Altern und bürgerschaftliches Engagement

Klaus R. Schroeter • Peter ZangI (Hrsg.) Altern und burgerschaftliches Engagement Alter(n) und Gesellschaft Band 12 H...

Author: Klaus R. Schroeter | Peter ZangI

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Klaus R. Schroeter • Peter ZangI (Hrsg.) Altern und burgerschaftliches Engagement

Alter(n) und Gesellschaft Band 12 Herausgegeben von Gertrud M. Backes Wolfgang Clemens

Klaus R. Schroeter Peter ZangI (Hrsg.)

Altern und burgerschaftliches Engagement Aspekte derVergemeinschaftung und Vergesellschaftung in der Lebensphase Alter

VS VERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothel< verzeichnet diese Publil abrufbar.

1. Auflage Januar 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Der VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Sphnger Science+Business Media. www.vs-verlag.de DasWerk einschlieBlich aller seiner Telle ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fiJr Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden durften. Umschlaggestaltung: KunkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbindehsche Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 3-531-14422-7

Inhalt

Klaus R. Schroeter' Einleitung: Vom „alten Ehrenamt" zum „burgerschaftlichen Engagement im Alter"

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Theoretische Aspekte Lars Clausen Alter als Chance, seinen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen... 19 Klaus R. Schroeter Status und Prestige als symbolische Kapitalien im Alter?

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Gertrud M. Baches Widerspriiche und Ambivalenzen ehrenamtlicher und freiwilliger Arbeit im Alter

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Michael Giinther Alter, Wilrde und Gemeinschaft: Von der Notwendigkeit und Problematik der Gemeinschaftserhaltung und Gemeinschaftsbildung im Alter 95 Empirische BeitrSge Harald Kunemund Methodenkritische Anmerkungen zur Empirie ehrenamtlichen Engagements

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Harald Kunemund Exemplarische Analysen zum ehrenamtlichen Engagement im Alter

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Franz Kolland und Martin Oberbauer Vermarktlichung biirgerschaftlichen Engagements im Alter

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Kai Brauer Prestige und soziales Kapital als Medien der Zivilgesellschaft: Netzwerke des Engagements und altere Farmer in „CLANTON", Iowa.... 175

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Inhalt

Praktische Erfahrungen Michael Biirsch Leitbild Burgergesellschaft

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Peter Zdngl Organisierte Solidaritat in der Burgergesellschaft? Biirgerschaftliches Engagement in Schleswig-Holstein

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Joachim Burmeister Altere Menschen als ,^e«/'orTrainerinnen": Das Modellprogramm „Erfahrungswissen ftlr Initiativen" (EFI)

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Barbara Eifert Seniorenvertretungen in Nordrhein-Westfalen als Beispiel politischer Partizipation alterer Menschen

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Einleitung: Vom „alten Ehrenamt" zum „burgerschaftlichen Engagement im Alter" Klaus R. Schroeter

Die Formel des biirgerschaftlichen Engagements ist seit einigen Jahren in aller Munde. Forciert durch das 2001 von den Vereinten Nationen ausgerufene Internationale Jahr der Freiwilligen (IJF) und verstarkt durch die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Zukunft des Biirgerschaftlichen Engagements" (2002) erscheint die alte Ehrenamtlichkeit im neuen Gewande. Dabei steht der Begriff des biirgerschaftlichen Engagements vielleicht „erst in der Anfangsphase seiner semantischen Karriere" {Roth 2000: 26). Wenn Freiwilligenarbeit und biirgerschaftliohes Engagement derzeit Konjunktur erleben, so stellt sich zugleich auch die Frage, ob sich diese Formen der gesellschaftlichen Partizipation nicht gerade im Angesicht der leeren offentlichen Kassen besonderer Beliebtheit erfreuen. Der nahe liegende Verdacht, dass mit dieser neu entdeckten Vergesellschaftungsform zumindest Telle der finanziellen Locher der offentlichen Haushalte kompensiert werden sollen {Kolland 2002), lasst sich wohl endgiiltig auch kaum ausraumen. Doch so einfach ist die Antwort nicht. Die Idee der Btlrger-, Zivil- oder Verantwortungsgesellschaft {Cohen, Arato 1994; Etzioni 1999; Habermas 1992) ist weit mehr als eine politische Verlegenheitsantwort auf die offentlichen Haushalte. Die Ideen zur Btlrgergesellschaft greifen tiefer und ftxfien auf der Vorstellung, dass auf der Grundlage verbriefter Grundrechte und im Kontext einer demokratischen Verfassung das Gemeinwesen durch selbst organisiertes Engagement entscheidend mitgepragt werden kaim. Insofem ist die Btirgergesellschaft immer auch Programm. Ihre ideengeschichtlichen Wurzeln reichen zurilck bis in die griechische Polls und die romische Republik. Doch die eigentliche Entstehung einer Burgergesellschaft war erst in dem Moment moglich, als sich Staat und Gesellschaft in die zwei Teilbereiche der politischen Offentlichkeit und der staatsfi-eien Privatheit differenzierten, sodass sich private Btlrger zu kritischen Beobachtem der staatlichen Gewalt im Rahmen der neu gestalteten offentlichen Meinung formieren konnten {Habermas 1962). Und so entstanden - zunachst vor allem in den Stadten ~ zahlreiche Korporationen, Associationen, Genossenschaften und Vereine und in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts dann auch zunehmende privatwohltatige Engagements filr die Armen und Hilfsbedtirftigen, die dann spater im Rahmen einer Koordination offentlicher und privater Fiirsorgebestrebungen

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in der Griindung verschiedener Vereine mtindete - u.a. „Verein fur Socialpolitik" (1873), „Deutscher Verein fur Gesundheitspflege" (1873), „Deutscher Verein fiir Armenpflege und Wohltatigkeit"/„Deutscher Verein fur offentliche und private Fursorge" (1880/1919) - (vgl. Sachfie, Tennstedt 1988). Mit dem Aufstieg der Wohlfahrtsverbande setzte sodarni eine zwiespaltige Entwicklung des freiwilligen Sozialengagements ein: Denn zum einen schufen sie zwar einen erweiterten Organisationsrahmen fur freiwilliges soziales Engagement, zum anderen forcierten sie aber auch den Niedergang der privaten Wohlfahrtskultur, weil sich mit ihrer Etablierung der herkommliche „Wohltatigkeitsverein von einer Institution btirgerlicher Selbstorganisation zur professionellen GroBbtirokratie gewandelt" hat und ihre „professionell-bilrokratischen Strukturen (...) die Motivation zu freiwilligem Engagement (unterminieren)" {Sachfie 2000: 85). Mit dieser Entwicklung wurde zugleich auch das herkommliche Subsidiaritatsprinzip in Frage gestellt und reformuliert. Nach dem Prinzip der Subsidiaritat (lat. subsiduum: Hilfeleistung, Verpflichtung) sollen groBere Gruppen und Gemeinschaften erst dann tatig warden, wenn die kleineren mit den betreffenden Aufgaben uberfordert sind. Demnach haben die kleineren Handlungseinheiten Vorrang in ihrer Selbstbestimmung und Leistungskraft vor den Verantwortungen der jeweils groBeren und umfassenderen Einheiten (Verbande, Saat, supranationale Gemeinschaften), deren Beistand jedoch helfen soil, die jeweils kleineren Einheiten in ihrer Entwicklung zu fordem und zu unterstiltzen. Dieses bereits in der antiken Philosophie und in der katholischen Soziallehre anzutreffende Prinzip, das sich auch der Sozialstaat zu Eigen gemacht hat, insofem der Staat als groBte Gemeinschaft nur hilfsweise, eben subsidiar, in das gesellschaftliche Leben eingreifen soil, wurde in der Krise des Wohlfahrtsstaates unter dem Stichwort der „neuen Subsidiaritat" {Heinze 1986) wiederbelebt und auf die neuen Formen solidarischen Handelns in Selbsthilfegruppen und selbst organisierten Netzwerken tibertragen. Der „Strukturwandel des Ehrenamtes" {Oik 1987; Beher et al. 2000) war gleichsam eine „Ruckkehr der Burger" {Kymlicka, Norman 1995). Und das liegt im Wesentlichen in den subjektiv erfahrenen Grenzen des Wohlstands und des Sozialstaates und in der Erfahrung konkreter Benachteiligungen begrundet. Die neuen Formen des sozialen Engagements sind oftmals durch explizite Kritik an den Leistungen und Angeboten des Wohlfahrtsstaates hervorgerufen und vor allem durch ein hohes MaB an Selbstbetroffenheit, Selbstbestimmung und durch die wahrgenommene Moglichkeit zur Selbstverwirklichung sowie dvirch das Interesse an der Bewaltigung bzw. Uberwindung der eigenen Problemsituation gekennzeichnet (vgl. Oik 1989: 9; Sachfie 2000: 87). Nachdem Amitai Etzioni ([1968] 1975) bereits in den 60er-Jahren seine Vorstellung von einer aktiven Gesellschaft formuliert hatte, sind in den vergangenen Jahren (sozial)politische Schlagworte wie „aktivierender", „er-

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munternder" oder „ermoglichender Staat" (Blanke, von Bandemer 1999; Evers, Leggewie 1999; Gilbert, Gilbert 1989; Lamping et al. 2002; Mezger, West 2000) in die Diskussion geworfen worden. Hinter diesen Begriffen stehen Vorstellungen von einer neuen Verantwortungsteilung zwischen Staat und Gesellschaft. Dabei geht es je nach politischer Konnotation um die Starkung der individuellen Verantwortung bzw. der gesellschaftlichen Selbstregulierang. Angeregt diirch die Vorstellungen des Kommunitarismus (vgl. die Zusammenstellung bei Honneth 1993) sollen Traditionselemente (auf Tugenden basierende Ordnung) mit Elementen der Modeme (geschtitzte Autonomie) verknilpft werden (Etzioni 1999: 19). Dabei soil der „aktivierende Staat" nicht den Abschied vom Sozialstaatsprinzip einleiten, wohl aber verandert er dessen Grenzen, da er den „Versorgungsstaat" in Frage stellt und dem „mundigen Burger" mehr Eigenverantwortung zutragen will (vgl. Bursch in diesem Band). Mit der Idee des „erm6glichenden" und „ermuntemden Staates" wird ein Leitbild formuliert, anhand dessen das Verhaltnis von Staat, seinen Institutionen im Verhaltnis zu seinen Btirgern neu geordnet wird. Unter dem Stichwort der „Verantwortungspartnerschaft" zwischen Staat, Gesellschaft und ihren Biirgem sollen Gelegenheitsstrukturen und Gelegenheitsraume fiir privates und biirgerschaftliches Engagement geschaffen werden. Und die sind mannigfaltig und reichen vom politischen und sozialen Engagement uber das Engagement in Vereinen, Verbanden, Kirchen und offentlichen Funktionen bis hin zu Formen der Selbst- und gegenseitigen Hilfe. In der gegenwartigen Krise der Arbeitsgesellschaft erlebt das biirgerschaftliche Engagement eine neuerliche Renaissance, wobei nicht nur von den alten ehrenamtlichen, gemeinwohlorientierten und freiwilligen Tatigkeiten gesprochen wird, sondem gelegentlich auch Stimmen laut werden, die „Burgerarbeit" {Beck 1997, 1999) in eine „Tatigkeitsgesellschaft" {Mutz 1997, 2000) uberfiihren und als gleichwertige Tatigkeit gegenuber der Erwerbsarbeit aufwerten wollen. Darilber hinaus steht biirgerschaftliches Engagement aber auch im Kontext einer demokratischen Partizipation und starkt und fordert den homo democraticus {Schmitz 2000), der sich als „mundiger Burger" politisch einmischt und engagiert {Putnam 1993). Die Formen des burgerschaftlichen Engagements sind hochst fassettenhaft; Sie reichen von a) konventionellen Formen der politischen Beteiligung (z.B. ehrenamtliches Engagement in Parteien, Verbanden, Gewerkschaften, Btirgerinitiativen, sozialen Bewegungen, Beiraten) uber b) freiwillige bzw. ehrenamtliche Wahrnehmung offentlicher Funktionen (z.B. als Schoffen, Wahlhelfer, Elternbeirate oder in der freiwilligen Feuerwehr) und c) klassischen und neuen Formen des sozialen Engagements (z.B. „soziales Ehrenamt" und „neue Ehrenamtlichkeit") bis zu d) neuen Formen der gemeinschaftsorientierten und moralQkonomisch bzw. von Solidarvorstellungen gepragten Eigenarbeit (von der Nachbarschaftshilfe bis zur „Burgerarbeit") oder e) gemeinschafllicher Selbsthilfe und anderer gemeinschaftsbezogenen

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Aktivitaten (z.B, selbst organisierte Hilfe, Kinder- und Jugendarbeit, Sportvereine) (vgl. Roth 2000: 30ff.). Damit ist das burgerschaftliche Engagement „eine freiwillige, nicht auf das Erzielen eines personlichen materiellen Gewinns gerichtete, auf das Gemeinwohl bin orientierte, kooperative Tatigkeit", die „sich in der Kegel in Organisationen und Institutionen im offentlichen Raum der Btirgergesellschaft (entfaltet)" {Enquete-Kommission 2002: 90). Ebenso vielfaltig wie die Formen sind auch die Beweggrilnde fur ein solches Engagement. Sie reichen von altruistischen und moralischen Motiven liber verschiedene problemorientierte AnstoBe bis bin zu unterschiedlich konnotierten instrumentellen und partizipativen Ursachen (vgl. EnqueteKommission 2002: 113ff.). Dabei wird davon ausgegangen, dass sich mit den veranderten Strukturen gleichsam auch die Motive des Engagements verandert haben. In Analogie zum gesellschaftlichen Wertewandel, der sich u.a. im Ruckgang von „Pflicht- und Akzeptanzwerten" sowie in einer Zunahme der „Selbstverwirklichungs- und Engagementwerte" (Klages 1985) dokumentiert, treten auch im sozialen Engagement die selbstbezogenen Motive starker in den Vordergrund, wahrend die altruistischen Begriindungen und die Orientierungen einer Dienst- und Pflichterfiillung an Bedeutung verlieren (Beher et al. 2000; Enquete-Kommission 2002: 115). Jedoch zeigen sich bier auch generationenspezifische Unterschiede, wenn in den alteren Generationen die pflichtbezogenen und auf das Helfen ausgericbteten Begrundungen des Engagements starker als bei den jtlngeren Generationen anzutreffen sind. Doch auch unter den Alteren tiberwiegen andere Motivbundel (vgl. Ueltzhoffer, Ascheberg 1995). Nach den Daten des Freiwilligensurvey sind die alteren Menschen zwar etwas weniger engagiert als die jtlngeren Aitersgruppen, doch das Absinken des Engagements wird erst ab dem 75. Lebensjahr deutlich {Brendgens, Braun 2001). Nach diesen Daten engagieren sich die Alteren vor allem in den Bereichen Sport und Bewegung, Kirche und religioser Bereich, sozialer Bereich, Freizeit und Geselligkeit sowie Musik und Kultur, wobei der Engagementbereich „Gesundheit" mit steigendem Alter an Bedeutung gewinnt. Die uberwiegende Mehrheit der Alteren (insbesondere die Manner) engagiert sich in Vereinen, wahrend hingegen GroBorganisationen wie Parteien oder Gewerkschaften nur eine geringe Rolle spielen und sich jeder zehnte altere Mensch in einer Initiative, selbst organisierten Gruppe oder Selbsthilfegruppe engagiert (ebd.: 272ff.). Andere Studien, wie z.B. der Alters-Survey (Kohli, Kiinemund 2000; Kunemund 2001), weisen ebenfalls auf ein erstaunlich hohes MaB an Aktivitaten in nachberuflichen Tatigkeitsfeldem bin. So aufschlussreich diese Daten im Einzelnen auch sind, die verschiedenen Studien zu biirgerschaftlichem Engagement, ehrenamtlichen und nachberuflichen Tatigkeiten und Freiwilligenarbeit sind kaum miteinander zu vergleichen, weil sie jeweils anders em-

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pirisch erfasst werden und zudem durch mitunter unklare Frage- und Antwortformulierangen einen Vergleich zusatzlich erschweren (vgl. Kiinemund in diesem Band). Mit dem vorliegenden Band soil ein weiterer Blick in das weite Feld des burgerschaftlichen Engagements im Alter geworfen werden. Im Brennpunkt der folgenden Beitrage steht die leitende Annahme, dass die verschiedenen Formen des burgerschaftlichen Engagements (ehrenamtliche Tatigkeit, Selbsthilfe, Freiwilligenarbeit usw.) stets dem doppelten Aspekt der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung unterliegen. Diese Publikation geht auf eine Tagung zuruck, die die Sektion „Alter(n) und Gesellschaft" in der Deutschen Gesellschaft fur Soziologie (DGS) in Zusammenarbeit mit der Landesinitiative Burgergesellschaft (LiBG) im damaligen Ministerium fiir Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz des Landes Schleswig-Holstein im Juni 2003 in Kiel veranstaltet hat. Ziel dieser Tagung war es, einen Bruckenschlag von wissenschaftlichen Erkenntnissen hin zu praxisnahen Konzepten zur Starkung des burgerschaftlichen Engagements von Seniorinnen und Senioren zu leisten. In der Logik dieses Vorhabens fmden sich im Folgenden sowohl theoretische Aspekte als auch empirische Beitrage und praktische Erfahrungen zum burgerschaftlichen Engagement im Alter. In Ankntjpfung an die viel zitierte Machtdefinition von Max Weber hinterfragt Lars Clausen in seinem Beitrag Uber das „Alter als Chance, seinen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen" die Anwendbarkeit der PFeier'schen Begrifflichkeit auf das Gebiet der Altemssoziologie. Klaus R. Schroeter fragt in seinem Beitrag tiber „Status und Prestige als symbolische Kapitalien im Alter?", wie Alter und Ehre zusammenpassen. Er geht der Frage nach dem allgemeinen Streben nach Anerkeimung nach und stellt zunachst dar, wie der Stellenwer? alterer Menschen in der (friihen) altemssoziologischen Theoriebildung wahrgenommen wurde, ehe er dann den Blick auf Erfolg und Produktivitat als symbolische Kapitalien im Alter lenkt. Gertrud M. Backes zeigt in ihrem Beitrag iiber die „Widerspruche und Ambivalenzen ehrenamtlicher und freiwilliger Arbeit im Alter" auf, wo noch Klarungsbedarf herrscht und Losungen von Widerspruchen benotigt werden. Sie versteht freiwilliges und ehrenamtliches Engagement als „ZwischenArbeitsverhaltnis", als Arbeitsverhaltnis zwischen Haus- und Erwerbsarbeit. Dazu unterscheidet sie die jeweiligen sozialen und politischen Dimensionen von Ehrenamtlichkeit und Freiwillenarbeit und setzt sich kritisch mit den Situationen auseinander, in denen das Ehrenamt als soziale Ressource zur Besetzung von prekaren Beschaftigungsfeldem herangezogen wird. Dazu macht sie deutlich, dass freiwilliges und ehrenamtliches Engagement kein fur alle alteren Menschen sinnvoll einzusetzendes Potenzial ist, well Zugange und Moglichkeiten dazu sozialstrukturell ungleich verankert sind.

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Michael Giinther befasst sich in seinem Beitrag uber „Alter, Wtlrde und Gemeinschaft" mit der Problematik der Gemeinschaftserhaltung und Gemeinschaftsbildung im Alter. Er rekurriert auf die Theoriebildung von Tonnies und zeigt, das „verborgene Alter" und die „Entwertung der Vergangenheit" in der konkurrenzhaften Gesellschaft und Offentlichkeit auf. Wenn unter Zugrundelegung der gegenwartigen gesellschaftlichen Verhaltnisse - so seine These - das Verhaltnis von produktivem Nutzen und reproduktiver Lebensfthrung im Alter zuungunsten der Produktivitat umschlagt, gleichsam aber eine okonomisch dominierte Gesellschaft keine verlassliche soziale Basis fur das Leben im Alter sein kann, dann riicken Gemeinschaftsbedingungen im Alter (z.B. durch Btirgerbewegungen) in den Vordergrund, in denen Altere ihre „transgenerative Solidaritat" zum Ausdruck bringen konnen, um somit „vom Ganzen eines Gemeinwesens als wertvoll und dazugehSrig betrachtet zu werden." Die empirischen Beitrage werden von Harald Kilnemund mit seinen „Methodenkritischen Anmerkungen zur Empirie ehrenamtlichen Engagements" eroffnet. Er nimmt die diskrepanten Forschungsergebnisse verschiedener Studien zum Ehrenamt in den Blick, die sich fur ihn nicht nur aus einer zuweilen anzutreffenden methodologischen Naivitat im Umgang mit Befragungen ergeben, sondem auch durch verschiedene Operationalisierungen, unterschiedliche Methoden zur Stichprobengewinnung, konzeptionelle Anderungen oder unkritische Ubemahmen intemationaler Vergleichsdaten. Das fahrt zu einer unterschiedlichen empirischen Erfassung dessen, was jeweils unter Engagement verstanden wird und damit auch zu anderen Ergebnissen, weil die jeweils ermittelten Beteiligungsquoten entsprechend differieren. In einem zweiten Beitrag entfaltet Kilnemund dann anhand der Daten aus dem Alters-Survey einige „Exemplarische Analysen zum ehrenamtlichen Engagement im Alter". Franz Kolland und Martin Oberbauer berichten iiber die Ergebnisse einer Wiener Studie zu den Motivlagen und Anreizungen biirgerschaftlichen Engagements. Sie untersuchen in ihrem Beitrag auf dem Hintergrund der Transformation des burgerschaftlichen Engagements die Defizite in der Angebotsstraktur als Folge von Vermarktlichungstendenzen. Ihr Blick richtet sich auf die Zusammenhange der modemen, auf rationalen Tausch und okonomisches Denken ausgerichteten Kultur im Zusammenhang mit der Art und Verbreitung des Ehrenamts. Weil das Anspruchsniveau ireiwillig Engagierter steigt, sehen sich auch die mit Freiwilligen arbeitenden Organisationen „immer starker mit der Frage nach wirksamen Anreizsystemen konfrontiert." Dabei wurden die auf dem Tauschsystem aufbauenden Anreizsysteme eine groBere Zustimmung erfahren als symbolische Anreize. Jedoch bestilnde die Gefahr, dass mit der zunehmenden Vermarktlichung des Nonproft-Sektors bzw. mit der Okonomisierung des biirgerschaftlichen Engagements die Engagementbereitschaft durch uberreglementierte Qualifizierungsprogramme

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gemindert wtirde. Insofern stunde der rational-okonomischen Ehrenamtskultur die Erkenntnis entgegen, dass Ideologien und „Moralgefuhr' fordemd auf die Engagementbereitschaft wirken. Kai Brauer berichtet in seinem Aufsatz ilber „Prestige und soziales Kapital als Medien der Zivilgesellschaft" ilber eine Studie zum burgerschaftlichen Engagement in einer durch die Farmerkrise erschutterten Kleinstadt in den USA. Er zeigt an dem konkreten Beispiel der Errichtung eines CareCenters in den USA, dass biirgerschaftliches Engagement weder rein altruistisch noch allein dem Kosten-Nutzen-Kalkul zuzuschreiben ist. Vielmehr zeige sich, dass auch durch die Prasenz des Moral- und Tugenddiskurses in der Stadt ein prestigetrachtiger Konkurrenzkampf zwischen den Clans der Stadt um Leitungsfunktionen und Unterstiitzungspotenzial entstand, der dem Projekt zutraglich war. Die Einbindung in derartige Projekte sei nicht an den okonomischen Status der Menschen gebunden. Vielmehr spiele die soziale Integration eine tragende Rolle, daher sei biirgerschaftliches Engagement weniger als soziale Ressource, sondem eher als soziales Medium anzusehen. Er schlagt vor, ziviles Engagement als ein eingenstandiges Subsystem zu fassen, und es von den Leitdifferenzen des Marktes, der familiaren Beziehungen und der Macht zu trennen und anhand der binaren Codierung von Prestige/kein Prestige neu zu positionieren. Die praktischen Erfahrungen beginnen mit einem Beitrag von Michael Bursch, der tiber die Ergebnisse der Enquete-Kommission „Zukunft des Biirgerschafllichen Engagements" und iiber die nach politischen Gesichtspunkten daraus zu ziehenden Schltlsse berichtet. Nach seiner Auffassung ist biirgerschaftliches Engagement notwendig, well der Staat nicht allein die Mittel fiir die Bediirfoisse der Gesellschaft bereitstellen konne, wobei das Engagement professionelle Bereiche erganzen, aber nicht ersetzen solle. Dabei diirfe die Wirtschaft als dritter Faktor neben Biirger und Staat nicht aus den Augen verloren werden. Aufgabe von Unternehmen und Staat sei es, die notwendige Infrastruktur und Beihilfen fiir das Engagement bereitzustellen und durch Gesetze wie Steuererleichterungen und AnerkennungsmaBnahmen AnstoBe zu geben und die Menschen zu aktivieren. Es sei aber nicht Aufgabe des Staates das Ehrenamt direkt zu schaffen und zu organisieren. Peter Zdngl widmet sich in seinem Beitrag zunachst der Problemstellung und Begriffsklarung, die sich um das burgerschaftliche Engagement ranken und umreiBt die Ziele staatlicher Engagementpolitik. Am Beispiel der Landesinitiative Burgergesellschaft (LiBG) stellt er dann die verschiedenen MaBnahmen zur Zielerreichung der Engagementpolitik in Schleswig-Holstein vor. Joachim Burmeister stellt in seinem Beitrag iiber „Altere Menschen als seniorTrainerinnen" das Modellprogramm „Erfahrungswissen fiir Initiativen" (EFI) vor, das sich zum Ziel gesetzt hat, Engagementswillige dergestalt weiterzubilden, dass sie ihre Lebens- und Berufserfahrung in beratender und begleitender Weise an forderungswurdige und forderungsbedtirftige kleinere

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soziale und kulturelle Initiativen und Einrichtungen weitergeben konnen. Auf diesem Wege soil auch eine bessere Integration der alteren Menschen und eine hShere gesellschaftliche Anerkennung der Senioren erreicht werden. Er erlautert den Aufbau des Curriculums zur Ausbildung der se«zorTrainerinnen in der Struktur abwechselnder theoretischer Kursmodule und praktischer Anwendungsphasen und prasentiert Ergebnisse aus der Programmevaluation, wobei er sich zum einen auf die Umsetzung der engagementpolitischen Zielsetzungen und zum anderen auf die Ausdifferenzierung der Rollenprofile von seniorlicainenxmen bezieht. Barbara Eifert berichtet schlieBlich uber die „Seniorenvertretungen in Nordrhein-Westfalen als Beispiel politischer Partizipation alterer Menschen". Dort, so zeigt sie, sind bisher mit steigender Tendenz in rund einem Drittel aller Kommunen Seniorenvertretungen errichtet worden, in denen sich vornehmlich Frauen fiir die Interessen der Senioren einsetzen. Sie gewahrt einen Einblick in die Entstehung, Zielsetzung, Funktionen und Aufgaben von Seniorenvertretungen und berichtet tiber die forderlichen Rahmenbedingungen und Strategien auf kommunaler und landespolitischer Ebene.

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Engagement im Alter "

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Theoretische Aspekte

Alter als Chance, seinen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen Lars Clausen

Meine Damen und Herren, ,jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht" - das ist mit den Worten Max Webers (WuG 1,1,§16) im Reiche der Soziologie die weithin anerkannte Definition der „Macht". Ohne das Anzapfen von Quellen der Macht kein Streben nach Handeln, kein Ehrenamt. Wenn diese Tagung sich nun mit „Altem und burgerschaftlichem Engagement" beschaftigen wird, so muss mein Ansatz sich mit Macht im Alter beschaftigen. Auch, damit die hofliche Attitude bekummerten Mitgefuhls angesichts von Vergreisung heute gar nicht erst einreifit. Schonfarberei ist dies noch lange nicht. Denn „Macht" in diesem Sinne haben auch Sauglinge um funf Uhr fiiih, zum Leidwesen ihrer Eltem, die das gar nicht schon finden. Wille gegen Willen also - wer setzt sich jetzt durch? Gewisse Ahnlichkeiten des Quengelns von Jung und Alt rufe ich geme als Assoziation bei Ihnen ab, eben um die Attitude der Bekummemis erst einmal fur iiberflilssig zu erklaren. Anderseits ist es meine Absicht nicht, das Thema des Altems mit Hilfe von Babys zu entscharfen. Zielfuhrende Weiterfrage: Offiiet das Klassikerzitat uns eine theoretisch wasserfeste und empirisch nutzliche Problemsicht fur die „Soziologie des Alterns"? Ich frage so, well mir das - sozialpolitisch wohl nicht unwillkommene Streben, die soziologische Uberkomplexitat des Problemfelds „Alter" durch eine Konzentration auf die sozialen Probleme schwindender Krafte und wankender Gesundheit mitsamt deren sozialen Folgen handlicher zu machen, eher misshagt. Denn es konnte gewisse Fragen aussperren. Freilich mag die Meidung solcher Fragen es begilnstigen, dass ein mogliches fachlich-soziologisches Scheitern an (Jberkomplexitat sich jetzt leichter in ein Scheitern angesichts der Machtlosigkeit der alten Leute umdeuten lieBe. Dem mochte ich aber steuern. Ich scheitere lieber daran, dass mir eine soziologische Frage zu schwer ist, als daran, dass ich sic - wie in den USA recht iiblich - auf ,im Grunde sowieso unlosbare' Social Problems eingeschrankt habe. Daher -

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zuspitzend - heute meine Aufmerksamkeit auf groBe Macht in hohen Jahren. Hoffentlich renne ich damit offene Tiiren ein. Johannes Paul II. ist ein alter Kirchenfiirst, Rupert Murdoch ein alter Untemehmer, loeh Ming Pel ein alter Architekt, Giorgio Armani ein alter Designer, Enrico Quarantelli ein alter Katastrophensoziologe. Fiir heute erinnere ich daran: Ihr Alter liefi ihre Macht eher wachsen. Und die Leute von der „Landesinitiative" nicken: Auch alte Ehrenamtler konnen recht machtig sein.' Macht ist stets und schon bei Max Weber ein relationaler Begriff, auch wenn „in einer Beziehung" sehr starke gegen sehr schwache Machtchancen stehen. Empirie und Theorie stoBen hier auf schwere Probleme. Erste, theoretische Frage: Was heiBt „sich durchsetzen"? 100-%iger Erfolg? Nein. Selbst, wer sozial (z.B. militarisch) cine Niederlage als unausweichlich voraussehen muss, hat noch Optionen des Ortes, des Zeitpunktes und der Symbolisierung dieser Niederlage. Suizidal veranlagte Anfuhrer konnen sie sogar vergroBem, groBmiltige wenigstens die dennoch treuen Verbilndeten aus ihrer Ehrenpflicht entlassen. Dem Sieger sind somit nie die 100% gegonnt. Alle Geschehnisse sind immer noch Kompromisse zwischen Akteuren mit Willen und Gegenwillen. Je bedeutender aber das Machtareal (das angebbare soziale Beziehungsgeflecht) ist, desto starker die Versuchung, die Kompromiss-Mixtur als Einheitlichkeit, also als 100%ig durchgesetzten Willen misszuverstehen, symbolisch als ,aus einem Guss'. Das ist er aber eben nicht, sondem stets mit Variablen unfrei. Nie vollig erschlieBbar durch die empirisch-adduktiven und -induktiven oder theoretisch-deduktiven Methoden oder durch deren alltaglichen Mix. (Nur die eine Nachbarfakultat hat dafiir eine dritte Methode der Wahrheitserkenntnis: Ihr kann sich ein Wille, namlich derjenige Gottes, „offenbaren", eine ursachlose Ursache totaler Willensdurchsetzung namens „Wunder".) Wir andem milssen das Kampf- und Verhandlungsareal der Kompromisse einfach deduktiv-induktiv erforschen, d.h. im Wechselspiel Axiome setzen und empirisch ins Feld gehen. Beispiele? Augustins Kompromiss zwischen Donatisten und Pelagianem zwingt unsereinen, die Lehre von der Erbstinde nicht als offenbarten Gotteswillen, sondem als kirchenpolitische Formel zu untersuchen (vgl. Borkenau 1984). Ganz zu schweigen vom „Wunder von Bern": Was wurde nicht alles in den Kompromiss zwischen der Bundesrepublik und Ungam in beiden Landem hinein gefuhlt, namlich 3:2 in 90 Minuten, indes doch jeder gem mit 100:0 gewonnen hatte und alle Tore selber geschossen. Wir hatten die Elias'schQ „Figuration" auf dem Feld, dann im Stadion, dann die von beiden '

Nichtsoziologischer Mitveranstalter der Tagung, welche dieser Beitrag einfuhren durfte, war bekanntlich neben dem Ministerium filr Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz des Landes Schleswig-Holstein auch die „Landesinitiative Bilrgergesellschaft".

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Nationen kurz zuvor verlorenen Kriege und endlich die Regeldurchsetzung des WeltfuBball-Bundes als intervenierende Variable einzubeziehen. Alterssoziologisch bearbeitbare Themen sind hier z.B. Erbregelungen, datnit sehr wohl prilfbare andere intervenierende Variablen. Denn der Tod von Alten bedeutet minder oder mehr jahe Herrenlosigkeit von Machtmitteln. Der Rechtssoziologe iiberprilfe mithin die Voraussetzungen iilr Rechtsgeschafte mortis causa, also von Testamentserrichtungen nach dem BGB von 1900 und dem Erbschaftssteuerrecht, oder der Staatssoziologe die NachfolgeRegelungen von Alleinherrschem (Aspiranten umzubringen, niltzt auch dem blutigsten Tyrannen nichts, ihr Nachfolger ist nie dabei, also ist zur Vermeidxrng von jeweiligen Biirgerkriegen z.B. so etwas scheinbar Abstruses wie eine Erbmonarchie ratsam). Ftir Konfliktsoziologen sind hier schone Studien der Durchsetzungsmoglichkeiten flir den Willen sozial Handelnder in den Feldem sich kreuzender Fronten moglich. Die zweite ist eine empirische Frage: Wie kommen wir ran? Weil seine Aufdeckung das ganze Sanktionenreservoir der Politik alter Leute sie, d.h. ihre Macht (auch iiber ihren Tod hinaus) gefahrden konnte, bleibt vieles gewollt geheim, und das macht es den Soziologen schwer. Der alte Axel Cdsar Springer schaffte es in der Wirtschaft (er vererbte seine Pressemacht in Gestalt einer AG mit vinkulierten Namensaktien, und die bei seinem Tode erbenden Aktionare konnten nach gut geheim haltbaren Regeln ihnen unliebe neue Aktionare nach ihrem Willen ausschlieBen); Leo Kirch scheiterte. In der Politik miissten Soziologen ganze gerontokratische Institutionen empirisch knacken und wiirden wahrscheinlich schon am „A1testenrat" des Bundestages oder am Vorstand einer unternehmerisch erfolgreichen Familien-OHG auflaufen, jedenfalls aber am Kardinalskollegium oder dem weiland Obersten Sowjet. Da eine Machtchance kraft Alters innerhalb eines Beziehungsgeflechtes (,Kollektivs') oft sehr groB sein kann, ohne nach auBen aufzufallen, mtlsste sich also eine Alternssoziologie auf der Suche nach starker Einpersonenmacht in ganze, gerne vor der Forschung abgeschottete Felder hineinboxen und gute Feldkenntnisse mitbringen: Zu diesen Feldem von Machtansammlem vermoge langen Feldaufenthaltes, also vermoge langen Lebens, gehoren die freien Berufe (Anwalte, Arzte, Wirtschaftspriifer [klassische Freie Berufe]; femer Architekten, Ingenieure, Joumalisten, Tierzuchter, Modeschopfer, Gurus u.a.m.; femer Einzeluntemehmen wie Firmen - um einmal gynaikokratische Beispiele zu geben: Crete Schickedanz, Friede Springer, in Schleswig-Holstein Beate Uhse) oder geschaftsmaBig organisiertes Verbrechen; semikapitalistische Untemehmen gehoren auch dazu (so Privatkliniken, groBe Bauemhofe, adelige Forstwirtschaften; der Ubergang zu den Nichtgouvemementalem Organisationen [NGO] ist gleichfalls flieBend: Gewerkschaften, Hilfsorganisationen, Kirchen, Olympische Komitees, btindische

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Institutionen wie Greenpeace); stationar geschlossene GroBfamilien (Sippen) aus alten Oberschichten; die Kiinste i.w.S. nicht zu vergessen, also Literatur, Bildende, Darstellende oder gar die Zirzensischen Ktlnste. Oft sind kleine geschlossene Felder typisch (fiir mich liegt da das Schachspiel nahe: im Partieschach die Macht alter GroBmeister wie Lasker oder Kortschnoi, im Problemschach sei der Schleswig-Holsteiner Speckmann genannt). Auch einzelne „Personen als Institutionen" {Arnold Gehlen) sind generell aufzusuchen (worin bestand eigentlich die Macht von weiland Bernhard Grzimekl). Es miissen also nicht nur GroBkapitalisten sein. (Sogar ein Arbeiter fallt mir ein, dem Konige zum 50. Geburtstag gratuliert haben. Wem um des Himmels willen? - Dem Werkstattleiter bei Porsche.) Ein jede Neugier spannendes Feld fiir Habilitationen und Promotionen. Bei Schachspielem genilgt eine Magisterarbeit - freilich, wer sie schriebe, miisste nicht nur das Soziologische beherrschen, sondem auch Konigs- von Damenindisch unterscheiden konnen. Eine dritte, nun wieder theoretische Frage - sogar eine erkenntnistheoretische: Dilrfen wir uns den Term „Chance" aus der Mathematik ausleihen? Max Webers Begriff „Chance" offnet einem zwar die Augen: Er stoBt aber auf ein epistemologisches Problem, well sein kartesianisch anmutender Begriff zu schwach sein dtirfte. Denn die willentliche Zukunftsgestaltung in menschlichen Gesellschaften ist grundsatzlich nicht mehr mit kartesianischem „Chance/Risiko"-Denken zu fassen, das sich stets zwischen „NuU" und „Eins" bewegt. Jedoch: Die Verifizierbarkeit einer kartesianischen Chance C, a la: „Diese TechnologieAktie steigt morgen mit 30 v.H. Wahrscheinlichkeit" wird am nachsten Morgen immer dadurch vernichtet, dass sie entweder so hoch steigen wird oder nicht (+30% | "•+30%). Fiir mich ist das so schwach wie die Ansage in Radio Schleswig-Holstein: „Morgen regnet es mit 30% Wahrscheinlichkeit." Morgen jedenfalls verschwindet die 30%-Aussage unwiederbringlich und unprufbar im Brunnen der Vergangenheit. Der alte Sparer, dem Sie eine solche Vermogensdisposition anraten, kann diese kartesianische Untiberprilfbarkeit jedoch dunkel ahnen und die Alternative KaufjNichtkauf auch ganz verweigem, also Chance und Risiko einer Spekulation auf die Zukunft beide ablehnen und an seinem Sparbuch festhalten. Diese transkartesianische Verweigerungs-Chance C kann er ubrigens desgleichen verweigem (und neue Chancen C", C" mit iterativem Progress ijber jedes C hinaus bauen sich je undje auf). Das ist nicht mehr wahrscheinlichkeitslogisch, sondem nur modallogisch (z.B. gMK?/!erlogisch, vgl. Giinther 1979, 1980) zu packen. Inzwischen gibt Ihr beratungsresistenter Alter vor einzunicken. Theoretisch nun: Solche logischen Iterationen werden praktisch durch Sanktionsakte irgendwo abgebrochen. Wo genauer, koimen Soziologen zu prognostizieren versuchen.

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Beispiel eines soziologischen Themas: Welche Ereignishorizonte sind flir Alte relevant. Eine vierte, begriffliche Frage: Kann der „Wille" ein soziologischer Begriffsein? Max Weber halt noch am „Willen" fest, variiert freilich den Gegenwillen unnotig mit dem Wort „Widerstreben": 1st er tlberhaupt hier noch auf Exaktheit aus? Jedoch halt die Soziologie das Problem des Wollens seither meist fijr tiberfliissig. Warum eigentlich? Ohne groBes Nachdenken wird der „Wille" (a) wohl von vielen mit dem Begriff des „freien Willens" verwechselt, und „Freiheit" lasst sich soziologisch gut widerlegen - oder, vorsichtiger; als sehr unwahrscheinlich belegen. Anspruchsvollere werfen (b) die „Freiheit" einer Welt der Notwendigkeit zum FraBe vor, indem sie derlei in die Sozialbiologie abschieben (und enden bei irgendeinem Theologumenon a la „Egoismus der Gene"). Problem eliminiert (wie mein Repetitor Kruse sagte, wenn er Ratschlage fur Eleganz in betriebswirtschaftlichen Klausuren gab). Der naturwissenschaftlich geschulte Vilfredo Pareto ging bekanntlich (c) induktiv vor und endete bewusst auf der „Residuen"-Ebene mit sechs von ihm aufgefassten, soziologisch fur ihn nicht weiter analysierbaren Komplexen von Willensmanifestationen (bekannt: „Instinkt der Kombinationen", „Persistenz der Aggregate" usf.) - mehr will er nicht. Soziale Molekule gentigen hier, soziale Atome mogen einen Willen haben, machen aber anderen und sich regelmaBig etwas vor („Derivationen"). Auch hier ist das Problem eliminiert, aber unelegant, durch das Aussterben der Paretianer. ijberhaupt braucht man hier (d) vermutlich ein erkenntnistheoretisch ungeborstenes Fundament (wer hat das schon? Weber nicht). Ferdinand Tonnies freilich fUBte mit seinem „Wesen"- und „Kurwillen" auf Baruch Spinoza: Voluntas atque intellectus unum et idem sunt} AnschlieBend fragt Tonnies danach, ob wir uns als Mittel eines Zwecks sehen wollen, oder als Zweck eines Mittels. Ist der Zweck das Kollektiv und wir sein Mittel, so handeln wir „gemeinschaftlich", und die Willensform dazu nennt er „Wesenwillen". Sind wir uns selbst der Zweck und das Kollektiv uns nur ein Mittel dazu, so handeln wir „gesellschaftlich", und die Willensform dafur nennt er „Ktlrwillen". Sie erkennen die Begriffe im Subtitel dieser Tagung wieder.' Sie erkennen auch, dass Ferdinand Tonnies nur die willentliche gegenseitige „Bejahung" der Menschen fiiir erklarungsbedtirftig hielt - sie ist Gegenstand seiner „Reinen Soziologie". Dass Menschen einander vemeinen, hielt er gut hobbes'\am?,c\i fur normal (das zu erklaren, brauchte man den

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Er setzte es 1887 vor das Zweite Buch (logisch fur Tonnies das erste) von „Gemeinschaft und Gesellschaft". „Altem und Bilrgerschaftliches Engagement. Aspekte der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung in der Lebensphase Alter"

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Soziologen nicht) und also fiir eine Frage an ein anderes Fach, bei ihm: an die „Sozialbiologie". Wir aber haben das Problem der gar nicht ,willenlosen' Alten - in Universitaten und Kirchen, in Einzelunternehmen und Patriziaten, in Gestalt ,alter Hasen' in den ziemlich gerontokratischen Parteiapparaten oder Monarchien, in den Greisen Karl dem Grofien, Otto dem Grofien, Friedrich dem Grofien - sollen wir etwa jetzt auch noch ,historische GroBe' soziologisch untersuchen? (Warum nicht? Vom Alterssoziologen Rudolf Tartler stammt der Ausspruch: „Der Soziologe ekelt sich vor gar nichts.") Den Alterssoziologen stellen sich die Probleme eine Nummer kleiner, wenn sie Phanomene zeitgeistwidriger .Betriebstreue' untersuchen, oder die Phanomene der ,Kalte', ,Rtlcksichtslosigkeit', gar ,Weisheit' des Alters - also, wenn sie sich etwa an eine Soziologie des ,Charakters' machen wollten. Man muss hier nicht unbedingt mit Ferdinand Tonnies arbeiten. So lebt und wirkt noch im 76, Lebensjahr unser ungarischer KoUege Bdlint Balla, ein Soziologe des „Sozialen Handelns", der alle Soziologie auf das Phanomen der „Knappheit" zuspitzt, dem ein sozialer Akteur sich immer ausgesetzt sehe (1978): Ginge es ihm noch so ,gut' - gemessen an seinen Zielen (also an seinem „ Willen ", LC) habe er dennoch Probleme „komparativer Knappheit". Es sei denn, er sei ein Eremit - und den Einsiedler dilrfte hinwiederum kein Soziologe des Alter(n)s fllr ein langweiliges Thema halten. (Fiir Kollektivisten eine trostliche oral tradition: Enzensberger hat einmal recherchiert, es gebe in der Bundesrepublik Deutschland sogar eine „Eremitenverbriiderung", sie hatte aber Altersprobleme.) Altem ist ein Transformationsprozess der Knappheit. In summa kommt die Soziologie meines Urteils nicht darum herum, die soziale Welt als KoUisionsfeld von Willensakten zu sehen. Die Ergebnisse meiner Uberlegungen sind offenbar oder geheim. Offen liegt theoretisch: Max Webers Definition der „Macht" ist fur die Soziologie des Alter(n)s so anregend wie scheinexakt: Der grofle Max hat sich lobenswerter Weise aber nicht vor groBer Macht gedruckt, und das sollte die Soziologie auch kiinftig nicht. Allerdings: Sein „Chance"-Begriff ist kartesianisch-unzureichend oder spielt mit umgangssprachlichen Elementen; sein „Willens"Begriff bleibt unfundiert, also auch nur umgangssprachlich plausibel. Geheim bleibt einstweilen die empirisch aufzusuchende Wirklichkeit: Wird die Soziologie des Alter(n)s die Chance, auf hohem Niveau zu scheitem, ergreifen und die realen Themen starker Macht kraft Alters empirisch untersuchen? Und was werden wir finden? Nattlrlich haben alte Literaturnobelpreistrager uns da vorgearbeitet: Ich erinnere also, vorsichtshalber an den letzten Buchtitel aus dem wohl gelungenen Sechsbander iiber den Zweiten Weltkrieg, vom alten Winston Churchill, namens Triumph and Tragedy.

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Literatur Balla, Balint (1978): Soziologie der Rnappheit. Stuttgart: Enke. Borkenau, Franz (1984): Ende und Anfang. Von den Generationen der Hochkulturen und von der Entstehung des Abendlandes. Stuttgart: Klett. Gunther, Gotthard (1979/1980): Beitrage zur Grundlegung einer operationsfahigen Dialektik. Bde. II+III. Hamburg: Meiner. Tonnies, Ferdinand ([1887] 1991): Gemeinschaft und Gesellschaft. Neudruck der 8. Auflage von 1935, 3. unveranderte Auflage. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Weber, Max ([1922] 1972): Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Auflage. Tiibingen: Mohr.

Status und Prestige als symbolische Kapitalien im Alter? Klaus R. Schroeter

1. Einleitung Ehre ist heute ein unmodemer Begriff. Wollte man die gegenwartige Gesellschaft Oder das Leben in ihr beschreiben, so kame es kaum jemandem in den Sinn, auf den Ehrbegriff zuruckzugreifen. Ehre scheint in die Nomenklatur vergangener Zeiten zu gehoren. Dunkel erinnern wir uns an den Religionsunterricht in der Schule: „Du soUst Vater und Mutter ehren" - und damit wohl auch das Alter - verhieB uns die Lehre der Zehn Gebote. Wir erinnern uns an die Ehre der hanseatischen Kaufleute, an eine Zeit, als der Handschlag noch etwas zahlte. Aber heute: Gilt da noch ein Ehrenwort? Was ist das noch wert? Glaubt man Ute Frevert (1991), so ist Ehre allenfalls ein Thema fur Historiker und kaum ein Begriff, der in eine modeme Gesellschaft passt. Und doch kennen wir ihn, und das nicht nur aus dem Geschichtsunterricht: Ehrenbiirger und Ehrenmitglieder, Ehrenzeichen und Ehrentitel, Ehrenworte und Ehrenamter, Ehrenkodex und Ehrengericht, Familien- und Berufsehre usw. Sind das alles mxr Anachronismen? Manches spricht dafur, dass Ehre nicht nur ein Relikt archaischer Gesellschaften, sondem auch heute noch ein nicht unwesentlicherSteuerungsmechanismus in der modemen Gesellschaft ist {Vogt 1997; Vogt, lingerie 1994). Wie passen nun Alter und Ehre zusammen? Rudolf Tartler, einer der Grundungsvater der deutschen Alterssoziologie, sah das Lebensalter auch in einer modemen differenzierten Gesellschaft als potenziell pradominant „vor andem Merkmalen des sozialen Ranges". Damit vertrat er die Ansicht, dass das „Altersprestige" tlber das „Schicht- und Funktionsprestige" hinaus auf die nicht mit gesellschaftlich bedeutenden Funktionen versehenen alteren Menschen ausstrahit, weil auch die an dem allgemeinen „altersspezifischen Sozialprestige teilhaben. „Oder anders ausgedriickt, trotz anderer, altersunspezifischer Funktionsmerkmale und Auslesefaktoren kann bei zunehmender Funktionsgiiederung einer Gesellschaft der Altersstatus in seiner primaren Funktion als gesellschaftliches Ordnungsprinzip abgelost, gleichsam als Uberbau bestehen bleiben." {Tartler 1961; 168) Alter wird hier als ein „Merkmal des sozialen Ranges" verstanden, als Status, der mit einem sozialen Prestige versehen wird. Damit wird Alter zu einem

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Klaus R. Schroeter

Stand in einer nichtstdndischen Gesellschaft erklart. Der folgende Beitrag greift diesen Gedanken auf. Dazu wird zunachst einmal der Frage nach dem allgemeinen Streben nach Anerkennung sowie nach dem Unterschied von Status und (Sozial-)Prestige nachgegangen (Kap. 2). Sodann wird in einem Review der altemssoziologischen Theorien darzustellen sein, wie der Stellenwert aherer Menschen in der (fhlhen) aUernssoziologischen Theoriebildung wahrgenommen wurde (Kap. 3). AbschlieBend wird dann der Blick auf Erfolg und Produktivitat als symbolische Kapitalien im Alter gelenkt (Kap. 4).

2. Status, Prestige und Ehre Vergegenwartigt man sich noch einmal die von Max Weber vorgenommene Differenzierung von Stand und Klasse, so wird ersichtlich, dass Stande nicht nur durch „Abstammung" oder Aneignung und Besitzergreiftmg („Appropriation"), sondem auch durch „LebensfiJhrung" entstehen konnen. Mit dieser Differenzierung wendet er sich gegen den okonomischen Determinismus, insofem die „standische Lage" im „Gegensatz zur okonomisch bestimmten »Klassenlage« (...) jede typische Komponente des Lebensschicksals von Menschen (bezeichne[t]), welche durch eine spezifische, positive oder negative, soziale Einschatzung der »Ehre« bedingt ist, die sich an irgendeine gemeinsame Eigenschaft vieler knupft" {Weber [1922] 1985: 534), Weber hat gezeigt, dass ,oede Verlangsamung der okonomischen Umschichtungsprozesse alsbald zum Aufwachsen »standischer« Bildungen fiihrt und die soziale »Ehre« wieder in ihrer Bedeutung restituiert". {Weber [1922] 1985; 539) Auf diese Weise ist das standische Prinzip zwar ein „Erbe aus vorkapitalistischer Zeit", das aber selbst in modemen Gesellschaften nicht vollends erlischt, sondem als „antikapitalistisches Gegengift" {Kreckel 1982: 623) stets wieder aufkeimen kann. Der Status-Begriff ist eine der schillemdsten soziologischen Vokabeln, dessen Verwendung nicht immer die ihm angemessene Prazision erfahrt. Man mag den Eindruck gewinnen, dass die unterschiedliche Konnotation des Status mit affmen Begrifflichkeiten - etwa Rang, Position, Rolle, Stand, Sozialprestige, Geltung, soziale Anerkennung und Wertschatzung' - mitunter dem alltagssprachlichen Gebrauch - im Sinne der Stellung des Menschen in der Gesellschaft - an begrifflicher Unscharfe kaum nachsteht. Fragt man Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass die von Max Weber prazisierte Kategorie des „Standes" als „status", „status group" oder auch als „stratum" ins Englische iibertragen wurde, vgl. u.a. Kreckel (1982: 626, 647 Fn. 13). Zur „erstaunliche[n] Metamorphose" von „Stand" zu „Status" vgl. Kreckel (1997: 64f.). Zur Differenzierung von Status und Prestige vgl. ATto^ (1957).

Status und Prestige als symbolische Kapitalien im Alter?

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nach dem Status alterer Menschen, nach ihrem sozialen Standort im hierarchisch stratifizierten Gesamtgefiige der Gesellschaft, erscheint es notwendig, diesen zunachst einmal begrifflich zu prazisieren. Dabei kann die Sozialwissenschaft auf eine lange bewahrte Tradition zuruckblicken. Sclion in den „philosophischen Vorwehen" der Sozialwissenschaften war der Blick auf Rivalitat, Anerkennung und sozialer Platzierung der Menschen gerichtet. So bedeutende Philosophen wie Francis Bacon, Thomas Hobbes, John Locke und David Hume unterstellten ein grundlegendes Streben nach Ehre, Rang und Macht. Am Ende des ausgehenden 16, Jahrhunderts sah Francis Bacon ([1597] 1950) im menschlichen Ehrgeiz die Grundlage des gesellschaftlichen Fortschritts. Das Streben nach Ehre wird auch von Thomas Hobbes als eine bewegende Kraft des sozialen Fortschritts gesehen. Die „Begierde nach groBem Reichtum und Streben nach groBen Ehren" werden von ihm (Hobbes [1651] 1984: 71) als rechtschaffene Motive menschlichen Handelns empfunden. Doch weil die Handlungen und Neigungen der Menschen nicht nur darauf zielen, „sich ein zufriedenes Leben zu verschaffen, sondem auch darauf, es zu sichem", treibt der „Wetteifer um Reichtum, Ehre, Befehlsgewalt oder eine andere Macht (...) zu Streit, Feindschaft und Krieg" (ebd.: 75f). Daraus zieht er die viel zitierte Schlussfolgerung, „daB die Menschen wahrend der Zeit, in der sie ohne eine allgemeine, sic alle im Zaum haltende Macht leben, sich in einem Zustand befmden, der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gegen jeden" (Hobbes (ebd.: 96). In dem permanenten Streben nach Bedurftiisbefriedigung - Vermeidung von Schmerz und Streben nach Gltick - sieht auch John Locke ([1689] 1962, [1690] 1967) den Motor sozialer Entwicklung, wenngleich er im Gegensatz zu Hobbes nicht auf die Notwendigkeit einer kontroUierenden Zentralgewalt insistiert, sondem auf das Prinzip der Selbstregulierung setzt und Arbeit und FleiB als die legitimen BestimmungsgroBen von Eigentum hervorhebt. Wohlstand und Luxus werden auch in den moralphilosophischen Schriften von David Hume positiv bewertet. Er geht davon aus, dass alle Menschen nach Besitz und Stolz streben und „daB die Lust, welche uns das Lob anderer bereitet, aus einem Miterleben der Meinung, die andere von uns haben, entsteht" (Hume [1739] 1973 n.i.ll: 55), wobei Rang, Reichtum und Macht die wesentlichen Grundlagen der Wertschatzung einer Person seien (ebd.: 91f). Die Gegenthese zu diesem auf Konkurrenzstreben, Gewinn, Sicherheit, Ansehen und Macht ausgerichteten Menschenbild wurde spater von JeanJacques Rousseau ([1754] 2001) in der Streitschrift iiber den „Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen" verfasst. Auch wenn es heute milBig erscheint, darilber zu spekulieren, ob der Mensch - wie die Rousseau''^cha Philosophie uns glauben machen will - von Natur aus gut und erst durch die Gesellschaft und ihre Institutionen verdorben wurde, oder ob sich die Wahrheit hinter der //o^Ziej'schen Formel homo homini lupus verbirgt und der

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Mensch zum Uberleben Normen, Institutionen, letztlich eine kontrollierende Gewalt, benotigt, wurde die Frage nach dem Zusammenhang des Strebens nach sozialer Anerkennung und sozialem Aufstieg mit dem Wohlstand als Mafistab der Wertschatzung zunachst unter moralischen Aspekten betrachtet. So fmdet sich der schon bei David Hume anklingende Argwohn, dass das Streben nach Reichtum und Wohlstand die menschlichen Tugenden untergraben konne, auch in den Schriften von Adam Ferguson, John Millar und Adam Smith. Ferguson wamt davor, den kommerziellen Wohlstand als dominierenden Mafistab der Wertschatzung zu nehmen: „Wenn Ungleichheiten in Rang und Vermogen, wie sie fur das Streben nach Luxus und seinen GenuB notig sind, flachen Griinden des Vorrangs und der Wertschatzung Vorschub leisten, wenn aufgrund der bloBen Einschatzung als reich oder arm der eine Menschenstand sich als vomehm und erhaben, der andere aber als niedrig und gering vorkommt, (...) dann ist die Gesellschaft verdorben." {Ferguson [1767] 1986; 433)

Ahnhch argumentiert John Millar ([1771] 1985) in seinem Werk uber „The Origin of the Distinction of Ranks", wenn er zu bedenken gibt, dass Reichtum und Luxus zu Libertinage und Zugellosigkeit der Sitten ftihre. Fur Adam Smith ([1776] 1993) ist das Eigeninteresse und das Streben nach Anerkennung und Verbesserung der eigenen Lage die zentrale Antriebskraft von Wirtschaft und Gesellschaft. Er ging davon aus, dass der Wunsch nach Anerkennung zu den ursprilnglichen Affekten des Menschen gehoi^e, aus dem sich das Bedurfois nach Verbesserung und Wohlstand (als sekundarer Effekt) ableiten liefie. Doch das Verlangen nach Reichtum sei auch ein Wetteifern um Respekt, Prestige, Position und Macht. „Die Achtung und Bewunderung der Menschen zu verdienen, zu erwerben und zu genieBen, das sind die grofiten Ziele des Ehrgeizes und des Wetteifers" {Smith [1759] 1994: 87), und eben dieses Streben, der „Wetteifer, der Sngstliche Wunsch, uns vor anderen auszuzeichnen" (ebd.: 172), so zeigt er in seiner „Theory of Moral Sentiments", droht auch die in einer utilitaristischen Welt erforderlichen ethischen Gefuhle zu verfalschen (ebd.: 86ff). Auch wenn dem Konsumverhalten die Funktion zufalle, die Gesellschaft in klar abgrenzbare Schichten zu unterteilen, so war er doch davon ilberzeugt, dass der Wohlstand des Einzelnen zum Wohlstand der ganzen Nation fllhre. Gleichwohl sah er auch, dass Wohlstand und sozialer Rang nicht vor „den Krankheiten, den Gefahren und dem Tode" schutzen (ebd.: 314). Nach „Wohlbefinden des Korpers" und „Frieden der Seele" wollen alle Menschen greifen, ungeachtet ihres sozialen Ranges, „und der Bettler, der sich neben der Landstrafie sonnt, besitzt jene Sicherheit und Sorglosigkeit, fiir welche KQnige kampfen." (ebd.: 317) Der Wunsch nach Anerkennung wird als grundlegendes menschliches Bedtlrfnis gesehen, aus dem sich das Verlangen nach Reichtum und Wohlstand ableiten lasst. Davon ausgehend, dass „there is a propensity among men to attain superiority over one another", hat John Rae ([1834] 1905: 276) aufgezeigt, wie die Menschen durch demonstrativen Konsumgenuss versucht

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sind, einander zu beeindrucken und den eigenen Rang im sozialen Gesellschaftsgefuge zu sichem. Der Gedanke wurde spater von Thorstein Veblen ([1899] 1986) in seiner „Theory of the Leisure Class" aufgegriffen, in der er zeigt, dass durch die Anhaufting von Reichtum und Giitem nichts anderes als eine angesehene Stellung in der Gesellschaft beabsichtigt werde. Weil das Eigentum „zum leicht erkennbaren Beweis des Erfolgs und damit zur gesellschafllich anerkannten Grundlage des Prestiges wird", ist es unerlasslich, Besitz zu erwerben und zu vermehren (...), um den guten Namen zu wahren", denn Reichtum werde „in der offentlichen Meinung zum Verdienst an sich" (ebd.: 45f.). Doch der „Wunsch jedes Einzelnen, alle anderen in der Anhaufting von Reichtum zu iibertreffen", wird zum circulus vitiosus, da der „neiderfuUte Vergleich (...) flir den Einzelnen nie so gunstig ausfallen (kann), daB er nicht immer noch den Wunsch nach einer hoheren Stellung und noch groBerem Ansehen verspuren wurde." (ebd.: 48) Ahnlich wie spater auch Bourdieu (1987a) sieht Veblen ([1899] 1986: 48) im „Wettlauf um Ansehen und Ehrbarkeit" ein Distinktionsbestreben, das zu den zentralen Handlungsmotiven der Menschen zahlt Das ruhelosen Streben nach Auszeichnung und Ansehen ist dabei keineswegs nur ein Merkmal der hoheren sozialen Range, vielmehr zieht sich das Verlangen nach Prestige durch alle sozialen Klassen, wobei ,jede Klasse die nachsthohere beneide und ihr nachstrebe" (ebd.: 109). Weil der bloBe Besitz von Reichtum oder Macht nicht genugt, um Ansehen zu erlangen, muss dieser auch offentlichwirksam zur Schau gestellt werden. Dies geschieht vor allem durch „demonstrativen MiiBiggang" und „demonstrativen Konsum" und die ihnen immanenten Elemente der „Vergeudung" und „Verschwendung" von Zeit, Mtihe und Giitem, denn „[n]ur Verschwendung bringt Prestige" (ebd.: 103). Sie stellen gewissermaBen die Grundmuster der Konkurrenz und Rivalitat um soziale Anerkennung. Ubersetzt man diese mehr als einhundertjahrige Erkenntnis in die heutige Zeit, so scheint sie an Aktualitat kaum eingebilBt zu haben. Hatte schon Veblen in seiner Zeit beobachtet, dass im Zuge zunehmender Urbanisierung und sozialer Differenzierung „allmahlich der Konsum als Beweis von Wohlanstandigkeit der MuBe vorgezogen" (ebd.: 94) wurde, so fmdet sich das heutige Aquivalent in der „demonstrativen Freizeitgestaltung" {Vogt 1997: 91f.): Himalaja-Trekking, Helicopter-Skying, Kreuzfahrten in die Antarktis u.A. sind die prestigetrachtigen Signen der modemen Erlebnisgesellschaft. Teurer Thrill verdrangt kontemplative MuBe. Das Wetteifern um privilegierte soziale Positionen, um Status und Ehre gehort zu den Grundformen menschlicher Verhaltensweisen.^ In verschiedenen ethnologischen und soziologischen Studien ist wiederholt darauf verwieDie vonseiten der Soziobiologie vertretene These, dass das Statusstreben gar als eine genetische Disposition zu betrachten sei (vgl. u.a. Wickler, Seibt [1977] 1991; Wilson 1975), ist auf herbe Kritik gestoBen und hat eine heftige Debatte ausgelost (vgl. u.a. Caplan 1978; Lewontin et al. 1984; Sahlins 1977).

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sen worden, dass das Streben um Anerkennung und Ehre gesellschaftskonstitutive Zilge tragt. Die Formen dieser Auseinandersetzung nehmen dabei unterschiedliche Gestalt an, sie schwanken zwischen Kampf und Konkurrenz^ und reichen von Rache- und Fehdeaktionen {Bourdieu 1979; Schroeter 1994) uber ostentativ demonstrierten Reichtum und Wohlstand in Form von Geschenken, feierlichen Zeremonien, demonstrativen Verteilungs- und Zerstorungsfesten (potlatch) (vgl. u.a. Mauss [1923/24] 1989) bis zu subtilen Distinktionsbestrebungen (vgl. Bourdieu 1987a; Veblen [1899] 1986). Meist lasst sich hinter dem Prinzip von „supply and demand in the prestige market" (vgl. Goode 1978: 46ff.) ein Tauschmechanismus erkennen, bei dem es vor allem um Macht und Kontrolle geht. Der Begriff des sozialen Status bezeichnet zumeist „die mehr oder minder hohe Stellung, die eine Person im Vergleich zu anderen Mitgliedem des jeweiligen Sozialsystems (z.B. Betrieb, Gemeinde, Gesamtgesellschaft) einnimmt" (Peuckert 1998: 380). Damit lasst sich der Status einer Person „als eine hoher oder tiefer liegende Position in einem hierarchisch geordneten System bestimmen" (Lamneck 1997; 649). Angelegt ist dieser Gedanke bereits bei den Grilndungsvatern der Soziologie. Durkheim ([1893] 1988) sieht die Gesellschaft als ein System von Gruppen, welches den funktionalen Erfordemissen entsprechend eine hierarchische Schichtung und Rangordnung (d.h. konkret bei ihm Berufsstande) sowie eine normative Integration der Gruppen verlangt. Dabei erhebt er die Moral zum gesellschaftskonstituierenden Faktor. Unter dem Gesichtspunkt einer gerechten Verteilung mit entsprechenden Gratifikationen und sozialen Wertschatzungen betrachtet er {Durkheim [1897] 1983: 283ff.) sodann auch die soziale Rangordnung, die „im sittlichen Bewusstsein der Gesellschaften" derart gestaltet sein mtisse, dass ein „vages Gefuhl" dafiir entsteht, „was die verschiedenen sozialen Dienste wert sind". Der soziale Rang bezeichnet damit die Kopplung von sozialer Position und sozialer Anerkennung. Max Weber hingegen versteht Prestige vordergriindig als ein Beziehungs- und weniger als ein Machtphanomen. Das Streben nach Macht mag haufig durch die soziale „Ehre" mitbedingt sein. „Aber nicht jede Macht bringt soziale Ehre. (...) Und andererseits ist nicht nur Macht die Grundlage sozialer Ehre. Sondem umgekehrt kann soziale Ehre (Prestige) die Basis von Macht auch okonomischer Art sein" {Weber [1922] 1985: 531). Die VerteiWahrend der Kampf darauf abzielt, den Qegner unmittelbar zu schadigen oder gar zu toten, geht es bei der Konkurrenz nicht um den Sieg iiber den Gegner. Konkurrenten beziehen sich mehr auf das Ziel als auf den Gegner. Sie kampfen „mit dem Gegner, ohne sich gegen ihn zu wenden, sozusagen ohne ihn zu berxihren" {Simmel [1908] 1983: 215). Oder anders formuliert: Konkurrenz tritt dann auf, wenn zwei oder mehr Personen um dieselbe Belohnung kampfen und der Erfolg des einen den Misserfolg des anderen bedeutet (vgl. Homans [1961] 1972: 79). Kampf und Konkurrenz sind klassische Figuren antagonistischer 0-Summenspiele, doch mit dem gewichtigen Unterschied, dass der Kampf immer auf Eliminierung des Gegners zielt und die Konkurrenz ein Ringen um ein Tertium darstellf.

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lung der durch eine „spezifisch geartete Lebensftlhrang" zum Ausdruck gebrachten „sozialen Ehre" ergibt die „soziale Ordnung", die freilich in starkem MaBe durch die okonomische Struktur bedingt ist und auf diese zurilckwirkt. Wahrend Durkheim Status eher im Kontext eines gesamtgesellschaftlichen Zuweisungsprozesses betrachtet, riickt Weber den Handlungsaspekt starker in den Vordergrund. Der Stand bzw. die standische Lage, die durch eine „positive Oder negative Privilegierung in der sozialen Schatzung begrilndet" (ebd.: 179) wird, ist bei ihm in erster Linie ein Beziehungsphanomen. Und als solches fallt ihr eine differenzierende und soziale Ungleichheiten konstituierende Funktion zu: Die standische Ordnung ist eine Gliederung nach Ehre und standischer Lebensfuhrung. Und hier sind es vor allem die „Honoratioren", die aufgrund ihrer wohl situierten Lage „eine Lebensfuhrung haben, welche ihnen das soziale »Prestige« einer »standischen Ehre « eintragt und dadurch sie zur Herrschaft beruft." (ebd.: 547). Das heiBt m.a.W., dass (die von Weber synonym verwandten Begriffe) Ehre und Prestige ihren gewichtigen Anteil an der stratifikatorischen Differenzierung der Gesellschaft tragen. Unmittelbar an Weber, aber auch an Durkheim anknilpfend, versteht Parsons ([1939] 1986: 188) den Status vor allem als den „»Standort« des individuellen Aktors in der »Sozialstruktur«". Schon frilh wies er darauf hin, dass jedes soziale System „ein bestimmtes, auf moralischer Wertung beruhendes Rangordnungssystem" {Parsons [1940] 1968: 183) besitzt und die Mitgliedschaft in einem solchen den Status defmiert {Parsons 1972: 24). Diesen sieht er ([1940] 1968: 187ff.) als eine „Resultante" gemeinsamer Wertungen, der auf der Grundlage 1. der Mitgliedschaft in einer Verwandtschaftsgruppe, 2. der personlichen Eigenschaften, 3. der Leistungen, 4. des Eigentums, 5. der Autoritat und 6. der Macht zuerkannt wird. An anderer Stelle hat er diese sechs Statusgrundlagen zu einer trinomischen Einheit zusammengefasst, wenn er den Status insbesondere nach dem „Rang in der Schichtungsskala", nach dem „Verhaltnis von Struktur von Autoritat und Rechten" sowie nach der „Stellung in bezug auf defmierte RoUen" ausgerichtet sieht, wobei eine „solche »Position« (...) nur dann »Status« heiBen (soli), insofem sie durch eine gemeinsame Wertorientierung sanktioniert, insofem sie »institutionalisiert« ist" (Por^on^ [1939] 1986: 188f).'' Mit einem derartigen Statusbegriff ist Parsons noch der dem spateren schichtsoziologischen Verstandnis vorausgehenden und vor allem in der anglo-amerikanischen Literatur beheimateten Begriffsbestimmung verhaftet, die den Status haufig synonym zum Begriff der sozialen Position verwandt hatte. Das gilt insbesondere fflr die vage und irrefuhrende Definition von Linton:

Im Wortlaut nahezu identisch heiBt es zuvor: „So ist im Status einer Person sowohl ihre Rolle, ihre Stellung beziiglich Autoritat und Rechten sowie ihre Position in der Schichtungsskala in kollektiv anerkannter Weise vereint" {Parsons: [1939] 1986: 49f.).

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„A status, as distinct from the individual who may occupy it, is simply a collection of rights and duties. (...) A role represents the dynamic aspect of status. The individual is socially assigned to a status and occupies it with relation to other statuses. When he puts the rights and duties which constitute the status into effect, he is performing a role. Role and status are quite inseparable, and the distinction between them is of only academic interest." (Z,w?o« 1936: 113f.)

