Kriminalroman
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Drei zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilten Kriminellen ge...
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Kriminalroman
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Drei zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilten Kriminellen gelingt der Ausbruch aus der Haftanstalt. Ihre Flucht führt nach Indianapolis, wo sie auf Geld warten und Rache an Vize-Sheriff Webb nehmen wollen. Ein vorzügliches Versteck finden sie im Haus der Familie Hilliard, die fortan dem Terror der Verbrecher ausgeliefert ist. Als das erwartete Geld nicht eintrifft, müssen die Gangster ihren Aufenthalt verlängern. Die vier Hilliards suchen verzweifelt nach einem Weg, die Verbrecher aus dem Haus zu locken. Aus ihrer anfänglichen Hilflosigkeit erwächst schließlich eine zielgerichtete Aktion, die das Eingreifen der zunächst ratlosen Polizei erst in letzter Minute notwendig macht.
Joseph Hayes
An einem Tag wie jeder andere _____________________________________
Verlag Das Neue Berlin
© 1954 by Joseph Hayes Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags, Frankfurt am Main Originaltitel: The Desperate Hours, A Novel of Suspense Übersetzung aus dem Amerikanischen von Maria von Schweinitz Lizenz-Ausgabe für die Deutsche Demokratische Republik
1 Sie tauchten aus den Wäldern auf, als der Morgen graute. Die Dämmerung war kalt und feucht, der Nebel stieg wolkig aus den Feldern. Sie waren zu dritt, ihre Anstaltskleidung verschmolz mit dem gelblichen Herbstgrün. Sie hielten nur kurz an und musterten prüfend die Straße, die flach über dem flachen Land des Mittelwestens lag. Der eine gab ein Zeichen – es war der große, schlanke, jung aussehende Mann, der den anderen beiden ein wenig voranschritt, den Kopf geneigt und die Schultern trotzig und fast triumphierend zurückgeworfen; sie begaben sich rasch, doch ohne zu laufen, hinter eine Schutzwand aus Bäumen und Unterholz, die in gleicher Richtung mit der Straße verlief. In sehr kurzer Zeit, ehe noch ein Lebewesen auf der Straße erschien, erreichten sie eine Farm. In der Nähe der Ställe trennte sich der eine von den beiden anderen, ein schmächtiger junger Mann, noch jünger als der hochgewachsene, aber ohne dessen sicheres Auftreten; er ging schnell zu der neuen grauen Limousine, die dort geparkt war, hob die Haube und begann an den Kabeln zu hantieren. Die beiden anderen begaben sich rasch und geräuschlos in den Stall. Hier stießen sie auf einen Farmer, einen etwa vierzigjährigen Mann im grauen Overall, der mit Eimer und Melkschemel gerade von einer Kuh zur anderen ging. Der kleinere der beiden, nicht mehr jung, aber stämmig, mit dem schwerfälligen vornübergebeugten Gang eines Bären, hob den Schaft einer Axt auf und ging über den strohbedeckten Zementboden. Ehe der erschrockene Farmer einen Schrei ausstoßen konnte, fuhren die gewaltigen Arme plötzlich hoch, es gab einen häßlichen Laut, und der Farmer fiel der Länge nach nieder. Dann hob der Schwerfällige nochmals den 7
Schaft, aber der Lange hinderte ihn mit einer kurzen herrischen Geste, wie vorher auf der Landstraße. Er kniete neben dem Bewußtlosen, aber noch atmenden Farmer nieder und streifte ihm den Overall ab. Dann verließen sie den Stall und gingen zu dem jungen Burschen, der jetzt hinter dem Steuer des Wagens saß. Der Motor summte. Der Wagen glitt unbemerkt aus dem Farmhof, drehte nach Süden ab und verlor sich im dünner werdenden Nebel. Dies alles vollzog sich mit einem Mindestmaß von Anstrengung, ohne eine unnötige Bewegung, denkbar präzis und automatisch. Eine knappe halbe Stunde später erreichte die Nachricht von diesem Ereignis die Stadt Indianapolis, zweiundsiebzig Meilen weiter Östlich. Fast unmittelbar darauf läutete das Telefon im Schlafzimmer eines kleinen, gepflegten Hauses in einer der neueren, aber anspruchslosen Vorstädte nordwestlich der Stadt. Ein sehniger junger Mann im grüngestreiften Flanellpyjama drehte sich gähnend im Bett und faßte mit knappem Griff über seine schlafende Frau hin nach dem Telefon. Er sprach kurz und horchte dann ebenso kurz. „Ich komme gleich“, sagte er. Nun ganz wach geworden, legte er den Hörer auf und wendete sich zu der Frau im Bett. Sie hatte die Augen geöffnet, schnitt eine Fratze und streckte sich mit übertriebener Geste von Wohlbehagen und Zufriedenheit, um die Unruhe zu verbergen, die sie bei solchen Telefonanrufen immer empfand. Sie setzte sich auf und sah zu, wie ihr Mann in seinen dunklen Anzug stieg. Er war ungewöhnlich groß, etwa Anfang Dreißig, mit auffallend dünnen Armen und Beinen, die nichts von den eisenharten Muskeln verrieten, die unter der 8
Oberfläche lagen. Er redete, während er sich anzog. Er sprach lakonisch in seinem gedehnten Tonfall; aber an dem unwirschen Klang seiner Stimme spürte sie die Erregung, die er zu unterdrücken versuchte. „Glenn Griffin, sein jüngerer Bruder und ein anderer Sträfling, ein Lebenslänglicher namens Robish“, sagte Jesse Webb. „Vor knapp einer Stunde. Aus dem Staatsgefängnis in Terre Haute.“ Er befestigte seinen Revolver, gab dem Schulterriemen einen raschen Klaps, zog dann sein Jackett an, schlug es mit einer automatischen Bewegung zurück, so daß sein Polizeiabzeichen einen Augenblick sichtbar wurde, ein matter Schimmer in der Dunkelheit. „Rasieren lasse ich mich in der Stadt, Kathie.“ „Und essen wirst du auch“, ermahnte sie ihn; mit breitem, jungenhaftem Grinsen wandte er sich zum Bett. „Ich muß wohl, Kathleen Webb“, sagte er, „wenn du es willst!“ Doch schon beim Sprechen wurde sein Lächeln unsicher und erlosch; er bückte sich rasch, küßte sie und wollte zur Tür. Ihre Stimme hielt ihn fest. „Ist Glenn Griffin nicht der, den du …“ Sie brach ab, als er in der Tür stehenblieb. „Ja, der“, sagte er. „Er hat zwölf Jahre bekommen. Ich hoffe, er nimmt direkten Kurs auf seine alte Heimatstadt.“ Er rieb, wie es seine Gewohnheit war, den Rücken seiner schmalen, mageren, geschickten Hand, und Kathleen erhob sich vom Bett. Sie ging mit ihm bis zur Haustür. „Aber wäre das nicht das letzte, was er tun würde?“ fragte sie vernünftig, um ihn nicht merken zu lassen, daß sich ihr Herz dabei zusammenzog. Jesse Webb vom Polizeirevier des Bezirks Marion mußte die ganze Woche seinen Vorgesetzten, Sheriff 9
Masters, vertreten, der nach South-Carolina gefahren war, wo er die Gelegenheit einer Sträflingsauslieferung zu einem Jagdausflug benutzte. Jesse wandte sich in der Haustür nochmals zu seiner Frau und erklärte ihr, warum er glaube oder hoffe, daß Glenn Griffin nach Indianapolis käme. Zunächst einmal, sagte er, muß man mit dem Nestinstinkt des Verbrechers rechnen; seine Heimatstadt – selbst wenn sein Gesicht dort bekannt ist – gibt ihm die Illusion der Sicherheit. Er glaubt immer zu wissen, wo er sich verbergen kann, obwohl heute all solche Schlupflöcher bei Einbruch der Dunkelheit um und um gekrempelt werden. Dann lebt aber auch eine Frau da, Helen Lamar; sie ist mindestens fünfunddreißig, zehn Jahre älter als Glenn Griffin, aber wichtig für ihn. Und Jesse vermutete stark, daß sie das Geld hatte. „Immer ist eine Frau dabei“, sagte Kathleen; nur zögernd ließ sie den schlanken Arm los, in dem die strammen Muskeln spielten. „Nicht immer, aber wenn eine dabei ist, hilft es uns. Wenn sie noch hier in Indianapolis weilt, wette ich zwei zu eins, daß sie der Lockvogel ist, der uns direkt zu diesen drei …“ Er biß sich auf die Zunge, weil Kathleen den „Polizeijargon“, wie sie es nannte, nicht leiden konnte. Er brach ab, faßte ihr Kinn mit seiner Hand, küßte noch einmal ihre schlafwarmen Lippen und schritt dann zu dem Wagen, der im Torweg geparkt war; er stellte sich beinahe bewußt auf die unvermeidlichen Worte ein, die von der Tür zu ihm kommen mußten. Sie kamen – ihr Klang schwebte in der frostigen, scharfen Luft: „Viel Glück, Liebling!“ Er winkte, ohne zu lächeln, mit einer Hand und fuhr mit der anderen den Wagen des Sheriffs rückwärts in die Straße. 10
In diesem Augenblick kreuzte die graue Limousine durch das Farmland, das hügelig zu werden begann. Glenn Griffin, der den verschossenen blauen Overall trug, war am Steuer. Der ältere Mann saß neben ihm, sein ungeheurer massiger Kopf war zwischen die ständig hochgezogenen Schultern gesunken, so daß er fast ein Teil seines schwerfälligen Körpers zu sein schien. Der jüngere, Glenns Bruder, lag ausgestreckt, mit tief gesenktem Kopf und geschlossenen Augen, auf dem hinteren Sitz. Aber Hank Griffin schlief nicht. Er erinnerte sich, wie sie langsam, platt an den Boden gedrückt, in der Dunkelheit über die hundert Meter lange Strecke gekrochen waren, hinter sich die Mauern und die Schießtürme; wie sie Hals über Kopf, keiner Hindernisse achtend, zu dritt durch die verhältnismäßige Sicherheit der dunklen Wälder gestürmt waren. Seine Brust war gepeitscht und zerkratzt, sein Hemd vorn zerrissen und leicht mit Blut verkrustet. Über seine Stirn lief ein tiefer Riß, der zu pochen anfing. Das schlimmste aber war, daß ihn der Schüttelfrost packte. Jetzt, da sie außer Hörweite kreischender Sirenen waren, die beharrlich, schrill und schauerlich an die hohen Mauern gellten, konnte er sich ihren Ton so genau vorstellen, als ob er ihn tatsächlich hörte. Sein ziemlich kurzer, straffer und sehr jugendlicher Körper bebte unter den Krämpfen, die ihm durch Mark und Muskeln krochen, und er konnte nichts anderes dagegen tun, als mit zusammengebissenen Zähnen dazuliegen und zuzuhören, was Glenn und Robish auf dem Vordersitz sprachen. „Du fährst nach Süden“, beklagte sich Robish mit schwerer, aber zänkischer Stimme. „Indianapolis liegt nordöstlich.“ „Ich fahre jetzt nach Südosten“, sagte Glenn Griffin leichthin, und die Worte hüpften und flackerten in seinem 11
Lachen, das jetzt jedes Wort färbte und den Wagen mit einem frohen Triumph füllte, der warm über Hank hinwehte. „Hast du nicht gesagt, die Lamar ist in Indianapolis? Mit dem Zaster.“ „Sie ist letzte Woche weggezogen. Nach Pittsburgh. Wenn man sie in Indianapolis nicht findet, ist ihnen der Wind aus den Segeln genommen. Und man wird sie nicht finden.“ „Ja, wo zum Teufel fahren wir dann hin?“ „Indianapolis“, sagte Glenn ruhig, den Mann neben sich verspottend, und in seiner Stimme schwang noch das Lachen. „Du weißt ja, daß ich dort noch was zu begleichen habe, oder? Aber wir dürfen nicht von Westen aus ’ner Straßenkontrolle in die Arme rennen, Freundchen. Wir schlagen einen Bogen um die ganze Stadt und kommen irgendwann heute nachmittag von Nordosten.“ „Und was dann?“ „Na, dann suchen wir uns ein gemütliches Nest. Und dann setz’ ich mich mit Helen in Verbindung.“ „Gemütliches Nest? Wo denn?“ „Wo du willst. Nur kein Schlupfwinkel, verstehst du? Sie werden alle bewacht. Und auch kein Hotel. Wir suchen uns ’n nettes ruhiges Haus in ’ner netten ruhigen Straße – sagen wir am Stadtrand. Keine andern Häuser dicht daneben. Nehmen wir ruhig ein großes Haus mit weichen Polstermöbeln. Gut bürgerliche, ängstliche Leute, ein Spießer, der jeden Tag brav zur Arbeit geht – möglichst mit’m Kind in der Familie. ’ne Bleibe, wo wir den Anstaltsfraß vergessen.“ „Und was dann?“ „Na, dann warten wir.“ „Wie lange?“ 12
„Bis Helen von Pittsburgh da ist. Nun halt die Klappe, Robish – laß einen doch die Freiheit in Ruhe genießen.“ Hank hörte auf seinem Rücksitz Robish unterdrückt fluchen. Alles, was recht war, das mußte man Glenn lassen, er konnte mit Robish fertig werden! Robish hatte zuerst gemurrt, sie sollten die Anstaltskluft in den Graben schmeißen; Glenn wollte nichts davon hören. Er würde ihnen schon Anzüge verschaffen, wenn sie welche brauchten – anständige Anzüge. Inzwischen müßten sie sich eben ducken. Und dann hatte Robish gemeckert, er hätte kein Schießeisen und käme sich einfach wehrlos vor; wenn sie nun geradewegs in ’ne Straßenkontrolle reinfuhren? Das kommt gar nicht in Frage, hatte Glenn gesagt, weil nämlich kein Mensch an diese Nebenstraßen dachte. Und wegen des Revolvers konnten sie sich’s nicht leisten, ein Ding zu drehen und sich dabei zu verraten; außerdem hatte Glenn doch den 38er, den er dem Wärter abgenommen hatte, der jetzt mit einer Beule am Kopf, wenn nicht mit etwas Schlimmerem im Gefängnislazarett lag. Reg dich ab, Robish, freue dich lieber. Aber Hank beruhigte sich nicht. Er schickte seine Gedanken voraus. Und er malte sich ein Haus aus, wie Glenn es beschrieben hatte. Nach dem Zuschnappen des Schlosses, dem glatten mechanischen Laut der sich schließenden Zellentüren, der harten Unnachgiebigkeit der Zementböden und Stahlpritschen stellte er sich vor, daß er wieder in einem weichen, tiefen Sessel sitzen würde, die Füße in einen langhaarigen Teppich gebettet, umgeben von der Wärme und Gemütlichkeit gewöhnlicher Wohnzimmerwände mit gerahmten Bildern. Bis jetzt hatte sogar die frische, kalte Luft, die durch die geschlossenen Fenster der Limousine drang, nicht jene tiefen Täler der Erinnerung erreicht, wo der scharfe, nach 13
Eisen schmeckende Geruch der beiden letzten Jahre noch festsaß wie der stechende Gestank eines Sumpfes. Aber in so einem Haus, sagte er sich … Die Hilliards hatten ihr Haus am Kessler Boulevard gekauft, weil es viel geräumiger war als die neuen Häuser, die für etwas weniger Geld zu haben waren. Es war den höheren Preis wert, es lag recht günstig zu den Geschäftsvierteln, hatte gute Autobusverbindungen – und war trotzdem weit genug entfernt von anderen Häusern, um der Familie ein Gefühl des Fürsichseins zu geben. Es lag nur zehn Straßenzüge vom Stadtinnern entfernt und kostete weniger Steuern. In den acht Jahren, seit die Hilliards das Haus bewohnten, hatten sie, ohne daß einer von ihnen es recht merkte, jeden Winkel, jede Treppenstufe, jeden Dachziegel liebgewonnen. Es mußte freilich im Frühjahr dringend frisch gestrichen werden, und die Möbel, die Dan neu gekauft hatte, als er nach dem Kriege aus der Marine entlassen war, zeigten immerhin geringfügige Spuren der Abnutzung durch die zwei heranwachsenden Kinder. Cindy, gerade neunzehn, fand, sie müßten die Wohnzimmereinrichtung so bald wie möglich erneuern, aber ihre Mutter, Eleanor, war anderer Ansicht. Selbst die zwanzig Prozent Rabatt, die sie bekamen, weil Dan Personalchef des größten Warenhauses der Stadt war, änderten nichts daran. Eleanor behauptete, die Lebenshaltung sei teuer und die Möbel seien bequem. Außerdem hatte sie vor nicht ganz einer Woche Dan gegenüber erwähnt, daß Cindy bald heiraten könnte. Dan hatte, wie es seine Art war, nichts gesagt. Als Dan an diesem Mittwochmorgen um sieben Uhr vierzig die Treppe herunterkam, versuchte er, lieber an die verwickelten Aufgaben seines Bürotages zu denken, 14
als der ängstlichen Unsicherheit stattzugeben, die er um seine Tochter Cindy zu spüren begann. Nicht daß er etwas Persönliches oder Besonderes gegen Charles Wright einzuwenden hatte. Vielleicht, so schalt er sich, war es nur eine Art verdrängter Neid. Dan hatte sich alles, was er erreichte, erarbeiten müssen, jeden Cent. Dieses Haus war die Krönung seiner langen Mühen. Ohne höhere Schulbildung hatte er es so weit gebracht. Und er war stolz darauf, mit jenem harten Stolz, der sich aus dem Bewußtsein persönlicher Tüchtigkeit und aus Dankbarkeit zusammensetzt. Charles Wright aber war keiner von den jungen Leuten, mit denen Dan sich abfinden konnte. Chuck – so nannte ihn Cindy, nachdem sie Sekretärin in dem Anwaltsbüro wurde, wo der junge Wright bereits Juniorpartner war –, Chuck hatte es leicht gehabt, ihm war alles zugeflogen. Er hatte Glück. Aber er war auch – das wußte Dan vom Hörensagen und aus sicherer Quelle – ein leichtsinniger junger Mann mit größerem Interesse für schnelle Wagen, schöne Mädchen und feuchte, lange Gesellschaften als für eine sichere Position im bürgerlichen Leben. Nun ja, Dan benahm sich wie ein typischer Vater oder, wie Cindy sagte, „ein konservativer alter Stockphilister“. In der Küche hatte der Tageslauf fast eine Stunde vorher begonnen. Ralphie, der das Frühstück immer hinschleppte, als sei es eine Art Strafe für frühere Missetaten, stierte auf ein halbvolles Glas Milch. Er schaute auf, als Dan die große sommersprossige Faust ballte und die Knöchel leicht gegen seine weiche, zehn Jahre alte Wange drückte. Eleanor, deren Gesicht gerundet war wie das ihres Sohnes und die ihm auch ihr helles Haar mitgegeben hatte, stellte lächelnd das Spiegelei mit Schinken vor Dan und setzte sich dann ihm gegenüber 15
an den Küchentisch. Ungeschminkt sah sie selbst aus wie ein Kind, klein und schlank. „Lucille ist krank“, sagte sie, damit die Abwesenheit des Mädchens erklärend, das gewöhnlich mittwochs und samstags kam. „Schon wieder?“ sagte Dan. „Fehlt Gin aus der Flasche?“ Eleanor runzelte die Stirn und schüttelte mit einer raschen Warnung den Kopf, wobei sie auf Ralph deutete, der den Blick von seiner Milch erhob und wissend grinste. „Sie ist wahrscheinlich dun“, sagte er trocken. „Wo lernt er solche Ausdrücke?“ forschte Dan. „Aus den Comic Books“, sagte Eleanor und schmierte den Toast. „Beim Fernsehen. Weißt du denn, was dun heißt, Ralphie?“ „Mein Name ist Ralph“, sagte Ralphie, nachdrücklich jedes Wort mit einem Klopfen seines Glases auf den Tisch unterstreichend. „R-a-l-p-h. Ohne ‚i‘ am Ende.“ „Entschuldige, alter Junge“, sagte Dan. „Und dun heißt blau. Und blau heißt betrunken. Muß ich noch mehr Milch trinken?“ Eleanor lachte hinter ihrer Serviette und nickte. Ralph sprang auf, daß der ganze Tisch wackelte, und küßte seine Mutter schnell aufs Haar. Dann heftete er seine Augen ernst auf Dan, grüßte kurz, halb trotzig, halb verlegen, und drehte sich auf dem Absatz um. „Ich will noch radfahren. Ich hab’ noch fast ’ne ganze halbe Stunde Zeit.“ Er verschwand nach der hinteren Veranda, polterte die drei Stufen hinunter und war fort. Dan hörte, wie die Garagentür aufgeschoben wurde, was ihn wieder daran erinnerte, daß sie bald geölt werden mußte. Eleanor sagte: „Unser Sohn Ralph, schreibe: R-a-l-p-h, ist zu alt, um einen Mann – das heißt dich – zum Abschied oder Gutenachtsagen zu küssen.“ 16
„Na ja“, sagte Dan leichthin, aber innerlich gab es ihm irgendwo einen Stich, „da kann man nichts machen.“ „Ein Markstein am Wege“, sagte Eleanor; jetzt sah sie ihn fest und forschend an. „Wir scheinen an den Marksteinen geradzu vorbeizufliegen, altes Mädel“, sagte er. Dan war ein mittelgroßer Mann mit schweren Schultern, dessen massiger Körper gut in den zweireihigen Anzug paßte. Eleanor sah in die vertrauten tiefblauen Augen und bemerkte das mahagonirote Haar darüber und die Sommersprossen auf und neben der ziemlich breiten Nase und die tiefen feinen Linien, die, wie sie fand, dem sonst sehr alltäglichen, aber sehr ansprechenden Gesicht so viel Charakter gaben. Seine Gedanken erratend, sagte sie: „Cindy möchte ihn gern zum Danksagungstag einladen.“ Dan schluckte den Rest seines Kaffees, stand dann auf und zupfte an seinem Rock wie ein Junge, der zu einer Kindergesellschaft eingeladen ist und auf jeden Fall Eindruck machen will. „Darf sie?“ fragte Eleanor. Dan zuckte die Achseln, aber ohne Überzeugung. „Ellie, ich möchte mich nicht einmischen und die ganze Sache verbieten, das würde Cindy nur bockig machen. Aber – nun ja, der Danksagungstag ist doch ein Familienfest.“ Eleanor hob das Gesicht zu ihm auf, und er küßte sie; dann ging sie zum Küchenfenster, während Dan zur Hintertür hinausging, den Mantel im Arm statt über die Schulter geworfen. Als sie das Fenster öffnete, fegte ein winterlicher Lufthauch in die Küche. Sie sah aus dem Fensterwinkel zu, wie er den blauen Wagen rückwärts aus der Garage fuhr und auf der Einfahrt um Cindys schwarzes Coupé 17
herummanövrierte. Dann rief sie – es lag wirklich kein besonderer Grund dazu vor, aber es war eine alte, feste Gewohnheit zwischen ihnen und bedeutete gleichzeitig mehr und weniger als die Worte selbst: „Hör zu, Dan: Sei vorsichtig!“ Den Hut wie gewöhnlich nicht ganz gerade auf den Kopf gestülpt, rief Dan zurück: „Mach das Fenster zu!“ und fegte aus ihrem Blickfeld. Eleanor fügte sich, wie sie es fünf Tage in der Woche an jedem Morgen tat. Sie erkältete sich nie, und Dan wußte es, ebenso wie sie wußte, daß für ihn kein besonderer Grund zur Vorsicht vorlag. Vorsicht – wovor? Sie legte ein frisches Gedeck für Cindy auf und beschloß dabei, an diesem Morgen nicht von Chuck Wright zu sprechen, besonders im Hinblick auf Dans unausgesprochene Ablehnung der Einladung zum Danksagungsessen. Alle Worte, die ihr einfielen, schienen ihr so abgebraucht und so nichtssagend – daß er in dem Ruf stand, unsolid zu sein, daß er der Typ Mann war, der sich nie binden und seßhaft machen würde. Cindy würde nur wieder einmal von der hohen Warte ihrer neunzehn Jahre erwidern, daß der Krieg allein schuld sei. Ja, und daß eine große Tragödie, ein dramatisches Schicksal – von dem er nicht weiter spreche –, Charles Wrights Haltung vollkommen und bis ins letzte erklären könnte. Eleanor stellte das Radio an, drückte auf einen Knopf nach dem anderen und blieb endlich bei den Tagesnachrichten, während sie sich anschickte, ihre zweite Tasse Kaffee zu trinken. Nachdem sie etwa fünf Minuten zugehört hatte – ihr Interesse war keineswegs gefesselt durch den Bericht von drei entwichenen Strafgefangenen aus Terre Haute und die Warnung, daß diese Männer bewaffnet und gefährlich 18
seien –, hörte sie Cindy die hölzerne Hintertreppe herunterkommen, die nur die Familie benutzte; die hohen Hacken klapperten in raschem Rhythmus. Eleanor drehte das Radio ab und setzte ihre Tasse hin. Sobald Cindy aus dem Haus war, fing Eleanors Tag erst richtig an. Im Büro des Sheriffs, das mit dem Gefängnis des Bezirks Marion in der Innenstadt von Indianapolis verbunden war, hatte der Tag schon lange vorher begonnen. Während des ganzen Morgens hatte Jesse Webb enge Fühlung mit der Staatspolizei gehalten, ebenso mit der Stadtpolizei, dem Radiofunk, den Nachrichtenstellen und dem Stadtbüro der Bundespolizei. Sie hatten jetzt eine genaue Beschreibung der grauen Limousine, der Wagennummer und der ungefähren Zeit des Diebstahls von einer Farm südlich von Terre Haute. Jesse haßte das Warten. Es ging ihm wider die Natur. Es war eine Hilflosigkeit damit verbunden, die auf seine Nerven aufreibend wie Sandpapier wirkte. Die Straßenkontrollen waren an allen Hauptstraßen eingesetzt, es kam kein Bericht über einen weiteren Diebstahl, in keinem Sportgeschäft waren Waffen geraubt, in keinem Konfektionsgeschäft und in keiner chemischen Reinigung war nach Kleidern eingebrochen worden. Kurzum, alles, was man tun konnte, wurde getan. Aber Jesse war nicht befriedigt. Sein Onkel, Frank Pritchard, rief ihn nach den ZehnUhr-Radionachrichten an. Jesse lauschte der müden Stimme, die er kaum verstehen konnte, nickte gelegentlich mit dem schmalen Kopf, der Hut war ins Genick geschoben, die Füße gegen die Kante des Rolldeckelpultes in seinem Büro gestemmt. Dann sagte er: „Ich habe nichts, aber auch gar nichts vergessen, Onkel Frank. Geh jetzt schlafen.“ 19
Nachher saß er, den langen, schlanken Körper über das Pult gebeugt, und rauchte, bis ihm die Zigarette die Finger verbrannte. „War das Frank P.?“ Tom Winston, der Kollege, der das kleine Büro mit ihm teilte, hatte das Gespräch gehört – soweit es ein Gespräch war –, und nun brach seine Neugier endlich durch. „Ich wette, er wäre heute gerne wieder in seinem alten Beruf.“ „Tjaaa“, sagte Jesse langsam, auf eine Stelle der hohen weißen Stuckdecke stierend. „Tjaaa. Mit zwei brauchbaren Händen und einem Revolver.“ „Warum hast du ihm gesagt, er soll schlafen gehen?“ Tom Winston erschrak vor den plötzlich wilden grauen Augen, die Jesse Webb ihm zuwandte. „Ich sagte ihm, er soll wieder schlafen gehen“, sagte Jesse, aber jetzt schleppte er die Worte nicht, sondern sie kamen abgehackt wie die Kugeln aus einem Colt, „weil er einen Posten hat, den er behalten muß. Als Nachtwächter in einer Fleischfabrik. Ich möchte nicht, daß er den auch noch verliert – wegen Glenn Griffin.“ Winston nahm einen Bogen Papier von dem Pult und trat den Rückzug an. „Ich wußte ja nicht, was aus dem alten Frank P. geworden war“, sagte er begütigend. Jesse starrte seinem Kollegen nach, als Winston den Korridor zur Registratur entlangschlurfte. Winston ist nicht schuld, sagte er zu sich selbst; jetzt atmete er schwer. Schuld ist der Kerl, der’s getan hat. Er konnte es wieder vor sich sehen, wie alles geschah. Onkel Frank war hinter dem geparkten Wagen gewesen, als Glenn Griffin aus dem trübseligen kleinen Hotel herauskam. Selbst in seiner blauen Uniform hatte Onkel Frank zu klein ausgesehen, zu alt und zu dürftig für den 38er, den er in der Hand hielt. Dann rief er. Glenn Griffin 20
war herumgewirbelt, hatte gefeuert; zwei Kugeln trafen Onkel Franks Arm und verletzten einen Nerv unheilbar, so daß der rechte Arm jetzt ein hängendes, lahmes, unnützes Ding war, kaum überhaupt noch ein Teil seines hinfälligen kleinen Körpers. Jesse hatte sich Vorwürfe gemacht, daß er nicht sofort geschossen hatte; aber er war einen Augenblick betäubt und verdutzt gewesen, als er Onkel Frank aufschreien hörte wie ein Kind; es war ein schrecklicher, schamloser Schrei, der noch heute in Jesses Träumen gellte. Glenn Griffin war in den Torweg zurückgesprungen, gelenkig wie ein Tänzer, trotz des Brüllens und Winselns und trotz der Knallerei. Und dann hatte Glenn Griffin, während Onkel Frank sich am Boden wand, gerufen, daß er sich ergeben wolle, und hatte sogar seinen Revolver auf die Straße geschleudert. Jesse erinnerte sich der Wolke schwarzer Betäubung, die sich auf ihn niedersenkte, als er über den Revolver hinweg trat und sich dem unbewaffneten jungen Verbrecher näherte; er war nicht mehr Herr seiner Handlungen, trotz der Zurufe der anderen Beamten und seines Leutnants, der ihm befahl, stehenzubleiben und nicht zu feuern. Dann hatte sich die Wolke etwas gelüftet, und er hatte nicht geschossen. Aber erst als er den kauernden Griffin mit seiner mageren, klauenhaften Hand wieder auf die Füße gerissen und die andere, ein Stück wirbelnder Wut, voll in Griffins hübsches, jetzt verzerrtes Gesicht gestoßen hatte, spürte Jesse Webb eine momentane Erleichterung von dem sinnlosen Zorn, der ihn gepackt hatte. Wenn er jetzt, mehr als zwei Jahre später, daran dachte, wurde er bleich und erschüttert, und der Sehweiß lief ihm den Nacken herunter. Mit etwas mehr Ruhe erinnerte 21
er sich an das, was dann gefolgt war: daß Onkel Frank wegen seines baumelnden und bald verdorrenden Armes aus der Stadtpolizei entlassen wurde und daß er selbst ohne guten Grund seinen Dienst bei der Stadtpolizei aufgegeben hatte. Er erinnerte sich auch der Verhandlung gegen Glenn Griffin, wie der Bengel unverschämt durch die Binden, die sein gebrochenes Kinn zusammenhielten, zu der Geschworenenbank hinübergelächelt hatte, während sein Anwalt dramatisch auf „diesen unbestreitbaren Beweis von polizeilicher Brutalität“ hinwies. Selbst als die Geschworenen das Urteil ausgesprochen hatten – es war Griffins dritte schwere Strafe –, behielt der junge Mann seine eiserne Stirn. Bei der Urteilsverkündung war sein jüngerer Bruder, in derselben Nacht wie er gefangen, bleich geworden und hatte zu zittern angefangen. Nicht so Glenn. Das einzige Mal, daß Glenn Griffin überhaupt ein Gefühl gezeigt hatte, war am selben Tag im Korridor des Gefängnisses, als der Polizist ihn abführte. Jesse hatte es sich angelegen sein lassen, dabeizusein, obwohl er bereits im Büro des Sheriffs und nicht mehr bei der Stadtpolizei tätig war. Das Gesicht des jungen Menschen, frei von den Binden, war weiß und abgespannt, und er sprach mühsam und steif. „Du kriegst noch dein Teil, Blauer“, sagte er – er spie die Worte nicht aus, und es war nichts Dramatisches oder Gewaltsames daran. Jesse Webb stand von seinem Pult auf. Er hatte seine Erinnerungen beendet und sie gewaltsam in eine Ecke seines Hirns verbannt. Jetzt rieb er sich mit der Handfläche das Gesicht; er zog sie heiß und naß zurück. Dann verließ er das Büro und ging, den langen, hageren Körper wie gewöhnlich leicht vorgebeugt, zum Regierungsgebäude. 22
Er hätte telefonieren können. Er hätte seinen Wagen nehmen können. Er brauchte aber Bewegung und die reine, nadelscharfe Luft. Leutnant van Dorn von der Staatspolizei, ein Mann mit rötlichem Gesicht und grauen Haaren, grinste hinter dem Tisch über Jesses finsteres Gesicht. „Die Stadt kann keine Spur von Helen Lamar entdecken. Wir haben alles durchgekämmt. Auch von den Straßen kriegen wir nichts herein als das Übliche – der Wagen ist seit sieben Uhr zweiunddreißigmal gesehen worden. Im Norden, Osten, Süden und Westen. Aber nichts Amtliches. Ich tippe darauf, die Frau ist irgendwo draußen im Westen, in Kalifornien, und wir rennen uns hier wegen nichts und wieder nichts die Hacken ab. Sie sind unterwegs zu ihr, wahrscheinlich haben sie schon die ganze Strecke bis Illinois hinter sich.“ Er wandte den Kopf und sah Jesse aus den Augenwinkeln an. „Sie sehen miserabel aus. Schlechte Nacht gehabt?“ „Nein“, erwiderte Jesse langsam. „Nein.“ Langsam und schleppend. Er dachte an Kathleen. Plötzlich war ihm, als habe er einen Fausthieb zwischen die Augen bekommen. Es war nur eine Möglichkeit, sogar eine ziemlich entfernte Möglichkeit. Aber er wollte nichts riskieren. Er griff zum Telefon und wählte sein Büro. „Tom“, sagte er, als Winston sich meldete, „schick einen Wagen ’raus und laß meine Frau holen. Bring sie in mein Büro. Sag ihr, mir geht’s gut. Ich möchte sie nur sehen. Und, Tom, jag der Frau keinen Schrecken ein.“ Alles war möglich. Bei einem Menschen von Glenn Griffins Mentalität wußte man nie, was kommen konnte. Aber wenn dieser Lump Kathleen zu nahe käme … 23
Glenn Griffin hatte sich höchst abgelegene und unbefahrene Nebenstraßen ausgesucht, deren Netz offenbar auf der kieselharten Oberfläche seines Gedächtnisses eingezeichnet war. Jetzt hatte er die graue Limousine um die ganze Stadt herummanövriert, meist vierzig oder fünfzig Meilen südlich und später zwanzig Meilen östlich bleibend. Gegen Mittag aber näherte er sich der Stadt auf der schmalen Straße von Nordosten, die so unbedeutend war, daß nicht einmal eins der Schilder mit der schwarzweißen Aufschrift STADTGRENZE INDIANAPOLIS dort aufgestellt war. Die Uhr zeigte jetzt zehn Minuten nach zwölf. Robish schlief und schnarchte. Hank, auf seinem Rücksitz, hatte angefangen, nervös mit den Handflächen an den Seiten seines Hemdes über den Rippen herabzustreichen, als wollte er etwas Schleimiges wegwischen oder einen unsichtbaren Flecken, der an dem rauhen Stoff haftete. Glenn fuhr und pfiff unaufhörlich vor sich hin. Sie hatten durch ihre Umwege mehr als sechs Stunden gebraucht, um die Stadt zu erreichen, die nur siebzig Meilen von ihrem Ausgangspunkt entfernt war. Aber sie waren ohne Zwischenfälle gefahren, so glatt und bequem, als säßen sie in einem Flugzeug, hoch über den hundert wachsamen Augen. Alle drei hatten Hunger bekommen, doch Glenn weigerte sich zu halten. Kathleen Webb saß mit ihrem Mann am weißgescheuerten Tisch eines Restaurants, das nur einen Block vom Gericht entfernt lag. Sie nötigte ihn hartnäckig, aufzuessen, aber er schlürfte schon seinen fünften bitteren schwarzen Kaffee und starrte nachdenklich in die Tasse. Immer wieder sah er eine Szene vor Augen, die sich nicht ereignet hatte und nie ereignen durfte. Glenn Griffin trat 24
auf die Veranda von Jesses und Kathleens kleinem Haus, klopfte, trat ein und lächelte dabei Kathleen so schamlos an, wie er einst die Geschworenen angelächelt hatte. Eigentlich hätte er längst lernen müssen (er mußte es sich selbst mit einem engen, verborgenen Lächeln gestehen), daß sich die Dinge, die man am meisten fürchtet, am seltensten ereignen. Andererseits: Szenen, die jenseits unseres Vorstellungsbereiches liegen, sobald wir einmal in der Sicherheit des Alltags verankert sind – solche Szenen ereignen sich wirklich und häufiger, als man zugeben mag. Dan Hilliard saß, vertieft in das Gespräch mit einem Bewerber um den ausgeschriebenen Posten in der Versandabteilung, hinter dem Schreibtisch seines behaglichen Büros im sechsten Stock des Warenhauses. Er konzentrierte sich auf seine gegenwärtige Aufgabe, indem er die ganze Zeit seine Gedanken in und um die Persönlichkeit des Mannes schweifen ließ, der vor ihm saß. Er hatte sich den Ruf eines Menschenkenners erworben, ohne jedoch zu wissen, wie er dazu gelangt war. In diesem Augenblick konnte aber auch er nicht die leiseste Ahnung haben von dem, was zehn Meilen entfernt auf der Veranda seines Hauses am Kessler Boulevard vor sich ging. Eleanor Hilliard wollte gerade die Vordertreppe hinaufgehen, um sich für die Gartenarbeit umzuziehen – es waren zu viele Blätter auf die Blumenbeete unter den Ahornbäumen gefallen –, als sie den Schritt auf der Veranda hörte. Die Klingel der Haustür schlug an. Sie schob eine blonde Haarsträhne aus der Stirn und seufzte. Es war jener gesegnete Augenblick nach dem Mittagsmahl, da Ralphie wieder in die Schule gegangen war und sie dankbar ein 25
gewisses Freiheitsgefühl verspürte – Freiheit bis fünfzehn Uhr dreißig. Die Haustür war aus solidem Holz, ohne Fenster, und obwohl eine Sicherheitskette am vorderen Rahmen angebracht war, machte sie sich nie die Mühe, diese vorzulegen. Es störte sie, daß jemand an der Vordertür Einlaß begehrte. Die Familie und die Lieferanten benützten gewöhnlich den Seiteneingang, weil er den Torweg direkt mit der Sonnenveranda verband und bequemer war. Der Mann, der ihr an der Haustür gegenüberstand – ein sehr junger Mann mit kurzgeschnittenem, aber offenbar weichem und glänzendem schwarzem Haar –, trug einen verschossenen Farmeroverall und lächelte beinahe verlegen. Er sah knabenhaft aus und so unglücklich über sein Anliegen, daß auch Eleanor lächelte. „Tut mir leid, Sie zu behelligen, Madam“, sagte er mit einer Stimme, die beinahe ein Flüstern war, „aber ich fürchte, ich habe mich verirrt. Möchte zur Molkerei Bulliard. Ich weiß, es ist hier in der Nähe, aber …“ Dann hielt er inne, und nun blickte er über ihre Schulter in die durchsonnte Vorhalle. Das Lächeln blieb auf seinem Gesicht, aber eine kaum merkliche Veränderung ging mit seinen Mundwinkeln vor, eine Spannung, die sein Lächeln gefrieren ließ. Unwillkürlich drehte sie sich um. Und danach ereignete sich alles so schnell und mit so kalter mechanischer Präzision, daß sie gelähmt war, an Leib und Seele gelähmt, und diese dumpfe Hilflosigkeit war es, die sie durch die paar nächsten Minuten rettete. Sie hörte, wie sich die Tür hinter ihr öffnete, fühlte den Türknopf hart an ihren Rippen, dann hörte sie das Zuklappen. Der ältere Mann, der durch die Hintertür gekommen sein mußte, wandte sich von ihr ab und stampfte 26
die Treppe hinauf. Ein dritter Mann, viel jünger, in dem gleichen graugrünen Anzug wie der ältere, erschien in der Eßzimmertür, ging dann schnell und leicht durch das ganze Erdgeschoß, öffnete die Türen und schloß sie wieder. Eleanor sah, ohne wirklich zu begreifen, den schwarzen Revolver in der Hand des jungen Mannes, der mit ihr in der Halle blieb. Sie dachte an den kleinen Revolver oben, der in den Sprungfedern unter Dans Bett versteckt war. Sie fühlte in ihrer trockenen, zugeschnürten Kehle einen gellenden Schrei unwiderstehlich aufsteigen. „Regen Sie sich nicht auf, Madam“, riet der junge Mann neben ihr leise. „Regen Sie sich nicht auf. Machen Sie den Mund auf, dann wird Ihr Kleiner nur noch Ihre Leiche finden, wenn er aus der Schule kommt.“ Sie fühlte, wie ihr Geist wieder funktionierte – es gab ein scharfes Knacken in ihrem Gehirn, wie beim Gebrauch eines elektrischen Schalters. Statt zu schreien, hob sie die Hand zum Mund und biß scharf in den Handrücken, so scharf, daß sie das Blut schmeckte. Aber der Schrei war in ihrer schmerzenden Kehle erstickt. Der jüngste Mann kam zurück und sagte, ohne sie anzusehen: „Hier unten ist die Luft rein, Glenn.“ Ohne ein weiteres Wort oder auch nur ein Kopfnicken von dem, den er Glenn genannt hatte, kehrte der Junge um und ging durchs Eßzimmer zur Küche. Eleanor hörte die Hintertür auf- und wieder zugehen und dann ein Auto auf dem Torweg knirschen. Erst als der Junge nicht mehr im Haus war, vernahm sie wirklich seine Stimme – jung, unbestimmt, unterdrückt. Es hätte einer von Cindys jugendlichen Verehrern sein können, der da sprach. Die Natürlichkeit der Stimme in diesem Orkanwirbel eines Alptraums erfüllte sie mit einem so großen Entsetzen, wie es nicht einmal der Revolver 27
ausgelöst hatte. Draußen hörte sie einen vertrauten Laut: Die Garagentür lief auf der metallenen Schiene, die geölt werden mußte. Dann, in diesem Schweigen, kam der ältere Mann die Treppe herunter. Er hatte einen Anzug von Dan über den Arm geworfen. Sein tierisches Gesicht trug einen Ausdruck, der vielleicht Heiterkeit bedeutete, jedoch seine gelbgrünen Augen, die verloren in den Schlitzen der knolligen Wülste saßen, schienen bodenlos und undurchsichtig. „Niemand zu Haus wie die Madam“, berichtete er. Eleanor starrte auf Dans Tweedanzug und dachte an ihren Mann. Ruhig, stattlich, zurückhaltend, nicht aus der Fassung zu bringen. Sogar während der raschen Welle von Angst und Ekel, da sie die Augen des Älteren hungrig über sie hinkriechen sah, beruhigte sie der Gedanke an Dan. „Geh dort ’rein, Robish“, sagte Glenn Griffin, „und behalt die Vordertür im Auge.“ Robish riß die Augen von der Frau los, folgte dem Befehl und ging ins Wohnzimmer, wo er sich in den großen Sessel fallen ließ, dem großen Vorderfenster gegenüber. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Die Hintertür öffnete und schloß sich. Jetzt waren sie alle drei im Haus, und der Wagen war in der Garage versteckt. „Na also“, sagte der, den sie Glenn nannten. „Na also, Frau Hilliard. Jetzt müssen wir jemanden anrufen. Sie und ich. Ich nehme an, Sie wissen jetzt, was los ist. Ich nehme an, Sie wissen, was passiert, wenn Sie beim Sprechen versuchen sollten, ’n Ding zu drehn. Wenn nicht – hören Sie gut zu. Wir spielen ums Ganze. Wir wollen niemand was antun und ’nem kleinen Jungen schon gar nichts. Aber wenn der Kleine, dem das Fahrrad da draußen gehört, nach Hause kommt …“ 28
„Was soll ich also tun?“ fragte Eleanor. Glenn Griffin grinste wieder. „Kluge kleine Frau. Hoffentlich ist die ganze Familie so vernünftig wie Sie. Also los, Frau Hilliard.“ An den Telefontisch gelehnt, hörte Eleanor den sehr ausführlichen, leise gesprochenen Weisungen zu. Dann nahm sie den Hörer ab, wählte das Fernamt und bemerkte dabei zum erstenmal die blutigen Zahnspuren auf ihrem Handrücken. Sie gab dem Amt eine Nummer an; sie wußte, daß sie sich diese Nummer merken sollte – aber sie konnte es nicht. Eine Nummer in Pittsburgh, Pennsylvanien … „Pittsburgh!“ Jesse Webb stieß einen Fluch aus und stand von seinem Schreibtisch auf, nachdem er mit Carson, dem jungen Bundespolizisten, dem der Fall zugeteilt war, gesprochen hatte. „Sie wissen, wo Helen Lamar ist.“ Tom Winston, der den explosiven Ton der Enttäuschung und Niederlage wohl hörte, drehte sich nicht von seinem Pult um. „Haben sie sie gefaßt?“ „Sie hat vor einer guten Stunde das Hotel verlassen. Warum? Niemand weiß es. Sie kam plötzlich herein, um auszuziehen. Das Hotelpersonal wird noch verhört, aber soweit man es verfolgen kann, hat sie keinen Telefonanruf bekommen, nichts. Zumindest nicht im Hotel. Dazu wäre sie zu gerissen, sie kann sich doch ausrechnen, daß wir sie überwachen. Wenn Griffin sie angerufen hat, dann hat er einen Mittelsmann dazu benützt.“ Mit in den Taschen geballten Händen und vorgeschobenem Kopf ging er im Zimmer auf und ab. „Aber vielleicht brauchte er sie gar nicht anzurufen. Sie könnten alles vorher ausgemacht haben. Teufel, sie überlegen sich so etwas schon, diese schlauen Halunken. Und weißt du, wie weit 29
wir jetzt sind, Tom? Ich will dir’s sagen. Keinen einzigen Schritt weiter! Wir sitzen da mit einer Autonummer und der Beschreibung eines Wagens, den sie bald genug abstoßen werden, aber dazu nehmen sie sich auch noch Zeit, jawohl! Keine Spur von ihnen! Drei solche Kerle können sich doch nicht einfach in Luft auflösen, um Himmels willen!“ Er setzte sich plötzlich hin und schlug mit der Faust auf den Deckel des Pultes. „Tom, wo zum Teufel ist der Wagen?“ Während des ganzen endlosen Nachmittags kehrten Eleanor Hilliards Gedanken immer wieder zu der staubbedeckten grauen Limousine zurück, die in der Garage stand. Ralphie kam um fünfzehn Uhr dreißig nach Hause, bemerkte aber die geschlossene Garagentür nicht. Sie hielt ihn im Wohnzimmer zurück und sprach schnell und bestimmt mit ihm. Sie hätte schreckliches Kopfweh, sagte sie; sie müßte einen absolut stillen Nachmittag haben; es täte ihr leid, aber er müßte ausgehen und bis zum Abendessen spielen, und eher dürfe er nicht nach Hause kommen. Nein, umziehen brauche er sich nicht, heute nicht. Aber Ralphie war hungrig – wie gewöhnlich –, dann solle er eben in den Drugstore gehen und sich ein Sandwich geben lassen; sie gab ihm Geld. Ralphie war erstaunt über seine Mutter, die bisher niemals über Kopfschmerzen geklagt hatte, aber erfreut über die Gelegenheit, sich selbst ein Sandwich zu kaufen; und so stieg er auf sein Fahrrad und radelte den Boulevard hinunter. „Saubere Arbeit, Madam“, sagte Glenn, seinen Revolver wieder in die Tasche schiebend. Sie sah ihn ausdruckslos an; sie fühlte nichts als den harten Stein in ihrer Magengrube. „Wenn Sie weiter alles aufessen, muß ich vor dem Abendessen einkaufen gehen!“ 30
„Ich habe noch ein paar Fragen, Frau Hilliard.“ Und dann fing die Fragerei wieder von vorn an. Die Fragen … Diese Tochter, diese Cynthia, um welche Zeit kam sie von der Arbeit nach Hause? Fuhr sie einen eigenen Wagen? Kam sie manchmal zu spät? Dann okay, lassen Sie sie nur hereinkommen. „Sie brauchen weiter nichts zu tun, als sich still zu verhalten.“ Cindy, wenn sie die Garagentür überhaupt näher ansah, hielt sich nicht lange mit der Frage auf, warum sie geschlossen war. Um siebzehn Uhr achtzehn brachte sie ihr Auto im Torweg zum Stehen, sprang heraus und kam über die Sonnenveranda ins Wohnzimmer. Eleanor saß steif und still auf dem Sofa. Glenn stand, die Beine nachlässig gekreuzt, vor dem Fernsehapparat; den Revolver hielt er in der Hand. Robish war in der kleinen Bibliothek, die zugleich Dans Arbeitszimmer war, im rückwärtigen Teil des Hauses, die Tür zu dem langen Wohnzimmer stand offen. Eleanor konnte sehen, wie sie durch die Seitenfenster den Torweg beobachteten. Sie wußte, daß der Jüngste namens Hank noch in der Küche war, die Augen auf den Hinterhof gerichtet; er hörte die Nachrichten auf dem kleinen Radio. Cindy platzte herein, wie sie es immer tat, neuerdings meist etwas atemlos, mit fliegendem Mantel und wehendem Haar. Als sie ihre Mutter sah, blieb sie stehen, ihre braungesprenkelten blauen Augen blickten schnell und scharf im Zimmer umher und ruhten den Bruchteil einer Sekunde auf Glenn. Glenn grinste. „Immer reinspaziert, Rotkopf!“ Ehe Eleanor merkte, daß Cindy sich überhaupt bewegte, war das Mädchen schon herumgeschnellt, um ihre Schritte zurückzulenken; aber diesmal lief sie. 31
„Okay“, sagte Glenn Griffin leichthin, doch mit erhobener Stimme. „Wir haben immer noch deine alte Dame, Mädel!“ Robish kam aus der Bibliothek gestürzt, als Cindys Schritt an der Tür zögerte. Sie wandte sich langsam um, erblickte jetzt Robish – der stämmige Mann hatte sich in die Mitte des Raumes gepflanzt –, sah instinktiv an ihm vorbei und auf Glenn Griffin, der sich nicht gerührt hatte. „Schon besser, Rotkopf“, sagte der große junge Mann grinsend, „jetzt bist du wirklich vernünftig.“ Als seine Augen über sie hinglitten, erlosch sein Grinsen. Cindy wurde nicht bleich und fiel nicht um; sie ließ in keiner Weise merken, daß sie entsetzt war. Sie stellte nur die Füße eine Spur weiter auseinander und blitzte ihn an. „Was wünschen Sie hier?“ „Auch noch heftig!“ Überraschung klang in seinem Ton. „Nicht vernünftig wie deine alte Dame.“ Ohne den Blick von ihr zu lösen, sagte Glenn: „Robish, geh zum Fenster zurück. Der Alte muß jede Minute aufkreuzen.“ „Ich brauch ’n Schießeisen.“ „Zurück an deinen Platz“, befahl ihm Glenn Griffin, immer noch ohne ihn anzusehen. „Du glaubst wohl, du kannst …“ „Wird’s bald!“ Robish blieb nur noch eine Sekunde; dann drehte er sich um und verschwand in den dämmerigen Schatten der Bibliothek. „Setz dich, Rotkopf“, sagte Glenn, seine Stimme war etwas heiser. „Setz dich und laß dir erklären, wie das Leben nun mal ist. Nach dem Haar zu urteilen, hast du vielleicht Gelüste, dich heroisch zu gebärden. Kannst du auch, jederzeit, wenn du gerade Lust hast. Möglich sogar, daß es 32
dir gelingt und dir nichts passiert. Dabei ist aber noch nicht ’raus, was deiner alten Dame passieren kann … oder dem kleinen Bruder … oder dem Vater. Wir warten jetzt auf ihn, siehst du – also zieh lieber den Mantel aus und setz dich still dort auf den Stuhl.“ Ohne sich im mindesten anmerken zu lassen, daß sie einem Befehl gehorchte – tatsächlich ohne den Mantel auszuziehen, wie er befohlen hatte, aber mit dem Schimmer eines beruhigenden Lächelns für Eleanor, das nicht recht glücken wollte –, ging Cindy hinüber zu einem Stuhl und setzte sich. Sie zündete sich sogar, ohne daß ihre Hand zitterte, eine Zigarette an und beantwortete die Unverschämtheit des jungen Mannes damit, daß sie seine Gegenwart einfach übersah. „Wie lange sind diese Tiere schon hier, Mutter?“ fragte sie. Glenn lachte, ein kurzes, explosives, schnaubendes Lachen, höhnisch und häßlich. „Ich habe das Gefühl für die Zeit verloren“, sagte Eleanor. „Irgendwann nach zwölf, Cindy …“ Sie hatte beabsichtigt, eine Warnung auszusprechen, aber sie brach ab. „Es ist noch einer in der Küche.“ „Mit anderen Worten“, sagte Cindy und blies eine Rauchwolke aus, „das Haus wimmelt von Ungeziefer.“ Eleanor beobachtete in diesem Augenblick Glenn Griffins Gesicht, und sie spürte, wie sich ihr Entsetzen noch verdichtete; eine Hand krampfte ihr Herz zusammen. Das Gesicht des jungen Menschen, das ständig eine ungesunde gelbliche Blässe zeigte, wurde weiß wie Schnee, farblos, und das Fleisch um seine regelmäßigen weißen Zähne verzerrte sich in einem steifen Grinsen. Ziemlich lange stand er unentschieden da – vielleicht eine halbe Minute; dann drehte er sich lautlos um und ging mit seinem gelenkigen, katzenhaften Gleiten in 33
den Flur und durch das Eßzimmer zu dem undeutlichen Geschnatter des Radios in der Küche. Dort blieb er, bis der Laut, auf den sich Eleanors Nerven gespannt hatten, wirklich kam. „Griffin!“ bellte Robish aus der Bibliothek. Glenn Griffin erschien wieder. „Kein Licht jetzt, und kein Wort von euch beiden, verstanden?“ Eleanor nickte benommen. „Verstanden, Rotkopf?“ Cindy hatte ihre Augen auf die Wand über Glenn Griffins Körper geheftet, der in der Tür zum Flur stand. Sie schien durch ihn hindurchzusehen, als sei er Glas oder überhaupt nicht vorhanden. Eleanor hätte am liebsten warnend die Hand gehoben; das durfte sie nicht. Jetzt war nicht Zeit für Cindys trotzige Laune. „Er versucht, die Garage aufzumachen“, sagte Robish. „Soll ich ihn jetzt schon packen?“ „Nein, wo so viele Wagen vorbeikommen“, sagte Glenn. „Er wird reinkommen.“ Er hob die Stimme. „Paßt du auf, Hank?“ „Er kommt nicht zu meiner Tür“, rief die Stimme des anderen aus der Küche. Wieder spürte Eleanor den Schrei wie eine schreckliche, unmenschliche Gewalt in ihrer Kehle aufsteigen. Sie horchte auf die wohlbekannten Schritte; frisch und energisch nach einem langen, schweren Arbeitstag klangen sie jetzt auf den beiden Stufen, jetzt auf den Fliesen der Sonnenveranda. Diesmal verschwendete Glenn Griffin keine Zeit: Er richtete den Revolver direkt auf die Tür, direkt auf Dan Hilliard. Dan sah zuerst seine Frau – eine Statue, bleich, eingefallen. Er blieb wie angewurzelt stehen. Der Raum war mit schwindendem grauem Zwielicht gefüllt. Dann sah er 34
Cindy, kerzengerade sitzend, rauchend, das kleine Gesicht wütend und verächtlich. Auf einmal dachte er an Charles Wright. Ob Cindy vielleicht Ellie etwas mitgeteilt hatte? Erst dann – vom Flur her kam der leiseste Schatten einer Bewegung – erblickte Dan Glenn Griffin. Und den erhobenen Revolver. Er spürte, wie sein Atem stockte; ehe jemand sich bewegen oder sprechen konnte, obwohl er merkte, daß sich Eleanor halb aus ihrem Sessel hob, hatte er das ganze Bild richtig und klar vor Augen. Er erinnerte sich an die Radionachrichten, die er vor kaum fünfzehn Minuten im Wagen gehört hatte; er wußte, was für ein Narr er gewesen war, daß er nicht sofort alles begriffen hatte, als er durch das Garagenfenster die graue Limousine sah. Aber ein so ausgefallener Gedanke wäre ihm nie gekommen. Immerhin verlor er jetzt keinen Augenblick an Bestürzung oder Staunen oder gar Rebellion gegen die Lage, die sich ihm bot. Eleanor sah eine unnatürliche Röte in das kantige Gesicht ihres Mannes steigen und sich grell unter der schiefen Hutkrempe ausbreiten. Dans Geist arbeitete langsam, aber gründlich, das wußte sie, er blieb nicht bei Vermutungen stehen, sondern ging vorsichtig, aber geradenwegs auf das zu, womit er fertig werden mußte. Und sie wunderte sich nur ein wenig erleichtert, warum sie diesen Augenblick mehr gefürchtet hatte als irgendeinen anderen des ganzen Tages. Noch bevor Dan sprach, wußte sie, dies würden die ersten bedeutungsvollen Worte sein, die Glenn Griffin heute zu hören kriegte. „Ich schlage vor, Sie legen Ihren Revolver weg, Glenn Griffin“, sagte Dan. „Wenn Sie schießen, haben Sie in zweieinhalb Minuten die ganze Nachbarschaft auf dem Hals. Die Wallings nebenan sind zu Hause, und die würden 35
den Schuß hören, trotz der Bäume, die dazwischen sind. Und wenn nicht sie, dann ein vorüberfahrendes Auto.“ Der einzige Laut, der in dem dämmerigen Zimmer aufkam, war halb ein hysterisches Wimmern, halb ein erleichtertes dankbares Aufatmen. Es kam von Eleanor. Dan bemerkte eine Bewegung aus der Richtung seines Arbeitszimmers, aber er löste seine Augen nicht von den Augen Glenn Griffins. „Wenn Sie Krach schlagen wollen, dann geht’s allen an den Kragen“, sagte eine schwere, dumpfe Stimme hinter ihm. „Sind Sie so dumm, Mann?“ „Nein“, sagte Glenn Griffin sehr langsam. „Er ist durchaus nicht dumm, Robish.“ Das alte Grinsen flackerte auf. „Er ist ein gerissener Bursche, gerissener, als wir dachten, vielleicht.“ In seinem ruhigen Ton schwang etwas Drohendes. Dann fragte Dan, die Worte seiner Tochter wiederholend, was Eleanor, die beide so gut kannte, nicht überraschte: „Was wünschen Sie hier?“ Diesmal ließ sich Glenn Griffin nicht verblüffen. „Ich wünsche nicht, daß jemandem etwas zustößt. Und was wünschen Sie, alter Herr?“ Dan ging jetzt, trotz des Revolvers, zu Seiner Frau hinüber; er legte seine Hand, groß und sommersprossig und zärtlich, auf ihre Schulter und ließ sie einfach dort ruhen. „Hier – das ist es, was ich wünsche.“ Glenn lachte auf. Er ließ den Arm sinken, der die Waffe hielt. „Jetzt reden Sie vernünftig. Also werde ich ebenfalls vernünftig reden.“ Das Zimmer lag tief im Schatten. Dan hörte schweigend zu. Dabei fühlte er, wie die Schauer in Eleanors Schultern nachließen. Er verstärkte den Druck seiner Hand nicht. 36
Glenn, der in seiner behenden, katzenhaften Art im Zimmer auf und ab ging, sprach kaltblütig wie ein Mensch, der seit Monaten, vielleicht seit Jahren genau weiß, was er sagen will. Dan hörte zu, während die Hilflosigkeit seiner Lage wie ein geheimnisvolles, betäubendes Gift in ihn einsickerte. Sie wünschten nichts weiter – alle drei – als einen sicheren Ort, wo sie bis Mitternacht, längstens bis zwei oder drei Uhr morgens bleiben konnten. Sie erwarteten Geld, eine Menge Geld, es war unterwegs, und sobald es eingetroffen war, wollten sie gehen. So einfach war das Ganze. In der Zwischenzeit mußte das Leben im Hause Hilliard ganz normal weiterlaufen. „Ganz normal, sehen Sie. Habt ihr verstanden, Leute?“ Er sprach wie ein Schauspieler, der seine Worte schon hundertmal geprobt hat. Er ging im Zimmer umher und zog die Brauen hoch, und sein Gesicht arbeitete, als sei eine unsichtbare Kamera auf ihn gerichtet, als versuche er, sich vorsichtig, aber arrogant, durch sein Benehmen einem Bild zu nähern, das er von sich selbst im Sinn trug. Dan registrierte dies alles, vielleicht, daß es ihm nützen konnte. Er hatte nicht umsonst den Ruf eines fast unfehlbaren Menschenkenners. Dan kam zu einem unvermeidlichen, steinharten Schluß: Dies waren keine leeren Drohungen. Dieser Kerl würde einen von ihnen oder alle töten, wenn etwas schiefginge. Nachdem Dan dies einmal zur Kenntnis genommen hatte, handelte er danach, aber jetzt fühlte er, daß ihm die Beine zitterten und sein Körper wie gefroren war und taub vor Hilflosigkeit. „Wir werden alles tun, was Sie sagen, Griffin.“ Dans Stimme klang flach. „Nur …“ „Ja?“ 37
„Griffin, wenn ich Ihnen das Geld besorgen könnte, das Sie brauchen, sofort, meine ich. Heute abend. Vor Mitternacht. Würden Sie dann gehen?“ „Können Sie nicht, alter Herr. Ich habe einen Blick in Ihr Bankbuch getan, Sie haben einfach nicht genug.“ „Ich finde, das ist ein guter Vorschlag“, sagte Robish aus der Dunkelheit des Arbeitszimmers. „Wir könnten hier ’raus, zum Teufel!“ Dan hörte die Dringlichkeit in der Stimme des unbekannten Mannes. „Vielleicht kann ich es doch aufbringen. Irgendwie. Was dann, Griffin?“ „Wir bleiben“, sagte Glenn. „Tja“, knurrte die mürrische Stimme aus dem anderen Zimmer. „Bleiben und auf dies Mäuschen warten. Du riskierst unsere Köpfe, bloß um diese Schickse wiederzusehen.“ Nachdem er unerwartet diese Bresche zwischen ihnen geschlagen hatte, nutzte sie Dan auch aus. „Wenn diese Frau, wer sie auch ist, weiß, wohin sie kommen soll – woher wißt ihr dann, daß die Polizei ihr nicht folgt? Es ist ebenso mein Vorteil wie der Ihrige, jetzt die Polizei zu vermeiden.“ „Na, wie klingt das?“ Dieses Mal tauchte Robish auf, pflanzte sich an das entgegengesetzte Ende des Zimmers, sein massiger Körper düster und hart in drohender Meuterei. „Der Mann spricht vernünftig, Griffin. Teufel und Hölle, eine Frau kannst du dir überall auflesen.“ Ein unsicheres Zucken lief über Glenns harte, junge Züge. Er sah von Dan zu Robish. Dann schoß er mit tänzerischer Behendigkeit auf Robish zu. „Hier bin ich der Boß, Robish. Ich dachte, wir hätten das ausgemacht. Wir bleiben, verstehst du, bis Helen hier ist. Sie ist viel zu gerissen, um die Blauen hinter sich herzuziehen. Und sie 38
hat gerade die Sorte von Kies, die ich brauche. Und ich muß das Zeug hier haben, verstehst du. Hier, in dieser Stadt.“ „Du hast kein Recht, so was zu riskieren, bloß weil du ’n Blauen umlegen willst. Was kümmert’s mich, ob dir jemand deine verdammte Kinnlade gebrochen hat? Es ist auf jeden Fall schon lange her, und wenn dieser Bursche hier das Geld aufbringen kann …“ „Nein.“ Das Wort knisterte förmlich. „Ihr habt mich gehört, alle beide.“ Langsam trat Glenn auf Dan zu. „Sie, Hilliard, halten den Mund. Ich brauche Ihren Rat nicht. Ich habe meine eigenen Gedanken, sie sind gut durchdacht, und sie funktionieren prima.“ „Es lohnt sich nicht“, knurrte Robish. „Es lohnt sich, sage ich dir, Robish. Wo wärst du jetzt ohne mich?“ Er sprach mit dem Rücken zu Robish, die Augen auf Dan. „Du würdest dich wieder einmal vor deinen Blechnapf setzen, mit einem auf dich gerichteten Revolver und einem Wärter hinter dir, der dir ins Genick schnauft. Aber jetzt haben wie die Waffen, und so wird’s auch in Zukunft sein.“ Er rieb sich die Wange und spürte die harte Kante des Zellengewebes, das jetzt den geflickten Knochen schützte. „Und Sie, Hilliard, Sie werden reden, wenn ich Sie etwas frage oder wenn ich Ihnen befehle zu sprechen. Im übrigen halten Sie gefälligst die Klappe. Sie lieben Ihre Frau, und Sie haben ihr Leben in der Hand. Wie Sie sagen, Freundchen, ist es Ihr Vorteil ebenso wie der meine, daß wir uns die Blauen vom Halse halten. Wenn vorne an dieser Bude ’n rotes Licht erscheint, wird’s für euch alle nicht sehr lieblich werden!“ Frau Kathleen Webb lächelte ihrem Mann über ein rotkariertes Tischtuch und die Reste eines sehr dicken Steaks 39
hin glücklich zu. Er redete, während er aß, und die Wellen seiner Erregung strömten über den Gasthaustisch. „Sie ist ungefähr um vier Uhr nachmittags aus Pittsburgh fort. Soviel wissen wir mit Sicherheit. Sie fuhr auf der Fernstraße neunzehn nach Süden. Knapp eine Stunde später wurde sie auf der Fernstraße vierzig gesehen; sie fuhr westwärts. Westwärts, hörst du? Das sind wir. Das ist Indianapolis. Ich sagte dir ja, daß sie Nesttauben sind. Sie segelt jetzt in ihrem hübschen rotbraunen, zweitürigen Auto die Straße entlang, und sie haben sich hier irgendwo in ein Loch verkrochen und denken, wunder wie gerissen sie sind, daß sie sie aus der Stadt geholt haben und sie zu ihnen kommen kann, ohne bewacht zu werden. Gerissen? Ach nee.“ Er schob den Teller zurück und fuhr mit der Serviette über sein Kinn. „Jede Stadt, durch die sie kommt, wird ein Paar Augen haben, die sie sehen und den Rotbraunen abstoppen, als ob es ein Rennen wäre. Aber niemand wird sie belästigen. O nein, o nein. Aber ungefähr bei Greenfield werden sie die Meute ansetzen, und sie wird heute nacht irgendwann hier hereinwehen und uns direkt zu dem Fuchsbau führen. Polizeitruppen, Bundespolizei, uns alle.“ Er ballte die Serviette zu einem Knoten zusammen. „Gerade so.“ „Jesse“, sagte seine Frau leise, mit leichtem Staunen in ihrem Gesicht, „du möchtest diesen Mann umbringen, nicht wahr?“ Jesse antwortete nicht gleich. Er wußte die Wahrheit, die nackte und absolute Tatsache: ja. Aber plötzlich erschien es ihm wichtig, dieses Gefühl zu erklären und zu rechtfertigen, wenngleich alles, was er zu diesem Zweck sagte, ebenfalls die Wahrheit war. „Schau, ich weiß nicht, was die Leute so schlecht macht. Ich wuchs in einem Stadtviertel auf, das schlimmer war als das der 40
Griffinjungens. Und der Bürgermeister gleichfalls. Und ich verstehe nichts von diesem ganzen psychologischen Krampf, von dem man heutzutage immer liest. Ich glaube, es wird schon was dran sein. Ich weiß nur eins: Solange ein Kerl wie Glenn Griffin frei und sicher herumläuft – noch dazu mit ’nem Revolver in der Hand –, so lange sind wir übrigens nicht frei und sicher, keiner von uns. So ist es, hörst du? So liegen die Dinge.“ Er beugte sich über den Tisch. „Und deshalb sollst du heute nacht in meinem Büro schlafen, auf einem Feldbett. Oder in einem Hotel. Welches ist dir lieber?“ „Lieber das Gefängnis. Ich hasse Hotels, und wir können es uns nicht leisten, und ich möchte gern in deiner Nähe sein.“ Jesse lächelte wieder und nahm ihre Hand, die auf dem Tisch lag. Sie warf einen verlegenen Blick durch das Restaurant. Aber Jesse hielt ihre Hand fest, und sie sah, wie sich das Lächeln auf seinem schmalen Gesicht verdüsterte. Sie konnte natürlich nicht wissen, daß sich seine Phantasie durch eine zufällige Verbindung von Bildern und Befürchtungen auf ein Bild gestürzt hatte, das, wenn auch nicht in Einzelheiten, doch in den Grundzügen echt war. Jesse Webb stellte sich Glenn Griffin vor, wie er diesen Revolver auf entsetzte unschuldige Menschen richtete, und niemand wußte besser als Jesse Webb, daß Glenn Griffin fähig war, ihn zu gebrauchen. Aber wo? Wenn er nur wüßte, wo. Wenn er nur nicht dasitzen und warten müßte, während dieses Bild ihn in verschiedenen Gestalten verfolgte. Dan Hilliard starrte auf die Waffe, die der junge Mann so gleichmütig in der Hand hielt, und sein Geist schreckte 41
