MYTHOR Althars Wolkenhorst von Horst Hoffmann Band 05
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Vorwort Liebe Leserinnen, liebe Leser, die Beschäftigung mit der Fantasy in all ihrer Vielseitigkeit kann auf die unterschiedlichste Art und Weise erfolgen. Für die meisten ist Fantasy eine Literaturgattung, die – wie eben die MYTHOR-Serie – den Leser in eine fantastische Welt entführt, in der mutige Helden agieren und spannende Abenteuer aller Art erleben. Nachdem anfangs der 80er Jahre Filme wie »Conan der Barbar« auf den Leinwänden ihre Art von Fantasy zeigten, gab es zeitweise eine richtiggehende Welle an Fantasy-Filmen. Sieht man von einigen Fortsetzungsserien im Fernsehen und gelegentlichen Kinostreifen ab, hat sich diese Welle stark reduziert. Ebenso in den frühen 80er Jahren stieß das Fantasy-Rollenspiel im deutschsprachigen Raum auf immer größeres Interesse; vor allem jüngere Menschen nehmen an Spielrunden teil, in denen sie auf interaktive Weise ihren Helden in einer fantastischen Welt spielen. Computerspiele, OnlineRollenspiele oder sogenannte Live-Rollenspiele sind weitere Ergänzungen der Fantasy-Spielwelten. Fantasy allerdings nicht nur zu lesen, in Filmen und Spielen zu konsumieren, sondern Fantasy zu entwickeln und eine eigene Welt zum Leben zu erwecken – das ist eben darüber hinaus auch möglich. Der Fantasy-Verein »Follow« beweist es. Gegründet wurde er übrigens unter anderem von Hugh Walker, dem beliebten Fantasy-Autor, der auch zu MYTHOR zahlreiche spannende Romane beisteuerte. Seit über dreißig Jahren beschäftigt sich dieser etwas andere Verein mit der Simulation der Fantasy-Welt Magira. In selbstentwickelten Spielen wie »Armageddon« oder dem Rollenspielregelwerk »Abenteuer in Magira«, in den Geschichten und Liedern der Followers, erwacht diese Welt immer wieder 3
zu neuem, phantastischem Leben. Literatur, das Spiel und Geselligkeit, das sind die Grundpfeiler »Follows«. Fantasy-Literatur zu lesen und sich darüber auszutauschen, dazu besteht immer und überall Gelegenheit. Selbst aktiv zu werden, zu schreiben oder zu zeichnen, und das nicht nur für den Hausgebrauch, dafür gibt es die Zeitschrift Follow, die viermal jährlich mit einem Umfang zwischen 300 und 500 Seiten erscheint. Geselligkeit wird gepflegt auf den zahlreichen Treffen, die Follower im Jahreslauf veranstalten; Höhepunkt ist das alljährliche Fest der Fantasie im Sommer. Magira ist eine klassische Fantasy-Welt mit einer Vielzahl von Kulturen, Völkern und Göttern, eine Welt der Magie, der Sagen und Legenden. Alles ist möglich im Rahmen der von den Göttern gegebenen Gesetze. So entstanden im Laufe der Jahre Hunderte von Kultur- und Landesbeschreibungen, Geschichten, Legenden und Liedern. Die Ladies oder Lords scharen ihre Völker oder Gemeinschaften – auch Clans genannt – um sich. Ziel dieser Gruppen ist, eine bestimmte Kultur zu entwickeln und diese dann mit Geschichten, Zeichnungen und Liedern zum Leben zu erwecken. Die Tafelrunde des Bären, der Städtebund von Ranabar, das stolze Rittervolk von Clanthon, das Volk von Ao-Lai, all dies sind die Facetten Follows – simuliert in den Gruppen. Der Fantasy Club e. V. organisiert die rechtliche Seite von Follow und publiziert die Zeitschriften und Storybände. Hier gibt es Informationen zu den Vereinsaktivitäten und den schnellsten Kontakt zu den Clans. Kontakt über: Fantasy Club e. X, Postfach 14 30, 35.004 Marburg.
Im Internet ist der Verein unter der Seite www.follow.de zu finden. E-Mail ist über folgende Adresse möglich:
[email protected].
Der Fantasy-Verein »Follow« hat übrigens viel mehr mit 4
MYTHOR zu tun, als es auf den ersten Blick erscheint: Autoren, Zeichner und Redaktion der Serie wirken teilweise in dem Verein mit, viele MYTHOR-Leser stießen bereits in den klassischen Zeiten der Heftserie zu dem Verein und simulieren seitdem ihre eigenen Kulturen. Ein Blick lohnt sich, so meinen wir. Jetzt aber möchte ich Sie noch auf die Lektüre des vorliegenden Buches einstimmen, das den jungen Helden Mythor immer näher an den Kern des Machtbereiches böser Mächte heranführt. Das Ringen zwischen der Lichtwelt und den Dunkelmächten nimmt zu. Horst Hoffmann berichtet darüber in »Althars Wolkenhort«, ebenso Hugh Walker in »Der magische Turm« und Ernst Vlcek in »Stadt der Piraten«. Viel Spaß bei den spannenden Abenteuern Mythors und seiner Freunde! Klaus N. Frick
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Die gierigen Finger des Bösen greifen wieder aus der Dunkelzone nach der Welt der Menschen. Der Schatten des gleißenden Ringes aus kosmischen Trümmern, der die Welt in zwei Hälften teilt, beherbergt die Mächte der Finsternis. Von Dämonenpriestern vorangetrieben, machen sie sich daran, den Norden der Welt zu erobern. Zu lange schon ist es her, daß der Bote des Lichts mit seinem strahlenden Kometentier den Menschen den Frieden brachte. Und der »Sohn des Kometen«, der möglicherweise dem Bösen standhalten kann, ist noch immer nicht aufgetaucht. Die uralte Nomadenstadt Churkuuhl, die seit langer Zeit auf dem Rücken gewaltiger Tiere über die nördliche Welt getragen wird, geht an der Küste des Meeres der Spinnen in einer furchtbaren Katastrophe unter. Aus ihren Trümmern retten sich nur wenige, darunter der junge Mann, den man Mythor nennt und dessen Herkunft unbekannt ist. Nyala, die Tochter des Herzogs von Elvinon, bewahrt Mythors Leben, denn sie glaubt fest daran, daß er jener Sohn des Kometen sei, dessen Kommen vorausgesagt wurde. In einem unterirdischen Tempel erfährt Mythor, daß er zuerst mehrere Aufgaben zu erfüllen hat, bevor er als Kometensohn anerkannt ist. In Elvinon gerät Mythor mitten in die Invasion durch das Kriegervolk der Caer. Die von Dämonenpriestern geführte Invasionsflotte erstürmt die Stadt. Mythor muß fliehen, um die erste seiner Aufgaben zu erfüllen: Er soll das Gläserne Schwert Alton für sich gewinnen, das in Xanadas Lichtburg aufbewahrt wird. Das stellt sich als recht schwierig heraus, denn die ehemalige Lichtburg ist mittlerweile zu einem Hort der Dunkelheit geworden und wird von einem Dämon beherrscht. Nur mit Hilfe einiger neuer Freunde gelingt es Mythor, bis zur Lichtburg vorzudringen und das Schwert an sich zu bringen. Doch die Burg wird durch den gewaltigen Nöffenwurm und seine Brut vollständig zerstört. Durch viele Meilen lange 6
unterirdische Gänge fliehen Mythor und seine Gefährten. Als sie wieder an die Oberfläche kommen, finden sie sich in der von der Pest gebeutelten und von den Caer belagerten Stadt Nyrngor wieder, deren junge Königin Elivara Mythor um Hilfe bittet. Aber auch hier läßt sich der Sieg der Caer nicht verhindern, und Mythor muß erneut fliehen. Nach Abenteuern auf dem Mammutfriedhof macht er sich auf den Weg zu Althars Wolkenhort, um dort den Helm der Gerechten an sich zu bringen. Nach einem übernatürlichen Sturm verschlägt es die Gefährten zunächst auf die von Schwarzer Magie beherrschte Insel Zuuk, dann in die Küstenstadt Lockwergen. Lockwergen, einst ein blühender Hafen, ist mittlerweile zur Geisterstadt geworden, in deren leeren Straßen gefährliche Banditen ihr Unwesen treiben. Dazu treffen Caer ein, angeführt von dem Dämonenpriester Drundyr, der dort mit Hilfe eines Wolfsmannes die Herrschaft ergreifen will. An seiner Seite: Nyala von Elvinon, Mythors ehemalige Geliebte, die längst in der Gewalt der Finstermächte ist. Nach heftigen Auseinandersetzungen gelingt es, den Wolfsmann zu besiegen und aus Lockwergen zu fliehen. Dabei benutzen die Gefährten einen Weg, der vor langer Zeit von den mittlerweile ausgestorbenen Titanen angelegt wurde. Wo er enden wird, wissen weder Mythor noch seine Begleiter…
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Horst Hoffmann
ALTHARS WOLKENHORT Die Herbstnebel hatten sich aufgelöst. Ein neuer Tag brach an, in einem Land, das auf den ersten Blick ohne Leben war. Hier, einen Tagesmarsch südlich von Lockwergen, war er bereits deutlich spürbar, der Hauch jener lebensverachtenden magischen Vorgänge, die tiefer im Süden ihren Ursprung hatten, dort, wo Caer und die anderen Stätten der Finsternis lagen. Der leise Wind schien es allen, die sich hierher verirrten, zuzuflüstern: Kehrt um! Hier ist kein Platz für euch zum Leben! Kehrt um und kommt nie wieder zurück! Noch war Caer weit, doch tatsächlich schien das Leben hier weitgehend gelähmt zu sein. Das Land war so gut wie nicht besiedelt. Nur längst überwucherte Pfade zeugten davon, daß hier früher reger Verkehr geherrscht hatte. Die Menschen hatten es vorgezogen, sich in die relative Sicherheit von Städten zurückzuziehen, vor allem nach Lockwergen, wo es nach dem Einfall der schwarzen Wölfe nun keine lebende Seele mehr gab. Es gab verschiedene Gerüchte über die Gegend zwischen Lockwergen und der geheimnisvollen Elvenbrücke, die die Zaghaften von vornherein davon abhielten, hierher vorzudringen. Nur Männer und Frauen, die weder Tod noch Dämonen fürchteten, hatten alle Warnungen mißachtet. Niemand von ihnen war jemals wieder in den Städten oder Dörfern gesehen worden, von denen aus sie aufgebrochen waren. Und doch gab es Leben in den dichten, dunklen Wäldern. Keine Vögel sangen in den Wipfeln und Spitzen der Bäume. 8
Kein Wild äste friedlich auf den Lichtungen. Aber tief in den Wäldern hausten andere Kreaturen. Diejenigen, die bis hierher gelangt waren, hatten ihre Geräusche gehört und in der Nacht die glühenden Augen gesehen. Mancher hatte noch die seltsame Melodie gehört, die auf einer Panflöte geblasen wurde, bevor ihn sein Schicksal ereilte, und das helle, wahnsinnige Lachen, wenn die Melodie verklungen war. »Zwei Tage«, knurrte Nottr mit finsterem Blick, während er mit dem Krummschwert eine Bresche in das Dickicht aus Dornengestrüpp schlug, das an dieser Stelle des Waldes ein Durchkommen fast unmöglich machte. »Zwei Tage sind wir nun unterwegs, und allmählich beginne ich mich zu fragen, wonach wir eigentlich suchen.« Die Erfolglosigkeit der letzten Tage lastete schwer auf den Gemütern der Freunde. Nur die Auskunft des Bauern, bei dem sie nach dem ersten Tagesmarsch seit der Flucht aus den Katakomben übernachtet hatten, trieb sie unermüdlich voran. Von ihm war der vielleicht wichtigste Hinweis darauf gekommen, wo Althars Wolkenhort zu finden sei. »Geht nicht weiter nach Süden!« waren die Worte des Bauern gewesen. »Das Land dort ist verhext, und jeder, der den Zorn der Götter herausforderte, mußte es mit seinem Leben bezahlen.« Die Warnung des alten Mannes war vage gewesen. Aber seine Auskunft war ein Anhaltspunkt. Was immer Althars Wolkenhort war, von ihm mußte eine Magie ausgehen, vielleicht ähnlich jener, der Mythor in der Gruft hinter den Wasserfällen von Cythor begegnet war, als die Kometenfee Gwasamee ihm ihre Eröffnungen gemacht hatte. »Spar dir deine Worte, Freund Nottr«, sagte Steinmann Sadagar. »Mythor wird weitermarschieren. Wenn es sein muß, bis zur Elvenbrücke.« 9
Auch von ihr hatte der Bauer gesprochen, wenngleich er keine Ahnung hatte, wo sie lag und was sie war. Er hatte davon gehört und die Schauergeschichten wiederholt, die ihm andere darüber erzählt hatten. Niemand wußte Genaues, aber die Furcht vor dem Süden der Insel war allgegenwärtig. Mythor gab keine Antwort. Auch er hatte sein Schwert in der Hand, und singend und klagend durchtrennte es gewaltige Ranken und schlug Äste von den hohen Nadelbäumen, die kaum Licht durchließen. Obwohl es heller Tag war, herrschte hier unten auf dem Boden des Waldes ein stetes Halbdunkel. Oft drangen unheimliche Geräusche an die Ohren der Gefährten, die sie zusammenzucken ließen. Doch nichts und niemand war zu sehen, nur dann und wann kleine Tiere, die sich schnell in ihre Löcher zurückzogen, als sie die vier Menschen gewahrten. Es war kalt und feucht. Kalathee und Sadagar, die weniger Bewegung hatten als Mythor und Nottr, die Seite an Seite gegen das Dickicht kämpften, froren und verfluchten die Eile, in der sie aus Lockwergen geflohen waren. In den verlassenen Häusern der Stadt hätte es genügend Kleidung gegeben, die der Jahreszeit weitaus angemessener gewesen wäre als etwa Kalathees dünnes Kleid. Zu allem Überfluß hatten die vier in den letzten Tagen nur wenig in die Bäuche bekommen – gerade das, was der freundliche alte Bauer ihnen hatte abgeben können. Schweigend bahnten sie sich ihren Weg. Nur Sadagar murmelte ununterbrochen etwas vor sich hin. Er zeterte und schimpfte, und doch wußte Mythor, daß er sich keinen verläßlicheren Gefährten wünschen konnte, wenn es hart auf hart kam. Gegen Mittag erreichten sie einen weniger dicht bewaldeten Hügel, von dem aus sie einigermaßen freie Sicht nach allen Seiten hin hatten. Sie sahen nichts als Wälder in allen Richtun10
gen. Nadelbäume mischten sich mit mächtigen Eichen. Hohe Birken reckten ihre weißen Stämme gen Himmel. »Hier lebt niemand«, sagte Kalathee. Fröstelnd rieb sie sich die Arme. Doch es war nicht nur die Kälte, die sie zittern ließ. Alle vier spürten sie es. Es lag in der Luft, nicht greifbar, aber allgegenwärtig. So wie in Lockwergen, wie auf dem Mammutfriedhof, wie in der Nähe eines Caer-Priesters. »Vielleicht doch.« Mythor hob den Arm und deutete nach Süden. Nottr und Sadagar kniffen die Augen zusammen. Jetzt sahen sie es ebenfalls. »Dunkler Rauch«, brummte der Lorvaner. »Dann gibt es dort vielleicht eine Hütte oder eine offene Feuerstelle.« »Dort lebt jemand, der ein Feuer hat«, sagte Mythor mit neuer Zuversicht. »Und diesen Jemand werden wir uns ansehen.« »Es könnten wieder Caer sein«, sagte Sadagar schnell. »Hier in der Wildnis? Was gäbe es hier für sie zu holen?« Nottr lachte rauh und sah Mythor abwartend an. »Also, worauf warten wir? Wo ein Feuer ist, gibt’s meistens auch einen Braten.« Mythor dachte wieder an die Warnungen des Bauern. Niemand konnte in dieser Wildnis leben. Wenn es doch der Fall war, mußte er die Wälder sehr gut kennen, um überleben zu können. Und vielleicht wußte er, wo Althars Wolkenhort lag. »Wir sehen ihn uns an«, sagte Mythor. »Oder sie.« »Er oder sie könnten uns längst selbst gesehen haben«, kam es von Sadagar. Nottr fuhr herum und packte den Steinmann an den Aufschlägen seiner Samtjacke. »Hör zu, du Unke. Allmählich beginne ich zu glauben, daß du Spaß daran hast, uns mit deinem Gejammer verrückt zu machen. Ich lasse mir von keinem den Appetit verderben. Von dir schon gar nicht. Und wenn du in den nächsten Stunden noch einmal den Mund aufmachst…« 11
»Schon gut!« wehrte der Steinmann ab. »Beim Kleinen Nadomir, diese Barbaren!« »Ich bin stolz darauf, ein Barbar zu sein, merke dir das ein für allemal!« Sadagar zog es vor zu schweigen. Mythor grinste. Solange die beiden herumalberten, mußte er sich um sie keine Gedanken machen. Nottr sprühte vor Tatendurst und Sadagar, obwohl er das nie zugegeben hätte, ebenso. »Gehen wir!« Sie schritten den Hügel hinunter, hinein in das nächste Waldstück. Mythor ging nun allein voran. An dieser Stelle gab es kein störendes Unterholz, nur die hoch aufragenden Stämme der Bäume. Der Boden war von Nadeln und vermoderten Blättern bedeckt. Und das warnte Mythor. Er behielt die Umgebung im Auge, doch immer wieder suchte er den Boden nach Spuren ab. Die Rankengewächse hatten sich bisher überall breitgemacht. Wenn das hier nicht der Fall war… Er hörte Nottrs Schrei im gleichen Augenblick, in dem er entdeckte, wonach er suchte. Er sah die plattgetrampelten Stellen, riß den Kopf hoch und versuchte zu erkennen, woher das plötzliche Krachen und Stampfen kam. Nottr hatte das Schwert schlagbereit in der Hand. Wie hingezaubert lagen sechs Messer fächerförmig in Sadagars linker Hand, zwischen Daumen und Zeigefinger. Kalathee klammerte sich zitternd an Mythor. Eine seltsame, helle Melodie wie von einer Panflöte schwang in der Luft. Mythor ließ sich nur kurz davon ablenken. Irgend etwas Schweres, Ungestümes kam auf sie zu. Große Tiere, dem Lärm nach Dutzende von ihnen. Die Erde erbebte unter den Füßen der Freunde. Plötzlich sahen sie sie. Eine Mauer aus riesigen schwarzen Körpern. Gesenkte Köpfe mit blitzenden Hauern. Alles niedertrampelnde 12
Hufe. »Wildschweine!« schrie Mythor. »Nottr! Sadagar! Hierher zu mir!« Einen Steinwurf entfernt hatte Mythor eine mächtige Eiche erblickt. Er hatte Kalathee bereits auf den Armen und rannte mit ihr dorthin. Als Nottr und Sadagar ihn erreichten, hob er die zierliche Schönheit auf den höchsten Ast, den er erreichen konnte. Instinktiv umklammerte Kalathee den Stamm und kletterte höher, während sich die Männer mit der Eiche im Rücken der Herde stellten. Sie hatten nicht einmal mehr die Zeit, sich durch Zurufe auf ein abgestimmtes Vorgehen zu einigen. Die riesigen schwarzen Schweine waren heran, Tiere mit zottigem Fell und winzigen, böse funkelnden Augen. Die Köpfe mit den spitzen Hauern waren gesenkt. Wie Rammböcke schossen sie auf die Männer zu. Kleinere Bäume wurden geknickt wie Grashalme. Nichts hielt die schweren Körper auf. Ihnen allen voran stürmte ein kolossaler Keiler mit doppelt ellenlangen Hauern. Mythor sah den Keiler, ganz offensichtlich das Leittier der Herde, auf sich zustampfen und machte einen gewaltigen Satz zur Seite. Der Keiler reagierte zu spät und wurde vom eigenen Schwung mitgerissen. Einer der fürchterlichen Hauer bohrte sich in den Stamm der Eiche. Kalathee schrie und klammerte sich mit ihrer ganzen Kraft fest. Nottr sah sich gleich von drei Wildschweinen angegriffen und konnte nicht zur Seite ausweichen, so daß er keine andere Möglichkeit sah, als einen verzweifelten Sprung über den Kopf des unmittelbar vor ihm anrennenden Tieres hinwegzumachen. Hart landete er auf dessen Rücken und krallte die Finger der freien Hand in das zottige Nackenfell. »Der Braten!« brüllte er, doch niemand hörte ihn. Die Schweine grunzten wütend. Holz splitterte, als der mächtige Keiler sich befreite. Mythor gewahrte ein zweites Tier hinter 13
sich, sprang zur Seite und stieß ihm blitzschnell die Klinge des Gläsernen Schwertes in die Flanke. Er zog sie heraus und wartete auf den nächsten Angriff des Keilers. Sadagars Messer fanden ihre Ziele, doch sie allein konnten keines der riesigen Tiere töten. Nottr teilte, auf dem Rücken des Wildschweins sitzend und sich nur mit Mühe auf dem wild bockenden Tier haltend, Schläge nach allen Seiten aus. Sein Krummschwert zog blutige Striemen ins Fell der sich dicht aneinanderschiebenden Schweine. Mythor hatte nur Augen für den Keiler, und erst jetzt sah er die goldenen Kette um den Hals des Riesen. Ihm blieb keine Zeit, sich darüber zu wundern. Der Keiler griff ungestüm an. Wieder wollte Mythor ausweichen, doch diesmal erahnte das Tier seine Absicht. Mythor sprang, aber nicht weit genug. Der Riesenkeiler warf sich im Anrennen herum. Seine Hauer verfehlten Mythor nur um Fingerbreite, aber die volle Wucht des massigen schwarzen Körpers traf den jungen Recken und schleuderte ihn einige Schritte zurück ins festgestampfte Laub. Mythor lag auf dem Rücken und rang nach Atem. Der Stoß war so gewaltig gewesen, daß er ihm alle Luft aus den Lungen gepreßt hatte. Er sah Sterne vor den Augen, und seine Gliedmaßen versagten ihm den Dienst. Und der Keiler stand vor ihm, mit dem linken Vorderhuf scharrend. Riesig, schwarz und drohend. Der Keiler überrannte ihn nicht. Er wartete und gab durch wildes Grunzen jedem anderen Tier seiner Herde, das Mythor zu nahe kam, zu verstehen, daß dies sein Gegner war. Mythor kam auf die Beine, jeden Augenblick darauf gefaßt, daß sich der mächtige schwarze Leib auf ihn zuschnellte. Sein Blick haftete für einen Moment wieder auf der goldenen Kette. Die Herde gehörte also jemandem. Und entweder verfügten die Tiere selbst über eine gewisse Intelligenz, oder sie wurden 14
von diesem Unbekannten dirigiert. Vielleicht durch diese seltsame Melodie. Vielleicht saß der Unbekannte irgendwo in einem Baum, hinter dichten Zweigen versteckt, und blies seine Flöte. »Mythor!« schrie Kalathee in Panik. Er sah im gleichen Moment das Aufblitzen in den kleinen Augen. Der Keiler griff an. Diesmal deutete Mythor einen Sprung nach rechts an, um sich im letzten Moment nach der anderen Seite zu werfen. Der Keiler fiel auf den simplen Trick herein. Wie ein Geschoß rannte er mit gesenktem Kopf an Mythor vorbei, und dieser machte es Nottr nach. Blitzschnell sprang er und landete im Nacken des Wildschweins. Er klammerte sich mit den Beinen fest und griff mit der linken Hand tief in die Nackenmähne hinein. Nur kurz wunderte er sich darüber, daß diese Tiere keine Borsten hatten wie andere Wildschweine, die er früher gejagt hatte. Mit einem Ruck kam der Keiler zum Stehen. Er konnte den Kopf nicht weit genug drehen, um Mythor mit den Hauern zu erreichen. So versuchte er ihn durch wilde Sprünge abzuschütteln. Mythor hielt sich fest und glich die ruckartigen Bewegungen geschickt aus. Er wollte das Tier, wenn möglich, nicht töten. Der wirkliche Gegner steckte im Hintergrund. Ihn wollte er herauslocken. Der Keiler wechselte die Taktik. Mit Mythor auf dem Rücken rannte er auf einen Fichtenstamm zu. Mythor ahnte, was er vorhatte. Im letzten Moment sprang er ab. Noch während er sich auf dem weichen Boden abrollen ließ, prallte das Tier mit der ganzen Wucht seines Anlaufs gegen den Stamm. Mythor sah, daß der Keiler für einen Augenblick benommen war. Blitzschnell sprang er auf und zog ihm die Klinge Altons quer über die feuchte Schnauze. Das Tier brüllte. Seine Augen rollten wild. Mythor erkannte seine Chance. Immer wieder fuhr sein Schwert auf den Keiler nieder, ohne ihn ernsthaft zu 15
verletzen. Er wollte ihn schwächen, bevor er wieder bei klaren Sinnen war, und er sollte weiterbrüllen, bis der Unbekannte auf der Bildfläche erschien, um sein kostbarstes Tier nicht zu verlieren. Der Keiler schwankte, als Mythor einige Schritte zurücktrat. Nun waren wieder andere Wildschweine heran. Mythor sah Nottr noch immer auf einem von ihnen reiten und das Schwert führen. Ein paar Tiere lagen schon tot zwischen den Bäumen. Nottr nahm weniger Rücksicht als er, und nun konnte auch Mythor nicht mehr anders. Von Sadagar war nichts zu sehen. Der Stamm der Eiche, auf der Kalathee saß, wurde unablässig berannt. Die Holzsplitter flogen in weitem Bogen durch die Luft. Kalathee schrie, aber noch hatte sie die Kraft, sich festzuhalten. Vier Schweine kamen gleichzeitig auf Mythor zu. An der Art, wie sie bisher angegriffen hatten, war eine gewisse Strategie zu erkennen gewesen. Nun sahen sie ihr Leittier in Gefahr. Mythor sprang zur Seite. Der Keiler stand noch dort, wo er ihm die Wunden zugefügt hatte, und sammelte offensichtlich neue Kräfte. Zwei Schweine rannten vorbei. Mythor sprang hoch, als das dritte heran war, bekam mit der Linken einen tief hängenden Ast zu fassen und ließ mit angezogenen Knien auch dieses Tier unter sich hinwegrennen. Als das letzte heran war, ließ er sich fallen. Er kam unmittelbar neben ihm zu stehen und stieß ihm mit aller Kraft die Klinge in die Seite, um sie augenblicklich wieder zurückzuziehen. Das Wildschwein brach zusammen. Seine Vorderbeine knickten ein. Aus der Schnauze quoll dunkelrotes Blut. Hinter Mythor erscholl ein Gebrüll, das ihm durch Mark und Bein ging. Er fuhr herum und sah den Keiler heranstürmen. Mythor handelte instinktiv. Er schnellte sich hoch und packte mit beiden Händen den herabhängenden Ast, die Klinge Altons zwischen den Zähnen. Der Keiler rannte unter ihm vor16
bei. Und plötzlich war Nottr heran. Sein Schwein stürmte auf das Leittier zu. Der Barbar aus den Wildländern schwang bereits das Schwert zum tödlichen Hieb gegen den Hals des Keilers. Mythor schrie: »Nicht, Nottr! Laß ihn mir! Kümmere dich um Kalathee!« »Wie du meinst!« Das mußte man dem verliebten Barbaren nicht zweimal sagen. Mythor traute seinen Augen nicht. Nottr schlug die Fersen hart in die Seiten des Wildschweins und lenkte es nach seinem Willen. Ein paar leichte Stiche mit der gekrümmten Spitze seiner Waffe zähmten es schnell wieder, wenn es bockte. Der Keiler rannte ihm ein Stück nach. Mythor schrie: »Hierher, alter Freund! Hier bin ich!« Das stolze Tier stemmte die Hufe in den Boden und fuhr herum. Wieder sahen sie sich in die Augen. Und der Keiler griff in dem Moment an, in dem die Melodie wieder geblasen wurde. Mythor triumphierte innerlich. Er hatte sich also nicht getäuscht. Sie war nur für wenige Augenblicke verstummt, als Nottr herangeprescht kam und der Keiler den sicheren Tod durch seine Klinge erlitten hätte, hätte Mythor ihn nicht zurückgehalten. Wer auch immer der Herr dieser Herde war, er hatte Angst um sein Leittier gehabt. Er sollte um den Keiler zittern! »Komm her!« brüllte Mythor wieder. Der Keiler war blind vor Schmerzen und Wut. Er stürmte heran. Mythor wartete, bis er unter ihm war und ihn mit den Hauern zu erreichen versuchte. Noch hatte er beide Beine hoch angezogen. Dann stieß er dem Keiler blitzschnell einen Stiefel genau zwischen die Augen. Im nächsten Moment hatte er Schwung geholt und landete erneut auf dem Rücken des Riesen. Er nahm das Schwert wieder in die Hand und schwang es, während er sich mit der Linken festklammerte. 17
»Und jetzt stirbst du!« schrie er so laut, daß er glaubte, man müsse es bis nach Lockwergen hören. Die Hand mit dem Schwert sauste herab. Ein Geräusch wie fernes Wehklagen durchschnitt die Luft und mischte sich in das Toben der Schweine und die Melodie der Panflöte, als die schwach leuchtende Klinge den rechten Hauer durchtrennte. Blitzschnell war die Klinge wieder in der Luft, und ebenso schnell trennte sie den zweiten Hauer vom Kopf des Keilers. »Du spießt niemanden mehr auf!« schrie Mythor. »Und nun…« Er ließ die Mähne des Riesen los, der jetzt wie von Dämonen besessen um die eigene Körperachse wirbelte. Mythor nahm den Griff Altons in beide Hände und machte Anstalten, das Gläserne Schwert wie einen Dolch in den Nacken des Tieres zu stoßen. Die Melodie verstummte. Mythor zögerte und strengte seine Ohren an. Dann folgten zwei, drei helle Pfiffe. »He!« brüllte Nottr. »Was ist in euch gefahren? Verdammt, bleib stehen, du…« »Spring ab!« rief Mythor, selbst schon wieder auf festem Boden. Die Wildschweine flohen. Eines nach dem anderen verschwanden sie im Dunkel zwischen den dicht beieinanderstehenden Stämmen. Noch einmal sahen sich Mythor und der Keiler mit der goldenen Kette gegenseitig in die Augen. Dann stürmte auch das Leittier davon. Mythor atmete auf. Noch verstand er nicht ganz, was hier gespielt wurde, aber er war sicher, es schnell zu erfahren. Er drehte sich um und wischte die Klinge des Gläsernen Schwerts am Fell eines getöteten Tieres ab. Nottr kam von einem Baum herunter, an dessen Stamm er sich in höchster Not geklammert hatte, als sein Tier mit den 18
anderen davongeprescht war. Mythor half Kalathee von der Eiche herunter. »Sie werden zurückkommen«, flüsterte das Mädchen. »Kaum. Wo steckt Sadagar?« Der Steinmann schob seinen Kopf zwischen drei toten Wildschweinen hervor, die dicht beieinanderlagen. Er grinste verlegen und machte sich daran, seine Messer einzusammeln. Nottr kam heran. Er blutete aus einer Beinwunde. »Was ist in sie gefahren?« wollte er wissen. »Mythor, du weißt etwas!« Der Lorvaner war außer Atem. Er wischte sich Schweiß von der Stirn. Sadagars Grinsen verflog schnell. Ängstlich sah er sich um. Sie waren alle weit mehr geschwächt, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Auch Mythor atmete schwer. »Komm heraus!« rief er. »Mit deiner Flöte!« »Was…?« wollte Nottr fragen, doch da klappte seine Kinnlade nach unten. Seine Augen wurden weit, und fast zaghaft hob er den Arm mit dem Schwert. Mythor brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, auf wen er zeigte. Erst als Nottr dröhnend zu lachen begann, wandte er sich langsam um. »Was… was ist das für eine Jammergestalt?« rief der Lorvaner. »Mythor, träume ich? Das ist…« »Der Herr der Wildschweine«, vollendete Mythor, nicht minder überrascht als Nottr. Der Mann stand zwischen den Bäumen, nur einen Steinwurf von den Freunden entfernt. Nottr hatte ihn nicht kommen sehen. Er war einfach plötzlich dagewesen, als habe ihn der Boden ausgespuckt. Er war kaum größer als Kalathee und so dürr, daß die Knochen seines Schädels sich deutlich unter der bleichen Haut abzeichneten. Auch die Hände schienen nur aus Haut und Knochen zu bestehen. Eine lange, spitze Nase zierte dieses hagere Gesicht. Strohblonde Borstenhaare standen lang und unge19
pflegt nach allen Seiten von seinem Kopf ab. Dazu trug er ein schütteres Bärtchen. Gekleidet war er in ein weites, buntkariertes Kostüm und eine Schellenmütze, deren Zipfel bis auf seine Brust reichte. Unglaublich große rote Schuhe mit nach oben geschwungenen Spitzen rundeten die Erscheinung ab. »Das ist ein entsprungener Hofnarr!« entfuhr es Steinmann Sadagar. »Der Herr dieser Wildschweinbande«, wiederholte Mythor, der als einziger ernst geblieben war. Selbst Kalathee lächelte. Mythor sah in die Augen des kleinen Männchens, dann auf das Instrument in seiner rechten Hand, das in der Tat an eine Panflöte erinnerte. Er deutete mit dem Schwert darauf. »Ihr habt die Melodie gehört. Mit dieser Flöte blies er die Schweine zum Angriff, und mit ihr blies er sie zurück.« Der Mann kam näher, zögernd zunächst, dann mit sicheren, tänzelnden Schritten. Ein kindisches Grinsen überzog sein Gesicht. »Dann sollten wir ihm das Fell über…« Mythor legte die Hand auf Nottrs Mund. »Laß ihn kommen«, flüsterte er. Und der seltsame Mann kam weiter heran. Zwei Schritte vor den Freunden blieb er stehen und machte eine tiefe Verbeugung. »Verzeiht mir«, bat er mit heller Stimme. »Verzeiht Baumer, dem Hüter der Wälder, dem Beschützer von Mensch und Tier, daß er euch in seiner großen Unwissenheit für Caer hielt.« Er richtete sich auf. Listig funkelnde Augen musterten die Freunde und blieben lange auf Kalathee gerichtet. Dann schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Dabei lächelte er immer noch. »Ihr seid unverletzt?« erkundigte er sich überflüssigerweise. 20
»Oh, du hast eine Wunde davongetragen.« Er sah Nottr schuldbewußt an. »Ich werde sie pflegen, in meiner Hütte.« »Gar nichts wirst du!« dröhnte der Lorvaner. »Caer! Sehen wir aus wie Caer? Du hast uns bewußt die Schweine auf den Hals gehetzt. Ich sollte dich…!« »Schweig!« Von einem Augenblick zum andern veränderte sich die Miene des Fremden, der sich Baumer nannte. »Du bist schuld an ihrem Tod!« Er ging auf die toten Wildschweine zu und beugte sich über sie. Zärtlich strich seine Hand durch das dichte Fell. Sadagar sah Mythor und Kalathee an und machte eine Handbewegung, die ausdrücken sollte, was er vom Geisteszustand dieses Männchens hielt. Mythor hob die Schultern. Ein Hofnarr? Vielleicht hatte Sadagar recht. Vielleicht hatte er früher einmal am Hof König Nadars gelebt. Zweifellos stammte er aus Lockwergen, wenngleich er äußerlich nicht viel Ähnlichkeit mit den Bewohnern der verlassenen Stadt aufwies. Aber solche Stoffe, wie er sie am Leib trug, gab es nur in Lockwergen, wenn nicht… in Caer? Mythor schüttelte den Kopf. Er durfte nicht anfangen, in jedem, der ihm hier über den Weg lief, einen Verbündeten der Caer zu sehen, nur weil sie immer näher an den Machtbereich der Dämonenpriester herankamen. Noch war Caer weit. »Ich werde sie bestatten«, verkündete der kleine Mann. Nottr schien an seinem Verstand zu zweifeln. »Die Schweine waren deine… Freunde?« »Meine einzigen.« Baumer musterte Nottr eindringlich. »Nein«, sagte er dann, »nicht meine einzigen. Ich habe viele Freunde im Wald, aber Nhottur und seine Herde waren die treuesten. Sie waren immer da, wenn ich sie rief.« »Nhottur?« »Der Keiler mit der goldenen Kette«, erwiderte Baumer mit 21
Unschuldsmiene. Entweder sah er nicht, wie sich der Lorvaner drohend vor ihm aufbaute, oder er provozierte ihn bewußt. »Er heißt Nhottur. Ich gab ihm diesen Namen.« Baumer machte eine bedeutungsvolle Pause. Dann schrie er: »Ich hasse sie! Ach, wie ich sie hasse!« »Deine Schweine?« fragte Sadagar verständnislos. »Die Caer, Dummkopf! Sie sind an allem schuld! Hätte ich euch nicht fälschlicherweise für Caer gehalten… Aber nein, eine solche Gestalt wie dich gibt es bei ihnen gar nicht. Ich muß blind gewesen sein.« »Gestalt?« wollte der Steinmann wissen. »Was heißt das?« Auch er machte zwei Schritte auf Baumer zu, aber Nottr hielt ihn zurück. »Hör zu, Narr!« brüllte der Lorvaner. »Wieso heißt dein Schwein Nhottur, wenn ich Nottr heiße? Ich will dir sagen, warum! Weil du uns nämlich belauscht hast und meinen Namen…« »Du bist kein Schwein!« schnitt ihm der Zwerg kreischend das Wort ab. »Du bist überhaupt kein Freund der Tiere, denn du wärmst deinen Wanst mit ihren Fellen! Niemals würde ich Nhottur nach dir benennen! Ich werde seinen Namen ändern, um ihn…« Weiter kam er nicht. Mit einem Fluch war Nottr heran und riß ihn von den Beinen. Sekunden später zappelte Baumer hoch in der Luft. Nottr machte Anstalten, ihn mit Schwung zwischen die toten Schweine zu befördern. Mythor, der dem Treiben bisher wortlos und schmunzelnd zugesehen hatte, sah, wie das Männchen die Flöte im Strampeln näher an seinen Mund brachte. »Laß ihn los, Nottr!« rief er. »Aber er hat…« »Er weiß nicht, was er sagt. Sein Verstand ist durch den Schmerz und die Trauer getrübt. Laß ihn los. Wir müssen uns 22
bei ihm entschuldigen, weil wir ohne seine Erlaubnis in seine Wälder eingedrungen sind.« Nottr und Sadagar sahen nun ihn wie einen Mann an, der plötzlich den Verstand verloren hatte. Nur Kalathee schien zu begreifen. »Also schön!« schrie der Lorvaner. »Ich lasse ihn los, bitte!« Blitzschnell zog er seine Hände zurück. Das Männchen fiel vor seinen Füßen auf den weichen Boden. Mit einem Schrei sprang es auf. Mit einigen schnellen Schritten war Mythor bei ihm. Er reichte ihm die Hand. Verwirrt starrte Baumer ihn einen Moment lang an, dann ergriff er sie zögernd. »Verzeih meinen Freunden ihr Benehmen, Baumer«, sagte Mythor und lächelte. »Auch sie sind noch nicht ganz bei klarem Verstand, weil sie wie ich glauben mußten, du hättest die Wildschweine bewußt auf uns gehetzt und uns nicht irrtümlich für Caer gehalten.« Baumer wußte anscheinend nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Er sah Mythor durchdringend an. Schließlich lächelte auch er wieder. »Ich verzeihe euch.« Er deutete auf Nottr. »Und wenn er sich ebenfalls entschuldigt, werde ich mir noch einmal überlegen, ob ich Nhottur nicht doch seinen Namen lasse.« »Er wird sich entschuldigen. Und ich bin sicher, daß du in ihm einen weiteren treuen Freund haben wirst, wenn du erst seine Wunde gepflegt hast. Wir nehmen deine Einladung an, Baumer.« Für einen kurzen Moment blitzte es in den Augen des Männleins auf. Noch einmal schenkte er Mythor einen mißtrauischen Blick, dann überzog von einem Augenblick zum andern wieder das kindische Grinsen sein spitzes Gesicht. »Ihr macht mir eine große Freude. Ich führe euch zu meiner Hütte.« »O nein!« Mythor hob abwehrend die Hände. Das Gläserne 23
Schwert steckte wieder in seinem Gürtel. »Du wirst deine toten Freunde begraben, und wir finden den Weg schon allein. Wir warten vor der Hütte auf dich. Du willst doch nicht, daß andere Tiere die Leichen schänden, oder?« Kalathees Blick sagte ihm: Übertreibe es nicht, Mythor! Doch Baumer nickte wider Erwarten. »Es ist gut. Geht vor. Ihr habt den Rauch gesehen. Die Hütte ist nicht weit.« Mythor lächelte und nickte. Er winkte Nottr und Sadagar zu, die sich bezeichnende Blicke zuwarfen. »Bitte, Nottr«, sagte Kalathee in einem Tonfall, der Nottrs Widerstand schmelzen ließ wie Butter in der Sonne. Sadagar seufzte und schüttelte den Kopf, als er an Baumer vorbeiging. Mythor nickte diesem noch einmal zu. Dann drehte er sich um und schritt voran. Baumer blieb allein zurück. Als sie weit genug weg waren, so daß Baumer ihre Worte unmöglich noch hören konnte, hielt der Barbar aus den Wildländern es nicht länger aus. »Was soll das, Mythor?« fragte er unwirsch. »Der Kerl ist verrückt. Er hat die Wildschweine auf uns gehetzt! Auf uns!« »Ich weiß«, sagte Mythor im Gehen. »Und er hat versucht, uns aus der Reserve zu locken, nachdem er gute Miene zum bösen Spiel machen mußte, um nicht auch noch den Rest der Herde zu verlieren. Es ist ihm bei dir und Sadagar vortrefflich gelungen. Er wäre nie so weit gegangen, um in ernsthafte Gefahr zu geraten. Der Bursche ist schlau. Er weiß, daß die Schweine uns nicht erledigen können. Also wird er nach einer anderen Möglichkeit suchen. Wie er dich und Sadagar einzuschätzen hat, weiß er jetzt.« »Mythor, ich verstehe nichts.« »Er wollte uns umbringen lassen.« »Natürlich, das sage ich ja die ganze Zeit schon!« »Und er wird es wieder versuchen, nachdem er vorerst gescheitert ist, klar?« 24
»Klar«, antwortete Nottr zögernd. Sadagar grinste plötzlich. »Und indem du den Gutgläubigen spielst, gibst du ihm die Zeit, in Ruhe eine neue Teufelei auszudenken. Inzwischen können wir ihn aushorchen. Ist es so?« »Steinmann, du hast es erfaßt. Wir werden uns bewirten lassen, etwas in den Magen bekommen und mit ein bißchen Glück bald wissen, wo wir Althars Wolkenhort suchen müssen.« »Wie kannst du so sicher sein, daß er ihn kennt?« »Wenn er irgendwo hier in diesen Wäldern liegt, kennt er ihn.« »Aber was soll dieser Unsinn, daß er die Wildschweine begraben will? Dieser Zwerg?« Der Klang der Panflöte gab die Antwort. »Er läßt es von der Herde besorgen. Paß auf. Er ist schneller zurück, als wir glauben.« Und es war so. Als die Gefährten die Hütte erreichten, stand Baumer schon vor dem Eingang und erwartete sie. »Wie, bei Erain, ist er so schnell an uns vorbeigekommen?« entfuhr es Sadagar. »Glaubst du im Ernst, er ließe uns allein an sein Heiligtum heran? Wer weiß denn schon, welche Schätze er dort gehortet hat?« »Dann hat er diejenigen auf dem Gewissen, die in die verhexten Wälder gegangen und nicht wieder zurückgekehrt sind?« fragte Kalathee. »Möglich. Sicherlich einen Teil von ihnen.« Nottr murmelte eine Verwünschung. Dann legten die Gefährten den restlichen Weg zur Hütte schweigend zurück. Es handelte sich um ein festes Holzhaus mitten im Dickicht. Die vier Eckpfeiler bestanden aus den Stämmen lebender Tannen, deren Zweige wie ein zweites Dach über dem Haus lagen. Aus Stämmen bestanden auch die Wände mit je einem kleinen 25
Fenster. Ein hoher Kamin ragte aus dem eigentlichen Dach, das zum Giebel hin spitz zulief. Baumer wartete mit verschränkten Armen vor der dicken Tür aus Eichenholz. Sie stand offen. Als die Gefährten heran waren, trat er zur Seite, verbeugte sich wieder tief und forderte sie durch eine Geste zum Eintreten auf. »Mein Heim sei euer Heim«, sagte er. »Ich war unhöflich und bitte euch, mir meine Verwirrung nachzusehen.« »Ist die… Bestattung schon zu Ende?« fragte Nottr sarkastisch. »Nhottur und seine Herde haben mir geholfen«, erklärte Baumer lächelnd. »Ich habe ihn nicht umgetauft. Nhottur paßt besser zu ihm als jeder andere Name. Er wird mich immer an den starken Krieger erinnern, den zu bewirten mir gegeben war.« Der Lorvaner seufzte und blickte Mythor hilfesuchend an. Dieser verbeugte sich ebenfalls. »Wir wissen deine Gastfreundschaft zu schätzen, Baumer, und wir werden sie überall preisen.« Das kurze Funkeln in den Augen des Männchens schien zu sagen: Wenn ihr dazu noch Gelegenheit haben werdet! Mythor trat ein. Was er sah, entlockte ihm einen Ausruf des Erstaunens. Die Wände waren mit kostbaren Fellen und Stoffen bespannt. Mit Stoffen, wie Mythor sie nur in Lockwergen gesehen hatte. Tönerne Krüge standen auf Wandregalen und dem großen Tisch in der Mitte des einzigen Raumes. Da waren fünf Pokale neben silbernen Tellern. Über dem Feuer im großen offenen Kamin drehte sich ein Spanferkel. Nottr verdrehte die Augen und fuhr sich über den Bauch, als der Geruch des Bratens in seine Nase stieg. Für den Augenblick waren die Beleidigungen, die Baumer ausgestoßen hatte, vergessen. 26
Mythor war nun fast sicher, daß Baumer einst im Schloß des Königs Nadar gelebt hatte. Vermutlich war er irgendwann plötzlich von dort verschwunden gewesen und mit ihm einige Kostbarkeiten aus dem Schloß. »Nehmt Platz, meine Freunde«, forderte Baumer die Gefährten auf. »Der Braten wird noch eine Weile brauchen, doch der Wein ist ausgereift und wird euren Appetit zusätzlich anregen.« »Mach dir keine Umstände«, sagte Mythor. »Wir wollen dir nicht unnötig zur Last fallen. Wenn du dich nur um Nottrs Wunde kümmern könntest?« Baumer machte eine abweisende Geste. »Ein gutes Essen und ein guter Wein sind das mindeste, was ich euch anbieten kann, um wiedergutzumachen, was ich euch antat.« Er nahm einen der Krüge und goß zuerst sich, dann den Freunden ein. Als er ihm den Pokal hinhielt, überzeugte Mythor sich davon, daß nichts beigemischt wurde – kein Pülverchen, keine andere Flüssigkeit. Wenn Baumer das Mißtrauen spürte, so zeigte er es nicht. Er wartete, bis alle saßen, dann hob er seinen Pokal. »Nun trinkt mit mir und zeigt dadurch, daß ihr Baumer verziehen habt. Trinken wir auf die Wälder und auf alles, was in ihnen lebt.« »Und starb«, fügte Sadagar leise hinzu. Baumer überhörte es. Er trank zuerst, und nachdem er den Pokal geleert hatte, kosteten auch die Gefährten den Wein. Er war gut und stark. Baumer goß sofort nach. Trotz seiner Vorsicht blieb Mythor skeptisch. Er versuchte, irgend etwas an sich zu bemerken, was darauf hindeuten konnte, daß der Wein doch vergiftet war. Alles, was er spürte, war eine wohltuende Wärme, die sich über seinen Körper ausbreitete, und daß er sich entspannte. Baumer kicherte und stand auf, um nach dem Braten zu sehen. Als er aus einem Säckchen Gewürze nahm und sie über 27
das Fleisch streute, sagte Mythor leise zu Kalathee und Sadagar, die neben ihm saßen: »Ich ahne, was er vorhat. Er will uns betrunken machen und uns dann beseitigen. Vielleicht landen wir in einem Schweinepfuhl. Laßt ihn trinken, und kippt euren Wein schnell weg, wenn er sich umdreht.« »Sagtet ihr etwas?« fragte Baumer, als er sich wieder neben Nottr setzte. »Wir bewunderten deine Kostbarkeiten«, antwortete Sadagar. »Du mußt viel herumgekommen sein, um sie zusammenzutragen.« »Sehr viel. Baumer kennt die Welt. Und das ist der Grund, warum er sich hierher in die Wälder zurückgezogen hat. Die Welt ist schlecht.« Er hob sein Gefäß und trank wieder. Mythor prostete ihm zu und leerte ebenfalls den zweiten Pokal. Nottr, der Mythors geflüsterte Worte nicht verstanden hatte, hielt das Gefäß schon wieder zum Nachfüllen hin. »Ein guter Tropfen, Freund Baumer, wirklich. Die beste Medizin für mich. Meine Beinwunde ist schon so gut wie verheilt.« Baumer schenkte ihm ein. Unter dem Tisch stieß Mythor Kalathees und Sadagars Füße leicht an. Während Baumer mit dem Einschenken beschäftigt war, kippten sie den Inhalt ihres Pokals schnell unter dem Tisch aus. »Ihr trinkt schnell«, lobte der Herr der Wildschweine. »Wahrlich, ihr habt Geschmack.« Und er goß nach. Mythor spürte, wie der Alkohol ihn in leichte Euphorie versetzte. Noch einmal trank er aus, dann folgte er dem Beispiel der Freunde. Nur Nottr genoß in vollen Zügen. Als der Braten endlich gar war und Baumer mit einem scharfen Messer große, saftige Stücke herausschnitt, begann es draußen zu dämmern. Nottr griff mit beiden Händen zu, bevor Baumer sein Stück auf den Teller legen konnte. Mythor 28
warf ihm einen warnenden Blick zu, doch der Lorvaner hatte bereits einen Zustand erreicht, in dem er auf nichts mehr achtete. Dann sah Mythor erleichtert, wie auch Baumer sich ein großes Stück in den Mund schob. Genießerisch kauend nahm er die Teller und reichte sie mit Bratenfleisch darauf zurück. »Du bist ein sehr guter Gastgeber«, lobte Mythor. »Sicher kamen schon viele Wanderer an deinem Haus vorbei.« »An meiner bescheidenen Hütte«, korrigierte Baumer grinsend. »Ja, es waren nicht wenige, die auf ihrem Weg bei mir einkehrten.« Wenn deine Wildschweine sie nicht vorher zur Strecke brachten, du Teufel, dachte Mythor, ohne eine Miene zu verziehen. Laut fragte er: »Wohin waren sie unterwegs? Zu Althars Wolkenhort?« Sadagar und Kalathee hörten auf zu kauen. Ihre Blicke richteten sich auf Baumer. Nur Nottr ließ sich nicht stören. Er nahm das Messer und begab sich zum Kamin. »Ihr habt vom Wolkenhort gehört?« Der Gedanke daran schien Baumer außerordentlich zu amüsieren. »Ja, ich kenne ihn. Er liegt nicht weit von hier entfernt.« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Mit gut gespielter Trauer sagte er: »Einige der Abenteuersuchenden mußte ich zu ihm hinführen. Keiner kam zurück. Seid auch ihr…?« »Nein«, schwindelte Mythor schnell. »Unser Ziel ist die Elvenbrücke.« Wieder stieß er Kalathee und Sadagar unter dem Tisch an. Er hatte sich noch ebenso unter Kontrolle wie sie. Mit keinem Zucken eines Gesichtsmuskels verriet er die Erregung, die sich seiner bei den Worten des Männchens bemächtigt hatte. So nahe waren sie dem Ziel also! Und Baumer log nicht. Wahrscheinlich hatte er die Panflöte sogar beim oder im Wolkenhort gefunden, denn nichts deutete 29
darauf hin, daß er über Quellen anderer Magie verfügte. Als die Gefährten gesättigt waren und keinen Bissen mehr hinunterbekamen, sagte Baumer: »Und nun versucht meinen Selbstgebrannten Obstler, meine Freunde! Es soll ein lustiger Abend werden, den ihr nie vergessen werdet!« Du auch nicht! dachte Mythor grimmig. Er wechselte einen schnellen Blick mit den Freunden. Nur Nottr war nicht mehr ansprechbar. »Ja, Freund, bring uns den Obstler!« rief er mit nicht mehr ganz klarer Stimme. Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Es ist verdammt lange her, daß ich richtig betrunken war. Viel zu lange!« Doch Mythor wußte, daß Baumer nun bald zum Generalangriff übergehen würde. * Der Holzboden der »Hütte« war trocken und saugte den Wein und den Schnaps so schnell auf, daß Baumer keine Pfützen unter dem Tisch sah. Draußen war es nun stockdunkel. Mythor, Kalathee und Sadagar spielten die Angeheiterten. Nottr war ihnen ein glänzendes Vorbild. Nach dem zehnten Gläschen Obstler begann es im Raum scharf zu riechen. Baumer vertrug eine Menge, im Gegensatz zu den drei nüchtern Gebliebenen hatte er jedes Glas ausgeschlürft. Aber jetzt war auch bei ihm die Wirkung erkennbar, und bald war er so benebelt, daß die drei ihre Gläser vor seinen Augen auskippen konnten. Nottrs Kopf fiel wie ein Stein auf die Tischplatte. »Und nun werdet ihr eine Darbietung erleben, wie sie keiner vor euch zu sehen bekommen hat mit Ausnahme von Königen!« kündigte Baumer an. Er hob die Flasche, überlegte kurz, ob sich die Mühe lohne, sein Glas zu füllen, und schüttelte ki30
chernd den Kopf. Er setzte sie an den Mund und trank den geistvollen Schnaps in vollen Zügen. Dann warf er sie in eine Ecke und wischte sich mit dem Ärmel seines Kostüms über den Mund. »Du bist mein Freund«, lallte Nottr, ohne den Kopf zu heben. »Alle sind meine Freunde. Nhottur… mein Freund. Ist ein feiner Bursche, der Nhottur…« Baumer hörte ihn nicht. Neben Nottr war er der einzige, der total betrunken war. Mythor hatte Mühe, sich weiterhin zu verstellen, und absolut keine Lust, das Spiel unnötig in die Länge zu ziehen. Er wollte wissen, wo er Althars Wolkenhort fand, und es kostete ihn große Überwindung, hier ruhig sitzen zu bleiben und den Betrunkenen zu spielen. »Eine Darbietung, die… keiner erlebte oder… hihihi… überlebte«, kicherte Baumer. Er war aufgestanden und stand nun auf schwankenden Beinen zwischen der Tür und dem Tisch. »Sie wollten sie alle nicht sehen… Dummköpfe. Darum leben sie auch nicht mehr.« Wieder das kindische Lachen. »Baumer ist der größte Spaßmacher der Welt! Baumer ist… großartig!« Die letzten Worte waren kaum zu verstehen gewesen, denn plötzlich stand das Männchen auf dem Kopf – zumindest versuchte es, einen sauberen Kopfstand zustande zu bringen. Er fiel jedoch wie ein Brett um. »Jetzt paßt auf!« lallte er. »Jetzt Baumer mit großem Kunsss… Kunsch…« »…stück«, vollendete Sadagar. Baumer verdrehte die Arme so, daß Mythor glaubte, er müßte sie sich selbst aus dem Leib reißen, und schnitt dabei Grimassen. Sadagar lachte. Baumer sah es und machte einen Sprung in die Luft, um genau auf der Tischplatte zwischen Tellern und Weinpokalen zu landen. »Warum ll… llachst du nicht?« kreischte der entlaufene Hofnarr und sah Mythor wütend an. »Baumer nicht gut?« 31
Mythor platzte der Kragen. Seine Hände schnellten vor. Mit einer packte er Baumer am Brustteil seines Kostüms, mit der anderen bekam er die lange Nase zu fassen. »Baumer nicht gut«, sagte er grimmig. »Baumer gibt uns jetzt Antwort auf Fragen. Das ist das neue Spiel!« Er konnte die traurigen Versuche des Männchens, andere zum Lachen zu bringen, nicht mehr mit ansehen. Mythors Zorn wuchs, als er daran dachte, wie viele Wanderer hier gesessen und getrunken hatten, die, wenn sie betrunken umkippten, getötet und irgendwo dort draußen im Wald verscharrt wurden. Er ärgerte sich auch über sich selbst. Warum war er Baumers Frage ausgewichen und hatte die Elvenbrücke als sein Ziel angegeben? Nur aus Angst davor, der Narr würde ihm Lügen auftischen, wenn er sein Interesse am Wolkenhort direkt bekundete? Das makabre Spiel mußte ein Ende haben. Und Baumer selbst sollte sie zu Althars Wolkenhort führen. »Hör gut zu«, sagte Mythor, ohne Baumers Nase loszulassen. »Jetzt ist Schluß mit den Späßen. Wir sind nicht betrunken und werden dir jetzt einige Fragen stellen.« »Seid ruhig!« kreischte Baumer. »Keine Fragen! Laß mich los, oder…« Nottr wachte auf. Mit rot umrandeten Augen starrte er zuerst Mythor, dann den Narren an. »Was ist los?« wollte er wissen. »Macht er Schwierigkeiten?« »Kaum«, knurrte Mythor. Er drehte die Nase Baumers ein Stück. Der Narr schrie gellend auf. »Althars Wolkenhort«, sagte Mythor. »Wo liegt er, und wie weit ist er von hier entfernt?« »Keinen halben Tagesmarsch«, sagte Baumer jetzt schnell. Er sah sich um, soweit Mythors Griff dies zuließ, und stellte wohl fest, daß seine Lage nicht rosig war. Dazu kam, daß Nottr plötzlich sehr wach wirkte und sein Krummschwert in der 32
Hand hatte. »Der Wolkenhort liegt im Wald. Aber laß mich jetzt los!« »Erst wenn ich alles weiß, was ich wissen will. Wie sieht er aus? Ist er von irgend jemandem oder irgend etwas bewacht?« »Nicht bewacht«, beeilte sich Baumer zu versichern. Er versuchte sich loszureißen, mit dem einzigen Ergebnis, daß Mythor seine Nase ein weiteres Stück drehte. »Hör auf damit! Ich sage alles! Der Wolkenhort ist ein gewaltiger Turm, und er steckt mit dem oberen Teil in einer dunklen Wolke. Niemand bewacht ihn, aber er ist verhext. Wer einmal dort war, verliert den Verstand!« »So wie du?« fragte Mythor mit zusammengekniffenen Augen. »Du warst doch dort und hast deine Flöte mitgebracht?« »Ja!« kreischte Baumer. Seine Hände legten sich um Mythors Arm. »Ich war da und danach viele Tage lang krank im Kopf. Aber ich habe mich für diese Qualen entschädigt! Mit der Flöte habe ich Gewalt über alle Tiere.« »Und du hast dir die Wildschweine als deine Freunde ausgesucht, weil du mit ihnen eine hervorragende Armee hast.« »Ja! Aber laß mich los! Du tust mir weh!« Mythor drehte die Nase noch ein Stückchen. »Du läßt einsame Wanderer von ihnen überfallen und so übel zurichten, daß du sie hierherschleppen kannst und sie sich deine Darbietungen anschauen müssen, ob sie wollen oder nicht.« »Ja! Aber laß mich…!« »Und wehe dem, der nicht lacht. Du hast sie alle umgebracht?« »Nicht alle! Einige mußte ich zum Wolkenhort führen. Sie wollten mir Reichtümer dafür geben.« »Und sie kamen nie zurück?« »Sie kamen nie zurück! Niemand kommt von dort zurück… außer den wenigen, die ihren Verstand verloren haben.« »Und in der Wildnis sterben«, flüsterte Kalathee. 33
Mythor zog Baumer dicht an sich heran. »Du wirst uns hinführen, gleich morgen früh, verstehst du?« »Aber… ihr wolltet zur Elvenbrücke!« »Wir haben es uns anders überlegt.« »Nein!« Baumer versuchte, sich aus Mythors Griff herauszuwinden. »Niemals! Ich gehe nicht mehr zum Wolkenhort. Ich will nicht verhext werden! Nicht noch einmal!« »Du hast andere vor uns hingeführt!« »Nur bis in die Nähe. Ich ließ sie allein weitergehen, als sie den Turm sehen konnten!« Nottr hatte sich erhoben und stand plötzlich hinter Mythor. Er schwankte noch, aber seine Augen und seine Sprache waren klar. Blitzschnell setzte er die Spitze des Krummschwerts an Baumers Hals. »Du bist mein Freund«, knurrte der Lorvaner drohend. »Und Freunden schlägt man nichts ab. Du gehst mit uns, und wehe dir, du kommst auf den Gedanken, uns in die Irre zu führen.« Baumers Widerstand brach zusammen. »Ja!« schrie er. »Ich führe euch ja. Aber tötet mich nicht!« Mythor ließ die Nase los. Baumer sprang vom Tisch und betrachtete sich jammernd in einem Spiegel aus geschliffenem Metall. »Was habt ihr mit meinem Gesicht gemacht?« zeterte er. »Was habt ihr getan!« »Dir dein Leben geschenkt«, sagte Mythor. »Für das, was du mit uns vorhattest, hättest du den Tod verdient.« Er trat an eines der Fenster und spähte in die Nacht hinaus. »Wir brechen auf, wenn es dämmert«, entschied er. »Nottr, komm, wir fesseln unseren Gastgeber zur Vorsicht.« »Nein!« Baumer sprang zur Feuerstelle und riß ein glühendes Scheit heraus. »Keiner kommt mir zu nahe, oder…!« Sadagar bewegte sich blitzschnell. Bevor Baumer es über34
haupt wahrnahm, steckte ein Messer in seiner Hand. Schreiend ließ er das Holzscheit fallen. »Du selbst machst deine Lage nur unnötig schlimmer«, sagte Mythor. Nottr fand ein an einem Nagel hängendes aufgerolltes Seil. Wenig später war Baumer verschnürt wie ein Paket. »Wir haben noch Zeit, uns für ein paar Stunden hinzulegen«, sagte Mythor. »Wenn der Wolkenhort tatsächlich so schrecklich ist, wie unser Freund uns glauben machen will, sollten wir ausgeruht sein.« * Der Weg führte in immer dichtere Bereiche des Waldes. Für Ortsunkundige wäre hier auch mit den Schwertern kaum ein Durchkommen gewesen, denn sobald ein paar Dornenranken abgetrennt worden waren, peitschten andere aus dem dichten Gebüsch wie vorschnellende Schlangen nach. Der Wald schien zu leben, je mehr die Gefährten sich ihrem Ziel näherten. Nur Baumer war es zu verdanken, daß sie dennoch vorankamen. Er kannte verborgene Pfade. Nottr ging direkt hinter ihm und hielt ihn an einem Seil, mit dessen anderem Ende Baumers Hände auf den Rücken gefesselt waren. Dann und wann berührte die Spitze des Krummschwerts Baumers Nacken. Mythor spürte eine seltsame Beklemmung. Wie sehr hatte er diesen Augenblick herbeigesehnt, und wie steinig war sein Weg hierher gewesen, nachdem er in Xanadas Lichtburg sein nächstes Ziel erfahren hatte. Jetzt spürte er keinen Triumph, keine Vorfreude. Baumers makabre Phantasie war zweifellos mit ihm durchgegangen, als er von den Schrecken berichtete, die der Wolkenhort für Menschen bereithielt. Aber dieser entlaufene Hofnarr glaubte an das, was er sagte. Auch jetzt wur35
de er nicht müde zu warnen. Zweifellos war sein Aufenthalt beim Wolkenhort der Grund für seinen Geisteszustand. Fast tat er Mythor nun leid. Dann aber sagte er sich, daß sie alle vier jetzt irgendwo tot liegen würden, wären sie nicht auf der Hut gewesen. Nottrs Beinwunde hatte sich beim zweiten Hinsehen als harmlos herausgestellt. Sie verheilte bereits wieder. Die Panflöte hatte Mythor zur Sicherheit an sich genommen, um keine unangenehmen Überraschungen mehr zu erleben. Mythor versuchte, seine Beklemmung abzuschütteln. Die Gruft mit dem Marmorsarg der Kometenfee hatte auch als verhext gegolten. Xanadas Lichtburg war ein gestaltgewordener Alptraum gewesen. Beide Hürden hatte er genommen. Herausforderungen waren dazu da, angenommen zu werden. Und insgeheim vertraute Mythor auf sein Gläsernes Schwert, das ihn als Befugten ausweisen sollte, wenn er und die Gefährten erst einmal vor dem Wolkenhort standen. Vorerst jedoch gab es nichts als dunklen Wald mit Gewächsen, die immer fremdartiger und unheimlicher wurden. Ranken lösten sich blitzschnell von Baumstämmen und schossen auf die Gruppe zu. Da Baumer als erster ging, blieb ihm schon allein aus diesem Grund nichts anderes übrig, als die unliebsam gewordenen Gäste rechtzeitig zu warnen. Mythor konnte sich vorstellen, wie das Ende der Bedauernswerten ausgesehen haben mußte, die allein zum Wolkenhort aufgebrochen waren. Aber wenn so viele Abenteurer und Neugierige nach ihm gesucht hatten, mußten dann nicht auch die Caer von seiner Existenz wissen und versuchen, ihn zu zerstören? Kam deshalb, wie Baumer immer wieder versicherte, niemand an ihn heran, geschweige denn hinein? Mythor verscheuchte die Gedanken. Nichts war gefährlicher, 36
als sich ein falsches Bild zu machen und dann von etwas völlig anderem überrascht zu werden. Er achtete wieder verstärkt auf den Weg und sah Pflanzen, wie er ihnen bisher noch nirgendwo begegnet war. Sie gehörten nicht in diese Welt, das spürte er. Es war fremdes Leben. War es unter irgendeinem geheimnisvollen Einfluß entstanden, der vom Wolkenhort ausging? Das Gelände wurde hügelig und stieg langsam an. Baumer blieb plötzlich stehen. Sofort war Nottrs Klinge wieder in seinem Nacken. »Weiter!« knurrte der Lorvaner. »Wartet!« Baumer deutete mit einer Kopfbewegung auf drei rötlich schimmernde Linien, die sich mitten über den schmalen Pfad zogen, von einem Dickicht ins andere. »Ich hätte nicht geglaubt, daß es schon so weit vorgedrungen ist.« Echte Angst lag in seiner Stimme. »Bald wird der Weg zu Althars Wolkenhort gänzlich versperrt sein.« »Wovon redest du?« fragte Nottr verwirrt. Mythor, der den Abschluß der kleinen Gruppe gebildet hatte, drängte sich an Kalathee und Sadagar vorbei, bis er neben Baumer stand. »Ihr müßt die Stränge durchtrennen«, sagte dieser. »Aber seid vorsichtig. Wer von der Säure getroffen wird, den frißt sie auf.« Nottr stieß einen Fluch aus, trat vor und ließ das Schwert auf eine der roten Linien herabsausen. Es sprang in die Höhe, als sei es auf Stahl getroffen, der unter der Berührung nach oben schnellte. »Was… was ist das?« fragte er überrascht. »Leben«, flüsterte Baumer. »Entsetzliches Leben. Der Wolkenhort ist davon umgeben. Aber hier habe ich es noch nie gesehen.« Mythor zog Nottr an sich vorbei nach hinten. Einen Augenblick musterte er die drei Stränge, dann schwang er Alton. 37
Die gläserne Klinge sauste auf die Ranke oder was immer es war, herab und durchtrennte sie mühelos. Baumers Schrei ließ ihn zurückspringen. Die beiden Enden des durchtrennten Stranges schnellten hoch. Aus ihnen spritzte eine blutrote Flüssigkeit. Sie peitschten durch die Luft wie Schlangen, bis es an ihren Enden nur noch träge herabtropfte. Wo die Flüssigkeit Blätter oder Baumstämme berührte, bildeten sich unter leisem Zischen Dampfschwaden. Beißender Gestank drang in die Nasen der Freunde. Entsetzt sahen sie zu, wie sich die Rinde eines mächtigen Stammes vor ihnen auflöste. Und immer noch fraß sich die Flüssigkeit tiefer in den Stamm hinein. »Ich habe euch gewarnt«, flüsterte Baumer. »Wollt ihr immer noch weiter?« »Ja!« stieß Mythor zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, machte einen Sprung nach vorne und durchtrennte blitzschnell auch die beiden anderen im Boden verlaufenden Stränge. Sofort sprang er zurück, als sie in die Höhe peitschten und ihre todbringende Säure verspritzten. Ringsum zischte und brodelte es. Giftige Dämpfe drangen an die Nasen der Freunde. Sie wagten nicht mehr zu atmen, bis sich die Dämpfe verzogen hatten. Alle Ranken lagen nun schlaff und runzlig am Boden. »Weiter!« drängte Mythor. Nottr sah ihn unsicher an. Außer Dämonen und Schwarzer Magie fürchtete er nichts auf der Welt. Aber dies hier… »Hast du nicht gehört?« fuhr er Baumer an und drückte ihm die Schwertspitze in den Nacken. »Du sollst weitergehen!« Der ehemalige Hofnarr ergab sich jammernd in sein Schicksal. Es war nun offensichtlich, daß er lange nicht mehr den Weg nach Althars Wolkenhort genommen hatte. Mythor rätselte darüber nach, was Baumer mit seinen Worten gemeint haben könnte, der Wolkenhort sei von »entsetzli38
chem Leben« umgeben, das sich nun schon bis hierher ausgebreitet hatte. Tatsache war, daß diese Rankengewächse und die blutrot schillernden Blumen tief im Gebüsch nicht hierher gehörten. Sie paßten nicht in die Landschaft. Tief im Süden hatte Mythor ähnliche Gewächse gesehen. Im kalten Norden waren sie normalerweise nicht lebensfähig. Irgend etwas mußte sie speisen. Mythor blieb unwillkürlich stehen und stocherte, einer Eingebung folgend, mit der Spitze Altons im Boden des Pfades herum. Die Freunde sahen ihn fragend an, als er sich hinkniete und mit den Händen vorsichtig weitergrub. Kaum mehr als eine Handbreit tief fand er hauchdünne violette Fäden, die den Waldboden wie Adern durchzogen. Wo er sie durchtrennte, sickerte gelbliche Flüssigkeit aus ihnen und wurde vom Humus aufgesaugt. Mythors Hand zuckte instinktiv zurück, aber nicht schnell genug. Zwei dicke Tropfen befanden sich auf seinem Handrücken, aber diesmal gab es keine Verätzungen. Mythor wischte sich die Hand an den gelben Blättern einer schon fast kahlen Eiche ab. Er nickte stumm vor sich hin und gab Nottr ein Zeichen, weiterzugehen. »Willst du uns vielleicht erklären, wozu diese… diese Versuche gut sein sollen?« fragte Sadagar. »Es steckt im Boden«, sagte Mythor nachdenklich. »Was?« Mythor hob die Schultern. »Vielleicht bekommen wir die Antwort beim Wolkenhort.« Schweigend gingen sie weiter. Die fremdartigen Gewächse verschwanden so schnell wieder, wie sie aufgetaucht waren. Es war, als bildeten sie Inseln im normalen Wald oder einen Ring um etwas. Der Weg wurde immer steiler, bis Baumer vor zwei Eichen stehenblieb, deren Äste ineinander verflochten waren. Dahin39
ter war nackter Fels zu sehen. »Jetzt müssen wir klettern«, sagte der ehemalige Hofnarr. »Kannst du uns nicht um die Felsen herumfuhren?« fragte Nottr. »Nicht, wenn ihr zum Wolkenhort wollt.« Baumer deutete mit dem Kopf nach oben. »Er steht auf diesem Berg.« »Gibt es keinen anderen Weg hinauf?« wollte Mythor wissen. »Von der anderen Seite aus«, gab Baumer zu. »Das aber würde bedeuten, daß wir einen Umweg machen müßten, der uns viel Zeit kostet und der gefährlich ist.« Nottr fluchte. Mythor warf Kalathee einen fragenden Blick zu. »Ich schaffe es«, versicherte sie schnell. Mythor blickte zum Himmel auf. Er war klar, und die Sonne hatte ihren Höhepunkt bereits erreicht. Zweifellos war es besser, den Wolkenhort noch bei Tage zu erreichen als bei Nacht. »Na schön«, sagte er. »Baumer, du kletterst voran.« »Es ist nicht mehr weit«, beeilte das Männchen sich zu versichern. »Ihr könnt es nun allein schaffen. Nur an diesen Felsen hoch. In einer Stunde seid ihr am Ziel… spätestens.« »Du kletterst voran!« knurrte Nottr. Entweder saß Baumer die Angst so sehr im Nacken, daß er es nicht erwarten konnte, am Ziel freigelassen zu werden und schnellstens umzukehren, oder er war tatsächlich schon sehr oft hier geklettert. Baumer wußte genau, wo es zwischen den Felsen ein Durchkommen gab. Nach einer Weile fand er einen Pfad, eine Felsleiste, die um den steilen Felshügel herum verlief. Dann mußten die fünf wieder klettern. An einigen Stellen schien es fast unmöglich, einen Halt zu finden, aber Baumer zeigte den Gefährten den Weg. Nach knapp einer Stunde war die Kuppe erreicht. Die Ge40
fährten schwitzten trotz der spätherbstlichen Kälte. Ihre Hände wiesen Schrammen und Schwielen auf. Kalathee ließ sich erschöpft in Mythors Arme fallen. Doch dieser hatte nur noch Augen für den Turm, der gut einen Pfeilschuß entfernt in den Himmel ragte und nach oben hin in einer dunklen Wolke verschwand. Für Augenblicke fiel es ihm schwer zu begreifen, daß dies sein Ziel sein sollte, daß all die Mühen und Gefahren, die er und die Freunde auf sich genommen hatten, nicht vergebens gewesen waren. Wie lange war Althars Wolkenhort in seinen Gedanken herumgespukt, der Helm der Gerechten, die Prüfungen, die er zu bestehen haben sollte, um ihn für sich zu erobern. Während der letzten Tage und Wochen war der Wolkenhort immer etwas gewesen, das wie in großer Ferne existierte, unnahbar und unerklärlich. Nun lag er vor Mythor, ein gewaltiger Turm, der aus reiner Bronze zu bestehen schien und von dessen Spitze nichts zu sehen war. Die Höhe ließ sich also nicht abschätzen. Unten, wo er völlig von Schlingpflanzen aller Art überwuchert war, mochte sein Durchmesser gut und gern zwanzig Schritt betragen. Nach oben hin verjüngte er sich leicht. Kein Eingang war zu erkennen. Der Turm besaß keine Fenster, nur in einiger Höhe winzige Schlitze. Und alle spürten die Atmosphäre des Geheimnisvollen und Überweltlichen, die dieses gewaltige Bauwerk umgab. Kalathee war Mythors Blick gefolgt und starrte nun ebenfalls hinüber, ebenso wie die anderen. Das Mädchen mit dem ätherischen Gesicht preßte sich noch fester an Mythor. Sadagar hatte unwillkürlich einen Schritt zurück gemacht, und Nottr starrte den Turm mit offenem Mund an. Baumer zitterte heftig. »Laßt mich jetzt gehen«, flehte er. »Ich habe euch an euer Ziel gebracht, nun haltet euer Versprechen und laßt mich frei.« 41
Es dauerte eine Weile, bis Mythor die Sprache wiederfand. Irgend etwas lockte ihn und schien ihn gleichzeitig abzustoßen. Er spürte es um so deutlicher, je länger er den Blick auf den Turm gerichtet hielt. Dieses Bauwerk forderte ihn heraus. Was immer ihn dort erwarten mochte, er war entschlossen, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. »Ich sehe keinen Eingang, Baumer«, sagte er, ohne sich von der Stelle zu bewegen. »Niemand hat Althars Wolkenhort jemals betreten können!« zeterte Baumer. »Es gibt keinen Eingang. Die Schlingpflanzen! Erkennt ihr nicht, welcher Art sie sind? Geht näher heran, wenn ihr wollt, aber laßt mich hier! Spürt ihr es denn nicht? Es greift nach uns! Ich will nicht noch einmal…« Der Rest ging in einem Schluchzen unter. Baumer spielte ihnen nichts vor. Er litt wirklich. Mythors Mitleid mit ihm wuchs. Vermutlich hatte ihn erst sein Erlebnis hier oben zu dem Teufel gemacht, der er nun war. »Diese Wolke«, fragte er dennoch, »verschwindet sie niemals?« »Niemals!« bestätigte Baumer jammernd. »Sie ist immer da. Niemand hat je die Spitze des Turmes gesehen, aber es gibt Legenden, die besagen, daß sie bis in den Himmel wächst.« »Es gibt einen Zugang«, murmelte Mythor. »Und wir finden ihn.« »Nein!« kreischte Baumer. »Geht nicht näher heran!« Mythor löste Kalathee behutsam von sich und nickte Nottr zu. »Laß ihn gehen.« »Damit er wieder einsame Wanderer überfallen kann und sie…?« »Ich habe seine Flöte. Ohne sie muß er froh sein, wenn er nicht selbst von seinen Wildschweinen erwischt wird. Laß ihn gehen, Nottr!« Widerwillig gehorchte der Lorvaner. Er löste Baumer die 42