In der deutschsprachigen Soziologie hat Dahrendorf (\974) die von Linton gesetzte Einheit von Rolle und Status durchbrochen, indem er zwischen Position und Rolle unterschied und den Status damit wieder als eine „Position in einer hierarchischen Skala des sozialen Prestiges" zuruckholte, wie er zuvor schon von Kluth (1957) und Goodenough (1969) herausgearbeitet wurde. Sozialer Status „bezeichnet namlich genaugenommen nicht nur eine spezielle Art von Positionen, sondem eine Position von Positionen. Nicht ein Mensch, sondem eine Position (z.B. ein Beruf) hat Prestige und in diesem Sinne einen »Status«" {Dahrendorf \91 A: 68, Anm. 68). Status und Prestige werden von Kluth begrifflich getrennt. Der soziale Status bezeichnet „eine genau begrenzte Teilhabe an einem zentralen gesellschaftlichen Ordnungswert, die den sozialen Standort des einzelnen in einem hierarchisch gegliederten Gesellschaftsgefuge bestimmt und kennzeichnet" {Kluth 1957: 6). Er bezeichnet somit „alle Momente (...) der sozialen Ungleichheit, die mit den Positionen verbunden sind oder vorstellungsmaBig verbunden werden" {Kluth O.J.; 145). Dabei beruht die soziale Stellung des Einzelnen „ausschlieBlich auf seiner Zugehorigkeit zu einer Schicht, die als Schicht am Sozialprestige partizipiert" {Kluth 1957: 35). Prestige hingegen „meint die wertmaBige Abstufung der jeweiligen Hierarchic Oder das MaB an Wertschatzung, das einer Position innerhalb der Hierarchic zugestanden wird" {Kluth 1964: 535).^ Damit ist jeder Status mit einem spezifischen Prestige verbunden, wobei die Hohe des Prestiges einer Position zum einen von der GroBe des Einflusses auf andere, also von der Macht abhangt, zum anderen aber auch ihrerseits durchaus eine Quelle von Macht sein kann (vgl. Kluth o.J.: 154; Lenski [1966] 1977: 71f.; Weber [1922] 1985:531). Wahrend Goode (1978: 7) unter Prestige „the esteem, respect, or approval that is granted by an individual or a collectivity for performancees or qualities they consider above the average" versteht, wird in der Soziologie zur sozialen Ungleichheit zwischen dem aus der Bewertung personlicher EigenBezog sich die ursprungliche Bedeutung des Prestige-Begriffes auf unvemunftige bzw. zweifelhafte Wirkungen, die auf die von Gauklem und Scharlatanen durch ihre Kunstfertigkeiten erzielten Sinnestauschungen zuriickzufuhren waren, wurde der Begriff erst im 19. Jahrhundert in den politisch-sozialen Sprachgebrauch eingefiihrt und zunachst in Anaiogie des nicht vemunftig Erklarbaren als negativ empfundener Einfluss, den ein Mensch oder eine Gruppe auf andere ausiibt (Kluth 1964; 534f,), resp. als Einfluss, „den eine Personlichkeit in hervorragender Stellung oder mit besonderen Leistungen auf das BewuBtsein und Verhalten anderer ausstrahlt" (Feldhoff\9^9: 1308), benutzt.

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arten und individuellen Verhaltens resultierenden personlichkeitsbestimmten Prestige und dem aus der Bewertung sozialer Positionen (z.B. Berufsposition) resultierenden positionsbestimmten Prestige unterschieden (vgl. Bolte, Hradil 1988: 269). Davon ausgehend, dass „a status may be ranked on a scale of prestige, according to the amount of social values that is placed upon it relative to other statuses in the same sector of social life" {Goffman 1951: 294), ist in der empirischen Sozialforschung immer wieder der Versuch untemommen worden, das Prestige mittels komplexer Verfahren anhand multipler Prestigeindizes zu operationalisieren (vgl. Moore, Kleining 1960; Wegener 1988). Sofem man den Begriff Prestige jedoch nicht auf eine bestimmte Position verengt, sondem eine Vielzahl sozial relevanter Positionierungen im vertikalen und horizontalen Ungleichheitsgefuge berilcksichtigt, erschwert das zwar die Operationalisierung,^ bietet aber die Moglichkeit, Prestige resp. Sozialprestige als ein gesellschaftliches Ordnungsprinzip (vgl. Kluth 1957: 35) zu verstehen, das nicht mit personlichen Qualitaten verkniipft ist und nicht aus dem Individualprestige erwachst, sondem durch aufiere Zeichen ausgelost vi^ird (vgl. Goffman 1951). Der Schlussel zum Verstandnis des Sozialprestiges ist in den allgemeinen (und nicht wie beim Individualprestige in den individuellen) Werten zu suchen. „Das Sozialprestige (...) beruht wesensmafiig auf Werten, die den AUtag, das individuelle Dasein, vor allem aber die Gesamtgesellschaft transzendieren" {Kluth 1957: 21). Seine Grundlage ist „die Leistung, die auf die Verwirklichung, der fiir die Gesellschaft wesentlichen Ziele gerichtet ist" (ebd.: 26). Dabei bezieht sich Sozialprestige, als Ausdruck der Wertigkeit innerhalb eines bestimmten sozialen Systems mit seiner zugrunde liegenden Leistung entweder auf die Gesamtgesellschaft oder auf gesellschaftliche Teilbereiche. Das Sozialprestige erscheint damit im Gegensatz zum vergangenheits- und gegenwartsorientierten Charisma als zukunftsorientiert, well es sich auf Werte stiitzt, in denen „Sinn und Ziel des menschlichen Daseins beschlossen liegen" (ebd.: 22). Haben diese Werte ihren unmittelbaren Charakter verloren, beginnt das Sozialprestige zu brSckeln.

Es ist gewiss ein empirisches Problem, dass Prestige kaum objektiv messbar, sondem immer nur anhand von AuBerungen von Menschen ilber Menschen fassbar ist. Dennoch ist in der empirischen Sozialforschung immer wieder der Versuch untemommen worden, das Prestige mittels komplexer Verfahren anhand multipler Prestigeindezes zu operationalisieren, Vgl. dazu ausflihrlicher Wegener (1988), zur Kritik von Prestigeordnungen vgl. Kreckel {1997: 87 ft).

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Das Sozialprestige ist im Unterschied zum Individualprestige' nicht an personliche Qualitaten gebunden. Als ein „eigenstandiges gesellschaftliches Ordnungsinstrument" stiltzt es sich auf flir die ganze Gesellschaft zentrale Werte. Seine Grandlage ist im Wesentlichen „die Leistung, die auf die Verwirklichung der ftir die Gesellschaft wesentlichen Ziele gerichtet ist" {Kluth 1957: 26). Weil das Sozialprestige eben nicht unmittelbar an personliche Qualitaten gekniipft ist, sondem auf Zugehorigkeit einer Schicht beruht, und well der Zusammenhang von Leistung und bestimmten Personen oftmals nicht mehr offenkundig wird, bedarf es sichtbarer Symbole, um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, damit das Sozialprestige einsichtig und wirksam bleibt. Infolgedessen geht es darum, „die Schicht als Schicht und damit die Schichtangehorigen als Schichtangehorige durch auBere Zeichen" sichtbar zu machen. Denn Zeichen reprasentieren und produzieren Distanz, d.h. sie „verdeutlichen nicht den »Wert«, sondem den »Stellenwert« des Menschen in bezug auf die alle umschlieBende gesellschaftliche Ordnung" (ebd.: 35f). Insofem stiltzt sich das Sozialprestige auf das rechte Mischungsverhaltnis von Nahe und Distanz. Einerseits bedarf es einer notigen Distanz, „um jenen Grad von Unzuganglichkeit zu gewinnen und zu halten", und andererseits „zerreiBt der Zusammenhang zwischen den von alien gemeinten Werten und den spezifischen Leistungen der dem »Blickfeld« entrilckten Personen oder Schichten", wenn die Distanz zu groB wird und ,jedes Zuviel und jedes Zuwenig kann Verlust oder Schwachung der eigenen Position im sozialen Kraftefeld bedeuten" (ebd.: 33).

3. Status, Prestige und Ehre aus (friiher) alternssoziologischer Sicht Der Statusbegriff ist von der Alternssoziologie wiederholt aufgegriffen worden, der Umgang damit freilich ist vielfaltig: Zum einen verharrt ein solcher In der Soziologie wurde Prestige von Georg Simmel ([1908] 1983: 136f.) als „individuelle Kraft (Superioritat)" eines Einzelnen verstanden, die zu spontaner und bedingungsloser Gefolgschaft fuhrt. Dainit liegt er in geistiger Nahe zu Mca Webers ([1922] 1985: 140) Charisma-Begriff, der ftir eine auBeralltagliche Ftihrungsqualitat steht. In einem ganz ahnlichen Sinne fiihrt Leopold (1916: 103) das Individualprestige auf einen fur andere prinzipiell unzuganglichen Wert zuruck, wodurch eine gewisse Distanz zwischen Prestigeinhaber und Beeinflussten entsteht. Nach seinem Verstandnis ist das Prestige assoziativ auf die dem Prestigeinhaber nahe stehenden Personen iibertragbar. Der Trager des assoziativen Prestiges gewinnt sein Prestige nicht „auf Grund der Teilhabe an den Werten und Leistungen des ursprilnglichen Prestigetragers, sondem auf Grund der Tatsache, daB man ihn - falschlich mit dem ursprilnglichen Trager des Prestiges identifiziert" {Kluth 1957: 16f). Infolgedessen erlischt das assoziative Prestige, wenn die falschliche Identifilcation nicht mehr aufrecht erhalten werden kann.

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Riickgriff in mikrosoziologischen rollentheoretischen Uberlegungen, zum anderen wird er auch in allgemeinen Theoriebildungen wie etwa der Disengagementtheorie oder der Modemisierungstheorie aufgegriffen. Nach Rosenmayr (1978a: 34) „bedeutet Alter einen Status, der sich aus Zeitspannen im individuellen und sozialen Leben ergibt, die durch Handlungen, Positionen und spezifische Entscheidungen charakterisiert werden", wobei er (1978b: 114) den Status als „die Wertschatzung oder Geltungshohe, die durch soziale Gliederung hergestellt bzw. zugewiesen wird", definiert. Einen ahnlichen Ansatzpunkt wahlt Tews (1971: 49), fur den eine „soziologisch-sozialpsychologische Bestimmung des Altems (...) von im Verhaltnis zur Zeit des mittleren Erwachsenenalters veranderten, Rollen, Positionen und verandertem Status aus(geht)". Eines der fruhesten Werke, das sich mit dem sozialen Status altere Menschen auseinander setzt, ist die klassische ethnogerontologische Studie von Leo W. Simmons uber „The Role of the Aged in Primitive Society". Unter expliziter Anlehnung an das von Linton gepragte Rollen- und Statusverstandnis versucht er auf der empirischen Grundlage unterschiedlicher Materialien (u.a. Reiseberichte, Monografien) von 71 Volkem und Stammen „to study the ways in which various primitive societies have ascribed positions of security and prestige to the aged, and in what ways old people have been able to achieve such stakes through personal initiative" {Simmons [1945] 1970: V). Seinen Erkenntnissen zufolge hangen Einfluss und Macht im Alter im Wesentlichen von den drei Faktoren der individuellen Fahigkeiten und Initiativen, dem Geschlecht sowie von einer gtinstigen Kombination sozialer und kultureller Bedingungen ab (ebd.: 130). Im Einzelnen unterscheidet er acht grundlegende EinflussgroBen („the assurance of food", „property rights", „prestige", „general activities", „political and civil activities", „the use of knowledge, magic, and religion", „the functions of the family" und „reactions of death"), die in ihrem kombinierten Wechselspiel Status und Rolle der Alten bedingen. Er zeichnet ein insgesamt positives Bild der Alten in „primitiven Gesellschaften", wenn es bei ihm heiBt: „(...) it can be stated explicitly that in primitive societies aged men and women have been generally regarded as repositories of knowledge and imparters of valuable information, as specialists in dealing with the uncertain aleatory element, and as mediators between their fellows and the fearflil supernatural powers. These qualifications have operated to give them key positions in a wide range of social activities. They have been esteemed as experts in solving the problems of life. They have supervised and instructed in the arts and crafts; and have initiated hazardous and important undertakings, such as housebuilding, boat construction, the planting and harvesting of crops, and warfare. They have been in constant demand for treating diseases, exorcising spirits, working charms, controlling the weather, conjuring enemies, and predicting the future. They have been accredited officiators in the great events of life, such as childbirth, child-naming, initiations, weddings, funerals, and the »laying of ghosts.« They have also functioned frequently as leaders at social gatherings, and as directors of games, songs, dances, and festivals. In fact, hardly any of the great and critical occasions of life have not been presided over and supervised by some aged men or

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women. Truly have they been the guardians of life's emergencies, the custodians of knowledge, and the directors of ceremonies and pastimes. In possession of such great influence, they have been the chief conservators of the status quo. And finally, after death, they have become supernatural agents themselves, still expert in the tried and tested wisdom of the ages, and very jealous of any young upstarts who might presume to challenge or change the ancient folkways." (Simmons [1945] 1970: 175f) Mit dieser Einschatzung wurde ein in der Altersforschung lang andauemdes, positives Bild uber die Stellung der Alten in friiheren Kulturen zementiert, das auch in nachfolgenden sozialanthropologischen Studien eher zu begrunden als infrage zu stellen oder zu kritisieren versucht wurde. 3.1

Modernisierungstheorie

In den frtlhen rollentheoretischen Ansatzen der Altemsforschung fand die Vorstellung von einem ehemaligen goldenen Zeitalter der alteren Menschen eine bereitwillige Aufnahme. In zugespitzter Form heiBt es bei Burgess: „In all historical societies before the Industrial Revolution, almost without exception, the aging enjoyed a favorable position. Their economic security and their social status were assured by their role and place in the extended family. The extended family was often an economic unit of production, frequently a household unit, and always a cohesive unit of social relations and of reciprocal services between the generations. But the balance of prerogatives of property, power, and decision making belonged to the aging. This Golden Age of living for older persons was disturbed and undermined by the Industrial Revolution." {Burgess 1962: 350) Die hier vertretene These, dass die Prozesse der Urbanisierung, Industrialisierung, Biirokratisierung, Veranderung von der erweiterten zur Kernfamilie, Zunahme von Freizeit und Lebenserwartung zu einer Statusreduktion der Alteren beigetragen habe, fand in der ethnogerontologischen Modemisierungsdebatte der 70er-Jahre starke Beachtung. Das gilt auch fur die Annahme von Rosow (1962), dass altere Menschen in traditionalen Kulturen sozial integriert und sozial anerkannt waren, wahrend sie in den modernen Gesellschaften vor allem einen zunehmenden RoUenverlust hinzunehmen hatten. Die Vertreter der Modemisierungshypothese gehen von einem durch den Ubergang vom landwirtschaftlich zum industrialisiert gepragten Gesellschaftsmodell verursachten Funktionsverlust im Alter aus. Das Modell ist von der Annahme geleitet, „that the role and status of the aged varies systematically with the degree of modernization of society and that modernization tends to decrease the relative status of the aged and to undermine their security within the social system." (Cowgill 1972: 13) Es geht davon aus, dass die Alten in Agrargesellschaften einen hoheren sozialen Status und umfangreichere soziale Funktionen innehaben als die Alten in urbanen bzw. in industrialisierten Gesellschaften. Dahinter verbirgt sich die Annahme, dass die durch Industrialisierung und Urbanisierung in Gang gesetzten sozialen Erosions-

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prozesse der erweiterten Familie deren soziale Funktionen beraubten und damit auch den sozialen Status der Alten verminderten. So sehen Maxwell und Silverman (1970) den hohen Status der Alten in traditionalen Gesellschaften vor allem durch das AusmaB der Kontrolle uber die gesellschaftlichen Informationsquellen begriindet. Davon ausgehend, dass die soziale Wertschatzung eines Menschen zu groBen Teilen von seinem Wissen und seinen kulturellen Kompetenzen abhangt und sich in seinem sozialen Handeln ausdriickt, sehen sie den Status der Alten in einem direkten Bezug zu ihrer Teilhabe am sozialen Gemeinschaftsleben. Da jedoch im Modemisierungsprozess das bestehende Wissen immer schneller veralte und althergebrachte Kenntnisse zunehmend auf artifiziellen Datentragem (Biichem, Archive, Computer) archiviert werden, ware das Wissen der Alten von nur noch geringem Wert,* was sich folglich in einem verminderten Status der Alteren niederschlage: „The big rate of informational obsolescence is reflected in a decline in their social participation. The low incidence of social participation in turn contributes to their loss of status." {Maxwell. Silverman 1970: 380)

Auch Press und McKool (1972) gehen davon aus, dass die Alten in traditionalen Gesellschaften durch eine kontinuierliche RoUenakkumulation eine hohe Wertschatzung erfahren. Das Ausiiben hochster politischer Amter, ritueller Handlungen sowie die Kontrolle uber gemeinschaftliche Gilter sichere ihnen bis in hohe Alter eine anerkannte soziale Position, die selbst bei einsetzender physischer Schwache nicht gemindert werde. Wenn sich jedoch die traditionellen sozialen Strukturen nachhaltig verandem, so wurde der Status der Alten gemindert, und zwar durch die dann einsetzende sozio-okonomische Heterogenitat, Unterschiede und Diskontinuitaten der okonomischen Interessen von Vatem und Sohnen, die zunehmend Jiingeren angebotenen Kontrollpositionen, die quantitative und qualitative Verminderung zugeschriebener Rollen im Allgemeinen, die Unabhangigkeit der Kemfamilie, die Zunahme auBerhauslicher okonomischer Tatigkeiten, die fruhe Verschiebung familialer Ressovircen sowie durch die Institutionalisierung und Biirokratisierung ritueller, politischer und rechtlicher Funktionen (vgl. Press, McKool 1972: 305).

Dass die Einflihrung der Schrift eine radikale Zasur in der gesellschaftlichen Entwicklung bedeutete, in deren Folge die Alten als Wissensvermittler und Traditionsspeicher an Einfluss verloren, ist in der Altemsforschung verschiedentlich hervorgehoben worden (vgl. Cowgill, Holmes 1972b: 322; Goody 1976: 128).

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Ahnlich argumentieren Cowgill und Holmes. Auch sie gehen davon aus, dass sich der Status alterer Menschen mit zunehmender Modemisierang (technischer Entwicklung, Urbanisierang, „westernization") vermindert. Ihr Modell stijtzt sich zunachst einmal auf die als allgemein und kulturunabhangig erklarten Annahmen („universals"), dass • • • • •

• • •

Alte in jeder Gesellschaft eine Minderheit in der Gesellschaft darstellten, der Anteil alterer Frauen jeweils hoher sei als der Anteil alterer Manner, Verwitwete einen hohen Anteil der alteren Bevolkerung ausmachten, in alien Gesellschaften einige Menschen als alt klassifiziert und aufgrund dieser Klassifiziemng anders behandelt wilrden als jiingere Menschen, es eine weit verbreitete Tendenz gabe, altere Menschen starker in beratende und kontroUierende Funktionen einzubinden, die eine geringere korperliche Anstrengung erforderten und mehr dem Gruppenerhalt als der okonomischen Produktion gewidmet seien, in alien Gesellschaften einige Alte Filhrungsfiinktionen auf politischer, rechtlicher und Gemeindeebene beibehielten, in alien Gesellschaften eine wechselseitige Verantwortung zwischen alteren Menschen und ihren erwachsenen Kindern vorgegeben sei, alle Gesellschaften das Leben hoch schatzten und es auch noch im hohen Alter zu verlangern versuchten (vgl. Cowgill, Holmes 1972b; 321).

Ihre zentrale These der Statusminderung alterer Menschen im Modemisierungsprozess wird von einer ganzen Reihe von Hypothesen begleitet, von denen hier nur einige wenige exemplarisch genannt sein sollen. So gehen sie davon aus, dass die Alten in Gesellschaften mit ausgepragtem Ahnenkult einen hohen Status besitzen und dass in Gesellschaften mit einem geringen Anteil alterer Menschen - in denen das Alter gewissermaBen ein knappes soziales Gut sei - , das Ansehen der Alten am hochsten sei. Der Status wird als umgekehrt proportional zum Grad des sozialen Wandels gesehen, so dass dieser in agricolaren, statischen Gesellschaften hoher sei als in urbanisierten, mobilen Gesellschaften, weil die Alten dort die Chance batten, ihre althergebrachten, erprobten und bewahrten Kenntnisse und Fertigkeiten kontinuierlich in ntjtzlichen und geschatzten sozialen Funktionen einzubringen. Zudem sei die erweiterte Familie traditionaler Gesellschaften mit der patriarchalen Stellung des Familienoberhauptes fiir die Alten statusforderlicher als die Kemfamilie. Mit der Modemisierung verlagere sich die Verantwortlichkeit fllr die praventiven MaBnahmen zur sozialen Sicherheit der abhangigen Alten von der Familie auf den Staat. Femerhin konstatieren sie, dass im Zuge der Modemisierung zwar die Anzahl der Alteren an der Gesamtbevolkerung zunehme, ihr Anteil in Ftlhrungspositionen jedoch abnehme. Gleichsam betrachten sie den sozialen Ruckzug (disengagement) alterer Menschen als eine Begleiterscheinung der Modemisierung und machen das individualistische Wertesystem der westlichen Gesellschaften dariiber hinaus dafilr verantwort-

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lich, dass Sicherheit und Status alterer Menschen reduziert werden (vgl. Cowgill, Holmes 1972b). Der in diesem Modell noch weitgehend vage bleibende Begriff der Modemisierung wurde dann spater von Cowgill prazisiert: „Modemization is the transformation of a total society from a relatively rural way of life based on animate power, limited technology, relatively undifferentiated institutions, parochial and traditional outlook and values, toward a predominantly urban way of life based on inanimate sources of power, highly developed scientific technology, highly differentiated institutions matched by segmented individual roles, and cosmopolitan outlook which emphasizes efficiency and progress." (Cowgill 1974; 127)

In dieser von ihm selbst so bezeichneten „Revision der Theorie" ruckt Cowgill - ahnlich wie Palmare und Manton (1974)' - mit der Gesundheitstechnologie, der okonomischen Technologie, der Urbanisierung und der Bildung vier Prozesse in den Vordergrund, die allesamt nachhaltige Wirkungen auf den Status alterer Menschen haben. Die Fortschritte in der Gesundheitstechnik, zu denen er neben den medizinischen Versorgungstechniken auch die Altersvorsorge und die Emahrung zahlt, hatten zu einer erhohten Lebenserwartung und zu einem hohen Anteil alterer Menschen in der Bevolkerung gefuhrt. Daraus habe sich eine Konkurrenz der Generationen ergeben, aus der die Alteren als Verlierer hervorgegangen seien. In der Folge sei der Ruckzug aus dem Erwerbsleben - vor allem bedingt durch den damit einhergehenden Einkommens- und Prestigeverlust in einer von der Arbeitsethik gepragten Gesellschaft - ein wesentlicher Faktor fur den niedrigen Status im Alter. Der Industrialisierungs- und Modemisierungsprozess habe die sich insgesamt als flexibler und mobiler zeigenden Jungeren in eine vorteilhafte Lage versetzt, denn sie verlieBen einfach ihre Herkunftsfamilien und zogen in die Stadte, wodurch den Alten gleichsam die Fuhrung und Instruktion der Jungeren entrissen und ihre traditionale Funktion in der Familie und Gemeinde unterminiert wurden. Die durch die Urbanisierung bedingten Migrationen und sozialen Mobilitaten und die in deren Folge sich etablierende Institution der Kemfamilie hatten zu einer grundlegenden Umstrukturierung des traditionellen Statussystems gefuhrt, wobei residentale und soziale Segregationen sozialen Distanzierungen und verstarkten Abhangigkeiten Vorschub leisteten. Zunachst durch die Einfiihrung der Schrift, dann vor allem durch die sich verbreitenden (Massen-)Medien seien Institutionen herangewachsen, die eine auBerfamiliale Wissensvermittlung ermoglichten und gleichsam den Jungeren Im Unterschied zu Cowgill (1974) wird die Gesundheitstechnologie bei Palmare und Manton (1974) nicht als expliziter Modemisierungsfaktor genannt. Dennoch stutzt ihre Untersuchung die Uberlegungen von Cowgill, insofem auch sie zu der Einsicht gelangen, dass vor allem aufgrund der zunehmenden okonomischen Produktivitat, des Ubergangs von der Agrar- zur Industriekultur sowie durch das wachsende Bildungsangebot die okonomische und soziale Situation der Alteren nachhaltig negativ beeinflusst wird. Dabei messen sie jedoch der veranderten Beschaftigungsstruktur und dem wachsenden Bildungsaufkommen eine groBere Bedeutung bei als der zunehmenden okonomischen Produktivitat (vgl. Palmore, Manton 1974: 210),

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die Chance gewahrten, einen hoheren Bildungs- und damit auch Sozialstatus zu erlangen als ihre Elterngeneration. Damit sei das traditionelle Statussystem geradezu umgekehrt und die Alteren in eine intellektuelle - und in Zeiten eines dominierenden Jugendkultes auch in eine moralische - Segregation gedrangt worden. Es wurde der Modemisierungstheorie zu Recht vorgehalten, dass sie mit dem Begriffspaar traditionaler und modemer Gesellschaften Antagonismen fixiere und damit der Gefahr einer simplifizierenden Kontrastierung unterliege (Marzi 1990: 58). Daneben suggeriert sie mit der unterstellten unilinearen Entwicklung von traditionalen zu modemen Gesellschaftsformationen eine soziokulturelle GesetzmaBigkeit, die sowohl den gesellschaftUchen Modemisierungsverlauf als auch den individuellen Altersstatus vorhersagbar und kalkulierbar mache. Zudem wird mit dem unterstellten allgemein hohen Status der Alten in traditionalen Gesellschaften ein romantisierender „Altersmythos" gesttitzt, der nach den Erkenntnissen der historischen Altersund Familienforschung heute nicht mehr haltbar ist. 3.2

Disengagementtheorie

Ahnlich wie die Modemisierungstheorie ist auch die Theorie des sozialen Rilckzugs (Disengagementtheorie) auf der Folic der strukturfunktionalen Theoriebildung zu lesen. Talcott Parsons ([1942] 1968: 82) hatte den Ruhestand schon friih als eine „eigentumlich funktionslose Situation" beschrieben. Und so lobte er spater in seinem Vorwort zur Studie von Cumming und Henry (1961) die Disengagementtheorie als „probably the most serious attempt so far to put forward a general theoretical interpretation of the social and psychological nature of the aging process in American society." {Parsons 1961: V) Die Grundilberlegung dieses Modells fassen Cumming und Henry wie folgt zusammen: „In our theory, aging is an inevitable mutual withdrawal or disengagement, resulting in decreased interaction between the aging person and others in the social systems he belongs to. The process may be initiated by the individual or by others in the situation. The aging person may withdraw more markedly from some classes of people while remaining relatively close to others. His withdrawal may be accompanied from the outset by an increased preoccupation with himself, certain institutions in society may take this withdrawal easy for him. When the aging process is complete, the equilibrium which existed in middle life between the individual and his society has given way to a new equilibrium characterized by a greater distance and an altered type of relationship." {Cumming, Henry 1961: 14f,)

Der Kern der Disengagementtheorie stutzte sich in ihrer ersten Version (vgl. Cumming et al. 1960) auf drei Annahmen: „1. The life space of an individual decreases with age, in that he interacts with a narrower variety of role partners and spends a smaller proportion of his time in interaction. This

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proposition was later elaborated to highlight the importance of vacating the key life roles of work and family. 2. The individual anticipates this change and participates in the process, 3. The individual's preference for interpersonal rewards becomes more individualized and expressive, and less role-connected as he grows older, and thus his style of interaction changes." (Cumming 1975: 188) In einer spateren Phase der Modellbildung wurde zusatzlich angenommen, dass es zunehmend unwahrscheinlich wird, dass altere Menschen - sofem sie zuvor verpflichtende Rollen aufgegeben haben und sich in der Folge individualisierter und expressiver zeigen konnten - neue verpflichtende Rolle suchen oder fur solche gesucht wilrden. Es wird zwar von einem allgemeinen Rtickzug aus sozial gewichtigen Rollen sowie von einer stetigen Verminderung sozialer Beziehungen im Alter ausgegangen, doch gilt das nicht gleichermaBen fiiir alle sozialen Beziehungsformen: „[...] contacts with intimate kin do not diminish except when these kin are no longer available. It is probable that disengagement from kin is a shift in the quality of the relationship rather than in the amount of interaction." (Cumming, Henry 1961; 63) Zudem wird grundlegend zwischen den geschlechtsspezifisch differenzierten Ruckzugsformen unterschieden. Mannern werden eher instrumentelle und Frauen eher sozio-emotionale Rollen zugesprochen. Daraus wird abgeleitet, dass Frauen im Laufe ihres Alterungsprozesses nur Telle ihrer sozio-emotionalen Rollen aufzugeben bzw. zu verandem hatten, wahrend Manner hingegen vor allem mit dem Verlust ihrer Berufsrolle einen einschneidenden Verlust instrumenteller Rollen zu erleiden hatten Disengagement wird als ein allgemeiner, gegenseitiger und unvermeidbarer Ruckzug alterer Menschen aus den tlblichen Rollenfigurationen des mittleren Lebens verstanden. Deutlich ist hier der strukturfunktionale Ansatz von Parsons zu erkennen, werin der soziale Ruckzug als gleichsam funktional filr die Gesellschafl als auch fur den Einzelnen angesehen wird. Durch den planmaBig gestuflen Ruckzug Einzelner aus fvmktional wichtigen sozialen Rollen - insbesondere aus beruflichen Positionen - wird zum einen dem nach Gleichgewicht strebenden sozialen System entsprochen, insofem auf diese Weise den nachruckenden jungeren Generationen die nachgefragten Rollenoptionen eroffnet werden. Denn einer nach Leistungs- und Effizienzkriterien organisierten Gesellschaft, so wird argumentiert, erscheint es als unmoglich, die entscheidenden sozialen Rollen einer Gruppe zu iibertragen, deren Sterblichkeitsrate auBerst hoch sei (vgl. Cumming 1963). Zum anderen gestattet es den alter werdenden Menschen mit ihrer verminderten „ego energy" (vgl. Cumming, Henry 1961: 125ff.) eine Auseinandersetzung mit dem bevorstehenden Tod (vgl. Cumming et al. 1961: 21 Iff; Kalish 1972). Der Beginn des soziales Riickzugs wird in den mittleren Lebensjahren angesetzt, wenn die Unvermeidbarkeit des Todes verstarkt wahrgenommen werde. Das deutliche Begreifen der Mortalitat wird als Beginn des Alterungsprozesses

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gesehen (vgl. Cumming 1963). Damit wird das Alter als eine eigenstandige Lebensphase anerkannt. Der Hinweis auf die Unvermeidbarkeit des Todes wird zum Anlass genommen, den sozialen Rtlckzug nicht als primar sozial determiniert, sondem durchaus als individuell gewollt zu betrachten. Und so werden der Riickzug auf einen sozial begrenzten Lebens- und Interaktionsraum und der Verlust sozialer Verbindungen auch nicht als soziale Deprivation betrachtet, sondem als „a greater freedom from the norms that confrol everyday interaction" {Cumming, Henry 1961: 46; vgl. Cumming 1963). Mit der Annahrae, dass die alteren Menschen aufgrund ihrer sowohl physisch als auch psychisch bedingten Abbauprozesse ihr Engagement in der Arbeitsgesellschaft reduzieren und ihre verminderte Lebensenergie als unabanderlich wahmehmen, orientiert sich die Disengagementtheorie durchaus am Leitbild eines weitgehend defizitar gepragten Altems. Entgegen den Vorstellungen der Aktivitatsthese, wird hier in Zweifel gezogen, dass die individuelle Zufriedenheit und soziale Wertschatzung im Alter von den praktizierten Aktivitaten abhangt. Vielmehr wird die Frage aufgeworfen: „Why is it not suggested instead that old people may want recognition for having been useful, for a history of successful instrumentality?" {Cumming, Henry 1961: 20). Ob das jedoch in einer sich weitgehend an einer arbeitszentrierten Ethik orientierenden Gesellschaft realistisch erscheint, bleibt fragwurdig. In der Arbeitsgesellschaft sind Leistung und Arbeit nicht nur in der okonomischen Produktion die zentralen Leitmotive, sondem auch im sozial-kulturellen und lebensweltlichen Bereich des Alters. Auch wenn die Vertreter der Disengagementtheorie in spateren Ausfiihrangen ihres Konzeptes (vgl. Cumming 1963; Henry 1964) die Freiwilligkeit des sozialen Rtickzugs relativieren und sich durch die ins Kalktll gezogene gesellschaftliche Zwangsausgliederung der Version des Aktivitats- bzw. Ausgliedemngskonzeptes annahern, impliziert ihr Rtickzugsmodell zugleich auch eine Befreiung von einem Aktivitatszwang. „The implicit trade-off for the aging individual is that in giving up obligatory roles he gains freedom as he loses centrality" {Cumming 1975: 188). Die Disengagementtheorie ist in der Altemsforschung kontrovers aufgenommen und oft kritisiert worden. Die Kritik richtete sich dabei vor allem darauf, dass der soziale Riickzug nicht als ein allgemeiner und unumkehrbarer Prozess verstanden werden karm. Entschiedene Kritik erflihr auch die spater von Cumming (1975) als falsch interpretiert zuriickgewiesene Annahme, dass der soziale Riickzug im Alter der einzig Erfolg versprechende Weg sei, im Alter eine gute geistig seelische Verfassung (morale) zu erlangen. Fast 40 Jahre nach der ursprunglichen Formuliemng der Theorie des sozialen Ruckzugs ist es heute unstrittig, dass ein disengagement weder ein naturlicher, noch ein unumkehrbarer Riickzug ist, sondem vielmehr aus Mangel an Moglichkeiten einer kontinuierlichen sozialen Eingebundenheit in sozial verantwortlichen Positionen resultiert. So wurde auch schon fruh von Streib

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und Schneider (1971) vorgetragen, dass ein „differenzieller sozialer Ruckzug" (differential disengagement) wesentlich wahrscheinlicher sei als ein „totaler sozialer Ruckzug" (total disengagement). Damit tragen sie der Beobachtung Rechnung, dass sich altere Menschen zwar aus einigen sozialen Aktivitaten und Positionen zuruckziehen, gleichzeitig aber ihr Engagement in anderen Bereichen erhalten oder gar steigern. Im Gefolge der heftig entfachten Debatte um die Gultigkeit der Disengagementtheorie traten vor allem auch durch die „semantische Konfusion" um den Terminus technicus disengagement viele Missverstandnisse auf, wenn sozialer Rtickzug mit Isolation, Einsamkeit, Randstandigkeit oder Passivitat gleichgesetzt wurde. So sah sich Cumming dazu veranlasst, derartige Irritationen aufzuklaren. Zwar sei durchaus zuzugestehen, dass eine reduzierte normative KontroUe der Alteren zu einer Form von Marginalitat fiihren konne, gleichsam denkbar erscheine jedoch auch, dass durch die Freisetzungen im Alter Unabhangigkeit gewonnen werde, die sehr wohl aktiv gestaltet werden konne, und insofern „nothing in disengagement theory is inimical to high levels of activity, and nothing in it implies loneliness and isolation." {Cumming 1975: 190) Eine derartige Konfusion um die Begriffsbedeutung ist jedoch vor allem der nachlassig gefiihrten Bestimmung zentraler Begriffe geschuldet. Wenngleich der Kembegriff des sozialen Riickzugs (disengagement) definitorisch festgelegt wird, so bleiben andere SchliJsselbegriffe (u.a. „withdrawal of normative control", „culture-free" / „culture-bound") weitgehend vage und unprazise. Die schon in den 50er-Jahren vorgetragene These der „rollenlosen AltersroUen" {Burgess 1950) fand auch uber die Disengagementtheorie hinaus ihre aufmerksamen Zuhorer. So betrachten z.B. Rosow (1974: 117ff.) - wie spater auch Woll-Schumacher (1980) - den Rollenverlust im Alter als einen Prozess, der zu einer fortlaufenden Schwachung der individuellen Position in der Gesellschaft filhrt. Zwar konnen z.B. durch Verwitwung oder Verrentung bedingte Rollenverluste zu einer erhohten sozialen Teilhabe fiihren, wenn die Alteren durch die Hinwendung zu anderen sozialen Gruppen ihre erlittenen Verluste funktional zu substituieren versuchen (vgl. Rosow 1967), doch der Verlust sozial gewichtiger Rollen kann seiner Einschatzung nach im Alter nicht aufgefangen werden, well es einen Mangel an altersrelevanten sozialen Rollen gibt und damit die Rollentibergange im spateren Leben nicht zu sozialflinktional bedeutenden Rollen fiihren. Der Ubergang in die Lebensphase des Alters unterscheidet sich von anderen Statuspassagen, weil es sich hierbei um den Ubergang zu einer sozial abgewerteten Position mit unklaren Normen, RoUendiskontinuitat und Statusverlust handelt (vgl. Rosow 1974: 117f). Folglich konne es auch keine angemessene Sozialisation alterer Menschen geben, weil es keine klaren Verhaltenserwartungen fiir altere Menschen gibt und weil die Alteren weder Gelegenheit noch Verlangen danach hatten.

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Der Verlust sozialer Rollen, so argumentiert Rosow (1976: 466f.), „excludes the aged from significant social participation and devalues them. It deprives them of vital fiinctions that underlie their sense of worth, their selfconceptions and self-esteem. In a word, they are depreciated and become marginal, alienated from the larger society." In einer Gesellschaft, in der die Menschen vor allem iiber ihre okonomische Nutzlichkeit sozial verortet und gratifiziert werden, werden altere Menschen koUektiv stigmatisiert, well sie nur eine marginale Niitzlichkeit - sowohl okonomisch als auch sozial - besitzen. Damit wird das Alter zu einer Lebensphase, in der ein „systematischer Statusverlust fiir eine ganze Kohorte" eintritt. Alle vorherigen Lebensphasen waren durch ein stetiges soziales Wachstum (social growth) gekennzeichnet, in denen es Zuwachse an Kompetenzen, Verantwortung, Autoritat, Privilegien, Belohnungen und Prestige gab. Der Statusverlust im Alter sei der erste systematische Bruch dieser Entwicklung. „Not only are the gains and perquisites disrupted, but the sheer loss of [prestige] actually reverses the trend. People pass through a vague period of transition in which they are redefined as old and obsolete" (Rosow 1976: 466).

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Tauschtheorie

Aus der Perspektive der Tauschtheorie wird das Alter vor allem im Zusammenhang mit abnehmender Macht diskutiert (Dowd 1975; Martin 1971). So geht Dowd davon aus, dass sich mit zunehmendem Alter die Machtressourcen vermindem und altere Menschen dadurch zunehmend unfahig werden, in ausgeglichene Austauschbeziehungen zu anderen Generationen zu treten. In dieser Lesart ist der soziale Rtickzug alterer Menschen das Resultat einer Reihe von Austauschbeziehungen, in der sich die relative Macht der alten Menschen gegentiber ihren Tauschpartnem zunehmend verringert. Die abnehmenden Interaktionen werden nicht nur als Resultat des Ausstiegs aus dem Erwerbsleben, des Partnerverlusts und der nachlassenden Gesundheit gesehen, sondem auf einen komplexen Austauschprozess zwischen der Gesellschaft und den Alteren zuriickgefiihrt, der von den machtabhangigen Beziehungen herriihrt. Es gehort zu den Grundeinsichten der soziologischen Tauschtheorie, dass Akteure in ihrem Handeln danach streben, soziale und materielle Kosten zu reduzieren und Belohnungen zu maximieren (vgl. Homans, Blau). Demnach werden soziale Beziehungen tiber die Zeit erhalten, well sie Gewinn versprechen. Beim Tauch geht es immer um einen kalkulierten Werteinsatz mit dem Bestreben „daB die Wertsumme des Nachher groBer sei als des Vorher" {Simmel [1900] 1958: 34). Die dabei einkalkuHerten Kosten beziehen sich zum einen auf die im Verlaufe der Belohnungserlangung erfahrenen negativen Werte oder Unerwtlnschtheiten und zum anderen auf die mit der zu die-

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sem Zwecke verbundenen Aufgabe eines altemativen Handlungsverlaufs. Auch der Profit des sozialen Tausches ergibt sich aus der Differenz von Belohnungen minus Kosten. Ftir das gesellschaftliche Handeln alterer Menschen hieBe dies, dass sie ihre (freiwilligen) sozialen Tauschbeziehungen nur so lange fortfiihren, wenn dieses Tauschgesciiaft mehr Belohnungen als Kosten abwirft. Die Tauschtheorie lehrt auch, dass derjenige, der weniger von dem Tauschgeschaft abhangt, einen gewissen Machtvorteil genieBt und von seinem Tauschpartner eine gewisse Gefolgschaft bewirken kann. „In the case of the aged, decreased social interaction is the eventual result of a series of exchange relationships in which the relative power of the aged vis-a-vis their social environment is gradually diminished until all that remains of their power resources is the humble capacity to comply. Where once the now-retired worker was able to exchange expertise for needed wages, the final exchange required of most older workers would be their compliance (in the form of acquiescence to mandatory retirement) as exchange for sustenance (Social Security, Medicare, etc.)-" {Dowd 1975: 587)

In der schnelllebigen Zeit modemer Gesellschaften besteht ein konstanter Bedarf nach aktuellem Wissen und technologischer Innovation. Und das Wissen alterer Menschen wird hier schnell obsolet, wenn es nicht standig a jour gehalten wird. Die sozialen Rezepte des Gestern taugen im Heute nur bedingt. In den archaisch statisch-stabilen Gesellschaften mag die Sachkenntnis der Alten fur Prestige und Ehre gereicht haben, mit der Industriellen Revolution und der damit einhergehenden Spezialisierung wurde auch das fragil. Die Alltagserfahrung verlor an Wert, erschien nicht langer als gratifikationsfahig. Der ehemalige Machtvorteil der Alten schwand, nicht zuletzt auch deshalb, well in die potenziell marktfahigen Ressourcen und Kompetenzen der Alteren erst gar nicht investiert wurde. Stattdessen wurde der Ruhestand als ein gesellschaftlich unvermeidbares Ereignis konstruiert, das den Alteren als Gegenleistung fur den Verzicht auf gesellschaftlich anerkarmte Berufspositionen neue Freiraume eroffhete. Die Gesellschaft tauscht hier teure Freizeit gegen Arbeitsplatze (vgl. Doyvd 1975: 588). Das Tauschgut der Alteren ist der Rilckzug aus gesellschaftlich anerkannten sozialen Positionen, als Gegenleistung erhalten sie materielle und soziale Sicherheit (u.a. Renten- und Pensionszahlung, Gesundheitsversorgung) in der Lebensphase Alter. Soweit entspricht diese Lesart auch der Disengagementtheorie. Was in der jedoch nicht hinreichend bedacht wurde, ist der in diesem Zusammenhang stets mitspielende Machtaspekt. Die Annahme eines gleichermaBen von dem einzelnen alteren Menschen wie auch von der Gesamtgesellschaft erwunschten sozialen Riickzugs greift zu kurz, well der in diesem Tauschgeschaft eingewobene Machtvorteil seitens der Gesellschaft unberiicksichtigt bleibt. Das Tauschgut der alteren Menschen beschrankt sich in diesem Zusammenhang auf die Gefolgschaft und soziale Billigung normativer Vorgaben. Die begrenzten Machtressourcen erhohen die Kosten fur weiteres Engagement

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mit dem Effekt einer wachsenden Abhangigkeit der Alteren von der tibrigen Gesellschaft und der damit verbundenen Notwendigkeit, deren Wtinsche zu befolgen. Als Dowd (1975: 592) seine tauschtheoretischen Uberlegungen zum Alter vor nunmehr dreiJ3ig Jahren vorlegte, stellte er optimistisch in Aussicht, dass kunftige altere Kohorten aufgrund des vorhergesagten hoheren Bildungsniveaus uber eine Machtressource von betrachtlicher Bedeutung verfilgen wurden. Stellt man diese Prognose heute auf den Prilfstand, so sind Zweifel erlaubt. Das Bildungsniveau der alteren Menschen ist gewiss gestiegen, mehr Macht haben sie deswegen kaum. Die einstige schichtsoziologische Gleichung von Bildung, Beruf und Einkommen geht nicht mehr vollstandig auf. Die Kopplung von Bildungsniveau und Beschaftigungssystem existiert zwar noch in weiten Teilen, doch sie ist nicht mehr selbstverstandlich. Mittlerweile ist doch eine erhebliche Statusinkonsistenz zu beobachten und seit den 80er-Jahren ist zunehmend deutlich geworden, dass neben den nach wie vor existenten vertikalen Ungleichheiten (Einkommen, Beruf und Bildung) auch andere Faktoren, so genannte horizontale Ungleichheiten (u.a. Geschlecht, Alter, Geburtszeitraum, Wohnort, Familienstand, Nationalitat), eine groBe Rolle bei der Zuweisung des sozialen Status spielen.

Erfolg und Produktivitat als symbolische Kapitalien des Alters? Die Alteren - so wird immer wieder geme betont - bildeten ein zunehmend groBer werdendes „politisches Machtpotenzial" {Deutscher Bundestag 2002: 107). Worauf aber soil sich das stiitzen? Will man den Stellenwert alterer Menschen naher betrachten, so wird man einen Blick auf ihre „Leistungen", „Potenziale", Ressourcen" und „Kapitalien" werfen miissen. Denn der Umfang und die Verfligung uber die Kapitalien gibt Aufschluss ilber die Positionierung im jeweiHgen sozialen Feld. Bourdieus (1983a) Kapitaltheorie kennt neben dem okonomische, kulturellen und sozialen auch noch das „symbolische Kapital", das sich in Form von Ansehen, Prestige, Rufe, Ehre, Reputation und Renommee auBert und als die „wahrgenommene und als legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien" (Bourdieu 1985: 11) erscheint und als eine Art Kredit oder erworbene Garantie fiir kilnftiges Handeln wirkt. Und so speist sich das symbolische Kapital alterer Menschen auch nicht aus dem bloBen Prozess des Alterwerdens, sondem aus den in diesem Prozess erworbenen gesellschaftlichen Gratifikationen. Das bloBe Vergehen von Lebenszeit ist noch nicht prestigetrachtig. Die Zeit muss „genutzt" werden, Wissen und Erfahrungen (kulturelles Kapital) miissen akkumuliert, soziale Kontakte und Beziehungen (soziales Kapital) mtlssen aufgebaut und

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finanzielle und materielle Absicherungen (okonomisches Kapital) miissen erarbeitet werden. Hinzu kommt, dass Gesundheit erhalten und der Korper trainiert sein will (korporales Kapital), um auch im Alter attraktiv und leistungsfahig zu sein. Doch die bloBe Summation dieser Kapitalien ist noch kein Garant flir gesellschafllich anerkanntes symbolisches Kapital im Alter, denn Kapitalien unterliegen immer auch einem Schwundrisiko: Kulturelle Kapitalien konnen veralten und obsolet werden, soziale Kapitalien konnen gesellschaftlich irrelevant sein, materielle Kapitalien konnen inflationieren und auch das korporale Kapital kann nachlassen. Entscheidend ist also vor allem die gesellschaftliche Nachfrage nach diesen Kapitalien und die Frage nach den „Dispositionsspielraumen" und „Opportunitatsstrukturen" alterer Menschen (Amann 2000a), innerhalb derer sie ihre Kapitalien ins Spiel bringen konnen. Engagement und gesellschaftliche Partizipation {Kiinemund 2001) setzen diese Kapitalien voraus. Die Kapitalien sind die Conditio sine qua non fur das alltagliche Interaktionsgeschehen. Insofem lassen sich die „Kulturstile alterer Menschen" {Kolland 1996) als kapitale Ausdrucksformen der Lebensfuhrung im Alter und die von der Lebenslagenforschung elaborierten „Spielraume" als Statten sozialer Kraftproben lesen. Doch auch wenn die „Spielraume" alterer Menschen in der lebenslagenorientierten Altemsforschung zunehmend ins Visier geraten, so bleiben die daraus abzuleitende soziale Stellung und der soziale Status der Alten nebulos. Die soziale Differenziertheit modemer Gesellschaften und die Heterogenitat der Lebenslagen und Lebensfuhningen erlauben hier gewiss kein einheitliches Bild. Aktuelle Studien zum Stellenwert alterer Menschen liegen kaum vor. Empirische Studien wie der Alterssurvey (Kohli, Kiinemund 2000) oder die Berliner Alterstudie {Mayer, Bakes 1996) liefem zwar detaillierte Daten zu verschiedenen Lebenslagen, eine theoriegeleitete Reflexion zum gegenwartigen Status des Alters in der modemen Gesellschaft steht indes weiter aus. Ober das „soziale Prestige der Lebensalter" {Schmalenbach 1936) wird zwar seit den Anfangen der Soziologie immer wieder nachgedacht, doch der vor allem in den 70er-Jahren behandelte Konnex von Status und RoUe alterer Menschen (s.o., vgl. Stosberg 1971) scheint irgendwie nicht so recht in die Terminologie der Sozialen Gerontologie zu passen. Und das, obgleich in jiingster Zeit verstarkt uber Potenziale und Ressourcen alterer Menschen nachgedacht wird - so z.B. im 5. Altenbericht der Bundesregierung iiber die „Potentiale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft - Der Beitrag alterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen". Alter und Status gehoren zusammen: das Altern als „eine naturhafte Veranderung des Lebendigen, die durch Verluste und Einschrankungen gekennzeichnet ist" {Rosenmayr 1989: 153) und das Alter als „Status, der sich aus Zeitspannen im individuellen und sozialen Leben ergibt, die durch Handlun-

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gen, Positionen und spezifische Entscheidungen charakterisiert werden" (Rosenmayr 1978a: 34). Will man die Debatte tiber die Positionierang und den gesellschaftlichen Stellenwert der alteren Menschen in die Soziale Gerontologie zuriickholen, so ware es ratsam, die Lebenslagen alterer Menschen als einen Markt sozialer Wechselwirkungen auf verschiedenen sozialen Feldem zu verstehen (Schroeter 2000b, 2004a). Altere Menschen bewegen sich stets in mehreren sozialen (bzw. figurativen) Feldem, in denen es auch immer um den „Kampf um Anerkennung" (Honneth), um offene oder verdeckte Auseinandersetzungen um Einfluss, Rang und Prestige geht. Es geht letztlich um Macht oder um die „relative Spielstarke" (^//a^ [1970] 1991:77) der Akteure. Auch die alteren Menschen stehen nicht ohnmachtig in einseitigen Abhangigkeiten, sondem im Flusse „fluktuierender Machtbalancen". Sie bewegen sich in einem Aktionsraum, „zwischen Autonomic und Fugsamkeit" (Marbach 2002), zwischen „spater Freiheit" und „sozialer Disziplinierung" (Schroeter 2000a). Sie sind nicht machtlos, vielleicht machtarm. Und das keineswegs alle und auch nicht auf alien Feldem oder in alien Lebenslagen. Ihre Spielstarke hangt von der Verfugbarkeit und dem strategischen Einsatz der Trumpfe ab, mit denen sie andere ausstechen konnen. Damit kommen nun unweigerlich die Ressourcen, Potenziale und Kapitalien der alteren Akteure in Spiel. Doch die Umsetzung und Verwirklichung individuell gesteckter Ziele hangt nicht nur „von der relativen Starke der Vektoren im sozialen Feld", sondem auch vom „entsprechenden Anpassungsverhalten des Individuums ab." (Furstenberg 1962: 122) Somit erhalt auch der Begriff der Handlungskompetenz Einzug in die Lebenslageforschung. Kompetenz ist aber ein reiationaler Begriff, der eine soziale Beziehung beinhaltet, „in der subjektives VermOgen und auBere Bedingungen aufeinander verwiesen sind." (Amann 2000b: 109) Und in dieser relationalen Verwobenheit (Figuration) kann Kompetenz auch Prestige erwirken, zumal dann, wenn man Prestige als Belohnung (symbolisches Kapital) fiir erbrachte Leistungen fasst: „Wer ein Mehr an (systemkonformen, u.U. knappen) Leistungen erbringt, wird mit der Milnze kollektiver Ehrung entgolten." (Wegener 1985: 210) Prestige erhalt man fur die fiir eine Gruppe oder Gesellschaft erbrachten relevanten Leistungen (Kluth 1957). Das bloBe Alterwerden ist noch nicht prestigetrachtig. Wird aber im Alter auch noch Engagement gezeigt, so wird das honoriert. Wird diese Leistung (z.B. in Form von FreiWiWigQnarbeit oder ehrenamtlicher Tatigkeit) auch noch vor den Augen der Offentlichkeit (zumindest einer Teiloffentlichkeit) erbracht, so wird sie auch (teil-)6ffentlich wertgeschatzt und in symbolisch aufgeladenen Ehrerbietungsritualen (Goffman [1967] 1994) in symbolisches Kapital (Bourdieu 1979, 1983b; 1987a, 1987b: 205ff.) transformiert. Doch diese Wertschatzung muss erarbeitet werden.

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So stellt Tartler (1961: 123, 126) fest, dass altere Menschen „m unserer modernen Wohlstands- und Konsumgesellschaft" von einem steten Verlangen nach Konsum und „Teilnahme an den Zivilisationsgutem des modemen Lebens" geleitet sind und durch ein demonstratives Konsumverhalten und eine entsprechende Zuordnung zu Konsumentengruppen gewissermaBen „Ersatzleistungen des sozialen Prestiges und der sozialen Einordnung" erzielen wollen. Er zweifelt jedoch daran, „daB die Entwicklung und Leistungssteigerung des modemen Wohlfahrtsstaates zu einer ebenso steigenden Verbesserung des Rentnerdaseins der alten Leute fiihren mtisse." Vielmehr sieht er ein „strukturelles Konfliktelement zwischen modemem Altersideal und gegenwartiger Alterswirklichkeit" {Tartler 1961: 124), well dem alteren Menschen mit der Berufsausgliederung die materielle Grundlage der Bedilrfnisexpansion fehlt. Auch wenn Tartler (1961: 147) Zweifel daran erhob, „ob so tiefe soziale menschliche Grundbedilrfnisse, wie das der sozialen Anerkennung, der Leistungs- und Wertbestatigung der Person, durch organisierte Freizeitbeschaftigungen im gleichen Mafie erfiillt werden konnen wie durch das berufliche Leistungs- und WertbewuBtsein", wurde das Aktivitatskonzept in den 70erJahren verstarkt als Instrument im Kampf gegen das Defizitmodell eingesetzt. Ein derartiges Vorgehen war von dem Bestreben getragen, „das Bild des u.a. wegen der geringen gesellschaftlichen Anerkennung bedauemswerten alteren Menschen (...) durch die Vorstellung von einem relativ geachteten und leistungsfahigen Menschen (zu ersetzen)." {Schneider 1974: 86f.) Nun sind in den zurtickliegenden Jahren mit dem „erfolgreichen" und „produktiven Altern" zwei Begriffe in die Debatte eingebracht worden, die gewissermaBen als gerontologische Antwort auf das Unbehagen an dem weitgehend negativ gefarbten gesellschaftlichen Altersbild stehen {Schroeter 2002, 2004b). Die beiden Begriffe sind zwar keineswegs identisch, aber auch nicht eindeutig voneinander getrennt. Die Grenzen sind eher unscharf Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass die vordergriindig positiv besetzt sind, wenngleich sie auch ihr Licht aus unterschiedlichen Perspektiven auf das Alter werfen. Das „produktive Altern" richtet seinen Spiegel eher auf die soziale RoUe und gesellschaftliche Nutzbarkeit alterer Menschen, so z.B. im Rahmen familialer und sozialer Unterstiitzungsleistungen, aber auch im Bereich ehrenamtlicher oder bilrgerschaftlicher Tatigkeiten. Das „erfolgreiche Altern" nimmt hingegen eher die physiologischen und psychologischen Kapazitaten und Performanzen in den Blick {Caro et al. 1993: 7). Beide Begriffe leuchten in einem utilitaristischen Licht. Denn an welchen Kriterien man auch im Einzelnen den Erfolg des Alterns oder die Produktivitdt im Alter festmachen will, sie werden stets in irgendeiner Form mit vorausgegangenen Leistungen zu konnotieren sein. Denn Erfolg ist in der Grundbedeutung des Wortes ein durch Bemiihung erzieltes positives Ergebnis. Und auch der aus dem lateinischen producere bzw. productum abgelei-

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tete Begriff der Produktivitat setzt immer eine Handlung voraus. Und diese Handlungen werden gesellschaftlich bewertet. Das gilt sowohl fur die verschiedenen Formen der „aktiv gestaltenden Umweltaneignung" {Schdffter 1989) oder Selbstentfaltung als auch fiir den Erwerb von individuell oder gesellschaftlich nutzbaren Kompetenzen, Ressourcen oder Potenzialen. Sowohl die subjektiven als auch die objektiven Indikatoren des erfolgreichen Alterns wirken als Kapitalien, die in der Summe - je nach Beschaffenheit und sozialem Verwendungskontext - gemeinschaftliche oder gesellschaftliche Anerkennung, aber auch Missachtung erfahren. Und hier liegt zugleich das Prekare dieser Begrifflichkeit: Wer vom Erfolg und/oder von der Produktivitat im Alter spricht, der wird unweigerlich Kriterien zur Erreichung eines erfolgreichen bzw. produktiven Alterns formulieren, zumindest aber implizit voraussetzen. Damit lauft er gleichsam Gefahr, normative MaBstabe zu setzen, die ilber Erfolg oder Misserfolg, iiber Produktivitat oder UnproduktivitSt richten. In der Sozialen Gerontologie wird viel zum „erfolgreichen", „produktiven", „guten" oder „optimalen Alter" geschrieben. Dort, wo zuvor von Aktivitat und Kompetenz die Rede war, wird heute von Erfolg und Produktivitat gesprochen. Das klingt wie alter Wein in neuen, neoliberalen Schlauchen. Die modemen Parolen der Sozialen Arbeit und Sozialen Gerontologie heiBen Empowerment und Kompetenzaktivierung, erfolgreiches und produktives Altem. Sie sind Ausdruck eines veranderten und modemisierten Selbstverstandnisses der Humanwissenschaften. Ihre Leitgedanken fiigen sich nahtlos in die regulierenden Strategien der Bio-Politik ein, wenn sie auf die Kontrollierung und Normalisierung des Menschen zielen, bzw. auf die „Maximalisierung des Lebens" und auf die Verantwortung fiir das Leben" {Foucault 1983). Um in modemen Gesellschaften die Voraussetzungen fiir eine gelingende Identitat zu sichem, muss der Mensch flexibilisiert und mobilisiert werden. Die modeme Kultur erklart Flexibilitat und Mobilitat zur Normalitat. Und so steht der „flexible Mensch" {Bennett 2000) nicht nur im Zentrum von Politik und Wirtschaft, sondem zunehmend auch im Fokus von Wissenschaft und Dienstleistung. Die Programme von Gesundheitserziehung und Gesundheitsforderung, von Prevention und Rehabilitation fugen sich ebenso in die Reihen der regulierenden Bio-Politik wie nunmehr auch die der Sozialen Gerontologie, in der unter dem Etikett des aktiven, erfolgreichen und produktiven Alters geragogische und therapeutische Konzepte entworfen werden, die Produktivitat als neues Leitbild propagieren (Knopf QX al. 1999: 103). Diese Programme, die gleichsam auf die Selbstakzentuierung und Forderung der Eigenstandigkeit zielen, werden durch eine „Philosophie der Fitness und Wellness" {Bauman 1997: 187ff, 2003: 93ff; Rittner 1995) ideologisch unterflittert. Und so fragt man sich natiirlich nach der Kehrseite der Medaille: Was geschieht mit denen, die diesen Anspriichen nicht gerecht werden? Ob man es will oder nicht: Wenn man von Erfolg oder Produktivitat

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im Alter spricht, dann muss man auch eine Grenze zum Misserfolg oder zxir Unproduktivitat Ziehen. Doch wer mag das schon tun? Ein „erfolgreiches" von einem „gescheiterten Alter" abzugrenzen, einem „produktiven" ein „unproduktives Alter" gegeniiberzustellen, mag als Teufelswerk gegeiBelt werden, doch wer sich durch unprazise Begrifflichkeiten leichtfertig auf diesen Pfad begibt, der tappt in die „semantische Falle" der binaren Codierung und lauft Gefahr, durch die „Aufwertung des produktiven Alters (...) das nicht mehr produktive Alter - indirekt zumindest ~ zu einem unniitzen zu machen" (Z,e«z etal. 1999:35). Auch wenn sich eine solche Zuspitzung nicht in den Modellen des erfolgreichen oder produktiven Alterns findet, so ist sie dennoch die implizite Folgerung solcher Uberlegungen, denn „(d)ie Betonung eines aktiven und positiven Alterns als normativer Zielsetzung kann also durchaus negative (...) Wirkungen fiir alle diejenigen Alten und ihr Unterstiitzungssystem haben, die diesem Anspruch nicht gerecht werden konnen" {Mittelstrafi et al. 1992: 714). Man mag das erfolgreiche oder produktive Altem an verschiedenen Kriterien bemessen - an Lebensdauer oder Lebenszufriedenheit, an korperlicher und mentaler Gesundheit, an personlichen oder sozialen Kompetenzen, an unterschiedlichen Teilhabechancen und Partizipationsquoten in Gemeinschaft und Gesellschaft usw. -, all das lasst sich gewiss auch quantifizieren und in Prozentpunkten und Skalenwerten ins statistische MaB setzen, Ja man wird mit Fantasie und Rechenkunst auch individuelle und gesellschaftliche Erfolgs- und Produktivitatsquoten und Gewinn-Verlust-Bilanzierungen aufstellen und ggf. sogar monetar hochrechnen konnen. Damit freilich werden zugleich auch immer Durchschnittswerte ermittelt, die dazu verfxihren, als NormalmaBe oder Richtwerte missdeutet zu werden. Der Teufel steckt nicht nur im individuell zu bewertenden Detail, sondem vor allem auch im gesellschaftlich verantworteten Allgemeinen. Das zeigt sich einmal mehr auch in der Frage nach Rationierungen fur Gesundheitsleistungen fur Altere oder bei der Frage, ob durch die vermehrt auftretenden individuell verfugten Wiinsche nach Unterlassen lebensverlangemder MaBnahmen im Falle todbringender und schmerzleidender Krankheiten nicht durch die Hintertur der Gesellschaft normative Standards eingefiihrt werden, um dem „nicht mehr erfolgreichen Altern" eine „erfolgreiches Ende" zu setzen. Auch wenn hier zu Lande die Forderung nach einer Einschrankung der Hightech-Versorgung fur Altere eher selten erhoben wird, so sind zumindest die Finanzierung und die faire Verteilung der zusehends knapper werdenden Gesundheitsguter ein diskutables Thema. AuffuUig wird das insbesondere in den kontroversen Diskussionen tlber Therapiebegrenzungen und Sterbehilfe, die sich aus der prekaren Konstellation nahren, dass die heutige medizinische Technik es ermoglicht, Lebens- und Sterbesituationen zu schaffen, die in den Augen mancher nicht mehr oder nur noch schwer mit der Wilrde des Menschen vereinbar sind (Schroeter 2005).

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Durch das standige StoBen ins Horn der gerontologischen Erfolgs- und Prodiiktivitatsdebatte lassen sich wohl vertraute Tone in der aktiven Gesellschaft erzeugen. Denn die Wertschatzung der ,Jungen Alten" und die soziale Geringschatzung der „alten Alten" ftiBen doch gerade auf den dominanten Wertigkeiten der modemen Gesellschaft, die sich „verzweifelt auf Jugend schminkt" {Block 1982: 40), und in der iiber alien Lebensaltem das Jugendlichkeitsideal schwebt, „geheininisvoll und verfilhrerisch, aber auch fordemd" (Schachtner 1994: 88). Wer dem Tribut zollt, sich auch im Alter noch jung halt, seine Dynamik und Produktivitat nicht verliert, der bleibt auch in der Leistungsgesellschaft erfolgreich und anerkannt. Dem stehen nicht nur soziale Positionen offen, der wird auch durch positiv besetzte Etikettierungen belohnt, denn der gehort zu den „neuen" oder ,jungen Alten", zu den „souveranen und erfolgreichen Senioren". Da kommt das neue entdeckte Vergesellschaftungsmodell des biirgerschaftlichen Engagements gerade recht. Als Erganzung zum traditionalen Leitbild des wohl verdienten Ruhestands tritt dann die - wodurch auch immer motivierte - sinnvoUe, soziale und zielbewusste Tatigkeit im Alter. Doch das aktive (produktive/erfolgreiche) Altem in der Zivilgesellschaft bleibt hochst ambivalent. Denn zum einen enthalt es durchaus Befreiungsmoglichkeiten und Autonomiespielraume zur Entfaltung der eigenen Personlichkeit und auch zur Entfaltung gesellschaftlicher bzw. gesellschaftspolitischer Teilhabe. „Zum anderen Besteht" aber auch „die Gefahr, dass das zivilgesellschaftliche Engagement der Senioren lediglich die Mangelverwaltung der offentlichen Hand kompensieren soil." In diesem Fall wilrden die Alten „auf eine unentgeltliche, instrumentalisierbare Niitzlichkeit (reduziert)". Und das heiBt, dass die „Erhaltung von Kompetenzen und die personliche Erfiillung" der Alteren „gegenuber dem gesellschaftlichen Interesse an einer »Nutzung des Humankapitals« (zurtlck tritt)" (Kricheldorffet al. 2002: 2).

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Status undPrestige

als symbolische Kapitalien im Alter?

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Widerspriiche und Ambivalenzen ehrenamtlicher und freiwilliger Arbeit im Alter Gertrud M. Baches

1. Einfiihrung

1.1 Ehrenamt im Alter - zwischen individuellem gesellschaftlichem Erfordernis?

und

Uber die erhebliche Zunahme des Anteils alterer und alter Menschen an der Bevolkerung wird in Offentlichkeit, Politik und Wissenschaft ebenso diskutiert wie ilber die mit Alter und Altem einhergehenden strukturellen Veranderungen, etwa der zeitlichen Ausdehnung des Alters im Lebenslauf und die Veranderungen der so genannten Altersgrenze, d.h. des Zeitpunktes des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben. Die sozialpolitische Diskussion konzentriert sich primar auf Einspar- und Entwicklungserfordemisse im System sozialer Sicherung (insbesondere des Alterseinkommens und der gesundheitlichen Versorgung) in Folge des stark wachsenden Anteils alter, insbesondere hochaltriger und pflegebedilrftiger Menschen. Uber Renten- und Gesundheitspolitik wird seit Jahren vor dem Hintergrand erschreckender Zukunftsvisionen debattiert; desgleichen iiber eine im Kontext dieser Entwicklung notwendige Forderung von biirgerschaftlichem Engagement, insbesondere auch ab dem mittleren und im hoheren Lebensalter. Altere und alte Menschen rilcken als Wahlergruppe(n), als zumindest latente Machtgruppe(n), und als bislang zu wenig ausgeschopftes - Reservoir fur Biirgergesellschaft in das offentliche und politische Interesse. Wissenschaft und Politik beschaftigen sich zunehmend mit individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Belastungen versus Ressourcen des Alter(n)s (vgl. Baches 1997: 32-111; vgl. Themenstellung der 5. Altenberichtskommission der Bundesregierung: „Potentiale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft - der Beitrag alterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen"). Gemeinsam ist fast alien Formen der Thematisierung zwischen demografischem Wandel und „demografischer Revolution" (Pifer, Bronte 1986) ein noch immer eher unsystematischer und verengter Zugang zur Frage, wie der Zusammenhang von Alter(n)s- und Gesellschaftsentwichlung zu fassen ist. Es

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Gertrud M. Baches

bleibt meist bei der Beschreibung einzelner Dimensionen dieses Verhaltnisses, so vor allem der okonomischen und sonstigen Grenzen gesellschaftlicher Bewaltigung der mit Alter(n) einhergehenden Veranderungen. Dagegen aufgestellt werden mittlerweile in der Diskussion regelmaBig die „Potenziale", „Ressourcen" oder das „soziale Kapital" des Alters (Begriff in Anlehnung an Putnam, also im Sinne der Nutzung durch Gesellschaft): wie etwa Ressourcen zur Bewaltigung der zunehmenden Pflegeerfordemisse oder nach den Moglichkeiten der gesellschaftlichen Nutzung veranderter Potenziale alterer und alter Menschen. Gesellschaftliche Kontextbedingungen (s. Arbeitsmarktkrise) bleiben dabei eher im Hintergrund. Demgegenuber gehe ich von der These aus: Wir stehen vor einer bislang weitgehend ungelosten gesellschaftlichen Entwicklungsaufgabe: Sozialer Wandel geht mit der Notwendigkeit einer weitreichenden Veranderung der Vergesellschaftung des Alter(n)s einher (Baches 1997). In diesem Zusammenhang ist auch der gesamte Komplex an Tatigkeiten zwischen ehrenamtlicher Arbeit, freiwilligem Engagement oder burgerschaftlicher Beteiligung alterer und alter Menschen neu in den Blick zu nehmen. Angesichts des skizzierten gesellschaftlichen Kontextes kann es nicht verwundem, dass Moglichkeiten und Grenzen hinsichtlich des Ehrenamtes und der Freiwilligenarbeit im Alter sich vielschichtiger und komplizierter, widerspriichlicher und ambivalenter zu gestalten scheinen als es eine eher vordergriindige Deskription von Motivation, Zielen, Arbeitsbedingungen und Folgen oder gar eine Betrachtung mit appellativem Charakter an die zu entfaltenden und gesellschaftlich abzuschopfenden Ressourcen und Potenziale des Alters erkennen lassen. 1.2 Gesellschaftliche Belastung versus Ressource - eine polarisierte Diskussion um Alter(n) Befurchtungen hinsichtlich des Alter(n)s als Belastung fur Sozialstaat und Gesellschaft werden immer haufiger artikuliert, und zwar - neben plakativen und stigmatisierenden Formen in der offentlichen Diskussion - zunehmend auch in Wissenschaft und (Sozial-)Politik. Man spricht von gesellschaftlichen Grenzen, vor allem okonomischer, aber auch ideologischer und politischer Art im Umgang mit der steigenden Zahl alter und vor allem hochbetagter Menschen, der Zunahme ihres Anteils im Vergleich zu jiingeren und insbesondere wachsender Hilfe- und Pflegebedilrftigkeit. Mit „Alterslast" beschreibt man v.a. Leistungen jilngerer Erwerbstatiger fiir altere Nichterwerbstatige, Kranke und Pflegebedtirftige. Man ftrchtet um den Generationenvertrag Oder sieht ihn bereits aufgekiindigt. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die Finanzierung der Renten, sondem auch auf die Legitimation entsprechender sozialer Leistungen im Generationenverhaltnis. Gleichzeitig sieht man die

Widerspriiche undAmbivalenzen

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Handlungspotenziale und finanziellen Ressourcen vieler alterer und alter Menschen sowie ihre gesellschaftliche Macht, die sich u.a. in ihrem zu vererbenden Vermogen ausdrucke. Aus beiden Perspektiven neigt man zu Verallgemeinerungen, so dass Alter(n) sich eher zum andere gesellschaftliche Grappen Bedrohenden, unkontrollierbar Wachsenden auszuweiten scheint. Diese Befurchtungen und Angste zeigen sich zumindest in der sorgenvoUen Diskussion um Formen der praktikablen, leistbaren und legitimationsfahigen sozialen Sicherung und Versorgung im Alter, eine angemessene und praktikable Flexibilisierung des Ubergangs in den Ruhestand (vgl. Frerichs, Naegele 1998) und eine neue Kultur des Dritten Lebensalters, wozu eine Neubestimmung des Verhaltnisses zwischen den Generationen gehort. Diese Diskussion weist auf drei zentrale Fragen hin, namlich wie Alterssicherung, Altersintegration in Gesellschaft und Neubestimmung (im Lebenslauf abgegrenzten) Lebensphase Alter angesichts der diesbezuglich in Frage stehenden bisherigen Modalitaten gewahrleistet werden konnen und sollen. Hinter einer vielschichtig verwobenen, selten klar strukturierten Denkfigur des etwa als okonomische Last oder brachliegende Ressourcen „erdruckenden Alter(n)s" verschwinden gesellschaftliche Zusammenhange, die mit dazu beitragen, wie sich die Lebenssituation alterer und alter Menschen gestaltet, welche Macht und welche Ressourcen ihnen zukommen, was sie (noch oder sogar erst jetzt) zur Gesellschaft beitragen und was sie von dieser erwarten bzw. „verlangen" konnen. Hinter den skizzierten Uberlegungen und Ansatzen sind heute zwei dominierende Grundlinien zur Einschatzung der Bedeutung des Alter(n)s erkennbar: Zum einen die Belastungs- und Kostenperspektive und zum anderen die Ressourcen- und Chancenperspektive. Selten fmden sich beide in ausgewogenem Verhaltnis zueinander. In zahlreichen Beitragen sowohl zur demografischen Entwicklung als auch zu Alter und Familie, zu Pflegebedtirftigkeit oder anderen sozialpolitischen Themen fmden sich immer wieder einseitige Hinweise auf das befurchtete negative Szenario, das mit Alter(n) und seiner Entwicklung in Zusammenhang gebracht wird. Entsprechend weit verbreitet ist auf der anderen Seite die Kxitik an der Negativsicht des Alter(n)s und der Vemachlassigung der positiven Seite, der Entwicklungsmoglichkeiten. Sie wird vor allem aus gerontologischer und hier insbesondere psychogerontologischer Perspektive seit den 1960er-Jahren vertreten. Sie zieht sich als roter Faden durch etliche politisch initiierte Analysen im Zusammenhang mit „demographischem Wandel und altemder Gesellschaft" (vgl. vier Altenberichte der Bundesregierung; Berichte der Enquete-Kommission Demographischer Wandel). Hier besteht allerdings wiedemm die Gefahr, die positiven Seiten des Alter(n)s einseitig zu betonen. Haufig wird mit Blick auf Ressourcen und Potenziale des Alters ein „Alterskapital" fur die Gesellschaft beschrieben, ohne dass man sich entsprechend mit dessen Voraussetzungen, mit den Bedingungen, innerhalb derer diese Potenziale bei

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welchen Gruppen zum Tragen kommen kSnnen, immer hinreichend auseinandersetzt. Es besteht die Gefahr einer Suggestion, dass Hinwendung zu den Ressourcen des Alters die Probleme, die Gesellschaft derzeit mit Alter hat, bereits lose. Beide „Richtungen" wirken, gewoUt oder ungewollt, als Vertreterinnen der Interessen alterer und alter Menschen gegen den gesellschaftlichen Zugriff. Beide tragen so - unbeabsichtigt - zumindest zur Bestatigung und Verfestigung einer gesonderten „Gruppe alterer und alter Menschen" bei. Damit wird die gesellschal^liche Konstruktion „Alter" bestatigt, und diese sogar - entsprechend der offentlichen Diskussion - in zwei Auspragungen: als „Entwicklungspotenzial" und als „sozial problematisch". Und indem gerontologische Positionen sich implizit oder explizit zu Interessenvertretem des Alters auch z.T. gegen die Gesellschaft entwickeln, entsteht cine Vorstufe dessen, was heute als Kontroverse zwischen Jung und Alt, als Interessengegensatz beschrieben wird (vgl. Baches 1997: 32-111). Offensichtlich spiegelt Wissenschaft die widersprilchliche und eher polarisierende Betrachtungsweise in Offentlichkeit, Politik und Praxis ebenso wider wie zumindest indirekt - das vorherrschende Verhaltnis von Alter(n) und Gesellschaft, wahrend eine ideologiekritische Perspektive und eine entsprechende soziologische Perspektive Not tun. Durch Strategien - wie Polarisierung und Konzentration auf die Sichtweise von „Alterslast" vs. „Alterskapital" - wird zu einer ideologischen Verschleierung des Zusammenhangs von Gesellschaft und Alter(n) beigetragen. Hieran wirken nicht nur Politiker und offentliche Meinung, sondem auch die Sozialwissenschaften direkt oder indirekt mit. Letztere benennen die Probleme auf der Erscheinungsebene und beklagen sie zum Teil, leisten aber nicht selten ~ wenn auch vermittelt und unbeabsichtigt - ihren Beitrag zur offentlichen Panik(mache) um die altemde Gesellschaft oder verklaren die Ressourcen des Alters.

