Mira Lobe
Anderl, der Speckbacherbub Inhaltsangabe „Es hat nicht lange gedauert und schon war ich von dem spannenden G...
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Mira Lobe
Anderl, der Speckbacherbub Inhaltsangabe „Es hat nicht lange gedauert und schon war ich von dem spannenden Geschehen erfaßt, war ich mitten drinnen im Geschehen und habe gebangt um den Speckbacherbuben, habe mit dem Schicksal des Speckbacher-Anderl die Geschichte des Freiheitskampfes 1809 miterlebt, und zwar echt miterlebt, als ob mir ein Augenzeuge berichten würde. Das ist ein Buch ohne Pathos, so bubenhaft geschrieben, daß man seine helle Freude daran hat.“ (Dr. Friedrich Haider)
Erzählung vom Tiroler Freiheitskampf im Jahre 1809 Mit 10 zeitgenössischen Abbildungen Abbildungen am Umschlag vorne: Speckbacher und sein Sohn Anderl. Gemälde von Franz v. Defregger. Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum. Foto A. Demanega, Innsbruck hinten: Trommel aus dem Jahre 1809. Bergiselmuseum, Innsbruck. G. Sonnewend, Innsbruck Abbildungen am Vorsatz vorne: Bergiselschlacht. Gemälde von Jakob Placidus Altmutter. Tiroler Landeskundliches Museum im Zeughaus Maximilians I. Foto M. Pizzinini hinten: Kartenskizze der Stellungen am Bergisel von einem bayerischen Offizier, 26. Oktober 1809. Tiroler Landeskundliches Museum im Zeughaus Maximilians I. Foto M. Pizzinini Kunstdruckabbildungen: Prof. W. Pfaundler 6, M. Pizzinini 2 Alle Bilder befinden sich im Tiroler Landeskundlichen Museum im Zeughaus Maximilians I. 36.-38. Tsd. Von der österreichischen Jugendschriftenkommission unter der Zahl 82.033-11/14/55 in die Buchempfehlungsliste des Bundesministeriums für Unterricht aufgenommen ISBN 3-7022-1429-1 1981 Alle Rechte bei der Verlagsanstalt Tyrolia Gesellschaft m.b.H. Innsbruck, Exlgasse 20 Satz, Druck und Buchbinderarbeit in der Verlagsanstalt Tyrolia Gesellschaft m.b.H. Innsbruck Alle wesentlichen Personen und Ereignisse, die in diesem Buche geschildert werden, entsprechen den historischen Tatsachen des Tiroler Freiheitskampfes von 1809 Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Aufzeichnungen des Anderl Speckbacher am Königlich-Bayerischen Seminar München, am 16. Oktober 1812 Heute ist etwas Besonderes vorgefallen. Mitten im Deutschunterricht klopfte es an der Klassentür. Draußen stand der Schulwart. Unser Pater Schmiederer, der sich nicht gerne im Unterricht stören läßt, fragte: „Was ist denn?“ Eigentlich sagte er: „Wos ischt denn?“ Denn immer, wenn er überrascht ist, fällt er in den Tiroler Dialekt. Der Schulwart flüsterte ihm etwas zu, und weil er so zu mir herschaute, wußte ich gleich, daß es sich um mich handelte. Da sagte der Pater auch schon: „Andreas Speckbacher, du kannst für heute deine Sachen zusammenpacken und gehen. Der Schulwart wird dir alles andere sagen.“ So schnallte ich meine Bücher und Hefte geschwind mit dem Riemen zusammen, und wie ich grad' mit einer Verneigung an dem Pater vorbei wollte, streckte er mir die Hand hin und sagte: „Behüt' dich Gott, Anderl!“ Nicht gar laut sagte er's, mehr für mich allein. Das war schon immer so mit dem Pater Schmiederer und mir. Als ich vor drei Jahren hier ins Seminar kam, fragten mich die Buben im Schlafsaal gleich: „Aus Tirol bist du? Da wird sich der Schmiederer freuen, der kommt auch von dort.“ Ich war überrascht, hier im Königlich-Bayerischen Seminar einen Landsmann als Lehrer zu treffen, und überdies klang mir der Name Schmiederer recht vertraut in den Ohren. Schmiederer war nämlich der Name meiner Mutter, ehe sie den Vater heiratete: Maria Schmiederer, ‚die Schmiederer-Moidl‘ wurde sie daheim im Dorf gerufen. So war's mir fast, als ob der Pater Schmiederer ein Verwandter von mir sein müßt', und in der ersten Deutsch1
stunde saß ich darum mit großer Erwartung in der Bank. Er gefiel mir auch von Beginn an herzlich gut, und ich faßte Vertrauen zu ihm wie zu keinem andern, seit der Bayernkönig Max Joseph mich aus der Kriegsgefangenschaft nach München hat bringen lassen. Nach dem Unterricht rief er mich damals zu sich. Er stieg vom Katheder herunter und wartete, bis die andern Buben aus dem Klassenzimmer waren. Dann schaute er mich so eigenartig an, und auch seine Stimme klang anders: wärmer und leiser und gar nicht so, wie ein Lehrer zum Schüler spricht. „Also du bist der Sohn von dem berühmten Speckbacher!“ Ich hör' es noch, obwohl es doch drei Jahre her ist: er sagte ‚berühmt‘ und nicht ‚berüchtigt‘. Ich wußte nichts zu erwidern und nickte nur mit dem Kopf, weil mir immer, wenn vom Vater die Rede war, die Tränen aufstiegen. „Und hast selbst mitgekämpft und bist dabeigewesen bis zum Ende?“ fragte der Pater weiter. Ich konnte nichts antworten, denn gleich bei dem Wort ‚Ende‘ stand mir das schlimme Bild vor Augen: die Saalach mit dem schäumenden Wasser, das rot vom Blut über die Steine hinströmt. Die Unsrigen, etliche hundert Tiroler Bauern, im Kampf um ihr Leben. Der Vater, umringt von Feinden, ihrer zehn oder mehr gegen den einen Mann, von dem sie nicht einmal wissen, daß er der Kommandant ist, der gefürchtete Speckbacher. Ich selbst, wie ich fortgedrängt werde vom Vater, wie man mir den Stutzen aus der Hand reißt … Und später, als alles vorüber war, der Gang übers Schlachtfeld am Ufer der Saalach. Zwei bayrische Offiziere führten mich. „Ist das der Mantel von deinem Vater?“ – Ja, das war er, blutbefleckt und von vielen Bajonettstichen zerfetzt. – „Ist das der Hut von deinem Vater?“ – Ja, das war er, der hohe Hut mit den Federn daran, wie ihn bei uns daheim die Bauern tragen; er war von Kugeln durchlöchert. Und dort lag des Vaters Säbel und nicht weit davon sein Gewehr, das ich selbst so manches Mal für ihn geladen hatte, im Sommer, als ich sein Adjutant war. „Ja, das sind die Sachen von meinem Vater“, sagte ich zu den Offizieren. 2
„Und wo ist der Vater selber?“ fragte der eine und zeigte dabei über das Schlachtfeld mit den vielen Toten hin. Da wurde mir auf einmal klar: der Vater lebt nicht mehr. Darauf führten sie mich von einem Toten zum andern. „Ist er das?“ „Nein, das ist er nicht.“ „Und der hier?“ „Auch nicht.“ „Bub, du lügst uns an!“ „Nein, Herr, ich lüge nicht.“ Der Offizier schaute sich ratlos um. Für ihn wär' es ein großer Triumph gewesen, wenn er dem Bayerngeneral hätt' melden können: „Der Speckbacher ist tot, ich hab' ihn mit eigenen Augen gesehen!“ Ich schaute derweil zur Saalach hinüber, die mit ihrem sprudelnden Gewässer allerhand ans Ufer schwemmte: bayrische Helme und Tiroler Bauernhüte; Uniformstücke und Stiefel; die Gewehre und Bajonette der Soldaten und die Jagdstutzen unserer Leute; und von Zeit zu Zeit einen Toten. Der Offizier sah meinen Blick und verstand. Ich mußte ja glauben, daß der Vater verwundet in den Fluß gestürzt war und die Saalach ihn mitgerissen hatte. „Schade“, sagte der Offizier, „das hätte mir eine Beförderung gebracht. Wer den Speckbacher fängt, tot oder lebendig, der wird mindestens Hauptmann.“ Und das war das Ende. –
Als mich nun Pater Schmiederer danach fragte, da wurde mir's in der Kehle eng und ich mußte den Kopf zur Seite drehen, damit er nicht sah, wie bitter mir zumute war. Da sagte der Pater plötzlich: „Weißt du's denn nicht? Dein Vater lebt!“ Mir blieb das Herz stehen, in den Ohren dröhnte es, und vor den Augen wurde es dunkel. Der Vater lebt! Ich konnte es nicht glauben! 3
Was dann der Pater weitersprach, hörte ich nur wie aus der Ferne: „Er lebt, aber wo er ist, das weiß man nicht. Jemand hat erzählt, daß euer Knecht ihn einige Wochen im Stall versteckt hat …“ „Der Zoppl?“ „Heißt er Zoppl? Er hat ihn am frühen Morgen im Hof gefunden und ihn in einem Loch unter dem Stallboden verborgen.“ Ich wußte gleich, was für ein Loch gemeint war. Damals, vor vier Jahren, als ich zum erstenmal davor stand, dachte ich: ‚Was für ein gutes Versteck!‘ Aber daß es einmal für den Vater sein würde, das hätt' ich nie geglaubt. Pater Schmiederer sprach weiter: „Kaum hat ihn euer Knecht gesundgepflegt, da ist dein Vater auf und davon. Die Bayern haben eine Belohnung auf seinen Kopf gesetzt: Wer seinen Aufenthalt den bayrischen Beamten verrät, bekommt tausend Dukaten.“ „Den Vater verraten?“ sagte ich. „Da findet sich bestimmt keiner im ganzen Tirol.“ „Beim Andreas Hofer hat sich aber ein Verräter gefunden.“ Ich verstand nicht gleich, was er meinte, und fragte: „Beim Vater Anderl?“ So haben wir nämlich den Hofer immer genannt. „Ja, beim Andreas Hofer. Auf der Pfandler-Alm hat er sich verborgen, bis ihn der Raffl dem Franzosengeneral verraten hat. Um vier Uhr in der Früh haben sie ihn aus der Almhütte herausgeholt, ihn und sein Weib und seinen Buben Johann. In Ketten haben sie ihn dann nach Mantua gebracht und ihm dort auf Befehl des Kaisers Napoleon den Prozeß gemacht. Am 20. Februar 1810 um elf Uhr vormittags haben sie ihn erschossen, weil er ein Rebell gewesen sein soll.“ Eine Weile standen wir ganz still nebeneinander. Daß der Vater Anderl nimmermehr leben sollt' – das konnte ich nur schwer begreifen. Es war auch viel auf einmal für mich: erst, daß der Vater lebt, dann, daß der Andreas Hofer tot ist – hingerichtet wie ein Verbrecher. „Aber der Vater Anderl“, sagte ich endlich, „war doch im Recht, und die Bayern und Franzosen sind es gewesen, die Unrecht getan haben!“ Ich wollte weiterreden, doch Pater Schmiederer schaute zur Tür und legte den Finger an den Mund. „Bub, sei gescheit und halt keine tiroli4
schen Reden dahier im bayrischen Seminar. Sonst geht es uns beiden schlecht. Und gib mir die Hand darauf, daß keiner von unserer heutigen Unterhaltung etwas erfährt.“ Ich reichte ihm die Hand und sagte: „Auf ein Speckbacher-Wort können Sie sich verlassen!“ Der Pater lächelte und erwiderte: „So sind wir also Freunde, Anderl. Aber wir wollen es die andern nicht merken lassen.“ „Freilich nicht“, antwortete ich rasch. Seit diesem Gespräch vor drei Jahren ist Pater Schmiederer mein Verbündeter. Und wie er heute früh, als ich aus der Klasse ging, „Behüt dich Gott“ sagte – da wußte ich, der Schulwart ruft mich zu etwas Wichtigem hinaus und der Pater will mir mit seinem Gruß Mut machen. „Du sollst zum Pater Urban kommen“, sagte der Schulwart. Pater Urban ist ein strenger Herr. Zwar kann er an mir nicht viel Arges finden, weil ich folgsam bin und kein schlechter Schüler. Trotzdem mag er mich nicht leiden. Seit ich ihm einmal dawiderredete, ist er bös auf mich. „Der Herrgott hat die Tiroler für ihren Ungehorsam bestraft“, sagte er damals vor allen Buben in der Klasse. „Und hat sie unterliegen lassen im Kampf gegen die rechtmäßigen Herren des Landes.“ Mir wurde heiß, wie ich ihn so sprechen hörte; von der Bank riß es mich in die Höh': „Bitt' um Verzeihung, aber mit dem Herrgott hat die Niederlage nichts zu schaffen, sondern mit dem Kaiser Napoleon und mit den fünfzigtausend Soldaten, die er uns ins Tirol geschickt hat, und mit den vierundzwanzig Kanonen, die er in der letzten Schlacht gegen uns aufgestellt hat!“ Das war nun freilich nicht gescheit von mir und hat den Pater Urban arg erzürnt. Darum war's mir gar nicht wohl zumute, wie mich nun der Schulwart zum Pater Urban schickte. In der Bibliothek wartete er auf mich. „Seine Exzellenz, der Herr Kriegsminister von Triva, hat nach dir geschickt. Du sollst heute zu Mittag bei ihm speisen – ergo: Ohren waschen, Sonntagskleider, blanke Stiefel, alles tadellos, verstanden?“ Ich verneigte mich schweigend, wie das im Seminar der Brauch ist, 5
und wollte gehen. Es war ja nicht das erstemal, daß der Herr von Triva mich einlud. Pater Urban aber räusperte sich, und da merkte ich: es kommt noch etwas. „Speckbacher“, sagte er. „Seine Exzellenz hat mit unserem allergnädigsten König über deine Zukunft beraten. Er wird dir heute an seiner Tafel die diesbezüglichen Absichten eröffnen, Absichten, die von der großen Güte unseres Königs zeugen.“ Plötzlich unterbrach er seine Rede und sagte scharf: „Eine mir unbegreifliche Güte gegenüber dem Sohn eines Verfemten, auf dessen Kopf tausend Dukaten gesetzt sind.“ Dann kam wieder der gewohnte salbungsvolle Ton: „Speckbacher, ich hoffe, daß du die Güte unseres allergnädigsten Königs und Seiner Exzellenz, des Herrn Kriegsministers, zu würdigen weißt und daß du dich der Ehre wert zeigst, die sie dir zugedacht haben.“ Ich verneigte mich wiederum und ging. Was für eine Ehre mochte das wohl sein? Die ganze Zeit, während ich mich ankleidete, dachte ich darüber nach. Drunten stand schon die Kutsche des Herrn von Triva mit den zwei Rappen. Ich mußte an daheim denken: unsere Rösser waren braun … Im Wagen, auf dem Weg zum Herrn von Triva, kam mir plötzlich der Gedanke: vielleicht lassen sie mich nach Haus? Das wäre das Gütigste und Allergnädigste, was der König an mir tun könnte! Aber ob es auch eine ‚Ehre‘ war' – das konnte ich nicht entscheiden, und da waren wir schon am Palais und ich mußte aussteigen. Der Herr von Triva kam mir mit ausgestreckten Händen entgegen. Er ist groß und stark und immer sehr freundlich zu mir. Wie's mir geht, wollte er wissen, ob ich weiterkomme in Latein, ob ich auch fleißig bete und den Lehrern gehorche, ob ich gut Freund bin mit den Buben in meiner Klasse. Ich antwortete auf alles mit „Ja“. An der Tafel saß ich neben ihm. Es gab Fasan, den bekommen wir im Seminar nie; er schmeckte mir sehr gut. Nur konnte ich nicht so recht auf das Essen achtgeben, weil ich immer darauf wartete, daß der Herr von Triva endlich von meiner Zukunft und der ‚Ehre‘ zu sprechen anfängt. Aber erst bei der Mehlspeise (einer sehr süßen, roten, die beim Anstoßen zitterte) sagte er: „Ich wüßte gern, Andreas, ob du dich in dem Seminar so wohl fühlst, daß du noch einige Jahre dort 6
lernen möchtest. Oder ob dir der Sinn vielleicht nach etwas anderem steht?“ Aha, dachte ich, jetzt fängt er an. „Ich fühl mich ganz wohl, Exzellenz. Das Lernen macht mir Freude, besonders Deutsch und Zeichnen.“ „So. Und du bedauerst es gar nicht, daß du so wenig körperliche Bewegung hast, daß du nicht laufen und springen und fechten und reiten kannst? Ein Bub wie du, der an die freie Natur gewöhnt ist …“ Das kam mir merkwürdig vor. Über die ‚freie Natur‘ hatte hier noch nie jemand zu mir gesprochen. Was meinte er damit? Tirol? Die Berge? – Ob ihm am Ende gar jemand erzählt hatte, daß mich neulich der Kirchendiener droben im Glockenstuhl von der Frauenkirche erwischt hat? Da war ich heimlich hinaufgeschlichen, während die anderen drunten beteten. Der Dirmoser in meiner Klasse hatte mir einreden wollen, vom Frauenkirchturm könnte man über die Alpen hinweg bis ins Tirol schauen. Aber es ist nicht wahr, man sieht gar nicht so weit, oder nur an ganz klaren Tagen. Warum fragte mich der Herr von Triva auf einmal, ob ich nicht gern laufen und springen möchte? Das klang ja fast, als ob sie mich doch nach Hause lassen wollten. Mein Herz begann zu klopfen. Ich sah den Herrn von Triva erwartungsvoll an, er muß meine Aufregung bemerkt haben. „Na also – wie wär's damit?“ fragte er. „Mit Reiten und Fechten? Würdest einen schneidigen Offizier abgeben, Andreas! Des Königs Kadettenschule steht dir offen. Brauchst nur ja sagen, und aus ist's mit der Lernerei beim Pater Benedikt Holland. So ein Prachtbub wie du!“ Dabei gab er mir einen Schlag auf den Rücken wie einem Gaul. „Ist doch ein Jammer, den in einem halben Kloster versauern zu lassen. Wirst ein Soldat, Andrä! Werd' schon dafür sorgen, daß du's zu etwas bringst!“ – Dann malte er mir aus, wie prächtig es in der Kadettenschule sein würde. Lauter frische, lustige Buben. Nicht solche Stubenhocker wie im Seminar … Zum Schluß hielt er mir die Hand hin, daß ich einschlage. Es war nicht leicht für mich. Reiten, fechten, springen – das war' wohl fein. Und über die Felder laufen, so schnell man kann, und rin7
gen, wer der Stärkste ist! Da könnte ich zeigen, was ein Tiroler Bauernbub vermag, und wenn sie mich auslachen würden wegen meiner Tiroler Sprache oder weil ich mich auf die feinen Manieren nicht so versteh' (dort sind doch lauter Adelige!), dann käm' eine Rauferei heraus, und dann würden sie schon Respekt vor mir kriegen! Das wär' etwas anderes als das fromme Seminar, in dem man sich nicht rühren darf. Außer dem Pater Schmiederer und zwei, drei Kameraden sind mir dort alle zuwider. Das und noch viel mehr ging mir durch den Kopf – aber halt nur durch den Kopf. Innen drin wußte ich gleich, daß ich ‚nein‘ sagen muß und dem Herrn von Triva die Hand nicht geben kann. Soldat werden für den Bayernkönig? Da hätt' ich ja keinem Tiroler jemals wieder in die Augen schauen können. „Ich bitte um Verzeihung, Exzellenz, aber ich bleibe lieber im Seminar. Zum Soldatenhandwerk tauge ich nicht.“ Der Herr von Triva wurde zornig. Mit der Hand, die er mir vergeblich hingestreckt hatte, schlug er auf die Tafel, daß es krachte. Die Teller und Schüsseln klirrten, und die rote Speise zitterte. „Das ist eine Lüge! Du taugst dazu besser als alle unsere Kadetten zusammen! Ich habe mir genau berichten lassen, wie du damals gekämpft hast. Wie ein Mann hast du gekämpft!“ „Aber, Exzellenz, das ist doch etwas anderes!“ sagte ich und dachte: Die Heimat verteidigen oder als Soldat für ein fremdes Land kämpfen – wie kann er das vergleichen! „Unsinn“, sagte der Herr von Triva, „Kampf ist Kampf. Kriegführen ist überall das gleiche.“ Ich durfte ihm ja nicht widersprechen, weil sich das nicht gehört. Aber daß ich gar keine Antwort gab, paßte ihm auch nicht. „Nun?“ fragte er. „Was hast du dazu zu sagen?“ Mir fiel nichts ein. Schließlich brachte ich heraus: „Damals hat mich doch mein Vater mitgenommen!“ Da fiel er mir gleich in die Rede: „Sprechen wir nicht von deinem Vater! Der Kerl ist uns entwischt.“ Er war wütend. Ich spürte plötzlich: wenn ich's jetzt gescheit anstelle, erfahre ich vielleicht, wo mein Vater ist. „Der Pater Urban“, sagte ich, 8
„hat mir erzählt, daß man meinen Vater sucht – und daß, wer ihn findet, eine hohe Belohnung kriegt.“ Herr von Triva ging gleich darauf ein. „So, so, hat der Pater Urban dir das verraten? Ich hatte verboten, daß du davon erfährst. Aber nun ist's schon gleich, und du kannst meinetwegen wissen, daß man ihn nicht mehr zu suchen braucht, weil er längst in Wien ist und so sicher wie ein Fuchs in seinem Bau.“ Was er dann noch sprach, hörte ich nicht mehr recht vor lauter Freude. Der Vater ist in Wien! Dort kann ihm nichts geschehen, dort ist Österreich, dort wohnt der Kaiser Franz in seiner Burg oder im Schönbrunner Schloß, und gleich daneben wohnt sein Bruder, der Erzherzog Johann, der die Tiroler so lieb hat. Dort wird der Vater in allen Ehren gehalten für das, was er Tapferes getan hat im Jahre 1809. Ich hätte aufspringen mögen und im Speisesaal herumlaufen und mich wie närrisch aufführen. Statt dessen mußt' ich gleichgültig tun und konnt' nur immer auf die rote Zitterspeise schauen, damit der Herr von Triva nicht merkte, was ich mir dachte. „Andreas, dein Vater ist ein verwegener Kerl, alle Achtung vor ihm! Weiß der Teufel, wie er durch unsere bayrischen Grenzwachen durchgeschlüpft und nach Wien gekommen ist! Und weil du sein Bub bist und die Draufgängerei nun einmal in dir steckt, so will ich, daß du in die Kadettenschule gehst, damit der König einen tapferen Offizier an dir bekommt.“ Er schickte mich dann ins Seminar zurück und sagte, daß ich es mir überlegen soll. Aber es gibt ja nichts zum Überlegen, wenn man genau weiß, was man will. Als ich zurückkam, ließ mich Pater Urban wieder rufen. „Nun?“ fragte er. Ich sagte ihm zögernd, daß ich lieber im Seminar bleiben und nicht Offizier werden wollte. Er fuhr mich zornig an: „Ach was, mir machst du nichts weis – nicht bayrisch willst du werden!“ Darauf hielt er mir eine Predigt, daß es undankbar sei gegen den König – und eigensinnig, mich dem allergnädigsten Wunsch zu widersetzen. „Du bist stolz, Speckbacher – hüte dich!“ 9
„Ich kann nichts dafür, daß ich stolz bin. Mein Vater ist's auch. Alle Tiroler sind stolz.“ „Was redest du da immer von den Tirolern“, rief er. „Es gibt kein Tirol mehr, es gibt nur noch Südbayern! Wann wirst du dir das endlich merken?“ Damit ließ er mich stehen. Ich wurde nachdenklich. Vielleicht hat Pater Urban recht? Es stimmt schon, daß es mich freut, stolz zu sein und den Kopf hoch zu tragen. Ich glaube aber nicht, daß der Herrgott viel dagegen hat, weil doch der Mensch aufrecht erschaffen ist, als einziges von allen seinen Geschöpfen. Ich ging zum Pater Schmiederer hinauf in sein kleines Zimmer mit den vielen Büchern und erzählte ihm alles: vom Pater Urban, von der Kadettenschule und was ich dem Herrn von Triva geantwortet hab'. Danach sprachen wir lange über den Stolz. „Nicht überheblich und eingebildet darf man sein“, sagte Pater Schmiederer, „und sich mehr dünken als die andern!“ „Hochwürden“, antwortete ich, „ich bin ja nicht auf mich stolz, sondern auf meine Landsleute! Wenn einer wie ich so ganz aus der Nähe gesehen hat, wie die Unsrigen damals gekämpft haben, dann kann er nicht anders als stolz sein.“ Der Pater ging plötzlich zu seinem Schreibtisch, nahm ein dickes Heft heraus und gab es mir. „Anderl, ich hab' es dir schon lange sagen wollen, daß du aufschreiben sollst, was du im Jahr 1809 erlebt hast.“ Ich wußte nicht, was ich darauf sagen sollt', hielt das Heft in der Hand und schaute zum Fenster hinaus. Von der alten Kastanie vor dem Haus fielen die letzten gelben Blätter. Die Erinnerungen niederschreiben? O ja, das möcht' ich schon gern. Mit der Christnacht müßt' ich anfangen, und wie ich dann mit dem Vater mitgelaufen bin nach Hall zum Onkel Straub, in den Gasthof Krone … Aber würd' ich nicht frisches Heimweh bekommen, wenn ich das alles wieder vor mir seh'? Ich hab' mir Mühe gegeben, alles zu vergessen, und trotzdem hat das Heimweh nie ganz aufgehört. Der Pater Schmiederer merkte, was ich dachte: „Fürchte dich nicht 10
davor, Anderl; es tut dem Menschen gut, sich auszusprechen und seine Erlebnisse festzuhalten. Schreib nur alles nieder, einfach und wahrheitsgetreu, wie es sich zugetragen hat. Aber versteck das Heft, damit die andern Buben es nicht finden und dich womöglich dem Pater Urban verraten.“ So beginne ich denn mit diesem Heft. Nur schade, daß ich Schriftdeutsch schreiben muß und nicht in unserer Tiroler Sprach' … „Hearscht, Büebl, bal s' di derwuschen hätten, die Boarn …“ – so hat der Vater zu mir gesprochen; wenn ich aber schreibe: „Höre, Bub, wenn sie dich erwischt hätten, die Bayern …“, dann klingt das ganz falsch. Doch Pater Schmiederer hat neulich gesagt, es würde ihn kränken, wenn ich mit dem Dialekt, den ich mir so mühsam abgewöhnt habe, wieder anfinge. Und kränken will ich den Pater Schmiederer, der unser Deutschlehrer ist, gewiß nicht. Morgen ist der 17. Oktober. Da sind es auf den Tag drei Jahre her, daß ich im Gefecht bei Melleck von den Bayern gefangen wurde – ein passendes Datum, um zu beginnen. So schlag ich eine neue Seite auf und schreib die Überschrift hin, wie's der Pater Schmiederer mich geheißen hat:
Meine Erinnerungen an das Jahr 1809 Am Weihnachtstag im Jahr 1806 war's, als der Vater zum erstenmal mit mir über Tirol und den Freiheitskampf sprach. Genaugenommen nicht am Weihnachtstag, sondern in der Nacht, auf dem Weg nach Windegg hinauf, als wir zur Christmesse durch den tiefen Schnee stapften, er und ich. Eine Woche zuvor begannen die Bayern, im ganzen Tirol die Christmesse zu verbieten. Als es am Sonntag vor Weihnachten der Pfarrer in Rinn von der Kanzel verkündete, da schauten sich die Bauern an, als 11
ob es geheißen hätt', der Inn sei den Tulfererberg hinauf geflossen oder sonst etwas Unglaubliches. Meiner Mutter standen die zornigen Tränen in den Augen. Es traf sie hart, daß sie keine Christmesse hören sollt'. „Wie können sie denn das verbieten?“ fragte sie. „Das sind ja keine Christenmenschen, die so etwas tun.“ Nach der Kirche scharten sich gleich alle um meinen Vater: „Sepp, sag du, was wir machen sollen.“ Drauf gingen der Vater und noch zwei Bauern ins Pfarrhaus hinüber, um sich zu erkundigen. Zu Mittag war der Vater wieder daheim und schaute finster drein. Die bayrische Kirchenpolizei (so erzählte er der Mutter) habe behauptet, daß die Tiroler Bauern den nächtlichen Kirchgang dazu benützten, um miteinander auf die Regierung zu schimpfen und Verschwörungen anzuzetteln. Daran hätte wohl etwas Wahres sein können: wo ein Bauer den andern traf, unterwegs, im Wirtshaus oder sonntags in der Kirche, da kamen sie gleich ins Reden und erzählten sich, was die Bayrischen rings im Tirol trieben. Darum hat die Kirchenpolizei auch unsere Feste verbieten wollen, damit die Bauern nicht zusammenkommen und miteinander reden könnten. Mein Vater bat also den Pfarrer von Rinn, er solle sich um das Bayern-Verbot nicht kümmern und den Bauern die Messe lesen, wie sie's gewohnt waren. Doch der Pfarrer wollte nichts davon wissen. Gegen die Obrigkeit dürfe man sich nicht auflehnen, sagte er, und daß er auf seine alten Tage nicht aus dem Amt gejagt werden wollt'. Der Joseph Speckbacher sollt' heimgehn und nicht die Leut' aufwiegeln. „Bist ein Hitzkopf, Sepp“, rief er zum Schluß. „Machst die Männer rebellisch. In solchen Zeiten heißt's still sein und abwarten.“ Die Mutter mußte lachen, wie der Vater ihr das erzählte. „Still sein und abwarten – da bist du akkurat der Rechte dazu, Sepp!“ Dann wurde sie aber wieder ernst. „Was soll das nur für ein Christfest werden ohne Messe! Wozu sollen wir denn die Krippe aufstellen, wenn's hernach keine Mess' gibt?“ Bei uns daheim wird das Christfest schön gefeiert. Gegen Abend nimmt der Hausvater das Weihrauchfaßl und wandelt durch das Haus, von einem Zimmer ins andre, und dabei betet er laut und der Weih12
rauch steigt auf. Wenn er mit dem Haus fertig ist, geht er durch den Hof und in den Stall und vom Stall in den Schupfen und vom Schupfen in den Heustadl. Wir alle wandeln hinterdrein, singen und beten, und es ist halt schön und feierlich, wenn wir im Laternenlicht hinter dem Vater durch Haus und Hof gehen und den Herrgott drum bitten, daß er uns das Unsrige erhalten möcht', die Küh' und die Rösser und alles. Hernach gehen wir ins Zimmer zurück, der grüne Kachelofen ist heiß, es riecht nach Bäckerei und Weihrauch. Ein großer Teller mit dem dunklen Kletzenbrot aus getrockneten Birnen und Zwetschken steht auf dem Tisch, und jeder kann sich nehmen. Am Fenster, im Eck ist auf einem eigenen Tischlein die Krippe aufgestellt. Da liegt das Jesuskind drin, winzig klein, nur mit dem Windeltuch bedeckt. Die heilige Maria kniet daneben, der heilige Joseph steht auf seinen Hirtenstab gestützt, und ein halbes Dutzend weiße Lämmer liegen rings im Stroh, auch ein Esel und ein Ochs sind dabei, und von der Seite her kommen die Hirten, von einem Engel geführt. Der Engel ist golden angemalt, so wie auch die Kronen von den drei Königen. Wir Kinder standen jedes Jahr mit neuer Bewunderung vor der Krippe und konnten uns nicht satt sehen daran. Später am Abend kamen dann die Nachbarn herüber, und wir alle saßen die halbe Nacht miteinander auf – auch der Zoppl und die Burgl, unsere Magd. Sogar unser Hund Kuhn durft' hereinkommen und am Ofen liegen. Bis dann vor Mitternacht die Glocken zu läuten begannen: dann zogen alle, auch die kleinen Kinder, warm eingepackt in die Schneenacht hinaus. Der Zoppl zündete Kienspäne an, die leuchteten rötlich, und Funken fielen durch die Dunkelheit in den Schnee. Von überall her aus den Häusern und Höfen kamen die Bauern, trugen Kienfackeln und gingen zur Messe. In der Kirche drin aber war alles ein Glanz und eine große Christfestlichkeit. Und all das hat in diesem Jahr nicht sein sollen, weil's den bayrischen Herren nicht paßte. Die rechte Christstimmung wollt' sich nicht einstellen, und plötzlich stand der Vater auf: „Nach Windegg droben kommt heut nacht der junge Pfarrer von Volders und wird in der Kapelle die Christmette lesen. Da geh' ich hin.“ 13
Die Mutter hätte wohl manches drauf erwidern können: daß der Weg nach Windegg hinauf weit ist und der Schnee tief liegt; daß sie ja dann mit den Kindern in der Christnacht allein bleibt. Aber zwischen meinen Eltern war das immer so: Wenn der Vater etwas bestimmte, dann sprach die Mutter nicht dawider, und auch sonst keiner, nicht im Hof und nicht im Dorf. Solch ein Ansehen hatte mein Vater bei allen. Ich sprang auf und bettelte: „Nehmt mich mit, Vater!“ Die Burgl sagte, für einen achtjährigen Buben wär' das nichts bei Nacht und Wind im Schnee draußen. Aber der Vater lachte nur: „'s wird ihm schon nichts schaden.“ So brachen wir also auf, zwei Stunden vor Mitternacht. Die Mutter wickelte mir ein wollenes Tuch um die Brust und setzte mir eine Lammfellmütze mit Ohrenklappen auf. Dann nahm mich der Vater bei der Hand und wir gingen nach Rinn hinüber, wo die Straße nach Tulfes vorbeiführt, dort biegt der Weg rechts ab nach Windegg hinauf. Rundherum glitzerte der Schnee wie Silber und Glas. Es war auch nicht sehr finster, weil die Sterne am Himmel standen, und viele funkelten so hell, daß ich nicht wußte, welcher wohl der Weihnachtsstern war. Der Vater sagte: „Mußt immer wieder einmal um dich schaun, Ander, 's ist narrisch schön hier draußen bei der Nacht.“ Ich blickte um mich, konnte aber nichts Besonderes entdecken. „Schaut es denn in anderen Ländern nicht grad' so aus, jetzt im Winter?“ fragte ich. „Ah nein. Es gibt Länder, da ist alles flach und der Schnee liegt wie ein Brett über der Erde.“ „Und keine Berge?“ „Nicht einmal Hügel.“ „Da möcht' ich nicht sein, Vater.“ Der Vater packte mich fester bei der Hand, „'s ist wahr, Ander, ohne Berge können wir Tiroler nicht leben, das ist schon einmal so. Und ohne Freiheit auch nicht –“ Dabei tat er einen tiefen Atemzug, daß es wie ein Seufzer klang und der weiße Dampf ihm wie ein Gewölk vom Mund wehte. Ich faßte mir ein Herz und fragte: „Vater, wie kommt es, daß die Bay14
ern bei uns regieren dürfen, wo sie doch auf der andern Seite vom Gebirg' daheim sind? Die haben doch nichts im Tirol zu schaffen!“ „Hast recht, Ander; ich will's dir erklären. Wir gehören zu Österreich, und unser guter Kaiser Franz hat Krieg geführt gegen den großmächtigen Napoleon und hat den Krieg verloren. Wie's zum Friedensschluß gekommen ist, in Preßburg im vorigen Jahr, da hat der Napoleon zum Kaiser Franz gesagt: ‚Dafür, daß ich dich besiegt hab', mußt du Tirol hergeben.‘“ „Ja, aber die Bayern, Vater? Wie kommen die denn da herein?“ „Den Bayern hat der Napoleon das Fürstentum Würzburg weggenommen. Und weil sie unterdessen seine Bundesgenossen und Waffenbrüder geworden sind, hat er ihnen als Entgelt was anderes dafür geben müssen, und da ist ihm unser Landl grad' gut genug gewesen …“ Ich konnte das nicht verstehen. Wieso kann ein Franzosenkaiser unser Land einfach herschenken? Was hat Tirol mit Würzburg zu tun? „Vater“, fragte ich ganz verwundert, „gehört denn ein Land nicht denen, die drin wohnen?“ „Wohl, wohl, Ander, und keinem sonst. Unser Tirol ist immer ein freies Land gewesen – weit und breit das einzige, wo es keine Leibeigenschaft gegeben hat. Die Tiroler Bauern haben alleweil nur sich selbst gehorcht und keinem fremden Herrn.“ „Gelt, Vater, das hat schon der Herzog Friedl mit der leeren Tasche so bestimmt?“ Ich war stolz, daß ich das wußte, und der Vater lobte mich: „Brav, Ander, ein Tirolerbub soll das wissen. Dreihundert Jahre ist's her, daß der Kaiser Maximilian dem Landl seine Verfassung gegeben hat. Und eine gute Verfassung ist's gewesen, in der jeder Stand – der Bauernstand grad' so wie der geistliche und der Kaufmannsstand – sein Wörtl hat mitreden dürfen beim Regieren. Mitten unter den Herrenleuten sind unsere Bauern gesessen und haben frei heraus ihre Meinung gesagt.“ „Und daß die Tiroler ihre Waffen tragen dürfen und sich verteidigen können, ist das auch in der Verfassung dringestanden, Vater?“ „Freilich, und daß sie nicht für fremde Herren in den Krieg zie15
hen müssen. Nur wenn's ans Landl geht und der Feind von draußen kommt, dann sollen die Tiroler es schützen.“ Ich fragte: „Warum tun wir's nicht, Vater?“ Der Vater blieb stehen, mitten auf dem Weg. Zu beiden Seiten der verschneite Wald. Dick und weiß lagen die Schneepolster auf den Tannen, manchmal fiel einer dumpf zu Boden. „Was redest du da, Bub?“ „Wenn's doch in der Verfassung steht, daß wir das Landl beschützen sollen, Vater?“ Schweigend ging der Vater mit großen Schritten weiter. Ich konnte kaum mithalten. „Hab' ich was Dummes gesagt, Vater?“ „Bist noch zu klein, Bub. Aber mag sein, daß wir's eines Tages nimmer dulden und die Bayrischen hinauswerfen und zum Teufel jagen!“ Mir schlug das Herz rascher, es wurde mir heiß, trotz all dem Schnee und der kalten Winternacht. „Darf ich dann mit, Vater, wenn's soweit ist?“ „Das ist was für Männer, Ander – Buben haben im Kampf nichts zu suchen.“ „Aber wenn alle gehen, Vater, meint Ihr, ich bleib' dann daheim?“ Ich war so aufgeregt, daß mich der Vater beruhigen mußte: „Noch ist's ja nicht soweit, Bübl.“ Darauf sprachen wir nichts mehr bis Windegg hinauf. Der Weg wurde steiler, streckenweise mußte der Vater vor mir herstapfen und die Spur treten im tiefen Schnee, damit ich's leichter hatte. Als wir aus dem Wald heraus nach Windegg kamen, ging es schon auf Mitternacht zu, und die Glocke fing an zu läuten. Vor der Kapelle drängten sich die Bauern und traten sich den Schnee von den Stiefeln. Gruß und Gegengruß ging hin und her. „Da schaut her, der Speckbacher von Rinn ist auch da!“ hieß es. „Der Spöck? Das ist g'scheit! Der schert sich nicht um das Bayern-Verbot.“ – „Grüß dich Gott, Spöck – deinen Buben hast auch mitgebracht? Das ist recht!“ Die Kapelle war schon voller Menschen. Überall brannten Kerzen, und vorne am Altar glänzte es von Gold. Eine feierliche Freude lag auf 16
den Gesichtern, es war aber noch etwas anderes dabei, etwas Trotziges, wie bei einer Verschwörung. Gerade so muß es bei den ersten Christen hergegangen sein, wenn sie sich heimlich in ihren Felshöhlen trafen, um miteinander zu beten. Der Vater und ich waren nicht die einzigen, die von weit her zur verbotenen Messe kamen. Von Hall drunten waren etliche gekommen, auch ein Arbeiter vom Salzberg, der Steixner, und sein Sohn Peter, mein bester Freund. Dann begann die Messe. Von der Predigt verstand ich nur wenig, grad' nur so viel, daß von einem Kampf zwischen einem Buben, David hieß er, und einem Riesen die Rede war. Mit einer kleinen Steinschleuder traf der Bub den Riesen und besiegte ihn. Die Bauern lauschten dem Pfarrer, ohne sich zu rühren. Ich dachte: ‚Gewiß meint der Pfarrer etwas Besonderes damit‘, und da beugte sich auch schon der Vater zu mir herab und flüsterte mir zu: „Der David ist unser Tirolerland, und der Riese …“ Aber das wußt' ich schon allein, denn der Riese, das müßt' der Napoleon sein, der uns die Bayern ins Land geschickt hatte. Als der Pfarrer mit seiner Predigt fertig war, ging ein tiefes Atmen durch die ganze Kirche; der Steixner aus Hall hatte Tränen in den Augen und der Vater saß still da, nur seine Augen funkelten. Nach der Messe saßen wir noch eine Weile beim Schaubingerwirt in der warmen Stube und stärkten uns für den Heimweg. Viele Bauern saßen an den Tischen, und auch der junge Pfarrer war dabei. Da wurde über manches gesprochen: zum Beispiel, wie das gute österreichische Geld auf einmal nichts mehr wert sei. Der alte Schaubinger sagte, daß er ein Stück Vieh nach dem andern verkaufen müsse, damit er nur den Hof halten könne, und daß bei einem Bauern in Sisträns schon der ganze Besitz mit Haus und Hof und Stall versteigert worden sei, weil er durch das neue Bayerngeld in Schulden geraten war. Ein anderer erzählte, daß ein Befehl kommen werde, alle Stutzen abzuliefern. „Und womit sollen wir auf die Jagd gehen?“ rief der Schaubinger. „Unser altes Recht, den Stutzen zu tragen, das können sie uns doch nicht nehmen! Das steht doch in unsrer Verfassung, und der Bayernkönig hat's feierlich versprochen: die Verfassung ist ihm heilig, die 17
rührt er nicht an.“ Da lachten alle höhnisch, und der Vater sagte: „Versprechen ist eine Sach und Halten eine andere. Die Bayrischen haben auch versprochen, daß sie sich um unseren Kirchenbrauch nicht kümmern werden, und was tun sie? Die Christmette verbieten!“ „Und die Bischöfe?“ fragte der Schaubinger. Darauf mischte sich der Pfarrer ein und sagte: „Die Bischöfe sollen aus dem Land vertrieben werden, wenn sie den Bayern nicht folgen und zum Volk halten.“ Das Ärgste aber war, was der Steixner zum Schluß berichtete: die Bayern, sagte er, wollen den Namen Tirol abschaffen. „Südbayern“ soll unser Land heißen, in drei Teile soll es zerrissen werden; in jedem Teil soll ein bayrischer Kommissär regieren und auf seine Art Recht und Gericht führen. Der Vater wurde bleich, als er das hörte. „Das Landl soll seinen Namen verlieren?“ rief er. „Unser Tirol soll's nimmermehr geben? Ja, was geschieht denn hernach mit den Tirolern, wenn's kein Tirol mehr gibt?“ „Werden halt Südbayrische sein, Sepp“, antwortete der Steixner. „Niemals!“ rief der Vater. Und in der Stube brach ein Murren und Grollen auf, wie wenn ein Gewitter hinterm Karwendel aufsteigt und der Donner schon fern in den Bergen umgeht. Bald darauf machten wir uns auf den Heimweg. Der Steixner und sein Bub gingen mit uns. Der Himmel war klar, mir kam es vor, als ob die Sterne noch heller schienen als auf dem Herweg. Doch es war noch kälter geworden, und die Müdigkeit spürte ich jetzt auch. Vor Tulfes verabschiedete sich der Steixner von uns und sagte: „Wenn's ernst wird, dann werden die Bergknappen zu euch Bauern halten. In alle Ewigkeit kann's nicht so weitergehn mit dem Übermut der Bayrischen; es kommt schon der Tag, da wird's dem Tirolervolk zuviel und es holt sich sein Recht zurück.“ Dann schwenkten sie rechts ab, nach Hall hinunter. Um uns war's still geworden. Halb im Schlaf stapfte ich neben dem Vater her und meine Füße spürte ich kaum mehr. Da hob er mich plötzlich hoch und setzte mich auf seine Schulter. Ich machte die Augen zu und ließ mich tragen wie ein kleines Kind. Vor meinen Augen 18
sah ich das Jesuskind in der Krippe, und den Buben David, und den Riesen …
Drei Jahre verstrichen bis zum Jahr 1809. Ich war herangewachsen, hielt die Augen offen und verstand immer besser, was ringsum vor sich ging. Mein Freund, der Peter Steixner aus Hall, kam oft zu Besuch; er war um vier Jahre älter als ich und konnte mir mit seinen fünfzehn Jahren schon manches erklären, was ich nicht begriff. Eines Tages waren plötzlich bayrische Soldaten in unserm Hof und führten uns die Rösser aus dem Stall. Sie hatten ein Papier mit, darauf stand, daß wir die Rösser wiederkriegen – aber das hatten sie beim Wiesler-Bauern auch gesagt, und dann brachten sie von seinen vier Pferden ein einziges zurück, lahm und ganz zuschanden gerackert. Vater, Mutter, alle von der Familie (und auch der Peter, der gerade da war) standen dabei, wie sie die Rösser herausholten. Die Mutter wandte sich ab und ging ins Haus; unsere Magd, die Burgl, weinte laut in ihre Schürze; aber der Vater stand wie aus Stein. Kein Wort sagte er, die Arme hingen reglos zu beiden Seiten herab, und den Bayrischen war's wohl unheimlich, wie sie so ein Roß nach dem andern an ihm vorbeiführten. Der Zoppl streckte die Hand aus, um die Stute noch einmal zu streicheln; aber ein Blick auf den Vater genügte, daß er den Arm zurückzog, als hätt' er Feuer berührt. Darauf stand er genauso still da wie der Vater, und ich verstand, daß Männer nicht klagen. Als aber das letzte Pferd an uns vorbeigeführt wurde, sagte der Vater, und seine Stimme klang rauh: „Bub, vergiß das nicht!“ Als sie dann fort waren, klopfte er dem Zoppl auf die Schulter: „Werden halt die Kühe herhalten müssen, wenn's zum Pflügen kommt.“ Dem Zoppl kam ein Fluch aus, aber der Vater verwies es ihm: „Nicht fluchen, Zoppl, der Herrgott hört's nicht gern!“ Weil der Zoppl seinem Zorn aber doch Luft schaffen mußte, begann er zu singen, das ‚Bayern-Lied‘, das damals durchs ganze Tirol ging: 19