zurück vor den Bildern der Zerstörung, die schon der einfachen Tatsache innewohnten, daß dieser Revolver in seinem Haus war. Eine lähmende Hilflosigkeit kam über ihn. Wenn die Polizei erschien, würde es tragisch werden, wenn sie nicht erschien, vielleicht noch schlimmer. „Jetzt kommt der Kleine auf seinem Rad den Torweg herauf“, berichtete Robish aus dem „Studio“. „Wenn Sie mich mit ihm reden lassen“, sagte Dan schnell, „dann könnte ich ihm alles erklären, und …“ „Maul halten“, sagte Glenn Griffin leise. Dan konnte hören, wie der gebremste Gummireifen auf dem Kies der Einfahrt schleifte. „Aber wenn überall das Licht aus ist, wird der Junge Todesangst haben. Sie können doch nicht …“ Glenn Griffin machte schweigend zwei schnelle Schritte und stieß die Mündung des Revolvers mit schmerzhafter Gewalt in Dans Rücken. Dan schnappte nach Luft, und seine Hand schloß sich fest um Eleanors Schulter. Trotzdem hörte er ganz deutlich die paar kurzen, sorglosen Schritte auf der Veranda, das Öffnen der Hintertür, den kleinen Schrei des Erstaunens und der plötzlichen Angst. Er erstarrte. Als hätte sich sein wahnsinniger selbstmörderischer Impuls durch den Lauf des Revolvers, der sich gegen ihn preßte, dem anderen mitgeteilt, so rammte sich die Mündung nochmals mit Gewalt in seine Rippen. Es gab einen kurzen, einseitigen Kampf in der Küche; er wurde durch das Eßzimmer fortgesetzt; Ralphies Stimme mischte sich unzusammenhängend dazwischen. Dann stand Ralphie in der Halle, im festen Griff eines jungen Mannes, den Dan noch nicht gesehen hatte, aber sofort als Glenn Griffins Bruder erkannte. 42
„Lassen Sie mich los!“ sagte Ralphie und wand sich aus dem Griff des Mannes. „Hank.“ Glenn schwang den Revolver lässig herum, so daß er auf den Flur gerichtet war. „Mach Licht im Korridor, zieh die Vorhänge im Eßzimmer zu und geh wieder in die Küche.“ Während er sprach, trat er in den Flur, so daß er von draußen nicht zu sehen war. Wer jetzt auf dem Kessler Boulevard von der Arbeit nach Hause ging, konnte die Hilliards in ihrem Wohnzimmer sehen. Die kleine, aufrechte Gestalt des Jungen, dem die Wut, nicht die Angst auf dem Gesicht geschrieben stand, konnte er freilich nicht sehen. Ebensowenig Glenn Griffin, der neben dem Jungen stand. „Was tut der Kerl da in unserer Küche?“ fragte Ralphie. „Das geht in Ordnung, Ralphie“, sagte Dan schnell, bewegte sich aber nicht, obwohl es ihm in den Beinen zuckte. Er sah, wie Begreifen und Angst in die Augen des Knaben sprangen, als dessen Blick auf das schwarze metallische Glänzen in Glenns Hand fiel. „Ich werde dir’s erklären, Ralphie.“ Mit überraschender Plötzlichkeit drehte sich der Knabe herum, sprang zur Haustür und drehte und zerrte am Türknopf. „Immer mit der Ruhe, Kleiner“, sagte Glenn unbewegt. Immer noch am Türknopf zerrend, fing Ralphie an zu weinen. Dann gab er die verschlossene Tür beinahe so schnell auf, wie er sich auf sie gestürzt hatte. Es schien, als wolle er sich umwenden und sie ansehen, doch was statt dessen geschah, war so plötzlich und so lächerlich, daß sogar Glenn vor Überraschung wie gelähmt war. Ralphie schoß ins Wohnzimmer, vorbei an Dan, der die 43
Hand nach ihm ausstreckte, und erreichte die unverschlossene Tür der Sonnenveranda. „Ralphie!“ schrie Eleanor, doch nicht laut, da ihr das Entsetzen die Kehle zuschnürte. Dan rannte dem Jungen nach, doch ehe er bei ihm war, bewegte sich eine Gestalt im Arbeitszimmer, und schon packte der Mann Robish fluchend das Kind. Glenn knipste das Licht aus, fast in der Sekunde, als Robish im Wohnzimmer erschien. Was dann folgte, war wie eine Pantomime oder ein Stummfilm im Halbdunkel – der große Mann, der Ralphie herumzerrte, die enormen Hände, die ihn drehten, dann auf dessen Schultern fielen und den kleinen Körper schüttelten. Hinter sich hörte Dan das Geräusch von Stoff und Metall, als Glenn die Gardinen des vorderen Fensters zuzog. Aber er sah nur den Kopf seines Jungen hin und her schlagen und die schweren Schultern des von ihm halb abgewandt stehenden Mannes. Es war genug. Dan vergaß den Revolver in seinem Rücken. Er vergaß Glenn Griffin überhaupt. In diesem Augenblick sinnloser Wut machte er zwei Schritte vorwärts, sah, wie das Licht im Zimmer aufflammte, sah die ungläubigen, voll Tränen stehenden Augen seines Jungen und das haßverzerrte Gesicht des Mannes drohend über Ralphie. Sogar als er nach der Schulter des Mannes griff, wußte Dan, daß es heller Wahnsinn war, was er trieb, aber der Raubtierinstinkt war stärker. Eleanor sah entsetzt der Pantomime zu, hin und her gerissen zwischen dem Verlangen, Robish anzuspringen und ihre Nägel in das Fleisch dieses häßlichen, brutalen Gesichtes zu schlagen, und dem Wissen, daß sie die gleiche Wut beherrschen mußte, die nackt und schrecklich ihren Mann gepackt hatte. 44
Doch dann war es zu spät, um überhaupt etwas zu tun. Dan hatte den massigen Körper Robishs herumgeworfen, als sei er ein lebloses Spielzeug, ein Drittel so groß wie er. Die Augen in den knolligen Wülsten glitzerten auf, ebenso überrascht wie befriedigt. Dann schlossen sie sich völlig, als Dans Faust in einem leichten Winkel nach oben fuhr und in das eckige Gesicht krachte. Vorher hatte sich alles schweigend abgespielt; jetzt füllte das Geräusch des Fleisch-gegen-Fleisch, Knochengegen-Knochen dieses einzigen Schlages das ganze Haus. Robishs Körper streckte sich ein wenig, taumelte und sank endlich zu einem weichen Haufen zusammen. Was das Schweigen erneut und jetzt vollkommen brach, war Eleanors Schrei, als sie sah – Ralphie klammerte sich an sie –, wie Glenn Griffin hinter ihren Mann trat, den Revolver hob und ihn mit voller Wucht auf Dans Schulter sausen ließ. Dan fühlte es zuerst gar nicht, so benommen war er von der plötzlichen und schrecklichen Erkenntnis, was er ihnen allen angetan hatte. Dann packte ihn der Schmerz, doch zuerst schien es kein Schmerz, sondern eine Dunkelheit, die sich über seinen Geist senkte. Dann zog es sich zu einem Brennpunkt zusammen, als hätte ein Messer plötzlich einen Nerv zerschnitten; dann erst brach der Schmerz aus. Die ganze rechte Seite seines Körpers wurde taub und kalt, und er merkte, daß er seitwärts taumelte. Er fühlte auch die rauhe Hand, die ihn aufrichtete und ihn rückwärts in die einhüllende Weichheit des Sofas stieß. Dann schloß sich das Dunkel wieder. Als er wieder sehen und hören konnte, sah er Glenn Griffin vor dem Mann Robish stehen, den Revolver auf Robishs Magen gerichtet. 45
„… daß es so nicht geht, verstehst du! So nicht, Robish!“ Glenn Griffin schrie beinahe, doch er hatte sich in der Gewalt. Robish stieß unverständliche Worte hervor, seine Hand war über seinem Gesicht; die grüngelben Augen waren auf Dan gerichtet. Trotz des Mannes, der vor ihm stand, wollte er auf Dan losgehen. „In die Küche, Robish! Schnell. Geh!“ Robishs Worte wurden verständlich. „Denkste, ich lass’ ihm das durchgehn? Denkste, ich …“ „Ich lass’ mir unsere Tour nicht vermasseln!“ schrie Glenn. „Verstanden, Robish? Du hast noch Zeit genug für ihn. Aber nicht jetzt. Ich lass’ mir unsere Tour nicht verderben, verstanden?“ Danach drohte die Dunkelheit wiederzukommen. Dan sah einen Schimmer von Eleanors kalkweißem Gesicht, von Ralphies ernstem Blick, von Cindys mörderisch funkelnden Augen. Sein nächster Eindruck war, daß sich Griffin über ihn beugte, seine Worte kamen aus nächster Nähe an sein Ohr, doch er hörte nichts als ein wildes Geräusch. Er nickte und nickte, ohne zu wissen, warum, obwohl er dumpf diese fluchenden Warnungen begriff, diese gemeinen Drohungen, die dem heftig arbeitenden Mund vor ihm entströmten. Endlich richtete sich Glenn auf, griff in die Tasche und zog einen kleinen Gegenstand heraus, den Dan nicht sehen konnte. Der junge Mann ging hinüber zu Eleanor, und Dan fühlte wieder den lähmenden Schrecken. In diesem Augenblick wußte er – und es überraschte ihn kaum –, daß er unter ähnlichen Umständen nicht imstande wäre, etwas anderes zu tun, als was er eben getan hatte. Dasselbe – oder Schlimmeres. Beim nächsten Mal – vielleicht jetzt sofort – würde er einen von ihnen töten. 46
„Lesen Sie ’s“, sagte Glenn. „Lesen Sie es laut genug, daß Ihr Alter es hört, Frau Hilliard.“ Dan hörte die gepreßte Stimme seiner Frau, die zu lesen anfing, nachdem sie den vergilbten, ausgefransten Zeitungsausschnitt auseinandergefaltet hatte, und er mußte sich mühsam über den brennenden Schmerz hinweg konzentrieren, um die Bedeutung der Worte zu erfassen. Was sie las, war der leidenschaftslose Bericht eines Nachrichtenbüros über eine Begebenheit im Staate New York. Er beschrieb in allen Einzelheiten das Vorgehen eines Sträflings, der bei dem Versuch, einen Polizeikordon zu durchbrechen, ein kleines Mädchen brutal gemordet hatte, als man auf ihn schoß, während er das Haus verließ. Das Kind vor sich her haltend, war er in einen kleinen Lieferwagen geklettert. Und als er durch eine Polizeikugel verwundet wurde, hatte er das Kind durch den Bauch geschossen, und es war gestorben. Als Eleanor den Zeitungsausschnitt vorgelesen hatte, herrschte Schweigen. Eleanor hielt Ralphies Hand. Cindys Gesicht war aschgrau und schien zusammengeschrumpft, so daß es alle Ähnlichkeit mit ihrem Gesicht verloren hatte. Dan sah im Geiste, wie sich Glenn Griffin diesen Bericht sorgsam aus einer Zeitung ausgeschnitten hatte – vor Monaten, vielleicht vor Jahren, in der bestimmten Voraussicht dieses einen Augenblicks in seinem Leben. Dan, der stolz auf seine Fassung gewesen war, als er zuerst hereinkam, merkte jetzt, daß er aufgezehrt, verschlungen war von einer irren Wut, einem zitternden Haß gegen diesen jungen Verbrecher, der gleichmütig dastand und die Bedeutung des Zeitungsberichtes tief in das Bewußtsein der Familie Hilliard eindringen ließ. Aber eine innere Stimme schrie ihm die notwendige Warnung zu: 47
Was auch geschehen mochte, er durfte nicht selbst das Opfer seines empörten Gefühls werden. „Nun, Hilliard“, sagte Glenn, die Augen fest auf Dan gerichtet, „wie ist es: Haben Sie einen Revolver im Haus?“ Ohne zu zögern, nickte Dan. Sein Verstand begann wieder ordentlich zu arbeiten. Es blieb ihm keine Wahl, er hatte keine Chance gegen diese drei. Er konnte es sich nicht leisten zu kämpfen – zuviel stand auf dem Spiel, das Leben seiner ganzen Familie. „Oben. In den Sprungfedern der Matratze. In meinem Bett.“ Glenn rief nach Hank, der sofort hereinkam. Glenn sprach ruhig mit seinem Bruder, der nach oben verschwand. Als Hank sehr schnell zurückkam, sagte Glenn flüsternd: „Steck ihn in die Tasche – und denk nicht mehr dran, Hank. Und sag Robish nichts davon.“ Er wandte sich nach der Seite zu Dan und grinste höhnisch. „Womit Sie wohl einverstanden sein dürften, Hilliard.“ Dan nickte. Er war zu dem Entschluß gekommen, daß er nicht nur ihr Spiel so kühl wie möglich mitspielen, sondern sich auf Glenn konzentrieren mußte. Glenn war der Anführer, schlau, grausam, zynisch – jedoch der einzige, den man beobachten und fürchten mußte und von dem man abhängig war. „Hören Sie eins, Griffin“, sagte Dan, als Hank gegangen war. „Ja?“ Die Verachtung färbte seine Stimme; eine Drohung klang in dem Wort. „Nur eins: Ich bestimme über meine Familie, wir fügen uns.“ „Als ob Sie eine andere Wahl hätten.“ „Ja“, sagte Dan langsam; er spürte den Schmerz ständig und messerscharf in seiner Seite. „Ja, wir haben eine Wahl; solange nicht noch einmal so etwas passiert wie 48
vorhin hier im Zimmer, als dieser Mann meinen Sohn anpackte – so lange werden wir alles tun, was Sie wünschen. Aber wenn einer von euch noch einmal einen von uns anrührt …“ „Drohungen schätze ich nicht, Freundchen.“ „Griffin“, sagte Dan – der Atem schmerzte ihn –, „wenn Sie das für eine Drohung halten, sind Sie nicht so klug, wie ich dachte. Ich stelle nur Tatsachen fest. Wenn einer von euch noch einmal einen von uns anrührt, sind Sie erledigt, wir zwar auch, das läßt sich nicht ändern. Es gibt eine Grenze, auch für mich, Griffin. Das nächste Mal halte ich mich nicht bei einem Kinnhaken auf – das nächste Mal mache ich den Mann kalt, noch ehe Sie auf mich schießen können.“ Nun lachte Glenn, leise, aber unsicher. „Alter Herr, für jemanden, der so viel zu verlieren hat wie Sie, reden Sie reichlich keß.“ Die Verzweiflung durchdrang Dans Körper. „Ich rede nicht keß, begreifen Sie das nicht, Mann? Ich sage, daß wir Ihnen helfen werden, wenn Sie Ihre Leute in Schach halten können.“ Als Dan sah, wie sich die Brauen in dem hübschen dunklen Gesicht etwas hochschoben, wußte er, daß er den richtigen Ton gefunden hatte. Das war vermutlich die einzige Art, mit ihm umzugehen. „Ich bin mit Robish fertig geworden, oder?“ „Sogar sehr gut“, sagte Dan. „Ich glaube, wir verstehen uns, Griffin.“ Er sah hinüber zu Eleanor. „Ich glaube, jetzt wissen wir alle, was wir zu tun haben, nicht wahr, Eleanor?“ Eleanor konnte nur nicken und sich schweigend wundern, warum sie ihren Mann erst heute abend kennenlernte … 49
2 Die Nacht hinter den Fenstern war dicht und voll Wind. Die Vorhänge waren aufgezogen worden, aber die Scheinwerfer, die ab und zu auf dem Boulevard vorbeiglitten, schienen fern und unwirklich. Dan Hilliard hielt seine Abendzeitung in der Hand wie sonst auch, und wenn er den Blick von den Fotografien unter den roten Schlagzeilen der ersten Seite hob, konnte er jenseits der Diele im Eßzimmer zwei der hier abgebildeten Gesichter sehen: die Brüder Griffin, die sich jetzt über eine Autokarte auf dem Tisch beugten. Das dritte Gesicht – das düstere mit dem schweren Kinn – blieb unsichtbar. Robish war in der Dunkelheit des Arbeitszimmers hinter der offenen Tür auf der anderen Seite des Wohnzimmers. Auch Cindy war sich dieses dritten Gesichtes bewußt. Sie saß auf dem Sofa neben Ralphie, der zum Schein ein Buch las; sie zog immer wieder die schlanken jungen Beine höher auf den Sitz und ihren Rock tiefer herunter und kehrte der Tür absichtsvoll und verächtlich den Rücken. Eleanor saß in ihrem gewohnten Sessel. Von draußen mußte es wie ein normales Familienbild wirken. Alles war sehr alltäglich, sehr sorgsam arrangiert und geradezu entnervend in seiner theatralischen Geschicklichkeit. Glenn Griffin hatte durch den Spalt im Rouleau des vorderen Eßzimmerfensters Ausblick auf die Straße, den Rasenplatz und die Einfahrt; vom Arbeitszimmer aus hielt Robish Wache über den hinteren Hof, die Garage und die Einfahrt längs der seitlichen Hauswand. Dan fühlte sich steif, und ein lähmender Schmerz schoß durch seine rechte Seite; seine Rippen waren zerschlagen und taten weh, und bei jedem Atemzug spürte er einen heftigen Stich in der Lunge. Die letzten zweieinhalb 50
Stunden hatten ihn nach und nach mit einer langsamen, verhaltenen Wut erfüllt – es war nicht jene nackte, gewalttätige Wut, die ihn zu dem Angriff auf Robish hingerissen hatte, sondern ein steter, langsam brennender Haß voller Auflehnung. Er richtete sich nicht nur gegen die drei Männer, sondern gegen etwas Größeres, weniger Greifbares: gegen das unglaubliche Geschick oder gegen den Zufall, der diese Männer veranlaßt hatte, sein Haus auszuwählen. Weil sie Ralphies Fahrrad im Torweg gesehen hatten? Weil die nächsten Nachbarn, die Wallings, zwei Blocks entfernt wohnten, hinter einem dichten Wäldchen verbergender Bäume? Ja … aber weshalb gerade sein Haus? Es mußte doch auch andere Häuser geben, die ebenso günstig gelegen waren? Dan beobachtete, wie Glenn Griffin drüben am Tisch seinen Arm achtlos um die Schultern des jüngeren Bruders legte – mit einer warmen, freundschaftlichen Geste. Dennoch war es derselbe junge Mensch, der unter der theatralischen Oberfläche vom ersten Augenblick an genau gewußt hatte, wie ein Mann vom Schlage Dan Hilliards unter gewissen Umständen handeln würde, und dann diese Umstände herbeigeführt hatte. Dan sah wieder auf seine Uhr: vier Minuten nach halb neun. Noch drei Stunden sechsundzwanzig Minuten bis Mitternacht. Bis hierhin hatte er es geschafft. Er würde auch noch den Rest hinter sich bringen. Er mußte sich eben benehmen wie ein Mensch, dessen Wille gebrochen ist. Er würde tatsächlich alles tun, alles nur Erdenkliche, um diese Verbrecher aus seinem Haus zu bringen. Alles, solange die drei Menschen, die jetzt um ihn waren, ungefährdet und unverletzt blieben. Der Abend war mehr oder weniger ohne Zwischenfall verlaufen. Sie hatten Abendbrot gegessen – zuerst die 51
drei Männer: Glenn – er trug jetzt eine von Dans Sportjacken – im Eßzimmer, Hank im Arbeitszimmer und Robish am Küchentisch. Cindy hatte sie bedient, während Eleanor kochte. Kurz darauf hatte Robish wissen wollen, wo Dan die Getränke aufbewahrte; es waren keine im Hause. Robish murrte, das sei eine Lüge, und begab sich polternd und drohend auf eine vergebliche Suche. Glenn mischte sich nicht ein; dergleichen Dinge waren ihm nicht wichtig genug. Dan Hilliard erriet, daß Griffin auf diese Weise geschickt die Fäden in der Hand behielt. Mochte Robish ruhig glauben, daß er sein eigener Herr sei. Wenn es aber Ernst wurde – zum Beispiel als Robish Dan fast umgebracht hatte –, griff Glenn ein. Er verfolgte mit seinem Verhalten eine Methode, die Dan verstehen, auf die er sich sogar einstellen konnte. Hank Griffin dagegen blieb ihm ein Rätsel. Ein halber Knabe, offensichtlich seinem Bruder in merkwürdiger Abhängigkeit zugetan. Doch mehr wußte Dan nicht. Und Robish – nun, Robish war gewalttätig, verschlagen, häßlich und unberechenbar. Er stellte in mancher Beziehung die größte Gefahr dar. Mit Robish konnte man ebensowenig verhandeln wie mit einem Raubtier. Das Telefon schrillte. Zuerst trat ein erschrockenes Schweigen ein, dann wurde das Haus lebendig. Dan erhob sich. Glenn Griffin kam in die Diele, den Revolver in der Hand. Sein Bruder Hank ging wie auf einen stummen Befehl sofort die Treppe hinauf, um, wie Dan vermutete, an dem zweiten Apparat im Schlafzimmer mitzuhören. „Los, Rotkopf, jetzt bist du dran. Du darfst sprechen – aber hüte dich! Wenn nach einem Herrn James gefragt wird – das bin ich. Wenn es für jemanden von euch ist, laß sie reden. Los, bißchen schnell!“ 52
Beim dritten Läuten nahm Cindy den Hörer ab, ohne sich etwas von ihrer Würde zu vergeben, wobei sie Glenn trotzig den Rücken kehrte. „Hallo … oh … Ja, Chuck. Ich bin … na ja, mir ist heute nicht gut … ja, ja, sicher eine kleine Erkältung. Nein, weißt du … ich kann nicht … nein, ich kann eben nicht, das ist alles … ich hab’ dir doch gesagt, daß ich krank bin.“ Sie horchte eine Weile und wandte sich endlich mit übertriebenem Achselzucken hilflos nach Dan und Eleanor um. „Nein Chuck … aber bitte, Chuck, versteh mich doch! Du verstehst mich doch … bitte, Chuck! – Ja, also morgen. Gute Nacht!“ Sie legte den Hörer wieder auf und sah dann Glenn Griffin an. „Nun, hab’ ich’s gut gemacht, Herr Lehrer?“ fragte sie mit ätzender und verächtlicher Stimme. Glenn sah zur Treppe hin, als Hank herunterkam, und nickte. „Gut gemacht, Kleine“, sagte er. „Vielleicht bist du heller, als ich dachte. War wohl dein Freund, he?“ „Nein, Anthony Eden!“ sagte Cindy und ging zurück zum Sofa. Ralphie streckte ihr die Hand entgegen und applaudierte mit Daumen und Zeigefinger. Unwillkürlich verzog sich Glenns Gesicht zu einem Grinsen. „Du darfst ruhig deine Witzchen machen, Rotkopf – ich hab’ ’n dickes Fell.“ Cindys Bitte an Chuck, er möge sie doch verstehen, ihre Angst, ihn verletzt zu haben, während sie früher immer rücksichtslos, sogar etwas grausam zu ihren jungen Freunden gewesen war, bedrückte Dan und machte ihn nervös. Überrascht, daß er in dieser Lage so etwas wichtig nehmen konnte, unterdrückte er seine Verstimmung und sagte: „Ralphie! Freundchen! Höchste Zeit fürs Bett!“ 53
Ohne Widerspruch erhob sich Ralphie, gab seiner Mutter einen Kuß, warf Cindy eine Kußhand zu und ging durch die Diele zur Treppe. Dan folgte ihm wie jeden Abend. Glenn ließ sie gehen und sah ihnen nach, ohne zu lächeln. Zufällig sah Dan auf Hank Griffin und fing in dessen dunklen Augen einen seltsamen Ausdruck auf. Vielleicht bildete er sich’s nur ein. Der Junge saß über den Tisch gebeugt, den Kopf ein wenig erhoben. Er trug ein Paar Hosen von Dan, einen jackenartigen Sweater, ein Sporthemd, keinen Schlips. Und was Dan in seinen Augen sah oder zu sehen meinte, war Sehnsucht … oder Neid … oder beides. In Ralphies Schlafzimmer hingen Flugzeugmodelle von der Decke herab, umgeben von Miniaturschiffen. Ralphie war ungewöhnlich still und ernst. Er zog sich aus, fuhr in sein Pyjama und putzte sich schnell die Zähne, während Dan schweigend auf der Bettkante saß. Wie konnte man als Mann einem zehnjährigen Jungen so etwas erklären? War er ein Feigling, weil er versuchte, dem Kind die unheimlichen, grausamen Bilder zu ersparen, die sein eigenes Gemüt so bedrückten? Erst als Ralphie ins Bett kletterte, sprach er endlich. „Sie sehen gar nicht so gefährlich aus, Vater.“ „Sie sind aber … gefährlich, Ralphie. Mach dir nichts vor!“ „Du hast ja Angst.“ Obwohl Ralphies Stimme sich am Ende des Satzes etwas hob, war dies keine Frage, sondern eine Feststellung – eine Anklage. „Ja, mein Sohn“, antwortete Dan leise. „Ich habe Angst. Und du solltest dich auch fürchten.“ „Du hast doch den großen Kerl niedergeschlagen!“ „Nein. Ich hatte die Selbstbeherrschung verloren, das war’s. Ich darf das kein zweites Mal tun.“ 54
„Mutter hat auch Angst. Aber Cindy nicht. Und ich auch nicht.“ Nun blieb Dan nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen, die volle Wahrheit. Also beugte er sich über das Bett und flüsterte ein paar Sekunden lang seinem Jungen bestimmt und energisch etwas zu. Ralphies Augen, die seinen Vater nicht losließen, verengten sich vor Enttäuschung. Dan sah hilflos zu; aber vielleicht kümmerte er sich in diesem Augenblick nicht wirklich darum, was sein Sohn von ihm dachte, wenn er ihm nur begreiflich machen konnte, was auf dem Spiel stand. Als er geendet hatte und aufstand, sagte er Ralphie diese Enttäuschung auf den Kopf zu. „Was du auch jetzt von mir hältst, Ralphie – merke dir das, was ich dir gesagt habe!“ „Warum hast du ihm verraten, wo dein Revolver ist?“ Wieder stand Dan vor einer Mauer nackten Unverständnisses. Wieder! Langsam erwachte der Zorn in ihm, aber er ballte die Fäuste an den Seiten und kämpfte ihn nieder. „Ich könnte mich die Hintertreppe hinunterschleichen“, sagte Ralphie. „Dieser Kerl, Robish, ist im Arbeitszimmer, aber er würde es nicht mal hören, wenn ich die Hintertür aufmache. Und in der Küche ist jetzt keiner.“ „Hör auf mich, Ralph“, knurrte Dan. „Nicht wahr, du willst doch, daß ich dich Ralph nenne? Du willst in unserm Haus als großer Junge behandelt werden. Dann mußt du dich aber auch als solcher benehmen und als solcher denken. Von jetzt an. Wenn du wegläufst und die Polizei holst – weißt du, was dann geschehen würde? Diese Männer würden deine Mutter und deine Schwester erschießen. Und du wärst schuld daran. Kannst du das begreifen, Ralph?“ 55
Das Knabengesicht bewölkte sich; dann wandte sich Ralphie plötzlich ab und streckte sich aus, das Gesicht in die Kissen gedrückt. Er murmelte etwas Unverständliches. Dan beugte sich über ihn und legte die Hand auf den Rücken des Jungen. „Was sagst du da, mein Sohn?“ Er spürte, wie der Rücken unter seiner Hand zuckte, als Ralphie das Gesicht hob. In seinen Augenwinkeln standen Tränen. „Ich will nicht, daß sie mich mitnehmen!“ stieß er hervor. „Dich mitnehmen?“ „Du hast doch gehört, was Mutter vorgelesen hat. Das Ding da aus der Zeitung – über das kleine Mädchen. Was wird geschehen, wenn sie hier weggehen, Vater? Du weißt es doch? Ja, du mußt es wissen!“ „Sie werden dich nicht mitnehmen“, sagte Dan langsam. Seine geballten Fäuste öffneten sich, aber als er aufstand, waren ihm die Beine steif vor Aufregung. Die Angst, die er in Ralphies Augen sah, war wie ein scharfer Messerhieb auf seine mühsam erkämpfte Vernunft. Vielleicht hatte er es längst gewußt und hatte es sich nur nicht eingestehen wollen? Nun, jetzt mußte er sich’s eingestehen. „Sie nehmen dich nicht mit, Ralphie – keinen von uns. Dafür will ich sorgen. Und du mußt jetzt schlafen. Mach dir keine Sorgen. Vertraue mir, Ralphie!“ „Aber … was kannst du denn tun, Vater? Du hast ja nicht mal eine Pistole.“ „Hast du mich verstanden?“ Dan atmete tief und bemühte sich, seine Stimme in der Gewalt zu behalten. „Ich sage dir doch, du sollst dir keine Sorgen machen. Schlaf jetzt ein. Ich werde nie zulassen, daß sie dich mitnehmen. Das weißt du doch, Ralphie. Nicht wahr?“ 56
„Ich habe keine Angst“, sagte Ralphie, aber Bitterkeit klang in seiner Stimme und lag in seinem Gesicht, das er nun abwendete. „Ich habe überhaupt keine Angst.“ Dan stand regungslos und wie gelähmt. In seinem Unterbewußtsein mußte er dies längst gespürt haben. Kann man denn Unangenehmes verdrängen, indem man es einfach ignoriert? Ja, wahrscheinlich. Dan griff nach Ralphies Schulter und hielt sie einen Augenblick fest. Dann ging er in die Diele, drehte das Licht ab und schloß die Tür. „Die Hintertreppe“, fiel ihm in seiner Angst ein. Du könntest ohne weiteres die Hintertreppe hinuntergehen. Sie würden dich fünf oder gar zehn Minuten lang nicht vermissen. Ja. Aber was dann? Was dann? Langsam stieg Dan die Vordertreppe hinab. Ein neuer wilder Haß würgte ihn. Immer stand ihm Ralphies kleines Gesicht vor Augen, in dem die bittere Enttäuschung zu lesen war. Als er wieder ins Wohnzimmer trat, sah er hinüber zu Eleanor. Sie saß still, ihr Gesicht war bleich, noch bleicher als in jener Nacht, da Ralphie geboren wurde. Dann sah er Cindy an; ihr Kopf lag auf dem Arm an der Lehne des Sofas, ihr Gesicht war verborgen, ihr Haar zerzaust. Du darfst dich nicht von deinem Zorn hinreißen lassen, sagte sich Dan nachdrücklich. Das darfst du nicht. Er setzte sich wieder hin. Drei Minuten vor neun. Er starrte ungläubig auf seine Uhr und hielt sie ans Ohr. Sie lief noch. Die elektrischen Uhren im Gefängnis und in den Räumen des Sheriffs hatten große runde Zifferblätter mit dicken Zahlen. Der Minutenzeiger bewegte sich nur, wenn die 57
volle Minute um war; dann klickte es zuerst, und dann sprang der schwarze Zeiger vorwärts, hielt inne und wartete wieder, daß die nächsten sechzig Sekunden vergingen. Jesse Webb – er hatte die langen Beine ausgestreckt, die Fesseln kreuzten sich auf seinem Pult – behielt die Uhr so fest im Auge, daß ihm die Minuten zwischen dem Vorschnellen der Zeiger wie Stunden vorkamen. Er mußte den Kopf halb umdrehen, um das Zifferblatt zu sehen, und das Genick tat ihm schon weh davon. Obwohl er auf das Läuten des Telefons gewartet hatte, fuhr er auf bei dem schrillen Ton, der in der stillen Nacht widerhallte. Er konnte es kaum fassen, daß im Zimmer endlich ein anderes Geräusch zu hören war als das nervenzerreißende taktmäßige Klicken der Uhr. Er sprach seinen Namen ins Telefon. Dann horchte er. Nach kaum einer Minute sagte er „Gut so“ und legte den Hörer auf. Dann erhob er sich, noch gespannt, obwohl die wilde Erregung nachließ. Er machte ein paar Schritte, und die Erregung, die nur eine Reaktion auf das lange Warten gewesen war, verflog. Er hatte nichts zu tun. Er konnte nichts tun. Und von jetzt an war sogar das Warten nur eine törichte Zeitvergeudung. Helen Lamar war verschwunden. Jesse Webb schlug mit der rechten Faust in die linke Hand. Er dachte an Onkel Frank, der ihn um neunzehn Uhr dreißig nochmals angerufen hatte. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie er in seiner Nachtwächteruniform im beizenden Geruch des Schlachthofes am Wandtelefon stand. Er sah die Spannung in dem schmächtigen Körper und hörte die stillen Fragen. Noch vor anderthalb Stunden hatte Jesse seinem Onkel versichert, daß alles erwartungsgemäß verlaufe. Wenn Helen Lamar ihr vorsichtiges 58
Tempo beibehielte, würde sie gegen dreiundzwanzig Uhr in der Stadt ankommen. Nun kam sie nicht. Onkel Frank, der fast zwanzig Jahre bei der Polizei gewesen war, mochte es verstehen. Aber Jesse … verdammt noch mal, wenn er es konnte! Es war eine Schlamperei, die zum Himmel stank. Noch viel ärger. Er sah in Gedanken die Szene, die der Kriminalpolizist – der sie eben erst gehört – ihm geschildert hatte. Helen Lamar war in ihrem rotbraunen Wagen östlich von Columbus, Ohio, gesehen worden, als sie sich der Stadt näherte. Es war freilich nicht leicht, ihrer Fahrt durch die große Stadt zu folgen, besonders da es immer möglich war, daß sie nordwärts nach Toledo oder südwärts nach Cincinnati abschwenken konnte. Doch was dann tatsächlich geschehen war, hatte alle Maßnahmen, die ganze harte, zähe Arbeit zunichte und fruchtlos gemacht. Die Frau hatte einen einzigen, simplen Fehler begangen: Sie hatte an den Ausläufern der Stadt die Geschwindigkeitsgrenze überschritten; ein Wagen der Streife hatte versucht, sie anzuhalten. Dann mußte sie wohl den Kopf verloren haben – sie trat auf den Gashebel. Der Streifenwagen eröffnete die Jagd. Aber verdammt, verdammt, die Leute hatten doch ihre Befehle, alle hatten den Befehl erhalten: NICHT ANHALTEN! WIEDERHOLE: NICHT ANHALTEN! Der Befehl lief über alle Fernschreiber zwischen Pittsburgh und Indianapolis. „Sie haben sie gejagt, die Idioten!“ sagte Jesse bitter in seinem einsamen Büro; er schmeckte förmlich den Hohn auf der Zunge. Sie aber hatte sich des verfolgenden Wagens zu entledigen gewußt. Wie hatte sie das gemacht? Wie konnte sie 59
das machen? Nun, sie konnte nichts riskieren, diese Person, weil sie, wenn sich Jesse nicht sehr täuschte, das Geld – viel Geld – bei sich hatte; sie durfte sich einfach nicht anhalten lassen. Sie durfte sich nicht ausfragen lassen, und wie konnte sie ahnen, daß diese Idioten ihr nur eine Strafe wegen zu schnellen Fahrens verpassen wollten? Sie raste in die untere Stadt, geriet in den Verkehrstrubel zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr – jetzt war sie leichtsinnig, verzweifelt, zu allem entschlossen. Blitzschnell bog sie in eine Seitenstraße, brachte den Wagen mit irrem Bremsen halb auf der Bordschwelle zum Stehen und sprang heraus. Die Polizei hatte den Wagen gefunden, jedoch nicht schnell genug. Helen Lamar war fort. Von der Erde verschlungen. Presto. Da hast du’s, Jesse. Weg ist sie. Irgendwo entschlüpft, geheimnisvoll, mit der schlangenhaften Wendigkeit des Verbrechers, in ein Loch, in ein Versteck – irgendwo von ihresgleichen beschützt. Und jetzt, jetzt zu dieser Stunde, versuchte sie wahrscheinlich, sich einen Weg auszudenken, einen sicheren Weg, um sich mit Glenn Griffin in Verbindung zu setzen. Und wenn dies geschah? Was würde Griffin tun? Jetzt war er ohne Geld, besaß keine Mittel zu der Flucht, die er geplant hatte, und all seine fein ausgeklügelten Berechnungen waren über den Haufen geworfen – was konnte er jetzt tun? Er mußte zusehen, wie er Geld bekam. Das würde ihn vielleicht zwingen, wieder einen Einbruch zu versuchen. Er mußte sich jetzt einen neuen Weg zur Flucht ausdenken. Er konnte sich nicht zu lange in einem Versteck 60
verborgen halten. Tat er das dennoch, so wußte er, was er dabei wagte. Aber es ging über Jesses Vorstellungskraft, sich auszumalen, was ein mit dem Rücken an die Wand gedrängter Glenn Griffin tun würde; und gerade das war das Problem, dem er sich gegenübersah. Es würde einige Zeit dauern, bis Griffin erfuhr, was geschehen war. Nun, und inzwischen? Auch das stellte Jesse ein Problem, obwohl er nichts, gar nichts dabei tun konnte. Alle bekannten Schlupflöcher waren durchsucht und wieder durchsucht, alle Freunde Griffins lang und breit und ohne Ergebnis befragt worden. Wo zum Teufel steckt der Kerl? Glenn Griffin blieb in Hilliards Haus, aber Dan war jetzt draußen. Es war fünfzehn Minuten nach neun. Seine Gedanken waren im Haus, als er hinter dem Steuer seines Wagens saß, während ein Angestellter der Tankstelle den Benzintank füllte und Öl und Wasser nachprüfte. Jetzt befolgte er Befehle. Der Wagen wurde für eine schnelle und sichere Flucht gebraucht. Soviel hatte Dan verstanden. Robish hatte Glenn einen Narren geheißen, daß er Dan wegfahren ließ, aber als Glenn vorgeschlagen hatte, Robish solle vielleicht selbst fahren, hatte sich der große Kerl mit einem mürrischen Knurren gefügt. Glenn war überzeugt, daß Dan tun würde, was er zu tun hatte, einfach weil die andern – seine Frau, seine Tochter, sein Sohn – im Haus zurückblieben. Glenn hatte recht, wie gewöhnlich. Aber diesmal waren Dans Berechnungen der Schlauheit des jungen Mannes voraus. Er blickte starr auf ein Wandtelefon in der erleuchteten Tankstelle. Er konnte jetzt in weniger als dreißig Sekunden mit der Polizei sprechen. Konnte er ihnen die genauen Umstände so erklären, daß auch sie 61
begreifen würden, es wäre Mord, unverantwortlicher Mord an unschuldigen Menschen, wenn sie versuchten, sofort einzudringen? Ob er ihnen diese Tatsache wohl begreiflich machen könnte? Vielleicht. Doch selbst wenn sie es verstanden – was für Vorsichtsmaßnahmen würden sie ergreifen? Sie müßten Straßenkontrollen in der Umgegend einsetzen, in der Hoffnung, Griffin später auf seiner Flucht zu fassen, wenn er das Geld und die Frau hatte. Es war ihre Aufgabe, die beiden Griffins und Robish festzunehmen oder zu töten. Seine Aufgabe aber war es, seine Familie zu beschützen. Und sicher hatte Glenn Griffin keine Möglichkeit übersehen, keine Gefahr, die darin lag, Dan aus dem Hause zu lassen. Er hatte bestimmt alles überlegt. Er wußte, daß er nicht die staubbedeckte Limousine in der Garage benutzen konnte; er brauchte Dan Hilliards Wagen. Aber Glenn mußte sich auch gesagt haben, daß der blaue Wagen, sobald sie aus dem Haus gegangen waren und die Hilliards zurückgelassen hatten, ebenso bekannt und ebenso gefährlich wäre wie die graue Limousine, sobald Dan die Polizei einmal benachrichtigt hatte. Was würde Griffin tun, um dies zu verhüten? Dan riß den Blick vom Telefon los und schob den Gedanken – die Versuchung – heftig beiseite. Glenn hoffte natürlich, es auf die gleiche Art zu verhüten, wie er sich jetzt versichert hatte, daß Dan nicht die Polizei anrief: indem er einen oder vielleicht sogar mehrere von der Familie auf die Flucht mitnahm. Ich will nicht, daß sie mich mitnehmen! hatte Ralphie gesagt. Dan zitterte, so stark empfand er seine Hilflosigkeit. Wenn er die Polizei hineinzog, lief er Gefahr; wenn er es unterließ, war er nicht besser dran und vielleicht noch 62
mehr den Plänen Griffins ausgeliefert. Jetzt sah er nicht mehr mit Ungeduld der Stunde entgegen, in der die Frau mit dem Geld eintreffen würde, sondern mit Schrecken. Nur drei Stunden. Weniger als drei Stunden; vielleicht viel weniger, wenn die Frau sich eilte. Er schreckte vor dem Gedanken zurück. Es war noch lange bis dahin. Es war nicht unvermeidlich. Nichts war unvermeidlich. Vielleicht würde in der Zwischenzeit … Vielleicht was? In der Zwischenzeit, sagte er sich grimmig, wirst du das tun, was sie dir befehlen, in der Hoffnung, daß dir für die Stunde ihrer Abreise eine Drohung einfällt, die Glenn Griffin zur Änderung seiner Pläne veranlaßt. Im Augenblick hast du keine Zeit, daran zu denken. Im Augenblick kannst du nur das tun, was dir befohlen worden ist. Dan bezahlte den Tankwart, den er nicht kannte, denn er hatte absichtlich die Tankstelle in seiner Nachbarschaft vermieden, wo er ein laufendes Konto hatte. Der Motor schnurrte gleichmäßig. Ein guter Wagen, solide, vielleicht etwas teurer, als sie sich’s leisten konnten, ein Luxus – schnell und zuverlässig. Genau der Typ Wagen, der Glenn Griffins Ansprüchen genügte. Dan wußte, daß er jetzt seine letzte Fahrt mit ihm machte, als er dem Broad-Ripple-Geschäftsviertel zufuhr. Er mußte sich scharf auf das konzentrieren, was er vorhatte, um sich nicht immer wieder die sternförmigen Löcher vorzustellen, welche die Kugeln in das Glas des hinteren Fensters und vielleicht der Windschutzscheibe schlagen würden, und die dunklen, häßlichen Blutflecken auf den Polstersitzen. Wenn es bloß das Blut jener Männer wäre und nicht … Er horchte angespannt auf das hohe Winseln des Windes zwischen den Häusern. Es waren nicht mehr viele 63
Geschäfte offen. Aber in den Fenstern einer Weinhandlung war noch Licht. Er brachte den Wagen an der Bordschwelle zum Halten. Der alte Mann hinter dem Ladentisch zählte gerade Geld, er bereitete sich vor, den Laden zu schließen. Er sah auf, als Dan eintrat, und runzelte die Stirn. „Womit kann ich dienen?“ Die Stimme war nicht freundlich. Dan kaufte einen Liter Old Grandad – Robish hatte Bourbon gewünscht – und merkte, daß der alte Mann ihm nicht den Rücken zudrehte, während er nach der Flasche griff. Als Dan bezahlte, erhaschte er einen Augenblick sein Bild in einem Reklameschild aus Spiegelglas hinter der Kasse. Sein Gesicht war aschgrau, sein Schlips etwas schief, sein Hut tief in die Stirn gezogen. Er schaute auf den Mann, der ihn immer noch mißtrauisch musterte. Dan konnte es ihm nicht übelnehmen. Dies breite, unregelmäßige Gesicht, das unter normalen Umständen den Eindruck von Kraft, von freundlicher, aber vornehmer Zurückhaltung machte, dies Gesicht erschien jetzt dem alten Mann krankhaft, verschlagen, vielleicht sogar gefährlich. Dan versuchte, sich zu einem Lächeln zu zwingen; es gelang ihm nicht. Bei einem letzten schnellen Blick zum Spiegel, während er sich abwandte, sah er, daß seine Augen rot und entzündet waren. Als er wieder im Wagen saß und die Richtung nach seinem Haus einschlug und den Gashebel in plötzlich neu erwachter Angst heruntertrat, fragte er sich dabei, ob er sich nicht zum Narren mache. Wie konnte er, wenn das Unglück wirklich geschah, jemals sicher sein, daß er es nicht teilweise selbst verschuldet hatte? Wie konnte er sicher sein, daß er jemanden retten würde, indem er sich ihren Forderungen fügte? 64
Es gab keine solche Sicherheit. Vielleicht hätte er vorhin in der Tankstelle seinem Impuls nachgeben sollen? Vielleicht hätte er dem alten Mann in der Weinhandlung alles eilig, aber rückhaltlos erklären sollen? Später, nach der Tragödie (wenn es zur Tragödie kam!), würde er sein Leben lang (wenn ihn das Schicksal unbarmherzig am Leben ließ!) von der schneidenden Gewißheit verfolgt werden, daß er im richtigen Augenblick durch eine List oder einen kühnen Einfall alles hätte verhindern können. Der Mann in der Weinhandlung hatte vermutlich eine Waffe. Bei diesem Gedanken gab Dan unwillkürlich weniger Gas. Sollte er zurückfahren und sich, gleichviel auf welche Weise, diese Waffe holen? Er würde nicht zögern, nicht eine Sekunde zögern, zu töten. Wenn es möglich wäre, jetzt rasch ins Haus zu treten und jedem der drei Männer zielsicher eine Kugel in den Leib zu jagen, ohne die andern zu gefährden – er würde es tun! Tatsächlich mochte es das einzige sein, was überhaupt möglich war. Als er den gelben Lichtschein aus den Vorderfenstern und dann den klobigen Schatten des Hauses selbst sah, gab er diese Pläne auf. Er durfte es nicht wagen. Er konnte nicht schnell genug handeln. Sie hatten jetzt zwei Revolver, und konnte er sicher sein, daß sie nicht beide auf ihn richteten? Das Gefühl seiner Hilflosigkeit schlug vernichtend über ihm zusammen wie eine große Welle, begrub ihn unter sich und wirbelte ihn wehrlos wieder empor in die furchtbare Leere seiner ohnmächtigen Wut. Es gab nur eine einzige Gewißheit, an die er sich klammern konnte: daß er jetzt, aus der Lage dieses Augenblicks, das tat, was er für richtig hielt. Mehr zu tun war unmöglich. Gab es ein Mehr? Er parkte den Wagen, wie Glenn es ihn geheißen hatte, mit dem Kühler zum Boulevard, so daß Cindys 65
Wagen ihm nicht die Ausfahrt versperrte, die Seitentüren unverschlossen, den Schlüssel im Zündschloß. Er schaltete den Motor ab und stieg aus. Er fühlte die Augen, die ihn beobachteten – wie widerliche Insekten aus dem Urschleim krochen sie über ihn hin. Doch er wurde nicht schwach, ihm wurde nicht übel. Er war jetzt erfüllt von dem Bewußtsein, daß er durch irgendein Wunder einen Ausweg finden mußte, etwas, was sie davon abhielt, jemanden von den Seinen um Mitternacht mit sich zu nehmen. Er stieß ein paar Worte hervor und fühlte unklar, daß sie zwar ein wütendes Gestammel, aber keine Gotteslästerung waren; im Gegenteil, sie waren eher ein demütiges Gebet, unzusammenhängend, unverständlich, an das Dunkel gerichtet, das ihn umgab. Er trat durch die Seitentür ins Haus, ging über die Sonnenveranda, dann durch das Wohnzimmer bis zu Glenn Griffin, der in der Diele wartete, so daß er an den vorderen Fenstern nicht sichtbar war. Erst als er dort in der Diele stand – Robish war aus dem Eßzimmer hereingestampft und hatte ihm die eingewickelte Flasche weggerissen –, kam es Dan in den Sinn, daß etwas im Wohnzimmer nicht stimmte. „Na, keine Dummheiten gemacht, alter Freund?“ Mit dem Revolver in der Hand ging Glenn daran, Dan Hilliard zu durchsuchen, jede Tasche mit der Gründlichkeit und Unverschämtheit abtastend, die Dan so hassen gelernt hatte. Dan ließ es über sich ergehen. Er stand steif aufgerichtet und wandte nur die Augen zum Wohnzimmer. Später sagte er sich, daß er wie im Traum gehandelt haben mußte, denn sonst hätte er gleich die Frage gestellt, die jetzt heiß und erstickend in ihm emporschoß: „Wo ist Cindy?“ 66
„Sie ist ausgegangen, mein Herz“, sagte Eleanor aus ihrem Sessel. „Es ist in Ordnung. Sie wird vorsichtig sein.“ „Ausgegangen?“ Seine Stimme war nur ein Echo. „Mit Charles Wright. Er kam trotz allem. Frag mich nicht, warum. Und sie sahen ihn hereinfahren, deshalb ließen sie Cindy zu ihm hinausgehen, ehe er hereinkommen konnte.“ „Ich habe mit ihr gesprochen, Hilliard“, erklärte Glenn Griffin leichthin. „Sie ist ein kluges Mädel. Sie wird schon alles richtig machen. Ich sagte ihr, was passieren würde, wenn sie Lust zum Schwatzen hätte. Robish, ja, der ist nervös, sehen Sie. Er denkt, ich bin ein Idiot. Und Sie, Hilliard? Sie halten mich nicht für ’n Idioten, oder …?“ „Ein Idiot sind Sie nicht“, sagte Dan langsam. „Nein.“ Glenn lachte. „Wissen Sie was, Alter? Sie sind prima. Sie sind wirklich ’ne ulkige Nummer. Und jetzt können Sie reingehen und sich ’ne Weile hinsetzen, während ich mir ’n Schluck mit Robish genehmige. Wir wollen doch nicht, daß er sich die ganze Flasche hinter die Binde gießt, was, Hilliard?“ Dan ging automatisch in das Wohnzimmer; unsicher sah er in den Fenstern sein Spiegelbild, als er sich setzte – wie ein langsamer, steifer alter Mann saß er da und umklammerte die Armlehnen des Sessels, um den Schmerz zu betäuben, der noch immer in seiner Seite auf und ab schoß und heiß in seiner Schulter brannte. „Cindy wird keinen Unsinn machen, Dan“, sagte Eleanor, indem sie versuchte zu lächeln. „Du machst dir keine Sorgen um sie, nicht wahr?“ „Natürlich nicht“, log Dan, der sich an die trotzige Verachtung in den Augen seiner Tochter erinnerte. 67
„Dazu ist Cindy zu gescheit. Dafür hat Griffin einen sicheren Instinkt.“ „Dan“ – Eleanor senkte die Stimme zu einem Flüstern –, „Dan, hast du …?“ Dan schüttelte den Kopf. Eleanor atmete ein wenig auf. „Weil es jetzt doch nicht mehr lange dauert, Liebling, bis sie gehen. Denk nur, Dan, wie wir morgen beim Frühstück darüber lachen werden.“ Dan starrte sie an. Ihr Gesicht sagte ihm, daß sie niemals darüber lachen würde. Sie konnte über fast alles lachen – aber über dies würde sie niemals lachen können. Außerdem klammerte sie sich noch an die Hoffnung, daß alles wieder normal werden würde, wenn die Männer weggingen. Dan hatte sich mit der Tatsache abgefunden, daß dies unmöglich war; und er wußte, daß er recht hatte. Und was, wenn Cindy – sie war jetzt frei, war erregt durch den tiefen Zorn, der bei ihr ohne Schock, vielleicht sogar ohne Furcht war –, was, wenn sie irgendeinen verzweifelten, törichten Versuch machte, ihnen Hilfe zu bringen? Was, wenn sie sich Charles Wright anvertraute? Sicherlich würde sie all die Möglichkeiten bedenken, mit denen Dan gerungen hatte, als er dem Hause fern war; Dan hatte die aussichtslose Versuchung niedergekämpft. Was aber würde Cindy beschließen? Man konnte nie sicher sein, daß ein anderer Mensch, selbst die eigene Tochter, angesichts der gleichen Tatsachen nicht zu einem entgegengesetzten Beschluß käme. Auch das hatte Dan Hilliard gelernt, seit er kurz vor sechs Uhr von der Arbeit nach Hause gekommen war. In Cindys Augen war ein kalter Glanz – sehr verwirrend für Charles Wright, der immer gedacht hatte, daß diese Augen sanft wären, und wenn auch nicht ausgesprochen 68
fröhlich, so doch unbewölkt, der Heiterkeit fähig. Nachdem er ihr fast jedes Lokal der Stadt, einschließlich des Golfklubs, vorgeschlagen hatte, waren sie endlich in einem Restaurant gelandet, wo die Gäste in ihrem Wagen von einem Tablett speisen konnten; nun saß er neben ihr auf dem schmalen Sitz des Sportwagens, trank langsam seinen Kaffee. Das Schweigen des Abends hüllte sie ein. Cindy hatte ihm immer wieder versichert, zuletzt sogar ziemlich ungeduldig, daß es ihr gut ginge; daß alles in Ordnung sei, daß nur diese Erkältung ihr zusetze. Aber Chuck kannte Cindy Hilliard nun schon fast drei Monate, und er hatte sie noch nie so gesehen wie heute. Sogar im Büro, wo sie sich geschäftlich und sachlich gab, lächelte sie ihm gelegentlich heimlich zu. Und heute abend war ihr Blick klar und hart, und er konnte kein Zeichen von Erkältung in ihnen sehen. Chuck hatte sich selbst gerade mit einem Problem herumgeschlagen, und dieses Problem hieß Fräulein Cynthia Hilliard. Wie stand er eigentlich zu ihr? Sie gehörte nicht zu den Mädchen, mit denen er sich für gewöhnlich einließ. Soviel war sicher. Seit er von der Marine gekommen war, hielt er sich von denen fern, die eine kleine nette Affäre in einen Dauerzustand verwandeln wollen; wodurch für ihn die Affäre ihren Reiz verlor. Chuck hatte sich eine sehr handliche Philosophie zurechtgelegt, vielleicht keine sehr originelle, aber eine seiner Natur entsprechende: Das Leben ist kurz, die Ehe ist lang, und Liebe ist etwas, worauf sich kein Mensch verlassen kann. Wenn dies, wie sein Vater gereizt sagte, nur der moderne Zynismus der Jugend war – nun gut. Er, Chuck, blieb dabei. Aber mit dieser Cindy Hilliard war alles von Anfang an ganz anders gewesen. Diese Tatsache verwirrte ihn 69
und erfüllte ihn beständig mit einer sonderbar starken Erregung, Tag und Nacht, ob er bei ihr war oder nicht. Was bedeutete das? Und warum versuchte er es so hartnäckig zu ergründen, nachdem er im Unterbewußtsein längst den Verdacht hegte, daß sie keinesfalls der Typ war, auf den seine unkonventionellen Vorstellungen passen würden. Nun, heute abend hatte sie ihn belogen – zuerst am Telefon, und nun log sie noch immer, seit sie, ehe er auch nur die Klingel berührt hatte, aus dem Haus geschossen und an ihm vorbei in den Wagen gesprungen war. In der einen Stunde, die er mit ihr zusammen verbrachte, hatte sie ihn anhalten lassen, sich in seine Arme geworfen und vielleicht eine Minute lang in ganz unerwarteter und fast verzweifelter Aufregung an ihn geklammert; nachher hatte sie sich von ihm zurückgezogen, eine Zigarette verlangt und verfiel in ein Schweigen, das ihn vollkommen ausschloß. Er hatte ihr erklärt, daß er vorbeigekommen sei, um ihr das Buch zu bringen, von dem sie bei Tisch gesprochen hatte, weil er annahm, sie würde es gern im Bett lesen. Cindy hatte das alles überhaupt nicht gehört. Ihre Augen waren – wie auch jetzt wieder – auf einen Horizont gerichtet, den er nicht sehen konnte. „Sieh, Cindy, ich nehm’ dir’s ja nicht übel, daß du mich wie Luft behandelst“, log er, „aber du könntest mir doch sagen, woran ich bin. Ich kann zwar nicht behaupten, daß ich viel weiß, denn ich bin nur ein armer Rechtsanwalt, der sein junges Leben damit verbringt, Schriftsätze zu verfassen, die ein Student im zweiten Semester schreiben könnte – aber schließlich bin ich kein Trottel. Oder doch?“ „Entschuldige, Chuck.“ Mehr nicht. Mit einem deutlichen Punkt. 70
Chuck zuckte die Achseln, bot ihr eine Zigarette an, die sie entweder nicht sah oder ignorierte, dann steckte er sich selbst eine an. „Na schön. Auch recht. Dann werde ich reden. Stell dir einmal vor, Cindy: Da ging einmal ein junger Mann die Straße entlang. Die Sonne schien. Er pfiff vor sich hin. Er hatte lange gar nicht recht auf die Sonne geachtet, dieser junge Mann, und wenn er pfiff, geschah es meist, um sich vorzumachen, daß er glücklich sei. Aber dieses eine Mal, von dem ich jetzt rede, war nichts Besonderes oder Gewaltiges geschehen. Oh, er war viel mit einem jungen Mädchen zusammen, einem sehr hübschen Mädchen, aber er hatte schon andere hübsche Mädchen gekannt. Jedenfalls pfiff er, weil ihm danach zumute war. Er war sogar innerlich ein bißchen schockiert über sich selbst – aber es war ein ganz angenehmes Gefühl. Dann bog er um die Ecke, und bums – schlug ihm etwas ins Gesicht. Eine Tür; eine nackte Tür. Sie fiel ins Schloß … Nun ist die Frage, mein Kind, hat sich dieser junge Mann die ganze Zeit nur etwas vorgemacht?“ Langsam, sehr langsam wandte sich Cindy ihm zu. Für den Bruchteil einer Sekunde war der harte Glanz nicht mehr da. Dann geschah es. Das kleine Gesicht zitterte, doch nur einen Augenblick – es war ein Zittern, das an der zarten Kinnlinie entlanglief; dann fiel das Gesicht auseinander, verzerrte sich seltsam, veränderte sich vollkommen. Sie senkte den Kopf, ihre Lippen zuckten, und ehe er sprechen konnte – plötzlich saß ihm ein Klumpen in der Kehle –, war sie bei ihm, eng an seiner Brust. Chuck hielt sie fest; sein Herz zog sich zusammen. Unter seinen Händen und Armen spürte er ihren Körper zucken und beben. Hundert Fragen drängten sich ihm auf, aber er sagte nichts. Er roch den frischen Duft dieses wundervollen tiefroten Haares und wartete. 71
Doch als sie nicht sprach oder weinte, machte er sich seinen eigenen Vers, und der Verdacht der letzten Wochen verhärtete sich zu den Worten: „Sie mögen mich nicht – stimmt’s?“ „Wer?“ „Deine Familie, Herr und Frau Hilliard. Sie denken, ich tauge nichts, nicht wahr?“ Cindys Kopf war noch an seiner Brust vergraben; ihre Gedanken schlugen wie gefangene wilde Vögel gegen die starre Hilflosigkeit, die ihren Zorn nur noch verstärkte. Nein, sie mußte ihm alles erzählen! Chuck würde einen Weg wissen, einen Weg finden. Sie hatte sich den Kopf zerbrochen, den ganzen Abend lang, und keinen Ausweg gefunden. Aber Chuck würde wissen, was zu tun sei. Es mußte, es mußte einen Riß in der Mauer geben, wenn nur jemand frei und unabhängig genug war, diesen Riß zu sehen; wenn jemand nur nicht ganz von jener blinden, furchtbaren Wut beherrscht war, die handeln wollte, nicht denken; töten wollte, nicht reden. „Chuck, ich muß es dir sagen. Chuck …“ Doch da, gerade da, als sich die Worte schon in ihrer Kehle formten, dachte sie an Glenn Griffins Worte, die er ihr hastig ins Ohr geflüstert hatte, als er sie vor einer Stunde halb zur Haustür führte, halb zur Haustür schob. „Rotkopf, wenn du nicht dichthältst, werden wir nachher deine Mutter mit auf unsere kleine Fahrt nehmen. Vielleicht auch den Jungen, falls die Blauen pfeifen hören, wann wir heute nacht abhauen wollen. Sobald geschossen wird, sind deine Leute zuerst dran, merk dir’s.“ „Ja, Cindy?“ drängte Chuck. „Bring mich nach Hause.“ „Was?“ 72
„Bitte, Chuck, sprich nicht mehr, frage nicht mehr. Bring mich nach Hause.“ „Noch nicht. Sag mir erst, was du sagen wolltest.“ „Bitte, bitte, bitte.“ Jetzt saß sie wieder aufrecht in ihrer Ecke, und wieder sah er den harten Glanz in ihren blauen Augen – fast als schlüge sie ihn am liebsten, fast als hasse sie ihn. Er brachte sie nach Hause. Zum Teufel! dachte er, und die Wut packte ihn. Wieder hatte sie die Tür zugeschlagen, und diesmal noch rücksichtsloser. Er jagte den winzigen Wagen nordwärts, raste über den Boulevard. Zum Teufel, Herr Hilliard hielt ihn für leichtsinnig, flatterhaft, verantwortungslos. Gut so. Ausgezeichnet. So war er auch die beiden letzten Jahre gewesen, jawohl. Das Anwaltsbüro langweilte ihn. Nun und? Was wünschst du dir anderes, Chuck? Einen neuen Krieg? Nein. Nein, danke, keinen Krieg mehr. Unter vielem anderen haßte er den dumpfen Alltag, wie ihn seine Eltern und die Hilliards lebten. Für sein Leben brauchte er etwas anderes als das. Und er wollte sich von niemandem hineindrängen lassen, von niemandem, auch nicht von dem bezaubernden rothaarigen Mädchen, das ihm gerade die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte. Warum nur? Wahrscheinlich hatte Papa Hilliard ihr sein Sprüchlein vorgebetet: Chuck Wright wird dich nicht heiraten, dich nicht und kein anderes Mädchen. Und sie hatte es geglaubt. Jetzt hatte sie ihm den Laufpaß gegeben. Der Zorn kochte in Chuck Wright. Was hast du dir sonst vorgestellt? Herr Hilliard hatte doch recht, du hast doch gar nicht die Absicht, sie zu heiraten, nicht wahr? Soviel steht fest. Warum dann also dieser dumpfe, bittere Ärger? 73
Er bog in die Einfahrt der Hilliards ein und bemerkte dabei eine kleine, aber für ihn interessante Tatsache: Herr Hilliard hatte verabsäumt – zum erstenmal, soweit sich Chuck erinnern konnte –, seinen Wagen zur Nacht in die Garage zu stellen. Tzz-tzz, dachte er höhnisch, tzz-tzz, Hilliard – was wird in unserer kleinen Welt passieren, wenn wir anfangen, mit unsern trivialen eisernen kleinen Gewohnheiten zu brechen? Das Haus war dunkel, bis auf ein Licht in der Diele des Oberstocks. Chuck sprang heraus und lief um den Wagen, um Cindys Tür zu öffnen. Sie saß noch da. Sie sah aus, als sei sie unfähig oder nicht willens, sich zu rühren. Er spürte ein seltsames warmes Gefühl in der Magengrube. Sein Stolz war vergessen, sein jugendlicher Zorn vorbei; er berührte ihren Arm. Eine kurze Sekunde war er überzeugt, daß sie wieder an seine Brust fallen würde. In ihren Augen lag immer noch dieser unnachgiebige Haß. Und wie er ihn auch auslegte – er paßte nicht zu dem andern, zu seinen eigenen Folgerungen von heute abend. Er hatte fast nichts mir ihr zu tun, war eine unpersönliche Macht. „Chuck“, flüsterte sie plötzlich, „hast du einen Revolver?“ Er war sprachlos. Es gab keine Antwort auf die Frage, die aus dem Nichts zu kommen schien, die ihn erschütterte und ihm den Atem raubte. „Cindy – kann ich dir helfen? Was meinst du denn? Cindy!“ Doch sie war schon von ihrem Sitz aufgestanden und lief dem Hause zu; ihr Atem übertönte das Klappern ihrer Absätze. Er folgte ihr zur Hintertür, die sie immer benützte, weil es keinen Schlüssel zur Seitentür gab; den 74
zur vorderen hatte ihre Mutter. Während ihre Hände ungeschickt mit dem Schlüssel hantierten, wandte sie sich um. „Vergiß es, Chuck. Kannst du alles vergessen?“ „Nein“, sagte er und nahm ihr den Schlüssel aus der zitternden Hand, stieß ihn ins Schloß und drehte ihn um. „Cindy – so kannst du doch jetzt nicht hineingehen. Laß mich mitkommen. Wir müssen …“ „Nein!“ Das Flüstern drohte laut zu werden. „Nein“, zischte sie, „du mußt mich in Ruhe lassen, Chuck. Bitte. Bleib bloß weg und laß mich in Ruhe – sonst nichts!“ Sie schlüpfte ins Haus, schloß die Tür. Chuck drehte sich auf dem Absatz um und ging zu seinem Wagen. Er merkte, daß er, ohne es zu wissen, den Schlüssel zu der Hintertür von Dan Hilliards Haus in der Hand hatte. Er schob ihn in die Tasche, stieg in seinen Wagen, fuhr vorsichtig an Cindys Coupé und an dem blauen Sedan vorbei auf den Boulevard, der nun völlig leer und verlassen dalag. Jetzt hätte Cindy ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen und den Riegel vorgeschoben. Aber Chuck konnte keine Gleichgültigkeit mehr heucheln, und zumindest wußte er, daß er sich nicht damit abfinden wollte. Wozu brauchte ein Mädchen wie Cindy Hilliard einen Revolver? Auf diese Frage mußte er wenigstens eine Antwort haben. Morgen früh würde er sich als erstes diese Antwort holen. Dan hörte, daß die Hintertür geöffnet und geschlossen wurde. Er war um elf nach oben und zu Bett gegangen – natürlich auf Befehl. Seitdem hatte er dagelegen, hatte die Hand über das Doppelbett ausgestreckt und Eleanor in den Arm genommen, ohne sie jedoch an sich zu drücken. In der Dunkelheit spürte er die Zeit, die nutzlos verstrich. Er hatte sich wohl tausendmal in das Problem 75
hineingedacht, hatte es von allen Seiten beleuchtet – doch er hatte bis jetzt noch keinen Entschluß gefaßt, was er tun würde, wenn Glenn Griffin darauf bestünde, einen von ihnen mit auf seine Flucht zu nehmen. Er wagte es nicht, sich auf einen spontanen Einfall zu verlassen. Es war jetzt längst elf vorüber, und die Frau konnte jede Minute ankommen – und doch fiel ihm keine Drohung ein, die stark genug wäre, um Glenn Griffin zu hindern, genau nach seinem Belieben zu handeln. Der junge Chuck Wright fuhr seinen Wagen gerade so, wie Dan es sich immer vorgestellt hatte; Dan hörte das ärgerliche Knirschen und Mahlen der Räder, dann den sich entfernenden Motor. Er hatte sich unwillkürlich im Bett aufgesetzt. Warum? In der Küche war ein leises, undeutliches Stimmengewirr. Dan stand auf und ging in den erleuchteten oberen Korridor. „Cindy?“ rief er. Hinter ihm fragte Eleanor gespannt und angstvoll: „Dan?“ „Bleib hier oben, Liebling!“ sagte Dan warnend, und dann rief er wieder die Treppe hinunter: „Cindy!“ Das Licht im Eßzimmer wurde angeknipst, und ein Lichtschimmer drang bis in die untere Diele. Dan ging, ohne nachzudenken, schnell die Treppe hinab, als er Robishs Stimme hörte: „Was geht’s dich an, Hank?“ Die Stimme klang schwer und dick vom Whisky, noch gröber als gewöhnlich, hart von aufgepeitschter Bosheit. Dan blieb in der vorderen Halle stehen und sah ins Eßzimmer. Er hörte, daß sich Glenn Griffin ihm von hinten näherte, und wußte, daß der Revolver auf ihn gerichtet war. Aber was er vor sich sah, ließ ihn das vergessen. Cindy stand am Büfett, die Arme vor das Gesicht gehoben, die Augen hart und hell. Vor ihr war Robish, aber 76
sein Kopf auf dem fast unsichtbaren Hals war zur Seite gedreht und seine kleinen Augen auf Hank Griffin gerichtet, der am Tisch saß. Das Zimmer stank nach Whisky, und der Tisch war zerkratzt von den Gläsern, die darauf standen. Dan erfaßte alles mit einem entsetzten Blick. Sein Verstand erfaßte im Nu: Jetzt passiert es; jetzt gleich! „Was is denn mit dir los, Hank?“ fragte Robish wieder. Er stand so, daß Cindy – hatte sie Dan gesehen oder nicht? – an ihm nicht vorbei konnte. „Ich muß sie doch durchsuchen – etwa nich? Haben den Ollen doch auch durchsucht, etwa nich? Traust du etwa ’m Frauenzimmer, du grüner Bengel du?“ Dan konnte Hanks Profil sehen, als der Junge vom Tisch aufstand. Auch er hatte getrunken – wenigstens vermutete es Dan. Aber seine dunklen Augen waren hell und klar, und zum erstenmal schienen sie lebendig. „Gehen Sie ’rauf zu Bett, Fräulein!“ sagte er scharf und deutlich. „Nichts da, nichts da“, sagte Robish lallend, und Dan verfluchte sich wütend, daß er gehorcht und den Whisky ins Haus gebracht hatte. So ein kleiner Funke konnte das Pulverfaß entzünden! „Muß sie doch durchsuchen, hat vielleicht ’ne Knarre mitgebracht. Muß den hübschen kleinen Rotkopf durchsuchen.“ Dann wandte sich Robish zu Cindy. Dan fühlte, wie sich der Druck in ihm verstärkte; er sagte ruhig zu Glenn: „Lassen Sie das zu, Griffin? Denn wenn Sie …“ Die Worte des Jüngsten schnitten Dans Warnung ab. Er sprach noch leise, noch ruhig, fast vorwurfsvoll: „Du bist betrunken, Robish. Laß sie vorbei!“ Robish wandte sich um, es war eine langsame massige Bewegung. 77
„Willst du mir auch befehlen, Hank?“ „Diesmal ja.“ Robish sagte etwas Unflätiges. Ohne Hank zu beachten, wandte er sich wieder zu Cindy. Aber Hank war schneller als Dan. Mit zwei Schritten war er bei Robish, riß ihn herum, und während er mit dem Rücken zur Diele dicht vor Robish stand, machten seine Arme zwei blitzschnelle Bewegungen nach oben, die Dan nicht sehen konnte. Er sah aber Robishs Kopf zurückschnappen; er sah das plötzliche Blut; er hörte das matte, fast klägliche Stöhnen. Dann trat Hank beiseite. „Möchten Sie jetzt zu Bett gehen, Fräulein?“ Cindy glitt an Robish vorbei und kam in die Diele zu Dan, während Robish zweimal mit blinzelnden Augen den Kopf schüttelte. Dann kam ein tiefes Brüllen aus dieser breiten, würgenden Kehle. Die Kinnladen wurden hart, die Augen verschwanden in dem blutig verzerrten Gesicht. Er schlug nach Hank, aber dieser wich mühelos aus. Glenn lief auf seinen Bruder zu, als Robish einen plumpen Bärenschritt vorwärts machte. Aus dem Nichts erschien der Colt in Hanks Hand. „Hank, verdammter Narr!“ sagte Glenn Griffin schwer atmend. Robish schielte nach der Waffe in Hanks Hand. Dans Revolver, der eine, von dessen Vorhandensein Robish nichts wußte. Er bewegte sich nicht. Dann wandte er sich sehr langsam um und starrte listig von einem Bruder zum andern. Er hob eine Hand zu seinem Gesicht, zog sie wieder weg. All dies war sehr langsam, sehr stumm und traumartig in der plötzlichen Stille. „Kehrt sich gegen mich, huh“, murmelte Robish endlich. „Ihr alle kehrt euch gegen einen alten Kumpel.“ Die 78