2. Auf dem Weg zu neuen Vergesellschaftungsformen des Alter(n)s

2.1 Demografische

Alterungsprozesse

Bereits heute betragt der Anteil der 60-Jahrigen und Alteren an der Bevolkerung rund 23 Prozent, wahrend er 1900 ca. 8 Prozent und 1953 ca. 15 Prozent betrug {BMFSFJ 2002: 55). Fur das Jahr 2050 wird ein Anteil von 35,8 Prozent prognostiziert. Insbesondere die Zahl der Hochaltrigen (80 Jahre und alter) ist ilberproportional gestiegen; von 1,1 Prozent im Jahr 1953 auf 3,6 Prozent im Jahr 2000, fur 2050 wird ein Anteil von 11,3 Prozent erwartet.

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Die weltweit als maximal beobachtete und eingeschatzte Lebenslange von 110 bis 120 Jahren hat sich dagegen kaum verandert. Die Lebensperspektiven hingegen haben sich von der „unsicheren zur sicheren Lebenszeit" (ImhoJ) entwickelt, durch eine „Kompression" der Morbiditat (Fries) hat sich zudem die Phase des „gesunden Alters" an der Gesamtlebenserwartung erhoht. Wahrend noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast die Halfte aller Kinder zwischen Geburt und ftnftem Lebensjahr starb und nur jeder Funfzehnte 65 Jahre alt wurde, kann heute ein weitaus groBerer Anteil damit rechnen, sogar 75 Jahre und alter zu werden. Die Lebenserwartung neugeborener Jungen betragt inzwischen 74,5 Jahre, die der neugeborenen Madchen bereits 80,6 Jahre (Roloff, Schwarz 2002). Durchschnittliche Lebensdauer und statistisch ermittelbare Lebenserwartung sind seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland - wie auch in anderen hochindustrialisierten Landem - deutlich gestiegen wahrend die Geburtenrate zwischen 1950 und 1993 von 16,2 Lebendgeborenen (pro 1.000 Einw./Jahr) auf 9,8 gefallen ist. AUe aktuellen Bevolkerungsprognosen lassen vermuten (vgl. Enquete-Kommission Demographischer Wandel 2002), dass der Anteil der 19- bis 40-Jahrigen an der Bevolkerung stark zuruckgehen wird. Somit wird die Gruppe der jilngeren Menschen im erwerbsfahigen Alter schrumpfen und das Berufsleben zukilnftig weitaus starker als bisher von Alteren gepragt sein {Clemens 2001). Dabei sind Folgen far Qualifikationsentwicklung, innerbetriebliche Kommunikation, Innovationskraft der Betriebe sowie die gesundheitlichen und sonstigen sozialen Sicherungssysteme zu erwarten. Und: Die absolute Zahl der iiber 60-Jahrigen und ihr Anteil an der Gesamtbevolkerung werden standig wachsen. Den Menschen im erwerbsfahigen Alter werden immer mehr iiber 60- bzw. 65Jahrige - nach heutiger Definition: im eingeschrankt erwerbsfahigen Alter bzw. Rentenalter ~ gegeniiberstehen, Mit dem uberproportional steigenden Anteil der Hochaltrigen an der Gesamtbevolkerung werden weitreichende Veranderungen (Anpassungs- und Bewaltigungsleistungen) des Systems gesundheitlicher und sozialer Sicherung, insbesondere der Pflegeleistungen erforderlich {BMFSFJ 20Q2). Trotz derartiger Prognosen ist schwer abschatzbar, was die demografische Entwicklung fur die Strukturen und die Entwicklung von Gesellschaft bedeuten wird. Zu berilcksichtigen ware bei einer solchen Einschatzung der gesellschaftliche Gesamtkontext sozialer Wandlungsprozesse. 2.2 Alter(n) undsozialstrukturelle

Veranderungen

Die Bedingungen des Alter(n)s verandem sich nicht nur in demografischer Hinsicht, sondem auch in okonomischer, politischer und ideologischer, in institutioneller, interaktionsbezogener und individueller Hinsicht. Hintergriinde sind dabei vor allem die:

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Gertrud M. Baches okonomische Entwicklung und Entwicklung des Arbeitsmarktes, materielle und normative Krise der sozialen Sicherung, Veranderung familialer und gemeinschaftlicher Strukturen und Funktionen, Veranderung der Lebenslagen, Lebenslaufe und Lebensstile - meist beschrieben als Individualisierung und Pluralisierung, veranderte Position des Alter(n)s innerhalb der Sozialstruktur und sozialer Ungleichheit und Lebenschancen sowie wachsende Heterogenitat der Lebenslagen alterer und alter Menschen differenziert nach Alter, Geschlecht, Region, Erwerbs- und Lebensverlauf.

Der Wandel von Familie wird - wie auch sich verandemde Lebenslagen, Lebenslaufe und Lebensstile - mit Pluralisierung, Differenzierung und Individualisierung beschrieben: Neben der „klassischen" Familie ist eine Vielzahl anderer Lebensformen entstanden, die sich hinsichtlich ihrer sozialen Funktionen als familial beschreiben lassen. Ob und invi^iefern sich hier Integration und Versorgung fur das Alter fmden, wird kontrovers diskutiert. Empirisch nachweisbar ist, dass Familie oder familienahnliche Gemeinschaften Hilfebis hin zur Pflegeleistungen gegeniiber kranken und pflegebediirftigen Menschen bis ins Alter erfuUen; sie gehen dabei haufig an die Grenzen ihrer Belastbarkeit (vgl. Kiinemund 2002). Allerdings haben sich die Formen der Hilfe, Betreuung und Pflege verandert: Sie beruhen zunehmend auf einem ausgeklilgelten System von Arbeitsteilung mit sozialstaatlich geregelten Angeboten (wie Sozialstationen, Tagespflege oder Pflegeheim). Dies gilt insbesondere, wenn Erwerbsarbeit und private Pflege zu vereinbaren sind. Vielfach interpretiert man dies dahingehend, dass Familie sich ihren Verpflichtungen gegenuber alten Menschen entzoge. Finer kritischen, empirischen Analyse halt dies jedoch nicht stand (vgl. Kiinemund 2002). Eng gekoppelt mit Veranderungen von Familie, Sozialpolitik und des Arbeitsmarktes ist auch der Wandel der Geschlechterverhaltnisse (vgl. Baches 1993b, 1998): Die tradierte Arbeitsteilung ist nicht mehr so selbstverstandlich, wie sie in den 1950er- und 60er-Jahren erschien. So hat der Anteil von erwerbstatigen Mtittem mit noch im Haushalt lebenden Kindem trotz Arbeitsmarktkrise zugenommen. Verpflichtungen gegeniiber dem Alter milssen immer haufiger mit Erwerbsarbeit beider Partner in Einklang gebracht werden. Das klassische Zusammenspiel von Arbeitsmarkt, Familie und Sozialpolitik im Sinne einer geschlechtsspeziflschen Ungleichheitskumulation im Lebensverlauf wirkt sich weiterhin, wenn auch in starker differenzierten Formen, fur Frauen so aus, dass sie die Belastungen durch Alter in doppelter Hinsicht starker zu tragen haben: einmal als helfende, betreuende und pflegende, gleichzeitig erwerbstatige und mehrfach belastete Tochter oder Schwiegertochter und zum anderen als selbst alte oder hochbetagte Frau, die

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auf das haufig komplizierte Geflecht von privater und sozialstaatlicher Hilfe angewiesen ist (vgl. Baches 1993b, 1994; Clemens 1997). Die am tradierten Familien- und Geschlechtermodell orientierte Sozialpolitik muss auf diese Veranderungen reagieren. Dabei ist sie seit der zweiten Halfte der 1970er-Jahre anhaltend durch okonomische Grenzen und Legitimationsprobleme gekennzeichnet. Die Frage nach der Sicherheit der sozialen Sicherung ist zeitgleich mit der Frage nach der zukunftigen Sicherheit traditioneller familialer Sozialleistungen zu stellen. Im Hinblick auf die soziale Sicherung und Integration des Alters kommt dem besonderes Gewicht zu, vor allem bei den mit dem demografischen und sozialstrukturellen Wandel erwarteten Entwicklungen, z.B. hinsichtlich des mit wachsender Hochaltrigkeit zunehmenden Pflegebedarfs. Im Wesentlichen liegt den skizzierten Entwicklungen der Wandel der Wirtschaft, der gesellschaftlichen Arbeit und der Arbeitsmarktsituation zugrunde: Seit der zweiten Halfte der 1970er-Jahre verliert das Wirtschaftswunder in unserer Gesellschaft an Wirkung, die negativen Folgen kapitalistischer Wirtschaftsweise treten deutlich zutage. Die anhaltenden Umbrilche gesellschaftlicher Arbeit (Rationalisierung, neue Technologien) verstarken diesen Prozess und tragen insbesondere zu einer sehr hohen und welter steigenden Erwerbslosigkeit bei. Symptomatisch auBert sich all dies in den sukzessive deutlicher werdenden okonomischen und normativen Grenzen des Sozialstaates, der auf eine Erwerbsarbeitsgesellschaft mit (tendenzieller) VoUbeschaftigung grundet. Mittlerweile haben sich die Modelle der vorzeitigen Ausgliederung alterer Arbeitnehmer eindeutig als arbeitsmarktstrategisches Steuerungsinstrument erwiesen {Frerichs, Naegele 1998; Clemens 2001). Diese kommen weniger jungeren Erwerbsfahigen zugute als den Rationalisierungstendenzen und der Gewinnmaximierung der Wirtschaft. Begleitet und zum Teil verstarkt werden die bislang beschriebenen Veranderungen durch den „Wertewandel" in der Gesellschaft (Inglehart). Demnach geht die Entwicklung im Zuge eines Generationenwechsels in der „postindustriellen Gesellschaft" weg von „materialistischen", an Leistung, Pflichterfflllung, Erfolg und Lebensstandard orientierten Werten, hin zu „postmaterialistischen", wie Selbstentfaltung, Autonomie und partizipatives Engagement (eher im unmittelbaren Umfeld und bezogen auf unmittelbar erkennbare Ziele) (vgl. auch „Erlebnisgesellschaft", Schulze). Wahrend die heute alteren und alten Menschen noch starker an materialistischen Werten ausgerichtet waren und sind - und es aufgrund ihrer biografischen Bedingungen wohl auch eher sein mussten -, finden sich unter den jiingeren eher postmaterialistische Orientierungen. Die sozialstrukturell bedingte Entwicklung der Individualisierung und Pluralisierang von Lebenslagen, Lebenslaufen und Lebensstilen entspricht den o.g. Entwicklungen. Sie zeigt sich bereits heute auch bei alteren und alten Menschen und wird sich in Zukunft wahrscheinlich noch verstarken. Insge-

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samt haben sich die individuellen - v.a. gesundheitlichen, materiellen und sozialen - Bedingungen des Alter(n)s geandert und andern sich zukilnftig weiter. 2.S Verdnderung institutioneller und individueller Ausprdgungen Alter (n)s

des

Alter und Altern als Dimensionen, Merkmale und Ergebnis von Sozialstruktur verandem sich und haben sich bereits verandert (vgl. z.B. Naegele, Tews 1993; Baches 1997). Wie Lebenslagen, Lebenslaufe und Biografien verandem sich auch Lebensweisen, Wahmehmung und Gestaltung des Alter(n)s alterer und alter Menschen (vgl. z.B. Koh/i 1985, 1990; Held 1986). Die materiellen, gesundheitlichen und sozialen Lebenslagen im Alter sind differenzierter geworden. Es gibt mittlerweile eine Vielzahl und groBe Heterogenitat von Grappen alterer und alter Menschen. So sind altere und alte Menschen gesellschaftlich nicht mehr nur als Empfanger von Hilfe, als Passive, einzuschatzen, sondem auch als aktiv Gestaltende, als politisch Einfluss Nehmende, als Machtgruppe, als Vermogende und vieles mehr. Infolge von Vorruhestandsregelungen und vorgezogener Altersgrenze gibt es mehr jtlngere Alte. Sie sind meist aktiv und brauchen kaum Hilfe. Im Gegenteil: Sie stellen eine (potenziell) helfende Gruppe mit gesellschaftlich unausgeschopften Ressourcen dar. Auf der anderen Seite des Spektrums hat die Zahl der Hochaltrigen (tiber 80/85-Jahrige) deutlich zugenommen. Hier fallt das Gros an Hilfe- und Pflegebedarf an, was nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ eine Herausforderung fur die Gesellschaft darstellt. Mit zunehmendem Alter steigt der Anteil der Frauen immer starker an, so dass insgesamt von einer „Feminisierung des Alters" (Tews 1993; vgl. auch Kohli 1990) gesprochen wird. Welche Konsequenzen dies fur die Balance zwischen Hilfegeben und Hilfenehmen im Alter oder gar deren Qualitat mit sich bringt, ist kaum erforscht. Es ist jedoch unschwer vorstellbar, dass hier auf beiden Seiten spezifische Ressourcen und Anforderungen anfallen. Die Institutionen Lebenslauf und Alter wandeln sich und werden sich weiter verandem (vgl. Kohli 1985): Alter ist heute bereits weniger eine eng begrenzte Phase der Abhangigkeit und des Ausgegliedertseins aus gesellschaftlichen Bezilgen. Es umfasst z.B. verschiedene „Kulturen" und institutionelle Kontexte - wie Erwerbsleben, Teil-Erwerbsleben, nachberafliche Tatigkeiten, verschiedene familiale Phasen, unterschiedliche Formen der Hilfeleistung und des Hilfeempfangs. Der Lebenslauf ist institutionalisiert und gleichzeitig deinstitutionalisiert; dies gilt auch fur das Alter: Es gibt nach wie vor institutionell geregelte Phasen und Ubergange, diese konnen aber von verschiedenen Gruppen in sehr unterschiedlicher Weise und zu unter-

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schiedlichen Zeiten gelebt werden - etwa Eltemschaft oder Teilhabe am und insbesondere Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Sozialpolitik ist weiterhin der entscheidende Wegbereiter dieses Prozesses; hier ist die Entwicklung adaquater Instrumente der Steuerung und Begleitung von Statuspassagen gefragt. Mit diesen Entwicklungen verandem sich die an Gesellschaft gestellten Anforderangen im Umgang mit Alter(n), und das heiBt vor allem die Erfordemisse der Vergesellschaftung des Alter(n)s, und zwar im Sinne einer gesellschaftlichen An- und Einbindung viber Institutionen, soziale Netze und Interaktionen. Dies zeigt sich z.B.: • an der okonomisch, politisch und normativ induzierten Notwendigkeit, altere und alte Menschen starker gesellschaftlich zu beteiligen, und z.B. eine veranderte Kultur - veranderte Normen, Werte, Institutionen und Lebensweisen - des Alter(n)s im weiteren Sinne zu entwickeln; • an der auBerst komplexen und kontroversen Diskussion um Rentenzugangsalter, um (Un-)Sicherheit der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung; • an den zunehmenden gesellschaftlich zu balancierenden okonomischen, politischen und normativen Interessenkonflikten innerhalb und zwischen den Generationen.

3. Engagement und Freiwilligenarbeit Alterer - ein Schritt zu neuer Vergesellschaftung des Alters? Kommen wir - vor einer tiefer gehenden und solche Fragen eher beantwortenden Recherche - zunachst zu dem an der Oberflache der Diskussion Erkennbaren. Dabei sind zunachst Ehrenamtlichkeit und Freiwilligenarbeit zu unterscheiden. Die Begriffe verweisen auf die Unterscheidung zwischen formalen und eher informellen Tatigkeiten, zwischen „alter" und „neuer Ehrenamtlichkeit"; so auch die etwas ausfuhrlichere Definition und Beschreibung bei Kolland: „Im deutschsprachigen Raum bewegt sich die Diskussion entlang zweier Begriffe, namlich ehrenamtliche Tatigkeit und Freiwilligenarbeit, wobei in der wissenschaftlichen Diskussion abgekilrzt auch von ,altem' und ,neuem' Ehrenamt gesprochen wird. Das (alte) Ehrenamt lasst sich bezeichnen als offentlich, unentgeltlich ausgeiibtes Amt in Verbanden oder Selbstverwaltungskorperschaften. Es handelt sich also um eine Arbeitsleistung, der an sich kein monetarer Gegenfluss gegenubersteht und deren Ergebnis Konsumenten/innen auBerhalb des eigenen Haushalts zuflieBt. Da die Tatigkeiten des (alten) Ehrenamtes erwerbsahnlichen Charakter haben, ist es weit verbreitet, dass Aufwandsentschadigungen bezahlt werden und auch bestimmte Versicherungsieistungen angeboten werden (z.B. Unfallversicherung bei der Rettung). Gemeint sind damit Tatigkeiten in

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Sport- und Kulturvereinen, in den Kirchen, in politischen und gewerkschaftlichen bzw. in Wohlfahrtsorganisationen (z.B. Rotes Kreuz). Sprechen wir dagegen von Freiwilligenarbeit (auch ,neues' Ehrenamt), dann ist damit ein Signal gesetzt, dass Entscheidungsfreiheit ein tragendes Element in der Gesellschaft ist, Dieser Begriff will ein modemes, schwach institutionalisiertes, kaum wertgebundenes und eher railieuunabhangiges Engagement individualisierter, freier, spontaner Menschen zum Ausdruck bringen. Freiwilligenarbeit wird dabei zumeist in informellen Sozialnetzen (wie Nachbarschaft und Freundeskreis) geleistet, kann aber auch in mehr organisierter Form im Rahmen von Selbsthilfegruppen und freien Initiativen geleistet werden. Die Freiwilligenarbeit entspricht ihrem Charakter nach eher der Hausarbeit, Leistungen werden kaum monetar abgegolten. Gemeint sind hier Tatigkeiten in der Nachbarschaftshilfe, Betreuung von alteren Menschen, Hilfe bei der Sicherung von Schulwegen, der Aufsicht in Grunanlagen." {Kolland2002: 79f.)

Im Zusammenhang mit Alter(n) werden beide Formen, freiwillige und ehrenamtliche Arbeit, in Deutschland seit Jahren unter zwei Perspektiven diskutiert: Sie gelten erstens als offentlich/gesellschaftlich zu nutzende Ressource, die einen wesentlichen Beitrag zur Bearbeitung ansonsten vernachlassigter Oder von der Versorgung her prekarer gesellschaftlicher Aufgabenbereiche leisten kann und soil. Hierzu gehort etwa die Kompensation unzureichender Betreuungsmoglichkeiten kranker, hilfe- und insbesondere pflegebedtirftiger alter und hochbetagter Menschen. Analog zum haufig zitierten Titel: „Frauen - die heimliche Ressource der Sozialpolitik? - Pladoyer fiir andere Formen der Solidaritat" (Beck-Gernsheim 1991) lieBen sich in dieser Lesart „Altere Menschen als zu entwickelnde Ressource der Sozialpolitik im Zuge der Entwicklung einer anderen Form der Solidaritat" bezeichnen. Zweitens gelten freiwillige und ehrenamtliche Arbeit als sinnvolle Handlungsperspektive fur altere und alte Frauen und Manner jenseits der Erwerbsarbeit und/oder diesseits von Hausarbeit. Hier geht es vor allem um als sinnvoll erlebte Moglichkeiten der Beschaftigung im Alter, die (auch hier wie aus gesellschaftlicher Sicht, allerdings mit anderem Bezug - im Sinne einer Ressource) vor allem dazu dienen (konnen), soziale Netze neu zu kntipfen und zu pflegen und somit einen Beitrag zu Gesundheit und sozialer Integration in dieser Lebensphase zu leisten. In dieser Perspektive geht es um die Frage des sozialen Kapitals der alteren Menschen, und zwar ausdrticklich in der Bourdieu'schen Lesart, nicht in der in diesem Themenfeld eher ilblichen nach Putnam (1993). Nach Bourdieu (1983: 190f.) ist: „[d]as Sozialkapital (...) die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder anders ausgedruckt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehorigkeit zu einer Gruppe beruhen." {Bourdieu 1983; 190f.) Und wie aus der Gerontologie bekannt ist: „Kultur-, Freizeit-, politische, soziale und andere Assoziationen bringen auf mikrosozialer Ebene Vergemeinschaftung und geben dem Individuum Gestaltungsmoglichkeiten. Neben physischen Akti-

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vitaten gelten Kontakte zu auBerfamiliaren Gruppen zu den wichtigsten Pradiktoren erfolgreichen Alterns [...]." {Kolland 2002: 79) In der Putnam 'schen Lesart sozialen Kapitals hingegen geht es eher um das, was sich meist in der Diskussion um das Ehrenamt und die Freiwilligenarbeit Alterer in den Vordergrund stellt, namlich die Frage der Bereitstellung koUektiven, auf Gemeinschaft und gesellschaftliche Verantwortung gerichteten Handelns, um die Frage des Entstehens freiwilliger Kooperation in Gesellschaften mit hohem sozialem Kapital. Und damit meint Putnam (1995a: 664f.; vgl. auch ders. 1995b): „[...] features of social life - networks, norms, and trust - that enable participants to act together more effectively to pursue shared objectives. [...] Social capital, in short, refers to social connections and the attendant norms and trust." (Vgl. die entsprechende Diskussion um „Btirgergesellschaft", vgl. Enquete-Kommission ,,Zukunft des BurgerschaftUchen Engagements " 2002). Freiwilliger Arbeit wird somit in zweifacher Hinsicht, aus der Sicht individueller wie gesellschaftlicher Erfordernisse, eine sozial integrative Funktion - oder: eine Vergesellschaftungs- haufig vermittelt iiber eine Vergemeinschaftungsfiinktion - zugeschrieben: Dabei steht die erstgenannte Perspektive - Ehrenamt als offentlich nutzbare Ressource - in der Tradition der Laisierungsdebatte der 1970er-Jahre: Hier ging es - in der alten Bundesrepublik - um die qualitativen, spater dann auch die quantitativen Grenzen der Professionalisierung, um deren negative Auswirkungen auf Betroffene und um die Selbsthilfe starkenden, qualitativ erganzenden und erweiternden Kompetenzen von Laien in der sozialen Arbeit (vgl. Backer 1979; Baches 1985, 1987). Im Gedanken des Burgerschaftlichen Engagements fmden diese Ansatze heute z.T. ihre Weiterfiihrung. Die zweite Perspektive ist relativ neueren Datums und auch in der Diskussion um die Grenzen des Sozialstaats seit spatestens Ende der 1980er-Jahre verankert. Hier geht es allerdings eher um die Selbsthilfe der alteren und alten Menschen durch Nutzen ihres „sozialen Kapitals" (Bourdieu) fur sich. Da es auch gesellschaftlich/sozialpolitisch nicht ohne „Nutzen" bleiben kann, wenn Altere sich selbst helfen, liegt eine Verbindung beider Perspektiven nahe. Es erklart auch das haufig zu beobachtende Verschwimmen der Grenzen dazwischen, und dies wiederum kann gesellschaftlich „nutzlich" im oben zitierten Bourdieu'schen Sinne einer Verschleierung der realen Konturen sein. Erganzt und (wie zufallig?) flankiert wird dies durch die Anbindung an die offentliche und gerontologische Diskussion um das „aktive" Alter(n) und die Notwendigkeit der „Selbsthilfe" auch im Alter, insbesondere bei den so genannten „Jungen Alten" (siehe Strukturwandel des Ahers, vgl. Tews 1990). Kolland (2002: 79) fasst diese Verquickung der Perspektiven treffend zusammen: „Auf makrosozialer Ebene gilt ehrenamtliche Tatigkeit als Ressource, die einen wesentlichen gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Beitrag leistet. Der Grundgedanke ist,

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dass die Alteren zu Mitproduzenten und Mitgestaltern ihrer Lebenskultur werden (Tews 1995; Backes 2000). Kritisch ist hier allerdings anzumerken, dass Alter zum Teil reduziert wird auf eine unentgeltliche, instrumentalisierbare Niitzlichkeit. Die Erhaltung von Kompetenzen und die personliche ErfuUung tritt zuriick gegenilber dem gesellschaftlichen Interesse an einer ,Nutzung des Humankapitals'." {Kolland2002: 79)

Diese Uberlegungen - insbesondere auch hinsichtlich der von Kolland kritisch angesprochenen „Nutzung des Humankapitals" - erfahren nicht zuletzt im Zuge der demografischen Entwicklung hin zu einer „altemden Gesellschaft" Konjunktur. Betont wird dabei ebenfalls die Notwendigkeit und inhaltliche Sinnhaftigkeit einer Erganzung und Erweiterung professioneller sozialer Arbeit durch Laienarbeit. Relativ neueren Datums ist die Betrachtung der „Vorteile" (etwa im Sinne des Bourdieu'schen Sozialkapitalbegriffs), die eine solche Tatigkeit fur die sie Ausiibenden haben kann. Eine so genannte „egoistische" Motivation ist nicht mehr tabuisiert, sondem integraler Bestandteil dieses gesellschaftlichen Engagements. Die Grenzen einer Verallgemeinerung der Partizipation im Alter werden dazu haufig vemachlassigt. Nicht selten gewinnt man/frau in dieser Diskussion den pauschalen Eindruck, gesellschaftlich aktive altere und alte Menschen seien gleichermaBen gut fur Gesellschaft, Politik, Soziales, Nachbarschaft und die einzelnen Aktiven selbst. Zu wenig differenziert wird dabei nach Typen des Engagements und nach individuellen, institutionellen bis hin zu gesellschaftlichen Moglichkeiten, Grenzen und Illusionen hinsichtlich der freiwilligen und ehrenamtlichen Arbeit im Alter (vgl. Backes 1993a, 1987). Zu wenig diskutiert wird dabei vor allem die Sozialstruktur des Ehrenamtes und die entsprechend sozial ungleichen Zugangs- und Teilhabechancen sowie die auch damit zusammenhangenden Widerspriiche und Ambivalenzen des Ehrenamtes. So stellen Frauen in vielen Bereichen fi-eiwilliger und auch ehrenamtlicher sozialer Arbeit die weitaus groBte Gruppe, wahrend Maimer sich eher in politischen Ehrenamtem (Vorstanden, Beiraten etc.) und im Bereich instrumenteller Tatigkeitsfelder (wie Handwerks- oder Expertendienste) fmden. Gleichzeitig stellt sich immer wieder die Frage, weshalb sich dann nicht mehr altere und alte Menschen ehrenamtlich engagieren, weshalb Ehrenamt oder Freiwilligenarbeit nicht zum selbstverstandlichen Bestandteil des Lebens zumindest im aktiven oder jungen Alter geworden ist und sich weiterhin ein GroBteil alterer und alter Menschen ausschlieBlich im familialen und privaten Umfeld und in so genannten Freizeitbeschaftigungen engagiert. (Die Frage liegt nahe, ob sie nicht vielmehr hier ihr „wahi-es" im Sinne von fiir sie selbst wirksamen und lohnenswertes „soziales Kapital" (Bourdieu) weiter entwickeln, einsetzen und Ertrage bringen lassen.) Ein Blick auf die Position innerhalb der Arbeitsverhaltnisse und - damit zusammenhangend - auf die Sozialstruktur im Ehrenamt und in der Freiwilligenarbeit zum einen und auf deren widerspriichliche und ambivalente

Widerspruche undAmbivalenzen

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Bedeutungen zu anderen kann m.E. hierbei Aufschluss geben, wobei Position und Sozialstruktur sowie Widerspruche bzw. Ambivalenzen in der Bedeutung miteinander verwoben sind. Mit geht es - unter Berilcksichtigung zentraler Befunde zu freiwilliger unbezahlter Ai-beit oder Ehrenamt im Alter in Deutschland - primar um die Betrachtung der Position dieser Tatigkeitsformen im Kontext anderer Arbeitsverhaltnisse, um deren Sozialstruktur wie um die mit ehrenamtlichen/freiwilligem Engagement einhergehenden Widerspriiche und Ambivalenzen primar aus der Sicht der Akteurinnen und Akteure. Letzteres liefie sich weitergehend auch aus der Sicht der Zielgruppen, der Qualitat der Arbeit und der eventuellen Trager beantworten, was hier allerdings aus Grilnden der Ausfuhrlichkeit des Beitrags auBen vor bleiben soil. Hieraus ergibt sich - mit Blick auf die Anwendung - auch die Frage: Unter welchen Bedingungen und inwiefem stellt diese Tatigkeit cine sinnvolle Perspektive im Alter und fur das Alter dar? Relevante Fragestellungen zur Engagementforderung und -gestaltung lassen sich hieraus ableiten. Anknilpfend hieran lieBe sich - auf der Basis der hier vorgestellten analytischen Perspektive (Arbeitsverhaltnis, Sozialstruktur, Widersprilche und Ambivalenzen) der Frage einer aus gesellschaftlicher Sicht sinnvollen Nutzung sowie damit einhergehender Risiken und Nachteile der heute explizit geforderten Ressource alterer und alter Menschen fur das Gemeinwesen nachgehen. Unter welchen individuellen Bedingungen, Chancen und Risiken auf der einen Seite und gesellschaftlichen auf der anderen lassen sich altere und alte Menschen als Ressource der Sozialpolitik nutzen, und zwar ohne dass hierbei ein Widerspruch entsteht? Beobachtungen in der Praxis legen - ebenso wie ein Blick in die diversen Forschungsberichte zu dieser Thematik (vgl. exemplarisch Schmachtenberg 1980; Baches 1981; Braun, Claussen 1996; Kohli, Kunemund 1997; Braun, Bischoff \999) - folgende Thesen nahe: (1) Freiwilliges und ehrenamtliches Engagement ist kein sinnvoll einzusetzendes Potenzial, keine Sinn- und Beschaftigungsperspektive fur alle Frauen und Manner jenseits der Erwerbs- und/oder Familienarbeit. Denn der Zugang wie auch die Moglichkeiten, hieraus selbst positive Effekte fiir die eigene Lebenslage zu beziehen, sind sozialstrukturell (nach Geschlecht, Sozialstatus, Region etc.) ungleich verteilt. Dieses „soziale Kapital" (Bourdieu) steht nicht alien gleichermaBen zur Verfugung und sein Einsatz vermehrt sich auch nicht bei alien im gleichen Umfang. (2) Unter giinstigen Bedingungen (der Lebenslage, der Engagementgestaltung) kann freiwilliges und ehrenamtliches Engagement einen Beitrag zur Verbesserung der Lebenslage alterer und alter Menschen, zu ihrer sozialen Integration, Gesundheitsforderung, Sinnfindung u.A., leisten. Allerdings ist dies uberwiegend bei denjenigen alteren und alten Menschen der Fall, die auch daruber hinaus uber hinreichend Ressourcen und

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Potenziale verfilgen und auf das Ehrenamt bzw. die Freiwilligenarbeit entsprechend wenig angewiesen sind. (3) Um Ehrenamt aus der Sicht alterer und alter Menschen als Akteure ertragreich zur Entfaltung kommen zu lassen, ist es erforderlich, dass lebensphasen- und lebenslageangemessene Entwicklungs- und Gestaltungsspielrdume des freiwilligen und ehrenamtlichen Engagements insgesamt - bezogen auf verschiedene soziale Lagen, Geschlechter, Ethnien etc. - und die entsprechenden biografischen Moglichkeiten der Entwicklung und Gestaltung von „Sozialkapital" (Bourdieu) gefordert warden. (4) Letzteres geht einher mit einer verdnderten Arbeitsteilung im Lebensverlauf, zwischen den Geschlechtem und den sozialen Klassen, die freiwilliges und ehrenamtliches Engagement bereits in vorangehenden Lebensphasen und in verschiedenen wie auch ungleichen Lebenslagen zum Bestandteil des Alltags werden lasst und es nicht auf die Phase jenseits der anderen Arbeitsverhaltnisse fur diejenigen konzentriert, die es sich leisten konnen (und konnten).

Struktur und Entwicklungstrends freiwilliger bzw. ehrenamtlicher Arbeit

4.1 Grundstruktur und Typen freiwilliger

bzw. ehrenamtlicher

Arbeit

Freiwilliges und ehrenamtUches Engagement lassen sich als Arbeitsverhaltnisse zwischen Haus- und Erwerbsarbeit verstehen {Baches 1987). Das Engagement enthalt Merkmale beider und leistet als „Zwischen-Arbeitsverhaltnis" das, was aus den anderen Bereichen herausfallt bzw. in diesen keinen Platz fmdet, dort noch nicht oder nicht mehr bearbeitet wird. Im Grundsatz ist jedes freiwillige und ehrenamtliche Engagement nicht professionell, nicht entlohnt, nicht sozial gesichert und es hat keine formalen Qualifikationen zur Voraussetzung. Es beruht (im Grundsatz!) nicht auf einem Vertrag, sondem auf Absprache, z.T. auch auf Satzung und Wahl (z.B. bei Vorstandsarbeit eines Vereins). Im Idealfall ware freiwilliges bzw. ehrenamtliches Engagement die von Zwangen und Notwendigkeit der Sorge fur den eigenen Lebensunterhalt freie Beteiligung an der Gestaltung von Gemeinwesen und Gesellschaft. Die Unterscheidung der Haupttypen - des sozialen und politischen freiwilligen bzw. ehrenamtlichen Engagements - hat gemaB gangiger WertmaBstabe unserer Gesellschaft ihre besondere Bedeutung:

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Beim sozialen, dem ,typischen' Frauen-Engagement handelt es sich eher um hausarbeitsnahe Tatigkeiten, die meist unmittelbar mit der Sorge fur andere Menschen zu tun haben. Es ist eher Beziehungs-, Betreuungsund sonstige soziale (Dienstleistungs-)Arbeit. Hier findet sich haufiger die oben beschriebene Form der Freiwilhgenarbeit bzw. des „Neuen Ehrenamtes". Dem politischen ehrenamthchen/freiwiUigen Engagement ist es hierarchisch untergeordnet und mit vergleichsweise geringeren Gratifikationen - wie Macht, Einfluss oder Aufwandsentschadigungen - verbunden. Soziale Anerkennung wird - seit Jahren verstarkt von konservativer Seite verbal vermittelt. Faktisch bleibt sie meist gering. Ahnlich verhalt es sich mit der Moglichkeit, die Erfahrung im Hinblick auf berufliche Einbindung zu nutzen. Diese Engagementform entspricht haufiger dem „Alten Ehrenamt" (Kolland 2002). Soziales freiwiUiges Engagement entspricht eher der Haus- als der Berufsarbeit. Das gilt bezilglich der Inhalte (wie Pflegen, Helfen), der erforderlichen Qualifikationen, der Arbeitsweise und der Rahmenbedingungen (vereinzeltes Arbeiten, tendenziell unbegrenzte Verftigbarkeit, wenig Einfluss auf Gestaltung der Arbeit). Und es gilt bezuglich der .Belohnung' (zwiespaltige Anerkennung). Es kann die Form eines ungeschiitzten und unbezahlten Arbeitsverhaltnisses annehmen. Im politischen freiwilligen, hier eher; „ehrenamtlichen" Engagement hingegen ahneln die Tatigkeiten eher Erwerbsarbeit, wie sie bevorzugt von Mdnnern geleistet wird. Es bedeutet Beteiligung an Planungs-, Organisations-, Beratungs- und Entscheidungsfunktionen. Die Arbeit in Vorstanden, Aufsichtsraten und sonstigen kulturellen, politischen oder wissenschaftlichen Gremien bringt mehr ,Ehre' im Sinne von Ansehen, Macht oder Vorteilen, z.B. auch fiir das berufliche Weiterkommen oder den Zugang zu anderen Ressourcen (auch im Alter). (Hier wiirde der bei uns weiterhin gebrauchliche Begriff des „Ehrenamtes" dementsprechend auch eher passen; vgl. Kolland 2002)

Ehrenamtliche bzw. freiwillige Tatigkeit umfasst heute nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche: Politik, Kultur, Justiz, Freizeit, Jugendarbeit, Sport, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Gesundheit und Sozialwesen, Katastrophenschutz und Rettungswesen, Freiwillige Feuerwehren, Arbeitsschutz, Wissenschaft, Umwelt- und Naturschutz etc. (vgl. auch Kohli, Kiinemund 1997: 30ff.). Neben diesen beiden skizzierten Haupttypen gibt es z.B. den Typ der eher instrumentellen ehrenamtlichen Arbeit (siehe vor allem das Engagement in Expertenservices oder im kulturellen Bereich, z.B. in Theatergruppen). Hier finden sich auch soziale und politische Ehrenamter, diese umfassen jedoch nicht alles, was innerhalb dieser Initiativen und Gruppen freiwillig geleistet wird; auch hier existiert der Typ des sozialen und der des politischen Ehrenamtes bzw. sozialer und politischer Freiwilligenarbeit.

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Gertrud M. Baches

4.2 Entwicklungstrends, und ehrenamtlicher

insbesondere zur Sozialstruktur Arbeit

freiwilliger

Mittlerweile existieren einige (raumlich und bezilglich der Trager und Zielgruppen eingegrenzte) reprasentative Meinungsumfragen und andere (quantitative und qualitative) Studien zu freiwilliger/ehrenamtlicher Arbeit in Deutschland (vgl. Baches 1987; Muller, Rauschenbach 1988; von Rosenbladt et al. 1999; Beher u.a. 1999; Braun, Bischoff 1999; vgl. auch Kohli, Kunemund 1997, 1998; Kunemund 2004). Sie zeigen folgende Entwicklungstrends, wobei das Problem der unzureichenden statistischen Erfassung freiwilliger Tatigkeiten - in ihrer Unterschiedlichkeit und Komplexitat - {Kohli, Kiinemund 1997: 31; vgl. Kunemund in diesem Band) nach wie vor in Rechnung zu stellen ist (zur Schwierigkeit der Erfassung ehrenamtlichen und freiwilligen Engagements und der Vergleichbarkeit der Daten siehe Kiinemund 2004: v.a. 19ff.): 1. Wie die Ergebnisse der ersten bundesweiten Studie zum Thema freiwilliges/ehrenamtliches Engagement {von Rosenbladt et al. 1999), aber auch andere Studien (z.B. zum freiwilligen Engagement in der zweiten Lebenshalfte, vgl. Kunemund 1999, 2004; Kohli, Kunemund 1997, 1998) bereits zeigen, sind Potenzial und Bereitschaft zu einem - allgemein und weit gefassten - freiwilligem Engagement (gerade auch im mittleren und hoheren Alter) erheblich groBer als landlaufig angenommen und vielfach - z.B. vonseiten der Wohlfahrtsverbande - beklagt. Rund 22 Millionen Menschen in Deutschland engagieren sich - so die Ergebnisse der e.g. telefonischen Befragung - freiwillig und ehrenamtlich: (Hier liegt ein sehr weiter und offener Begriff des freiwilligen/ehrenamtlichen Engagements zugrunde; die methodischen Probleme einer telefonischen Befragung sind auBerdem in Rechnung zu stellen.) „Insgesamt jeder dritte Bundesbilrger (34%) (geschatzt wurden 18%, G.B.) ist nach eigener Angabe in irgendeiner Form ehrenamtlich engagiert - und zwar in dem Sinne, dass man in Vereinen, Initiativen, Projekten, Selbsthilfegruppen oder Einrichtungen aktiv mitmacht und dort unbezahlt oder gegen geringe Aufwandsentschadigung freiwillig ubernommene Aufgaben oder Arbeiten ausubt." {von Rosenbladt et al. 1999: 3; Hervorhebung G.B.).

Und weiter: „Der einzelne aktive Biirger kann dabei mehrere solcher Tatigkeiten austiben, d.h. in verschiedenen Feldem oder verschiedenen Gruppierungen bzw. Organisationen tatig sein. Dies komrat in erheblichem Umfang vor, Im Durchschnitt werden 1,6 ehrenamtliche Tatigkeiten pro engagierter Person ausgeiibt. Hochgerechnet auf die Gesamtheit von rd. 63 Mio. Bundesbiirgem ab 14 Jahren heiBt das, dass rd. 22 Mio. ehrenamtlich Engagierte in rd. 35 Mio. ehrenamtlich ausgeiibten Aufgaben oder Funktionen tatig sind." {von Rosenbladt et al. 1999: 3)

Widerspriiche undAmbivalenzen

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Im Durchschnitt investiert man knapp 15 Stunden pro Monat; eine aktive Minderheit (5%) sogar pro Woche 15 Stunden und mehr, Und es gibt zusatzlich viele, die zum ehrenamtlichen Engagement bereit waren (40%). Unter den bereits Aktiven ware jeder Dritte bereit, sein Engagement auszuweiten. 2. Immer wieder genannt wird die Zahl von rund 1,5 Mio. Ehrenamtlichen bzw. Freiwilligen im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege. Nach Hochrechnung des Allensbacher Instituts filr Demoskopie (1979) im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAG) sind davon 1 Mio. Frauen, und zwar tiberwiegend in den unmittelbaren Hilfsdiensten (im sozialen freiwilligen Engagement). Eine entsprechende Befragung brachte bereits 1985 hochgerechnet sogar 2,5 Mio. Freiwillige, obwohl die Spitzenverbande der Freien Wohlfahrtspflege eine rucklaufige Tendenz des freiwilligen Engagements beklagten. 3. Unbestritten ist die geschlechtsspezifische Verteilung freiwilliger Arbeit (vgl. auch von Rosenbladt et al. 1999): Frauen finden sich - umgekehrt als Manner - hauptsachlich im sozialen freiwilligen Engagement. Im politischen Engagement iibernehmen sie eher die prestigearmeren und z.T. ,unsichtbaren' Tatigkeiten. Die Wohlfahrtsverbande gehen von 80% Frauen in den unmittelbaren Hilfsdiensten aus. „Der Anteil ehrenamtlich tatiger Frauen betragt 30% und ist damit niedriger als bei den Mannern, bei denen 38% ehrenamtlich tatig sind. Frauen und Manner verteilen sich dabei sehr unterschiedlich auf die verschiedenen Tatigkeitsfelder. In einer Reihe von Tatigkeitsfeldem wird das ehrenamtliche Engagement tiberwiegend von Frauen geleistet. So betragt der Frauenanteil unter den ehrenamtlich Aktiven: im sozialen Bereich 67%), im Gesundheitsbereich 66%, im Bereich Schule/Kindergarten 65%), im Bereiche Kirche/Religion 65%)." {von Rosenbladt et al. 1999: 20)

4.

Hinzu kommt eine altersspezifische Verteilung (vgl. auch von Rosenbladt et al. 1999): Das Durchschnittsalter der Ehrenamtlichen liegt - laut Schatzungen - bei 53 Jahren, ist also recht hoch. Dieser Durchschnittswert weist - zusammen mit Erfahrungsberichten und Studien - auf einen nicht unerheblichen Anteil von Ehrenamtlichen im 6. und 7. Lebensjahrzehnt hin. Allerdings gehen die Beftmde auseinander, je nachdem, was alles unter freiwilliger/ehrenamtlicher Arbeit erfasst wird. Nach einer Zeitverwendungsstudie des Statistischen Bundesamtes wird von 22% freiwillig Tatigen unter den 60-70-Jahrigen - darunter bei jedem vierten Mann - und immerhin noch von 16 % der iiber 70-Jahrigen - hier noch jeden funften Mann - ausgegangen (vgl. BMFSFJ 1995: 62f). Die bundesweite Studie zu „Freiwilligenarbeit, ehrenamtlicher Tatigkeit und biirgerschafllichem Engagement" zeigt: „Bei den 60-70jahrigen ist, nicht anders als im Bevolkerungsdurchschnitt, etwa jeder dritte in irgendeiner Weise ehrenamtlich tatig. Bei den liber 70jahrigen geht der Anteil

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Gertrud M. Baches aus verstandlichen Grunden zuruck. Die Gesamtgruppe der Senioren (Personen ab 60 Jahren) weist daher einen unterdurchschnittlichen Anteil an ehrenamtlich Aktiven auf." {von Rosenbladt et al. 1999: 22)

Im Alterssurvey (vgl. Kunemund 2004: 17ff.) werden Mitgliedschaft in Vereinen und Verbanden und in diesem Zusammenhang ausgeilbte ehrenamtliche Tatigkeiten der tiber 49-Jahrigen gemessen, dabei speziell Teilnahme an altersspezifischen Gruppen, auBerdem weitere ehrenamtliche Tatigkeiten (auch ohne Anbindung an Vereine oder Verbande). Zu beiden Erhebungszeitpunkten (1996 und 2002) ist ein deutlicher Riickgang dieses Engagements mit steigendem Alter festzustellen. Multivariate Auswertungen (der ersten Welle) zeigen, dass weder kohortenbezogene Differenzen, wie Bildung, noch alterstypische Veranderung, etwa im Bereich der Gesundheit, diesen Rtlckgang hinreichend erklaren konnen. Ein Vergleich der Daten von 2002 mit denen von 1996 zeigt allerdings markante Differenzen: „Zunachst einmal ist die Engagementquote der 40-85-Jahrigen hinsichtlich der Funktionen und Amter in Vereinen, Gruppen und Verbanden geringfligig von 12,6 auf 13,8 Prozent gestiegen (...), bei Berilcksichtigung aller Funktionen von 16 auf 18,9 Prozent (was der Autor zum Teil (!) durch Methodeneffekte erklart, G.B.)- Dieser Anstieg betrifft nicht alle Altersgruppen, sondern insbesondere die 55-59jahrigen Frauen (7 vs. 13 Prozent in Vereinen und Verbanden, 9 vs. 18 Prozent insgesamt) sowie die Manner der Altersgruppen 55-69 (16 vs. 19 Prozent bzw. 18 vs. 23 Prozent) und 70-85 Jahre (8 vs. 12 Prozent bzw. 9 vs. 15 Prozent), diese Tendenz zeigt sich sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland. Im Westen zeigt sich ebenfalls ein etwas hoheres Engagement der 40-54-jahrigen Frauen, bei den Mannern dieser Altersgruppe ist das Engagement aber eher riicklaufig." (Kiinemund 2004: 18)

Insgesamt hat das Fazit der ersten Welle Bestand: Das tatsachliche Engagement im so genannten „neuen" Ehrenamt (z.B. Seniorenselbsthilfegruppen) ist eher gering; und es hat hier zwischen 1996 und 2002 auch nicht messbar zugenommen. Und unter den altersspezifischen Gruppen und Vereinen fmdet sich die starkste Beteiligung im „traditionellen" Bereich (s. Seniorenfreizeitstatten, -tanzgruppen). Der Schwerpunkt des Engagements hat sich nur minimal von den altersunspezifischen auf altersspezifische Gruppen, Vereine und Verbande verlagert. Und die RegelmaBigkeit des Engagements (etwa taglich) ist im Unterschied zu den Quoten und dem Zeitaufwand sogar etwas riicklaufig. 5. Die geschlechtsspezifische Verteilung ist gleichzeitig eine altersspezifische. Freiwillig arbeitende Frauen sind durchschnittlich alter als vergleichbare Manner. Besonders stark sind die 40-60-jahrigen Frauen vertreten (vgl. auch Kilnemund 2004). 6. Hausfrauen sind in alien Bereichen sozialer Arbeit - mit Ausnahme des Rettungsdienstes - die starkste Gruppe Freiwilliger. Sie verwenden auch die meiste Zeit auf die freiwillige Arbeit. Verlassliche Angaben zum Zeitaufwand sind nicht moglich. Die ublichen Schatzungen liegen bei

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durchschnittlich 12-18 Stunden im Monat. Insbesondere bei (Haus-)Frauen ist davon auszugehen, dass keine klaren zeitlichen Begrenzungen eingehalten werden. Sie leisten meist unmittelbare Arbeit mit und fur Menschen, die in der Tendenz unbegrenzt ist. 7. Frauen sind auBerdem in sozialen Selbsthilfegruppen iiberreprasentiert. AUerdings sind dltere und alte Frauen - trotz gegenlaufiger Anzeichen, etwa bei den Grauen Panthern oder in anderen Altengruppen - weniger in Selbsthilfegruppen als in traditionellen Bereichen des unbezahlten freiwilligen Engagements vertreten. 8. Mitgliedschaften in Organisationen, Vereinen und Verbanden, an die der uberwiegende Teil ehrenamtlicher Tatigkeiten gebunden ist, sind in den neuen Bundesldndern und bei Frauen deutlich seltener. Wahrend in den alten Bundesldndern diese Partizipation tlber die Altersgruppen leicht zuriickgeht, bei Frauen und Mannern gleichermaBen, ist dies in den neuen Bundeslandem nicht der Fall. „Die Differenz zwischen den alten und neuen Bundeslandem ist daher insbesondere der geringeren Partizipation der Jiingeren geschuldet." {Kunemund 1998: 329) Ehrenamtliche Tatigkeiten sind in den hoheren Altersgruppen seltener, auf das Gesamtspektrum, nicht nur auf das soziale Ehrenamt bezogen, kommen sie bei Mannern haufiger vor, und in den neuen Bundeslandem sind sie seltener {Kunemund \99S,: 3,2,4). 9. Die in den letzten Jahren zum Schlagwort avancierte ,Neue Ehrenamtlichkeit' lasst sich auch - in Erganzung und Fortftihrang zur obigen Beschreibung von Kolland (2002) sowie in Anlehnung an Praxisbeobachtungen und entsprechende Studien - mit folgenden Stichworten skizzieren (vgl. Beher et al. 1999; Muller, Rauschenbach 1988; Baches, 1987): • • • • •

•

geringfugige Bezahlung und damit Grenziiherschreitung hin zu ungeschiitzter, schlecht bezahlter ,Erwerbsarbeit'; regelmdfiige Qualifizierung (zu Beginn und begleitend der Arbeit), Trend zur Fachlichkeit, zur Halb-Professionalitdt; ausgekliigelte und gezielte Strategien zur Motivation Ehrenamtlicher, z.T. parallel Forderung nach Mehrarbeit der Hauptamtlichen; finanzielle Anreize an Freie Trdgerfur den Einsatz Ehrenamtlicher, Entwicklung zum ,Ersatz-Arbeitsverhdltnis' fiir Erwerbslose, fur vorzeitig in den Ruhestand versetzte, im Alter nach Beschdftigungsalternativen suchende (nicht ausgefiillte) Personengruppen; Auseinanderdriften von symbolischer Bedeutung des Ehrenamtes als - im Idealfall - freiwillige, frei gestaltbare, ganzheitliche, unbezahlte, spontane und zweckfreie Hilfe von Mensch zu Mensch auf der einen Seite und alltdglicher Erfahrung als ,Arbeitsverhdltnis dazwischen' mit Ersatz- und Pufferfunktionen auf der anderen. Damit einhergehend wachst die Gefahr, dass zwischen dem so genannten .zweiten Arbeitsmarkt' (schlecht bezahlte, ungesicherte,

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weitgehend ungeschutzte Arbeitsverhaltnisse, die vor allem fur Frauen, Benifsanfangerlnnen und gering Qualifizierte offen stehen) und den neuen Formen des ehrenamtlichen (nicht ganz freiwilligen, da aus einer entsprechenden Notlage der Sinn- und Beschaftigungssuche, haufig auch der notwendigen Suche nach einem Nebenverdienst heraus eingegangenen) Engagements eine Konkurrenzsituation entsteht. In beiden Fallen fehlen den „Arbeitskraften" Altemativen. Eine gesellschaftliche Verknappung und sozial ungleiche Verteilung von sinnvollen Beschaftigungs- und Verdienstmoglichkeiten tragt dazu bei, dass den diesbeziiglich relativ Benachteiligteren (die einen aus einer Qualifikationsproblematik, einer Geschlechterproblematik heraus, die anderen aus einer lebensphasengebundenen Situation heraus) die Probleme der Schnittstelle zwischen geringfugigen Beschdftigungsverhdltnissen und freiwilUgem Engagement zugeschoben werden.

5. Zur widerspriichlichen und ambivalenten Bedeutung der gewandelten ehrenamtlichen bzw. freiwilligen Arbeit fiir Altere Widerspriiche und - auf subjektiver Ebene - Ambivalenzen in der Bedeutung des Ehrenamtes und des freiwilligen Engagements leiten sich vor allem aus der Sozialstruktur in diesen Tatigkeitsformen ab, das heiBt: aus dem sozial ungleichen Zugang dazu und insbesondere zu begehrteren Ehrenamtem und freiwilligen Tatigkeiten, femer aus ihrer spezifischen Stellung zwischen Hausarbeit und Erwerbsarbeit, aus der entsprechenden zumindest normativen Zuschreibung eher an altere und alte Menschen und an von Erwerbsarbeit und/oder Hausarbeit nicht mehr in vollem Umfang in Anspruch genommene Personen (s. Frage der sozialen Verpflichtung, der Notwendigkeit eines Intergenerationenaustausches). Deutlich wird die diesem Arbeitsverhaltnis immanente Widersprilchlichkeit und Ambivalenz auch angesichts der zahlreichen Zwischenpositionen, die ihm zugeschrieben werden: zwischen „Sozialem Kapital" (Bourdieu) des Alters und begehrter Ressource der Sozialpolitik, zwischen Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung, zwischen Ausbeutung und Selbsthilfe, zwischen Haus- und Erwerbsarbeit, zwischen Freiwilligkeit und sozialem Druck, zwischen Selbstentfaltung und notwendiger Hilfe fur andere. Da sich der Ruhestand als Lebensabschnitt ohne Erwerbsverpflichtungen immer weiter ausgedehnt hat (siehe Strukturwandel des Alters, Tews 1990, Backes, Clemens 1998), sind auch die Chancen zu einer selbstgestalteten

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Nutzung dieser (Lebens)Zeit gewachsen. Die Schere zwischen den Potenzialen alterer und alter Menschen auf der einen Seite und den fiir sie zur Verftgung stehenden gesellschaftlichen Moglichkeiten des Engagements (und damit der Vergesellschaftung des Alter(n)s, vgl. Baches 1997) auf der anderen offnet sich weiter (vgl. Riley, Riley 1992). Im Sinne des „Aktivitatskonzepts" in der Gerontologie (vgl. Baches, Clemens 1998: 115ff.) gibt es schon seit Jahrzehnten Orientierungen in Altenkultur und Altenpolitik, die Aktivitat im Alter propagieren. Dies lieBe sich als ein Versuch interpretieren, die Schere zwischen individuellen Handlungsmoglichkeiten und Handlungsbedarfen, evtl. -bedurfiiissen und gesellschaftlich zur Verfiigung gestellten „Rollen" zu schlieBen. Damit stunde Ehrenamt oder Freiwilligenarbeit zwischen gesellschaftlich/ sozialpolitisch begehrtem Potenzial und „sozialem Kapital" (Bourdieu) der alteren und alten Menschen. Worin lage hier der Widerspruch? Erkennbar wird er m.E. bereits am eingeengten Gebrauch des Begriffs „soziales Kapital" im Zusammenhang mit Ehrenamt im Alter: In der Regel versteht man in der offentlichen und sozialpolitischen, aber auch haufig in der wissenschaftlichen Diskussion darunter: Helfen, fur andere etwas Tun, man sieht darin wenn auch eher diffus - auch das, was Haug (1997: 5) als „Intention von Putnam" in seinem Konzept des „sozialen Kapitals" versteht, namlich „(...) eine Losung fur Probleme des kollektiven Handelns durch Gemeinschaft und Vertrauen (...)". Man reflektiert nicht explizit oder gar primar die Bedeutung fur die Handelnden im Sinne einer Vemetzung und damit Verbesserungsmoglichkeit der eigenen sozialen Positionierung und Lebenslage, was im Bourdieu'schen Sozialkapital-Begriff z.B. angelegt ist. Und man assoziiert entsprechend mit „sozialem Kapital" immer etwas Positives fur die Gesellschaft und die beteiligten Individuen, abstrahiert damit von den ihm durchaus impliziten Widerspruchen und Ambivalenzen, wenn etwa Gesellschaftsinteressen und individuelle Interessen diesbezuglich nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen sind. Klassische Formen von Altersaktivitdten waren Angebote kirchlicher oder freigemeinnutziger Trager. Weitere offentliche Angebote bestanden schon fhlh im Bildungsbereich, wie z.B. Vortrage, Kurse an Volkshochschulen oder kulturelle Veranstaltungen. Doch erst seit den achtziger Jahren werden erweiterte Rollenmoglichkeiten und Handlungsspielraume alterer Menschen durch die Bereitstellung entsprechend weitergehender gesellschaftlicher Rahmenbedingungen gefordert, indem z.B. Selbsthilfeinitiativen unterstiitzt werden. Die bedeutendsten Formen politisch unterstutzter Initiativen sind „SeniorenbiJros", „Seniorengenossenschaften" sowie weitere nachberufliche Tatigkeitsbereiche und Formen neuer Freiwilligkeit, insbesondere im sozialen Bereich {Knopf 1997). Solche Initiativen tragen - auch als Formen modemer Altenarbeit {Baches, Clemens 1998: 285ff.) - zur Erweiterung bediirfnisbezogener sozialer Netzwerke und von Lebenswelten alterer Men-

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schen bei und fordem gesellschaftliche Partizipation und Integration im Alter. Freiwilliges Engagement und unbezahlte Arbeit im Alter haben in den letzten Jahren an Bedeutung fur die gesellschaftliche Partizipation alterer Menschen gewonnen (vgl. Schmitz-Scherzer u.a. 1994: 64ff.). Wurden noch bis in die achtziger Jahre Menschen iiber 65 Jahre in weiten Bereichen vor allem des sozialen Engagements reserviert behandelt, so hat in der Zwischenzeit ein umfangliches Werben um die zeitlichen und fachlichen Ressourcen Alterer eingesetzt. Dabei nehmen die Formen des „traditionellen" Ehrenamtes (wie Mitwirkung in Vereinen, Kirchengemeinden, sozialen Organisationen) in ihrer Bedeutung langsam ab. Die Entwicklung der freiwilligen Arbeit, deren quantitative und qualitative Anforderungen zugenommen haben, hat zu einer Differenzierung in ein „altes" und ein „neues" Ehrenamt gefiihrt und stellt inzwischen funktional eine unverzichtbare Erganzung zu den sozialen Diensten der „offenen Altenhilfe" dar. Allgemein konstatiert man - wie bereits angesprochen - einen Strukturwandel des Ehrenamts von der Fremd- zur Selbsthilfe, indem eine Ablosung gedufierter (!) „selbstloser" Motive sozial Engagierter mit Milieubindung (z.B. Kirche, Gewerkschaften) durch vermehrt gedufierte (!) „selbstbezogene" Motive erfolgt, die (auch) der eigenen Entwicklung und Entfaltung forderlich sind{Knopf \991: 30). „Empirisch (...) dilrften sowohl diese Differenzierung zwischen altruistischen bzw. Verpflichtungsmotiven und egoistischen bzw. Selbstentfaltungsmotiven als auch deren konkrete Mischungsverhaltnisse kaum bestimmbar sein." {Kiinemund 1999: 59) Dass heute mehr selbstbezogene Motive in Untersuchungen zu freiwilliger/ehrenamtlicher Arbeit thematisiert werden, hangt u.a. mit einem entsprechenden kulturellen Wertewandel zusammen: Selbstfmdung, Selbsthilfe, Selbstverwirklichung U.A. gelten heute eher als beispielsweise noch in den 1960er- und 1970erJahren als selbstverstandliche, legitime und durchaus darstellbare Beweggrunde, aktiv zu sein. Es wird geradezu erwartet, sich weniger aus Altruismus, denn aus „gesunder Selbstbezogenheit und Selbsthilfe" heraus zu engagieren. Wahrend noch vor zwei bis drei Jahrzehnten in unserem Kulturkreis altruistische Motive eher als erwiinscht galten, dtirfte dies heute zumindest tendenziell starker fiir egoistische Motive der Fall sein. Auch wenn entsprechende freiwillige bzw. ehrenamtliche Arbeiten als „Altenselbsthilfe(gruppen)" verstanden werden, tragen sie vielfach gleichzeitig zur Unterstutzung anderer Gesellschaftsmitglieder und zur gesellschaftlichen Integration freiwillig tatiger alter Menschen bei. Die Formen und Felder der „neuen Ehrenamtlichkeit" verkniipfen Lem- und Handlungsmotive und gehen in ihren Wirkungen inzwischen tlber den Sozial- und Gesundheitsbereich hinaus. Die Vielzahl moglicher Tatigkeitsfelder lasst sich in sieben Engagementbereichen zusammenfassen (vgl. Braun, Claussen 1996: 120): Bildung und Kultur, Hilfen im Alltag, Kontakte und gemeinsame Untemehmun-

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gen, altenpolitisches Engagement, handwerkliche und wirtschaftliche Tatigkeiten, Sport und Bewegung, Wohnen, Wohnumfeld und Umweltschutz. In Deutschland werden erst in den letzten Jahren von offentlichen Institutionen Hilfen zur Fordemng selbstbezogenen Engagements angeboten meist in Form von Modellprogrammen, die von Bundes- oder Landesministerien fmanziert werden. Als Beispiel kann das Bundesmodellprojekt ,,Semorenbiiros" genannt werden: Das vom Bundesministerium fur Familie, Senioren, Frauen und Jugend fmanzierte Modellprojekt „Seniorenbilros" (vgl. z.B. Braun, Claussen 1996) riclitet sich an die Gruppe der ,jungen" bzw. „neuen Alten". Die Bilros sind als Anlaufstellen fur altere Menschen gedacht, um ihnen Kontakte und Anregungen fur gemeinsame Aktivitaten zu vermitteln und Moglichkeiten eines Engagements sowie Zugange zu Tatigkeitsfeldem aufzuzeigen. Dazu wurden folgende Aufgabenbereiche vorgegeben: erstens nachberufliche Tatigkeitsfelder und ehrenamtliches soziales Engagement, zweitens Selbsthilfeaktivitaten und Selbsthilfegruppen und drittens Einbindung alterer Menschen in Nachbarschafts- und Beziehungsnetze. In zwei Phasen des Modellprojekts wurden in der gesamten Bundesrepublik insgesamt vierundvierzig Seniorenburos in verschiedenen Formen von Tragerschaft aufgebaut, die sich nach regionalen Interessen- und Problemschwerpunkten unterschiedlichen Formen von Aktivitat widmen: Schwerpunkte liegen in den Bereichen: „Hilfen im Alltag/soziale und gesundheitliche Selbsthilfe" (32 v.H. der Beteiligten), Bildung und Kultur (27 v.H.), Kontakte und gemeinsame Untemehmungen (13 v.H.), altenpolitisches Engagement (13 V.H.), Wohnen, Wohnumfeld und Umweltschutz (7 v.H.), handwerkliche und wirtschaftliche Tatigkeiten (5 v.H.) sowie Sport und Bewegung (5 v.H.). Das Projekt ist als Entwicklungs- und Bildungsprozess angelegt, indem uber eine Identiflzierung gemeinsamer Interessen in Gruppen allmahlich Tatigkeitsfelder erschlossen werden sollten. In einem weiteren Schritt wurde angestrebt, systematisch Nachfrage nach freiwilliger Tatigkeit im Umfeld der Seniorenburos zu eruieren und fur Interessierte zu dokumentieren. Auf diese Weise stellen die Seniorenbilros das vermittelnde Bindeglied zwischen engagementbereiten alteren Menschen und freiwillige Tatigkeit nachfragenden Organisationen - wie z.B. Wohlfahrtsverbanden, Gemeinden, fireien Initiativen, Verwaltungen und Krankenhausern - dar.

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6. Freiwillige unbezahlte Arbeit Alterer - zwischen Selbsthilfe und den Chancen und Gefahren gesellschaftlichen Engagements Einerseits kann freiwillige bzw. ehrenamtliche Arbeit - auch im Alter - eine Form der Veranderung und Selbsthilfe, des Herausfmdens aus Isolation und Einsamkeit und Beschaftigungslosigkeit bzw. dem Gefiihl von Leere und damit einhergehenden Folgeproblemen sein. Sie kann Belastungen - etwa im familialen Bereich — kompensieren helfen (Beispiele hierfur gibt es sogar bei ihre hochbetagten Eltem oder Ehemanner pflegenden Frauen). Freiwillige Arbeit wird haufig als Kompetenzerweiterung, als Erganzung und Alternative zu bisherigen Arbeitserfahrungen erlebt. Sie tragt zu einer neuen Qualitat der Zeit-, Kontakt- und Arbeitsgestaltung auch in anderen Bereichen bei. Die Beschaftigung kann als sinnvoll und befriedigend erlebt werden, Kontakte auBerhalb des gewohnten Rahmens eroffhen und zu psychischem und physischem Wohlbefmden beitragen. Alter kann so den Charakter des Nicht-mehrGebrauchtwerdens und Nicht-mehr-Dazugehorens zumindest teilweise verlieren. Andererseits ist freiwilliges unbezahltes Engagement keine Tatigkeit und damit auch keine Form der Selbsthilfe und frei gewahlten sinnvollen Gestaltung des Alters, die sich alle alteren und alten Frauen und Manner, die dies woUten und fiir die es sinnvoll ware, leisten konnen (vgl. Baches 1987, 1993a). Haufig fehlt die gesicherte Existenz, und freiwilliges Engagement kostet nicht selten auch Geld (Fahrten mit offentlichen Verkehrsmitteln, Telefonkosten etc.). Wird freiwillige Arbeit finanziell aufgewertet (z.T. bezahlt), geht damit die Gefahr einher, dass die positiven Funktionen der freien Arbeit verloren gehen und eine Grauzone zwischen Ehrenamt und ungeschiltzten Beschaftigungsverhaltnissen mit alien negativen Folgeerscheinungen entsteht. Die haufig zitierten Freiheitsspielraume dieser „freiwilligen" und gestaltbaren Tatigkeit werden haufig durch die Trager und durch Professionelle eingegrenzt. (So kann die vermeintliche Selbsthilfe zum „Vulkan des Verzichts" werden, wenn z.B. alte Frauen nicht einmal in der freiwilligen Arbeit aus den vorgeformten Bahnen weiblicher Tatigkeit entkommen, obgleich sie dies als erstrebenswert ansehen und in diesem Engagement suchen.) Zusammengefasst sind die wichtigsten Gefahren des (v.a. sozialen) ehrenamtlichen und freiwilligen Engagements aus der Perspektive alterer und alter Menschen: •

Die Chancen der Teilnahme sind sozial ungleich verteilt. Langst nicht alle alteren und alten Menschen, far die eine solche Beschaftigung sinnvoll und wichtig ware, haben Zugang zu einer (qualitativ zufriedenstellenden) sozialen oder gar politischen freiwilligen Arbeit oder einem Ehrenamt.

Widerspruche undAmbivalenzen •

• • •

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Fehlen die materiellen Voraussetzungen, besteht die Gefahr, dassfreiwilliges Engagement zur schlecht bezahlten, ungeschutzten Fast-Erwerbsarbeit wird. Fehlen die immateriellen Voraussetzungen, kann es zum Ersatz, statt zur Alternative einer freiwillig gewahlten Beschaftigungsform werden. In der heute (noch) hdufig iihlichen Form bietet soziales freiwilliges Engagement oft nur wenig Grundlagefiir Selbsthilfe. Es ist eher einseitig an den Interessen der Organisationen und Klienten ausgerichtet. Die Beteiligung — insbesondere von Frauen — an der Gestaltung desfreiwilligen Engagements ist relativ gering. Voraussetzungen hiertur werden noch zu wenig entwickelt und genutzt. Ausbeutung droht dann, wenn bei der Auswahl und Gestaltung der Arbeit bzw. des Engagements die Interessen und Voraussetzungen aufseiten der freiwillig Tatigen nicht hinreichend Berucksichtigung fmden

Zusammengefasst sind die wichtigsten Chancen im (v.a. sozialen) Ehrenamt und freiwilligen Engagement fiir altere und alte Frauen und Manner: •

•

• •

Ehrenamt oder freiwilliges Engagement kann jeweils eine spezifische Form der Selbsthilfe im Umgang mit den Verdnderungen, insbesondere Beschdftigungs- und Integrationsproblemen, im Verlaufe des Alterns sein. Ehrenamtliche oder freiwillige Arbeit kann Sprungbrett in neue Bereiche sein, zu Befreiung von festgefahrenen AUtagsstrukturen beitragen und psychosoziale Entwicklungsmoglichkeiten im Alter fordem. Sie kann ein Weg sein, sich als gestaltende Gesellschaftsmitglieder zu begreifen und zu einem anderen (Selbst-)Bild beitragen. Sie kann einer sukzessiven Entdeckung neuer Bewegungsspielraume gleichkommen, die im Idealfall auch Freiheits- und Gestaltungsmoglichkeiten offen lassen. Alles zusammen kann Zuwachs an Selbstbestdtigung, Selbstvertrauen, Zufriedenheit und Gesundheit bedeuten. Diese Arbeit kann ermutigen, sich auch anderen Aufgaben zu stellen und Altern nicht nur als Verlust undRuckzug, sondern ,mit Perspektiven' zu erleben undzu leben.

