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S LTO
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ieser Band sammelt zwei Prosaarbeiten, von Fernando Pessoa, dem bedeutend sten Dichter der Moderne in der portugiesischen Literatur. Zunächst muß sich ein fassungsloser Zuhörer von seinem Freund, einem berühmten Bankier (und überzeugten Anarchisten), über das Rätsel der Welt als Fiktion und über die machtvollste aller Fiktionen, das Geld, belehren lassen. Eine verwirrende Predigt, die in der selbstverständlichen Folgerung gipfelt: Der wahre Anarchist wird Bankier, der wahre Bankier ist konsequenter Anarchist. ›Ein ganz ausgefallenes Abendessen‹ ist ein Nachtstück in Poe'scher Manier. Es führt in ein fiktives Berlin, wo vor dem Auditorium einer gastronomischen Gesellschaft ein unerhörtes Versprechen eingelöst wird. Reinold Werners Nachwort, das sich mit Leben und Werk Fernando Pessoas beschäftigt, ist zugleich eine editorische Erläuterung über zwei ungewöhnliche und lange selbst PessoaKennern unbekannt gebliebene Prosatexte.
FERNANDO P E S S O A Ein anarchistischer Bankier Ein ganz ausgefallenes Abendessen Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Reinhold Werner
gescannt von macska ›‹ (ohne Abb ildungen)
Verlag Klaus Wagen bach
B erlin
INHALT
Ein anarchistischer Bankier 9 Ein ganz ausgefallenes Abendessen 49
Nachwort 77
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ir hatten das Abendessen beendet. Mir gegenüber saß mein Freund, der Bankier, ein großer Händler und namhafter Schieber; er rauchte wie einer, der n icht denkt. Die Unterhaltung war allmählich ins S tocken geraten und erstarb schließlich ganz. Ich versuchte auf gut Glück, sie wieder in Gang zu bringen und bediente mich dabei der erstbesten Idee, die mir durch den Kopf ging. Lächelnd wandte ich mich ihm zu: »Richtig! Mir wurde erzählt, Sie seien früher Anarchist gewesen.« »Ich bin es nicht nur gewesen, ich bin es noch immer. In dieser Hinsicht habe ich mich nicht geänd ert. Ich bin Anarchist.« »Was Sie nicht sagen! Sie und Anarchist? Und wieso wären Sie Anarchist? ...Sie verstehen das Wort vielleicht anders...« »Anders als im gewö hnlichen Sinn? Nein, keineswegs. Ich gebrauche es im ganz gewöhnlichen Sinn.« »Sie wollen also sagen, Sie se ien Anarchist im selben Sinne wie diese Typen von den Arbeiterorganisationen? Es gäbe also keinen Unterschied zwischen Ihnen und diesen Bombenlegern und Ge werksc haftstypen?« »Doch doch, es gibt einen Unterschied... Natürlich gibt es einen Unterschied. Es ist aber nicht der, an den Sie denken. Sie glaub en vielleic ht, ich hä tte and ere G esellsc haftsth eorie n als sie?« 9
»Ach so, ich verstehe! Sie sind Anarchist in der Theorie, aber in der Praxis sind Sie...« »Ich bin in der Praxis ebensosehr Anarchist wie in der Theorie. Und das sogar noch m ehr, viel mehr als jene Typen, von denen Sie sprachen. Mein Leben ist der Beweis dafür.« »Wie bitte?« »Mein Leben ist der Beweis dafü r, jawo hl, mein Lieber . Sie haben offenbar diesen Dingen nie besondere Aufmerksamke it geschenkt. Deshalb glauben Sie, ich würde dummes Zeug reden oder mich über Sie lustig machen.« »Jetzt verstehe ich gar nichts m ehr! Es se i denn... es sei denn, Sie gehen davon aus, das Leben, das Sie führen, sei zersetzend und asozial; nun, wenn Sie Anarchismus so verstehen...« »Ich habe Ihnen schon gesagt: nein! Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich dem Wort Anarchismus keinen anderen als den gewöhnlichen Sinn unterlege.« »Gut! ...Aber ich ve rstehe imme r noch nicht... W ollen Sie mir erzählen, es gäbe keinen Unterschied zwischen Ihren wahrhaft anarchistischen Ideen und Ihrer Lebenspra xis? - ich meine: Ihrer jetzigen Lebenspraxis? Wollen Sie mir denn weismachen, Ihr Leben stimme in allen Punkten mit dem der gewöhnlichen Anarchist en übe rein?« »Nein! nein, das ist es nicht. Was ich sagen will, ist, dass meine Theorien in keiner Weise von meiner Lebenspraxis abweichen; ganz im Gegenteil, be ide stimmen ab solut über ein. Dass ich nicht das Leben der Bombenleger und Gewerkschaftstypen führe , stimm t. Doc h dere n Lebe n spielt sich jenseits des Anarchismus, jenseits ihrer Ideale ab. Meines nicht. In mir — jawohl, in mir, dem Bankier, dem großen Händler und Schieber, wenn Sie es so hören wollen — in mir vereinigen sich beide, Theorie und Praxis des Anarchismus, aufs genaueste. Sie haben mich mit diesen Idioten von Bombe nlegern, mit denen von der Gewerksc haft verglichen, um zu beweisen, ich sei anders als sie. Das bin ich auch, nur ist der Unterschied folgender: die da (jawo hl, die da, nicht ich) sind nur in der Theorie Anarchisten, ich bin es in der Theorie und in der Praxis. Die da sind Anarchisten und Dumm köpfe, ich bin Anarchist und gescheit. Darum, mein Guter, bin ich der wahre Anarchist. Die von den Gewerkschaften und die Bombenleger (ich war ja auch einer von ihnen und habe sie gerade um des wahren Anarchismus 10
willen verlassen) - sie stellen ja nur den Abfall des Anarchismus dar, sie sind d ie Drohnen d er großen ana rchistischen Lehre.« »Nicht einmal der Teufel würde seinen Ohren trauen! Das ist einfach umwerfend! Und wie bringen Sie Ihr Leben — ich meine Ihr Leben als Bankier und Händler — und die Theorie des Anarchismus auf einen Nenner? Wie bringen Sie beide auf e inen Nenner, wenn Sie sagen, Sie verstü nden unter ana rchistischer Theorie daßelbe wie die gewöhnlichen Anarchisten? Und noch dazu möchten Sie mir weismachen, Sie unterschieden sich von ihnen dadurch, daß Sie mehr Anarchist sind als jene, — ist dem nicht so?« »In der Tat.« »Jet zt ve rste he ich üb erha upt nicht s me hr!« »Liegt Ihnen denn daran, zu verstehen?« »Unbe dingt!« Die Zigarre in seinem Mund war ausgegangen; er nahm sie und zündete sie langsam wieder an, betrachtete das Streichholz bis es abgebrannt war, legte es behutsa m in den Aschenbecher, dann hob er den Kopf, den er eine Zeitlang gesenkt hatte und sagte: »Hören Sie! Ich komme aus dem Volk, ich stamme aus der Arbeiter klasse d er Sta dt. W ie Sie sich vor stellen kö nnen, ist mir nichts Förderliches in die Wiege gelegt word en, weder Rang noch entsprechende Verhältnisse. Es ergab sich lediglich, daß ich einen von Natur aus hellen Verstand besaß und einen hinreichend starken Willen. Doch hat te ich damit zwe i Gaben, die mir meine niedrige Herkunft nicht streitig machen konnte. Ich wurde Arbeiter, habe gearbeitet und ein bedrückendes Leben geführt, wie die meisten Leute aus jenem Milieu. Nicht daß ich Hunger gelitten hätte, doch hätte oft nicht viel daran gefehlt. Das hätte übrigens an allem, was daraus folgte und was ich Ihnen jetzt erzählen werde, nichts geändert, nichts an meinem früheren und nichts an meinem jetzigen Leben. Ich war alles in allem ein ganz gewöhnlicher Arbeiter: ich habe gearbeitet, weil ich arbeiten m ußte, aber so we nig wie eben möglich. Ich war nämlich gescheit. Bei jeder Gelegenheit las und diskutierte ich alles Mögliche, und weil ich nicht auf 11
den Kopf gefallen war, machten sich in mir große Unzufriedenheit und große Entrü stung breit üb er mein Los und üb er die gesellschaftlichen Bedingungen, die e s so haben wo llten. Ich habe Ihnen schon gesagt, es hätte schlimmer kommen können; aber damals schien mir, als sei ich ein Mensch, dem das Schicksal alle erdenklichen Ungerechtigkeiten angetan hatte, und als habe es sich dazu der gesellschaftlichen Konventionen bedient. Dam als war ich wohl zwanzig oder höchstens einundzwanzig Jahre alt, und in jener Zeit wurde ich Anarchist.« Er schwieg eine Weile, beugte sich noch mehr vor und fuhr fort. »Ich war im mer s chon m ehr o der w eniger aufgeweckt. Ich spürte diese Entrüstung in mir und wollte sie verstehen. So wurde ich zu einem bewußten und überzeugten Anarchisten -zu dem bewußten u nd überz eugten Anarc histen, der ich heute noch bin.« »Und Ihre heutige Theorie, ist das dieselbe wie damals?« »Dieselbe. Die anarchistische Theorie, die wahre Theorie, das ist doch ein und daßelbe. Ich habe an ihr festgehalten, seitdem ich mich zum Anarchisten gemacht habe, Sie werden gleich sehen... Wie ich Ihn en scho n sagte , war ic h von N atur aus he lle und wurde so zu einem bewußt en Anarchisten. Nur, was heißt das, Anarchist sein? Das heißt, sich gegen die Ungerechtigkeiten auflehnen, die darin bestehen, daß wir gesellschaftlich gesehen ungleich zur Welt kommen - das ist es, was einen Anarchisten ausmacht. Daraus folgt, wie sich zeigen läßt, die Auflehnung gegen die gesellschaftlichen Konventionen, die diese Ungleichheit erst ermöglichen. Was ich Ihnen jetzt erklären will, ist der psychologische Weg: wie wird einer zum Anarchisten? Ich komme gleich auf die Theorie zurück. Versuchen Sie jetzt einma l, die Entrüstung eines gescheiten Typen unter solchen Umständen nachzuvollziehen. Wie sieht er die Welt? Der e ine wird als Millionär gebore n und ist von Geb urt an gefeit gegen Mißgeschicke — und davon gibt es mehr als genug —, Mißgeschicke, die das Geld ve rhindert oder imme rhin abschwächt; ein anderer kommt armselig zur Welt und ist von Kind an ein Mund zuviel in einer Familie, die mehr Münder stopfen muß, als sie kann. Der eine kommt als Graf oder Marquis zur Welt und genießt die Hochachtung der Menschen, egal 12
was er tut; ein anderer, wie ich, muß klein beigeben, will er wie ein Mensch behandelt werd en. Manche w erden so ge boren, daß sie studieren, reisen und sich bilden können - sich intelligenter machen können (sagen wir es ruhig so) als andere, die es von Natur aus wären. So ist es und so wir d es alle s in allem weiterhin sein... D\e Ungerechtigkeiten der Natur — sei's drum! Wir können sie nicht abschaffen. Aber die der Gesellschaft und ihrer Verhältnisse — warum schaffen wir sie nicht ab? Ich nehme es hin, - und ic h habe gar ke ine and ere W ahl -, daß m ir jemand überlegen ist, weil ihm die Natur gewisse Gaben geschenkt hat: Talent, Kraft, Energie. Ich nehme nicht hin, daß er mir aufgrund solcher Eigenschaften überlegen sein soll, die erst später hinzugekommen sind und die er nicht hatte, als er den Bauch seiner Mutter verließ, die vielmehr ein glücklicher Zufall ihm verliehen hat, kaum daß er draußen w ar - Reichtum , eine gesellschaftliche Stellung, Erleichterungen im Leben usw. Und aus dieser Auflehnung, die ich Ihnen hier darzulegen versuche, ging damals mein Anarchismus hervor — jener Anarchismus — ich sagte das schon — zu dem ich mich nach wie vor unverändert bekenne.« Wieder schwieg er eine Weile, als müsse er erst überlegen, wie er fortfahren könnte. Er rauchte und blies den Rauch langsam an mir vorbei. Dann wandte er sich mir wieder zu und wollte gerade fortfahren, als ich ihn unterbrach. »Eine Frage, aus purer N eugier... Warum sind Sie eigentlich Anarchist? Sie hätten ebensogut Sozialist werden können oder auf sonst etwas Fortschrittliches, aber weniger Entlegenes zurückgreifen können. Das hätte sich doch auch mit Ihrer Auflehnung vereinb aren la ssen.. . Ich sch ließe au s dem , was S ie mir gesagt haben, d aß Sie Anarchismu s (und ich finde, das wäre eine gute Definitio n) als Au flehnun g gegen a lle gesellschaftlichen Konventionen und Form eln verstehen, als den Wunsch und das Bemühen, sie alle abzuschaffen...« »Genau das.« »Und warum haben Sie sich für diese extreme Lös ung entschieden und nic ht für ir gendeine andere... eine irgendwo dazwischen?...« 13
»Das werde ich Ihnen gleich sagen. Ich habe über all das lange nachgedacht. Selbstverständlich kam ich durch die Flugblätter, die ich las, mit all diesen Theorien in Be rührung. Ich entsch ied mic h für d ie anarc histische Theo rie - eine extreme Theorie, wie Sie ganz richtig bemerkt haben -, aus Gründen, die ich Ihnen in ein paar Worten verraten will.« Er starrte eine Zeitlang ins Leere. Dann wandte er sich wieder mir zu.
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as wahre Übel, das Üb el schlechthin, sind die gesellschaftlichen Konventionen und Fik tionen, die sich üb er die natürlichen Gegebenheiten legen — angefangen von der Familie bis hin zum Geld, von der Religion bis zum Staat. Man wird als Mann oder als Frau geboren — ich will damit sagen, man wird geboren, um a ls Erwa chsene r einma l Mann oder Frau zu sein; man wird aber nach den Gesetzen der Natur nicht geboren, um Ehemann oder um reich oder arm zu sein, ebensowenig kommt man als Katholik oder Protestant, als Portugiese oder Engländer zur Welt. All das wird m an nur unter d em Einfluß gesellschaftlicher Fiktionen. Warum aber sind diese gesellschaftlichen Fiktionen schlecht? Weil es sich um Fiktionen handelt, weil sie nicht natürlich sind. Der Staat ta ugt eben sowe nig wie das Geld, die Religionen ebensowenig wie eine Familiengründung. Gäbe es andere Fiktionen dieser Art, wären sie genauso schlecht, weil es auch nur Fiktionen wären, weil sie sich auch nur über die natürlichen Gegebenheiten legen würden und diesen im Wege wären. Und jedes System — außer dem rein anarchistischen, das ja all diese Fiktionen samt und sonders abschaffen will - ist auch nur eine Fiktion. All unser Wünschen und all unser Bemühe n, unsere ganze Intelligenz darauf zu verwenden, eine gesellschaftliche Fiktion durch eine andere zu ersetzen, wäre absurd, wenn nicht ein Verbrechen, weil das darauf hinausliefe, Aufruhr in die Gesellschaft zu tragen , und das ein zig und allein mit dem Ziel, nichts zu verändern. Wenn wir schon die ges ellschaf tlichen F iktionen unger echt find en, we il 14
sie das Natür liche im Menschen nied erhalten und u nterdrükken, warum dann unsere Kraft damit verschwenden, sie durch andere zu ersetzen, w o wir sie doch a lle vernichten könnten? Mir scheint, das ist schlüssig. Do ch nehmen wir einm al an, dem wäre nicht so; nehmen wir einmal an, man hielte dem entgegen, das alles sei ja ganz richtig, aber das anarchistische System sei in der Praxis nicht zu verwirklichen, prüfen wir ruhig diese Seite des Problems. Warum wäre das a narchistische System nicht zu verwirklichen? Wir Fortschrittler gehen alle von dem Grundsa tz aus, daß das gegenwärtige System ungerecht ist, darüber hinaus aber meinen wir, daß es durch ein gerechteres ersetzt werden muß, dam it Gere chtigkeit herrsc hen kann . Däc hten wir anders, wären wir keine Fortschrittler, sondern Bourgeois. Woher kommt nun das Kriterium für Gerechtigkeit? Aus dem, was natürlich und wahr ist, im Gegensatz zu den gesellschaftlichen Fiktionen und de n Lügen d er Konve ntion. Wenn aber etwas natürlich ist, dann ist es das ganz und gar nicht nur zur Hälfte, zu einem Viertel oder zu einem Ac htel. Na schön! Dann aber eines von beiden: entweder läßt sich das, was natürlich ist, gesellschaftlich verwirklichen oder es läßt sich nicht verwirklichen; ander s gesag t: entweder kann e ine Gesellschaft etwas Natürliches sein oder die Gesellschaft ist im wesentlichen Fiktion, dann kann sie in keiner Weise etw as Natürliches se in. Wenn eine Gesellschaft etwa s Natürliches sein kann, d ann kann es auch eine anarchistische oder freie Gesellschaft geben, muß es sie geben, weil sie eine ganz und gar natürliche Gesellschaft wäre. Kann eine Gesellschaft aber nicht etwas Natürliches sein, sollte sie (aus welchem Grund auch immer) Fiktion sein müssen, dann sollten wir sie als das kleinere Übel betrachten und sie innerhalb dieser unvermeidlichen Fiktion so natürlich wie möglich gestalten, damit sie auch so gerecht wie möglich ist. Und welches ist denn die natürlichste Fiktion? Keine ist an sich natürlich, da sie ja Fiktio n ist; am natür lichsten w äre in diesem Fall noch die, welche am natürlichsten erscheint, welche als am natürlichsten empfunden wird. Und welc he erscheint am natürlichsten oder welche empfinden wir als am natürlichsten? Die, an welche wir gewöhnt sind. (Verstehen Sie: etwas ist natürlich, wenn es aus dem Instinkt kommt, und was zw ar nicht aus d em Ins tinkt kom mt, w as ihm a ber a lles in 15
allem ähnelt, ist die Gewohnheit. Rauchen ist weder natürlich noch eine No twend igkeit de s Instinkts, doch habe n wir uns erst einmal ans Rauchen gewöhnt, kommt es uns natürlich vor, wird es wie eine Notw endigkeit des Instinkts empfunden.) Und welche gesellschaftliche Fiktion ist uns zur Gewohnheit geworden? Nun, das jetzige System, das bürgerliche System. Daraus ergibt sich, logisch betrachte t: entweder wir halten eine natürliche Gesellschaft für möglich, dann müßten wir den Anarchismus vertreten, oder aber wir m einen, sie sei nicht möglich, dann müßten wir das bürgerliche Regime verteidigen. Eine Hypothese dazwischen gibt es nicht. Konnten Sie mir folgen?... »Ja, das ist durchaus schlüssig.« »Noch nicht ganz schlüssig... No ch gilt es einen anderen Einwand derselben Art auszusc halten... Man könnte darin übereinstimmen, daß das anarchistische System zwar verwirklicht werden kann, man könnte aber bezweifeln, daß es mit einem Mal verwirklicht wird — bezweifeln, daß es einen Übergang von der bürge rlichen zur freien Ges ellschaft gibt, o hne da ß sich ein oder mehrere Stadien bzw. Regimes dazwischen-schalten. Wer einen solchen Einwand vorbringt, hält d ie anarchistische Gesellschaft zwar für gut und machbar; doch schwant ihm, daß es ein Übergangsstadium geben muß zwischen bürgerlicher u nd anarchistischer Gesellschaft. Na schön. Nehmen wir einmal an, daß dem so sei. Was fü r ein Übergangsstadium wäre das? Unse r Ziel ist die anarchistische oder freie Gesellschaft. Folglich kann das Übergangsstadium nur eines sein, das die Me nschheit auf die freie Ge sellschaft vorbereitet. Diese Vorbereitung ist entweder materieller oder geistiger Art; das heißt, entweder handelt es sich um e ine Reihe materieller bzw. gesellschaftlicher E rrungenschaft en, mit deren Hilfe sich die Menschhe it auf die freie Gesellschaft einzustellen lernt, oder es handelt sich um bloße Aufklä rung, die immer mehr an Bo den u nd Einflu ß gewinn t und d ie die Mens chheit geistig dahin bringt, diese freie Gesellschaft zu wünschen und zu akzept ieren. Nehmen wir einmal den ersten Fall an, die allmähliche materielle Umstellung der Mensc hheit auf die freie Gesellschaft. Das wäre unmöglich — mehr als unmöglich, es wäre absurd. Mate riell kann man sich nur auf etwas schon Existierendes umstellen. Niemand von uns kann sich mate riell auf das gesell16
schaftliche Milieu des'2.3 . Jahrhund erts umstellen, auch wenn er wüßte, wie es bescha ffen wäre; und er kann sich deshalb nicht mate riell darauf umstellen, weil das 13. Jahrhundert m it seinem gesellschaftlichen Milieu materiell noch nicht existiert. Und so kommen wir zu dem Schluß, daß beim Übergang von der bürgerlichen zur freien Ge sellschaft von Umstellung, Wandlung oder Wechsel nur geistig die Rede sein kann, nämlich so, daß sich die Leute geistig allmählich auf die Idee einer freien Gesellschaft einstellen... Was dagegen die m aterie lle Umstellung anbelangt, gäbe es noch die Hypothese...« »Zum Kuc kuc k mit all Ihr en Hyp othe sen!« »Lieber Mann! Jemand mit einem wachen Verstand muß doch erst alle denkbaren Einwände prüfen und widerlegen, bevor er dann behaupten kann, er sei sich seiner Lehre sicher. Überdies ist das alles die Antwort auf eine Frage, die Sie m ir gestellt haben.« »Schon gut.« »Was also die materielle Umstellung anbelangt, gibt es jedenfalls, wie ich schon sagte, noch eine andere Hypothese. Und zwar die einer revolutionären Diktatur.« »Wie? Einer re volutionä ren Diktatu r?« »Wie ich vorhin schon dargelegt habe, kann es keine materielle Umstellung auf etwas geben, das materiell noch gar nicht existiert. Wenn aufgrund einer plötzlichen Ersc hütte rung e ine gesellschaftliche Revolution sta ttfänd e, wü rde nic ht eine fr eie Gesellschaft errichtet (die Menschheit wäre darauf ja noch nicht vorbereitet), sondern die Diktatur derer, die die freie Gesellschaft einführen wollen. Es existierte somit schon materiell etwas von de r freie n Gese llschaft, wenn au ch nur im Entwu rf, in der Anlage. Es gäbe folglich etwas Ma terielles, auf das sich die Menschheit einstellen könnte. Und genau das ist das Argument, das jene Schwachköpfe vertreten würden, die eine »Diktatur des Proletariats« vertreten, wenn sie nur in der Lage wären, zu argumentieren oder zu denken. Selbstverständlich stammt das Argume nt nicht von ihnen: es stammt vo n mir. Ich führe es als Einwand gegen mich selber an. Und, wie ich Ihnen jetzt zeigen werde - e s ist falsch. Ein revolutionäres Regime, welches Ziel es auch immer ansteuern mag, von welchen Ideen es sich auch immer leiten läßt, ist materiell gesehen, solange es existiert, nur eines — ein revolu17
tionäres Regime. Nun bedeu tet revolutionäres Regime aber Kriegsdiktatur oder, um es genauer zu bezeichnen, ein militärisches Gewaltregime, weil näm lich der Kriegszustan d üb er die Gesellschaft verhängt würde, und zwar von einem Teil ihrer selbst — jenem Teil, der mit der Revolution die Macht übernommen hat. Und was kommt dabei heraus? Heraus kommt dabei, daß derjenige, der sich auf ein solches Regime einstellt, das materiell und umstandslos ein militärisches Gewaltregime ist, sich auf ein militärisches Gewaltregime einstellt. Die Idee, von der sich die Revolutionäre hatten leiten lassen, und das Ziel, das sie angesteuert hatten, sind jetzt vollstä ndig aus der gesellschaftliche n Wirklichkeit verschwund en, die vielmehr aussc hließlich von kriegerischem Geschehen in Anspru ch genom men wird. So entspringt also einer revolutionären Diktatur — und das um so mehr, je länger diese Diktatur dauert — eine kriegerische Gesellschaft von der Art einer Diktatur, mit anderen Worten, eine militärische Gewaltherrs chaft. Wie könnte de m auc h ande rs sein? E s ist ja nie anders gewesen. Ich kenne m ich in der Geschichte nicht besonders aus, doch das, was ich w eiß, bestätigt das alles nu r und hat es immer wieder bestätigt. Was ist aus den politischen Unruhen Roms he rvorgeg angen? Das römische Im perium u nd seine militärische Gewaltherrschaft. Was ist aus der Französischen Revolution hervorgegangen? Napoleo n und seine militärische Gewaltherrschaft. Und Sie werden noch sehen, was die russische Re volution hervor bringe n wird. .. Etw as, da s die Verwirklichung der freien Gesellschaft um Jahrzehnte verzögern wird. Aber was darf man schon von einem Volk von Analphabeten und Mystikern erwarten?... »Doch das gehö rt nicht hierhe r... Haben Sie meinen Argumenten folgen können ?« »Durchaus.« »Dann verstehen Sie auch, warum ich zu folgender S chlußfolgerung gekommen bin; Ziel: die anarchistische Gesellschaft, die freie Gesellschaft. Mittel: übergangsloser Wechsel von der bürgerlichen zur freien Gesellschaft. Dieser Wechsel könnte vorbere itet und ermö glicht werden mit Hilfe einer intensive n, tota len, allumfassenden Aufklärungsarbeit; sie würde die Leute empfänglich machen und jeden Widerstand schwächen. Selbstverständlich verstehe ich unter ›Aufklä18
rungsarbeit› nicht nur das geschriebene oder gesprochene Wort: ich verstehe darunter jede direkte oder indirekte Aktion, sofern sie daz u beit rägt, d ie Leute für die freie Ge sellschaft empfänglich zu machen und den Widerstand gegen ihre Heraufkunft zu schwächen. Wenn es dann qu asi keinen Widerstand mehr gibt, kö nnte sich die ges ellschaft liche Re volutio n, wen n sie denn stattfindet, rasch und leicht vollziehen, und sie hätte keine revolutionäre Diktatur nötig, de nn gegen wen sollte sie sich überhaupt richten? Wenn sich aber die Dinge so nicht ereignen können, hieße das, daß sich de r Anarchismu s nicht verwirklichen läßt; und wenn sich der Anarchismuss nicht verwirklichen läßt, dann ist, wie ich schon nachgewiesen habe, nur die bürgerliche Gesellschaft verteidigenswert und gerecht. Sie sehen a lso, wa rum und w ie ich zum Anarchisten wurde und warum und wie ich die übrigen, weniger kühnen Soziallehren als falsch und naturwidrig verworfen habe. Das war's! ...Nehmen wir jetzt meine Geschichte wieder auf.« Er ließ ein Streichholz aufflammen und zündete sich langsam seine Zigarre an. Dann konzentrierte er sich, um nach einer kleinen Pause fortzufahren.