Fesseln und versetzte ihm einen Tritt. Baumer war verschwunden, bevor Mythor bis drei zählen konnte. »Sadagar«, sagte er. »Du bleibst mit Kalathee hier, bis wir dich rufen. Nottr?« »Ich warte nur auf dich!« Die Miene des Barbaren stand in krassem Widerspruch zu seinen Worten. Doch er folgte Mythor ohne Zögern, als dieser mit festem Schritt auf den Turm zuging. Hier, auf der Kuppe des kleinen Berges, standen wieder hohe Tannen und vereinzelte Birken, die längst ihr Laub verloren hatten. Nur um den Wolkenhort herum gab es eine freie Zone von etwa zwanzig Schritt Breite. Die Schlingpflanzen wuchsen direkt vor dem Bauwerk aus dem Boden und überwucherten ihn bis in eine Höhe von fünf, sechs Schritt so dicht, daß mehrere Männer sich in ihnen verstecken konnten. Allerdings würden sie nicht lange leben. Jetzt, als sie sich dem Turm bis auf einen Steinwurf genähert hatten, erkannten Mythor und Nottr, was Baumer mit seinen Worten gemeint hatte. Rote Stränge zogen sich quer durch die Schlinggewächse. Mythor war sicher, daß er die violetten Adern in der Erde finden würde, wenn er darin grub. Und je näher die beiden Männer dem Turm kamen, desto eindringlicher spürten sie seine Ausstrahlung. Sie mußte es ein, die die Pflanzen verändert hatte und die alle in den Wahnsinn trieb, die dem Turm zu nahe kamen. Mythor bemerkte Nottrs Blick und zog das Gläserne Schwert aus dem Gürtel. Wie einen Schild hielt er es vor sich. »Glaubst du, daß Alton uns weiterhelfen wird?« fragte Nottr. »Vielleicht«, antwortete Mythor. »Beides, Xanadas Lichtburg und Althars Wolkenhort, sind Fixpunkte des Lichtboten. Es muß eine Beziehung zwischen Alton und dem Wolkenhort 43
geben.« Doch er dachte daran, daß das Gläserne Schwert noch nicht so hell leuchtete, wie dies der Fall sein sollte, und an die Schuld, die er durch den unseligen Handel mit Prinz Nigomir auf sich geladen hatte. Die beiden Männer umrundeten den Turm einmal, ohne auch nur die Spur eines Hinweises auf den Eingang zu finden. Der Gürtel der Schlinggewächse war so dicht, daß vom ganzen unteren Teil des Bauwerks nichts zu erkennen war. »Es bleibt uns nichts anderes übrig«, sagte Mythor finster. »Wir müssen uns einen Weg durch das verteufelte Gestrüpp bahnen.« Doch die roten Stränge waren überall. Mythor trat ganz dicht an die Ranken heran und holte mit Alton aus. Noch war er bei klarem Verstand. Was immer Baumer hatte wahnsinnig werden lassen, es schlug noch nicht zu. * Weder Mythor noch einer der Gefährten ahnte, daß sie seit dem Verlassen der Katakomben von Lockwergen verfolgt und beobachtet worden waren. Selbst Baumer war entgangen, daß zwei weitere Fremde in »seine« Wälder eingedrungen waren. Nun hockten sie hinter einem Felsen und beobachteten aus sicherer Entfernung: ein Mann in schwarzem Mantel, schwarzen Stiefeln und Handschuhen und mit einem knochenverzierten spitzen Helm auf dem eingefallenen Totengesicht und eine junge, ihm völlig hörige Frau. Drundyrs Hoffnung, nach seiner Niederlage in Lockwergen die Spur Mythors und seiner Begleiter zu finden, hatte sich schneller erfüllt, als er selbst geglaubt hatte. Zusammen mit Nyala von Elvinon, die nur knapp dem grausamen Schicksal entgangen war, die Braut des von einem Dämon beherrschten Wolfsmanns zu werden, hatte er unweit der Stelle, an der My44
thor und seine Gefährten aus den Katakomben ins Freie geklettert waren, ihre Spur gefunden und war ihr bis hierher gefolgt. Noch hatte Drundyr den Wolkenhort nicht erspäht. Der Caer-Priester und Nyala befanden sich knapp unterhalb der Bergkuppe, ein gutes Stück seitlich von Kalathee und Sadagar, deren Rücken nun das einzige waren, was Drundyr von den vieren sehen konnte, die ihm die schwersten Niederlagen seines Lebens beigebracht hatten. Der Dämon in ihm versuchte ihn mit aller Kraft zur Umkehr zu bewegen. Nur mit äußerster Willenskraft war es Drundyr bisher gelungen, ihn hinzuhalten. Auch das war nur möglich, weil der Priester seinen Dämon kannte und wußte, wie er ihm etwas anderes vorgaukeln konnte, als er tatsächlich zu tun beabsichtigte. Doch alle diese Bemühungen wären fast gescheitert, als er den Bauern, bei dem Mythors Gruppe übernachtet hatte, nach dem Ziel seiner Gäste ausfragte und dabei erfuhr, daß sie nach Althars Wolkenhort gefragt hatten. Beim Klang dieses Namens war der Dämon erwacht, und nur mit fast übermenschlicher Willensanstrengung war es Drundyr gelungen, ihn unter Kontrolle zu halten. Drundyrs Kenntnissen nach wußte Drudin, wo sich Althars Wolkenhort befand, aber noch war keine Armee ausgeschickt worden, um ihn zu vernichten. Drundyr schloß die Augen, um sich innerlich gegen das zu wappnen, was er hinter den Felsen zu sehen bekommen würde. Der Dämon würde wieder zu wüten beginnen. Er fühlte die Gegenwart der Kräfte des Lichts. Doch er mußte einfach wissen, was dort oben vorging. Mythor und der Lorvaner hatten sich von den beiden anderen getrennt und waren mit ziemlicher Sicherheit schon in der Nähe des Wolkenhorts. Als der Caer-Priester glaubte, gewappnet genug zu sein, um 45
den erwarteten Angriff seines Dämons abwehren zu können, spannte er seine Muskeln. »Du wartest hier«, befahl er Nyala. »Verhalte dich ruhig.« Die junge Frau gehorchte, ohne Fragen zu stellen. Dann erhob sich Drundyr und schob sich zwischen zwei Felsen hindurch. Er kletterte vorsichtig. Doch selbst wenn er Steine ins Rollen gebracht hätte, hätten ihn Sadagar und Kalathee kaum hören können. Der Abstand zu ihnen war zu groß. Drundyr stieg mehr als hundert Schritt von ihnen entfernt auf die Kuppe. Er richtete sich auf. Hier standen die Tannen dichter als dort, wo sich die beiden befanden. Noch war der Blick auf den Wolkenhort versperrt. Vorsichtig schlich er weiter. Jetzt, als er sah, daß noch weiter zur anderen Seite hin der Abhang wesentlich weniger steil war und selbst von Berittenen erklommen werden konnte, fragte er sich, warum Mythor ausgerechnet den schwersten Weg genommen hatte. Zweige peitschten ihm ins Gesicht. Drundyr biß die Zähne zusammen und kämpfte gegen den Drang an, umzukehren. Immer stärker spürte er die Ausstrahlung, die von hinter den Bäumen kam. Dann sah er den Turm. Im gleichen Augenblick schien etwas in ihm zu explodieren. Wilder Schmerz durchflutete seinen Körper. Stählerne Zangen schienen sich um sein Gehirn zu schließen und jeden Funken klaren Verstandes aus ihm herauszupressen. Drundyr stieß einen schrillen Schrei aus und knickte in den Knien ein. Er fiel wie ein Baum. Mit weit aufgerissenem Mund, aus dem heisere, unartikulierte Laute kamen, wand er sich unter furchtbaren Qualen auf dem Boden. Die Augen drohten ihm aus den Höhlen zu treten. Seine Hände suchten verzweifelt einen Halt. Die knöchernen Finger gruben sich in die Erde. Drundyr bäumte sich ruckartig auf. Schaum trat vor seinen Mund. Aus den Mundwinkeln rann Blut über die ein46
gefallenen, von durchscheinender Haut überzogenen Wangen. Die Beine des Priesters zuckten. In ihm wütete es. Mit ungestümer Macht ergriff der Dämon, der den Anblick und die Nähe des Wolkenhorts nicht ertragen konnte, wieder Besitz von ihm. Es gab keine Gegenwehr. Drundyrs Kopf verdrehte sich so, daß ein unbeteiligter Beobachter geglaubt hätte, das Genick des Priesters müßte brechen. Noch einmal ging ein furchtbarer Ruck durch den ganz in Schwarz gekleideten Körper. Dann lag er still. Drundyrs Augen waren weit aufgerissen und starrten in endlose Fernen. Nur der Mund bewegte sich leicht, und aus Drundyrs Kehle drang eine heisere, helle Stimme, die nicht mehr seine eigene war. »Nyala!« * Als sich die Lider über die starren Augen schlossen, lag Drundyr wieder an jener Stelle, von wo aus er zusammen mit Nyala von Elvinon beobachtet hatte, wie Mythor und der Lorvaner sich von dem Messerwerfer und dem Mädchen trennten, nachdem zuvor der kleine Mann im seltsamen Kostüm geflohen war. Mit wild klopfendem Herzen saß Nyala im Schutz der Felsen über den Priester gebeugt, den sie unter Aufbietung aller Kraft zurückgeschleppt hatte. Kalathee und Sadagar – die Namen hatte Nyala während der Flucht durch die Katakomben unterbewußt aufgenommen – hatten sich noch nicht gerührt. Nur einmal waren sie zusammengezuckt, als Drundyr den schrillen Schrei ausstieß. »Komm zu dir, Drundyr«, flüsterte Nyala, vor Angst und Kälte zitternd. »Bitte, komm zu dir!« Doch noch regte der hagere Mann sich nicht. Er atmete flach. 47
In seinem Gesicht zuckte es. So lag er eine Weile da. Dann schlug er völlig überraschend die Augen wieder auf. Nyala schrak zurück. Für einen Moment nur war sie verunsichert, denn diesen Blick hatte sie seit dem Aufbruch aus Lockwergen nicht mehr gesehen. Dies war wieder der alte Drundyr, nicht mehr der Mann, der einen inneren Kampf gegen seinen Dämon ausfocht, einen Kampf, den er nicht gewinnen konnte. Drundyr richtete sich auf. Ein hartes Lächeln umspielte die Mundwinkel, die Nyala vom Blut gesäubert hatte. »So mag es eine Fügung gewesen sein«, flüsterte der Caer, »daß mir der Erfolg in Lockwergen versagt geblieben ist und ich durch Mythor zu diesem Ort geführt wurde.« In seinen Augen glomm ein gefährliches Feuer. Drundyr sah sich kurz um, nahm Nyala bei der Hand und kletterte mit ihr ein weiteres Stück den Felshügel hinab. Er wirkte frischer und kraftvoller als seit langer Zeit. Bald hatten sie eine Stelle erreicht, an der sich bequem klettern ließ. Nach etwa zweihundert Schritten machte Drundyr halt. »Du willst dich Mythor nicht mehr anschließen?« erriet Nyala. »Sprich nie mehr davon!« herrschte der Priester sie an. »Mein Verstand muß vernebelt gewesen sein, und doch führte mich die Macht in mir den richtigen Weg. Kein Bündnis mit Mythor, nein! Ich habe Althars Wolkenhort gefunden, und dies wird mein Geschenk an Drudin sein! Wenn ich diesen Hort des Lichtes für ihn und Caer erobere, wird er mir meine Niederlage verzeihen.« »Erobern?« Nyala erschauerte. Sie spürte die Macht des Dämons, die Drundyr erfüllte und von diesem auf sie ausstrahlte. Aber ihre Zweifel konnte sie nicht völlig verbergen. »Zweifle nicht!« sagte Drundyr barsch. Dann überzog wieder das verächtliche Lächeln sein Gesicht. »Natürlich wird es 48
mir allein nicht gelingen, denn ich kann mich dem Wolkenhort nicht nähern. Aber wir werden Krieger finden, die ihn für uns zu nehmen wissen.« »In dieser Wildnis?« gab Nyala zu bedenken. »In Lockwergen«, sagte der Caer rasch. Er dachte einen Augenblick nach. »Drudin wird neue Truppen in die verlassene Stadt schicken. Und Lockwergen ist nicht so weit, wie wir glaubten. Wir waren zwar fast zweieinhalb Tage hierher unterwegs, aber nachts mußten wir rasten, und wir machten gewaltige Umwege. Eine gute halbe Tagesreise, denke ich. Komm!« Der Caer-Priester nahm erneut ihre Hand. Sie stiegen ab, bis sie am Fuß des Berges waren. Drundyr blieb noch einmal stehen und sah sich um. »Vierhundert Schritt mag er hoch sein«, schätzte er. »Vielleicht fünfhundert. Und an dieser Stelle können Reiter hinaufgelangen. Wir werden schneller zurück sein, als du glaubst, Mythor!« Bei den letzten Worten hatte er eine Hand zur Faust geballt und sie in Richtung Wolkenhort geschüttelt. * Es gab Lücken im Netz aus roten Strängen, das dieses Dickicht aus allen nur vorstellbaren Arten von Schlinggewächsen und Ranken durchzog. Mythor versuchte sich an diesen Stellen einen Weg hindurchzubahnen. Irgendwo hinter dieser Mauer aus Grün und Rot mußte ein Eingang in den Turm liegen. Das Gläserne Schwert fuhr singend in die Ranken. Nottr stand an Mythors Seite und hieb ebenfalls auf die Gewächse ein, sorgsam darauf bedacht, mit der Klinge nicht an die roten Stränge zu kommen, obwohl sich ja gezeigt hatte, daß nur Alton sie durchtrennen konnte. 49
Schon nach kurzer Zeit mußte Mythor erkennen, daß sich seine insgeheim gehegten Hoffnungen, Alton könne sich als eine Art Schlüssel erweisen, nicht erfüllten. Was hatte er erwartet? Daß das Schwert in seiner Hand lebendig würde und ihm zeigte, wo sich der verborgene Eingang in den Turm befand? Daß die Pflanzen zurückwichen, wenn er die Klinge gegen sie schwang? Daß das Klagen irgend etwas auslöste? »Verflucht, Mythor!« schrie Nottr außer Atem. »Das Teufelszeug wächst schneller nach, als wir es herunterschlagen können.« Der Lorvaner übertrieb nicht. Wo die beiden Schwerter eben noch eine Lücke in das Dickicht geschlagen hatten, so daß bereits Teile des Turmes zu sehen waren, entstand vor den Augen der Männer ein neuer Pflanzenvorhang. Schnell wie Schlangen krochen die grünen Ranken in den freien Raum und verschlangen sich ineinander. Mythor durch trennte sie mit dem Schwert, immer und immer wieder. Doch sofort kamen aus dem Dunkel zwischen den Schlinggewächsen neue Ranken, wuchsen aus anderen Ranken oder direkt aus dem Boden nach. Mythor trat zurück, während Nottr, von Zorn gepackt, weiter auf das Dickicht eindrosch. Mythor sah sich nach Kalathee und Sadagar um. Sie hatten sich auf den Boden gekauert. Sadagars Arme lagen schützend um die Schultern der jungen Frau. Sie würden die Kälte nicht von ihr fernhalten können. Kalathee zitterte. Ihre Lippen waren blau angelaufen. Mythor sah zum klaren Himmel auf. Die Sichel des Mondes war bereits zwischen den Wipfeln zu sehen. Noch eine gute Stunde bis zur Dämmerung, schätzte er. In dieser Nacht würde es Frost geben. Der nahende Winter kündigte sich deutlich an. Ob es Felle in Baumers Hütte gab? Mythor stieß eine Ver50
wünschung aus. Hier stand er nun vor dem lang ersehnten Ziel und war hilfloser denn je. Krieger wären im Kampf zu besiegen gewesen. Die Ausstrahlung war dazu angetan, den Willen der Gefährten zu lähmen. Aber sie machte sie nicht wahnsinnig wie Baumer. Sie kämpften dagegen an. Vielleicht war wenigstens das auf die schwache Leuchtaura Altons zurückzuführen, daß sie nicht den Verstand verloren, überlegte Mythor. Er würde diesen Ort nicht verlassen, bevor er nicht in den Wolkenhort eingedrungen war und um den Helm der Gerechten gekämpft hatte. Irgendwann mußte das, was diese unheimlichen Pflanzen speiste, erschöpft sein. Und es war besser, bei Anbruch der Nacht im Turm zu sein als hier draußen in der eisigen Kälte, jedem Unwetter schutzlos ausgeliefert. Wie schnell solche Unwetter in dieser Gegend heraufzogen, hatte Mythor vor nicht allzu langer Zeit erleben müssen. Mit grimmigem Blick trat er wieder an Nottrs Seite und ließ das Schwert in den Pflanzenvorhang sausen. Lange Ranken fielen zu Boden oder blieben im Dickicht hängen. Mythors Arm hob und senkte sich so schnell, daß Nottr ihn einen Moment lang ungläubig anstarrte. Der Eifer, mit dem der Freund jetzt zu Werke ging, spornte auch ihn noch einmal an. Eine neue Bresche entstand. Nottr trat einen Schritt vor. Beide steigerten sich in einen wahren Rausch hinein. Sie traten sofort vor, wenn sie eine neue Lücke geschlagen hatten, immer noch sorgsam darauf bedacht, keinem der roten Stränge zu nahe zu kommen. »Der Turm!« rief Mythor plötzlich. »Bei Qyul, wir erreichen ihn, Nottr!« Tatsächlich schimmerte jetzt wieder die bronzefarbene Wand des Bauwerkes zu ihnen durch. »Aber kein Eingang!« rief Nottr zurück. »Mythor, die Ranken wachsen überall um uns herum! Wir werden…« 51
Der Lorvaner hatte sich halb herumgedreht, um die schnell auf sie zuwachsenden Ranken herunterzuschlagen, als er etwas sah, das ihn einen erstickten Schrei ausstoßen ließ. »Wir müssen zurück!« schrie er in aufkommender Panik. »Wir sind nicht die ersten, die auf diese Weise versucht haben, in den Wolkenhort zu kommen!« Mythor fuhr herum. Zuerst sah er die Lianen, die ihn und Nottr von allen Seiten regelrecht einzuweben versuchten. Dann… Dort, wo der Lorvaner das Dickicht geteilt hatte, schimmerte blaß das Skelett eines Menschen in den Pflanzen. Vermoderte Stoff- und Pelzbekleidung hing von den gebleichten Knochen herab. In der Hand des Skeletts befand sich noch das Schwert, mit dem der Unbekannte versucht hatte, sich auf die gleiche Weise wie Mythor und Nottr einen Weg ins Innere des Turmes zu schlagen. Das Skelett war von Dutzenden von schlanken Lianen umwickelt. Mythor starrte noch entsetzt darauf, als er spürte, wie sich etwas um seinen Hals schob. Er schrie auf und versuchte, die Ranke mit der linken Hand von sich zu reißen. Ebensogut hätte er versuchen können, Draht zu zerreißen. Nottr erkannte die Gefahr und durchtrennte die Ranke mit der Klinge des Krummschwerts. Mythor hatte keine Zeit, sich zu bedanken. Jeder Gedanke, sich bis zum Turm durchzuschlagen, war vergessen. Er wirbelte herum und sah sich in einem sich schnell schließenden Vorhang aus Ranken und Lianen gefangen. Dahinter war Sadagars Gesicht zu erkennen, der ihm etwas zurief. Jedenfalls schien es so, doch kein Wort drang an Mythors Ohr. Von allen Seiten schossen die Schlingen auf die beiden Eingeschlossenen zu. Es waren Hunderte, und sie schienen sich geradewegs aus dem Nichts herauszubilden. 52
»Jetzt kämpfe, Nottr!« schrie Mythor, plötzlich nicht mehr sicher, ob der andere ihn noch hörte. Aber der Anblick des Skeletts reichte aus, um alle Kräfte in beiden Männern zu mobilisieren. Zu deutlich sahen sie, was ihnen bevorstand, wenn sie sich nicht aus dieser heimtückischen Falle befreien konnten. Von der anderen Seite her durchtrennte Sadagar die Ranken mit seinen Messern. In jeder Hand hielt er eines. Rücken an Rücken mit Nottr hieb Mythor auf die herankriechenden Ranken ein, soweit es ihre eingeschränkte Bewegungsfreiheit zuließ. Immer wieder mußten sie die grünen Schlingen durchtrennen, die sich um ihre Beine legen wollten. Mythor hörte Nottr schwer atmen, und auch er selbst spürte die ersten Anzeichen nahender Erschöpfung. Endlich hatten sie wieder eine freie Zone von einem Schritt um sich geschaffen. Der Schweiß lief in Strömen an ihnen herunter. Mythors Klinge traf einen der roten Stränge. Nottr schrie auf und riß den Freund gerade noch rechtzeitig an den Schultern zur Seite, bevor die rote Flüssigkeit aus dem wild peitschenden Strangende ihn treffen konnte. Kostbare Augenblicke vergingen. Die Ranken wuchsen nach. Wieder waren die Schwerter der Freunde in Bewegung. Sadagars Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. Mythor gewann an Boden. Plötzlich sah er, wie Nottr den freien Arm mitten ins Dickicht hineinsteckte und mit einem Ruck etwas daraus hervorzog. Mythor sah das Schwert, das in der Hand des Skeletts gesteckt hatte. Nottr wollte seinen Arm mit der Waffe zurückziehen, doch schon hatten sich zwei Schlingen darum gelegt. »Achte nicht auf mich, Mythor!« schrie Nottr. »Kämpfe weiter!« Der Barbar aus den Wildländern durchtrennte die Schlingen mit dem Krummschwert. Er zog den Arm mit einem Ruck zurück. Sadagar war schon zur Stelle, als Nottr ihm die Waffe des 53
Toten durch den grünen Vorhang zuschob. Schließlich, am Rande der vollkommenen Erschöpfung, sahen Mythor und Nottr ihre Chance. Sie sprangen am Steinmann vorbei. Hinter ihnen schoben sich die Ranken ineinander, wobei knisternde und ächzende Geräusche entstanden. Benommen taumelten die knapp einem schrecklichen Tod Entronnenen auf Kalathee zu, die sie mit vor Entsetzen geweiteten Augen erwartete. Sadagar mußte Nottr stützen, obwohl dieser sich mit Händen und Füßen dagegen zu wehren versuchte. »Und jetzt?« fragte der Steinmann, als Mythor und Nottr wieder einigermaßen zu Atem gekommen waren. Mythor wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Haare klebten ihm strähnig im Gesicht. Dort, wo sich die Ranke um seinen Hals geschoben hatte, war die Haut leicht gerötet. Der rote Ball der Sonne war im Westen längst hinter den Spitzen der hohen Tannen versunken. Und es wurde immer kälter. »Wir werden für die Nacht ein Feuer brauchen«, murmelte Mythor, den Blick grimmig auf den umrankten Turm gerichtet. Plötzlich nickte er. »Ein Feuer, ja. Es hat hier tagelang nicht geregnet. Das herabgefallene Laub und die Nadeln sind staubtrocken. Die Schlinggewächse selbst können wir nicht anzünden, aber…« Er sah Nottr an. »Wir müssen soviel trockenes Laub wie möglich sammeln und um den Turm herum verteilen. Du hast noch Feuersteine, Nottr?« Der Barbar aus den Wildländern grinste. »Mehr als genug. Der Bauer war freigebig.« Wieder nickte Mythor heftig. Seine Brust hob und senkte sich unter schweren Atemzügen. »Kalathee und Sadagar, ihr könnt uns helfen. Geht dort zu den Eichen und Birken und sammelt Laub! Nottr, wir beide 54
werden ein paar Bäume fällen.« »Das ist eher nach meinem Geschmack, als gegen Dämonenpflanzen zu kämpfen!« »Dämonenpflanzen?« »Natürlich. Es müssen Dämonen in ihnen stecken, sonst…« »Du weißt, daß das Unsinn ist, Nottr! Jeder Dämon aus der Dunkelzone würde wahrscheinlich nicht einmal auf wenige Schritte an den Turm herankommen.« »Egal. Die Ranken werden brennen, und das wird das schönste Feuer meines Lebens!« »Sicher«, murmelte Mythor. Sadagar und Kalathee machten sich an die Arbeit. Beide waren froh, daß sie sich bewegen konnten. Das wärmte. Mythor zeigte Nottr einige besonders dicht am Turm stehende Tannen. »Wir müssen sie so fällen, daß sie nicht gegen den Wolkenhort krachen, sondern dicht neben ihn fallen«, sagte er. Nottr schwang bereits sein Schwert wie eine kleine Axt. Die Schläge waren weithin hörbar. Mythor hatte mit Alton weit weniger Schwierigkeiten als Nottr mit dem Krummschwert. Die schwach leuchtende Klinge drang mit jedem Schlag tief in das Holz hinein. Mythor schlug einen Keil in den Stamm der ersten Tanne, die er sich vorgenommen hatte. Dann gab er ihr den Stoß, der sie stürzen und einen Teil des Rankendickichts niederreißen ließ. Nottr befand sich in sicherer Entfernung. Sie fällten insgesamt sechs Tannen, die dicht um den Turm herum lagen, als die Dämmerung voll einsetzte. Kalathee und Sadagar brachten das Laub. Mythor und Nottr halfen ihnen. Nach einer halben Stunde lagen mehrere Laub- und Reisighaufen unter den Stämmen und zwischen ihnen und dem Turm. Von irgendwoher drangen die Schreie von Nachtvögeln an die Ohren der Gefährten. Der scheinbar verlassene Wald er55
wachte zum Leben. »Das sollte reichen«, sagte Mythor. »Nottr, jetzt kannst du dein Feuer legen.« »Nichts lieber als das«, grinste der Lorvaner. Kurz darauf züngelten kleine blaue Flämmchen aus einem der Laubhaufen. Nottr kniete davor, rieb die kalten Hände darüber und blies vorsichtig hinein. Als die ersten hohen Flammen aus dem Laub schlugen, stieß er es mit dem Stiefel unter die dürren Zweige der an dieser Stelle liegenden Tanne. Er sprang auf und beeilte sich, zu den in sicherer Entfernung wartenden Gefährten zurückzukehren – keinen Augenblick zu früh. Es war, als habe jemand Holz und Laub mit einer brennbaren Flüssigkeit übergossen. Explosionsartig schossen grelle Stichflammen in die Luft. Holz knisterte. Dichter Rauch stieg auf und hüllte bald den ganzen unteren Teil des Turmes ein. Seltsame singende und klagende Geräusche entstanden. Durch den Rauch peitschten grüne und rote Ranken, als wollten sie sich dem Verderben entwinden. »Es klappt!« schrie Nottr begeistert. »Das Zeug verbrennt!« Das Feuer hatte sich in Windeseile um den ganzen Turm herum ausgebreitet und machte die beginnende Nacht zum Tag. Flammen schlugen hoch in die Luft. Wo sich Lücken im Rauch bildeten, waren Ranken zu sehen, die sich langsam einrollten und braun wurden. Dann fingen auch sie Feuer. Althars Wolkenhort schien zu brennen. Für einen Moment hatte Mythor die furchtbare Angst, etwas getan zu haben, was sich niemals wiedergutmachen ließ. Dann sah er die bronzefarbenen, nur leicht angerußten Mauern des Turmes und atmete auf. Einen Augenblick zu früh. Plötzlich lösten sich dunkle Schatten aus dem Rauch. Irgend etwas Lebendes, Flatterndes kam in Schwärmen aus dem Rankendickicht und erfüllte die Luft. Die Menschen, die sich in 56
der Nähe des Feuers gewärmt hatten, liefen entsetzt zurück. »Was ist das?« schrie Kalathee. »Nachtfalter«, rief Nottr. »Riesige Biester!« Er duckte sich instinktiv, als die lebende Wolke aus Hunderten von Insekten über ihn hinwegrauschte. Mit dem Schwert schlug er blind in den Schwarm hinein. »Sie hielten sich im Dickicht versteckt!« rief Mythor. Noch immer erschienen neue Schwärme und einzelne Nachzügler. Die Falter waren größer als ein Männerkopf. Die Gefährten wichen weiter zurück. Aber die Falter griffen sie nicht an. Sirrend und rauschend zogen sie über ihre Köpfe hinweg und verschwanden zwischen den Bäumen. Die ersten Tannen in der Nähe des Wolkenhorts fingen Feuer. Die Flammen sprangen schnell über. Innerhalb von Minuten entstand ein Waldbrand, und er griff um sich, immer weiter. »Weg hier!« schrie Mythor. »Wer weiß, was sich noch alles in diesem Dickicht versteckt hält!« Früher, als ihm lieb sein konnte, erhielt er die Antwort. Wieder war ein Surren in der Luft, und wieder lösten sich Schwärme von Insekten aus den Rauchschwaden, die nun bereits den ganzen Turm einhüllten und sich mit der dunklen Wolke vereinigten, die die Spitze des Wolkenhorts verbarg. Diesmal waren es keine Nachtfalter. »Hornissen!« brüllte Sadagar entsetzt. »Sie kommen auf uns zu!« Es hatte seiner Warnung nicht mehr bedurft. Mythor riß Kalathee mit sich und rannte bis zu den Felsen am Rand der Bergkuppe, wo keine Bäume standen. Tausende von Hornissen schwirrten durch die Luft und stießen auf die Freunde herab. Und es gab nichts, was ihnen als Schutz vor den tödlichen Stichen dienen konnte. »Wir müssen zurück!« schrie Mythor. »Hier haben wir keine Chance! Sie fürchten das Feuer! Wir müssen zu den Tannen!« 57
»Damit wir verbrennen?« rief Sadagar. Nottr fuchtelte mit dem Krummschwert in der Luft herum. »Lieber will ich schmoren als… Aaah!« Wie von Dämonen gejagt machte der Lorvaner einen Satz und rannte davon, als er den ersten Stich in den Arm bekam. Mythor warf sich Kalathee kurz entschlossen über die Schulter und lief hinter ihm her. Fluchend folgte Sadagar. Eine dichte Wolke von außer Rand und Band geratenen Insekten umgab sie. Mythor spürte einen stechenden Schmerz im linken Bein, gleich darauf in der Schulter. Ein oder zwei Hornissenstiche waren nicht direkt lebensgefährlich, aber wenn es mehr wurden… Auch der Steinmann schrie auf. Wie durch ein Wunder blieb die zarte Kalathee verschont. Mythor und Sadagar erreichten Nottr gleichzeitig. Der Lorvaner stand schwer atmend zwischen zwei brennenden Tannen, so nahe wie möglich an den Flammen, und hustete. Mythor setzte Kalathee ab. Der Hornissenschwarm blieb zurück, nachdem die ersten Tiere Bekanntschaft mit dem Feuer gemacht hatten. »Hier sind wir für den Augenblick sicher«, rief Mythor. »Sie werden sich austoben und sich dann verziehen.« »Ja«, keuchte Sadagar und begann wie Nottr zu husten. »Wenn wir bis dahin nicht erstickt sind!« Heißer Rauch stieg in die Nasen der Gefährten und trieb ihnen die Tränen in die Augen. Mythor schlug einen herabstürzenden brennenden Ast mit dem Schwert zur Seite. Dann legte er ihn sich mit der Spitze Altons auf die Stiefelspitze und schleuderte ihn mit dem Fuß in den Schwarm der Hornissen. Er konnte kaum etwas sehen, und seine Lungen schienen zu brennen. Kalathee sank neben ihm zu Boden. Die Tannennadeln fingen Feuer. Nottr trampelte wie ein Tanzbär auf ihnen herum, um die Flämmchen auszutreten. Es war zwecklos. 58
Immer mehr brennende Äste kamen herab. Die Freunde umgab ein Flammenmeer, und die einzige freie Stelle war von tanzenden Hornissen erfüllt. »Wir müssen… aushalten!« keuchte Mythor. Hitze und Rauch drohten ihm die Sinne zu rauben. Er fühlte sich an Gwasamees Ende in der Gruft hinter den Wasserfällen erinnert, als er, ebenfalls mit giftigem Rauch in den Lungen, gegen die Säbelzahntiger kämpfen mußte, um ins Freie zu gelangen. »Ich halte das nicht mehr aus!« schrie Sadagar. An Mythor vorbei rannte er auf die Lichtung. Mythor wollte ihn packen. Schon sah er ihn in einer dichten Wolke von Insekten niedersinken, aber da geschah das Wunder: Die Hornissen flogen sirrend davon. Die im Licht des Feuers schimmernden Körper verschwanden über dem Wald. Innerhalb von ein paar Atemzügen war der Spuk vorbei. Sadagar sank zu Boden und lachte wie ein Irrer. Kalathee war bewußtlos, aber weder ihr Haar noch ihr Kleid hatten Feuer gefangen. Es war, als habe eine unbekannte Macht ihre schützende Hand über sie gehalten. Als einzige war sie nicht gestochen worden. Nottrs Rückenfell war angesengt, und drei rasch anschwellende Beulen zeugten von drei Stichen, die er erhalten hatte. Sadagar hatte einen Stich abbekommen, Mythor zwei. Doch noch spürten die Männer nichts von dem Insektengift. Wenn sie wankten, dann wegen des eingeatmeten Rauchs. Nun lagen sie alle vier bei den Felsen und starrten hustend und schwer atmend in die Flammen. Um den Turm herum wütete das Feuer mit unverminderter Heftigkeit. Mythor kümmerte sich um Kalathee, die sich bereits wieder zu rühren begann. Nur ihr Gesicht und ihre Hände waren leicht rußgeschwärzt. Ihre Augen öffneten sich und richteten sich auf Mythor. »Ist es… vorbei?« kam es kaum hörbar über ihre Lippen. 59
»Wenn du die Hornissen meinst, ja«, sagte Mythor, ohne den Blick vom Wolkenhort zu nehmen. Die dunkle Wolke glühte düsterrot im Lichtschein des Feuers. Holz knackte. Bäume stürzten um. Kein Getier kam mehr aus dem brennenden Dickicht hervor. Der Rauch bewies, daß noch immer genug Feuchtigkeit in den Schlinggewächsen war. Noch war nicht alles heruntergebrannt. Hier bei den Felsen war es nun angenehm warm. Mythor wischte sich die klebrigen Tränen aus dem Gesicht. Und er dachte daran, daß die Flammen und die weithin sichtbar über dem Wald stehende Rauchfahne ungebetene Gäste anlocken konnten. Das Feuer würde noch stundenlang wüten. Solange waren die Gefährten zur Untätigkeit verurteilt. Vielleicht würden sie sich erst nach Anbruch des Tages wieder an den Turm heranwagen können. Zeit genug für andere, hierherzugelangen. Mythors dunkle Ahnungen täuschten ihn nicht. * Drundyr hatte weder sich noch Nyala geschont. Diesmal brauchte er keine Umwege zu machen. Er orientierte sich nach dem Stand der Sonne und nach Anbruch der Dunkelheit an den vertrauten Sternbildern, die ihm den direkten Weg nach Norden wiesen, nach Lockwergen. Nur wenige Male hatte er Nyala einige Minuten Rast gegönnt. Er selbst brauchte keine. Der Dämon in ihm versorgte ihn mit immer neuen Kräften. Als der Caer-Priester dann den hellen Schein und die Rauchfahne dort sah, wo er den Wolkenhort wußte, hatte er es noch eiliger. So kurz vor seinem Triumph durfte der Wolkenhort nicht zerstört werden. Er allein wollte ihn erobern. 60
Durch Dickicht und Dunkelheit kamen Drundyr und Nyala langsamer voran, als ihm lieb war. Es war fast schon Mitternacht. Auf den Nadeln der Tannen und Fichten bildete sich erster Reif. Der Boden wurde rutschig. Drundyr schätzte, daß er und Nyala nicht einmal die halbe Strecke nach Lockwergen zurückgelegt hatten. Plötzlich hörte er in der Ferne Hufgetrappel. Der Boden war hier zum Teil steinig. Nur diesem Umstand hatte der Caer es zu verdanken, daß er rechtzeitig gewarnt wurde. Voraus war eine kleine Lichtung. Drundyr zog Nyala mit sich hinter ein Gebüsch. »Reiter«, flüsterte sie. »Wer kann das sein, Drundyr?« »Wir werden es bald wissen«, zischte der Priester. »Beweg dich nicht! Keinen Laut mehr!« Er versuchte, am gegenüberliegenden Rand der Lichtung etwas zu erkennen. Der Hufschlag wurde lauter, und es waren mehrere Reiter, die sich durch die Nacht näherten. Wer hatte um diese Zeit hier etwas zu suchen? fragte sich Drundyr. Waren es Caer-Krieger, die von Drudin beauftragt worden waren, seiner Spur zu folgen und ihn einzufangen? Wer sonst als Caer sollten sich hier herumtreiben? Und selbst wenn sie von Drudin geschickt worden waren -Drudin war weit. Falls die Krieger keinen anderen Priester bei sich hatten, würde es ihm ein leichtes sein, sie unter seinen Befehl zu zwingen. Wilde Hoffnung flackerte in ihm auf. Vielleicht war es eine glückliche Fügung, daß er hier auf Krieger traf. Wenn ja, war er schneller zurück beim Wolkenhort, als er gehofft hatte, und er ersparte sich den langen, beschwerlichen Weg nach Lockwergen. Dann sah er sie. Hintereinander reitend kamen sie auf die Lichtung, als habe der finstere Wald sie ausgespien. Drundyr kniff die Augen zusammen. Mindestens zwei Dutzend Elitekrieger der Caer. 61
Und nun erkannte er ihren Anführer. Drundyr triumphierte innerlich. Nicht ein Priester ritt an der Spitze des Trupps, sondern ein Mann, der besser als jeder andere in der Lage sein sollte, Althars Wolkenhort für Drundyr zu erobern. »Komm«, flüsterte er Nyala zu. »Es sind unsere Männer. Sie werden auf meinen Befehl hören.« Er trat hinter dem Gebüsch hervor auf die Lichtung. Der Anführer des Trupps stieß einen dumpfen Laut aus und zügelte sein Pferd. »Halt ein, Ritter!« rief der Priester mit erhobenen Händen. »Vor dir steht Drundyr. Es ist mir eine große Freude, dich hier zu sehen. Zusammen werden wir Drudin ein Geschenk machen, wie er noch keines erhielt, Ritter Coerl O’Marn!« Sein Name war weit über die Grenzen des Herzogtums Caer hinaus bekannt und gefürchtet. Schon zu Lebzeiten war er Legende, und das nicht erst seit der Eroberung der Stadt Nyrngor. Es hieß von ihm, er sei einer der letzten Nachfahren der legendären Alptraumritter, die einst mordend und brandschatzend durch die Lande zogen. Ritter Coerl O’Marn, der gefürchtetste Kämpfer und Stratege Caers. Groß, finster und wuchtig saß er im Sattel seines prachtvollen Hengstes Chelm, das Visier des Helmes mit den Adlerfedern hochgeklappt. In seiner schweren Rüstung wirkte er auf den ersten Blick unförmig und unbeweglich. Unter dem braunen Leinenhemd waren die Ränder eines schweren Kettenhemds zu erkennen. In der Linken hielt er einen riesigen verbeulten schwarzen Rundschild, in der Rechten eine gewaltige Steitaxt. Weitere Waffen hingen am verzierten Sattel des Braunen: ein Schwert und ein Morgenstern. Der hinter ihm reitende Caer trug seine Lanze. O’Marns Männer waren ebenfalls gut bewaffnet und trugen Kettenhemden und zum Teil Helme. Nun standen sie sich auf 62
der Lichtung gegenüber – der Priester und der Ritter, von dem es hieß, daß er nicht einmal die Mächte der Finsternis fürchte. Und tatsächlich gab es keine unterwürfige Geste Drundyr gegenüber. Jeder andere Caer hätte mit Furcht und Ergebenheit auf das Erscheinen eines der mächtigen Priester reagiert. Coerl O’Marn nicht. Er ließ sein Pferd tänzeln und rief seinen Männern einen Befehl zu, den Drundyr nicht verstand. Dann brachte er das Tier zum Stillstand, beugte sich ein Stück im Sattel herab und sagte mit dunkler Stimme: »Du bist also Drundyr. Ich hörte von dir.« Der Priester zuckte leicht zusammen, doch auch er hatte sich unter Kontrolle und ließ sich keine Gefühlsregungen anmerken. Wenn er über die lasche Art und den barschen Tonfall von O’Marns Worten erzürnt war, so zeigte er es nicht. Er brauchte diesen Mann und seine Kämpfer. Ja, und er hatte davon gehört, daß O’Marn wenig Respekt vor den Priestern hatte. Sein Leben war Kampf, und er kämpfte für Caer. Nur das zählte und mußte der Grund dafür sein, daß Drudin einen Mann wie ihn duldete und in hohen Ehren hielt. Drundyr versuchte, in den grauen, kalten Augen zu lesen, aber vom Gesicht des etwa fünfzigjährigen Ritters war im fahlen Mondlicht kaum etwas zu erkennen. Und er sah nicht Drundyr an, sondern die Frau an seiner Seite. Drundyr konnte die Frage nicht unterdrücken, die ihm auf der Seele lag: »Du kommst aus Lockwergen, O’Marn? Hat Drudin dich geschickt?« Wenn er gehofft hatte, nun zu erfahren, ob der mächtigste aller Priester nach ihm suchen ließ, sah er sich getäuscht. »Drudin war besorgt, nachdem wir lange keine Nachricht von dir und deinen Kriegern erhalten hatten«, sagte der Ritter, ohne den Blick von Nyala zu nehmen. Die Art und Weise, wie er sie musterte, ließ Zorn in Drundyr aufsteigen. »So schickte 63
er mich mit diesen dreißig Elitekriegern in den Norden, um in der Stadt nach dem Rechten zu sehen.« Mit keinem Wort ging O’Marn darauf ein, was er in Lockwergen getan oder gefunden hatte. Drundyr sollte auch nicht erfahren, ob seine eigenen Krieger Caer vor oder erst nach O’Marns Aufbruch mit der Kunde erreicht hatten, daß ihr Priester in Lockwergen zurückgeblieben war. Endlich sah O’Marn ihn wieder direkt an. Mit der Streitaxt deutete er nach Süden. »Wir haben die Rauchfahnen gesichtet. Deshalb sind wir hier. Du kommst von dort?« »Von Althars Wolkenhort«, sagte Drundyr gedehnt, jede Silbe betonend. »Er ist es, der brennt.« »Caers Blut!« entfuhr es Coerl O’Marn. »Ja, Ritter«, sagte Drundyr mit großer Genugtuung darüber, daß es ihm gelungen war, diesen so unerschütterlich wirkenden Koloß zu beeindrucken. »Althars Wolkenhort, die Bastion des Lichtes. Ich habe ihn gefunden, und mit deiner und deiner Krieger Hilfe werde ich ihn für Drudin erobern. Aber wir müssen uns beeilen, Ritter. Es sind Fremde dort. Sollte es im Wolkenhort Hinterlassenschaften aus der Zeit des Lichtboten geben, wie die Legenden berichten, dann dürfen sie nicht in ihre Hände fallen!« »Fremde? Wie viele?« »Drei Männer und eine Frau«, antwortete Drundyr. O’Marn lachte dröhnend. »Drei Männer und eine Frau! Und vor ihnen bist du geflohen?« Drundyr hatte eine harte Entgegnung auf den Lippen. Im letzten Moment besann er sich. Er durfte sich nicht hinreißen lassen. Nur dann wollte er durch seinen Dämon Besitz von dem Ritter ergreifen, wenn es keinen anderen Weg mehr gab. Er war sich nicht einmal sicher, ob dies überhaupt bei O’Marn gelingen würde. So mußte er ihm etwas anbieten, und nichts liebte O’Marn mehr als den Kampf. 64
»Nur drei Männer«, wiederholte er ernst. »Aber jeder von ihnen nimmt es mit zehn unserer besten Krieger auf. Sie…« »Beschreibe sie!« forderte der Ritter. In seinen Augen blitzte es kurz auf. »Die Zeit drängt!« sagte Drundyr. »Sie werden nicht auf uns warten, wenn sie…« »Beschreibe sie! Soviel Zeit muß uns bleiben!« Drundyr kam der Aufforderung nach. Als er geendet hatte, fluchte O’Marn erneut. Etwas in seiner Stimme ließ den Priester frösteln. »Caers Blut! Dann sind es am Ende jene, die…« O’Marn verschluckte den Rest des Satzes. »Wir reiten, Priester.« Er drehte sich im Sattel um und befahl einem Krieger, vom Pferd zu steigen und sein Reittier Drundyr zu überlassen. Der Mann gehorchte. Er sprang aus dem Sattel und kletterte hinter einem Kameraden auf ein anderes Pferd. Drundyr setzte sich in Bewegung. Wieder zog er Nyala mit und hob sie vor sich in den Sattel. O’Marn sah ihnen mit ausdrucksloser Miene nach. Dann kam Leben in den Koloß. »Reite voraus, Drundyr!« rief er. »Zeige uns den kürzesten Weg!« Er wartete, bis Drundyr und Nyala an ihm vorbei waren. Dann gab er seinen Kriegern ein Zeichen. Hintereinander folgten sie dem Priester. Die Aussicht, eine Bastion des Lichtes für Drudin und Caer zu erobern, reizte O’Marn weitaus weniger, als Drundyr glaubte. Der Ritter dachte nur an die von Drundyr beschriebenen Männer und die Frau, die bei ihnen war. Und in Gedanken war er wieder vor den Toren von Nyrngor. Ja, dachte O’Marn, die Beschreibung paßt genau… * 65
Gegen Morgen legte sich der Brand. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne standen als fast waagrechte Lichtspeere zwischen den Bäumen des Waldes am Fuß des Berges. Um den Wolkenhort herum gab es nur noch verkohlte Stämme und schwarze Erde. Letzte Flämmchen züngelten an den am Boden liegenden Stämmen entlang und hauchten bläulich flackernd ihr Leben aus. Es war still geworden. Nur das Knacken ausglühenden Holzes war noch zu hören. Keine Tierlaute, kein Wind, der durch die Bäume des Waldes pfiff. Mit dem Erlöschen des Brandes kehrte die Kälte zurück. Mythor und Nottr hatten sich dem Turm wieder ein Stückchen genähert. Sadagar und Kalathee warteten bei den Felsen. Das Dickicht war heruntergebrannt – jedenfalls die grünen Schlinggewächse und Dornenranken. Schwarz und verkohlt lagen sie am Fuß des Turmes, dem das Feuer nichts hatte anhaben können. Die Mauern waren angerußt und schienen von innen heraus zu glühen, aber sie standen fest. »Nichts«, sagte Nottr niedergeschlagen. »Keine Tür, und selbst wenn es eine gäbe, kämen wir nicht hinein.« Mythor nickte grimmig. Die Stellen, an denen er von Hornissen gestochen worden war, schmerzten, aber das Insektengift zeigte keinerlei Wirkung. Er und Nottr waren kräftig. Kalathee an ihrer Stelle hätte ein paar Stiche kaum überlebt. Die Ranken und Büsche waren von Althars Wolkenhort weggebrannt und wuchsen nicht nach. Die roten Stränge aber spannten sich immer noch wie ein Netz um den Turm. Ihnen hatte das Feuer offensichtlich nicht das geringste anhaben können. »Wir gehen noch einmal um ihn herum«, sagte Mythor. »Es gibt einen Eingang.« »Mit diesem roten Teufelsgewächs davor«, knurrte Nottr. 66
»Auch damit werden wir fertig.« Der Barbar aus den Wildländern fluchte lauthals. Er teilte Mythors Zuversicht nicht, aber wenn es sein mußte, würde er sein Leben dafür geben, Mythor Zutritt zum Wolkenhort zu verschaffen. Sie traten noch näher an den Turm heran. Schweigend deutete Nottr mit dem Krummschwert auf das verkohlte Skelett an der Stelle, wo sie versucht hatten, durch die Schlinggewächse zu brechen. Der Turm glühte noch und strahlte große Hitze aus. Die Männer konnten bis dicht an das unbekannte Baumaterial herangehen, es aber nicht mit den Händen berühren. Es würde Stunden dauern, bis es ganz ausgeglüht war. Mythor wandte sich nach links. Immer noch leise vor sich hin fluchend, folgte ihm Nottr. Sie hatten den Turm noch nicht halb umrundet, als sie die Tür sahen. Wilder Triumph stand in Mythors Gesicht. Nottr sah es und knurrte: »Kein Grund zum Jubeln, Mythor. Da kommen wir nicht durch.« Dutzende von roten Strängen schlangen sich an dieser Stelle um den Fuß des Turmes. Die Tür selbst war angekohlt. Vor massivem dunklem Holz lag ein gewaltiger Riegel aus Eisen. Allein ihn zurückzuschieben würde die ganze Kraft der beiden Recken erfordern. »Wenn ich die Stränge mit Alton durchtrenne, sterben wir durch die Säure«, murmelte Mythor. »Vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit, Freund Nottr.« »Was meinst du?« Kein Dickicht behinderte mehr den Blick. Mythor trat in den ausgekohlten Ring von schwarzen, zusammengerollten Ranken und folgte mit den Augen dem Verlauf der Stränge. Jetzt konnte er sehen, daß sie sich an einigen Stellen vereinigten. Sie liefen in dicken Knoten zusammen, von wo aus sich armdicke, dunklere Stränge wie Efeu am Turm abwärts wanden, um 67
schließlich im Boden zu verschwinden. Mythor ahnte, daß sich tief unter seinen Füßen ein dichtes Geflecht aus hauchdünnen violetten Adern befand, das sich bis dorthin fortsetzte, wo er zum erstenmal auf die Stränge gestoßen war, viele hundert Schritt entfernt im Wald. Knapp über dem Boden waren die dicken Stränge knorrig und verkrustet. »Starr«, sagte Mythor wie zu sich selbst. »Sie müssen starr sein wie Äste.« »Ich weiß, was du jetzt vorhast«, warnte Nottr, »aber das ist nicht weniger gefährlich. Auch wenn sich die Stränge dicht über dem Boden nicht bewegen können, kann der rote Saft in alle Richtungen spritzen, Mythor!« »Das Risiko müssen wir eingehen.« Mythor fixierte erneut die massive Tür. Die Höhe vom Boden bis zum Torbogen schätzte er auf drei Schritt, die Breite auf zwei. Er mußte hindurch! In den Wolkenhort! Zum Helm der Gerechten! Zu spät gewahrte er das Aufblitzen in Nottrs dunklen Augen. Ein Stoß traf ihn schwer in die Seite und ließ ihn einige Schritte taumeln. Bevor er sich fangen konnte, sah er Nottr breitbeinig vor den verdickten, verkrusteten Strangenden stehen, die so aus der Erde kamen, als habe sie jemand wie Pfähle hineingerammt, und sein Krummschwert schwingen. »Nicht!« schrie Mythor. »Du hast keine Chance!« »Bleib, wo du bist!« Nottr holte weit aus und ließ das Schwert wie eine Sense schräg auf die Stränge hinabsausen. All seine Kraft lag in diesem Schlag. Nottrs Schwert traf den ersten Strang und sprang dem Lorvaner aus der Hand. Es war so, als habe er mit aller Wucht gegen Stein geschlagen. Der eigene Schwung riß ihn mit. Nottr versuchte, zur Sei68
te hin auszuweichen, was aber lediglich bewirkte, daß er sich halb um die eigene Achse drehte und mit dem Rücken gegen den Turm prallte. Er schrie gellend auf und versuchte, sich von dem nachglühenden Material zu lösen, aber er schien festzukleben. Entsetzt sah Mythor, daß die dünneren roten Stränge sich zu bewegen begannen. Sie zuckten und lösten sich von der Wand ab! Sie versuchten, sich über Nottrs Kopf zu schieben! »Nein!« schrie Mythor und vergaß alle Vorsicht. In ohnmächtiger Wut stürmte er vorwärts. Das Gläserne Schwert blitzte in den Strahlen der tiefstehenden Sonne auf. Feines Singen erfüllte die Luft. Mythor ließ die Klinge neben Nottrs strampelnden Füßen knapp über dem Boden gegen die Strangenden sausen. Mit solcher Kraft führte er den Schlag, daß es ihm fast wie Nottr die Waffe aus der Hand gerissen hätte, und doch konnte er den Strang diesmal nicht mit einem Schlag durchtrennen. Aber Alton hatte die Kruste durchschnitten. Dickflüssig quoll die rote Flüssigkeit aus der Kerbe hervor, die er geschlagen hatte. Einige der Stränge, die Nottr hielten, begannen zu zucken. »Sie blutet!« rief Mythor. »Halte aus, Nottr! Die Kreatur wird sterben!« Kreatur – Mythor bezweifelte plötzlich, es mit Pflanzen zu tun zu haben. Er machte sich keine langen Gedanken. Wieder holte er aus, und wieder schlug Alton eine tiefe Kerbe in den Strang. Mit dem dritten Schlag durchtrennte er ihn. Die rote Flüssigkeit quoll sprudelnd und Blasen werfend aus dem Stumpf am Boden, lief daran herab und sickerte in die Erde ein. Dort bildeten sich Dämpfe, aber diesmal wesentlich schwächer als unten im Wald. Drei der dünneren Stränge, an denen Nottr fest69
klebte, begann zu zittern, und jener, der sich um den Kopf des Lorvaners schieben wollte, löste sich vorn Turm ab, peitschte einen Augenblick durch die Luft und erschlaffte. »Jetzt komm, Nottr!« Der Lorvaner atmete tief durch. Dann machte er einen Riesensatz vom Turm weg. Nichts hielt ihn fest. Die Stränge, die ihn gehalten hatten, kräuselten sich und rollten sich zusammen. Doch noch spannten sich Dutzende von ihnen, die zu anderen aus dem Boden kommenden Muttersträngen gehörten, über das Tor. »Wir schaffen es!« rief Mythor. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er Kalathee und Sadagar, die es nicht mehr bei den Felsen gehalten hatte. Der Steinmann litt darunter, daß er nichts tun konnte, um Mythor zu helfen. Und die Blicke, die Kalathee Mythor zuwarf, sprachen Bände. In ihren Augen standen Tränen. »Keine Angst!« rief Mythor. »Nottr, du kannst die toten Stränge herunterreißen.« Wieder war Alton in der Luft. Der nächste Strang. Diesmal schaffte es Mythor mit zwei Schlägen, ihn zu durchtrennen. Sprudelnd quoll die rote Flüssigkeit aus dem Stumpf hervor und lief zischend in den Boden. »Hier wird in den nächsten Jahren kein Kraut mehr wachsen!« Mythor schlug zu wie ein Berserker. Er wütete so mit dem Gläsernen Schwert, daß Nottr zwei Schritte zurücktrat. Innerhalb kürzester Zeit waren alle Stränge dicht über dem Boden abgeschnitten. Die dünneren roten Stränge über dem Tor peitschten durch die Luft, kräuselten sich, rollten sich auf und wurden schwarz. Mythor steckte das Schwert in den Gürtel und machte sich daran, sie abzureißen, wo sie noch am Turm hafteten. Zögernd 70
folgte Nottr seinem Beispiel. Auch Sadagar kam hinzu. Endlich lag der Eingang zum Wolkenhort frei vor ihnen. Mythor trat zurück und holte Luft. Er lächelte Kalathee zu, dann sah er Nottr besorgt an. »Du hast dir den Rücken verbrannt, eh?« »Nottr kennt keinen Schmerz! Ein Lorvaner lernt es als Kind, ihn zu besiegen!« »Genauso siehst du jetzt auch aus«, kam es von Sadagar. Mythor sah, daß Nottr nur mühsam an sich hielt. Vorsichtig trat er wieder auf den Turm zu und berührte das bronzefarbene, angerußte Material mit den Fingern. Es kühlte schneller ab, als er erwartet hatte. Nun gab es nur noch den Riegel, der ihnen den Weg ins Innere des Turms versperrte. Mythor spürte plötzlich leichten Schwindel. Er verschwand so schnell wieder, wie er gekommen war, aber er war ein deutliches Alarmzeichen. Das Gift der Hornissen oder die Folge der Anstrengung? Oder etwas ganz anderes? Hatte er unbewußt Angst vor dem, was ihn im Wolkenhort erwarten mochte? »Unsinn«, murmelte er und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Bist du soweit, Nottr?« »Ich warte nur auf dich.« Mythor hatte sich nicht vorgestellt, daß es leicht sein würde, den fingerdicken und zwei Männerfäuste breiten Riegel aus der Halterung zu schieben. Die Tür selbst hing in schweren Angeln, die in einem Holzbalken rechts von ihr befestigt waren. Ein zweiter Balken links hielt das nach oben hin offene, gewinkelte Eisen, in dem der Riegel lag. Wenn es gelang, ihn herauszuheben und nach oben zu schieben, mußte sich die Tür nach außen öffnen lassen. Der ebenfalls aus Eisen geschmiedete, reich verzierte Griff war groß genug, um von zwei Männern gezogen zu werden. 71
Mythor und Nottr holten tief Luft und gingen in die Knie. Ihre Hände schoben sich unter den Riegel. Die beiden bissen die Zähne aufeinander. Alle ihre Muskel spannten sich. »Jetzt, Nottr!« preßte Mythor hervor. Die Muskelstränge spannten sich und drohten die Haut der Männer platzen zu lassen. Mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Kraft stemmten sie sich gegen den Riegel. Immer wieder setzten sie ihre Hände neu an. Mythor brach der Schweiß aus allen Poren. Er kniff die Augen zusammen. Nottr ächzte. Der Riegel ließ sich keinen Fingerbreit bewegen. »Weiter, Nottr«, stieß Mythor keuchend hervor. »Noch einmal!« Der Riegel bewegte sich nicht. Nottr stieß laut die Luft aus und sprang zurück. »Es hat keinen Sinn, Mythor. Wir schaffen es nicht. Keine zehn Männer schaffen es!« »Wir kommen hinein«, knurrte Mythor. Er richtete sich ebenfalls auf und betrachtete den Riegel genauer. Dort, wo er in der Halterung lag, war er angerostet. Das gleiche galt für das andere Ende, das sich, um einen schweren Metallbolzen liegend, nach oben drehen lassen mußte. »Sadagar!« Der Steinmann kam heran. »Soll er den Riegel hochschieben?« fragte Nottr. Er lachte rauh. »Manchmal kommt es nicht auf Muskelpakete an, sondern hierauf«, konterte Sadagar mit listigem Lächeln und einer bezeichnenden Handbewegung zum Kopf. »So!« dröhnte Nottr. »Du bist also schlauer als wir!« »Nur schlauer als du«, versetzte der Steinmann ungerührt. »Ich weiß, was Mythor vorhat.« Sadagar trat am Lorvaner vorbei und zog eines seiner zwölf Messer aus dem Gürtel. Dann begann er, den Rost sorgfältig abzukratzen. »Das sollte genügen«, sagte Mythor schließlich. Sadagar steckte das Messer wieder ein und grinste Nottr 72
schelmisch an. Der fluchte und ließ seine Muskeln spielen. »Nottr!« »Jaja«, brummte der Lorvaner und trat wieder neben Mythor. Wieder gingen die beiden Männer in die Knie, schoben die Hände unter den Riegel und spannten die Muskeln an. »Jetzt, Nottr!« Zusammen drückten sie gegen das Eisen. Und diesmal bewegte es sich. Der offensichtliche Erfolg verdoppelte ihre Kräfte. Zugleich drückten sie von unten gegen den Riegel. Nottrs Gesicht wurde zur Grimasse. Sämtliche Adern traten dick hervor. Schweiß brach aus allen Poren. Gebannt sahen Sadagar und Kalathee, wie sich der Riegel unter lautem Knirschen Stück für Stück hob. Er war aus der Halterung. »Weiter, Nottr!« preßte Mythor zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wir schaffen es!« »Mit ein wenig Verstand läßt sich jedes Problem lösen«, kommentierte Sadagar. Kalathee stieß ihn mit vorwurfsvollem Blick mit dem Ellbogen an. Die Spitze des Riegels schob sich nach oben über den Spalt zwischen Tür und Balken. »Kannst du ihn jetzt allein halten, Nottr?« »Ich versuche es!« Mythor ließ vorsichtig los. Nottr stemmte sich unter das Eisen. Seine Zähne knirschten, aber er hielt das Gewicht. Mythor packte den Türgriff und zog daran. Knarrend drehte die schwere Tür sich in den Angeln. Sadagar hielt sich bereit, um auch dort den Rost zu entfernen. Es war nicht mehr nötig. Mythor ließ den Griff los, als die Tür so weit aufstand, daß Nottr den Riegel loslassen konnte. Der Lorvaner sprang zurück. Das schwere Eisen fiel knirschend nach unten und schlug auf den Boden. Noch einmal mußte der Barbar aus den Wildländern mit anpacken. Er umklammerte mit Mythor den Griff und zog daran. Stück für Stück ließ die Tür sich öffnen, bis der Spalt so 73
groß war, daß ein kräftiger Mann bequem eindringen konnte. Schnaufend ließen Mythor und Nottr los. Sie ließen sich auf den weichen Boden fallen, zwischen die Reste der herabgebrannten Schlinggewächse, und atmeten schwer. Mythors Herz hämmerte wild in seiner Brust und trieb ihm das Blut in den Kopf. Mit hochrotem Gesicht starrte er auf das Wunder, das er und Nottr vollbracht hatten. Der Hauch von etwas unendlich Fremdartigem und Überweltlichem schlug Mythor durch den Spalt entgegen. Die entscheidende Hürde würde er erst noch zu nehmen haben, das wußte er. Der Kampf um den Helm der Gerechten. Ehrfurcht erfaßte Mythor, noch bevor er diesen Ort betrat, der für undenkliche Zeiten jedem menschlichen Wesen verschlossen gewesen war. Gab es einen Wächter in Althars Wolkenhort, der über die Schätze zu wachen hatte, die der Lichtbote zurückgelassen haben mochte? War dieser Wächter jetzt schon dabei, sich für den Kampf zu rüsten, aus einem vielleicht Jahrtausende währenden Schlaf gerissen durch die Eindringlinge? Kalathee war an Mythors Seite. Zärtlich strich sie ihm durch das verklebte Haar und wischte ihm den Schweiß aus dem Gesicht. Er blickte in ihre Augen und sah unterdrücktes Verlangen, Angst und Ehrfurcht in ihrem Blick, vor allem aber die Angst um ihn. »Muß es sein, Mythor?« fragte sie flüsternd. Mythor zog sie an sich heran und küßte sie auf die Wange. Lange sahen sie sich in die Augen, und diese sprachen das aus, wozu Worte nicht in der Lage waren. »Ja, Kalathee«, sagte Mythor dann leise, aber entschlossen. »Es muß sein.« Und erwünschte sich, daß sie eines Tages, wenn sich ihre Wege trennten, den Mann finden würde, den sie verdiente. Den Mann, der sie verwöhnte und all ihre Liebe erwiderte. 74
Den Mann, der stark genug war, ein so zerbrechliches Wesen wie sie in dieser Welt des Bösen zu beschützen. Er stand auf. Noch einmal blickte er am bronzefarbenen Turm empor, bis hinauf zur Wolke, die die Spitze niemals freigab. War dies sein Ziel: die vor den Augen der Menschen verborgene Spitze des Wolkenhorts? Mythor erschauerte. Die anderen sahen ihn fragend an. Sie alle wußten, daß nur er die Entscheidung zu treffen hatte, von der wahrscheinlich ihr aller weiteres Schicksal abhing. Noch gab es ein Zurück. Mythor schüttelte energisch den Kopf, als habe er ihre Gedanken gelesen. Flüchtig dachte er noch einmal daran, daß der Rauch und der Lichtschein des nächtlichen Feuers Neugierige angelockt haben könnten, die vielleicht gerade jetzt auf dem Weg hierher waren. Ein Grund mehr für ihn, keinen Augenblick länger zu zögern. »Gehen wir«, sagte er, das Gläserne Schwert wieder fest in der Hand. Er trat als erster durch den Türspalt durch das Tor zu einem der geheimnisvollsten Plätze dieser Welt. Nicht einmal Nottr fand mehr die Flüche, die das ausgedrückt hätten, was jetzt in ihm vorging, als die Gefährten Mythor hintereinander folgten. * Schweigend standen sie in einer Halle. Die vier Menschen hatten, nachdem sie durch die halb offene Tür getreten waren, einen drei Schritt langen Korridor passieren müssen. Es war unerwartet hell hier drinnen. Zum von draußen einfallenden Licht kam ein weißliches Leuchten, das von in seltsamen Mustern angeordneten faustgroßen Steinen ausging, die direkt aus den Wänden herauszuwachsen schienen. Mythor fühlte sich wieder an die Gruft der Gwasamee erinnert. 75
Irgend etwas sagte ihm, daß diese weißen Steine ihr helles Licht seit der Zeit spendeten, zu der der Wolkenhort verschlossen worden war. Und welche Pracht sie zeigten! Der Blick der Gefährten wanderte an den Wänden entlang. Die ganze Halle war voller erlesener und fremdländischer Kostbarkeiten. Sie sahen wertvolle Felle und Teppiche und Edelsteine, die blutrot funkelten. Die Wände selbst waren in strahlendem Ocker gehalten und von orangeroten Adern durchzogen, die an einigen Stellen magische Zeichen zu bilden schienen. Die Halle war rund. Auch der Boden war mit Teppichen ausgelegt, auf denen die seltsamen Zeichen zu erkennen waren. Einige von ihnen erinnerten Mythor an die auf Altons Klinge. Vor den Wänden standen reich verzierte und geschnitzte Möbelstücke, ebenfalls mit Edelsteinen besetzt. Doch so prächtig sie auch waren, Mythor beachtete sie kaum noch, als sein Blick auf dem haftenblieb, was zweifellos nicht nur räumlich der Mittelpunkt dieser Halle war. Ein langer, schwerer Tisch mit sieben Stühlen. Die Tischplatte bestand aus massivem Holz. Rubine bildeten die nun fast vertrauten, aber unentschlüsselbaren Muster und Zeichen. Rubinrot war auch die Bespannung der Stühle aus samtartigem Stoff. Die Lehnen und Beine waren durch wundervolle Schnitzereien verziert. Jede Lehne endete in einem geschnitzten Tierkopf: dem eines Pferdes mit einem langen Horn auf der Stirn. Es dauerte eine Weile, bis Mythor den Blick von dem Tisch und den sieben Stühlen lösen konnte. Genau gegenüber dem Eingang führte eine Treppe in höher gelegene Räume, von denen so gut wie nichts zu erkennen war. Die Decke, mit seidenen Tüchern bespannt, versperrte den Blick. Nur am Treppen76
durchgang befand sich eine rechteckige Öffnung. Es war weder kalt noch warm in der Halle, und Mythor war sicher, daß selbst bei weit offenstehender Tür kein Wind hereingeweht hätte. Dies war eine Welt für sich, durch eine unsichtbare und unspürbare Barriere von der Welt jenseits der Turmmauern getrennt. Kein Laut drang herein. Auch von der Ausstrahlung des Wolkenhorts, die die Gefährten nach der ersten Annäherung nur noch unterbewußt wahrgenommen hatten, war nun nichts mehr zu spüren. Vollkommene Stille. Nichts bewegte sich. Hier schien die Zeit stillzustehen. Mythors Blick fiel auf die Klinge des Gläsernen Schwertes. Er stutzte. Täuschte er sich, oder leuchtete sie nun etwas stärker? Er schüttelte stumm den Kopf. Er hatte nichts vollbracht, was dazu angetan gewesen wäre, die Schuld, die er auf sich geladen hatte, zu tilgen. Er hatte sich lediglich mit den Freunden zusammen Zutritt in diesen Teil des Wolkenhorts verschafft, und das war gewiß keine der Prüfungen gewesen, die auf ihn warteten. Unsicher blickte er zur Treppe, zum dunklen Viereck des Durchgangs. Nottr, Kalathee und Sadagar rührten sich nicht. Sie standen dicht beieinander hinter Mythor. Er mußte nun handeln. Was immer er nun tun würde, sie durften ihn nicht beeinflussen, und das wußten sie. Mythor lauschte vergeblich in sich hinein. Da war keine innere Stimme, die ihm sagte, was er zu tun hatte. Die Treppe? In diesem Raum war keine Herausforderung. Mußte er nach oben gehen, um einen Hinweis zu bekommen? Mythor kam sich hilflos vor. Hier stand er nun in Althars Wolkenhort, und nichts sagte ihm, was er tun mußte. Oder war dies noch gar nicht der eigentliche Wolkenhort? 77
Befand sich dieser, wie der Name andeuten mochte, in der Spitze des Turms? Mythor trat auf den Tisch zu. Vorsichtig fuhr er mit den Fingerspitzen über die eingeschnitzten und aus Rubinen gebildeten Zeichen. Und plötzlich war es da. Keine Stimmen, kein fernes Wispern, aber der plötzliche unwiderstehliche Drang, sich in einen der sieben Stühle zu setzen. Mythor zögerte noch. Er versuchte sich vorzustellen, wer einmal in ihnen gesessen haben mochte. Hier könnten magische Versammlungen stattgefunden haben. Von wem? Wieso waren es ausgerechnet sieben Plätze um den Tisch herum? Sieben Ziele, sieben Prüfungen, sieben Rätsel und sieben Stühle… Der Drang wurde stärker, und Mythor sperrte sich nicht länger. Ohne sich umzusehen, zog er den ihm am nächsten stehenden Stuhl zurück und setzte sich vorsichtig hinein. Kalathee schrie unterdrückt. Mythor hörte es, ohne es wirklich wahrzunehmen. Irgend etwas packte ihn wie mit eisernen Klammern, legte sich um sein Bewußtsein, ließ ihn nicht mehr los. Er saß ganz still. Er wehrte sich nicht. Er spürte, daß er vor einer neuen Offenbarung stand, und fieberte ihr mit Leib und Seele entgegen. Er wußte, daß hier Magie am Werk war, die Magie des Lichtboten, als sich plötzlich weißer Nebel über seinem Kopf bildete, aus dem unerträglich helles Licht hervorströmte. Wieder schrie Kalathee, diesmal durchdringend. Es klang wie aus unendlich weiter Ferne. Alle Sinne Mythors waren auf den glühenden Nebel gerichtet, der sich nun langsam auf ihn herabsenkte. Mythor schloß die Augen. Die Helligkeit durchdrang mühelos die geschlossenen Lider. Er öffnete sich völlig und wurde eins mit dem Nebel. Dann hörte er die Stimme. 78
* »Halt, Priester!« Drundyr fuhr zusammen, als er die dröhnende Stimme Coerl O’Marns hörte. Die Art und Weise, wie der Ritter sich ihm gegenüber gab, hatte Drundyrs stillen Zorn auf diesen Mann während des Rittes nur noch gesteigert. Drundyr war es gewohnt, selbst die Befehle zu erteilen. Statt dessen kommandierte O’Marn ihn herum, als sei er einer seiner Krieger. Einige Male hatte Drundyr daran gedacht, O’Marn durch seinen Dämon angreifen zu lassen. Warum er jedesmal davor zurückgeschreckt war, wußte er nicht, und dies steigerte seinen Grimm zusätzlich. Es war nicht nur, weil der Nachfahre der Alptraumritter so hoch in Drudins Gunst stand und daß er ohne ihn keine Chance hatte, den Wolkenhort zu erobern. Drundyr gab es sich gegenüber nicht zu, aber tief im Unterbewußtsein mochte er spüren, daß er bei einer Machtprobe den kürzeren ziehen würde. Drundyr brachte sein Pferd zum Stehen. Das Ende des Pfades war erreicht. Vor den Caer ragte der vierhundert Schritt hohe Berg auf, auf dem der Turm stand. O’Marn trieb seinen Braunen an Drundyrs Seite. »Wir werden absitzen und klettern«, verkündete er mit tiefer, rauher Stimme. »Die Pferde pflocken wir hier an. Du bist sicher, daß die vier keine Verbündeten haben, die in der Nähe lauern?« »Völlig sicher«, sagte Drundyr. Er lachte schrill. »Diese vier brauchen keine Verbündeten.« O’Marn nickte finster. »Du bist ihnen also von Lockwergen aus bis hierher gefolgt?« »Das sagte ich bereits«, antwortete Drundyr ungehalten. Seine stechenden, tief in ihren Höhlen sitzenden Augen schienen den Ritter durchdringen zu wollen. O’Marn dagegen schien 79
den Blick gar nicht zu bemerken. Wieder sah er Nyala von Elvinon an, auf eine Weise, die Drundyr die Hände ballen ließ. »Und auch in Lockwergen waren sie nur zu viert?« fragte O’Marn weiter, als hätte er viel Zeit. »Keine zweite Frau?« »Nur diese vier«, sagte Drundyr schrill. »Warum fragst du soviel? Sie sind dort oben, und wenn wir uns nicht beeilen…« Der Ritter winkte nur ab. »Ich fragte mich nur, wie sie von Nyrngor aus hierhergelangen konnten, ohne von unseren Schiffen bemerkt zu werden. Und ich hätte erwartet, daß sie zu fünft wären.« »Ich verstehe dich nicht!« »Das brauchst du auch nicht.« O’Marn drehte sich im Sattel um und gab den Kriegern den Befehl zum Absitzen. Kettenhemden rasselten. Schwere Schilde schlugen klirrend gegen Rüstungen. Drundyr wartete, bis auch O’Marn aus dem Sattel stieg. Er wollte Nyala vom Pferd helfen, doch der Ritter kam ihm zuvor. Mit spielerischer Leichtigkeit hob er die Herzogstochter hoch und setzte sie behutsam ab. Nyala sah Drundyr unsicher an. Der Priester saß ab. Wie niemals zuvor mußte er in diesem Augenblick um seine Beherrschung kämpfen. Nyala gehörte ihm allein. Er besaß sie. O’Marn jedoch schien sich einen makabren Spaß daraus zu machen, ihm diesen Anspruch streitig zu machen. Vielleicht ergab sich später eine Gelegenheit, den Ritter in seine Schranken zu weisen. Dann aber mußte seine Ehre in Drudins Augen wiederhergestellt sein. Und das wiederum konnte ihm nur gelingen, indem er den Wolkenhort eroberte. Noch brauchte er O’Marn. Der stolze Ritter sollte jedoch nicht versuchen, ihm auch diesen Triumph streitig zu machen! »Verteilt euch um den Berg herum!« befahl O’Marn seinen Kriegern. In den durch die Wipfel der Bäume dringenden 80
Sonnenstrahlen blitzten Waffen und Kettenhemden. Die Caer waren bis an die Zähne bewaffnet. Niemand konnte dieser Streitmacht trotzen, dachte Drundyr grimmig. Selbst Mythor nicht. O’Marn wirkte in seiner schweren Rüstung nun noch schwerfälliger, aber dieser erste Eindruck trog. Der Ritter wog die Streitaxt in seiner Hand, dann huschte ein schwaches Lächeln über sein hartes Gesicht. Er ging zu Chelm, den ein Krieger für ihn angepflockt hatte, steckte die Axt in eine dafür vorgesehene Schlaufe und nahm statt ihrer sein Schwert. »Der schwarzhaarige Recke kämpft mit dem Schwert«, murmelte er. »Es soll ein Kampf mit gleichen Waffen sein, auch wenn seine Klinge den Ruf genießt, unbesiegbar zu sein.« Drundyr konnte seine Neugier nicht mehr zügeln. »Mythor scheint dir gut bekannt zu sein.« O’Marn nickte finster. In seinen Augen blitzte es kurz auf. »Mythor heißt er also? Ja, ich glaube, dies ist der Name, den mir meine Männer nannten. Viele meiner Männer fielen durch seine Hand.« Er starrte zu den Felsen hinauf. Dann gab er sich einen Ruck. Ohne weiter auf den Priester und Nyala zu achten, schritt er aus und machte sich an den Aufstieg. Der eisige Blick in O’Marns Augen, den er noch kurz auffing, jagte selbst Drundyr einen Schauder über den Rücken. Rings um den Berg begannen die Caer zu klettern. * Die Stimme war unglaublich tief und von einer nicht näher zu deutenden Fremdartigkeit und Vertrautheit zugleich. Sie war in Mythors Kopf, doch dem jungen Recken, der sich zwischen Traum und Wirklichkeit befand, schien es so, als dringe sie auch an seine Ohren und halle von den Wänden wider. 81
Draußen, das waren Nottr, Kalathee und Sadagar, das var eine Welt, die immer weiter zurückgedrängt wurde ran dem, was ihn erfüllte. Und dies war mehr als nur eine Stimme. Es war, als sei ein fremder Geist in Mythor, in ihm und doch noch sehr, sehr weit von ihm entfernt. Höre! sagte die Stimme zu ihm. Höre, der du gekommen bist und den Helm der Gerechten begehrst! Du glaubst, eine Hürde auf dem Weg zu seinem Besitz genommen zu haben, und du zweifelst zugleich. Dieser Zweifel wird dich begleiten, bis du den Helm der Gerechten vor dir siehst. Oftmals wirst du dich am Ziel glauben, und oftmals wird die Enttäuschung mit eisigen Krallen nach dir greifen. Dein Weg wird steinig sein, und du hast ihn noch nicht angetreten. Eine Pause. Mythor hörte den Nachhall der Worte in und um sich herum. Für einen Moment stieg Panik in ihm auf, die schreckliche Angst, dies könnte schon die ganze Botschaft gewesen sein. »Zeige mir den Weg!« flüsterte er, ohne sich dessen bewußt zu sein. Du bist ungeduldig! hallte es in ihm. Das ist gut und gefährlich zugleich. Du trägst das Gläserne Schwert Alton. Hüte dich davor, in ihm mehr zu sehen als eine Waffe des Lichtes, denn mehr ist es noch nicht. Mythor verstand. Er wußte es. Wozu diese Ermahnung? Warum sagte ihm die Stimme Dinge, die er ohnehin schon wußte? »Zeige mir den Weg«, kam es flüsternd über seine Lippen. So wisse, mein ungeduldiger junger Freund, daß jener, der den Helm der Gerechten begehrt, bis zur Spitze des Wolkenhorts aufsteigen muß, allein und mit Mut im Herzen. Sein Glaube an die Macht des Lichtes muß ungebrochen sein. Nur so kann er die Zweifel besiegen, die bei jedem Schritt nach ihm greifen werden. Ich spüre den Mut in deinem Herzen. So gehe. Der Helm der Gerechten wartet in der Spitze des Wolkenhorts. Und denke daran, daß nur der ihn finden wird, der allein den Aufstieg in die höheren Bereiche des Wolkenhorts wagt!