7. Zusammenfassung: Perspektiven und Konsequenzen Allgemein lassen sich hinsichtlich freiwilliger und ehrenamtlicher Arbeit Veranderungen beschreiben, die fur Handlungsperspektiven alterer und alter Frauen und Manner nicht unbedeutend sind:

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•

Gertrud M. Backes Soziale freiwillige Arbeit oder ehrenamtliches Engagement kann nicht mehr nur als traditionelle Beschaftigungsform fiir besser gestellte altere Frauen und Manner angesehen werden. Es hat sich in den letzten Jahren zunehmend von einem an den Sozialstatus gebundenen Tun zu einem zumindest auch auf Alterns- oder Lebensphasen bezogenen bin entwickelt. Es wird meist dann attraktiv, wenn es darum geht, zumindest zeitweilig das Fehlen anderer sinnvoller oder hinreichender Beschaftigung auszugleichen. (Hieran wird die Selbsthilfefunktion deutlich!) Dies kann sowohl bei jungen Frauen zu Beginn der Berufsarbeit, bei jilngeren Milttem ohne Erwerbsarbeit als auch bei alteren Frauen mit allenfalls geringen Chancen des qualifizierten beruflichen Wiedereinstiegs ebenso der Fall sein wie bei Frauen und Mannem ab dem 6. Lebensjahrzehnt, die (vorzeitig) aus dem Erwerbsleben ausscheiden und nach sinnvollen Beschaftigungsaltemativen und Moglichkeiten der sozialen Anbindung suchen. Auch die Formen des so genannten ,Ehrenamtes' haben sich verandert. Sie sind vielfaltiger geworden. Es gibt eine bunte Palette von karitativem Tun fur andere, z.B. im Rahmen einer Kirchengemeinde oder eines Verbandes, tiber soziales Engagement in Vereinen bis hin zur Selbsthilfe, die ebenfalls mit unbezahlter freiwilliger Arbeit in der Gruppe oder im Verein einhergehen kann.

Dem entspricht die veranderte Bedilrfnispalette alterer und alter Menschen, die gesellschaftlich sichtbar wird, z.B. nach sinnvoller Beschaftigung und Vemetzung auch auBerhalb der eigenen Familie (vor allem bei Frauen) oder als Alternative bzw. (Teil-)Ersatz der bisherigen beruflichen Tatigkeit und Einbindung (vor allem bei Mannern, aber auch bei Frauen nach dem Ausstieg aus ihrer Erwerbsarbeit). Handlungsperspektiven im Alter entscheiden sich bei Frauen bereits im 5. und 6. Lebensjahrzehnt, bei Mannem zunehmend im 6. Im 5. Lebensjahrzehnt tritt meist vor allem bei Frauen eine Entlastung von familialen Aufgaben ein {Backes 1993b, 1999, 2002). Im 6. Lebensjahrzehnt werden zunehmend auch Manner von ihren bislang lebensbestimmenden Aufgaben im Bereich der Erwerbsarbeit fireigestellt. Die physischen und psychischen Energien, das Interesse an Neuem, sind gleichzeitig bei vielen so ausgepragt, dass Handlungsaltemativen - auch zur ggf. (noch) ausgeilbten Erwerbsarbeit und weiter bestehenden familialen Aufgaben - erwogen und entwickelt werden. Das vorgezogene weibliche Altem, die Entlastung von der ,typischen Frauenrolle', kann ebenso eine Chance zur Entwicklung neuer Perspektiven sein wie das vorgezogene mannliche Altern, die frilhzeitige Entlastung von beruflichen Aufgaben (s, Selbsthilfe und freigewahltes Engagement) (vgl. Backes 2002, 2004; Clemens 1997; Perrig-Chiello, Hopflinger 2000).

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Insgesamt wird von einem erheblichen ungenutzten Potenzial freiwilliger Arbeit auch ab dem 6. Lebensjahrzehnt ausgegangen. Man argumentiert allerorts, dass gesellschaftliche Bedeutung und quantitative Verbreitung von Partizipation und Engagement im Alter sich in Zukunft erliohen werden (vgl. Enquete-Kommission „Zukunft des BilrgerschaftUchen Engagements" 2002: 213ff.)- Dem liegen als (vermuteter oder zugeschriebener) Bedingungshintergrund vor allem eine Verbesserung individueller Ressourcen auf der einen Seite und eine starkere gesellschaftliche Nachfrage auf der anderen zugrunde. Zu erwarten ist dabei auch eine Schwerpunktverlagerung vom eher traditionellen Bereich der Verbande und Organisationen mit eher passiveren Formen der Beteiligung, hin zu aktiveren und attraktiveren Partizipationsformen wie zu selbstorganisierten und eher selbstbestimmten Formen freiwilligen Engagements im gesellschaftlichen Kontext. Freiwilliges Engagement ist-imZuge des Strukturwandels (des Alter(n)s, des Ehrenamtes und der Sozialpolitik) und seiner zunehmenden Forderung attraktiver geworden als Sinn- und Beschaftigungsperspektive jenseits der Erwerbs- und/oder Familienarbeit. Allerdings bleiben sozialstrukturelle Zugangsbarrieren (wie insbesondere bildungs-, einkommens- und regional bedingte) bis ins Alter hinein erhalten. Trotz beginnender Gegenbevv'egung bleibt soziales Ehrenamt bzw. soziales freiwilliges Engagement das primar alteren und alten Menschen und hier vor allem Frauen zugeschriebene, politisches Ehrenamt bzw, Freiwilligenarbeit muss hier erst erschlossen und leichter zuganglich gemacht werden. Nicht selten fmdet hier sogar ein an das chronologische Alter bzw. den Berufsausstieg gekoppelter Ausschluss statt (siehe Ehrenamter in Gewerkschaften oder Parteien). Erfahrungsberichte und Studien weisen darauf hin, dass - insbesondere bei Berucksichtigung lebensphasen- und lebenslagenangemessener Gestaltungsspielraume (hinsichtlich der Zielgruppen, der Inhalte, der Rahmenbedingungen der Arbeit) - freiwilliges, ehrenamtliches Engagement zur Verbesserung der sozialen Integration und Sinnfmdung, des subjektiven Wohlbefmdens und damit vielfach auch der gesundheitlichen Situation im Alter beitragen kann (vgl. Braun, Bischoff 1999; Braun, Claussen 1996; Kohli, Kiinemund 1997). Strukturwandel des Ehrenamtes, Alter(n)sstrakturwandel und Veranderungen der Sozialpolitik greifen hinsichtlich der Entwicklung via „neue Ehrenamtlichkeit" ineinander: Mehr aktivitatsbereite und -kompetente altere Menschen stehen mehr hilfebedurftigen hochaltrigen und einer quantitativ tlberforderten Familienstruktur und Sozialpolitik gegenuber. Gleichzeitig gilt Alter - auch der vorgezogene Ruhestand - als frei zu gestaltende Lebensphase, in der gesellschaftlicher Druck, bestimmte Arbeiten zu tun, kaum mehr akzeptiert wird, Umso mehr sind gesellschaftliche Motivationsanstrengungen zum ErschlieBen dieses Potenzials erforderlich. Um freiwillige Arbeit im Sinne von Selbsthilfe zu nutzen, mtissen Aufgaben, Inhalte, Organisati-

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onsformen, Gratifikationsmoglichkeiten, Fortbildung und Begleitung nicht nur primar am Gegenstand der Arbeit ausgerichtet sein, sondern auch an den Interessen und der Lebenslage der dort Tatigen bzw. daran Interessierten. Folgende Voraussetzungen sind wichtig; (1.) eine materielle Existenzgrundlage, die unbezahltes Arbeiten ermoglicht, (2.) dass die „Freiwilligen" tatsachlich frei zur Ubemahme dieser Arbeit sind und nicht nur freigesetzt von anderen Arbeitsverhaltnissen bzw. Beschaftigungsformen und Sinnfmdungsmoglichkeiten, (3.) Rahmenbedingungen fur die Gestaltung und den Einfluss der Freiwilligen auf Ziele, Inhalte und formale Gestaltung ihrer Arbeit, (4.) Rahmenbedingungen fur die Entwicklung des Selbsthilfecharakters, Fordem und Nicht-Tabuisieren dieser Motivation, z.B. durch Arbeit in Gruppen und an Themen, die die Freiwilligen selbst wahlen, (5.) Rahmenbedingungen fur die Entwicklung auch politischen Engagements und Aufhebung der Trennung von sozialer „Schmutz"- und politischer „ehrenvoller" Arbeit. In der Praxis ist dies alles immer Gegenstand von Verhandlung und Auseinandersetzung, insbesondere mit den Tragem und den Hauptamtlichen bzw. Professionellen. Damit freiwillige Arbeit eine Handlungsperspektive im Alter sein kann, muss sie zum Verhandlungsgegenstand auch von Alter(n)spolitik werden. AbschlieBend drei Empfehlungen fur die Gestaltung im Interesse der freiwillig Tatigen: 1.

2.

3.

Um diese Arbeit tatsachlich zu einer Perspektive fiir altere und alte Frauen und Manner zu machen, ist der Zugangfiir alle zu ermoglichen. Das bedeutet Verbesserung der materiellen Voraussetzungen, sich eine unbezahlte, freiwillige Tatigkeit leisten zu konnen. Es bedeutet auch gezielte Motivation und Unterstiitzung derjenigen, die aufgrund ihrer personlichen Situation Barrieren zu iiberwinden haben. Die Qualitat der freiwilligen Arbeit ist daran zu messen, ob die viel zitierten Freiheits- und Gestaltungsspielrdume fur die dort Tatigen tatsachlich genutzt werden konnen. Selbsthilfe als Motiv ist zu fordem, nicht zu tabuisieren. Bei der Gestaltung der freiwilligen und ehrenamtlichen Arbeit im Interesse der alteren und alten Frauen und Manner sind Qualitatsanforderungen zu beriicksichtigen, die sich sowohl auf die Zielgruppen der Arbeit als auch die Tatigen positiv auswirken. Dies erfordert professionelles Know-how fiir die Motivation, AuswahJ, Qualifizierung, Begleitung und Supervision sowie kontinuierliche Organisation und Begleitung derfreiwillig/ehrenamtlich Arbeitenden.

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Alter, Wijrde und Gemeinschaft: Von der Notwendigkeit und Problematik der Gemeinschaftserhaltung und Gemeinschaftsbildung im Alter Michael Gilnther

1. Vorlauflge tjberlegungen Ach - fliichtig entgleiten die Jahre. Und nahezu jeder fi-agt sich einmal: Was ist das tlberhaupt: „Alterung"? 1st es nicht der Prozess, den nattlrlicher Weise ein jeder aufzuhalten versucht, soweit er es vermag? Und ist nicht jeder kritische morgendliche Blick in den Spiegel Beweis genug, dass dies so ist und so sein muss? Skeptisch, wie eine Person, die gerade einen gefahrlichen Sturz iiberlebt hat, iiberpriift der alte Mensch morgendlich die Funktionen seines Korpers, immer auf der Hut vor neuen Gebrechen und erschreckenden Zerfallserscheinungen. Die Restaurationsarbeiten zur Wiederherstellung eines .jugendfrischen" Erscheinungsbildes oder auch nur eines prasentablen auBeren Zustandes, der zur Anteilnahme am offentlichen Leben berechtigt, nehmen mehr und mehr Zeit in Anspruch: Dritte Zahne werden montiert, Cremes werden aufgetragen, Doschen, Flaschchen, Tuben und Piilverchen werden herangezogen; Pillen werden geschluckt (...) - im Intimbereich des Alters werden beflissen normal ilbliche Alterserscheinungen bekampft. Was ist das Alter „objektiv"? Um rein temporar- und physisch-konstitutionell Mafi nehmenden Bestimmungen des Alters zu entgehen, mag man das Alter abstrakt, psychologisch und soziologisch als einen Zustand der letzten, potenziell schaffenskraftigen, geistig wohl behaltenen Generation begreifen, in dem sich der Einzelne trotz aller Vorbehalte sowohl innerlich selbst als „alt" begreift, versteht und empfmdet (wenn auch nicht unbedingt darstellt), wie auch von den heranwachsenden, nachkommenden und gleichrangigen Generationen als „alt" begriffen wird. Diese Definition des Alters hatte den Vorteil, dass in ihr bestimmte soziale altersbezogenen Wert- und Sinngebungsgehalte und damit auch die Frage was „objektiv" als Alter bestimmbar sei, in den sozialen Raum selbst verwiesen und den Greifarmen der empirischen Sozialforschung und Mentalitatsforschung als wandelbare Gegenstande der Untersuchung iiberlassen wiirden.

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Die Jahre wachsen, aber die Krafte schwinden. Kaum ein Mensch scheint alt sein und alt wirken zu wollen, obwohl nahezu alle - als jung erscheinende Menschen - alt zu werden hoffen. Dieser scharfe, im Grunde untiberbrlickbare Grundwiderspruch, der zumindest vordergrilndig all die oben geschilderten Verhaltensmerkwilrdigkeiten zu erklaren vermag, scheint bestimmte Hemmungen, Angste und auch bestimmte weitergehende soziale Problematiken zu bedingen. Soziologisch betrachtet, ist zunachst zu fragen, in welchem MaBe die Furcht vor den Alterserscheinungen und die Motivation, im Empfinden anderer und in der eigenen Wahrnehmung, jung zu bleiben, rein naturlich, physisch und psychologisch begrundet ist oder sozial vermittelt wird und also auch von der sozialen Konstitution und den Wertgebungsprozessen menschlicher Gemeinschaften und Gesellschaften abhangt. „Den alten Wolf reiten die Krahen." - Fasst man unsere alltaglichen Redensarten als Rudimente von Mentalitaten und Einstellungen auf, die spezifische Haltungen zum Leben in kristallisierter Form charakterisieren, so scheint es nicht ganz unangebracht, diese einmal in Bezug auf altersbezogene Ausdriicke hin zu befragen, und insbesondere darauf zu achten, welche Werturteilsgehalte hier mittels sozialer Nachahmung von Denkarten von Mensch zu Mensch mental „transportiert" werden. Frisch also aus dem Leben gegriffen: „Das Alte klappert, das Neue klingt", „Junge Rebe muss verdorren, kommt sie neben alte Knorren."- Wir sprechen im negativen Sinne davon, zum „a!ten Eisen zu gehoren", oder etwas zum „alten Eisen zu werfen". Das „alt und grau werden" gilt weniger als Anerkennung einer Uberlebensleistung, derm als deprimierende Feststellung fiir den Angesprochenen. - Erschrocken weichen wir zuriick, sobald uns mitgeteilt wird, wir hatten in einer Situation „ziemlich alt ausgesehen". Abwertend ist die Rede vom „alten Hut", von „alten Kamellen", von der „ewig alten Leier" vom „ahen Lied", das niemand mehr zu horen wiinscht, ebenso von „ewig Gestrigen", von Personen und Ideen, die „von gestem und vorgestem" und schon daher uberholt oder unerwtinscht seien, von „alten Zopfen", die abgetrennt werden mtissten, von tlberkommenen Denkern, die „bereits Moos ansetzen", oder denen gar „der Kalk aus der Hose riesele", ebenso von betagten Wissenschaftlem, uber die „die Zeit hinweggegangen" sei, denen folglich auch nicht mehr zuzuhoren lohne. {Mackensen 1986) Fast hat es den Anschein, als lebten wir in einer Gesellschaft, die rasant in eine unbekannte Zukunft strebend zugleich vor ihrer eigenen Vergangenheit flohe. Das Alte scheint oftmals als Synonym des Schlechten, nicht mehr Erwiinschten, Unerfreulichen - kaum noch Existenzberechtigten. Das Pradikat „alt" ist fur sich genommen vorwiegend negativ wertbesetzt und wird nicht selten in selbstverstandlicher Weise, unbefleckt von Sachkenntnis anstelle eines Argumentes einer Sache, einem Wesen oder Sachverhalt zugeschrieben, um es zu diskreditieren oder um es der Vergessenheit anheimzustellen. Gerade Geisteswissenschaftlem, die sich um die Erhaltung und

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Pflege hochwertigen klassischen Gedanken- und Theoriegutes bemilhen, ist dieser ~ in wissenschaftlicher Hinsicht wenig erfreuliche aber doch soziologisch hoch interessante - Sachverhalt hinreichend bekannt.

2. Wiirde und Gemeinschaft Man mag das Alter innerhalb der Neuzeit einmal idealtypisch am MaBstab der Theorie von Gemeinschaft und Gesellschaft des Soziologen Ferdinand Tonnies messen, einem Soziologen also, der dem Alter aufgrund seiner Stellung innerhalb mikrosozialer und makrosozialer menschlicher Gemeinschaften und Gemeinwesen eine besondere Wiirde zugeschrieben hatte, eine Wiirde, die allerdings in Gesellschaft nicht recht gedeihen wollte. Die besonderen Fahigkeiten und Eigenarten des Alters schienen mit den Werten der jungen, schnelllebigen und nahezu vergangenheitslosen Gesellschaft in Widerspruch zu stehen. Die Psychologie des Thomas Hobbes zugrunde legend, nahm Tonnies an, dass sich aufgrund der Schwachung der vegetativen und animalischen Leidenschaften im Alter Eigenschaften wie „Ausgeglichenheit" und „Vorsicht" besonders begiinstigt entwickelten." Der Greis steht tiber dem „Jahzom", der „Rache" und dem „Zwist." {Tonnies 1991: 15) Dem Alter waren zudem die „Mittel und Methoden des Gluckes, bekannt" - wenngleich in ihm die emotionale Fahigkeit, Gliickszustande selbst zu genieBen, nur noch relativ schwach ausgepragt war. {Tonnies 1991: 130) Tonnies sprach insbesondere von der „Wurde der Weisheit" des Alters, die aus wirklicher „Altersklugheit", „Lebenserfahrung" und „Besonnenheit" erwuchs und Anerkennung und „Ehrfiircht" auch den jiingeren Generationen abverlangte, zumal dann, wenn sie „als eine iiberlegene Kraft (gilt), die zum Wohle der Untergebenen oder ihrem Willen gemaB ausgeilbt wird und dadurch durch diese bejaht wird." Das Alter war Tonnies zufolge zur Fuhrung und Beratung eines Gemeinwesens besonders geeignet. Das Vorbild der herrschaftlichen Wtirde ergab sich aus dem Bereich der mikrosozialen Verbindungen: Es war die Autoritat und Wiirde der Vater (und Mutter) mikrosozialer Gemeinschaften, die quasi in „naturlicher" Weise gegeben war und sich im Familienleben weiterentwickelte und intemalisiert wurde - wenn nicht besondere Beeintrachtigungen diesen Prozess hemmten. Die traditionale Herrschaflswtirde eines aus zahlreichen Gemeinschaften bestehenden, organisierten Gemeinwesens leitete sich also immer aus dem Bild und aus der Vorstellung und so auch aus der Erfahrung der realen Existenz der vaterlichen (und miitterlichen) Wiirde ab, deren Geltung das Verhaltnis der Generationen zueinander pradisponierte. Wenn diese - traditional und sittlich fundierte - Wurde verging, gehorte allerdings auch jene der Vergangenheit an. So sprach Tonnies von der seiner-

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zeit schon groBtenteils uberkommenen und iiberwundenen - traditionalen „Wurde der Macht", die dem Alter in gemeinschaftlich dominierten Geschichtsepochen zuerkannt werden musste, soweit es sich noch als herrschende Elite oder als traditionale Gerontokratie erhielt. {Tonnies 1991: 11, 130 ff.)' Die spezifische Menschenwurde des Alters war bei Tonnies ganz wesentlich an das Vorhandensein eines lebendigen Gemeinschaftslebens gebunden. Wenn nun aber das Zeitalter der Gemeinschaft selbst „alt" war und wesentlich der Vergangenheit angehorte, wie Ferdinand Tonnies es betont hatte, Gesellschaft demnach in ganz iiberwiegendem MaBe unser soziales Leben bestimmte, stellte sich naturlich sogleich die Frage, ob auch die Wtirde der Alten in Gefahr war, nahezu ganzlich zerstort zu werden, sofem sich Gesellschaft gegenuber Gemeinschaft durchgesetzt hatte oder durchsetzen wiirde. Dann wiirde der Konflikt zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft sich im „Gegensatz der Lebensalter" und ihrer verschiedentlichen gegenseitigen Wtirdigung und Entwtirdigung entsprechen. {Tonnies 1991: 130) Die soziologische Berechtigung der Herstellung eines solchen theoretischen Nexus soil hier auf die Probe gestellt werden.

3. Das verborgene Alter Hinweis darauf, dass dem Alter auch als Kategorie menschlich-sozialer Wesen tatsachlich die Wiirde abgesprochen wird, erhalten wir jenseits aller euphemistischen Betrachtungen von der Schonheit des goldenen Herbstes der „white birds" oder anderer stereotyper Altersbilder und individualistischen Mittelstandsidyllen: Denn das Alter als solches versteckt und tamt sich in immer starkerem AusmaB und wird nahezu „unsichtbar"; obgleich es wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte ein quantitativ hochst bedeutsamer demografischer Faktor geworden ist.^ Das Alter verbirgt sich: dies naturgemaB, Die Alteren und die Alten stellte Tonnies seinerzeit ~ sofern sich das Alter mit Weisheif, Wissen, Bildung und dem Willen zur Machtausiibung paarte - durchaus noch in die Reihen der herrschenden Schichten eines Volkes. So sprach er in selbstverstandlicher Weise von den „Alteren, Starkeren und Gebietenden." Die Idee und das Ideal einer Herrschaft der Alten, Wissenden und Lebensklugen (Philosophen) war ihm auch von der Lekttire Platos her noch bekannt und sympathisch. So schlug er den institutionellen und organisatorischen Einbau eines „Rates der Alten" in neuzeitliches Staatsverfassungen und Regierungssysteme vor. {Tonnies 1981:40) Das statistische Bundesaint errechnete fur die Bundesrepublik Deutschland, dass dieser Trend sich verstarken wird: Die Gruppe der Personen, die alter als sechzig sind, betragt heute 24% und wird 2050 etwa 37% betragen. Die bevolkerungsreichste Gruppe des Jahrcs 2001 war jene der AchtunddreiCigjahrigen, jene des Jahres 2050 wird die der Zweiundsechzigjahrigen sein.

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wiewohl auch den gegebenen sozialen Moglichkeitsbedingungen folgend, mehr in konkurrenzhafter Gesellschaft und Offentlichkeit als in der vertrauensvoUen Intimitat von residualen Gemeinschaften und Primargruppen. Das Alter muss scheinbar gerade in der modemen, leistungs- und effizienzbetonten Gesellschaft verjtingt, ja nahezu jugendlich erscheinen. Zuweilen weicht es auch, der Unmoglichkeit dieses Anspraches Respekt zollend, tendenziell Oder ganzlich aus dem Blickfeld der nachkommenden Generationen: Selbstverleugnung, Altersdepression, Mortifikation und soziale Isolation konnen in ungliicklichen Fallen als schmerzhafte Folgen angesehen werden, die zu diesen Zwecken notwendig in Kauf genommen werden, insbesondere, insofem keine Gemeinschaft in der Lage ist, gesellschaftlichen Statusverlust und sozialen Rtickzug aufzufangen. Und das gemeinschaftliche Band zwischen den Generationen sowie innerhalb der verschiedenen Generationen selbst ist unter neuzeitlichen Verhaltnissen oftmals so morsch und diinn geflochten, dass ein AbreiBen der gemeinschaftlichen Verbundenheiten schon bei geringen Belastungsproben wahrscheinlich ist (vgl. Tonnies 1981: 39). Gesellschaftlich betrachtet erscheint der alte Mensch in bestimmter Hinsicht als weniger autonom als man es zunachst vielleicht annehmen mochte. Er hangt wie kein anderer vom Zustrom industriell gefertigter Industrieprodukte und massenhaft dargebotener Dienstleistungen ab, vor allem auch im Bereich der medizinischen Versorgung. Alterserscheinungen aller Art werden mehr und mehr kunstvoll retuschiert, operativ entfemt, verdeckt und verhiillt, als handele es sich auch hier schon um Symptome einer Krankheit, um Zeichen eigenen Versagens und Prestigeverlustes, fast so auch, als sei insbesondere der alte Mensch zur Tauschung verpflichtet, um noch am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu konnen. Zweifelhafte RatschlSge wohl meinender Mitmenschen, beredter Fachleute, gewandter Handler, Altersspezialisten und anderer Profiteure der Alterung, die uns mittels geballter Medienmacht den Weg zu mehr , jugendlicher Dynamik", einem sportlichen AuBeren und vermehrter Potenz und „Leistungskraft" weisen wollen, fmden mehr und mehr Interesse - als drohe jenen, die nicht die Uberwindung des Alters anstreben, sondem wiirdevoll zu dem zu stehen bereit sind, was sie wurden, erreichten und aus sich machten, der Ausschluss aus dem Kreis der aktiven und lebendigen, wertgeschatzten Mitglieder der Gesellschaft. So lasst sich schon fi-agen: Schamt sich das Alter seiner selbst, well es Unangenehmes, well es Verfall, Krankheit, Siechtum und ein unproduktives, zumindest in gesellschaftlicher Hinsicht nahezu „zweckloses" Leben erahnen lasst? Die universalisierte Asthetik der Jugendlichkeit, die unser Menschenbild seit dem revolutionarem Hereinbruch des Industriezeitalters in der westlichen Hemisphare mehr und mehr dominiert und unser Handeln mittlerweile wie selbstverstand-

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lich pradisponiert, verrat uns vielleicht auch etwas uber unser eigenes, vorwiegend gesellschaftlich-teleologisches Selbstverstandnis.^

4. Die Entwertung der Vergangenheit Die Zeiten der traditionalen Herrschaft des Alters aufgrund seiner „naturlichen Uberlegenheit" (Tonnies) sowie die historische Periode des ancestor workship (Ahnenkultus) sind vorbei (vgl. Tonnies 1981: 37; Weber 1972: 547). 1st aber die Vergangenheit, sind unsere eigenen Vorfahren ohne Wtirde und traditionalen Eigenwert, ist es tendenziell auch der aus ihr Abstammende, vor allem der Vergehende selbst. Soweit die Gegenwart von der Vorstellung des Zukiinftigen ganzlich beherrscht wird, der sie in rapidem sozialen Wandel begriffen zustrebt, kann auch das Alter in der Wahmehmung der Gegenwart nicht mehr als werttragende Idee, als Bildnis legitimer Herrschaft oder als Vorstellung unzweifelhafter Wiirde (Gerontotropie) enthalten sein (vgl. Tonnies 1981: 39; Weber 1972: 547). Selbst der menschliche Wille, der so vieles vermag, steht dieser Tatsache relativ ohnmachtig gegeniiber. Das Alter, sofem es sich gehorsam und in selbstverstandlicher Weise selbst verleugnet oder in altersfremde soziale Rollen zu schliipfen gezwungen ist, hort gewissermaBen auf, als seiches zu existieren. Es hort auf zu existieren als geistiger und emotionaler Zustand, als Weisheit des KoUektivs, als bestimmende und mitbestimmende Macht und Autoritat, als Gedachtnis der Gemeinschaft, wie auch als Gewohnheit des alltaglichen Zusammenlebens (vgl. Tonnies 1981:37). Die faktische Mortifikation von traditionalen Altersrollen, zum Beispiel im Bereich der integrativen Anteilnahme an weltlicher und auBerweltlicher, religioser und politischer Filhrung von Sozietaten, wie sie im sakralen Leben der Griechen, der Romer, der Christen und des Judentums oder im romischen Senat und im germanischen Gerusium zutage trat: Erinnert dieser Vorgang, in Vollendung gedacht, nicht schon an Wells soziologisch inspirierte Fiktion der scheinbar sorgenlosen und glilcklichen Gesellschaft der Jugend - die doch tatsachlich wenig mehr ist als eine fuhrungslose, gedachtnis- und kulturlose amorphe „Masse" von locker zusammenhangenden, hedonistischen Traumwandlem, die bedenkenlos die ihnen auferlegte unhinterfragbare Maxime von der Notwendigkeit der Beseitigung des Alters befolgt und sich auch von den letzten Resten gemeinschaftlicher Solidaritat befreit hat? Was Betrachtet man die Franzosische Revolution als einen voraussetzungsreichen Wendepunkt der Weltgeschichte, ware es einmal sinnvol), zu untersuchen, inwiefem sich hier im Schatten scheinbarer Klassenkampfe auch Generationenkonflikte verbargen - denn die Revolution selbst war jung, das besiegte Regime war der „alte Staat", das „alte Regime".

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in der Fiktion Wells der physische, ist im anderen Falle in gewisser Weise der soziale Tod: ein Absterben bestimmter traditional legitimierter sozialer Chancen und Lebensmoglichkeiten. Wenn die Selbstverstandlichkeit der Prasenz des Alters im offentlichen und gesellschaftlichen Leben schwindet, geht damit, soziologisch betrachtet, unzweifelhaft eine besondere Art der sozialen Wert- und Strukturgebung verloren, die Jahrtausende lang von groBer, sinnhafter kollektiver Bedeutung war. Eine gewisse Furcht des Alters, als das zu erscheinen, was es doch ist, sein Hang, gesellschaftlich „unsichtbar" zu werden oder sein assimilatorischer Impuls, sich nahezu widerstandslos in ein weitestgehend fremdbestimmtes und universalisiertes Repertoire von Altersrollen einzuordnen, kann mit Friedrich Nietzsche als deutlicher Ausdruck von spezifischen Status- und Prestigeproblemen des Alters begriffen werden {Nietzsche ISPS)."* Derm was der Autor mit hervorragendem soziologischem Gespur schon am Beispiel des absteigenden, gewissermaBen besiegten franzosischen Adels belegte, lasst sich auch in Bezug auf das Alter sagen: Soziale Funktionsverluste des Alters (wie auch bestimmter Klassen, Geschlechter, Stande oder Religionsgemeinschaften) filhren in aller Kegel sozialen Abstieg und reaktives Anpassungsoder Rtickzugsverhalten herbei. Ferdinand Tonnies etwa hatte sich in seiner statistischen Studie iiber den Selbstmord, der extremsten Form dieses RUckzugsverhaltens, u.a. dem Sachverhalt zugewandt, das allgemein feststehe, „dafi die Selbstmordhaufigkeit mit steigendem Alter erheblich zunimmt. Eine Erscheinung die in alien Landem beobachtet wurde, wo solche Beobachtungen stattfanden" und desgleichen diesen Sachverhalt unter Herausstellung eines spezifischen Stadt-Landgefalles statistisch bestatigt: Gesellschaft verstarkte ihm zufolge gegeniiber Gemeinschaft die Tendenz zum Alterssuizid. Es fragte sich , ob gerade im Altersuizid ein destruktiver Wunsch und Wille des teleologischen gesellschaftlichen Kollektivs seinen besonderen, scheinbar individuellen Ausdruck fand (vgl. Tonnies 1927: 21ff, 1981: 39). Funktionsverluste und Niederlagen von Klassen, Geschlechtem und Generationen werden durch negative Diskriminierung auf vielfaltigste Weise markiert oder mittels der Macht und Herrschaftsgewalt symbolischer Interaktion kommuniziert, bis der Sieg der iiberlegenen Kategorie Mensch schlieBlich fast als naturlicher Status quo erscheint. Dann gehort die (formale) Anerkennung dieses Status quo zur Uberlebensbedingung der Unterlegenen. Als etwa der franzosische Adel schon die Symbole der neuen btirgerlichen Herrschaft zu tragen und ihre Wertigkeiten anzunehmen hatte - so war er bereits nahezu vollstandig besiegt. Und ebenso das Alter, so es sich hinter den Symbolen und dem auBeren Erscheinungsbild der Jugend zu verbergen hatte und "^

Diese soziologische These wurde iibrigens in Hannah Arendts fundamentalem Werk „Elemente und Ursprilnge totaler Herrschaft" (Arendt 2000; 72, 44ff., I38ff., 223ff,) im ersten Buch am Beispie! des Niedergangs der westeuropaischen Juden des 18. und 19. Jahrhunderts noch einmal untermauert.

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die spezifischen Zeichen des sozialen Eigenprestiges nicht mehr zu zeigen wagte. Das Alter ist scheinbar kaum mehr gefragt als kollektiver Wiirdentrager, als Autoritat und als „ruhender Pol" der Familiengemeinschaft im Siime Ferdinand Tonnies (1981: 39). Es ist kaum mehr eine soziale Wurzel oder Verankerung, die Gegenwart und Vergangenheit mental transgenerativ verbinden wiirde. Gesellschaftliche Legitimitatsgeltungen von Macht- und Herrschaftsverhaltnissen werden nicht mehr mit der Wiirde und dem spezifischen Prestige des Alters begrUndet: Die Gerontokratie ist sowohl als realer historischer Zustand von Gemeinschaft als auch als formaler Legitimationsgrund von Gesellschaft wesentlich der Vergangenheit angehorig. Die „Barte" der politischen Fiihrer sind ab; das Alter steht fur „uberkommene" Wertigkeiten und soziale Formgebungen einer Vergangenheit, die kaum einer, der ausschliefilich seinen gesellschaftlichen Verstand und seine gesellschaftlichen Motivationslagen pflegte, sich noch zuriickwiinschen konnte. Ihm fehlt die „Flexibilitat", der „Anpassungswille", die „Dynamik". Und da, wo es die nachfolgenden Generationen ausgerechnet in diesen Eigenschaften zu iibertreffen sucht, muss es scheitern.

5. Der „Gegensatz der Lebensalter" Wenngleich das Alter der neuzeitlichen Wohlstandsgesellschaften als Kategorie relativ vermogensreicher, konsumfreudiger Personen scheinbar durch die Gesellschaft hofiert, zuweilen rollentypisch idealisiert und insofem „gewiirdigt" wird, sofem es eine schier unerschopfliche Einnahmequelle der wirtschaftlichen Organisationen darstellt, rein marktwirtschaftlich besehen, erscheint es dennoch vorwiegend als unproduktiv - als eine Kategorie von Personen, deren Existenz und Fortleben volkswirtschaftlich vorwiegend als Kostenfaktor zu Buche schlagt. Es ist nahezu ein profaner Gedanke: Aber das Verhaltnis von produktivem Nutzen und reproduktiver Lebensfuhrung dreht sich unter Zugrundelegung der gegenwartigen sozialen Verhaltnisse im Alter tatsachlich zuungunsten der Produktivitat um. So liegt es aus Sicht der nachkommenden Generationen nie ganz fern, den Spargedanken am Alter zu exerzieren, das belastende generative Schuldnerverhaltnis zwischen Alien und Jungen zur „Gesundung" des gesellschaftlichen Finanzwesens moglichst abzustreifen. Die Kundigung des Generationenvertrages droht da, wo der allgemeinste Mandatar aller Generationen, der Staat, eine solche zulieBe oder sie selbst gar absichtsvoll betriebe und dort, wo die Entfremdung der Generationen am weitesten vorangeschritten ware. Der „reine" Staat der Jugend wiirde das Ende der Wiirde der Alien auch im oben genannten Sinne bedeuten.

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Gesellschaftliche Verhaltnisse sind grundsatzlich kiindbar oder in einzelnen Vertragsklauseln modifizierbar. Und so ist hypothetisch zu fragen: Zoge man das mobile und immobile Kapital des Alters vom Alter selbst ab, entzoge man dem Alter also seinen gesellschaftlichen Wert - wo bliebe dann noch sein Eigenwert und seine Wtirde und wo nehme es ihn her, wenn nicht aus gemeinschaftlichen Verhaltnissen und dem solidarischen Band zwischen den verschiedenen Generationen eines Gemeinwesens selber? Der gesellschaftliche Umgang mit jenen, die von Altersarmut oder Alterskrankheit betroffen sind, lasst nicht so sehr als Status quo, vielmehr aber in der Richtung der grundsatzlichen Entwicklung erahnen, dass der Kampf der Generationen um gesellschaftliche Chancen als Ausdruck des „Gegensatzes der Lebensalter" {Tonnies 1991) noch ungeahnte Moglichkeiten offen lasst, dem Alter die Wurde wie auch seine ihm zustehenden materiellen Ressourcen zu nehmen. Die Gesellschaft kappt bevorzugt die wenig nutzbringenden, teleologisch nicht mehr begrundbaren sozialen Verbindungen zum Gestern, sie schaut, plant und handelt in die Zukunft hinein. Gesellschaft: Sie ist nahezu vergangenheitslos, ihre emotionale Haftung zum Gestern, wie auch ihr transgeneratives kollektives Gedachtnis sind verblasst. So Letzteres noch vorhanden ist, gleicht es fast einem Ersatzteillager, dessen einzelner Bestandteile man sich zweckreich und nutzbringend bedient - kaum noch bedenkend, dass „Vergangenheit" auch die gedachtnishafte „Heimat" des Alters ist oder sein kann. Der Gesellschaft leuchtet auch daher der soziale Wert der Alterung kaum mehr ein. Haufig wird sie betrachtet und dargestellt wie eine Krankheit, die zwar nicht zu heilen ist, aber dennoch bekampft zu werden lohnt. Ist die Jugend, so sie sich in stilisierter, idealisierter Form darstellt, prestigehaft aufgeladen, ist zum anderen von einer negativen Auserwahltheit des Alters zu sprechen: Dieser Tatbestand wird unter anderem in wenig respektvollen Wortschopftmgen des Alltags deutlich, so etwa wenn von „Rentnerhalden", und einer „tiberalterten Gesellschaft" die Rede ist: Der Eindruck eines „zu viel" an Alter, das sich in solchen Schlagworten aufiert, lasst es - analog etwa zu diffamierenden und fremdenfeindlichen AuBerungen von der „Uberfi-emdung" und „Auslanderflut" - nur allzu leicht als „unntltzen Ballast" erscheinen, der abzuschiitteln ist - ein Vorgang in geistiger Vorbereitung befindlich, sich zunachst noch hinter humanistischen Floskeln vom „menschlichen Sterben" verbergend: Den Vorboten einer Diskussion, die zurzeit noch verschiedene ethische, soziale und okonomische Motivlagen umfassen mag, gerade in okonomischen Krisenzeiten jedoch mehr und mehr von wirtschaftlichen Gesichtspunkten bestimmt werden wird. Wenn nun aber die okonomisch dominierte, von ethischen, sittlichen Werten und Normen nahezu befi-eite Gesellschaft allein nicht verlassliche soziale Basis des Lebens im Alter sein kann, lohnt es sich, tiber eine doppelte Basierung des sozialen Lebens im Alter nachzudenken, ist es sinnvoU, auch Uber Gemeinschaftsbildung im Alter nachzudenken.

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6. Gemeinschaft im Alter Begriff man das Alter im Gemeinwesen als tiberaus bedeutsamen Fixpunkt des familialen und sonstigen sozialen Lebens, versteht man es heute zumeist als randstandigen, wesentlich unerquicklichen individuellen Zustand einer unzusammenhangenden Vielheit von Personen, der gedacht wird, als wtlrde er sich innerhalb der Gesellschaft „allein" und „isoliert" oder gerade noch als fragile gemeinschaftliche Dyade oder Paarbindung erhalten (Tonnies 1981: 38ff.). Dieser Eindruck ist auch nicht ganz falsch, insbesondere, sofem man ihn am MaB der gemeinschaftlichen Einbindung des Alters in das real existierende Familien- und Gemeinschaftsleben misst. Statistisch gesehen nimmt etwa der Anteil der familial eingebundenen GroCeltem in nahezu alien europaischen Landem im Zuge der zugleich zunehmenden Vergesellschaftung sozialer Beziehungen rapide ab (vgl. Gestrich et al. 2003: 634ff.). Die Abnahme der gemeinschaftlichen Integration des Alters in das Familienleben tragt gewiss zur Zersplitterung intergenerativer Gemeinschaftsverbindungen und emotional basierter, ideeller und gewissenhafter Solidarverpflichtungen bei - oder, um es im Sinne Ferdinand Tonnies auszudriicken: Das intergenerative Verstandnis nimmt im Zuge der Abspaltung des Alters aus dem Familienleben ab und die Entfremdung zwischen den Generationen wachst. Eine Entwicklung, die aller Wahrscheinlichkeit nach im Bereich der mikrosozialen Beziehungen der Familie weder ruckgangig zu machen noch in ihrem weiteren Verlauf aufzuhalten ist. Auch aus diesem Grund ist zu fragen, inwiefem die alteste Generation auch auBerhalb des Familienlebens und unabhangig von dieser traditionalen Bastion des Kollektivismus noch gemeinschaftsfahig sein konnte. Ferdinand Tonnies gab in seinem Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft" Hinweise darauf, wie eine Emeuerung des Gemeinschaftslebens beschaffen sein konnte. Grundlage dieser Uberlegungen bildete die Vorstellung, dass Gemeinschaftsbildungen nicht vorwiegend zwanghaft, von auBen oktroyiert, sondem gewoUt sein mtissten. So setzte er sozialpsychologisch an: Gefallen als Selbstliebe oder Selbstakzeptanz und gegenseitiges Gefallen als die Fahigkeit zur Ausbildung von Achtung, Sympathie und Liebe anderen gegenuber seien grundsatzliche Voraussetzungen gemeinschaftlicher Neubildungen. Auch der einzelne alte Mensch hatte insofern grundsatzlich ein gewisses MaB emotionaler Offenheit anderen gegeniiber zu bewahren. Er musste noch fahig sein, vertrauen zu konnen, er musste sich um Verstandnis auch dem Fremden, Unbekannten, Anderen gegeniiber bemuhen und seine Angste vor dem neuen, vielleicht zunachst noch gefahrvoll Erscheinenden maBigen, seine Vorurteile und vorgefassten Meinungen bandigen - sein Misstrauen durfte ihn nicht in seinem Handeln bestimmen. Insofern war ein negatives Menschenbild, vielleicht gepragt durch direkte oder medial ver-

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mittelte Erfahrung und Wirklichkeitsinterpretation, ein nahezu sicherer Garant der sozialen Isolation im Alter, ein ausgewogenes oder positiv iiberzeichnetes, „verzeihendes" Menschenbild (etwa jenes des Christentums, des Sozialismus, des Kommunitarismus, jenes der neuen sozialen Bewegungen und Biirgerbewegungen usw.) Moglichkeitsbedingung neuer Gemeinschaftsbildung. Denn ein Vertrauensvorschuss, ein Wunsch, sich mit dem Guten (unmittelbar Bejahenden) im anderen zu verbunden, war notwendig zxir Anknupfung neuer Kontakte, zum Kennenlernen des Fremden, zur Durchbrechung des fassadenhaft formlichen Gesellschaftsprinzips, ebenso sehr aber auch Menschenkenntnis und Kritikfahigkeit zur Selektion echter und falscher Gemeinschaftswunsche im anderen, denn die von der scheinbaren Gemeinschaft Enttauschten, Mutlosen, Verbitterten waren am allerwenigsten zur Neubildung wirklicher Gemeinschaft geeignet. Das Selbstgefallen und gegenseitige Gefallen bei Tonnies driickte ursprilnglichsten, nattirlichen Gemeinschaftswillen (vegetativen Wesenwillen) aus, der in jedem Menschen, ob alt ob jung, grundsatzlich als vorhanden vorausgesetzt wurde. Dieser Wille vereinte sich mit hoheren, im Sozialen selbst gepragten und erlemten Willensformen, dem so genannten gewohnheitlichen (animalischen) und gedachtnishaften (mentalen) Wollen. Entscheidend war, dass soziale Neubildungen gerade auf diesen letzteren Willensformen nicht basieren konnten, aber andererseits - tlber langere Zeitraume gedacht - vergewohnheitlichen und letztlich zur Auspragung verbindender koUektiver Gedachtnisse und gemeinsamer Erinnerungen ftlhren konnten. Gemeinsame Gewohnheiten und Gedachtnisse waren bei Tonnies schon als relativ stabile Garanten von Gemeinschaft anzusehen. Sie traten etwa in originaren (fest verwurzelten) Nachbarschaften, Freundschaften und Genossenschaften zutage. Gefallen, Gewohnheit und Gedachtnis waren in empirischer Betrachtung stets im Zusammenhang zu denken: Gefallen war immer konstitutionell im Menschen vorhanden und bildete den typischen Ausgangspunkt freier Vergemeinschaftung. Neue Gewohnheiten und Gedachtnisse aber mussten langsam und bedSchtig in gemeinschaftstrachtigen sozialen Milieus wachsen und in einem dauerhaft fortschreitenden Entwicklungsprozess gemeinsam aufgebaut werden. Nicht allein die „gewachsene" Nachbarschaft war das soziale Band, das Fremde miteinander verkniipfte, sondem vielmehr die frei gewahlte Reziprozitat von Genuss und Mtihsal, die gegenseitige Hilfe und das solidarische Handeln im Sinne der Vorstellung oder Idee einer mobilen Gemeinschaft oder eines (nahezu) ortsunabhangigen Gemeinwesens. AUe gemeinsamen Tatigkeiten, die das Natilrliche und Echte, von rein individuellen Zwecksetzungen unverstellte im Menschen offenbarten, bildeten insofem schon einen relativ gilnstigen sozialen Rahmen zur Gemeinschaftsbildung: So die wirkliche Kunstbegeisterung und das kunstlerische Schaffen selbst, sofem es nicht rein monetaren Absichten entsprach, der gemeinsame Genuss oder die ar-

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beitsreiche Kreation von Musik (im Chor, Orchestra, in der Band), Theater und Kunstgegenstanden, die Liebe zu und Forderung von gemeinsamer Sprache und Literatur, die Verehrung der Philosophie; aber auch das gemeinsame, praktisch orientierte Engagement in religiosen, sozialen und kulturellen Belangen; ebenso der pohtische Einsatz auf Basis gewissenhafter Grundtiberzeugungen, Mentahtaten und Anschauungen, gemeinsame Feindschaflen und Freundschaften. Die genossenschaftliche Aktion fllr eigene oder fremde, menschliche, tierische oder sachliche Belange, oder auch nur das gemeinsam getragene (so genannte) „Hobby" konnten die Entstehung gemeinschaftlicher Sozialstrukturen begtinstigen - denn auch in ihm paarte sich der Moglichkeit nach Sympathie mit Sympathie, Erfahrung mit Erfahrung, Mentalitat mit Mentahtat, wenn auch der vorwiegend merkantil und dinglich erscheinende Charakter des Hobbys den Blick darauf zuweilen versperrte. Der Wille zur Gemeinschaft fand hier und in zahlreichen vervi'andten Bereichen des Sozialen, in denen von einer gewissen kollektiven Reziprozitat von Genuss und Milhsal die Rede sein konnte, seine Ankniipfungs- und Vereinigungspunkte sofem er sie noch wirkiich suchte und nicht verkUmmert war: verkilmmert in tibersteigertem Individualismus, in Misstrauen und Resignation, in Depression und Lebensiiberdruss. Die Entstehung einer besonderen, allgemein anerkannten oder geltenden gemeinschaftlichen Wiirde des Alters, von der schon die Rede war, wurde allerdings in dergleichen sozialen Zusammenhangen am wenigsten durch gemeinschaftlich-hedonistische, vielmehr durch altruistische Motivlagen gefordert: Insbesondere der freiwillige Dienst der aus den gesellschaftlichen Arbeitsprozessen befreiten alten Generation an dem Ganzen eines Gemeinwesens gilt als verehrenswert und loblich, well in ihm eine transgenerative Solidaritat zum Ausdruck gebracht wird, die der teleologisch orientierten Gesellschaft der konkurrierenden Individuen mehr und mehr abhanden gekommen war - und gleichwohl vermisst wurde. Insofem brauchte auch das Alter eigene und eigens gewahlte Aufgaben, ftr deren Losung es in besonderer Weise geeignet war, um seine Selbstachtung zu bewahren, wiewohl auch, um vom Ganzen eines Gemeinwesens als wertvoll und dazugehorig betrachtet zu werden. Denn unterhalb der Ebene der Gesellschaft wachte latent stets das gemeinschaftliche Bewusstsein und Empfmden der Allgemeinheit und bestimmte unterirdische Wertvorstellungen, Grundideen und soziale Normen.

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Empirische Beitrage

Methodenkritische Anmerkungen zur Empirie ehrenamtlichen Engagements! Harald

Kiinemund

1. Einleitung Das Interesse am Feld der ehrenamtlichen Tatigkeiten hat in den letzten Jahren immer mehr zugenommen. Dies indizieren prominent z.B. die Ausrufung des Jahres 2001 zum „Intemationalen Jahr der Freiwilligen" im Jahr 1997 oder die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Zukunfl des biirgerschai^lichen Engagements" des Deutschen Bundestags im Jahr 2000. Bereits zuvor gab es eine ganze Reihe empirischer Befunde zum Bhrenamt, aber seither hat die Zahl der Untersuchungen und Publikationen nochmals deutlich zugenommen, und entsprechend haufig werden Engagementquoten und andere empirische Befunde zum Ehrenamt prasentiert und interpretiert. Die Ergebnisse weichen allerdings haufig erheblich voneinander ab - die ermittelten Engagementquoten variieren, mal sind Frauen starker engagiert, mal Manner, mal Ostdeutsche, dann wieder Westdeutsche usw. -, so dass bei der Lektiire dieser Befunde schon gelegentlich der Eindruck entstand, man wisse „im Grunde nichts" (Ziegler 1998: 42), noch nicht einmal zur Verbreitung solcher Tatigkeiten. Die neueren Studien und Berichte im Zusammenhang mit der genannten Enquete-Kommission haben hier einige Ltlcken schlieBen konnen und zahlreiche neue Befunde hervorgebracht, aber zugleich offenbar nur teilweise die geschilderte, etwas verwirrende Situation verbessert. Im Bericht der EnqueteDie hier vorgestellten Uberlegungen und Forschungsergebnisse gehen nicht nur auf den Vortrag am 27. Juni 2003 in Kiel zuriick, sondem insbesondere auch auf eine langjahrige Zusammenarbeit mit Martin Kohli, bei dem ich bereits meine Diplomarbeit mit einer gewissen Nahe zu diesem Themenbereich einreichen konnte - zur Validitat von Retrospektivdaten in der qualitativ-biographischen Forschung zu Lebenslaufen von Vorruhestandlem. Ihm gilt daher an dieser Stelle mein ganz besonderer Dank fur langjahrige Zusammenarbeit, kritische Hinweise, Kommentare, Diskussionen und Ideen. Aufgrund dieser relativ langen Vorgeschichte ist es nicht zu vermeiden, dass einzelne Passagen und Argumente bereits an anderen Stellen vorgestellt und diskutiert wurden (insbesondere in Kiinemund 2001: 34ff.) und auch bestimmt - hoffentlich dann je weiterentwickelt - zukiinftig welter verwendet werden. Den Herausgebem dieses Bandes und dieser Reihe gilt mein Dank fur den Anlass und die Oelegenheit, einige der Uberlegungen und Ergebnisse hierzu auf meinem derzeitigen Kenntnisstand zusammenfassen zu konnen. Fehler, Inkonsistenzen und Fehlschlijsse liegen freilich allein in meiner Verantwortung.

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Harold Kiinemund

Kommission wird z.B. festgehalten, es „lal3t sich nicht sagen, wie viele Personen sich z.B. im Bereich der neuen Formen des sozialen Engagements oder in den gemeinschaftsorientierten, auf Solidaritatsbeziehungen basierenden Formen der gegenseitigen Hilfe engagieren" {Enquete-Kommission „Zukunft des Biirgerschaftlichen Engagements" 2002: 66). Und auch „ob es vor 30 Jahren weniger oder mehr Engagierte gegeben hat und in welchen Bereichen sie sich friiher schwerpunktmaBig betatigt haben, konnen wir nicht mit Sicherheit sagen" (ebd.: 62). Was die alteren Menschen betrifft, stellt sich die Situation auf den ersten BHck nicht besser dar. Einerseits ist auch hier ein stetig wachsendes Interesse festzustellen, welches aufgrund der Besonderheiten der „Lebensphase Aher" (Baches, Clemens 2003) - insbesondere hinsichtlich der verfugbaren Zeit und den vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen aufseiten der Aheren, aber auch gelegenthch mit Verweis auf eine gewisse Verpflichtung als Gegenleistung ftr erhaltene sozialstaathche Leistungen oder auf absehbare Engpasse bei der zukunftigen Versorgung und Betreuung Alterer - noch zu besonderen Anforderungen und Appellen Anlass bot. Beispielsweise wurde bereits in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts wiederholt propagiert, dass vor dem Hintergrund des demografischen Alterns der Gesellschaft die noch riistigen Alteren nun selbst verstarkt fur die ehrenamtliche Pflege der alten Alten herangezogen werden sollten (vgl. etwa Buttler et al. 1988) oder sogar herangezogen werden mussen (z.B. Schwarz 1989). Dies wurde bereits damals als eine als „wtinschenswert erachtete Variante der Schattenwirtschaft" (Dieck 1987: 332) bezeichnet. Andererseits scheinen hier aber noch weniger empirisch gesicherte Erkenntnisse vorzuliegen (vgl. z.B. Kohli, Kiinemund 1996:33ff.). Selbst die Enquete-Konmission stellt hierzu z.B. fest, dass man nicht wisse, wie viele Altere sich uber die Mitgliedschaft in Parteien und die Wahlbeteiligung hinaus in den Parteien ehrenamtlich engagieren (Enquete-Kommission „Zukunft des Biirgerschaftlichen Engagements" 2002:214). Ganz so dramatisch ist es aber nicht mehr. Solche Anteile lassen sich z.B. dem Alters-Survey von 1996 entnehmen (Kohli, Kiinemund 2000), und auch bereits die Auswertungen z.B. von Stadie (1987) machen zu solchen Detailfragen Angaben auf reprasentativer Basis. Im Gegenteil lassen diese Studien im Prinzip sogar weitergehende Analysen zu dem engagierten Personenkreis zu, etwa also zu Bildung und Einkommen der in Parteien ehrenamtlich engagierten Alteren. Allerdings setzen die oftmals sehr geringen Anteile solch spezieller Populationen in den entsprechenden Surveys oft Grenzen es verbleiben nur sehr geringe Fallzahlen flir Detailanalysen. Stadie (1987: 46) gibt z.B. fur politische Parteien einen Anteil von einem Prozent der iiber 60-Jahrigen an, die ein Amt innehaben; der entsprechende Wert im AltersSurvey liegt unter einem Prozent (Kohli et al. 2000: 180). Weitergehende Auswertungen sind daher selbst bei sehr groBen Fallzahlen kaum praktikabel.

Methodenkritische Anmerkungen

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Immerhin aber waren im Prinzip Querschnittvergleiche moglich, da z.B. speziell diese beiden Studien in einigen Bereichen in etwa vergleichbare Frageformulierungen verwendeten - dann milsste man in diesem Fall z.B. konstatieren, dass sich zwischen 1981 und 1996 im Prinzip nichts verandert hat. Man konnte daher unter Bezugnahme auf die zitierten Einschatzungen der Enquete-Kommission an dieser Stelle in gewisser Hinsicht sogar die These wagen, die alter(n)ssoziologische Forschung war - nicht zuletzt aufgrund der genannten Faktoren - in diesem Bereich zeitweilig einen kleinen Schritt voraus. Auch gaben die offensichtlichen Unterschiede in den durch die verschiedenen Studien ausgewiesenen Partizipationsquoten Anlass zu diesbeztiglichen Hypothesen und anschlieBend zu entsprechenden Operationalisierungen fur die weitere Forschung, etwa im Alters-Survey (z.B. Kohli, Kiinemund 1996: 25ff.; Kiinemund 1996). Studien und Befunde aus dem Bereich der Alter(n)ssoziologie fmden in den zwischenzeitlich zahlreich erarbeiteten Oberblickdarstellungen und Stellungnahmen zu dieser Problematik aber kaum Beriicksichtigung (vgl.z.B.Se/!eretal. 1998; von Rosenbladt 1999; Hacket, Mutz 2002), so dass dieser Forschungsstand auBerhalb der Alter(n)sforschung weitgehend „unbemerkt" geblieben ist. Aber auch unabhangig von solchen Problemen der Ubersichtlichkeit der Forschungslandschaft und der selektiven Bewertung des Forschungsstands bleibt zu konstatieren, dass die Forschungsergebnisse zum ehrenamtlichen Engagement gewisse Diskrepanzen aufweisen, deren Zustandekommen zumindest erlauterungsbediirftig ist. Dieser Beitrag soil solche Diskrepanzen aus der Sicht der Alter(n)ssoziologie in den Blick nehmen und kritisch kommentieren, und dabei zugleich einige Vor- und Nachteile deutlich machen, die fur zukunftige Erhebungen Gewinn bringend sein konnten. Ein starker empirisch orientierter Beitrag in diesem Band kann auf der Grundlage des Alters-Survey anschlieBend den Spielraum verdeutlichen, der dem Forscher in diesem Feld bei gegebener Datenlage offen steht.

2. Erklarungsansatze und Erhebungsvarianten Unterschiedliche und widersprUchliche Ergebnisse lassen zuweilen den Eindruck entstehen, mit den Umfragemethoden der empirischen Sozialforschung lasse sich im Prinzip fast alles oder fast gar nichts belegen. Solche Einschatzungen kommen gelegentlich auch aus der Wissenschaft selbst. Hinsichtlich der Datenqualitat beispielsweise retrospektiver Angaben kommen z.B. Bernard et al. (1984: 503) nach einer Durchsicht zahlreicher empirischer Arbeiten zu der auBerst emtlchtemden Feststellung: „The results of all these studies leads to one overwhelming conclusion: on average, about half of what informants report is probably incorrect in some way" (ebd.: 503). Derart

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Harald Kunemund

unerfreuliche Nachrichten passen problemlos zu den ohnehin gangigen Erklarungsmustern - sei es, dass die Befragten schlicht das „Blaue vom Himmel" erzahlen oder mehr oder weniger beliebig irgendwo ihre Kreuzchen machen, dass die Interviewer die Fragebogen des Abends bei einem Bier selbst ausflillen, oder dass die auswertenden Forscher mit den Mitteln der Statistik dann sowieso alles beweisen konnen. Aber auch solche BefUnde miissen sicli an den MaBstaben der Wissenschaft messen lassen. Und bei genauerem Hinsehen sind diese Schlussfolgerungen oft nicht so eindeutig. Zitiert wird von Bernard et al. beispielsweise eine Studie von Pierce und Lovrich (1982): Von 10.000 Personen, die 1977 eine Petition unterzeichneten, wurden 300 nach zwei Jahren postalisch befragt, ob sie diese unterzeichnet hatten, was nur 56 Prozent bejahten. Diese Prasentation der Ergebnisse legt die Moglichkeit eines „underreporting" im Sinne sozialer ErwUnschtheit nahe, oder jene des simplen Vergessens. Pierce und Lovrich dagegen gehen davon aus, dass hier gerade „socially and politically acceptable behavior" {Pierce, Lovrich 1982: 164) erfragt wurde - also eher overreporting erwartbar gewesen ware. Sie vermuten, dass auf der Unterschriftenliste Namen von einigen Personen nicht durch diese selbst eingetragen wurden - immerhin 31 Prozent derjenigen, die auf der Liste eingetragen waren, gaben an, noch nie etwas von dieser Petition gehort zu haben. Das ware dann ein ernsthaftes Problem im Design dieser Studie, aber keine Hiobsbotschaft filr die empirische Sozialforschung, wie uns Bernard et al. glaubhaft machen wollen. In einer anderen von Bernard et al. angefiihrten Studie {Gray 1955) wurden britische Regierungsangestellte nach Fehltagen in den letzten vier bis funf Monaten gefragt; von 205 Personen, die nicht gefehlt hatten, gaben 192 dies richtig an, von 228, die gefehlt hatten, „74 gave the correct answers" {Bernard et al. 1984:500). Auch hier liegt zunachst die Moglichkeit einer Verzerrung im Sinne sozialer Ervranschtheit nahe - man mochte vielleicht nicht zugeben, gefehlt zu haben. Gray (1955: 355) formulierte im Original aber gar nicht „74 gave the correct answers", sondem „74 gave the completely correct answers", da sich dieses Ergebnis auf die Erinnerung nicht nur der Anzahl der Fehltage, sondem auch auf deren konkrete Datierung bezog - eine ungleich schwierigere Aufgabe, iiber deren weitgehendes Scheitern man sich eigentlich kaum wundern kann. Er folgerte denn auch etwas anderes: „Forgetting mainly took the form of forgetting when rather than forgetting completely" (ebd: 357) und hebt die Relevanz einer genauen Abgrenzung des erfragten Zeitraumes hervor, was in diesem Fall zusatzliche Probleme bereitet hatte. Diese Beispiele mogen geniigen, um deutlich zu machen, dass die Schlussfolgerungen von Bernard et al. mit auBerster Vorsicht zu genieBen sind. Das monierte Problem - Glaubwiirdigkeit und Verlasslichkeit der Ergebnisse griindlicher empirischer Untersuchungen - ist so betrachtet, genau ihres.

Methodenkritische A nmerkungen

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Um wenigstens noch ein weiteres Beispiel fur Dramatisierungen in diesem Bereich zu erwahnen: Durin et al. (1987) verglichen Daten zweier Befragungen (1974 und 1977) zur Gesundheitssituation und kommen zu dem Ergebnis, ,,56% erinnem sich nach drei Jahren nicht mehr daran, einen (Herzinfarkt) erlitten zu haben" (ebd.: 66). Auch dies ware - so es derm stimmt eine Schreckensmeldung fur den empirisch arbeitenden Soziologen. Ein Blick auf die verwendeten Fragen lasst aber erhebliche Zweifel an diesem Befiind aufkommen. Konkret: In der Ersterhebung gaben 75 Personen an, schon einmal einen Herzinfarkt gehabt zu haben. An diese Frage schlossen drei Unterfragen an: 71 gaben an, einmal, weitere zehn gaben an, mehrmals einen Herzinfarkt gehabt zu haben. 91 Personen gaben an, dariiber von einem Arzt informiert worden zu sein. Von diesen 91 hatten 18 die Frage nach dem Herzinfarkt mit „nein" beantwortet. Bereits in der Ersterhebung zeigen sich also Inkonsistenzen, die auf eine unzuverlassige Filterfilhrung schlieBen lassen - wer noch keinen Herzinfarkt hatte, kann dariiber durchaus von einem Arzt unterrichtet worden sein. Warum diese ilberhaupt in die Auswertung einbezogen werden, bleibt ratselhaft. In der Zweiterhebung wurde nun eine vollig andere Frage gestellt, namlich eine Frage mit Mehrfachantwortmoglichkeit nach Krankheiten, bei denen eine arztliche Behandlung erfolgte. Von den 75 Personen, die in der Ersterhebung angegeben hatten, einen Infarkt gehabt zu haben, gaben hier nur 33 an, von einem Arzt diesbeztiglich behandelt worden zu sein, 36 verneinten dies und sechs machten keine Angabe dies addieren die Autoren zu 56 Prozent. Zum einen fragt man sich hier, warum Antwortausfalle als widerspriichliche Angaben gewertet werden. Zum anderen sind Inkonsistenzen wegen unterschiedlicher Fragetypen in gewisser Hinsicht sogar zu erwarten - in der Frage der Zweiterhebung war der Herzinfarkt an achter Stelle der Antwortbatterie, was bei „schnellem" Ausiiilllen des Fragebogens leichter ilbersehen werden konnte. SchlieBlich aber konnen Herzinfarkte durchaus „unbemerkt" bleiben und erst durch eine spatere arztliche Untersuchung ans Licht gebracht werden - in diesen Fallen ist es durchaus plausibel anzugeben, nicht von einem Arzt diesbeztiglich behandelt worden zu sein. Auch hier lasst sich nicht emsthaft auf ein grundsatzliches Problem fiir die empirische Forschung schlieBen, wie dies die Autoren versuchen. Es scheint daher angeraten, auf der Suche nach moglichen Erklarungen fur die disparaten Befunde zum ehrenamtlichen Engagement etwas weiter auszuholen. Einmal von Fehlem bei der Berechung abgesehen, konnen fiir die unterschiedlichen Ergebnisse mehrere Ursachen verantwortlich sein, die sich - stark vereinfacht - im Prinzip drei Gruppen von Faktoren zuordnen lassen: 1. Faktoren, die primar aufseiten der Befragten zum Tragen kommen (neben der Partizipation selbst insbesondere kognitive Prozesse der Interpretation und Rekonstruktion dieser Tatigkeiten in der Befragungssituation);

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2. Faktoren, die primar vonseiten der Forscher eingebracht werden (z.B. Stichprobenziehung, Erhebungsdesign und -methode, Frage- und Antwortformulierungen und -reihenfolge, Varianten der Berechnung oder Interpretation), die z.T. einen ganz erheblichen Effekt auf die erstgenannten Faktoren haben konnen; 3. kulturelleNormen, offentliche und wissenschaftliche Diskurse und begriffliche bzw. konzeptionelle Konjunkturen sowie institutionelle Kontexte und letztlich gesellschaftlicher Wandel insgesamt (z.B. Existenz und AusmaB offentlicher Hilfen, Traditionen z.B. des Vereinswesens), die wiederum in ganz erheblicher Weise die ersten beiden Faktoren beeinflussen. Ohne an dieser Stelle all diese Faktoren und ihre Wechselwirkungen bis in das kleinste Detail diskutieren zu konnen, sollen jeweils einige Beispiele die Relevanz dieser Faktoren verdeutlichen. 2.1 Diskurse und

Konjunkturen

Betrachten wir zunachst die Ebene der begrifflichen und konzeptuellen Konjunkturen, wie sie sich hinsichtlich des Ehrenamts darstellen. Unter ehrenamtlicher Tatigkeit wird traditionell freiwillige, nicht auf Entgelt ausgerichtete Tatigkeit im Rahmen von Institutionen und Vereinigungen verstanden. Handelt es sich um fiihrende und verwaltende Tatigkeiten, so spricht man vom politischen Ehrenamt, wahrend helfende Tatigkeiten als soziales Ehrenamt bezeichnet werden. Das politische Ehrenamt bringt „Beteiligung an Planung, Organisation und Entscheidungsaufgaben in Institutionen" (z.B. in Parteien, Verbanden und Vereinen) mit sich und vermittelt daruber hinaus anders als zumeist das soziale Ehrenamt - „faktisch »Ehre« im Sinne von gesellschaftlichem Ansehen" {Baches 1987: 119). Das soziale Ehrenamt ist auf die Unterstiitzung und Betreuung von Hilfsbedilrftigen gerichtet; es bringt weniger Ehre und Ansehen als das politische. Letzteres ist ein Bereich, in dem Frauen starker vertreten sind, wahrend im Bereich der politischen Ehrenamter die Manner dominieren. Daruber hinaus hat sich beispielsweise gezeigt, das altere Manner eher im altersunspezifischen Bereich - also z.B. in Sportvereinen, geselligen Vereinigungen, fireiwilligen Feuerwehren usw. - , altere Frauen aber zumindest haufiger als Manner im altersspezifischen Bereich engagiert sind, also z.B. in Seniorentanzgruppen oder -freizeitstatten {Kunemund 2001). Unabhangig von der Frage nach der Erklarung solcher Zusammenhange machen diese Beispiele deutlich, dass selbst bei einem vergleichsweise noch klar definierbaren Begriff wie dem traditionellen Ehrenamt in Vereinen und Verbanden unterschiedliche Quoten insgesamt, aber auch z.B. von engagierten Mannem und Frauen ermittelt werden, wenn nicht die ganze Bandbreite der Bevolkerung auf der einen, der Institutionen und Vereinigungen auf der anderen Seite berilcksichtigt wird.

Methodenkritische Anmerkungen

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Dieses traditionelle Bild des Ehrenamts kam in den 80er-Jahren zunehmend unter Druck. Hier wurde die Entstehung einer „neuen Ehrenamtlichkeit" auBerhalb oder am Rande der traditionellen Institutionen konstatiert, namlich in selbstorganisierten Grappen, Initiativen und Projekten {Oik 1987). Im Bereich der Alteren ist hier insbesondere an Wissens- und Kontaktborsen, Seniorengenossenschaften, Vorruhestandsinitiativen und Selbsthilfegruppen aller Art zu denken. Diese neue Ehrenamtlichkeit ist also weniger stark an eine Mitgliedschaft in Organisationen, Vereinen und Verbanden gebunden und erweitert die Perspektive auf Tatigkeiten und Engagementformen, die zuvor nicht mit diesem Begriff gefasst wurden. Die auf der Basis dieses Konzepts ermittelten Quoten - einmal Konstanz im traditionellen Ehrenamt unterstellt - milssen eigentlich zwangslaufig hoher liegen. Abgesehen von dem Einbezug der Selbsthilfe, die zunachst ja mit einer gewissen Organisationsfeme und Autonomie in explizitem Kontrast zum Ehrenamt in Vereinen und VerbSnden stand, ist dabei in der Literatur nicht immer eindeutig, was das qualitativ Neue an der neuen Ehrenamtlichkeit ist. Einige Autoren nehmen in diesem Zusammenhang eher einen Strukturwandel in den Blick, andere einen Bedeutungswandel. Schmitz-Scherzer et al. (1994: 70) heben z.B. den Aspekt der Professionalisierung des Ehrenamts hervor. In dieser Perspektive handelt es sich zunehmend tendenziell um einen Wandel im Charakter der Tatigkeiten hin zu einer „schlecht bezahlte Erwerbsarbeit" (ebd.), deren verstarkte Inanspruchnahme letztlich helfen kormte, den Sozialstaat zu entlasten (vgl. auch die Diskussion im Band von Muller, Rauschenbach 1988). Entsprechend werden eine gewisse Abkehr vom Prinzip der Unentgeltlichkeit und eine steigende Relevanz von Aufwandsentschadigungen usw. in die Diskussion gebracht. Braun et al. (1997: 98f.) stellen als Unterscheidungsmerkmal hingegen heraus, dass „traditionelles" Ehrenamt primar „Tatigkeit flir andere" sei, das „neue" Ehrenamt eher „Tatigkeit fiir sich und fur andere". In dieser Perspektive wird das gesellschaftliche bzw. sozialpolitische Interesse an einer verstarkten Nutzung unausgeschopfter Potenziale ehrenamtlichen Engagements sicher nicht zufdllig neben einen expliziten Hinweis auf die ..process benefits" fiir die beteiligten Individuen gestellt. Eine Mischung dieser Motive ist aber auch beim „traditionellen" Ehrenamt sehr plausibel anzunehmen: Das Erlangen der „Ehre", welche mit dem traditionellen politische Ehrenamt einhergeht, karm selbst ein wesentliches Motiv zur Ausxibung dieser Tatigkeiten darstellen. Und auch beim sozialen Ehrenamt spielen individuelle Interessen und Praferenzen (eine sirmvolle Aufgabe zu haben, Kontakte zu anderen usw.) sicher schon langer eine erhebliche Rolle. Empirisch dtirften sowohl diese Differenzierung zwischen altruistischen bzw. Verpflichtungsmotiven und egoistischen bzw. Selbstentfaltungsmotiven als auch deren konkrete Mischungsverhaltnisse und ihre Veranderung iiber die Zeit kaum bestimmbar sein. Insofern wird die Defmi-

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Harold Kiinemund

tion dessen, was „Ehrenamt" ist und ausmacht, auf diesem Wege zunehmend schwieriger. Die Diskussion wurde noch einmal komplizierter, seit weitere Begriffe imd Debatten - vor allem aus den USA - wie Kommunitarismus, Zivilgesellschaft, Sozialkapital und „dritter Sektor" hinzukamen. Neue Konzepte wie btirgerschaftliches Engagement oder freiwillige soziale Tatigkeiten werden aber empirisch unterschiedlich erfasst und daher auch zu anderen Ergebnissen fuhren. In die Erhebung biirgerschaftlichen Engagements im Speyerer Wertesurvey etwa geht bereits die aktive Beteiligung in einer Selbsthilfegruppe oder der Kirchengemeinde ein, auch wenn damit kein „Amt" oder eine spezifische „Funktion" verbunden ist (Klages 1998). Es stehen also weniger Funktionen oder Amter als vielmehr das Engagement an sich im Vordergrund - auch jemand, der sich aktiv z.B. fur Dorf- und Stadtteilverschonerung einsetzt, soli hier explizit eingerechnet werden, und zwar auch dann, wenn diese Person in diesem Zusammenhang kein Amt bekleidet, sondem sich eben nur aktiv beteiligt. Diese Breite ist bei der allgemeineren Frage nach dem biirgerschaftlichen Engagement auch durchaus sinnvoll, jedoch nur noch sehr eingeschrankt mit den bisherigen Ergebnissen zum ehrenamtlichen Engagement vergleichbar: Die so ermittelten Beteiligungsquoten liegen wiederum zwangslaufig deutlich hoher. Umso verwirrender sind die recht haufigen Gleichsetzungen dieser ganz unterschiedlichen Konzepte: Klages (1998: 30f.) z.B. fuhrt angebhche „Antworthemmnisse" bei Fragen nach ehrenamtlichen Tatigkeiten und die daraus resultierenden geringen Quoten im Vergleich etwa zu den USA darauf zuruck, „daB sehr viele Aktive gar nicht wissen, daB sie eine »ehrenamtliche« Tatigkeit austlben". Damit wird burgerschaftliches Engagement zum Ehrenamt, und zugleich werden Unterschiede zwischen den USA mit traditionell hohen Quoten des „volunteering" und der deutschen Situation verwischt, ohne auf die je spezifischen kulturellen, sozialstaatlichen und institutionellen Bedingungen einzugehen (vgl. hierzu den Beitrag von Brauer in diesem Band). Aber auch wenn diese neueren Begriffe und Konzepte nicht immer direkt den Begriff des Ehrenamts einschlieBen oder fur sich reklamieren, konnen solche konzeptionellen Erweiterungen zu veranderten Quoten im Bereich des Ehrenamts fuhren, wie sie durch Survey-Befragungen ermittelt werden. „Jeder, der irgendwo einen Anknilpfungspunkt findet - und davon gibt es viele ~, meldet sich zu Wort, postuliert oder erzeugt Anschlussfahigkeit (...), jeder, der sich schon einmal jenseits von Familie und Lohnarbeit engagiert hat, wird in immer breiter gefassten begrifflichen Operationalisierungen im Rahmen von Forschungsprojekten als ,Ehrenamtlicher' oder ,burgerschaftlich Engagierter' ,entdeckt' und mitgezahlt" {Rauschenbach 1999: 69).

