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Roy Palmer 1.
Wie gespenstische Schattenwesen glitten die Schiffe in die Bucht. Es handelte sich um einen stattlichen Vierer-Verband — drei Galeonen und eine Karavelle —, der mit gleichlaufenden Manövern gegen den Südwind kreuzte, mal nach Südwesten, mal nach Südosten schwenkend, um den Schauplatz des ungeheuerlichen, unbegreiflichen Geschehens zu erreichen. Die Stückpforten der Schiffe waren schon hochgezogen worden, als sie den Hafen von Melilla verlassen hatten, und so blickten die Mündungen der jetzt ausgerannten Geschütze hohl in die Nacht und schienen Ausschau nach dem Feind zu halten, der all dies angerichtet hatte: die Explosionen und das anschließende Feuer im weißen Palast des Abu Al-Hassan, den Aufruhr im Fischerdorf auf der langgestreckten Landzunge, die die Bucht nach Osten hin gegen das Mittelmeer abschirmte, und die Verwirrung und Ratlosigkeit auf den Mienen derer, die sich inzwischen am südlichen Ufer versammelt hatten. Hoch stiegen die Flammen aus den Gebäuden auf. In ihrem rötlichen Schein vermochte man auf den Hügeln schwach die fünf Säulen des Herkules zu erkennen, jenes Relikt aus der Antike, das Abus Palast zu seinem Namen verholfen hatte – “Hof des Herkules“. Abu Al-Hassan war tot. Auch Ulad, der Haratin, und der Großteil von dessen Eunuchen-Garde hatten ein unrühmliches Ende gefunden. Ihre Leiber lagen unter den Trümmern des Harems begraben. Und dort, unter den Überresten der einst so stolzen Gemäuer, ruhte auch Abus großes Geheimnis: die Ballen Rauschgift, die durch die Sprengung zerfetzt worden waren. Nie wieder würde damit das schmutzige Geschäft betrieben werden, das Abus Wohlstand gesichert hatte. Einen Nachfolger gab es nicht. Wo war der Feind? Hatte er sich in Luft aufgelöst, sich unsichtbar gemacht? Irritiert spähten die Spanier an Bord der vier Segler in die Dunkelheit. Sie wußten sich auf all
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das keinen Reim zu bilden. Sie hatten von Melilla aus nur die Feuerblitze gesehen und den Kanonendonner vernommen und waren daraufhin sofort ausgelaufen, um nach dem Rechten zu sehen. Jetzt aber standen sie vor einem Rätsel. Dalida, die Ägypterin, eilte zum südlichen Ufer der Bucht. Sie langte bei Mechmed, dem Berber, an, der inmitten seiner Gruppe von Männern stand und die Hände zu Fäusten geballt hatte. Er war wie gelähmt und nahm seine Umgebung kaum noch wahr. Ohnmächtige Wut brachte den hageren Mann mit dem knochigen, scharfgeschnittenen Gesicht fast zum Zittern. Er hatte in dieser Nacht die wohl größte Niederlage erlitten, denn die Kanonenkugeln des fremden Schiffes hatten ihn und seine Meute daran gehindert, rechtzeitig zum Palast Abu AlHassans vorzudringen. Furchtsam hatten sie sich hinter das Beiboot ihrer Bagalla zurückziehen müssen – eine Schmach, die Mechmed nicht zu verwinden wußte. „Rache“, murmelte er daher immer wieder. „Rache. Ihr entkommt nicht ungeschoren, ihr Hunde. Mechmeds Rache wird euch alle ereilen.“ Er drehte sich um, als Dalidas Hand seinen Arm berührte. Ihre Blicke begegneten sich. Dalidas Gesicht war unverschleiert, er konnte ihren zuckenden, rotbemalten Mund sehen. Ihre Lidschatten waren verwischt. Wirr hing ihr langes schwarzes Haar über die Schultern. Der Wind griff nach ihrem bodenlangen Gewand, bauschte es etwas auf und legte ihre Beine bis zu den Knien hinauf frei. Auch die anderen Männer hatten sich jetzt umgewandt und betrachteten sie. Mechmed konstatierte es mit Unbehagen und sagte: „Schämst du dich nicht, dich in dieser Aufmachung zu zeigen?“ „Ich bin doch bekleidet“, sagte sie. „Verhülle dein Gesicht.“ „Ich denke nicht daran“, sagte sie. „Und von dir nehme ich keine Befehle entgegen. Mein einziger Herr und Gebieter ist tot. Es wird keinen anderen Mann geben, der über
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mich bestimmen darf. Abu Al-Hassan ist tot, Mechmed.“ „Ich weiß. Ich habe es von deinen Dienerinnen gehört, die zum Dorf der Fischer geflohen sind.“ „So. Und mich hättest du wohl im Palast verbrennen lassen, was? Wie gut, daß ich selbst für mich sorgen kann.“ „Ich habe alles durchsucht“, verteidigte er sich, „und keine lebende Menschenseele mehr entdeckt. Um mich und meine Männer vor den herabstürzenden Trümmern zur schützen, habe ich den Rückzug angeordnet. Konnte ich ahnen, daß du noch lebtest? Wo warst du?“ „Im Haupthaus. Ich habe noch ein paar Münzen, Perlen und Edelsteine zusammengerafft. Ich wollte nicht mit leeren Händen gehen, verstehst du?“ „Ja.“ Sie senkte ihre Stimme. „Keiner wird mir diesen Lederbeutel abnehmen, den ich unter meinem Gewand trage, keiner, hörst du? Er ist mein Eigentum. Ich werde ihn bis zum letzten verteidigen.“ „Beruhige dich“, sagte er. „Wo sind die Eunuchen, die nicht im Kampf gefallen sind, wo die anderen Frauen?“ „Weggelaufen.“ Sie wies zu den Hügeln. „Die Angst hat sie kopflos werden lassen. Willst du es ihnen verübeln? Jetzt, nachdem sowieso alles zu Ende ist, hat es wenig Zweck, ihnen zu folgen. Lassen wir sie in Ruhe.“ „Aber — die Europäerinnen!“ stieß er zornig hervor. „Die ungläubigen Hündinnen! Wir müssen sie fassen, denn sie werden alles über Abu Al-Hassan erzählen, und das kostet auch uns den Kopf.“ Dalida lachte abfällig. Sie streifte ihr Kopftuch ab, hielt es fest und stemmte die Fäuste in die Seiten. „Um dein Haupt brauchst du dir vorläufig noch keine Sorgen zu bereiten, mein Freund. Noch rollt es nicht, und wenn, dann wohl nicht hier, in Marokko. Keiner kann Abus Machenschaften, an denen auch wir beteiligt waren, verraten, denn alle Mädchen, die gegen ihren Willen im Harem festgehalten wurden, befinden sich
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an Bord des fremden Schiffes — übrigens auch Beni, das Djerba-Mädchen, Ada, die’ Syrerin, Ofania, die Berberin, und Kabil, der Stallbursche.“ „Kabil?“ Mechmed griff voll Wut nach dem Heft seines Säbels. „Dieser Bastard von einem Shilh! Ich habe schon immer geahnt, daß er etwas im Schilde führte. Er ist in eins der Mädchen verschossen und hat ihr zur Flucht verholfen, nicht wahr?“ „Ja. Ich denke, daß es Beni ist. Beni, das Herzblättchen.“ „Ich werde sie töten, alle beide. Und die anderen auch.“ „Da hast du dir viel vorgenommen“, sagte Dalida spöttisch. Mechmed sah zu seinen Männern. Die Feindseligkeit in seiner Miene veranlaßte sie, sich wieder umzudrehen und wieder die Schiffe zu beobachten, deren Besatzungen sich jetzt anschickten, vor dem Ufer zu ankern und die Beiboote abzufieren. Mechmed ließ seinen Blick wandern und stellte fest, daß das aufgeregte Auf- und Ablaufen vor den Fischerhütten allmählich aufhörte. Das Geschrei der aufgescheuchten Männer, Frauen und Kinder ließ nach. Ruhe trat ein. Bald würde das Prasseln und Knistern der Flammen alle anderen Laute übertönen. Es war gut, daß niemand vor den Männern an Bord der Schiffe ausplaudern konnte, welche dunklen Aktivitäten im „Hofe des Herkules“ abgewickelt worden waren. Menschen- und Rauschgifthandel — beides war im Königreich Marokko, das unter dem direkten Einfluß von SpanienPortugal stand, ein todeswürdiges Verbrechen. Die Berber, die vieles, aber nicht alles wußten, würden schweigen, desgleichen die entflohenen Eunuchen und die Dienerschaft. Dalida, die Abu Al-Hassans Lieblingsfrau gewesen war, war wie Mechmed durch Abu eng ins Vertrauen gezogen worden, doch auch sie würde natürlich kein Sterbenswörtchen von sich geben, so daß man den Spaniern gegenüber folgende Version der Ereignisse schildern konnte:
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Fremde Seeräuber waren aufgetaucht und hatten den Palast in einem tollkühnen Raid besetzt. Sie hatten getötet, wer sich ihnen in den Weg stellte, hatten an sich gerissen, was sie in die Finger kriegten, und waren dann wieder mit ihrer großen Galeone abgesegelt - nicht ohne vorher ihr zerstörerisches Werk durch einige Ladungen Schwarzpulver zu beenden. Alles das würde sehr glaubhaft klingen, und es hatte ja auch einen großen Wahrheitsgehalt. Dennoch war es für Mechmed und seine Berber ratsam, die nähere Umgebung von Melilla zu verlassen. Der Wesir von Melilla, der spanische Gouverneur und die anderen Obrigkeiten mochten Nachforschungen anstellen und in den Trümmern des Anwesens graben lassen. Dann kam ein Teil der Dinge, die verborgen bleiben sollten, doch ans Tageslicht, denn das Rauschgift konnte sich nicht völlig aufgelöst haben. Dalida war neben Mechmed getreten. Er sprach, ohne erneut den Kopf. zu wenden. „Wir werden uns an den Giaurs rächen. Weißt du, wer sie sind?“ „Nein. Ich glaube aber, es sind Engländer.“ „Das ist wenigstens etwas. Die Spanier haben einen großen Haß auf die Engländer.“ Er deutete auf die Schiffe. „Sie werden uns helfen, die Hunde zu hetzen. Wir werden sie stellen und töten. Ich weiß, in welche Richtung sie segeln.“ „Nach Norden?“ „Ja. Willst du uns begleiten, Dalida?“ Sie zögerte nicht mit ihrer Antwort. „Ich folge dir, Mechmed, aber nicht als deine Untergebene. Wir haben dasselbe Ziel, aber jeder von uns behält seine Eigenständigkeit.“ „Gut. Einverstanden“, sagte er, obwohl ihm ihre Worte erheblich gegen den Strich gingen. In seinen Augen war eine Frau ein minderwertiges Wesen, ganz gleich, woher sie stammte und wie groß ihre Klugheit war. Eine Frau hatte jedem Mann gegenüber demütig zu sein und durfte nur etwas sagen, wenn sie von ihm gefragt wurde. Eine Frau sollte stets drei Schritte hinter dem Mann bleiben, der sie
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begleitete, und wenn er auf einem Pferd saß, hatte sie zu Fuß zu gehen. Dalida warf Mechmed einen verächtlichen Seitenblick zu. Sie kannte genau seine Gedanken und seine Einstellung, die sich nicht von den Ansichten eines Abu AlHassan und jedes anderen x-beliebigen Mohammedaners unterschied. Doch sie hatte die charakterliche Stärke, sich dem zu widersetzen. Sie würde sich keinem Mann mehr unterwerfen. Ein neuer Weg lag vor ihr, eine neue Zukunft. „Auch ich suche nach Vergeltung“, sagte sie leise. „Ich werde Abus Tod sühnen und besonders dem einen dieser Kerle heimzahlen, was er uns allen angetan hat. Dieses Scheusal hat mich erniedrigt und beschimpft. Ich werde ihm die Gurgel durchschneiden.“ Voll Widerwillen dachte sie an die Szene zurück, die sie noch bildhaft vor Augen hatte: Sie, nackt bis auf ihre Armreifen und ihre Halskette, ihm gegenüber, der sich nicht von ihr hatte täuschen und einwickeln sen. Er hatte sie geohrfeigt und von sich gestoßen, ein Riese von Mann mit narbigem Gesicht und gewaltigem Kinn. * Die „Isabella VIII.“ hatte die Küste von Marokko achteraus gelassen und segelte mit raumem Wind auf Kurs Nordosten. Das Feuer war hinter ihrem Heck immer kleiner geworden und jetzt als winziger Punkt in der Finsternis verschwunden. „Niemand folgt uns, Sir!“ rief Philip junior, der immer noch mit seinem Bruder auf dem Ausguckposten im Großmars hockte. „Wir sind in Sicherheit!“ Hasard, der bei Ben Brighton und den beiden O’Flynns auf dem Achterdeck stand, ließ es dabei bewenden und korrigierte seine Söhne nicht. Sie waren sehr stolz darauf, vor der nordafrikanischen Küste rechtzeitig genug die Bagalla Abu Al-Hassans bemerkt zu haben. Tatsächlich hatte ihre Wachsamkeit mit zum Gelingen des ganzen Planes beigetragen, denn wenn Mechmed und.
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seine Kumpane schon eher zum Palast gelangt wären, hätte der Rückzug der Seewölfe sicherlich nicht so reibungslos geklappt. Jetzt aber überschätzten sie ihren scharfen Blick. Bei den derzeitigen Sichtverhältnissen - der Mond streute sein fahles Licht über der See aus -konnten sie allenfalls zwei, drei Kabellängen weit spähen und folglich nur das erkennen, was sich in unmittelbarer Nähe der „Isabella“ zeigte. Philips ausgesprochen optimistische Meldung konnte sich als falsch erweisen, denn es war gut möglich, daß auf die Entfernung von ein oder zwei Meilen beispielsweise die Bagalla als Fühlunghalter im Kielwasser der Galeone lief - vorläufig unsichtbar für Hasard und seine Männer. Mechmed würde keine Schwierigkeiten haben, der „Isabella“ zu folgen. Es bedurfte keines Scharfsinns, um sich auszurechnen, daß ihr Kurs nach Norden oder Nordosten führte, fort von der marokkanischen Küste und hinüber nach Europa, wobei es wahrscheinlich war, daß eine Mannschaft englischer Korsaren - hei allem Schneid, den sie hatte - die spanische Südküste um jeden Preis mied. Vor dem Wind segelnd, würde Mechmed mit der Bagalla auch nicht so weit zurückfallen, daß er die „Isabella“ beim ersten Tageslicht bereits aus den Augen verlor. Im Gegenteil, vielleicht holte er sogar auf. Und vielleicht wagte er jetzt, da sein Haß auf den Gegner riesengroß war, sogar einen Überraschungsangriff auf das Schiff. Eine solche Aktion hatte er drüben, bei Melilla, noch gescheut, da die Bagalla nur ein Geschütz hatte und der „Isabella“ in einem Seegefecht geradezu erbärmlich unterlegen war. Was er jedoch versuchen konnte, war ein rasches Entermanöver. Männer hatte Mechmed genug, und an Entschlossenheit mangelte es der Meute gewiß nicht. Je länger Hasard darüber nachsann, desto wahrscheinlicher erschien ihm, daß die Berber sich noch während der Nacht an die „Isabella“ heranpirschen würden.
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Hasard wandte sich zu Ben, Old O’Flynn und Dan O’Flynn um. „Ben, wir setzen jeden Fetzen Tuch, meinetwegen auch dein letztes Hemd.“ „Aye, Sir.“ „Wir bleiben auch weiterhin gefechtsbereit und halten die Augen offen. Ich möchte jeden weiteren Kampf nach Möglichkeit vermeiden. Ihr wißt schon, was ich meine, nicht wahr?“ „Ja“, brummte der alte O’Flynn stellvertretend für alle drei. „Aber sie sollen nur aufkreuzen, diese Himmelhunde. Wenn sie uns auch nur ihren Bugspriet zeigen, rasieren wir ihn ihnen gleich weg. Diese Narren bilden sich doch wohl nicht ein, daß sie es noch mal mit uns aufnehmen können, was? Denen gerben wir das Fell, aber ganz gehörig.“ „Langsam, Dad“, sagte sein Sohn. „Wenn du die Berber meinst — nun, die könnten immerhin Verstärkung aus Melilla erhalten haben. Schließlich haben wir im Harem und auf der Landzunge einen Feuerzauber veranstaltet, der es in sich hatte.“ „Schon, schon.“ Der Alte sog scharf die Luft durch die Nase ein. „Aber womit wollen sie uns denn jagen? Mit noch mehr Bagallas? Mit Dhaus oder Feluken? Daß ich nicht lache.“ „Melilla ist ein bedeutender Hafen, vergiß das nicht“, sagte der Seewolf. „Dort liegen auch die Spanier und Portugiesen. Sollten sie herauskriegen, daß wir es gewesen sind, die dem ehrenwerten Abu heute nacht einen Besuch abgestattet haben, werden sie ganz versessen darauf sein, uns nachzustellen.“ Überrascht hob Old O’Flynn die Augenbrauen. „Richtig! Mann, daran hab ich noch gar nicht gedacht. Soll ich dir was sagen?“ Er senkte ein wenig die Stimme, damit die „Ladys“, die unten im Achterkastell saßen, ihn nicht verstehen konnten. „Mit diesem Weiberverein haben wir uns eine feine Suppe eingebrockt. Zehn Frauenzimmer und ein grüner Junge — hol’s der Henker, das ist mir nicht geheuer. Sehen wir zu, daß wir sie so schnell wie möglich wieder loswerden.“
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Sein Sohn grinste. „Dir mag ja nichts an ihnen gelegen sein. Wie sollte es auch, bei deinem hohen Alter, Mister O’Flynn. Aber es gibt eine ganze Menge Männer an Bord dieses Schiffes, die in der Blüte .ihres Lebens stehen und so eine Gesellschaft Wochen, ja, Monate, gern ertragen würden.“ „Fängst du wieder an, geschraubte Reden zu führen?“ zischte der Alte. „Trag bloß nicht zu dick auf, sonst kannst du was erleben. Ich bin immer noch dein Vater und immer noch gelenkig genug, um mein Holzbein abzuschnallen und es jemandem auf dem Rücken tanzen zu lassen.“ „Donegal“, sagte Ben Brighton. „Sollten wir die Mädchen vielleicht ihrem Schicksal überlassen?“ Ärgerlich blickte Old O’Flynn ihn an. „Wenn wir etwas früher oder etwas später in das verdammte Mittelmeer gesegelt wären, hätten wir die Deutsche gar nicht zu Gesicht gekriegt. Das wäre besser gewesen.“ „Nun hör aber auf!“ stieß Ben empört aus. „Ihr werdet alle noch sehen, was für einen Aufstand es wegen der Weiberröcke gibt“, sagte der Alte finster. Hasard hob die rechte Hand. „Ruhe bitte. Diskutiert nicht über Dinge, die wir schon mehrfach durchgesprochen haben. Grundsätzlich bin auch ich dagegen, daß Frauen an Bord der ,Isabella’ reisen. Aber diesmal muß ich eine Ausnahme gestatten. In Marokko konnten wir sie nicht lassen. Sie könnten sich vor Mechmed und den anderen Häschern nicht sehr lange verstecken. Sie würden wieder in einem Harem oder Freudenhaus landen. Das dürfen wir nicht zulassen. Da wir beim Hof des Herkules kein passendes Schiff für sie gefunden haben, mit dem sie nach Europa übersetzen können, versuchen wir jetzt eben, es ihnen auf den Balearen zu besorgen.“ „Die Bagalla wäre wohl das richtige gewesen“, brummte Old O’Flynn. „Aber was zu spät ist, ist zu spät.“ Der Seewolf tat einen Schritt auf ihn zu und blickte ihn fest an. „Sag mal, meinst du das im Ernst? Hätten wir uns noch mit
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den Berbern herumschlagen sollen? Dabei hätte es Tote und Verletzte gegeben, auch auf unsrer Seite, verlaß dich drauf. Und ich habe es auch nicht gern, wenn jemand die Richtigkeit meiner Entscheidungen in Frage stellt, Donegal, ganz gleich, wer es ist.“ Old O’Flynn senkte verlegen den Blick. „Tut mir leid, Sir. So war das nicht gemeint.“ „Schon gut. Wir laufen jedenfalls direkt Ibiza, Mallorca oder Menorca an und sehen zu, daß wir irgendwo einen seetüchtigen Einmaster für die Ladys finden. Allzu schwierig dürfte das nicht sein, und ich schätze, daß wir die Sache innerhalb einer Woche hinter uns gebracht haben.“ Er legte eine kurze Pause ein, dann fuhr er fort: „Ich habe mit Kabil und mit Victoria gesprochen. Sie verstehen genug von der Seefahrt und werden die anderen darin unterweisen. Die Überfahrt von den Balearen nach Südfrankreich, wo sie endlich sicher sind, dürfte ihnen nicht allzu schwerfallen.“ Dan räusperte sich. „Was wird aus Beni, Kabil, Ada und Ofania? Die sind doch eigentlich ganz woanders zu Hause. Wir könnten sie noch ein Stück weiter mitnehmen und vielleicht ...“ Hasard unterbrach ihn durch eine neuerliche Gebärde. „Nein, mein Bester, da hast du dich verschätzt. Sie wollen bei Sieglinde, Victoria und den anderen bleiben und nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren.“ „Ach so.“ Hasard zeigte den Anflug eines Lächelns, als er Dans betroffene Miene wahrnahm, wurde aber sofort wieder ernst. „Damit das ganz klar ist“, sagte er. „Wir überlassen unsere Kammern im Achterdeck den Damen, Gentlemen. Wir schlagen unsere Lager hier oben auf, verstanden? Auf diese Weise passieren keine Mißverständnisse. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?“ „Aye, Sir“, sagten sie. Ben Brighton fragte: „Und unsere Gäste dürfen die Hütte nicht verlassen?“
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„Diese Order habe ich bereits erteilt“, antwortete der Seewolf. „Bei Zuwiderhandlungen muß ich das Schott leider zuriegeln, das habe ich auch schon angekündigt.“ Die Männer nickten schweigend. Keine Kontakte zwischen den Frauen und den Achterdecksleuten, aber auch keine Verbindungen der „Ladys“ zur Crew — so wollte der Seewolf es, so lautete das Bordgesetz. Zuviel Freizügigkeit untergrub die Disziplin. Aber die Anwesenheit der — ausnahmslos schönen — Frauen konnte auch eine Zündschnur zum Schwelen bringen, darüber war Hasard sich völlig im klaren. Er mußte nur aufpassen, daß diese Lunte nicht bis zum Pulverfaß hin abbrannte. Mit Vollzeug rauschte die „Isabella“ durch die Nacht, ihre Segel blähten sich vor dem jetzt etwas kühleren, kräftiger blasenden Südwind. 2. Mechmed und Dalida standen auf dem nur leicht schwankenden Achterdeck der Kriegsgaleone „San Yuste“ dem Kommandanten des Verbandes, Don Pedro de Azcuenaga, gegenüber, einem großen, wuchtig gebauten Mann mit Knebelbart und adrett frisiertem, leicht angegrautem Haupthaar, der auf die sonst übliche Perücke verzichtete. Er richtete gezielte Fragen an die beiden, mal in seiner Mutterund mal in ihrer Heimatsprache, die auch er recht gut beherrschte. Sie versuchten, so präzise wie möglich zu antworten. Anfangs hatte Don Pedro sich geweigert, die Ägypterin mit an Bord zu nehmen. Doch die Hinweise, die sie über die fremden Eindringlinge gegeben hatte, hatten ihn überzeugt, daß er auf sie nicht verzichten konnte. Was die Beschreibung der Engländer betraf, so wußte sie mehr als Mechmed, der ja selbst die Männer an Bord der großen Galeone nur aus der Ferne hatte beobachten können. Don Pedro blickte zu Dalida. „Sie glauben also wirklich, daß dieser Narbenmann der Anführer der Bande ist?“
