offiziell existierte eine derartige Technik natürlich nicht, doch hinter vorgehaltener Hand erzählte man sich immer öfter davon. Sie entsann sich auch, daß Robert vor einigen Wochen Urlaub gemacht und vergeblich versucht hatte, Nigel und sie zu überreden, ihn nach Frankreich zu begleiten. Nach seiner Rückkehr meinte Nigel, Robert habe sich irgendwie verändert. Gabriella erwiderte, das seien vermutlich die Auswirkungen eines Kulturschocks: das französische Leben unterscheide sich
sehr von den britischen Traditionen. Sie hatte geglaubt, Roberts angeblicher Wesenswandel existiere nur in Nigels Einbildung. Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Die junge Frau stand auf und ging leise zur Tür. Sie öffnete sie vorsichtig und beobachtete den leeren Flur. Als sie sicher war, daß weit und breit niemand zu sehen war, verließ sie das Büro und schlich auf Zehenspitzen in Richtung auf den vorderen Eingang. Sie hatte das Ende des Korridors aber noch nicht erreicht, als sie auf einmal Roberts Stimme hörte. »Sie ist in meinem Büro«, sagte er gerade. »Dort drüben.« Gabriella versteckte sich in einer Nische, spürte dort plötzlich eine Türklinke in ihrem Rücken und stieg schnell in einen kleinen Besenschrank. Nur wenige Sekunden später kam Robert Walters vorbei, begleitet von vier Visitors in roten Uniformen. Die Fremden aus dem Weltraum hielten ihre Laser schußbereit in der Hand.
3. Kapitel
In der Shaftesbury Avenue im Londoner West End gibt es viele Theater, und Shree Subhash hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, jeden Mittwoch eine Vorstellung zu besuchen. An diesem Tag wollte er sich den Schwank eines bekannten britischen Bühnenschriftstellers ansehen. Es war ein recht beliebtes Stück, und er hatte eine Zeitlang warten müssen, bis er eine Karte ergattern konnte. Da er ein eher ernster Mensch war, sah er der Aufführung aber mit einer gewissen Skepsis entgegen. Gerade deshalb vertraten seine Freunde die Ansicht, ein wenig Unterhaltung könne ihm nicht schaden. Er hatte auch noch eine zweite Eintrittskarte in der Tasche, die für seine Freundin Jamella bestimmt gewesen war. Doch sie hatte ihn im letzten Augenblick angerufen und ihm mitgeteilt, sie sei verhindert. Shree Subhash war ehrlich enttäuscht, und außerdem war die Zeit zu knapp gewesen, eine andere Begleiterin zu finden. Vielleicht, so überlegte er, bekomme ich das Geld zurück, wenn ich die besonderen Umstände erkläre. Sollte das nicht der Fall sein, gebe ich die Karte jemand anders. Als er sich am Eingang anstellte, bemerkte er eine junge Blondine, die ziemlich unsicher und nervös wirkte – vielleicht wegen der außerirdischen Reptilien, die in der Stadt patrouillierten. Bei diesem Gedanken drehte Shree den Kopf und sah zu dem Mutterschiff der Fremden hoch, das über den Dächern Londons schwebte – ein überaus beeindruckender Anblick. Die junge Frau beachtete das riesige Raumschiff nicht, sondern starrte zu Boden. Subhash fand sie sehr
attraktiv, und irgend etwas an ihrer hilflosen Gestalt rührte ihn. Er überlegte kurz, ging auf sie zu und sprach sie leise an. »Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, Miß«, sagte er, »aber ich habe eine zweite Karte für diese Vorstellung, und ich würde es sehr bedauern, wenn sie einfach so in einem Papierkorb endete. Hätten Sie Lust, mir Gesellschaft zu leisten?« Einige Sekunden lang schien sie gar nicht zu begreifen, daß er mit ihr sprach. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter, um festzustellen, ob seine Worte jemand anders galten. Dann lächelte sie zaghaft und sah ihn an. »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte sie dann mit einem leichten amerikanischen Akzent. »Mein letzter Theaterbesuch liegt schon eine ganze Weile zurück.« Shree Subhash gefiel ihre Ausdrucksweise, darum wiederholte er mit einer freundlichen Geste seine Einladung, sich ebenfalls einzureihen. »Es ist mir eine Ehre«, sagte er, »eine so hübsche junge Frau zu begleiten. Ich bin Shree Subhash.« Gabriella lächelte erneut. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Gabriella Nicks.« Sie schüttelte seine Hand. »Stammen Sie aus London?« »Allerdings – ich bin hier geboren und aufgewachsen. Doch meine Eltern kamen aus Indien. Bhawnagar. Ich nehme an, Sie sind Amerikanerin, oder?« »Ja. Philadelphia. Sind Sie jemals dort gewesen?« »Nein. Und das bedaure ich sehr…« Gabriellas Gesichtsausdruck veränderte sich plötzlich. Sie drehte den Kopf ein wenig, und ihr starrer Blick richtete sich auf irgend etwas hinter seinem Rücken. Shree Subhash wandte sich um. Eine Kampffähre der Visitors flog über die Shaftesbury Avenue, und der raubvogelartige Bug deutete genau in ihre
Richtung. Das Shuttle glitt langsam dahin, so als hielte die Besatzung nach jemandem Ausschau. Vielleicht, dachte Subhash, suchen sie nach der jungen Frau. »Gräßlich«, hauchte er. Gabriella schmiegte sich an ihn, und er legte wie schützend den Arm um ihre Schultern. Er bemerkte die nervöse Reaktion der anderen Leute, die vor dem Eingang des Theaters warteten. »Sie sind nicht die einzige, die sich vor den Fremden fürchtet«, sagte er leise. »Sie verstehen nicht… Die Visitors brachten einen guten Freund von mir um, erschossen ihn in meiner Wohnung.« Sie sah auf und begegnete seinem Blick. Argwohn schimmerte in ihren Augen. Möglicherweise fragte sie sich jetzt, ob es ein Fehler gewesen war, sich jemandem anzuvertrauen, den sie überhaupt nicht kannte. »Das war bestimmt eine schreckliche Erfahrung für Sie, Gabriella«, sagte Shree und versuchte, sie zu beruhigen. Seine Hand schloß sich fest um ihre Schulter. »Und seitdem sind Sie auf der Flucht?« »Ja.« Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als sich die Schlange in Bewegung setzte. Kurz darauf erreichten sie die Tür und betraten das Theater. Im Aufenthaltsraum besorgte Shree der jungen Frau ein Glas Wein, und sie nahm es dankbar entgegen. »Sollen wir in den Saal gehen?« fragte er. »Natürlich.« Gabriella trank das Glas aus und schloß sich ihm an. »Seit sechzehn Stunden irre ich nun schon durch London. Ein Mann, von dem ich glaubte, ich könne ihm vertrauen, wollte mich an die Visitors ausliefern.« Sie runzelte kurz die Stirn. »Vielleicht verriet er auch Nigel.« »Die Besucher aus dem All sind recht… einfallsreich. Vielleicht blieb jenem Mann keine andere Wahl.«
Gabriella nahm in der vierzehnten Reihe Platz, und Subhash setzte sich neben sie. Unauffällig sah er sich um und stellte zufrieden fest, daß niemand auf sie achtete. »Andererseits aber gibt es Leute«, flüsterte er leise, »die gegen die Schreckensherrschaft der Visitors kämpfen.« »Doch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung läßt sich von der Propaganda Sand in die Augen streuen«, murmelte Gabriella. »Das war auch bei mir der Fall. Bis gestern abend.« »Viele Leute verstehen das Leid ihrer Mitmenschen erst dann, wenn sie es am eigenen Leib spüren.« In diesem Augenblick wurde es dunkel im Saal, und der Vorhang hob sich. Schon nach wenigen Minuten des ersten Aktes kam Subhash zu dem Schluß, daß er es mit einem typisch amerikanischen TV-Klamauk zu tun hatte, der offenbar für die Bühne umgearbeitet worden war. Er überlegte, ob es ihm Miß Nicks wohl übelnehmen würde, wenn er eine entsprechende Bemerkung machte. Von derart dummer und trivialer Unterhaltung hatte er noch nie viel gehalten, und er fragte sich, warum er überhaupt dazu bereit gewesen war, eine solche Vorstellung zu besuchen. Wegen meiner Freunde, erinnerte er sich in Gedanken. Um ihnen zu beweisen, daß ich nicht ganz so ernst bin, wie sie glauben… Plötzlich flammte Licht auf, und die jähe Helligkeit überraschte sowohl Schauspieler als auch Zuschauer. Irgend jemand winkte, und daraufhin verschwanden die Akteure hinter der Bühne. Ein Ansager trat aufs Podium und bat das Publikum, auf den Plätzen zu bleiben. Einige Sekunden später öffnete sich ruckartig die Tür, die zum Aufenthaltsraum führte, und mehrere Gestalten in roten Uniformen kamen herein. Die Visitors marschierten durch die Gänge zwischen den Sitzreihen und hoben winzige Instrumente, von denen ein orangefarbenes Licht ausging. Einige Männer und Frauen duckten sich furchtsam.
»O Gott«, brachte Gabriella dumpf hervor. » Ich glaube, sie suchen nach mir!« »Ganz ruhig«, raunte ihr Subhash zu. »Es gibt viele Leute, die vor den Visitors fliehen. Sie sind nicht die einzige.« Das orangefarbene Glühen tanzte über die Sitzreihe hinter ihnen. Subhash spürte, daß Gabriella am liebsten aufgesprungen und davongelaufen wäre, doch sie schien zu begreifen, daß sie keine Chance gehabt hätte. Mehr als zehn Visitors befanden sich im Saal, und jeder von ihnen hielt einen schußbereiten Laser in der Hand. Niemand konnte entkommen. Das Licht strich über die Platze hinweg und kroch auf sie zu. Wie ein geisterhafter Fühler strich es über Subhashs Hand und glitt an ihm empor, bis es sein Gesicht erhellte. Er fühlte ein seltsames Prickeln, als ihn das Glühen berührte, und dann folgte eine eigentümliche Leere, nachdem es weitergewandert war. Shree zwinkerte mehrmals und versuchte, die seltsame Trägheit aus sich zu verdrängen. Als das Licht Gabriella erreichte, veränderte sich seine Farbtönung. Aus dem orangefarbenen Schimmern wurde ein Leuchten, das ebenso scharlachrot war wie die Uniformen der Fremden. Der Visitor, der das Ortungsinstrument auf die junge Frau gerichtet hatte, trat rasch einige Schritte vor und rief mit vibrierender und widerhallender Stimme: »Das ist sie!«
4. Kapitel
Trotz der erbosten Proteste Subhashs wurde Gabriella gepackt und nach draußen gezerrt. Auf dem Bürgersteig fand sich rasch eine Menge Schaulustiger ein, die sowohl die Visitors als auch ihre Gefangene beobachteten. Gabriella war zwar verängstigt, doch in ihren Augen funkelte Zorn. »Nehmt eure schmutzigen Hände von mir, ihr verdammten Reptilien!« fauchte sie. Der Captain der Visitors ließ seinen Blick über die Männer und Frauen schweifen – es wurden immer mehr, denn auch die anderen Besucher verließen nun das Theater – und verkündete mit lauter Stimme, Gabriella sei verhaftet. »Sie hat Terroristen geholfen und Unterstützung gewährt!« rief er. »Deshalb ist sie eine Staatsfeindin.« »Darüber hat ein ordentliches Gericht zu befinden«, erwiderte Shree Subhash. »Wohin wollen Sie sie bringen?« Er trat vor, doch ein großer, breitschultriger Visitor versperrte ihm den Weg. »Wir werden sie für ihre Verbrechen zur Rechenschaft ziehen«, sagte der Captain. »Und wenn Sie versuchen, uns aufzuhalten, müssen Sie ebenfalls mit einer Verhaftung rechnen.« »Was soll denn der Unsinn?« sagte ein Mann in der Nähe. »Niemand versucht, Sie an irgend etwas zu hindern. Warum drohen Sie uns?« »Diese Frau hat mit dem Feind gemeinsame Sache gemacht«, wiederholte der Captain kühl. »Diejenigen von Ihnen, die versuchen, ihr zu helfen, machen sich ebenfalls schuldig – was
entsprechende Konsequenzen zur Folge hat. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« Die Leute wichen furchtsam zurück. Es war eine Sache, mit Freunden und Bekannten über legitime Rechte und demokratische Prinzipien zu diskutieren – doch wenn mit der Konvertierung oder noch Schlimmerem gedroht wurde, hielten nur wenige an dem fest, was sie noch kurze Zeit vorher als eherne Grundsätze erklärt hatten. »Gibt es hier denn nur Feiglinge?« rief Shree Subhash. »Wollen Sie tatenlos zusehen, wie eine unschuldige Frau ohne jede Erklärung verschleppt wird? Ich kann es nicht fassen: Sie sind Engländer, Bürger eines Staates mit einer langen Tradition von Freiheit und Gerechtigkeit. Und doch rühren Sie keinen Finger, um dieser armen Frau zu helfen?« Subhash sah sich vergeblich nach jemandem um, der ihn unterstützen könnte. Einige Leute schienen zwar bereit zu sein, sich ihm anzuschließen, doch die Laser der Visitors hielten sie in Schach. Die Echsenwesen mit den menschlichen Masken schüchterten sie ebenso ein wie alle anderen. »Bitte«, wandte sich Subhash erneut an die Menge. »Lassen Sie nicht zu, daß man sie fortbringt. An Bord des Mutterschiffes erwartet sie der Tod – oder ein noch entsetzlicheres Schicksal.« Der Captain schoß auf Subhash zu und zischte: »Möchten Sie uns begleiten, Sir?« Subhash erblaßte, war jedoch nicht bereit, einen Rückzieher zu machen. »Wenn Sie die junge Frau fortbringen, so müssen Sie mich mitnehmen.« Die anderen Leute starrten ihn groß an. »Wie Sie wollen«, sagte der Visitor herablassend. Zwei Soldaten griffen nach Shrees Armen und zogen ihn mit sich. Ein anderer Uniformierter gab Gabriella einen Stoß, und
sie taumelte los. Die Menge teilte sich; einige Männer und Frauen eilten davon. »Nein!« rief Gabriella. »Dieser Mann hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Bitte lassen Sie ihn gehen.« »Seien Sie still«, zischte der Captain. »Noch ein Wort von Ihnen, und wir bringen Sie auf der Stelle um.« Irgend etwas in seinem Tonfall machte deutlich, daß er es ernst meinte. Dieser Captain schien besonders erbarmungslos zu sein – selbst nach den Begriffen der Visitors. Wenn er Gabriella tatsächlich mitten auf der Straße erschießen ließ, starb sie zwar als Märtyrerin, doch bestimmt erfuhr kaum jemand davon: Die Visitors überwachten sowohl Rundfunk und Fernsehen als auch die Zeitungen. Ihre strenge Zensur machte nicht einmal vor Büchern halt. In der Öffentlichkeit wurde niemals Kritik an ihnen geübt. Und wenn irgend jemand seine Stimme gegen sie erhob, dauerte es nicht lange, bis er als Staatsfeind verhaftet wurde. Wie viele andere vor ihr hatte Gabriella diese Wahrheit ignoriert – bis der Mann, den sie liebte, in ihren Armen starb. Schweigend schritten sie über die Shaftesbury Avenue, auf die Kampffähre zu, die wie ein überdimensionales, monströses weißes Insekt über dem Asphalt schwebte. Als sie näher herankamen, glitt das Shuttle dem Boden entgegen und setzte einige Meter vor ihnen auf. Eine Rampe kam herab. Als sie dicht vor der geöffneten Luke des kleinen Raumschiffs standen, hörte Gabriella Stimmen, die in einer nahen Gasse laut wurden. Sie achtete nicht weiter darauf und versuchte in erster Linie, mit ihrer Furcht fertigzuwerden. Doch sie bemerkte Subhashs plötzliche Anspannung, und tief in ihrem Innern regte sich eine leise Verwunderung. Der Captain zischte einen Befehl, den Gabriella nicht verstand, und zwei Visitors liefen los und hielten genau auf die schmale Nebenstraße zu. Die anderen sahen ihnen nach.
Sie kehrten Subhash den Rücken zu. Shree griff unter seinen Mantel, holte einen Laser hervor und betätigte den Auslöser. Die Eindringlinge aus dem All reagierten nicht schnell genug. Zwei von ihnen starben, als sich blaue Energiestrahlen in ihre Körper brannten. Die Reptilien mit der menschlichen Maske sanken tot zu Boden und rollten von der Rampe. Die anderen Uniformierten drehten sich überrascht zu dem Feind um, der ihre beiden Artgenossen erschossen hatte. Die Theaterbesucher, die noch vor wenigen Minuten ängstlich zurückgewichen waren, begannen aufgeregt zu schreien, und einer von ihnen – der Mann, der einige scharfe Worte an den Captain gerichtet hatte – zog eine Pistole und schoß. Die Kugel bohrte sich in den Schädel eines Visitors und tötete ihn sofort. Plötzlich herrschte das reinste Chaos. Schüsse knallten, und Laserflammen leckten über menschliches Fleisch. Die Echsenwesen, die mit dem Leben davongekommen waren, wandten sich zur Flucht, hasteten die Rampe hoch und ließen ihren Anführer im Stich, der skrupellos auf die unbewaffnete Menge feuerte. »Captain…«, sagte Shree Subhash und hielt dem Uniformierten die Mündung seines Lasers an die Schläfe. »Lassen Sie die Waffe sinken.« Der Visitor erstarrte, zögerte kurz und kam dann der Aufforderung nach. Er nahm den Finger vom Auslöser und richtete den Lauf seines Strahlers zu Boden. »Gabriella«, rief Subhash, »nehmen Sie die Waffe des Captains.« Sie lief an seine Seite, und als sich ihre Hand um den Laser des Captains schloß, stellte sie verblüfft fest, wie leicht er war. Ein Vernichtungs- und Tötungsinstrument, das fast wie ein Kinderspielzeug wirkte… »Und jetzt werden Sie uns begleiten, Captain.«
Zunächst reagierte der Visitor nicht. Dann drehte er sich um und sah Subhash an. »Lieber sterbe ich«, zischte er leise. »Wie Sie wollen«, erwiderte Shree und ahmte den herablassenden Tonfall des Captains nach. Die menschliche Maske des Alien blieb ausdruckslos, doch nach einigen Sekunden nickte er. »Nun gut«, sagte er. »Ich bin Ihr Gefangener.«
5. Kapitel
Der Mann, der mit einer Pistole auf die Visitors geschossen hatte, lächelte dünn und zog die Mütze vom Kopf. Gabriellas Blick fiel auf blondes Haar. »Gut gemacht, Jungs!« rief er, als die Leichen der beiden Visitors herangeschleift wurden, die zuvor in der schmalen Gasse verschwunden waren. »Nicht übel, Subhash«, sagte er und kam heran. »Eigentlich haben wir das Miß Nicks zu verdanken, Ian«, entgegnete Subhash. Er holte tief Luft und fügte hinzu: »Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden. Wenn die Besatzung des Shuttles das Feuer auf uns eröffnet…« »Ich glaube, in diesem Punkt brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.« Ian hob seine Pistole und strich mit dem Lauf über die Wange des Captains. »Sie werden sich hüten, irgend etwas zu unternehmen, solange uns dieser Mistkerl hier Gesellschaft leistet.« »Vielleicht sind die Visitors an Bord bereit, seinen Tod in Kauf zu nehmen«, wandte Subhash ein. »Ein vergleichsweise geringer Preis für die Zerschlagung der Londoner Widerstandsbewegung.« »Da könntest du allerdings recht haben«, brummte Ian. Er sah den Captain an. »Was halten Sie davon, wenn wir uns jetzt auf den Weg machen, alter Knabe?« Der Visitor starrte ihn wütend an, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Ian führte ihn von der Rampe fort, und Gabriella und Subhash folgten ihnen. »Sie werden nicht ungestraft davonkommen«, sagte der Captain. »Ein gräßlicher Tod erwartet Sie.«
»Ach, tatsächlich?« spottete Ian und lachte leise. Als sie mit dem gefangenen Alien über die Straße gingen, wurden begeisterte Stimmen laut. In den ersten und zweiten Stockwerken der nahen Gebäude klappten Fenster auf, und Dutzende von Männern und Frauen beobachteten die Widerstandskämpfer, die einen Sieg über die Visitors errungen hatten. »Freunde!« rief Ian. »Dies ist nur der Anfang. Für jede Greueltat zahlen wir es den verdammten Reptilien doppelt und dreifach heim. Na, wie gefällt euch das?« Die Leute an den Fenstern und auf dem Bürgersteig jubelten. Ian blieb für einige Sekunden stehen und winkte zurück, die Finger seiner erhobenen Hand zum Siegeszeichen gespreizt. Dann setzte er sich wieder in Bewegung und zerrte den Captain einfach mit sich, als er sich einen Weg durch die Menge bahnte. Gabriella blieb dicht bei Subhash. »Wohin bringt er ihn?« fragte sie. »Lassen Sie sich überraschen«, erwiderte Shree. »Wir folgen ihm einfach.« Die junge Frau zögerte kurz, doch Subhash sah sie so freundlich und ernst an, daß sie es für besser hielt, ihn zu begleiten. In ganz London gab es keinen Ort, an dem sie sicher sein konnte, und nur die Nähe der Widerstandskämpfer versprach ihr einen gewissen Schutz. Außerdem: Wenn sie für Nigels Tod Vergeltung üben wollte, so konnte sie gerade von diesen Leuten Hilfe erwarten. Darüber hinaus mochte sie Subhash – er war für sie eingetreten und hatte sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. »Ich glaube, es bleibt mir wohl keine Wahl«, sagte sie. »Ich fürchte, Sie haben recht.« Subhash musterte sie kurz. »Nach dieser Sache hier würden die Visitors kurzen Prozeß mit Ihnen machen.«
Gabriella und Subhash folgten dem Captain, Ian und seinen Männern. Als sie eine Nebenstraße erreichten, drehte sich Ian um. »Bis hierher und nicht weiter«, sagte er fest. »Sie kann nicht weiter mit uns kommen. Es handelt sich um eine reine Männersache. Wir haben keinen Platz für eine Frau. Und selbst wenn das der Fall wäre: Wir wissen nicht, ob wir ihr trauen können.« »Sie hat bewiesen, daß sie nicht auf der Seite der Visitors steht«, erwiderte Subhash kühl. »Und sie war recht tapfer.« »Darum geht es nicht«, sagte Ian. »Wir sind kein Verein, der wahllos Mitglieder aufnimmt.« In Gabriellas Augen blitzten Empörung und Ärger, als sie nach Ians Arm griff. »Vielleicht halten Sie mich als Amerikanerin für eine oberflächliche Pute, aber der Mann, den ich liebte, starb gestern abend in meinen Armen. Die verdammten Reptilien brachten ihn um. Und ich habe nicht die Absicht, sie ungeschoren davonkommen zu lassen.« Irgend etwas in ihrem Tonfall – oder vielleicht das Funkeln in ihren Pupillen – stimmte Ian nachdenklich. Nach einer Weile nickte er langsam. »Na schön«, sagte er zu Subhash, und diesmal klang seine Stimme etwas sanfter. »Sie kann uns begleiten. Aber ich mache Sie für die junge Frau verantwortlich. Wenn wegen ihr irgend etwas schiefgeht, Subhash, dann mache ich nicht nur Ihre Freundin dafür verantwortlich, sondern auch Sie. Ist das klar?« »Klar genug, mein lieber Ian.« Gabriella spürte, daß Subhash immer dann besonders höflich wurde, wenn er langsam wütend wurde. Sie war ihm sehr dankbar dafür, daß er sich so vehement für sie eingesetzt hatte, doch es schienen in erster Linie ihre eigenen Worte gewesen zu sein, die Ian zum Einlenken bewegt hatten. Jetzt kam es
darauf an, sein Vertrauen zu gewinnen – wenn das überhaupt möglich war. Gabriella nahm sich vor, zunächst abzuwarten, bis sie genau wußte, worauf sie sich einließ. »Hier entlang«, sagte Ian. In der Nebenstraße parkte ein Lieferwagen, und zwei Männer sprangen plötzlich heraus und öffneten blitzschnell die Türen. Gabriella und die anderen stiegen sofort ein. Einige Sekunden später waren sie unterwegs. Der Fahrer, ein stiernackiger, etwa dreißigjähriger Mann, bog erst nach links und dann nach rechts ab. Die große Heckklappe hatte kein Fenster, daher beugte sich Gabriella vor und sah durch die Windschutzscheibe. Aufmerksam beobachtete sie die Straße. »Legen Sie das hier an, Miß«, sagte einer von Ians Männern. Er reichte ihr ein Tuch. »Was ist das?« fragte Gabriella, obgleich sie ganz genau wußte, um was es sich handelte. »Eine Augenbinde«, sagte der Mann. In seinem rosafarbenen Gesicht zeigte sich zwar ein verlegener Ausdruck, doch seine Stimme klang fest und nachdrücklich. »Das dürfte wohl kaum nötig sein«, wandte die junge Frau ein. »Da irren Sie sich, Miß«, antwortete Ian gepreßt. »Es ist sogar unverzichtbar, wenn Sie mit uns kommen wollen.« Gabriella sah sich um und stellte fest, daß die Widerstandskämpfer sie erwartungsvoll anstarrten. Sie sah Subhash an, und als er ihren Blick erwiderte, nickte er bedauernd. »Ich fürchte, es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, Gabriella«, sagte er. »Wenn wir wissen, daß wir Ihnen vertrauen können, sind solche Vorsichtsmaßnahmen nicht mehr nötig«, erklärte Ian. »Bis es soweit ist, erwarte ich von Ihnen, daß Sie sich an
unsere Anweisungen halten. Andernfalls setzen wir Sie an der nächsten Ecke ab.« »Na schön«, seufzte Gabriella. Sie wußte, daß sie nicht mehr in das behagliche, sorglose Leben zurückkehren konnte, das sie bis zum vergangenen Abend geführt hatte. Sie brauchte Hilfe, wenn sie nicht von den Visitors gefaßt werden wollte – und um Nigels Tod zu rächen. »Einverstanden.« »Braves Mädchen«, sagte Ian. »Es freut mich, daß Sie vernünftig sind.« Als sie aber Ians eisiges Lächeln sah, bedauerte sie es fast, sich ausgerechnet dieser Gruppe angeschlossen zu haben. Die Männer schienen nicht sonderlich viel von ihr zu halten, aber wenigstens hatte sie einen Freund unter ihnen. Sie sah gerade noch, wie Subhash ihr aufmunternd zuzwinkerte, bevor man ihr die Augenbinde anlegte.
6. Kapitel
Der Lieferwagen wurde langsamer, und viel eher, als es Gabriella erwartet hatte, hielt er an. Sie hörte ein leises Surren, das von einem Motor stammen mochte, der ein Zufahrtstor aufrollen ließ. Das Fahrzeug setzte sich wieder in Bewegung und rollte einige Meter, bevor der Fahrer die Handbremse anzog. Ian brummte einen Befehl, und daraufhin schlossen sich knarrend irgendwelche Holztüren. Offenbar befanden sie sich in einer Art Garage. Jemand schwang die Heckklappe des Lieferwagens auf, und Gabriella roch schimmeliges Holz. »Klettern Sie heraus, Miß«, sagte der Mann, der ihr die Augenbinde gegeben hatte. Seine große Hand schloß sich um ihren Arm und stützte sie. Sie hätte fast das Gleichgewicht verloren, doch der Widerstandskämpfer hielt sie fest. Kurz darauf gelangte sie in ein Gebäude, dessen Wände aus rauhem, unverputztem Stein bestanden. Sie stolperte einige Male und stieß mit der Schulter dagegen. Gabriella konnte noch immer nichts sehen, als man sie durch feuchtkalte Gänge und Korridore führte, in denen es muffig roch. Dann und wann glaubte sie, in der Ferne das leise Fiepen von Ratten zu hören. In unregelmäßigen Abständen wandten sich die Widerstandskämpfer nach rechts und links, und die junge Frau vermutete, daß sie in irgendeinem Kanalsystem unterwegs waren. Schließlich blieben die Männer stehen. Ein metallenes Rasseln verriet, daß jemand einen Schlüsselbund hervorgeholt hatte. Einige Sekunden später öffnete sich knarrend eine Tür. Gabriella wurde in einen Raum geführt, und jemand zog ihr
einen Stuhl heran und half ihr dabei, die Augenbinde abzunehmen. Das Licht blendete sie anfangs, doch als sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, musterte sie ihre Umgebung und die Männer, die sie mißtrauisch ansahen. Das Zimmer, in das sie gebracht worden war, wirkte wie ein Verlies: An den Wänden hingen alte Lanzen und Streitäxte, und sie bemerkte steinerne Torbögen; Wasser tropfte von den nackten Mauern. Sie schätzte das Alter dieses Gebäudes auf mindestens fünfhundert Jahre. Doch derzeit gab es wichtigere Dinge, auf die sie ihre Aufmerksamkeit richten mußte. Ian, Subhash und die anderen beobachteten sie und schienen darauf zu warten, daß sie anfing zu sprechen. Gabriella beschloß, sie nicht zu enttäuschen. »Interessantes Dekor«, sagte sie. »Aber ich glaube, hier wird ein Klempner gebraucht.« Subhash und der Mann, der ihr die Augenbinde gegeben hatte, grinsten leicht, doch die Mienen der anderen blieben ausdruckslos. »Ironie ist hier völlig fehl am Platze, Miß«, erwiderte Ian. »Es geht um eine sehr ernste Angelegenheit.« Gabriella schwieg. Sie hatte das Gefühl, daß es zwischen ihr und Ian immer eine Barriere geben würde – es sei denn, sie bewies als Widerstandskämpferin solch todesmutige Kühnheit, daß selbst er beeindruckt war. Sie war schnell zu der Einschätzung »Frauenhasser« gekommen und zweifelte nicht daran, daß es bei seiner Feindseligkeit ihr gegenüber um mehr ging als nur um die Frage, ob sie als Frau ebenso entschlossen gegen die Visitors zu kämpfen verstand wie ein Mann – ein Problem, fügte Gabriella in Gedanken hinzu, das nur in der Phantasie verklemmter Männlichkeitsideologen existierte. Die Widerstandsbewegung gab es ja nicht nur in England, sondern sie war weltweit organisiert – und es gehörten ihr viele Frauen an, die Großartiges geleistet hatten. Zum Beispiel Dr. Juliet
Parrish, eine Wissenschaftlerin und Kämpferin, die in den Vereinigten Staaten hohes Ansehen genoß. Nein, das maskuline Unbehagen Ians ging wesentlich tiefer als der traditionelle britische Chauvinismus. »Sie müssen hier wie ein Mann leben, Miß«, sagte Ian. »Ich bin zu jedem Opfer bereit«, entgegnete Gabriella und lächelte schief. »Das wird sich noch herausstellen.« Ian wandte sich um, schritt durch einen Torbogen und verließ das Zimmer. Sanft griff Subhash nach Gabriellas Hand und half ihr in die Höhe. »Sie werden bald feststellen, daß Ian ziemlich stur ist.« »Dann wird Ian die Erfahrung machen, daß auch Frauen recht stur sein können.« Die anderen Männer hatten den Raum inzwischen ebenfalls verlassen. Subhash und Gabriella waren allein. »Das glaube ich Ihnen aufs Wort, Gabriella«, sagte Shree. »Aber versuchen Sie, Ian so zu akzeptieren, wie er ist. Wir sind aufeinander angewiesen und brauchen uns gegenseitig. Und wir dürfen niemals den Fehler machen, die Gefahr zu unterschätzen: Die Echsenwesen töten jeden von uns, den sie erwischen.« Irgendwo in der Ferne erklang ein gräßlicher Schrei, ein seltsam zischendes Gellen und Kreischen, das nur von einem Visitor stammen konnte. »Ian und seine Jungs verschwenden heute keine Zeit«, meinte Subhash. »Sie nehmen sich den gefangenen Captain vor und versuchen, möglichst viele Informationen zu bekommen. Dabei machen sie Gebrauch von einer ziemlich wirksamen Verhörmethode.« Ein überaus fremdartig klingender Schrei – und doch war Gabriella entsetzt. Unter bestimmten Umständen konnte man auf solche Dinge nicht verzichten, doch offenbar hatten Ian und seine Leute sofort die Folter angewandt – ohne vorher
überhaupt zu versuchen, auf andere Weise Auskunft von dem Visitor zu erhalten. »Typisch für Ian«, sagte Subhash. »Kommen Sie. Gehen wir in einen anderen Teil des Hauses, in ein Zimmer, in dem wir nichts davon hören.« Gabriella war sofort einverstanden und begleitete Subhash durch einen dunklen Gang und anschließend eine Treppe hoch. Sie gelangten in einen Raum, dessen Wände nicht dekoriert waren. Die Einrichtung bestand aus einem kleinen Tisch mit Schreibutensilien und drei hochlehnigen Stühlen. Subhash bot Gabriella einen der Plätze an, setzte sich neben sie, faltete die Hände und musterte sie ernst. »Es tut mir sehr leid, daß auch Sie in diese ganze Sache geraten sind«, sagte er. »Wissen Sie, Nigel Smythe-Walmsley war einer unserer wichtigsten Agenten. Sein Tod ist ein harter Schlag für die Widerstandsbewegung, und sie braucht sicher einige Zeit, um sich davon zu erholen. Wir erreichten die Wohnung wenige Augenblicke nach Ihrer Flucht. Und wir folgten Ihnen. Es war kein Zufall, daß ich Sie vor dem Theater ansprach.« »Ich wußte gar nicht, daß ich beschattet wurde«, erwiderte Gabriella erstaunt. »Aber ich hatte auch keinen Grund, nach menschlichen Verfolgern Ausschau zu halten, oder?« »Wohl kaum. Immerhin saßen Ihnen die Visitors im Nacken, Gabriella. Ich darf Sie doch Gabriella nennen?« »Diese Frage kommt reichlich spät«, sagte die junge Frau und lachte. »Wir kennen uns erst seit wenigen Stunden, und doch haben wir bereits eine Menge gemeinsam durchgemacht. Sie können mich nennen, wie Sie möchten, Mr. Subhash.« »Einfach nur Subhash für Sie.« Er lächelte ebenfalls und zeigte zwei Reihen weißer Zähne. »Abgemacht.« Gabriella reichte ihm die Hand. »Ich würde Sie gern etwas fragen, Subhash.«
»Heraus damit.« »Wieso gehören Sie zu der Widerstandsbewegung, die gegen die Visitors kämpft?« »Ganz einfach: Ich bin Engländer, und meine Heimat ist in Gefahr.« Bevor Gabriella auf diese Erklärung reagieren konnte, kam ein Mann herein. Er trug eine Schirmmütze, und in der einen Hand hielt er einen Revolver, den er auf Subhash richtete.