betrunkenen weinerlichen Worte, voller Überraschung, sickerten von den dicken, feuchten Lippen. Er starrte auf Hank. „Preisboxer, ich könnte dich zerreißen. Bleib mir lieber vom Halse.“ Er versuchte einen Schritt zur Diele; seine Augen glitten über Cindy. „Hätt’ ich gleich wissen sollen. Brüderpaar. Halten zusammen. Hätte das Ding alleine drehen sollen.“ Er versuchte ein Lächeln; der Versuch war grotesk. „Der Kleine is weich geworden. Ihm gefällt diese Bude. Hat mir’s gestanden. Gefällt ihm großartig. Und der kleine hübsche Rotkopf gefällt ihm auch.“ „Verrücktes Gerede“, zischte Hank. „Übergeschnappt.“ Er schaute von Glenn hinüber zu Dan, indem er Cindys Blicken auswich. „Okay, wartet nur“, sagte Robish; er schwankte vor Dan hin und her; der spürte, wie sich seine Nerven in der Erwartung einer neuen Gewaltsamkeit zusammenkrampften. „Das zweite Mal, daß ich hier rumgeschubst werde, was, Hilliard? Okay.“ Immer noch murmelnd, durchquerte Robish taumelnd die Diele und verschwand in der Dunkelheit des Eßzimmers. Dan sah, wie Hank den Revolver in die Tasche zurückschob. Glenn sah seinen Bruder scharf an. „Was geht’s dich an?“ fragte Glenn. „Er soll sich hüten, die Frau anzufassen.“ „Tja“, meinte Glenn skeptisch. „Du möchtest wohl das Ding da gebrauchen, wie? Du weißt doch, was passiert, wenn einer von diesen Bolzen losgeht, oder …?“ Hank runzelte die Stirn unter seines Bruders festem, vorwurfsvollem Blick. Er sah zur Diele hin. „Machen Sie, zum Teufel, daß Sie ins Bett kommen“, sagte er, sein Ton war hart und zornig. „Worauf warten Sie noch?“ „Vielen Dank, Herr Griffin“, sagte Cindy, den Blick auf Hank gerichtet. 79
Sie nahm Dans Arm. Sie wandten sich der Treppe zu. Eleanor war halb heruntergekommen, auf den Stufen stehengeblieben und hatte mit wächsernem Gesicht heruntergesehen. In diesem Augenblick, während Dan sich mühte, die widersprechenden Eindrücke der paar letzten Minuten zu verarbeiten, hörten sie vom Wohnzimmer her das Geräusch einer sich schließenden Tür. Es dauerte mehrere Sekunden, bis ihnen klar wurde, was dieses Geräusch bedeutete. Glenn verstand es zuerst. „Sie bleiben hier unten“, bellte er Dan an. Dann zu Hank: „Du bewachst sie.“ Glenn rannte durch das dunkle Eßzimmer, über die Sonnenveranda, er fluchte, als sein Fuß zweimal an ein Möbel stieß und seinen Lauf verzögerte. Robish war draußen. Grimmig stellte Dan fest, daß er jetzt zum erstenmal hier im Haus war, während zwei von ihnen fehlten. Der Druck von Cindys Hand auf seinem Arm sagte ihm, daß sich derselbe Gedanke ihrer bemächtigt hatte. Er blickte Hank an. Das knabenhafte Gesicht war wieder passiv, sehr ruhig und sehr bleich über dem schwarzen Colt, den er auf sie gerichtet hielt, nicht nachlässig wie sein Bruder, sondern zielend, sicher und gerade. Die Idee in Dans Hirn nahm voll und ganz Gestalt an; mit Blitzesschnelle prägten sich die Einzelheiten seinem Verstand ein. Robishs Flucht mochte gelingen. Wenn das geschah, würde nichts in der Welt die Polizei abhalten, früher oder später in sein Haus zu kommen. Nichts. Wenn aber alle drei Männer im Hause waren, bewaffnet – das war das Unheil, das Dan vor allem vermeiden wollte. Selbst wenn Glenn jetzt draußen Robish noch abfangen konnte, war der Riese dennoch nutzlos für ihn, denn er war betrunken und unbewaffnet. Das Geld mußte jetzt jeden 80
Augenblick eintreffen, also mußte man vielleicht auch noch mit der Frau fertig werden, aber das war eine der Chancen. Wenn Dan jetzt nicht handelte, wußte er, daß Glenn später nicht wagen würde, das Haus zu verlassen, ohne einen oder vielleicht sogar zwei von der Familie mitzunehmen. Von dieser Überzeugung war er durchdrungen, aber er hatte bisher noch kein Mittel ersonnen, um die Ausführung des Plans zu verhindern. Er konnte sich darauf verlassen, daß Cindy rasch handeln würde; er konnte sich darauf verlassen, daß Eleanor oben zum Telefon gelangte. Er hatte seit sechs oder sieben Jahren keine Schußwaffe benutzt, aber im Dunkeln und im Innern des Hauses hatte er eine ebenso gute Chance wie Glenn, der draußen war und ohne Deckung. Sein erstes und dringlichstes Problem war, Hanks Waffe in die Hand zu bekommen, gleichviel auf welche Art, wenn er nur die andern nicht gefährdete. Wenn Hank ihn erschoß, würden weder er noch Glenn Zeit damit vergeuden, an dem Toten durch die Vernichtung seiner Familie Rache zu nehmen. Dann würden sie gehen, und sofort gehen. Sehr schnell. Auf diese letzte Annahme mußte Dan bauen. Dies alles ging ihm in knapp einer halben Minute durch den Kopf, und er traf seine Entscheidung. Wenn im Hause alle Türen geschlossen waren und die Familie in einem oberen Zimmer vor Glenns Revolver sicher war, dann hatte Dan die Möglichkeit, Glenn und Robish in Schach zu halten, vielleicht sogar sie zu zwingen, in den Wagen zu steigen und abzufahren. Vielleicht war es nur eine geringe Möglichkeit – aber eine andere gab es nicht. Und plötzlich fiel ihm auch ein, wie er sich in den Besitz von Hanks Waffe bringen konnte. 81
„Werde ohnmächtig“, flüsterte er Cindy zu. Ohne zu fragen, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, sank Cindy auf dem Boden zusammen. Das einzige Geräusch war das Rascheln ihrer Kleider. 3 Als Dan Hilliard zu diesem Entschluß kam, merkte er überhaupt nicht, daß er seinen Vorteil nicht aus dem Bösen dieser Männer zog, sondern aus dem einzigen anständigen Impuls, den er bei einem von ihnen entdeckt hatte. Doch wenn er daran gedacht hätte, er hätte auch nicht gezögert. Er konnte sich so feine moralische Unterscheidungen nicht leisten. Er stieß einen kleinen überraschten Laut aus, als Cindy zu Boden fiel, denn das gehörte zu seiner Rolle; er beugte sich über sie und beobachtete dabei Hank Griffin aus dem Augenwinkel. Der Junge sah bestürzt aus, wie Dan gehofft hatte, und warf seinem Bruder einen zornigen Blick nach; er selbst schien, sogar mit der Waffe in der Hand, unsicher zu sein, ob er handeln oder fliehen solle. „Helfen Sie mir, Griffin“, sagte Dan, indem er versuchte, seine Tochter aufzuheben. Immer noch zögerte der junge Mann; er lauschte angestrengt, ob er Glenn und Robish draußen vor dem Haus hören könne. „Verdammt, können Sie nicht sehen, daß das Kind krank ist?“ sagte Dan. Nun schien sich Hank zu entschließen, und als Dan das sah, mußte er eine weitere Entscheidung treffen: Er konnte dieses halbe Kind nicht töten. Die andern – ja. Aber nicht diesen Jungen, der nicht älter war als Cindy. 82
Hank kam, den Revolver in der Hand, vorwärts, beugte sie nieder und schob seinen andern Arm unter Cindys Schulter. Die Mündung war gegen die Haustür gerichtet. Das war die Sekunde, die Dan erhofft, geahnt hatte. Er schlug zu, schnell und sicher, und seine Faust umspannte Hanks Handgelenk, Der Revolver klirrte auf den Fußboden, Dan bückte sich danach. Das Metall war warm und feucht in seiner Hand. Hinter sich hörte er einen kleinen Schrei, erstaunt und schmerzlich, und er wandte sich um: Cindy saß jetzt aufrecht, ihre Zähne schlossen sich über das Handgelenk des Jungen, sie biß zu, so fest sie konnte. Hanks Gesicht verzog sich vor Schmerz, und dann blitzte darin die schreckliche Erkenntnis auf, verraten zu sein; aber selbst das beschämte Dan nicht. „Raus mit Ihnen!“ sagte Dan kurz. „Cindy, du schließt die anderen Türen und gehst hinauf. Ellie! Ellie, geh rasch oben ans Telefon, und paß auf, daß Ralphie bei dir bleibt und nicht ans Fenster geht!“ Cindy war schon auf den Beinen und drehte das Licht im Eßzimmer aus. Dan hörte, wie die Seitentür ins Schloß fiel, und blickte auf Hank, der wie betäubt, mit boshaftem und gemeinem Gesichtsausdruck langsam zur Haustür ging. „Schneller!“ sagte Dan zum jungen Griffin. Hank öffnete die Haustür, Dan griff zu und schob ihn hinaus. Eine Sekunde dachte er nach, ob er nicht doch einen Fehler gemacht hatte; vielleicht hätte er den Jungen sofort erschießen sollen. Dan schloß die Haustür ab und wandte sich zur Treppe, als er von oben Eleanor aufschreien hörte. Er schoß die Treppe hinauf, als Eleanor, immer noch schreiend, die Hand über dem Mund, aus Ralphies Zimmer kam. 83
„Ralphie … Dan … Ralphie ist fort!“ Cindy kam hinter ihm die Treppe hinauf, drehte das Licht in der Diele ab und tauchte sie alle in völlige Dunkelheit. So standen sie da wie angefroren, alle drei – nicht alle vier, wie sich’s Dan vorgestellt hatte – stumme Gestalten, gefangen, wehrlos. „Vielleicht ist er ihnen entkommen“, sagte Cindy endlich. „Vielleicht ist …“ Aber da drang Glenns Stimme, halb verweht von dem leise pfeifenden Wind vor dem Haus, zu ihnen. „Wir gehen nicht, Dan Hilliard. Öffnen Sie die Hintertür, und werfen Sie den Revolver ’raus!“ Dan duckte sich unwillkürlich aus dem Bereich des Fensters, falls Glenn sich entschließen sollte, auf jeden Fall zu schießen. Cindy zog ihre Mutter ins Schlafzimmer, und sie kauerten sich nieder. „Soll ich jetzt die Polizei anrufen?“ fragte Eleanor. „Hilliard“, rief Glenn draußen, und in seinem Ruf klang ein Ton grausamer Verzweiflung. „Hilliard, hören Sie zu.“ Dan straffte sich und horchte. Zuerst konnte er der Stimme nicht glauben, die zu ihm drang. Aber Eleanor erkannte sie und stieß einen schwachen Schrei aus, so entsetzt und enttäuscht, daß er Dan durch Mark und Bein ging und ein eiskalter Schauer ihn durchfuhr. Cindy stand an der Tür des Schlafzimmers. „Pappi?“ Nur dies eine Wort. Es kam von draußen; es war keine eitle Prahlerei mehr darin, keine Herausforderung, kein kindliches Wichtigtun; die Stimme war hoch vor Todesangst. „Pappi!“ „Wenn wir gehen, Hilliard“, sagte Glenn Griffins Stimme, „nehmen wir den Jungen mit. Machen Sie auf – und wir vergessen den kleinen Zwischenfall.“ 84
Dan blickte auf Cindys undeutliche Gestalt in der Schlafzimmertür. Sie lehnte sich schlaff und matt an den Türrahmen. Dans Hand schloß sich krampfhaft um den Griff seiner Waffe. Er konnte schießen; ein Schuß würde Hilfe herbringen. Er konnte telefonieren. Er konnte die drei Männer aus dem Hause halten. Aber auch Ralphie war draußen. Dan sicherte den Revolver und stand auf. „Schreit nicht so laut da draußen“, warnte er Glenn Griffin. „Ich komme herunter zur Hintertür.“ Es war kein Schrei, was nun aus der Dunkelheit draußen an sein Ohr drang, sondern ein Lachen, ein dünnes und arrogantes, triumphierendes Lachen. „Sperre die Schlafzimmertür zu, Cindy. Wenn du unten einen Schuß hörst, ruf auf jeden Fall die Polizei. Wenn nicht, dann sorge dafür, daß Mutter oben bleibt. Gleichviel, was du sonst hörst – telefoniere nur, wenn geschossen wird.“ „Wirf erst den Revolver ’runter, Hilliard“, befahl Glenn. Dan tat es. Wieder hatte er keine Wahl. Er war ein Mann, dem immer von neuem keine Wahl blieb. Er stand und wartete dumpf auf das, was kommen würde, was es auch sei: eine Kugel, ein Schlag, die Männer oder sein Sohn. Zuerst tauchte Glenn aus der Dunkelheit. Dann Ralphie. Dan fühlte die Hand des Kindes auf seinem Arm, hörte das erstickte Schluchzen, als Ralphie sich an ihn lehnte. „Geh nach oben, mein Junge“, sagte Dan. Ralphie gehorchte schnell und lief mit nackten Füßen die Hintertreppe hinauf. Eine Tür öffnete sich oben, und Dan hörte, wie die Frauen den Jungen ins Zimmer zogen. 85
Nun stand Glenn vor ihm, lang und eckig, ein undeutlicher, flimmernder Schatten. Hinter Glenn erschien Hank Griffin, steif und klein. „Robish haben wir auch gekriegt“, sagte Glenn Griffin; er stieß Dan rückwärts aus der Tür in die Speisekammer. „Ich mußte ihn ’ne Weile auf Eis legen, Hilliard. Damit er lernt, wer hier das Wort führt.“ Der junge Mensch sprach kühl und leidenschaftslos. Vielleicht war es diese unbewegte Gleichgültigkeit, die Dan veranlaßte, sich ein wenig zu entspannen, ehe der Schlag fiel. Es war ein bösartiger Schlag, und er kam von oben, der Griff des Revolvers traf seine Stirn direkt unter dem Haaransatz. Er fiel um. Dies war der erste Schlag. Er hatte keine Ahnung, wieviel später es war, als er in seinem Schlafzimmer im Dunkeln auf seinem eigenen Bett erwachte. Er regte sich stöhnend und hörte diesen Laut mit Überraschung. Dann fühlte er Eleanors Hand auf seinem Gesicht, seinem Mund, zart und kühl und unglaublich weich. Er versuchte, sich aufzusetzen, aber sie hielt ihn zurück. „Dan“, flüsterte sie, „Dan, sprich nicht, rühr dich nicht, Liebling. Hörst du mich, Dan?“ Er nickte mit dem Kopf, der unter ihrer Hand lag. Die Dunkelheit drohte sich wieder um ihn zu schließen – nicht die Dunkelheit des Zimmers, in dem sich die Gardinen im blassen Licht von außen abzeichneten, sondern die Dunkelheit, in der er jetzt lange gelegen hatte, ohne Bewußtsein, ohne Schmerz. „Dan, ich habe dir ein paar Tabletten gegeben, damit du einschläfst. Es ist bald Morgen. Wenn du mich hören kannst, tu, was ich dir sage.“ „Ralphie?“ 86
„Ihm fehlt nichts. Er schläft, Dan.“ „Und … sie?“ „Sie sind noch hier. Cindy ist mit Ralphie und einem von ihnen hier oben in ihrem Zimmer. Die andern beiden sind unten. Bitte, hör zu, Dan. Ich habe die ganze Nacht gegrübelt. Du hast etwas Dummes und Schreckliches und Herrliches getan heute nacht, und ich liebe dich. Nein, darüber wollte ich nicht sprechen. Kannst du mich hören, Liebling? Ich muß dir sagen, daß du niemals, niemals wieder so etwas tun darfst. Was du getan hast, darfst du nie wieder versuchen. Du könntest jetzt tot sein, Dan. Sie hätten dich letzte Nacht getötet, wenn sie dich nicht noch brauchten. Höre mich, Dan. Es ist wichtig. Du kannst uns nicht retten, wenn du stirbst. Verstehst du: Wenn du stirbst, sind wir nicht gerettet! Das mußt du verstehen, Dan, bitte, du mußt, denn wenn du’s nicht verstehst, wird etwas Schreckliches passieren. Kein Mensch weiß, was hier vorgeht, kein Mensch auf der ganzen Welt. Nur wir, Dan. Dan, ich flehe dich an, versprich mir’s, versprich mir’s, Liebling, versprich mir’s. Niemals wieder.“ „Ich verspreche dir’s“, flüsterte er benommen, ohne recht aus ihren Worten zu verstehen, was sie ausdrücken wollte. Aber ihr Ton zwang ihn, mit dem Kopf zu nicken. „Ja, Liebling. Das sehe ich ein.“ „Sei nicht tapfer, mein Herz“, sagte die Frau und legte sich neben ihn. „Wir wollen nicht, daß du tapfer bist. Wir wollen, daß du wohl und am Leben bist – und bei uns!“ Es gab ein paar Dinge, die Dan in diesem Augenblick unklar wußte, aber sein Verstand konnte sie nicht ordnen und nicht erklären. „Ist die Frau nicht gekommen?“ „Sie hat angerufen“, sagte Eleanor leise. „Ein Sammelruf für einen Herrn James, irgendwann nach Mitternacht. Sie kommt nicht, Dan. Ich weiß nicht, was das 87
bedeutet. Ich hatte so viel zu tun, ich konnte nicht fragen. Sie kommt nicht, aber die Männer bleiben. Nun versuche wieder zu schlafen. Du hast keine ernstliche Wunde am Kopf, aber du brauchst deine Ruhe. Bitte!“ Dann fühlte er, wie sich ihre Lippen über den seinen schlossen, weich und voll und ein wenig feucht, und er spürte, wie sich seine Liebe zu ihr in seinem tiefsten Herzen regte, tiefer vielleicht als je zuvor. Er hörte sie dicht neben sich atmen, und ihre Hand lag an seinem Gesicht. Er schlief. Um fünf Uhr dreißig morgens begann es zu regnen, kurz ehe es dämmerte. Jesse Webb hatte, den Kopf auf den Armen, etwas gedöst, als Carson, der Mann von der Kriminalpolizei, schnell in sein Büro trat und ein wenig lächelnd den jungen Sheriff mit einem Knuff aufstörte. Jesse blinzelte herauf zu dem jungen Mann, konnte ihn aber nur unklar erkennen: ein strebsam aussehender junger Mann im doppelreihigen braunen Anzug, mit dunkelgefaßter Brille und einer Aktentasche. Carson zog seinen Regenmantel aus, setzte sich rücklings auf Tom Winstons Stuhl und bot Jesse eine Zigarette an. „Offenbar sind wir fast die beiden einzigen Leute in dieser Stadt, die auf sind“, sagte er. „Was gibt’s denn?“ fragte Jesse, jetzt hellwach; er dachte an die Enttäuschung der langen, trostlosen Nacht, aber er schob den Gedanken schnell beiseite. „Einen Telefonanruf“, sagte Carson. „Das ist nicht viel, aber immerhin verheißungsvoll. Nur Geduld, alter Freund. Reg dich nicht auf. Wir können jetzt und in absehbarer Zeit nichts tun, also hör dir eben meine kleine Geschichte an, und vielleicht wird es inzwischen draußen 88
hell … Himmel, heizen sie denn diese Bude nicht? Es ist doch beinahe Winter.“ „Ein Telefonanruf?“ Carson wiederholte die Geschichte, wie er sie durch das Columbus-Revier gehört hatte. Er sprach leicht, aber sorgfältig, und sein geschultes Gehirn vergaß keine Einzelheit. Jesse Webb lauschte, ohne ihn zu unterbrechen, weil Carsons Schilderung lückenlos war. Drei Detektive in Zivil und zwei uniformierte Polizisten waren etwa um ein Uhr nachts in eine Wohnung in Columbus eingedrungen. Sie hatten Grund zu der Annahme, daß Helen Lamar dort sei. Sie war nicht dort. Aber sie fanden eine andere Frau – der Name tut nichts zur Sache –, die nach einer halben Stunde intensiver polizeilicher Befragung zugab, daß Helen Lamar bei ihr gewesen war. Die Frau behauptete natürlich, sie habe keine Ahnung gehabt, daß Helen Lamar irgendwelche Ungelegenheiten hatte, doch selbst wenn sie etwas wußte, so bedeutete das noch nicht, daß die Frau hineinverwickelt war. Sie würde uns behilflich sein, sagte sie. Helen Lamar hatte ihre Wohnung mindestens eine Stunde vor Eintreffen der Polizei verlassen. Sie müsse telefonieren, hatte sie gesagt. Und sie müsse sich auch einen Wagen kaufen. Die Frau schwor, daß sie keine Ahnung habe, ob und wo Helen Lamar das eine wie das andere erledigt hatte. Sie hatte sie seither nicht mehr gesehen. Diese Auskunft setzte eine weitgreifende, schnelle, aber umständliche Reihe von Nachforschungen im Columbus-Bezirk in Gang, aber Carson selbst neigte zu der Annahme, daß nur eine davon ein Ergebnis gezeitigt habe: der Telefonanruf. Sie mußte sich doch mit Griffin in Verbindung setzen, oder …? Sie war zu klug, um aus der Wohnung einer Freundin anzurufen. Was also dann? 89
„Öffentliche Fernsprechstelle“, sagte Jesse Webb. „Das werden wir bald wissen. Gott weiß, wie viele Ferngespräche um diese Zeit der Nacht in Columbus geführt werden, aber jedes einzelne ist eingetragen.“ „Die Gespräche nach Indianapolis …“ Carson grinste und blies eine Rauchwolke in die Luft. „Sie werden sie kriegen, Sheriff.“ Jesse dachte an die unzähligen Gründe, aus denen jemand in einer Stadt das Telefon zur Hand nimmt und ein Mitternachtsgespräch mit jemandem anmeldet, der sich hundertfünfundsiebzig Meilen weit weg in einer anderen Stadt aufhält. Diese Liste durchzuarbeiten würde einen großen Teil seiner Zeit beanspruchen, dachte er in etwas gehobener Stimmung. Es wäre immerhin eine Art Beschäftigung. Aber – und seine Beine schmerzten, sein Hals war steif – was tat Glenn Griffin in dieser Zeit, in dieser ganzen Zeit, die verronnen war und weiter verrann? Carson las die Gedanken in den Augen des langen Sheriffs. „Es ist nicht meine Sache, Webb, und Sie brauchen bloß halt zu sagen, wenn ich taktlos bin. Für Sie steht doch etwas Persönliches auf dem Spiel, nicht wahr? Für Sie ist es nicht bloß ein ‚Fall‘?“ Jesse lächelte mühsam. Sich selbst konnte er etwas vorlügen; es gab eine Art, die Wahrheit ein bißchen zu verdrehen, wie er es Kathleens wegen getan hatte, um seine Motive zu rechtfertigen. Aber weder seine persönlichen Gründe noch sein Amt waren jedes für sich eine Erklärung für seine Empfindungen. „Es ist ziemlich kompliziert“, sagte er. Und dann fügte er für Carson wie für sich selbst noch einen andern Grund hinzu: „Ich habe eine Ahnung, daß Griffin ebenso hinter mir her ist wie ich hinter ihm. Das ist natürlich bloß eine Ahnung. Ich hab’ ihm einmal die Kinnlade zerschlagen. Wahrscheinlich 90
hätte er mir verziehen, wenn ich auf ihn geschossen, ihn verwundet hätte. Aber ein Hirn wie Glenn Griffins hat verrückte Schnörkel. Wir alle haben wohl mehr oder weniger unsere Schrullen, aber Leute wie er haben mehr als wir und stärkere. Es ist ein hübscher Junge, müssen Sie wissen. Ich nehme an, auch ziemlich eitel. Gab ’ne richtige Vorstellung bei seinem Verhör. Sie können wetten, auch wo er jetzt sein mag, spielt er sich gehörig auf.“ Carson nickte und fing eine Unterhaltung an, die ihnen die Zeit vertreiben sollte, bis ein neuer Bericht aus Columbus oder von der Telefongesellschaft durchkam. „Sie haben alle gewisse Schnörkel im Gehirn, wie Sie es nennen. Die Mentalität des Verbrechers ist anders als die des Normalmenschen. Komisch, daß Sie sich für solche Dinge interessieren. Der Typ des ‚Angebers‘ ist ziemlich berechenbar, wenn man ihn einmal durchschaut hat. Er ist schlau, aber ohne echte Phantasie. Er spielt immer Theater, wie Sie sagen, aber seine Schablone ist ziemlich abgegriffen. Er ist gemein genug, aber er liebt es, für noch gemeiner gehalten zu werden, als er ist …“ Glenn Griffin saß oben am Tisch, in einen Sessel gelehnt, einen Hut von Dan im Nacken. Zwischen seinen Lippen hing eine Zigarette. An diesem Morgen lag ihm nichts daran, den Revolver in Erscheinung treten zu lassen. Er war da, das genügte. Auch Hank hatte seinen Revolver wieder, aber er hielt ihn verborgen. Hank stand in einer Ecke des Zimmers, sein junges Gesicht zeigte nichts von der Verbitterung, die er nach Dans Meinung nach dieser Nacht hätte verspüren müssen. Dan studierte seine sommersprossigen Hände, die auf der Tischplatte voller Whiskyflecken lagen. Eleanor, neben ihm, preßte ihr Bein gegen das seine. Dan konnte es nicht ertragen, sie 91
anzusehen. Es war, als sei in einem Zeitraum von etwa dreizehn Stunden ihr sanftes ovales Gesicht viel härter und älter geworden. Cindy saß Dan gegenüber, ihre Augen waren nicht mehr verächtlich und zornig, und das Blau war so dunkel geworden, daß es schwarz wirkte. Schwarz und hart und entschlossen. Ralphie saß wachsam neben ihr, sein Blick wurde sanft und verwirrt wenn er die Wunde auf der Stirn seines Vaters ansah. „Die Sachlage hat sich … na ja, geändert, Leute“, sagte Glenn. „Meine Freundin, die herkommen wollte, kann’s nicht so einrichten, wie sie gedacht hat. Wahrscheinlich hat die Polente versucht, sie abzufangen.“ Draußen zischte und gurgelte der Regen in den Dachrinnen und hämmerte, vom Wind getrieben, gegen die Scheiben, gegen die Hauswände. Er schien irgendwie durch die Mauern zu sickern und in die schmerzenden Risse von Dans Körper einzudringen. „Nun haben wir ebensowenig Lust, noch länger hierzubleiben, wie ihr Lust habt, uns hierzubehalten. Aber ich habe noch Verschiedenes zu tun, ehe ich weg kann. Also werden wir noch ein bißchen länger eure Gäste sein.“ „Wie lange?“ Dan hörte seine eigene Stimme, ohne sie zu erkennen. „Na, Alter, ist das ’ne Art, ’ne Unterhaltung anzufangen? Bloß weil Sie gestern nacht verrückte Ideen bekommen haben und Ihre Medizin schlucken mußten. Teufel, Sie haben auch nicht mehr Kopfschmerzen als Robish. Ihn mußt’ ich auch ’ne Weile außer Gefecht setzen. Und er hat als Zugabe noch ’n Kater.“ „Wie lange?“ „Bis ich bei der Post einen bestimmten Brief finde, Hilliard – so lange.“ 92
„Wann wird das sein?“ „Er könnte heute kommen. Müßte heute kommen.“ „Und inzwischen?“ „Hilliard, Sie gefallen mir heute. Sie sind so entgegenkommend!“ „Und inzwischen?“ „Inzwischen, Hilliard, läuft hier alles wie gewöhnlich. Sie wissen ja, wie wichtig das ist. Sie gehen zur Arbeit, wie gewöhnlich, und der Rotkopf auch. Nur der Kleine hier ist ein zu kluges Kind. Er bleibt zu Hause. Er ist heute krank. Der Kleine haßt mich zu sehr, also wird er ’n Tag in der Schule fehlen. Wird ihm nichts schaden. Ich hab’ selbst manchmal gefehlt. Und wie steh’ ich heute da – bitte?“ Er lachte. Sein Lachen war der einzige Laut im Zimmer außer dem Regen. „Ich bedaure, Griffin“, sagte Dan langsam. „Ich gehe heute nicht ins Geschäft. Ich bin ebenfalls krank.“ Glenns Lachen brach ab. „Sie könnten sehr viel kränker sein, Hilliard.“ „Ich kann in meinem Büro anrufen. Jetzt gibt es viele Erkältungen. Niemand wird sich etwas dabei denken.“ „Und wie soll ich dann zu meinem Brief kommen, alter Herr? Mit dem Kleingeld drin?“ Er grinste ein wenig. „Dieser Brief ist an Sie adressiert, in Ihrem Büro, verstehen Sie? Wir wollen doch nicht die Blauen damit direkt hier ins Haus locken, oder …?“ Dan überlegte, da er spürte, wie Eleanor sein Bein stärker drückte; er überlegte an diesem Morgen kühl und ohne Erregung. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich kann meine Frau nicht mit Ihrem betrunkenen Freund hier im Haus lassen, Griffin. Nicht nach dem, was letzte Nacht vorgefallen ist.“ „Das haben Sie wohl kaum zu bestimmen, wie?“ 93
„Doch, ich glaube doch. Gestern sah es aus, als hielten Sie alle Trümpfe in der Hand, Griffin. Heute weiß ich es besser. Jede Minute, die Sie länger hierbleiben, bedeutet eine neue Gefahr für Sie. Sie können mich umbringen oder mich wieder bewußtlos schlagen. Aber Sie müssen es leise tun. Jetzt sind die Leute wach. Und ich würde Sie zwingen, heute morgen etwas Lärm dabei zu machen. Ich würde Sie zwingen, mich zu erschießen, Griffin. Wie stehen Sie dann da?“ Dan erinnerte sich des Versprechens, das er Eleanor gegeben hatte, aber er brach es ja nicht. Er hatte sich nur ein Urteil über Griffin gebildet und handelte nach diesem Urteil. Glenn stand auf, strich zum Fenstervorhang und legte sein Auge an den Schlitz, den er hineingeschnitten hatte. Ein giftiges Schweigen hing über dem Raum. Ohne sich umzuwenden, sagte Glenn: „Frau Hilliard kann den ganzen Tag oben bleiben. Ich werde Robish hier unten halten.“ „Das kann ich nicht riskieren. Nicht nach dieser Nacht.“ „Gottverdammt, Hilliard, ich sage doch, daß ich es verspreche! Treiben Sie es nicht auf die Spitze, Hilliard. Treiben Sie es nicht zu weit.“ Glenn sah ihn wieder an, seine Brust atmete schwer. „Ich hab’ mir mein Leben lang befehlen lassen müssen – von arroganten Hunden wie Sie. Schluß damit. Sie gehen in Ihr Büro, Hilliard, und sobald der Zaster kommt, machen Sie den Umschlag auf, gehen zu Ihrer Bank oder sonstwohin und lassen ihn sich in kleine Scheine umwechseln, keinen über zwanzig, und dann rufen Sie mich an und sagen mir, daß Sie auf dem Weg nach Hause sind. Genau so wird’s gemacht, Hilliard. Aber hören Sie zu, und hören Sie diesmal besser zu: Ich bin mit 94
einem Kumpel in Verbindung, verstehen Sie. Und der erledigt ’ne kleine Sache für mich, die ich nicht selbst erledigen kann. Bevor Sie nach Hause kommen, werd’ ich mir überlegen, wie Sie ihn auszahlen können. Und wenn Sie denken, Sie können aus der Reihe tanzen, dann halten wir uns nicht erst lange damit auf, Ihre Schmarre am Kopf etwas nachzuziehen. Der Kleine und die Frau sind hier.“ Er brach ab und warf die Schultern hoch und fing an zu grinsen. „Alter, Sie sind ’n zäher Hund, alle Achtung! Aber seien Sie vorsichtig, verstanden?“ Eleanor griff nach Dans Hand auf dem Tisch und legte die ihre darauf. Sie sagte ruhig: „Dan, wenn einer von ihnen im Laufe des Tages die Treppe heraufkommt, werde ich so laut schreien, daß sie ihre Waffen brauchen müssen, und damit ist alles aus. Verstehst du mich, mein Herz? Es dauert ja nun nicht mehr lange.“ Sie stand auf. „Ich bringe dir deinen Regenmantel. Ist das nicht ein scheußliches Wetter?“ Dan betrachtete zufällig Hank Griffins Gesicht, als Eleanor in die Halle ging; der Junge starrte ihr nach, und in dem Blick, den er fragend zu seinem Bruder wandte, flackerte ein seltsamer Ausdruck von Bewunderung. Glenn grinste immer noch. „Die ganze Bande wird kaltschnäuzig“, sagte er langsam. „Paßt bloß auf, daß ihr nicht auch noch tapfer werdet!“ In der Halle fuhr Dan in den Mantel, den Eleanor ihm hinhielt, dann drehte er sich um und schloß seine Frau in die Arme. Man kann zwanzig Jahre und länger mit einer Frau leben, dachte er, und sie doch nicht wirklich kennen. Er zog sie an sich, erinnerte sich, wie weich ihre Hand in der Nacht an seiner Wange gelegen hatte, und küßte sie, gleichgültig gegen die fremden Augen. 95
Glenns spöttisches Lachen klang aus dem Eßzimmer herüber, grob und roh, und Dan umfaßte Eleanor noch fester. Er sah, daß Cindy aufstand und zu ihnen kam. Doch dann war es Hank Griffin, der sprach – Hank Griffin, den er in der Nacht betrogen, den er überlistet und zum Narren gemacht hatte. „Was findest du denn so komisch?“ fragte er seinen Bruder. Das Lachen verstummte wie abgehackt. „Ich sehe nichts so verdammt Komisches, daß du dir vor Lachen den Bauch halten mußt“, sagte Hank als Antwort auf Glenns fragenden Blick. Aber jetzt zitterte seine Stimme. „Ich lache, wann es mir paßt, Hank“, sagte Glenn Griffin gleichmütig, mit leerer Stimme. „Darüber hast du nichts zu meckern, verstanden, Hank?“ Ein Augenblick verging. Dan wünschte, er wäre schon fort; hierbei möchte er nicht Zeuge sein. „Verstanden, Hank?“ „Jawohl“, sagte Hank, aber das mürrische Grollen der Auflehnung gab dem fügsamen Wort einen scharfen Klang. Hank kam in die Halle und ging dort mit leerem Gesicht an ihnen vorbei, aber seine Augen waren trotzig und dunkel vor Haß und Verlegenheit. Er erinnerte Dan an gewisse Boxer, die er gesehen hatte. Wenn sie im Ring geschlagen worden waren, sahen sie jeden verächtlichen und haßvoll an, und in ihren Gesichtern stand die Frage: Na, hättest du’s etwa besser gemacht? Willst du was von mir, Kumpel? „Du mußt Robish wecken!“ rief ihm Glenn nach, mit einem Lachen, das vielleicht seine Verzeihung ausdrücken sollte. „Ich muß erst mal ’ne Weile pennen. Na, und Sie, Hilliard? Auf was warten Sie noch? Sie möchten 96
doch nicht zu spät in Ihren Laden kommen und eins auf den Deckel kriegen, nicht wahr?“ Dan sah an Glenn Griffin vorbei. Dann trat er etwas näher zu seinem Sohn. Jetzt mußte er sprechen. Die Ungeduld stieg ihm zu Kopfe und brannte heiß in der Wunde auf seiner Stirn. „Ralphie, du hast gehört, was Mr. Griffin gesagt hat. Du bleibst bei deiner Mutter. Und du gehorchst ihr. Du bleibst oben – und richtest kein Unheil an.“ Er hörte selbst seine festen, doch ach so unzulänglichen Worte und wünschte plötzlich, er könnte den Jungen schütteln, er könnte mit Gewalt diesem zehnjährigen Körper, dieser zehnjährigen Seele seine eigenen Jahre der Erfahrung und Erkenntnis aufzwingen. Hinter seiner Müdigkeit und Leere zuckte es schmerzlich, als er sagte: „Ralphie, du mußt es verstehen.“ Ralphie nickte nur, und Dan wußte nicht, ob es noch die Angst war, die den Jungen bannte, oder ob er es ihm, Dan, immer noch nachtrug, daß er nichts gegen das Unmögliche unternahm. Dans Kehle wurde eng. Sein Herz schrie: Was kann ich denn anderes tun, Ralphie? Er riß sich los, hob kurz grüßend die Hand und ging hinaus in den eiskalten Regen. Er zog den Hut ins Gesicht, als er durch die Pfützen zu Cindys Wagen watete. Cindy war sofort bei ihm, glitt unter das Steuer, startete den Wagen mit einem Ruck, daß er vorwärts schoß, die Einfahrt entlang, fort vom Haus. Dan schaute nicht zurück. Er rang mit zu vielen raschen und ungeformten Eindrücken. Was hatte wohl der kurze Wortwechsel der Brüder zu bedeuten? Bildete der Junge, der Hank, sich etwa ein, er sei in Cindy verliebt? Wenn ja, so wäre das freilich eine Erklärung für die Ereignisse der letzten Nacht, als Robish sie im Eßzimmer stellen wollte. Wäre 97
in Dans Herzen für Mitleid Raum gewesen, so hätte er den Jungen vielleicht bedauert. Weiß Gott, was es für ein Leben war, das ein solches Kind so weit gebracht hatte … Er riß seine Gedanken davon los. Er war nur froh, daß er Hank nicht in der Nacht erschossen hatte, als er im Besitz seiner Waffe war. Warum hatte er es nicht getan? War er zu überfeinert? Er fühlte sich nicht überfeinert, nicht im geringsten; und unter der schlafwandlerischen Todesstarre in ihm pulste der schmerzhafte Trieb, den er schon vorher gespürt hatte – ein Bedürfnis, eine Begierde: zu töten. Dennoch hatte irgend etwas seine Hand in der letzten Nacht zurückgehalten. Und wäre es nicht so gewesen … was dann? Ralphie. Er hatte nicht gewußt, daß Ralphie dort draußen gewesen war, in Glenn Griffins Händen. Wie, wenn er nun geschossen hätte? Was hatte ihn gehemmt? Der Gedanke daran schnitt ihm ins Herz und machte ihn elend. Das Auto fuhr den wohlbekannten Weg, unter den Ahornbäumen am Bogen des Flusses entlang, dann hinein in den Straßenverkehr. Jetzt würde Robish aufwachen. Betrunken, taumelnd, mit einem Kater. Und was dann? Ob er sich wohl gegen Glenn wendete? Konnte Glenn mit ihm fertig werden? Noch eine andere Furcht hatte sich irgendwann in der Nacht in Dans Herz geschlichen – undeutlich, gestaltlos; er hatte sie nicht scharf in sein Blickfeld bringen können, und nun geisterte sie unangreifbar und schattenhaft in seinem Hirn. „Mach dir keine Gedanken wegen Chuck, Vater“, sagte Cindy. „Ich werde schon auf ihn aufpassen. Ich glaube, ich habe mich gestern abend ziemlich sonderbar zu ihm benommen – aber heute morgen wird es besser gehen. 98
Ich möchte nicht, daß du dir auch noch darum Sorgen machst.“ Das hatte Dan nicht getan. Er hatte gar nicht an Chuck Wright gedacht. Was vielleicht auch ein Fehler war. Man weiß nie, wo die brüchige Stelle ist, der eine lockere Stein, durch den ein ganzes Gebäude von Lügen und Betrug zusammenbrechen kann … Die heutige Post, dachte er. Die erste um neun Uhr dreißig, die zweite um vierzehn Uhr fünfundvierzig. Laß den Brief mit der ersten Post kommen. Laß ihn bald kommen! Dann fiel er plötzlich wieder in die betäubende Dunkelheit der Nacht zurück, und da war auch wieder der beunruhigende Gedanke, der sich ihm immer entzogen hatte: der Telefonanruf. Die Frau hatte angerufen. Wahrscheinlich hat die Polente versucht, sie abzufangen … Dann hatte sie angerufen. Hatte Hilliards Nummer angerufen. Wie, wenn die Polizei sie dabei erwischt hatte, vielleicht während sie telefonierte oder unmittelbar danach? Wenn sie die Nummer hatten – was würden sie dann tun? Wie würden sie vorgehen? Dan kannte die Gepflogenheiten der Polizei nicht, aber in Gedanken sah er, wie sie sich vorsichtig dem Hause näherten, mit gezogenem Revolver und lautem Anruf. Er sah Eleanor und Ralphie drinnen im Haus, Glenn, der sich voll Wut vom Fenster abwandte, überzeugt, daß Dan die Polizei geschickt habe. Er sah den rohen, stumpfsinnigen Robish, der nicht lange wartete, sondern vorsprang, die Hände ausstreckte … Und was konnte Dan dagegen tun? Welche Macht besaß er über solche Dinge? Er hörte ein dumpfes Aufstöhnen im dunstigen Wagenraum, als sie an der Bordschwelle neben dem Seiteneingang des Warenhauses hielten. Es dauerte einen 99
Augenblick, ehe ihm bewußt wurde, daß dieser Laut aus seiner eigenen Brust kam. Die schwarze Limousine mit der Sirene auf dem Dach, den beiden roten Lichtern auf den Kotflügeln und der Aufschrift SHERIFF in schwarzen Blockbuchstaben zu beiden Seiten befand sich jetzt nördlich der Stadtgrenze, nur fünf Blocks von Hilliards Haus entfernt. Jesse Webb begann hinter den Scheibenwischern zu ahnen, daß es wieder ein verlorener Tag werden würde. Zuerst – es war jetzt mehrere Stunden her – war er überzeugt gewesen oder hatte es sich wenigstens eingeredet, daß die lange Liste von Namen, Adressen und Telefonnummern irgend etwas an den Tag bringen würde. Doch jetzt hatte er sich durch das erste halbe Dutzend durchgearbeitet, alle bis auf einen Sammelruf, der in der letzten Nacht zwischen zweiundzwanzig und drei Uhr von den Automaten in Columbus, Ohio, nach Indianapolis gemeldet war. Er hatte in seinem Büro diese Zeitspanne für den Anruf festgelegt, während er sich in Gedanken schon ganz mit der bevorstehenden Aufgabe beschäftigte. Jetzt aber hatte er nur noch einen Namen, eine Adresse und Telefonnummer von der ersten Gruppe übrig; nicht viele Leute bedienten sich der Sammelrufe. Wenn durch Zufall Helen Lamar den Anruf gleich im Automaten bezahlt hatte, mußte er noch zwei weiteren Nummern nachforschen. Dann würde er sich – wenn dies alles fehlschlug – mit der Staatsund der Stadtpolizei in Verbindung setzen, welche bei jenen Nummern in der Stadt nachgeforscht hatten, die vorbezahlte Gespräche von Privatnummern in Columbus empfangen hatten. Diese Gruppe schien ihm am wenigsten aussichtsreich, aber Jesse wollte alle Löcher von dieser Seite zustopfen. 100
Er mußte sich immer wieder selbst sagen – seine Enttäuschung war zu groß –, daß er ja vorläufig nur im dunkeln umhertappte. Sein einziger Ausgangspunkt war die Aussage der Frau, bei der sich Helen Lamar in Columbus versteckt hatte; soweit es diese Frau wußte, war die Lamar ausgegangen, um einen Wagen zu kaufen und zu telefonieren. Sie hatte nicht auf legitimem Wege einen Wagen von einem Händler gekauft; soviel war leicht nachzuprüfen. Und sie hatte ihren Telefonanruf nicht in der Nachbarschaft gemacht; das hatte sich noch leichter feststellen lassen. Natürlich war es mehr als möglich, daß – wenn sie Glenn Griffin angerufen hatte, was eine bloße Vermutung war – sie nach Orleans oder Denver oder New York oder Chicago angerufen hatte, warum Indianapolis? Wie konnte er sicher sein? Jesse Webb war durchaus nicht sicher. Er hatte nichts als diese vage Idee, an der er mit Bulldoggzähigkeit festhielt, weil er einfach wollte, daß Glenn Griffin in seiner Vaterstadt wäre. Sogar Kathleen hatte beim Frühstück den Kopf geschüttelt über diese unvernünftige Theorie oder Hoffnung. Aber Jesse erinnerte sich an Onkel Franks verkrüppelten Arm und seinen noch viel mehr verkrüppelten Geist. Er dachte wieder an die unverschämte Art, wie dieser Lümmel zuerst geschossen und dann seine Waffe auf die Straße geworfen und um Gnade gebeten hatte. Und er erinnerte sich auch der Worte, die er ihm im Korridor des Gefängnisses zugespien hatte: Du kriegst noch dein Teil, Blauer. Aber großer Gott, sagte sich Jesse zornig, als er das Steuer herumzog und langsam zu seinem Ziel fuhr, du kannst dich nicht auf eine wilde Hoffnung verlassen, auf eine schwache Intuition! Du bist Polizist von Beruf, Mann! Hake dich an Beweise, handgreifliche Beweise. 101
Nun also, jetzt hielt er sich daran. Er tat alles, was in seiner Macht lag. Er ließ den Wagen halten, griff in sein Jackett, berührte mit der anderen Hand seinen Colt und begann auszusteigen. Es gab immer eine Möglichkeit, obwohl sie ihm jetzt schwächer schien, daß er auf einem Bürgersteig oder Fahrweg direkt in den Revolver Glenn Griffins rennen könnte, der hinter einem Fenster auf der Lauer lag. Mit dieser Möglichkeit mußte er sich abfinden. Besser, als Griffin durch telefonische Nachforschungen kopfscheu zu machen. Man mußte die Chancen berechnen und danach handeln. Sie standen sicherlich günstig für ihn: denn die Wahrscheinlichkeit eines Hinterhalts war gering, weil es einfach verdammt unwahrscheinlich war, daß er Glenn Griffin finden würde. Sein schmaler Kopf schoß vorwärts, das Wasser tropfte von seiner Hutkrempe, als er auf das Haus zuschritt. Erst als er beinahe vor dem Aufgang stand, sah er, was er schon vom Wagen aus hätte sehen müssen: ein lavendelfarbenes Blumenarrangement hing vor dem Glas der Haustür. Er blieb stehen. Die Klappstühle eines Bestattungsinstituts lehnten in sauberen Stapeln auf der Veranda. Die Erklärung des nächtlichen Anrufes lag hier auf der Hand. Jesse lenkte seine Schritte zurück, kletterte wieder auf seinen Sitz hinter dem Steuer, leckte seine Bleistiftspitze nach Schuljungenmanier an und strich die Nummer BR (für Broadway) 8470 und den Namen Reilly, James, von seiner Liste. Dann sah er automatisch nach der Uhr, startete den Motor und fuhr weiter. Siebenundzwanzig Minuten nach neun. Es würde ein langer Tag werden. Um neun Uhr einunddreißig kam die Post in drei großen Leinensäcken an. Die Postsortierer arbeiteten schnell, 102
vermutlich noch schneller als sonst, weil Herr Hilliard in der Tür des Postraumes stand. Er blieb schweigsam und beharrlich dort stehen, bis die gesamte Post sortiert war und durch die Boten in die verschiedenen Abteilungen gebracht wurde. Als ihm der erste Postsortierer – es war ein älterer Mann – die Post aushändigte, die an die Personalabteilung oder Herrn Hilliard persönlich gerichtet war, sah der es dem starren, erschöpften Gesicht mit dem Pflasterstreifen auf der Stirn nicht an, daß Dan Hilliard angefangen hatte, jede Hoffnung aufzugeben. Die Erinnerungen schossen noch immer scharf und bruchstückweise durch sein Hirn. Doch nicht die Erinnerungen, sondern der rasche Blick auf die Absender der Briefe in seiner Hand hatte Dan veranlaßt, sich kurz abzuwenden. Sein ganzer Körper war bleischwer vor Enttäuschung. Die nächste Post kam erst um vierzehn Uhr fünfundvierzig. Noch fünf Stunden und zehn Minuten … keine Macht der Welt konnte sie beschleunigen. Er fuhr im Personalaufzug bis zum sechsten Stock. Er warf seiner Sekretärin die Post auf den Schreibtisch, ging in sein Büro, setzte sich an den gewohnten Schreibtisch und überdachte langsam und angstvoll all die Dinge, die während dieser fünf Stunden in seinem Haus geschehen konnten. Eins wußte er mit Bestimmtheit: Sie würden unter keinen Umständen wegfahren, ohne Eleanor oder Ralphie oder beide mit auf die Flucht zu nehmen. Selbst wenn sie das Geld bekamen. Dieser Tatsache mußte er ins Gesicht sehen. Aber es mußte einen Ausweg geben. Wenn es nicht zu verhindern war, mußte er sich wenigstens versichern, daß die Polizei, wenn der Fall eintrat, Bescheid wußte. 103
Jedoch wie? Ohne sie eher als zu diesem Zeitpunkt eingreifen zu lassen. Ohne weiter nachzudenken, nur nach einem rechnenden Impuls handelnd, den zu bezweifeln er sich nicht Zeit nehmen durfte, griff er nach einem leeren Blatt Papier und seinem Federhalter. An alle, die es angeht, schrieb er mit verstellten, linksliegenden Buchstaben. Unschuldige Menschen werden in dem Auto mit den drei entwichenen Sträflingen sein, die Sie suchen. Wenn Sie schießen, werden Sie verantwortlich sein für das Leben von Menschen, die nichts Unrechtes getan haben. Wenn Sie versuchen, den Schreiber dieses Briefes aufzuspüren, werden Sie dieselben Leute gefährden und werden nicht zu dem von Ihnen gewünschten Ziel kommen. Er lehnte sich zurück und studierte, was er geschrieben hatte. Dann faltete er das Blatt zusammen, ohne es zu unterschreiben, nahm ein Blankokuvert aus seiner Schublade und adressierte es: An das Polizeipräsidium, SüdAlabama St., City. Er griff zum Telefon, wählte 9, wartete auf die Stadtverbindung und wählte seine eigene Nummer. „Elli? Wo sind sie?“ „Unten. Ich bin bei Ralphie. Wie geht es dir, Liebling?“ „Ist etwas passiert? Irgend etwas?“ „Nein. Nur Mr. Patterson kam an die Hintertür. Weißt du, der kleine Mann, der unsern Müll holt. Er wollte in die Garage gehen, aber ich sagte ihm, wir hätten den Schlüssel verloren und er solle sich nicht bemühen. Er schien in seiner komischen Art schrecklich enttäuscht – aber das ist alles.“ „Er hat nichts Sonderbares bemerkt?“ 104
„Nein. Bestimmt nicht. Aber Mr. R. dachte, er hätte doch etwas gemerkt. Ich hab’ mir eine kleine Weile Sorgen gemacht.“ „Ist das alles?“ „Das ist alles, Dan.“ Am andern Ende der Leitung hörte Dan ein wohlbekanntes höhnisches Lachen: Glenn Griffin, der am unteren Apparat mithörte. „Bei der Morgenpost war nichts“, sagte Dan. „Vielleicht heute nachmittag um zwei Uhr fünfundvierzig. Es wird bald vorbei sein, Ellie“, log er. „Mach dir keine Sorgen mehr.“ „Auf Wiedersehen, Liebling.“ Klick. Dann ein zweites Klick: der Telefonapparat im Parterre. Dan stellte das Telefon wieder auf den Schreibtisch. Er saß vorgebeugt und sehnte sich danach, daß die leere, schlafwandlerische Stimmung wieder über ihn käme – und noch tiefer als zuvor. Gleichzeitig aber erkannte er diese Stimmung als das, was sie war: als seinen Todfeind. Wie der Schlaf, der einen verirrten Menschen im verschneiten Wald überkommt: verlockend, aber unheilvoll. Er hörte, wieder Regen gegen die Fenster schlug. Beinahe dankbar spürte er dann das zerrende Verlangen in seinen Muskeln – jeder Nerv schrie: Steh auf, geh heim, ermorde diese Menschen! Schnell! Warte nicht länger. Sei stark. Mach Schluß damit! Aber er konnte nichts anderes tun, als in seinem Sessel sitzend nachdenken: Wie konnte er einen Weg finden, um diese anonyme Mitteilung bei der Polizei abliefern zu lassen, ohne daß eine Frage nach ihrer Herkunft gestellt wurde. Das Telefon schlug an. Ihm blieb das Herz stehen, als er den Hörer aufnahm; das Metall war noch warm und feucht von seiner Hand. 105
„Vater?“ „Cindy!“ In Cindys Augen war an diesem Morgen noch immer der kalte blaue Glanz, doch nicht so an der Oberfläche, nicht sofort bemerkbar. Chuck Wright saß an seinem Schreibtisch und sah durch die offene Tür in das Vorzimmer, wo Cindy telefonierte, den Apparat hart gegen die zarte Linie ihrer Wange gedrückt. Sie hielt das Telefon mit beiden Händen. Das Licht von oben fing sich in der Masse ihres roten Haares. Was wurde hier gespielt, zum Teufel? Was soll das alles heißen? Sie hatte ihn angelächelt und sich für gestern abend entschuldigt. „Brauchst du immer noch einen Revolver?“ hatte er gefragt. Das wirkte. Sie wandte sich ab. Und so war sie den ganzen Vormittag geblieben. Jetzt war Chuck nicht mehr ärgerlich, sondern ratlos. Was geht’s dich an, Chuck, hatte er sich gesagt. Das war der Laufpaß. Es hat sowieso nicht sein sollen. Sieh nur, wie sie da ins Telefon hineinspricht … das ist kein Schweigen, kein Sichzurückziehen, kein Ausweichen. Einen Revolver. Einen Revolver. Einen Revolver. Das waren die Worte, die einfach unerklärlich waren. Das übrige konnte er sich zusammenreimen: der Laufpaß, die Vertrautheit dort am Telefon mit einem andern, der Entschluß, ihres Vaters guten Rat zu befolgen … aber was hatte das alles mit einem Revolver zu tun? Und was sagte sie eigentlich dort am Telefon? Wenn er das wüßte, vielleicht … Was Cindy am Telefon zu ihrem Vater sagte, war deutlich und in ihren Augen sehr einfach; der Gedanke war ihr eben gekommen. „Also hör bitte zu und unterbrich 106
mich nicht.“ Angenommen, sie und Dan fänden, gleichviel wie, einen Weg, Geld zu bekommen, viel Geld, vielleicht fünf- oder sechstausend Dollar. Dann – wenn Glenn Griffins erwartetes Geld heute nachmittag nicht einträfe – könnte sie ihm das andere Geld mit nach Hause bringen. Sie, nicht Dan. Wie wäre das? Wäre das nicht vernünftig? Denn jetzt warteten sie nicht mehr auf die Frau, sondern nur auf das Geld. Dann konnten sie weg und dorthin gehen, wo die Frau war – obwohl Cindy inständig hoffte, sie würden nicht so weit kommen. „Wieviel Geld, Cindy? Selbst wenn wir soviel aufbrächten, wie können wir die genaue Summe wissen, die die Frau ihm gestern geschickt hat? Wenn unser Geld zuviel oder zuwenig wäre, wüßte er sofort, daß es ein Trick ist. Und wenn du es ihm brächtest und nicht ich, wäre er davon überzeugt.“ „Oh, das ist nur ein Teil meines Plans. Wir brauchten nicht so zu tun, als wenn es von ihr käme. Aber hör zu. Wenn ich ihnen nun erklärte, du wärst in dem Wäldchen, außer Schußweite, mit einem Jagdgewehr. Daß sie nichts anderes tun könnten als weggehen. Und wenn sie versuchen sollten, Mutter oder Ralphie oder mich als Schild zu benutzen, so wärst du da, denn du wartetest auf sie und würdest sie einfach abschießen. Würde dann auch nur einer von ihnen riskieren, erschossen zu werden? Wenn sie dächten, sie hätten das Geld und könnten ohne Ungelegenheiten fort?“ „Cindy, Cindy!“ Dans Stimme war schwach, fast traurig. „Ja, das würden sie riskieren.“ Es klang geduldig und müde. „Warum? Weil sie wissen, daß sie keine Wahl haben. Sie wissen, daß ich nicht schießen würde, gleichviel, was für ein guter Schütze ich wäre, solange die Möglichkeit besteht, daß ich meinen Sohn töte. Sie haben 107
uns also in der Hand, und wir tun klüger daran, es uns einzugestehen. Selbst wenn ein Mann schwer verwundet ist, kann er den Hahn abziehen. Deshalb mußte uns Ellie ja die Geschichte vorlesen – um uns mit dieser Tatsache zu beeindrucken. Und, Cindy, was das wichtigste ist: Sie rechnen niemals damit, daß sie erschossen werden. Sie nicht. Bisher haben sie Glück gehabt, und in ihren Augen sind sie so etwas wie unsterblich. Sie rechnen immer damit, daß es der andere ist. Sie müssen so rechnen. Es ist so ähnlich, wie man im Kriege denkt. Es ist der einzige Weg durchzukommen.“ Er hielt inne und schöpfte tief Atem. „Du hast an alles gedacht, nicht wahr, Vater?“ „Es tut mir leid, Cindy – kein Mensch kann an alles denken. Das ist etwas, was …“ Er brach ab, „Ich rufe dich an, wenn die nächste Post kommt.“ „Ja.“ „Iß deinen Lunch, Cindy. Du hattest kein Frühstück.“ „Ja.“ Als Cindy den Hörer aufs Telefon gelegt hatte, saß sie und starrte es an, aber sie sah es nicht – sie sah ein Haus, zehn Meilen entfernt. In fünf Stunden würde das Geld dasein. Oder auch nicht. Bis dahin, betete sie stumm, laß alle wegbleiben, bitte, lieber Gott. Alle. Am meisten die Polizei. Aber auch Bettler, Hausierer, Versicherungsagenten – alle, alle. „Ich hab’ ihn um die verdammten Fenster rumschleichen sehen“, sagte Robish. Er zitterte. „Wir müssen ihn kriegen, Griffin. Hör doch! Er stand auf den Zehen und sah in die Garage. Kurz ehe er wieder in seinen Wagen stieg. Glaubst du mir nicht?“ „Mr. Patterson?“ sagte Eleanor, immer noch am Küchentisch. „Er ist nur gekommen, um etwas abzuholen. 108
Er holt jeden Mittwoch die Abfälle, und dann kommt er jeden zweiten Mittwoch nach dem Lunch, um zu kassieren.“ „Zahlen Sie immer mit einem Scheck, Mrs. Hilliard?“ war Glenns erste Frage. „Ja. Fast immer. Dann brauche ich nicht viel Bargeld hier im Hause zu haben, und wenn man so weit draußen wohnt …“ Sie hätte fast gesagt, es sei sicherer, kein bares Geld im Haus zu haben, aber ein Schwindelgefühl stieg in ihr auf, und sie sprach nicht weiter. „Ich weiß, was ich gesehen habe“, sagte Robish mit dumpfer Stimme. „Er hat den Wagen gesehn. Ich werd’ ihn schon kriegen. Gib mir deinen Colt.“ „Hank“, rief Glenn hinüber zum Eßzimmer, „wo ist der alte Kerl hingegangen?“ „Ins nächste Haus. Hinter den Bäumen. Ich kann die Rückseite von seinem Wagen dort an der Bordschwelle sehen.“ „Und er ruft die Blauen an!“ knurrte Robish. „Nein“, sagte Eleanor hastig. „Die Wallings sind nicht zu Hause. Das weiß ich.“ „Dann kann ich ihn vielleicht abfangen, Glenn.“ „Glenn“, rief Hank aus dem Eßzimmer, „wozu was riskieren? Wir wollen abhauen!“ Eleanors Augen hingen an Glenns Gesicht, das unentschlossen aussah. „Mr. Patterson würde nie einen Verdacht haben. Er … Sie haben ihn doch gesehen … so ein armer alter Mann …“ „Mund halten“, sagte Glenn Griffin und reichte Robish seinen Revolver. „Mrs. Hilliard, Sie wünschen wohl, daß der Kerl die Polente hierher in Ihren Vorgarten bringt? Denken Sie doch nach. Was bleibt sonst übrig?“ 109
Robish schob die Waffe in die Seitentasche von Dans grauem Jackett. Er ging einen Schritt zur Hintertür. Glenns Stimme hielt ihn auf. „Wenn du Pech hast, komm nicht hierher zurück, Robish.“ „Ich? Ich weiß überhaupt nich, was Pech is.“ Ehe sie ohnmächtig über den Tisch fiel, dachte Eleanor noch, daß Robishs Stimme nie so fröhlich geklungen hatte, so erfreut und erregt und überhaupt nicht bedrohlich, oder … Ungefähr um diese Zeit – es war die belebteste Mittagsstunde in der Innenstadt – trat Dan Hilliard in ein Hotel, in dem er vermutlich unbekannt war, fragte nach dem Hotelboten und sprach dann ruhig, aber sehr deutlich und direkt zu einem Mann mittleren Alters, der eine kastanienbraune Uniform mit Messingknöpfen trug. Der Mann nickte, ohne sich überrascht zu zeigen, aber mit einem prüfenden langen Blick auf Dan Hilliard, als er von ihm einen weißen Briefumschlag und eine Fünfdollarnote in Empfang nahm. Dann ging der Bote, um sich einen Regenmantel zu holen, und Dan Hilliard trat rasch aus der Seitentür in den gleichmäßigen, aber nicht mehr stürmischen Regen hinaus. In kaum einer Minute war der Bote unterwegs zum Polizeipräsidium, das direkt gegenüber dem Bezirksgefängnis und den Büros des Sheriffs lag. Die Wallings waren nicht zu Hause, was Mr. Patterson nicht überraschte, weil Frau Walling ein eifriges Vereinsmitglied war – man fand ihr Bild oft in der Zeitung. Er kehrte zu seinem Wagen zurück und wollte gerade einsteigen, ein wenig steif, weil das Regenwetter seiner Arthritis immer höllisch zusetzte, als er einen Mann in der Kabine seines Wagens sitzen sah. 110
„Immer ’rein, Jack!“ sagte der Mann. Mr. Patterson sah den Revolver und runzelte die Stirn, als er einstieg. „Fahr los, Jack, nicht zu schnell. Dort ’raus, nach Osten.“ Mr. Patterson ließ den Motor an und schielte seitwärts nach dem großen Mann, der sich’s auf dem Sitz neben ihm bequem gemacht hatte. Der Mann trug einen teuren Anzug, der ihm nicht paßte. Nach etwa zehn Sekunden erkannte Patterson das Gesicht, und dann dachte er an den Wagen, der in Hilliards Garage stand, und an die Radioberichte und die Bilder in der Morgenzeitung. Warum habe ich gewartet, fragte er sich. Auf was habe ich gewartet? Warum hab’ ich mich bei den Wallings aufgehalten? „Großer Gott“, sagte er laut mit stockendem Atem. „Großer Gott – diese armen Menschen.“ Das schien dem Mann Spaß zu machen; er kicherte sogar. „Na, hab’ ich nicht recht gehabt, Jack?“ Mr. Patterson hatte alles vergessen, außer Frau Hilliards Gesicht, als sie ihm vor ein paar Minuten an dem Küchentisch den Scheck ausschrieb, während er, wie gewöhnlich, hinten in dem kleinen Flur wartete. Sicher war vom nächsten Zimmer aus der Revolver auf sie gerichtet gewesen. Warum hatte er es nicht erraten? Warum war sein Hirn in letzter Zeit so langsam? Wenn er direkt zu einem Drugstore gegangen wäre und Jesse Webb angerufen hätte – vielleicht hätte ihnen das helfen können. Diese armen Menschen. Mr. Patterson hatte sich sogar die Wagennummer auf einen Zettel geschrieben, der jetzt in seiner Tasche war. Er hatte Jesse Webb fragen wollen, ob die Nummer etwa wirklich die war, die Mr. Patterson vermutete. Jesse Webb würde sich seiner erinnern, weil er so manchen Abend mit dem Vater 111
des kleinen Jesse Pinokel gespielt hatte. Da Jesse jetzt Vize-Sheriff war, kam ihm diese Benachrichtigung zu; und wenn Mr. Patterson sich geirrt hätte – nun ja, er war ein alter Mann, der mißtrauisch und wunderlich wurde. Aber er hatte sich nicht geirrt. Und er hatte nichts getan! Wenn diesen armen Menschen etwas passierte, dann könnte er sich’s nie verzeihen! Aber dann begriff er plötzlich: Wenn jetzt etwas passierte, dann passierte es ihm selbst. Sein Atem kam stoßweise, und der Arthritisschmerz biß geradezu in sein rechtes Knie. In der dämmerigen Kabine des Wagens, hinter dem gleichmäßigen Hin und Her der Scheibenwischer hörte Mr. Patterson einen sonderbaren Ton: Der Mann neben ihm summte leise eine Art verwischter Melodie, aber es klang eine steigende Erregung darin, ein Vorgefühl, das ihm Vergnügen bereitete. Mr. Patterson erriet sogar die Bedeutung dieser Erregung. Er schauderte nicht. Er verlor nicht den Kopf. Er machte schweigend einen Plan. Jetzt waren sie östlich der Stadt auf einer Landstraße. Er preßte mit seinem linken Ellbogen sein Gewicht – aber sehr ruhig und vorsichtig – herunter auf die Türklinke. Um das Schnappen zu übertönen, sprach er im gleichen Takt und mit lauter Stimme: „Mister, ich schwöre zu Gott, daß ich keinem Menschen ein Wort sagen werde! Ich bin ein alter Mann. Ich habe Ihnen nichts zuleide getan.“ Der Mann neben ihm lachte. „Warum fällst du nicht gleich auf die Knie und betest, he, Jack?“ Mr. Patterson hatte jene Worte ungern ausgesprochen, aber sie schienen ihm genau das zu sein, was ein Mensch unter Umständen sagen mochte. Jetzt war die Tür offen. Vor sich sah er zwei blaue Gasolinpumpen längs der 112
Straße, ziemlich dicht am Rand. Auch eine verwitterte, mit Brettern verschalte Tankstation war da. Er maß sorgsam die Entfernung und bezwang sich, nicht so tief Atem zu holen, wie es seine brennenden Lungen verlangten. Mr. Patterson wartete, bis er fast auf der Höhe der Pumpen war, dann schlug er mit einer einzigen Bewegung, auf die sich sein ganzer altersschwacher Körper konzentrierte, das Steuerrad nach rechts, trat scharf auf den Gashebel und ließ sich aus dem Wagen fallen, genau als der Kühler an die Benzinpumpe stieß. Er schlug auf den Kies und rollte sich weiter, die Steifheit seines rechten Beines vergessend; in seinen Ohren dröhnte das metallische Krachen über und hinter ihm. Tief gebückt lief er auf das Gebäude zu, der Regen schlug ihm kalt und wohltuend ins Gesicht – aber warum kam nun keine Explosion, keine aufspringende Flamme? Er war zwei Schritte vor der verwitterten Holzbaracke, als ihn die erste Kugel traf. Er hörte den krachenden, ohrenbetäubenden Knall. Er wußte, daß er getroffen war. Er sah im Geiste förmlich den großen plumpen Mann dahinten, wie er breitbeinig dastand und sorgfältig zielte. Aber es überraschte Mr. Patterson – in dem einzigen Augenblick, der ihm zum Staunen oder irgendeinem andern Gefühl noch blieb –, daß die Kugel nicht brannte und schmerzte. Es war eher wie ein lähmender, aber schmerzloser Schlag gegen seinen Rücken. Die zweite Kugel fühlte er nicht mehr, die dritte auch nicht. Niemand als der Mörder und der Ermordete hatte diese Schüsse gehört, und deshalb verging fast eine Stunde, ehe der Bericht von dem Mord, den man für einen Unfall hielt, zu Vize-Sheriff Jesse Webb gelangte. Er fragte durch den Radioapparat seines Wagens nach weiteren Tatsachen, erfuhr aber nur sehr wenig – nur, daß der Fahrer 113
anscheinend die Herrschaft über den Wagen verloren hatte, gerade vor der alten, verlassenen Tankstelle; der Wagen war in die Pumpe gefahren, die nicht mehr in Gebrauch war. Es hatte keine Explosion gegeben. Der Körper des Fahrers war offenbar hinausgeschleudert worden. Bis jetzt war er nicht identifiziert, noch war kein Polizeibeamter an der Unfallstelle gewesen. Vielleicht lohnte es sich gar nicht für Jesse Webb, durch die ganze Stadt zu fahren, um persönlich Nachforschungen anzustellen. Doch da sich Jesse gerade erfolglos durch die wichtigen Nummern auf seiner Telefonliste durchgearbeitet hatte, war er zögernd zu dem Schluß gekommen, daß Helen Lamar in der vergangenen Nacht nicht von Columbus, Ohio, aus nach Indianapolis telefoniert haben konnte. Noch zögernder schloß er, daß Griffin weder in der Stadt noch in der Nähe sei. In seinem Büro wurde Dan Hilliard von zu Hause angerufen. Er horchte mit finsterem Gesicht, und die Kälte kroch ihm die Beine hinauf. Dann sagte er: „Wie kann ich das tun, Ellie? Das Geld sollte in einer knappen Stunde hier sein. Es ist fast zwei Uhr.“ Wieder hörte er zu, diesmal hatte er das Telefon so fest gefaßt, daß ein krampfhafter Schmerz durch die geballten Armmuskeln bis in seine Schulter schoß. Er fluchte, ohne zu wissen, daß er gesprochen hatte. Er konnte nicht glauben, was ihm seine Frau erzählte. Was sie sagte, war so unglaublich, daß es wie ein Schlag auf seine angespannten Nerven fiel. Er hatte zu qualvolle Stunden darauf gewartet, daß es endlich vierzehn Uhr fünfundvierzig würde. „Du wirst es tun, nicht wahr?“ sagte seine Frau eindringlich. 114
„Ich werde Cindy sofort abholen.“ Aber als er das Telefon zurückstellte und aufstand, wußte Dan Hilliard nicht, was geschehen war und warum ihm Glenn Griffin durch seine Frau befehlen ließ, diesen nächsten Schritt zu tun. Es hatte doch alles keinen Sinn – aber was ihn jetzt in solch bittere, erstickende Wut versetzte, war die Erkenntnis, daß man ihn überlistet hatte. Das Geld kam heute gar nicht. Griffin hatte das längst gewußt. Das Geld war erst heute zur Post gegeben worden, nachdem Griffin gestern nacht mit der Frau telefoniert hatte. Es konnte erst morgen ankommen und ausgetragen werden. Glenn Griffin hatte gelogen, um ihn aus dem Haus zu schaffen, damit der Tag so aussähe wie alle anderen Tage, ohne besondere Zwischenfälle. Nun aber war etwas vorgefallen. Dan mochte nicht nachdenken, was es war. In einer halben Stunde sollte er mit Cindy auf einem Platz vor den Läden parken, die das Geschäftsviertel der entlegenen östlichen Stadt bildeten. Das war alles, was er wußte. Weiter nichts. Warum sie dort sein, auf wen sie warten sollten, was geschehen würde – darüber hatte Glenn Griffin nichts gesagt. Und sehr wahrscheinlich wußte es auch Eleanor nicht, oder er hatte ihr verboten, am Telefon etwas darüber zu sagen. Im Personalaufzug drückte Dan auf einen Knopf und lehnte seine brennende Stirn gegen das kalte Metallgitter. Man kann einen Menschen nur bis zu einer gewissen Grenze treiben, sagte er in Gedanken warnend zu Glenn Griffin. Mehr kann ein Mensch nicht ertragen. Kein Mensch. Kein Mensch auf der Welt. Jetzt näherte er sich jener Grenze, und das wußte er – doch ohne sich darüber klar zu sein, was hinter dieser Grenze war. Doch als er den Hut ins Gesicht zog und die Schultern reckte, ehe er 115