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s gab eine Reihe anderer junger Burschen, die meine Ansichten teilten. Bei den meisten handelte es sich um Arbeiter, doch nicht bei allen; alle aber waren arm und, soweit ich mich erinnere, nicht gerad e dum m. Alle wollten wir uns in gewissem Sinne weiterbilden, Dinge kennenlernen und gleichzeitig Aufklärun gsarb eit ma chen, u nsere Ideen unter die Leute bringen. Wir wollten für uns und für die anderen — für die ganze Menschheit - eine neue Gesellschaft, eine Gesellschaft frei von all diesen Vorurteilen, die auf künstliche Weise die Menschen für ungleich erkläre n und ihnen Minderwe rtigkeiten, Gebrechen und Beschränktheiten andichten, mit denen die Natur nichts im Sinn hat. Was mich betrifft, so wurde ich durch die 19
Lektüre in meinen Ansichten bestärkt. Von den preiswerten anarchis tischen Veröffentlichungen jener Zeit, es gab davon damals schon mehr als genug, las ich fast alles. Ich ging zu den Vorträgen und Versammlungen derer, die damals Aufklärungsarbe it betrieben. Jedes Buch und jede Rede überzeugten mich nur noch mehr von der Richtigkeit und Wahrheit meiner Ideen. Und wovon ich damals überzeugt war — mein lieber Freund, ich sage das gerne noch einmal —, davon bin ich noch heute überzeugt; der einzige Unterschied ist, daß ich dam als von Ideen überzeugt war, heute aber bin ich von ihnen überzeugt und lebe gleichzeitig danach.« »Nun ja, das mag ja angehen, schön! Wahrscheinlich sind Sie so zum Anarchisten geworden und ich gestehe Ihnen zu , daß Sie Anarchist waren. Es sind keine weiteren Beweise vonnöten. Ich würde nur gern wissen, wie daraus der Bankier entstanden ist..., wie das ohne Widerspruch vor sich gehen konnte... Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, daß...« »Sie können sich gar nichts vorstellen. Ich weiß schon, was Sie sagen wollen... Sie stützen sich auf die Argumente, die Sie soeben vernommen haben und Sie glauben, ich sei der Meinung, der Anarchismu s ließe sich nicht verwirklichen, und daß deswegen, wie ich eben sagte, einzig die bürge rliche Gesellschaft verteidigenswert und gerecht sei - stimmt's...« »Ja, so oder ähnlich dachte ich mir das...« »Und wie sollte das möglich sein, wo ich Ihnen doch zu Beginn unserer Unterhaltung gesagt und auch wiederholt habe, daß ich Anarchist bin, daß ich nicht nur einer war, sondern immer noch einer bin? Wenn ich aus dem Gru nd, d en Sie in Rechnung stellen, Bankier und Händler geworden wäre, wäre ich nicht Anarchist, sondern Bourgeois.« »Ja, da haben Sie wohl Recht... Aber wie zum Teufel...? Also, schießen Sie los!...« »Wie ich Ihnen schon sagte, bin ich (war ich immer) jemand mit einem wache n Verstand und außerdem ein Mann der Tat. Dabei handelt es sich um natürliche Eigenschaften; sie wurden mir nicht erst in die Wiege gelegt (wenn ich jemals eine Wiege hatte), höchstens habe ich sie da reingelegt. Als Anarchist fand ich es unerträglich, nur passiv Anarchist zu sein, nur immer Rede n anzu hören und m it den Freu nden d arüb er zu diskut ieren. Nein: es mußte etwas geschehen! Es mußte gearbeitet wer20
den und für die Sache der Unterdrückten und der Opfer gesellschaftlicher Konventionen gekämpft werden! Ich beschloß, im Rahmen des Möglichen, die Sache in die Hand zu nehmen. Ich überlegte mir, wie ich der anarc histische n Sache dienlich s ein könnte. Ich ließ mir einen Aktions plan durch d en Kopf gehe n. Was will denn ein Anarchist? Freiheit - Freiheit für sich und die anderen, für die ganze Menschheit. Er möchte sich vom Einfluß und dem Druck der gesellschaftlichen Fiktionen befreien, er möchte frei sein, wie damals, als er geboren wurde und ins Leben trat, so frei, wie er es eigentlich immer sein sollte, ginge es gerecht zu, und d iese Fr eiheit will e r für s ich und die anderen. Nur kö nnen vo r der Natu r nicht alle gleich se in: die einen kommen groß, die anderen klein zur Welt; die einen sind von Geburt an stark, die anderen schwach; manche sind intelligent, andere sind es weniger... Doch von diesem Tatbestand aus könnten alle gleich sein, nur - die gesellschaftlichen Fiktionen verhindern es, und so galt es, die gesellschaftlichen Fiktionen zu vernichten. Es galt, sie zu vernichten. Doch eines entging mir dabei durchaus nicht: es galt, sie zu vernichten, aber zugunsten der Freiheit, die Er richtu ng einer freien G esellsc haft mu ßte im Auge behalten werden. Denn man kann gesellschaftliche Fiktione n um d er Fre iheit willen vernichten, um ihr den Weg zu ebnen, aber auch, um neue gesellschaftliche Fiktionen heraufzubesc hwören, die schon insofern nichts tau gen können, als es sich auch wiederum nur um Fiktionen handelt. Vorsicht war also geboten. Es galt, einen Aktionsplan zu entwerfen - ob mit oder ohne Gewalt, egal (denn angesichts der herrschenden Ungerechtigkeiten war alles erlaubt) -, einen Plan, der dazu beitragen würde, die gesellschaftlichen Fiktionen zu vernichte n, ohne deshalb die Sc haffung künftiger Freiheit zu be hindern; also mußte im Rahmen des Möglichen schon etwas von der zukünftigen Freiheit gesc haffen werden. Bei dieser Freiheit, die nicht behindert werden durfte, handelte es sich selbstverständlich um eine Freiheit in der Zukunft und, in der Gegenwart, um die Freiheit derer, die von den gesellschaftlichen Fiktionen unterdrückt wurden. Es versteht sich von selbst, daß wir nicht darauf achtzugeben brauchten, ob wir vielleicht die »Freiheit« der M ächtige n, der Gutsit uierte n, all jener behinderten, die die gesellschaftlichen Fiktionen reprä21
sentierten und von ihnen pro fitierten. Ihre Freiheit ist keine Freiheit, es ist die Freihe it zu tyra nnisiere n, also das Gegen teil von Freiheit. Eben die, die es im Gegenteil unter allen Umständen zu verhindern und zu bekämpfen galt. Das ist doch einleuchtend — oder?« »Durchaus einleuchtend... Fahren Sie fort...« »Für wen will ein Anarchist Freiheit? Für die ganze Menschheit. Und wie erreicht man Fr eiheit fü r die ganze Menschheit? Indem man alle gesellschaftlichen Fiktionen völlig vernichtet. Und wie lassen sich die gesellsc haftlichen Fiktionen völlig vernichten? Ich habe Ihnen vorhin s chon d ie Erklärung dafür gegeben, als ich auf Ihre Frage hin die anderen fortschrittlichen Systeme erörterte und Ihnen erklärte, warum und wie ich zum Anarchisten wurde... Erinnern Sie sich noch an die Schlußfolgerung?« »Ich erinnere mich...« »Eine überwältigende Revolution, plötzlich und unerwar tet, Ergebnis: die Gesellschaft geht mit einem Sprung vom bürgerlichen Regime in eine freie Gesellschaft über. Diese gesellschaftliche Revolution, von langer Hand und mitt els direkter und indirekter A ktionen intensiv vorber eitet, u m die Leute für die Heraufkunft der freien Gesellschaft empfänglich zu machen und um die Widerstände der Bour geoisie bis hin zur Bewu ßtlosigke it zu schwäc hen... Ich bra uche Ihnen nich t all die Gründe zu wiederholen, die, auf den Ana rchismus be zogen, unweigerlich zu dieser Schlußfolgeru ng führen. Ich habe sie Ihnen schon auseinandergesetzt, und Sie haben sie ja begriffen.« »Eben.« »Eine solche Revolutio n könnte günstigenfalls eine Weltrevolution sein, die gleichzeitig an allen Ecken der Welt oder zumindest an den wichtigsten Ecken — ausbrechen würde; oder, falls nich t, die im merh in von eine r Ecke auf die andere übergreifen wü rde, — sie w äre auf jeden F all fulminant und fände übera ll, d. h. in jeder Nation statt. Na schön! Aber welchen Beitrag könnte ich dazu leisten? Ich allein könnte sie nicht machen, die große Weitrevolution, ich könnte nicht einmal in meinem eigenen Land eine ganze Revolution auslö sen. E inzig und allein kön nte ich m it all meinen Kräften mithelfen, d iese Revolution vo rzubereiten. Ich habe Ihnen schon erklärt, w ie: indem ich mit allen verfügbaren Mit22
teln die gesellschaftlichen Fiktionen bekämpfe, indem ich weder diesen Ka mpf b zw. d ie Aufk lärung sarb eit für e ine freie Gesellschaft behindere, no ch die zukünftige Fr eiheit oder d ie jetzige Freiheit der Unterdrückten beeinträchtige, indem ich jetzt schon, wenn möglich, etwas von dieser zukünftigen Freiheit schaffe.« Er zog den Rauch ein, machte eine kurze Pause und fuhr dann fort.
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abei, lieber Freund, konnte ich meinen ganzen Scharfsinn ins Werk setzen. Für die Zukunft zu arbeiten, ist gut, dachte ich; für die Freiheit der anderen zu arbeiten, ist rechtens. Doch wo bleibe ich bei all dem? Zähle ich nicht? Wäre ich ein Christ gewesen, hätte ich mich rüstig für die Zukunft der anderen eingesetzt, den n dann h ätte ich ja meine Belohn ung im Himmel erhalten. Nur , wäre ich Christ gew esen, wäre ich nicht auch Anarchist gewesen, denn derlei Ungerechtigkeiten hätten in diesem kurze n Lebe n kein Ge wicht ge habt: sie wäre n nur T eil der irdischen Prüfunge n gewesen, und das ewige Leben hätte einen für sie entschädigt. Doch ich war ja nicht Christ und bin nicht Christ; also fragte ich mich: für wen soll ich mich eigentlich aufopfer n? Mehr noch: warum soll ich mich überhaupt aufopfer n? Mir kame n Mom ente d es Zw eifelns; S ie verst ehen w ohl, warum... Ich bin Materialist, da chte ich; ich habe nur dieses eine Leben; warum also soll ich mich mit Aufklärungsarbeit, sozialen Ungleichheiten und anderen Geschichten herumschlagen, wo ich mich doch an allem Möglichen erfreuen, mich zerstreuen könnte, statt mich mit all dem zu befassen? Warum soll einer, der nur dieses eine Leben hat, der nicht an das ewige Leben glaubt, der kein anderes Gesetz als das der Natur anerkennt, der sich dem Staat widersetz t, weil e r unna türlich is t, und der E he, we il sie unnatürlich ist, dem Geld, weil es unnatür lich ist, all den gesellschaftlichen Fiktionen, weil sie unnatürlich sind, warum zum Kuckuck soll der eigentlich für Selbstlosigkeit eintreten und sich für andere, für die ganze 23
Mens chheit aufopfern, wo doc h Selbstlosigkeit und Au fopferung auch unnatür lich sind? Jawohl, dieselbe Logik, die mir vor Augen geführt hatte, daß der Mensch nicht geboren wird, um zu heiraten oder um Portugiese, um reich oder arm zu sein, dieselbe Logik sagte mir, daß er ebensowenig geboren wird, um solidarisch zu sein, daß er einzig und allein geboren wird, um er selber zu sein, also das Gegenteil von selbstlos und solidarisch, kurz: e in vollkommener Egoist. Ich habe diese Fr age mit mir selber diskutiert. Denke daran, sagte ich mir, daß d u mit deinem Eintritt ins Leben zum Menschengeschlecht gehörst, also die Pflicht hast, mit allen anderen Menschen so lidarisch zu sein. Aber ist denn die Idee der »Pflicht « natür lich? Woher kommt überhaupt diese Idee? Wenn mich diese Pflichtidee dazu verpflichtet, mein Wohlergehen, meine Annehmlichkeiten, meinen Selbsterhaltungstrieb und andere natürliche Triebe aufs Spiel zu setzen, unterscheidet sich dann noch die Ausführung dieser Idee von der Ausführung irgendeiner gesellschaftlichen Fiktion, die in uns genau dieselbe Wirkung hervorruft? Diese Idee der Pflicht, der Solidarität mit den Menschen könnte man nur dann als eine natürliche betrachten, wenn sie mit einer Entschädigung für das Ich einherginge, weil sie dann im Prinzip zwar immer noch dem natürlichen Egoismus widersprechen würde, ihm letzten Endes aber nicht widerspräche, weil eine Entschädigung gewährt wird. Ein Vergnügen preiszugeben, es so ohne weiteres preiszugeben, das wäre nicht natürlich; ein Vergnügen jemand anderem zuliebe preiszugeb en, liegt schon im Rahme n des Natür lichen: es gilt also, von zwei nat ürliche n Dingen , die m an nicht g leichze itig haben kann, eines zu wählen, und zwar d as bessere . Und welche eigennützige bzw. natü rliche Entschädigung wird mir gewährt, wenn ich mich der Sache der freien Gesellschaft und des zukünftigen Glücks d er Men schheit vers chreibe ? Einzig das Bewusstse in, meine Pflicht getan zu haben, mich für einen guten Zweck eingesetzt zu haben; und das hat nichts mit eigennütziger Entschädigung, nichts mit einem Vergnügen an sich zu tun, es könnte allenfalls ein Vergnügen sein, wenn es denn eines ist, das einer Fiktion entspringt, so wie es ein Vergnügen se in kann, unendlich reich zu sein ode r in eine gute gesellschaftliche Position hineingeboren z u werde n. 24
Ja, ich gestehe, mein Lieber, daß es Momente des Zweifelns gab... Ich empfand wie einer, der seine Überzeugungen verraten hat, ich fühlte mich wie ein Verräter... Doch damit habe ich bald aufgeräumt. Ich war der Meinung, daß ich wußte, was Gere chtigke it bedeutet. Ich empfand sie wie etwas Natürliches. Ich spürte, daß es eine Pflicht gab, die mehr galt, als sich mit dem eigenen Schicksal zu beschäftigen. Also bohrte ich weiter. « »Mir scheint nicht, daß dieses Vorhaben von großem Scharfsinn Ihrerseits zeugte... Sie ha ben die Schwierigkeit nicht gelöst... Sie machten au s einem ganz sentimentalen Antrieb heraus weiter...« »Zweifelsohne. Aber ich erzähle Ihnen hier, wie ich zum Anarchisten wurde, warum ich es blieb und immer noch bin. Ich setze Ihnen ehrlich mein Zöger n und meine Schwierigkeiten auseinander und wie ich sie überwunden habe. Ich gestehe, daß ich seinerzeit die logischen Schwierigkeiten gefühlsmäßig überwunden habe und nicht mittels Überlegu ng. Doch Sie wer den sehen, daß ich später, als ich zum völligen Verständnis des Anarchismus gelangt war, diese Schwierigkeit, die bis dahin ohne logisch befriedigende Antwort geblieben war, voll und ganz löste. »Seltsam...« »Vielleicht... Aber lassen Sie mich in meiner Geschichte fortfahren! Ich hatte diese Schw ierigkeit und ich habe sie gelöst so gut ich konnte, wie ich Ihnen schon sagte. Doch bald darauf tauchte eine andere Schwierigkeit auf, die imme r noch dam it zu tun hatte und die mich reichlich verwirrte. Es mochte ja angehen — warum nicht? —, daß ich bereit war, mich aufzuopfern, und das, ohne persönlich dafür belohnt zu werden, d. h. o hne eine wirklich natürliche Belohnung. Aber nehmen wir einmal an, die zukünftige Gesellschaft würde sich nicht so gestalten, wie ich es vo n ihr erhoffte, sie hätte nichts von der freien Gesellschaft an sich, für die ich mich doch, zum Teufel noch m al, au fopfe rn wo llte. Mic h ohne je de pe rsönlic he Belohnung aufzuopfern, mich ohne jeden Eigengew inn für eine Idee einzusetzen, m ochte ja noch angehen; aber mich aufzuopfern ohne die geringste G ewissheit, daß d as, wofür ich arbeitete, eines Tages auch existieren würde, daß also die Idee, für die ich mich einsetzte, an Boden gewinnen würde, — das ging zu 25
weit... Ich sage Ihne n gleich, d aß ich au ch dies e Schw ierigkeit mit Hilfe des Gefühls üb erwunde n habe, so wie ich sc hon die anderen überwunden hatte; doch gebe ich Ihnen auch zu bedenken, daß ich sie, ebenso wie die and ere, a utom atisch m it Hilfe der Logik überwand - von dem Moment an, wo der Anarchismus in mir zu vollem Bew usstsein gelangte... S ie werden noch sehen... Doch zu jener Zeit, von der die Rede war, half ich mir mit ein paar leeren Phrasen aus der Patsche: ›Ich habe meine Pflicht ge genüb er de r Zuk unft ge tan, so ll die Zukunft nun die ihre mir gegenüber erfüllen›... so oder ähnlich... Ich setzte meine Schlußfolgerung, vielmehr meine Schlußfolgerungen den Genossen auseinander, und alle stimmten mir zu; sie stimmten mir darin zu, daß es darauf ankam, voranzuschreiten und sich ganz für die freie G esellsc haft einz usetz en. Zw ei oder drei allerdings, und zwar von den Intelligentesten, blieben schwankend, nicht etw a, da ß sie mir nicht zugestimm t hätten, nur hatten sie die Sache noch nie so klar gesehen und auch nicht die Kniffligkeiten in diesen Dingen... Am Ende aber waren alle mit mir einig... Wir würden alle für die große gesellschaftliche Revolution, für eine freie Gesellschaft arbeiten, die Zukunft würde uns Recht geben — oder auch nicht! Wir waren eine Gruppe von überzeugten Leuten und fingen mit der großen Aufklärungsarbe it an — groß, na ja, im Rahmen d es uns Möglichen. Eine geraum e Zeit waren w ir ungeachtet aller Schwierigkeiten und Zerwürfnisse und trotz so mancher Verfolgung für das anarchistische Ideal tätig.« An dieser Stelle machte der Bankier eine etwas längere Pause. Die Zigarre, die wieder einmal ausgegangen war, zündete er nicht mehr an. Ein flüchtiges Lächeln trat plötzlich auf seinen Mund, und er sah aus wie jemand, der am entscheidenden Punkt angelangt ist, richtete seinen Blick noch fester auf mich und fuhr dann m it klarer Stimme und mit mehr Nachdruck fort. 26
f -i" jenem Zeitpunkt-tauchte ein neues Problem auf. ›Zu jenem Zeitpunkt ist so eine Redensart. Ich will sagen, daß ich nach ein paar Monate n Aufklärungsarbeit allmählich eine neue Verwicklung wahrnahm, und zwar die be denklichste von allen, eine, die ins Gewicht fiel. Sie erinnern sich doch noch, nicht wahr?, wie ich dank strengen Nachdenkens die Methode anarchistischen Handelns festgelegt hatte... Eine Met hode bzw. Metho den, m it dere n Hilfe die gesellschaftlichen Fiktionen zerstört werden sollten, ohne daß deswegen die Errichtung einer freien Gesellschaft beeinträchtigt würde, ohne daß also im geringsten das bißchen Freiheit derer beeinträ c h t i g t w ü r d e, d ie geg en w ärtig von den gesellschaftlichen Fiktionen unterdrü ckt werde n; eine Methode, die, wenn eben möglich, schon etwas von der zukünftigen Freiheit vorwegnehmen würde... Na schön! nachdem dieses Kriterium nun einmal feststand, verlor ich es nicht m ehr au s den A ugen. .. Nu n, zu d er Ze it, als wir Aufklä rung b etrieb en, ich s prac h gerad e davo n, fiel mir etwas auf. In der Pro pagandagr uppe — wir waren nicht zahlreich, etwa vierzig, ich kann mich auch irren - stellte sich folgendes heraus: es entstand eine Tyrannei.« »Es entstand Tyrannei?-Tyrannei? Wie d enn das?« »Auf folgende Weise.. . ein paar befe hligten den Rest und lenkten ihn nach ihrem Willen; ein paar beherrschten den Rest und verpflichteten ihn, sich nach ihnen zu richten; ein paar schafften es mit List und Tü cke, sich den Rest ge fügig zu machen. Ich will nicht behaupten, daß davon wichtige Angelegenheiten berührt waren. Es gab im übrigen auch gar keine wichtigen Angelegen heiten. Ta tsache aber ist, daß stet s und ständ ig dieses Phäno men a uftra t, und zwar nicht nu r in Zusamm enhang mit de r Aufk lärung sarb eit, au ch auß erhalb , in den ganz gewöhnlichen Dingen des Lebens. Die einen wurden unmerklich zu An führe rn, die anderen unm erklich zu Untertane n. Die einen wurden Anführer, weil sie Machtworte, ande re, w eil sie Kniffe anwendeten. Das zeigte sich in den läppischsten Situationen. Zum Beispiel: zwei Jungs gehen gemeinsam durch eine Straße; am End e der Straße angekomm en, soll der eine rechts, der andere links weitergehen; jeder hat gute Gründe, seine Richtung einzuschlagen. Doch der, welcher links einbiegt, sagt zum anderen: »Komm mit, hier lang!«, und der andere ant27