7. Kapitel
»Jimmy McHugh«, sagte der Bewaffnete und wirbelte den Revolver wie ein Westernheld um den Finger. »Zu Ihren Diensten, Ma’am.« »Wie haben Sie hierhergefunden?« fragte Subhash. McHugh lachte, und sein fleckiges Gesicht schien aufzuglühen. »Ich bin gekommen, um einige Dinge mit Ian zu besprechen. Oder mit Ihnen, Subhash. Kommt darauf an, wer von Ihnen der Vernünftigere ist.« »Teilen und herrschen, wie?« Subhash lächelte schief. »Ins Schwarze getroffen, mein Lieber.« McHugh schob den Revolver ins Holster, das sich unter seiner Lederjacke verbarg. »Nach dem, was ich gehört habe, scheint das eine recht gute Lösung zu sein.« Subhash seufzte. »Wir haben einen gemeinsamen Feind und müssen zusammenarbeiten.« »Sagen Sie das ihm. Er ist gerade unten und vergnügt sich damit, eins der Reptile zu Tode zu quälen.« »Manchmal muß man auf Mittel zurückgreifen, die man eigentlich verabscheut«, hielt ihm Subhash entgegen. »Was Ihnen als altem IRA-Mann bekannt sein dürfte.« »Als alter IRA-Mann erkenne ich Typen, denen es Genugtuung bereitet, anderen Leuten Schmerzen zuzufügen.« »Behaupten Sie etwa, Ian habe Spaß daran?« fragte Subhash. Doch seine Empörung schien nur gespielt. »Nun, ich möchte nur soviel sagen: Sie kennen den feinen englischen Pinkel da unten mindestens ebensogut wie ich, Subhash. Ganz gleich, was Sie von ihm halten: Ich schließe mich Ihrer Ansicht an.«
Subhash schwieg eine Zeitlang, und Gabriella fragte sich, ob er insgeheim die Meinung des Iren teile. »Wie ich sehe, ist hier noch ein Stuhl frei, Subhash«, sagte McHugh. »Haben Sie was dagegen, wenn ich mich setze?« »Keineswegs.« McHugh klopfte auf die Brusttasche seiner Jacke und zog sich den dritten Stuhl heran. Er drehte ihn um und nahm rittlings Platz, so daß er die Ellenbogen auf die Rückenlehne stützen konnte. »Ich bin hier, um dasselbe Angebot zu machen wie schon mehrmals zuvor«, erklärte der IRA-Mann. »Ich frage mich, wie oft mich der Boß noch hierherschicken will, um mit euch zu reden. Ich glaube, eure sture Uneinsichtigkeit geht ihm bereits gehörig auf den Wecker.« »Warum lassen Sie uns dann nicht einfach in Ruhe?« fragte Subhash. »Wir haben Sie nicht gebeten, hierherzukommen. Ganz im Gegenteil: Sie wurden immer wieder aufgefordert, auf weitere Kontakte mit uns zu verzichten.« »Und doch werfen Sie mich nie raus«, stellte McHugh fest. »Das wäre unhöflich«, erwiderte Subhash trocken. »Dachte mir schon, daß Sie die Sache so sehen.« McHugh lachte leise. »Es ist also reine Höflichkeit, wie? Andererseits: Sie brauchen unsere Hilfe.« »Kommen Sie, Jimmy«, sagte Subhash. »Haben wir heute nachmittag Ihre Hilfe gebraucht, als wir den Visitor-Captain gefangennahmen?« »Ja, eine wirklich tolle Sache.« McHugh nickte langsam. »Und wer gab euren Jungs gestern abend den Tip, daß der liebe Smythe-Walmsley besser sein Testament machen sollte?« Subhash beugte sich ruckartig vor, und der Stuhl knarrte. »Gestern abend? Ich habe gehört, die Nachricht sei erst ganz spät eingetroffen. Aus diesem Grund konnten wir Nigel nicht mehr warnen.«
Gabriella griff nach Subhashs Arm. »Soll das heißen, Nigel hätte gerettet werden können?« »Ich… ich weiß nicht«, stotterte Subhash unsicher. McHughs Mitteilung hatte ihn verblüfft und erschüttert. Er wandte sich dem Iren zu: »Stimmt das wirklich, Jimmy?« »Ich schwöre es bei Gott, Subhash: Es war nicht später als halb sieben, als wir einen Mann schickten, der euch informieren sollte.« »Davon höre ich jetzt zum ersten Mal«, brachte Subhash heiser hervor. »Bitte glauben Sie mir, Gabriella: Ich hatte keine Ahnung.« »Aber irgend jemand wußte Bescheid«, gab die junge Frau zurück. »Und wer käme da wohl in Frage?« McHugh gab sich ganz unschuldig. Sie wußten natürlich sofort, wen er meinte. »Aber warum?« entfuhr es Subhash. »Das gibt doch überhaupt keinen Sinn.« Seine Gedanken rasten. Wenn Ian tatsächlich informiert gewesen war, hatte er Nigels Tod nicht nur hingenommen, sondern indirekt sogar verursacht. Und der Grund dafür? Irgendwelche Rivalitäten zwischen den beiden Männern? Subhash spürte, wie seine Wangen heiß wurden. Vielleicht steckte noch mehr dahinter, doch er wagte es kaum, diesem quälenden Verdacht weiter nachzugehen. Wenn sie sich nicht einmal mehr auf die eigenen Leute verlassen konnten, war der Kampf gegen die Invasoren von den Sternen praktisch aussichtslos. »Ian… ein Verräter?« brachte er unsicher hervor. McHugh musterte ihn mitfühlend. »Das habe ich nicht gesagt. Allerdings müssen wir davon ausgehen, daß er Bescheid wußte – und nichts unternahm, um Nigel in Sicherheit zu bringen. Eine wirklich üble Sache.«
Gabriella schluchzte leise, und Subhash faßte ihren Arm. »Wir wissen noch immer nicht genau, was gestern abend vorgefallen ist«, sagte er. »Voreilige Schlüsse sind gefährlich.« Leere Worte, dachte er und spürte, wie sich heißer Zorn in ihm regte. Selbst wenn sie Ian zur Rede stellten und er ihnen eine einleuchtende Erklärung anbot: Jetzt konnten sie nicht mehr sicher sein, daß er die Wahrheit sagte. Außerdem mußte ihm klar sein, daß die anderen Widerstandskämpfer früher oder später von dem IRA-Kurier erfahren würden. Bestimmt hatte er sich bereits etwas einfallen lassen, um jeden Verdacht auszuräumen. McHugh stand auf. »Ich glaube, ich sollte jetzt besser gehen.« »Warten Sie.« Gabriella erhob sich ebenfalls und trat auf ihn zu. »Sind Sie bereit, Ian vor der ganzen Gruppe anzuklagen?«
8. Kapitel
McHugh zögerte einige Sekunden lang. »Nein«, erwiderte er schließlich. Das wär’s dann wohl, dachte Gabriella. Wenn er es nicht wagte, Ian offen die Schuld an Nigels Tod zu geben, können wir mit seinen Hinweisen überhaupt nichts anfangen… Vielleicht kam es dem Iren nur darauf an, Unruhe zu stiften. Und wenn das zutraf, konnte man ihm nicht vertrauen. Doch wenn er recht hatte… »Warum wollen Sie nicht mit Ian sprechen?« fragte Gabriella mißtrauisch. »In einer neutralen Umgebung wäre ich durchaus zu einer derartigen Konfrontation bereit. Aber nicht an diesem Ort, mit allen seinen Männern in der Nähe. Ein Befehl von ihm, und ich wäre erledigt.« Subhash dachte darüber nach und kam zu dem Schluß, daß die Einwände des Iren recht logisch klangen. In diesem Haus hielten sich Dutzende von britischen Widerstandskämpfern auf, und zwischen ihnen und der IRA gab es noch immer böses Blut – obgleich seit der Invasion durch die Visitors ohne öffentliche Erklärung stillschweigend Waffenstillstand herrschte. Gabriella erinnerte sich daran, daß ihr Nigel die Situation vor einigen Wochen ausführlich erklärt hatte – obwohl sie sich damals kaum dafür interessiert hatte, weil sie noch glaubte, das alles gehe sie nichts an. Jetzt aber war die Situation eine völlig andere. Sie bedauerte es, daß die beiden Gruppen nicht ausreichend Vertrauen zueinander hatten, um gemeinsam gegen die Fremden aus dem All zu kämpfen. Und
wenn es für den Verdacht wegen Ian eine feste Grundlage gab, würde sich die Lage kaum bessern. »Auf Wiedersehen«, verabschiedete sich McHugh, drehte sich um und ging zur Tür. Er war noch einige Meter von ihr entfernt, als sie mit einem jähen Ruck geöffnet wurde. Drei Männer stürmten herein. McHugh versuchte, seinen Revolver zu ziehen, doch er kam nicht mehr dazu. Die britischen Widerstandskämpfer griffen nach seinen Armen, entwanden ihm die Waffe und hielten ihn fest. Der Ire versuchte vergeblich, sich zu befreien. Ian betrat das Zimmer und musterte McHugh verächtlich. »Sie haben mich enttäuscht, Subhash«, sagte er, ohne überhaupt in seine Richtung zu schauen. »Was soll das heißen?« fragte Subhash. »Das wissen Sie ganz genau.« Ian wandte sich um und sah ihn jetzt voll an. In seinen Augen schimmerte es triumphierend. »Sie haben sich mit dem Feind verschworen.« »Mit dem Feind? Seit wann gilt die IRA als feindliche Organisation?« »Seit sie den Visitors die Möglichkeit gab, Nigel umzubringen.« »Was behaupten Sie da, Sie dreckiger Lügner?« entfuhr es McHugh wütend. Ian holte blitzartig aus und versetzte dem Iren mit dem Handrücken einen Hieb auf den Mund. McHugh wand sich hin und her und versuchte vergeblich, sich von den Männern loszureißen, die ihn unerbittlich festhielten. Die Hände der drei Widerstandskämpfer schlossen sich wie Stahlklammern um seine Arme. »Bringt ihn fort!« befahl Ian. McHughs Gesicht war rot angelaufen, und er schrie wütend, als ihn die Männer fortzerrten. Subhash stand auf und machte Anstalten, dem Iren zu Hilfe zu eilen. Aber als er die Reihe der
schattenhaften Gestalten auf dem Gang sah, blieb er stehen und ließ die Arme hängen. »Ja, Subhash«, höhnte Ian, »jetzt zeigen Sie, auf welcher Seite Sie wirklich stehen.« »Was meinen Sie damit?« fragte Gabriella scharf. »Junge Frau, an Ihrer Stelle würde ich die Klappe halten«, erwiderte Ian. »Sonst knöpfe ich mir Sie ebenfalls vor. Vielleicht stecken Sie mit ihm unter einer Decke.« Gabriella spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß. »Wie können Sie es wagen, Sie… Sie arroganter Mistkerl!« »Damit kommen Sie nicht durch«, stieß Subhash hervor. »Sie werden es bereuen, wenn Sie ihr auch nur ein Haar krümmen.« Ian verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Lieber Himmel, Subhash: Ich versuche zu verhindern, daß sie uns alle den Visitors ausliefert. Es geht mir um unsere Sicherheit.« »Nein, Ian«, schrie Gabriella ihn an. »Es kommt Ihnen nur darauf an, zum alleinigen Anführer der Widerstandsbewegung zu werden. Die Zukunft Englands und das Schicksal der Menschheit sind Ihnen völlig gleich. Sie gieren nach Macht und sind skrupellos genug, über Leichen zu gehen.« Ian lachte abfällig. »Das klingt nicht gerade überzeugend aus dem Mund einer kleinen Hexe, die möglicherweise für den Tod eines unserer besten Männer verantwortlich ist. Vermutlich haben Sie ihn in eine Falle gelockt, und als er glaubte, er sei in Sicherheit, riefen Sie die Visitors.« »Von wem sprechen Sie?« »Von Nigel, Teuerste – von wem denn sonst?« »Verdammter Hurensohn!« fauchte Gabriella und sprang auf Ian zu. Sie hob die Hände, und ihre spitzen Fingernägel zielten auf sein Gesicht. Doch bevor sie ihn erreichen konnte, waren zwei von Ians Männern heran und packten sie. Es war unmöglich, sich aus ihrem Griff zu befreien. »Laßt mich los!«
Ian trat auf Gabriella zu, blieb dicht vor ihr stehen und lächelte höhnisch. Seine beiden Gefolgsleute achteten darauf, daß die junge Frau keine Gefahr für ihn darstellen konnte. »Sie greifen also den Anführer der Widerstandsbewegung an…« Gabriella spuckte ihm ins Gesicht. In Ians Augen blitzte es, als er den Speichel fortwischte. »Bringt sie weg«, sagte er eisig. »Das ist doch Wahnsinn«, stieß Subhash hervor. »Ich warne Sie, Subhash…« »Nehmen Sie doch Vernunft an, Ian.« »Schafft ihn ebenfalls weg«, sagte Ian nur und wandte sich von Subhash ab. Noch mehr Männer betraten das Zimmer und packten auch Shree. Er versuchte gar nicht, sich ihnen zu widersetzen, und gab auch keinen Protestlaut von sich, als sie ihn in den Korridor führten. Gabriella schwieg nun ebenfalls. In Gedanken verfluchte sie ihr Pech. Sie hatte das Gefühl, vom Regen in die Traufe geraten zu sein – zuerst die Verhaftung durch die Visitors und dann der Weg in das Hauptquartier eines machthungrigen Größenwahnsinnigen. Plötzlich zitterten die Wände des Ganges, und der Boden hob und senkte sich einige Male. Putzfladen fielen von der Decke, und die Widerstandskämpfer verloren den Halt und taumelten umher. Von draußen ertönte das dumpfe Krachen einer Explosion. Aufgeregte Stimmen wurden laut. »Die Gefangenen dürfen nicht entkommen!« rief Ian. Doch als er sich seinen Leuten zuwandte, donnerte eine zweite Detonation, und der Boden bebte erneut. Ein Balken aus altem Holz stürzte herunter und traf zwei Männer. Das Stöhnen und Ächzen der beiden Verletzten verlor sich im lauten Scheppern der Lanzen und Hellebarden, die sich von den Wänden lösten
und über rauhen Stein kratzten. Staub wallte in dichten Schwaden. Subhash winkelte einen Arm an und rammte den Ellenbogen in die Magengrube des verwirrten Mannes rechts von ihm. Nur einen Sekundenbruchteil später traf seine Faust die Nase des Widerstandskämpfers auf der linken Seite. Einer der beiden Hünen, die Gabriella festgehalten hatten, lag auf dem Boden, und der andere verlor das Bewußtsein, als ihm Subhash einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf versetzte. Shree griff nach Gabriellas Hand und lief los, vorbei an dem Zimmer, in dem sie sich mit McHugh unterhalten hatten. Sie erreichten eine Wendeltreppe und waren wenige Sekunden später ein Stockwerk tiefer. Das Gemälde eines Adligen aus dem siebzehnten Jahrhundert löste sich von der immer noch zitternden Wand und fiel mit einem dumpfen Pochen zu Boden. Flammen loderten jenseits eines Fensters. Subhash brachte Gabriella in ein großes Wohnzimmer. Dort näherte er sich dem Kamin und strich mit der einen Hand über einige Ziegel. »Was haben Sie…« Die junge Frau unterbrach sich, als der Kamin aufschwang. Subhash bückte sich und kroch in einen engen Gang. Gabriella folgte ihm. Es war stockfinster in dem Tunnel, doch ihr Begleiter kannte offensichtlich den Weg genau. Nach einigen Minuten sah sie voraus mattes Licht, und sie kamen an ein eisernes Gitter. Kletterpflanzen rankten sich an den metallenen Stäben in die Höhe. Subhash preßte die Schulter gegen das Hindernis, und ein leises Knirschen ertönte. Einen Spaltbreit öffnete sich ein Tor, und vor ihnen lag ein verwilderter Garten mit kniehohem Gras. Die junge Frau stand hinter dichtem Gestrüpp und beobachtete eine Kampffähre der Visitors. Blaues Laserfeuer schoß aus den Läufen der Bordgeschütze, und die Energieblitze zuckten über ein altes Gebäude, das sich auf der
anderen Seite einer halb überwucherten Mauer erhob. Außer dem lauten Prasseln und Zischen hörte sie die Schreie sterbender Menschen. »Können wir den Menschen dort drin nicht irgendwie helfen?« preßte Gabriella hervor. »Nein«, murmelte Subhash und griff wieder nach ihrer Hand. »Es ist bereits zu spät. Uns bleibt nur die Flucht.« Und sie flohen, verließen den Garten, duckten sich an die halbhohe Mauer, als das Hauptquartier der britischen Widerstandsbewegung hinter ihnen zerstört wurde.
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9. Kapitel
Medea spürte, wie ihr Magen knurrte, als sie sich an die Soldaten wandte. »Bringt mir den Gefangenen!« Sechs Visitors in roten Uniformen reagierten prompt auf ihren Befehl und verließen den Kontrollraum des Mutterschiffes. Die Kommandeuse drehte den Kopf und sah die Frau an, die ihre menschliche Dermatoplastmaske selbst an diesem Ort trug. »Beverly«, sagte sie langsam, »wir haben die britische Widerstandsbewegung vernichtet. Aber den Anführern ist die Flucht gelungen – bis auf einen.« Die stellvertretende Kommandantin Beverly nickte. »Ja. Es war ein recht guter Plan, nicht wahr?« Die Tatsache, daß es Beverly gewesen war, die den Angriffsplan entwickelt hatte, bedeutete Medea überhaupt nichts. Ihre Stellvertreterin wußte, daß die Kommandeuse später reulos behaupten würde, der Erfolg des Unternehmens sei allein ihr zu verdanken. Ein derartiges Verhalten war typisch für diejenigen, die dem Führungszirkel der sirianischen Streitmacht angehörten. Dennoch ließ sich nicht leugnen, daß die dürre Medea bereits zweimal versagt hatte. Sie war von der Angst, die Schlacht um England zu verlieren, geradezu besessen, so daß sie ihren Appetit verloren hatte und schon seit langer Zeit keine Nahrung mehr zu sich nahm. Als sie damals die Erde erreicht hatten, war sie korpulent gewesen, doch jetzt schien ihr Leib nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen. Beverly seufzte, klappte einen kleinen Kunststoffbehälter auf und griff nach dem Schwanz einer Maus. Weit öffnete sie den
Mund, viel weiter, als es ein Mensch vermocht hätte, und verschlang das quiekende Nagetier. Sie nahm sich nicht einmal die Zeit zum Kauen. Medea beobachtete sie verärgert und erinnerte sich an die Zeit, als sie selbst auch Gefallen an solchen Delikatessen gefunden hatte. Sie verspürte nicht mehr den geringsten Hunger und würde vermutlich erst dann wieder essen können, wenn der britische Widerstand endgültig gebrochen war. Der Sieg, den sie gerade errungen hatten, stellte einen wichtigen Schritt in diese Richtung dar – es sei denn, es gelang den entkommenen Anführern, die Gruppe der Rebellen neu zu organisieren. Seit dem Beginn der Mission hatte Medea zwei ernste Fehlschläge hinnehmen müssen, und sie wollte den Menschen endgültig jede Möglichkeit nehmen, ihr ein drittes Mal einen Strich durch die Rechnung zu machen. Die Tür glitt auf, und die Wächter kehrten mit einem Gefangenen zurück. Sie zerrten den Mann heran und zwangen ihn dazu, vor Medea auf die Knie zu sinken. »Nun«, zischte die Kommandeuse, »vielleicht haben Sie es sich inzwischen anders überlegt. Sind Sie jetzt bereit, meine Fragen zu beantworten?« Die wiederholte Folter hatte den Gefangenen sehr geschwächt. Er schwieg. »Antworten Sie ihr.« Der Captain der Wachgruppe schloß seine Klauen um das Gesicht des Mannes und drückte so fest zu, daß die Kieferknochen knirschten. Der Mann stöhnte leise. »Von mir erfahren Sie nichts«, brachte er kaum hörbar hervor. »Sie haben also noch immer nicht genug, wie?« spottete Medea. »Nun, es gibt noch andere Möglichkeiten…« »Ganz gleich, was Sie auch versuchen«, erwiderte der Gefangene. »Ich verrate Ihnen nichts.«
»Ich glaube, da irren Sie sich«, hielt ihm Medea kühl entgegen. »Sie sind einer der Anführer der Widerstandsbewegung, und Ihr Vater hat einen Sitz im Oberhaus. Früher oder später bringen wir Sie dazu, uns alles zu sagen, was Sie wissen.« Der Mann schauderte, denn er wußte bereits aus eigener Erfahrung, wie grausam Medea sein konnte. Selbst Beverly schien leicht zu erblassen. »Wir haben es noch nicht mit der Konvertierungskammer versucht, oder?« fuhr die Kommandeuse fort. »Was Sie bisher erlebt haben, ist eine Behandlung mit Samthandschuhen im Vergleich zu dem, was Ihnen bevorsteht, wenn Sie sich nicht endlich zu einer kooperativen Einstellung entschließen. Haben Sie mich verstanden?« Medea musterte den Gefangenen eingehend, doch der Mann schwieg noch immer. Er gehörte zu den hartnäckigsten Individuen, mit denen sie es bislang zu tun bekommen hatte. Es war bestimmt nicht leicht, seinen Willen zu brechen. Vielleicht starb er lieber, als zu einem Verräter zu werden, und in einem solchen Fall mochte Medea in Schwierigkeiten geraten. Wut brodelte in der Kommandeuse, und sie war versucht, ihn auf der Stelle zu töten, um ein Exempel an ihm zu statuieren. Andererseits aber kam diesem Menschen zweifellos eine große Bedeutung zu. Lebend nützte er ihnen weitaus mehr. Medeas einzige Hoffnung bestand darin, daß die Konvertierungskammer nicht ebenso versagte wie die Folter. Sie war in diesem Punkt nicht ganz sicher, doch leider blieb ihr keine andere Wahl. Für den endgültigen Sieg über Großbritannien brauchten sie unbedingt weitere Informationen, Daten, die in dem Gehirn des Gefangenen gespeichert waren. Wie ein Computer, dessen Speicher mit einem komplexen Code vor unbefugtem Zugriff geschützt ist, dachte die Kommandeuse in einem Anflug von Ironie. Es kommt darauf
an, das richtige Paßwort in Erfahrung zu bringen. Sie überlegte kurz. »Jenes Mädchen…«, sagte sie ruhig. »Die junge Frau, die Sie heiraten wollten…« Der Gefangene hob ruckartig den Kopf. »Was ist mit ihr?« »Sie befindet sich in unserer Gewalt«, sagte Medea. Ein dünnes Lächeln umspielte die Lippen ihrer Dermatoplastmaske. Der Mann hatte sogar den Qualen der Folter widerstanden, aber jetzt schimmerte Entsetzen in seinen Augen. »Sie lügen!« »Meinen Sie? Sehen Sie sich das hier an.« Medea betätigte eine Taste. Vor ihnen bildete sich ein dreidimensionales Projektionsfeld, und das Hologramm zeigte den Saal eines Theaters im Londoner West End. Der Mann beobachtete, wie uniformierte Visitors durch die Gänge schritten und nach jemandem suchten. Das orangefarbene Identifikationslicht fiel auf eine junge Frau. Sie wurde von den Soldaten gepackt und nach draußen gezerrt. Medea führte eine weitere Schaltung durch, woraufhin das Hologramm verblaßte. Mit neuer Hoffnung sah sie den Gefangenen an. Verzweifelt ließ der Mann den Kopf hängen und schluchzte leise. »Wenn ihr irgend etwas zugestoßen ist…«, brachte er mit erstickter Stimme hervor. »Bisher noch nicht«, erwiderte Medea. »Und es wird ihr nichts geschehen, wenn Sie bereit sind, mir Auskunft zu geben.« »Ich soll die Frau retten, die ich liebe, indem ich meinen Vater und meine Heimat verrate? Eine solche Entscheidung kann ich unmöglich treffen.« »Betrachten Sie die Angelegenheit einmal aus einer anderen Perspektive«, schlug Medea vor. »Irgendwann erringen wir ohnehin die vollständige Herrschaft über Ihr Land. Es ist nur eine Frage der Zeit. Ihrem Vater und dem Parlament wird gar
nichts anderes übrigbleiben, als sich unserem Willen zu fügen. Daran können auch Sie nichts ändern. Ihr uneinsichtiges Verhalten führt nur dazu, daß die Leidenszeit Ihrer Mitbürger unnötigerweise verlängert wird. Andererseits haben Sie nun die Möglichkeit, die Frau, die Sie lieben, vor dem Tod zu bewahren, wenn Sie uns dabei helfen, den unausweichlichen Lauf der Ereignisse zu beschleunigen. Nun, wie lautet Ihre Antwort?« »Lieber Himmel, ich… Ich kann nicht zulassen, daß die Frau, die ich mehr liebe als alles andere in der Welt, getötet wird. Aber Verrat…« »Wenn Sie sich nicht innerhalb der nächsten Stunden entscheiden, wird sie sterben. Durch Ihre Schuld.« Der Gefangene schüttelte kummervoll den Kopf. »Bringt ihn in seine Zelle zurück, so daß er in Ruhe darüber nachdenken kann«, sagte Medea. Die Wächter griffen nach seinen Armen. »Warten Sie!« stieß der Mann heiser hervor. »Ich…« Er räusperte sich. »Sie haben mich vor eine sehr schwierige Wahl gestellt, und ich muß für den Rest meines Lebens mit der Entscheidung leben, die ich nun treffe.« Er holte tief Luft. »Verdammt, es bleibt mir nichts anderes übrig: Ich bin bereit, auf Ihre Forderungen einzugehen.« »Geben Sie mir Ihr Wort.« Was für eine seltsame Vorstellung von Ehre, dachte Medea amüsiert. »Ich, Nigel Smythe-Walmsley, schwöre hiermit als Gentleman, daß ich Ihnen helfen werde.«
10. Kapitel
Subhash und Gabriella schlichen durch die Gassen von Soho, jenem Viertel von London, das einen eher zweifelhaften Ruf genießt. Doch das Labyrinth aus schmalen Straßen, kleinen, dunklen Plätzen und finsteren Hinterhöfen bot zumindest eine gewisse Sicherheit: Hier gab es genug Möglichkeiten, sich zu verstecken, wenn sich eine der vielen Visitor-Patrouillen näherte, die in der Stadt unterwegs waren. Dann und wann waren Subhash und seine Begleiterin gezwungen, sich aus ihrer Deckung zu wagen und breitere Straßen zu überqueren. Ständig hielten sie nach Gestalten in roten Uniformen Ausschau. Sie betraten die Wardour Street, liefen ruhig weiter und mischten sich unauffällig unter die vielen Passanten auf dem Bürgersteig. »Ist das nicht zu gefährlich?« fragte Gabriella skeptisch. »Wenn uns eine Patrouille entdeckt…« »Gewisse Risiken lassen sich nicht vermeiden«, erwiderte Subhash. »Wir können nicht einfach aus einer Gasse treten und auf der gegenüberliegenden Seite der Wardour Street in einer anderen verschwinden. Das sähe weit mehr verdächtig aus.« Sie gingen ein paar Blocks weiter, blieben kurz stehen und taten so, als wollten sie sich die Auslagen in einem der Schaufenster ansehen. Einmal schwebte eine Kampffähre der Visitors über die Straße; Subhash und Gabriella wichen rasch unter eine Markise zurück. Als sie einigermaßen sicher waren, daß niemand sie beobachtete, eilten sie durch eine weitere Gasse davon. »Hier entlang«, sagte Subhash.
Hastig schritten sie durch die lange Passage, und um sie herum blieb alles still. Rechts und links ragten hohe Mauern in die Höhe. Das Licht des Mondes reichte gerade aus, um einen Hauch von diffusem Grau in die schwarze Finsternis zwischen den Gebäuden zu bringen. »Weiter«, flüsterte Subhash und zog die junge Frau mit sich. Er blieb abrupt stehen, als er hinter ihnen eine Stimme hörte. »He, ihr beiden – nicht so schnell.« Gabriella drehte sich erschrocken um und rechnete damit, einen Visitor zu sehen. Aber die schattenhafte Gestalt, die einige Meter hinter ihnen in der Gasse stand, trug keine rote Uniform. »Was wollen Sie?« fragte die junge Frau. »Nur ein wenig mit Ihnen plaudern, Miß.« »Und wer sind Sie?« »Ein Freund, denke ich.« »Ich habe keine Freunde, deren Namen ich nicht kenne«, erwiderte Gabriella und wollte sich wieder in Bewegung setzen. »Ich heiße Kelly«, sagte der Mann. »Seamus Patrick Kelly.« Subhash drückte Gabriellas Hand. Offenbar sagte ihm der Name etwas. Aber was? »Der legendäre Seamus Patrick Kelly?« fragte Shree höflich. »Meine Bescheidenheit verbietet es mir, das zu bestätigen.« »Sie sind also der Kelly?« »Soweit ich weiß, gibt es nur einen.« Kelly trat heran. Gabriella musterte ihn, sah sandfarbenes Haar und eine Brille. Auf den ersten Blick konnte man ihn für einen Lehrer halten. »Was haben Sie auf dem Herzen?« fragte Subhash. »Ich möchte wissen, was aus meinem Kumpel McHugh geworden ist«, antwortete Kelly.
Er gehört ebenfalls zur IRA, dachte Gabriella. Er wirkte nicht annähernd so gefährlich wie McHugh, doch sie spürte die Anspannung ihres Begleiters. »McHugh ist tot«, sagte Subhash leise. »Und wer hat ihn umgebracht?« »Keine Ahnung. Ich habe nicht gesehen, wie er starb. Vielleicht wurde er von den Visitors getötet.« »Aber es war Ian, der den Befehl gab, ihn gefangenzunehmen, nicht wahr?« Subhash nickte. »Ich wußte, daß Sie keine Schuld trifft. Sie sind nicht blind vor Ehrgeiz, wie das bei dem übergeschnappten Ian der Fall ist.« »Das mit McHugh tut mir sehr leid«, sagte Subhash. »Er warnte uns gerade vor Ian.« »Ian ist ein verdammter Mistkerl. Er hat nicht nur McHugh auf dem Gewissen, sondern auch einen Ihrer Leute.« »Smythe-Walmsley?« »Ja.« Kelly musterte Gabriella mit einem durchdringenden Blick. »Und Sie sind diejenige, in deren Wohnung SmytheWalmsley starb?« »Die bin ich«, bestätigte Gabriella. »Und dafür werden sie büßen.« »Wer?« fragte Kelly. »Meinen Sie die Visitors – oder Ian?« »Sie alle.« Der eisige Klang ihrer Stimme überraschte sie selbst. War sie bereits so verbittert? »Hier in London haben Sie kaum eine Möglichkeit, gegen die Echsenwesen zu kämpfen«, sagte Kelly. »Jedenfalls derzeit noch nicht. Die haben die ganze Stadt unter Kontrolle, und bald wird sich ihre Herrschaft auch auf den Rest Englands erstrecken. Bis vor einer Weile glaubte ich ja, das geschehe euch Briten ganz recht. Inzwischen aber weiß ich, was es mit
den Visitors auf sich hat, und zum ersten Mal in meinem Leben bedaure ich die Engländer.« »Vielleicht ist es an der Zeit, daß Engländer und Iren ihren Zwist vergessen.« »Mein Großvater, der als junger Mann von den Black and Tans∗ erschossen wurde, wird sich vermutlich in seinem Grab umdrehen, aber ich glaube, Sie haben recht, Subhash. Die verdammten Reptilien erledigen uns alle, wenn wir nicht mit all unseren Kräften gemeinsam zurückschlagen.« »Ich bin bereit, an Ihrer Seite zu kämpfen«, sagte Gabriella fest. »Als Amerikanerin habe ich nichts gegen Iren. Und ich würde Sie selbst dann unterstützen, wenn ich den politischen Standpunkt der Briten teilte.« »Ich habe schon von Ihrem Temperament gehört«, entgegnete Kelly. »Und ich glaube, Sie meinen es ehrlich.« »Und ob, Mr. Kelly. In diesem Punkt können Sie ganz sicher sein.« Gabriella biß so fest die Zähne zusammen, daß ihr Unterkiefer schmerzte. »Ich bin entschlossen, Nigels Tod zu rächen. Um jeden Preis.« »Und wenn Sie dazu mit den Leuten zusammenarbeiten müssen, die ihn den Visitors ans Messer lieferten?« »Wenn es nötig ist…« Kelly starrte sie mit ausdruckslosem Gesicht an und dachte kurz nach. »Kommen Sie«, sagte er dann. Er drehte sich um und kehrte in Richtung Wardour Street zurück. Gabriella warf Subhash einen schnellen Blick zu, der kurz nickte. Sie schlossen sich dem Iren an. Einige Meter vor der Straße wandte sich Kelly nach links, trat dicht an die verwitterte Mauer eines Gebäudes heran und blieb vor einer dicken, pechschwarz gestrichenen Tür stehen. Er klopfte dreimal laut und wartete. ∗
Black and Tans: ein Militärkontingent, das 1920 von der britischen Regierung gegen Irland geschickt wurde – Anmerkung des Übersetzers
Nach einigen Sekunden schwang die eiserne Tür auf, und Kelly winkte seinen Begleitern zu. Subhash und Gabriella wechselten noch einen letzten Blick, bevor sie eintraten. Hinter ihnen schloß sich die Tür mit einem leisen Klicken.
11. Kapitel
Nigel war allein. Er saß auf der Kante seines Bettes, ließ den Kopf hängen und fühlte sich so einsam wie noch nie zuvor. Sein Vater nahm an einer wichtigen Konferenz teil und konnte den Tag nicht mit ihm verbringen. Daran war Nigel normalerweise gewöhnt. Sein Vater hatte nur selten Zeit für ihn. Es hieß, daß er eines Tages einen Sitz im Oberhaus bekommen würde. Aber an diesem besonderen Tag war das für Nigel ohne Bedeutung. Heute war sein Geburtstag. Er dachte nur kurz an die Party, an der Mutter, Auntie und fünfundzwanzig Kinder teilgenommen hatten, an die Bediensteten, die mit Kuchen, Plätzchen und Spielzeugen im großen Haus umhergelaufen waren. Er entsann sich an die vielen Späße, an lachende Stimmen und strahlende Gesichter – und an seinen eigenen Kummer. Denn ohne Vater konnte er sich nicht richtig freuen. Traurig starrte Nigel ins Leere und überlegte, warum Vater ihn ausgerechnet heute allein gelassen hatte. Sein siebter Geburtstag… Die anderen waren so glücklich gewesen. Früher hatte Nigel manchmal das Gefühl gehabt, die Welt sei nur für ihn geschaffen worden, doch jetzt sprachen Mutter und Auntie immer häufiger von Pflicht und Verantwortung und meinten, Vater müsse sich um sehr wichtige Dinge kümmern. Offenbar waren die wichtiger als sein eigener Sohn… Nun, Nigel scherte sich nicht darum. Er nahm sich vor, irgendwann sein behütetes Heim zu verlassen und zu einem Abenteurer zu werden. Politik interessierte ihn nicht, ebensowenig die anderen Dinge, die für Vater so bedeutsam zu
sein schienen. Er träumte von einem Leben als Pirat. Natürlich wollte er Mutter regelmäßig schreiben, manchmal auch Auntie. Aber nicht Vater. Nein, ihm nie. Er würde ihm niemals verzeihen, daß er an seinem siebten Geburtstag fortgegangen war. Nigel vernahm ein leises Knacken. Als er den Kopf hob, sah er ein grünes Licht, das durch einen kleinen Spalt im Kleiderschrank glühte. »Seltsam«, sagte er und ahmte dabei den Tonfall seines Vaters nach. Er stand auf und trat langsam an den Schrank heran, während das Licht heller wurde. Einige Sekunden lang zögerte er, bevor er die Hand nach der Tür ausstreckte. Nigel holte tief Luft und öffnete den Schrank. Er schrie auf, als er eine gräßliche Schlange sah, die auf ihn zukroch. Das grüne Glühen schien von den feucht glänzenden Schuppen auszugehen. Eine schmale Zunge zuckte aus dem Maul und tastete immer wieder in seine Richtung. Nigel versuchte vergeblich, die Tür wieder zu schließen, um die Schlange im Schrank einzusperren. Unter seinen Fingern löste sich das Holz auf und verwandelte sich in stinkenden Qualm – und das riesige Reptil glitt weiter auf ihn zu. Er wollte schreien, aber erinnerte sich plötzlich daran, daß sein Vater oft betont hatte, wie wichtig Mut sei. Wenn er ein wahrer Engländer sein wollte, mußte er jetzt Tapferkeit beweisen. Die gewaltige Schlange öffnete ihren Rachen, und Nigel sah schleimiges Gift an den langen, spitzen Zähnen. Das Reptil zischte, als es zum Angriff ansetzte. Nigel trat rasch zur Seite und wich dem Kopf der Schlange aus. Er versuchte nicht etwa davonzulaufen, sondern stürmte auf die andere Seite des Ungeheuers. Doch das Reptil war so groß, daß er ihm nicht entkommen konnte. Der glitschige Leib
rollte sich um ihn, und harte Schuppen kratzten über den Boden, als es zudrückte. Nigel war nicht in der Lage, sich allein zu befreien. Er versuchte zwar, sich aus der tödlichen Umklammerung zu winden, und schlug mit den Fäusten auf den alptraumhaften Körper ein, der ihn nach wie vor festhielt. Die Schlange preßte ihm die Luft aus den Lungen, und er mußte immer flacher atmen. Trotzdem rief er: »Du wirst mich nicht besiegen, du verdammtes Biest!« Verzweifelt kämpfte er gegen das Monstrum an, doch der Druck wurde immer stärker. Nigel schnappte nach Luft und konnte nicht mehr klar sehen. Er spürte, wie sich hinter seiner Stirn langsam die Dunkelheit des drohenden Todes ausbreitete. Jetzt könnte dir nur noch dein Vater helfen – aber er ist nicht da, er hat dich im Stich gelassen, erklang eine höhnische Stimme inmitten seiner Gedanken. Hoffnungslosigkeit vergiftete Nigels Überlegungen. Warum mußte er sterben, während andere gemütlich zu Hause saßen – und Vater seinen Geschäften nachging und sich nicht um seinen Sohn kümmerte? Der Schlangenkopf schwebte direkt vor ihm, und die spitzen Zähne waren nur wenige Zentimeter von seinem Hals entfernt. Wollte das Ungeheuer jetzt endgültig zubeißen, ihn töten und dann verschlingen? »Gib nach«, zischte die Schlange. Der Druck von ihrem Leib ließ ein wenig nach, so daß er wieder Luft holen konnte. Doch er war noch immer nicht in der Lage, sich zu befreien. »Gib nach«, erklang erneut das schauderhafte Zischen. »Nein«, erwiderte Nigel, von der Festigkeit seiner Stimme selbst überrascht. »Auf keinen Fall.« »Und warum nicht?« fragte die Schlange im Tonfall eines strengen Lehrers.
»Du bist Englands Feind«, sagte Nigel kühn. »Und deshalb muß ich dir Widerstand leisten.« »Doch wenn du mir nachgibst, wenn du deine Kraft mit meiner vereinst, wirst du unschlagbar sein. Zusammen schaffen wir eine bessere Welt.« »Ich glaube dir nicht.« »Es bleibt dir keine Wahl. Ich könnte dich innerhalb weniger Sekunden zerquetschen.« »Nur zu«, sagte Nigel tapfer. »Ich bin bereit, für meine Heimat zu sterben.« »Warum denn?« fragte die Schlange. »Niemand verlangt von dir, dich zu opfern.« »Ich sterbe lieber, als daß ich zu einem Verräter werde.« »Nun gut. Dann will ich dir deinen Tod zeigen.« Der zusammengerollte Schlangenleib hielt Nigel noch immer fest, als er sich selbst beobachtete, wie er von bewaffneten Visitors durch eine Gasse gejagt wurde. Als er ins Freie trat, sah er die St. Paul’s Cathedral, die alle anderen Gebäude überragte. Er floh in Richtung Amen Court, zu Gabbys Wohnung. Wenn er sich dort verstecken konnte, verloren die Verfolger vielleicht seine Spur. Als er um eine Ecke rannte, brannte sich ein heißer Laserblitz in seine rechte Schulter. Nigel taumelte, stöhnte schmerzerfüllt und preßte die linke Hand auf verkohltes Fleisch. Doch er blieb nicht stehen, sondern lief weiter. Er hastete über den Platz, und ein zweiter Energieblitz traf ihn. Irgendwie gelang es ihm weiterzutaumeln, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das Bild vor seinen Augen verschwamm. Nach einer Weile sah er Gabbys Tür vor sich und klopfte laut. In der Ferne hörte er Stimmen und den Schrei einer Frau. Laserstrahlen zischten und fauchten durch die Nacht.