die Abgeschlossenheit des Fahrstuhls verließ, war ihm vollkommen bewußt, daß er die Grenze – den Rand des Abgrunds – nicht überschreiten würde. Wenn er diesen letzten Schritt tat, war alles, was er bisher getan, alles, was die andern erlitten hatten, vergebliche Mühe gewesen. Jedoch wenn er auf ihr Spiel einging, gleichviel, was es jetzt war, dann hatte er eine wenn auch geringe Chance. So einfach ist es also, sagte er sich hart. Denke daran! Er trat aus dem Fahrstuhl. Zur gleichen Zeit stand auch Robish in einem kleinen Gehäuse, das er nicht verlassen durfte. Zwar keuchte er nicht mehr, den ersten tierischen Schrecken hatte er hinter sich. Vor einer Weile, als er durch das Dickicht des Waldes gebrochen war (nachdem er begriffen hatte, daß der Wagen nicht startete und er zu Fuß gehen mußte), da hatte er Angst gehabt. Klar. Richtige Angst. Aber auch eine Stinkwut. Am meisten auf den gerissenen alten Burschen. Der sich eingebildet hatte, er könne Robish reinlegen! Wenn er jetzt an den Alten dachte, lief eine angenehme Wärme durch seinen plumpen Körper, der im Wald bis auf die Haut naß geworden war. Wie der Alte versucht hatte zu laufen … wie ein Stock! Und wie er dann stillstand und den Kies mit dem Fuß aufscharrte und die knochigen kleinen Arme in die Luft warf. Und wie er dann hinschlug, als Robish die beiden anderen Kugeln in den zuckenden Körper jagte. Bei dieser Erinnerung mußte Robish lachen. So würde es ihnen allen gehen, diesen neunmal weisen Hunden! Glenn dachte, er sei dumm. Oh, Robish wußte, was Glenn dachte. War er dumm? War er nicht an der richtigen Ecke aus dem Walde gekommen, hatte er nicht das Geschäftsviertel gefunden und das Telefon in der Tankstelle, von der er angerufen hatte? Und jetzt wartete er 116
ruhig und gemütlich in der Herrentoilette, bis der kleine Rotkopf mit dem Wagen kam, um ihn abzuholen. Vom Fenster aus konnte er den Parkplatz beobachten. Seine Kleider waren durchweicht, sein Körper war naß. Sein Atem wurde langsam wieder normal. Er hatte nichts weiter zu tun, als zuzusehen, wie die Frauen aus ihren oder in ihre Wagen stiegen, über die Pfützen sprangen, ihre Kinder oder Einkäufe festhielten. Das Gefühl der Heimlichkeit dabei gefiel ihm gut – der kleine heiße Raum, die feuchte Kälte draußen, der Gedanke an die drei Kugeln, die noch in seinem Revolver waren. Er hatte diese Kugeln gezeichnet. Eine für Hilliard, diesen Hund, der ihn k.o. geschlagen hatte; eine für den Bengel, um den es sich gedreht hatte; Hilliard sollte zusehen, wie der Bengel zuerst drankam. Das war die Strafe. Und wenn Griffin es nicht wollte – dieser verfluchte junge Narr, der ihre Hälse riskierte, bloß damit er an einen Blauen rankam, der ihm die hübsche Visage zerschlagen hatte … na ja, dann war noch ’ne dritte Kugel da, was? Er würde die Knarre von jetzt ab behalten. Leicht möglich, daß diese dritte Kugel für Glenn Griffin bestimmt war. Robish kam sich großartig vor. Eine halbe Stunde, hatte Glenn gesagt. Robish hatte keine Uhr, aber er meinte, es könne etwa zehn Minuten her sein, seit er mit Griffin gesprochen hatte – vielleicht auch zwanzig. Da hörte er in der Ferne, sehr schwach, das Pfeifen einer Sirene. Sehr weit weg. Er grinste. Aber das Grinsen verging ihm, und sein Gesicht wurde schlaff. In einer halben Stunde konnte viel passieren. Vielleicht hatten die Blauen versucht, den Wald zu umzingeln, weil sie sich ausgerechnet hatten, daß er auf diesem Weg zu entkommen suchte. Er hatte keine Ahnung, wie lange er gebraucht hatte, um durch diesen Wald zu 117
kommen. Vielleicht kämen die Blauen in ’ner halben Stunde durch und ’raus auf die Straße … Wo blieb der Rotkopf, verdammt, verdammt! „Cindy wird in ein paar Minuten zurück sein, Mr. Hilliard“, sagte Chuck Wright. „Bitte, wollen Sie nicht in meinem Büro warten?“ „Wo ist sie?“ Chuck trat zurück, als Dan Hilliard in sein Büro kam. Er hatte den scharfen Ton der Frage nicht überhört – sonst war diese Stimme immer freundlich-gelassen. Auch das Schlafwandlerische im Äußeren und im Betragen Dan Hilliards war ihm nicht entgangen. „Sie nimmt gerade ein Diktat von Mr. Hepburn auf“, sagte Chuck leichthin und bot Dan eine Zigarette an. Dan Hilliard wollte entweder keine, oder er sah sie gar nicht. „Wie lange dauert es noch?“ Chuck ärgerte sich ein wenig über den Mann, der noch immer, den Hut auf dem Kopf, mit hohlen Augen unter der triefenden Hutkrempe dastand. „Das weiß ich nicht“, antwortete er, und die Gereiztheit klang durch seine Worte. Aber er spürte, wie sie nachließ. Warum? Das hätte er nicht sagen können. Aber die stumpfe Art, wie der andere dastand, die Müdigkeit dieser schweren Schultern, das gefurchte, müde Gesicht mit den Sommersprossen auf der bleichen Haut – das alles ließ ihn plötzlich erschrecken. „Sie sehen aus …“, begann er, dann aber hielt er inne. „Wollen Sie nicht Platz nehmen, Sir?“ fragte er. Das „Sir“ war ihm herausgeschlüpft, zu seiner eigenen Überraschung. Er hatte niemals jemanden mit „Sir“ angeredet, selbst Herrn Hepburn und seinen eigenen Vater nicht. Ehrensache. Stolz. Was es auch war – es war nun einmal so; so war Chuck Wright und nicht anders. 118
„Könnten Sie sie unterbrechen, Chuck?“ fragte Dan Hilliard. „Es ist – wichtig.“ „Mr. Hilliard.“ Chuck holte tief Atem. „Ist etwas passiert?“ „Warum fragen Sie das?“ Die Worte bissen wie Peitschenhiebe. „Ich meine … mit Cindy. Oder mit Ihnen? Oder irgend jemandem?“ Chuck schüttelte verwirrt den Kopf und lehnte sich mit gekreuzten Beinen an seinen Schreibtisch. „Ich will nicht neugierig sein, vielleicht geht es mich nichts an. Zuerst dachte ich bloß, daß Cindy mir den Laufpaß geben wollte. Wahrscheinlich ein anderer. Oder so etwas. Aber jetzt …“ „Jetzt – was?“ „Hol mich der Teufel, ich weiß es nicht.“ Und dabei blieb es. Es blieb dabei, weil Dan Hilliard das gleiche sagte, was Cindy am frühen Nachmittag gesagt hatte, als sie zehn Minuten zu spät nach dem Lunch, hager und müde aussehend, hereingekommen war: „Du hast Hirngespinste, Chuck.“ Jetzt brauchte ihr Vater die gleichen Worte. „Gestern abend fing es an“, sagte Chuck hartnäckig, sich in die Frage verbeißend. Und während Dan Hilliard triefend naß und unbeweglich als Statue mit Regenmantel im Büro stand, schilderte Chuck Wright ihm ausführlich die wenigen Anhaltspunkte, die er hatte; wie sie aus dem Haus gelaufen kam und zu ihm in den Wagen gesprungen war, wie sie darauf bestanden hatte, daß er sie nach Hause fuhr, nachdem sie den ganzen Abend zusammen geschwiegen hatten, ihre plötzlichen und beunruhigenden Tränen im Wagen und ihre Frage nach dem Revolver. Er beobachtete Dan mit scharfem Blick, als er den Revolver erwähnte. 119
„Da stimmt etwas nicht, Sir.“ „Es ist nicht Ihre Sache, Chuck.“ „Vielleicht nicht, aber …“ „Dabei gibt es kein ‚Vielleicht‘. Es ist nicht Ihre Sache. Mischen Sie sich nicht hinein.“ Seit seinen Tagen in der Marine hatte niemand so zu Chuck gesprochen, mit so viel Autorität in dem Befehl. Es hatte ihm damals nicht gefallen, aber es hatte zu einem System gehört, dem er sich fügen mußte. Dies aber brauchte er sich nicht bieten zu lassen. „Wenn es Cindys Sache ist, ist es auch die meine, Mr. Hilliard.“ Der Hut neigte sich ein wenig zur Seite; die blauen Augen wurden sofort sehr aufmerksam und verloren etwas von ihrer betäubenden Härte. „So. So liegen die Dinge also, Chuck?“ „Ja, so liegen die Dinge“, sagte Chuck gleichmütig, „ob es Ihnen paßt oder nicht.“ „Es paßt mir nicht. Das heißt, es hat mir nicht gepaßt. Aber ich habe jetzt keine Zeit, darüber zu sprechen. Oder darüber nachzudenken.“ Die drängende Unruhe kam wieder über den Mann; er ging zur Tür. „Wo ist Hepburns Büro?“ „Ich werde sie holen“, sagte Chuck; zornig und verwirrt ging er an der hölzernen Gestalt vorbei; aber jetzt, als er an Herrn Hepburns Tür klopfte, beunruhigte ihn ein neuer Argwohn, ein Gefühl, als handle es sich um etwas Größeres als um die Empfindungen, die Dan Hilliard für ihn hegte. Es war etwas jenseits dieser Fragen, etwas Dringendes und Lebenswichtiges und Verzweifeltes. Er sprach ein paar kurze Worte, sah Cindy aufstehen, ohne sich auch nur nach Mr. Hepburn umzusehen, und schaute ihr nach, als sie aus der Tür lief. Er sah, 120
wie Cindy zu ihrem Vater trat; sie tauschten ein paar halblaute Worte. Cindy griff nach ihrem Mantel. Dan Hilliard ging durch den Korridor, und Cindy folgte ihm; sie warf nur einen eindringlichen, aber dunklen Blick über die Schulter, und ihre Augen waren denen ihres Vaters sehr ähnlich. Chuck stand und starrte auf die geschlossene Tür. Nun gut. Also mußte er es allein herausbringen. Es ist meine Sache, wenn es Cindy betrifft. Seine eigenen Worte klangen in ihm wieder. So, da hast du es, Chuck. Du hast es selbst gesagt. Nun ist es aus mit allen deinen festen Entschlüssen. Du bist gefangen. Auf diese Art wurde es ihm klar. Er liebte Cynthia Hilliard, und was daraus werden sollte, wußte er nicht. Aber er mußte es herausfinden. Er riß seinen Regenmantel vom Haken und ging, wie gewöhnlich ohne Hut, mit langen Schritten aus dem Büro, ohne einen Blick zurückzuwerfen. 4 Auf der Straße durchlebte Chuck Wright einen Augenblick rascher Panik, als er Dan Hilliard und seine Tochter zu dem Parkplatz einbiegen sah, wo Cindy ihren Wagen tagsüber abstellte. Der Mann ging steifbeinig, mit finsterem, verschlossenem Gesicht, das Mädchen neben ihm schnell und anmutig. Ob er sie wohl aus den Augen verlor, ehe er ungesehen zu seinem eigenen Wagen, der auf dem gleichen Parkplatz stand, und dann hinter ihnen auf die Straße gelangen konnte? Er sah, daß Cindy das Steuer nahm – sie schien es eilig zu haben; das Geheimnis, das sie zur Eile trieb, schmerzte Chuck unaufhörlich. Sie 121
hielt in dem schwachen Nachmittagsverkehr nirgends an, sondern bog rechts nach Norden und war schon außer Sicht, ehe sich Chuck aus dem Parkplatz herausgewunden hatte. Die Straßen im mittleren Stadtgebiet galten zwischen mittags und abends um achtzehn Uhr als Einbahnstraßen, und dieser Umstand erlaubte ihm, sein Tempo zu beschleunigen und die Entfernung zu verringern, bis er – nur zwei Blocks weiter vorn – plötzlich sah, wie der schwarze Zweisitzer eine Wendung nach rechts machte und nach Osten weiterfuhr. Er folgte. Es war nicht schwer, hinter Cindys Wagen zu bleiben, aber er bemühte sich, eine angemessene Entfernung einzuhalten und soviel wie möglich das Blickfeld ihres Rückspiegels zu vermeiden. Sie fuhr nicht nach Hause. Chuck versuchte, nicht darüber nachzudenken, was sie und ihr Vater um diese Tageszeit auf der Ostseite der Stadt zu tun hatten. Das Heulen einer Sirene war etwas so Alltägliches und Gewohntes in der Hauptstraße einer Stadt, daß es Chuck zunächst gar nicht überraschte, den Wagen des Sheriffs an sich vorbeijagen zu sehen. Als jedoch andere Wagen folgten, drei oder vier und schließlich ein Krankenwagen, dachte er an einen Unfall im Osten der Stadt. Hatte Herr Hilliard davon gehört? War er vielleicht nur gekommen, um Cindy abzuholen, und hatte jede Unterhaltung abgelehnt und alles andere beiseite geschoben, um rasch mit ihr zur Unfallstelle zu gelangen? Aber natürlich war das keine Erklärung für den gestrigen Abend oder den sonderbaren, schweigsamen Vormittag oder für Cindys langes, eindringliches Telefongespräch; vor allem aber nicht für ihre Tränen, die ihn so erschreckt hatten, oder die Frage nach dem Revolver! 122
Als Cindys schwarzes Auto sich kaum zwanzig Minuten später zum Parken vor einem Geschäftsblock in eine freie Stelle hineinschob – es war eins der neuen Einkaufszentren, die jetzt an den Randgebieten der Stadt entstanden –, war das Heulen der Sirene schon sehr entfernt, weit hinter den Wäldern im Nordosten. Chuck gab es auf, darüber nachzudenken, und hielt hinter einer sauberen weißen Tankstelle an der Ecke. Er winkte dem Tankwart ab und machte sich selbst mit der Luftpresse an den Hinterrädern seines Wagens zu schaffen, während er Cindys Wagen im Auge behielt. Fast unmittelbar darauf tauchte ein Mann direkt aus der Tankstelle auf – ein schwerer, massiger Mensch, der in seinem regendurchweichten grauen Anzug durch die Pfützen stapfte. Zunächst brachte ihn Chuck überhaupt nicht mit dem Wagen in Verbindung. Noch saßen Herr Hilliard und Cindy auf ihren Plätzen hinter dem gleichmäßigen Hin und Her des Scheibenwischers. Es regnete nicht. Schon seit sie das Bürohaus unten in der Stadt verlassen hatten, regnete es nicht mehr – anscheinend hatte Cindy dies aber gar nicht bemerkt! Ehe sich Chuck seiner Überraschung über diese Beobachtung recht bewußt war, mußte er den Luftschlauch fester packen – er starrte hinüber: Der Mann näherte sich Cindys Wagen, sprach durch die plötzlich heruntergelassene Scheibe zu Herrn Hilliard und wartete, bis dieser ausgestiegen war; dann schob der Mann im grauen Anzug seine mächtige Gestalt auf den Sitz neben Cindy. Ohne ein Wort zu sprechen, ohne auch nur ein Nicken des Erkennens stieg Herr Hilliard hinter ihm ein und schloß die Tür. Der Wagen setzte zurück, schoß dann mit einem Ruck vorwärts und fuhr auf die Straße, während unter den sich wütend drehenden Hinterreifen das Wasser wie aus einer Düse hervorspritzte. 123
Chuck wartete nicht. Gleich darauf war er hinter ihnen, in genügendem Abstand, doch mit freiem Blick auf das Coupé auf der Nord-Süd-Ausfallstraße, welche die Stadt Östlich umging. Die eckige Masse des fremden Kopfes zwischen dem Mann und dem Mädchen war von beiden Seiten gut gegen Sicht gedeckt. Chuck erwog, ob er den Zweisitzer überholen sollte, um einen richtigen Blick auf den Fremden zu werfen; aber sein kleiner Sportwagen war zu auffällig, Cindy würde ihn sofort erkennen. Es war ihm lieber, wenn sie nicht wußte, was er jetzt tat. Wenigstens noch nicht. Aber noch etwas anderes, Stärkeres hielt ihn zurück: die Erinnerung an den schlürfenden Gang, die geduckte Heimlichkeit des vierschrötigen Mannes, als er vorhin beim Einsteigen einen raschen argwöhnischen Blick um sich geworfen hatte. Und die Art, wie er jetzt zwischen ihnen saß, ganz tief im Sitz, daß von hinten nur die obere Schädeldecke sichtbar war. Der Mann trug keinen Hut. Das war an sich schon auffallend, fand Chuck. Zwar trug er auch keinen, aber Männer mittleren Alters dachten, besonders an Regentagen, kaum daran, ohne Hut auszugehen. Und einen Mantel hatte der Mann auch nicht an. Wer war er? Was mochte ein solcher Mensch mit den Hilliards zu tun haben? War er ein Onkel, das schwarze Schaf der Familie? Der Familiensäufer, die drohende gesellschaftliche Schande? Sicher würde er zuletzt eine ebenso harmlose wie einfache Erklärung finden. Aber der Revolver? Was hatte der Revolver damit zu tun? Chuck folgte dem Coupé den ganzen Weg nach Norden. Er wunderte sich über den umständlichen Weg, den Cindy einschlug – es war zwar nicht der kürzeste, aber der am wenigsten benützte Weg zum Kessler Boulevard. Auf den offenen Landstrecken blieb er weit zurück, denn 124
er wußte, wenn Cindy in den Rückspiegel ihres Wagens sah, würde sie ihn sofort erkennen. Zum Schluß blieben die Fragen für Chuck ungelöst. Das Coupé bog in die Einfahrt der Hilliards, wie er erwartet hatte. Er hielt außer Sicht weit hinten auf dem Boulevard. Nun, was hast du jetzt erreicht? Wo stehst du jetzt? Am toten Ende, in der Sackgasse. „Wo stehen wir jetzt?“ fragte Tom Winston, indem er sich auf seinen dicken Beinen vorsichtig von dem dürftigen, hingestreckten Körper des toten Mannes entfernte. Jesse Webb trat sogar noch weiter weg von dem durchweichten, leblosen Etwas, das in der Ecke des wackeligen grauen Gebäudes halb in einer Pfütze lag; Jesse trat zu den beiden umgestürzten blauen Pumpen und lehnte sich halb gegen den roten Lastwagen. Plötzlicher und gewaltsamer Tod – er hatte ein gut Teil Erfahrung damit, sowohl im Krieg wie nachher – raubte ihm unweigerlich, wenigstens für eine kurze Zeit, alle Achtung für seinesgleichen, für die menschliche Rasse im allgemeinen. „Komisch“, sagte Jesse, eine Hand auf dem hohen Kotflügel. „Ich kannte ihn. Nicht näher. Er war einer von den alten Burschen, die mit meinem Vater Pinokel spielten.“ Obwohl es aufgehört hatte zu regnen, war der Kotflügel noch naß. Jesse wischte ihn mit seinem Taschentuch trocken. „Ein Glück für uns, daß die Tanks leer waren, was?“ Er breitete auf der Oberfläche des Kotflügels die wenigen ärmlichen Besitztümer aus, die er aus Herrn Pattersons Taschen genommen hatte: eine Brieftasche mit Eselsohren; sie enthielt die gewöhnlichen Papiere, den Führerschein und 25 Dollar; vier einzelne Dollarnoten, die 125
zusammengefaltet in einer anderen Tasche gesteckt hatten, einen angekauten Bleistift, mehrere Papierfetzen, ein zerdrücktes Päckchen Zigaretten und ein Päckchen Streichhölzer und schließlich neun Schecks über je zwei Dollar, zahlbar an Floyd Patterson. „Für ihn war’s vielleicht Pech“, mutmaßte Tom Winston milde, nicht imstande, seine Augen ganz von den verschiedenen dienstlich aussehenden Gestalten wegzuziehen, die sich jetzt über das am Boden liegende tote Ding beugten. „Vielleicht wäre er lieber anders gestorben.“ „Wer darf sich das wählen?“ sagte Jesse; dabei entfaltete er die Zettel und glättete sie: ein Besorgungszettel, die Worte „Rasier-Klingen“ dick umrahmt, eine quittierte Garagenrechnung für eine Reparatur und noch ein anderer. „In den Rücken geschossen. Dreimal. Warum, Jesse?“ Jesse rieb sich das Genick und spürte die Hitze dort, trotz der nassen, fast winterlichen Kälte in der Luft. „Eine berechtigte Frage, Tom. Er war ein friedlicher Mann. Warum hat er versucht, in diese Pumpen hineinzukrachen? Oder war das ein Unfall? Sag mir das, Tom.“ „Die Kriminalpolizei bildet von Arlington her einen Kessel. Da der Wagen nicht läuft, rechnen sie – und ich mit ihnen –, daß der Mörder zu Fuß weg mußte. Sie haben jetzt zehn Mann dort im Wald und schicken gleich noch Verstärkung. Aber zum Teufel, es ist schon zu lange her, daß es passiert ist. Fast niemand benutzt jetzt diese Straße, seit die Einundzwanzigste ganz und gar gepflastert ist. Ich hab’ eine Ahnung …“ „Moment mal“, sagte Jesse Webb; er sagte es sehr, sehr leise, So daß Tom Winston, als er die Worte hörte, ein langsamer, sonderbarer Schauer über den Rücken lief. „Mein Gott!“ flüsterte Jesse. Er hielt zwischen seinen 126
langen Fingern – Fingern, die jetzt ein klein wenig zu zittern anfingen – den letzten kleinen Zettel schmutzigen Papiers aus Herrn Pattersons Tasche. „Mein Gott, Tom!“ Winston beugte sich vor, studierte die Zahlen, die in Bleistiftschrift auf dem Papier standen, richtete sich dann auf und blickte Jesse Webb in das hagere, ausdruckslose Gesicht. In der Ferne heulte eine Sirene. Der Ton ging Jesse durch und durch. „Vielleicht hat er einen schnellen Blick drauf geworfen“, sagte Winston. Auch ihm wurde das Atmen schwer. „Vielleicht hatte er’s eilig, weißt du – das wär ’ne Erklärung für die Drei.“ „Und vielleicht hat er’s bloß im Radio gehört.“ Jesse sprach langgezogen, mit dünner Stimme, die verriet, daß er es besser wußte – oder hoffte, es besser zu wissen. „Vielleicht hat er sich’s vorm Radio aufnotiert, für den Fall daß – na, wie’s eben alte Leute manchmal tun.“ „Ja, das kommt vor“, gab Winston zu, doch er konnte nicht genug von der kalten, dünnen Luft in seine Lungen kriegen. „Aber wenn du aus der Drei ’ne Acht machst, dann hast du die Nummer. Ich wette, er war in Eile, weißt du, und seine Augen wollten auch nicht mehr recht. Wenn du aus der Drei ’ne Acht machst, dann hast du’s.“ „Fürs erste“, sagte Jesse Webb langsam, mit schrägem Blick, „fürs erste werden wir die Drei in eine Acht umändern, Tom. Dann werden wir mal annehmen, daß Herr Patterson in dem kleinen alten Haus am Rand der Müllgruben, wo er lebte, gar kein Radio hatte. Wir wollen auch – zunächst – annehmen, daß er die Wagennummer gesehen hat. Und dann werden wir drangehen, den Wagen ausfindig zu machen. Erst mal die Schecks. Sind sie alle aus derselben Gegend? Wieviel andere Häuser sind in 127
dieser Nachbarschaft, die Herr Patterson heute aufgesucht haben kann? Oder vielleicht irgendwo hier herum im Walde? Ich werde es herausbekommen, Tom, wo er heute gewesen ist, und ich werde alles mit ’ner Drahtbürste durchscheuern.“ Jetzt begann er schneller zu sprechen, keine schleppenden Worte mehr, kein nachdenkliches Zögern. „Und du fängst an, dich von hinten durch diese Schecks durchzuarbeiten und alle andern Kunden von Herrn Patterson zu ermitteln – Namen und Adressen und Telefonnummern, was für Leute, wo sie arbeiten, ihre Vorgeschichte. Von A bis Z. Das können insgesamt hundert, zweihundert Leute sein.“ „Los, Jesse, sag es.“ „Ich möcht’s nicht sagen, Tom.“ „Sprich’s nur aus, Jesse. Wir sind auf der Spur.“ „Herrgott, Tom – es könnte sein. Es könnte sein. Wir haben die Nummer wieder. Direkt hier in der Stadt, wie ich’s die ganze Zeit gesagt hab’. Ich hab’s gesagt, Tom.“ Mit langen, schnellen Schritten ging er auf den Wagen des Sheriffs zu. „Die Nummer haben wir. Nun müssen wir den Wagen kriegen. Los, Tom, los! Wenn sie im Walde jemanden greifen, laß mich’s sofort wissen. Sag ihnen, hinter wem wir her sind, Tom. Jetzt nichts als drauf, hörst du?“ Hinter dem Steuer spürte er, wie die Hoffnung seine quälenden Befürchtungen verdrängte, sogar seine Wut und seinen Abscheu überwältigte. Du darfst dem Zufall nicht zuviel Bedeutung beimessen, sagte er sich warnend, andererseits darfst du keinen noch so abseits gelegenen Winkel übersehen, denn in den Winkeln hält sich das Ungeziefer verborgen. Er trat den Gashebel durch und stellte die Sirene an. Wie ein Riß durchfuhr ihn ein Glücksgefühl, eine Hoffnung. 128
Der Wagen war in der Stadt gesehen worden. Heute! Er konnte noch in der Stadt sein. Glenn Griffin wäre glatt imstande, dem armen alten Mann drei Ladungen Blei in den Rücken zu jagen. Der Bezirksanwalt konnte die anderen Spuren bearbeiten. Er, Jesse Webb, blieb für sein Teil auf der ursprünglichen Fährte. Die Rechnung ging auf. Die Telefonfährte hatte sich erledigt. Jeder Anruf in der letzten Nacht von Columbus nach Indianapolis war überprüft worden. Nichts zu machen. Aber dies hier … Er würde die graue Limousine mit der Nummer finden, die wie mit glühenden Eisen in sein Gedächtnis eingebrannt war. „Jetzt ist die Karre gezeichnet, Hilliard – nicht wie bisher, verstehen Sie. Aber unser Freund Robish hier, der hat die Nerven verloren und dem Alten die Taschen nicht durchsucht, wie er sollte …“ „Ich sagte dir doch, er fuhr gegen …“ „Maul halten, Robish. Jetzt rede ich. Und ich hab’ was Wichtiges mit Hilliard zu besprechen.“ Hank Griffin lehnte sich gegen die getäfelte Wand des Arbeitszimmers. Ab und zu warf er einen Blick in den Hinterhof oder auf den seitlichen Fahrweg. Er hörte zu, was sie im Wohnzimmer sprachen. Glenn hatte etwas im Sinn. Wenn man ihn beobachtete und hinhorchte, konnte man den Motor seines Geistes förmlich ticken und schnurren hören. Hank hatte den Verstand seines Bruders immer bewundert, die rasche, scharfe Art, wie er arbeitete, wie er Entscheidungen traf. Auf Grund dieses Verstandes war er, Hank, jetzt hier. Und frei. Ein langsames, höhnisches Lächeln stieg in ihm auf, doch sein Gesicht blieb ernst. Frei. Er war niemals weniger frei gewesen. Nicht einmal in der Zelle. 129
„Sehn Sie, Alter, die Sache liegt so. Robish hier hat jetzt ’ne Pistole in Besitz und gibt sie nicht ’raus. Er wird sie nicht wieder gebrauchen, weil ich ihn nicht lasse. Und Sie haben vor ein paar Minuten meinen kleinen Bruder Hank gehört. Der läßt sein Schießeisen auch nicht wieder locker. Nicht, solange Robish sein’s behält. Man kann also sagen, alter Herr, daß ich so wehrlos bin wie Sie. Aber mit einem Unterschied. Hank da drin und Robish – die haben zusammen noch kein halbes Hirn. Ohne mich sind sie geliefert, und das wissen sie beide. So. Und was machen wir jetzt mit dem grauen Wagen in der Garage?“ Dan Hilliard antwortete nicht. Seit er vor einer Weile mit seiner Tochter und Robish hereingekommen war, hatte er nichts zu Glenn gesagt, nicht ein Wort. Er saß immer noch vorgebeugt in seinem Stuhl, starrte vor sich hin und sah selbst beinahe wie tot aus, bis auf die heißen Kohlen in seinen Augenhöhlen. Hank wußte, daß nichts Glenn wütender machte, als nicht beachtet zu werden, und er spürte deutlich, wie das anhaltende Schweigen dieses Mannes an den Nerven seines Bruders zerrte. „Ich habe Sie was gefragt, Hilliard.“ Dan Hilliard hob den Kopf, sah von seiner Frau, die sich nicht regte, zu seinem Sohn, der ihn, im Sofa zusammengekauert, beobachtete, dann zu seiner Tochter. Hank folgte dem wandernden Blick, und als er das Mädchen ansah, stieg schon wieder die quälende Erwartung in ihm auf. Sie stand etwas abseits von den andern, in einer bestimmten hochmütigen Haltung, die Hank innerlich schwächte und entnervte. Es war nicht dieselbe Schwäche, die ihn überkam, als Robish erzählte, wie er den Mann getötet hatte. Als er dann Robishs leichtherzige, fast heitere Stimmung sah und merkte, daß etwas anderes darunter lag, etwas Häßlicheres und Schrecklicheres, 130
nämlich eine Art von Erleichterung, Entspannung, Sättigung – da war Hank tatsächlich körperlich schlecht geworden. Als er dann das Gesicht des Mädchens sich vor Ekel verzerren sah, wurde ihm wieder schwach oder übel. Jetzt aber – das war etwas anderes. Das war, als sähe er in ein Schaufenster, ein elegantes Schaufenster, in dem ein schön gedeckter Tisch stand, mit seltsam geformten blinkenden Gläsern und hochglänzendem Silber, mit Stühlen, deren Holz glatt und schimmernd war, und als sähe er dann die Leute in diesen Raum treten, in ihren gepflegten Kleidern, die Frauen mit bloßen Schultern. Dann höhlte ihn eine kranke Sehnsucht förmlich aus, fraß alles andere weg und machte ihn schwach und wissend. Wissend, daß er etwas verloren hatte, etwas, was er nie gehabt hatte und nach Glenn Griffins Worten niemals haben konnte. Aber dieses Wissen machte den Hunger nur ärger … Und so war ihm jedesmal zumute, wenn er das Mädchen ansah. Er konnte nicht dagegen an. „Hilliard, Sie antworten, wenn ich mit Ihnen spreche!“ Die rauhe, fordernde, wütende Stimme riß Hanks Aufmerksamkeit wieder zurück zu seinem Bruder. Denn solange Hank denken konnte, hatte Glenn ihm auf diese und jene Art gesagt, daß es auf der Welt nur ein Mittel gäbe, etwas zu bekommen, was man haben wollte – nämlich es zu nehmen. Nimm es, Hank. Verschaff dir ’ne Pistole, wenn’s sein muß – aber nimm es. Hank hatte nur ’nen halben Verstand, Glenn hatte es gesagt. In einem Augenblick machte Glenn seine Witze, neckte einen mit halber Stimme und auf eine Art, daß man denken mußte, er mache sich was aus einem und sorge für einen … und im nächsten kam dann so eine Redensart wie jetzt eben, die einem bewies, daß man in seinen Augen doch bloß ein Idiot war. Aber dies war das 131
erstemal, soweit sich Hank erinnern konnte, daß Glenn so etwas geradeheraus vor andern gesagt hatte. Und besonders vor ihr. „Griffin …“ Hank atmete ein wenig auf, irgendwo gab ein Draht da innen nach, als er Dan Hilliards Stimme hörte. Die Stimme klang müde und alt. „Griffin, als ich Robish half, hierher zurückzukommen, nachdem er einen Menschen ermordet hatte, habe ich mich selbst der Begünstigung dieser Tat schuldig gemacht.“ Das war es. Das waren die Worte, nach denen Hank tastete, seit er Robishs Geschichte gehört hatte. Begünstigung der Tat. Nur war es in Hanks Fall vielleicht noch schlimmer; er erinnerte sich, daß er einmal irgendwo gehört hatte: Auch wenn man nicht selbst den Hahn abzog … „Wenn Sie also glauben, daß ich noch irgendeine schmutzige Arbeit für Sie tue, dann irren Sie sich.“ Dans Stimme war klanglos, leer und trocken. Glenn fand das komisch. Er lachte. Er warf sogar einen Arm um Hilliards breite, schwere Schultern. „Sie sind ein gerissener Hund, Alter, und Sie haben Courage. Aber Sie müssen vernünftig sein. Versetzen Sie sich in meine Lage. Der Kleine hat mir den ganzen Tag vorgewimmert, daß wir abhauen sollen. Kann ich nicht, sagte ich ihm. Ich kann nicht alles über den Haufen schmeißen, bloß weil mir so’n alter Hampelmann in den Weg kommt, der seine Nase in was reinsteckt, was ihn nichts angeht. Wissen Sie, was dann passieren würde? Der Zaster käme in Ihr Büro, morgen früh schon, und ich wär’ über alle Berge und hätt’ keine Chance, die kleine Sache hier in der Stadt, die mir am Herzen liegt, erledigen zu lassen. Ich habe für das Geld gearbeitet, Alter; Hank und ich; ich kann keinen Cent davon wegschmeißen. Wir haben auf 132
unschuldig plädiert, verstehn Sie. Das heißt, daß wir das Geld überhaupt nicht geschnappt haben. Kapieren Sie das, Hilliard?“ Das Geld war’s nicht wert. Die Rache an Jesse Webb war’s nicht wert. Nichts war es wert, weiter hier rumzuhocken, nachdem ein Toter da war und die Polente jede Sekunde auftauchen konnte! Irgendwo in Hanks Herzen schrie eine Stimme auch: Diese Leute haben genug durchgemacht. Seine Muskeln zuckten in der Gewißheit, daß sie gehen sollten, abhauen, türmen. Aber Glenn traf die Entscheidungen. Glenn hatte es immer getan. Und gewöhnlich hatte er recht. Dan Hilliard schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was ich Ihnen antworten soll. Der Wagen steht in der Garage sicher. Es ist unwahrscheinlich, daß jemand anderes kommt, und wenn Sie versuchen, den Wagen rauszuholen …“ „Ich werde ihn nicht herausholen, Hilliard. Sie werden es tun.“ Die Worte machten das Zimmer stumm, Hank Griffins Herzschlag stockte. Du bist verrückt, Glenn, sagte er im stillen. Verrückt. „Sobald es hübsch dunkel ist, verstehn Sie, aber nicht zu spät, weil’s Ihnen doch nicht lieb wäre, daß ’ne Streife Sie erwischt, wenn alle andern Wagen von der Straße ’runter sind. Sie gehn jetzt in die Garage und nehmen die Nummernschilder ab. Ich will Ihnen was sagen, montieren Sie dafür die vom Rotkopf an. Sie möchten sich doch nicht gern erwischen lassen, weil Sie ohne Nummer fahren, was, Hilliard? Wär’ doch schade um Ihren guten Ruf!“ „Griffin …“ Diesmal war es Robishs Stimme, er kam nun selbst von der Diele und schob sich herein. „Griffin, 133
sie fangen diesen Kerl, und er wird nicht dichthalten. Laß die Finger von dem Wagen.“ „Stimmt das, Hilliard? Würden Sie uns verpfeifen?“ Dan Hilliard schüttelte langsam den Kopf, sein breites Gesicht blieb ausdruckslos. Im Arbeitszimmer fühlte Hank Griffin, der sich jahrelang unter dem stechenden Hohn von Glenns Zunge gekrümmt und gewunden hatte, wieder dieses schale schwächliche Mitleid in sich aufsteigen. Er haßte es. Er ballte die Fäuste, um es abzuwürgen. Was zum Teufel scherten ihn diese Leute? Hilliard – auch einer von diesen Idioten, die idiotisch lebten, Tag für Tag zur Tretmühle liefen und früh alt wurden. Für ein Trinkgeld! Blöde Hunde. „Siehst du, Robish? Hilliard ist zu klug, um zu pfeifen, selbst wenn er gefaßt würde. Ich, ich traue ihm. Er würde uns nicht schlecht reinlegen, wenn er ’ne Chance hätte – aber jetzt weiß er, daß er keine Chance hat, also wird er mitmachen. Ich habe ihn an seinem Lebensnerv gepackt, deshalb kann ich ihm trauen. Hörst du, Hank? Das ist der einzige Fall, wo du’s riskieren kannst, jemandem zu trauen.“ Jetzt hat er mir’s wieder gegeben, dachte Hank bitter. Ihm war die Brust wie zugeschnürt. Ausgerechnet das. Das saß. Und er mußte zugeben, daß Glenn recht hatte. Er erinnerte ihn daran, wie er den Bruder das vorige Mal gedrängt hatte, abzuhauen – da hatte Glenn ihn gewarnt: Hilliard sei nicht zu trauen, wenn sie nicht jemanden von seiner Familie in der Hand hätten. Deshalb wollte Glenn ja die Frau und das Mädchen mit auf die Flucht nehmen. Hank hatte gemeutert: Nein, das Mädchen nicht. Doch Glenns Lächeln hatte seine Rebellion im Keime erstickt. Der höhnische, wissende Blick hatte sie weggefegt, sogar 134
als Glenn achselzuckend nachgab: Na, Teufel, dann nehmen wir eben den Jungen, wenn dir dann wohler ist. Bloß nicht weich werden, Hank, hörst du? Wenn du erst weich bist, dann bist du erledigt. Hank wollte nicht weich werden. Jetzt nicht. Diesmal gab’s kein Entrinnen mehr. Diesmal war er ein Mörder. Er hatte nicht gemordet, aber dieser Gorilla Robish, der hatte gemordet, und das bedeutete für sie alle drei den elektrischen Stuhl. Mindestens aber lebenslänglich. Wenn er gefaßt wurde. Aber er ließ sich nicht fassen. Doch wenn Glenn weiter seine verdammten albernen Dinger drehte, dann ging’s nicht ab ohne allgemeine Schießerei, wenn sie nicht kalt und hart die Handschellen am Gelenk spüren wollten. Aber ohne ihn. Ehe es soweit war, türmte er auf eigene Faust. Der Gedanke an Robishs Colt in seinem Rücken paßte ihm ohnedies nicht, nach dem, was letzte Nacht geschehen war. Doch es freute ihn noch immer, daß er Robish sein Teil versetzt hatte. Ohne vorher zu wissen, daß er sich das schon lange gewünscht hatte. Und er wußte: Das wenigstens konnte er. Wenn er Robish nahe genug heranließ, daß er ihn zu Boden zerren und einfach sein Gewicht arbeiten lassen konnte – nun ja, dann wurde er, Hank, vielleicht mit dem schweren Kerl nicht fertig. Hatte er die Arme frei – Hölle und Teufel, dann konnte er den Mann in Stücke reißen, ohne daß Robish auch nur sah, was ihm passierte. Es war das einzige, was Hank gut konnte. Das einzige. Das machte er sich klar. Er hatte immer gedacht, das wäre etwas. Wäre viel. Nun aber … Seine Augen glitten wieder zu dem Mädchen hin. Sie beobachtete ihren Vater. Hank dachte an ihre Art, wie sie gestern abend gesagt hatte: „Ich danke Ihnen, Mr. Griffin.“ Diese Erinnerung und das Mitleid in ihrem schönen 135
Gesicht warfen Hank glatt um. Wie ein Doppelschlag in den Magen. Er spürte, daß ihm der Atem wegblieb. Als Dan Hilliard sagte: „Ich werde den Wagen für Sie im Fluß versenken, Griffin. Ich kenne die richtige Stelle“, da kam dieses kranke, ausgehöhlte Gefühl wieder über Hank. Er war wund davon, leer. Und er konnte den Blick nicht von dem lieblichen Gesicht des Mädchens losreißen, obwohl es der Quell all seiner Schmerzen war. Es war fast, kam ihm zum Bewußtsein, als ob er leiden wollte. Es war fast, als habe er nie zuvor eine Möglichkeit gehabt zu leiden – auf diese Art zu leiden, wegen eines Mädchens – und als täte ihm das not. Dieses Bedürfnis, zu leiden, war ein Teil seines Hungers. „Wenn Sie ein ehrliches Spiel mit mir treiben, alter Herr“, sagte Glenn, „werde ich auch ein ehrliches Spiel mit Ihnen treiben, verstanden?“ Ehrlich? Ehrlich! Wenn du vorhast, seine Frau mitzunehmen, sein Kind als Schild zu benutzen? Hank haßte seinen Bruder. Nicht zum erstenmal, aber zum erstenmal so kalt und unversöhnlich. Glenn war der einzige Mensch auf der Welt, der ihm jemals wirkliche Zuneigung gezeigt und ihn etwas über das Leben gelehrt hatte. Glenn hatte ihn vor der betrunkenen Verachtung seiner Mutter beschützt, vor der brutalen Gewalttätigkeit seines Vaters. Dennoch – jetzt haßte er ihn. Unter all seiner verborgenen Liebe und seinem Vertrauen haßte er ihn. Dieser Tatsache gegenüber vergaß der junge Mensch alles andere, sogar die ewige stachelnde Furcht, daß durch irgendwelche Verflechtung der Umstände, von der er nichts wußte, die Polizei immer näher rückte … selbst jetzt, in diesem Augenblick. Mit Hilfe des Adreßbuches und verschiedener Karten hatte Jesse gegen fünf Uhr früh die genaue Lage der 136
Häuser festgestellt, die Herr Patterson an jenem Morgen besucht oder wahrscheinlich besucht hatte. Zumindest wußte er jetzt die Wohnungen der Leute, die Herrn Patterson für die Müllabfuhr einen Scheck ausgestellt hatten. Man konnte mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß die Leute, die bar bezahlt hatten, in derselben Gegend wohnten. Er hatte mit roter Tinte einen Kreis um den Bezirk gezogen – er umfaßte etwa zehn Blocks, also ungefähr zweihundert Wohnungen, drei Läden und mehrere unbewohnte Grundstücke. „Ich möchte nicht, daß unsere Wagen da herumstreifen, Tom, hörst du?“ Er schob die Karte auf den Tisch hin und her. „Ich sage nicht, daß sie wirklich dort drin sind. Ich halte es sogar für töricht, sie dort zu vermuten. Es ist eine ordentliche, gutbürgerliche Wohngegend. Und nachdem sie Herrn Patterson kaltgemacht haben, wären sie ja verdammte Idioten, wenn sie dort blieben. Und Glenn Griffin ist alles andere als ein Idiot. Aber drei menschliche Wesen können sich nicht in dünne Luft auflösen. Das kommt nicht in Frage.“ „Na, und was ist mit dem Bankeinbruch bei Peru?“ fragte Tom Winston sanft. „Ja, das ist nicht schlecht. Darüber habe ich einen abschließenden Bericht bekommen. Zwei Kerle überfallen ’ne Bank in irgendeinem Kaff namens Denver, von dem kein Mensch was weiß. Zwei andere Leute, einschließlich des Kassierers, der’s besser wissen müßte, schwören, es wären die Brüder Griffin gewesen. Sie waren bereit, auf ihre Familienbibel zu schwören, daß sie die beiden erkannt hätten – bis drei Stunden später ein verängstigter Bauernknecht hereingeschlichen kommt und auf dem Polizeirevier in Peru ein Geständnis ablegt. Sein Gewissen ließe ihm keine Ruhe. Inzwischen hat das halbe Land 137
aufgeatmet und geglaubt, wir hätten nun endlich die Spur der beiden Jungens. Du brauchst mir nicht erst zu sagen, das ist der Lauf der Welt – das weiß ich selber. Aber damit ist mir nicht geholfen.“ „Beruhige dich, Jesse!“ riet Tom Winston und studierte die Karte. „Und sag mir bloß nicht: ‚Beruhige dich!‘“ „Ich mach’ dir ’n Vorschlag“, sagte Tom Winston darauf. „Wir beide gehen mal ’raus und raufen. Das hilft uns zwar nicht, Griffin aufzufinden, aber vielleicht kühlt es dich ab.“ Nun lachte Jesse; diesen Ton liebte er. Er liebte das Behagen, das ihm dabei durch den langen Körper lief. Er sah wieder auf die Karte. „Wir haben vier Streifenwagen hier, ja? Sag ihnen, sie sollen sich bereit halten. Stell sie an vier verschiedene Plätze, einen hierher, die andern da, da und da. Damit sind die Ausfallstraßen gedeckt. Ich nehme an, sie werden nicht besonders wild darauf sein, durch die Stadt zu fahren, wenn sie ’raus wollen.“ Er richtete sich auf und holte Atem. „Wo ist Kathleen?“ „Sie ist ins Kino gegangen. Sie sagt, wir halten die Büroräume tagsüber zu heiß und nachts zu kühl.“ Jesse lachte wieder. „Bedaure, wenn ich störe, meine Herren“, sagte eine Stimme von der Tür her, und der junge Carson trat ein. „Die Stadtpolizei hat aus irgendwelchen mir unbekannten Gründen – vielleicht aus Groll auf Sie, Webb – seit Mittag über diesem hier getagt.“ Er händigte Jesse ein Stück weißes Papier aus, auf dem mit Tinte ein paar Worte geschrieben waren. Carson nahm die Brille ab und wischte die Feuchtigkeit von den Gläsern. „Es wurde während der Mittagsstunde im Revier abgegeben. Ein Bote von einem Hotel brachte es und gab dazu vier verschiedene 138
Beschreibungen des Mannes, der ihm ein Fünf-DollarTrinkgeld gegeben hatte, wenn er’s ablieferte. Ich hatte den Vorzug, eben jetzt die fünfte und sechste Beschreibung zu bekommen.“ Jesse las, und das Lachen verging ihm. Dann legte er es in Tom Winstons dicke Finger. Winston las und stieß einen leisen Pfiff aus. Ein kalter Klang in diesem einsamen Ton. Dann standen die drei Männer und sahen sich schweigend an. „Jetzt wissen wir’s“, sagte Tom Winston endlich. „Der Idiot!“ murmelte Jesse Webb. „Der Mann ist schwer im Druck“, sagte Carson. „Aber soviel müßte er wissen! Herrgott, weiß er das denn nicht?“ fragte Jesse weder Winston noch Carson, „Kann er sich nicht denken, daß er mit solchen Lumpen nicht gemeinsame Sache machen kann?“ „Immer ruhig!“ sagte Tom Winston. „Hör bloß damit auf, Winston. Ich bin ruhig! Denk doch an den armen Kerl – wahrscheinlich wie die Maus in der Falle, in seinem eigenen Haus, mit diesen …“ „Wir müssen herausfinden, wo er ist, Jesse. Das ist wichtiger als …“ „Hör auf. Laß mich das nach meiner Art machen. Da arbeitet die ganze verdammte Kriminalpolizei an dem Fall, und die Stadtpolizei sitzt auf dem Beweisstück und läßt uns schwitzen …“ Er brach ab, als er Winstons offenen Mund sah; dann sprach er schnell weiter: „Sag mir noch einmal ‚immer ruhig‘ – dann raufe ich mich mit dir!“ „Ihr sprecht von Beweisen“, warf der junge Carson rasch ein, „was ist dies hier?“ Er nahm die Karte auf. „Das ist keinerlei Beweis“, sagte Jesse und ließ sich in den Sessel sinken. „Das sind bloße Vermutungen. 139
Schlichte und nicht sehr phantasievolle Vermutungen von Vize-Sheriff Webb. Hören Sie, Carson, gibt es keinen Weg, dem Mann eine Nachricht zukommen zu lassen – wer er auch ist –, daß er sich nicht drauf einlassen darf, mit ihnen zu paktieren.“ „Wie?“ fragte Carson. „Das sollen Sie mir sagen“, forderte ihn Jesse heraus. „Sie dürfen diesmal ins Dunkel vorstoßen, Herr Bundesbeamter. Diese Burschen werden den armen Kerl restlos erledigen, ehe sie selbst erledigt sind. Innerlich und äußerlich. Mit solchem Abschaum kann man nicht paktieren.“ „Nein?“ Carson zündete sich eine Zigarette an. „Was würden Sie denn um, Webb? Versetzen Sie sich mal an seine Stelle. Ich finde, es war sehr geschickt von ihm, diesen Zettel zu schreiben, so zu schreiben. Es könnte einen jungen Polizisten, dem die Finger jucken, immerhin abhalten, auf eine Frau oder ein Kind zu schießen.“ „Dem die Finger jucken – wie mir, Carson?“ fragte Jesse spitz. „Sie haben mehr Verstand. Und das macht Sie so fertig, Freundchen. Sie wissen genau, wie schwer der Mann im Druck ist. Was würden Sie denn unter solchen Umständen tun, Webb?“ „Er würde paktieren“, sagte Winston zu Carson; dabei berührte er mit der geballten Faust Jesse Webbs Schulter und gab ihm einen kleinen freundschaftlichen Stoß. „Jaaa“, sagte Jesse langsam. Die scharfen Krallen seines Hasses rissen innere Wunden auf. „Genau das würde ich, Tom. Oder ich würde es versuchen.“ Dan Hilliard versuchte es. Der stahlharte Schaft der Enttäuschung und Hilflosigkeit saß tief in seinem Herzen, so 140
tief, daß gewöhnliche Gedanken, sogar die Ängste, die ihm einmal in die Seele geschnitten hatten, zu schattenhaften, fernen Dingen wurden. Wichtig war nur das unmittelbare Jetzt, dieser Augenblick und der nächste Augenblick und der nächste. Er war sich bewußt, daß er einen Wagen fuhr, der von der Polizei gesucht wurde. Die Nummernschilder von Cindys Coupé konnten vielleicht einen fragenden Polizisten abschütteln, wenn ihn durch einen unglücklichen Zufall ein Streifenwagen bemerkte. Auch seine eigene Erscheinung hinter dem Steuer – obwohl er guten Grund hatte anzunehmen, er sähe seinem normalen Ich wenig ähnlich – würde sie vielleicht irreführen. Die Nummernschilder, die an der grauen Limousine waren, hatte er schon verschwinden lassen. „Das überlasse ich Ihnen, Hilliard“, hatte Glenn Griffin ihm gesagt, ehe er das Haus verließ. „Sie werden keine Dummheiten machen. Teufel, es ist für Sie ebenso wichtig wie für mich.“ Viel wichtiger, sagte sich Dan Hilliard grimmig. Viel wichtiger. Er hatte die Schilder in ein Dickicht geworfen, das sich an einer kleinen Straße hinzog, wo noch keine Häuser waren; sie lief nur zwei Blocks weit und war für den späteren Ausbau des Viertels vorgesehen; an der Ecke war ein Schild mit dem Namen des Grundstücksmaklers. Dann hatte er gewendet und hatte das Dickicht mit den Scheinwerfern abgeleuchtet – nicht ein Schimmer von Metall war zu sehen. Er war ziemlich sicher, daß er nicht bemerkt worden war. Nun fuhr er, mit Vorsicht nur die schmalen, engen Wohnstraßen benutzend, nach Westen. Er vermied alle größeren Kreuzungen und überquerte die wichtigen Verkehrsadern nur auf unbekannten Seitenstraßen. Bei Einbruch der Nacht war ein böiger Wind wieder aufge141
kommen, und die durchdringende Kälte machte die Straßen verlassener als gewöhnlich um diese Zeit. Er hielt sich innerhalb der Stadtgrenzen, denn sein Verstand sagte ihm, daß er auf diese Weise unbemerkter zum Fluß gelangen konnte. Er behielt umschichtig das nasse Pflaster vor sich und den Rückspiegel im Auge, während er gleichzeitig die Gehsteige und Querstraßen automatisch nach Gefahrensignalen absuchte. Er war etwa drei Blocks von der Brücke entfernt; vor ihm waren die geisterhaft aussehenden Umrissen des Riverside-Vergnügungsparks, der jetzt dunkel und geschlossen war, als er merkte, daß ihm ein Paar Scheinwerfer um zwei scheinbar zwecklose Wendungen gefolgt war. Nicht zum erstenmal bei den fünf oder sechs Meilen, die er gefahren war, spürte er diesen Verdacht, aber das brachte seine schmerzenden Muskeln wieder zu gespannter Straffheit. Er machte eine scharfe Wendung nach links in eine schäbige Straße, dann eine nach rechts. Dann verlangsamte er vorsichtig seine Fahrt. Die Zwillingslichter schwangen hinten im Spiegel in Sicht. Dan war nicht erschrocken; sogar die Furcht schien ihm jetzt ein nutzloses und ziemlich albernes Gefühl; das alles lag hinter ihm. Seine Aufgabe war, die verfolgenden Lichter abzuhängen. Noch durfte er nicht zu schnell fahren. Und jede andere Bewegung des Wagens, die irgendwie ungewöhnlich war, konnte die Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Es waren nur die beiden Lichtstrahlen da – und immer noch in ziemlichem Abstand von ihm; bis jetzt noch kein rotes Licht eines dritten, obwohl er das nun erwartete und keine Ahnung hatte, wie er sich verhalten würde, wenn dies geschähe. Der Gedanke, daß er, Dan Hilliard, vor der Polizei Angst hatte, flackerte höhnisch in 142
einer fernen Ecke seines Hirns. Er befand sich in einer Gegend, die er überhaupt nicht kannte: plumpe, häßliche, verwitterte alte Holzhäuser. Nur wenige Lichter hinter trüben Fenstern. Der stoßweise Dampfhauch, der aus seinen eigenen Lippen brach, ließ ihn merken, daß er zu schnell atmete. Er machte eine neue Wendung in eine enge Straße, die keine Bogenlampen hatte. Die Schatten der Bäume fielen dunkel und flach über seinen Weg. Da kam ihm der Gedanke: Er wußte plötzlich genau, was er tun und wie er es tun würde. Und jetzt, jetzt, ehe sein Verfolger um die Ecke bog! Er wählte eine Einfahrt, die dicht an einem dunklen Haus entlanglief; er prüfte die Kurve sorgsam, schaltete dann seine Scheinwerfer ab, riß das Steuer herum, stellte den Motor ab und ließ die graue Limousine ohne Gas bis zu einem stillen Winkel ausrollen, dich am Haus und unter dem noch tieferen Schatten einer kleinen Holzgarage. Er drehte sich im Sitz herum – jeder Muskel widersetzte sich mit schmerzhaften Stichen, sein Kopf war schwer und drohte zu zerspringen; den Atem anhaltend, wartete er und spähte durch das hintere Fenster. Weiter unten in der Straße – wie weit, wußte er nicht – schlug eine Tür zu. Eine Männerstimme erhob sich, erstarb. In dem Haus zu seiner Seite, so dicht, daß er durch das Fenster die rauhen Schindeln greifen konnte, regte sich nichts. Dann war die Straße von Licht überflutet, als der Verfolger aufdrehte; das Heulen des Motors hallte durch die nächtliche Gegend. Als er vorbei war, hörte Dan, wie der Wagen sein Tempo verlangsamte – der Motor schnurrte und setzte zögern aus. In der Sekunde, da er vorbeijagte, konnte Dan nichts als seine Umrisse erkennen: Es war 143
ein großes Kabriolett, die Form des weichen Verdecks ziemlich deutlich im Schein seines eigenen Lichts. Dan hielt sich nicht damit auf, darüber nachzudenken; er fühlte sich nur unendlich erleichtert, daß es kein Streifenwagen war. Er startete, ohne die Scheinwerfer einzuschalten, und setzte die graue Limousine zurück; als das Kabriolett eine Wendung machte – Dan lauschte angespannt, er hörte nur das Geräusch des sich entfernenden Motors –, fuhr er rückwärts in die schmale Straße; er achtete sorgsam darauf, den Vergaser knapp zu halten, und schlich sich weg, in der Richtung, aus der er gekommen war. Erst als er, sicher, daß keine Lichter ihm folgten, die Brücke überquert hatte, fing Dan Hilliard an, über das große Kabriolett und seinen Fahrer nachzugrübeln. Hier war ein neuer, völlig unvorhergesehener Faktor, den sein Verstand nicht richtig in das Bild zu bringen vermochte. Er war überzeugt, daß kein Polizist, wenigstens im Dienst, ein solches Fahrzeug benutzte; auch konnten sich nicht viele Polizeibeamte, wenn überhaupt einer, den Besitz eines solchen Wagens leisten. Wenn es aber kein Polizist war, der die graue Limousine erkannt hatte – wer war es dann? Er brach die Überlegungen ab und konzentrierte sich wieder auf den unmittelbaren Augenblick; am andern Flußufer bog er nach Norden und folgte einer breiten Straße, die dicht an den niedrigen Uferklippen entlanglief. Hier machte die ganze Gegend den Eindruck eines Parks; bald war Dan unter hohen Bäumen, rechts von ihm das dunkle Glitzern des Wassers. Hier war der Fluß, das wußte er, tief genug. Doch es war noch zu nahe an der eigentlichen Stadt, sogar vielleicht noch innerhalb der Stadtgrenze. Und es gab auch Menschen. 144
Gelegentlich näherten sich Wagen, die abblendeten, wenn er automatisch seine Scheinwerfer abblendete; nur dann und wann erschienen ein paar Lichter im Rückspiegel. Dan mußte jedesmal die Entscheidung treffen: Soll ich ihn vorbeilassen, oder soll ich versuchen, ihn abzuhängen? Ist es das Kabriolett? Oder vielleicht ein Streifenwagen? Und jedesmal entschied er sich, seinen ursprünglichen Plan beizubehalten: nicht aufzufallen. Und jedesmal fuhren die Wagen, die meist mit jungen Liebespaaren besetzt waren, schnell an ihm vorbei. Aber als Dan sich der Stelle näherte, die er im Sinn hatte – einer hohen Klippe, etwa hundert Meter hinter dem Punkt, wo das breite, glatte Pflaster nach links abbog und zur gewöhnlichen Landstraße wurde –, konnte er die Gedanken über das Kabriolett da hinten nicht mehr loswerden. Vielleicht jemand aus der Stadt, der die graue Limousine nach der polizeilichen Beschreibung am Radio erkannt hat? Der bloß nahe genug kommen wollte, um die Nummernschilder abzulesen? Persönlich kannte er keinen, der diesen langen, lokomotivartigen Kabriolettyp fuhr. Also konnte es nicht einfach ein Freund sein, der ihn erkannt hatte. Das war überhaupt unlogisch. Niemand hat die leiseste Ahnung von der Lage, in der du dich befindest, sagte er sich. Du bildest dir ein, daß dich jedermann verdächtigt, wie du selbst mißtrauisch bist gegen jeden Wagen, der dir begegnet oder dich überholt – bloß weil die Schufte dich in den Gemütszuständen eines Verbrechers versetzt haben, dem die gewöhnlichsten Dinge bedrohlich erscheinen. Das ist die Welt, in der sie immer leben. Und jetzt ist es deine Welt. In diesem Sinn bist du einer von ihnen. Nun mußte er eine Stelle suchen, wo er von der Straße abbiegen konnte. Er kannte diese Gegend nur sehr 145
flüchtig. Als Knabe war er hier den Fluß hinabgeschwommen, aber damals führte an den Uferklippen nur ein ungepflasterter, wenig benutzter Feldweg entlang. Nun, nachdem dieser gewundene Feldweg zur schmalen Landstraße geworden war, sah alles wieder anders aus – durchaus nicht so, wie er es im Gedächtnis hatte. Er war geschwommen und hatte Beeren gepflückt, und sogar jetzt schmeckte er den sonnenheißen Saft, wie er sie damals in seinem Mund zerdrückt hatte. Nun lag die Stadt weit im Süden von ihm, mehrere Meilen entfernt. Sein eigenes Haus war nicht so weit ab, vielleicht vier oder fünf Meilen, wenn er nicht zur Brücke zurück gemußt hätte, um über den Fluß zu kommen. Bisher hatte er sich allerdings noch kein Bild von den kommenden Stunden oder dieser Heimkehr gemacht. Er hatte Griffin darauf hingewiesen, daß es lange dauern würde, wenn er es richtig machen und der Wagen nicht gefunden werden sollte. Er hatte ihm sogar etwas von seinem Plan verraten. Griffin hatte respektvoll gepfiffen: „Da haben Sie keinen schlechten Marsch vor sich, Hilliard.“ Dan hatte gedacht, daß Cindy ihm in ihrem Wagen folgen und ihn nach Hause fahren sollte. Als Griffin nur langsam verneinend den Kopf schüttelte und sagte: „Kommt nicht in Frage; je mehr Hilliards heute nacht hier sind, um so besser“, da hatte Dan im Gesicht des jungen Hank Griffin etwas wie finstere Rebellion gesehen, die gegen seinen Bruder gerichtet sein konnte – oder auch nicht. Jetzt ist nicht die Zeit für dies alles, sagte sich Dan scharf. Keine Zeit für diese unerwarteten Gegenströmungen, die sich trügerischer erweisen noch als alles, was die Polizei oder die Familie tat. Er entschloß sich zu wenden; er war schon an dem tiefen Teil des Flusses vorbei, an 146
diesem ausgewaschenen Kessel, den er als Junge gekannt hatte. Doch als er hielt in der Richtung auf die dunkle Masse von Bäumen und Unterholz, die zwischen der Straße und dem Steilufer lag, sah er Radspuren, die das Dickicht durchschnitten hatten. Führten sie zum Rand der Klippe? Nachdem er sich vergewissert hatte, daß er den Wagen durch das nasse, schwarzschattige Gehölz bringen konnte, stieg Dan wieder ein und saß den Bruchteil einer Sekunde hinter dem Steuer. Jetzt übertrat er das Gesetz. Er, Dan Hilliard, machte sich eines Verbrechens schuldig. Der Gedanke bedeutete ihm nichts. Er war nicht einmal erstaunt. Er lenkte die Limousine in die Bäume, die Zweige kratzten und knirschten gegen das Metall. Am Rand der Klippe zog er die Bremse an und kletterte wieder heraus, stand horchend in dem Schweigen; die Strahlen der Scheinwerfer stachen in die Dunkelheit über dem Wasser. Der Fluß unten war fast lautlos. Weiter stromabwärts sah er dann und wann einen Schimmer anderer Scheinwerfer über den Wasserspiegel streichen, von der Straße her, auf der er eben gekommen war. Er studierte die grasige, mit Gestrüpp bewachsene Klippe – keine Hindernisse. Dann fing sich sein Blick an einem zäh aussehenden jungen Baum, der gerade unter der Kante scharf hervorsprang. Er verfluchte sich, daß er dies nicht mit einberechnet hatte; er hätte sich eine Säge aus der Garage mitbringen müssen. Er klammerte sich mit einer Hand an die aus der schwarzen Erde herausstehenden Wurzeln eines Busches und klomm ein paar Fuß an dem durchweichten Hang abwärts; er prüfte die Festigkeit des kleinen Baumes – konnte dieser den Sturz des Wagens aus seiner Bahn lenken? Und in welcher Weise? Aber ohne jedes Werkzeug war er hilflos; der dünne Stamm war fest verwurzelt. 147
Der Wagen mußte den ganzen Steilhang hinunterrollen. Er mußte das Wasser erreichen. Es würde einen lauten Krach geben, und es war durchaus möglich, daß der Lärm nicht unbemerkt blieb. Aber Dan Hilliard hatte sich in seinem jetzigen Zustand daran gewöhnt, Gefahren gegeneinander abzuwägen. Er wußte, daß eine gewisse Unbekümmertheit notwendig war, hinter der eine sorgsame Berechnung der Chancen stand. Dieser Wagemut schien zu einem Bestandteil seines Lebens geworden zu sein. Er überlegte sogar, während er sich wieder auf den ebenen Boden zog und aufrichtete, ob er nicht von jeher ein Teil seiner Natur gewesen sei. Wann waren die Männer gekommen? Erst letzte Nacht? Unmöglich! Die dazwischenliegende Zeit schien ins endlose verlängert. Er glitt in seinen Sitz – sein Körper war naß, und an seinen Schuhen klebten Erdklumpen. Er war nicht fähig, dem kommenden Morgen entgegenzusehen, der Morgenpost um neun Uhr dreißig. Es gab jetzt keine Vergangenheit und keine Zukunft. Er schaltete in den Rückwärtsgang und setzte dreimal zurück in die Bäume und Stümpfe, bis er fühlte, daß er weit genug vom Rand des Abhanges war, um auf dem nassen Gras die nötige Geschwindigkeit zu bekommen, durch die der Wagen hinaus- und über den kleinen Baum wegschießen mußte. Jetzt zögerte er nicht. Er stürzte sich kopfüber in den Augenblick, sein Geist arbeitete wieder automatisch; er ging in den ersten Gang hinein, trat versuchsweise auf den Gashebel, ließ den Motor, mit dem linken Fuß auf der Kupplung, auf Touren kommen. Mit dem linken Ellbogen versicherte er sich, daß die Tür offen war, und schärfte sich ein, daß seine linke Hand im selben Augenblick den Türgriff loslassen mußte, in dem die rechte sich 148
vom Steuerrad löste. Er gab Gas, nahm den Fuß von der Kupplung, hielt das Steuer fest, sah den leeren schwarzen Raum auf sich zustürzen, in dem ihm Eleanors Gesicht entgegenschwamm. Seine Ohren füllten sich mit dem Krachen der Äste und dem Heulen des Motors und dem zornigen Mahlen der Reifen in der feuchten Erde. Dann sprang er seitwärts hinaus, warf sich heftig in die Leere, die nach ihm griff, spürte ein dorniges Prickeln an seinem Gesicht und den Aufprall seines Körpers auf der harten Erde. Dann füllte sich die ganze Welt bis zum Bersten mit dem donnernden Hinabsausen des Wagens. Dan lag zusammengekrümmt im Unterholz, während dieser Lärm hallte und widerhallte, knirschend, krachend, häßlich. Er wußte, daß der Wagen rollte, und jetzt schien dies Rollen niemals aufzuhören. Das Aufspritzen kam ganz plötzlich – erst ein festes Aufklatschen wie ein Schlag, dann eine Reihe von gurgelnden, schnappenden Geräuschen, als kämpfe unter der Kante des Steilhangs ein lebendiges Ungeheuer um sein Leben. Endlich ließ das Sprudeln nach, und es wurde lautlos still. Flach atmend, rollte sich Dan auf den Rücken. War der Wagen untergegangen? Er kroch zum Rand des Abgrunds. Das Bäumchen bebte mit einem schwachen, dürren Rascheln seiner Blätter. Unten war nichts. Äußerste leere Dunkelheit. Unsicher, zitternd erhob sich Dan. Er konnte nicht wissen, ob der Wagen versunken war. Was würde das Tageslicht oder vielleicht ein Jäger aus dem umliegenden Walde entdecken? Jetzt hatte er den stundenlangen Marsch nach Hause vor sich. Jetzt kam es darauf an, nicht zu denken, nicht zu grübeln – das wußte er ohne lange Überlegung. Jetzt kam es darauf an, so schnell wie möglich von dieser Stelle wegzukommen, einen bleiernen 149
Fuß dem andern nachziehend, diese Meilen zu schaffen und dabei unablässig seine Gedanken vorwärts zu zwingen, unablässig dem unvermeidlichen Augenblick entgegenzusehen, wenn sie morgen sein Haus verließen. Was sollte er dann tun? Wie konnte er verhindern, daß sie jemanden auf ihre Flucht mitnahmen? Vielleicht würde er eine Antwort darauf finden, noch ehe er zu Hause ankam. „Nehmen wir mal an, Sie haben recht“, sagte Leutnant Fredericks von der Staatspolizei zu Jesse Webb, „nehmen wir mal an, der Mann sitzt so schwer im Druck, wie Sie denken. Soweit gebe ich Ihnen recht. Aber warum bleiben diese Kerle dann weiter hier? Und wenn sie bereit sind abzuhauen – ist Ihr Mann dann etwa besser dran? Er sagt es hier direkt in seinem Brief, nicht wahr? Wenn diese Schweine zum Beispiel seine Frau mitnehmen – wieso ist er dann besser dran, als wenn wir jetzt gleich anfangen, diese Häuser abzusuchen? Hören Sie auf, so mißbilligend den Kopf zu schütteln – Sie gehn mir auf die Nerven!“ Jesse hatte nicht gemerkt, daß er den Kopf schüttelte, aber nun machte er die bewußte Anstrengung, es zu unterlassen. Dieser Leutnant Fredericks war ihm längst auf die Nerven gegangen, wenn er’s so ausdrücken wollte. Er liebte es überhaupt nicht, daß ihn jemand einfach in sein Büro bestellte; Fredericks war nicht sein Vorgesetzter, und er ging schon ziemlich weit, daß er ihn, Jesse, nach seinen Maßnahmen fragte. Zusammenarbeit war ganz schön; aber diese alberne überlegene Redeweise, wie zu einem Untergebenen – nein, das war keine Zusammenarbeit. Jesse mußte zugeben, daß er, oberflächlich gesehen, noch nicht viel fertiggebracht hatte. Er beantwortete die 150