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„So, wie er sich gebärdete! Außerdem war auch Abu Al-Hassan davon überzeugt“, erwiderte sie. „Der stärkste, häßlichste und wildeste Mann muß nicht immer der Kopf solch einer Piratenmeute sein“, sagte der Spanier. „Wie sahen die an- deren aus? Einige der Haremsdamen, die mit Ihnen im Haupthaus blieben, haben doch einen Blick auf die Kerle werfen können, nicht wahr?“ „Ja. Und sie haben mir erzählt, was für Männer das waren. Wilde, grausame Hunde, einer schlimmer als der andere. Giaurs! Der Scheitan wird sie holen!“ Das will ich hoffen, dachte der Kommandant. Er glaubte zwar nicht daran, daß die Engländer solch gräuliche Bestien waren, wie Dalida und Mechmed immer wieder behaupteten — übler als Abu AlHassan selbst konnten sie kaum sein. Aber Don Pedro hegte einen Verdacht, dem er jetzt nachging. Entweder wurde er in seinen Ahnungen bestätigt, oder aber es stellte sich heraus, daß er sich getäuscht hatte — wie auch immer, er wollte Gewißheit haben und war bereit, dafür einiges zu riskieren. Die vier Schiffe hatten die Bucht südlich von Melilla verlassen. Die Bagalla mit Mechmeds Berbern an Bord folgte ihnen. Der Verband segelte nach Nordosten, dorthin, wohin sich die Gegner nach allem Dafürhalten gewendet hatten. Nachdem sich herausgestellt hatte, daß es am „Hof des Herkules“ und im Dorf der Fischer ohnehin nichts mehr für sie zu tun gab, hätten die Spanier auch nach Melilla zurückkehren können. Niemand hätte es ihnen verübelt, und Don Pedro de Azcuenaga hatte dem Hafenkapitän ohnehin nur versprochen, Melilla vor eventuellen Angriffen zu schützen — mehr nicht. Mochte Abus Anwesen bis auf die Grundmauern niederbrennen, da es nichts mehr zu retten gab! In der Stadt war man in erster Linie um die eigene Sicherheit besorgt, und die schien nicht gefährdet zu sein. Doch Don Pedro fühlte sich dazu angespornt, die Brandstifter zu verfolgen und festzustellen, wer sie waren. Daß sie
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über einen geradezu unerhörten Mut verfügten, der den von gewöhnlichen Küstenpiraten überstieg, stand für ihn bereits fest. Er hatte einiges über Abu AlHassan vernommen und war nicht zum erstenmal in Melilla. Abu hatte seinen Palast wie eine Festung abgesichert. Was immer er außer seinem wohlbehüteten Harem zu verbergen gehabt hatte: Wer in seine Gemäuer eindrang, ohne die Erlaubnis dazu zu haben, war des Todes. Die Engländer hatten seine Macht gebrochen und ihn vernichtet. Was sie aus dem Palast geraubt hatten, ließ sich nicht feststellen. Mechmed und Dalida schienen es nicht zu wissen. Aber auch das interessierte Don Pedro nur am Rande. Für ihn war ausschlaggebend, daß sich die Engländer im Mittelmeerraum bewegten. Ob sie nun durch die Meerenge von Gibraltar eingedrungen waren oder sich aus östlicher Richtung — vielleicht aus Italien oder Griechenland herübersegelnd — genähert hatten, hatte auch nur geringe Bedeutung. Wichtig war hingegen, daß sie eine Gefahr für die spanisch-portugiesische Nation waren. Sie konnten wochenlang die spanischen Küsten verunsichern, Schiffe überfallen, rauben und brandschatzen. Dies zu unterbinden, hatte Don Pedro sich als Aufgabe gesetzt. Nichts hielt ihn in Melilla. Die Ladung der beiden Frachtgaleonen —Weizenmehl, Mais und lebende Tiere — war gelöscht, die Schiffe hatten bereits zum Auslaufen bereit auf der Reede gelegen. Für ihren Heimathafen Malaga war keine Rückfracht vorgesehen, so daß Don Pedro sowohl zeitlich als auch von der Bestimmung seiner Reiseroute her gesehen jeden notwendigen Spielraum hatte. Die beiden Frachtgaleonen, die wie die Kriegskaravelle in Dwarslinie zur „San Yuste“ segelten, hießen „San Gabriel“ und „Santa Agata“. Der Name der Karavelle lautete „Navegador“. Mit der großen, gut bestückten „San Yuste“ zusammen bildete die „Navegador“ den Geleitschutz für die Frachtschiffe. Zwei Kriegssegler waren als Begleiter selbst für einen so kleinen Konvoi, der zudem weder Schätze noch
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Waffen beförderte, in einem Gebiet wie diesem unbedingt erforderlich. Immer wieder kam es zu Überfällen. Das ganze Mittelmeer und vor allem die Küsten Nordafrikas wurden in der letzten Zeit von Freibeutern aller Herkunft heimgesucht: Araber, Türken, Griechen, Engländer, Franzosen, Sarden, Korsen und Holländer. So war nur richtig, jede erdenkliche Vorsorge zu treffen. Die „San Yuste“ hatte vierundzwanzig Kanonen an Bord, überwiegend Siebzehnpfünder. Die „Navegador“ verfügte über zwölf Geschütze, und auch die „San Gabriel“ und die „Santa Agata“ waren mit je acht Kanonen ausreichend armiert, um im Falle einer Schlacht mit eingreifen zu können. Zweiundfünfzig Kanonen konnten auch einem größeren Geschwader von Piratenseglern trotzen. Don Pedro sah recht gelassen auf die schwarzhaarige Frau hinunter, die seiner Überzeugung nach vor Haß und Wut auf die „Giaurs“ am liebsten auf die Planken des Achterdecks gespuckt hätte. „Wie sahen die Männer aus?“ fragte er noch einmal. „Wer fiel durch sein Äußeres besonders auf? Was für Kleidung trugen sie?“ „Ein rothaariger Riese war dabei —und einer mit einem gewaltigen Bart, auch ein Riese an Gestalt.“ „Eine Invasion der Giganten also?“ Dalida sah ihn mit einem Ausdruck kalter Verachtung an. „Senor Comandante“, sagte sie mit verhaltener Stimme. „Zum Spaßen ist mir nicht zumute. Die Kerle hätten um ein Haar auch mich umgebracht, und ich zittere jetzt noch, wenn ich daran denke.“ De Azcuenaga schlug nun ebenfalls einen kühleren Tonfall an. „Ich beliebe auch nicht zu scherzen — Senora. Fahren Sie bitte fort. Ein Rothaariger und wer noch? Ist das alles?“ „Nein. Meine Dienerinnen berichteten mir auch von einem großen Grauhaarigen, der wie ein Bulle herumtobte, und von einem jungen Burschen, der anscheinend vorzüglich mit dem Degen fechten konnte. Dann war da noch einer mit einem
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Eisenhaken anstelle der rechten Hand ... ja, es war die rechte ich bin ganz sicher.“ Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, eine Geste, die der Spanier geflissentlich übersah. Plötzlich hob sie wie mahnend den Zeigefinger. „Richtig, und dieser andere — ein großer, breitschultriger Mann mit schwarzem Haar und blauen Augen, der so gut spanisch wie englisch sprach! Er schien Befehle zu geben. Ich selbst habe ihn noch von einem Fenster des Hauptgebäudes aus gesehen, als er mit seinen Kumpanen weglief — und bevor alles in die Luft flog und zusammenbrach.“ „Einen Moment“, sagte Don Pedro. „Es war doch dunkel! Wie konnten Sie da überhaupt feststellen, welche Farbe seine Augen hatten?“ „Nicht ich habe das gesehen“, sagte Dalida hastig. „Sondern eine meiner Dienerinnen.“ „Hat sie das Sehvermögen einer Katze?“ „Nein. Senor ...“ „Frauen vermögen alles zu erkennen, wenn es sie irgendwie interessiert“, warf Mechmed mit spöttischer Miene ein. „Dieser Schwarzhaarige muß ja ein ganz tolles Mannsbild sein -- oder irre ich mich?“ „Du irrst dich!“ fuhr sie ihn an. „Er ist häßlich! Er hat zwei Narben im Gesicht.“ De Azcuenaga horchte auf. „Messernarben?“ „Ich weiß es nicht“, erwiderte sie. „Aber ich lüge Ihnen nichts vor, Senor Comandante, falls es das ist, was Sie meinen.“ Seine Augen verengten sich etwas. „Beruhigen Sie sich. Ich will diese Engländer nur irgendwie identifizieren, und ich glaube, ich befinde mich auf dem richtigen Weg. Ihre Dienerin betrachtete den Schwarzhaarigen also aus nächster Nähe? Anders kann es doch nicht möglich gewesen sein.“ Dalida nickte. „Sie versteckte sich in einem Alkoven, als die Kerle sich zurückzogen. Dieser eine Mann fiel ihr eben besonders auf, was kann ich daran ändern?“
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„Blaue Augen“, murmelte der Spanier. „Narben im Gesicht. Welche Kleidung trug er?“ „Ein weißes Hemd. Hosen. Stiefel. Und eine lederne Weste, glaube ich.“ „Wie groß ist er? So groß wie ich?“ „Ja. Seine Schultern sind sehr breit.“ „Das ist er“, sagte Don Pedro de Azcuenaga. „Er muß es sein.“ „Wer?“ fragte Mechmed und hob überrascht den Kopf. Der Kommandant entgegnete: „Ich hatte in Malaga vor nicht allzu langer Zeit eine sehr aufschlußreiche Unterredung mit einem Portugiesen namens Lucio do Velho. Dieser do Velho hat seinerzeit den berüchtigten Philip Hasard Killigrew gejagt und fast gestellt. Dann aber erlitt er, eine entscheidende Niederlage. Er hat Killigrew seither nicht wiedergesehen, ist aber sicher, daß der Mann noch lebt. Kein Mensch weiß, wo Killigrew sich zur Zeit aufhält, doch es ist nicht ausgeschlossen, daß er eines Tages zurückkehrt.“ „Killigrew?“ Dalida schüttelte den Kopf. „Ich habe diesen Namen noch nie gehört.“ „Man nennt ihn auch ,EI Lobo del Mar’ — den Seewolf.“ „Der Seewolf!“ stieß Mechmed betroffen aus. „Etwa der, auf den die spanische Krone ein Kopfgeld ausgesetzt hat?“ „Der“, erwiderte Don Pedro. „Ihrer Beschreibung nach, Senora, scheint es sich wirklich um ihn zu handeln. Und die anderen müssen seine Leute von früher sein. Do Velho schilderte mir ihr Aussehen und nannte mir ihre Namen. Demnach ist der Rothaarige Ferris Tucker, der Grauhaarige ein gewisser Shane und der junge Degenkämpfer Dan O’Flynn.“ „Und der mit der Hakenhand?“ fragte Mechmed. „Sein Name ist mir entfallen.“ „Und der Narbige mit dem vorspringenden Kinn, der mich anfallen wollte?“ erkundigte sich Dalida. Sie verdrehte zwar die Tatsachen - Carberry hatte sie erst in äußerster Notwehr angegriffen, weil sie ihn erdolchen wollte -, doch das spielte ihrer Ansicht nach nicht die geringste Rolle.
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„Edwin Carberry“, sagte der Kommandant. „Der Profos der ‚Isabella’. So heißt das Schiff des Seewolfs.“ „Carberry“, wiederholte sie. „Den Namen werde ich mir merken. Und ob ich ihn mir merke!“ „Comandante“, sagte Mechmed. „Dieses Kopfgeld kann man sich also immer noch verdienen?“ „Ja - und nicht nur das.“ De Azcuenaga blickte voraus, als wüßte er mit nunmehr unerschütterlicher Sicherheit, daß die „Isabella“ vor ihnen segelte. „Wenn wir diesen Erzfeind Spaniens zur Strecke bringen, winkt uns auch eine Belobigung des Königs höchstpersönlich.“ „Wir bringen ihn zur Strecke“, sagte Mechmed. „Wir töten ihn. Ihn und seine Bande von Hurensöhnen“, sagte Dalida. Der Kommandant hob wie witternd seine Nase in den Wind. „Im Morgengrauen haben wir ihn vor uns. Nur ein Sturm könnte uns einen Strich durch die Rechnung ziehen, aber es wird keinen Sturm geben.“ „Es darf keinen Sturm geben“, sagte Mechmed. * „Au, verdammt noch mal!“ schrie Carberry. „Ja, bist du denn des Teufels, Kutscher? Das brennt ja wie Feuer!“ „Melde in aller Demut, daß ich noch ganz normal bin, Mister Carberry“, sagte der Kutscher mit mühsam erzwungener Geduld. „Darf ich dich daran erinnern, daß du freiwillig bei mir erschienen bist, um den Verband wechseln zu lassen?“ „Das weiß ich auch, du Knochenflicker! Aber ich hab dir nicht befohlen, mir dieses Satanszeug auf die Schulter zu kippen. Du elender Roßschlächter, genauso gut hätte ich ja gleich zum Henker von London gehen können. Oder vielleicht nicht? Was? Wie? Nun rede schon! Gib zu, daß du mich umbringen willst!“ Sie saßen sich in der Kombüse gegenüber, Carberry auf einem vierbeinigen Schemel, der Kutscher auf dem gemauerten Rand der jetzt erloschenen Feuerstelle unter den
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schweren Kupferkesseln. Der Profos hatte seine linke Schulter entblößt, die Schulter, in die Abu Al-Hassan mit seinem Säbel gehauen hatte. Behutsam hatte der Kutscher den ersten Verband gelöst und mit großem Sachverstand und Interesse die tiefe Fleischwunde begutachtet, ehe er seine Arzneimitteltruhe geöffnet hatte, die von allen außer ihm sonst nur liebevoll die „Giftkiste“ genannt wurde. Unter Carberrys mißtrauischen Blicken hatte der Kutscher eine der Flaschen zum Vorschein gebracht und entstöpselt, hatte sich etwas von dem ölig-flüssigen Inhalt auf die Handfläche gekippt und das „Zeug“ dann auf die mächtige Profosschulter gerieben, ehe dieser sich zurückziehen und seinen Protest anmelden konnte. Jetzt aber holte Carberry das eben Versäumte nach. „Satansbraten!“ fluchte er. „Verdammter Galgenstrick ! Au weh, wie das brennt und sticht! Aber das wirst du mir büßen, du triefäugige Wanze! Ich sterbe, aber du wirst an der Rah baumeln, ehe der Tag anbricht!“ „Darf ich auch mal was sagen?“ fragte der Kutscher. „Nein! Ich weiß ja, daß du schon immer was gegen mich gehabt hast!“ „Bei aller Freundschaft“, sagte der Kutscher. „Das laß ich mir nicht in die Schuhe. schieben. Ich meine es nur gut mir dir.“ „Gut?“ Carberry schoß einen zornigen Blick auf ihn ab. „Ich will dir was verraten. Ich hab dich durchschaut. Dieser stinkige Teufelsdreck hier ist nicht zum Einreiben.“ „Sondern?“ „Es ist Rattengift.“ „Mister Carberry, weißt du, was Wundbrand ist? Oder der berüchtigte Starrkrampf, der durch Verschmutzung von Blessuren eintritt —in Fachkreisen auch Tetanus genannt?“ „Ach, komm du mir jetzt nicht mit deinem verfluchten Latein.“ „Abgesehen davon, daß du höllisches Glück gehabt hast“, fuhr der Kutscher unbeirrt fort. „So eine Behandlung läßt sich nun mal nicht vermeiden.“
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„Wirklich nicht?“ „Nein. Oder würdest du dir lieber im fortgeschrittenen Stadium der Infektion das Schulterfleisch wegschneiden und den Arm amputieren lassen?“ „Stadium? Infektion? Was ist das? Chinesisch?“ „Eine Infektion entsteht durch winzig kleine Tierchen“, erklärte der Kutscher mit erstaunlicher Ruhe. „Diese Tierchen nennt man Bazillen. Sie können einen Menschen, der eben noch scheinbar auf dem Weg des Genesung war, innerhalb weniger Tage, manchmal sogar innerhalb von Stunden, umbringen, denn sie kriechen dir’ zu Millionen und Abermillionen unter den Verband, fressen sich durch die offene Wunde und bringen dein Fleisch zum Faulen. Sie verseuchen dein Blut und lassen deinen Geist verblöden. Wenn du’s nicht glaubst, kannst du ja Hasard fragen.“ „Genug!“ Dem Profos wurde es unheimlich zumute. Er schielte auf die Blessur, die als feuerrotes Mal in seiner Schulter klaffte. Mit einemmal schien es dort zu kribbeln und zu krabbeln, und ein heftiger Juckreiz verdrängte das durch die Tinktur hervorgerufene Brennen. Waren die Tierchen etwa schon da — eine Armee von Mördern, die in seinen Leib eindrang? „Gib noch etwas her von dem Zeug“, sagte Carberry hastig. „Nun mach schon, oder soll ich es mir selbst auftragen?“ „Nicht nötig“, sagte der Kutscher grinsend. „Ich erledige das schon. Ist doch schließlich meine Aufgabe, oder? Bin ich nun der Feldscher oder nicht, was, wie?“ „Hör mit deinen dämlichen Sprüchen auf.“ „Anschließend darf ich dir sogar die Extraration Whisky verabreichen, die Hasard vorhin zur Belohnung an alle hat verteilen lassen“, sagte der Kutscher. „Auch der Profos soll nicht leer ausgehen, er kann einen tüchtigen Schluck jetzt schon wieder vertragen. Oder verzichtest du freiwillig darauf?“ „Ich? Nein, ums Verrecken nicht. Besanschot an — das ist ein Wort! Beeil dich gefälligst.“ Der Kutscher nahm wieder die Flasche mit der Tinktur zur Hand. Als er die Schulter
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zum zweitenmal damit einrieb, wollte Carberry erneut losfluchen, doch jetzt öffnete sich das Schott, und Smoky steckte seinen Kopf herein. Der Profos hütete sich, auch nur einen einzigen Laut von sich zu geben. Eisern biß er die Zähne zusammen. „Was ist denn hier los?“ fragte Smoky, der Decksälteste der „Isabella“. „Bei dem Geschrei kann ja kein Mensch schlafen, Sollte hier jemand umgebracht werden?“ „Fast“, sagte Carberry undeutlich. Der Kutscher lächelte. „Es bedarf immer einer gewissen Zeit, um einen Patienten von den Vorzügen der neuzeitlichen Medizin zu überzeugen.“ Er hielt inne und beugte sich mit kundiger Miene über die Schulter, die mittlerweile krebsrot angelaufen war. Smoky lachte. „Na ja, deine Heilmethoden sind eben keinem von uns so richtig geheuer, Kutscher. Ed, ich kann dich verstehen. Aber nimm es nicht so schwer. Schlimmer als die Kopfverletzung, die ich mir in der Schlacht bei den Caicos-Inseln weggeholt hatte, kann das mit deiner Schulter auch nicht sein.“ Der Profos warf dem bulligen Mann einen giftigen Blick zu. „Ja, an deinen kaputten Schädel kann ich mich auch noch gut erinnern. Aber jetzt hast du doch wieder alle Becher im Schapp, oder?“ „Ich denke doch.“ „Dann hör mal her. Weißt du, was diese verdammten Eunuchen im Hof des Herkules mit mir tun wollten?“ „Ich hab’s von Hasard, Ferris und Shane vernommen.“ „So.“ Der Profos wandte den Kopf und fixierte den Kutscher. „Hast du genug gesehen? Sind die Biester schon da?“ „Meinst du die Bazillen?“ fragte der Kutscher verblüfft. „Die lassen sich mit bloßem Auge aber nicht erkennen. Man braucht schon optische Geräte, um sie ...“ „Dann hol dir einen Kieker!“ fiel Carberry ihm grob ins Wort. „Mach, was du willst, bloß sag mir, ob ich am Wundbrand krepieren muß oder nicht.“
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„Ich glaube nicht. Die Wunde sieht jetzt hübsch aus. Ich kann den neuen Verband anlegen.“ Carberry atmete auf. „Erst rückst du den Whisky heraus, Freundchen. Von mir aus kannst du dir auch eine halbe Muck voll holen, ich hab nichts dagegen. He, Smoky, knall das Schott zu und komm her. Stoß du auch mit mir an, ich nehme das auf meine Kappe. Leute, was bin ich froh! Erst das mit den Eunuchen und dann auch noch drohender Teto — Tata ... Na, Dingsbums, ihr wißt schon, was gemeint ist.“ Smoky grinste. „Ja. Um ein Haar hätten wir bloß noch einen halben Profos gehabt. Einen hier und da lädierten Profos. Sag mal ehrlich, Ed, was würdest du wohl lieber einbüßen, einen Arm oder den ...“ „Beide Arme“, unterbrach Carberry ihn. „Und meinetwegen auch noch ein Bein. Nur nicht das. O Mann, was war das für ein Schreck in der Abendstunde. Kutscher, her mit dem Whisky!“ Der Kutscher teilte die Mucks aus, die er zu zwei Fingerbreit mit Whisky gefüllt hatte, und so stießen sie miteinander an. „Besanschot an!“ sagte Carberry. „Auf unseren Sieg!“ „Und auf alle Männlichkeit!“ rief Smoky, der immer noch gleichsam diebisch grinste. „Lieber sterben, als jemals ein Eunuch zu werden! Pfui Teufel!“ „Arwenack“, sagte der Kutscher ehrfürchtig, dann trank er einen Schluck. Carberry kippte seinen Whisky, dann fuhr er plötzlich zu den beiden herum. Jegliche Heiterkeit wich aus seiner Miene. „Aber, was das betrifft, so schreibt euch das eine hinter die Ohren: Keiner faßt die Mädchen an, die da hinten in der Hütte sitzen, verstanden? Jeder scharfe Blick wird bestraft, ist das klar?“ „Sonnenklar“, sagte Smoky. „Du als Profos und ich als der Älteste, wir haben die Disziplin unbedingt zu wahren. Notfalls binden wir die Kerls fest.“ „Die Kerle wissen auch so, daß Hasard in diesem Punkt keinen Spaß versteht“, sagte der Kutscher. „Ich meine, wir alle wissen uns zurückzuhalten, das ist mal sicher.“
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„Dann verstehen wir uns also?“ fragte Carberry. „Wir verstehen uns“, sagten Smoky und der Kutscher gemeinsam. Noch herrschte Eintracht an Bord, aber das sollte sich bald ändern und der Kutscher sollte seine zuversichtliche Voraussage noch revidieren. 3. In Hasards Kapitänskammer fand auch eine kleine Siegesfeier statt. Die Frauen saßen auf den Stühlen und auf dem Rand der Koje. In der Mitte des Raums hockte Kabil, der ehemalige Stalljunge des Abu Al-Hassan, im Schneidersitz auf dem Boden und füllte die Gläser voll, die anschließend von Beni, dem DjerbaMädchen, verteilt wurden. Kabil und Beni, das Liebespaar, hatten auf Hasards Genehmigung hin eine Kammer des Achterkastells beziehen dürfen. Die anderen Kammern wurden von Luisa und Janine, von Lorena und Irene und von Ada und Ofania bewohnt. Sieglinde, Melinda und Victoria durften im Allerheiligsten des Seewolfs schlafen. Er hatte ihnen zwei Flaschen Rotwein spendiert, bevor er sich auf das Achterdeck zurückgezogen hatte. Die eine war bereits leer, die andere wurde soeben von Kabil angebrochen. Als die Gläser verteilt waren, hob Sieglinde das ihre und sagte noch einmal, wie schon kurz vorher: „Auf die Freiheit! Auf die Zukunft!“ „Auf die Zukunft“, murmelten die anderen, dann tranken sie. Sie setzten die Gläser wieder ab, und Melinda fragte: „Ob wir jetzt wohl eine der Öllampen anzünden dürfen?“ „Nein“, erwiderte Sieglinde Kramer. „Schließlich hat Mister Killigrew auch die große Hecklaterne immer noch nicht entfacht. Weißt du auch, warum nicht?“ „Damit unsere Verfolger nicht auf uns aufmerksam werden“, sagte Melinda, die Spanierin. „Der kleinste Lichtschimmer genügt, und sie wissen, wo wir sind. Gewiß. Aber glaubst du, daß wir verfolgt werden?“
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„Ja“, erwiderte die Deutsche. „Mechmed lebt noch. Dalida auch. Sie werden alles daransetzen, uns wieder einzufangen und zu töten.“ „Und das nicht nur aus Rache“, sagte jetzt Victoria, die Engländerin, die dem auf spanisch geführten Gespräch aufmerksam gelauscht hatte. „Sie werden uns auch zum Schweigen bringen wollen, denn sie müssen Angst haben, daß wir uns an den Wesir von Melilla wenden - oder an andere marokkanische Obrigkeiten.“ „Vielleicht“, sagte Luisa, die Italienerin. „Aber bald geben sie die Jagd auf, denn die ,Isabella’ segelt schneller als ihre Bagalla.“ „Und sie begreifen auch rasch, daß uns nicht daran gelegen ist, sie ans Messer zu liefern“, murmelte Janine, die Französin. „Wir wollen nur unseren Frieden. Das muß ihnen doch einleuchten.“ „Lag denn wirklich Rauschgift im Kellergewölbe versteckt?“ fragte Victoria. Kabil nickte. „Opium und Haschisch. Beni hatte es durch einen Zufall herausbekommen.“ „Aber - warum hast du es uns dann nicht erzählt, Beni?“ sagte Sieglinde in einem Gemisch aus Spanisch und Arabisch. Beni bediente sich derselben seltsamen Sprache, die sie im Harem als beste Art der Verständigung ausgetüftelt hatten. „Ich hatte gräßliche Angst, es überhaupt jemandem zu verraten, aber ich hätte euch schon noch ins Vertrauen gezogen.“ „Ist ja gut“, sagte Victoria. „Jedenfalls müssen wir nach wie vor mit dem Mondlicht vorliebnehmen, aus Gründen der Sicherheit.“ Sie stand von ihrem Platz auf, ging zur Tür, die auf die Heckgalerie führte, und öffnete sie. „So, jetzt wird es etwas heller. Es genügt vollauf. Wir brauchen ja keine Bücher zu lesen oder Karten zu studieren.“ Ehrfürchtig ließ sie ihren Blick über die Schränke Mit den Büchern und Karten wandern. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, dachte sie, was für ein Mann! Er ist nicht nur verwegen, er ist auch klug und belesen. Herrgott, was für ein Mann!