»Um Himmels willen, Gabby, mach auf«, flüsterte er, ballte die Fäuste und hieb auf die Tür ein. »Bitte!« Ein Schlüssel drehte sich im Schloß, und Nigel wankte ins Zimmer. Genau in diesem Augenblick spürte er jähe Hitze im Rücken, sah das entsetzte Gesicht Gabriellas und stürzte zu Boden.
12. Kapitel
Verwirrt beobachtete sich Nigel als Erwachsener. Er war kein kleiner Junge mehr, der gegen eine riesige Schlange kämpfte, sondern ein Mann, der in den Armen der Frau starb, die er liebte. Alles wirkte so echt… Er zwinkerte verwundert. Nein, es konnte nicht sein. Er befand sich hier, in seinem Zimmer, und er lebte. Bestimmt halluzinierte er. Sauerstoffmangel des Gehirns – das hatte er einmal in einem Buch gelesen. Dunkelheit folgte auf die schreckliche Vision, Finsternis und Schmerz… Sein ganzes Nervensystem schien in Flammen zu stehen. Die Pein reichte von der Kopfhaut bis zu den Zehenspitzen und durchzuckte ihn wie Elektrizität. »Nein!« schrie er. Aber er konnte der Qual nicht entkommen. Er versuchte, sie zu ignorieren, ihr einfach keine Beachtung zu schenken und sich auf das zu konzentrieren, was er von sich wußte. Er war weder tot noch ein kleiner Junge. Dieser Gedanke wurde von noch heftigerem Schmerz begleitet. Das ließ nur einen Schluß zu. Die Visitors. Sie folterten ihn und versuchten, ihn zu konvertieren. Auf diesen Gedanken hin loderten die Flammen des mentalen Feuers noch höher empor und ließen in seinem Bewußtsein nur noch Platz für sengenden Schmerz. Als sich die Bruchstücke seines Denkvermögens wieder zusammengefügt hatten, setzte Nigel seine vorherigen Überlegungen fort. Er fand es ungeheuer anstrengend, sich zu konzentrieren, doch irgendwie gelang es ihm.
Medea hatte ihm versprochen, ihn nicht zu konvertieren, wenn er sich zur Kooperation mit den Visitors bereit erklärte – aber offenbar wollte sie kein Risiko eingehen. Sie hatte Gabby in der Gewalt, aber damit noch nicht genug: Sie war dabei, ihn einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Das werde ich nicht zulassen, dachte Nigel. Niemals. Lieber sterbe ich. Ja, der Tod ist der letzte Ausweg. Die Vorstellung, in eine menschliche Marionette verwandelt zu werden, entsetzte ihn zutiefst. Er entsann sich an sein Versprechen, alle Fragen der Kommandeuse zu beantworten – um Gabriella zu retten –, doch sie hielt sich nicht an das Abkommen. Eine weitere Schmerzwelle durchflutete ihn. »Ganz ruhig, mein Junge«, ächzte Nigel. Wenn er den Aufenthalt in der Konvertierungskammer überstehen wollte, mußte er Widerstand leisten, den Schmerz akzeptieren, um die Stabilität seines Ichs zu erhalten, um der Mann zu bleiben, der er war. Offenbar hatten die Visitors eingesehen, daß sie mit psychologischen Tricks nicht weiterkamen, und deshalb versuchten sie es jetzt erneut mit der Folter. Er hatte noch eine Chance – wenn er sie davon überzeugen konnte, daß er in der Lage war durchzuhalten. Der Schmerz war wie eine Klinge, die durch seinen Körper raste, Nervenbahnen zerfetzte, Organe zerschnitt und ihn langsam ausschabte. Zurück blieb Leere, ein sonderbares Nichts, das ihn gefühllos machte und sein Denken einnebelte – ein Nebeneffekt, mit dem die Visitors sicher nicht gerechnet hatten. Nigel gab sich der plötzlichen Ruhe hin. Sie dauerte eine halbe Ewigkeit – und doch nur wenige Sekunden. Dann kehrte die Qual zurück und erinnerte ihn daran, daß er einen Körper besaß.
Die Echsenwesen würden sicher vor nichts zurückschrecken, um ihn zu konvertieren, aber Nigel war entschlossen, das zu verhindern. Gib nach. »Nein!« schrie Nigel. »Niemals!« Dein Vater hat dich verraten. Du schuldest ihm nichts. Ein Teil von ihm war nach wie vor bereit, das zu glauben, doch Nigel wußte, daß es der eigensüchtige, kindliche Aspekt seines Wesens war. Sein Vater hatte ihm nicht etwa aus Mangel an Liebe so wenig Zeit gewidmet, sondern weil er große Verantwortung trug. In dieser Hinsicht identifizierte sich Nigel nun mit ihm. Er erinnerte sich an seine Pflichten, nicht nur der Frau gegenüber, die er liebte, sondern für sein Vaterland. Er durfte nicht zulassen, daß die Visitors den Sieg errangen. Außerdem war er jetzt gar nicht mehr so sicher, ob sich Gabby tatsächlich in der Gewalt der Reptilien befand. Er hatte um eine Begegnung mit ihr gebeten, sie jedoch nur in einem Hologramm sehen können. Das genügte nicht als Beweis. Nein, es war mehr nötig, um ihn zu einem Verräter zu machen. »Ihr werdet nie die Herrschaft über Großbritannien an euch reißen können«, sagte er, als der Schmerz kurz nachließ. »Hört ihr mich?« Gib nach. »Es wird euch nie gelingen, den menschlichen Widerstandswillen zu bezwingen.« Pein. Gib nach. Neuerlicher Schmerz. Gib nach. In endloser Folge tosten Wellen der Qual durch seinen gemarterten Leib – und doch hatte Nigel einen inneren Ruhepunkt gefunden, eine Oase in der Wüste des Schmerzes,
in der er ausharren und sich besinnen konnte. Nicht einmal die hochentwickelten Foltermethoden der Visitors waren imstande, seinen Willen zu brechen. Bevor sich Dunkelheit in ihm ausbreitete, die betäubende Finsternis der Ohnmacht, dachte er noch zufrieden daran, daß er dem Konvertierungsverfahren widerstanden hatte.
»Holt das verdammte Fleischbündel aus der Kammer!« befahl Medea. »Und beeilt euch.« »Er ist verblüffend stark, nicht wahr?« bemerkte Beverly. »Noch niemals zuvor hat ein Mensch dem Konvertierungsverfahren solchen Widerstand geleistet.« »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er zu einem willenlosen Werkzeug wird«, erwiderte Medea. Doch noch während sie dies sagte, mußte sie sich eingestehen, daß diese Antwort reines Wunschdenken war. »Sind Sie sicher?« spottete Beverly leise. Während die Wächter die Konvertierungskammer betraten, um den Gefangenen fortzubringen, öffnete sie einen Glaskäfig und griff nach einem Meerschweinchen. »Vielleicht stirbt er, bevor er Ihnen die Auskünfte geben kann, die Sie von ihm verlangen.« »Er hat uns bereits einige interessante Dinge mitgeteilt.« »Informationen, die eindeutig falsch waren, wie sich bei der Überprüfung herausstellte.« Beverly stopfte sich das quiekende Meerschweinchen in den Mund und verschlang es in einem Stück. Medea beobachtete sie neidisch. »Er wird uns alles verraten, was wir wissen wollen – solange er glaubt, daß wir die junge Frau haben.«
»Früher oder später fordert er bestimmt einen Beweis dafür, daß sie noch am Leben ist, daß unsere Angaben stimmen. Vielleicht hat er bereits Verdacht geschöpft.« »Möglich«, gestand Medea ein. »Es gibt eine Möglichkeit, ihm diesen Wunsch zu erfüllen.« »Was meinen Sie damit, Beverly?« fragte Medea. »Wie sollen wir die junge Frau hierherbringen, wenn wir nicht einmal wissen, wo sie ist?« »Ich habe da eine Idee.« An Beverlys Hals war deutlich das verschlungene Meerschweinchen als Auswölbung zu sehen. Ab und zu zuckte das Tier noch, während es von den Muskeln in Richtung Magen gepreßt wurde. Medea rollte mit den Augen. »Bei den Menschen gibt es ein geflügeltes Wort«, sagte die stellvertretende Kommandantin. Sie gab vor, die Reaktion der Kommandeuse nicht bemerkt zu haben. »›Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muß der Prophet zum Berge gehen.‹« »Ich verstehe«, log Medea und fragte sich, was diese Worte zu bedeuten hatten. »Das hatte ich nicht anders erwartet«, sagte Beverly und lächelte dünn.
13. Kapitel
Gabriella hörte eine Stimme. Zuerst erkannte sie sie nicht und fragte sich benommen, wo sie war, doch dann kehrte langsam die Erinnerung zurück. Sie lag rücklings auf dem Boden und lauschte dem Zwitschern der Vögel, entsann sich verträumt an das Camp in Maine, damals, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Sie spürte klamme Kälte, und ihr Rücken schmerzte. Sie fühlte sich nicht etwa ausgeruht, sondern völlig zerschunden. Wie jedesmal nach den letzten Nächten. »Kommen Sie, Mädchen«, sagte der Mann vor ihr. Er trug einen militärischen Kampfanzug und stemmte die Hände in die Hüften. »Wird Zeit, in die Wirklichkeit zurückzukehren und aufzustehen.« Gabriella richtete sich auf und gähnte. Im ersten grauen Licht der Morgendämmerung waren nur die Konturen des Lagers zu erkennen. Überall um sie herum sah sie die schemenhaften Gestalten von Männern und Frauen, die ihre Schlafsäcke zusammenrollten, die AK 47- und Uzi-Maschinenpistolen reinigten und Kaffee kochten. Kellys Zelt stand einige Meter entfernt im Nebel. Gabriella stemmte sich in die Höhe, packte ihre Sachen und gesellte sich zu den anderen, die bereits am Feuer saßen. Ein kräftiger Mann mit langen Narben im Gesicht reichte ihr stumm eine volle Tasse. Sie nahm sie und dachte über ihre neue Situation nach. Soweit sie wußte, befand sie sich irgendwo in der Republik Irland. Ihren genauen Aufenthaltsort kannte sie nicht. Wie überall auf der Insel war das Land grün und ständig naß von
Nebel und Regen; bewaldete Hügel grenzten an ausgedehnte Torfmoore. Die wenigen Bauern, denen sie begegneten, wirkten wie Leute aus einer anderen Zeit. Sie schenkten den IRA-Kämpfern überhaupt keine Beachtung, sondern übersahen sie einfach. Doch wenn sie darum gebeten wurden, stellten sie den Rebellen eine Unterkunft zur Verfügung und gaben ihnen Eier und sogar ein wenig Schinken, wenn sie welchen entbehren konnten. Gabriella fragte sich, ob jene Bauern die IRA auch vor der Ankunft der Visitors unterstützt hatten. Sie zweifelte nicht daran, daß es sich bei vielen von ihnen um Sympathisanten handelte – obgleich die Terroranschläge auch von der irischen Regierung verurteilt worden waren. Aber in diesem Volk hatte der Haß auf alles Englische eine lange und nicht unbegründete Tradition. Jetzt aber waren selbst viele Engländer dankbar für die Existenz der IRA, denn sie kämpfte ebenfalls gegen die außerirdischen Invasoren. Man erzählte sich Witze, daß die Engländer in ihrer unendlichen Weisheit die Bildung der Guerillaarmee provoziert hätten, weil sie eben gewußt hatten, daß im späten zwanzigsten Jahrhundert die Visitors kommen würden. Diese harten und an Entbehrungen gewöhnten Männer und Frauen stellten tatsächlich eine beachtliche Streitmacht dar, und bisher war es den Echsenwesen noch nicht gelungen, die IRA entscheidend zu schlagen. Andererseits aber: Die Fremden aus dem All verteidigten ihre Position und machten sich auch in Irland daran, ihre Macht auszuweiten. Und ihr Mutterschiff schwebte nach wie vor über Dublin. »Guten Morgen, Gabriella.« Die junge Frau drehte sich um und sah Subhash, der ebenfalls einen Kampfanzug samt Mütze trug. Sie erwiderte seinen Gruß.
»Guten Morgen euch beiden«, sagte Kelly und trat auf sie zu. »Ich möchte Sie jemandem vorstellen.« Gabriella und Subhash zuckten mit den Schultern und folgten ihm zu seinem Zelt. Nachdem Kelly die Plane beiseite geschoben hatte, krochen sie hinein. Gabriella sah einen dunkelhaarigen Mann mit schwarzem Vollbart, der im Schneidersitz auf dem Boden saß. Seine Aufmachung unterschied sich nicht von der Kleidung der anderen IRA-Kämpfer, und sein Gesicht war auffallend schmal, fast hohlwangig. Er hatte die gleiche braune Haut wie Subhash, doch im Gegensatz zu ihm wirkte er abweisend, irgendwie finster. »Das ist Colonel Abdul Alhazred«, sagte Kelly. »Während der vergangenen Monate hat er uns geholfen, die Neuen auszubilden.« »Alhazred.« Subhash reichte dem Araber die Hand. »Es ist mir eine Ehre, einen so berühmten Mann kennenzulernen.« Auch Gabriella hatte schon von ihm gehört. Man bezeichnete ihn gemeinhin als einen Drahtzieher des internationalen Terrorismus, und in mindestens zehn Staaten stand sein Name ganz oben auf der Fahndungsliste. Seit einiger Zeit hatte man schon gemunkelt, er halte sich irgendwo in Irland auf, doch die britischen Behörden glaubten offenbar, jene Gerüchte seien ohne Hand und Fuß. »Vielleicht sogar zu berühmt«, erwiderte Alhazred in akzentfreiem Oxford-Englisch. »Mein Ruf reicht inzwischen vom Jordan bis nach Irland – was recht gefährlich sein kann. Insbesondere dann, wenn es um ebenso wichtige wie geheime Dinge geht.« »Sie unterschätzen sich«, warf Gabriella ein. »Ihr Name ist nicht nur in Europa und im Nahen Osten bekannt, sondern auch jenseits des Großen Teichs. In Amerika wurde oft über Ihre Aktionen berichtet.«
»Ja, die amerikanischen Medien haben mich richtig ins Herz geschlossen. Ihr Amerikaner seid dauernd auf der Suche nach irgendwelchen Bösewichtern, um sie zu brandmarken, nicht wahr?« Alhazred lächelte jetzt und zeigte zwei Reihen strahlend weißer Zähne. »Übrigens: Sie sind mir ebenfalls nicht unbekannt, Miß Nicks. Man feiert Sie in der ganzen Welt als die junge, hübsche Frau, die den Visitors entwischte.« »Ohne Shree Subhash hätte ich es nicht geschafft«, entgegnete Gabriella. »Ah, der mutige Mr. Subhash. Die Welt braucht mehr Leute wie ihn. In diesen schwierigen Zeiten müssen wir unsere nationalen und religiösen Differenzen vergessen – das gilt selbst für mich. Angesichts der Gefahr, die von den fremden Invasoren ausgeht, spielt mein Kampf gegen den Zionismus keine Rolle mehr. Es gilt, ein großes Bündnis zu schließen und dabei auch mit den Leuten zusammenzuarbeiten, die bis vor kurzem noch als erbitterte Feinde galten. Meinen Sie nicht auch?« »Ich bin völlig Ihrer Meinung«, bestätigte Gabriella. »Und doch sind die meisten Menschen nicht bereit, zu den Waffen zu greifen«, fuhr Kelly fort. »So wird es immer sein: Nur eine kleine Minderheit kämpft für das Wohl aller.« Gabriella fragte sich, ob Männer von diesem Schlage dazu neigten, alle Probleme mit Waffengewalt zu lösen – ganz gleich, wie die internationale Lage beschaffen sein mochte. Sie schienen in Uniform oder Kampfanzug zur Welt gekommen zu sein. »Mr. Alhazred«, sagte sie, »glauben Sie, es gibt eine Siegeschance für uns?« »Die gibt es immer«, erwiderte Alhazred im Brustton der Überzeugung. »Wenn wir nicht daran glaubten, hätte es wohl kaum einen Sinn, Widerstand zu leisten, oder?« Gabriella nickte.
»So, ich glaube, es wird Zeit, Ihre Ausbildung fortzusetzen.« Alhazred stand auf und bedeutete den anderen mit einem Wink, das Zelt zu verlassen. Draußen liefen bereits die ersten Soldaten über die Hindernisstrecke. Gabriella und Subhash schlangen sich die Riemen ihrer Uzi-Maschinenpistolen um die Schultern und schlossen sich den Exerzierenden an. Ein weiterer harter Trainings tag begann. Er war bestimmt der Mühe wert, wenn er sie in die Lage versetzte, die Visitors zu vertreiben. Und selbst wenn ihr Kampf gegen die Außerirdischen letztlich in einer Niederlage enden sollte: Gabriella und ihre Kameraden waren entschlossen, ihr Leben zu opfern, wenn das anderen den Sieg über die Invasoren aus dem All ermöglichen würde.
14. Kapitel
Nigel lag auf einer schmalen Pritsche, wälzte sich unruhig hin und her und fand keine Ruhe. Er bezweifelte, daß ihn die Visitors lebend davonkommen ließen, aber er verdrängte diesen Gedanken und konzentrierte sich statt dessen auf die Hoffnung, daß Gabriella nicht in die Hände – oder Klauen – der Echsenwesen gefallen war. Er hatte der Kommandeuse Medea versprochen, mit ihr zu kooperieren, wenn sie Gabriella schonte, aber wenn es irgendeine Möglichkeit gab, ihr die Hilfe zu verweigern, so wollte er sie wahrnehmen. Doch wenn die Visitors damit drohten, Gabby zu foltern… Bei dieser Vorstellung regte sich neuerliches Entsetzen in Nigel. Wenn sie sich gar nicht an Bord des Mutterschiffes befand, brauchte er sich in dieser Hinsicht keine Sorgen zu machen. Aber wenn sie wirklich die Gefangene der Außerirdischen war: Warum hatte Medea sie dann nicht zu ihm gebracht, um ihm einen eindeutigen Beweis zu liefern? Ein Hologramm genügte nicht; dreidimensionale Projektionen dieser Art ließen sich bestimmt manipulieren. Gerade die Tatsache, daß die Visitors eine solche Möglichkeit gewählt hatten, um ihn unter Druck zu setzen, machte ihn mißtrauisch. Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer wußte er, daß die Kommandeuse nur bluffte. Mit der Folter konnte sie nichts erreichen, und bisher blieb selbst das Konvertierungsverfahren erfolglos. Nigel verzog das Gesicht voll heimlichem Triumph. Vielleicht war seine Lage nicht annähernd so schlecht, wie er zunächst angenommen hatte. Ein seltsam süßer Duft stieg ihm in die Nase, ein Geruch, den Nigel zuvor nicht bemerkt hatte. Versuchten die Visitors jetzt,
ihn mit Gas zu vergiften? Ganz gleich, um was für eine Substanz es sich handelte: Sie schien keine schädlichen Wirkungen auf ihn zu haben. Das befürchtete Brennen in den Lungen blieb aus. Nigel zwang sich zu einer fatalistischen Einstellung: Wenn die Echsen beschlossen, ihn mit toxischen Dämpfen umzubringen, so konnte er nichts dagegen unternehmen. Er hätte es sogar begrüßt. Der Tod nach einer nur kurzen Leidenszeit – und dann konnte er nicht mehr zu einem Verräter werden. Außerdem: Bestimmt würden ihn die Visitors in jedem Fall töten. Früher oder später. Ob er ihnen half oder nicht. Der sonderbare Geruch wurde intensiver und erinnerte ihn an den herrlichen Duft der Magnolien in New Orleans, wo er zusammen mit Gabby vor einem Jahr Urlaub gemacht hatte. Er entsann sich an blühende Gärten, an das glückliche Lächeln Gabriellas, ihren warmen und geschmeidigen Leib… Nigels Zelle schien sich auf sonderbare Weise zu verändern, während die herrlich duftenden Dunstschwaden wie Nebel wallten. Nigel stemmte sich auf den Ellenbogen in die Höhe, zwinkerte und sah sich verwirrt um. Die Wände rückten wie durch Geisterhand beiseite, und eigentümliche Lichtreflexe tanzten darüber hinweg. Das Grau der kleinen Kammer verwandelte sich in ein Muster aus pastellfarbenen Tönen. Blaue und grüne Streifen krümmten sich und flossen ineinander. Gelbe, orangefarbene und rote Punkte blähten sich auf und zerplatzten in einem bunten Wirbel. Das Schimmern, Glänzen und Funkeln fesselte seine Aufmerksamkeit, und Nigel konnte seinen Blick kaum davon lösen. Er genoß sowohl das prächtige Gleißen als auch den süßlichen Geruch, der ihn irgendwie zu beruhigen und seine Sorgen zu lindern schien. Er fühlte sich leicht und beschwingt, heiter und ausgeglichen. Gedanken an mögliche Gefahren lagen ihm ferner als jemals zuvor.
Die Tür der Zelle glitt auf, und eine schlanke Gestalt trat ein. Das farbige Glühen verblaßte schlagartig und wich einem diffusen Zwielicht. Nigel konnte nicht sehen, wer sich ihm näherte. Doch das Profil des Gesichts erschien ihm vertraut. Eine Frau. »Hallo«, sagte er, und seine Stimme klang sonderbar sanft. Tief in sich spürte er die dumpfe Vibration von Erregung. Die Frau gab keine Antwort, kam durch den Duftnebel auf ihn zu, langsam und verführerisch. Neben der Koje blieb sie stehen – die Personifizierung femininer Schönheit und weiblicher Anmut. Nigel erkannte sie. Es war Gabriella. »Das ist unmöglich«, entfuhr es ihm. »Du bist nicht real…« Schweigend beugte sich die Frau vor und strich ihm mit ihren langen Fingernägeln über die Brust. »Es ist alles in Ordnung«, hauchte sie. »Nein«, erwiderte Nigel gedehnt und schnitt eine gequälte Grimasse. »Ich ertrage es nicht, daß sie dich ebenfalls erwischt haben…« »Ich bin keine Gefangene, Nigel«, erwiderte Gabriella. »Die Visitors sind unsere Freunde, und deshalb helfe ich ihnen. Du solltest ebenfalls mit ihnen zusammenarbeiten.« »Was?« Nigel glaubte, sie falsch verstanden zu haben. Er war so müde, daß er Mühe hatte, sich auf Gabbys geflüsterte Worte zu konzentrieren. »Du wirst sehen, Nigel. Die Visitors sind unsere Freunde. Sie versuchen nicht, uns Menschen zu unterwerfen, wie die Terroristen behaupten.« »Die Terroristen?« »Ja. Die IRA gehört zu ihren erbittertsten Feinden. Das ist allgemein bekannt.« Nigel war in der sicheren Überzeugung aufgewachsen, daß es sich bei der IRA um eine Verbrecherbande handelte.
Andererseits aber kämpfte sie tapfer gegen die Visitors, nicht nur auf der irischen Insel, sondern auch in England. Es hieß sogar, sie werde selbst in Schottland und Wales aktiv. Außerdem wußten alle, daß ihre Unternehmungen gegen die Fremden aus dem All weitaus erfolgreicher waren als die Aktionen des britischen Widerstandes. Bedeutete das, daß die englischen Widerstandskämpfer ebenfalls Kriminelle waren? Nigel erinnerte sich daran, daß Subhash mehrmals vorgeschlagen hatte, ein Bündnis mit der IRA einzugehen. Er selbst hatte ebenfalls eine solche Möglichkeit erwogen und den Iren vor seiner Gefangennahme Einsicht in geheime Berichte gewährt. Eine Zusammenarbeit mit Terroristen! Sein Vater hätte ihn verachtet. »Vater«, murmelte er. »Dein Vater war so klug, sich ebenfalls für eine Unterstützung der Visitors zu entscheiden«, sagte Gabriella und strich ihm übers Haar. »Im Oberhaus erinnern Demagogen ans Vichy-Frankreich, an den großen Sieg im Krieg um die Falkland-Inseln und die ruhmreiche Geschichte Großbritanniens, doch dein Vater wurde zu einer Stimme der Vernunft und setzt sich dafür ein, mit den Visitors Frieden zu schließen und ein Kooperationsabkommen mit ihnen zu treffen.« »Nein.« Aber Nigel wußte, daß Gabby die Wahrheit sagte. Sein Vater trat tatsächlich für diese Dinge ein. Die Propaganda der Außerirdischen hatte in seinem Denken ein verzerrtes Bild von der Wirklichkeit geschaffen. »Er hat keine Ahnung, was wirklich vor sich geht. Wenn er Bescheid wüßte…« »Willst du etwa behaupten, dein Vater, der sein ganzes Leben im Dienste der Krone verbrachte, irre sich und die IRATerroristen hätten recht?« Diese Frage beschrieb besonders drastisch Nigels Problem. An diesem moralischen Dilemma litt er bereits seit vielen
Monaten, seit er sich der britischen Widerstandsbewegung angeschlossen hatte. Wußte sein Vater um Dinge, über die sein Sohn nicht informiert war – und die Nigels Einstellung in Hinsicht auf die Visitors verändern könnten? Nigel begann zu zittern und versuchte, die Gedanken zu verdrängen, die seinen inneren Konflikt verstärkten. Er wollte sich nur über die Gegenwart der Frau freuen, die er liebte, sie in die Arme nehmen und den Krieg auf der Erde vergessen. Sie schwebten hoch über jener Welt, befanden sich weit draußen im All, in einem duftenden Refugium, das alle Gefahren von ihnen fernhielt. An diesem Ort gab es keinen Platz für Politik. »Komm zu mir, Liebster«, sagte Gabby leise. Er streckte die Hand nach ihr aus, und unter den Fingerspitzen spürte er samtene Haut. Nigel vergaß alles andere, als er die Augen schloß und einschlief.
15. Kapitel
Gabriella gegenüber verhielt sich Subhash immer wie ein perfekter Gentleman, und darauf reagierte die junge Frau mit großer Erleichterung. Zwar war sie ihm sehr dankbar, doch sie liebte Nigel noch immer. Sie konnte sich einfach nicht mit der Tatsache abfinden, daß er tot war – obgleich sie sich immer wieder an jenen schrecklichen Abend erinnerte, an das Zischen und Fauchen der Laserstrahlen, an Nigels gebrochenen Blick. Irgendein Teil ihres Wesens klammerte sich an die Hoffnung, daß er noch lebte. Es war absurd, und doch konnte sie sich nicht dazu durchringen, seinen Tod zu akzeptieren. Sie vermutete, daß sich Subhash in sie verliebt hatte. Aber vielleicht, dachte sie skeptisch, irre ich mich mit dieser Einschätzung. Er begegnete ihr mit ausgesuchter Höflichkeit und schien sich verpflichtet zu fühlen, sie zu schützen, doch abgesehen davon wahrte er eine gewisse Distanz. Er saß neben ihr auf dem harten Boden, und in der Ferne hörte Gabriella das Blöken von Schafen. Sie sahen Alhazred zu, der die Komponenten einer Zeitbombe zusammensetzte. Lieber Himmel, fuhr es der jungen Frau durch den Sinn, wenn mich jetzt meine Freunde in Philadelphia sehen könnten… Ich treibe mich mit Terroristen und kaltblütigen Mördern herum, so als seien es die ehrenwertesten Leute der Welt. Als die Lektion vorüber war, wandte sich Kelly an sie. »Morgen brechen wir auf«, sagte er. »Einige Kilometer von hier gibt es ein Schloß, das uns von einem Freund zur Verfügung gestellt wurde. Dort setzen wir eure Ausbildung einige Tage lang fort und bereiten uns dann auf die nächste Aktion gegen die Visitors vor.«
Die gut dreißig Widerstandskämpfer, die sich um Kelly versammelt hatten, brummten zustimmend, und einige von ihnen lächelten erfreut. Morgen würden sie in einem Schloß unterkommen und nicht mehr auf dem Boden zu schlafen brauchen. Gabby hatte sich inzwischen an die Nächte im Freien gewöhnt und stellte zufrieden fest, daß sie bereits abgehärtet war – ein Ergebnis des entbehrungsreichen Lebens der vergangenen Wochen. Plötzlich sprang einer der Soldaten auf. »Ein Flugboot!« rief er. Innerhalb von einer Sekunde waren alle auf den Beinen und gingen in Deckung, als die Kampffähre der Visitors heranschwebte. Blaue Blitze aus konzentrierter Energie lösten sich vom spitz zulaufenden Bug und zuckten heiß über den Boden. Dichter Rauch wallte, und Gabriella hustete und vernahm einen gellenden Schrei. Der beißende Qualm trieb ihr Tränen in die Augen, und in den dunklen Wolken konnte sie weder Subhash noch Kelly sehen. Rasch streifte sie sich den Riemen der Maschinenpistole vom Arm und tastete nach dem Abzug der Uzi. Das Shuttle der Außerirdischen schwebte einige Meter über dem Camp, und der Bordschütze feuerte auf die hin und her stürmenden IRA-Kämpfer, die verzweifelt versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Eine blaue Flamme erfaßte Alhazreds Zelt und ließ nur Asche davon übrig. Gabriella wich zurück, wandte sich um und lief in Richtung der Hügel, die sich jenseits des Lagers erhoben. Aus den Augenwinkeln sah sie einen Mann, der eine große Tasche fallen ließ und sich auf und davon machte. Andere schossen auf das Flugboot, doch die Kugeln prallten wirkungslos von der weißen Panzerung ab. Gabriella beschloß, irgend etwas zu unternehmen. Sie blickte sich um und sah einen großen abgestorbenen Baum mit breitem Geäst. Sie lief darauf zu, kletterte am Stamm empor
und beobachtete dabei das nahe Heck des Flugbootes. Einige Sekunden später balancierte sie auf einem hohen Ast – und stieß sich ab. Tief unter sich sah sie Rauchschwaden, die träge über den Boden drifteten. Einige Augenblicke lang fürchtete sie, sich verschätzt zu haben und auf steiniges Geröll zu fallen, doch dann berührten ihre Hände eine der Kufen des Shuttles. Sie schloß die Finger darum, zog sich langsam in die Höhe und stützte die Füße an einem Flankenvorsprung ab. Dicht vor ihr befand sich die seitliche Luke des Flugbootes. Gabriella baumelte hin und her und versuchte, ihre Uzi auf das Ziel zu richten. »Gabriella!« rief Subhash von unten. Er konnte sie jetzt sehen, denn der größte Teil des Qualms hatte sich verzogen. Die junge Frau legte den Sicherungsbügel um, hob die Maschinenpistole und schoß auf die Luke. Die Kugel sirrte als Querschläger davon und ließ nur winzige Kratzer im weißen Stahl zurück. Ein zweiter Feuerstoß blieb ebenfalls ergebnislos. Doch der Pilot des Shuttles wurde nun auf Gabriella aufmerksam und betätigte die Steuerung: Das Flugboot neigte sich hin und her. Gabriella war entschlossen, sich nicht abschütteln zu lassen. Sie hakte den einen Arm unter die Kufe, den anderen darüber und hielt die Uzi in beiden Händen. Das Zittern und Schwanken der Kampffähre wurde immer stärker, und Gabriella schoß erneut. Diesmal trafen die Geschosse nur einige Zentimeter vom Rand der Luke entfernt auf die Panzerung der Außenhülle. Wenn es ihr trotz der Manöver des Piloten gelang, genauer zu zielen… Der Visitor an den Kontrollen versuchte es mit einer neuen Taktik. Er ließ das Shuttle jäh durchsacken, dem Boden entgegenfallen und fing es dicht darüber ab. Gabriella riß
erschrocken die Augen auf. Das Gewicht des Flugbootes konnte sie innerhalb eines Sekundenbruchteils zerquetschen… Das Shuttle sank noch tiefer. Die Besatzung schenkte den IRA-Kämpfern nun keine Beachtung mehr, sondern richtete ihre Aufmerksamkeit allein auf die Frau, die sich an der einen Kufe festgeklammert hatte. Gabriellas Zehenspitzen berührten den Boden, und aus einem Reflex kniff sie die Augen zu. Doch offenbar befürchtete der Pilot eine Bruchlandung, denn er ließ das Flugboot wieder einige Meter aufsteigen. Die junge Frau nahm ihre Chance sofort wahr. Zum viertenmal betätigte sie den Auslöser ihrer Waffe, und die Kugeln trafen genau auf die schmale Fuge zwischen Luke und Außenhülle. Es knallte dumpf, und das Schott sprang ruckartig auf. Ein überraschter Visitor verlor den Halt, stürzte in die Tiefe und hätte Gabriella fast mit sich gerissen. Sie gab ihm einen Tritt, als er an ihr vorbeifiel. Dann zog sie sich hoch, sprang und erreichte die kleine Schleuse. Sofort war sie wieder auf den Beinen und hob die Uzi. »Lassen Sie das, wenn Sie vermeiden wollen, daß ich Sie voll Blei pumpe«, sagte sie kalt zu dem Visitor vor ihr, der gerade seinen Laser aus dem Gürtelholster ziehen wollte. Der Außerirdische ließ sich nicht einschüchtern, aber als er nach der Waffe griff, begann die Maschinenpistole zu rattern. Die Geschosse bohrten sich ihm in die Brust und schleuderten ihn an eine summende Konsole hinter dem Sessel des Piloten. »Ist sonst noch jemand scharf darauf, zur Hölle zu fahren?« fragte Gabriella leise. Drei Visitors waren noch an Bord, doch keiner von ihnen wagte es, die junge Frau herauszufordern. »Werfen Sie die Waffen weg«, wies Gabriella sie an.
Sie kamen der Aufforderung sofort nach, und scheppernd fielen die Laser auf harten Stahl. »Und jetzt zurück.« Sie wandte sich dem Piloten zu. »Landen Sie.« Das Echsenwesen vor den Kontrollen zögerte. »Haben Sie nicht gehört?« fauchte Gabriella. Der Pilot gab ein resigniertes Zischen von sich und berührte einige glühende Sensorpunkte auf der Konsole. Langsam sank die Kampffähre dem Boden entgegen.
16. Kapitel
Als Gabriella ihre Gefangenen aus dem Shuttle führte, begannen die IRA-Kämpfer zu jubeln. Jetzt begriff die junge Frau selbst erst richtig, was sie gerade getan hatte. Das Herz pochte ihr bis zum Halse empor, und ihre Knie begannen zu zittern, doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Es grenzte an ein Wunder, daß sie mit dem Leben davongekommen war. Gleichzeitig regte sich ein Gefühl des Triumphes in ihr: Jetzt hatte sie bewiesen, daß sie es verdiente, in den Reihen der IRA zu kämpfen – oder in denen der britischen Widerstandsbewegung, wenn es sie noch gab. Einige Männer griffen nach den Armen der Visitors und führten sie ab. Vor dem Hintergrund der grünen Hügel schien von ihren roten Uniformen ein besonderer Glanz auszugehen. »Gabriella«, sagte Subhash und schüttelte ihr die Hand. »Das war enorm mutig von Ihnen. So etwas habe ich noch nicht erlebt. Mir fehlen die Worte. Es war kaum zu glauben.« »Danke, Subhash«, erwiderte Gabriella rauh und so leise, daß er sie nur schwer verstehen konnte. Kelly eilte auf sie zu und strahlte. »Lieber Himmel!« brachte er bewundernd hervor. »Mir ist fast das Herz in die Hose gerutscht, als ich Sie beobachtete.« Gabriella lächelte. »Haben Sie noch nie etwas von Wonder Woman∗ gehört?« Die Männer lachten schallend, froh darüber, den überraschenden Angriff nicht nur abgewehrt, sondern sogar ∗
Wonder Woman: eine amerikanische TV-Serie, bei der es um eine Frau mit übernatürlichen Kräften geht – Anmerkung des Übersetzers
Gefangene gemacht und eine Kampffähre erobert zu haben. Ohne Gabriellas tapferes Eingreifen hätte die Attacke der Visitors in einer Katastrophe enden können. »Ausgezeichnet«, lobte auch Alhazred. »Sie sind eine wirklich gute Kämpferin, Miß Nicks.« Aufmerksam musterte sie den Araber. Vermutlich war er wenig an den Umgang mit weiblichen Partisanen gewöhnt, doch seine Anerkennung schien ehrlich gemeint zu sein. Immerhin hatte sie etwas fertiggebracht, wozu bisher nicht einmal die mutigsten Untergrundkämpfer in der Lage gewesen waren – hartgesottene Männer, die über weitaus mehr Erfahrung verfügten als sie. »Ihr Lob freut mich sehr«, erwiderte sie. »Schon seit einer ganzen Weile habe ich auf eine Möglichkeit gewartet, es den Visitors heimzuzahlen. Und diese gute Gelegenheit wollte ich nicht verpassen.« »Sie hat echt was auf dem Kasten!« rief ein Mann. Kelly und die anderen lachten. Nur Alhazred schwieg und musterte Gabriella mit einem durchdringenden Blick. »In der Tat«, bestätigte er langsam. »Und sie ist unsere größte Hoffnung.« Im Anschluß an diese Worte drehte er sich um und kehrte zu den schwelenden Resten seines Zeltes zurück. Die Männer wurden still und starrten Gabriella bewundernd und nachdenklich an. Auch Subhash schien sie jetzt aus einer neuen Perspektive zu sehen. Bisher war er als ihr Protege aufgetreten, aber sie hatte nicht nur ihm das Leben gerettet, sondern auch allen anderen. Gabriella lächelte und erinnerte sich plötzlich daran, daß sie beim Sportunterricht an der High School in Philadelphia nicht einmal in der Lage gewesen war, sich an einem Seil hochzuhangeln. Nach dem Löschen der Feuer rief Seamus Patrick Kelly die ganze Gruppe zusammen.