Fragen höflich genug; vorgebeugt saß er hier im Büro der Landespolizei und versuchte immer wieder, dem kleinen, stämmigen älteren Mann in Uniform zu erklären, warum er jetzt nicht zupacken wollte – weil er nämlich bis jetzt das Haus nicht kannte, das zu umstellen war. „Besser dran ist er deshalb vielleicht nicht.“ Jesse dehnte die Worte. „Aber das ist, finde ich, eine Entscheidung, die der Mann selbst treffen muß. Dieses Recht hat er.“ „Einen Dreck hat er! Das ist Polizeiarbeit, mein Sohn. Niemand wünscht, daß unschuldige Menschen zu Schaden kommen. Aber wir können nicht ewig auf unsern vier Buchstaben sitzen und abwarten, daß die andern den ersten Zug tun. Sie haben die Kundenliste von diesem Müllfahrer …“ „Von Mr. Patterson“, ergänzte Jesse. „Natürlich, der alte Müllsammler. Ja, zum Teufel, es war doch Ihre Folgerung, nicht meine, daß der Mann den Wagen gesehen hätte. Aber nun müssen Sie sie auch verfolgen. Der alte Müllfahrer ist tot …“ „Mr. Patterson“, verbesserte Jesse wieder. „Lassen Sie diese Faxen, Webb – steht Ihnen nicht zu Gesichte, mein Sohn. Wir müssen die Sache doch zusammen bearbeiten. Also, Sie haben in der Gegend Streifenwagen aufgestellt. Wissen Sie, wie einfach es für die graue Limousine wäre, da herauszuschlüpfen? Na, ich will’s Ihnen sagen: Jeder Mensch mit normalem Verstand könnte es, auch wenn er keine Erfahrung besäße. So liegen die Dinge. Nach allem, was wir wissen, ist es unsern Freunden bereits gelungen. Sie sind über alle Berge. Der Telefontip hat sich totgelaufen – oder nicht? Vielleicht ist es hierbei ebenso. Aber das wissen wir nicht, mein Sohn, wenn wir’s nicht versuchen. Wir wollen 151
Leute hinschicken. An ein paar Türen klopfen, auf die Klingelknöpfe drücken, nach dem Wagen fragen – und nach diesem Herrn Patterson. Harmlose Fragen. Was können wir dabei verlieren?“ „Wir könnten sie dadurch zum Handeln zwingen“, sagte Jesse langsam. Der Faden seiner Geduld wurde dünn. „Das ist der Sinn der Sache.“ „Und sie können auf die Idee kommen, daß der Mann, der den Brief schrieb, sie bei uns verpfiffen hat. Sie können ihn einfach abschießen – oder seine Frau oder sein Kind … oder seine Kinder.“ „Auf die Dauer kommen Sie um die Entscheidung nicht herum, mein Junge!“ Jesse stand auf. „Hören Sie zu: Niemand drängt mehr auf eine Entscheidung als ich – weder Sie noch irgendein Polizeimann in ganz Indiana. Doch nach dem Gesetz untersteht dieser Fall nur mir allein, glaube ich; denn mein Vorgesetzter ist nicht in der Stadt. Wenn die Bundespolizei nicht anderer Ansicht ist. Aber Carson ist derselben Ansicht wie ich – wir haben darüber gesprochen. Wir würden die ganze Nacht und noch ein gut Teil vom morgigen Tag brauchen, um die ganze verdammte Nachbarschaft abzugrasen, wenn wir an den Türen klingeln wollen. Besten Dank, ohne mich. Ich will sie zur Strecke bringen, Leutnant, aber nicht, wenn sie dabei eine Familie zusammenschießen, bloß weil ich nicht warten kann.“ „Und während Sie warten“, sagte der Leutnant mürrisch, „kriegt ein alter Mann drei Kugeln in den Rücken. Ich wüßte nicht, wie Sie verhindern wollen, daß das wieder passiert.“ Jesse blieb in der Bürotür stehen; wieder schüttelte er den Kopf. „Als das passierte, haben wir noch nicht 152
gewartet, Leutnant – ich erwähne das bloß der Ordnung halber. Zu dieser Zeit hatten wir nichts, gar nichts – vergessen Sie das nicht.“ „Webb, lassen Sie sich etwas sagen. Nehmen Sie einen kleinen Rat an. Wie lange haben Sie überhaupt nicht geschlafen?“ Und als Jesse eine ablehnende Handbewegung machte, nickte er. „Okay. Es kann wieder eine Sackgasse sein, es kann sich aber auch lohnen. Ich stelle Ihnen dazu soviel Mann, wie Sie wollen, Webb. Verteilen Sie sie irgendwie in den Straßen. Aber eins sage ich Ihnen, Webb: Der Bursche, der das geschrieben hat, hat nicht soviel Chance wie ein Schneeball in der Hölle, und ich meinerseits denke, daß er Hilfe braucht, viel Hilfe. Nehmen Sie’s nicht persönlich, was ich sage, VizeSheriff. Ich bin ein verbitterter alter Mann, und ich hasse es, wenn ich zusehen muß, wie ihr jungen Laffen euch zum Narren macht. Wenn die Griffins dort oben sind und sich verdrücken können, dann können Sie stempeln gehen, mein Junge.“ „Ich lasse es darauf ankommen“, antwortete Jesse Webb. Ihm war, als sei jeder Nerv wund gescheuert. „Aber ein paar Leute könnte ich brauchen. Vielen Dank.“ Leutnant Fredericks stand und starrte dem jungen, schlaksigen Vize-Sheriff nach. Er spuckte in den Messingnapf neben seinem Pult. Den ganzen Tag sprungbereit, dachte er, und nun ist er mit seiner Spur in der Sackgasse. Teufel, er hatte heute früh selbst Türklingeln in Bewegung gesetzt! Jesse erschien auf den hohen Stufen des Parlamentsgebäudes. Es war eine trübe Nacht, ein paar häßliche Wolken trieben blaßgrau über den bitterdunklen Himmel. Er fühlte sich etwas matt. Nicht genug gegessen und zuviel Kaffee – und zu viele tote Enden, dachte er. Und 153
dieser Gedanke brachte ihn auf Kathleen. Sie war wieder in einem Kino – im dritten heute; dann sollte sie ein Beamter zum Haus von Jesses Mutter auf der Südseite der Stadt bringen, um dort zu übernachten. Als er an seine krampfhafte Angst um Kathleen dachte, erinnerte er sich wieder an den flehenden, jammervollen Brief des Unbekannten. Während er dort stand und auf die Straßen blickte, wo nur wenige Leute gingen, sicher und ohne Angst und ohne auch nur zu ahnen, daß es die Brüder Griffin und einen Mann namens Robish gab, dachte Jesse einen Augenblick neidvoll, es wäre keine schlechte Idee, sich nach einem anderen Beruf umzusehen. Doch als er dann wieder in seinem Wagen saß und nordwärts kreuzte, auf das Gebiet zu, daß er in Gedanken „die Nachbarschaft“ nannte – ein Gebiet, das auf der Oberfläche seines Hirns mit denselben roten Strichen markiert war, die er heute nachmittag auf den Stadtplan gezeichnet hatte –, da merkte er, wie die unterdrückte Erregung langsam zurückkehrte. Griffin war in der Stadt. Darin war Jesses Ahnung richtig gewesen, darauf hätte er schwören können. Dann war auch die andere Ahnung, nämlich daß sie sich in dieser Nachbarschaft verbargen, nicht zu weit hergeholt. Es war erstaunlich, wenn man darüber nachdachte, was für eine große Rolle einfache instinktive Vermutungen bei der Polizeiarbeit spielten. O sicher, man hatte Hinweise und Spuren – die Wagennummer, die ein alter Mann in seiner ungelenken Schrift hingekritzelt hatte, ehe er erschossen wurde, und einen sorgsam abgefaßten anonymen Brief eines angstvollen Gatten und Vaters. Doch auch wenn man das beides zusammenfügte, blieb die Verbindung schwach – wirklich, verdammt schwach. Dennoch war es alles, was er hatte, und das kostete ihn wieder den Schlaf einer guten Nacht. 154
Diesen bitteren Geschmack hatte Jesse Webb gespürt, seit die Liste mit den Telefonnummern sich als unnütz erwiesen hatte; jetzt war er ein Gift geworden, das ihm durch den ganzen Körper rann. Er war müde, aber das war gleichgültig. Das einzig Wichtige war, daß er eine schwache Chance – aber immerhin eine Chance – hatte, Glenn Griffin vor dem Morgen zu fassen. Der Haß, der an ihm fraß, wenn er an den kraftlos hängenden Arm Onkel Franks dachte, schwoll weiter an, jedesmal wenn ihm das tote Gesicht des harmlosen kleinen Mr. Patterson erschien; jetzt, da er den verzweifelten unterschriftslosen Brief in der Tasche hatte, fühlte er, wie der Haß so wuchs, daß er ihn fast erstickte und ihm den Atem verschlug. Nur das eine war wichtig: daß er Glenn Griffin, seinen Bruder und den anderen Mann namens Robish fand und die Erde von ihrem Schleim reinigte. Nur das – und nichts anderes. Dieselbe Notwendigkeit – mehr ein schmerzender Hunger als wilde Wut – drängte sich Dan Hilliard immer wieder auf, während er nach Hause ging. Sie lag wie ein schwerer Druck auf seinem Geist, lenkte seine Gedanken immer wieder ab von der Entscheidung, die er vor dem Morgen zu treffen hatte – wie er Griffin die Hände binden konnte, wenn der junge Lump versuchte, jemanden auf seine Flucht mitzunehmen. Dan kreuzte die Brücke und kehrte zu Fuß den Weg zurück, den er vor einer Stunde mit der grauen Limousine gefahren war. Er entschloß sich, nicht einmal versuchsweise die Meilen abzuschätzen, die er gegangen war und die noch vor ihm lagen. Er war jedoch nicht sicher, daß er sie schaffen würde. Griffin hatte gegrinst und war grausam deut155
lich gewesen: „Keine Taxe, Alter! Lauf nur zu Fuß! Tut dir gut!“ Von Anfang an, in den ersten paar Minuten, als Glenn Griffin den Kolben seines Revolvers auf seine Schulter sausen ließ, hatte Dan den sadistischen Hang des jungen Sträflings bemerkt. Diese häßliche Sucht saß tief in dem Mann, war stärker als sein Urteil, als die Notwendigkeit zu fliehen. Er wollte seine Rache. Er wollte einen Mord anstiften und mit dem Geld bezahlen, das mit der Post unterwegs zu Dans Büro war. Das hielt ihn fest in der Stadt, im Hilliardhaus. Irgendein Polizeibeamter, der wahrscheinlich Glenn Griffins Aufenthalt nicht kannte, der vielleicht Glenn Griffin vollkommen vergessen hatte, war als Todesopfer gezeichnet – durch den alten, krankhaften, süchtigen Haß im Herzen des jungen Verbrechers. Dan Hilliard war der Begriff „Rache“ fremd, war nie ein Teil seiner Natur gewesen. Bis jetzt. Jetzt begriff er – obwohl er ihn verabscheute – diesen Hang in Glenn Griffin. Er begriff ihn, weil er selbst den gleichen dunklen Drang zu spüren begann. Während es doch nur wichtig war, diese Männer aus dem Haus zu bringen, fort von seiner Familie, wurde sich Dan Hilliard zum erstenmal bewußt – dabei tat ihm die Brust weh, und jeder Schritt trieb Ströme von Schmerz an seinen Beinen hinauf bis in die Leisten –, zum erstenmal scharf bewußt, daß er Glenn Griffin tot sehen wollte, daß sein Tod, abgesehen von der Sicherheit seiner Familie, für ihn zum Selbstzweck wurde. Dies war Dans Erkenntnis, während er ein Bein vorwärts zwang, aufsetzte, das andere hob; eine Erkenntnis, die den unwirklichen wachsenden Alptraum vollends erstickend machte. Ob es in einer Stunde geschähe oder in zehn Jahren – er wollte Glenn Griffin tot sehen! 156
Dann also … warum nicht jetzt? Warum nicht heute nacht … und mach ein Ende. Verschaff dir einen Revolver, Dan, versteck ihn, tritt in dein Haus, zieh ihn aus der Tasche und schieße. Wieder trieb Eleanors bleiches Gesicht in der Dunkelheit auf ihn zu. Dan, ich flehe dich an. Versprich mir’s, Dan, Liebling, versprich mir’s. Er sank gegen einen steinernen Brückenpfeiler und sah vor sich hin, dachte an die dunklen, nassen zehn Meilen, die vor ihm lagen, und fragte flüsternd: „Was kann ich tun, Ellie? Ich versprach es dir – aber du weißt ja nichts, Liebste. Du siehst nicht, was ich sehe.“ Er stand unter einer grellen Straßenlampe, die seinen Schatten vor ihn hinwarf. Er warf einen Blick auf die Gestalt mit den schweren, hängenden Schultern, die sich klein und verzerrt dunkel auf dem nassen Pflaster abzeichnete. Er verzog die Stirn und wandte mit großer Anstrengung den Kopf, um sich zu versichern, daß er auf seinen eigenen Schatten herabstarrte. Er war es. Er war allein auf der Brücke. Er richtete sich auf, sein Atem war eine schneidende Klinge in seiner Brust, und er lief wieder weiter. In diesem Augenblick fegten ein Paar Scheinwerfer von hinten an ihn heran. Ein Wagen fuhr rasch vorbei, und im Rückfenster erschien das Gesicht eines jungen Mädchens, und eine knabenhafte Stimme rief ihm zu, während der Wagen schneller fuhr und sich rasch entfernte: „Trink nur weiter, alter Herr!“ Dans Schritte stockten. Sie dachten, er sei betrunken. Er nahm es ihnen nicht übel. Er hätte gern gelächelt. Er beneidete dieses junge Volk; er liebte es sogar. All diese Menschen in Sicherheit, ohne Furcht, die ihr unwissendes Leben lebten. Er nahm seinen Rhythmus wieder auf: 157
erst den einen Fuß, dann den andern. Er bemerkte: Wenn er die Füße vorwärts schwang und dadurch eine gewisse Balance bekam, trieb er die Strahlen brennender Schmerzen nicht so hoch hinauf in seinen Körper. Ohne Signal – er sah nicht einmal das Aufblitzen der Scheinwerfer – kam ein Wagen kreischend auf dem dunklen Glanz des Pflasters zum Halten. Er kam Dan irgendwie unklar vor, als er hinstarrte. Die Polizei? Ein Schwindel faßte ihn. Sie konnten ihn als einen Betrunkenen einsperren. Betrunken! Doch als die Tür aufging und ein Mann ausstieg und auf ihn zukam, dachte er nur an Flucht. Er hatte weder Kraft noch Atem dazu, aber er wußte: Er mußte kehrtmachen und rennen – die Straßen, die Hintergassen hinunter, hinter die Garagen, irgendwie irgendwohin, nur daß dieser Mann ihn nicht faßte. Er konnte sich nicht bewegen. „Mr. Hilliard. Darf ich Sie nicht nach Hause bringen?“ Dan erkannte die Stimme. Er spähte durch die drei Fuß Dunkelheit, die sie jetzt trennten, und fand endlich das Gesicht zu dieser Stimme. Chuck Wright. Das Unglaubliche lähmte ihn; er wurde hohl und leer und starrte den andern an. „Steigen Sie ein, Sir, ich möchte Sie nach Hause fahren.“ Dan antwortete nicht. Die Unmöglichkeit dieser Begegnung hielt ihn im Bann, und er war ohne Willen, als er über das nasse Pflaster zum Wagen ging, die Tür öffnete und sich in den Sitz schob. Das Leder war kalt, und die Kälte drang durch bis zu dem Fieberfrost in ihm; aber der Sitz war weich, unglaublich weich und bequem; er ließ seinen Körper hineinsinken, und das Gefühl der Dankbarkeit mischte sich mit dem Bewußtsein, daß er auf irgendwelche Art einen schrecklichen Fehler beging oder begangen hatte. 158
Dann schloß er die Augen, und lange Zeit – er hatte keinen Begriff wie lange – gab er sich dem Wohlgefühl der Weichheit und Wärme des Wagens hin. Leere. Nichts. Die Stimme des jungen Mannes riß ihn heraus. „Sehen Sie – jetzt muß ich es wissen“, sagte Chuck Wright. Dan öffnete zögernd die Augen. Chuck Wright fuhr gewöhnlich einen winzigen Sportwagen – eine ausländische Marke. Dieser Wagen war größer. „Ich werde Sie nach Hause bringen und mit hineingehen, Mr. Hilliard. Und einer von Ihnen – Sie oder Cindy – wird mir erklären, was los ist.“ Hinter der gleichgültigen Flachheit der jungen Stimme spürte Dan, schon als er die Worte hörte, eine andere, irgendwie vitalere Frage, die in ihm selbst hochstieg. „Ich will alles tun, um Ihnen zu helfen, Sir. Sie sind in … einer unglücklichen Lage, nicht wahr?“ Sodann nahm die Frage eine zwiespältige Gestalt an. Warum fuhr Chuck diesen Wagen, und wo hatte Dan ihn zuvor gesehen? „Durchaus nicht“, sagte Dan, und seine Stimme klang im gepolsterten Wagenraum normal, lächerlich normal. „Ist das Ihr Wagen?“ „Nein, er gehört meinem Vater. Ich habe ihn ausgeliehen.“ „Warum?“ Chuck zuckte die Achseln. „Mein Vergaser bockt.“ Eine Lüge, schrie Dan Hilliards Verstand mit erneuter Wachsamkeit. Jetzt wußte er’s. Dieser große Wagen, ein Kabriolett, war derselbe, der ihm vorhin gefolgt war, dem er dort hinten entkommen war, ehe er in der grauen Limousine über die Brücke fuhr. Chuck Wright war ihm also gefolgt. Warum? 159
„Wenn Sie nicht sprechen wollen, Sir, kann ich warten, bis wir in Ihrem Hause sind.“ Jetzt ging Dan zum erstenmal auf, was die Absicht des jungen Mannes bedeutete. Was wußte er? Wieviel hatte er erraten? Und wie würde es sich auswirken? Einer Notwendigkeit war sich Dan Hilliard absolut bewußt. Er mußte Chuck daran hindern, koste es, was es wolle, ihn den ganzen Weg nach Hause zu bringen. Er war versucht, wieder die Augen zu schließen, seine verkrampften Muskeln zu strecken, alles beiseite zu schieben. Er hatte sein Teil getan. Er hatte alles getan, was in seiner Macht lag. War es nicht sein gutes Recht, diese paar Minuten der Leere auszukosten? Doch schon, als er diese Versuchung niederkämpfte – mit einer Kraft, die aus gewissen tiefen Reserven seines Ichs kam, von deren Vorhandensein er nichts geahnt hatte –, nahm ein listiger Einfall von seinen Gedanken Besitz. Der Junge wollte eine Erklärung haben. Er mußte sie haben; er war starrköpfig und würde ins Haus gehen und fragen, was das alles bedeute. Also gut, Dan würde ihm eine Erklärung geben. Der Einfall kam ihm aus dem Nichts. „Sie haben nicht zufällig was zu trinken bei sich, oder …?“ fragte er. Er hörte, wie Chuck der Atem stockte; er beobachtete heimlich das ziemlich derbe Profil des jungen Mannes, der die Lippen öffnete, wieder schloß und nochmals öffnete. „Keinen Tropfen“, sagte Chuck Wright ruhig. Dan achtete sorgsam darauf, daß seine Worte nicht verschwammen. „Verdammt, verdammt“, sagte er. „Ich dachte, Sie tränken auch gerne mal ’n bißchen, Chuck. So was kann man nie wissen, was? Man darf nie zu schnell urteilen, nicht wahr?“ 160
„Nein, das darf man nicht“, stimmte Chuck unsicher zu, und ablehnende Mißbilligung verdrängte die Überraschung aus seiner Stimme. „Da sehen Sie’s“, sagte Dan. „Ich will Ihnen was sagen, Chuck, alter Junge – jetzt, wo Sie mein kleines Familiengeheimnis kennen, können Sie’s aufgeben, mich nach Hause zu fahren. Setzen Sie mich einfach bei der Weinhandlung in Broad Ripple ab – das letzte Stück geh’ ich zu Fuß.“ „Ganz wie Sie wünschen, Herr Hilliard.“ „Sie sind doch nicht entrüstet, Chuck – oder? Und Sie nehmen’s doch Cindy nicht krumm? Nicht wahr, mein Sohn? ’n Mann in meiner Stellung … natürlich diskret. Ich mach’s immer diskret. Haben Sie die Gegend betrachtet, wo ich heute war? Da kennt mich natürlich keiner. Aber nette Leute. Können sich’s nicht leisten, vornehm zu tun.“ Er bremste sich, er durfte es nicht übertreiben. Er hatte sein Ziel erreicht. Der Erfolg war im Gesicht und in der Haltung des jungen Wright zu lesen. Aber was hatte er vergessen? Sein Geist arbeitete nicht genau. Da war doch etwas … Dann fiel es ihm ein, in dem langen Schweigen, und Minuten später sprach er wieder. „Hab’ heute nacht meinen Wagen verloren. Hatte ihn vor ’ner Bar geparkt. Dacht’ ich wenigstens. Graue Limousine.“ In vertraulichem Ton – er hoffte, daß dieses „Mann zu Mann“ echt klang – senkte er die Stimme: „Hab’ nämlich ’n privaten Wagen, wissen Sie. Für eigene kleine Extravergnügen. Haben Sie wirklich nichts zu trinken da?“ „Wirklich nicht.“ Danach wieder Schweigen, während die Straßenecken vorbeirollten, die Blocks, die Meilen. Hatte er jetzt alles gut getarnt? Ob Chuck ihm wohl glaubte? 161
Das steife und unnatürliche Schweigen hielt an, bis Chuck das lange Kabriolett zum Halten brachte; sie standen an der Bordschwelle vor dem erleuchteten Laden, in dem Dan erst gestern nacht den Whisky für Robish gekauft hatte. „Es ist noch ein weiter Weg von hier bis zu Ihrem Haus“, sagte Chuck endlich, als Dan die Tür öffnete. Ein weiter Weg? Dan schaute im Geiste zurück auf die Meilen, die er schon gelaufen war, und auf jene, die er ohne Chuck noch hätte laufen müssen, und erstickte ein wildes Schwindelgefühl. Machte er etwas falsch? Wäre dieser tüchtig aussehende junge Mann nicht vielleicht ein Verbündeter? Wenn er Cindy liebte, was er praktisch heute nachmittag im Büro zugegeben hatte … „Wir wollen doch Cindy nicht in Verlegenheit bringen, was, Chuck?“ sagte er im Verschwörerton, auf dem Bürgersteig stehend. „Cindy schämt sich schon genug für ihren Vater. Schämt sich halbtot. Arme Cindy. Rechnen Sie’s ihr nicht an, Chuck.“ „Nein“, sagte Chuck düster. „Und Sie erwähnen’s nicht vor ihr, nein, Chuck?“ „Nein.“ Unsicher, aber nicht betrunken auf dem Bürgersteig stehend, hörte Dan das „Gute Nacht“ Chuck Wrights, kurz und bündig – kein „Sir“ mehr –, und fühlte, wie die Schwäche wieder auf ihn niederschlug. Die Qual jener Meilen und die Arbeit der Nacht griffen nach seinen Beinen, zerrten an seinen Kniekehlen. Als die roten Schlußlichter in der Ferne verschwammen, trat er vom Bürgersteig herunter, überquerte die immer noch nasse Straße; der Wind schnitt scharf in sein verfallenes Gesicht. 162
Ein benommenes Staunen füllte sein Hirn. Woher kam ihm die List? Wie hatte er sich’s ausgedacht, diese Geschichte zu erfinden? Und – was wichtiger war – hatte Chuck ihm geglaubt? Obwohl er sich auf einer dunklen und wenig benutzten Straße hielt, sah er einen Streifenwagen auf der Hälfte des zweiten Blocks. Er schlug an der Ecke einen Haken und beschleunigte seine Schritte. Aber die mögliche Bedeutung dessen, was er sah, ging ihm erst völlig auf, als er, drei Blocks weiter, einen zweiten Streifenwagen bemerkte, der vor einer dunklen Eisdiele parkte. Ein breites weißes Band lief an der Seitenwand entlang, und er entzifferte die Worte: Kriminalpolizei. Diesmal fing er fast zu rennen an – eine Bewegung, die einen stechenden Schmerz durch seine Beine jagte. Der Boulevard selbst sah verlassen aus. Eine fürchterliche Notwendigkeit trieb ihn vorwärts. Jetzt hatte er alle körperlichen Schmerzen vergessen, die graue Limousine, die lange qualvolle Wanderung, Chuck Wright. Ein bleiernes Entsetzen lastete auf ihm. Er zog seinen Hut tiefer ins Gesicht, mit einem scharfen Ruck, dessen er sich gar nicht bewußt war. Den Oberkörper vorgebeugt, die Lippen zusammengepreßt gegen den inneren Zwang, der an ihm zerrte, sagte er sich wieder und wieder: Nicht rennen. Denke dran, wenn sie dich aufhalten, bist du betrunken. Gehst vom Bus nach Hause. Bloß nicht rennen. Dann bog er nach einem Augenblick völliger Leere wie durch ein Wunder in seine eigene Einfahrt ein. Im Wohnzimmer war Licht. Cindys Wagen und seine Limousine standen noch im Fahrweg. Die Garagentür war geschlossen. Nichts regte sich, weder im Haus noch draußen. Die tiefe Stille trieb ihn eilig die paar letzten Meter bis zur Seitentür. 163
Das Wohnzimmer hinter der dunklen Sonnenveranda schien verlassen. Was bedeutete das? Er rüttelte am Türgriff. Schweigen. Dann heulte in der Ferne der Pfiff einer Lokomotive durch den Wind. Die Diele war nur teilweise zu sehen. Er hörte sich selbst flüsternd rufen. Dann erschien Cindy; sie kam schnell durch das Wohnzimmer. Er hörte ihre Worte: „Es ist Vater.“ Doch als er ihr in der offenen Tür gegenüberstand, wußte er, daß nicht sein Kommen diese elektrische Spannung verursacht hatte, dieses furchtbare Schweigen. Cindy war weiß. Sie war nicht blaß, sie war weiß. „Es ist Ralphie“, sagte sie. Zum erstenmal zitterte ihre Stimme. Dan stürzte an ihr vorbei, mit einem Satz, der wie ein Riß durch seine Beine fuhr. 5 Etwa fünf Sekunden stand Dan regungslos in der Halle, stocksteif vor Entsetzen über die Alptraumszene, die er vor sich sah. Er hatte schon lange etwas Derartiges erwartet; jetzt, da es vor ihm stand, brauchte er dennoch einen Augenblick, um sich durch eine Wolke betäubender Ungläubigkeit hindurchzukämpfen. Eleanor saß auf den unteren Stufen; ihre Augen waren unkenntlich vor Furcht. Dan hörte, wie Cindy hinter ihm auf der Schwelle des Wohnzimmers stehenblieb. Glenn Griffin lümmelte in der Tür des Eßzimmers jenseits des Flurs. Dann sah er Robish: die wild geteilten Lippen, die gelbe Haut des Gesichts jetzt schwärzlichrot. 164
Der schwere Mann hatte die Treppe hinaufgesehen, richtete aber sofort den Revolver auf Dan, als dieser selbst spürte, daß eine Bewegung durch seinen Körper lief, die Robish schon bemerkte, ehe Dan einen halben Schritt getan hatte. „Wo ist Ralphie?“ fragte Dan. „Oben“, sagte Eleanor rasch. „Er schläft.“ Glenn Griffins dunkle Augen glitzerten vor Hohn. „Diesmal müßte ich’s eigentlich Robish ruhig überlassen, mit ihm abzurechnen, alter Herr. Dieser Bengel ist drauf und dran, alles zu versauen.“ „Legen Sie den Revolver weg“, sagte Dan trocken flüsternd. Er dachte an die Polizeiwagen da draußen. Vielleicht war es dieses Flüstern, vielleicht war es die schwere Masse von Dans Gestalt, die sehr still, sehr angespannt dastand, oder vielleicht die schrecklich schimmernde Schwärze in Dans Augen; was auch den Anlaß gab: Glenn erinnerte sich gewisser Eigenschaften dieses Mannes Hilliard und trat einen Schritt auf Robish zu. „Schluß damit, Robish“, riet Glenn, den Blick mit wachsendem Mißtrauen auf Dan geheftet; jetzt ohne Hohn, ohne sardonisches Lächeln. „Die alte Dame hat’s am Telefon ganz gut vertuscht. Die dumme Lehrerin hat nichts gemerkt.“ Flüchtig dachte Dan daran, zu fragen, was dies alles bedeute, aber nun überstürzten sich die Ereignisse. Er sah, wie Robish fast automatisch die Pistole senkte; aber sein Arm blieb in der Luft stehen; in dem brutalen Gesicht ging etwas vor; erst lief ein verwirrtes Zittern darüber, dann wurden die Kinnmuskeln hart und dann der ganze massige Körper. „Du hast keine Befehle mehr zu geben“, sagte die schwere Stimme. „Jetzt hab’ ich, was 165
ich brauche.“ Nicht mehr langsam brachte er die Waffe wieder in Anschlag, und diesmal war sie auf Glenn Griffins Gürtel gerichtet. Die Unvermeidlichkeit dieser Geste – Dan hatte gewußt, daß so etwas kommen mußte – ließ Dan keine Zeit, überrascht zu sein. Robish hatte jetzt Ralphie vergessen und damit auch das, was das Kind getan hatte, um diesen mörderischen Instinkt zu wecken; Dan sah förmlich das langsame Mahlen dieses dumpfen und unberechenbaren Geistes hinter der massigen Stirn. Auch Glenn Griffin sah es. Auch er mußte beobachtet haben, wie Robishs Gedanken zu dem wartenden Wagen draußen hinschossen, zu der Möglichkeit, die sich ihm nun bot. Der Ungewisse Aufruhr in dem düsteren Gesicht wandelte sich in bedingungslose Entschlossenheit. Robish konnte sie jetzt töten, einen von ihnen oder alle, und in Sekunden draußen und im Wagen und unterwegs sein. Nicht mehr dieser Nervenfraß des Wartens, nicht mehr Griffins Befehlen gehorchen. Auch die stumpfe Denkweise überraschte Dan nicht im geringsten. Er wußte in diesem Augenblick, daß er jetzt handeln mußte, jede Sekunde, und daß er nicht zu lange warten durfte. Während der Revolver, den die dunkle haarige Hand des schwerfälligen Mannes umspannte, sich zollweise Glenn Griffins Magen näherte, begann der junge Mensch zu lachen. Zuerst klang es knatternd und herausfordernd, doch als er in Robishs bedrohliches Gesicht blickte, schien er mit einem Ruck die Haltung zu verlieren, und sein Lachen erstarb in einem seltsamen Gurgeln. Die Hände flogen hinauf zu seinem Gesicht, flatterten dort krampfhaft, und dann begann sein Kinn lautlos zu arbeiten. 166
Dan machte unwillkürlich einen Schritt zu Eleanor; dann erstarrten seine Muskeln, denn Robish knurrte heiser: „Stillgestanden, Hilliard!“ Glenn Griffin stieß einen langen, gebrochenen Atemzug aus – es klang wie: „Verflucht noch mal, Robish …“ Robish antwortete mit einem Brüllen – es war ein wilder Tierschrei, mächtig und schrecklich und hohl, der aus der offenen Höhle seines Mundes brach. Glenn Griffins entsetzte Worte spiegelten Dans eigenes unmittelbares Empfinden wider: „Du bist ja wahnsinnig, Robish!“ Doch als Dan die Worte hörte, wußte er sofort, daß sie das Gefährlichste waren, was Glenn hätte sagen können. Robish stieß die Mündung der Waffe mit einem harten Ruck in Glenn Griffins Leib, daß dieser sich mit einem Schmerzensschrei zusammenkrümmte. Dann begann er, mit dem Rücken gegen den Türrahmen, zu Boden zu gleiten; seine Hände flatterten immer noch in derselben seltsamen Schreckensgeste vor seinem Kinn. Er stieß ein leises Ächzen aus – wie ein atemloses, wimmerndes Betteln. Sollte Dan Hilliard jetzt handeln? Dies war der Augenblick. Jetzt war er mittendrin im Wirbel, alles war verloren, all seine Mühen zunichte geworden. Sollte er jetzt handeln? „Ich bin wahnsinnig!“ schrie Robish. „Ja, ich bin wahnsinnig, Griffin, deine dreckige Arbeit zu tun. Du, du Bastard – du bist wohl der General, wie?“ Dan maß die Entfernung. Wenn er sofort nach der Explosion in dem Durcheinander schnell genug zuspringen konnte, wenn er Robish beim ersten Schlag hart genug traf … „Ich hab’ die Wache niedergeschlagen, ich hab’ den alten Kerl abgeknallt, ich …“ 167
Da schnitt von oben aus der Dunkelheit des oberen Flurs eine andere Stimme in Robishs tiefes Knurren: „Schmeiß das Ding auf die Erde, Robish!“ Robish wandte den Kopf, spähte, ohne zu sehen, in den Schatten oberhalb von Eleanor, blinzelte. Nun trat Dan unwillkürlich vor, doch nicht rasch, wie er es berechnet hatte. Er ging sorgsam und vorsichtig auf seine Frau zu, legte den Arm um sie und zog sie weg von den Stufen, als Hank Griffin, immer noch unsichtbar, wieder sprach: „Schmeiß das Ding weg, Robish. Sofort!“ Dan spürte an seinem Arm die kleinen Schauder, die durch Eleanors Körper liefen. Aber er beobachtete Robish fast neugierig. Er sah, wie gern der Mann geschossen hätte; er sah, wie dieses langsame, kerkergebrochene Hirn sich von Glenn Griffin losriß, der halb liegend, halb sitzend an der Tür lehnte, mit weiten, glasigen Augen, als habe er noch nicht begriffen, was geschah, bis er Robish den Revolver zu Boden werfen sah. Dort lag er, schwarz und tödlich, zwischen Glenn Griffin und Dan Hilliard; Robish trat zurück und richtete seine gelben Augen auf die Treppe. Eleanor mußte Dans Gedanken erraten haben, ehe er ihm selbst bewußt war. „Nein“, flüsterte sie und hing sich an seinen Arm. „Nein, Dan!“ Am Kopf der Treppe regte sich nichts. Das ganze Haus schien in unnatürliche Stille gehüllt nach den lärmenden Stimmen. Endlich streckte Glenn Griffin den Arm aus und nahm den Revolver auf. Er erhob sich sehr langsam; die wortlose Pantomime ging weiter. Er rang nach seiner alten frechen Überlegenheit, hob die Schultern, atmete tief – aber er schauderte dabei und schloß den Mund. Dann traf sein Blick Dans Augen. 168
Dan fuhr zusammen. Wieder dachte er, ob es falsch gewesen sei, daß er nicht gehandelt hatte. Er sah den wütenden Blick voller Scham, er las darin die Erinnerung an jene Sekunden würgenden Entsetzens und das Bewußtsein, daß Dan und die andern Zeugen seiner Feigheit gewesen waren. Wie würde sich das auswirken? Wozu würde es Glenn Griffin treiben? Hinter sich hörte Dan seine Tochter tief Atem holen. Seine eigenen Lungen brannten. Dann kam, das Schweigen brechend, Hank Griffin mit schnellem Schritt die Treppe herunter. Der rechte Arm hing an seiner Seite. Auf der untersten Stufe blieb er stehen und sah Robish an, der jetzt mit baumelnden Armen dastand, still, wie ein Bär; dann seinen Bruder. Was Dan hörte, war nicht so sehr der Inhalt der Worte, die der jüngere Griffin sprach, als die Entschlossenheit des Tons: „Laß uns gehen, Glenn.“ Glenn Griffin verzog finster die Stirn, sagte nichts. „Dies ist unsere Chance, Glenn.“ Hank sprach ruhig und sachlich. „Wir können nicht sie und Robish zugleich in Schach halten. Und vielleicht haben die Blauen Helens Spur gefunden, vielleicht haben sie sie gefaßt, vielleicht ist ihr Anruf hier aufgefangen worden. Wir sind zu lange hier, Glenn. Die Blauen sind fällig, früher oder später. Sie sind nicht dumm.“ „Alle Blauen sind dumm“, sagte Glenn. Auch er sprach ruhig. „Jeder andere ist dumm, was?“ fragte Hank. „Diese Lehrerin, der der Junge den Zettel zugespielt hat. Bloß weil sie hier anrief und sagte, sie wüßte, daß es nur ein Scherz war, ein Dummerjungenstreich – denkst du denn, sie glaubt das wirklich? Woher weißt du, daß nicht ein gerissener Blauer neben ihr stand?“ 169
„Keine Angst, Kleiner! Sei nicht wie Robish. Hysterisch!“ „Ich bin nicht hysterisch!“ Hank Griffin schrie plötzlich, und Dan sah seinen Mund sonderbar zittern. „Aber ich will nicht auf den elektrischen Stuhl, bloß weil Robish die Schießwut kriegt und du ruhig zusiehst. Denkst du wirklich, die Blauen sind jetzt nicht hinterher? Du kannst nicht jeden abknallen, der an die Tür kommt! Warum schickst du ihn jetzt nicht hinter der Lehrerin her? He? Tu’s doch! Schießt doch die ganze verdammte Stadt ab, dann seid ihr sicher!“ „Maul halten!“ sagte Glenn leise. „Geh wieder in die Küche und verhalt dich still!“ Hank Griffin schüttelte den Kopf, sehr langsam, sehr nachdrücklich. „Komm mit mir, Glenn.“ Glenn schob in seiner eckigen, anmaßenden Art die Schultern hoch. „Morgen – wenn wir den Zaster haben.“ „Was nutzt dir der Zaster – im Totenhaus!“ Hank schrie es mit zuckendem, haltlosem Munde. Robish beobachtete alles ohne Ausdruck im Gesicht; in seinem Schweigen war eine verächtliche Wachsamkeit. „Du hast gehört, was ich sage.“ Noch war Glenn ruhig, aber sein Zorn war da, hart und bitter. „Wir bleiben, verstanden? Ich will’s Webb heimzahlen. Ich brauch’ den Kies für Flick, damit er Webb erledigt.“ Der Jüngere stieg die Stufe herab. „Dann gehe ich, Glenn. Allein.“ Danach trat wieder Schweigen ein, noch tiefer, noch dichter. Endlich grinste Glenn Griffin. „Dann man los, Kleiner. Wenn du auf eigene Faust losgehst, bist du in ’ner knappen halben Stunde wieder hinter Schloß und Riegel.“ 170
Hank sah auf Dan, doch sein Blick glitt weiter – zu Cindy. „Ich gehe. Schluß.“ Er ging in das erleuchtete Wohnzimmer. „Gottverflucht!“ schrie Glenn Griffin gellend. „Du wirst tun, was ich dir sage, du grüner Hanswurst! Bis hierher hab’ ich euch gebracht, ihr zwei dämlichen Idioten, und ich schlepp’ euch auch noch über den Rest des Weges!“ Hank hielt nicht an, bis er an der Tür war; dann wandte er sich um. „Ja“, sagte er leise und bitter, „bis hierher hast du mich gebracht – und wo ist das, zum Teufel? Das frage ich dich. Unser Weg führt in die Todeszelle – das steht fest. Aber ohne mich.“ Dann wurde seine Stimme noch leiser. „Komm mit, Glenn!“ „Jetzt müßte ich dich …“ Gleichzeitig schwangen die beiden Revolver hoch. Hank Griffin schüttelte den Kopf. „Es würde mir das Herz brechen, Glenn – aber ich täte es. Du kannst mich nicht halten. Leb wohl, Glenn.“ Hank Griffin schob sich rückwärts bis zur Tür der Veranda, dann machte er kehrt und lief. Scharf klangen seine Schritte auf den Fliesen der Veranda. Dan hatte gesehen, wie die Angst in den jungen Augen geglitzert hatte, und er wünschte, er wäre nicht Zeuge dieser Szene gewesen. Aber er konnte nur danebenstehen und gespannt beobachten, was folgen würde. „Der nimmt sich den Wagen“, sagte Robish. „Zum Teufel!“ Glenn Griffin langte nach dem Lichtschalter und tauchte sie alle in vollkommene, schreckensvolle Finsternis. Dan spürte ihn an sich vorbeistreichen, hörte ihn zum Fenster kriechen, das auf die Einfahrt ging, vernahm, wie das Fenster sich knirschend öffnete. „Weg von dem Wagen, du blöder Idiot!“ 171
Draußen schlug eine Tür zu. Sonderbar, dachte Dan, daß man noch kleine Einzelheiten wahrnimmt, wenn alle Sinne verbraucht und tot sind, durch zu vieles und zu schnelles Geschehen. Die Tür, die dort zuschlug, war die Tür von Cindys Zweisitzer. Der Motor drehte sich, sprang an, schnurrte. Doch durch dieses Geräusch hindurch, und näher, hörte Dan etwas anderes. Es war Glenn Griffins wildes Brüllen; seine Enttäuschung machte sich Luft in einer langen Reihe unflätiger lästerlicher Flüche, während der Motor leiser wurde und auf dem Boulevard nicht mehr zu hören war. Hank fuhr vier ganze Blocks nach Westen, ehe er den ersten Streifenwagen sah. Sogar im Dunkeln erspähte er ihn von fern, weil die Jahre sein Mißtrauen und seine Vorsicht in solchen Dingen geschärft hatten, bis seine Reaktionen fast instinktiv waren. Er machte eine scharfe Wendung nach rechts, damit er nicht daran vorbei mußte. Einen halben Block weiter, im Schatten einer dunklen Tankstelle, sah er den zweiten. Diesmal gab es für ihn keine Möglichkeit, das Vorbeifahren zu vermeiden. Er berührte den Colt in der Tasche des Sweaters, den er im oberen Wandschrank des Hilliardschen Hauses gefunden hatte. Er würde ihn gebrauchen, wenn er es mußte. Klagte man ihn schon des Mordes an, warum dann nicht eines Mordes, den er selbst und nicht dieser Gorilla Robish begangen hatte? Seine Handflächen waren kalt und feucht. Als er im normalen Tempo, zum Glück zwischen zwei anderen Wagen, direkt vor der Nase des Streifenwagens vorbeifuhr, der im rechten Winkel zur Straße stand, wußte er, daß er etwas vergessen hatte – etwas, was Cindys 172
Wagen betraf. Etwas Wichtiges, was ihn gefährlich machte. Er hätte trotz Glenns Brüllen die blaue Limousine nehmen sollen! Aber warum nur? Glenn behauptete immer, Hanks Verstand sei zu langsam, zu unklar durch etwas, was er Tagträume nannte. Doch was auch mit dem Wagen nicht stimmte – die Blauen merkten nichts. Er sah in den Rückspiegel. Niemand folgte ihm. Bei der ersten Querstraße, die er sah, bog er wieder nach Westen und war vielleicht zwei Meilen gefahren, fortwährend wachsam und grübelnd, die Schatten am Weg beobachtend, als ihm die Bedeutung der beiden Streifenwagen aufging, die so nahe an Hilliards Haus standen. Er hatte also recht gehabt! Die Blauen waren auf der Spur. Aber er verspürte kein Triumpfgefühl. Er hatte recht gehabt – aber was wurde dort hinten aus Glenn? Was würde jetzt mit dem Mädchen geschehen? Doch sonderbar – jetzt, da er von ihr fort war, schien ihm nicht mehr so wichtig, was mit ihr geschah. Er konnte nichts an dem ändern, was Glenn für morgen plante, morgen, wenn er das Geld hatte. Das Mädchen mußte mit in den Wagen, um die Flucht unauffällig zu machen und, wenn nötig, als Schild zu dienen. Bist du deshalb weggelaufen, Hank? Nein, er wußte es besser. Er war weggelaufen, weil er nicht der grüne Hanswurst war, für den Glenn ihn hielt. Er war jetzt weg von dort, und Glenn, der Neunmalkluge, der saß in der Falle und wußte es nicht. Nur wenige Wagen begegneten oder überholten Hank. Es war schon spät am Abend. Er ließ das Fenster an seinem Ellbogen herunter. Die scharfe, kalte Luft tat ihm wohl. Doch unter seinem Freiheitsrausch – jetzt wurde ihm bewußt, daß er sich sogar von Glenn befreit hatte – war 173
jenes andere Gefühl: daß er umkehren, zurückfahren müsse, um Glenn zu warnen. Sein Bruder war der einzige Mensch auf der Welt gewesen, der sich jemals darum gekümmert hatte, was mit Hank geschah. Der Vater war, bis er daran zugrunde ging, ein grausamer Gewohnheitssäufer gewesen, der zu Wutanfällen und Roheit neigte; die Mutter, die deshalb weggelaufen war, hatte sie alle verlassen; Hank war damals so klein, daß er sich nicht einmal ihres Gesichtes deutlich erinnern konnte. Glenn hatte für ihn gesorgt, er hatte ihn bei den Kämpfen in den Hinterhöfen verteidigt und ihn später zu seinen Überfällen mitgenommen, weil er der beste Fahrer war und schneller als jeder andere einen verfolgenden Wagen abhängen konnte. Diese Erinnerungen regten sich jetzt in ihm, aber er wußte: Er durfte sich nicht in ihnen verlieren. Er mußte an sich selbst denken. Jetzt. Heute nacht. Jetzt. Eine tiefe, dünne Freude war in ihm – endlich war er sein eigener Herr. Aber er mußte gesammelt nur an den Augenblick denken, an das Jetzt, nicht an die Vergangenheit, nicht an die Zukunft. Dort hinten, als er auf Robishs brüllende Stimme gehorcht hatte, ehe er die Treppe herunterkam, hatte Hank einen festen Plan gehabt. Jetzt konnte er sich nicht genau erinnern, was es war. Hatte er nicht nach Westen aus der Stadt fahren wollen, dann, einen Haken schlagend, zurück auf die Straße nach Chicago, die, wie er wußte, dicht hier an der Stadt verstellt, weiter nördlich aber verhältnismäßig frei war. Dann konnte er morgens in Chicago sein. Er sah aufs Schaltbrett, automatisch die Benzinuhr prüfend. Der Tank war nur knapp halbvoll. Und er hatte kein Geld. Nur ein paar Münzen, die er im Arbeitszimmer aus einer Schublade gefischt hatte. Das bedeutete, daß er ein Ding drehen mußte – auf eigene Faust. 174
Dieser Gedanke, dazu die Vorstellung einer fremden Riesenstadt, wo er keinen Menschen kannte, und die Furcht vor der langen einsamen Fahrt, die vor ihm lag – das alles kam zusammen und schmiß ihn um. Denn nun wußte er, was kam; er wußte, was dies Zittern in seinem Magen bedeutete. Konnte er überhaupt fahren, wenn ihn das überfiel? Aber zurück konnte er nicht. Dort warteten die Blauen, ganz planmäßig. Was würde er jetzt tun? Die langsame Panik erfaßte ihn, er packte das Steuer und sog in tiefen Zügen die kalte Nachtluft ein. Aber das half nichts. Schon fingen die folternden Schauer an. Das Radio hatte gesagt, alle Straßen seien blockiert. Aber er hatte nicht dort hinten bleiben können. Er hatte aus dem Haus gemußt. Der Aufenthalt dort war die reinste Marter gewesen, von Anfang an. Die weichen Teppiche, die glänzenden Möbel, der Zusammenhalt der Familie, jenes Mädchen … In ’ner knappen Stunde bist du wieder hinter Schloß und Riegel. Er konnte Glenns höhnisches Lachen beinahe hören. Aber jetzt haßte er es nicht. Er sehnte sich, es ganz nahe zu hören, Glenns Arm auf der Schulter zu fühlen. Warum war er hier? Was tat er? Du kennst das Mädel ja nicht mal. Cindy Hilliard. Sie hat kaum ein Wort zu dir gesagt. Sie haßt dich. Der Aufruhr in ihm wurde immer stärker, ließ nicht mehr nach. Er haßte dieses Stück von sich, diese Krankheit oder Furcht oder was es auch war. Noch schlimmer als die Hilflosigkeit und das Zittern war der Abscheu, der Selbstekel, die sich wie eine schwarze Hülle über ihn senkten. Krankheit hatte es der Gefängnisarzt genannt, Epilepsie. Schwäche, hatte Glenn immer gesagt. 175
Morgen ist Glenn dort heraus und hat einen Teil des Geldes. Morgen war er auf dem Wege zu Helen Lamar, die jetzt mit dem Rest in Cincinnati auf ihn wartete. Glenn fand sicher einen Weg. Er fand immer einen Weg. Er würde auch mit dem tobsüchtigen Robish fertig werden. Hölle und Teufel – Glenn und ich, wir beide gemeinsam könnten doch Robish in Schach halten. Aber das war es gar nicht, worauf es ankam. Es gab etwas anderes, woran er denken mußte. Daß er jetzt nicht mehr zurück konnte? Daß es überhaupt keinen Weg zurück gab? Oder hatte es etwas mit dem Wagen zu tun? Dann überholte ihn ein anderer Wagen, der schneller fuhr. Ein Lachen wehte zu ihm herüber, ein Mädchenlachen, zitternd und warm und hell, als der Wagen an ihm vorbeisauste. Dann war es vorüber. Aber es warf ihn zurück in die hungrige Leere, jene restlose Ausgehöhltheit, die er jedesmal fühlte, wenn er Cindy Hilliard ansah. Seine Kehle schloß sich, und das Herz blieb ihm stehen. Jetzt war es soweit. Er kannte es. Er mußte den Wagen zum Halten bringen, weil seine Hände flogen. Er suchte fieberhaft nach einer Hintereinfahrt oder einer Seitenstraße, irgendeinem Platz, wo er parken konnte. Aber es war zu spät. Alles um ihn wurde schwarz, alle Gedanken versagten, das Zittern stieg aus seinem Innern nach außen, ergriff mit plötzlicher schrecklicher Gewalt seinen ganzen Körper. Dann kam das Keuchen und Zucken und Winden, bis er in jedem Glied spürte, daß es seinen Körper fast zerriß. Und wie jedesmal hoffte er auch jetzt, daß er diesmal sterben würde. Wenn ihn dieser Krampf ergriff, der unlöslich zu ihm gehörte, seit er denken konnte, sehnte er sich danach, niemals zu erwachen, niemals gezwungen zu sein, zur Wirklichkeit zurückzukehren. Er wünschte sich nur zu 176
sterben, ohne es zu wissen. Sterben wäre gar nicht schlecht, wenn man nicht wußte, daß es geschah. Jetzt war das ganze Haus dunkel. Es war nach elf. In Ralphies Zimmer schaltete Dan eine Lampe ein, stand einen Augenblick und sah blinzelnd auf die gemalten Segelschiffe auf dem Lampenschirm. Er hörte, wie sich sein Sohn im Bett regte, und sah zu, wie er sich froh und erwartungsvoll, doch mit einem Schimmer von Schuldbewußtsein und Trotz in den leuchtenden blauen Augen rasch aufrichtete. Innerer Aufruhr tobte in Dan. Er konnte es nicht tun. Sie verlangten zuviel. Ob das je ein Ende nehmen würde? Es geschah jetzt so vieles, und dies so schnell, daß er nicht einmal Zeit gehabt hatte zu entwirren, was es bedeutete, womit es ihm drohte: Chuck Wright, die geparkten Streifenwagen, der Zusammenstoß zwischen Robish und Glenn, Hank Griffins einsame Flucht, die unsichere und argwöhnische erneute Bindung zwischen Glenn und Robish. Und nun dies. Ralphie schaute zu seinem Vater auf, während Dan die Tür leise schloß. Das Knabengesicht hatte noch etwas von der weichen Rundung der frühen Kindheit, obwohl es schon mit seinen zehn Jahren anfing, länger und härter zu werden – dem Gesicht des jungen Mannes entgegen. „Dieses Fräulein Swift!“ sagte Ralphie kopfschüttelnd. „Unterrichtet in der Fünften – und ist so blöde! Sie meinte, ich hätte mir ein Spiel ausgedacht!“ „Danke Gott dafür, daß sie das meinte, Ralphie“, sagte Dan, ohne näher zu kommen. In diesen Worten ahnte Ralphie etwas wie eine Drohung – oder lag es an dem finsteren Ernst seines Vaters? Er verzog erschrocken das Gesicht. 177
Doch er war nicht erstaunter, seinen Vater hier zu sehen, als Dan selbst es war. Dan konnte nicht tun, was sie ihm befohlen hatten. Dieser Befehl war nicht mehr als ein Versuch Glenn Griffins, seine Herrschaft wiederherzustellen, nachdem sein Bruder fort war. Ja, doch – es war mehr. Es war ein Versuch, Robish zu versöhnen. Und noch etwas Schlimmeres. Das wurde Dan klar, als er auf seinen Sohn heruntersah: Glenn Griffin rächte sich an Dan und seiner ganzen Familie, weil sie Zeugen seiner Feigheit gewesen waren, als Robish ihn vor etwa einer halben Stunde mit dem Revolver bedroht hatte. Doch diese Rache war mit demselben krankhaften Sadismus gemischt, durch den er Dan zwingen wollte, den ganzen Weg zu Fuß zu gehen, nachdem er sich des Wagens entledigt hatte. Der Bengel war wieder naseweis, verstehn Sie, hatte Glenn Griffin erst vor ein paar Minuten unten erklärt. Während Sie weg waren, kam seine Lehrerin her. So im Vorbeigehen, sagte sie, sie wollte nachsehen, ob der Junge krank sei, weil er in der Schule gefehlt hatte. Ich war im Arbeitszimmer – und Ihre Frau hat das Ding großartig gedreht. Die Lehrerin hatte keinen Verdacht. Da kam der Bengel ’runter und gab ihr ein Buch, ein Schulbuch, sagt er, sie sollte es zurück in die Schule mitnehmen. Ich bin bald geplatzt vor Wut – aber was konnte ich machen? Und dann, vielleicht ’ne halbe Stunde später, ruft sie an. Sie hätte einen Zettel im Buch gefunden, sagte sie, aber sie glaubte kein Wort davon. Aber sie meinte, die Mutter von dem kleinen Drecksbengel sollte wissen, was für alberne Spiele er sich ausdenkt. Manche Leute, sagt sie, würden sich mächtig aufregen, wenn sie so ’nen Zettel kriegten, besonders heutzutage, wo so schreckliche Sachen in der Welt passieren. 178
„Ralphie“, sagte Dan jetzt, „Ralphie, hab’ ich dir’s nicht gesagt? War die letzte Nacht nicht schlimm genug? Sieh dir meinen Kopf an. Wir haben noch Glück gehabt. Aber solch ein Glück können wir nicht immer haben, mein Sohn. Beim nächsten Mal werden sie einen von uns erschießen.“ Seine Stimme schwoll zu einem Schrei. „Ralphie, willst du, daß sie deine Mutter erschießen?“ „Nein, nein! Aber …“ Dan trat näher. Der Zorn regte sich in ihm, der Zorn, auf den er hoffte, seit Glenn Griffin unten gesagt hatte: Sie gehn jetzt selbst ’rauf, Hilliard, und machen Ihrem Herrn Sohn begreiflich, daß wir keinen Spaß verstehen! Noch so ein Trick wie der kann die ganze Sache umschmeißen. Sie gehn ’rauf, Alter, und versohlen ihm das Fell. Oder soll ich’s lieber Robish überlassen? Sie haben die Wahl. Er soll keinen Quatsch mehr machen, der Drecksbengel – verstehen Sie? „Du sagst zwar nein“, verwies Dan seinen Jungen, „aber du meinst es nicht. Ich muß dir trauen können, Ralphie. Und du mußt mir trauen. Das Ganze ist meine Sache. Kannst du dir das nicht merken?“ Dans Redestrom, seine wachsende Verwirrung und Wut brachten den Jungen auf nackten Füßen neben das Bett. „Ich hab’ doch bloß geschrieben, daß wir Hilfe brauchen. Daß wir Gefangene sind. Stimmt das denn nicht?“ „Ralphie“, schrie Dan außer sich, „willst du, daß deine Mutter umgebracht wird? Begreifst du’s nicht? Bist du nicht alt genug?“ In jähem verwirrtem Schrecken – denn der Vater hatte die Hand erhoben – warf Ralphie die Schultern zurück und schloß trotzig die Lippen. Im selben Augenblick wurde es Dan bewußt, daß er dem Kind noch nie auf 179
solche Art hatte beikommen können. Freundlichkeit, ja, ein gelassener Ton, ein ruhiges Gespräch – das verstand Ralphie, und dafür war er zugänglich. Gewalt erzeugte bei ihm nur Trotz. Dans Zorn und innere Ratlosigkeit wurden noch schlimmer, er ließ die Hand sinken, ergriff Ralphies Schultern und schüttelte ihn. „Ralphie“, bat er rauh flüsternd, während er ihn immer heftiger schüttelte, „Ralphie, bitte, hör doch: Fang jetzt an zu schreien!“ Er dachte an Eleanors Furcht, an Cindys kalkweißes Gesicht da unten, an alles, was sie bisher auf sich genommen hatten. „Hör doch, Ralphie – fang doch an zu schreien!“ Aber der Junge war steif wie ein Stück Holz zwischen seinen Händen, nur der Kopf flog mit geschlossenen Augen hin und her. Dan ließ ihn los, stand auf, dachte an das Vergnügen, das Robish darin finden würde, das zu tun, was er jetzt mit so viel Schmerz und Zögern tat; er hob die Hand wieder und schlug mit der offenen Handfläche scharf über das kleine Gesicht. Er hörte das häßliche Geräusch, sah die Augen aufspringen. Ihm wurde ganz übel und leer, und er trat beiseite. Aber nun kamen die Tränen und das Staunen und der Schmerz – alles, was er erwartet hatte. Ralphie wimmerte nicht, er schrie und weinte laut. Dan lauschte mit gemischten Gefühlen – Selbstverachtung und Erleichterung. Dann griff er mit einer jähen, unbeherrschbaren Geste nochmals nach dem Kind, sah das unsichere unwillkürliche Zurückweichen seiner Gestalt, kniete nieder und zog seinen Sohn an sich. Er fühlte die heißen Tränen des Jungen auf seiner eigenen Wange, er fühlte die stoßweisen Atemzüge, die als Schluchzen aus dem krampfhaft zuckenden Kinderkörper brachen. „Weine, mein Sohn“, flüsterte er weich, „weine weiter – hörst du?“ 180
Und in diesen Worten erkannte er seine eigene Sehnsucht, das Ausmaß seiner aufgestauten Enttäuschung und Wut. Er hielt Ralphie fest an sich gedrückt und starrte in die Dunkelheit hinter dem Fenster. Er wünschte sich nur das eine, daß er der eigenen Sehnsucht nach Tränen nachgeben dürfe – sie mußten doch eine Lockerung des gefährlichen Drucks bedeuten, der seinen schmerzenden Körper zusammenpreßte. Am Morgen wirst du die Antwort haben, sagte sich Chuck Wright, während er ziellos das Kabriolett seines Vaters lenkte, das er sich für diesen Abend geliehen hatte, weil eisernen eigenen kleinen Sportwagen zu auffallend fand. Morgen früh bekommst du die Antwort von Cindy selbst und läßt dich nicht mehr mit Ausflüchten abspeisen. Sicher bist du schon zehnmal um diese Ecke gefahren, dachte er unklar – aber er konnte sich nicht auf das Fahren konzentrieren. Sein Verstand empörte sich gegen die Lügen, die Ausflüchte. Noch mal von vorn anfangen, dachte er. Cindy wollte wissen, ob du einen Revolver hast. An diesen Punkt mußt du dich halten, er ist wesentlich. Vergiß ihn nicht. Dann verläßt sie nach einem ganz verrückten Vormittag am Nachmittag mit ihrem Vater das Büro; sie fahren zum äußersten Osten der Stadt, lesen einen fremden Mann auf und fahren mit ihm zu sich nach Hause. Heute abend, während du ein Stück weiter unten in ihrer Straße parkst und dir den Kopf über alles zerbrichst, kommt Hilliard in einer grauen Limousine, die du noch nie gesehen hast, aus seiner Einfahrt, fährt auf Umwegen nach Westen, hängt dich in einer schäbigen Seitengasse ab. Und als wäre das nicht schlimm genug: Eine oder anderthalb Stunden später läuft er dir über den 181
Weg – zu Fuß – und geht wie ein schläfriger Betrunkener, meilenweit von seinem Haus entfernt, mitten auf der Brücke. Und dann diese Lügen über sein Trinken! Ehrlich, Chuck, das hat dir zuerst nicht schlecht gefallen, was? Diese Ironie hat dich gereizt – der unantastbare, formelle Herr Hilliard, der dich ablehnt, entpuppt sich als heimlicher Trinker! Großartig. Bloß, daß du’s ihm nicht recht glauben konntest, besonders nachdem du ihn heimwärts gehen sahst, ohne daß er die Weinhandlung überhaupt betrat. Und nun taumelte er nicht mehr, sondern ging sehr schnell und sicher, wie ein Mensch in verzweifelter Eile. Verzweifelt, das ist das Wort. Cindy und Herr Hilliard – sie handeln wie Verzweifelte. Aber worüber verzweifelt? Worüber? Warum fährst du jetzt nicht zurück in deinen Klub, Chuck, trinkst etwas und legst dich schlafen? Jetzt fängst du an zu spinnen. Am Morgen läßt du dir von Cindy alles erklären. Oder du könntest sie anrufen, könntest verlangen, daß sie rauskommt und mit dir redet. Oder du gehst zu Cindys Haus, hämmerst an die Tür … Sei doch kein Narr. Als du vorhin an dem Haus vorbeifuhrst, war alles dunkel, nicht wahr? Und Cindys Wagen war nirgends zu sehen. Also wahrscheinlich in der Garage. Halt. Das ist wieder etwas. Cindy parkt doch immer im Torweg, und Mr. Hilliards Wagen steht in der Garage. Aber letzte Nacht … und heute nacht wieder … Verwirrung und Gereiztheit stritten in ihm. Und in diesem Augenblick erschien ein rotes Licht in seinem Rückspiegel. Es kam kein Hupensignal, aber ein dunkler Wagen schob sich neben den seinen und drückte ihn schweigend gegen die Bordschwelle. Das rote Licht 182
erlosch. Chuck Wright runzelte die Stirn, eine sonderbare Beklommenheit im Herzen. Er wartete. Er zündete sich eine Zigarette an. Jesse Webb war froh über jeden Anlaß zum Handeln. Er hatte in den letzten Stunden seine Bedrücktheit erfolgreich niedergekämpft. Aber Helen Lamar hatte sich offenbar in Columbus oder dort in der Nähe in Luft aufgelöst. Und obschon Jesse etwas Gewisses wußte – daß Griffin in oder nahe der Stadt war, zumindest heute nachmittag dort gewesen war, als der Unbekannte den anonymen Brief schrieb –, konnte er mit diesem Wissen nicht viel anfangen. Nicht, ehe sich jemand rührte. Er hoffte jetzt nur, der Bericht, den er soeben bekommen hatte, bedeutete, daß sich jemand gerührt hatte. „Bringen Sie ihn herein, sobald er hier ist“, befahl er einem uniformierten Polizisten. „Und halten Sie Ihre Wagen, so gut es geht, außer Sicht. Es wäre peinlich, wenn die Leute dächten, die Polizei hielte in der Küche einer Nachtkneipe ein Mitternachtstreffen ab.“ Als der Polizist hinausging, grinste Jesse entschuldigend hinüber zu dem Besitzer, der mit umgebundener Schürze, in Neugier verloren, neben seiner riesigen Kaffeemaschine stand. „Ich nenne es selbst eine Nachtkneipe“, sagte der kleine Mann mit höflichem Achselzucken. „Immerhin eine saubere Nachtkneipe, Sheriff. Wünschen Sie noch einen Kaffee?“ Jesse erhob sich von dem hölzernen Hackblock, nahm seine Tasse hinüber zum Besitzer. „Erwarten Sie heute nacht noch Kunden, Joe?“ „Kann sein, kann auch nicht sein. Vielleicht einige Liebespaare. Wünschen Sie, daß ich schließe?“ 183
„Wir kaufen Ihnen ab, was von Ihrem Kaffee noch übrig ist. Und Winston versucht es wieder mit der schlanken Linie, also wird er ein Zuckerbrötchen nehmen, damit er bei Kräften bleibt. Ich auch eins, Joe. Und Sie löschen die Lampen vor der Tür aus.“ „Was tut man nicht für die Polizei?“ sagte Joe. „Bedienen Sie sich, Sheriff. Im Eisschrank ist Fleisch. Joe hätte gern bei Ihnen einen Stein im Brett. Entschuldigen Sie, Sheriff!“ „Also“, sagte Jesse, als er mit Kaffee und Brötchen auf seinen Platz zurückkehrte, „was ist so verdächtig, Tom? Ein junger Mann fährt in einem Kabriolett hier in der Nachbarschaft herum. Ist das etwa ungesetzlich?“ „Warum fährt er rundum und rundum, alle erdenklichen Kreise?“ Tom Winston nahm ein blitzendes Messer und zerlegte das Brötchen in appetitliche Scheiben. „Hier und heute abend?“ Er spießte eine Scheibe auf und führte sie zum Munde. „Das ist immerhin eine Frage wert.“ „Tom“, sagte Jesse Webb und schlang seine langen Beine wieder um das Tischbein, „warum lassen sich unsere Frauen nicht von uns scheiden?“ „Meine droht immer damit, jedesmal wenn wir so ’nen Fall haben. Ich wünschte bloß, sie machte mal Ernst.“ Jesse überhörte die Anspielung auf Toms unglückliches Familienleben. Während er aß, dachte er an seinen Gute-Nacht-Anruf bei Kathleen, die jetzt hoffentlich schlief, im Haus seiner Mutter. Vermutlich waren diese Vorsichtsmaßregeln nun sinnlos. Aber warum etwas riskieren? Gegen einen Menschen wie Glenn Griffin! Er hoffte nur, daß der Mann, der den Brief geschrieben hatte, die Gesinnung solcher Leute begriff. Und dieser Gedanke warf ihn zurück in die zermürbende Anteilnahme – es war beinahe ein persönliches Verantwortungsgefühl –, 184
die er immer stärker für diesen Mann und seine Familie empfand. Wieder wurde es Jesse mit aller Schärfe bewußt, in welch einer Falle er saß, hilflos, während irgendwo, vielleicht in einem dieser Häuser, keinen Steinwurf entfernt … „Hier ist er, Jesse.“ Jesse Webb sah in ein junges Gesicht: Mitte Zwanzig. Graue, fragende, aber furchtlose Augen, fest, kühn, vielleicht sogar etwas trotzig. Tweedmantel, teuer. Dunkelgrauer Flanellanzug. Kein Hut. „Gut amüsiert?“ fragte Jesse lakonisch. „Wie meinen Sie das?“ „Was getrunken?“ „Nein.“ „Sie wundern sich, daß ich frage?“ „Natürlich.“ „Keine Ahnung, warum?“ „Nein.“ Jesse seufzte. „Ihren Führerschein bitte.“ Ohne Zögern und Unsicherheit zog der junge Mann seinen Führerschein aus der Brieftasche und legte ihn vor Jesse auf den fleckigen Hackblock. „Charles Wright“, las dieser laut. „Beruf?“ „Rechtsanwalt. Hepburn und Higgins. Guaranty Building.“ „Sonst noch etwas?“ „Was bitte?“ In einer raschen, sinnlosen Anwandlung von Gereiztheit löste Jesse seine langen Beine vom Tischbein und erhob sich. „Hören Sie, Herr Wright, wir sind hier nicht bei Gericht. Lassen wir das Versteckspiel. Sonst werde ich nur mißtrauisch. Ich muß gewisse Dinge herauskriegen. Spielen Sie 185
mit! Ich bin sicher, daß Sie keine Unannehmlichkeiten davon haben werden – es sei denn, Sie haben etwas zu verbergen. Bitte, was haben Sie letzte Stunde vorgehabt? Ich bitte um Auskunft.“ „Gut, Sheriff, ich werde mitspielen“, sagte Charles Wright. „Aber ich will nicht der Spielball sein. Ich habe nichts zu verbergen; aber ich muß wissen, um was dies alles geht.“ „Es ist nicht Ihre Sache, um was …“ Jesse hörte, wie Tom Winston sich räusperte. Er brach ab und sprach dann mit gesenkter Stimme. „Schon gut, schon gut. Übernimmt Ihre Firma Kriminalfälle, Herr Wright?“ „Nein. Ausschließlich Zivilsachen. Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Sheriff.“ „Werden Sie nicht üppig“, mischte sich Tom Winston milde ein. „Vize-Sheriff Webb fragt Sie lediglich, ob Sie auch einen Kriminalfall übernehmen – vielleicht um für ein Phantasiehonorar einer Ratte aus der Falle zu helfen?“ „Auf welche Ratte spielen Sie an?“ Jesse Webb nahm wieder das Wort. Er sprach gleichmäßig, und seine Stimme klang jetzt heiser. „Wir spielen auf drei Ratten an, die gestern morgen aus dem Staatsgefängnis in Terre Haute ausgebrochen sind. Lesen Sie keine Zeitung, Mann? Hören Sie kein Radio?“ Als Charles Wright den Kopf schüttelte, bemerkte Jesse eine gewisse Wachsamkeit in den grauen Augen. Aber er war seiner Sache nicht sicher. „Nun, wir haben Grund zu der Annahme, daß diese Männer hier in der Stadt sind oder verdammt dicht daran. Tatsache ist, Herr Wright –“, und Jesse beugte sich vor, auf seine Fäuste gestützt, „wir haben guten Grund zu der Annahme, daß sie hier in der 186
Nachbarschaft sind, vielleicht in einem der Häuser hierherum. Wenn also jemand wiederholt durch die Straßen fährt …“ Doch dann brach er ab, denn er sah wieder, und diesmal war kein Irrtum möglich, wie das Gesicht vor ihm sich veränderte. „Was ist los, Junge?“ frage er kurz. Es verschlug ihm fast den Atem. „Nichts.“ „Sie wissen etwas!“ „Aber nein – wie sollte ich?“ „Sie vermuten etwas?“ „Nein.“ „Belügen Sie mich nicht, zum Teufel!“ schrie Webb. „Sie machen ein Gesicht, als hätte ich Sie geschlagen!“ „Nun, das ist wohl eine Art Schock, vermute ich. Weil ich nämlich niemals – an so etwas gedacht hätte.“ „Was haben Sie in Ihrem Wagen getan, Herr Wright?“ Charles Wright lächelte, ein spärliches Lächeln, das nicht bis zu den grauen Augen kam. „Nun, zufällig wohnt meine Freundin in dieser Gegend, das ist alles. Und eben, als Sie das sagten, kam mir die verrückte Idee …“ „Wie heißt Ihre Freundin, Wright?“ Dann entstand eine kleine Pause – eine Pause, die Jesse Webb nicht gefiel. „Ihr Name ist Allen“, sagte Chuck Wright dann, sehr sicher und überzeugend. „Constanze Allen. Aber ich sah sie vor einer Weile in ihr Haus gehen. Ich bin überzeugt, sie hat keine Unannehmlichkeiten, Sheriff.“ „Sie sahen sie hineingehen? Hatten Sie sie nach Hause gebracht?“ „Aber nein. Sehen Sie, da liegt der Hund begraben. Ich kann Ihnen schließlich auch die Wahrheit sagen. Sie war nämlich heute abend mit einem andern Mann aus. 187