Die Bienen und 's Vieh habt's ihr uns all's g'raubt, das Geld aus dem Beutel, wer hat's euch erlaubt? Die Kuh habt's uns g'schlagn. und d' Roß habt's uns g'stohln – es soll euch der Teufel lebendiger holn! Der Peter und ich sangen mit, der Vater hörte es und sagte nichts. Eine Weile standen wir zwei Buben noch vor dem leeren Pferdestall. „Peter, was tun unsere Rösser jetzt?“ fragte ich. „Waffen führen, über den Brenner-Paß nach Italien hinunter.“ „Wozu?“ „Der Napoleon braucht sie halt.“ „Zu was braucht er sie?“ „Zum Kriegführen.“ Ich konnte mir unter ‚Kriegführen‘ nur vorstellen, daß man sein Land schützt oder sich wehrt, wenn man angegriffen wird. Darum fragte ich: „Haben die Italiener dem Napoleon was getan?“ „O nein. Er hat ihnen was getan. Er hat ein Stück von ihrem Land erobert.“ „Warum? Hat er daheim keinen Platz gehabt?“ „Platz hat er schon, aber er will halt noch mehr. Da geht er auf Eroberung aus – und weil er so mächtig ist und keiner ihm widerstehen kann, kriegt er immer mehr Länder dazu, und je mehr Länder er kriegt, um so mächtiger wird er, und je mächtiger er wird, um so mehr Länder will er haben!“ Der Peter zeichnete einen großen Kreis in die Luft, und ich verstand auch gleich, was er meinte: daß man nimmermehr Anfang und Ende sieht. Aber mir gefiel das nicht, und ich sagte: „Horch, Peter, wenn jetzt einer von unsern Nachbarn, der Innerkofler zum Beispiel, daherkommt und sagt: ‚Leutln, mir genügt mein Hof nimmer, ich brauch' den Speckbacherhof dazu!‘ und er raubt alles zu20
sammen, nur weil er stärker ist, und spielt sich hinterher auf: Jetzt bin ich Herr im fremden Hof!' – ja, was meinst denn, Peter, was die Bauern im Dorf da sagen möchten? Nicht eine Stund' täten sie's leiden, gleich würden sie dem Vater zu Hilf' kommen, und der Innerkofler könnt' gar nichts ausrichten gegen das ganze Dorf und müßt' wieder heimziehen.“ Der Peter schaute mich nachdenklich an und meinte dann, der Napoleon sei kein Bauer – und überhaupt, das könne man nicht vergleichen, und ich sei noch zu klein und nicht gescheit genug, um das alles zu verstehen … Das sagte der Peter aber nur, weil er keine Antwort wußte auf meine Rede. „Geh, Peter“, erwiderte ich, „so gar gescheit bist ja selber noch nicht! Und ein Räuber ist halt ein Räuber, ob im Dorf oder woanders.“ Später ging ich zum Vater: „Wenn ich Tirol wär' oder Italien oder irgendeins von den Ländern, die der Napoleon geräubert hat, ich möcht' mich mit den andern zusammentun und es mir nicht gefallen lassen!“ Die Mutter seufzte: „Jetzt ist's wohl bald soweit. Wenn schon die Kinder darüber reden, kann's nimmer lang so gehen …“ Mir war's, als ob sie zum Jagdstutzen hinüberschaute, der unter dem großen Hirschgeweih an der Wand hing. Er war der einzige, den wir hatten behalten dürfen; auf Besitz von Waffen stand hohe Strafe. Immer wieder kamen bayrische Gendarmen ins Dorf, gingen von Haus zu Haus und fragten: „Habt ihr Waffen?“ Der Vater zeigte dann nur zum Jagdstutzen unterm Hirschgeweih. „Mehr nicht?“ Der Vater stand stumm. Sie fragten: „Gewiß nicht? Ihr Bauern seid doch alle Spitzbuben!“ „Sucht selbst, wenn ihr's nicht glaubt.“ Das taten sie dann auch, kehrten in den Stuben das Unterste zuoberst, aber gefunden haben sie nichts. Dabei hätt' ich wetten können, daß noch andere Gewehre im Haus waren, irgendwo versteckt, wo keiner sie finden konnte; wahrscheinlich wußte nicht einmal die Mutter davon. Mich aber kränkte es, daß der Vater Geheimnisse vor mir hatte, und so bin ich mehrmals auf eigene Faust durchs Haus gestreift, 21
hab' überall gesucht – auf dem Heuboden und im Geräteschuppen –, aber nirgends etwas entdecken können. Bis ich dann im Februar (am Elften ist's gewesen – ein bedeutsamer Tag, wie ich gleich niederschreiben werde) herausbekam, wo die Gewehre verborgen lagen. In der Mittagsstunde des elften Februar war ich mit der Moidl und der Annerl draußen im Schnee, und wir fuhren über die Abhänge rings um den Hof mit dem Schlitten hinunter. Da sah ich den Vater mit dem Zoppl über den Hof gehen. „Anderl!“ rief er, und ich lief zu ihm hin. „Anderl, wir haben im Stall zu tun, ich und der Zoppl. Gib acht, daß keiner stört; und wenn ein Fremder kommt, mußt gleich an die Tür klopfen.“ Sie verschwanden im Kuhstall, der Riegel wurde von innen vorgeschoben. Was gibt's nur da drinnen? dachte ich. Die Kühe sind gesund, die Bleß kriegt ihr Kalb noch lange nicht … Ich schlich mich nah' an die Stalltür heran und preßte mein Ohr ans Holz. Die murmelnde Stimme vom Zoppl war zu hören und ein leises Klirren. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und spähte durch eine Ritze in den dämmrigen Stall. Zwischen zwei Kühen, der Lies und der Weibl, kniete der Zoppl auf dem Boden. Der Vater hielt die Stallaterne hoch, und da sah ich in den Händen vom Zoppl einen Gewehrlauf blinken und blitzen. Um besser schauen zu können, stieg ich auf ein Holzschaffel, das im Hof stand – aber das Schaffel schlug um, polterte gegen die Stalltür, und ich lag im Schnee. Noch bevor ich mich von meinem Schrecken erholen und fortlaufen konnte, wurde die Tür von innen aufgerissen. Der Vater stand auf der Schwelle wie zum Sprung, mit den gleichen wachsamen Augen, die er auf der Jagd hat. „Was ist?“ „Ich bin's nur, Vater …“ „Was treibst denn hier?“ Seine Stimme war leise vor Zorn; er schob beide Daumen in den Gurt, das machte er immer, wenn Gefahr war, daß ihm die Hand ausrutschte. „Was du hier treibst, will ich wissen!“ Die Stimme wurde lauter. Ich stand mit gesenktem Kopf und wartete, daß die Hand doch noch aus dem Gurt kam. „Das Schaffl ist umgefallen …“, sagte ich schließlich. 22
Zeitgenössisches Dokument vom 31. Juli 1809. Nach den Erinnerungen des bayerischen Infantristen Denifl sind damals viele Wagenladungen mit Waffen nach Innsbruck gebracht worden. Ein Teil wurde in den Inn geworfen. Es waren wohl alte Waffen. Die Bayern glaubten aber, daß nun der Widerstand der Tiroler erlahmen werde. Die Tiroler behielten aber genug Waffen, wie die nächsten Kämpfe beweisen
„Wieso? Was hast denn mit dem Schaffl?“ „Ich wollt' draufsteigen …“ Der Vater verstand plötzlich, daß ich ihn und den Zoppl belauern wollte. „Stehst schon lang da? Hast hereingeschaut?“ Ich nickte nur. Der Zoppl, der hinter meinem Vater auftauchte, sagte gutmütig: „Willst wissen, was im Stall ist, Anderl? Nichts für kleine Buben.“ Das machte mich trotzig: „Ich bin kein kleiner Bub. In zwei Wochen werd' ich elf.“ „Da wirst was Rechtes!“ sagte der Vater und gab dem Schaffel einen zornigen Fußtritt, daß es über den Schnee hinrollte. „Kannst nicht gehorchen, du Lausbub? Achtgeben sollst – nicht spionieren! Was hast gesehn?“ „Gewehre“, stieß ich hervor. „Aber ich sag' es keinem Menschen, Vater, ich schwöre Euch, kein Sterbenswörtl …“ Der Vater wechselte einen Blick mit dem Zoppl. Dann gab er nach. „Bist ärger, wie ich als Bub gewesen bin! Aber wenn du's jetzt schon einmal weißt, dann sollst auch verstehen, wie gefährlich die Sache ist und wie nötig, daß man's geheimhält.“ Er führte mich in den Stall hinein. Längs der Futterkrippe, wo es trocken war, klaffte ein mannsgroßes Loch im Boden. Darin lagen acht Stutzen, gut eingefettet, und zwei Säckel mit Pulver und Blei dabei. „Werden wir die Stutzen bald brauchen, Vater?“ „Könnt' schon sein.“ Er nahm ein Gewehr nach dem andern heraus, prüfte es sorgfältig, zog die Radschlösser auf und probierte die Abzugshähne. Hernach wickelte der Zoppl jedes Gewehr in einen großen Fetzen Leinwand, legte es in die Grube zurück, fügte die Holzplanken wieder in den Stallboden ein und schaufelte frisches Stroh auf die Stelle. Der Vater packte die Lies und die Weibl bei den Hörnern und schob sie zurück auf ihre Plätze über dem Loch. Was für ein gutes Versteck! dachte ich. In diesem Augenblick rief die Mutter von draußen: „Sepp! Wo bist denn? Vom Straub ist Botschaft da, sollst geschwind 24
hinunterkommen nach Hall. Sie warten auf dich in der ‚Krone‘, der Straub und noch jemand.“ Dem Vater gab es einen Ruck. „Ich komm' schon“, sagte er und lief ins Haus, Hut und Mantel zu holen. Das muß ein besonderer Jemand sein, dachte ich, daß es der Vater so eilig hat … Rasch schlüpfte ich in meine Jacke: „Ich komm' mit, Vater. Der Steixner-Peter hat schon lang wollen, daß ich ihn einmal besuchen komm'.“ „Da mußt du aber Schritte machen, Anderl. Darfst mich nicht aufhalten heut' …“ Der Ton, mit dem er das sagte, und auch, wie er dabei aussah – das ist mir seltsam vorgekommen. „Ist's was Besonderes drunten beim Kronenwirt?“ fragte ich. Ich bekam keine Antwort und mir wurde immer sonderbarer zumute. Ich brannte drauf, hinunterzukommen nach Hall in den Gasthof zur Krone, wo mein Onkel Straub der Wirt ist. So ungeduldig war ich, daß der Vater mich unterwegs gar nicht antreiben mußte. Dabei war der Steig vereist, denn tags zuvor hatten wir Föhn gehabt und dann wieder Frost. Drunten, nicht weit von der Innbrücke, gab es einen Aufenthalt: der Lechleitner, ein Bauer aus Axams, stellte sich uns in den Weg und hielt den Vater beim Ärmel fest. „Hast's schon g'hört, Spöck? Der Napoleon braucht Soldaten.“ „Geh, Lechleitner, wenn du sonst nichts Neues zu erzählen hast, das wissen wir schon lang!“ „Aber daß er sie jetzt unter unsern jungen Burschen eintreibt, das weißt noch nicht.“ Nein, das wußte selbst der Vater noch nicht, wenn er auch darüber reden gehört hatte. „Das kann doch nicht sein, der Bayernkönig hat's ja beim Friedensschluß fest versprochen – Soldaten wird er keine von uns fordern.“ „'s ist aber doch so, Spöck! Ihrer tausend will er sich aus unserm Tirol holen. Die Gemeinden müssen eine Liste aufstellen von allen jungen Burschen im Dorf, und wer nicht gutwillig geht, um den wird gewürfelt; wen's trifft, der muß mit.“ 25
„Muß? Ein Tiroler muß nicht.“ Der Lechleitner kicherte wie ein altes Weib und sagte: „Hast recht, Spöck. Unsere Burschen lassen sich nicht so leicht einfangen, um für den Napoleon zu bluten im fremden Land. Weißt, was sie tun? Hinauf in die Berge gehn sie – manche gar bis in die Schweiz hinüber, wo die Bayrischen ihnen nicht nachkommen können. Ich selber hab' meinem Buben den Rucksack gerichtet und ihn weggeschickt. Wie am nächsten Morgen im ganzen Dorf kein einziger Bursch zu finden war, hat der bayrische Leutnant ein Gesicht geschnitten; ganz aus dem Häusl ist er gewesen und hat etwas von Prügelstrafe geschrien; aber wir haben ihm die Geschichte vom Richter Senn erzählt …“ Diese Geschichte kennt in Tirol jedes Kind: Als der Kaiser Leopold im Jahr 1790 die Tiroler zum Militärdienst zwingen wollte, sind die Burschen ins Gebirge gelaufen. Da hat sich der Kaiser den Richter Senn hergeholt und ihn gefragt, warum die Burschen das tun. „Ja, weißt, Majestät“, hat der ihm geantwortet, „für uns freie Tiroler paßt das Militär halt nicht. Das Landl wollen wir schützen, aber für auswärtige Kriege können wir nur das Gesindel entbehren.“ – Derweil kamen wir am Münzturm vorbei durchs Stadttor nach Hall hinein. Der Vater redete leis' und aufgeregt vor sich hin: „Ein Narr müßt' das sein und ein Schuft, der mit den Bayrischen für den Napoleon kämpft … Das ist der letzte Tropfen, der macht das Krügl voll …“ Da standen wir schon vor dem Kronengasthof. Der Onkel Straub kam uns entgegen: „Da bist du ja, Sepp. Man wartet schon.“ „Grüß Gott, Straub – Wo ist er?“ „Im Stübl drin. Mach kein Aufsehen Sepp, wenn's die Bayern erfahren, ist's aus mit uns allen.“ Der Vater machte die Tür zum Stübl auf, und drinnen, ganz im Winkel, saß ein Mann. Groß und stattlich war er, fast so groß wie der Vater, aber breiter, mit einem schwarzen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte. Mir fuhr ein Schrecken durch die Glieder – kein schlimmer, sondern ein guter Schreck: Das war doch der Hofer … „Grüß dich Gott, Sepp, herzlieber Bruder!“ sagte der Bärtige zum Vater, und sie umarmten sich. „Ist das dein Bub?“ 26
„Ja, er hat keine Ruh' gegeben und ist mitgelaufen.“ „Schon recht.“ Der Hofer schaute mich freundlich aus seinen braunen Augen an und lachte. Sein Gesicht war rund und rotwangig, und wie er so vor mir stand und meine Hand in seiner hielt, da verstand ich, warum die Leute ihn ‚Vater Anderl‘ nannten. „Wie heißt du denn, Bübl?“ Ich faßte mir ein Herz: „Grad' so wie Ihr“, sagte ich, „Andreas“. Dann fragte er mich, ob ich auch brav sei und fleißig bete und ob ich wüßt', daß er auch einen Buben daheim hat, den Johann. Darauf nahm mich der Vater beim Arm: „Genug, jetzt gehst hinaus, deinen Peter Steixner besuchen.“ Ich wollte lieber dableiben und tat einen hilfesuchenden Blick zum Andrä Hofer hin; sicherlich war er weniger streng als mein Vater? Doch auch der Hofer schüttelte den Kopf. „Bübl, was hier geredet wird, ist nur für uns. Kannst aber draußen aufpassen und uns warnen, wenn jemand kommt.“ Zum zweitenmal am selben Tag mußte ich Wache halten. Ich war stolz auf mein Amt, aber als ich vor das Tor der ‚Krone‘ kam, um die Straße hinauf- und hinabzuspähen, ob etwa Bayrische in Sicht wären, da stand dort schon der Hausbursch vom Onkel Straub und spähte hinauf und hinab zum gleichen Zweck. Da freute mich mein Amt nicht mehr so recht, denn ich wollte die Ehre, den Andrä Hofer zu bewachen, ganz für mich allein haben. Später erzählte mir der Vater, was sie da drinnen zu besprechen hatten. Der Andrä Hofer war, als er an jenem Tag beim Kronenwirt in Hall abstieg, auf der Rückreise von Wien. Dort hatte er den Erzherzog Johann besucht, er und noch zwei andere Tiroler, der Nessing und der Huber. In Kärnten drunten, in Klagenfurt, hatten sie sich heimlich getroffen und waren von dort gemeinsam in die Wienerstadt gereist. Der Baron Hormayr, ein Tiroler, der in Wien eine hohe Stellung hatte, war noch am Abend ihrer Ankunft mit den dreien zum Erzherzog Johann gegangen. Auf Seitenwegen hatte er sie in die Hofburg geführt, damit die Tiroler in ihrer Tracht, besonders der stattliche Hofer mit seinem schwarzen Bart und dem Passeirer Gewand, kein Aufsehen erregten 27
in der Wienerstadt. Denn dort hatten ja die Franzosen und die Bayern überall ihre Spione, und wenn es aufgekommen war', daß drei Tiroler beim Kaiser in der Burg waren, so hätte das Verdacht erregt. Der Erzherzog Johann begrüßte die drei wie seine Brüder; viele Stunden waren sie bei ihm, erzählten ihm von Tirol und von der Bayernherrschaft; jede Kleinigkeit wollte er wissen. Das alles wurde im Stübl drin besprochen, während ich neben dem Hausburschen vor dem Gasthof stand und darauf lauerte, daß bayrische Wachtposten auftauchten, damit ich hineinlaufen könnte, dem Andrä Hofer beweisen, wie wachsam ich sei. Aber es tauchte kein Posten auf; statt dessen erschien plötzlich der Vater im Haustor. „Ander!“ Er rief mich mit halblauter Stimme beiseite. „Jetzt zeig einmal, was du kannst, außer deinem Vater nachspionieren, wenn er's verboten hat. Dahier ist eine Botschaft für den Trogner-Bauern in Rum. Die mußt ihm aber selbst in die Hand geben, keinem sonst, nicht dem Knecht und auch nicht der Trognerin, verstanden?“ Ich nickte: „Nur ihm selbst, und daß es keiner sieht!“ Der Vater schob mir einen zusammengefalteten Zettel in die Hand. „Er soll sofort Antwort geben – es ist eilig!“ Ich kannte den Weg nach Rum; wenn alles glatt ging, konnte ich in einer Stunde zurück sein. Den Zettel in der Faust und die Faust im Hosensack, wollte ich davonlaufen. Der Vater hielt mich aber zurück: „Und wenn du einen bayrischen Gendarmen triffst?“ „Dann geh' ich an ihm vorbei, wie wenn nichts wär' …“ „Sieh dich vor, Bub, jede Botschaft, die den Bayrischen in die Hände fällt, kann mich ins Stockhaus bringen oder in den Turm oder noch ärger. Es steht viel auf dem Spiel.“ Das war ernst geredet. Ich schaute den Vater an und sagte genauso ernst, daß ich's verstanden hätt´ was er meinte, und ob ich nun gehen dürfe. Ich lief, so geschwind ich konnte, meine Stiefel klapperten auf der hartgefrorenen Landstraße. Im Trogner-Hof stand die Stalltür offen, die Bäuerin fütterte die Schweine. Nein, sagte sie, der Bauer sei nicht daheim und komme auch so bald nicht wieder; er sei auf dem Roßmarkt in Sterzing, ein Rößl 28
verkaufen, ehe die Bayrischen es ihm für nichts und wieder nichts aus dem Stall führten, wie sie's jetzt allenthalben machten … Als ich unschlüssig in der Stalltür stand, fragte sie, um was es sich handelte. „Um nichts!“ Ich sagte „Grüß Gott“ und ging. Was sollt' ich jetzt tun? Ich stand wieder auf der Landstraße, den Zettel für den Trogner in der Hand. Gewiß, es war nicht meine Schuld, daß der Trogner auf dem Roßmarkt war; aber wenn ich jetzt ohne Antwort in den Kronengasthof zurückkehrte, dann war es doch, als ob ich meinen Auftrag nicht erfüllt hätte. Und wenn ich den Zettel aufmachte? Vielleicht stand, etwas drin, das mir weiterhalf … Ich schaute mich vorsichtig um – und las: „Bester Herr Bruder!“ Dann war die Rede von einer Hochzeit, die bald gefeiert werden sollte; der Herr Bruder möge doch umgehend Bescheid schikken, wieviel Säcke Mehl er für die Hochzeit bereit halte und auch wieviel Säcke Äpfel von der bekannten Sorte. Es sei von großer Wichtigkeit und er solle sich mit dem Thalmayr beraten, weil der von allem wisse und zu des Herrn Bruders Vertretung bestimmt sei. – Mir kam es nicht ganz geheuer vor, was da von ‚Mehl‘ und ‚Äpfeln‘ stand; gewiß steckte da etwas dahinter, vielleicht so wie damals in der Christnacht mit dem David? Sollte ich es nicht beim Thalmayr versuchen? Er ‚weiß von allem‘, stand in dem Brief – und der Vater Anderl wartete auf Antwort. Wie ich so stand und überlegte, hörte ich plötzlich Schritte hinter mir im Schnee knirschen. Ich schaute mich um: ein bayrischer Gendarm kam auf mich zu und winkte mit dem Finger. „Laß einmal sehen, Bürschl!“ Fortlaufen! – dachte ich. Nein, das wäre falsch. Stehenbleiben …? Tun, als ob nichts sei …? Aber der Zettel! Blitzschnell drehte ich mich um, steckte den Zettel in den Mund und würgte ihn hinunter. Da war der Gendarm auch schon neben mir: „Gib das Papier her!“ Ich glotzte ihn dumm an und schwieg. „Das Papier!“ befahl er ungeduldig. „Du hast doch gerade ein Papier in der Hand gehabt!“ „Ich weiß von keinem Papier, Herr!“ 29
Er wurde wütend und begann mich zu visitieren. Mit seinen Händen tastete er mich ab, untersuchte meine Jackentaschen, ich mußte die Hosensäcke nach außen drehen und die Stiefel ausziehen. Als er nichts fand, brüllte er plötzlich, ich solle mich davonscheren, aber flink, sonst würde er mir Beine machen. Ich trabte eilig davon, der verschluckte Zettel drückte mich in der Kehle. Solang der Gendarm mir nachschauen konnte, blieb ich auf der Straße und lief in entgegengesetzter Richtung. Dann versteckte ich mich hinter einem Haus und schlich auf Seitengassen zurück. Der Thalmayr war zum Glück daheim; er war noch jung, aber sein Gesicht war mürrisch und schläfrig. „Grüß Gott, ich bin der Bub vom Speckbacher aus Rinn“, sagte ich. Dann schaute ich mich um, trat dicht an ihn heran und flüsterte: „Ich soll Euch sagen, daß bald Hochzeit ist, und fragen, wieviel Säcke Mehl und Äpfel von der bekannten Sorte Ihr vorbereitet habt …“ Er schaute mich überrascht an, die Schläfrigkeit war fort, seine Augen wurden scharf und mißtrauisch. „Wer will denn das wissen?“ fragte er. „Der Speckbacher und …?“ „Und der Kronenwirt und noch einer, mit einem schwarzen Bart.“ Ich blinzelte ihm zu, und er blinzelte zurück. Dann nannte er mir die Zahl der Säcke, und ich sollte ausrichten, daß auch sonst alles bereit sei und viele Gäste zur Hochzeit kommen würden. Ich lief zurück und schaute mich öfters um, damit ich ja nicht wieder dem Gendarmen in die Hände geriete und er mich womöglich bis zur ‚Krone‘ verfolgte. Atemlos kam ich an; der Hausbursch stand noch immer untätig vor dem Haustor und hatte nichts erlebt; er blickte mir neugierig und neidisch nach, während ich ins Haus lief. Ich klopfte an die Tür, der Onkel Straub machte mir auf, der Vater streckte mir die Hand hin: „Die Antwort?“ „Ich hab' nichts Schriftliches, ich hab's im Kopf …“ Darauf erzählte ich, daß der Trogner nicht daheim war, daß ich den Zettel geöffnet hatte und warum ich ihn verschlucken mußte – und zum Schluß sagte ich, was der Thalmayr mir aufgetragen hatte. Der Vater schaute finster drein und fragte barsch: 30
„Wer hat dir erlaubt, den Zettel zu lesen?“ Aber der Andrä Hofer lachte, daß man seine Zähne im schwarzen Bart sah: „Sollst ihn nicht schelten, Sepp – dein Bub ist schon recht! Gehorsam ist nicht alles, man muß auch einmal allein entscheiden können und handeln, wenn's not tut …“ Da konnte der Vater nichts mehr sagen. Er brummte nur etwas in sich hinein, vielleicht war er sogar ein bißl stolz auf mich; aber er ließ sich's nicht anmerken. Dann trug der Kronenwirt meine Nachricht in eine Liste ein, ich durfte zuschauen, und da kam es heraus, daß das ‚Mehl‘ Schießpulver war und die ‚Äpfel‘ Bleikugeln. Von beidem lag ein Vorrat in Rum versteckt. Auch was es mit der ‚Hochzeit‘ auf sich hatte, konnte ich dann endlich erfahren, während ich mäuschenstill in einem Winkel saß und zuhörte, was der Vater Anderl aus Wien berichtete. „Die Braut ist bereit, hab' ich dem Erzherzog Johann gesagt“, erzählte der Hofer, „und ich hab' ihn gefragt: Wie steht's mit dem Bräutigam? – Der Bräutigam kommt am 12. März, hat er gesagt und mir ein Säckel Dukaten mitgegeben als Brautgeschenk.“ „Und von wo kommt er?“ fragte der Vater. „Von zwei Seiten: vom Pustertal und von Salzburg.“ Daß aber ein einziger Bräutigam zur gleichen Zeit von zwei Seiten kommt, das konnte wohl nicht mit rechten Dingen zugehen, und so verstand ich's endlich: Der Bräutigam ist die österreichische Armee, die Braut ist Tirol, und die Hochzeit ist der Aufstand gegen die Bayern, den wir uns schon so lange gewünscht haben. Ich hatte in meinem Eck die Hände aneinandergepreßt und wieder auseinandergenommen und wieder zusammengepreßt. Wann kommt der Bräutigam? Am 12. März, hat der Vater Anderl gesagt. Das ist schon bald, das ist schon morgen in einem Monat … Ganz zapplig wurde ich vor Aufregung, und es fiel mir recht schwer, ruhig in meinem Eck zu bleiben. Da kam die Straubin plötzlich zur Tür hereingeschossen und rief: „Der Hausbursch hat bayrische Wachtposten in der Fassergasse gesehen! Gebt acht, Männer!“ 31
Der Vater Anderl stand rasch auf und griff nach seinem Hut, dem schwarzen Passeirer Hut mit der breiten Krempe. Dann reichten die drei Männer einander die Hand wie zum Schwur, und es war einen Herzschlag lang still im Stübl. Ich hätt' hinlaufen und auch meine Hand mit dazugeben mögen – aber ich traute mich nicht. Der Vater Anderl ging rasch weg; und wir, der Vater und ich, machten uns auch auf den Weg. „Vater“, sagte ich unterwegs, „wollt Ihr nicht auch meine Hand drauf, daß ich mithelfen werd', so gut ich kann?“ Der Vater fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. „Schon gut, Ander. Wird genug zu tun geben in den nächsten Wochen. Magst mein Adjutant sein?“ Er meinte es wohl mehr im Spaß, aber ich nahm es ernst, und von dem Tag an fühlte ich mich als meines Vaters Adjutant.
Es dauerte aber nicht einen Monat, sondern zwei, bis die ‚Hochzeit‘ gefeiert werden konnte. Nicht die Braut war schuld, sondern der Bräutigam, der gar so lang auf sich warten ließ. Von Wien kam Botschaft, daß wir vor den ersten Aprilwochen nicht mit ihm rechnen dürften. Wir nützten die Zeit gut, und bald war im ganzen Tirol, bis in die höchsten Einödhöfe hinauf, kein Bauer mehr anzutreffen, der's nicht gewußt hätte: „Wann der Hofer ruft, dann gehn wir!“ Landfremde konnten sich später nicht genug darüber verwundern, wie geschwind, fast über Nacht, eine solche Menge Landesverteidiger bereitstanden: keine regellosen Bauernhaufen, sondern wohlgeordnete Schützenkompanien, die in Reih und Glied hinter ihren Hauptleuten in den Kampf zogen. Stutzen, Pulver und Blei führten sie mit sich, auch Proviant für etliche Tage: Brot, Speck und Enzianschnaps. Unsere Schützenkompanien gab es seit Jahrhunderten fast in jedem Dorf. Ins fremde Militär ließen sich die Unsrigen nicht stecken – aber wenn's drum ging, das Landl zu verteidigen, dann waren sie gleich alle 32
da, eine kurze Botschaft genügte, und sie verließen Haus und Hof, hingen sich die Büchsen um und rückten mit ihrer Schützenkompanie ins Feld. Wie in einer großen Familie, die weit verstreut ist und sich für gewöhnlich nicht viel umeinander kümmert, die aber in der Gefahr fest zusammenhält – so stand dann einer für den andern ein. Mein Vater hatte es auf sich genommen (so war es mit dem Andrä Hofer in der ‚Krone‘ besprochen worden), die Bauern am rechten Innufer aufzumahnen, von Innsbruck bis Schwaz. In den Dörfern ging es leicht, aber er ließ es sich nicht nehmen, auch in die entlegeneren Orte zu gehen, wo nur zwei oder drei Häuser waren, oder gar bis in die Einödhöfe hinaufzusteigen und mit jedem einzelnen selbst zu reden. Wenn nicht grad' Neuschnee lag oder die Wege vom Sturm verweht waren, durfte ich mit. Von Tür zu Tür stapften wir, aber bei uns in den Bergen sind die Türen nicht gar nah beieinander. Oft brauchte es im Schnee eine Stunde und länger, um von einem Hof zum nächsten zu kommen. „Hörst, Sepp, wenn der Steig nit getreten ist, schickst mir den Anderl z'ruck“, sagte die Mutter, wenn wir früh am Morgen im Hof die Schneereifen richteten. Solang wir auf der Straße und den vielbenutzten Pfaden waren, ging's gut. Aber weiter droben sanken wir manchmal bis zum Knie ein, und ich kam nicht weiter. Dann schnallte der Vater die Reifen aus hartem Holz um, die das Einsinken im tiefen Schnee verhindern, und ging ohne mich weiter. Kein Bitten half, ich mußte umkehren und allein nach Haus trotten. An andern Tagen wieder stand die Sonne am Himmel, so hell, daß ich die Augen schließen mußte vor lauter schneeweißem Glanz. Dann nahm der Vater ein Stück verkohltes Holz aus dem Hosensack und malte mir die Augenhöhlen schwarz an. Da konnte ich dann wieder leichter um mich schauen. Viel gesprochen wurde nicht auf diesen Wegen durch den Schnee. Ich war immer froh, wenn in der großen weißen Weite ein schwarzes Tupferl zu sehen war, aus dem der Rauch aufstieg: ein Häusl mit einer warmen Küche zum Ausrasten. So kamen wir auch zum Blattl-Hof. 33
„Tritt dir den Schnee fein sauber ab, Ander!“ „Ja, Vater.“ Das Stampfen von unsern Stiefeln rief die Bäuerin heraus. „Grüß Gott, Bäuerin, ist der Bauer daheim?“ „Im Schupfen beim Holzhacken. Willst nicht hereinkommen mit dem Buben? Ich hol' ihn …“ „Laß nur, wir finden ihn schon.“ Der Bauer hatte unsere Stimmen gehört. Er stand schon in der Schupfentür, ein alter, krummer Mann, und schaute uns entgegen. „Grüß Gott, Blattl-Bauer“, sagte mein Vater. „Ich bin der Speckbacher von Rinn und hab' mit dir zu reden.“ „Der Speckbacher? Hab' schon von dir gehört.“ Wir gingen in die Küche. Die Bäuerin stellte heiße Milch für mich hin, und der Bauer goß dem Vater ein Glas Branntwein ein. „Na, Blattl-Bauer – wie geht's denn allweil bei euch da heroben?“ fragte der Vater und streckte die Beine untern Tisch. „Wie schaut's im Stall aus?“ „Nicht gut. Das Winterfutter reicht nicht. Die Bayrischen haben uns sechs Fuhren Heu vom Hof geholt.“ „Die Schweindln haben wir auch hergeben müssen“, klagte die Bäuerin. „Der Jörgl, unser Bub, ist vor Zorn ganz von Sinnen gewesen und hat eine Rauferei mit den Bayrischen anfangen wollen.“ „Wo ist er denn, der Jörgl?“ fragte der Vater. „Fort.“ Die Bauerin bewegte die Hände zum Fenster hin, wie wenn sie den Jörgl dort hinaus ins weiße Gebirge gescheucht hätt'. „Mit noch einem Burschen ist er ins Kärntnerische hinüber“, sagte der Bauer. „Wir haben nur den einen Buben; aber dafür haben wir ihn nicht aufgezogen, daß er im Bayernheer Soldat spielt und zum Napoleon hilft.“ Die Bäuerin seufzte: „Grad' jetzt, wo's aufs Frühjahr geht. Gott im Himmel weiß, wie der Bauer heuer die ganze Arbeit draußen fertigbringen soll, wenn der Bub nicht mittut …“ Der Bauer wollte etwas dawiderreden, aber die Frau ließ ihn nicht zu Wort kommen: „Hast selbst gesagt, die sakrische Gicht plagt dich heuer viel mehr als im vergangenen Jahr.“ 34
„Jetzt gibst Ruh“, fuhr der Bauer drein, „die Weiberleut' ratschen allweil zuviel; 's gibt wohl noch Ärgeres im Land als meine Gicht.“ „Brav gered't!“ sagte der Vater. „Die Gicht, die mußt zum Teufel jagen. Denn wir brauchen dich, Blattl-Bauer, dich und deinen Stutzen. Weil's gegen die Bayrischen geht und gegen den Napoleon.“ „Gegen die Bayrischen?“ fragte der Blattl-Bauer und reckte seinen faltigen, braunen Hals. „Hast nicht vom Andrä Hofer was gehört? Von dem reden sie im ganzen Tirol …“ „Freilich. Der schickt mich zu dir und allen andern.“ Der Blattl-Bauer hatte jetzt helle Augen. „Ich komm'“, sagte er, „wann ist's soweit?“ „Lang wird's nicht mehr dauern! Wenn die Sturmglocken läuten und die Kreidfeuer auf den Bergen brennen – das ist das Zeichen.“ Der Vater gab dem Blattl-Bauern die Hand; dabei ging sein Blick im Zimmer umher. „Bäuerin, magst uns nicht das Zinnkrügl da heroben vom Brett hergeben? Ein Dutzend gute Kugeln könnt' man da leicht draus gießen.“ „Das Krügl?“ fragte die Bäuerin abweisend. „Das hat schon meiner Großmutter gehört …“ „Gib's her“, sagte der Blattl. „Der Ahndl hat's vom Welschland mit heraufgebracht, der Großmutter zum Geschenk.“ „Gib's her in Gottes Namen“, sagte der Blattl-Bauer, „der Ahndl hätt's auch hergegeben, wenn er gewußt hätt', wofür …“ Drauf nahm die Bäuerin schweigend das Krügl herunter, wischte noch einmal mit der Schürze drüber hin, und als es in unserem Sack verschwand, trocknete sie mit dem Schürzenzipfel die Augen. Der Vater gab den beiden die Hand. „Ist der Weg zum Pichlerhof getreten?“ „Nicht von uns aus, aber vom Nachbarhof aus.“ Im Pichlerhof war's ganz ähnlich, und auch im Zöggelerhof und beim Grillmayr-Simon und beim Talguter-Sepp. Überall hieß es: „Gegen die Bayrischen? Damit 's Landl wieder frei wird? Ich komm'.“ „Gelt, Anderl!“, sagte der Vater zu mir, als wir weitergingen, „es ist 35
grad' wie im Herbst, wenn die Birnen reif sind; da braucht's nur ein schwaches Lüfterl, und schon fallen sie herunter, wie wenn sie drauf gewartet hätten.“ Weil der Vater so vertraulich mit mir sprach, stellte ich auch eine Frage: „Und alle die Bauern, die kämpfen dann für den Andrä Hofer, wenn er ruft?“ Der Vater blieb stehen, obgleich wir's doch eilig hatten, weiterzukommen: „Nicht für den Andrä Hofer, für uns selbst! Das sollst mir fein auseinanderhalten, Bub! Wir sind keine Söldner wie die Bayrischen und Franzosen, die allesamt Kriegsknecht' sind für den Kaiser Napoleon. Wir sind freie Bauers' leut' und kämpfen, damit wir wieder Herren sind im eigenen Land.“ Dann sind wir weitergegangen. Mein Vater hatte aber nicht nur für die Aufmahnung der Bauern zu sorgen, sondern auch für Waffen und Munition. „Was nützen uns die Gewehre ohne Pulver und Blei? Morgen will ich zum Pulvermüller Wopfner nach Absam hinüber, hab' ein Wörtl mit ihm zu reden …“ Ich durft' mit, es war nicht das erstemal, daß ich in die große Pulvermühle von Absam kam. Dort gingen Tag für Tag die großen runden Steine im Kreis und mahlten Schießpulver – für die Bayern. Mein Vater trat mit mir in den Wiegeraum; dort wog der Wopfner, ein kleiner dicker Mann, grad' ab, was er zum Pulvermachen brauchte: Holzkohle, Salpeter und Schwefel. „Grüß Gott, Speckbacher! Schaust auch einmal wieder beim Pulvermüller herein! Was gibt's Neues im Landl?“ Der Vater sah den Wopfner kurz an, mit einem Blick, der sagte: Stell dich nicht dumm! „Was es Neues gibt? Hochzeit gibt's, hast's noch nicht gehört?“ Der Wopfner nickte und zwinkerte dem Vater zu: „Freilich hab' ich's gehört. Auch daß der Bräutigam bald kommt und die Braut schon ungeduldig ist.“ „Wie sollen wir feiern, wenn du dein ganzes Pulver den Bayrischen schickst?“ 36
Hofers Aufgebot der Tiroler Schützen. Entwurf zu einem Gemälde von Jakob Placidus Altmutter
Der Wopfner bekam einen Schreck: „Was soll ich denn tun, Spöck? Sie kontrollieren mich ja …“ „Denk dir was aus. Hast doch einen guten Kopf auf den Schultern. Das Pulver brauchen wir. Von heut' an geht nichts mehr nach Innsbruck zum Feind, verstehst mich, Wopfner? Und der Andrä Hofer läßt dich grüßen.“ Der Wopfner kratzte sich den Kopf; er war in großer Verlegenheit, man sah es ihm an: die Angst vor den Bayern, die seine Brotherren waren, und die Angst, daß der Vater ihn für einen schlechten Tiroler hielt und er den Gruß vom Andrä Hofer nicht verdiente. Mir tat er leid und ich sagte: „Kann der Wopfner nicht eine Ausred' finden und sagen, seine Waage ist hin …“ „Red nicht drein“, fuhr mich der Vater an. Aber der Wopfner nickte mir zu. Zwar mit der Waag', das ginge nicht, doch würd' er sagen, daß ihm der Schwefel ausgegangen ist und daß er warten muß, bis er neuen bekommt. „Das ist deine Sach', Pulvermüller“, sagte der Vater. „Aber da wär' noch was …“ Er nahm den Hut ab und schaute nachdenklich auf die bunten Federn dran. „Willst uns nicht an die Hand gehen, wenn wir droben im Wald Kugeln gießen? Verstehst dich doch am besten drauf.“ Der Wopfner erschrak schon wieder und versuchte, sich herauszureden; er sagte, daß er wochentags seine Arbeit in der Pulvermühle habe und sich am heiligen Sonntag das Kugelgießen für einen Christenmenschen nicht gehöre. Der Vater warf ihm wieder einen kurzen Blick zu und sagte schließlich: „Laß gut sein, Wopfner, das Landl verteidigen ist nicht weniger heilig wie die Sonntagsruh' halten. Kann sein, du triffst beim Kugelgießen den Pfarrer von Volders. Der hat's sich mit dem Herrgott ausgemacht, daß er am Sonntagmorgen die Messe liest und am Mittag Blei schmelzen hilft – und daß beides ein gottgefälliges Werk ist.“ Darauf wußte der Pulvermüller nichts mehr zu erwidern und versprach zu kommen. Beim Kugelgießen durften nur wenige mittun, halt jene, auf die Ver38
laß war. Auch Frauen waren darunter und Buben und Dirndln. Im Volderer Wald droben, mitten im dichten Baumbestand, hatten der Vater und ein paar Nachbarn einen freien Platz geschlägert und auf roh behauenen Stämmen ein Rindendach errichtet. Alles, was wir zum Gießen brauchten – die Säcke mit dem gesammelten Zink und Blei, der Schmelztiegel, die Kugelzangen – lag ringsum im Unterholz versteckt; auch der schwere Bottich, in dem die heißen Kugeln abgekühlt wurden. Tags zuvor stieg unsere Magd Burgl mit einer Kraxe auf dem Bukkel hinauf und brachte mit Tannennadeln gefüllte Körbe zum Platz. Ich ging mit ihr und trug einen Batzen Hirschtalg. Auch andere Bauernkinder kamen im Lauf der Woche heimlich hin; das eine mit einem Holzfaßl voll Bienenwachs, das andre mit einem Stück Fensterblei. Am Sonntag aber, wie's wirklich an die Arbeit ging, kamen wir alle wie zufällige Sonntagsspaziergänger ein jeder für sich mit leeren Händen dorthin gepilgert, schauten uns fleißig um, ob auch ja kein bayrischer Wachtposten in der Nähe umherstreife, und fanden uns erst dann flüsternd unterm Rindendach zusammen. Hierauf zündete der Wopfner das Feuer an und stellte den Schmelztiegel darüber. Alle die Geräte aus Zinn und Zink und die Bleistücke wanderten in den Tiegel und wurden langsam zu einem fließenden Silberbrei zerschmolzen. Darauf zeigte der Wopfner den Frauen, wie sie die Kugelzangen, die wie doppelte Schöpflöffel aussahen, in den Silberschmelz tauchen und in großen, geschwinden Kreisen über den Köpfen rundum schwingen müßten. Das erforderte Schnelligkeit und Geschick, denn wenn das flüssige Blei heraustropfte, gab es eine arge Verbrennung und die Kugel war auch hin. Neben der Schmelzstelle war derweil der Kühlbottich aufgestellt worden, ein großer, ausgehöhlter Stamm, mit Sägespänen gefüllt. Dorthinein ließen die Gießer die noch heißen Kugeln aus der Zange fallen. Dann konnte endlich unsere Arbeit beginnen: mit Lederfetzen und angewärmtem Hirschtalg oder Bienenwachs durften wir die Kugeln einfetten, bis sie glatt waren und geölt aus den Stutzen herausfahren konnten. Der Wopfner erklärte uns auch noch, daß den gefetteten Kugeln die Feuchtigkeit nichts anhaben könne. Darauf verpackten wir Kinder die fertigen Kugeln in die Körbe mit 39
Tannennadeln und versteckten sie tief im Unterholz. In den nächsten Tagen wurden sie dann von den Bäuerinnen und Mägden abgeholt: denn am Sonntag mit den Eierkörben heimgehen – das wäre zu auffallend gewesen. Indes wurde es April. Was wissen die Stadtleut' davon, wie's ist, wenn bei uns der Winter geht? Erst wird der Schnee grau und löcherig, überall sickert und tropft es von den Zweigen. Im Wald rieseln unter der dünnen, glasigen Schneekruste kleine Bäche, und wenn man stillsteht und gut hinhorcht, kann man hören, wie sich alles regt und wie es wachsen will. Die Nächte sind noch kalt, am Morgen liegt zuweilen frischer Schnee auf den Krokusblüten; aber der hält sich nicht lang, am Mittag rinnt er davon und fließt in eines der tausend Rinnsale, die kreuz und quer den Hang hinunterplätschern. Und jeden Tag kommt ein neuer Vogelruf. Ich hatte diese Jahreszeit schon immer am liebsten, aber in jenem Jahr, Anno neun, war's mit dem Frühlingsanfang noch etwas ganz Besonderes. Die Unruh', das Drängen und Sichrühren ist nicht nur im Wald draußen gewesen, sondern auch bei den Menschen drinnen. Wie ein Fieber ging es durch das Land; jeden Tag sollte ja die Botschaft vom Vater Anderl kommen. Die Bauern taten wohl ihre Arbeit, aber zehnmal am Tag liefen sie aus dem Haus und fragten einander: „Ist's schon soweit?“ Ich konnte vor lauter Ungeduld nicht mehr sitzen und stehen, lief umher wie ein Hase und fragte: „Wann denn, Vater? Morgen oder übermorgen, Vater? Warum noch immer nicht, Vater?“ Zuletzt wollt' der Vater die Fragerei nicht mehr hören, und um Ruh' zu haben, ging er mit mir zu den hohen Lärchenbäumen, die nicht weit von unserm Hof am Waldrand standen: „Wenn die ihre Kerzln aufstecken, dann ist's soweit.“ Auf das hin lief ich jeden Morgen gleich zu den Lärchenbäumen. Die rötlichen Triebe sahen so dick aus, als ob sie jede Minute aufspringen wollten. Und eines Tages – ich weiß es wie heut', es war der 7. April – dachte ich mir: ‚Weiter droben, wo mehr Sonne hinkommt, sind sie vielleicht schon offen‘ – und stieg hinauf. Da rief der Vater vom Haus her: 40
„Ander!“ So geschwind war ich selten bei ihm. „Sind die Kerzln heraußen?“ fragte der Vater. „Die Botschaft ist da. Ich muß gehn. Sei brav und hilf der Mutter.“ Damit war er fort und der Zoppl hinterdrein. Durch Tirol ging von Mund zu Mund der Ruf: „Mander, 's ischt Zeit!“ Viele Bauern aus der Umgebung kamen zu uns und fragten, ob es wahr sei, was sich die Leut' erzählen. „Ja“, sagte die Mutter, „der Hofer ruft euch, 's ischt Zeit.“ Am Nachmittag war ich in Hall drunten, da standen die Leut' am Ufer und schauten stromaufwärts. Von Innsbruck her kam ein Brett geschwommen mit einem roten Fähnlein drauf. „Das ist das Zeichen!“ flüsterten die Leut einander zu und schauten voll Ehrfurcht, wie das Fähnlein vorüberschwamm, den Inn hinunter. In der Nacht darauf brannten rings auf den Bergen helle Feuer. Es war wie bei einem Fest, so stark und rot leuchteten die Feuer in der dunklen Nacht. Die Mutter stand mit uns Kindern vorm Haus und hielt uns fest bei der Hand. Die Kirchenglocke von Rinn schlug zehn Uhr. „'s ischt Zeit“, sagte die Mutter mahnend und meinte, daß wir schlafen gehen sollten; aber mir klang es anders.