wortet, und das stimmte ja auch: »Mensch, das kann ich doch nicht! Ich muß doch da lang!« - aus diesem oder jenem Grunde... Schließlich aber biegt der andere gegen seinen Willen und Vorte il mit nac h links ein... Und das gesc hah mal aufgru nd von Überredungskünsten, mal auf Drängen hin, ein anderes Mal aus irgendeinem and eren Grund ... jedenfalls nie aus logischen Gründen; immer lag diesem Sichdurchsetzen und Sichunterordnen etwas Spontanes, irgend etwas Instinktives zugrunde... Und so wie in den banalen Fällen ging e s auc h in allen anderen Fällen zu, von den nichtssagendsten bis hin zu den wichtigsten. .. Begre ifen Sie die Situ ation?« »Durchaus. Aber was zum Teufel ist daran so seltsam? Das ist doch das Natürlichste von der Welt!... « »Mag sein! Wir werden sehen, warten Sie nur ! Halten Sie jetzt aber einmal fest, daß es sich um das Gegenteil dessen handelt, was der Anarchismus lehrt. Machen Sie sich einmal klar, daß das alles in einer kleinen Grupp e geschah, einer G ruppe o hne Einfluß und Bedeutung, einer Gruppe, die nicht mit der Lö sung eines schwerwiege nden Problems oder mit d er Entscheidu ng über eine bedeutende Angelegenheit betraut war. Und machen Sie sich klar, daß es sich um Leute handelte, die sich ausdrücklich zusammengefund en hatten, um im Rahmen des ihnen Möglichen für die anarchistische Sache zu arbeiten -das heißt, um so gut wie möglich die gesellschaftlichen Fiktionen zu bekämpfen und so gut wie möglich die zukünftige Gesellschaft zu schaffen. Haben Sie sich diese zwei Punkte gemerkt?« »Habe ich.« »Ich bitte Sie, was heißt das aber? Eine kleine Gruppe aufrichtiger Leute (ich stehe dafür ein, daß sie aufrichtig waren!), die sich ausdrücklich zusammengetan und vereint hatte, um sich für die Sache der Freiheit einzusetzen, konnte nach ein paar Monaten nichts anderes an Konkretem und Handfestem vorweisen als - Tyrannei in den eigenen Reihen. Und machen Sie sich einmal klar, um was für eine Tyrann ei es sich dabei handelte... Es handelte sich nicht um eine Tyrannei, die das Ergebnis gesellschaftlicher Fiktionen gewesen wäre; man hätte so etwas, wenn es auch bedauerlich gewesen wäre, bis zu einem bestimmten Punkte entschuldigen können, allerdings weniger bei uns, die wir ja diese Fiktionen bekämpfen wollten, als bei 28
anderen; doch schließlich lebten wir mitten in einer Gesellschaft, die auf diesen Fiktionen errichtet war und es konnte nicht au sschließ lich uns a ngelaste t werd en, we nn wir ihren Auswirkunge n nicht gänzlich zu entgehen verm ochten. Aber das war ja nicht das Eigentliche. Die, welche die anderen befehligten bzw. sie nach ihrem Willen lenkten, taten das nicht mit Hilfe von Geld oder kraft ihres Ranges oder irgendeiner fiktiven Autorität, die sie sich angemaßt hätten, - nein, es geschah aus einem Handeln heraus, das mit gesellschaftlichen Fiktionen nichts zu tun hatte. Das heißt: gemessen an den gesellschaftlichen Fiktionen handelte es sich dabei um eine neue Art Tyrannei. Diese Tyrannei wurde auf M ensche n ausge übt, die ihrerseits ganz wesentlich von den gesellschaftlichen Fiktionen unterdrü ckt wurden. Obendrein wurde sie in den eigenen Reihen ausgeübt, und zwar von Menschen, deren erklärte Absicht es war, Tyrannei abzuschaffen und Freihe it zu schaffen. Jetzt übertragen Sie einmal den Fall auf eine viel größere, viel einflußreichere Gruppe, die sich mit viel wichtigeren Fragen und mit grundlegenderen Entscheidungen befaßt hätte. Nehmen Sie einmal an, diese Gruppe richtete ihre ganze Kraft darauf, eine freie Gesellschaft zu schaffen, wie das bei unserer Gruppe der Fall war. Und jetzt sagen Sie mir, ob Sie hinter dieser erdrückenden Anhäufung einander überschneidender Tyranneien noch etwas von einer zukünftigen Gesellschaft sehen, die einer freien oder menschenwürdigen Gesellschaft ähnelte ...« »Ja, das ist sehr seltsam...« »Seltsam, nicht wahr? ...Und schauen Sie, es gab auch äußerst seltsam e Neb eners cheinungen... zum Beispie l: die Helfertyrannei ...« »Die was?« »Die Helfertyrannei. Es gab welche bei uns, die, statt die anderen zu befehligen, statt sie zu beherrschen, ihnen im Gegensatz halfen, wo sie nur konnten. Das sieht doch wie ein Gegensatz aus, nicht wahr? Doch weit gefehlt! Es lief auf daßelbe hinaus. Es war dieselbe neuartige Tyrannei und dieselbe Art von Verstoß gegen anarchistische Prinzipien.« »Also, das ist ja... und wieso?« »Jemandem helfen, lieber Freund , heißt jeman den fü r unfä hig erklären; wenn d ieser Jema nd gar nicht unfähig ist, läuft 29
das darauf hinaus, ihn entweder unfähig zu machen oder vorauszu setzen, er sei u nfähig; im ersten Fall hande lt es sich um Tyranne i, im zweiten um Verachtung. In dem einen w ird die Freihe it des ander en beschnitten, im and eren wird, w enigstens unbewußt, davon ausgegangen, der andere sei verachtenswert und unwü rdig oder z ur Freiheit unfähig. Kommen wir auf unsere Frage zurück... Sie sehen also, es geht hier um etwas Schwerwiegendes. Es mochte no ch angehen, daß wir uns für eine zu künftige Gesellschaft einsetzte n, ohne darauf bauen zu können, daß diese uns auch dankbar aufnimmt, oder Gefahr laufend, daß es sie nie gäbe. All das mochte noch angehen. Doch was wirklich zu weit ging, war die Tatsache, daß wir an einer zukünftigen Freiheit arbeiteten, aber praktisch nichts an dere s zu W ege br achte n als Tyranne i, als eine neuartige Tyrannei, eine Tyrannei, die von uns Unterdrückten auf uns Unterdrückte au sgeübt wurde. D as ging entschieden zu weit... Mir gab das zu denken. Es mußte da einen Fehler, irgendeine Verirrung geben. Unsere Absichten waren in Ordnung, unsere Lehren überzeugend; gab es in unserem Vorgehen vielleicht einen Irrtum? Bestimmt! Aber wo zum Teufel steckte der Fehler? Ich zerbrach mir den Kopf und wurde fast verrückt dabei. Eines Tages plötzlich, wie das m eistens in solchen Fällen geschieht, fand ich die Lösung. Es war der hohe Tag meiner anarchistischen Theorien: der Tag, an dem ich sozusagen die Technik des Anarchismus entdeckte.« Er schaute mich eine Weile an, ohne mich wirklich anzuschauen. Dann fuhr er im selben Ton fort: »Ich dachte also nach... Wir hatten es mit einer neuartigen Tyrannei zu tun, mit einer Tyrannei, die nicht das Ergebnis gesellschaftlicher Fiktionen war. Aber woher kam sie dann ? Etwa aus natürlichen Eigenschaften? Wenn ja, dann gute Nacht, freie Gesellschaft! Denn wenn eine Gesellschaft, in der nur die natür lichen Eigenschaften der Menschen am Werk sind - jene Eigenschaften, mit denen sie zur Welt kommen, die naturgegeben sind und gegen die niem and ankomm t-, wenn eine solche Gese llschaft nichts als eine Anhäufung von Tyranneien ist, wer wird dann noch den kleinen Finger rühren und zu ihrer Heraufkunft b eitrage n wollen ? Tyranne i auf Tyra nnei? - d ann soll 30
gleich die bleiben, die nun schon einmal da ist, an die wir uns gewöhnt haben und d ie wir fatalerweise weniger spüren, als wir eine neue zu spüren bekämen, trotz des Schrecklichen, das allen Schikanen der Natur anhaftet - gegen sie aufzubegehren ist zwecklos, wie man ja auch gegen den unumgänglichen Tod keine Revolution anzetteln kann oder wegen einer niederen Abstammung, wo man doch eine höhere gewünscht hätte. Und ich hatte Ihnen ja schon auseinandergesetzt, daß, sollte aus irgendeinem Grunde eine anarchistische Gesellschaft nicht zu verwirklichen sein, eben die bürgerliche bestehen bleiben muß, weil sie - von der anarchistischen Gesellschaft abgesehen - natürlicher ist als jede andere Gesellschaft. Aber war denn die Tyrannei, die in unserer Mitte entstanden war, wirklich das Ergebnis natürlicher Eigenschaften? Was sind denn überhaupt natürliche Eigenschaften? Es ist der Grad an Intelligenz, an Vorstellungskraft, an Willen, mit dem einer zur Welt kommt — was das Geistige anbelangt, selbstredend, denn mit den natürlichen physischen Eigenschaften ist das etwas anderes. Ein Typ nun, der einen anderen befehligt, unabhängig von den gesellschaftlichen Fiktionen, tut das zwangsläufig, weil er ihm in dieser oder jener natürlichen Eigenschaft überlegen ist. Er beherrscht ihn, weil er sich seine natürliche Eigenschaft zunutze macht. Bleibt die Frage, ob ein solcher Gebrauch der natürlichen Eigenschaften rechtens, d. h. natürlich ist. Was aber wäre nun der natürliche Gebrauch unserer natürlichen Eigenschaften? Er müßte den natürlichen Bestrebungen unserer Persö nlichkeit dienen. Jemanden beherrschen, wäre das ein natürliches Bestreben unserer Persönlichkeit? Es könnte sein: es gibt eine Situation, wo d ieser Fall eintreten könnte: dann nämlich, wenn dieser Jemand mein Feind ist. Für einen Anarchisten ist selbstverständlich der ein Feind, der die gesellschaftlichen Fiktionen und deren Tyrannei vertritt, und sonst niemand, weil alle anderen Menschen sind wie er, nämlich natürliche Genossen. Sie sehen selbst, daß die Art von Tyrannei, die in unseren Reihen entstanden war, anderer Art war; sie richtete sich gegen unseresgleichen, gegen Genossen von Natur aus und obendrein gegen Menschen, die in einem doppelten Sinn unsere Genossen waren, insofern sie daßelbe Ideal teilten. Daraus ziehe ich den Schluß: wenn unsere Tyrannei 31
nicht das Ergebnis von gesellschaftlichen Fiktionen war, so war sie ebensowenig das Ergebnis natürlicher Eigenschaften; sie war das Ergeb nis einer verirrten Anwe ndung , einer Perve rtierung der natürlichen Eigenschaften. Nur, wie konnte es zu dieser Pervertierung kommen? Sie mußte von e inem der zw ei folgenden Sachverhalte herrühren: entweder daher, daß der Mensch von Natur aus schlecht ist, dann wären auch alle natürlichen Eigenschaften von Natur aus pervertiert, oder von e iner Perv ertier ung, d ie das Ergeb nis anda uernd en Ver weilens der M enschh eit in einer Welt gesellschaftlicher Fiktionen ist, Fiktionen, die alle nur zur Tyrannei führen konnten und so tendenziell und unwillkürlich den allerna türlich sten G ebra uch d er aller natür lichsten Eigenschaften tyrannisch werden ließen. Und welche von den zwei Hypothesen kom mt der Wa hrheit am nächste n? Unmöglich, darauf befr iedigend, d. h. stre ng logisch und wissenschaftlich zu antworten. Überlegungen führen bei einem solchen Problem nicht sehr weit, weil es sich um ein historisches, ein wissenschaftliche s Prob lem ha ndelt, a lso vom Verstä ndnis bestimmter Fakten abhängt. Die Wissens chaft ihrerseits hilft uns auch nicht viel weiter, denn wie weit wir uns auch in die Geschichte zurückbegeb en, wir stoßen immer wieder auf Menschen, die in irgendeinem System gesellschaftlicher Tyrannei leben mußten, folglich stoßen wir immer wieder auf Phasen, die uns nicht gestatten zu überprü fen, wie je ein Mensch unter reinen und ganz und gar natü rlichen Bedingungen gelebt hat. Wenn wir aber nicht die Möglichkeit haben, etwas mit Gewissheit zu ermitteln, sollten wir uns an die grö ßere Wahr schein lichkeit halten. Und die größere Wahrscheinlichkeit spricht für die zweite Hypothese. Es ist natürlicher, davon auszugehen, daß das äu ßerst lange Verweilen der Menschheit in den gesellschaftlichen, Tyrannei verur sache nden F iktionen bewirkt hat, daß jeder Mensch schon mit per vertierten natürlichen Eigenschaften zur Welt kommt, so daß er spontan zum Tyrannisieren neigt, auch wenn er behauptet, kein Tyrann zu sein —, als vielmehr davon auszugehen, natürliche Eigenschaften könnten von Natur aus pervertiert sein, was in gewisser Hinsicht einen Widerspruch darstellt. Desha lb sollte sich jem and, d er de nkt, mit fast absoluter Sicher heit für die zweite Hypothese entscheiden; ich habe es getan. 32
Gehen wir doch davon aus, daß eines augenscheinlich ist: Im gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand ist es nicht denkbar, daß Mensc hen - w ie woh lwollend ihre Ab sichten auch s ein mögen, wie sehr sie sich auch ganz allein dem Kampf gegen die gesellschaftlichen Fiktionen und für die Freihe it hingeben mögen — sich zusamme nschließen, ohne daß spontan eine Tyrannei entsteht, eine neu artige T yrannei, z usätz lich zu d er du rch die gesellschaftlichen Fiktionen verursachten, ohne daß in der Praxis all das zerstört würde, was in der Theorie angestrebt wird, ohne daß unwillkürlich die eigenen Bestrebungen, die es zu fördern gälte, maximal behindert würden. Also was tun?... Ga nz einfach... Am selben Ziel weiterarbeiten, aber getrennt. « »Getrennt?« »Natürlich, können Sie meinem Argument nicht folgen?« »Doch, doch!« »Finden Sie meine Schlußfolgerung denn nicht schlüssig? Sie ist doc h una bwe isba r!« »Doch, doch! Nur sehe ich nicht, wie Sie...« »Das werde ich gleich erklären... Ich sagte Ihnen schon: am selben Ziel weiterarbeiten, aber getrennt. Wenn alle daßelbe anarchistische Ziel anst euer n, träg t jeder auf se ine Weis e mit seinem Bemühen zur Vernichtung der gesellschaftlichen Fiktionen und zur Errichtung einer zukünftigen, freien Gesellschaft bei; und getrennt laufen wir in keiner Weise Gefahr, eine weitere Tyrannei zu schaffen, da ja niemand über den anderen verfügt, folglich kann auch niemand den anderen beherrschen und ihm die Freihe it beschränken, kann ihm nicht helfen und ihn nicht besänftigen. Mit einer solchermaßen getrennten Arbeit am selben anarchistischen Ziel sind zwei Vorteile gegeben — die Kräfte sind vereint, eine weitere Tyrannei wird verhindert. Wir sind weiterhin vereint, weil wir moralisch miteinander verbunden sind und in der gleichen We ise am s elben Z iel arb eiten; w ir sind weiterhin Anarchisten, weil ein jeder von uns für eine freie Gesellschaft kämpft; wir sind aber nicht mehr - willentlich oder unwillentlich — Verräter an der eigenen Sac he, ja wir könnten gar nicht mehr zu Verrätern werden, weil wir uns im Rahmen der vereinzelten anar chistischen Tätigkeit außerhalb des schädlichen Einflusses der gesellschaftlichen Fiktionen bewe33
gen, sozusagen im ererbten Widerschein der naturgegebenen Eigenschaften. Selbstverständlich kann eine solche Taktik nu r auf eine Periode angewandt werden, die ich als die Periode der Vorbereitung auf die gesellschaftliche Revolution bezeichnet habe. Ist die bürger liche Abwehr er st einmal zerbr ochen und die gesamte Gesellschaft in einem Zustand, in dem sie die anarchistische Lehre nur noch hinnehmen kann, wenn also nur noch die gesellschaftliche Revolution zu machen bleibt, dann, beim letzten Streich, kann man nicht mehr getrennt handeln. Doch dann besteht ja auch schon virtuell die freie G esellsc haft, d ie Dinge sehen dann schon anders aus. Die Taktik, auf die ich anspiele, bezieht sich allein auf anarchistisches Hande ln in einer bürgerlichen Gesellschaft, mit der es meine Gruppe ja zu tun hatte. Damit war also — endlich! — die wahre anarchistische Methode gefunden. Gem einsam ware n wir nich ts wer t, ob endre in tyrannisierten wir uns, behinde rten uns und u nsere Theo rien. Getrennt erreichten wir zwar wenig, doch immerhin behinderten wir uns nicht und schufen auch keine neue Tyrannei; und was wir erreichten, mo chte wenig sein, aber es war erre icht ohne Nacht eil und Verlust. Und in dem Maß, w ie wir getrennt arbeiteten, lernten wir auch, in uns selbst mehr Vertrauen zu setzen, uns nicht gegenseitig zu be hindern, lernten, freier zu werden und uns se lbst so wie - d ank uns eres B eispiels - die anderen au f die Zukunft vor zubere iten. Ich war hocherfreut über die Entdeckung. Sofort lief ich zu meinen Genossen, um sie ihnen zu erklären. Das war eines der wenigen Male in meinem Leben, wo ich mich wirklich dumm benommen habe. Stellen Sie sich vor, ich war so stolz auf meine Entdeckung, daß ich annahm, sie würden mir zustimmen.« »Natürlich stimmten sie nicht zu...« »Sie haben widersproc hen, sie haben alle wide rsproche n, mein Lieber! Die einen me hr, die ander en wen iger, d och alle protestierten! ...D as ko nnte nicht wahr sein! ...Das durfte nicht wahr sein! ...Niemand aber konnte sa gen, was wahr wäre oder wahr sein sollte. Ich argumentierte und argumentierte, und als Antwort auf meine Argumente bekam ich nur Phrasen zu hören, Mist, Dinge, wie sie Minister in der Abgeordnetenkammer vorbringen, we nn sie nichts zu sagen haben ... Da sah ich, von welchen Hornochsen und Feiglingen ich 34
umgeben war! Sie zeigten ihr wahres Gesicht. Dieses Pack war zum Sklavendasein geboren. Sie wollten auf Kosten anderer Anarchisten sein. Sie wollten Freiheit, sofern andere sie für sie besorgten, sofern sie ihnen ve rliehen w ürde , wie ein König einen Titel verleiht! Fast alle sind so! Mächtige Lakaien!« »Sie haben sich wohl geärgert?« »Und ob ich mich geärgert habe! Ich wurde wüte nd, ich rebellierte, ich stam pfte m it den Fü ßen au f. Fast wäre ich mit einigen aneinanderger aten. Schließlich habe ich mich vo n ihnen getrennt. Ich zog mich zu rück. Sie können sich ga r nicht vorstellen, wie sehr mich diese Hammelherde anwiderte. Fast hätte ich dem Anarchismu s entsagt. Ich war d rauf und d ran, mich um all das nicht mehr zu kümmern. Nach ein paar Tagen kam ich wieder zu mir. Ich ging davon aus, daß das anarchistische Ideal weit über diesem Gezänk stand. Wenn sie keine Anarchisten sein wollten, ich würde einer sein. Wenn sie nur auf Anarchismus machten, ich würde es nicht nur beim Spiel belassen. Wenn sie nur kämpfen konnten, indem sie aneinander-klebten und die Tyra nnei nac hahmt en, die sie zu bekämpfen vor gaben, sollten diese Esel dabei bleiben, zu etwas ander em ta ugten sie ja nicht. Ich jedenfalls würde wegen solch einer Nichtigkeit nicht zum Bourgeo is. Im wahren Anarchismus muß sich jeder mit seinen Kräften für die Freiheit einsetzen und die gesellschaftlichen Fiktionen bekämp fen, das stand fest. Ich würde m ich also mit meinen Kräften für die Freiheit einsetzen und die gesellschaftlichen Fiktionen bekämpfen. Auch wenn niemand bereit war, mir auf dem wahren anarchistischen Pfad zu folgen. Ich würde also allein gegen die gesellschaftlichen Fiktionen vorgehen, mit meinen Mitteln, mit meinem Glauben, sogar ohne den geistigen Beistand derer, die einmal meine Genossen waren. Ich will nicht behaupten, daß es sich dabei um eine edle Geste handelte, nicht einmal um eine heroische. Es war nur eine natürliche Geste. Wenn der Weg jeweils getrennt verfolgt werden mußte, so hatte ich niemand en nötig. Mir genügte mein Ideal. Angesichts dieser Grundsätze und Umstände beschloß ich also, die gesellschaftlichen Fiktionen allein zu bekämpfen.« Er unterbrach für kurze Zeit seinen Red efluß, der sehr lebh aft geworden war; da nn fuhr er mit ruhig er Stimme fort. 35
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wischen mir und den gesellschaftlichen Fiktionen, so dachte ich, herrscht Kriegszustand. Na schön! Was kann ich gegen diese gesellschaftlichen Fiktionen ausric hten? Ich gehe alle in vor, um nu r ja keine Tyranne i aufkommen zu lassen. Welchen Beitrag kann ich also allein zur Vorbereitung der gesellschaftlichen Revolution leisten, zur Vorbereitung der Menschheit auf eine freie Gesellschaft? Ich muß mich für eine von zwei Methoden entscheiden, für eine von den beiden, die es gibt, es sei denn, ich könnte von beiden Gebrauch machen. Die beiden Methode n sind die indirekte Aktion, d . h. Aufklä rungs arbe it und die wie auch immer beschaffene direkte Aktion. Ich dachte zunächst an die indirekte Aktion, also an Aufklärungsarbeit. Doch welche Aufklärungsarbeit hätte ich ganz allein leisten können, sieht man einmal von der Aufklärung ab, die darin beste ht, bei der er stbesten Gelege nheit mit diesem oder jenem aufs Geratewo hl zu reden. M ir ging es aber darum zu wissen, ob die indirekte Aktion der Weg wäre, den ich einzuschlagen hätte, um als Anarchist wirku ngsvoll zu sein, d. h. um zu spürbaren Ergebnissen zu gelangen. Ich sah aber bald, daß er es nicht war. Ich bin kein Redner und ich bin kein Schriftsteller. Na ja, ich würde sagen: wenn es sein muß, kann ich in der Öffentlichkeit reden und kann ich auch einen Zeitungsartikel schreiben. Doch wo llte ich prüfen, ob m ein naturgegeb ener Charakter mir nahelegte, mich eher im Rahmen der indirekten Aktion auf das eine oder andere oder auch auf beides zu spezialisieren, um so zu handfesten Ergebnissen im Sinne der anarchistischen Idee zu kommen, statt meine Kräfte in einer anderen Richtung auszubilden. Nun bringt aber eine Aktion immer mehr ein als Aufkläru ngsarbeit, auße r bei Mensche n, deren Charakter sie zu Aufklärern bestimmt — große Redner, fähig die Massen zu begeistern und mitzureißen, oder große Schriftsteller, die mit ihren Büchern zu faszinieren und zu überzeugen verstehen. Ich glaub e nicht, daß ich besonders eitel bin, und wenn doch, so weist jedenfalls nichts darauf hin, daß ich mir etwas auf Eigenschaften einbilde, die ich nicht habe. Und, wie ich Ihnen sch on sagt e, nicht s legt mir nahe, m ich als Redner oder Schriftsteller zu betrachten. Darum ließ ich den Gedanken an die indirekte Aktion fallen, für m ich war sie nicht der geeignete Weg anarchistischen Handelns. So kam ich auf dem Ausschlußwe g dazu, d ie direkte Aktion zu wählen, meine