Deswegen trieb ich mich hier herum. Connie und ich sind beinahe verlobt. Zumindest dachte ich …“ Er schüttelte den Kopf, und sein Lächeln kam wieder, doch die festen grauen Augen blieben immer noch ernst. „Nun ja – es ist eben … Ich glaube, ich müßte mich schämen – meiner Eifersucht, meine ich.“ „Wie ist Fräulein Allens Adresse, Herr Wright?“ fragte Jesse müde, als er sich wieder hinsetzte. „Ich sehe nicht ein, was das mit …“ „Wo wohnt sie, Herr Wright?“ fragte Jesse gedehnt. „Ich weiß die Hausnummer nicht“, sagte Charles Wright. Sein Lächeln war verschwunden. „Aber sie arbeitet in der Stadt in unserem Büro – und ihr Haus kenne ich natürlich. Ich kann die Nummer heraussuchen, wenn Sie wünschen.“ „Am Boulevard?“ „Dicht daran. Oxfordstraße.“ „Gut“, sagte Jesse langsam, stieß einen Seufzer aus und griff nach seinem Kaffee. „Ich glaube, wir werden selbst nachsehen. Gehen Sie jetzt nach Hause, junger Mann, legen Sie sich schlafen. Vergessen Sie diesen Vorfall hier, hören Sie? Vergessen Sie ihn.“ Charles Wright wandte sich zur Hintertür, aber die Stimme des Sheriffs hielt ihn an. „Noch etwas. Nur für den Fall, daß Sie Lust bekämen, darüber zu sprechen, Herr Wright. Ich möchte, daß Sie diesen Brief lesen und dann darüber nachdenken, wie dem Mann zumute sein muß, der ihn geschrieben hat. Vielleicht verspüren Sie dann keine Versuchung, heute nacht Gott weiß wo darüber zu sprechen – in einer Bar oder morgen im Büro.“ Jesse Webb beobachtete, wie der junge Mensch den Brief las. Er sah, wie Chuck dann das Gesicht hob, er 188
sah, wie die gleiche Empfindungen von Charles Wright Besitz ergriffen, die er selbst gehabt hatte und immer noch hatte, jedesmal wenn ihm die armseligen Worte auf dem weißen Blatt Papier einfielen. „Starten Sie Ihren Wagen möglichst unauffällig, Herr Wright.“ „Aber … wenn Sie das Haus auch kennen würden, Sheriff …“ „Nun?“ „Ich glaube, es wäre ziemlich gefährlich für die Leute im Hause, wenn Sie versuchen, es zu umstellen – meinen Sie nicht?“ „Gefährlich für diesen Abschaum“, sagte Jesse Webb grimmig, gereizt darüber, daß der junge Anwalt seine, Jesses, Gefühle in diese Worte kleidete. „Ich dachte an …“ Aber Charles Wright beendete den Satz nicht. Er drehte sich um und öffnete die Tür. „Bleiben Sie jetzt weg von hier“, rief ihm Jesse nach. „Das ist ein polizeilicher Befehl!“ Dann leerte er mit einem langen Schluck seine Kaffeetasse. „Da hat der Junge gar keine dumme Frage gestellt, Jesse. Was hast du vor? Nimm an, sie säßen ruhig und gemütlich in diesem Haus der Familie Allen in der Oxfordstraße – was dann?“ „Wir wollen noch einmal auf der Karte nachsehen, Tom.“ „Hier ist sie. Ich hab’ selbst schon den ganzen Tag hin und her gedacht, Jesse. Was würden wir …“ „Soweit sind wir noch nicht“, sagte Jesse scharf. „Hast du die fehlenden Namen in die Karte eingesetzt?“ „Die meisten sind da. Aber man weiß es nicht sicher, Jesse. Wir hatten keine Zeit, die Nachkontrollen vorzunehmen, wie es nötig wäre. Und du wolltest 189
nicht, daß wir zuviel herumfragten. Die Leute ziehen ein, die Leute ziehen aus, die Namen wechseln. Kein Adreßbuch stimmt ganz genau, Jesse. Das mußt du einsehen.“ „Oxfordstraße. Kessler. Hier sind wir.“ Zusammen studierten sie die Karte, die Köpfe über den Tisch gebeugt. Endlich stand Jesse auf und ging mit seiner Tasse zur Kaffeemaschine. Er stand mit dem Rücken zu Tom Winston. „Ich finde keine Allens in der Oxfordstraße, Tom“, sagte er sehr langsam und hielt seine Tasse unter den Hahn. „Nein, aber …“ „Jetzt kriegst du eine Beschäftigung, Tom. Bring heraus, wo dieser junge Mann wohnt, wer seine Freundin wirklich ist, wo sie wohnt. Wenn sich hier bis zum Morgen nichts tut, hätte ich nicht übel Lust, noch mal mit dem jungen Wright zu reden. Und überprüfe auch seine Angaben wegen der Anwaltsfirma. Was meinst du? Ob wir hier wohl ein Adreßbuch bekommen?“ „Jesse, ich sagte dir doch, daß diese Karte nicht genau sein kann! Es gibt keine Möglichkeit …“ „Setz deine träge Masse in Trab, Tom“, sagte Jesse leichthin, plötzlich dankbar für Tom Winston, froh, ihn bei diesem Fall zur Seite zu haben. „Alles ist besser, als dazusitzen und zu warten, bis die Bombe platzt!“ Tom Winston zuckte nachdrücklich die Achseln und watschelte zu der Drehtür in der Front des Restaurants. „Wenn es so weitergeht, werden wir uns noch gegenseitig verdächtigen“, sagte er. „Du bist kein Blauer, du Hundesohn, du bist eine Bulldogge!“ Jesse lachte. Es klang eine neue Unternehmungslust in diesem Lachen. 190
Wieder saß Chuck Wright hinter dem Steuer des Kabrioletts. Er wartete darauf, daß die dumpfe Betäubtheit in ihm sich lichte. Ehe dies geschah, war er fühllos. Jetzt weißt du es, sagte er sich wieder und wieder. Jetzt hast du das ganze Bild – und es ist schlimmer, als du dir’s vorgestellt hast, schlimmer als der schlimmste Alptraum. Doch die Worte schienen nicht bis zu ihm zu dringen. Und auch die Vorstellung nicht. Er fuhr nach Süden zum Haus seines Vaters, brachte das Kabriolett in die Garage, wie es sein Vater gewünscht hatte. Er sah sich selbst diese Dinge tun, doch schien er kein Teil davon zu sein. Als er in seinen kleinen schwarzen Wagen stieg, erinnerte er sich an das, was er der Polizei vorgelogen hatte. In dem Bruchteil eines Augenblicks, als er noch unter dem Aufprall der Tatsachen taumelte, die so unglaublich und unwirklich waren nach all den schattenhaften Vermutungen, war ihm der Ausdruck von Cindys Gesicht gestern abend vor Augen gerückt, und er hatte begriffen, was er bedeutete. Jetzt war er selbst fast erstaunt über die kalte Logik seiner Lüge; sie war ihm rund und glatt und mit jeder Einzelheit auf die Lippen gesprungen, lückenlos – sogar der Name Constance Allen, die mit Cindy im Büro arbeitete, aber auf einer Farm im Süden der Stadt wohnte. Er hatte mit der gleichen instinktiven Schlauheit und List gelogen, das wurde ihm jetzt klar, wie Herr Hilliard die Geschichte seiner Trunksucht erfunden hatte. Jetzt ließ er den Motor an und setzte zurück in die Straße, in der halb unbewußten Absicht, zur Stadt und in seinen Klub zu fahren. Das hatte die Polizei ihm geraten. Dann aber begann die Dumpfheit zu weichen, lichter zu werden. 191
Cindy ist dort, in jenem Haus. Jetzt. Cindy ist in jenem Haus. Mit den drei Verbrechern. Er brachte den Wagen zum Halten, Cindys Worte im Ohr: „Hast du einen Revolver, Chuck?“ Er sprang heraus, ging die Stufen seines Elternhauses hinauf, öffnete die Haustür, stieg ins Obergeschoß. Nur Mattie, das alte Mädchen, war zu Hause, und sie stand neugierig daneben, ihr altes, zänkisches Gesicht ein einziges Fragezeichen. In etwa zehn Minuten kam Chuck wieder herunter. So lange hatte er gebraucht, um den ziemlich seltsam aussehenden japanischen Revolver zu finden, den er sich als Kriegsandenken aus dem Orient mitgebracht hatte. Als er wieder in den Wagen stieg, lag die Waffe geladen in seiner Hüfttasche. Doch ehe er auf der schönen, breiten Straße, wo er seine Kindheit verbracht hatte, in die U-Kurve einbiegen konnte, fiel ihm wieder Mr. Hilliards anonymer Brief an die Polizei ein. Satz für Satz. Chuck wendete nicht. Er fuhr südwärts, fort von Hilliards Haus. Nichts übereilen, Chuck, sagte er sich. Cindy will nicht, daß die Polizei es erfährt. Mr. Hilliard versucht verzweifelt zu verhindern, daß es jemand weiß. Niemand würde dir’s danken, wenn du jetzt den Helden spielen wolltest – und etwas dabei schiefginge. Cindy würde dich auf ewig hassen, wenn du jetzt etwas Wildes, Unbedachtes tust, das in Blutvergießen enden kann. Und es wäre nicht unbedingt das Blut dieser drei Verbrecher, sondern das der Hilliards. Was kannst du überhaupt tun? Wenn Herr Hilliard deine oder sonst eine Hilfe gewollt hätte, dann hätte er darum gebeten. Und Cindy – Cindy war es gleichgültig, was du dachtest, Chuck, solange deine Gedanken nur auf falscher Fährte waren. Traue ihnen. Traue ihnen beiden. Sie sind zum Äußersten entschlossen. 192
Aber Cindy ist dort im Haus. Er trat auf den Gashebel, und der Wagen schoß vorwärts. Er machte eine halsbrecherische Kurve, ohne zu wissen, wohin, wieder ziellos. Sein Körper brannte, seine Kehle war zugeschnürt und trocken. Man müßte es der Polizei sagen. Es war nicht richtig, es war gegen das Gesetz, wenn er gegen die Polizei arbeitete. Aber unwillkürlich fielen ihm verschiedene Geschichten ein, die er gelesen oder gehört hatte. Die Polizei ist kein Einzelwesen, kein berechenbarer Mensch; die Polizei umschließt alle Arten von Individuen, jedes mit eigenem Ehrgeiz, eigenen Ängsten, Nerven und eigener Tapferkeit. Nimm einmal diesen schlaksigen Vize-Sheriff dort im Restaurant. Gefährlich für diesen Abschaum, hatte er voller Haß geknurrt. Ohne Gedanken an die Hilliards. Er hatte seine Pflicht zu tun. Diese Pflicht bestand darin, die drei gesuchten Männer zu fangen oder zu töten. Wahrscheinlich war der Mann auf Beförderung aus. Immerhin – er zeigte dir den Brief, nicht wahr? Damit du den Mund hältst, damit du Mr. Hilliards Verzweiflung ermessen kannst. Vielleicht war der Vize-Sheriff also doch imstande zu begreifen, was Mr. Hilliard auf den Nägeln brannte. Vielleicht … Die Entscheidung liegt nicht bei dir, Chuck. Sie liegt bei Mr. Hilliard. Es ist seine Familie. Sicherlich ist in jenem Haus noch nichts Entscheidendes, Verhängnisvolles geschehen. Denn dagegen kämpft Mr. Hilliard. Er tut es auf seine eigene Art. Und er ist entschlossen, die Polizei nicht dazwischenkommen zu lassen. Dennoch … wenn sie wüßten, daß die Ausbrecher Geiseln im Hause hielten … Geiseln. Chuck fuhr langsamer. Das Wort brachte ihm eine blitzhafte Kriegserinnerung zurück. Und mit ihr die 193
schwache Ahnung eines Planes. Vielleicht konnte er schließlich doch etwas tun. Er selbst. Wenn er vorsichtig und allein arbeitete. Er erinnerte sich einer Einzelheit aus der Kriegszeit am Rande des Dschungels auf den Philippinen. Er erinnerte sich daran, wie die Japaner drei Offiziere als Geiseln festgehalten hatten und auf welche Weise … Jetzt kroch der Wagen. Wäre das durchführbar? Nein. Cindy ist dort im Haus, Chuck. Cindy ist dort, mit jenen drei Männern. Cindy, die du liebst. Er gab Gas, warf das Steuer herum und brachte den Wagen vor dem Klubhaus zum Stehen. Der Garagenmann kam heran, nickte, Chuck ging ins Haus, nahm sich die beiden Abendzeitungen vom Pult und fuhr mit dem Lift hinauf in sein Zimmer. Er schlug die Zeitungen auf und durchblätterte sie schnell; in der „Times“, Nachtausgabe, fand er das Bild der drei Männer. Eine vergiftende Bitterkeit stieg in ihm auf, bis er sie in seinem Munde schmeckte, während er die drei Gesichter studierte. Dann krachte seine Faust plötzlich mit einer wilden Bewegung in die Stehlampe, die durch das ganze Zimmer schoß und gegen die andere Wand flog. Die Birne explodierte, der Raum war in unerwartete Dunkelheit getaucht. Schweratmend stand Chuck da, breitbeinig, hilflos, voll unverbrauchter Wut. Recht so, Chuck, sagte er sich zornig. Recht so. Zerschlag nur die Möbel. Tobe nur! Damit wirst du weit kommen. Cindy hat nicht die Fassung verloren. Ihr Vater hat mehr einstecken müssen, als du je erfahren wirst, und er beißt die Zähne zusammen und gibt nicht auf. Er kämpft weiter auf die einzige Art, die diese Bestien ihm übriggelassen haben. Sieh dir den Mann an. Er ging heute zurück in sein Haus, mit, leeren Händen, entschlossen, allein. 194
Chuck betrachtete in Gedanken den Mann Dan Hilliard und begann ruhiger zu atmen. Mr. Hilliards Bild weckte eine verspätete, aber zunehmende Hochachtung, die den jungen Menschen jetzt fast physisch bewegte – und damit erwachte auch etwas ganz anderes. Es war die Scham. Er dachte daran, wie er Dan Hilliard und sein Leben immer gesehen hatte – als etwas Konventionelles, Langweiliges, Leeres. So kämpft kein Mann um ein leeres Leben. Er kämpft für etwas, was ihm kostbar und lebenswichtig ist – nicht anders, als du kämpfen wirst für das, was dir kostbar und lebenswichtig ist … indem du stillhältst. Du wirst nichts unternehmen, Chuck. Nichts. Er nahm die Waffe aus seiner Tasche und legte sie im Dunkeln auf die Schreibtischplatte. Du wirst still sein, still und untätig, und wirst den Gedanken daran aufgeben, dich dem Hause auch nur zu nähern, ehe diese Männer fort sind. Die oberflächliche und törichte Einstellung, mit der sich Chuck Wright ein so falsches und kindisches Bild von Dan Hilliard und anderen Männern seiner Art gemacht hatte, schien ihm jetzt in einer längst vergangenen Zeit ein Teil seiner Natur gewesen zu sein. Nun wußte er, daß er solche Gedanken hinter sich gelassen hatte – und mit ihnen einen Teil seiner Jugend … alles in dem Zeitraum der letzten fünfundvierzig Minuten. Ohne die Deckenlampe anzuschalten, begann er seine Taschen zu leeren – froh, daß er eine Gelegenheit hatte, etwas Alltägliches zu tun. Aber in Herrn Hilliards Brief stand noch etwas, was Chuck bisher nicht in Betracht gezogen hatte. Bisher hatte er sich auf die vier Menschen konzentriert, die den Männern im Haus ausgeliefert waren; jetzt aber begriff er urplötzlich – das Herz stockte 195
ihm vor Schrecken –, daß er noch nicht bedacht hatte, was geschehen würde, wenn diese drei Männer das Haus der Hilliards verließen. Mr. Hilliard traf seine Vorsichtsmaßnahmen, so gut er konnte, gegen diesen Augenblick, aber … Wie, wenn sie Cindy mitnähmen? Ehe er die furchtbare Möglichkeit voll ausgedacht hatte, fühlten seine Finger einen fremden Gegenstand in seiner Tasche. Er ergriff und befühlte ihn lange, ehe er ihn durch die Berührung erkannte: Es war der Schlüssel, den er heute im Büro Cindy zurückzugeben vergessen hatte. Der Schlüssel zur Hintertür von Dan Hilliards Haus. Jetzt lag er fest in seiner feuchten Handfläche, als sei er ein Stück des Mädchens selbst, und gleichzeitig schossen Chucks Gedanken vorwärts. Gab es eine Möglichkeit, von dem Schlüssel Gebrauch zu machen? Es wurde eins. Dan Hilliard sah auf das leuchtende Zifferblatt seiner Uhr auf dem Tisch neben seinem Bett. Noch achteinhalb Stunden, bis die Post das Geld brachte. Dann … Mit Aufbietung seiner letzten Willenskraft – so glaubte er wenigstens – zwang er sich, seine Gedanken nicht mehr um diesen Zeitpunkt kreisen zu lassen. Dann schlief er wieder – aber es war kein echter Schlaf, weil er nicht tief genug unter die Oberfläche der Bewußtheit tauchen konnte. Wie sehr auch sein Körper nach diesem Frieden verlangte und brannte, jeder Nerv blieb wachsam wie bei einem Dschungeltier in seinem Unterschlupf. Soweit haben sie dich gebracht, dachte Dan. Jetzt bist du ganz in ihre Welt getreten. Sie haben dein Haus in einen Dschungel verwandelt, in eine Wildnis voll Fauchen und Anspringen und tierischer Angst. Jedes Fahrzeug, das 196
vorbeikam, wurde zu einer Gefahr, einer Drohung – die Polizei! –, bis es vorüber war. Die leiseste Bewegung im Erdgeschoß, wo Robish und Glenn geblieben waren, lähmte ihn fast. Unablässig war er sich schmerzhaft bewußt, daß Eleanor im andern Bett lag, daß Cindy und Ralphie zusammen in Ralphies Zimmer waren, hinter der verschlossenen Tür jenseits des Ganges. Jetzt war sein Plan fertig. Er hatte ihn nicht wirklich ausgedacht, sondern er war ihm im halbwachen Traumzustand von selbst gekommen. Er war nicht viel besser als eine Drohung – aber es war das Beste, was er finden konnte. Vielleicht könnte er damit Glenn Griffin Einhalt gebieten, wenn dieser sich wirklich entschloß, jemanden von der Familie mitzunehmen. Am Morgen wollte er die Einzelheiten seines Planes ausführen. Nachdem das soweit geklärt war, wollte er jetzt die andern Gedanken bekämpfen, die ihm durch den Sinn krochen, die Alptraumerinnerungen an den letzten Abend. Aber er konnte einfach nicht mehr geradlinig und beherrscht denken, was doch früher seine Stärke gewesen war. Er hatte einen gewissen Punkt überschritten – wieder einen – und war nun ein anderer Mensch. Sein Wille brach nicht, sondern ermattete und wurde weich und nachgiebig. Eine Hoffnungslosigkeit, gegen die er machtlos war, hatte sich seiner bemächtigt. Vorher war es Hilflosigkeit gewesen, und das war etwas ganz anderes. Durch Hilflosigkeit zwar gehemmt, hatte er sich dennoch in manchen kleinen Dingen zu helfen gewußt. Aber die Hoffnungslosigkeit hatte ihn ganz in Besitz genommen, hatte seinen Geist so schwach gemacht, wie sein Körper jetzt war – sie war ein dunkles und starkes Gift. Gleichviel, was geschah – Dan hatte keine Chance. Oh, er würde alles auf sich nehmen. Er würde tun, was er tun mußte, so sorgfältig 197
und gründlich wie möglich. Aber zuletzt, wenn morgen die Stunde schlug, würde sein ganzes Leben, das Leben der Seinen, verändert sein. Auf welche Weise … darüber durfte er nicht grübeln, denn er wußte es nicht; und das war vermutlich gut. Man weiß nichts. Niemals. Immer spielen so viele Faktoren mit. Nicht nur das Schicksal, nicht nur der Zufall, nicht nur der Charakter; aber sie alle, und dazu noch eine Million anderer, die unergründlich und unvorhersehbar sind. Wer hätte gedacht, daß die Auflehnung und das Fortgehen des jungen Hank in Glenn Griffin diese beängstigende Ruhe auslösen würde? Er war nicht mehr der alte. Er war ein anderer Mensch geworden. Seine Anmaßung war dünn und unglaubhaft, seine Prahlerei eine leere Geste, seine Grausamkeit betonter als zuvor. Dan erkannte Glenn Griffins Verhalten als das, was es war, und stellte sich darauf ein: die dünne Eiskruste über der Hysterie. Jetzt war Glenn, der Anführer, mit dessen kalter Intelligenz Dan gewissermaßen zu rechnen gelernt hatte, zu Boden geschlagen und selbst gehetzt, weil sein Bruder fehlte, den er beherrscht hatte. Während des Abends fing Dan mehrmals die vernichtend verächtlichen Blicke auf, die Glenn auf Cindy richtete; begann dieser entartete Verstand ihr schuld zu geben an dem, was Hank getan hatte? Und wenn es so war – wozu mußte das führen? Dan wußte: Jetzt, da ihm die Gelegenheit dieser paar Stunden gegeben war, müßte er im Geiste alle Faktoren aufmarschieren lassen, gründlich prüfen und versuchen, die Gefahren zu erraten, die jeder von ihnen barg. Robishs bitter empfundene Niederlage zum Beispiel. Würde er, wenn es darauf ankam, zu Glenn stehen? Beharrte er noch auf seiner Rache an Dan? Oder an Ralphie? 198
Aber es waren zu viele Elemente da. Zu viele, zu viele. Und Dans Verstand war müde, umnebelt. Der Schlaf lauerte ihm auf, winkte ihm einladend. Dan wäre gern in die dunkle Welle des Nichts getaucht, denn er wußte, die Ruhe war ihm nötiger als diese sich ewig im Kreise drehenden Gedanken. Dann flog sein Herz wieder zu Ralphie; eigentlich war es immer bei dem Kind gewesen, seit er vorhin die Treppe heraufgekommen war. Da drüben lag der Junge und starrte an die Decke und begriff seinen Vater nicht und war ganz verwirrt und verloren. Vielleicht weinte er heimlich. Ob er Dan jemals verstehen würde? Als er sich im Bett umdrehte, streikten seine Muskeln. Der Gedanke, den Dan Hilliard bisher so erfolgreich vermieden hatte, traf ihn jetzt wie ein Pfeil. Rasch und scharf und zielsicher. Es dauerte noch mehr als acht Stunden, bis das Geld kam. Inzwischen konnte die Polizei Hank Griffin fangen oder erschießen und an seinen Kleidern erkennen, daß sie Dan gehörten, an seinem Wagen, daß er Cindys Eigentum war. Dan setzte sich auf und hörte, wie sich Eleanor im andern Bett bewegte. „Dan? Was ist denn, mein Herz?“ Er sank zurück. „Nichts, Ellie.“ „Willst du noch ein Aspirin?“ „Nein, Ellie, schlaf nur. Du brauchst deinen Schlaf.“ „Es dauert ja nicht mehr lange, Dan. Bitte, gräm dich nicht so! Es ist nur noch auf kurze Zeit!“ „Ich liebe dich, Ellie“, flüsterte Dan mit ausgedörrter Kehle. Er merkte, wie sie aufstand, hörte sie zu seinem Bett kommen; und schon war sie neben ihm, hielt ihn fest, ohne zu weinen, ganz still, dicht an ihn gepreßt. „Ich liebe dich, Dan. Immer. Immer.“ 199
Bei solchen Worten hätte er sich wieder jung fühlen müssen, zurückversetzt in die Zeit, als sie beide diese Worte gebraucht hatten, mit der gleichen Intensität. Jetzt hörte er sie kaum. Er hörte sie kaum, weil ihm plötzlich klar wurde, daß es für die Polizei, was auch geschah, schwer sein würde, den Zweisitzer auf Cindy Hilliard zurückzuleiten. Es konnte Stunden, es konnte Tage dauern, vielleicht so lange Zeit, daß er vorher das Geld aus Columbus in Empfang nehmen konnte. Es würde lange dauern, weil er selbst vor ein paar Stunden die Nummernschilder abgenommen und an der grauen Limousine angebracht hatte. Jetzt lagen sie mit der grauen Limousine auf dem Grunde des Flusses. Hank Griffin fuhr, vermutlich ohne es zu wissen, einen Wagen ohne Nummernschilder! Über alledem lag eine furchtbare Unvermeidlichkeit, die Dan vollends erschütterte, als er sie in ihrem ganzen Ausmaß begriff. Wieder war er tief betroffen über die schreckliche und geheimnisvolle Verwobenheit von Charakter, Schicksal und Zufall, die das Ergebnis dieser Affäre bestimmte – und auch vielleicht alles andere im Leben. Dennoch war der Gedanke für ihn nur ein Gedanke, abstrakt, verwickelt, traumartig und weder beruhigend noch beunruhigend. Er schloß die Augen und grübelte. Hank Griffin erwachte aus diesen Krämpfen jedesmal mit einem geläuterten Glücksgefühl, mit einer gedankenlosen Zuversicht. Als heute das Zittern und Beben und die Dunkelheit vergangen waren, fand er sich in einer verlassenen Straße, unter einer Straßenlampe, in einem schwarzen Zweisitzer. Er saß schlaff hinter dem Steuer und brauchte ein paar Minuten, um zu begreifen, wo er war und warum. Und dann war er plötzlich zu 200
einer Entscheidung gelangt, obwohl sein Hirn scheinbar gar nichts dazu getan hatte. Die Entscheidung war auf irgendwelche Weise gefallen, und er war außerstande, anders als auf ihrer Grundlage zu handeln. Er startete, fuhr langsam an; seine Knochen schmerzten vor Kälte. Er fuhr weiter westwärts, obwohl seine Entscheidung, die ihm selbst noch nicht recht klar war, mit dem Haus der Hilliards verknüpft war; und das Haus der Hilliards lag einige Meilen hinter ihm. Nun war er, eine halbe Stunde nach seiner Rückkehr zur Wirklichkeit, am westlichen Stadtrand; er bog auf einer Nebenstraße nach Süden und nahm Kurs auf die Fernstraße U.S. 40, die scharf durch die Stadt schnitt. Er hatte vorhin zufällig eine Uhr gesehen, das erleuchtete Zifferblatt zeigte ein Uhr fünfundvierzig. Wäre er fähig gewesen, die Zeit zu berechnen, so hätte er feststellen können, wie lange er dort hinten gesessen und sich im leeren Raum in Krämpfen gewunden hatte. Aber seine Gedanken kannten nur ein Ziel: mit Glenn in Verbindung zu kommen. Er war jenseits von Panik und Furcht. Er wußte, was er tat, und brauchte es nur richtig durchzuführen. Dann würde sich alles von selbst ergeben. Jetzt waren die Restaurants und die Tankstellen geschlossen, außer denen im Zentrum, und er hatte gewiß nicht im Sinn, ins Zentrum zu fahren! Aber er mußte ein Telefon erreichen. Also gab es nur einen Ort, einen einzigen, der ihm einfiel: ein Lokal, das die ganze Nacht geöffnet war. Wo fand er so ein Lokal? An den Autostraßen. Also blieb er bei seinem ursprünglichen Plan, nach Westen zu fahren, heraus aus der Stadt. Nur diesmal nicht zurück auf die Straße nach Chicago. Nein, er würde Glenn anrufen. Er wollte Glenn warnen. Er wollte Glenn vorschlagen, sich mit ihm 201
zu treffen, mit ihm nach Chicago zu fahren statt nach Cincinnati und dann Helen Lamar dorthin kommen zu lassen. Dennoch sagte er sich den ganzen Weg: Du mußt nicht ganz bei Troste gewesen sein; du mußt noch durchgedrehter gewesen sein als Robish, dich so gegen Glenn zu stellen! Gewiß, mit den Blauen hatte er freilich recht gehabt; sie hatten etwas aufgespürt und nicht ohne Grund in der Nähe des Hilliardhauses geparkt. Aber Glenn würde schon wissen, wie er mit ihnen fertig würde. Wenn er zum Beispiel Mr. Hilliard oder das Mädel im Wagen mitnahm, wie er es längst vorhatte. Dann faßte vielleicht kein Blauer Verdacht. Und wenn – dann würden sie sich’s doch zweimal überlegen, würden vielleicht gar nicht schießen, ehe die Jagd begann. Glenn hatte alle Möglichkeiten berechnet. Wenn Hank nur erst bei Glenn angerufen hatte – dann brauchte er sich um nichts mehr zu kümmern! Er würde jetzt zugeben, daß er nicht so hell war wie Glenn; sein Gehirn schaltete nicht so schnell. Es war viel besser, wenn Glenn die Entscheidungen traf! Jetzt stieg eine warme Freude in Hank hoch, die die frühe Morgenkälte vertrieb. In dieser Stimmung sah er alles scharf und klar. Alles. Er war sogar imstande, auf eine ganz neue, vernünftige Art an das Mädchen zu denken und an das, was ihr wohl geschehen würde, wenn die Blauen das Schießen anfingen … oder auch wenn sie nicht schossen. Wenn du ’ne Frau brauchst, hatte Glenn immer gesagt, dann nimm sie dir. Aber keine Gefühlsduselei. Es war Gefühlsduselei gewesen. Zum Teufel damit! Vielleicht hätte er sie sich einfach nehmen sollen, direkt 202
dort im Hause. Denn auf das kam es schließlich doch nur heraus: begehren und nehmen. Alles übrige war Schmus. Er war weich geworden, wie Glenn behauptet hatte. Wahrscheinlich lag das an dem Haus … an dem Haus und an dem Mädchen. Es war eine Folter gewesen, dort im Haus zu sein. Welches Recht hatten sie – jene Hilliards – auf solch ein Haus? Wer sagte denn, daß sie es haben sollten und nicht er? Hank näherte sich jetzt der Fernstraße. Er konnte die vorbeifahrenden Scheinwerfer und die Schatten der Lastwagen sehen. Der Lärm war durch die Entfernung abgeschwächt. Paß jetzt bloß auf, ob Straßenkontrollen da sind, sagte er sich. Obwohl dich keiner unter die Lupe nehmen wird – in diesem Wagen und allein. Warum konnte er bloß nicht aufhören, an das verdammte Mädel zu denken! Jetzt sogar. Sie war wie die übrigen, wie alle andern. Eine langsame Wut begann in ihm zu schwelen. Er fühlte, daß er irgendwie geprellt worden war, wie und auf welche Art, das wußte er nicht. Aber seine Gedanken wurden immer wilder. Er berührte die Waffe in der Tasche seines Sweaters. Sein leises gehässiges Fluchen mischte sich in das Singen des Motors. Er haßte alle Mädels wie diese Cindy Hilliard, hatte sie immer gehaßt. Nie sahen sie einen an, sie gingen einfach an einem vorbei, die Augen immer geradeaus gerichtet. Zu gut für dich. Zu gut – Hölle und Teufel! Und ihr Freund, der junge Rechtsverdreher? Wenn du zu ihrem Kreis gehörtest, wenn du mit solchen Mädels rumziehen könntest – dann wären sie sich für nichts zu gut. Aber Kerle wie du? Abschaum. Dreck. Hanks Verachtung für Cindy Hilliard wuchs. Er konnte bereits mit einem gewissen Vergnügen daran denken, was ihr geschehen würde. Glenn nahm sie nicht mit und 203
ließ sie dann einfach laufen. Glenn schmiß ihre Leiche irgendwo ’raus, würde sie so verstecken, daß man sie tagelang, vielleicht wochenlang nicht findet. Und Hank würde danebenstehen und zusehen, ohne jeden Schmerz. Gleichgültig. Sogar mit Lust. Aber so ganz sicher war er sich doch nicht. Nun war er schon wieder soweit … ganz durchgedreht! Verdammt, verdammt – das Mädel … und ihr zäher alter Herr! Hank hatte schon fast angefangen, den Bastard zu bewundern. Warum mußt du immer so durcheinander sein, Hank? Immer, dein Leben lang! Vorsichtig näherte er sich jetzt der Fernstraße. Er schob seine Gedanken gewaltsam beiseite, als die Spannung wiederkehrte und sich in den lähmenden Konflikt mischte, der ewig in ihm zu wüten schien. Nichts Ungewöhnliches, keine versteckt parkenden Wagen, weder rechts noch links. Er bog rechts ein und fuhr nach Westen. Bei dem Gedanken, daß er jetzt tatsächlich die Richtung einschlug, in der Terre Haute und das Gefängnis lagen, das er vor genau zwei Tagen verlassen hatte, lief ihm ein Schauder böser Ahnungen über den Rücken. Er dachte an die Zelle, die Wärter, den Tageslauf, den Blechnapf, den Gestank. Er dachte an alles, und wieder wurde ihm übel, ganz tief in seinem Magen schien das Zittern von neuem anzufangen. Er hatte das Fahren und den Wagen vergessen – er kroch vorwärts. Im Unterbewußtsein wußte er nur: Wenn er erst mit Glenn gesprochen und Glenn ihm gesagt hätte, was das gescheiteste wäre … Ein riesiger Lastwagen rollte vorbei. Der kleine Zweisitzer zitterte. Hank spie einen Fluch aus und trat hart auf den Gashebel. Dann bog der Lastwagen vor ihm von der Straße ab nach rechts. 204
Hank mußte das Steuer nach links herumreißen, um nicht in das Ende des Anhängers zu krachen, und war schon zwanzig Meter weiter, ehe er begriff, warum der Lastwagen hielt. Er wäre beinahe am Telefon vorbeigefahren! Nun trat er auf die Bremsen, drehte das Auto so, daß es im Winkel zum Straßenrand zum Stehen kam – was machte das schon aus! – und kletterte heraus; jetzt richtete sich seine Wut gegen den Fahrer des Lastwagens. Rauh und windig schlug ihm die Luft mitten ins Gesicht. Dann ging er, den leichten Schritt seines Bruders ein wenig nachahmend, über das Pflaster, über den Parkplatz, drei Stufen hinauf und trat in das metallglänzende und dampfende Innere der Raststätte. Es gab keine Sprechzelle hier. Fast sofort sah er das schwarze Telefon an der Kachelwand hinten neben einer Seitentür. Hank blickte finster nach dem Fahrer des Lastwagens, der sich gerade an die Theke setzen wollte und sich den Hut aus dem faltigen, häßlichen Gesicht schob. Hank ging zum Telefon. Er nahm das Telefonbuch zur Hand, das mit einer Kette an der Wand befestigt war. Er haßte es, Namen nachzuschlagen. Das Alphabet verwirrte ihn. Seine Nerven waren überreizt. Er hätte überhaupt nicht hier sein dürfen! Was zum Teufel tat er hier? Außerstande, den Namen Hilliard zu finden, obwohl er tatsächlich die richtige Seite aufgeschlagen hatte, verspürte Hank einen raschen, häßlichen Impuls, den Lastwagenfahrer anzurempeln. Er fühlte förmlich, wie seine Faust gegen die Knochen jenes Gesichtes krachte, wie seine Beine nach der Methode arbeiteten, die Glenn ihn gelehrt hatte, wie seine Arme gleich Kolben ausschwangen, so schnell, daß Kerle, doppelt so schwer wie er, nicht wußten, 205
wie ihnen geschah. Ja, das war das einzige, was er wirklich konnte. Aber der Gedanke bedeutete ihm nichts. In seinem Munde war ein Geschmack … der trockene Geschmack äußerster, knochenerweichender Müdigkeit. Was sollte das alles überhaupt? Dieser ganze Quatsch? Und wohin sollte das führen? Aber jetzt hatte er den Namen. Er versuchte, sich die Nummer zu merken und dann zu wählen, aber das ging schief. Die Stimme der Telefonistin fragte scharf: „Welche Nummer wünschten Sie bitte?“ Er hängte ein. Dann preßte er das Telefonbuch mit der Linken gegen die Wand, ließ den Hörer baumeln und wählte mit starrem Blick Zahl für Zahl. Doch während das Telefon klingelte, fiel ihm ein, daß er nur etwas Kleingeld in der Tasche hatte, sicher nicht mehr, als er für das nötigste Benzin brauchte. Er durfte nicht vergessen, es Glenn zu sagen, damit Glenn keinen Treffpunkt bestimmte, der zu viele Meilen entfernt lag. Als er die Stimme an andern Ende der Leitung hörte, sagte er scharf: „Ich möchte mit Mr. James sprechen.“ Rechtzeitig war ihm eingefallen, daß James der letzte Name war, unter dem Glenn den Anruf Helen Lamars erwartete, gestern um die gleiche Zeit. In diesem Augenblick sah er das dunkle Blau in der Tür der Raststätte, jenseits der blitzenden Theke. Er erkannte den breitrandigen Polizeihut, und sein Blick lief an der Uniform entlang. Der Polizist war jung, sein Gesicht wetterhart, und er beugte sich vor, um mit dem Mann an der Theke zu sprechen, als Hank am andern Ende der Leitung die Stimme seines Bruders hörte, leise und hart: „Hallo! Hallo? Wer spricht dort?“ „Hank“, erwiderte er, aber war steif und hilflos geworden, und das Wort war ein Flüstern. 206
Mehr sagte er nicht, denn der Blaue kam um die Ecke der Theke auf ihn zu. Hank legte den Hörer auf und machte einen Schritt vorwärts, denn blitzartig fiel ihm ein, daß es sich diesmal um eine Mordanklage handelte – und das bedeutete den elektrischen Stuhl. Das breite, knochige Gesicht verschwamm vor seinen Augen, und seine Hand glitt unbedacht in die Tasche seines Sweaters. „Gehört der schwarze Zweisitzer draußen Ihnen?“ fragte eine näselnde, aber nicht unfreundliche Stimme. „Wissen Sie, daß Sie keine Nummernschilder dran haben?“ Schon aber hatte Hank die Hand bewegt – und zu spät; als der Revolver schon mitten in der Luft stand, begriff er, daß er gar keinen Grund zum Schießen hatte. Der Blaue hatte ihn nicht erkannt. Doch schon schnappte der Hahn, und der Schuß explodierte donnernd in dem kleinen Raum. In den Widerhall mischten sich von der Theke her entsetzte, verwunderte Schreie. Der Blaue beugte sich vor, sein Kopf drehte sich zur Seite, seine Hand packte noch krampfhaft nach seiner Pistole. Der ätzende Geruch des Pulvers schlug Hank ins Gesicht. Er feuerte nochmals, höher, fehlte. Er hörte die Kugel in die Spiegelscheibe des Fensters schlagen. Dann ward ihm mit einemmal klar, was tatsächlich geschah. Er wirbelte herum, setzte mit einem Sprung aus der Seitentür – und rannte. Die kalte Luft verschlug ihm den Atem. Er sah einen geparkten Lastwagen, lief auf ihn zu; jeden Augenblick erwartete er, den knochenzerschmetternden Aufschlag der Kugel im Rückgrat zu spüren. Hinter der Masse des Lastwagens blieb er geduckt stehen. Sein Wagen stand auf der anderen Seite der Raststätte, in entgegengesetzter Richtung. Vor ihm lag ein flaches, eingezäuntes Feld, aber ohne Deckung. 207
Glenn, schrie es aus ihm, Glenn, was nun? Eine Taschenlampe flammte vor der Raststätte auf, strich unsicher über den Lastwagen und warf einen grotesken Widerschein nach hinten. Hank sah alles, ohne etwas zu begreifen – einen langen, toten, betäubenden Augenblick. Der andere Blaue, sagte ihm sein Verstand. Aber die Warnung kam wie aus weiter Ferne. Der andere Blaue im Wagen! Hank begann wieder zu fluchen. Wieviel Zeit verstrich, wußte er nicht. Er hielt immer noch den Revolver umklammert, der ihm jetzt warm und schwer in der Hand lag. Aber nutzlos für ihn, der offenbar nicht die Kraft hatte, sich zu bewegen. Undeutlich wußte er, daß sie ihn umstellen würden, wenn er hier stehenbliebe, aber er dachte mit Entsetzen an das Gesicht des Mannes, auf den er eben geschossen hatte, und erinnerte sich an Glenns Worte: In ’ner knappen Stunde bist du wieder hinter Schloß und Riegel. Dann schlug eine Kugel neben seinem Fuß in die Erde, grub sich ein, spritzte den Kies auf, der scharf gegen sein Bein flog. Sie schossen nach seinen Beinen? Sie schossen unter den Lastwagen! Glenn! Wild geworden, weil sein von Natur aus langsames Hirn mit verzweifelter Schwerfälligkeit arbeitete, machte er kehrt und lief. Er hatte keine Ahnung, welche Richtung er einschlug, aber er hatte Angst vor der Flachheit des Feldes hinter dem Zaun und konnte nur daran denken, die Fernstraße zu überqueren, um hinter einem Dickicht oder im Wald auf der anderen Seite Deckung zu finden. Er wußte recht gut, daß er selbst dann nicht durchkommen würde. Seine Schuhe schlugen auf das Pflaster, als eine Kugel an seiner Schulter vorbeipfiff. Dann spürte er das stechende Licht der blendenden Lampe, 208
als er halb taumelnd, halb laufend bis zur Mitte der Straße kam. Irgendwo tief in ihm begannen die wohlbekannten Schauer, und er wußte: Diesmal würde er sterben. Sterben ist gar nicht schlecht, nur darf man’s nicht wissen, wenn es passiert. Doch er fühlte den stechenden Schmerz sogar schon, als er, taumelnd, den Strahl der blauen Flamme von der Raststätte her kommen sah. Der Schmerz stieg brennend an seinem Bein hoch, von der Wade aufwärts, und Hank blieb stehen, ohne niederzugehen. So ist’s nicht richtig, dachte er. Du solltest nichts davon wissen. Dann sah er den Lastwagen die Straße heranrollen, sah die weit ausholenden Strahlen der Scheinwerfer. Er stand wie angewurzelt. Der Schmerz griff heiß bis in sein Hirn. Er hörte das Brüllen des Motors, das Zischen der Luftbremsen. Er stand aufrecht, festgefroren im Aufbrüllen der Hupe, sah das schwankende viereckige Ungetüm hinter den Lichtern plötzlich zu seiner Linken ausweichen. Immer noch erwartete er einen neuen Donner von Schüssen, aber statt dessen war er taub vom Lärm des Motors, als der Kotflügel sicher in einem Winkel vorbeistrich. Dann fing der Lichtstrahl die feste Masse des silberfarbenen Anhängers, der flach auf ihn zuschwang, als Wagen und Anhänger ins Schleudern kamen. Alles war dann geballt und furchtbar und überdeutlich. Er durchkostete jede Sekunde, sah alles, begriff die Bedeutung, und sein Hirn wimmerte immer noch schwach, so dürfe es nicht sein. Die blendende, schimmernde Wand des Anhängers brauchte eine Ewigkeit, um ihn zu erreichen, ihr seitliches Vorrücken war unendlich verlangsamt durch den gummikreischenden Protest der greifenden Räder. 209
Dann war die Wand auf ihm, und noch der Augenblick des Todes war ein fassungsloses Staunen: Es war geschehen – und es war ihm geschehen! 6 Um zwei Uhr morgens etwa – gewöhnlich schlief Chuck Wright um diese Zeit den tiefen, ruhigen Schlaf der Jugend – wurde er durch ein Klopfen an der Tür aus einem flachen Dämmerzustand geweckt. Er griff nach der Lampe – sie stand nicht auf ihrem Platz; dann erhob er sich, denn das Klopfen wurde beharrlich; er ging auf nackten Füßen durch das kleine Schlafzimmer und schaltete die Deckenbeleuchtung an, ehe er die Tür öffnete. Als er in das ruhige, ausdruckslose Gesicht des Vize-Sheriffs Jesse Webb blickte, war Chuck sofort hellwach und auf seiner Hut und so gespannt, daß es ihm fast die Brust zersprengte. „Ich konnte nicht schlafen, Mr. Wright“, sagte Jesse schleppend und trat ein. Seinem Blick entging nichts, auch nicht, daß Chuck noch immer Oberhemd und Hose anhatte, kein Pyjama. „Ich nehme an, Sie auch nicht.“ Jesse bückte sich und richtete die Lampe auf, die jetzt ein Gewirr von verbogenen Drähten und zertrümmertem Schirm war. „Rauhe Sitten, Mr. Wright – Sie waren doch bei der Marine, nicht wahr?“ „Sie wissen es. Warum fragen Sie?“ „Sehen Sie, das mag ich gern. Freundschaftliche Zusammenarbeit, sogar mitten in der Nacht.“ Er setzte sich auf die Bettkante. „Wir sind langsam, Mr. Wright, aber mit der Zeit kriegen wir’s. Sie könnten uns eine Menge Zeit ersparen. Und wenn mich meine Nase nicht täuscht, 210
haben die Leute dort oben nicht viel Zeit übrig. Folgen Sie mir, Wright? Sie wissen doch, welche Leute ich meine?“ Chuck Wright nahm ein Paket Zigaretten, das auf einem Stuhl lag, und knipste eine heraus. „Nein. Sie meinen, ich sollte sie kennen?“ „Gottverdammich“, sagte Jesse mit verdrossenem Widerwillen, „Sie sollten nicht – Sie kennen sie …“ Und während Chuck seine Zigarette anzündete, beobachtete er, wie das Blut aus dem hageren, zähen Gesicht des andern wich. „Schluß mit den Redensarten, Wright. Sie sind Rechtsanwalt. Sie wissen, daß Sie mit der Polizei nicht Poker spielen können. Hören Sie mir jetzt zu: Niemand namens Allen wohnt von einem zum andern Ende der Oxfordstraße. Und diese Constance Allen – die überhaupt weder Ihre noch sonst jemandes Freundin, sondern seit sechs Monaten heimlich verheiratet ist – arbeitet in Ihrem Büro, wohnt aber auf einer Farm außerhalb der Stadt. Im Süden. Freilich, mir hilft das zwar verdammt wenig, aber Sie bringt es immerhin schwer in Druck. Denn wenn Sie jetzt nicht anfangen zu sprechen, Wright, werde ich einen Haftbefehl für Sie ausstellen lassen. Wegen Beihilfe und Begünstigung. Sie kennen ja die Rechtssprache – und Sie können sich dann von Ihrer Firma vertreten lassen. Doch bevor diese auch nur Piep sagen kann, werde ich den Namen von den Leuten da oben aus Ihnen herausbringen, gesetzlich oder ungesetzlich.“ „Hören Sie auf, sich die Knöchel zu reiben, Sheriff“, sagte Chuck Wright leichthin, aber nicht gereizt. „Ich spiele mich nicht auf …“ Doch dann zögerte er, als er den Blick in den Augen des andern verfolgte. Jesse Webb stand auf. Seine Aufmerksamkeit wurde durch einen Gegenstand auf der Kommode gefesselt. Er 211
schlenderte hin, nahm den japanischen Revolver in die Hand, prüfte ihn sorgfältig, sogar das Magazin. Dann sah er Chuck Wright nur wartend an. „Ich habe einen Waffenschein“, sagte Chuck endlich. „Der Teufel hole Ihren Waffenschein“, bellte Jesse. „Was hatten Sie mit dem da im Sinn? Und jetzt keine Winkelzüge mehr, mein Junge. Daran ist mein Bedarf für heute gedeckt.“ „Ich möchte nicht gern gezwungen sein, ihn zu gebrauchen“, sagte Chuck Wright dann; er sprach sehr langsam, sein Blick traf den des Sheriffs. Jesse Webb zog kurz die Augenbrauen hoch, fuhr mit der Hand in die Tasche, um eine Zigarette zu suchen, zündete sie mit einem hölzernen Streichholz in der Kuppe seiner Hand an. „Sie haben mir eine Weile ganz schön zu schaffen gemacht“, gab er zu und blies den Rauch in die Luft. „Sie werden doch diese Hunde nicht in Schutz nehmen, wie? Junge, Sie wollen sie doch ebenso zur Strecke bringen wie ich.“ Als Chuck darauf nicht antwortete, als er sich überhaupt nicht rührte, sondern sich in seiner Hilflosigkeit sogar eine Sekunde versucht fühlte, diesem langen, lakonischen Burschen zu vertrauen, sagte Jesse etwas zu beiläufig: „Also, wie heißt sie denn?“ „Vielleicht handelt es sich um meine eigene Familie“, sagte Chuck hinhaltend und wieder auf der Hut. Jesse Webb schlug mit der rechten Faust in seinen linken Handteller, und der heftige Aufprall krachte wie ein Pistolenschuß in dem kleinen Raum. „Ich sagte Ihnen doch – wir spielen nicht Poker! Ihre Leute sind vor einer Stunde aus dem Golfklub in Meridian Hills nach Hause gekommen, und Sie selbst waren schon früher dort. Sie holten sich dieses japanische Spielzeug hier, stimmt’s? Nun heraus damit, Wright. Wie heißt sie?“ 212
Chuck Wright holte so tief Atem, daß sich seine Schultern hoben. „Also gut, Vize-Sheriff. Sie haben richtig geraten – bis jetzt. Aber ich werde Ihnen den Namen nicht nennen, und ich will Ihnen auch sagen, warum nicht. Sie werden ihn schnell genug rauskriegen, so wie Sie arbeiten. Sie hatten recht, als Sie sagten, jene Leute brauchten Zeit. Sie haben allerhand durchgemacht – Gott weiß, was alles! –, um die Polizei aus dem allen herauszuhalten.“ „Was zum Teufel denken Sie denn, daß ich tun werde, wenn ich’s rauskriege?“ schrie Jesse Webb. In seinem schmalen Gesicht stand seine ganze Müdigkeit und Verwirrung. „Für wie idiotisch hält man denn die Polizei? Denken Sie, ich werde das Haus in die Luft sprengen, um dies Ungeziefer zur Strecke zu bringen?“ „Nun also – was werden Sie tun?“ fragte Chuck Wright. Diese Frage ärgerte Jesse Webb, gerade weil er so unentschlossen war. Chuck Wright sah Jesses Knöchel weiß werden, als dieser den Mantel zurückwarf, die Finger in seinen Gürtel steckte und sich breitbeinig auf seine langen Beine pflanzte. „Ich werde mich bereit halten für sie – das ist die Hauptsache. Sie können nicht ewig dort im Hause bleiben.“ Diese Worte brachten Chuck Wright scharf, voll und restlos seine eigentlichen Befürchtungen wieder zum Bewußtsein – jene Befürchtungen, die ihn zögern ließen. „Es darf nicht geschossen werden, Sheriff – auch nicht, wenn diese Männer dort weggehen. Sie haben doch selbst den Brief gelesen.“ „Das weiß ich auch!“ schrie Jesse Webb. „Dennoch könnte es passieren. Das haben Sie nicht völlig in der Hand, Sheriff! Oder? Staatspolizei, Bun213
despolizei, Schutzleute, vielleicht die Stadtpolizei … ein Mann, nur ein einziger Mann, braucht auf komische Gedanken zu kommen, könnte sich versucht fühlen, einen von den Kerlen abzuschießen, wenn sie herauskommen.“ Er streckte unwillkürlich beide Hände aus und packte den Sheriff am Arm. „Sie müssen doch auch im Krieg gewesen sein, Mann! Sie haben heute nicht die Autorität, die wir damals hatten – und selbst damals waren die Leute nicht immer zu halten, wenn ihnen die Nerven durchgingen. Es darf kein Blutvergießen geben.“ Er sprach in rauhem, leisem Flüsterton und rüttelte den Großen mit beiden klammernden Händen. „Es darf kein Blut fließen – weil es nämlich nicht das Geschmeiß sein wird, das was abkriegt. Sie wissen, wen es treffen wird, nicht wahr? Oh, Sie wissen es. Wenn nicht, dann hol Sie der Teufel – dann ist jedes Wort verschwendet, das ich spreche.“ Dann trat ein langes Schweigen ein. Der Sheriff schob Chucks Hände fort, jetzt aber ohne jede Andeutung von Zorn oder Gereiztheit. Er schüttelte den Kopf, drückte den jungen Menschen auf das Bett, bis er saß, beugte sich über ihn und sprach dann leise und fast behutsam: „Es wird Blut fließen, mein Junge; ich finde, es ist besser, Sie hören das gleich jetzt, ohne Umschweife.“ Er sprach wie ein Mann, der mit sich selbst zu Rate geht, seine Gründe scharf für jemand anderen formuliert, um sie für seinen eigenen Verstand zu entwirren. „Glenn Griffin nimmt niemanden auf eine Spazierfahrt mit und setzt ihn dann ab und dankt ihm für die angenehme Gesellschaft. Wenn Sie das denken, Junge, dann kennen Sie diesen Menschen nicht so, wie ich ihn kenne. Was sollen wir also tun? Wir werden die Gelegenheit ergreifen, wann und wie sie sich bietet, um soviel wie möglich von diesen dreien zu fassen, 214
ohne jemand anderen zu opfern. Was können wir mehr tun, Wright? Was bleibt uns anders übrig?“ „Ich könnte nicht die Entscheidung für diese Familie treffen. Ich kann es Ihnen nicht sagen, Sheriff. Es tut mir leid.“ Jesse drehte sich schroff um und drückte seine Zigarette aus. „Schon gut, Junge. Schon gut. Bei Gott, ich weiß nicht, ob Sie jetzt etwas Verkehrtes tun oder nicht. Bei Gott, ich weiß nicht, was ich täte, wenn ich in Ihren Schuhen stünde. Aber ich stehe in den meinen, und ich habe eine Pflicht. So liegen die Dinge. Wenn ich es falsch mache …“ Das Schrillen des Telefons schnitt seine Worte ab. Ohne auch nur einen Blick für Charles Wright nahm er es auf. Chuck erhob sich. Jetzt war in ihm eine Kälte, eine schreckliche Gewißheit, als er den andern sagen hörte: „Hallo.“ Dann: „Am Apparat.“ Jesse Webb lauschte, seine Augen wanderten langsam bis zu Chuck, aber sein Gesicht blieb ausdruckslos. „Tot?“ Wieder horchte er. „Verflucht! Was ist mit dem Polizisten?“ Automatisch nickte er. „In fünfzehn Minuten, Tom.“ Chuck fror die Stimme in der Kehle fest. „Ziehen Sie Ihre Schuhe an, mein Junge. Sie schlafen ja doch nicht.“ Jesse Webb griff unwillkürlich in seinen Pistolengurt. „Ich werde Sie zu einer raschen Fahrt mitnehmen. Werde Ihnen mal zeigen, was für ’ne Sorte Dreck das ist, dem Sie Ihr Mädel ausgeliefert sein lassen.“ Als Chuck Wright seine Schuhe anzog, fuhr Jesse, bereits in der Tür, fort: „Es kann eine gute Nachricht sein, Junge. Einer von ihnen ist tot.“ „Tot“ schien Chuck Wright ein flaches und unzureichendes Wort und kaum die Wahrheit, wenn es das 215
Ding bezeichnen sollte, das er zusammen mit dem VizeSheriff Webb nur achtzehn Minuten später anstarrte. Noch heulte die Sirene in seinem Kopf. Die plötzlich entblößte Trostlosigkeit der Stadtstraßen, die das rote Licht einfing, das Gefühl furchterregender Geschwindigkeit und schneidender Kälte und jetzt der Anblick dieses Dinges dort unter der Decke, die der dicke Beamte so gleichmütig zurückschlug – das alles stürmte auf ihn ein, und ihm wurde übel. Er wurde rot im Gesicht, schwach, heiß. Er kehrte sich ab und machte am Straßenrand ein paar unsichere Schritte; seine Augen streiften hastig den umgeworfenen Lastanhänger, die grellen weißen Lichter der Scheinwerfer, die seltsam weißen Gesichter der neugierigen Gaffer und den noch immer dunklen, reglosen Himmel darüber. Wieder mußte er an den Krieg denken, und mit der Erinnerung verging etwas von der Hitze, die sein Fleisch versengte, und nun stand er ein wenig abseits von den andern und lauschte – er hörte, aber er begriff nicht recht. „Bist du sicher, daß er es ist?“ fragte Jesse Webb, und sogar seine Stimme klang gedämpft und undeutlich vor Übelkeit. „Es ist der Jüngere – einwandfrei“, sagte der dicke Beamte. Eine andere Stimme veranlaßte Chuck, sich umzudrehen und diese drei Gestalten zu betrachten, die jetzt etwas von der Decke zurücktraten: Sheriff Webb, lang und schlaksig, in der Taille vorgebeugt, die Hände in den Taschen; der Dicke, den Hut ins Genick geschoben; der dritte Mann in der Uniform der Staatspolizei. Er war klein gewachsen und hatte etwas Hartes, Sprödes an sich, und wenn er sprach, klang das auch durch seine Stimme. „MacKenzie wußte nicht mal, daß dieses Schwein eine 216
Pistole hatte, er vermutete es nicht mal. Na, mein Sohn, sind Sie jetzt bereit, den Fall ernst zu behandeln? Zwei Morde – langt Ihnen das?“ „Versuchen Sie nicht wieder, mir zuzusetzen“, warnte ihn Sheriff Webb flüsternd. „Schließlich ist einer von ihnen tot, ja? Lassen Sie mich in Ruhe, Leutnant Fredericks. Ich hab’ Ihren Mann nicht abgeknallt.“ Dabei ging er spähend einige Schritte weiter, den Kopf zu dem Dicken gewandt. „Was ist mit dem Wagen, Tom?“ Aber Leutnant Federicks folgte ihm, und Chuck konnte ihn sprechen hören, scharf und kurz, während er den Hut abnahm und sich über das stoppelige silbergraue Haar strich. „Wer ihn abgeknallt hat, ist gleichgültig. Mac liegt auf dem Operationstisch, mein Sohn. Wenn wir den ganzen Tag richtig gesucht hätten, statt herumzutrödeln …“ Jesse fuhr herum, und Chuck verzog die Stirn, während er lauschte. „Hören Sie, Leutnant – ich bin kein Übermensch. Wo ist Carson? Er ist für dieselbe Methode wie ich. Und ich glaube nicht, daß es Ihren MacKenzie gerettet hätte, wenn wir einige Türen eingeschlagen hätten. Ich glaube im Gegenteil: Mit Geklingel an den Türen und dem Aufstecken roter Lichter wären noch andere Leute getötet worden. Ich habe versucht, den Sheriff zurückzuholen, aber es ist schwer, einen Mann zu erreichen, der im Walde auf Jagd ist, nicht wahr? Wenn er kommt, kann er den Fall übernehmen. Inzwischen haben Sie einen toten Griffin und einen verwundeten Polizisten. Gott weiß, um Mac tut’s mir leid – aber Sie bleiben mir vom Halse, Leutnant Fredericks! Ich habe Sorgen genug.“ Daraufhin setzte Leutnant Fredericks seinen Hut wieder auf und wischte sich mit dem Taschentuch über das 217
kleine, scharfgeschnittene Gesicht. „Bei Polizeiarbeit ist persönliche Empfindlichkeit nicht am Platze“, sagte er. „Persönliche Empfindlichkeit – zum Teufel!“ explodierte Jesse. „Fahren wir lieber mit der Untersuchung hier fort. Wem gehört der Wagen? Wo hatte Hank Griffin den Wagen her?“ „Sachte, sachte!“ sagte der Dicke, und als Chuck Wright sich umwendete und langsam am Straßenrand entlangschritt, auf den Wagen zu, der etwas entfernt in einem verkehrten Winkel zur Straße stand, hörte er hinter sich: „Tja, das ist ja gerade die Schweinerei, Jesse – es wird ziemlich lange dauern, diesen Wagen festzustellen, weil er nämlich keine Nummernschilder hat. Keinerlei Erkennungszeichen. Wenn die Schilder nicht gefehlt hätten, wäre Mac bei der Raststätte gar nicht ausgestiegen. Die Firmenzeichen in den Kleidern können wir erst nachprüfen, wenn morgens die Geschäfte aufgemacht werden. Aber ich habe Bonham aus dem Bett holen lassen, damit er sich um die Motornummer kümmert. Doch das wird ewig dauern. Na ja, und dann bleibt uns noch die Pistole – das heißt, wenn sie überhaupt registriert ist. Im Wagen ist sonst nichts, was uns helfen könnte. Nur … er sieht aus, als könne er einer Frau gehören. Ein paar Haarnadeln …“ Die Stimme des Dicken hinter ihm verklang, und Chuck stand ein paar Meter vor dem kleinen schwarzen Zweisitzer. Der Anblick traf ihn hart wie ein Schlag, mehr noch als die schrecklichen Spuren des Unglücks ringsum an der Straße. Er wußte nicht, wie lange er hier stand, schlaff und plötzlich wieder kalt. „Na, mein Junge?“ fragte Jesse Webbs Stimme ziemlich dicht an seinem Ohr. „Sie wissen doch, wem der Wagen gehört? Das würde uns viel Zeit ersparen.“ 218
„Vielleicht sind die beiden andern auch fort“, sagte Chuck, ohne sich umzuwenden. „Möglich. Kommen Sie. Wir fahren zusammen zu dem Hause, um es dort festzustellen.“ Doch Chuck schüttelte nur den Kopf. Es war eine verstörte, ablehnende Bewegung, die jede Hoffnung abschnitt, ehe sie noch hätte Wurzeln schlagen können. Wenn ich dem Vize-Sheriff Webb Hilliards Namen und Adresse gebe, dachte Chuck, und dieser rücksichtslose Staatspolizist kriegt sie spitz – was dann? Sirenen, Scheinwerfer, Tränengas – und auf Hilliards Rasen ein aufgepflanztes Maschinengewehr. Danke, nein. Jesse Webb fluchte über Chucks Weigerung und ließ ihn stehen. Er riß die Tür von Cindys Wagen auf und untersuchte ihn innen mit einer Taschenlampe. Ob es das vertraute Bild des Wagens war – jedenfalls besann sich Chuck aus irgendeinem Grunde plötzlich auf seinen ursprünglichen Plan, den Plan, den er gefaßt hatte – es schien ihm lange her –, als er zuerst erfuhr, was überhaupt geschah. Seine Gedanken sprangen in die alte Richtung zurück. Vielleicht gab es doch etwas, was er tun konnte. Er kehrte um und trat wieder in den schattenhaften Kreis der Zuschauer, fand den Chauffeur, dessen Taxe er schon vorher bemerkt hatte, und trat zu ihm: „Ist das Ihre Taxe? Wollen Sie eine Fuhre machen?“ „Ja, sicher“, sagte der Chauffeur und trottete langsam auf seinen Wagen zu. „Ihrem Magen hat’s wohl auch gelangt, was?“ Chuck stieg hinten ein, setzte sich steif und gab dem Fahrer die Adresse seines Klubs. Der Schlüssel zur Hintertür des Hilliard-Hauses lag hart in seiner Hand. Er sagte: „Los, Mann, treten Sie aufs Gas. Reden Sie nicht. Ich bin müde.“ 219
Aber das war eine Lüge. Er war nicht müde, nicht im mindesten. „Wir können sicher alles in der Morgenzeitung lesen.“ Zwanzig Minuten hockte Jesse Webb an der Theke der Raststätte und wartete auf den vorläufigen Bericht des Leichenbeschauers. „Ernie, hören Sie – ich kann Ihnen den Grund nicht sagen, aber diese Geschichte darf nicht in die Zeitung, besonders nicht in die Morgenausgabe. Glauben Sie mir, ich habe meine Gründe.“ Carson, der Mann von der Bundespolizei, der gekommen war, während Jesse den schwarzen Zweisitzer durchsuchte, nickte zustimmend. „Berichten Sie’s als einen Unfall. Opfer nicht identifiziert.“ Ernie, jung und muskulös, mit blondem Marineschnitt, knöpfte seinen Trenchcoat auf. „Ich werde Ihr Verlangen dem Lokalredakteur überbringen. Mehr kann ich nicht tun.“ „Verdammt. Sie werden mehr tun“, sagte Jesse rauh. „Nämlich genau das, was Herr Carson sagt. Unbekanntes Opfer eines Verkehrsunfalls. Ihnen macht das nichts aus – aber wir müssen einen Fall aufklären, und der Bruder dieses Burschen darf nicht erfahren, daß es ihn erwischt hat.“ „Warum nicht?“ „Das kann ich Ihnen nicht erklären. Könnt ihr Zeitungsleute denn das Wort eines Blauen niemals für voll nehmen? Es ist etwas Wichtiges, Ernie!“ Ernie neigte sein pockennarbiges junges Gesicht und dachte mit zusammengekniffenen Lippen nach. „Jesse, bitte sehen Sie’s mal so an: Sie haben Ihren Beruf, das ist die eine Seite der Medaille; ich habe aber auch einen, und das ist die andere Seite. Diese Sache hier ist ’ne 220
Zeitungsgeschichte, und eine höllisch gute, das wissen Sie recht genau. Nun verlangen Sie von mir, daß ich dichthalte, bis die Nachmittagszeitungen es in alle Winde posaunen – und ich sitze auf dem trockenen!“ Geduldig und sehr langsam sagte Jesse Webb darauf: „Es stehen Menschenleben auf dem Spiel, Ernie.“ „Welche?“ Nun mußte Jesse lächeln. Er liebte Männer, die ihr Geschäft verstanden. Er liebte Männer, die ihre Pflicht erfüllten. Und er beneidete das geradlinige, unverwickelte Denken solcher Menschen wie Leutnant Fredericks, sosehr ihn ihre Methoden auch reizten. „Halten Sie sich an mich, Ernie. Hier entwickelt sich eine Geschichte, die größer ist als – das hier, glauben Sie mir’s. Wenn Sie das hier berichten, wenn Glenn Griffin es erfährt und es mit der Angst bekommt …“ Ernie hob die flache Hand. „Ich sagte Ihnen ja – ich werde es versuchen. Ich werde mit Roland sprechen. Aber darüber schreiben muß ich.“ Jesse Webb nickte. Dabei hatte er das Gefühl, all diese Vorsichtsmaßregeln, die ein Loch nach dem andern verstopften, seien vergebliche Mühe. Nach seinem Gespräch mit Chuck Wright, nachdem er alle erdenkbaren Möglichkeiten, die sich ergaben, selbst untersucht hatte, ohne einen Ausweg für jene Leute zu finden, begann er dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit nachzugeben. Seltsam übrigens, daß er in diesen letzten paar Stunden Onkel Frank und alle persönlichen Dinge, die ihm so wichtig erschienen waren, fast vergessen hatte. Was ihn jetzt wirklich und auf einer tiefen, persönlichen Ebene berührte, das war die katastrophale Lage dieser Familie, des Mannes, der den Brief geschrieben hatte. Bis jetzt hatte er noch nicht einmal an die Frage gerührt, was Hank 221
Griffins nächtliches Unternehmen (warum war er allein im Wagen?) für die Familie und für die beiden anderen Sträflinge bedeuten mochte. Nun ja, dazu würde er auch noch kommen. Er hatte, wie es jetzt aussah, sehr viel Zeit, denn der Weg zu dem Namen dieser Leute war mühsam, lästig und umständlich. Und der junge Wright – hol’s der Teufel! –, der war verschwunden, nachdem er einen Blick auf den schwarzen Zweisitzer geworfen hatte! Es stellte sich aber heraus, daß Jesse Webb gar keine Zeit hatte. Ehe er es fassen konnte, war das lange Warten vorbei, obschon er sich auch jetzt keine Zeit zum Staunen nahm. Der lang erwartete Augenblick kam, und zwar so von ungefähr und selbstverständlich, wie man es nie erwartet, wenn sich ein brennendes Problem der Lösung nähert. Jesse sah von der Theke auf, sah Tom Winston, der sich halb vom Telefon abwandte und ihn mit seiner großen fleischigen Hand heranwinkte. Jesse glitt vom Stuhl, bat Ernie nochmals, er möge doch bitte versuchen, den Tod dieses jungen Menschen noch eine Weile im dunkeln zu lassen, schritt dann an der Theke entlang und trat zu Tom Winston – zum selben Telefon, das Hank Griffin vor mehr als einer Stunde, also gegen zwei Uhr morgens, benutzt hatte. Toms windgerötetes Kugelgesicht sah ihn an, und ein Grinsen ohne Heiterkeit sprang auf die vollen Lippen, als er sagte: „Komm heraus, Jesse.“ Er flüsterte so leise, daß kein anderer an der Theke es hören konnte. Sie gingen hinaus, durch dieselbe Tür, durch die Hank Griffin kurz vor seinem Tode hinausgestürzt war; dann berührte Tom Winston Jesses Arm – eine sehr ungewöhnliche Geste für Tom – und sagte: „Der Revolver, Jesse. Der kleine schwarze Revolver, mit dem Hank 222
Griffin auf MacKenzie geschossen hat. Er ist registriert. Auf den Namen Hilliard. Daniel C. Hilliard.“ Das war alles. Nichts weiter. Nach all diesen Stunden war es so einfach. Jesses Gedanken gerieten nicht durcheinander; sie brauchten sich nicht langsam und unsicher zurücktasten, um die Kundenliste durchzugehen, die Jesse in Herrn Pattersons Haus gefunden hatte; sie brauchten nicht einen Namen nach dem andern zu mustern, die gestern morgen auf einen Scheck, zahlbar an Herrn Patterson, geschrieben worden waren. Der Name Eleanor Hilliard sprang scharf und klar in den Vordergrund seines Denkens. Auch kostete es Jesse keine Anstrengung, kein langes Suchen auf der Karte mit den Wohnblöcken nördlich der Stadtgrenze, um die genaue Lage des Hauses festzustellen. Er hatte sofort alles bereit, und dennoch erzeugte dies in ihm keine Freude, keine wilde Erregung, keinen besonderen Triumph. Nur ein langsames kaltes Gefühl tief unten in seinem Herzen – und dann neue und jetzt unvermeidliche Fragen: Was nun? Wohin jetzt? Dann begann Jesse Webb weitere Anweisungen zu geben; seine Stimme war sehr leise und beherrscht, seine Augen waren auf die Hauchwölkchen gerichtet, die aus seinem Munde sprangen, wenn er in der kalten Luft sprach. Fünfundvierzig Minuten später – es war fast vier Uhr, aber der Himmel wurde nicht vor sechs Uhr hell – näherte sich Jesse Webb von Westen her auf dem Kessler Boulevard dem Haus Dan Hilliards. Er fuhr einen dunkelbraunen Wagen, dessen Äußeres nicht im geringsten an die Polizei erinnerte. Es war Ernies Wagen, den er sich geliehen hatte, und das Klopfen des Motors mißfiel ihm sehr; aber der Reporter hatte ihm nachgerufen, der Motor 223
würde schon durchhalten, wenn Jesse ihn nicht allzusehr mißhandle. Jetzt würde in kürzester Zeit ein vollständiger Bericht über Daniel C. Hilliard und seine Familie dasein, aber einige Umstände konnte Jesse bereits selbst beurteilen: gutes Einkommen; durchschnittliche Lebenshaltung; ausgezeichnete Nachbarschaft – nicht Oberschicht, aber bester Mittelstand. Er hatte auch die Verantwortung auf sich genommen, Leutnant Fredericks nicht mitzuteilen, was er erfahren hatte. Wenn es zum Klappen kam, mußte er eben über Fredericks Kopf hinweg handeln und einem anderen, vielleicht Carson oder dem Leiter von Carsons Dienststelle, die Entscheidung zuschieben. Bis dahin handelte er auf eigene Faust und verlor die Hoffnung nicht. Winston würde Carson den Bericht zuleiten, und um vier Uhr dreißig würden sie in der Küche von Joes Restaurant in Broad Ripple einen Entschluß über ihr weiteres Vorgehen fassen. Inzwischen waren vier Streifenwagen alarmiert und so aufgestellt, daß sie, noch unauffällig, die möglichen Fluchtwege vom Hause der Hilliards beherrschten. Doch bis jetzt hatten sie noch keine genauen Anweisungen bekommen, was sie tun sollten, falls Griffin und Robish versuchten, die Familie Hilliard auf die Flucht mitzunehmen. Dieser unentschiedene und daher doppelt gefährliche Stand der Dinge war es gewesen, den der junge Wright gefürchtet hatte – und Jesse wünschte nur, er könnte es dem Jungen verdenken, daß er den Namen verschwiegen hatte, den er, Jesse, jetzt ohnedies kannte. Er nahm Gas weg und hielt den Wagen in gleichmäßigem Tempo; denn wenn er an dem Haus vorbeifuhr – es mußte links liegen –, wollte er sich genügend Zeit zum Beobachten lassen, ohne dabei durch zu langsames Fahren oder plötzliches Andern des Tempos seine Anwesenheit 224