Am neunten April erklärte der Kaiser Franz dem Napoleon Bonaparte den Krieg; des Kaisers Bruder, der Erzherzog Karl, marschierte mit der österreichischen Hauptarmee nach Norden, um München zu besetzen; der andere Bruder, unser Erzherzog Johann, zog nach Italien gegen Eugen Beauharnais, den Stiefsohn des Franzosenkaisers, der dort als Vizekönig regierte. Jeden Tag, nein, jede Stunde mußten jetzt die kaiserlichen Truppen auch bei uns einmarschieren und, wie versprochen, uns zu Hilfe kommen. „Alle zum Bergisel!“ Das war die Parole unter den Landesverteidigern am elften April: „Am Bergisel wird die erste Schlacht geschlagen. Es gilt, die bayrische Garnison aus Innsbruck zu vertreiben und die Tiroler Hauptstadt für die Tiroler zurückzuerobern!“ 41
Nicht nur die Schützenkompanien rückten aus, sondern auch alte und junge Bauern, Knechte, Senner, Hirten und viele Knappen vom Salzberg unten. Sie waren mit Eisenstangen und Holzkeulen bewaffnet, mit Spaten, Krampen und Hacken; sie trugen Sensen und Dreschflegel, die mit Nägeln gespickt waren, Morgensterne, wie wir sie nannten. – „Zum Bergisel!“ – In Haufen zogen sie das Inntal hinauf, kamen im Norden von der Scharnitz und im Süden vom Brenner herunter. Das ganze Land war auf – aber die Kaiserlichen ließen noch immer auf sich warten. „Ohne Bräutigam gibt's keine Hochzeit“, sagten manche; „ehe nicht die Truppen vom Kaiser Franz da sind, dürfen wir nicht losschlagen.“ Das waren die Vorsichtigen (der Pfarrer von Volders nannte sie ‚die Kleinmütigen und Verzagten‘), die sich nur etwas trauten, wenn eine Obrigkeit dahinterstand. Auch der Kronenwirt war so einer; er jammerte, daß die Bauern sich doch gedulden sollten – und hätt' sie am liebsten alle zurückgehalten. Aber grad' so gut hätt' er von den Lärchenbäumen verlangen können, daß sie ihre Kerzeln zurückhalten sollten. Der Vater kam noch einmal nach Haus und rückte jetzt an der Spitze seiner Scharfschützenkompanie zum Paschberg aus. Der rechte Flügel des Bauernheeres stand unter seinem Befehl; er sollte sich zunächst in Reserve halten und in die Schlacht nur eingreifen, wenn es nötig war. Ich werd' es nie vergessen, wie der Vater und der Zoppl Abschied nahmen. Wir standen im Hof, die Burgl heulte laut und lief in den Stall zur Bleß, die bald ihr Kalb kriegen sollte. Der Vater nahm jedes Kind auf den Arm: den Seppl, unseren Kleinsten, zuerst; dann der Reihe nach die Dirndln; mir reichte er die Hand. „Vater, nehmt mich mit! Der Andrä Hofer hat's selbst gesagt, daß ich schon recht bin …“ „Zu Botengängen, nicht zum Kämpfen.“ Sein Ton war unerbittlich. Von der Mutter nahm er zuletzt Abschied; er schloß sie ohne ein Wort zu sagen in die Arme, und wir Kinder schauten verlegen zur Seite, denn unsere Eltern hatten sich niemals umarmt, wenn wir dabei waren. 42
Überall, aus jedem Hof, gingen die Männer so davon; die Bäuerinnen traten vors Haus, die Kinder liefen ein Stück mit und winkten. Ich hatte es mir lustiger vorgestellt, wenn sie alle auszogen, um zu kämpfen und zu siegen; und ich wurde ganz still, als ich auf all den Gesichtern ringsum den großen Ernst sah. Zum erstenmal dachte ich darüber nach, daß mein Vater vielleicht nicht wiederkommen würde und daß Kämpfen und Siegen auch Sterben bedeuten könnte. Die Kaiserlichen waren noch immer nicht da, als am Bergisel der Kampf losbrach. Wir hörten es schießen und krachen, und jedem, der aus der Richtung von Innsbruck kam, liefen wir Kinder aufgeregt entgegen: „Wie steht's?“ „Gut steht's. Die Bayrischen versuchen, den Berg heraufzukommen, aber die Unsrigen werfen sie hinab und sind schon bald drunten in der Stadt.“ Wir rannten zur Mutter, um ihr die Nachricht zu bringen' Der Vater stand am Paschberg, von der Mitte des Bauernheeres durch die reißende Sill getrennt; gekämpft wurde weiter drüben, und er mußte tatenlos zuschauen, wie die andern sich tapfer schlugen. Aber tatenlos zuschauen war nie meines Vaters Sach'. Wie er sah, daß die Schlacht um Innsbruck auch ohne ihn und seine Schützen bald gewonnen war, schickte er einen Teil der Kompanien nach Hause und bestellte sie erst wieder zur Nacht an die Haller Brücke. Er selbst kam mit dem Zoppl noch geschwind daheim vorbei, nur grad', um der Mutter zu sagen, daß er was Besseres zu tun habe, als sinnlos am Paschberg zu stehen, und daß sie nicht erschrecken solle, wenn es heut' nacht in der Nähe Kriegslärm gäbe. Dann liefen sie beide wieder fort, auf der Straße nach Volders zu. Die Burgl schaute ihnen nach und fragte kopfschüttelnd meine Mutter: „Was hat der Bauer nur vor?“ „Die Brücken von Hall und Volders will er nehmen. Er meint, daß bis morgen die Bayern in Innsbruck gefangen sind; sie werden fliehen wollen, bei Kufstein über die Grenze hinüber. Wenn die Unsrigen Hall und die Brücken haben, dann ist dem Feind der Weg versperrt, dann sitzt er drinnen, und der Sepp will sie gefangennehmen.“ 43
Mich packte eine große Begeisterung, wie ich vom Plan des Vaters hörte. Die Brücken stürmen, Hall besetzen … da müßt' ich dabeisein! Zum Aufmahnen war ich gut gewesen, und jetzt, wo's losging, ließen sie mich daheim und sagten, daß ich noch zu klein sei! Dabei hatte in meinem Alter der Vater schon einen Lämmergeier im Karwendel droben erlegt – ganz allein. War eine Brücke stürmen ärger als der Lämmergeier? Die Stunden vergingen, meine Mutter und die Burgl hockten im Stall bei der Bleß, die muhte laut und jämmerlich, bald würde das Kalb da sein. Ehe sie wiederkamen, mußt' ich fort sein. Darum trug ich meiner Schwester Kathi auf, sie sollt' der Mutter sagen, daß ich beim Vater bin – und lief davon. Unterwegs kam mir ein Bauer entgegen, zu meinem Glück ein geschwätziger Graubart, der mir bereitwillig Auskunft gab. An der Volderer Brücke drunten hatte es ein Gefecht gegeben, kurz und heiß und siegreich für die Unsrigen. Die bayrischen Brückenposten hatten sich in das Servitenkloster am Brückenende zurückziehen müssen, hielten sich dort eingeschlossen und warteten auf Hilfe. Der Bauer fragte mich dann, von wo ich sei, und als ich ‚von Rinn‘ sagte, wollte er wissen, ob ich denn nicht den Speckbacher kenne, das sei ein wahrer Held an Tapferkeit, und nur ihm sei es zu verdanken, daß es an der Brücke so geschwind gegangen war. Jetzt sitze er drunten in Volders beim Angerer, dem Wieseler-Wirt … Da ich nun wußte, wo ich den Vater finden könnt', lief ich eilig weiter und hoffte zuversichtlich, daß er mir's nicht verübeln würde, wenn ich so plötzlich bei ihm auftauchte. Doch als ich im Wieseler-Wirtshaus in die Gaststube kam und ein wenig zaghaft „Grüß Gott“ sagte, verwies er mir in strengem Ton mein eigenmächtiges Davonlaufen und wollte, daß ich stracks wieder nach Hause gehe. Der Angerer bat für mich, da durft' ich ein wenig ausrasten, setzte mich still im Winkel nieder und lauschte dem Gespräch. Der Vater vergaß mich bald; er redete heftig auf den Angerer ein: „Du übernimmst das Kommando; wenn sie sich nicht freiwillig ergeben, dann stürmst du das Kloster. Laß deine Leute übers Dach her 44
eindringen – und wenn das nicht geht, dann schlagt einen Baum, legt ihn in die Schlinge als Mauerbrecher und stoßt damit die Pforte ein.“ Der Angerer fragte: „Und du, Spöck?“ „Ich muß fort. Mit der Handvoll Bayern dahier wirst schon allein fertig, Angerer. Heut' nacht geht's auf Hall, da braucht es noch Stürmer und Schützen vom drüberen Ufer, die mithalten.“ „Auf Hall?“ fragte der Wieseler-Wirt fast mit Ehrfurcht. „Dort steht ja eine ganze Bayern-Garnison, wie willst das anstellen, Spöck?“ Der Vater nahm ein Stück Kreide. „Schau her – das ist Hall.“ Er zeichnete einen Kreis auf die Tischplatte, an dem ein Doppelstrich (der Innfluß) vorbeiführte. „Hier im Norden gehen die drei Straßen zu den Dörfern Mils, Absam, Thaur. Jede Straße hat ihr Stadttor …“ „ … und jedes Tor seine Bayern-Wache“, warf der Angerer ein. „Freilich. Jetzt kommt's drauf an, die Bayrischen glauben zu machen, daß ihnen von drüben, von den drei Dörfern her, für heut' nacht nichts droht. Aber auf unserer Seite hier, am rechten Ufer, sollen die Sturmglocken läuten und die Kreidfeuer brennen, damit der Feind seine ganze Streitkraft von den Stadttoren fort zur Brücke kommandiert. Nach Mitternacht greif ich an – und ich weiß recht wohl, Angerer, so leicht wie an der Volderer Brücke wird's nicht gehn. Indes ziehen die von Absam, Mils und Thaur nach Hall und kommen uns zu Hilf; sie überrumpeln die Posten an den schwachbesetzten Toren, dringen in die Stadt, stürmen bis zur Brücke und fallen dem Feind dort in den Rücken …“ Der Angerer hob sein Glas: „Bist besser als ein General, Spöck! Geb's Gott, daß es z'sammgeht heut' nacht in Hall.“ Der Vater trank ihm zu und stand auf. Er schaute sich in der Gaststube um – ich wußte, wen er suchte, und war schon vorher unter der Bank verschwunden. „Ander!“ rief der Vater. „Wo steckt der Bub?“ Ich stellte mich taub wie der Kuhn, unser Hund, wenn er nicht hören will. Der Angerer sagte beruhigend: „Laß gut sein, Spöck, weit kann er ja nicht sein. Ich schick' ihn schon nach Haus.“ 45
Der Vater zögerte einen Augenblick, doch da er Eile hatte, rief er den Zoppl aus der anderen Stube und ging mit ihm fort. Ich kroch unter der Bank hervor und schlüpfte aus dem Haus. Dann lief ich geduckt den beiden nach. Wie ich es damals fertigbrachte, mitzufahren in dem flachen Boot (das wir in Tirol ‚Plätte‘ nennen), unbemerkt vom Vater – das kommt mir noch jetzt wie ein Wunder vor. Ich hatte es dem Zoppl zu verdanken, der mich in seiner Gutmütigkeit nicht verraten wollt' – aber Glück war halt auch dabei. Heimlich bin ich den beiden die Straße nach Wattens und Kolsaß gefolgt. Bei Weer ging der Vater, schon nahe am Fluß, in ein Bauernhaus, derweil der Zoppl sich in dem Boot zu schaffen machte, das dort am Ufer festgebunden war. Flugs bin ich hinter ihm hineingesprungen und hab' mich ganz am Ende zusammengekauert: „Zoppl, lieber Zoppl, sag's dem Vater nicht, aber ich muß mit, ich werd' narrisch, wenn ich nicht dabei bin …“ Noch ehe der Zoppl etwas erwidern könnt', kam der Vater aus dem Haus zurück. Der Zoppl warf geschwind seinen Mantel über mich und über die Bank. „Stoß ab!“ rief der Vater. „Wir haben's eilig!“ Er schwang sich ins treibende Boot, und schon waren wir auf der Überfahrt. Der Inn hatte eine starke Strömung, und der Zoppl mußte fest rudern, um nicht abgedrängt zu werden. Ich kauerte mäuschenstill unter dem Mantel. Der Vater sagte: „Horch, Zoppl, ich übernehme die Dörfer Baumkirchen, Fritzens und Mils; du gehst nach Rum und Thaur. Sag den Hauptleuten dort, was wir für heut' nacht vorhaben. In Absam treffen wir wieder zusammen.“ „Weiß es eigentlich der Straub?“ fragte der Zoppl. „Ich mein', weil er doch der Stadtkommandant ist von der Haller Bürgerwache …“ „Er weiß es“, sagte der Vater kurz, „aber er tut nicht mit.“ Der Zoppl hörte zu rudern auf: „Tut nicht mit?“ „Nein. Er will nichts davon hören, daß wir Bauern ohne die Kaiserlichen angreifen.“ 46
„Sind ihm wohl nicht gut genug, dem Herrn Kronenwirt?“ fragte der Zoppl voller Groll. Aber mein Vater verwies ihm die Rede und sagte, daß ja auch der Andrä Hofer ein Wirt sei und der Angerer in Volders und der Peter Mayr, der Mahr-Wirt in Brixen drunten … und noch viele rechtschaffene Männer, denen die Tiroler Sach' grad' so am Herzen lag wie dem Zoppl selbst. Als unser Boot drüben anstieß, sprang der Vater hinaus und stürzte davon, ohne auf den Zoppl zu warten und ohne bemerkt zu haben, was unter dem Mantel war. Später erfuhr ich, daß er nicht nur nach Mils, Fritzens und Baumkirchen, sondern bis Gnadenwald, seinem Heimatsort, hinaufgegangen war, um die Bauern für die Nacht aufzumahnen. Ich begleitete den Zoppl in die Dörfer Rum und Thaur, und als wir schließlich nach Absam kamen, wo wir mit dem Vater wieder zusammentreffen sollten, war es schon Abend, und die Berge, die eben noch rosig dastanden, verloschen plötzlich und wurden grau. Beim Stamser-Wirt in Absam brannten bereits die Lampen im Gastzimmer; trotzdem war's in den Ecken finster, und keiner könnt' wissen, auch nicht der Vater, daß ich es war, der da herumkroch und mit Herzklopfen auf den Augenblick wartete, wo er mich schließlich doch entdecken würde. In der Stube saßen viele Leute, Bauern und Handwerker – auch der Pulvermüller Wopfner war da. Der Vater setzte sich zu ihnen, und' wie er ihnen grad' seinen Plan für heut' nacht auseinandersetzen wölke, gab's draußen einen Lärm: im Salzberg war Feierabend, die Knappen gingen von der Arbeit heim. „Die laß ich nicht vorbei, eh' sie mich gehört haben!“ rief der Vater und lief hinaus vor die Tür. „Brüder und Nachbarn, hört mich an …!“ Er sprang auf eine Bank, damit alle ihn sehen konnten. „Brüder und Nachbarn – wer ein wahrer Tiroler ist und es redlich meint mit dem Landl, der soll es heut' nacht beweisen! Jeder muß das Seinige beitragen im Kampf gegen den Feind, der uns die Freiheit nicht vergönnt auf unserm eigenen Boden! Wer unser Tirol nicht schützt, der hat kein Recht, sein Brot dahier zu essen. Brüder, es ist eine gerechte Sach', für die wir streiten, und darum wird uns der Herrgott beistehn!“ 47
So mächtig redete er, daß ich vergaß, mich still im Winkel zu halten. Ich lief zu den andern hinaus und drängte mich zwischen die Knappen vom Salzberg. Neben mir stand ein junger, mit grauem Gesicht und tiefliegenden Augen. Auf der andern Seite ein älterer, dem die Adern blau an den Fäusten hervortraten. Ich schaute sie an und dachte mir: ‚Das sind keine Herrenleut', wie sie der Vater nicht mag – die gehören zu uns!‘ Als mein Vater zu reden aufhörte, ging ein Rufen und Schreien an. Die Bergleute schwenkten ihre Kappen über den Köpfen und ihre Gesichter wurden rot und heiß. Ihr Eifer steckte mich an. Ich warf mein Hütl in die Luft und schrie „Vivat!“ Das Hütl aber fiel grad' meinem Vater vor die Fuß', und wie ich's flink und heimlich aufheben wollt', packte er mich plötzlich am Kragen. „Bub! In drei Teufels Namen! Wo kommst denn jetzt schon wieder daher?“ Ich stotterte etwas zusammen; es war nur gut, daß die Knappen den Vater gleich umringten, um Genaueres über den Plan für heut' nacht zu erfahren. Auch Frauen kamen und versprachen, beim wundertätigen Gnadenbild der Mutter Gottes von Absam um Beistand für den Kampf zu beten. Die Schützen-Hauptleute von Mils und Thaur meldeten sich, Boten wurden ausgeschickt, Ordonnanzen trafen mit Nachrichten ein, es war ein Kommen und Gehen, und der Vater war von Männern umringt. Als wir drei – der Vater, der Zoppl und ich – aus Absam endlich fortgingen, war es finstere Nacht. Von Innsbruck herüber hörte man vereinzelte Schüsse. Ein scharfer Frühlingswind wehte, die Nacht war kühl und klar, aber ruhlos. Mir kam's vor, als ob es überall sich rührte: hinter den hellen Fenstern der Bauernhäuser glaubt' ich die Männer stehen zu sehen, wie sie ihre Stutzen blankrieben, die Pulverhörner füllten, die Kugeln in die Lederbeutel hineinzählten … „Vater, ich wollt', ich hätt' einen Stutzen wie Ihr und der Zoppl.“ „Und ich wollt', du wärst daheim in deinem Bett und die Mutter müßt' sich nicht ängstigen um dich narrischen Buben!“ Wir gingen rasch, und bald tauchte die Stadt Hall mit schwarzen 48
Umrissen im Dunkel auf. Da wurde des Vaters Schritt plötzlich langsamer, er lauschte und blieb stehen. „Bist du's, Straub?“ rief er halblaut in die Finsternis. Von der Mauer löste sich eine Gestalt; der Kronenwirt, in einen großen schwarzen Mantel gehüllt, trat nah zu uns heran. Er schaute vom Vater auf den Zoppl und wieder zurück: „Vor dem Knecht kann ich nicht mit dir reden, Speckbacher!“ „Was, Knecht!“ fuhr mein Vater auf ihn los. „Jetzt gibt's keinen Herrn und keinen Knecht. Bauern sind wir und Tiroler, der Zoppl grad' so wie ich. Und das ist die Hauptsach' – merk dir's, Kronenwirt!“ Noch nie hatte ich den Vater so scharf mit dem Onkel Straub sprechen gehört. Der lenkte ein: „Schau her, Sepp, 's ist ja nur, weil wir die Sach' noch einmal gut bereden müssen …“ „Zum Reden ist keine Zeit mehr. In den Dörfern ist alles aufgeboten für heut' nacht. Wir schlagen los, auch ohne dich und deine Haller Schützen. Tust mit – oder nicht?“ Der Kronenwirt zögerte, und seine braunen Augen blickten unruhig auf den Vater. „Ich möcht' wohl, aber ich kann nicht …“ „Warum kannst nicht? Brauchst nur wollen. Ihr Stadtleut' findet immer was, um euch draußenzuhalten …“ „Nimm doch Vernunft an, Sepp. Das Ding hat zwei Seiten. Einerseits …“ „Nix einerseits! Ja oder nein, frag' ich.“ Des Vaters Stimme klang hart. „Ich halt' mich ans Bibelwort: Deine Rede sei ja, ja – nein, nein.“ Der Kronenwirt lamentierte: „Es ist wider das Gesetz, wenn wilde Bauernhorden über königliches Militär herfallen; es ist Willkür und Rebellentum, und damit will ich nichts zu schaffen haben.“ „Nennst du das Gesetz, was die Fremden uns antun?“ gab der Vater heftig zurück. „Wir sind in Notwehr. Unser Recht will ich – und hol' mir's heut' nacht an der Brücke von Hall!“ Der Onkel Straub hatte genug. „Du Hitzkopf!“ rief er, „du BauernDickschädel! Wirst es noch bereu'n, daß du meinen Rat nicht hast hören wollen!“ 49
„Nichts werd' ich bereu'n“, sagte der Vater ruhig. „Geh nach Haus, Kronenwirt, setz dir die Nachthaube auf und schlaf! Morgen in der Früh sprechen wir uns wieder.“ Ohne Abschied gingen sie auseinander: der Onkel Straub nach Hall zurück, der Vater auf seitlichen Pfaden zum Inn hinunter. Der Fluß rauschte laut, die Wellen schlugen gluckernd an den Bootsrand und wiegten uns auf und ab, während der Zoppl uns hinüberruderte. Ich war müd, fast wär' ich eingeschlafen. Aber da fingen plötzlich die Sturmglocken am rechten Ufer zu läuten an. Auf den Bergen loderten die Kreidfeuer auf – vier … sechs … ein Dutzend. Wie eine flammende Kette schloß sich eins ans andre, von Volders bis zum Bergisel hin. „Das hat der Angerer gut besorgt“, sagte der Vater, „auf den ist Verlaß.“ Nicht weit von der Haller Brücke hatten sich schon die Landesverteidiger zusammengefunden. Durch den Wald kamen sie herab, noch nie hatte ich so viele Menschen beieinander gesehen; wie Tropfen in einen Trog strömten sie an der Brücke zusammen. Es ging auf Mitternacht, und noch immer kamen neue dazu. Sie hockten sich zu den andern auf dem Boden nieder. Die Wachfeuer brannten rot, manchmal blies der Wind die Flammen hoch und drückte sie gleich wieder zu Boden. Sensen und Gewehre klirrten, die Flasche mit dem Enzianschnaps ging reihum – es war wie im Feldlager. Der Pfarrer von Volders war auch da; mit dem Kreuz zwischen den Händen ging er von einer Gruppe zur andern und betete laut. Viele der Männer stimmten fromme Lieder an, andere aber saßen ganz stumm, hielten die Stutzen umklammert und starrten in die Flammen. Ich sah ihre ernsten Gesichter im Feuerschein, gewiß dachten sie an daheim. Der Vater war überall; er sprach mit den Hauptleuten, wies den einzelnen Trupps ihre Stellungen an, beruhigte, ermunterte sie – wie's not tat. Die Spannung wuchs, alles wartete auf den Angriff. Endlich, vor dem ersten Morgengrauen, grad' wie die Nacht nimmermehr ganz so schwarz und undurchdringlich war, gab der Vater den Befehl zum Stürmen. 50
„Vorwärts!“, rief er und lief als erster der Brücke zu, „z'sammhalten und dreinschlagen!“ Mit dem gleichen Ruf folgten ihm alle andern … alle, nur ich nicht! Auf des Vaters strenges Geheiß mußt' ich mich abseits vom Kampfplatz halten, in der Obhut eines lahmen Bauern aus Kolsaß. Er konnte beim Sturm nicht mittun, doch wollte er das Seine beitragen zum Kampf, und so saß er jetzt nahe der Brücke, mit einem Vorrat von weißem Linnen, das er in Streifen riß. Jedesmal, wenn ich mich davonmachen wollt' (und ich versuchte es etliche Male), griff seine dürre, starke Hand nach mir und hielt mich fest wie in einem Schraubstock: „Hiergeblieben, Bub!“ Das Gefecht brach los; wie von meinem Vater vorausgesehen, hatten die Bayrischen ihre Streiter an der Brücke zusammengezogen. Mit großer Gewalt prallten Freund und Feind aufeinander. Doch so eifrig ich auch hinüberspähte, ich konnte nichts Genaues erkennen; die Nacht wich nur langsam, und im grauen Dämmer sah ich bloß eine dunkle, dichtverknäuelte Masse hin und her wogen. Die ersten Verwundeten wurden gebracht, ich mußte beim Verbinden helfen. Dem einen hielt ich den Arm, dem andern das Bein, und das warme Blut rann mir über die Hände. Obzwar ein Bauernbub nicht heiklig ist, mußt' ich mich doch zusammenreißen. Es ist halt was andres, ob im Hof ein Vieh abgestochen wird oder ob ein Mensch stöhnt und sein Blut rinnt. Einer wurd' gebracht, ein junger Bauer aus Weer, der war fahl im Gesicht; eine Bayernkugel hatte ihm die Schulter zerschmettert. Nur seine Lippen waren blutrot, er hatte sie aufgebissen, weil er nicht schreien wollt' vor Schmerz. Ich hab' auf einmal denken müssen, daß Krieg und Schießen doch eine niederträchtige Sach' ist. Wenn's nicht um Tirol gegangen wär' und um die Freiheit – und wenn mein Vater nicht gesagt hätt': lieber tirolisch sterben als bayrisch leben –, ich hätt' die Freud' an unserm Kampf und den Stolz darauf verloren. Die Unsrigen hatten einen harten Stand an der Brücke. Immer wieder ließ der Vater stürmen, und immer wieder schlugen die Bayrischen 51
die Unsrigen zurück. In der Morgendämmerung konnt' ich jetzt deutlicher erkennen, wo die Tiroler und wo die Bayern kämpften, und mir wurd' bang, als ich sah, wie stark und zahlreich der Feind war und wie wild er sich schlug. Wie lang konnten sich die Unsrigen noch halten? Ich horchte inbrünstig zur drüberen Seite hinüber – und grad' als die obersten Bergspitzen im Frühlicht zu leuchten anfingen, kam vom andern Ende der Brücke Siegesgeschrei und wilder Lärm. Die Bauern von Mils und Thaur und Absam waren mitsamt den Bergknappen vom Norden her nach Hall gezogen, hatten ohne Verzug die Posten an den Toren überwältigt und waren quer durch die schlafende Stadt zur Brücke hergestürzt. „Sie kommen!“ rief der lahme Bauer mit heiserer Stimme. „Jetzt geht's z'samm!“ Die Bayrischen wußten nicht, wie ihnen geschah, als sie jetzt auch im Rücken angegriffen wurden; nicht lang – und es war entschieden, denn nach zwei Seiten konnten sie nicht kämpfen. Der Zoppl kam gelaufen, sein pulvergeschwärztes Gesicht strahlte vor Freude und Triumph. „Sie haben sich ergeben!“ rief er. „Wir haben gesiegt!“ Ich rannte zum Vater. Der kleine, dicke Pulvermüller stand bei ihm und herzte meinen großen Vater wie einen Bruder. Unter den Bauern war lauter Jubel. Die vom linken Innufer hielten die vom rechten umarmt und untergefaßt – und so sind wir alle mit Lärm und Gesang in die morgenstille Stadt Hall eingezogen. Grad' als wir am Münzturm vorbeikamen, traf der Angerer mit seinen Schützen ein und meldete, daß auch in Volders Brücke und Kloster erobert waren. Da stieg der Übermut noch höher; wenn wir gar gewußt hätten (was wir erst später erfuhren), daß auch in Innsbruck sich zur gleichen Stunde die Garnison ergeben mußt', dann hätten wir in den verschlafenen Gassen gewiß einen noch größeren Spektakel aufgeführt. Die Haller Bürger schauten furchtsam aus den Fenstern. Ich hab's gar nicht recht verstehen können, wovor die eigentlich Angst hatten: als ob Raubritter gekommen wären und nicht Tiroler Bauern, die ihnen Sieg und Freiheit brachten! 52
Unterdes war's hell geworden, ein schöner, frischer Morgen. Der Kronenwirt war schon wach, er stand vor seinem Gasthof und schaute uns entgegen. Der Vater trat gradwegs auf ihn zu und reichte ihm die Hand: „Wünsch' einen guten Morgen, lieber Herr Bruder Straub! 's ist gut gegangen auch ohne die kaiserlichen Uniformherren, und wir zwei woll'n einander nichts nachtragen. Aber jetzt mußt uns helfen, Straub, und für Ordnung sorgen mit deiner Bürgerwache. Ich leid's nicht, daß sich die Unsrigen im Übermut an den Gefangenen vergreifen. Führ du die Bayrischen nach Schwaz; vielleicht triffst gar die Kaiserlichen unterwegs. Dann übergib ihnen halt gehorsamst unsern Fang, damit dein Gewissen seine Ruh' hat, Kronenwirt!“ Drauf lachten der Vater und der Onkel und waren wieder Freunde. Der Kronenwirt kümmerte sich sogleich um die Gefangenen. Unter ihnen waren auch Verwundete; einen Bayern-Offizier trug der Onkel Straub auf seinen eigenen Armen in die ‚Krone‘. Er schickte den Hausburschen nach dem Arzt, während er selbst die Bürgerwache zusammenrief, damit sie die Gefangenen übernehme und Ordnung in der Stadt schaffe. Der Vater gönnte sich keine Ruhe. Nach Innsbruck zog es ihn, er wollte wissen, wie es dort stand und ob sie ihn am Bergisel noch brauchten. Sogleich scharten sich die Bauern wieder um ihn, sie wollten mit. Auch ich wollt' mit – doch hielt ich mich fein hinten, denn ich merkte wohl, daß der Vater wieder einmal nach mir auslugte und mich nach Hause schicken wollt'. Schließlich erspähte er mich doch. „Hast noch immer nicht genug. Ander?“ Ich schüttelte den Kopf und erwiderte keck: wenn ich in Hall dabei war, so wollt' ich jetzt auch die Hauptstadt mit erstürmen. Die Bauern rings um uns brachen in lautes Lachen aus. „Nimm ihn halt mit, Spöck“, sagte der Angerer. „Den Buben kannst grad' so wenig anbinden wie dich selbst. Von wem hat er's denn, daß er sich nicht fürchtet und dabeisein muß, wenn's hoch hergeht und das Landl frei wird?“ Dabei blinzelte er schlau, und da mußt' auch mein Vater lachen. So 53
sind wir nach Innsbruck gezogen, aber wir kamen nicht gar weit, nur bis zur Loretto-Kapelle, die rechts am Weg steht. Da hörten wir auf einmal Hufgetrappel: eine Abteilung feindlicher Dragoner ritt uns entgegen, sie waren auf der Flucht aus der Hauptstadt. „Nicht durchlassen!“ rief der Vater. Er verteilte die Unsrigen zu beiden Seiten im Gebüsch und bildete aus mehreren Schützenreihen einen Riegel quer über die Straße. Die Dragoner sprengten im Galopp heran, einer ritt vorweg. Der Vater stand mitten auf der Straße und rief: „Ergebt euch! Der Rückzug ist abgeschnitten, Hall und die Brücken sind in unserer Hand!“ Der bayrische Offizier zügelte sein Pferd und schaute sich ratlos um. Etliche seiner Reiter aber gaben plötzlich die Sporen und wollten über uns hinwegreiten. Drauf fielen die Unsrigen voll gerechter Wut über die Dragoner her; sie zerrten sie von den Pferden und rissen ihnen die Waffen weg. Auf einmal rief der Angerer laut: „Wer bist denn du dort in der Uniform-Verkleidung? Bist am End' gar der Baron Dellinger, der Bauernschinder von Rattenberg?“ Wirklich war's der Dellinger, ein hochfahrender junger Herr, den die Bayern-Regierung in Rattenberg als Landrichter eingesetzt hatte. Wenn der Baron in seiner Equipage durch die Straßen fuhr, dann mußte stets ein Gerichtsdiener vor ihm herlaufen und den Bauern auf zwanzig Schritt Entfernung befehlen, den Hut zu ziehen. Sobald einer diesem Befehl nicht gleich folgte und nicht einen untertänigsten Katzbuckel machte, mußte der Gerichtsdiener ihm den Hut vom Kopf schlagen und dabei schreien: „Lump, siehst du nicht den Herrn Beamten?“ Auch meinem Vater war das einmal geschehen, und wie er jetzt den Dellinger unter den Dragonern erblickte, ging er flugs auf ihn zu, holte aus und schlug ihm den Tschako vom Kopf: „Lump, siehst du nicht die Herren Bauern?“ Die Unsrigen johlten vor Vergnügen. „Los, Kerl, verneig dich!“ schrie der Angerer und die andern taten's ihm nach. Der Baron verneigte sich, bleich vor Angst. „Genug“, kommandierte der Vater schließlich, „wollen uns mit dem Kerl nicht länger aufhalten. Bringt sie alle zum Straub, der soll sie mit den andern Gefangenen nach Schwaz führen.“ 54
Zu Fuß, ohne Waffen, von einer Bauern-Eskorte bewacht, gingen die stolzen Dragoner nach Hall weiter. Hundert Pferde standen auf der Straße, schöne, starke Rösser – so schön und stark wie unsre, die uns die Bayern aus dem Stall geholt hatten. Der Vater schwang sich als erster auf einen Rappen, der Angerer und alle andern machten's ihm nach. Mich hob der gute Zoppl zu sich in den Sattel hinauf. „Halt dich grad', Anderl, jetzt geht's auf Innsbruck!“ Im scharfen Trab ritten wir der Hauptstadt zu.
„Bist denn gar nicht müd?“ fragte mich der Zoppl. Es war das erstemal, daß ich eine ganze Nacht hindurch wach geblieben und von Dorf zu Dorf gelaufen war, ein Gefecht miterlebt und Verwundete gepflegt hatte. Trotzdem war ich nicht müd. Meine Beine zwar spürte ich nimmermehr so recht, aber mein Kopf war hellwach, wacher als sonst – und alles, was wir an diesem Morgen im befreiten Innsbruck sahen und hörten, blieb mit großer Deutlichkeit in diesem wachen Kopf. In den Straßen war Trubel, und es ging zu wie am Kirchtag. Überall spazierten die Bauern umher, festlich gestimmt und zu weiteren Unternehmungen aufgelegt. Keiner hatte Lust, nach Hause zu gehen, Schützenmusik tönte durch die Gassen, Trommeln und Schwegelpfeifen – es war ein durchdringender Lärm. Mittendrin hörten wir plötzlich Schüsse knallen, sie kamen von der Hofburg her, und wir (der Zoppl und ich) liefen neugierig hin, um zu schauen, was es dort gab. Vor der Burg standen dicht gedrängt die Tiroler Schützen und zielten unter Jubel und Gelächter hinauf auf das bayrische Wappen. Nicht lang, da fiel der Löwe von hunderten Kugeln durchlöchert herab und lag zerschossen auf dem Boden. Irgendein Innsbrucker Bürger, der treu zum Kaiser hielt, hatte in der Nacht das österreichische Wappen aus seiner Verbannung in der Dachkammer geholt und trug es jetzt herbei. Zwei junge Burschen kletterten damit hinauf und brachten das goldene Wappen, mit grünem Gezweig umwunden, auf seinen alten Platz zurück. Es war ein feierlicher Augenblick, als statt des bayrischen 55
Löwen wieder der österreichische Adler auf uns herabblickte. Vor der Burg wurde es auf einmal ganz still, die Bauern nahmen ihre Hüte ab und schauten auf zum kaiserlichen Wappen wie zu einem Heiligenbild. Neben dem Zoppl und mir stand ein mächtiger Alter, der sagte mit erstickter Stimme: „O du mein goldner Vogel! Jetzt bist wieder da!“ Der Zoppl und ich zogen dann weiter, oder richtiger: wurden gezogen, denn die Straßen und Gassen füllten sich immer dichter mit Menschen, sodaß man im Strom mittreiben mußt', ob man wollt' oder nicht. Da erfuhren wir beim Hinhorchen allerlei Heldenstückeln, die sich beim Sturm auf Innsbruck zugetragen hatten und die man sich jetzt in den Gassen erzählte; zum Beispiel, wie der Metzger Klaus von Telfs mit etlichen beherzten Burschen die Innbrücke eroberte. Drüben waren die Unsrigen, auf der Stadtseite aber stand eine Bayern-Kanone und schickte mörderische Feuer hinüber, sodaß an einen Übergang nicht zu denken war. Der Klaus von Telfs kletterte mit seinen Kameraden unter den Brückenbogen und kroch die hölzerne Brunnenleitung entlang, die unterm Bogen herüberführte. Kaum waren sie am Ufer angekommen, sprangen sie übers Geländer und stürzten sich auf die Kanone und die feindliche Geschützmannschaft. Gleich darauf strömten von der andern Seite die Unsrigen haufenweis' über die Brücke in die Stadt, und es erging der Innsbrucker Bayern-Garnison akkurat so, wie es der von Hall ergangen war: sie hatte die Unsrigen im Rücken und mußt' sich ergeben. Ich hörte auch eine Geschichte vom General Kinkel, dem Oberbefehlshaber der bayrischen Garnison. Als er den Degen abschnallte und ihn den Bauern übergab, fragte er mit Bitterkeit, wer denn eigentlich diesen Krieg mitten im Frieden angefangen habe und ob das denn unter anständigen Menschen üblich sei … Darauf trat ein Tiroler vor und fragte, ob's unter anständigen Menschen üblich sei, sein Wort nicht zu halten? Der bayrische König hat's heilig versprochen, er wird das Land nach seiner alten Verfassung regieren und ihm ein guter Vater sein. Statt dessen hat er sein Wort gebrochen, hat dem Landl alles genommen, sogar den Namen, und deshalb – jetzt wird's der Herr General wohl verstehn – ist's zum Krieg gekommen. 56
All das und viel mehr erzählte man sich im Gedräng' der Gassen. Im Laufe des Vormittags wurde der Tumult immer ärger, die Siegesfreude stieg uns allen zu Kopf, und vor Übermut wußten manche schon nimmer, was sie taten. Sie drangen in die Wohnungen der bayrischen Beamten ein und wollten alles zertrümmern. Derweil wurde es Mittag, und weil wir hungrig waren, führte uns ein Bauer aus Hötting, den wir nach einem Gasthof fragten, in das erste beste Bürgerhaus; er läutete an der Tür, und als die Hausfrau, eine feine Stadtdame, erschien und sich furchtsam erkundigte, was wir wollten, sagte er: „Was zu essen wollen wir! Und wenn's einen Schluck Wein dazu gibt, so sagen wir auch nicht nein.“ Drauf ließ die feine Dame für uns ein Mahl richten, und wir tafelten gar vornehm mit weißem Tuch und Porzellan; als wir fertig waren, bedankten wir uns artig, sagten „Vergelte Gott!“ und gingen wieder. Die Dame muß sich über uns ungebetene Gäste sehr gewundert haben, aber der Zoppl meinte, es sei nur recht und billig, denn viele Stadtleut' hätten ohnehin keinen Finger gerührt und die ganze Arbeit uns überlassen. Als wir wieder auf der Gasse standen, fragte ich: „Was jetzt, Zoppl?“ – und der Zoppl sagte: „Jetzt geht's heim, Anderl, jetzt ist's genug gefeiert.“ Mir war's recht; ich war nach dem Essen sehr müd geworden, und ich hatte genug von der Stadt und dem Wirbel und wollte schlafen. Plötzlich gab's einen Auflauf in der Straße, die Leut' liefen von allen Seiten zusammen und schrien „Vivat!“ Wir meinten schon, daß die Kaiserlichen endlich gekommen seien. Aber nicht die Österreicher waren es, sondern der Schützenmajor Teimer aus Schlanders. Er trug eine österreichische Offiziersuniform – wenn auch eine sehr sonderbare. Ich zupfte den Zoppl am Ärmel: „Schau doch, die ist ihm ja viel zu groß!“ Wirklich – es sah spaßig aus, wie der Teimer, ein hagerer Mann, in der weiten Uniform steckte und einem Spatzenschreck ähnelte. Später hörten wir dann, warum er sich so verkleidet hatte: er war erst gegen Mittag mit seinen Oberinntaler Kompanien in die Stadt gekommen 57
und hatte mit Ärger gesehen, wie wüst es allenthalben zuging. Weil nun die Leut' einem kaiserlichen Offizier eher gehorchten als einem tirolischen Schützenmajor, lieh er sich geschwind die erste beste Uniform aus und ritt darin durch die Straßen, um Ordnung zu schaffen. Das gelang ihm auch, die Bauern kamen zur Vernunft und zerstreuten sich allmählich. Drauf hat der Teimer gleich alles in die Hand genommen, hat auch die Gefangenen versorgt und fortführen lassen und sich überhaupt als sehr tüchtig erwiesen.