Kräfte also auf das praktische Leben, das reale Leben zu verwende n. Nicht Intelligenz war gefragt, sondern Aktion. Na schön! Dann sollte es so sein. Es galt jetzt, die fundamentale Methode anarchistischen Handelns, über die ich Sie schon aufgeklärt habe, auf das praktische Leben anzuwenden, also: die gesellschaftlichen Fiktionen zu bekämp fen, ohne erneut Tyrannei zu schaffen, wenn möglich aber auch e twas z u scha ffen, d as die z ukünf tige Fre iheit vorausnahm. Wie zum Teuf el war s o etw as in de r Prax is möglich? Was heißt nun aber: in der Pr axis kämpfen? In der Prax is kämpfen bedeutet Krieg, einen Krieg zumindest. Und wie führt man Krieg gegen gesellschaftliche Fiktione n? Vor a llem ab er: wie wird überhaupt Krieg geführt? Wie besiegt man den Gegner in einem Krieg ? Auf eine der beiden Weisen: entweder tötet man ihn, d. h. man vernichtet ihn, oder man nimmt ihn gefangen, d. h. man bezwingt ihn und verdammt ihn zur Tatenlosigkeit. Die gesellschaftlichen Fiktionen zu vernichten, war ich nicht in der Lage; vernichten könnte die gesellschaftlichen Fiktionen nur eine gesellschaftliche Revolution. Bis dahin konnten sie zwar so geschwächt werden, d aß sie nur noch an e inem seidenen Faden hingen; doch vernichtet würden sie erst mit der Heraufkunft der freien Gesellschaft und dem praktischen Fall der bürgerlichen Gesellschaft. Allerhöchstens hätte ich unter diesem Gesichtspunkt das ein e ode r ande re Mitg lied jener Klassen vernichten können, aus denen die Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft stammen, und zwar vernichten im physischen Sinne von töten. Ich übe rdachte de n Fall und sah ein, es war Blödsinn. Nehmen Sie einmal an, ich tötete ein, zwei oder ein Dutzend Vertreter d er Tyrannei gesellschaftlicher Fiktionen... Und das Ergeb nis? Gingen die gesellschaftlichen Fiktionen geschwächt daraus hervor? Nein. Gesellschaftliche Fiktionen haben ja nichts mit einer politischen Situation gemein, die von einer geringe n Anza hl von M ensche n ode r man chma l auch nur von einer einzigen Person abhängt. Das Schlechte an den gesellschaftlichen Fiktionen sind sie selber in ihrer Gesamtheit, nicht aber Individuen, die sie vertreten, abgesehen davon daß sie sie vertreten. Außerdem erzeugt ein Attentat ges ellschaftlicher Natur immer eine Reaktion. Es b leibt nicht nur alles beim alten, es steht hinterher manchmal noch 37
schlechter. Und jetzt stellen Sie sich einmal vor, ich würde obendrein beim Attentat erwischt, was denkbar wäre, ich würde erwischt und auf die eine oder andere Weise ausgeschaltet. Und stellen Sie sich vor, ich hätte ein Dutzend Kapitalisten umgelegt. Was wäre bei all dem schließlich herausgekom men? Mit der Aussc haltung meiner Per son, auch we nn ich nic ht tot, sondern lediglich in Gefangenschaft oder in die Verbannung geraten wäre, verlöre die anarchistische Sache ein kämpferisches Element; die zwölf Kapitalisten dagegen, die ich zur Strecke gebracht hätte, wären ihrerseits nicht zwölf Elemente, die die bürgerliche Gesellschaft verloren hätte, we il die Elemente, aus denen sich eine bürgerliche Gesellschaft zusammensetzt, keine kämpferischen Elemente sind, sondern rein passive Elemente; denn der »Kampf« geht ja nicht von den Mitgliedern der b ürger lichen Ge sellschaft aus, sondern von der Gesa mtheit der gesellschaftlichen Fiktionen, auf denen diese Gesellschaft beruht. Nun sind aber die gesellschaftlichen Fiktionen keine Leute, auf die man Schüsse abgeben könnte... Verstehen Sie mich? Ich war ja kein Soldat, der zwölf Soldaten des gegnerischen Heeres umgebracht hatte; ich wäre ein Soldat gewesen, der zwölf Zivilpersonen der Nation des anderen Heeres umgebracht hätte. Und das wäre nichts als dummes Abschlachten gewesen, we il damit kein Kämpfe r beseitigt worden wär e . . . Folglich konnte ich nicht d aran d enken, die gesellschaftlichen Fiktionen ganz oder zum Teil zu vernichten. So mußte ich sie also bezwingen, mußte sie, indem ich sie bezwang, besiegen und zur Wirkungslosigkeit verdammen.« Plötzlich richtete er den rechten Zeigefinger auf mich. »Und genau das habe ich getan!« Er zog seine Han d zurück und fuhr fort. »Ich wollte wissen, welches die größte, die gewichtigste gesellschaftliche Fiktion wäre. An dieser wollte ich mich mehr als an irgendeiner anderen versuchen, wollte sie bezwingen und zur Wirkungslosigkeit verdamm en. Die gewichtigste Fiktion in unserer Zeit ist nun einmal das G eld. W ie abe r das G eld bezwingen oder - genauer gesagt - wie die Macht bzw. die Tyrannei 38
des Geldes bez wingen? Indem ich mich vo n seinem Einfluß, seiner Macht befreien würde, seinen Einfluß also besiegen und es, jedenfalls auf meine Person bezogen, zur Wirkungslosigkeit verdammen würde. Auf meine Person bezogen, verstehen Sie? Weil ich es war, der es bekämpfte; hätte ich es zur Wirkungslosigkeit in Hinblick auf alle anderen verdammt, hätte ich es nicht nur bezw ungen, sonde rn schon vernichtet, denn ich hätte dann ja mit der Fiktion Geld überhaupt Schluß gemacht. Nun habe ich Ihnen aber schon nachgewiesen, daß eine gesellschaftliche Fiktion nur durch eine gesellschaftliche Revolution »vernichtet« werden könnte, in deren Verlauf diese Fiktion mitsamt den anderen in den Sog der einstürzenden bürgerlichen Gesellschaft geraten würde. Wie sollte ich nun die M acht d es Geld es be siegen? D ie einfachste Methode wäre gewesen, mich aus seiner Einflußsphäre, das heißt, aus der Zivilisation zurückzu ziehen; ich hätte aufs Land gehen können, Wurzeln essen und Wasser aus den Quellen trinken, nackt he rum laufen , wie ein T ier leben können. Doch selbst wenn mir das keine Schwierigkeiten bereitet hätte, hätte ich dam it keine ge sellscha ftliche Fik tion bekämpft; ich hätte überhaupt nicht gekämpft, ich wäre geflohen. N atürlich: wer sich vor einer Schlacht drückt, kann in ihr nicht geschlagen werden. Doch moralisch ist er geschlagen, weil er nicht gekämpft hat. Ich mußte also anders vorgehen — was ich brauchte, war eine Kampf- und keine Fluchtmetho de. Wie das G eld bekäm pfen und es dabei no ch bezw ingen? Wie sich seinem Einfluß und seiner Tyrannei entziehen, ohne ihm aus dem Weg zu gehen ? Die einzige Methode war — es zu erwerben, es in so großer Menge zu erwerbe n, daß sein Einfluß nicht mehr spürbar werden konnte; und je größer die erworbene Menge wäre, desto freier würde ich von seinem Einfluß. Als mir das mit der ganzen Kraft meiner anarchistischen Überzeugu ng und der Logik meines Scharfsinns vor Augen stand, trat ich, lieber Freund, in die jetzige Phase — in die Kommerz- und Bankphase meines Anarchismus ein.« Er schwieg einen Augenblick und suchte der Erregung Herr zu werden, in die ihn die Begeisterung für seine Darlegungen hatte zunehmend geraten lassen. Dann fuhr er, immer noch lebhaft, in seiner Erzählung fort. 39
»Erinnern Sie sich jetzt bitte: ich hatte Ihnen von den zwei logischen Schwierigkeiten erzä hlt, die sich mir zu Beginn meiner Karriere als bewußtem Anarchisten in den Weg gestellt hatten... Und erinnern Sie sich auch, daß ich Ihnen sagte, ich hätte sie zu jenem Zeitpunkt künstlich, nämlich mit Hilfe des Gefühls und nicht logisch gelöst! Sie selbst hatten ja ganz zu Recht angemerkt, ich hätte sie nicht logisch gelöst...« »Jawohl, ich erinnere mich.« »Und erinnern Sie sich auch, daß ich Ihnen sagte, ich habe sie später, nachdem ich die wahre anarchistische Methode endlich herausgefunden hatte, mit einem Schlag gelöst, und zwar logisch?« »Ja.« »Passen Sie auf, das geschah so! ...Die Schwierigkeiten waren damals folgende: es sei nicht natürlich, für etwas zu arbeiten, was es auch sei, ohne dafür eine natürliche, d. h. eine eigennützige Entschädigung zu erhalten; und es ist natürlich, seine Kräfte für irgend ein Ziel zu veraus gaben, ohne als Entschädigung dafür zu wissen, daß dieses Ziel erreichbar ist. Soweit die beiden Schwierigkeiten; jetzt schauen Sie einmal, wie ich sie mit Hilfe einer anarchistischen Arbeitsmethode gelöst habe, auf die mich meine Überlegunge n gebracht hatte n und die ich als d ie einzig wahre erkannt habe... Die Methode führt zu meiner Bereicherung, folglich zu einer eigennützigen Entschädigung. Die Methode zielt darauf ab, Freiheit zu erringen; in dem Maße nun, wie ich die Macht des Geldes besiege, d. h. mich vo n ihm befreie, erringe ich Freiheit. Selbstverständ lich erringe ich diese Freihe it nur fü r mich; doch wie ich sc hon nac hgewie sen habe, kann Freiheit für alle nur durch Vernichtung der gesellschaftlichen Fiktionen erreicht werden, d urch eine gesellschaftliche Revolution, und ich allein kann keine gesellschaftliche Revolution machen. Lassen Sie es mich konkret sagen: ich ziele auf Freihe it ab und erringe Freiheit; ich erringe die Freiheit, die ich erringen kann, denn ich kann ja nicht erringen, was ich nicht erringen kann ... Und schauen Sie: einmal abgesehen von den Überlegungen, die diese anarchistische Methode als die einzig wahre festsetzen, Tatsache ist, daß sie automatisch die logischen Schwierigkeiten löste, die sich einem anarchistischen Vorgehen in den Weg stellen konnten, und das beweist noch mehr, daß sie die richtige ist. 40
Also verfolgte ich diese Methode. Ich mac hte mich dara n, die Fiktion Geld zu bezwingen, indem ich mich bereicherte. Und ich schaffte es. Es brauchte eine gewisse Zeit, weil der Kampf hart war, ab er ich sc haffte e s. Ich ve rscho ne Sie m it einem Berich t übe r mein vergangenes und gegenwärtiges Leben im Handel und im B ankgeschäft. Er kö nnte zwar intere ssant sein, ich denke da an bestimmte Punkte, aber er tut nichts zur Sache. Ich habe gearbeitet, gekämpft, Geld gewonnen, habe noch mehr gearbe itet, habe noch m ehr gekämp ft, noch mehr Geld gewonnen; ich gewann schließlich viel Geld. In den Methoden war ich nicht wählerisch — ich gestehe ganz offen, mein Lieber, daß ich in den Methoden nicht wählerisch war, ich habe mich aller Mittel bedient - wucherischen Aufkaufs, finanzieller Tricks, selbst unlauterer Konkurrenz. Ja und? Ich bekämpfte schließlich die gesellschaftlichen, unmoralischen und par excellence unnatürlichen Fiktionen, und da sollte ich auf die Methoden achten? Ich arbeitete für Freiheit, und da so llte ich auf die Waffen achten, mit denen ich die Tyrannei bekämpfte?! Der dum me Anarc hist, der Bom ben wirft und Schüsse abgibt, weiß genau, daß er tötet, und weiß ebensogut, daß seine Lehre die Todesstrafe ausschließt. Etwas Unmoralisches greift er mit einem Verbrechen an, weil er meint, daß die Vernichtung des Unmoralischen ein Verbrechen wert ist. Eine idiotische Methode, weil die Methode selbst, wie ich gezeigt habe, irrig ist und das Gegenteil von dem bewirkt, was anarchistisches Vorgehen bezweckt; moralisch gesehen, mag sie intelligent sein. Ich hatte eine sichere Metho de un d als Anarchist bediente ich mich rechtmäßig aller Mittel, um mich zu bereichern. Heute habe ich den genau umschriebenen Traum eines praktischen und verständigen Anarchisten verwirklicht. Ich bin frei. Ich mache, natürlich nur im Rahm en des Möglic hen, das, was ich will. Meine Devise als Anarchist war die Freiheit; gut, jet zt hab e ich Fr eiheit, d ie Freihe it, die man vorderha nd in unserer unvollkommenen Gesellschaft haben kann. Ich wollte die gesellschaftlichen Fiktionen bekämpfen und ich habe sie bekämpft, mehr noch, ich habe sie besiegt.« »Halt, halt! Warten Sie! Das ist alles gut und schön, aber etwas ist Ihnen entgangen. Ausgangspunkt für Ihr Vorgehen war, wie Sie selbst gesagt haben, nicht nur Freiheit zu schaffen, sondern au ch Tyrannei zu vermeiden. Nun haben Sie aber 41
Tyrannei geschaffe n. Sie als Wuche rer, a ls Bankie r, als skrupelloser Finanzmann - entschuldigen Sie, aber das sind Sie doch -, Sie haben Tyrannei geschaffen. Sie haben genausoviel Tyrannei geschaffen wie irgend ein Vertreter gesellschaftlicher Fiktionen, den Sie zu bekämpfen vorgaben.« »Nein, nein, mein Guter, da täuschen Sie sich. Ich habe keine Tyrannei gescha ffen. D ie Tyrann ei, die v ielleicht aus meiner kämpferischen Aktion gegen die gesellschaftlichen Fiktionen hervorgegangen ist, ist nicht von mir ausgegangen; ich habe sie also nicht geschaffen; sie steckt ja in den gesellschaftlichen Fiktionen selbst, und ich habe ihnen nichts hinzugefügt. Bei jener Tyrannei handelt es sich ja um die Tyrannei der gesellschaftlichen Fiktionen als solchen; und ich konnte doch nicht und wollte auch nicht die gesellschaftlichen Fiktionen vernichten. Ich wiederhole zum hundertst en Male: nur eine gesellschaftliche Revolution könnte die gesellschaftlichen Fiktionen vernichten; vorher aber kann eine perfekte anarchistische Aktion wie die meine die gesellschaftlichen Fiktionen höchstens bezwingen, und bezwingen auch nur in dem Maße, wie ein Anarchist diese Methode in die Praxis umsetzt, denn diese Methode erlaubt nicht die Unterwerfung der Fiktionen im größeren Rahmen. Es geht nicht darum, keine Tyrannei zu schaffen, sondern darum, keine zusätzliche Tyrannei zu schaffen, da wo vorher keine war. Die Anarchiste n, die gemeinsam arbe iten und sich gegenseitig beeinflussen, schaffen, wie ich Ihnen schon gesagt habe, unter sich, jenseits und auße rhalb der gesellschaftlichen Fiktionen, Tyrannei; das verstehe ich unte r zusä tzlicher Tyranne i; und s o etw as hab e ich nicht geschaffen. Ich konnte sie gar nicht ins Leben rufen aufgrund der Ausgangsbedingungen meiner Methode. Nein, m ein Lieber, ich habe Freiheit geschaffen. Ich habe jemanden befreit. Mich habe ich befreit. Weil meine Methode, die ja, wie ich nachgewiesen habe, die einzig wahre anarchistische Methode ist, mir nicht gestattete, au ch andere zu befreien. Wen ich befreien konnte, habe ich befreit.« »Schon gut... einverstanden... Aber schauen Sie, bei solchen Argumenten könnte man ja fast zu der Ansicht neigen, überhaupt kein Vertreter gese llschaftlicher Fiktionen übe Tyrannei aus.« »Stimmt auch! Die Tyranne i kommt von d en Fiktionen und 42
nicht von den Menschen, die sie verkörpern; sie sind sozusagen das Werkzeug, dessen sich die Fiktionen bedienen um zu tyrannisieren, so wie ein Messer das Werkzeug sein kann, dessen sich ein Mörde r bedient. Und Sie werden d och nicht annehmen, daß man die M örder ab schafft, indem man d ie Messer abschafft. Scha uen Sie... Sie können alle Kapitalisten der Welt vernichten, doc h vernichten Sie dam it da s Ka pita l! Am nächsten Tag wird das Kapital in den Händen anderer liegen und mittels ihrer weiterhin seine Tyrannei ausüben. Vernichten Sie nicht die Kapit alisten, sonde rn das Kapit al; wieviel Kapitalisten bleiben dann noch übrig? ...Na?« »Ja, da haben Sie recht.« »Höchstens, aber auch allerhö chsten s könnte man m ir vorwerfen, die Tyrannei der gesellschaftlichen Fiktionen ein kleines bißchen — aber nur ein ganz kleines bißchen — vergrößert zu haben. Doch das Argument ist absurd, weil, wie ich Ihnen schon sagte, d ie Tyrannei, d ie ich nicht ersch affen d urfte und d ie ich nicht geschaffen habe, ganz anders au ssieht. Es gibt noch einen weiteren schwachen Punkt: Sie können aus derselben Überlegung heraus einem General, der für se in Land eine Schlacht führt, vorwerfen, er füge seinem Land Schaden zu, weil er eine gewisse Anza hl von Männern aus seinem eigenen Heer opfert, um zu siegen. Wer in den Krieg zieht, muß geben, um zu nehmen. Siegen ist die Hauptsache, der Rest...« »Schön und gut... Aber sehen S ie mal, da ist noch e twas anderes... Der wahre Anarchist will ja Freiheit nicht nur für sich, sondern auch für die and eren. .. Mir s cheint, er will Fr eiheit für die gesamte Menschheit...« »Zweifelsohne. Doch ich habe Ihnen ja schon gesagt, bei der Methode, die sich für mich als die e inzige anarchistische Methode herausstellte, muß sich jeder selbst befreien. Ich habe mich befreit; ich habe meine Pflicht getan, für mich und für die Freiheit. Warum also tun die ander en, meine Geno ssen, nicht daßelbe? Ich hindere sie ja nicht daran. Das wäre allerdings ein Verbrechen gewesen, wenn ich sie daran gehindert hätte. Ich habe sie nicht einmal in dem Sinne behindert, daß ich ihnen die wahre anarchistische Methode verheimlicht hätte, ich habe ihnen die Methode, nachdem ich sie herausgefunden hatte, klar mitgeteilt. Dieselbe Methode aber hinderte mich, mehr zu tu n. Was hätte ich denn noch tun können? Hätte ich sie zwingen 43
sollen, ihren Weg zu gehe n? Selbst wenn ich es gekonnt hätte, ich hätte es nicht getan, denn ich hätte ihnen ja dam it die Fr eiheit genomm en, und das geht gegen meine anarchistischen Grundsätze. Hätte ich ihnen helfen sollen? Auch das hätte sich aus demselbe n Grunde ve rboten. Ich hab e nie geholfen und helfe niemandem, denn das liefe darauf hinaus, die Freihe it des anderen zu beschne iden, und au ch das geht gegen m eine Grundsätze. Sie tadeln an mir, da ß ich nicht mehr als nur eine Person bin. Wollen Sie mich dafür tadeln, daß ich meiner Pflicht gegenüber der Freihe it so weit wie möglich nachgekommen bin? Warum tadeln Sie nicht jene, die die ihre nicht erfüllt haben?« »Nun ja! Natürlich können die se Me nschen das, w as Sie getan haben, nicht tun; sie sind einfach nicht so intelligent w ie Sie, weniger willensstark oder...« »Ach, mein Freund: das sind eben die natürlichen Ungleichheiten, aber keine gese llschaftlichen... Gegen sie kann der Anarchismu s nicht an. Der Gra d an Intelligenz oder an Willensstärke, den jemand hat, ist etwas, das ihn und die Natur angeht, die ges ellschaftlichen Fiktionen mischen sich da nicht ein. Wie ich Ihnen schon sagte, es gibt natür liche Eigenschaften, bei denen man annehmen darf, daß sie aufgrund des langen Verweilens der Menschheit in gesellschaftliche Fiktionen pervertiert wurden; doch liegt die Perversion nicht im Ausmaß einer Eigenschaft — diese ist ausschließlich naturgebunden —, sondern in der Anwendung dieser Eigenschaft. Nun hab en aber Dum mheit oder mangelnder Wille nichts mit der Anwendung solcher Eigenschaften zu tun, sondern lediglich mit ihrem Ausmaß. Lassen Sie es sich gesagt sein: es handelt sich da um absolut natürliche Ungleichheiten, und gegen die kann niemand an, keine gesellschaftliche Veränderung vermöchte da etwas zu tun, so wie Sie mich nicht größer, ich Sie nicht kleiner machen kann... Mag sein... mag sein, daß bei diesen Typen die ererbte Pervertierung der natürlichen Eigenschaften so weit geht, daß sie bis zum Wesen des Temperaments vorstößt... daß also ein Typ zum Sklaven geboren wird, ganz natürlic h zum Sklaven geboren wird, also nicht die geringste Kraft aufwenden kann, um sich zu befreien... Dann aber... was haben die dann aber mit einer freien Gesellschaft, m it Freiheit überhau pt zu tun? 44
... Wenn jemand zum -Sklaven geboren wird, so wäre die Freihe it das Gegenteil seiner Anlage, sie wäre für ihn Tyrannei.« £5 gab eine kleine Pause. Plötzlich mußte ich lachen. »Wirklich, Sie sind Anarchist, sagte ich. Jedenfalls bringen Sie einen zum Lachen; wenn man Sie so hört und dann mit den übrigen Anarchisten vergleicht...« »Mein lieber Freund, ich sagte Ihnen ja schon, ich habe es Ihnen nachgewiesen, und ich wiederhole noch einmal... Der einzige Unterschied ist der: die da sind nur in der Theorie Anarchisten, ich bin es in der Theorie und in der Praxis; die da sind mystische Anarchisten, ich bin ein wissenschaftlicher Anarchist; die da sind Anarchisten, die sich ducken, ich bin ein Anarchist, der kä mpft u nd be freit.. . Mit einem Wort: das da sind Pseudoanarchisten, ich aber bin Anarchist.« Daraufhin e rhoben wir uns vo n der Tafel.