verdächtig zu machen. Sein erster Eindruck von dem Haus war, daß es ziemlich groß erschien, etwas abseits lag, mit flachen Feldern im Westen und zwei oder drei baumbestandenen Bauplätzen im Osten. Die Fenster waren dunkel, und in dieser natürlich erscheinenden Tatsache fand Jesse eine gewisse Beruhigung. In der Einfahrt stand eine moderne lange blaue Limousine, mit dem Kühler nach der Straße. Dies nahm Jesse zur Kenntnis – er wußte, was es bedeutete. Dann ließ er, ohne sich merklich zur Seite zu wenden, seine Augen von Fenster zu Fenster laufen. Nichts. Dunkelheit. Aber sie waren noch drin. Einer, vielleicht beide. Dann fuhr er an dem bewaldeten Gelände vorüber bis zum nächsten Haus. Walling, sagte ihm sein Gedächtnis, Ralph Walling. Zu seiner Rechten gegenüber von den Hilliards waren keine Gebäude irgendwelcher Art, nur ausgedehnte Wiesen mit den Schildern eines Grundstückmaklers, der sie als Baustelle zum Verkauf anbot. Sie haben sich’s gut ausgesucht, diese Hunde, dachte Jesse in grimmigem Schweigen; hätte er nur mehr Zeit gehabt, um die genaue Lage der Veranden, Türen und der Garage zu studieren. Immerhin hatte er auch jetzt schon ein leidlich genaues Bild. Bei der ersten Querstraße machte er eine Linkswendung, in der Absicht, alle vier Seiten des Blocks auszufahren. Dann aber erinnerte er sich der Karte – dies hier war kein gewöhnlicher Block. Hinter dem Haus der Hilliards – das heißt nördlich davon – kam etwa eine Viertelmeile keine Querstraße. Dieses Gebiet hinter dem Haus interessierte Jesse Webb besonders, als er auf der kiesbestreuten Hinterstraße, die parallel mit dem Boulevard lief, wieder links einbog. Wenn jemand den Weg durch den Wald einschlug, der sich ziemlich dicht von der Rückseite des Hilliardschen 225
Grundstückes bis an diese Straße erstreckte, auf der er jetzt nach Westen fuhr, und wenn er sich dann dem Haus ungesehen von rückwärts nähern konnte, besonders jetzt in der schweren Dunkelheit … Nein. Das waren Überlegungen, die sich totlaufen mußten, weil er einen Punkt außer acht gelassen hatte, als er diese Berechnung begann: daß die Hintertür des Hauses von innen fest verschlossen und sorgsam behütet sein würde, besonders seit der jüngere Griffin fort war. Sein Bruder war schlau genug, um genau zu ermessen, welche Gefahr darin Jetzt mußte Jesse einen günstigen Beobachtungsplatz finden, von dem aus ein Mann – oder besser mehrere Männer – das Haus im Auge behalten konnten. Das ebene Gelände und das niedrige Gebüsch auf den Feldern westlich und jenseits des Boulevards würden diese Aufgabe sehr erschweren. Alles das bedachte Jesse und legte es sich in Gedanken so zurecht, wie er es Carson und Fredericks darstellen würde – als ihm etwas ins Auge fiel, was ihn veranlaßte, eine Viertelmeile vor dem Hilliard-Haus anzuhalten und auszusteigen. Zuerst sah er etwas Glänzendes im Wald, in dem Wald, den er so genau betrachtet hatte. Doch als er zurückging, um mit einer Taschenlampe nachzusehen, was es sei, stieß er auf einen starken, niedrigen, ausländischen Sportwagen zwischen den Bäumen, etwas abseits der Straße, doch nicht völlig verborgen. Er ließ sofort den Gedanken fallen, daß es ein zweiter für die Flucht bereitgestellter Wagen sei: zu auffallend, zu klein, trotz des starken Motors. Die Polsterung war aus Leder. Das Handschuhfach enthielt ein Buch mit Anweisungen über Pflege und Reparatur des Motors, in englischer Sprache; einige Päckchen 226
Zigaretten, einen ausgedienten Füllfederhalter, einen Flaschenöffner. Jesse nahm einen kleinen Pappkarton vom Sitz und untersuchte ihn – er war leer. Auf dem Deckel waren in senkrechter Anordnung drei orientalisch anmutende Symbole, die ihm nichts sagten. Er wollte gerade den Karton wieder wegstellen, als es ihm einfiel, daran zu riechen. Der Geruch war eindeutig: ätzend und metallisch – der Geruch von Schießpulver. Und plötzlich erinnerte er sich des fremdartig aussehenden Revolvers auf der Kommode in Chuck Wrights Klubzimmer. Doch was Jesse dann dachte, das schien ihm so lächerlich und unmöglich, daß er ein paar Sekunden lang seiner Vermutung einfach nicht Glauben schenken wollte. Schließlich merkte er sich auf alle Fälle die Zulassungsnummer und fuhr dann – jetzt ziemlich schnell – zu dem Restaurant, wo Tom Winston und die andern ihn erwarteten. Die Zeit schien für Chuck Wright stillzustehen. Er lag auf dem Rücken und beobachtete die Baumkronen; nicht einmal in der Dunkelheit wollte er seinen Kopf öfter als notwendig an der Garagenecke sehen lassen. Die Dunkelheit war ihm natürlich günstig gewesen; aber er wartete auf die Morgendämmerung. Jetzt, da sich nichts im Haus oder in der Nähe regte und kein Geräusch zu ihm drang – nur ab und zu hörte er einen Wagen auf dem Boulevard vorbeifahren –, konnte er noch nicht genug sehen, um zu erkennen, ob einer der Männer an den hinteren Fenstern Wache hielt. Vor zwanzig Minuten, beim Anblick der blauen Limousine in der Einfahrt, hatte er gewußt, daß die andern beiden Männer im Haus geblieben waren. Ehe er wagen durfte, sich auch nur zu bewegen, mußte er genau wissen, 227
in welchem Zimmer des Hauses sie waren. Solange nirgends im Hause Licht war, mußte er wahrscheinlich bis zum Morgen warten, in der Hoffnung, daß er es dann herausbringen würde; bis dahin konnte er nur hier, dicht an die Mauer gedrückt, liegenbleiben und alle Möglichkeiten seiner Lage erwägen … Sein eigentlicher Plan war, ungesehen und leise durch die Hintertür ins Haus zu schlüpfen, indem er den Schlüssel benützte, den Cindy vorgestern abend in ihrer Erregung in seiner Hand gelassen hatte. Sobald er im Hause war, kam ihm die Lage des kleinen hinteren Flurs zustatten: sie gab ihm durch die Küche Zutritt zu den unteren Räumen des Hauses; die Hintertreppe bot ihm einen Weg ins obere Stockwerk; und die Kellertreppe gewährte ihm ein Versteck, falls er sich entschließen sollte, im Innern des Hauses noch zu warten und zu lauschen. Jedenfalls würde er, wenn er nur etwas Glück hatte, im Hause sein und nur die beiden gegen sich und den Vorteil des Überraschungsmoments für sich haben. Und dennoch quälte ihn etwas – eine Hemmung, ein Zögern: Cindy und ihr Vater wollten so etwas nicht. Sie werden jemanden von euch mitnehmen, Cindy, hielt er ihr in Gedanken vor. Vielleicht dich! Der lange Vize-Sheriff – dieser Webb – hatte ihn überzeugt, daß Glenn Griffin das Haus nicht verlassen würde, ohne jede nur mögliche Vorsichtsmaßnahme für sich zu treffen. Das war ja auch der Sinn von Herrn Hilliards Brief. Die Einsicht, daß dies keine Möglichkeit, sondern eine Gewißheit sei, hatte Chuck – nachdem er Cindys Zweisitzer gesehen – veranlaßt, sich umzukleiden: enge Hosen, weiche Schuhe, Sweater; dabei hatte er unablässig an den Leutnant von der Staatspolizei denken 228
müssen, an den mit der nagelharten Stimme, dessen Ungeduld zu handeln den Entschluß in Chuck noch gefestigt hatte. Zudem bestand die Möglichkeit, daß Webbs Vorgesetzter zurückkäme und die Taktik des Leutnants dem vorsichtigen Handeln des Vize-Sheriffs vorzöge. Jetzt, nahm Chuck an, oder doch sehr bald mußte die Polizei den Namen, die Adresse und alles haben. Sobald sie ins Haus eindringen würden, mußte jemand dort sein und aufpassen, daß keinem der Hilliards etwas zuleide geschah. Chuck sah nach der Uhr: zwei Minuten nach Viertel fünf. Nur noch zwei Stunden, vielleicht sogar noch weniger, bis der Himmel langsam heller würde. Dann noch zwei und eine halbe Stunde, bis Cindy und ihr Vater gewöhnlich ins Büro fuhren. Würde man sie heute aus dem Hause lassen? Würden sich diese Männer immer noch bemühen, den Anschein eines normalen Alltags aufrechtzuerhalten? Der Gedanke an die Hilliards dort im Haus bewegte ihn seltsam. Dort lagen sie, schlaflos wie er, und grübelten, ob sie je wieder ohne Furcht einem Morgen entgegensehen würden. Zorn und Mitleid brachten ihn zum erstenmal in seinem Leben so weit, daß ihm war, als sei er selbst ein Teil von alledem. Jetzt fühlte er sich mit einbezogen, jetzt war er einer von ihnen. Er staunte über diese Empfindung, und der Gedanke daran schien ihm Beschäftigung genug für die öde Strecke leerer Zeit, die vor ihm lag. Und dabei wurde ihm klar, daß er sich niemals die Zeit genommen hatte, zu denken und sich mit allem auseinanderzusetzen: was er hatte, was er wünschte, was er brauchte. In diesem unwahrscheinlichsten Augenblick begriff er, daß er sich niemals wirklich als ein Teil des 229
Lebens seiner Eltern gefühlt hatte; dies hatte er ihnen vorher nicht verdacht, und er verdachte es ihnen auch jetzt nicht. Doch er erkannte zum erstenmal, welch ein Verlust das war, und begann – zuerst unklar, dann blitzartig – zu verstehen, daß sein schnelles Fahren, seine leichtsinnigen Mädchen, das Trinken, der allgemeine Widerstand gegen das Herkömmliche, das ganze verzweiflungsvolle Ausfüllen seiner Zeit – daß dies alles nur ein schwacher Versuch gewesen war, seine Einsamkeit vor sich selbst zu verbergen. Er hatte über Herrn Hilliard und das, was dieser besaß, gespottet, weil er es selbst nicht hatte: menschliche Zusammengehörigkeit – Liebe. Cindy. Ob er ihr das jemals sagen konnte? Gab es überhaupt Worte, um die strahlende Erleuchtung zu schildern, die ihm hier in der Dunkelheit zuteil geworden war, auf der feuchten Erde hinter der Garage? Chucks innere Kraft wuchs – nicht die Kraft des Mariners, der dort im Dschungel nicht nach Hölle und Teufel gefragt hatte, sondern die feste, wissende Entschlossenheit eines Mannes, der wußte: Nie würde er zulassen, daß den Menschen, die er liebte, etwas zustieße. Ja, die er liebte. Früher hatte er das Wort gefürchtet, in jener fernen Zeit, da er zu blind und zu töricht war, um die Bedeutung zu verstehen. Jetzt wollte er dafür sorgen, daß Cindy nichts geschah – weder Cindy noch den Menschen, die durch seine heimliche und rätselhafte Umstellung seine Familie geworden waren. Er liebte sie alle mit einer tiefen und sicheren Liebe, die wie ein Schmerz in ihm brannte. Die Dämmerung war langsam und trübe und kam erst nach sechs Uhr. Daran war die winterliche Kälte schuld. 230
Um diese Stunde war Jesse bereit – zu allem bereit. So sehr bereit, wie es seine Spannkraft nur zuließ, seit man in der Küche von Joes Restaurant in flüsternder Besprechung beschlossen hatte, nicht zu schießen, wenn Glenn Griffin und Samuel Robish mit jemandem von den Hilliards aus dem Haus käme. So hatte es Carson nach einem Anruf bei seiner Dienststelle bestimmt. Sie würden nicht schießen, sondern warten. Leutnant Fredericks hatte ziemlich heftig darauf beharrt, daß dies eine Torheit sei, denn diese dreckigen Mörder würden ihre Geiseln ohnedies nicht am Leben lassen. Somit sei die Lage ganz und gar und von jedem Gesichtspunkt aus unmöglich, und er bliebe bei der Auffassung, daß ein jetzt geopfertes Leben – obwohl man natürlich jede erdenkliche Vorsicht walten lassen würde, um es nicht zu opfern – nicht die vielen Leben aufwöge, welche diese beiden noch vernichten konnten, wenn sie sich auf diese Art einen Ausweg aus der Falle erlisteten. Doch die Entscheidung fiel gegen Fredericks, da Carson sich auch Webbs Ansicht anschloß: Es sei immerhin möglich, daß Griffin sich scheuen würde, eine zweite Mordanklage auf sich zu ziehen. Vielleicht ließe er die Geiseln frei, sobald er sich in Sicherheit fühle. „Damit geben Sie jedem Verbrecher im Lande ein Werkzeug in die Hand!“ hatte Leutnant Fredericks zwischen zusammengebissenen Zähnen gesagt. Und Jesse hatte dagesessen, hatte es gewußt, hatte die Wahrheit dieser Worte anerkennen müssen und begann nun zu zweifeln, in welcher Richtung seine Verantwortung wirklich lag. Hier war eine unmittelbar menschliche Situation, und keine Schulung, keine Erfahrung hatte ihn gelehrt, damit fertig zu werden. Warum? Weil man sich beim Zusammenprall von Wirklichkeit und Theorie einem 231
Zwiespalt gegenüber sah: Auf der einen Seite stand eine unklare Verpflichtung gegen die Gesellschaft im allgemeinen, die unbekannten Menschenwesen, die durch die Hände dieser Männer – falls sie davonkämen – leiden würden; und auf der anderen Seite stand die unmittelbare, scharf umrissene Pflicht gegen gerade diese paar Menschen, deren Leben und Sterben in den nächsten Stunden daran hing, wie man handelte. Aber die Entscheidung war gefallen, und nun mußte man alle Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, durfte nichts übersehen. Sobald sich die Möglichkeit bot, mußte die Polizei bereit sein, die Flüchtigen zu fangen oder zu töten. Jesse selbst erstieg eine Leiter auf der Ostseite des Walling-Hauses und kletterte beim ersten Licht vorsichtig über den Giebel des Daches, während Tom Winston und Carson, ihre Abzeichen vorweisend, den erschrockenen Leuten im Haus erklärten, was vorging, obwohl sie die Gründe nicht völlig preisgaben. An der vorderen Ecke des Daches vergewisserte er sich, ohne sich dabei aufzurichten, daß man von hier aus über die Bäume einen vollen Ausblick auf das Haus der Hilliards hatte, auch auf die Seitentür und den Teil der Einfahrt zwischen dem blauen Wagen und dem Kesseler Boulevard. Von weiter oben sah man vielleicht noch mehr. Deshalb wurden eine Stunde später ein Staatspolizist und ein Mann aus Jesses Dienststelle in einen Wagen des Fernsehkundendienstes gesetzt. Sie trugen die Arbeitskleidung einer bekannten Radiofirma und warteten auf das Signal, zum Walling-Haus zu fahren und dort auf dem Dach harmlos, aber so langsam wie möglich, eine Fernsehantenne anzulegen. Der Wagen war nur drei Blocks entfernt – das war um sieben Uhr fünfunddreißig. 232
Auf dem Hausboden der Wallings, wo ein Radioapparat der Polizei aufgestellt war, empfing Jesse Webb um sieben Uhr fünfzig vom Polizeipräsidium die Nachricht, daß die Zulassungsnummer des kleinen ausländischen Sportwagens, den er hinten im Walde entdeckt hatte, auf einen gewissen Charles K. Wright ausgestellt war. Darin hatte Jesse also mit seiner Vermutung recht gehabt, ebenso wie mit seiner früheren Überzeugung, daß der schwarze Zweisitzer, den Hank Griffin fuhr, einem der Hilliards gehöre. Bonham vom Lizenzbüro hatte es mit allen Einzelheiten bestätigt: Das Coupé gehörte der neunzehnjährigen Cynthia Hilliard. Wenn Jesse an seine Frau Kathleen dachte, die jetzt vermutlich am anderen Ende der Stadt im Hause seiner Mutter erwachte, ungefährdet, niemals wirklich bedroht, dann konnte Jesse den jungen Wright verstehen, dann begriff er sein Zögern zu sprechen und auch den Drang, der ihn jetzt nach diesem Viertel zurückgetrieben hatte. Aber wo steckte der Junge, und was tat er? Machte sich der junge Narr nicht klar, daß er jetzt alles verderben konnte, wenn er diese eingesperrten Tiere beunruhigte oder in Furcht versetzte? Wo war Wright? Und was tat er jetzt? Jesse lief im Bodenraum auf und ab, tief gebückt, damit sein Kopf nicht an die Balken stieße. Er rauchte. Er war unrasiert. Er war müde und aufgeregt und gereizt. Es war bereits zehn nach acht. Auch auf sich selbst war Jesse zornig – wegen eines anderen Berichtes, den er vor ein paar Stunden bekommen hatte, diesmal von der Telefongesellschaft: Seit Mittwoch morgen, in den ganzen zwei Tagen seit der Flucht der drei Männer, war nur ein Ferngespräch im Haus der Hilliards entgegengenommen worden. Eine Voranmeldung. R-Gespräch für einen Mr. James 233
von einer Mrs. Dixon. Dauer: viereinhalb Minuten. Die Anmeldung kam von einem Automaten in einer Busstation, aus einer Stadt namens Circleville, Ohio – Jesse stellte schnell fest, daß sie sechsundzwanzig Meilen südlich von Columbus lag. Trau einer diesen verdammten gerissenen Schweinen! Helen Lamar war natürlich zu schlau, um von Columbus aus anzurufen. Es war fast, als habe sie in ihrer Verzweiflung schon die Liste gesehen, deren Prüfung und Nachprüfung Jesse so viele fruchtlose Stunden gekostet hatte! Sie hatte einen Wagen gekauft, wahrscheinlich auf dem schwarzen Markt für gestohlene Automobile, und war nach Süden gefahren – jetzt nicht von der Polizei verfolgt, nicht mehr unter Überwachung – und hatte Glenn Griffin angerufen und eine Verabredung mit ihm getroffen. Welcher Art sie war, wußte Jesse Webb jetzt noch nicht, aber er hatte auch in dieser Beziehung bestimmte Hoffnungen. Diese beruhten auf der interessanten Tatsache, daß heute früh um drei Uhr zweiundzwanzig, eine knappe Stunde nach Hank Griffins Tod, jemand einen vorausbezahlten Fernruf mit Voranmeldung an eine Frau Dixon in Cincinnati, Ohio, durchgeführt hatte. Wußte oder vermutete Glenn Griffin, daß seinem Bruder etwas passiert war? Wollte er sich vergewissern, daß diese Frau Dixon – fraglos Helen Lamar – noch wartete und ihre Rolle in seinem Plan noch weiterspielte? Wie dem auch sei, jetzt hatte Jesse Webb die Hoffnung, daß die Kriminal- und die Stadtpolizei in Cincinnati diese Helen Lamar bald fassen würden. Er stampfte die Bodentreppe hinab, dann ein Stockwerk weiter und trat in Wallings Küche. „Hätten Sie etwas dagegen, daß ich mir etwas Kaffee mache?“ fragte er Mrs. Walling, die beim Herd stand. 234
Mrs. Walling, eine rundliche Frau mit großen, sanftbraunen Augen, war noch ganz benommen vom plötzlichen Eindringen all der Polizisten – immer noch kamen neue von der Ostseite sehr vorsichtig herein. Sie wandte sich um und sah den langen Vize-Sheriff an; der Anblick veranlaßte sie, ihm einen Küchenstuhl hinzuschieben. „Ich mache Ihnen welchen, Sheriff“, sagte sie. „Lieber Himmel, Sie können einen brauchen, nicht wahr? Sie sehen fast krank aus! Warum legen Sie sich nicht ein Weilchen aufs Sofa?“ Aber Jesse hatte noch nicht einmal die erste Tasse ausgetrunken, als Tom Winston von draußen hereingelaufen kam und sich über den Tisch beugte. „Ein Mann und ein rothaariges Mädel sind gerade aus dem Haus gekommen, Jesse. Sie gehen den Boulevard hinunter, wahrscheinlich zur Bushaltestelle. Der Mann hat ein großes sommersprossiges Gesicht und sieht noch schlechter aus als du – und das will was heißen. Das Mädel ist ’ne Schönheit und sieht aus, als hätte sie genug von der Welt.“ „Das ist sicher Dan Hilliard mit seiner Tochter Cynthia“, warf Frau Walling ein. „Dreist, diese Biester, was?“ sagte Tom Winston. „Sogar jetzt noch jemanden aus dem Haus zu lassen! Fühlen sich offenbar sicher wie die Made im Speck, diese …“ Er hielt inne. „Entschuldigen Sie, Mrs. Walling.“ Dann zu Jesse Webb: „Also ist noch die Frau drin und der kleine Junge, was? Anscheinend halten sie das für ausreichend. Womit sie nicht unrecht haben dürften.“ Auch Chuck Wright sah Dan und Cindy Hilliard um acht Uhr dreißig zu Fuß das Haus verlassen. Er kroch mit steifen Muskeln, dicht an der Mauer, um die andere Seite der 235
Garage und sah ihnen nach, als sie den Fahrweg hinuntergingen. Cindy ist also jetzt nicht im Haus, dachte er, und seine Brust hob sich. Jetzt sind nur zwei Hilliards dort und die beiden Männer. Der Anblick von Cindys schlankem Rücken und dem stolzen Schwung ihrer Schultern sandte eine warme Welle durch seinen ganzen Körper. Jetzt …, dachte er, wenn du jetzt diese beiden Kerle nur für eine halbe Minute auf die vordere Seite des Hauses locken könntest … Auf der Fahrt mit dem Bus bemerkte Dan Hilliard gleichgültig, daß der Tag sich aufzuhellen versprach. Ein sprödes goldenes Sonnenlicht brach ab und zu durch und verschwand wieder. Es war vier Minuten vor neun. Nach einer langen Fahrt in fast völligem Schweigen, das ihre Verbundenheit nur noch enger machte, stieg Dan durch die hintere Tür aus und streckte Cindy im Trubel der Hauptverkehrszeit die Hand hin. Als sie dann auf dem Bürgersteig des Monument Circle standen, von allen Seiten durch stoßende Schultern bedrängt, hielt Cindy immer noch die Hand ihres Vaters fest umklammert, als könne sie nur zögernd das Gefühl der Geborgenheit aufgeben, das diese Hand ihr bot. „Wegen Chuck …“, flüsterte sie, den Kopf zurückgelegt; der scharfe Wind strich ihnen ins Gesicht. „Wegen Chuck sorg dich nicht, Vater. Ich weiß schon genau, was ich ihm jetzt sagen werde. Er wird mir glauben.“ Dan nickte nur. Es war eine sparsame Zustimmung ohne Herzlichkeit, weil er seine Begegnung mit Chuck Wright gestern nacht beinahe, wenn auch nicht ganz, vergessen hatte. Dann stellte sich Cindy auf die Zehen, und Dan fühlte mit Staunen die Lippen seiner Tochter auf seinem Mund. Er merkte, daß sich einige Köpfe grinsend 236
umdrehten, und während er normalerweise über eine solche öffentliche Schaustellung sehr verlegen gewesen wäre, empfand er sie jetzt fast dankbar. Dankbar und demütig, das Herz zerrissen von der Hoffnungslosigkeit, die während der. langen Nacht immer größer geworden war. Während Dan die wohlbekannten Straßen zu seinem Büro entlangging, versuchte er, seine Lage mit scharfem, nüchternem Blick zu betrachten. Er wußte, er durfte nicht den Kopf verlieren. Und als die Uhr langsam weiter auf halb zehn rückte, mußte er sich zwingen, vorwärts zu denken. Und dennoch hoffte er nur, daß die innere Taubheit – oder Hoffnungslosigkeit – seine Gefühle abtöten würde. Die lange Nacht hatte einen betäubenden Zauber um ihn gesponnen, und er fühlte sich heute in diesem Sinne glücklich. An der Ecke blieb er stehen und kaufte sich aus Gewohnheit bei dem blinden Zeitungsverkäufer eine Morgenausgabe. Er ging weiter, rollte das Blatt zusammen und steckte es in seine Manteltasche. Der Plan jener schlaflosen Nachtstunden erschien ihm jetzt als ein schattenhaftes, unmögliches Gebilde seiner kranken Phantasie. Tatsächlich plante er eine Art Erpressung, aber der Erfolg hing von etwas ab, was während der Nacht verschwunden war: Glenn Griffins kalter, grausamer, aber im Grunde logischer Verstand. Eine verblüffende Verwandlung hatte sich durch das Fortgehen seines Bruders in Glenn Griffin vollzogen. Durfte Hilliard jetzt noch damit rechnen, daß Griffin die Bedeutung der geplanten Drohung begriff – in den letzten fieberhaften Minuten, wenn das Geld in Seiner Hand war und er wirklich das Haus verlassen wollte? Dan beabsichtigte noch immer, seinen Einfall zu verwenden, so gut es eben ging. Hören Sie, Griffin, wollte er sagen, Sie werden keinen von uns 237
in dem Wagen mitnehmen. Und wenn Glenn dann mit gehobenem Revolver grinste, weil er meinte, daß er seine Sache bereits gewonnen und daß Dan nichts mehr darüber zu sagen habe, wollte Dan fortfahren: Dann tun Sie besser daran, Griffin, mich mitzunehmen, und zwar nur mich, denn ich bin der einzige, der dem Mann, den Sie für die Beseitigung des Polizisten bezahlen wollen, die Blauen auf den Hals hetzen kann. Ob dann wohl Griffins Grinsen unsicher wurde, erlosch? Ich weiß beide Namen, den des Mörders und den des Polizisten, Griffin. Beide Namen sind Ihnen entschlüpft, als Sie gestern abend Ihren Bruder beschimpften. Die andern werden sich diese Namen nicht gemerkt haben – nur ich habe es getan. Und wenn Sie jemand anderen als mich mit auf Ihre Fahrt nehmen, setze ich die Polizei auf die Spur des Mörders, und dann ist Ihr ganzes Versteckspiel hier umsonst gewesen. Ob das wohl genügte? Oder würde Griffin immer noch darauf bestehen, noch jemanden mitzunehmen? In diesem Fall wollte Dan sagen: Ich brauche nichts weiter zu tun, als dem einen, der zurückbleibt, die beiden Namen zu nennen. Und uns alle können Sie nicht mitnehmen. Dann bliebe Griffin nur eins übrig: Wenn er den Knall nicht scheute, würde er Dan Hilliard einfach über den Haufen schießen und mit den andern tun, was er wollte. Dan trat durch die Seitentür in das Warenhaus. Der ausgewählte Mörder hieß Flick – er war der Mann, dem Cindy in einer halben Stunde dreitausend Dollar von dem Geld ausliefern sollte, das jetzt eben mit der Post um neun Uhr dreißig in dieses Gebäude gebracht wurde. Der Polizist, den Glenn Griffin auf diese Weise ermorden lassen wollte, hieß Webb. In der letzten Nacht bei der Alptraumszene zwischen den Brüdern Griffin hatten sich 238
diese beiden Namen in einer Ecke von Dans geschultem Gedächtnis eingebrannt. Doch als er mit dem Aufzug nach oben fuhr, erschrak Dan selbst vor der Kälte seines Denkens. Im Licht der veränderten Umstände des Tages schien das alles sinnlos. Gestern hätte die Drohung Glenn Griffin vielleicht noch veranlaßt, zu tun, was Dan verlangte – aus Angst, daß sonst seine bösartige Rache unausgeführt bliebe. Aber heute hatte der kühle Verstand den jungen Menschen im Stich gelassen. Glenn Griffin schien zusammenzubrechen. Seine Augen blickten verschwommen, auf den unteren Lidern war ein harter roter Strich, seine Lippen waren feucht von Speichel. Die brütende Wildheit, die er heute morgen zur Schau trug, drohte beim richtigen Anlaß unberechenbarer und heftiger zu werden als Robishs Art. Nun saß Dan vor seinem Schreibtisch wie gestern früh und wartete, daß die Zeiger seiner Uhr 9.30 anzeigten. Doch er erinnerte sich daran, wie ihm Griffin gestern das Telefon aus der Hand gerissen hatte – es mußte etwa zwei Uhr gewesen sein – und wie er mit wachsender Heftigkeit immer wieder hineinschrie: Hallo, hallo … wer spricht? Doch anscheinend war vom andern Ende keine Antwort gekommen, und als Griffin den Hörer wieder auflegte, den Blick irgendwo in der Ferne, war es Dan ganz klargeworden, daß er es von diesem Augenblick an mit einem ganz anderen und gewandelten jungen Menschen zu tun hatte. Diese Erkenntnis, die jetzt im Brennpunkt stand, machte Dan angst. Er spürte, wie etwas von seiner Stumpfheit wegschmolz und wie sein Herz an die Rippen hämmerte. Dann war gestern nacht, viel später, das zweite Gespräch gekommen, das Glenn Griffin mit jemandem 239
in Cincinnati geführt hatte. Griffin hatte das Gespräch selbst angemeldet, und seine verrückte Verzweiflung erreichte dabei ein solches Ausmaß, daß er den Telefonbeamten beschimpfte und laut fluchte. Nach dem Gespräch, von dem Dan nichts verstehen konnte, hatte Glenn aus der vorderen Diele ins Arbeitszimmer hinübergerufen: He, Robish! Sie ist noch da! Sie wartet. Siehst du, das ist eine, die einen nicht sitzenläßt! Hörst du, Robish? Einundzwanzig Minuten nach neun. Dan stand auf und tupfte sich den Schweiß weg, der sich unter seinem Kinn sammelte. Er ging zum Aktenschrank und stand unschlüssig davor, wußte, daß viele Arbeiten zu erledigen waren, daß Leute auf Besprechungen warteten, daß er Anweisungen geben mußte. Aber er war wie gelähmt. Und während er so dastand, fiel sein Blick auf die Morgenzeitung in seiner Manteltasche. Er langte danach, schlug sie auf – und sah direkt in das Gesicht des jungen Hank Griffin. Über dem Bild standen die Worte: FLÜCHTIGER STRÄFLING GETÖTET. POLIZIST BEI REVOLVERSCHLACHT VERWUNDET.
Ein Klopfen an der Tür. Es schien aus weiter, leerer Ferne zu kommen. Dann sagte Dan Hilliards derbe, ältliche Sekretärin: „Ein Brief für Sie, Mr. Hilliard. Er wurde nachts durch Eilboten gebracht. Der Nachtwachmann hat für Sie unterschrieben.“ Sie unterbrach sich stirnrunzelnd. „Mr. Hilliard – meiner Meinung nach kriegen Sie die Grippe! Darf ich nicht die Besprechungen für Sie absagen? Und Sie gehen heim und legen sich zu Bett!“ „Tun Sie das“, sagte Dan Hilliard, nach dem Brief greifend, der überraschend leicht war. „Ich muß eine 240
Weile fort. Ich habe noch etwas auf der Bank zu erledigen, und dann fahre ich nach Hause.“ „Kann ich noch irgend etwas …“ „Nein, danke.“ „Gut, Mr. Hilliard.“ Die Tür wurde leise geschlossen. Mühsam ging Dan zurück zu seinem Schreibtisch. Dort lehnte er, schlaff und verbraucht, und dachte an diese neue erstaunliche Tatsache, die alles andere erklärte: Glenn Griffin hatte die ganze Nacht mit dem Ohr am Radio verbracht; also wußte er, hatte den ganzen Morgen gewußt, was seinem Bruder widerfahren war. Und dieses Wissen hatte ihn zu dem hysterischen Fremden gemacht, der den Verstand verloren hatte! Und der jetzt zu Hause war – mit Eleanor und Ralphie. Dan schlitzte den Umschlag auf und zählte fünf Tausenddollarnoten und eine Fünfhundertdollarnote. Drei Tausenddollarnoten schob er in ein unbeschriftetes weißes Kuvert aus seinem Schubfach; dann steckte er beide Umschläge sorgsam in die Brusttasche. Das machte ihn wieder ganz benommen, und dankbar dafür stand er auf. Aber seine Gedanken blieben bei Eleanor. Eleanor war oben bei Ralphie; neun Uhr dreißig – sie war sich der Zeit schmerzhaft bewußt. Während sie mit dem Kind Rommé spielte, konnte sie hören, was unten gesprochen wurde. Das Radio summte unaufhörlich, und dann kam Glenn Griffins Stimme durch – sie war jetzt höher, irgendwie verändert. „Robish! Robish! Bleib am Fenster, aber hör zu: Da nebenan auf dem Dach sind ein paar Kerle!“ Vom Arbeitszimmer her kamen ein paar schwere Flüche von Robish. Er beobachtete von dort aus Seiten- und Hinterhof. „Blaue?“ 241
„Teufel, wie soll ich das wissen? Sie haben gelbe Overalls an. Sie arbeiten an so einem Fernsehding.“ „Na also – was regst du dich auf?“ „Wer regt sich auf? Aber man kann nie wissen. Wenn du mehr Verstand hättest, wüßtest du das auch.“ „Verstand habe ich genug“, erwiderte Robish aus der Entfernung. „Mehr Verstand, als du denkst, Griffin. Keine Knarre, aber massenhaft Grips.“ „Soll das was Besonderes heißen?“ Als Robish nicht gleich antwortete, sagte Ralphie zu seiner Mutter: „Du spielst aus.“ Sie aber hob abwehrend die Hand und lauschte angestrengt. „Das soll heißen“, sagte Robish endlich, „daß sich dein kleiner Bruder seine letzte Nacht selbst eingebrockt hat – weil er nämlich Angst hatte, weiter nichts. Und du wirst seitdem immer verrückter. Ich glaube, die Blauen sind gar nicht mehr so scharf auf uns. Jetzt hängt alles von Hilliard ab.“ „Von Hilliard?“ „Denkst du etwa, der Schweinekerl wird dir …“ „Wenn Hilliard jetzt ein Ding dreht …“ „Und jetzt wärst du vielleicht froh, wenn du mir das zweite Schießeisen gelassen hättest, was, Griffin?“ Über ihnen spürte Eleanor – mehr gefühlsmäßig als aus ihren Worten –, daß bei diesem kurzen, abgerissenen Wortwechsel die Befehlsgewalt von Glenn Griffin, der den einzigen Revolver hatte, auf Robish übergegangen war, der keinen besaß. Es war der junge Griffin, der heute früh nervös und unbeherrscht war, während Robish ruhig und selbstsicher blieb, als mache er jetzt eigene, ganz persönliche Pläne. Dies alles merkte Eleanor wohl, war aber nicht imstande zu begreifen, was dieser Rollenwechsel für sie und ihre Familie bedeutete. 242
Glenn knurrte, diesmal gedämpfter: „Wenn der Hilliard versucht, ’n Ding zu drehn … wenn der Hilliard nicht genau das tut, was ich ihm befohlen hab’ …“ Doch Dan Hilliard tat in dieser Minute genau das, was Glenn ihm befohlen hatte: Er händigte seiner Tochter Cindy einen Briefumschlag mit dreitausend Dollar ein. Sie standen zusammen im Korridor des Gebäudes, wo sie arbeitete, und sprachen in einer Ecke leise miteinander, während die alten Aufzüge ächzend auf und nieder fuhren. „Sei jetzt vorsichtig“, sagte er ruhig, mit einem langen, festen Blick. Dann ging er zu Fuß die drei Treppenabsätze hinunter und trat zehn Minuten vor zehn in seine Bank, wo er gut bekannt war. Er hatte eine jetzt leere Aktentasche bei sich. Er sprach mit einem Kassierer, der ihn seit zehn Jahren bediente. Ohne zu fragen, erfüllte der Kassierer sein Anliegen, nachdem Herr Hilliard – den der Beamte heute morgen kaum wiedererkannte – die Bank mit einer geschwollenen Aktentasche verlassen hatte, prüfte der Mann sorgfältig die beiden Tausenddollarnoten, die in Ordnung waren, und fragte sich verwundert, wo ein Mann wie Herr Hilliard sie herhaben mochte? Und wozu brauchte er wohl so viel Kleingeld? Drei Minuten später aber staunte er noch mehr, weil er inzwischen durch das vergitterte Fenster mit einem dicken Beamten aus dem Büro des Sheriffs gesprochen hatte, der ihn kurz aufforderte, jene großen Scheine beiseite zu legen, bis er weitere Weisungen darüber empfinge. 243
Keine fünf Minuten später sprach Tom Winston durch das Radio in seinem Büro mit einem Beamten der Kriminalpolizei – nicht mit Carson, sondern mit einem neuen Mann, der an diesem Morgen in dem kalten Bodenraum des Wallingschen Hauses erschienen war. Dieser Beamte – er hieß Merck – ging hinunter ins Freie und gab vom Rasenplatz aus dem Sheriff Jesse Webb ein Zeichen. Jesse stand auf den obersten Sprossen einer hohen Leiter, die an die Vorderfront des Hauses gelehnt war und eine unbehinderte Aussicht auf die Fenster der Hilliards bot. Die Leiter war viel höher als die höchste Stelle des Giebels, und Jesse, im gelben Overall mit großem schwarzem Firmenaufdruck quer über dem Rücken, schien die aufgerichtete Antenne abzumessen und dabei zwei Assistenten, die etwas entfernter standen und dem Haus der Hilliards gleichgültig den Rücken wandten, durch Zeichen irgendwelche Anordnungen zu geben. In Wirklichkeit studierte Jesse das Haus und die Garage der Hilliards; er konnte von diesem günstigen Punkt aus alles übersehen; dabei löste sich etwas von der Spannung, die unaufhörlich in ihm nagte wie ein hungriges, böses Tier, dessen er nicht Herr werden konnte. Er dachte auch an die weittragenden Gewehre mit Zielfernrohr und an die Feldstecher, die unsichtbar bleiben mußten. Er stieg die Leiter hinab und trat mit Merck in die Seitentür des Wallingschen Hauses; er hörte zu, und dabei nickte er mehrmals. In dem seitlichen Korridor zog er den Overall aus und griff nach seinem Trenchcoat. Er spürte Fredericks Blick aus dem Eßzimmer, wo drei Polizeileute und Carson zusammenhockten. Aber Jesse Webb dachte nicht an das, was er eben hörte – obwohl diese Geldgeschichte den Schlüssel dazu gab, warum Griffin und Robish dort im Haus blieben –, weil er vorhin, 244
als er auf der Leiter stand, gesehen hatte, daß sich hinter der Garage etwas bewegte. Er hatte nicht gewagt, sein Fernglas zu benutzen, aber er hatte seine eigenen Gedanken über das, was sich da gerührt hatte. Und er schwankte, ob er dabei etwas tun sollte – oder ohne Gefahr tun konnte. Kurz nach acht Uhr dreißig bemerkte Chuck Wright die Tätigkeit auf dem Dach des Wallingschen Hauses – lange ehe es Glenn Griffin im Hause aufgefallen war. Hoffentlich bedeutete dies nicht, daß die Polizei alles herausbekommen hatte und nun einen Angriff vorbereitete, dachte Chuck Wright hinter der Garage. Doch trotz dieser Hoffnung wußte er recht gut, daß dies sehr wahrscheinlich war. Ein Mann wie Webb würde nicht lange dazu brauchen, mußte er sich widerwillig eingestehen. Jetzt war es sechs Minuten nach zehn. Er war ganz steif vom Warten, aber er sprühte förmlich vor Ungeduld. Er hatte gehofft, wenn die beiden Männer die Arbeiten drüben auf dem Dach hinter den Bäumen bemerkten, würde einer von ihnen – wahrscheinlich der Mann, der am hinteren Fenster in Hilliards Arbeitszimmer war – nach vorn gehen, um nachzusehen, was dort vorging. Doch dies geschah nicht. Also mußte er selbst ein Ablenkungsmanöver ausführen, durch das die Rückseite des Hauses für den kurzen Augenblick unbewacht blieb, den er brauchte, um in den hinteren Korridor zu gelangen. Auch trieb ihn die mit jeder Minute wachsende Gewißheit, daß Cindy zurückkehren würde. Vielleicht warteten die da drinnen nur darauf. Wenn dem so wäre, wenn die Polizei das Haus umstellte, dann wollte er wenigstens mit seiner Waffe im Hause sein. Nur mit dieser einen Methode konnte es die Polizei verhindern, daß einer 245
der Hilliards getötet oder verletzt würde: sie mußte die Männer im Innern des Hauses mit einem Angriff von außen in Atem halten; dann würden diese ihre Pistolen auf die Polizei richten und die Familie vergessen; und wenn er zu diesem Zeitpunkt drinnen war, dann gab es für ihn eine Möglichkeit, die zwar schwach, aber dennoch wert war, ausgenützt zu werden, wenn man alle Umstände in Betracht zog. Jetzt gab es für Chuck kein Zögern, keine Zweifel mehr. Aber wo war Cindy jetzt? Hatte sie vor, nach Hause zurückzukehren? Wann? Und was tat sie nur? Es war ein langer, schmaler Raum mit einer Bar auf der einen und Nischen auf der andern Seite. Ein penetranter Whiskygeruch hing in dem Lokal und eine Atmosphäre, die Cindys Ekel und Angst noch steigerte. Hinter der Bar stand ein Mann mit einer karierten Tuchweste über einem ehemals weißen Hemd und musterte sie. Sie wandte sich scharf ab, ging hinüber zur ersten Nische und setzte sich sehr aufrecht hin, die Hände auf dem Tisch, den Blick geradeaus gerichtet. Gleich darauf erschien eine Kellnerin, eine dünne, unterentwickelte Frau mit krausem, gefärbtem Haar, müden, abwehrenden Augen. Cindy bestellte sich einen Old-Fashioned-Cocktail, doch beim bloßen Gedanken daran wurde ihr fast übel. Dann stand das Glas vor ihr auf der verkratzten Tischplatte; sie sah auf ihre Armbanduhr: eine Minute vor halb elf. So spät war Chuck noch nie ins Büro gekommen. Mr. Hepburn hatte mehrmals nach ihm gefragt, aber weder Cindy noch Constance Allen konnten ihm sagen, warum Chuck nicht erschien. Und Cindy wußte nicht, was seine Abwesenheit bedeutete. Sie verbot sich selbst, darüber nachzugrübeln. 246
Sie konnte nur an den Mann denken, den sie in einer Minute, um zehn Uhr dreißig, hier treffen sollte, in dieser schäbigen, verlassenen Bar in einer Sackgasse neben dem Bühnenausgang eines Filmtheaters. Sie wußte, was dieser Mann wollte, weshalb sie ihn treffen sollte. In gewissem Sinn beging sie einen Mord; auf jeden Fall half sie bei einem Verbrechen. Doch diese Vorwürfe hatte sie sich schon längst gemacht, und die einzige Antwort darauf war selbst eine Frage: Was sonst konnte sie tun? Noch war Cindy Hilliard voller Zorn, der nun erstickend in ihr aufstieg, als sie den kleinen Mann beobachtete, der jetzt eintrat, sich unbefangen umsah und seine verschwommenen, sehr blassen Augen über sie gleiten ließ. Die Kellnerin war verschwunden, und der Mann in der Weste hinter der Bar hatte den Rücken gekehrt. Cindy spürte dies, als ihre Augen denen des Neuankömmlings begegneten. Sie wußte, daß sie den Ekel und die Verachtung in ihrem Blick nicht verbergen konnte, aber der kleine Mann, der nun herankam, flößte ihr Furcht ein. Warum, hätte sie nicht sagen können. Vielleicht nur, weil sie seine Mission kannte, weil sie wußte, was er für das Geld tun sollte, das sie im Begriff war, ihm zu geben. „Darf ich mich ’n Augenblick setzen, Miß?“ fragte er. Unwillkürlich schüttelte sie den, Kopf, als sie ihn aufforderte zu tun, was er denn auch sofort tat: er glitt in die leere Bank ihr gegenüber auf der anderen Seite des Tisches. „Sie wissen meinen Namen, Miß?“ Wieder schüttelte sie den Kopf. Sie wußte den Namen nicht – sie wollte ihn nicht wissen. Sie wollte nur eins: fort von ihm, zurück in das Büro ihres Vaters, sich mit ihm in eine Taxe setzen und nach Hause fahren, wie es ihr befohlen war. Trotz allem konnte sie nicht recht glauben, 247
daß dieser harmlos aussehende Mann – klein, mit einem glatten, ziemlich runden Gesicht über einem kurzen, dürftigen Körper – ein Mörder war. Ein bezahlter Mörder. Sein Äußeres und seine Sprache waren die eines Geschäftsreisenden, eines Kassierers, eines Verkäufers in dem Warenhaus, wo ihr Vater arbeitete. „Es wird kalt“, bemerkte der Mann, und seine blassen Augen – sie sah, daß sie blau waren – blieben an ihrem Gesicht hängen, während er an seinem ziemlich grellen Schlips zupfte und auf das Glas auf dem Tisch zeigte. „Wollen Sie’s nicht trinken?“ „Nein.“ „Danke, Miß.“ Er trank geziert, beinahe lächelnd, aber seine tiefelosen blassen Augen ließen sie nicht los. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Plötzlich war sie nicht sicher, daß es der Mann war. Vielleicht war er wirklich bloß ein Geschäftsreisender, der versuchte, ihre Bekanntschaft zu machen. „Ich bin ein Bote“, sagte der Mann endlich. „Sie haben mir etwas zu übergeben, nicht wahr?“ Als er dies sagte, vermutlich weil es so unverfänglich wahr klang, wußte sie, daß er log. Daß er der Mann war. Daß diese selben Hände, die jetzt flach und nervenlos auf dem Tisch lagen, den Hahn abziehen würden, um einen andern Mann, dessen Namen sie auch nicht kannte, zu ermorden. Sie öffnete ihre Handtasche, zog den weißen Briefumschlag heraus. Der Mann nickte, nahm ihn an sich und steckte ihn ein, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. Sie betrachtete ihn und die Bewegungen ihrer eigenen Hände, wie man ein Filmbild ansieht, wenn das Tonband gerissen ist. Dieses Traumartige schien jetzt ein Teil ihres ganzen Lebens zu sein. 248
Dann fiel unerwartet ein riesiger Schatten über den Tisch, und sie sah auf. Sie merkte, daß der Mensch ihr gegenüber auch aufschaute, sah diese unnatürlich blassen Augen denen des großen Mannes, der dort stand, begegnen und sich gleichgültig halb schließen. „Was haben Sie in die Tasche geschoben, Flick?“ fragte der Große, und seine Stimme klang häßlich und rauh, aber nicht unfreundlich. „Was hat Ihnen die Dame gegeben?“ „Einen Brief, Herr Wachtmeister“, erwiderte der Mann namens Flick. Cindy bemerkte, daß der Große – offenbar ein Detektiv – seine Hände noch nicht aus seinen Manteltaschen gezogen hatte. Und irgendwo in ihrem Unterbewußtsein flüsterte eine Stimme: Das kann nicht sein. Das ist gar nicht wahr. „Kommen Sie mit zum Revier“, sagte der Detektiv. „Und Sie, Flick, geben Sie mir das Briefkuvert ’raus.“ Cindy vergaß ihr Staunen über ihrem Zorn, über ihrer nackten Rebellion. Dies kann nicht sein. Das können sie nicht tun. Jetzt verderben sie uns alles, alles! Sie stand auf. „Sie können nicht …“ Der Große sah sie nur an mit seinen sehr dunklen, aber fast freundlichen Augen. „Ich führe einen Befehl aus, Miß. Man hat mir zwar nicht befohlen, Sie mit ins Revier zu bringen, aber ich tue es sicherheitshalber, verstehen Sie das bitte. Wenn Sie nichts getan haben, wird man Sie nicht lange aufhalten.“ „Nein!“ sagte sie und versuchte, an der Riesengestalt vorbeizuschlüpfen. „Es tut mir leid, Miß“, sagte der Mann, und nun wich Cindy Hilliards Zorn der Hoffnungslosigkeit. 249
„Bin ich verhaftet?“ „Noch nicht. Technisch genommen nicht. Falls Sie sich nicht weigern, wie ein braves Mädchen mit mir zum Revier zu kommen.“ Er sah nieder auf Flick, der das Glas austrank. „Ich hoffe, man wird Sie nicht nach der Gesellschaft beurteilen, in der Sie sich befinden, Miß.“ Jetzt kamen Cindy Hilliard die Tränen – die ersten Tränen, seit es begonnen hatte. Tränen der Wut und Enttäuschung und Verzweiflung. Es war vorbei, alles war vorbei. Bei der kleinen Aufgabe, die ihr zugefallen war, hatte sie irgendwie versagt. Was geschah jetzt, wenn sie nicht vor halb zwölf wieder zu Hause war, wie Glenn beharrlich verlangt hatte? Was würde dann den andern geschehen? Um dieselbe Zeit war Dan Hilliard wieder in seinem Büro. Er wartete auf Cindy. Auch er dachte an Glenns beharrliche Forderung, daß Cindy wieder mit ihm, Dan, nach Hause zurückzukehren hätte. Glenn hatte erklärt, er verlange dies, um, wenn er hier wegginge, sicher zu sein, daß dieser Mann (Dan wußte, daß der Flick hieß) bereits bezahlt sei für das Stück Arbeit, das er zu tun hatte. Aber Dan mißtraute der Erklärung, wie er jedem Wort aus Glenn Griffins Mund mißtraute. Er war ziemlich fest überzeugt, daß Glenn versuchen würde, Cindy und Eleanor mitzunehmen, nach der Theorie, daß ein unbekannter Wagen mit zwei Männern und zwei Frauen die größten Chancen hatten, aus der Stadt herauszukommen. Er war sich auch klar darüber, das Griffin kein besseres Mittel besaß, um ihm die Hände zu binden. Auf diese Weise würden Griffin und Robish die Zeit gewinnen, die sie brauchten. Und Dan neigte zu der Ansicht – wie kalt und abgestorben war seine Logik jetzt! –, daß sie solchermaßen 250
zu viert wahrscheinlich an den Streifenwagen vorbeikommen würden, die er gestern abend in der Nachbarschaft gesehen hatte. Und dann … ja, was dann? Nein, das durfte nicht geschehen. Dafür wollte Dan sorgen. Dies war der Punkt, wo der Wert des Lebens ins Nichts versank. Während Dan so hinter seinem Schreibtisch saß, begriff er, daß es einen letzten kritischen Augenblick gab, in dem die Frage von Leben und Sterben ihre Bedeutung und ihr Gewicht verlor. Auch in diesem Augenblick würde man noch um sein Leben kämpfen, wahrscheinlich ganz automatisch, aber der Erfolg ist dann nicht mehr danach zu messen, ob man leben bleibt, sondern welche größere Katastrophe man verhindert. Darauf allein kam es an. Das war der Schluß, zu dem ihn dies alles geführt hatte, abwärts durch verbrecherische Abgründe und dann steil aufwärts zu der einzigen Entscheidung, die ein anständiger Mensch fällen konnte. Nun mußte erwarten, ohne Ungeduld warten – obwohl ihm das Ticken seiner eigenen Uhr durch Fleisch und Nerven bis ins Rückenmark drang. Als sich die Tür öffnete, war er schon auf den Füßen; er wußte, daß es seine Tochter war, daß es niemand anderes sein konnte. Aber der Mann, der eintrat, war sehr groß – mit einem schmalen Kopf unter dem abgetragenen, wasserfleckigen Hut, mit entzündeten Augen. Langsam, aber sichtlich entschlossen kam er durchs Zimmer und blieb vor Dan Hilliard stehen, die Hände wie festgewachsen in den Taschen seines Trenchcoats. Er sah Dan Hilliard einen langen Augenblick an, und Dan stockte das Blut. Dann schlug der Mann den Rockzipfel zurück, und Dan sah eine Sekunde das Abzeichen, den Lederriemen, den Revolverkolben. 251
Sehr langsam sank Dan Hilliard zurück auf seinen Sessel. „Guten Morgen, Mr. Hilliard“, sagte der Mann, „mein Name ist Webb, Vize-Sheriff, Bezirk Marion. Ich habe Ihren Brief bekommen, Mr. Hilliard.“ Dan warf den Kopf zurück. Die Schmerzen, die er immer noch spürte, liefen jetzt durch seinen ganzen Körper, und er dachte betäubt: Nun ist es da – das, wogegen du gearbeitet und wofür du gelogen und gekämpft hast. So – nein, so darf es nicht kommen. Nicht jetzt, wo du das Geld in der Tasche hast. „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Sheriff!“ Nun schien Jesse Webb die Fassung zu verlieren. Er zog die Hände aus der Tasche, stützte sich mit den Handflächen auf die Platte von Dans Schreibtisch und beugte den hageren Körper vornüber. „Sehen Sie“, sagte er mit einer heiseren, brüchigen Stimme, „sehen Sie, Herr Hilliard, ich wäre nicht hier, wenn ich nicht hier sein müßte, verstehen Sie? Es hat lange gedauert, ich mußte von vorn anfangen, aber jetzt bin ich hier, und wir haben keine Zeit zu verlieren – oder doch, Mr. Hilliard? Also erzählen Sie jetzt alles übrige, ehrlich, von Anfang an. Dann können wir entscheiden, welche Maßnahmen wir ergreifen. Gottverdammt, reden Sie doch endlich, Mann!“ Doch was er jetzt in Dan Hilliards Gesicht sah, ließ ihn verstummen; er richtet sich auf, holte tief Atem und sah an Hilliard vorbei aus dem Fenster. „Entschuldigen Sie“, murmelte er. Und dann in viel leiserem, sanfterem Ton: „Aber was können wir tun? Das ist jetzt die Frage. Was können wir tun, Mr. Hilliard?“ Es ging auf elf Uhr! Du kannst nicht den ganzen Tag darauf warten, daß etwas geschieht, Chuck! Er saß jetzt 252
gebückt hinter dem Gebüsch an der Ecke der Garage. Gespannt beobachtete er den Kopf hinter den durchsichtigen Gardinen von Mr. Hilliards Arbeitszimmer, der einmal erschien, dann wieder verschwand und dann unvermeidlich doch wieder erschien. Aus einem unerklärlichen Grund wurde er das Gefühl nicht los, daß er niemals rechtzeitig hineinkommen würde, wenn er zu lange auf einen Anlaß oder Zufall wartete, der den Mann dort aus dem Zimmer zog. Chuck erwog nicht mehr die Gefahr; wenn er seine Geschicklichkeit anspannte und vorsichtig war, konnte er vielleicht helfen. Falls er einen der Hilliards damit gefährdete, würde er überhaupt nichts unternehmen. Doch dies zu entscheiden war nur möglich, wenn er im Innern des Hauses war und wußte, was dort vorging und geplant wurde. Du mußt dir selbst ein Ablenkungsmanöver ausdenken, sagte er sich mit mörderischer Ruhe. Er hatte verschiedene mögliche Methoden erdacht und wieder verworfen. Was er auch tat, es mußte den Zweck erfüllen, die Männer etwas unruhig, sogar mißtrauisch zu machen, doch nicht so sehr, daß sie etwas gegen Mrs. Hilliard und den Jungen unternahmen, nicht bis zur Grenze der Panik. Endlich entschied er sich für etwas, was vielleicht Mrs. Hilliard drinnen im Haus als einen ganz natürlichen Vorgang erklären konnte, besonders nach dem heftigen Wind der beiden letzten Tage. Ob die Verbrecher auf das Geräusch selbst oder später auf eine logische Erklärung dafür eingehen würden – nun, auch das war ein Wagnis, aber ein verhältnismäßig geringes. Er schob die Pistole sorgsam in seine Hüfttasche. Dann nahm er den kleinen Schlüssel in die linke Hand und hob mit der rechten den etwa sechzig Zentimeter langen toten Ast auf, den er schon eine Weile prüfend betrachtet hatte. 253
Das Holz war verfault und bröcklig. Vielleicht würde der Ast nicht genug Lärm machen. Und er war auch nicht so schwer, wie Chuck gewünscht hätte. Vielleicht flog er gar nicht bis über den hohen Giebel, um auf dem Dach der vorderen Veranda oder einer Stelle dicht daneben aufzuschlagen und den Mann von der Rückseite des Hauses wegzulocken. Aber wenn es dennoch geschah, dann war es leicht zu erklären. Denn es fielen häufig tote Äste der großen, sterbenden Eiche im Westen des Hauses auf das Dach der Veranda. Chuck erinnerte sich eines Abends im Wohnzimmer, als dies auch geschehen war und er so erschrocken war, daß Cindy minutenlang darüber lachen mußte. Und während ihm dieses Lachen noch im Ohr klang, stellte er sich fest hin, holte aus und warf. Der Ast wirbelte und flog weit höher als das Dach, ein paar Zoll über den Giebel und verschwand, Chuck warf sich flach hin und wartete und horchte. Das Geräusch kam denn auch – erst hörte er den abgebrochenen Ast aufschlagen und dann an der entgegengesetzten Schrägseite des Daches hinunterrumpeln. Chuck ließ das Fenster nicht aus den Augen. Die dünne, durchsichtige Gardine flog zurück; Chuck konnte sich nicht bewegen. Die eckige Fläche eines unrasierten Gesichtes tauchte auf, ein Paar unruhige Augen. Dann flog die Gardine wieder zu, und der Kopf verschwand völlig. Dies war Chucks Augenblick. Er mußte ihn nutzen. Während er in langen, elastischen Sätzen vorwärts lief, wußte er, daß ihn eine Kugel treffen konnte, jetzt, da er aufgerichtet und in voller Sicht war. Dann warf er sich hin und erreichte kriechend die Veranda. Noch war er nicht außer Atem. Er schob den Schlüssel ins Schloß. Aus der Entfernung, in der Tiefe des Hauses, hörte er die Stimmen von 254
zwei Männern, dann die einer Frau. Er machte die Tür auf – es gab ein kleines, scharfes Knarren. Er zog die Tür hinter sich zu und ließ es sich angelegen sein, sie wieder sorgsam zu verschließen. Der hintere Korridor war dämmerig und sehr klein. Chuck stand horchend still. Jetzt wurde ihm der Atem knapp, als er schwere Schritte durch das Haus nach hinten kommen hörte. Im Halbdunkel der Kellertreppe bewegte er sich sehr langsam, Stufe um Stufe, nach unten. Der Kellergeruch erinnerte ihn daran, daß er hungrig war. Er sah sich hastig um – hier war es verhältnismäßig hell. Oben, etwa in der Nähe von Mr. Hilliards Arbeitszimmer, machten die schweren Schritte halt, und eine tiefe Stimme sagte: „Hier ist die Luft rein, Griffin.“ Etwas entfernter rief eine hellere Stimme, eine seltsam hohe Stimme: „Schon gut. Wollen der Frau mal glauben. Ausnahmsweise.“ „Na, wer verliert die Nerven?“ schrie die erste Stimme mit einem gemeinen, häßlichen Lachen. Chuck bezog seine Stellung direkt unter der Treppe. Hier konnte er auf jeden zielen, der die Stufen herunterkam. Er lehnte sich an die schimmelig riechende Wand und versuchte, wieder ruhig zu atmen. Es kam ihm schon ganz natürlich vor, daß der japanische Revolver in seiner rechten Hand lag. 7 Dan Hilliard brauchte nicht lange dazu, etwa fünf Minuten, um Jesse Webb die Tatsachen zu berichten; einige davon schob der Sheriff mit einer Handbewegung beiseite, um zu zeigen, daß er sie schon kannte; bei anderen 255
beugte er sich vor und lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit. Er unterbrach Dan Hilliard nur einmal, um ihn ausführlich nach seiner Tochter Cynthia zu fragen; er wollte genau wissen, wohin sie gegangen sei und was für ein Plan dahinterstecken könne. Am Ende seines Berichts sagte Dan: „Dieser Mann Flick soll Sie ermorden, Sheriff. Er soll es für die dreitausend Dollar tun, die meine Tochter ihm eben jetzt aushändigt.“ „So war das also gedacht“, sagte Jesse Webb, rieb sich mit einer Hand über das dunkle, unrasierte Gesicht und sah sich ohne jeden Grund in Dan Hilliards Büro um. „So hat er sich also die Sache vorgestellt!“ „Wir hatten keine Wahl, Webb.“ „Wer behauptet das denn?“ Die Stimme des Sheriffs klang gereizt. „Mit Flick werden wir fertig, Mr. Hilliard. Es gibt Methoden, mit solchem Gezücht fertig zu werden.“ Dann fegte er alles mit einer kurzen Handbewegung beiseite, aber er hörte, was Dan Hilliard sagte. „Diesen Brief habe ich vor einer Weile geschrieben. Noch einen anonymen Brief – aber diesmal hättet ihr rechtzeitig gewußt, wer ihn schrieb, nachdem …“ Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern schob den Brief über den Schreibtisch. Jesse Webb las ihn schnell, dann ließ er die Augen über Dan Hilliards abgehärmtes, hageres Gesicht gleiten. „Danke, Mr. Hilliard. Mit diesen beiden Namen – Flicks und meinem – hätten wir es vermutlich verhindern können. Gut ausgedacht. Sogar jetzt – wie?“ Dann zerknüllte er das Papier in seiner Hand. „Sogar in solcher Stunde – wie?“ Jetzt war die Reihe an Dan Hilliard, ungeduldig zu werden. „Was hätte ich anderes tun können? Sollte ich zulassen, daß der Mörder Ihnen eines Nachts eine Kugel 256
in den Rücken schießt? Oder Ihnen eine Bombe in den Wagen legt?“ Jesse Webb mußte lächeln über den Zorn in Hilliards Stimme, doch das Lächeln war matt und ziemlich düster. „Nun, wenn Ihre Tochter zu Flick gegangen ist“, sagte er, „dann wird Flick verhaftet. Ein Stadtdetektiv folgt Miß Cynthia Hilliard, während wir hier sprechen.“ Als Dan dies hörte, stand er auf – die Knie waren ihm weich. „Sie Narr!“ schrie er. „Sie verdammter Idiot!“ „Gut so, Mr. Hilliard, gut so – wenn es Sie erleichtert. Schmieren Sie mir eine! Zwei Tage lang habe ich selbst mich geradezu danach gesehnt, mich mit jemandem zu prügeln. Wie konnte ich alles wissen? Ich habe versucht, Ihre Tochter zu schützen. Wie konnte ich wissen, wohin diese Lumpen sie schicken?“ Dan Hilliard wurde etwas ruhiger, aber er setzte sich nicht. Jetzt sah er beschämt aus – hinter der neuen scharfen Spannung, die in seinem Gesicht aufsprang, schämte er sich seiner Heftigkeit. „Ich habe auf sie gewartet – daher kommt es. Es ist spät. Und diese Hunde werden nervös werden, Webb. Sie wissen vielleicht nicht, was das bedeutet. Ich weiß es.“ Er fuhr in seinen Mantel. „Ich muß jetzt wieder zurück – dorthin. Ohne meine Tochter, nehme ich an.“ Mit einer harten Bewegung zog er den Hut tief ins Gesicht. „Ihr wird nichts passieren, Hilliard. Sorgen Sie sich nicht um Ihre Tochter. Ich schwöre Ihnen, sie wird …“ „Schwören!“ sagte Dan. Es war ein leises, höhnisches Flüstern. „Was können Sie denn beschwören? Daß sie nicht Wind davon kriegen, diese zwei, daß ihr Freund Flick verhaftet worden ist? Daß sie nicht sofort auf den Gedanken fliegen, ich hätte es veranlaßt? Oder Cindy? Können Sie schwören, daß diese Mörder nicht meine 257
Frau oder meinen Sohn niederschießen, weil sie denken, ich hätte sie verraten? Schwören! Was können Sie denn beschwören?“ „Das eine, Hilliard: Wenn dort in Ihrem Haus einem Hilliard etwas zustößt, dann wird es in der nächsten Stunde eine weniger unschuldige Person mit dem Leben bezahlen!“ Dan nahm die Aktentasche und ging zur Tür. wandte sich noch einmal um. „Danke, Webb. Es tut mir leid, daß ich so heftig wurde!“ „Warum soll es Ihnen leid tun? Sehen Sie, Hilliard“ – er machte zwei lange Schritte auf ihn zu –, „sehen Sie, niemand kann Sie dafür verurteilen. Für nichts. Für gar nichts. Niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, kann seine Stimme gegen das erheben, was Sie getan haben. Dafür werde ich sorgen. Jawohl, ich werde dafür sorgen!“ Dan Hilliards Blick traf den des jungen Vize-Sheriffs. Eine kurze Weile herrschte Schweigen; in diesem Schweigen verstanden sich die beiden Männer, und das Verstehen machte die Beziehung zwischen ihnen warm und gut. Beiden war, als hätten sie einander lange Zeit gekannt. Es war ein seltsames, doch nicht beunruhigendes Gefühl, weil es zu solch einer Stunde entstand – es war merkwürdig befriedigend. „Sie haben noch andere Sorgen, nicht wahr?“ sagte Dan Hilliard. Er sah nach seiner Uhr. Sie zeigte sieben Minuten nach elf. Der andere nickte. „Das stimmt. Diese Geschichte von dem jungen Hank Griffin hätte heute morgen nicht in den Zeitungen stehen dürfen. Ich versuchte, es zu verhindern – aber der Reporter hatte eben auch seine Pflicht. Er hat sie getan. Nun, ich habe auch meine Pflicht, und Sie, Mr. Hilliard, ebenso. Nur ist die meine etwas anders, verstehen 258
Sie? Meine Pflicht ist es nämlich, zu verhindern, daß die beiden entkommen, die Geiseln ermorden, die sie mitnehmen würden, und dann an anderen Orten andere Menschen umbringen.“ Dan sah wieder nach der Uhr. „Sie sagen, jetzt haben Sie die Kerle und würden es nicht zulassen, daß sie entkommen, gleichviel, wie Sie es anfangen.“ „Nein – ich sage nur, ich wünsche ebensowenig wie Sie, daß jemand umkommt“, fuhr Jesse in seinem brüchigen, trockenen Ton fort, „aber über die Möglichkeiten werden Sie und ich, wir beide, zu entscheiden haben, wenn es an der Zeit ist. Es läßt sich nichts voraussagen, gar nichts. Das ist alles.“ Dan Hilliards Schultern sanken herab, aber er war gefaßter als vorher; er sagte: „Ich kann Sie auch nicht verurteilen, Webb!“ Nun räusperte sich Jesse Webb. „Wenn man sie irgendwie dazu bringen könnte, allein aus dem Haus zu kommen – dann natürlich … auf der Flucht …“ Er brach ab. „Soll ich Sie ein Stück fahren?“ „Ich … soll mir eine Taxe nehmen.“ „Oh.“ Dann: „Wie wär’s mit einem Revolver?“ Dan faßte die Aktentasche fester und machte eine ablehnende Bewegung. „Man durchsucht Sie, wenn Sie hineinkommen?“ Diesmal nickte Hilliard, aber als er schon die Hand auf den Türknopf legte, mitten in der Bewegung, wurde er plötzlich sehr still und vollkommen ruhig. „Viel Glück, Mr. Hilliard“, sagte Jesse Webb. „Ich habe es mir überlegt – wegen des Revolvers.“ „Möchten Sie doch einen?“ Ein wenig Überraschung, eine Spur von Vorsicht lag in den Worten. „Ja.“ 259
„Damit die da drin einen mehr haben? Sie sagten, jetzt hätten sie nur einen. Hören Sie, Hilliard – sobald jemand im Hause schießt, dringen wir ein.“ Bedrückt, aber entschlossen kam die Antwort: „Kann ich ihn bekommen?“ Jesse Webb griff in die Tasche und reichte Dan den 38er von seinem Schulterriemen. Schwer lag die Waffe in Dan Hilliards müder Hand, schwer und unnatürlich. Einen Augenblick wußte er nicht recht, wie er sie anfassen sollte – aber nur einen Augenblick. Dann schob er die Aktenmappe unter den Arm, nahm das Magazin aus der Waffe und schüttete die stahlumhüllten Kugeln auf seine flache Hand. Er ging wieder zum Schreibtisch. „Sind Sie verrückt, Hilliard?“ fragte Webb. „Möglich. Nur ein Verrückter würde mit einem leeren Revolver in solch ein Haus gehen, nicht wahr? Griffin hält mich nicht für verrückt, Sheriff. Ich denke an eine sehr, sehr ferne Möglichkeit – aber eine näherliegende habe ich nicht in Aussicht. Haben Sie eine bessere?“ Jesse Webb schüttelte den Kopf, und als Dan Hilliard wieder zur Tür ging,, sagte Jesse unwillkürlich: „Noch eins, Hilliard.“ Dann war es zu spät, abzubrechen, und außerdem trieb ihn ein Gefühl der Ritterlichkeit. „Es ist noch eine Karte im Spiel, die ich bisher nicht erwähnt habe. Sie liegt unaufgedeckt – aber hier ist sie: ein junger Mensch namens Wright. Charles K. Wright.“ „Ja? – Und?“ „Ich bin nicht sicher. Ich weiß nichts. Aber es besteht die starke Möglichkeit, daß er sich irgendwo in der Nähe Ihres Hauses versteckt hält.“ „Allmächtiger!“ stieß Dan Hilliard hervor; er war wie betäubt und konnte kaum fassen, daß es Dinge gab, die 260