Konzeptionelle Erweiterungen konnen dann mittelfristige Rilckwirkungen auf die Selbstdefmition wie auch die allgemeine Wahmehmung der Beteiligten haben, insbesondere wenn dies in der Politik oder der Praxis z.B. der sozialen Arbeit forciert und mit einer besonderen Wertschatzung versehen

Methodenkritische Anmerkungen

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wird. Ftir die 80er-Jahre wurde z.B. im Selbsthilfebereich eine gewisse Umetikettierung konstatiert: „Viele Altenclubs aus dem klassischen Bereich ,offener Altenhilfe' der traditionellen Wohlfahrtsverbande wurden damals ilber Nacht zu ,Selbsthilfegrappen"' {Zeman 1997: 252). Ahnliches geschah offenbar mit dem Begriff der Altersbildung auf dem Hohepunkt seiner „Konjunktur" - „Jeder Senioremiachmittag mit Lichtbildervortrag, jeder Seniorentanznachmittag, jedes Gedachtnistraining wird flugs zu einer Veranstaltimg der Altenbildung erklart" {Eierdanz 1992: 168). Solche Prozesse konnen dazu fuhren, dass sich die in Befragungen ermittelten Quoten ilber die Zeit verandem, ohne dass davon zwingend auf eine Veranderung in der Partizipation geschlossen werden konnte. Zugespitzt formuliert: Bin tendenziell inflationarer Gebrauch des Begriffs „Ehrenamt" in der Altenarbeit wie auch der Sozialpolitik, der u.a. ftir die Beteiligten eine gewisse Wertschatzung verspricht und insofem auch dort gern verwendet wird, wo der Wunsch nach einer starkeren Beteiligung besteht, fthrt dazu, dass ein immer groBerer Personenkreis einbezogen wird (und sich ggf. in Befragungen einbezieht). Damit wird ein Querschnittsvergleich zur Abschatzung gesellschaftlicher Veranderungen in diesem Bereich ganz erheblich erschwert. Es ist zwar offensichtlich, dass sich die Felder ehrenamtlichen Engagements ausdifferenzieren und nicht mehr auf die traditionellen Vereine und Verbande beschranken. Das AusmaB aber bleibt unbekannt, ebenso die Bedeutung dieses „Strukturwandels des Ehrenamts" aus der Perspektive der Partizipation: Beispielsweise wird insbesondere aufseiten der Alteren offenbar ein erheblicher Teil der Tatigkeiten, die traditionell eher im privaten Bereich vorfmdbar waren, nunmehr in selbst- und fremdorganisierten Gruppen praktiziert, in denen eine aktive Beteiligung dann auch schnell mit dem Signum der Ehrenamtlichkeit versehen werden kann. Beispiele waren etwa die Tatigkeitsbereiche Bildung und Kultur, Hilfen im Alltag oder handwerkliche Betatigung (vgl. z.B. Baches, Clemens 2003: 214ff). Dabei dilrften vor allem drei Faktoren eine Rolle spielen: 1. die Veralltaglichung vormals ungewohnlicher Assoziationsformen (neue soziale Bewegungen, Biirgerinitiativen, Selbsthilfegruppen usw.) und die zunehmende Vertrautheit auch der Alteren mit diesem Bereich, 2. die offensive Forcierung einzelner Engagementformen z.B. durch die Politik (Seniorengenossenschaften, Seniorenburos usw.) sowie 3. der Paradigmenwechsel von der Betreuung hin zur Aktivierung, wie er in der Altenarbeit seit langerem propagiert wird. Vor allem die Seniorenburos als Initiations- und Koordinationsstellen wirken somit in jtingster Zeit als Multiplikatoren dieser Ausdifferenzierung verschiedener Formen des Ehrenamts im Alter (Braun et al. 1997). Das AusmaB solcher Veranderungsprozesse wie auch ihr Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen scheint kaum noch empirisch analysierbar. Die Eingangs wiedergegebene in etwa gleich lautende Einschatzung der Enquete-Kommission ist also durchaus berechtigt. Dies umso mehr, als sie

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Harald Kunemund

sich hauptsachlich auf die empirischen Befiinde des Freiwilligensurvey stiitzt, der nicht das traditionelle Ehrenamt, sondem das Konzept des freiwilligen Engagements im Frageprogramm umsetzt. Dabei werden in der Frageformulierung Vereine, Initiativen, Projekte und Selbsthilfegrappen gleichzeitig angesprochen, und auch die angefilhrten Beispiele verklammern diese Bereiche (z.B. „Sportverein" und „Bewegungsgruppe", vgl. von Rosenbladt 2001: 39ff.). ijber die ansclilieBenden Fragen, die sich auf die konkreten Amter und Engagements beziehen, lassen sich diese Bereiche und Tatigkeiten zwar theoretisch wieder differenzieren, aber ein unmittelbarer Vergleich mit alteren Studien ist durch die veranderte Form der Erhebung kaum moglich. Dies ist aber keine zwingende Notwendigkeit. Im Alters-Survey z.B. wurde - einige Jahre zuvor und noch vor einem etwas anderen Diskussionsstand - ein anderer Weg gewahlt. Hier wurde versucht, durch die Fragen und Antwortvorgaben die Bereiche Vereine, Initiativen, Projekte und Selbsthilfegruppen (und auch deren „Altersspezifik" usw.) jeweils identifizierbar zu hahen, so dass eine Vergleichbarkeit mit fruheren Studien - also etwa zum traditionellen Ehrenamt in Vereinen und Verbanden - leichter moglich ist, zugleich aber verschiedene Konzepte gewissermaBen „modular" umsetzbar sind - neben dem traditionellen Ehrenamt also z.B. Beteiligung an Initiativen, Projekten und Selbsthilfegruppen oder auch ehrenamtliche Tatigkeiten ohne Bindung an Vereine oder Verbande usw. - jeweils einzeln wie auch Kombinationen davon. Dieser Bereich lasst sich sogar noch erganzen um weitere Tatigkeiten wie informelle Pflegetatigkeiten (mit Informationen ilber den Beziehungsstand zu den betreuten Personen, d.h. der Moglichkeit der Unterscheidung der Betreuung von Eltem, Partnem, Nachbam usw.), instrumentellen und fmanziellen Unterstiitzungsleistungen oder (Enkel-)Kinderbetreuung (vgl. Kohli, Kunemund 2000). Zwar lassen sich Konzepte wie das burgerschaftliche Engagement nachtraglich auch nicht hundertprozentig vergleichbar umsetzen - nach Stadtteilverschonerung oder dem Tierschutzverein wurde z.B. nicht gefragt, und nicht nur in dieser Hinsicht hat auch diese konkrete Umsetzung klare Schwachstellen und blinde Flecke.^ Aber sie ist als Strategic hinsichtlich unterschiedlicher Begriffe und Konzepte im Prinzip anschluss- und - fur den Fall des „Veraltens" auch dieser Konzepte und Module - ausbaufahig. Wie auch immer aber diese unterschiedlichen Konzepte empirisch operationalisiert werden - unterschiedliche Ergebnisse mtissen vor diesem Hintergrund nicht iiberraschen, sie sind im Gegenteil oftmals intendiert. Eher tiberraschend ist, dass dies dann nicht immer entsprechend deutlich gemacht Beispielsweise kann der Stnikturwandel des Ehrenamts im Hinblick auf eine Professionalisierung auch im Falle des Panels - die zweite Welle wurde im Jahr 2002 erhoben (vgl, Tesch-Romer et al. 2002) - nicht abgebildet werden. Anders als z.B. im Freiwilligensurvey steht dieser Bereich aber auch nicht im Zentrum der Studie, sondem ist nur ein Fragekomplex unter mehreren anderen.

Methodenkritische Anmerkungen

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wird. Da sich auch Veranderungen in der Praxis wie auch in der Bewertung und Klassifikation dieser Praxis im Lichte der jeweiligen Diskurse und Konjunkturen - aufseiten der Forscher wie aufseiten der Befragten - ergeben, waren aus meiner Sicht moglichst detaillierte Erhebungen sinnvoll, die einzelne Tatigkeiten erfassen, nicht aber deren Aggregationen zu in der Befragungssituation mehr oder weniger diffusen Konzepten mit immer umfassenderen Frageformulierungen. Dann lieBen sich die Konzepte vom Forscher uber jeweihgen Kombinationen nachtraglich umsetzen und zugleich waren Anschlusse an fruhere (und nachfolgende) Studien leichter herzustellen. 2.2 Stichproben und

Erhebungsmethoden

Die Vielfah an Ergebnissen ist aber nicht allein eine Folge dieser Diskurse und Konjunkturen. Selbst bei weitgehend identischen Defmitionen konnen unterschiedhche Methoden zu unterschiedlichen Ergebnissen filhren. Zu denken ist hier beispielsweise an regionale Besonderheiten - insbesondere Studien im Umfeld der Aher(n)sforschung sind haufig regional begrenzt oder an spezifische Personengruppen, die befragt werden, etwa Nutzer von Seniorenbijros. Viele Studien in diesem Bereich konnen keine Reprasentativitat far die Gesamtbevolkerung beanspruchen (z.B. Schumacher et al. 1996; Braun et al. 1997). Noch vor wenigen Jahren gab es fast uberhaupt keine reprasentativen Daten hierzu; selbst die Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" verwies in ihrem ersten Zwischenbericht als Beleg zur Verbreitung ehrenamtlicher Tatigkeiten lediglich auf eine Bilrgerbefragung in Gottingen, Karlsruhe, Worms und Wurzburg aus dem Jahre 1984, um wenigstens die Gruppe der 65- bis 70-Jahrigen (n=93) mit den Jtingeren vergleichen zu konnen {Deutscher Bundestag 1994: 196). Hinzu kam eine grebe Hochrechnung auf ca. 5,8 Millionen Personen aller Altersgruppen (ebd.: 195). Bei letzterer Angabe berief man sich auf die vermeintlich neuere Quelle Engels (1991), der eine Sekundaranalyse der Studie von Braun und Rohrig (1987) durchfiihrte, die wiederum genau jene Studie von 1984 in Gottingen, Karlsruhe, Worms und Wurzburg war. Diese Situation hat sich inzwischen deutlich verbessert und es liegt insbesondere mit dem Alters-Survey und dem Freiwilligensurvey - eine ganze Reihe von reprasentativen Daten vor, die auch fiir die Alteren verlassliche Angaben erlauben (vgl. z.B. Kohli, Kunemund 1996, 2000; Gaskin et al. 1996; Brendgens, Braun 2001). Dennoch sind auch bei diesen Studien unterschiedhche Ergebnisse aus mehreren Grilnden sehr wahrscheinlich. Beispielsweise ist bekannt, dass der Titel bzw. die Einleitung der jeweiligen Studie einen Einfluss auf die Teilnahmewahrscheinlichkeit hat, insofem damit bestimmte Personengruppen starker angesprochen werden bzw. sich bestimmte Personengruppen eher angesprochen fiihlen. Wenn in einer Einlei-

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Harald Kiinemund

tung am Telefon also z.B. formuliert wird, es gehe im Auftrag eines Bundesministeriums um das Thema Aktivitaten der Btirgerinnen und Burger, besteht auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, das z.B. burgerschaftlich Engagierte haufiger interessiert „mitmachen" als in dieser Hinsicht eher inaktive Personen, wahrscheinlich auch haufiger als beispielsweise im Wohlfahrtssurvey mit einer Einleitung, die sich allgemein auf die Lebensqualitat in Deutschland bezieht und das Wissenschaftszentrum Berlin als Kooperationspartner benennt. Insofem ware bei Studien wie dem Freiwilligensurvey eher mit einer gewissen Uberschatzung des biirgerschaftlichen Engagements aufgrund einer hoheren Teilnahmewahrscheinlichkeit der interessierenden Personengruppen zu rechnen. In die gleiche Richtung wirkt zugleich ein allgemeinerer Faktor: „Es ist nicht auszuschlieBen, dass personliche und soziale Merkmale, die freiwilliges Engagement begiinstigen (Offenheit, Interesse, Kooperationsbereitschaft, Gemeinwohlorientierung), sich in gleicher Weise auch positiv auf die Teilnahmebereitschaft an einer reprasentativen Befragung auswirken" {von Rosenbladt 2001: 55). Im Falle des Freiwilligensurvey geht es dabei also nicht nur um „undercoverage" und Nichtbefragbarkeit (etwa von Migranten Oder Obdachlosen; vgl. Schnell 1991) oder den sprichwortlichen Bildungsoder Mittelschichtbias, was ja auch alle anderen Befragungen in ahnlicher Weise treffen wtlrde, sondem vielmehr um eine Korrelation der inhaltlich interessierenden Dimension mit der Teilnahmewahrscheinlichkeit aufgrund von Drittvariablen. Ein theoretisch denkbarer, in die entgegengesetzte Richtung wirkender Effekt der schlechteren Erreichbarkeit generell aktiverer Personen durfte demgegenilber zu vemachlassigen sein, zumal mehrmalige Kontaktversuche gewissermaBen „Standard" sind. Ein weiterer relevanter Faktor ist die konkrete Methode der Befragung. Schriftlich-postalische, personliche und telefonische Interviews haben ihre je eigenen Effekte auf Teilnahmebereitschaft und Antwortverhalten, aber auch Konsequenzen filr die Konstruktion von Fragen und Antworten. Beispielsweise lassen sich lange Listen am Telefon kaum „in einem Rutsch" prasentieren - es sei denn man nimmt in Kauf, dass die letzten Antwortkategorien haufiger genannt werden (well diese noch im Kurzzeitgedachtnis prasent sind, wahrend nach einer Antwort gesucht wird). In milndlichen und schriftlichen Interviews konnen demgegeniiber Listen dem Befragten vorgelegt und daher problemlos auch wiederholt angesehen und „durchgegangen" werden. Die bekannten Effekte der Fragenreihenfolge konnen in schriftlichen Befragungen auch von nachfolgenden Fragen ausgehen (gleiches gilt fur Effekte der Reihenfolge von Antwortvorgaben) und dergleichen mehr (vgl. als Ubersicht zu diesem Bereich Schwarz et al. 1991a). Speziell in telefonischen Befragungen sind daher lange Listen von Antwortvorgaben eher problematisch. Es ware aber auch z.B. durchaus denkbar (und mit einem experimentellen Design im Prinzip empirisch tlberprtifbar), dass z.B. der explizite Hinweis im

Methodenkritische Anmerkungen

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Wertesurvey, es gehe nicht um reine SpaB- und Erholungsaktivitaten oder um passive Vereins- und Organisationsmitgliedschaften, nach der sehr langen Liste von Bereichen mit jeweils ausfuhrlichen Beispielen an Wirkung verliert, so dass die Befragten dann doch irgendwann „einknicken" und letztlich niederschwelligere Aktivitaten angeben. Im Falle einer schriftlich-postalischen Befragung ware ein solcher Effekt weniger stark zu erwarten. 2.3 Kontext und

Retrospektion

Der wahrscheinlich am haufigsten unterschatzte, aber dennoch in vielerlei Hinsicht „entscheidende" Faktor in diesem Zusammenhang ist letztlich der Befragte in der konkreten Befragungssituation. Die Antworten auf Fragen nach Tatigkeiten sind zuerst einmal ein Produkt der (Re-)Konstmktion durch die Befragten. Insofern ist es zwingend geboten, auch diese Prozesse in den Blick zu nehmen und zu fragen, in welcher Weise diese durch die konkrete Befragungssituation, die Erhebungsinstrumente usw. beeinflusst werden konnen. Aus dem Umfeld der kognitiven Psychologic in der Anwendung auf Survey-Forschung liegen hierzu inzwischen einige Befunde und Theorien vor (vgl. die Ubersichtsdarstellungen mJobe, Mingay 1991; Sudman et al. 1996; sowie mit Blick auf die Besonderheiten bei der Befragung Alterer Knauper et al. 2002). Hauptsachlich geht es in diesem Forschungszusammenhang um so genannte Kontexteffekte, die aber nicht als Storfaktoren verstanden werden, welche gelegentlich die Ergebnisse von Befragungen verzerren. Vielmehr sind Kontexteffekte ganz unvermeidlich, und es kommt daher darauf an, diese zu explizieren und dann bei der Konstruktion der Erhebungsinstrumente und der Interpretation der Ergebnisse entsprechend zu beriicksichtigen. Der Begriff Kontext wird dabei so weit gefasst, dass er historische, soziale und psychische Aspekte einschlieBt, sofern diese im konkreten Interview relevant werden kSnnen. Der Prozess des Antwortens in Survey-Erhebungen kann demnach wie folgt konzeptualisiert werden (vgl. insbesondere Strack, Martin 1987; Sudman et al. 1996):^ In einem ersten Schritt muss die Frage selbst verstanden werden. Dieses Verstehen muss auf zwei Ebenen gelingen - semantisch (die verwendeten Begriffe und ihre Kombination mussen verstanden werden) und pragmatisch (es muss eindeutig sein, was genau der Frager wissen mochte). Es bleibt zu erwahnen, dass die Befunde in diesem Forschiungskontext zumeist anhand kleiner Populationen in experimentellen Settings mit oft extremen Variationen gewonnen werden. Untersuchungen mit grolSen Surveys sind erheblich seltener, die kontrastierten Varianten dann meist weniger scharf gefasst und insgesamt die Kontexteffekte offenbar geringer als diese Studien vermuten iassen (vgl. z.B. Schuman 1992: 7; Gaskell et al. 1992). AUgemein schlagen Kontexteffekte am starksten dort durch, wo aufgrund „schwammiger" Formulierungen Unsicherheiten in der Interpretation aufseiten der Interviewten provoziert werden. Dies dilrfte im Falle des Begriffs „Ehrenamt" ein haufiger Fall sein.

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Harald Kiinemund

Bereits auf der Ebene des semantischen Verstehens sind Kontexteffekte unvermeidlich, da identische Begriffe (oder auch ganze Satze) in unterschiedlichen Kontexten divergente Bedeutungen haben konnen. Wird hier ein bestimmter Kontext z.B. durch vorhergehende Fragen oder Einleitungen absichtlich oder unbemerkt nahe gelegt, wird dieser mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Befragten auch bei der Interpretation verwendet. Auf der Ebene des pragmatischen Verstehens kann eine semantisch eindeutige Frage dennoch mehrdeutig sein oder Unklarheiten hervorrufen. Hier miissen dann weitere Kontextinformationen - z.B. Antwortvorgaben oder weitere Fragen herangezogen werden, um die vom Interviewer gemeinte Bedeutung der Frage zu erschlieBen. Beispielsweise ware zu vermuten, dass in der ersten Zeitverwendungsstudie des Statistischen Bundesamtes die relativ unprazise und fiir Interpretationen offene Frage, „Uben Haushahsmitglieder zur Zeit ein Ehrenamt aus?" (vgl. Statistisches Bundesaml 1995, Band I: 71),durch die unmittelbar vorausgegangene Thematisierung von Hilfe- und Pflegetatigkeiten der Haushahsmitglieder fiir andere, nicht im Haushalt lebende Personen mit beeinflusst wurden. Hier ware theoretisch z.B. ein Subtraktionseffekt denkbar: Personen konnten Ereignisse ausschlieBen, die sie bereits bei einer vorhergehenden Frage verwendet haben, in der Annahme, das konne ja nicht noch einmal geiragt sein. Wahrscheinhcher aber ist ein umgekehrter Effekt: Durch die vorausgehenden Fragen werden zumindest vielfaltige Kontexte „aktiviert", die fiir die Beantwortung dieser Frage relevant sind, so dass den Befragten eher mehr relevante Ereignisse einfallen als ohne diese vorhergehende Frage. Fiir einen solchen Effekt, der streng genommen nur durch eine experimentelle Variation in der Erhebung nachzuweisen ist, sprechen die iiberraschend hohen Quoten, die in dieser Studie mit dem doch eher traditionellen Begriff des Ehrenamts ermittelt vrarden - demnach ware namlich jeder vierte 60- bis 69-jahrige und noch jeder fiinfte tiber 69-jahrige Mann ehrenamtlich tatig. In einem zweiten Schritt miissen die fur die Beantwortung der Frage relevanten Informationen gesucht werden. Im einfachsten Falle kann ein bereits gebildetes Urteil oder verfiigbares Datum abgerufen werden. Die Verfiigbarkeit hangt bei Verhaltensfragen insbesondere von der Haufigkeit bzw. Exklusivitat des interessierenden Ereignisses und der personlichen Bedeutsamkeit ab. Menon (1993) z.B. zeigt, dass bei regelmaBigen Aktivitaten die Haufigkeit als ungefahre Angabe direkt zuganglich sein kann, kaum jedoch bei unregelmaBigen Aktivitaten. Beispielsweise kann eine stark zeitlich festgelegte Funktion in einem Verein - etwa jede Woche an einem bestimmten Termin - leicht sehr genau angegeben werden, sporadische und eher zufallige Engagements - etwa Hilfen in der Nachbarschaft, sofern sie nicht besonders selten und insofem von hoher Exklusivitat sind - eher nicht. Haufig wird also ein solches Datum oder Urteil konstruiert werden miissen, wobei die Zeit fiir eine Suche nach relevanten Informationen speziell im

Methodenkritische A nmerkungen

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Interview meist sehr beschrankt ist. Wahrend der Informationssuche konnen Entscheidungen uber die Relevanz des gefundenen Datums fur die Zieldimension getroffen werden. Falls in der Frage ein begrenzender Zeitraum angegeben wurde, muss auch geprilft werden, ob das geftindene Datum in diese Zeitspanne fallt. Dabei kann es zu telescoping-Effekten kommen, d.h. dass Ereignisse, die vor dieser Zeitspanne liegen, mit einbezogen werden konnen (forward telescoping) und solche, die knapp in dieser Zeitspanne liegen, herausfallen konnen (backward telescoping). Beides kann auch bewusst verandert werden, etwa wenn das erfragte Ereignis bedeutsam fur die Selbstprasentation ist, aber eigentlich auBerhalb des erfragten Zeitraums lag. AnschlieBend kann ~ je nach konkreter Fragestellung - ein VergleichsmaBstab herangezogen werden, der als Referenzpunkt fur eine Urteilsbildung genutzt wird (andere Personen, Zeitpunkte oder Ereignisse, Normalitatsfolien usw.). Gelegentlich milssen auch Berechnungen durchgefiihrt werden (z.B. Additionen, Mittelwertsbildungen oder entsprechende Schatzungen). Die entscheidenden Faktoren, die sich hier auswirken konnen, sind die Verfugbarkeit der Informationen und die verwendeten Inferenzstrategien. Aufgrund der knappen Zeit werden - sofern nicht chronisch verfugbare Informationen greifbar sind - eher leicht erreichbare Informationen verwendet, wobei die leichte kognitive Verfugbarkeit insbesondere von der Haufigkeit der Aktivierung und der Zeitspanne seit der letzten Aktualisierung abhangt. Als weitere Faktoren kommen in Betracht: die Komplexitat im Sinne der notwendigen Teilinformationen, die subjektive Bedeutsamkeit der Information und die Anzahl von Hinweisen oder Merkmalen, die zu der gesuchten Information filhren („cues") sowie schlieBlich die (Jbereinstimmung dieser cues mit jenen Merkmalen, die bei der Encodierung verwendet wurden. Die Relevanz der subjektiven Bedeutsamkeit dilrfte damit zusammenhangen, dass iiber wichtige Ereignisse haufiger nachgedacht wird, was mit wiederholten Encodierungen einhergehen karm, womit dann wiederum die Anzahl m6glicher cues ansteigt. Zudem werden solche Daten oft in Selbstschemata Eingang fmden (vgl. hierzu Strube, Weinert 1987). Die gewahlten Inferenzstrategien hangen vor allem mit dem erfragten Datum oder Ereignis zusammen. Wird beispielsweise schlicht nach der Haufigkeit einer Tatigkeit gefragt, ist ein Durchsuchen der Zeitspanne und Zahlen der Ereignisse empirisch offenbar eher selten.'' Diese Strategic wird bei unregelmaBigen und gleichzeitig unahnlichen (episodischen) Ereignissen Anwendung finden, wogegen bei unregelmaBigen, aber ahnlichen Ereignissen eine Schatzung unter Ruckgriff auf typische Situationen bzw. fragmentarische Es wurde auch festgestellt, dass die Richtung, in der die Zeitspanne durchsucht wird, einen Einfluss auf die Qualitat der Angaben hat. Beginnt man mit dem letzten (zeitlich spatesten) Ereignis, liefert dieses aufgrund der besseren Verfugbarkeit mehr Anhaltspunkte fiir die weitere Suche. Haben die Befragten die Wahl, entscheiden sie sich leider offenbar meist fiir den umgekehrten Weg (vgl. Schwarz 1990: 103f).

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Harald Kiinemund

Reprasentationen wahrscheinlich ist (vgl. Burton, Blair 1991; Menon 1993). Zudem ist diese Strategic bei haufigen Ereignissen 201 aufwendig, bei routinisierten Ablaufen gar nicht mehr moglich. Als weitere Inferenzstrategien in diesem Zusammenhang wurden eine regelgeleitete Schatzung (anhand einer Kegel, z.B. einmal pro Woche, wird auf den erfragten Zeitraum hochgerechnet; fraglich bleibt dann vor allem, ob Ausnahmen von dieser Regel Berucksichtigung fmden), die Schatzung aufgrund einer Verfugbarkeitsheuristik (der erlebte Schwierigkeitsgrad bei der Erinnerungstatigkeit dient als Indikator filr die Haufigkeit des in Frage stehenden Ereignisses), der Bezug auf implizite Theorien uber Stabilitat und Veranderungen (das gegenwSrtige Verhalten dient als Ausgangspunkt fiir eine Schatzung, die aufgrund eigener Theorien uber Veranderungen oder Stabilitat modifiziert wird - die Angemessenheit dieser Theorien entscheidet dann also tiber die Qualitat der so gewonnenen Daten) und die Anpassung an normative Standards und Erwartungen ermittelt (vgl. z.B. Ross 1989; Schwarz 1990: 105ff; Burton. Blair 1991: 5If). In einem dritten Schritt muss die Antwort formuliert oder in die vorgegebenen Antwortkategorien eingepasst werden. Wurden die Antwortvorgaben noch nicht im ersten Schritt verwendet, kann dies eine weitere Prazisierung oder ein komplettes Wiederholen des ersten und/oder zweiten Schritts an dieser Stelle zur Folge haben. Der Einfluss der Antwortvorgaben ist teilweise erheblich: Zum Beispiel wurde gezeigt, dass unterschiedliche Skaleneinheiten bei identischen Fragen systematische Veranderungen im Antwortverhalten nach sich ziehen (vgl. z.B. Schwarz et al. 1991b). Die Antwortvorgaben konnen von den Befragten etwa als „Normalitatsfolie" interpretiert werden, wobei die geschatzte (oder gewilnschte) Relation zu dieser vermeintlichen Normalitat entscheidend ftir die Einordnung auf der Skala ist (vgl. Schwarz, Bienias 1990). Gegebenenfalls sind auch hier noch mal aufwendige Berechnungen (oder eben pragmatische Schatzungen) notig, etwa wenn ein taglich mehrstundiges Engagement - wie im Fall von Pflegetatigkeiten - in Stunden pro Woche oder Monat angegeben werden muss. Im Falle ehrenamtlicher Tatigkeiten ist plausibel anzunehmen, dass die Verwendung von ausfiihrlichen Listen, die Hinweise auf die Zieldimension der Frage geben und zugleich als Erinnerungshilfe dienen, zu einer hoheren Qualitat der Angabenfiihrt. Je ausflihrlicher diese Listen, desto unwahrscheinlicher wird das „tJbersehen" einzelner Engagements. Andererseits kann vielleicht auch eine zu lange oder zu detaillierte Liste einen gegenteiligen Effekt hervorrufen - etwa wenn die Befragten gar nicht mehr alles durchgehen oder sich von zu vielen unbekannten Begriffen und speziellen Organisationen vorschnell zu einem „Nein" hinreiBen lassen. Vermutlich sind allgemein gelaufige Oberbegriffe mit einzelnen Beispielen die beste Wahl. Im vierten Schritt schlieBlich kann die Information der spezifischen Situation entsprechend modifiziert werden. Spatestens an dieser Stelle haben Effekte situationaler sozialer Erwunschtheit ihren Platz (vgl. z.B. Esser

Methodenkritische A nmerkungen

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1986). Damit ist nicht gemeint, dass die Interviewermerkmale, die Sitxiationsdefinition usw. nur an dieser Stelle relevant werden. Diese sind als Kontext bereits in den vorangegangenen Schritten bedeutsam. In diesem vierten Schritt jedoch muss die Entscheidung getroffen werden, ob das Ergebnis (die Antwort) iiberhaupt oder nur modifiziert weitergegeben werden soil. Bei einer negativen Entscheidung kann - sofem die Zeit reicht - auch wieder zu Schritt zwei zuriickgesprungen werden. Die genannten kognitiven Prozesse in diesen vier modellhaften Schritten sind nicht zwingend an den jeweiligen Schritt gebunden - auch bei dem Verstandnis der Frage oder der Entscheidung iiber die Mitteilung konnen Informationssuchprozesse eine Rolle spielen, Kontrast- und Assimilationseffekte konnten auch im zweiten Schritt (etwa bei der Konstruktion von Vergleichsstandards) nachgewiesen werden usw.; auch mtissen nicht inuner alle vier Stufen durchlaufen werden. Insgesamt kann aber festgehalten werden, dass Kontexteffekte durch den konkreten Fragebogen produziert werden, und zwar in systematischer Weise. Diese bleiben bei der Interpretation der Ergebnisse in Rechnung zu stellen. Auch historische Ereignisse, Jahreszeiten konnen als Kontext fungieren und somit die Antworten systematisch beeinflussen. Sofem es sich um personliche Ereignisse handelt, dilrften solche Effekte - was die Reprasentativitat der Stichprobenergebnisse angeht - unsystematisch verteilt sein; eine gestiegene gesellschaflliche Aufmerksamkeit fur bilrgerschaftliches Engagement z.B. konnte hingegen eine systematische Abweichung der Ergebnisse zu friiheren Studien zur Folge haben. Neben der Prazision in der Frageformulierung und den bestehenden Interpretationsspielraumen ist insbesondere das Problem der Eingrenzung des Zeitraums, auf den sich die Frage bezieht, ein heikler Punkt bei den bisherigen Untersuchungen zum ehrenamtlichen Engagement. Eine Durchsicht von Erhebungsinstrumenten macht deutlich, dass eine solche Eingrenzung sehr oft unterbleibt. Ohne eine solche Abgrenzung z.B. auf die letzten zwolf Monate konnen auch Tatigkeiten angegeben werden, die seltener als einmal im Jahr ausgetibt werden. Liegt z.B. das letzte ehrenamtliche Engagement drei Jahre zuriick, ist eine Kategorie „nie" bei fehlender Eingrenzung des Zeitrahmens jedenfalls unzutreffend. In diesen Fallen bleibt es also den Befragten uberlassen, ob sie dieses Engagement angeben oder nicht. Streng genommen dilrfte diese Kategorie „nie" in solchen Fallen daher fast nie gewahlt werden. Dass dies dennoch recht haufig geschieht, verweist darauf, dass die Befragten eine Referenzperiode selbst bestimmen, die ihnen fur die gegenwartige Situation plausibel erscheint. Diese Kategorie ist damit fur den auswertenden Forscher im Hinblick auf deskriptive Aussagen zur Verbreitung von Tatigkeiten aber nicht eindeutig interpretierbar. Dies ist nicht nur bei alteren Studien der Fall (z.B. Stadie 1987), auch im Alters-Survey und im Freiwilligensurvey gibt es solche Schwachstellen. In der der zweiten Welle des Freiwilligensurvey wird beispielsweise lediglich

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Harald Kiinemund

gefragt, „ob Sie sich in einem oder mehreren dieser Bereiche aktiv beteiligen" bzw. „derzeit" ehrenamtlich tatig sind, sowie wie viel Zeit man „im Durchschnitt pro Woche" aufwendet. Zugespitzt formuliert: Ob das regelmaBige jahrlich Helfen beim Tischdecken beim Sommerfest der Kirchengemeinde hier als „derzeitiges" freiwilliges Engagement einbezogen wird, liegt ebenso im Ermessen der Antwortenden, wie die Frage, ob es sich dabei ilberhaupt um eine „aktive Beteiligung" handelt (und hochstwahrscheinlich korreliert dies in diesem Beispiel mit dem Befragungszeitpunkt). Die Frage nach den Stunden pro Woche im Durchschnitt wilrde in einem solchen Fall noch weitere Schwierigkeiten aufwerfen - soil man diese Zeit aufs Jahr hochrechnen und durch 52 dividieren und zuvor den Urlaub abziehen, oder einfach angeben, wie viele Stunden es in solchen Wochen sind, in denen dies vorkommt? In gewisser Hinsicht bleibt also offen, was hier genannt wird. Studien, die den Befragten selbst die Entscheidung dariiber iiberlassen, was dann jeweils „haufig", „selten" oder „regelmaBig" ist (z.B. GflC 1993; Buchmiiller et al. 1996, Spellerberg 1996), treiben dies gewissermaBen auf die Spitze sie sind, was die Verbreitung von Tatigkeiten betrifft, weitgehend wertlos. Auch die Lange der Referenzperiode spielt eine erhebliche RoUe flir die Genauigkeit der Angaben. Ein langerer Referenzzeitraum hat Folgen je nach Art des erfragten Engagements und der jeweiligen Haufigkeit. TelescopingEffekte sind dabei weniger problematisch, aber die Interferenzen und die jeweils gewahlten Inferenzstrategien der Befragten bekommen groBere Bedeutung. Zu lange Referenzperioden verursachen oft weniger verlassliche Ergebnisse, zu kurze Referenzperioden bieten hingegen oft wenig Information auf der individuellen Ebene. Letzteres zeigt sich deutlich bei Untersuchungen, die zwecks genauerer Erfassung Stichtags- oder „yesterday"-Konzepte verwenden (z.B. Schduble 1989) oder das tagliche Verhalten direkt in einem Tagebuch erfassen lassen {Statistisches Bundesamt 1995). Man hofft damit der Qualitat von Beobachtungsdaten naher zu kommen, obgleich es natiirlich keinen „neutralen" Beobachter gibt. Das individuelle Tatigkeitsspektrum ist so jedoch kaum in den Blick zu bekommen. Beispielsweise ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, eine ehrenamtliche Tatigkeit bei einer Person an einem Stichtag zu erfassen, die einmal im Monat fur wenige Stunden ehrenamtlich tatig ist. Hinzu kommt, dass sich die Tatigkeiten auch nach Saison, Wetter, Erwerbstatigkeit, Wochentag usw. systematisch unterscheiden konnen, so dass fiiir diese Faktoren kontrolliert werden muss.' Bei der Konstruktion der Erhebungsinstrumente werden solche Uberlegungen offenbar nicht immer im hinreichenden MaBe einbezogen. Viele Fragen machen den Eindruck, als seien sie „ad hoc" ausgedacht, ohne auf In der Zeitverwendungsstudie des Statistischen Bundesamts beispielsweise wurden deshalb die Erhebungen zu jeweils zwei Tagen ilber die vier Jahreszeiten verteilt (vgl. Ehling 1995). Dennoch sind individuelle Tatigkeitsmuster so kaum zu erfassen, soil ein Tagebuch nicht ilber Monate hinweg geluhrt werden.

Methodenkritische Anmerkungen

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vorliegende Erfahrungen zuriickzugreifen, und viele Entscheidungen werden - moglicherweise der Einfachheit halber, aber mit den genannten Konsequenzen der eingeschrankten Interpretierbarkeit der Beftinde - den Befragten uberlassen. Die erste Zeitbudgetstudie des Statistischen Bundesamtes, aber z.B. auch das Sozio-okonomische Panel oder der Wohlfahrtssurvey geben hierfur prominente Beispiele, wobei aber bei diesen Studien die Fragen zum Engagement nur am Rande stehen und insofern eine eher pragmatische Vorgehensweise forschungsokonomisch gerechtfertigt werden kann. Die unterschiedlichen Ergebnisse sind so betrachtet in diesen Fallen kein Anlass zur Sorge, eher schon jene der unmittelbar einschlagigen Studien zu diesem Themenbereich und der manchmal etwas sorglos anmutende Umgang mit ihnen. Die Einschatzung, dass „das Gelande (...) voll von Datenmull" (Ziegler 1998: 38) sei, ist aus meiner Sicht aber etwas ilberzogen - sofem man versucht, den Ursachen unterschiedlicher Ergebnisse nachzusptiren, die Befunde vor diesem Hintergrund richtig einordnet und idealiter die so gewonnenen Erkermtnisse in den zuktinftigen Erhebungen berucksichtigt.

3. Fazit Trotz aller Kritik im Detail: Reprasentative Personenstichproben bieten insgesamt die wohl verlasslichsten Angaben zu den Engagementquoten in der Bevolkerung. Erhebungen bei den Organisationen, Vereinen oder Verbanden zu den jeweils dort ehrenamtlich tatigen Personen dtlrften ihrerseits mit Unsicherheiten behaftet sein, und vor allem lassen sich solche Angaben nicht problemlos aufsummieren, da ansonsten „Multifunktionare" zu einer Uberschatzung der Engagementquote beitragen wilrden. Bei Individualdaten besteht dieses Problem - anders als von Heinze und Oik (1999: 90) vermutet - nicht: Der Anteil der ehrenamtlich Tatigen in einer Befragung steigt nicht, wenn einige Befragte mehrere solche Engagements angeben. Es ist auch nicht so, dass die Ergebnisse solcher Studien nicht reliabel waren, im Gegenteil: Gleiche Methoden und Stichproben fiihren auch zu in etwa gleichen Ergebnissen, wie sich etwa im Vergleich der Querschnittstichproben des Alters-Suvrey von 1996 und 2002 zeigen iSsst. Auch die relativ hohe Konstanz der im Sozio-okonomischen Panel ermittelten Engagementquoten weist in diese Richtung. Und fur die zweite Welle des Freiwilligensurvey wilrde ich so weit eine ahnliche Konstanz der Ergebnisse erwarten. Die in dieser kurzen Zusammenstellung diskutierten Ursachen und Erklarungen fur die oft disparaten Ergebnisse zum Ehrenamt implizieren daher nicht eine generell mangelnde Validitat und Verlasslichkeit von Befragungsdaten: Es lasst sich theoretisch begriindet angeben, diskutieren und empirisch iiberpriifen, warum welche Diskrepanzen auftreten. Ob dabei in den einzelnen

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Harald Kunemund

Studien wirklich immer genau das gemessen wurde, was jeweils gemessen werden sollte, oder was behauptet wird, gemessen worden zu sein, kann zwar hier und dort schon einmal in Zweifel gezogen werden. Aber dabei handelt es sich nicht um ein unvermeidbares Problem der Umfrageforschung, sondem eher um Probleme der jeweils vorhandenen Fachkompetenz und der jeweils zur Verfiigung stehenden Ressourcen. Auch wenn hinsichtlich der Entwicklung dieser Faktoren gewisse Unsicherheiten bestehen - insbesondere die gegenwartige KUrzung bzw. Abschaffung der Soziologie an einigen Universitaten impliziert einen Verlust an Theorie- und Methodenkompetenz, deren Notwendigkeit nicht erst in Anbetracht der Datenlage und des Diskussionsstands in diesem Bereich unmittelbar einleuchten sollte -, sind Fortschritte in der soziologischen Beschreibung und Theoretisierung der Gesellschaft und ihres Wandels moglich und erwartbar, die fur die Gesellschafts- und Sozialpolitik wie auch fur die Selbstverstandigung der Gesellschaft tiber ihren Stand und ihre Entwicklungsperspektiven unverzichtbar sind.

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Harald

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Methodenkritische

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Harald

Kiinemund

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Exemplarische Analysen zum ehrenamtlichen Engagement im Alter Harald

Kiinemund

1. Einleitung Im Bereich des ehrenamtlichen Engagements haben wir es mit einem weiten Feld von Theorien, Daten und Interpretationen zu tun, das schwer zu uberschauen ist. Zwar gibt es inzwischen eine Reihe methodischer und theoretischer Ausfiihrungen hierzu, aber auch noch immer ziemlich viele Unklarheiten. Die folgenden exemplarischen Auswertungen des Alters-Survey1 sollen verdeutlichen, welches Konzept dieser konkreten Erhebung zu Grande lag und welche Auswertungsperspektiven eine solche Strategie eroffhet. In der Forschungsgruppe Altern und Lebenslauf (FALL) unter der Leitung von Martin Kohli wird in Berlin seit langerem zu diesem Themenbereich geforscht. Zunachst wurden qualitative Studien zum Engagement im Ruhestand durchgemhrt {Kohli et al. 1993), die die Vielfalt an Bedeutungen deutlich werden lieBen. Erste quantitative Studien - etwa im Berliner Bezirk Tempelhof - machten dann auch die Probleme der Operationalisierung in Frageformulierangen wie auch der Stichprobenreprasentativitat sehr deutlich, Die erste Welle des Alters-Survey wurde in Kooperation der Forschungsgruppe Altern und Lebenslauf (Berlin), der Forschungsgruppe Psychogerontologie (Nijmegen) und infas-Sozialforschung (Bonn) durchgefuhrt und mit Mitteln des Bundesministeriums fur Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefordert (vgl. zur Konzeption Dittmann-Kohli et al. 1995, fur einen Uberblick zu den wichtigsten Befunden Kohli, Kiinemund 2000; Kohli et al. 2000 sowie Dittmann-Kohli et al. 2001). Uber die zweite Welle informieren Tesch-Romer et al. (2002). Die Verantwortung fur den Inhalt dieser Veroffentlichung liegt beim Autor. Im .Jahre 1996 wurden in dieser Studie knapp 5.000 deutsche Staatsangehorige der Geburtsjahrgange 1911 bis 1956 befragt. Die Stichprobenziehung basiert auf Angaben der Einwohnermeldeamter in 290 Gemeinden der Bundesrepublik, sie wurde geschichtet nach alten und neuen Bundeslandern (Verhaltnis zwei Drittel - ein Drittel), je drei Altersgruppen (40-54, 55-69 und 70-85 Jahre, jeweils ein Drittel) und Geschlecht (jeweils zu gleichen Anteilen). Diesem disproportionalen Stichprobenansatz wird bei den deskriptiven Analysen durch eine entsprechende Gewichtung Rechnung getragen. Der Datensatz ist fur die Wissenschaft am Zentralarchiv fur empirische Sozialforschung in Koln unter der Studiennummer 3264 zuganglich, die Dokumentation der Erhebungsunterlagen (Dittmann-Kohli et al. 1997) auf der Homepage der Forschungsgruppe Altern und Lebenslauf (www.fall-berlin.de). Aus Griinden der leichteren Verstandlichkeit wird bei den Auswertungen nach Kohorten das Alter der Befragten im Erhebungjahr (1996) anstelle des Geburtsjahres verwendet.

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Harald Kunemund

und international vergleichende sekundaranalytische Auswertungen Anfang der 90er-Jahre scharften unseren diesbeziiglichen Blick zusatzlich (Kohli, Kunemund 1996), ebenso detaillierte Analysen im Bereich der gewerkschaftlichen Seniorenarbeit (WOI/QX al. 1994). Fur den Alters-Survey verfolgten wir daher Mitte der 90er-Jahre die Strategic, alle interessierenden Tatigkeiten moglichst getrennt zu erfassen, unter Nennung von Beispielen und mit Antwortkategorien, die auf das faktische Verhalten und nicht z.B. auf dessen Bewertung als „haufig" oder „selten" zielten. Zwar wurde gewissermafien auch im Alters-Survey etwas Neues „erfunden", zugleich aber auch versucht, an „alte" Fragevarianten so weit wie moglich anzuschlieBen, so dass eine gewisse Vergleichbarkeit mit fruheren Studien moglich bleibt. Diese Fragen zur Vereinsmitgliedschaft und dem Engagement lassen als Ursprung letztlich noch immer die Social Participation Scale von Stuart Chapin aus dem Jahre 1952 erkennen. Und fur viele andere Tatigkeiten wahlten wir Varianten, die - in jeweils gewissen Grenzen - eine Vergleichbarkeit mit fruheren Erhebungen erlauben sollten (im Falle der Tatigkeiten insbesondere mit der Sfudie von Stadie 1997, eine der wenigen alteren reprasentativen Studien in diesem Feld). Mit dem Konzept des burgerschaftlichen Engagements des Speyerer Werte-Survey oder dem des freiwilligen Engagements des Freiwilligensurvey freilich bleibt die Vergleichbarkeit eingeschrankt - hier konnten wir seinerzeit noch nicht ankniipfen.

2. Methoden Konkret wurde im Alters-Survey versucht, ein moglichst breites Spektrum an aktuellen Mitgliedschaften und ehrenamtlichen Tatigkeiten zu erfassen. Diese wurden im Prinzip auf vier Ebenen verortet: 1. Partizipation und traditionelles Ehrenamt in Vereinen, Verbanden und Parteien (siehe hierzu Fragen 404-415); 2. Partizipation und „Neues" Ehrenamt in selbst- oder fremdorganisierten Gruppen (Fragen 404-415); 3. andere Funktionen und Engagements ohne Anbindung an konkrete Vereine, Gruppen oder Initiativen, z.B. als Elternvertreter oder Schoffe (Fragen 416-417); 4. informelle freiwillige Tatigkeiten und Hilfen jenseits jeglicher organisatorischen Verankerung (Fragen 323-326, 420-422, 708-709). Die erste Ebene scheint am leichtesten erfragbar zu sein, da die Tatigkeiten an die entsprechenden Organisationen gebunden sind. Insofern konnen Fragen zu den Engagements and solche nach den Mitgliedschaften ankniipfen, die weniger komplex sind als allgemeine Fragen zum Ehrenamt. Die wahrend

Exemplarische Analysen zum ehrenamtlichen Engagement im Alter

137

der Befragung vorgelegte Liste moglicher Vereine und Verbande enthalt einige Vorgaben, die Hinweise auf die Zieldimension geben sollten. Im Anschluss an Fragen nach der Mitgliedschaft in Gruppen, Vereinen und Verbanden - jede Mitgliedschaft wurde einzeln erfasst - wurden fur jede solche Mitgliedschaft die Haufigkeit der Teilnahme an Zusammenkunften, Veranstaltungen oder Sitzungen und die Dauer der Mitgliedschaft erhoben, anschlieBend wurden die in diesem Zusammenhang ausgetibten ehrenamtlichen Tatigkeiten erfragt (einschlieBlich des Zeitpunktes der Aufnahme der Tatigkeit und des durchschnittlichen Zeitaufwandes). Dabei wurde nicht allein auf den Begriff des Ehrenamts vertraut, sondern tiber die Formulierung des Ausubens von Funktionen in diesen Gruppen, Initiativen, Vereinen oder Verbanden eine Umschreibung hinzugefugt, die nach unserem Verstandnis auf der gleichen Dimension des traditionellen Ehrenamts zu verorten ist, aber auch dort gewahlt werden kann, wo der Begriff Ehrenamt nicht gewilnscht ist oder nicht verwendet wird, beispielsweise in Selbsthilfegruppen. Auf diese Weise ist es moglich, zwischen der eher passiven Mitgliedschaft, der Beteiligung und dem Ausiiben von Funktion in diesen Gruppen, Initiativen, Vereinen und Verbanden zu unterscheiden, jeweils mit weiteren Differenzierungen hinsichtlich der Haufigkeit der Teilnahme und der Intensitat des Engagements fur jede einzelne Gruppierung. Fur die Befragten wird mit der je Verein bzw. Gruppe geordneten Abfrage einzelner Mitgliedschaften, der Partizipation und des Engagements die Aufmerksamkeit auf die jeweilige Tatigkeit fokussiert, so dass das Tatigkeitsspektrum grundlicher nach ehrenamtlichen Tatigkeiten abgeklopft wird als z.B. mit einer allgemeinen Frage nach dem ehrenamtlichen Engagement. Auf der zweiten Ebene interessierten uns primar altersspezifische Tatigkeiten, sowohl im Rahmen eher „alteingesessener" Gruppen wie z.B. ZWAR wie auch seinerzeit neuere Entwicklungen wie z.B. die Seniorengenossenschaften oder die Aktion 55, sowie Wissensborsen, Handwerksdienste, organisierte Nachbarschaftshilfen und Selbsthilfegruppen aller Art, sofern sie in irgendeiner Form in einer Gruppe, einem Verein o.A. organisiert sind und nicht rein informell und privat stattfmden. Dabei bestand das Problem, dass diese Gruppen nicht nur ganz unterschiedliche Tatigkeitsfelder und Organisationsformen, sondern auch ganz unterschiedliche Bezeichnungen verwenden. Es mussten also Oberbegriffe Verwendung finden, die bei den Befragten hinreichenden „Erkennungswert" haben. Es schien uns aber nicht sinnvoll, nach spezifischen, zumeist nur regional bekannten Gruppen zu fragen - eben etwa ZWAR oder der Aktion 55 -, da dies fur viele Befragte keinerlei Anhaltspunkt daftir liefert, was hier eigentlich gemeint ist. Eher noch provozieren solche vermeintlichen Spezifikationen Ruckfragen, die auch die Interviewer sicher oft nicht beantworten konnen, oder sie konnen sogar dazu fuhren, dass die Befragten etwas Falsches - eben zu Spezifisches - hinter einer solchen Kategorie vermuten.

138

Harold Kiinemund

Zielperson ist geboren

Bltte ankreuzen It Frage 002:

1946 Oder frtiher 1947 oder spater

Es gibt viefe Gruppen, die sich besonders an aftere Menschen im Ruhestand Oder im Obergang in den Ruhestand richten. Machen Sie in einer oder mehreren solchen Gruppen, wie sie auf dieser Liste stehen, mit? [ _____ Ja Uste 404 vorlegen! Nein

| Furjede Mltgliecfschaft Antworten zu den Fragen 405 bis 409 in untenstehendes Schema 405.

• •

404

r~| a

410

.

"o"~ 410 eintragen!

Nennen Sie mir bitte den oder die entsprechenden Kennbuchstaben.

406.

Sagen Sie bitte, seit wann Sie dort mitmachen.

407.

Wie oft sind Sie in den ietzten 12 Monaten durchschnittlich zu Zusammenkunften, Veranstaltungen oder Sitzungen gegangen?

408.

Oben Sie dort eine Funktion aus oder haben Sie ein Ehrenamt inne? Falls ja, seit wann?

409.

Wieviel Stunden wenden Sie durchschnittlich fur diese Tatigkeit auf? I Stunden }e nach Antwort eintragen! Falls seltener als monatilch: Tage pro Jahr nachfragen!

407 Kennbuchstabe:

n

Kennbuchstabe:

• •

Weil?

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Kennbuchstabe: Wei (5 nicht

Andere Seniorengruppe bitte notieren:

Andere Seniorengruppe bitte notieren:

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9'

Stunden / Monai

23/2 A

Tage pro Jahr

25/26

Stunden pro Tag Ja, seit 19 _____ Nein

..

D

Stunden / Woche Siunden / Monat

NBchste Gruppe

Tage pro Jahr Stunden pro Tag

Ja, seii 19 | Nein

..

j _ •

Stunden / Woche Stunden / Monat

Nachste Gruppe

Tage pro Jahr Stunden pro Tag

Ja, seit 19 |

Nein ..

|__

p

NBchste Gruppe

Mehrmals die Woche Einmal in der Woche 1-3mal im Monat . .. Mehrmals im Jahr . . . Seltener Nie

•

Stunden / Woche

NBchste Gruppe

Mehrmals die Woche Einmal in der Woche 1-3mal im Monat .. . Mehrmals im Jahr . . . Seltener Nie

Seit 19 WeiB

Nein , .

Mehrmals die Woche Einmal in der Woche . 1-3mal im Monat Mehrmals im Jahr . . . Seltener Nie

Seit 19 Weifi

Stunden pro Tag Ja. seit 19

Mehrmals die Woche Einmal in der Woche 1-3mal im Monat Mehrmals im Jahr . . . Seltener Nie

Seit 19 Weil3

409

Mehrmals die Woche Einmal in der Woche 1-3mal im Monat Mehrmals irn Jahr . . . Seltener Nis

Seit 18

1

.ism

Stunden / Woche Stunden / Monat Tage pro Jahr Stunden pro Tag Stunden / Woche Stunden / Monat Tage pro Jahr

notieren:

| W»

_• m

Exemplarische Analysen zum ehrenamtlichen Engagement im Alter

Gruppe A Vorruhestandsgruppen, Gruppen zur Vorbereitung auf den Ruhestand Gruppe B Seniorenselbsthilfegruppen, Seniorengenossenschaften Gruppe C Gruppen fur freiwillige Tatigkeiten und Hilfen Gruppe D Seniorenarbeit der Parteien oder Gewerkschaften, Seniorenvertretungen und -beirate Gruppe E Seniorenuniversitaten und -akademien, Weiterbildungsgruppen Gruppe F Betriebliche Seniorengruppen Gruppe G Seniorenfreizeitstatten, Seniorentreffpunkte Gruppe H Andere Seniorengruppe (z.B. Sport- und Tanzgruppen) (bitte angeben)

Liste 4 0 4

139

Harald Kunemund

140

Im folgenden geht e$ urn andere Gruppen und Organrsationen, in denen man Mitgiied sein kann. Sind Sie in einer Oder mehreren solcher Gruppen Mitgiied?

•-

Ja

Uste 410 vorlegen!

Nein

o

Furjede Mltgliedschatt Antworten zu den Fragen 411 bis 415 In untenstehendes Schema elntragen! 411.

Nennen Sie mir bitte den Oder die entsprechenden Kennbuchstaben.

412.

Sagen Sie bitte, seit wann Sie dort Mitgiied sind.

413.

Wie oft sind Sie in den letzten 12 Monaten durchschnittlich zu Husammenkiinften, Veranstaltungen Oder Sitzungen gegangen?

Falls ein Kennbuchstabe zweimal genannt wlrd, bltte elnzeln erfassen!

Uben Sie dort eine Funktion aus Oder haben Sie ein Ehrenamt inne? Fails ja, seit wann? Und wieviel Stunden wenden Sie durchschnittlich fur diese Tatigkeit auf? I Stunden je nach Antwort elntragen! Falls seliener als monat/ich: Tage pro Jahr nachfragen! 411

412

Kennbuchstabe:

• • •

Seit 19 Weif! nicht

Kennbuchstabe:

m • »

m Seit 19 | WeiG nicht

D

Kennbuchstabe:

[

I

•

Mehrmals die Woche Einmal in der Woche 1 -3mal im Monat . . . Mehrmals im Jahr . . . Seltener Nie

Seit 19 WeiB

•

Andere Gruppe bitte notieren:

Mehrmals die Woche Einmal in der Woche 1 -3mal im Monat . . . Mehrmals im Jahr . , . Seltener Nie

Seit 19 WeiB

•

Us

Mehrmals die Woche Einmal in der Woche 1-3mal im Monat Mehrmals im Jahr , .. Seltener Nie Mehrmals die Woche Einmal in der Woche . 1-3mal im Monat Mehrmals im Jahr . . . Seltener Nie

Seit 19 WeiS

Andere Gruppe bitte notieren:

413 Mehrmals die Woche Einmal in der Woche 1-3mal im Monat Mehrmals im Jahr . . . Seltener Nie

Ja, seit 19 |

[_

Nein . .

ie

NSchste Gruppe

j

| £7/28

[

| 29/30

|

31/32

j

] 33/34

19/20

Stunden / Woche

21/22

Stunden / Monat

23/24

Tage pro Jahr

25/26

Stunden pro Tag Ja, seit 19 | Nein . .

|_ D

•

Tage pro Jahr Stunden pro Tag

Ja, seit 19 Nein . .

•• • D • •

Stunden / Woche Stunden / Monat

NSchste Gruppe

Stunden / Woche

9

Stunden / Monat

Nachste Gruppe

Tage pro Jahr Stunden pro Tag

Ja, seit 19 | Nein ..

|_ •

Nachste Gruppe

Stunden / Woche Stunden / Monat Tage pro Jahr Stunden pro Tag

J a, seit 19 Nein .

| Falls weitere Gruppen genannt: bltte Kennbuchstaben notieren:

n n n n

•

Stunden pro Tag

Stunden / Woche D

Stunden / Monat Tage pro Jahr

Exemplarische Analysen zum ehrenamtlichen Engagement im Alter

A

Selbsthilfegruppe

B

Burgerinitiative

C Wohltatige Organisation (z.B. Arbeiterwohlfahrt, Rotes Kreuz, Kriegsopferverbande) D

Freiwillige Feuerwehr

E

Hobby- oder Sammelverein

F

Gesellige Vereinigung (z.B. Kegeln oder Skat)

G

Sportverein

H

Fliichtlings- oder Vertriebenenverband

J

Gewerkschaft

K

Unternehmens- oder Berufsverband

L

Politische Partei

M

Kirchliche oder religiose Gruppe

N

Heimatverein oder Biirgerverein

O

Andere (bitte angeben)

Liste410

141

Harald Kiinemund

142 Ur. 416.

K.28

Welter mit

Uben Sie vielleicht nooh eine andere Funktion aus, z.B. als Eltemvertreter Oder in der Nachbarschaftshilfe? 417

Ja

418 417.

Welche? | Bitte funkllonan wortWch notleren! | 12

7,8,9

418.

419.

Gibt es Vereine, Gruppen Oder Funktionen, in denen Sie in Zukunft starker tatig sein wollen? Ja

419

Nein

420

Welche sind das? I Bltte wortllch notleren'. I 14

7,8,9

420.

Einrrta! abgesehen von soichen Gruppen, Vereinen und Funktionen kann man sich ja regelmaflig mit einem festen Krets von Personen zusammenfinden - sei es zum Wandern, Karten spieien Oder einfach zum Gesprach Oder Stammtisch. Treffen Sie sich regelmaliig in einem soichen Kreis?

n-.. n»

Ja Nein 421.

Wie oft haben Sie sich in den letzten 12 Monaten getroffen? | Vorgaben bltte mriesen! |

Mehrmals pro Woche Einmal in der Woche

......

Ein- bis dreimal im Monat

422.

...

Was machen Sie bei diesen Treffen? 17

7.8, 8

421 423

Exemplarische Analysen zum ehrenamtlichen Engagement im Alter

143

Konkret zielten hierauf die folgenden Antwortvorgaben auf den Listen zu den Fragen 404 bis 415: Vorruhestandsgruppen, Gruppen zur Vorbereitung auf den Ruhestand, Seniorenselbsthilfegruppen, Seniorengenossenschaften, Grappen fur freiwillige Tatigkeiten und Hilfen sowie Selbsthilfegruppen und Burgerinitiativen. Wir gingen davon aus, dass die Zielpersonen durch diese Vorgaben ausreichend Hinweise fur diese Ebene erhalten konnten, so dass auch bei unklarer Zuordnung die Frage nach „anderen, und zwar" beantwortet wird. Die dort oder bei den nachfolgenden Fragen 416 und 417 sowie 420 bis 422 gemachten Angaben auf die jeweils offenen Fragen wurden mit den Angaben auf die vorhergehenden Fragen im Rahmen der Datenedition abgeglichen; ggf. wurden Mitgliedschaften und Engagements nachgetragen oder Doppelnennungen eliminiert. Die dritte genannte Ebene wurde mit den Fragen 416 und 417 erfasst, auf die vierte Ebene zielen die Fragen zu geleisteten Hilfen im Kontext sozialer Beziehungen und zu den Pfiegetatigkeiten (hier nicht gesondert wiedergegeben, vgl. hierzu Dittmann-Kohli et al. 1997). Somit war es moglich, nicht nur Angaben ilber „traditionelle" ehrenamtliche Tatigkeiten in Vereinen und Verbanden zu erhalten, sondern auch uber andere Formen ehrenamtlichen Engagements, etwa als Elternvertreter in Kindergarten und Schulen (die nebenbei bemerkt haufigste Nennung). Nicht alle diese Fragen sind aus heutiger Sicht „perfekt" und an vielen Stellen waren gegeniiber der urspriinglichen Planung aus forschungsokonomischen Griinden Abstriche zu machen. Zumindest einige mogliche Fehlerquellen wurden aber bei der Konzeption berucksichtigt. Aufgrund dieser Vorgehensweise lassen sich mit dem Alters-Survey im Prinzip relativ leicht verschiedene Konzepte umsetzen und analysieren: beispielsweise das eher „traditionelle" Ehrenamt in Vereinen oder Verbanden ebenso wie eine gewissermafien „weichere" Definition „neuer" Ehrenamtlichkeit - beispielsweise unter Hinzurechnung bereits der Mitgliedschaft in Initiativen oder Selbsthilfegruppen - oder eine Variante des freiwilligen Engagements, die zusatzlich informelle Unterstiitzungsleistungen oder Pfiegetatigkeiten jenseits der Familienbande einschlieBt, oder auch ein Konzept von „Produktivitat", das auch die Hilfen und Untersttitzungsleistungen innerhalb der Familie berucksichtigt. Zugleich lassen sich einzelne Quoten etwa fur Sportvereine oder politische Parteien berechnen und die jeweiligen Mitglieder oder Engagierten naher betrachten (vgl. zu diesbezuglichen deskriptiven Auswertungen Kohli et al. 2000). Nicht moglich freilich sind beispielsweise Differenzierungen zwischen politischem und sozialem Ehrenamt lediglich der eher soziale oder politische Kontext des Engagements lasst sich erkennen, nicht aber die konkreten Inhalte der Tatigkeit. Dies hatte den Rahmen dieser Studie klar gesprengt, die mit rand 90 Minuten Interviewdauer bereits an der Obergrenze der Machbarkeit manovrierte.

144

Harold Kiinemund

3. Ausgewahlte Ergebnisse Zunachst zu einer eher restriktiven, traditionellen Definition des Ehrenamts, die nur konkrete Funktionen bzw. Amter in diesen Gruppen beriicksichtigt, nicht aber bereits die Mitgliedschaft z.B. in einer Selbsthilfegruppe. Dies lieBe sich zusatzlich einrechnen - iiber die Haufigkeit der Teilnahme in den letzten zwolf Monaten konnen in gewisser Hinsicht sogar eher „aktive" von eher „inaktiven" Mitgliedern unterschieden werden, wenn man dem Konzept des burgerschaftlichen Engagements naher kommen mochte. Aber wie auch immer - wie der Abbildung 1 zu entnehmen ist, geht die Beteiligung iiber die Altersgruppen hinweg betrachtet stark zuriick. Im Osten ist ein ehrenamtliches Engagement seltener als im Westen. Und Manner sind in Ost und West haufiger ehrenamtlich tatig als Frauen. Abbildung 1: Ehrenamter in Vereinen und Verbanden 100% -q90% -:-

A -A —•— -O -

80% 70% - j -

Manner (West) Manner (Ost) Frauen (West) Frauen (Ost)

6 0 % -_• 50%

~

4 0 % -_•

40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-85 Altersgruppe Quelle: Alters-Survey 1996, gewichtet. Insgesamt sind die Anteile aber ausgesprochen niedrig, wenn man sie mit jenen aus dem Werte- oder Freiwilligensurvey vergleicht. Die hochste Quote von ehrenamtlich Tatigen unter den 40- bis 85-Jahrigen findet sich im Ubrigen bei den Sportvereinen (knapp vier Prozent), danach folgen gesellige

Exemplarische Analysen zum ehrenamtlichen Engagement im Alter

145

Vereinigungen und kirchliche bzw. religiose Gruppen (jeweils zwei Prozent) und die wohltatigen Organisationen (ein Prozent). Im Kontrast zu der wissenschaftlichen und sozialpolitischen Aufmerksamkeit, die den Seniorengenossenschaften, Vorruhestands- und Seniorenselbsthilfegruppen, politischen Interessenvertretungen Alterer oder dem Bereich der Bildung im Alter zuteil wird, ist das faktische Engagement in diesen Bereichen eher gering. Unter den altersspezifischen Gruppen und Vereinen ist die Beteiligung im „traditionellen" Bereich am starksten, also in den Seniorenfreizeitstatten oder z.B. in Seniorentanzgruppen. Die „neuen" Formen altersspezifischer Partizipation stoBen auf wesentlich geringeren Zuspruch. Als Mitglieder einer Seniorengenossenschaft oder einer beliebigen Seniorenselbsthilfegruppe bezeichnen sich nur 1,8 Prozent der tiber 59-Jahrigen. An Seniorenakademien und Weiterbildungsgruppen beteiligen sich nur 0,6 Prozent, und im Bereich der politischen Interessenvertretung Alterer, also in Seniorenbeiraten bzw. -vertretungen oder in der Seniorenarbeit von Parteien und Gewerkschaften beteiligen sich nur 1,4 Prozent. Fassen wir diese drei Kategorien zusammen, so liegt der Anteil der Mitglieder bei 3,5 Prozent, die ehrenamtlich Tatigen in diesem Bereich sind kaum nachweisbar. Selbst wenn diesen Gruppen eine gewisse Symbolfunktion oder ein Modellcharakter zugesprochen werden kann, so handelt es sich dennoch empirisch weiterhin um ausgesprochene Randphanomene. Was die altersspezifischen Angebote betrifft, so zeigen sich deutliche Geschlechterdifferenzen: Von den in Vereinen oder Verbanden ehrenamtlich tatigen 70- bis 85-jahrigen Frauen sind z.B. zwei Drittel in diesem alterspezifischen Bereich tatig - uberwiegend allerdings im eher „traditionellen" Bereich der Seniorenfreizeitstatten, Seniorentreffpunkte, Sport- oder Tanzgruppen usw.; die iiber 70-jahrigen Manner hingegen konzentrieren sich soweit sie denn ehrenamtlich tatig sind - weiter auf den altersunspezifischen Bereich, also z.B. Sportvereine oder gesellige Vereinigungen. Nur wenig mehr als ein Viertel der tiber 70-jahrigen ehrenamtlich tatigen Manner ist (auch oder einzig) im alterspezifischen Bereich aktiv. Vergleichsweise hoch liegt mit gut vier Prozent der Anteil der Ehrenamter und Funktionen, die nicht an eine Mitgliedschaft in einem Verein oder Verband gebunden sind - von alien ehrenamtlich Tatigen sind 28 Prozent (ausschlieBlich oder zusatzlich) in einer solchen Funktion tatig, die in Abbildung 1 nicht einbezogen wurden. Um ein vollstandigeres Bild ehrenamtlicher Tatigkeiten zu erhalten, sind in Abbildung 2 diese Amter und Funktionen eingerechnet, und - ausgehend von der Annahme, dass eine rein „passive" Mitgliedschaft im Selbsthilfebereich eher ungewohnlich ware - ebenso die Mitgliedschaft in Seniorenselbsthilfegruppen, Seniorengenossenschaften und Gruppen fur freiwillige Tatigkeiten und Hilfen im altersspezifischen Bereich (Frage 404) sowie generell Selbsthilfegruppen (Frage 410). Die Anteile lie-

146

Harald Kilnemund

gen entsprechend etwas hoher. Bei den Altesten sind es nun nicht mehr allein die Manner im Westen, die engagiert sind. Abbildung 2: Ehrenamter sowie Mitgliedschaften im Selbsthilfebereich 100% ~T 9 0 % -_•

—A— -A—•— -O -

8 0 % -_• 70%

~

Manner (West) Manner(Ost) Frauen (West) Frauen (Ost)

6 0 % -_• 50%

-s

4 0 % -_•

40-44

45-49

50-54

55-59

60-64

65-69

70-74

75-79

80-85

Altersgruppe

Quelle: Alters-Survey 1996, gewichtet. Noch deutlich hohere Anteile erhalt man z.B. mit einem Bezug auf das Konzept der „produktiven" Tatigkeit.2 Dieser Begriff ist im Zusammenhang mit Alter bisher vor allem in den USA in der Diskussion, um darauf hinzuweisen, dass auch im Alter Aktivitat und gesellschaftliches Engagement, die Nutzen fur andere stiffen, einen groBen Platz einnehmen. Damit soil der ausschlieBlichen Typisierang der Alteren als Kostganger des Sozialstaates - die den offentlichen Diskurs ilber intergenerationelle Gerechtigkeit pragt - begegnet werden. In soziologischer und okonomischer Perspektive werden neben der Erwerbsarbeit primar Haushaltsproduktion, Eigenarbeit, Ehrenamt und Netzwerkhilfen in das Blickfeld genommen, in psychologischer Perspektive kann aber auch bereits die erfolgreiche Anpassung an spezifische Lebensbedingungen, also z.B. an alterspezifische Verluste, als „produktiv" bezeichnet werden (z.B. Baltes 1996). Dann verbleibt wahrscheinlich nur ein kleiner

Die nachfolgenden Uberlegungen und Analysen wurden weitgehend aus Kiinemund ubemommen.