»Wir haben nun die Möglichkeit, die verdammten Reptilien im wahrsten Sinne des Wortes mit ihren eigenen Waffen zu schlagen«, sagte er. »Zunächst aber muß das Shuttle von hier verschwinden. Bestimmt stand es in Funkverbindung mit einer Einsatzzentrale der Visitors, und vermutlich gab der Pilot in regelmäßigen Abständen seine Position durch. Daher sollten wir eine der gefangenen Echsen zwingen, die Kampffähre mit einigen unserer Jungs an Bord zum Schloß zu fliegen. Die anderen machen sich zu Fuß auf den Weg. Wir treffen uns morgen.« »Und wer sind die Glücklichen, die sich den langen Marsch sparen können?« fragte der kräftige Mann mit zernarbtem Gesicht. »Das liegt ganz bei Ihnen«, erwiderte Kelly. »Wir stimmen ab.« Jeder IRA-Kämpfer notierte einen Namen, und anschließend wurden die Zettel in einem Hut gesammelt. Kelly übernahm die Auszählung und sah nach einigen Minuten auf. »Dreiundzwanzig Stimmen für Gabriella Nicks«, sagte er ernst. Die Männer jubelten. »Und in aller Bescheidenheit: sieben für mich.« »An Bord ist noch Platz für eine dritte Person!« rief jemand. »Wer soll Sie und Miß Nicks begleiten?« Viele Stimmen murmelten durcheinander, aber als Kelly die Hand hob, wurde es wieder still. »Ich glaube, diese Entscheidung sollte unsere Heldin treffen«, sagte er. »Ohne sie hätten wir das verdammte Ding überhaupt nicht.« Die Männer nickten und sahen sie erwartungsvoll an. Gabriella überlegte unsicher. »Wir nehmen Shree Subhash mit«, sagte sie nach einer Weile und hoffte, die IRA-Kämpfer damit nicht zu verärgern.
Die schienen ihre Wahl zu akzeptieren. Zwar hatten Subhash und sie bis vor kurzem als Außenseiter gegolten, doch nach den Ereignissen dieses Morgens waren sie über jeden Zweifel erhaben. Gabriella freute sich über diese Veränderung, erinnerte sich aber an ein Problem, das es noch zu lösen galt. »Wir brauchen den Piloten, um das Shuttle zu fliegen«, stellte sie fest. »Doch was ist mit den beiden anderen Visitors? Was soll mit ihnen geschehen, Kelly?« »Sie nützen uns nichts«, entgegnete er ruhig. »Und deshalb müssen wir sie uns vom Halse schaffen.« »Sie wollen sie… umbringen?« fragte Gabriella erschrocken. Die Gelassenheit, mit der Kelly vom Tod der beiden Gefangenen sprach, bereitete ihr ein dumpfes Unbehagen. »Aber dann sind wir ja wirklich nicht besser als die Visitors.« »Vielleicht haben Sie recht«, sagte Kelly. »Aber was sollen wir denn sonst mit ihnen machen? Wir können sie nicht mitnehmen. Mit ihnen kommen wir nur langsam voran, und außerdem besteht dauernd die Gefahr, daß sie fliehen. Wenn sie entkommen und von einer Visitor-Patrouille gefunden werden, sind wir erledigt. Begreifen Sie das denn nicht?« Gabriella wußte natürlich, daß Kelly recht hatte, doch sie war nicht bereit, ebenfalls die grausamen Methoden der Außerirdischen einzusetzen. »Und wenn ich die Verantwortung für sie übernehme?« »Was sagen Sie da, Mädchen?« Kelly drehte den Kopf zur Seite und starrte sie groß an. »Sie haben mich richtig verstanden. Überlassen Sie die Gefangenen mir. Vielleicht können sie uns doch irgendwie nützlich sein.« Kelly schwieg, nahm seine Brille ab und putzte umständlich die Gläser. Nach einigen Sekunden erwiderte er: »Wie stellen
Sie sich das vor? Wie wollen Sie allein zwei Echsenwesen bewachen, die vielleicht nicht einmal Schlaf brauchen?« »Ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen – um mein Gewissen nicht mit ihrem Tod zu belasten.« »Sie haben bereits zwei Visitors ins Jenseits geschickt.« »Weil mir keine andere Wahl blieb.« Diese Unterscheidung schien Kelly zu verwirren. Sicher war es ziemlich lange her, seit er zum letztenmal mit derart idealistischen Vorstellungen konfrontiert worden war. Er wirkte sehr nachdenklich, als er die Brille aufsetzte. »Ich überlege es mir«, sagte er und ging fort. »Danke«, rief Gabriella ihm nach. Solange er sich ihren Vorschlag durch den Kopf gehen ließ, blieben die Visitors am Leben. Und darauf kam es ihr an.
17. Kapitel
Eine Frau trat aus der Zelle von Nigel Smythe-Walmsley. Sie sah noch einmal zu dem bewußtlosen Mann auf der Pritsche zurück, bevor die Tür zuglitt. Dann drehte sie sich um und ging direkt in den Kontrollraum des Mutterschiffes, wo Medea auf sie wartete. Ein hintergründiges Lächeln zeigte sich in dem hageren Gesicht der Kommandeuse, und sie gab ein zufriedenes kehliges Schlangenzischen von sich. »Wissen Sie, Beverly – es könnte wirklich klappen«, sagte sie. Die stellvertretende Kommandantin griff unter ihr Kinn, löste die menschliche Maske und nahm sie ab. Noch vor wenigen Sekunden hätte man sie für Gabriella Nicks halten können. In diesem Zusammenhang fiel ihr wieder ein, daß sie ein wenig beleidigt gewesen war, als Nigel meinte, sie habe zugenommen. Glücklicherweise hatte er wegen der betäubenden Wirkung des Duftgases keinen Verdacht geschöpft. Beverly nahm sich vor, zwischen den Hauptmahlzeiten keine leckeren Mäuse mehr zu verschlingen – ein geringes Opfer, wenn es darum ging, die Herrschaft über ganz Großbritannien zu erringen. »Ich habe zu keinem Zeitpunkt an dem Erfolg meines Plans gezweifelt«, erwiderte sie. »Nigels Tod brachte die Widerstandsbewegung dazu, sich um die junge Frau zu kümmern. Und beim Klonen von Smythe-Walmsley kam es zuvor zu keinen Problemen. Um eine Redensart der Menschen zu benutzen: Wir haben zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.«
»Was einigen unserer Soldaten das Leben kostete«, zischte Medea spitz. »Vergessen Sie nicht die Zerstörung des RebellenHauptquartiers«, konterte Beverly. »Dabei führte uns Gabriella direkt zum Ziel. Das stimmt doch, oder?« »Wir haben einige Widerstandskämpfer getötet und ein Gebäude in Schutt und Asche gelegt, aber die Leichen von Ian, Subhash und Gabriella Nicks konnten nicht gefunden werden.« »Die Suchgruppe entdeckte mehrere bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Körper«, hielt ihr Beverly entgegen. »Daher müssen wir davon ausgehen, daß die drei Menschen ebenfalls ums Leben kamen.« »Eine Hoffnung, weiter nichts«, sagte Medea scharf. »Nachdem es Ihnen gelungen ist, Nigel zu konvertieren, weil er Sie für Gabriella Nicks hält, schicken wir ihn als unseren Agenten in den Einsatz. Doch wenn er der echten Gabriella begegnet, durchschaut er alles, und dann stehen wir wieder am Anfang.« »Das halte ich für recht unwahrscheinlich«, entgegnete Beverly. Aber ganz sicher war sie nicht. Schon bei der bloßen Vorstellung, daß ihnen die junge Frau doch noch einen Strich durch die Rechnung machen könnte, wurde sie wütend. »Vielleicht revidieren Sie Ihre Einschätzung, wenn ich Ihnen mitteile, daß eine unserer Kampffähren vermißt wird«, sagte Medea. »Gewisse Verluste lassen sich wohl kaum vermeiden. Außerdem: Was hat das mit Gabriella zu tun?« »Das will ich Ihnen zeigen«, sagte Medea und wandte sich der Kommandokonsole zu. Als ihre Finger über einige Sensorpunkte tasteten, bildete sich ein Hologramm. Die dreidimensionale Darstellung zeigte das Innere eines VisitorShuttles. Deutlich war der Pilot zu sehen. »Ich verstehe nicht ganz…«, meinte Beverly.
Die Kommandeuse gab keine Antwort und bedeutete ihr stumm, die Bilder weiter zu betrachten. Das Flugboot schwankte heftig, so als seien die Stabilisatoren ausgefallen. Maschinenpistolen ratterten, und Querschläger sirrten. Plötzlich öffnete sich die seitliche Luke, und der davorstehende Soldat verlor das Gleichgewicht und fiel nach draußen. Unmittelbar darauf sprang eine schlanke Gestalt in die kleine Schleuse. Gabriella Nicks! »Das ist… unmöglich«, brachte Beverly verblüfft hervor. »Ich glaube kaum, daß wir es mit einem Geist zu tun haben«, entgegnete Medea ironisch und betätigte wieder eine Taste. Das Hologramm flackerte und erlosch. »Eins steht fest: Solange sich Gabriella in Freiheit befindet, können wir Nigel nicht auf die Erde schicken.« »Das kann sie nicht allein geschafft haben«, entfuhr es Beverly, und sie blinzelte, so als habe sie Mühe, in die Wirklichkeit zurückzufinden. »Eine einzelne menschliche Frau, die eine unserer Kampffähren erobert? Das ist doch absurd!« »Erstaunlich, nicht wahr?« Zwar bedauerte Medea den Verlust des Shuttles, doch sie genoß die Verwirrung ihrer Stellvertreterin. Sie kannte Beverlys Ehrgeiz, aber sie war nicht bereit, ihr einfach das Kommando zu überlassen. Allerdings durften nicht erneut solche Fehler passieren, wie sie in Florida und im Südwesten Amerikas zu Niederlagen geführt hatten. Sie versuchte sich einzureden, daß sie selbst dabei keine Schuld traf, doch Diana, die oberste Kommandeuse der sirianischen Streitmacht, vertrat eine andere Ansicht. Medea ahnte, daß Beverly Diana ständig auf dem laufenden hielt. Nun, von diesem Zwischenfall würde sie wohl kaum Meldung machen – um zu vermeiden, sich selbst in Mißkredit zu bringen.
»Gabriella muß gefunden und eliminiert werden«, zischte Beverly. »Wo befand sich das Shuttle, als es die Rebellen kaperten?« »In Irland«, sagte Medea. »Wenn es nötig ist, suchen wir die ganze Insel ab und foltern die Bauern, wenn sie nicht bereit sind, uns Auskunft zu geben. Wir finden und erledigen sie.« »Bestimmt ist sie bereits geflohen«, überlegte Medea laut. »Im Gegensatz zu den meisten anderen Widerstandsbewegungen auf der Erde hat die IRA große Erfahrungen im Guerillakrieg. Gerade deshalb ist es so schwierig, ihre Aktivitäten zu überwachen.« »Spielt keine Rolle«, erwiderte Beverly aufgebracht. »Es handelt sich nur um einen Haufen stinkender Säugetiere.« »Sparen Sie sich doch das ideologische Gefasel, auch wenn es unsere Überlegenheit beweisen soll«, sagte Medea verächtlich. »Rassistisches Gekeife bringt uns nicht weiter. Es kommt darauf an, etwas zu unternehmen.« Beverly drehte langsam den Kopf und musterte die Kommandeuse mißtrauisch. »Dann halten Sie die Menschen also für eine gleichwertige Lebensform?« fragte sie leise. »Das habe ich nicht gesagt«, widersprach Medea. »Aber Sie plappern nur die offizielle Propaganda nach, wenn sie uns bei unserem Problem wahrhaftig nicht nützt. Ich habe bereits seit einer ganzen Weile mit den Wesen zu tun, die Sie abfällig als ›Säugetiere‹ bezeichnen, und deshalb weiß ich Bescheid.« »Meinen Sie die beiden Missionen, die in einem Fehlschlag endeten?« Der Sarkasmus in Beverlys Stimme ließ sich nicht überhören. Medea musterte sie ruhig und beherrschte sich. »Ja«, bestätigte sie nach einer Weile. »Ich habe tatsächlich versagt. Aber nur deshalb, weil ich den Feind in beiden Fällen unterschätzt habe. Ich bin bereit, aus diesen Erfahrungen zu
lernen. Und ich gebe Ihnen den Rat, sich in dieser Hinsicht ein Beispiel an mir zu nehmen.« »Dummes Gerede«, stieß Beverly wütend hervor. Sie griff nach ihrer menschlichen Maske, drehte sich auf den Absätzen um und verließ den Kontrollraum. Medea sah ihr nach und erwog kurz die Möglichkeit, die Disziplinlosigkeit ihrer Stellvertreterin gleich jetzt zu bestrafen, entschied sich dann aber dagegen. Nein, es war besser, eine günstigere Gelegenheit abzuwarten, um es der eingebildeten und langsam fett werdenden Beverly zu zeigen. Und anschließend würde sie kein Problem mehr darstellen.
18. Kapitel
Während des Fluges nach Kramden Castle kam es zu keinen Zwischenfällen. Die ganze Zeit über zielte die Mündung eines Lasers auf den Kopf des Piloten, und der Visitor versuchte keine Tricks. Weit und breit waren keine anderen Kampffähren der Visitors zu sehen. Als sie über das grüne, hügelige Land hinwegglitten, winkten ihnen einige der Bauern zu. Offenbar hatten sie bereits erfahren, daß es sich bei dem Shuttle um Beutegut der IRA handelte. Vor ihnen kamen die Türme und Erker des Schlosses in Sicht, dunkle Konturen, die sich vor einem grauen Himmel abzeichneten. Die Mauern der alten Festung erhoben sich auf einem breiten Felsvorsprung, und tief unten gischtete das Meer. »Landen Sie auf dem Innenhof«, wies Kelly den Piloten an. Der Visitor steuerte das Flugboot über die Zinnen des westlichen Wehrgangs hinweg. Zwei Männer sahen zu ihnen hoch. An den Mauern im Norden und Osten bemerkte Gabriella einige mit Segeltuchplanen bedeckte Stapel. Munitionsvorräte? überlegte sie. Die Kampffähre setzte so weich auf, daß Gabriella und die anderen nicht den geringsten Ruck spürten. Die provisorisch reparierte Luke wurde geöffnet, und Kelly führte den Piloten ins Freie. Gabriella und Subhash folgten ihm. Einer der auf dem Hof wartenden Männer näherte sich ihnen – ein vornehmer, gut sechzig Jahre alter Herr, der einen Tweedmantel trug. Der Wind zerzauste sein graues Haar. Der andere Mann zog einen Revolver und führte den Visitor ab.
»Dies ist also die junge Frau, die das Shuttle ganz allein unter ihre Kontrolle brachte«, sagte der Grauhaarige. »Eine erstaunliche Leistung. Wirklich bemerkenswert.« »Vielen Dank, Mister…« »Lassen Sie den Familiennamen einfach weg«, sagte Kelly. »Er möchte nicht, daß man seinen richtigen Namen erfährt – für den Fall, daß irgendwelche Spione in der Nähe sind, die ihre Ohren spitzen.« »Ich verstehe«, erwiderte Gabriella und reichte dem Herrn die Hand. Sie fragte sich, wie er seine Identität geheimhalten wollte, wenn er der Eigentümer dieses Anwesens war. Oder vertrat er nur den eigentlichen Schloßherrn? »Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Sir«, sagte Subhash mit der für ihn typischen Höflichkeit. »Ganz meinerseits, Mr. Subhash«, entgegnete der Angesprochene ebenso formvollendet. »Ich habe viel von Ihrer Arbeit in England gehört.« »Danke.« »Der Rest Ihrer Gruppe braucht sicher eine Weile, um hierherzugelangen. Wir haben also Zeit genug, uns besser kennenzulernen. Bitte folgen Sie mir.« Sie schritten durch einen Torbogen und betraten die große Schloßhalle. Ihr Begleiter meinte, die Diener könnten sich um die Dinge kümmern, die sie mitgebracht hatten. »Mir sind vorhin einige Segeltuchbündel aufgefallen«, sagte Gabriella, als sie an alten Gemälden vorbeiwanderten, die längst verstorbene Lords und Ladies zeigten. »Was hat es damit auf sich?« »Sie werden bald sehen, was sich unter den Planen verbirgt, meine Liebe. Jetzt sollten Sie sich erst einmal frisch machen. Und anschließend erwartet Sie eine warme Mahlzeit.« Zwar drückte sich ihr Führer betont freundlich aus, doch Gabriella zweifelte nicht daran, daß es sich bei seinen Worten
im Grunde um eine Anweisung handelte. Offenbar war er daran gewöhnt, Befehle zu erteilen, die sofort befolgt wurden. Nun, dachte die junge Frau, wenn er den richtigen Zeitpunkt für gekommen hält, wird er uns bestimmt zeigen, was unter den Planen versteckt ist. Sie beschloß, ihre Neugier im Zaum zu halten. Eine Bedienstete trat auf sie zu, eine alte Frau, die die Gäste nach oben führte, in getrennte Schlafzimmer. Der Raum, der für Gabriella bestimmt war, prangte in georgianischem Wandschmuck. Sie sah einen geradezu riesigen Spiegel und betrachtete den breiten Kleiderschrank aus lackiertem Holz. Im Nebenzimmer stand eine verschnörkelte Wanne, und Gabriella war dankbar für die Möglichkeit, ein heißes Bad zu nehmen. Hinterher kehrte sie ins Schlafzimmer zurück und stellte fest, daß ihre Sachen bereits ausgepackt waren und sorgfältig geordnet auf dem Bett lagen. Sie bemerkte auch ein leichtes Kleid und flache Schuhe. »Er scheint wirklich an alles zu denken«, sagte sie. Sie streifte sich das Kleid über, und es erstaunte sie schon nicht mehr, daß es genau paßte. Die Schuhe schienen neu zu sein und drückten ein wenig. Kurz darauf verließ sie ihr Quartier und suchte den großen Saal auf. Der Hausherr, Subhash und Kelly saßen bereits am langen Tisch und warteten auf sie. Sie standen höflich auf, als die junge Frau herankam. »Ich hoffe, Kalbfleisch schmeckt Ihnen, Miß Nicks«, sagte ihr Gastgeber. »Sehr sogar, danke.« Bevor das Hauptgericht aufgetragen wurde, gab es Linsensuppe, Geflügel und Wein. Sowohl die höfliche Konversation als auch die ruhige Atmosphäre entspannten Gabriella, und fast hatte sie das Gefühl, in eine andere Welt gewechselt zu sein. Man konnte kaum glauben, daß sie einen
erbitterten Kampf gegen außerirdische Lebewesen führten und das Schicksal der ganzen Menschheit auf dem Spiel stand. Nach dem Essen gab es süßen Kuchen, sie tranken Kaffee und setzten die Plauderei noch eine Zeitlang fort. »Bestimmt sind Sie alle sehr müde«, sagte der alte Herr schließlich. »Sie haben einen ziemlich anstrengenden Tag hinter sich.« »Und ob, Sir«, bestätigte Kelly. »Meine Güte, das war seit langem die mit Abstand beste Mahlzeit.« »Freut mich.« Er stand auf. »Ich begleite die junge Dame zu ihrem Zimmer.« Sie gingen nach oben. Subhash und Kelly wünschten Gabriella und ihrem Gastgeber eine gute Nacht, bevor sie sich zurückzogen. Die junge Frau blieb vor der Tür stehen, drehte sich zu dem grauhaarigen Mann um und dankte ihm. »Oh, Sie brauchen mich nicht Sir zu nennen«, sagte er und lächelte. »Wie wäre es mit ›Lord Kramden‹?« Er musterte sie amüsiert. »Nein, nein, meine Liebe, ich bin nicht Lord Kramden. Der war nur so freundlich, mir sein Schloß zur Verfügung zu stellen. In England wäre es nicht möglich, eine solche Festung als Quartier für Widerstandskämpfer zu benutzen; dort sind zu viele VisitorPatrouillen unterwegs. Hierher schicken die Außerirdischen zwar ab und zu Kampffähren, um die Bevölkerung der Insel einzuschüchtern, aber eigentlich scheinen sie sich nicht sonderlich für Irland zu interessieren.« »Ja, das meinte Mr. Kelly ebenfalls. Doch er glaubt auch, dieser Zustand sei nicht mehr von langer Dauer.« »Womit er vermutlich recht hat. Heutzutage darf man sich nirgends mehr in Sicherheit fühlen. Hoffen wir, daß unser Angriff auf die Echsenviecher – bitte entschuldigen Sie meine
Ausdrucksweise – erfolgt ist, bevor sie beschließen, sich hier genauer umzusehen.« »Ich soll Sie also weder ›Sir‹ noch ›Lord Kramden‹ nennen«, sagte Gabriella langsam und musterte den Mann vor ihr. »Wer sind Sie?« »Lord Smythe-Walmsley, meine Liebe. Ich wäre fast Ihr Schwiegervater geworden.«
19. Kapitel
Gabriella starrte den Schloßherrn groß an und fand erst nach einigen Sekunden die Sprache wieder. »Unfaßbar«, brachte sie unsicher hervor. »Da haben Sie zweifellos recht. Bestimmt hat Ihnen Nigel gesagt, ich sei gegen eure Hochzeit. Das war aber nur zu Anfang der Fall. Später änderte ich auch in diesem Punkt meine Ansicht.« Etwas leiser fügte der Lord hinzu: »Ich wünschte nur, mein Sohn könnte jetzt bei uns sein.« Bei den letzten Worten zitterte die Stimme von Lord SmytheWalmsley hörbar, und er senkte den Kopf. Gabriella trat auf ihn zu und umarmte ihn. Tränen schimmerten in ihren Augen. »Ach, Mädchen«, brachte der alte Mann hervor. »Ich war solch ein Narr. Wenn ich Sie nur früher kennengelernt hätte, dann wäre mir bestimmt eher klargeworden, daß Sie genau die richtige Frau für meinen Nigel sind. Ich wollte unbedingt, daß er eine Engländerin heiratet. Und das war nicht mein einziger Fehler. Es ging mir wirklich darum, um jeden Preis den Frieden zu erhalten, und deshalb vertrat ich im Parlament eine Beschwichtigungspolitik. Verurteilte den Kampf gegen die Visitors und riet zu Verhandlungen. Und was hat das gebracht? Nur Unheil und Leid.« »Nigels Tod tut mir sehr weh«, sagte Gabriella. »Natürlich«, erwiderte Lord Smythe-Walmsley. »Schließlich haben Sie ihn geliebt.« Er klopfte ihr auf die Schulter. »Wir müssen den Kampf fortsetzen. Nigel darf nicht umsonst gestorben sein.« »Ich denke oft an ihn…«
»Ebenso wie ich.« Der alte Mann seufzte. »Ich bin nur froh, daß seine Mutter nicht mehr lebt, so daß sie nicht erfahren mußte, auf welche Weise ihr Sohn umkam.« »Wir zahlen es den Visitors heim«, sagte Gabriella fest. »Wir jagen sie ins All zurück.« »Wenn alle Widerstandskämpfer so mutig wären wie Sie, hätten wir den Sieg bereits in der Tasche.« Gabriella lächelte nun doch ein wenig. »Vielen Dank, Lord Smythe-Walmsley.« »Übrigens: Wenn die anderen in der Nähe sind, sollten Sie mich Sir nennen. Ich mißtraue ihnen nicht etwa, aber seit ich in diese gräßliche Sache verwickelt wurde, habe ich es mir zum Prinzip gemacht, meine politische Identität von meinen Aufgaben im Widerstand zu trennen. Um unnötige Risiken zu vermeiden.« »Ich verstehe.« »Ich habe noch eine kleine Bitte.« Der Lord zögerte kurz. »Ich hoffe, Sie halten mich deshalb nicht für einen sentimentalen Narren…« »Nur zu.« »Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich mit ›Vater‹ ansprechen würden – vorausgesetzt, wir sind ganz unter uns.« Gabriella war gerührt. »Natürlich«, erwiderte sie. »Vater.« »Vielen Dank… Tochter.« Für einige Sekunden umspielte ein glückliches Lächeln die Lippen des alten Mannes. »Und jetzt gehen wir besser schlafen. Vielleicht träumen wir von Nigel – und von dem Leben, das Sie mit ihm hätten führen können.« Gabriella wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und nickte nur. Als sich der Lord von ihr abwandte und durch den Korridor davonschritt, betrat die junge Frau ihr Zimmer und schloß die Tür.
Am nächsten Morgen trafen die ersten IRA-Kämpfer ein. Als sie auf den Innenhof marschierten, stellte Gabriella erleichtert fest, daß die beiden gefangenen Visitors noch lebten. Kelly hatte also sein Wort gehalten. Gegen Mittag kamen auch die letzten Männer der Gruppe. Gabriella, der Lord, Subhash und Kelly gingen ihnen entgegen, um sie zu begrüßen. Die Soldaten murmelten leise, verstummten jedoch, als der Schloßherr an die Gruppe herantrat und sich räusperte. »England und Irland sind Erzfeinde gewesen«, sagte er, »doch nun sehen sich unsere beiden großen Nationen einem gemeinsamen Feind gegenüber. Die außerirdischen Invasoren bedrohen nicht nur uns, sondern die ganze Menschheit. Wir müssen unsere Kräfte vereinen und unsere Differenzen vergessen, um der Gefahr zu begegnen. Die Zeit ist gekommen, gemeinsam in den Kampf zu ziehen, um unsere Heimat zu retten und die Visitors von der Erde zu vertreiben. Und wir werden nicht eher ruhen, als bis der letzte von ihnen getötet oder ins All geflohen ist!« Die Männer jubelten, und anschließend gingen sie gemeinsam in die Küche, wo eine warme Mahlzeit bereitstand. »Eine zwar kurze, aber recht bewegende Ansprache«, wandte sich Kelly an Gabriella, als sie die Treppe an der Westwand wieder hochstiegen. »Ich frage mich nur, welche Haltung die Briten nach dem Krieg uns Iren gegenüber einnehmen werden.« »Wir müssen Vertrauen haben«, erwiderte Gabriella. »Nur darauf kommt es an.« Kelly nickte. »Vielleicht haben Sie recht. Doch nach all den Jahrhunderten der Unterdrückung fällt es Leuten wie mir schwer, in den Engländern Freunde zu sehen.«
»Mich freut es schon, daß Sie wenigstens vorübergehend bereit sind, diesen alten Zwist zu vergessen.« Kelly schwieg eine Zeitlang und deutete dann auf die beiden Gestalten in den roten Uniformen. »Was schlagen Sie in bezug auf Ihre Gefangenen vor?« »Meine Gefangenen?« entfuhr es ihr verblüfft. »Sie baten mich doch darum, sie Ihrer Verantwortung zu übergeben.« Die junge Frau dachte nach. »Wirklich schade, daß wir sie nicht gehen lassen können.« »Das ist völlig ausgeschlossen.« »Es gibt bereits einige Visitors, die sich unserem Standpunkt angeschlossen haben und zu uns übergelaufen sind. Vielleicht gelingt es uns, die beiden Gefangenen von unserer Sache zu überzeugen.« Kelly verzog skeptisch das Gesicht. »Möglich. Aber ich halte so etwas für zu riskant. Immerhin haben wir Krieg.« »Wie meinen Sie das?« »Ein Kriegsgefangener wird jede Möglichkeit nutzen, um zu fliehen. Vielleicht behaupten die beiden Außerirdischen nur, auf unsere Seite wechseln zu wollen. Um sich später bei der ersten Gelegenheit auf und davon zu machen und uns zu verraten.« Gabriella strich sich eine Strähne ihres vom Wind zerzausten Haars aus der Stirn. »Damit haben Sie wahrscheinlich recht«, gestand sie ein. »Ich verspreche Ihnen, vorsichtig zu sein.« »In Ordnung.« Kelly lächelte mitfühlend und zeigte sich wieder einmal als das genaue Gegenteil dessen, was sich Gabriella immer unter einem Terroristen vorgestellt hatte. Wenn sie mit ihm sprach, stellte sie häufig solche Überlegungen an. Sie erwiderte sein Lächeln.
»Ich kann unserem Gastgeber nur zustimmen«, sagte Kelly nachdenklich. »Wir müssen alles versuchen, um diese Welt von der Tyrannei der Visitors zu befreien.« Und, etwas leiser: »Vielleicht ist Ihre Strategie tatsächlich besser, um den Feind zu schlagen. Nun, warten wir’s ab.« »Ja«, sagte Gabriella und nickte. Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf das Segeltuch im Hof. »Ich frage mich wirklich, was sich unter diesen Planen verbirgt.« Kelly lächelte hintergründig. »Ich hoffe, dieses Geheimnis lüften wir eher als die Visitors.«
DRITTER TEIL
20. Kapitel
Sowohl im Saal des Oberhauses als auch in den Galerien herrschte große Aufregung. »Ich schlage vor«, rief Lord Fotheringay, »daß Kaspar, der kürzlich verstorbene Kommandeur der europäischen VisitorFlotte, in der Westminster Abbey bestattet wird, wie es einem Mann seiner Bedeutung zusteht. Außerdem beweisen wir unseren Freunden von den Sternen damit, daß die Briten zur Zusammenarbeit bereit sind.« Alle hatten eine solche Entwicklung geahnt. Als der Patriarch einer der vornehmsten Familien in ganz Großbritannien diesen Antrag jetzt aber wirklich stellte, brach in der ehrwürdigen Sitzungskammer von einem Augenblick zum anderen das Chaos aus. »Ich lehne Ihren Vorschlag kategorisch ab«, sagte Lord Smythe-Walmsley und stand auf. Seine weiße Perücke wirkte plötzlich wie ein Symbol der Reinheit. »Ausgerechnet Sie, Smythe-Walmsley?« erwiderte Fotheringay spöttisch und täuschte Erstaunen vor. »Während der vergangenen Monate der Gesetzlosigkeit sind Sie für Recht und Ordnung eingetreten. Immer wieder wiesen Sie uns darauf hin, wie wichtig es sei, mit den Visitors zu kooperieren. Und nun sprechen Sie sich gegen meinen Antrag aus? Das überrascht mich sehr.« »Sie können davon halten, was Sie wollen«, entgegnete Smythe-Walmsley gelassen. »Ich möchte es noch einmal fürs Sitzungsprotokoll wiederholen: Ich bin ausdrücklich gegen Ihren blasphemischen Vorschlag.«
»Sie sehen Blasphemie darin? Glauben Sie etwa, Gott für sich gepachtet zu haben?« In dem runden, roten Gesicht Lord Fotheringays zeigte sich ein selbstzufriedenes Grinsen. »Soweit ich sehe, haben Sie noch keine Flügel – ein Engel sind Sie also nicht. Hat Sie vielleicht der Papst geschickt?« Einige der anderen Lords lachten laut. »Ja, ich spreche von Blasphemie, und ich bin nicht der einzige, der diese Ansicht vertritt. Die Engländer werden nicht tatenlos zusehen, wenn Sie etwas entweihen, was seit vielen Jahrhunderten als letzte Ruhestätte für jene gilt, die unserer großen Nation einen besonderen Dienst erwiesen haben. Die Verwirklichung Ihres Vorschlags hätte nicht nur Unruhe in der Bevölkerung zur Folge, sondern käme der Kapitulation vor einer fremden Macht gleich. Und das geht entschieden zu weit.« In den Augen Fotheringays blitzte es verschlagen. »Wollen Sie etwa behaupten, die Visitors seien unsere Feinde? Das wäre Hochverrat, denn immerhin hieß sie das Parlament als Verbündete willkommen.« »Sie verdrehen meine Worte.« Von der Galerie ertönte Applaus. Zornig zupfte Lord Fotheringay an seinem Hermelinmantel. Er war einer der angesehensten Sprecher des Oberhauses und hatte bisher fast jedes verbale Duell für sich entschieden. In diesem Fall aber mußte er sich anstrengen, um die Gunst der anderen Lords zu gewinnen. »Erlauben Sie mir, Ihnen eine persönliche Frage zu stellen, Lord Smythe-Walmsley?« »Ich glaube kaum, daß mein Privatleben irgendeine Bedeutung für die derzeitige Diskussion hat«, hielt ihm Smythe-Walmsley entgegen. »Vielleicht sogar eine ganze Menge. Wenn ich nun erläutern dürfte, was ich damit meine…«
»Ich höre«, sagte der Lord und bereitete sich auf das Schlimmste vor. Fotheringay sah sich im Saal um und ließ seinen Blick in einer wirkungsvollen Pause auch über die Zuschauer auf der Galerie schweifen. »Ich habe schlechte Nachrichten für Sie«, begann er langsam. »Lord Smythe-Walmsleys Sohn kam vor kurzem ums Leben.« Allgemeines Erstaunen. Dutzende von Stimmen murmelten dumpf durcheinander. »Vermutlich sind Sie ebenso schockiert, wie ich es war, als ich davon erfuhr. Die Umstände aber, die zum Tod von Nigel Smythe-Walmsley führten, sind noch weitaus schockierender.« Es wurde schlagartig wieder still, und die anwesenden Lords beobachteten Fotheringay aufmerksam. Selbst die Zuschauer schwiegen und warteten gespannt auf die nächsten Ausführungen des Sprechers. Fotheringay, so wußten sie, war immer für eine Überraschung gut, und sie hofften, daß er sie an diesem Nachmittag nicht enttäuschte. »Worauf wollen Sie hinaus?« fragte Lord Smythe-Walmsley. »Auf folgendes: Ihr Sohn Nigel pflegte Umgang mit Terroristen und Gegnern der Krone. Außerdem machte er sich unmittelbar vor seinem Tod eines Verbrechens schuldig.« »Sie lügen!« entfuhr es Smythe-Walmsley. Wieder brach ein Entrüstungssturm los, und diesmal dauerte es einige Minuten, bis es wieder still wurde. »Leugnen Sie etwa, daß Ihr Sohn im Verlauf einer Aktion ums Leben kam, die man nur als Landesverrat bezeichnen kann?« fragte Fotheringay scharf. »Mein Sohn ist tot, das stimmt«, antwortete Lord SmytheWalmsley, und seine Stimme vibrierte. »Aber er war kein Verbrecher. Ganz im Gegenteil: Als treuer Staatsbürger hatte Nigel einzig und allein die Interessen Großbritanniens im Sinn.«
»Sie glauben also, es liege im Interesse Großbritanniens, das Bündnis zwischen den Visitors und unserer Nation aufzukündigen?« Lord Smythe-Walmsley war klar, daß seine Bemerkungen nur diesen Schluß zuließen. Gleichzeitig war ihm auch bekannt, daß ein Großteil der britischen Bevölkerung dem Abkommen mit den Außerirdischen sehr skeptisch gegenüberstand. Tyrannei blieb Tyrannei – ganz gleich, in welches Gewand sie sich kleidete. Und doch hatte bisher noch niemand den Mut aufgebracht, im Parlament die Wahrheit auszusprechen. Es wurde Zeit, daß jemand den ersten Schritt tat. »Ja, das glaube ich, Lord Fotheringay«, sagte er. Seine Stimme klang ganz ruhig und war in der atemlosen Stille überall im Saal deutlich zu hören. Lord Fotheringay nickte langsam und rief: »Dann sind auch Sie ein Staatsfeind, und ich verlange, daß Sie augenblicklich unter Arrest gestellt werden.« Dutzende von Zuschauern und Lords sprangen auf, als zwei bewaffnete Wächter auf Smythe-Walmsley zutraten und nach seinen Armen griffen. Sie trugen die kupferfarbenen Uniformen der »Freunde der Sterne«. »Gibt es niemanden, der meinen Standpunkt unterstützt?« wandte sich der Lord an seine vornehmen Kollegen. Sie sahen ihn nur schweigend an. Mit stolz erhobenem Haupt ließ sich Smythe-Walmsley aus dem Saal führen.