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„Habt ihr gehört, was Abu kurz vor seinem Tod mit Mister Carberry, dem Profos, tun wollte?“ fragte Melinda leise. Die anderen kicherten. Beni hielt sich die Hand vor den Mund. Ofania beugte sich zu Kabil vor und flüsterte: „Stimmt es wirklich, was du uns da erzählt hast?“ „So wahr ich hier sitze und Kabil heiße. Allahs Zorn soll mich in Form eines Blitzes treffen, wenn auch nur ein Wort davon gelogen war.“ Lorena, Beni, Ada und Ofania kicherten wieder. Sieglinde, Melinda, Victoria, Luisa und Janine lächelten mit, nur Irene, die Griechin, blieb ernst und sagte: „Ich finde das gar nicht lustig. Er hat sein Leben für unsere Befreiung riskiert, und es wäre Unser Mitverschulden gewesen, wenn er einen bleibenden Schaden davongetragen hätte.“ „Das vergessen wir auch nicht.“ Sieglinde sprach stellvertretend für alle anderen. „Aber Gott sei Dank ist er ja mit halbwegs heiler Haut davongekommen, und auch die Schulterwunde scheint nicht so gefährlich zu sein, wie es anfangs den Anschein hatte.“ „Darüber sind wir alle froh“, sagte Victoria. „Irgendwie darf man seine Erleichterung doch zum Ausdruck bringen, oder?“ „Ja doch“, sagte Luisa. „Stimmt es denn auch, daß Dalida sich vor ihm ausgezogen hat?“ „Allerdings“, entgegnete Victoria. „Das hat er selbst erzählt.“ „Sie wollte ihn um den Finger wickeln und hereinlegen“, sagte Sieglinde. „Dieses Teufelsweib! Nun, immerhin hat der gute Carberry auf diese Weise bei allem Verdruß noch etwas Anständiges zu sehen gekriegt.“ „Etwas Anständiges?“ wiederholte Irene entrüstet. „Etwas Unanständiges, wolltest du doch wohl sagen, nicht wahr? Wenn ich bloß an Dalida denke, wird mir schlecht.“ „Mister Carberry hat bestimmt anders gedacht, als er ihr gegenüberstand“, bemerkte Melinda amüsiert. Irene warf ihr einen zurechtweisenden Blick zu. „Ich bin der Ansicht, daß Mister
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Carberry sehr wohl zwischen einer ordinären Hure und einer Frau aus besserem Hause zu unterscheiden weiß. Er ist nämlich ein Ehrenmann. Ein großer, starker, schöner und aufrichtiger Mann, dem man sich unbesorgt anschließen darf.“ „Hört euch das an!“ raunte Lorena. „Sie ist in ihn verknallt! Ist denn das zu fassen? Irene, warum machst du ihm keinen Heiratsantrag?“ „Sei doch still“, sagte die Griechin. „Du begreifst überhaupt nichts.“ „Groß, stark und aufrichtig mag er ja sein, der Profos“, sagte nun Victoria. „Aber schön - du liebe Güte, das ist er wirklich nicht. Eher häßlich. So häßlich, daß er fast schon wieder ansehnlich wirkt.“ „Ansehnlich?“ murmelte Ada nachdenklich. „Nein. Eher imposant. Er wirkt imposant, sage ich.“ „Hört doch auf“, zischte Irene. „Ich kann das nicht mehr ertragen.“ „Ich finde diese Bemerkungen auch ziemlich geschmacklos“, meinte Sieglinde. Victoria trat lächelnd neben sie. „Ein spanisches Sprichwort lautet: ‚Über nichts läßt sich besser streiten als über den Geschmack.’ Richtig, Melinda?“ „Ja.“ „An richtig gutaussehenden Männern gibt es auf diesem Schiff ein recht reichhaltiges Angebot“, erklärte Victoria. „An erster Stelle, meine ich, steht da natürlich der Seewolf.“ „Ja?“ sagte Irene. „Hast du schon ein Auge auf ihn geworfen?“ Victoria schwieg, weil Sieglinde ihr einen Blick zuwarf, der ganze Bände sprach. Luisa sagte: „Wie findet ihr denn Ben Brighton?“ „Himmlisch“, sagte Ada. „Und Dan O’Flynn?“ fragte Lorena. „Der ist ein Gedicht“, erklärte Janine mit leicht verklärtem Gesichtsausdruck. „Nicht zu vergessen Blacky“, warf Ofania ein. „Habt ihr euch den richtig angesehen?“ Beni, die sich wieder neben Kabil niedergelassen und ihm den Arm um die Schulter geschlungen hatte, lachte leise.
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„Siehst du, Irene“, sagte sie. „Mister Carberry bleibt also dir ganz allein. Keine von uns nimmt ihn dir weg.“ „He!“ sagte Kabil vorwurfsvoll. „Jetzt fehlt bloß noch, daß du mich eifersüchtig machst.“ Sieglinde hob beide Hände. „Halt! Ich glaube, wir sollten etwas klarstellen. Unsere Anwesenheit an Bord könnte Kapitän Killigrew in eine heikle Lage bringen. Seine Männer sind es sicherlich nicht gewohnt, mit einem ganzen Schwarm von Frauen durch die Weltgeschichte zu segeln. Wir stellen für sie nicht nur eine Verlockung, sondern in gewisser Weise sogar eine Gefahr dar. Wir dürfen sie nicht herausfordern, auf gar keinen Fall. Deshalb hat der Seewolf uns auch befohlen, ständig unter Deck zu bleiben.“ „Ja“, sagte Melinda. „Das war deutlich genug. Wir haben uns hier wie brave Klosterfrauen zu benehmen. Jeder falsche Schritt könnte die Freundschaft zu unseren Rettern wieder zerstören.“ „Das heißt, daß es auch keinen heimlichen Pfad ins Vorschiff für uns gibt, der durch die Frachträume führt“, fügte Victoria hinzu. „Wir haben sittsame Ladys zu sein. Sind wir uns darüber einig?“ „Sicher“, sagte Luisa seufzend. „Aber schade ist es doch.“ „Jammerschade“, pflichtete Lorena ihr bei. * Don Pedro de Azcuenaga hatte sich längst in seine Kammer zurückgezogen. Dalida war ebenfalls vom Oberdeck der „San Yuste“ verschwunden. Gütigerweise hatte ihr der Kommandant einen Schlaf platz im Achterkastell zugestanden, einen winzigen Raum, in den sie sich auf seine strikte Order hin hatte einschließen müssen. Mechmed hätte in einer Hängematte des Mannschaftslogis’ ruhen können, doch er hatte es vorgezogen, sein Lager unter freiem Himmel aufzuschlagen – auf der Kampanje, dem erhöhten hinteren Teil des Achterdecks. Hier lag er nun mit unter dem Kopf verschränkten Armen und lauschte dem
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gedämpften Gespräch der Deckswachen. Es erschien ihm unmöglich, einzuschlafen. Ein fortdauernder Alarmzustand, das Gefühl, daß sich jeden Augenblick etwas ereignen könne, hielt ihn wach. So blickte er zu den Himmelsgestirnen auf und hing seinen Gedanken nach, die sich teils um den Feind, teils um seine eigene Zukunft und teils um Dalida, die Ägypterin, drehten. Was geschah, wenn sie diesen Killigrew und seine Männer wirklich stellten und bekämpften, wenn es ihnen gelang, die „Isabella“ zu versenken und die Korsaren gefangen zu nehmen? Würde de Azcuenaga dann nicht allen Triumph für sich beanspruchen? War es nicht logisch, daß er allein die Belohnung einzuheimsen versuchte? Sicherlich würde es ihm nicht schwerfallen, seine beiden nur geduldeten Gäste so schnell wie möglich wieder auszubooten. Dies zu verhindern, muß deine Aufgabe sein, Mechmed, dachte der Berber. Verflucht seien alle Giaurs! Es lebe Allah! Gelobt sei der Prophet! Irgendwann mußte er mit seinen Männern an Bord der Bagalla Verbindung aufnehmen. Sie mußten ihm helfen. Aber wie sollte er sich mit ihnen verständigen? Sie dürfen nicht zurückfallen, dachte er, es ist von unendlicher Wichtigkeit, daß sie im Verband bleiben. Allah hatte den Berbern die Seefahrt nicht in die Wiege gelegt, sie waren ein geborenes Reitervolk und verachteten eher das Meer und alles, was damit zusammenhing, Doch die Kenntnisse, die Mechmeds Kumpane unter Abu Al-Hassan im Umgang mit der Bagalla erworben hatten, mußten zumindest bei dieser Nachtfahrt ausreichen. Schließlich brauchten sie nur vor dem Wind zu segeln und aufzupassen, daß sie die Karavelle „Navegador“ nicht aus den Augen verloren. Mechmed legte sich einen Plan zurecht, wie er den Kommandanten überlisten konnte, ein recht vages Gebilde zunächst noch, das aber nach und nach Gestalt annahm.
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Und Dalida? Er verzog grimmig den Mund. Wenn er sie nicht beseitigte, würde sie früher oder später bestimmt versuchen, ihn zu vernichten. Sie hatte ihn nie leiden können und hatte sich auch nicht gescheut, dies ihm gegenüber immer wieder durch beleidigende Äußerungen zum Ausdruck zu bringen. Abu hatte darüber gelacht und es wie einen großartigen Spaß hingestellt. Jedes Wortgefecht zwischen Mechmed und Dalida hatte bei ihm Heiterkeitsausbrüche hervorgerufen. Doch es war kein Spaß. Mechmed haßte Dalida so innig, wie auch sie ihn haßte. Bei der Jagd auf die Seewölfe hatte er sie gebraucht. Es hatte sich ja erwiesen, daß sie einen recht wertvollen Beitrag zu liefern wußte. Sie alle waren jetzt im Bilde darüber, wen sie vor sich hatten, und Don Pedro würde seine Strategie entsprechend darauf einstellen. Doch schon jetzt war Dalida praktisch überflüssig geworden. Mechmed spielte mit dem Gedanken, sie im Achterkastell aufzusuchen. Das Schloß zu ihrer Kammer würde er zweifellos auch ohne den Schlüssel öffnen können, denn er war ein Meister der Fingerfertigkeit. Im übrigen hatte sie den Beutel mit dem Geld, den Perlen und den Edelsteinen bei sich - ein weiterer Anreiz, sie zu töten. Er verwarf das .Vorhaben jedoch wieder. Dalida hatte ein Messer, und sie konnte gut damit umgehen. Ohne Lärm würde ein solches Intermezzo auf keinen Fall abzuwickeln sein, deshalb allein war es heller Wahnsinn. Don Pedro de Azcuenaga würde ihn dafür an der nächsten Rah aufknüpfen lassen. Nein, warte noch, sagte sich Mechmed. Laß die Zeit für dich arbeiten. Allah wird dir ein Zeichen geben, wenn seine Stunde schlägt. Er grübelte und grübelte und wohnte immer noch hellwach - der Wachablösung um acht Glasen nach Mitternacht bei. Acht Männer verschwanden im Vorschiff, acht ihrer Kameraden nahmen ihre Plätze ein, und einer von ihnen enterte in den Großmars auf.
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Die „San Yuste“ segelte mit Vollzeug ihren Begleitschiffen voran, ein stolzes Flaggschiff mit starker Armierung, eine Festung zur See. Die Hecklaterne brannte mit niedriger Flamme, und einmal, als Mechmed den Kopf hob und über das Schanzkleid der Kampanje nach achtern spähte, vermochte er auch die Lichter der anderen Segler in der Dunkelheit zu erkennen. Drei winzige, schimmernde Tupfer im Samtvorhang der Nacht - wo aber war die Bagalla? Nur zögernd schien sich der neue Tag aus der östlichen See zu erheben, ein schlaftrunkener, taumelnder Geselle, der von Furcht gepeinigt am liebsten wieder in seinen Schlummer gesunken wäre. Doch eine treibende Kraft stieß ihn über den Horizont, rüttelte ihn auf und schürte seine unstete, bläßliche Flamme, bis ein milchiger Schein die Kimm erhellte und sich langsam, aber unaufhörlich nach den Seiten ausdehnte. Die Dämmerung kroch über die Wellen und verlieh ihren Kämmen graue Kronen. Das Licht floh nach Westen und stahl sich durch die Meerenge, den „Canal estrecho“, wie ihn die Spanier und Portugiesen nannten, hinaus auf den Atlantik. Nur vereinzelte Federwolken wurden am Firmament sichtbar und verkündeten, daß es keinen Sturm geben würde, nicht einmal eine leichte Wetterveränderung. Es sollte ein schöner Tag werden, mit anhaltendem, handigem Wind aus Süden. Mechmed war bereits auf den Beinen und stieg zum Achterdeck hinunter, als der Ausguck im Großmars seinen ersten Ruf erschallen ließ. „Mastspitzen voraus! Wir haben sie vor uns!“ Mechmed enterte auf die Kuhl ab und gewahrte durch einen Seitenblick Don Pedro. Soeben trat der Mann aus dem Schott des Achterkastells, tadellos gekleidet und offensichtlich frisch und ausgeruht. Mechmed wußte, daß er ihn auf keinen Fall unterschätzen durfte. Ein Mann, der so schnell zur Stelle war und über soviel sichtbare Energie verfügte, würde jedem hinterhältigen Manöver zu begegnen wissen.
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Mit gewandten Bewegungen kletterte der Berber auf die Back* und ließ sich von einem der Decksmänner das Spektiv aushändigen. Dies geschah nicht mit Selbstverständlichkeit, sondern Mechmed musste erst ein paarmal darum bitten, ehe der Spanier ihm das Rohr — wenn auch widerstrebend — übergab. Alle Decksleute und Seesoldaten der „San Yuste“ hegten eine deutliche Abneigung gegen den hageren, in einen schwarzen Burnus und einen schwarzen Turban gekleideten Mann. Er war ihnen unheimlich. Mechmed blickte durch die Optik und brauchte nicht lange zu suchen, um die Mastspitzen an der nordöstlichen Kimm zu entdecken. Klar erkennbar ragten sie über die Linie hinaus, die scheinbar zwischen dem Himmel und dem Meer zu bestehen schien — dunkle Fremdkörper auf den Fluten. „Nun?“ fragte Don Pedro. Mechmed ließ das Spektiv sinken und wandte sich zu ihm um. Lautlos war der Spanier hinter ihn getreten. Sei vor ihm auf der Hut, dachte Mechmed. Laut sagte er: „Das ist die ,Isabella’, ich bin ganz sicher. Ich erkenne sie an ihren Flögeln wieder.“ „Sehr gut.“ Die Miene des Kommandanten blieb völlig ausdruckslos. „Wir werden versuchen, sie im Laufe des Vormittags einzuholen.“ „Glauben Sie, daß wir das schaffen?“ „Ich glaube nur, was ich sehe“, entgegnete de Azcuenaga. „Die ‚Isabella’ ist nach meinen Schätzungen sieben bis acht Meilen von uns entfernt. Als wir mit der Jagd begonnen haben, muß die Entfernung größer gewesen sein, denn nach Ihrem Bericht war sie schon seit einer Stunde verschwunden, als wir mit unserem Verband in der Bucht eintrafen.“ „Ja.“ „Sie hatte also einen ansehnlichen Vorsprung, aber wir haben einen Teil davon auf geholt. Die ,San Yuste’ ist ein schnelles Schiff. Sie hat alle Aussichten. dieses Wettrennen zu gewinnen.“ Endlich zeigte er ein sparsames Lächeln. „Wahrscheinlich rechnen die Engländer
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nicht damit, daß wir über einen so guten und wendigen Segler verfügen. In ihrer grenzenlosen Überheblichkeit nehmen sie wie alle ihre Landsleute an, daß nur sie fortschrittlich konzipieren und bauen können.“ Er musterte Mechmed abwartend, als halte dieser einen Beitrag zu dem Thema bereit, doch der Berber schwieg. „Die ,San Yuste` lief vor vier Jahren in Malaga vom Stapel“, fuhr er deshalb fort. „Und sie ist derzeit eins der modernsten Schiffe Spaniens.“ Er wies nach achtern. „Allerdings haben die anderen nicht mithalten können. Sehen Sie — die ‚Santa Agata’, die ,San Gabriel’ und die ,Navegador’ sind verschwunden.“ Die Bagalla erwähnte er schon gar nicht mehr. Mechmed kehrte aufs Achterdeck zurück und stieg auf die Kampanje. Er richtete das Fernrohr nach Süden und hielt einige Zeit nach den Schiffen Ausschau, konnte aber nicht einmal mehr ihre Mastspitzen sehen. Während der Nacht mußten sie stark zurückgefallen sein. Ihre Kapitäne Würden versuchen, den Anschluß wiederherzustellen — aber gab es für die Bagalla noch eine Hoffnung? Inständig flehte Mechmed Allah darum an, die Bagalla möge nach wie vor hinter der Kriegskaravelle segeln. Gleichzeitig verfluchte er seine Männer für den Fall, daß sie entmutigt in den Hafen von Melilla zurückgekehrt waren, in die tiefsten Schlünde der Hölle. „Senor!“ sagte eine scharfe Stimme hinter ihm. Er fuhr herum und sah sich dem Ersten Offizier der „San Yuste“ gegenüber, einem schlanken Mann Mitte der Dreißig mit schmalem Gesicht und stechendem, kaltem Blick. „Das Spektiv, Senor“, sagte der Erste. „Geben Sie es sofort zurück. Sie haben es ohne Erlaubnis mit aufs Achterdeck genommen. Das ist nicht statthaft. Der Decksmann, dem es gehört, hat mir den Diebstahl melden lassen.“ „Diebstahl? Aber ich wollte doch nur ...“
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„Geben Sie es zurück oder nicht? Soll ich den Comandante rufen lassen? Wollen Sie das?“ „Nein.“ Mechmed schob das Spektiv zusammen und überreichte es dem Offizier, der es sofort an sich nahm, sich umdrehte und fort ging. In ohnmächtiger Wut ballte Mechmed die Hände. Das wirst du mir noch büßen, du räudiger Hund, dachte er, noch keiner hat Mechmed ungestraft einen Dieb genannt. Er merkte sich auch ganz genau das Gesicht des Decksmannes, dem das Spektiv gehörte. Tod auch dir, dachte er, wenn Mechmeds Stunde schlägt. 4. Bill, der jetzt wieder seinen gewohnten Platz im Großmars der „Isabella“ eingenommen hatte, hatte durch einen Ruf auf die Mastspitzen -eines fremden Schiffes im Südwesten hingewiesen, und Hasard und Dan O’Flynn, die sich zur Morgenstunde auf dem Achterdeck befanden, hatten daraufhin sofort die achtere Reling aufgesucht und ihre Kieker in die angegebene Richtung gehalten. „Ein Dreimaster“, sagte jetzt der. Seewolf. „Ohne Zweifel eine große Galeone.“ „Ein spanischer Kriegssegler“, präzisierte Dan. ..Ich kann es an der Flagge erkennen, die in seinem Großtopp weht.“ „Schnell ist er obendrein auch noch“, sagte Hasard. „Auffallend schnell. Seit wann bauen die Dons so schnelle Schiffe?“ „Wie lange sind wir nicht mehr hier gewesen?“ „Das weißt du doch. Es ist schon über vier Jahre her.“ „Ja“, sagte Dan. „Und für die Spanier ist die Zeit inzwischen auch nicht stehengeblieben.“ „Eben. Ich habe recht gehabt: Die Dons sind .uns von Melilla aus gefolgt. Wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein, wenn sie’s nicht getan hätten.“ Hasard warf noch einen ausgiebigen Blick auf den Fühlunghalter, dann ließ er den Kieker sinken. „Ich wette meinen Kopf, daß der Bursche dort besser armiert ist als wir.“
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„Ich halte nicht dagegen.“ „Wenn er weiterhin so schnell segelt, kriegen wir noch dicken Ärger mit ihm, das ist mal gewiß.“ Dan seufzte. „Es läßt sich wohl nicht vermeiden. Hätten wir die ‚Isabella’ auf der Schlangen-Insel nicht doch lieber von ihrem Muschelbewuchs befreien sollen?“ „So schlimm ist das mit den Muscheln und Algen noch nicht“, entgegnete der Seewolf. „Aber ich will dir was sagen. Wir sollten uns bald mal nach einem neuen Schiff umsehen, denke ich. Die Lady hier wird langsam altersschwach. Ist das noch keinem von euch aufgefallen?“ „Doch. Aber wir hängen wohl alle sehr an ihr.“ Hasard rang sich ein Lächeln ab. „Bloß nicht sentimental werden, das bringt nichts ein. Früher oderspäter müssen wir uns ja doch von unserer ‚Isabella’ trennen.“ Dan sagte nichts mehr. Er hatte sich vorgebeugt und seinen Blick über die Heckreling hinaus nach unten gerichtet. Offenbar war er vom schäumenden und schillernden Kielwasser der „Isabella“ fasziniert —oder was fesselte ihn da so sehr? Hasard trat einen Schritt weiter nach achtern und sah nun ebenfalls am verzierten Spiegel des Schiffes in die Tiefe. Plötzlich verschluckte er sich fast. Das, was sich dort ihren erstaunten Augen bot, war wahrhaftig atemberaubend: Sieglinde und Victoria waren von der Kapitänskammer auf die Heckgalerie getreten und spähten nach Süden. Melinda gesellte sich in diesem Moment zu ihnen. Alle drei hatten ihre bodenlangen orientalischen Gewänder mit schulterfreien Kleidern vertauscht. Ada, der Syrerin, und Ofania, der Berberin, war es bei der Flucht aus dem Palast des Abu Al-Hassan gelungen, einen ganzen Packen solcher Kleider mitgehen zu lassen, und nur allzu gern hatten sich die Frauen von den alten Sachen befreit, die ihnen schon lange lästig geworden waren. Daher war es Hasard und Dan jetzt vergönnt, einem einzigartigen Schauspiel beizuwohnen, das jedes noch so
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wunderbare Panorama, jeden Sonnenaufgang und jedes Abendrot über der See verblassen und in den Hintergrund entrücken ließ. Wie gebannt blickten sie in den Ausschnitt der Deutschen, der Engländerin und der Spanierin, wo sich —zumindest aus ihrer vorteilhaften Perspektive — alle Pracht und aller Zauber weiblicher Verlockung völlig unverhüllt darbot. Eine Hügellandschaft ohnegleichen — prall, stolz, erhaben bei Sieglinde, weich und voll ausgereift bei Victoria, sanft und zart bei Melinda. „Herr im Himmel, steh uns bei“, murmelte Dan O’Flynn. „Das Paradies ist so nahe, und doch leben wir in einem Jammertal.“ „Still“, zischte Hasard, aber es war schon zu spät. Sieglinde schien etwas vernommen zu haben. Sie hob den Kopf und blickte zu ihnen herauf. Ehe sie sich zurückziehen konnten, hatte sie sie entdeckt. Auch Victoria und Melinda richteten ihre Blicke jetzt halb verwundert, halb amüsiert auf die beiden Männer. „Mister Killigrew!“ rief Sieglinde. „Was ist denn los? War das der Ausguck, der eben geschrien hat?“ Hasard räusperte sich. „Ja. Wir haben einen stattlichen Dreimaster hinter uns. Eine spanische Kriegsgaleone.“ „Oh!“ riefen alle drei. „Mit bloßem Auge können Sie das Schiff aber nicht erkennen“, sagte Dan O’Flynn. „Soll ich Ihnen ein Rohr runterbringen, Myladys?“ „Ein was?“ fragte Victoria verblüfft. „Ein Spektiv“, sagte Dan. Hasard wandte ihm das Gesicht zu. „Mister O’Flynn, du räumst augenblicklich die Kampanje.“ „Was? Aber ich ...“ „Das ist ein Befehl, Mister O’Flynn“, sagte der Seewolf eine Spur schärfer. Ohne weitere Widerrede drehte sich Dan auf dem Stiefelabsatz um und ging fort. Er kannte seinen Kapitän gut genug, um zu wissen, wie weit er gehen durfte. Keinen Zoll weiter — was die Frauen betraf, da