(1999)

Exemplarische Analysen zum ehrenamtlichen Engagement im Alter

147

Prozentsatz nicht-produktiver Personen, denen man dies dann auch erst gar nicht zum Vorwurf machen kann. Abbildung 3: Produktive Tatigkeiten 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%

A Manner (West) - A - Manner(Ost) — • — Frauen (West) - O - Frauen (Ost)

-\

r

i

V i

i

i

n

r

r

40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-85 Altersgruppe

Quelle: Alters-Survey 1996, gewichtet. Die Vielfalt moglicher Defmitionen zwingt aber in jedem Fall zu einer Festlegung, die zwangslaufig immer Bereiche und Aspekte von Produktivitat ausblendet. Im Alters-Survey haben wir solche Tatigkeiten als „produktiv" bezeichnet, die (im Prinzip auch okonomisch fassbare) Werte fur andere Personen schaffen. Konkret sind das neben den ehrenamtlichen Tatigkeiten instrumentelle Unterstutzungsleistungen, z.B. im Rahmen familialer oder nachbarschaftlicher Netzwerke sowie Pflegetatigkeiten und (Enkel-)Kinderbetreuung. Im Prinzip konnten auch Hausarbeit und verwandte Tatigkeiten als „produktive" Tatigkeiten gewertet werden. Allerdings handelt es sich nicht immer - wie die zuvor genannten Tatigkeiten - um Tatigkeiten fur andere: Nur in Mehrpersonenhaushalten ist ein Teil der Hausarbeit produktive Tatigkeit fur andere Haushaltsangehorige, wobei dieser Anteil empirisch nicht bestimmbar ist. Ahnliches gilt letztlich fur Tatigkeiten am Haus oder im Garten sowie fur andere Formen der Eigenarbeit wie „do-it-yourself" oder Bastelarbeiten, die ebenfalls „produktive" Tatigkeiten darstellen und bei-

148

Harald Kiinemund

spielsweise als Geschenke theoretisch auch anderen Personen zukommen konnen. Fur die folgenden Analysen werden aber jedenfalls solche Tatigkeiten einbezogen, bei denen nicht der Konsumaspekt im Vordergrund steht, sondern der Aspekt der Produktivitat. Fiir die meisten dieser Tatigkeiten gilt, dass sie - wenn auch in ganz unterschiedlichem AusmaB - mit zunehmendem Alter seltener ausgeiibt werden. Fassen wir diese Tatigkeiten zusammen, so wird dennoch deutlich, dass auch die Alteren noch in erstaunlich hohem MaBe in einem oder mehreren dieser Tatigkeitsfelder aktiv sind. Der Unterschied zur alleinigen Betrachtung ehrenamtlichen Engagements ist nunmehr gewaltig. Unterschiede zwischen den Geschlechtern verschwinden tendenziell Manner wie Frauen sind in den jeweiligen Altersgruppen etwa gleich stark involviert. Auch die Unterschiede zwischen den alten und den neuen Bundeslandern sind vergleichsweise gering: In den neuen Bundeslandern liegt der Beteiligungsgrad nunmehr sogar um rund sieben Prozentpunkte iiber jenem in den alten Bundeslandern. Bei den 70- bis 85-Jahrigen ist diesbezuglich kein Unterschied feststellbar. Der hohere Anted in den neuen Bundeslandern insgesamt ist primar den Differenzen in den mittleren und jtingeren Altersgruppen geschuldet, und zwar vor allem dem hoheren Beteiligungsgrad bei der Betreuung von (Enkel-)Kindern - der dramatische Rilckgang der Geburten nach der Wende schlug sich 1996 noch nicht in vollem AusmaB nieder und instrumentellen Netzwerkhilfen dieser Altersgruppen. Insgesamt betrachtet sind aber auch die 70- bis 85-Jahrigen nicht nur „passive" Empfanger von familialen oder sozialstaatlichen Hilfen und Transfers, sondern sie tragen selbst in betrachtlichem Mafie produktiv etwas zur Gesellschaft bei - es handelt sich um Tatigkeiten, mit denen sie erhebliche wirtschaftliche Leistungen erbringen. Der okonomische Wert solcher Tatigkeiten kann zumindest teilweise abgeschatzt werden, namlich ftir jene Tatigkeiten, fur die der zeitliche Aufwand erhoben wurde. Die Schatzung konnte mittels dreier Ansatze erfolgen (vgl. Herzog et al. 1989; Herzog, Morgan 1992; Coleman 1995; Schwarz 1996): •

•

erstens durch die Opportunitatskosten (also das durch unbezahlte Tatigkeiten entgangene Einkommen), wobei hier fur alle unbezahlten Tatigkeiten das von der betreffenden Person erzielte Arbeitseinkommen pro Stunde eingesetzt wird. Dies fuhrt freilich zu Problemen bei solchen Personen, die nie oder nur kurzzeitig erwerbstatig waren (also vor allem Frauen), zweitens durch den Wertzuwachs (etwa fur Hausreparaturen und ehrenamtliche Tatigkeit), d.h. die Einsparungen durch diese Tatigkeiten, die aber von den Befragten selbst geschatzt werden milssten, was aufwendig und sicher nicht unproblematisch ist,

Exemplarische Analysen zum ehrenamtlichen Engagement im Alter •

149

drittens durch den Marktpreis, also den Stundenlohn, der fur solche Dienstleistungen auf dem Arbeitsmarkt zu bezahlen ware. Hier liegt das Problem hauptsachlich in der Bewertung der konkreten Tatigkeit: Beispielsweise miisste bei den Pflegetatigkeiten ja geklart werden, um welche konkreten Tatigkeiten es sich handelt, um den genauen Marktpreis im Einzelfall angemessen bestimmen zu konnen.

Solche Details konnten auch im Alters-Survey nicht erhoben werden. Dieses Problem lasst sich aber entscharfen, indem von einem angemessenen durchschnittlichen Stundenlohn ausgegangen wird. Berucksichtigen wir dann das ehrenamtliche Engagement in Vereinen und Verbanden (nicht jenes auflerhalb solcher Vereine und Verbande - ein klares Manko des Alters-Survey, dass der Zeitaufwand hierzu nicht erhoben wurde), die Pflegetatigkeiten und die Enkelkinderbetreuung, und zahlen wir jene Stunden zusammen, die die tiber 59-jahrigen Befragten in diesen drei primar unentgeltlichen Tatigkeitsfeldern monatlich tatig sind, so ergibt sich eine Summe von 39.715 Stunden pro Monat. Ziehen wir zwei Monate fur Urlaub und andere Unpasslichkeiten ab, ergibt dies 397.154 Stunden produktiver Tatigkeit im Jahr. Rechnen wir dies hoch auf die Gesamtbevolkerung zwischen 60 und 85 Jahren, also auf knapp 15,3 Millionen Personen, so ergibt sich die beeindruckende Zahl von 3,5 Milliarden Stunden. Setzen wir schlieBlich einen durchschnittlichen Wert von 2 3 , - DM pro Stunde an - dies entspricht dem durchschnittlichen NettoStundenlohn eines Beschaftigten in Organisationen ohne Erwerbscharakter, also regular Beschaftigen der Wohlfahrtsverbande, Parteien usw. Mitte der 90er-Jahre -, so ergibt sich ein Wert von 80,8 Milliarden DM (41,3 Milliarden €), den die 60- bis 85-Jahrigen in der Bundesrepublik jahrlich freiwillig und weitestgehend unentgeltlich erbringen. Das entspricht etwa 21 Prozent der jahrlichen Zahlungen der gesetzlichen Rentenversicherungen und der Beamtenversorgung. Einschrankend muss konstatiert werden, dass diejenigen, die sich in mindestens einem dieser drei Bereiche engagieren, in der Minderheit sind und ihr Anteil tiber die Altersgruppen hinweg stark abnimmt. Die Potenziale sind in dieser Hinsicht also moglicherweise noch nicht ausgeschopft. Es stellt sich daher die Frage, ob die Alteren nicht noch mehr Leistungen dieser Art erbringen konnten. Genau dies wird oft gewiinscht oder gefordert, z.B. in den vielfaltigen Debatten tiber den „dritten Sektor", die „Burger-" bzw. „Zivilgesellschaft" oder iiber den „Kommunitarismus". Insgesamt ist jedoch der genannte Wert fur eine Lebensphase, die mit einigem Recht gemeinhin als Ruhestand charakterisiert wird, den man sich irgendwie verdient hat, erstaunlich hoch; zumal hier nur ein Teil der produktiven Tatigkeiten beriicksichtigt wurde und die okonomische Bewertung nicht alle Aspekte des gesellschaftlichen Wertes dieser Tatigkeiten erfasst. Zu denken ware hier vor allem an gesellschaftliche Integration im Sinne von „sozialem Kitt", Solidaritat, Vergesellschaftung und Systemakzeptanz. Ebenfalls unberiicksichtigt bleiben bei

150

Harald Kunemund

der okonomischen Betrachtung psychologische Aspekte, z.B. der Sinnerfullung im Alter, die wiederum - auch in ihrer „Summe" - eine erhebliche gesellschaftliche Bedeutung haben. SchlieBlich bleibt zu beriicksichtigen, dass Querschnittsdaten natiirlich nur eine Momentaufnahme dessen ermoglichen, was in der nachberuflichen Lebensphase z.B. an ehrenamtlichen Tatigkeiten insgesamt geleistet wird. Da standig Personen solche Tatigkeiten beginnen oder aufgeben, wiirde eine retrospektive Frage an die Altesten, ob z.B. nach dem 60. Lebensjahr irgendwann einmal ein Ehrenamt ausgeiibt wurde, zu ganz erheblich hoheren Quoten fuhren. Anders formuliert: Auch diejenigen, die zum Untersuchungszeitpunkt nicht ehrenamtlich tatig waren, konnten es zuvor gewesen sein oder spater noch werden. Der Anteil derjenigen Alteren, die sich zumindest zeitweilig in einem dieser Tatigkeitsfelder engagieren, wird also mit ziemlicher Sicherheit noch weit iiber den hier genannten Werten liegen.

4. Fazit Die auBerst unterschiedlichen Ergebnisse zu ehrenamtlichem Engagement, wie sie in der Literatur aufscheinen und hier exemplarisch anhand eines konkreten Datensatzes vorgestellt wurden, sind also nicht in erster Linie ein Indiz fur grundsatzliche Probleme in der empirischen Forschung, sondern vor allem ein Resultat unterschiedlicher Konzepte und Operationalisierungen. Es besteht m.E. keine Veranlassung, hier die Differenzen zwischen den Konzepten zu verschleiern oder Ergebnisse unterschiedlicher Konzepte in unangebrachter Weise zu vergleichen - erst die klare Benennung des verwendeten Konzepts und seiner konkreten Operationalisierung ermoglicht eine angemessene Interpretation. Auch der Internationale Vergleich, bei dem Deutschland ublicherweise nicht so gut abschneidet (vgl. Kohli, Kunemund 1996; Gaskin et al. 1997), muss hier kein Grund zur Sorge bieten. Zu unterschiedlich sind die alltagsweltlichen Konzepte und sozialen Bedingungen, die mit solchen Studien eingefangen werden. Der beste Weg, sowohl anschlussrahig als auch vergleichbar zu bleiben, ruhrt m.E. ilber eine moglichst differenzierte Erfassung und Klassifikation einzelner Tatigkeiten und ihrer Bedingungen, eher nicht hingegen iiber Versuche, zu immer hoheren Engagementquoten zu gelangen. Ohnehin bleibt zu beriicksichtigen - und auch das HeBe sich als ein Ergebnis der Alter(n)sforschung formulieren -, dass sich die alltagsweltlichen Bedeutungen komplexer Begriffe wie auch die damit assoziierte Praxis in unterschiedlichen sozialen Schichten nicht nur unterscheiden, sondern auch hier oder dort langsamer verandern und gemachlicher neuen Gegebenheiten anpassen als in anderen, z.B. jtingeren Schichten - und wahr-

Exemplarische Analysen zum ehrenamtlichen Engagement im Alter

151

scheinlich auch generell langsamer als die Konzepte der Sozialwissenschaft in diesem Themenfeld.

Literatur Baltes, Margret M. (1996): Produktives Leben im Alter: Die vielen Gesichter des Alterns - Resumee und Perspektiven fur die Zukunft. In: Baltes, Margret M.; Montada, Leo (Hrsg.): Produktives Leben im Alter. Frankfurt a.M., New York: Campus, 393-408. Coleman, Kevin A. (1995): The value of productive activities of older Americans. In: Bass, Scott A. (ed.): Older and active. How Americans over 55 are contributing to society. New Haven: Yale University Press, 169-203. Dittmann-Kohli, Freya; Kohli, Martin; Kiinemund, Harald (1995): Lebenszusammenhange, Selbstkonzepte und Lebensentwiirfe. Die Konzeption des Deutschen Alters-Surveys. Forschungsgruppe Altern und Lebenslauf (FALL), Forschungsbericht 47. Berlin: Freie Universitat. Dittmann-Kohli, Freya; Kohli, Martin; Kiinemund, Harald; Motel, Andreas; Steinleitner, Christina; Westerhof, Gerben J.; in Zusammenarbeit mit infas Sozialforschung (1997): Lebenszusammenhange, Selbst- und Lebenskonzeptionen Erhebungsdesign und Instrumente des Alters-Survey. Forschungsgruppe Altern und Lebenslauf (FALL), Forschungsbericht 61. Berlin: Freie Universitat. Dittmann-Kohli, Freya; Bode, Christina; Westerhof, Gerben J. (2001): Die zweite Lebenshalfte - Psychologische Perspektiven. Ergebnisse des Alters-Survey. Stuttgart u.a.: Kohlhammer. Gaskin, Katharine; Smith, Justin Davis; Paulwitz, Irmtraud et al. (1996): Ein neues burgerschaftliches Europa. Eine Untersuchung zur Verbreitung und Rolle von Volunteering in zehn Landern. Freiburg: Lambertus. Herzog, Regula A.; Morgan, James N. (1992): Age and gender differences in the value of productive activities. Four different approaches. In: Research on Aging 14: 169-198. Herzog, Regula A.; Kahn, Robert L.; Morgan, James N.; Jackson, James S.; Antonucci, Toni C. (1989): Age differences in productive activities. In: Journal of Gerontology, Social Sciences 44: S129-S138. Kohli, Martin; Kiinemund, Harald (1996): Nachberufliche Tatigkeitsfelder - Konzepte, Forschungslage, Empirie. Stuttgart u.a.: Kohlhammer. Kohli, Martin; Kiinemund, Harald (Hrsg.) (2000): Die zweite Lebenshalfte - Gesellschaftliche Lage und Partizipation im Spiegel des Alters-Survey. Opladen: Leske+ Budrich. Kohli, Martin; Freter, Hans-Jiirgen; Langehennig, Manfred; Roth, Silke; Simoneit, Gerhard; Tregel, Stephan (1993): Engagement im Ruhestand. Rentner zwischen Erwerb, Ehrenamt und Hobby. Opladen: Leske + Budrich. Kohli, Martin; Kiinemund, Harald; Motel, Andreas; Szydlik, Marc (2000): Grunddaten zur Lebenssituation der 40-85jahrigen deutschen Bevolkerung. Ergebnisse des Alters-Survey. Berlin: WeiBensee Verlag.

152

Harald

Kunemund

Kttnemund, Harald (1999): Entpflichtung und Produktivitat des Alters. In: WSI-Mitteilungen52: 26-31. Schwarz, Norbert (1996): Ehrenamtliches Engagement in Deutschland. Ergebnisse der Zeitbudgeterhebung 1991/92. In: Wirtschaft und Statistik 4/1996: 259-266. Stadie, Rolf (1987): Altsein zwischen Integration und Isolation. Empirische Ergebnisse zur Lebenssituation und Befindlichkeit alter Menschen. Melle: Knoth. Tesch-Romer, Clemens; Wurm, Susanne; Hoff, Andreas; Engstler, Heribert (2002): Die zweite Welle des Alterssurveys: Erhebungsdesign und Instrumente. Berlin: Deutsches Zentrum fur Altersfragen (Diskussionspapiere Nr. 35). Wolf, Jiirgen; Kohli, Martin; Kunemund, Harald (Hrsg.) (1994): Alter und gewerkschaftliche Politik. Auf dem Weg zu Rentnergewerkschaft? Koln: Bund-Verlag.

Vermarktlichung biirgerschaftlichen Engagements im Alter Franz Kollcmd und Martin

Oberbauer

1. Einleitung Ein klassisches Thema der Soziologie ist die Beschreibung und Erklarung der universalgeschichtlichen Entwicklung, die von den Stammesgesellschaften bis zum Kapitalismus und Post-Kapitalismus reicht. Innerhalb dieser Diskussion ist die Modernisierungstheorie ein begrenzteres Programm, welches die Entwicklung der letzten 250 Jahre untersucht. Als wesentlicher Ertrag der Modernisierung wird die Wohlfahrtsentwicklung gesehen, die durch die Basisinstitutionen Konkurrenzdemokratie, Marktwirtschaft, Wohlfahrtsstaat und Massenkonsum gewahrleistet und vorangetrieben wird (vgl. Zapf 1991, 1997). Diese Institutionen gelten als die Basis fur Freiheit, Wachstum und Wohlfahrt, wobei unter Wohlfahrt gute materielle Lebensbedingungen und das subjektive Wohlbefmden der Burger verstanden werden. Aus der Sicht der Durchsetzung dieses dominanten Koordinationsprinzips gelten Nonprofit-Organisationen als vormoderne, wenig responsive und dilettantisch gemanagte Organisationen, die nur iiberleben konnen, weil sie sich in einer geschiitzten Nische befmden (Seibel 1992). Die Nische verschafft ihnen der Staat, um sie im Sinne symbolischer Politik als „Sickergrube"furunlosbare gesellschaftliche Probleme zubenutzen (Ndhrlich 1998). Sollte diese Nische wegfallen, so wiirden diese Einrichtungen durch effizientere Organisationsformen des Marktes oder des Staates verdrangt oder sich zu Unternehmen wandeln. Als eine maBgebliche Schwache von Nonprofit-Organisationen gilt deren Multifunktionalitat. Sie gelten deshalb als defizitar, weil sie sich der Differenzierungslogik moderner Gesellschaften entziehen {Zimmer, Priller 1997). Sie werden als „hybride Organisationen" bezeichnet (Schuppert 1997: 138), weil sie sich in einer Zwischenstellung zwischen Staat, Markt und informeller Sphare befmden und deren jeweilige Handlungslogiken in jeweils spezifischer Form miteinander verbinden. Sie nehmen sowohl okonomische Funktionen in der Dienstleistungserstellung wahr, als sie auch gesellschaftliche Interessen biindeln und artikulieren. In letzterem Sinn sind sie als politische Akteure aktiv. Und sie ubernehmen soziale Integrationsleistungen und fungieren somit fur das Individuum als soziale Integrationsinstanz.

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Sowohl die vormoderne Struktur des burgerschaftlichen Engagements, d.h. seine Multifunktionalitat als auch der vermutete transitorische Charakter haben in den deutschen Sozialwissenschaften dazu gefuhrt, so Zimmer (1996: 11), dass der Verein „als antiquierte, defizitare und nicht mehr zeitgem&Be Organisationsform gesehen wird". Das burgerschaftliche Engagement ist deshalb „uninteressant", weil es in erster Linie mit SpieBigkeit und Vereinsmeierei assoziiert wird. Darilber hinaus fmdet sich eine Diskussion, die in der Begeisterung fur freiwillige Vereinigungen eine politische Allzweckwaffe zur Kompensation von Ausfallserscheinungen in den Sektoren Staat und Markt sieht (Knopf 2002; Kolland 2002). Die Freiwilligenorganisationen hatten demnach lediglich eine „LuckenbuBerfunktion", weil Staat und Markt nicht in der Lage seien, die Krisenphanomene der Industriemoderne in den Griff zu bekommen. Ehrenamtliche Tatigkeit ware daher eine okonomische und politische Effizienzressource bzw. extraokonomische Produktivkraft, urn den Rtlckzug des Staates aus der Sozialpolitik auszugleichen. SchlieBlich werden die Zugangsbedingungen und Binnenverhaltnisse burgerschaftlichen Engagements kritisiert. Wenn ehrenamtliche Tatigkeit, wie sie traditionell bestimmt ist, eine personliche, freiwillige, nicht hauptberufliche, nicht tariflich entlohnte soziale Tatigkeit von nicht eigens dazu ausgebildeten Personen darstellt, dann ergeben sich eben genau aus dieser Definition auch kritische Einwande. Denn diese Zuschreibungen bedingen, dass es sich eher um ein vereinzeltes Arbeiten der Ehrenamtlichen handelt, mit einer tendenziell unbegrenzten Verfugbarkeit und wenig Einfluss auf die Gestaltung der Arbeit (Backes 2000). Dazu kommt die Binnendifferenzierung burgerschaftlichen Engagements, die zeigt, dass Frauen und altere Menschen eher im sozialen Ehrenamt tatig sind. Sie sind in diesen Tatigkeiten weniger stark in Planungs-, Entscheidungs- und Leitungsaufgaben eingebunden, wie dies beim politischen Ehrenamt der Fall ist. Bei aller Kritik an der Vereinstatigkeit, ist die sozialwissenschaftliche Einschatzung burgerschaftlichen Engagements insgesamt doch eher als ambivalent zu bezeichnen (vgl. Backes in diesem Band). Denn es lasst sich auch eine starke Zustimmung zu biirgerschaftlichem Engagement als Stiitze gesellschaftlichen Zusammenhalts belegen, wobei der Verlust gemeinsinnorientierten Handelns im Zuge der Modernisierung immer wieder thematisiert und bedauert wird.

2. Transformation des burgerschaftlichen Engagements Die okzidentale Lebensfuhrung zerbreche gemeinschaftliche und traditionelle Lebenszusammenhange, schreibt Ferdinand Tonnies (1887) in Gemeinschaft

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und Gesellschaft (vgl. Giinther in diesem Band). Im kiinstlichen Konstrukt der Gesellschaft, in der nicht mehr die auf natilrlicher Sympathie beruhenden Gefuhle vorherrschen, dominieren die auf individuelle Vorteile gerichteten, zweckorientierten Geschaftsinteressen. Die Herauslosung der Individuen aus den gemeinschaftsverbilrgenden Sozialbeziehungen bringe die Gefahr der Anomie, heiflt es dann bei Emile Durkheim (1898). Angeprangert wird von Karl Polanyi (1944) eine von alien sozialen Beziehungen losgeloste (disembedded) Marktrationalitat, die auBerokonomische Wertbeziige, Motivstrukturen und Handlungsrationalitaten aufgebraucht habe. In der seit den 1970erJahren geftlhrten offentlichen Wertewandel-Debatte ist dann haufig die Auffassung zu horen, die Bedeutungsabnahme der Pflicht- und Akzeptanzwerte zugunsten der Selbstentfaltungswerte wirke sich auf die demokratische Kultur kontraproduktiv aus (Noelle-Neumann 1985; Hepp 1998). Der damit verbundene Schwund an Selbstlosigkeit, Altruismus oder traditioneller Pflichtethik filhre zwangslaufig zu einer Verstarkung privatistischer Tendenzen, zum Riickzug aus Gemeinschaftsbindung und damit zur Erosion des Gemeinsinns. Diese Argumentationslinie ist der von Ronald Inglehart (1977) gefuhrten diametral gegeniibergesetzt, indem er postuliert hatte, dass der Wertewandel auf der Basis hoher individueller Mobilisierung fur hohe Engagementbereitschaft sorgen und einen Durchbruch in Richtung umfassend partizipativer und freiheitlicher Ziele schaffen werde. Einen Kulminationspunkt fand die Auseinandersetzung liber die Bedeutung bzw. den Verlust btirgerschaftlichen Engagements schlieBlich bei Robert D. Putnam. Er illustrierte die Krise der ehrenamtlichen Betatigung am Beispiel der Veranderung der Nutzung von Bowling-Bahnen in den USA. „Der Anstieg des bowling alone stellt fur die Betreiber der Bowlingbahnen eine existenzielle Bedrohung dar, derm Ligaspieler konsumieren im Vergleich zu Einzelspielern drei Mai so viel Bier und Pizza", erklart Robert D. Putnam (1995). Die eigentliche soziale Bedeutung des Bowling liege jedoch in der sozialen Interaktion und den gelegentlich bei Bier und Pizza ablaufenden Gesprachen uber burgerschaftliche Angelegenheiten, die bei Einzelspielern entfallen. In der aktiven Mitgliedschaftsrolle - und nicht in „egozentrierten" Selbsthilfegruppen oder Scheckbuchmitgliedschaften - erlerne man jene Tugenden und Verhaltensdispositionen, welche die Kommunikation, Kooperation und das soziale Vertrauen innerhalb wie auch auBerhalb der Assoziation erhohten. Hier entstehe und regeneriere sich soziales Kapital, denn im Unterschied zu Sachkapital wtirde es sich nicht durch seine regelmaBige Anwendung verbrauchen, sondern als „Nebenprodukt" gemeinschaftliches Handeln erhohen (vgl. auch Brauer in diesem Band). Wie auch immer der Strukturwandel der Gesellschaft bewertet wird, es lasst sich jedenfalls seit den 1990er-Jahren ein deutlicher Wandel des Ehrenamtssektors selbst konstatieren. Der allgemeinen und nachhaltigen Reduzierung offentlicher Fordermittel, der Einfuhrung marktlicher Elemente und

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Wettbewerbsstrukturen vor allem im Bereich sozialer Dienste und der zunehmenden Konkurrenz um Ressourcen, versuchen die Nonprofit-Organisationen (NPOs) durch eine verstarkte betriebswirtschaftliche Profilierung zu begegnen. Von ihrer Handlungslogik her vollzieht sich im Bereich der NPOOrganisationen eine Veranderung dahingehend, dass sich diese zunehmend von Wertegemeinschaften zu Dienstleistungsunternehmen (Rauschenbach et al. 1995) entwickeln. In einem Klima der „Entstaatlichung" sozialer Dienstleistungen in der Hoffnung, Staatshaushaltsengpasse zu kompensieren, wird durch Privatisierung, Outsourcing oder Contracting Out ein hoher Druck bei den privaten Nonprofit-Organisationen aufgebaut, moglichst kostengiinstig und effizient zu wirtschaften. Die Kommerzialisierung betrifft in zunehmendem MaBe auch NPOs im Sozialbereich, die durch knapper werdende Mittel gezwungen werden, ihre Leistungsangebote auf Rentabilitat zu uberprufen (Bachstein 2000). Es kommt zu einer Intensivierung marktfQrmiger Koordinationslogiken. Gesucht werden Anbieter solcher Dienste, die moglichst „windschnittig dem beabsichtigten schlanken Staat bei der Bewaltigung seines Steuerstaatsdilemmas hilfreich zur Seite stehen" (Huster 2000). Doch kann aus dieser Entwicklung abgeleitet werden, dass es sich in diesem Sektor um eine Vermarktlichung dergestalt handelt, dass sich die Nonprofit-Organisationen zu Unternehmen wandeln, oder um einen Wandel, der die Besonderheit dieser Organisationen aufrecht erhalt? Besteht die „Gefahr, dass die ethischen, ideellen oder sozialen Komponenten gemeinnutziger Sozialeinrichtungen verloren gehen" (Bachstein 2000)? Welche konkreten Hinweise finden sich fur eine Vermarktlichung des burgerschaftlichen Engagements? Feststellen lasst sich eine Okonomisierung des Handelns erstens iiber eine starkere Professionalisierung und Modernisierung des Managements nachprivatwirtschaftlichen Mustern. Der von der Wirtschaftsuniversitat Wien seit 1996 jahrlich angebotene, berufsbegleitende und interdisziplinare Universitatslehrgang fur Sozialwirtschaft, Management und Organisation Sozialer Dienste ISMOS sieht die „Verknupfung von wirtschaftlichem Denken und sozialem Handeln (als) die Herausforderung an die Gesellschaft der Zukunft." (Siehe: www.ismos.at) Eine Untersuchung von Personalmanagement und Arbeitszufriedenheit in Organisationen der Altenbetreuung und -pflege ergab, dass in den Leitbildern einiger dieser Organisationen „die Wichtigkeit des wirtschaftlichen bzw. kostenorientierten Handelns betont (wird), zwei fuhren Controlling als fuhrungserganzendes Konzept bzw. eine betriebswirtschaftliche Ausrichtung explizit an" (Simsa et al. 2003: 26). Zwei offentliche Altenheime defmierten sich beispielsweise als „moderne Dienstleistungsunternehmen mit modernem Management" (Simsa et al. 2003: 42). Nach Schmidt (1987) nimmt im Bereich der Altenarbeit und Altenhilfe der Anteil qualifizierten Personals ab, wahrend gleichzeitig Ehrenamtliche in diesem Bereich immer hohere fachliche Qualifikationen erwerben. Er bezieht

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sich hierbei im Speziellen auf staatlich nicht anerkannte Helferqualifikationen. Diese „(•••) per Schulung vermittelte(n) Qualifikationen finden sich sowohl im ehrenamtlichen Bereich als auch in der Berufsarbeit, so dass es hier zu Uberlappungen kommt und die Grenze zwischen Ehrenamt und entlohnter Arbeit zunehmend verschwindet" (Wessels 2002: 61). Dadurch kann die Motivation der bezahlten Arbeitskrafte schwinden, denn sie konnten den Einsatz Ehrenamtlicher im eigenen Tatigkeitsfeld als Entwertung ihrer Kenntnisse und Fahigkeiten verstehen (Hoflacher 1999). Ein weiteres Indiz fur die Annaherung ehrenamtlicher an bezahlte Arbeit ist die Zunahme atypischer Beschaftigungsverhaltnisse, z.B. in sozialen Diensten des Nonprofit Sektors {Trukeschitz 2004). Durch Teilzeit- und geringfugige Beschaftigungen, Werkvertrage, Heimarbeit und Arbeit auf Abruf nahert sich die bezahlte Arbeit dem AusmaB freiwilliger Tatigkeiten an. Als Tatigkeit, die vor allem von Frauen im Schatten des Arbeitsmarktes ohne Lohn und soziale Sicherung ausgefuhrt wird, entwickelt ehrenamtliches Engagement ungewollt eine arbeitsmarktpolitische Brisanz. Da der Frauenanteil sowohl in atypischen Beschaftigungsverhaltnissen als auch im sozialen Ehrenamt hoch ist (Trukeschitz 2004), liegt die Annahme nahe, dass sich mit der Angleichung der beiden Beschaftigungsarten eine weitere Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt ergibt. Im Zuge der Annaherung ehrenamtlicher an bezahlte Beschaftigungsverhaltnisse werden neben dem einschlagigen Wirtschaftsvokabular verstarkt auch herkommliche Management-Instrumente in die Freiwilligenarbeit ilbernommen, worin ein zweites Element der Okonomisierung geortet werden kann: das Freiwilligen-Management und die Organisationsentwicklung. Seit 1994 bietet die Berliner Akademie fur Ehrenamtlichkeit Fortbildungen fur Freiwillige, ehren- und hauptamtlich Aktive bundesweit an. Die Akademie versteht sich als „die nationale Freiwilligen-Akademie und das Kompetenzzentrum fur angewandtes NPO-Management. Ihr Auftrag ist die Qualifizierung und Fortbildung, Beratung und Organisationsentwicklung in alien Sektoren der Gesellschaft zur Forderung einer nachhaltigen FreiwilligenKultur in Deutschland." (Siehe: www.ehrenamt.de) Das Fortbildungsprogramm der Akademie zeigt deutlich, dass professionelle Personal- und Organisationsentwicklung nicht mehr nur auf bezahltes Personal bezogen wird, sondern auch den Freiwilligenbereich einschlieBt. Zielvereinbarungen als Instrument zur Mitarbeiterfuhrung, Bildungsmanagement oder Karriereplanung fur Freiwillige sind Beispiele fur Personalentwicklungsmethoden, die das Freiwilligen-Management ubernimmt. Zur gezielten Veranderung von Organisationsstrukturen, -ablaufen und -kulturen werden auch verstarkt Interventionen aus dem Repertoire der Organisationsentwicklung gesetzt, um „Freiwilligen-Management im Kontext von Organisationen zu optimieren" (Programmbroschtire der Akademie fur Ehrenamtlichkeit, Berlin, 2004).

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Fur erne Okonomisierung des Ehrenamts spricht drittens, dass Freiwilligenagenturen als Schnittstellen zwischen interessierten Freiwilligen und Organisationen, die mit Freiwilligen arbeiten, eingerichtet werden, wo im Sinne eines Markttiberblicks Informationen tiber aktuelle Nachfragen weiter gegeben werden. Die Freiwilligenagenturen achten darauf, dass die nachfragenden Organisationen gewisse Standards einhalten, die als Qualitatskriterien fur die Freiwilligenkoordination bzw. das Freiwilligen-Management gelten. In diesem Tauschmarkt erhalten Freiwillige eine konkrete, klar umschriebene, oft zeitlich eng umrissene Aufgabe, die sie ubernehmen, falls die Aufgabe ausreichend attraktiv ist. Die Organisation bekommt im Gegenzug die Arbeitsleistung der Freiwilligen bis auf gelegentliche Unkostenbeitrage, Aufwandsentschadigungen, Fahrtkostenersatz und Versicherungsbetrage kostenlos zur Verfugung gestellt. Freiwilligenagenturen bilden eine Schnittstelle zwischen Nachfrage und Angebot und dienen der Optimierung des Zugangs zu burgerschaftlichem Engagement. Wie groB die Kluft zwischen interessierten Freiwilligen und dem Angebot an Tatigkeiten ist, belegt eine empirische Studie in Wien {Oberbauer et al. 2003). Von den 100 befragten ilber 50-Jahrigen, die zu einem Informationsgesprach in einer Freiwilligenagentur (Wiener Ehrenamtsborse) gewesen waren, sind 46% ehrenamtlich tatig geworden, 31% waren nach dem Gesprach dazu entschlossen, ehrenamtlich tatig zu werden, es wurde aber nichts daraus, 15% haben bereits nach dem Informationsgesprach wieder ihr Interesse verloren und 8% erklarten, noch nicht ehrenamtlich tatig geworden zu sein. Keine der soziodemografischen Variablen (Alter, Geschlecht, Familienstand, HaushaltsgroBe, Bildungsstand, Beruf, Anzahl der Kinder, Anzahl der Enkelkinder, Wohnort) weist einen signifikanten Zusammenhang mit der Aufnahme bzw. Nicht-Aufnahme einer ehrenamtlichen Tatigkeit nach dem Informationsgesprach bei der Ehrenamtsborse auf. Von Interesse sind nun die Grilnde fur die „Entmutigung" jener, die im Zuge der Vermittlung eine adaquate Organisation genannt bekommen hatten, aber schlieBlich doch keine Tatigkeit gefunden haben. Die Studie zeigt hier, dass rund ein Drittel aus personlichen Griinden (Gesundheit, familiale Verpflichtungen etc.) zu keinem Engagement fand und zwei Drittel am Angebot, d.h. der Zielorganisation gescheitert waren. Genannt wurde von den Befragten, dass sie in der angebotenen Zielorganisation das Gefiihl bekommen hatten, nicht genug Anerkennung zu bekommen, die Organisation nicht-erfullbare Bedingungen gestellt hatte, fehlende fmanzielle Entschadigung oder die Aufgabe nicht interessant genug gewesen ware. Genannt wurde von den Befragten auch, dass sie von der Zielorganisation als zu alt eingestuft worden seien, was auf Ageism hindeutet. Wie Ergebnisse aus anderen Studien zeigen (vgl. Gottlieb 2000), ist dies insbesondere dann der Fall, wenn es sich um Hochaltrige handelt, wo Gesundheitsprobleme befurchtet werden. In GroB-

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britannien wird aus Versicherungsgriinden eine „Altergrenze" fur biirgerschaftliches Engagement angesetzt. Die angefuhrten Grilnde deuten erstens auf eine vielfaltige Interessenlage auf beiden Seiten hin und zweitens darauf, dass sowohl auf der Seite der Freiwilligenorganisationen als auch auf der Seite der potenziellen Freiwilligen Kosten-Nutzen-Kalktile eine Rolle spielen. Eine vierte Fassette der Okonomisierung sind Corporate VolunteeringProjekte, bei denen schon die Kooperation von Profit- mit Nonprofit-Unternehmen neue Logiken ins Spiel bringt. „Der Begriff,Corporate' steht fur die Integration von gemeinnutzigen Aktivitaten in die das ganze Unternehmen umfassenden sozialen Ziele, die ihrerseits in der strategischen Planung Berucksichtigung finden. Corporate Volunteering bezeich.net den Einsatz von Humanressourcen eines Unternehmens fur gemeinniitzige Zwecke" (Schubert et al. 2002: 15). Halley und Stadler-Vida (2001) beschreiben eine breite Palette von Kooperationsmoglichkeiten zwischen Unternehmen und gemeinnutzigen Organisationen. Diese reicht u.a. von Aktionstagen (meist eintagig) und Entwicklungsprojekten (bis zu 100 Stunden) uber den Einsatz firmeninterner Freiwilligenkoordinatoren bis hin zu Zeitkonten-Modellen, bei welchen Mitarbeitern ein Teil ihrer bezahlten Arbeitszeit fur gemeinntitzige Aktivitaten zur Verfiigung gestellt wird, und Secondments, die es Mitarbeitern ermoglichen, fur einen Zeitraum zwischen sechs und 24 Monaten bei einer gemeinnutzigen Organisation tatig zu sein. Den Firmen liegt daran, die Teamfahigkeit ihrer Mitarbeiter zu steigern, Managementfahigkeiten ihrer Fuhrungskrafte in einer realen Umgebung zu entwickeln, die Motivation der Mitarbeiter und ihre Identifikation mit dem Unternehmen zu erhohen, oder das Unternehmensimage zu verbessern (Halley, Stadler-Vida 2001). So ergibt sich die paradoxe Situation, dass die Mitarbeiter zwar aus Sicht der Organisation, bei der sie eingesetzt sind, ehrenamtlich tatig sind, fur das entsendende Unternehmen und fur die solcherart tatigen Mitarbeiter bleibt es eine bezahlte Tatigkeit, allerdings in einem anderen Arbeitsfeld. Corporate Volunteering Projekte verflechten das Feld der Freiwilligenarbeit ganz eng mit wirtschaftlichen Erfolgsprogrammen und tragen damit ebenfalls zu einer Vermarktlichung des freiwilligen Engagements bei.

3. Biirgerschaftliches Engagement im Alter vor dem Hintergrund der Transformation dieses Sektors Die gesellschaftliche Bedeutung der Leistungen alterer Menschen ist in den letzten Jahren verstarkt in das Interesse gerontologischer Forschung geruckt, das Thema „Produktivitat im Alter" hat sich neben Untersuchungen zum „erfolgreichen Altera" als zentraler Bereich der gerontologischen Forschung

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etabliert (Baltes, Montada 1996). Gerade bezilglich des ehrenamtlichen Engagements alterer Menschen hat sich der Erkenntnisstand erheblich erweitert. Zu nennen sind hier insbesondere die im Modellprogramm „Seniorenburo" des Bundesministeriums fur Familie, Senioren, Frauen und Jugend gewonnenen Erfahrungen sowie Ergebnisse aus dem ersten Alters-Survey (Kohli, Kilhnemund 1997). Btirgerschaftliches Engagement wird fur mehr als nur eine zeitgemaBe Form der Altersaktivitat gehalten. Sie ist das Kernelement eines vollig neuen Vergesellschaftungsmodells, das mit der Betonung der Ressourcen und der Handlungspotenziale das Leitbild des verdienten Ruhestands erganzt. An die materiellen und immateriellen Verbesserungen der Lebenslagen alterer Menschen wird die Erwartung gekniipft, dass die Mitglieder der alteren Generation ein steigendes Interesse an Mitgestaltung und Mitwirkung im politischen und sozialen Bereich entwickeln werden, und auf diese Weise erweiterte Chancen fur eine Partizipation alterer Menschen im Gemeinwesen erwachsen (Oik 2002). Zu nennen sind hier vor allem die Weitergabe von Erfahrungswissen und spezifischer Expertise, die Ubernahme von Pflege- und Unterstutzungsleitungen fur Personen mit unterschiedlichen Graden von Hilfeoder Pflegebedurftigkeit sowie generell die Ubernahme ehrenamtlicher Tatigkeiten in Vereinen, Verbanden und Organisationen. Auf makrosozialer Ebene gilt ehrenamtliche Tatigkeit also als Ressource, die einen wesentlichen gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Beitrag leistet. Das gesellschaftliche Ziel ist Kompetenz und Bereitschaft zur eigenverantwortlichen Lebensfuhrang im Lebenslauf. Der Grundgedanke ist, dass die Alteren zu Mitproduzenten und Mitgestaltern ihrer Lebenskultur werden (Tews 1995). Das Engagement alterer Menschen im Sinne einer praktizierten Mitverantwortung ist nicht auf Austauschprozesse in sozialen Beziehungen beschrankt. Von den Leistungen alterer Menschen sollen nicht allein konkrete Kontaktpersonen, Familienangehorige, Freunde, Bekannte und Nachbarn profitieren, sondern auch die Alteren selbst und die Gesellschaft als Ganzes. Der Partizipations- und Demokratiethese steht ein Diskurs tlber die „Wiederverpflichtung" einer weitgehend „entpflichteten" alteren Generation gegeniiber (Tews 1994). Angesichts der Finanzkrise offentlicher Haushalte und ankmipfend an den Sachverhalt, dass Biirgerinnen und Burger gegenuber dem Staat und der Gesellschaft nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten haben, wird die Forderung formuliert, altere Menschen sollten ihre vermehrte frei disponible Zeit sowie ihre verbesserten Fahigkeiten und Fertigkeiten fur die Ubernahme freiwilliger sozialer Leistungen einsetzen. Vertreter dieser Position sehen das Spektrum mQglicher verpflichtender Tatigkeiten von den Angeboten „der ,Wissensborsen' tlber die ,Leihoma', die Reparaturdienste, bis hin zu jenen Alten, die (nicht verwandte) Alte pflegen" (Tews 1994: 161).

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Verstarkt wird diese Tendenz durch den Neoliberalismus, der die Individuen ermutigt, ihrer Existenz eine bestimmte unternehmerische Form zu geben. Damit wird auf eine verstarkte „Nachfrage" nach Selbstbestimmung und individueller Gestaltung mit einem „Angebot" reagiert, sich aktiv an der Losung von bestimmten Angelegenheiten und Problemen zu beteiligen. Der Schwerpunkt der Risikoproblematik verschiebt sich vom Prinzip der kollektiven Verantwortung zu einer groBeren Betonung der biirgerlichen Pflichten des Einzelnen. Die moderne Kultur erklart Flexibilitat, Mobilitat und Innovationsbereitschaft zur Normalitat. Es geht um den „flexiblen Menschen", um die Selbstakzentuierung und Forderung der Eigenstandigkeit und Eigenverantwortung {Schroeter 2002: 102). Die „Wiederverpflichtung" von flexiblen, mobilen Menschen im Ruhestand stellt ein Ansinnen dar, das diese Lebensphase unter dem Gesichtspunkt bewertet, wie Ressourcen und Potenziale der alteren Menschen in den Dienst der Gesellschaft gestellt werden konnten. Das Engagement der Alteren wird einem Nutzenkalkiil unterworfen {Knopf 2002), das von gesellschaftlichen Bedarfslagen bestimmt ist. Unterstiltzt wird diese Position von der aus funktionalistischer Sicht vorgebrachten Kritik an der „strukturellen Diskrepanz" zwischen gewachsenen Potenzialen der heute alten Menschen und den „unangemessenen Rollenstrukturen", die moderne Gesellschaften fur die „Anwendung, Belohnung und Erhaltung dieser Fahigkeiten bereitstellen" {Riley, Riley 1992: 442). Aus verhaltenswissenschaftlichen Untersuchungen {von Willigen 2000) geht die Begriindung fur burgerschaftliches Engagement in eine andere Richrung: Kultur-, Freizeit-, politische, soziale und andere Assoziationen bringen auf mikrosozialer Ebene Vergemeinschaftung und geben dem Individuum Gestaltungsmoglichkeiten. In dieser Argumentation wird der individuelle Nutzen freiwilligen Engagements der Alteren betont. Neben physischen Aktivitaten gelten Kontakte zu auBerfamiliaren Gruppen zu den wichtigsten Pradiktoren erfolgreichen Alterns. Das Engagement fur andere schafft MQglichkeiten zur Erfahrang von Kontinuitat, Kompetenz, Effektivitat, Selbstwertgefuhl und Wertschatzung durch andere. Hintergrund ist die Rollentheorie, wonach multiple Rollen das soziale Netzwerk starken. Nachgewiesen wird fur altere Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, dass sie eine hohere Lebenszufriedenheit aufweisen {Kollcmd 2002), eine hohere Selbstwertschatzung, hohere kognitive Leistungsfahigkeit, Gefuhle des Gebrauchtwerdens und ein positives Gesundheitsempfinden {Musick et al. 1999). Nachgewiesen werden konnte weiters, dass ehrenamtliche Tatigkeiten Kommunikationsbedtirfnisse erfullen, Einsamkeit neutralisieren und angstreduzierend wirken {Hunter, Linn 1981; Moen 2000). Das freiwillige Engagement gilt als eine Chance, den Lebensabschnitt des „Dritten Lebensalters" mit neuem biografischen Sinn zu versehen und zugleich individuelle Fahigkeiten und Fertigkeiten nutzbringend einzusetzen und zu erweitern sowie soziale Anerkennung und damit neue soziale Einbindungen zu gewinnen (vgl. Oik 2002).

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4. Beteiligungsquoten Aus den vorliegenden Daten zur biirgergesellschaftlichen Beteiligimg in OECD-Staaten ist ablesbar, dass die Beteiligung nach Altersgruppen sehr unterschiedlich ausfallt. Festgestellt wird eine zunehmende Beteiligung der jungen Alten und damit einhergehend eine verstarkte Fokussierung auf diese Altersgruppe. Die Begriffe burgerschaftlich.es Engagement, Ehrenamt und Freiwilligenarbeit werden im Folgenden wie im Freiwilligensurvey synonym gebraucht. Dies geschieht auch vor dem Hintergrund, dass in der Praxis je nach Einsatzfeld unterschiedliche Bezeichnungen verwendet werden, man spricht bekanntlich von der Freiwilligen Feuerwehr, von ehrenamtlichen Suchtkrankenhelfern und im politischen Bereich (z.B. in Burgerinitiativen) ist vermutlich der Begriff des biirgerschaftlichen Engagements zutreffender. Fur Deutschland ist nach dem Sozio-okonomischen Panel ein Anstieg des Anteils der ehrenamtlich tatigen Bundesbiirger von der Mitte der 1980erJahre bis Mitte der 1990er-Jahre um 5 Prozentpunkte belegt. Dieses Wachstum fand insbesondere nach 1992 statt und betrifft vor allem das sporadische Engagement (vgl. Oik 2002). Nach dem Freiwilligensurvey 1999 ergibt sich fur die 60- bis 69-Jahrigen eine nahe am Durchschnitt der Bevolkerung liegende Rate an „Ehrenamtlichen" - erst bei den uber 75-Jahrigen ist ein deutlich geringerer Anteil feststellbar. Der Freiwilligen-Survey 2004 weist rund ein Drittel der 55- bis 69-Jahrigen und knapp 20 Prozent der uber 70-Jahrigen als burgerschaftlich engagiert aus (Infratest Sozialforschung 2004). Nordrhein-Westfalen gehort zu den vier westlichen Bundeslandern mit dem hochsten ehrenamtlichen und freiwilligen Engagement unter den uber 50Jahrigen. Survey-Daten fur die USA belegen, dass es in den 1990er-Jahren zu einem Anstieg biirgerschaftlichen Engagement bei den 50- bis 75-Jahrigen gekommen ist (Peter D. Hart Research Associates), wobei zwar der Anteil der Aktiven im Vergleich zu den 35- bis 54-Jahrigen deutlich geringer ist, jedoch das AusmaB der Zeit, welches fur ehrenamtliche Tatigkeit aufgewendet wird, h6her ist. Die Cornell-Longitudinalstudie (Moen 2000) weist nach, dass der Ubergang von der Erwerbsarbeit in die Rente zu einem Anstieg der Freiwilligenarbeit fuhrt, namlich von 36% (vor der Pensionierung) auf 44% nach der Pensionierung. Fur Grofibritannien zeigt ein Vergleich des National Survey of Volunteering fur 1981, 1991 und 1997, dass das burgerschaftliche Engagement in den 1980er-Jahxen gestiegen und in den 1990er-Jahren zuriickgegangen ist. Im Vergleichszeitraum 1981-1997 ist die Beteiligung sogar gestiegen. Interessant ist aber, dass der Ruckgang in den 1990er-Jahren primar auf einen Ruckgang der Beteiligung bei den 18- bis 24-Jahrigen zuruckzufuhren ist, wahrend bei den jungen Alten, d.h. den 65- bis 74-Jahrigen der Anteil der Aktiven zugenommen hat. Fur Osterreich liegen lediglich Befragungsergebnisse fur zwei Zeitpunkte vor, namlich 1982 und 2000, wo-

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nach der Anteil der Personen, die sich ehrenamtlich betatigen, insgesamt zwar zuriickgegangen ist, von 59% auf 51%, die Veranderungen nach Altersgruppen aber sehr unterschiedlich sind. Deutlich zuriickgegangen ist der Anteil der jungen „Ehrenamtlichen", wahrend der Anteil unter den jungen Alten weitgehend gleich geblieben ist und in etwa dem Durchschnitt entspricht. Gering ist die Beteiligung der ilber 75-Jahrigen. Die Baby-Boomer werden insgesamt weniger als „unzivile" Gruppe gesehen, sondern vielmehr als eine Gruppe, die verstarkt im ehrenamtlichen Engagement anzutreffen ist und auf die in besonderer Weise gesetzt wird, um den Ruckgang der Beteiligung von Frauen im mittleren Lebensalter (wegen erhohter Erwerbsbeteiligung) auszugleichen. Die amerikanische Gerontologin Phyllis Moen (2000) ortet ein verstarktes Interesse dieser Gruppe, wobei dieses durch schwachere Ligaturen gekennzeichnet ist, d.h. es kommt zu einer Art „Drehtur-Engagement".

5. Motive und Erwartungen der Freiwilligen In den letzten Jahren beschrieb kaum eine Publikation zur Freiwilligenarbeit die ehrenamtlich Engagierten, ohne auf eine Unterscheidung zwischen so genannten „alten" und „neuen" Ehrenamtlichen hinzuweisen {Oik 1989; Rauschenbach 1991; Wessels 1994; Peglow 2002). Als erstes, sichtbares Zeichen der neuen Entwicklung stellte man Mitte der achtziger Jahre eine rilckgangige Anzahl von ehrenamtlich Tatigen in traditionellen Wohlfahrtsverbanden fest. Was zunachst als „Krise des Ehrenamts" gait, wurde bald durch Publikationen relativiert, die den Ruckgang der Anzahl traditionell Engagierter durch ein zunehmendes Engagement von nicht traditionell gebundenen, sondern individuell entscheidenden und autonom agierenden Freiwilligen ausgeglichen sahen (Oik 1989). Kann also - mit Bezug auf gesellschaftliche Veranderungsprozesse im Sinne einer Abnahme traditioneller Bindungen und einer Zunahme von individuellen Entscheidungen - ein „Strukturwandel des Ehrenamts" in Richrung einer Okonomisierung des Sozialen gesprochen werden? Und lasst sich dieser Wandel auf der Ebene der Motive und Erwartungen der Freiwilligen rekonstruieren? Festgestellt wird ein Trend zu einer „Bewegungsgesellschaft" {Neidhart, Rucht 1993), der sich in einem relativen Bedeutungsverlust der traditionellen Verbande und Assoziationen zugunsten ephemerer, loser gekoppelter Bewegungszusammenhange ausdruckt. Den Nonprofit-Organisationen geht im Zuge fortschreitender Rationalisierungs- und Individualisierungsprozesse gewissermaBen das Potenzial fur ehrenamtliches Engagement aus. Diese Entwicklung hat gravierende Auswirkungen fur die Operationslogik der Akteure in diesem Feld. Neues burgerschaftliches Engagement folgt tatsachlich nicht

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primar den traditionellen Organisationsstrukturen, den Bildern des traditionellen Ehrenamtes in bestehenden Vereinen und Verbanden. Es tendiert zur Selbstorganisation, basiert mehr auf einer individualistischen und reflexiven als auf einer traditional-karitativen Motivation. Es beinhaltet tendenziell eine bewusste Entscheidung fur eine bestimmte zeitlich begrenzte Tatigkeit mit einem bestimmten Inhalt, ist daher in seinem Engagement veranderbar und an der Befriedigung von Eigeninteressen orientiert, die sich mit den verschiedenen biografischen Anforderungen ergeben. Selbstbestimmtes Handeln, Freiwilligkeit und Gestaltungsspielraume sind hoch bewertete Bedingungen des neuen Biirgerengagements, es besteht eine hone Sensibilitat bezuglich eines Ausgleichs im Geben und Nehmen. Am Beispiel der Caritas in Deutschland schildert Bock die geanderte Situation so: „Das Interesse an einer Mitgliedschaft im Verband und in Caritasgruppen in den Gemeinden, die Anpassung an die vorgegebenen Formen und Normen und die Identifikation mit ihrer Philosophie hat abgenommen. Es wird abgelost durch das Interesse an einer zeitlich ilberschaubaren Aufgabe. Zeitgebundene Projekte werden langfristigen Verpflichtungen vorgezogen. Viele Freiwillige betatigen sich als ,Hopper', einmal hier und ein anderes mal dort. Andere schlieBen sich fur die Dauer einer Aktion zusammen oder wandern zwischen Gruppen und Projekten, die den Bedurfnissen der jeweiligen Lebensphase und Lebenslage angepasst sind." {Bock 2000: 94)

Peglow (2002: 25) fasst vier Motivationsgruppen fur biirgerschaftliches Engagement zusammen, wobei darauf hingewiesen wird, dass es sich meist um einen „Motivationsmix" handelt: • • • •

Man fiihlt sich Werten verpflichtet (praktizierte Nachstenliebe, Ehrenamt als Dienst- und Pflichterfullung, Gemeinsinn); durch das Ehrenamt soil die eigene Karriere gefordert werden (sozialer Aufstieg, gesellschaftliche Anerkennung); Ehrenamt als Suche nach biografischer Orientierang (um aus der eigenen Krise herauszukommen); Realisierung eigener Wiinsche und Themen (Dinge, die im Beruf zu kurz kommen; Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung).

Bierhoff (2002) hingegen unterscheidet zwei Motivgruppen: Traditionell humanitare Einstellungen sind durch die Ubernahme von Verantwortung fur andere gekennzeichnet, indem z.B. Menschen in Not geholfen wird, wahrend hedonistische Einstellungen unmittelbar der eigenen Bedurfnisbefriedigung dienten. „Altruistische Einstellungen werden durch Verantwortung und politische Verantwortung reprasentiert, egoistische Einstellungen durch Karrierestreben, soziale Anerkennung, soziale Bindung, Selbsterfahrung und durch Suche nach einem Berufsausgleich." {Bierhoff 2002: 26) Das Verhaltnis zwischen humanitarer und hedonistischer Einstellung habe man sich so vorzustellen, dass die humanitare Einstellung jedweder Form der Freiwilligenarbeit gewissermaBen als Basismotiv unterliegt, wahrend die hedonistische

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Einstellung von der jeweils gewahlten Tatigkeit abhangt (Bierhoff et al. 1995). Bestimmte Organisationen und Organisationstypen korrespondieren mit bestimmten Auspragungen der hedonistischen Einstellung. Der Freiwilligensurvey 1999 zeigt, dass bei Personen, die sich im sozialen und gesundheitlichen Bereich engagieren, das Motiv „anderen Menschen helfen" an erster Stelle steht. Sowohl in den alten als auch in den neuen Landern gaben 89 % der Freiwilligen im sozialen und gesundheitlichen Bereich an, dies sei fur sie wichtig. In den neuen Landern wurde ebenfalls von 89 % fur wichtig gehalten, „etwas fur das Gemeinwohl zu tun" (in den alten Landern waren es „nur" 79 %). Besonders schwierig gestaltet sich das Zusammenspiel von altruistischer und hedonistischer Motivation bei alteren Menschen. Wenn altere Menschen im Alter etwas Sinnvolles tun wollen, was auch fur andere einen Sinn hat, ist der situative Kontext eminent bedeutsam, d.h. die Freiheit des „Ruhestands" wird als sehr bedeutsam eingeschatzt, sodass die Ubernahme von Verpfhchtungen genau abgewogen wird (Tews 1995). Einen wichtigen Beweggrund bildet dabei die Teilhabe an der (lokalen) Offentlichkeit, welche geschlechtsspezifisch unterschiedlich ausgepragt ist. Wahrend Frauen eher darauf abzielen, etwas Neues zu lernen, halten es Manner fur wichtiger, friiher erworbene Fahigkeiten einzusetzen. Nachfolgend stellen wir die Ergebnisse einer miindlichen Befragung von 1.000 Wienerinnen und Wienern im Alter von 60 bis 75 Jahren im Herbst 2000 vor, die dariiber Auskunft gibt, welche Motivlagen und Anreize biirgerschaftliches Engagement bestimmen (Fessel-G/K 2001). Wie aus den Daten hervorgeht, dominiert das Bedtirfnis, in Kontakt mit anderen Menschen zu kommen. Rund die Halfte aller 60- bis 75-Jahrigen nennt als Grand fur ehrenamtliche Tatigkeit Kontakt zu anderen Menschen. Danach folgt das Mitgefuhl fur die Schwachen und Bedurftigen sowie das Verantwortungsgefuhl, wobei altruistische Motive eher bei Personen mit hoheren Bildungsabschlilssen anzutreffen sind (siehe Abbildung 1). Wenn auch die angegebenen Werte deutlich unter jenen liegen, die im deutschen Freiwilligensurvey nachgewiesen wurden, zeigt sich doch, dass soziales Engagement vorwiegend auf einer humanitaren Einstellung beruht. Erst danach folgen Motive, die eher einer hedonistischen Einstellung zugeordnet werden konnen. Dazu gehort die „Sinnstiftung". Rund ein Viertel der Befragten ist ehrenamtlich tatig, „um dem Leben einen Sinn zu geben". Das „Abenteuer" bzw. etwas Neues sucht etwa ein Funftel der Alteren. Und wer etwas Neues ilber ehrenamtliches Engagement zu entdecken versucht, verbindet damit eher eine sinnvolle Freizeitbetatigung.

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Abbildung 1: Motive der Freiwilligenarbeit (n=1.000; 60- bis 75-Jahrige; Wien 2000)

Prestige Freizeitaktivitat Selbstsorge

3 6% 1JH4'I 4% =16%

Verantwortung Altruismus

H Pflichtschule

S2232J8% | 8%

3 27%

J 15% Mt'^':,*'*W"'»S -l.'V^H ^aj

Neues Sinnstiftung

D Fachschule 3 16%

Gratifikation Erfahrungstransfer

n Hohere Schule

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Kontakt

ESft.

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Quelle: eigene Darstellung Beim Erfahrungstransfer finden wir einen deutlichen Bildungseinfluss, d.h. unter Abganger/innen hoherer Schulen ist dieses Motiv doppelt so haufig anzutreffen wie unter Personen mit Pflichtschul- bzw. Fachschulabschluss. Mehr als ein Viertel der „Gebildeten" wollen iiber ehrenamtliches Engagement Erfahrungen und Fertigkeiten weitergeben. Damit wird deutlich, dass Erfahrung nicht einfach Lebenserfahrung bedeutet, sondern sich auf erworbene Kompetenzen bezieht. Und die Erfahrungsweitergabe stent nicht fur sich, sondern ist gekoppelt mit der Absicht, dem Leben einen Sinn zu geben, etwas Sinnvolles zu tun. Die Antworten auf die Frage, ob die ehrenamtliche Tatigkeit mit der Absicht verfolgt wird, „etwas dazu zu verdienen", sind ebenfalls von der sozialen Lage der Befragten abhangig. Ftir Angehorige der Mittelschicht spielt der materielle Aspekt eine untergeordnete Rolle, sie sehen eine deutlichere Differenz zwischen Erwerbsarbeit und Ehrenamt. Interessant ist hier auch das Ergebnis der Faktorenanalyse, die zeigt, dass das Verdienstmotiv ein eigenstandiges Motiv ist (siehe folgende Tabelle). Gemeint ist damit, dass wir zwischen Personengruppen unterscheiden konnen, die aus rein materiellem Interesse ehrenamtlich engagiert sind, und solchen, die aus anderen (z.B.

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humanitaren) Einstelhmgen heraus aktiv werden. Wer aus letzterer Einstellung heraus aktiv wird, braucht keine Gratifikation. Personen mit hoheren Bildungsabschlussen sehen die ehrenamtliche Tatigkeit starker im Rahmen eines zivilgesellschaftlichen Handelns, welches sich komplementar, wenn nicht gar in Distanz zum Staat entfaltet. Verbunden ist dieses Motiv mit einem Verantwortungsgefuhl gegentlber der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang verwundert es kaum, dass das Motiv ,,soziale Anerkennung" praktisch keine Bedeutung fur ehrenamtliches Handeln hat. Die folgende Tabelle fasst das Ergebnis einer Faktorenanalyse der Motive ehrenamtlichen Engagements zusammen, wobei auffallig ist, dass sowohl das Kontakt- als auch das Altruismusmotiv keine eigenstandige Dimension darstellen. Sie unterliegen aufgrund ihrer allgemeinen Zustimmung wohl alien anderen Motiven. Auffallig ist auch die Multidimensionalitat burgerschaftlichen Engagements, was eher auf eine Zuruckweisung der These von Bierhoffhin&QwtzX, der eine bipolare Motivstruktur annimmt. Tabelle 1: Dimensionen burgerschaftlichen Engagements (n= 1.000; 60- bis 75-Jahrige; Wien 2000) Motive Um Kontakt zu anderen Menschen zu haben Aus Mitgefuhl mit den Schwachen und Bedurftigen Um dem Leben einen Sinn zu geben Aus VerantwortungsgefOhl gegenuber der Gesellschaft Um Erfahrungen und Fertigkeiten weiterzugeben Um etwas Neues zu machen Um etwas dazu zu verdienen Weil man nicht alle Aufgaben dem Staat iiberantworten kann Weil ich sonst nicht weift, was ich mit meiner freien Zeit anfangen soil Weil ich dadurch soziale Anerkennung bekomme

F1 -.721

Faktoren/Dimensionen F2 F3 F4 -.466

-.429 .367

-.571 .380

F5

-.566

.778 .662 .927 .576 .637 .828

Extraction Method: Principal Axis Factoring. Rotation Method: Varimax with Kaiser Normalization. Erklarter Anteil der Varianz R2=58,41%

Quelle: eigene Darstellung Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es erstens mehrere Motive fur soziales Engagement gibt, die nicht miteinander verkniipft sind, zweitens kompetenzgeleitete Motive mit hoherer Bildung einhergehen, drittens neben hedonistischen Motiven, die auf Weiterentwicklung gerichtet sind (burgerschaftliches Engagement als Freizeitaktivitat gekoppelt an neue Erfahrungen), Motive zu finden sind, die uber Erfahrungsweitergabe Sinnstiftung gewahr-

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leisten, und viertens im ehrenamtlichen Engagement „6konomische" Motive wohl anzutreffen und als eigenstandige Motivation erkennbar sind, das AusmaB ihrer Verbreitung aber vergleichsweise gering ist. Wenn auch die Frage nach den Motiven in der Freiwilligenarbeit zwar oft gestellt wird, geht der Fragestellung und der Bewertung der ermittelten Daten doch selten ein nachvollziehbarer Theoriebezug voraus. Motivation wird meist als ein psychologisches Konstrukt behandelt, d.h. Engagement ist das Resultat innerer Antriebskrafte. Dabei wird die Motivation in einzelne Aspekte (Motive) zergliedert und der situative Kontext haufig vernachlassigt. Besser ware es hier, Motivation als ein Geflecht subjektiver Prioritatensetzungen, biografischer Aspekte und situativer Gelegenheitsstrukturen zu verstehen. Fur die Modernisierungsprozesse in der Freiwilligenarbeit werden vor allem Veranderungen von Werten, Einstellungen und Motiven auf der Seite der tatsachlich oder potenziell Engagierten verantwortlich gemacht (vgl. Arbeitskreis Nonprofit-Organisationen 1998), Diesen subjektzentrierten Ansatzen zur Erklarung des Wandels ehrenamtlichen Engagements setzt die Studie von Beher et al. (2000) die These vom Strukturwandel des Ehrenamts entgegen, indem sie die von Individuen losgeloste strukturelle Seite ins Zentrum ruckt. Nicht die Ehrenamtlichen haben sich primar gewandelt, sondern die strukturellen Rahmenbedingungen, in denen gemeinwohlorientiertes Engagement heute seinen Ausdruck findet.

6. Anreize fur ehrenamtliche/freiwillige Tatigkeit Sowohl die Motivationslagen der Freiwilligen als auch ihre Erwartungshaltungen deuten darauf hin, dass das Anspruchsniveau freiwillig Engagierter steigt. Daher sehen sich Organisationen, die mit Freiwilligen arbeiten, immer starker mit der Frage nach wirksamen Anreizsystemen konfrontiert. In den traditionellen Formen ehrenamtlicher Betatigung war die Bindung an die jeweilige Organisation (Parteien, Kultur- und Sportvereine) ausschlaggebend und vermittelte Gefuhle der Zugehorigkeit, wenngleich auch hier nicht nur symbolische Belohnungen (z.B. Abzeichen, Ehrungen) fur aktive Beteiligung zur Verfilgung standen, sondern durchaus auch materielle Vorteile erwartet wurden. Leider stehen hier keine Vergleichsdaten zur Verfilgung, die einen Wandel belegen konnten. Die These ist jedenfalls, dass Anreizsysteme, die auf dem Tauschprinzip aufgebaut sind (do ut des) eine groBere Zustimmung erfahren als symbolische Anreize. Nach Peglow (2002) wollen die Ehrenamtlichen mehr autonome Zeitgestaltung, eine zeitliche Befristung, Spontaneitat, sie erwarten mehr Mitwirkungs- und Selbstverwirklichungsmoglichkeiten sowie Selbsterfahrung, aber auch Anerkennung verschiedenster Art (Peglow 2002: 29).

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In der bereits genannten Wiener Studie {Fessel-GfK 2001) zeigt sich, dass rand 40% der 60- bis 75jahrigen aktiven Ehrenamtlichen der Meinung sind, dass ehrenamtliche Tatigkeiten ilberhaupt nicht abgegolten werden sollten. Je alter die Befragten, desto starker ist diese Einstellung gegeben. Rund ein Drittel der „Anreizbefurworter" tritt fur Aufwandsentschadigungen ein, weniger als ein Drittel der Befragten wiinscht sich eine „kostenlose oder vergunstigte Nutzung von offentlichen Einrichtungen", ein Viertel befurwortet die „kostenlose Teilnahme an Kultur- und Freizeitveranstaltungen". 16% konnen sich als Tausch fur ehrenamtliche Tatigkeit Gutscheine vorstellen. Deutlich geringer fallt dagegen die Zustimmung zu symbolischen Anreizen aus. Lediglich 7% sind fur offentliche Ehrungen und 4% fur eine Art Pass, in dem entsprechende Leistungen aufgezeichnet werden. Im Vergleich der Altersgruppen wird deutlich, dass unter den jungen Alten sowohl bei der Aufwandsentschadigung als auch bei Vergilnstigungen und Gutscheinsystemen eine hohere Zustimmung gegeben ist als unter den alten Alten. Gefragt wurde in dieser Reprasentativerhebung nicht nur nach der allgemeinen Einstellung, sondern auch nach personlichen Praferenzen. Und hier zeigt sich, dass in alien Items ein niedrigerer Anteil der Zustimmung gegeben ist, wenn nach den personlichen Praferenzen gefragt wird. Besonders deutlich ist der Unterschied bei der Aufwandsentschadigung. Nur die Halfte jener, die angibt, dass ehrenamtliche Arbeit ganz allgemein mittels einer Aufwandsentschadigung abgegolten werden sollte, ist der Meinung, dass es auch fur sie personlich ein besonderer Anreiz ware. Die Differenz kann einerseits bedeuten, dass man sich selbst anders (besser?) darstellen mochte als man glaubt, dass die Allgemeinheit ist. Es wird also allgemein eine „Okonomisierung" ehrenamtlichen Handelns festgestellt, von der sich der Einzelne aber absetzt. Die Differenz kann aber andererseits auch bedeuten, dass sich die allgemeine Einstellung auf die jilngeren Generationen bezieht, die als starker tauschwertorientiert gesehen werden. Eine dritte Interpretation ware, dass zwar mehr materielle Gratifikation gewiinscht, jedoch im faktischen Handeln nicht gewahrt wird.

7. Folgen der Okonomisierung - Ausblick „Die wachsende Subjektivitat", so Hradil (1995: 98), „enthalt keine gemeinsame und oft genug keine individuelle Perspektive". Kann hier eine Tauschmentalitat erfolgreich eindringen und den animus societatis untergraben, der die soziokulturelle Grundlage der Gesellschaft bildet? Vermutet werden kann eine Polarisierung zwischen erfolgreichen „Dienstleistern" und „erfolglosen" philanthropischen Assoziationen. Empirisch belegbar ist (Leicher 2003), dass Organisationen wie „Arzte ohne Grenzen" mit

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einer starken Selektivitat bei der Mitgliederauswahl nach Kompetenz und „Verwendbarkeit" jenen Organisationen mit geringer Selektivitat bzw. Effizienz gegeniiberstehen. Differenz wird aber nicht nur sichtbar entlang verschiedener Organisationskulturen, sondern auch innerhalb von Organisationen. In Altenhilfeorganisationen fmden sich zwei Organisationseinheiten. Einerseits der marktwirtschaftlich gefilhrte Teil und andererseits der Ehrenamtsbereich. Dies geschieht unter anderem deshalb, weil in beiden Sektoren unterschiedliche Wertesysteme vorherrschen. Mit der zunehmenden Vermarktlichung des Nonprofit-Sektors und der Freiwilligenarbeit sowie der damit verbundenen Annaherung von ehrenamtlichen an bezahlte Arbeitsverhaltnisse kSnnte die Ubernahme ehrenamtlicher Funktionen in Vereinsvorstanden an betriebswirtschaftlichen Anforderungen scheitern. Wenn der wirtschaftliche Nutzen des freiwilligen Engagements in den Vordergrund tritt, dann werden Interessierte rigorosen Auswahlprozeduren unterzogen, um „die Spreu vom Weizen zu trennen". „Firstclass-Freiwillige" werden von „Secondclass-Freiwilligen" unterschieden und bevorzugt. Und der Impuls, sich freiwillig zu engagieren, wird durch uberreglementierte Qualifizierungsprogramme gemindert oder zum Verschwinden gebracht. In diesem Sinn wurde der Markt burgerschaftliches Engagement einschranken oder zumindest in engere Bahnen lenken. Die Ausrichtung auf Effizienz und Einsparpotenzial von zivilgesellschaftlichen Altenhilfe- und Altenarbeitsorganisationen ist zwar an sich nicht problematisch, wirft aber neue Fragen auf. So findet sich einerseits ein Konzept von Zivilgesellschaft, in dem das Gewicht diskursiver und assoziativer Elemente viberschatzt wird. Andererseits fmden wir aber ein Konzept, welches um eine Aufwertung nichtkommunikativer, strategischer, okonomischer Handlungen bemuht ist. Die Folge ist dann ein einfach gestrickter Dualismus, der die tiefen Ambivalenzen sozialer Handlungen und Institutionen ubersieht und die Tatsache, dass samtliche Handlungstypen mit positiven und negativen Folgewirkungen verbunden sein konnen. Mit der Okonomisierung des burgerschaftlichen Engagements wird auch eine „Banalisierung" dieses Sektors vermutet (Braun 2003). Wahrend Geld als moralfrei gilt, gilt das fur die Ziele und Inhalte von Nonprofit-Organisationen nur selten. Freiwilligenarbeit und burgerschaftliches Engagement grtlnden meist auf ideologischen Haltungen und einer wertgeladenen Organisationskultur, die sowohl wesentliche Antriebskraft fur burgerschaftliches Engagement darstellen als auch die Vielfalt dieses Sektors bedingen. Allerdings sind die Werte, die im Non-Profit-Bereich vertreten werden, nicht durchgehend offen, d.h. humanistisch, sozial und demokratisch gepragt - es finden sich auch faschistische und nationalistische Bewegungen. Freiwilligen-Organisationen produzieren nicht automatisch demokratische Werthaltungen und damit soziales Kapital, wie eine amerikanische Studie (Hooghe 2003) belegt - sie konnen auch „unsoziales" Kapital erzeugen (z.B. Ethnozentrismus).

Vermarktlichung burgerschaftlichen Engagements im Alter

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Die ideologische Zustimmung stellt einen Konkurrenzvorteil der Nonprofit-Organisationen dar. Die groBe Bedeutung von Ideologien und moralischer Kommunikation steht allerdings in Widersprach zu Rationalitatsanforderungen. Ideologien stehen strategischem Denken und einem wertfreien Nutzen der Organisation als Mittel zum Zweck entgegen. Deshalb findet sich auch das Argument, dass die Marktorientierung zu einer Effektivierung der Funktionsweise von Nonprofit-Organisationen fuhren kann (Oppen 1996). Dadurch konnte die Legitimitat der Freiwilligenarbeit steigen. Okonomisierung hieBe dementsprechend nicht mehr, als dass eine bestimmte Aufgabe mit einem geringeren Ressourceneinsatz in gleicher Qualitat erfullt werden kann. Denkbar ist als Folge der Vermarktlichung, dass der Markt nicht destruktiv, sondern zivilisierend wirkt, wonach das Tauschmedium des Marktes fur Zuverlassigkeit und Bestandigkeit btirgt. Danach haben okonomische Marktbeziehungen eine machtige pazifizierende und zivilisatorische Wirkung auf die Sozialbeziehungen. Das moderne Marktgeschehen konnte den Habitus des rational temperierten, sachlich-niichternen Erwerbsindividuums hervorbringen, der irrationale Leidenschaften bandigt und eine triebunterdruckende Ethik begiinstigt. Moglich ist aber auch vor dem Hintergrund der empirischen Ergebnisse zu den Motiven von Freiwilligen, dass weder der Markt noch allgemeine (tradierte) Werthaltungen von Gemeinsinn die heutigen Modi der Vergesellschaftung und damit des burgerschaftlichen Engagements darstellen. Es konnten gerade die untibersichtlichen und vielfaltigen Einstellungen der Einzelnen Kristallisationspunkte der Identitat bilden und das Freiwilligenengagement im Alter vorantreiben. Die entscheidenden Merkmale der neuen Beziehungsmuster sind ihre strukturelle Offenheit (Keupp 2001). Es handelt sich nicht um Gemeinschaften, die „schon immer da waren", sondern um neuartige Formen der sozialen Vernetzung. Von einer Freiwilligenarbeit, die auf einer Bedeutungssteigerung des Wertes der Selbstentfaltung basiert, wird erwartet, dass sich durch sie neue Identitatsmuster im Alter entwickeln und Vergesellschaftung gewahrleistet wird.