21. Kapitel
Für die Medien war der Vorfall im Oberhaus natürlich ein ungeheures Ereignis. Man hatte zwar viele Wissenschaftler und Intellektuelle bereits verhaftet, aber Lord SmytheWalmsley war der erste bekannte Politiker, den man des Verrats bezichtigte. Zu Beginn hatte er sich selbst für die Herstellung freundlicher Beziehungen zu den Visitors ausgesprochen, doch nun war er in Londons politischer Welt isoliert – der einzige, der seine Stimme gegen die außerirdischen Invasoren erhob. »Sie stellen ihn als Helden dar!« ereiferte sich Beverly. »Sehen Sie sich nur diese Ausgabe der Times an. Haben Sie jemals einen solchen Unsinn gelesen?« Medea warf einen kurzen Blick auf die Schlagzeile: »Smythe-Walmsley als Visitor-Gegner verhaftet.« »Begreifen die denn gar nicht, daß es sich um eine simple Trotzreaktion wegen des Todes von seinem verdammten Sohn handelt?« zischte die stellvertretende Kommandantin wütend. »Die Menschen sind so schrecklich irrational!« »Diese Erfahrung habe ich schon des öfteren gemacht«, bestätigte Medea nachdenklich. »Die Bewohner des Planeten Erde sind ausgesprochen emotional, und dieser besondere Wesenszug scheint für sie sowohl ein Nachteil als vielfach auch ein Vorteil zu sein. Ich vermute, auf lange Sicht ist letzteres der Fall.« Beverly maß ihre Vorgesetzte mit einem argwöhnischen Blick. »Wenn Sie sie so sehr bewundern, Medea, warum wechseln Sie dann nicht auf ihre Seite?«
»Das würde Ihnen gefallen, was?« zischelte die Kommandeuse spitz. »Dann bekämen Sie das Kommando über dieses Mutterschiff. Das wollen Sie doch, oder?« »Ich…« Beverly zögerte kurz. »Mir geht es nur um den Erfolg der Mission.« »Selbstverständlich, Beverly. Und aus diesem Grund versuchen Sie schon seit einer ganzen Weile, wo immer es geht, meine Autorität zu untergraben, nicht wahr? Weil das im Interesse der Flotte liegt…« Medea gab einen abfälligen Laut von sich. Die stellvertretende Kommandantin mied ihren Blick. »Ich bin nur eine loyale Sirianerin, eine Soldatin, die einen gerechten Kampf führt. Als ich an Bord des Londoner Mutterschiffes kam, dachte ich nur an den Auftrag des Großen Denkers.« »Ich könnte einige Ihrer Bemerkungen durchaus zum Anlaß nehmen, Sie vors Kriegsgericht zu stellen.« »Vors Kriegsgericht?« Medea gab keine Antwort. Sie sah nach wie vor auf die Zeitung, und nach einer Weile zischte sie leise: »Wenn es Lord Smythe-Walmsley gelingt, alle Briten gegen uns aufzustacheln, sind wir erledigt.« »Aber Lord Fotheringay unterstützt uns doch. Das ist immerhin etwas.« »Fotheringay«, sagte die Kommandeuse, »ist ein guter Rhetoriker und genießt einen gewissen Respekt bei seinem Volk. Andererseits aber genügt ein Skandal, um die Karriere eines Politikers zu beenden. Hoffentlich gibt nicht die Verhaftung Smythe-Walmsleys den Anstoß dazu.« »Ich finde, das spielt nun keine Rolle mehr. Schließlich befinden sich jetzt der Lord und auch sein Sohn in unserer Gewalt.«
»Das stimmt schon. Aber wenn wir von Lord SmytheWalmsley ebensowenig Staatsgeheimnisse in Erfahrung bringen können wie von seinem Sohn, haben wir überhaupt nichts erreicht und stehen wieder am Anfang.« »Es sind so verflucht sture und unlogische Geschöpfe!« »Wie ich vorhin schon sagte: Auf lange Sicht erweist sich das als ihr Vorteil.« Beverly nickte widerstrebend. Medea schenkte ihr keine Beachtung mehr und wandte sich an die Wächter. »Bringt den neuen Gefangenen zu mir.« Zwei der Gestalten in roten Uniformen salutierten und verließen den Kontrollraum. »Gleich wird sich herausstellen, ob der alte Mann ebenso eigensinnig ist wie sein Sohn«, sagte die Kommandeuse. »Er war sein ganzes Leben lang Politiker. Es müßte also möglich sein, eine Übereinkunft mit ihm zu treffen.« Schon nach wenigen Minuten kehrten die beiden Wächter mit dem Gefangenen zurück. Sie zwangen Lord Smythe-Walmsley dazu, vor Medea auf die Knie zu sinken, und die Kommandantin des Mutterschiffes musterte ihn aufmerksam. Die Visitor-Soldaten hielten ihn fest. »Glauben Sie nur nicht, ich würde Ihnen irgend etwas verraten«, brachte der alte Mann heiser hervor. »Von mir erfahren Sie nichts.« »Sind Sie sicher?« spottete Medea. »Und wenn Sie das Leben Ihres Sohnes retten könnten?« »Halten Sie mich für völlig verkalkt?« erwiderte SmytheWalmsley. Er zeigte nicht die geringste Furcht und schien sich bereits mit seinem Schicksal abgefunden zu haben. »Nigel wurde von Ihren Leuten umgebracht. Mit ihm können Sie keinen Druck mehr auf mich ausüben.« »Zur Zelle!« befahl Medea.
Die beiden Wächter setzten sich sofort in Bewegung und zerrten den alten Mann aus dem großen Kontrollraum. Beverly schloß sich der Kommandeuse an. Sie versuchte dabei, sich nichts von der Wut anmerken zu lassen, die in ihr zu brodeln begann. Sie ahnte, was Medea beabsichtigte – und vielleicht hatte deren Plan sogar Erfolg. Einige Minuten lang marschierten sie durch die breiten Korridore des riesigen Mutterschiffes und erreichten schließlich die Gefangenensektion. Vor einer bestimmten Tür blieben sie stehen. Lord Smythe-Walmsley hob überrascht den Kopf, als Medea auf einigen Tasten einen Code eingab. Die Wand vor ihnen schien sich aufzulösen. »Nigel!« entfuhr es dem Lord. Medea lächelte dünn. »Selbst wenn Sie noch so laut schreien: Er kann Sie nicht hören. Die Zelle verfügt über schalldichte Abschirmungen.« »Aber… wie ist das möglich?« brachte Smythe-Walmsley ungläubig und entsetzt hervor. »Seine Leiche wurde untersucht. Und ich habe ihn selbst identifiziert…« »Ganz einfach: Es gelang uns, ihn zu erwischen. Einer unserer Agenten in der Widerstandsbewegung half uns dabei. Anschließend brachten wir ihn hierher, nahmen einige Gewebemuster und duplizierten seinen genetischen Code. Ein geklonter Mensch entstand, eine exakte Kopie des Originals. Wir brauchten nur noch das Bewußtsein des Duplikats zu prägen und ihm entsprechende Informationen einzuspeisen. Das genügte, um Gabriella Nicks davon zu überzeugen, daß in ihrer Wohnung der echte Nigel gestorben sei.« Und das ist euch tatsächlich gelungen, dachte SmytheWalmsley erschüttert. Gabriella zweifelt nicht daran, daß der Mann, den sie liebte, in ihren Armen sein Leben ausgehaucht hat. Noch immer leidet sie an dem Schock, und sicher wird es noch lange dauern, bis sie sich davon erholt. Der Lord
betrauerte seinen Sohn ebenfalls, und die Erkenntnis, daß er noch lebte, erfüllte ihn nicht etwa mit neuer Freude. Im Gegenteil: Sie schuf eine sonderbare Leere in ihm, seine Gefühle waren wie betäubt. Nigel hatte keine Möglichkeit, den Visitors von hier zu entkommen. Er war bereits so gut wie tot – zum zweitenmal, fügte der Lord in Gedanken hinzu. Und in Hinsicht auf sein eigenes Schicksal machte er sich ebenfalls nichts vor. Ganz gleich, wie er sich auch verhielt: Früher oder später erwartete ihn das Ende. Es blieben nur Gabriella und Subhash, um den Kampf gegen die Außerirdischen fortzusetzen. Bei diesem Gedanken erwachte die alte Entschlossenheit in dem Lord. Er würde den Echsenwesen nichts verraten, nicht einmal dann, wenn man ihm mit dem Tod seines Sohnes drohte. Das Schicksal Englands und der Erde stand auf dem Spiel; ein Leben zählte nicht, wenn es um die Zukunft der ganzen Menschheit ging. »Was haben Sie mit meinem Jungen gemacht?« stieß er leise hervor. »Er ist unverletzt«, sagte Medea. »Aber das wird nicht mehr lange so bleiben, wenn Sie sich weiterhin weigern, mit uns zusammenzuarbeiten.« »Ich habe keineswegs die Absicht, meine Heimat zu verraten.« »Das verlangen wir auch gar nicht von Ihnen. Wir erwarten nur, daß Sie eine Ansprache halten.« Smythe-Walmsley starrte die Kommandeuse groß an. »Widerrufen Sie in aller Öffentlichkeit das, was Sie gestern im Oberhaus sagten. Unterstützen Sie Fotheringays Antrag für Kaspars Bestattung in der Westminster Abbey.«
22. Kapitel
»In England scheint es drunter und drüber zu gehen.« Kelly schüttelte den Kopf. »Ich dachte eigentlich, die Briten hätten mehr Mumm in den Knochen. Aber sie ließen einfach die Verschleppung eines Lords zu, der sich öffentlich gegen die Visitors wandte.« Gabriella war sicher, daß Kelly noch kein Foto von Lord Smythe-Walmsley gesehen hatte. Bisher brachte er die Reise ihres Gastgebers nach London nicht mit dem Bericht in der Irish Times in Verbindung, den sie inzwischen alle kannten. Es gab auch keinen Grund dafür. Die junge Frau war zwar mehrfach versucht, ihm die Wahrheit zu sagen, erinnerte sich dann aber an ihr Versprechen. Sie hatte Lord SmytheWalmsley zugesagt, seine wahre Identität nicht zu verraten, und sie sah auch jetzt keinen Grund, ihr Wort zu brechen – selbst wenn er jetzt ein Gefangener der Visitors war. Sie fürchtete außerdem, eine entsprechende Information könnte die Moral der anderen Widerstandskämpfer beeinträchtigen, und das wollte sie auf jeden Fall verhindern. »Das Schicksal des Lords hat zu großem Aufruhr in der Bevölkerung geführt«, sagte Gabriella. »Das könnte ein Vorteil für uns werden.« Kelly blieb skeptisch. »Nur dann, wenn wir sofort etwas unternehmen. Ich fürchte, wir sind früher nicht hart genug vorgegangen. Wenn ich an all das Gerede von einem möglichen Frieden mit den Visitors denke… Dabei dreht sich mir der Magen um. Lord Smythe-Walmsley war einer der bekanntesten Verfechter dieser Beschwichtigungspolitik. Und
trotzdem hat er sich jetzt mit wenigen Worten selbst ans Messer geliefert – was für eine Ironie des Schicksals.« Gabriella wußte selbst, daß Nigels Vater lange Zeit für ein Abkommen mit den Außerirdischen eingetreten war. Schließlich aber hatte er seine Meinung geändert und seinen patriotischen Standpunkt tapfer öffentlich erklärt. Gab es überhaupt noch eine Möglichkeit, den Invasoren von den Sternen einen Strich durch die Rechnung zu machen? Oder stand ihr Sieg bereits fest? »Von jetzt an werden auch wir keine Gnade mehr walten lassen«, sagte Kelly fest. »Und wir sollten gleich mit der neuen Strategie beginnen.« Er stand auf und trat an ein Fenster, durch das man auf den großen Schloßhof blicken konnte. Sein Gesicht war plötzlich eine finstere Maske, und Gabriella musterte ihn besorgt, als sie an seine Seite trat. Als auch sie nach draußen sah, bemerkte sie drei Bewaffnete, die die gefangenen Visitors über den Platz führten. Die drei Gestalten in ihren roten Uniformen hielten die Hände hoch erhoben. Kelly winkte den IRA-Kämpfern wortlos zu. Daraufhin griffen sie nach den Armen der Außerirdischen und zwangen sie dazu, in die Knie zu gehen. Die Männer zielten mit ihren Revolvern. Drei Schüsse knallten – und die Visitors sanken tot zu Boden. Gabriella schnappte unwillkürlich nach Luft. Ihre Wangen waren blaß, als sie Kelly ansah. Der Anführer der IRA-Kampftruppe nahm die Brille ab und reinigte die Gläser mit einem Taschentuch. »Warum?« fragte die junge Frau kühl. »Warum nicht?« erwiderte Kelly. »Die Visitors sind unsere Feinde, und deshalb müssen sie sterben.« »Aber Sie versprachen mir…«
Kelly schüttelte den Kopf. »Ich sagte, ich wolle es mir überlegen. Und ich habe es mir gründlich durch den Kopf gehen lassen.« Daraufhin schwieg Gabriella. Worte konnten die toten Visitors ohnehin nicht ins Leben zurückbringen, ebensowenig wie Nigel – oder seinen Vater, dem nun ein schrecklicher Tod drohte. Vielleicht hatten ihn die Echsenwesen schon umgebracht. Bis jetzt war die junge Frau bereit gewesen, zu glauben, daß sich etwas verändern ließ und daß Männer wie Kelly von den menschlichen Werten überzeugt werden konnten, an denen sie nach wie vor festhielt. Das Gegenteil traf zu: In Kellys Haß gab es keinen Platz mehr für Mitgefühl. Zwar würden die anderen Visitors nie erfahren, daß ihre gefangenen Artgenossen als Vergeltung für die Verhaftung von Lord Smythe-Walmsley erschossen worden waren, doch es genügte Kelly, daß er selbst darüber Bescheid wußte. Vielleicht fand er sogar Gefallen daran, über Leben und Tod zu entscheiden. Gabriella fragte sich jetzt, ob er jemals ernsthaft die Möglichkeit erwogen hatte, auf ihren Vorschlag einzugehen. »Ich kann mir trotz allem denken, was jetzt in Ihnen vor sich geht«, sagte Kelly leise. »Sie halten mich für grausam und gnadenlos. Aber die Invasoren sind noch viel grausamer, als ich es jemals sein könnte. Es geht ihnen nicht allein darum, den Sieg über uns zu erringen. Für sie sind wir nur Vieh, frische Nahrung, die sie verschlingen und mit dem Wasser herunterspülen können, das aus den Ozeanen der Erde stammt. Wenn wir ihre Absichten durchkreuzen wollen, müssen wir dafür sorgen, daß die Verwirklichung ihrer Unheilspläne einen für sie zu hohen Preis erfordert.« Seine Erklärungen klangen durchaus logisch, fand Gabriella, aber trotzdem konnte sie sich nicht dazu durchringen, sich mit seinen Methoden anzufreunden. Er war wie Ian – und doch
völlig anders. Kelly ging wesentlich kaltblütiger vor, weil er ausschließlich nach den Geboten des Verstandes handelte und überhaupt nicht auf die Stimme des Herzens hörte. Ians Erbarmungslosigkeit hingegen war viel irrationaler und gründete sich auf egoistische Herrschaftsgelüste. »Warum haben Sie auch noch dafür gesorgt, daß ich die Hinrichtung beobachten mußte?« fragte Gabriella. »Damit Sie sehen, was es wirklich bedeutet, für unsere Heimat zu kämpfen, für die ganze Erde. Dieses Schloß wurde vor vielen Jahrhunderten von unseren Unterdrückern gebaut. Der Beginn unseres Kampfes um die Freiheit liegt bereits so lange zurück, daß schon in alten Sagen und Legenden darüber berichtet wird. Aber eins steht fest: Wir geben niemals auf. Wir verzagen nicht. Verzweiflung käme der Kapitulation gleich. Verstehen Sie, was ich meine?« Gabriella gab ihm keine Antwort. Sie sah ein seltsames Funkeln in seinen Augen. Seamus Patrick Kelly, so begriff sie jetzt, war ein Mann, der für den Rest seines Lebens töten würde. Sein Kampf galt der Macht an sich. Die Briten konnten sich glücklich schätzen, daß er derzeit die Visitors zum Gegner hatte. Aber was mochte geschehen, wenn sich die Außerirdischen eines Tages ins All zurückzogen und von der Erde verschwanden? Sie zweifelte nicht daran, daß er dann wieder als Terrorist aktiv werden und Bomben legen würde. Kummervoll schüttelte Gabriella den Kopf. »Sie verurteilen mich, nicht wahr?« fragte Kelly. »Nein«, erwiderte Gabriella sanft. »Ich bemitleide Sie.« Er nickte langsam. »Dann haben Sie vielleicht mehr verstanden, als ich bisher annahm.« Kelly drehte sich um und ging fort. Auf seinen Schultern schien er die Last der Seelen all jener Menschen zu tragen, die er auf dem Gewissen hatte. Eine ungeheuer schwere Bürde, dachte Gabriella. Und in Gedanken fügte sie hinzu: Er ist
verrückt – aber vielleicht hilft es ihm, das Leben zu ertragen, das er führt. Sie verließ den Salon, um sich auf die Suche nach Subhash zu machen, und fand ihn an der Ostwand. Er hielt einen Revolver in der rechten Hand und schoß auf Zielscheiben aus Pappe. »Gabriella«, begrüßte er sie, als sie herantrat. Er ließ die Waffe sinken. »Wie geht es Ihnen heute morgen?« »Miserabel, Subhash«, sagte sie bedrückt. »Ich glaube, ich begreife erst jetzt richtig, auf was ich mich da eingelassen habe.« Subhash streckte die Hand aus und deutete in Richtung Hof. »Sie haben es also gesehen, nicht wahr?« »Ja.« »Eine schreckliche Sache«, sagte Subhash sanft. »Die unmittelbare Konfrontation mit dem Tod kann sehr schockierend wirken.« Er seufzte. »Leider sind wir gezwungen, zu solchen Mitteln zu greifen, wenn wir den Krieg gegen die Visitors gewinnen und überleben wollen. Ich bin trotzdem froh, daß Sie noch immer zu Mitgefühl fähig sind. Selbst in Hinsicht auf den Feind. Sie zumindest haben Ihre Menschlichkeit noch nicht eingebüßt.« »Genau das ist es, was ich so sehr fürchte«, gestand Gabriella ein. »Ich habe Angst, eines Tages so zu werden wie Kelly – zu einer kaltblütigen Mörderin.« »Nein«, widersprach Subhash und legte ihr den Arm um die Schultern. »Da brauchen Sie sich um sich keine Sorgen zu machen.« Sie wandten sich von dem Schloß ab und wanderten Seite an Seite über den Strand. Es war ein stummer Spaziergang. Sie hörten nur das Krächzen der Möwen und das auf- und abschwellende Rauschen der Brandung.
23. Kapitel
Robert Walters stand auf der Betonplattform neben den Schienen der Untergrundbahn und wartete auf einen Mann, dessen Namen er nicht einmal kannte. Immer wieder sah er sich um, denn er fürchtete schon, daß die Kontrollbeamten auf ihn aufmerksam werden würden, bevor der Kontaktmann eintraf. »Mr. Walters«, sagte jemand hinter ihm. Robert zuckte zusammen und drehte sich langsam um. Er wußte nicht, ob es sich um die Person handelte, auf die er gewartet hatte – oder um einen der verfluchten Terroristen, die in jüngster Zeit Schlagzeilen machten. In diesem Zusammenhang dachte er auch an die Leute, denen sich Gabriella angeschlossen hatte. Sein mißtrauischer Blick fiel auf einen schlanken blonden Mann. Sonst befand sich niemand in der Nähe. »Hallo«, sagte Robert. »Wie wäre es mit einem Spaziergang?« fragte der Unbekannte höflich. »Ein wenig frische Luft kann uns nicht schaden.« Sie stiegen die Treppe zur Straße hoch und wanderten dann im warmen Sonnenschein in Richtung Bishopsgate. »Ich glaube nicht, daß uns jemand folgt«, sagte der Blonde und sah sich wie beiläufig um. »Wir sollten trotzdem vorsichtig sein«, erklärte Robert. »Es wäre durchaus möglich, daß mir die IRA im Nacken sitzt.« »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Einer meiner radikaleren Studenten erzählte mir, eine junge Amerikanerin habe sich der IRA angeschlossen und ganz allein eine Kampffähre der Visitors unter ihre Kontrolle gebracht.« »Klingt ziemlich absurd.« »Dachte ich auch. Bis ich den Namen der Frau hörte.« »Ich glaube, ich weiß schon, wen Sie meinen.« Robert Walters nickte knapp. »Gabriella Nicks. Sie gehört jetzt zu den Widerstandskämpfern und steht bereits in dem Ruf, eine Art weiblicher Che Guevara zu sein.« »Erstaunlich. Und was halten Sie davon? Könnte an den Gerüchten etwas dran sein?« »Würde mich nicht sehr überraschen. Immerhin ist es ihr ja gelungen, uns zu entwischen.« »Medea wird nicht gerade erfreut sein.« »Medea«, wiederholte Robert Walters. »Warum entschied sich die Kommandeuse ausgerechnet für diesen Namen?«∗ Der Blonde zuckte mit den Schultern. »Reiner Zufall. Sie kennt unsere Kultur wohl nicht besonders gut.« »Sind Sie sicher?« »Keine Ahnung. Ist nur eine Vermutung.« »Aber vielleicht weiß sie, welche Assoziationen ihr Name wecken könnte. Ich meine die Ermordung der Kinder und so weiter…« »Möglich wär’s. Aber haben Sie etwa nur deswegen ein Treffen mit mir vereinbart, um über Medeas Namenswahl zu diskutieren?« ∗
Medea: Gestalt der griechischen Mythologie. Die des Zauberns mächtige Tochter des Königs Aetes von Kolchis, die Jason, dem Anführer der Argonauten, hilft, das Goldene Vlies zu erringen, und ihm nach Iolkos folgt. Viele Jahre lang führt sie eine glückliche Ehe mit Jason, doch als er die korinthische Königstochter Glauke zur Frau begehrt, nimmt Medea furchtbare Rache. Sie tötet nicht nur die Prinzessin und deren Vater, sondern auch ihre eigenen, aus der Ehe mit Jason hervorgegangenen Kinder. – Anmerkung des Übersetzers
»Natürlich nicht«, gab Walters zurück. »Dann kommen Sie bitte zur Sache.« »Wenn sich Gabriella den verdammten irischen Terroristen angeschlossen hat, wenn sie zu einer kaltblütigen Mörderin geworden ist…« Robert Walters zögerte kurz und holte tief Luft. »Vielleicht kehrt sie dann hierher zurück, um mich umzubringen.« Der Blonde sah ihn an und verzog das Gesicht. »Sind Sie völlig übergeschnappt, Mann? Wenn es sich bei der Frau, die das Flugboot der Visitors kaperte, wirklich um Gabriella Nicks handelte, so befindet sie sich jetzt in Irland. Wenn sie es tatsächlich auf Sie abgesehen hat, müßte sie erst einmal wieder hierherkommen. Und dabei denken Sie bitte einmal an die vielen Patrouillen. Sie sehen Gespenster, Walters.« »Sie hat bereits mehrfach bewiesen, zu was sie fähig ist.« »Unsinn.« Der Blonde blieb stehen und bewunderte die Blumenpracht eines kleinen Verkaufsstandes. »Nigel hat mich früher schon auf ihren starken Willen hingewiesen. Er meinte, wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt habe, halte sie um jeden Preis daran fest.« »Quatsch.« Doch der Blonde wirkte nun nicht mehr ganz so sicher wie noch einige Minuten zuvor. »Vielleicht haben Sie recht. Aber ich möchte kein Risiko eingehen.« Der Unbekannte sah ihn an. »Was wollen Sie, Robert?« »Ich verlange, daß man mich zum neuen Hauptquartier bringt. Dort bin ich in Sicherheit.« »In Sicherheit?« Der Blonde lachte. »Und wie sicher war das letzte? Haben Sie nicht gehört, was passiert ist?« »Das schon, aber… Sie sind ja auch irgendwie mit heiler Haut davongekommen, nicht wahr?«
Der Mann mit dem blonden Haar lächelte dünn. »Ich bin nun mal ein Glückspilz. Ebenso wie mein Urgroßvater, der als Pferdedieb gehängt werden sollte: Das Seil riß.« Robert blieb ernst. »Kommen Sie, alter Knabe. Haben Sie etwa Angst vor einem Mädchen, das bis vor einigen Wochen noch nicht einmal wußte, wie man einen Revolver hält?« »Ja, das habe ich, verdammt!« preßte Robert hervor. »Als ich mich auf diese Sache einließ, hat man mir versprochen, ich bekäme es dabei nie mit Gewalt zu tun. Ich habe Ihnen all die Auskünfte gegeben, um die Sie mich baten – und jetzt läuft diese Frau frei herum und gebärdet sich wie ein Racheengel, der jeden Augenblick zuschlagen kann.« Walters schauderte unwillkürlich und sah sich nervös um. Der Blonde rollte mit den Augen. »Bitte«, wimmerte Robert. »Meine Güte, wenn Sie unbedingt wollen… Ich nehme Sie mit. Unter einer Bedingung: Sie werden sich still verhalten und alle Anweisungen befolgen.« »Oh, vielen Dank. Gott, mir fällt ein Stein vom Herzen.« Sein Begleiter hatte offenbar genug von ihm und winkte einfach nur barsch ab. »Ich glaube, Sie sollten mir jetzt Ihren Namen nennen«, sagte Robert. »Und warum?« fragte der Blonde. »Nun, wenn ich im neuen Hauptquartier bin, bekomme ich ihn ohnehin irgendwann zu hören, nicht wahr?« Der Unbekannte nickte. »Wie heißen Sie?« fragte Robert Walters. »Ian«, erwiderte der Blonde und lächelte erneut.
24. Kapitel
»Unsere Feinde wissen, daß Sie noch leben, Gabriella«, sagte Kelly und beobachtete das erbeutete Shuttle. Ausrüstungsmaterialien der Gruppe wurden gerade an Bord gebracht. »Die Nachricht stammt von unseren Kontaktleuten in London.« »Wie ist das möglich?« entfuhr es der jungen Frau erstaunt. »Das will ich Ihnen zeigen.« Kelly trat auf die Rampe und gab Gabriella einen Wink, ihm ins Innere der Kampffähre zu folgen. »Sehen Sie die Konsole dort?« fragte der Ire. »Ja.« »Als Sie die Visitors im Flugboot angriffen, war ein Sensor für optische Erfassung eingeschaltet. Der Pilot stand darüber mit dem Mutterschiff in Verbindung.« »Dann konnten die Visitors auf ihren Bildschirmen alles sehen, was geschah?« »Ja. Zum Glück haben Sie die Besatzung des Shuttles außer Gefecht gesetzt, bevor der Pilot Gelegenheit bekam, dem Mutterschiff auch noch Bilder von der Umgebung zu übertragen. Andernfalls wäre längst ein Angriff auf das Schloß erfolgt. Aufgrund der Positionsmeldungen der Kampffähre weiß der Feind natürlich auch, daß wir uns in Irland aufhalten. Doch der genaue Ort ist ihm unbekannt.« Kelly wartete einige Sekunden, bevor er hinzufügte: »Leider sind die Außerirdischen jetzt darüber informiert, daß sie den Verlust eines Shuttles Ihnen zu verdanken haben.« »Mit anderen Worten: Sie wissen, daß ich in den Reihen der IRA kämpfe.« Gabriella nickte. »Macht weiter nichts. Ich hatte
ohnehin nicht die Absicht, mich länger als unbedingt notwendig vor ihnen zu verstecken. Jetzt ist ihnen wohl auch klar, daß ich mich nicht vor ihnen fürchte und beabsichtige, es ihnen bald heimzuzahlen.« Sie schnitt ein grimmiges Gesicht. »Ich verstehe Sie«, sagte Kelly und lächelte. »Andererseits aber kommt es bei unserem Kampf in erster Linie auf Geheimhaltung an. Schon als Jugendlicher gehörte ich zur IRA, doch nur einige wenige Männer und Frauen wissen das.« »Die Visitors konnten mich also im Shuttle beobachten.« Gabriella hob den Kopf. »Dann können wir das, was geschehen ist, nicht rückgängig machen.« »Das nicht«, sagte Kelly. »Aber vielleicht gibt es eine Möglichkeit, diese Sache zu unserem Vorteil zu nutzen.« »Wie meinen Sie das?« »Angenommen, Sie werden in Schottland oder Wales gesehen, in Liverpool oder Newcastle. Dann konzentrieren sich die Visitors ganz auf Sie – was die Gefahr eines Angriffs auf Castle Kramden verringert.« Gabriella lachte. »Ausgezeichnet, Mr. Kelly. Eine gute Idee.« Der Ire nahm an der Kontrollkonsole des Flugbootes Platz. »Vielleicht sollten Sie auch Subhash und einige andere von meinen Jungs mitnehmen. Dann haben Sie immerhin die Möglichkeit, sich den Weg freizukämpfen, wenn es Schwierigkeiten geben sollte.« »Ich muß zugeben, daß ich schon seit einer Weile darauf brenne, endlich irgend etwas zu unternehmen«, sagte Gabriella. »Ein solches Ablenkungsmanöver gibt uns vielleicht Zeit genug für die restlichen Vorbereitungen. Und anschließend setzen wir Ihren Plan in die Tat um.« »Es ist nicht mein Plan«, sagte Kelly und runzelte die Stirn. »Unser Gastgeber hat ihn entwickelt. Ich frage mich bloß, warum er noch nicht zurückgekehrt ist…«
Gabriella schwieg. Wenn sie keine Antwort gab, war sie auch nicht zu einer Lüge gezwungen. Sie begriff natürlich, daß die IRA irgendwann die Wahrheit erfahren mußte, denn sonst würde sie zu lange mit der Verwirklichung des Plans warten. Und dann ginge eine gute Gelegenheit verloren, den Visitors einen schweren Schlag zu versetzen. Gabriella hatte das Gefühl, in dieser Frage in der Klemme zu sitzen. Aber trotz ihrer widerstreitenden Empfindungen war sie noch immer entschlossen, das Versprechen zu halten, das sie dem Lord gegeben hatte – bis ihr keine andere Wahl mehr bleiben würde, Kelly und den anderen reinen Wein einzuschenken. Möglicherweise, so hoffte sie, befand er sich nicht an Bord des Mutterschiffes, sondern in einem englischen Gefängnis. Und wenn das stimmte, gab es noch eine Chance für ihn. »Nein!« schrie Lord Smythe-Walmsley. Grelle blaue Blitze zuckten um ihn herum. Er sah nur blendendes Licht, fühlte nichts anderes als stechenden Schmerz, der durch seinen Körper brannte. Schon seit Tagen schien die Bewußtlosigkeit ein Schatten zu sein, der ihn ständig begleitete. Tief in seinem Innern sehnte sich der alte Mann nach der Erlösung des Todes. Irgendwann ließen die Qualen plötzlich nach, und SmytheWalmsley brach zusammen. Aber er lebte noch. Zwei Visitors betraten die Konvertierungskammer und trugen ihn fort. Da er bewußtlos war und sie nicht hören konnte, nahmen Medea und Beverly kein Blatt vor den Mund. »Setzt ihn auf den Stuhl dort«, wies Medea die beiden Soldaten an. Sie benutzte dabei die zischende, fauchende Sprache der Sirianer. Die Wächter kamen der Anweisung sofort nach, traten zurück und warteten auf weitere Befehle. »Sie haben ihm gedroht, seinen Sohn zu toten«, sagte Beverly. »Aber davon ließ er sich nicht beeindrucken. Und die
Aussicht auf den eigenen Tod scheint ihn ebenfalls nicht zu erschrecken. Sogar das Konvertierungsverfahren versagte.« »Wir haben es mit einem besonders willensstarken Individuum zu tun«, murmelte Medea. »Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit.« »Ach?« Enttäuscht stellte Beverly fest, daß sich Medeas Vorrat an Ideen noch nicht erschöpft hatte. Wenn die Unterwerfung Großbritanniens fehlschlug, so wurde die Verantwortliche des Kommandos enthoben, und das machte automatisch ihre Stellvertreterin zur Kommandeuse. Unglücklicherweise konnte Medea seit einer Weile gewisse Erfolge verzeichnen. »Holt den anderen Gefangenen und bringt ihn ebenfalls hierher«, wandte sich Medea an die beiden Soldaten. Die Visitors salutierten, und als sie davonmarschierten, rief Medea einen Arzt zu sich. »Wecken Sie ihn auf!« befahl sie. »Ich möchte mit ihm reden.« Der Spezialist untersuchte Lord Smythe-Walmsley kurz und öffnete dann einen kleinen Behälter mit verschiedenen Chemikalien. Er hielt dem alten Mann eine winzige Phiole unter die Nase, und daraufhin schlug der die Augen auf. Er stöhnte, blinzelte einige Male verwirrt und stemmte sich dann in die Höhe. »Was wollen Sie von mir?« fragte er rauh. »Ganz gleich, was Sie auch mit mir anstellen – ich werde Ihnen nicht helfen.« »Sie sind ausgesprochen hartnäckig«, entgegnete Medea. »Ich fürchte, in Ihrem Fall kommen wir weder mit der Folter noch mit dem Konvertierungsverfahren weiter. Sie sind entschlossen, keine Staatsgeheimnisse zu verraten. Nun gut. Doch vielleicht können wir Sie doch noch dazu bewegen, Lord Fotheringays Antrag zu unterstützen. Erinnern Sie sich? Es geht um Kaspars Bestattung in der Westminster Abbey.«
»Kommt nicht in Frage.« Lord Smythe-Walmsley preßte die Lippen zusammen und beschloß, weiterhin Widerstand zu leisten und sich kein Zugeständnis abringen zu lassen. »Nun denn, offenbar wollen Sie noch immer auf Ihrem eigensinnigen Standpunkt beharren«, sagte Medea. »Aber möglicherweise ist er bereit, uns zu unterstützen.« »Von wem sprechen Sie denn jetzt?« fragte Beverly. »Meinen Sohn meinen Sie bestimmt nicht«, krächzte der alte Mann. »Er ist sicher ebensowenig zum Verrat bereit wie ich.« »Sie haben recht«, gestand Medea ein. »Aber es gibt noch einen anderen.« Medea blickte an Lord Smythe-Walmsley vorbei und musterte prüfend den Mann, der von den beiden Wächtern hereingeführt wurde. Beverly riß sichtlich überrascht die Augen auf. Langsam drehte sich der Lord um – und hatte das Gefühl, in einen Spiegel zu starren. Dicht hinter ihm stand ein Mann, der ihm bis aufs Haar glich. Eine geklonte Kopie seiner selbst.
25. Kapitel
Noch nie zuvor hatte Robert Walters eine so wüste Bande gesehen, und in der Gegenwart dieser heruntergekommenen, offenbar völlig skrupellosen Gestalten fühlte er sich keineswegs sicherer als zuvor. Er dachte an Gabriella Nicks und fragte sich, wer denn nun wirklich gefährlicher war – die junge Frau, die sich vielleicht an ihm rächen wollte, oder dieser wilde Haufen unter Ians Befehl. »Her mit dem Salz«, brüllte ein pickelgesichtiger junger Punk, der den Eindruck machte, als sei er gerade aus einer Mülltonne geklettert. Robert kam der Aufforderung rasch nach. Nach der Vernichtung des Hauptquartiers der britischen Widerstandsbewegung schien Ian seine Leute nur noch aus der Londoner Gosse zu rekrutieren. Andererseits: Er mußte zumindest den Anschein erwecken, immer noch über eine schlagkräftige Streitmacht zu verfügen, um überhaupt mit Medea verhandeln zu können. »Lieber Himmel«, entfuhr es Robert, als er den Eintopf probierte. Das Zeug schmeckte wie eine Mischung aus Fett und Schmieröl. »So schlimm ist der Fraß nun auch wieder nicht«, brummte der Punk. »Fast wie bei Muttern.« Robert würgte einen weiteren Löffel voll hinunter. »Allerdings brachte meine Mutter dauernd die Rezepte durcheinander«, fügte der Punk kichernd hinzu. »Und dann ließ sie auch noch alles anbrennen.« »Gefällt Ihnen das Essen etwa nicht?«
Robert hob bei dieser Frage den Kopf. Er saß auf dem Boden wie alle anderen. Ian trat heran. »Damit könnten Sie jedem Feinschmecker-Restaurant Konkurrenz machen«, erwiderte Walters trocken. »Tja, Sie wollten ja unbedingt mitkommen«, erinnerte ihn Ian. »Begleiten Sie mich bitte, wenn Sie fertig sind. Es gibt da eine wichtige Angelegenheit, über die wir sprechen sollten.« Robert stellte erleichtert Teller und Becher beiseite, stand auf und verzog stöhnend das Gesicht, als sein Rücken zu schmerzen begann. Er brummte leise vor sich hin und folgte dann Ian. Nach einigen Dutzend Metern blieb der blonde Mann stehen. »Neuigkeiten über Gabriella«, sagte Ian ohne Umschweife. Robert wartete und bereitete sich auf das Schlimmste vor. »Vorgestern hat sie in Glasgow zugeschlagen«, fuhr Ian fort. »Sie griff eine Visitor-Kompanie an, angeblich ganz allein mit einem Inder.« »Subhash«, sagte Robert. »Vermutlich.« »Konnte sie entkommen?« fragte Walters. »Ja. Offenbar griff nämlich die lokale Polizei ein und schützte sie vor den Visitors. Wissen Sie, inzwischen ist sie geradezu zu einem Symbol des Widerstandes geworden, zu einem weiblichen Robin Hood.« »Erstaunlich…« »Kann man wohl sagen«, bestätigte Ian. »Aber damit noch nicht genug.« Robert sah ihn gespannt an. »Gestern war sie in Liverpool und führte dort einen Anschlag durch.« »Sie scheint also nach Süden unterwegs zu sein.« Robert schluckte.