Ich war zum Umfallen müde, als wir endlich zu Haus anlangten. Die Mutter stand vorm Haus, mit dem Seppl auf dem Arm. Erst gab sie mir vor Freud', daß ich wieder da war, ein Busserl, dann fiel ihr plötzlich ein, daß ich eher Hieb' verdiente, und sie schimpfte mich arg zusammen. Meine drei kleinen Schwestern, die Moidl, die Annerl und die Kathi, standen dabei und horchten zu. Mir war alles gleich – ich wollt' nur schlafen. Ich stolperte die Stiegen hinauf, meine Beine waren wie aus Holz. Dann fuhr ich aus den Kleidern und fiel ins Bett; etwas später hörte ich, wie drunten der Vater heimkam. Alles andere verschlief ich: das Sturmgeläut' in der folgenden Nacht, vom 13. zum 14. April; den Boten, der meldete, daß die Franzosen über den Brenner heranmarschierten; den Aufbruch vom Vater und vom Zoppl und allen andern Männern aus dem Dorf; die zwanzigtausend Tiroler, die beim Morgengrauen wiederum am Bergisel standen; den Franzosengeneral Bisson, der mit seinen Kolonnen ahnungslos die Brennerstraße herunterzog, den Bauern mitten in die Arme. Ich verschlief auch, wie der Teimer rasch wieder seine schlotternde Uniform anzog, weil der Bisson um keinen Preis mit uns ‚Briganten‘ verhandeln wollt', sondern nur mit einem ‚wirklichen kaiserlichen Militär‘; und wie dreitausend Franzosen und Bayern, Soldaten des ‚unbesiegbaren‘ Napoleonheeres, als Gefangene von Tiroler Bauern durch die Stadt geführt wurden … 58
Alles, alles verschlafen! Der Zoppl weckte mich schließlich am drauffolgenden Nachmittag: „Anderl, die Franzosen sind dagewesen, sie lassen dich grüßen!“ Dabei legte er mir einen französischen Helm aufs Bett. Darauf mußte er mir alles genau erzählen, zweimal sogar – und ich weinte fast vor Zorn, daß ich das alles verpaßt hatte. „In Innsbruck“, erzählte der Zoppl, „geht's heut' womöglich noch höher her als gestern. Die Unsrigen haben den Gefangenen ihre Waffen und Tornister fortgenommen, haben sich die Helme aufgesetzt und die Sporen umgeschnallt und sind wie zur Faschingsmaskerad' durch die Straßen stolziert.“ „Wo bleibt der Sepp?“ fragte die Mutter, die genau wußte, daß der Vater bei solcher Gaudi nicht mittat. „Der sorgt mit dem Straub und dem Teimer dafür, daß es den Gefangenen nicht gar zu arg ergeht. Den General Bisson – ein altes Manderl – hat einer gepackt und in die Höh' gehalten, wie er bei der Triumphpforte hereingeführt worden ist.“ „Das gehört sich nicht“, entrüstete sich die Mutter. „Alte Leut' soll man ehren, das steht schon in der Bibel.“ Der Zoppl beugte gleich fromm den Kopf, aber von unten her lachte er mir zu. „Und die Kaiserlichen?“ fragte die Mutter. „Die sind noch immer nicht da.“ Die Kaiserlichen kamen erst am nächsten Tag, am 15. April. Unter dem Oberstkommandierenden Chasteler marschierten sie über den Brenner herunter und ließen sich von den Innsbruckern feiern – wofür weiß ich nicht! Der Chasteler (dessen Name ‚Schade‘ ausgesprochen wird) zog in die Hofburg ein; auch der Baron Hormayr war aus Wien gekommen und sollte von nun an unser Landl im Namen des Kaisers verwalten. Bei uns daheim im Hof wollt' alles wieder seinen alten Gang gehen. Der Vater und der Zoppl waren draußen auf dem Feld, und ich mußte mich zu meinen Schulaufgaben setzen. Denn während ich die Brükken gestürmt und in Innsbruck den Sieg gefeiert hatte, war der Herr 59
Lehrer dagewesen, um zu sagen, daß von morgen ab wieder Unterricht sei. So machte ich mich denn über die Rechenaufgaben her, die gar nicht zu dem großen Sieg in Innsbruck passen wollten. ‚Mein Vater besitzt soundso viel Apfelbäume, Birnbäume, Zwetschkenbäume … wieviel Obstbäume im ganzen?‘ – ‚In unserem Stall sind soundso viel Kühe, Schweine, Ziegen … wieviel Vieh im ganzen?‘ Wir sollten uns noch mehr solche Beispiele ausdenken. Ich habe geschrieben: ‚Bei den Kämpfen um die Freiheit im Tirol wurden von den Bauern gefangen: 2 Generäle, 130 Offiziere, 3.500 bayrische Soldaten, 2.050 französische Soldaten … im ganzen 5.682 Mann. Obendrein erbeutet: 800 Pferde, 5 Kanonen, 3 Fahnen.‘ – Ich war noch mitten im Rechnen, als der Kurier aus Innsbruck geritten kam und den Schützenhauptmann Joseph Speckbacher im Namen des Oberstkommandierenden Chasteler zur Audienz in die Hofburg bestellte. So ist der Vater am nächsten Morgen fort nach Innsbruck, und am Abend, als die Mutter grad' die Suppe austeilte, stürzte die Annerl ins Zimmer und rief. „Der Vater ist zurück!“ Mit dem Hut auf dem Kopf trat der Vater ein, hielt die Hände hinterm Rücken und lachte: „Grüß euch Gott, ich bring' was – aber ich nehm's bald wieder fort.“ Wir schauten einander verwundert an; der Vater war so lustig und geheimnisvoll, was hatte er nur? Ich sah ihn genauer an – da entdeckte ich plötzlich auf seinem Hut den kleinen bunten Federbusch, den nur die Schützenmajore tragen durften. Ich sprang auf und lief um ihn herum: hinterm Rücken verbarg er einen Säbel. „Vater – Ihr seid ja ein Schützenmajor geworden!“ Vor lauter Stolz starrte ich ihn an, als ob er ein ganz fremder Mann wär'. „Ja. Aber der Major muß schon morgen fort, nach Kufstein. Da sitzt der Aicher in der Festung droben, der alte bayrische Fuchs! Den müssen wir aus seinem Bau verjagen.“ Meine kleinen Schwestern bewunderten unterdes den bunten Federbusch, und ich durft' mit dem Säbel einmal durch die Luft schlagen. Es war ein großer Säbel mit einer Koppel aus schwarzem Leder und einer runden Messingscheibe, auf der unser Tiroler Wappen eingraviert war. 60
Derweil fragte die Mutter: „Hat dich der Chasteler selbst zum Major gemacht? Was ist das für ein Mensch?“ „Ein feiner Herr, ein Marquis; und der Hormayr ist ein Baron. Lauter Adelige haben sie uns geschickt, um 's Landl zu regieren. Mir wär' der Hofer lieber.“ „Aber der Hormayr ist ein Innsbrucker, sagt man. Da wird er doch ein guter Tiroler sein …“ „Werden's ja sehen! Wenn's nur nicht gar so vornehme Herrenleut' wären! Und reden tun sie … so schnell und so viel Französisch dazwischen, 's wird einem ganz wirblig davon.“ Die Mutter lachte. „Wir sind halt dumme Bauern, Sepp.“ Es sollt' ein Scherz sein, aber der Vater blieb ernst: „Bauern schon, dumm nicht! Dumm war's, was der Chasteler über die Verteidigung gesagt hat. Von uns Tirolern versteht der nicht viel!“ Drauf ging der Vater nach Rinn, um seine Schützen zu sammeln, die mit ihm die Festung Kufstein belagern sollten. Die Mutter packte Brot und Speck und Käs' in den Beutel, und in der Früh brachen sie auf: der Vater, der Zoppl und die Schützen. Wir Kinder liefen noch ein Stück mit, und beim Abschied sagte der Vater: „Anderl, wenn wir fort sind, bist du der Mann im Hof. Mußt der Mutter zur Hand gehn, wo du nur kannst.“ „Wenn ich ein Mann bin, dann will ich auch mitkämpfen. Warum kann ich nicht mit Euch die Festung Kufstein erobern?“ „So ein Mann bist wieder noch nicht!“ „Warum nicht? Ihr habt selbst gesagt, Vater, daß ich einmal ein guter Schütze werd', damals, wie ich beim Schießstand beinah ins Schwarze getroffen hab' …“ „Jetzt gibst Ruh'! Krieg ist kein Schützenfest. Hast gehört, was ich gesagt hab': sollst der Mutter helfen und brav sein.“
Die Tage vergingen; wir mußten fleißig arbeiten, denn um diese Zeit gab's viel zu tun auf dem Feld. Von überall kamen gute Nachrichten: 61
der Erzherzog Johann' drang in Italien weiter vor und stand vor der Vereinigung mit den Tirolern; der Erzherzog Karl stand mit der großen österreichischen Armee tief im Bayernland drinnen und hatte den Napoleon schon fast besiegt. – Von meinem Vater aber hörten wir nichts, und mich wunderte es, daß es gar so lange dauerte, die Festung Kufstein einzunehmen. Ich dachte, woran das nur liegen mocht', während ich im Hof stand und den Misthaufen aufschichten mußte. Auf einmal stand der Zoppl vor mir. „Zoppl! Wie kommst denn du plötzlich daher? Ich denk', du bist beim Vater in Kufstein?“ „Er hat mich zum Chasteler nach Innsbruck geschickt – da bin ich beim Rückweg vorbeigekommen und will nur grad' einen Gruß ausrichten.“ „Geht's gut in Kufstein? Ist der Fuchs noch im Bau?“ „Freilich. Und er bleibt auch drinnen. Ich sag' dir, Anderl: 's ist gescheiter, den Misthaufen hier aufs Feld fahren, als die Festung Kufstein belagern. Mit unsrer Handvoll Geschütze richten wir nichts aus. Die Bayrischen lachen über uns in der Festung droben. Akkurat deswegen bin ich beim Chasteler gewesen: Kanonen sollt' ich von ihm verlangen. Aber er gibt uns keine. Weißt, was er gesagt hat? ‚Lieber hundert Bauernkanaillen hin als eine Kanone!‘“ Mir ist der heiße Zorn aufgestiegen. Warum schickt uns der Kaiser einen Kommandanten, dem eine Kanone lieber ist als hundert Menschen und der uns Bauern ‚Kanaillen‘ nennt? Der Satz ist mir nimmermehr aus dem Kopf gegangen. Ich stieß die Gabel in den Misthaufen, drehte unserm Hof den Rücken und lief zum Wald hinüber. Draußen war ein Föhn im Losbrechen, vom Süden her kam ein Windstoß nach dem andern in immer kürzeren Abständen. Durch den Wald ging ein Rauschen und Brausen; der Sturm drückte die Wipfel nieder. Die Tiere hatten sich längst verkrochen – nur hoch droben segelte ein Steinadler im Sturm. Er hielt die Schwingen weit und ließ sich ohne Flügelschlag vom Wind heben, der schwarze Räuber. 62
Josef Speckbacher. Gemälde von Josef Plank
Wie ich da stand mitten im Gebraus, kam jemand den Steig herauf – der Peter Steixner. Atemlos, ohne Gruß, überschrie er den Sturm: „Hast's schon gehört, Anderl, der Erzherzog Karl ist geschlagen! Die Franzosen haben ihn besiegt, die Kaiserlichen sind geflohen – und jetzt marschiert der Napoleon auf Wien. Übers Tirol fallen sie auch wieder her, von Salzburg kommen sie und von Kufstein und über Scharnitz – von allen Seiten!“ Ich stand stumm vor Schreck und schaute in den sturmzerwühlten Wald – und zum Steinadler hinauf, der im Wind stieg und fiel. „Aber bei Kufstein werden sie nicht durchkommen!“ stieß ich endlich hervor. „Der Vater läßt sie nicht herein.“ Der Peter sagte kurz: „Geh, Anderl, red nicht so dumm. Was können die paar Schützen gegen ein ganzes Heer ausrichten? Das hält keiner auf – auch dein Vater nicht!“ In dieser Nacht bin ich lang wach gelegen; der Föhn tobte ums Haus, Fenster und Türen schepperten und das Vieh riß an den Ketten. Schließlich schlief ich doch ein und träumte: Der Vater stand auf einer großen Straße und breitete die Arme aus, und viele Kanonen, von hundert schweren Rössern gezogen, kamen auf ihn zu. Er wollte sie aufhalten, und seine Arme wuchsen und waren keine Arme mehr, sondern die schwarzen Flügel vom Steinadler, weit gestreckt von einem Wegrand zum andern. Jemand sagte laut: Du hältst sie nicht auf – aber ob's der Chasteler war oder der Peter oder sonst jemand, das wüßt' ich nicht …
Dann kam eine böse Zeit. Am Paß Strub, vom Salzburgischen her, brachen sie herein. Neun Stunden lang wehrten sich die Unsrigen dort tapfer, aber vor dem Bayerngeneral Wrede mußten sie schließlich weichen. Mehr als tausend bayrische Soldaten soll der General bei diesem Gefecht verloren haben, und auf seinem Marsch das Inntal herauf ließ er all seine Wut an den Tirolern aus. Die Häuser längs der Straße ließ er plündern und verbrennen; wer in den Weg kam, wurde nieder64
gemacht – auch alte Leute, die nicht mehr rasch in die Berge hinaufflüchten konnten, und Kinder. Wen sie mit der Waffe in der Hand erwischten, der wurde gehängt. „Mordbrenner“ haben wir sie genannt, und immer näher sind sie gekommen. Daheim gingen wir schweigend in Haus und Hof unserer Arbeit nach; vom Vater wußten wir nichts. Etliche Male kam der Peter Steixner herauf, aber er brachte nur immer neue Schreckensnachrichten. Warum rührten sich denn die Kaiserlichen in Innsbruck nicht, die doch zu unserm Schutz bestellt waren? Endlich hieß es, der Chasteler sei von Innsbruck aufgebrochen und ziehe an der Spitze der kaiserlichen Truppen dem Wrede entgegen, am Inn entlang. Uns ist bang geworden. Dann mußte er ja mit dem Feind im Tal drunten zusammenstoßen! Das konnte nicht gut ausgehen, denn die Unsrigen taugen nicht zum Kampf in der Ebene, schon gar nicht gegen eine so große Übermacht. Am Morgen zog der Chasteler dem Feind tatsächlich entgegen, der Onkel Straub schloß sich ihm mit seinen Haller Schützen an, auch der Peter und sein Vater gingen mit und viele Bauern aus der Umgebung. Bei uns im Dorf wurde es still, die Männer waren fast alle fort, die Frauen machten die Arbeit, nur das Nötigste wurde gesprochen, und in den Augen meiner Mutter stand Furcht. Der Föhn hielt seit Tagen schon an, und Unheil war in der Luft. Gegen Mittag dröhnte plötzlich wüster Kanonendonner durch die Stille. Er kam von weiter drunten im Inntal her, von Wörgl. In der großen Ebene dort waren sie also aneinandergeraten: der Chasteler mit den Unsrigen – und der Feind. Die Mutter wurde bleich, schlug ein Kreuz und betete mit uns im Herrgottswinkel. Das Schießen dauerte kaum eine Stunde, dann wurde es wieder still. Am späten Abend kam der Zoppl heim, erschöpft, schwarz vom Pulver, mit zerrissener Joppe. Sein Gesicht war ganz entstellt, nicht nur vom Pulver, sondern vor Müdigkeit und Enttäuschung. „Fragt mich nicht – 's ist alles hin.“ Mehr wollt' er nicht sagen; nur noch, daß der Vater gesund ist. „Aber die Kaiserlichen sind doch dabeigewesen“, sagte die Mutter, „der Marquis Chasteler …“ 65
„Geht mir mit dem Chasteler, Bäuerin – was weiß denn der! Er hat's auf seine Manier machen wollen, hat die Infanterieregimenter aufmarschieren lassen und uns Tiroler dazwischengestellt, das paßt nicht zusammen …“ Der Zoppl drehte sich von uns fort und sagte zur Wand: „Davongerannt sind die Unsrigen. Jeder, der sich retten konnt', ist in die Berg' hinauf. Ich auch.“ Es fehlte nicht viel und er hätte zu weinen angefangen.
Am nächsten Tag kam eine Bäuerin vorbei und sagte, daß sie den Vater in Hall drunten gesehen hätt'. Darauf liefen der Zoppl und ich hinunter. Die Gassen waren voller Leut', Städter und Bauern. Den Vater freilich fanden wir nicht, aber jemand anderm begegneten wir: dem Chasteler, der mit den Resten seiner geschlagenen Truppen zu dieser Stunde gerad' durch Hall kam. Eine Zeitlang standen wir alle noch vor dem Kronengasthof und blickten den abziehenden Soldaten nach. Da kamen plötzlich der Peter Steixner und sein Vater auf uns zugelaufen: „'s heißt, wir sammeln uns wieder bei Volders. Der Feind rückt auf Schwaz – das darf er nicht kriegen!“
Es war Nacht, aber doch keine Nacht; der Himmel glühte rot, schon seit vielen Stunden. Seit gestern nachmittag brannte die Stadt Schwaz. Ich war spät eingeschlafen, träumte wirr und fuhr plötzlich hoch, als hätt' mich jemand gerufen. Der Feuerschein leuchtete zum Fenster herein, in unserm Zimmer war's halbhell, die Leintücher und die weißgekalkten Wände schienen rötlichgrau. Das Bett von der Moidl stand leer, aber die Annerl und der Seppl schliefen fest, ich hörte ihren ruhigen Atem. Nur die Kathi, meine fünfjährige Schwester, warf sich hin und her und setzte sich schließlich auf. 66
„Kannst nicht schlafen, Kathi?“ rief ich leis. Sie war froh, daß ich wach war. „Ich fürcht' mich, Anderl! 's ist so grauslig, der rote Himmel … Hört denn das Feuer gar nimmer auf?“ Sie kam zu mir herüber und entdeckte das leere Bett. „Wo ist die Moidl?“ „Ich glaub' bei der Mutter drunten. Horch, sie reden mit der Burgl im Hof …“ Ich nahm sie bei der Hand, und wir liefen hinunter. Die Mutter stand neben dem Stall, hatte die Arme um die Moidl gelegt und sah zu dem flammendroten Himmel auf. Sie sagte kein Wort, sie schimpfte auch nicht, als ich jetzt mit der Kathi im Nachtgewand daherkam, sondern nahm auch uns zwei fest zu sich heran, weil die Kathi so zitterte. So standen wir an die Mutter gelehnt, starrten in die unheimliche Nacht und konnten's gar nicht begreifen, daß eine kleine Stadt wie Schwaz ein solches Meer von Feuer hervorbrachte. Später erzählte man, daß der rote Himmel bis weit über die Alpen hin zu sehen war. „Die armen Leut' in Schwaz drunten!“ jammerte die Burgl. „Da wird ihnen alles hin, Haus und Hof – und wer weiß, wieviel Lebendig's da mit zugrund geht …“ Dabei liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Jemand kam mit raschen Schritten vom Wald her. „Sepp!“ schrie die Mutter und lief dem Vater entgegen. Das tat sie sonst nicht, denn unsre Mutter ist eine starke, ruhige Frau, die sich selten etwas anmerken läßt. Doch jetzt schaute sie so hilflos aus, wie wir's von ihr gar nicht kannten. „Sepp, hat denn das sein müssen?“ fragte sie, als ob sie ihn zur Rede stellen wollte. „Was willst denn von mir?“ erwiderte der Vater unwirsch. „Ich hab's nicht hindern können, keiner von uns. Dreimal sind die Bayrischen angestürmt – dreimal haben wir sie zurückgetrieben, und schließlich haben sie die Stadt angezündet. Wenn du erst weißt, wie's drunten zugegangen ist, wirst nicht mehr fragen!“ Gleich darauf schrie er die Burgl an: „Was stehst da herum und heulst? Richt ein paar Säck' mit Stroh her, der Zoppl bringt Obdachlose von Schwaz herauf. Kinder sind auch dabei.“ Die Mutter und die Burgl liefen gleich ins Haus, um alles herzurich67
ten. Die Kathi drängte sich dicht an den Vater, zeigte zum Himmel hinauf und sagte: „Gelt, Vater, das sieht man gewiß im ganzen Tirol …“ Bald darauf kam der Zoppl mit den ersten Flüchtlingen, Schustersleuten aus Schwaz, denen Haus und Werkstatt niedergebrannt war. Der Mann sprach wenig; vielleicht war er immer so schweigsam, vielleicht hatte der Gram ihm die Red' verschlagen. Der Zoppl meinte, es sei kein Wunder: das Elend in Schwaz könnt' einen nicht nur um die Red', sondern gar um den Verstand bringen, und jetzt wüßt' er, wie er sich die Hölle vorstellen müßt' … Die Schusterin war eine schmächtige, kleine Frau; ihr Haar roch versengt, ihre rechte Hand war mit einem Fetzen umwunden, und sie hatte arge Schmerzen. Das kam, weil sie ins Feuer hineingelaufen war, um ihren kleinsten Buben aus dem brennenden Haus zu holen. Er schlief und wachte auch nicht auf, als meine Mutter ihn in Seppls alte Wiege legte. Außerdem waren noch zwei ältere Kinder da, ein Bub von acht und ein Dirndl so groß wie unsre Annerl. Der Bub führte seine blinde Großmutter an der Hand, die zitterte vor Alter und Schreck und setzte sich gleich in einen Winkel nieder. Dort hockte sie ganz verstört und fragte immer wieder: „Brennt es noch?“ Meine Mutter nahm die Familie auf, als ob wir sie schon lang gekannt hätten. Die Burgl schaffte alles herbei: Brot und Speck, Milch und Wein. Da aber die Großen fast nichts aßen, trauten sich auch die Kinder nicht recht. So stumm und verzagt saßen sie da, daß die Mutter sie tröstete: „Morgen wird's schon leichter sein. Ihr seid willkommen auf dem Speckbacherhof und sollt bleiben, solang ihr wollt …“ „Ach Gott“, sagte die Schusterin, „wir sind ja unser sechs. Mein Lebtag bin ich niemandem zur Last gefallen …“ „Schusterin, so darfst nicht reden! Wann's uns getroffen hätt' da drunten in Schwaz und du hätt'st Haus und Hof hier heroben, ich wär' mit meinen Kindern grad' so zu dir gekommen, wie du jetzt zu mir. Meinst nicht, daß auch wir Weiberleut' jetzt zusammenhalten müssen, grad' wie die Mannsbilder?“ 68
Hernach gab die Mutter den Fremden unsere Stube. Die Annerl raunzte, sie wollt' ihr weiches Bett nicht mit dem Strohsack vertauschen. Aber mir war's recht, denn ich schämte mich fast, daß wir alles behalten hatten und die Schusterleut' so bettelarm geworden waren. Der stille Schuster ging nicht mit hinauf, während die Frau die Kinder niederlegte. Er saß am Tisch, den Kopf zwischen den Fäusten. Sie kam zurück und rief ihn: „Willst nicht kommen? 's wird dir guttun, ein bißl Schlaf …“ Der Schuster starrte vor sich hin und sagte dumpf: „Hab' was andres zu tun. Der Speckbacher hat mir's versprochen, daß ich einen Stutzen krieg' …“ Wirklich rief ihn mein Vater kurz danach in den Hof hinaus und gab ihm ein Gewehr, das letzte, das noch im Stall versteckt war. „Da hast, und der Zoppl soll dir's zeigen, wie man ladet und zielt. Treffen wirst schon allein lernen.“ Die Schusterin folgte ihrem Mann in den Hof, und als sie ihn mit dem Gewehr stehen sah, schlug sie vor Schreck die Hände zusammen: „Aber, Mann, willst am End' jetzt auch noch mittun …?“ Sie bekam keine Antwort, der Schuster schaute sie nicht einmal an, sondern blickte nur auf den Stutzen nieder, den er unbeholfen in den Händen hielt. Die Frau trat an ihn heran, schüttelte ihn am Arm, als ob sie ihn aufwecken wollt': „Hast doch nichts wissen wollen vom Kämpfen, bist doch allweil ein friedlicher Mensch gewesen …“ Ihre Stimme war inständig, beschwörend sogar, aber der Schuster hörte nicht. Die Frau wandte sich klagend an uns, an die Mutter, die Burgl und mich, die mit im Hof standen: „Noch gestern in der Früh hat er gesagt: ‚Ich tu' nicht mit bei den Aufständischen. Wenn ich mich still verhalt', kann man mir nichts machen; bestraft werden nur die Rebellischen.‘“ „Ja“, sagte der Schuster plötzlich laut, „das hab' ich gestern früh gesagt. Heut' nacht weiß ich's besser.“ Meine Mutter nahm die Schusterin sacht am Arm und führte sie ins 69
Haus: „Laß ihn, du hältst ihn nicht. Heut' muß jeder tun, was er für recht denkt.“ Darauf wurde es still im Hof, nur die drei Männer hörte man leis miteinander reden. Als der Morgen kam, gingen sie fort, nach Volders hinunter. Es war der 17. Mai.
Bei Volders hatte sich die Bauernarmee von neuem gesammelt, um den Feind aufzuhalten; von Stund' zu Stund' wurde sie größer. Wie in einem Bienenschwarm, der eine Königin wählen will, ging's zu, nur daß halt keine ‚Königin‘ da war; denn der Marquis Chasteler, der die Tiroler hätt' führen sollen, war nicht aufzufinden. Mein Onkel Straub erklärte, er habe sich ‚aus taktischen Gründen zurückgezogen‘, aber die Bauern sagten einfach: er ist davongerannt, der Herr Marquis! Zwar hatte er den General Bouol mit tausend kaiserlichen Soldaten zu unserm Schutz im Inntal zurückgelassen, doch der Bouol mußt' sich ja nach dem Befehl des Chasteler richten. Es sollen auch ständig Depeschen an ihn gekommen sein, eine um die andere, und in jeder sei das Gegenteil von der vorherigen dringestanden: erst sollt' der General Bouol angreifen und der Chasteler wollt' ihm vom Brennerpaß her zu Hilf kommen; dann wieder sollt' der General nicht angreifen, sondern sich in Innsbruck festhalten; dann wieder wollt' der Chasteler zum Erzherzog Johann in Italien vorstoßen und der Bouol sollt' ihm nachkommen … Die Bauern hatten es bald heraus, was für ein Konfusionsrat der Chasteler war. Sie gingen zum General Bouol und verlangten, er möge sie wieder gegen den Feind führen. Der Bouol hat nicht ja und nicht nein gesagt und die Bauern vertröstet – bis es ihnen zu dumm geworden ist. Sie fingen einen kaiserlichen Kurier ab und öffneten seine Depesche. Da stand geschrieben, daß der General Bouol endgültig abziehen sollt', der Chasteler erwarte ihn droben am Brenner. Die Bauern waren außer sich vor Zorn; mit der offenen Depesche liefen sie zum Bouol und drohten, sie würden ihn und seine Soldaten nicht fortlassen, und wenn 70
sie ihn mit Gewalt zurückhalten müßten! Darauf antwortete der General kalt, Befehl sei Befehl, er müsse dem Chasteler gehorchen und ziehe noch heute ab … Nicht viel hat gefehlt, und es wär' zu einem wüsten Zusammenstoß gekommen. Da erschien mit einem Mal der Major Teimer, beschwichtigte die Bauern und versprach, er würd' schon mit dem General reden und ihn umstimmen. Darauf führten die beiden, der Teimer und der Bouol, ein heimliches Gespräch; der Zufall aber wollt's, daß ein Bauer in der Nähe stand und hörte, wie der Bouol zum Schluß einen Seufzer tat: „Ich wollt', ich hätt' mit dem ganzen Bauernrummel nichts mehr zu schaffen.“ Und am nächsten Morgen war er fort. Mitsamt seinen tausend Soldaten hatte er in der Nacht Reißaus genommen und war jetzt gewiß bald am Brenner droben. Am 18. Mai wurde Innsbruck wieder vom Feind besetzt und das Land von neuem unterworfen. Der Marschall Lefebvre quartierte sich in der Hofburg ein, und sogleich kamen einige Innsbrucker Bürger, um ihm ihre untertänigste Aufwartung zu machen. Gar demütig beteuerten sie ihre Reue und baten, er möge doch beim großmächtigen Napoleon ein gutes Wort für sie einlegen. Darauf schickte der Lefebvre zwei Tiroler Abordnungen aus: eine zum Franzosenkaiser nach Wien und eine nach München zum Bayernkönig; sie sollten um Verzeihung bitten fürs Vergangene und Gehorsam schwören für die Zukunft. Lauter feine Leut' waren in den Abordnungen: Adelige, Kaufleute, Geistliche, gelehrte Herren – aber kein einziger Bauer war dabei! Der Vater erzählte es der Mutter und fügte hinzu: „Der Brand von Schwaz hat die Städter schwach und furchtsam gemacht, bei uns Bauern aber ist's umgekehrt: je härter der Feind uns anpackt, um so härter werden auch wir …“ So schien für den Augenblick alles verloren. Die Landesverteidiger kehrten in ihre Dörfer heim, aus den Schützen wurden wieder Bauern. Der Vater und der Zoppl legten die Stutzen in ihr Versteck zurück und nahmen Sense und Heugabel wieder zur Hand. Aber alle fühlten: so kann's nicht bleiben. Über kurz oder lang wird's wieder losgehen, denn in Innsbruck sitzt der Feind, der muß hinaus, wenn nicht heut', dann halt morgen … 71
Der Vater ging brütend umher, er trug sich mit vielerlei Gedanken. „Der Lefebvre soll sich nicht einbilden, wir wären besiegt“, sagte er. „Unterwerfen konnt' er uns – besiegt hat er uns lang noch nicht …“ Da stieg am Pfingstsonntag der Knecht vom Angerer-Wirt herauf: der Vater möge doch hinunterkommen, es gäb' allerlei zu besprechen – was, das wüßt' er nicht. Doch erzählte er, daß in den letzten Tagen feindliche Eilkuriere nach Innsbruck und zurück vorbeigeritten waren. So gingen wir denn gegen Abend zum Angerer-Wirt hinunter. Die Mutter wollt' mich nicht fortlassen, sie war nun einmal nicht dafür, daß ich so viel ‚kriegerische Red'‘ mit anhörte, doch diesmal hielt der Vater zu mir und sagte, es könnt' nichts schaden, wenn der Bub wüßt', was im Landl vorgeht. Beim Angerer drunten saß ich dann dabei und horchte aufmerksam zu, wie der Vater und der Wirt miteinander sprachen. Und als es dunkel wurde, waren sie noch immer nicht fertig. Plötzlich polterte es an der Tür: von draußen, aus der Nacht, brachten zwei Bauern einen französischen Geheimkurier herein. Sie hatten ihn auf der Straße abgefangen und in seiner Tasche ein versiegeltes Schreiben gefunden: an den Marschall Lefebvre, Innsbruck, Hofburg. Der Kurier war ein junger Mensch, der kaum ein Wort Deutsch verstand. „Bauern, Pardon!“ stammelte er unaufhörlich, gelb im Gesicht und zu Tod erschrocken, denn er meinte, daß es ihm gleich an den Kragen ginge. Der Angerer-Wirt schenkte ihm Wein ein, da wurd' er zutraulicher und sprudelte einen Schwall fremder Worte hervor. Derweil öffnete der Vater mit großer Vorsicht die Depesche; sie war französisch, und drunter stand das große ‚N‘, mit dem Napoleon seine Botschaften unterschrieb. Eine Depesche vom Franzosenkaiser in der Hand des Vaters! Mit Respekt schaute ich auf das ‚N‘, während der Angerer einen Bauern fortschickte, um den Pfarrer aus dem Bett zu holen, damit er die Depesche übersetzen sollt'. Der Pfarrer kam bald darauf zitternd hereingeschlupft. Er war schon alt, wackelte mit dem Kopf und übersetzte stockend, doch verstanden wir, daß die Depesche den Abzugsbefehl an Lefebvre enthielt. Nun, da Tirol endgültig bezwungen sei, sollten die Truppen so rasch wie 72
möglich nach Wien marschieren und sich dort mit der französischen Hauptarmee vereinen. Der Vater verschloß die Depesche wieder, genauso sorgfältig, wie er sie vorhin geöffnet hatte. Dem Kurier ließ er durch den Pfarrer sagen, er solle seinen Ritt nach Innsbruck fortsetzen und dem Lefebvre die Depesche bringen, und wenn ihm sein Leben lieb sei, nichts von dem Zwischenfall berichten. Darauf brachten die Bauernposten den Franzosen wieder hinaus auf die Straße, und eine Minute später hörten wir ihn davongaloppieren. Der Vater war ganz verändert: straff aufgerichtet und mit blitzenden Augen stand er da. „Der Lefebvre zieht ab, gewiß wird er auch den Wrede mitnehmen, weil der Napoleon Kommandanten braucht. Dann bleibt zur Bewachung von Innsbruck nur der alte General Deroi mit ein paar tausend Bayrischen zurück – die packen wir leicht.“ Noch in der gleichen Nacht hat der Vater sich aufgemacht, um dem Andrä Hofer selbst die Nachricht zu bringen, und am drauffolgenden Tag zogen der Lefebvre und der Wrede wirklich ab; einer langen Raupe gleich, schlängelten sie sich am Inn entlang. Ich hab's von unserm Hof aus gesehen: die bunten Uniformen, die Pferde, die Kanonen und Haubitzen …. Wenn wir's auch nicht anders erwartet hatten, so war's doch ein froher Anblick, und als mein Vater zurückkehrte, lief ich ihm entgegen: „Vater, wißt Ihr's schon? Der Lefebvre ist fort und der Wrede auch!“ Aber der Vater wußt' es längst, und noch mehr: für den 25. Mai war eine Schlacht am Bergisel geplant. Diesmal würd' der Andrä Hofer selbst das Kommando führen. Auch die Kaiserlichen wollten wieder mithalten: nicht der Chasteler, der schon in Osttirol drüben war, auch nicht der General Bouol; doch es gab unter den Kaiserlichen genug tapfere Offiziere, Bauernfreunde, die zur Tiroler Sach' hielten. Der Vater war voller Zuversicht; obzwar er in den letzten Tagen kaum ein paar Stunden geschlafen hatte, schaute er munter und frisch aus und begann sogleich mit den Vorbereitungen. „Jetzt gibt's was zu tun, Ander. In zwei Tagen müssen wir die Bauern aufgemahnt haben. Auf unserer Seite und auf der drüberen auch.“ 73
„Um unsere Seit' ist mir nicht bang“, sagte der Zoppl. „Aber wie sollen wir hinüberkommen? Die Bayrischen gehen jetzt scharf vor; die Posten an den Brücken haben sie verstärkt und lassen keinen vorbei, den sie nicht von Kopf bis Fuß durchsuchen. Wenn ich eine Botschaft hinüberbringen soll, so sind wir leicht beide hin: die Botschaft und ich.“ Ich sprang auf: „Laßt mich gehen, Vater! Ich hab' keine Angst. Kindern werden sie nichts tun.“ Doch der Zoppl sagte, daß sie auch Kinder und Frauen anhielten, und schaute ratlos drein. Der Vater streichelte sinnend den Kuhn, der herbeigesprungen war und sich an ihn drängte, sehr zufrieden, daß sein Herr ihm das zottige schwarze Pudelfell kraulte. Der Kuhn! – fuhr es mir durch den Kopf. Das war ein Gedanke! „Vater, jetzt weiß ich's! Man muß die Botschaft auf ein Papier schreiben und recht eng zusammenrollen und dem Kuhn unters Halsband schieben, dort, wo er die meiste Wolle hat; dann lauf ich über die Brükke und laß mich durchsuchen, soviel sie wollen; sie finden nichts, weil ich nichts hab'. Und dann, wenn ich drüben bin, pfeif ich dem Kuhn, daß er gerannt kommt – und dann überbring' ich die Botschaft, wo sie hingehört.“ Der Vater und der Zoppl wechselten Blicke, als ob sie sich fragten, ob man's wagen sollt' oder nicht. Der Vater zögerte eine Weile, dann setzte er sich kurz entschlossen hin und schrieb: „Lieber Herr Bruder Straub! Dermalen ich in eigener Person mit dem Oberkommandanten Andrä Hofer es abgemacht habe, so soll ich euch melden, daß wir am 25. wieder gegen den Feind ziehen wollen …“ Es ging alles gut; die Soldaten suchten an mir herum und ließen mich bald wieder laufen. Als ich dann von drüben dem Kuhn pfiff, kam er in großen Sätzen über die Brücke gesprungen, und weil er so groß und zottig war, hatten die Bayrischen noch ihren Spaß dran. Der Vater lobte mich, als ich zurückkam und melden konnt', daß ich die Botschaft ordentlich bestellt hatte. Ich wollt' mir sein Lob gleich zunutz' machen und ihm die Erlaubnis abbetteln, daß ich diesmal am Bergisel mittun dürft'. Aber davon wollt' er nun ein für allemal nichts hören. 74
Im Morgendämmern des 25. Mai verließ der Vater das Haus und zog mit den Männern der umliegenden Dörfer zum Paschberg, der auch diesmal wieder sein Kampfplatz war. Ich sah sie davonziehen und mußt' daheimbleiben in der Küche, bei der blinden Großmutter aus Schwaz und ihren Geschichten vom Kasermandl und Kaserweibl. Das kleinste Schusterkind war schon wach und weinte, die Moidl hatte es mir auf die Knie gesetzt und wollte, ich sollt' ihm vom Heidschi-bumbeidschi vorsingen. Ich sang aber nicht, sondern horchte nur darauf, wann vom Bergisel her der erste Schuß fallen würd'. Schon seit dem frühen Morgen hing ein Gewitter in der Luft. Es war drückend schwül, nirgends ein Wind zu spüren, der Himmel wurde immer grauer und tiefer. Die Mutter hatte ihr Kreuz mit mir, ich war an diesem Tag zu nichts zu gebrauchen. Was immer sie mir auftrug, das macht' ich falsch: die Hühner hab' ich gleich zweimal gefüttert, dafür aber ganz die Schweine vergessen; und wenn die Burgl nicht gewesen wär', dann hätt' unser Vieh vor Durst umkommen können, denn der Speckbacher-Anderl hat es an diesem Morgen weder gackern noch blöken gehört, sondern nur schießen, und hat sich gar einreden wollen, daß er im Kampfgetös' vom Bergisel her Kartätschenfeuer und Haubitzenlärm unterscheiden könnte. Schließlich mußt' die Mutter einsehen, daß ich heut' zur Arbeit im Hof nicht taugen wollt'; drum schickte sie mich mit allerlei Aufträgen ins Dorf: zum Herrn Pfarrer etwas ausrichten, zur alten Reintalerin um frische Brandsalbe für die Schustersfrau und zum Schmied, ob er neue Sensenblätter hätt'. „Der Schmied ist ja mit dem Vater am Paschberg“, sagte ich, aber im gleichen Augenblick fiel mir ein, daß ich vielleicht selbst zum Paschberg laufen könnt', wenn ich erst einmal von daheim fort war. Die Mutter sah mir's am Gesicht an, was ich vorhatte, und sagte streng: „Du nimmst die Annerl und die Kathi mit!“ Mit zwei kleinen Dirndln an der Hand würd' ich gewiß nicht ins Kanonenfeuer laufen, dachte sie. Der Pfarrer war nicht daheim, auch beim Schmied rührte sich nichts. Das Dorf lag wie ausgestorben unter dem gewitterschweren Himmel. Vom Bergisel herüber klang ununterbrochen Geschützdonner. Grad' 75
als wir bei der Reintalerin ins Haus wollten, rumpelte ein Wagen mit Leichtverwundeten daher; ein Sohn von der Reintalerin war dabei, der Christian. Dem hatte ein bayrisches Geschoß den halben Finger weggerissen, doch machte er nicht viel Aufhebens davon, und während die Reintalerin über den blutigen Verband einen sauberen wickelte, berichtete er, wie's am Bergisel stand. „'s geht heiß her, die Bayrischen stürmen halt immer wieder hinauf auf den Berg, und wir werfen sie halt immer wieder hinunter. Der Speckbacher kommandiert den rechten Flügel, der Haspinger den linken und der Sandwirt die Mitte, 's ist ein ständiges Anrennen und Wiederzurückweichen bei den Unsrigen. Dem Deroi helfen seine großen Geschütze, aber es fehlt ihm an Soldaten. Nicht mehr als sechstausend Bayrische sind's im ganzen – und vielleicht auch das schon nimmermehr, weil die Unsrigen dem Feind schwere Verluste zufügen. Vom Ebenen auf den Berg schießen ist schwer; vom Berg aber ins Wiltener Feld hinunter trifft fast jeder. Trotzdem haben wir mittags wieder hergeben müssen, was wir in der Früh gewonnen hatten. Die vom Oberinntal müßten halt kommen, der Teimer mit seinen Kompanien, und den Deroi im Rücken angreifen …“ Er schaute zum Fenster hin, es war fast dunkel draußen, so unmittelbar hing jetzt das Gewitter über uns. „Die Oberländer lassen noch allweil auf sich warten. Das Wetter wird geschwinder da sein als die …“ Meine kleinen Schwestern rissen mich an der Jacke: „Hörst, Anderl, das Wetter kommt, wir woll'n nach Haus, die Mutter wartet ja!“ Aber ich stellte mich taub, denn grad' jetzt erzählte der Christian über den Haspinger, den Rotbart, wie er sich heut' am Bergisel hervorgetan hatte. Der Pater Joachim Haspinger war ein Kapuzinermönch, der im Land umherzog und überall beliebt war. Den ‚Paterl‘ nannten sie ihn, obgleich er ein langer, hagerer Mensch und sehr stark war. Die Rede des Paterls, erzählte der Christian, war grad' so feurig wie sein roter Bart, und wenn er predigte, riß er die Leut' mit, nicht nur in der Kirche, sondern auch draußen, wenn's zum Kampf ging. Für einen Mönch freilich schien er ein wenig hitzig, und seine Vorgesetzten im Kloster sahen's 76
nicht gern, daß er gar so begierig war, fürs Landl zu kämpfen. Den Bauern aber gefiel das grad'; drum baten sie den Pater Joachim, mit ihnen als Feldprediger in die Schlacht zu ziehen, und so heftig verlangten sie nach ihrem ‚Paterl‘, daß die Klosterherren ihn gehen lassen mußten, ob sie's guthießen oder nicht. Auch der Andrä Hofer vertraute dem Rotbart und hatte ihm für den heutigen Tag das Kommando beim linken Flügel übergeben. In der braunen Kapuzinerkutte, ohne Waffe, nur den weißen Stecken mit dem Antoniuskopf in der Hand, so ist der Haspinger den Bauern vorangestürmt. „Paterl“, haben sie gerufen, „gebt acht auf Euch, es wird Euch noch treffen!“ Aber er hat gelacht und gesagt: „Für mich ist noch keine Kugel gegossen!“ Als der Christian mit dem Erzählen grad' fertig war, brach plötzlich das Unwetter los. Ein Platzregen brauste herunter, wie wir ihn selten erlebt hatten. Große, glashelle Tropfen rauschten dicht herab, im Nu war die Straße durchweicht. Gleichzeitig wurd' es still draußen, die Geschütze am Bergisel schwiegen, nur der stürzende Regen war zu hören. Meine Schwester Annerl sagte, wenn sie der Herrgott war', sie würd's bei jeder Schlacht recht bald so regnen lassen … Der Regen dauerte lang, fast zwei Stunden, und wir kamen spät nach Haus. Kurz darauf kehrte auch der Zoppl heim. Er hatte einen Verwundeten aus dem Nachbardorf heimgeführt, war triefnaß und ein bißl niedergeschlagen, als ich ihn nach dem Ausgang der Schlacht fragte. „Unentschieden ist's“, sagte er mißmutig. „Die Tiroler sitzen droben auf dem Berg und die Bayrischen drunten vor der Stadt, und keinem ist's gelungen, den andern zu vertreiben. Der Teimer hat Schuld … Wenn er mit den Oberländern rechtzeitig gekommen wär', so hätt' sich's zu unsern Gunsten gewendet. Wenn nicht alle z'sammhalten, dann gelingt's nicht!“ „Und wo ist der Vater?“ fragte ich. „Der sitzt mit den andern Kommandanten beim Hofer im Schupfenwirtshaus droben, und sie halten Rat. Es heißt, daß wir in etlichen Tagen wieder angreifen. So wie's heut' ausgegangen ist, kann's ja nicht zu End' sein.“ Der Vater kam am nächsten Morgen eilig und voller Tatkraft, wie 77
Der Kriegsrat Andreas Hofers. Gemälde von Franz v. Defregger