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Prestige und soziales Kapital als Medien der Zivilgesellschaft; Netzwerke des Engagements und altere Farmer in „CLANTON", Iowa Kai Brauer

1. Fragestellung: Warum ziviles Engagement? Warum engagieren sich Burger fur ihr Gemeinwesen, obwohl dies ihre privaten Ressourcen schmalert und der antizipierte Nutzen auch auf andere Weise sicherer und schneller realisierbar ware? Mancur Olson (1965) und Norbert Axelrod (1984) haben gezeigt, wie voraussetzungsreich kollektive Handlungen sind und wie fragil der Zusammenhalt zwischen den beteiligten Akteuren ist. Aus der Perspektive der Modernisierungstheorie kann davon ausgegangen werden, dass sich in ausdifferenzierten Systemen personliche Ziele fast immer in schon etablierten Institutionen verwirklichen lassen. Eine Gruppenbildung, die die Griindung einer freiwilligen, gemeinniitzigen Assoziation erfordert, erscheint somit tendenziell weniger notwendig. Zwischen den vertraglichen Beziehungen auf den Markten und der Emotionalitat der Zweierbeziehung scheint in modernen Gesellschaften der Spielraum fur kollektive Engagements enger zu werden. Kulturpessimistischen Zeitdiagnosen folgend entscheiden sich individualisierte Akteure daher auch immer seltener und nur noch im Ausnahmefall fur Solidar- und Kollektivhandlungen. Demnach musste in modernen Marktgesellschaften das zivile Engagement tendenziell abnehmen. Tatsachlich wurde auch eine Abnahme solcher Bindungen durch Robert Putnam (1995, 2000) diagnostiziert, dessen Analyse der amerikanischen Gesellschaft mit dem bezeichnenden Titel „Bowling alone" die Sozialkapitaldebatte maflgeblich beeinflusste. In Folge der Sozialkapitaldiskussion wurde in Deutschland burgerschaftliches Engagement als kostenneutrales und Demokratie forderndes Potenzial wiederentdeckt, das vor einer weiteren Erosion geschiitzt werden mtisse. Interessanter Weise wurde gleichzeitig keine Abnahme, sondern eher eine Zunahme btirgerschaftlichen Engagements gemessen (Klages 1998; EnqueteKommission 2002; Gensicke 2003). Leider bleibt bislang kaum geklart, ob es sich um eine andere Form des Sozialkapitals handelt, oder warum trotz der oben erwahnten schlechten Bedingungen Engagement nachgewiesen werden kann. Gefragt wurde hauptsachlich danach, ob und wie das gemessene zivile Potenzial gefordert werden konnte, eine pragmatische Problemstellung, die

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jedoch direkt zur Ausgangsfrage zuruckfuhrt. Fur die bislang schon Aktiven kann die Schaffung von Anreizstrukturen als ein Angriff auf das Freiwilligkeitsprinzip wahrgenommen werden, denn sie haben sich auch ohne zusatzliche Angebote engagiert. Fiir diejenigen aber, fur die die Auflosung von Gemeinschaftsbindungen durch die Individualisierung eine ausgemachte Sache ist, wird die Sozialkapitaldebatte als kollektivistisches Riickzugsgefecht gedeutet, an deren Fronten ein vergeblicher Kampf gefuhrt wird. Die Sache scheint von vornherein verloren: Den Egomanen und Egomaninnen der Multioptionsgesellschaft (Gross 1994) ist das Gemeinwesen schnuppe. In Abgrenzung zu trivialen Gemeinschaftsideologien mtisste die Soziologie jedoch die Frage klaren konnen, inwiefern individualisierte Akteure in modernen Gesellschaften trotzdem zu Aktivitaten bereit und zu Beziehungen fahig sind, die das Sozialkapital der Gesellschaft bilden. Das Problem der Aktivierung lasst sich also nur durch eine positive Einbindung der Modernisierungstheorie und der Individualisierungstheoreme in den Engagementsdiskurs losen. Des Weiteren muss nach typischen Kennzeichen von Handlungen und Beziehungen gesucht werden, die auBerhalb der Erwerbstatigkeit (der Markte) und der emotionalen Bindungen durch Liebe und familiare Partnerschaft existieren und dabei jene (vorpolitische und nichtreligiose) Netzwerke aktivieren, die das zivile Engagement einer Gesellschaft bilden. Eine definitorisch saubere Trennung von sozialkapitalrelevanten Handlungsfeldern und -motiven von solchen, die sich zur Zivilgesellschaft eher neutral verhalten, hat sich bislang nicht etablieren konnen. Dies liegt weniger am mangelnden Interesse, als an der begrifflichen Unscharfe, die zwischen Vereinsbindungen, Spenden- und Wahlbereitschaft ilber freizeitsoziologische Uberlegungen und netzwerktheoretische Ansatze bis zur Soziologie der intergenerationellen Beziehungen und Unterstiitzungen zu viele Handlungsebenen und -felder einschlieBt, um zu einer konsistenten Definition und nachvollziehbaren Klarung zu kommen. Insofern bieten die statistischen Analysen anhand von nahe liegenden Indizien (Vereinsmitgliedschaften, Organisationsdichten, Wahlbeteiligungen etc.) zwar interessante Annaherungen an das Phanomen. Sie miissten aber - streng gesehen - in eine Typologie eingefugt werden, deren Koordinaten theoretisch abgeleitet wurden, bevor in der Vielfalt der Erscheinungsformen moglicherweise Scheinkorrellationen die Begriffsdefinition bestimmen. Wird nach einer begrifflichen Hartung gefragt, kann die Antwort nicht mittels der Zahlung moglichst vieler Ereignisse angegangen werden, deren Definition j a selber angezweifelt wird und deren Operationalisierung notgedrungen luckenhaft bleiben muss. Zur LQsung konnten demgegenuber Einzelfallstudien beitragen, die in der Lage sind, Sinnzusammenhange zu erfassen, die freiwilliges Engagement in seiner strukturellen Einbettung und historischen Transformation verstandlicher machen.

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Im folgenden Beitrag wird diese Einbindung aus qualitativer Perspektive am Beispiel einer konkreten Lebenswelt empirisch angegangen. Gesucht wird im Material einer vom Autor durchgefuhrten Community Study1 die Annaherung an eine empirisch begriindete begriffliche Rahmung, die dem Phanomen und seiner soziologischen Charakteristika gerecht wird. Genutzt wird hierbei ein iiberschaubarer Handlungskontext, in dem unter ungunstigen okonomischen Bedingungen ein hohes MaB an Sozialkapital fur freiwilliges Engagement aktiviert wurde. Nicht die besonderen Bedingungen des Falls, sondern die den Netzwerken des zivilen Engagements zugrunde liegenden Strukturprinzipien sollen herausgearbeitet werden. Angeboten wird somit im Sinne der Grounded Theory eine empirisch begriindete Annaherung an das Phanomen, die erst die Basis fur dessen theoretische Begriindung bildet. Dies wird im Folgenden mittels der Kontextbeschreibung des Engagements in der Gemeinde (Kapitel 2), dem Fall Kenny McCoin (Kapitel 3) und der Zusammenfassung von Strukturmerkmalen zivilen Engagements (Kapitel 4) geleistet. Eine soziologisch tragfahige Theorie zivilen Engagements musste dariiber hinaus zeigen konnen, inwiefern sozialkapitalrelevante Handlungen und Einstellungen in einen Kontext moderner Gesellschaften mit individualisierten Akteuren eingebettet werden konnen. Eine diesbezugliche erste Uberlegung wird im letzten Kapitel (5) angeboten.

2. Fall Clanton: Engagement (nicht nur) fur Altere 2.1 Die Modernitdt der Landgemeinde In Clanton, einer kleinen Farmtown mit etwas mehr als 800 Einwohnern im Bundesstaat Iowa im Mittleren Westen der USA, wurde ein kommunales Altenheim („Care Center Clanton") mit ca. 80 Betten gebaut. Dass auch rurale US-amerikanische Gemeinden in solche Einrichtung investieren, ist an sich wenig tlberraschend. Frappant aus deutscher Perspektive ist die Art und Weise der Entstehung einer solchen Einrichtung und das dafiir aufgebrachte monetare und nichtmonetare freiwillige Engagement der Einwohner. Es wurden beachtliche 1,2 Mill. US-Dollar Spenden von dem verantwortlichen Clanton Care Center Board gesammelt. Wie ist solch eine enorme Aktivierung der Biirgerschaft strukturell zu verstehen? Konnen die hier wirkenden Prinzipien isoliert werden und inwiefern sind sie auch in anderen Kontexten anwendbar? Community Studies bieten sich methodisch immer dann an, wenn neue Phanomene in sich wandelnden Gesellschaften exploriert werden sollen. Vergleiche dazu ausfuhrlicher Neckel (1997), Bramr (2005) und grundlegend Arensberg (1974) und Konig (1956).

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Einerseits konnte sofort eingewandt werden, dass eine iiberschaubare landliche Gemeinde eine derartig traditionalistische Handlungsrahmung darstellt, dass die hier vorfindbaren restriktiven Kontrollmechanismen keine brauchbare Folie fur ein allgemeines Modell des btlrgerschaftlichen Engagements in modernen Gesellschaften abbilden kann. Andererseits hat sich in der Studie gezeigt, dass auch in dieser landlichen Gemeinde alle wesentlichen Modernisierungsfaktoren (funktionale und soziale Differenzierung, Mobilitat, Individualisierung) nachweisbar sind und nicht mehr umstandslos von einer traditionalen, zuruckgebliebenen landlichen Gemeinschaft gesprochen werden kann. Dies zeigt sich am Relevanzhorizont der Biografien und an sozialstatistischen KenngroBen, wie dem rapiden Wandel der lokalen Okonomie, der sozialen und raumlichen Mobilitat sowie nicht zuletzt an dem gestiegenen allgemeinen Wohlstand und der Mediennutzung.2 Mit Clanton wurde nicht ein uberkommener traditioneller Handlungskontext untersucht. Der Ort unterscheidet sich sicherlich anhand einiger Oberflachenphanomene von dem Leben in urbanen Communities, aber er kann keineswegs auBerhalb des Modernisierungsprozesses angesiedelt werden. Fur die Fragestellung ist diese Gemeinde im Besonderen interessant, weil hier ein dramatischer okonomischer Einschnitt die lokale Okonomie zusammenbrechen lieB. Die Farmkrise der 1980er-Jahre (Conger, Elder 1994; Friedberger 1988; Davis-Brown, Salomon 1988; Lasley 1987, 1994) wurde zumindest bis 9/11 2001 - als nationale Tragodie beschrieben und mit der groflen Depression verglichen. Die meisten landwirtschaftlichen Unternehmen des Mittelwestens wirtschafteten uber einige Jahre hinweg unterhalb der Rentabilitatsgrenze. In den besonders hart betroffenen Gebieten mussten bis zu einem Drittel aller Farmer ihre Familienbetriebe aufgeben. Dies hatte nariirlich Auswirkungen auf die von der Landwirtschaft abhangige lokale Okonomie der Farmtowns, die von Verelendung bedroht waren. Das hohe Spendenaufkommen kann also kaum auf eine auBerordentlich gute fmanzielle Ausstattung der Haushalte zuruckgeruhrt werden. Das Engagement ilberrascht angesichts der Krise umso mehr. Denn trotz dieser Krise konnten die Clantoner eine uberraschend positive Entwicklung anstoBen, indem sie in gemeinschaftliche Projekte investierten. Eine Erklarung des Engagements in Clanton kann also weder mit dem Hinweis auf dessen (nicht vorhandenen) tiberdurchschnittlichen Reichtum, noch auf dessen vermeintliche TraditionaFinnlands Wandel vom Agrarland zum Vorreiter der Modernisierung wurde gerade durch die schnellere und flachendeckende Annahme moderner Kommunikationstechnologien (auBerhalb der urbanen Zentren) symbolisiert. In Clanton und auf den umliegenden Farmen waren beispielsweise lokale Intranetze und das Internet Mitte der 1990er-Jahre schon allerorten prasent, uber die lokale Telefonkooperative fast kostenlos und in den Haushalcen und der fjrtlichen Schule selbstverstandlich prasent. An der Freien Universitat Berlin gait noch Jahre spater der Internetzugang und Email als ein Privileg. „Bildschirmarbeitsplatze" wurden von nicht wenigen Sekretarinnen rundweg abgelehnt. Soviel zur Ruckstandigkeit ruraler Gemeinden.

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litat einfach abgewiesen werden. Letzteres erweist sich auch bald als Scheinargument, es sei denn, es gelange zu belegen, das die aussterbenden Gemeinden in der Nachbarschaft Clantons weniger traditionell seien. Kleine landliche Gemeinden weisen nicht per se ein hoheres Sozialkapital auf. In vielen Nachbargemeinden scheint die Farmkrise eher die gleichen Wirkungen wie in Marienthal der 1930er-Jahre {Jahoda et al. [1933] 1960) zu zeigen: Das Engagement fur das Gemeinwesen erlahmt. Daher ist der Bau des Care Centers als Gemeinschaftsprojekt in Clanton nicht selbstverstandlich aus dessen Landlichkeit oder vermeintlicher Traditionalitat erklarbar, sondern ein untersuchenswertes Phanomen. Das Care Center ist ilbrigens nicht das einzige gemeinschaftliche Unternehmen des Ortes. Neben den unabhangigen Farmern, den Auto- und Landmaschinenhandlern, der Tankstelle, dern Bestattungsunternehmen und der Baufirma, den Laden und Restaurants sind die wichtigen Einrichtungen des Ortes Gemeinschaftsunternehmen. Dazu gehort zuvorderst die Farmerkooperative, die Schule und die Telefonkooperative. Bekannt ist Clanton zudem weniger wegen seines Care Centers, sondern wegen des Golfplatzes. Zu der komfortablen Anlage gehort ein groBes Vereinshaus, dessen Saal nahezu alle Einwohner des Ortes fasst. GroBe Feiern, die nichts mit dem Golfspiel an sich zu tun haben miissen wie Hochzeiten und family reunions, werden hier veranstaltet. Schon friiher war Clanton Anziehungspunkt fur die Einwohner der umliegenden Orte, weil es neben guten Tennisplatzen, dem Stadion der Schule auch ein respektables Freibad vorweisen kann. Es wurde in den 1970er-Jahren errichtet und nach der Farmkrise modernisiert. Wahrend der heiBen Sommermonate wird es vor allem von Jugendlichen, Kindern und deren Miittern fur ein tiberraschend geringes Entgelt genutzt. Dies sind zwei uberregional bekannte Einrichtungen, die aber nur die augenfalligsten Zeichen der Aktivitaten der Einwohner darstellen. Beide Einrichtungen sind quasi-privat, gehoren anteilig den Einwohnern und den Farmern auf Genossenschaftsbasis oder der Kommune, werden von Angestellten oder Freiwilligen gepflegt und durch die boards (ehrenamtliche Aufsichtsrate) beaufsichtigt. Dieses Modell findet sich bei den alteren Tennisanlagen wieder, den beiden Altenheimen, der Telefongesellschaft, Farmerkooperative, dem „Stadtpark", dem Kinderspielplatz und der Schule. Dass sich der school board gegeniiber der Schulbehorde und den konkurrierenden Nachbarschulen behaupten konnte, war einer der wichtigsten Erfolge der Gemeinde. Die Schule ist nicht nur der groBte Arbeitgeber, sondern vor allem ein wichtiger Ort der Vergemeinschaftung. Nahezu jedes Wochenende finden unter hohem organisatorischem Aufwand Spiele der Teams der Schule statt: Football-, Volleyball-, Basketball- und Baseballteams wechseln sich ab. Dazu gehort das feierliche abspielen der Hymne zu Beginn, Einlagen der Cheerleaders und der Blaskapelle wahrend, Party und (im Falle des Sieges) Freibier nach dem Spiel. Diesbeziigliche Investitionen (z.B. die Flutlichtan-

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lage des Stadions) sind unter den Gemeindemitgliedern (den eigentlichen Eignern und Finanziers der Schule) abstimmungspflichtig. Wie selbstverstandlich werden alle Ausgaben der Schule in der Lokalpresse veroffentlicht; einschlieBlich einer namentlichen Auflistung der Lohne der Lehrer, Manager, Trainer und Hilfskrafte. Die drei Kirchengemeinden zeigen eine ahnliche Offenheit. In den church boards (mit deutschen Gemeindekirchenraten vergleichbar, hier aber die Eignerversammlung der Besitzer der Kirche und des Hauses des Pastors) werden die Aktivitaten der Gemeinde abgestimmt, die Finanzen geregelt und offentlich diskutiert. Die Pastoren sind (kiindbare) Angestellte der Gemeinden, die die moralische Macht verkorpern. Die Gemeinderatsmitglieder behalten als gewahlte Vertreter der Gemeinde die okonomische Macht ilber die (Kirchen-)Gemeindefinanzen. Sie sind z.B. alleine dafur verantwortlich, wie viel der Pastor aus der Kollekte behalten darf, und kontrollieren so sein Einkommen, da diesem keine weiteren Einnahmen (bis auf kleinere Ausnahmen aus seiner Hobbytatigkeit als Tischler) erlaubt sind. Unter den Gemeindemitgliedern gibt es eindeutige Statusabstufungen, die von der wirtschaftlichen Stellung und der Aktivitat fur die Gemeinden abhangen. Das Prestige steigt, je hoher das Engagement und die Spenden fur die Gemeinde sind. Die Ehre, Samstags die Glocke zum Gottesdienst lauteten zu durfen, hat bei den Lutheranern zum Beispiel jener Farmer inne, der im letzten Jahr die zwolf neuen Fenster fur das Pfarrhaus finanzierte. Die Kirchen stehen wiederum auch untereinander in einem direkten Konkurrenzkampf um Ansehen, da deren fmanzielle Aufwendungen ja alleine aus der Kollekte, bzw. aus zusatzlichen Spenden von Gemeindemitgliedern und den Einnahmen fur Hochzeiten, Beerdigungen, Taufen u.A. bestritten werden (ein gewisser Teil dieser Einnahmen muss zudem der Kongregation abgegeben werden). Denn die Quantitat und Qualitat der Leistungen (soziale Dienste, Ausstattung der Kirche und Gemeinderaume, die Bibelstunden) sind von der Zahl der Mitglieder, der Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen abhangig. Es gibt in Clanton mit den drei Kirchen nicht nur gleichzeitig sonntags drei Gottesdienste, zu denen sich drei Gemeinden treffen, sondern auch drei Gemeindekirchenrate, die intern und extern um Einfluss und Macht streiten. Die Kirchen konnen somit strukturell als kommunitare Unternehmen von Freiwilligen aufgefasst werden, die professionelles Personal (Pastor) einstellen und untereinander konkurrieren. Trotzdem arbeiten die Kirchengemeinden in einigen Projekten Hand in Hand. So wird die mobile Essensversorgung fur Bedtirftige von Aktivgruppen aus den drei Kirchen gemeinsam organisiert. In den Kirchengemeinden konkurrieren ubrigens diese autonomen Gruppen um Einfluss in den church boards. Weiterhin wird von der Kommune in der City Hall neben dem Versammlungsraum eine Bibliothek unterhalten. Eine 82-Jahrige ist hier hauptamtlich (aus Gemeindesteuern bezahlt) beschaftigt und halt die Clanton City

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Libary in der Woche bis 20.00 Uhr und am Sonnabend bis zum Mittag offen. Neben den erwahnten Einrichtungen sind die beiden Altenheime die kostenintensivsten Gemeindeprojekte Clantons. Das erste stammt noch aus den friihen 1970er-Jahren und hat sich weitgehend amortisiert. Leider sind die technischen Moglichkeiten dort beschrankt und zu wenig medizinisches Personal vorhanden, um die alter und gebrechlicher werdenden Einwohner angemessen pflegen zu konnen. Die Farmer stehen vor dem Dilemma, ihre alter werdenden Eltern ab einer gewissen gesundheitlichen Lage nicht im Hause pflegen zu konnen, oder lange Fahrtwege bis zu den groBen Sanatorien des Landes auf sich nehmen zu miissen. AuBerdem gehen der Gemeinde durch die teuren privaten Pflegeeinrichtungen nattirlich Gemeindemitglieder und deren Kapital verloren. Wie losen die Clantoner dieses Dilemma? Wie schaffen sie es, neben den schon vorfindbaren gemeinnutzigen Einrichtungen, dem Engagement fur die Schule, die Farmerkooperative, in den drei Kirchengemeinden etc. auch noch ein Pflegeheim zu bauen? 2.2 Das ,,Prestigeprojekt":

Care Center Clanton (CCC)

Das 1997 eingeweihte CCC ist das neueste Vorzeigeobjekt der Gemeinde. Eine private Altenheim-Betreibergesellschaft warb fur solche Projekte. Eine Gruppe von Farmerfrauen einer Kirche (der Geburtstagsclub) besuchte eines der von dieser Firma angebotenen Seminare. Die Teilnehmerinnen konstituierten einen Griindungsverein und trugen ilber ihre Netzwerke die Projektidee in die Gemeinde. Nach diversen Auseinandersetzungen zwischen den lokalen Cliquen und Clans wurde schlieBlich vom nun erweiterten Board des Griindungsvereins eine Fund Raising Company engagiert, um den Bedarf und die Spendenmoglichkeiten in der Gemeinde zu erheben. Hier, wie im Fall der Schule, ist auf bundesstaatlicher Ebene eine Koordination notwendig. Es ist aber nicht so, dass ab einer gewissen GemeindegroBe den Einwohnern irgendwelche Einrichtungen aufoktroyiert oder verboten werden konnten. Die Forderungsfahigkeit dieser Einrichtung, die sehr wohl zu einem Teil staatlich finanziert wurde, wurde letztendlich von der Evaluation des Engagementpotenzials abhangig gemacht. Dem Vorhaben wurden erst die notwendigen Unterstutzungszahlungen in Aussicht gestellt, sobald in der Gemeinde mindestens 850.000 US-Dollar Spenden (in Form von Anteilsscheinen, also shares) gesammelt werden wurden. Dies ist eine recht hohe Hilrde fur eine Gemeinde, die nur 800 Einwohner zahlt und aus deren Umfeld schatzungsweise weniger als 200 Personen aktiviert werden konnen. Die professionell unterstutzte Sammlung wurde von dem aus dem Grundungsverein hervorgegangenen Care Center Board (Pflegeheim-Aufsichtsrat, CCB) federfuhrend geleitet und ehrenamtlich durchgefuhrt. Innerhalb eines Vierteljahres wurden durch diverse Aktionen tatsachlich 1.2 Mill. US-Dollar

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gespendet. Das Center ist daher etwas groBer geworden als geplant. Es hat nun 60 „normale" und 15 spezielle „Alzheimerplatze". Jeder Schritt im Baugeschehen wurde zum Abfeiern der eigenen Erfolge genutzt. Im Mittelpunkt standen dabei immer die Mitglieder des Griindungsvereins, niemals die Projektanten oder Vertreter anderer Firmen, die dieses Projekt vorantrieben, oder lokale Politiker. Das Extrablatt der Lokalzeitung erschien im Friihjahr 1997 zur Einweihung des CCC grofiformatig und 14 Seiten stark. Gliickwunsche und viele Anzeigen der lokalen Geschaftsleute umrahmen die im Zentrum des Blattes veroffentlichte Liste der Spender (95% aller Familien des Ortes). Auf den Fotos werden unzahlige Male die wichtigsten sechs Vereinsmitglieder (wobei es keines ohne Marc Koette gibt) abgebildet. Herr Koette ist Juniorchef des Bestattungsunternehmens und wurde zu einem der treibenden Kopfe des Projektes. Er konnte sich seit 1995 in den Vordergrund schieben, da er einen wohlhabenden Verwandten, der nicht mehr in Clanton wohnt, zu einer Landspende iiberzeugen konnte. Dieser wurde zur Ausfuhrung des ersten Spatenstichs eingeladen (einer wichtigen Zeremonie der Gemeinde, ein Grand zum feiern und Anlass fur schone Bilder der Titelstorys in den Lokalzeitungen) - an seiner Seite der stolze Marc Koette. Die letzte Zeremonie einer erstaunlichen Anzahl von Feiern (Griindungsversammlung, Erreichen des ersten und zweiten Spendenzieles, erster Spatenstich, Grundsteinlegung, Richtfest, Fertigstellung) war der feierliche Einzug des ersten Heimbewohners, Art Koette, der GroBvater von Marc Koette. Dieser war der offizielle erste Spender sowie der Onkel des Spenders des Baugrundes {Bob Koette). Als zweite Bewohnerin zieht Frau Erna Muller ein, die GroBmutter der zweitwichtigsten Organisatorin Joan Koehne. Bei der Auswahl der ersten Bewohner ging es nicht nur um die Wiirdigung der Familienarbeit der Kinder und Enkel der zukunftigen Heimbewohner, sondern auch um die Symbolisierung der Paritat der beteiligten Vertreter der Kirchengemeinden, Familien- (Clans) und Freundschaftsgruppen (Cliquen) im CCB. 2.3 Konkurrenz und Kooperation Quer zu der Ebene der Kirchengemeinden gibt es eine ganze Reihe ineinander verschrankter und interdependenter, allerdings auch zum Teil verfeindeter Gruppen in Clanton, die in der US-amerikanischen Literatur nicht untreffend Cliquen3 genannt werden. Die Cliquen treffen sich zumeist auf den vielen Hier wird „Clique" wie „Freundschaftsnetzwerk" oder „Gruppe" verstanden, und nicht als „gang". Clique hat hier daher keine negative Konnotation und lieBe sich grob als „relativ stabile interfamiliare Freundschaftsbeziehung" bezeichnen, die - im Gegensatz zum „ team " - sich nicht allein um ein zu erreichendes Ziel gruppiert bzw. daruber hinaus Bestand hat. Zu Netzwerkbeziehungen vgl. auch Granovetter (1973).

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privaten Partys, bilden Sportgruppen oder unternehmen gemeinsame Ausfliige. Zwischen und in den Cliquen herrscht ein dauernder Kampf urn Anerkennung. Die einzelnen Gemeindeprojekte sind letztlich als Cliquenaktivitat oder -idee zu erkennen. Jedoch sind einige Grofiprojekte wiederum nicht ohne Kooperation unter den Cliquen durchfuhrbar. Die Griindungsgruppe des CCC bestand im Kern aus einer Gruppe von Frauen (im Geburtstagsclub) zu der auch Joan Koehne gehorte. Die Zusammenarbeit mit anderen Machtgruppen (dem Kotteclan und der Bowlingclique) ist im Falle des CCC geglilckt, was nicht heiBt, dass der Konkurrenzkampf unter den beteiligten Cliquen im Projekt aufgehoben wurde. Die Fotos, die in der Lokalzeitung zu dem Projekt veroffentlicht wurden, zeigen immer die Vertreter der beiden wichtigsten Cliquen des Projektes. Herr Koette und Frau Koehne nehmen Spendenschecks entgegen, den Spender immer in der Mitte, wobei es teilweise so aussieht, als drohe das Formular zwischen beiden zu zerreiBen. Das Spendenthermometer, das im Dorfzentrum errichtet wurde, wuchs auf knapp sechs Meter H6he an. Das feierliche Einzeichnen des Spendenstandes (Schlagzeile: „we are on the top!") ubernimmt natilrlich Herr Koette personlich. Er steht ganz oben auf einer extrem langen Leiter, weit iiber den unter ihm versammelten Honoratioren und Mitgliedern des CCB. Direkt unter ihm auf der Leiter steht - freudestrahlend - Frau Koehne. Sie steht zwar unter Marc Koette, aber ihre FtiBe sind immer noch deutlich iiber den Kopfen der anderen CCB-Mitglieder. Zwar kann sie somit Marc - unter ihm auf der Leiter stehend - tiberhaupt nicht beim symbolischen Einzeichnen helfen, reprasentiert jedoch aber ihre Position durch die „herausgehobene" Stellung. Dass es hier Marc Koette ist, der sich durch die Landspende seines Onkels an die Spitze des Projektes stellen konnte, entspricht der herausragenden Bedeutung, die diese Familie in Clanton hat. Sie kann aber nicht zwangslaufig aus der Position der Familie abgeleitet werden. In der beriihmten Atlanta-Studie wurde gezeigt, wie eine einzige Clique aus ca. 40 Personen, an deren Spitze eine einzige Familie steht, eine gesamte GroBstadt beherrschen konnte. Koettes mussten nach diesem Modell in alien wichtigen Vereinen eine Rolle spielen oder wenigstens Einfluss ausiiben konnen. Dies ist in dieser kleinen Town aber nicht so. Es sind verschiedene Cliquen, die in den vielen Boards und Projekten um Macht konkurrieren. Dabei sind es bestimmte Aktive, die immer wieder auftreten. Im Aufsichtsrat der Schule spielt z.B. der Veterinar die tragende Rolle, obwohl seine Sonne langst an der Iowa State University einen Abschluss anstreben. Er steht in der kommunalen Prestigeordnung auf der gleichen Stufe wie Joan Koehne und Marc Koette, einkommensmaBig aber deutlich tiber ihnen. Er ist Angehoriger einer von Lutheranern gebildeten Farmer-Clique, die im CCB nur eine Nebenrolle spielt. Den Board des Golfplatzes dominiert eine weitere Clique jtingerer Geschaftsleute und ein Armeeveteran. Der okonomisch wichtige und bedeut-

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same Aufsichtsrat der Farmerkooperative wird von weiteren Cliquen gelenkt, wobei auch hier die Konkurrenz um Anerkennung als Handlungsmotivation neben handfesten okonomischen Interessen deutlich wird. Fur Joan Koehne und ihre Aktivitaten im Carecenterprojekt war es aufierordentlich wichtig, die Koettes - und mit ihnen ihre Familien- und Freundschaftsnetzwerke - einzubeziehen. Der absehbare Aufwand war ja so hoch, dass eigentlich keine der Cliquen gegen das Projekt sein durfte. Durch die Landspende konnte Marc Koette seinen Anspruch auf die Fuhrerschaft in diesem Projekt Iegitimieren, die vom Koehneclan und der Geschaftsfrauenclique immer wieder angefochten wurde. Letztendlich ist es Frau Koehne aber gelungen, um den Preis ihrer unbestrittenen Fiihrerschaft die wichtigen Clans und Cliquen im CCB zu integrieren und somit zum Erfolg zu fuhren. Ganz ahnliche Entwicklungsphasen durchliefen auch die anderen neueren Projekte (das Freibad, der Golfplatz und sein Vereinshaus). Aus anderen Quellen sind auch die Entstehungsgeschichten der alteren Gemeindeprojekte zu rekonstruieren: der Bau der Silos der Farmerkooperative, die Befestigung der StraBen oder die Grtindung der Telefongesellschaft. Immer wieder tauchen dabei Freundschaftsgruppen auf, die sich in den Einrichtungen engagiert haben und z.B. gemeinsam in Schulsportclubs aktiv waren, familiare Allianzen bildeten oder geschaftliche Beziehungen pflegten. Die friihen Gemeinschaftsprojekte waren notwendig, um mit der technischen Entwicklung Schritt halten zu konnen (Automobilisierung, Telekommunikation, Bildungswachstum). Zum Teil waren sie (wie die Feuerwehr) sogar lebensnotwendig. Die neueren Projekte sind einerseits auf der Grundlage einer relativ guten Infrastruktur entstanden. Andererseits sind die Protagonisten dieser Entwicklung, die Oberschicht Clantons, gerade nicht auf diese sozialen Einrichtungen angewiesen. Koettes sind wohlhabend genug, um ggf. eine zusatzliche Krankenpflegekraft bezahlen zu konnen. Der beriihmte GroBvater hatte sich auch einen Platz in einem der bekannten Sanatorien der Umgebung leisten konnen. Einer der Grander des Golfplatzes halt sich so oft auBerhalb Clantons auf, dass er selber kaum hier, sondern im benachbarten Bundesstaat golft. Die wichtigsten Spender der Bibliothek hatten genug Mittel, um ihren Kindern eine ahnlich groBe Privatbibliothek zu schenken. Es gab keine existenziellen Grande fur die Unterstutzung der neueren Projekte. Der finanzielle Gewinn der Akteure steht in keinem direkten Zusammenhang mit den Aktivitaten in den Gemeindeprojekten. Was bei dem Zusammenwirken der Farmer in der Kooperative und dem Engagement der Koettes (Beerdigungsunternehmen) im CCC noch als rein utilitaristisches Kalkiil erscheinen mag, ist so einfach schon bei Frau Koehne nicht nachzuweisen. Warum engagieren sich bestimmte Personen so stark fur die Gemeinde, wo doch gerade sie diese Dienstleistungen auch auBerhalb der Gemeinde viel einfacher erwerben konnten? Warum wenden sie so viel Zeit und Geld fur diese kommunalen Einrichtungen auf? Was treibt sie dazu, sich verschiedenste Loyalitatskon-

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flikte aufzuladen und zudem das Risiko einer Niederlage einzugehen (was passiert, wenn eines der aufwendig propagierten Projekte einfach zusammenbricht)? Weder Not oder Altruismus4 noch reine Gewinnmaximierung konnen die Motive fur Gemeinschaftsengagement in Clanton hinreichend erklaren. Bevor im nachsten Kapitel diese Frage weiter verfolgt wird, soil nun zunachst die Einbettung weniger machtvoller (alterer) Akteure in den Kontext mittels einer Biografie nachgezeichnet werden.

3. Der Fall Kenny McCoin: Engagement durch Altere 3.1 Biografie nach der Farmkrise Bis zum Interview mit Herrn McCoin war ftir mich die Farmkrise eine mehr oder weniger abstrakte GroBe, zumal die Konsolidierung der Landwirtschaft (ein Jahrzehnt nach dem Hohepunkt der Krise) den drastischen Beschreibungen der „Troubled Times" {Conger, Elder 1994) in der Literatur (Lasley 1987; Lasley, Conger 1986) zu widersprechen schien. Ich hatte noch kein „Opfer" dieser Krise kennen gelernt. Nun erwartete mich ein 65-jahriger ehemaliger Farmer, behindert und auf einen Rollstuhl angewiesen. Diese Behinderung, so stellte sich schon im Interviewanfang heraus, stand in einer Beziehung zum Verlust seiner Farm. Er hatte also mit dem Verlust seiner Farm nicht nur ein okonomisches Debakel erlebt, sondern offenbar auch gesundheitlich Schaden genommen. Jetzt schien er wiederum gut in die Gemeinde integriert zu sein und finanziell nicht schlecht zu stehen. An seiner Biografie kann beispielhaft die mogliche Reintegration von Alteren nachvollzogen werden, die von einer Krise schwer getroffen wurden. Kenny, wie er von alien genannt wird (als ob es nur einen Kenneth in Clanton gabe) fahrt in einem wendigen dreiradrigen elektrischen Rollstuhl herum, der mit einem geraumigen Gepackkorb fiir Einkaufe und einem Scheinwerfer fur Nachtfahrten ausgestattet ist. Er ladt mich vor der Ttir ein, zukunftig bei ihm zu wohnen, aber nicht gleich, denn heute Abend sei eine Geburtstagsfeier bei seiner Schwiegermutter. Sie wtirde heute 93 Jahre alt und wohne in der Nachbarschaft. Daher waren auch bei ihm einige der Verwandten untergebracht, die aus der naheren und ferneren Umgebung angereist waren. Morgen konnte ich aber zum Lunch kommen und seine Frau Altruistische Einstellungen und Handlungen konnen selber kaum zur Klarung des freiwilligen Engagements beitragen, insofern sie selber ein Bestandteil des zu explorierenden Phanomens sind. Es soil ja nicht belegt werden, dass es sich beim Engagement in Clanton um Nutzenkalkule handelt, sondern strukturelle Bedingungen aufgedeckt werden, die eben auch jene altruistischen Anteile der Handlungen im Engagement ermoglichen und fordern.

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kennen lemen und dann auch spater bei ihm einziehen. Kenny wohnt mit seiner Frau in einem typischen ebenerdigen, einstockigen Holzhaus. Der Eingang fuhrt zunachst in ein Birro mit altem PC, Drucker, Kopierer und Stahlschranken mit Schilben filr Hangeordner. Das ware hier sein ehemaliges Versicherungsburo, erklart er mir. Zum Gesprach setzen wir uns an den Esstisch in der Kiiche, also zwischen einem Panoramafenster im Hauptraum und dem Buro. Spater werde ich tatsachlich bei ihm wohnen und seine Kontakte zu mannigfaltigen Netzwerken beobachten. Hier wird zunachst seine Lebensgeschichte vorgestellt. Ein Farmverlust ist zweifellos ein enormer biografischer Bruch. Dies zeigt sich innerhalb seiner Erzahlung. Kenny ringt mit der Geschichte, mit dem Interviewer und mit sich selbst um eine mogliche Darstellungsform. Sein Lebenswerk und die okonomische Basis seiner Familie zerbrachen in der Krise, was ihn offenbar noch im Interview emotional tief bewegt. Seine bis zum Farmverlust zentrale Lebenslaufperspektive vernichtet mit deren Verlust nicht nur die okonomische Basis der Familie, sondern auch seine biografischen Koordinationspunkte in der Gemeinde und letztlich seine Gesundheit. Kennys Lebenslauf war bis dahin um die Farm - als individuelles Projekt - orientiert. Sie hat seine Kindheit und die 32 Jahre seiner Selbststandigkeit direkf bestimmt. Die Farm ist dabei zunachst nicht von der Familie zu trennen, jedoch wird sie fur ihn ein individuelles Projekt. Die Entwicklung geht vom passiven „/ was raised there " zum aktiven „ then I started my own farm operation ". Der Farmverlust ist ein enormer biografischer Einbruch, der ihn bis heute schmerzt. Deutlich wird seine Ohnmacht, eine Erfahrung rapide sinkender Entscheidungsfreiheit durch die Kreditlast. Er erkennt und auBert klar seine eigenen (Fehl-)Entscheidungen, sieht sich aber auch hilflos den Umstanden (Zinsen und Bank) ausgeliefert. Als jedoch die Bank ihre Zahlungsforderungen nicht nochmals aufschiebt, sondern die Zwangsversteigerung plotzlich anberaumt wird, bekommt er einen Herzinfarkt, dem er nur knapp mit dem Leben entkommt. Er verbleibt funf Monate im Krankenhaus, kann die Beine nicht mehr voll einsetzen und erleidet eine bleibende Sehschwache. Unter der Mithilfe von Kennys, Freunden (Schwagern) wickelt seine Frau die Farm ab. Damit war die Geschichte der home farm der McCoin in Iowa - nach einer langen und entbehrungsreichen Zeit des Aufbaus und einer relativ kurzen Zeit des Wohlstands, die sie erbrachte - zu Ende. Zwar steht die Familie nach der Versteigerung nicht vor einem Schuldenberg, wie so viele andere, sondern behalt bescheidene Geldreserven zuriick. Jedoch hatte offenbar die Arbeitsbelastung, die Eheprobleme seiner Tochter, der Druck der Bank sowie das alltaglich drohende Ende der Farm Kenny psychisch und physisch zermurbt. Uber die Kontakte aus dem Versicherungsjob wurde ihm das Haus in Clanton vermittelt, das er spater kauft. Kenny und Jeanny Ziehen vorsichtshalber erst zur Miete ein und Kenny baut hier sein Versicherungsunterneh-

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men weiter aus. Ein Laptop, den er mit zu den Kunden nehmen kann, die zu dieser Zeit sehr erstaunt uber solche modernen Maschinen sind, Kopierer und weiteres Equipment werden angeschafft. Fast ohne Unterbrechung sturzt er sich nun in seine neue Aufgabe und erarbeitet sich einen umfanglichen Kundenstamm und wird schlieBlich der erfolgreichste Versicherungsverkaufer der Region. Kenny erleidet in dieser Zeit einen zweiten, dramatischen Infarkt. Er liegt iiber Wochen im Koma, kann sich ein halbes Jahr uberhaupt nicht bewegen. Er muss danach langsam neu anfangen, sprechen zu lernen und ist seitdern halbseitig ertaubt und nun sehr stark sehbehindert. Zurzeit meiner Erhebungen machte er trotz multipler Behinderung wieder einen quicklebendigen Eindruck. Seinen kleinen wachen Augen scheint nichts zu entgehen, obwohl er nur noch einen Bruchteil der normalen Sehfahigkeit hat. Mit dem Hilfsfahrzeug ist er sehr wendig und beweglich, zumeist schneller als FuBganger und er vermittelt keineswegs einen ungliicklichen Eindruck. Durch eine spezielle Vorrichtung in seinem neuen Van kann er den Rollstuhl uberallhin mitnehmen und dort einsetzen. Er macht dies mindestens einmal am Tag, fahrt einkaufen nach Nexttown, in die eine Stunde entfernt liegende Universitatsstadt zu Freunden und Verwandten oder chauffiert seine Frau und seine Tochter, um gemeinsam „mal gut essen" zu gehen oder zum Einkaufen nach Des Moines. Er ist sehr aktiv in der Kirchengemeinde und unterhalt ein dichtes Netz entfernter Bekannter in der Nachbarschaft. Ich besuche mit ihm und seiner Frau verschiedene offentliche Veranstaltungen und private Partys der lokalen Clans und Cliquen. Er ubernimmt dort immer irgendwelche Aufgaben. Der gelungene Ablauf der Partys, die nicht in seinem, sondern in den groBeren Hausern der Freunde stattfmden, ist ihm immer ein wichtiges Anliegen und er ist dafur ein gern gesehener Gast. Fur die alljahrliche Hawaiiparty der Koettes grillt er Burger und transportiert diese mit seinem Rollstuhl von seinem Haus zu der Party, er kauft im Vorfeld notwendige Einwegbestecks und Pappteller, bedient Gaste und hilft beim Aufraumen. Socializing ist die wichtigste Beschaftigung von Kenny, der bis heute seine Freunde in der Bar, den Laden der Umgebung oder in ihren Hausern trifft. Der regulare Wochentag beginnt jeden Morgen um 6:00 Uhr, wenn er traditionsgemaB zur Tankstelle fahrt, um dort mit seinen Farmerfreunden zu friihstucken. Daher hat er auch an seinem Rollstuhl einen auffalligen Scheinwerfer, da es im Herbst und an den Wintertagen, an denen eine Tour zur Tankstelle noch rnoglich ist, zu dieser Zeit noch nicht hell ist. 3.2 Konzepte und Ubergange Im Interview vermittelt Kenny den Eindruck, als wollte er schon immer ganz zielstrebig Farmer werden. Dies entspricht dem, was er offenbar von seinem Vater vermittelt bekam. Seinen Vater erlebte er als Farmer, seine Brilder

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wurden Farmer und er heiratete eine Farmertochter. Offenbar gab es keine andere Option fur ihn. Nun sind bis zu seiner Heirat und der Pacht der Farm seiner Mutter aber eine ganze Reihe von Karriereschritten erfolgt, die nicht zwangslaufig zum Farmerdasein fuhren mussen. Der Idealtypus der Bauernfamilie, der wohl auch fur die Farmer gilt, beruht auf dem sich iiber mehrere Generationen erstreckenden Ubergang des Hoferbes. Von intergenerationeller Kontinuitat kann im Fall der McCoinFarm aber nicht die Rede sein. Der Vater kauft die Farm, hat seinerseits keinen Land besitzenden Vorfahren, von dem er erben konnte - weder in okonomischer, noch in sozialer oder kultureller Hinsicht. Dies ist eher ungewohnlich. Von Kenny wird die Farm als Produkt der schweren Meliorationsarbeit des Vaters dargestellt, erst in zweiter Linie als Erbe seiner Mutter, die sehr wohl einen bauerlichen Hintergrund hat. Die Heirat und die Farmiibernahme entspricht dem traditionellen Muster, welches Kenny sicher als logischen und beobachtbaren lokalen Hintergrund kennt (auch wenn es in der Familie seines Vaters praktisch ganz anders aussieht). Seine Beziehungen zum Vater brechen mit der Scheidung ab, die zu seinen Geschwistern sind spatestens seit der Farmpleite prekar. Es riicken die Beziehungen zu seinen Schwiegereltern und seinen Kindern in den Vordergrund, die im Folgenden beschrieben werden. Kenny schaffte sich Handlungsspielraume, durch die er unabhangiger ist, als wenn sich seine ganze Kraft auf ein Projekt konzentriert hatte (wie Dave und sein Vater). Autonomiestreben innerhalb seines biografischen Konzeptes ist fur ihn keine leere Formel, die z.B. haufig von Einzelunternehmem bemuht wird, um die Motive ihres Handelns zu rationalisieren. Kennys Selbstdarstellung kennt diese modischen Leerformeln auch. Rekonstruierbar ist dariiber hinaus jedoch eine latente Sinnstruktur, die auf der Basis eines traditionalistischen Sozialisationskontextes durch die Suche nach moglichst hoher Autonomie (bzw. ihrer Wiedererlangung) in ein biografisches Projekt mtindet, welches durch aktive Optionensuche und entscheidende, pragmatisch gefallte Entscheidungen und Ubergange gekennzeichnet ist. Seine Biografie entspricht kaum traditionalistischen Ablaufprogrammen oder Krisenspiralen, wie sie oft in der Literatur verwendet werden und in der Wissenschaft nachgewiesen wurden. Entscheidend ist im Fall Kenny, dass die wichtigen Obergange zwar unumganglich erscheinen, jedoch der Eigenanteil bei der Perspektivensuche und Entscheidung (und zwar jenseits der Selbstdeutungen) objektiv hoch war und erarbeitet werden musste. Zu diesen erarbeiteten Ubergangen zahlt z.B. auch seine Konversion vom Katholizismus zum Protestantismus. Fur ein traditionalistisches Lebenslaufkonzept hatte gesprochen, dass er der Kirchengemeinde seiner Eltern treu bleibt. Er wahlt zur Hochzeit aber die Kirchengemeinde seiner Frau. Dies hatte als passive Anpassungsleistung gewertet werden konnen, wenn er dort die Angebote der Kongregation mehr konsumiert als sich engagiert. Er

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besucht zunachst fleiBig die Bibelstunden, wird dann aber bald zu einem wichtigen aktiven Gemeindemitglied und spater zum Freund des neuen Pastors. Der Wechsel von einer Kongregation zu einer anderen ist nicht so ungewohnlich fur die amerikanischen religiosen Verhaltnisse. Allerdings sind es bestimmte Individuen, die diesen Weg wahlen. Empirisch ist belegt, dass auch die Konversion in traditionalistischer gewertete Religionen, wie den Islam, aus der Perspektive des Lebenslaufs typische individuelle Wahlentscheidungen sind. Folgerichtig sind Konvertiten eher die aktiveren Gemeindemitglieder (Wohlrab-Sahr 1997) und somit typisch fur individualisierte Biografien. Die sozusagen „religiose Mobilitat" ist fur Kenny ein weiterer Garant der Stabilisierung seiner Position in Clanton. Er nutzt die Option, die sich durch die Heirat bietet, aktiv. Er engagiert sich mehr als andere und kniipft damit auch neue Freundschaften. Daher erarbeitet er sich - als wichtiger Freund der fuhrenden Familien einer konkurrierenden Kirche - eine Position in Clanton, die ihm wiederum neue Optionen eroffhet. Er kann nun besser zwischen den Clans und Cliquen vermitteln, die an verschiedene Kirchen gebunden sind, als diese selber. Um dieses Potenzial zu nutzen, sind spezifische Kompetenzen in der Alltagskommunikation notig. Fur diesen weiteren Aspekt seiner Form der Stabilitatssicherung verwendet Kenny haufig seinen Lieblingsbegriff: „socalizing". Dazu zahlen die „Beweglichkeit" mit Rollstuhl und Van, die intergenerationellen Beziehungen sowie nicht zuletzt die Eingebundenheit in die Cliquen Clantons. Vor diesem biografischen Hintergrund ist zu vermuten, dass sich die Representation der eigenen individuellen Unabhangigkeit eines okonomischen Opfers der Farmkrise vor allem auf Strategien des Statuserhaltes in der Gemeinde und die Pflege von Freundschaftsnetzwerken richtet. 3.3 „ Socializing"

und der Nutzen entfernter

Bekannter

Kenny verwendet den Begriff „socializing" oft und gerne. Er findet es unendlich wichtig, neue Menschen kennen zu lernen, sich mit anderen auszutauschen und Freundschaften zu pflegen. Dabei bleibt er der nette, eloquente Gesprachspartner, jemand, der sofort Hilfe anbietet, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Es ist kein Zufall, dass Kenny der erste ist, dem Pastor Temmermann einfallt, der mein erster Gesprachspartner wird, der mich sofort einladt, bei ihm zu wohnen und der mich spater auch aufnimmt und mich mit meinen spateren Freunden der Bowling-Clique zusammenbringt. Auch dass er bei der Vermittlung des Gespraches erst Termine anfuhrt, die er zu erledigen hat (obwohl er ja Rentner ist), passt zu seiner aktiven Position zwischen den Netzwerken Clantons. Kenny?, Hilfsangebote sind in der Regel nicht auf einen direkten Gabentausch ausgerichtet. Er macht klar, dass er keine Gegenleistung fur eine

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kleine Handreichung oder eine grSBere Hilfe verlangt. Dass ich ihm Geld fur seine umfangreichen Dienstleistungen anbiete, empfmdet er als Affront. In den vielen Gesprachen, die er fuhrt, vermittelt er seine Meinungen, ist jedoch niemals belehrend, anweisend oder kritisiert den Gesprachspartner. Fur seine Tatigkeit als Versicherungsvertreter war dieser Habitus sprichwortlich Gold wert. Er kennt durch seine vielen Kontakte die neuesten Geschichten, die er weitertragen kann. Er bezieht dabei jeweils Stellung, ohne anzuecken. Er ist ein aufmerksamer Zuhorer, bleibt aber vertrauenswiirdig, da er jegliche Indiskretionen vermeidet. Mit Kenny spricht man iiber ungefahrliche Themen: das Wetter, die Preisentwicklung und Borsennachrichten aber auch iiber Probleme der Gemeinde. Dabei schafft es Kenny immer, die Themen und kleine Witze so zu setzten, das der Small talk am laufen bleibt, die Gesprachspartner zum Lachen gebracht werden und kritische Punkte elegant umschifft werden. Im Interviewanfang gab es schon Hinweise auf einen solchen Gesprachsstil. Bei den vielen Unterhaltungen, die ich beobachten konnte, hat sich dieser Eindruck bestatigt. Er verhalt sich wie ein Moderator, einer, den jeder gerne zu seiner Party einladt, weil er fahig und bekannt dafur ist, die verschiedensten Personen in ein Gesprach zu verwickeln, ohne peinlich zu werden. Er ist der ideale Talkmaster im Rahmen des Publikums der Clantoner Events. Auch deshalb hat Kenny Zugang zu mehren wichtigen Netzwerken der Gemeinde. Keines der einzelnen Beziehungsgefechte der Gemeinde ist alleine predominant fur seine Zuordnung im lokalen Sozialraum. Er pflegt mehrere Bindungen und bleibt von einzelnen Cliquen unabhangig, kann auch keiner als eigentliches Mitglied zugeordnet werden. Socializing ist dabei eine Begegnungsform, die zur Aufrechterhaltung und zum Ausbau des Geflechtes notwendig und ausreichend ist. Er ging daruber hinaus Geschaftsbeziehungen ein (als Versicherungsvertreter) und gibt und empfangt allerlei instrumentelle Hilfen. Jedoch gehen auch diese nie so weit, dass er in einem Netzwerk derartig stark eingebunden ware, dass er keine Kapazitaten fur andere Netzwerke frei hatte und daher gebunden ware. Somit lauft die Kontaktpflege auf sehr lockere Bindungen heraus, die notwendigerweise in alien Dimensionen begrenzt sind. Diese strukturelle Begrenztheit ist nicht gleichbedeutend mit Oberflachlichkeit. Da er viele Kontakte hat, sind engere Beziehungen eher hinderlich fur die Vielfalt der Kontakte, trotzdem bleibt er bei jedem Gesprach durchaus verbindlich und seine Zusagen sind verlasslich. Kenny profitiert somit auch von den Vorteilen einer Netzwerkstruktur, die in der Literatur durch Marc Granovetter (1973) als die „Starke schwacher Bindungen" und von Bernd Wegener (1987) als der „Nutzen entfernter Bekannter" beschrieben wurde. Innerhalb der Cliquen und Clanstruktur des Ortes nimmt Kenny eine der seltenen Sonderstellungen ein. Die Kontakte der meisten sind, wie in der Gemeindedarstellung beschrieben, in Loyalitatsbindungen zu ihrem Clan, zu

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einer Clique und einer Kirchengemeinde gebunden. Kontakte zu den anderen Gruppen sind moglich, jedoch informell klar reglementiert. Selbst Marc Koette, der als Bestattungsunternehmer und herausragendes Gemeindemitglied oft Interaktionsbeziehungen zu anderen Cliquenmitgliedern pflegen muss, kann sich diesen impliziten Regeln nicht vollstandig entziehen. Ein Projekt mit Joan Koehne zu leiten, ist fur einen Koette durchaus moglich. Dieses durch private Treffen zu befbrdern oder auch nur bei Gemeindefeiern zu oft und intensiv mit ihr zu plaudern, ist jedoch gegenilber den eigenen Clan und der Clique mindestens diskussionswilrdig oder sogar problematisch. Gefahrlich und inakzeptabel ware es, wenn private Kontakte zu anderen Gruppenmitgliedern verheimlicht werden. Sie mussen fur alle sichtbar bleiben. Institutionalisierte Raume bieten zum Beispiel die Sitzungen des Gemeinderates (City-council). Gelegenheiten ergeben sich auch am Rande der Football-, Volleyball- und anderer Veranstaltungen der Schulmannschaften. Wenn bei einer Hochzeit oder anderen Gelegenheiten Cliquenvertreter unterschiedlicher Gruppen zusammentreffen, dann bleiben diese zunachst unter sich. Das gegenseitige BegriiBen geschieht aus der Feme. Ernsthafte Gesprache iiber diese unsichtbaren Grenzen hinaus anzubahnen, bleibt eine Ausnahme und bedarf allerlei Vorbereitungen und unterliegt besonderen Regeln. Was dort geschieht und besprochen wird, muss bei Bedarf unter den eignen Gruppenmitgliedern wiedergegeben werden. Den impliziten Regeln der Intercliquenkommunikation muss Kenny nicht so streng folgen. Ich konnte beobachten, wie er mit seinem Cart von einem Tisch zum anderen fuhr, hier ein paar Spruche ablieB, dort Heiterkeit erzeugte und wieder verschwand, um sich mit anderen Gruppen zu unterhalten. Kenny muss niemandem Rechenschaft dariiber ablegen, was er dort wollte, warum er mit diesem oder jenem sprach, oder wo er vorhin war, als ihn keiner sah (und er praktisch nicht unter Kontrolle war). Gegenuber vielen Tabus oder problematischen Interaktionen von Cliquen und Clanakteuren ist Kenny relativ immun, was ihn fur eine Vermittlerposition pradestiniert. Er erzahlt auch freimutig tiber Themen und Probleme der anderen, solange dabei diplomatische Grundregeln nicht verletzt werden, die Kenny offenbar spielend beherrscht. Fur die Gruppen ist Kennys offene und lockere Art eminent wichtig. Er stellt damit tatsachlich eine Art Emissar innerhalb der Mikropolitik des Alltags in der Gemeinde dar, der offen (eben nicht verdeckt, wie ein Spion) Informationen und Meinungen zwischen den Gruppen transportiert, bevor es zu Problemen zwischen den Cliquen und Clans kommt. Die Position, die er einnimmt, ist in einer Struktur der omniprasenten Cliquen und Clans selten. In der soziookonomischen Netzwerkliteratur spricht man von structural holes {Burt 1992), die iiberbruckt werden mussen, um die Kommunikation zwischen engen Netzen aufrecht zu erhalten. Das Modell geht davon aus, dass Konkurrenzsituationen zwischen den reinen Formen sehr enger und weniger enger Netze empirisch selten sind. Vorstellbarer sind

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eher Strukturen, in denen „enge" Netzwerkbindungen und weniger enge parallel existieren bzw. sich iiberlagern. Das heiBt, dass enge Netze auch an den Vorteilen „lockerer" Bindungen partizipieren konnen, wenn es ihnen gelingt, die „L6cher" (Burt 1992) zwischen diesen Netzen auszufiillen. Wahrend in urbanen Verhaltnissen die vielfaltigen Netzwerkbeziehungen den Mitgliedern untereinander unbekannt sein dtirften und damit der Input an Informationen nahezu unkontrolliert ist, waren Netzwerke unter der Bedingung starker Kontrolle wie in Clanton ohne Personen wie Kenny wesentlich starker voneinander separiert. Qualitativ deutet sich damit an, dass mehrere enge Netze mit hohen internen Loyalitatsverpflichtungen besser zu einer positiven Koexistenz und partiellen Kooperationen fahig sind, wenn sie lockere Beziehungen zu Akteuren zulassen, die keiner engen Bindung zugeordnet werden konnen.5 Dass in einer Community wie Clanton eine individuelle Existenz ohne Zugehorigkeit zu einer Gruppe erfolgreich moglich ist, widerspricht eigentlich den Annamen uber solche Kontexte. Die Einbettung in uberschaubaren, traditionalen Wohnkontexten wurde z.B. von Men und Jeggele (1987) als „Not und Terrorzusammenhang" gekennzeichnet, der fast totalitare Zuge annimmt. Abgesehen von der in diesem Zusammenhang weniger relevanten Problematik der direkten Normenkontrolle im Nahraum der Gemeinde wurde in Netzwerktheorien vorausgesagt, dass Netzsysteme aus engen Bindungen ohne die Uberbriickung von structural holes weniger erfolgreich sein mussten und letztendlich instabil werden. Eine qualitative Bestimmung dessen, welchen Charakter eine „Brilcke" haben konnte, war aber relativ schwer vorstellbar. Gruppenmitgliedern in engen Netzen, die hohen Loyalitatsverpflichtungen unterliegen, ist diese Funktion praktisch verschlossen. Vermittelnde Dritte mussen jedoch so gering an die beteiligten Gruppen gebunden sein, dass sie wahrnehmbar ungebunden erkennbar sind. Sie haben aber kaum die Moglichkeit, mit der Gruppe zu interagieren bzw. relevante Informationen verlasslich einfliefien zu lassen, ohne von der Gruppe aufgesogen zu werden. Sie mussten eine so hohe Reputation haben, dass sie als unabhangiger Kommunikationspartner anerkannt werden, dem mehr Informationen gegeben werden als weniger Vertrauten, ohne ihn den Loyalitatsanforderungen von Gruppenmitgliedern auszusetzen. Diese Funktion fullt Kenny in Clanton aus. Das biografisch angelegte Unabhangigkeitsstreben kommt Kenny beim socializing zugute und macht ihn damit zu einer der Schlusselfiguren des Ortes.

Burt (2004) geht aufgrund von Beobachtungen in US-amerikanisehen Unternehmen sogar so weit, dass er Netzwerkstrukturen und Personen, die solche strukturellen Locher ausfullen ftr die Kreativitat und letztendlich den Erfolg des Unternehmens verantwortlich macht. Diese These kann m.E. auch fur Sozialraume angewandt werden.

Prestige und soziales Kapital als Medien der Zivilgesellschaft 3.4 Individualisierung

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undsoziale Einbettung in der Gemeinde

In der Biografie des Falles Kenneth McCoin wird ein fur die Moderne typisches Transformationsmuster von Handlungsstrukturen deutlich: Traditionelle Ligaturen werden durch individualistische Orientierangen gelost. Die traditionellen Stabilitatsorientierungen des Farmersohnes riicken durch die aktive Erarbeitung von parallelen Optionen in den Hintergrund. Die Destruktion der okonomischen Umklammerung durch die Farm ist eine personliche Niederlage und in jeder Hinsicht eine folgenreiche Lebenskrise. Sie fuhrt aber zu keinem biografischen Zusammenbruch. Kenny hat rechtzeitig auf einen Mobilitatspfad gesetzt, der zu deutlich individualisierten Handlungskonzepten fiihrte. Er suchte vor dem Hintergrund der biografisch aufgeschichteten Erfahrungen prekarer Abhangigkeiten in seinem direkten familiaren Umfeld Wege struktureller Unabhangigkeit. Unabhangigkeit ist hierbei sowohl Mittel als auch Zweck. Obwohl seine Herkunftsfamilie zerbrach, seine Farm versteigert wurde und er schlieBlich auch sein zweites Geschaft aufgeben musste, bleibt seine Statusposition in der Gemeinde erstaunlicher Weise konstant. Hier erarbeitet und findet er enormen Riickhalt. Die Netzwerke exkludieren Kenny nicht als „Pleitefarmer", sein Wechsel in die Versicherungsbranche ist nachvollziehbar und wird begruBt, sein Erfolg verschafft ihm Respekt. Ebenso ist der Wechsel der Kirchengemeinden als logische Schlussfolgerung erkennbar. Auch der Umzug isoliert ihn nicht, sondern seine neuen Nachbarn sind alte Freunde und somit scheint er sogar noch besser in die Gemeinde integriert als vordem, als er noch auf der Farm lebte. Die Gemeinde reduziert insofern Lebenslaufe nicht in eine sehr schmale Spur von Optionen, die zwischen „erfolgreichem" Farmbusiness und „Scheitern" keine Spielraume kennen wiirde. Mobilitat und Flexibilitat sind letztlich in diesem Kontext kein Makel, sondern sorgen fur Statusstabilitat. Fur Biografien, die von einschneidenden und pragenden Verlusten gekennzeichnet sind, wird das alltagliche Umfeld der Community somit zu einem entscheidenden stabilisierenden Faktor. Dieser Riickhalt ist aber nicht selbstverstandlich vorhanden, er ist weder vererbt noch ohne Pflege der Alltagsbeziehungen aufrecht zu erhalten. Selbst die Partnerschaft und gute intergenerationelle Beziehungen erfordern (da „selbstverstandlich"), weniger Aufmerksamkeit, Engagement und Prasenz als die Aufrechterhaltung von Positionen in den Netzwerken. Die Einbettung in das Statusgefuge Clantons mussen die Akteure erarbeiten. Kenny festigt diese Position durch Small Talks und kleinere Hilfsleitungen zwischen den Clans und Cliquen Clantons, indem er Neues berichten, anregen und weitergeben kann. Er gehort daher aus funktionalistischer Perspektive zu denjenigen wichtigen Akteuren Clantons, die eine endogene Entwicklung der Gemeinde erst ermoglichen. Sein biografisches Konzept ist

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offenbar auf spezifische Weise in den Kontext der Community eingebettet. Was er hier tut, ist schwer als rational durchkalkulierter Plan („wenn ich heute lockere Beziehungen zu vielen aufbaue, habe ich daraus morgen einen grofieren Vorteil als aus wenigen engen Beziehungen ") denkbar, noch sind dessen Folgen und Nebenfolgen vollstandig uberschaubar. Der analysierte Zusammenhang von Aktivitat und sozialem Status in der Gemeinde verweist eher auf eine latente Struktur, die auf die selbstverstandliche Pflege von sozialem Kapital ausgerichtet ist. Es kann hier von einer Strukturtransformation gesprochen werden, da in der Biografie die Dominanz der mechanischen Solidaritat aus der Herkunftsund Farmbindung von der organischen Solidaritat (Durkheim) der verschiedenen Freundschaftsnetzwerke abgelost wird. Interessanterweise ist dies eng mit seiner Bindung an die normativen Vorgaben der Community verflochten. Fallt ein „Pleitefarmer" der Gemeinde nur zu Last und konnen die Freunde nicht erkennen, dass ein Adressat von Hilfen individuell Chancen ergreift und zu nutzen versucht, wird dieser wahrscheinlich seine ehemalige Statusposition verlieren. Diese kann - jenseits der greifbaren okonomischen Niederlage - durch ebenso sichtbare Aktivitat auf anderen Gebieten konserviert werden. Kenny konnte beispielsweise seine Statusposition halten oder sogar verbessern und zwar nicht durch beharren am Alten, sondern durch diverse Aktivitaten in und zwischen den vorfindbaren Netzwerken. Somit ist der latente Sinngehalt seiner Handlungen in der kommunalen Kontextstruktur nicht eindimensional als Ausdruck uberlieferter familiarer Vorgaben, altruistischer Motive, kurzfristiger rationaler Handlungskalkule, traditionalistischem Gemeinschaftsgeist oder auBerem Zwang verstehbar, sondern nur als aktive Aneignung der Optionenstruktur der Community in Wechselwirkung mit seiner Biografie. Damit kann davon gesprochen werden, dass die Gemeinde fur seine Biografie eine Individualisierungsagentur darstellt. Sie ist eine strukturelle Ressource, die Individualitat ermoglicht und erfordert, anderseits Stabilitat vermittelt. Die Fallrekonstruktion Kenneth McCoin zeigt somit exemplarisch, wie Individuen kommunale Kontexte nutzen, sie fur ihre Zwecke formen und gestalten, indem sie Optionenhorizonte erweitern und somit Strukturen hervorbringen, die wiederum Handlungen kontextuell einbetten und Entscheidungen beeinflussen.