Wieder hallten die Worte des Unbekannten lange nach, leise 82
abebbend. Mythor wußte, daß er keine Antworten mehr erhalten würde, doch er hatte noch viele Fragen, die aus ihm herausdrängten. »Was hat es mit der dunklen Wolke auf sich?« fragte er schnell. »Und wer bist du? Warum zeigst du dich nicht?« Das grelle Licht wurde schwächer. Mythor öffnete die Augen. Die Wolke strahlte nicht mehr so kraftvoll wie vorher. Langsam erlosch das überweltliche Licht. Die Wolke hob sich, stand für Augenblicke über Mythors Kopf. Ganz kurz hatte er den Eindruck, als bewegten sich wallende Schleier in ihr und wollten ein Gesicht formen. Dann löste sie sich so schnell auf, wie sie entstanden war. Mythor saß eine Weile starr in seinem Stuhl. Dann stand er langsam auf. »Du wirst nicht gehen, Mythor, nicht wahr?« Das war Kalathees Stimme. Mythor kam erst jetzt ganz zu sich. Er spürte noch eine gewisse Benommenheit und brachte es nur mit Mühe fertig, sie ganz abzuschütteln. »Mythor!« Es war ein inbrünstiges Flehen. Mythor drehte sich um und sah Kalathee in die Augen. Tränen standen darin und rollten ihre bleichen Wangen herab. Die Hände der jungen Frau waren nach ihm ausgestreckt, doch sie zitterten, und Kalathee schien wie an ihrem Platz festgenagelt zu sein. Sie wollte sich ihm in die Arme werfen, ihn mit all ihrer Kraft zurückhalten, aber irgend etwas schien zwischen ihr und Mythor zu stehen, was sie keinen einzigen Schritt machen ließ. »Also habt ihr es auch gehört«, murmelte Mythor. »Dann solltet ihr wissen, daß es für mich kein Zurück gibt.« »Mythor«, sagte Nottr beschwörend. »Du weißt nicht, worauf du dich einläßt! Geh nicht allein. Wenn du schon dort hinauf mußt…«, er blickte zaghaft zur Treppe, »… nimm wenigstens einen von uns mit.« 83
Mythor schüttelte heftig den Kopf. »Du hast gehört, daß ich allein gehen muß, Freund Nottr. Ich danke dir für deine Treue, aber…« »Wer sagt dir denn, daß du der Stimme trauen kannst?« Der Lorvaner gestikulierte wild. »Mythor, dies könnte schon die erste Falle sein. Ein steiniger Weg, natürlich. Nichts anderes konnten wir erwarten. Das alles hörte sich nach einer Reihe schwerster Prüfungen an, nach unbekannten Gefahren und Tücken. Vielleicht besteht die erste Prüfung gerade darin, ob du jemandem blind vertraust, der sich dir nicht einmal gezeigt hat!« »Möglicherweise hast du recht«, gab Mythor zu. Dann wurde sein Gesicht verschlossen. »Aber ich gehe trotzdem allein.« Nottr machte einen letzten verzweifelten Versuch, den Gefährten doch zurückzuhalten. »Wer garantiert dir denn, daß es diesen Helm wirklich gibt oder daß er noch an seinem alten Platz ist? Das weiß niemand, Mythor!« »Althars Wolkenhort war verschlossen«, sagte Mythor bestimmt. »Wir sind die ersten, die ihn seit langer Zeit betraten. Keine Worte mehr, Nottr. Keine Tränen, Kalathee.« Mythor gab sich einen Ruck. Er packte den Griff des Gläsernen Schwertes fester. Seine Augen richteten sich starr auf den Treppenaufgang und das dunkle Rechteck in der Decke. Er hatte seine Entscheidung getroffen, und Nottr sah ein, daß jedes weitere Wort verschwendet war. Sollte er versuchen, Mythor mit Gewalt zurückzuhalten? Er würde mehr als nur einen Freund verlieren. Nottr preßte die Zähne zusammen. »Geh jetzt, Mythor«, kam es plötzlich von Steinmann Sadagar. »Wir werden auf dich warten.« »Ich werde zurückkehren«, sagte Mythor. Noch einmal sah er die Gefährten der Reihe nach an. Er versuchte, für Kalathee ein Lächeln zustande zu bringen. »Ich komme zurück«, flüsterte er bekräftigend, doch es hörte 84
sich so an, als wolle er sich selbst Mut zusprechen. Dann drehte er sich um und ging auf die Treppe zu. Noch einmal zögerte er, als er vor der ersten Stufe stand. Plötzlich sah er Gwasamees Gesicht wieder vor sich, und alle Zweifel schwanden. Nottr stieß einen heiseren Schrei aus, als er die Veränderung bemerkte, die mit dem Freund vorging. Er hatte Seite an Seite mit ihm gegen die schrecklichsten Kreaturen der Finsternis gekämpft und oft dem Tod ins Auge geschaut, doch erst jetzt, als Mythor nur mit dem Gläsernen Schwert in der Rechten Stufe um Stufe erklomm, begriff er, wie durch und durch erfüllt dieser Mann von dem Willen war, sich den geheimnisvollen Helm zu holen. Nein, dachte Nottr. Niemand von uns hat das Recht, ihn aufzuhalten. Vor dem Durchgang zu den nächsthöheren Räumen des Turmes blieb Mythor ein letztes Mal stehen. Er zog etwas aus seinem Lederwams und betrachtete es lange und eindringlich. Das Bild der Unbekannten, dachte Nottr. Das Pergament, das er ihm geschenkt hatte. Wie groß mußte Mythors Sehnsucht nach der wunderschönen Frau sein, die er nie gesehen hatte, wenn er in diesem Augenblick mit seinen Gedanken bei ihr war und sich allein durch den Anblick des Pergamentes zusätzlich Mut holte? Mythor steckte das Bild zurück. »Folgt mir nicht«, sagte er, ohne sich umzudrehen, »was immer auch geschehen mag.« Dann stieg er weiter. Die Gefährten sprachen kein Wort. Sie hielten den Atem an und sahen, wie sein Fuß in dem Rechteck verschwand. * Nottr ballte die Hände, sah Sadagar grimmig an und machte seiner inneren Anspannung durch unterdrückte Flüche Luft. 85
Kalathee stand wie in Stein gemeißelt zwischen den Männern, den tränengetrübten Blick starr auf den Treppendurchgang gerichtet. »Wir werden warten«, knurrte der Barbar aus den Wildländern mit finsterem Blick. »Wenn es sein muß, bis wir hier verfaulen. Wir lassen dich nicht im Stich, Mythor!« Nottr konnte und wollte sich nicht beruhigen. Nichts war für ihn schlimmer, als einen Gefährten in Gefahr zu wissen und selbst zur Tatenlosigkeit verurteilt zu sein. Und Mythor war in Gefahr, in größerer, als sich einer der anderen Zurückgebliebenen überhaupt vorstellen konnte. Nottr spürte es mit untrüglicher Sicherheit. Er wollte ihm nachrennen, die Treppe hinauf, bis zur Spitzes des Turmes, ihm mit seinem Schwert eine Bresche schlagen, Seite an Seite mit Mythor gegen die Magie kämpfen, die ihn dort oben erwartete. Und gerade das hätte alles noch viel schlimmer gemacht. Dieser Konflikt trieb den Lorvaner in die Raserei. »Sprich zu uns!« schrie er in den Raum. Bevor Sadagar ihn zurückhalten konnte, rannte er auf den Tisch zu, trommelte mit beiden Fäusten auf das massive, kostbar verzierte Holz und ließ sich hart in den Stuhl fallen, auf dem Mythor gesessen hatte. »Nottr, nicht!« rief Sadagar. Im gleichen Augenblick zuckte er zusammen, als habe der Klang der eigenen Stimme ihn erschreckt. Was Nottr tat, war schon schlimm genug. Sie waren hier in einem Heiligtum. Sie entweihten es. Nottr entweihte es. Mythors Schritte waren noch zu hören, als gehe er direkt über den Zurückgelassenen suchend auf und ab. Dann wurden sie leiser. Wieder herrschte völlige Stille in der Halle. Nottr, der zur Decke emporgesehen hatte, schrie wieder auf: »Sprich zu mir, wie du zu ihm gesprochen hast! Zeige dich! Sage uns, wer du bist!« Er umklammerte die Lehnen mit den Fingern, so fest, als 86
wolle er sie zerbrechen. Nichts geschah. Keine Wolke bildete sich über Nottr. Keine dunkle Stimme erklang. Nottr fuhr herum. Sadagar und Kalathee erschraken heftig, als sie diesen wilden Blick in seinen Augen sahen. In diesen Momenten war er wieder der Barbar, der Wildländer, der mit seinen Horden brandschatzend und mordend durch die Lande gezogen war. »Wir werden nicht warten, bis wir hier vermodern«, knurrte er. »Wenn Mythor nach drei Tagen und drei Nächten nicht zurück ist, gehen wir nach oben.« »Nein!« widersprach Sadagar, und selten hatte man ihn mit solcher Entschlossenheit reden hören. Nichts an ihm erinnerte in diesem Augenblick noch an den Zauderer, der froh war, wenn er nicht zu nahe an den jeweiligen Brennpunkten sein mußte. »Unser Versprechen gilt. Wenn Mythor nicht zurückkehrt, werden wir ihn nicht lebend finden.« Grimmig fügte er hinzu: »Ich glaube, daß er es schafft. Es ist eine Kraft in ihm, die sich uns noch nicht offenbart hat.« »Ich glaube es auch«, wiederholte Kalathee Sadagars Worte. Doch Nottr widersprach: »Erzählt mir nichts über Mythors Kraft! Er mag anders sein als wir, aber auch er hat nur einen Arm, um ein Schwert zu führen.« »Ich glaube nicht, daß er mit dem Schwert kämpfen muß, um an sein Ziel zu gelangen«, sagte Kalathee. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und aus dem Gesicht. »Ich weiß, daß er nur diese andere Frau lieben kann, aber ich wünsche ihm, daß sie ihm die Kraft geben möge, das zu ertragen, was ihn erwartet.« Nottr starrte sie betroffen an. »Auch mein Herz ist groß und voller Liebe«, sagte er. Sofort schalt er sich einen Narren. Dies war ganz gewiß nicht der rechte Augenblick, um einen neuen Vorstoß zu wagen. Er stand auf. Plötzlich waren wieder Geräusche aus dem oberen Teil des 87
Wolkenhorts zu hören, Geräusche, wie sie nie zuvor an die Ohren der drei gedrungen waren. Sie ließen ihnen das Blut in den Adern stocken. »Was geht dort vor?« fragte Sadagar kaum hörbar. Niemand wußte eine Antwort darauf zu geben. Irgend etwas Unvorstellbares. Dort, wo Mythor nun allein seinen Weg erkämpfen mußte, hatte er es mit Gewalten zu tun, die nicht von dieser Welt waren. Nottrs Muskeln waren gespannt. Die rechte Hand umklammerte den Griff des Krummschwerts so fest, daß die Knöchel weiß hervortraten. »Er weiß, was er tut«, flüsterte Kalathee. »Er wird mit dem Helm der Gerechten zu uns zurückkehren. Und er wird stärker sein als jemals zuvor.« Unausgesprochen schwang die bange Frage in ihren Worten mit: Aber wird er noch so sein wie der Mythor, den wir kannten? »Was ich jetzt brauchen könnte«, knurrte der Lorvaner halblaut, »wäre ein halbes Dutzend dieser verdammten Caer, denen ich die Hälse umdrehen könnte!« Noch lauschten die drei Zurückgebliebenen den Lauten des Schreckens, die von oben kamen, und bei jedem Ächzen, das wie aus dem Mund eines gerade vom Tode Auferstandenen klang, bei jedem Poltern, bei jedem Wimmern wie von Tausenden gepeinigter Seelen schraken sie zusammen. Kalathees Beine gaben nach. Nottr führte sie zu einem der sieben Stühle. Plötzlich fuhr Sadagars Kopf herum. »Achtung! Nottr, hörst du es nicht?« »Was soll ich…?« Der Rest ging in einer Reihe von Flüchen unter. In die von oben kommenden Laute mischte sich jetzt Lärm von draußen. Irgend jemand näherte sich schnell dem Turm. 88
Und wer immer es war, hatte offenbar keinen Grund zur Vorsicht. Die Fremden kamen mit Kampfgeschrei. »Caer!« schrie Nottr. »Sadagar, wir werden kämpfen bis zum letzten Atemzug! Deine Messer!« Es war zu spät. Der Steinmann kam nicht mehr dazu, seine gefährlichen Waffen aus dem Gürtel zu ziehen. »Laß den Unsinn!« dröhnte eine tiefe Stimme im Eingang. Zwei gespannte Bogen waren das erste, was die Gefährten sahen. Zwei Pfeilspitzen, die auf ihre Köpfe gerichtet waren. Die beiden Bogenschützen drangen Seite an Seite in die Halle ein. Sadagar streckte gut sichtbar beide Hände weit von sich. Nottr starrte die Caer mit weit aufgerissenem Mund an. Die Hand mit dem Schwert bebte. So wild das Feuer auch in ihm brannte, er war klug genug, seine Chancen für einen Überraschungsangriff abzuschätzen. Er hatte keine. Weitere Caer drangen mit Schwertern und Speeren in den Wolkenhort. Sie umstellten Nottr und Sadagar, während die Bogenschützen abwartend vor ihnen stehenblieben. »Nehmt ihnen die Waffen ab!« dröhnte die rauhe Stimme vom Eingang her. Nottr versuchte vergeblich, den Mann zu erkennen, dem sie gehörte. Sadagar ließ sich widerstandslos die Messer aus dem Gürtel ziehen. Nottr schleuderte einem Caer das Schwert vor die Füße. Dann trat der Anführer der Caer in die Halle. Ein großer, kräftiger Mann in einer schweren Rüstung. In der einen Hand hielt er ein Schwert, mit der anderen einen schweren Schild. Zweifellos ein Ritter, dachte Nottr, der versuchte, einen Überblick zu behalten. Und er kam ihm bekannt vor. Hatte er ihn nicht schon einmal gesehen, wenn auch aus großer Ferne? Die Bogenschützen traten zur Seite, als sich Coerl O’Marn breitbeinig vor den beiden Männern aufbaute. Das Visier des Helmes war bis zu den zerrupften Adlerfedern zurückgescho89
ben. Ein gegerbtes, hartes Gesicht von tiefbrauner Farbe sah den Überraschten entgegen. Coerl O’Marn lächelte grimmig. »Also täuschte ich mich nicht«, sagte er dann. »Ihr müßt die sein, deren Beschreibung ich von meinen Kriegern erhielt. Ihr habt an der Seite von Königin Elivara gegen uns gekämpft, bevor wir Nyrngor nahmen.« »Nyrngor! Ja!« schrie Nottr, von seinem blinden Zorn überwältigt. »Aber ihr freut euch zu früh. Königin Elivara…« Nottr verstummte, als er Sadagars warnenden Blick auffing. »Ihr werdet nicht lange Spaß an der Stadt haben«, sagte er darum. Seine Gedanken überschlugen sich. Dieser Mann vor ihm mußte Coerl O’Marn sein, jener legendäre Ritter, der die Invasoren von Caer befehligt hatte. Oft hatten die Gefährten seinen Namen gehört. Sie hatten versucht, sich ein Bild von diesem Ritter zu machen, aber nun, da er leibhaftig vor ihnen stand, sahen sie all ihre Vorstellungen weit übertroffen. Nyrngor gehörte der Vergangenheit an. O’Marn war zweifellos hier, um den Wolkenhort für Caer und damit für die Mächte der Finsternis zu erobern. Nur darum ging es jetzt. Und darum, daß Mythor sich nichtsahnend in den oberen Räumen befand. Der Ritter schien den gleichen Gedanken zu haben. »Macht euch keine Hoffnungen«, sagte er. »Vor dem Turm warten weitere zwanzig Krieger… und Drundyr, den ihr kennen solltet. Für euch gibt es von hier kein Entkommen. Aber meine Krieger sprachen von vier Fremden, die ihnen das Leben schwergemacht hatten. Auch Drundyr sah einen vierten bei euch.« Kurz wanderte O’Marns Blick über die Wände der Halle, kurz musterte der Ritter Kalathee, die immer noch auf dem Stuhl saß und sich nicht rührte. Sie wirkte völlig geistesabwesend und stellte offensichtlich keine Gefahr dar. »Er nannte den Namen Mythor.« 90
O’Marns Miene verfinsterte sich. »Wo ist euer Freund Mythor?« Drundyr hat uns also verraten! durchfuhr es Nottr. Wie der Priester hierhergelangt war und den Wolkenhort gefunden hatte, war ihm zwar ein Rätsel, aber er konnte sich zusammenreimen, was danach geschehen war, und glaubte auch zu wissen, warum Drundyr seinen Triumph nicht persönlich auskostete, sondern draußen wartete. Nur nicht zur Treppe hinsehen! O’Marn schlug mit der flachen Klinge gegen Nottrs Brust. Der Schlag war ansatzlos geführt, doch von solcher Wucht, daß Nottr einen Schritt zurücktaumelte. Ein Caer stieß ihn wieder nach vorne. »Antworte!« »Er ist draußen«, kam es schnell von Sadagar. »Ihr habt ihn verpaßt. Sucht nach ihm, wenn ihr ihn…« Mitten in seinen Satz hinein drangen wieder die unheimlichen Laute von oben. O’Marn grinste schwach, als er zur Treppe und dem dunklen Rechteck in der Decke sah. Einige Krieger hatten sie bereits umstellt. »Draußen ist er also«, dröhnte O’Marns Stimme durch die Halle. »Du brauchst seinetwegen nicht zu lügen. Euer Held ist dort oben, um nach dem zu suchen, weswegen ihr hierhergekommen seid.« Zwei Krieger wollten die Treppe hinaufstürmen. »Zurück!« schrie der Ritter. Die Caer sahen ihn verständnislos an, gehorchten aber sofort. »So ist es doch, nicht wahr?« fragte O’Marn Sadagar mit unheilvollem Lächeln. »Umsonst habt ihr euch nicht die Mühe gemacht, das Dickicht um den Turm herum in Brand zu stecken. Wir warten also. Euer Freund scheint sich dort oben mit 91
allerlei Gefahren herumzuschlagen. Wozu soll ich sinnlos meine Krieger opfern? Wir brauchen nur zu warten. Wenn er ein solcher Held ist, wie mir berichtet wurde, wird er auch zurückkommen. Und was immer er sucht, er wird es finden und es uns bringen.« Nottr wollte sich auf den Caer stürzen, doch augenblicklich bohrten sich von hinten Schwertspitzen in sein Fell. O’Marn lachte dröhnend. »Wir haben viel Zeit«, sagte er. »Und die Aussicht auf einen Kampf mit dem Krieger, dessen Klinge unbesiegbar sein soll, wird sie mir nicht lang werden lassen.« Zu seinen Männern gewandt, befahl er: »Und nun fesselt sie!« Niemand hatte mehr auf Kalathee geachtet. Sie hatte sich nicht mehr gerührt und nicht das geringste Interesse für das gezeigt, was um sie herum geschah. Es war, als ob sie in eine tiefe Entrückung gefallen sei. Außerdem mochte O’Marn sich sagen, daß von einer so zarten und noch dazu völlig geistesabwesenden Frau keine Gefahr ausgehen mochte. Dies war einer der wenigen Irrtümer in der ruhmreichen Laufbahn des Mannes, der wie nur wenige Drudins Wertschätzung genoß. Niemand hätte hinterher sagen können, wie die Panflöte plötzlich in Kalathees Hände geraten war. Mythor hatte sie Baumer abgenommen und eine Zeitlang bei sich getragen. Dann, als er und Nottr versuchten, sich einen Weg durch die Schlinggewächse zu bahnen, hatte er sie dort zurückgelassen, wo Kalathee und Sadagar gewartet hatten. Vielleicht hatte Kalathee sie da schon aufgehoben und unter ihrem Kleid versteckt. Vielleicht hatte auch sie sie einfach vergessen. Nun hatte sie die Flöte plötzlich in den Händen. Immer noch 92
schien sie geistesabwesend. Unendlich langsam, so daß weder die Krieger noch O’Marn es bemerkten, hob sie das Instrument an die Lippen. Kalathee begann zu blasen. Es war, als ob eine innere Stimme ihr sage, was sie zu tun habe. Sie blies einfach hinein, ohne sich dessen überhaupt bewußt zu sein, und die Flöte selbst schien die Melodie zu spielen, die die Gefährten zum erstenmal gehört hatten, als sie von Baumers Wildschweinen angegriffen wurden. Auch jetzt bemerkte Kalathee nichts von der Veränderung, die um sie herum vor sich ging. Sie blies weiter, immer weiter. Ihre Finger bewegten sich, doch nicht Kalathee war es, die ihnen den Befehl dazu gab. * Nottr glaubte, nun nichts mehr zu verlieren zu haben. Zehnmal lieber wollte er hier einen schnellen Tod hinnehmen, nun, da er keine Möglichkeit mehr sah, etwas für Mythor zu tun, als in die Gefangenschaft der Caer geraten und in eine ihrer schrecklichen Städte verschleppt werden. Im offenen Kampf konnte er wenigstens dafür sorgen, daß Mythor bei seiner Rückkehr sowenig Gegner wie möglich vorfand. Vielleicht drang der Kampfeslärm sogar bis in die Räume hinauf, in denen er sich jetzt befand. Nottr spürte die Schwertspitzen nur im Rücken und in der Seite. Er sah, wie Caer mit Stricken kamen. Wenn er sich nun blitzschnell auf den Ritter stürzte… Es kam nicht dazu. Plötzlich hörte er die Melodie. Einen Moment lang dachte er, Baumer sei zurückgekehrt und hätte seine Wildschweine auf den Berg getrieben. Aber Baumer war ohne seine Flöte davongezogen. Mythor hatte sie an sich genommen, und dann… »Nottr!« flüsterte Sadagar. »Die Caer!« 93
Und der Lorvaner sah es. Sie waren Menschen wie er und der Steinmann. Nur in seinen Flüchen verglich er sie mit Baumers Freunden im Wald. Aber die Töne der Flöte bewirkten etwas mit ihnen. Sie erstarrten. Sie drehten sich um, sahen Kalathee an, aber ihre Bewegungen waren unendlich langsam. Coerl O’Marn hob den rechten Arm und wollte auf die Frau deuten, um ihr seine Krieger auf den Hals zu schicken, aber als der Arm mit dem Schwert oben war und der Ritter den Mund öffnete, kam kein Laut über seine Lippen. Er erstarrte wie zu Stein. Allen Caer erging es so. Nottr sah es und konnte es nicht fassen. Die Schwerter in seinem Rücken? Vorsichtig machte der Lorvaner einen Schritt nach vorn. Die Caer hinter ihm waren nicht in der Lage, ihm zu folgen oder auf ihn einzustechen. Es war ein Bild des Grauens. Wie leblose Statuen standen die Krieger und ihr Anführer im Raum. O’Marns Blick war immer noch auf Kalathee gerichtet, deren Finger wie von Geisterhand geführt über die Öffnungen des Instruments glitten. Und der Blick des Ritters war ebenso starr und gebrochen wie der seiner Männer. »Das ist Zauberei«, flüsterte Nottr. »Steinmann, ist das ein Traum, oder sehe ich es wirklich?« »Kein Traum«, sagte Sadagar so leise, als befürchte er, durch zu lautes Reden schlafende Dämonen zu wecken. »Wir beide und Kalathee sind die einzigen, die von dem Zauber nicht befallen sind. Laß uns keine Fragen stellen, Nottr. Wir würden nichts von dem verstehen, was hier vorgeht. Wir können fliehen!« »Aber wie kommt Kalathee dazu…?« Nottr fand keine Worte. »Sie spielt die Flöte doch nicht selbst!« »Vielleicht… Ach, es hat keinen Sinn, Nottr! Wir verstehen nicht, was geschieht. Aber die Caer sind im Augenblick wie 94
tot. Und ich will nicht länger an diesem Ort bleiben. Nimm Kalathee, aber paß auf, daß du sie nicht aufweckst!« »Aufweckst?« »Sie muß weiterspielen!« Sadagar war bereits dabei, seine zwölf Messer zurückzuholen. Zehn steckten in den Gürteln von Caer, die anderen beiden mußte er Kriegern fast aus den Fingern brechen. Endlich begriff Nottr, welche Gelegenheit sich ihnen hier bot. Sie hätten die Caer jetzt töten können, einen nach dem andern, aber das wäre schlimmer als Mord gewesen. Mythor hätte ein solches Handeln niemals geduldet. Aber sie konnten zu fliehen versuchen, um sich irgendwo in der Nähe des Wolkenhorts zu verstecken und auf eine Gelegenheit zu warten, Mythor zu Hilfe zu kommen oder ihn zu befreien. Nottr holte sich sein Krummschwert zurück, steckte es in den Gürtel und hob Kalathee vorsichtig aus dem Stuhl. Sie schien es nicht wahrzunehmen und blies weiter. Sadagar wartete bereits auf sie. Er lief aus der Halle. Im Eingang, hinter der halboffenen Tür, blieb er stehen und lugte nach draußen. Mehrere Caer-Krieger, bis zu den Zähnen bewaffnet, standen in einem Kreis um den Wolkenhort herum. Sie alle waren erstarrt. Sadagar winkte Nottr zu. Hintereinander traten sie ins Freie. Der Steinmann trat so vorsichtig auf, als könne jedes Geräusch die Caer wieder zum Leben erwecken. Dabei bewegte ihn nur eine Frage: Wieso waren sie nicht von der Lähmung ergriffen worden? Und Mythor? Galt für ihn das gleiche, oder lag er nun irgendwo in den oberen Teilen des Turmes, hilflos, dem ausgeliefert, was dort oben auf ihn gelauert hatte und was vielleicht nicht von der Lähmung befallen war? Weil es Teil der Magie war, die in Althars Wolkenhort wohnte? 95
Die Panflöte hatte Baumer beim Wolkenhort gefunden. Sie war ein magisches Werkzeug. Sadagar zwang sich dazu, diese Fragen und andere zu verscheuchen, wie etwa die, warum das Hornissengift bei ihm, Mythor und Nottr keine Wirkung gezeigt hatte. Sie mußten fort von hier, außer Sichtweite der Caer. Jeden Augenblick konnte die Melodie verstummen, konnte Kalathee erwachen. Der Steinmann lief auf die Felsen zu, bei denen er und die anderen den Berg erklommen hatten. Plötzlich blieb Nottr wie vom Blitz getroffen stehen. »Drundyr!« knurrte er. »Der Kerl, der an allem schuld ist!« Sadagar sah ihn. Der Priester stand einen Pfeilschuß vom Wolkenhort entfernt fast am Rand des Berges und starrte sie aus haßerfüllten Augen an. Im Gegensatz zu Nyala, die erstarrt neben ihm stand, hatte er Leben in sich. Drundyrs Lippen bewegten sich. Seine dürren schwarzen Finger bewegten sich leicht. Es war offensichtlich, daß der Priester selbst genau wie die Caer unter dem Bann der Zaubermelodie stand. Sein Dämon aber war wach und versuchte, Drundyr auf die Flüchtenden zu hetzen. Er schaffte es nicht. Beim zweiten Hinsehen war es kein Haß, der aus Drundyrs Augen loderte, sondern abgrundtiefe Qual, die dieser Mann empfinden mußte. Die Weiße Magie des Wolkenhorts gegen die Schwarze Magie der Caer, dachte Sadagar. Die Panflöte gehörte zum Wolkenhort. Deshalb waren nur die Caer gelähmt, die direkt oder indirekt immer unter dem Einfluß Schwarzer Magie standen. Und der Steinmann verstand nun auch, warum Drundyr so weit vom Turm entfernt wartete und ihn nicht selbst betreten hatte. »Laß ihn!« rief er Nottr zu. »Komm weiter!« »Wenn wir erst in Sicherheit sind, knöpfe ich ihn mir vor!« schwor der Lorvaner. »Er soll seinen Verrat bezahlen!« »Von seinem Standpunkt aus war es kein Verrat.« Die Felsen. Sadagar blieb zwischen ihnen stehen, warf einen 96
Blick zurück zum Wolkenhort, zu den verkohlten Baumstämmen und den erstarrten Caer, dann hinab in die Tiefe. Dort boten sich genügend Versteckmöglichkeiten. Aber Drundyr hatte sie gesehen, zumindest sein Dämon. Sie mußten ganz hinunter und den Berg im Wald umgehen, wenn die Caer, aus ihrer Erstarrung erwacht, sie nicht gleich wieder einfangen sollten. Nottr erreichte die Felsen. Sadagar wollte gerade mit dem Abstieg beginnen, als plötzlich ein markerschütternder Schrei die unheimliche Stille zerriß. Drundyr!
Sadagar blieb abrupt stehen, geriet auf dem an dieser Stelle lockeren Gestein ins Rutschen und konnte sich im letzten Augenblick an einer Wurzel festhalten. Nottr war herumgefahren und stolperte. Der Lorvaner schrie gellend auf, versuchte sein Gleichgewicht zurückzugewinnen, machte zwei, drei taumelnde Schritte und brach in die Knie, verzweifelt darum bemüht, Kalathee nicht auf das harte Gestein fallen zu lassen. Nottr schlug hart mit den Ellbogen auf. Drundyr schrie immer noch, und in seinen Schrei mischte sich ein schriller Laut aus Kalathees Mund. Entsetzt mußte Sadagar mit ansehen, wie sie die Flöte fallen ließ und beide Hände vor ihr Gesicht schlug, bevor sie von Nottrs Armen auf das Gestein rollte. Sie fiel auf die Panflöte. »Nein!« schrie Sadagar. Er kroch über das Geröll, erreichte Kalathee und zog die Panflöte unter ihrem Körper hervor. Das Instrument war in zwei Teile zerbrochen. Niemand brauchte dem Steinmann zu sagen, was das bedeutete. Er begegnete Nottrs Blick und sah, daß auch der Lorvaner wußte, was die Stunde geschlagen hatte. Drundyr schrie nicht mehr. Er brüllte. Mit kreischender Stimme rief er die vor dem Turm postierten Caer heran und zeigte ihnen mit weit ausgestrecktem Arm, wo sie die Flücht97
linge fanden. Ritter Coerl O’Marn kam, von seinen Kriegern gefolgt, aus dem Wolkenhort gestürmt. Er sah Drundyr, hörte, was er rief, und bellte einen Befehl. »Jetzt haben wir sie auf den Fersen!« keuchte Sadagar. »Alle! Renn um dein Leben, Nottr!« Als der Barbar aus den Wildländern noch zögernd auf die Beine kam, schrie Sadagar: »Und um Mythors Leben!« Nottr sprang auf, riß Kalathee in die Höhe und warf sie sich über die Schulter. Mit einem Satz war er neben dem Steinmann. Die Caer stürmten heran. Daß sie ihre Bogen nicht benutzten, zeigte, daß sie die drei Freunde Mythors lebend haben wollten. Nottr und Sadagar kletterten die Felsen hinab, ohne Rücksicht auf blutige Schrammen und verstauchte Finger zu nehmen. Kalathee krallte sich an Nottr fest. Sie liefen, sprangen und kletterten noch immer, als sie sahen, wie die Caer seitlich ausscherten und versuchten, sie in die Zange zu nehmen. Die Krieger waren im Vorteil. Sie brauchten keine Rücksicht zu nehmen. Nottr aber mußte Kalathee tragen und bei jedem Schritt doppelt vorsichtig sein. Sadagar allein wäre den Caer vermutlich im Dickicht entkommen. Sie erreichten den Fuß des kleinen Berges. Rechts und links stürmten Caer den Abhang herab. Andere folgten den Flüchtigen direkt. Lose Steine polterten an ihnen vorbei und krachten in die Büsche. Nottr schrie auf, als sein linkes Bein getroffen wurde. »Dort!« schrie Sadagar. »Die beiden Eichen!« Zwei mächtige Bäume standen so dicht beieinander, daß kein Mann sich zwischen ihren Stämmen hindurchzwängen konnte. Nottr begriff. Einen Arm um Kalathee gelegt, mit dem anderen die Balance haltend, lief er hinter dem Steinmann auf die Eichen zu. Keuchend setzte er die Frau zwischen mächtigen Wurzeln 98
ab. Von hinten kam nun, da sie mit dem Rücken gegen die Stämme standen und sich auf den Angriff der Caer vorbereiteten, niemand an sie heran. Sie wußten, wie sinnlos eine weitere Flucht war. Etwa zehn Krieger stürmten heran. Coerl O’Marn war nicht bei ihnen. Dafür war nun Drundyr zu sehen, der weit oben auf den Felsen stand und die Hände beschwörend in die Luft reckte. Sadagar hatte sechs Messer zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Nottr erwartete die Caer mit dem Krummschwert. Die Krieger kamen von allen Seiten. Langsam zog sich ihr Kreis enger. Sadagar zögerte. Oben auf den Felsen trat Ritter Coerl O’Marn neben Drundyr. »Gebt auf!« dröhnte seine Stimme weithin hörbar. »Meine Männer haben den Befehl, euch lebend zurückzubringen. Stirbt jedoch ein einziger von ihnen, so werden eure Leichen neben ihm liegen! Denkt nicht, daß ich euch brauche! Der Dunkelhaarige genügt mir!« »Das werden wir sehen!« schrie Nottr zurück. Er riß das Schwert hoch, sprang auf den nächstbesten Caer zu und schien zu erstarren. Sekundenlang blickten sich die Gegner in die Augen. Der Caer trug einen Schild und ein Schwert. Nottrs Waffe war weit über seinen Kopf gehoben. Dann stieß der Lorvaner sie mit einem Fluch in den Boden. »Verdammt, Sadagar! Wir ergeben uns wie elende Feiglinge!« Der Steinmann hatte seine Messer bereits in den Gürtel zurückgesteckt. Er reichte Kalathee, die ihn mit einer Mischung aus Unglauben und Dankbarkeit anstarrte, die Hand und half ihr auf. Nottr bebte vor Zorn und Hilflosigkeit. Im offenen Kampf hätte er ein halbes Dutzend Caer mit in den Tod genommen. 99
Aber es ging nicht nur um ihn. Es ging nicht nur um Sadagar. Kalathees Leben war ihnen anvertraut. Und tot hatten sie keine Chance mehr, etwas für Mythor zu tun. Dies war vielleicht das erstemal in Nottrs Leben, daß er, der stolze Barbar, der dem Tod so oft ins Auge geschaut hatte, sich kampflos ergab. Er sprach kein Wort mehr, stieß nicht einmal Flüche und Beschimpfungen aus, als die Caer ihm die Hände auf den Rücken fesselten und sein Schwert an sich nahmen. »Solange wir am Leben sind, gibt es Hoffnung«, flüsterte Sadagar, doch er fühlte sich elend bei diesen Worten. Die Caer führten sie wieder den Berg hinauf. War es denn richtig, darauf zu hoffen, daß noch einmal ein Wunder geschah? Daß es jemanden gab, der seine schützende Hand über sie hielt? War es nicht doch Zufall gewesen, daß Kalathee die Panflöte geblasen hatte? Wenn es einen unbekannten Schutzgeist gab, hätte er es zugelassen, daß sie die Flöte zerbrach? Und wieso waren die Caer und sie selbst nicht wie Baumer wahnsinnig geworden? Hatte Alton die furchtbare Strahlung aufgehoben – zumindest zeitweise? Es waren müßige Überlegungen. Sie mußten sich damit abfinden, Gefangene der Caer zu sein. Solange Mythor nicht zurückkehrte, bestand nicht die Gefahr, daß man sie fortbrachte. So blieb nur die Hoffnung darauf, daß Mythor durch den Lärm der Caer gewarnt worden war und mit dem Helm der Gerechten zurückkehrte. Doch wenn er von den zu bestehenden Kämpfen im oberen Teil des Wolkenhorts so geschwächt war, daß er den Caer keinen ernsthaften Widerstand leisten konnte? Sadagar spürte, wie die quälenden Gedanken ihm den Verstand zu rauben drohten. Er ergab sich in sein Schicksal. Zwischen Hoffen und Bangen würden er und seine Freunde der Dinge harren, die unweiger100
lich geschehen mußten. Coerl O’Marn erwartete sie vor dem Wolkenhort. Drundyr blieb bei den Felsen – zusammen mit Nyala von Elvinon. Es schmerzte zu sehen, wie die Tochter der Herzogs von Elvinon dem Caer-Priester völlig hörig zu sein schien – sie, von der Mythor während der Flucht aus Lockwergen trotz ihrer feindseligen Haltung so sehr gehofft hatte, daß sie wieder zu sich selbst finden würde, wenn sie erst einmal lange genug von Drundyr getrennt wäre. Sadagar entgingen die Blicke nicht, die O’Marn ihr zuwarf. »Das hättet ihr euch sparen können«, sagte der Ritter und deutete dabei auf die blutigen Schrammen, die die Ausreißer sich bei ihrer waghalsigen Kletterei zugezogen hatten. Sadagar sah ihm in die kalten Augen. Irgend etwas war an diesem Mann, was ihn von den Caer, mit denen der Steinmann es bisher zu tun gehabt hatte, unterschied. O’Marn besaß ganz zweifellos einen starken Willen – einen eigenen Willen. Er stand nicht unter dem Einfluß irgendeines Dämons, und auch Drundyr schien keine Gewalt über ihn zu haben. Ein Hoffnungsfunke? »Bringt sie herein!« befahl der Gepanzerte den Kriegern. »Sie sollen mit ansehen können, wie ihr Held vor mir in die Knie gehen wird!« Nein, dachte Sadagar niedergeschlagen. Dieser Mann ist wie sie alle, nur noch viel gefährlicher. Er liebt nur den Kampf. Von ihm hat Mythor keine Gnade zu erwarten. Nottr und Kalathee ließen sich ohne Widerstand zurück in den Wolkenhort führen. Von oben kamen keine Geräusche mehr. Vielleicht hatte Mythor die ersten Prüfungen bestanden und war bereits weiter oben im Turm. Vielleicht aber war er bereits besiegt. Sadagar kam sich wie ein Narr vor, aber er konnte einfach nicht daran glauben. Zuviel stand auf dem Spiel. Wenn My101
thor hier scheiterte, wenn diese Bastion des Lichtes in die Hände der Caer fiel, war der Vormarsch der dunklen Mächte nicht mehr aufzuhalten. Die Caer richteten sich auf eine lange Wartezeit ein. O’Marn zwängte sich in einen der sieben Stühle, legte die schweren Stiefel auf den Tisch und richtete den Blick auf den Treppendurchgang in der Decke der Halle. Sein Schwert lag griffbereit quer über den gepanzerten Beinen.
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Hugh Walker
DER MAGISCHE TURM Als Mythor durch die Öffnung stieg, war es, als käme er in eine andere Welt. Selbst die unmittelbaren Erinnerungen an seine Gefährten verblaßten und wurden unwirklich. Ein ungreifbarer Vorhang fiel in schweren Falten über die Vergangenheit. Es war, als ob er aus dem Wasser in die leere Weite der Luft emportauche oder als trete er aus einem Verlies in die unbegrenzte Freiheit. Und dennoch wußte er instinktiv, daß vor ihm keine Freiheit lag. Er empfand keine Furcht. Die besorgten Gesichter der Gefährten waren flüchtige Traumbilder, die er vergeblich festzuhalten suchte. Er wußte, daß sein Name Mythor war, aber er bedeutete nichts. Er war hier, um etwas zu erringen. Hier, das war Althars Wolkenhort, ein magischer Turm, den eine Wolke krönte und der den Helm der Gerechten barg. Daran erinnerte er sich klar, und das erschien ihm seltsam, denn alles andere, an das er sich zu erinnern versuchte, war so undeutlich. Er war hier, um sich etwas zu holen! An diesen Gedanken klammerte er sich. Er erfüllte ihn mit Zuversicht. Doch die Zuversicht schwand rasch, als ihm bewußt wurde, daß er sich nicht mehr erinnern konnte, was es war, das er holen wollte. Er fühlte sich nackt und verwundbar. Nur Alton lag mit einer beruhigenden Vertrautheit in seiner Rechten. Das Schwert gab ihm Kraft und Mut. Seine alte Neugier und Entschlossenheit kehrten wieder. Er schob alle Grübeleien zur Seite und trat aus der Unwirklichkeit wie aus einem Traum. Der Raum vor ihm war groß. Größer als… Aber er wußte nicht mehr, womit er ihn vergleichen wollte. Da war eine vage 103
Erinnerung in ihm, daß er über Stufen hierhergekommen war. Er wandte sich um und erkannte, daß er an der Wand des Raumes stand. Nichts zu sehen von einer Öffnung im Boden, durch die eine Treppe in die Tiefe führte. Er schüttelte den Kopf. Und erstarrte mitten in der Bewegung. Der runde Raum war von düsterem Licht erfüllt, das durch schmale Öffnungen in der Wand drang. Und mitten aus dieser Düsternis klangen tuschelnde Stimmen zu ihm, gefolgt von einem unterdrückten Kichern, das ihn schaudern ließ. Dann verstand er einige Worte deutlich: »Wacht auf! Wacht auf… ein Neuer!« »Wer ist es?« »Wißt ihr schon etwas über ihn?« »Seine Gedanken… seine Gedanken… nehmt sie ihm weg!« »Ja, holt sie!« »Holt sie… holt sie!« »Seid doch still! Wir haben sie längst.« »So sagt schon, wer ist er?« »Wer ist er?« »Wer ist er?« »Er…« »Ja?« »Er ist niemand.« »Niemand?« »Niemand?« »Er weiß es selbst nicht, wer er ist.« »Ohhhhh…!« Die Enttäuschung hing fast greifbar in der Luft. »Warum weckt ihr uns, wenn niemand gekommen ist?« Unterdrücktes Lachen folgte. »Hat er keinen Namen?« »Nein, er weiß keinen Namen.« 104
»Ich bin Mythor!« entfuhr es ihm. Aber sie achteten gar nicht darauf. Sie kümmerten sich nicht um seine Anwesenheit. Sie sprachen gar nicht von ihm. Wie sollten sie auch? »Sie sind nicht hier«, murmelte er. »Sie sind irgendwo in diesem Turm.« Aber ihr Flüstern war so deutlich, als wären sie neben ihm, als könne er sie berühren, wenn er nur die Hand ausstreckte. »Keinen Namen?« »Niemand?« tuschelten sie. »Lassen wir niemand ein?« »Ja, wir lassen niemand ein.« Erwartungsvolle Stille folgte. Mythor sah sich unsicher um. Der Raum war leer. Nichts hing an den Wanden, nichts stand auf dem steinernen Boden. Nur an der gegenüberliegenden Wand führte eine steile Treppe nach oben und endete an der Decke. Doch das spärliche Tageslicht, das durch die schmalen Öffnungen in der Wand fiel, ließ es ihn nicht genau erkennen. Da es aber offenbar der einzige Ausweg aus diesem Raum war, setzte er sich darauf zu in Bewegung. Dabei betrachtete er verwundert sein Schwert, das im Halbdunkel leuchtete. Eine seltsame Waffe, dachte er. Da war ein Augenblick vager Vertrautheit mit dem Anblick des leuchtenden Schwertes verbunden, doch er schwand rasch. Er dachte: Weshalb bin ich hier? Was tue ich nur hier? Aber er vergaß es, bevor er noch über eine Antwort nachgrübeln konnte. Dann dachte er: Wo bin ich eigentlich? Aber es war, als greife jemand nach seinen Gedanken, noch während er sie dachte, und entreiße sie ihm. Da war nichts mehr, an das er sich erinnern konnte. Und in diesem leeren Raum, ohne Erinnerungen, gab es nichts mehr, woran er denken konnte. So hörte er auf zu denken. 105
Er blieb mitten im Raum stehen und starrte blicklos in die Düsternis. * Unsichtbar für menschliche Augen bewegten sich vier Gestalten in diesem ersten Stockwerk von Althars Wolkenhort. Einer war Merwallon, Halbprinz aus Thormain. Er war dreißig Sommer gewesen, als er hierherkam auf der Suche nach Macht und Schätzen. Aber das war lange her, mehr Jahre, als er in der ewigen Düsternis des Turmes zu zählen vermochte. Ein anderer war Keethwyn, ein Abenteurer aus Gianton, den die Aussicht auf kostbare Beute ebenfalls in den Turm gelockt hatte. Er war jünger als Merwallon, doch Alter hatte längst alle Bedeutung verloren. Der dritte, Cheek, ein Mörder, war auf der Flucht zu diesem Turm gekommen. Der vierte war sein Verfolger, Oren aus Firwoods, einem kleinen Dorf nicht weit von Lockwergen. Seinen Bruder hatte Cheek erschlagen. Aber die Zeit hatte diese Wunden längst geheilt. Der Turm besaß seine eigenen zauberischen Gesetze. Er ließ keinen mehr frei, der sein Inneres gesehen und nicht bezwungen hatte. Er war ein Geheimnis, das sich selbst hütete. Auch der Tod besaß keine Macht in Althars Turm. So geschah es, als ihre Körper verwesten und zu Staub zerfielen, daß auch ihre Geister keinen Weg aus dem ehernen Gefängnis fanden und zum Dasein verurteilt waren. Sie alle hatten sich gewaltsam Einlaß verschafft, und sie alle hatten versucht, in die oberen Stockwerke zu gelangen. Doch ihre Ausflüge endeten in Alpträumen, aus denen sie schreiend und körperlos erwachten, selbst Merwallon, der höfisch erzogen und gebildet war und über die abergläubischen Gemüter seiner Landsleute 106
lachte. So verbrachten sie mehr als ein Menschenalter körperlos und allein mit sich und ihrer Unsterblichkeit in diesem Raum des Turmes. Sie starben tausend Tode der Langeweile und der Sehnsucht, denn selbst ihre Gedanken und Vorstellungen über die Welt draußen vermochten die ehernen Mauern nicht zu durchdringen. Sie selbst waren alles, was sie besaßen. Bald gab es keinen Gedanken mehr, den sie nicht gedacht hatten, keine Erinnerung mehr, die sie nicht bis in ihren letzten Winkel durchlebt hatten, keinen Plan, den sie nicht längst geschmiedet hatten. In diesen Tagen, als bereits die dunklen Schwingen des Wahnsinns ihre Schatten über sie warfen, erfanden sie den Tod. Sie entdeckten, daß sie einander Gedanken und Erinnerungen wegnehmen konnten, bis nichts mehr übrigblieb. In diesem kritischen Augenblick gelang einem Neuen, einem tainnianischen Piraten, der Einbruch in den Turm. Als er in den Raum der vier kam, war er kostbarer als alle Schätze, die in den oberen Kammern des Turmes liegen mochten – ein Kelch wundervoller, fremder Gedanken, Ideen und Erinnerungen. Sie leerten ihn bis auf den letzten Tropfen, bevor er sich der Gefahr überhaupt bewußt wurde. Bevor sein Körper noch völlig verwest war, kamen andere Diebe, Schurken, Abenteurer, Edelmänner, Prinzen mit Raub im Herzen und der Klinge in der Faust. Von ihnen allen blieben nur leere, geistlose Körper, die blind und unverständliche Laute von sich gebend durch den Raum irrten, bis sie Hungers starben, während die vier in ihrer Beute versanken wie in einer Droge. Und dann kam Mythor… »Er ist nicht wie die anderen«, stellte Merwallon fest. »Er ist wirklich ein seltsamer Vogel«, stimmte Cheek zu. »Er kommt nicht her, um zu plündern«, murmelte Keethwyn, der Abenteurer. 107
»Er kommt her, weil er die Welt retten will«, sagte Oren aus Firwoods fassungslos. Eine Weile musterten sie Mythors kräftigen Körper. Dann kicherte Cheek. »Also…«, meinte Keethwyn. »Wenn ihr mich fragt, er ist ein Narr!« »Hmmmm.« »Er zweifelt wohl an sich selbst, aber er meint es ehrlich«, gab Merwallon zu bedenken. »Wer sind wir, daß wir das vergelten sollten?« meinte Cheek wegwerfend. »Es wäre auch eine Chance für uns«, bemerkte Merwallon. »Wovor wollten wir wohl gerettet werden?« fragte Cheek ironisch. »Vor einer Ewigkeit der Langeweile«, sagte Merwallon müde. »Nicht einmal die gewiß ungewöhnlichen Erinnerungen dieses Mythor haben etwas in mir höher schlagen lassen. Wir haben kein Herz, keinen Pulsschlag, kein Blut, keinen Schmerz, keine Lust. Die Dinge, die wirklich wichtig sind… Lieben, Kämpfen, Essen, Trinken… Fühlen… ihr Götter! Sie sind uns verlorengegangen. Erinnerungen sind alles, was wir haben. Und sie sind so dürftig, daß wir uns vor unheiligem Hunger auf die Erinnerungen anderer stürzen: Wir sind Ungeheuer!« »Ungeheuer?« entfuhr es Cheek. »Weil wir nicht verrückt werden wollen? Weil wir uns nehmen, was wir zum Leben brauchen?« »Zum Leben?« fragte Merwallon. »Leben?« Nach kurzem Schweigen fragte Oren: »Was willst du tun? Ihm seine Erinnerungen wiedergeben?« »Ich erwäge es.« »Wozu?« wandte Keethwyn ein. »Damit er versucht, wobei wir gescheitert sind.« 108
»Nach oben zu steigen? Das schafft er nicht. Er wird enden wie wir.« »Er ist ein guter Kämpfer.« »Nicht besser, als ich es war«, rief Keethwyn. »Er wird enden wie wir. Nämlich hier!« »Das bedeutet einen mehr, mit dem wir teilen müssen!« rief Cheek heftig. »Ich sage nein!« »Ist das Teilen von Erinnerungen aber nicht gerade das, was es erst wert macht, sie zu besitzen?« gab Merwallon zu bedenken. »Du redest wie ein Priester«, stellte Cheek giftig fest. »Nein, nein, es ist schon was Wahres an dem, was er sagt«, meinte Keethwyn. »Wir sind Ungeheuer oder auf dem besten Wege dazu. Du warst es schon immer, Cheek, ein Meuchelmörder, ein…« »An deinen Händen klebt wohl kein Blut?« unterbrach ihn Cheek wütend. »Genug. Ich habe ein gutes Dutzend Männer erschlagen, aber in gutem Kampf. Nicht mit einem Dolch in den Rücken.« »Ja«, sagte Oren, und seine körperlose Stimme zitterte vor mühsam beherrschten Gefühlen. »Wie konnte ich es nur vergessen – all diese Jahre und den Mörder meines Bruders an meiner Seite!« »Wir sind uns also einig, daß wir diesen erbärmlichen Zustand beenden wollen?« sagte Merwallon. »Nein!« schrie Cheek schrill. »Gut. Was immer auch geschehen mag, lassen wir ihn unser Geschick in seine Hände nehmen.« »Nein!« schrie Cheek. »Fürchtet ihr denn den Tod nicht?« * Mythor hatte das Gefühl, aus einem tiefen Schlaf zu erwachen. 109
Seine Gedanken waren weit fort gewesen. Als tauche er aus einer vollkommenen Verlorenheit empor, so empfand er diesen Augenblick. Ohne daß es ihm bewußt war, hatte er sich in die Mitte des Raumes bewegt. Noch immer strömten Erinnerungen in ihn zurück. Er wußte plötzlich um diesen Vorgang. Und er wußte, daß er dem Tod entronnen war. Außerdem war ihm klar, daß er nicht allein war. Mehr als nur seine eigene Vergangenheit war in seinen Erinnerungen, und seine Gedanken wirbelten durch fremde Bilder und Abenteuer, bis er sich taumelnd auf sein Schwert stützte. »Großer Erain, Gott der Tainnianer!« flüsterte er und schüttelte verzweifelt den Kopf. Dann war alles ganz klar um ihn, und die Stimmen klangen, als wären sie unmittelbar um ihn oder in ihm. »Wir sind Abenteurer wie du, wenn wir auch nicht so hochfliegende Ziele hatten, Mythor. Aber hier ist ein Ort, an dem Abenteuer enden.« »Ihr kamt her, um zu plündern«, sagte Mythor. »Ich kämpfe.« »Für die Welt, wir wissen es. Deine Gedanken waren ein offenes Buch für uns. Aber wofür man auch immer kämpft, die Gegner bleiben dieselben.« »Nicht die Waffen, über die man verfügt. Ich besitze das Gläserne Schwert. Kein anderes hat ihm je zu widerstehen vermocht.« »Was hat es gegen uns ausgerichtet, wenn die Frage erlaubt ist?« »Das Schwert – vielleicht nichts. Aber wäre ich noch am Leben, wenn ich wie ihr hierhergekommen wäre, um zu stehlen? Allein mein großes Vorhaben hat euch umgestimmt.« »Menschliche Launen und Hoffnungen. Abenteurer sind voller Träume. Bei einem Mordbuben wie Cheek haben deine hehren Pläne nichts zu regen vermocht. Und die Gegner, die 110
du hier vorfinden wirst, sind noch viel weniger menschlich.« Mythor lächelte. »Unterschätzt die Macht nicht, die zu dem kommt, der für die gute Sache kämpft. Ich habe drei Ungeheuer besiegt. Oder habt ihr vergessen, daß ihr euch noch vor wenigen Augenblicken für Ungeheuer gehalten habt?« »Es ist gut, daß du Mut und Zuversicht hast. Du wirst sie brauchen in Althars Hort der Ungeheuer.« »Wo ist dieser Cheek?« fragte Mythor. »Hier. Irgendwo in diesem Raum.« »Welche Macht hat er?« »Macht?« »Was kann er gegen mich unternehmen?« »Wir haben darüber noch nicht nachgedacht. Allein ist er wohl zu schwach, dir wirklich gefährlich zu werden.« »Warum haßt er mich?« »Er haßt dich wahrscheinlich gar nicht. Im Gegensatz zu uns war er nur nicht bereit, sich von seinem Anteil der Beute zu trennen und dir eine Chance zu geben.« »Seinem Anteil der Beute? Ihr meint…?« Keine Antwort kam, und das war Bestätigung genug. Ihr Götter! Welche seiner Erinnerungen fehlten ihm? Was war verloren? Welche tiefen, leeren Kluften mochten in seinem Geist sein? Erst nach einer Weile wurde ihm die Sinnlosigkeit seiner jagenden Gedanken bewußt. Dinge, die aus seinem Geist verschwunden waren, hatten auch keine Spuren hinterlassen. Er wußte nichts von ihnen, also würde er sie auch nicht vermissen. Aber der Gedanke an ihr Verschwinden war quälend. »Gibt es einen Weg, meine Erinnerungen zurückzuholen? Wißt ihr einen Weg?« »Nein. Wir sind zu schwach.« Unterdrücktes Lachen kam vom jenseitigen Ende des Raumes. 111
»Cheek?« rief Mythor. »Cheek! Hörst du mich? Was verlangst du dafür?« Aber es kam keine Antwort. * Mit einemmal wurde ihm das Absurde seines Tuns und seiner Lage bewußt. Statt sich um Erinnerungen zu kümmern, von denen er nicht einmal wußte, ob es sie wirklich gab, sollte er an das Ziel denken und an den Grund seines Hierseins. Der Helm der Gerechten wartete auf ihn, oben, über den Wolken. Bis dahin war es ein weiter Weg. Er hatte das erste Stockwerk erklommen und einen leeren Raum vorgefunden. Leer bis auf Merwallon, Keethwyn, Oren und Cheek, die Geister, Dämonen oder verlorene Seelen sein mochten, dazu bestimmt, ihn aufzuhalten und außer Gefecht zu setzen. Und beinahe wäre es ihnen gelungen! Er zweifelte nicht daran, daß sie seine erste Prüfung waren. Er war Zauberei in vielen Formen begegnet. Und oft war sie eine Gauklerin gewesen, die die Sinne täuschte. Die Stimmen um ihn schwiegen. Sie mochten dasein oder nur Gaukelei. Er durfte nicht länger warten. Wenn er die Wirklichkeit aus den Augen verlor, würde sein Leben nicht viel anders sein als das der Alpträume, die ihn quälten. Und wenn ihm die Hälfte seines Geistes verlorenging, bedeutete es nur, daß er versuchen mußte, mit der verbleibenden Hälfte zurechtzukommen. Er hätte nicht allein hierherkommen sollen. Er vermochte sich nicht zu erinnern, wo er die Gefährten verloren hatte. Es war auch in diesem Augenblick nicht wichtig. Es war sein Schicksal, die Dinge allein zu tun. Er grinste, und es machte ihm Mut. Seine Sinne waren ange112
spannt. Sein Blick wanderte durch den Raum. Er berührte die steinernen Wände, den Boden, die Decke. Alles, was seine Finger fanden, waren Stein und Mörtel. Weder seine Augen noch seine Hände fanden einen Ausgang. Das beklemmende Bewußtsein kam über ihn, daß er in eine Falle geraten war. Er lauschte, doch er vernahm nichts. Die Stimmen waren verstummt, wenn es sie überhaupt jemals außerhalb seiner Einbildung gegeben hatte. »Seid ihr noch da?« fragte er zögernd und kam sich wie ein Narr vor. Daß niemand antwortete, erleichterte ihn. Daß er allein war, machte alles ganz klar. Er brauchte auf keine Hilfe zu hoffen. Er selbst war die einzige Macht, die ihn befreien konnte. Er wußte nicht, wieviel Zeit er bereits hier verbracht hatte. Die Erinnerungen waren so vage. Doch die schmalen Schießscharten, kaum mehr als Schlitze, zeigten ihm, daß noch Tag war. Wenn erst die Nacht kam, würde es hier so dunkel sein, daß er die Hand nicht mehr vor den Augen sah. Er fluchte lautlos beim Namen Quyls, des Gottes der Marn, und beim Namen Erains, eines tainnianischen Gottes. Nach einer Weile fluchte er mit unterdrückter Stimme, und schließlich tat er es lauthals und trommelte mit den Fäusten gegen den Stein, bis sie schmerzten. Es steigerte seinen Grimm so sehr, daß er das Gläserne Schwert hob und gegen die Wand schlug, als habe er einen greifbaren Feind vor sich. Es klirrte wie von Eisen und dröhnte und setzte sich fort wie Echos. Verwundert hielt er inne. Das waren nicht Altons klagende Laute, wie er sie im Kampf oft vernommen hatte. Es hatte auch nicht geklungen, als ob das Schwert auf Stein hieb. Er hieb erneut, und nun gab es keinen Zweifel: Es klang nach Metall. Aufgeregt versuchte er es weiter. Was wie Stein aussah, 113