»Vielleicht… Ich glaube, wir werden uns bald ein genaueres Bild von ihrer Taktik machen können. Bis dahin bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten.« »Sie wollen tatsächlich einfach die Hände in den Schoß legen?« entfuhr es Robert fast schrill. »Meine Güte, Gabriella wird mit dem verdammten Hindu hierherkommen, und dann…« »Immer mit der Ruhe, alter Knabe«, warf Ian ein. »Wenn Ihre süße Freundin so verrückt sein sollte, sich hierherzuwagen, geht es ihr an den hübschen Kragen, mein Lieber. Wir haben genug Leute, um sie uns zu schnappen.« »Bestimmt dachten das auch die Visitors in Liverpool und Glasgow.« »Ach, kommen Sie, Robert. Machen Sie sich nicht gleich in die Hose. Sie wissen nicht einmal genau, ob es das Mädchen wirklich auf Sie abgesehen hat.« »Aber Gabriella ist jetzt wieder in England, nicht wahr?« Nervös befeuchtete sich Robert die Lippen. »Genügt das nicht als Beweis?« »Wohl kaum. Wieso soll sie im Norden der Insel ausgerechnet nach Ihnen gesucht haben? Sie kam doch von Schottland nach Liverpool. Und von dort aus sind es dann noch ein paar Meilen bis nach London.« »Aber mit jedem Tag verringert sich die Entfernung.« »Das braucht überhaupt nichts zu bedeuten.« »Verdammt, begreifen Sie denn nicht?« schrillte Robert. »Sie ist tatsächlich hierher unterwegs. Um mich umzulegen!« »Schreien Sie nicht so, wenn Sie vermeiden wollen, daß die anderen alles mitkriegen.« »Meinetwegen können sie ruhig erfahren, was vor sich geht!« Ian kniff die Augen zusammen. »Ich warne Sie, Robert«, sagte er leise. »Ich lasse Sie unter Arrest stellen, wenn Sie nicht sofort Vernunft annehmen.«
Robert wandte sich ab und hielt den Kopf einige Sekunden lang gesenkt. Als er Ian wieder ansah, schimmerte blanker Haß in seinen Augen. »Das würde ich Ihnen nicht raten«, flüsterte er. »Wie sähe denn wohl die Reaktion Ihrer Jungs aus, wenn ich denen von Ihrer besonderen Beziehung zu Medea erzähle?« »Sind Sie übergeschnappt?« stieß Ian hervor. »Ich meine es völlig ernst, Ian. Ich sage ihnen alles. Als Widerstandskämpfer taugen sie nicht viel, aber ich nehme an, sie wissen, wie man mit einem Verräter umspringt.« »Sie haben ebenfalls Dreck am Stecken!« »Aber bestimmt können sich Ihre Leute nicht vorstellen, daß ein neuer Rekrut wie ich mit Ihnen und den Visitors gemeinsame Sache macht.« Damit hatte ihn Robert am Haken. Walters stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch, und Ian wußte, daß er ihn nicht noch weiter reizen durfte, wenn er eine Katastrophe vermeiden wollte. Es war besser, auf ihn einzugehen und eine geeignete Gelegenheit abzuwarten, die Gefahr zu beseitigen, die von ihm ausging. Es blieb ihm noch Zeit genug. »In Ordnung, Robert«, sagte er. »Was also wollen Sie?« »Ich möchte, daß Sie Medea einen Tip geben und sie darum bitten, Gabriella Nicks zu erledigen.« Walters zuckte mit den Schultern und grinste. »Eigentlich ist alles ganz einfach.« »Meinen Sie? Glauben Sie etwa, die Visitors liegen auf der faulen Haut? Die fahnden schon lange nach dieser Frau. Bisher allerdings ohne Ergebnis. Weder Medea noch die anderen Außerirdischen wissen, wo Gabriella das nächste Mal zuschlagen wird. Außerdem liegen uns keine weiteren Informationen über ihre Verbindungen zur IRA vor.« »Das ist mir völlig schnurz«, entfuhr es Robert aufgebracht. »Wenn Sie nicht schleunigst dafür sorgen, daß diese Gabriella das Zeitliche segnet, wende ich mich an Ihre Leute.«
»Ich verspreche Ihnen, alles zu versuchen.« »Geben Sie sich Mühe, Ian – es geht auch um Ihren Hals.« Abrupt drehte sich Robert um und marschierte davon. Seine Schuhsohlen kratzten über einen schmutzverkrusteten Boden. Ian seufzte vor Erleichterung, daß Robert die Katze endlich aus dem Sack gelassen hatte. Von Anfang an stand fest, daß Walters sterben mußte – schließlich wußte nur er, daß Ian mit Medea zusammenarbeitete. Roberts Ultimatum machte es ihm wesentlich leichter, eine Lösung für dieses Problem ins Auge zu fassen.
26. Kapitel
Ganz gleich, wie sehr Beverly auch herumspionierte – Medea war über Dinge informiert, von denen ihre Stellvertreterin keine Ahnung hatte. Zum Beispiel wußte die nichts von Medeas Kontakten zu hochrangigen Vertretern der britischen Widerstandsbewegung. Allein die Tatsache, daß es der Kommandeuse aufgrund gewisser Hinweise gelungen war, Nigel Smythe-Walmsley gefangenzunehmen und das Londoner Hauptquartier der Rebellen zu zerstören, mußte Beverly ohnehin außerordentlich erstaunt haben. Soll sie in ihrem eigenen Saft schmoren, dachte Medea spöttisch. Ihr kleines Geheimnis hieß Ian. Wenn er sich mit ihr in Verbindung setzte, benutzte er einen speziell abgesicherten Kommunikationskanal. Die Kommandeuse lächelte zufrieden, als sie an den britischen Widerstand dachte – der war noch vor kurzer Zeit ein nicht zu unterschätzender Gegner gewesen, doch jetzt kaum mehr als eine Erinnerung. Medea wünschte sich allerdings, das auch von Gabriella Nicks und der IRA behaupten zu können. Sie saß in ihrem privaten Quartier an Bord des Mutterschiffes und wartete auf eine Nachricht von Ian. Vor ihr bildete sich ein Hologramm, und in den farbigen Schlieren formten sich rasch feste Konturen. Als sich das Bild stabilisierte, sah sie Ians lächelndes Gesicht. »Sie haben gute Arbeit geleistet, Ian«, sagte Medea. »Man wird Sie dafür belohnen.«
»Vielen Dank. Ich fürchte jedoch, die Verhaftung von Lord Smythe-Walmsley bewirkt genau das Gegenteil von dem, was Sie sich erhofften.« »Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, antwortete Medea ruhig. »Er wird morgen freigelassen. Ein Mann mit völlig neuen Ideen.« »Ich verstehe. Dann steht Kaspars Bestattung in der Westminster Abbey nichts mehr im Wege?« »Haben Sie etwas anderes erwartet?« Ian war zwar ein Verräter, doch die Gegenfrage der Visitor schien ihn zu verärgern. Immerhin kannte er die Engländer ein wenig besser als Medea. »Angesichts der Stimmung hier gab es tatsächlich einigen Grund für Zweifel«, erwiderte er. »Und denken Sie daran: Noch hat die Beerdigung nicht stattgefunden.« Von Medea hörte er nur ein abfälliges Zischen. »Sie unterschätzen noch immer unsere Macht.« »Wohl kaum«, widersprach Ian. »Aber die Briten haben einen wesentlich stärkeren Willen, als Sie glauben.« »Warum haben Sie sich denn dann von Ihrem Volk abgewandt?« fragte Medea höhnisch. »Oh, ich bin sicher, irgendwann bleibt auch den Engländern keine andere Wahl, als sich Ihrer Herrschaft zu unterwerfen«, versicherte Ian hastig. »Aber darüber wollte ich eigentlich nicht mit Ihnen sprechen.« »Über was dann?« »Es geht um einen meiner Männer, einen Informanten. Er fürchtet, Gabriella habe es auf ihn abgesehen, um sich an ihm zu rächen. Nach Nigels Tod verriet er sie…« »Ich verstehe. Es handelt sich also um den Mann, der Nigel Smythe-Walmsley in unserem Auftrag beobachtete?« »Ja. Er heißt Robert Walters.«
»Gabriella befindet sich nicht einmal in der Nähe von London. Es gibt also wahrhaftig keinen Anlaß für ihn, sich zu fürchten.« »Ich nehme an, er hat Gewissensbisse«, sagte Ian. »Es besteht die Gefahr, daß er sich gegen mich wendet und uns verrät.« »Er will die Verräter verraten? Eine sonderbare Vorstellung.« »Es geschähe nicht zum erstenmal«, murmelte Ian. »Ach, nein?« Medea dachte darüber nach. Gabriella wußte zwar jetzt, für wen Walters arbeitete, und daher hatte er praktisch keinen Nutzen mehr. Aber vielleicht konnte man ihn anderswo doch noch einmal als Spion verwenden. Das gab sie Ian zu bedenken. »Er hat damit gedroht, die ganze Sache auffliegen zu lassen, wenn ich nicht auf seine Forderungen eingehe.« »Wieviel weiß er überhaupt?« fragte die Kommandeuse. »Genug, um mich und meine Gruppe zu erledigen.« »Offenbar waren Sie nicht vorsichtig genug.« »Unsinn«, entfuhr es Ian. »Ich mußte ihn in einige Dinge einweihen, um ihn endlich zur Zusammenarbeit zu bewegen.« »Warum haben Sie sich damals nicht selbst um Nigel Smythe-Walmsley gekümmert, Sie Narr?« fauchte Medea. Ian verzog peinlich berührt das Gesicht. »Nigel wurde mißtrauisch. Es war mir wirklich unmöglich, vollständig sein Vertrauen zu gewinnen, Robert dagegen kannte er schon seit vielen Jahren, noch von der Universität her. Walters vertrat immer die Ansicht, das englische Klassensystem sei schuld daran, daß bei ihm der Erfolg ausblieb.« »Hm«, machte Medea. »Er scheint also recht ehrgeizig zu sein. Eine Charaktereigenschaft, die wir für unsere Zwecke ausnützen können.« »Vergessen Sie nicht seine Drohung, reinen Tisch zu machen. Er ist unzuverlässig.«
»Lassen Sie mich selbst mit ihm reden«, schlug Medea vor. »Vielleicht kann ich ihn bei der Stange halten. Ihm sollte klar sein, daß es ihm ebenfalls an den Kragen geht, wenn er verrät, was er weiß. Das liegt sicher nicht in seinem Interesse… Ihm kommt es doch in erster Linie darauf an, vor Gabriellas Rache geschützt zu sein.« »Und wie sollen wir sicherstellen, daß ihm wirklich nichts geschieht?« »Früher oder später gelingt es uns bestimmt, die Frau zu fassen und zur Rechenschaft zu ziehen. Bis es soweit ist, wird sich Robert Walters als Gast an Bord des Mutterschiffes aufhalten.« Ein dünnes Lächeln umspielte Ians Lippen. »Eine großartige Idee, Medea.« »Ich dachte mir schon, daß sie Ihnen gefallen wird. Rufen Sie Walters gleich an den Kommunikator, damit ich mich mit ihm unterhalten kann.« »Jetzt sofort?« »Ja. Unser Gespräch ist beendet.« Ian stand auf und verließ den Aufnahmebereich der Kamera. Einige Minuten lang zeigte das Bild auf dem Monitor nur noch die graue Segeltuchplane eines Zelts. Medea nutzte die Gelegenheit, um gründlich zu überlegen. Seit der Zerschlagung des britischen Widerstandes waren einige Dinge in Bewegung geraten. Ians Nutzen für die Visitors hatte sich erheblich verringert, und die Kommandeuse kam zu dem Schluß, daß sie mit seinen Problemen nur Zeit vergeudete. Vielleicht war es angebracht, einen endgültigen Schlußstrich zu ziehen. Sie lächelte bösartig, als sie daran dachte, daß sich sicher bald eine ausgezeichnete Möglichkeit ergeben würde, um sowohl Ian als auch die anderen zu eliminieren…
Medea konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm, als ein verängstigt ausschauender junger Mann vor dem Kommunikator Platz nahm. »Mr. Walters?« fragte sie. »Ja?« »Sie haben nichts mehr zu befürchten. Wir stellen Sie unter unseren Schutz. Und das bedeutet: Von jetzt an sind Sie vor der Terroristin Gabriella Nicks sicher.«
27. Kapitel
Nigel konnte sich nicht mehr erinnern, wie lange er sich schon in der winzigen Zelle befand. Immer noch war er unfähig, sich richtig zu konzentrieren. Er hatte das Gefühl, in einem abwechselnd diffusen und erschreckend real wirkenden Alptraum gefangen zu sein. Seit einer halben Ewigkeit irrten seine Gedanken durch einen außergewöhnlich dichten Nebel von Halbbewußtsein. Nur Gabbys Besuche machten den Aufenthalt in der winzigen Kammer einigermaßen erträglich – obwohl er immer häufiger den Eindruck hatte, daß mit ihr irgend etwas nicht stimmte. Vielleicht war die fremde Umgebung daran schuld oder seine verzweifelte Lage. Aber tief in seinem Innern wußte er, daß sich die junge Frau verändert hatte und daß zumindest ein Teil ihres Wesens nicht der Gabriella entsprach, an die er gern zurückdachte. Er versuchte vergeblich, eingehender darüber nachzudenken – der allgegenwärtige Dunst schien aber nicht nur durch die Zelle zu wabern, sondern auch sein Bewußtsein zu erfüllen. Die duftenden Schwaden waren zu ständigen Begleitern geworden wie zu untrennbaren Bestandteilen des kleinen Zimmers. Und doch hatte es jene Nebel anfangs nicht gegeben. Vage erinnerte sich Nigel daran, für kurze Zeit die Kammer verlassen zu haben; wenig später hatte man ihn wieder zurückgebracht. Er dachte an seinen Vater, daran, wie er als kleiner Junge von ihm vernachlässigt worden war. Als ihm sein siebter Geburtstag wieder einfiel, fühlte er sich erneut verraten und im Stich gelassen.
Die Zellentür öffnete sich, und ein Mann trat auf ihn zu. Sein Vater. Ein Traum, dachte Nigel. Und dann: Ist das möglich – ein Traum innerhalb eines Traums? Es konnte sich nur um eine Illusion handeln, denn er wußte, daß sein Vater weit entfernt war – viel zu weit, um auf die Rufe zu reagieren, die sein Sohn in Gedanken an ihn gerichtet hatte. Eine Halluzination, ja, hervorgerufen von dem Dunst, dessen Duft ihn immer mehr abstieß. »Mein Junge«, sagte der alte Mann. Wie ein Phantom stand er in den Nebelschleiern. »Vater… bist du das wirklich?« »Ja.« »Was machst du hier?« »Ich wollte dich einfach einmal besuchen. Immerhin bin ich dein Vater.« »Aber… Du kannst nicht hier sein.« »Und warum nicht?« Der Vater lächelte gutmütig. »Weil…« Nigel überlegte angestrengt, vermochte sich jedoch nicht mehr an den Grund seiner Überraschung zu erinnern. »Ich war eine Zeitlang fort, doch jetzt bin ich zurückgekehrt«, sagte der Vater. »Heute ist dein Geburtstag – ich habe ihn nicht vergessen.« »Heute?« Nigel fiel wieder ein, daß er seinen Geburtstag in Gedanken noch einmal erlebt hatte. Aber in einem entlegenen Winkel seines Ichs verstärkte sich immer mehr das Gefühl, nur zu träumen. »Mit meinem Gedächtnis scheint irgend etwas nicht in Ordnung zu sein«, brachte er unsicher hervor. »Bestimmt erinnerst du dich an die Party«, sagte der Vater. »Es waren nicht nur deine kleinen Freunde hier, sondern auch Mutter, Auntie und der Pfarrer – und natürlich auch die Bediensteten. Du hast viele Geschenke bekommen und die sieben Kerzen auf dem Kuchen ausgepustet. Alle hatten einen Heidenspaß.«
»Ja.« Nigel lächelte. »Ja, jetzt fällt es mir wieder ein… Aber ich habe dich vermißt, Vater. Und deshalb war ich sehr traurig.« »Was für ein Unsinn, Junge. Ich bin die ganze Zeit über nicht von deiner Seite gewichen. Erinnerst du dich denn nicht an mein Geschenk?« Nigel zögerte. »Nein, ich glaube nicht…« »Ach, komm schon, Junge. Ich habe dich mit einem großen Plüschbären überrascht, den hast du doch stolz überall herumgezeigt.« »Oh.« Die Worte seines Vaters riefen neue Bilder hervor: Vor Nigels innerem Auge bildeten sich die Umrisse eines Teddybären. Aber er konnte sich nicht daran erinnern, ihn von Vater erhalten zu haben. Überhaupt fiel es ihm schwer, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. »Du bist nur müde, Nigel«, sagte der Vater. »Und ich stehe hier herum und rede auf dich ein. Schlaf jetzt.« »Nein, Vater, bitte bleib«, erwiderte Nigel. »Bitte verlaß mich nicht. Ohne dich fühle ich mich so allein.« Der alte Mann nickte gönnerhaft. »Wie du meinst, Sohn. Allerdings kann ich nicht mehr lange bleiben. Man erwartet mich im Oberhaus.« »Ja, dort braucht man dich noch immer, nicht wahr, Vater? Es ist selbstsüchtig von mir, dich aufzuhalten.« »Keineswegs, Nigel«, widersprach der Vater. »Um ganz ehrlich zu sein: Ich bin zu dir gekommen, um dich in einer ganz bestimmten Angelegenheit um Rat zu fragen. Es geht dabei um den Antrag eines anderen Lords.« Nigel sah ihn überrascht an. »Was hat es damit auf sich?« »Lord Fotheringay schlug vor, einen Fremden in der Westminster Abbey zu bestatten. Und das ist ziemlich ungewöhnlich.« »Welchen Standpunkt vertrittst denn du, Vater?«
»Ich glaube, ich werde dem Antrag zustimmen. Jener Mann ist zwar kein Engländer, aber er hat Großes für Großbritannien und ganz Europa geleistet.« »Wie heißt er, Vater?« »Kaspar.« Kaspar. Wo hatte Nigel diesen Namen schon einmal gehört? Er klang vertraut – und schien gleichzeitig ein Synonym für Unheil zu sein. »Nun, was hältst du davon?« fragte der Vater. »Ich… ich weiß nicht so recht.« »Wie soll ich das verstehen? Habe ich dir nicht immer wieder gesagt, wie wichtig es ist, rasche Entscheidungen zu treffen?« »Ja, aber…« »Was aber, mein Sohn? Sprich!« »Du hast mich auch gelehrt, auf die Stimme meines Gewissens zu hören und mich nicht von der Wahrheit abbringen zu lassen – nicht einmal von denen, die ich liebe.« »Glaubst du etwa, so etwas läge in meiner Absicht?« »Nein… ich weiß es nicht. Ich bin so verwirrt.« »Das scheint mir auch so, mein Junge. Du redest ziemlichen Unsinn.« »Ich versuche doch nur, mir ein Urteil zu bilden, Vater!« »Nun gut«, seufzte der alte Mann. »Also: Wie sollte ich mich deiner Meinung nach verhalten?« Nigel fühlte sich unter Druck gesetzt. Er fand es seltsam, daß ihm sein Vater eine solche Frage stellte. Warum interessierte er sich bei einer wichtigen Abstimmung überhaupt für die Meinung eines siebenjährigen Knaben? Ich brauche Zeit, dachte er. Zeit, um gründlich nachzudenken. Doch nach wie vor hingen diese Nebelschwaden auch in seinem Bewußtsein. »Ich muß es mir in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen«, antwortete er schließlich.
Der Vater musterte ihn erstaunt. »Es handelt sich doch nicht um ein kompliziertes Problem, mein Junge. Es erfordert nicht viel Gedankenarbeit.« »Trotzdem«, entgegnete Nigel fest. »Ich möchte keine voreilige Entscheidung treffen.« »Wie du meinst«, sagte der Vater. »Ich lasse dich jetzt allein, damit du in Ruhe darüber nachdenken kannst.« Er ging auf die Tür zu, die vor ihm zur Seite glitt. Bevor er die winzige Kammer verließ, drehte er sich noch einmal um. »Aber ich kehre bald zurück.«
28. Kapitel
»Wir haben seinen eigenen Sohn zum Narren gehalten«, triumphierte Medea. »Dann sollte uns doch wohl auch gelingen, die anderen Menschen zu täuschen.« »An Ihrer Stelle würde ich die Wirkung der Drogen bei diesem Test nicht unterschätzen«, gab Beverly zu bedenken. »Sie haben recht. Aber es wird niemand so nahe an ihn herankommen können, um das Duplikat vom Original zu unterscheiden. In wenigen Tagen hält Lord Smythe-Walmsley seine Rede im britischen Oberhaus, und anschließend wird es niemanden mehr geben, der sich gegen Kaspars Bestattung in der Westminster Abbey ausspricht.« Beverly nickte zögernd. »Daraus ergeben sich überaus positive Aussichten für uns«, fügte die Kommandeuse hinzu. »Die zeremonielle Beerdigung wird uns in den Augen der Öffentlichkeit wieder zu vertrauenswürdigen Verhandlungspartnern machen.« »Glauben Sie?« »Natürlich. Es war doch in erster Linie der Meinungswechsel von Lord Smythe-Walmsley, der zu den Unruhen geführt hat. Wenn er jetzt wieder seinen ursprünglichen Standpunkt vertritt, werden sich die erhitzten Gemüter rasch abkühlen.« »Ich hoffe, Sie haben recht.« Verärgert dachte Beverly daran, daß sich tatsächlich der gewünschte Erfolg einstellen könnte. Derzeit lief alles wesentlich glatter, als sie erwartet hatte. Wenn es dabei blieb und die Kommandeuse ihren Plan verwirklichen konnte, durfte sie mit einer Auszeichnung rechnen. Und das bedeutete, daß Beverly noch länger
stellvertretende Kommandantin bleiben würde. »Was haben Sie mit dem echten Smythe-Walmsley vor?« fragte sie. »Er bleibt im Stasistank«, erwiderte Medea geistesabwesend. »Sollten wir ihn nicht weiter verhören und versuchen, mehr aus ihm herauszubekommen?« »Der alte Mann ist zu eigensinnig. Er wird uns nichts verraten – nicht einmal dann, wenn wir mit dem Tod seines Sohnes drohen.« »Das wollte ich gerade vorschlagen.« »Nigels Exekution?« Beverly schüttelte den Kopf. »Ich denke eher an einen Bluff. Wir müssen den Lord davon überzeugen, daß wir wirklich bereit sind, seinen Sohn umzubringen.« Sie lächelte dünn. »Wir töten ihn natürlich erst dann, wenn er keinen Nutzen mehr für uns hat.« »Halten Sie das für sinnvoll?« »Sie wissen doch, wie emotional die Menschen sind. Wenn Smythe-Walmsley unmittelbar vor Augen geführt wird, daß das Leben seines Sohnes tatsächlich auf dem Spiel steht, bleibt ihm keine andere Wahl, als auf unsere Forderungen einzugehen.« »Das bezweifle ich«, zischte Medea leise. »Aber es wäre einen Versuch wert.« »Vielleicht. Aber es gibt einen schwachen Punkt in Ihrer Argumentation.« Beverly sah die Kommandeuse fragend an. »Wenn der Lord dann weiterhin stur bleibt, müssen wir die Drohung wahrmachen. Obgleich sich Nigel noch als unser As im Ärmel erweisen könnte – um eine Redensart der Menschen zu benutzen.« Medea drehte sich um und musterte ihre Untergebene kühl. »Es steht jetzt wesentlich mehr auf dem Spiel, Beverly. Im Vergleich mit Westminster Abbey kommt sowohl dem Lord als auch seinem Sprößling nur eine geringe
Bedeutung zu. Wenn es uns aber gelingt, unseren Plan erfolgreich umzusetzen, können wir mit einem Lob des Großen Denkers rechnen.« »Ich weiß, daß Ihnen diese Mission sehr am Herzen liegt, Medea«, erwiderte die stellvertretende Kommandantin. »Aber wir müssen auch die globale Situation im Auge behalten. Propaganda allein genügt nicht, um den Krieg zu gewinnen.« »Sicher nicht. Aber trotzdem werde ich mich derzeit in erster Linie diesem Unternehmen widmen. Wenn es abgeschlossen ist, dürfte es den Rebellen nämlich schwerfallen, noch Unterstützung für den Kampf gegen uns zu finden. Wenn ein Visitor in der großen Kathedrale ruht, wird es bald als sehr unpatriotisch gelten, uns weiterhin Widerstand zu leisten. Die Engländer nehmen ihre Geschichte ja so ernst – und begreifen überhaupt nicht, daß sie sich damit nur selbst etwas vormachen.« »Dem kann ich nur beipflichten«, bestätigte Beverly. »Sie sind ganz vernarrt in diese Mischung aus Lügen, Halbwahrheiten und Legenden, die sie ihren historischen Hintergrund nennen!« »Die Menschen sind zwar ausgesprochen primitive Wesen – aber jederzeit bereit, für die Dinge zu kämpfen, die ihnen etwas bedeuten. Zumindest einige von ihnen.« »Wenn wir nun jene wenigen Individuen aus dem Weg räumen, werden sich die anderen fügen. Dann ist unser Sieg gewiß.« »Genau, Beverly. Und darum geht es bei Kaspars Bestattung.« »Ich verstehe.« Vielleicht, dachte Beverly, habe ich Medea unterschätzt. Möglicherweise ist sie weitaus intelligenter, als ich bisher annahm. Sie plant eine psychologische Offensive, die es ermöglichen kann, innerhalb kurzer Zeit die Herrschaft über ganz Großbritannien zu erringen.
Und wenn sich der Erfolg einstellen würde, auf den Medea jetzt hoffte, konnte Beverly ihre ehrgeizigen Ambitionen vergessen. Nach ihren vielen Auseinandersetzungen war die Kommandeuse sicher nicht bereit, ihre Stellvertreterin für eine Beförderung vorzuschlagen. Beverly wünschte sich plötzlich, daß die Mission fehlschlüge – und erschrak. Verräterische Überlegungen, dachte sie besorgt, von denen ich mir auf keinen Fall etwas anmerken lassen darf. Sie nahm sich vor, abzuwarten und den Anschein zu erwecken, Medea zu helfen. Vielleicht ergab sich für sie nach Kaspars Bestattung eine Möglichkeit, sich auf Kosten der Kommandeuse zu profilieren. Auf der Erde gab es für die Journalisten jetzt praktisch nur noch ein Thema. In allen Zeitungen und Nachrichtensendungen wurde ausführlich über die geplante Bestattung eines Visitors in der Westminster Abbey berichtet. In der Times erschienen mehrere lange Kommentare, die sich zwar durch eine vorsichtige Wortwahl auszeichneten, im Endeffekt jedoch auf eine kategorische Ablehnung jenes Vorhabens hinausliefen. Die BBC brachte Sondersendungen mit ähnlicher Tendenz. Und die Regenbogenpresse erfand Meldungen mit Überschriften wie: »Prinzessin Diana hat sich in einen Visitor verliebt.« Von offizieller Seite war nur wenig zu hören. Tiefes Unbehagen machte sich in Robert Walters breit, als er die Zeitungen las. Die Vorstellung, daß demnächst eines dieser gräßlichen Echsenwesen neben Großbritanniens berühmten Königen zur letzten Ruhe gebettet werden sollte, entsetzte ihn geradezu. Er hätte sich geschämt, wäre er dazu in der Lage und nicht in erster Linie ein praktisch denkender Mann gewesen. Ich habe die einzig richtige Entscheidung getroffen, dachte er. Die Menschheit kann den Außerirdischen nicht auf Dauer widerstehen. Die Visitors sind zu mächtig und sind in
technologischer Hinsicht wesentlich weiter entwickelt. Nein, versuchte er sich einzureden, wir können sie nicht von der Erde vertreiben. Aufgrund dieser Überlegungen hatte er früher seine Entscheidungen getroffen. Und doch bekam er immer häufiger Gewissensbisse. Ian trat auf ihn zu und bot ihm eine Zigarette an. »Danke«, sagte Robert. Ian gab ihm Feuer. »Haben Sie den Artikel gelesen?« »Ja. Die Zeremonie findet morgen statt.« »Genau.« Ian zündete sich seine eigene Zigarette an und inhalierte tief. »Es gibt eine gute Nachricht für Sie, Robert.« »Wie lautet sie?« »Nach der morgigen Feier werden Sie von den Visitors abgeholt.« »Und an Bord des Mutterschiffes gebracht?« Ian nickte und lächelte dünn.
29. Kapitel
Einige kräftige Visitors führten Lord Smythe-Walmsley ins Oberhaus. In der Galerie herrschte Stille. Gespannt warteten die Zuschauer auf die bevorstehende Ansprache. In der Stadt kursierte das Gerücht, daß Smythe-Walmsley erneut seine Meinung geändert habe. Nur wenige glaubten daran, denn der Lord stand in dem Ruf, politischem Druck nicht nachzugeben. Die meisten Leute rechneten damit, daß Smythe-Walmsley von seinen rhetorischen Fähigkeiten Gebrauch machen würde, um den Visitors ins Gesicht zu spucken. Allerdings rief die Tatsache, daß er von den Außerirdischen überhaupt freigelassen worden war, eine gewisse Verwunderung in der britischen Öffentlichkeit hervor. Warum, so fragten sich einige politische Beobachter, sollten sie dem Lord Gelegenheit geben, gegen sie zu agitieren? Doch eigentlich zweifelte niemand daran, daß Smythe-Walmsley mutig genug war, um möglichen Drohungen von seiten der Visitors zu trotzen. Lord Fotheringay ergriff als erster das Wort. »Heute ist es mir eine besondere Ehre, zu Ihnen zu sprechen: Ich darf mich glücklich schätzen, unseren ehrenwerten Kollegen Lord Smythe-Walmsley wieder hier begrüßen zu können, der nach einer längeren Besinnungsphase zu uns zurückgekehrt ist.« Stimmen murmelten. »Ich habe nicht einen Augenblick lang daran gezweifelt, daß unser ehrenwerter Kollege nach gründlichem Nachdenken seine Position revidieren würde. Wir alle wissen, daß er ein Mann ist, der unbestechliche Logik auf sein moralisches
Banner geschrieben hat.« Fotheringay hob die Arme. »Und gibt es irgend jemanden unter uns, der seinen Patriotismus bezweifelt, seine unerschütterliche Loyalität gegenüber unserer großen Nation, seinen festen Willen, für die Interessen Großbritanniens einzutreten?« »Bedeutet das, daß wir vor den außerirdischen Invasoren kapitulieren müssen?« rief ein Mann von der Galerie. Fotheringay winkte. »Bringt ihn fort«, sagte er kühl. Zwei Visitors marschierten heran und ergriffen den Mann. Er versuchte vergeblich, sich zur Wehr zu setzen. »Ich hoffe, es kommt zu keinen weiteren Zwischenfällen dieser Art«, drohte Fotheringay. Die Zuschauer raunten, aber niemand erhob seine Stimme. »Es gibt keinen besseren Beweis für Weisheit als die Bereitschaft, eigene Fehler einzusehen«, fuhr Fotheringay fort. »Lord Smythe-Walmsley tritt in aller Demut vor diese Versammlung und gesteht ein, daß er sich geirrt hat. Und dafür gebührt ihm unsere Anerkennung.« »Er soll für sich selbst sprechen!« rief eine Frau. Sie wurde ebenfalls abgeführt. Aber das Murmeln der Menge wurde trotzdem lauter und bedrohlicher. »Nun gut«, meinte Fotheringay und beendete seine Rede. »Ich will keine weiteren Worte verlieren. Hören wir uns an, was Lord Smythe-Walmsley selbst zu sagen hat.« Als der alte Lord aufstand und sich räusperte, wurde es schlagartig still im Saal. Er rückte die weiße Perücke zurecht und wirkte sehr ernst und würdevoll. »Liebe Landsleute«, begann er in seinem charakteristischen Tonfall, »ich bin heute hierhergekommen, weil ich Sie um Verständnis für das bitten möchte, was ich getan habe. Ich ließ mich von Stolz und persönlichem Kummer dazu hinreißen, den
Blick von den Dingen abzuwenden, die den vitalen Interessen unseres Landes entsprechen.« Die Zuschauer beobachteten ihn und warteten darauf, daß er seinen Standpunkt in der gewohnten Klarheit vertreten würde. »Zutiefst betroffen muß ich eingestehen, daß ich neulich unserer Nation einen schlechten Dienst erwiesen habe. Ich unterstütze hiermit den Antrag Lord Fotheringays und befürworte Kaspars Bestattung in der Westminster Abbey.« Von einem Augenblick zum anderen brach in der Galerie ein Sturm der Empörung los. »Er ist konvertiert worden!« rief jemand. »Wissen Sie überhaupt, was Sie da sagen?« entfuhr es einem anderen Zuschauer. »Zum Teufel mit Ihnen!« »Verräter!« Lord Smythe-Walmsley hob die Hände. »Sie können von mir halten, was Sie wollen«, sagte er. »Ich habe lange über dieses Problem nachgedacht und kann guten Gewissens behaupten, daß diese Entscheidung richtig ist. Kaspar muß in der Westminster Abbey zu Grabe getragen werden – zum Wohle Großbritanniens, zum Wohle der ganzen Welt. Schließlich kommt es darauf an, endlich mit unseren Brüdern und Schwestern aus dem All Frieden zu schließen. Ihre Kultur ist älter und weiser als unsere, und deshalb haben wir nicht das Recht, ihnen eine Vorrangstellung auf der Erde zu verweigern.« Die Zuschauer in der Galerie sprangen wütend von den Sitzen, kreischten und brüllten und schleuderten Gegenstände in den Saal. Nicht einmal die vibrierenden, nachhallenden Stimmen der Visitors brachten sie zur Ruhe. Lord Smythe-Walmsley konnte sich ebensowenig Gehör verschaffen wie sein Vorredner Lord Fotheringay. Die rot-
uniformierten Wächter umringten ihn, hoben ihre Waffen und zielten drohend auf die Zuschauerränge. »Bitte!« rief der Lord immer wieder und gestikulierte ausladend. »Nehmen Sie doch Vernunft an…« Im Saal herrschte ein solcher Lärm, daß ihn nur wenige verstehen konnten. Einige der anderen Lords riefen die aufgebrachte Menge ebenfalls zur Ordnung, doch die Männer und Frauen in der Galerie waren völlig außer sich. Inzwischen zweifelten sie nicht mehr daran, daß es sich um einen Versuch handelte, ihnen etwas vorzumachen, und daß die Rede des Lords ein gut vorbereitetes Manöver war, mit dem die öffentliche Meinung zugunsten der Visitors manipuliert werden sollte. Dabei scherte sich niemand mehr darum, ob es Lord Smythe-Walmsley ehrlich meinte oder nicht. Der Haß auf die außerirdischen Invasoren verschaffte sich Luft. Ohne Vorwarnung eröffneten die Visitors das Feuer auf die Menge. Blaue Laserblitze zuckten fauchend durch den Saal und brannten sich in menschliches Fleisch. Entsetzte Schreie ertönten, und ein noch größeres Durcheinander entstand, als Männer und Frauen auf der Galerie versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Verwundete sanken zu Boden. Sterbende röchelten. Ein penetranter Gestank durchzog die Sitzungskammer. Und die Visitors schossen immer wieder. »Lieber Himmel!« entfuhr es Fotheringay. Das Gemetzel erfüllte ihn mit Grauen. Er hatte gehofft, die Zusammenarbeit mit den Visitors könne Recht und Ordnung wahren helfen. Und jetzt mußte er beobachten, wie die Außerirdischen im britischen Oberhaus unschuldige Menschen umbrachten. »Bitte!« rief er. »Stecken Sie die Waffen ein!« Aber die Visitors schenkten ihm überhaupt keine Beachtung mehr. Das blaue Laserfeuer verblaßte erst, als sich in der Galerie nichts mehr rührte.
Fotheringay sah sich aus entsetzten Augen um, und sein fassungsloser Blick fiel auch auf die völlig ausdruckslose Miene Lord Smythe-Walmsleys.
VIERTER TEIL
30. Kapitel
Robert, Ian und die Punks der Widerstandsgruppe machten sich bereits recht früh auf den Weg zur Westminster Abbey. Walters’ Aufregung wuchs, je öfter er daran dachte, daß er bald ein Visitor-Shuttle betreten und die Erde verlassen würde – und dann würde Gabriellas Zorn ihm nichts mehr anhaben können. Vor der Kathedrale hatte sich schon eine große Menschenmenge eingefunden, obgleich die Zeremonie erst in drei Stunden beginnen sollte. Im Osten war ein Bereich mit Seilen abgesperrt, um zu verhindern, daß die Schaulustigen das Parlamentsgelände erreichen konnten. Es herrschte ausgesprochen gutes Wetter, und Robert genoß den warmen Sonnenschein. Er warf einen Blick auf die Menge, die sich schon versammelt hatte. Es mußten mehr als tausend Personen sein, die vor dem westlichen Portal der Abbey warteten, und bestimmt würde sich ihre Zahl bald vervielfachen. Natürlich bekamen nur einige hundert Würdenträger die Erlaubnis, an der Zeremonie in der Kathedrale teilzunehmen. Den anderen blieb nichts anderes übrig, als draußen zu bleiben und der Lautsprecherstimme eines Kommentators zuzuhören. Ian und Robert standen im Schatten des beeindruckenden Bauwerks aus dem vierzehnten Jahrhundert, während sich die jungen Punks einen Weg durch die Menge bahnten. »Vermutlich glauben sie, es handelt sich um ein gefährliches Abenteuer«, sagte Robert. »Wenn sie wüßten, daß alles mit Medea vereinbart wurde…« »Die meisten von ihnen wären sicher erleichtert«, erwiderte Ian. »Sie haben sich mir eigentlich nur angeschlossen, um sich
einigermaßen regelmäßig den Bauch vollschlagen zu können. Im Grunde wollen sie gar nichts gegen die Visitors unternehmen.« »Und warum sagen Sie ihnen dann nicht die Wahrheit?« »Weil ich nicht sicher bin, wie sie darauf reagieren würden. Ich traue den Kerlen nicht. Irgendeiner von ihnen könnte seine Chance wittern, als Held gefeiert zu werden. Und dann wäre es um uns beide geschehen.« »Da haben Sie vermutlich recht«, sagte Robert leise. »Zumindest ginge es Ihnen an den Kragen.« »In einem solchen Fall müßte ich Medea darum bitten, ebenfalls an Bord des Mutterschiffes gebracht zu werden.« Robert lächelte gequält. »Eine nette Vorstellung. Dann könnten wir uns gemeinsam die Zeit vertreiben, Karten spielen oder über Literatur diskutieren – wenn Ihnen das nicht zu langweilig ist.« »Sehr komisch.« »Allerdings.« »Wenn Sie erst einmal bei Medea sind, kommen Sie bald wieder zur Ruhe«, sagte Ian. »Es sind die Nerven, nicht wahr? Noch nie zuvor habe ich Sie so gereizt erlebt.« »Ich kann erst dann aufatmen, wenn ich einen Ort gefunden habe, wo ich vor Gabriella sicher bin.« »Ich verstehe.« Daraufhin schwiegen die beiden Männer wieder und sahen sich um. Nach einer Weile setzten sie sich in Bewegung und schlenderten umher wie die anderen Schaulustigen, die gekommen waren, um die Zeremonie zu beobachten – und vielleicht gegen die Entweihung eines nationalen Schreins zu protestieren. Ian rechnete nicht damit, daß die Visitors feindselige Demonstrationen einfach so hinnehmen würden. »Wie wollen sie vorgehen?« fragte Robert.