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verstand der Seewolf wahrhaftig keinen Spaß. Mit ziemlich betrübter Miene trat Dan auf das Achterdeck hinunter und sagte zu Ben Brighton, Shane und Ferris Tucker, die gerade vom Hauptdeck heraufstiegen: „Geht jetzt bloß nicht auf die Kampanje, Leute. Hasard hat sie soeben zur Sperrzone erklärt.“ „Warum?“ wollte Ferris Tucker wissen. Ben lächelte wissend. „Ferris, denk doch mal nach. Wo ist denn der einzige Platz für unsere Ladys, um ein bißchen frische Luft zu schöpfen?“ „Die Heckgalerie“, sagte Big Old Shane. „Beim Wassermann, jetzt geht mir ein Licht auf.“ „Ich finde das reichlich übertrieben“, brummte der rothaarige Schiffszimmermann der „Isabella“. „Ja, darf man die Ladys denn jetzt nicht mal mehr ansehen?“ „Ich will dir verraten, warum man’s nicht darf“, sagte Dan. Dann berichtete er, und Ben, Ferris und Shane wollten die Augen übergehen — Pete Ballie, der neugierig aus dem Ruderhaus spähte, übrigens auch. Hasard stand noch immer auf der Kampanje und sah zu den drei Frauen hinunter, denn Melinda hatte ihm eine Frage gestellt. „Senor Killigrew, sind Sie der Ansicht, daß der Kommandant der Kriegsgaleone hinter uns her ist, um uns den Krieg zu erklären?“ „Ja, so ungefähr.“ „Aber — wir könnten ihm doch signalisieren, daß sich Frauen an Bord befinden.“ „Darauf wird er kaum Rücksicht nehmen.“ „Auch dann nicht, wenn wir ihm mitteilen, daß eine spanische Bürgerin darunter ist, die nicht gefährdet werden darf?“ „Das wird er uns nicht glauben“, erwiderte der Seewolf. „Sehen Sie, englische Korsaren greifen manchmal zu den ausgefallensten Mitteln, um sich einen Gegner vom Hals zu halten oder um ihn zu täuschen. Ich meine, er würde es auf jeden Fall für eine List halten.“
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„Würden Sie den Kampf mit diesem Schiff aufnehmen, Mister Killigrew?“ fragte Melinda. „Wenn ich nicht anders kann, ja.“ „Oh !“ „Recht so!“ rief Victoria. „Das ist ein Wort, Mister Killigrew! Immer kräftig drauf! Zum Teufel mit Don Philipp und seiner verdammten Armada!“ Hasard räusperte sich wieder. Die Sache wurde ihm unangenehm. „Miß Victoria, bitte vergessen Sie nicht, daß auch Miß Melinda patriotische Gefühle haben könnte.“ „Eben“, sagte Melinda. „Was fällt dir eigentlich ein, Victoria? Wir Spanier sind doch auch Menschen.“ „Das habe ich nicht bezweifelt. Aber unsere Königin und euer König liegen sich nun mal in den Haaren.“ „Weißt du, was ich von eurer Königin halte?“ „Nein“, erwiderte die Engländerin grimmig. „Sag’s mir doch.“ Sieglinde trat zwischen sie und Melinda. „Aufhören! Streitet euch nicht, ihr beiden!“ „Darum möchte ich auch bitten“, sagte der Seewolf. „Und verlassen Sie jetzt bitte die Galerie, meine Damen.“ Entrüstung spiegelte sich in Victorias Zügen. „Wie? Nicht einmal hier dürfen wir uns ein wenig die Beine vertreten? Aber Mister Killigrew!“ „Wenn der Spanier sich anpirscht, könnte es dort für Sie gefährlich werden“, sagte er. „Mit anderen Worten, auch dies ist ein Befehl?“ „Ja, Miß Victoria.“ „Aye, aye, Sir“, sagte sie verstimmt lind kehrte in die Kapitänskammer zurück. Melinda folgte ihr, um ihr doch noch ihre Meinung über Königin Elizabeth I. zu sagen. Sieglinde Kramer lächelte dem Seewolf zu. „Mister Killigrew ich passe schon auf, daß Ihre Anordnungen befolgt werden. Aber um eins möchte ich Sie bitten.“ „Und das wäre?“ „Wenn es zum Gefecht mit dem Spanier kommt, dann vergessen Sie nicht, daß auch
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wir Frauen kräftig mit zupacken können. Vielleicht brauchen Sie im Notfall ein paar Pulverträger oder Ladenummern oder jemanden, der Sand an Deck ausstreut.” „Das erledigen meine Söhne“, sagte er. „Aber ich danke Ihnen für das Angebot.“ „Mister Killigrew, wenn der Kapitän des Schiffes, von dem ich durch Lord Henry entführt worden bin, uns Frauen rechtzeitig genug Waffen in die Hände gedrückt hätte, hätte der Pirat wahrscheinlich nicht so leichtes Spiel gehabt.“ Hasard deutete eine Verbeugung zu ihr hin an. „Mylady, ich danke Ihnen für diesen Hinweis. Im allgemeinen verzichte ich aber lieber darauf, Vertreterinnen des schwachen Geschlechts in irgendwelche Auseinandersetzungen hineinzuziehen. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn Ihnen etwas zustoßen würde.“ Sie gab einen seufzenden Laut von sich. „Sie sind schon ein Dickschädel, Mister Killigrew, das muß ich sagen.“ „Ein nettes Kompliment.“ „Oh, ich bitte um Verzeihung.“ Sie lachte leise. „Aber halten Sie mich denn wirklich für so schwach?“ „Das allerdings nicht.“ „Aber Sie wollen nicht, daß uns etwas geschieht? Daß nicht einmal mir etwas passiert?“ „Gerade bei Ihnen möchte ich das nicht“, erwiderte er. „Danke, Mister Killigrew“, sagte sie, dann verschwand auch sie im Achterkastell. Raffiniertes Biest, dachte er, das hatte ich dir gar nicht sagen wollen. 5. Die Schulterwunde setzte Ed Carberry kaum noch zu, er fühlte sich bereits wieder wohl und zufrieden, war „auf dem Kai“, wie er sagte, hatte seinen Verband unter seinem Hemd versteckt und war ganz Herr der Lage auf dem Hauptdeck, was er durch die Lautstärke seiner Stimme kundtat. „Habt ihr’s nicht gehört?“ brüllte er die Crew an. „Es könnte Ärger mit den Dons geben, die uns am Achtersteven kleben! Deshalb müssen wir voll gefechtsklar und
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manövrierfähig sein, wenn sie sich näher ranpirschen. Ladet die Kanonen, streut schon mal Sand auf den Decks aus, stellt die Kübel mit dem Seewasser bereit — bewegt euch, ihr blinden Kanalratten!“ „Aye, aye, Sir“, sagten die Männer der Morgenwache. „Blacky, du Aal, flitz runter in die Frachträume und kontrolliere, ob unser bißchen Ballast auch noch ordnungsgemäß festgezurrt ist!“ „Sofort, Mister Carberry, Sir“, sagte Blacky. „Bist du noch nicht weg?“ Blacky wandte sich um und lief an der Kuhlgräting vorbei zum Vordecksschott. Er war schon drauf und dran gewesen, dem Profos eine barsche Antwort zu geben, bezwang sich aber im letzten Augenblick. Natürlich mußten die für ein eventuelles Gefecht erforderlichen Vorkehrungen getroffen werden, und man konnte bei alledem gar nicht akkurat genug vorgehen, das wußte er so gut wie alle anderen Männer — doch gerade an diesem Morgen ging ihm Carberrys ruppige Art besonders auf die Nerven. Carberry ließ weiterhin sein gewaltiges Organ ertönen und scheuchte die Männer an die Culverinen und Drehbassen. Vorsorglich sollten die Geschütze, die nach der Episode an der marokkanischen Küste entladen worden waren, schon mit Pulver und Kugeln versehen werden. Vom Lösen der Haltetaue bis zum Ausrennen der Siebzehnpfünder war es dann nur noch ein kleiner Schritt, der innerhalb von Sekunden vollzogen werden konnte. Um die Arbeiten besser überschauen zu können, schritt der Profos rückwärts auf das Backbordschanzkleid der Kuhl zu -und um ein Haar wäre er über die Zwillinge gestolpert, die gerade versuchten, sich an seinem Rücken vorbeizustehlen. „Ha?“ Carberry ruderte mit den Armen. „Was, zum Teufel, geht hier vor?“ Philip junior tauchte unter der rechten Hand des Narbenmannes weg, die bedrohlich in die Nähe seiner Wange geraten war. Er hielt einen kleinen Kessel, aus dem Dampf aufstieg, und gab sich
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redlich Mühe, ihn nicht auf die Planken fallen zu lassen. Carberry drehte sich um und sah Hasard junior, der ein Tablett balancierte. Bei seinem Ausweichmanöver geriet der Junge so nah ans Schanzkleid, daß das Tablett ihm jeden Moment von der Hand zu rutschen und außenbords zu fliegen schien. Er brachte jedoch ein Kunststück fertig, indem er seinen Oberkörper verbog, auch mit der anderen Hand zupackte und seine wackelnde Last auf diese Weise noch wieder auffing. Die Stirn des Profos’ umwölkte sich drohend. „Was wird hier gespielt? Ist das ein Komplott? Eine Verschwörung? Was schleicht ihr Decksaffen hier herum? Wie? Raus mit der Sprache!“ „Mister Carberry, Sir“, sagte Philip junior. „Wir haben den Auftrag, das Frühstück zu den Ladys ins Achterkastell zu bringen.“ „Frühstück?“ Carberry beugte sich vor und schnupperte. „Beim Donner, was ist in diesem Kessel? Whisky? Brandy?“ „Nein, Sir. Tee.“ „Tee“, sagte nun auch Hasard junior. „Den mag Miß Sieglinde doch so gern. Und die anderen sicher auch.“ „Und die anderen sicher auch“, ahmte Carberry ihn nach. Er scheuchte mit einer ärgerlichen Handbewegung Sir John, den Aracanga, fort, der begonnen hatte, sein Haupt zu umkreisen. „Und was hast du da auf deinem verdammten Tablett?“ „Backbrassen!“ wetterte Sir John, während er in Richtung Achterkastell entfloh. „Backbrassen! Hölle und Teufel, ihr Rübenschweine!“ „Brot, Marmelade, Dauerwurst und Käse“, antwortete Hasard junior. „Feine Sache“, sagte der Profos grollend. „Eine fette Mahlzeit. Wer hat euch die Erlaubnis gegeben, soviel ...“ „Der Kutscher“, sagte Philip junior schnell. „Ohne Rücksprache mit mir zu halten?“ „Er hat die Genehmigung von Dad“, sagte Hasard junior. „So. Und warum dann diese Heimlichtuerei?“ fragte der Narbenmann mißtrauisch.
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„Weil - um ehrlich zu sein, wir hatten Angst, Sie würden uns zurückhalten und zum Wasserkübelschleppen einteilen, Sir“, sagte Philip. „Wir dachten ...“ „Das Denken solltet ihr Leuten überlassen, die Grütze im Kopf haben“, unterbrach Carberry ihn. Sein Stimmvolumen schwoll wieder bedrohlich an. „Also los, ab in die Hütte mit euch, und dann gleich wieder zurück auf die Kuhl, dalli, dalli, wird’s bald?“ „Danke, Mister Carberry“, stammelte Hasard junior. Er drehte sich um und hastete seinem Bruder nach, der sich schon wieder in Bewegung gesetzt hatte. Arwenack, der Schimpanse, hüpfte von der Kuhlgräting und rannte den Zwillingen nach, darauf erpicht, einen Happen Brot mit Marmelade zu erwischen. Old O’Flynn stand gerade am Backbordniedergang, der die Kuhl mit dem Achterdeck verband, und grinste vergnügt. „Fix, Jungs“, sagte er. „Laßt unseren Profos bloß nicht auf euch warten.“ „Wasserkübel schleppen“, stöhnte Philip junior. „Ich hab’s ja geahnt.“ „Sei doch still“, stieß sein Bruder aus. „Dachtest du denn wirklich, wir würden es schaffen? Mann, das mußte ja in die Hose gehen.“ Insgeheim hatten sie natürlich gehofft, sich der Fuchtel des Profos’ vorläufig entziehen zu können und ein bißchen bei den „Ladys“ bleiben zu dürfen, besonders bei Sieglinde Kramer, die immer so nett zu ihnen war. Aber daraus wurde jetzt nichts mehr. Rasch verschwanden sie im Achterkastell. Arwenack und Sir John folgten ihnen durch das halboffene Schott. Matt Davies, der gerade an einer der Steuerbord-Culverinen hantierte, warf ihnen einen fast neidischen Blick nach. „Die haben’s gut“, brummte er. „So jung möchte ich auch noch mal sein. Rein in die Poop und den Ladys das Frühstück servieren, o Mann, das wäre genau nach meinem Geschmack.“ Stenmark, der Schwede, stand hinter ihm und grinste seinen Rücken an. „Ja, Matt, ich kann’s dir nachfühlen. Aber Hasard
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weiß eben ganz genau, warum er nur seinen Söhnen den Zutritt zur Hütte gestattet.“ „So? Glaubst du denn, daß die beiden Lümmel so harmlos sind, wie sie immer tun?“ „In der Beziehung bestimmt.“ „Ach? Aber ich könnte mich auch anständig benehmen, glaub’s mir.“ „Na, na“, sagte Stenmark und handelte sich einen wütenden Blick von Matt Davies ein, der sich jetzt zu ihm umwandte. „Mister Davies!“ brüllte Carberry. „Was glotzt du in die Weltgeschichte? Bist du immer noch nicht fertig? Brauchst du Hilfe? Ich komme gleich, du Läuserich, paß auf, ich komme gleich.“ „Hölle“, murmelte Matt. „Es gibt Tage, an denen würde ich am liebsten in den Teich springen. Die Sache stinkt mir. Eine Scheiß-Situation, sage ich.“ „Sehr richtig“, pflichtete Luke Morgan, der nicht weit entfernt stand, ihm bei, und auch ein paar andere Männer nickten zustimmend. * Philip und Hasard junior hatten das Frühstück in der Kapitänskammer abgeliefert und befanden sich jetzt bereits wieder auf dem Rückmarsch zur Kuhl. Sie wollten auf keinen Fall Ärger mit Carberry kriegen. Wenn der Profos brüllte, galt es, die Beine in die Hand zu nehmen. Sieglinde, Melinda und Victoria saßen schon am Tisch um die Kanne und das Tablett versammelt. Die anderen Frauen traten soeben ein. „Wie findet ihr die Zwillinge?“ fragte Lorena. „Zwei reizende Burschen, nicht wahr?“ „Aufmerksam und gut erzogen“, sagte Sieglinde. „Aber ob das Bordleben wohl das richtige für sie ist?“ „So geht es auf einem Segelschiff nun mal zu“, sagte Victoria. „Die Disziplin gilt für alle, jeder hat sich zu unterwerfen. Auch Kinder. Und sie sind nun mal die Söhne des Seewolfs, oder?“ „Eben.“ Melinda blickte auf. „Könnte er sie nicht freundlicher behandeln?“
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„Tut er das denn nicht?“ fragte Beni, die eben Hand in Hand mit Kabil eintrat, verblüfft. „Doch“, sagte Victoria. „Er läßt es ihnen an nichts mangeln.“ „Irrtum“, widersprach Melinda. „Was sie brauchen, sind in erster Linie menschliche Wärme und Zuneigung.“ „Sag jetzt bloß noch, ihnen fehle eine Mutter“, sagte Victoria. „Sehr richtig“, ergriff Sieglinde für die Spanierin Partei. „Genau das meine ich auch.“ Victoria lachte und schüttelte den Kopf. „Dann frag sie doch mal, ob sie sie wollen. Sie würden dich auslachen. In einem Jahr sind sie fast erwachsen, aber sie wissen bestimmt schon jetzt, wie man ein Schiff lenkt und manövriert und wie man mit Waffen umgeht.“ „Ihr Engländer mit eurer Disziplin“, sagte Melinda. „Was anderes habt ihr wohl nicht im Kopf.“ „Fängst du wieder mit deinem Patriotismus an?“ fragte die Engländerin drohend. Melinda winkte ab. „Aber nein, nein. Ich will mich doch mit dir nicht streiten.“ „Habt ihr gehört, wie Mister Carberry brüllt?“ sagte Luisa. „Fein ist das nicht. Ich verstehe zwar nicht alles, was er sagt ...“ ..Das ist auch besser so“, warf Victoria ein. „... aber es müssen schlimme Sachen sein, die er den Männern an den Kopf wirft. Die armen Kerle. Und wie die Jungen darunter leiden müssen. Nein, fein ist das nicht.“ Irene, die Griechin, stemmte die Fäuste in die Seiten. „Meine liebe Luisa, ich will dir mal was sagen. Mister Edwin Carberry ist der Zuchtmeister auf diesem Schiff. Weißt du, was das bedeutet? Er hat für Zucht und Ordnung zu sorgen und trägt eine große Verantwortung.“ „Jawohl“, sagte Victoria. „Er muß brüllen, sonst gehorcht die Bande nicht. So ist das nun mal.“ „Mister Brighton, Mister Tucker, Mister Shane und die beiden O’Flynns schreien aber auch nicht herum“, wandte Janine entrüstet ein. „Dabei gehören sie doch ebenfalls zur Schiffsführung, oder?“
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„Das ist was anderes“, erwiderte Irene pikiert. „Sie haben nicht den direkten Kontakt zur Mannschaft. Mister Carberry ist ein guter und pflichtbewußter Mann, der seine Aufgabe gewissenhaft versieht.“ „O Himmel“, sagte Melinda. „Jetzt geht das wieder los.“ „Hört auf“, sagte Sieglinde. „Verteilt lieber die Becher. Ihr sollt mal sehen, wie gut dieser Tee schmeckt, den der Kutscher für uns zubereitet hat.“ „Wieso heißt er eigentlich der Kutscher?“ wollte Ofania wissen. ,.Es gibt doch keine Pferde an Bord. Hat er denn keinen anderen Namen?“ Victoria griff sich ein Marmeladenbrot, dann erklärte sie: „Hat er nicht. Er wird so genannt, weil er früher der Kutscher von Doctor Freemont war.“ „Und wer ist das?“ erkundigte sich Kabil. „Ein Arzt in Plymouth“, setzte Victoria ihm auseinander. „Auch so ein toller Kerl. Einer der besten Freunde der Seewölfe. Früher hat er mal Hasard Killigrew gesundgepflegt, als dieser schwer verletzt war. Ach, es gibt so viele abenteuerliche Geschichten, die sich um die Männer dieses Schiffes ranken, wenn man da einmal ins Erzählen kommt ...“ „Ich bin eine aufmerksame Zuhörerin“, sagte Sieglinde. „Sprich nur weiter.“ Victoria schenkte sich Tee ein und wollte gerade fortfahren, da öffnete sich knarrend die Tür. Unwillkürlich hielten die Frauen und der junge Mann den Atem an und blickten entsetzt zum Eingang. Im nächsten Augenblick lachten sie aber erleichtert auf, denn es war Arwenack, der Schimpanse, der da bei ihnen erschien, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Arwenack verharrte in der Mitte des Raumes, legte seine Stirn in nachdenkliche Falten und kratzte sich am Kinn. Sein Blick wanderte von Gesicht zu Gesicht. Er schien sich zu fragen, was hier los war. Victoria beugte sich vor und reichte ihm ihr Marmeladenbrot. Die Geste allein genügte dem Affen. Er schnitt eine Grimasse, fletschte die Zähne, grunzte und klatschte in die Vorderpfoten. Dann
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begann er vor lauter Vorfreude auf das Brot auf der Stelle zu hüpfen. Ofania, die bisher weder Arwenack noch Sir John gesehen hatte, stieß einen jauchzenden Laut der Begeisterung aus. „Der ist ja niedlich! Kann der auch sprechen?“ „Natürlich nicht“, entgegnete Melinda. „Hast du schon mal was von einem sprechenden Affen gehört? Du liebe Güte.“ „So einen wie diesen hab ich noch nie gesehen“, sagte Ofania. Sie wollte noch etwas hinzufügen, verstummte aber, weil draußen eine krächzende Stimme laut wurde - draußen auf dem Mittelgang des Achterkastells. „Himmelhunde und Satansbraten! Anbrassen und hoch an den Wind!“ „Wer ist denn das?“ flüsterte Beni erschrocken. „Etwa der Profos?“ Ofania warf einen Blick durch den Türspalt und sah etwas im Gang auf und ab flattern, etwas Buntes, Schimpfendes. „Ein Papagei!“ rief sie. „Ist der süß!“ „Ja“, sagte Victoria, die ihr Marmeladenbrot jetzt dem Schimpansen überlassen hatte. „Und er sagt auch so süße Sachen: Einfach hinreißend.“ „Ich fange ihn ein!“ rief Ofania. Sie lief in den Gang hinaus und griff mit beiden Händen nach Sir John. Sir John gackerte beleidigt und flog davon. Sie stieß wieder einen kleinen, entzückten Ruf aus und nahm die Verfolgung auf. Er bog um die nächste Ecke, flatterte zum Niedergang, der ein Deck tiefer führte und verschwand in der Dunkelheit der unteren Schiffsräume. Aber auch das konnte Ofania nicht entmutigen. Sie eilte ihm nach. 6. Blacky hatte sämtliche Zurrings des Ballasts im großen Laderaum der „Isabella“ überprüft und festgestellt, daß alles seine Richtigkeit hatte. Es gab keine schwachen Stellen in der Vertäuung. Nichts konnte verrutschen, wenn sie gezwungen waren, sehr schnell Überstag zu gehen oder zu halsen. Auch das
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heftigste Manövrieren würde der Sicherung der Kisten und Ballen nichts anhaben können. Mit einem Laut der Zufriedenheit wollte Blacky sich abwenden und durch den kleineren Frachtraum ins Vorschiff zurückkehren, doch in diesem Moment drangen von achtern alarmierende Laute an sein Ohr. Da flatterte und zappelte etwas, da wurde gekrächzt und gekeucht, und trappelnde Schritte pochten den Niedergang hinunter. Blacky griff zur Pistole, nahm die Hand dann aber gleich wieder vom Kolben. Er schalt sich einen Narren. Wer sollte denn da schon für Verdruß sorgen? Niemand Unbefugtes befand sich an Bord, es konnte sich nur um die Frauen handeln. Sir John aber, der jetzt in taumelndem Flug im Frachtraum auftauchte, schien Hilfe dringend nötig zu haben. Er wetterte in den höchsten Tönen, auf englisch und auf spanisch. Irgendwie wirkte er zerzaust, Blacky konnte es in dem streifigen Sonnenlicht, das durch das Holzgitter der Gräting drang, gut erkennen. So fühlte Blacky sich veranlaßt, etwas für den Vogel zu tun. Diese eigentlich bedeutungslose Handlung sollte später ein Stein des Anstoßes sein - aber wer konnte das schon ahnen? Zwischen Kisten, Fässern und Ballen trat Blacky auf Sir John zu und sprach beruhigend auf ihn ein. Der Aracanga erkannte die Stimme, ließ sich auf Blackys linker Schulter nieder und gab eine Art Seufzer von sich. Jetzt erschien Ofania. Sie lachte leise, stolperte von den Stufen des Niederganges in den Raum und hielt etwas hoch, das verdächtig nach einer der bunten Schwanzfedern Sir Johns aussah. Blacky trat vor sie hin, und sie blieb verdutzt stehen. „Aber, aber“, sagte er auf spanisch. „Gehen Sie immer so rabiat mit kleinen Papageien um, Senorita?“ Ihr stockte der Atem, ihr verschlug es die Sprache. War das nicht Blacky, dieser tolle Kerl, den sie von allen Männern der „Isabella“ am aufregendsten fand?