mußte Eisen sein, doch seine Sinne, seine Augen und tastenden Finger wollten es nicht wahrhaben. »Die Klinge läßt sich nicht täuschen«, murmelte er. Er stand grübelnd und erinnerte sich nach einem Augenblick daran, wie der Turm von außen ausgesehen hatte: glatt und bronzefarben. Und das Feuer hatte ihm nichts anzuhaben vermocht. Feuer! Er biß sich auf die Lippen. Aber sosehr er sein Hirn auch zermarterte, er erinnerte sich nicht mehr daran, wie es mit dem Feuer gewesen war. Weshalb es gebrannt hatte. Er preßte die geballten Hände gegen seine Stirn und ließ sie schließlich hilflos sinken. Aber der Turm war aus Erz, nicht aus Stein. Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit Triumph. Er war der Wirklichkeit auf der Spur. Vorsichtig das Schwert vor sich haltend, scharrte er an der Wand entlang, bis es auf Widerstand stieß, einen Widerstand, den seine Hände nicht zu fühlen vermochten. Er tastete das Hindernis mit der Klinge ab und stellte fest, daß es eine Treppe war, die nach oben führte. Er hatte den Aufgang gefunden! Doch seine Erleichterung war verfrüht. Er konnte die Treppe nicht betreten. Er vermochte das Schwert auf die Stufen zu legen, und es lag in der leeren Luft. Wenn er darunter stand und es scheinbar über ihm schwebte, vermochte er sich daran hochzuziehen und darauf mannshoch in der leeren Luft über dem Boden zu sitzen. Aber damit endete sein Aufstieg. Seine Hände vermochten wohl die Decke zu erreichen, wenn er sich aufrichtete, doch sie fanden keine Öffnung in das nächste Geschoß. Er sprang zurück auf den Boden. Dann warf er die Klinge probeweise hoch. Sie prallte nicht klirrend gegen die Decke, 114
sondern drang lautlos durch den Stein, war einen Augenblick lang unsichtbar und kam wieder herab. Er fing sie und wirbelte herum, als er die Stimmen wieder vernahm. »Er hat es gefunden!« »Gewiefter Bursche.« »Muß er schon sein, wenn er die Welt retten will.« »Noch ist er nicht oben.« »Da wird ihm schon noch was einfallen!« Mythor entspannte sich ein wenig und grinste freudlos. »Ihr seid also keine Einbildung«, stellte er fest. »Dachtest du das?« »Ihr wart plötzlich verschwunden. Wie soll ich an diesem verdammten Ort wissen, was wirklich ist und was nicht?« »Wir wollten ein wenig zusehen, wie du es anstellst, die Welt zu retten.« Die Stimmen lachten. »Da ihr alles hier zu wissen scheint, hättet ihr mir helfen können.« »Ja, vielleicht hätten wir, wenn es nicht schon so lange her wäre, daß wir… lebten. Aber so ist es uns im Grunde gleich, was mit dir geschieht. Wir erwarten von dir nur ein paar interessante Augenblicke in der ewigen Eintönigkeit und Ereignislosigkeit der Jahre. Vielleicht bist du wirklich der Retter der Welt, wer mag das schon sagen? Wir waren neugierig genug, dir eine Chance zu geben, oder du wärst schon erloschen, wie so viele vor dir. Erwarte kein Mitleid oder gar Anteilnahme von uns. Dergleichen fleischverbundene Empfindungen sind längst verwest.« »Und was ist diese Chance, die ihr mir so großzügig gewährt habt?« fragte Mythor sarkastisch. »Einer von uns zu werden«, kam die Antwort. »Einer von euch? Das nennt ihr eine Chance?« »Besser als der Tod… hm, für eine Weile wenigstens.« Danach schwiegen die Stimmen beharrlich auf Mythors boh115
rende Fragen, so daß er sich schließlich verbissen seinem Problem zuwandte, mehr als halb überzeugt, daß alles nur Trug war und er wie ein einfältiger Narr bereits angefangen hatte, mit sich selbst zu reden. Es verwunderte ihn, daß er keinerlei Furcht empfand, obwohl Dämonen und Ungeheuer auf ihn lauern mochten; obwohl er nicht einmal sicher sein konnte, daß der Boden, auf dem er stand, wirklich war. Alles war einfach zu unwirklich, seine Erinnerungen vage. Er war nicht einmal sicher, daß er wußte, weshalb er hierhergekommen war. Die Stimmen, die ihn Weltretter genannt hatten, mochten sein eigener Spott sein für einen Narren, der sich auf Unmögliches einließ. Es war wie ein Wachtraum! Also besaß er noch seinen Verstand. Die Welt der Marn und die Welt der seßhaften Tainnianer waren grundverschieden gewesen. Es würde für alle Zeiten seine Art zu überleben sein: sich umzustellen und anzupassen! Trotz aller seiner Sinneseindrücke wußte er bereits, daß seine Umwelt nicht wirklich war, nur eine Art Gefängnis des Geistes. Alton, sein Gläsernes Schwert, wußte es besser. Die Lichtkräfte, die ihm innewohnten, vermochte nichts zu täuschen. Die Lockungen der Stimmen, die er vernommen hatte, bedeuteten nur die Erkenntnis, wie leicht es war, aufzugeben und für alle Zeiten in diesem Alptraum gefangen zu bleiben. Und es war nicht einmal ein furchterregender oder abscheulicher Alptraum, nur die Sehnsucht nach Ruhe und Vergessen, die wohl in jedem Menschen schlummerte und dann und wann hervorbrach. Aber er wollte nicht Vergessen und Ruhe, er wollte Leben und Abenteuer! Er hatte bereits zu lange hinter den hölzernen Wehren der Marn geschlummert. Er war zu lange an der Welt 116
vorbeigezogen. Dieser Turm mochte ebensogut ein Yarl sein, einer, mit dem er ans Ende der Welt kroch, ohne viel mehr als Firmament und Horizont zu sehen. Und nicht einmal das. Er wußte plötzlich: Da lag der Quell seiner wirklichen Furcht. Nicht die Dämonen und Mächte der Schattenwelt, sondern nicht genug gesehen und erlebt zu haben, bevor das Ende kam. Zum Leben und zum Abenteuer gehörten Herausforderungen. Und dies war eine. Mythor nahm seinen Gürtel ab, schlang ihn um die Parierstange des Schwertes und befestigte ihn mit Schließe und Schlaufe. Dann warf er das Schwert probeweise hoch, wobei er das Gürtelende in der Hand behielt. Er sah die schwach leuchtende Klinge in der Decke verschwinden, bis der Gürtel sich spannte. Dann erschien sie wieder, und er fing sie. Der junge Abenteurer nickte. Er versuchte durch einige solcher Würfe herauszufinden, wie groß die Öffnung war und wo sich ihre Ränder befanden. Sie war nicht groß – zweimal drei Schritt etwa. Dann warf er die Klinge gezielt so, daß sie über den Rand fallen und liegenbleiben mußte, wenn er Glück hatte. Beim dritten Mal klappte es, wobei er fast das Gürtelende aus den Fingern verlor. Hastig griff er fester danach. Er stand fast auf Zehenspitzen, da er fürchtete, die Klinge wieder herabzureißen. Es war ein seltsamer Anblick: Der Gürtel verschwand in der steinernen Decke. Er zog ein wenig daran. Das Schwert ruckte. Resigniert hielt er inne. Er wußte nicht, wie es da oben aussah, ob es irgendeine Möglichkeit gab, das Schwert über ein Hindernis zu werfen, so daß es fest genug lag, um dann am Gürtel hochzuklettern. Einige Male sprang er hoch, um die Decke zu erreichen, wo der Gürtel verschwand, aber er kam nicht hoch genug. Keuchend gab er den Gedanken auf. 117
Während er heftig atmend und stirnrunzelnd nach oben starrte, bewegte sich der Gürtel wie von Zauberhand. Er dachte an die unsichtbaren Stimmen, aber nur einen Augenblick, dann erkannte er, daß jemand von oben die Bewegung verursachte, jemand, der das Schwert in die Hände genommen hatte. Hastig griff er nach dem Gürtel und hielt ihn mit beiden Händen fest. Gleich darauf spürte er einen heftigen Ruck, als jemand oder etwas die Klinge hochzuheben versuchte. Ein zweiter Ruck folgte, der Mythor fast von den Füßen riß. Ein wütender, knurrender Laut drang gedämpft herab, und Mythors unbekannter Gegner machte sich daran, das Schwert mit Bärenkräften Fuß um Fuß hochzuziehen. Mythor klammerte sich fest, als er den Boden unter den Füßen verlor. Rasches Übergreifen brachte ihn ein gutes Stück höher am Gürtel hinauf. Und wer immer oben zog, hatte offenbar neue Kräfte gesammelt, denn ein gewaltiger Ruck riß Mythor, der sich vor dem erwarteten Aufprall zusammenkrümmte, mit dem Oberkörper durch die Decke. Er spürte keinen Widerstand. Das Gläserne Schwert hatte die Tür für ihn geöffnet. Instinktiv ließ er den Gürtel los, klammerte sich mit beiden Händen an den Rand der Öffnung und zog sich hoch. Ein wütender, halbmenschlicher Schrei ließ ihn herumfahren. Fasziniert starrte Mythor auf das ungewöhnliche Geschöpf, das das Gläserne Schwert in vier Händen hielt und seinen Blick aus vier Augen grimmig erwiderte. Es war auf eine seltsame Art menschlich und unmenschlich zugleich; menschlich, weil es eine schimmernde Rüstung trug, einem tainnianischen Ritter nicht unähnlich; unmenschlich, weil sein Körper sich über den Hüften zu zwei Oberkörpern verbreiterte, zu vier Armen und zwei Köpfen. Daß das Wesen, abgesehen von der Verwachsenheit der bei118
den Körper, menschliche Formen besaß, davon kündete freilich nur die Form der Rüstung, denn vom Körper selbst war nichts zu sehen. Die Hände steckten in eisernen Handschuhen, und Visiere waren über die Gesichter herabgeklappt. Die vier Arme hoben Alton zum Hieb, und Mythor rollte sich rasch zur Seite. Als das Schwert herabkam und auf den Boden schmetterte unter solch einem gewaltigen Hieb, daß Mythor dachte, die Klinge müßte zerspringen, verfehlte es ihn weit. Funken stoben. Mythor sah verwundert, daß das innere Leuchten der Klinge erloschen war. Es glich einem stumpfen Stück Glas. Das Wesen heulte wütend unter den Helmen und tänzelte mit einer erstaunlichen Behendigkeit herum, wobei die beiden Oberkörper eine schwindelerregende Balance hielten. Mythor kam auf die Beine und stolperte rückwärts, bis er das kalte Metall der Wand in seinem Rücken spürte. Das Geschöpf in der vermutlich mehrere Zentner schweren Rüstung blieb mit halb erhobener Klinge stehen. Die beiden äußeren Arme ließen den Schwertgriff los, hoben sich zu den Köpfen und schoben mit metallischem Scharren die Visiere hoch. Mythor stand nicht zum erstenmal einem Xandor gegenüber, deshalb war sein Erschrecken nicht mehr als ein angehaltener Atemzug. Die Gesichter, soweit er sie erkennen konnte, waren mit kurzen, braunen, fellartigen Haaren verwachsen. Die Nasen waren menschlich wie die Augen, die Blicke voll boshaftem Triumph. Xandoren waren Besessene, Menschen, die mit Leib und Seele Dämonen und ihren Kräften anheimgefallen waren. Ihre Körper wurden zu abstoßenden Ausgeburten der Schattenwelt, ihre Geister zu blinden, hilflosen Sklaven der dämonischen Mächte, mit denen sie einst gespielt hatten. Sie verachteten das Leben, und sie besaßen Kräfte über das menschliche 119
Maß hinaus. Doch sie waren nicht unbezwingbar. Einer der Münder öffnete sich und sagte: »Du anmaßendes Stück lebendes Fleisch! Ich kenne jeden deiner spärlichen Gedanken. Hier wirst du erfahren, daß Fardus und Lurdur unbezwingbar sind. Und hier werden alle deine ungeheuerlichen Hoffnungen, je diesen Helm zu erlangen, mit dir verwesen!« Der zweite Kopf nickte. »Der Weg nach oben und der Weg zurück führen an uns vorbei.« »Der nach unten«, sagte Mythor ruhig, »käme für mich ohnehin nicht in Frage.« »Bürschchen, wenn du denkst, daß Mut und Tollkühnheit unsere Sympathie wecken könnten, so laß dir sagen, daß uns menschliche Gefühle, wie erhaben sie dir auch immer dünken mögen, nur mit Heiterkeit erfüllen.« »So weißt du, daß es erhabene Gefühle gibt. Mich erfüllt es nur mit Mitleid, daß du ihrer nicht fähig bist«, stellte Mythor fest. Er sah sich ohne Hast um. Dem Geschöpf lag offenbar daran, vor dem Kampf ein wenig mit ihm zu spielen. Mythor hatte nichts dagegen. Das gab ihm Zeit, seine Lage zum Besseren zu wenden. Er brauchte eine Waffe. Er sah ein großes eisernes Schwert zu Füßen des Geschöpfes liegen. Es war größer als Alton, und es brauchte wohl zwei kräftige Arme, diese Waffe zu schwingen. Ein gewichtiger metallener Schild lag daneben. Einer der beiden Köpfe lachte. »Du Wurm hast Mitleid mit Fardus und Lurdur? Das hatte bisher noch keiner. Du amüsierst uns ungemein. Das Schwert, auf das du deine Aufmerksamkeit so verstohlen richtest, ist wohl zu schwer für deine Kräfte. Aber das hier…« Die vier Arme schwangen Alton prüfend. »Ist das dein Schwert?« »Allerdings.« »Das ist eine seltsame Waffe.« 120
»Ich schlage dir vor, du gibst sie mir zurück, und wir stellen dann fest, wer wen amüsiert.« Der andere Kopf lachte. »Es ist ganz unwahrscheinlich, daß du gegen uns siegst. Unmöglich, könnte man sagen. Kein Mensch vermag es. Mit Ausnahme des einen, der dereinst für das Licht streiten wird. Aber das liegt noch weit in der Ferne.« »Vielleicht bin ich der eine«, unterbrach Mythor. »Genug des albernen Geschwätzes, Bürschchen. Wir sind die Helmwächter. Wenn es dir bestimmt ist, den Helm der Gerechten zu erlangen, wirst du uns auch ohne Schwert besiegen.« »Helmwächter seid ihr? Wem dient ihr? Wer hat euch dafür eingesetzt?« »Das ist für dich wohl kaum mehr von Bedeutung, da du bald tot sein wirst.« »Abwarten«, knirschte Mythor. Scheinbar ohne ihn weiter zu beachten, wandten die beiden Köpfe ihre Aufmerksamkeit dem Gläsernen Schwert zu. Sie studierten die eingearbeiteten Runen und Zeichen. Doch als Mythor handelte, mußte er erkennen, daß sie wohl auf der Hut waren. Er hatte kaum fünf Schritte auf die Öffnung nach unten zu gemacht, als die beiden Oberkörper herumschwangen und Alton mit einem schwirrenden Laut herabkam und klirrend aufschlug. Mythor hatte damit gerechnet, doch die Geschwindigkeit, mit der sein Gegner reagierte, verblüffte ihn. Sein plötzlicher Durchbruchsversuch zur Abgangsöffnung war als Finte gedacht gewesen. Er wollte den Gegner ein paar Schritte zur Seite locken, um dann unvermutet durchzubrechen und die Stiege im Hintergrund des Raumes zu erreichen, die nach oben führte. Er machte sich nichts vor darüber, wie ein Kampf mit diesem Wächter ausgehen mochte. Es blieb immer noch der Weg, das Hindernis zu umgehen – mit einigem Glück und Ge121
schick. Es fiel ihm schwer, von diesem Geschöpf als zwei Wesen zu denken, denn es stand auf zwei Beinen und bewegte sich wie ein einziges. Daran änderten auch die beiden Oberkörper und Köpfe nichts. Sein unvermuteter Versuch endete, bevor er begann. Das gewaltige Gewicht der Rüstung schien den Xandor überhaupt nicht zu behindern. Klirrend schob sich der Koloß in Mythors Weg, als hätte er den Plan vorausgeahnt. Vier Arme brachten das Gläserne Schwert in einem alles zerschmetternden Hieb herab. Mythor rollte über den Boden. Er spürte den Wind des Hiebes wie eine kalte Hand auf seinem Nacken. Dann erbebte der Boden unter dem Aufprall. Klirrend entglitt die Klinge dem vierfachen Griff unter dem heftigen Schlag und schlitterte über den Boden. Mythor kam auf die Beine und hechtete danach, ohne zu überlegen oder die Chancen abzuwägen. Diesmal mußte seine Flinkheit den Xandor überrascht haben, denn er bekam die Klinge in die Finger und war auf den Beinen, bevor der Xandor eine Bewegung machte. Er nutzte den Augenblick. Alton erwachte in seinen Fäusten zu altvertrautem Leben. Die Klinge leuchtete wieder, und sie biß mit einem klagenden Laut tief in das Eisen des Panzers am rechten Bein des Geschöpfes. Als Mythor sie zurückriß, war sie voll Blut. Der Koloß knickte aufheulend ein und taumelte. Mythor riskierte einen zweiten Hieb gegen die Knie und bezahlte ihn fast mit dem Leben, denn der Xandor setzte mit ohrenbetäubendem Getöse nach vorn, und Mythor konnte nur mit Mühe aus dem Weg gelangen. Eine der eisernen Hände faßte ihn am Bein und hielt ihn mit schmerzvollem Griff. Er wand sich und trat nach dem Kopf und Arm, doch er vermochte den Griff nicht zu brechen. Er hieb mit dem Schwert danach, und Alton grub sich tief in den Helm, begleitet von einem kreischenden Aufschrei. Die Hand an seinem 122
Knöchel zuckte und riß ihn wild herum, daß Mythor glaubte, sein Bein würde aus dem Leib gerissen. Eine zweite Hand faßte ihn am Knie. Bevor Mythor einen zweiten Hieb anbringen konnte, um sich zu befreien, hatte der andere Teil des Xandors die eiserne Klinge ergriffen und schwang sie auf Mythor herab. Mythor konnte nicht ausweichen. Er hob Alton, um den Hieb zu parieren. Die Schwerter trafen klirrend aufeinander. Halb betäubt von der Wucht des Hiebes, sah Mythor, daß die Klinge des Xandors entzweigebrochen war unter Altons unglaublicher Härte und Schärfe. Er schüttelte den Kopf, um der Benommenheit Herr zu werden. Das peinvolle Kreischen des einen Kopfes hatte nicht aufgehört. Blut rann aus dem zerschlagenen Helm. Doch der Griff der Hände löste sich nicht. Mythor schlug mit dem Gläsernen Schwert danach, durchhieb Eisen und Arme und kam frei, in dem Augenblick, als der Schwertstumpf des anderen Teils des Xandors nach ihm stieß. Keuchend rutschte er aus der Reichweite der noch unverletzten beiden Arme und kam auf die Beine. Nach Luft ringend, lehnte er sich an die kalte metallene Wand des Turmes. Wenn ihm nur ein Augenblick gegönnt war, neue Kraft zu schöpfen! Auch der Xandor versuchte auf die Beine zu kommen. Doch die Wunden, die Alton ihm trotz des Panzers geschlagen hatte, ließen ihn taumeln und mit einem grollenden Laut von Wut und Schmerz erneut in die Knie brechen. Langsam färbte sich die Rüstung des rechten Oberkörpers mit nasser Röte. Der rechte Kopf war nach hinten gefallen und hing leblos, die beiden verwundeten Arme hingen kraftlos an der Seite herab. Rot strömte es zwischen den eisernen Fingern hervor. Das Schreien hatte aufgehört. Der linke Körper vermochte sich mühsam aufrecht zu halten. »Lurdur!« rief er und wiederholte es beschwörend: »Lurdur!« 123
Doch Lurdur antwortete nicht. Die Sinne hatten ihn verlassen, und das Leben floß in stetem Strom aus seinen Wunden. Der andere Teil, Fardus, hatte den Kampf vergessen. Er riß sich den Helm vom Kopf und enthüllte ein pelziges Gesicht mit gelocktem grauem Haar und Augen, aus denen jeder Grimm verschwunden war. Furcht lag in ihnen und Qual. Und wenn es wahr war, daß Xandoren Geschöpfe waren, in deren Körper Dämonen und menschliche Seelen vereint wohnten, dann litten sie im Augenblick dieselbe Qual des Verlusts, dieselbe Furcht vor dem Ende, das eine Ewigkeit lang nur eine vage Vorstellung gewesen war. Mythor hätte das Geschöpf nun leicht töten können, aber er beobachtete es nur. Er sah, daß er bereits zu gute Arbeit geleistet hatte. Lurdurs Tod war unaufhaltsam, wenn nicht irgendein Zauber Halt gebot. Aber Fardus schien keines Zaubers fähig. Er konnte nur zusehen, wie das Zwillingsgeschöpf starb. Mythor empfand Mitleid und Bedauern, und sein Ziel, den Helm der Gerechten zu erringen, erschien ihm gar nicht mehr so erstrebenswert, jedenfalls dann nicht, wenn er solch eine blutige Spur mit seinem Schwert schlagen mußte. Fardus rief immer wieder den Namen Lurdurs. Nach einer Weile glättete sich sein halbmenschliches Gesicht merklich. Es verlor den gequälten Ausdruck und nahm einen anderen an – den des Triumphs! Er wandte sich an Mythor mit einer Bewegung, als habe er schwere Ketten abgeworfen. Er warf den Schwertstumpf beiseite. »Hör mich an, der du wohl vom Lichtboten selbst auserwählt sein magst. Dein gutes Schwert hat den alten Fluch gebrochen. Mit der Götter Hilfe werde ich frei sein. Frei…« Er schüttelte ungläubig den pelzigen Kopf. »Wer nie in der Macht der Schatten gefangen war, weiß nicht, was Freiheit wirklich bedeutet. Da ist nur noch ein Gefängnis, das ich hinter mir lassen muß.« Er sah Mythor bittend an und fügte hinzu: »Diesen 124
Körper. Willst du mir helfen, daß ich nicht selbst Hand an mich legen muß?« »Ich soll dich töten?« Fardus nickte. Mythor schüttelte zögernd den Kopf. »Ich bin nicht einer, der leicht tötet.« »Sieh mich an«, sagte Fardus. »Deine seltsame Klinge ist tief gedrungen. Diese Beine werden nie wieder gehen. Und dieses Geschwür…« Er deutete auf den leblosen Zwillingskörper an seiner Seite. »Dieser Auswuchs wird faulen und verwesen, und ich würde es bei lebendigem Leib ertragen müssen.« Diese Vorstellung ließ Mythor schaudern. »Es gab eine Zeit, da fürchtete ich den Tod so sehr, daß ich mich mit ihm einließ«, fuhr der Xandor fort. »Mit Lurdur. Ich besaß alte Schriften, um seinesgleichen zu beschwören und zu befehlen. Aber ich war nicht stark genug, es zu ertragen, so ergriff er Besitz von mir. Manche Wagemutige, so wußte ich aus Berichten, büßten ihren Frevel mit Besessenheit im Geist. Andere hatten den Dämon im Herzen. Mir wuchs er im Fleisch… und ich spüre… daß nicht alles erloschen ist. Dein Schwert hat Lurdur erschlagen. Aber das Gift… die Saat… ist in mir. Und Böses mag wieder Böses hervorbringen.« Er brach ab, und seine Augen weiteten sich. »Lurdur!« entfuhr es ihm. »Quae vorch’ll!« Es klang wie eine Beschwörung, aber Fardus kam über den Beginn nicht hinaus. Seine Züge veränderten sich rasch. Die Furcht schwand. Alles, was menschlich war in diesem pelzigen Gesicht, löste sich auf in Grimm und Haß. Die Augen loderten in einem mörderischen Feuer. Fardus war verschwunden. Etwas anderes hatte seine Stelle eingenommen, etwas aus den Abgründen der Schattenwelt. Lurdur? Mythor wartete nicht, bis die Verwandlung fertig war und 125
das Grauen nach ihm greifen konnte. Er sprang und Alton fuhr mit klagenden Tönen in den Körper vor ihm, schlug durch Eisen und Fleisch. Das Heulen des Dämons erfüllte den Raum einen endlosen Augenblick lang, bis Mythors Schwerthiebe das Geschöpf für immer verstummen ließen. Erschöpft, aber mit einem wachsamen Blick auf den toten Xandor schritt Mythor um ihn herum in den Hintergrund des Raumes, wo die Treppe nach oben führte. Er würde sich eine Weile Rast gönnen. Der Kampf hatte ihm nicht nur körperlich zugesetzt. Er versuchte sich vorzustellen, wie Fardus’ Leben gewesen sein mußte, untrennbar verbunden mit einem Dämon. Aber es war zu ungeheuerlich für seine Vorstellung. Er schauderte bei diesen Gedanken. Was trieb Menschen wie Fardus dazu, sich mit Dämonen einzulassen? Machtgier? Reichtum? Wissen? Neugier? Furcht vor dem Tod, wie Fardus selbst sagte? Wenn ihm plötzlich die Möglichkeit gegeben wäre, wenn er das Wissen besäße, wenn… Würde er die Gelegenheit ergreifen, die Kräfte der Dunkelwelt zu seiner Hilfe zu beschwören? Könnten seine Neugier, seine Not, seine Gier so groß sein? Aber wie konnte er über Fardus ein Urteil fällen? Viele Menschen waren zu schwach oder zu unwissend, um den dunklen Kräften erfolgreich zu widerstehen. Vielleicht wäre er ebenso hilflos ohne Alton, ohne die Legende, an die er sich klammerte, daß es ihm bestimmt war, für das Leben gegen die Dunkelheit zu kämpfen. Sein Grübeln wurde durch die Stimmen unterbrochen, die plötzlich wieder um ihn waren. »Gut, gut, Weltretter«, sagte Merwallons Stimme mit einer Spur von Begeisterung. »Das hätte keiner von uns gedacht, daß du mit ihm fertig wirst. Oder hätte das einer gedacht?« »Nein.« 126
»Nein.« »Aber mit dem Schwert, das du da hast, hätte es wohl jeder von uns geschafft.« »Ja.« »Jeder von uns. Außer Cheek vielleicht, der hätte sich wohl verkrochen. Wie jetzt.« »Ich bin hier«, kam Cheeks Stimme aus einiger Entfernung. Von allen klang sie am menschlichsten, vielleicht weil sie haßerfüllt und wütend war. »Ihr werdet keinen Augenblick allein sein.« »Ist er nicht fast so amüsant wie unser Weltretter?« fragte Merwallon. »Man könnte denken, er weile noch unter den Lebenden, so unfrei ist er von Gefühlen.« »Und ihr seid frei?« rief Mythor in die Leere des Raumes. »Frei vielleicht nicht«, erwiderte Merwallon. »Aber frei von allen lästigen Begleiterscheinungen des menschlichen Daseins.« »Welche sind das?« »Müdigkeit, Krankheit, Schlaf, Tod…« »Tod? Ihr denkt, daß ihr ewig in diesem Turm existiert?« »Wenn er aufhört zu bestehen, werden wir ihn sicher verlassen. Auch einer der Gründe, warum du deine Chance erhalten hast, Weltretter. Aber laß mich weiter aufzählen: Schmerz, Gefühle aller Art…« »Gefühle nennt ihr lästige Begleiterscheinungen des Lebens?« entfuhr es Mythor. »Gefühle sind, was das Leben erst…« »… erträglich macht?« unterbrach ihn die Stimme. »Laß dir sagen, was wir schon seit undenklich langer Zeit wissen: Erinnerungen genügen. Sie sind gut zu betrachten. Ihnen fehlen die Unmittelbarkeit und die Unreinheit der Wirklichkeit.« Mythor schüttelte den Kopf. »Ihr dauert mich. Ihr seid tot, und es gibt nichts, was für euch noch…« 127
»Was meinst du mit tot, Weltretter?« »Kein Lebender würde so über das Leben reden.« »Ein Toter könnte erst recht nicht reden.« Mythor gab keine Antwort. Aber auch Merwallon und die anderen Stimmen schwiegen. Nur ein flüsterndes Lachen war im Raum. Es mochte Cheeks Stimme sein. Mythor schüttelte sich. Sein Blick fiel auf den Xandor. Er beugte sich überrascht über den Toten, der sich verändert hatte. Das Haar war aus dem Gesicht verschwunden. Es war das Gesicht eines verhältnismäßig jungen Mannes, umrahmt von braunem, schulterlangem Haar. Es war entspannt und friedlich, ohne den geringsten Schatten des Bösen, als habe der Tod ihn von allen Schrecknissen seines Lebens befreit. Es machte ihm bewußt, daß es Bedingungen gab, unter denen der Tod dem Leben vorzuziehen war. Sein Blick wanderte zu Fardus’ Zwillingskörper. Er hielt den Atem an. Die Rüstung war leer. Lurdur war verschwunden. Der Gedanke, daß Fardus und Lurdur nun wie Merwallon und die anderen unsichtbar durch den Turm geistern mochten, ließ ihn hochfahren. Mit Toten zusammenzusein war beunruhigend genug. Einen Dämon um sich zu wissen trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Alles war trügerisch und unwirklich in diesem Turm. Es mochte ebensogut ein Alptraum gewesen sein. Wie die unsichtbaren Stimmen, wenn sie auf sein Rufen nicht mehr antworteten. Hatte es sie wirklich gegeben? War es schon soweit, daß er etwas fürchtete, was es vielleicht gar nicht gab? Quyl mochte wissen, was er in dem dämmrigen Licht wirklich gesehen hatte! Die Rüstung veränderte sich vor seinen Augen. Der Teil, in dem sich Lurdur befunden hatte, löste sich auf in schimmernden Staub, der seinen Glanz rasch verlor und nicht mehr vom 128
übrigen Staub des Raumes zu unterscheiden war. Vor ihm lag Fardus’ Leiche in einer tainnianischen Rüstung, die ihren Glanz verlor. Rost fraß sich mit der Geschwindigkeit emsiger Ameisen über das Eisen. Innerhalb weniger Augenblicke sah sie aus, als liege sie ein Jahrtausend hier. Und Fardus’ Gesicht war ein verfallener Totenschädel, dessen grinsende Kiefer Mythors Grauen zu verspotten schienen. Selbst die Luft war mit einemmal stickig wie in einer Gruft. Etwas, ein Zauber in diesem Turm, löschte die Wirklichkeit aus, die er eben erlebt hatte. Und seine Erinnerungen? Waren sie wirklich oder nur Einbildung? Verzweiflung griff nach ihm. Es wurde ihm plötzlich bewußt, daß er so viele Dinge nicht wußte, die er wissen sollte. Seine Herkunft zum Beispiel. Er wich langsam zurück zur Treppe. Dann war es kein phantastischer Alptraum, daß Cheek, ein Dieb und Mörder, ein Geist ohne Körper, eine unsichtbare Stimme, einen Teil seiner Erinnerungen besaß? Er war schon manchem Zauber begegnet. Aber nun, hier in diesem magischen Turm, der erfüllt war von den Zauberkräften des Lichtboten, wurde ihm immer erschreckender bewußt, welch verheerende Kraft die Magie war. Wie sehr sie dem Verstand allen Halt raubte, bis er sich so ohne Boden und verloren fühlte wie Mythor in diesem Augenblick. Aber gleich, ob es ein Fiebertraum war oder Wirklichkeit, es gab ein Ziel, an das er sich klammerte, oben in der Spitze des verfluchten Turmes: den Helm der Gerechten. * Drundyr, der Caer-Priester, beobachtete den Turm mit glühendem Blick. Er hätte viel darum gegeben, hätte er ihn betre129
ten können, um mit eigenen Augen zu sehen, was drinnen vorging. Doch näher als auf Rufweite ließ ihn sein Dämon nicht heran, weil er die Magie des Lichtboten nicht ertrug. Daß sie nur drei Gefangene gemacht hatten, beunruhigte Drundyr zutiefst, wenn auch seinem bleichen Gesicht nichts anzumerken war. Viel hing für ihn davon ab, daß dieses Unternehmen erfolgreich war. Er hatte die Fäuste in den schwarzen, weiten Priestermantel vergraben. Der spitze Knochenhelm ließ ihn selbst wie einen Dämon erscheinen. Seine Begleiterin, Nyala, die Herzogstochter von Elvinon, saß müde und ergeben auf den Felsen hinter ihm. Ihre Gedanken spielten mit dem gleichen Objekt wie die Drundyrs: Mythor. Er war nicht unter den Gefangenen. Nur der Messerwerfer, der pelzige Barbar und die Frau. Aber sie waren unwichtig. Auch Coerl O’Marn wußte es. Sicher waren O’Marn und die Caer dabei, den Turm nach ihm zu durchsuchen. Sein Blick glitt an der glatten Wand hoch, die nur von winzigen Öffnungen unterbrochen war und in der Wolke verschwand, die dem Bauwerk ihren Namen gab: Wolkenhort. Er war gewaltig, und es würde eine Weile dauern, bis O’Marn mit seinen Männern Erfolg hatte. Drundyr zwang sich zur Geduld. Sie hatten wohl keine Eile, nun da Mythor in der Falle saß, aber das Warten zerrte an den Nerven. Wenig später brachte einer der Caer die Nachricht, daß O’Marn beschlossen hatte, nichts zu unternehmen, sondern darauf zu warten, daß Mythor aus den oberen Stockwerken zurückkehrte, was früher oder später geschehen mußte. Drundyr schäumte vor Grimm, obwohl er wußte, daß der Ritter überlegt handelte, denn Mythor war hierhergekommen, um sich etwas aus dem Turm zu holen. Er würde die Beute mitbringen, wenn er zurückkehrte. Aber seine Ungeduld und die Impertinenz O’Marns, der sei130
ne Entscheidungen so selbstherrlich traf, setzten ihm zu. Dazu die Erregung, in der sich sein Dämon befand, selbst in dieser Entfernung vom Turm. Der Bote machte, daß er wegkam. »Du bist mit diesem Mythor lange genug zusammengewesen«, sagte der Caer-Priester zu Nyala. »Von welchen Kräften ist er besessen, daß er uns Widerstand zu leisten wagt?« »Das kann ich dir sagen, Drundyr, mein Herr. Er hat an sich zu glauben begonnen.« »Was meinst du damit?« »Nur, daß er einen Traum hat und alles daransetzt, um ihn zu verwirklichen«, erklärte sie müde. »Einen Traum? Welchen Traum? Jagt er nur Träumen nach? Ist das alles?« Ein Heulen klang vom Turm her, und Drundyrs Züge verzerrten sich. Er setzte alle Kraft daran, den Dämon zu beschwichtigen, der sich benahm, als habe er selbst den Turm betreten. »Nyala«, keuchte Drundyr. Er stieß einen Schrei aus und krümmte sich. »Der Turm«, würgte er kaum verständlich hervor. »Etwas geschieht, was…« Der Rest verlor sich in Stöhnen und Keuchen. Das Heulen hörte nach einer Weile auf, aber Drundyrs Qualen dauerten an. Er taumelte, fiel, kroch aus der Nähe des Turmes. Nyala folgte ihm, die kleinen Fäuste an den Mund gepreßt vor Furcht und einem anderen Gefühl, das Abscheu sein mochte und das sie rasch niederrang. Ihre Zähne gruben sich in ihre Knöchel, bis sie bluteten. Nach einer Weile, als Drundyr die Kräfte verließen, half sie ihm auf die Beine, schlang seinen Arm um ihre Mitte und zerrte den Wimmernden mit sich, bis der Turm hinter einem Hügel verschwunden war. Langsam kam Drundyr zu Kräften. Mit jedem Schritt wurde 131
er freier, und nach einer Weile waren der alte Grimm und das alte Feuer wieder in seinen Augen. Er schüttelte Nyalas Hände wütend ab. Sie sank erschöpft ins Gras. »Was ist geschehen, Drundyr?« »Ich will im Schatten frieren, wenn ich es weiß«, antwortete der Priester heftig. »Irgend etwas geht in diesem Turm vor. Ein Lichtzauber, der meinem dunklen Herrn gar nicht angenehm ist. Aber Macht hat ihren Preis. Hier scheint es vorerst gefahrlos zu sein. Wir wollen abwarten und sehen, ob unser Haudegen O’Marn damit fertig wird. Bangst du nicht um ihn, Nyala?« »Warum?« »Eines Tages wird ihn seine Respektlosigkeit den Kopf kosten. Berührt dich der Gedanke?« Nyala von Elvinon gab keine Antwort. Aber ihre Gedanken beschäftigten sich mit Ritter Coerl O’Marn. * Als Mythor die metallenen Treppen hinaufstieg in das dritte Stockwerk, glaubte er, durch einen Dschungel zu schreiten, einen Dschungel, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Er wußte jedoch, daß es solche Dschungel weit im Süden gab und daß sie nichts gemeinsam hatten mit diesen nördlichen Wäldern. Dschungel, das waren Wälder, in denen alles wucherte, Wälder von unglaublicher Dichte und angefüllt mit einer ungeheuren Vielfalt an Leben und Tod. Althars Turm erschien ihm nun wie solch ein südlicher Urwald, voller lauernder Gefahren und trügerischer Unwirklichkeiten, aus denen nie ein Weg nach draußen führen mochte. Er tat jeden Schritt mit Bedacht. Er hielt das Schwert in beiden Fäusten, halb erhoben, aber mehr wie ein Sinnesorgan denn eine Waffe. Alton hatte ihm schon einmal den Weg ge132
wiesen. Er stieg durch die Öffnung, und einen Atemzug lang sah er den Tod in Gestalt eines alten Weibes. Es waren ihre Augen, erfüllt von einem unirdischen Hunger, die ihn an den Tod denken ließen. Aber es war nur ein Traumbild, das mit einem Schlag der Lider verschwand; unwirklich wie fast alles, was ihm bisher in diesem Turm begegnet war. Was er sah, als er den Raum betrat, ließ ihn innehalten. Er blickte staunend um sich. Er befand sich in einem Frauengemach. Von den metallenen Wänden war nichts zu sehen. Alles war verhängt mit Teppichen und kostbaren Stoffen. Dicke Teppiche lagen auf dem Boden. In der Mitte des Raumes befand sich ein großes Lager aus Fellen und seidenen Kissen. Schleier, die bis zur Decke reichten und durchsichtig wie Glas waren, umschlossen das Lager und bewegten sich lautlos in einem Luftzug, den er in diesen Raum getragen hatte. Eine weibliche Gestalt räkelte sich auf den Fellen und sah ihm entgegen. Er dachte: Quyl, und ich komme hier herein wie ein Schlächter, mit dem Schwert in der Hand! Er ließ es sinken. Ein halbes Dutzend Kerzen brannten und gaben dem Raum allein mit ihrem Licht eine wohlige Wärme. Die Frau sah ihm stumm entgegen, als er zögernd auf das Lager zuschritt. Er teilte die durchsichtigen Vorhänge, und seine Überraschung hätte nicht größer sein können. »Nyala von Elvinon!« entfuhr es ihm. Sie lächelte einladend. »Laß dich nieder, Mythor, Held der Helden. Ist es nicht üblich, eine Bastion wie diese mit anderen Waffen zu erstürmen?« Ihr aufforderndes Nicken galt Alton, dem Gläsernen Schwert in seiner Hand. Er gürtete es, doch sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Leg es ab, mein Held. Kaltes Eisen schadet meiner Haut. Und mein 133
Kleid könnte zerreißen. Es ist nicht für einen Kampf gemacht.« Das waren in der Tat gewichtige Argumente. Sie trug ein durchscheinendes rotes Kleid, wie Mythor es aus jener Nacht mit Nyala in Erinnerung hatte, die durch den Angriff der Caer solch ein ernüchterndes Ende fand. Doch trotz all dieser Versprechungen für seine Sinne zögerte Mythor, das Schwert abzulegen. Sie mochte nur ein neuer Traum sein. Das Schwert in seiner Hand aber war Wirklichkeit. Nyalas Lächeln vertiefte sich. »Du denkst, daß ich nur ein Traumbild sei wie Fardus, den du gerade besiegt hast?« Er gab keine Antwort. Er stand nur stumm vor ihr, voll von Erinnerungen an Nyala. »Ich bin kein Traumbild. Ich bin wirklich. Faß mich an, Mythor! Nur keine Scheu.« Sie berührte ihn an der Hand, die das Schwert hielt. Die Berührung war so erregend wie ihr Anblick und ihre Stimme. »Ich könnte dir eine ebenso gute Beute sein, wie es dein Schwert Alton war oder wie es der Helm ist, den du zu erringen hoffst. Ich wäre eine ebenso gute Waffe, mein Held, ich könnte dort kämpfen, wo Eisen und Stärke nutzlos sind. Sicher wirst du in deinem Kampf für das Licht auch auf solche Hindernisse stoßen. Nimm mich mit dir! Bring mich fort von hier!« Es lag nicht an dem, was sie sagte, daß er zögerte. Es kam ihm unvermittelt in den Sinn, daß sie Alton aus seinen Händen zu nehmen versuchte. Sie hatte es schon fast geschafft, doch nun klammerte er sich daran wie ein Ertrinkender. Die Waffe war die einzige Wirklichkeit, deren er sicher war. Der Gedanke, sie zu verlieren, erfüllte ihn mit Grauen. »Verzeih… Nyala«, murmelte er verbissen und entwand die Klinge hastig ihren Fingern. Sie legte sich lachend auf die Kissen zurück und streckte räkelnd die Arme über den Kopf. »Ich weiß es besser, als Män134
nern ihr Spielzeug zu nehmen«, sagte sie mit einem Unterton von Spott, der ihn erröten ließ. Er suchte verzweifelt nach Worten, aber seine Zunge war wie gelähmt. »Bin ich nicht begehrenswert genug, daß du unentschlossen stehenbleibst, mein Held des Lichtes?« Noch immer lag der Spott in ihrer Stimme. »Ich könnte dich diesen Turm und alle deine Pläne vergessen lassen, denkst du nicht auch? Soll ich es tun?« Er schüttelte wild den Kopf. »Nein? Schade. Für dich hätte ich mich angestrengt, mein Lieber. Aber Nyala, die Herzogstochter, hat wohl keinen bleibenden Eindruck in deinem Herzen hinterlassen.« Er riß seine Augen los von ihrem Körper, den das rote Gewand in so verführerischer Weise verbarg und zugleich enthüllte, von der weißen Haut ihrer Schenkel und ihrer Schultern, von der Bewegung ihrer Brüste unter dem roten Gespinst. »Du bist nicht Nyala«, stellte er nach einem Augenblick fest. Er atmete auf, weil er seine Besinnung wiedergefunden hatte. »Nein«, bestätigte sie. »Aber ich kann sie sein, wenn ich will. Besser als sie selbst.« »Wer bist du?« »Jede Frau, die du dir wünschst, Mythor.« »Eine Hexe.« »Wenn du es galanter meinst, als du es sagst?« »Ich komme in Versuchung«, stellte er fest und entspannte sich ein wenig. »Gut.« Sie deutete erneut auf ihr Lager. Mythor zögerte, sich zu setzen. Er war sich noch immer nicht im klaren darüber, wo die Gefahr lag. Im dunklen Hintergrund des Raumes sah er von schweren Vorhängen verhängt den Treppenaufgang in das nächste Stockwerk. Es sah so einfach aus. Aber daß er sich nicht vorzustellen vermochte, was 135
geschehen würde, wenn er einfach an dem Lager der Hexe vorbeiging und die Treppe hochstieg, beunruhigte ihn. Sie trug nur eine Maske, und sie beherrschte die Kunst des Maskierens vollkommen. Was lag darunter? Die Frau hatte seinen Blick zur Treppe bemerkt. »Ohne meine Hilfe würdest du sie niemals erreichen. Willst du sehen, weshalb?« Er nickte. Sie hob die Hand und bewegte ihre Finger in seltsamem Rhythmus, wobei sie den Schleiervorhang des Bettes zur Seite schob. Der Boden tat sich auf. Ein tiefes Loch entstand, das von Wand zu Wand reichte, zu weit, um es mit einem Sprung zu überbrücken. »Sieh es dir gut an«, hörte er ihre Stimme und fühlte ihre Hand, als sie ihn näher schob. Dann stand er am Rand und starrte in die Tiefe. Wenn es einen Grund dieses Schlundes gab, dann mußte er tief im Inneren der Erde liegen, im feurigen Mittelpunkt selbst, denn ein Flackern von einem gewaltigen Feuer gab den schwarzen Wänden ein unruhiges Schimmern. Dunkle Rauchschwaden wogten hoch, wurden zu verzerrten Fratzen mit hungrigen Mündern, zu Armen mit Klauen, die nach ihm griffen. Mythor sprang zurück, doch nicht schnell genug. Eine der rauchigen Klauen schlug in seinen Stiefel und riß ihn fast von den Beinen. Er schrie unwillkürlich auf und stolperte. Die zweite der Schwaden schlang sich um seine Füße. Ein Schädel wogte über den Rand, öffnete einen Rachen und schlug mit den rauchigen Zähnen nach ihm. Es sah so unwirklich aus, daß Mythor fast zu spät reagierte. Die Kiefer schnappten mit einem hörbaren Klicken aufeinander, als sie Mythors Bein verfehlten. Mythor fiel mit einem erneuten Aufschrei, als er seine Füße nicht aus dem Griff der schwadigen 136
Arme reißen konnte. Er wand sich herum, um Alton freizubekommen, und hackte durch die nebelhafte Gestalt, die sich stumm auflöste. Hastig rollte er zurück und sprang auf die Beine. Es währte einen Augenblick, bis seine aufgewühlten Nerven zur Ruhe kamen. In sicherer Entfernung beobachtete er schaudernd, wie sich die ganze Öffnung mit schattenhaften Schwadengestalten füllte, die wogten und verschwammen und neu entstanden, vage menschlich, entfernt tierisch und von xandorischer Häßlichkeit. Sein Blick fiel auf die Frau, die mit einem spöttischen Lächeln sein Schaudern beobachtete. »Was sind sie?« fragte er heftig atmend. Sie hob die Schultern. »Ist es wichtig, von allen Dingen immer zu wissen, was sie sind? Wieviel Zeit wird damit vergeudet, den Dingen auf den Grund zu gehen, statt sich ihrer zu erfreuen!« »Erfreuen?« entfuhr es ihm. »Sind sie nicht ein faszinierender Anblick?« »Aus sicherer Entfernung vielleicht«, stimmte Mythor zögernd zu. »Ich denke, daß sie aus einem Traum stammen«, erklärte sie und fügte entschuldigend hinzu: »Ich hatte Zeit genug zu vergeuden. So viele Jahre. Es gab nicht viel mehr, was ich tun konnte, als zu denken und zu grübeln.« »Aus einem Traum?« unterbrach er sie. »Wessen Traum? Deiner?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, solche Träume habe ich nicht. Meine waren…« Sie brach mit einem Blick ab, der ihm das Blut ins Gesicht trieb. Langsam fuhr sie fort: »Ich glaube, daß sie aus dem Traum des Herrn dieses Turmes stammen.« »Althar?« »Ja, Althar…« 137
»Dann muß es sein Alptraum sein.« Mythor schüttelte sich. »Du hast von Hilfe gesprochen. Kannst du mir helfen, diesen Schlund zu überqueren?« Sie schritt auf die Öffnung zu und hinein. Mit drei kurzen Schritten stand sie mitten in der flackernden Schwärze, umwogt von nebligen Gliedern und Schädeln. Mythor, der ihr mit Alton in der Faust an den Rand gefolgt war, sah erstaunt, daß für sie die Kreaturen offenbar nur Rauch blieben. Lächelnd kehrte sie nach einem Augenblick zurück. »An meiner Seite könntest du ihn überqueren. Ohne mich…« Sie überließ es seinen Gedanken, es sich auszumalen. »Was verlangst du?« fragte er. Ihr Blick wanderte zurück zu ihrem Lager. »Dich«, sagte sie. Sie lächelte über seine verblüffte Miene. »Wußtest du nicht, daß es alle deine Kräfte fordern würde, diesen Turm zu bezwingen?« »In der Tat!« entfuhr es ihm. »Auf solche Abenteuer war ich nicht vorbereitet.« »Ich bin ein Teil dieses Turmes.« Ihr Lächeln vertiefte sich. Ihre pure Sinnlichkeit verwirrte ihn. Er wehrte sie nicht ab, als sie mit einer raschen Bewegung in seine Arme glitt und sich mit der Geschmeidigkeit einer Schlange an ihn schmiegte. Ihre Arme glitten um seinen Nacken. Das rote Gewand öffnete sich wie ein Kelch einer Blume, in den er tief hinabblicken konnte und gefangen war von ihrer erregenden Schönheit. »Nun?« flüsterte sie. »Hast du ein Keuschheitsgelübde abgelegt? Wie die Helden, die zu meinen Tagen durch die Lande zogen, um Abenteuer zu bestehen, die sie nur reinen Herzens bestehen konnten?« Er preßte den Mund auf ihren. Alton entglitt seiner Hand, als er über das seidene Gewand strich. Die Frau erstarrte einen Augenblick lang in seinen Armen, als sie spürte, wie er das Gläserne Schwert fallen ließ. Einen 138
Atemzug lang war sie ein Reptil. Selbst ihr Mund wurde hart unter seinem. Ihre Nägel gruben sich wie Klauen in seinen Nacken. Aber als er sich erschrocken aus ihrer Umklammerung freimachen wollte, entspannte sie sich wieder zu leidenschaftlicher, betörender Sanftheit, die seine Sinne viel zu sehr entflammte, um ihm Zeit zum Denken zu geben. Sie löste sich aus seinen Armen und zog ihn zwischen die durchsichtigen Vorhänge hindurch auf das Lager aus kostbaren Fellen. »Vergiß eine Weile, was da draußen ist«, murmelte sie. »Hier ist eine Festung, die eine Ewigkeit auf einen Eroberer gewartet hat.« Mythor betrachtete forschend ihr so eigenartig vertrautes Gesicht und versuchte in ihren Augen die Wirklichkeit hinter der Maske zu ergründen. Er war dabei, die Umwelt zu vergessen. Da sie unwirklich genug war, fiel es ihm nicht schwer. Aber eine andere Unwirklichkeit ließ sich nicht so leicht beiseite schieben: daß diese Frau Nyala von Elvinon war – und doch nicht war! Auch die Frau spürte, daß Mythor mit sich rang und was der Grund dafür war. »Du möchtest nicht mit Nyala von Elvinon das Lager teilen?« »Nein… das heißt, wenn du wirklich Nyala wärst, hätte ich nicht dieses fürchterliche Gefühl der Unwirklichkeit.« Sie nickte. »Gut. Wer also soll ich sein?« »Weshalb kann ich dich nicht um deiner selbst willen lieben?« »Nein«, erwiderte sie hastig. »Das ist unmöglich!« »Wer bist du? Hast du keinen Namen?« »Laß diese menschlichen Nichtigkeiten!« sagte sie heftig. »Sie haben hier keine Bedeutung. Etwas ist oder es ist nicht. Namen schaffen nichts, was nicht schon da ist.« »Etwas?« wiederholte er. 139
»Dinge und Kreaturen gleichermaßen. Aber laß uns nicht davon reden. Ich sehe, daß da noch ein Mädchen ist, das dir etwas bedeutet hat.« Mythor sah sie fragend an. Das Gesicht der Frau verwandelte sich vor seinen Augen. Er beobachtete es atemlos. Dann waren ihre Züge erneut vertraut für ihn. »Taka!« rief er. Sie lächelte. Auch ihre Haut hatte sich verändert. Sie war nun dunkel, fast schwarz. Das Marn-Mädchen aus Elkrins Familie. So vollkommen saß sie vor ihm, daß er im ersten Augenblick vermeinte, ihr in Churkuuhl, der im Meer versunkenen Stadt der Marn, gegenüberzusitzen. So deutlich glich sie dem Bild in seiner Erinnerung, so wirklich war ihre Gegenwart, daß er fast den schwankenden Gang der Yarls und das Ächzen der hölzernen Bauten der Wanderstadt spürte und hörte. Taka hatte ihn geliebt – und er sie vielleicht auch. Es gab damals keine Zeit mehr, es herauszufinden, denn Churkuuhl wurde vernichtet, und die wenigen Marn, die überlebten, wurden von den Männern aus Elvinon niedergemacht. »Taka ist tot«, sagte Mythor. »Aber viele schmerzliche Erinnerungen sind lebendig. Ich könnte nicht…« Sie unterbrach ihn mit einem Seufzen. »Ist kein Mädchen in deinen Erinnerungen, nach dem du dich sehnst, mein Freund? Nach deren Zärtlichkeit dich verlangt, deren Körper dich in deine Träume verfolgt?« Mythor dachte nach. »Nein, ich glaube nicht«, antwortete er. »Ich erinnere mich an nichts dergleichen. Außer…« »Außer?« »Außer dir… aber… woran sollte ich mich erinnern, wenn ich an dich denke? An Nyala? Oder an Taka?« Sie zog ihn zu sich. »Sieh mich an und sage es mir, wann ich deinen Träumen von einer Geliebten entspreche.« 140
Fasziniert sah er, wie sich ihr Gesicht erneut zu verändern begann, wie Linien, Falten, die Formen von Nase und Lippen, von Augen und Wangen, selbst das Haar und die Farbe der Haut sich verwandelten, zu etwas Neuem wurden, einem dunkeläugigen Mädchenantlitz, umrahmt von dunklem Haar, mit vollen roten Lippen, die lockten, und Blicken, die sein Herz höher schlagen ließen. »Wenn ich nun sagen würde, dies bin ich, so sehe ich aus, würdest du es dann glauben, Mythor?« Er beugte sich hinab und küßte den lockenden Mund. »Würdest du die anderen Frauen, die ich dir sein könnte, alle vergessen, nur um dieser einen willen?« fragte sie atemlos und fügte hinzu: »Verlangst du, daß ich all meinen Künsten entsage? Willst du, daß diese wundervollen Kräfte brachliegen, um die mich jede Frau beneiden müßte?« Sie küßte ihn hungrig, bis sie beide nach Atem rangen, und sie sah triumphierend das Begehren in seinen Augen. Sie begann sein Wams zu öffnen. »Laß uns aufhören zu reden, mein kluger, vorsichtiger Held. Ich verspreche dir, die, die du jetzt liebst, wird nicht eifersüchtig sein, wenn du danach eine andere begehrst. Ich bin tausend Frauen, und sie alle haben Sehnsucht nach dir.« Während er ihre Küsse leidenschaftlich erwiderte, öffnete sie die Schnüre seines Wamses und zog es über seine Schultern. Dabei fiel ein Stück Pergament heraus und zwischen ihre Finger. Sie schob Mythor ein wenig von sich, um zu sehen, was sie in der Hand hielt. Ernüchtert starrte er auf das Pergament. Es war ihm vertraut, aber er erinnerte sich nicht daran, wie es in seine Hände kam oder was es bedeutete. »Ist es ein Bild?« fragte sie. »Ja… ich glaube…« 141
Sie öffnete es vorsichtig und sah im Kerzenlicht, daß es das Bildnis einer Frau war. »Wer ist sie?« Er schüttelte hilflos den Kopf. »Ich weiß es nicht.« »Sie ist schön… nicht von irdischer Schönheit… fast wie eine Göttin… Ich verstehe nun, daß du dich nur schwer von ihr freimachen kannst. Aber wie sollte ich es wissen? Ich fand nichts in deinen Gedanken… nichts.« »Ich finde selbst nichts«, sagte er mit rauher Stimme, die voller Zweifel war, denn die großen, strahlenden Augen, das lange, wallende Haar von der Farbe des reifen Weizens, das ebenmäßige Gesicht dieses Wesens, der Anblick des Pergaments selbst, all das weckte etwas Vertrautes in ihm, das sein Verstand doch nicht fassen konnte. »Es wird schwer sein, es zu erreichen«, murmelte sie. »Es ist eine Herausforderung an meine Talente. Du wirst sehen, mein Held…« Sie brach ab und begann sich erneut zu verwandeln. Ihr dunkles Haar wurde gelb, ihre Züge glichen nach einem Augenblick jenen des Bildnisses. Die Augen wurden groß und strahlend. Selbst ein wenig der überirdischen Aura, die das Bild ausstrahlte, gelang ihr, so daß Mythor sie bewundernd anblickte und seine Augen nicht mehr von ihr abwenden konnte. »Ich kann nicht erkennen, was in deinem Herzen ist für sie«, murmelte sie angespannt. Doch die Spannung schwand unter Mythors Bewunderung. »Aber sie ist auch nur eine Frau.« Sie glitten einander in die Arme, und es war Mythor, als hätte er bisher nur im Dunkeln geliebt. * Als er schließlich auf den Fellen lag, seltsam ausgebrannt, als habe er mehr als nur seine Leidenschaft gegeben, lag eine 142
lähmende Taubheit über seinen Sinnen und seinen Muskeln. Er drehte mühsam den Kopf und betrachtete das Gesicht der Zauberin. Sie schlief. Ihre Züge waren noch immer die des Mädchens auf dem Pergament, wenn auch nur noch entfernt. Es war, als wären sie dabei, zu zerfließen, sich erneut zu verändern. Sein Blick wanderte über ihren nackten Körper, schwelgte in der alabasternen Vollkommenheit und entdeckte das Pergament in ihrer halb geöffneten Hand. Er wollte sich vorbeugen, doch die Bewegung fiel ihm so schwer, daß ihn Panik erfaßte. Eine große Ernüchterung kam über ihn, gepaart mit Furcht. Sie war eine Hexe! Und er war ihrer Zauberei erlegen wie ein dummer Junge. Er hatte vergessen, in welcher Gefahr er sich befand. Sie hatte ihm den Verstand geraubt. Und nicht nur den Verstand. Auch die Kraft. Er durfte nicht warten, bis sie erwachte und erneut Macht über ihn gewinnen konnte. Die Anstrengung, sich aufzurichten, trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. In die Kleider zu schlüpfen war die Hölle. Danach lag er eine Weile keuchend da, bis ihm klar wurde, daß seine Kräfte schwanden, daß jedes Zögern ihm den Tod bringen mochte. So kämpfte er sich erneut hoch und kam schwankend auf die Beine. Wo war Alton, das Gläserne Schwert? Er versuchte sich zu erinnern. Es mußte irgendwo außerhalb des Lagers sein, wenn die Hexe nicht… Nein, sie hatte es nicht genommen. Er entdeckte es in Armlänge außerhalb des Lagers. Zitternd vor Anstrengung, beugte er sich über die Schlafende, um nach dem Pergament zu greifen. Etwas sagte ihm, daß es wertvoll für ihn sei. Er erschrak. Das Gesicht der Hexe war eingefallen. Es hatte jede Ähnlich143
keit mit dem Bildnis verloren. Tiefe Kerben schnitten den Verfall des Alters in das bleiche Fleisch und spannten eine Haut, die alles Leben verloren hatte und durchscheinend wie Pergament war, über das knöcherne Antlitz einer Greisin. Auch der Körper selbst verfiel zusehends. Das Fleisch wurde schlaff, faltig, die Muskeln kraftlos, die Haut alt und runzlig, die Brüste flach, die Rippen weiße, gekrümmte Stäbe unter der dünnen Haut. Mythor unterdrückte das Mitleid, das heiß in ihm hochwallte. Seine kraftlosen Finger griffen nach dem Pergament und zogen es mühsam aus ihrer Hand. Sie erwachte. Dunkle Augen, noch leer vom Schlaf, öffneten sich. Sie gewannen rasch Leben und blickten in seine. Sie waren erfüllt von einem Hunger, der ihn an etwas erinnerte: an den flüchtigen Eindruck vom Tod, den er gehabt hatte, als er das Stockwerk betrat. Ein altes Weib und der Tod!