»Um das hier unter Kontrolle zu halten?« Die Menge wurde jetzt schnell größer. Immer mehr Menschen strömten hinzu, von der Smith Street im Westen, der Victoria Street im Norden und der Peter Street im Süden. Das Murmeln vieler tausend Stimmen klang wie ein bedrohliches Brodeln. »Nein, Ian«, rief Robert gegen den Lärm und verzog das Gesicht. »Ich meine die Visitors, die mich abholen sollen. Ich frage mich dauernd, wie sie es anstellen wollen, mich zu finden und von hier fortzubringen.« »Um Himmels willen, Mann, schreien Sie nicht so!« preßte Ian hervor. »Wenn hier jemand hört, daß Sie vorhaben, sich zu den Visitors zu schlagen, ist Ihr Leben keinen Pfifferling mehr wert. Dieser Mob könnte Sie in Stücke reißen.« »Tut mir leid.« Ian hatte natürlich recht, und Robert ärgerte sich über sich selbst. »Es scheint, ich habe solche Angst vor Gabriellas Racheaktionen, daß ich gar nicht mehr auf die nächstliegenden Gefahren achte.« »Wenn Sie nicht endlich die Klappe halten, brauchen Sie sich über Gabriella sowieso keine Sorgen mehr zu machen, alter Knabe. Dann erwischt es Sie hier, vor der Kathedrale.« Robert nickte, aber nach einigen Sekunden flüsterte er von neuem: »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.« Ian nickte einem alten Mann zu, der ein breites Schild in die Höhe hob, auf dem in Großbuchstaben der Aufruf prangte: »Verjagt die Visitors aus England.« »Wie will mich Medea denn an Bord des Mutterschiffes holen, ohne daß die Leute hier Verdacht schöpfen?« wiederholte Robert. »Keine Ahnung. Die Kommandeuse sagte nur, es sei bereits alles arrangiert. Begnügen Sie sich damit. Es bleibt Ihnen jetzt nichts anderes übrig, als ihr zu vertrauen, oder?« Robert hörte den Ärger in Ians Stimme und hielt es für besser, erst einmal zu schweigen. Je mehr er an die
unmittelbare Zukunft dachte, desto größer wurde seine Unruhe. Schließlich geschah es nicht jeden Tag, daß man seinen Heimatplaneten verließ und sich an Bord eines fremden Raumschiffs begab. Unwillkürlich blickte er nach oben. Noch immer hing die gewaltige Scheibe des Mutterschiffes hoch über London. Dicht vor der Kathedrale hatten Soldaten in roten Uniformen Aufstellung genommen. Die Visitors standen Schulter an Schulter, hielten ihre Laser bereit und ließen die große Menge nicht aus den Augen. Ihre menschlichen Masken wirkten sehr echt, und deshalb fiel die Vorstellung schwer, daß es sich bei ihnen in Wirklichkeit um Echsen von einem Planeten handelte, der in einer Entfernung von fast neun Lichtjahren die Sonne Sirius umkreiste. Robert Walters sah auch einige Angehörige der britischen Streitkräfte. Doch die Soldaten trugen keine Waffen, und auf jeden von ihnen kamen gleich mehrere Visitors. Offenbar wollte Medea nicht das geringste Risiko eingehen. Plötzlich wurden Stimmen laut. Irgend etwas rührte sich. Robert wandte sich um und sah eine Autokolonne, die sich von der Victoria Street her näherte.
31. Kapitel
Die Wagen hielten an, und mehrere bekannte Würdenträger stiegen aus. Enttäuscht stellte das Publikum fest, daß sich die Königin nicht unter ihnen befand. Vermutlich traf sie als letzte ein, nach den Repräsentanten des Parlaments, den Lords und Unterhausabgeordneten, den Vertretern des Militärs, dem Erzbischof und den Angehörigen der königlichen Familie. »Es geht los«, sagte Robert und warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Bis zum vorgesehenen Beginn der Zeremonie würde es nun nicht mehr lange dauern. »Ich kann es kaum fassen, aber es geht tatsächlich los.« »Ja«, brummte ein Mann in ihrer Nähe. Er schnitt eine Grimasse. »Was soll bloß aus unserem Land werden, wenn wir uns von den bedeutendsten Traditionen unserer Vergangenheit abwenden und einen solchen Verrat zulassen? Die Fremden brauchen nur mit den Fingern zu schnippen, und schon bekommen sie, was sie wollen.« »Seien Sie vorsichtig«, warnte Robert besorgt. »Wenn die Visitors Sie hören…« Der andere winkte ab. »Ist mir völlig gleich. Ich habe die Nase voll von diesen Herren aus dem All.« »Hört, hört«, warf ein anderer Mann ein. Er trug eine Filzmütze und sah aus wie ein einfacher Arbeiter. »Die Mistviecher von den Sternen haben uns lange genug zum Narren gehalten.« »Sie kontrollieren alles«, stieß eine Frau hervor. »Sie haben Sklaven aus uns gemacht.« »Und nicht nur aus uns Briten, sondern aus der ganzen Menschheit.« Der Mann, der als erster das Wort ergriffen
hatte, fluchte leise. »Zuerst haben sie uns eingeredet, sie seien als Freunde gekommen, und die blöden Politiker behaupten dauernd, wir müßten sie gewähren lassen, weil sie so viel klüger und weiser seien als wir. Eine neue Herrenrasse, wie? Die Visitors als Arier – und wir sind die Untermenschen. Die Sowjets haben es den verdammten Nazis gezeigt. Ich hoffe nur, auch die Echsen finden einen ebenbürtigen Gegner. Ein Stalingrad der Visitors…« »Himmel, wir sind hier nicht im Hyde Park«, flüsterte Robert und sah sich nervös um. »Die Typen in den roten Uniformen sind bis an die Zähne bewaffnet und haben sicher keine Hemmungen, von ihren Lasern Gebrauch zu machen.« Einige Visitors setzten sich jetzt in Bewegung und nahmen Smythe-Walmsley in Empfang. Der alte Lord schien verwirrt zu sein. Fernsehjournalisten aus Amerika und anderen Ländern griffen nach ihren Mikrofonen und versuchten, sich zu ihm durchzudrängeln, doch die Wächter drängten sie grob ab. Smythe-Walmsley verschwand im Innern der Kathedrale. Fotheringay und zwei andere Lords näherten sich. Hoch erhobenen Hauptes schritten sie über den ausgerollten roten Teppich. Zu beiden Seiten hielten goldene Seile die Menge zurück. »Verräter!« kamen zahlreiche Rufe. Fotheringay reagierte nicht. Zusammen mit seinen beiden Begleitern marschierte er in die Abbey, zweifellos froh darüber, das Publikum mit seinem Haß hinter sich zurückzulassen. Es kamen noch einige Offiziere der Streitkräfte. Robert kannte ihre Namen nicht und schenkte ihnen keine Beachtung. Eine seiner Redensarten war immer gewesen, Militär sei in Großbritannien überflüssig wie ein Kropf; nichts weiter als ein Schwamm, der Steuergelder aufsaugt, die für andere Zwecke dringender gebraucht werden. In den Soldaten sah er kaum
mehr als verkleidete Kinder, die Krieg spielten und in ihren Planungsszenarien bereits mehrmals die Bevölkerung der ganzen Erde umgebracht hatten. Großbritannien, so erinnerte er sich, war längst keine Weltmacht mehr. Die eingebildeten Lamettaträger wanderten ebenfalls über den Teppich und betraten die Westminster Abbey. Die Zuschauer warteten nach wie vor auf den Erzbischof und die königliche Familie. Plötzlich schob sich ein Schatten vor die Sonne. Es war keine Wolke, sondern ein riesiger Diskus. Alle sahen hoch und beobachteten das Londoner Mutterschiff, das seine Position verändert hatte und nun genau über der Kathedrale schwebte, ein gewaltiger Berg aus Stahl, in eine runde Form gepreßt. »Offenbar rechnen die Visitors mit Schwierigkeiten«, sagte Ian. »Und sie wollen nicht zulassen, daß ihnen jemand einen Strich durch die Rechnung macht.« Ein Hangarschott öffnete sich, und Kampffähren schwebten aus dem Innern des kolossalen Raumschiffs, glitten der Abbey entgegen wie weiße Insekten aus Kunststoff und Metall. Robert spürte, wie das Unbehagen in ihm wuchs, als die Shuttles über die Menge hinwegflogen, über die Köpfe der Engländer und Engländerinnen, die nun ein weiteres Mal erleben mußten, wie die Politiker ihres Vertrauens den Echsenwesen ein Zugeständnis machten. Aber blieb ihnen etwas anderes übrig? Es gab keine Möglichkeit, an der Macht der Visitors zu rütteln. Den physischen Sieg hatten sie bereits errungen, und nun kam es darauf an, ob sie Großbritannien auch psychisch und emotional in die Knie zwingen würden. Wenn der Feind mit diesem Plan Erfolg hatte, war seine Herrschaft vollkommen. Robert zweifelte nicht daran, daß die Kommandeuse Medea mit Kaspars Bestattung genau dieses Ziel verfolgte. Und
vielleicht schaffte sie es damit wirklich, den britischen Widerstandswillen zu brechen. Er fragte sich jetzt auch, ob die Fremden skrupellos genug waren, in die gaffende Menge zu feuern. Seine Unruhe nahm weiter zu. Ian und er befanden sich doch auch unter den Schaulustigen, aber die Visitors brauchten sie noch, oder? Er fröstelte bei dem plötzlichen Gedanken, daß Medea diese Angelegenheit vielleicht aus einer anderen Perspektive sah. Sie wußte natürlich, daß die Widerstandsbewegung nach der Zerstörung des Hauptquartiers praktisch nicht mehr existierte. Hatte Ian denn dann noch irgendeinen Nutzen für sie? Und wenn diese Frage mit einem klaren Nein beantwortet werden konnte: Welchen Wert stellte Robert für sie dar? Nein, dachte Walters. Die Menschen, die ihnen geholfen haben, vergessen sie nicht einfach. Doch gleich darauf regten sich neue Zweifel. Konnte er in diesem Punkt wirklich ganz sicher sein? Es handelte sich um Geschöpfe mit völlig anderen Vorstellungen von Moral und Ethik, um Wesen von einer anderen Welt. Um Aliens. Robert fiel wieder ein, daß ihm bald eine direkte Begegnung mit Medea bevorstand, und erst jetzt begriff er, was es bedeutete, die Erde zu verlassen, seine Heimat. Er hatte sein ganzes Leben in England verbracht, in London, um ganz genau zu sein. War es überhaupt möglich, daß er sich an die Lebensweise so völlig fremder Geschöpfe gewöhnen konnte? Jetzt ist es zu spät für solche Überlegungen, fuhr es ihm durch den Sinn, als er beobachtete, wie ein weiterer Wagen vorfuhr und die Insassen ausstiegen. Seltsamerweise ließen sowohl der Erzbischof als auch die Angehörigen der königlichen Familie auf sich warten. Sie hätten längst eintreffen müssen. Es knackte in den großen Lautsprechern.
»Ladies und Gentlemen«, hallte die Stimme eines Mannes über den großen Platz, »ich muß Ihnen leider mitteilen, daß die Königin an der heutigen Begräbnisfeier nicht teilnehmen wird.«
32. Kapitel
Der Sprecher der Königin wartete, bis sich der Aufruhr gelegt hatte. Als auf dem Platz wieder Ruhe herrschte, fuhr er fort: »Ihre Majestät, die Königin, hat im Namen der königlichen Familie eine Botschaft geschickt, aus der ich nun zitiere: ›Diese Zeremonie liegt nicht im Interesse Großbritanniens. Zwar hat das Parlament die Bestattung Kaspars in der Westminster Abbey befürwortet, doch wir können uns dieser Entscheidung nicht anschließen.‹« Die Zuschauer jubelten begeistert. »›Wir sehen uns machtlos einem Feind aus dem All gegenüber, der unsere Nation in die Knie zwang. Doch die Krone wird niemals kapitulieren. Es mag den Invasoren gelingen, unsere Körper zu versklaven, doch unser Geist bleibt frei und wird sich nicht dem Joch beugen.‹« Ian und Robert sahen sich betroffen an. Um sie herum ertönten wütende Stimmen, und es würde sicher nicht mehr lange dauern, bis die große Menge in Bewegung geriet. Walters beobachtete, wie die Visitors ihre Laser zogen. Offensichtlich waren sie entschlossen, einen Aufstand mit Waffengewalt niederzuschlagen.
»Diese Närrin!« keifte Medea. »Ist sie übergeschnappt?« Beverly mußte sich beherrschen, um nicht laut zu lachen. Nur aus Furcht vor einem Disziplinarverfahren, das ihre Karriere jäh beendet hätte, blieb sie still. Im stillen aber freute sie sich hämisch, daß Medeas Plan fehlgeschlagen war.
»Die sogenannte Königin jener Primitiven wagt es also, mir die Stirn zu bieten…«, zischte Medea zornig. »Nun, sie wird gleich eine Kostprobe unserer Macht bekommen, ob ihr das gefällt oder nicht.« »Was haben Sie vor?« fragte Beverly. Die Kommandeuse strich mit den Fingerkuppen über die glühenden Sensorpunkte auf der Kommandokonsole. »Ich werde den Menschen…« – sie sprach dieses Wort wie einen Fluch aus –, »…eine Lektion erteilen, die sie so rasch nicht vergessen. Ich glaube, wir sollten ihnen endlich klarmachen, in welcher Lage sie sich befinden.« Vor der Kommandeuse bildete sich ein Hologramm, mit Bildern von der Menge vor der Kathedrale. Männer und Frauen schüttelten die Fäuste und demonstrierten, daß sie den Standpunkt der Königin unterstützten. Zwei Visitors führten den Sprecher ab, der die Botschaft vorgelesen hatte. Er setzte sich nicht zur Wehr, sondern lächelte sogar, als ihm die Wächter das Mikrofon aus der Hand rissen und ihn vom Podium zerrten. »Tiere«, grollte Medea. »Es sind nichts weiter als Tiere, die ihre Zähne zeigen, wenn sie sich über irgend etwas freuen. Wie können sie es nur wagen, mich herauszufordern? Begreifen sie denn immer noch nicht, daß sie gegen uns keine Chance haben?« »Was wollen Sie jetzt unternehmen?« fragte die stellvertretende Kommandantin und lächelte dünn. »Das werde ich Ihnen zeigen!« Medea drehte sich ruckartig um, und es funkelte in ihren schwarzen Echsenaugen, als sie Beverly anstarrte. »Glauben Sie etwa, die Worte der alten Frau mit ihrer lächerlichen Krone hätten mich beeindruckt?« Zumindest haben sie zu einer erstaunlichen Reaktion geführt, dachte Beverly, ohne aber diesen Gedanken laut werden zu lassen.
»Die Menschen werden ihre Eigensinnigkeit bereuen«, fauchte Medea. »Ich habe noch eine kleine Überraschung für sie parat.« Rasch führte sie einige Schaltungen durch. »Ist das…?« begann Beverly, unterbrach sich dann aber. »Der Traktorstrahl, ja«, sagte Medea und verzog das Gesicht zu einer Fratze des Hasses.
Die Visitors des Sicherheitskordons eröffneten das Feuer auf die unbewaffneten Menschen. Flugboote glitten über die Menge, und blaue Blitze zuckten herab und töteten wahllos. Knisternde Energie kochte am Rande des Platzes entlang und verwandelte harten Stein in eine glühende, zähflüssige Masse. Keiner der Zuschauer sollte entkommen. Ein Mann entrollte den Union Jack und hielt ihn hoch empor. Die Fahne flatterte im Wind, und die Farben glänzten im hellen Sonnenschein. Ein Jubelschrei löste sich aus Tausenden von Kehlen. Von einem Augenblick zum anderen setzte sich die Menge in Bewegung. Beherzte Männer griffen die Visitors mit bloßen Händen an. Die Außerirdischen schossen auf die Heranstürmenden und hielten ihre Stellung. Dutzende von Menschen starben, doch die anderen wichen nicht zurück. Sie drangen weiter vor, wie von einem gemeinsamen Willen bewegt, dem Wunsch nach Gerechtigkeit. Die Visitors traten den Rückzug an und zogen sich zur Kathedrale zurück, bis ihre Rücken an die hohen Mauern stießen. Die blauen Laserblitze verkohlten Fleisch und löschten das Leben von Männern und Frauen aus, aber die anderen stiegen über ihre Leichen hinweg und kamen immer näher. Ihre Gesichter waren verzerrt, und sie schienen keinen Schmerz zu spüren, wenn heiße Flammen über sie
hinwegleckten. Der Gestank verkohlten Fleisches erfüllte die Luft; Rauchschwaden zogen träge dahin. Frauen schrien. Männer brüllten. Visitors zischten. Laserstrahlen fauchten. Dann waren die ersten Menschen heran und fielen über die Visitors her. Einige schwangen Latten und Stöcke aus Holz und schlugen damit auf die Feinde aus dem All ein. Dermatoplastmasken rissen, und grüne Schuppen wurden sichtbar. Von manchen Außerirdischen blieben nur blutige Fetzen übrig. Die anderen feuerten noch immer und töteten weitere Menschen, fielen dann aber ebenfalls der allgemeinen Wut zum Opfer und wurden erschlagen. Einige Menschen jubelten schon, und andere stimmten mit ein. Plötzlich aber senkte sich ein grünliches Glühen auf die Westminster Abbey. Die Kämpfer auf dem weiten Platz sahen erstaunt auf und beobachteten den smaragdfarbenen Glanz, der von dem gewaltigen Mutterschiff ausging und sich auf sie herabsenkte. Robert fühlte sich seltsam leicht und sah sich verwirrt um. Der Rauch schien von einer jähen Bö erfaßt und in die Höhe geweht zu werden. Pflanzen lösten sich aus ihren Kübeln und schwebten nach oben. Einigen Männern wurden die Latten aus der Hand gerissen. Mäntel flatterten empor. Kurz darauf spürte Robert, wie er den Boden unter den Füßen verlor, ebenso wie viele hundert andere. Er ruderte mit den Armen und versuchte, sich an irgend etwas festzuhalten. Seine Finger schlossen sich um den Arm eines anderen Mannes, der plötzlich ebenfalls gewichtslos zu werden schien und in die Höhe stieg. Erschrocken ließ Robert ihn los. Er bewegte sich bereits einige Meter über dem Boden, und als er den Kopf in den Nacken legte, konnte er andere
Menschen sehen, die über ihm schwebten, eingehüllt in jenes seltsame grüne Licht. Einige Leute traten wild um sich, andere schrien entsetzt. In der Unterseite des riesigen Mutterschiffes öffnete sich eine breite Luke, und die Menschen, die darin verschwanden, waren kaum größer als kleine Punkte. Robert fühlte, wie ihn die unheimliche Kraft hin und her stieß wie ein welkes Blatt im Herbstwind. Die Kathedrale blieb rasch unter ihm zurück, und als er ebenfalls dem gewaltigen Raumschiff näher kam, mußte er an den ironischen Aspekt seiner Situation denken. Medea hielt Wort: Sie holte ihn tatsächlich an Bord des Mutterschiffes.
33. Kapitel
Seamus Patrick Kelly saß vor dem eingeschalteten Fernseher und beobachtete verblüfft, wie Tausende von Menschen in die Höhe stiegen und in dem Raumschiff verschwanden, das über der Westminster Abbey schwebte. Die Aufnahmen stammten von einem Fernsehteam, das mit einem Hubschrauber über den Platz hinwegflog. In der Ferne war deutlich das silbrige Band der Themse zu sehen. Während der vergangenen vierundzwanzig Stunden hatte sich Kelly immer wieder diese Bilder angesehen, und noch immer spürte er dabei dasselbe Grauen. »Schrecklich«, hauchte er. »Das reinste Entsetzen…« Sein ganzes Leben lang hatte er die Engländer und die Symbole ihrer Nation gehaßt. Doch nun waren die Unterdrücker seines Volkes selbst zu Unterdrückten geworden. Dieser Gedanke erfüllte ihn aber nicht mit Genugtuung. Diesmal litt nicht die Bevölkerung eines einzelnen Staates, sondern die ganze Welt. Das, was in London geschah, wiederholte sich in den anderen Hauptstädten der Erde. Nach einer Weile stand Kelly auf, trat ans Fenster heran und sah übers Meer. Ihr politischer Ratgeber ließ noch immer auf sich warten, und Kelly bezweifelte allmählich, daß er jemals zurückkehren würde. Jetzt mußte er entscheiden, wann sie zuschlagen sollten. Er durfte nicht mehr lange zögern. Bestimmt triumphierten die Visitors über ihren Sieg in London. Wenn die IRA-Gruppe das Überraschungsmoment ausnutzen wollte, mußte sie unverzüglich angreifen.
Doch die Frage war: Wie sollten es Kelly und seine Leute bloß anstellen, dem Feind einen empfindlichen Schlag zu versetzen? Ein Soldat kam ins Zimmer. Kelly wandte sich um. »Ja?« »Gabriella und Subhash sind hier, Sir.« »Hier? Ich dachte, sie hielten sich in Manchester auf.« »Ich habe sie selbst gesehen. Vor ein paar Minuten schritten sie über den Schloßhof.« Kelly lief sofort los, um sie zu begrüßen. Als er die breite Treppe hinuntereilte, sah er, wie die junge Frau und ihr Begleiter den Saal betraten. Sie wirkten müde und schienen um Jahre gealtert zu sein. Kelly reichte ihnen die Hand. »Freut mich, Sie wiederzusehen«, sagte er. »Haben Sie von den Ereignissen in London gehört?« Gabriella nickte. »Wir müssen sofort handeln«, sagte Subhash. »Zu dem Entschluß bin ich auch gerade gekommen.« Kelly nickte. »Was sollen wir unternehmen?« Gabriella ließ sich in einen Sessel sinken und holte tief Luft. »Wenn wir uns beim Kampf gegen die Visitors auf den Boden beschränken, sind wir zu einem Guerillakrieg gezwungen, mit dem wir zwar einen Teil der feindlichen Kräfte binden, aber niemals die Aussicht haben, einen entscheidenden Sieg über die Invasoren zu erringen. Das verdammte Mutterschiff ist das Zentrum ihrer Macht. Und uns steht nur eine einzige Kampffähre zur Verfügung.« Kelly musterte Gabriella und Subhash und lächelte dabei leise. »Kommen Sie«, sagte er. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Die junge Frau stand auf und folgte Kelly zusammen mit Subhash ins Freie. Dicht vor den rätselhaften Segeltuchbündeln blieb der Ire stehen. »Unser Gastgeber ist noch nicht zurückgekehrt«, sagte er. »Ich fürchte, die Visitors haben ihn erwischt.« Gabriella räusperte sich und versuchte, ihr Lächeln zu verbergen. War es denn möglich, daß Kelly noch immer nicht seine wahre Identität kannte – obgleich er Lord SmytheWalmsley im Fernsehen gesehen hatte? Subhash machte eine entsprechende Bemerkung. »Smythe-Walmsley?« wiederholte Kelly. »Unmöglich. Vielleicht ist er wirklich mit dem Lord identisch. Aber ganz bestimmt nicht mit dem Mann im TV.« »Wer soll es denn sonst gewesen sein?« »Keine Ahnung… Irgendeine Marionette der Visitors, ein Roboter vielleicht. Mir fiel gleich auf, daß mit ihm irgend etwas nicht stimmte.« »Was meinen Sie damit?« fragte Gabriella voll Freude, daß das Geheimnis endlich gelüftet war und sie nicht länger schweigen mußte. »Er hätte sich einfach niemals freiwillig zu einem Handlanger der verdammten Echsen gemacht«, sagte Kelly fest. »Er wäre nicht der erste Verräter«, wandte Subhash leise ein. »Haben Sie den Mann im Fernsehen denn nicht beobachtet? Er bewegte sich steif und ungelenk, und sein Gesicht ähnelte einer leeren Maske. Nein, das war nicht jener Mann, den wir kennen.« Gabriella hatte längst einen ähnlichen Verdacht. Die Technik der Visitors war wesentlich weiter entwickelt als die der Erde. Bestimmt konnte der Feind den Widerstand eines alten Mannes brechen. Kummervoll fragte sie sich, was die Außerirdischen mit dem armen Lord Smythe-Walmsley angestellt hatten.
»He, Jungs!« rief Kelly. »Helft mir mal, die Planen zu lösen!« Einige Männer eilten über den Schloßhof, traten an die Segeltuchpakete heran und entknoteten die Seile. »Jetzt bin ich aber gespannt«, sagte Gabriella. Sie wagte kaum zu hoffen, daß sich das Geheimnis unter den Planen zu einem wirkungsvollen Kampf gegen die Visitors nutzen ließ. »Dazu haben Sie auch allen Grund«, sagte Kelly mit einem zufriedenen Grinsen. Die Männer zogen das erste Tuch beiseite, und Gabriellas Blick fiel auf eine gewölbte Fläche aus strahlendem Weiß. Als sie eine lange Kufe sah, begriff sie plötzlich, was sich unter den Planen befand. »Flugboote!« platzte es aus ihr heraus. »Visitor-Shuttles!« Sie täuschte sich nicht und zählte schließlich insgesamt sechs Kampffähren. Eine ganze Flotte! »Mit der, die Sie erbeuteten, sind es sieben. Nun, was sagen Sie dazu, Mädchen?« Gabriella umarmte erst Subhash und dann Kelly. »Wir haben eine Chance!« rief sie. »Ja, jetzt haben wir wirklich eine Chance!« Sie lachten und sprachen über die bevorstehende Schlacht. Die anderen IRA-Kämpfer schlossen sich Gabriellas Meinung an: Sie hatten jetzt eine Streitmacht, die selbst für die Visitors eine erhebliche Gefahr darstellte.
34. Kapitel
Beverly beobachtete, wie die letzten Gefangenen in der Bereithaltungshibernation untergebracht wurden. Zwei Männer aus der Menge vor der Kathedrale sollten zu Medea gebracht werden. Die stellvertretende Kommandantin wanderte an langen Reihen durchsichtiger Stasistanks vorbei und ließ ihren Blick über die vielen Gestalten schweifen: lebende Nahrung nicht nur für die Besatzung des Mutterschiffes, sondern auch für die Sirianer auf dem Heimatplaneten. Sie lächelte zufrieden. Sie hatten den Engländern tatsächlich eine Lektion erteilt und eine Strafaktion durchgeführt, die ihnen im Gedächtnis bleiben würde. Zumindest denjenigen, fügte Beverly in Gedanken hinzu, die auf der Erde zurückgeblieben sind. Von Anfang an hatte sie nichts von Medeas psychologischer Taktik gehalten. Diese Geschöpfe waren zu primitiv, um selbst die einfachste Logik zu verstehen. Sie starben lieber, als unter der Herrschaft der Visitors zu leben. Was für Narren! fuhr es Beverly durch den Sinn. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Medea endlich begriff, daß sie erneut versagt hatte. Die stellvertretende Kommandantin brauchte einfach nur abzuwarten. Als sie sich an ihren früheren Plan erinnerte, gegen die Kommandeuse gezielt zu intrigieren, um deren Platz einnehmen zu können, schüttelte sie den Kopf. Medea war auf dem besten Wege, sich selbst ans Messer zu liefern. Als sie sich dem Zugang zu der riesenhaften Hibernationskammer näherte, sah sie einen Wächter, der neben zwei offensichtlich sehr ängstlichen Menschen stand.
»Sind das die beiden Personen, die Sie suchen?« fragte der Soldat. In einem der beiden Männer erkannte Beverly Ian, den ehemaligen Anführer der britischen Widerstandsbewegung. Bei dem anderen handelte es sich offenbar um den Lehrer, der bei der Gefangennahme von Nigel Smythe-Walmsley eine wichtige Rolle gespielt hatte. »Sie sind Robert Walters?« fragte sie. »Ja«, bestätigte Robert unsicher. »Ja, der bin ich.« »Ian…« Sie musterte ihn eingehend. Der blonde Mann wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Er sah ein Echsenwesen mit grüner Schuppenhaut und einem großen Rachen mit spitzen Reißzähnen. Beverly hielt es nicht mehr für nötig, eine Dermatoplastmaske zu tragen. »Begleiten Sie mich«, sagte die stellvertretende Kommandantin. »Die Kommandeuse wartet auf Sie.« Ian und Robert wechselten einen kurzen Blick. Ihre Furcht ließ nach, und Ian lächelte sogar. Robert ließ den angehaltenen Atem entweichen und schien erleichtert zu sein. Er konnte es kaum fassen, daß sich die Dinge doch noch so entwickelten, wie er gehofft hatte. Er befand sich nun in Sicherheit; an Bord des Mutterschiffes stellten weder Gabriella noch die anderen Terroristen eine Gefahr für ihn dar. Die beiden Männer folgten Beverly durch lange Korridore und sahen sonderbar anmutende Apparaturen und Instrumente, deren Zweck ihnen ein Rätsel blieb. Überall wimmelte es von Visitors. Einige sahen wegen ihrer Masken wie Menschen aus; andere waren auf den ersten Blick als Reptilien zu erkennen. Robert wurde erneut nervös, und gleichzeitig empfand er so etwas wie aufgeregte Faszination. Ich habe das Schlimmste überstanden, dachte er. Und jetzt steht mir eine Begegnung mit Medea bevor. Bestimmt wird sie uns für unsere Loyalität belohnen.
Schließlich erreichten sie das breite Schott, das in den Kontrollraum führte. Beverly tastete einen Code in die Kontrolleinheit, und die massive Stahlwand schob sich beiseite. Robert fielen mehrere Visitors auf, die an breiten Konsolen saßen und die Funktionen des Raumschiffes überwachten. Auf einem Podium in der Mitte stand eine dürre Visitor, die nach wie vor ihre menschliche Maske trug. Beverly führte die beiden Männer zu ihr. Medea wandte sich von den Geräten ab und richtete den Blick auf die beiden Menschen. »Ich danke Ihnen, Medea«, sagte Ian. »Schweigen Sie!« zischte die Kommandeuse. Die beiden Männer duckten sich. »Sie sind also Robert Walters«, sagte Medea nach einigen Sekunden. Robert nickte und wagte nicht den leisesten Laut von sich zu geben. »Stimmt es, daß wir die Gefangennahme von Nigel SmytheWalmsley Ihren Informationen zu verdanken haben?« Robert strahlte. »Ja, das ist richtig.« »Dafür stehen wir in Ihrer Schuld.« Walters versuchte, seinen Triumph zu verbergen. Er zweifelte jetzt nicht mehr daran, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Die Visitors empfingen ihn mit offenen Armen. Vielleicht konnte er sogar hoffen, nach den Unruhen auf der Erde einen wichtigen Posten in der Kolonialregierung zu erhalten. »Ian hat Ihre Arbeit für uns wiederholt gelobt«, stellte Medea fest. »Ich habe mir alle Mühe gegeben«, erwiderte Robert bescheiden.
»In der Tat.« Medea beugte sich vor und bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick. »Aber Sie drohten auch damit, einen unserer Agenten zu verraten, nicht wahr?« Robert gab keine Antwort. Aus den Augenwinkeln sah er Ians schiefes Lächeln. »Sprechen Sie lauter!« befahl die Kommandeuse scharf. Offenbar machte es ihr Spaß, Robert einzuschüchtern. »Ich konnte nicht hören, was Sie sagten.« »Ich…« Walters räusperte sich nervös. »Die Drohung… war nicht ernst gemeint. Ich wollte ihn nur unter Druck setzen, damit er etwas unternimmt, um mich vor Gabriella zu schützen.« »Ach?« »Bitte glauben Sie mir.« Verzweiflung vibrierte in Roberts Stimme. »Es waren Worte, ich hätte so etwas nie getan.« »Es freut mich, das zu hören, Mr. Walters. Aber wie können wir sicher sein, daß Sie jetzt die Wahrheit sagen?« »Nun, ich habe Ian nicht verraten, oder?« Er wimmerte fast. Voll panischer Angst dachte er daran, daß Medea aufgrund seines Verhaltens zu falschen Schlußfolgerungen gelangen konnte. »Und ich bin aus freiem Willen hierhergekommen, oder?« »Wohl kaum.« Robert befeuchtete sich die Lippen. »Sicher, ich wurde von dem grünen Transportfeld erfaßt, wie auch alle anderen, aber… Ich habe mich an Ihre Anweisungen gehalten und darauf gewartet, daß Sie mich an Bord holen. Glauben Sie etwa, ich wäre bereit gewesen, hierherzukommen, wenn ich die Absicht gehabt hätte, Sie zu verraten?« »Um ganz offen zu sein, Mr. Walters: Das ist mir völlig gleich.« Robert setzte zu einer weiteren Bemerkung an, unterbrach sich aber bereits im Ansatz. Er begriff plötzlich, daß es
aussichtslos war. Er stand hier nicht vor einem englischen Gericht. Die Außerirdische konnte ganz nach Belieben mit ihm verfahren. »Haben Sie sonst noch etwas zu sagen?« fragte Medea. »Nein. Ich… ich unterwerfe mich Ihrem Willen.« Die Kommandeuse lächelte kühl und maß Robert mit einem spöttischen Blick. »Ich glaube, wir werden ein Festessen veranstalten.« Walters wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Das… das ist sehr nett von Ihnen, Medea.« »Wahrscheinlich sind Sie recht zäh, aber das gibt dem Koch Gelegenheit, seine Künste zu beweisen.« Robert versuchte zu lachen, doch der Tonfall der Kommandeuse machte ihm deutlich, daß sie nicht scherzte. Er röchelte, als ihn panische Angst packte. »Schafft ihn fort!« befahl Medea.
35. Kapitel
Die Vorbereitungen bei den Kampffähren waren nahezu beendet. Unter Alhazreds Aufsicht brachten die Männer Waffen und Ausrüstungsgegenstände an Bord. Nach der langen Wartezeit in Schloß Kramden brannten alle darauf, endlich loszuschlagen. Sie wußten zwar genau, daß sie sich auf ein sehr gefährliches Unternehmen einließen, aber jeder einzelne von ihnen war bereit, für einen Sieg über die Visitors sein Leben zu opfern. Gabriella wandte sich an Kelly. »Da fällt mir gerade ein: Wer soll die Shuttles eigentlich fliegen? Wir wissen doch gar nicht, wie man die Kontrollinstrumente bedient.« »Erinnern Sie sich an die gefangenen Visitors?« fragte Kelly. »Natürlich.« Vor Gabriellas innerem Auge wiederholte sich die gräßliche Szene auf dem Schloßhof. »Von ihnen habe ich erfahren, was es mit den Geräten an Bord auf sich hat. War gar kein großes Geheimnis. Ist kinderleicht, die Dinger zu steuern.« Gabriella schauderte unwillkürlich. Kellys Worte bewiesen ihr, daß er zu keinem Zeitpunkt ernsthaft vorhatte, die Gefangenen am Leben zu lassen. Er hatte nur gewartet, bis er über die Funktionsweise der Flugboote Bescheid wußte – und die Visitors anschließend kaltblütig getötet. In seinem Vorgehen ist er ebenso grausam wie die Außerirdischen, dachte die junge Frau. Und vielleicht gelingt es ihm gerade deshalb, einen wirkungsvollen Kampf gegen sie zu führen. Einige Minuten später war alles bereit, und schweigend gingen die Männer an Bord. Sechs von ihnen hatte Kelly die
Kontrollmechanismen der Shuttles erklärt, und er selbst nahm nun an der Steuerungskonsole der siebten Kampffähre Platz. Gabriella hielt den Atem an, als sie abhoben. In den Projektionsfeldern beobachtete sie dreidimensionale Abbildungen des Schlosses und sah, wie sie an den Türmen und Zinnen vorbeiglitten. Kurz darauf schwebten sie über dem Meer. Kelly berührte einen Sensorpunkt, und daraufhin raste das Flugboot der Sonne entgegen.
»Haben Sie bereits das Doppel beseitigt?« wollte Medea wissen. »Das Duplikat von Lord Smythe-Walmsley?« fragte Beverly und verspeiste eine Feldmaus. »Ja. Ich glaube, wir können es noch verwenden. Mir ist da gerade etwas eingefallen…« »Ich lasse ihn sofort hierherbringen.« Beverly wandte sich an einen Wächter, und der Uniformierte machte sich unverzüglich auf den Weg. »Wir werden uns ein wenig mit einem unserer Gefangenen vergnügen«, sagte Medea kalt. Beverly schwieg. Seit dem Westminster-Abbey-Zwischenfall hatte sich die Kommandeuse verändert. Der Fehlschlag ihres propagandistischen Plans schien Medea überraschend stark zu belasten – obgleich der Einsatz des Traktorstrahls auch einen Vorteil hatte: Jetzt wußten die Engländer, daß die Visitors entschlossen waren, hart durchzugreifen und keinen Widerstand zu dulden. Trotzdem verschlechterte sich Medeas Stimmung immer mehr, und sie zeigte immer offener ihre sadistischen Neigungen. Außerdem hatte sie die Absicht, ihr Fasten zu beenden. Beverly dachte an Robert Walters und spürte, wie ihr Gaumen feucht wurde.