immer. Er nahm den Zoppl beiseit' und redete leis mit ihm, ich hab's aber doch belauscht. Um die Brücken von Volders und Hall sollt's wiederum gehen. Blieben sie in Feindeshand, dann konnten die Bayern einen Seitenangriff in unsere rechte Flanke am Bergisel machen; gehörten sie aber uns, dann waren dem General Deroi Verstärkung und Abzug durchs Unterinntal auf der Reichsstraße abgeschnitten. Bei mir stand es sogleich fest, daß ich wieder dabeisein müßt', wenn es um Hall ging. Diesmal würd' ich der Mutter schon entwischen und mir keine Schwestern anhängen lassen. Am 26. und 27. Mai hatt' ich viel umherzulaufen. Mein Vater und der Zoppl verständigten die Schützenhauptleute in den entfernter gelegenen Dörfern, während ich in der Nähe blieb und von einem Hof zum andern ging, die Botschaft zu überbringen: „Zum Achtundzwanzigsten auf die Nacht sollt ihr zum Speckbacherhof kommen. Der Vater sticht einen Ochsen ab, und Wein gibt's genug. In der Morgenstund' rücken die Schützen wieder gegen den Feind, der Vater wird euch schon sagen, wohin.“ Die Nacht zum 28. Mai werd' ich nicht vergessen. An die tausend Bauern kamen zu unserm Hof. Sie lagerten draußen auf der Wiese beim Feuer und wurden mit Fleisch und Wein bewirtet. Die Bäuerinnen aus dem Dorf halfen meiner Mutter, brachten Brot und Knödel und ganze Berge Ochsenfleisch. Der Vater ging wachsam zwischen den Lagernden umher und ermunterte sie zum Trinken: „Aber nicht zu viel! Mutig sollt ihr sein, nicht übermütig …“ – „Warum nicht übermutig?“ riefen die Bauern zurück. „Diesmal kann's nicht fehlen, wir sind unser mehr als das Doppelte vom Feind.“ Als die Schützen aufbrachen, schlich ich mich in der nächtlichen Dunkelheit zwischen sie, um heimlich mitzulaufen. Die Mutter aber erspähte mich und zog mich zwischen den Männern hervor: „Anpflocken muß man dich wie einen stößigen Geißbock“, sagte sie und wollt' mich zum Vater führen, damit ich's ihm in die Hand versprech', daß ich brav daheimbleiben werd'. Der Vater jedoch war zu meinem Glück von Schützenhauptleuten umringt und brach kurz danach auf, ohne lang von uns Abschied zu nehmen. 80
Wir schliefen wenig in dieser Nacht, und kaum war die Sonne herauf, da ging's auch schon an: nicht nur vom Bergisel her – auch von Volders hörten wir es laut schießen; wir waren von zwei Seiten eingeschlossen im Kriegslärm. Plötzlich krachte ein gewaltiger Donnerschlag ganz in der Nähe, ein Kanonenschuß! Da wußten wir, daß der Kampf an der Haller Brükke begonnen hatte. Es war ein schrecklicher Lärm, die Fensterscheiben klirrten, das ganze Haus zitterte; der Moidl, die eben Milch für das Frühstück auf den Tisch stellen wollt', fiel vor Schreck das Krügel aus der Hand. Meine jüngeren Schwestern liefen zur Mutter, und die Schusterskinder weinten vor Angst. Die alte Großmutter begann mit zitternder Stimme zu beten; Schwaz stand wieder vor ihren blinden Augen, man hat's ihr ansehen können. Alle fürchteten sich – nur ich nicht; im Gegenteil: mich riß es bei jedem Kanonenschuß aus dem Haus. Ich war nur froh, daß ich dem Vater nichts mehr hatt' versprechen können und also auch nichts halten mußte! Eins, zwei war ich aus dem Zimmer, nahm mein Hütl, zog mir's tief über die Augen, weil ich dachte, dann sieht mich keiner – und lief davon. Ich war schon fast am Waldrand, da rief die Mutter hinter mir her: „Anderl! Wohin?“ Ich blieb stehen, den Rücken zum Haus, trotzig und ratlos, die Hände im Hosensack. „Ander, komm zurück oder ich hol' dich!“ rief die Mutter. Sie war bös auf mich – aber ich mußte hinunter. „Ich hab' einen Laufzettel auszutragen!“ rief ich zurück. Das war eine Lüge, ich weiß; der Herrgott wird mich verstehen und mich nicht allzu hart strafen dafür. „Wuumm“ – machte drunten die Kanone. Die Luft dröhnte, wie Donner rollte es lange nach. Die Mutter kam aus dem Haus, den Seppl trug sie auf dem Arm. Er lachte laut und schlug mit beiden Fäusten durch die Luft: „Bumm“, schrie er, „bumm, bumm!“ Er war ein richtiger Speckbacherbub – wenn er älter gewesen war', hätt' ich ihn mitgenommen. 81
„Was für einen Laufzettel?“ fragte die Mutter. „Zeig her!“ Jetzt war's um mich geschehen. Meine Mutter, die sonst sehr gut ist, verstand keinen Spaß, wenn wir Kinder sie belogen. Plötzlich schrie gellend die Moidl vom Haus her: „Mutter! Geschwind! Die Großmutter …!“ Die Schusterin winkte zum Fenster heraus: „Bitt' Euch, Bäuerin, kommt schnell! Die Alte hat ein schwaches Herz …“ „'s wird nur der Schreck sein vom Schießen“, rief die Mutter zurück und lief schon zum Haus. „Wuumm“ – machte die Kanone wieder. Ich rannte den Steig hinunter, ohne mich umzuschauen. Drunten am Waldrand blieb ich einen Augenblick stehen, um zu verschnaufen. Das Gefecht war in vollem Gang. Zwei Kompanien Bayrische standen mit zwei Kanonen an der Brücke und wollten nicht weichen. Meine Augen suchten den Vater; weit vorn, im dichten Gewühl, entdeckte ich ihn. Mich riß es zu ihm hin, grad' so, wie's mich vorhin aus dem Haus gerissen hatte. Da begannen die Unsrigen zu weichen, sie konnten dem bayrischen Feuer nicht mehr standhalten; der erste Angriff war fehlgeschlagen! Alles löste sich auf und flutete zurück, mich packte Angst und Entsetzen, als ich das sah. Der Vater sammelte die Streiter von neuem. In einem Gehöft, nicht weit von der Brücke, scharten sie sich wieder um ihn. Er teilte die Kompanien neu ein; zwei Hauptleute waren verwundet und mußten durch andere ersetzt werden. Wie ein Dieb schlich ich mich unbemerkt an das Gehöft heran; in der allgemeinen Erregung, die dem zweiten Angriff vorausging, beachtete mich keiner. In diesem Augenblick tönte des Vaters Kommando: „Vorwärts, Brüder!“ – und mit den Stürmern wurde ich nach vorn gerissen, der Brükke zu. Kugeln pfiffen über meinen Kopf, rechts und links und vorn und hinten – überall war Kampf und Lärm und Gebrüll und Pulverdampf. Ich lief zwischen den kämpfenden Bauern weiter nach vorn. „Vater!“ schrie ich, aber die Kanone war so nah, daß ich meinen eigenen Schrei nicht hörte. „Vater!“ Ich faßte ihn am Rock, er merkte es nicht. Erst 82
wie er plötzlich im Sturmangriff einen mächtigen Sprung vorwärts tat, spürte er, daß jemand an ihm dranhing. Er riß mich zu Boden und warf sich über mich, weil von drüben ganze Feuersalven daherkamen. Neben uns schrie einer auf, bäumte sich, brach in die Knie: der Feistauer, ein Jungbauer aus Wattens. Aus einer Wunde in seiner Brust sprudelte helles Blut, ich mochte nicht hinschauen und mußte es doch. Ein älterer Bauer aus Wattens, der selbst leicht verwundet war, trug den Feistauer beiseite und stützte ihn, so gut er konnte. Ich hob den Stutzen auf, der ein Stück weiter auf dem Boden lag. Mit dem Feistauer ging's rasch zu Ende. „Laß nur“, sagte er zu dem Bauern, der ihn mühsam hielt, „mit mir ist's eh bald aus.“ Sein Kopf sank auf die Schulter. „Schaust nach der Frau und dem Dirndl“, sagte er mit langsamen Lippen, „und schaust, daß unser Landl …“ Er brachte den Satz nicht mehr zum Schluß, versuchte noch das Kreuz zu schlagen, aber die Hand fiel herab. Der Bauer tat's für ihn und trug den Toten aus dem Gefecht. Um mich herum wichen die Kämpfenden; auch der zweite Angriff war abgeschlagen, die Unsrigen zogen sich erschöpft in das Gehöft zurück. Als mich der Vater dort sah, herrschte er mich an: „Bist noch immer da? Geh, oder ich kenn' mich nimmer!“ An seiner Stirn schwoll blau die Ader, ich weiß selbst nicht, wie ich ihm zu trotzen wagte. „Vater, laßt mich an Stelle vom Feistauer …“ Ich hob bittend den Stutzen hoch. Er riß ihn mir fort, packte mich und legte mich übers Knie. Er schlug ordentlich zu, mein lederner Hosenboden wurde heiß – und weinend lief ich davon. Ganz elend vor Scham schlich ich zum Waldrand hin. Mir war's wie eine nie wiedergutzumachende Schande, daß der Vater mich, seinen Adjutanten, vor aller Augen durchbleute. Mein Leben lang würd' ich ihm das nicht verzeihn! „Laß dich hier nimmermehr blicken!“ hatte er mir nachgerufen. „Gut“, sagte ich laut und wütend vor mich hin, „soll er halt ohne Adjutanten fertig werden!“ Indessen langte ich am Waldrand an und schaute zurück. Der Vater 83
führte zum dritten Angriff. Mit geschwungenem Säbel stürmte er voran, die Bauern stürmten ihm nach, das Gefecht um die Brücke setzte wieder ein. Ich sah mit Bangen, wie sich der Vater dem Feind ungestüm entgegenwarf. Die Bayrischen erwiderten den Ansturm mit wildem Feuer, die Kugeln sausten durch die Luft und schlugen neben mir im Wald ein. Die Kugeln! Ein Gedanke blitzte mir durch den Kopf. Daß es den Unsrigen an Pulver und Blei fehlte, wußte ich nur zu gut. Pulver freilich konnte ich ihnen nicht herschaffen, aber Kugeln würd' ich dem Vater bringen – Bayernkugeln, mein ganzes Hütl voll! Zorn und Trotz waren verflogen. Mit dem Taschenmesser bohrte ich die Kugeln, die der Feind nutzlos verschossen hatte, aus der Erde. Der Waldboden war weich und locker, die Bleikugeln steckten nicht allzu tief. Beim Graben kam mir auch langsam der Verstand wieder: Vielleicht', dachte ich, ‚ist es doch nicht recht, wenn ich dem Vater beim Gefecht wie der Kuhn zwischen die Beine lauf; er hat schon genug Sorge um das Leben seiner Schützen, soll er sich da auch noch um meins kümmern?‘ – Von der Brücke her scholl plötzlich Siegesgeschrei: endlich war's gelungen, der Feind wich zurück; ein Teil der Bayern war gefangen, der andere Teil floh nach Hall. Ich lief zur Brücke, das volle Hütl in den Händen. „He, Spöck!“ rief der baumlange Schweiggl-Bauer meinem Vater zu. „Dein Bub ist schon wieder da. Was bringst denn, Anderl?“ „Kugeln …“, sagte ich. „Kugeln für den Vater?“ fragte der Schweiggl-Bauer. Ich wurde verlegen, weil sie alle um mich herumstanden und mich anschauten – und vor allem, weil jetzt der Vater dazukam. Jemand hob mich hoch und rief: „Vivat der Speckbacher und sein Bub!“ Aber der Vater holte mich herunter: „Wenn du jetzt nicht endlich nach Haus zur Mutter gehst, dann sollst mich kennenlernen!“ Diesmal war's wirklich nicht meine Schuld, daß ich nicht heimging. Während ich den Steig hinauftrottete, kleinlaut wie der Kuhn, wenn man ihn verprügelt hat, kam mir jemand nach – der Peter 84
Steixner. Er trug einen Stutzen in der Hand, weiß der Himmel, wo er ihn herhatte. „Kommst mit, Anderl? Ich geh' zum Bergisel.“ Ich schaute den Peter schwankend an. „Der Vater hat mich heimgeschickt-----“ „Wenn du mitkommst“, sagte er, „dann darfst auch einmal schießen.“ Wer kann einer solchen Versuchung widerstehen? Ich nicht! Zum Bergisel gehen, hinter den Schanzen liegen und wie die richtigen Schützen hinunterfeuern … Später würden es die Schützen dem Vater sagen, was er für einen tüchtigen Buben hatte. Dem Vater würd's leid tun, daß er mich so schroff behandelt hat, er würd' mich um Entschuldigung bitten, und ich würd' sagen: Es macht nichts, Vater … „Hast denn auch Pulver und Blei?“ fragte ich den Peter, während wir rasch durch den Wald gingen, dem Bergisel zu. „Freilich“, sagte er, „willst mein Büchsenspanner sein?“ Es war schon fünf Uhr nachmittags, als der Peter und ich am Bergisel anlangten. Wir drückten uns an den Feldwachen vorbei; einer hielt uns fest, aber ein anderer rief ihm zu, ich sei der Bub vom Speckbacher – da ließen sie uns vorbei. Bisher war der Kampf hier am Berg nicht viel anders verlaufen als am Fünfundzwanzigsten – so heftig die Streiter auch aneinandergeraten waren. Die Unsrigen hatten zu wenig Reiter und Geschütze; sie hielten die bewaldeten Höhen ringsum, aber es gelang ihnen nicht, in die Ebene hinunter vorzustoßen. Die Bayrischen wiederum hatten einige vergebliche Angriffe hinauf gemacht und waren dann hinter dem Kloster von Witten in Deckung gegangen. Die Unsrigen warteten noch immer auf die Oberinntaler mit dem Teimer – und eben jetzt, kurz bevor wir zwei Buben uns unter die Schützen mischten, waren sie endlich gesichtet worden, wie sie vom Norden her langsam heranzogen. Der General Deroi, der wohl wußte, was ihm bevorstand, wenn ihm der Teimer in den Rücken kam, befahl noch einen letzten Sturmangriff auf den Berg. Hinter den Schanzen, wo die Tiroler lagen, kam alles in Aufruhr; Kommandos schallten, Befehle wurden weitergegeben, die Schützen 85
gruppierten sich in langen Linien. Kanonen- und Kartätschenfeuer setzte vom Wiltener Feld drunten ein, der erste feindliche Ansturm brandete herauf. Wir warfen uns ihm entgegen, blind und wild, mit dem hartnäckigen Entschluß: diesmal müssen wir's zwingen! Die Bayrischen kämpften erschöpft und verzweifelt. Auch die Unsrigen standen seit Sonnenaufgang fast ununterbrochen im Kampf; aber die Nachricht, daß die Oberinntaler endlich kamen und die Entscheidung bevorstand, riß sie hoch und trieb sie so schnell vorwärts, daß sie mit unwiderstehlicher Gewalt auf den Feind eindrangen. Der Peter und ich waren mittendrin. Nicht grad' in der vordersten Feuerlinie, aber doch zwischen denen, die schreiend vorwärts liefen, sich niederduckten, wenn die feindlichen Kugeln gar zu dicht über sie hinpfiffen, und wieder aufsprangen, um weiterzustürmen, weiter, weiter … Wir trieben die Feinde vor uns her den Berg hinab, bis in die Ebene vor Innsbruck. Damit war das Gefecht zu Ende: die Tiroler behaupteten wieder den ganzen Bergisel, und die Bayrischen zogen sich zurück. Doch folgten wir ihnen (aus Respekt vor den großen Geschützen) nicht bis in die Stadt; für heut' war's genug, die Dämmerung brach schon an und senkte sich über den Berg. Ich hob den Kopf und witterte in den Abend hinein: Föhn lag in der Luft. Im Wald wurden Wachtfeuer angezündet. In einem riesigen Halbkreis flammten die Feuer rings um die Hauptstadt; sie zogen sich über den Paschberg und den Bergisel bis nach Hötting hinüber, wo die Oberinntaler lagerten. Der General Deroi brauchte nur hinzuschauen, um zu wissen, wie es morgen für ihn ausgehen würd' … Die Bauern saßen am Feuer, nahmen Brot und Speck aus den Taschen und hielten Nachtmahl. Auch der Peter und ich waren hungrig, und da wir mit begehrlichen Augen neben einem zufrieden kauenden Bauern aus Matrei standen, rief er uns zu sich her und teilte mit uns. „Eßt, Buben!“ sagte er. „Aber dann müßt ihr heimgehen.“ Ja, das sollten wir wohl. Aber mit dem Peter und mir war etwas Sonderbares geschehen: wir waren wie zwei Schwimmer, die eigentlich nur am Ufer baden wollten und die es nun erwischt hatte und mit86
zog, ohne daß sie etwas dagegen tun konnten. Vielleicht war auch der Föhn schuld, der macht, daß Mensch und Vieh sich anders verhalten als sonst. Statt in der Richtung nach Haus zu gehen, zogen wir von einem Lagerfeuer zum andern, an der Sill entlang, die durchs Wiltener Feld dem Inn zufließt. Die Nacht war dunkel und stürmisch; die Sill rauschte, die Bäume rauschten, und der Wind wehte stark und warm. Nicht gar weit von unseren tirolischen Wachtposten entfernt lagerten die bayrischen Posten. Zwischen Stämmen und Gebüsch konnten wir die blitzenden Knöpfe auf den blauen Uniformen sehen und sogar die Stimmen unterscheiden: manche alt und tief, eine hell, wie von einem Burschen, der nicht viel älter sein könnt' als wir. Ich weiß nicht, was mich juckte, etwas so Tolles zu tun; der Peter wollt' mich zurückhalten, aber ich hab' mich losgemacht und bin näher herangeschlichen, immer näher – ich wollt' unsere Feinde von Angesicht zu Angesicht sehen, ich wollt' hören, was sie miteinander redeten. Ich hatte einen verschwommenen Plan in meinem heißen Kopf: den Feind belauschen und seine Absicht dem Andrä Hofer mitteilen. „Anderl, komm zurück“, flüsterte der Peter. Aber ich kroch weiter, und dem Peter, der ein guter Freund war, blieb nichts anderes übrig, als mir nachzukriechen. Jetzt waren wir schon so nah, daß wir nicht einmal mehr flüstern durften, aus Angst, uns zu verraten. Die Bayern waren unmittelbar vor uns, sie lagerten auf dem Boden, über ihre Gesichter flackerte der Feuerschein. Wir kauerten uns ins Gesträuch. Weiter hinten, wo die Feuer der Tiroler Vorposten brannten, begann plötzlich einer der Bauern zu singen: „Ischt oaner, a Kloaner, a lebfrischer Bua …“ Die andern fielen ein. Kaum waren sie fertig, da fingen auch die Bayrischen an: sie sangen ein lustiges Lied mit einem Jodler am Schluß. Es klang frisch und schön, und ich fand es wunderlich, daß unsere Feinde singen konnten. Das war natürlich dumm von mir – warum sollten sie nicht singen? Aber es war eigenartig, plötzlich herauszufinden, daß sie Menschen waren wie wir. Als das Lied zu Ende war, stand einer der Bayern auf, ein großer, 87
breiter Mann. In der Hand hielt er die Feldflasche, hob sie hoch und rief hinüber: „Heda, Tiroler! Wollt ihr trinken?“ „Warum nicht?“ rief von drüben ein Bauer zurück. „Aber trinken tun wir auf unseren Sieg, nicht auf den eurigen!“ Darauf folgte Gelächter, nicht nur bei den Tirolern drüben; auch die Bayrischen lachten über die wohlgelungene Antwort. Sie lachten laut und gutmütig. Der Große, Breite stand noch immer mit der Flasche in der Hand. „Na, wie ist's?“ rief er. „Seid ihr durstig oder nicht? Heiß genug ist's zugegangen heut'.“ „Ja, gelt“, rief der Tiroler zurück, „wir haben euch tüchtig eingeheizt!“ Er kam herüber, ein wenig mißtrauisch, man sah's am zögernden Schritt. Dann nahm er die Flasche, goß einen ordentlichen Schluck hinunter und reichte sie zurück. „Vergelt's Gott! Mir war die Kehle schon trocken von eurem Pulverdampf.“ Der Bayer lachte. „Euer Pulver schmeckt auch nicht besser.“ Da standen die beiden, der Tiroler und der Bayer, Feind dem Feind gegenüber, und lachten. Der Peter neben mir schaute grad' so ungläubig drein wie ich. Es dauerte nicht lang, da kamen noch mehr von den Unsrigen herüber. Sie tranken einander zu, Worte flogen hin und her. Der Große, Breite mit der Feldflasche winkte ganz in unserer Nähe einen Bauern zu sich heran, „Ist's wahr, daß ihr eure Gefangenen schlecht behandelt? Es heißt, ihr laßt die Verwundeten ohne Pflege zugrund' gehen …“ Der Bauer war bestürzt. „Da sieht man, was für Lügen sie über uns verbreiten. Nichts davon ist wahr. Eure Verwundeten sind uns grad' so wert wie die unsrigen, und mit euren Gefangenen teilen wir unser Brot; ich geb' dir mein heilig' Ehrenwort drauf.“ Er reichte dem Bayern die Hand. „Ich dank' dir“, sagte der. „Ein Kamerad von mir ist heut' von euch gefangen worden.“ Später sangen sie wieder tirolische und bayrische Lieder, und diesmal sogar miteinander, denn viele Lieder sind bei uns und bei ihnen gleich. Als der Peter und ich endlich davonkrochen, taten mir die Muskeln 88
weh vom langen Hocken hinter dem Baum. Schweigend machten wir uns auf dem Heimweg. „Horch einmal“, sagte ich und blieb stehen. „Irgendwas rollt dort drüben …“ Der Peter lauschte: im Wald rauschten die Bäume, ganz in der Ferne rollte etwas dumpf und eintönig, aber das konnte auch der Inn sein. „Ich hör' nichts“, sagte der Peter. Wir gingen weiter, doch nach einer Weile waren wir so müd, daß der Peter sagte: „Jetzt ist's schon gleich. Hauptsach', daß wir vor Sonnenaufgang zu Haus sind …“ Wir legten uns nieder, der Waldboden war weich und warm. Aber ich konnte nicht schlafen. Der Föhn wehte noch immer, und die Bäume ächzten. „Peter, wie kann es denn sein, daß man vor zwei Stunden noch aufeinander geschossen hat und jetzt miteinander spricht und trinkt und lacht?“ Der Peter wollte schlafen; er knurrte unwillig, aber ich gab ihm keine Ruh': „Peter, ich glaub', der eine, der Große, der nach seinem Kameraden gefragt hat, der ist ein Bauer.“ „Woher willst du das wissen?“ „Er schaut so aus; die Schultern nach vorn … Das kommt vom Akkern, weißt, wenn man den Pflug in den Boden hineinstößt …“ „Und ich glaub', er ist ein Bergarbeiter“, sagte der Peter. „Bauer!“ behauptete ich eigensinnig. „Wenn mein Vater mit ihm über Vieh und Acker reden wollt', die würden sich gleich verstehn.“ „Und wenn mein Vater“, sagte der Peter grad' so eigensinnig, „mit ihm über die Grube reden wollt' …“ Der Peter setzte sich plötzlich auf, zog die Knie hoch und legte die Arme um sie. „Darum geht's ja gar nicht“, sagte er und schien jetzt ganz wach zu sein. „Ob er ein Bauer ist oder im Berg arbeitet, darum geht's nicht. Aber daß unsere Väter sich mit ihm verstehn würden – das ist narrisch!“ „Gelt ja“, rief ich eifrig, denn jetzt hatte der Peter endlich begriffen, was ich meinte. „Narrisch ist das!“ 89
„Und warum …“, fragte der Peter, aber er fragte nicht mich, sondern nur so ins Dunkle hinein, „warum soll'n sich die Bauern oder Bergleut' hüben und drüben vom Karwendel nicht verstehn? Glaubst, die leben viel anders als wir?“ „Nein, das glaub' ich nicht. Aber warum kämpfen sie dann gegen uns?“ fragte ich verwirrt. „Weil's ihr König ihnen anschafft?“ „Ja, und dem schafft's wieder der Kaiser Napoleon an.“ Wir saßen stumm, jeder sann nach; ich möcht' wetten, daß wir beide den gleichen verwegenen Gedanken hatten: ob es nicht besser war' ohne die Kaiser und Könige? Der Peter streckte sich wieder auf dem Boden aus, er sagte, daß der Wind und das Sausen in den Wipfeln ihn schläfrig machten. Aber ich lag noch lange wach und horchte auf den Sturm. In der Ferne stürzte krachend ein Baum um. Gedanken gingen mir durch den Kopf, verwegene Gedanken, die ich mich nicht trauen würd', laut auszusprechen. Die Bauern und die Bergleut', hatte der Peter gesagt, verstehen einander. Warum ließen sie sich dann von den Kaisern und Königen in den Krieg führen gegen andere Bauern und Bergleut'? Kaiser und Könige gibt's doch nur wenige auf der Welt, aber Bauern gibt's viele und Bergleut' auch. Ich muß dann doch eingeschlafen sein. Als die Sonne am Himmel stand, weckte mich der Peter. Am Bergisel war's still, nirgends ein Schuß zu hören. Wir rannten nach Haus, der Peter hinunter nach Hall, ich zu unserm Hof. Es schien, als ob ich Glück hätte: niemand rührte sich; aber als ich leis ins Haus trat, kam die Mutter die Stiege herab. Sie sah bleich aus, man merkte, daß sie nicht geschlafen hatte. Ohne ein Wort zu reden, ging sie an mir vorbei in die Küche, um das Frühstück zu richten. Ich schlich in den Stall zur Burgl und half ihr beim Melken. Später macht' ich mich im Hof nützlich, mistete gar den Stall aus, aber die Mutter sprach trotzdem nicht mit mir. Den ganzen Vormittag herrschte Ruhe am Bergisel, und auch vom Inntal her hörte man nirgends mehr einen Schuß. Dann kam endlich der Zoppl nach Haus und überraschte uns mit einer unglaublichen Nachricht: in der Nacht hatte der General Deroi mit seinen Soldaten 90
Reißaus genommen. Die Kanonenräder und die Hufe seiner Pferde hatte er mit Fetzen umwickeln lassen; fein leis wie die Diebe waren sie fortgeschlichen. Also hatt' ich doch recht gehört, als ich den Peter in der Nacht auf das ferne Rollen aufmerksam machte. Drüben, am linken Ufer, war der General auf der alten, schlechten Straße davongezogen. Ehe die Unsrigen es noch so recht merkten, hatte er schon einen gewaltigen Vorsprung. „Gewiß ist er bald in Kufstein“, sagte der Zoppl, „von dort sind's ein paar Schritt ins Bayrische hinüber. Der Speckbacher hat sich an die Verfolgung gemacht, es ärgert ihn, daß der Deroi so leichten Kaufs davonkommt, wenigstens die Geschütze möcht' er ihm abnehmen …“ Dann streckte sich der lange Zoppl, reckte die Arme, daß die Gelenke knackten. „Tirol ist wieder frei!“ sagte er und lachte übers ganze Gesicht. Am nächsten Tag kam der Vater heim. Den General hatte er nicht mehr eingeholt; aber er war dennoch guter Dinge. „Wir wissen's schon“, rief die Moidl ihm entgegen, „Tirol ist wieder frei!“ „Außer Kufstein!“ sagte der Vater. „Dorthin schickt mich der Hofer – in etlichen Tagen brech' ich auf. Und du …“, er wandte sich plötzlich an mich, „du bleibst auch nicht hier. Dich schick' ich auf eine Alm, recht weit von hier und hoch oben. Damit du endlich lernst, wo ein Bub wie du hingehört …“ Ich wollt' aufbegehren, aber ich wußt' gleich, daß es keinen Zweck hatte. Vielleicht half die Mutter? Zum erstenmal schaute sie mich wieder an, und ich sah's an ihrem Blick: hätt' ich sie nicht angelogen, sie hätt' für mich beim Vater gebeten. So aber hatte ich auch von ihrer Seite nichts zu erwarten und mußt' mich fügen. Am nächsten Morgen brachte mich der Zoppl auf die Hirschenalm, und dort bin ich lange, lange Zeit geblieben. Oder sind drei Monate etwa keine lange Zeit? Doppelt lang, wenn man weiß, daß zur selben Zeit der Vater die Festung Kufstein belagert und Taten vollbringt, bei denen man für sein Leben gern mit dabei wäre … 91
Auf der Hirschenalm war's friedlich – viel zu friedlich für mich. Jeder tat seine Arbeit: die Sennerin Resi, der alte Martl und wir zwei Buben, der Toni und ich. Die Kuhglocken läuteten alle mit dem gleichen Bim-bam, nur die von der Leitkuh klang etwas tiefer. Das Gespräch drehte sich ums Wetter und um die Tiere: daß die ‚Schwarzl‘ heuer mehr Milch gab als im vergangenen Jahr und daß die ‚Almrausch‘ sich nur von der Resi melken ließ, sonst von niemandem. Und von Butterschmalz war die Red' und von Käs' und wieder vom Wetter. – Die Nachricht aber, daß der Erzherzog Karl den Napoleon bei Aspern geschlagen hatte und daß das ganze französische Heer auf der Insel Lobau eingeschlossen war, erweckte weiter keinen Aufruhr auf der Hirschenalm. Der alte Martl brummte: „Ist schon recht“ – wie immer, wenn er nichts dagegen hatte; der Toni schwieg und keiner wußte, was in ihm vorging, und die Resi sagte: „Morgen gibt's Regen, da müßt ihr Buben achtgeben!“ Bei Regen nämlich durfte das Vieh nicht auf die Steilhänge hinauf, weil es dann leicht abrutschte. Mir war die Zeit sterbenslang, aber das soll nicht heißen, daß ich etwa faulenzen konnte. Ich hab' fest zugreifen müssen, denn Almarbeit ist nicht leicht. Morgens zwischen drei und vier stieg der alte Martl als erster aus dem Heu. „Der Schlaf und die alten Leut'“, sagte er, „die finden nit z'samm.“ Der Martl war bald siebzig, sein braunes Gesicht hatte tausend Runzeln. Er war der ‚Putzer‘ auf der Alm und hielt die Wiesen und Wege rein. Aber er konnt' viel mehr als nur ‚putzen‘. Er kannte die Kräuter und kochte einen Heilsud daraus; er verstand sich aufs Vieh: die bockbeinigsten Tiere wurden ruhig, wenn er ihnen die Hand auflegte. Und manchmal glaubte ich, daß er sich auch auf Zauberei verstand: meine geheimsten Gedanken kannte er, sogar noch bevor ich sie selber wußt'! Vom Heuboden aus sah ich, wie der Martl unten umherging und Feuer machte. Der Kupferkessel am Drehbalken schwankte leis, während der Martl ihn über die Herdstelle rückte; an den bauchigen Stellen spiegelte sich rot das Feuer im Kupfer. Da kam die Resi aus der Kammer und rief gleich zu uns hinauf, wir seien nichtsnutzige Buben, 92
Ein Tiroler gibt dem Feind zu trinken. Zeichnung von Albrecht Adam
und was uns einfalle, daß wir noch im Heu lägen, statt melken zu gehen. Die Resi war eine tüchtige Sennerin, eine bessere fand sich nicht so leicht im ganzen Tirol. Sie schimpfte und polterte zwar viel, aber das gehörte zu ihr, grad' wie die groben Schuh', in denen sie wie ein Mannsbild mit schwerem Tritt umherging, und wie die glatten braunen Zöpfe rund um ihren Kopf. Im Grund war sie eine herzensgute Person, übrigens eine entfernte Verwandte von uns. (Deshalb hatte mich ja auch der Vater auf die Hirschenalm geschickt.) Der Toni und ich kletterten hinunter, nahmen unsre Kübel und folgten der Resi hinaus ins Morgengrauen. Das Gras war naß und die Luft so kühl, daß uns fröstelte. Die Resi mußt' uns antreiben; aus dem warmen Heu in die feuchtkalte Dämmerung hinauszugehen – das war jeden Morgen eine Überwindung. Wir rannten, damit uns warm wurde; die Kübel klapperten beim Laufen. Nicht weit von der Hütte war eine Grasmulde, dort warteten schon die Kühe auf uns. Über Nacht blieben sie draußen, und am Morgen drängten sie sich zum Melkplatz; einige brüllten, so voll waren ihre Euter. Wir setzten uns zum Melken nieder; die Resi bracht' es bis zu zehn Kühen in der Stunde, der Toni kam auf acht, das war auch nicht schlecht. Wie ich ihn um seine starken Hände beneidete! Zwar könnt' ich auch melken, aber ich hielt nicht lange durch, meine Arme erlahmten zu rasch. So hatt' ich nur zwei Kühe, die ‚Mirl‘ und die ‚Stolze‘, die geduldig genug waren, sich von mir melken zu lassen. Einmal in der Woche kam der Talbote herauf, der Aigner; er brachte uns Fleisch und Brot und Nachricht von drunten. Dafür nahm er Käse und Butterschmalz mit hinunter. Das Fleisch gab's am Sonntag, wochentags aßen wir morgens eine Brennsuppe und Brot, zeitig am Mittag einen Mehlsterz, abends Milch, Brot, Käse. Der Toni und ich waren draußen beim Vieh, der Toni als Kühbub („Kiabua“ heißt das bei uns) und ich als ‚Goaserer‘, als Geißbub. Tonis Arbeit war verantwortungsvoller, denn wenn einer Kuh etwas zustieß, so bedeutete das einen argen Schaden, und es war immer ein großes Unglück, wenn ein Vieh sich droben auf der Alm zu Tode stürzte. Meine Arbeit bei den Ziegen und Schafen war aber auch nicht leicht, denn 94
ich mußt' hoch hinauf, höher noch als der Toni. Je leichter ein Tier ist, desto steiler klettert's in die Felsen hinein, und meine Geißen und Schafe waren oft stundenweit von der Almhütte entfernt. Jeden Tag mußt' ich nach ihnen schauen und sie nachzählen; zweiundsechzig waren's. Ein Geißbub muß auf vieles achtgeben: er darf das Vieh nicht zu nah an die Steinschlagstellen heranlassen; er muß die trächtigen Tiere beobachten und wissen, wann das Junge kommt; er muß auch auf den Lämmergeier, der hoch im Blauen kreist, ständig aufpassen, denn der hat's auf die Jungtiere abgesehen, aber wenn die Herde hübsch beisammenbleibt, dann traut er sich nicht heran. Und wenn sich ein Schaf das Bein verletzt, dann muß es der Geißbub hinunterschleppen in die Almhütte, wo es im ‚Scherm‘ (so heißt der Stall) auskuriert wird. Wenn es aber ein großes Schaf war, dann konnte ich's freilich nicht tragen, und der Toni mußte kommen und mir helfen. Der Toni war ein sonderbarer Bub; kein schlechter Kamerad, nicht viel älter als der Peter Steixner. Ich dachte zuerst, ich könnt' Freundschaft mit ihm schließen, aber aus der Freundschaft wurde nichts, schon deshalb nicht, weil der Toni so schweigsam war wie ein Stein – wie der Hirschenstein, auf dem ich manchmal saß, weil man von ihm bis weit ins Tal hinunterschauen könnt'. Dort saß ich auch an jenem Tag, an dem der Aigner uns die Nachricht von der Depesche des Kaisers brachte. Ich lief gleich hinunter, als ich ihn kommen sah. „Leutln – was Neues!“ rief er uns entgegen. „Gut's?“ fragte die Resi, die am Kupferkessel stand und den Sterz rührte. „Das will ich meinen. Der Kaiser Franz hat ein Handschreiben geschickt, darin gibt er uns Tirolern sein heilig' Ehrenwort, daß er uns nimmermehr verlassen wird.“ Ich hätt' einen Freudenhupfer tun mögen, aber ein Kaiser-Ehrenwort ist eine zu feierliche Sach', als daß man wie ein Geißbock springen dürft'. Ich schaute die andern an, was die dazu sagten. Der Martl brummte: „Ist schon recht“, der Toni schwieg, die Resi rührte im Kupferkessel. 95
Der Aigner berichtete weiter: „Unser Kaiser verspricht, daß er mit dem Napoleon nur dann Frieden schließt, wenn Tirol wieder zu Österreich kommt, sonst nicht.“ „Das ist brav vom Kaiser Franz“, sagte der Martl; aber die Resi fragte barsch: „Was ist daran brav? Ich mein', die Tiroler hätten sich das verdient.“ Darauf erzählte der Aigner, was es sonst noch drunten im Tal gab: daß der Andrä Hofer wieder der Sandwirt war und kein Kommandant mehr. „Und wer regiert?“ fragte die Resi, bei der alles seine Ordnung haben mußte. „Einer muß doch regieren!“ Der Aigner lachte: „Auf der Hirschenalm regierst du, Resi – so viel ist einmal sicher; und in Innsbruck regiert der Baron Hormayr. Der Hofer kann sich mit ihm nicht recht vertragen; er hat's nicht vergessen, daß der Baron bei der letzten Schlacht am Bergisel nicht mitgetan hat. Statt dessen ist er an der Schweizer Grenze gesessen, damit er gleich drüben ist, falls bei uns etwas schiefgeht. Jetzt regiert er in Innsbruck in der Hofburg.“ „Und von meinem Vater aus Kufstein habt Ihr nichts gehört?“ fragte ich. „Der belagert nämlich die Festung.“ Der Aigner nickte. „Er und tausend Tiroler und dreihundert kaiserliche Soldaten. Aber die Festung steht noch immer – ist halt zu stark für uns, sogar für den Speckbacher.“ „Gewiß hat er wieder zu wenig Geschütze“, sagte ich. „Um die Festung zu stürmen, braucht's Kanonen …“ Die Resi fuhr dazwischen: „Was kümmern dich die Kanonen? Geh und schau nach deinen Geißen!“ Der Aigner sagte: „Der Speckbacher meint, man müßt' den Major Aicher mit seiner Besatzung auf der Festung droben aushungern.“ „Das wär' gut“, rief ich eifrig, „der Vater soll die Zufuhrstraße nach München versperren und …“ „Ander!“ rief die Resi und stemmte die Arme in die Seiten. „Bist hier als Geißbub oder als General?“ Ich nahm mein Hütl und machte mich auf den Weg zu meiner Herde. 96
Eine Woche danach (oder waren es zwei?) mußt' die Resi hinunter ins Tal; es war der Jahrestag von ihrem seligen Vater, und in der Kirche wurde die Messe für ihn gelesen. Die Resi fragte jeden von uns, was sie ihm aus dem Dorf mitbringen sollt'. Der Martl wünschte sich Pfeifentabak, der Toni ein neues Taschenmesser. – „Und was willst du, Ander?“ „Nichts! Nur daß Ihr herumhorcht, was die Leut' von meinem Vater erzählen“, sagte ich. Spät am Abend war die Resi wieder da. „Deinem Vater geht's gut; die Leut' erzählen, er hat sich den Bart wachsen lassen und schaut so wild und schwarz und zum Fürchten aus, daß die Bayrischen ihn den ‚Waldteufel‘ nennen. Bei den Tirolern freilich heißt er ‚Feuerteufel‘, weil er sich vor rein gar nichts fürchtet – auch vor dem feindlichen Feuer nicht; ein Teufel aber ist er allemal, hüben wie drüben …“ „Und sonst?“ fragte ich. „Sonst nichts.“ Ich kroch zum Toni hinauf ins Heu, und obzwar die Resi mir ein buntes Sacktuch mitgebracht hatte, war ich nicht zufrieden mit ihr. Hätt' sie mir nicht den Gefallen tun können und genauer nachfragen? Wenn das so weiterging und mir niemand etwas vom Vater erzählte, dann würde ich wieder ausreißen und zu ihm laufen – ganz gewiß würd' ich das! Schlaflos lag ich im Heu. Drunten zog die Resi in der Kammer ihr Sonntagsgewand aus; dann kam sie zum Feuer und setzte sich neben den Martl. „Schlafen die Buben?“ fragte sie. „Das will ich meinen. War ja ein schwerer Tag heut' ohne dich.“ Der Martl stopfte sich die Pfeife mit dem frischen Tabak. „Was gibt's denn Neues drunten?“ „Die Bauern erzählen sich allerlei vom Speckbacher“, sagte die Resi halblaut, „das ist ein ganz verwegener Kerl …“ „Weißt also doch mehr von ihm! Warum soll's der Ander nicht hören? Der Bub brennt ja drauf …“ „Grad' deshalb. Meinst, ich will ihm neue Flausen in den Kopf set97
zen, wenn er hört, was sein Vater für Heldentaten in Kufstein vollbringt?“ Die Resi lauschte zu uns hinauf, ich lag mucksmäuschenstill und atmete kaum. „'s sind vielleicht weniger Heldentaten als tolle Streiche“, fuhr sie fort. „Der Speckbacher-Sepp ist allweil ein Draufgänger g'wesen, ich kenn' ihn ja schon von klein auf, noch von Gnadenwald her. Hat halt zu früh den Vater verloren, und die Mutter hat sich mit dem wilden Buben nicht zu helfen gewußt. Ist dann auch bald weggestorben, die arme Frau, und der Sepp ist bei den Geschwistern geblieben. Die sind erst recht nicht mit ihm fertig geworden. Er ist ihnen davongelaufen, in die Berge hinauf, und tagelang droben geblieben – allein oder in Gesellschaft von anderen Burschen, lauter Lumpenkerlen, die von rechtschaffener Arbeit nichts wissen wollten. Mehr als einmal hat der Herr Pfarrer dem Sepp ins Gewissen geredet, aber es hat nichts genutzt: ein Wilderer ist er geworden, ein wüster Mensch; könnt' keiner schießen und raufen wie er. Den ‚Loder von Gnadenwald‘ haben die Leut' ihn genannt. Bis er dann die Maria in Binn kennengelernt hat. Da hat sich der Sepp von Grund auf gewandelt, ist brav geworden, von einem Tag auf den andern, und aus dem Loder ist ein fleißiger Bauer geworden.“ Die Resi schwieg und warf einen Holzklotz ins Feuer. „Verstehst jetzt, Martl, warum der Bub es nicht hören soll? Das Wildererblut vom Vater her möcht's in ihm aufwecken … Schau nach, ob er schläft!“ Mir war das alles neu; über des Vaters Jugend ist bei uns daheim nie geredet worden – und so ganz recht war's mir nicht, daß mein Vater einmal ein richtiger Wilderer gewesen sein soll. Aber jetzt wußt' ich, wo er das Schießen so gut gelernt hat, warum sein Auge so scharf ist, woher er Weg und Steg bis hoch hinauf kennt, auch den verborgensten. Ein Wilderer führt ein gefährliches Leben; keiner darf ihn sehn: das Wild nicht, dem er auflauert, und die Förster und Grenzjäger nicht, die ihm, dem Wilderer, auflauern. Derweil kam der Martl die Leiter heraufgestiegen, und ich wußte, so still ich auch lieg' und so fest ich die Augen zudrück', den Martl täusch' ich nicht! Er hört's am Atem, ob einer schläft oder wacht. Seine Hand 98
tastete über mein Haar und rüttelte mich sacht. Der gute Martl wollte mich wecken, damit ich zuhören konnte. Dann stieg er wieder hinunter und sagte: „Wie ein Ratz schläft er.“ Darauf erzählte die Resi weiter von den Taten meines Vaters in Kufstein; wohl eine Stunde lang berichtete sie dem alten Martl mit vielen Einzelheiten, wie heldenmütig und stark, wie tapfer und listig der Speckbacher war … und ich lag droben im Heu und lauschte mit heißen Wangen. Sie erzählte von der feindlichen Granate, die mitten unter den Schützen einschlug, während sie gegenüber der Festung Schanzwälle bauten – und wie der Vater beherzt hinzusprang und den Zünder herausriß, ehe die Granate noch explodieren könnt'. Sie erzählte von den Müllern in Kufstein, denen der Vater (nachdem er sie etliche Male gewarnt hatte) bei Nacht die Mahlwerke zerstörte, damit sie dem Feind auf der Festung kein Mehl mehr liefern konnten. Sie erzählte von den elf bayrischen Schiffen, die dem Feind zum Transport über den Inn dienten – und wie der Vater im Morgengrauen sie vom Ufer losmachte und in die Strömung hineinschob, sodaß sie den Innfluß hinabschwammen, auf Nimmerwiedersehn. Sie erzählte von dem nächtlichen Versuch, die Festung anzugreifen, bei dem der Vater von einem bayrischen Wachtposten um ein Haar erschossen worden war' und nur dadurch im letzten Augenblick entkam, daß er wie ein Hund auf allen vieren bellend und winselnd davonkroch. Es war spät, als die Resi endlich aufhörte und in ihre Kammer ging. Ich lag noch lange wach und konnte nicht schlafen, weil ich an den Vater in Kufstein denken mußte.