Ein ganz ausgefallenes Abendessen
Sag mir, was du ißt, und ich sag dir, wer du bist (Jemand) l
E
s geschah während der fünfzehnten Jahressitzung der Gastronomischen Gesellschaft von Berlin: Ihr Präsident, Herr Prosit, sprach den Mitgliedern seine berühmte Einladung aus. Die Sitzung bestand natürlich aus einem Festessen. Beim Dessert war eine große Diskussion über Originalität in der Kunst des Kochens aufgekommen. Die Zeiten standen schlecht für alle Künste. Das Originelle war im Verfall begriffen. Auch in der Gastr onom ie herr schte n Ver fall und Schwäche. Die Erzeugnisse jener Küch e, die man als »neu« bezeichnete, waren lediglich Abwandlungen längst bekannter Gerichte. Eine andere Sauce, eine geringfügige Abwa ndlung beim Würzen oder Anrichten — und schon war das neueste Gericht anders als alle voraufgegange nen. Aber es gab nichts wirklich Neues. Es gab lediglich Neueru ngen. All das wur de während des Festesse ns einstimmig, wenn a uch in m annigfaltig en To nfällen und mit unterschiedlicher Lautstärke, bedauer t. Obwohl viel Eifer und Überzeugung in die Disku ssion einflossen, blieb einer unter u ns schweigsam, gerade der, dessen Schweigen beso nders auffiel, weil man von ihm am ehesten eine Einmischung erwartet hätte. Es handelte sich natürlich um Herrn Prosit, den Präsidenten der Gesellschaft und Vorsitzenden dieses Treffens. Herr Prosit war de r einzige, der au f die Diskussion nicht achtete — er war e her gleichmütig als unau f49
merksam. Es fehlte die Autorität seiner Stimme. Ausgerechnet er, Prosit, war na chde nklich; er , Pros it, war schweigsam; er, Wilhelm Prosit, der Präsident der Gastro nomischen Gesellschaft, blieb ernst. Für die meisten war ein schweigsamer Herr Prosit etwas Seltenes. Er ähnelte (der Vergleich sei mir gestattet) einem Sturm. Schweigen gehörte nicht zu seinem Wesen. Gleichmut war nicht seine Natur. Und wie bei einem Sturm (um bei dem Vergleich zu bleiben), so war es auc h bei ihm; jedesm al, wenn er sich in Sch weigen hüllte, w ar es w ie die Ruhe vor dem Sturm, wie das Vorsp iel zu einer Explosio n, die alles in den Schatten stellte. Das war das Bild, das man sich von ihm machte. Der Präsident war ein in mancherlei Hinsicht bemerke nswerter Mann. Er war ein fröhlicher und geselliger Mann, wenn auch von abnorme r Munterkeit und lärmendem Betragen, das wie eine beständige Unnatürlichkeit erschien. Seine Geselligkeit hatte etwas Pa thologisches; sein Witz und seine Spaße wirkten nicht ger ade ge zwun gen, vie lmehr so, als entsprängen sie einer Fähigkeit des Geistes, die nicht unbedingt eine Fähigkeit zum Witz ist. Sein Humor war wie auf falsche Weise echt, und seine Ruhelosigkeit lebte er wie etwas Natürliches vor. In Gesellschaft seiner Fre unde - und er hatte viele - war er bestä ndig zu Frohsinn aufgelegt, immer lustig, immer lachend. Bemerkenswert ist dabei, daß auf dem gewöhnlichen Gesicht dieses seltsamen Me nschen keine Spur von Frohsinn oder Freude zu sehen war. Wenn er zu lachen aufhörte, wenn er zu lächeln begann, war es, als verfiele er aufgrund des Gegensatzes, den sein Gesicht verriet, in etwas dem Schmerz Verwandtes. Lag das an einem wesentlich unglücklichen Charakter, an Sorgen aus dem früheren Leben oder an irgendeiner anderen Krankheit des Gemüts? - Ich, der ich all das erzähle, wäre kaum imstande, eine Vermutung auszusprechen. Davon abgesehen, wurde dieser Widersp ruch in seinem Charakter oder zumindest in dessen Offenbarungen nur von einem aufmerksamen Betrachter wahrgenommen, die anderen bemerkten ihn gar nicht, es gab auch keinen Grund dazu. So wie in einer stürmischen Nacht, in der, wenn a uch in bestimmten Abständen, ein Sturm dem anderen folgt, der, welcher sie erlebt hat, die ganze Nacht eine Sturm nacht nennt und 50
die Pausen zwischen den Ausbrüchen vergißt, weil er die Nacht nach dem benennt, was ihn am meisten beeindruckt hat — genauso be zeichneten die Leu te Prosit, wob ei sie einer Neigung der Menschheit gehor chten, als einen fröhlichen Menschen, weil bei ihm am meiste n der lä rmen de Fr ohsinn, die laute Freude auffielen. So wie bei dem Sturm die, welche ihn erleben, die große Stille davor und danach vergessen, vergaßen wir bei diesem Mann ganz einfach, wenn er laut auflachte, sein trauriges Schweigen, seine mürrische Niede rgedrücktheit in den Pausen seiner geselligen Natur. Das Gesicht des Präsidenten, ich sage das noch einmal, verriet diesen Widerspruch, es trug ihn in sich. Sein lachendes Gesicht wirkte unbeseelt. Sein ständiges Lächeln erschien wie das eigenar tig verzerrte Grinsen jener, auf deren Gesicht plötzlich Sonnensche in fällt; doch was hier eine natürliche Muskelkontraktion angesichts starken Lichteinfalls ist, war da eine dauernde, höchst unnatürliche und hö chst groteske Grimasse. Im allgemeinen wurd e behaup tet (von denen, die ihn so kannten), er habe sich auf ein fröhliches Leben verlegt, um einer familienbedingten Nervosität oder, bestenfalls, einer gewissen Morbidität zu entgehen, und es habe unter seinen Vorfahren, von zahlreichen mehr als zügellosen Wüstlingen ganz zu schweigen, e tliche unverkennbar e Neuro tiker gegeben. Er selber könnte ein Nervenleidender gewesen sein. Doch kann ich darüber nichts Sicheres sagen. Was dageg en auß er Zw eifel steht und was ich als wa hr behaupten kann, ist, daß Prosit in die Gesellsc haft, vo n der d ie Rede ist, durch ein en jungen Offizier eingeführt wurde, einen Freund auch von mir und lustigen Burschen, der ihn irgendwo aufgelesen hatte, nachdem er sich an einem von Prosits handgreiflichen Spaßen auf das schönste ergötzt hatte. Die Gesellschaft, in welcher sich Prosit bewegte, war, um die Wahrh eit zu sagen, eine jener zweifelhaften Rand gesellschaften, die nicht selten sind und die eine seltsame Zusammensetzung aus hohen und niedrigen Elementen aufweisen, ganz von der Art einer chemischen Verbindung, weil sie oft einen ihnen eigenen Charakter haben, der sich von dem ihrer Elemente unterscheidet. Hier handelte es sich um eine Gesellschaft, der en Künste — Kunstfertigkeiten müßte man sie eher nennen — darin bestanden, zu essen, zu trinken und zu lieben. Er war z weifels51
ohne künstlerisch veranlagt, und er war, daran besteht noch weniger Zweifel, grob. Alle diese Eigenschaften vereinten sich auf harmonische Weise in der Gesellschaft. Der Anführer dieser Vereinigung von gesellschaftlich gesehen wertlosen und menschlich gesehen nichtsnutzigen Individuen war Prosit, weil er von allen der Grö bste war. Ich ka nn nicht ohne weiteres auf die einfach e und doch komp lizierte Psycholo gie dieses Tatbestands eingehen. Auch ist mir nicht bekannt, warum der Anführer dieser Gesellschaft ausgerechnet aus deren niedrigster Sphäre gewählt worden war. In der gesamten Literatur ist viel Spitzfindigkeit und Einfühlungsvermögen auf Tatbestände dieser Art verwendet worden. Augenscheinlich sind sie pathologischer Natur. Poe gab den komplexen Gefühlen, aus denen sie sich nähren, den allgeme inen Namen Verderbtheit, weil er glaubte, sie bildeten ein Ganzes. Ich möchte meinen Bericht auf den vorliegenden Fall beschränken. Um es in etwas herkömmlichen Worten au szudrü cken: Das weibliche Elem ent der Gesells chaft ka m von unten, das m ännliche von oben. Pfeiler dieser chemischen Verbindung war mein Freund Prosit. Die Gesells chaft ha tte zw ei Mitte lpunkte , zwe i Treffp unkte ; ein bestimmtes Restaurant oder das an gesehe ne Hot el X, je nachdem, ob es sich bei dem Festmahl um ein stumpfsinniges Gelage oder aber eine züchtige, männliche, künstlerische Sitzung der Gastronomischen Gesellschaft von Berlin handelte. Was das erstere angeht, so verbietet sich jede Andeutung; nichts wäre geeignet, um den Eindruck des zutiefst Unanständigen zu zerstreue n. Denn Prosits Gro bheit w ar nicht mehr norm al; sein Einflu ß ernied rigte d ie Ziele n och d er nied rigsten Lüste seiner Freunde. Um die Gastr onomische G esellschaft war es besser bestellt; sie verkörperte die geistige Seite der konkreten Bestrebungen jener Vereinigung. Wie gesagt, Prosit war grob; ja, das war er. Sein Überschw ang war grob, sein Humor äußerte sich auf grobe Weise. Ich möc hte all dem mit Sorgfa lt nachgehen. Ich möchte weder Lobeshymnen schreiben, noch möchte ich verleumd en. Ich skizziere so unver fälscht wie möglich einen Charakter und folge dabei, so gut es mir die Bilder meiner Erinnerung erlauben, den Spuren der Wahrheit. Doch, Prosit war ohne jeden Zweifel grob. Selbst in der Gesellschaft, wo er gelegentlich zu leben gezwungen war, und wo 52
er mit gesellschaftlich hochstehenden Elementen in Berührung kam, legte er nicht viel vo n seiner angeb orene n Rohe it ab, der er sich teilweise bewusst hingab. Seine Spaße waren nicht immer angenehm und harmlos; sie waren fast imm er grob, a uch wenn sie denen, die der ›Pointe‹ solcher Darbietungen etwas abgewinnen konnten, recht lustig, recht witzig und fein ausgedacht vorka men. Der bessere Aspekt seiner Gemeinheit lag in ihrer Leidenschaftlichkeit, insofern es sich bei ihr um Inbrunst handelte. Denn der Präsident packte alles, was er unternahm, mit Inbrunst an, besonders wenn es sich u m kulinarische Unternehmungen und Liebesaffären handelte; im ersteren Fall war er ein Dichter des Geschmacks, der täglich neue Eingebungen hatte; im letzteren erreichte die Niedrigkeit seines Charakters ihren scheußlichen Höhepunkt. Dessen ungeachtet, konnte an seiner Inbrunst und an der Leidenschaftlichkeit seines Frohsinns nicht gezweifelt werden. Mit seiner gewaltigen Energie steckte er die anderen an, entfachte ihre Begeisterung, erregte ihre Leidenschaft, ohne daß er sich dessen bewusst war. Dennoch galt seine Begeisterung ihm selbst, sie war für ihn da, sie war für ihn ein organisches Bedürfnis und war eigentlich nicht für seine Beziehungen zur Außenwelt gedacht. Allerdings konnte er diese Inbrunst nicht lange aufrechterhalten; doch solange sie dauerte, war sie als Beispiel, wenn auch unbewußt, sehr ansteckend. Es muß auch noch angeme rkt werden, daß der Pr äsident zwar ein feuriger, leidenschaftlicher Mann mit einem groben und rohen Kern war, daß er aber nie verdrießlich war. Niemals. Niemand vermochte ihn in Wut zu versetzen. Außerdem war er stets bemüht, angenehm zu sein und Streitigkeiten zu vermeiden. Es hatte den Anschein, als wünsche er, sich mit allen gut zu verstehen. Es war seltsam, ihm zuzusehen, wenn er seinen Zorn unterdrückte, wenn er ihn standhaft bezwang, was ihm niemand so recht zu traute, am wenigsten jene, die ih n als leidenschaftlich und feurig kannten, seine engsten Freunde. Das war vor allem der Grund, nehme ich an, warum Prosit so beliebt war. Wir wußten, daß er grob, brutal, impulsiv war, aber auch, daß er sich nie brutal benahm, wenn er wütend oder aggre ssiv war, daß er in seinem Zorn nie impulsiv war, und möglicherweise war, wenn auch unbewußt, dieses Wissen das 53
Fundament unseres Wohlwollens. Außerdem war da die Tatsache, daß er imm er willens war, angenehm und lustig zu sein. Und was seine derbe A rt angeht, so zä hlt das unter Mä nnern nic ht viel, denn ansonsten war der Präsident ein prächtiger Bursche. Man wird also einsehen, daß Prosits Anziehungskr aft (um es einmal so zu nennen) in folgendem lag: in seinem Eifer, angenehm zu sein, in der be sonderen Fa szination, die von seiner sprudelnd en, wenn auch gro ben Laune ausging, und nicht zuletzt vielleicht in der unbewußten Ahnung eines kleinen Rätsels, das sein Charakter aufgab. Genug! Meine Analyse von Prosits Charakter, so ausführlich sie auch in Einzelheiten sein ma g, muß denno ch unzulänglich bleiben, weil, wie ich vermute, Elemente fehlen oder im unklaren belassen sind, die sich für eine abrundende Synthese geeignet hätten. Ich habe mich in Gefilde jenseits meiner Fähigkeiten vorgewagt. Ich möchte nicht, daß mein Erkenntnisvermögen mit der Klarheit verwechselt wird, die ich mir wünsche. Darum werde ich nichts mehr daz u sagen. Nur, dessen ungeachtet, etwas bleibt doch nach all dem Gesagten zurück, und zwar das äußere Erscheinungsbild von Prosits Chara kter. E s bleib t dab ei: Herr Prosit war aus jeder nur denkbaren Absicht und zu jedem nur vorstellbaren Zweck ein fröhlich er Ma nn, ein wund erliche r Gese lle, ein Mann, der im allgemeinen lustig war, der andere mit seinem Frohsinn beeindruckte, ein Mann, der sich in seiner Gesellschaft tadellos aufführte und viele Freunde hatte. Sein Hang zum Groben, in dem Maße wie er den Charakter der Mens chen prägte, mit denen er verkehrte, das heißt, wie er seine Umwelt schuf, kam durch seine überm äßige Deutlichkeit zu m Verschw inden und geriet allmählich in den Bereich des Unbewußten; e r wurde nicht mehr wahr genomm en, war schließlich nicht mehr w ahrnehmbar. Das Abendessen neigte sich seinem Ende zu. Die Unterhaltung hatte sich belebt, sow ohl in Hinblick auf die Anzahl der Sprechenden als auch a uf de n Lärm der S timme n, die miteinander harm onier ten, M ißklänge erze ugten , sich gegenseit ig durchdr angen. Prosit hüllte sich imm er noch in Schweigen. Der Hauptredner, Kapitän Greiwe, hielt einen lyrischen Vortrag. Er 54
beharrte auf dem unergiebigen Mangel an Phantasie (so drückte er es aus), was die neuartigen Gerichte anging. Dabei redete er sich in Begeisterung. Die Kunst der Gastronomie, bemerkte er, lebe von stets neuen Ge richten. Seine Auslegungen waren borniert und beschränkten sich auf die Kunst, die er kannte. Er argumentierte ganz falsch, indem er zu verstehen gab, allein das Neue sei in der Gastronomie von hervorragendem Wert. Vielleicht war es auch eine schlaue Art zu sagen, die Gastr onom ie sei die einzige Wissenschaft, die einzige Kunst. »Eine heilige Kunst«, rief der Kapitän, »deren Konservatismus fortwährende Revolution ist. Ich könnte von ihr sagen«, fuhr er fort, »was Schopenhauer von der Welt gesagt hat, nämlich daß sie sich bewahrt, indem sie sich zerstört.« »Warum, Prosit«, fragte ein Mitglied am äußersten Ende des Tisches, welches das Schweigen des Präsidenten bemerkt hatte, »warum haben Sie noch nicht Ihre Meinung kundgetan, Prosit? Kommen Sie, sagen Sie endlich was! Oder sind Sie geistesabwesend? Sind Sie schwermütig? Sind Sie krank?« Alle blickten auf den Präsidenten. Der Präsident richtete wie üblich ein Läche ln auf sie, sein übliches, boshaftes, geheimnisvolles, beinahe humorloses Lächeln. Doch auch dieses Lächeln hatte etwas zu bedeuten; in gewisser Weise nahm es die befremdlichen Worte des Präsidenten vorweg. Der Präsident durchbrach die Stille, die in Erwartung seiner Antwort aufgekommen war. »Ich habe einen Vorschlag zu machen, es geht um eine Einladun g«, sagte er. »Habe ich Ihre Aufmerksamkeit? Darf ich reden?« Es war, als ob sich bei diesen Worten noch größere Stille ausgebreitet hätte. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, Handlungen und Gesten, die gerade a usgeführt wurden, verharrten augenblicklich; Aufmerksamkeit hatte sich der Anwesenden bem ächtigt. »Meine Herren«, begann Pros it, »ich beabsichtige, Sie zu einem Abendessen einzuladen, zu einem Abendessen, möchte ich behaup ten, wie Sie es noch nicht erlebt haben. Mit dieser Einladung ist eine Herausforderung verbunden. Ich werde mich später noch dazu äußern.« Er machte eine kleine Pause. Niemand bewegte sich, außer Prosit, der e in Glas Wein austrank. 55
»Mein e Herren«, wiederholte er in einer beredt direkten Weise, »meine Herausforderung geht alle an, sie besteht darin, daß ich in zehn Tagen, von heute ab gerechnet, eine neue Art Abendessen, ein ganz ausgefallenes Abendessen, geben werde. Betrachten Sie sich als eingeladen!« Überall erhob sich Erklärung heischendes Gemurmel, tauchten Fragen auf. Warum diese Art der Einladung? Wieso die unverständliche Ausdrucksweise? Worin bestand, unumwunden gesagt, die angekü ndigte Herausfo rderung? »In meinem Haus am Platz«, sagte Prosit. »Gut.« »Sie werden d och nicht den T reffpu nkt unse rer G esellsc haft in Ihr Haus verlegen wollen?«, erkundigte sich ein Mitglied. »Nein, nur zu diesem Anlaß.« »Und handelt es sich wirklich um etwas so Ausgefallenes, Prosit?«, erkundigte sich hartnäckig ein neugieriges Mitglied. »Um etwas sehr Ausgefallenes. Etwas ganz und gar Neues.« »Bravo!« »Die Originalität des Abendessens«, sagte d er Prä sident w ie jemand, der einen Hinte rgeda nken au sspric ht, »liegt nic ht in der Art seines Ausdrucks, seiner Erscheinung, sondern in seiner Bedeutu ng, in seinem Inhalt. Ich fordere hier jeden heraus, mir zu sagen (und ich könnte bei diesem Anlaß sagen »jeden überhaupt, wo er auch sei«), wenn er das Essen beendet hat, was an ihm ausgefallen war. Ich wage zu behaupten, daß niemand darauf kommen wird. Darin liegt me ine Herausforderung. Sie glauben vielleicht, es ginge mir darum zu bewe isen, d aß niem and ein ausgefalleneres Abendessen geben könnte. Aber nein, dem ist nicht so; es ist, wie ich gesagt habe. Wie Sie sehen, ist alles noch viel ausgefallener, so ausgefallen, daß es Ihre Erwartungen übersteigt.« »Dürften wir den Grund Ihrer Einladung erfahren?«, fragte ein Mitglied. »Es treibt mich dazu«, erklärte Prosit, wobei sein Gesicht mit dem entschlo ssenen Blick einen sarkastischen Zug annahm, »wegen einer Diskussion, die ich vor dem Abendessen hatte. Einige meiner Freunde, die hier anwesend sind, haben vielleicht den Streit mitangehö rt. Sie können diejenigen informieren, die Näheres wissen wollen. Meine Einladung ist hiermit ausgesprochen. Nehmen Sie sie an?« 56
»Natürlich! Natürlich!«, tönte es von allen Seiten des Tisches. Der Präsident nickte und lächelte; irgendeine geheime Vision nährte seine Belustigung, und e r verfie l wiede r in Schweigen. Nachdem Herr Pros it die e rstaunliche Herausford erung und seine Einladung ausgesprochen hatte, drehten sich die Gespräche unter den Mitgliedern um den wahren Beweggrund. Einige waren der Ansicht, es handele sich bloß um einen weiteren Scherz des Präsidenten; andere meinten, Prosit habe den Wu nsch, wieder einmal seine kulinarischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, was, rational betrachtet, unbegründ et war, da (wie es hieß) ihn niemand herausgefordert hatte, was aber der Selbst gefälligke it eines jeden Künstlers behagen würde. Wieder ander e vers icherte n, die E inladun g sei in Wir klichkeit wegen gewisser junger Leute aus Frankfurt ausgesprochen worden, die mit dem Präsidenten gastronomisch wetteiferten. Bald aber stellte sich heraus, wie der Leser dieser Zeilen sehen wird, daß der Anlaß für die Herausforderung mit letzteren zu tun hatte — ich spreche von dem unmittelbaren Anlaß, denn da der Präsident ein Mensch war, und ein sehr ausgefallener dazu, hatte seine Einladu ng, psych ologisch gesehen, mit allen drei Absichten, die ihm unterstellt wurden, zu tun. Der Grund, warum man nicht sofort glauben wollte, Prosits wahrer Grund für die Einladung sei der Streit (wie er ja selber gesagt hatte), war folgender: Die Herausforderung war einfach zu ungenau, zu geheimnisvoll, um wie nach einer Erwiderung auf eine Provokation auszusehe n, um als bloße R ache zu er scheinen. Schließlich aber mu ßte man dar an glauben. Die Diskussion, welche der Präsident erwähnt hatte, hatte sich (sagten die, die Bescheid wußten) zwischen ihm und fünf jungen Männern aus der Stadt Frankfurt abgespielt. Es hatte weiter nichts Besonderes mit den jungen Männern auf sich, nur daß sie auch Gastronomen waren; und nur dadu rch, meine ich, verdienen sie unsere Aufmerksamkeit. Die Diskussion mit ihnen hatte lange gedauert. Der Streitpunkt war, wie man sich noch erinnern konnte , ein Gericht, das einer von ihnen erfunden hatte, oder ein Abendessen, das sie gegeben hatten und das irgendeine gastronom ische Leistung des Präsidenten übertroffen haben sollte. Darüber war ein Streit ausgebrochen, und um 57
diesen Mittelpunkt hatte die Spinne des Zanks betriebsam ihr Netz gesponnen. Die Diskussion war hitzig verlaufen auf Seiten der jungen Männer, sanft und moderat auf Seiten Prosits. Wie ich schon erwähnt habe, war es seine Gewohnheit, sich nie aus der Ruhe bringen zu lassen. Bei jener Gelegenheit allerdings war er fast in Zorn geraten wege n der heftigen Erwid erungen seiner Widersacher. Doch es war ihm gelungen, die Ruhe zu bewahren. Dies alles inzwischen bekannt, glaubte man, der Präsident beabsichtige, den jungen Leute n einen gewaltigen Streich zu spielen, sich also in seiner üblichen Art für den stürmischen Streit zu rächen. Die Erwa rtunge n wurd en dies bezü glich in die Höhe geschraubt; man munkelte schon über einen Riesenscherz, Geschichten über eine Rache von frappierender Originalität machten die Runde. Angesichts des Tatbestandes als solchem und angesic hts de s Mann es nähr ten sich d ie Gerüchte von selbst, nichts w eiter a ls plum pe Ba uten m it der W ahrhe it als Fundament. Alle drangen sie früher oder später an Prosits Ohr; doch wenn er sie hörte, schüttelte er nur den Kop f, und währe nd er so tat, als übe er Gerechtigkeit an ihrer Absicht, beklagte er in Wirklichkeit die Grobheit ihrer Form. Niemand, meinte er, hätte richtig geraten. Es wäre auch unmöglich, meinte er, daß jemand richtig mutmaßen würde. Es würde eine große Überraschung geben. Mutmaßungen, Ratespiele und Hypothesen wären lächerlich und zwecklos. Aber die Gerüchte kamen natürlich erst später auf. K ehren wir zum Abendess en zurüc k, in dessen Verlauf d ie Einladung ausgesprochen worden war. Es war eb en zu Ende gegangen. Wir begaben uns gerade in den R auchsalon, als w ir den fünf jungen Männern von wirklich raffiniertem Äuße ren begegnete n; sie grü ßten Pr osit re cht küh l. »Meine Freunde, das übrigens sind die fünf jungen Herren aus Frankfurt«, erklärte Prosit, indem er sich uns zuwandte, »ich habe sie einst bei einem Wettstreit in gastronomischen Angelegenheiten geschlagen...« »Ach, wissen Sie, ich glaube kaum, daß davon die Rede sein kann«, entgegnete lächelnd einer der jungen Männer. »Nun gut, sei es, wie es sei oder wie es war. Tatsache, meine Freunde, ist, daß die Hera usfor deru ng, die ich heu te an d ie Gastronomische Gesellschaft gerichtet habe« - mit einer aus58