Stöhnend, aber getrieben von einer eisigen Hand im Nacken, richtete er sich auf und taumelte an den Rand des Lagers. Er griff nach den Vorhängen, doch das Gespinst entglitt seinen halb gelähmten Fingern. Er stürzte. »Quyl!« entfuhr es ihm, halb in Panik und halb aus Grimm. Unter ihm war kein Boden, nur diese tiefe schwarze Kluft, in der in unendlicher Ferne Feuer flackerte. Er fiel nicht hinab. Er schwebte über der düsteren Leere. Weder das Lager noch Alton vermochte er zu erreichen, obwohl beides nicht viel mehr als einen Schritt entfernt war. Er drehte sich, und die Bewegung verursachte ihm Schwindel und Übelkeit. Jede Bewegung seiner Arme oder Beine ließ ihn nur heftiger kreisen. Tief unten begann sich etwas zu regen. »Sie kommen wieder«, sagte eine scharrende Stimme. »Und diesmal gibt es kein Entfliehen.« Da war eine Spur von Bedau144
ern in der Stimme. Er sah, daß sich die Hexe erhoben hatte und am Rand der Schlucht stand. Fast alles Fleisch war verschwunden. Sie war mehr ein Skelett denn etwas Lebendes. Nur ihre Augen lebten und ließen nicht von ihm. Rauchige Schatten näherten sich aus der Tiefe und streckten ihre Schwadenarme hoch. Verzweifelt flog sein Blick zu Alton, das so nah und doch so unerreichbar schwebte. Mit ihm wäre er dem herannahenden Tod gewachsen gewesen. Aber er war hilflos. »Hilf mir!« sagte er und streckte die Arme nach ihr aus. Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin hier, um dich zu töten oder selbst dabei zu sterben. Daß ich dich liebte, war nur eine alte, längst vergessen geglaubte menschliche Schwäche aus einer Zeit, da ich noch Fleisch und Blut war. Vor tausend Jahren. Vor einer Ewigkeit. Aber es war gut, diese Erinnerungen aufzufrischen. Ich teilte mit Königen das Lager. Aber ich wurde alt wie alles, was lebt. Und ich fand Quaercorin, der mich in der Zauberei unterrichtete und mich lehrte, mit Dämonen zu verkehren. Auf meine Art wurde ich unsterblich.« Ihre blutleeren Lippen verzogen sich zu einem freudlosen Grinsen. Sie raffte das rote Schleiergewand um sich, aber es vermochte nicht den gespenstischen Anblick des ausgezehrten Wesens zu verbergen. Mythor unterdrückte mühsam das Mitleid. Es war sein Leben, das in Gefahr war. Die Vorstellung, daß er in ihren Armen gelegen hatte, ließ ihn schaudern. »Was hast du zu verlieren, wenn du mir hilfst?« »Mein Leben.« »Welch ein Leben…!« »Ich kann immer jung und schön sein, wenn ich will. Ich habe nach wie vor die Kraft dazu.« »Jung und schön für irgend jemanden, der die Wahrheit 145
nicht kennt. Dich selbst kannst du nicht belügen, nicht wahr? Du weißt, wie es um dich steht, daß dies die Wirklichkeit ist?« Er deutete auf sie. Ihre Augen funkelten. Ein wenig des alten Feuers war in ihnen. »Lohnt es sich nicht«, fuhr Mythor rasch fort, »dieses erbärmliche Dasein für etwas zu opfern, was mehr Anrecht auf Leben hat?« Sie rang rasselnd nach Atem. »Dich, meinst du wohl?« kreischte sie, halb lachend, halb bebend vor Wut. »Weshalb denkst du wohl, daß du mehr Anrecht auf Leben hättest?« »Weil ich gegen all das kämpfe, was dir zum Verderben geworden ist. Weil ich für das Licht kämpfe. Und weil ich glaube, daß die Welt da draußen Streiter wie mich brauchen wird. Die Dunkelheit ist auf dem Vormarsch. Sie bringt Blut und Grauen über Tainnia und die Länder rundum. Und wenn niemand sie aufhält, wird ihr eines Tages die ganze Lichtwelt gehören.« »Wäre das ein so erschreckender Gedanke?« »Ja«, antwortete Mythor beschwörend. »Die ganze Welt wäre dann wie dieser Turm. Trügerische Unwirklichkeit wie ein Leichengewand über allem Leben, das darunter in Einsamkeit und Furcht verkümmert. Das habe ich in diesem Turm gelernt. Daß der Preis, den diese Kräfte fordern, zu hoch ist.« Die rauchigen Gestalten hatten den Rand der Öffnung erreicht. Sie griffen nach Mythor, der sich verzweifelt wand, um an sein Schwert zu gelangen. Aber in der Leere, ohne Halt, brachten ihn seine rudernden Bewegungen nicht näher. Allerdings gelangte er aus der unmittelbaren Reichweite der Wesen, die quollen und sich veränderten, deren rauchige Augen zu sehen schienen. Sie folgten ihm und hatten ihn in seiner Hilflosigkeit bald erreicht. Schwaden hüllten sich um seine Beine und wurden zu Klauen und Rachen, deren Umklamme146
rung er sich nicht mehr entwinden konnte. Aber in seiner lähmenden Schwäche hätten ihn wohl auch ein paar Kinder zu Fall gebracht. Langsam drangen die Klauen und Zähne tiefer, doch sie brachten keinen Schmerz, nur namenloses Entsetzen, das ihn aufschreien ließ. Plötzlich war er frei. Blind von den inneren Qualen und den Tränen, die sie ihm in die Augen getrieben hatten, drehte er sich um und sah einen Schatten über sich. Kaltes Eisen drängte sich in seine Hand, und die Stimme der Hexe sagte: »Dein Schwert, mein aufrechter Liebhaber. Du hast recht, ich werfe nicht viel weg, wenn ich diesem Dasein ein Ende mache.« »Ich bin so schwach«, murmelte Mythor. Er umklammerte den Schwertgriff mit beiden Händen, um ihn nicht wieder zu verlieren. Er spürte, wie die Schwaden von ihm fortglitten, und seine Erleichterung war grenzenlos. »Ich weiß«, sagte die Hexe gequält. »Es ist mein Leben, das dir die Kraft nimmt. Meine Zauberei braucht Kraft, wenn sie sich nicht selbst verzehren will. Und ich habe mich längst selbst verzehrt… mehr, als ich ertragen kann… Oh… Quiramon… laß mich nicht für alles büßen…!« Sie wirkte plötzlich sehr menschlich, als sie diesen Namen rief, der einem Gott oder einem Dämon aus ihrer Zeit gehören mochte. Mythor kam auf die Beine und hieb mit Alton um sich, wo er Rauchkreaturen sah. Sie zerflossen vor seiner Klinge und formten sich neu. Sie kümmerten sich nicht um ihn. Sie schwebten alle auf die Hexe zu, wogten um ihre Füße, wanden sich hoch und verschwanden auf eine seltsame Art in ihr, während sie reglos mit weit aufgerissenen Augen dastand. Mythor versuchte, sie mit sich zu ziehen, und hieb mit der Klinge nach den Schwaden, die immer dichter um sie wirbel147
ten. »Nein!« rief sie und wehrte ihn ab. »Ich muß es ertragen. Sie… sie sind nicht Althars Traumgestalten. Es war eine Lüge. Sie sind meine Kreaturen. Durch Zauber habe ich mich freigemacht von ihnen, und nun kehren sie zurück.« »Was sind sie?« »Sie sind meine Ängste, meine quälenden Sehnsüchte, die vielen Tode, die ich längst hätte sterben müssen. Sie sind alles, was mich je gequält hat im Lauf dieser langen Zeit. Ich habe es einfach in diesen Abgrund verbannt, wo sie warteten auf jemanden wie dich… oder mich.« Die letzten Worte kamen peinvoll, und die Stimme überschlug sich in einem plötzlichen Schrei, der schriller und schriller wurde, abbrach und erneut begann, als die Ängste und Qualen eines jahrhundertelangen Lebens auf dieses Wrack einstürmten. Sie stürzte und wand sich wie eine Rasende, blind und taub für alles, außer dem rächenden Feuer in ihrer Seele. Ihr Gesicht war bis zur Unmenschlichkeit verzerrt. Sie hatte aufgehört zu schreien, als die Kraft ihrer schwachen Lungen verbraucht war. Wie ein Tier war sie, eine Kreatur, ein wimmernder Klumpen Fleisch, der über alles erträgliche Maß litt und trotz aller Todesqualen nicht sterben konnte. Das war der Fluch der Magie, daß sie Kreaturen Unsterblichkeit gab, die nicht dafür geboren waren. Blind vor Tränen, hob Mythor das Gläserne Schwert und stieß es tief in das gequälte Geschöpf. Ihre Hände klammerten sich um die Klinge, als wolle sie sich festhalten, um sie noch tiefer zu stoßen. Die Augen starrten ihn an und verloren den Ausdruck von Qual. Dann erloschen sie, und die Hände gaben Alton frei. In der Stille sah Mythor, wie sich der Raum veränderte. Zu seinen Füßen lag nicht länger ein bodenloser Abgrund. Mythor stand auf Metall wie auch in den unteren Stockwerken. 148
Die Wandbehänge, das Lager, die seidenen Vorhänge, sie lösten sich auf wie Traumbilder. Die Wirklichkeit war ein kahler Raum mit metallenen Wänden und düsterem Licht, das durch schmale Öffnungen drang, durch die nicht viel mehr als die Hände greifen mochten. Innerhalb dieses Gefängnisses stand er allein als das einzige Lebendige. Zu seinen Füßen, noch immer mit dem Schwert in der Brust, lag eine Frau. Sie mochte etwa dreißig Sommer zählen. Sie war schön, von einer sinnlichen Schönheit, selbst noch im Tod. »Das also warst du wirklich«, flüsterte Mythor bewegt. Als er die Klinge bewegte und vorsichtig herauszog, zerfiel der Körper zu Staub. Eine Weile stützte er sich auf Alton und blickte ins Leere, an Seele und Körper zutiefst erschöpft. Langsam nur kehrten seine Kräfte zurück, nun, da der Zauber der Hexe erloschen war. »Warum hast du das getan?« fragte Merwallons Stimme. »Du hättest gehen können. Sie war besiegt. Sie hätte dich nicht mehr aufgehalten, Weltretter. Warum mußtest du sie töten?« »Es ist gut, daß ihr noch da seid«, sagte Mythor schwer. »Ich fing an, mich einsam zu fühlen und an mir zu zweifeln. Warum ich sie tötete? Weil sie nicht die Kraft hatte, es selbst zu tun. Deshalb. Hättest du nicht selbst den Tod begehrt in ihrer Lage?« »Du denkst, du hast ihr einen Gefallen getan?« Es war so schwer, Merwallons Frage richtig zu verstehen, denn es fehlte der Stimme jegliches Gefühl. »Ja, das denke ich. Es war ein Leben, das ihr längst nicht mehr gehörte.« »Es war immerhin ein Leben.« »Würdest du um jeden Preis leben wollen?« »Um jeden.« »Obwohl du den Tod gar nicht kennst? Bedeutet das nicht Verzicht auf Wiedergeburt?« 149
»Wenn es eine gibt.« »Bist du nicht neugierig auf das Leben danach?« »Nein.« Mythor schüttelte den Kopf. »Keinen Glauben, keine Hoffnung, keinen Körper… das nennst du Leben?« Aber er erhielt keine Antwort mehr. Ein klagender Schrei unterbrach seine Gedanken. Er war nicht menschlich, stammte aber auch von keinem Tier, das er kannte. Der Schrei kam von oben, über die Treppen herab. * Als er das nächste Stockwerk erreichte, blieb er überrascht stehen. Der Raum glich dem, den er gerade verlassen hatte, und er war vollkommen leer. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, aber das Licht, das durch die schmalen Öffnungen in der Wand fiel, sagte ihm, daß noch Tag war oder schon wieder. Es gab nichts, was an diesem Raum unwirklich war. Jenseits in der Düsternis führte die Treppe hoch in ein weiteres Stockwerk. Das war sein Weg. Es war seltsam, daß es in diesem Raum keine Gefahr zu überwinden gab. Es sei denn… Was hier auf ihn lauerte, war unsichtbar! Er streckte Alton vor und tat zögernd drei Schritte in den Raum hinein. Und blieb verwundert stehen. Nichts geschah. Er schüttelte den Kopf. Die Erschöpfung machte sich wieder bemerkbar. Vielleicht sollte er sich eine Weile ausruhen. Sicherlich brauchte er alle Kräfte für das, was ihm noch bevorstehen mochte. Er verspürte Durst, und es wurde ihm bewußt, daß er geraume Zeit nichts gegessen und getrunken hatte. Aber er war sicher, daß er in diesem Turm nichts zu essen oder zu trinken finden würde. Er verbannte den Gedanken daran und tat ei150
nen weiteren Schritt. Der Raum verschwamm vor ihm. Seine Augen brannten. Sein Mund war ausgedörrt. Seine Zunge klebte am Gaumen. Seine Lippen schmerzten von blutigen Rissen. Sein ganzer Körper lechzte nach Wasser, als befinde er sich seit Tagen in glühender Wüste. Keuchend stützte er sich auf Alton, um nicht zu stürzen. »Wasser«, stöhnte er. »Quyl, wo ist Wasser?« Es war so heiß, daß der Schwertgriff in seinen Händen brannte und er drauf und dran war, das Gläserne Schwert von sich zu werfen. Aber etwas im Hintergrund seines Verstandes warnte ihn. So klammerte er sich verzweifelt daran und stolperte vor Schmerz stöhnend zurück. Die Glut schwand. Er konnte wieder atmen. Das wahnsinnige Durstgefühl war wie weggeblasen. Das Schwert lag kühl in seinen Händen. Heftig atmend starrte er auf die Treppe, die so greifbar nah und doch unerreichbar war. Eine unsichtbare Barriere lag zwischen ihm und dem Aufgang. Eine unsichtbare Wüste, die selbst Alton als Wirklichkeit akzeptierte. Wenn es Zauberei war, so war sie vollkommen. Seine Lippen brannten noch immer und bluteten aus Rissen. Sein Mund war noch immer trocken. Was er erlebt hatte, war kein Trugbild. Die feurige Hölle lag nur einen Schritt vor ihm. Wenn sie sich bis zur Treppe hin erstreckte, war sie ebenso unüberwindlich, als erstrecke sie sich über tausend Tagesmärsche. Doch Warten und Grübeln verbesserten seine Chance nicht. Vorsichtig bewegte er sich seitlich in den Raum hinein. Die Glut blieb aus. Offenbar lag das unsichtbare Hindernis nur zwischen ihm und der Treppe. Er versuchte erneut einen Vorstoß – einen halben Schritt. Die 151
Luft wurde warm, aber nicht heiß. Feuchte Schwüle umgab ihn und ein starker Duft von schweren Blüten. Ferne Geräusche drangen an seine Ohren, doch nicht deutlich genug, um zu erkennen, was es war. Es war erträglich, so machte er einen weiteren Schritt, und mit einemmal stand er mitten in den Geräuschen – klagende Schreie von Vögeln, Laute von Tieren, die ihm unbekannt waren, schrille Schreie von Tod und Töten. Seine Füße standen auf nachgiebigem Boden, und Pflanzen wucherten rings um ihn. »Ein Wald«, sagte er halblaut. »Ich bin in einem Wald.« Seine Augen sahen nur den nackten Raum und die Treppe in der Ferne. Aber alle seine anderen Sinne sagten ihm, daß dichter Wald um ihn war. Es war ein gespenstisches Gefühl, blind in einem Wald zu stehen… und doch zu sehen. Es war, als ob er wach sei und doch träume. Ein Rascheln ganz in seiner Nähe ließ ihn erstarren. Er hob Alton und lauschte angestrengt. Doch es wiederholte sich nicht wieder. Er entspannte sich ein wenig. Dieser Wald mochte ein Dschungel sein wie jene, von denen Etro ihm vor langer Zeit erzählt hatte, undurchdringlich und voller Bestien und riesiger fleischfressender Pflanzen. Er schüttelte sich. Dennoch mußte er es versuchen. Der Wald war leichter zu durchqueren als die brennende Wüste. Mit Alton in der Hand vermochte er sich gegen Tiere zur Wehr zu setzen, aber gegen den Durst und die Hitze war er machtlos. Er schloß die Augen, um seine ganze Aufmerksamkeit den Geräuschen zuzuwenden. Sie waren unheimlich, denn er erkannte sie nicht. Schrille Laute, die ihm wie höhnisches Gelächter anmuteten, kamen manchmal von den Bäumen über ihm. Äste peitschten sein Gesicht, und gelegentlich waren sie voll Insekten, die über seine abwehrend erhobenen Arme krabbelten oder wütend um ihn surrten. Zu seinen Füßen ra152
schelte es im Gestrüpp wie von Schlangen und schlug gegen seine Stiefel. Und er war sicher, daß nicht alles davon Blätter und Äste waren. Ein Alptraum hätte nicht vollkommener sein können. Oft war der Boden so uneben, daß er die Hände zu Hilfe nehmen mußte, um vorwärts zu kriechen. Und wenn er die Augen öffnete, sah er vor sich nur den kahlen Raum und die Treppe, die um nichts näher gekommen war. Und dann kam das tiefe Grollen aus einer Raubtierkehle in seiner unmittelbaren Umgebung. Es mußte ein mächtiges Tier sein, und die Stimmen des Dschungels schwiegen in Erwartung des Todes, der bevorstand. Aus dem grollenden Knurren wurde ein fauchender Angriff. Mythor sah ihn nicht, aber er fühlte den Schatten, der auf ihn zuschnellte. Er sprang zurück mit abwehrend erhobener Klinge und schlug in die leere Luft. Das Grollen klang wie aus großer Entfernung – wütend und hungrig. Mythor starrte um sich. Der unwillkürliche Schritt zurück mußte ihn an den Rand des Waldes zurückgebracht haben. Er tat einen weiteren Schritt, und die Geräusche verstummten, die feuchte Luft war wie weggeblasen, und der Boden war ebenes Metall. Mit zusammengepreßten Lippen starrte er auf die unerreichbare Treppe. Sie lag nicht viel mehr als ein Dutzend Schritte vor ihm. Ein Dutzend Schritte, von denen jeder einzelne die Hölle selbst sein mochte. Aber Mythor war keiner, der aufgab. Er hätte nicht mit leeren Händen zurückkehren können. Und er war nicht einmal sicher, ob der Weg zurück für ihn überhaupt frei war. Er schob sich an der Wand entlang. Eine Weile geschah nichts, obwohl er solcherart der Treppe ein wenig näher kam. 153
Dann vermeinte er, aus der Ferne wieder die Geräusche des Dschungels zu vernehmen. Aber sie kamen nicht näher. Sie verklangen wieder. Er atmete auf. Vorsichtig bewegte er sich weiter mit dem Rücken an der metallenen Wand entlang. Diese Berührung vermittelte ihm auch ein Gefühl der Wirklichkeit. Die Wand und Alton in der Faust. Dann wurde es plötzlich eiskalt. Ein Windhauch ließ seine Augen tränen. Die Luft stach kalt in seine Lungen, wie mit tausend Nadeln aus Eis. Nach einem halben Schritt waren seine Finger so steif vor Kälte, daß ihm Alton entfiel. In diesem Augenblick entschwand auch die Wirklichkeit um ihn. Er befand sich nicht mehr im Turm. Er stand auf einer schneebedeckten Ebene. Der Himmel war blau, frostklar. Nichts regte sich in dieser winterlichen Einöde. Jenseits strebten Berge auf, weiß und bedrohlich. Er blickte um sich, konnte aber Alton nirgends entdecken. Er bückte sich und tastete den eisigen Boden ab in der Hoffnung, daß nur seine Augen das Schwert nicht zu erkennen vermochten. Er tastete hinter sich, halb in Erwartung, die kalte Metallwand zu spüren. Doch sie war ebenso verschwunden wie die Klinge. Panik überkam ihn, daß er für immer in dieser unwirklichen Welt gefangen sein könnte. Die Kälte biß durch seine Kleider, und der eisige Wind hatte sein Gesicht taub gemacht. Er blinzelte, bis er wieder klar sehen konnte. In der Ferne funkelte etwas im Schnee, was nicht wie ein Stück Eis aussah, mehr wie… Alton! Hastig rannte er los, und die Bewegung vertrieb die Kälte ein wenig. Er hatte die halbe Strecke zurückgelegt und war überzeugt, daß es seine Klinge war, die dort im Schnee lag, als der Boden unter einem urgewaltigen Stampfen erzitterte. Wie aus dem Nichts tauchten plötzlich riesige Tiere in der Ebene auf. 154
Mammuts. Eine ganze Herde, die sich langsam zwischen ihn und das Schwert schob. Sie mußten sich auf einer Wanderung befinden. Sie folgten einem gewaltigen Bullen, gegen die die Skelette auf dem Mammutfriedhof von Nyrngor wie solche von Jungtieren anmuteten. Die Erde erbebte unter ihrem Tritt, und der ganze Horizont war verdunkelt von ihrer Zahl. Sie kamen in solcher Breite, daß eine Flucht unmöglich war. Auf dieser endlosen eisigen Ebene mußten sie ihn sehen. Und von der Angriffslust dieser Bullen hatte Mythor gehört. Es gab nur eine Flucht: mit Altons Hilfe hinaus aus diesem Alptraum! Er spürte die Kälte nicht mehr, als er auf die vordersten Tiere zuschritt – langsam, um sie nicht zu reizen, doch entschlossen genug, um furchtlos zu erscheinen. Aber er war nicht furchtlos. Kein Mensch, der solch einem Anblick gegenüberstand, konnte ohne Furcht sein. Ein Tritt, ein Stoß ihrer furchtbaren Zähne bedeutete den Tod, darüber täuschte auch dieser friedliche Zug nicht hinweg. Etwas Majestätisches war an diesen Kolossen. Sie waren die Herrscher über ihre eisige Welt. Der Gedanke aber, daß er sie mit ihnen würde teilen müssen, wenn sie Alton erst in den Schnee getrampelt hatten und er die Klinge nicht wiederfand, trieb ihn vorwärts. Sie nahmen keine Witterung auf, auch als er schon fast zwischen ihnen war. Verwundert studierte er sie. Keines der Tiere wandte sich ihm zu. Sie nahmen ihn gar nicht wahr! Sie sahen ihn nicht. Er war unsichtbar für sie. Er stand nicht wirklich in dieser fremdartigen Welt. Doch gleich darauf wurde er auf schmerzvolle Weise überzeugt. Er kam einem der Tiere zu nahe. Vielleicht wandte es sich nur um, um nach dem Jungen Ausschau zu halten, das hinterhertrottete, vielleicht spürte es seine Anwesenheit aber 155
auch. Die heftige Kopfbewegung versetzte Mythor einen Schlag mit dem Stoßzahn, der ihn zwischen zwei andere Tiere schleuderte, deren tödlichen Tritten er nur mit knapper Not entgehen konnte. Danach verschwendete er keine Zeit mehr mit Grübeleien. Es war nicht von Bedeutung, ob er sich wirklich hier befand oder nicht, wenn es ihm nur gelang, zu verschwinden. Es war ihm, als benötige er Stunden durch diese Schar stampfender, schnaubender Kolosse hindurch. Als er schließlich das Schwert vor sich sah, blieben ihm nur Augenblicke, es aufzuheben, denn so weit sein Auge reichte, war die Ebene mit mächtigen Körpern in Bewegung. Der Schnee knirschte um ihn. Es war ihm, als spüre er den heißen Atem und den beißenden Geruch der Tiere und den Wind der schwingenden Rüssel direkt über sich, als er sprang. Die Metallwände des Turmes waren erneut um ihn. Er stöhnte erleichtert im Namen Quyls, des alten Gottes der Marn, der ihm meist beim Fluchen oder Beten in den Sinn kam. Die Kälte war verschwunden und die Geräusche der wandernden Tiere. Aber er war nicht frei. Er war nur in einen anderen Alptraum eingetaucht. Feuchte, faulig riechende Luft drang ihm in die Nase. Mücken und Fliegen schwirrten in unglaublicher Zahl um ihn. Er vernahm Brüllen und Kreischen wie in jenem Dschungel vorhin. Doch er stand in keinem Wald. Etwas streifte seine Arme – Schilf oder hohes Gras. Rauschen lag in der Luft und Gurgeln und Plätschern ganz in seiner Nähe. Der Boden war schlammig. Er stand im Wasser eines Tümpels, nein, eines Flusses, wenn er das Rauschen richtig deutete. Er klammerte sich an Altons Griff. Er wollte die Wirklichkeit nicht noch einmal verlieren. 156
Dicht neben ihm glitt etwas durch das Wasser – ein gewaltiger, sich schlängelnder Körper. Und plötzlich war das Wasser aufgewühlt wie von einem Kampf. Er schauderte, als die Laute des Sterbens und Gefressenwerdens vorüber waren. Es war die Blindheit, die es so unerträglich machte, so sehr zu einem Alptraum, dem man nicht entrinnen konnte. Vielleicht würde er ertrinken, wenn er in den Fluß hinaussprang. Vielleicht würden Echsen und Raubfische über ihn herfallen. Er hatte bereits zu viele Alpträume hinter sich, um umzukehren. Irgendwo jenseits dieses Flusses lag die Treppe, die er erreichen mußte. Er war ein wenig näher gekommen, ein oder zwei Schritte. Mythor faßte einen verzweifelten Entschluß und unterdrückte die bohrenden Gedanken an das Risiko. Er holte tief Luft, lehnte sich zurück und sprang mit weit vorgestreckter Klinge mit aller Kraft. Er schnellte hoch, spürte, wie seine Stiefel aus dem schlammigen Wasser tauchten, wie der Fluß unter ihm verschwand, die Schreie und Geräusche verstummten. In der Wirklichkeit des Turmes und der leeren Kammer endete sein Sprung mitten in der Luft. Er hing hilflos da. Er fiel nicht, und erst nach einem Augenblick wurde ihm in seiner Panik bewußt, daß er nicht wie ein zappelnder Fisch fest hing, sondern sich ungeheuer langsam vorwärts bewegte. Kühle Luft war um ihn und das Schlagen großer Flügel. Er vernahm ein Krächzen, so nah und gewaltig, daß er die Hände an die Ohren pressen wollte. Die Vögel entdeckten ihn nicht. Nach einer Weile verlor sich ihr aufgeregtes Schreien in der Ferne. Bald darauf hatte er auch nicht mehr das Gefühl, in den Lüften zu schweben. Ein oder zwei Schritte hatte er hinter sich. Noch immer hatte der Sprung nicht den höchsten Punkt erreicht. Es ist ein Irrgarten, dachte er. Er hätte einen Weg suchen 157
müssen, statt wie ein waghalsiger Narr hineinzustürmen. Aber ebenso wahrscheinlich war, daß es gar keinen sicheren Weg hindurch gab. Furcht erfüllte ihn unvermittelt, während er hilflos in den nächsten Alptraum schwebte. Furcht vor dem Tod war es nur in geringem Maß. Mehr war es eine Furcht, in diesen Kammern so unsterblich gefangen zu sein, wie es die Hexe gewesen war oder der Xandor Fardus. Es wäre das Ende aller Freiheit, aller Hoffnung, aller Neugier. Eine noch vollkommenere Abgeschiedenheit, als Churkuuhl es gewesen war. Er haßte die Zauberei mit dem ganzen Feuer seines jungen Herzens. Feuer war um ihn, das aus dem tiefsten Schlund der Erde kam und hoch in den Himmel spritzte. Die Glut ließ seine Haut brennen und seine Lungen um Luft ringen. Aber es gab kein Ausweichen. Er hing in der Mitte des Raumes und litt unter den Qualen eines unsichtbaren Feuers. Donner erfüllte seine Ohren, und ein heißer Wind zerrte an seinem Körper. Steine rasten durch die Luft, oft so nah an ihm vorbei, daß ihr Luftzug ihn durchschüttelte. Der Tod war überall. Aber wäre es wirklich der Tod, wenn er jetzt starb? Dann, während er spürte, wie sein Sprung langsam abwärts führte, verschwanden die Glut und das Donnern und der Regen von Gestein und Erde. Mit quälender Langsamkeit fiel er in eine neue Unwirklichkeit. Als seine Beine den Boden wieder berührten, noch immer fast ein halbes Dutzend Schritte von der Treppe entfernt, tauchte er in die schäumenden Fluten eines endlosen Meeres. Er sank hinab in kalte, wirbelnde Tiefen. Er riß die Augen weit auf und rang nach Luft. Es war, als ob die Kammer des Turmes keine Luft enthalte. Der Schmerz stach durch seine Lungen. Er verschloß seine Ohren, seine Sinne in seiner Verzweiflung 158
und Qual vor den unwirklichen Gewalten. Er klammerte sich an die Wirklichkeit, an das, was seine Augen sahen: die Wände, den Boden, die Treppe. Seine Füße berührten den Boden, aber sie fanden keinen Halt. Einen Moment lang drohte er zurückzufallen in den Ozean, in dessen Tiefe er trieb, irgendwo jenseits der Wirklichkeit. Erneut drohte er zu ersticken. Dann fing sich sein Verstand wieder. Er kämpfte gegen die Illusion an und war so erfolgreich, daß er fast den Boden unter seinen Stiefeln zu spüren vermeinte. Mehr noch verstärkte Alton den Eindruck der Wirklichkeit. Seine Spitze fand festen Grund und glitt scharrend über das Metall. Mythor stützte sich keuchend darauf, ließ sich ein wenig niedersinken und stemmte sich mit aller Gewalt am Gläsernen Schwert hoch für einen neuen Sprung. Diesmal hatte er seine Gedanken zu sehr in der Wirklichkeit verkrallt. Nichts hemmte den Sprung. Als er wieder auf die Füße kam, stand eine Gestalt vor ihm. Da war kein Gefühl von Unwirklichkeit. Er stand fest auf dem metallenen Boden. Die modrige Luft des Turmes war um ihn. Seine anderen Sinne nahmen nicht mehr und nicht weniger wahr als seine Augen. Er befand sich nah an der Treppe. Nur noch diese im düsteren Licht undeutlich erkennbare Gestalt befand sich zwischen ihm und dem Ziel, reglos, fast wie eine Statue. Aber dann streckte sie die Hand aus und sagte: »Mythor, Junge, ich bin froh, daß ich dich gefunden habe. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Komm. Wir haben einen weiten Weg vor uns. Wir brauchen deine Hilfe, Mythor. Wirst du uns helfen?« Die Stimme weckte alte Erinnerungen in Mythor. Er erkannte die typische lederne Kleidung der Marn und die ein wenig traurigen Züge des alten Etro, des Ersten Bürgers von Churkuuhl. 159
Verwundert schüttelte er den Kopf. »Etro? Du hier?« Der Alte kam ihm entgegen und breitete die Arme aus. Aber etwas ließ ihn innehalten. Sein Blick war auf Alton gerichtet. »Woher hast du diese Klinge?« »Sie ist keine gewöhnliche Klinge, Etro.« »Ich weiß«, sagte Etro hastig. »Du bist nicht tot?« fragte Mythor verwirrt. Etro lächelte. »Nicht tot und nicht Asche. Oh, ich war es«, fügte er hinzu, als er Mythors ungläubigen Blick bemerkte. »Du erinnerst dich an meinen Tod, nicht wahr?« Mythor nickte stumm. »Gifte sind die Schergen höherer Mächte. Gift ist einer der umkehrbaren Tode. Wußtest du das nicht? Obwohl du der klügste unter den Marn warst?« »Etro, wovon redest du?« »Ich will es dir sagen, Junge. Nicht alle Marn starben in jenem Kampf, der dem Untergang unserer Stadt an der Küste des Meeres der Spinnen folgte. Irton überlebte. Erinnerst du dich an Irton?« Mythor nickte. »Ja, ich erinnere mich an ihn. Er war der Priester Quyls.« »Und noch einer Reihe anderer… Götter.« Die Gestalt kicherte. »Einen von ihnen beschwor er, als die Tainnianer abgezogen waren. Er gab sein Leben dafür, aber er brachte mich zurück. Und nun habe ich einen Weg gefunden und einen Pakt besiegelt, der Churkuuhl, alle Yarls und alle Marn in altem und noch größerem Glanz erstehen lassen wird. Aber ich bin alt. In meinen Erinnerungen ist nicht mehr genug, um alles zurückzuholen. Ich brauche dich, Mythor. Deine Erinnerungen. Churkuuhl kann nur so erstehen, wie wir uns erinnern. Hilf mir, ihnen ein neues Leben zu geben… deinen Eltern, Curos und Entrinna, dem Mädchen, das dein Herz gerührt hat.« »Taka«, murmelte Mythor. 160
»Ja, Taka und all die anderen. Sie liebten dich. Sie fochten an deiner Seite gegen die arrogante tainnianische Brut. Hilf uns!« »Aber… Etro… das ist Zauberei.« »Wo endet die Macht der Götter und beginnt die der Dämonen? Vermagst du es zu unterscheiden? Wer kann sagen, ob Quyl selbst Gott oder Dämon ist? Du?« Er rang die Hände. »Hilf uns, Mythor. Komm mit mir. Ich weiß, dein Herz gilt anderen Dingen in diesen Tagen, da die Dunkelheit über uns kommt, aber um alter Liebe willen, alter Freundschaften. Es kümmert diese Welt nicht das Schicksal der Marn. Nur mich und dich.« Mythor starrte ihn zweifelnd an. »Lebst du wirklich?« »Ich bin Fleisch und Blut, Junge.« »Weißt du es genau?« »Ich fühle es. Welchen Beweis willst du?« »Diesen.« Das Gläserne Schwert zuckte vor und ritzte den Unterarm Etros. Der Alte zuckte nicht zurück. Beide starrten sie auf die dunkle Flüssigkeit, die aus der kleinen Wunde quoll. »Was war der Preis?« fragte Mythor. »Irtons Leben«, flüsterte Etro. »War es das wert?« »Der Preis war bezahlt. Es ist nur recht, wenn ich lebe.« »Was ist der Preis für ganz Churkuuhl?« fragte Mythor. »Unser Leben?« Etro beachtete die Frage gar nicht. Alle seine Aufmerksamkeit galt seinem Arm und der Wunde. Mit einer Stimme, die vor Grauen zitterte, sagte er: »Aber ich lebe nicht.« »Was?« »Ich… ich lebe nicht«, wiederholte Etro. »Ich fühle keinen Schmerz… und dieses Blut… ist kein Blut!« Mythor wich unwillkürlich vor ihm zurück. Sein Herz krampfte sich zusammen. »Was hast du erwartet?« fragte er. 161
»Zauberei kann niemals Leben sein. Niemals!« »Ich hatte keine Wahl«, sagte Etro tonlos. »Sie holten mich zurück. Ich hatte keine Wahl.« Er hob den blutenden Arm. Bevor Mythor abwehren oder das Schwert zur Seite reißen konnte, hieb Etro mit dem Arm nach unten auf die Schneide der Klinge. Es geschah mit solcher Wucht, daß der Unterarm durchschlagen wurde. »Etro!« entfuhr es Mythor. »Sieh her!« rief Etro schrill. Er hielt den Armstumpf hoch. Dunkelrotes Blut quoll hervor. »Ich spüre keinen Schmerz! Ich könnte ebensogut tot sein!« Der abgeschlagene Arm zuckte, als habe er ein eigenes Leben. Beide starrten sie von Grauen erfüllt darauf, bis er zur Ruhe kam, übersät von Leichenflecken und stark in Fäulnis begriffen. »Erinnerst du dich an den Tod?« flüsterte Mythor in die Stille. Etro sah in gequält an. »Nein.« »Möchtest du so unter den Lebenden sein?« Etro gab keine Antwort. Sein Gesicht war verzerrt von Furcht und Ekel. »Soll ich dir helfen zurückzukehren?« fragte Mythor sanft. Etro starrte ihn an. Seine Miene veränderte sich erneut. Sein Gesicht zuckte. »Ja, hilf mir«, krächzte er hastig. »Rasch, bevor… es zu… spät ist. Oh, diese Teufel!« Er taumelte. »Diese Teufel.« Mythor zögerte. Es war nicht leicht, zuzuschlagen. Es war nicht leicht, zu vergessen, daß dieser Etro nicht mehr Etro war – und es doch auf eine grauenvolle Weise war. Aber dann war die Verwandlung abgeschlossen, und was Mythor aus dunklen Augen und vertrauten Zügen anstarrte, war nicht mehr Etro, sondern etwas Kaltes, Gnadenloses, das von dem Körper Besitz ergriffen hatte. 162
Mythor dachte an Fardus und an die Hexe. Er dachte an Taka und die Marn, denen ein Schicksal wie dieses erspart bleiben mußte. Und er dachte an das Licht, für das er kämpfte, an die Caer und ihre dunklen Priester. Er schob die alten Gefühle und Erinnerungen beiseite, daß sie ihn nicht beirren mochten. Er war auf dem besten Weg gewesen, einer Illusion zu erliegen. Seine Finger schlossen sich um Alton, als wollten sie sich an das Schwert klammern, nicht es führen. Dann riß er es hoch, mit Eis im Herzen und Feuer in den Augen, und brachte es mit allen seinen Kräften herab auf das, was Etro gewesen war. Mit einem klagenden Laut biß das Schwert durch Fleisch und Knochen, gefolgt von schrillem Heulen, das aus Etros Mund kam. Der Körper fiel und krümmte sich in unirdischer Kraft. Voll Abscheu hieb Mythor erneut zu. Grimm und die alte urmenschliche Furcht vor dem Übernatürlichen führten seine Klinge, bis die klagenden Laute des Schwertes das Heulen übertönten und zum Schweigen brachten. Danach stieg er über die noch immer zuckenden Gebeine hinweg und sprang auf die Treppe. Mit einemmal war der Raum so leer, wie er ihn betreten hatte. Erleichtert ließ er sich auf die feste, metallene Wirklichkeit der Stufen sinken. Alles war nur Illusion gewesen, auch Etro. Eine tödliche Illusion! * »Das hat ihn mitgenommen«, sagte eine Stimme, die Merwallons. »Mich auch.« Es war schwer, die Stimmen zu unterscheiden in ihrer Körperlosigkeit und Unsichtbarkeit. Aber es mochte Keethwyn sein, der antwortete. »Ich dachte nicht, daß mich 163
etwas so aufregen könnte. Ich war drauf und dran, ihm zu helfen.« »Und wie hättest du das wohl angestellt?« warf die dritte Stimme mit einem Unterton von Resignation ein. Es war Oren. »Wir hätten ihm sagen können, daß dieser alte Mann nur eine Falle war. Wir sehen mehr als seine Augen.« »Das ist wahr.« »Wenn wir ihm helfen, finden wir nie heraus, ob er es allein geschafft hätte«, wandte Merwallon ein. »Ich für meinen Teil will, daß er es schafft«, erwiderte Keethwyn. »Weshalb?« »Weil… Seit wir ihn Stockwerk um Stockwerk durch diesen Turm begleiten, beneide ich ihn um jeden seiner Erfolge. Wir haben längst vergessen, wie es ist, für etwas zu kämpfen. Wir haben seit Jahrhunderten keinen Finger gerührt, weil unsere Finger längst vermodert sind. Aber mit jedem seiner Siege bin ich ein Stück lebendiger geworden. Manchmal war es so stark, daß ich seinen Grimm mit ihm fühlte und seine Furcht und seine Erleichterung, wenn es vollbracht war.« »Es gab Augenblicke, da ging es mir auch so«, gestand Oren. »Was erhofft ihr euch davon, daß ihr ihm helft?« fragte Merwallon. »Daß wir noch ein wenig näher am Leben sind. Ich will nichts mehr wissen von Erinnerungen und anderen toten Dingen. Ich will noch einmal etwas tun, bevor…« »Bevor?« »Du bist einst ein Prinz gewesen, Merwallon. Und ich war ein Abenteurer, dessen Klinge selbst tief in den Südländern nicht unbekannt war. Und Oren hier war Kauffahrer, bevor er sich in Firwoods niederließ. Wir sind keine Träumer. Wir sind Männer der Tat. Hier… hier sind wir nur Geister. Wir sind nicht besser und nicht schlechter als einer wie Cheek, der 164
Mörder.« Jemand kicherte. Cheeks Stimme. »Ich möchte wieder leben«, fuhr Keethwyn fort. »Oder wenigstens sterben«, fügte Oren hinzu. »Vielleicht habt ihr recht«, sagte Merwallon. »Ich bin dabei.« »Ich auch«, sagte Cheek. »Ich möchte wieder töten.« Stille folgte. Erst nach einer Weile erklang Merwallons Stimme wieder: »Weltretter! Ist es dir recht, wenn wir uns in deinen Kampf mischen?« Mythor, der die Unterhaltung mit angehört hatte, antwortete nicht sofort. Nach allen Erlebnissen, die ihm immer wieder bewiesen hatten, daß alles Leben in diesem Turm nur Illusion war, fragte er sich, welche Rolle die vier Stimmen oder Geister wirklich spielten. Waren sie eine neue Falle für ihn? »Mythor! Hörst du uns nicht mehr?« »Doch, ich höre euch. Aber ich weiß nicht, was ich von euch halten soll. Ihr seid die einzigen in diesem Turm, die ich nicht besiegt habe, denen ich nur entkommen bin. Das beunruhigt mich.« »Weil wir beschlossen, dich entkommen zu lassen, vergiß das nicht.« »Also gut«, seufzte Mythor. »Wir wollen annehmen, daß ihr nicht nur in meiner Einbildung existiert und daß alles so ist, wie ihr es sagt, obwohl das eine traurige Wirklichkeit wäre.« »In der Tat.« »Nachdem ihr mich bis hier herauf begleitet habt, wer hindert euch, das weiter zu tun? Ich habe sicherlich nicht die Macht. Wenn es euch also gefällt, begleitet mich. Und wenn ihr mir helfen wollt, helft mir.« »Es ist nicht genug«, wandte Keethwyn ein, »dich nur zu begleiten. Wir wollen Anteil an deinem Körper.« »Ihr wollt was?« entfuhr es Mythor. »Nur ein wenig.« Die Stimme hatte einen bittenden Klang. 165
»An deinen Schmerzen, wenn du willst. Gemeinsam ertragen wir sie leichter.« »An deinem Triumph. Gemeinsam werden wir alles durchschauen und besiegen, was da oben warten mag.« »Vielleicht vermag ich das auch allein?« sagte Mythor. »Vielleicht.« »Wir könnten vieles für dich tun oder mit dir…« »Ich würde für dich töten, Mythor«, erklärte Cheek. Mythor schauderte unwillkürlich. »Wir könnten versuchen, uns mit Gewalt Einlaß zu verschaffen, weißt du?« sagte Merwallon. »Schon möglich«, erwiderte Mythor bitter. »Aber ich könnte stärker sein, als ihr denkt. Ich habe es allein bis hierher geschafft. Mehr, als ihr zuwege gebracht habt, nicht wahr?« »Jetzt sind wir zu dritt.« »Zu viert«, ergänzte Cheek. »Ich fürchte euch nicht mehr als diese anderen Gefahren.« »Wir wollen gar nicht drohen«, sagte Keethwyn bittend. »Wir wollen dich gar nicht besiegen. Wir wollen nur Anteil haben an… deinem großartigen Kampf. Es ist mir gleich, was die anderen denken. Ich akzeptiere jede Bedingung, die du stellst.« Darauf schwiegen die anderen Stimmen. Mythor schüttelte den Kopf und ballte unentschlossen die Hände. Endlich rang er sich zu einem Entschluß durch. Er war noch immer nicht überzeugt, und er war nicht ohne Furcht. Aber da war etwas, über das er Klarheit haben mußte, auch um diesen Preis. »Wenn alles stimmt, was ich bisher von euch erfuhr…«, begann er langsam. »Das tut es.« »So besitzt Cheek noch einen Teil meiner Erinnerungen, oder?« Cheek gab keine Antwort. 166
Merwallon sagte: »Das ist möglich.« »Gib sie ihm!« sagte Keethwyn. »Gib sie ihm!« »Aber ja«, erklärte Cheek schließlich. »Sie sind ohnehin schon recht schwach. Und wenn er uns aufnimmt, bleibt mir sowieso nichts anderes übrig, als sie mitzubringen… es sei denn, ich verliere sie vorher.« Mythor hielt den Atem an. »Aber ich nehme an, sie sind pures Gold wert«, fuhr Cheek fort. »Ja«, sagte Mythor hastig. »Ich zuerst!« rief Cheek. »Erschrick nicht!« warnte Merwallon. »Wir kommen.« Es geschah gar nichts. Er spürte nichts. Er dachte nur, daß alles doch nur eine Illusion sei wie die übrigen Kreaturen im Turm. Dann dachte Mythor unvermittelt, daß Sadagar und der Lorvaner und Kalathee unten warteten. Und er fragte sich, wieviel Zeit wohl verstrichen sei. Aber noch immer fiel Tageslicht durch die schmalen Maueröffnungen. »Merwallon! Keethwyn! Cheek?« rief er halblaut und kam sich verrückt vor dabei. Er erhielt auch keine Antwort, weder aus dem Raum noch aus seinem Inneren. Ein langgezogener Laut drang über die Treppe herab, einem menschlichen Schrei nicht unähnlich und doch völlig unmenschlich. Er hatte ihn schon einmal vernommen, als er sich im Stockwerk unter diesem befand. Da hatte er gedacht, es käme aus diesem. Doch nun kam es von weiter oben. Er wußte, daß er seinem Ziel schon nahe war. Aber die Prüfungen waren mit jedem Stockwerk schwerer geworden. Was da oben mit diesem grauenvollen Laut auf ihn wartete, mochte stark genug sein, alle seine Träume hier zu beenden. Es hatte beinahe geklungen wie die Laute des Gläsernen Schwertes. Gab es in diesem Turm vielleicht eine zweite Klinge wie seine? 167
Er wog sie bedächtig in der Rechten. Sie war eine gute Waffe, das hatte er oft genug erfahren. Früher oder später würde sich zeigen müssen, wie gut sie war. Entschlossen stieg er die Stufen hoch. * Mythor wappnete sich innerlich, als er das nächste Stockwerk betrat, und kämpfte die Enttäuschung nieder. Nichts, was auf den Helm hindeutete. Nur ein leerer Raum und eine neue Prüfung. Neue unsichtbare Gefahren. Neue Unwirklichkeiten. Er hielt nach dem Aufgang in das nächste Stockwerk Ausschau. Er fand keine Treppe, nur eine mächtige, düstere, reglose Gestalt von groben menschlichen Formen. Sie ragte vom Boden bis zur Decke hoch. Sie schimmerte matt, nicht nach Metall, mehr wie geschliffener Marmor. Die Gestalt saß auf ihren Fersen, der Oberkörper war aufgerichtet, die Hände auf die Knie gestützt. Sie war nackt. Das Gesicht war von einer dämonischen Kälte, ein Eindruck, der verstärkt wurde durch das eine übergroße Auge auf der Stirn. »Eine Statue«, murmelte Mythor. »Sie muß der Aufgang sein.« Er war vorsichtig. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er etwa den halben Raum durchquert hatte. Sein ganzer Rücken kribbelte, und er hatte das Gefühl, daß die Statue ihn beobachte. Mehr noch, sie wirkte plötzlich wie ein lebendes Wesen. Ein klagender Schrei kam aus ihrem Mund, wie ihn Mythor schon vernommen hatte. Und mehr denn je erinnerte es ihn an die klagenden Laute Altons, wenn er die Klinge im Kampf führte. Der Schrei wurde lauter und gewaltiger, als Mythor näher kam. Plötzlich begann das dunkle Auge an der Stirn zu glühen 168
wie ein Rubin im Widerschein eines Feuers. Mythor vernahm eine donnernde Stimme: »Ich bin Cyclom, der Wächter des Wolkenhorts. Hier ist dein Weg zu Ende, Sterblicher, wenn nicht ich dir selbst das Tor öffne.« Mythor tat einen weiteren Schritt vorwärts. Ein heller Strahl drang aus dem Auge und traf auf den metallenen Boden vor Mythor wie eine Lache von Blut. Mythor wich erschrocken zurück. Er hob Alton abwehrend. Es war eine pure Reflexhandlung. Er tat es, ohne zu denken. Die Klinge tauchte in das rote Licht, spiegelte es wider. Einen Atemzug lang huschte der reflektierte Spiegelstrahl über die Statue. Sie schrie wie ein lebendes Wesen vor Schmerz und Wut. Eine dünne Spur von Rauch stieg auf, und ein Riß öffnete sich mit einem berstenden Geräusch. Das rote Licht erlosch. Das Auge war dunkel. Stille herrschte darauf, bis Mythor entschlossen sagte: »Höre mich, Cyclom, ich bin Mythor. Ich werde gegen dich kämpfen, wenn das der einzige Weg ist. Ich begehre Einlaß zu Althar. Ich begehre den Helm der Gerechten!« Wieder folgte eine längere Stille, bis Mythor dachte, das rote Licht hätte alles Leben in dem Koloß zum Erlöschen gebracht. Er ging zögernd einige Schritte auf ihn zu. Da glühte das Auge erneut auf. Doch diesmal war es kein Lichtstrahl, diesmal war es eine unsichtbare Kraft, die nach Mythor griff und ihn wie ein welkes Blatt zurückschleuderte, daß er benommen liegenblieb. »Wurm!« dröhnte das Geschöpf. »Du wirst Abstand halten, bis es mein Wille ist, daß du eintrittst!« Die Benommenheit verflog rasch. Mythor erhob sich. Merwallons Stimme war plötzlich in ihm, in seinen Gedanken. »Keine Angst, Weltretter. Wir sind zu fünft, vergiß das nicht. 169
Sogar Cheek hat begriffen, daß es um unsere gemeinsame Haut geht. Wir werden mit diesem Glotzauge schon fertig.« Es ist trotzdem nur ein Körper, dachte Mythor zweifelnd. Mein Körper, fügte er hinzu, an dem mir wohl am meisten liegt. »Dennoch sind wir fünf«, widersprach Merwallon. »Wir denken für fünf Gegner, wir haben Ideen für fünf Gegner. Wir ertragen Schmerz und Erschöpfung wie fünf Männer. Laß uns nicht grübeln. Laß uns handeln.« »Also gut, Prinz von Thormain. Was schlägst du vor?« »Wir versuchen es noch einmal, wie vorhin. Wenn wir uns zu fünft wappnen, mag es sein, daß wir ihm widerstehen…« »Nein!« »Tut mir leid, du bist überstimmt. Wir vier haben beschlossen, es zu versuchen.« »Nein. Versteht ihr denn nicht?« Aber sie hielten nichts von seinen Einwänden. Und Mythor wurde mit Entsetzen bewußt, worauf er sich eingelassen hatte. Von allen Alpträumen, mit denen er sich in diesem Turm eingelassen hatte, war dies der schrecklichste. Die vier Geister, an deren Existenz er im Grunde bis zuletzt gezweifelt hatte, übernahmen seinen Körper. Es geschah so unvermittelt, daß er sich erst zu wehren versuchte, als es bereits zu spät war. Als sei er noch immer betäubt von der unsichtbaren Kraft der Statue, nahm er undeutlich wahr, wie er sich aufrichtete und vorwärts bewegte, ohne daß wirklich er selbst es war, der die Beine bewegte. »He, du Standbild!« rief Mythors Stimme, doch es war nicht Mythor, der sprach. »Ich komme wieder!« Es war Mythors Arm, der Alton herausfordernd schwang, doch es war nicht Mythors Wille, der den Arm hob. Es war wie ein einschlagender Blitz, und das Donnern in Mythors Ohren stammte von seinem Körper, der von einer unsichtbaren Faust zu Boden geschleudert wurde. 170
Er spürte nicht sehr viel – einen stechenden Schmerz im Arm, ein wenig des Aufpralls. Alles andere, was ihn sonst wohl ohne Bewußtsein gelassen hätte, fingen die vier in ihrem Lebenshunger auf. Eine Weile jagten die Gedanken der vier durcheinander, wobei die Gedanken Cheeks in ihrer unmißverständlich mörderischen Art herausstachen. Es kostete Mythor ungeheure Willenskraft, aus seiner Abgedrängtheit emporzutauchen und Gewalt über seinen Körper zu gewinnen. »Versteht ihr es denn nicht?« rief er laut und wütend. Und in Gedanken fügte er hinzu: Und wenn wir noch so viele sind. Wir haben nur einen Körper! Wir werden nicht kräftiger und nicht unverwundbarer! Und sarkastisch ergänzte er: »Und wie mir scheint, auch nicht klüger!« Letzteres war nicht ohne Wirkung. »Wir haben so lange nicht mehr gelebt…«, begann Keethwyn. Eben deshalb werdet ihr es mir überlassen! Es war nun ein befehlender Ton in Mythors Gedanken und etwas Unbeugsames in der Art, wie er es dachte. Ihr wolltet Anteil haben an meinem Leben, nicht es übernehmen! Ich werde allein entscheiden, was geschieht. Ich werde allein handeln. Ihr werdet nur Anteil haben. Andernfalls… »Was kannst du schon tun?« Versuch es herauszufinden, Cheek, dachte Mythor grimmig. Ich bin mit klügeren und stärkeren Kreaturen fertig geworden, als du es bist. Cheek fühlte offenbar kein Bedürfnis, es auf eine Kraftprobe ankommen zu lassen. Die anderen zogen sich betroffen in tiefere Winkel seines Geistes zurück. Mythor atmete auf. Sie waren so weggewischt aus seinem Geist, daß er sich frei fühlte und wieder anfing, sich wie ein Narr vorzukommen, der sich mit inneren Stimmen unterhielt. Aber dann verbannte er das alles aus seinem Geist. Er stand auf und streckte seine Glieder. Da war kaum ein Knochen, der 171
nicht schmerzte, aber ernstlich verletzt schien er nicht zu sein. Nachdenklich betrachtete er das einäugige Hindernis. »Cyclom! Hörst du mich?« rief er. »Ich höre dich, Sterblicher.« »Was sind die Bedingungen für den Eintritt?« »Daß du auserwählt bist.« »Auserwählt?« »Daß es deine Bestimmung ist, die Nachfolge meines Meisters anzutreten.« »Ich weiß nicht, ob ich auserwählt bin«, erklärte Mythor. »Ich bin nicht so vermessen, zu glauben, daß ein einzelner Sterblicher für die Götter wirklich wichtig ist. Ich bin hier, um den Helm der Gerechten zu erringen und ihn im Kampf gegen die Caer und ihre Dämonen zu verwenden.« »Ich kenne die Caer nicht, von denen du sprichst. Die Völker der Sterblichen sind zu kurzlebig, um von ihnen Notiz zu nehmen. Viele sind entstanden und wieder verschwunden, seit ich hier wache. Doch niemals beging einer den Frevel, hierher vorzudringen.« »Wie kann ich dir beweisen, daß ich auserwählt bin oder den Helm zu Recht begehre?« fragte Mythor ungeduldig. »Es war meine Aufgabe, es herauszufinden. Dafür wurde ich geschaffen, als mein Meister in diesem Turm Zuflucht vor der Zeit suchte.« »Wie stellst du es fest?« drängte Mythor. »Der Weg zu meinem Meister führt durch mich hindurch. Dabei sind Augen zu passieren, die tief in den Geist blicken. Wenn das, was sie sehen, übereinstimmt mit den Bildern, die mir eingeprägt sind, dann allein ist der Weg frei nach oben.« »Und wenn sie nicht übereinstimmen?« »Hört sein frevelnder Geist auf zu sein.« »Es gibt keinen Weg zurück?« »Nein.« 172
Mythor stand mit geballten Händen da. Es war das größte Wagnis von allen, die der Turm ihm abverlangt hatte. Er dachte an Nyala, an die Höhle, in der er Gwasamee fand, an Xanadas Lichtburg, in der er Alton, das Gläserne Schwert, errang; an die ihm so seltsam auferlegte Bestimmung, für das Licht zu kämpfen; er dachte an die Erzählungen Etros, an den Bitterwolf. Er zweifelte wieder. Aber er war schon zu weit gegangen. Die Zweifel würden für alle Zeiten an ihm nagen, wenn er nun umkehrte. Mehr noch, er würde sich diesen Augenblick der Feigheit nicht verzeihen können, wie sehr er ihn nun auch als einen Augenblick der Vernunft erkannte. Aber Helden, die grübelten und zweifelten und vor der Tat zurückschreckten, solche, die ihre Chance nicht nutzten, gab es genug. Aller bisheriger Mut war umsonst gewesen, wenn er nun zurückschreckte. Er lauschte in sich hinein, in Erwartung eines Widerspruchs von Merwallon und den anderen. Doch seine Begleiter schwiegen. Es war seine Entscheidung ganz allein, wie er es verlangt hatte. Er lächelte bitter. Dann tat er entschlossen einen Schritt auf die Statue zu. »Ja, ich denke, daß ich auserwählt bin. Prüfe mich!« »Halt!« donnerte die Statue, so daß Mythor mitten im Schritt innehielt. »Wisse, Sterblicher, daß ich weise bin über alle Maßen hinaus, auch wenn mein Amt nur das Wachen ist.« »Ich zweifle nicht daran«, sagte Mythor rasch und durchaus überzeugt. »So habe ich vor langer Zeit begonnen, selbst Entscheidungen zu treffen«, fuhr Cyclom fort, und es klang, als spreche er mehr zu sich selbst als zu Mythor. »Ich habe erkannt, daß kein Sterblicher für meinen Meister von Bedeutung sein kann. Und ich habe beschlossen, daß kein Sterblicher den zeitlosen Schlummer meines Meister stören wird.« 173
Mythor starrte die Statue überrascht an. »Du willst mich nicht prüfen?« »Nein. Ich habe erkannt, daß es nicht notwendig ist. Deshalb habe ich die Bilder in mir zerstört.« »Du hast…?« entfuhr es Mythor. »So kannst du gar nicht mehr erkennen, ob einer auserwählt ist?« »Es ist nicht notwendig, nachdem ich erkannt habe, daß keiner für meinen Meister von Bedeutung ist.« »Wenn dein Meister aber auf jemanden wartet, der eines Tages kommen mag?« »Es ist nicht von Bedeutung, denn niemand wird meinen Meister aus seinem zeitlosen Schlummer wecken.« Mythor schüttelte den Kopf. Resigniert starrte er auf den für ihn und sein Schwert sicherlich unüberwindlichen Koloß. Sollte hier alles zu Ende sein? War Althar der Gefangene seines eigenen Wächters? »Althar!« rief er. »Althar! Herr des Wolkenhorts! Hörst du mich?« Er schrie es mit aller Kraft. Aber vermochten Rufe überhaupt durch diese erzenen Wände zu dringen? »Es ist nicht sinnvoll, daß du meinen Meister rufst«, dröhnte Cyclom. »Er wäre sonst längst durch meine Stimme erwacht. Sein Schlummer ist nicht von der Art, daß ihn Geräusche wecken könnten.« »So laß mich zu ihm. Er soll selbst entscheiden.« »Es ist nicht möglich, da ich beschlossen habe, daß kein Sterblicher ihn wecken wird.« »So muß ich dich vernichten!« sagte Mythor wütend. »Kein Sterblicher hätte die Kräfte dazu. Ich bin nicht sterblich.« »Deine eigenen Kräfte können dich zerstören«, entgegnete Mythor. »Dein eigenes Feuer verbrennt dich. Du bist so sterblich wie alle Geschöpfe. Du selbst frevelst, wenn du dich für etwas Unsterbliches hältst!« 174
»Erbärmlicher Zweifler!« donnerte Cyclom. Er verstummte. »Die Saat deiner Gedanken ist zerstörerisch«, sagte er nach einem Augenblick. Und abwesend kamen nach einer weiteren Pause die Worte: »Ich muß denken.« Danach herrschte Stille. Mythor verstand nicht, was vorging, doch offensichtlich hatte etwas, das er gesagt hatte, Cyclom verwirrt. »Ich muß denken«, wiederholte Cyclom. Die Worte klangen verloren. Mythor schob sich unmerklich ein wenig näher. Nichts geschah. »Ich bin nicht sterblich«, dröhnte die Stimme. Aber es klang nicht so arrogant wie zuvor, nicht mehr so selbstgefällig. Mythor gab keine Antwort. Seine Gedanken beschäftigten sich nur mit einem: nahe genug heranzukommen, um einen Hieb auf das dunkelrote Auge anzubringen. Es erwartete jeden Moment, zurückgeschleudert zu werden, doch Cyclom war augenscheinlich ganz mit der Frage beschäftigt, wie unsterblich er sei. Der Drang, plötzlich loszustürmen und zuzuschlagen, war übermächtig. Mythor hielt mühsam an sich. Langsam und lautlos wie ein Raubtier schob er sich näher. »Ich bin zerstörbar«, dröhnte die Stimme. Mythor war zum Greifen nah an die Statue herangekommen, als sie erneut sprach: »Ich muß es wissen, Eindringling!« Mythor verlor keine Zeit mehr. »Das kannst du haben«, zischte er und sprang die letzten Schritte. Er erreichte den Koloß, hielt sich einen Atemzug lang an einem kalten, schimmernden Arm fest und schnellte sich mit erhobener Klinge hoch. Alton schmetterte gegen das Auge. Ein dumpfes Klingen erfüllte den Raum. Splitter regneten auf Mythor herab. Die Statue erzitterte wie unter einem gewaltigen Erdstoß. Mythor stürzte und hob abwehrend die Klinge. »Gewürm!« krächzte die Stimme in fast menschlicher Wut. 175
Das gebrochene Auge füllte sich mit grellrotem Licht. Ein Strahl zuckte herab auf Mythor, traf die abwehrend erhobene Klinge, wurde reflektiert und schnitt wie ein riesiges blutiges Messer durch Schädel und Schultern der Statue. Stein splitterte. Cyclom schrie wieder – nicht aus Pein, denn wie sollte ein steinerner Koloß Pein empfinden, sondern aus Grauen vor der nicht mehr zu verleugnenden Erkenntnis, daß er vernichtbar war, daß er sterblich war. Ein Teil des Kopfes und die rechte Schulter glitten scharrend herab und zerbrachen auf dem metallenen Boden mit gewaltigem Getöse. Das Auge hing matt schimmernd im Rest des Schädels. Die Stimme klang klagend. »Meister… sie töten mich! Laß nicht zu, daß Sterbliche mich…« Töten, rasten Cheeks Gedanken durch Mythors Kopf. Töten. Ich kann ihn töten, wenn ihr zu feige seid! So unvermittelt und wie ein Sturmwind tauchte Cheek aus den Tiefen seines Bewußtseins auf, daß Mythor sich zu spät wehrte. Hilflos sah er zu, wie er die Klinge hob, an dem bebenden Stein hochkletterte und auf das Auge einhieb. »Stirb!« keuchte er, nein, keuchte Cheek mit seiner Stimme. Rotes Licht blitzte, flackerte, tanzte über die Wände, und wo es traf, begann das Erz des Turmes zu glühen. Nur dem Träger Altons vermochte es nichts anzuhaben. Ein erneuter Schwerthieb schmetterte das Auge auseinander, daß es in einem Regen roter Funken barst. »Stirb!« schrie Cheek und nach einem Augenblick: »Helft mir! Es will nicht… sterben!« Mythor spürte undeutlich einen lähmenden Schmerz in seinem Kopf. Cheek benutzte seine Stimme gequält und schrill, wie in Panik: »Keethwyn! Es will nicht sterben! Ihr Götter! Helft mir! Wir sterben alle! Merwallon…!« Sie kamen, tauchten empor in Mythors Verstand, der ihm so 176
fern schien, als habe er keinen Anteil daran. »Wir kommen!« Mythor verstand nicht, was geschah. Er spürte zu wenig, um es zu erkennen. Aber Cheek schrie in fürchterlicher Qual. Und Merwallon, Keethwyn und Oren, die ihm zu Hilfe kamen, stimmten ein in das Schreien, bis die Stimme völlig unkenntlich, fast nicht mehr menschlich klang. Das war ein grauenvoller Augenblick, als sie sich zurückzuziehen versuchten, als sie freizukommen versuchten aus dem furchtbaren geistigen Griff, in dem Cyclom sie erfaßt hatte. Dann verstummten sie, einer nach dem anderen. Cheek zuerst. Es war, als ob sie auf eine seltsame Art in die Ferne glitten und verschwänden. Dann brach das Schreien ab. »Ich bin immer noch Cyclom, der Wächter des Horts!« rief die Stimme der Statue, doch sie klang kraftlos, wie ein Echo ihrer selbst. »Kein sterbliches Gewürm wird mich…!« Sie brach ab und schwieg, und das, was vom Auge übrig war, blieb dunkel. Mythor spürte, wie ihm seine Sinne entglitten. Verzweifelt klammerte er seine Finger um das Gläserne Schwert. * Als Mythor wieder zu sich kam, hatte sich nichts verändert. Noch immer drang Tageslicht durch die schmalen Öffnungen in der eisernen Wand. Die halb zerstörte Statue ragte über ihm auf. Trümmer des Oberkörpers und des Schädels lagen überall verstreut. Er erhob sich ein wenig benommen. Er sah sich um, sah an sich hinab, bewegte seine Arme und Beine. Erleichtert erkannte er, daß er keine Schmerzen hatte, außer von ein paar kleinen Schrammen. 177
Die Statue regte sich nicht. Sie hat sich letztlich doch als sterblich erwiesen, dachte Mythor. Was immer sie belebt hatte, war entwichen. Wie seine Begleiter. Ihr schreckliches Ende, wie es wohl nur Cheek verdient hatte, klang in seiner Erinnerung nach und ließ ihn schaudern. Aber er spürte auch Erleichterung, daß er wieder frei war. Es war ihm zum Alptraum geworden. Dann sammelte er seine Gedanken für die Gegenwart. Noch hatte er sein Ziel nicht erreicht. Aber wenn Cyclom der Wächter des Hortes war, so mußte der Hort ganz nahe sein. Durch ihn hindurch mußte der Weg führen, das hatte Cyclom selbst verraten. Mythor behielt das Schwert in seiner Hand. Es mochte noch immer Überraschungen geben, auf die er besser vorbereitet war. Er stieg vorsichtig über die Trümmer um die Statue herum. An der Seite entdeckte er eine Öffnung, die in Dunkelheit führte. Von oben drang ein wenig Licht herab, wo die Statue beschädigt war. Er vermochte kaum die Hand vor den Augen zu sehen. So tastete er sich mit dem Schwert voran und stolperte gleich darauf über Stufen, die nach oben führten. Diesmal dauerte der Aufstieg länger, fast so, als müsse er über zwei Stockwerke gehen. Dann hatte er einen größeren Raum erreicht. Er merkte es an der Art, wie sein Atem klang. Zu sehen war nichts. Der Raum besaß entweder keine Öffnungen nach draußen, oder es war inzwischen Nacht geworden. Während er noch überlegte, ob er es wagen sollte, in diese weite Schwärze einzutreten, blitzte etwas wie ein Stern hoch über ihm auf. Es wurde zu einem schwachen Glühen, das sich rasch verstärkte. Es war ein gespenstisches gelbliches Licht, dessen Ursprung sich Mythor nicht erklären konnte. Wie das Auge Cycloms, dachte Mythor, denn es sandte einen Lichtstrahl durch die Dunkel178
heit herab. Das Licht fiel auf eine Art Podest oder Altar aus Stein und eine silbern schimmernde metallene Liegestatt. Darauf lag eine muskulöse Gestalt. Neugierig, doch vorsichtig kam Mythor näher. Es war ein Krieger, fast ein Riese von Gestalt, der hier lag – tot oder in einem magischen Schlaf begriffen. Ein Fellrock bedeckte seinen Unterkörper, wallendes dunkelblondes Barthaar lag dicht auf der nackten Brust. Das Alter des Kriegers war schwer zu schätzen. Das Gesicht war in einer zeitlosen Entspanntheit in den Schlaf oder Tod geglitten; es mochte zwanzig Sommer oder tausend alt sein. An seiner Seite lag ein langes, kostbares Schwert in einer silber- und edelsteinverzierten Scheide. In seinen Händen über der Brust aber hielt er etwas, das Mythors Herz höher schlagen ließ: einen Helm! »Althar«, flüsterte er. »Der Helm der Gerechten!« Er betrachtete ihn fasziniert. Es war ein Helm, auf den Könige stolz gewesen wären. Elfenbeinerne Hörner ragten aus goldschimmerndem Metall. Bronzefarbene Bänder bildeten ein Geflecht am oberen Teil. Ein blauer Edelstein funkelte an der Stirnkappe. Ein dichter Kranz blauer und roter Edelsteine wand sich gleißend über das Metall, das leicht und fest zugleich wirkte. Zögernd griff er danach. Die Berührung war wie die Berührung von etwas längst Vertrautem; so als habe er den Helm schon immer besessen. Und wie sich Altons Griff immer warm in seine Faust fügte, so war auch dieses Metall warm. Aber die Hände des Kriegers hielten ihn fest. Seine Finger wollten sich nicht lösen, auch nicht, als Mythor mit aller Kraft daran zog. Er versuchte, die starren Finger zu bewegen, doch es hätte eines Schwertes bedurft, sie von dem Helm zu lösen. Er zögerte, sich mit der Waffe an einem zeitlos Schlummernden zu schaffen zu machen, wie Cyclom seinen Meister Althar 179
bezeichnet hatte. Es widerstrebte ihm, diese heroische Gestalt in ihrer Hilflosigkeit zu verletzen. Aber nach einer Weile war seine Hilflosigkeit noch offensichtlicher, und er zwängte vorsichtig die Spitze Altons zwischen Finger und Helm. Und zuckte zurück. Bei der Berührung durch das Gläserne Schwert ging ein Zittern durch den starren Körper. Als Mythor aufsah, bemerkte er, daß sich die Augen des Kriegers geöffnet hatten. Ein pathetischer Ausdruck lag in diesen Augen, so als sei etwas lang Ersehntes eingetreten. Die Finger der einen Hand lösten sich ruckartig vom Helm, umfaßten die gläserne Schneide Altons und hielten sie fest, als suchten sie Halt. Eine Kraft schien überzufließen. Mythor stand reglos. Er war nicht sicher, wie er sich verhalten sollte. Er wußte nicht, ob Althar sein Feind sein würde; ob er ihm dankbar für die Unterbrechung seines ewigen Schlummers war oder ihn dafür haßte. So stand er still, bis Althars bleicher Körper Farbe gewann und die Hände von pochendem Blut zuckten und die Züge lebendig wurden. Als der Krieger sich aufrichtete, entwand Mythor ihm sanft die Klinge und trat einen Schritt zurück. »Ahhh«, sagte der Krieger, als schüttle er den Schlaf und die Träume von ein paar Jahrhunderten damit ab – was er wohl auch tun mochte. Er streckte seine mächtigen Arme und spannte die Muskeln. Seine Miene war die eines Mannes, der in die Schlacht zieht, auf die er lange gewartet hat. So eindrucksvoll war dieses Gebaren, daß Mythor sich unwillkürlich wappnete und einige Schritte Abstand zwischen sich und die mächtige Gestalt brachte. Dabei war das von wallendem blondem Haar umrahmte Gesicht von Tatendrang und Siegesgewißheit erfüllt, was Mythor Unbehagen verursachte. Er war dem Helm ganz nahe. Er hatte Kreaturen besiegt, wie 180
er sie sich in seiner Phantasie nicht auszumalen vermocht hätte. Er besaß Alton, ein Schwert, mit dem er auch gegen Dämonen gewappnet war. Der Krieger setzte den goldschimmernden Helm auf und zog seine Klinge aus der Scheide. Dann stieg er vom Podest. Er baute sich vor Mythor auf in seiner ganzen imposanten Größe. Dann lehnte er sich auf den Griff der Klinge und musterte den Eindringling. »Es dürstet mich nach einem guten Kampf«, sagte er. »Aber da mein Wächter dich eingelassen hat…« »Er hat mich nicht eingelassen«, widersprach Mythor. »Ich habe ihn besiegt.« »Du hast Cyclom besiegt?« fragte Althar erstaunt. Er schüttelte das Haupt. »Wie?« »Damit«, sagte Mythor und hob das Gläserne Schwert. »Alton«, murmelte der Krieger und nickte. »Du hast es rechtmäßig erlangt?« »Es gibt Menschen, die nennen mich den Sohn des Kometen, was immer es bedeutet. Sie gaben mir auch den Namen Mythor.« »Namen sind nichts«, entgegnete Althar. »Für die Menschen doch. Ihre Legenden wären leer ohne Namen.« »Ich weiß.« »Eine Kometenfee wies mir den Weg zu Alton. Und nun begehre ich den Helm, den du auf deinem Haupt trägst.« »Weshalb?« »Die Welt ist in Aufruhr. Die Caer und ihre Dämonen ziehen wie die Pest über die Welt. Daß sie mich den Sohn des Kometen nennen, bedeutet, daß sie einen Sohn des Kometen brauchen, einen, der die Schattenmächte so haßt wie ich, einen, um dessen Banner die noch freien Völker ihre Heere scharen können.« 181
Mythor hatte noch nie so genaue Vorstellungen gehabt wie in diesem Augenblick, und diese Vorstellungen zündeten neue Funken in ihm. Hier, im Anblick des wiedererstandenen Althar, zweifelte er nicht länger an seiner Sendung. »Wir brauchen Waffen und Wehren gegen die dunklen Mächte. Das Leben ist nicht gewappnet genug. Es mag untergehen, bevor der Lichtbote zurückkehrt.« »Was weißt du vom Lichtboten?« »Nicht mehr als Legenden.« Althar nickte langsam. »Du weißt nichts. Aber du gehst deinen Weg.« »Tun wir das nicht alle?« fragte Mythor. »Vielleicht. Nur eines zählt: Es darf keinen Kompromiß geben, wenn es die Schattenmächte betrifft, ob auf dieser Welt oder im Kosmos. Es darf nur den Kampf geben.« »Ja«, stimmte Mythor zu. »Es darf nur den Kampf geben!« »Du bist nach meinem Geschmack, und ich wollte, du könntest die Welt und die Dinge so sehen, wie ich sie sehe.« »So vertraust du mir?« »Ja, Mythor. Aber ich kenne die menschliche Habgier und Hinterlist. Ich traue keinem auf sein Gesicht oder seine Worte hin. Doch ich habe dir bereits in meinen Träumen Beifall gezollt.« »In deinen Träumen?« Althar nickte. »In meinen Tagen war ich ein Feldherr des Lichtes, und ich sah die Schattenmächte in all ihren teuflischen Manifestationen. Ich habe viel gelernt. Ich bin gegen alle ihre Tricks gewappnet. Deshalb bin ich hier in diesem Turm, diesem Bollwerk des alten Reiches. Es war eine lange Zeit, die ich schlief und träumte. Die ich wartete auf einen wie dich, den Helm zu tragen. Es waren meine Prüfungen, die du zu bestehen hattest. Du bist keinen wirklichen Schattenkräften begegnet, denn in diesem Turm haben sie keine Macht. Es waren 182
nur meine Erinnerungen daran, gegen die du kämpftest. Meine Alpträume. Du hast dich gut geschlagen.« »Ohne Alton hätte ich es nicht geschafft«, gestand Mythor ein. »Das ist wahr. Ohne Alton hättest du es nicht geschafft, aber die Kraft dafür war in dir selbst.« »Ich hatte Glück.« »Du wärst nicht menschlich ohne Glück.« »Weshalb spielt die Unsterblichkeit immer wieder solch eine schreckliche Rolle?« »Die Magie kennt viele Unsterblichkeiten. Und alle sind sie für die Menschen nicht erträglich.« »Bist du nicht unsterblich?« »Auf eine Weise«, stimmte Althar zu. »Und du erträgst es?« »Ich bin nicht menschlich.« »Dieser Körper…«, wandte Mythor ein. »… ist nur ein Werkzeug. Und da meine Aufgabe nun erfüllt ist, wie es scheint, kann ich zurückkehren.« »Wohin?« Althar lächelte, ließ die Frage aber unbeantwortet. »Dieser Körper«, sagte er, »ist wie das Erz dieses Turmes zum großen Teil von dieser Welt und nur dem Zugriff der Zeit entzogen worden.« Sein Lächeln vertiefte sich. »Ihre Schergen sind ergrimmt. Sie werden ganze Arbeit leisten, wenn die Tore erst offen sind. Du wirst bald verstehen, was ich jetzt sage. Eines beantworte mir noch: Weshalb hast du die Prüfung meines Wächters nicht auf dich genommen?« Mythor sagte es ihm. Althar wurde bleich. »So verdanke ich dir mein Leben«, sagte er. Er legte eine Hand auf Mythors Schulter. »Die Magie des Lichtes ist so fehlbar wie die der Dunkelheit, auch wenn sie in Einklang mit den Gesetzen der Welt steht. Laß es dir eine Warnung sein. Alton 183
mag eines Tages nicht mehr diese Kraft besitzen, auf die du vertraust. Und auch dieser Helm mag seine Kraft verlieren, gerade in einem Augenblick, da du sie am dringendsten brauchst. Es gibt nur drei Dinge, auf die du vertrauen darfst, wenn du gegen die Dunkelheit kämpfst: auf deinen Arm, auf dein Herz und deinen Verstand. Wahre, lebendige Kraft kommt nur daraus.« Mythor nickte nachdenklich. Althars Hand wog schwerauf seiner Schulter. Er kam sich plötzlich unsagbar hilflos vor. Er hatte nicht viel mehr erreicht, als die Dunkelmäch te auf sich aufmerksam zu machen. Wie ein Gesetzloser irrte er durch Tainnia mit ein paar Gefährten, von der einen Seite gejagt, von der anderen unbeachtet. Die Völker der Lichtwelt um sich zu scharen war eine Aufgabe, für die ein Leben schier nicht ausreichte. Und er wußte so wenig von der Welt. Althar schien zu wissen, was in ihm vorging. Er nickte lächelnd. »Dir ist kein leichter Weg auferlegt worden. Held zu sein ist eine Art von Tod… und eine Art von Leben.« »Ist es mir auferlegt?« fragte Mythor. »Habe ich selbst gar keine Entscheidungsgewalt darüber?« »Können wir entscheiden, was wir träumen? Oder was wir fühlen? Wo die Sonne aufgeht? Wir haben die Freiheit, es zu versuchen. Den Stoff zu bezwingen, versucht der Geist seit Anbeginn der Schöpfung. Und wenn es gelingt…« Er ließ den Satz unvollendet. »Es scheint mir, daß die Dunkelmächte darin erfolgreicher sind«, stellte Mythor fest. »Magie ist ein Weg.« »Der leichtere?« »Vielleicht.« »Weil es leichter ist, zu zerstören, als aufzubauen, zu töten, als…« »Nein.« Althar schüttelte den Kopf. »So einfach ist es nicht, mein sterblicher Freund. Auch das Leben zerstört, um zu le184
ben. Und das Licht ist der größte und hungrigste Feind der Welt, denn es verbrennt den Stoff. Jede Flamme verzehrt ein Stück der Welt. Die Wärme, die das Leben braucht, ist Teil dieser Zerstörung. Verbrennung ist das Prinzip des Lebens und der Natur. Ihr entgegen steht das andere Prinzip…« »Die Magie?« »Ja. Die Magie und die Dunkelheit. Seit Anbeginn herrscht ein kosmischer Kampf zwischen Licht und Dunkelheit. Sie sind gegensätzliche Formen des Daseins. Was Recht ist und Unrecht, was Gut und was Böse ist, wird letztendlich das höhere Prinzip entscheiden.« »Und das höhere Prinzip ist…« »Das überlebende.« Mythor fröstelte. »So einfach ist die Welt«, murmelte er. »Schwert und Blut entscheiden.« Althar schüttelte verneinend den Kopf. »Es ist immer der Geist, der entscheidet. Aber es gibt eine Zeit zu denken und eine Zeit zu kämpfen.« »Ich werde nie wieder frei sein von diesem Wissen, das du mir gegeben hast. Wie werde ich je frei sein von der Frage, ob ich das Richtige tue?« »Wenn du dein Schwert für das Licht führst, wird es das Richtige sein. Schlachten können verlorengehen. Das gleichen Siege wieder aus. Nur eines darf nicht geschehen: daß man den wirklichen Feind aus dem Auge verliert!« »Wie könnte das geschehen?« rief Mythor heftig. »Magie ist eine große Täuscherin. Aber der Helm und das Schwert werden dir helfen. Und du magst auf deiner Suche noch auf andere Waffen stoßen, die von den gewaltigen Schlachten aus meinen Tagen auf dieser Welt geblieben sind und ihre Macht nicht verloren haben. Und was meine philosophischen Betrachtungen über die Welt angeht, die du so gläubig Wissen nennst, so werden sie dich nicht lange plagen. 185
Wenn ich fort bin, wird die Wolke verschwinden, und dieser Hort wird in die hungrigen Klauen der Zeit heimkehren, die nicht viel von ihm übriglassen werden, weder von den Dingen noch von den Gedanken. Nur der Helm, den du den Helm der Gerechten nennst, er wird keinen Schaden nehmen. Er ist zu vollkommen, selbst für die Zeit.« »Was vermag er?« fragte Mythor. »Das mußt du selbst herausfinden.« Zu weiteren Auskünften war der Krieger nicht zu bewegen. Er murmelte nur: »Ich muß nun gehen und die Zeit einlassen.« Althar begab sich zu dem Podest zurück, auf dem er aufgebahrt gewesen war. Mythor folgte ihm zögernd. Warum gab er ihm den Helm nicht? Er fühlte Unbehagen. Was meinte Althar damit, daß er die Zeit einlassen wolle? Der Krieger legte sich auf sein Podest. Er nahm den kostbaren Helm ab und hielt ihn Mythor lächelnd entgegen. »Trage ihn so stolz wie Kanwall, mein Bruder, in der Schlacht von Kinweir. Und wie Angrim vor ihm.« »Und wie Althar«, ergänzte Mythor mit glänzenden Augen. »Ja, das werde ich. Ich verspreche es, bei Quyl und allen Göttern des Lichtes.« Althar nickte langsam und beobachtete wohlgefällig, wie Mythor den Helm aufsetzte. Er nahm ihn am Arm. »Sag mir eines noch: Wie sieht die Welt aus da draußen? Deine Welt? Herrscht Quarossa noch über die Rote See? Haben sie Parindre wieder aufgebaut, seit die Horden der Quorls es plünderten? Sind die Feuerberge erloschen in der Bucht von Brytain, wo einst Alvinon lag?« Mythor schüttelte traurig den Kopf. »Ich fürchte, ich kenne keinen der Namen. Nur…« »Nur?« wiederholte Althar hoffnungsvoll. »Alvinon läßt mich an Elvinon denken. Es ist eine Stadt an der Straße der Nebel. Es… war eine Stadt. Die Horden der 186
Caer überrannten sie. Sie bringen Feuer und Zerstörung an viele Küsten.« Althar nickte langsam. »Du beschreibst eine düstere Zeit. Ich wünsche dir und deiner Welt Glück, Mythor. Ich wollte, mein Arm und meine Klinge könnten der Zeit entfliehen. Aber das Leben hat seine Gesetze. Leb wohl, Freund! Hab keine Furcht vor dem, was nun geschieht!« Er legte sich zurück, und seine sehnigen Finger spannten sich um sein Schwert. Sein Blick wurde abwesend, leer. Ein seltsames Rauschen erklang von irgendwo außerhalb des Raumes, außerhalb des Turms. Das fremdartige Licht erlosch. Doch es wurde nicht dunkel. Wie in den unteren Stockwerken drang nun auch hier Tageslicht durch schmale Öffnungen im Metall der Wand. Der Raum war voller Geräusche, als seien Scharen von Ratten und anderen Nagetieren am Werk. Mythor wich instinktiv an die Wand zurück. Aber selbst die Wand war erfüllt von Knacken und metallischem Stöhnen. Dann ging ein dumpfes Grollen durch den Turm. Die Decke klaffte auf, und Mythor schloß geblendet die Augen. Der Spalt verbreiterte sich. Dann wurde der Turm ruhig. Schweigen senkte sich herab. Mythor, dessen Augen sich an die Helligkeit gewöhnten, sah, daß ein wolkenverhangener Himmel über ihm war. Die Kälte des nahen Winters drang durch die Öffnung und ließ ihn frösteln. Die Wirklichkeit war um ihn. Regen, vermischt mit Schnee, kam herab und bildete Lachen auf dem metallischen Boden. Die kalte Luft ließ ihn aufwachen wie aus tiefem Schlummer. Der Raum wirkte mit einemmal trostlos und verfallen. »Die Zeit! Er hat die Zeit eingelassen!« Der Gedanke geisterte durch Mythors Kopf. Er schauderte, denn der Raum sah 187
aus, als seien in diesen wenigen Augenblicken tausend Jahre vergangen. Mythors Blick wanderte zum Podest. Es war leer. Als er davorstand, sah er schwach die Umrisse einer menschlichen Gestalt, jahrtausendealten Staub und den verrosteten Rest einer Gürtelschnalle. Noch während er benommen darauf starrte, wusch der Regen den Staub über das steinerne Podest hinab. Das Schwert, das Althar in seinen Händen gehalten hatte, war verschwunden. Im Tageslicht konnte Mythor ein wenig mehr von Althars Hort erkennen. Er mochte einst sehr prunkvoll gewesen sein, denn an den Wänden hingen Teile von Schilden und Äxten, von Schwertern und Dolchen – was der Rost übriggelassen hatte: Edelsteine, mit denen sie geschmückt waren, und Zierat aus edlen Metallen. Ein Gefühl war in Mythor, als sei der letzte Traum zerplatzt. Und eine große Müdigkeit überkam ihn inmitten der Ruinen dieses Traumes, die ihn selbst den Beweis vergessen ließ, den er auf seinem Kopf trug – den Beweis dafür, daß alles phantastische Wirklichkeit gewesen war. Den Helm der Gerechten. * Unten, im Erdgeschoß des Turms, warteten inzwischen die Caer und ihre Gefangenen auf die Rückkehr Mythors. Ein halber Tag war vergangen, seit der Ritter Coerl O’Marn mit seinen dreißig Kriegern in den Turm eingedrungen war und die Gefährten Mythors gefangengenommen hatte. Sie hatten versucht, die Caer von Mythors Spur zu locken, doch die unheimlichen Kampfgeräusche, die aus den oberen Stockwerken herabdrangen, hatten O’Marn deutlich genug gesagt, wo der Krieger mit der unbesiegbaren Klinge war: auf Beutezug im Turm. 188
Warum Krieger opfern, sagte er sich. Dieser Mythor würde alles mitbringen, was des Holens wert war. Es würde leichter sein, es ihm wegzunehmen. Und er war ohnehin scharf darauf, sich mit dieser legendären Klinge zu messen. Daß Drundyr, der Caer-Priester, diesem Hort der Lichtkräfte fernbleiben mußte, weil es für seinen Dämon ein verfluchter Ort war, gefiel ihm ausgezeichnet. Er mochte Drundyr nicht. Seine Begleiterin allerdings, diese Nyala aus Elvinon, fand er ein interessantes Geschöpf, und er fragte sich, was sie wohl in die Fänge des Caer-Priesters geführt habe. Aber andererseits war er zu sehr Krieger, um sich mehr als nur oberflächlich für eine Frau zu interessieren. Und dennoch… Coerl O’Marn war ein mächtiger Mann, doppelt mächtig in seiner gewaltigen Rüstung, dem gefiederten Helm, dem schweren Kettenhemd. Sein riesiger Rundschild, an dem wohl manche Klinge zerbrochen war, schien zu schwer für einen einzelnen Mann zu sein, doch er hob ihn mühelos mit der Linken. Seine grauen Augen waren kalt, aber nicht ohne einen Funken von Anerkennung, die nur Mythor gelten konnte. Als Kämpfer schätzte er einen Krieger ohne Furcht, gleich, auf welcher Seite er stand. O’Marn war um die fünfzig Sommer alt und, so hieß es, obwohl er es selbst nie ausgesprochen hatte, einer der letzten Nachkommen der legendären Alptraumritter einer ferneren Vergangenheit, als die meisten Menschen Tainnias sich vorzustellen vermochten. Als einer der angesehensten Bürger der Titanenstadt Gianton brauchte er den Groll eines Caer-Priesters wie Drundyr nicht zu fürchten. Er war der erfolgreichste Feldherr der Caer, eine Legende bereits in seinen Tagen, und da für die Caer-Priester Eroberung das oberste Prinzip war und er einer ihrer stärksten Eroberer, brauchte er Neider nicht zu fürchten. Er war ein Caer 189
von altem Blut, einem Blut, das noch rein war von der düsteren Liaison der Priester mit den Dämonen der Dunkelheit. Er verachtete die Priester und ihre dunklen Machenschaften, vor allem der Abhängigkeit wegen, in die sie sich begaben. Er war einer, dessen Freiheit wohl an Traditionen endete – aber nur an Traditionen. Je weiter der Tag fortschritt und je ruhiger es im Turm wurde, desto unruhiger wurde er. Dann und wann sandte er Krieger nach draußen, um den Turm zu beobachten, als fürchte er, der sagenhafte Mythor, von dem er schon so manches gehört hatte, könne sich durch die Lüfte davonmachen. Er war nahe daran, Krieger den Turm hinaufzuschicken, als ein heftiges Grollen und Beben durch die Mauern ging. In Panik rannten die meisten seiner Männer nach draußen. Nur die Gefangenen und ihre Wachen blieben rund um die große Tafel in der Mitte des Raumes sitzen. Und Coerl O’Marn selbst schien unbeeindruckt von dem elementaren Aufruhr zu sein. Er beobachtete nur die Gefangenen, als gefielen ihm ihre Ungewißheit und ihre Furcht um Mythor. Doch dann wurde auch sein sonnengebräuntes Gesicht bleich, als die große Tafel vor seinen Augen ohne ersichtlichen Grund zerbrach und nicht nur in Stücke zerfiel, sondern in Staub. Und die Stühle folgten, als seien sie jahrhundertealt. Gleichzeitig knisterten die Wände, und breite, tiefe Spuren von Grünspan krochen vom Boden hoch. »Caers Blut!« fluchte Coerl O’Marn. »Zauber, wohin ich trete in diesem verfluchten Land! Eines Tages werde ich…!« Er sprach seinen grimmigen Schwur nicht fertig. Er half den Gefangenen auf die Beine und hob Kalathee mit einer ritterlichen Geste in seine Arme, bis wieder Stille um sie war. Dann setzte er die gefesselte Frau ab und rief wütend nach seinen Männern, denn er haßte nichts mehr als Feigheit. »Der verdammte Turm zerfällt!« riefen sie. 190
Und er rief: »Ich stecke euch den Dämonen eurer Priester in den Rachen, wenn noch einer einen Schritt aus dem Turm hinauszusetzen wagt, bevor dieser Mythor erschienen ist!« * Coerl O’Marns Geduld und die seiner Männer wurden auf eine harte Probe gestellt. Selbst die Gefangenen waren nahe daran, alle Hoffnung aufzugeben. Die Sonne ging unter, und das Zwielicht eines langen Frühwinterabends wurde im Turm zu einer gespenstischen Düsternis, die selbst die Caer, für die der Verkehr ihrer Priester mit Dämonen nichts Ungewöhnliches war, verunsicherte. Coerl O’Marn beobachtete es mit einer grimmigen Genugtuung. Er ließ Fackeln entzünden und schickte Wachposten in das nächste Stockwerk, während er den Männern gestattete, von den kalten Vorräten zu essen und auch den Gefangenen zu essen zu geben. Wenig später, als die Nacht hereinbrach, kehrten die Posten von oben zurück. Sie hatten Geräusche weiter oben gehört, so als ob jemand herabkomme. O’Marn und seine Männer wappneten sich aber mehr für ein Spiel denn für einen Kampf. Sie waren dreißig, und sie erwarteten einen Mythor, beladen mit Plündergut und erschöpft von den Kämpfen mit den Verteidigern dieses Turmes. Wirklich auf der Hut war nur O’Marn. Es mochte immerhin auch sein, daß dieser Mythor sich mit den Kräften des Turmes zusammengetan hatte und nicht allein kam. Aber nach einer Weile näherten sich Schritte eines einzelnen Mannes. Einer der Gefangenen, Nottr, der Lorvaner, entwand sich den knebelnden Händen seiner Wache und schrie: »Mythor, 191
paß auf! Es ist eine Falle!« Die Schritte verhielten in der Dunkelheit einige Atemzüge lang. Dann erklangen sie erneut, und eine einsame Gestalt kam herab und baute sich grimmig vor den Caer auf. Sie trug einen wundersamen Helm aus Gold und Bronze, verziert mit Edelsteinen, die im Fackellicht gleißten. »Der Helm der Gerechten!« entfuhr es Nottr. Die Caer wichen unwillkürlich einen Schritt zurück vor der grimmigen Entschlossenheit des Ankömmlings. »Mythor!« rief Kalathee erleichtert und verzweifelt zugleich. »Mythor«, wiederholte O’Marn und starrte auf das Gläserne Schwert, das Mythor hiebbereit hielt. »Die sagenhafte Klinge!« Mythors Blick flog über die Szenerie. Nichts deutete darauf hin, daß er beeindruckt war. Nichts deutete auch darauf hin, daß die Abenteuer im Turm ihn erschöpft hatten. Er maß die Anwesenden und nickte ihnen auffordernd zu, als wolle er sagen: Wer zuerst? Bewundernd und triumphierend zugleich rief Coerl O’Marn: »Los, Männer! Holt ihn euch! Aber ich will ihn lebend! Hört ihr? Eine Belohnung für den, der mir seine Klinge bringt!« * Während er nach unten stieg, fiel die Müdigkeit immer mehr von Mythor ab. Mit jedem Stockwerk fühlte er sich kräftiger. Fast war es, als gebe ihm der Turm die Kräfte zurück, die er ihm abverlangt hatte. Die Räume waren nun alle leer und glichen alten, verstaubten, verrotteten Grüften. Als er in das Stockwerk kam, in dem er auf Merwallon und die anderen gestoßen war, hörte er undeutlich Stimmen von unten herauf. Es waren einsame Abenteuer gewesen, und er freute sich, 192
seine Gefährten wiederzusehen. Doch dann stutzte er. Das waren Caer-Stimmen, nicht die seiner Gefährten. Er stieg vorsichtig hinab, um sich ein Bild von der Lage zu machen, doch als er sich der letzten Treppe nach unten näherte, rief eine Stimme wild: »Mythor! Paß auf! Es ist eine Falle!« Das war Nottrs Stimme. Sie erwarteten ihn also bereits. Und wie es aussah, konnte er von seinen Gefährten keine Hilfe erwarten. Eine grimmige Entschlossenheit war in ihm. Er hatte Gefahren überwunden, gegen die ein paar Caer nichts waren. Alton hatte erfolgreich gegen Geister gekämpft. Nun stand ein guter Kampf bevor, in dem wirkliches Blut fließen würde. »Mythor!« schrie Kalathee. Es klang voll Hoffnung und Verzweiflung zugleich. Mythors Blick flog durch den Raum. Er sah Nottr, Kalathee und Sadagar gefesselt im Hintergrund. Mehr als zwei Dutzend Caer hatten sich ihm zugewandt und zu den Waffen gegriffen. Nahe am Tor stand eine mächtige, gerüstete Gestalt – ein CaerRitter, dessen Blick gebannt auf Alton hing. Mythor stieg hinab. Er hatte keine Furcht. Wohl war ihm bewußt, daß die Chancen nicht gut standen, aber es war ein Kampf gegen menschliche Gegner. Kein verdammter CaerPriester war anwesend. Wenn es ihm gelang, zu den Freunden zu gelangen und ihre Fesseln zu durchschneiden… Die Stimme des Ritters schallte durch die atemlose Stille: »Los, Männer! Holt ihn euch! Aber ich will ihn lebend! Hört ihr? Eine Belohnung für den, der mir seine Klinge bringt!« Die Caer schoben sich brüllend vorwärts, und Mythor sprang mitten unter sie, bevor sie sich um ihn zusammendrängen konnten. Seine Klinge parierte einen Axthieb von unten, und seine Faust fuhr in ein grinsendes bärtiges Gesicht. Er brachte Alton hoch und fällte zwei Männer, die die Geschwin193
digkeit seiner Bewegungen unterschätzt hatten. Er spürte einen Hieb auf seinem Helm. Alton zuckte vor, zerbrach eine Caer-Klinge und fand ein weiteres Opfer. Danach hatte er einen Augenblick Luft und stürmte auf die Gefangenen zu. Zwei ihrer Bewacher fielen. Aber ein dritter hielt ihn lange genug auf, daß die übrigen heran waren, bevor er dazu kam, Nottrs Fesseln zu durchschneiden, obwohl der Lorvaner auf ihn zugerollt war und ihm die gefesselten Hände entgegenzuhalten versuchte. Eine Axt traf seinen Kopf, doch es war, als dämpfe der Helm die Hiebe, denn er spürte sie kaum. Einen Augenblick schwankte er unter dem Gewicht der Leiber, die ihn niederzuringen suchten. Aber er streckte einen zu Boden und bekam Luft für sein Schwert. Zwei Caer taumelten blutend zurück. Ihr Angriffsgeheul war zu einem Kreischen der Wut geworden. Zwei weitere verstummten unter dem Biß des Gläsernen Schwertes. Der enge Ring um Mythor lockerte sich, als ein weiterer Caer fiel. Mythor wartete nicht. Er ging zum Angriff über, schwang Alton mit beiden Händen und sprang unter die Zurückweichenden wie ein Dämon. Zwei weitere fielen, ohne daß sie nahe genug an ihn herankamen, um ihm seine mörderische Klinge zu entreißen. »Wir kriegen ihn nicht lebend, Herr!« rief einer der Caer wütend. »Laß ihn uns erschlagen, und wir bringen dir sein verfluchtes Schwert!« »Nein!« donnerte die Stimme des Ritters. »Bin ich mit unfähigen Memmen gestraft?« »Er ist ein Dämon, Herr!« rief einer der Männer. »Er ist kein Dämon«, knurrte O’Marn. »Ich erkenne einen, wenn ich ihn sehe. Er ist nur besser als ihr!« »Laß uns ihn töten, das widerlegt beide Behauptungen!« 194
»Nein. Ich will ihn lebend!« Er nahm seinen Schild auf und zog sein Schwert. Langsam und klirrend stapfte er durch den Ring seiner Männer. Mythor hatte innegehalten. Sein Erfolg hatte ihn nicht geblendet. Er hatte ihre Reihen wohl gelichtet, aber nun war er außer Atem, und sein Arm schmerzte. Er stand keuchend und abwartend. Er griff nicht an. Er brauchte diese Pause, um zu Atem zu kommen. Aber seine Klinge kam hoch, als die Männer sich mit dem Ritter näher schoben. O’Marn hielt inne. »Ergib dich, Mythor! Du magst noch ein paar erschlagen von meinen Tölpeln…« Ein wütendes Geheul antwortete auf diese Worte. »Aber sie sind zu viele. Laß Vernunft walten! Ich schätze einen mutigen Gegner, und er steigt in meiner Achtung, wenn Mut sich mit Verstand paart.« »Wer ist es, dem ich mich ergeben soll?« fragte Mythor wachsam. »Ich bin Coerl O’Marn, Ritter der Caer.« »Ich habe von dir gehört, Coerl O’Marn. Laß dir sagen, daß ich mich keinem Caer ergebe, denn ich verachte alles, wofür sie kämpfen.« Die Männer schoben sich grimmig näher. Mordlust blitzte in ihren Augen. »So werde ich dich holen!« sagte O’Marn und trat ihm entgegen. Seine Männer machten ihm zögernd Platz. Mythor wartete nicht. Er sprang vor, hieb zu und glitt zurück mit einem wachsamen Auge auf die Männer, die jedoch zögerten, einzugreifen und ihrem Anführer den Spaß zu verderben. Der hatte inzwischen auch erkannt, daß dieser Mythor ein wahrer Teufel war. Der Hieb hatte ihn am Kopf getroffen und den Helm vom Schädel gerissen. O’Marn stand benommen und schüttelte sich. Blut tropfte von seiner Schläfe. »Caers Blut!« entfuhr es ihm. Er wischte das Blut mit einer 195
kurzen Bewegung aus Haar und Bart. In seinen grauen Augen lag Grimm, aber auch Anerkennung. Er erwiderte den Angriff mit unerwarteter Behendigkeit. Sein Schild schlug Mythors Klinge zur Seite. Sein Schwert schmetterte gegen Mythors Helm, was von begeisterten Rufen seiner Männer begleitet wurde. Mythor spürte den Hieb kaum, doch der Schild des Ritters rammte ihn mit solcher Wucht, daß er rückwärts stolperte und zu Boden ging. Kalathee schrie angstvoll auf, als der Ritter zu einem weiteren Hieb ausholte. Doch Mythor parierte und stieß O’Marn zurück. Keuchend kam er auf die Beine und schwang Alton mit beiden Händen. Er durchschlug die abwehrend erhobene Klinge des Ritters. Ein zweiter Hieb riß diesem den Schild aus der Faust und ließ ihn taumeln. Als er zum tödlichen Hieb ausholte, hingen die Männer O’Marns an seinen Armen und Beinen. Sie entwanden ihm das Gläserne Schwert und zerrten ihn zu Boden. Der Helm flog von seinem Kopf. Sie knallten seinen Schädel auf den Boden, daß er benommen den Widerstand aufgab. Ein Dolch blitzte. »Halt!« donnerte Coerl O’Marn. Mit zwei Schritten war er bei dem Knäuel von Männern und riß sie auseinander. Dem Krieger mit dem Dolch versetzte er einen Schlag mit der Rückhand, daß der Mann zur Seite flog. »Ich sagte, ich will ihn lebend!« Die Männer hielten zögernd inne. Vier hielten Mythor noch immer, der langsam wieder zur Besinnung kam. »Fesselt ihn und schafft ihn zu den anderen! Das Schwert…!« Einer der Männer bückte sich, hob Alton auf und reichte es dem Ritter. Der wog das Schwert bedächtig und bestaunte die 196
scharfe, durchscheinende Klinge. »Welch seltsame Waffe. Sie hat mein Schwert einfach durchschlagen. Solch eine Waffe macht einen Zwerg zum Riesen.« Er ließ offen, was sie erst aus ihm machen würde, der er bereits ein Riese war. Während die Männer Mythor fesselten und zu seinen Freunden zerrten, brachte einer der Caer dem Ritter den Helm. Auch diesen betrachtete er fasziniert. Er setzte ihn auf und pries seine Leichtigkeit. Aber noch phantastischer war die Tatsache, daß sein Schwerthieb nicht einmal einen Kratzer verursacht hatte, ein Hieb, der einen gewöhnlichen Helm zerschmettert hätte. Mit beidem in Händen ging er zu dem Gefangenen. »Sag mir eines: Was hast du gefunden da oben? Nur diesen Helm?« Mythor erwiderte wortlos seinen Blick. O’Marn nickte zu sich. »Eines Tages wirst du es mir sagen. Etwas, das Drundyrs Dämon den Magen umdreht, muß da oben sein.« Mythor schwieg. »Ich denke nicht, daß wir noch viel finden werden, nicht wahr?« Als keine Antwort kam, fuhr er mehr zu sich selbst fort: »Irgendwie hat sich dieser verdammte Turm verändert, seit du herabgekommen bist.« Einer der Caer sagte: »Soll ich ihn zum Reden bringen, Herr?« »Und würdest du dann wissen, ob er die Wahrheit sagt?« »Wenn ich mit ihm fertig bin, ist es die Wahrheit«, behauptete der Caer-Krieger grinsend. Coerl O’Marn maß ihn mit einem verächtlichen Blick. »Du würdest gut in Drundyrs Gefolgschaft passen. Sein Dämon hätte Freude an dir.« 197
Der Mann wurde bleich. »Dünkst du dich nicht in meiner Gefolgschaft?« fragte eine spöttische Stimme vom Eingang her. Drundyr trat ein, und die Caer wichen unwillkürlich ein wenig zurück. Nyala von Elvinon folgte Drundyr in den Raum. Ihre Augen verrieten nicht, was sie dachte, als sie Mythor in Fesseln sah. Der Ritter wandte sich nicht um. Aber er sagte laut, daß alle es hören konnten: »Denkst du, daß ich in deiner Gefolgschaft bin?« Drundyrs Augen loderten. Aber er wußte, daß eine Antwort Gefahren barg, und dies war noch nicht der Augenblick für ein wirkliches Kräftemessen. Dann sah er das Gläserne Schwert und den Helm in O’Marns Händen. »Ist dies alle Beute, die ich Drudin bringen kann?« Er streckte die Hand danach aus. »Wir werden über die Beute noch reden«, erklärte O’Marn. Er deutete auf die Gefesselten. »Sie sind meine Gefangenen, Priester, bis wir in Gianton sind.« Er wandte sich an seine Männer: »Begrabt die Toten und macht ein Feuer! Ich bin hungrig wie ein Bär. Wir lagern heute nacht hier und brechen bei Sonnenaufgang auf!« Während sich die Caer geschäftig ans Werk machten, wandte er sich wieder an den Priester: »Dein Ungeheuer will sich vielleicht den Turm ansehen, nun, da die Gefahr vorüber ist. Ich werde solange der Lady Gesellschaft leisten.« Er grinste. Drundyr bedachte ihn mit einem giftigen Blick.