Tage und Wochen vergingen. Meine Ziegen und Schafe stiegen höher hinauf, ich stieg ihnen nach. Der Talbote kam, brachte Fleisch und Brot, holte Käs' und Butterschmalz; er erzählte, daß der Kaiser Napoleon nach seiner Niederlage bei Aspern einen Gegenschlag geführt 99
hatte. Bei Wagram habe es eine große Schlacht gegeben, aber keiner wußte genau, wie sie ausgegangen war. Viele sagten, die Österreicher hätten wieder gesiegt und mit dem Napoleon sei es nun endgültig aus. Viele aber sagten auch, es sei umgekehrt und der Napoleon habe verlangt, daß die Kaiserlichen aus Tirol abziehen. Und der Kaiser Franz soll das unterschrieben haben. Aber das konnte ja nicht sein. Wir hatten ja sein heilig' Ehrenwort. Ende Juli war es (acht Wochen war ich nun schon hier in der Verbannung) – da kam ich auf dem Weg zu meinen Geißen am Hirschenstein vorbei. Auf einmal sah ich: es stieg einer von unten herauf; der Talbote konnte es nicht sein, der war erst vorgestern bei uns gewesen. Ich schaute genauer hin: dieser rasch ausgreifende Schritt … der Vater! Ich sprang auf und stieß einen Juchzer aus und schwenkte mein Hütl über dem Kopf. Der Vater blieb stehen und winkte zu mir herauf. Die Resi trat vor die Hütte, eine Weile redeten die zwei miteinander, dann kam er zu mir, und ich lief ihm entgegen. „Grüß dich Gott, Ander. Die Resi sagt, du hältst dich brav. Das ist recht.“ Er sah verändert aus; zwar war er immer hager, aber jetzt waren seine Wangen fast hohl und die Augen lagen tief drin und brannten unheimlich. Wir setzten uns auf den Hirschenstein, mir war bei aller Freude ein wenig beklommen zumut', ich wußte selbst nicht warum. „Ich bleib' nicht lang“, sagte der Vater, „ich bin nur gekommen, weil ich dir sagen will, daß ich fortgeh.“ „Fort?“ fragte ich bestürzt. „Fort vom Tirol?“ Ich schaute ihn dabei so erschrocken an, daß er mich tröstete: „Ich komm' ja wieder … später …“ Weil ich ihn aber immer weiter anstarrte, stumm und entsetzt, fuhr er mich plötzlich an: „Was schaust denn so? Meinst, ich geh' leicht?“ „Aber warum …?“ fragte ich. „Weil ich nicht hängen will!“ „Hängen …?“ Ich mußte hart schlucken. Er legte mir seine Hand fest auf die Schulter und sagte in verän100
dertem Ton: „Daß der Erzherzog Karl bei Wagram geschlagen ist, das weißt schon, gelt?“ „Der Talbote hat's erzählt. War's denn eine so schwere Niederlage?“ Der Vater nickte. „So schwer, daß der Kaiser Franz danach einen Waffenstillstand unterzeichnet hat. Weißt das auch schon?“ „Ja“, erwiderte ich bedrückt, „aber wir haben's nicht glauben können.“ Der Vater sagte bitter: „Keiner hat's glauben können! Kennst du das?“ Er holte aus der Tasche ein bedrucktes Papier. „Lies … ich kann's auswendig.“ Während ich las, sagte er laut den Text her: „Im Vertrauen auf Gott und meine gerechte Sache erkläre ich hiermit meiner getreuen Grafschaft Tirol, daß sie nie mehr von dem Körper des österreichischen Kaiserstaates soll getrennt werden und daß ich keinen andern Frieden unterzeichnen werde als den, der dieses Land an mein Kaiserreich unauflöslich knüpft.“ „Vater“, rief ich, „das ist ja das heilige Ehrenwort vom Kaiser! Der Talbote hat uns davon erzählt.“ „Ja“, sagte der Vater, „das heilige Ehrenwort – und der Kaiser hat's gebrochen!“ Wenn der Fels unter mir geborsten wär', ich hätt' nicht mehr erschrecken können; der Kaiser hatte sein Wort gebrochen! Das war, wie wenn die Welt untergeht! Der Vater nahm mir das Papier aus der Hand und zerriß es in viele Stücke. Der Wind trug die weißen Fetzen davon. „Ich hab's nicht glauben wollen, Ander! Zehn Tage bin ich herumgegangen und hab' jeden Tiroler, der auch nur davon geflüstert hat, am Kragen genommen und gebeutelt: ‚Schäm dich! Glaubst, unser guter Kaiser verrät uns? Niemals! Der Napoleon vielleicht, aber unser Kaiser, der ist treu und gottesfürchtig.‘ Die Nachricht ist zuerst vom Feind gekommen: in aller Früh haben sie auf der Festung droben an die hundert Kanonenschüsse abgefeuert, ohne daß eine Kugel geflogen ist. Gleich danach läuteten in Kufstein die Glocken. Ich schickte meine Schützen in die Stadt, um zu fragen, was das bedeutet. ‚Waffen101
stillstand‘, hieß es, ‚wir feiern ein Freudenfest‘. Am gleichen Tag kam unsrer Feldwache ein bayrischer Vorposten entgegen mit einem weißen Tuch in der Hand: ‚Nicht schießen!‘ rief er. ‚Euer Kaiser hat einen Waffenstillstand unterzeichnet!‘ Wir riefen zurück: ‚Eure Lügen kennt man schon! Der Stillstand gilt nicht!‘ Weil nämlich die Meldung nur von Feindesseite gekommen ist und wir von den Österreichern kein Sterbenswörtl über einen Stillstand gehört haben, mußten wir glauben, daß die Bayrischen uns täuschen wollten. Und richtig ist auch vom Erzherzog Johann ein Schreiben gekommen: ‚Seht euch vor, Tiroler! Es gehen Gerüchte über einen Waffenstillstand, dem sollt ihr keinen Glauben schenken!‘ Einen Tag später kam auch vom Andrä Hofer ein Aufruf: ‚Weil der Franzosenkaiser mit seinen Waffen kein Auslangen mehr findet, so hat er zur List seine Zuflucht genommen. Er verbreitet, daß unser Kaiser einen Waffenstillstand unterzeichnet hat. Zumal aber unser guter Kaiser Franz erst vor kurzem die ewige Vereinigung von Tirol mit Österreich bekanntgegeben hat, so weiß man, daß dieses Gerücht eine Lüge ist … ‘“ Ich sagte schüchtern: „Da seht Ihr's, der Vater Anderl hat's auch nicht geglaubt!“ Der Vater fuhr fort: „Die Gerüchte sind aber immer lauter geworden, und wenn ich alle die hätt' beuteln wollen, die davon geredet haben, so hätt' ich den ganzen Tag nichts andres tun dürfen. Ich hab's nimmer ausgehalten, Gewißheit wollt' ich haben; drum bin ich zum Feind gegangen und hab' den Kommandanten Aicher selbst gefragt …“ Ich rief dazwischen, zitternd vor Aufregung: „Vater, Ihr seid auf der Festung gewesen?“ Er antwortete gelassen, als ob nichts Besonderes an einem solchen Wagnis wäre: „Ist ja schon lang mein Plan gewesen. Ich wollt' auskundschaften, wie's droben steht mit Proviant und Geschütz und wieviel Soldaten sie haben …“ „Und was hat denn der Aicher gesagt, wie Ihr vor ihm gestanden seid?“ „Aber Bub! Ich bin ja nicht als der Speckbacher vor dem Aicher gestanden, sondern als ein ganz anderer. Ich hab' mich in einen glatten, 102
säuberlichen Menschen verwandelt, den wilden ‚Waldteufel‘ könnt' keiner dahinter vermuten. Der Moser, der Bärenlochner und ich sind in der Abendstunde zur Festung hinaufgegangen …“ „ … aber die Stutzen habt ihr doch mitgenommen?“ fragte ich. „Wo denkst du hin? Ein Parlamentär darf doch nicht mit Waffen kommen! Die Schildwach' hat uns gefragt, wer wir sind. – Wir sagten: ‚Tiroler Bauern aus der Umgegend, und wir wollen den Kommandanten sprechen.‘ Darauf ist der Major Aicher selbst gekommen, hat das kleine Pförtl im großen Tor öffnen und uns die Stiegen zur Festung hinaufführen lassen – freilich mit verbundenen Augen, damit wir uns nicht weiter umschauen konnten. In seinem Zimmer droben in der Burg hat uns einer die Binden abgenommen, der Major hat uns scharf gemustert und gefragt, was wir wollten – und wir sollten's nur gleich wissen, mit dem Bauernpack verhandelt er nicht. Drauf hab' ich ihm erzählt, daß wir drunten von den Belagerern seien und unzufrieden mit den Österreichern; daß wir den Krieg satt hätten und heim wollten, und ob's denn wahr wär', daß Waffenstillstand ist? – Der Aicher hat uns eine Zeitung aus München gezeigt, eine Extra-Ausgabe, um uns zu beweisen, daß es seine Richtigkeit hat mit dem Waffenstillstand zwischen dem Napoleon und dem Kaiser. Gegen uns aber wird weitergekämpft, solang wir uns nicht ergeben. Denn wir sind ja nur Aufständische – keine Soldaten! Das österreichische Militär zieht ab – so ist's im Waffenstillstand bestimmt; dafür aber sind schon die Franzosen und Bayern unterwegs, um von allen Seiten her wieder im Tirol einzufallen. Das alles hat uns der Festungskommandant Aicher gesagt und hinzugesetzt, daß man es uns Tirolern jetzt heimzahlen würd', und besonders die Anführer würd' man für ihr treuloses Verhalten gegen den guten bayrischen König bestrafen und aufknüpfen. – Ich hab' gesagt: Mit der Treue schaut's heutzutag' nicht gut aus in der Welt, sogar die Fürsten sind treulos … Und was das Aufknüpfen betrifft, so müßt' man die Leut' erst haben, ehe man sie hängt. – Darauf hat der Aicher uns nach dem Speckbacher gefragt, ob wir den kennen, das sei der Schlimmste von allen, ein ausgemachter Schurke, der den Galgenstrick verdient wie kein zweiter. In einen solchen wilden Zorn hat 103
er sich geredet, daß der Moser und der Bärenlochner schlotternd vor Angst geschworen haben, sie kennen den Speckbacher nicht. Da hat der Aicher gebrüllt: ‚Ich werd' ihn schon kriegen! Und bis ich ihn hab', bleibt ihr mir als Geiseln hier!‘ Darauf hab' ich geantwortet, mir sei der Speckbacher wohlbekannt, ich dächte grad' so schlecht über ihn wie der Herr Major, und daß ich ihn – wenn ich eine gute Belohnung dafür bekäm' – gleich morgen auf der Festung ausliefern würd', was ich freilich nur dann könnte, wenn man mich und meine Kameraden in Ruhe wieder ziehen ließe.“ Der Vater schmunzelte in Erinnerung an den Spaß. „Ja, den haben wir gründlich an der Nas' herumgeführt – und ich wußte nun, was ich wissen wollt'. Zum Baron Hormayr bin ich geritten, um zu erfahren, ob er was vom Kaiser gehört hat. Erst wollt' er mir Vorwürfe machen: ein Schützenhauptmann dürft' sein Leben nicht so leichtsinnig aufs Spiel setzen, 's wär' nicht militärisch – und ob ich nicht wüßte, was der Aicher mit mir gemacht hätt', wenn er draufgekommen wär', wer ich bin. – ‚Aufgebaumelt hätt' er mich‘, sagte ich, ‚aber über den Leichtsinn denk' ich anders: ein guter Hauptmann muß dort sein, wo's am gefährlichsten ist, und sein eigen Leben weniger schonen als das der andern, über die er befiehlt.‘ – Darauf hat der Hormayr mir gesagt, daß nun endlich die Nachricht vom Erzherzog Johann eingetroffen ist: der Waffenstillstand sei wirklich geschlossen, und morgen schon würden die Kaiserlichen aus Tirol abziehen. Der Kaiser Franz fordere alle Tiroler Anführer auf, sich den Kaiserlichen anzuschließen und das Land mit ihnen zu verlassen. Denn der Napoleon habe alle für vogelfrei erklärt …“ „Vogelfrei?“ fragte ich; ich hatte dieses Wort noch nie gehört, und es gefiel mir – ein schönes Wort: frei wie ein Vogel … Ich mußte an den Adler denken und an seine ruhigen Kreise hoch droben. „Vogelfrei sein“, sagte der Vater, „heißt, daß mich jeder, wo er mich trifft, als Rebell niederschießen kann; daß ich kein Haus und Hof hab', kein Dach überm Kopf, keine Zuflucht im ganzen Tirol.“ „Vater“, rief ich, „bleibt hier! Auf der Hirschenalm findet Euch keiner.“ 104
Er schüttelte den Kopf. „Vater, ich weiß eine Felsspalte weiter droben – wer sich da drin versteckt, der ist sicher …“ Er schüttelte wiederum den Kopf, „'s ist beschlossen“, sagte er, „die andern gehn auch. Der Teimer, der Sieberer, der Aschbacher – und auch der Eisenstecken, der Adjutant vom Hofer …“ Ich fragte: „Und der Hofer selbst? Geht der auch?“ „Weiß nicht …“, antwortete der Vater kurz. Er stand auf. „Wann kommt Ihr wieder, Vater?“ Er schaute mich nicht an: „Ander, frag nicht so viel!“ Dann drückte er mich heftig an sich, drehte sich um und lief davon. In großen Sätzen jagte er den Berg hinunter. Mir war das Herz schwer. Ich schaute dem Vater nach, und das Weinen war mir näher als irgend sonst etwas auf der Welt. Mein Vater geht fort vom Tirol – das wollte mir nicht in den Kopf hinein …
Aber es ist dann anders gekommen; das hab' ich jedoch erst später erfahren. Nachdem der Vater von mir Abschied genommen hatte, ritt er nach Matrei jenseits vom Brenner. Dort hatten sich bereits die Kaiserlichen versammelt, um durchs Pustertal abzuziehen. Der Baron Hormayr war schon voraus; er wartete in Lienz, nicht weit von der Kärntner Grenze. Dorthin fuhr ihm der Andrä Hofer nach und bat ihn herzlich, er solle doch umkehren und Tirol nicht verlassen. Aber der Baron wollt' davon nichts hören, hat im Gegenteil dem Vater Anderl zugeredet, er sollt' mitkommen und lieber an seine eigene Rettung denken; der Kaiser Franz würd' ihm ein Landgut bei Wien schenken. „Laßt Euch den Bart scheren und kommt“, hat er gesagt, „nehmt Vernunft an, ehe es zu spät ist.“ – Der Vater Anderl hat ruhig geantwortet: „Den Bart laß ich nicht – und mein Tiroler Landl laß ich auch nicht!“ Darauf kehrte er dem Hormayr den Rücken und fuhr durchs Pustertal heim. 105
Unterwegs begegnete er den Kaiserlichen, die in langen Reihen abzogen. Zu beiden Seiten der Straßen standen Pustertaler Bauern und wollten sie nicht fortlassen. Der Andrä Hofer fuhr auf seinem Leiterwagen die Straße entlang und konnt's nicht glauben, was er sah. Da zogen die kaiserlichen Offiziere in Wagenkolonnen ab, und hinter den Offizieren die Tiroler Schützenhauptleute. Damit man sie nicht erkannte, hatten sie sich in die Uniformen eines Salzburger Jägerregiments verkleidet. Der Hofer freilich erkannte sie sofort, er hielt den Wagen an und ließ hoch aufgerichtet seine treulosen Gefährten an sich vorüberziehen, einen um den andern. Mein Vater war der letzte in der Reihe. Er hatte seinen Bauernrock anbehalten, die Maskerad' mit der Jägeruniform war ihm zuwider. „Solang ich auf Tiroler Boden bin“, hat er gesagt, „behalt' ich mein Bauerngewand. Hernach könnt ihr mit mir machen, was ihr wollt.“ Er saß auf dem Wagen, den Rücken in der Fahrtrichtung, als ob er nicht sehen wollt', wohin es ging. Sein Rößl trabte frei hinterdrein. Auf einmal stand da der Andrä Hofer am Weg. Wie er meinen Vater sah, schrie er plötzlich auf: „Sepp, willst auch du mich verlassen? Sie führen dich in die Schand'!“ Da sprang der Vater vom Wagen, faßte sein Rößl am Zügel und lief zum Hof er hin: „Ich geh' ja nicht“, rief er, „ich bleib' ja da.“ Darauf fuhren die beiden miteinander zurück. „Wenn schon der Kaiser nicht treu ist“, hat der Vater Anderl gesagt, „wir sind's! Und das Landl ist lang noch nicht zum Aufgeben.“
So recht verlassen und verloren hab' ich mich gefühlt, nachdem der Vater Abschied von mir genommen hatte. Ich wollt' nicht dran denken und mußt' es doch, und ich wußte nicht, wohin mit mir. In der Almhütte war mir's zu eng, drum machte ich's den Geißen nach und stieg in die Felsen hinauf. Beim Klettern kann man nichts andres denken als: jetzt dieser Tritt – jetzt dieser Griff, sonst liegt man drunten … Jeden Schritt mußte ich so genau überlegen, daß ich al106
les andere vergaß – auch das, woran ich nicht denken wollte und doch mußte. Von Tag zu Tag wagte ich mich höher und wurde immer dreister. Da kam ich einmal an eine Wand, die fast senkrecht in die Höh' stieg. Ich schaute hinauf und dachte: Das traust dich nicht! Unter mir geht's steil in die Tiefe – gute Nacht, wer da hinabstürzt! Und wenn du dich hernach doch traust – dann, dachte ich, wird alles gut ausgehn, nicht nur das Hinaufkommen, sondern auch das, woran ich nicht denken will! So bin ich denn losgeklettert von einem Felsvorsprung zum andern, hab' mich hochgestemmt und hinaufgezogen und hinübergeschwungen, bin zwischen Himmel und Abgrund gehangen – damit alles gut wird. Wie ich's dann erreicht hatt' und oben stand, verspürte ich eine unbändige Freude in mir, und aus lauter Übermut schleuderte ich einen Stein weit über die Felsen hin. Das hätt' ich nicht tun dürfen, denn wo er niederfiel, war ein Kar. Dort genügt oft der Flügelschlag eines Vogels, um den Steinschlag ins Rollen zu bringen. Die Wand, die ich hinaufgestiegen war, gehörte zu einem großen Gebirgsstock, der war zerklüftet und voll von Schluchten und Felszacken. Weiter drüben stieg das Kar steil an und ging in eine Halde über mit Steingeröll und felsigem Schutt und schmutzigweißen Flecken von altem Schnee. In diese Schutthalde war mein unglückseliger Stein gefallen, und kaum schlug er auf, da spürte ich ein Knistern, wie wenn Sand rieselte. Das war unheimlich. Es rieselte lauter, jetzt war's schon, als ob ein Bach rauschte. Dann sah ich plötzlich, daß droben auf der Schutthalde sich etwas bewegte, die Schneeflecken barsten auseinander, wie ein zackiger Blitz lief der dunkle Spalt drüber hin. Die Schutthalde wurde lebendig, rutschte und kam ins Fließen: ein knirschendes Geräusch war in der Luft, als ob tausend Steine gegeneinander mahlten; es krachte und polterte, immer rascher fuhr die Steinlawine hinab, wie ein wachsender Wildstrom, und was ihr in den Weg kam, das riß sie mit sich in die Tiefe. Felstrümmer und Eisstücke, Bäume und Erdklumpen wurden hochgeschleudert und wirbelten durch die dumpf dröhnende Luft; unter meinen Füßen zitterte der Berg, aber vielleicht 107
Tiroler Vorposten. Bild von Leopold Puelladier
war auch ich es, der zitterte, denn so eine Steinlawine hat etwas Höllisches – als ob die Erde sich auftut und alles begraben will. Nachdem es vorbei war, donnerte es in den Wänden noch eine Weile nach, dann wurd' es wieder still. Nur aus dem Abgrund rauchte noch lang eine Wolke von Sand und Staub herauf. In der Almhütte begrüßten sie mich wie einen, den man schon tot geglaubt hat. Der Resi standen die Tränen in den Augen. „Anderl, daß du nur wieder da bist“, sagte sie, und was für ein Gotteswunder es sei, daß es weder mich noch irgendeins von den Tieren mitgenommen hätt'. In der Zwischenzeit war der Aigner dagewesen und hatte Neuigkeiten gebracht – keine guten: eine Übermacht von Feinden, fünfzigtausend an der Zahl, war unterm Marschall Lefebvre wieder ins Land eingedrungen. „Seien Sie schrecklich!“ hatte Napoleon dem Marschall befohlen – und bei Gott: er war schrecklich! Von Salzburg her zog er der Hauptstadt zu; und wo er vorüberkam, brannte es, und wo es nicht brannte, da wurde geplündert. „In Tirol wird jeder Baum ein Galgen sein!“ – diesen Ausspruch soll der Marschall getan haben, und kaum war er wieder (nun schon zum zweitenmal) in Innsbruck, da ließ er im ganzen Land eine Kundmachung anschlagen, auf der zu lesen stand, was der Kaiser Napoleon von den Tirolern verlangte: bedingungslose Unterwerfung, Ablieferung der Waffen, Auslieferung der Kommandanten. Das alles berichtete mir der Martl, während wir beim Sonnenuntergang auf der Bank vor der Hütte saßen. „Sonst hat der Aigner nichts erzählt?“ fragte ich. „Nichts. Nur Schlimmes. Jetzt heißt's warten, bis er nächste Woche wiederkommt.“ Aber er kam nicht; eine Woche ging herum, eine zweite – die Resi wollt' schon den Toni hinunterschicken, um zu fragen, ob der Aigner am End' krank sei. Aber dann kam er doch und war gesund und frisch – und die Red' ging ihm vom Mund wie nie zuvor: „Ihr hier droben – ihr wißt ja nicht, was Großes im Land vorgeht. 110
Wir haben den Feind wieder zurückgeworfen, und er ist schon so gut wie besiegt!“ Wir schauten einander staunend an: es war, als ob einer ein Zaubermärchen erzählte. „Und ich hab' schon gemeint“, sagte die Resi, „die Unsrigen würden's nimmermehr wagen, weil sie so ganz verlassen sind …“ Der Aigner sah uns schlau an; seine Augen blitzten lustig: „Gar so verlassen, wie du meinst, sind wir nicht – unsre Verbündeten haben uns geholfen!“ Wir blickten ihm fragend ins Gesicht, keiner verstand, was er meinte. „Verbündete …?“ „Und was für welche! Mächtigere Verbündete als der Franzosenmarschall mit seinen Kanonen.“ „So red schon!“ forderte die Resi voll Ungeduld. „Die Berg'“, rief der Aigner und lachte laut heraus, „die Berg' und die Felsen haben uns geholfen!“ Und als wir noch immer nicht wußten, worauf er hinauswollte, setzte er sich gemächlich nieder, streckte die Beine von sich und berichtete der Reihe nach, wie alles gekommen war. „Der Marschall Lefebvre“, begann er, „ist ja nicht zum erstenmal bei uns als ungebetener Gast. Im Mai hat er's gelernt, daß in der Hofburg sitzen und katzbuckelnde Beamte um sich haben noch lang nicht die Herrschaft über Tirol bedeutet. Drum wollt' er's diesmal gründlicher angehn und das Land auch im Süden besetzen. Er hat ein Regiment Sachsen über den Brennerpaß geschickt, die am Eisackfluß entlang nach Süden marschieren und sich dort mit den Franzosen zusammentun sollten. Sind aber nicht weit gekommen – die Sachsen nicht und die Franzosen auch nicht, und vom Zusammentun ist keine Red' gewesen. Denn wie's geheißen hat, der Feind zieht über den Brenner, da ist alles aufgestanden und das Eisacktal hat sich mit Bauern gefüllt. Sind alle gekommen: der Andrä Hofer mit seinen Passeirern, unser Pater Joachim aus seinem Kloster, der Mahr-Wirt Peter Mayr von Brixen – und auch der Speckbacher, ohne den's nun einmal nicht geht …“ 111
Mir wurde heiß und kalt und schwarz und wieder licht, wie ich meines Vaters Namen hörte. „Was sagt Ihr da … Mein Vater ist ja mit den Kaiserlichen abgezogen und längst in Wien.“ Der Aigner lachte. „Da kennst deinen Vater schlecht. Der ist im Land – und gleich an drei Stellen zugleich, der Feuerteufel! Obwohl ihn doch im Eisacktal die Leut' nicht kennen, hat er sich dort bald Respekt verschafft. Auf seinen Befehl haben sie Verhaue errichtet, Baumstämme gefällt und quer über die Straße gelegt. Aber das war noch nicht alles. Weiter unten, wo das Tal sich zur Schlucht verengt und zu beiden Seiten die Felsen steil aufragen, wo die Straße am Berg entlang hoch über dem schäumenden Eisack dahinführt – dort hat der Speckbacher Steinwälle gebaut, künstliche Lawinen, versteht ihr?“ „Nein“, sagte ich, „das versteh' ich nicht; wie denn?“ Der Toni aber, der die ganze Zeit heiß hinhorchte und alles, was der Aigner erzählte, in sich hineinschlang, fuhr mich an: „Bist still – laß ihn doch erzählen! Weiter, Aigner, weiter …!“ „Wie hernach die Sachsen vom Brenner heranzogen, da fanden sie zuerst einmal die Straße versperrt. Mit vieler Müh' und Plag' räumten sie die Verhaue beiseite; es kostete sie manchen Soldaten, denn während sie die Verhaue niederrissen, waren sie unsern Schützen ein sicheres Ziel. Hernach zogen sie weiter und kamen in die Schlucht. Auf einmal ruft's hoch über ihnen im Fels: ‚Laßt's ab!‘ Und dann donnerte es aus der Höhe herunter, Fels und Baum und Stein – wie wenn der Berg selbst sich aufgemacht hätt', den Feind zu erschlagen.“ „Jesus!“ rief die Resi – und es war das erstemal, daß ich sie bleich werden sah –, „der Herr erbarme sich ihrer!“ „In Ewigkeit Amen“, sagte der Aigner, „denn an diesem Tag sind viele zur letzten Ruh' gegangen in der Eisackschlucht. Wer nicht zerschmettert unter den Steinen gelegen ist, der ist in den Eisack hinuntergewirbelt worden. Die Übriggebliebenen sind zurückgewichen und haben sich schließlich ergeben müssen.“ „Und der Marschall Lefebvre?“ fragte der Toni, „was hat der dazu gesagt?“ 112
„‚Denen im Eisacktal werd' ich's schon zeigen‘, hat er gesagt und sich mit siebentausend Mann und zehn Geschützen selbst auf den Weg gemacht. Aber gleich hinterm Brenner haben die Unsrigen ihn schon erwartet, und nicht e r hat's uns gezeigt, sondern wir ihm. Auf den Bergen hat es nur so von Tirolern gewimmelt; ihre Geschosse haben den Marschall begleitet, bis er an die Eisackschlucht gekommen ist. Dort hat auch er die Straße versperrt gefunden – mit Felsblöcken von so gewaltiger Größe, daß man sie hätt' sprengen müssen, um weiterzukommen. Seine Truppen haben sich gestaut, immer neue sind nachgerückt und haben nicht weiterkönnen, die Straße war verstopft von Mensch und Roß und Geschütz. Da ist von droben wieder der Ruf gekommen: ‚Laßt's ab!‘, und wieder ist der Tod zu Tal gefahren.“ Der Aigner hielt inne und schaute uns der Reihe nach triumphierend an: „So ist's dem Marschall Lefebvre um keinen Kreuzer besser ergangen als den Sachsen: er mußt' umkehren und in die Hauptstadt zurückmarschieren. Es war der einzige Weg, der ihm noch offenstand. Aber marschieren könnt' man's nicht nennen. Alle Ordnung war hin: Reiter ohne Pferde, Pferde ohne Reiter, Geschütze, die auf der Straße stehenbleiben mußten, weil weder Roß noch Mannschaft da waren – und Wagen um Wagen voll Verwundeten.“ „Und der Marschall?“ fragte der Toni wieder. „Der Marschall ist vom Pferd gestiegen, weil er in seiner weißen Uniform eine gar zu gute Zielscheibe war. In einen Dragonermantel gehüllt, ist er zwischen den Fuhrwerken versteckt zu Fuß nach Innsbruck zurückgekommen.“ „Und was wird jetzt? Soll er in Innsbruck bleiben? Werfen wir ihn nicht hinaus?“ Der Toni schaute den Aigner begierig an. „Freilich werfen wir ihn hinaus“, rief der Aigner. „Das ganze Land ist wieder auf. Der Vater Anderl ruft die Streiter zusammen und schickt seine Laufzettel überallhin. ‚Gott ist auf unserer Seite‘, heißt's darin, und es muß wohl wahr sein, wenn man bedenkt, daß dem Napoleon sonst keiner in der Welt zu trotzen wagt und es uns nun schon zum drittenmal gelingt. Am Dreizehnten wollen wir wieder am Bergisel angreifen. Hilf Gott, es ist zum letztenmal.“ 113
„Am Dreizehnten? Das ist übermorgen …“, sagte die Resi. Ich schaute zum Toni hin. Dem hing das schwarze Haar feucht in die Stirn, seine Augen glänzten. Ich wußt', was er dachte. Genau dasselbe wie ich. Am Abend lagen wir nebeneinander schlaflos im Heu. Endlich sagte der Toni halblaut: „Die Bleß hat was am hintern Fuß. Sie lahmt ein bißl, nicht arg. Es wär' gut, man zeigt's gleich morgen dem Martl …“ Mehr sagte er nicht, und wie ich am Morgen aufwachte, da war der Platz neben mir leer. Ich hatt's zwar nicht anders erwartet, aber es machte mich dennoch trotzig: warum er und nicht ich? Hab' ich nicht grad' so das Recht, zum Bergisel zu laufen und mitzukämpfen – ich, des Kommandanten Sohn? Die Resi hat lästerlich geschimpft: „Der Mistbub, der elendige, der Satanskerl! Nimmermehr unter die Augen soll er mir kommen!“ Der Martl versuchte, sie zu besänftigen, aber so eine wie die Resi läßt sich nichts nehmen, auch ihren Zorn nicht, Obzwar der Martl und ich ihr beim Melken fleißig halfen, wollt' sie sich den ganzen Morgen nicht beruhigen. Später führte ich dem Martl die lahme Bleß zu und ging dann meinem Tagwerk nach. Es war arg schwer für mich, weil ich nun über beide Herden wachen mußt', genaugenommen über drei: die Kühe, die Geißen und die Schafe. Als ich am späten Nachmittag zur Hütte zurückkehrte, war ich sterbensmüd. Da saß der Martl auf dem Hirschenstein mit der Pfeife im Mund und wartete auf mich. „Hock dich her, Ander, und verschnauf ein bißl“, sagte er. „Bist mit der Arbeit zurechtgekommen?“ Ich nickte und schaute verdrossen auf die Berge der Nordkette hinüber; aus dem Tal stiegen schon die blauen Abendschatten herauf und wanderten langsam höher, den sonnigen Gipfeln zu. „Morgen gibt's einen heißen Tag“, sagte der Martl. Meinte er das Wetter oder meinte er die Schlacht am Bergisel? Er zog an seiner Pfeife und hielt sie zwischen den Zähnen, während er fragte: „Bist dem Toni neidig, gelt?“ 114
„O nein …“ erwiderte ich ungewiß; aber das war eine Lüge, und der Martl sagte mir's auch auf den Kopf zu: „Freilich bist ihm neidig. Vergönnst's ihm nicht, daß er dabei ist, und du sollst das Vieh hüten.“ „Das ist nicht wahr“, rief ich, „ich vergönn's ihm wohl. Nur …“ „Nur, daß du halt auch gern dabei wärst!“ fuhr der Martl fort. „Und wer kümmert sich hernach um die Alm, wenn alle davonlaufen?“ Er schüttelte sacht den Kopf. „Bist doch ein dummer Bub, Ander! Der Toni, der weiß es nicht besser. Hat keinen Vater, der's ihm beibringen könnt', was Pflicht ist. Aber du hast einen – einen so braven obendrein, der dir's zeigt, auf was es ankommt. Nicht darauf, daß man allweil grad' dorthin läuft, wo der meiste Ruhm zu holen ist. Da, wo einer hingestellt ist, soll er seine Arbeit tun.“ Ich horchte dem Martl ehrerbietig zu, aber was er sagte, drang mir nicht recht zu Herzen. Drum erwiderte ich ihm auch ein wenig vorwitzig: „Es geht ja ums Tirol!“ Der Martl winkte ab. „Red nicht so große Wörter daher, Bub! Tirol – ja glaubst denn, das war' nur der Kampf am Bergisel? Tirol – das ist auch die Hirschenalm und die Herden, die zugrund' gehn, wenn keiner für sie sorgt.“ Ich schaute ihn zweifelnd an. Er lächelte, seine tausend Runzeln waren in Bewegung: „Jetzt denkst: der alte Martl hat gut reden, der hat's lang vergessen, was einem Buben wie mir durch den Kopf geht!“ Er stand schwerfällig auf. „Komm einmal mit“, sagte er, „ich hab' was für dich.“ Verwundert folgte ich ihm hinunter, bis dort, wo der Wald begann. Nicht in den Hohlweg, der weiter hinabführte, sondern oben am Rand ging der Martl und machte unter den Kiefern halt. Etliche starke Äste lagen dort auf dem Boden vorbereitet, daneben dünne Weidenruten. Der Martl hieß mich, die Äste in gleiche Länge schneiden. „Wozu das?“ fragte ich. „Wirst's gleich sehn“, sagte er, „mußt dir nur vorstellen, es wär'n keine Äste, sondern Baumstämme, und dein Messer wär' ein Beil. Und 115
dort unten“ – er zeigte in den Hohlweg hinunter –, „dort unten fließt der Eisack. Das ist dir ein schäumiges Bergwasser, wild und kristallklar schießt's daher, tobt übers Gestein und quirlt und kocht, daß einem angst werden könnt', war's nicht so schön dabei.“ Er nahm mir die Hölzer aus der Hand, stieß sie schräg in den steilen Hang und verband sie mit den dünnen Weidenruten. „Sollst's wissen, wie dein Vater und der Mahr-Wirt es dort oben gemacht haben mit den Steinlawinen“, sagte er dabei – und jetzt begriff ich, daß er mit mir eine künstliche Lawine bauen wollte, weil ich die Erzählung vom Aigner nicht verstanden hatte. Gleich war ich eifrig dabei. Wir rammten die Hölzer ein, daß sie wie bei einer Futterraufe nebeneinander herausragten. Die äußersten Enden der Hölzer verbanden wir durch Seile mit den Bäumen an unserm Standplatz. Dann hieß mich der Martl, diese ‚Futterraufe‘ mit Geröll und Felsenschutt füllen. Vorsichtig häuften wir Stein auf Stein; je größer die Last wurde, um so straffer spannten sich die Seile. Während wir noch Geröll und Steinbrocken zusammentrugen, sagte der Martl: „Jetzt mußt dir vorstellen, daß nicht du und ich diese Steine aufsammeln, sondern daß hunderte Männer mit Pickel und Krampen Felstrümmer aus dem Erdreich lockern und Riesensteine herbeiwälzen. Und jetzt …“ – der Martl legte sich ächzend auf den Boden, beugte sich über den Rand und äugte wachsam den Hohlweg hinab –, „jetzt warten wir, daß der Feind kommt!“ Der gute, alte Martl! Ich hatte gar nicht gewußt, daß er so gesprächig sein konnte und so wunderbar zu spielen verstand. Nicht nur die Eisackschlucht mit ihrem zerklüfteten Felsenufer hat er mir vor die Augen gezaubert, er hat auch die Franzosen heranreiten lassen, wiehernde Pferde mit blauen Dragonern darauf, Marschtruppen und rollende Geschütze, die ihnen folgten … „Sie kommen!“ rief er. „Laß ab!“ Er raffte sich auf, gleichzeitig durchschnitten wir die Seile. (Am Eisack hieben die Männer die Seile mit dem Beil durch.) Unsere Lawine polterte hinunter, und so klein sie war, ich mußte doch an die Lawine denken, die damals, von meinem Steinwurf ausgelöst, dröhnend zu Tal fuhr. Der Hohlweg war verschüttet, ein Wirrwarr von Ästen, Erd116
reich und Geröll lag unten. Auf dem Heimweg sagte der Martl zu mir: „Wenn die Menschen nicht ausreichen, müssen die Berge helfen. Das haben schon unsere Vorväter gewußt.“ Es war schon dunkel, als wir in die Hütte kamen, das Nachtmahl stand bereit und die Resi empfing uns mit zornigen Worten: auf die Mannspersonen sei heut' schon gar kein Verlaß mehr, auf die Alten grad' so wenig wie auf die Jungen. Der Martl zwinkerte mir zu, ich sollt' fein still sein, nicht dawiderreden und nichts verraten, weil die Resi unser Spiel im Hohlweg gewiß nicht gutgeheißen hätt'. Am nächsten Tag, am dreizehnten August, hörten wir schon vor neun Uhr in der Früh den Kampflärm vom Bergisel her, und zwar so laut, daß selbst die Resi ihre Arbeit unterbrach und sich bekreuzigte; an ihren Lippen konnt' ich's sehen, daß sie betete, den Unsrigen zu Hilf.