holenden Geste seiner Hand wies er auf uns — »von weit größerer Bedeutung und weitaus künstlerischerer Art ist.« Diese Erklärung galt den Fünfen. Sie hörten sie sich so unhöflich an, wie sie konnten. »Als ich gerade eb en diese Herau sforderu ng aussprac h, dachte ich an Sie, meine Herr en!« »Was Sie nicht sagen! Und was haben wir damit zu tun?« »Das werden Sie bald sehen! Das Essen findet in der übernächsten Woche, am siebzehnten, statt.« »Wir möchten das Datum gar nicht wissen. Wir brauchen es nicht zu wissen.« »Ja, das stimmt eigentlich!«, kicherte der Präsident. »Das brauchen Sie nicht. Es wird au ch gar nicht nötig sein. Denn och«, fügte er hinzu, »werden Sie beim Abendessen dabe i sein.« »Wie denn!«, r ief einer der ju ngen Mä nner au s, neb en ihm grinste einer, ein ander er starrte vo r sich hin. Der Präside nt grinste zurüc k. »Sie werden einen höchst materiellen Beitrag liefern.« Die Mienen der fünf jungen Männer spiegelten ihre Zweifel und ihr geringes Interesse an der ganzen Angelegenheit. Als sie weitergingen, sagte der Präsident: »Also, wenn ich etwas will, will ich es auch, und ich will, daß Sie beim Abendessen dabei sind, ich will, daß Sie zu seinem Wert beitragen.« Er hatte das in einem so offen und nachdrücklich höhnischen Ton gesagt, daß die jungen Männer verärgert die Treppe hinuntereilten. Der letzte drehte sich noch einmal um. »Im Geiste werden wir vielleicht da sein«, sagte er, »und an Ihre Schlappe denken.« »Nein, nein; Sie werden sehr wohl da sein. Sie werden leibhaftig da sein - leibhaftig, das ver sichere ich Ihnen. Keine Sorge! Überlassen Sie nur alles mir!« Eine Viertelstunde späte r, nachdem alles erledigt war, ging ich mit Prosit die Treppe hinunter. »Glauben Sie wirklich, Sie können veranlassen, daß sie dabei sind, Prosit?«, fragte ich ihn, als er seinen Überrock anzog. »Gew iß«, sagte er, »dessen b in ich sicher.« Wir traten gemeinsam hinaus - ich und Prosit - und trennten uns vor dem Eingang des Hotels. 59
E
s kam der Tag, an dem Prosits Einladung in Erfüllung gehen sollte. Das Essen fand um halb sieben abends in Prosits Haus statt. Das Haus — von dem Prosit gesagt hatte, es läge am Platz — war, genau genommen, nicht sein Haus, sondern das eines alten Freundes, der außer halb von Berlin lebte und Prosit sein Haus lieh, wenn der Präsident es wünschte. Es stand immer zu seiner Verfügung. Doch benutzte er es nur selten. Einige der frühesten Festessen der Gastronomischen Gesellschaft hatten dort stattgefunden, bis alle von der größeren Bequemlichkeit des Hotels — Komfort, Ausstattung, Räumlichkeiten — überzeugt waren. Prosit war im Hotel kein Unbekannter; die Gerichte wurden nach seinen Anweisungen zubereitet. Er hatte dort seine eigenen Köche oder die von Mitgliedern oder auch Köche, die aus irgendwelchen Restaurants hinzugezogen wurden, und verfügte für seinen Erfindungsgeist über ebensoviel Spielraum wie im Hause; abgesehen davon, konnten seine Vorhaben im Hotel rascher und besser ausgeführt werden; sie wurden ordentlicher und exakter verwirklicht. Was aber das Haus angeht, in dem Prosit wohnte, so kannte es niemand, und niemand wollte es kennenlernen. Für bestimmte Festessen wurde das Haus benutzt, von dem ich erzählt habe; für seine Liebesaffären hatte er eine Zimmerflucht, dann war er in einem Club — was sage ich, in zwei Clubs —, und oft ließ er sich im Hotel blicken. Prosits Haus kannte niemand, wie ich schon sagte; daß er eines besaß, abgesehen von den Orten, an denen er sich aufhielt, galt als allgemein sicher. Aber wo sich dieses Haus befand, davon hatte niemand eine Ahnung. Auch mit wem er dort lebte, war uns nicht bekan nt. Pro sit hatte uns nie e inen Hinweis gegeben, wer ihm in seiner Abgeschiedenheit Gesellschaft leistete. Ob es überhaupt solche Leute gab, auch darüber hatte er nichts verlauten lassen. Unsererseits war es nichts weiter als die schlichte und einfache Schlußfolgerung aus unseren Überlegungen. Wir hatten nämlich erfahren — von wem, weiß ich nicht mehr -, daß Prosit in den Kolonien gelebt hatte - in Afrika oder Indien oder sonstwo — und daß er dort viel Geld 60
gemacht hatte, von dem er jetzt lebte. Soviel war weiterhin bekannt, den Rest he rauszufinde n war ohne Belang. Ich denke, der Leser kennt jetzt hinreichend die Lage der Dinge und kann auf weitere Beobac htungen meinerseits verzichten, sowohl was d en Prä sidente n selbst als auc h sein Haus betrifft. Ich gehe daher zum Schauplatz des Festm ahls über. Der Raum, in welchem man die Tafel gedeckt hatte, war breit und lang, wenn auch nicht sehr hoch. An den Seiten befanden sich keine Fenster, sondern nur Türen, die in versc hiedene Räume führten. An seinem äußersten Ende, auf der Seite, die zur Straße hinging, war ein hohes und großes Fenster eingelassen, das so prä chtig war, daß es s elber die Luft einzuatmen schien, die es hineinlassen konnte. Es nahm gut und gern den Platz von drei gewöhnlichen Fenstern ein, und die Rahmenunterteilungen machten dr ei Fenster aus ihm. Obwohl der Raum gro ß war, genügte dieses eine Fenster, um ausreichend Licht und Luft zu verschaffen; so war keine der Ecken der natürlichsten Dinge der Natur berau bt. Man hatte für das Festessen inmitten des Speisesaals einen langen Tisch aufgestellt, an de ssen obere m Ende d er Präsident mit dem Rücken zum Fenster saß. Ich, der ich als ältestes Mitglied das Proto koll führte, saß zu seiner Rechten. Weitere Details sind unwesentlich. Anwesend waren zweiu ndfünfzig Personen. Der Raum wurde von drei Kandelabern erleuchtet, die über dem Tisch thronten. Dank einer geschickten Anordnung ihrer Verzierungen war das Licht in erster Linie auf den Tisch gerichtet, und der Raum zwischen ihm und d en Wän den lag eher im Dunkeln. Von der Wirkung her ähnelte das der Lichtverteilung über Billardtischen. Was dort allerdings erreicht wird, wurde hier nicht erreicht, nämlich mit Hilfe eines Kunstgriffs die Absicht eines Gebrauchs offenbar werden zu lassen; die Beleuchtung im Speisesaal konnte höchstens ein Gefühl des Befremdens hervorrufen. Hätte es auf den Seiten noch andere Tische gegeben, hätte man die Dunke lheit zwischen ihnen als etwas Aufgezwungenes empfunden. Dem war aber nicht so, es gab nur diesen einen Tisch. Ich selbst bemerkte das erst später, wie man noch sehen wird. Obwohl ich, wie auch alle anderen Anwesenden, beim Eintreten überall nach Befremdlichem Ausschau gehalten hatte, war m ir das irgendwie nicht w eiter aufgefallen. 6l
Wie die Tafel gedeckt, zurechtgemacht, geschmückt war, erinnere ich einerseits nicht mehr, andererseits braucht es auch gar nicht erinnert zu werden. Der mögliche Unterschied zu anderen, ähnlichen Tafeln blieb im Rahmen d es Norm alen und verdankte sich nicht etwas Ausge fallenem. Eine Beschr eibung wäre hier unfruchtbar und ohne Ende. Die ersten Mitglieder d er Gastrono mischen Gesellschaft zweiundfünfzig insgesamt, wie ich schon sagte - tauchten um Viertel vor sechs auf. Drei oder vier erschienen erst eine Minute vor Beginn des Abendessens, wie ich erinnere. Einer- der letzte — traf ein, als wir schon bei Tisch saßen. Wie unter Künstlern üblich, wurde bei solchen Anlässen wie auch bei dieser Sitzung auf jedes Zere monie ll verzichtet. Niemand war deswegen über den Zuspätgekomm enen verärgert. Wir hatten mit einem u nterdrüc kten Fieber au s Erwartu ng, prüfender Neugier und gesundem Mißtrauen Platz genommen. Es sollte ja, wie jeder erinnerte, ein ganz ausgefallenes Abendessen werden, und jeder war aufgefordert worden herauszufinden, worin das Ausgefallene des Abendessens bestand. Das war das schwierige Endziel. War es etwas Verstecktes oder etwas Auffälliges? Würde es in einem der Gerichte, in einer Sauce, in irgendeinem Arrangeme nt zu finden sein? War es nur irgend ein triviales Detail des Essens? Oder hatte e s vielleicht etwas mit der allgemeinen Beschaffenheit des Festmahls zu tun? Jeder von uns befand sich in diesem Geisteszustand, und so ist es nicht ver wund erlich, daß alles nur Mö gliche, a lles wen ig Wahrscheinliche, alles durchaus Unwahrscheinliche und Unmögliche zu Mißtrauen, Selbstzweifel, Verwirrung führte. War das schon das Ausgefallene, der Scherz? So begannen wir all e, wir, die Gäste, kaum hatten wir Platz genomm en, eingehend und neugierig die Blumen auf dem Tisch und das Dekor zu prüfen, ach, was sage ich, sogar das Muster auf den Tellern, d ie Anordnung vo n Messern u nd Gabeln, die Gläser und die Weinflaschen. Manche hatten auch schon die Stühle untersucht. Nicht wenige machten mit gleichgültiger Miene eine Rund e um den T isch und durchschritten den Ra um. Einer gu ckte u nter d en Tisc h. Ein anderer tastete rasch u nd sorgfältig mit seinen Fingern d essen Unterseite ab. Ein Mitglied ließ seine Serviette fallen und bückte sich sehr tief, 62
um sie wieder aufzuheben, was e r mit lachhafter Anstr engung besorgte, nur weil er w issen wo llte, wie er mir später gestand, ob es nicht eine Falltür gäbe, die uns zu einem gegebenen Zeitpunkt des Festmahls verschlingen würde, uns oder nur den Tisch oder uns m itsamt dem Tisch. Ich erinnere nicht mehr ganz genau, welche Hypothesen oder Mutmaßungen ich damals anstellte. Ich erinnere nur, daß sie reichlich lächerlich waren, ganz von der Art wie die der anderen Gäste. Phantastische und ausgefallene Vorstellungen lösten sich in meinem Kopf dank rein mechanischer Gedankenassoziationen ab. D abei w ar jede einzelne gleichzeitig vielsagend und unbefriedigend. Genauge nomm en stec kte in jeder etwas ganz Besonderes (wie ja immer irgend etwas irgendwo steckt). Nichts aber gab sich deutlich, klar und fraglos als ein Zeichen, als Schlüssel zum Problem, als das verbo rgene Wort des Rätsels zu erkennen. Der Präsident hatte u ns alle herausgefordert, das Ausge fallene an diesem Abendessen herauszufinden. Angesichts dieser Herausforderung und seiner Fähigkeit zu Spaßen, für die Prosit berühmt war, vermochte niemand zu sagen, wie weit das Verwirrspiel ging, ob es sich bei dem Ausgefallenen absichtlich um etwas lächerlich Unbedeutendes handelte oder um etwas vordergrün dig Verborgenes oder aber, und auch das war denkbar, ob es überhaupt nichts Ausgefallenes gab. So stand es um den Geisteszustand aller Gäste — und ich stelle hier keine über triebene Behauptu ng auf — , als sie Platz nahmen zu einem ganz ausgefallenen Abendessen. Die Aufm erksamkeit galt allem und jedem. Als erstes fiel auf, daß fünf schwarze Diener den Dienst versahen. Ihre Gesichter waren nicht gut zu erkennen, was nicht nur an der ungewöhnlichen Kostümierung lag, in der sie steckten (dazu gehör te auc h ein eigentümlicher Turban), sondern auch an der bes onderen Lichtve rteilung. Die fünf Diener waren gut auf ihre Aufgabe vorbereitet, nicht ausgezeichnet vielleicht, aber doch gut. Das zeigte sich in vielem, und es mußte besonders Leuten unseres Schlages auffallen, die wir, aufgrund unserer Kunst, täglich wichtigen Umgang mit Leuten wie ihnen hatten. Sie wirkten, als habe man sie irgendwo für ein Abendessen trainiert und als sei dieses das erste , bei d em sie bedie nten. D as war jedenfa lls der Eindruck, 63
den ihre Art zu be dienen auf me inen erfahrenen Versta nd machte, ich achtete aber nicht weiter dara uf und sah da rin nichts Ungewöhnliches. Diener konnte man s chließlich nicht über all auftr eiben. Vielleicht, dachte ich, hat Prosit sie aus Übersee mitgebracht, wo er gelebt hatte. Die Tatsache, daß ich sie nicht kannte, hätte dem nicht widersprochen, da ja, wie ich bereits erwähnt habe, Prosits eigentliches Privatleben wie auch seine Wohnung, uns nicht bekannt ware n, vielmehr von ihm geheimgehalten wurden aus Gründen, die er verm utlich hatte und die herauszufinden oder zu würdigen uns nicht anstand. Meine Meinung über die fünf dunklen Diener jedenfalls war, als ich sie zum erstenmal bemerkte, die eben geschilderte. Das Abendessen hatte also begonnen. Es sollte noch für weitere Verwirrungen sorgen. Die Eigentümlichkeiten, die zunächst auffielen, ware n, bei k larem Kopf besehen, so b edeutungslos, daß sich eigentlich jede weitere Deutung erübrigte. Das kam in den Bemerkungen angemessen zum Ausdruck, die einer der Gäste humorvo ll gegen Ende des Essens machte. »Das ein zige, w as me in wacher und scharfer Verstand hier an Ausgefallenem entdecken kann«, sagte ein adeliges Mitglied anmaßend pompös, »ist primo, daß unsere Die nerschaft dunkel ist und mehr oder weniger im Dunkeln bleibt, obwohl doch eigentlic h wir dort tappen, secundo, daß so etwas, wenn es überhaupt etwas bed eutet, gar nichts b edeutet. Ich kann nirgends den Braten riechen, außer den vor meiner Nase.« Diese leichtfertigen Bemerkungen trafen auf Zustimmung, obwohl ihr Witz mehr als kümmerlich war. Nur hatte jeder dieselbe Feststellung gemac ht. Niemand a ber glaubte - wenn auch viele sich nicht festlegen wollten —, daß sich Prosits Scherz darauf beschränkte. So schauten alle auf den Präsidenten, um zu sehen, ob sein lächelndes Gesicht irgendeine Regung, den Anflug einer Regung oder überhaupt irgend etwas verriet — doch sein Lächeln blieb wie immer ausdruckslos. Möglicherweise geriet es etwas breiter, möglicherweise zwinkerte er, als der Ad elige seine Beobac htungen vorgetragen hatte, möglich auch, daß es noch verschlagener wurde, doch nichts ist ungewisser. »Ich freue mich«, sagte Prosit schließlich zu dem Mitglied, das soeben gesp rochen hatte, »aus Ihren Worte n eine unbewußte Aner kennung meiner T alente heraushö ren zu dü rfen, 64
meines Talents etwas-zu verbergen oder anders erscheinen zu lassen, als es ist. Denn ich sehe, der Schein hat Sie getrogen. Ich sehe, daß Sie noch weit davon entfernt sind, die Wahrheit, den Scherz, entdeckt zu haben. Sie sind noch weit davon entfernt, das Ausgefallene an diesem Abendessen erraten zu haben. Und ich darf hinzufügen, daß, wenn jemand den Braten riechen sollte, was ich nicht ganz ausschließen mag, das gewiß nichts mit dem Geruch in seiner Nase zu tun hat. Nichtsdestoweniger, hab en Sie vielen D ank für Ih r Lob!« »Mein Lob?« »Ihr Lob, weil Sie nichts erraten haben. Insofern Sie nichts err aten hab en, u nter stre iche n Sie mein Tale nt. Ic h danke Ihnen!« Gelächter setzte dieser Episode ein Ende. Während der ganzen Zeit hatte ich nachgedacht und war plötzlich zu einem seltsam en Schluß gekommen. Ich hatte nämlich noch e inmal die Gründe fü r das Abe ndessen erw ogen, dabei waren mir die Worte der Einladung wieder eingefallen und das Datum, an dem es stattfinden sollte, und plötzlich erinnerte ich mich , daß d as Ab endes sen von allen als e in Ergeb nis der Diskussion betrachtet worden war, die der Präsident mit den fünf Gastronomen aus F rankfurt h atte. Mir fielen wieder Prosits Äußerungen von damals ein. Er hatte zu den fünf jungen Männern gesagt, sie würden beim Abendessen anwesend sein, sie würden »materiell« dazu beitragen. Das genau waren seine Wo rte gewesen. Nun befanden sich diese fünf Männer ab er nicht unter de n Gästen... In diese m Mom ent fielen sie mir beim Anblick eines der schwarzen Diener wieder ein und unmittelb ar darau f die Tatsache, d aß sie fünf waren, eine Entdeckung, die mich stutzig ma chte. Ich schaute dahin, wo sie sich gerade befanden; ich wollte sehen, ob ihre Gesichter irgend etwas verrieten. Doch die ohnehin dunklen Gesichter waren in Dunkel gehü llt. Da e rst er kannte ich die außergew öhnliche Kunstfertigkeit, die darin b estand , die Beleuchtung so einzurichten, daß alles grelle Licht auf den Tisch fiel und daß der Raum um ihn herum, besonders nach oben hin, wo sich die Köpfe der aufwarte nden fünf Diener befanden, in relativer Dunkelheit blieb. So seltsam u nd verblüffend war diese T atsache, da ß ich keine Zweifel mehr hatte. Ich war felsenfest da von überzeugt, daß hier und jetzt beim Abe ndessen aus d en fünf 65
jungen Herren aus F rankfurt fünf schwarze Diener geworden waren. Das völlig Unglaubliche daran ließ mich doch noch eine Zeitlang schwanken, aber meine Schlußfolgerung war zu schlüssig, zu augenfä llig. Es konnte sich gar nicht anders verhalten. Mir fiel auch gleich wieder ein, daß fünf M inuten zuvor, während desselben F estessens, auf dem die schwarzen Diener natürlich die Au fmer ksamk eit auf sich gezogen hat ten, eines der Mitglieder, Herr Kleist, ein Anthropologe, Prosit nach ihrer Rasse und Herkunft gefragt hatte (er konnte überhaupt nichts von ihren Gesichtern sehen). Die Verärgerung, mit welcher der Präsident reagierte, war zwar nicht sehr deutlich, ich hatte sie aber durchaus bemerkt, auch wenn meine Aufmerksamkeit noch nicht so ges chärft war w ie nach meiner Entdeckung, ich hatte Prosits Verlegenheit wahrgenommen und mich gewundert. Ich hatte auch unbewußt aufgenom men, wie kurz darauf einer der Diener Prosit ein Gericht reichte und wie letzterer mit leiser Stimme etwas sagte; die fünf »Schwarzen« hielten sich dara ufhin noch mehr a bseits im Dunkeln, was jemandem, der dieses Täuschungsmanöve r aufmer ksam verfolgte, a ls Distanzierungsmaßnahme recht übertrieben vorkommen mußte. Die Furcht des Präsidenten war nur allzu verständlich. Ein Anthropo loge wie Herr Kleist, jemand, der sich in den Menschenrassen, ihren Typen, ihren Gesichtsmerkmalen auskannte, hätte den Schwindel zwangsläufig sofort durchschaut, wenn er die Gesichter zu sehen bekommen hätte. Deswegen die Unruhe Prosit s auf d ie Frag e hin, de shalb se in Befehl an die Diener, sich noch mehr im Dunkeln zu halten. Wie er der Frage auswich, habe ich vergessen; ich habe allerdings den Verdacht, daß er einfach erklärte, es seien nicht seine Diener, und daß er beteuerte, er kenne ihre Rasse nicht und wisse auch gar nicht, wie sie nach Euro pa gela ngt seien . Bei seiner Erwiderung war ihm jedenfalls höchst unbehaglich zumute, wie ich beobachten konnte; er fürchtete offenbar nichts mehr, als daß Herr Kleist plötzlich den Wunsch äußern könnte, die Schwarzen in Augenschein zu nehmen. Auch wenn er nicht geleugnet hätte, daß sie zu ihm gehörten, er hätte nicht sagen können: »diese Rasse« oder »jene«, da er ja, wie er selbst am besten wußte, in dieser Hinsicht nicht Bescheid wußte, und sich womöglich auf einen Typus festgelegt hätte, dessen sichtbarste Hauptmerkmale, wie 66
zum Beispiel die Statur; in offenem Widerspruch zu denen der fünf schwarzen Bediensteten standen. Ich erinnere vage, daß Prosit seine Erwiderung in irgend etwas Handfestes münden ließ und die Aufmerksamkeit auf das Abendessen und die Gastronomie lenkte was nichts mit den Dienern zu tun hatte. Es wurde über das vollendete Würzen von Speisen geredet, über die scheinbar neue Art, sie zu servieren (...) — für mich waren diese Äußerungen nichts als Bagatellen, mit denen die Aufm erksamkeit abgelenkt werden sollte, denn sie waren, wie ich fand, unwic htig und abges chma ckt, zie mlich erbärm lich und gewo llt unkonventione ll. Ich da rf hinzu fügen, daß nie mand sie besonders ernst nahm, nachdem er sie sich angehört hatte. Der Sachverhalt selbst war allerdings äußerst seltsam, unsagbar seltsam: Ein Grund mehr, sagte ich mir, daß es sich hier um Prosits Scherz handelte. Doch verblüffend, ging es mir durch den Kopf, wie er ausgeführt werden konnte. Wie nur? Wie hatte man fünf junge Männer, die dem Präsidenten feindlich gesonnen waren, dazu bringen können, dazu abrichten, verpflichten können, die Rolle von Dienern bei einem Abendessen zu übernehmen, also etwas zu tun, was jedem Menschen von einer gewissen gesellschaftlichen Stellung an zuwider sein mußte? Der Gedanke daran war grotesk und erschreckend, so als würde ein Frauenkörper mit Fischschwanz plötzlich Wirklichkeit. Man hätte meinen können, die Welt schreite auf ihren Absätzen daher. Das schwarze Aussehen war leicht zu erklären. Natürlich konnte Prosit die fünf jungen Männer den Mitgliedern der Gesellschaft nicht mit ihren wirklichen Gesichtern vorführen. Es war nur verständlich, daß er von den vagen Kenntnissen profitieren würde, die er sich in den Kolonien zugelegt hatte, um seinen Scherz mit den schwarzen Männern durchzuführen. Die quälende Frage aber blieb, wie er das bewerkstelligt hatte, und das konnte nur Prosit selbst verraten. Ich konnte noch verstehen — wenn auch nicht sehr gut —, daß jemand einen Freundschaftsdienst tut und bei einem Scherz den Diener spielt, um einen Gefallen zu erweisen. Aber in diesem Fall! Ja länger ich nachdachte, desto außergewöhnlicher, aber auch wahrscheinlicher kam mir der Fall vor; angesichts all der Beweise, über die ich verfügte, und angesichts des Charakters 67
des Präsidenten mußte es sich hierbei um den Scherz Pro sits handeln. Da war es ein Leichtes, uns herauszuford ern, das Ausgefallene an diesem Festmahl ausfindig zu machen. Nun hatte dieses Ausgefallene, wie ich herausgefunden hatte, eigentlich nichts mit dem Essen selbst zu tun, imme rhin aber mit den Dienern, die ihrerseits durchaus mit dem Essen zu tun hatten. Als ich an diesem Punkt meiner Überlegungen angelangt war, wunderte ich mich, warum ich nicht schon früher darauf gekommen war: Da das Festmahl (wie man jetzt wußte) wegen der fünf jungen Männer stattfand, als Rache sozusagen, mu ßte es in Zusammenhang mit ihnen stehen, und dieser Zusamm enhang konnte nicht unmittelba rer hergestellt we rden, als wenn sie die Diener wären. All diese Argumente und Überlegungen, die ich hier in mehreren Abschnitten da rgelegt habe, gingen m ir in nur wenigen Minuten durch den Kopf. Ich war von etwas überzeugt, d ann verblüfft, dann zufrieden. Der Fall lag klar auf der Hand, und diese Klarhe it verscheuchte in mir jeden Gedanke n an seine außerordentliche Beschaffenheit. Ich durchschaute die Angelegenheit in aller Deutlichkeit und Genauigkeit. Ich hatte Prosits Herausforderu ng angen omm en und den S ieg davongetra gen. Das Abendessen war jetzt fast zu Ende, nur das Dessert stand noch aus. Ich fand, mein Talent verdiene Anerkennung, und so beschloß ich, Prosit meine Entdeckung mitzuteilen. Ich ging noch einmal alle Einzelheiten durch, um nur ja Unzulänglichkeiten und Fehler zu vermeiden, zumal sich das Merkwürdige der ganzen Angelegenheit, so wie ich sie begriff, in meine Unbeirrbarke it einschleichen wollte. Schließlich wandte ich meinen Kopf Prosit zu und sagte ihm leise: »Prosit, lieber Freund, ich kenne ein Geheim nis. Diese fünf schwarzen Leute und die fünf jungen Männer aus Frankfurt...« »Ach so! Sie glauben also, zwischen ihnen gäbe es einen Zusammenhang.« Er sagte das halb sp öttisc h, halb zweifelnd; ich bemerkte aber, da ß ihm meine Wor te unangenehm waren, und daß ihn die Exaktheit meiner Sc hlußfolgerung, mit der er wo hl nicht gerechnet hatte, wütend m achte. Ihm wa r unbehaglich zumute, aufmerksam sah er mich an. »Die Gewissheit«, dachte ich mir, »ist auf meiner Seite.« 68