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Ernst Vlcek
STADT DER PIRATEN »Rast!« verkündete Coerl O’Marn mit erhobener Hand. Während die Geräusche verrieten, daß seine Reiter absaßen, drängte der Ritter seinen Braunen durch das Unterholz zum Ufer des Goldenen Sees. Der schweigsame Hüne, der im Kampf ergraut war, blickte durch das Visier seines Helmes auf das dunkle Gewässer hinaus, über das sich die Abenddämmerung senkte. In den kahlen Wipfeln der Bäume war ein anschwellendes Rauschen, das Zeugnis vom Zunehmen des Sturmes ablegte. Aber während die Baumkronen geschüttelt wurden, blieb die Oberfläche des Sees ganz ruhig. Keine Welle kräuselte sich, das Wasser war so glatt wie ein Spiegel. Wie ein schwarzer Spiegel, in dem man die Mauer der dichten Uferwälder kaum sehen konnte. Der Ritter nahm mit bedächtiger Bewegung seinen Helm ab, daß der Wind in seiner grauen Mähne spielen konnte, und er mochte sich beim Anblick des großen schwarzen Gewässers, das bis an den hohen Wall der Elvenbrücke heranreichte, fragen, warum man es den Goldenen See nannte. Die ersten Schneeflocken wurden durch die Luft gewirbelt und verschmolzen mit der unbewegten Wasseroberfläche. Ein Geräusch in seinem Rücken ließ den Caer-Ritter aus seinen Betrachtungen schrecken. Gleich darauf tauchte neben ihm ein Reiter auf, der einen weiten, silbrigen Umhang trug und einen spitzen Helm, der mit Knochen verziert war. Es war Drundyr. »Was befiehlst du da, Ritter?« fragte Drundyr mit seiner hohen Stimme, die O’Marn unangenehm in den Ohren klang. 199
»Was verleitet dich dazu, die Sicherheit des Titanenpfades zu verlassen und am Ufer dieses gefährlichen Gewässers zu lagern?« »Es steht ein Unwetter bevor«, sagte O’Marn. »Auf dem Titanenpfad wären wir den Unbilden des Wetters ausgesetzt gewesen. Der Wald bietet uns vor dem Sturm Schutz.« »Und was ist mit dem mörderischen Getier, das in diesem See haust?« rief Drundyr mit sich überschlagender Stimme. Dabei blieb sein wie gläsern wirkendes Gesicht maskenhaft starr. Der Drundyr beherrschende Dämon hatte auch in Momenten höchster Erregung Gewalt über ihn. »Was ist damit?« fragte der Ritter zurück. »Du weißt, welche Gefahren der Goldene See birgt, O’Marn«, sagte Drundyr wütend. »Die Elven haben einst dieses Gewässer als zusätzlichen Schutz für ihren Wall mit furchtbaren Ungeheuern belebt. Es gibt genügend Geschichten über Reisende, die sich zu nahe an das Ufer herangewagt haben und Opfer dieser Bestien wurden. Wären wir auf dem Titanenpfad geblieben, hätten wir die Elvenbrücke noch vor Einbruch des Unwetters überwinden und in Sicherheit gelangen können.« »Das sagst du, aber du bist kein Krieger«, versetzte Coerl O’Marn. »Du solltest bei deinen magischen Praktiken bleiben, doch beginne ich daran zu zweifeln, ob du genügend von deinem Handwerk verstehst. Eigentlich habe ich erwartet, daß du mit einem Wetterzauber den Sturm von uns fernhältst. Da du es nicht getan hast, mußten wir den Titanenpfad verlassen.« »Du kannst mich nicht ungestraft beleidigen«, wetterte Drundyr. »Dafür wirst du noch büßen.« Coerl O’Marn war vom Pferd gestiegen und bis dicht ans Ufer getreten. Als er sich jetzt zu der spiegelglatten Wasseroberfläche hinunterbeugte, wurde diese auf einmal aufgewühlt. Der sonst furchtlose Ritter wich unwillkürlich zurück, 200
als das Wasser plötzlich von zuckenden und sich schlängelnden Körpern gepeitscht wurde. Der See wurde zuerst nur in der Nähe des Ritters von den sich wie rasend gebärdenden Seeungeheuern aufgewühlt. Aber die Raserei griff blitzartig um sich, bis die gesamte Oberfläche des Gewässers zu kochen schien. Es ging alles so schnell, daß der Ritter keine Einzelheiten erkennen konnte. Er sah da und dort gepanzerte Schädel mit hervorquellenden Augen, sich ringelnde Körper, Krallen und Flossen und gezackte Schwänze im schäumenden Wasser. Und dann war alles vorbei. So plötzlich der Spuk begonnen hatte, so rasch legte er sich auch wieder. Der See beruhigte sich, die letzten Ausläufer der Wellen rollten noch gegen das Ufer, dann lag die Wasseroberfläche glatt und bewegungslos. Coerl O’Marn hatte sich nach der ersten Überraschung schnell gefaßt. Nicht aber der Caer-Priester. »War dir das nicht Warnung genug?« kreischte er. »Laß das Lager abbrechen und auf die andere Seite der Elvenbrücke verlegen!« »Das ist nicht nötig«, sagte O’Marn und blickte dabei Drundyr geradewegs in die Augen. Er war einer der wenigen, die dem Blick der Caer-Priester auch für längere Zeit widerstehen konnten. »Für uns besteht keine Gefahr, denn du wirst uns mit deiner Magie vor den Ungeheuern des Goldenen Sees schützen.« Drundyr heulte auf, wendete sein Pferd und ritt davon. Vor der Lichtung, auf der die achtzehn Caer-Krieger mit ihren Gefangenen haltgemacht hatten, stieg er vom Pferd und überließ es einem der Krieger. Dann tauchte er im Unterholz unter. Mythor beobachtete ihn, bis er seinen Blicken entschwand. »Absitzen!« sagte der Caer, der den Knoten des Stricks gelöst hatte, mit dem er am Sattelknauf festgebunden gewesen war. Mythor hielt seine aneinandergebundenen Hände hoch und 201
fragte: »Und was ist damit? Wie soll ich mich kratzen, wenn es mich juckt?« »Das könnte dir so passen!« rief der Krieger. »Wenn du Flöhe hast, mußt du selber sehen, wie du damit zurechtkommst.« Ein paar andere Caer, die Kalathee, Sadagar und Nottr von den Sattelfesseln befreiten, lachten dazu. Einer sagte: »Seid froh, daß euch nichts Schlimmeres widerfährt, als gefesselt zu sein. Wenn es nach Drundyr ginge…« Er verschluckte den Rest des Satzes. Mythor schwang sich aus dem Sattel und sprang zu Boden. Er wollte zu Kalathee eilen, um ihr vom Pferd zu helfen, aber Nottr kam ihm zuvor. Irgendein Caer machte deswegen eine abfällige Bemerkung. Nottr entging das nicht, und er drehte sich wütend dem Spötter zu. Doch dieser hatte die Heißblütigkeit des Lorvaners in den vergangenen sechs Tagen zur Genüge kennengelernt und war gewitzt genug, sofort zur Waffe zu greifen. Nottr hielt inne, als ihm die Schwertspitze an sein weißes Herzfell gesetzt wurde. »Nur zu, Barbar«, spottete der Caer. »Ich wollte schon immer wissen, ob dein Fell mehr als nur Zierde ist.« »Aufhören!« befahl eine heisere Stimme. Sie gehörte Pethorn, einem rothaarigen, muskulösen Krieger, den Coerl O’Marn als Bewacher für Nyala von Elvinon abgestellt hatte. Es hatte sich während des sechs Tage dauernden Rittes von Althars Wolkenhort bis an die Ufer des Goldenen Sees immer deutlicher gezeigt, daß Pethorns Wort gleich nach dem des Ritters kam. Und zweifellos stand er O’Marn auch nicht viel nach, was die Kampfkraft betraf. Der Ritter hatte also das Schicksal der Herzogstochter in die Obhut seines besten Mannes gelegt. Das, so hatte Mythor erkannt, war darauf zurückzuführen, daß der Ritter eine deutliche Zuneigung für Nyala entwickelt hatte. 202
Pethorn gab Nottr einen Stoß, daß er stolperte und zu Boden fiel. Als er sich dem Krieger zuwandte, hatte dieser das Schwert bereits zurückgesteckt. Der Unterführer warf noch einige drohende Blicke um sich, dann stapfte er zum Rand der Lichtung, wo Nyala noch hoch zu Roß saß. Sie war völlig teilnahmslos, ihre dunklen Augen starrten ins Leere. Pethorn hob sie einfach vom Sattel. »Hast du gehört?« raunte da Sadagar neben Mythor. »Die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Ritter und dem Priester werden immer lautstärker.« »Es war nicht zu überhören«, sagte Mythor beipflichtend. »Eigentlich habe ich gehofft, daß es zwischen den beiden endgültig zum Bruch kommt. Das hätte nur Vorteile für uns. O’Marn ist wenigstens ein Mann von Ehre.« Sadagar wiegte den Kopf. »Das mag schon sein, aber ausnahmsweise würde ich diesmal Drundyr recht geben«, sagte er unbehaglich. »Von allen unheimlichen Orten im Lande Yortomen ist mir dieser Goldene See der unheimlichste. Ich habe gehört, als sich zwei Caer über die Scheusale unterhielten, die dieses Gewässer beherbergen soll. Wenn nur ein Bruchteil davon stimmt, dann können wir uns auf etwas gefaßt machen.« »Mir auch ein Rätsel…«, mischte sich Nottr ein, der sich zu ihnen gesellt hatte. Bevor der Barbar weitersprechen konnte, kam ein Caer-Krieger zu ihnen, überprüfte die Fesseln und nötigte sie dann, sich in einer Reihe auf den kalten, gefrorenen Boden zu setzen. »Beim Kleinen Nadomir!« rief Sadagar entrüstet. »Habt ihr nicht wenigstens ein paar Felle übrig, damit wir nicht erfrieren?« »Dein Schutzgeist ist dir wohl in die Hose gefallen!« rief der Caer und grölte dazu. »Was verstehst du nicht, Nottr?« erkundigte sich Mythor, als sie wieder unter sich waren. Während er das sagte, wurde Ka203
lathee zu ihnen geführt. »Es sieht so aus, daß O’Marn absichtlich die gefährlichere von zwei Möglichkeiten gewählt hat«, sagte Nottr. »Sturm oder nicht, der Titanenpfad wäre sicherer gewesen.« »Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht«, sagte Mythor. »Ich vermute, daß der Ritter diesen gefährlichen Ort aufgesucht hat, um eine Änderung der Situation durch äußere Umstände herbeizuführen.« »Du kannst ruhig ganz deutlich aussprechen, daß der Ritter alles nur für die Herzogstochter tut, Mythor«, warf Kalathee ein. »O’Marn hat sich in Herzog Krudes Tochter vergafft. Schmerzt dich das, Mythor?« »Fragen stellst du, Kalathee«, sagte Mythor, wich aber dem forschenden Blick der jungen Frau aus, deren Gefühle er zu kennen glaubte. »Immerhin war es Nyala, die als erste den Sohn des Kometen in dir sah«, fuhr Kalathee beharrlich fort. »Du hast ihr einiges zu verdanken, und du hast mit ihr einiges erlebt.« »Eifersucht!« stellte Nottr fest und lachte rauh. »Lassen wir solche Gefühle beiseite. Sie machen blind. Ich weiß das.« Es fiel ihm sichtlich nicht leicht, auf diesen für ihn beschämenden Zwischenfall hinzuweisen. Er überspielte das auch sofort, indem er schnell fortfuhr: »Das verstehe einer! Warum soll O’Marn seine Angebetete absichtlich in Gefahr bringen?« »Das geht natürlich nicht in den Kopf eines Barbaren«, sagte Sadagar in gutmütigem Spott. »O’Marn will, daß es mit dem Caer-Priester zum Bruch kommt. Aber er will gleichzeitig den Anschein erwecken, nichts dafür zu können.« Jetzt verstand Nottr. »Und ich dachte, der Ritter sei ein tapferer Mann«, sagte er abfällig. »Kein Lorvaner würde eine so schäbige List anwenden.« »Aus dir spricht wieder mal der Barbar«, sagte Sadagar. »Wenn es darauf ankommt, dann steht O’Marn seinen 204
Mann«, sagte Mythor überzeugt. »Sein Problem ist, daß er dem Caer-Priester untergeordnet ist und ihm gehorchen müßte.« Kalathee stieß Mythor an. Als er hochblickte, sah er Coerl O’Marn auf die Lichtung treten, den Braunen am Zügel führend. »Entzündet einige Lagerfeuer!« trug er seinen Leuten auf, die damit beschäftigt waren, die Pferde zu versorgen, Schlafstellen vorzubereiten und die Nahrungsvorräte aufzuteilen. »Verteilt Felle an die Gefangenen und gebt ihnen genügend zu essen.« Mythor beobachtete, wie der Ritter in Richtung des Packpferds blickte, das neben anderer Ausrüstung auch ihre Waffen trug, darunter den Helm der Gerechten und das Gläserne Schwert Alton. Mythor wurde wehmütig daran erinnert, daß er sich des kostbaren Helmes nicht lange hatte erfreuen können. »Lockt es dich nicht, Ritter O’Marn«, rief Mythor über die Lichtung, »Helm und Schwert gegen diese wunderbaren Zauberwaffen zu vertauschen?« O’Marn gab keine Antwort. Er näherte sich Nyala, die auf einem dicken Fell saß und mit dem Rücken an einem Baum lehnte. Schweigend griff der Ritter in einen Fellballen, den ein Krieger an ihm vorbeitrug, und legte Nyala zwei dicke Pelze über die Schultern. Sie hob den Kopf, und Mythor bildete sich ein, daß für einen Moment Dankbarkeit in ihren Augen aufglomm. Plötzlich hob ein gewaltiges Rauschen an. In den Baumkronen über ihnen brachen Äste. Ein heftiger Windstoß fegte über die Lichtung. Zwei der von den Caer gerade entfachten Lagerfeuer wurden erstickt, die anderen flackerten wild auf. Gleichzeitig mit dieser stürmischen Bö kam vom See ein Geräusch wie von einer tosenden Brandung. Dazwischen war das Auf205
klatschen unzähliger Körper auf der Wasseroberfläche zu hören. Als Mythor durch eine Lücke in den Büschen hindurchblickte, hatte er für kurze Zeit den Eindruck, als brodle und koche der See. Aber schon im nächsten Augenblick beruhigte sich das Gewässer wieder. Sadagar schluckte und sagte: »Die Seeungeheuer machen sich bereits gegenseitig Appetit auf uns. Wäre ich nicht gefesselt, ich würde…« Er verstummte, als ein Caer-Krieger ein zottiges Fell über ihn warf. Auch Nottr, Mythor und Kalathee bekamen Pelze zugeworfen. Die Nacht war über das Land an der Elvenbrücke hereingebrochen. Der Wind kam in vehementen Böen und brachte Schnee mit sich. Die Pferde wieherten unruhig. Von irgendwoher erklang das Bersten eines Baumes. Die Tiere des Sees gerieten wieder in Raserei, und diesmal beruhigten sie sich nicht so schnell wieder. Ein markerschütternder Schrei erklang vom Ufer. Die Caer griffen augenblicklich zu ihren Waffen und nahmen Kampfstellung ein. Selbst Coerl O’Marn sprang auf die Beine, ergriff seinen verbeulten Rundschild und stellte sich schützend vor Nyala. »Tanur! Tanur!« rief eine aufgeregte Stimme vom Seeufer. Die Schritte eines Mannes, die vom Rascheln der Büsche und des Unterholzes begleitet wurden, näherten sich dem Lager. Ein Caer erschien mit gezücktem Schwert. Er rief mit atemloser Stimme: »Sie haben Tanur verschlungen. Es waren Scheusale so groß wie Pferde und mit Schlangenkörpern. Tanur wollte eines der Ungeheuer mit dem Widerhaken fangen, aber es zog ihn in den See.« »Ich habe euch gewarnt«, sagte Coerl O’Marn in die folgende Stille und legte Schwert und Schild wieder ab. »Tanur soll euch ein mahnendes Beispiel sein.« 206
Ein schrilles Gelächter ertönte, und Drundyr erschien auf der Lichtung. »Es wird euch allen wie Tanur ergehen«, verkündete er dann. Er wandte sich einem Krieger zu und packte ihn mit beiden Händen an der Jacke. »Willst du bei lebendigem Leib gefressen werden?« Der Caer straffte sich und sagte: »Ich habe meinem Ritter zu gehorchen.« Drundyr stieß ihn von sich. »Wenn ihr alle so denkt, wartet meinetwegen, bis das schleichende Grauen über euch kommt.« Der Caer-Priester stimmte einen schrillen Singsang an und begab sich in den vom See am weitesten entfernten Teil des Lagers, wo er sich niederkauerte und sich in Felle vermummte. »Macht größere Feuer!« befahl Coerl O’Marn. »Das wird die Bestien abhalten.« Er wollte sich wieder Nyala zuwenden. Aber diese hatte sich erhoben und richtete ihre Augen starr in Drundyrs Richtung. Der Caer-Priester gab noch immer einen verhaltenen Singsang von sich und hatte dabei sein gläsern wirkendes Gesicht der Tochter Herzog Krudes zugewandt. »Komm nur, schöne Nyala«, sagte er zwischendurch und warf Coerl O’Marn einen triumphierenden Blick zu. »Komm zu deinem Herrn und Gebieter, der dich ruft!« Und Nyala gehorchte, kam zu Drundyr und kniete vor ihm nieder. Als Mythor wieder zu der Stelle blickte, an der O’Marn gerade noch gestanden hatte, war der Platz leer. »O’Marn wird diese Schmach nicht auf sich sitzen lassen«, behauptete Sadagar. »Wenn er den Caer-Priester nur endlich in Stücke schlagen würde, damit wir diesen unheimlichen Ort verlassen könnten.« Als habe Sadagar die bösen Geister beschworen, setzte das Toben der Ungeheuer im See wieder ein. Diesmal dauerte es jedoch an, und es schien, als wollten sich die entfesselten Was207
serbewohner überhaupt nicht mehr beruhigen. »Irgendwann wird die Feindschaft zwischen dem Priester und dem Ritter offen zum Ausbruch kommen«, raunte Mythor seinen Kameraden zu. »Das kann schon sehr bald sein. Haltet euch für alle Fälle bereit.« Das Toben im See ging weiter. Es wurde immer wilder, die dabei entstehenden Geräusche erreichten eine Lautstärke, die selbst das Heulen der Sturmböen übertraf. Gischt spritzte am Ufer auf. Eine Welle ergoß sich über ein Lagerfeuer, das zischend erlosch. Von der Pferdekoppel erklang ein Wiehern in höchster Not. Man hörte die verzweifelten Rufe des Kriegers, der dort Wache hielt und offenbar versuchte, die aufgescheuchten Tiere zu beruhigen. »Ich kann die Pferde nicht mehr bändigen!« hörten sie ihn rufen. Dann erklang sein Schmerzensschrei, der in dem folgenden Hufgetrappel unterging. »Holt die Pferde wieder ein!« befahl Coerl O’Marn. »Wir dürfen sie nicht verlieren.« Aber bevor noch einer der Krieger dem Befehl nachkommen konnte, brach aus Richtung des Goldenen Sees etwas durchs Unterholz. Mythor erkannte einen monströsen Echsenschädel, in dem zwei starre Schlangenaugen blitzten. Die Bestie stieß mit aufgerissenem Maul auf einen Caer zu, und die Kiefer schlossen sich um seine Körpermitte. Hinter dem Schädel tauchte ein zuckender Schlangenkörper auf, aus dessen Seite zwei Auswüchse wie Arme ragten. Mythor konnte daran Schwimmhäute und Klauen erkennen. Jetzt packte das Ungeheuer mit den Klauen nach dem Opfer in seinem Maul. Gleichzeitig schüttelte es in scheinbar wütender Ungeduld den Kopf, so daß der Caer den Fangen entglitt und in hohem Bogen durch die Luft flog. Nun brachen auch an anderen Stellen Ungeheuer durch die 208
Büsche auf die Lichtung. Und dazu lachte Drundyr schrill und meckernd. Mythor konnte die Untiere nun ganz deutlich sehen. Sie waren von unterschiedlicher Größe, aber alle von der gleichen Art. Sie hatten große Echsenschädel, die kantig waren und nur aus Knochen zu bestehen schienen. An ihren Hälsen spannten sich dicke Sehnen, wenn sie sie reckten, um nach ihren Opfern zu schnappen. Die Schlangenkörper waren kurz und dick und endeten in geschmeidigen Stummelschwänzen. Damit schlugen sie um sich, als wollten sie hinter sich den Boden einebnen. Auf ihren Rücken wippten gezackte Kämme. Ein Caer, der versuchte, auf den Rücken eines dieser Ungeheuer zu gelangen, um ihm von dort mit einem Beil den Schädel einzuschlagen, spießte sich auf einem solchen Kamm auf. Die drachenartigen Seeschlangen hatten vier Beine, mit deren scharfen Krallen sie greifen konnten. Sie bogen damit Jungbäume zur Seite, entwurzelten Bäume und erschlugen ihre Opfer. Zwischen den Krallen befanden sich dicke, ledrige Schwimmhäute. Gelegentlich stießen die Untiere ein abgehacktes, heiseres Brüllen aus. Es war ein unheimliches Geräusch, das zu ihrer Erscheinung paßte. Coerl O’Marn stellte sich einer Drachenschlange. Er wehrte das schnappende Maul mit seinem zerbeulten Rundschild ab, und es gab ein schepperndes Geräusch, als die klingenscharfen Beißwerkzeuge über das Metall scharrten. Das Ungeheuer riß wieder das Maul auf, da stieß der Ritter sein Schwert in den Rachen. Die Drachenschlange zuckte mit einem klagenden Geräusch zurück und verschwand, sich wie in Krämpfen windend, in Richtung des Sees. »Zurück, Kalathee«, rief Nottr ihrer gemeinsamen Gefährtin zu, als diese nur dastand und schicksalsergeben den Scheusa209
len entgegensah. Der Lorvaner schubste sie mit gefesselten Armen zurück. Sie stolperte und fing ihren Sturz gerade noch an einem Baumstamm ab. »Beim Kleinen Nadomir!« brachte Steinmann Sadagar entsetzt hervor. Er stand mit gespreizten Beinen da und blickte ratlos zu Mythor. »Flucht!« rief er. »Wir können uns nur retten, wenn wir fliehen.« »Caers Blut!« Coerl O’Marn stieß diesen Fluch aus, als er von einem Schwanzstummel getroffen und zur Seite geschleudert wurde. Im Fallen riß er einen seiner Krieger mit, und als sie übereinander auf dem Boden lagen, stürzte sich ein Seedrache auf sie. Es war ein besonders großes Untier. Als Nyala das sah, stieß sie einen markerschütternden Schrei aus. Mythor sah mit einem schnellen Blick, daß Drundyr ihr eine Hand auf die Schulter legte und ihr sein wie aus Wachs gegossenes Gesicht zuwandte. Dann wandte er sich wieder dem Kampfgeschehen zu. Er sah das Knäuel ineinander verschlungener Körper über die Lichtung rollen. Der Seedrache schien sich in seine Opfer verbissen zu haben, seine Beine hieben zuckend um sich, der Schwanz schlug wie in Ekstase hin und her. Und dann reckte sich der Schädel mit aufgerissenem Maul in die Höhe, und Mythor sah, wie ein Schwert aus dem Hals ragte. Das Ungeheuer rollte zur Seite, und O’Marn sprang behende auf die Beine. Er war blutbesudelt, aber es schien nicht sein Blut zu sein, das ihn getränkt hatte, denn er wirkte unverletzt. Der andere Caer rührte sich nicht mehr. Nottr hing am Hals eines vergleichsweise kleinen Seedrachen. Mythor konnte sich nicht vorstellen, wie es ihm trotz seiner Fesseln gelungen war, das Untier im Würgegriff zu nehmen und nun seinen Hals mit beiden Armen zusammenzudrücken. Die Bestie röchelte mit aufgerissenem Rachen. Sie 210
fegte mit ihrem zuckenden Schwanzstummel und den wild um sich schlagenden Beinen alles hinweg, was ihr in den Weg kam. Schließlich gelang es dem Lorvaner, das Untier zu Boden zu zwingen. Dabei kam er jedoch so unglücklich zu liegen, daß der schwere Körper der Bestie auf ihm lastete. Mythor wollte zu ihm eilen, doch da kam ihm Coerl O’Marn zuvor. Mit einem Dolch durchschnitt er Nottrs Fesseln, schob sein Schwert unter den Kadaver des Tieres und setzte es als Hebel ein. Nottr befreite sich rasch von der Last und starrte den caerischen Ritter dabei verständnislos an. »Was glotzt du, Barbar!« herrschte ihn Coerl O’Marn an. »Bewaffne dich lieber!« Das ließ sich Nottr nicht zweimal sagen. »He!« rief der Ritter dann Mythor zu. »Jetzt deine Fesseln!« Mythor streckte dem Ritter die zusammengebundenen Hände zu. Der Ritter holte kurz mit seinem Schwert aus und durchschlug die Fesseln dann mit einem einzigen Hieb. Als Mythor sich dem Berg aus übereinandergetürmten Waffen zuwenden wollte, hielt O’Marn ihn zurück. »Die Zeit reicht für eine Antwort«, sagte der Ritter und blickte Mythor dabei aus seinen grauen, gefühllos wirkenden Augen an. »Ich benötige im Kampf keine Zauberei«, sagte er, dann ließ er Mythor los, der sich sofort anschickte, seine Ausrüstung an sich zu nehmen. Während er den Helm der Gerechten aufsetzte und Alton packte, überdachte er das Gehörte. Was für ein seltsamer Mann dieser Coerl O’Marn doch war! Er hatte ihm jetzt, im Augenblick der höchsten Not, die Antwort auf eine Frage gegeben, die er vor einiger Zeit, als sie noch mehr Muße für Gespräche gehabt hatten, gestellt hatte. »Beim Kleinen Nadomir! Wir werden uns unserer Haut wehren.« Sadagar, inzwischen ebenfalls von den Fesseln erlöst, war 211
neben Mythor aufgetaucht. Er legte den Gurt mit den zwölf Wurfmessern an und bewaffnete sich zusätzlich mit einer kurzen Lanze. Mythor nickte nur. Er wirbelte herum und überblickte die Situation. Den Caer war es gelungen, die Lichtung halbwegs freizuhalten. Aber in Richtung des Goldenen Sees bildeten die Schlangenungeheuer eine regelrechte Mauer aus zuckenden Leibern, schnappenden Mäulern und schlagenden Krallen. Immer wieder erklangen Schmerzensschreie von Verletzten, aber auch das heisere Brüllen der sich im Todeskampf windenden Drachenschlangen riß nicht ab. »Im Namen Drudins!« hörte Mythor den Caer-Priester mit schriller Stimme in seinem Rücken rufen. »Weicht zurück, Krieger! Alles hört auf meinen Befehl! Schart euch um mich!« Mythor verschloß sich dieser zeternden Stimme und stürzte sich in den Kampf. Er schwang sein Gläsernes Schwert über dem Kopf und ließ es dann singend und klagend von der Seite in einen gereckten Schlangenhals eindringen. Das Untier schnellte sich mit einem krächzenden Laut zurück und prallte gegen die nachrückende Front seiner Artgenossen. Dadurch verschaffte sich Mythor etwas Luft, so daß er sich einem in Not geratenen Caer zuwenden konnte, der von zwei Untieren gleichzeitig bedrängt wurde. Wieder sang Alton klagend, als er damit die Luft teilte. Und erneut fand das Gläserne Schwert sein Ziel. Als sich Mythor dem nächsten Scheusal zuwandte, glaubte er zu erkennen, daß es eingeschüchtert zurückwich, als es das Klingen seines Schwertes wahrnahm. Daraufhin ließ Mythor Alton noch schneller kreisen. Tatsächlich wich die Drachenschlange noch weiter zurück. Als sie gegen einen Baum prallte und sich davor in Abwehr aufrichtete, versetzte ihr Mythor den Todesstoß. »Sieh her, Ritter!« Das war wieder Drundyrs schrille Stimme. 212
»Sieh zu, was mit deiner Angebeteten geschieht!« Mythor sah, daß Coerl O’Marn, dem dieser Zuruf galt, mit dem Rücken auf dem Boden lag und seinen Körper mit dem Schild schützte. Ein großes Scheusal hatte sich in den Schild verkrallt und versuchte, den Ritter mit seinem Maul zu erreichen. Zwei Caer-Krieger stießen von der Seite mit Spießen auf den Schlangenkörper ein. Um O’Marn brauchte er sich also nicht zu sorgen. Er wandte sich der Richtung zu, aus der Drundyrs Rufen kam. Und dann sah er, wie der Caer-Priester Nyala von Elvinon an den Oberarmen gepackt hatte und ihr mit bannendem Blick ins Gesicht starrte. Nyala war zu keiner Gegenwehr fähig. Mythor glaubte, es in dem glasig-wächsernen Gesicht des CaerPriesters dunkel wallen zu sehen. Er wußte nicht, ob dies eine Täuschung war, die von dem flackernden Feuerschein verursacht wurde. Aber ihm war, als bewege sich hinter Drundyrs maskenhaftem Gesicht der Dämon, der Drundyr beherrschte! »Drundyr!« schrie Mythor, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und stürzte auf den Caer-Priester zu. Drundyr schreckte hoch. Als er Mythor entdeckte, sah, wie sein Gläsernes Schwert einen Wirbel durch die Luft schlug, ließ er augenblicklich von Nyala ab. Er stieß noch einen Fluch aus, den eine starke Windbö zerriß und davontrug, dann wandte er sich ab und stürzte gehetzt davon. Aus einiger Entfernung hörte Mythor ihn noch rufen: »Drudin wird euch alle strafen!« Daraufhin hatte ihn der Wald endgültig verschluckt. Mythor erreichte Nyala. »Bist du wohlauf?« fragte er besorgt und wollte helfend die Hand nach ihr ausstrecken. Aber da wurde er zur Seite gestoßen. Ein mächtiger Schatten schob sich vor ihn, und Coerl O’Marn legte einen Arm besitzergreifend um Nyalas Schultern. »Ich kümmere mich selbst um sie«, sagte der Ritter. 213
Mythor nickte befriedigt und wandte sich wieder dem Kampfgeschehen zu. Es war den Caer inzwischen gelungen, die Drachenschlangen von der Lichtung zurückzudrängen. Unter den mit dem Mut der Verzweifelten kämpfenden Caer entdeckte er auch Nottr und Sadagar. Etwas abseits davon stand Kalathee und stieß mit einem blutgetränkten Spieß immer wieder in den sich windenden Körper eines Ungeheuers, bis dieses sein Leben aushauchte. Dann eilte sie zu Sadagar. Der Steinmann hatte sich etwas zu weit vorgewagt, so daß er auf der rechten Flanke von einer unvermutet hervorbrechenden Seeschlange bedroht wurde. Kalathee stieß auf das Ungeheuer ein, doch war sie nicht kräftig genug, es ernsthaft zu verletzen und so Sadagar zu entlasten. Der Steinmann schleuderte in höchster Not seine Lanze dem Untier entgegen, das ihn von vorne bedrohte. Er traf gut, und als das Maul des Echsenschädels zuschnappte, ragte der Lanzenschaft nur noch eine Unterarmlänge heraus. Aber das hatte ihn so viel Zeit gekostet, daß das andere Ungeheuer sich ungehindert auf ihn stürzen konnte. Bevor Sadagar Zeit fand, seine Wurfmesser einzusetzen, hatte ihn die Drachenschlange förmlich niedergewalzt. Nur noch Sadagars Kopf und Oberkörper ragten unter dem Schlangenkörper hervor. Der Steinmann schrie, aber keiner der anderen konnte ihm zu Hilfe eilen. Kalathee pikste das Untier zwar mit ihrem Spieß, doch diese Nadelstiche schien es nicht einmal zu spüren. Da war Mythor zur Stelle. Er trieb sein Gläsernes Schwert kraftvoll in den aufgebäumten Schlangenkörper, so daß der Schmerz das Scheusal zurückwarf. Dadurch kam Sadagar frei und konnte sich aus der Gefahrenzone retten. Mythor setzte nach, bis die Drachenschlange unter seinen Streichen röchelnd verendete. In seinem Eifer hatte er gar nicht gemerkt, daß er sich bis an das Seeufer vorgekämpft hatte. 214
Jetzt stand er auf einmal bis zu den Knien im aufgepeitschten Wasser. Die Seeschlangen verschwanden nacheinander in ihrem Element. »Zurück, Mythor!« schrie Nottr entsetzt. »Denke an Tanur!« Mythor spürte auf einmal etwas gegen seine Knöchel schlagen. Bevor das Scheusal ihn jedoch zu fassen bekam, wurde er mit festem Griff an der Schulter gepackt und an Land geschleudert. Über ihm stand eine hünenhafte Gestalt. »Laßt es genug sein!« erscholl Coerl O’Marns Stimme. »Es ist vorbei, Krieger. Die Ungeheuer sollen sich in ihrer Wut selbst zerfleischen.« »Danke«, sagte Mythor zu dem Ritter und erhob sich auf die Beine. »Du hast mir das Leben gerettet.« Aber Coerl O’Marn beachtete ihn überhaupt nicht. Einige Atemzüge lang brodelte die Oberfläche des Sees noch unter den wild schlagenden Körpern der Drachenschlangen. Aber bald darauf glättete sich der Goldene See wieder, und die trügerische Ruhe kehrte zurück. »Wir wählen einen anderen Lagerplatz«, ordnete Coerl O’Marn an. * Die Lagerfeuer brannten wieder und warfen ihren flackernden Schein auf das spiegelglatte, dunkle Wasser des Goldenen Sees. Sieben Caer waren gefallen, fast alle anderen hatten Verwundungen davongetragen. Die Toten waren mit den Kadavern der Drachenschlangen beim ursprünglichen Lagerplatz zurückgeblieben. »Bestattet ihr eure toten Krieger nicht?« erkundigte sich Mythor bei Pethorn, der Nyala nicht mehr zu beschützen brauchte, weil Coerl O’Marn sich ihrer fürsorglich annahm. »Das kommt auf die Umstände an«, antwortete Pethorn. Nur 215
er und zwei verwundete Krieger, deren Verletzungen so stark waren, daß sie sich nicht aus eigener Kraft auf den Beinen halten konnten, waren im Lager zurückgeblieben. Pethorn fügte hinzu: »Was kümmern dich die Toten?« Mythor hob die Schultern. »Es sind eure Brüder, nicht die meinen. Aber etwas anderes. Der Ritter hat sein Ziel erreicht. Warum läßt er das Lager nicht weiter weg vom See errichten?« »Das wird mir zu vertraulich«, sagte Pethorn abweisend. »Es wäre wohl besser, dich und die anderen wieder wie Gefangene zu fesseln und zusätzlich zu knebeln.« Mythor hob beschwichtigend die Hände und zog sich zu seinen Kameraden zurück, die um ein Feuer saßen. Sadagar reinigte seine Wurfmesser vom Blut der Drachenschlangen. Nottr ließ sich von Kalathee eine Wunde an seinem linken Oberarm notdürftig verbinden, die ihm die Krallen einer Bestie geschlagen hatten. »Tut es noch weh?« fragte Kalathee besorgt. »Du heilst allein durch deine Hände«, sagte Nottr. »Ach du!« Kalathee zog ihn an seinem hüftlangen Zopf und schlug ihm dann spielerisch auf die linke Gesichtshälfte. »Was will O’Marn denn noch hier?« fragte Sadagar und wickelte sich fester in den Fellüberwurf, denn es wehte ein kalter Wind, der sich seinen Weg durch die Baumkronen bis zum Ufer des Sees suchte. Wenigstens hatte es zu schneien aufgehört, so daß sie nicht auch noch naß wurden. »Er hat Drundyr zum Henker gejagt und Nyala nun für sich allein. Worauf wartet er denn?« »Ich denke, daß er in sich gehen möchte«, sagte Mythor. »Wir kennen die Gesetze der Caer nicht gut genug, um ermessen zu können, welche Folgen O’Marns Handlungsweise nach sich ziehen wird. Er hat sich immerhin gegen einen CaerPriester gestellt, dem er zu Gehorsam verpflichtet gewesen wäre.« 216
»Das ist richtig«, stimmte Sadagar zu. »Der Ritter wird von der Priesterschaft Schwierigkeiten zu erwarten haben.« »Was kümmert es uns«, sagte Nottr, während er mit dem Daumen die Klinge seines Krummschwertes prüfte. »Wir sind nicht mehr gefesselt und dürfen unsere Waffen behalten.« Er blickte sich prüfend um, ob ein Caer in Hörweite sei, und flüsterte dann: »Wir sollten uns jetzt selbständig machen.« »Abwarten!« sagte Mythor. »Warum?« wollte Nottr wissen. »Unser Freund fühlt sich O’Marn verpflichtet«, klärte Sadagar den Lorvaner auf. »Er findet, daß sich der Ritter uns gegenüber recht anständig gezeigt hat, und möchte sich nicht undankbar zeigen.« »Das ist wahr.« Nottr sprach nicht weiter. Zwei Caer kamen ins Lager, die drei der entflohenen Pferde an den Zügeln führten. Die Tiere schienen sich wieder beruhigt zu haben. Ein weiterer Caer kam zurück und zeigte durch Achselzucken an, daß es ihm nicht gelungen war, weitere der ausgebrochenen Pferde einzufangen. Er kauerte vor einem Lagerfeuer nieder und rieb sich die Hände. Einer seiner Kameraden reichte ihm wortlos einen Becher mit dampfendem Wein. »Wir sollten zu schlafen versuchen«, sagte Kalathee müde und suchte die Wärme von Mythors Körper. Er hob seinen Arm, um sie an sich kuscheln zu lassen. Dabei blickte er zu O’Marn und Nyala hinüber, die allein an einem abseits brennenden Feuer saßen. Nyalas Gesicht war immer noch ausdruckslos, was ein untrügliches Zeichen dafür war, daß Drundyr den Bann noch nicht von ihr genommen hatte. O’Marn saß dicht bei ihr, ohne sie jedoch zu berühren, und starrte brütend in die Flammen. Mythor fragte sich, was in diesem Mann vor sich gehen mochte. Wie konnte es überhaupt geschehen, daß dieser 217
furchtlose Krieger, der den Kampf um des Kampfeswillen suchte und zu sich selbst härter war als zu den anderen, daß dieser unnahbare Mann gegenüber der Tochter von Herzog Krude weich geworden war. Er versuchte nicht einmal, seine Zuneigung zu verbergen. Wäre der Ritter ein jugendlicher Heißsporn gewesen, dann hätte Mythor ihn eher verstehen können. Aber O’Marn stand im fünfzigsten Winter seines Lebens und hatte keinen Frühling mehr zu erwarten. Das mochte vielleicht die Antwort sein: Ein alternder Krieger wurde sich seiner Einsamkeit bewußt und griff noch einmal mit beiden Händen nach dem Leben. Anders konnte es eigentlich gar nicht sein. Wieder tauchte ein Caer im Lager auf. Er führte ein einzelnes Pferd am Zügel. Er wußte jedoch zu berichten, daß die noch fehlenden vier Krieger insgesamt sieben Reittiere eingefangen hatten. Der Ritter hörte ihm gar nicht zu. Mythor mußte aber sofort daran denken, daß er und seine Kameraden von nun an ohne Pferde würden auskommen müssen. »Sieh nicht hin«, flüsterte ihm Kalathee ins Ohr. »Vergiß es! Nyala ist nicht für dich bestimmt.« Mythor drückte ihren Arm, um ihr anzuzeigen, daß sie sich ganz falsche Gedanken mache. Etwas in ihm fühlte sich zwar immer noch zu Nyala hingezogen, aber es war alles andere als eine verzehrende Leidenschaft. Es war eher Mitgefühl für das Schicksal der Prinzessin, die viel geopfert hatte, um ihn auf einen Weg zu lenken, von dem sie glaubte, daß er ihm vorbestimmt sei. Sie war es gewesen, die ihm gesagt hatte: »Du bist der Sohn des Kometen!« Mythor selbst war davon noch nicht restlos überzeugt, und er hatte bis jetzt auf eine Bestätigung von anderer Seite gewartet. Daß es ihm gelungen war, sich den Helm der Gerechten und das Gläserne Schwert zu beschaffen, war für ihn kein ausreichender Beweis. 218
Doch, Mythor berichtigte sich in Gedanken, es gab noch einen Menschen, der fest an ihn glaubte: Kalathee. Der Gedanke an sie war herzerwärmend, und er drückte sie fester an sich. Als sie ihm die Hand auf die Brust legte, raschelte es unter seiner Felljacke. Kalathee versteifte sich augenblicklich. Das Geräusch des Pergaments, das er unter der Jacke an seinem Körper trug, erinnerte sie daran, daß sie noch eine andere Rivalin hatte, die ihr gefährlicher werden konnte als alle Frauen, die greifbar für Mythor waren. »Es ist alles gut, Kalathee«, murmelte er. »Schlaf jetzt!« Er spürte, wie sie sich allmählich wieder entspannte und irgendwann eingeschlafen sein mußte, denn sie lehnte kraftlos und flach atmend an ihm. Er wagte nicht, sich zu rühren, um sie nicht zu wecken. Dabei wurde gerade jetzt der Wunsch in ihm übermächtig, das Pergament hervorzuholen und sich an dem Anblick der Unbekannten zu weiden, die eine so starke Ähnlichkeit mit ihm hatte. Irgend etwas ließ ihn eine unbestimmte Zeit später zusammenfahren. Ein schweres Gewicht lastete auf ihm, von dem er meinte, daß es ihn erdrücken wolle. Die Rechte war ihm eingeschlafen, er konnte sie nicht bewegen, und so tastete er wie blind mit der anderen Hand nach dem Schwert. Erst als er Alton fest im Griff hatte, wurde er vollends wach. Aufgeregte Stimmen gellten durch das Lager. Er sprang auf die Beine. Der Körper, der ihn fast erdrückt hatte, kippte um. Er erkannte Kalathee. Die Lagerfeuer zuckten in der letzten Glut. Über den kahlen Ästen der Baumkronen war der Himmel bereits hell, der neue Tag dämmerte. Die Männer eilten aus dem Lager und strebten zum Ufer des Goldenen Sees. Mythor schüttelte den Schlaf endgültig ab. »Keine Gefahr«, beruhigte ihn Nottr. »Die Caer sind nur so 219
aufgeregt, weil sie an der Elvenbrücke etwas entdeckt haben.« Mythor half der sich im Halbschlaf erhebenden Kalathee auf die Beine, dann folgte er dem Lorvaner zum See. Das zweite Lager war der Elvenbrücke um etliches näher als das erste. Von hier konnte man den Wall deutlich sehen, und das Licht des beginnenden Tages enthüllte weitere Einzelheiten. Der Goldene See reichte im Osten bis an die steinerne Erhebung, die an dieser Stelle bestimmt zwanzig Mannslängen hoch war. Die Elvenbrücke bestand aus Felsblöcken verschiedener Größe. Manche wirkten behauen, andere wiederum hatten eine natürlich gewachsene Form. In den Zwischenräumen wuchsen verschiedentlich Sträucher und sogar Bäume. Am oberen Abschluß entdeckte Mythor ausgezackte Erhebungen wie Zinnen. Dazwischen gab es Öffnungen, die ihn an Schießscharten erinnerten. Aber das alles nahm er nur nebenbei wahr. Jetzt fesselte etwas anderes seine ganze Aufmerksamkeit, und er ließ sich nicht einmal davon ablenken, daß die Seeungeheuer wieder in Raserei gerieten und den See zum Brodeln brachten. Dort, auf halber Höhe der Elvenbrücke, kletterte eine einzelne Gestalt. Es war ein Mann in einem silbrig schimmernden Umhang und einem Spitzhelm – Drundyr, ohne Zweifel. Er versuchte verzweifelt, die Hindernisse so rasch wie möglich zu überwinden und auf die Elvenbrücke zu gelangen. Denn ihm war eine Meute von Drachenschlangen auf den Fersen! Mythor erkannte sofort, daß Drundyrs Lage aussichtslos war. So schnell und behende er auch über die Felsblöcke hinankletterte, die Untiere waren schneller als er. Mit ihren Schlangenkörpern schnellten sie sich förmlich von Fels zu Fels und zogen sich mit den Klauen ihrer Beine von einem Vorsprung zum anderen. Sie kamen Drundyr immer näher. Als der Caer-Priester merkte, daß hinter ihm ein Rachen nach seinem Bein schnapp220
te, schrie er. Noch einmal konnte er sich dem Zugriff des Untieres entziehen. Aber dann war es endgültig um ihn geschehen. Zwei Ungeheuer erreichten ihn gleichzeitig und schnappten nach ihm. Aber sie wurden beide um ihre Beute betrogen. Drundyr verlor, offenbar vor Schreck, den Halt und stürzte in die Tiefe. Er schlug einige Male auf dem Fels auf, bevor er in das wildbewegte Wasser fiel und damit die Ungeheuer erneut zur Raserei brachte. Vorher geschah jedoch noch etwas: Etwas, das an einen Blitz erinnerte, jedoch schwärzer als die Nacht war, schlug aus Drundyrs Körper und zuckte zum Weltendach empor. Mythor hatte so etwas noch nie gesehen, aber er war sicher, daß es sich bei dem schwarzen Blitz um den Dämon handelte, der Drundyrs Körper verließ und in die Schattenzone zurückkehrte. Nichts anderes als das Böse selbst konnte von dieser Schwärze sein, die das Licht des Tages teilte, um durch die geschlagene Kluft ins Reich der Finsternis einzugehen. Es war vorbei, Drundyr war nicht mehr. Jetzt beruhigten sich auch die Geschöpfe des Goldenen Sees. Mythor blickte hinter sich und sah dort Coerl O’Marn stehen, der das Schauspiel mit unbewegtem Gesicht beobachtet hatte. Er wandte sich Nyala an seiner Seite zu und versuchte, in ihrem verzerrten Gesicht zu lesen. Drundyrs Dämon hatte auch in ihr seine Spuren hinterlassen. Sie stand jetzt wohl nicht mehr in seinem Bann, aber ihr zuckendes Gesicht spiegelte die Verwirrung ihres Geistes wider. Sie focht noch immer einen inneren Kampf aus, und es schien sie große Mühe zu kosten, die Leere auszufüllen, die der entschwundene Dämon in ihr hinterlassen hatte. O’Marn strich ihr mit unbeholfener Zärtlichkeit über das gequälte Gesicht. Nyala ließ es mit sich geschehen, als sei sie eine Unbeteiligte, und es war auch wohl so, daß sie noch lange 221
nicht zu sich zurückgefunden hatte. O’Marns Kopf zuckte hoch, und als er sah, daß Mythor ihn beobachtete, straffte er sich. Er ergriff Nyala um die Hüfte und hob sie auf das Pferd, das hinter ihm stand. Dann schwang er sich selbst in den Sattel. Eine Weile verharrte er so, dann trieb er seinen Braunen Chelm durch Fersendruck an und ritt davon. Mythor blickte ihm nach, während die Caer an ihm vorbei zu den Pferden eilten, ihren behinderten Kameraden in die Sättel halfen und dann selbst ihre Reittiere bestiegen. »Und weg sind sie«, sagte Nottr und lachte ausgelassen. Er hieb Mythor und Sadagar auf den Rücken und rief: »Freunde, wir sind frei!« »Das waren wir schon längst«, sagte Mythor, der nicht die gleiche Begeisterung wie Nottr zeigte. »O’Marn hatte seine eigenen Pläne, in die er uns nicht mit einbezog. Er wartete nur Drundyrs Ende ab, um sie zu verwirklichen.« »Und wenn der Caer-Priester den Ungeheuern entkommen wäre?« gab Nottr zu bedenken. Da Mythor schwieg, gab Steinmann Sadagar ihm die Antwort: »Dann hätte der Ritter ihn selbst gerichtet. Wenn O’Marns Rebellion gegen die Priesterschaft je bekannt wird, kann das schlimme Folgen für ihn haben. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken.« »Ich verstehe«, sagte Nottr. »Er mußte Drundyr beseitigen, damit er nicht über ihn berichten konnte. Dieser Schurke hat es verdient.« »Was wird jetzt aus uns?« fragte Kalathee. »Wir werden uns schon durchschlagen«, versicherte Mythor. »Wir haben unsere Waffen und Pelze gegen die Kälte. Wir brauchen nichts und niemanden zu fürchten.« »Seht nur, was ich außer meinen Messern noch gerettet habe«, rief Sadagar und hielt freudestrahlend seinen Geldbeutel 222
hoch. »Zum Glück war keiner der Caer dem Gold verfallen.« »Was man von dir nicht sagen kann«, spottete Nottr. Ernster fügte er hinzu: »Und wohin wenden wir uns?« »Ich würde vorschlagen, daß wir uns erst einmal entlang der Elvenbrücke durchschlagen«, sagte Mythor. »Dahinter beginnt Tainnia, das völlig von den Caer beherrscht wird, und denen möchte ich tunlichst aus dem Weg gehen.« Die anderen hatten gegen diesen Vorschlag nichts einzuwenden. * Es wurde ein unfreundlicher Tag. Die Wolken hingen tief über dem Land, als drücke sie die Last hinunter, die sie in sich trugen. Die grauen Gebilde waren schwer und wuchtig, ein kalter Wind trieb sie vor sich her, zerriß sie und wehte ihre nebligen Schleier übers Land. Und als die Wolken ihr Gewicht nicht mehr tragen konnten, entluden sie es in dichten, großen Flocken knisternden Schnees. Manchmal war das Schneetreiben so dicht, daß man den Freund vor sich nicht sehen konnte. Nottrs Zopf war bald ein eisiger Klumpen. Kalathees Haare, die unter der Fellkapuze ihres Umhanges hervorsahen, gefroren zu Eiszapfen. Sadagars pfiffiges Gesicht verschwand fast hinter dem aufgestellten Pelz; sein lichtes weißblondes Haar wurde zu einem Kranz aus Eis. Einige Male stellte der Sturm seine Standfestigkeit auf eine harte Probe, und einmal verdankte er es nur Nottrs Zugriff, daß er nicht von einer Felskante geweht wurde. Der Barbar bedeutete Kalathee, sich hinter ihm zu halten, damit er sie mit seinem breiten Körper vor den Sturmböen schützen konnte. Mythor ging voran. Er stemmte sich, weit nach vorne gebeugt, gegen das Schneetreiben, als könne er mit dem Helm der Gerechten einen Keil in die tobenden Naturgewalten trei223
ben. Es knisterte, wenn die Schneekristalle auf das Metall seines Helmes trafen, und sie zergingen daran, bevor es ihnen gelang, sich zu Eisgebilden zu formieren. Dennoch wurde Mythors Gesicht bald gefühllos. Er atmete mit geschlossenem Mund, und der Atem erkaltete sofort, kaum daß er seine Nase verließ, und legte sich als eisiger Niederschlag auf seine Lippen. Wenn er den Blick hob, um das Gelände vor sich zu überblicken, dann schlugen die Schneeflocken wie eisige Nadeln gegen seine Augen und blendeten ihn. Der Schneesturm hatte sie ausgerechnet auf einer kaum bewaldeten Hochebene überrascht. Der Untergrund war steinig und bald gefroren. Es gab nur einige wenige Sträucher und vereinzelte Krüppelbäume, die kaum Schutz boten. Zu allem Übel waren sie an dieser Stelle auch noch ziemlich weit von der Elvenbrücke entfernt, so daß nicht einmal der steinerne Wall ihnen vor den eisigen Lüften Schutz bieten konnte. Manchmal, wenn das Schneetreiben nachließ und ihnen die Möglichkeit zu tiefem Luftholen bot, sah Mythor die Elvenbrücke zu seiner Rechten als unebenmäßige Erhebung aufragen. Er versuchte, sich danach und nach dem Wind zu richten, der offenbar von der freien See her kam. Aber dann machte er die Erfahrung, daß der Wind launenhaft war und sich drehte. Er kam aus dem Westen, und Mythor, der sich ihm stets entgegenwandte, fand sich auf einmal am Rand der felsigen Hochlandschaft an einem schroffen Abgrund. Unter ihm war der Geborgenheit versprechende Wald von einer wirbelnden Schicht aus Schnee überdeckt, die mit den Blicken kaum zu durchdringen war. Rings um sie war alles weiß. Man konnte fast blind werden. Mythor machte sich dennoch nicht an den Abstieg, denn er wollte sich nicht in den weiten Wäldern von Yortomen verlieren. Er konnte seinen Freunden diese Mühsal nicht ersparen, denn etwas drängte ihn, die Nähe der Elvenbrücke zu suchen, 224
wiewohl auch diese nicht ungefährlich war. Denn sie bewegten sich auf unwegsamem Gelände. Es gab viele Spalten zwischen den Felsen, die der darin angehäufte Schnee nicht erkennen ließ. Und die Erinnerung an den Goldenen See ließ ihn ahnen, daß die Elvenbrücke auch sonst noch mancherlei Gefahren bot. Dennoch wandte er sich um und schlug wieder die Richtung ein, in der er den steinernen Schutzwall der legendären Elven vermutete. Er dachte daran, daß nicht einmal die Caer viel über dieses Volk wußten und nur sagen konnten, daß es längst schon vergangen sein mußte, als die Caer erst damit begannen, eine Kultur aufzubauen und ihre Macht auszudehnen. Damals lag ein geeintes Tainnia noch in weiter Zukunft, und heute war Tainnia wieder zersplittert, wurde aber von den übermächtig gewordenen Caer gewaltsam vereint – unter ihrer Herrschaft natürlich. Mit Gedanken über das Werden und Vergehen von Völkern versuchte Mythor seinen Geist anzuregen. Der Helm der Gerechten spendete ihm Wärme und verschaffte ihm so Erleichterung. Seinen Kameraden mußte es da ungleich schlechter ergehen. Als Mythor sich nach ihnen umdrehte, sah er, daß Sadagars Kopf eine Krone aus vereisten Haaren trug. Nottr schüttelte gerade vehement den Kopf und entledigte sich so des Eisgebildes. Hinter dem Lorvaner tauchte für einen Moment die pelzvermummte Gestalt Kalathees auf, doch sie suchte sofort wieder Schutz hinter Nottrs Rücken. Mythor war froh, als er vor sich wieder den steinernen Wall der Elvenbrücke auftauchen sah. Das Schneetreiben ließ nach, bis dem Spiel der Lüfte nur noch vereinzelte Flocken gehorchten. Aber der eisige Wind ließ kaum nach. Endlich erreichten sie das Ende des felsigen Hochlands. Das Gelände fiel steil ab, und es wuchsen wieder Bäume, die 225
nicht vom Wind verkrüppelt worden waren. Die Elvenbrücke erhob sich keinen Steinwurf entfernt rechts von ihnen. Sie erreichte an dieser Stelle eine unglaubliche Höhe, denn sie überspannte diese Talsenke fast in gerader Linie. »Beim Kleinen Nadomir!« rief Sadagar atemlos aus. »Ich habe nicht mehr geglaubt, daß wir diesen Schneesturm überleben.« »Er hatte auch sein Gutes, denn er hat dich zum Schweigen gebracht«, ließ Nottr sich vernehmen, der den Abstieg über den Hang breitbeinig vornahm, da Kalathee sich auf seinen Schultern abstützte. »Ich kann nicht mehr«, sagte Kalathee, deren zartgebauter Körper nicht für solch einen beschwerlichen Marsch geschaffen war. Nottr wollte sich des Sackes mit Verpflegung und Ausrüstung entledigen, offenbar um Kalathee zu tragen. Doch Mythor kam ihm zuvor. Wortlos hob er sie auf. »Ich muß dir viel zu schwer sein«, sagte Kalathee, aber sie verhehlte dabei nicht, daß sie geschmeichelt war. »Ich werde vor dem Zusammenbruch Nottr bitten, mich abzulösen«, sagte Mythor lächelnd. »Und wenn auch der Barbar schlappmacht, gönnen wir uns hoffentlich eine Rast«, meinte Sadagar. »Wir müssen das Tageslicht nützen und uns beizeiten einen Lagerplatz suchen«, sagte Mythor und schritt mit Kalathee in den Armen voran. Sie war leicht wie eine Feder. Mythor war froh, daß er durch den Pelz ihre Körperform nicht spürte. Sie machte ihm ihre Nähe ohnehin zu stark bewußt, und wenn er sie trotzdem trug, dann nur darum, weil er Nottr davor bewahren wollte, wiederum auf Abwege zu geraten und sich falsche Hoffnungen zu machen. Die körperliche Berührung mit Kalathee hätte jene alten Wunden aufreißen können, die der Lorvaner noch nicht ganz ausgeheilt hatte. 226
»In der Elvenbrücke gibt es Höhlungen genug«, sagte Sadagar. »Suchen wir uns eine aus, um es uns darin gemütlich zu machen.« »Wir müssen weiter«, sagte Mythor. »Und was treibt dich an?« fragte Sadagar. Mythor antwortete darauf nicht sofort, denn er war sich bis jetzt selbst noch nicht recht klar darüber. Bis jetzt hatte er es für eine unbestimmte Ahnung gehalten. Doch war diese immer deutlicher geworden, je länger er ihr gehorchte. Er hatte ein eigenartiges Summen im Kopf, das er nicht recht zu deuten wußte. Als er sich während des Schneesturms in die falsche Richtung gewandt hatte, war dieses Summen stärker und irgendwie ungehalten geworden. Wütend fast, wie von einem aufgescheuchten Bienenschwarm. Nun, da sie sich entlang der Elvenbrücke bewegten, hatte sich die Tonlage des Summens gesenkt. Für Mythor war dies die Bestätigung, daß er auf dem richtigen Weg war. »Ich schaffe es wieder allein«, sagte Kalathee, und Mythor setzte sie nur zu gerne auf dem Boden ab. Er nutzte die Gelegenheit, um versuchsweise den Helm der Gerechten abzunehmen. Sofort verstummte das drängende Summen. Als er ihn wieder aufsetzte, war auch das Geräusch wieder in seinem Kopf. So unaufdringlich es war und sein Denken in keiner Weise verwirrte, so war es doch nicht zu überhören. »Was ist?« fragte Nottr. »Du siehst sehr nachdenklich aus, Mythor.« Als Mythor noch immer schwieg, meinte Sadagar giftig: »Unser jugendlicher Held spricht nicht mit jedermann. Es ist wahrscheinlich ein bestimmtes höfisches Ritual nötig, um ihn gnädig zu stimmen. Ich warte schon die längste Zeit darauf, daß er mir Antwort auf eine Frage gibt.« »Sei nicht albern, Sadagar!« sagte Mythor ernst. »Ich mußte 227
mir selbst erst darüber klarwerden, daß es der Helm der Gerechten ist, der mir eine bestimmte Richtung weist.« »Wenn das so ist…«, setzte Sadagar zum Sprechen an, ließ den Rest jedoch unausgesprochen. Er machte einen etwas ratlosen Eindruck. »Vertraue nur den Einflüsterungen des Helmes«, redete Kalathee Mythor zu. »Der Helm ist mehr als nur ein Kopfschutz. Er ist Teil des Vermächtnisses des Lichtboten, das er für einen wie dich hinterlassen hat, Mythor. Wenn er dir einen Hinweis gibt, dann höre darauf.« Mythor wollte den Freunden erklären, daß der Helm ihm keinerlei bestimmte Aussage mache, aber ihm fehlten die richtigen Worte dazu. Er war nur richtungweisend, ohne ihm zu verraten, was ihn dort erwartete. »Laß dich nicht beirren«, sagte Kalathee eindringlich. »Wir vertrauen uns dir blind an.« »So ist es«, stimmte Nottr zu. »Ich werde mein Magenknurren unterdrücken und meinen eingefrorenen Gelenken sagen, daß sie nicht knarren sollen, damit sie die Botschaft des Helmes nicht übertönen«, sagte Sadagar. »Und ich werde mir einreden, daß ich gar nicht erschöpft bin, sondern springlebendig wie eine Bergziege.« Sadagar brach mit einem Schmerzensschrei ab. Mythor hatte bemerkt, daß irgend etwas durch die Luft geflogen kam. Jetzt sah er den Steinmann taumeln; auf seiner Stirn klaffte eine blutige Wunde. »Wir werden angegriffen!« rief Nottr und beugte sich nach einem keilförmigen Gegenstand auf dem Boden. Er hob ihn auf und hielt ihn Mythor hin. Es handelte sich um einen Stein, der an einem Ende spitz war. Dazu sagte er: »Ein Steinkeil, und er kam aus Richtung der Elvenbrücke.« Mythor blickte zu dem steinernen Wall, der an dieser Stelle nicht sehr hoch war. Dort war keine Bewegung zu sehen. Doch 228
noch während er hinaufsah, löste sich ein Stein und rollte mit lautem Geräusch in die Tiefe. »Wir werden von jetzt an auf der Hut sein müssen«, sagte er. »Offenbar werden wir von unsichtbaren Augen beobachtet. So verlassen, wie die Elvenbrücke scheint, ist sie bestimmt nicht. Zieht euch die Felle über die Köpfe, um euch vor weiteren Geschossen zu schützen. Wie fühlst du dich, Steinmann?« »Ich bin etwas benommen, aber leidlich wohlauf«, sagte Sadagar mit schmerzlichem Grinsen. »Hätte der Kleine Nadomir den Steinkeil nicht abgelenkt, wäre ich jetzt gewiß tot.« Nottr schlug ihm lachend auf die Schulter, und sie setzten ihren Marsch fort. Kalathee zog ihre Kapuze tief ins Gesicht und suchte hinter Mythor Schutz. Nottr hatte sein Krummschwert gezogen, als könne er durch dessen Anblick den unsichtbaren Gegner einschüchtern. Eine ganze Weile passierte überhaupt nichts, aber sie hatten ständig das unbestimmte Gefühl, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden. »Wer mit Steinen wirft, tut dies nur mangels besserer Ausrüstung«, sagte Sadagar und ließ seine Augen über die Elvenbrücke gleiten. »Vielleicht haben wir es nur mit halbwegs intelligenten Tieren zu tun.« »Achtung!« rief Mythor, als er hinter den kahlen Büschen vor sich eine Bewegung wahrnahm. Im nächsten Augenblick tauchten vor ihnen einige be- haarte, zottige Gestalten auf. Ein unmenschliches Geschrei brach los, und gleichzeitig ergoß sich ein Hagel von Steinen über sie. Mythor wurde von einigen der Geschosse getroffen. Jene, die gegen seinen Kopf gezielt waren, prallten ohne Wirkung ab. Er spürte nur eine geringe Erschütterung. Aber als ein Stein seine linke Schulter traf, durchfuhr ihn ein stechender Schmerz. Ein anderer Stein traf ihn vor die Brust. Hinter ihm schrie Nottr auf und griff sich mit gekrümmtem 229
Körper an den Unterleib. Kalathee und Sadagar blieben verschont, denn Mythor hatte den Steinhagel größtenteils mit seinem Körper aufgefangen. Die meisten der Wurfgeschosse waren ohnehin schlecht gezielt und gingen weit ins Leere. »Zur Elvenbrücke!« rief Sadagar. »Dort finden wir noch am ehesten Schutz!« »Lauft schon!« befahl Mythor. »Ich decke euch den Rücken.« Sadagar ergriff Kalathees Hand und lief mit ihr davon. Nottr stellte sich an Mythors Seite dem Rudel verwilderter Gestalten. Sie kamen noch immer brüllend und Steine werfend auf sie zu. Zwei Geschosse konnte Nottr mit seinem breiten Krummschwert abwehren, ein drittes traf ihn am Oberschenkel und ließ ihn einknicken. »Hunde!« schrie er und stürmte nach vorne. Das brachte die Angreifer zum Stillstand. Offenbar hatten sie alle ihre Steine verschossen und scheuten vor einem Kampf Mann gegen Mann zurück. Mythor sah, daß sie nur mit Steinbeilen und Stechlanzen, die eiserne Spitzen hatten, bewaffnet waren. »Ziehen wir uns zurück, Nottr!« raunte Mythor dem Lorvaner zu. »Nützen wir ihr Zögern, denn wenn sie sich erst gesammelt haben, werden sie uns überrennen.« Rückwärts gehend wichen sie den langsam näher rückenden Wilden aus. Es waren Menschen, zweifellos, aber sie waren am ganzen Körper behaart. Durch das Gestrüpp von Haaren, das ihre Gesichter bedeckte, funkelten tierhafte Augen. Aus ihnen sprach die Lust am Töten. »Ich kenne solche Wilde«, sagte Nottr. »Es gibt sie überall, auch in den Bergen meiner Heimat. Im Grunde genommen sind sie ängstliche Wesen, die alles fürchten, was anders ist als sie. Aber einen unterlegenen Gegner fressen sie bei lebendigem Leib auf.« Die Wilden knurrten sie an. Manchmal setzte einer von ih230
nen zum Angriff an, und er riß die anderen sofort mit sich. Aber es gelang fast immer, sie zurückzujagen, wenn Mythor und Nottr Kampfstellung einnahmen. Nur ein einziges Mal kamen sie in Bedrängnis, als die Meute sich von ihrem Anführer anstacheln ließ. Obwohl Mythor und Nottr aus Leibeskräften schrien und ihre Waffen drohend schwangen, stürmten die Wilden weiter. Sie machten sich Mut, indem sie noch lauter schrien. Erst als ihr Rudelführer unter Nottrs Krummschwert zusammenbrach, kamen sie zum Stillstand und verkrochen sich winselnd und heulend hinter Bäumen und Felsen. Sie wagten sich nicht mehr aus ihrer Deckung hervor, bis Mythor und Nottr den Fuß der Elvenbrücke erreicht hatten. Damit waren sie jedoch noch nicht in Sicherheit. Kalathee, die mit Sadagar zwischen den Felsen Schutz gesucht hatte, schrie auf einmal und deutete nach oben. Dort löste sich eine gewaltige Steinlawine. Mythor sah dahinter einige Gestalten auftauchen, und im nächsten Moment durchzog ein Schwärm von pfeilartigen Geschossen die Luft. Mythor warf sich nach vorne und duckte sich hinter einen überhängenden Felsbrocken. Er konnte noch sehen, daß auch Nottr Deckung bezogen hatte, dann prasselte die Steinlawine über ihn nieder. Ein großer Felsbrocken schlug knapp neben seinem Fuß auf, und er zog ihn schnell ein. Nachdem die Steinlawine abgegangen war und Ruhe einkehrte, verließ Mythor die Deckung. »Dort ist eine Höhle!« hörte er Sadagar rufen. »Sucht sie auf«, empfahl Mythor. Er bückte sich und zog aus dem Geröll einen abgebrochenen Pfeil. Er bestand aus einem harten, geschliffenen Rundholz und hatte eine eiserne Spitze. Es war ein Caer-Pfeil. Mythor zeigte ihn Nottr. »Die auf der Elvenbrücke wohnen, müssen einem anderen Stamm angehören«, sagte er. »Die 231