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„Ich - ich wollte ihn doch nur fangen“, stammelte sie. „Er spricht so niedlich und ach, eigentlich dachte ich nicht, daß er so scheu ist.“. Blacky lächelte. „Er ist nicht scheu. Sehen Sie? Er sitzt ganz friedlich auf meiner Schulter. Man darf ihn nur nicht erschrecken. Wenn man vernünftig mit ihm spricht, wird er richtig zärtlich.“ Er hielt Sir John den Zeigefinger hin und sagte etwas auf englisch, das Ofania nicht verstand. Sir. John begann, an dem Finger herumzuknabbern und gutturale Laute von sich zu geben. „Nein, so was“, hauchte die hübsche Berberin. „Zu Ihnen hat er eben Vertrauen.“ „Zu Ihnen bestimmt auch“, sagte Blacky. „Wollen Sie ihn mitnehmen? Bitte, geben Sie mal Ihren Finger her. Wissen Sie, ich muß jetzt zurück nach oben, sonst gibt es Krach mit unserem Profos. Überhaupt, es wäre gut, wenn niemand von unserem zufälligen Zusammentreffen erfahren würde. Sie verstehen doch, oder?“ „Ja, sehr gut.“ Sie streckte ihre rechte Hand vor. Blacky ließ Sir John auf seinen Finger krabbeln, dann senkte er seine Hand und führte sie auf die von Ofania zu. „Sei ein guter Junge“, sagte er leise, aber eindringlich. „Geh zu der Lady. Sie tut dir nichts. Im Gegenteil, sie wird dich füttern und verwöhnen, du Rabenaas. Nun geh schon.“ Allah sei mir gnädig, dachte Ofania, so eine Gelegenheit kommt nicht wieder. Die „Isabella“ senkte ihren Bug in diesem Augenblick in die See. Es war nur eine leichte Bewegung, kein richtiges Schwanken, das das Mädchen aus dem Gleichgewicht hätte bringen können. Doch die weibliche List kannte keine Grenzen und Skrupel, wenn es um die Eroberung eines Mannes ging. Plötzlich stolperte Ofania nach vorn, also Blacky entgegen. Sie wäre mit ihm zusammengeprallt, wenn er sie nicht an den Armen auf gefangen hätte. Sir John stieg krächzend von Blackys Finger auf. Man hatte ihn erneut gestört,
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und daher flatterte er nur noch kurz unter der Gräting herum, um ein paar saftige Flüche auszustoßen, und ergriff dann vollends die Flucht. „Wie ungeschickt von mir“, sagte Ofania und tänzelte dabei noch ein wenig näher an Blacky heran. „Fast wäre ich hingefallen.“ Er spürte ihren weichen, warmen Körper, und fast wäre es um seine Fassung geschehen gewesen — doch jetzt ertönte oben, auf Deck, die dröhnende Stimme des Profos’. „Blacky ! Du Himmelhund, wo steckst du? Wie lange dauert das denn? Soll ich dich holen? Blaaakky!“ „Ich komme!“ stieß Blacky hastig aus. Er schob Ofania von sich fort und raunte ihr zu: „Verschwinden Sie, Lady. Ab in die Hütte oder es gibt hier gleich ein Riesendonnerwetter, wie Sie’s noch nicht erlebt haben.“ Nur zögernd wandte sie sich von ihm ab. Er aber hatte sich schon umgedreht und stürmte davon. So schnell ihn seine Beine trugen, lief er durch den vorderen Frachtraum, raste die Niedergänge hinauf, am Logis vorbei durchs Vordeck und erreichte endlich durch das offene Schott die Kuhl. Carberry stand neben der Gräting. Sein Kopf ruckte herum, er musterte Blacky mit einem vernichtenden Blick. * Hasard wurde durch das Geschrei auf der Kuhl alarmiert und trat an die Schmuckbalustrade, die den Querabschluß des Achterdecks bildete. Er runzelte die Stirn. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Fragend blickte er zu Carberry und Blacky, die sich wie Kampfhähne gegenüberstanden, während die anderen Männer mit ziemlich mürrischen Mienen ihre Arbeit verrichteten. „Du glaubst wohl, ich bin taub, was?“ brüllte der Profos Blacky an. „Aber mich schmierst du nicht an, Mister Blacky, mich nicht! Ich habe ganz deutlich eine Mädchenstimme gehört!“
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Sir John flatterte aufgeregt über ihre Köpfe weg und schnatterte etwas Unverständliches. „Und wer hat den Papagei so verrückt gemacht?“ schrie Carberry. „Er hat was gesehen, oder? Raus damit, Blacky, oder es gibt ein Unglück!“ „Läßt du mich überhaupt zu Wort kommen?“ fragte Blacky angriffslustig. „Du redest nur, wenn ich dir den Befehl dazu gebe!“ „Dann darf ich dir also nicht mal erklären, was da unten ...“ „Rumgeturtelt hast du! Mit einem von den Mädchen!“ „Das ist nicht wahr!“ brüllte Blacky. „Du wanderst ab ins Kabelgatt, Freundchen, das ist die geringste Strafe, die dir blüht!“ schrie der Profos. Luke Morgan ließ plötzlich eins der Brooktaue der Culverine fallen, an der er gerade tätig war. „Das ist doch wohl das Allerletzte, Leute!“ rief er. „Müssen wir uns das gefallen lassen? Blacky hat bloß getan, was jeder von uns ...“ „Sei doch still“, zischte Al Conroy ihm zu. „Ach was, ich sag meine Meinung. Ich nehm kein Blatt vor den Mund.“ Blacky fuhr zu Luke herum. „Hör mal, Luke, wenn du das denkst, was auch Ed denkt, dann bist du aber auf dem falschen Kahn, mein Junge, das schwöre ich dir.“ „Wie?“ sagte Luke Morgan. „Soll das heißen, daß du die günstige Gelegenheit nicht genutzt hast? Holla, Alter, was ist denn in dich gefahren?“ „Ruhe!“ brüllte Carberry. „Jetzt ist aber Schluß, oder ich hole die Neunschwänzige!“ Hasard hatte das Achterdeck verlassen und stand plötzlich mitten zwischen den Männern. „Das reicht wirklich“, sagte er. „Seid ihr von allen guten Geistern verlassen. Blacky, was war los?“ „Das will ich ja dauernd erzählen, aber keiner läßt mich ausreden“, sagte Blacky verstimmt. „Also, ich hab die Zurrings unten im großen Laderaum überprüft, und plötzlich war das Mädchen da. Sie
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versuchte, Sir John einzufangen und stolperte.“ „Ha!“ sagte Luke Morgan. „Dir in die Arme, was? Absichtlich, wie ich annehme.“ Der Seewolf warf ihm einen kalten Blick zu. „Habe ich dich nach deiner Meinung gefragt, Mister Morgan?“ „Ich – nun, das nicht, Sir.“ „Dann schweig! Kein Wort mehr, verstanden?“ „Aye, Sir.“ „Blacky, weiter. Welches Mädchen war es?“ „Die kleine Marokkanerin. Ofania, so heißt sie doch, oder?“ „Ja“, sagte Hasard. „Hat sie dich provoziert? Hast du gegen die Bordgesetze verstoßen, Blacky?“ „Nein, beides nicht. Mein Ehrenwort, Sir.“ „Das genügt mir. Ich werde mich erkundigen, ob das Mädchen inzwischen wieder im Achterkastell eingetroffen ist“, sagte der Seewolf. „Ed, hör dir in Zukunft gefälligst an, was die Männer zu sagen haben, ehe du sie zu irgendwelchen Strafen verdonnerst. Blacky bleibt an Deck und versieht planmäßig seinen Dienst.“ „Aye, Sir“, brummte der Profos. „Weitermachen“, sagte Hasard zu den anderen, dann drehte er sich wieder um und schritt zurück zum Achterkastell. Plötzlich öffnete sich das Schott, und Sieglinde Kramers Gestalt erschien unter dem Rahmen. „Mister Killigrew!“ rief sie. „Ihre kleine Diskussion mit den Männern war leider nicht zu überhören! Ich möchte Ihnen nur versichern, daß Ofania jetzt wieder bei uns ist. Außerdem kann ich bestätigen, was Mister Blacky ausgesagt hat. Ofania ist ebenfalls bereit zu beschwören, daß es die volle Wahrheit ist.“ Hasard blieb stehen. „Habe ich Ihnen die Erlaubnis erteilt, auf Deck zu erscheinen, Miß Sieglinde?“ „Ich – nein, das nicht, aber ...“ „Dann gehen Sie bitte. Meine Anweisungen gelten nach wie vor, und ich erwarte, daß sie befolgt werden.“
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„Ich hatte gedacht, ich könnte Ihnen behilflich sein, um ...“ „Nicht nötig“, unterbrach er sie schroff. „Ich erwarte auch von Ihnen und Ihren Begleiterinnen, daß Sie sich an meine Befehle halten. Verstöße gegen die Disziplin kann ich nicht dulden. Noch so ein Fehltritt, und ich sperre Sie alle tatsächlich im Achterkastell ein.“ Sieglinde Kramer preßte die Lippen zusammen. Dann verschwand sie, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen. „Wenn sie wütend ist, ist sie noch hübscher“, flüsterte Bob Grey, der in der Nähe des Kombüsenschotts stand, dem Kutscher zu, der gerade seinen Kopf daraus hervorschob. „Und was für ein Kleid sie sich angezogen hat? Hast du das gesehen, Kutscher?“ „Vergiß es“, sagte der Kutscher gedämpft. „Um Himmels willen, vergiß es, Bob.“ „Sir!“ schrie Bill plötzlich aus dem Großmars. „Der Don holt auf! Ich kann jetzt schon das ganze Schiff erkennen!“ „Ich hab’s gewußt“, sagte Hasard, der mittlerweile wieder das Achterdeck geentert hatte. Er zog sein Spektiv hervor, um die spanische Kriegsgaleone noch einmal in Augenschein zu nehmen. Auch die Aufmerksamkeit seiner Männer richtete sich jetzt auf das fremde Schiff, und vorläufig war der Gedanke an die Frauen, der sie alle in eine Art Bannkreis zog, dadurch verdrängt. Das sollte jedoch nicht von Dauer sein. * Warten – die Zeit verstrich mit quälendem, nervtötendem Warten. Um die Mittagsstunde war die spanische Galeone so nah heran, daß man sie mit dem bloßen Auge beobachten konnte. Hasard, Ben Brighton, Ferris Tucker, Big Old Shane und die beiden O’Flynns nahmen ihre Mittagsmahlzeit auf dem Achterdeck ein. Ihre Mienen waren angespannt. Auch ihre Stimmung war gesunken, genau wie die der Männer auf dem Hauptdeck und der Back, und sie
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näherte sich allmählich einem kritischen Punkt. „Da hat man nun schönes Wetter, und man kann sich nicht dran freuen“, sagte Ben Brighton. „So was Dummes.“ „Ich finde, wir sollten uns einen Dreck um den Don scheren“, brummte Ferris Tucker. „Bis zum Dunkelwerden ist er ja doch nicht auf Schußweite heran. In der Nacht können wir ihm vielleicht ein Schnippchen schlagen.“ „Falsch“, sagte Old Donegal Daniel O’Flynn. „Ehe die Dämmerung anbricht, ist er da und schießt uns ein Loch in den Achtersteven. Sieh doch mal, wie groß er jetzt schon geworden ist, Ferris.“ „Ja, stimmt“, sagte Dan, der den Kopf hob und nach achtern spähte. „Bei .dem Tempo, das er drauf hat, schafft er es wirklich.“ „Der Teufel soll ihn holen!“ Shane stellte seinen Eßnapf und seine Muck auf die Segellast. „Absaufen soll er, ich wünsch es ihm von Herzen.“ „Den Gefallen tut er uns ja doch nicht“, sagte Dan. „Und mehr Tuch haben wir auch nicht zur Verfügung, so daß wir ihm nicht davonsegeln können. Wir sind ihm ausgeliefert.“ Hasard hatte sich mit der Seekarte befaßt und stand jetzt mit einem Ruck auf. „Wir gehen auf Nordkurs“, sagte er, „und laufen das Kap de Gata an der Südküste Spaniens an. Mal sehen, ob wir den Kerl ein bißchen irreführen können.“ Ferris Tucker lachte. „Glaubst du, er läßt sich von uns auf Legerwall locken?“ „Das wohl kaum. Aber wir wollen ihm ein kleines Rätsel aufgeben, an dem er eine Weile zu knacken hat. Wir wenden einen unserer alten Tricks an.“ 7. So mancher begierige, eindeutig verlangende Blick traf Dalida, die Ägypterin, die an der Balustrade des Achterdecks der „San Yuste“ auf und ab spazierte. Nicht nur die Seeleute und die Seesoldaten blickten zu ihr auf, auch die
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meisten Offiziere musterten sie hin und wieder und grinsten verstohlen. Mechmed wurde von allen verachtet, Dalida genoß hohes Ansehen. In ihren lasziven, trägen Bewegungen lag eine einzige Herausforderung. Don Pedro de Azcuenaga bereitete dem Spielchen ein Ende. Der Austausch von Blicken war ihm nicht entgangen. Entschlossen trat er vor die Frau hin und sagte: „Senora, gehen Sie bitte ganz nach achtern, auf die Kampanje, und rühren Sie sich von dort nicht mehr fort. Ich kann Ihr Benehmen nicht länger dulden.“ „Mein Benehmen?“ Sie sah ihm fest in die Augen. „Was ist denn daran so verkehrt?“ „Sie wissen schon, was ich meine. Wollen Sie lieber in Ihrer Kammer sitzen?“ „Bei diesem herrlichen Wetter?“ Sie lachte auf. „Bei Allah, nein. Dann schon lieber auf der Kampanje. Lieber Comandante, ich habe den Eindruck, Sie sind nervös geworden. Hängt das mit dem Kurswechsel der ‚Isabella’ zusammen?“ „Ich verbitte mir solche Fragen“, sagte er steif. „Befolgen Sie jetzt meinen Befehl.“ Sie musterte ihn ungeniert von oben bis unten, dann drehte sie sich um und stieg auf die Kampanje - zu Mechmed, der dort mit grüblerischer Miene auf seinem Lager hockte. Sie ließ sich neben ihm nieder und sagte: „Da habe ich ja eine feine Gesellschaft.“ Er sah auf. „Sollten wir nicht zusammenhalten?“ „Versuchen wir’s doch“, sagte sie spitz. „Hast du Sorgen? Armer Mechmed. Vermißt du die Bagalla? So ein Pech, daß sie verschwunden ist, nicht wahr? Oh, ich kann mir vorstellen, welche Pläne in deinem Hirn herumgeistern.“ Seine Augen wurden schmal. „Kannst du das wirklich? Laß doch mal hören, wie scharfsinnig du bist.“ Sie wies mit einer ausschweifenden Gebärde auf das Schiff und seine Takelung. „So ein Schiff könnte dir gefallen, nicht wahr? Du würdest viel Geld dafür kriegen, Gold- und Silbermünzen, mehr, viel mehr, als ich in meinem Lederbeutel habe. Aber um es an dich zu
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reißen, mußt du Verstärkung haben. Durch deine Männer. Wo bleiben sie nur?“ „Du hast dich total verrechnet“, sagte er und lachte kalt. Don Pedro de Azcuenaga legte die Hände auf dem Rücken ineinander und wanderte auf dem Achterdeck auf und ab. Die Lage behagte ihm nicht. Was hatte der plötzliche Kurswechsel der „Isabella“ zu bedeuten? Sie segelte jetzt platt vor dem Wind nach Norden und steuerte die spanische Küste an. Die „San Yuste“ zog mit, aber es hatte den Anschein, daß die Engländer wieder etwas mehr Vorsprung gewonnen hatten. Aber glaubten die denn allen Ernstes, daß sie ihm auf diese plumpe Art entgehen konnten? Die Anwesenheit des Berbers und der Ägypterin an Bord seines Flaggschiffes war ihm lästig geworden. Er wünschte sie fort, weit fort von sich und seiner Mannschaft. Doch was sollte er mit ihnen tun? Er konnte sie nicht in die See stoßen. Marokko war mit Spanien-Portugal verbündet. Er durfte das seltsame Pärchen nicht wie Feinde der Nation behandeln, das zog unweigerlich eine Untersuchung der Admiralität nach sich. Außerdem konnte er es auch rein moralisch nicht verantworten, sich Dalidas und Mechmeds einfach zu entledigen. Immerhin hatten sie ihm geholfen, die „Isabella“ zu finden und zu identifizieren. Aber noch etwas beschäftigte ihn unaufhörlich. Die „Santa Agata“, die „San Gabriel“ und die „Navegador“ waren nach wie vor nicht an der südlichen Kimm aufgetaucht. Ihre Kapitäne konnten nicht ahnen, daß die „San Yuste“ inzwischen auf Nordkurs lag, und somit war der Verband endgültig auseinandergerissen. Die beiden Galeonen und die Karavelle würden weiterhin nach Nordosten segeln und im Fall eines Gefechts so weit von der Position der „San Yuste“ entfernt sein, daß mit ihrem Eingreifen nicht mehr zu rechnen war. Was aus der Bagalla geworden war, interessierte Don Pedro in diesem Zusammenhang nicht im geringsten.
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Er hielt sich jetzt nur vor Augen, daß er den Kampf mit der „Isabella“ allein aufnehmen mußte. Innerlich bereitete er sich auf alle Phasen der Schlacht vor und wußte, daß er kein leichtes Spiel haben würde. * Der Nachmittag dieses 24. Septembers 1591 zog sich mit unendlicher Langsamkeit dahin. Zähflüssig schien der Sand durchs Stundenglas der „San Yuste“ zu laufen. Es wurde vier Uhr, und die Kriegsgaleone hatte wieder beträchtlich aufgeholt. Die Entfernung zwischen ihr und der „Isabella“ schrumpfte auf knapp drei Meilen zusammen. Doch die spanische Küste war jetzt nicht mehr fern – und immer noch hielt die „Isabella“ den nördlichen Kurs. Was in aller Welt haben diese Bastarde vor? dachte Don Pedro. Um halb fünf ertönte das Zeitzeichen wie der Schlag einer Totenglocke. Stille herrschte an Bord. Die Männer blickten sich untereinander an. Die Spannung war bis zum Zerreißen gespannt. „Senor Comandante“, sagte der Erste Offizier, der neben Don Pedro getreten war. „Diese englischen Hundesöhne wollen uns auf die Escollos, die Klippfelsen im Uferwasser, lenken.“ „Unmöglich“, sagte der Kommandant. „Sie können uns nicht für so dumm halten. Kein halbwegs erfahrener Seemann würde in eine solche Falle gehen, nicht bei diesem Wetter, nicht bei dieser Sicht.“ „Vielleicht haben sie sich verrechnet. Vielleicht dachten sie, die Küste erst bei Dunkelheit zu erreichen.“ De Azcuenaga gab einen ärgerlichen Laut von sich. „Aber in dem Fall wären sie doch selbst gefährdet. Leuchtet Ihnen das nicht ein?“ Der Erste wollte etwas erwidern, doch in diesem Augenblick ertönte die Stimme des Ausgucks über ihren Köpfen. „Senor! Deck! Land ho, die Küste ist in Sicht!“
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„Kap de Gata“, sagte Don Pedro. „Jetzt wird sich ja gleich zeigen, was sie vorhaben.“ „Senor!“ schrie der Ausguck. „Der Feind hat eine Flagge im Besantopp gehißt! Die Flagge der spanischen Galeonen!“ Verblüfft richtete der Kommandant sein Spektiv nach vorn und sandte seinen Blick unter dem Unterliek des Großsegels und der Fock hindurch und am Bugspriet mit der Blinden vorbei zur „Isabella“. Wie zum Greifen nah erschien sie in dem Kreisausschnitt der Optik, und tatsächlich, die Flagge mit dem gekrönten schwarzen Adler und dem Band des Ordens vom Goldenen Vlies auf rot-weiß-gelbem Grund flatterte munter im Wind. „Erster!“ rief de Azcuenaga. „Holen Sie sofort den Berber! Sofort, haben Sie verstanden?“ Wenige Augenblicke später stand Mechmed vorn auf dem Achterdeck und durfte selbst einen Blick durch das Spektiv des Kommandanten werden. „Da“, sagte Don Pedro. „Sehen Sie doch, Sie Narr! Sie haben sich getäuscht. Das ist nicht die ‚Isabella’ –kein englisches Korsarenschiff! Wir sind die ganze Zeit über einem Landsmann nachgesegelt! Begreifen Sie, was das für uns heißt?“ Mechmed dachte: Wer mich einen Narren schimpft, muß sterben. Ich werde dich erdolchen, Sohn einer räudigen Hündin und eines Schakals! „Senor Comandante“, sagte der erste Offizier. „Ich wette, das ist ein Trick.“ „Ein Trick?“ Don Pedro sann nach. Hatte dieser Lucio do Velho, den er seinerzeit in Malaga getroffen hatte, ihm nicht auch davon erzählt, daß der Seewolf die ausgefallensten Mittel anwendete, um seine Gegner zu täuschen? Konnte ein englischer Korsar nicht im Besitz von spanischen, portugiesischen, ja, von Dutzenden erbeuteter Flaggen sein? „Eins steht fest“, sagte der Erste überzeugt. „Wenn der Kapitän der Galeone nicht bald anluven läßt, riskiert er, selbst auf Legerwall gedrückt zu werden.“ Sie schwiegen und beobachteten weiter.