»Natü rlich!«, erwiderte ich. »Das sind die fünf. Ich habe daran keinen Zweifel. Aber wie, um alles in der Welt, haben Sie das nur geschafft?« »Rohe Gewalt, mein Lieber. Aber sagen Sie den anderen nichts.« »Natürlich n icht! Aber w as heißt das , rohe G ewalt, Pr osit?« »Nun, das ist ein Geheimnis. Man kann es nicht erzählen. Es ist geheim wie der Tod.« »Aber wie fangen Sie es an, daß die es nicht erzählen? Ich muß sagen, ich bin erstaunt. Waru m laufen sie nicht davo n, warum sträub en sie sich nicht?« Der Präsident wu rde von einem Lachkramp f durchschü ttelt. »Das steht nicht zu befürchte n«, sagte er und zwinkerte bedeutungsschwer. »Sie werden nicht weglaufen — die nicht. Ganz unmöglich.« Und er b lickte mich gelassen, verschlagen, geheimnisvoll an. So gelangten wir schließlich — nein, nicht am Ende des Essens - am Endzweck des Essens an, mit einer weiteren Merkwürdigkeit, die offenbar beabsichtigt war — Prosit wollte einen Trinkspruch ausbringen. Alle waren über einen Trinkspruch gleich nach dem letzen Gang und noch vor dem Dessert erstaunt. Alle wu nderten sich, nur ich nicht, der ich darin nur eine weitere, in sich belanglose Übers pannt heit erblicken wollte, welche die Au fmerk samke it ablen ken sollt e. Jede nfalls wurden die Gläser gefüllt, und während sie gefüllt wurden, änderte sich das Verhalten des Präsidenten. Er rückte sehr erregt auf seinem Stuhl umher, ungeduldig wie jemand, der sprechen will, der ein großes Geheimnis zu enthüllen, eine wichtige Mitteilung zu machen hat. Dieses Betragen wurde sogleich bemerkt. »Prosit möchte seinen Scherz verraten - den Scherz. Das ist ganz Prosit! Heraus damit, Pro sit!« Während der Auge nblick für den Trinkspruch näherrückte, schien es, als würd e der Präsid ent verrückt vor Erregung; er rutschte auf seinem Stuhl umher, wand sich, grinste, lächelte, zog Grimas sen, lächelte grund los und endlos in sich hinein. Alle Gläser waren gefüllt. Ein jeder war gespannt. Tiefe Stille breitete sich aus. Ich erinnere noch, daß ich in der Spannung des Augenblicks von der Straße her Fußtritte vernahm und daß ich mich über zwei Stimmen ärgerte — die eines Mannes und die 69
einer Frau —, die sich unten auf dem Platz unterhielten. Ich achtete dann nicht weiter auf sie. Prosit stand auf, nein, was sage ich, er sprang auf, so daß er beinahe den Stuhl umge worfen hätte. »Meine Herren«, sagte er, »ich werde Ihnen jetzt mein Geheimnis, meinen Scherz, meine Herausforderung verraten. Das ist sehr lustig; Sie wissen doch noch, daß ich zu den fünf jungen Männern aus Frankfurt sagte, sie würden bei diesem Festmahl anwesend sein, ja, sie würden auf höchst mate rielle Weise zu ihm beitragen? Da liegt das Geheimnis, ich meine, darin.« Der Präsident sprach hastig, und in seiner Eile, zur Pointe zu kommen, redete er unzusammenhängend. »Meine Herren, das ist alles, was ich zu sagen hab e. Nun aber der erste Trinkspruch, der erhabene Trinkspruch. Er gilt meinen fünf Rivalen... Da niemand die Wahrheit herausgefunden hat, nicht einmal Meyer (das bin ich), nicht einmal er.« Der Präsident machte eine Pause; danach erhob er seine Stimme und rief laut: »Ich trinke auf das Andenken der fünf jungen Herren aus Frankfurt, die leibhaftig bei diesem Essen anwesend waren und höchst mate riell zu ihm beigetragen haben.« Und verstört, rasend, vollends verrückt wies er aufgeregt mit einem Finger auf die Fleischreste eines Gerichts, das man auf seinen Befehl hin auf dem Tisch hatte stehen lassen. Kaum waren diese Worte ausgesprochen, als sich auch schon mit geisterhafter Kälte unbeschreibliches Entsetzen ausbreitete. Die unvorstellbare Offenbarung hatte alle für eine Weile niedergeschmettert. Es herrschte eine entsetzte Stille, als habe niemand etwas vernommen, als habe niemand verstanden. Ein Irrsinn, der alle Phantasien überstieg, hatte sich schauerlich inmitten der Wirklichkeit niedergelassen. Es herrschte eine Stille, die Jahrhunderte zu dauern schien, aber in Wirklichkeit nur einen Augenblick währte, eine Stille, wie sie noch niemand erträumt und erdacht hatte. Ich habe keine Vorstellung mehr von dem Ausdruck, der auf dem Gesicht eines jeden von uns, auf allen Gesichtern lag. Ich weiß nur, daß keine Vorstellungskraft sich je hat solche Mienen ausmalen können. Alles währte einen Augenblick — kurz, alternd, tief. Mein eigenes Entsetzen, der Aufruhr in mir lassen sich nicht ausdenken. All die komischen Äußerungen und Unterstellun70
gen, die ich ganz natürlich und unschuldig in Hinblick auf meine Hypothese von den fünf schwarzen Dienern vorgetragen hatte, lieferten jetzt ihre tiefere, höchst gr ausige Bede utung. Der hämische Unterton, das Vielsagende in Prosits Stimme — all das — ja, es erschien mir jetzt in seinem wahren Licht und ließ mich schauder n; ich zitterte vor unaussprechlicher Furcht. Allein das Ausmaß meines Schreckens bewahrte mich vor einer Ohnmacht. Wie alle a ndere n, so lehnte au ch ich m ich eine Weile , allerdings mit noch größerer - und begründeter -Furcht, auf meinen Stuhl zurüc k, Prosit anstarrend, mit einem Entsetzen, das sich nicht in Worte fassen läßt. Das währte einen Augenblick, einen Augenblick und nicht länger. Dann stürzten sich alle Gäste außer einigen, den Schwächeren, die ohnmäc htig geworden w aren, wie rase nd und außer sich vor gerechter und unbändiger Wut auf den Kannibalen, den Urheber dieser grausigen Tat. Für einen Außenstehenden mußte das ein entsetzliches Schauspiel gewesen sein, all die wohlerzogenen, gutgekleideten, gepflegten Quasikünstler zu sehen, wie sie von einer mehr als tierischen Raserei erfaßt wurden. Prosit war wahnsinnig, doch in diesem Augenblick waren auch wir es. Er hatte keinerlei Chance gegen uns - keine. In diesem Moment waren wir in der Tat verrückter als er. Be i dieser Wut hätte ein einziger von uns genügt, um den Präsidenten entsetzlich zu b estrafen. Ich selbst war es, der dem Verbrecher als erster einen Schlag versetzte. Mit einer so fürchterlichen Wut, daß es mir vorkam, als sei sie die eines anderen — und es scheint mir noch heute so, denn die Erinnerung ist doch nur ein trübes Bild —, e rgriff ich die Weinkaraffe, die in mein er Nä he stand , und schleu dert e sie in einem schrecklichen Triumphgefühl zornig gegen Prosits Kopf. Sie traf ihn mitten ins Gesicht, auf dem sich Blut und Wein vermischten. Ich bin ein sanfter, feinfühliger Mensch, der Blut verabscheut. Wenn ich heute daran zurückdenke, begreife ich nicht, wie es mir möglich war, eine Tat zu begehen, die meinem eigentlichen Ich so grausam e rscheinen muß, w enn auch gerecht; es war eine grausame, eine sehr grausame Tat, vor allem wegen der Wut, aus der sie sich nährte. Wie mächtig müssen da mals mein e Raserei und meine Tollheit gewesen sein! Und die der anderen, w ie ungeheuer m ächtig! »Aus dem Fenster mit ihm!«, schrie eine gräßliche Stimme. 71
»Aus dem Fenster!«, kreischte ein furchterregender Chor. Allein wie das Fe nster g eöffne t wurd e, ist b ezeic hnend f ür die Roheit jenes Augenblicks: es wurde einfach zerschlagen. Einer mit einer starken Schulter stellte sich davor auf und zerschmetterte den Mittelteil (es war dreigeteilt), der auf den Platz fiel. Mehr als ein Dutzend tierischer, begieriger, streitender Hände pac kte Prosit, dess en Wahnsinn von unsäglicher F urcht durchdrungen wurde. Mit einer kraftvollen Bewegung wurde er gegen das Fenster geschleudert, durch das er nicht hindurchfiel, er hielt sich krampfhaft an einem Rahmenteil fest. Die Hände umklammerten ihn fester, brutaler, noch roher. Und mit herkulischer Vereinigung aller Kräfte, nach stummer Vereinbarung und in einem Zusamme nspiel, das in solchen Augenblic ken ger adez u teu flisch ist, w urde Prosit erst in d ie Luft und dann mit unbeschreiblicher Gewalt nach draußen geschleudert. Mit einem dumpfen Aufprall, der noch beim Stärksten Ekel hervorgerufen hätte, der aber unseren unruhigen und erwartungsvollen Herzen die Ruhe wiedergab, schlug der Präsident auf den Platz. Danac h wur de kein Wort , kein Ze ichen au sgetau scht. E in jeder schloß sich in das Entsetzen vor sich selber ein, alle verließen das Ha us. A ls wir er st dra ußen w aren, verflog en Ras erei und Schrecken, alles wurde ein Traum, wir erlebten den unaussprechlichen Schauder wiedergewonnener Naturhaftigkeit. Ausnahmslos allen wurde schlecht, und viele fielen früher oder später in Ohnmacht. Mich verließen die Kräfte gleich am Ausgang. Prosits fünf dunkle Diener — sie waren wirklich dunkel, es handelte sich um ehemalige asiatische Piraten, urn Abkömmlinge eines blutrünstigen, abscheulichen Stammes — hatten alles durchscha ut und wa ren während der Raufer ei geflohen, dann aber — mit einer Ausnahme — wieder eingefangen worden. Es kam uns vor, als habe Prosit bei der Durchführung seines ungeheuerlichen Scherzes mit geradezu teuflischem Geschick nach und nach in ihnen tierische Instinkte geweckt, die zivilisiert vor sich hingeschlummer t hatten (...) Ihnen war befohlen worden, sich so weit wie möglich vom Tisch entfernt an dunklen Plätzen aufzuhalten, w egen Prosits du mmer u nd verbreche rischer Angst vor H errn Kleist, dem Anthropo logen, der, und das war alles, was Prosit von seiner Wissenschaft wußte, womöglich in 72
der La ge gew esen w äre; in d en schw arze n Gesic htern d ie üblen Kennzeichen des Verbrecherischen zu entdecken. Die vier wurden einer angemessenen und passend en Strafe zugeführt.
REINOLD WERNER Die Gleichgültigkeit der Gegensätze Über Fernando Pessoa
O Fernando Pessoa sente as cousas mas nao se mexe mesmo por dentro. »Fernande Pessoa empfindet die Dinge, aber nichts rührt sich, nicht einmal innerlich.« (Alvaro de Campos - Fernande Pessoa}
A
1s hätte der Name eine Bo tscha ft be deu tet: »Pe ssoa «, Person, Mensch —, als hätte der Name auf ein Programm verpflichtet: nichts zu sein als die Abstr aktion Mensch, ein beliebtes Exemplar der Ga ttung, - »uma pessoa«, irgendwer. Fernando Pessoa hat seinen Zeitgenossen ein Leben vorgeführt, in dem man vergeblich nach schillernden Attributen, nach großartigen, spektakulären Gesten suchen würde. Das Bild, das die Nachwelt von ihm jetzt seit mehr als fünfzig Jahren aufbewahrt, ist die Gestalt eines unscheinbaren, bebrillten Mannes, der in stets gleicher Aufma chung durch die Straßen der Lissaboner Unterstadt geht oder sich in einem der Cafes oder kleinen Speiselokale aufhält: immer derse lbe, m it Hut, M antel, Fliege oder Krawatte. Pierre Hourcade, der den Dichter noch persönlich in Lissabon kennenlernte und ihn in französischen Zeitschriften vorgestellt hat, sagte von ihm: »Wenn ich ihn verließ, habe ich mich nie nach ihm umgedreht: ich hatte allzu sehr Angst, er könnte verblassen, durchsichtig werden o der sich in die abendliche Luft auflösen.« 77
Rückblickend zeichnen sich im Leben Pessoas zwei Phasen ab: die erste umfa ßt die K indheit, zunäc hst in Por tugal, dann in Südafrika, die definitive Rückkehr nach Lissabon (1905), die frühen literarischen Aktivitäten und ersten Veröffentlichungen bis hin zum Jahr 1914. In jenem Jahr präsentiert Pessoa den von ihm angekündigten Super-Camöes in Gestalt seiner wichtigsten Heteronyme: Alberto Caeiro, Ricardo Reis und Alvaro de Campos (»He teronyme« nannte Pesso a seine Pseudonyme, doch unterschieden sich erstere von letzteren dadurch, daß Pessoa ihnen ein eigenes Leben zusprach, in das er sich selbst gelegentlich verirrte als sein eigenes Heteronym, ansonsten hob er sich von ihnen als »Orthonym« ab). Fortan — die zweite Phase hat begonnen — ist dieser größte portugiesische Dichter des 20. Jahrhunde rts die literarische Wirkungsstätte, in der sich Caeiro, Reis, de Campos und auch Bernardo Soares, jener Hilfsbuchhalter, der Das Buch der Unruhe geschrieben hat, einrichten; jeder auf seine Weise, mit dem ihm eigenen literarischen Profil u nd jew eils verschiedener ästhetischer Ausrichtung, w enn auch unter einander verb unden, physisch und metaphysisch in der Person Fernando Pessoas. Doch in dem Maße wie sich Pessoa sozusagen in mehrere Dichtergestalten auseinanderfaltet, schrumpft die äußere Existenz zu dem nichtssagenden Wesen zusamme n, als das ihn die Nachwelt, sieht sie von seinem Werk ab, in Erinnerung behält, und auf das Pessoa sich selber mit Absicht reduzierte. Pessoa — »Person« — wurde in dem Maße zur Allperson, wie die eine Person in einen offenen Plural überging, und zwar in einen höchst dramatischen Plural- »drama em gente« nannte Pessoa seine Heteronymend ichtung . Sein Ko pf wu rde d as The ater, in dem das Stück »drama em gente« bis an sein Lebensende mit den immer identischen Hauptfiguren durchgespielt wurde wobei »gente« im Portugiesischen nicht nur Leute meint, sondern auch die ganz neutralen Indefinitpronomen »man«, »jemand«... Man kann das Phänom en der Herteronyme sicherlich klinisch untersuchen, wie es einige Lebensdeuter Pessoas versucht haben. Er selb st hatte sich nac h dem i. Weltkr ieg brie flich an d ie französischen Psychiater Hector und Henri Durville gewandt, um Aus künfte über eine mögliche Weitere ntwicklung 78
seines, wie er es nannte, Personenm agnetismus zu erhalten. Und noch im Jahre seines Todes bekannte er in einem Brief an den Kritiker Adolfo Casa is Mon teiro: »Se it meine r Kindh eit gab es bei mir die Tendenz, um mich herum eine fiktive Welt zu schaffen, mich m it Freunden u nd Bekanntschafte n zu umge ben, die nie existiert haben (selbstver ständlic h weiß ich nicht, o b sie nie wirklich existiert haben oder ob ich es bin, der nicht existiert. In diesen Dingen wie überhaupt sollte man nicht dogmatisch sein). Seitdem ich mich als das kenne, was von mir ich genannt wird, erinnere ich mich, geistig die Gestalt, die Bewegungen, den Charakter und die Lebensgeschichte mehrerer unwirklicher Figuren entworfen zu haben, die für mich so sichtba r und die mir so vertra ut wa ren wie jene Dinge, die dem angehören, was wir vielleicht verkehrterweise als das wirkliche Leben bezeichnen.« Die erste Phase: Fernando Antonio Nogueira Pessoa wird am 13 .Juni 1888 in Lissabon geboren. Der Vater war Staatsbeamter im Justizministerium und in seiner Freizeit Musikkritiker. Die Vorfahren gehörten, so scheint es, zu jenen jüdischen Portugiesen, die zum Christentum konvertierten und dafür von der Inquisition verurteilt wur den. Der Va ter stir bt, als Pessoa gerade fünf Jahre alt ist. Die Mutter , sie stammt vo n den Azor en, verheiratet sich zwei Jahre später wiede r, und die Heir at mit dem portugiesischen Konsul in Durban, in der damaligen britischen Kappro vinz, leitet die ganz entscheide nde englische Phase im Leben Pessoas ein: Mutter und Sohn verlassen den geschichts- und gedichtsträchtigen Hafen Lissabon, den der Dichter in seinem späteren Leben nur noch als Standort wahrnehmen wird, von dem aus der Blick in imaginäre Fernen und Unfernen schweift; sie verlassen Portugal u nd verbringen die nächst en neu n Jahr e, ab gesehe n von ein em längeren Aufe nthalt in Lissabon und auf den A zore n 190 1/19 02., in Südafrika. Fernando Pessoa wä chst zweispra chig auf, macht also eine der radikalsten Gegensatzerfahru ngen des Mens chen. Schon in den ersten Jahren in Lissabon wa r ein He ter onym entstanden, der »Chevalier de Pas« (1894), ein Geg enüb er, m it dem der kleine Fernando Briefe austauschte. In Südafr ika entstehen weitere Heteronyme (Alexander Search — der fern von Durban ›Ein ganz ausgefallenes Abendessen‹ schreiben wird Charles 79
Robert Anon, H. M. F. Lecher), die später den großen Heteronymen Platz machen. Viel ist aus der Zeit, die Pessoa in Südafrika verbracht hat, nicht bekannt; man weiß von Schulbesuchen (u.a. die »Commercial School of Durban«), man weiß von seiner Sprachbegab ung auch im Englischen: 1903, also mit fünfzehn Jahren, e rhält er den »Qu een Vic toria Memorial Prize«, der für ausgezeichneten Stil in der englischen Sprache vergeben wird. Über die ersten Leseerfahrungen urteilte Pessoa späte r: »Die er ste liter arisch e Nahr ung m einer K indheit bestand aus zahlreichen Romanen mit Geheimnissen und schrecklichen Abenteuern. Die für Jungen bestimmten Bücher, in denen spannungsvolle Abenteuer erzählt wurden, interessierten mich wenig. Das gesunde und natürliche Leben reizte mich nicht. Ich verspürte keinen Hang zum Wahrscheinlichen, eher zum Unglaublichen, zum Unmöglichen; nicht einmal zum teilweise Unmöglichen, sondern zum von Natur aus Unmöglichen.« Der konstitutive Gegensatz: englisch-portugiesisch, der — als ein Gegensatz u nter andere n - Pessoas spä teres Leben u nd Schreiben prägen wird , bedeu tet nicht nur die Ko existenz zweier Sprachen und die damit verbundene Spannung, bedeutet nicht nur die Koexistenz zweier Literaturtraditionen und deren jeweilige Einflußnahme auf Pessoas Literatur. Es hande lt sich auch um zwei erlebte Welten, deren Harmonisierung nicht ohne weiteres gelingt: die viktorianische Welt des britischen Empire und ihr Niederschlag im Dominion der südafrikanischen Union, - aus dieser Welt prägt sich die Lektüre von Shakespeare, Milton, Byron, Shelley, Keats und E. A. Poe ein dessen ›Rabe‹ er unter anderem übersetzt- aus jener Zeit auch sein ausgeprägter Sinn für (schwarzen) englischen Humor. Auf der anderen Seite die entfernte Nähe Portugals als verblassende lusitanische Metapher, die Pessoa wiederbeleben möchte. Portugal ist um die Jahrhundertwende das Land einer von innen und außen erschütterten Monarchie -, die Bragangas werden 1910 hinweggefegt zugunste n einer Repub lik, die sich nicht halten kann — Land einer England zugewandten Bourgeoisie und eines erbärmlich dahinlebenden Landvolks aus Analphabeten (Pessoas Bemerkungen im »anarchistischen Bankier« über Rußland wären auch für sein Land gültig gewe80
sen) -, Land vergangener Größe, das den ein stigen Ru hm in Schwermut und Wehmut, in der »Saudade« wie eine Kostbarkeit aufhebt und pflegt. Diesem Land und seinem Geschick verschreibt sich der junge Pessoa nach seiner Rückkehr aus Afrika im Jahre 1905. In einem hinterlassenen Fragment äußert sich Pessoa zum Ende der portugiesischen Monarc hie: »Es gibt drei Gründe für den Zusa mme nbru ch der port ugiesisc hen Mo narch ie: i. weil sie sich nicht nur institutionell, sondern auch spirituell dem Katholizismus wesensgleich gema cht hat; i. weil sie es nicht geschafft hat, eine portu giesische Gestalt anzu nehmen, de nn nachdem sie die Tradition der alten absolutistischen Mona rchie zertr ümm ert hat te... , bem ühte s ie sich nicht einm al, sie durch eine portugiesische Spielart zu ersetzen, sondern importierte über Fra nkreich die äußer e Form e iner englischen, konstitutionellen Monarchie; 3. weil sie nie nach Ideologien geschiedene Parteien gehabt hat, sondern immer nur Gruppen mit unter schied slosen Ansicht en, we il sie folglich wie immer, wenn nicht die Intelligenz herrscht, bloß aus dem Instinkt heraus im Sinne einer Bierbankpo litik von Bonzen regiert hat.« In einem Brief aus dem Jahre 1915 schreibt Pessoa an seinen Freund Cortes-Rodrigues: »... Die patriotische Idee, die immer mehr oder weniger in meinen Bestrebungen vorhanden war, herrscht jetzt bei mir vor; und ich denke nicht daran, Kunst zu machen, ohne gleichzeitig daran zu denken, damit den Namen Portu gals in allem, was ich verwirklichen werde, zu erhöhen. Das ist nur konsequent, wenn man d ie Kunst und das Leben ernst nimmt.« Dieser Patrio tismu s äuße rt sich b ei Pesso a auf v ielfältige Weise; die kurioseste ist sicherlich ein Horoskop für sein Land, aus dem Berechnungen für die Ankunft des Fünften Reiches (»O Quinto Impe rio«) he rvorg ehen. D ieses m ythische Fünfte Reich ist mit der Rückke hr jenes sagenhaften portugiesischen Königs Dom Sebastiao verbunden, der 1578 in Nordafrika gefallen war, ohne daß man jemals seinen Leichnam gefunden hätte. Pessoa hat sich von diesem messianischen Glauben an die Wiederkehr des Königs Sebastian inspirieren lassen und der Idee des Sebastianismus ein ganzes Buch gewidmet — Mensagem (»Botschaft«); es ist das einzige zu Lebzeiten veröffentlichte Buch Pessoas mit Dichtungen in portugiesischer Sprache. 81
In ihm feie rt er d ie Helde n der p ortu giesisch en Ver gangen heit und beginnt dabei mit — Odysseus, dem mythischen Gründer Lissabons. Im Jahre seines Todes -1935- gesteht Pessoa dem Mitherausgeber der Zeitschrift. »Pr esenc .a«, Ad olfo Ca sais Monteiro, in einem Brief: »Ich stimme mit Ihnen überein, daß mein Debüt mit einem Buch von der Art ›Mensagem‹ nicht sehr glücklich war. Ich bin, das stimm t, ein m ystischer Natio nalist, e in ratio naler Sebastianist. Doch außerdem bin ich bis hin zum Widerspruch vieles andere mehr. Und von diesem vielen anderen ist in ›Mensagem‹, weil es von eben dieser Art ist, nichts enthalten.« Imme rhin hat dieses Debüt erst ein Jahr vor seinem Tode, 1934, stattgefunden. »Ich habe meine Ver öffentlichungen aus dem einfachen Grunde mit diesem Buch begonnen«, heißt es in demselben Brief, »weil es, ich weiß nicht warum, das erste war, das ich beenden und in eine Form bringen konnte. Da es fertig war, bat man mich, es z u veröffentlichen, und ich habe akzeptiert.« Es wurde schließlich mit dem zweiten Preis im Rahmen eines Wettbewerbs ausgezeichnet, den das staatliche Sekretariat für Propaganda verans taltet ha tte - u nter Sa lazar. Pessoa erhielt 1000 Escudos, die einzige Summe, die er wohl je mit seiner literarischen Arbeit verdient hat. Über Salazar sind folgende Worte von Pessoa überliefert: »Man hält ihn für einen großen Mann von scharfer Intelligenz und mit starkem Willen; das ist zwar nicht logisch, aber menschlich, und bei den Menschen zählt das, was menschlich ist.« Wenn man dem hinzufügt, daß im Jahre 192.8 ein Pamphlet von Pessoa mit dem Titel O Interregna — Defesa et Justificaqäo da Ditadura Militär em Portugal erscheint (»Das Interregnum Verteidigung und R echtfe rtigung der M ilitärdikt atur in Portugal«), stellt sich die Frage, in welchen politischen Bahnen sich Pessoas patriotischer Nationalismus bewegt hat. Doch empfiehlt es sich, zunächst andere Daten aus dem Leben Pessoas bis hin zu jenem Stichtag preiszugeben, an dem die großen und verble ibende n Heter onyme e ine zwing ende Gesta lt angenomm en haben. Nach der definitiven Rückkehr aus Afrika (1905) bleibt der schreibende Pessoa der englischen Sprache erst einmal treu. Ein Proje kt, da s er nie v erwir klicht, d as er a ber no ch unte r dem in 82