Wilden, die wir kennengelernt haben, könnten mit solchen Beutewaffen gar nicht umgehen.« »Oder es sind Caer«, mutmaßte Mythor, schüttelte aber den Kopf. »Nein, Caer würden sich anders verhalten. Sie würden uns eher gefangennehmen, um uns befragen zu können.« Sie stiegen über die Felsquader hinauf bis zu der Öffnung, aus der ihnen Steinmann Sadagar winkte. Mythor stellte verwundert fest, daß es sich um einen übermannsgroßen Torbogen aus behauenen Quadern handelte, die fast fugenlos übereinanderlagen. »Das ist nicht der Zugang zu einer Höhle, sondern in ein ausgebautes Gewölbe«, meinte Sadagar. »Es führt sogar ein Gang weiter. Vielleicht können wir darin unseren Weg fortsetzen.« »Jetzt machen wir erst einmal Rast«, beschloß Mythor. »Der Kleine Nadomir wird es dir danken«, sagte Sadagar mit einem Stoßseufzer der Erleichterung. »Hier sind wir in Sicherheit.« Doch kaum hatte er es gesagt, da erklang aus der Tiefe des dunklen Gewölbes ein dumpfer, langgezogener Laut, der sich scheinbar aus unendlicher Ferne bis zu ihnen fortpflanzte. »Was war das?« fragte Sadagar entsetzt. »Es scheint aus den tiefsten Schlünden der Welt zu kommen.« »Was immer es war, es ist weit genug von uns entfernt, daß es unsere Ruhe nicht stören kann«, entgegnete Mythor. Und er fügte lächelnd hinzu: »Dein Magenknurren klingt mir weitaus bedrohlicher, Sadagar.« Sie aßen ausgiebig und drehten dann aus pechgetränkten Dochten, die sie in dem von den Caer erbeuteten Sack mit Ausrüstung fanden, Fackeln, die durch Äste verstärkt wurden. Mythor hatte dies angeordnet, weil er sich damit abgefunden hatte, daß sie ihren Weg durch die Gänge der Elvenbrücke fortsetzen mußten. Als er einmal ins Freie trat, um die Lage zu 232
erkunden, sah er am Fuß der Elvenbrücke ein Rudel der behaarten Tiermenschen lauern, die bei seinem Anblick aus ihren Verstecken kamen. Im selben Moment, kaum daß er sich blicken ließ, wurde er von oben mit einem Pfeilhagel eingedeckt. »Wir stehen zwischen zwei Fronten«, drückte es Sadagar aus. »Gehen wir nach unten, dann fressen uns die Wilden auf. Wenn wir aber die Anhöhe zu erklimmen versuchen, werden wir von Pfeilen gespickt.« Sie hatten gar keine andere Wahl, als ihr Glück im Schutz der Felsgänge zu versuchen. Beunruhigend dabei war nur das Rumoren, das aus der Tiefe kam. Es erklang in unregelmäßigen Abständen. Manchmal blieb es für längere Zeit aus, aber immer, wenn sie glaubten, daß das Geräusch, das sich anhörte wie das zornige Schreien einer gepeinigten Kreatur, ausbleiben würde, war es bald darauf schaurig zu vernehmen. Aber davon drohte keine unmittelbare Gefahr. Wenn sie sich dem Ursprung der Schreie näherten, konnten sie immer noch ins Freie zu stürmen versuchen. Nottr war mit einer Fackel auf Erkundung gegangen und berichtete, daß der Gang auf eine weite Strecke gut begehbar sei. Es gebe ein paar Engstellen und herabgestürzte Felsbrocken und Skelette von Menschen und Tieren lägen im Weg, aber er habe keine Anzeichen von Gefahr entdeckt und, abgesehen von einigen kleineren und harmlos wirkenden Tieren, die vor ihm geflohen seien, keine Spur von Leben. »Skelette?« fragte Kalathee. »Dann sind die Behaarten doch Menschenfresser?« »Wir werden ihre Mahlzeit bestimmt nicht aufbessern«, versicherte Nottr. »Es wird Zeit«, ermahnte Mythor. Sie verstauten alles, was sie nicht brauchten, im Sack, den Nottr sich wieder auf den Rücken band, entzündeten die Fa233
ckeln und drangen in den Gang ein. Nottr übernahm die Spitze, Mythor bildete den Abschluß. Sadagar trug die Fackel in der Linken und tastete immer wieder nach dem Gurt mit den Wurfmessern. »Hier ist es wenigstens warm«, sagte er, wie um sich damit über andere Nachteile hinwegzutrösten. Da er sich im Kampf allein auf seine Geschicklichkeit im Umgang mit Wurfmessern verließ und körperlich bei einem Kampf Mann gegen Mann nicht mithalten konnte, zog er die freie Natur geschlossenen Räumen vor. Anders war es nur, wenn seine Gegenspieler leichtgläubige Menschen waren, die er mit seinen Taschenspielerkunststücken und Wahrsagungen blenden konnte. Um sie waren ständig Geräusche. Es raschelte immer irgendwo, wenn Kleintiere die sie umgebende Helligkeit flohen. Die Wände waren feucht, und das Tropfen von Wasser war ständig zu hören. An manchen Stellen floß das Schmelzwasser in wahren Bächen über die Wände, und Sadagar behauptete, daß es auf der Elvenbrücke Zisternen geben müsse, in denen die Bewohner die Niederschläge sammelten. Von ferne erklang immer wieder das heisere Schreien, das jedoch kaum lauter wurde, obwohl sie ihm entgegengingen. »Was waren die Elven für ein Volk?« fragte Mythor nachdenklich. »Und gegen wen haben sie diesen mächtigen Wall gebaut, der sich über die engste Stelle der Insel erstreckt?« »Vielleicht gegen jene, die den Titanenpfad erbaut haben«, sagte Sadagar. »Ich kenne viele Legenden, aber keine handelt von den Elven oder den Titanen. Daraus schließe ich, daß sie nur auf dieser Insel seßhaft waren. Es mag auch sein, daß es sich bei der Elvenbrücke gar nicht um eine Wehr gehandelt hat, sondern um ein Heiligtum. Ich habe von einem Volk im tiefen Süden gehört, das kreuz und quer durch eine unfruchtbare Steppe tiefe Gräben gezogen hat. Manche glauben, daß es 234
sich einst um Wasserkanäle handelte, die austrockneten. Aber ich schließe mich eher der Ansicht jener an, die sagen, daß es sich um magische Zeichen handelt, die die Dämonen aus der Schattenzone abschrecken sollten, denn diese Steppe liegt nahe der Düsterzone.« »Und über diese selbst weißt du nichts?« fragte Mythor, obwohl er die Antwort kannte. »Ich habe nie den Wunsch verspürt, in die Nähe dieses Gebiets vorzudringen«, antwortete Sadagar. »Ich weiß darüber nicht mehr als jeder andere, nämlich daß dort das Reich der Dämonen beginnt.« Sie kamen gut voran. Der Gang verlief immer geradeaus; an den Abzweigungen, die in die Tiefe der Elvenbrücke führten, gingen sie achtlos vorbei. Manchmal weitete sich der Gang zu einem Gewölbe, dann wieder zeigten sich Risse und Spalten in den Wänden, durch die das Tageslicht fiel, und sie kamen auch zu Ausgängen, die ins Freie führten. Ein Blick hinaus genügte jedoch, um ihnen zu zeigen, daß sie im Schutz der Felsen sicherer waren. Denn jedesmal sahen sie am Fuß der Elvenbrücke zottige Gestalten, die nur darauf zu warten schienen, daß sie herauskamen. Als Mythor wieder einmal durch einen dieser Ausgänge blickte, sank bereits die Dämmerung über das Land. Er sah, wie ein Haufen Wilder sich anschickte, die Elvenbrücke zu erklimmen. Doch noch bevor er seine Freunde darauf aufmerksam machen konnte, löste sich hoch oben eine Steinlawine, die donnernd herabstürzte. Die Wilden schienen damit gerechnet zu haben, denn nach dem Niedergang der Steinlawine kamen sie alle aus sicheren Verstecken. Nun wurden sie aber von der Höhe mit Pfeilen eingedeckt, die manchen von ihnen niederstreckten und den anderen die Lust am Aufstieg nahmen. »Ich fürchte, daß die Wilden die Nacht dazu nützen werden, 235
um zu uns heraufzukommen«, sprach Sadagar seine Bedenken aus. Und mit einem wehmütigen Blick auf seinen Fackelstummel fügte er hinzu: »Unsere Fackeln reichen auch nicht mehr lange.« »Wir werden schon einen sicheren Platz finden«, sagte Mythor zuversichtlich. Aus der Ferne erscholl der gequälte Schrei jener Kreatur, deren Geräusche sie die ganze Zeit über begleitet hatten. Plötzlich ging ein Rumoren durch den Gang. Rund um sie ächzte und knarrte das Gestein. Kleinere Felsbrocken fielen auf sie herab. Und dann schwoll das Rumoren zu einem Getöse an. »Die Elvenbrücke stürzt zusammen!« rief Steinmann Sadagar in Panik. Im nächsten Moment war er in eine Staubwolke gehüllt, und seine Fackel erlosch. Mythor bekam einen Schlag in den Rücken, als ihn ein größerer Felsbrocken traf. Über ihm war ein Bersten und Krachen, daß er meinte, der ganze Steinberg stürze über seinem Kopf zusammen. Er sprang nach vorne und stieß Kalathee von sich, um sie ebenfalls aus der Gefahrenzone zu bringen. Sie fiel, er kam auf ihr zu liegen, umfaßte sie und rollte sich mit ihr ab. Mythor hatte das Gefühl, als senke sich der Boden unter ihm. Er raffte sich auf, zerrte Kalathee an einer Hand mit sich und kroch weiter. Er mußte husten, als sich Staub auf seine Atemwege legte. Die Fackel war ihm längst entfallen. Um ihn war Finsternis. Endlich beruhigte sich das Gestein wieder. »Ist dir nichts passiert, Kalathee?« erkundigte sich Mythor und tastete über ihren Körper. Sie regte sich äußerst dankbar und versicherte, daß ihr nichts geschehen sei. Mythor atmete erleichtert auf, als sich auch Nottr und Sadagar aus der Dunkelheit meldeten. Mythor erhob sich und stellte um sich tastend fest, daß ihnen 236
der Rückweg abgeschnitten war. Er sagte es den Kameraden. Nottr bemerkte: »Vorne geht es weiter. Aber jetzt haben wir kein Licht mehr.« »Haltet euch aneinander fest!« riet Mythor. »Und du sei vorsichtig, Nottr. Ich möchte nicht, daß du in einen Spalt fällst.« Sie bewegten sich mit trippelnden Schritten vorwärts. Mythor hielt sich an Kalathees Hand fest, die wiederum Sadagar die Hand gereicht hatte. »Deine Hand ist feucht, Sadagar«, stellte Nottr fest. »Ist das Angstschweiß?« »Nein, das macht die Freude«, behauptete Sadagar trocken. Nach einer Weile verkündete Nottr: »Da vorne weitet sich der Gang. Wir kommen in ein Gewölbe. Bleibt stehen, ich will den Raum mal abschreiten.« Sie hörten Nottr im Kreis gehen. Als er wieder zu ihnen stieß, sagte er: »Ich habe keinen Ausgang gefunden. Wir sind eingeschlossen.« Mythor wollte das nicht glauben und begab sich selbst auf einen Erkundungsgang. Nach fünfzehn Schritten kam er ans Ende des Gewölbes, ohne daß seine tastenden Hände auf eine Öffnung gestoßen wären. In der Breite zählte er zehn Schritte, bevor er zu einem Berg lose übereinanderliegender Felsen kam. Hier war der Gang verschüttet worden. Mythor schritt noch die angrenzende Wand ab, aber alles, was er fand, war eine kleine Öffnung, durch die man gerade den Kopf stecken konnte. »Somit haben wir unser Nachtlager gefunden«, sagte er, als er zu den Freunden zurückkam. »Wenigstens sind wir vor den Wilden sicher und können ruhig schlafen.« Ein langgezogener Laut aus tiefer Kehle erinnerte sie jedoch daran, daß es auch noch eine andere Bedrohung als die durch die Wilden gab. Der Schrei klang diesmal näher, und er schien aus einer anderen Richtung zu kommen. 237
»Es ist unter uns«, sagte Kalathee ängstlich. »Es muß sich genau unter uns befinden.« »Du kannst trotzdem beruhigt schlafen«, sagte Nottr. Sie breiteten ihre Felle aus und rückten zusammen. Kalathee drängte sich an Mythor, und Sadagar schob sich auf der anderen Seite zwischen sie und Nottr, um zu verhindern, daß das heiße Blut des Lorvaners in Wallung geriet. Nottr vermerkte es brummend, raffte sein Fell zusammen und kam an Mythors Seite. Sie unterhielten sich noch eine Weile und redeten sich so in den Schlaf. Mythor merkte erst jetzt, wie erschöpft er war. Selbst das Knistern des Pergaments auf seiner Brust konnte seine Müdigkeit nicht verscheuchen. Er wollte einfach ausruhen und ließ sich nur allzugerne in das dunkle Land geleiten, das die Wirklichkeit ablöst. Aber da war etwas, das ihm die verdiente Ruhe nicht gönnte. Er forschte danach und erkannte, daß etwas seine Hand drückte. Etwas hielt sie in festem Griff, und zwar so, daß nur der Zeigefinger frei und gestreckt war. Und mit diesem Zeigefinger wurde beharrlich auf den Boden geklopft. Mythor wollte hochschrecken, aber da raunte ihm Nottr zu: »Laß die anderen schlafen. Sie würden sich nur aufregen – vielleicht umsonst.« »Was ist?« »Spitz die Ohren!« Mythor lauschte, und da vernahm er verhaltene Geräusche. Es hörte sich an, als trage jemand überaus vorsichtig einen Berg aus Steinen ab. Mythor war sofort hellwach, als ihm der verschüttete Gang einfiel. »Wir kriegen Besuch«, raunte er Nottr zu und spürte dessen bestätigendes Nicken. »Wollen wir ihnen einen entsprechenden Empfang bereiten?« Wieder nickte Nottr. 238
Vorsichtig hob Mythor das Fell an, mit dem er sich zugedeckt hatte, und richtete sich auf. Bevor er jedoch Alton unter sich hervorgeholt hatte, legte sich etwas Warmes, Haariges auf seine Schulter. Im ersten Moment wollte sich Mythor des Zugriffs durch eine Abwehrbewegung erwehren. Aber da spürte er plötzlich, wie sich eine andere behaarte Hand um seinen Hals legte und diesen mit den Fingern mühelos umschloß. Der Würgedruck blieb jedoch aus, die Berührung war überaus sanft und kitzelte seine Haut, wenngleich die Drohung unverkennbar war. Mythor vernahm neben sich eine Reihe tumultartiger Geräusche. Gleich darauf stöhnte Nottr verhalten. Das ließ Mythor erkennen, daß jede Gegenwehr sinnlos war. »Gib auf, Nottr«, sagte er flüsternd. »Vielleicht wollen uns die Haarigen gar nichts Böses. Es ist bestimmt besser, sich zu fügen, als sie durch nutzlose Gegenwehr zu reizen.« »Wie du meinst, Mythor«, brachte Nottr hervor. Als er weitersprach, klang seine Stimme gelöster. »Ich glaube, diese Wilden können in der Dunkelheit sehen.« »Ich wecke jetzt Kalathee und Sadagar«, sagte Mythor und wandte sich um. Als er pelzige Arme nach Kalathee greifen spürte, sagte er befehlend: »Weg da!« Sofort wurden die Arme weggezogen. »Ich glaube, die können uns verstehen«, sagte Mythor daraufhin. »Also keine unbedachten Äußerungen, Nottr.« »Ich füge mich«, sagte der Lorvaner widerstrebend. »Aber verlange nicht auch, daß ich mich freiwillig am Spieß braten lasse.« Mythor beugte sich über Kalathee und schüttelte sie sanft. Sie murmelte verschlafen vor sich hin, und er redete ihr beruhigend zu. »Wach auf, Kalathee«, sagte er. »Wir haben Besuch, aber es besteht kein Grund zur Sorge. Diese Menschen sind uns freundlich gesinnt. Sie tun uns nichts.« 239
Kalathee hatte sich überraschend gut in der Gewalt. Nur das Beben ihres Körpers verriet Mythor, daß sie Angst hatte. Sadagar schlief wie ein Stein, und es kostete Mythor einige Mühe, ihn wach zu kriegen. Aber als es dann soweit war, begriff er sehr rasch, daß es besser war, sich ruhig zu verhalten. »Ich glaube, sie wollen, daß wir mit ihnen kommen«, sagte Mythor, als die Haarigen ihn zupften und sanft drängten. »Soviel Gastfreundschaft können wir einfach nicht abschlagen.« Kalathee hielt sich an ihm fest, und er drückte beruhigend ihre Hand. Die haarigen Hände lenkten sie in die Richtung, in der Mythor den verschütteten Gang vermutete. Tatsächlich stieß er mit den Füßen bald gegen Geröll und größere Felsbrocken. Sie mußten über eine Halde hinwegklettern und kamen dann wieder in einen freien Gang. »Mir wäre wohler, wenn ich meine Umgebung sehen könnte«, sagte Sadagar und rief gleich darauf ungehalten aus: »He, laß das! An dieser Stelle bin ich empfindlich!« »Nimm dir nicht zuviel heraus!« ermahnte Mythor. »Die Geduld unserer Freunde ist bestimmt nicht unbegrenzt.« Nach einer Weile wurden sie in einen Seitengang gedrängt. Er war schmaler als der Außengang, die Wände waren nicht ebenmäßig, sondern wiesen Vorsprünge auf, an denen sie sich immer wieder stießen. Mythor vermutete, daß sich die einst senkrecht übereinandergelegten Quader verschoben hatten. Früher oder später würde auch dieser Gang einstürzen. »Da vorne ist Licht!« verkündete Nottr. Mythor, der hinter ihm ging, sah den Lichtschein wenig später. Vor dem helleren Hintergrund, auf den sie zuschritten, sah er die sich behäbig bewegenden Umrisse der Haarigen. Sie waren groß und breit, es war keiner unter ihnen, der ihn nicht wenigstens um halbe Hauptlänge überragt hätte. Sie waren mit steinernen Stechlanzen und Steinäxten bewaffnet, bei einigen entdeckte er aber auch Schleudern, in die solche Keilsteine 240
eingelegt waren, wie Sadagar einen zu spüren bekommen hatte. Die Haarigen brachten sie in ein Gewölbe, das größer war als alle, durch die sie gekommen waren. Mythor vermutete, daß es etwa in der Mitte der Elvenbrücke lag. Im Halbkreis standen sieben Felsquader mit scharfen Kanten. Sie wiesen dunkle Flecken wie von Blut auf. Gegenüber stand ein vielfach größerer Quader, der in der Mitte eine Ausbuchtung aufwies – wie ein Sitz. Entlang den Wänden standen ein halbes Dutzend Steinsäulen, aus deren oberem Abschluß zuckende Flammen schlugen. Mythor und seine Freunde wurden von den Haarigen angewiesen, sich im Halbkreis auf die Felsblöcke zu setzen. Im Schein der flackernden Lichter erkannte er, daß ihre von Haarsträhnen halb verdeckten Gesichter nur annähernd menschlich waren, und er fragte sich, ob diese Wilden nicht durch eine Vermischung von Menschen mit Tieren entstanden waren. Er konnte sie keinem Volk zuordnen. Die Haarigen zogen sich durch den Gang zurück, durch den sie gekommen waren. Sadagar stieß hörbar die Luft aus. »Ich sage euch, das sind dämonische Bestien«, orakelte er. »Oder die verwilderten Nachkommen der Wächter der Elvenbrücke«, meinte Nottr. Mythor zuckte unwillkürlich zusammen, als hinter dem großen Felsquader mit der Ausbuchtung Gelächter ertönte. Es klang nicht tierisch, aber auch nicht menschlich, sondern hatte einen seltsam fremdartigen Klang. Jetzt erst merkte er, daß es hinter dem großen Sitzstein einen dunklen Torbogen gab. »Menschen«, erklang von dort eine säuselnde Stimme. »Ich darf nach langer Zeit wieder einmal Menschen sehen, haha!« Kalathee schrie, als hinter dem Sitzstein plötzlich ein Totenschädel auftauchte. Der hämisch grinsende Knochenschädel 241
war von einer gewaltigen Mähne verfilzten Haares umrahmt. Mythor merkte sofort, daß es sich nur um eine Maske handelte, die an einem Stab vor das Gesicht gehalten wurde. Während die Totenmaske mit seinem Träger zum Rand des Sitzsteines wanderte, erscholl wieder das Gelächter. Es erschien Mythor nun nicht mehr so fremdartig, denn er erkannte es als das eines Irren. »Vier junge, wagemutige Menschen, die furchtlos genug sind, in mein Reich einzudringen«, sagte die säuselnde Stimme. »Ihr werdet es nicht zu bereuen haben, tapfere Wanderer.« Die Gestalt trat nun hinter dem Sitzstein hervor. Mythor sah eine nackte, ausgemergelte Gestalt mit verrunzelter, gelblicher Haut, deren Blößen nur von dem bis zum Boden herabfallenden Haar verdeckt wurden. Dünne, zittrige Arme, die in knorrigen Händen endeten, waren überkreuzt. Die Hände waren in unnatürlichem Winkel zurückgebogen und hielten den Stab mit der Totenmaske. »Wer bist du?« fragte Nottr unerschrocken. »Ich?« fragte der Alte verwundert, während er von dem Sitzstein glitt. Er sprang in die Höhe und landete mit seinem schlaffen Gesäß in der Sitzschale. Mit erhobener Stimme fuhr er fort: »Ich bin der Gott der Nachtmenschen, der oberste Elv, Gebieter über die Elvenbrücke von Elvening bis Thormain, Herr über Leben und Tod. Von mir hängt es ab, ob ihr sterben werdet oder nicht. Und wer seid ihr?« »Wir sind Flüchtlinge aus Lockwergen, die das Schicksal hierher verschlagen hat«, antwortete Mythor und erzählte dann in wenigen Worten eine haarsträubende Geschichte, in der er ihre ohnehin turbulenten Abenteuer durch einige erlogene Beigaben ausschmückte. Alles, was mit Althars Wolkenhort zusammenhing, verschwieg er jedoch wohlweislich, denn er wollte die Aufmerksamkeit des seltsamen Alten nicht auf seine Ausrüstung len242
ken. Abschließend nannte er noch ihre richtigen Namen. »Du hast meine Neugierde geweckt, Jüngling«, sagte der Alte. »Ich will noch mehr davon hören, aber alles zu seiner Zeit. Wir werden noch oft Gelegenheit finden, uns über die Welt zu beiden Seiten der Elvenbrücke zu unterhalten, denn ich bin gewiß, daß ihr mir noch eine Weile Gesellschaft leisten wollt. Es ist schön, wieder einmal richtige Menschen zu treffen. Die Nachtmenschen sind dumme Kreaturen, die nicht einmal den Verstand des Mahnermann haben. Hört ihr ihn?« In die folgende Stille klang wieder das ferne, unheimliche Schreien. »Das ist der Mahnermann«, sagte der Alte, der sich als »oberster Elv« bezeichnet hatte. Er beugte sich nach vorne und wiederholte verschwörerisch und ohne die Totenmaske von seinem Gesicht zu nehmen: »Das ist der Mahnermann. Er arbeitet sich kreuz und quer durch die Elvenbrücke auf der Suche nach Nahrung. Er ist immer hungrig und frißt alles, was ihm in die Quere kommt und nicht harter Fels ist. Alle fürchten ihn, meine Nachtmenschen ebenso wie die Oberen und die Lichtsucher, die die Nacht fürchten und sich bei Dunkelheit in Felsritzen verkriechen und dabei vor Angst erstarren. Er holt sie wie die Würmer aus den Ritzen und verschlingt sie mit Haut und Haaren. Wäre ich nicht, gäbe es keine Nachtmenschen mehr. Ich sorge dafür, daß der Mahnermann sie in Ruhe läßt.« »Wenn du solche Macht hast…«, begann Mythor. Der Alte fuhr ihm mit schriller Stimme ins Wort: »Ich bin der oberste Elv, der letzte der wirklich Mächtigen!« schrie er. Dann lachte er wieder, und das Lachen ging in ein Schluchzen über, das seinen dünnen Körper schüttelte. »Wer bist du wirklich?« fragte Mythor nach einer Weile. »Wir sind keine Wilden, denen du etwas vormachen kannst.« »Jorgan«, kam es stockend durch die Maske. Und dann 243
schrie der Alte: »Ich bin Jorgan, der einst in Thormain geherrscht hat.« Mit einem unvermittelten Ruck setzte er die Maske ab und zeigte ihnen ein Gesicht, das dem grinsenden Totenschädel nicht unähnlich war. Das wenige Fleisch, das sich über die Knochen spannte, hatte einen bläulichen Schimmer, war spröde und verwuchert und wie verbrannt. Der lippenlose Mund gab ein ebenso bläulich schimmerndes Zahnfleisch frei, aus dem statt Zähne Silberdornen ragten. Dahinter zuckte eine Zunge wie ein aufgequollener Wurm. Die Augen waren zwei blutrote Bälle, die haltlos in den weiten Höhlen zu rollen schienen. »Ja«, säuselte der Alte durch seine silbernen Reißwerkzeuge, »seht euch nur an, was aus Jorgan, dem Eroberer, geworden ist. Ich habe Thormain für die Brüder der Meere mit starker Hand regiert, und aus Dank dafür haben sie mich mit Schimpf und Schande davongejagt. Ich hatte Glück, daß ich mich in die Elvenbrücke flüchten konnte, und ich hatte nochmals Glück, daß ich dem allesfressenden Mahnermann entging, was die Nachtmenschen so beeindruckte, daß sie mich seit damals als ihren Gott verehren. So wurde ich zum obersten Elv. Verflucht sei das Schicksal, das mich dazu gemacht hat!« Jorgan begann wieder zu schluchzen. »Ich bin ein gefangener Gott, ein Leibeigener der Nachtmenschen, der über Tod und Leben anderer befinden kann, nicht aber über sich selbst«, schloß der Alte mit gebrochener Stimme. »Hast du schon an Flucht gedacht?« fragte Nottr. »Ha!« Jorgan spie den Laut förmlich aus. »Sieh mich an, wohin kann ich mich schon wagen? Zuerst haben mich meine eigenen Kameraden so lange gefoltert, bis ich nur noch ein Bündel Fleisch war. Ein anderer wäre nach diesen Torturen schon zehnmal gestorben, und das muß meine Brüder beeindruckt haben, denn sie wagten es nicht mehr, Hand an mich 244
zu legen. Sie setzten mich an der Elvenbrücke aus. Ich schleppte mich durch einen Spalt in diese finstere Welt in der Hoffnung, hier den Tod zu finden. Aber ich war selbst dem Mahnermann, der sonst alles frißt, zu minder. Der Mahnermann pflegte mich gesund – das ist die Wahrheit!« Er schleuderte ihnen die Worte entgegen, als seien sie für sein Schicksal verantwortlich und als klage er sie dafür an. »Wenn du die Freiheit willst, könnten wir dir dazu verhelfen«, sagte Mythor. »Wir sind bewaffnet, und mit deiner Unterstützung könnten wir den Nachtmenschen entkommen.« »Sie scheuen das Licht, sie fürchten das Feuer.« Jorgan nickte bekräftigend. »Schwerter gegen Steinbeile. Licht gegen blinde Gewalt. Wir könnten es schaffen.« Mythor erhob sich und streckte dem Alten die Hand hin, der verwirrt darauf starrte. »Also schließt du dich uns an?« fragte Mythor. »Dann schlag ein!« Jorgan sprang mit einem gurgelnden Laut von seinem steinernen Sitz und verkrallte sich in Mythors Arm. Er riß den Kopf zurück, sperrte den Mund weit auf, so daß seine silbernen Reißdornen auseinanderklafften. Bevor er sie jedoch in Mythors Fleisch schlagen konnte, war Nottr zur Stelle und fällte den Alten mit einem Schlag seines Schwertknaufs gegen den Hinterkopf. Der Alte war jedoch bei Bewußtsein und wimmerte, auf dem Boden liegend, leise vor sich hin. »Tut mit mir, was ihr wollt, nur macht endlich Schluß«, jammerte er. »Wer mich tötet, erweist sich mächtiger als ich und muß meinen Platz einnehmen.« »Das würde uns gerade noch fehlen«, sagte Mythor. »Wir wollen nicht dein Leben, Jorgan, sondern deine Freundschaft. Warum wolltest du meine Hand beißen, die ich dir zum Zeichen der Verbrüderung reichte?« 245
»Verzeih!« murmelte Jorgan. »Nachtmenschen haben ein anderes Ritual der Verbrüderung.« »Steh auf!« befahl Mythor. Als der Alte mühsam auf die Beine kam, stand Nottr mit drohend erhobenem Krummschwert daneben. »Mein Vorschlag gilt immer noch«, sagte Mythor. »Ihr wollt mich in die Freiheit mitnehmen?« fragte Jorgan und ließ seine blutigen Augen rollen. Das Grinsen seines lippenlosen Mundes schien sich zu vertiefen. »Ich habe vorhin gesagt, daß ich nicht wisse, wohin ich mich wenden solle. Das stimmt nicht. Ich habe doch ein Ziel. Ich möchte nach Thormain, um Rache zu nehmen! Ich schlage ein.« Jorgan streckte seine Hand aus und hielt sie dabei zu einer Klaue geformt. »Besiegeln wir unser Bündnis ohne Handschlag«, meinte Mythor. »Es gilt auch so.« * »Es gibt keine Elven mehr«, erzählte ihnen Jorgan. »Wenigstens nicht an der Elvenbrücke. Die Oberen, die auf der Elvenbrücke leben, halten sich für Nachkommen der Elven, aber sie sind es ebensowenig wie die Nachtmenschen oder die Lichtsucher. Die Oberen haben etwas mehr Verstand, das ist alles. Aber dem Mahnermann müssen auch sie opfern.« »Was ist der Mahnermann für ein Wesen?« erkundigte sich Mythor. »Ein Wesen?« rief Jorgan spöttisch aus. »Der Mahnermann ist weder ein Tier noch ein Mensch, auch keine Pflanze, überhaupt nichts Lebendes. Oder sagen wir so, er ist ein Ding, das eigentlich nicht leben dürfte. Er besteht aus Stein, aus demselben Stein wie die ganze Elvenbrücke. Es kann nur so sein, daß die dunklen Mächte ihn beseelt haben und ihm auftrugen, die 246
Elvenbrücke zu zerstören und alles Leben darauf und darin zu vertilgen. Der Mahnermann ist ein steinerner Allesfresser.« Mythor schüttelte ungläubig den Kopf, und Sadagar tippte sich verstohlen an die Stirn. »Irrengewäsch«, murmelte Nottr vor sich hin. Nur Kalathee bezweifelte Jorgans Worte nicht, das sah man ihrem erschrockenen Gesicht an. Jorgan hatte aus seiner »Götterstube«, wie er den Raum hinter dem Sitzstein nannte, einige menschliche Knochen geholt. Als er sie in die Flammen hielt, die auf den Steinsockeln loderten, begannen sie in einem grünlichen Feuer mit starkem Geruch zu brennen. Jeder von ihnen erhielt eine solche Knochenfackel, nur Jorgan nahm selbst keine an sich. »Folgt mir!« sagte er dann und winkte ihnen mit seinen dünnen Armen. »Ich führe euch durch einen geheimen Gang ins Freie.« Er umrundete den Sitzstein und betrat seine Unterkunft. Es handelte sich um eine noch größere Halle, als es der »Thronsaal« war. Sie war durch große Felsquader in verschiedene Ebenen unterteilt. Überall lagen Felle, und darauf waren die verschiedensten Gegenstände angehäuft. Dort lagen alle möglichen Waffen beisammen, daneben lag ein Berg von alltäglichen Gebrauchsgegenständen, darunter Spinnräder und Zaumzeug von Ochsen und Pferden, versiegelte Krüge und Bottiche, alles bunt durcheinander. »Seht!« rief Sadagar und deutete auf einen Haufen Schmuck, in dem es silbrig und golden schimmerte und kostbare Edelsteine funkelten. Bei diesem Anblick bekam der Steinmann ganz große Augen. »Meine Schätze!« sagte Jorgan stolz. Streng fügte er hinzu: »Rührt nichts davon an, denn das würde dem Mahnermann nicht gefallen. Er würde nicht eher ruhen, bis er euch den Schatz wieder abgejagt hätte.« Er wandte sich Mythor zu und 247
fragte: »Willst du mir nicht deinen kostbaren Helm zum Geschenk machen? Er würde das Schmuckstück meiner Sammlung sein.« »Da du mit uns kommst, hättest du gar nichts davon«, wich Mythor aus. »Das ist wahr«, sagte Jorgan und kicherte. »Kommt, weiter!« Der Alte führte sie aus seiner Schatzkammer in einen Schacht mit einer schmalen, verwinkelten Treppe, die sich in die Tiefe wand. Als Mythor sich über den Rand beugte und die Tiefe mit der Knochenfackel auszuleuchten versuchte, sah er, daß die unregelmäßigen Stufen scheinbar endlos waren. Sie verloren sich irgendwo in der Finsternis. »Wie weit führt diese Treppe?« erkundigte sich Mythor während des Abstiegs. »Bis zum Grund der Welt«, behauptete Jorgan. Kichernd fügte er hinzu: »Aber so tief brauchen wir nicht zu steigen. Der Mahnermann würde uns gar nicht so weit lassen.« »Droht uns von diesem Unwesen denn keine Gefahr?« fragte Sadagar unbehaglich. »Nicht, solange ihr in meiner Nähe seid«, sagte Jorgan. »Außerdem bedenkt, daß er ein Klotz aus Stein ist, behäbig und langsam. Selbst ein Einbeiniger würde schneller laufen als der Mahnermann. Nur wenn man in die Enge getrieben ist, entkommt man ihm nicht mehr.« Mythor erschien es, daß sie schon endlos lange die gewundene Treppe hinabstiegen, und noch immer war kein Ende abzusehen. Sie mußten schon weit unter der Oberfläche sein. Er wollte Jorgan gerade fragen, wann sie denn endlich die Treppe verlassen könnten, als er sah, wie der Alte mit einem großen Satz von einer Stufe zu einer höheren Plattform hinaufsprang. Im selben Augenblick spürte Mythor, wie der Stein unter ihm nachgab. 248
»Das ist eine Falle!« konnte er noch rufen. Aber da war es bereits zu spät. Kalathee, die hinter ihm gegangen war, fiel gegen ihn, und zusammen stürzten sie in die Tiefe. Im Fallen sah Mythor unter sich den rasch näher kommenden Boden, der von menschlichen Gebeinen übersät war. Er zog den Kopf ein und spannte die Schultern an, um den Aufprall zu mildern. Dennoch durchzuckte seinen Körper ein flammender Schmerz, der sich wiederholte, als Kalathee auf ihm landete. Ihr Schrei verstummte mit einem dumpfen Laut. Mythor lag benommen da und sah verschwommenen Blicks, daß der brennende Knochen, der ihm während des Falls entglitten war, eine Armlänge von ihm entfernt sein grünliches Licht verbreitete. Daneben lagen Alton und der Helm der Gerechten. Im Hintergrund sah er zwei Gestalten, die sich schwach regten. »Ich muß mir alle Knochen im Leib gebrochen haben«, sagte Sadagar stöhnend. »Ich bekomme kaum Luft.« Nottr erholte sich als erster von ihnen. Er stand mit erhobener Knochenfackel da und versuchte das Gewölbe auszuleuchten, in dem sie sich befanden. Von oben erklang ein irres Gelächter. »Das wirst du uns büßen, Jorgan!« schrie Nottr zu dem Alten hinauf, dessen Gesicht vier Mannslängen über ihnen in der Fallgrube erschien. Nottr schwang drohend sein Krummschwert, aber Jorgan hatte dafür nur ein höhnisches Lachen übrig. »Ihr glaubt doch nicht, daß ich meinen Blutsbruder verraten werde«, rief Jorgan zu ihnen herunter. »Der Mahnermann hat mich dem Leben wiedergegeben, und aus Dank dafür opfere ich ihm. Gemeinsam beherrschen wir die Elvenbrücke. Es gibt kein Entkommen für euch. Bereitet euch darauf vor, daß mein Bruder euch verschlingt.« 249
Jorgan lachte wieder. Gleich darauf hob sich der herabgeklappte Treppenteil, und die Fallgrube schloß sich. Das Gelächter verstummte. Dafür erklang ein anderes Geräusch, das aus der Tiefe des Verlieses kam. Es klang wie das hohle Echo eines verhaltenen Schreies, der sich mit einem Knirschen und Scharren vermischte, das erschien, als werde Granit über Fels geschoben. »Das kann nur der Mahnermann sein«, entfuhr es Sadagar. »Jetzt hat unser letztes Stündlein geschlagen.« »Du Memme!« schimpfte ihn Nottr. »Noch sind wir nicht verloren«, sagte Mythor, nahm Alton an sich und setzte den Helm der Gerechten auf. »Jorgan kann mit seinen haarsträubenden Geschichten vielleicht seine Wilden beeindrucken. Aber wir werden durchschauen, was wirklich dahintersteckt.« Das unheimliche Geräusch näherte sich unaufhaltsam aus der Dunkelheit. Noch konnten sie nicht erkennen, wer oder was diese Laute verursachte, denn der Schein ihrer Knochenfackeln reichte nicht weit genug. Nottr bot sich an, dem Ding entgegenzugehen, aber Mythor befahl ihm: »Hiergeblieben!« Er wandte sich in die andere Richtung, um die Weite ihres Verlieses zu erkunden. Aber schon nach zehn Schritten blieb er stehen, denn der grünliche Schein der Knochenfackel zeigte ihm, daß dort eine Wand den Weg versperrte. Als er die Vertiefung in der Wand sah, entfuhr ihm ein überraschter Ausruf. »Was ist?« fragte Kalathee hoffend. »Kommt her«, rief Mythor, »das müßt ihr sehen!« Die Freunde kamen näher, und im Schein ihrer Knochenfackeln war die Form der Wandnische deutlicher zu erkennen. Die Nische war gut fünf Mannslängen hoch und drei tief, und in Kopfhöhe befand sich eine kreisrunde Öffnung, die groß genug war, einen Menschen durchschlüpfen zu lassen. Aber dieser Öffnung schenkten Mythor und seine Freunde noch 250
keine Aufmerksamkeit, denn diese galt der Nische selbst. Sie besaß die Umrisse einer annähernd menschlichen Gestalt. »Hier muß einmal eine große Statue gestanden haben«, sagte Sadagar. »Ein Götze oder so etwas, vielleicht auch eine Dämonenstatue. Es könnte durchaus sein, daß… Aber, nein, das ist zu unglaublich.« »Was?« fragte Nottr ungehalten, der es nicht gerne hatte, wenn etwas unausgesprochen blieb. »Ich weiß schon, was Sadagar meint«, sagte Mythor. »Er mutmaßt, daß dies der Platz für den Mahnermann sein könnte.« »Und warum nicht?« fragte Nottr. »Weil es dann wahr wäre, was Jorgan uns sagte«, antwortete Mythor. »Nämlich, daß der Mahnermann ein Steingötze ist, der durch Schwarze Magie beseelt wurde.« In die folgende Stille war wieder das Knirschen von Stein auf Stein zu hören, dem der hohl klingende, langgezogene Laut folgte. »Es muß wahr sein«, sagte Kalathee ängstlich. »Es hört sich gerade so an, als würde sich da ein gewaltiges steinernes Gebilde nähern.« Mythor ging langsam dem Geräusch entgegen, und da sah er das Ding. Im ersten Augenblick konnte er nicht fassen, was seine Augen ihm zeigten. Seit dem Untergang von Churkuuhl und auch davor hatte er schon viel Phantastisches erlebt und gesehen. Er hatte gegen alle möglichen Ungeheuer gekämpft und die unerklärlichsten magischen Auswirkungen zu spüren bekommen oder war Zeuge von solchen geworden. Aber das hier… Es war ein Gebilde, das sich aus verschieden großen Steinblöcken zusammensetzte. Es mochten hundert oder mehr solcher Steine sein, die zusammen eine Statue ergaben. Sie war unten breit und wuchtig und besaß nur angedeutete Beine, die 251
verkürzt waren, die Füße mannslang. Aus den vorderen Abschlußsteinen waren Zehen herausgehauen, und sie waren verwittert und bemoost wie der ganze steinerne Koloß. Auch die kurzen, plumpen Arme waren nur angedeutet, und sie bildeten zusammen mit den Beinen und dem Körper eine geschlossene Einheit, so daß der Eindruck von etwas Kauerndem und in sich Zusammengesunkenem entstand, das in der Höhe verkürzt und in die Breite gedrückt worden war. Obenauf saß ein ovaler Kopf aus einem einzigen Stück. Der eiförmige Stein war von der unteren Kuppe abgeschnitten und lag mit dieser ebenen Fläche auf dem aus Quadern zusammengesetzten Körper. In der unteren Kopfhälfte klaffte ein großes schwarzes Loch, das wohl den Mund darstellen sollte, und es war groß genug, um einen Menschen als Ganzes aufzunehmen. Diese Mundöffnung war von absoluter Schwärze, von der Schwärze des Bösen. Über dem schwarzen Maulloch waren Nase und Augen nur reliefartig herausgearbeitet. Sie waren auch ohne Bedeutung, denn die Gefahr ging von der schwarzen, alles verschlingenden Öffnung aus, die das Maul des Mahnermannes war. Mythor fröstelte, als er die Kälte spürte, die davon ausging. Der Mahnermann bewegte sich nicht, indem er ein steinernes Bein vor das andere setzte. Die Kraft, die ihm zu diesem seltsamen Leben verhalf, schob immer einige der Grundfelsen nach vorn, woraufhin die darüberliegenden nachfolgten, so daß ständig irgendwelche Felsen in Bewegung waren. Dadurch entstand das knirschende Geräusch. Der hohle Klagelaut kam aus der unheimlichen schwarzen Mundöffnung und erklang wie das Schreien jener Bedauernswerten, die darin ihr Ende gefunden hatten. »Wie soll man diesen Koloß bekämpfen?« fragte Sadagar fassungslos, während er langsam zurückwich. »Er füllt den ganzen Raum aus, man kommt nicht an ihm vorbei.« 252
Sadagar hatte recht. Mythor mußte feststellen, daß die wandelnde Statue sich immer den räumlichen Gegebenheiten anpaßte, sich dehnte und zusammenzog, wie es die Verhältnisse gerade verlangten. Es zeigten sich an den Rändern zwar Lücken, doch war Mythor überzeugt, daß es da kein Durchkommen gab. Wer sich durch solch eine Lücke zwängte, würde von den Felsquadern des Mahnermanns zermalmt werden. Mythor straffte sich und näherte sich dem steinernen Koloß mit erhobenem Schwert. Wenn es eine Waffe gab, um dieses dämonisch beseelte Steingebilde zu bekämpfen, dann Alton. »Nicht, Mythor!« rief ihm Kalathee nach, aber Mythor ging unbeirrbar weiter. Als er nur noch drei Armlängen vom nächsten Grundstein entfernt war, verspürte er auf einmal einen starken Sog, der unerbittlich an ihm zerrte und ihn zu dem schwarzen Loch hinaufziehen wollte. Mit aller Kraft stemmte er sich dagegen und schwang Alton, daß die gläserne Klinge in höchsten Tönen klang. Als sich einer der Steine bedrohlich nahe an ihn herangeschoben hatte, ließ er Alton darauf niedersausen. Die Klinge drang eine Handbreit in den Fels ein, doch konnte sie den Quader am Vorrücken nicht hindern. Mythor mußte einen Schritt zurückweichen. Dann schlug er wieder zu und immer wieder. Die Erschütterungen, die sich bei jedem Aufprall Altons auf dem Stein durch seinen Arm fortpflanzten, lähmten bald seine ganze Schulter. Der Arm wurde gefühllos und hatte nicht einmal mehr die Kraft, Alton zu heben. Mythor nahm daraufhin das Schwert in die Linke und hieb auf die näher rückenden Steinblöcke ein, bis auch ihre Kraft erlahmt war. Es war ihm nicht gelungen, den steinernen Koloß am Vorrücken zu hindern, er hatte nur einige Scharten in den Stein geschlagen. Jetzt stand er mit hängenden Schultern da und besaß kaum mehr die Kraft, sich gegen den Sog aus der 253
dämonischen Mundöffnung zu wehren. Er wollte zurückweichen, aber da merkte er in plötzlichem Entsetzen, wie die unsichtbare Kraft ihn von den Beinen hob. Er mußte meinen, daß für ihn das Ende gekommen sei. Doch da wurde er von hinten gepackt und wuchtig aus dem Sog gezerrt. »Dagegen kommen nicht einmal die Waffen des Lichtboten an«, hörte er Nottr neben sich sagen. »Danke, Freund«, brachte Mythor mühsam hervor. »Du hast mich im letzten Augenblick gerettet.« »Aber wozu?« schrie Sadagar. »Nur damit wir wenig später alle zusammen von dem Koloß zermalmt werden. Es gibt kein Entrinnen!« Mythor stellte fest, daß sie bereits in die Wandnische zurückgedrängt worden waren. Der Sog aus dem Dämonenmaul zerrte stark an ihnen. Aber der Koloß war zum Stillstand gekommen. »Er rückt nicht mehr näher«, stellte Nottr fest. »Der Mahnermann wird uns nicht erdrücken, aber früher oder später aufsaugen.« »Nicht unbedingt«, sagte Mythor und deutete auf die Öffnung in der Wand. »Wir können versuchen, durch dieses Schlupfloch zu entfliehen. Wir haben nichts mehr zu verlieren.« »Alles ist besser, als von dem Dämonenmaul verzehrt zu werden«, sagte Sadagar, der verzweifelt gegen die Kraft kämpfte, die an ihm zerrte. »Ich kann mich nicht mehr halten, ich…« Mythor packte ihn um die Mitte und hob ihn zu der Öffnung in der Wand hoch. Sadagar klammerte sich an den Rand und zog sich in die Öffnung. Er verschwand bis zur Hälfte darin und zog dann die Beine nach. »Jetzt du!« sagte Nottr zu Kalathee, hob sie spielerisch hoch 254
und schubste sie in die Öffnung. Auch die Frau verschwand. Mythor hörte sie etwas sagen, aber ihre Stimme verhallte in der Ferne. »Folge nun du, Nottr!« verlangte Mythor von dem Lorvaner. »Nein«, sagte Nottr. »Du bist durch den Kampf geschwächt, ich nicht.« »Tu, was ich sage!« verlangte Mythor. »Es ist wichtig, daß ich bis zuletzt bleibe. Ich möchte etwas versuchen.« Nottr zögerte, aber als ihn Mythor in die Seite stieß, schwang er sich zu der Öffnung hoch und kletterte hinein. Er verschwand jedoch nicht ganz, sondern drehte sich auf engstem Raum um und streckte dann Mythor einen Arm entgegen. Mythor ergriff ihn und ließ sich hinaufziehen. Kaum hatte er Halt gefunden, ließ Nottr ihn los und glitt den abwärts führenden Schlauch hinunter. Mythor machte sich keine Gedanken um seine Freunde. Alles war besser, egal was am Ende der Rutschfahrt auf sie wartete, als dem dämonischen Steinkoloß zum Opfer zu fallen. Es kostete Mythor einige Anstrengung, sich in dem engen Schlauchgang herumzudrehen. Der Helm und sein Schwert behinderten ihn. Aber dann schaffte er es doch. Im grünlichen Schein der Knochenfackeln, die seine Kameraden zu Boden geworfen hatten, sah er, wie der Mahnermann nun doch näher rückte. Die Steinquader schoben sich zusammen, bis sie fugenlos über- und nebeneinandergeschichtet waren und der Koloß in die Nische paßte. Ächzend und knirschend schoben sich die Steine in die dafür vorgesehene Nische. Fels um Fels rückte der Mahnermann näher und stieß mit den Felsquadern gegen die Rückwand, daß diese erbebte. Im letzten Licht der Fackel sah Mythor, wie sich ein mächtiger Fels auf die Öffnung zuschob, in der er sich verschanzte. Aber der Quader war zu groß, um eindringen zu können. Er verschloß lediglich die Öffnung fugenlos. 255
Die Erschütterungen ließen nach, das Knirschen der Steine erstarb, die hohlen Klagelaute verstummten. Stille kehrte ein. Der Mahnermann hatte den ihm zustehenden Platz eingenommen. Er war nun wieder nur noch ein lebloser, steinerner Götze. Mythor hatte sich bis jetzt an den Wänden abgestützt. Nun, nachdem getan war, was er sich vorgenommen hatte, ließ er los und rutschte sofort auf dem glatten Stein des steil nach unten führenden schlauchartigen Ganges in die Tiefe. Rascher, als er glaubte, wurde es vor ihm hell, und auf einmal glitt er über eine Schanze ins Freie und landete unter dem Gelächter seiner Kameraden in einem Dornengebüsch. »Es geht nichts über Schadenfreude«, sagte Mythor anklagend, mußte aber selbst lachen. Es war ein befreiendes Lachen. Er blickte hinter sich und entdeckte, daß dort die Felsen hoch aufragten. Zu seiner Rechten erhob sich die Elvenbrücke steil in den wolkenlosen Himmel. »Warum hast du dir denn so lange Zeit gelassen, Mythor?« erkundigte sich Nottr. »Wir waren schon in Sorge um dich.« »Ich hatte eine Ahnung, und die hat sich bestätigt«, antwortete Mythor. »Die Nische war der ursprüngliche Platz des steinernen Götzen. Ich habe ihn dorthin gelockt, und damit erlosch die magische Kraft, durch die ihn die Dämonen zum Leben erweckt haben. Der Mahnermann wird die Elvenbrücke nicht mehr unsicher machen.« »Das hat Jorgan gar nicht verdient«, meinte Sadagar brummend. Zufriedener fügte er hinzu: »Vermutlich gefällt das dem Irren nicht einmal, doch was kümmert es uns.« Mythor hörte ihm nicht mehr zu. Er war nachdenklich geworden. Kaum im Freien, vernahm er wieder das stete Summen in seinem Kopf. Es war stärker geworden, also war er seinem Ziel, das der Helm der Gerechten ihm wies, wiederum um ein Stück näher. Er fragte sich voll Hoffnung, ob er dort 256
einen weiteren Fixpunkt des Lichtboten vorfinden werde. »Still!« ermahnte Nottr, obwohl niemand sich laut verhalten hatte. »Ich höre Geräusche und Stimmen. Da sind Leute in der Nähe.« Mythor spannte sich sofort an. Er mußte trotz allem lächeln, als er merkte, wie Steinmann Sadagar ergeben seufzte und die Augen rollte. Er konnte mit ihm fühlen, denn auch er hätte sich nach den überstandenen Gefahren eine Atempause gewünscht. Aber in dieser Welt, so schien es, war dem Friedfertigen keine Ruhe gegönnt. Das Leben war ein beständiger Kampf, solange die dämonischen Mächte nicht besiegt waren. * Sie erklommen zu dritt eine Anhöhe, wo sie einen ausgezeichneten Rundblick hatten. Es war ein klarer Tag, so daß sie die nahe Küste und bis weit auf das Meer der Spinnen hinaus sehen konnten. Von der Stelle, wo die Elvenbrücke ins Meer abfiel, war es nicht weiter als eine Reitstunde bis zu einer befestigten Stadt mit einem großen Hafen. Das mußte Thormain sein. Von der Anhöhe konnten sie aber auch in eine Senke blicken, in der an die dreißig Leute ihr Lager aufgeschlagen hatten. Es handelte sich etwa zu gleichen Teilen um Männer, Frauen und Kinder. Sie waren ärmlich gekleidet und hatten ihre Habe zu großen Bündeln verschnürt, die sie größtenteils selbst schleppen mußten, denn sie besaßen nur zwei klapprige Lasttiere. »Da ist keine Vorsicht geboten«, sagte Mythor. »Von diesen Leuten haben wir nichts zu befürchten, eher werden wir sie davon überzeugen müssen, daß wir nichts gegen sie im Schilde führen.« Mythor sollte recht behalten. Kaum hatte er sich mit seinen Gefährten erhoben und Kalathee ein Zeichen gegeben, daß sie 257
zu ihnen kommen solle, da gerieten die Leute im Lager in Aufruhr. Die Frauen zogen ihre Kinder an sich und scharten sich zusammen, die Männer holten Waffen hervor und stellten sich schützend vor ihr Hab und Gut. Ihre Waffen bestanden aus Knüppeln und aus Holzstangen, an deren Enden Klingen befestigt waren. Nur einer war mit Pfeil und Bogen ausgerüstet, zwei besaßen Schwerter. Doch wie sie die Waffen hielten, das zeigte deutlich, daß sie damit nicht umzugehen verstanden. Ihre Stärke waren einzig der Mut der Verzweiflung und der Wille zum Überleben. »Fürchtet euch nicht!« rief Mythor ihnen entgegen, als er in die Senke hinabstieg. Er streckte seine leeren Hände vor. »Wir kommen in friedlicher Absicht. Wir wollen nur ein paar Auskünfte von euch.« Ein Mann trat vor, der größer und kräftiger als die anderen war und sich allein dadurch als ihr Anführer auswies. Er war der Bogenschütze, und in seinem Gürtel steckte ein Kurzschwert. »Verschwindet!« rief er. »Bei uns gibt es nichts zu holen. Und zu sagen haben wir auch nichts. Wir wollen unseren Frieden, sonst nichts.« »Das haben wir mit euch gemeinsam«, sagte Mythor und ging unerschrocken weiter, obwohl der Bogenschütze die Sehne mit drohender Geste noch weiter spannte. »Wären wir Wegelagerer, dann hätten wir uns euch nicht so offen gezeigt. Es wäre uns ein leichtes gewesen, euch in dieser Senke zu überfallen. Ihr habt den Lagerplatz schlecht gewählt.« »Wir sind Fischer, keine Krieger«, sagte der Anführer der kleinen Schar, bei der es sich offenbar um Flüchtlinge handelte. »Ihr dagegen erscheint mir schon eher als Streiter, die sich auf das Kriegshandwerk verstehen. Bleib endlich stehen, sonst durchbohrt dich mein Pfeil.« Mythor gehorchte. »Gut, wie du meinst. Dann werden wir 258
uns in entsprechender Entfernung von euch niederlassen. Ich heiße Mythor. Dieser in Samt gekleidete Herr ist der Wahrsager Sadagar. Mein barbarischer Freund heißt Nottr, und das schöne Mädchen, das du den Hang heruntersteigen siehst, ist die liebliche Kalathee. Wir werden euch nicht näher zu Leibe rücken. Und wer bist du?« »Ich heiße Erbon«, sagte der Bogenschütze und preßte dann die Lippen zusammen, als wolle er sie von nun an für immer verschließen. Er richtete den gespannten Bogen noch immer auf Mythor. Nottr hatte den Sack mit ihrer Ausrüstung abgesetzt und war dabei, ihn auszupacken. Kalathee kam langsam heran, Erbon scheue Blicke zuwerfend. »Warum bedroht dieser Mann uns?« fragte sie und sah Erbon in die Augen. »Was haben wir ihm getan, daß er mit unserem Leben spielt? Wenn seine Hand die Kraft verläßt, wird der Pfeil einen von uns durchbohren.« Erbon senkte den Blick und dann auch den Bogen. »Bleibt, wo ihr seid!« sagte er. »Wir bleiben wachsam, bis ihr uns wieder verlaßt.« Nottr verteilte Nahrung an seine Freunde und ließ den Weinschlauch die Runde machen. Einige Fischer beleckten sich die Lippen, als sie den Wein sahen. Mythor nahm Sadagar den Schlauch ab, als dieser ihn gerade an den Mund setzten wollte, und ging damit zu den Fischern. »Das ist unser Geschenk für eure Gastfreundschaft«, sagte er und hielt Erbon den Schlauch hin. »Wir haben nichts zu verschenken«, sagte der Fischer. »Nimm trotzdem!« Mythor legte den Weinschlauch vor ihm hin und setzte sich wieder zu seinen Kameraden. Von dort sagte er: »Es ist wahr, daß wir von euch nur ein paar Auskünfte erwarten.« »Was wollt ihr wissen?« fragte Erbon vorsichtig. 259
Damit war das Eis gebrochen. Sie erfuhren, daß die Fischer ihr Dorf verlassen hatten, weil das Leben dort unerträglich geworden war. Schon seit einiger Zeit, als die Caer-Priester die Schwarze Magie auch an die Küsten von Yortomen brachten, waren die Fischgründe wie ausgestorben. Der Fang war so gering, daß die kleine Gemeinde sich gerade selbst ernähren konnte, aber es blieb nicht genügend für den Tauschhandel. Damit hätten sich die Fischer abgefunden. Aber jüngst wurde ihr Dorf von einer Flutwelle heimgesucht, bei der ein Viertel der Bevölkerung ums Leben kam. Von den Booten, die sich um diese Zeit auf dem Meer befanden, wurden nur ein paar Planken ans Ufer geschwemmt. »Das muß die Flutwelle gewesen sein, die entstand, als die Insel Zuuk unterging«, warf Sadagar ein. »Wir haben es miterlebt.« »Ihr seht mir wie Abenteurer aus, die schon größere Gefahren kennengelernt haben als wir«, sagte Erbon. »Unsere Probleme mögen euch nichtig erscheinen. Die Flutwelle hätte uns auch gar nicht verjagen können, obwohl sie uns um fast alle Boote gebracht hat. Wir sind solche Schicksalsschläge gewohnt, denn wir leben in einer Welt der Katastrophen, seit die Caer sich den Mächten der Finsternis verschrieben haben. Wir haben erst den Entschluß gefaßt, unsere Heimat aufzugeben, da die Überfälle der Mordbanden aus Thormain sich mehrten. Als wir uns zur Wehr setzten und vier dieser Schurken töteten, blieb uns nur noch die Flucht.« »Was können die sicher besser gestellten Bewohner Thormains von euch armen Leuten denn schon wollen?« fragte Mythor verständnislos. »In Thormain wohnen schon lange keine anständigen Leute mehr«, sagte Erbon. »Die früheren Bewohner wurden verjagt, getötet oder versklavt. Jetzt ist Thormain eine Piratenstadt, in der die Waffe regiert und Mord und Totschlag zum Alltag ge260
hören. Das ist schon eine geraume Weile so. Aber früher ließen uns die Piraten in Ruhe. Sie machten zwar die Küsten von Yortomen und ganz Tainnia unsicher, aber sie waren nur auf reiche Beute aus. Manchmal machten sie uns sogar dies oder jenes zum Geschenk, was ihnen selbst zu minder schien, und wenn wir mit ihnen Tauschgeschäfte machten, übervorteilten sie uns nie. Doch das ist alles anders geworden, als die Caer ihren Kriegszug begannen und ihre Herrschaft auch auf das Meer der Spinnen ausdehnten. Sie wiesen die Piraten in die Schranken und erreichten, daß diese kaum noch den Hafen von Thormain verließen, um auf Kaperfahrt zu gehen. Da begannen diese Mordbuben sich an uns Wehrlosen zu vergreifen. Sie verschleppten unsere Kinder und Jungfrauen und machten sie zu Sklaven. Und Männer erniedrigten sie auf abscheuliche Weise. Wir haben alles erduldet, bis vor zwei Tagen.« »Vielleicht hättet ihr es besser gehabt, wenn ihr nach Thormain gezogen wärt«, meinte Sadagar. »Manchmal ist es klüger, mit den Wölfen zu heulen, um etwas von ihrer Beute abzubekommen. Oder ist es nicht möglich, nach Thormain zu gelangen?« »Die Tore dieser Festung stehen jedem offen«, sagte Erbon. »Aber wer durch sie tritt, verfällt selbst in Sünde, oder er geht unter. Das wäre kein Leben für uns, da ziehen wir das karge Dasein in wilder Natur vor. Oder soll ich deine Frage so verstehen, daß ihr nach Thormain wollt? Kehrt lieber um! Wie ihr bewaffnet seid, stellt ihr für jeden Piraten eine Herausforderung dar. Ihr würdet den Abend des ersten Tages nicht erleben.« »Und wenn wir uns verkleiden?« fragte Mythor. »Ihr müßtet euch schon gut tarnen und eure Waffen verbergen«, antwortete Erbon. »Aber auch dann könntet ihr böse Überraschungen erleben, denn die Piraten kennen kein Mitleid 261
und treten alle mit Füßen, die sich schwächer zeigen.« »Das ist kein gutes Pflaster für uns«, meinte Sadagar. »Wir sollten lieber…« »Wir müssen nach Thormain«, sagte Mythor bestimmt. Er war jetzt sicher, daß der Helm der Gerechten ihm diesen Weg wies. Er wandte sich Erbon zu. »Könnt ihr uns Kleider und einige Habseligkeiten überlassen, die uns als harmlose Reisende ausweisen?« Erbon wurde sofort wieder mißtrauisch. Aber Mythor zerstreute seine Bedenken, indem er sagte: »Wir wollen nichts geschenkt, sondern werden euch ausreichend dafür entlohnen. Sadagar, schütte deinen Geldbeutel aus!« Sadagar griff sich schützend an den Gürtel und fragte entsetzt: »Was soll ich?« »Du hast richtig gehört. Du wirst Erbon und seinen Leuten alles bezahlen, was wir benötigen, um uns zu verkleiden.« »Aber Mythor!« begehrte Sadagar auf. »Du weißt, daß du alles von mir verlangen kannst. Ich gebe mein Leben für dich, ich verschreibe meine Seele den Dämonen, wenn es dir hilft. Aber mein Geldbeutel ist mein kostbarstes…« »Wieviel ist dir unsere Freundschaft wert?« fragte Mythor. Steinmann Sadagar seufzte. »Beim Kleinen Nadomir! Ich hätte nicht gedacht, daß du einmal ein solches Opfer von mir verlangen würdest.« Mythor mußte sich ein Grinsen verkneifen, als Sadagar schweren Herzens unter seine Samtjacke langte, seinen Geldbeutel hervorholte und die Münzen vor Erbon auf den Boden schüttete. Die Fischer kamen neugierig heran und blickten ungläubig auf das Häufchen Münzen. Ein ehrfürchtiges Raunen ging durch ihre Reihen, als sie erkannten, daß auch Goldmünzen und Silberlinge darunter waren. »Die Versuchung ist groß«, sagte Erbon schließlich. »Aber 262
wir wissen nicht, wann wir jemals diesen Schatz in Güter umtauschen können, die wir zum Leben brauchen.« »Du glaubst doch nicht, daß das alles für euch ist!« rief Sadagar empört. »Das Gold und Silber könnt ihr ohnehin vergessen. Mit Kupfer und Bronze seid ihr reichlich entschädigt.« »Gut«, meinte Mythor schmunzelnd und klopfte Sadagar auf die Schulter. »Es bleibt dir überlassen, den Preis mit Erbon auszuhandeln. Ich suche inzwischen etwas Passendes aus. Aber zeige dich nicht allzu geizig, Sadagar!« »Ich kenne den Wert von Hadern«, behauptete Sadagar. »Was ich auch aushandle, der Geschädigte bin in jedem Falle ich.« * Yargh Mainer, der in Thormain allgemein als der »Zinker« bekannt war, obwohl er nie falsch gespielt hatte und nichts so sehr verachtete wie das Glücksspiel, hatte seine Flucht sorgfältig vorbereitet. Es war bereits sein sechster Fluchtversuch, aber diesmal war er sehr zuversichtlich, denn er hatte sich etwas Besonderes einfallen lassen. Einmal mußte auch ihm das Glück hold sein, er konnte nicht nur immer Pech haben. Die Sache ließ sich auch gut an. Niemand schenkte dem offenbar Beinlosen Beachtung, der auf seinem Holzwägelchen durch die Straßen von Thormain auf das Stadttor zurollte. Er kam nur langsam vorwärts, denn die Straße war holprig und er konnte sich nur kraft seiner Hände fortbewegen. Wenn es bergab ging, hatte er alle Mühe, seine Fahrt zu bremsen, und umgekehrt schaffte er manche Steigung erst nach mehreren Anläufen. Keiner der Leute, die an ihm vorbeikamen und sahen, wie er sich abquälte, kamen ihm zu Hilfe. Innerlich verfluchte er diese Herzlosen, andererseits war er auch ganz froh, daß sich niemand um ihn kümmerte. Denn er war in der Stadt 263
eine bekannte Person und es gab kaum einen Piraten, der nicht seine Freude daran fand, sich einen derben Spaß mit ihm zu erlauben. Das war auch der Grund, warum er Thormain verlassen wollte. Endlich kam das Stadttor in Sicht. Da tauchte ein Reiter auf, dessen Anblick ihm einen gehörigen Schrecken einjagte. Denn es handelte sich um Welleynn, den Henker von Thormain, den sie den »Herrn der Schultern« nannten, weil er eine besondere Vorliebe dafür hatte, seinen Opfern die Schultern zu durchbohren und sie solcherart aufzuhängen. Aber Welleynn ritt achtlos an ihm vorbei, und da atmete Yargh Mainer auf, denn er wertete es als gutes Omen, daß er dem scharfen Auge des Henkers entgangen war, von dem manche sagten, daß er der wahre Herr der Piratenstadt sei. Da war das Tor! Die beiden Wachen blickten nur kurz von ihrem Würfelspiel auf, als er mit seinem Wägelchen an ihnen vorbeiratterte. Einer machte eine abfällige Bemerkung, das war alles. Das Ärgste ist überstanden, dachte er, als er durch das Tor rollte. Nun hing alles davon ab, ob er noch genügend Kraft in den Armen hatte, um sich außer Sichtweite der Torwachen zu bringen. Dann konnte er sein wackeliges Gefährt verlassen und endlich seine Beine gebrauchen. Er würde laufen, was sie hergaben. Er war sicher, daß nun nichts und niemand mehr ihn aufhalten konnte. Da ertönte in seinem Rücken eine bekannte Stimme, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er erkannte sie sofort; sie gehörte Kend, seinem schlimmsten Peiniger, der nichts anderes im Sinn zu haben schien, als ihm das Leben in Thormain zur Hölle zu machen. »Sieh doch, Rigon, diesen armen Krüppel!« rief Kend. »Mir bricht vor Mitleid das Herz im Leibe, wenn ich sehen muß, wie er sich alleine abmüht.« 264
»Mir kommen die Tränen, Kend«, sagte Rigon, der Yargh auch kein Unbekannter war. Es fehlte nur noch Vaughen, um dieses grausame Dreigestirn komplett zu machen. Und da erklang auch schon seine hohntriefende Stimme: »Kommt, Kameraden, nehmen wir uns des armen Krüppels an. Schieben wir ihn mit vereinten Kräften über diese Kuppe. Von dort geht es steil bergab, da rollt er dann von selbst.« Es durchfuhr Yargh siedend heiß, als ihn von hinten kräftige Arme packten und anschoben. »Siehst du, Alterchen, jetzt geht es gleich geschwinder«, hörte er Kend sagen. »So eilig habe ich es gar nicht«, log Yargh mit verstellter Stimme. »Ihr meint es sicher sehr gut mit mir, ihr edlen Herren, aber…« »Du verschmähst unsere Hilfe?« rief Rigon zornig aus. »Was bist du doch für ein undankbarer Geselle!« stimmte Vaughen ein. Und Kend fügte mit gleichfalls gespielter Empörung hinzu: »Wenn das so ist, dann fahr zur Hölle!« Sie hatten ihn bis zur Kuppe hinaufgeschoben und gaben ihm nun einen heftigen Stoß, so daß er die stark abfallende Straße hinunterrollte. Yargh hielt sich verzweifelt an seinem Wägelchen fest, denn er war bereits so schnell, daß er mit den Händen nicht mehr abbremsen konnte. Schließlich kam es, wie es kommen mußte. Sein wackeliges Gefährt geriet mit einem Rad in ein Schlagloch, so daß die Achse brach. Yargh wurde heruntergeworfen und rollte in den Straßenstaub. Dabei streckte er unwillkürlich die Beine, so daß sie aus den Lumpen ragten, in denen er sie versteckt gehabt hatte. »Was sehe ich!« rief Kend scheinbar überrascht aus. »Dieser Schlingel hat zwei gesunde Beine.« »Aber, aber«, sagte Vaughen tadelnd, »was muß das für ein Frevler sein, der mit dem Entsetzen Scherze treibt?« 265