Wie's ausgegangen ist, haben wir erst drei Tage später erfahren, als der Toni zurückkam. Kaum war er in die Hütte getreten, wollt' die Resi gleich auf ihn losfahren. Da sah sie auf seiner Jacke einen rostroten Fleck, grad' an der Schulter. „Toni!“ schrie sie, „dich hat's getroffen.“ Sie zog ihm die Jacke aus, nicht etwa derb, wie's sonst ihre Art war, sondern sanft und behutsam. Und wie sehr der Toni auch beteuerte, daß es nur ein leichter Streifschuß sei und ihm gar nichts weh tue – auf der Hirschenalm wurde er wie ein Held behandelt und gepflegt und gehätschelt. Der Martl legte ihm seine Kräuter auf die Wunde, die Resi kochte ihm einen frischen Sterz mit einem großen Stück Butterschmalz drin, und vom Schimpfen und ‚nimmermehr unter die Augen kommen‘ war gar keine Red' mehr. Dann sollte der Toni uns berichten, aber es war nichts Gescheites aus ihm herauszubekommen. Nur grad', daß es schwere Kämpfe gegeben hatte, schwerere noch als die im April und Mai, daß diesmal alle – wirklich das ganze Tirol (auch die Oberinntaler) – mitgestritten hatten, daß der Lefebvre bereits abgezogen und durchs untere Inntal 117
hinaus sei, daß der Andrä Hofer seinen Wohnsitz jetzt in Innsbruck habe und in der Hofburg regiere, weil ihn das Tiroler Volk so herzlich drum gebeten hatte. Und daß der Hofer die Schützen und Streiter nach Haus geschickt habe, sofern sie nicht den abziehenden Feind verfolgen; daß auch der Toni deshalb heimgekehrt sei, weil er gedacht hätt', beim Melken sei er schwerer zu entbehren als beim Feindverfolgen. Daß der Toni vom Vater keine Nachricht wußt' – das machte meine Sehnsucht plötzlich unwiderstehlich. Ich wollt' nur abwarten, bis er mit seiner wunden Schulter die Arbeit tun konnte, und wie er nach etlichen Tagen seine Kühe melken ging und ich ihn fragte: „Tut's dir auch gewiß nicht mehr weh?“ und er „Nein, gewiß nicht“ antwortete, da beschloß ich, daß ich nun genug von der Hirschenalm hätt'. Es war ein regnerischer Tag, meine Geißen und Schafe fand ich nicht weit voneinander grasen. Ich trieb sie tiefer hinunter, wo's für den Toni nicht schwer war, sie im Aug' zu behalten. Dann ging ich zu ihm: „Toni, ich geh'. Gibst halt auf die Geißen mit acht, so wie ich auf deine Küh'.“ „Kannst nicht die kurze Zeit noch warten? Wir treiben ja so das Vieh bald hinunter.“ „Ich kann nicht. Ich will zum Vater.“ Am Nachmittag hab' ich mich dann davongemacht. Der Resi wollt' ich lieber nicht Lebewohl sagen. Sie würd' mich verwünschen, womöglich noch ärger als den Toni, weil ich ja ordentlicher Eltern Kind war und nicht so ein vaterloser Bub, dem keiner sagte, was Pflicht ist. Doch daß ich vom alten Martl nicht Abschied nehmen sollt', das ist mir schwer angekommen. Wie ich aber durch den Hohlweg ging im sprühenden Regen, da stand er plötzlich dort und schaute mir entgegen. Woher wußte er, daß ich fortwollt' und daß ich grad' jetzt, zu dieser Stunde, hier vorbeikam? „So behüt' dich Gott, Ander“, sagte er und gab mir die Hand. „Seid Ihr mir bös, Martl? Ich hab' gemeint, weil doch jetzt der Toni wieder da ist …“ Er antwortete freundlich: „Schon recht. Der Toni hat seins gehabt, 118
jetzt bist du an der Reih'. Lauf, Bub, daß du drunten bist, eh' es Nacht wird.“ So lief ich denn – durch den rauschenden Regen immer weiter, bis ich dann endlich auf die Landstraße kam.
Wohin genau ich wollt', ich hätt's nicht sagen können. Zum Vater halt; aber wo der war, daß wußt' ich nicht. In Innsbruck vielleicht, beim Andrä Hofer? Jedenfalls beschloß ich, ihn dort zu suchen. Ich war nicht müde, sondern hellwach und voller Unternehmungsgeist. Jetzt würd' ich wieder dabeisein, mittendrin, und nicht mehr drauf lauern müssen, daß der Talbote gnädig mir was von drunten erzählte. Am liebsten wär' ich immer weitergelaufen, um noch vor Sonnenaufgang in Innsbruck zu sein. Aber ich kannte dort niemanden, zu dem ich hätt' gehen können, und weil ich mir dachte, daß ein elfjähriger Bub, der sich bei Nacht in den Gassen herumdrückt, gewiß den Verdacht der Stadtwache erwecken müßt', hielt ich's für gescheiter, in einen Heustadl zu kriechen und dort zu schlafen. Das Heu war warm und duftete stark; meine feuchten Kleider trockneten, ich fühlte mich frei und zufrieden und schlief bald ein. Zeitig in der Früh war ich wieder auf; über Wiesen und Bergen lag schleiernder Dunst und verging erst später, als es wärmer wurde. Zu beiden Seiten dehnten sich abgemähte Felder, und der Morgen hatte schon einen Hauch von Herbsteskühle in sich. Nach der Regennacht schmeckte die Luft frisch, aber im Wald roch es ein wenig dumpf und bitter – wie es halt riecht, wenn der Sommer geht und die Blätter welken. Endlich tauchten die Türme von Innsbruck auf – ich ging rascher und konnt' es kaum erwarten, dort zu sein. Die letzten Felder am Stadtrand – die ersten Häuser der Vorstadt. Da hörte ich plötzlich Geschrei, und wie ich voll Neugier hinlief, geriet ich mitten in eine Bubenbande hinein. Sie spielten ‚Freiheitskampf‘; einer war der Andrä Hofer, hatte einen schwarzen Bart umgehängt, der ihm bis auf die Brust reichte, und ein andrer, mit einem Helm auf dem Kopf, war der Lefebvre. Die 119
Buben hatten sich in zwei Parteien geteilt: die einen folgten dem ‚Hofer‘ und spielten die Tiroler, die andern unter dem ‚Lefebvre‘ spielten die ‚Bayern‘ und ‚Franzosen‘. Alle waren bewaffnet, trugen Stöcke und wie Säbel zugespitzte Hölzer; daß sie auch ‚Munition‘ hatten, ganze Taschen voll, merkte ich erst später, als die Schlacht begonnen hatte und ein Bub neben mir aus seinem Hosensack Stein um Stein herausholte und auf die ‚Franzosen‘ hinüberschoß. Nach der langen braven Zeit auf der Alm war das so recht etwas nach meinem Sinn. An der Seite der ‚Tiroler‘ stürmte ich gegen den Feind, warf einen ‚Franzosen‘ nieder und kniete auf seiner Brust. „Bauer, Pardon!“ rief er laut, grad' wie es die wirklichen Franzosen getan hatten. Ich nahm ihm seinen Prügelstecken fort, leerte die Steine aus seinen Taschen und ließ ihn laufen. Jetzt war ich bewaffnet – aber das mit den Steinen wollt' mir nicht so recht gefallen. Es dauerte auch nicht lange, da gab's die ersten Verwundeten; keine Spott-Verwundeten, sondern echte Wunden mit Blut und Schmerzen. Zwar kamen sogleich etliche ‚Feldsanitäter‘ mit weißen Binden gelaufen und führten die Verletzten aus dem Gefecht, banden ihnen gar weißes Linnenzeug um – aber mir war die Lust vergangen. Daß man sich aus reinem Übermut Wunden schlug, dafür war ich nicht zu haben. Drum sagte ich zum ‚Hofer‘ mit dem Umhängebart, daß ich nicht mehr mittu', und ging weiter der Stadt zu. Die Bubenbande war unterdessen in die Hunderte gewachsen, denn sowohl der ‚Hofer‘ als auch der ‚Lefebvre‘ schickten ständig Kuriere um Nachschub in die umliegenden Dörfer. Später (das hab' ich dann in Innsbruck erfahren) sind die Buben ganz aus dem Häusl geraten: sie versuchten, ein Bauernhaus zu plündern, und wollten gar Feuer an einen Heuschupfen legen. So toll haben sie's getrieben, daß der richtige Andrä Hofer in der Hofburg mit der Faust auf den Tisch haute: „Die Sakra-Buam! Der Freiheitskampf ist kein Kinderspiel!“ Darauf hat er berittene Wachen hinausgeschickt, um die wilde Horde wieder zur Vernunft zu bringen. So bin ich denn endlich nach Innsbruck gekommen und stracks zur Hofburg gegangen. Vor dem Eingang standen Wachtposten: Passeirer Schützen in ihrer schmucken Tracht, mit den breiten schwarzen Hüten 120
auf dem Kopf. Nicht etwa, daß sie strammstanden. Sie lehnten gemütlich an den Torpfosten, plauderten miteinander und scherzten mit den Ein- und Ausgehenden. Für den Fall, daß sie müde wurden, hatten sie hölzerne Schemel neben sich; und wirklich: es dauerte nicht lang, und einer setzte sich behaglich nieder, hielt den Stutzen zwischen den Knien und plauderte weiter. Es war viel Volk, das zum Vater Anderl in die Burg hineinging: Stadtleute, Landleute und Herrenleute durcheinander. Auch Geistliche kamen, einige Kapuziner darunter. Ich dachte: ‚Wenn einer von ihnen einen roten Bart hat, dann ist es der Pater Joachim Haspinger; den könnt' ich fragen, wo der Vater ist, er wird's wohl wissen.‘ Aber sosehr ich auch schaute – ein Rotbart war nicht dabei. Während ich so stand und überlegte, ob ich mich nicht selbst in die Burg hineinwagen sollt', sagte einer neben mir: „Willst vielleicht den Sandwirt sehn? Dort, wo die Fenster offen sind, ist er drin.“ Es war ein Bäckerbub, nicht viel größer als ich, aber keck und selbstgewiß, wie die Buben in der Stadt halt sind. Recht von oben herab setzte er hinzu: „Gar so neugierig brauchst auf ihn nicht sein! 's ist ein Bauer wie jeder andere, nur hat er einen schwarzen Bart.“ Das erboste mich. „Ich kenn' ihn“, sagte ich aufgebracht, „er ist gar nicht wie jeder andere!“ Der Bäckerbub stellte seinen Korb mit frischen Wecken neben sich. Sie dufteten gut, und mein Hunger regte sich. „Du kennst ihn?“ fragte er und schaute mich feindselig an. „Das glaub' ich dir nicht!“ „Dann laß es bleiben!“ sagte ich. In diesem Augenblick kam droben der Vater Anderl ans Fenster. Er war in Hemdärmeln und fuhr sich mit dem Sacktuch über das rotwangige Gesicht; es war ein heißer Tag. – „Da ist er ja!“ fuhr es mir in meiner Freude heraus. „Das kannst jetzt leicht sagen“, höhnte der Bäckerbub. „Als ob nicht jeder den Sandwirt erkennen würd', wenn er da droben steht.“ Er nahm seinen Korb auf, ein Wecken rutschte heraus und fiel zu Boden. Ich bückte mich rasch: „Magst mir ein Stück davon geben? Ich hab' seit gestern nichts gegessen.“ 121
Er riß mir den Wecken fort und rief boshaft: „Laß dich doch vom Hof er einladen, wenn du ihn so gut kennst! Drüben aus der Hofgasse läßt er sich sein Essen kommen, vom Gasthof ‚Zur Krippe‘. Frag nur die Moll-Wirtin!“ Er lief mit seinem Korb davon, ich schaute ihm wütend nach. Als ich dann wieder zum Fenster aufblickte, war der Vater Anderl nicht mehr da. Vor dem Tor fuhr grad' eine Kutsche mit vier Pferden vor, ein feiner Herr stieg aus, zeigte der Wache einen Brief und ging in die Hofburg hinein. Das brachte mir so recht vor Augen, was für eine hohe Person der Vater Anderl jetzt war – fast so hoch wie der Kaiser. Mit meinem Mut, in die Burg zu gehen und einfach vor ihn hinzutreten, war's vorbei. Ohne zu wissen, was jetzt geschehen sollt', wanderte ich weiter, ziellos und ein wenig niedergeschlagen nach all den großen Erwartungen. Dabei studierte ich aus purem Zeitvertreib die Straßenschilder: ‚Hofgasse‘ stand da geschrieben. Hier müßt' also der Gasthof sein, von dem der Bäckerbub gesprochen hatte. Und richtig, dort hing ein Schild: ‚Gasthof zur Krippe‘. Durch das offene Haustor drang der Duft von Fleisch und Kraut, und weil es nun schon auf Mittag ging, meldete sich mein Magen mit lautem Knurren. Zwischen Haustor und Hof, im geräumig-kühlen Durchgang, stand ein Handwagen. Als ich weiterging, wurde der Duft stärker. Drei steinerne Stufen führten zur Küche hinauf, dort wurde gekocht und gebraten. Wegen der Hitze stand die Tür offen, ich sah den breiten Herd mit Töpfen und Pfannen, aus denen der gute Duft aufstieg. Zwei Mägde hantierten herum, hatten glühendheiße Wangen und gehorchten den Befehlen einer kleinen rundlichen Frau – es mußte die Moll-Wirtin sein. Daß sie keine Städterin war, sah man gleich: sie hatte ein bäuerliches Gewand an mit weiten, weißen Ärmeln, wie meine Mutter es am Sonntag trug. Alles an ihr war flink und bestimmt: wie sie die Töpfe rückte, den Löffel eintauchte und kostete und den Mägden sagte, was fehlte; auch wie ihr hurtiger Blick mich musterte, während ich bescheiden im Hof stand. „Willst was, Bübl?“ rief sie und kam mit schnellen Schritten die drei Stufen zu mir herunter. Da ich verlegen den Kopf senkte, hob sie mein Kinn empor und sagte: 122
„Schaust einem ähnlich, weiß aber nicht, wem. Hast vielleicht Hunger?“ „Ja, bitt' schön“, sagte ich, „es muß aber nichts aus den Töpfen sein, ein Stück Brot tut es auch. Ja – und Geld hab' ich auch keins.“ Sie lachte, ihre Stimme war trocken und hell: „Freilich nicht. Sonst wärst ja wohl von vorn zur ‚Krippe‘ gekommen und nicht von hinten!“ Darauf nahm sie mich in die Küche, stellte einen Teller mit Speckknödeln und Kraut vor mich hin und sagte: „Iß und laß es dir schmekken! Der Sandwirt selbst kriegt nichts Besseres zu Mittag.“ „Bringt Ihr's ihm hin?“ fragte ich eifrig. „Könnt Ihr nicht einen Buben brauchen, der Euch dabei hilft?“ Die Moll-Wirtin stand schon wieder bei ihren Töpfen: „Einen Helfer brauch' ich nicht, aber wenn's dir drum geht, dich für das Essen nützlich zu machen – im Hof liegt Feuerholz, das wär' zu spalten …“ Ich kaute und nickte stumm. „Oder“, fuhr sie fort und sah mich prüfend an, „oder ist's dir um den Sandwirt zu tun? Ich kann dir viel von ihm erzählen, aber nicht jetzt zur Mittagszeit.“ Der Handwagen wurde mit Essen beladen, eine der Mägde und die Frau Mollin selbst fuhren ihn zur Hofburg hin. Als sie nach einiger Zeit wiederkamen, hatte ich einen ganzen Stoß Scheiter säuberlich im Hof aufgeschichtet. Die Frau Mollin war mit mir zufrieden; sie führte mich in die Gaststube, und wir setzten uns an einen Tisch. Das Zimmer war jetzt am Nachmittag fast leer, eine Magd putzte am Schanktisch die Gläser und achtete nicht auf uns. „Alsdann, Bübl – was willst denn wissen vom Sandwirt? Kannst mich ruhig fragen, ich geh' dort ein und aus.“ Etwas hielt mich zurück, gradwegs heraus nach meinem Vater zu fragen. Drum sagte ich ungewiß: „Halt wie's ausschaut, wenn er regiert …“ Mit der Moll-Wirtin ging eine Veränderung vor sich; sie legte ihre flinken Hände auf den Tisch und faltete sie, als ob sie beten wollt'. Auch den Kopf hielt sie nicht mehr gar so straff und aufrecht, sondern ließ ein wenig die Schultern sinken, und während sie sprach, wa123
ren ihre Augen andächtig, als würd' sie eine Legende erzählen von Engeln und Heiligen. „Der Andrä Hofer – den hat der Herrgott sich selbst zur Freud' erschaffen! Fromm und brav und bescheiden ist er – und wer da geglaubt hat, es würd' ihm zu Kopf steigen, daß er Oberkommandant vom Land Tirol geworden ist, der hat sich geirrt. Nichts von Hoffart und vom Herrenspielen. Schlag fünf am Morgen steht er auf, fängt mit einem Gebet sein Tagwerk an und schließt es am Abend mit einem Gebet. Mich wundert's nicht, daß der Herrgott ihm sein hohes Amt gegeben hat.“ Sie hielt inne, und fast hätt' ich ‚Amen‘ gesagt, so feierlich hatte sie geredet. „Ja, alsdann“, fuhr sie fort, „wie's ausschaut, wenn er regiert, willst wissen? Nicht viel anders als im Wirtshaus am Sand im Passeier. Rund um den Tisch sitzen sie im kleinen Saal, er und seine Ratgeber …“ „Wer zum Beispiel …?“ fragte ich dazwischen, gespannt, ob ich meines Vaters Namen hören würde. Aber die Mollin war am Zug und ließ sich nicht stören: „Von all den vielen Sälen und Gemächern in der großen Hofburg benutzt er nur einen einzigen kleinen Saal, weil er ein guter Wirt ist und nichts verschwendet. Gewisse Stadtleut' haben sich über seine Sparsamkeit lustig gemacht, auch darüber, daß er so streng auf Zucht und Sitten hält. Vor einigen Tagen wollt' eine feine Dame bei ihm vorstellig werden, so eine mit nackten Schultern, wie's jetzt die Mode ist. Da hat er sie gefragt, ob sie sich nicht schämt, und sie kurzerhand fortgeschickt.“ Die Frau Mollin machte eine Pause, als ob sie erwartete, daß ich beifällig zustimmen sollt'; aber mich interessierten die feinen Damen nicht. Ich wollte etwas anderes wissen, und so brachte ich die MollWirtin wieder auf die Ratgeber zurück. „Und dort sitzen sie also im kleinen Saal um den Tisch …?“ „Ja. In ihren Jankern oder gar in Hemdsärmeln, mit der Pfeife im Mund. Der Tisch liegt voller Schriftstücke, die werden mittags beiseit' geschoben, denn am selben Tisch, wo regiert wird, da wird auch gegessen. Und nach Feierabend sitzen sie immer noch am selben Tisch und 124
spielen Karten; oder sie singen und erzählen sich Gespenstergeschichten. Ab und zu trinken sie ein Glas Wein aus dem Faßl, das in der Ecke steht. Und was das Essen angeht – könnt' er sich nicht einen Koch nehmen, der ihm in der Hofküche die feinste Herrenkost bereitet, gefüllten Kapaun und Pasteten?“ Die Moll-Wirtin schaute mich herausfordernd an. „Sicher könnt' er das …“, sagte ich und gab schon die Hoffnung auf, jemals von ihr zu erfahren, ob mein Vater in der Hofburg war'. „Er nimmt sich aber keinen Koch!“ sagte sie triumphierend. „Er läßt sich sein Essen aus der ‚Krippe‘ holen, Knödl und Kraut, wie er's gewohnt ist, und keinen Kapaun.“ Dann erzählte sie, wie den ganzen Tag die Leute zum Vater Anderl strömten. Die Bauern dürften sofort zu ihm herein, aber die Bürger und hohen Herren müßten sich anmelden und warten und könnten von Glück sagen, wenn sie nicht länger als drei Stunden im Vorzimmer sitzen müßten. Da sollt' der Sandwirt dann Rat wissen und Recht sprechen und dafür sorgen, daß Ordnung sei im Land, und ob ich mir wohl vorstellen könnt', wie schwer das wär', jetzt mitten im Krieg, der viele Menschen ins Elend gebracht hätt' und morgen wieder losbrechen könnt'. „Oder hast gemeint“, fragte die Moll-Wirtin und warf mir wieder ihren flinken Blick zu, „das Regieren sei eine leichte Sach'?“ „Nein“, sagte ich. „Aber er regiert ja nicht allein, Ihr habt doch gesagt, daß er Ratgeber um sich hat an seinem Tisch. Wer sind denn die?“ Sie nannte einige Namen. Mein Vater war nicht dabei. „Sind denn die anderen Kommandanten nicht bei ihm?“ fragte ich. „Der Speckbacher zum Beispiel?“ „Der Speckbacher ist weit von hier. In Sankt Johann oder irgendwo an der Salzburger Grenze. Dort hat der Sandwirt ihn hingeschickt, ihn und den Haspinger, damit sie die Paßübergänge bewachen. Er hat nicht gern gehen wollen, der Speckbacher, aber der Hofer hat gesagt: ‚Sepp, wenn ich der Oberkommandant bin, so bist du der Verteidigungsrat, auf wen könnt' ich mich verlassen wie auf dich?‘ So ist er ge125
gangen – denn du mußt wissen, Bübl, der Speckbacher ist der Tapferste von allen; man braucht ihn nur anschauen …“ Die Frau Mollin brach mitten im Wort ab, beugte sich nach vorn und starrte mich so überrascht an, als sah' sie mich eben zum erstenmal. „Ja, freilich!“ rief sie. „Jetzt weiß ich, wem du ähnlich siehst – dem Speckbacher!“ Ich wurde über und über rot. Die Wirtin packte mich am Arm: „Bist am End' gar sein Bub? Der, von dem sie erzählen, daß er seinem Vater zwischen die Füß' gelaufen ist mitten im Kampf, und der dann Feindkugeln am Wald ausgegraben hat, sein ganzes Hütl voll?“ Erst später fiel mir ein: ich hätt' vielleicht stolz drauf sein können, daß sie sich in Innsbruck solche Geschichten über mich erzählen. Im Augenblick aber war ich gar nicht stolz, sondern nur verlegen. Ganz begossen saß ich da, während die Moll-Wirtin einen Schwall von Vorwürfen auf mich niederfahren ließ: daß ich ein Herumtreiber sei und Gott weiß was, ob meine arme Mutter nicht schon genug Sorge hätt' um den Vater, der immer an den gefährlichsten Platz im Landl gestellt würd', von wo man leicht nicht wiederkommen könnt', und ob ich mich nicht schämte … Eine ganze Predigt hielt sie mir, viel ärger als der Martl, und schließlich hat sie zur Predigt noch eine Drohung hinzugefügt: wenn ich allein den Weg nach Haus nicht finden wollt', dann würde s i e dafür sorgen; unter ihren Gästen seien genug Bauern aus unserer Gegend, denen würd' sie mich mitgeben, damit sie mich bei meiner Mutter abliefern. Es war also Zeit, daß ich mich davonmachte. Als am späten Nachmittag – es ging schon auf den Abend zu – immer mehr Gäste erschienen, schlüpfte ich durch die Hintertür in den Hof und von dort auf die Gasse; eine Weile noch drückte ich mich in der Nähe der Hofburg herum. Es dunkelte, und die Luft war warm. Droben standen noch immer die Fenster offen und Lichter brannten im kleinen Saal. Plötzlich begannen sie drinnen zu singen. Es war ein altes Bauernlied: „Die liebe Feierstunde schlägt“; ich kannte es von daheim. Einer machte den Vorsänger, ich glaube, daß es der Vater Anderl war. Seine Stimme klang tief und stark und ruhig. 126
Jetzt waren sie schon bei der dritten Strophe: Was doch der Arme leiden muß von Leuten, die nichts tun und sich im größten Überfluß wohl gar noch müde ruhn. Es dauert ja nur kurze Zeit wohl alles auf der Welt, bis da, wo zu der Ewigkeit die Feierstunde schellt. Dann sind wir alle wieder gleich, das Tagewerk ist aus, und jeder kehret, arm und reich, mit seinem Lohn nach Haus. – Das Lied ging mir lange nach, während ich am dunklen Inn entlang aus der Stadt hinauswanderte. Wohin? Die Moll-Wirtin hatte gesagt, mein Vater sei in Sankt Johann. Das war ein weiter Weg, aber ich würde mich schon durchschlagen. Zwei Stunden später kam ich bereits nach Hall. Obzwar der warme Abend in eine kühle Nacht umgeschlagen war, brannten mir die Wangen und mein Herz klopfte laut; drüben, jenseits der Brücke, den Berg hinauf, lag unser Hof. Noch eine Stunde – und ich hätt' daheim sein können bei der Mutter, bei den Schwestern und dem Seppl, bei der Burgl und beim Kuhn. Bei allen – nur nicht beim Vater. Zum Vater aber wollt' ich, deshalb trieb's mich weiter; vorsichtig schlich ich an den dunklen Häusern entlang, damit mich keiner von Onkel Straubs Bürgerwache erwischte, die mit hallenden Tritten durch die stille Stadt patrouillierte. Mich zog es mächtig zur Fassergasse hin, dort wohnte der Peter Steixner, den ich so lang nicht mehr gesehen hatte. Ob er noch wach war? Er würd' mich gewiß bei sich schlafen lassen und mich verstecken bis morgen früh. Aber in Hall kannten 127
mich zu viele; drum war es gescheiter, so rasch wie möglich von hier fortzukommen. Ich wanderte die endlose Straße entlang. Es mußte schon spät sein; die Dörfer lagen dunkel da und rührten sich nicht. Schließlich war ich so müd, daß meine Füße nicht mehr weiter wollten. Von der Straße kroch ich in den Wald hinein, um mir einen Schlafplatz zu suchen. Aber es war dort nicht so gut wie die Nacht zuvor im Heu. Der Herbstwind sauste durch die Bäume, es knarrte und ächzte rundum, und das Moos war feucht vom Nachttau. Mitten im Schlaf schreckte mich ein wildernder Hund auf, größer als unser Kuhn; er stieß mich mit der Schnauze an und sprang dann fort. In der Finsternis hielt ich ihn zuerst für einen Wolf und kletterte flugs auf einen Baum hinauf, obzwar ich doch wußte, daß es im Inntal schon lange keine Wölfe mehr gab. Dort oben blieb ich hocken und kämpfte gegen den Schlaf, aus Furcht, hinunterzufallen. In den Morgenstunden wurde es kalt, ich fror, meine Zähne schlugen aufeinander und meine Glieder waren steif. Als ich vor Sonnenaufgang endlich wieder vom Baum herabstieg, war ich so ungelenk, daß ich meine Jacke zerriß. Darauf trottete ich weiter, hungrig, müd, zerfetzt wie ein Landstreicher. Von Gnadenwald her hörte ich die Glocken zur Frühmesse läuten … Ich fühlte mich arg zerschlagen, das Vagabundenleben machte mir heut' schon viel weniger Spaß als gestern. Von allem Argen war der Hunger das Ärgste. Es gab nur zwei Möglichkeiten: stehlen oder betteln. Ich brauchte einige Zeit, bis ich dahinterkam, daß Betteln noch schwerer ist als Stehlen – für mich wenigstens. Immer wieder versucht' ich's – aber ich bracht' es einfach nicht über mich, an Türen zu klopfen und mit ausgestreckter Hand um Almosen zu bitten. Höchstens, daß ich mich stumm an ein Stalltor stellte, wenn die Bäuerin grad' beim Melken war. Einige waren freundlich, gaben mir Milch und holten auch ein Stück Brot aus dem Haus. Andere jagten mich fort und schimpften hinter mir her. „Bettelbub!“ riefen sie mir nach – und das war eine Demütigung, die ich nicht vertragen konnt'. Auf der Landstraße begegnete ich von Zeit zu Zeit einer Schützen128
kompanie. Der Andrä Hofer hatte aus zweierlei Gründen befohlen, daß die Landesverteidiger regelmäßig zum Schützendienst einberufen wurden: erstens, damit sie in Übung blieben, denn niemand wußte, wann der Krieg wieder anging, und zweitens, um die Bewachung an den Grenzen zu verstärken. „Tirol ist eine Festung“, hatte er gesagt, „die Alpenpässe sind die Tore dazu. Und welcher Kommandant würde seine Festungstore nicht streng bewachen?“ Nicht weit vom Dorf Kirchbichl war's, daß eine solche Schützenkompanie mich im Schlaf aufgriff und mitnahm. Jemand stieß mich mit der Stiefelspitze. „He, Bub, was ist mit dir?“ Schlaftrunken fuhr ich hoch und sah eine Menge Schützen um mich stehen. Mein erster Gedanke war, davonzulaufen; aber sie trugen eine Unterinntaler Schützentracht, das mutete mich heimatlich an. „Wo bist denn her, Bub?“ fragte der eine, der mich gestoßen hatte. „Hast denn kein Zuhause, daß du dich auf der Landstraße herumtreibst?“ Er war ein gewaltig großer und schwerer Mann, ein Waffenschmied, wie ich bald erfuhr. Seine Stimme war heiser, aber unter den finsteren Brauen hatte er freundliche Augen, so blau wie die vom Martl. „Am End' ist er von Schwaz“, sagte ein anderer. „Dort gibt's jetzt viele Waisenkinder, die nicht wissen, wohin.“ Ich starrte die Männer schweigend an, und der Schmied fragte: „Bist denn stumm, Bub, kannst keine Antwort geben?“ „Nicht stumm – verstockt!“ sagte ein dritter, ein großer, Hagerer mit knochigem Gesicht. „Laß ihn laufen, den Lumpenbuben! Horch auf mich, Eller-Schmied, setz dir keine Laus ins Gewand!“ Der Eller-Schmied legte mir seine riesigen Tatzen auf die Schultern und schaute mich durchdringend an. „Das ist kein Lumpenbub“, sagte er, „ich schwör' darauf. Hab' selbst genug Buben großgezogen und kenn' mich aus. Mir drückt's das Herz ab, daß da so ein elternloses Bürschl herumläuft wie ein Hund, den keiner will. Ich nehm' ihn mit – vielleicht kann ich ihn als Büchsenspanner abrichten.“ Der Hagere, der von der Laus gesprochen hatte, sagte hämisch: „Unser Kommandant wird sich bedanken, wenn du ihm so ein verlottertes Bürschl bringst!“ 129
„Unser Kommandant“, fiel ihm der Eller-Schmied ins Wort, „hat selbst ein halbes Dutzend Kinder daheim in Rinn. Sein großer Bub mag grad' so alt sein wie der hier …“ Aus war's mit der Stummheit; ich platzt' heraus: „In Rinn? Meint Ihr den Speckbacher?“ „Schau her – er spricht! Ja, den Speckbacher! Das ist unser Kommandant, und übermorgen sind wir bei ihm in Sankt Johann.“ „Dann nehmt mich mit“, bat ich, „der Speckbacher ist mein Vater.“ Sie glaubten mir erst nicht; besonders der Hagere erklärte, ich sei ein Lügner und man solle lieber Weidenruten am Waldrand schneiden, um mich ordentlich durchzuhauen. Der Eller-Schmied aber stellte bedächtig Frage um Frage, wandte dabei keinen Blick von mir und sagte dann laut: „'s ist schon recht mit dem Buben! Bleibst bei mir, Anderl, ich bring' dich zum Vater.“ So bin ich also mitmarschiert, und weil der Eller-Schmied erklärt hat, ein Kommandantensohn dürft' nicht wie ein Landstreicher ausschauen, haben die Schützen mir unterwegs eine neue Jacke gekauft, ein neues Hütl mit einer Feder dran und sogar Schuhe – bis ich wie ein richtiger Landesverteidiger angezogen war. Zum Schluß haben sie mir gar einen Stutzen umgehängt, aber es war eine schlechte, alte Büchse, ich hab' es gleich gesehen und wollt' nur nichts sagen, um die Schützen nicht zu kränken. Die haben eine Freud' an meiner Schützentracht gehabt, fast mehr als ich, denn mir war's nicht ganz geheuer, so herausstaffiert zum Vater zu kommen. Über lange Straßen sind wir am ‚Wilden Kaiser‘ vorbei nach Sankt Johann gezogen. Unterwegs belauschte ich ein Gespräch, das die Schützen miteinander führten. Es war ein sonderbares Gespräch, ganz anders als die zuversichtlichen Reden, die ich im Frühjahr und im Sommer gehört hatte. Wir lagerten nachts am Feuer. Ich saß neben dem großen EllerSchmied und warf Zweige und dürre Äste in die Flammen. „Es heißt“, sagte einer, „daß jetzt, wo der Waffenstillstand abgelaufen ist, der Krieg wieder angehen soll. Der Erzherzog Johann hat einen 130
Boten geschickt: die Tiroler sollen standhaft sein. Man sagt, Rußland geht wieder mit Österreich gegen den Napoleon.“ Ein älterer Schütze, grauhaarig und zerfurcht, erkundigte sich, ob der Bote das mündlich oder schriftlich überbracht habe. „Solang wir nichts Schriftliches haben“, sagte er, „und nichts Direktes vom Kaiser kommt, glaub' ich keinem Boten.“ „Und ich glaub' es nicht einmal dann!“ rief ein anderer, der allein saß. Er hatte struppiges Haar, seine grauen Augen lagen tief, aber sie blickten klug und scharf drein. „Wie ist's im Juli mit dem Handschreiben gewesen? Das war auch direkt vom Kaiser, schriftlich und heilig versprochen!“ Er spuckte aus, weit ins Feuer hinein. Ich wunderte mich darüber, aber es fand sich keiner, der ihm übers Maul fuhr. „Der Kaiser ist halt auch nur ein Mensch wie alle“, sagte der EllerSchmied versöhnlich. „Meinst wohl: eine Wetterfahne wie alle?“ fragte der Struppige scharf zurück. „Wie's ihm paßt, so dreht er sich. Wir Tiroler sollen standhaft sein – und e r verhandelt derweil über den Frieden. Ich sag' euch, wie's ist: Wer uns einmal verraten hat, der verrät uns auch ein zweites Mal.“ Um das Feuer herum entstand eine Bewegung. Der Grauhaarige sagte, der Kaiser würde wohl seine Gründe haben, das sei alles hohe Politik, zu hoch für Tiroler Bauern, und solang der Andrä Hofer zum Kaiser hielt', so lang sollten auch die Schützen zu ihm halten. Der Struppige aber erwiderte bitter: „Der Sandwirt ist ein redlicher Mensch, treu und gradaus, und meint, es müßt' ein jeder sein wie er.“ Darauf war's eine Weile still am Feuer; das harzige Holz prasselte in den Flammen und rötliche Funken spritzten. Der Eller-Schmied reckte sich auf: „Sag nichts gegen den Hofer, du!“ Auch die andern schauten drohend zu dem Struppigen hin. Über den Kaiser dürft' er herziehen, aber auf den Vater Anderl ließen sie nichts kommen. Der Struppige ließ sich nicht einschüchtern. „Ich sag' nichts gegen den Hofer“, rief er laut, „aber sein Narr will ich nimmer sein! Mehr 131
als dreißig Tage bin ich in diesem Sommer im Feld gelegen, hab' alle drei Schlachten mitgemacht – dawider red' ich nicht. Wenn der Feind kommt, dann bin ich dabei! Aber daß ich jetzt Dienst tun soll, wochenlang wie ein Soldat, das will mir nicht in den Schädel! Noch gar im Salzburgischen, wo wir Tiroler nichts verloren haben. Das ist wie Militärpflicht und nicht ausgemacht in unserer Verfassung; die Tiroler sind immer freie Schützen gewesen und keine Soldaten.“ Darauf wurd' es wieder still am Feuer. Schließlich sagte der Grauhaarige sinnend: „Jetzt ist's Zeit, Holz für den Winter zu richten. Wenn's heuer früh zu schneien anfängt, gibt's kein Brennholz auf unserm Hof …“ Wieder war es still, zwei oder drei seufzten und die Stimmung um das knisternde Feuer war trüb. Am nächsten Tag (es war der 9. September) rückten wir mit Trommeln und Schwegelpfeifen in Sankt Johann ein; über uns wehte die Fahne mit dem roten Adler auf weißem Grund, die Sonne schien und der Himmel war blau. Ich war sehr aufgeregt: was würde wohl der Vater sagen, wenn ich so dahermarschiert kam, in Schützentracht und gleichem Schritt wie die Männer? Ich versteckte mich zwischen den Schützen in den hinteren Reihen, aber der Eller-Schmied holte mich heraus und führte mich zu meinem Vater in die Gaststube im Bärenwirtshaus, das sein Hauptquartier war. Ich seh' ihn noch vor mir stehen, wie er mich überrascht anschaute, als traut' er seinen Augen nicht. Zu meinem Glück trat der Eller-Schmied vor, nahm mich bei der Hand und sagte, als wär's die gewöhnlichste Sache der Welt: „Grüß dich Gott, Kommandant! Wir bringen dir deinen Buben mit!“ Drauf führte er mich zum Vater hin, sodaß der gar nicht anders konnte als mich an sich ziehen. Wie lang hatte ich meinen Vater nicht mehr umarmt? Seit damals, seit dem schlimmen Abschied auf dem Hirschenstein. „Vater, ich bin so froh, daß Ihr nicht fortgegangen seid!“ Er riß mich scherzhaft am Haar: 132
„Nun ja, das Durchbrennen besorgt schon mein Bub!“ Mehr sagte er nicht. Meine Augen wanderten in der Gaststube umher und blieben an einem Stutzen haften, der dort unter einem Hirschgeweih an der Wand hing. Auch während ich die dampfende Suppe aß, schauten meine Augen ganz von selbst immer wieder zu dem prächtigen Stutzen auf. „Magst ihn haben?“ fragte der Bärenwirt, ein freundlicher Mann mit einem Glatzkopf, roter Nase und einer Schürze vor dem dicken Bauch. Er nahm den Stutzen von der Wand. Der Vater wehrte ab. Aber der Bärenwirt bestand darauf, daß ich den Stutzen haben müßt'. Ich nahm ihn zögernd, ungläubig, daß ich so kostbar beschenkt werden sollt' – da wurde die Tür aufgestoßen und einige Hauptleute traten lärmend ein. Sie wollten mit dem Kommandanten reden, und als sie mich dastehen sahen, mit dem Stutzen in der Hand, rief einer: „He, du großer Schütze, zeig einmal, was du kannst!“ Sie drängten sich alle um mich; mir wurde heiß – aber ich wollt' es ihnen schon beweisen, daß ich mit einem Stutzen umzugehen verstand! Wie ich jedoch das Radschloß aufziehen wollte, rührte es sich nicht: Ich probierte es noch einmal, meine Hände waren zu schwach. Da brachen sie alle in Gelächter aus, der Vater am lautesten. Nur der Bärenwirt nahm mich in Schutz: „Laßt ihn erst essen, dann wird er schon Kraft haben.“ Ich kehrte beschämt zu meiner Suppe zurück und beugte mich so tief über den Teller, daß keiner sehen konnt', auch der Vater nicht, wie mir vor lauter Kränkung die Tränen in die Augen stiegen. Später schlich ich mich mit meinem Stutzen hinaus und hockte mich auf dem Marktplatz draußen am Brunnenstein nieder. Da hatte ich nun ein Gewehr, hatte Pulver und Blei und kannte mich auch mit dem Laden aus. Aber was half es mir, wenn ich doch den Hahn nicht spannen konnte. Ich schaute mir das verwünschte Rad an und nachdem ich eine Zeitlang scharf nachgedacht hatte, fiel mir ein, was zu tun war. Ich ging zum Eller-Schmied; er hatte schon seine Werkstatt aufgeschlagen – sein Handwerkzeug lag neben ihm auf dem Boden. 133
„Wollt Ihr mir was zulieb tun?“ fragte ich. „Das Radl hier hat zu wenig Zacken und sie stehn zu weit auseinander –, deshalb kann ich's nicht aufdrehen. Wenn Ihr mir ein Radl macht, bei dem die Zähne näher beieinander sind, so möcht' es schon gehn.“ Der Eller-Schmied nickte verblüfft, kramte ein rundes Stück Eisen aus seinem Werkzeug hervor und begann zu feilen und zu hämmern. Es dauerte eine gute Weile, bis er fertig war und das neue Rad an meinem Stutzen anbrachte. Dann reichte er ihn mir hin: „Versuche!“ Ich spannte, es ging ganz leicht. „Teufelsbub“, sagte er, „komm, wir zeigen's dem Kommandanten.“ Als wir zum Vater kamen, waren die Hauptleute noch immer bei ihm. Auf dem Tisch lag eine große Karte, und ich blieb schüchtern bei der Türe stehen; aber der Eller-Schmied schob mich nach vorn: „Kommandant, schau, was dein Bub sich ausgedacht hat!“ Aller Augen waren auf mich gerichtet, während ich stolz und meiner Sache gewiß das neue Rad aufzog. Sie hielten's nicht für möglich, ich mußte es gleich noch einmal vorführen; dann wanderte der Stutzen von Hand zu Hand. „Sakra“, sagte der eine, „das laß ich mir gefallen. Eller-Schmied – willst mir auch so ein Radl anfertigen?“ „Mir auch“, sagte ein anderer. „Warum sich's schwer machen, wenn's leichter geht?“ Ich schaute zu meinem Vater hin, der schmunzelte. „Dein Bub macht dir Ehre“, sagte der Eller-Schmied. „Na ja“, sagte der Vater, „wie man's nimmt.“
Am nächsten Morgen hob mich der Vater zu sich aufs Pferd und wir ritten nach Waidring, um dort die Schanzen zu besichtigen. Nun war ich also wirklich sein Adjutant geworden – und fühlte mich so stolz und zufrieden wie seit langem nicht. Alles freute mich: der wiegende Trab, in dem unser Rößl dahinlief, die bunten Herbstbäume, die re134
spektvollen Grüße der Bauern auf dem Weg. Auf den Bergen lag schon Schnee; die weißen Gipfel leuchteten unter dem klaren Septemberhimmel. Die Schanzarbeiten in Waidring waren nicht so weit fortgeschritten, wie mein Vater es wünschte. Hinter den Erdwällen standen die Schützen, schaufelten und schwitzten. Sie empfingen den Vater mit Ehrerbietung, und mir riefen sie freundlich-scherzende Worte zu. Aber der Vater achtete nicht darauf; überhaupt war er anders als früher – noch schweigsamer, noch weniger zum Lachen aufgelegt. Oft ging sein finsterer Blick an mir vorbei, ich wüßt' nicht, wohin … Mir fiel das Schweigen schwer. Ich wollt' den Vater fragen, warum die Schanzen gebaut wurden, warum er jetzt schon seit Wochen in Sankt Johann saß und so besorgt war, da doch in Innsbruck alles gut zu gehen schien und der Andrä Hofer in der Burg regierte, wie es der Vater sich immer gewünscht hatte. Und weil ich mit meinen Fragen nicht lockerließ, gab der Vater schließlich nach und erklärte mir die Lage: Der Marschall Lefebvre hatte sich nach der verlorenen Augustschlacht mit seinen Truppen über die Grenze zurückgezogen. Jetzt saß er mit seiner geschlagenen Armee nicht weit von hier – drüben im Salzburger Land. Seine Soldaten standen in Reichenhall und Hallein, seine Vorposten hielten die Pässe nach Tirol (Strub, Luftenstein, Lueg) besetzt, einzelne Abteilungen, Trupps und Bataillone hatten sich in den Tälern und Seitentälern eingenistet. Der Vater kannte ihre Stellungen und ihre Stärke; er hatte viele Kundschafter, Bauern aus der Umgebung, die zur Tiroler Sache hielten und ihm zuverlässige Nachricht brachten. Er wußte auch, daß ein Befehl vom Lefebvre genügte, und alle diese Truppen würden wieder über die Pässe hereinbrechen und Tirol ein drittes Mal überfallen. „Vater – ist's nicht besser, wenn wir nicht darauf warten und lieber selbst anfangen?“ Das war keck gefragt; für gewöhnlich hieß der Vater mich schweigen, wenn ich mich solcherart in seine Angelegenheiten mischte. Diesmal aber sagte er: „Gar nicht dumm, Ander.“ 135
Kampf bei Melleck. Hier erlitten am 17. Oktober 1809 die Tiroler eine Niederlage durch bayerische Truppen. Die Tiroler standen im Dorf Melleck unter Speckbacher, der in den Kämpfen verwundet wurde. Sein Sohn Anderl wurde hier von den Bayern gefangengenommen
Als wir ins Bärenwirtshaus in Sankt Johann zurückkamen, saß der Eller-Schmied dort mit dem Bärenwirt beisammen. Es war schon Abend, die Lampen brannten und ein Feuer prasselte im Ofen. „He, Anderl“, rief der Eller-Schmied und drohte mir lustig mit der Faust, „hast was Schönes angestellt mit deinem Radlschloß. Kann mich ja nimmer retten vor lauter Arbeit. Den ganzen Tag kommen sie und geben mir keine Ruh': ‚Geh her, Schmied, richt mir meinen Stutzen nach der neuen Anderl-Art!‘“ Er zog mich neben sich auf die Bank und klopfte mir auf die Schulter, als ob ich sein eigener Bub' war. Er hatte mich gern, das wußt' ich schon lang; daß auch ich ihn herzlich liebhatte, das freilich hab' ich erst gemerkt, als ich's ihm nimmer zeigen konnt'. Das Gespräch der beiden drehte sich um den Haspinger, der mit seinen Kompanien drüben an der Salzach stand. Vor einigen Tagen, so erzählte der Bärenwirt, war mein Vater mit dem Rotbart in Streit geraten. Der Pater Joachim nämlich hatte hochfliegende Pläne: das ganze Grenzgebiet wollt' er aufwiegeln und den Krieg hinaustragen aus dem Land nach Steiermark, Kärnten, Krain – bis nach Ungarn hinunter. Mein Vater war für solche Schwärmereien nicht zu haben, und der Wirt und der Eller-Schmied gaben ihm recht. Ich war aber heimlich ganz anderer Ansicht, die Pläne des Pater Joachim begeisterten mich. Wie wunderbar wär' es doch, wenn das kleine Land Tirol alle andern Länder von der Franzosenherrschaft befreien würd'! Ich sah mich mit meinem Vater an der Spitze eines großen Bauernheeres in Ungarn einreiten – und in Wien beim Kaiser Franz. Der Andrä Hofer und der Haspinger waren auch dabei. Wir alle saßen hoch zu Roß, viel höher, als unser kleines Rößl in Wirklichkeit war … So träumte ich vor mich hin, und erst viel später, als alles verspielt war, hab' ich verstanden, wie töricht und trügerisch dieser Traum war – und wie tausendmal recht mein Vater gehabt hatte.