Durban entstandenen Heteronym Alexander Search ankündigt, ist ein Essay über The Portuguese Regicide and the Politi-cal Situation in Portugal. In derselben Zeit entstehen ebenfalls mit ›Alexander Search‹ gezeichnete Erzählungen: Das in diesem Band enthaltene A Very Original Din ner und eine weitere an Poe orientierte Erzählung The Door. Ein Literaturstudium, für das er sich 1906 eingeschrieben hat, bricht er nach einem Jahr wieder ab. Mit Hilfe einer Erbschaft versucht er, eine Druckerei auf die Beine zu stellen: ›Empresa Ibis - Tipografica e Editora‹; der Versuch mißlingt. Ab 1908 verdient er sein Brot - bis an se in Lebensende - als Außenhand elskorrespo ndent. In jene Zeit fällt die Lektüre eines Buches, das ihn zutiefst beeindruckt: Max Nordaus »Entartung«. »In meiner sogenannten dritten Juge nd«, schreibt er rü ckblickend in einem Brief aus dem Jahre 19 3 z, » die ich hier in Lissabon verbracht habe, lebte ich umgeben von griechischen und deutschen Philosophen sowie von den französischen ›Decade nts‹, deren W irkung auf mich jäh hinweggefegt wurde. .. durch d ie Lektüre von Max Nordaus ›Entartung‹.« Bei den erwähnten deutschen Philosophen handelte es sich in erster Linie um Schopenhauer und Nietzsche. War zuvor der Einfluß der französischen Symbolisten auf ihn beträchtlich, so änderte sich mit der Lektüre Nordau s sein Urteil ganz und gar. Pessoa hatte nach seiner Rückkehr aus Afrika Baudelaire und die französischen Symbolisten gelesen, d ie auch die portugiesische Literatur um die Jahrhundertwende beeinflußt hatten, an der sich Pessoa orientierte (Gome s Leal, Antonio Nobre, Camilo Pessanha). Wenn der leicht zu beeindruckende Pessoa die französischen Symbolisten nun verurteilte, so erreichte er damit in erster Linie den Effekt, seinen eigenen Stil, seine eigene Sprache freizulegen, und daran lag ihm sicherlich in jener Zeit, als er begann, Gedichte in portugiesisch zu schreiben. Kurioserweise erscheint eines der wesentlichen Merkmale seiner Sprache, nämlich die Vorliebe für das Parad oxe, fü r Oxymo ra, fü r unha ltbare Gegensätze und scheinbare Antithesen auch und gerade in ästhetischen Urteilen und Komm entaren. So findet sich z. B. in seinen ästhetischen Aufzeichnungen (Paginas de Estetica, Teoria e Critica Literarias) folgendes Urteil über die eben erwähnten französischen Symbolisten: »Ich frage den größten Schwär83
mer für französische Symbolisten, ob Mallarme ihn ebenso berührt wie eine gewöhnliche Me lodie, ob d ie Ausdruc kslosigkeit eines Verlaines je die legitime Ausd ruckslosigkeit eines einfachen Walzers erreicht hat. Sie hat es nicht, und wenn man mir antwortet, man zöge in dieser Hinsicht Ve rlaine u nd Ma llarme der M usik vor, so sagt man mir damit, daß man Literatur als Musik der Musik selber vorzieht. Man sagt also damit etwas, was keinen Sinn hat, abgesehen davon, daß eine solche Meinung beklagenswert ist.« In der Zeit nach dem Umsturz (1910) kommt Pessoa in den Lissaboner Cafes - wie dem »Martinho da Arcada«, dem »Brasileiro do Chiado« — mit anderen jungen Literaten in Berührung, mit de nen er s päte r die Z eitschrift »Orpheu« herausgeben wird. Doch vorhe r (um 191 2.) w ird er für eine andere Zeits chrift - »A Agu ia« - Aufsätze schreiben, die das Organ einer in Porto entsta ndenen repu blikanischen Bewegu ng mit dem Namen »Renascenca Portuguesa« um den Dichter Teixeira de Pascoaes ist, dem Begründer des »Saudosismo« (abgeleitet von »Saudad e«). Wie in den anderen europäischen Ländern jener Zeit löst auch in Portugal ein -ismus den anderen ab, und Pessoa nimmt mit viel Eifer an den Debatten teil. In einem seiner in »A Äguia« abgedruckten Essays über die neue portugiesische Poesie unter p sychologischem Asp ekt kündigt sich der für Pessoa — auch sprachlich — so charakteristische Dualismus an: Pess oa sp richt, a nläßlich d er Po esie des »Saudos ismo «, von »pantheistischem T rans zend enta lismu s«, welcher der »Vergeistigung der Materie« und der »Materialisierung des Geistes« innewohne. Im selben Aufsatz vollzieht Pessoa noch einmal die Schritte einer solchen Bewegung, die keineswegs eine bloße Synthese ist. Er vermerkt, daß die neue poetische Sprache den symbolischen »Subjektivismus« überwunden hat, ohne daß der in der Tendenz vorhandene »Objektivismus« auch schon erreicht sei; die Verwirklichung eines maximalen Gleichgewichts zwischen Subjektivität und Objektivität, so Pessoa, würde das Werk eines »großen, bald zu erwartenden Dichters« sein—, jenes Su-per-Camöes, von dem schon die Rede war und als der sich wenig später Pessoa entpuppt. Neue Heter onyme sagen sich an, besetzen schon einen Sprachraum. Als erster gibt sich Ricardo 84
Reis zu erkennen. Dann, am 8 .M ärz 1914, schlägt die große Stunde. Die Befreiung von der dualen Fessel, die auf ihm lastet Natur/Geist, Ich/Nicht-Ich, englisch/portugiesisch, Patriot/ Kosmopolit, Mann/Frau, etc. - hin zu einer offenen Pluralität wird Wirklichkeit: »... ich wollte eines Tages Sá-Carneiro [einer der engsten Dichterfreunde Pessoas] einen Streich spielen — einen bukolischen Dichter von der komplizierten Art erfinden und ihn auf irgendeine wirklichkeitsnahe Weise ihm vorstellen, ich weiß nicht mehr genau wie... An dem Tag, als ich davon wieder Abstand nahm - es war der 8 .März 1914 -, näherte ich mich einer hohen Kommode, nahm ein Blatt Papier und begann zu sch reibe n, im St ehen, w ie immer, wenn es mir mö glich ist. Und so
schrieb ich mehr als dreißig Ged ichte hintereinander, in einer Ekstase, deren Natur ich nicht zu erklären vermag. Das war ein Tag des Triumphes in meinem Leben, wie ich ihn nie mehr wieder erleben würde. Es begann mit einem Titel, ›O Guardador de Rebanhos« [›Der Hüter der Herden«]. Und was dann folgte, war die Erscheinung von jemandem in mir, dem ich sofort den Namen Alberto Caeiro gab. Verzeihen Sie mir das Absurde des Satzes: in mir war mein Meister zum Vorschein gekom men. Das war die unmittelbare Empfindung, die ich hatte... Jetzt, da Alberto Caeiro zum Vorschein gekommen war, versuchte ich gleich, instinktiv und unterbewußt, Schüler für ihn zu finden. Ich entriß den latent vorhandenen Ricardo Reis seinem falschen Heidentum und gab ihm einen Namen, der zu ihm paßte, denn in jenem Augenblick sah ich ihn schon vor mir. Dann plötzlich tauchte aus einer Ricardo Reis entgegengesetzten Abzweigung jäh ein neues Individuum auf. An der Schreibmaschine entstand in einem Wurf ohne Unterbrechu ng oder Verbesserung die Ode Trium fal von Alv aro de Campos entstanden also die Ode mit diesem Titel und der Mann mit dem Namen, den er trägt.« In dieser Geburtsstunde, möchte man sagen, ist Fernando Pes-soa zu sich selber gekommen — und zu einer Famil ie. For tan ste llt sich ein frauenloses Familienleben ein, eine literarische Mönchsgemeinschaft, weitere Mitglieder werden aufgenommen — Berna rdo S oare s, der Hilfsbuc hhalter, z. B., der den Rang eines »Halbbruders« von Pessoa einnimmt (»Mein Halbheteronym Bernardo Soares, der übrigens in vielen Punkten Alvaro de Campos ähnelt, er erscheint immer, wenn ich müde bin oder vor mich hindämmere...«). Der eine nimmt Anteil am Leben des anderen, an seinen Dichtungen und ästhe tischen Auffassungen, und nic hts Bew egend eres a ls die Trauer Alvaro de Campos über den Tod seines Meisters in den Notizen zum Gedächtnis meines Meisters Caeiro: »Jedenfalls gehörte es zu den Ängsten meines Lebens — zu den realen Ängsten unter so vielen fiktiven —, Caeiro könnte sterben und ich wäre nicht bei ihm. Das ist dumm, aber menschlich, das ist nun mal so. ...Ich war in England, Ricardo Reis seinerseits war auch nicht in Lissabon, er war nach Brasilien 86
zurückgekehrt. Fernando Pessoa war wohl da, doch das ist genau so, als ob er nicht dagewesen wäre. Fernando Pessoa empfindet zwar die Ding e, ab er nicht s rühr t sich, nic ht einm al innerlich.« Sein-Nichtsein, Wirklichkeit-Fiktion: Pessoa hob in seiner Dichtung dieses »Entweder-oder« (aut-aut) auf in ein dem ganzen All sich öffnendes »mehr « (et-et) und begab sich dennoch immer wieder zü rck in das irdische alltägliche Entweder-oder, Ja-aber, i n d i e B e s c h r ä n k t h e i t s e i n e r E x i s t e n z a ls Außenhande lskorrespo ndent in Lissabon, einer Stadt, die sich dem Meer öffnet, die Pessoa aber nach jenem sagenhaften S.März 1914 nicht mehr verließ. Er richtete sich mit den Heteronymen im Kopf und auf dem Papier in friedlicher Koexistenz ein, ließ sie alle nfalls untereinander über Fragen der Poesie streite n; mag sein, d aß er so nst wirklich verrückt geworden wäre (wie seine Großmutter), und davor hatte er Angst, eine reale und nicht fiktive Angst, die er an sich schon als Wahnsinn empfand. Entspreche nd seiner Vorliebe für stellare Konstellationen fertigte er für jedes seiner Heteronyme Horoskope an, für die er jeweils ein Geburtsdatum und einen Geburtsort (er)-finden mußte. Auf diese Weise kam jedes Hetero nym zu seiner Biographie, zu seiner »Existenz«. So erblickte Alberto Caeiro am 16. April 1889 um 13.45 Uhr das Licht der Welt, er starb 1915 in Lissabon, hielt sich aber zu Lebz eiten nur auf dem Land auf. Cae iro wurde von den zwei anderen große n Heter onymen als Meis ter ane rkannt . Als Dichter der Natur verkörpert er den »Objektivismus«, in dem die Empfindungen so beschrieben werden wie sie sind, ohne daß die Sprache »einen Gang zwischen den Worten und den Gedanken« benötigte. Ricardo Reis ist ein Jahr älter als Pessoa. Er wird von Jesuiten erzogen und erhält eine klassische Ausbildu ng, entspreche nd vertritt er eine klassizistische, u. a. an Horaz geschulte Sprache. Von Beruf ist er Arzt. Mit de Campos diskutiert er über Rhythmus und Versmaß, und be ide zie hen jew eils unterschiedliche Lehren aus der vorbildlichen Dichtung ihres Meisters. Weil er Monarchist ist, begibt sich Reis 1919 ins Exil. Alvaro de Campos, der jüngste von allen, geboren am 15.10.1890 in Tavira (Algarve), erinnert äußerlich »vage an 87
den Typen eines p ortu giesisch en Jud en«; er lä ßt sich in Glasgow zum Ingenieur ausbilden, unternimmt eine Reise in den Orient und kehrt dann nach London zurück. Pessoa kennzeichnete Campos als »einen Whitman, der einen griechischen Dichter in sich hat«, und über die von de Campos verfaßte Ode Maritima sagte Pessoa, es habe »kein deutsches Regiment jemals die innere Disziplin besessen, die dieser Komposition zugrunde liegt«. Alles in allem verkörpern die dr ei jeweils eine zeitgenössische Ausrichtung der portugiesischen Literatur: Caeiro den »Sensationism us«, Reis den Klassizismus, de Campos den Futurismus und später — wie Soares auf seine Weise — einen Existentialismus avant la lettre. Pessoa und vor allem A. de Campos tauchen in zahlreichen Zeitschriften in den zehner und zwanziger Jahren auf. Von der Zeitschrift »Orpheu«, die viel Aufsehen erregte und Polemiken auslöste, erscheinen nur zwei Nummern (1915), die zweite wird von Pessoa zusammen mit Mario de Sa-Carneiro heraus gegebe n. Hervorgehoben seien hier noch die einzige Nummer von »Portugal Futurista « (191 7) m it Gedichten von Pessoa und dem heftigen Ultimatum von de Campos (»...zieht vorbei Nationen, damit ich euch verachten kann! ...Dich, deutsche Kult ur, d u verf aultes Spar ta mit deinem Öl aus Christentum und Essig aus Vernietzschung, du Bienenkorb aus Blech, imperialoider Erguß aus verklammerter knechtischer Gesinn ung.. .«) und schließlich die erste Nummer der Zeitschrift »Contemporänea« (Mai 192.2.), in welcher O Ban-queiro anarquista (geschrieben im Januar 1912.) erscheint. Pessoa hält sich zunehmend aus den geschäftigen und lauten Kunstdebatten heraus, schickt Alvaro de Campos vor, so für »das futuristische Portugal«, so auch um befreund ete Schriftsteller (Raul Leal, Antönio Botto) gegen reaktionäre Attacken und staatliche Zensur zu verteidigen (192.3). Hingegen beschäftigt sich Pessoa, der nie einen Hehl aus seinen okkulten Neigungen gemacht hat, mit Esoterik, dem Studium der Alchimie, der R osenk reuz er und des Fr eimau rertu ms. E in Obskura nt ist er dennoch nie gew esen, ein Mythoma ne vielleicht, Mystiker vielleicht auch und Stoiker. Doch was he ißt das alles bei einem, de r dank seiner vielen Facetten fü r kein Dogma tauglic h ist und sich in keinem Spiege l erkenn t, der in einen 88
dunklen Humor versinkt, aus dem ihn seine Heteronyme emporziehen? Seine kleinen Vorlieben, Geheimnisse — waren es sewe? — es waren Nichtigkeiten, hätte Pessoa, hätte Alvaro de Campos geantwortet. In einem Gedicht, das Autopsicog rafia überschrieben ist, sagt Pessoa: »Der Dichter ist ein Vortäuscher. / E r täuscht so vollendet vor, / daß er schließlich vortäuscht, Schmerz / sei der Schmerz, den er wirklich spürt.«
Ein anarchistischer Bankier zeugt davon, daß Pessoa auch Figuren vortäuschen konnte. Aber hinter dem unaufhörlich deduzierenden und dozierenden Bankier verbirgt sich auch Pessoa se lbst, e in Teil von ihm. Das Spiel mit den Gesetzen der Logik lag ihm ohne weiteres, und nur insofern er mit diesen Gesetzen spielte, hatte er etwas von einem Anarchisten an sich. Der radikale Egoismus des Bankiers entspricht Pessoas radikalem (pluralisierten) Individualismus, aus dem die Forderung nach der Unanta stbar keit individueller Freiheit spricht — in weltanschaulichen, religiösen, sexuellen, ja auch in nichtssagenden Angelegenheiten. Nichts war ihm wohl verhaßter, als die Selbstgefälligkeit und Selbstgere chtigkeit von Mehrheiten, die sich mit Individuen anlegten und die ihren Konsens so wortgewaltig wie zahlenmäßig ausspielten: viele gegen einen. In solchen Fällen schritt er ein - wie im Fall Leal/Botta -, riskierte er wortgewaltig den Eklat. Dum mheit bestand für ihn darin, die Spannung von Gegensätzen, von Anderssein nicht aushaken zu können. Wie hätte es auch anders sein können bei jemand, der Gegensätze, Gegensetzungen erzeugte und mit ihnen, den Heteronymen, lebte? Der Rest, die zeitpolitischen Äußerungen, war mutterländisches Engagement, durchaus im Bewu ßtsein möglichen Verblendetseins und mit der Bereitschaft, Licht auch woanders zu orten. Radikaler (aber schauerlich bestrafter) E goism us au ch im zweiten Text dieses Bande s: Ein ganz ausgefallenes Abendessen in Preußen A nfang des Jahrhunderts, betrachtet von Durban/Lissabon aus, von Alexa nder Search alias Fernando Pessoa: kein Prosit der Gemütlichkeit, vielmehr Mord und Totschlag und A nthrop opha gie. Die Umkehrung aller Werte, die Nietzsche am Ende des neunzehnten Jahrhunderts proklamiert hatte — hier wird sie im Kopf des einundzwanzigjährigen Pessoa nachvollzogen, indem sie ganz einfach einer Verkehrung der Verhältnisse zugeführt wird. In englischer Sprache entwirft er als Alexander Search - eines seiner frühesten Heteronyme -eine Schauergeschichte, deren Schauplatz Berlin ist — ein imaginäres Berlin, weil sich die deutschen Lande so gut den Visionen schwarzer Romantik anpassen, und weil manchem Europäer am Ende des letzten Jahrhunderts Berlin als Destillat alles Deutschen vorkommen mochte. 90
So genügte es Pessoa, diesem Destillat bestimmte Essenzen hinzuzufügen, die alle dem deutschen oder preußischen Boden entstamme n, um seiner Schauergeschichte das eine, entsetzliche Lokalko lorit zu verschaffen, auf das jedes Ent-Setzen, je des Un-Heimliche angewiesen ist: Schopenhauer wird als Meister zitiert, Kleist taucht auf als namentlicher Nachklang zwischen Berlin und Frankfurt (Oder?) und der Erzähler, der weitgehend anonym bleibt, trägt einen der anonymsten deutschen Namen: Meyer—oder Meier oder Maier oder Mayer. Und ausgerechnet in dem pro testantisch-pre ußischen, eisbeinversessenen Berlin soll sich eine »Gastronomische Gesellschaft« Anfang dieses Jahrhunderts der Kunst des Kulinarischen verschrieben haben. Daß Pessoa Kleist als Anthropologen mit in die Geschichte hineingezogen hat, liegt wahrscheinlich an der — unter furchterregenden, aufständischen Schwarzen auf Haiti spielenden - › Verlobung in Santo Domingo‹, und der Rest könnte ›Penthesilea‹ sein. Hinter Prosit verbirgt sich jenes Bild, das sich Pessoa von Nietzsche gemacht haben dürfte, über de n es in einem Fragment heißt: »Sein Tempera ment war das eines Asketen und eines Wahnsinnigen.« Nietzsches Proklamation der Umkehrung aller Werte nahm er literarisch beim Wort, nicht nur im Hinblick auf den »Über menschen« Prosit. Pessoa zeigt, daß der Mensch ist, was er ißt, und daß er seinesgleichen frißt, auch wenn er es nicht weiß oder nicht wahrhaben will. Die Symbo lik der Verkehrung schließt auch ein, daß der weiße Herr nicht weiß, was er, der Kolonialherr, verzehrt, wo doc h die Kolonisierten imme rhin wußten, daß sie ihresgleichen verzehrten, wenn sie es denn im Rahmen ganz bestimmter Ri-tuale überhaupt taten; daß der W eiße nicht wissen wollte, daß er mit seinen kolonia len Unter nehmu ngen die Schwarzen bis aufs Blut aussaugte, wie man so sagt, wo ihm doch seine religiösen und ethischen Überzeugungen dieses Wissen hätten einbleuen müssen. Der Schein trügt, wenn es ums Essen geht; das stellt auch schon der Übermensch »Herr Prosit« fest, wenn er die vergeblichen Versuche der Mitglieder komm entiert, Licht ins Dunkel zu bringen, wie e s so schön heißt. Eben diese abendländisc he Metapher wird in ihrer Aussage verkehrt. Denn wenn am Ende der Geschichte die wahre Substanz des Verspeisten ans Licht kommt, w erden aus d enen, die nach ihm gesucht habe n, fin91
stere Gesellen, die - um nachtet - einen Me nschen opfern, eben den Ü ber mensche n »Herr n Pro sit«. Die Wissenschaft ihrerseits, um Licht ins Dunkel zu bringen, hat im neunzehnten Jahrhundert, als Anthropo logie ausgewiesen, dam it begonnen, sich Gedanken über das Opfern und auch das Verspeisen von Menschen zu machen. Es scheint, daß die Nebenbeiforscher, die Missionare, sich sentimentaler mit diesem Phänomen befaßt haben als die eigentlichen Fo rscher, die nicht umhinkonnten, ihre Furcht vor diesem Phänome n in verurteilende Phrasen zu kleide n, wobei ihnen oft d er wahre Charakter des Kannibalismus entgehen mußte, daß es sich nämlich nicht um nackten Hunger oder wilde Fleischeslust, sonde rn um ein symbolisches Ritual handelte, in welches immer schon das fleischgewordene Wort involviert war. Die vorliegende Erzählung ist meines Wissens nie im Original, au f Englisch, veröffentlicht worden. Es hat zwei portugiesische Ausgaben gegeben, die letzte - ohne Jahresangabe - ist unter dem Titel ›Um jantar muito original in der Reihe Crime imper-feito erschienen. Es gibt — wie Pessoa-Kenner wissen — vieles, das der große portugiesische Dichter lieber vorzugsweise in englischer Sprache verfaßte, so auch das eindeutig an Poe orientierte ›A very original dinner‹. Der amerikanische Dichter als großes Vorb ild Pessoas in jungen Jahren wird auch ausschlaggebend gewesen sein für den Impuls, eine Groteske auf Englisch zu schreiben. Poe nannte »g rote sk« ein Werk, in dem »ein burleskes oder satirisches Moment vorherrscht« (K. Schumann u. H. D. Müller im Vorwort zum ersten Band von Das gesamte Werk in zehn Bänden S. 9, M. Pa wlak Verlagsgesellschaft, Her rsching 1979). Eine solche Groteske in Poes Werk ist die Erzählung ›Du bist der Mann‹ (›Thou are the Man‹), das einer Studie von Maria Leonor Machado de Sousa zufolge, der Übersetzerin des vorliegenden Alexander-Search-Texte s ins Portugiesische, Parallelen zu ›A very original dinner‹ aufweist. Merkwürdige, in keinem englischen Wörterbuch auffindbare, dennoch e indeu tig englisch e Wor tbildu ngen wie »invital« anstelle von »invitation« markieren hier und da Pessoas Text. Südafrikanismen und/oder Lusitanismen sind nicht auszuschließen bei einem, der einen Teil seiner Kindheit und Jugend in Durban und englischsprachigen Schulen verbracht hat und 190 3 — sechs J ahre bevo r er, einundzw anzigjährig, seine 92
Berliner Schauergeschichte schrieb - den ›Queen Victoria Memorial Prize› für ausgezeichneten Stil in der englischen Sprache errungen hat. Das Manuskript von Pessoas Hand, gezeichnet »Alexander Search - June 1909«, befindet sich in der Nationalbibliothek von Lissabon. Eine oder zwei unlesbare Stellen sind in der deutschen Fassung durch Auslassungspunkte gekennzeichnet. Am 29.November 1935 starb Fernando Pessoa an einer Leberkolik. Vor seinem Tod kritzelte er auf ein Blatt Papier die Worte: »I know not what tomorrow will bring.« Zu seinen Plänen gehörte unter anderem eine erweiterte, englische Version des »anarchistischen Bankiers«, an der er arbeitete; wie er in dem erwähnten Brief an Adolfo Casais Monteiro schrieb, rechnete er sich damit gute Chancen beim europäischen Lesepublikum aus, fügte aber dann (schmunzelnd?) hinzu: »Verstehen Sie diesen Satz nicht so, als stünde ein Nobelpreis ins Haus!« Den Neophyten, den Eingeweihten, hatte er, der sich selbst als »Ein Trugbild seiner selbst« bezeichnete (im Buch der Unruhe), in dem orthonymen Gedicht Iniciaciao Unster blichkeit bescheinigt: ».. .nao ha morte« (es gibt keinen Tod). Natürlich machte er sich nichts vor: Im selben Gedicht lautet eine Strophe: »Kommt eine Nacht, ist der Tod Geht der Schatten hinüber, was war er? Du, nur ein Umriß, dein eigenes Gleichnis, Gehst in die Nacht, egal, sowieso.«