Vielleicht konnte sie an dem Festessen teilnehmen. Das würde sie für vieles entschädigen. Kurz darauf kehrte der Wächter mit dem Lord-Double zurück. Diese Marionette in der Gestalt Smythe-Walmsleys schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen, sondern plapperte noch immer vom Ruhm Großbritanniens und wiederholte ständig, wie wichtig es für die englische Bevölkerung sei, mit den Visitors zu kooperieren. Für etwas anderes ließ sein Psychoprogramm keinen Platz. Der Uniformierte zerrte ihn durch die Tür, und er bewegte sich steifbeinig wie ein Roboter. Vor dem Podium in der Mitte des Kontrollraums blieb er stehen und starrte ins Leere. »Was haben Sie mit ihm vor?« fragte Beverly. »Er soll in Nigels Zelle gebracht und dort so lange gefoltert werden, bis der Widerstandswille des jungen Herrn zusammenbricht.« Zwar war Medea für Beverly noch immer eine Rivalin, aber sie war trotzdem begeistert. »Eine ausgezeichnete Idee! Nigel wird glauben, es sei sein Vater. Und außerdem können wir jederzeit Ersatz schaffen, wenn es erforderlich werden sollte, auf die Hilfe des Lords zurückzugreifen.« »Genau.« Doch Medea reagierte nicht annähernd so enthusiastisch wie ihre Stellvertreterin. Offenbar zog sie subtilere Methoden vor, um ihr Ziel zu erreichen. »Das Festmahl wird in Kürze aufgetragen«, sagte sie bitter. »Während wir es genießen, können wir beobachten, was mit Nigel und dem Lord-Klon geschieht.« »Wunderbar!« entfuhr es Beverly entzückt. »Sie sind ein Genie, Medea!« Die Kommandeuse musterte sie kurz. Meinte Beverly das wirklich ernst? Begriff sie noch immer nicht, daß ihre Vorgesetzte auf der ganzen Linie versagt hatte? Sicher, es war ihr gelungen, Tausende von Gefangenen zu machen und damit
die Hibernationskammer für Frischnahrung zu füllen; aber sie hatte es nicht geschafft, Kaspars Bestattung in der Westminster Abbey durchzusetzen. Die britische Bereitschaft zum Widerstand war gewachsen, anstatt wie Schnee in der Sonne dahinzuschmelzen. Und vermutlich zogen die Engländer nun den Tod vor, anstatt sich mit der Herrschaft der Visitors abzufinden. Anscheinend hatte Beverly nicht die geringste Ahnung von der menschlichen Psyche. Medea lächelte hintergründig. Sie wußte, daß Beverly an ihrer Stelle ebenfalls versagt hätte. Doch das war nur ein geringer Trost. »Heute abend«, sagte sie leise. »Heute abend genießen wir das Fleisch eines Feiglings.« »Was ist mit dem anderen Mann?« fragte die stellvertretende Kommandantin. »Ian?« Medea hatte überhaupt nicht mehr an ihn gedacht. »Ja. Was soll aus ihm werden?« »Er kann uns beim Festessen Gesellschaft leisten und zusehen. Na, was halten Sie davon, Beverly?« Die stellvertretende Kommandantin hob ihre Klauenhände und gab ein zufriedenes Zischen von sich. Sie freute sich auf einen ausgesprochen angenehmen Abend. »Bitte weisen Sie den Koch an, das Fleisch nur anzubraten«, bat sie. »Ich mag es am liebsten roh und blutig.« »Wie Sie wollen.« Medea seufzte und winkte ab. »Es ist mir völlig gleich, wie der Mensch zubereitet wird. Der Koch soll sich nur beeilen. Ich habe schon viel zu lange gefastet.« Beverly lächelte und verließ den Kontrollraum, um die Vorbereitungen für das Festmahl zu beaufsichtigen.
36. Kapitel
Nigel erwachte aus einem seltsamen Traum und kehrte aus einer Welt diffuser Farben in die Wirklichkeit seiner kleinen Zelle zurück. Er glaubte, eine vertraute Stimme zu hören. Vater? Der hatte ihn mehrmals besucht, doch seit einiger Zeit war er nicht mehr zu ihm gekommen. Weil er sich um andere, wichtigere Dinge kümmern mußte? Wie schon oft hatte Nigel das Gefühl, daß ihn der Vater vernachlässigte, weil ihm auch überhaupt nichts an seinem Sohn lag. Einmal mehr erinnerte er sich an seinen siebten Geburtstag, an Trauer, Enttäuschung und Zorn. Nigel stemmte sich in die Höhe und musterte die Gestalt, die auf der Türschwelle stand, umwallt von faserigen Dunstschwaden. Seine Augen tränten, aber dennoch glaubte er den Mann zu erkennen. Es schien tatsächlich sein Vater zu sein. »Wo bist du gewesen?« fragte er leise. »Ich habe dich sehr vermißt.« Der alte Mann gab keine Antwort, sondern starrte nur ins Leere und reagierte überhaupt nicht. »Ist etwas nicht in Ordnung, Vater?« Das Duplikat des alten Lords drehte langsam den Kopf und lauschte. Nigel fragte sich, auf was sein Vater aufmerksam geworden war, und nach einigen Sekunden hörte er es ebenfalls: das Geräusch schwerer Schritte, die sich rasch näherten. Zwei Visitors kamen herein. Sie trugen rote Uniformen und hohe Stiefel, packten den alten Mann und schleuderten ihn an
die Wand. Der Lord stöhnte und sank zu Boden, verlor aber nicht das Bewußtsein. »Was macht ihr da?« schrie Nigel. Die Echsen beachteten ihn jedoch gar nicht, sondern zerrten den alten Mann wieder in die Höhe. Nigel begann zu zittern. Wo hatte er diese Ungeheuer schon einmal gesehen? Existierten sie wirklich? Oder halluzinierte er nur? Er fand keine Antworten auf diese Fragen. Er wußte nur, daß sein Vater zu ihm gekommen war. Und die Reptilien versuchten, ihn zu töten. Nigel versuchte, die Beine über die Bettkante zu schwingen. Er brauchte seine ganze Kraft, um sich aufzurichten, und unterdessen wurde sein Vater weiterhin von den gräßlichen Geschöpfen gequält. Nigels Knie waren weich wie Butter. Wütend fragte er sich, warum er sich kaum bewegen konnte. Schließlich aber gelang es ihm, sich an der Wand in die Höhe zu ziehen. Die Echsen waren so mit dem alten Mann beschäftigt, daß sie ihn überhaupt nicht bemerkten. Nigel sah Blut, das aus mehreren häßlichen Platzwunden am Kopf seines Vaters tropfte. Er mußte sich beeilen. Unsicher taumelte er durch den farbigen Dunst. Er versuchte, den ersten Visitor anzugreifen. Visitor! Als er die Faust ballte und einem der Eindringlinge einen Schlag versetzte, erinnerte er sich wieder daran, wer sie waren. Er fühlte harte Schuppen, und das Wesen drehte sich einfach nur um, streckte ruckartig einen Arm aus und schleuderte ihn durch die Zelle. Nigel prallte an die Wand und sank zu Boden. Vor seinen Augen verschwamm alles. Als sich sein Bild von der Umgebung wieder stabilisierte, stellte er fest, daß die Visitors nach dem alten Mann traten und ihn nach wie vor nicht in Ruhe ließen. Der Vater stöhnte leise und konnte sich nicht wehren.
Nigel sah sich nach irgend etwas um, das sich als Waffe verwenden ließ. Doch die winzige Kammer war leer – bis auf das schmale Bett. Nach einigen Sekunden wurde er auf die Streben aufmerksam, die die schmale Liege mit der Wand verbanden. Er kroch darauf zu, stemmte sich an die Pritsche und versuchte, eine der Haltestangen zu lösen. Das Bett knarrte leise, und Nigel spürte, wie er erneut zu schwindeln begann. Er mißachtete dieses Schwächezeichen, denn er wußte, daß sein Vater verloren war, wenn er ihm nicht half. Aus dem Knarren wurde ein dumpfes Knacken: Ein Teil des Bettes fiel zu Boden. Entschlossen zerrte Nigel daran – bis er ein Fragment des Gerüstes in der Hand hielt, einen länglichen Gegenstand, den er wie eine Keule schwingen konnte. Er sprang auf, stürmte durchs Zimmer und ließ die Verstrebung auf den Schädel eines Visitors herabsausen. Die Echse röchelte kaum hörbar und sank zu Boden. Das andere Ungeheuer war so darauf konzentriert, den alten Mann zu foltern, daß es den Angriff gar nicht wahrnahm. Er sah auch nicht, wie Nigel den Laser aus dem Holster zog. Der zweite Visitor hob seine blutverschmierte Klaue zu einem neuerlichen Schlag, als sich ihm ein blauer Laserstrahl in den Schuppenleib brannte. Überrascht riß er die schwarzen Echsenaugen auf, war einige Sekunden lang wie erstarrt und stürzte dann ebenfalls auf kalten Stahl. Lord Smythe-Walmsley rollte sich unendlich langsam zur Seite und ächzte. Mit zwei raschen Schritten war Nigel neben ihm. »Vater«, brachte er hervor. »Ist alles in Ordnung mit dir?« Der alte Mann starrte ihn verständnislos an, als Nigel vorsichtig seinen Kopf stützte und ihm über das schüttere Haar strich.
»Großbritannien muß sich einer überlegenen Kultur unterwerfen«, murmelte Vater. »Einer überlegenen Kultur… einer überlegenen Kultur…« Was hatten die Fremden mit ihm angestellt? Sein Geist schien verwirrt, und er schien mit seinen Gedanken ständig in einer anderen Welt zu sein. Das mußten die Visitors mit Hilfe des Konvertierungsverfahrens geschafft haben. Er war nicht mehr er selbst. Der alte Mann stöhnte erneut, und dann sank sein Kopf haltlos zur Seite. Tot. »Nein!« Nigel beugte sich vor, starrte fassungslos auf die Leiche und spürte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. Er erinnerte sich an seinen siebten Geburtstag, an die Enttäuschung darüber, daß ihn der Vater allein gelassen hatte. Doch jetzt war er zu ihm zurückgekehrt und bereit dazu, sein Leben für ihn zu geben. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Zischen, und mehrere Visitors kamen in die Zelle. Nigel wirbelte herum, feuerte und sah, wie die erste Echse zu Boden fiel. Die zweite starb nur einen Sekundenbruchteil später, und ein weiterer Laserblitz schoß über den Schädel der dritten. »Ihr verdammten Ungeheuer!« brüllte Nigel. »Ihr glaubt, eure Kultur sei der unsrigen überlegen. Aber ihr seid doch nichts weiter als grausame Barbaren!« Er schoß, während er schrie, und betätigte immer wieder den Auslöser der fremden Waffe. Wegen des Dunstes war er für die Visitors im Korridor kein klares Ziel, und die Leichen auf der Schwelle verhinderten, daß sie einfach in die kleine Zelle stürmen konnten. Nigel hatte dagegen ein klares Schußfeld und nutzte seinen Vorteil. Die Außerirdischen wichen zurück und ließen den jungen Mann mit der Leiche des Menschen zurück, den er für seinen
Vater hielt. Ihre Absicht hatte darin bestanden, seinen Willen zu brechen. Statt dessen war er mehr denn je zum Kampf entschlossen. »Kommt nur!« rief Nigel und feuerte. »Kommt nur, wenn ihr mutig genug seid. Oder habt ihr etwa Angst vor dem Tod?« Keiner der Visitors war bereit, seine Herausforderung anzunehmen.
37. Kapitel
»Was soll das bedeuten?« zischte Medea. Zusammen mit den anderen Offizieren des Mutterschiffes starrte sie durch die transparente Wand. Nigel wandte ihnen den Rücken zu, und die Tür seiner Zelle befand sich weiter rechts. Die Kommandeuse beobachtete die Leichenbarriere vor dem Zugang der winzigen Kammer und verfluchte die Feigheit der Wächter. »Zwar steht er nach wie vor unter der Wirkung von Verwirrungsdrogen«, Medea wurde immer wütender, »aber trotzdem werden die Soldaten nicht mit ihm fertig. Wir sollten ein anderes Gas einsetzen, irgendeine toxische Substanz, um ihn endgültig zu erledigen.« Beverly hob ihre schmierigen Hände und nagte an einem Appetithäppchen. Als sich die Wächter den Klon Lord Smythe-Walmsleys vornahmen, war der Hauptgang des Festmahls aufgetragen worden. Die stellvertretende Kommandantin knirschte genießerisch mit den Zähnen, als sie ihren Blick über das Kunstwerk des Kochs schweifen ließ. Der kandierte Apfel war die Krönung kulinarischer Dekoration. Plötzlich schrillten Sirenen, und Medea hob ruckartig den Kopf. Seit dem Beginn der Invasion war es noch nie zu einem Gefechtsalarm gekommen. Das Mutterschiff wurde angegriffen! Beverly seufzte und fragte sich, ob sie noch die Gelegenheit bekommen würde, das Festessen zu genießen. Sie warf auf Ian einen kurzen Blick. Sie hatten den ehemaligen Anführer der britischen Widerstandsbewegung gezwungen, ebenfalls am Tisch Platz zu nehmen – damit er sich keine Illusionen mehr
über seine Lage machte. Das Gesicht des Mannes war eine Fratze des Grauens. Der Alarm beunruhigte Beverly nicht weiter. Der Gedanke an einen Angriff auf das Mutterschiff war schlichtweg absurd. Die Erde hatte nicht die notwendigen technologischen Voraussetzungen. Vermutlich handelte es sich nur um einen IRA-Terroristen, der mit einem Flugboot im Hangar gelandet war. In diesem Zusammenhang erinnerte sich Beverly an den Amerikaner Mike Donovan, der die Kommandeuse Diana mehrmals mit solchen Überraschungsmanövern verblüfft hatte. Nun, die stellvertretende Kommandantin war sicher, daß nicht die geringste Gefahr drohte. Das Heulen der Sirenen dauerte an. Soldaten verließen die Bereitschaftsräume und stürmten mit entsicherten Waffen durch Gänge und Korridore. Selbst die Wächter vor Nigels Zelle reagierten auf den Alarm und rannten in Richtung auf den Hangar. Beverly sah auf und stellte fest, daß sich Medea bereits auf den Weg gemacht hatte, um den Einsatz ihrer Truppen zu leiten. Sie erhob sich widerstrebend und beschloß, ebenfalls an der Aktion teilzunehmen. Wenn sie blieb und sich dazu hinreißen ließ, den Hauptgang der Mahlzeit in Abwesenheit der Kommandeuse zu probieren, mochte ihr das einen offiziellen Verweis einbringen. Als sich Beverly dem Korridorzugang näherte, rief Ian hinter ihr her. »Und was ist mit mir?« fragte er. »Was soll schon mit Ihnen sein?« »Sie können mich doch nicht schutzlos zurücklassen. Nigel ist mit einem Laser bewaffnet. Vielleicht kommt er hierher, und dann wird er mich töten.« »Unsinn. Er ist noch immer nicht ganz bei sich. Bestimmt bleibt er in der Zelle, bis alles vorbei ist.«
Beverly verließ den Raum, und hinter ihr schloß sich ein Schott. Ian blieb allein im Zimmer zurück und starrte nervös durch die transparente Wand in Nigels Zelle. Deutlich konnte er sehen, daß der noch immer den erbeuteten Laser in der Hand hielt. Die durchsichtige Mauer war allerdings so bearbeitet, daß ihn der Sohn des Lords nicht erkennen konnte. Nigel kniete vor der Leiche seines vermeintlichen Vaters und wirkte so erschüttert, daß sich Ian einige Sekunden lang wünschte, ihm die Wahrheit sagen zu können. Dann schüttelte er nervös den Kopf. Selbst wenn sich ihm eine solche Gelegenheit bot: Bestimmt würde Nigel sofort auf ihn schießen. Und Ian hing am Leben. Trotz allem. Nigel drehte sich langsam um und schien ihn jetzt direkt anzustarren. Seine Augen blitzten vor Wut. Ian hatte jetzt nicht mehr den geringsten Zweifel daran, daß ihm bei einer Begegnung der Tod drohte. Er kann mich nicht sehen, erinnerte er sich an Medeas Auskunft. Er hat überhaupt keine Ahnung, daß ich mich auf dieser Seite der Wand befinde. Doch Ian hätte schwören können, daß Nigels zorniger Blick ihm galt. Langsam wich er von der transparenten Fläche zurück und fragte sich erschrocken, ob ihm die Kommandeuse etwas vorgemacht hatte. Wenn Nigel doch in der Lage war, ihn zu erkennen… Er stieß gegen etwas Hartes, wirbelte um die eigene Achse und riß entsetzt die Augen auf. Er stand nun direkt vor dem Bankettisch. Und auf dem großen silbernen Tablett lag das Festmahl der Echsen. Ian würgte – und zuckte zurück, so als sei er dem leibhaftigen Teufel begegnet. Würde er ebenso enden wie Robert Walters? Obgleich er den Invasoren geholfen hatte? Er keuchte mehrmals und versuchte, sich nicht zu übergeben.
»Ich muß hier raus«, brachte er hervor und wandte sich zur Tür. Vielleicht gelang es ihm ja, zu den Leuten zu stoßen, die in das Mutterschiff eingedrungen waren. Nur Robert hatte von seiner Zusammenarbeit mit den Visitors gewußt – und jetzt konnte er nichts mehr verraten. Wie aber sollte er seine Anwesenheit an Bord des Mutterschiffes erklären? Ja, natürlich: Er mußte einfach behaupten, er sei mit Nigel in Gefangenschaft geraten. Nein, nein, dachte Ian, ich muß mir etwas Besseres einfallen lassen. Wenn Nigel dann Aussagen machen würde, die im Widerspruch zu seiner eigenen Version der Ereignisse standen… Er entschied sich für einen Teil der Wahrheit: Er hatte auf dem Platz vor der Westminster Abbey gewartet und war wie viele andere in den Traktorstrahl geraten. Er nahm sich vor, nur dort zu lügen, wo es sich nicht vermeiden ließ. Doch erst einmal kam es darauf an, aus diesem Raum hinauszukommen und sich den Widerstandskämpfern anzuschließen. Er trat auf die Tür zu und hoffte, daß sich auch vor ihm das Schott von allein öffnen würde. Aber es erfolgte keine Reaktion. Die Stahlfläche rührte sich nicht von der Stelle. Es mußte irgendeinen Kontrollmechanismus geben. Mit wachsender Verzweiflung suchte Ian danach, ohne daß er jedoch etwas entdecken konnte. Vielleicht eine Taste auf der Konsole, fuhr es ihm durch den Sinn. Er hastete an das Gerät und berührte mehrere Sensorpunkte. Nichts geschah. Er versuchte es mit unterschiedlichen Schaltkombinationen, doch das Schott blieb weiterhin geschlossen. Das einzige Geräusch, das er jetzt vernahm, war das dumpfe Pochen eiliger Schritte jenseits der Wände. Wütend schlug er mit den Fäusten auf die Konsole, als er begriff, daß Beverly ihn eingeschlossen hatte.
Nigel stand dicht vor der transparenten Fläche und schien ihn zu beobachten. Ian preßte die Hände an die Schläfen, drehte sich im Kreis und begann zu schreien. Er brüllte, bis er das Gefühl hatte, ihm könnten jeden Augenblick die Lungen platzen. Schrill hallte seine Stimme von den Wänden wider. Und nach wie vor war Nigels Blick auf ihn gerichtet…
38. Kapitel
Gabriella kniete hinter einem großen, mit flüssigem Treibstoff gefüllten Tank und feuerte mit ihrem Laser auf die heranstürmenden Visitors. Die Außerirdischen hatten zwar überraschend schnell auf den Angriff der Widerstandskämpfer reagiert, machten gerade wegen dieser Eile jedoch einen entscheidenden Fehler. Sie saßen in den Korridoren fest, die zum Hangar führten. Insgesamt gab es drei Zugänge, die von jeweils zehn IRAKämpfern gesichert wurden. Keinem einzigen Visitor gelang es, die große Halle lebend zu erreichen. Andererseits waren die Echsen weit in der Überzahl. Bestimmt würden sie bald zurückweichen, um sich für eine wirkungsvollere Taktik zu entscheiden. Alhazred in seinem Burnus hockte dicht neben der jungen Frau. Er zielte und schoß in unregelmäßigen Abständen auf die Visitors im mittleren Zugang. Blaue Laserblitze zuckten zwischen den Flugbooten und Passagen hin und her. Rauchschwaden drifteten träge dahin. Es stank nach verbranntem Kunststoff. »Geben Sie mir Feuerschutz«, sagte der Araber. Erstaunt blickte Gabriella zur Seite, als Alhazred plötzlich hinter der Deckung hervorsprang und dem Feind entgegenlief. In der einen Hand hielt er seinen Laser, in der anderen einen Sprengkörper. Energiestrahlen leckten gleißenden Fingern gleich nach dem Mann, doch Alhazred blieb in Bewegung. In seiner Tollkühnheit hatte er wohl keine Zeit für Furcht. Vielleicht
dachte er jetzt an den Dschihad, an den Heiligen Krieg der Mohammedaner. Und bestimmt war er davon überzeugt, daß sich Allah seiner Seele erbarmen würde, wenn er starb. Gabriella rechnete jeden Augenblick damit, daß ihn einer der Laserblitze treffen würde. Doch nach wenigen Sekunden erreichte der Araber den Korridor, duckte sich und schleuderte die Handgranate. Mit einem lauten Klacken fiel sie auf den stählernen Boden und rollte noch einige Meter weiter. Die Visitors zischten furchtsam. »Allah Akbar!« rief Alhazred. Er wirbelte um die eigene Achse und rannte zurück. Die Außerirdischen waren so verwirrt, daß sie für einige Sekunden das Feuer einstellten. Als sie gerade wieder ihre Laser hoben, explodierte der Sprengkörper. Orangefarbene Flammen loderten, und die Druckwelle zerfetzte grüne Schuppenleiber. Alhazred stürmte durch den Hangar und wiederholte seinen Kampfruf. Entsetzt beobachtete Gabriella, wie mehrere Visitors in den beiden anderen Gängen auf ihn anlegten. Konzentrierte Energie kochte über den Metallboden. »Alhazred!« entfuhr es der jungen Frau. Er war nur noch einige Meter von ihr entfernt, als einer der Strahlen traf und sich durch den weißen Umhang des Arabers brannte. Alhazreds Gesicht blieb ausdruckslos, als er jäh stehenblieb und auf das schwarze Loch in seinem Burnus starrte. »Allah…«, sagte er leise – und brach zusammen. Für einige Augenblicke ließen die anderen Widerstandskämpfer ihre Waffen sinken. Rauch zog über die Leiche des Arabers. »Vorwärts, Leute!« rief Kelly. Er stand auf, schoß und stürmte dem mittleren Korridor entgegen.
Dreißig Männer und Frauen folgten ihm. Innerhalb weniger Sekunden hatten sie die freie Fläche überquert und den Gang erreicht. Dort kämpften sie weiter, um den Feind zurückzutreiben. Gabriella wußte, daß sie im Innern des Mutterschiffes ein Labyrinth aus Passagen und Tunneln erwartete, ein unendlich langer Irrgarten, in dem sich die Visitors bestens auskannten und somit im Vorteil waren. Sie feuerte auf die rotuniformierten Gestalten vor ihr und sah, wie eine weitere Echse zu Boden ging. Die IRA-Kämpfer warfen Handgranaten, und die krachenden Explosionen hallten donnernd durch das riesige Raumschiff. Dutzende von Visitors starben, und die dichten Rauchschwaden machten es den Überlebenden unmöglich, auf die Menschen zu zielen. Trotzdem wurden einige von Gabriellas Kameraden getroffen. Ihre Schmerzensschreie vermischten sich mit dem zornigen Zischen und Fauchen der Laser. Gabriella wandte den Kopf zu Subhash. »Hinter Ihnen!« warnte er. Sie drehte sich um und sah mehrere Uniformierte, die versuchten, ihnen in den Rücken zu fallen. Sie mußten sofort diese neuen Gegner vertreiben, um nicht in die Zange genommen zu werden. Noch hatten die Widerstandskämpfer nicht die Abzweigung weiter vorn erreicht, die es ihnen erlauben würde, sich zu teilen. Subhash wirbelte herum und schoß. Einige andere IRAKämpfer folgten seinem Beispiel. Die Außerirdischen erwiderten das Feuer und drangen weiter vor. Gabriella erkannte schnell, daß sich ihre Lage zuspitzte. Wenn sie nicht rasch reagierten, war ihre Aktion gescheitert. »Eine Handgranate!« rief die junge Frau.
Kelly holte einen Sprengkörper hinter seinem Gürtel hervor und zog den Sicherungsbügel ab. Nur einen Sekundenbruchteil später preßte er sich plötzlich die Hand auf den Bauch, ließ die Bombe fallen und krümmte sich zusammen. Ein Teil seiner Jacke war verbrannt. Subhash sprang sofort los und griff nach der Granate. Blaue Laserstrahlen leckten nach ihm, verfehlten ihn jedoch. Er rollte sich auf den Stahlplatten ab und warf den Sprengkörper. Er fiel inmitten der Visitors auf den Boden und detonierte. Eine blendend helle Feuerkugel verschlang mehrere der Außerirdischen. Die Explosion verschaffte Gabriella und ihren Kameraden die Atempause, die sie benötigten. Sie stürmten wieder los und erreichten die Abzweigung. Dort wandten sie sich nach rechts und links, schossen auf die Verfolger und drangen weiter ins Mutterschiff vor. An den nächsten Quergängen teilten sie sich erneut, und nach einer Weile stellte Gabriella fest, daß sie mit Subhash allein war. Im Dauerlauf setzten sie den Weg fort, die Waffen einsatzbereit in der Hand. »Wir müssen auf einzelne Patrouillen achten«, sagte die junge Frau. Subhash nickte nur und deutete nach rechts, als er weiter vorn den Zugang eines Nebenkorridors sah. Nach wenigen Metern kam ihnen plötzlich eine Visitor entgegen. Es war eine korpulente Angreiferin, die auch keine menschliche Maske trug. Sie stieß wütend ein überraschtes Schlangenzischen aus, als ihr Blick auf die beiden Menschen fiel. »Lassen Sie die Waffe fallen!« befahl Subhash. Die rechte Klauenhand der Echse hatte sich um den Kolben eines Lasers geschlossen, der noch immer im Holster steckte.
»An Ihrer Stelle würde ich keine Tricks versuchen«, sagte Gabriella warnend und richtete ihre Waffe auf die Brust der Visitor. Mit einem lauten Klappern fiel der Strahler zu Boden. »Und jetzt treten Sie einige Schritte zurück«, kommandierte Gabriella. Beverly seufzte und gehorchte.
39. Kapitel
»Sie scheint einen recht hohen Rang zu bekleiden«, sagte Gabriella. »Eine Gefangene, die uns von großem Nutzen sein könnte.« »Ja«, bestätigte Subhash. »Sie gibt eine gute Geisel ab, wenn es hart auf hart geht.« »Sie sind Gabriella Nicks«, fauchte das Echsenwesen. »In der Tat.« Die junge Frau nickte. »Und Sie sind tot, wenn Sie auch nur eine falsche Bewegung machen.« »Wenn Sie erlauben, bringe ich Sie zu Nigel SmytheWalmsley«, schlug Beverly vor. »Soll das ein Witz sein?« fragte Gabriella scharf. »Nigel ist tot.« »Nein, nein.« Beverly streckte abwehrend die Hände vor, als die Waffe der jungen Frau blitzschnell in die Höhe kam und auf ihr Gesicht zielte. »Der Mann, den Sie meinen, war nur ein Doppel, ein Klon. Medea hatte übrigens einen Spitzel in der Widerstandsbewegung, um Nigel gefangenzunehmen.« »Ian«, sagte Subhash. »Ja, Ian. Ich übergebe Ihnen den Verräter – wenn Sie mich gehen lassen.« »Bringen Sie uns sofort zu den beiden.« Nach einigen Minuten blieben sie vor einer Zellentür stehen. »Als ich ihn das letztemal sah, war Nigel noch dort drin.« Subhash hielt Beverly mit seinem Laser in Schach, während Gabriella über die Leichen einiger Visitors hinwegstieg und die Zelle betrat. Nigel kniete auf dem Boden und stützte den Kopf eines Toten, dessen Gesicht sie aber nicht erkennen konnte.
»Nigel«, kam es ungläubig über ihre Lippen. Langsam drehte sich der junge Mann um. Seine Augen waren blutunterlaufen, und er schien verwirrt zu sein. Er brauchte einige Sekunden, um Gabriella zu erkennen. »Gabby«, stöhnte er. »Bist du es wirklich?« »O Liebling.« Als sie an ihn herantrat, sah sie die erschlafften Züge des Toten. »Es ist mein Vater«, sagte Nigel mit brüchiger Stimme. »Sie haben ihn umgebracht.« »Ach, Nigel, das tut mir so leid.« Sie umarmte ihn. Warme Tränen rollten über ihre Wangen und tropften auf Nigels Kragen. »Subhash ist ebenfalls hier«, sagte sie einige Sekunden später. »Subhash… Ich wußte gar nicht, daß…« »… wir uns kennen?« beendete Subhash den angefangenen Satz. Für eine einzige Sekunde wandte er den Blick von Beverly ab. Sie nutzte die Gelegenheit sofort und spuckte ihm giftigen Speichel ins Gesicht. Subhash schnappte nach Luft und ließ seinen Laser fallen. Mit einem dumpfen Stöhnen schwankte er hin und her, während Beverly ihre Klauenhand auf das Kontrollfeld der nächsten Tür preßte. Mit einem leisen Zischen glitt das Schott auf. Die Visitor sprang durch die Öffnung, und hinter ihr schloß sich die Stahlfläche wieder. Die Sensoren reagierten nur auf ihren ganz persönlichen Wärmecode, und das bedeutete, daß sie im Nebenzimmer sicher war. Subhash ächzte und brach sterbend zusammen. Gabriella und Nigel starrten fassungslos auf seine Leiche hinab. »Sie hat ihn mit ihrem Speichel getötet«, flüsterte Nigel. »So etwas habe ich schon mehrmals erlebt.« Gabriella schluchzte. »Er war mein Freund.«
»Und meiner auch«, sagte Nigel. »Der tapferste Mann, den ich je kannte.« Dann drehten sie sich um und richteten ihre Laser gemeinsam auf das Schott. Medea stellte fest, daß die Situation allmählich kritisch wurde. Sie fluchte und fragte sich, wie so etwas hatte geschehen können. Einige Rebellen von der Erde, die auf dem besten Wege waren, ihr Mutterschiff zu erobern… Eine lächerliche Vorstellung – und es war die Wirklichkeit. Wenn es den Soldaten an Bord nicht innerhalb kurzer Zeit gelang, die Widerstandskämpfer zurückzuschlagen, mußte sie das Schiff aufgeben. Sie hielt ihr Leben für wichtiger als eine Einheit der Invasionsflotte. Sollten die verdammten Menschen bekommen, was sie wollten; Medea war nicht bereit, sich für eine verlorene Sache zu opfern. Chaos herrschte rundherum. Dichter Rauch zog durch die langen Korridore, als sich die Kommandeuse auf den Weg zum Hangar machte. Wenn sie sich durch die Belüftungsschächte schob, gelang es ihr vielleicht, eine Konfrontation mit den Rebellen zu vermeiden. Dann hatte sie noch eine Chance zur Flucht. Medea eilte um eine Ecke – und sah sich zwei Iren mit UziMaschinenpistolen gegenüber. Sie reagierte sofort, feuerte ihren Laser ab und erschoß beide Männer. Einige Sekunden später kroch sie in ein Klimaterminal; der warme Luftzug verdrängte den beißenden Qualm. Medea schloß die Klappe von innen, lauschte eine Zeitlang und nickte zufrieden, als sie nicht das geringste Geräusch hören konnte. In diesen Schächten würde sie gewiß niemand finden. Jetzt kam es nur noch darauf an, den Hangar mit den Flugbooten zu erreichen. Angesichts der Kämpfe an Bord achtete sicher niemand auf eine einzelne Visitor, die mit einem Shuttle floh.
Zwei Laserstrahlen bohrten sich durch den Stahl der Tür, die ins Bankettzimmer führte. Funken sprühten, und geschmolzenes Metall tropfte zischend zu Boden. Gabriella und Nigel wollten die Visitor, die Subhash getötet hatte, nicht so einfach davonkommen lassen. Mit einem verhaltenen Knacken löste sich das Schott aus seiner Fassung und stürzte krachend zu Boden. Gabriella und Nigel traten darüber hinweg und sprangen ins Nebenzimmer. Im beißenden Qualm sahen sie die Konturen einer Gestalt. Gabriella zielte mit ihrem Laser darauf, doch als sich der Rauch verzog, stellte sie fest, daß es sich nicht um Beverly handelte. Vor ihnen stand ein Mensch. »Ian!« entfuhr es Nigel. Sonderbarerweise gab Ian keine Antwort. Er sah Nigel nicht einmal an. Statt dessen kicherte er irre. In der einen Hand hielt er ein merkwürdiges Messer, an dessen Klinge frisches Blut klebte. »Er hat dich verraten«, sagte Gabriella. »Und ich glaube, Robert Walters steckte mit ihm unter einer Decke.« »Robert«, hauchte Ian und riß die Augen auf. »Was ist mit ihm?« fragte Nigel. Ian drehte sich um und deutete auf den Tisch. Die Rauchschwaden waren noch immer so dicht, daß man nicht alle Einzelheiten erkennen konnte. Nigel und Gabriella näherten sich und stolperten über ein Hindernis auf dem Boden. Beverlys Leiche. »Sie hätte mich nicht allein lassen sollen«, wimmerte Ian. »Nicht ausgerechnet hier.« Dann sahen sie, was auf dem Tisch lag. »Es ist Robert«, brachte Gabriella entsetzt hervor. »Die Echsen haben sich eine Mahlzeit aus ihm gemacht.«
»Ja«, bestätigte Ian und hob das blutige Messer. Wahnsinn glitzerte in seinen Augen. »Beverly hätte mich nicht mit ihm allein lassen dürfen.« Gabriella und Nigel starrten ihn groß an, als er erneut sein gräßliches Lachen anstimmte, das schrill von den Wänden widerhallte.
EPILOG
Gabriella stand vor der gewaltigen Stasiskammer, als die überlebenden IRA-Kämpfer ihre Gefangenen zwangen, die Menschen aus den Hibernationskapseln zu befreien. Nigel trat über den Steg auf sie zu. »Medea scheint entkommen zu sein«, sagte er. »Während der Kämpfe ging sie an Bord einer Fähre und machte sich auf und davon. Die Sensoren des Mutterschiffes orteten zwar das Shuttle, aber es war bereits zu spät. Wir konnten nichts mehr unternehmen.« Gabriella schüttelte bedauernd den Kopf. »Inzwischen dürfte sie bereits das Mutterschiff über Paris erreicht haben.« Sie beobachteten, wie sich weitere Stasiskokons öffneten und Männer, Frauen und Kinder freigaben, die als Nahrung für hungrige Visitors hatten dienen sollen. Die Streitmacht der Widerstandsgruppe vergrößerte sich von Minute zu Minute. Einige der ehemaligen Hibernanten bekamen Waffen und halfen, die Außerirdischen in Schach zu halten. Andere machten sich auf den Weg, um die verschiedenen Sektionen des riesigen Raumschiffes zu besetzen. Wenn sie das Mutterschiff endgültig in ihre Hand bekamen, verfügte die Erde über eine wichtige Waffe im Kampf gegen die Invasionsflotte der Außerirdischen. Nigel wandte sich um und preßte die Lippen zusammen. Gabriella musterte ihn besorgt. »Was ist mit dir?« fragte sie leise. »Ich muß dauernd an Vater denken. Ich habe zugesehen, wie er starb, und konnte ihm nicht helfen.« »Für einen Toten fühle ich mich recht munter«, ertönte plötzlich hinter ihnen eine vertraute Stimme.
Gabriella und Nigel drehten sich um – und sahen in das lächelnde Gesicht von Lord Smythe-Walmsley. »Vater!« platzte es aus Nigel heraus. »Du erkennst mich also wieder.« Der alte Mann reichte seinem verblüfften Sohn die Hand. »Bist du es wirklich?« Nigel konnte es kaum fassen. »Allerdings. Und ich habe die Gefangenschaft recht gut überstanden.« Lord Smythe-Walmsley lächelte erneut. »Weißt du, mein Junge: Die Visitors haben dich mit einem Double von mir getäuscht.« Nigel weinte vor Freude und umarmte seinen Vater. »Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu bringen, mein Sohn«, sagte Lord Smythe-Walmsley. »Nein, euch beide.« Er legte Gabriella die Hand auf die Schulter. »Eine ausgezeichnete Idee«, sagte die junge Frau lächelnd. »Aber der Krieg ist noch nicht zu Ende. Wir haben nur eine Schlacht gewonnen.« »Das stimmt schon, Gabriella. Aber ich glaube, eine kleine Ruhepause tut uns allen gut.« Er musterte sie ernst. »Und sie gibt euch die Gelegenheit, endlich zu heiraten.« Jetzt lachten sie gemeinsam, und Gabriella schmiegte sich glücklich an Nigel.