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Kurze Zeit später rief der Ausguck: „Er luvt an und geht auf Ostkurs!“ „Jetzt haben wir ihn“. sagte Don Pedro. „Wir gehen vier Strich Steuerbord, halten auf ihn zu und zwingen ihn durch einen Schuß vor den Bug, beizudrehen. Haben wir ihn erst einmal auf Rufweite vor uns, wird sich ja zeigen, welcher Nationalität er wirklich ist.“ „Ja“, sagte Mechmed mit verzerrter Miene. „Dann können Dalida und ich nämlich mühelos erkennen, ob wir die Mörder Abu Al-Hassans vor uns haben oder nicht. Ich bin nach wie vor sicher, daß sie es sind. Ich schwöre, daß ich mich nicht geirrt habe.“ Tatsächlich hatte er recht. Nur in einem Punkt lag er falsch: Nicht die Seewölfe waren es gewesen, die Abu Al-Hassan getötet hatten. Kabil, der Junge vorn Stamme der Shilh, hatte den Mann erschossen und sich so an dem gerächt, der ihn vor drei Jahren zusammen mit anderen Leidensgenossen aus seinem Dorf entführt hatte. Kabils Eltern lebten nicht mehr, Abu Al-Hassan hatte sie umbringen lassen. Abu war ein skrupelloser Menschenhändler gewesen, ein Sklavenjäger und Rauschgiftschmuggler. Doch dieser Umstand war bei dem nun folgenden Geschehen nicht von Bedeutung. Die „Isabella“ richtete ihren Bugspriet nach Osten, es sah aus, als wolle sie fliehen. Die „San Yuste“ würde, wie Don Pedro sich ausrechnete, im spitzen Winkel auf den Gegner zulaufen, steuerte also Kollisionskurs. Es war unmöglich, daß die „Isabella“ unter diesen Voraussetzungen noch entwischte. Don Pedro gab das Zeichen, die Stückpforten hochzuziehen und die längst geladenen Kanonen auszurennen. Knarrend öffneten sich die Pforten, rumpelnd bewegten sich die Geschütze auf ihren Hartholzrädern. Plötzlich meldete sich wieder der Ausguck. „Senor Commandante – er luvt weiter an!“ Verblüfft stützte Don Pedro de Azcuenaga die Hände auf die Leiste der Schmuckbalustrade und blickte zu dem anrauschenden Gegner hinüber. Mit
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einemmal sah es so aus, als wolle die „Isabella“ über Stag gehen und somit genau auf die „San Yuste“ zu manövrieren. Por Dios, dachte Don Pedro entsetzt, das ist doch nicht die Möglichkeit! Was hat der Hund vor - will er uns rammen? * Hasard war zu Bill in den Großmars aufgeentert. Durch sein Spektiv konnte er jetzt, da die „Isabella“ auf seinen Befehl hin einen Kreuzschlag nach Südosten fuhr, fast alle Einzelheiten auf den Decks der spanischen Kriegsgaleone erkennen -sogar den Namen, der in verschnörkelten Buchstaben auf die Querwand des Achterkastells gepinselt war. „San Yuste`“, entzifferte er. „Das stimmt doch, Bill, oder?“ Bill blickte ebenfalls unausgesetzt durch sein Fernrohr. „Aye, Sir. Ich sehe auch den Kommandanten auf dem Achterdeck. Ein Mann mit Bart - er scheint zu überlegen, was er tun soll.“ Der Seewolf stieß einen Laut der Genugtuung aus. „Ich hatte ja gesagt, wir geben ihm ein Rätsel auf, mit dem er einige Zeit zu tun hat. Natürlich hatte ich nicht vor, ihn auf die Küstenfelsen zu lotsen, darauf wäre er nie hereingefallen. Mir ging es um etwas anderes: daß er nämlich ernsthaft daran zweifelt, wer wir in Wirklichkeit sind. Verstehst du, Bill?“ „Sicher. Auf einen Landsmann darf er nicht schießen. Er wird es sich zehnmal überlegen.“ „Dadurch gewinnen wir einen gewissen Vorteil. Ich will die Luvposition, Bill.“ Hasard beobachtete weiter, was sich auf dem Achterdeck tat, und sagte dann unvermittelt: „Da haben wir’s. Entlarvt werden wir ohnehin. Die schwarzhaarige Lady, die oben auf der Kampanje steht, kann niemand anders als Dalida sein.“ „Die Ägypterin, die Mister Carberry - äh, in eine Falle locken wollte?“ „Ja. Und neben ihr erkenne ich einen ganz in Schwarz gekleideten hageren Mann. Du auch, Bill?“
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„Richtig. Könnte das nicht Mechmed, der Berber, sein, von dem Miß Sieglinde erzählt hat?“ „Die Beschreibung paßt auf ihn. Nun, Mechmed dürfte unser Schiff wiedererkennen, er hat es bei unserem Angriff auf den ,Hof des Herkules’ ja aus geringer Entfernung gesehen. Dalida kann sich unserer Gesichter entsinnen. Jetzt wird mir so einiges klar. Himmel, ich hatte ja auch schon damit gerechnet, daß sich zumindest die Berber mit den Spaniern verbünden würden, um sich an uns zu rächen.“ „Sir“, sagte Bill. „Der Don ist wahrhaftig gut armiert. Ich sehe vierundzwanzig Kanonen auf dem Hauptdeck und dem Quarterdeck. Allein achtzehn davon dürften Culverinen sein.“ Der Seewolf folgte Bills Blickrichtung mit dem Spektiv. „Stimmt. Der Rest sind Zwölf- und Neunpfünder. Nun, wir haben unsere sechzehn Culverinen und die vier Drehbassen dagegenzuhalten. Mal sehen, wer nun wirklich der Stärkere ist.“ Die „Isabella“ lief jetzt mit so dicht wie möglich angebraß ten Segeln strikt auf Südost-Kurs. Da die „San Yuste“ nach wie vor ihre nordöstliche Richtung hielt, bewegten sich die Schiffe also im rechten Winkel aufeinander zu. Hasard hatte eine Überraschungsrechnung aufgestellt. Die „San Yuste“ war schnell, erstaunlich schnell sogar. Aber ihr gegenüber hatte die „Isabella“ immer noch einen kleinen Trumpf auszuspielen: Ihre langen, ausladenden Rahen verliehen ihr ausgezeichnete Am-Wind-Eigenschaften und eine überragende Wendigkeit. Soweit der Seewolf durch seine Beobachtungen hatte feststellen können, konnte der Spanier hier nicht mithalten. Er hatte hohe Masten und viel Segelfläche zu bieten, mehr Tuch als sein Gegner, woraus sich seine große Geschwindigkeit erklärte, doch in seinen Manövriereigenschaften schien er der „Isabella“ unterlegen zu sein. Auf dieser Tatsache beruhte Hasards Kalkül. Er wollte vor der „San Yuste“ den Schnittpunkt der Kurslinien erreicht haben, wollte vor ihrem Bug durchlaufen und
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dann, in Luv, tatsächlich über Stag gehen und den Feind von hinten angreifen. Und wirklich: Die „Isabella“ pflügte die See, als gelte es, einem drohenden Orkan zu entgehen. Sie verlor nicht an Tempo, sondern gewann jetzt nur noch dazu, holte auf und schickte sich an, vor Don Pedro de Azcuenagas Nase vorbeizugleiten, so frech und gottesfürchtig, wie sie es bei allen früheren Raids gegen die Spanier getan hatte. Don Pedro durfte jetzt nicht länger zögern. Er mußte etwas unternehmen. Noch vermochte Dalida, die auf sein Geheiß hin von der Kampanje aus mit einem Spektiv zur „Isabella“ hinüberspähte, nicht zu erkennen, ob es sich bei der Besatzung wahrhaftig um die Männer handelte, die in der vergangenen Nacht in den Harem eingedrungen waren. Doch den Zeitpunkt und die entsprechende Distanz, um dem anderen eine Kugel vor den Bug zu setzen, durfte Don Pedro auf keinen Fall verpassen. Er gab seinem Ersten Offizier einen Wink. Der wandte sich den Männern auf dem Hauptdeck zu und rief: „Buggeschütz Backbord — Feuer frei!“ Der Stückmeister leitete den Befehl an den Geschützführer weiter, und dieser senkte das Ende der Lunte in die glühende Holzkohle zu seinen Füßen, hob dann den Luntenstock und hielt ihn an das Bodenstück der Demi-Culverine, deren Mündung drohend aus der offenen Pforte genau auf die „Isabella“ zuragte. Der Geschützführer und die Ladenummer sprangen zur Seite. Donnernd explodierte die Pulverladung und stieß die Kugel aus dem Rohr. Mit der gleichen Wucht rollte der Neunpfünder rückwärts und wurde durch seine Brooktaue aufgefangen, während das Geschoß zur Feind-Galeone hinüberheulte und keine halbe Kabellänge vor ihrem Vorsteven in die Wellen schlug. Das Wasser stieg trichterförmig auf und fiel wieder in sich zusammen. Wieder gab Don Pedro de Azcuenaga einen Wink, und der Erste ließ dem Ausguck im Großmars die Anweisung
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vermitteln, zur „Isabella“ hinüber zu signalisieren. Dort war mittlerweile Batuti mit Pfeil und Bogen sowie einem kleinen Gefäß voll Holzkohle in den Vormars aufgeentert. Big Old Shane folgte auf Hasards Order hin seinem Beispiel und kletterte soeben in den Luvhauptwanten zum Großmars hinauf. Über seinem Kopf beugte sich Bill über die Segeltuchumrandung der Plattform und rief: „Sir! Der Spanier signalisiert! Er will, daß wir beidrehen und ihn auf Rufweite heranlassen!“ Hasard, der jetzt wieder auf dem Achterdeck stand, blickte zu der Wasserfontäne, die eben in sich zusammenfiel. Die Kriegserklärung war gegeben. Der nächste Schuß konnte der „Isabella“ die Galion und die Blinde zerfetzen oder in ihr Steuerbordschanzkleid schlagen. Doch dieses Risiko mußte er eingehen. Täuschen konnte er die Männer der „San Yuste“ nicht länger. Sich weiterhin als Spanier auszugeben, hatte keinen Zweck, denn Dalida als Zeugin würde jeden Versuch dieser Art unterbinden. Die Maske fiel, und der Seewolf war weder zur Kapitulation noch zu irgendwelchen Kompromissen bereit. „Pete!“ rief er seinem Rudergänger zu. „Kurs halten!“ „Aye, Sir!“ „Ferris, bist du bereit?“ „Aye, Sir!“ antwortete auch Ferris Tucker, der seine Flaschenabschußvorrichtung auf dem Achterdeck postiert hatte. „Dan“, sagte Hasard. „Wenn wir an dem Don vorbei sind, holst du die spanische Flagge nieder und hißt unseren White Ensign.“ „In Ordnung“, sagte Dan O’Flynn, der rechts neben ihm stand. Ben Brighton winkte Carberry zu und rief: „Ed, sag den Männern, sie sollen die Köpfe einziehen!“ „Jawohl!“ Der Profos fuhr zu Blacky, Matt Davies, Smoky, Luke Morgan, Stenmark und den anderen herum, die jetzt vollzählig versammelt auf der Kuhl und auf der Back waren und sich auf die Gefechtsstationen
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begeben hatten. „Steckt eure Rüben weg, ihr Satansbraten!“ schrie er. „Damit sie nicht noch weicher geklopft werden, als sie ohnehin schon sind! Gleich gibt’s Zunder!“. Er selbst duckte sich hinter die Nagelbank des Großmastes. In seiner linken Schulter war plötzlich wieder ein schmerzhaftes Zerren und Zucken. Fast erschien es ihm wie eine Ermahnung oder ein böses Omen. „Au, verdammt“, sagte er. „Pest noch mal.“ Old O’Flynn, der das Achterdeck verlassen hatte, trat hinter ihn und sagte: „Fluch man tüchtig, Ed. Du hast auch allen Grund dazu. Weißt du, wer an Bord des Dons mitsegelt?“ „Nein, keine Ahnung.“ „Hasard hat es uns eben gesagt. Es ist Dalida, die Ägypterin. Deine Freundin.“ „Wie? Wer? Die Oberhure aus dem Harem des Muftis Abu? Der Teufel soll sie holen. Oh, ich würde ihr gern eine Ladung grobes Salz in den Hintern jagen, und zwar als nachträglichen Dank für die freundliche Behandlung ...“ „Halt die Luft an“, zischte Old Donegal Daniel O’Flynn und bückte sich dabei. „Leg die Ohren an. Es geht los.“ Die „San Yuste“ segelte bei gleichbleibend raumem Wind und mit unverändertem Kurs auf die „Isabella“ zu, nah, sehr nah war sie jetzt, und ihre Konturen wuchsen zu gigantischer Größe. Ihre Segel verdeckten plötzlich die Sonne. Schatten fielen auf die Decks der „Isabella“. Ein Riese schien über sie herfallen und sie zerreißen zu wollen. Plötzlich nahmen die Dinge mit beängstigender Schnelligkeit ihren Lauf. „Sie sind es!“ schrie Dalida auf der Kampanje der „San Yuste“. „Ich erkenne sie wieder! Tötet diese Bastarde! Don Pedro, bringen Sie diese elenden Hurensöhne um, an erster Stelle Killigrew und dann als zweiten dieses häßliche Monstrum von einem Profos!“ „Schweigen Sie!“ rief de Azcuenaga. Mechmed verließ die Kampanje und gestikulierte erregt vor den versammelten Offizieren des Flaggschiffes herum. „Ich habe also doch recht gehabt. Sehen Sie
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jetzt endlich ein, daß Sie sich auf meine Worte verlassen können?“ „Ruhe!“ schrie der Kommandant. „Bringt den Kerl zum Schweigen!“ Der Bootsmann wandte sich mit zorniger Miene zu Mechmed um. Mechmed verstummte, aber in seinen Augen funkelte der Haß. „Buggeschütz Steuerbord!“ schrie der Azcuenaga. „Auf das Vorschiff zielen! Feuer frei!“ „Feuer!“ brüllte auch der Stückmeister. „Runter!“ rief an Bord der „Isabella“ Old O’Flynn und drückte den Profos mit sich auf die Planken. Carberry kochte vor Zorn. Er hatte genau verstanden, was die Ägypterin auf spanisch gerufen hatte. „Hast du das gehört? Ein häßliches Monstrum hat sie mich genannt! Dieses Satansweib! Diese verwanzte Hafenhure!“ Der Geschützführer am Buggeschütz der Steuerbordseite auf der „San Yuste“ hielt den Luntenstock mit der glimmenden Zündschnur bereits in der Hand. Durch die offene Stückpforte hatte er die „Isabella“ wie zum Greifen nah vor sich. „Wir rammen sie nicht“, sagte er verdutzt. „Sie läuft an uns vorbei.“ „Setze ihr die Kugel unter die Wasserlinie!“ rief der Stückmeister. „Dann kommt sie nicht mehr weit. Die Kugel reißt ihr den Bauch auf und ...“ Er mußte sich unterbrechen. Der Kanonier und die Ladenummer schrien gleichzeitig auf. Ein Feuerblitz stach von außen durch die Pforte, schrammte am Süll entlang und huschte dann wie ein Irrwisch ins Innere des Vordecks. Dies allein hätte noch nicht genügt, um den Geschützführer von dem Neunpfünder wegzuholen, doch plötzlich gab es eine ohrenbetäubende Detonation, die den gesamten Schiffsraum zu zerreißen schien. Stöhnend sanken die Spanier zusammen. Beißender Pulverqualm breitete sich aus und quoll durch die Stückpforte nach außen. Der Luntenstock mit der noch glühenden Zündschnur lag mit einemmal weit achtern im Vordecksgang -bis dorthin war er durch
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den Luftdruck geschleudert worden. Ehe sich der unverletzte Stückmeister aufrappeln und die Demi-Culverine selbst zünden konnte, war genug Zeit verstrichen: Die „Isabella“ zog stolz wie ein Schwan an der „San Yuste“ vorbei und segelte aus dem Schatten ins Sonnenlicht. 8. Hasards Männer johlten und winkten begeistert zu Batuti, dem schwarzen Herkules aus Gambia, hinauf. Der stand hochaufgerichtet im Vormars, schwenkte seinen Bogen, entblößte seine untadelig gewachsenen weißen Zähne und grinste, wie er nur grinsen konnte. „He!“ rief Shane vom Großmars zu ihm hinüber. „Besser konnte der Schuß nicht sitzen! Weiter so, alter Halunke!“ „Fein“, sagte Batuti. Er bückte sich, schürte die Glut in dem kleinen Gefäß wieder auf, griff sich den nächsten dickschäftigen, mit Pulver gefüllten Pfeil Big Old Shanes Erfindung -, entzündete die mit einem ölgetränkten Lappen umwickelte Spitze und legte erneut auf die „San Yuste“ an, die jetzt in Lee der „Isabella“ zurückblieb. Es war wirklich ein meisterhafter Schuß gewesen. Batuti hatte sich ausrechnen können, welches Geschütz die Spanier als nächstes zünden würden, und er hatte ja auch die Kommandorufe gehört, die von drüben herüberschallten. Dennoch war es ein fast von vornherein zum Scheitern verurteiltes Vorhaben gewesen, den Pulverpfeil durch die Stückpforte im Bug der Galeone schicken zu wollen. Daß es nun doch geklappt hatte, rief bei den Seewölfen ein vorzeitiges Triumphgefühl hervor. Fast vergaßen sie darüber, daß sie sich erst in der Anfangsphase des Gefechts befanden. Und das war nicht unbedingt ein Vorteil. Den Vorteil trachtete der Seewolf dadurch herauszuschinden, daß er die Luvposition eroberte und hielt -doch auch das war nicht einfach. „Wir wenden!“ rief er.
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„Über Stag!“ brüllte auch der Profos, der sich mit Old O’Flynn zusammen eben wieder hinter der Nagelbank erhob. Die Männer, die an den Kanonen zu entbehren waren, stürzten an die Schoten und Brassen, um die Rahen herumzuholen. Pete Ballie bewegte das Ruderrad. Die „Isabella“ richtete ihr Vorschiff in den Südwind und legte sich vom Backbord- auf den Steuerbordbug. Dan O’Flynn stand am Besanmast und vertauschte fingerfertig die spanische Flagge mit der englischen. Der White Ensign mit dem roten Georgskreuz auf weißem Grund flog in den Besantopp hinauf und grüßte provozierend zu den Spaniern hinüber. Auch Don Pedro de Azcuenaga ließ jetzt anluven, doch die „San Yuste“ kam schwerfälliger herum als die „Isabella“, wie Hasard es sich ausgerechnet hatte. Die „Isabella“ gewann mehr Abstand zu ihrem Gegner, ging mit einem weiteren Kreuzschlag auf südwestlichen Kurs und lag plötzlich parallel auf derselben Höhe mit der „San Yuste“. Don Pedro, der noch vor Wut über den jähen Pfeilschuß grollte, ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen. „Feuer!“ Sein Ruf tönte zu den Seewölfen herüber - und wieder nahmen sie hinter den Geschützen, hinter dem Schanzkleid, den Nagelbänken und den Lukenrändern auf dem Hauptdeck Deckung. Neun weiße Rauchwolken stiegen über dem Steuerbordschanzkleid der „San Yuste“ auf. Der Kommandant ließ die komplette Siebzehnpfünderbatterie der rechten Schiffsseite sprechen, und die Galeone erbebte unter den gewaltigen Explosionen, deren Krachen fast einstimmig ineinander fiel. Dalida schrie vor Entsetzen auf. Mechmed sah sie auf sich zu taumeln und hielt sie an den Armen fest, doch sie riß sich mit verzerrter Miene von seinem Griff los. Gespannt verfolgten die Spanier, was nun an Bord der „Isabella“ geschah. Besorgt waren die Mienen der Seewölfe. Deutlich folgte das Pfeifen der über die See rasenden Kugeln auf das verebbende
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Donnern der Geschütze - und dann war es soweit. Zwei Wassersäulen erhoben sich hinter dem Heck der „Isabella“, zwei gischtende Fontänen stiegen zwanzig bis dreißig Yards vor ihrer Bordwand hoch, aber die restlichen fünf Geschosse lagen im Ziel. Zwei 17-Pfünder-Kugeln heulten flach über das Hauptdeck weg. Die eine flog über das Backbordschanzkleid hinaus und verlor sich irgendwo im weiß werdenden Licht des Nachmittags. Die andere riß die Nagelbank des Großmastes um und polterte dann an Deck. Das Holz knackte, krachte und splitterte. Carberry und Old O’Flynn rollten sich zum Achterkastell hin ab, gerade noch rechtzeitig genug, um einem der wirbelnden Splitter oder der Eisenkugel selbst zu entgehen. Eine Kugel riß ein kopfgroßes Loch in die Bordwand der „Isabella“, die nächste hieb eine Bresche in das Schanzkleid der vorderen Kuhl und die fünfte bohrte sich keine drei Schritte von diesem Treffer entfernt durchs Schanzkleid und nahm eine der Culverinen mit. Die Culverine brach aus ihren Brooktauen aus und rollte plötzlich polternd quer übers Deck. Al Conroy und Sam Roskill, die sich in ihrer unmittelbaren Nähe befanden, konnten von Glück reden, daß sie nicht hinter der Kanone an Deck gelegen hatten, sonst wären sie von der Lafette zerquetscht worden. „Achtung!“ brüllte Al Conroy. Die Männer sprangen auseinander. Wie ein Geschoß raste die Kanone an ihnen vorbei, und zweifellos wäre sie auf der gegenüberliegenden Schiffsseite durch das Schanzkleid gestoßen und außenbords geflogen — wenn nicht die Beiboote gewesen wären. Krachend bohrte sich die Culverine mit ihrem Bodenstück und ihrer Lafette in die eine Jolle. Der Rumpf des Bootes gab nach, als bestünde er aus dünnern Sperrholz. Die Kanone verfing sich im Inneren des Bootsleibes und saß plötzlich fest. Sie bewegte sich weder vor noch zurück.