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Zwei Tage darauf – es regnete und wir kamen eben von einem Erkundungsritt zurück – galoppierte ein lehmbespritzter Bote zum Bärengasthof heran. Er brachte eine Meldung vom Haspinger: In einem Gefecht bei Werfen hatten die Unsrigen den Feind zum Rückzug über den Paß Lueg gezwungen und sechs Kanonen erbeutet. Der Kommandant Wallner, der kurze Zeit später nach Sankt Johann kam, wußt' Näheres zu erzählen: „Das Paterl ist ganz närrisch geworden seit dem Sieg bei Werfen. Er will aus den Bergen hervorbrechen, den Napoleon drunten bei der Donau treffen und schlagen, dann in Bayern einrücken und das ganze Europa befreien …“ Der Vater entgegnete heftig: „Der Rotbart spinnt! Unser Land schützen – ja! Zu allem andern aber haben wir kein Recht und kein Geschick.“ Der Wallner seufzte, strich den Schnurrbart und erzählte weiter: „Das ist noch nicht alles. Eh' ich fortging, nahm er mich beiseit' und fragte, ob ich nicht wüßt', daß der Kaiser Franz sich wieder gegen den Napoleon erheben wird – es sei so gut wie sicher. Genauso sicher wär's, daß der Erzherzog Johann mit Hilfe der Russen den Napoleon besiegen wird. Dann brauchten wir Tiroler nur geschwind die Grenzen nach Süden und Norden hin sperren, und der Franzosenkaiser sei gefangen wie die Maus in der Falle …“ „Eine schöne Maus!“ knurrte der Vater. „Man möcht's nicht glauben, daß ein Mann – so fromm, so tapfer, so blitzgescheit wie der Haspinger – solch ein Wirrkopf ist. Woher will er's denn wissen, daß der Kaiser wieder anfängt? Seit Wochen kommt keine Nachricht …“ Der Wallner nickte bekümmert; grad' deshalb sei er ja nach Sankt Johann gekommen, um meinen Vater zu fragen, wie's draußen in Österreich stünde, ob denn noch immer Waffenstillstand sei oder ob der Krieg wieder anfange. Die Schützen seien überall schon aufsässig und drohten fortzulaufen. Sie hätten genug vom Schanzen und Postenstehen. Der Wallner beugte sich nah zum Vater herüber: „Was soll geschehen, Kommandant? So geht's nicht weiter.“ Der Vater stimmte zu: „Wir müssen angreifen. Nicht in einem ein139
zelnen Gefecht, sondern an allen Pässen zugleich. Überall, wo die Bayrischen noch in Tirol drinstehen, müssen wir sie hinaustreiben und unsere Stellungen bis an die Grenze vorschieben … Ich hab' einen Boten unterwegs zum Hofer. Der Hofer soll's entscheiden.“ Die Antwort kam am übernächsten Tag in der Mittagsstunde. Ich stand neben dem Vater, und noch während er las, sah ich an seinem Gesicht, daß es eine gute Antwort war: alles Zögernde fiel von ihm ab, er war entschlossen wie früher, ließ die Hauptleute kommen, fertigte Botschaften an die andern Kommandanten aus und bestellte sie auf übermorgen nach Saalfelden zu einer Kommandanten-Beratung. Noch am gleichen Abend entwarf er den Angriffsplan für den 25. September. Er saß am Tisch, die Karte vor sich, schrieb, zeichnete, berechnete die Stärke unserer Kompanien. Keiner wagte ihn zu stören. Ich kauerte neben ihm, wie es sich für einen Adjutanten gehört, obzwar mir vor Müdigkeit die Augen zufielen. Es war fast Mitternacht, als mich der Vater endlich ins Bett schickte. Ich durfte mit nach Saalfelden. Im Frühnebel ritten wir los, an der Pillersee-Ache entlang; von dem stallwarmen Rößl stieg Dampf auf. Später wurde es wärmer, ein dünner, sanfter Regen sprühte herab. Der Vater kannte auch hier die Wege, bog öfters von der großen Straße ab, und die Hufe des Rößls schlugen weich in den waldigen Boden. Manchmal stiegen wir auch ab, und es ging einen felsigen Steig hinauf, dann lief das Rößl frei hinter uns her. In Saalfelden begrüßte uns der Wallner, auch die andern Hauptleute waren schon da. Nur der Haspinger fehlte noch, obzwar sein Weg von Werfen herüber kürzer war als der unsrige. Ich war sehr gespannt auf ihn, denn ich hatte mir im Laufe der Zeit ein ganz bestimmtes Bild von ihm gemacht – ein falsches, wie ich gleich sah, als er endlich auf seinem mageren Fuchs dahergaloppiert kam. Die braune Kutte war zu beiden Seiten hochgeschürzt, den Säbel hatte er drübergeschnallt; vom Hals herab hing ein Kreuz, und auf dem Kopf trug er einen Schützenhut mit einem großen Gamsbart dran. „Da kommt unser Pater Heißsporn“, sagte der Wallner, „halb Wildschütz, halb Kapuziner.“ Er lachte gutmütig. 140
„'s sind ungleiche Hälften“, erwiderte der Vater, „der Wildschütz wiegt mehr.“ Aber gleich darauf setzte er hinzu: „Will ihm nicht unrecht tun, dem Rotbart, ist ein ganzer Tiroler und mit Leib und Seel dabei.“ Das gefiel mir gut vom Vater, denn ich wüßt' doch, wie so manches Mal in letzter Zeit er dem Pater Joachim gram gewesen war. Während der Beratung durft' ich dabeisein und zuhorchen, wie der Vater seinen Angriffsplan für den 25. September erklärte. Der Feind sollte an verschiedenen Punkten gleichzeitig überfallen, in Rücken und Flanke angegriffen und schließlich umringt werden, wobei die felsige Gegend, jeder Berg, jede waldige Höhe, jede Schlucht in den Plan einbezogen war. Ich möchte hier etwas einschalten: Es war der gleiche Plan, nach dem Hannibal im Jahre 216 v. Chr. in der Schlacht bei Cannae die Römer bezwang. Seit damals nennt man diese Kampfmethode ‚klassische Taktik‘ und lehrt sie an allen Offiziersschulen und bewundert den Hannibal, weil er die unbesiegbaren Römer schlug. Das weiß ich aus meinem Geschichtsunterricht hier im Münchner Seminar. Als wir kürzlich darüber lernten, wär' ich am liebsten aufgestanden und hätt' es allen laut gesagt, dem Lehrer und den Klassenkameraden, daß mein Vater am 25. September 1809 es genauso gemacht hat wie der berühmte Hannibal, ohne Offiziersschule und ohne jemals etwas von ‚klassischer Taktik‘ gehört zu haben. – Unsere Streitkräfte für den Angriff bestanden aus rund 50 Schützenkompanien, ungefähr 6.000 Mann. Die Kommandanten waren: Haspinger (in Werfen), Wallner (in Weißbach), Speckbacher (in Sankt Johann), Firler und Wintersteller (in Waidring). Unser Ziel war, die Pässe zu erstürmen: den Paß Lueg (diese Aufgabe fiel dem Haspinger zu), den Paß Luftenstein, den Paß Strub – und die Ortschaften Lofer, Unken, Melleck, wo überall feindliche Garnisonen lagen. Ich saß still dabei, während sie alles besprachen. Als sie auseinandergingen, sagte der Wallner scherzend zu mir: „Und du, Kamerad? Deine erste Schlacht, he? Mach dir nichts draus, wenn's in die Hosen geht – aber gib auf den Vater acht, den brauchen wir.“ 141
Wir übernachteten in Saalfelden, und am nächsten Morgen – es war Sonntag und der Tag des heiligen Rupert – gingen wir in die Messe. Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt, viele mußten stehen. Von weit her waren die Bauern gekommen, um den berühmten Pater Joachim, den streitbaren Mönch, predigen zu hören. Sie drängten sich um ihn wie um einen Heiligen, und manche flüsterten, sie hätten genau gesehen, daß die Hostie in seinen Händen gewachsen sei und wie Silber geglänzt habe. Viele knieten vor dem Wundermann nieder und erbaten Ablaß für ihre Sünden, denn sie wollten am morgigen Tag gegen den Feind ziehen. Nach dem Kirchgang ritten wir noch ein Stück mit dem Pater zusammen, ehe sich die Wege trennten. Der Vater sagte ernst: „So behüt' Euch Gott, Paterl. Und vergeßt es nicht: den Paß – aber keinen Schritt weiter. Das Land und seine Grenzen wollen wir schützen, mehr nicht! Was nutzt es uns, wenn wir tief im Salzburgischen stehen, wo die Bayrischen viel stärker sind?“ Später mußt' ich manchmal denken, daß es wie eine Prophezeiung gewesen ist, was der Vater da dem Haspinger zum Abschied mahnend zugerufen hat.
Der nächste Tag war der 25. September. Nach Mitternacht sammelten sich die Kompanien in Sankt Johann, gegen drei Uhr morgens brachen wir auf. Die Nacht war kalt und still, die Sterne standen sehr hoch und waren klar wie nur in frostigen Nächten. Wir zogen in der Richtung Lofer. Der Vater schien unruhig und angespannt, als ob er auf etwas warte. Da glomm auf einer Bergspitze plötzlich ein roter Schein auf, bald darauf ein zweiter und dritter: Kreidfeuer, so wie damals im April! Sie zeigten an, daß alles in Ordnung war; die Unsrigen standen, wie verabredet, auf ihren Plätzen. Es war seltsam, durch die ruhige Nacht in den Kampf zu ziehen. Bei Anbruch der Dämmerung hörten wir vom Paß Luftenstein her Schüsse. In Lofer trafen alle zusammen: der Firler, der den Paß Strub ge142
stürmt hatte, der Wallner, der am Paß Luftenstein siegreich gewesen war. Die völlig überraschten Feinde hatten sich zur Wehr gesetzt, aber nicht lang, und jetzt trieben wir sie vor uns her, die Straße nach Salzburg zu. Rechter Hand schäumte drunten die Saalach, zur Linken stiegen Felsen und bewaldete Höhen auf. Der Feind wurde unaufhörlich beschossen. Vom Hirschbühl herunter, von den Loferer Bergen, von hinten und von vorn. Ja – auch von vorn, denn eine Schützenabteilung war auf den Höhen droben vorausgeeilt, hatte den Feind überholt und empfing ihn jetzt mit einem Hagel gutgezielter Stutzenkugeln. In jeder Felsritze kauerte ein Schütze, hinter Busch und Baum lagen sie in Deckung. Bei der Ortschaft Unken kreisten wir die Bayern ein; zur Flucht blieb ihnen nur eine einzige Gelegenheit: die Saalach drunten. Viele sprangen ins Wasser, aber nur wenige retteten sich hinüber ans andere Ufer, wo unsere Kugeln sie im waldigen Gebirg nicht mehr erreichen konnten. Der Eller-Schmied sprang einem bayrischen Fähnrich nach, rang mit ihm im Wasser auf Leben und Tod und brachte ihn mitsamt der Fahne als Gefangenen zurück. Die Unsrigen waren so betäubt von Sieg und Haß, daß sie selbst die Gefangenen noch niedermachen wollten. Aber der Vater warf sich dazwischen: „Haltet ein, Brüder! Seid Christenmenschen!“ Sie ließen die Stutzen sinken und kamen zur Besinnung. Der Vater rief: „Schlagt zu, solange sie kämpfen. Aber sich an Wehrlosen vergreifen, ist eine Schand' für jeden braven Schützen und unsere heilige Sach'“ – Melleck war unser letztes Ziel. Am Abend dieses Tages standen Tiroler Vorposten nicht weit von der salzburgischen Stadt Reichenhall. Es war mehr, als wir zu hoffen gewagt hatten. Zu unserer Siegesstimmung kam noch die Nachricht, daß der Pater Haspinger den Paß Lueg genommen hatte. Das war gut! Aber er hatte sein Versprechen vergessen und war doch über den Paß hinausgestürmt bis zur Stadt Hallein, die schon weit im Salzburger Land drinliegt. 143
Die Hinrichtung Andreas Hofers am 20. Februar 1810
Das war nicht gut – und verdarb dem Vater fast die Siegesfreude an diesem großen Tag.
Der Oktober brach an, es wurde kalt und trüb. Wege und Wiesen waren silbergrau vom Reif, die kleinen Wasser hatten eine Eiskruste und der frische Gipfelschnee reichte von den Bergen schon weit ins Tal herab. Schlechte Nachrichten kamen: in Südtirol waren wiederum die Franzosen eingebrochen; in Hallein hatte der Pater Joachim schwere Streitigkeiten mit den Salzburger Bürgern; unter den Tiroler Schützen war eine Krankheit ausgebrochen. Sie vertrugen das Essen nicht; sie waren an Brot, Sterz und Knödel gewöhnt und bekamen jetzt fast nur Fleisch. Wir hatten kein Mehl, wir hatten auch keine Munition – wir hatten gar nichts. Die Schützen liefen in Scharen davon, keiner konnt' sie halten. Der Vater wurde von Tag zu Tag finsterer und wortkarger. Die glückliche Stimmung nach dem Sieg war längst dahin, als wäre sie nie gewesen … Es regnete unaufhörlich. Wir ritten trotzdem alle Tage umher, die neuen Schanzen zu besichtigen, die der Vater errichten ließ, um das Eroberte zu befestigen. Aber das Reiten freute uns nicht mehr; die Bauern im Grenzgebiet verhielten sich oft feindselig. „Wer hat euch gerufen?“ fragten sie. „Bleibt in eurem Land und laßt uns in Ruh'!“ Ärger noch war's, wenn sie schwiegen und uns aus bösen Augen nachschauten. Der Vater sagte nichts, aber ich merkte, wie es an ihm fraß. Manchmal fuhr er zusammen und drehte sich um, als ob jemand im Anschlag läge und ihm auflauerte. An einem Spätnachmittag stand er am Fenster und starrte in die Dämmerung hinaus. Draußen war nichts als Regen und Nebel. Plötzlich begann er, laut mit sich zu sprechen. „Jesus!“ sagte er in einem Ton, so müd und verzagt, daß es mir weh tat. „O Jesus, laß Feierabend sein. Mein Bübl möcht' ich nehmen und heimgehn …“ Dann war es wieder still im Zimmer, von draußen hört' ich den Ok146
toberwind heulen und am Fenster rütteln. Ich schlich hinaus, an der Tür schaut' ich noch einmal zurück. Der Vater stand noch immer unbeweglich, die Stirn an die Fensterscheibe gepreßt. Tags darauf kam eine schlimme Nachricht: der Lefebvre hatte Hallein zurückerobert, die Tiroler waren Hals über Kopf geflohen. Vom Haspinger wußten wir nichts, die Verbindung zu ihm war abgeschnitten. „Ich hab's gewußt“, sagte der Vater, und seine Hand mit der Botschaft fiel schwer auf den Tisch, „aber das Paterl wollt' nicht hören!“ Dann kam der 17. Oktober und das Ende. Es fiel strömender Regen, mit Schnee vermischt. Der Wind blies winterlich kalt; niemand konnt' es den schlecht ausgerüsteten Schützen verdenken, wenn sie lieber in den warmen Häusern blieben, als draußen in Frost und nasser Kälte Wache zu stehen. Die Berge lagen hinter Nebelwänden verborgen. Wer konnte ahnen, daß der Feind bei diesem Wetter angreifen würde? Sie kamen im Morgengrauen, während wir noch schliefen, von der Mellecker Alpe herab. Eine achtfache Übermacht fiel über uns her, so schnell, daß wir kaum Zeit hatten, in die Kleider zu fahren. Sie umzingelten das Haus, und als wir hinausliefen, war es von Anfang an kein Kampf, sondern ein Handgemenge, eine wilde Rauferei, verzweifelt wie noch nie. Sie schlugen auf uns ein und drängten uns zur Saalach hinunter. Ich hielt mich dicht neben dem Vater, schützte mich gegen die Kolbenhiebe und wehrte mich, so gut es ging. Links und rechts stürzten die Unsrigen von Bajonetten durchbohrt zu Boden. Plötzlich wurde ich vom Vater weggerissen. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er sich gegen zehn Feinde zugleich wehrte. Sein Säbel schnitt sausend durch die Luft, rings um ihn taumelten die Feinde und stürzten nieder; dann riß ihm einer die Waffe fort, und er kämpfte nur noch mit den Fäusten. Das letzte, was ich von ihm sah, war, wie er im Gewühl der Feinde zu Boden gerissen wurde. Ich wollt' zu ihm. Aber jemand packte mich und hielt mich fest. Ich wand mich im Griff eines bayrischen Grenadiers. „Verfluchte Bauern!“ rief er. „Sogar die Kinder lassen sie kämpfen!“ Ich versuchte zu beißen und zu kratzen. Der Grenadier hob drohend seinen Säbel, die Klinge war über meinem Kopf. 147
„Gib Ruh', Bub, sonst mach' ich dich hin!“ Er drehte mir die Arme auf den Rücken und stieß mich vor sich her zu den andern Gefangenen hin. Es waren Hunderte, aber der Vater war nicht dabei. Doch dort drüben saß der Eller-Schmied an einen Baumstamm gelehnt, und vor ihm kniete ein bayrischer Feldscher, der ihm sein zerschossenes Bein verband. Ein Hauptmann stand daneben: „Transportfähig oder schwerverwundet?“ „Transportfähig“, antwortete der Feldscher. Das Gefecht war zu Ende, es hatte keine halbe Stunde gedauert. Wir hatten die furchtbarste Niederlage des ganzen Jahres 1809 erlitten. Von da an war es, als ob nicht ich, sondern ein andrer alles erlebte. Wie die beiden bayrischen Offiziere mich später zwischen den Toten am Ufer der Saalach entlangführten und fragten, welcher mein Vater sei – das hab' ich schon am Anfang erzählt. Ich glaubte sicher, daß er tot war und die Saalach ihn fortgespült hatte. In mir war alles schwarz und leer. Mittags ging der Gefangenentransport nach Landshut in Bayern ab. Die Verwundeten lagen in Planwagen, wir marschierten zu Fuß. Ich setzte ein Bein vors andere und hielt Schritt. Ein bayrischer Soldat lobte mich: „Hältst dich brav, Bub!“ Aber mir war alles gleichgültig. Gegen Abend durft' ich auf einen der Wagen steigen; ich war schon so erschöpft, daß ich nur noch vorwärts stolperte. Zwischen den Verwundeten kroch ich hindurch, bis ich den Eller-Schmied fand. „Bist du's, Anderl?“ fragte er. Zusammengekauert hockt' ich neben ihm in dem rüttelnden Planwagen, der uns durch die Oktobernacht in die Gefangenschaft führte. Der Eller-Schmied stöhnte und sprach im Fieber wirre Sätze. Vor Müdigkeit nickte ich ein. Spät in der Nacht hielten wir in einem bayrischen Dorf an, um Rast zu machen. Der Eller-Schmied rührte sich nicht. Ich beugte mich über ihn – aber erst als jemand mit der Laterne in den Wagen leuchtete, sah ich, daß er tot war. Er hatte sich im Fieber den Verband von seinem zerschossenen Bein gerissen und war verblutet. Am Morgen wurde er in dichtem Schneegestöber auf dem nahen bayrischen Dorffriedhof begraben. Wir marschierten weiter; teilnahmslos trottete ich mit. Auch der Tod 148
des Eller-Schmieds vermochte nicht, mich aus meiner Stumpfheit aufzurütteln. Wenn ich überhaupt einen Gedanken dachte, so ging er zurück nach Tirol, wo ich den eigentlichen Anderl gelassen hatte, während hier ein fremder Bub als Gefangener dahinzog. In Landshut wurden wir auf die Festung gebracht, aber ich blieb nur wenige Tage mit den andern zusammen. Plötzlich hieß es: „Speckbacher Andreas – vortreten! Du kommst nach München.“ Ich wehrte mich. Ich wollte nicht von meinen Landsleuten getrennt werden, sie waren das einzige, was ich noch hatte. Flehentlich bat ich den Festungskommandanten, mich doch dazubehalten, ich sei ja nicht mehr und nicht weniger schuldig als alle Tiroler Landesverteidiger und wollt' auch nicht anders behandelt werden als sie. Er zuckte die Achseln: „Auf Befehl Seiner Majestät, des Königs Max Joseph.“
Ich wurde nach München gebracht und durch die Straßen geführt. Vier bewaffnete Soldaten bewachten mich, und die Leute blieben stehen und gafften mich an wie ein Wundertier. Ich schaute gradaus und hielt trotzig den Kopf hoch. Immer noch war's, als ob nicht ich durch die Straßen zum bayrischen König ins Schloß ging, sondern ein anderer Bub, mit dem ich wenig zu schaffen hatt'. Nur grad' so viel, daß ich ihm zu weinen verbot und von ihm verlangte, er solle sich eines Tiroler Freiheitskämpfers würdig erweisen. Der König Max Joseph reichte mir freundlich die Hand, er fragte mich nach Namen und Alter und wo ich geboren sei. Ich antwortete kurz und mißtraute seiner Freundlichkeit, obzwar er ein gutmütiges Gesicht hatte. „Nun also, Andreas“, sagte er schließlich, „jetzt bist du unser Gefangener. Was glaubst du, werden wir mit dir machen?“ In mir schwoll plötzlich Haß und Feindschaft und der Schmerz um meinen Vater so gewaltig an, daß ich hervorstieß: „Derschlogn wie mein' Votta a!“ 149
Einen Augenblick schaute der König verblüfft drein. Dann lachte er laut und sagte zu einem der Herren, die neben ihm standen: „Ein natürlicher Knabe! Er spricht, wie er es versteht.“ Darauf legte er mir die Hand auf die Schulter und teilte mir mit, daß er mich in das Königlich-Bayerische Seminar schicken werde; er wolle mich dem Leiter der Anstalt, dem Pater Benedikt Holland, besonders ans Herz legen.
So kam ich denn kurze Zeit danach hierher ins Seminar – und damit schließe ich meine Erinnerungen. Ich will nur noch sagen: man hat mich in München gut behandelt. Ich hab' im Seminar mehr gelernt, als mir unser Dorfschullehrer in Rinn jemals hätt' beibringen können. Der König hat mir viel geschenkt: nicht nur die Bücher, die ich zum Lernen brauche, auch Gewand und Wäsche. Es wär' eine Lüge, wenn ich behaupten wollt', daß ich mich hier sehr unglücklich fühle, denn ich hab' mich an das Seminar gewöhnt, an die Lehrer und an die Schüler, und ich bin nicht ungern hier. Aber wenn der König mich rufen und nach meinen Wünschen fragen wollt': ich hab' nur einen einzigen – heimzudürfen nach Tirol!
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Nachwort des Paters Schmiederer Mein ehemaliger Schüler Andreas Speckbacher verließ als Achtzehnjähriger das Königlich-Bayerische Seminar und kehrte aus München in sein Heimatland Tirol zurück. Bedeutende Ereignisse hatten sich zugetragen: Seit der Vernichtung von Napoleons Großer Armee im russischen Feldzug 1812 war der Ruf des unbesiegbaren Franzosenkaisers erschüttert, sein Stern im Sinken. Was die Völker Rußlands vollbracht hatten, ermutigte alle Völker Europas; jene, die Napoleon unterworfen und gewaltsam zu seinen Verbündeten gemacht hatte, schlossen sich nun zusammen und erhoben sich gegen den Unterdrücker. In der Völkerschlacht bei Leipzig (16. bis 19. Oktober 1813) kämpften sie vereint um ihre Freiheit; Napoleons neugesammeltes Heer wurde von den Verbündeten zerschlagen, er selbst als Gefangener in die Verbannung geschickt. Bayern und Österreich reichten einander freundschaftlich die Hand zur Versöhnung. Durch den Friedensschluß 1814 kam Tirol nach neun Jahren bayrisch-französischer Fremdherrschaft endlich wieder an Österreich zurück, für das es Anno 1809 so tapfer gestritten hatte. Da nun die Lage im großen sich so glücklich verändert hatte, wirkte sie sich auch im kleinen aus: Vater Speckbacher wandte sich mit einem Bittbrief an den bayrischen König, er möge doch den Sohn Andreas, der noch immer, halb Gast, halb Gefangener, im Seminar weilte, entlassen und ihm die Heimreise ins Elternhaus gestatten. Der König gewährte den väterlichen Wunsch, und der Sohn nahm Abschied. Am Morgen seiner Heimfahrt überreichte er mir drei engbeschriebene Hefte, zum Andenken, wie er sagte – und weil ich, sein Lehrer, es seinerzeit gewesen war, der ihn zur Niederschrift der vorliegenden Erinnerungen angeregt hatte. 151
Ich füge einen Brief bei, der die Aufzeichnungen meines ehemaligen Schülers Andreas Speckbacher insofern vervollständigt, als darin die weiteren Geschicke seines Vaters geschildert werden, die gewiß das Interesse eines jeden verdienen, der wie ich dem Tiroler Freiheitskampf von ganzem Herzen Bewunderung zollt.
Anderls Brief an Pater Schmiederer Hall in Tirol, den 18. September 1816 Lieber Pater Schmiederer! Jetzt bin ich schon einige Wochen wieder zu Hause, und es drängt mich, mein Versprechen einzulösen und Ihnen, der Sie sich immer voll gütiger Anteilnahme mir gegenüber gezeigt haben, von meiner Heimkehr zu berichten. Die Reise ging über Salzburg – Reichenhall – Lofer, genau die Straße entlang, um die wir damals, vor nun fast sieben Jahren, so heiß gekämpft haben. Als wir durch Melleck kamen, stiegen die schlimmen Erinnerungen in mir auf und schmerzten wie alte Narben. Aber dann fuhren wir ins freie Tirol hinein, von den Poststationen grüßte das österreichische Wappen, und da ergriff es mich mächtig, daß wir nun wiederum Herr sind im eigenen Land. Unser Kampf war nicht umsonst. Der Andrä Hofer zwar hat sterben müssen auf Befehl des Kaisers Napoleon, und Hunderte von tapferen Tiroler Bauern, denen die Freiheit mehr galt als das Leben, sind nimmermehr heimgekehrt. Aber Tirol hat sich wieder aufgerichtet und ist frei und österreichisch wie von alters her. In Sankt Johann, wo wir die Pferde wechselten, begrüßte ich den Bärenwirt; er wollte mir's nicht glauben, daß ich der ‚kleine Anderl‘ sei, und erst als ich ihn an den Stutzen erinnerte, den er mir damals ge152
schenkt hatte, gelang es mir, ihn zu überzeugen. Dann ging es weiter, das Inntal entlang, und als wir endlich in Hall beim Kronen-Gasthof vorfuhren, winkte ich schon von weitem aus dem Wagenfenster. Mutter und Geschwister standen vor der ‚Krone‘ und winkten zurück – aber der Vater war nicht dabei. Ich sprang hinaus, die Mutter weinte und lachte und wollte mich gar nicht wieder loslassen. Ich begrüßte die Schwestern und den Seppl – und schaute sie fragend an. Der Vater, sagten sie, habe zu Hause bleiben müssen, da er sich krank fühle; ich solle mich darauf gefaßt machen, ihn sehr verändert zu finden, und es ihm nicht zeigen, wenn das Wiedersehen mit ihm mich erschreckte. Als ich ihn sah, hielt ich nur mit Mühe die Tränen zurück. Er saß in einem Lehnsessel am Fenster und versuchte zu scherzen: „Bist allweil ein Ausreißer gewesen – aber so lang wie diesmal ist dir's noch nie gelungen!“ Wie soll ich Ihnen, lieber Pater Schmiederer, den Vater schildern? Aus dem baumstarken Feuerteufel ist ein kränkelnder Mann geworden, der oft viel Schmerzen leidet. Elfmal ist er in den Kämpfen des Jahres 1809 verwundet worden, am ärgsten von den Kolbenschlägen in jenem letzten unglückseligen Gefecht bei Melleck. Ein schweres Nierenleiden ist zurückgeblieben und hat ihn gezwungen, die Landwirtschaft aufzugeben und unsern Hof in Rinn zu verkaufen. Wir wohnen jetzt in Hall; meine Mutter, die wohl auch gealtert, aber gesund und rüstig ist, führt den Haushalt, meine Schwestern, große, halberwachsene Mädchen, helfen ihr dabei; mein kleiner Bruder Seppl ist ein aufgeweckter Bub, fast in dem Alter, in dem ich war, als ich Anno neun von Tirol fortkam. Was hat meine Familie nicht alles seit jener Zeit durchgemacht, besonders mein Vater! Als ich damals in Melleck von ihm getrennt wurde, lag er auf dem Boden und rang um sein Leben. Ihrer acht waren über ihm, traktierten ihn mit Bajonettstichen und Kolbenstößen; wie es menschenmöglich war, daß er ihnen dennoch entkam, weiß ich nicht. Mantel und Rock blieben in ihren Händen, er selbst stürzte sich blutend in die Saalach, erreichte das andere Ufer und klomm drüben den bewaldeten Fels hinan. Erst jetzt, als er in Sicherheit war und zur 153
Besinnung kam, bemerkte er, daß ich ihm abhanden gekommen war, und wollte sich sogleich wieder hinunterstürzen, wo das Gefecht bereits zu Ende ging. Er riß einem der Waffenbrüder, die sich gleich ihm gerettet hatten, den Stutzen weg. Die Kameraden mußten ihn gewaltsam zurückhalten und schließlich fortbringen, höher in die Berge hinauf. Damals war mein Vater fest entschlossen, nach Hause zurückzukehren. Doch da erreichte ihn abermals der Ruf des Andrä Hofer, er solle noch einmal mittun, bei der allerletzten Schlacht am Bergisel; und weil meinem Vater die Treue zum Hofer höher stand als der Kummer um den verlorenen Sohn, so ging er. Die Schlacht fand am 1. November statt und endete mit einer hoffnungslosen Niederlage der Tiroler. Alles war zu Ende, mein Vater mußte ins Gebirge flüchten, und damit begann für ihn eine Zeit unvorstellbarer Leiden und Entbehrungen. Von bayrischer Seite wurde ein Steckbrief gegen ihn erlassen: „Jeder, der dem Speckbacher Unterkunft gewährt, ist mit Haus und Hof verfallen und hat den Kerker oder die Todesstrafe zu erwarten.“ Sein Bildnis wurde unter den bayrischen Soldaten verteilt, damit sie ihn nur ja kennten, wenn sie in den winterlichen Bergen Treibjagd auf ihn machten. Wie ein verfolgtes Tier floh er weiter hinauf, bis dorthin, wo kaum mehr Kieferngestrüpp aus dem Schnee herausragte. Er hungerte, aber er wagte weder ein Wild zu schießen noch ein Feuer anzuzünden, aus Angst, der aufsteigende Rauch oder der Knall des Schusses könnten seinen Aufenthalt verraten. An einem eisigen Januartag sah er drunten in der weißen Ferne winzige dunkle Gestalten durch den Schnee kommen; er glaubte zuerst, daß sie zu einer bayrischen Streife gehörten, dann aber erkannte er – und das Herz blieb ihm fast stehen –, daß es seine Frau und seine Kinder waren. Meine Mutter war gewarnt worden: man würde sie als Geisel für den entwichenen Vater verhaften, und zwar so lang, bis er sich stellte. Deshalb hatte sie die Kinder genommen und war mit ihnen in die Berge gegangen und hatte nur einen Wunsch: meinen Vater zu finden, damit die Familie wieder beisammen sei, selbst wenn sie alle in Schnee 154
und Eis zugrunde gehen müßten. Das gab ein trauriges Wiedersehen; der Seppl, den die Mutter auf dem Arm trug, war fast erstarrt vor Kälte, die Dirndln schleppten sich mühsam fort. Solang' meinen Vater das Ungemach allein getroffen hatte, wußt' er's zu tragen; jetzt, angesichts der Not meiner armen Mutter, verlor er fast den Kopf. Er wagte, was er für sich selbst nicht gewagt hatte: er stieg mit ihnen hinab in bewohnte Gegenden und bat einen alten Freund, den Klingenschmied-Bauern am Volderberg, Frau und Kinder bei sich zu beherbergen, bis bessere Zeiten kämen. Er selbst ging sogleich wieder davon, um den Klingenschmied durch seine Gegenwart nicht zu gefährden, verbarg sich einige Tage im Glockenturm einer Kirche und stieg dann wieder hoch hinauf in verschneite Einöde. Der gute Zoppl war der einzige, der von seinem Versteck wußte und ihm von Zeit zu Zeit Brot, Schmalz, Speck und Schnaps brachte. Im Februar aber, am Tag von Maria Lichtmeß, dem Namenstag meiner Mutter, hielt's ihn nimmer droben in der Einsamkeit: er mußt' hinunter, eine Stunde bei den Seinen verbringen. Unerkannt kam er auf den Hof, doch kaum saß er mit Frau und Kindern beisammen, da stürzte der Klingenschmied herein: „Sepp, die Bayrischen!“ Sie waren schon im Hof, ehe noch mein Vater zur Hintertür hinauskonnte. Mit jener Geistesgegenwart, die wir immer an ihm bewunderten, ergriff er einen großen Schlitten, der an der Hauswand lehnte, hob ihn auf den Rücken und trug ihn gebückt an den Soldaten vorbei, die er mit gröblichen Worten beiseite stieß: sie sollten gefälligst Platz machen, er müsse heute noch drei Lasten Holz einfahren. Bei der nachfolgenden Hausdurchsuchung gab die KlingenschmiedBäuerin meine Mutter als ihre Magd aus und meine Geschwister als ihre eigenen Kinder, sonst hätte dieser Namenstag bös geendet. Mein Vater sah nun endgültig ein, daß er sich den Seinen nicht mehr nähern durfte; darum stieg er in fast unzugängliche Felsenhöhe hinauf, zu einem Zufluchtsort, den er sich für den äußersten Fall ausersehen hatte. Es war eine Höhle, „Gamshag“ genannt, die er in seiner Jugend als Wildschütz entdeckt hatte. Menschen trauten sich kaum dort hinauf, nur die Gemsen suchten Schutz, wenn Winterstürme sie zum Unter155
stand trieben. Dort blieb er bis zum März, hungerte, fror und litt – und wartete auf den Frühling, der in jenem Winter besonders spät kam. Endlich begann die Schneeschmelze, Lawinen fuhren zu Tal; eine davon erfaßte meinen Vater und riß ihn mit. Wie durch ein Wunder kam er mit dem Leben davon und blieb mit ausgerenktem Hüftbein liegen. Hinauf konnte er nun nicht mehr; er brauchte menschliche Hilfe und Pflege, wenn er nicht wie ein verwundeter Gamsbock unter freiem Himmel verenden wollte. Unter Aufbietung aller Willenskraft kroch er sieben Stunden durch den Schnee (einen Weg, der sonst zwei dauert) – bis er in später Nacht völlig erschöpft beim Klingenschmied ans Tor klopfte. Meine Mutter war mit den Kindern unterdessen nach Rinn zurückgekehrt, doch sorgte der Klingenschmied für ihn wie sein eigener Bruder. Er holte den Vieharzt Spielthenner herbei, und noch in der gleichen Nacht renkte der ihm das Hüftgelenk wieder ein. Auf Wunsch des Vaters trugen sie ihn auf einer Bahre nachts zu unserm Hof. Dort hieß er sie, ihn vor der Stalltür niedersetzen, und schickte sie wieder fort. Als der Zoppl nicht lange danach zum Melken kam, fand er seinen Herrn vor der Stalltür liegen. Der Vater ließ sich von ihm in jenes Loch unterm Stallboden betten, in dem er einst die Gewehre versteckt hatte. Lange Zeit lag er dort unten, lebendig begraben; nicht einmal meine Mutter wußte davon. Die bayrischen Patrouillen kamen etliche Male und durchsuchten Haus, Hof und Stall. Sie stachen mit ihren Bajonetten ins Heu und waren dem drunten Liegenden oft so nahe, daß er ihre Stiefel hätte greifen können. Nach sechs Wochen erhob er sich aus seiner Grube, bleich und abgemagert, und kaum daß er wieder ein wenig zu Kräften gekommen war, trat er die Flucht ins schützende Österreich an. Er wanderte nachts, nicht nur aus Vorsicht, sondern auch weil das Tageslicht seine ans Dunkle gewöhnten Augen blendete. Sein Weg ging über das Zillertal, über Gerlos, Kärnten, Steiermark – bis er nach fast einem Monat in Wien ankam. Der Kaiser und der Erzherzog Johann empfingen ihn recht gnädig, unterstützten ihn mit Geld und versprachen ihm (so wie allen Tiroler Flüchtlingen, von denen mein Vater viele in Wien 156
fand) Haus und Hof in Ungarn. Der Plan scheiterte an der Abneigung der Tiroler, in jener flachen, sumpfigen Gegend eine neue Heimat zu gründen. Auch meine Mutter wollte davon nichts hören, sie glaubte, im Ungarland vor Heimweh sterben zu müssen, und schrieb meinem Vater zurück, er solle doch den Kaiser um einen Hof in der Steiermark bitten, wo noch ‚ein bißl Berge‘ seien. Auch daraus wurde nichts, doch erwarb mein Vater bei Wien ein kleines Gut, und meine Mutter kam ihn besuchen. Sie hielt es nicht lange aus; so schwer es ihr fiel, meinen Vater allein zurückzulassen – ohne Tirol konnt' sie nun einmal nicht leben! Auf der Rückreise wurde sie in Salzburg von den Bayern verhaftet und in den Turm geworfen. Nach vierzehn Tagen hieß man sie im Gefängnishof einen geschlossenen Wagen besteigen und führte sie nach München in weitere Gefangenschaft. Einem Tiroler Landsmann aber, der ebenfalls transportiert wurde, gelang es, unterwegs zu entkommen und dem Vater Nachricht über meine Mutter zu senden. Er wandte sich an den Erzherzog Johann, der schließlich die Freilassung meiner Mutter erwirkte. Fast drei Monate hatte sie im Münchner Taschenturm zugebracht – drei Monate in der gleichen Stadt wie ich, ihr Sohn. Daß ich in der Obhut des Königs gehalten wurde, wußte sie wohl, aber als sie aus dem Turm entlassen wurde, wagte sie nicht, ins Seminar zu kommen. Doch wollte sie mich wenigstens von ferne sehen. Es war gerade Fronleichnamstag, und sie stellte sich auf die Stufen einer Kirche, an der wir Schüler des Seminars in der Prozession vorüberkamen. Es regnete an jenem Tag; meine Mutter, geschwächt von der langen Kerkerhaft und vor Aufregung zitternd, strengte ihre Augen an, so gut es ging – aber sie erkannte mich nicht. Ich schritt an ihr vorüber, ohne zu ahnen, daß sie in nächster Nähe vor mir stand. Sie kehrte nach Rinn zurück, fand die Kinder krank, den Hof verwahrlost, unter den Kühen war eine Seuche ausgebrochen. Vom Vater erhielt sie trübe Nachricht: er war ins Elend geraten und arbeitete in Wien als Taglöhner, weil er zu stolz war, in den Vorzimmern der Hofburg als Bittsteller herumzustehen. Einmal kletterte er auf die höchste Spitze der Stephanskirche und verdiente sich damit etliche Duka157
ten, da ein Engländer mit ihm gewettet hatte, er würd's nicht zustande bringen. Schließlich aber, als die Not am größten war, fand sich doch noch ein Amt für ihn: er wurde als Verwalter eines Landgutes eingesetzt, das der Kaiser dem Sohn vom Andrä Hof er geschenkt hatte. Dort fand mein Vater sein Auskommen und erfüllte auch gern die väterlichen Pflichten dem Sohn des toten Freundes gegenüber. Nach Rinn kehrte mein Vater erst im vorigen Jahr zurück, als Tirol wieder mit Österreich vereinigt wurde. Schon früher war er zum kaiserlichen Major ernannt worden und erhielt seitdem die jährliche Majorspension. Der Kaiser verlieh ihm die Goldene Kette mit der Verdienstmedaille und trug ihm auch zweimal den Adelstitel an. Mein Vater aber meinte, Joseph Speckbacher genüge, ihm läge nichts an dem ‚von‘, das sei nur für Herrenleut'; was seinen Bauernstolz anbelangt – darin ist er bis zum heutigen Tag der gleiche geblieben. Nun will ich meinen Brief, der ungebührlich lang geworden ist, schließen. Was meine Zukunft betrifft, so will ich an der Akademie für Berg- und Hüttenbau studieren und dann in einem Tiroler Eisenwerk arbeiten. Daß es mich überaus glücklich macht, wieder daheim zu sein bei den Meinen und in unseren Bergen, davon schreibe ich Ihnen nichts – weil ich weiß, daß Sie als Tiroler das auch ohne viele Worte verstehen. Es grüßt Sie, lieber Pater Schmiederer, in Ehrerbietung und bleibender Dankbarkeit Ihr Andreas Speckbacher
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