Yargh blieb im Straßenstaub liegen und ließ seiner Verzweiflung freien Lauf. Er war sich nun sicher, daß die drei ihm die ganze Zeit über gefolgt waren und sich über ihn amüsiert hatten. Yargh schluchzte hemmungslos. »Freunde, was muß ich sehen!« rief Rigon aus, während er Yargh herumdrehte. »Ist das nicht der ungekrönte König der Falschspieler, der geheime Herrscher von Thormain?« »In der Tat!« stellte Kend fest. Er machte eine übertriebene Verbeugung und kniete dann vor Yargh nieder. »Mein Herr und Gebieter, warum hast du dich uns nicht zu erkennen gegeben? Ein Wort von dir, und wir hätten dich in einer Sänfte durch das Jorgan-Tor getragen.« Sie hoben ihn auf und klopften ihm besonders unsanft und schmerzhaft den Straßenstaub von den Kleidern, wobei sie weiterhin hämisch Verehrung für ihn heuchelten. Yargh ließ es ergeben mit sich geschehen, während ihm die Tränen übers Gesicht rannen. »Mein Gebieter, ich wage es kaum vorzuschlagen, aber würdest du mir noch einmal eine Chance geben?« bat Kend. Er hatte bereits die Würfel hervorgeholt und schüttelte sie in den hohlen Händen. So fing es immer an. »Nachdem du mir schon all meine Habe im Glücksspiel abgenommen hast, wäre es nur recht und billig, mir noch ein einziges Mal Gelegenheit zu geben, mich mein Glück versuchen zu lassen. Was hast du nicht schon alles von mir gewonnen. Weißt du es noch?« Yargh mußte nun aufzählen, was Kend und die beiden anderen alles an ihn verloren und worüber sie ihm Schuldscheine ausgestellt hatten. Demnach gehörten bereits die Hälfte der einhundertundzwanzig im Hafen vor Anker liegenden Schiffe ihm und drei Viertel der Stadt mitsamt dem Nest, dem festungsähnlichen Schloß, in dem Argur von Solth residierte, der wahre Anführer der Piraten. Dazu kam noch, daß Yargh auf den Schuldscheinen als Herr und Gebieter der dreitausend in 266
Thormain lebenden Menschen erschien. Das besonders Grausame an diesem Spiel war jedoch, daß seine Peiniger stets darauf bestanden, daß er den fremden Besitz eintreiben mußte, den sie an ihn verloren. Einmal hatte er das Nachtgewand von Argur von Solth »gewonnen« und es auch tatsächlich unter Einsatz seines Lebens beschaffen müssen. Inzwischen war er so bekannt in Thormain, daß er als König des Glücksspiels galt und jedermann sich ungestraft üble Scherze mit ihm leisten konnte, wenn Kend, Vaughen und Rigon ihre Zustimmung gaben. »Ich würde euch gerne eine Chance geben, aber um was könnt ihr denn noch spielen?« sagte Yargh unglücklich. »Besitzt einer von euch noch etwas, das er an mich verlieren könnte?« Die drei Piraten sahen einander mit gespielter Ratlosigkeit an. »Yargh hat recht«, stellte Kend fest. »Wir können nicht einmal mehr unsere Freiheit einsetzen, denn wir sind bereits seine Leibeigenen.« Yargh begann neue Hoffnung zu schöpfen, daß er diesmal glimpflich davonkommen würde, denn auch Rigon und Vaughen wollte nichts einfallen, was sie ihm als Einsatz bieten konnten. Sie hatten bereits ihre Frauen und ihre Schiffe mitsamt der Mannschaft an ihn verloren, und Yargh erinnerte sich ungern, wie er deswegen einmal von den beiden genötigt worden war, das Kommando über die Bande völlig betrunkener Piraten zu übernehmen. Damals wäre es ihm fast an den Kragen gegangen. Nun flehte er im stillen die Götter an, daß sie seinen drei Peinigern die Eingebung versagen mochten, wie sie ihn quälen konnten. Aber das Schicksal hatte keine Gnade mit ihm, denn just in diesem Moment schickte es vier Wanderer des Weges, 267
die sich Thormain ahnungslos näherten. Es waren offenbar Spielleute, deren Musik ihnen vorauseilte. Einer spielte die Sackpfeife, ein zweiter die Stockgeige und ein dritter den Triangel und insgesamt ergab das eine so fürchterliche Mischung von Geräuschen, daß Rigon ausrief: »Was ist das für ein Katzengejammer! Wer solche Musik macht, der gehört geschultert.« »Aber nein, mein Freund«, versetzte Kend mit falscher Begeisterung. »Das ist eine gar liebliche Musik. Soviel ich weiß, hat unser Herr und Gebieter noch keine Musikanten, die für ihn aufspielen, wenn ihm der Sinn nach Schönem ist. Ich meine darum, daß diese vier Spielleute als unser Einsatz gut sein müßten. Und was setzt du dagegen, Yargh?« »Alles, was ich habe«, sagte Yargh. »Das nenne ich großzügig!« rief Vaughen aus. »Nun laß die Würfel rollen, Freund Kend.« Kend ging in die Hocke, spuckte sich in die hohle Hand und schleuderte dann die beiden Würfel über die Straße. »Zwei Sechsen!« rief Vaughen aus, als die Würfel zum Stillstand kamen. »Kein schlechter Wurf, aber nun soll der König des Glücksspiels zeigen, was er kann.« Vaughen überreichte Yargh die Würfel mit einer tiefen Verbeugung, der sie darauf achtlos von sich schleuderte. Er warf nur eine Zwei und eine Drei, aber die drei Piraten bejubelten seinen Wurf und wollten nicht aus dem Staunen über sein angebliches Spielglück kommen. »Wieder einmal verloren«, sagte Kend zähneknirschend. »Aber so ist es im Spiel, man kann sein Glück nicht erzwingen, und schon gar nicht gegen den König des Hasards. Die Spielleute gehören dir, Yargh. Geh hin und mach ihnen das klar!« »Aber tu es mit der dir zustehenden Würde«, verlangte Rigon. »Sie sind deine Sklaven.« Yargh hatte keine andere Wahl, als sich in sein Schicksal zu 268
fügen. Die vier Musikanten brachten einen deutlichen Geruch von Fisch mit sich. Als sie die vier Männer erreichten, die da des Weges standen, spielten sie noch lauter, wie um ihnen eine besondere Darbietung zu bringen, aber in Wirklichkeit klang ihre Musik nur noch schauriger. Der mit der Sackpfeife war ein schmalgesichtiger älterer Mann mit unordentlichem weißblondem Haar, und sein zerschlissenes Gewand aus groben Pflanzenfasern sah aus, als habe er zeitlebens nichts anderes getragen als dieses. Wenn er die Backen blähte, um den Windsack mit seiner Puste zu füllen, dann bekam man unwillkürlich eine Gänsehaut, weil man sicher sein konnte, daß sich seiner Melodienpfeife unweigerlich eine Reihe von Mißtönen entlud. Am erträglichsten an seiner Musik war noch das tiefe, monotone Brummen des Stimmers. Der Musikus mit der Stockgeige war noch ein Jüngling. Seine Kopfbedeckung bestand aus einem verschlungenen und verknoteten Tuch, das den doppelten Umfang seines Kopfes hatte. Sein Umhang, der lose am Körper herabhing und ihn gänzlich verhüllte, hatte seine beste Zeit ebenfalls schon lange hinter sich. Was seine Musik betraf, so konnte sich Yargh nur wundern, daß man einem so lieblichen Instrument wie einer Stockgeige dieses Quietschen, Jaulen und Kratzen entlocken konnte. Yargh war sicher, daß er nie zuvor furchtbarere Töne zu hören bekommen hatte. Der Triangelspieler schließlich erschreckte weniger durch seine Musik als durch sein Aussehen. Er hatte ein flaches Gesicht mit einer breitgedrückten Nase. Quer über dem Mund verlief eine häßliche Narbe. Sein langes Haar trug er nach Art der Barbaren zu einem einzelnen Zopf geflochten, der ihm über das linke Ohr hing. Er schlug seinen Triangel mit Eifer, jedoch ohne das nötige Können. Was er spielte, klang fröhlich, 269
aber falsch. Und dabei hüpfte und sprang er ausgelassen. Als ihm der Zopf verrutschte, erkannte Yargh, daß ihm das linke Ohr fehlte. Die letzte im Bunde war eine Frau, eine schmutzige, dürre alte Vettel, deren verführerisch gemeintes Gehopse an das eines Tanzbären erinnerte, der sich sein Gnadenbrot verdiente. Wenn Yargh den vieren irgend etwas zugute halten konnte, dann war es einzig der Umstand, daß sie ganz offenbar nicht aus Thormain stammten. Eine Truppe, die Sackpfeife, Stockgeige und Triangel wie Folterinstrumente gebrauchte, wäre ihm sicherlich nicht unbekannt geblieben. Sie waren Fremde, das stand fest, und so konnten sie auch nicht über seine Stellung in der Piratenstadt unterrichtet sein, was ihm ein gebieterisches Auftreten sehr erleichterte. »Laßt Dudel, Fiedel und Klingel für einen Atemzug ruhen!« befahl Yargh und empfand es als wahres Labsal, daß die Musikanten sofort verstummten. »Ich bin Yargh Mainer, der Herr von Thormain, und ich bin von eurer Darbietung so angetan, daß ich euch von Stund’ an zu meinen Leibmusikanten mache. Wie sind eure Namen?« »Saddel«, stellte sich der mit dem Dudelsack vor. »Mytell«, nannte der mit der Stockgeige seinen Namen. »Nottel«, empfahl sich der Triangelspieler. »Kateel«, erklärte sich die abgetakelte Tänzerin. Und im Chor sagten sie: »Es ist uns eine Ehre, den Herrscher von Thormain in stillen Stunden durch unsere Musik zu erfreuen.« »Dann folgt mir!« befahl Yargh und beglückwünschte sich im stillen, daß ihm das Schicksal so friedfertige Einfaltspinsel über den Weg schickte, so daß sie es ihm wenigstens nicht erschwerten, seinen drei Peinigern zu Gefallen zu sein. Schnell fügte er hinzu: »Aber erweist mir den Dienst und zieht nicht mit klingendem Spiel in die Stadt ein. Um diese Zeit gedenken 270
die Thormainer noch zu ruhen.« Yargh schritt voran, und die Spielleute folgten ihm. Kend, Vaughen und Rigon blieben an seiner Seite, und der Anführer des grausamen Dreigestirns sagte zu ihm unter falschem höfischen Gehabe: »Wir dürfen doch hoffen, Herr, daß du heute ein Fest gibst, bei dem deine Musikanten aufspielen werden. Dürfen wir die Nachricht verbreiten, daß dazu alle Edelleute geladen sind?« Yargh stimmte dem mit großartiger Geste zu; dabei dachte er mit Grausen an das letzte Fest dieser Art, bei dem seine Gäste ihn ausgeplündert und alles kurz und klein geschlagen hatten. Inzwischen hatte er einiges zusammengestohlen, um sein Haus wieder wohnlicher zu gestalten. Aber er stand vor dem Problem, ausreichend Speisen und Getränke zu beschaffen, um seine Gäste bewirten zu können. Gelang es ihm nicht, für ihr leibliches Wohl zu sorgen, dann würde er sich ihren Zorn zuziehen, und was das bedeutete, daran wagte er gar nicht zu denken. Sie passierten das Jorgan-Tor, das so hieß, seit durch dieses einst der in Ungnade gefallene Piratenführer dieses Namens davongejagt worden war. Die Torposten huldigten Yargh grölend und lüfteten ihre breiten Schlapphüte. Kend, Vaughen und Rigon eilten ihm voraus und verkündeten, daß der ungekrönte Herrscher der Piratenstadt, Yargh Mainer von Thormain, in seinem Palast ein Fest gebe, zu dem er alle Bürger der Stadt lade. Diese Botschaft eilte ihnen wie ein Lauffeuer voraus, und es fand sich bald eine große Menge von Piraten ein, die ein Spalier entlang den Straßen bildeten, so daß Yargh keine Möglichkeit zur Flucht sah. Zu allem Übel fanden sich auch einige Radaubrüder ein, denen es ein besonderes Vergnügen bereitete, ihn mit allen möglichen Gegenständen zu bewerfen. Und so war Yargh heilfroh, als er am Ende dieser hohlen Gasse sein 271
Haus in der finstersten Gegend von Thormain erreichte. »Schließt das Tor und verbarrikadiert es!« trug er seinen Spielleuten auf. »Wir haben bis Sonnenuntergang Zeit zum Verschnaufen. Diese kurze Ruhe vor dem Sturm wollen wir wenigstens genießen.« »Die Thormainer haben aber eine seltsame Art, ihrem Herrscher zu huldigen«, sagte der Stockgeiger Mytell. »Stell dich nicht so dumm, Bürschchen!« schrie Yargh den Musikus an und baute sich drohend vor ihm auf. Die Gegenüberstellung ließ ihn deutlich erkennen, daß er einen ganzen Kopf kleiner als der Jüngling war. Das ließ ihn vorsichtiger werden. Gemäßigter fuhr er fort: »Tut nur ja nicht so, als wüßtet ihr nicht, was hier gespielt wird. Aber glaubt nicht, ihr könntet das gegen mich und zu eurem Vorteil nützen. Wenn es mir an den Kragen geht, dann seid auch ihr schlimm dran. Also tut gefälligst, was ich von euch verlange. Wenn ihr nicht gehorcht, dann lasse ich euch schultern. Verstanden?« »Zu Diensten«, sagte Saddel mit einem Diener. »Sollen wir dir ein Ständchen darbringen?« »Untersteht euch!« rief Yargh entsetzt aus. »Mit eurer Musik werdet ihr euch nicht helfen, die könnte euch noch Kopf und Kragen kosten. Ihr werdet schon etwas mehr zeigen müssen, um diese erste Nacht in Thormain zu überleben.« »Was wird denn noch von uns verlangt?« erkundigte sich Nottel und spannte seine Muskeln unter den Lumpen an. Yargh wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als die häßliche Narbenfratze sich ihm näherte. »Ich werde euch sagen, was ihr wirklich zum Überleben braucht«, sagte Yargh. »Ihr müßt falsch sein und heucheln können. Wenn ihr so etwas wie Stolz besitzt, dann vergeßt ihn, denn ihr werdet Beschimpfungen jeder Art und jede Menge Prügel einstecken müssen. Aber damit nicht genug, müßt ihr auch stehlen und betrügen können. Es reicht nicht, daß ihr ei272
nem Bettler ein paar Kupfermünzen abnehmt. Damit könnten wir höchstens einen Krug Wein füllen. Wir aber müssen bei dem bevorstehenden Fest eine ganze Bande von Piraten freihalten. Ich kann euch nicht verhehlen, daß mein Keller leer ist. Also liegt es an euch, einige Fässer Wein und zumindest einen Ochsen herbeizuschaffen. Statt eines Rindes würden es auch ein halbes Dutzend Ferkel tun. Um die Beschaffung von Weibern braucht ihr euch dagegen nicht zu kümmern, dafür sorge ich selbst. Zur Not könnte sogar Kateel einen besoffenen Piraten betören.« Yargh verstummte entsetzt, als er plötzlich von Nottel gepackt und hochgehoben wurde. »Nimm das zurück und entschuldige dich bei Kateel!« verlangte der barbarische Triangelspieler drohend. »Was ist denn los?« begehrte Yargh auf. »Wenn du dich so leicht reizen läßt, kann ich dir versichern, daß du diese Nacht gewiß nicht überstehst.« »Bezähme dich, Nottel!« verlangte Mytell. »Yargh hat recht. Wir müssen uns fügen, sonst sind wir verloren.« Der Triangelspieler ließ Yargh los und stieß ihn gegen die Wand. »Machen wir doch einfach Schluß«, sagte er dann. »Ich bin nicht gewillt, vor schäbigen Piraten im Staub zu kriechen und den Hanswurst zu spielen.« »Nottel!« rief Saddel zurechtweisend. »Wenn Mytell es für nötig erachtet, werden wir uns unterordnen.« »Wir werden einen Mittelweg finden«, sagte der jugendliche Stockgeiger, der offenbar der Wortführer war. »Ganz gewiß werden wir nicht so weit gehen, den Piraten die Füße zu lecken.« An Yargh gewandt, fügte er hinzu: »Du kannst dich auf uns verlassen. Wir werden deinen Anweisungen gehorchen. Aber verlange nicht zuviel. Wir werden uns in keiner Weise erniedrigen lassen. Was erwartest du also als erstes von uns?« Yargh begann zu ahnen, daß die Spielleute ihm allerhand 273
Schwierigkeiten bereiten würden. Er brauchte Zeit zum Überlegen und um nach einem Ausweg zu suchen. Darum führte er sie in den Festsaal und trug ihnen auf, die dort herrschende Unordnung aufzuräumen und die vom letzten Fest zertrümmerten Sessel und Tische wieder einigermaßen benutzbar zu machen. Bei dieser Arbeit überließ er sie scheinbar sich selbst. Tatsächlich begab er sich jedoch in einen Nebenraum, von dem aus es eine geheime Falltür in den Festsaal gab. Von dort gelangte er hinter einen Wandteppich, in dem zwei Gucklöcher ausgeschnitten waren, so daß er nicht nur hören konnte, was gesprochen wurde, sondern die Vorgänge auch beobachten konnte. Yargh erreichte seinen Lauscherposten gerade, als Saddel von der Tür zurückkam und berichtete: »Die Luft ist rein. Yargh, diese Ratte, hat sich verzogen. Wir können uns ungestört unterhalten.« »Verlange nicht von mir, daß ich da noch länger mitspiele, Mythor!« sagte Nottel zu dem Stockgeiger. »Verschwinden wir hier. Es wird sich irgendwo in Thormain ein besseres Versteck finden.« »Als harmlose Spielleute haben wir die besseren Möglichkeiten«, behauptete Saddel. »Hinzu kommt noch, daß uns Yargh mit seinem Wissen wertvolle Hinweise liefern könnte.« »Sadagar hat recht, Nottr«, meinte Mythor. »Wenn ich wüßte, wonach ich in Thormain suchen soll, dann könnten wir es auf eigene Faust unternehmen. Aber du weißt, daß ich nur glaube, daß es in dieser Stadt etwas Lohnendes zu finden gibt.« »Und an Kalathee denkst du nicht?« fragte Nottr vorwurfsvoll. »Ich vertraue mich Mythor an«, sagte Kateel, die wie die anderen mit richtigem Namen auch ganz anders hieß. 274
Yargh glaubte, genug gehört zu haben, und wollte sich unbemerkt davonschleichen. Doch da blieb er an dem Wandteppich hängen, und als er sich davon befreien wollte, riß die Aufhängung, und der Teppich fiel auf ihn. Während er noch verzweifelt versuchte, sich zu befreien, wurde er von starken Armen gepackt und förmlich aus dem Teppich geschüttelt. Über ihm tauchte das häßliche Gesicht Nottrs auf, das von Zorn gezeichnet war und darum noch furchteinflößender wirkte. »Weißt du, was man in den Wildländern mit Lauschern wie dir macht, Yargh?« fragte der Barbar. »Man näht ihnen Mund und Ohren zu, damit sie nicht mehr spionieren und nichts ausplaudern können.« »Ich habe nicht gelauscht«, versicherte Yargh. »Warum sollte ich denn den Gesprächen von Spielleuten zuhören wollen? Ihr habt doch nichts zu verbergen, oder? Ihr seid doch, als was ihr euch ausgegeben habt, oder habt ihr falsches Zeugnis über euch abgelegt?« »Nur nicht frech werden, Freundchen«, sagte Sadagar und öffnete vorne seinen Umhang, so daß Yargh den Gurt mit den Wurfmessern sehen konnte, den er darunter trug, »sonst werde ich dir beweisen, daß diese Messer nicht nur Zierde sind.« »Ihr werdet es nicht wagen!« rief Yargh ängstlich aus. »Wenn ihr euch an mir vergreift, wird ganz Thormain euch jagen.« »Laßt es gut sein«, sagte Mythor zu seinen Freunden. »Wir wollen Yargh nicht drohen, sondern sehen, ob wir uns nicht in Güte mit ihm einigen können.« »Ha, ihr könnt gar nichts fordern«, sagte Yargh frech, der bei Mythors sanftem Ton wieder Oberwasser gewann. Er ging sogar so weit, Nottr vor die Brust zu stoßen, um sich freie Bahn zu verschaffen. »Wenn ihr nicht gehorcht, sage ich den Piraten, daß ihr Spione seid, und dann werdet ihr geschultert. 275
Räumt endlich diesen Schweinestall auf, und zwar etwas plötzlich, denn ich habe noch andere Aufträge für euch!« Yargh fühlte sich nicht wohl, als er den falschen Musikanten den Rücken zuwandte und zum Ausgang schritt, aber er fand, er mußte Haltung zeigen, denn ein anderes Mittel, um diese Gesellen zu beeindrucken, hatte er nicht. Gerade als er die Tür erreicht hatte, pfiff etwas durch die Luft und bohrte sich neben seinem Kopf ins Holz. Er wandte sich mit einem unterdrückten Schreckenslaut um und sah Sadagar, der seine Wurfmesser an den Spitzen und fächerförmig in der Linken hielt, während die Rechte gerade wieder zum Wurf ausholte. Im nächsten Moment bohrte sich neben seinem anderen Ohr ein weiteres Messer ins Holz und blieb zitternd darin stecken. Es war so knapp gezielt, daß das zitternde Metall sein Ohrläppchen berührte. »Was soll das?« rief Yargh entsetzt. »Wollt ihr mich umbringen?« »Nicht, wenn du stillhältst«, sagte Sadagar und warf ein drittes Messer. Es bohrte sich in Höhe der Knie zwischen Yarghs Beinen in die Tür. »Und bitte die Götter, daß sie meine Wurfhand sicher und ruhig sein lassen.« Das nächste Messer durchschnitt pfeifend die Luft, bohrte sich durch den Stoff der Jacke und nagelte Yargh an der Tür fest. »Halt!« rief er entsetzt. »Sagt mir, was ihr von mir wollt, nur beendet dieses gefährliche Spiel! Ich flehe euch an, spielt nicht mit meinem Leben! Ich tue alles, was ihr verlangt.« »Das hört sich schon besser an«, sagte Mythor und gebot Sadagar durch eine Handbewegung Einhalt. Er kam zu Yargh und befreite ihn von dem Messer, das ihn an der Tür festgenagelt hatte, und hielt ihm dann die Spitze an die Kehle. »Wir verlangen nicht viel von dir, nur ein wenig Entgegenkommen. Zuallererst erwarte ich von dir, daß du uns einiges über die 276
Verhältnisse in Thormain erzählst. Das ist doch annehmbar für dich?« »Wenn es weiter nichts ist«, sagte Yargh und spähte an Mythor vorbei zu Sadagar, der noch immer mit seinen Wurfmessern spielte. »Ich erzähle dir gerne alles, was du wissen willst, nur befiehl diesem Verrückten, daß er seine Messer wegsteckt.« »Du hast gehört, was sich unser Gastgeber wünscht, Sadagar«, rief Mythor über die Schulter, ergriff Yargh am Oberarm und führte ihn zu einem Tisch. »Mach es dir gemütlich, Yargh und schildere freiweg etwas über die Zustände in der Stadt! Und vielleicht weißt du auch etwas über geheimnisvolle Orte, über die man allerlei Haarsträubendes munkelt. Ich habe auch für Legenden und dergleichen etwas übrig. Und jetzt los!« Yargh holte tief Luft und begann zu erzählen. Und während er dies tat, reifte in ihm ein Plan, wie er sich dieser unangenehmen Patrone entledigen und gleichzeitig sein Leben retten konnte. Und je länger er mit diesem Gedanken spielte, desto fester kam er zu der Überzeugung, daß dies die Lösung aller seiner Probleme sein mochte. * Die ursprünglichen Bewohner von Thormain waren Yortomer, die ihre Stadt wie eine Festung ausgebaut hatten, um sie vor allem gegen die Angriffe von See aus zu schützen. Aber eben weil Thormain eine solche Festung war, war es eine Herausforderung für die Piraten, die schon immer diesen Teil des Meeres der Spinnen beherrschten. Und darum hatten sie sie so lange berannt, bis sie endlich in ihre Hände fiel. Das lag schon lange zurück, und Yortomer lebten kaum mehr in Thormain. Die Stadt gehörte den Piraten, die aus allen Teilen der Welt kamen und den verschiedensten Völkern an277
gehörten. So, wie sich die Angehörigen der verschiedenen Völker miteinander vermischten, so daß sich allmählich ein eigener Menschenschlag herauszubilden begann, war aus den vielen gorganischen Dialekten eine eigene Mundart geworden. Thormain besaß hohe, dicke Stadtmauern und zusätzliche Wälle. Es gab sieben Tore, die sich alle an der Westmauer befanden und durch trutzige Wehrtürme gesichert waren. Im Norden und Süden, wo die Stadt in scharfen Spitzen auslief, befanden sich unzugängliche Felshänge, die einen natürlichen Schutz bildeten. Hier war Thormain nur schwach befestigt. Dafür schützten gegen Osten, zur Seeseite hin, starke Hafenmauern die kleine Bucht, an der Thormain lag. Diese Hafenmauern waren so widerstandsfähig, daß sie selbst der Flutwelle widerstanden hatten, die dem Untergang der Insel Zuuk gefolgt war. Im Hafen lagen einhundertundzwanzig kleinere und mittlere Schiffe vor Anker, die kaum noch ausliefen. Daß die Piraten nicht auf Kaperfahrt gingen, lag vor allem an den kriegerischen Caer, die ihre Eroberungsfeldzüge auch gegen die Piratenküste richteten. Das führte dazu, daß die ungefähr dreitausend Piraten zum Nichtstun verurteilt waren und auf engstem Raum zusammenleben mußten, denn Thormain hatte nur eine geringe flächenmäßige Ausdehnung. Die Häuser waren dicht aneinander- und zumeist einige Stockwerke übereinandergebaut und nicht selten auch zu hoch aufragenden Türmen verschachtelt. Die Dächer waren steil und mit Holzschindeln gedeckt. Im Mittelpunkt gab es das sogenannte Nest. Dies war ein schloßähnliches Bauwerk aus vier nahe beieinanderstehenden Türmen, die durch schmale, hohe Gebäude miteinander verbunden waren und einen engen Innenhof umschlossen. Dort wohnte Argur von Solth, der sich als »König der Meere« bezeichnete und das Oberhaupt der Piratengemeinschaft war. Yargh wußte jedoch zu sagen, daß 278
Argur von Solth nicht viel zu bestellen habe und von seinen Untertanen geradezu tyrannisiert werde. Wie seine Vorgänger hatte er schwer um die Gunst der Piraten zu kämpfen und war nur so lange geduldet, wie er für einträgliche Raubzüge sorgen konnte. Sein Kopf hatte schon immer ziemlich locker gesessen, aber nun hing er nur noch an einem seidenen Faden. Der wahre Herr in Thormain war Welleynn, der Scharfrichter, der von allen gefürchtet wurde und vor dem selbst Argur von Solth zu Kreuze kroch. Welleynn, der seine Opfer an den Schultern baumeln ließ, führte ein wahres Schreckensregime. Keiner war vor ihm sicher. Das meiste, was Yargh berichtete, hatten Mythor und seine Freunde bereits von den fliehenden Fischern erfahren. Aber nun brachte der Prügelknabe von Thormain, wie Sadagar den vom Schicksal geschlagenen kleinen Mann treffend nannte, ihnen auch einiges Neue zu Gehör, was Mythors besonderes Interesse erweckte. Nach Yarghs Aussage stand Thormain auf uraltem Gemäuer, das angeblich von jenen Riesen erbaut worden war, die auch den Titanenpfad erschaffen hatten. Es gab unter der Stadt ein Netz von vielen Gängen und Hohlräumen, deren Zugänge größtenteils von den früheren Bewohnern Thormains verschüttet worden waren. Einige der Zugänge waren jedoch von den Piraten wieder freigelegt worden, und manche der Opfer Welleynns hatten sich seinem Zugriff durch Flucht in die »Stadt unter der Stadt« entzogen. Dort lebten die ehemals stolzen Piraten nun wie die Ratten. Es gab aber in Thormain einen noch geheimnisvolleren Ort, nämlich den thormainischen Brunnen. Er lag genau zwischen dem Nest und Yarghs Haus, nur zweihundert Schritt entfernt, zwischen unbewohnten und halb verfallenen Häusern. Der thormainische Brunnen war uralt und aus jenen Steinen errichtet, aus der die Stadt unter der Stadt bestand. Es hieß, daß er 279
unendlich tief sei und sein Wasser von der Urquelle des Bösen selbst beziehe. Darum wagte auch niemand, von dort Wasser zu holen. Und darum getraute sich auch niemand, den Bezirk um den Brunnen zu betreten, und wer es dennoch tue, den sehe man nie wieder. Manchmal, so sagte Yargh, durchdringe die Nacht ein schauriger Schrei, dem unweigerlich das Geräusch eines im Wasser auftreffenden Körpers folge, und dann wisse man, daß sich wieder jemand zu nahe an den thormainischen Brunnen herangewagt habe und von den Mächten der Finsternis hinabgeholt worden sei. »Wäre es nicht möglich, daß der thormainische Brunnen in Wirklichkeit vom Lichtboten errichtet worden ist?« erkundigte sich Mythor. »Narr!« sagte Yargh abfällig. »Diesen Punkt der Welt hat der Lichtbote nicht einmal gestreift, denn wie anders kann es sein, daß dieser Ort alles Unheil wie magisch anzieht? Diese Stadt ist finster und schmutzig. Moder und Fäulnis waren hier schon seit Anbeginn der Welt zu Hause. Nein, nein, Junge, Thormain ist verflucht, eine Stadt der Verdammten. Und sei gewiß, daß durch den thormainischen Brunnen einst der Unrat der Welt quellen und die Stadt und seine Bewohner verschlingen wird.« »Ich möchte den Brunnen dennoch sehen«, verlangte Mythor. »Zähle dabei nicht auf mich«, sagte Yargh abwehrend. »Lieber lasse ich mich von Welleynn schultern, als mich diesem abgrundtiefen Schacht zu nähern. Genug geplaudert. Es wird Zeit, daß wir die Vorbereitungen für das Fest treffen. Wenn Kend und seine Kumpane eintreffen und wir ihnen nicht Speise und Trank bieten können, dann treiben sie ihre übelsten Scherze mit uns. Wir müssen sie satt und trunken machen, um diese Nacht mit halbwegs gesunden Gliedern zu überstehen.« »Und woher Speise und Trank nehmen, wenn nicht steh280
len?« »Eben stehlen, sagte ich es doch bereits«, antwortete Yargh, als sei das die natürlichste Sache der Welt. »Ich werde euch sogar verraten, wie ihr es bewerkstelligen könnt. Von meinem Keller aus gibt es einen Zugang in die uralten Gewölbe. Von dort könnt ihr in die Vorratskammer des Wirts der Schenke Zum Nöffenwurm gelangen, wo es alles zu holen gibt, was wir für unser Gelage brauchen. Ich werde euch den Weg aufzeichnen, dann könnt ihr ihn gar nicht verfehlen.« »Und was ist mir dir?« fragte Nottr mißtrauisch. »Ich habe inzwischen andere Vorbereitungen zu treffen«, antwortete Yargh und fragte herausfordernd: »Ihr werdet euch doch nicht davor fürchten, allein in die Tiefe zu steigen?« * Yargh übergab Mythor das Pergament, auf dem er den unterirdischen Gang eingezeichnet hatte, an dessen Ende sie die Speisekammer und den Weinkeller der Schenke Zum Nöffenwurm finden sollten. Auf Mythors Verlangen zeichnete Yargh auch die Richtung an, in der das Nest und der thormainische Brunnen lagen. Sie hatten sich darauf geeinigt, daß Kalathee in Yarghs Haus zurückblieb. Einerseits, weil das Unternehmen doch nicht ganz ungefährlich war, andererseits wollte Yargh das Mädchen als Pfand haben, um sicher sein zu können, daß die drei Männer auch wirklich zurückkamen. »Da habt ihr ein Licht«, sagte Yargh, als sie im Keller vor dem schmalen Wanddurchbruch standen, und reichte Sadagar eine Öllampe. »Es wird lange genug brennen, daß ihr die Vorratskammer erreichen und plündern könnt. Ihr müßt euch jedoch beeilen und zusehen, daß ihr bald wieder umkehrt. Leider kann ich euch nicht mehr Öl für einen längeren Aufenthalt überlassen.« 281
Nottr murmelte ein Schimpfwort, mit dem er seine Meinung über die Wesensart des kleinen, verschlagenen Mannes kundtat. »Bleib im Haus, was auch immer geschieht!« trug Mythor Kalathee zum Abschied auf. »Wir sind bald wieder zurück.« Er küßte sie sanft auf die Wange, dann drang er hinter Sadagar in den Hohlraum hinter der Kellerwand ein. Nottr bildete den Abschluß. »Mir macht nur eines Sorge«, sagte Sadagar, als sie allein waren und Yargh sie nicht mehr hören konnte. »Dieser verschlagene Zwerg weiß, daß wir keine Musikanten sind, und er muß längst erkannt haben, daß wir Kalathee nur auf alt geschminkt haben. Wenn er uns verrät, könnte ihm das einige Vorteile verschaffen.« »Nicht bei Kend und dessen Kumpanen«, sagte Mythor überzeugt. »Diesen Piraten scheint es Spaß zu machen, Yargh bis aufs Blut zu quälen. Er braucht uns als Handlanger.« »Trauen dürfen wir Yargh trotzdem nicht«, sagte Nottr. Der Hohlraum war an manchen Stellen so niedrig, daß sie sich bücken mußten. Sadagars Öllampe beschien mächtige Felsquader, die scheinbar willkürlich gegeneinander verschoben waren und selten gerade Linien bildeten. Manche der grob behauenen Felsblöcke waren mannsgroß, und sie standen alle hochkant. Nur selten waren sie fugenlos aneinandergereiht, zumeist gab es zwischen ihnen beträchtliche Abstände, die aber meist nicht breit genug waren, um einen ausgewachsenen Mann durchschlüpfen zu lassen. Die Deckensteine waren oft nur lose auf die Stützpfeiler gestellt. Mythor versuchte sich an die Elvenbrücke zu erinnern und kam zu der Ansicht, daß sie sich doch sehr von dieser Anlage unterschied. Die Elvenbrücke bestand durchwegs aus kleineren Steinen, die oft in rohem Zustand übereinandergeschichtet worden waren. Hier waren jedoch alle für den Bau verwende282
ten Steine behauen. Er wollte gerne glauben, daß die Stadt unter Thormain von demselben Volk geschaffen worden war, das auch den Titanenpfad angelegt hatte. Es mußten wahre Riesen gewesen sein, mit übermenschlichen Kräften, wenn sie so schwere Steine hatten bewegen können. Wohin waren sie entschwunden? »Wenn ihr mich fragt, so sage ich, daß Thormain auf einem wackeligen Fundament steht«, erklärte Sadagar. »Ein Erdstoß würde genügen, um alles einstürzen zu lassen.« »Unsinn!« widersprach Nottr. »Thormain hat den Untergang der Insel Zuuk ohne Schaden überstanden, und die Katastrophe hat diesen Teil der Welt gewaltig erschüttert.« Mythor mußte Nottr zustimmen; der Barbar überraschte ihn immer wieder mit treffenden Überlegungen, die von einem scharfen Verstand zeugten. »Halt an, Sadagar!« verlangte Mythor und blickte im Schein der Öllampe auf den Plan, den Yargh gezeichnet hatte. Sie befanden sich jetzt in dem ersten größeren Gewölbe. Der Weg zum Vorratskeller des Nöffenwurm-Wir-tes führte nach links. Das Nest mit dem thormainischen Brunnen lag in entgegengesetzter Richtung. Mythor wickelte das Kopftuch ab, bis der Helm der Gerechten zum Vorschein kam, den er darunter verborgen hatte. Nachdem der Helm frei lag, wandte er sich in die Richtung, in der der thormainische Brunnen nach Yarghs Angaben liegen sollte. Sofort nahm er wieder die seltsamen Einflüsterungen wahr. Es handelte sich aber nicht mehr um ein beständiges Summen in seinem Kopf, sondern hörte sich nunmehr wie ein Wispern an, als werde ihm etwas in einer fremden, unverständlichen Sprache zugeraunt. Und das Wispern klang drängend. »Was ist?« fragte Sadagar ungeduldig. 283
»Ich bin jetzt sicher, daß mich der Helm zum thormainischen Brunnen weist«, sagte Mythor überzeugt. »Dieser Brunnen birgt ein Geheimnis, das ich erforschen muß.« »Sollen wir uns dorthin wenden?« fragte Nottr. »Und was wird aus unserem Auftrag?« gab Sadagar zu bedenken. »Der Steinmann hat recht«, sagte Mythor. »Wir müssen auch an Kalathee denken und erst einmal auf Yarghs Wünsche eingehen. Während des Gelages findet sich bestimmt Gelegenheit, den thormainischen Brunnen aufzusuchen.« »Dann machen wir, daß wir weiterkommen«, verlangte Sadagar. »Ich möchte nicht, daß das Licht ausgeht und wir im Dunkeln herumtappen. Wir würden uns hier hoffnungslos verirren.« Sadagar hatte ein Messer gezückt und ritzte in einen der Felsblöcke ein Zeichen. »Was ist das?« fragte Nottr. »Eine Rune«, antwortete Sadagar. »Sie soll uns den Rückweg zeigen.« Sie mußten sich wieder durch einen schmalen Gang zwängen und unter niedrigen, querliegenden Deckenfelsen hindurchkriechen. Dahinter lag ein zweites Gewölbe. »Wir sind gleich da«, stellte Mythor nach Überprüfung des Planes fest. »Noch etwa dreißig Schritte in dieser Richtung, dann müssen wir zu einem Kamin kommen, der aufwärts führt. Er mündet geradewegs in den Weinkeller. Vor uns liegt nur noch ein Gewölbe.« Sadagar war ihnen vorausgeeilt, und das Öllicht warf einen gespenstisch tanzenden Schatten auf die übereinandergetürmten Felsblöcke. »Da ist der Kamin!« rief Sadagar von vorne. Mythor hörte das Geräusch eines über Fels scharrenden Eisens und sah noch, wie Sadagar den letzten Strich einer Rune ausführte. 284
Das Gewölbe, in dem sie herauskamen, war größer als alle anderen. Es maß zwanzig Schritt in der einen und acht in der anderen Richtung. Zwischen den Felsblöcken gab es unzählige Hohlräume. Mythor hatte eine plötzliche Eingebung und beschloß, ihr nachzugeben. »Wäre das nicht ein ausgezeichnetes Versteck für unsere Waffen?« meinte er. »Hier ist unsere Ausrüstung besser aufgehoben als in Yarghs Haus, und dank der Runen können wir jederzeit leicht hierherfinden.« »Und wie sollen wir uns dann unserer Haut erwehren?« fragte Nottr. »Hohlkopf!« schimpfte ihn Sadagar. »Bedenke, daß wir harmlose Spielleute sein wollen. Wenn man Alton und den Helm der Gerechten bei Mythor findet, sind wir entlarvt. Gegen dreitausend Piraten können wir mit der Waffe ohnehin nichts ausrichten.« Nottr sah das ein. Als er merkte, wie Sadagar, nachdem er die Öllampe abgestellt hatte, seinen Messergurt abschnallte und seinen Geldbeutel dazuwarf, holte er sein Krummschwert unter dem Umhang hervor und legte es ebenfalls ab. Mythor hatte den Helm abgenommen und schob ihn in einen Spalt zwischen zwei Felsböcken. Dann ließ er das Gläserne Schwert folgen. Sadagar verstaute seine und Nottrs Waffen ebenfalls in dem Versteck und kennzeichnete dann die Stelle mit einer Rune im Boden. Nachdem er dies getan hatte, sah er, daß Mythor das Pergament unter seiner Jacke hervorgeholt hatte und begierig darauf starrte. »Du wirst immer schöner und begehrenswerter, je öfter ich dich betrachte«, sagte er zu dem Frauenbildnis. Entschlossen fügte er hinzu: »Ich werde dich finden!« Es kostete ihn sichtlich Überwindung, sich von dem Pergament zu trennen und es in dem Versteck zu hinterlassen. Aber er überwand sich dazu, denn er sah die Notwendigkeit ein. Wenn die Piraten dieses Bildnis bei ihm fanden, würden sie 285
bestimmt versuchen, es ihm abzunehmen. »Machen wir weiter«, sagte er sodann. Sadagar trat unter den Schacht, der nach Yarghs Angaben zu dem Vorratskeller führte, und leuchtete mit der Öllampe hinein. »Ich mache den Anfang«, beschloß Mythor und kletterte die Steinblöcke hoch. Es gab immer wieder Vorsprünge oder Vertiefungen, die ihm Halt boten. Manchmal waren die Zwischenräume jedoch gewaltig, so daß er sich gehörig strecken mußte. Für den kleineren Sadagar war das besonders schwierig, aber Nottr half ihm, indem er ihn in die Höhe schob. »Faß mich nicht so hart an!« beschwerte sich der Steinmann. »Still!« befahl Mythor. »Und das Licht aus. Ich höre jemanden.« Sadagar stellte die Öllampe in einen Spalt, so daß ihr Schein nach oben abgedeckt wurde. Mythor zog sich vorsichtig in die Höhe. Ein Luftzug traf sein Gesicht, und er tastete sich in einen vor ihm liegenden Spalt. Er robbte drei Armlängen in die Tiefe und kam zu einem Vorsprung, hinter dem der enge Gang einen Knick machte. Von dort her nahm er einen schwachen Lichtschein wahr. Lautlos zog er sich weiter, bis er eine Öffnung erreichte. Dahinter lag ein großer Keller, in dem zwei Reihen Fässer lagerten. Dazwischen standen unzählige verschlossene Krüge und lederne Beutel aller Größen, die zweifellos mit Wein gefüllt waren. Von der Decke hingen Dutzende Schinken und ganze Rinderhälften; zwei Fässer mit Gepökeltem und geräuchertem Fisch standen direkt unter Mythor. Der anregende Geruch, der Mythor in die Nase schlug, weckte das bisher unterdrückte Hungergefühl. »Möchte bloß wissen, was wir hier sollen«, vernahm Mythor eine schwerfällige Stimme hinter einem der Fässer. »Uns besaufen«, sagte eine zweite Stimme mit deutlichem 286
Zungenschlag. »Und das tun wir.« »Nein«, sagte der erste Sprecher, und Mythor sah einen bulligen, in bunte Gewänder gehüllten Mann hinter einem Faß hervorkommen. Er trug eine Laterne in der einen Hand und einen Weinkrug in der anderen. Er setzte den Krug an, wankte und schüttete sich Wein übers Gesicht. Er schmatzte und fuhr fort: »Kend hat Dhalin gewarnt, daß man seinen Weinkeller plündern wolle. Und darum sind wir auf dem Posten.« Eine zweite Gestalt folgte der ersten auf allen vieren, hob den Kopf und zeigte ein gerötetes Gesicht. Ein Auge war durch eine schwarze Klappe verdeckt, das andere blinzelte in die Laterne. »Ich sehe nur zwei, die Dhalins Weinkeller plündern«, sagte der Einäugige mit schwerer Zunge. Und dann lachten sie beide. Mythor überlegte nicht lange. Er kroch aus der Öffnung und sprang dann in die Tiefe. »Woher…?« konnte der eine Wachposten, der sich mühsam aufrecht hielt, noch fragen, bevor ihn Mythors Faustschlag traf. Der andere versuchte, auf allen vieren zu fliehen. Aber Mythor packte ihn am Genick und schleuderte ihn mit dem Kopf gegen eines der Fässer. Mit einem dumpfen Laut brach er zusammen. »So«, sagte Mythor und klatschte in die Hände, als Sadagar und Nottr zu ihm stießen. »Jetzt können wir uns ungestört bedienen.« »Noch nicht ganz«, sagte Sadagar, lief die Steintreppe zur Tür hinauf und versperrte sie von innen. »Jetzt erst können wir sicher sein, daß man uns in Ruhe läßt.« Nottr hatte schon damit begonnen, Krüge und Beutel mit Wein zu der Öffnung zu tragen, durch die sie eingedrungen waren. Mythor hatte dem einen Wächter das Schwert abgenommen und war das Gestänge hochgeklettert, von dem die 287
Schinken an Stricken hingen. Diese schnitt er einfach durch, und Sadagar kam gerade zurecht, um sie aufzufangen. »Wir nehmen, soviel wir tragen können«, ordnete Mythor an. »Aber es soll nicht alles für Yargh bestimmt sein. Einige Vorräte lassen wir auch in unserem Versteck zurück für den Fall, daß wir untertauchen müssen.« * Yargh bekam große Augen, als er sah, wie sich die Weinbehälter und Räucherschinken in seinem Keller türmten und Mythor, Nottr und Sadagar immer wieder im Schlupfloch mit neuen Lasten auftauchten und sie zu dem Berg legten. Als Yargh hörte, daß der Wirt Zum Nöffenwurm von Kend gewarnt worden war, nickte er wissend. »Das sieht Kend ähnlich«, sagte er. »Er hätte wohl gerne gesehen, daß Dhalin mir das Fell über die Ohren zieht.« »Du meinst wohl uns«, sagte Nottr. »Das kommt auf dasselbe heraus«, meinte Yargh. Er schüttelte staunend den Kopf. »Ich wußte gar nicht, daß Dhalins Vorräte unerschöpflich sind.« »Das hört sich an, als wärst du selbst noch nicht in seinem Keller gewesen«, sagte Mythor argwöhnisch. »Natürlich nicht, mich bringt keine Macht der Welt in die Geisterstadt unter Thormain«, antwortete Yargh. »Wozu habe ich meine Sklaven?« Nottr wurde wütend und wollte sich auf ihn stürzen, aber Mythor hielt ihn davon ab. »Laß ihn reden«, sagte er beruhigend. »Er braucht uns mehr als wir ihn. Wenn er den Mund zu voll nimmt, verschwinden wir einfach in der Tiefe, dann soll er sehen, wie er mit Kend und seiner Bande zurechtkommt.« »Das ist nicht euer Ernst!« rief Yargh aus. »Ihr würdet in der Geisterstadt kein langes Leben haben. Redet nicht solchen Un288
sinn und helft mir lieber, das Fest vorzubereiten. Wenn wir unsere Gäste zufriedenstellen, wird es unser Schaden nicht sein.« Als er sah, wie Mythor sich in den Durchlaß zwängte, rief er ihm nach: »Wohin willst du denn?« Mythor schwieg und hörte Sadagar an seiner Stelle antworten: »Er hat noch etwas zu erledigen. Aber das braucht dich nicht zu kümmern. Verrate uns lieber, wo unsere betagte Schönheit Kateel steckt.« »Sie ist oben«, antwortete Yargh. »Aber versucht nicht, mich glauben zu machen, daß sie betagt sei. Ich habe ihre versteckten Reize sehr wohl erkannt.« Yargh verstummte mit einem Schmerzensschrei, und Mythor konnte sich vorstellen, daß Nottr dafür verantwortlich war. Er war nicht in Sorge um Kalathee, denn er konnte sich darauf verlassen, daß der Lorvaner gut auf sie aufpaßte. Er selbst wollte die verbleibende Zeit nützen, um nach dem thormainischen Brunnen zu forschen, denn dieser ging ihm nicht aus dem Sinn. Als Mythor das erste Gewölbe erreichte, zögerte er, bevor er sich in die von Yargh angegebene Richtung wandte. Er überlegte sich, ob er den Helm der Gerechten holen solle, damit er ihm den Weg wies. Aber dann entschied er sich dagegen. Er würde auch ohne ihn zurechtkommen müssen. Es war besser, den Helm im Versteck zu lassen, um ihn nicht aufs Spiel zu setzen. Er wußte ja noch nicht, was ihn hier unten erwartete. Mythor hatte die Laterne und das Schwert eines der Wächter aus dem Weinkeller, und das war ihm genug. Mit einem kurzen Blick auf Yarghs Plan wählte er einen Durchlaß zwischen den Felsblöcken. Wenn es stimmte, daß der thormainische Brunnen auf halbem Weg zum Nest lag und nicht weiter als zweihundert Schritt entfernt war, konnte er ihn erreichen, bevor das Gelage in Yarghs Haus begann. Zu diesem Zeitpunkt wollte er aber unbedingt wieder an der Seite seiner Kamera289
den sein. Die Felsquader bildeten auf eine Länge von etwa dreißig Schritt einen geraden Gang mit ebenem Boden, so daß Mythor gut vorankam. Doch dann kam er in eine hohe, langgestreckte Kammer, aus der kein Stollen hinausführte. Es gab nur verschieden große Zwischenräume, durch die sich ein Mann gerade noch zwängen konnte. Mythor wählte den größten Durchlaß, der sich in seiner Richtung befand, und von hier an wurde der Weg beschwerlicher. Die Felsblöcke waren scheinbar willkürlich aneinandergereiht und übereinandergetürmt. Es gab überall Klüfte und Spalten, in die man rutschen konnte. Er mußte immer um hohe Felsen herumgehen, die im Wege standen, oder über Flachsteine klettern. Das war nicht nur mühsam, sondern erschwerte ihm auch, die eingeschlagene Richtung beizubehalten. Er hatte aber nichts dabei, um seinen Weg zu markieren. Er begann einzusehen, daß er auf diese Weise wohl nie zum thormainischen Brunnen gelangen würde. Er traute sich nicht einmal zu, den Weg zurück zu finden. Darum beschloß er, zur Oberwelt hochzuklettern. Er stellte die Laterne auf einen Vorsprung über ihm, damit er beide Hände frei hatte, um sich hinaufzuziehen. Da gewahrte er über sich eine Bewegung, ein Luftzug kam von dort und brachte die Laterne zum Erlöschen. Mythor erstarrte. Er wußte, daß er auf einmal nicht mehr allein war. Er fühlte es geradezu körperlich, daß jemand um ihn war, und gleich darauf vernahm er auch eindeutige Geräusche. Es war wie das Scharren nackter Füße auf dem rauhen Stein, das Schleifen von Stoff über diesen, und dazu kam ein Räuspern und rasselndes Atmen. Etwas Rauhes strich sanft über sein Gesicht! Mythor spannte die Schwerthand an und wollte eine Abwehrbewegung machen, aber da wurde sein Handgelenk mit festem Griff gepackt. 290
Über ihm erklang eine rauhe Stimme, die irgend etwas Unverständliches sagte. Mythor hörte nur aus dem Tonfall, daß es keine Drohung sein konnte. »Was willst du von mir?« fragte er, und seine Stimme klang ihm selbst fremd. »Wir…«, kam es aus mehreren Kehlen gleichzeitig und kaum verständlich. Also hatte er es mit mehreren Gegnern zu tun. Aber waren es überhaupt Gegner? »Helfen… still«, erklang es dicht über ihm, und wieder strich etwas Rauhes, Schwieliges über seinen Arm und seine Schulter, das er nun als derbe Hand erkannte. Mythor hielt still, als sich die Hand über seine Schulter zu seinem Gesicht hochtastete und sanft, zögernd und verschüchtert geradezu, über seine Haut strich. »So glatt… schön«, sagte die Stimme von vorhin ehrfürchtig. »Nicht von uns… andere Welt.« »Ich komme aus Thormain«, erklärte Mythor. »Nein«, sagte die Stimme bestimmt. Mythor berichtigte sich: »Ich habe gemeint, daß ich aus Thormain herabgestiegen bin. Aber ich stamme nicht von hier.« »Wir wissen.« »Was wollt ihr von mir?« fragte Mythor. »Wenn ihr keine feindlichen Absichten habt, warum habt ihr dann meine Laterne ausgeblasen?« »Uns nicht sehen… so häßlich.« »Euer Anblick hätte mich gewiß nicht erschreckt«, versicherte Mythor. »Still!« Das klang wie ein Befehl. Mythor verstummte und bewegte sich nicht. Die Hand strich ihm über das rechte Ohr. Die Ohrmuschel wurde nach vorne gedrückt, und Mythor spürte dahinter den Druck der Finger. »Was soll das?« rief Mythor aus und schüttelte die Hand ab. 291
»Ich komme mir wie ein Vieh vor, das vom Schlächter begutachtet wird.« »Nein!« schrie die Stimme wieder, und es klang gequält. »Nicht so reden. Nicht wahr. Anders… ganz anders. Du, du! Wohin?« »Ich suche den thormainischen Brunnen«, sagte Mythor. Rund um ihn erklang es wie ein vielstimmiges Echo: »Brunnen! Brunnen!« Die Stimmen ließen ihn frösteln, obwohl ihm versichert worden war, daß er nichts zu befürchten habe. »Wir mit dir! Mitkomm, komm.« Mythor hatte auf einmal kein Verlangen mehr, den thormainischen Brunnen aufzusuchen, zumindest wollte er nicht in dieser Begleitung dorthin. Wenn sie ihm nicht nach dem Leben trachteten, so hieß das noch längst nicht, daß sie auf seine Wünsche eingehen würden. Es mochte sich um irgendwelche Götzendiener handeln, die vielleicht nur darauf bedacht waren, ihn dem Brunnen zu opfern. Selbst wenn seine schlimmsten Befürchtungen nicht zutrafen, wollte er sich nicht diesen unheimlichen Leuten ausliefern. »Ich kann jetzt nicht mitkommen«, sagte Mythor. »Ich muß zu meinen Freunden zurück, sie erwarten mich.« Ein enttäuschtes Murmeln machte die Runde. »Wiederkommen?« fragte die Stimme über ihm. »Bestimmt«, versprach Mythor. »Ich werde den thormainischen Brunnen ganz gewiß aufsuchen.« »Gut, gut«, sagte die Stimme. »Wamdon da. Wamdon!« »Ich werde mir den Namen merken«, versprach Mythor. »Gut, gut!« Er wurde am Arm gepackt und hochgezogen. Bevor er mit den Beinen noch richtig Halt gefunden hatte, ergriffen ihn andere Hände und reichten ihn weiter. Und immer wurde ihm ein und derselbe Name aus der Dunkelheit zugeraunt: »Wam292
don! Wamdon!« Eine krächzende Stimme vertraute ihm an: »Du klug, Wamdon klug!« Und weiter ging es. Mythor stellte sich vor, daß die Unbekannten eine Kette bildeten, in der er von Hand zu Hand ging. Er hatte nicht mitgezählt, wie oft er ergriffen wurde, aber er schätzte, daß die Kette aus mindestens dreißig Personen bestand. Endlich sah er über sich einen Lichtschein, und er fand sich zwischen den dicht beieinanderliegenden Wänden zweier Fachwerkhäuser wieder. Das Licht fiel aus einem Fenster über ihm in den engen Lichthof, der so schmal war, daß er sich nicht einmal herumdrehen konnte. Das Fenster lag keine Mannslänge über ihm, und aus ihm drang nicht nur Licht, sondern auch das Murmeln von Stimmen. Eine tiefe Frauenstimme begann zu singen. Es klang fürchterlich, aber gegen das Krächzen der Unbekannten hörte es sich wie Feengesang an. Unter ihm war ein Rascheln zu hören, und dann folgte Stille. Mythor atmete auf und begann in den Lichthof hochzuklettern. Er stemmte sich mit Armen und Beinen gegen die Wände und zog sich so weiter. Dabei wurde ihm bewußt, daß über Thormain bereits die Dämmerung hereingebrochen war. Das Gelage fiel ihm ein, und er verstärkte seine Anstrengungen. Er erreichte das Fenster und zog sich daran hoch. Als er den Kopf darüber hob, blickte er in eine Kammer, die durch einen Vorhang vom übrigen Raum getrennt war. Ein Mädchen stand vor ihm, das sich gerade entkleidete. Sie konnte ihn nicht sehen, weil sie die Röcke über den Kopf gezogen hatte. Als sie sich davon befreite, stand er bereits vor ihr, und noch bevor sie schreien konnte, verschloß er ihr den Mund mit der Hand. »Was trödelst du so lange herum, Salgla?« fragte eine tiefe Männerstimme durch den Vorhang. 293
Das Mädchen bewegte die Lippen, und durch Mythors Hand drangen gedämpfte Laute. Sie verdrehte die Augen, um ihn besser sehen zu können, und was sie sah, schien ihr zu gefallen. Denn auf einmal entspannte sie sich und schmiegte sich an ihn. Aber da Mythor nicht nach einem Abenteuer dieser Art zumute war, drängte er das Mädchen durch den Vorhang und stieß es auf das Bett, auf dem ein halbnackter Mann kauerte. Als dieser Mythor sah, stieß er einen wütenden Laut aus und griff nach dem Schwert, das an der Liegestatt lehnte. »Laßt euch nicht stören!« rief Mythor zum Abschied und lief aus dem Raum. Über eine schmale, steile Treppe gelangte er nach unten und durch einen ebenso schmalen Flur ins Freie. Er fand sich in einer winkeligen Gasse wieder. Es herrschte ein dichtes Gedränge. Männer und Frauen standen herum oder bahnten sich einen Weg durch die wogende Menge. Betrunkene torkelten einher oder lagen im Weg. Plötzlich entstand ein Tumult, und dann bildete sich eine Lücke, in der zwei abenteuerlich gekleidete Männer die Klingen kreuzten. Mythor hastete die Gasse hinauf und kam zu einer Treppe. Links und rechts davon führten etwas großzügiger angelegte Straßen in tiefere Regionen der Stadt. Rechts konnte er weiter draußen den Hafen mit seinen Lichtern erkennen und dahinter das Meer der Spinnen, über das sich eine Nebelbank auf Thormain zuschob. »He!« rief Mythor einen Jungen an, der ein Tragegestell geschultert hatte. »Wie komme ich zu Yarghs Haus?« »Die Treppe hinauf«, antwortete der Junge im Vorbeigehen. »Es ist das Haus, wo es am lautesten zugeht. Aber bald schon werden einige dieser Radaubrüder ganz anders schreien, wenn der Herr der Schultern sich ihrer annimmt.« Mythor schenkte den Worten des Jungen keine besondere Beachtung. Für ihn zählte nur, daß das Fest bereits im Gange 294
war, und die Sorge um die Freunde trieb ihn an. Er stürmte die steile Treppe hinauf und stieß dabei mit einigen Leuten zusammen, die ihm entgegenkamen. Das Schwerterklirren und die wütenden Zurufe mißachtend, hastete er die Gasse am oberen Ende der Treppe weiter. Hier war das Gedränge womöglich noch schlimmer, geradezu lebensgefährlich. Mythor stieß mit einem Mann zusammen, der den Körper wie im Schmerz gekrümmt hatte. Er hätte ihn fast umgestoßen, konnte ihn aber gerade noch an den Oberarmen ergreifen. Da sah er, daß sich der Mann die Hände gegen den Magen preßte, und diese Hände waren blutig. »Hau ab!« herrschte ihn der Verwundete an. »Ich schaffe den Abgang auch allein.« Mythor war so entsetzt, daß er sich nur zögernd zurückziehen konnte. Erst als ihm der Verwundete ins Gesicht spuckte, ernüchterte ihn das. Wie grausam das Leben in Thormain sein mußte, ließ ihn der Umstand erkennen, daß das Sterben so würdelos war. Die Menschenmenge wurde immer dichter. Mythor war, als kämpfe er gegen eine Mauer an. Er wurde gestoßen rund stieß selbst. »Zurück!« schrie da jemand. »Oder wollt ihr niedergetrampelt werden?« Hufgeklapper erklang, die Menschen drängten zur Seite und wichen bis an die Hausmauern zurück. Mythor war auf einmal allein in der Mitte der Gasse. Er kümmerte sich nicht um die Reiter, die weiter oben auftauchten und auf ihn zukamen. Er entdeckte auf einmal Yarghs Haus zwischen den schmutzigen Fassaden und rannte darauf zu. Davor saß ein einzelner Mann hoch zu Roß. Er trug ein schwarzes Gewand mit einer weißen Halskrause und weißen Spitzen an den Ärmeln und war in einen weiten Umhang gehüllt, den er mit einer Hand raffte. 295
Mythor spürte seinen Blick auf sich ruhen und sah ihm in Gesicht. Er begegnete dort zwei kalten Augen, die ihn verächtlich maßen. Das Gesicht war schmal und hohlwangig und wurde von einem dunklen Spitzbart geziert. Von diesem Mann gingen Grausamkeit und Gewalt aus, das spürte Mythor sofort. Aber er wollte sich von seinem Anblick nicht einschüchtern lassen, sondern näherte sich unerschrocken dem Hauseingang. Das Schwert, das er immer noch in der Hand hielt, gab ihm Sicherheit. Er war nur noch drei Schritte vom Hauseingang entfernt. Die Tür hing schief in den Angeln, und Kampflärm drang heraus. Noch immer beobachtete ihn der schwarzgekleidete Mann auf dem Pferd. Er wandte sich nicht einmal um, als die anderen Reiter herankamen und ihre Pferde zügelten. Ohne Mythor aus den Augen zu lassen, gab ihnen der Schwarzgekleidete durch einen Wink zu verstehen, daß sie absitzen sollten. Ein Mann stürzte durch den Eingang auf die Straße. Seine Kleider waren zerfetzt. Er hielt in jeder Hand ein Kurzschwert. »Was fällt dir ein, Welleynn, mein Fest durch deine Schergen stören zu lassen!« schrie der Mann, in dem Mythor Kend erkannte. »Wenn du ungestört zechen willst, such dir deine Saufkumpane das nächstemal besser aus!« sagte der Schwarzgekleidete, der niemand anders als der Scharfrichter Welleynn sein konnte. »Du darfst dich eben nicht mit Spionen einlassen.« Da war Mythor endgültig klar, daß diese Drohung ihm und seinen Freunden galt. Er wollte sich an Kend vorbeizwängen, bevor dieser ihn erkannte, um den Gefährten zu Hilfe zu kommen. Aber da hörte er die unverkennbare Stimme von Yargh: »Das ist er! Das ist ihr Anführer!« Der kleine Mann tauchte zwischen den Pferden auf und wies mit dem Finger anklagend auf ihn. Dadurch wurde Kend auf 296
Mythor aufmerksam gemacht. »Spione also?« rief Kend und griff Mythor mit seinen Kurzschwertern an. Mythor schwang kraftvoll sein Schwert von unten nach oben, um die beiden Klingen abzuwehren. Dann trat er nach Kend und schleuderte ihn mit einem Fußtritt gegen Welleynns Pferd, das sich wiehernd aufbäumte. Der Weg ins Haus wäre für Mythor frei gewesen, wenn nicht auf einmal Welleynns Schergen aufgetaucht wären. Sie stürmten mit vorgehaltenen Schwertern auf ihn zu, um ihn im Laufen aufzuspießen. Aber Mythor lenkte die Klingen ab, drang durch die so entstandene Lücke und rammte zwei der Angreifer mit solcher Wucht, daß sie zur Seite geschleudert wurden und den dritten mit sich rissen. Die Menge johlte begeistert, und Mythor erkannte, daß sie auf seiner Seite waren. Es war leicht vorstellbar, daß der Scharfrichter von allen in der Stadt gehaßt wurde. Mythor setzte wieder zum Sturm ins Haus an, doch da gebot ihm die Stimme Welleynns Einhalt. »Gib auf!« herrschte ihn der Scharfrichter an. »Oder willst du, daß dein Liebchen an deiner Statt geschultert wird?« Mythor hielt inne, als er sah, wie zwei der Schergen Kalathee heranführten. Man hatte ihr die Hände auf den Rücken gebunden, und ein Strick spannte sich um ihren Hals. Als Mythor ihr ins Gesicht sah, ließ er das Schwert einfach fallen. Im Nu waren die Schergen über ihm und fesselten auch ihn. Dabei schlugen sie auf ihn ein, obwohl er sich gar nicht zur Wehr setzte. »Und jetzt fordere deine Kumpane zur Aufgabe auf«, verlangte der Scharfrichter von Mythor. »Sie verschlimmern nur ihre Lage, wenn sie sich meinen Leuten widersetzen.« »Wie viele sind es denn, die du gegen zwei Mann aufbieten mußtest?« fragte Mythor, kam der Aufforderung dann aber 297
nach. »Nottr! Sadagar!« rief er ins Haus. »Ergebt euch Kalathees wegen!« Er mußte seine Aufforderung noch einmal wiederholen, bevor der Kampflärm abebbte. Bald darauf wurden Nottr und Sadagar mit auf den Rücken gefesselten Armen herausgeführt. »Yargh hat diese Bluthunde auf uns gehetzt«, sagte Nottr zornig. Er entdeckte den kleinen Mann, riß sich von seinen Häschern los und stürzte sich auf ihn. Nottr fletschte die Zähne und schrie wie ein Tier, als er Yargh unter sich begrub, und es bedurfte dreier Männer, um den Lorvaner schließlich zu bändigen und von seinem Opfer zu lösen. Yargh wimmerte und schrie: »Dieses Tier hat mir das Ohr abgebissen!« »Wenn wir uns wieder begegnen, fehlt dir der Kopf«, sagte Nottr grimmig. »Führt sie ab!« befahl Welleynn und drehte sein Pferd herum. Im Vorbeireiten beugte er sich zu Mythor hinunter und meinte vielsagend: »Du hast breite Schultern. Aber bevor wir ihre Widerstandskraft prüfen, werden wir uns noch eingehend unterhalten.« Mythor, Sadagar und Nottr wurden an den Händen zusammengebunden und von den Reitern in die Mitte genommen. Kalathee wurde gesondert abgeführt. »Beim Kleinen Nadomir!« klagte Sadagar. »Wie habe ich mir ein solches Ende verdient!« »Mund halten, Steinmann!« herrschte ihn Nottr an. »Sonst beiße ich dir auch ein Ohr ab.« Daraufhin gab Sadagar keinen Ton mehr von sich, bis sie nach langem Marsch durch die Stadt in einem dunklen Verlies landeten. Kalathee wurde nicht zu ihnen gebracht. ENDE 298
Der nächste MYTHOR-Band Daß eine von mordlüsternen Piraten beherrschte Stadt wie Thormain zur Todesfalle werden kann, mußten Mythor und seine Gefährten schnell begreifen. Folter und Hinrichtung drohen den Freunden. Nun gilt es, mit Hilfe einiger Unterweltbewohner und der versteckten Waffen zu entkommen. Allerdings hat Mythor vorher eine Aufgabe zu erfüllen, die mit jenem eigenartigen Brunnen im Zentrum der Stadt zusammenhängt. Als die Stadt von Seedrachen angegriffen wird, überstürzen sich die Ereignisse in unglaublicher Art und Weise. Überraschend kommt es zu einem neuen Zusammentreffen mit einem alten Gegner: Coerl O’Marn. Der letzte der Alptraumritter respektiert seinen jungen Widersacher und schließt sich kurzfristig mit ihm zusammen. Nicht lange allerdings… Unweit von Thormain lagert nämlich eine große Streitmacht der Caer, die hier ihr jährliches Turnier austragen. Um daran teilnehmen zu können und die Kämpfe zu überleben, muß Mythor sich unter falschem Namen einschleichen. Doch dann trifft Drudin, der oberste der Dämonenpriester, auf der Ebene der Krieger ein. Welches Grauen mit ihm eintrifft, können Sie im nächsten Band der MYTHOR-Serie erleben:
DER FALL VON THORMAIN
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