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„Die achteren vier Siebzehnpfünder!“ schrie der Seewolf, der vom Achterdeck aus alles verfolgt hatte. „Feuer !“ Blacky, Matt Davies, Smoky und Bob Grey zündeten die Ladungen der Geschütze. Die Kanonen ruckten zurück wie von Geisterhand bewegt, und die Kugeln der halben Steuerbordbatterie flogen zum Spanier hinüber und erwischten trotz der relativ großen Geschwindigkeit, mit der die Schiffe sich voneinander entfernten, noch dessen Achterkastell, genauer gesagt drei von ihnen, die vierte schlug wirkungslos in das Kielwasser. Die erste Kugel durchbohrte die Bordwand und torkelte bis in Don Pedros de Azcuenagas Kapitänskammer, wo sie als Andenken an die Schlacht liegenblieb. Die zweite lag tiefer, jedoch immer noch über der Wasserlinie. Auch sie hinterließ ein ansehnliches Loch in der hölzernen Haut des Schiffes. Die dritte nahm einen Teil des Schanzkleides mit und pfiff mit enormem Schub übers Achterdeck — so nah an Dalida und dem Berber vorbei, daß die Ägypterin vor Schreck in Ohnmacht fiel. Hasard war mit einem Satz auf der Kuhl. „Zu hoch!“ schrie er seinen Männern im Vorbeilaufen zu. „Zielt das nächste Mal tiefer! Wir müssen ihn unter der Wasserlinie treffen!“ „Aye, Sir!“ riefen die Männer. Hasard eilte weiter, zu Carberry und zu Old O’Flynn, die sich mit wüsten Flüchen von den Planken erhoben. „Alles klar bei euch?“ fragte er. „Soweit noch“, gab der Profos zurück. „Keine einzige Schramme, Sir. Aber das sollen die Dons uns büßen!“ Der Seewolf sprang über die Trümmer der Nagelbank auf die Kuhlgräting. „Al! Sam! Seid ihr verletzt?“ „Nein, Sir!“ tönte es zurück. „Ist sonst jemand verwundet?“ „Gott sei Dank nicht!“ rief der Kutscher vom vorderen Hauptdeck herüber. „Wir haben mächtiges Glück gehabt, Sir! Auch die Zwillinge sind wohlauf!“
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„Na, ein Segen“, sagte Hasard aufatmend. Er drehte sich zu Ben Brighton um, der ihn aufmerksam von der Balustrade des Achterdecks aus beobachtete. „Ben! Abfallen jetzt! Acht Strich Steuerbord und auf Kurs Nordwest!“ „Kurs Nordwest!“ wiederholte Ben. „Aye, Sir! Pete, acht Strich nach Steuerbord abfallen!“ „Sir!“ schrie Bill aus dem Großmars. „Der Don luvt an, um mit uns mitzuziehen, aber er kommt nicht schnell genug herum!“ „Gut!“ stieß Hasard grimmig aus. „Wir gehen wieder näher an ihn heran.“ „An die Brassen, an die Schoten, ihr Heringe!“ brüllte der Profos. „Schickt weg die verdammten Tampen, wir gehen wieder vor den Wind!“ Er selbst stürzte mit Old O’Flynn an die Fallen des Groß- und des Großmarssegels, um sie notdürftig zu klarieren. Der Schuß in die Nagelbank hatte das laufende Gut in heillose Unordnung gebracht, die Fallen drohten sich zu lösen. Dan O’Flynn verließ das Achterdeck, um seinem Vater und dem Profos zu helfen. Hasard war unterdessen bei der Culverine angelangt, die immer noch in das Beiboot verkeilt war. Al Conroy, Sam Roskill und Stenmark eilten zu seiner Unterstützung herbei. Mit vereinten Kräften bargen sie das Geschütz und rollten es zurück auf seinen Platz, während die „Isabella“ ihr Segelmanöver vollzog. Als sie auf Kurs Nordwest lag, hatten der Seewolf und seine Männer die nach wie vor geladene Culverine erneut befestigt. Das Schanzkleid war zwar erheblich ramponiert, doch die vorderen vier Geschütze der Steuerbordseite waren einsatzbereit. Hasard spähte über den Lauf der geretteten Kanone hinweg und sah die „San Yuste“ genau in der Ziellinie segeln. Sie lag quer zum Wind und schob sich nach Osten, würde im nächsten Moment nach Süden drehen und über Stag gehen wie die „Isabella“. Hasard griff selbst zur Lunte, dann schrie er: „Vordere vier Siebzehnpfünder — Feuer!“
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Wummernd entluden sich die Geschütze. Hasard zählte bis drei, dann hörte er drüben jenes wohlbekannte Knirschen und Bersten, das auf Treffer schließen ließ. Die Schreie der Spanier gellten zu ihnen herüber. „Hasard, Sir!“ schrie Big Old Shane vom Großmars herab. „Mindestens eine Kugel ist ihnen unter die Gürtellinie gegangen! Sie müssen abdichten und lenzen, wenn sie nicht absaufen wollen!“ „Ausgezeichnet“, sagte Hasard, dann kehrte er aufs Achterdeck zurück. Ehe er den Niedergang erreichte, flog jedoch das Schott des Achterkastells auf, und Sieglinde Kramer trat halb heraus. . „Mister Killigrew!“ rief sie. „Sie können Victoria und mich meinetwegen zu je einer Woche Vorpiek vergattern. Wir haben wieder gegen Ihre Befehle verstoßen., aber es ist mir egal — scheißegal!“ Er blieb stehen und sah sie verwundert an. „Scheißegal? Da schlag doch einer lang hin. Seit wann reden Sie so unverblümt, Miß Sieglinde?“ „Von jetzt an immer“, erwiderte sie trotzig. „Hören Sie zu. Victoria und ich haben soeben die Frachträume überprüft. Es gibt Keine Lecks. Keine Treffer unter der Wasserlinie. Das wollte ich ihnen melden, mehr nicht.“ Er lachte und bekundete seinen Dank durch eine halbe Verbeugung. „Sehr zuvorkommend, meine Liebe“, sagte er. „Dadurch haben Sie uns wirklich eine Arbeit abgenommen. Danke. Wie steht es bei Ihrer Truppe mit der Moral?“ „Die Moral ist immer noch ausgezeichnet. Wenn die Spanier entern, dann kämpfen wir alle — außer Melinda vielleicht — notfalls mit Händen und Füßen um unser Leben.“ Er sagte: „Sehr gut. Eine lobenswerte Einstellung. Aber die Spanier entern uns nicht, verlassen Sie sich drauf.“ Seine Miene wurde wieder ernst. „So, und jetzt verschwinden Sie wieder!“ Sie rammte das Schott zu und war verschwunden. Hasard enterte das Achterdeck und gab seine nächste Order: „Abfallen und vor den Wind!“ Was er
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nicht sehen konnte, war, daß Sieglinde lächelte, als sie zu ihren Freundinnen im Achterkastell zurückkehrte. Sie lächelte richtig zufrieden und dachte: Na warte, Mister Killigrew, dir werde ich’s schon noch zeigen. Hast du vielleicht gedacht, unsereins kriegt es mit der Angst zu tun, wenn die Kanonen sprechen? 9. Erst jetzt begriff Don Pedro de Azcuenaga, daß er einen Fehler begangen hatte. Die „Isabella“ begab sich auf Nordkurs, schob sich wieder näher an ihn heran, er aber brachte die „San Yuste“ nicht rechtzeitig genug herum. Sie steuerte jetzt hoch am Wind liegend nach Südosten, aber ihre Steuerbordgeschütze waren noch nicht wieder nachgeladen, so daß sie einer neuen Attacke der Engländer nicht begegnen konnte. Er hätte die „San Yuste“ abfallen lassen und auf Parallelkurs zum Gegner gehen sollen, um die Backbordkanonen zum Einsatz bringen zu können. Aber dazu war es jetzt zu spät. Hatte er denn ahnen können, was Philip Hasard Killigrew plante? Die „Isabella“ behielt ihren Kurs nicht bei — sie halste. Plötzlich hatte sie ihren Bugspriet auf das spanische Kriegsschiff gerichtet. Plötzlich belferten die vorderen Drehbassen, und dann flogen Brandpfeile wie ein Hagel von Feuerzungen in die Takelage der „San Yuste“. Don Pedro sah sich in eine bedrohliche Lage versetzt, aus der es keinen Ausweg zu geben schien. Entsetzt beugte er sich über die Balustrade des Achterdecks und schrie: „Schneller an den Kanonen! Por Dios, wollt ihr, daß wir alle sterben?“ Nein, das wollte keiner von ihnen —am allerwenigsten wollten es Dalida und Mechmed. Dalida war wieder zu sich gekommen und kroch rückwärts zum Backbordschanzkleid des Achterdecks. In panischer Angst blickte sie zu den Segeln auf, die Feuer fingen wie trockenes Stroh.
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„Allah steh uns bei“, jammerte sie immer wieder. „Allah ist groß, Allah ist mächtig. Ich will leben, leben, leben.“ Mechmed überlegte, ob es ratsam sei, ins Wasser zu springen. Doch er zog es vor, an Bord zu bleiben. Die See war nicht nur vor Marokkos Küsten, sondern sicherlich auch hier von Haien verseucht, die durch die Straße von Gibraltar vom Atlantik aus eindrangen. Unter diesem Aspekt war es ratsam, vorläufig nicht von der „San Yuste“ zu weichen, obwohl es dem Berber mittlerweile aufgegangen war, wer den Sieg davontragen würde. Don Pedro trachtete, die Galeone wieder auf östlichen Kurs zu bringen. Die Flucht vor dem feuerspuckenden Gegner erschien ihm jetzt als das einzige Mittel, das sie noch vor der endgültigen Niederlage bewahren konnte. Damals, in Malaga, hatte er über jenen Lucio do Velho, der ihm ein wahrer Don Quichotte zu sein schien, verstohlen gelächelt. Ein Pechvogel, hatte er gedacht, es hätte ihm gelingen müssen, diesen „El Lobo del Mar“ zu stellen und in einer glanzvollen Schlacht zu vernichten. Heute fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Do Velho war kein Ritter von der traurigen Gestalt, und er, de Azcuenaga, hatte diesen Killigrew und dessen Mannschaft von verwegenen Teufeln gründlich unterschätzt. Die „Isabella“ holte immer mehr auf. Fassungslosigkeit und Panik spiegelten sich nun auch in den Zügen des Ersten Offiziers der „San Yuste“. Er blickte zum gegnerischen Schiff, dann zu seinem Kommandanten und rief: „Senor Comandante, die Engländer wollen uns entern:“ Die Steuerbordgeschütze waren immer noch nicht nachgeladen. Don Pedro entschloß sich, doch abzufallen und in verzweifelter Widerwehr die Backbordbatterie auf die „Isabella“ abzufeuern. Wütend rief er seine Befehle. War es denn möglich, daß er mit seinem so fortschrittlich konstruierten Kriegsschiff nur eine einzige Breitseite auf den Feind abfeuern konnte?
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Es war möglich. Er mußte es einsehen, als der Seewolf das letzte Register in der Auswahl seiner Kampfmittel zog. Flaschen wirbelten durch die Luft, simple Flaschen aus weißem und grünem Glas - doch als sie auf der „San Yuste“ aufprallten, stellte sich heraus, daß sie es in sich hatten. Krachend zerplatzten sie und rissen Löcher in die Decks und ins Schanzkleid. Feuerbälle schienen über die Planken zu rasen. Die Seeleute und Soldaten schrien gellend durcheinander. Ferris Tucker hatte seine selbstkonstruierte Abschußvorrichtung in Aktion gesetzt. Er hörte nicht auf, Flaschenbombe um Flaschenbombe zu dem Gegner hinüberzusenden. Mitten in das Explodieren der mit Pulver, Glas, Blei und Eisen gefüllten Flaschen fiel das Wummern der vorderen Drehbassen. Smoky und Al Conroy, die inzwischen die Back erklommen hatten, hatten nachgeladen und schickten die Kugeln der beiden Hinterlader haargenau in die Ruderanlage der „San Yuste“. Das Ruder zerbrach. Steuerlos trieb die Galeone der Spanier jetzt in der See, ein loderndes Wrack, das mehr und mehr Wasser zog und zu sinken drohte. Aus war der Traum vom Ruhm und vom rasch verdienten Kopfgeld, von der Belobigung durch König Philipp II. und von der Bewunderung, die Don Pedro, dem Bezwinger des gefürchteten Seewolfes, von allen Seiten zuteil wurde. Don Pedro de Azcuenaga mußte selbst mit Hand anlegen, wenn er sein Schiff noch retten wollte. Er stürzte auf das Hauptdeck hinunter, griff nach einer Segeltuchpütz voll Seewasser und kippte sie über einem der flackernden Feuer aus. Nur fünf Meilen waren es zum Kap de Gate, und doch war es fraglich, ob die „San Yuste“ diese knappe Distanz noch überbrücken würde, ohne zu sinken. Langsam neigte sich das Schiff nach Backbord, einem flügellahmen Riesenvogel gleich, der es leid geworden war, um sein Dasein zu kämpfen. Kap de Gata - dort, am Ufer, liefen jetzt Menschen zusammen, Fischer und Bauern,
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die über winzige Boote verfügten, jedoch nicht den Mut hatten, auszulaufen und zu der stark in Bedrängnis geratenen Galeone zu segeln - Kap de Gata wurde für die „San Yuste“ und ihre Besatzung zu einem Kap der Hölle. Don Pedro rannte zu den unteren Decks seines Schiffes hinab, um die Männer an den Pumpen anzutreiben. Noch dringender als das Löschen der Feuer war das Abdichten des großen Lecks unter der Wasserlinie. Gelang es ihm nicht, der Situation Herr zu werden, blieb nur noch eines: Sie mußten die Beiboote abfieren und die Galeone ihrem weiteren Schicksal überlassen. Die „Isabella“ luvte wieder an und ging auf Kurs Ost-Süd-Ost. Sie se- gelte auf nur ein Drittel Kabellänge an der Bordwand des Feindschiffes vorbei und befand sich immer noch in Luv. Drüben schwiegen auch jetzt die Kanonen, da hatte man alle Hände voll zu tun, noch zu retten, was zu retten war. Nur Mechmed, der Berber, griff sich eine Muskete und rannte wutentbrannt zum Schanzkleid. Er konnte mit dem bloßen Auge den Seewolf auf dem Achterdeck der „Isabella“ stehen sehen, den großen, verwegenen, blauäugigen, schwarzhaarigen Mann, der ihm nun oft genug beschrieben worden war. Ihn wollte er töten, wenigstens ihn - und der Mannschaft „elender Giaurs“ für alle Zeiten den Kopf rauben. Mechmed legte auf ihn an und nahm sich die Zeit zum Zielen. Die Entfernung war noch nicht zu groß, er konnte treffen, wenn er es geschickt genug anstellte. Doch ein Brandpfeil raste heran und bohrte sich genau vor ihm ins Schanzkleid der „San Yuste“. Mit hartem Laut fuhr die Spitze in das Holz. Grell stach die Flamme hoch und versengte fast Mechmeds haßverzerrtes dunkles Gesicht. Er prallte zurück. Unversehens krümmte sich sein Finger um den Abzug, und die Muskete entlud sich nach oben, in den sich grau färbenden Himmel. Big Old Shane lachte grollend, als er verfolgte, wie der Berber auf dem
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Achterdeck der „San Yuste“ strauchelte und auf den Rücken fiel. „Geschieht dir recht, du Bastard“, sagte er. „Kannst noch froh sein, daß ich nicht auf deine Brust gezielt habe, du heimtückischer Hund.“ Shanes Pfeil war die letzte flammende Botschaft der „Isabella“ an die „San Yuste“. Die „Isabella“ glitt nach Osten zurück, hinein in die heranschleichende Dämmerung. Steuerlos und mit verbrennenden Segeln dümpelte die spanische Galeone in den Fluten - ein Bild des Jammers. * Hatte Don Pedro de Azcuenaga im stillen noch die Hoffnung gehegt, der Rest seines Verbandes würde durch den unveränderten Nordost-Kurs bevorteilt - über kurz oder lang auf den Feind treffen und ihn zusammenschießen, so wurde auch diese Illusion nach dem Hereinbrechen der. Dunkelheit zerstört. Und zwar geschah dies durch das Auftauchen der Schiffe selbst: Von Südosten segelten sie jetzt heran, die „San Gabriel“, die „Santa Agata“, die „Navegador“ und die Bagalla nebeneinander, alle vier mit leuchtenden Laternen. Die Kapitäne waren durch den Kanonenböller alarmiert worden und hatten sich sofort in die Richtung gewandt, aus der die Geräusche trotz des aus Süden wehenden Windes schwach an ihre Ohren drangen. So war der Verband wieder komplett, wenn auch unter gänzlich anderen Gegebenheiten, als sich Don Pedro vorgestellt hatte. . Immerhin, die Mannschaften der beiden Frachtgaleonen und der Kriegskaravelle konnten beim Löschen der Feuer und beim Abdichten der Lecks mithelfen. Und auch Mechmeds Berber beteiligten sich an den Rettungsarbeiten. So wurde die „San Yuste“ vor dem drohenden Untergang bewahrt. Zwei Stunden nach dem Dunkelwerden war der Brand erstickt. Kein Wasser strömte mehr in die
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Ballasträume und die Munitionsdepots im Unterschiff, das letzte Naß wurde mit Hilfe der Pumpen gelenzt. Die Schiffszimmerleute bauten der Galeone ein Notruder. Die Sturmsegel, mit deren Hilfe sie zur nahen Küste gelangen sollte, um in den nächsten Hafen zu verholen, konnten gesetzt werden. Don Pedro de Azcuenaga enterte an Bord der „Navegador“ über. Mechmed und Dalida begaben sich auf die Bagalla. Die Jagd war noch nicht zu Ende. Gemeinsam segelten die beiden Galeonen, die Kriegskaravelle und die Bagalla nach Nordosten ab, in der Hoffnung, die „Isabella“ doch noch zu stellen und einzukreisen. Eine derart schmähliche Niederlage konnten und wollten weder der Kommandant des Verbandes noch seine marokkanischen Verbündeten hinnehmen. * Die Nacht und der darauffolgende Tag verstrichen an Bord der „Isabella“ mit den erforderlichen Instandsetzungsarbeiten. Die Lecks wurden abgedichtet und durch neue Wegerungen gesichert, das Schanzkleid repariert und eine neue Nagelbank für den Großmast gezimmert. Ferris Tucker, Al Conroy, Will Thorne, Stenmark und Jeff Bowie begaben sich anschließend daran, auch das durch die Culverine ramponierte Beiboot so zu flicken, daß man den Schaden anschließend nicht mehr sehen konnte. Geschickte, erfahrene Hände waren am Werk, fast pausenlos, und am Abend dieses 25. Septembers sanken die Männer erschöpft in ihre Kojen und Hängematten. Am 26. September wurde das laufende und stehende Gut vollends klariert. Das Rigg wurde kontrolliert und justiert, bis es „wie eine Eins“ stand. Die Gefechtsstationen wurden überprüft, und auch der kleinste Schaden an den Culverinen und Drehbassen wurde behoben, bis alles wieder bis aufs I-Tüpfelchen stimmte. Zuletzt wurden die Decks mit Schwabber und Holy Stone gesäubert, und im
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Anschluß daran unternahm der Seewolf eine ausgiebige Inspektionsrunde, deren Ergebnis zu seiner völligen Zufriedenheit verlief. Er versammelte die Männer auf dem Hauptdeck und ließ eine Extraration Whisky verteilen. Die Zwillinge drückten den Männern die Becher und die Mucks in die Hände, und der Kutscher eilte mit einer kleinen Korbflasche auf und ab. Hasard stand mitten zwischen seinen Männern, hob die volle Muck und rief: „Auf unseren Sieg! Wir haben es wieder einmal geschafft, dem Teufel von der Schippe zu springen! Das muß gefeiert werden!“ „Männer!“ sagte der Profos so leise wie möglich, aber immer noch laut genug, daß es auch Sieglinde, Victoria, Melinda und die anderen Frauen im Achterkastell verstehen konnten. „Dreimal kräftig gegen den Wind spucken und - Besanschot an!“ Kabil, der ehemalige Stalljunge des Abu Al-Hassan, war bei dieser Feier mit dabei und ließ sich von Dan O’Flynn ins Spanische übersetzen, was gesprochen wurde. Nachdem die Männer lachend angestoßen und getrunken hatten, erhob er sich von seinem Platz auf dem Backbordniedergang des Achterkastells und sagte: „Senor Killigrew - darf Kabil sprechen?“ Erstaunt wandte Hasard sich zu ihm um. „Bitte“, sagte er. „Wir alle gut zufrieden“, begann der Junge in seinem holprigen, fehlerhaften Spanisch. „Beni, Ofania, Ada und weiße Mädchen und ich -voll des Dankes. Wir nie vergessen werden, was Seewölfe für uns getan haben. Wieder ihr habt euer Leben für das unsere eingesetzt, wieder gesiegt. Aber hättet ihr auch verlieren können wegen uns. Wir all das zu würdigen wissen. Wahre Freundschaft, gute Freundschaft ist das, wenn Freunde für Freunde kämpfen.“ Er lächelte verlegen. „Meine Worte nicht sehr gut, Spanisch ist schlecht. Aber Herz lacht mir im Leibe, und verneige ich mich vor meine Lebensretter. Allah akbar — Allah ist groß, Allah ist mächtig.“ Er sank auf die
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Knie und senkte seine Stirn auf die Planken. In dieser Haltung verharrte er und stand erst wieder auf, als der Seewolf zu ihm trat und ihm die Hand auf die Schulter legte. Hasard war sichtlich ergriffen. „Du glaubst gar nicht, wie viel mir deine Worte wert sind, mein lieber Kabil“, sagte er. Der Shilh-Junge lächelte und ergriff die Hand, die Hasard ihm hinhielt. Stumm drückte er sie. „Na also“, sagte Smoky, der bei Carberry, Blacky, Matt Davies und einigen anderen Männern stand. „Das ist mal eine feine Runde — und der Bordfrieden scheint wiederhergestellt zu sein.“ „War er denn jemals gestört?“ fragte der Profos. „Ach wo“, sagte Blacky. „Aber jetzt, nachdem wir uns so tapfer geschlagen haben, könnte Hasard die Ladys doch eigentlich mal auf die Kuhl lassen. Nur zu einem kleinen Umtrunk. Mehr will der Mensch ja gar nicht.“ Carberry schoß einen zornigen. Blick auf ihn ab. „Mann, Blacky, ausgerechnet du sagst so was? Laß ihn das bloß nicht hören, sonst gibt es Krach. An seinen Befehlen ändert sich nichts. Die Frauen bleiben, wo sie sind.“ „Schon gut“, brummte Matt Davies. „Wir haben’s ja begriffen.“ Old O’Flynn, der nicht weit entfernt stand und jedes Wort gehört hatte, blickte in die verdrossenen Mienen der Männer und wußte wie alle anderen, daß noch lange nicht alles in Ordnung war. 10. 27. September 1591 — wieder Sonne, wieder Wind aus Süden und nur eine schwache Dünung, die die See kräuselte. Vereinzelte Wolkenfragmente trieben am Himmel wie verlorene Seelen, doch eine Wetterverschlechterung war nicht abzusehen. Die Männer der „Isabella“ hätten froh darüber sein sollen, aber Hasard, der selbst nahezu pausenlos die Gesichter seiner Männer beobachtete, gelangte zu der
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Überzeugung, daß in ihrer Lage eher ein Sturm wünschenswert gewesen wäre, irgend etwas, das die an Nerven und Gemüt nagende Langeweile ablöste. Ibiza und Formentera waren nicht mehr fern, doch es würde noch gut einer Tagesreise bedürfen, um zumindest die kleinste der Balearen zu erreichen. Vierundzwanzig Stunden, in denen viel passieren konnte — vierundzwanzig Stunden, die angefüllt waren mit dem Gedanken an die Frauen, mit all den unerreichbaren Sehnsüchten, die im Geist von Seeleuten herumspukten, wenn sie schon lange kein weibliches Wesen mehr gehabt hatten. Es war fast körperlich spürbar, wie die Spannung wuchs. Zehn Frauen an Bord — und man durfte nicht an sie heran, nicht einmal, um ihnen ein Kompliment zu sagen, ein Gespräch mit ihnen zu führen. Der allgemeine Unmut wuchs. Hasard kannte alle Konsequenzen, die sich selbst bei einer so guten, fest zusammen geschmiedeten Crew dadurch ergeben konnten. Dennoch änderte er nichts an seinen einmal festgelegten Bestimmungen. Jetzt, so nah vor den Inseln, von denen er sich eine Lösung des Problems erhoffte, konnte eine neue Entscheidung, ein Zugeständnis an die Wünsche der Mannschaft, leicht als Schwäche ausgelegt werden. Überall schwelte und gärte es. Irgendwann mußte der Vulkan zum Ausbruch kommen. Hasard war auf alles gefaßt. Er gönnte sich keine Ruhepause und hatte die Crew ständig im Auge. Wenn der Kessel überkochte, durfte er keine Nachsicht üben. Dann mußte er ein Exempel statuieren, ohne jegliche Rücksicht auf die Person des jeweiligen Sündenbocks oder Quertreibers. Endlich, endlich schien eine Änderung der Lage einzutreten, als Bill um zehn Uhr morgens Mastspitzen an der südwestlichen Kimm meldete. Plötzlich war wieder Leben an Bord. Die Männer kletterten in den Wanten hoch und richteten die Kieker zum Horizont.