seine schwere Bürde von Schrecken und Schmerz und Furcht noch schwerer machen konnten. „Wie ich sage – ich weiß es nicht. Ich dachte bloß, vielleicht sollten Sie das Bild lückenlos haben.“ „Danke, Vize-Sheriff“, sagte Dan Hilliard und wandte sich zur Tür. Seine schweren, hängenden Schultern und sein mühsamer Gang zeigten deutlich, welch eine Last er trug, als er hinausging. „Der arme Teufel“, murmelte Jesse Webb, doch mit einer gewissen traurigen und seltsamen Ehrfurcht, die sich in seinen müden Augen spiegelte. Unter der Kellertreppe versuchte Chuck Wright, seine Entscheidung zu treffen. Wenn du nach oben gingst, Chuck? Wie lange stehst du schon hier unten und horchst. Seine Uhr zeigte jetzt halb zwölf, und eben dieser Zeitpunkt schien für die beiden Männer über seinem Kopf von gewisser Bedeutung zu sein. Chuck hatte den Nachteil seiner Lage festgestellt: Er konnte nicht alles hören, was oben gesprochen wurde, obwohl sogar das meiste als bissiges, lautes Flüstern zwischen Eß- und Arbeitszimmer hin und her flog. Und es war schwierig für ihn, sich auf Grund der Satzfetzen, die er aufschnappen konnte, ein genaues Urteil zu bilden. Er reimte es sich so zusammen: Um elf Uhr dreißig hatte der Mann, der in den vorderen Räumen war – es war der mit der jungen Stimme, sicherlich Glenn Griffin –, einen Telefonanruf von jemandem erwartet, dessen Namen er geflissentlich zu vermeiden schien. Vielleicht hatte er ihn auch genannt, und Chuck hatte es bloß nicht gehört. Auf jeden Fall war jetzt in dieser Stimme ein Schwanken, das Chuck sehr mißfiel. „Ob ihm das Mädel den Kies nicht gegeben hat? Was 261
ist passiert? Was meinst du, Robish – was kann passiert sein? Warum ruft er nicht an und sagt, daß es erledigt ist, wie wir’s vereinbart hatten?“ „Ich kenn’ doch den Bruder nicht“, erwiderte Robish vom Arbeitszimmer her. „Tät’ mir nicht einfallen, so ’ne Stange Gold zu zahlen für etwas, was ich selbst machen kann. Ich hätt’s für dich getan, Griffin. Gib mir bloß ’ne Knarre!“ Es war das zweitemal, stellte Chuck Wright fest, daß der Mann in dieser Art von einem Revolver sprach. Bedeutete dies, daß er selbst keinen hatte? Daß die beiden da oben tatsächlich nur eine Waffe besaßen? Nichts übereilen, gebot sich Chuck. Nur jetzt keinen Fehler machen! Keine Überstürzung! Du kannst mit beiden fertig werden, wenn sie wirklich nur einen Revolver haben. Aber du weißt nicht, was Mrs. Hilliard und dem kleinen Jungen passieren kann, wenn du es versuchst. Also ruhig! Bleib nur noch eine Weile, wo du bist! Aber der Klang der hohen Stimme dieses jungen Menschen da oben zerrte weiter an Chucks Nerven. Sie erinnerte ihn an jemanden oder an etwas, aber er konnte sich nicht entsinnen, an was oder an wen. Wenn du sie beide erledigen könntest, von hinten, während Mrs. Hilliard und der Junge noch oben sind … Er begann darüber nachzudenken und horchte dabei auf die gleichmäßigen Schritte, die jetzt vorn im Haus auf und ab gingen. Sie waren nicht rasch, diese Schritte; sie erinnerten Chuck in ihrem langsamen, gleichmäßigen Rhythmus an wilde Tiere, die er in Käfigen gesehen hatte. Und mit dieser Erinnerung kam das Bild jener traurigen, verwirrten, doch immer grausam wilden Augen. Und plötzlich, als er Glenn Griffins Stimme wieder hörte – „Wo bleibt Hilliard? Warum ist er noch nicht 262
zurück?“ –, wußte Chuck Wright, an was ihn die ziellose Leidenschaftlichkeit dieser Stimme erinnerte. Der Gedanke war wie ein körperlicher Schlag, und er spürte, wie ein erneuter Eifer seinen ganzen Körper anspannte. Es war kein wildes Tier, an das er dachte, sondern ein Mann, der einem wilden Tier glich, ein gewisser Sergeant Thomas, einer der zähesten, rauhesten Männer, die er gekannt hatte. Er erinnerte sich an die abgehärtete, sonnenverbrannte, riesige Gestalt des Sergeanten Thomas, der sich am Boden des Dschungels gewunden hatte, an die glasigen Augen, die nichts erkannten, an den gehobenen Karabiner, der wie ein Teil des Armes dieses Berserkers war. Chuck Wright hatte nichts davon vergessen, auch nicht den Bericht, der später eingelaufen war, nachdem man den Sergeanten Thomas, bewußtlos, mit steinernen Augen, in ein Lazarett in den Vereinigten Staaten abtransportiert hatte: Der Zustand des Sergeanten besserte sich, aber er hatte einem Wärter in der Irrenabteilung den Schädel eingeschlagen. Nur dieses eine Mal war Chuck Wright Zeuge gewesen, wie ein menschliches Wesen zerbrach, aber in der schwankenden Stimme da oben erkannte er denselben Schauder, dasselbe unsichere innere Entsetzen. Der Gedanke machte Chuck Wright schwach, seinen Mund trocken, seine Handflächen feucht. Doch nun wußte er, daß er hinauf gehen mußte, ganz nach oben, zu Frau Hilliard und dem Kind. Und daß er nicht länger warten durfte. Die Stufen der Kellertreppe waren fest, und jetzt konnte er gut sehen. Im hinteren Korridor, jenseits der Tür zum Arbeitszimmer, hörte er den älteren der beiden Männer umhergehen. Er hielt den Revolver auf diese Tür gerichtet und klomm langsam, rückwärts gehend, die 263
Hintertreppe hinan, immer nur eine Stufe nehmend; sein Körper war gelöst, die Muskeln gehorchten automatisch seinem Wunsch, beweglich und bereit zu sein, nicht steif vor Spannung. So bewegte er sich treppauf, bis er sich sicher genug fühlte, um sich umzuwenden und vorwärts zu gehen. Den oberen Teil des Hilliardschen Hauses kannte Chuck kaum. Er kroch den Korridor entlang, den Rücken eng an die Wand gedrückt. Dann und wann quietschte eine Diele, aber er zwang sich, deshalb nicht stehenzubleiben. Er kam zur offenen Tür des vorderen Schlafzimmers, das in der südöstlichen Ecke des Hauses lag, durch Gang und Treppe von dem Zimmer getrennt, in dem sich, wie er annahm, Frau Hilliard mit dem Jungen aufhielt. Er trat rückwärts in den Raum, der offenbar Cindys Schlafzimmer war, aber er hatte gar keine Zeit, wirklich überrascht zu sein. Den Revolver vor sich haltend, gebrauchte er seinen anderen Arm, um nach rückwärts zu tasten. Jetzt herrschte unten Schweigen, und die Stille nahm für ihn eine düstere Bedeutung an. Seine Hand fand eine Tür, dann einen Türgriff. Sehr langsam öffnete er die Tür, bis er das Gefühl hatte, er könne mit einem Schritt rückwärts in einen Wandschrank treten. Seine Augen ruhten die ganze Zeit auf der Schlafzimmertür, die in den Gang führte. Selbst als er im Wandschrank stand, zwischen den Kleidern verborgen, deren schwacher Duft ihm wohlbekannt war, hielt er Augen und Revolver auf die Tür zum Gang gerichtet. Er schwieg und lauschte, und er war noch nicht länger als zehn Minuten in seinem Versteck, als er die beängstigende Stimme von unten hörte, diesmal steigend und fallend in einer wilden Mischung von Erleichterung und 264
Triumph und zurückgedämmter Wut: „Hier kommen sie, Robish. Eine Taxe hält vor dem Haus.“ Vom Dach des Wallingschen Hauses hatte Jesse Webb gesehen, wie sich die Taxe aus einiger Entfernung näherte. Er trug wieder den gelben Overall und mußte sich weiter geschäftig stellen, Drähte festziehen, zurücktreten, um sein Werk anzusehen, sich der Arbeit wieder zuzuwenden. Aber er war sich mit fast körperlicher Intensität der Männer bewußt, die er am Waldrande hatte aufmarschieren lassen, der Streifenwagen nach beiden Richtungen und Carsons, der auf der anderen Seite des Daches war, das junge Gelehrtengesicht ihm zugekehrt. Er spürte auch die Gegenwart von Leutnant Fredericks, der, von Ungeduld aufgefressen, unten auf dem Rasen hin und her lief. Als Jesse die Taxe erspähte, vergewisserte er sich schnell, daß sein Gewehr auf der anderen Seite des Dachfirstes für ihn griffbereit war. Er rief die drei vereinbarten Worte hinunter und fühlte förmlich, wie die anderen dort lebendig wurden. Leutnant Fredericks hörte auf umherzulaufen und sah zu Jesse hinauf. Jetzt war er nicht mehr übellaunig. Er lächelte sogar einmal und hob die Hand zu einer Art Gruß für Jesse, eine Geste, die schweigend, aber deutlich sagte: Jetzt stehe ich auf deiner Seite, mein Junge. Die Entscheidung ist gefallen. Hoffen wir, daß sie richtig ist. Wir ziehen an einem Strick. Los, mein Sohn. Während er die Taxe beobachtete, hätte Jesse Leutnant Fredericks gern etwas erklärt – etwas, was Jesse sonderbar und rätselhaft fand: daß jetzt kein persönlicher Haß mehr in ihm war, daß er sogar längst nicht einmal mehr an Onkel Franks verschrumpften Arm gedacht hatte – obwohl er entschlossen war, daß Glenn Griffin diesmal nicht zuerst schießen und sich dann ergeben dürfe. Und 265
daß sein Verantwortungsgefühl auf unerklärliche Weise jener fremden Familie dort in dem Hause galt, dem Mann, der jetzt aus der Taxe stieg, mit der Aktenmappe in der Hand. Dan Hilliard stand mit dem Rücken zu seinem Haus und bezahlte den Fahrer. Dann ging er ohne jedes Zögern zur Seitentür, ohne einen Seufzer, ohne merklichen Widerwillen. Er war, wie Jesse jetzt merkte, größer gewachsen, als er gedacht hatte, mit breiteren Schultern – denn nun waren diese Schultern nicht mehr hängend und müde, sondern gerade und gestrafft. Hilliard blieb stehen, klopfte. Die Tür ging auf. Das Haus verschluckte ihn. Jesse konnte von seinem Platz aus die Hilliardsche Garage nicht sehen, deshalb entschloß er sich, nochmals auf die Leiter zu steigen; dann stand er höher als das Dach und beherrschte das Blickfeld von Haus und Hof. Zunächst schob er das Gewehr in Reichweite seines rechten Armes. Und als er nun auf das schweigende, alltäglich aussehende Haus herabblickte und der Wind sein Gesicht peitschte und durch seinen Körper schnitt, spürte er einen pulsierenden Schmerz wie von einer alten Wunde. Hier war er nun, an dem Ort und zu der Stunde, die er sich nicht hätte ausmalen können, doch wonach es ihn verlangt hatte, seit vor zwei vollen Tagen der erste Bericht gekommen war. Hier stand er nun – und dachte nicht an Onkel Franks Arm und nicht an Kathleen, die nun in Sicherheit und nicht mit im Spiel war, sondern an den Ausdruck von Dan Hilliards Gesicht, als er ihm vorhin im Büro seinen Namen genannt hatte. Schweigend verfluchte er die Männer, die daran schuld waren, daß das Gesicht eines Mitmenschen einen solchen Ausdruck trug. Dafür sollten sie ihre Strafe haben. Man durfte nicht zulassen, daß so etwas ungestraft blieb. 266
Das Verlangen, zu wissen, was nun geschah, was dort im Hause in diesem Augenblick gesagt und getan wurde, quälte ihn; er faßte die Sprossen der Leiter fester und drückte seinen langen Körper hart dagegen; er spähte so scharf hinüber, daß ihn die Augen schmerzten. Was taten sie jetzt? Das Mädchen war nicht bei Hilliard. Er hatte das Geld, aber er hatte auch den leeren Revolver. Was, zum Teufel, ging jetzt dort drüben vor? Hier kommen sie, Robish. Eine Taxe hält vor dem Haus. – Chuck Wright machte sich Gedanken: Hatte er schon zu lange gewartet? Er hörte, wie sich Mrs. Hilliard in dem Schlafzimmer auf der anderen Seite des Ganges bewegte, hörte, wie sie Ralphie murmelnd ein paar Anweisungen gab, hörte, wie sich die Zimmertür schloß und der Schlüssel umgedreht wurde; Chuck trat aus dem Wandschrank, ging zur Tür, die in den Korridor führte, und blieb stehen, auf die raschen, gedämpften Schritte Frau Hilliards lauschend, die jetzt die Treppe hinabstieg. Nun war sie unten; er stand nicht mehr zwischen den Verbrechern und den Hilliards. Nun war die Familie aufgespalten, und er hatte es geschehen lassen. Sie, hatte Griffin gesagt. Das mußten Mr. Hilliard und Cindy sein. Ja, Cindy auch. Die Ungeduld zerrte an seinen Beinmuskeln, aber ein kraftloser Kleinmut in seinem Herzen gab die Antwort auf seine Frage: Er hätte handeln müssen, solange die beiden Männer unten allein waren. Mit einer gewaltsamen Anstrengung schob er dies alles beiseite und trat mit äußerster Vorsicht ans Treppengeländer. Immer noch bestand die Möglichkeit, daß er, wenn sie anfingen, sich zu rasch zu bewegen, die Hintertreppe hinuntergehen und das Überraschungsmoment ausnützen konnte, das ebensoviel wert war wie die Waffe 267
in seiner feuchten Hand. Doch was er auch jetzt tat – er mußte es in jäher Überrumplung tun, ohne zu lange sorgsame Überlegungen. Dann klang unten wieder die hohe und seltsam leere Stimme: „Wo ist der Rotkopf, Hilliard?“ Ungläubig hielt Chuck den Atem an. Er konnte Herrn Hilliards leise Antwort nicht hören, es war nur ein Gemurmel – aber tief in Chucks Herzen sang die Freude, trotz aller Spannung, aller Bedenken. Gleich darauf schämte er sich darüber, doch er konnte sie nicht unterdrücken. Es schien nicht möglich – aber Cindy war nicht in diesem Haus! Chuck versuchte, sich die Handflächen an seinen Hosenbeinen abzutrocknen, und faßte dann den Revolver fester. „Er lügt“, sagte Robish. „Es ist ’n verfluchter Trick!“ „Das Geld ist alles hier“, verkündete Griffin, aber er schien verwirrt oder überrascht, das Geld zu sehen und zu fühlen. „Zu spät jetzt für solche Tricks, alter Herr.“ Und etwas von seiner leichtsinnigen Aufgeregtheit klang wieder in seinem Ton. „Jetzt geht’s los! Nur eins noch, Hilliard. Es paßt mir nicht, wie Sie mich ansehen. Lassen Sie das. Hände hoch! Hoch! Mal sehen, was Sie bei sich tragen!“ Chuck Wright lauschte angestrengt. Ruhig jetzt, sagte er sich wieder. Noch nicht. Noch nicht. Mit erhobenen Händen, gespreizten Beinen, die Augen regungslos geradeaus gerichtet, fühlte Dan Hilliard, wie Glenn Griffins Revolver suchend, mit grausamer Härte über seine schmerzenden Rippen glitt, während seine andere Hand Dans Taschen durchsuchte. Er zuckte nicht zusammen, als die Mündung der Waffe auf die verletzte Stelle traf. Er wich nicht zurück, als Glenn Griffin mit einem leisen, erstaunten Pfiff und einem wütenden Blick 268
in den unruhigen Augen zurücktrat, den Revolver des Sheriffs in seiner Hand. „Sie Schweinehund!“ sagte Griffin dann, und bei dem Ton zuckte eine höhnische Befriedigung in Dan Hilliard auf. In seinem Staunen und seiner Wut prüfte Griffin die Waffe nicht. Dan sah sie hochschwingen; er hörte Eleanors erstickten Schrei an seiner Seite; dann fühlte er die Mündung an seinem Backenknochen. Es dauerte lange, bis er das Blut schmeckte. Er hatte sich immer noch nicht bewegt. Ein Zahn begann zu pochen. Er merkte, wie die Muskeln in seinem Gesicht zuckten. „Sagen Sie was!“ brüllte Glenn Griffin, und bei dem Ton fühlte Dan unter dem Mantel den kalten Schweiß an Armen und Beinen ausbrechen. „Stehen Sie nicht so da! Was hatten Sie mit dem Ding da vor?“ Immer noch antwortete Dan Hilliard nicht. Er spürte das Blut an seiner Wange, innen und außen, und er fühlte, wie sich Eleanor leicht an ihn lehnte, nicht laut weinend, sondern bloß leise wimmernd. Es war mehr dieses Wimmern als die aufspringenden Schmerzen, das Dan Hilliards Blicke auf den ungeladenen Revolver bannte. „Gib mir den da!“ sagte Robish, dazutretend. „Gib ihn mir und laß uns abhauen. Wir haben den Zaster. Auf was warten wir?“ Aber die Waffe, die er Glenn Griffin aus der Hand wand, war nicht der 38er, den Dan Hilliard ins Haus gebracht hatte. Robish hatte den geladenen Revolver. „Griffin, los! Nichts wie ’raus hier!“ bellte Robish. „Wir müssen türmen!“ Als Chuck Wright oben im Flur das häßliche Aufklatschen des Metalls auf menschliches Fleisch hörte, mußte 269
er sich mit der Linken am Geländer festhalten, um nicht die Treppe hinunterzustürmen. Er hat den Revolver gegen Mr. Hilliard gerichtet, dachte er zornig. Du darfst dich nicht rühren. Stillhalten! Das ist ein Befehl! Gleichzeitig aber fühlte er sich in seiner eigenen Hilflosigkeit, Nutzlosigkeit gefangen. Gleichviel, was er tat oder wie er es tat, einer dieser Revolver – denn jetzt waren es zwei – blieb auf einen der Hilliards gerichtet. „Hol den Bengel“, sagte Griffin. „Hilliard, Ihr Junge und Ihre Alte machen jetzt ’ne Spazierfahrt. Haben Sie was dagegen?“ „Ja“, sagte Dan Hilliard, und Glenn Griffin lachte kurz. Aber er hörte doch zu, als Mr. Hilliard erklärte, warum – es war ein leises Murmeln, gleichmäßig und kalt, das Chuck Wright nicht verstehen konnte –, und dann hob sich Mr. Hilliards Stimme ein wenig: „Wenn Sie nicht wollen, daß dies passiert, Griffin, wenn Sie genug Verstand haben, um einzusehen, daß ich Ihnen einen Dämpfer auf all Ihre Pläne setzen und Ihren gedungenen Mörder schnappen lassen kann – dann nehmen Sie lieber mich. Nur mich.“ „Hör bloß, was der für Töne spuckt!“ knurrte Robish; hinter den Worten klang eine schreckliche Ungeduld. „Wart einen Augenblick, Robish“, sagte Glenn Griffins Stimme ängstlich. „Vielleicht hat der Kerl doch …“ „Nichts. Nichts hat er. Sag ihm, er soll’s Maul halten. Was, zum Teufel, schere ich mich drum, was mit deinem Blauen passiert? Jetzt geht’s um mein Fell! Wir verlieren Zeit. Herrgott, der Wald da draußen kann voll Blauer stecken – was wissen wir denn? Ich hau’ ab. Los, her mit dem Bengel und der Frau!“ Chuck Wright merkte im letzten Augenblick, daß Robish seine schweren Schritte zur Treppe lenkte. Er machte 270
kehrt, lief mit drei langen Schritten in das Zimmer – Cindys Zimmer – gegenüber der verschlossenen Tür. Er riß den japanischen Revolver hoch und stand flach gegen die Innenwand des Zimmers gedrückt, während die plumpen Füße die teppichbelegten Stufen heraufpolterten. Jetzt? Jetzt, wenn er mit dem Rücken zu dir steht und versucht, die Tür zu öffnen, wenn er wütend am Türknopf dreht? Jetzt den einen von ihnen, und schnell, und dann dein Glück bei dem da unten wagen? Nein, nicht du bist es, der etwas wagen darf, Chuck. Es geht um Mr. Hilliard. Und seine Frau. Die Hilflosigkeit drückte ihn nieder wie ein schwerer Stein, während er Robishs leises, beharrliches wütendes Gemurmel hörte und dann hinter ihm im Schlafzimmer die schwache, aber deutliche Stimme des weinenden Kindes. Dieses Schluchzen übertönte für ihn die anderen Laute. Dann blieb Robish stehen. Chuck nahm die Gelegenheit wahr. Er schob seinen Kopf vorsichtig um den Türrahmen und warf einen Blick auf den schweren Kopf zwischen den massigen Schultern, die sich gleichmäßig hoben und senkten. Unentschlossen stand die riesige Gestalt vor der versperrten Tür. Auf was wartest du? Du hast nichts weiter zu tun, als den Finger anzuziehen, auf den Hahn zu drücken – aber sei vorsichtig, nicht zu hoch zielen, denn der Junge ist hinter der Tür! Auf was wartest du, Chuck? Er hörte von unten wieder ein paar Worte: „Sie hatten wohl alles auskalkuliert, was Hilliard?“ Und jetzt hörte man deutlich den Spott in der Stimme: „Dachten wohl, Sie könnten mir was abhandeln, was, Alter. Sie werden verdammt dreist, was?“ Dann sank die Stimme. Mit verändertem Ton: „Vielleicht sagen Sie mir lieber Bescheid, was mit Flick passiert ist. Warum hat er mich heute 271
vormittag nicht angerufen? Sagen Sie’s mir lieber jetzt, Alter, denn verdammt bald werden Sie nichts mehr zu sagen haben, verstehn Sie? Verstehn Sie mich?“ In den letzten Worten war ein schriller Ton, der Angst verriet. Drück auf den Hahn, Chuck! Herr Hilliard wird auf jeden Fall sterben, es sei denn, du kannst … Aber Chuck Wright war nicht vorbereitet auf das, was nun geschah. Er sah Robish zurücktreten, die Schultern straffen, den Fuß heben. Obwohl der Aufprall des Fußtritts den ganzen Türrahmen erschütterte, hielt das Schloß, hielten die Angeln. Hinter der Tür ging das Schluchzen des Kindes in Wimmern über. Robish spie einen Fluch aus, machte einen Schritt rückwärts und trat nochmals zu. Diesmal krachte das Holz wie ein Gewehrschuß. Die Heftigkeit des Geräusches schien den Riesen anzufeuern, und er trat zu und nochmals und nochmals zu; dabei platzte ein leises Gelächter aus der Tiefe seiner Brust, und das Holz splitterte und riß und brach mit ohrenbetäubendem Widerhall im ganzen Haus. „Robish!“ schrie Griffin von unten. „Robish, du gottverfluchter Narr! Keinen Lärm! Mach doch jetzt kein Getöse!“ Die letzten Worte sprach er, während er die Treppe heraufstürmte. Der hübsche Kopf erschien, ehe Chuck Wright sich ins Zimmer zurückziehen konnte, aber Griffin sah ihn nicht, weil er nicht aufhörte, Robish mit dieser hohen, schrecklichen Stimme zuzuschreien: „Keinen Lärm! Willst du die Nachbarschaft alarmieren? Keinen Lärm, du dummer Hund!“ Nun war Chuck hinter dem Türrahmen in Sicherheit. Aber er konnte nicht warten. Die beiden Männer waren jetzt hier oben. Beide. Und sie standen sich am Kopf der 272
Treppe gegenüber. Das war die Gelegenheit, auf die er gehofft hatte, und jetzt, da sie da war, verschwendete er keinen Augenblick. Als er seinen Kopf um den Türrahmen schob, glaubte er zu hören, daß sich die Haustür öffnete und schloß. Er war natürlich nicht sicher, aber dieses Wunder und das Unglaubhafte daran ließen ihn einen Augenblick erstarren, ehe er schoß. Vielleicht war es dieser Bruchteil einer Sekunde, der ihn schlug. Er sah, wie Glenn Griffin den Revolver auf ihn anlegte, schwang seine eigene Waffe nach rechts, ein klein wenig nur, und schoß, in der Erwartung, den Knall von Glenn Griffins Pistole zu hören, aber er spürte nur den Rückschlag an seinem eigenen Arm. Der trockene Gestank des Schießpulvers traf ihn, und er war wieder im Dschungel, seiner selbst sicher, alle Gedanken ausgelöscht – nur der Augenblick war da, der unmittelbare, das Hier und das Jetzt. Er sah, wie Glenn Griffin umfiel oder sich auf die Stufen warf. Chuck hob den Revolver wieder – jetzt ging alles sehr schnell, sehr plötzlich und haargenau und doch nicht schnell genug, denn wenn auch der Geist des Riesen langsam arbeitete, so waren seine Instinkte wach und sicher. Chuck sah den Feuerstrahl aus Robishs Hand, sah ihn sogar im hellen Sonnenlicht und schoß selbst noch einmal auf die mächtige Gestalt; doch in dem donnernden Knall wußte er, daß er aus irgendeinem Grund diesmal gefehlt hatte. Der Grund fiel ihm erst ein, als er merkte, daß er sich an die Wand klammerte, hörte, wie sein eigener Revolver auf den Boden aufschlug, und erst jetzt und mit Erstaunen den Aufprall der Kugel gegen seine Brust spürte. Zunächst fühlte er keinen Schmerz, selbst als die erste Welle der Dunkelheit über ihn hereinbrach, aber er wußte, daß der Schmerz kommen würde. Der Schmerz kam immer: 273
Selbst dann, als er hinter der Tür zusammenbrach, ein wenig verwundert über die Nässe an seiner Brust, wußte er, was nun geschehen würde, wußte, daß der große Kerl jetzt ins Zimmer treten und sein Werk vollenden würde. Aber das schien nicht so wichtig. Es war wirklich sonderbar. Es gab viel Wichtigeres. Er hatte versagt. Er hatte den großen Kerl nicht einmal gestreift. Alles war schiefgegangen – und durch seine Schuld. Dann hörte er wie ein Echo aus der Ferne etwas, was er für hinuntersteigende Schritte hielt. Aber das war nicht möglich, das konnte er nicht glauben. Und nun kam das Brennen – er hatte es gewußt – und machte sein Hirn leer, zwang ihn, sich auf das sengende Feuer tief in seinem Inneren zu konzentrieren, bis die schwarze Welle über ihm zusammenschlug und ihn nach unten trug. Mit wütendem Knurren stürzte Robish die Treppe hinunter – er stolperte über Glenn Griffin, fiel aber nicht. In der Diele machte er halt. Seine grüngelben Augen waren wild. Dan Hilliard wartete, jetzt restlos verzweifelt, denn er wußte, daß er zwar vor ein paar Sekunden Eleanor gerettet hatte, daß Robish ihn aber umbringen würde und daß Ralphie noch immer oben war. Als Glenn Griffin die Treppe hinaufgestürmt war, um Robishs Angriffen auf die Schlafzimmertür ein Ende zu machen, hatte Dan Hilliard seine Chance gesehen – vielleicht die einzige, die ihm geblieben war, und er hatte die Haustür aufgeschlossen und geöffnet und Eleanor wortlos hinausgeschoben. Sie war noch nicht ganz draußen, als oben die drei Schüsse knallten, und sie war unwillkürlich stehengeblieben und hatte nur das Wort „Ralphie!“ geflüstert. Dan hatte ihr im donnernden Echo der Schüsse 274
zugeschrien: „Es ist nicht Ralphie! Es ist nicht Ralphie! Lauf zu!“ Die Versicherung klang so wild, daß Eleanor wirklich lief, aber als Dan selbst die Tür schloß und sich der Treppe zuwandte, war er überzeugt, daß einer dieser drei Schüsse da oben seinen Sohn getötet hatte. Der Anblick Glenn Griffins, der langsam auf der Treppe niedersank, hatte ihn aufgehalten, in der Diele festgehalten; er erwartete, die Gestalt die Stufen hinunterrutschen zu sehen, aber statt dessen trat Robish über den gefallenen Mann und kam stolpernd und fluchend ruckweise herab wie ein riesiger, toll gewordener Bär. Endlich verstand Dan ein paar Worte von dem, was Robish vor sich hin knurrte: „… Schweinehund, gerissener … hat die Blauen geholt … uns verpfiffen … dreckiger Hund …“ Dan horchte, die Augen auf dem Revolver, den Robish gepackt hatte. Er verstand die Worte nicht. Was hatte die Polizei mit dem zu tun, was da oben geschah? Dann hörte er – wie ein elektrischer Schlag zuckte es ihm durch den ganzen Körper – von oben eine Stimme, eine tastende, aber unverletzte Stimme, aus der kein Schmerz klang: „Vater? Vater?“ „Bleib dort, Ralphie“, rief Dan. „Es ist schon gut!“ „Schon gut“, wiederholte Robishs Stimme hohl, aber er bewegte sich nicht; er schien nicht zu wissen, wie er sich bewegen sollte. „Du hast die Blauen reingeschmuggelt …“ Die Worte schienen ihm den fehlenden Anstoß zu geben; Dan sah den Gedanken in dem Mann aufwärts sickern und endlich bis in die glasigen Augen steigen. Robish stürzte zur Haustür, riß sie unbesonnen auf, von Furcht und Wut getrieben. „Sind noch mehr von euch draußen?“ schrie er in die kalte Luft. „Einen von euch hab’ ich oben erledigt. Wer will der nächste sein?“ 275
Als Dan den Mann in der halboffenen Tür sah, blind gegen Eleanors Abwesenheit, sinnlos vor Angst, schlich er sich näher, langsam und lautlos. „Noch welche von euch draußen?“ schrie Robish als Echo seiner ersten Worte, da keine Antwort kam. „Ich hab’ immer noch Hilliard und den Bengel. Sie leben noch!“ Diese Worte weckten in Dan Hilliard dieselbe wilde atavistische Wut, die ihn am ersten Abend dazu getrieben hatte, Robish niederzuschlagen – aber jetzt war sein Instinkt schärfer, durch Vorsicht und Denken beherrscht. Er stand dicht hinter dem Rücken des Mannes. Und ehe Robish nochmals rufen konnte, griff er nach der Tür – seine Finger nur zollweit von Robishs schwerem Atem entfernt –, riß sie auf, stieß seine Schulter krachend in Robishs Rücken, sprang zurück, hob den Fuß und trat mit aller Wucht in das Rückgrat des Mannes. Seine ganze geballte Wut war in diesem Fußtritt, und der massige Körper flog über die Veranda – zuerst ein paar taumelnde Schritte, dann sauste er kopfüber die Stufen hinunter ins Gras. Robish rollte sich herum, als er unten lag, und hob den Revolver. Der Knall donnerte die Straße entlang, aber die Kugel grub sich in das feste Holz der geschlossenen Tür, die Dan Hilliard zugeworfen hatte und jetzt von innen verschloß. Dan wandte sich von der Tür ab, und als er anfing, die Treppe hinaufzusteigen, mit lose hängenden Armen, aber mit einem gefurchten Gesicht, das hart war wie eine Faust, erwartete er draußen das Sperrfeuer der Polizei zu hören. Er war erstaunt, daß kein Laut von draußen kam. Doch auf der halben Treppe blieb er stehen, wie vom Blitz getroffen: Glenn Griffin lag nicht mehr auf der Treppe. 276
Jesse Webb hing an der Leiter, die gegen die Vorderseite des Wallingschen Hauses gelehnt war; er erstarrte förmlich, als er eine Frau aus der Tür des Hilliard-Hauses kommen sah – dann hob er unwillig die Hand, um das Zeichen zu geben, das die Männer unten erwarteten. Aber die Frau war allein und zögerte einen Augenblick auf den Stufen. Jesse brachte die Hand nicht herunter zu dem verabredeten Zeichen. Dann kam eine Sekunde der Spannung, und dann krachten drei Schüsse; sie folgten blitzschnell aufeinander, gedämpft durch die umschließenden Mauern, doch sogar aus dieser Entfernung klar zu unterscheiden. Jesse erinnerte sich seiner Zusage: Wenn geschossen wird, kommen wir ins Haus. Aber dann sah er, wie die Frau sich vom Haus abwendete und zu laufen anfing, und gerade das, die Verzweiflung in ihrem Rückzug in den Schutz der Bäume, hemmte seine Hand. Seine langen Finger zuckten krampfhaft, wenn er an sein Gewehr dachte. Warum nicht? Warum nicht jetzt? Noch wartete er und hoffte auf eine Antwort. Sie kam kurz darauf, nach ein paar Sekunden, die Jesse Webb wie eine Ewigkeit erschienen: ein hohles Gebrüll aus der Richtung von Hilliards Haustür. Die Worte konnte Jesse nicht verstehen, aber er kannte den Klang: Dies war der wütende, tobende Trotz eines Mannes in der Falle. Er wußte nicht, galten diese Worte – wie sie auch lauteten – der Frau oder der Polizei im Walde? Er hatte keine Zeit, den Bericht darüber abzuwarten, was der Mensch dort wie ein Bulle gebrüllt hatte, denn schon stürzte ein stämmiger Mann mit großem Kopf aus der Haustür, als sei er von hinten hinausgeschleudert worden. Er fiel strampelnd auf den Rasen, und nun griff Jesse Webb nach seiner Waffe. Doch in der Sekunde, als 277
er sich umwandte, hörte er einen weiteren Schuß, diesmal nicht gedämpft, und als er sein Gewehr nahm und über die Bäume hinweg zielte, sah er das schwarze Glitzern in der Hand des Mannes. Er brachte ihn genau in die Mitte des Zielfernrohres und folgte ihm mühelos und schnell, als der Mensch sich schwerfällig aufraffte, zu laufen versuchte – aber er hinkte ein wenig, als habe er ein verletztes Bein – und zu der blauen Limousine ging. Jetzt hatte er ihn. Es war Robish, und er hatte ihn! Aber Jesse Webb krampfte seine hageren Kiefer zusammen, bis ihm der Schmerz durch die Backenknochen in die Zähne drang. Er konnte nicht. Nicht so. Was auch das Schießen im Haus bedeutet hatte – noch immer bestand die Möglichkeit, daß Griffin lebte. Was würde Hilliard und dem Jungen geschehen, wenn Griffin jetzt erschrak, wenn ihm klar wurde, daß die Polizei draußen war – falls er den anderen Revolver hatte … Jedoch der andere Revolver war leer. Robish hatte geschossen. Die Waffe dort im Haus war Jesses eigener 38er, und Hilliard selbst hatte die Kugel herausgenommen. „Tom“, sagte Jesse Webb durch seine gesprungenen Lippen; und als eine vertraute Stimme vom Bodenfenster her antwortete, fuhr er fort, obwohl das Gewehr ihm noch im Arm lag: „Nicht schießen. Robish fährt in Hilliards Wagen weg. Er ist bewaffnet. Faß ihn drei oder vier Blocks vom Haus entfernt. Nicht näher. Aber faß ihn.“ Tom Winston verschwand im Bodenraum. Es gab keinen Ausweg für Robish. Den hatten sie. Was Jesse zurückhielt, was ihn veranlaßte, das Gewehr zu senken und die andern weiter handeln zu lassen, während er zögerte, das Zeichen zum Stürmen zu geben, das war jener zweite unbekannte Faktor, der ihm nicht aus dem Sinn wollte: Was war aus dem Jungen geworden, 278
diesem Chuck Wright, und aus seinem komisch aussehenden Revolver? Jesse Webb hatte eine Ahnung – und er gab immer etwas auf seine Ahnungen, wenn sie so stark waren –, daß auch diese Waffe im Hilliardschen Haus war. Wenn Hilliard ihn brauchte, würde Hilliard rufen. Das heißt, er würde rufen, wenn er noch am Leben war. Dann schaute Jesse einen Augenblick hinab und sah, wie Carson Mrs. Hilliard aus dem Wäldchen in das Haus der Wallings führte; der junge Mann mit dem Gelehrtengesicht hatte einen Arm um sie gelegt. Aber Mrs. Hilliard weinte nicht. Jetzt ’rein ins Haus, befahl sich Jesse wütend. Und dann antwortete er sich selbst, nicht weniger zornig: Laß es Hilliard auf seine Art versuchen. Denn Jesse Webb begann bereits zu vermuten, daß es Dan Hilliard gewesen war, der die Frau aus dem Haus geschoben hatte. Was dies bedeutete, wußte er nicht. Aber er entschloß sich auf gut Glück, Hilliard noch weitere fünf Minuten zu geben. Er wollte wenigstens warten, bis Carson durch Frau Hilliard erfuhr, was da drin vorging, und bis er den Bericht bekam, was Robish vorhin aus der Tür gerufen hatte. Dan Hilliard stieg die Treppe hinauf, sein Schritt war schwer und entschlossen; er hörte statt des Sperrfeuers der Polizei, das er erwartet hatte, den Motor seines Wagens draußen anspringen. Als er den Kopf der Treppe erreichte, wo Glenn Griffin vor ein paar Augenblicken gelegen hatte, sah er einen Blutstreifen auf dem Teppich und hörte von draußen den knirschenden Kies und das Aufheulen des Motors, das sich nach der Straße zu entfernte. Er hielt inne. 279
Doch nur einen Augenblick. Denn während er Griffins Stimme zu seiner Rechten hinter der zerschmetterten Tür hörte – „Hier herein, Hilliard!“ –, sah er etwas in der Tür zu Cindys Zimmer, das ihn dorthin zog. Er sah herunter, und wieder war die häßliche Leere in ihm – er sah in das graue Gesicht von Chuck Wright. Sein Hirn schien sich zu drehen. Er sah die dunklen Flecke auf dem Boden, die zusammengekrümmte, anscheinend leblose Gestalt, die blutbespritzte, seltsam geformte Waffe. Mit einer blitzschnellen Bewegung bückte sich Dan Hilliard, hob den Revolver auf – das Blut daran war noch warm – und wandte sich, um über den Korridor zu gehen. Es flog ihm durch den Kopf, daß Robish Chuck Wright für einen Polizisten gehalten hatte. Das hatte ihn in wilder Panik nach unten getrieben. Dan Hilliard dankte Chuck Wright schweigend und blieb vor der zersplitterten Tür seines eigenen Schlafzimmers stehen. Jetzt wußte er, was er zu tun hatte. Und er wollte es tun, ehe die Polizei hereinkam, ehe etwas anderes geschah. Es war wirklich einfach. Aber im Gedanken an Ralphie dort im Zimmer ließ er die Waffe in seine Rocktasche gleiten und schloß die Hand darüber. Er würde durch den Rock schießen. Er würde den Revolver leer schießen, jede Kugel in Glenn Griffins Körper hinein, und das wäre dann das Ende. Er trat in den Raum. Ralphie war auf seinem Bett, und in einer Ecke hinter ihm stand Glenn Griffin. Seine dunklen, unnatürlich glänzenden Augen lösten sich vom Fenster und richteten sich glasig auf Dan. Aber Dan sah das schneeweiße, eingefrorene Entsetzen im Gesicht seines Sohnes. Nein, so einfach war es nicht. Die Augen des Kindes kehrten sofort krankhaft gebannt zu der Revolvermündung 280
zurück, die Glenn Griffin auf ihn gerichtet hielt. Die Waffe war leer, aber dennoch … so einfach war es nicht. „Sie müssen mich hier rausschmuggeln, Alter.“ Aber die Frechheit war vergangen, der Versuch zur Anmaßung dünn und abgegriffen. „Der Blaue da drüben hat mich angekratzt. Haben Sie noch mehr Blaue draußen?“ Dan sah mit einem Aufzucken von Genugtuung, die ihm mißfiel, die blutige Furche an Glenn Griffins Schläfe, und er machte sich klar, daß Chuck Wrights erster Schuß den Sträfling betäubt, aber nicht ernstlich verwundet hatte. Nun, er würde jetzt den Rest der Arbeit tun. Er, Dan Hilliard. Doch zunächst hatte er eine andere Aufgabe. Noch eine. „Ralphie“, sagte er ruhig – seine Stimme war ein trockenes Flüstern –, „Ralphie, schau mich an. Hör zu.“ „Keine Zeit jetzt, keine Zeit!“ schrie Glenn Griffin; er fuhr mit der Zunge über seine Lippen und brachte seinen Revolver näher an den Kopf des Jungen. Nun wurde Dan Hilliard etwas anderes bewußt; er schärfte sich’s ein, handelte danach. Er durfte Griffin nicht so reizen, daß der die Waffe hob und sie in verzweifelt wütender Enttäuschung auf den Schädel des Kindes herabsausen ließ. „Mein Sohn“, sagte Dan langsam, sehr leise und entschlossen, und das Wort verbreitete eine hypnotische Wirkung in dem stillen Raum. „Hör mir jetzt zu. Es wird dir nichts geschehen. Der Mann wird dich nicht erschießen. Hörst du mich?“ Ralphie nickte, aber ein Aufflackern der Unsicherheit war in den rotgeweinten Augen. Dans Herz zog sich zusammen. „Er wird dich nicht erschießen, Ralphie, und ich werde dir sagen, warum, mein Sohn. Glaube mir, weil …“ 281
„Mach Schluß, Hilliard! Wenn Sie nicht Schluß machen, mach’ ich der Sache ein Ende. Sie müssen mich hier rausbringen, verstanden!“ Der irre Ton war unverkennbar, und das war es, was Dan gefürchtet hatte. Dans Hand lag am Kolben des Revolvers, sein Finger umspannte den Hahn. Ralphie war zwischen ihm und seinem Ziel. „Ich lüge dir nichts vor. Hab’ ich dir je etwas vorgelogen, Ralph?“ Der Junge schüttelte den Kopf, einmal. „Herrgott!“ kreischte Griffin. „Wollen Sie endlich aufhören? Sind da draußen noch mehr Blaue, Hilliard? Warum haben sie nicht Robish abgeknallt? Es sind keine mehr da, nicht wahr? Sie wären ja längst hier drin!“ Immer noch ignorierte ihn Dan, seine ganze Aufmerksamkeit war auf seinen Sohn gerichtet. „Ralphie, die Pistole von dem Mann ist nicht geladen. Es sind keine Kugeln drin. Glaubst du mir?“ Er merkte sich bewußt, wie Glenn Griffin zusammenfuhr und dann schnell ungläubig grinste, aber er prüfte das Gesicht seines Sohnes. „Glaubst du mir?“ Nun neigte das Kind den Kopf sehr langsam. „Was geht hier vor?“ Griffins Stimme war schrill. „Hilliard, sind Sie taub? Sie ist geladen, Hilliard. Sie hätten sie nicht mit hierhergebracht, wenn.:.“ Griffin brach ab, seine Augen wurden noch glänzender in einem glasigen Starren. Dan sagte so langsam wie zuvor: „Ralph, du bist ein sehr großer Junge. Ich wünsche, daß du auf mich hörst, verstehst du? Ich wünsche, daß du tust, was ich dir jetzt sage.“ „Schluß damit!“ heulte Glenn. „Hören Sie auf zu reden! Mir tut der Kopf weh. Ich gehe zum …“ Er brach ab, und irgendwo in seinem taumelnden Hirn wurzelte 282
sich ein Verdacht ein. Er senkte die Stimme. „Sie wären doch nicht hergekommen mit ’ner leeren …“ Auf diesen Augenblick des Zweifels hatte Dan gesetzt. „Ralphie“, schrie er plötzlich, „lauf zu!“ Dieser Aufschrei brachte den Jungen mit einem Satz aus dem Bett, ehe Griffin sich bewegen konnte. „Lauf hinunter und nach draußen!“ schrie Dan Hilliard. Und dann sah er Glenn Griffin den Revolver heben und auf das Kind zielen. Dan mußte seinen ersten Impuls mit einer großen, schrecklichen Willensanstrengung unterdrücken, die wie ein Schmerz durch seinen Körper schoß. Er behielt den Revolver in der Tasche, sogar als er die leere Waffe klicken hörte – doch bei diesem irren, nutzlosen Klicken wußte er noch sicherer, was er zu tun hatte. Der Junge war fort. Er würde es nicht sehen. Dessen hatte sich Dan versichert. Er sah das betäubte bleiche Entsetzen in dem Gesicht da drüben an der Wand; er sah die entblößten weißen Zähne; er hörte den schwachen knabenhaften Aufschrei ganz hinten in der Kehle des jungen Verbrechers, als dieser den 38er des Sheriffs hob und direkt auf Dan Hilliard anlegte. Dan hörte das Klicken, wieder und wieder, und dann einen Ton, der noch seltsamer war als alle anderen: den kurzen Klang seines eigenen Auflachens. Nun zog er seine Waffe aus der Tasche. Er war jetzt voll kalter Wut, und er hörte nicht auf, an die Revolvermündung zu denken, die sich auf den Rücken seines Sohnes gerichtet hatte. Er spürte, wie sein eigener harter Griff um seine Waffe ihn bis in die Schulter hinauf schmerzte. Und jetzt – ja, jetzt würde er es tun. Was es auch sein mochte, was Glenn Griffin in Dan Hilliards Gesicht sah – die erbarmungslosen Augen, das harte Kinn, die rote Schwellung der Schramme, die sein 283
eigener Revolver auf Dans Wange gezeichnet hatte –, was es auch war: Er wich davor zurück in die Ecke, und seine Zunge schoß naß zwischen den Lippen hervor. Seine Augen senkten sich, aber sie schienen nichts zu sehen, nicht die Bedeutung dieser Waffe zu erfassen, die in Dans Hand mit den weißen Knöcheln immer näher kam. Dan Hilliard besaß nicht mehr die Herrschaft über das, was nun kommen mußte. Diese Verbrecher hatten die Menschen, die er liebte, durch zwei Tage alptraumhafter Hölle geschleift; sie hatten geschlagen und gedroht und ein Schreckensregiment geführt; sie hatten Gewalttätigkeit und Blutgeruch und Schmutz in sein Haus gebracht. Jetzt gab es nur eins – den endgültigen letzten Akt, und dann war es vorbei. Glenn Griffin glitt an der Wand herunter, der Speichel tropfte in kleinen Blasen über sein bebendes Kinn. Sein Mund öffnete und schloß sich wieder, er wollte sprechen, aber es kam kein Laut heraus. Er bettelte mit den flatternden Händen an seinem Hals. Die groteske Pantomime des Entsetzens rührte nicht an Dan Hilliards eiskaltem Entschluß. Jetzt. Jetzt. Warum ziehst du nicht den Hahn? Warum machst du dem nicht ein Ende? Warum sollte dich etwas zurückhalten? Warum solltest du, Dan Hilliard, Bedenken haben, die diese Männer nie verspürten? Warum solltest du zögern, wenn sie … Aber Dan Hilliard war nicht einer von ihnen. Dies war sein Zimmer, das Schlafzimmer, in dem er und seine Frau schliefen. Dies war sein Haus. Und unten warteten seine Frau und seine Tochter und sein Sohn – und warteten begierig und wußten nichts von alledem und zitterten noch in der Furcht, die dieser Auswurf ins Haus getragen hatte. Auf der andern Seite des Ganges lag der junge Mann, der Cindy liebte – der sie tief lieben mußte; und 284
vielleicht war er jetzt tot. Er brauchte Hilfe, schnelle Hilfe. In der blitzartigen Erleuchtung dieses Augenblicks ließ Dan Hilliard langsam die Waffe sinken, bis die Mündung auf den Boden wies. Er hatte kein Recht dazu. Er war nicht einer von ihnen. Die zitternde Masse tierischen Lebens, die sich da in der Ecke vor ihm krümmte, widerte Dan Hilliard an. Er wandte sich verächtlich ab und sah aus dem Fenster. „Hinaus“, sagte er leise. Er fühlte sich von oben bis unten beschmutzt, als habe sich etwas Schleimiges an ihm abgestreift. „Fort aus meinem Hause“, sagte er, aber noch immer ruhig. Und während er dann aus dem Fenster starrte – er sah in der Ferne einen Mann auf einer Leiter an dem Dach des Wallingschen Hauses –, hörte er das hastige Scharren hinter sich, als Glenn Griffin, wimmernd und sich an die Wand krallend, seinen Weg über das Bett fand und in den Gang stolperte; Dan hörte das schnelle Trommeln der Schritte auf der Treppe und das Öffnen der Haustür. Er warf den Revolver zu Boden. Fast hätte er einen Menschen gemordet; fast wäre er einer von ihnen geworden. Er riß das Fenster auf. „Webb!“ schrie er, und in seiner Kehle schien sich ein Messer umzudrehen. „Webb! Holen Sie einen Arzt und einen Krankenwagen – rasch!“ Dann schnellte er herum und ging rasch ins Schlafzimmer seiner Tochter, wo Chuck noch gekrümmt und bewußtlos auf dem Boden lag. Dan beugte sich herunter, kniete in dem Blut, als er draußen zwei Schüsse hörte. Sie schienen aus der Ferne zu kommen – sie pfiffen sonderbar. Jesse Webb ließ sein Gewehr sinken. Er sah noch die schlanke, tänzerische Gestalt eines jungen Mannes, die da unten auf Hilliards Rasen um die 285
eigene Achse geschleudert wurde; aber er wußte natürlich, daß diese Gestalt jetzt ganz still lag, ganz leblos. Zwei Minuten zuvor hatte er den Bericht über Robish bekommen: Der Riese hatte die blaue Limousine bei der Jagd in Bruch gefahren, und die Polizei hatte ihn schwer verletzt unter den Trümmern hervorgezogen – aber er lebte. Lebte noch eine Weile, dachte Jesse grimmig. Bis nach dem Prozeß. Es ist alles vorbei, dachte Jesse und rieb sich seinen sehr müden Nacken. Aber er erinnerte sich, als er langsam mit schmerzenden, steifen Beinen die Leiter herabstieg, wie er das Gewehr gehoben hatte, als er die Gestalt aus der Hilliardschen Haustür auftauchen sah. Griffin kam ungestüm herausgestürzt, die Arme erhoben, die Hände krampfhaft arbeitend, und sein Mund schrie unverständliche Worte. Waren sie eine Bitte um Gnade gewesen? Über die Kronen der sonnengefleckten Bäume hinweg konnte Jesse sie nicht hören. Dachte er dabei an jenes andere Mal, als Griffin, nachdem er selbst von seinem Revolver Gebrauch gemacht hatte, die Waffe auf das Pflaster warf und um die Gunst bat, sich ergeben zu dürfen? Oder brauchte Jesse alle seine Sinne dazu, diesen Kopf genau auf den Zielstachel seiner Waffe zu bekommen? Er hatte geschossen und nur den Rückschlag seines Gewehrs gefühlt – und die Gestalt stand still, krümmte sich, sank im Gras auf ein Knie und hielt sich so, bis die zweite Kugel traf. Sie riß ihn herum, aufgerichtet schwankte er eine Sekunde, aber nur eine Sekunde, und dann fiel er vornüber, Arme und Beine ausgestreckt, mit dem Gesicht ins Gras. Dann stand Jesse auf dem Rasenplatz der Wallings; er lehnte das Gewehr gegen die Leiter und fühlte noch die 286
Hitze des Laufs. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß ihn nach solchen Gewaltakten gewöhnlich eine gewisse Scham befiel, ein schreckliches Gefühl des Mißerfolges, das fast zur körperlichen Übelkeit wurde. Wenn man die Dinge nur auf solche Weise regeln mußte, dann hatte jemand versagt. Er wußte nicht, an wem es lag oder an was. Aber er wünschte sich nur, er könnte irgendwie verhindern, daß dieses Gefühl sich seiner bemächtigte. Er ging in das Wallingsche Haus; in der Ferne hörte er Sirenen; er malte sich die verworrene Szene auf dem Rasen vor Hilliards Haus aus. Er sank in einen tiefen Sessel neben dem Telefontisch. Er hörte schon in Gedanken den weichen Ton der Erleichterung in Kathleens Stimme, obwohl sie versuchen würde, sich gleichmütig zu stellen. Und er konnte sich schon die grimmige, kurze Befriedigung in Onkel Franks Stimme vorstellen, wenn er ihn später anrief. Aber Jesse Webb teilte diese Befriedigung nicht. Zu stark empfand er jenes andere – es war beinahe Ekel. Nicht, weil er einen Menschen getötet hatte; Glenn Griffin war für ihn in diesem Sinne kein Mensch. Dieses Gefühl hatte sich seiner bemächtigt, weil das Leben nicht so sein sollte. Und als er dann zum Telefon griff, war er fast froh, daß er es so empfand. Denn das trennte ihn von Griffin und Robish, die auch getötet hatten. Er klammerte sich noch an die Hoffnung, daß es eines Tages nicht mehr nötig sein würde, die Dinge auf solche Art zu regeln. Bis dahin – nun, er hatte seine Pflicht, und er hatte ein Stück davon in den beiden letzten Tagen erfüllt. Bis auf einige unangenehme, aber notwendige Einzelheiten war dieser Teil seiner Aufgabe erledigt. Und er hatte – er wußte selbst nicht wie – im Laufe der Ereignisse den Gedanken an persönliche Rache verloren. Auch das war gut. Ja, es war gut. Vielleicht hatte Leutnant Fredericks recht: 287
Die Überwindung dieses Gedankens machte einen am Ende zu einem besseren Hüter der Ordnung. Genau wußte Jesse Webb es nicht – und als er dann Kathleens Stimme hörte, vergaß er alles vollkommen, bis er zwei Minuten später den Hörer wieder auflegte. Alle, auch Eleanor, hatten darauf bestanden, daß Dan zu Hause blieb. Cindy war mit Chuck im Krankenhaus, und wirklich, es gab für Dan nichts mehr zu tun. Er brauchte seine Ruhe, und seine geschwollene Kinnlade sah fürchterlich aus. Trotzdem war er hier; eigensinnig saß er in dem weißen und sterilen Wartezimmer, und Eleanor saß ruhig neben ihm auf dem Korbsofa. Ihre Hände berührten sich nicht, aber sie waren sich beide ihrer Nähe bewußt – einer Nähe, die nicht neu, aber neu erkannt war. Dan sah den Vize-Sheriff den langen, schlaksigen, der Webb hieß, durch den stillen, fliesenbelegten Korridor näher kommen; eine nette, saubere Krankenschwester trabte geräuschlos neben ihm her, bemüht, mit seinen langen Beinen Schritt zu halten. Im Warteraum angelangt, nahm Jesse Webb den Hut ab und blieb vor den Hilliards stehen, ein wenig linkisch, ein wenig verlegen, den schmalen Kopf vorgestreckt. „Miß Standish hier“ – er zog die Worte wieder lang – „wird Ihnen alle Einzelheiten berichten. Der junge Wright kann in zwei Wochen wieder heraus. Ich glaube, das genügt mir. Ihre Tochter ist bei ihm im Zimmer, Mr. Hilliard. Sie hat sich gerade bei mir entschuldigt. Es scheint ihr sehr zuzusetzen, diese Sache – daß sie das Geld zu Flick gebracht hat. Natürlich kann Flick nichts damit anfangen, dort, wo wir ihn hingesteckt haben. Und sie hätte nicht anders handeln können. Ich glaube, das ist alles. Gehen Sie jetzt nach Hause?“ 288
Dan erhob sich. „Wenn der Junge bei Bewußtsein ist, würde ich ihn gerne sehen.“ „Zimmer vierhundertzwei“, sagte die Krankenschwester, „aber –“ Jesse Webb berührte ihren Arm, und sie sprach nicht weiter. Ein wenig schief grinste Jesse jetzt zu Dan herab. „Ich möchte etwas sagen.“ „Ja?“ „Hab’s schon wieder vergessen. Nun, das macht nichts. Etwas über – na, also wenn Sie jemals einen Posten brauchen, Sir, kommen Sie nur zu mir.“ Es war durchaus nicht das, was er zu sagen beabsichtigt hatte. Es kam dem nicht einmal nahe, denn es war völlig albern und sinnlos, aber es war das Beste, was Jesse Webb zustande brachte. Auch Dan Hilliard lächelte, und seine Augen ließen Jesse die schiefe Form des Gesichts vor ihm vergessen, mit dem verbeulten und an einer Seite verschwollenen Kinn. Die Augen waren jetzt blau, genau wie die seiner Tochter, nicht schwarz, wie er gedacht hatte, seit er Dan Hilliard kannte. Doch es war eine Wärme in ihnen, ein Wissen … ein ganzes Leben würde das Mädel brauchen, um das zu erreichen! Verwirrt wandte sich Jesse zu Mrs. Hilliard; sie trug noch das Hauskleid, ihr Haar war hell, ihr Gesicht klein und oval. Mrs. Hilliards Augen waren sanft und schienen in Jesse hineinzusehen. Er mußte an Kathleen denken. „Gleichfalls“, antwortete Dan Hilliard und bot dem Sheriff seine Hand. „Aber Sie pfuschen mir ins Handwerk – es ist nämlich meine Aufgabe, Posten auszuteilen. Ziemlich langweilig im Vergleich zu der Ihren, aber …“ Er zuckte die Achseln. „Zimmer vierhundertzwei, Sir“, sagte Jesse Webb und ließ Dan Hilliards muskulöse Hand los. „Und dann, hören 289
Sie, dann müssen Sie schlafen, verstanden?“ Er sagte das letzte ein wenig lauter, ein klein wenig barscher, als er beabsichtigt hatte. Aber es wurde ihm unbehaglich zumute unter Mrs. Hilliards Augen – ob sie wohl seine Gedanken lesen konnte? Er sah Dan Hilliard nach, der den Korridor entlangging; jetzt schritt er leicht und frisch aus, gerade aufgerichtet und voll Selbstvertrauen. Und die Pflegerin begann Mrs. Hilliard ausführlich zu erklären, was sich im Operationszimmer abgepielt hatte. Es ist doch komisch, dachte Jesse Webb, daß man nie so recht sagen kann, was man denkt oder fühlt. Er rieb sich das Genick und blinzelte, um den Schlaf zu vertreiben, der ihn jetzt zu überwältigen drohte. Man sagt offenbar nie, was wirklich in einem ist. Er dachte an ein Wort, und selbst das Wort klang ihm an sich schon merkwürdig. Seelengröße. Das war das Wort. Man würde nie daran denken, es auf Dan Hilliard anzuwenden oder überhaupt auf Leute wie Dan Hilliard und seine Frau. Aber es paßte. Vielleicht dachte man es gewöhnlich nicht, wenn es nicht hart auf hart ging; aber wenn es wirklich drauf ankam … Er sah Dan Hilliard in ein Zimmer am Ende des Korridors treten. Was Dan Hilliard in diesem Raum vorfand, war ein junger, kräftig gebauter Mann, der flach ausgestreckt auf einem Bett lag, ein sehr weißes Laken bis zu dem breiten Kinn herauf gezogen, den Kopf von der Tür weggewandt. Hinter dem Mann war, umrahmt von der frühen Nachmittagssonne, die durch die hohen Fenster floß, ein schlankes, rothaariges Mädchen, das die Schultern mit einem ärgerlichen Ruck zurückschob. Der junge Mann wandte langsam den Kopf, als Dan eintrat, und seine grauen Augen wurden groß. 290
Dan trat zum Bett. „Sag du’s ihm, Vater“, sprach Cindy, „ich versuchte vergeblich, es ihm klarzumachen. War er nicht töricht, Vater? Ich bin bald verrückt geworden dort in der Polizeiwache, weil ich schon vermutete, daß er so etwas vorhatte, und mir dachte, er könnte auch mit im Haus sein. Sag’s dem Mann, Vater – damit er lernt, nicht so ein leichtsinniger Narr zu sein!“ Vielleicht glaubte Chuck Wright an ihren Zorn, obwohl Dan selbst das bezweifelte, während er ein Lächeln unterdrückte. Er sah die helle Röte auf den Wangen seiner Tochter. „Sie waren ein leichtsinniger Narr, Chuck“, sagte Dan. „Aber es kam verdammt gelegen!“ Chuck Wright sah sehr blaß aus, sich selbst nicht recht ähnlich, aber etwas von dem fahlen Grau war schon von seinem Gesicht gewichen. „Ich konnte nichts anderes tun, glaube ich.“ Seine Stimme war schwach. Dan räusperte sich. „Ja“, sagte er schroff, „ja, ich kenne das Gefühl.“ Er wandte sich zur Tür. „Lassen Sie sich nicht von ihr beschimpfen, mein Sohn. Lassen Sie sich von ihr zum Danksagungstag einladen. Soviel ich weiß, sind Sie dann schon von hier entlassen.“ Dan Hilliard schloß die Tür hinter sich und blieb einen Augenblick im Gang stehen, wieder ganz betroffen von dem Glanz, den er auf dem Gesicht seiner Tochter gesehen hatte. Sein Körper war müde, sein Geist aber nicht. Er ging den Korridor entlang. Hatte er Chuck Wright das gesagt, wozu er den langen Weg hergekommen war? Vermutlich nicht. Es gab Dinge, die man weiß, ohne daß sie ausgesprochen werden. Und es gibt Veränderungen, die in einem Menschen vor sich gehen, ohne daß er selbst es jemals gewahr wird. 291
Dann war er bei seiner Frau; sie war jetzt allein. Sie stand auf und nahm seinen Arm. „Du“, sagte sie im gleichen gebieterischen Ton wie vorhin seine Tochter, „du gehst jetzt zu Bett. Und du wirst drei geschlagene Tage schlafen. Es ist mein Ernst, Dan. Ich werde dafür sorgen.“ Sie fuhren in dem winzigen Aufzug hinunter und gingen dann durch die Stein- und Marmorvorhalle des Krankenhauses. Draußen auf den breiten, vom Sonnlicht übergossenen Stufen stand Ralph Hilliard, von drei Männern umringt, die Dan verdächtig nach Reportern aussahen. Einer trug eine Kamera. Ralph hörte auf zu sprechen, als er seine Eltern sah, und wartete auf sie – sehr still, sehr ernst, sehr erwachsen für seine zehn Jahre. Dann sagte er aus dem Mundwinkel zu den drei Männern: „Aber wenn Sie ihm verraten, daß ich es gesagt habe, werde ich Sie wegen Verleumdung belangen!“ Dan fragte nicht, was sein Sohn den Reportern berichtet hatte. Auch Eleanor sagte nichts. Nachdem der Mann mit der Kamera eine Aufnahme von ihnen gemacht hatte und sie in der Taxe saßen, wandte sie ihr Gesicht zu Dan Hilliard und küßte ihn innig auf den Mund; lange hielt sie ihn so fest, doch nicht mehr aus Verzweiflung. Ralph Hilliard starrte verlegen aus dem Fenster.
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TOM WITTGEN Das sanfte Mädchen Kriminalroman der DIE-Reihe etwa 224 Seiten, etwa 2,- M
Leseprobe Die Bäume warfen ihre Schatten schon im Mondlicht, als Oberleutnant Simosch den Kiesweg zu Casters Haus betrat. So wie damals, als Leutnant Weiß hier vorgesprochen hatte, fiel auch jetzt Licht durch die Butzenscheiben, vielfarbig, zerfließend, und wie damals öffnete eine Frau Mitte Dreißig die Tür. Doch diesmal war Frau Caster weniger höflich. Sie sagte nur sehr spitz: „Bitte“, nachdem Simosch seinen Ausweis vorgezeigt hatte, und trat zur Seite. Simosch hatte auf den ersten Blick gesehen, daß ihre Augen gerötet waren. Sie ging vor ihm her in ein Zimmer mit einem imitierten Kamin und sagte wiederum: „Bitte!“ Einfach so, ohne ihm Platz anzubieten oder gar ein Glas von dem roten Wermut, den sie sich eingoß. Simosch registrierte: Die Dame des Hauses ist gereizt. Plötzlich drehte sich der Ohrensessel, neben dem der. Oberleutnant stand. Simosch fuhr leicht zusammen, aber weder die Frau noch Herr Caster, der sich müde aus dem Sessel erhob, merkten etwas davon. Der Oberleutnant stellte sich noch einmal vor und dachte: Das also ist der Mann, der Anja Bindseils Leben so stark verändert hat. Er sah aus wie jemand, der seit Stunden in einem überhitzten Zimmer sitzt: das Gesicht gerötet, die Hemdbrust offen, die Ärmel hochgekrempelt und feine Schweißtrop-
fen auf der Stirn. Im Zimmer aber war es kühl. Wer hier ins Schwitzen gerät, muß ein sorgenbeladener Mensch sein, dachte Simosch. Sie setzten sich um den Couchtisch, Frau Caster ließ sich nun doch herbei, zwei Weingläser zu holen, aber der Oberleutnant lehnte dankend ab. Wermut war nicht seine Geschmacksrichtung. Außerdem wollte er einen klaren Kopf behalten. Die Eheleute saßen einander gegenüber, und Simosch hatte sich so postiert, daß er beide im Auge behalten konnte. Er hatte das Gefühl, in eine eheliche Auseinandersetzung geraten zu sein, die noch nicht beigelegt, sondern durch sein Hinzukommen nur unterbrochen worden war. Simosch fand, die Atmosphäre in diesem Zimmer sei die eines unfreiwilligen Waffenstillstandes. Er sagte: „Ich möchte mich mit Ihnen über Anja Bindseil unterhalten.“ Sie schwiegen und hefteten ihre Blicke auf ihn, weder erwartungsvoll noch interessiert, sondern weil sie vermeiden wollten, daß einer den anderen ansah. „Wie waren Ihre Beziehungen zu dem Mädchen?“ „Wir … haben das der Polizei schon einmal erzählt“, wehrte die Frau zögernd ab. Simosch wandte sich an Caster, ohne auf die Worte seiner Frau einzugehen. „Sie standen ihr sehr nahe, nicht wahr?“ Er sagte es mitfühlend und dachte: Wehe dir, wenn du jetzt Theater spielst! Sekundenlang lag in Casters Blick Mißtrauen, doch die freundliche Gelassenheit des Oberleutnants beruhigte ihn und verleitete ihn dazu, genau das zu tun, wovor Simosch ihn in Gedanken gewarnt hatte: Er begann Theater zu spielen. Zuerst fuhr er sich mit gespreizten Fingern durch das Haar, dann nickte er mehrmals. „Seit wir von diesem
Unglück in der Zeitung gelesen haben, sind wir verwirrt und … deprimiert … Deshalb sehen Sie uns auch heute abend nicht gerade im besten Zustand.“ Er schluckte. „Wir … sind noch immer völlig fassungslos“, brachte er stockend hervor, „das werden Sie gewiß verstehen.“ Dich werde ich gleich fassungslos sehen, dachte Simosch grimmig, ich will nur noch wissen, welche Rolle die Dame zu spielen gedenkt. „Sie zählen zu den Menschen, Frau Caster, mit denen Fräulein Bindseil kurz vor ihrem Tod noch einmal gesprochen hat.“ „Hören Sie schon auf“, sagte die Frau mit rauher Stimme, „das ist alles so furchtbar. Ich hatte die Kleine richtig ins Herz geschlossen.“ Simosch lehnte sich im Sessel zurück, schwieg ziemlich lange, bevor er sagte: „Sie sind die erste Frau, von der ich erfahre, daß sie ihre Nebenbuhlerin ins Herz geschlossen hat.“ Nach einer Schrecksekunde begehrte Caster, der plötzlich blaß geworden war, auf: „Was erlauben Sie sich! Verleumdung in meinem eigenen Haus, an meinem Tisch, gegen meine Frau …“ Nur deine Freundin hast du vergessen, dachte Simosch, jetzt kommst du also in Schwung! Er nickte beipflichtend, sagte: „Ich habe mich wirklich nicht ganz präzise ausgedrückt, Herr Caster. Eine ernsthafte Nebenbuhlerin ist Anja Bindseil Ihrer Frau nie gewesen, Sie wollten das Mädchen ja sowieso nicht heiraten. Oder …?“ „Wir hatten keinerlei intime …“ „Bitte“, unterbrach die Frau ihn ärgerlich, „so ein Verhältnis bleibt auf die Dauer nicht unentdeckt. Das habe ich dir vorhin schon klarzumachen versucht.“
Caster atmete schwer, trank einen Schluck, sagte: „Also gut, Anja war meine Freundin. ‚War‘ sage ich nicht, weil sie tot ist, sondern weil ich dieses Verhältnis vor Wochen bereits gelöst hatte.“ „Sie schon“, entgegnete Simosch, „aber das Mädchen nicht.“ „Das ist eine Unterstellung …“ Frau Caster lachte spitz, und er brach den Satz ab. „Selbst wenn es so wäre“, fuhr er nach kurzem Schweigen gereizt fort, „was geht das Sie an?“ Um diesen Gefühlsausbruch gleichsam zurückzunehmen, bot er seinem Gast Zigaretten an und reichte ihm Feuer. Mit ruhiger Hand, wie Simosch feststellte. „Das passiert Tausenden“, sprach Caster weiter und zündete auch seine Zigarette an, „daß sie sich in ein junges Mädchen verlieben. Na und? Ich habe mich vor meiner Frau zu rechtfertigen, nicht vor Ihnen. Oder schnüffelt die Polizei neuerdings in Bettgeschichten herum?“ „Nein. Aber sie klärt unter anderem Morde auf.“ „Sie klärt … wie bitte?“ „Ich bin Leiter der Mordkommission im Falle Anja Bindseil.“ Casters Hand sank kraftlos in den Schoß, zitternd jetzt. Er saß vornübergebeugt, zu bestürzt, als daß er auf Haltung achten konnte. Er vergaß sogar die Situation, in der er sich befand, und tat, was er in zehn Ehejahren immer getan hatte, wenn ihm Leid oder Ärgernis widerfahren waren: Er wandte sich hilfesuchend an seine Frau. „Ermordet – er sagt, jemand hat Anja ermordet.“
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