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„Drei Schiffe — nein, vier“, sagte Dan O’Flynn. „Zwei davon könnten Galeonen sein, sie haben je drei Masten. Das dritte halte ich für eine Karavelle, ein flotter Zweimaster, lateinergetakelt.“ „Und das vierte Schiff?“ fragte der Seewolf. „Zweifellos ein Araber, Sir!“ rief Bill aus dem Großmars. „Er hat zwei Masten mit Dreieckssegeln! Seiner Bauart nach halte ich ihn für eine Bagalla!“ „Da haben wir’s“, sagte Ben Brighton, der eben. neben den Seewolf getreten war. „Mechmed und seine Berber an Bord der Bagalla. Sie lassen nicht locker, oder?“ „Und die Galeonen und die Karavelle?“ rief Old O’Flynn, der gerade von der Kuhl zum Achterdeck hochstieg. „Das sind doch mit Sicherheit Spanier, oder? Aber ist die ,San Yuste` etwa wieder mit dabei?“ „Nein, unmöglich“, erwiderte sein Sohn. Hasard hatte sein Spektiv inzwischen auch auseinandergezogen und blickte hindurch. „Das sind andere Galeonen“, stellte er nach einer Weile fest. „Aber ich könnte mir vorstellen, daß sie zu dem Verband gehören, der von der ,San Yuste` geführt würde. Dieser Verband wurde in der Nacht vor unserer Schlacht auseinandergerissen. Irgendwie hat er aber doch wieder unsere Spur aufgenommen und setzt die Verfolgung fort.“ „Das hat uns gerade noch gefehlt“, sagte Ben Brighton entrüstet. „Hört denn das nie auf?“ Hasard ließ das Spektiv sinken und blickte ihn an. „Der Beschaffenheit der Schiffe nach zu urteilen, sind sie nicht so schnell wie die ,San Yuste` — keins von ihnen. Ihr Auftauchen ist nur von kurzer Dauer, wahrscheinlich haben sie es einer günstigen Strömung zu verdanken, daß sie näher an uns herangelangt sind. Sie schaffen es aber nicht, uns wirklich einzuholen.“ „Trotzdem ist es eine verzwickte Lage“, meinte der alte O’Flynn. „Wie sollen wir nach einem Schiff für unsere Ladys suchen, wenn wir dauernd die Dons am Hintern haben?“
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„Warten wir die Dunkelheit ab`’, sagte Hasard. „Dann können wir versuchen, sie irgendwie zu überlisten.“ Er sprach mit voller Überzeugung, aber weder Ben. noch Dan, der alte O’Flynn, Ferris oder Shane schenkten seinen Worten den rechten Glauben. Die Unruhe und Bedrückung, die auf der Kuhl herrschten, hatten auch auf das Achterdeck übergegriffen. * Am frühen Nachmittag verschwanden die Verfolger so plötzlich, wie sie an der Kimm aufgetaucht waren. Weder die Galeonen noch die Karavelle oder die Bagalla zeigten sich im Verlauf der nächsten Stunden von neuem, doch das Mißtrauen, das sich zwischen den Männern der „Isabella“ ausgebreitet hatte, wich um keinen Deut. Blacky hatte sich mit dem Rücken gegen das Rohr der einen Backbordculverine gelehnt und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was wird jetzt?“ sagte er zu Stenmark, der gerade mit verdrossener Miene an ihm vorbei schleichen wollte. „Wir haben die Kanonen wieder geladen. Wir sind wieder gefechtsbereit. Sollen wir sie ausrennen oder was?“ „Weiß ich das?“ fragte der Schwede unfreundlich zurück. „Bin ich ein Hellseher? Der Jonas vielleicht, der hinter die Kimm gucken kann? Frag doch Donegal, der wird’s dir sagen können.“ „Ach, Unsinn.“ Matt Davies trat hinzu und sagte: „Hasard hat genaue Positionsberechnungen vorgenommen. Wir segeln direkt auf Formentera zu und befinden uns jetzt höchstens noch zwanzig Meilen querab vom Cabo Berberia. Wir treffen also früher am Ziel ein, als geplant.“ „Ist das was wert?“ brummte Blacky. „Wenn die Dons schlau sind, fangen sie uns irgendwie ab. Wieder so ein verdammtes Kap - und womöglich wieder ein Gefecht. Mann, ich bin’s leid. Ein Kap
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der Hölle ist dieses Berberia, das sag ich dir.“ Der Profos näherte sich mit düsterer, drohender Miene, aber die Männer taten so, als hätten sie ihn nicht bemerkt. „Hör mal, Blacky“, sagte Matt. „Dir scheint ja so einiges nicht zu passen. Hast du plötzlich die Hosen voll, oder was ist los?“ „Ich? Dir geht’s wohl nicht gut.“ „Wenn man dich so reden hört, könnte man es glatt denken.“ „Nein. Ich bin nur für klare Verhältnisse, das ist es.“ „Kriegt euch bloß nicht in die Wolle, ihr beiden“, sagte Stenmark. Blacky sah ihn angriffslustig an. „Sag bloß, du willst mir den Mund verbieten! Kann man hier nicht mal mehr seine Meinung sagen? Wenn die Spanier aufkreuzen, dann kriegen sie die Jacke voll, das ist doch klar. Aber ich kann es nicht leiden, wenn jemand hinter meinem Rücken rumgeistert und sich mal zeigt und dann wieder unsichtbar wird. Das macht mich ganz kribbelig.“ Matt grinste plötzlich. „Weiß schon, warum du so nörgelig bist. Schließlich geht das jetzt schon eine ganze Weile so. Du hast Liebeskummer, oder?“ Luke Morgan schob sich jetzt auch näher heran, und die anderen Männer auf der Kuhl wandten die Köpfe. Blacky ließ die Arme sinken und fixierte Matt. „Wie war das? Ich hab dich wohl nicht richtig verstanden, oder?“ „Das Zauberwort heißt Ofania“, sagte Matt. „Du hältst es nicht mehr aus. Am liebsten würdest du gleich zu ihr rennen.“ „Mann, Matt, weißt du, was du mich kannst?“ „Das mit den klaren Verhältnissen solltest du mal genauer erklären“, mischte sich Luke Morgan in den Disput ein. „Wenn du schon die Dinge im richtigen Lot sehen willst, dann muß das auch auf die Sache mit Ofania zutreffen. Ich meine, dann hättest du doch auch im Laderaum klare Verhältnisse schaffen müssen, was?“
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Blacky drehte sich ihm zu und blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. „Ja? Wie denn?“ „Ganz einfach. Du hättest aufs Ganze gehen sollen.“ „He!“ rief der Profos. „Wollt ihr wohl mal ...“ „Ganz sicher hat er das getan“, sagte Matt. „Er will es bloß nicht zugeben. Aber das Kichern und das Murmeln haben wir ja auch durch die Gräting gehört, oder vielleicht nicht? Mein lieber Blacky, du solltest lieber offen und ehrlich sein. Uns kannst du nicht für dumm verkaufen. Du spielst hier den hochanständigen Gentleman, dabei hast du dir die einmalige Gelegenheit bestimmt nicht entgehen lassen.“ Blacky stieß sich von der Culverine ab. „Ein Wort noch, ihr blöden Säcke, und es gibt ein Unglück.“ Luke Morgan schritt weiter, obwohl der Profos jetzt schon fast neben ihm war. „Daß ich nicht lache! Drohen willst du uns? Erzähl uns lieber, Wie es sich unten im Frachtraum so küßt. Das wäre mal was Neues und ...“ „Ruhe!“ brüllte Carberry. „Ja, erzähl es uns“, sagte nun auch Matt Davies, obgleich Stenmark nach seinem gesunden Arm griff. „Gut möglich, daß wir noch was lernen können. Oder?“ Blacky schoß seine geballte Rechte auf Matts nackte Brust ab. Matt wich aus, fing den Hieb mit der rechten Schulter ab und konterte. Sein Schlag war besser gezielt und etwas schneller als der von Blacky Blacky empfing die linke Faust des Hakenmannes genau unters Kinn. Er glitt aus und fiel auf den Rücken. Drohend rückte Matt auf ihn zu, wurde jetzt aber von Stenmark zurückgehalten, und im nächsten Augenblick war auch der Profos zur Stelle, der sich mit wütender Miene zwischen den Streithähnen aufbaute und die rechte Hand hob. Plötzlich brüllte er nicht mehr, sondern sprach ganz leise, „Aufhören. Hier gibt’s jetzt wirklich ein Unglück, aber eins von der Art, wie ihr euch nicht träumen laßt.“
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Blacky wollte sich aufrappeln, Matt wollte sich auf ihn stürzen. „Zurück“, sagte Carberry. Die anderen waren nähergetreten und umringten die kleine Gruppe. „Holla, Blacky!“ rief Luke Morgan plötzlich. „Willst du das etwa auf dir sitzenlassen?“ Der Profos wirbelte mit überraschender Gewandtheit zu ihm herum und knallte ihm seine Faust gegen die Brust. Luke flog zwei oder drei Yards zurück, stolperte über den Lukenrand und streckte sich auf der Kuhlgräting aus. Hasard jumpte über die Balustrade des Achterdecks, landete sicher auf beiden Füßen und ging auf die Männer zu. Er stieß Bob Grey und Batuti, die ihm den Weg versperrten, fort, dann war er bei Blacky, Matt und dem Profos, beugte sich über Blacky und reichte ihm die Hand. Blacky stand auf, ohne die Hand seines Kapitäns zu ergreifen. „Mister Carberry“, sagte der Seewolf. „Mister Morgan wandert in die Vorpiek, und zwar sofort. Jede weitere Zuwiderhandlung, jedes Aufhetzen und Anstacheln wird mit zwölf Peitschenhieben bestraft. Mister Davies, du leistest Luke Morgan gleich Gesellschaft, aber vorher gibst du Blacky Genugtuung.“ Er wandte sich zu den anderen um. „Wer sich einbildet, er könnte eingreifen, kriegt es mit mir persönlich zu tun. Klar?“ „Klar, Sir“, murmelten die Männer. „Blacky, nimm die rechte Hand auf den Rücken“, befahl Hasard. „Ihr werdet beide nur mit links kämpfen, verstanden?“ „Ehrensache, Sir“, keuchte Blacky. Hasard wich zwei Schritte zurück. „Dann los.“ Blacky legte die rechte Hand auf den Rücken, duckte sich halb und ging auf Matt los. Diesmal landete seine Faust am Kinn des Gegners, und Matt prallte bis ans Schanzkleid zurück, wo er sich fing und mit grimmiger Miene dem nächsten Angriff stellte. *
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Victoria, die neben Sieglinde und Melinda im Mittelgang des Achterkastells stand, wandte sich zu Ofania um. „Hör doch auf zu heulen“, sagte sie ärgerlich. „Meinst du, dadurch änderst du etwas?“ „Sie schlagen sich gegenseitig tot“, schluchzte die Berberin. „Das ist alles bloß meine Schuld.“ „Nicht unbedingt“, sagte Sieglinde Kramer. „Meine Damen“, sagte Victoria so würdig wie möglich. „Ich glaube, es ist der Zeitpunkt gekommen, daß wir entschlossen vorrücken. Oder ist jemand anderer Meinung?“ „Nein“, murmelten die Frauen. Sie rührten sich vorerst nicht, nur Kabil trat vor und zwischen die Gruppe und das Schott, das auf die Kuhl führte. „Großes Fehler“, sagte er. „Nicht tun. Seewolf wird uns alle strafen.“ „Junge“, sagte Sieglinde. „Geh da weg. Glaubst du, du kannst es mit uns aufnehmen? Deine Beni ist übrigens auch auf unsrer Seite.“ „Ja, bin ich“, flüsterte das DjerbaMädchen. Kabil war entsetzt. „Was ist das? Verschwörung?“ „Ach was“, brummte Victoria. „Wir haben nichts Arges im Sinn, falls du das meinst, Kabil. Nun rück schon zur Seite, ja?“ Achselzuckend gab er den Weg frei. Sieglinde, Victoria und Melinda schritten als erste vor, Sieglinde öffnete das Schott. Luisa, Janine, Beni, Lorena, Irene, Ada und Ofania folgten. Am Ende schloß sich auch der Shilh-Junge an, obwohl er ein höchst unheimliches Gefühl dabei hatte. Als geschlossene Gruppe erschienen die „Ladys“ auf der Kuhl – genau in dem Augenblick, in dem Blacky Matt Davies mit einem gezielten Hieb auf die Stufen des Steuerbordniederganges zum Achterdeck schickte. „Reicht’s dir?“ rief Blacky. „Ja. Es ist wirklich genug.“ „Bist du immer noch der Meinung, ich sei ein Lügner?“
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„Nein, zum Teufel noch mal“, sagte Matt schwer atmend. „Ich bin zu weit gegangen, das sehe ich ein. Ich bin bereit, mich dafür zu entschuldigen, Mann.“ „Meinst du das wirklich ehrlich?“ fragte Blacky drohend. Matt begegnete seinem Blick. „Wenn es nicht so wäre, würde ich mich lieber von dir tothauen lassen, Mister Blacky, als klein beizugeben. In Ordnung?“ „Ja, in Ordnung“, sagte Blacky. Dann reichte er Matt die Hand. Der packte sie auch und zog sich daran hoch. Er versuchte, ein wenig zu grinsen, aber es mißlang, weil er den Blick des Seewolfs auf sich spürte. „So“, sagte Hasard. „Und jetzt hört ihr mir alle mal gut zu. Matt, du kommst um die Vorpiek nicht herum. Blacky, du marschierst ins Kabelgatt, weil auch dein Verhalten nicht gerade sehr ordentlich war: Wie lange ihr da unten schmort, überlege ich mir noch. Und wenn von jetzt an noch jemand Stunk macht, lasse ich das Bordgericht zusammentreten.“ Er verstummte, denn erst jetzt hatte er das Erscheinen der Frauen bemerkt. Totenstille bereitete sich an Deck aus, unterbrochen nur durch das Knarren der Blöcke und Rahen und das Rauschen des Seewassers an den Bordwänden. „Mister Killigrew“, sagte Sieglinde in ihrem leidlich guten Englisch. „Bevor Sie mich und meine Freundinnen zurück ins Achterkastell verweisen, lassen Sie mich bitte ein paar Worte sagen.“ „Wollen auch Sie eine Kraftprobe?“ fragte er scharf. „Muß ich auch Ihnen deutlich erklären, wer hier der Kapitän ist?“ „Nicht nötig. Es geht um etwas anderes. Wir haben jetzt den Beweis, daß wir durch unser Auftauchen nur Unfrieden gestiftet haben. Es ist unsere Schuld, daß die Kameradschaft zwischen ihren Männern brüchig geworden ist. Nun, wir sind bereit, dafür die Konsequenzen hinzunehmen. Wir bitten Sie darum, uns so schnell wie möglich auf Formentera auszusetzen. Wie wir dann weitergelangen, ist unsere Sache. Mister Killigrew - wir sind auch bereit, sofort in die See zu springen, wenn
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dadurch der Bordfrieden wiederhergestellt wird.“ Hasard blickte sie lange an. Dann drehte er sich um und musterte seine Männer, einen nach dem anderen, auch Luke Morgan, der zwischen Carberry und Smoky stand und gerade abgeführt werden sollte. „Seid ihr jetzt zufrieden?“ fragte er. „Wolltet ihr das erreichen? Na schön, das ist also der Erfolg. Ihr könnt stolz auf euch sein, verdammt noch mal.“ Ihre Mienen wurden betroffen. Auch Dan O’Flynn spürte sein schlechtes Gewissen. Keiner wurde von diesem lausigen Gefühl ausgenommen, auch Carberry und Smoky nicht. Sie alle blickten plötzlich betreten zu Boden. Kap Berberia - Kap der Hölle. Auf den Sieg gegen die Spanier folgte die seelische Niederlage. * „Aber das ist noch nicht alles“, fuhr Sieglinde plötzlich fort. „Ich möchte im Namen von uns Frauen etwas klarstellen. Ich meine, wir alle wären durchaus bereit, zünftig mit euch Männern zu feiern - aber nicht auf diesem Schiff. Das gehört sich nicht, das wäre gegen alle Gesetze der Seefahrt. Wir sind also solange, wie wir an Bord der ‚Isabella’ weilen, tabu. Ofania hat ihren Ausflug in den Laderaum schon gründlich bereut, das kann ich euch versichern.“ Sie senkte ihre Stimme. „Doch selbst wenn wir beispielsweise an Land gehen und uns dort von dieser Crew verabschieden sollten, wäre uns daran gelegen, daß der nötige Anstand gewahrt wird. Schließlich sind wir keine Vertreterinnen des lockeren Gewerbes, die sich dem erstbesten Kerl an den Hals werfen, der ihnen über den Weg läuft. Oder? Mister Carberry, sind Sie anderer Meinung?“ „Oha“, sagte der Profos. Er kratzte sich an seinem Rammkinn, suchte nach Worten und antwortete schließlich: „Äh - natürlich nicht, Wäre ja noch schöner, Madam.“ „Auch Ofania hätte sich Blacky nie und nimmer blindlings an den Hals geworfen.“
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„Nein, nein!“ rief Carberry. „Wer hätte denn das auch gedacht?“ „Manch einer vielleicht“, sagte Sieglinde, und in ihrer Stimme schwang Bitterkeit mit. „Aber auch wir sind eine anständige Crew Gentlemen.“ Wieder herrschte Schweigen. Es hätte wahrscheinlich noch eine ganze Weile fortgedauert, wenn es nicht durch Victoria, die Engländerin, gebrochen worden wäre. „Mister Killigrew“, sagte sie energisch. „Sir! Im Namen der Königin von England, Ihrer Majestät Elizabeth I., bitte ich Sie in aller Form darum, Mister Morgan, Mister Blacky und Mister Davies von ihren Strafen zu befreien. Ihr Temperament wäre sicher nicht mit ihnen durchgegangen, wenn dieser halbe Harem hier in Marokko zurückgeblieben wäre.“ „Stimmt“, sagte Ben Brighton. „Ich unterstützte Miß Victorias Antrag.“ „Ruhe, Mister Brighton“, sagte der Seewolf scharf. „Hier redet nur, wer die ausdrückliche Genehmigung dazu erhält.“ „Aye, Sir.“ Hasard wandte sich zu Luke Morgan um. „Mister Morgan, du hast Redeerlaubnis. Nun?“ Luke kaute auf seiner Unterlippe herum, dann sah er auf. „Ich — nun, es ist wohl so, daß auch mit mir die Pferde durchgegangen sind. Wenn ihr bereit seid, das noch mal zu verzeihen — ich meine, ich wäre schon bereit, mich zu entschuldigen — bei dir, Sir. Blacky, du kannst mir eine runterhauen, wenn du willst.“ Blacky trat vor ihn hin und sagte: „Das ist nicht nötig, Luke. Ich kenne dich ja, und du kennst mich. Vergessen wir’s?“ Luke streckte die Hand aus. Blacky ergriff sie und drückte sie. Ofania begann wieder zu weinen, diesmal vor lauter Rührung. Der Seewolf räusperte sich. „Ich lasse mich noch mal breitschlagen. Die Strafe wird in eine doppelte Deckswache umgewandelt, und damit hat sich’s.“ Victoria klatschte begeistert in die Hände. „Ein dreifaches Hurra für den Seewolf und seine Mannschaft!“
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Hasard hob abwehrend beide Hände. „Miß Victoria, meine Damen, bringen Sie uns doch nicht in Verlegenheit. Es ist genug gesprochen worden, die Fronten sind geklärt. Würden Sie sich jetzt bitte wieder zurückziehen?“ „Natürlich“, sagte Victoria. „Aye, Sir“, sagten die anderen Frauen. „Einen Augenblick!“ Hasard hielt sie zurück, bevor sie sich umdrehten und die Kuhl verließen. „Miß Sieglinde, es könnte wirklich passieren, daß wir Sie beim Wort nehmen. Diese Siegesfeier — oder der Abschied, ganz, wie Sie wollen — könnte nämlich in Kürze stattfinden. An Land, versteht sich.“ Sie lächelte. „Wir ziehen unser Wort keineswegs zurück.“ Sie blickte zu Victoria, Melinda, Luisa, Janine und den anderen. „Oder?“ Die Frauen schüttelten die Köpfe. Irene, die Griechin, warf Carberry noch einen langen, sentimentalen Blick zu, ehe sie mit den anderen wieder in der Hütte verschwand. „Mister Carberry“, sagte sie. „Großartig, einfach großartig. Meinen Glückwunsch.“ Der Profos kratzte sich schon wieder am Kinn. „Was hab ich denn so großartig gemacht? Hol’s der Henker, ich weiß es wirklich nicht.“ „Ich auch nicht“, gab Smoky zu. * In der Nacht zum 28. September änderte die „Isabella VIII.“ plötzlich ihren Kurs und pirschte sich zwischen Formentera und Ibiza an den winzigen Inseln Espalmador, Espardell und Ahorcados vorbei. Am folgenden Tag setzte sie nach Mallorca über, rundete deren nördliches Ufer und traf am Abend am Cabo Formentor ein wieder hatte sie ein Kap erreicht, doch dieses Mal war es kein böses Omen. Die spanischen Segelschiffe und die Bagalla hatten sich bislang nicht wieder sehen lassen, so daß der Seewolf wagen konnte, in einer verschwiegenen Bucht die Entdeckung zu untersuchen, die Bill vom Großmars aus gemacht hatte.
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Eine Pinasse lag da herrenlos am Strand, verwahrlost, ohne Segel, halb leck. Bei Mondlicht ankerte die „Isabella“ in der Bucht, und Hasard ließ ein Beiboot abfieren, in das er selbst mit Ferris Tucker, Dan O’Flynn, Blacky, Batuti und Smoky abenterte. Sie pullten zu der Pinasse und untersuchten sie. Ferris Tucker richtete sich schließlich zwischen den Duchten im kniehohen Wasser auf und sagte: „Wenn wir den Kahn an Land ziehen, kriegen wir ihn bis morgen früh wieder hin. Ich meine, ich traue mir zu, ein seetüchtiges Schiffchen daraus zu bauen. Das Holz ist gut, der Mast noch brauchbar. Wir brauchen ein Segel, Kabelgarn, Teer und Farbe, das ist alles.“ Der Seewolf grinste. „Also schön. Dann bleib gleich hier. Blacky, Batuti und Smoky helfen dir beim Aufslippen. Dan und ich pullen zur ‚Isabella’ zurück. Die Ladys wollen an Land und mit uns feiern.“ „Wirklich?“ fragte Ferris überrascht. Auch die anderen hoben erstaunt die Köpfe. „Wirklich“, erwiderte der Seewolf, dann nahm er wieder in der Jolle Platz. „Na, so was“, sagte Ferris Tucker. „Und ich hatte gedacht, er macht nur Spaß.“ Auch Blacky, Smoky und Batuti blickten dem Beiboot nach, das im schalen Licht des Mondes davon glitt. „Er meint immer ernst, was er sagt“, brummte Smoky. „Merk dir das endlich mal, du Klamphauer.“ * Don Pedro de Azcuenaga hatte die Jagd endgültig abgebrochen. Zwischen Formentera und Ibiza verlor sich die Spur der Seewölfe im Nichts. So kehrte der Kommandant gezwungenermaßen wieder um. Die „Navegador“, die „San Gabriel“ und die „Santa Agata“ verschwanden in der Nacht, mit Kurs auf Spanien. Nur die Bagalla schickte sich an, von Ibiza nach Mallorca zu segeln, verbissen hielten Mechmed, Dalida und die Meute von
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Berbern an ihren Racheplänen fest. Mechmed hätte auch gern noch ein Komplott gegen Don Pedro und dessen Ersten Offizier ausgeheckt, doch er sah ein, daß es besser war, alle Energien auf die Suche nach dem verschwundenen „El Lobo del Mar“ zu konzentrieren. Welche Überraschung ihnen noch bevorstand, ahnten zu diesem Zeitpunkt
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weder Mechmed noch Dalida — wie sollten sie auch? Schließlich war Mechmed nicht der Jonas, der hinter die Kimm blickte, Dalida nicht die Wahrsagerin, die das Schicksal aus der Hand las. Niemand konnte in die Zukunft sehen, wirklich niemand...
ENDE