4. Prinzipien des Engagements Wie lassen sich nun die Ergebnisse aus einer Community und einer Biografie fur Strukturhypothesen bezuglich des zivilen Engagements nutzen? Dazu sind zwei entscheidende Voriiberlegungen zu beachten. Erstens dtirften all jene Strukturphanomene, die an spezifische Kontexte (landliche Lebenswelt, agra-

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rische Krisenbedingungen) und besondere kulturelle Traditionen gebunden sind, fur eine auf die allgemeine Theorie des zivilen Engagements zielende Verallgemeinerung irrelevant sein. Ansonsten wtirden sie nur fur den (nicht unwichtigen) landlichen Kontext gelten, das Angebot soil aber daruber hinaus giiltig sein. Zweitens miissen die vom Fall zu isolierenden Struktureigenschaften an den Anforderungen individualisierter Akteure in modernern Gesellschaften gemessen werden konnen, um nicht so konstruiert zu sein, dass sie von vornherein als traditionalistische Partikel tendenziell erosionsanfallig sind. Aus den Beobachtungen in Clanton und der biografischen Fallanalyse McCoin werden somit im Folgenden vier allgemeine Struktureigenschaften von Gemeinschaften des zivilen Engagements abgeleitet, die auch auBerhalb des vorgestellten Kontextes gelten diirften: (1.) Heterogenitat, (2.) Optionalitat, (3.) Statuspotenzial und (4.) Transparenz. 1. Gemeinschaften des zivilen Engagements benotigen eine moglichst hohe Heterogenitat. Sie sorgt fur eine geringe Redundanz der Netzwerke. Statushomogene Netze bieten den Teilnehmern kaum AufstiegsmQglichkeiten oder die Anerkennung einer erreichten sozialen Stellung. Erforderlich sind dabei Regeln, wie one person one vote, die die internen Statusabstufungen fur die Gruppeninteressen egalisieren. Auf die Heterogenitat der US-amerikanischen Vereine hatte ja schon Theda Skocpol (2000) hingewiesen. In Deutschland finden wir tatsachlich vergleichsweise eher statushomogene Freundschaftsgruppen und Vereine. Fur traditionale Kontexte sind Gemeinschaften typisch, die statushomogen organisiert sind (z.B. ist in der Volkskunde belegt, dass ublicherweise GroBbauern im Jagdverein, Mittelbauern im Heimatverein und Landarbeiter im Turnverein organisiert waren). Gemeinschaften mit geringer Statusheterogenitat bleiben ihren Standes- und Klasseninteressen untergeordnet und sind fur die demokratische Entwicklung von Gesellschaften weniger wirksam. Handwerkerzunfte, Unternehmer- und Arbeitnehmerverbindungen sind daher nicht typisch fur ziviles Engagement, denn dabei handelt es sich um partikularistische Interessenvertretungen. Diese haben eine wichtige Funktion in der Demokratie, sind aber fur lokale Sozialraume nur dann nutzlich, wenn sie durch tibergreifende Gruppen integriert werden und einen direkten - personlichen - Zugang zu den Netzwerken des zivilen Engagements bekommen. 2. Ohne ausreichende interne und externe Optionalitat bleiben Gemeinschaften latente Zwangsgemeinschaften. Wenn keine Wahl moglich ist, sinkt daher der Antrieb zum Engagement. Exklusiver Zugang, Sanktionsdrohungen bei Austritt und Direktiventreue sind das Gegenteil von Optionalitat und damit auch von zivilem Engagement. Dem Individuum miissen geniigend Moglichkeiten offen stehen, sich zu engagieren, und innerhalb des Engagements miissen die einzelnen Entscheidungen auch wahlbar sein. Ansonsten handelt es sich um Folgschaft unter ein einma-

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lig defmiertes Gruppenziel. Dies ist typisch fur einige streng traditionalistische Sekten, konnte aber zum Teil auch fur die deutsche leitbildorientierte Dorfentwicklung gultig sein. Wenn Gemeinwesenarbeit ausschlieBlich durch ABM und Ein-Euro-Jobs erledigt wird (Zwangsengagements, die keinerlei Wahlfreiheit zulassen und amtlich dekretiert werden), droht die Biirgerschaft letztlich verstaatlicht und gemeinschaftliche Aufgaben dezivilisiert zu werden. 3. Ohne Statuspotenzial gibt es keine Anerkennung fur freiwilliges Engagement. Fiir die Statushoheren ist das Engagement wichtig, um ihre herausgehobene Stellung mittels der direkten Interaktion in Netzwerken des zivilen Engagements darzustellen. Die soziale Anerkennung im Gemeinwesen wird hier besser realisiert als in den okonomischen Handlungsfeldern, die fur das Qkonomische Kapital sorgen, aber der Lebenswelt der Nachbarn und Freunde verschlossen bleibt. Ftir die statusarmeren Mitglieder ermoglicht die Teilnahme in Netzwerken des zivilen Engagements eine Aufwertung ihrer Position. Sie werden schon allein durch die Mitgliedschaft in einer (sozial heterogenen) erfolgreichen Gruppe, die etwas fur die Community tut, aus der Masse ihrer statusgleichen Nachbarn herausgehoben. Die individuelle Erkennbarkeit steigt, wenn innerhalb des Engagements Positionen eingenommen werden, die Aktivitat fur die Gemeinde symbolisieren. Handlungsrahmungen mit rein altruistischen Motiven sind daher eher den emotionalen Beziehungen (z.B. in den intergenerationellen Beziehungen unter Familienmitgliedern) zuzuweisen; wohingegen die quasi-Entlohnung iiber Reputationsgewinne geradezu eine Bedingung fur Engagement darstellt, die sehr wohl in der Offentlichkeit reprasentiert werden darf und muss. Die daraus folgende geradezu banale Folgerung, dass freiwilliges Engagement nur moglich ist, wenn daran eine entsprechende Anerkennung gebunden ist, scheint allerdings im deutschen Aktivitatsdiskurs noch relativ fremd zu sein. Hier wird neben den Optionenstrukturen (Freistellung von der Arbeit etc.) auf die Anregung von verlorenen traditionellen Gemeinschaftswerten gesetzt (vergleiche die Anregungen der Enquete). Ebenso entwertet die tendenzielle Kommodifizierung durch die langsam selbstverstandlich werdende monetare „Entschadigung" das Freiwilligkeitsprinzip des Engagements. 4. Transparenz sorgt fur die Publizitat im Sozialraum, die fur die Engagementgruppen notwendig ist. Es handelt sich um eine wichtige allgemeine Strukturbedingung des zivilen Engagements. Bei zu geringer Transparenz werden die Entscheidungen fur ein konkretes Projekt in dem lokalen Umfeld nicht nachvollziehbar, die interne Differenzierung und Positionierung bleibt im Dunkeln und die Optionalitat sowie die moglichen Statuszugewinne sind weniger erkennbar. Aber all diese Bedingungen sind fur ziviles Engagement notwendig. Sie milssen durch geniigend

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Transparenz abgesichert werden. Ohne Transparenz werden jegliche Gruppenaktivitaten von Nichtbeteiligten skeptisch beurteilt. Die Konspiration der Mafia in Italien, des Ku-Klux-Klan und anderer Geheimbtinde in den USA sowie von Stasi-Gruppen, Beschaftigungs- und Weiterbildungsgesellschaften in Ostdeutschland, bilden den typologischen Gegenpol zur Transparenz zivilgesellschaftlicher Netzwerke. Es hilft auch wenig, wenn man die eigentlich zu veroffentlichenden Daten so verklausuliert und schwer zugangig macht, dass sie fur die Masse der zu Aktivierenden kaum je erreichbar sind. Akteursgruppen und gemeinnutzige Unternehmen, die zwar einen schonen Namen haben, aber weder personliche Beziehungen zu ihrem lokalen Umfeld aufbauen, noch selbststandig ihre internen Strukturen und finanziellen Quellen detailliert und medienwirksam publizieren, werden kaum die demokratisierende Wirkung der zivilen Netzwerke erreichen und das Sozialkapital einer Gesellschaft erhohen. Der Komplex der defizitaren Transparenz ist in Deutschland auch durch die einheitlichen Regeln in kommunalen Planungsprozessen geformt worden. Beispielsweise weist die so genannte „Betroffenenbeteiligung" und „Burgerinformation" deutscher Flachennutzungsverfahren deutlich obrigkeitsstaatliche Charakteristika auf. Sie zeigt den fertigen Plan der „Betroffenen" ohne tatsachliche Wahlmoglichkeiten. Daher konnen sich „Betroffene" gegenilber der Planung auch nur verhalten, jedoch nicht tatsachlich im Planungsprozess handeln. Freiwilliges Engagement erfordert nicht nur in der Stadt- und Raumplanung notwendigerweise eine prinzipielle Offenheit „von Anfang an". Das schlosse zumindest einfach zugangliche und vollstandige Angaben tiber alle tangierten Besitz-, Einkommens- und Kostenverhaltnisse ein und musste Wahlmoglichkeiten eroffnen. Fiir alle vier prinzipiellen Struktureigenschaften gilt, dass sie einen universellen Idealtypus des freiwilligen Engagements kennzeichnen, unabhangig von der kulturellen und gesellschaftlichen Einbettung, unabhangig auch von der GroBe der Aktion und der daran gebundenen Gruppe. Das heiBt, dass es auch freiwilliges Engagement ohne eines der Prinzipien geben kann. Die strukturelle Stabilitat einer dazugehorigen Gruppe muss dann aber durch funktionale Aquivalente ersetzt werden. Solche Sublimate stellen solange kein Problem dar, insofern sie den Charakter des Engagements nicht ihrerseits tiberformen. Besteht beispielsweise keine interne und externe Optionalitat, dann folgt die Handlungslogik eher dem Typus der Nothilfe oder kam iiber Zwang zustande, entspricht also nicht den Charakteristika des freiwilligen Engagements. Auch das Statusprinzip kann ersetzt werden, z.B. durch Altruismus oder Entschadigungszahlungen. Das ist solange unproblematisch, bis eine selbsttragende Entwicklung auf der Basis der vier Prinzipien angestoBen wurde, oder es entwickelt sich kein ziviles Engagement, sondern eine Form der liebevollen Zuneigung oder von billiger Lohnarbeit. Solche Enga-

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gementformen sind auf die eine oder andere Art fur die Akteure niitzlich, sie gehorchen jedoch anderen Strukturprinzipien oder verstoBen gegen das Freiwilligkeitsgebot. Sie werden keine oder nur sehr geringe positive Auswirkungen auf die Demokratie haben. Eine Forderung des Engagementpotenzials alternder Gesellschaften ist also moglich. Allerdings stehen prinzipiell zwei Wege zur Auswahl. Einerseits kann allein auf die SuBeren Bedingungen, also die offensichtlichen Zeitressourcen alterer Burger in der Nacherwerbsphase geachtet werden. Dies sorgt dann fur die Fiktion einer wachsenden billigen Arbeitskraftreserve, die tendenziell Sozialstaatsaufgaben kostengtinstig tibernehmen konnte. Nichts liegt naher, als diese Tatigkeiten dann auch monetar zu entschadigen. Alle nichtmarktgangigen Aufgaben des Gemeinwesens konnen nach dieser Logik doch von bislang alimentierten Bevolkerungsgruppen fur ein Handgeld tibernommen werden. Diese Uberlegung gehorcht jedoch der kameralistischen Logik von Zuteilungssystemen (die nun nur weniger Leistungen bereit sind zu verteilen) und widerspricht dabei nicht nur den Prinzipien der Netzwerke des zivilen Engagements, sondern auch der Zivilgesellschaft selbst. Der andere, zivilgesellschaftliche Weg trennt sich von den Oberflachenphanomenen der Zeitressourcen sowie von steuerlichen und arbeitsrechtlichen Bedingungen, die sicherlich verbessert werden mussen, aber vom Charakter des Engagements nur ablenken. Dass auch in Deutschland gerne gespendet und konkret geholfen wird, haben z.B. die spontanen Reaktionen auf die Flutkatastrophen an Oder und Elbe bewiesen. Es konnten weiterhin die an ihrem Gemeinwesen Interessierten in Netzwerken des zivilen Engagements aktiviert werden, wenn die Strukturprinzipien des Engagements beachtet wiirden. Das notwendige Statuspotential wird nur dann gefordert werden, wenn die Einzigartigkeit und Besonderheit jeder Gruppe und jedes Heifers in den Vordergrund gestellt wird, und nicht die „Wesensgemeinschaft". Vor allem die Tendenz zur Vermischung von billiger Arbeit mit nahezu alien Gemeinwesentatigkeiten ist der Sache sehr abtraglich. Die von Politikern vorgebrachten Uberlegungen, die Altenbetreuung durch Ein-Euro-Jobs zu unterstiltzen, sind sowohl ein herber Rtlckschlag fur die noch junge Verberuflichung der Altenpflege (Schroeter, Prahl 1999; Voges 2002) als auch fur die Statuspotenziale, die in diesen Aufgabengebieten durchaus enthalten sind, katastrophal. Es muss darum gehen, dass die Burger wie in Clanton erkennen, wie Steuergelder fur die Gemeinde (nicht nur die eigene Steuererklarung) abgerufen werden und wie dann kostengtinstig spezialisierte Fachleute fur die selbstfinanzierten Gemeinwesentatigkeiten eingestellt werden konnen. Das die Burger diese Tatigkeiten, von einer tiberteuerten und wuchernden Verwaltung angeleitet, unprofessionell selber ausfuhren und daftlr durch ein Almosen auch noch diskreditiert werden, ist eine obrigkeitsstaatliche Zumutung. Solche Ideen entsprechen dem, was Dahrendorf in seiner Kritik am Deutschen Gemeinschaftsgeist den „Defaitismus der praktischen Humanitat"

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{Dahrendorf 1965: 395) nannte, und damit die iible Fassette des antiliberalen Charakters der deutschen Nachkriegsentwickhmg angriff. Solange die Burger sich nicht als die eigentlichen Besitzer ihres Gemeinwesens begreifen konnen (weil eine verselbststandigte Verwaltung in Deutschland sich die entscheidenden Besitzrechte erobert hat), gilt fur die Prognose des freiwilligen Engagements und die zivilgesellschaftliche Entwicklung leider der Dahrendorf sche Pessimismus. Anstatt dass sich Deutschland auf dem in den 1970erJahren eingeschlagenen Weg zu mehr Demokratie weiter entwickelt, fiihrte die Planungseuphorie der Vereinigungszeit zunachst von der Zivilgesellschaft weg und eher traditionalistische Deutungsmuster gewannen an Einfluss. Traditionalistische Losungen auf die Anforderungen der Moderne haben aber in Deutschland fur bedenkliche Sonderwege gesorgt und kaum passable Antworten auf die vorliegenden Probleme geboten. Daher ware es umso wichtiger, Sozialkapital und Prestige als Medien der Zivilgesellschaft zu begreifen und nutzbar zu machen.

5. Fazit: Zum Verhaltnis von Prestige und Engagement in zivilen Gesellschaften Ob Sozialkapital in den USA und der Bundesrepublik zunimmt oder schwindet, kann mittels eines Einzelfalls nicht gepruft werden. Jedoch konnten die Strukturen des Engagements aus dem Kontext des Falles gelost werden und eine soziologische Einbettung des Phanomens vorgeschlagen werden. In der Analyse wurde darauf verzichtet, zu erklarende Charakteristika, wie Solidaritatsnormen, altruistische Einstellungen, enge oder lockere Bindungen, Vertrauen und Reziprozitat in die Strukturprinzipien aufzunehmen, um tautologische Schlilsse zu vermeiden. Ziel war es nicht, die Existenz der mit Sozialkapital verbundenen Phanomene zu beschreiben, sondern deren eigentliche Existenzbedingungen zu explorieren. Ein Verstandnis von Sozialkapital kann namlich nicht daran festhalten, dass spezifische Netzwerkstrukturen, Dauerhaftigkeit der Beziehungen und Reziprozitat (die definitorischen Kennzeichen des Sozialkapitals selbst) fur Engagement verantwortlich sind, sondern muss dazu beitragen, warum sich eben jene Kennzeichen im freiwilligen Engagement manifestieren konnen. Warum finden wir also auBerhalb der Familie und des Marktes bestandige Bindungen, spezifische Netzwerkstrukturen und Reziprozitat vor, die im zivilen Engagement Sozialkapital materialisieren? Mit den obigen Strukturprinzipien liegt nur ein typologisierendes Angebot vor, welches ziviles Engagement fur ein Gemeinwesen von Handlungslogiken in anderen Subsystemen (auf Markten, in familiaren Beziehungen) in der Regel unterscheidet. Es handelt sich um eine systemische Mindeststruktur

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von Bedingungen fur freiwilliges Engagement, deren Bestandteile operationalisierbar sind und einer weiteren (quantitativen) Priifung unterzogen werden konnen. Sie konnen beispielsweise dazu genutzt werden, die Bedingungen und den Grad der Zivilitat des Engagements abzuschatzen. Es ging in der Ausgangsfragestellung aber nicht vorrangig um die Vorbereitung einer neuen Art der Messung von Sozialkapital, sondera um die Einbettung sozialkapitalrelevanter Probleme in den Modernisierungsdiskurs, bzw. in die Individualisierungsdebatte. Bislang erschienen die notwendigen Bindungen zwischen Akteuren als nicht bzw. kaum mit der Individualisierung vereinbar. Wenn Engagement und dazugehorige Gruppenstrukturen nachgewiesen wurden, konnten sie nur unsystematisch mit Modernisierungsund Individualisierungsbedingungen verkniipft werden. Soil aber vermieden werden, Sozialkapital als eine traditionale (gemeinschaftsbezogene) Kategorie einzufuhren, treten eine Reihe theoretischer Probleme auf. Eine mogliche Erklarungsvariante von nichtokonomischen Netzwerken bestand darin, diese auf eine Dialektik von Kollektivitdt und Individuality zuruckzufuhren, die von den Akteuren unintendiert (bzw. strukturell) fur ein Gleichgewicht zwischen den beiden Polen sorgt, wie Karl Otto Hondrich (1999) dies beschrieb. Eine zweite Variante bestand in der Suche nach explizit modernen Gesellungsformen, den posttraditionalen Gemeinschaften, wie Hitzler und Pfadenhauer sie zum Beispiel bei den Ravern nachgewiesen haben (Hitzler 1998). Zur Erklarung der Motivation fur altruistisches Verhalten lieBen sich beide Ansatze verbinden, indem von einer Individualisierung in gemeinschaftlichen Kontexten (Brauer 1999) ausgegangen wurde, die schon auf die Modernitat von sozialkapitalrelevanten Bindungen hinweist. Die Strukturprinzipien des Engagements bieten nun nicht nur Koordinaten, die die Stabilitat und den Erfolg solcher Aktivitaten und Netzwerkbindungen qualitativ bestimmen und quantitativ prognostizierbar machen, sondern konnen systemtheoretisch verstanden - zu einem Maftstab fur die zivilgesellschaftliche Entwicklung insgesamt ausgebaut werden. In Abgrenzung zu trivialen Gemeinschaftsideologien sollte von einer Transformation von Netzwerken des burgerschaftlichen Engagements ausgegangen werden. Dies legt jedenfalls die obige Fallanalyse nahe, da es sich hier um einen urspriinglich traditionalistischen Kontext handelte, der sich aber modernisiert und dabei sein Sozialkapital nicht verliert, sondern deutlich ausbaut. Nur wenn hohes Sozialkapital mit dauerhaften, mSglicherweise patriarchialen, engen Beziehungen einer Tonnies 'schen, auf dem „Wesenwillen" basierten Gemeinschaft gleichgesetzt wird (Tonnies [1887] 1997), liegt die oben erwahnte Erosionsannahme nahe. Die Modernitat zivilen Engagements bringt jedoch einen transformierten Sozialkapitaltyp hervor, der nicht nur „auBeren Bedingungen" angepasst erscheint, sondern offenbar (wie Putnam 1993 dies fur Italien auch belegte) in Gesellschaften selber eine Modernisierungsagentur darstellt.

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In diesem Fazit soil nun selbstverstandlich kein Angebot zu einer neuen eigenstandigen Gesellschaftstheorie ausgebreitet werden. Es ist jedoch moglich anzudeuten, welche theoriekonstitutiven Moglichkeiten sich ergeben, wenn auf der Basis der Struktureigenschaften der Gemeinschaften des zivilen Engagements Sozialkapital (und das damit verbundene Prestige) als Medium ziviler Gesellschaften aufgefasst wird. Die Nutzung binarer Codes in der Systemtheorie Luhmanns war fur die soziologische Theorie anerkannter Weise ein entscheidender Durchbruch. Heute scheint es z.B. selbstverstandlich, dass sich die Leitdifferenz der Massenmedien nicht am Code des Wissenschaftssystems („wahr/unwahr") ausrichtet, sondern am Code „Information/nicht Information". Die Aussage, dass es fur das Mediensystem nicht primar darauf ankommt, Wahrheit, sondern Information zu produzieren, ware vor Luhmann als Diffamierung eines Berufszweiges missverstanden worden. Wahrend fur andere Systeme wie Wirtschaft (Code: Eigentum/nicht Eigentum) oder Justiz (Code: Recht/Unrecht) anerkannte Codes gefunden worden sind, die einen quasi unparteiischen MaBstab der gesellschaftlichen Modernisierang bieten, fehlt dieses praktische Tool im Werkzeugkasten der Sozialkapitaltheorie. Die binare Kodierung schien fur zivilgesellschaftliche Fragen nicht nutzbar zu sein, da die Sphare des Sozialkapitals nicht als ein System im Luhwa««'schen Sinne angesehen wurde. Erscheinungsformen des Sozialkapitals (wie Engagement) warden daher nach den MaBstaben anderer Subsysteme (Politik, Familie, Markt, Religion) beurteilt und somit gewissermaBen missdeutet. Wenn ziviles Engagement als eigenstandiges Subsystem angesehen wird, konnen wir dessen interne Struktur aber besser verstehen. Wie jedes Subsystem ist es interdependent, im Gesamtzusammenhang empirisch nicht als autark, sondern bestenfalls als autonom zu begreifen. Die Strukturlogik und die Bedeutung des Engagements werden jedoch deutlicher, wenn nach den Medien gesucht wird, denen sich das Subsystem bedient. Ich mochte fur die Diskussion also andeuten, dass eine binare Codierung fur das Verstandnis zivilen Engagements nicht nur nutzbar, sondern geradezu notwendig ist. Engagement systemtheoretisch zu verstehen hieBe, es von den Leitdifferenzen des Marktes, der familiaren Beziehungen und der Macht zu trennen und als eine eigenstandige GroBe zu isolieren. Die Unterscheidung von Prestige/kein Prestige scheint mir der Schlussel zum Verstandnis von Netzwerken des Engagements zu sein, der die black box des freiwilligen Engagements fur alle gesellschaftlichen Formationen und lokalen Kontextbedingungen offnet. Wahrend die Strukturprinzipien des zivilen Engagements aus dem Fallmaterial die qualitativen Koordinaten abzustecken vermochten, konnte man systemtheoretisch behaupten, dass sich die dazugehorigen Netzwerke als Systeme erst materialisieren konnen, wenn sie geniigend Prestige zur Verfugung stellen. Wenn sich somit burgerschaftliche Netzwerke als eigenstandige Subsysteme nicht iiber ihr Medium Pres-

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tige selbstreferenziell steuern, werden sie letztlich keine freiwilligen Engagements evozieren konnen. Daher ist das Freiwilligkeitsgebot fur ziviles Engagement keine moralische Frage oder eine ideologische Setzung, sondern systemkonstitutiv. Muss das Medium Prestige durch eine anderes erganzt werden, handelt es sich somit um Grenziiberscheitungen, die die Stabilitat und den originaren Erfolg des Subsystems gefahrden. Vermischen sich die Grenzen und erreichen andere Leitdifferenzen Vorrang: Zuneigung (aus dem System Familie), Geld (iiber „Entschadigungszahlungen" aus dem Marktsystem), verliert das zivile Engagement seine systemerhaltende Wirkung. Damit verliert dann letztlich auch das demokratisierende Potenzial des Sozialkapitals seine Wirkung. Die systemtheoretische Perspektive ist zunachst allerdings blind dafur, ob das Medium Prestige auf mafiOsen Pfaden (unzivil) oder demokratisch transparentem Wege (zivil) zugewiesen wird. Hohes Prestige ist auf der Basis traditioneller Bindungen (Stand, Herkunft) fur traditionale Gesellschaften durchaus als funktional anzuerkennen. Dies entsprache auch dem allgemeinen Deutungsanspruch der Systemtheorie. Damit musste jedoch nicht zu einer gemeinschaftsideologischen Perspektive zuruckgekehrt werden, derm das Medium Prestige ist seinerseits kontextabhangig. In sich modernisierenden Gesellschaften muss Prestige namlich durch Aktivitat erworben werden, was zur Institutionalisierung des Lebenslaufes (Kohli 1985) fuhrt und eine „vita activa" (Arendt 1960) erfordert. Die Eigenverantwortlichkeit der erreichten Position in modernen Gesellschaften wird zum MaBstab des sozialen Status und zur Quelle des Prestiges, was in traditionalen Gesellschaften von der Herkunft und der (lebenslangen) Zugehorigkeit zu einer sozialen Gruppe abhangig war. Eben jene Eigenverantwortlichkeit des Ich bestimmt die Qualitat des Prestiges. Sie fuhrt nicht zur Auflosung jeglicher Gruppenbindungen (eben nur den traditionellen, von der eigenen Leistung unabhangigen), sondern moderiert diese. Prestige in Gruppen wird also im Modernisierangsprozess weniger zwingend an einmal erworbene Zugehorigkeitsrechte gebunden (und ist dann auch kaum noch vererbbar), sondern wird immer starker erarbeitbar und schlieBlich auch auBerhalb der Arbeitswelt erwerbbar. Dies bringt selbstverstandlich andere Gruppenstrukturen und Organisationsprinzipien hervor, die sich in der hoheren Bedeutung der Freundschaften (Hollstein 2002) fur moderne Individuen ausdriicken und zu mehr Netzwerkbindungen fuhren. Das Sozialkapital einer sich modernisierenden Gesellschaft lebt daher systematisch von dem Medium Prestige, das in unterschiedlichen Gruppenhandlungen erworben werden muss. Individualitat ist insofern eine Bedingung fur Gemeinschaften des zivilen Engagements, die allgemein erkennbar eingebracht werden muss, da sonst die Einzelleistung des Akteurs in der Gruppe (und fur sie) nicht bewertbar ist. Dementsprechend sind kreative Gruppen mit starker Individualitat tendenziell attraktiver als Angebote, die sich nur auf traditionelle Vergemeinschaftungsprinzipien stutzen. Letztere

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konnen daher in einer modernern Gesellschaft nicht funktional und erfolgreich sein. Mit dem Vorschlag, Engagement nach der binaren Codierung Prestige/kein Prestige zu betrachten, kann somit eine Reihe alltagsbegrifflicher Unscharfen der Analyse getilgt werden. Der Grad der Zivilitat des Netzwerkes oder des Engagements, mit dem dieses Prestige produziert wurde, kann durchaus mittels der aufgezeigten Strukturmerkmale bestimmt werden. Dariiber hinaus kann das durch Netzwerke des zivilen Engagements dargestellte Sozialkapital selber als Medium ziviler Gesellschaften konzipiert werden. Das Engagement in seiner charakteristischen, transformierten Form mit hoher Heterogenitat in den Netzwerken, hoher Optionalitat zwischen den Angeboten, hohem Statuspotenzial durch die Aktionen und hoher Transparenz und medialer Prasenz ware dann als konkretes Gutekriterium moderner (ziviler) Gesellschaften nutzbar. Dass Engagement in den soziologischen Gesellschaftstheorien bislang nur als Residualkategorie neben den „eigentlichen" strukturellen Differenzierungslinien (Macht, Marktposition, Einkommen, Rasse, Geschlecht) betrachtet wurde, und nun immer mehr in den Vordergrund drangt, ist sicherlich kein Zufall, sondern einer gewachsenen neuen gesellschaftlichen Perspektive geschuldet. Das latente Potenzial der Erklarungskraft des Sozialkapitals wurde zwar bei Tocqueville ([1835] 1985) schon angedeutet, kommt aber erst heute zum tragen, in einer Zeit, in der sich die Arbeitsgesellschaften am Scheideweg zwischen einem Riickfall in traditionale Differenzierungslinien oder zu einer Weiterentwicklung zu modernen Zivilgesellschaften befinden. Die moderne Zivilgesellschaft wtirde - mehr noch als die Arbeitsgesellschaft - auf die Individualisierung setzen. Die dominanten Differenzierungsmodi mussten sich dann aber von der hauptsachlichen Bindung an den Berufsstatus und die Einkommenshohe losen und andere Referenzpunkte (auBerokonomische) bedeutsamer werden. Die Leitfrage der Zivilgesellschaft lautet daher auch nicht „Zu welchem Haus (Herren), gehorst du?" (Standegesellschaft) oder „Wie viel hast du erarbeitet?" (Industriegesellschaft), sondern „Wem niltzt du?". Eine derartige Transformation der handlungsleitenden Referenzpunkte lasst sich mittels alltagskultureller Indizien relativ deutlich belegen. Ob dies wiederum messbare Spuren in Lebenslaufen hinterlasst, musste erforscht werden. Gepriift werden konnte ferner die Transformation der anderen gesellschaftlichen Modi, die in der folgenden Tabelle komprimiert wurden. Sie soil nicht den Anspruch suggerieren, hier die Theorie der Zivilgesellschaft von Locke uber Gramsci bis Habermas neu schreiben zu mussen, sondern stellt ein Diskussionsangebot dar, das auf die mogliche Bedeutung des Sozialkapitals fur die gesellschaftliche Entwicklung verweist.

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Tabelle 1: Sozialkapital und Prestige als Medium moderner Zivilgesellschaften

sozialer Status

traditionale Gesellschaften selbstverstandlich, erzwungen Gabe, Almosen, lebenslange Folgschaft Vasall Fron, Lebensverpflichtungen durch Herkunft, vererbt

biografische Leitfrage heterogene Netzwerke Sozialkapital

Zu wem gehorst du? unsittlich, zersetzend konservierend

Engagement -charakter -formen -akteure -organisalionen

transformative Gesellschaften klassenspezifisch, kollektivierend Mitgliedschaft, permanenter Beitrag Genosse Verband, Gewerkschaft, Partei, Kollektiv durch Einkommen, erarbeitet Wie viel hast du? personlich niitzlich differenzierend

moderne Zivilgesellschaften optional, sozialkapitalbildend individuelle Aktion, pragmatische Spende Volunteer Initiative, Aufsichtsrat, Verein, Team durch Engagement, erworben Wem nutzt du? kommunal notwendig integrierend

Quelle: eigene Darstellung Die Tabelle ist so angelegt, dass hier soziale Differenzierungslinien mit Engagementformen beziiglich der biografischen Orientierungsmuster in Beziehung gesetzt werden. Dabei ergibt sich die zivilgesellschaftliche Spalte als Resultat auf die Fragen, die bei der Analyse des empirischen Materials aus Clanton aufgeworfen wurden und aus postmodernistischer Perspektive wohl ganz anders beantwortet werden milssten. Geht man beispielsweise von einer Erosion bislang entscheidender Referenzpunkte arbeitsgesellschaftlicher Normallebenslaufe aus, fuhren diese eben nicht zwangslaufig zu einer Deinstitutionalisierung von Lebenslaufen (Kohli). In den Biografien riicken aber sehr wohl andere Koordinaten in den Vordergrund. Welche konnen das sein? Entweder richten sich Lebenslaufe starker als bisher an den Parametern der auBerbkonomischen Nutzlichkeit aus (zivilgesellschaftliche Perspektive), oder wir stehen vor einem Revival standischer Anerkennungsmuster. Die Biografie von Kenny McCoin weist insofern in die Zukunft, weil dort unter den Bedingungen einer dramatischen Krise und dem Verlust der erwerbsbiografischen Orientierungspunkte eine stabile Statusposition erworben wurde, ohne sich traditionalen Ordnungsmustern zu nahern. Verantwortlich dafilr sind ausreichende alternative Handlungsangebote und Optionen des Engagements im lokalen Kontext. Der eigentliche Verlierer wird somit vor der Arroganz der Gewinner der Farmkrise geschutzt, die in reinen Arbeitsgesellschaften omniprasent ist. In gesellschaftlichen Kontexten, deren Anerkennungsmuster arbeitsgesellschaftlichen Koordinaten und unzivilen Organisationsformen des Engagements verhaftet bleiben, konnen sich somit auch keine weiteren demokratisierenden Wirkungen aus der Existenz von Sozialkapital (quasi in anderen Aggregatzustanden) entfalten. Zivilgesellschaftliche Ange-

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bote verlangen von volunteers nicht die unhinterfragbare lebenslange Loyalitat eines Vasallen, die formale Mitgliedschaft des Genossen oder die Unterordnung der Person unter ein klassenspezifisch.es Kollektiv, sondern vor allem temporare pragmatische Hilfe und die Zustimmung bei zu fallenden Entscheidungen. Sozialkapital verlore dann seine differenzierende Wirkung {Bourdieu 1986, 1992) aus lebenslang bindenden Gemeinschaften und gewanne in Zivilgesellschaften eine lebenslaufkonstitutive Kraft in pragmatischen Zweckbilnden. Die Zukunft alternder Gesellschaften wird also nicht darin liegen, Almosen an engagierte Alte zu verteilen, sondern - unabhangig von askriptiven Merkmalen - aktiven Burgern den Machtspielraum einzuraumen, den sie brauchen, um auBerhalb der Erwerbssphare Prestige durch Engagement zu erwerben.

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Praktische Erfahrungen

Leitbild Biirgergesellschaft Michael Btirsch

1. Reformpolitische Orientierungen fur Staat und Gesellschaft1 „Wir wollen eine neue Kultur der Selbststandigkeit und der geteilten Verantwortung. Deshalb fordern wir die weitere Starkung der freiheitlichen und sozialen Burgergesellschaft" - so Bundeskanzler Gerhard Schroder in der Regierungserklarung vom 29. Oktober 2002 im Deutschen Bundestag. Gefordert und gefordert werden sollen die Eigenverantwortung der Biirgerinnen und Burger, die Krafte zur Selbstorganisation unserer Gesellschaft und die Verantwortung fur das Gemeinwohl. Burgergesellschaft steht far das Leitbild eines demokratisch verfassten Gemeinwesens, dessen Zukunft in der gemeinsamen Verantwortung gesellschaftlicher und staatlicher Akteure liegt; dessen Geschicke also nicht allein und auch nicht vorrangig vom Staat und dessen Institutionen gelenkt werden, sondern Raum lassen fur Eigeninitiative und verantwortung, Selbstorganisation und -bestimmung der engagierten Biirgerinnen und Burger und ihrer freiwilligen Assoziationen. Die Biirgerinnen und Burger sind dabei nicht etwa Ausfallburgen fur einen sich zuriickziehenden Staat, sondern selbststSndige und selbstbewusste Gestalter ihrer „res publica". Das Leitbild der Burgergesellschaft bietet sich in diesem Sinne als orientierender Bezugsrahmen fur die gegenwartigen Reformprojekte und -debatten an, geht es doch um Veranderungen in Art und Ausmafl von Staatstatigkeit zugunsten von mehr Eigenverantwortung der Biirgerinnen und Burger - um einen reformpolitischen Ansatz also, der im Kern nicht auf den Rtickzug des Staates, sondern auf eine neue, gerechte, sozial ausgewogene und intelligente Verantwortungsteilung zwischen Staat und Burgergesellschaft zielt. Leitend ist eine gesellschaftspolitische Vision: Die demokratischen und sozialen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland sollen durch die aktiv handelnden, an den gemeinschaftlichen Aufgaben teilnehmenden Biirgerinnen und Burger mit Leben erfullt, verandert und auf zukiinftige gesellschaftliche Bediirfhisse zugeschnitten werden. Der vorliegende gektlrzte Beitrag ist zuerst in der Schriftenreihe „betrifft: Burgergesellschaft" des Arbeitskreises Burgergesellschaft und Aktivierender Staat der Friedrich-EbertStiftung erschienen.

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Michael Biirsch

Rund 22 Millionen Burger sind in Deutschland in vielfaltiger Form freiwillig engagiert. Sie iibernehmen gemeinwohlorientierte Aufgaben im Sportverein oder bei der freiwilligen Feuerwehr, in Kirchen und anderen karitativen Organisationen, in Freiwilligenagenturen, Hospizbewegung oder Tafeln, in Selbsthilfegruppen oder Nachbarschaftsinitiativen, aber auch in der Kommunalpolitik, in Burgerinitiativen, Parteien und Gewerkschaften. Studien zeigen auBerdem, dass offenbar daruber hinaus weitere Millionen Burgerinnen und Burger bereit waren, sich zu engagieren, wenn die Rahmenbedingungen in Staat, Wirtschaft und Burgergesellschaft verbessert und die Zugange zum Engagement erleichtert werden. Die Bevolkerungsgruppe der Alteren weist insgesamt - gemessen an der Gesamtbevolkerung - einen unterdurchschnittlichen Anteil an engagierten und zu Engagement bereiten Personen auf. Allerdings ist hier eine nahere Betrachtung notwendig: Unterscheidet man innerhalb der groBen Gruppe der alteren Menschen zwischen ,jungen Alten" (60- bis 70-Jahrige) und „alten Alten" (tlber 70-Jahrige), zeigt sich ein uneinheitliches Bild. Das burgerschaftliche Engagement der ,jungen Alten" entspricht in etwa dem des Bevolkerungsdurchscrmitts. Der Anteil gent jedoch bei den tiber 70-Jahrigen zuruck, was durch eine nachlassende Mobilitat und eigene Hilfsbediirftigkeit erklart wird (vgl. Brendgens, Braun 2000). GroBeren Einfluss als die Variable Alter auf das Engagement hat jedoch die Zugehorigkeit zu einem bestimmten sozialen und kulturellen Milieu im Lebensverlauf (vgl. Knopf 'et al.1995). Diese Zahlen sind ein Hinweis auf die Starke und die Lebendigkeit der Burgergesellschaft in Deutschland: Bilrgerinnen und Burger sind in vielfaltiger Weise fur das Gemeinwohl und Gemeinwesen aktiv. Und wo sie gesellschaftliche Aufgaben in Eigeninitiative und burgerschaftlichem Engagement losen, soil der Staat sich nicht an ihre Stelle setzen, sondern sie untersttitzen so die Grundidee des aktivierenden Staates. Burgergesellschaft als Reformprojekt stellt hohe Anforderungen an Institutionen und Akteure in Staat und Gesellschaft. Die engagierten Biirgerinnen und Burger, die bereit sind, sich im Sinne des Gemeinwohls einzusetzen, brauchen engagementfreundliche, beteiligungsorientierte Strukturen in Politik und Verwaltung, im Arbeitsleben und auch in den Organisationen der Burgergesellschaft selbst. Anders gewendet: eine btlrgergesellschaftlich orientierte, institutionelle Reformpolitik in alien Bereichen des offentlichen Lebens. Aus diesem Grand empfiehlt die Enquete-Kommission „Zukunft des btirgerschaftlichen Engagements" als vorrangig: bessere Beteiligungschancen ftir die Engagierten, eine verbesserte biirgergesellschaftliche Infrastruktur, die die Zugange zum btirgerschaftlichen Engagement erleichtert, mehr Schutz fur die Engagierten, weniger Biirokratie und eine deutliche Verbesserung der Anerkennungskultur.

Leitbild Burgergesellschaft

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Als umfassendes gesellschaftspolitisches Reformprojekt ist die Forderung des burgerschaftlichen Engagements ausgerichtet auf die Offnung der staatlichen Institutionen fur demokratische Beteiligung, auf die interne Demokratisierung biirgergesellschaftlicher Organisationen und nicht auf die Resozialisierung von Wirtschaftsunternehmen, die sich dem Gemeinwesen gegeniiber verantwortlich verhalten und in diesem Sinne als burgerschaftliche Akteure selbst Teil der Burgergesellschaft sein sollen. Kurz: Es geht um ein neues Verhaltnis von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.

2. Demokratisierungspotenziale biirgerschaftlichen Engagements Burgerschaftliches Engagement starkt den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Die Btirgerinnen und Burger erneuern mit ihrem freiwilligen Engagement Tag fur Tag die sozialen Bindekrafte. Sie schaffen eine Atmosphare der Solidarity, der Zugehorigkeit und des gegenseitigen Vertrauens. Sie erhalten und mehren, was wir heute soziales Kapital nennen: die Verbundenheit und das Verstandnis zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft, die Verlasslichkeit gemeinsam geteilter Regeln, Normen und Werte, und nicht zuletzt das Vertrauen in die Institutionen des Staates. Neben der sozialintegrativen Kraft hat burgerschaftliches Engagement jedoch eine zweite, demokratiepolitische Dimension. Es unterscheidet sich damit vom klassischen Ehrenamt in seiner relativen Unabhangigkeit von der jeweiligen politischen Ordnung, das historisch aus dem fruhen 19. Jahrhundert in PreuBen und damit aus einer vordemokratischen Staatsform datiert und sich begrifflich politisch neutral gibt. Burgerschaftliches Engagement hingegen wahrt den programmatischen Bezug zu einer demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnung. Es ist in diesem Sinne mehr als der Oberbegriff ftlr Ehrenamt, Freiwilligenarbeit etc. Es ist offentliche, auf das politische Gemeinwesen bezogene Tatigkeit, der Motor und die Triebkraft, die eine Gesellschaft zu einer Burgergesellschaft machen. „Burgerschaftliches Engagement ist" - in den Worten von Rita Siissmuth - „Ehrenamt in der Demokratie". Diese Dimension des burgerschaftlichen Engagements gewinnt zusatzliches Gewicht durch den Bezug auf das Leitbild Burgergesellschaft; die Vision also, dass Burgerinnen und Burger eigenverantwortlich, kooperativ, selbstbestimmt und nach demokratischen Spielregeln ihr Gemeinwesen gestagen. Diese demokratiepolitische Leitidee einer Starkung der Burgergesellschaft ist es, die der Politik der Forderung des burgerschaftlichen Engagements eine spezifische gesellschaftspolitische Kontur und Scharfe verleiht.

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Michael Bursch

Die politischen und wissenschaftlichen Debatten waren lange Zeit bestimmt von einer Perspektive der Individualisierung, die die engagierten Burgerinnen und Burger in den Mittelpunkt der Debatte rtickt und btirgerschaftliches Engagement als einen bunten Markt der Moglichkeiten erscheinen lasst. Die Gestaltung von engagementfreundlichen Rahmenbedingungen darf indessen nicht allein darauf gerichtet sein, die individuelle Engagementbereitschaft der Burgerinnen und Burger zu erhohen. Wichtiger noch ist das gesellschaftspolitische Ziel der Starkung der Bilrgergesellschaft. Es handelt sich um eine Perspektive, die fur die engagierten Burgerinnen und Burger und die Vereinigungen, zu denen sie sich zusammentun, verbesserte Beteiligungschancen bei der Gestaltung und Entwicklung des Gemeinwesens schaffen will. Starkung der Bilrgergesellschaft als Reformperspektive bedeutet in diesem Sinne, dass die Spielregeln der Biirgergesellschaft - Hierarchiefreiheit, Freiwilligkeit, Eigenverantwortung, Respekt und gegenseitige Unterstiltzung, Selbstorganisation, etc. - auch fur andere gesellschaftliche Lebensbereiche normative, maBstabliche Kraft gewinnen. Sie erfordert vonseiten der Wirtschaft Unternehmen, die sich dem Gemeinwesen gegeniiber verantwortlich verhalten. Sie erfordert einen Staat, der burgerschaftliches Engagement nicht durch unnotige biirokratische Auflagen reglementiert und hemmt, sondern schutzt, anerkennt und ermoglicht. Und sie erfordert biirgergesellschaftliche Organisationen, die den Engagierten optimale Mitbestimmungsmoglichkeiten geben und interne Demokratisierungsprozesse durchlaufen. Kurz: In gesellschaftspolitischer Perspektive rtickt die Forderung des burgerschaftlichen Engagements in den Horizont einer institutionellen Reformpolitik, die Staat, Wirtschaft und Bilrgergesellschaft gleichermaBen betrifft.

3. Mehr Demokratie wagen in den biirgergesellschaftlichen Organisationen Die Biirgergesellschaft besteht nicht nur aus Individuen. Charakteristisch fur diese Lebenssphare ist vielmehr eine Vielzahl unterschiedlicher Organisationen jeder GroBenordnung - vom Deutschen Paritatischen Wohlfahrtsverband bis zur Selbsthilfegruppe, von Greenpeace bis zur lokalen Umweltinitiative und (fast) jeder inhaltlichen Aufgabenstellung, von den „global issues" bis zur Erhaltung der ortlichen Leihbibliothek. All diese Organisationen bilden die institutionelle Grundstruktur der Biirgergesellschaft, die zugleich eine wichtige Rahmenbedingung fur das btirgerschaftliche Engagement in Deutschland darstellt. Ihnen gemeinsam ist dasjenige, was sie als Organisationen der Biirgergesellschaft auszeichnet: die Freiwilligkeit des Zusammenschlusses, die eigen-

Leitbild Burgergesellschaft

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verantwortliche Selbstorganisation der beteiligten Akteure und die Unabhangigkeit von staatlichen Vorgaben. Ihnen gemeinsam ist auch, dass sie alle eingebunden sind in einen Prozess, der sich als Strukturwandel burgerschaftlichen Engagements beschreiben lasst und der die biirgergesellschaftlichen Organisationen vor spezifische Reformerfordernisse stellt. In den Motiven und Handlungszusammenhangen bfirgerschaftlichen Engagements sind wichtige Veranderungen zu beobachten: Wahrend Menschen sich fruher typischerweise langfristig einer bestimmten Organisation verpflichteten und „ihrem" Verein ein Leben lang verbunden blieben, engagieren sich heute immer mehr Menschen eher spontan und projektformig. Mit der Individualisierung von Lebensentwilrfen verlieren soziale Milieus und die entsprechenden Organisationen ihre Bindungswirkung. Engagement muss zur jeweiligen Lebenssituation passen und verandert sich mit den Lebensbedingungen. Die Organisationen milssen also um die Engagierten werben, sie motivieren, dabeizubleiben. Wichtiger noch ist die Beobachtung, dass biirgerschaftlich Engagierte mit ihren Aktivitaten heute weit starkeres Interesse an Eigenverantwortung und Selbstbestimmung geltend machen als fruher. Weisungen und Zwange erfahrt man schon am Arbeitsplatz; das burgerschaftliche Engagement soil einen anderen, selbst bestimmten und selbst verantworteten Erfahrungs- und Handlungszusammenhang eroffnen. Die „neuen Freiwilligen" stellen mithin ganz andere, weitreichende Anforderungen an Mitbestimmungs- und Gestaltungsmoglichkeiten. In dieser Perspektive zeigen auch die biirgergesellschaftlichen Organisationen selbst biirgergesellschaftlichen Reformbedarf: Die Burgergesellschaft entspricht nicht in alien Erscheinungsformen ihrem Begriff. Insbesondere Verbande im Bereich des klassischen Ehrenamtes - z.B. Sport, Feuerwehr, Wohlfahrtsverbande oder Katastrophenschutz - haben offenkundig z.T. noch groBe Distanz zu Fragen der Mitbestimmung ihrer ehrenamtlichen Akteure. Zwischen dem Leitbild einer nach demokratischen Regeln selbst gestalteten und verantworteten gemeinsamen Lebenssphare selbstbewusster Burgerinnen und Burger und der Wirklichkeit von Vereinen, Verbanden und anderen biirgergesellschaftlichen Organisationen klafft eine Liicke. Diese Lucke zwischen Ideal und Wirklichkeit durch kontinuierliche Modernisierungsanstrengungen zu schlieBen, ist die Herausforderung fiir die biirgergesellschaftlichen Organisationen. Selbst- und Mitbestimmungsanspruche der Engagierten verlangen gerade von traditionellen Vereinen und Verbanden die Offnung gegeniiber den Bediirfnissen der Engagierten und die interne Demokratisierung. So diagnostizieren beispielsweise die Sozialverbande eine „Krise verbandlicher Engagementpolitik". Diese Krise betrifft nicht nur die Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Freiwilligen, sondern auch das btirgergesellschaftliche Selbstverstandnis der Sozialverbande selbst: Im Prozess der sukzessiven Professionalisierung und Okonomisierung der Leistungsangebote

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Michael Biirsch

sind Aufgaben der sozialanwaltschaftlichen Interessenvertretung und der Gemeinwohlorientierung in den Hintergrund getreten. Gegenwartig gibt es Anzeichen fur eine biirgergesellschaftlich orientierte wohlfahrtsverbandliche Emeuerungsstrategie, deren Erfolg allerdings ganz wesentlich davon abhangen wird, dass die strategische Frage der Offnung verbandlicher Strukturen fur biirgerschaftliche Mitwirkung nicht auf die Erhohung der Anzahl ehrenamtlicher Mitarbeiter verkilrzt wird. Zum bilrgerschaftlichen Engagement gehoren viele Aktivitatsformen wie die Vernetzung mit anderen lokalen Akteuren und Institutionen, die Offnung der eigenen Einrichtungen und Dienste fur die Mitwirkung von Vereinen und Einrichtungen des Stadtteils und der Aufbau intensiver Kooperationsbeziehungen etc. Bereits bestehende Formen solcher Zusammenarbeit - etwa die Offnung von Altenheimen fur die Gemeinde, die Zusammenarbeit von Krankenhausern mit Selbsthilfegruppen, die Kooperation von Jugendhilfeeinrichtungen mit Schulen oder Betrieben etc. - mtlssen systematisch einbezogen werden in die tibergreifenden verbandlichen Prozesse der Entwicklung von Leitbildern, Fachkonzepten und Organisationsmodellen. Anders gewendet: burgerschaftliches Engagement sollte ein systematischer Bestandteil der Organisationsentwicklung werden.

4. Engagierte Biirgerschaft und Aktivierender Staat: auf dem Weg zu einer neuen Verantwortungsteilung Eine Politik der Forderung von Burgergesellschaft und biirgerschaftlichem Engagement bedeutet den Abschied von der Vorstellung der Allzustandigkeit des Staates zugunsten der Autonomic, der Gestaltungskompetenz und der Eigenverantwortung der Btlrgerinnen und Burger. Dahinter stent nicht etwa der programmatische Riickzug des Staates auf seine - wie auch immer zu bestimmenden - Kernaufgaben. Ziel ist vielmehr ein neues Verhaltnis zwischen staatlichen und burgergesellschaftlichen Akteuren, das nicht in Kategorien staatlicher Planung und Steuerung von gesellschaftlichen Prozessen definiert wird, sondern im Sinne einer neuen, kooperativen und partnerschaftlichen Verantwortungsteilung: Der Staat bleibt in der (Gewahrleistungs-)Verantwortung, nimmt sich aber immer dann zurilck, wenn Bilrgerinnen und Burger eine Aufgabe in Eigenregie iibernehmen wollen und konnen, und offnet im Ubrigen seine Institutionen fur die Mitwirkung der Biirgerinnen und Burger. Starkung der Burgergesellschaft bedeutet also zugleich ein verandertes Verhaltnis zwischen Staat und (Burger-)Gesellschaft und Veranderungen in den staatlichen Aufgaben und Institutionen. Seitens der staatlichen Akteure ist in den letzten Jahren das Problembewusstsein gewachsen, dass sie die Aufgabe einer Steuerung gesellschaftli-

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cher Entwicklungen nicht allein bewaltigen konnen. Dies liegt nicht allein an der Finanznot der offentlichen Hand. Weit entscheidender sind zwei weitere Faktoren: einerseits die Komplexitat des gesellschaftlichen Lebensprozesses, der sich steuernden Eingriffen immer starker entzieht, andererseits und vor allem aber die wachsende Differenzierung und Individualisierung von Bediirfnis- und Interessenlagen der Biirgerinnen und Burger. Staatliche Leistungsangebote, die zu den Lebens- und Interessenlagen der Biirgerinnen und Burger passen sollen, konnen immer seltener in staatlicher Planungshoheit entworfen werden. Zu passgenauen Leistungen werden sie erst durch die Zusammenarbeit mit den betroffenen burgergesellschaftlichen Akteuren. Die Biirgerinnen und Burger wiederum treten immer after nicht nur als Kunden staatlicher Leistungsangebote auf, sondern als selbstbewusste und kenntnisreiche Gestalter ihrer eigenen Lebenssituation, die ihre Biirgerrolle aktiv im Sinne von Verantwortungsubernahme und Beteiligung interpretieren und wahrnehmen. Ein kooperatives, partnerschaftliches Verhaltnis zwischen staatlichen und burgergesellschaftlichen Akteuren ist freilich in der Mehrzahl der Falle eher Programm als Wirklichkeit. Strukturen und Methoden der Zusammenarbeit sind noch nicht ausgereift, und auch die Zusammenarbeit als solche ist fur beide Seiten noch alles andere als selbstverstandlich. Umso mehr stellt die Offhung der staatlichen Institutionen und Entscheidungsprozesse eine der wichtigsten Aufgaben fur eine biirgergesellschaftlich orientierte Reformpolitik in Bund, Landern und Kommunen dar. Die Zukunft der Burgergesellschaft wird ganz entscheidend davon abhangen, ob es gelingt, eine Kultur des kooperativen Handelns und Entscheidens zu entwickeln, die auch die Institutionen erfasst.

5. Beteiligungsorientierung staatlicher Institutionen Ein aktivierender Staat schafft Beteiligungsmoglichkeiten und versetzt die Menschen dariiber hinaus auch in die Lage, ihre Bedurfnisse zu artikulieren und an Problemlosungen mitzuwirken. Nicht der Staat und seine Verwaltungen defmieren, was gut fur alle ist, sondern zuallererst die Biirgerinnen und Burger. Engagement sieht dann manchmal anders aus als es sich die Verwaltung vorstellt. Fur Behorden und andere staatliche Institutionen bedeutet dies ein Umdenken: Offentlich Bedienstete miissen fur den Umgang mit Engagierten vorbereitet und (weiter)qualifiziert werden. Zum aktivierenden Staat gehort sozusagen die „Selbstaktivierang", auch in Richtung einer Uberschreitung traditioneller Rollen: Angehorige des offentlichen Dienstes konnen im Rahmen ihrer Tatigkeit biirgerschaftliches Engagement unterstiitzen;

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Burgerinnen und Burger bringen ihre Kompetenzen und Erfahrungen als Expertinnen und Experten ihres Lebensalltags in die Gestaltung von Politik ein. Hierin wird eine neue Aufgabenverteilung zwischen Staat und Gesellschaft sichtbar. Wenn sich die Beziehung zwischen Burgerinnen und Bilrgern und dem Staat verandern soil, mussen sich Staat und Verwaltung gegenuber der Gesellschaft, gegenuber biirgerschaftlichem Engagement offnen. Denn die Btirgergesellschaft kann nicht dort enden, wo staatliche Macht beginnt. Der Burger ist mehr als Kunde: Er ist Akteur. Konzepte zur Modernisierung der Verwaltungen in Bund, Landern und Gemeinden mussen an dem MaBstab gepriift werden, ob sie den Biirgern die Moglichkeit bieten, nicht nur als Leistungsempfanger oder Kunde mit staatlichen und kommunalen Einrichtungen in Kontakt treten, sondern auch als Burger mitgestalten, mitreden, kritisieren und Mitverantwortung tibernehmen zu konnen. Denn die Offenheit von Offentlichen Einrichtungen und Angeboten fur biirgerschaftliches Engagement bemisst sich weniger an der Zahl derjenigen, die ehrenamtlich mitarbeiten. Ungleich wichtiger ist die Frage, inwieweit es gelingt, diese Institutionen tatsachlich in Gesellschaft und lokales Umfeld einzubetten. Engagementfreundlichkeit bedeutet die Entwicklung einer bilrgerschaftlich gepragten, beteiligungsorientierten Kultur des Planens und Entscheidens. Die Entwicklung solcher Handlungskompetenzen bei den Akteuren in Politik, Verwaltung und Burgergesellschaft bildet eine wichtige Aufgabe fur eine zukiinftige Engagementpolitik.

6. Starkung der Kommunen Ob klassisches Ehrenamt im Gemeinderat, aktive Mitgliedschaft im Verein oder die Unterschriftensammlung einer Burgerinitiative - biirgerschaftliches Engagement fmdet in Deutschland uberwiegend auf kommunaler Ebene start. Die Stadte und Gemeinden wiederum leben von dem und durch das Engagement ihrer Burgerinnen und Burger. Sportliche und kulturelle Angebote der Kommunen, Feuerwehren und Bildungseinrichtungen, soziale und gesundheitliche Hilfeleistungen der Kommunen waren kaum denkbar ohne die groBe Zahl von freiwillig engagierten Burgerinnen und Biirgern. Die Kommunalpolitik schliefilich hat unter den staatlichen Ebenen den direktesten Zugang zur Lebensrealitat und zu den Interessen der Burgerinnen und Btirger und hat auch traditionell eine besondere Verantwortung fur die Entwicklung und Starkung der Demokratie in Deutschland. So garantiert das Grundgesetz den Kommunen das Recht, „alle Angelegenheiten der ortlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln" (Art. 28 Abs, 2 Grundgesetz). Das ausdriickliche Ziel der kommunalen Selbstverwaltung und ihrer verfassungsmaBigen Grundlegung ist es, die Burger zu motivieren und

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zu befahigen, die eigenen Angelegenheiten in die eigene Hand zu nehmen und eigenverantwortlich zu regeln, um auf diese Weise demokratische Kompetenzen einzuiiben. Das heiBt, die Kommunen sind gewissermaBen die Kristallisationspunkte von aktiver Biirgergesellschaft und lebendiger Demokratie, in denen die neue Verantwortungsteilung zwischen Politik, Verwaltung und Btirgern konkret werden kann. Leitbilder wie die „Biirgerkommune" bzw. die „Biirgerstadt" mogen als Indiz dafiir gelten, dass die Beteiligungsbereitschaft der Verantwortlichen in den Kommunalverwaltungen wachst. Ausdruck dessen sind auch die Verfahren der direktdemokratischen Biirgerbeteiligung wie Planungszellen, Zukunftswerkstatten usw., die gerade auf kommunaler Ebene wenngleich immer noch viel zu selten - Anwendung finden. Das Leitbild der Burgerkommune bedeutet mehr als Kommunalpolitik. Es umfasst alle Lebensbereiche, die im lokalen Raum organisiert sind, und alle Akteure, die unmittelbar auf das lokale Zusammenleben Einfluss nehmen. Dazu gehoren z.B. Lokalzeitungen, ortsansassige Unternehmen, Betriebsgruppen von Gewerkschaften, Selbsthilfegruppen, ,Omahilfsdienste', Vereine und andere Akteure der Biirgergesellschaft. Das gilt auch, wenn sie nicht in die Institutionen der kommunalen Selbstverwaltung einbezogen sind. Die Praxis von Kultur-, Sozial- und Bildungseinrichtungen, Kirchen und Stiftungen ist fur das lokale biirgerschaftliche Engagement auch dann von Gewicht, wenn diese Einrichtungen auBerhalb der Reichweite kommunalpolitischer Entscheidungen liegen. Das lokale Engagement eines GroBunternehmens wiederum, das seinen Sitz in einer Kommune hat, kann fur die Entwicklung burgergesellschaftlicher Projekte und Strukturen unter Umstanden wichtiger sein als Stadtrat und -verwaltung. Die Kunst besteht darin, die relevanten Akteure zusammenzubringen und zwischen ihnen Formen des kooperativen Handelns und Entscheidens zu entwickeln. Kommunalpolitiker und -verwaltung konnen dabei die Rolle des Moderators einnehmen. So verstanden, sind die Kommunen nicht nur die „Schule der Demokratie", sondern auch die „Schule der Biirgergesellschaft".

7. Biirgergesellschaft und die Interessenlage der Unternehmen Nicht nur die Btirgerinnen und Burger, auch die Unternehmen sind aufgerafen, ihre Verantwortung fur Gemeinwohl und Gemeinwesen wahrzunehmen, sich also nicht nur als Marktakteure, sondern auch als verantwortungsbewusste Mitglieder der Gesellschaft zu verstehen. Damit sind neue Anforderungen und Aufgaben fur die Unternehmen verbunden. Es reicht nicht mehr aus, sich nur auf die wirtschaftliche Seite von Giiterproduktion und Gewinn-

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maximierung zu konzentrieren; die Untemehmen sind vielmehr gefordert, auch die Auswirkung ihrer Geschaftstatigkeit auf das Gemeinwesen zu berucksichtigen. In anderen Staaten, etwa den USA, aber auch in europaischen Landern wie GroBbritannien, den Niederlanden oder Danemark, ist die Biirgerrolle von Wirtschaftsunternehmen, das so genannte Corporate Citizenship, zweifelsohne weiter entwickelt als bei uns. Gleichwohl gibt es auch in Deutschland inzwischen schon einige Beispiele von Untemehmen, die sich um die sozialen und okologischen Auswirkungen ihres unternehmerischen Handelns kummern, die Stiftungen griinden, die Partnerschaften mit gemeinntitzigen Projekten im sozialen oder kulturellen Sektor eingehen und dergleichen mehr. So deutet sich im Zeichen der Globalisierung der Markte ein neuer, gegenlaufiger Trend zur (Wieder-)Verankerung und Vernetzung von Unternehmen in ihrem lokalen Umfeld an. Die guten Beispiele empfehlen sich zur massenhaften Nachahmung. Und es ist zu wunschen, dass die deutsche Wirtschaft ihre Zuriickhaltung aufgibt und den Anschluss an die Entwicklung des Corporate Citizenship fmdet, die andernorts ungleich dynamischer verlauft als hierzulande. Was haufig iibersehen wird: Als unternehmerische Aktivitat dient das Corporate Citizenship nicht nur dem Gemeinwohl, sondern steht immer auch im Zeichen betriebswirtschaftlicher Orientierungen und MaBstabe. Burgerschaftliches Engagement soil dem Untemehmen nutzen. Nutzen versprechen insbesondere zwei Gesichtspunkte: die Personalentwicklung und der Imagegewinn. Burgerschaftlich engagierte Mitarbeiter erwerben und vertiefen Schlusselqualifikationen wie Teamfahigkeit, Flexibilitat, Kreativitat und Eigenverantwortung und sind nachweislich ilberdurchschnittlich motiviert, engagiert und flexibel. Die maBgeblichen Akteure im Engagement sind in aller Regel auch Leistungstrager im Betrieb. Wenn ein Untemehmen das Engagement von Mitarbeitem anerkennt oder sogar aktiv unterstutzt, steigert dies auBerdem deren Identifikation mit dem Untemehmen. Burgerschaftliches Engagement ist in diesem Sinne eine Ressource fur leistungsfahigeres Personal. AuBerdem verbessem Untemehmen, die sich verantwortlich um die sozialen und okologischen Auswirkungen ihrer Aktivitaten oder um Probleme im gesellschaftlichen Umfeld kummern, ihr Image bei den Verbrauchern und konnen so ihre Marktposition starken. In den USA hat man diesen Zusammenhang auf den Nenner gebracht: „If you are concerned to be seen you must be seen to be concerned". Das bedeutet: Burgerschaftliches Engagement von Untemehmen mehrt nicht nur das Gemeinwohl, sondem lohnt sich auch okonomisch. Daraus entsteht eine „Win-Win-Situation" fur alle Beteiligten. Das nachberufliche burgerschaftliche Engagement der alteren Menschen ist als wichtige Quelle von Ressourcen nicht zu unterschatzen. Das Erfahrungswissen und eine erfolgreiche Praxis pensionierter Fachkrafte wird dabei

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zum beidseitigen und generationsiibergreifenden Vorteil genutzt, was am Beispiel der „senior experts" deutlich wird. Im Mittelpunkt steht der beratende Erfahrungsaustausch zwischen Alteren und Jiingeren. Expertinnen und Experten aus den unterschiedlichsten Bereichen geben ihre Kompetenzen an andere weiter und sind aufgrund ihres hoch professionellen Fachwissens und ihrer praktischen Erfahrung eine Bereicherung fur die Unternehmen und das Gemeinwesen.

8. Modernisierung des Sozialstaats - der Beitrag der Biirgergesellschaft Die Forderung von Biirgergesellschaft und btirgerschaftlichem Engagement steht im Zeichen weitreichender gesellschaftspolitischer Zielsetzungen: der Starkung von demokratischer Partizipation der Biirgerinnen und Burger an Prozessen politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung, der Erweiterung von Spielraumen fur die selbstorganisierte und -bestimmte Gestaltung des Gemeinwesens durch offentliches, kollektives Handeln jenseits von Staat und Markt und der neuen Verantwortungsteilung zwischen Staat und Gesellschaft. Filr diese neue Verantwortungsteilung zwischen Biirgergesellschaft und aktivierendem Staat ist der soziale Bereich von exemplarischer Bedeutung. So setzt einerseits das Konzept des aktivierenden Staates auf die Ressourcen von Biirgerinnen und Btirgern sowie von Assoziationen bei der Organisation gesellschaftlicher Solidarity durch Angebote sozialstaatlicher und btirgergesellschaftlicher (Selbst-)Hilfe. Dabei gewinnt die Erbringung sozialer Leistungen durch biirgerschaftliches Engagement zusehends groBeres Gewicht: von den Aktivitaten der Wohlfahrtsverbande iiber den ,Oma-Hilfsdienst' bis zum Renovieren eines Klassenraums durch Schiiler und Eltern. Andererseits kann das Konzept der Biirgergesellschaft wichtige reformpolitische Orientierungen bei der Modernisierung des Sozialstaats geben. Der Sozialstaat ist eine historische und zivilisatorische Errungenschaft. Die Absicherung individueller Lebensrisiken durch gesellschaftliche Solidaritat und staatliche Garantien verbessert die Chancengleichheit, erhoht die Lebensqualitat und starkt Demokratie und Wirtschaft. Der Sozialstaat in dieser Funktion und mit diesem Anspruch darf nicht zur Disposition stehen. Indessen steht er vor groBen Herausforderungen: Wahrend eine zahlenmaBig starkere altere Generation und viele Arbeitslose auf Sozialleistungen angewiesen sind, geht die Zahl der Beitragszahler ebenso zuruck wie das fur sozial-politische Zwecke disponible Steueraufkommen. Das Resultat sind Finanzierungsschwierigkeiten und eine Modernisierungs-Diskussion, die vor

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allem um Kostensenkungen und Leistungskiirzungen kreist - eine Perspektive, die, zumal aus Sicht des biirgerschaftlichen Engagements, zu kurz greift. Die Zukunftsfrage sollte nicht lauten, ob bzw. wie viel Sozialstaat wir uns noch leisten konnen oder wollen, sondern, wer die notwendigen und gesellschaftlich erwiinschten Sozialleistungen kiinftig erbringt: der Markt, der Staat oder Netzwerke burgerschaftlicher, gegenseitiger Hilfe, ermoglicht durch freiwillige, praktische Solidaritat. Die richtige Antwort lautet: Die Mischung macht es. Alle drei Sektoren konnen und sollen einen sinnvollen Beitrag zur Bewaltigung sozialer Aufgaben leisten, indem sie in eine solche Sozialarbeitsteilung das einbringen, was sie am besten konnen und was ihre jeweilige Starke ausmacht. Aufgabe des Staates bleibt es, dafur zu sorgen, dass bestimmte Standards gewahrt bleiben und dass ein menschenwurdiges Leben weder den Widrigkeiten des Marktes noch den Zufallen des zivilgesellschaftlichen Engagements iiberlassen bleibt, dass es also auch weiterhin soziale Burgerrechte gibt, die dem Einzelnen zuverlassig und unanfechtbar die Fuhrung eines freien und selbstbestimmten Lebens ermoglichen. Eigeninitiative aus Not in alien Ehren: Es gibt nicht wenige Menschen und Gruppen in unserer Gesellschaft, die voriibergehend oder dauerhaft auf die Hilfe karitativer Organisationen angewiesen sind. Und es gibt gerade im sozialen Bereich beeindruckende Beispiele von Hilfe und Selbsthilfe: die Tafeln, die uberschilssige Lebensmittel an Bedtirftige verteilen, die Obdachlosenzeitungen, die so manchem Zeitungsverkaufer Riickwege in eine gesichertere Existenz eroffnen, und selbstverstandlich das karitative Engagement der Wohlfahrtsverbande, der Kirchen usw. Es ist jedoch eine der grofien Errungenschaften des europaischen Sozialstaats gegeniiber anderen karitativen Traditionen, etwa im angelsachsischen Kontext, die Bedilrftigen mit sozialen Burgerrechten auszustatten, die ihnen ein selbstbestimmtes und menschenwurdiges Leben ermoglichen sollen, unabhangig von den thematischen Konjunkturen burgerschaftlicher Hilfe, die heute Kriegsfltichtlingen auf dem Balkan, morgen Flutopfern im Osten Deutschlands und iibermorgen StraBenkindern in den Slums der Dritten Welt gilt. Dessen ungeachtet bedeutet die neue Verantwortungsteilung von Staat und Bilrgergesellschaft gerade im sozialpolitischen Bereich, dass Partizipation und Mitverantwortung der Burgergesellschaft nicht nur gefordert, sondern auch gefordert werden. Mitverantwortung fur Gemeinschaftsaufgaben und Gemeinwohl ist Biirgerpflicht nicht minder als Bilrgerrecht. Teilhabechancen sollen auch genutzt werden. Und soziale Leistungen mtissen nicht notwendig allein vom Staat erbracht werden, Das alte Prinzip der Subsidiarity, derzeit nicht selten Rechtfertigungsritual fur verkrastete Verbandsmacht und festgefahrene Forderkartelle, ware neu auszubuchstabieren. Und der Sozialstaat muss seine Einrichtungen fur burgerschaftliches Engagement (wieder) offnen, ist dieses doch im Laufe der Zeit aus sozialstaatlichen Kern-

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bereichen wie Krankenhaus oder Bildungseinrichtungen fast vollstandig verschwunden. Ein zurzeit viel diskutiertes Beispiel ist die Schule: Mehr Entscheidungsautonomie, ein Forderverein, in dem die Eltern eine aktive, mitbestimmende Rolle ubernehmen, und die Zusammenarbeit mit Initiativen und Vereinen sind Komponenten eines neuen Verhaltnisses von Schule und Btirgergesellschaft, das die Schule im Stadtteil neu verankert. Gleichzeitig werden durch burgerschaftliches Engagement zusatzliche Angebote, zum Beispiel berufsfeldbezogene Arbeitsgemeinschaften oder Nachmittagsbetreuung, geschaffen, die die staatliche Bildungspolitik niemals so flexibel zur Verfiigung stellen konnte. Darin liegt eine sehr sinnvolle Erganzung des Betreuungsangebots in Ganztagstageseinrichtungen, die an der prinzipiellen Verantwortung des Staates fur Bildung und Schule nichts andert.

9. Biirgerengagement - die lebendige Seite des Sozialstaats Burgerschaftliches Engagement ist kein Ersatz fur staatliches Handeln, sondern eine (allerdings unverzichtbare!) Erganzung. Es leistet einen Beitrag eigener Art zur Qualitat und Passgenauigkeit sozialstaatlicher Leistungsangebote. Worin liegt nun aber die besondere Qualitat burgerschaftlichen Engagements, die die Versorgung gegeniiber dem professionellen, staatlich organisierten Sozialsystem verbessert? Ein Beispiel, an dem sich diese spezifische Qualitat burgergesellschaftlicher Beitrage verdeutlichen lasst, ist die Selbsthilfe im Gesundheitswesen. Die Selbsthilfegruppen in Deutschland - zwischen 70.000 und 100.000 an der Zahl mit rund 3 Millionen Mitgliedern - vermitteln Wissen und Kompetenzen, schaffen Kontakte zwischen Betroffenen, vertreten deren Interessen und etablieren sich allmahlich, insbesondere bei der Versorgung von schwer und chronisch Kranken, als ein nicht mehr wegzudenkender Akteur des Gesundheitswesens. Der Ubergang von der Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe in eigenem Interesse zum burgerschaftlichen Engagement ist flieBend: Die erworbenen Kompetenzen an andere Betroffene weiterzugeben, selbst Veranstaltungen zu organisieren - das sind naheliegende Schritte von der Selbsthilfe zur Hilfe fur andere, die auch dem gewachsenen Selbstbewusstsein von Bilrgerinnen und Burgern entsprechen, die ihre Gesundheit in die eigenen Hande, in ihre eigene Verantwortung genommen haben. Ein Vertreter ehrenamtlicher Tatigkeit hat die besondere Qualitat oder Produktivitat burgerschaftlichen Engagements einmal so ausgedrilckt: „Pro-

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fession schafft Distanz, Krise braucht Nahe und Menschlichkeit."2 Hauptamtliche im Sozialsektor sind zweifellos nicht „von Amts wegen" distanziert oder ohne menschliches Mitgefuhl. Sie gehorchen jedoch einer anderen Handlungslogik, eingebunden in professionelle Strukturen, in institutionelle Zwange und in ein immer engeres zeitliches Korsett. Die professionellen Krafte bewaltigen die Pflicht, wahrend die Freiwilligen die Zeit und die Freiheit haben, sich der Kur zu widmen: der Zuwendung, dem Gesprach, dem AuBeralltaglichen und AuBerplanmaBigen. Wer sich freiwillig engagiert, hat es also oft leichter, Nahe zu schaffen und Vertrauen aufzubauen - und gibt gerade dadurch der Pflege oder anderen sozialen Leistungen eine besondere Qualitat. Burgerschaftliches Engagement ist, so verstanden, die lebendige Seite des Sozialstaats. Burgerschaftliches Engagement im sozialen Bereich fullt freilich nicht einfach die Lilcken, die der Sozialstaat offen lasst. Gerade im Selbsthilfebereich machen die Engagierten Ansprache geltend, uben haufig auch berechtigte Kritik am professionellen Hilfesystem und tragen durch ihren Einsatz zu seiner Verbesserung bei. Vor allem aber stehen sie fur einen Perspektivwechsel, der charakteristisch ist fur die Btirgergesellschaft. In der Perspektive des Sozialstaats und seiner Versorgungssysteme erscheinen die Leistungsempfanger als Objekte von Fiirsorge, ausgestattet mit spezifischen Defiziten. So gelten etwa Krankheit oder Arbeitslosigkeit als vorubergehende oder auch dauerhafte Schwachen, die mit staatlichen Hilfen behoben oder mindestens abgefedert werden. Im System der Selbsthilfe hingegen agieren die Kranken als Subjekte mit eigenen Ressourcen und Fahigkeiten: Sie nutzen ihr eigenes Potenzial, ihre eigenen Starken und Kompetenzen, um mit der Krankheit zu leben oder sie zu uberwinden. Der Perspektivwechsel vom Ausgleich von Defiziten zur Aktivierung von Ressourcen bleibt nicht auf die Bewaltigung von Krankheiten beschrankt. Er lasst sich auf viele andere gesellschaftliche Gruppen tibertragen, die wir als benachteiligt betrachten: Migrantinnen und Migranten, Obdachlose wie Menschen mit Behinderangen und ebenso alte Menschen. Sozialpolitik in der Biirgergesellschaft orientiert sich an den Fahigkeiten und den Ressourcen der Menschen. Sie starkt ihre Netzwerke und unterstutzt Selbsthilfe. Eine solche Sozialpolitik wird auf die besondere Qualitat burgerschaftlichen Engagements, auf die Freiwilligkeit und die Kompetenz burgerschaftlich engagierter Menschen zuriickgreifen, um nah an den Betroffenen zu sein und soziale Leistungen bedarfsgerecht zu gestalten. So wenig die Btlrgerinnen und Burger bei politischen Entscheidungen in der Demokratie nur passive Zuschauer staatlichen Handelns sein sollen, so wenig sind sie bloBe Anspruchsberechtigte und Empfanger sozialstaatlicher Pfr. Traugott Weber in einer Anhorung der Enquete-Kommission „Zukunft des Bilrgerschaftlichen Engagements" zum Thema „Burgerschaftliches Engagement in Kirchen und Religionsgemeinschaften" am 11. Mai 2001.

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Leistungen. Der aktivierende Staat geht nicht nur von einer begrenzten eigenen Steuerungskapazitat aus, sondern vor allem von einem anspruchsvollen Bild der Burgerin und des Burgers. Menschen gelten in diesem Modell als ansprechbar und kooperationsbereit im politischen Belangen; sie identifizieren sich mit ihrem Status als Mitglieder des politischen Gemeinwesens und akzeptieren, dass mit dieser Rolle neben Rechten auch Verantwortlichkeiten verbunden sind. Damit verandert sich das Verhaltnis zwischen Sozialstaat und Individuum. Als Beteiligte mit Ressourcen oder als engagierte Mitglieder privater Netzwerke und gesellschaftlicher Assoziationen gewinnen die Einzelnen eine Bedeutung, die iiber die Rolle des Klienten oder der Klientin sozialstaatlicher Institutionen weit hinausgeht. Der Grundsatz „fordern und fordern" ergibt nur vor diesem Hintergrund Sinn. Wer aktive Eigenbeitrage einfordert, setzt ein entsprechendes Vermogen voraus, das wiederum gefordert werden muss. Die Idee des aktivierenden Staates ist dynamisch - nur im Wechselspiel von Anspruch, Wirklichkeit und Lernprozess kann er sich entfalten.

10. Hilfe zur Selbsthilfe durch verbesserte Teilhabe Sicherlich weckt diese optimistische Darstellung einige Zweifel: Ist es nicht blauaugig oder sogar zynisch, die Menschen, die aus den verschiedensten Griinden auf den Sozialstaat angewiesen sind, auf ihre eigenen Ressourcen und Kompetenzen zu verweisen? Sind diese Menschen nicht gerade deshalb auf den Staat angewiesen, weil ihre Ressourcen nicht ausreichen, um im Erwerbsleben FuB zu fassen? In der Tat darf bei der Betonung von Selbsthilfepotenzialen und solidarischen Netzwerken eins nicht vergessen werden: Fur die Beteiligung an burgerschaftlichem Engagement sind die Chancen offenkundig noch ungleich verteilt - nicht nur im Hinblick auf Wohlstand und Bildung, sondern auch im Hinblick auf die fur die Burgergesellschaft so wichtige Teilhabe an Kontakten, Netzwerken, an Zugangen zur Offentlichkeit. Untersuchungen wie der Freiwilligensurvey von 1999 haben ergeben, dass sich diejenigen iiberdurchschnittlich haufig engagieren, die ein hoheres Bildungsniveau und einen Arbeitsplatz haben - biirgerschaftliches Engagement ist in weiten Teilen ein Mittelschichtsphanomen. Eine Forderung von burgerschaftlichem Engagement, die blind ist fur soziale Ungleichheit, lauft Gefahr, unfreiwillig und ungewollt die Durchsetzungschancen fur besser gestellte Bevolkerungsgruppen weiter zu starken auf Kosten derjenigen, die den Sozialstaat als Anwalt schwach vertretener Interessen besonders brauchen. Das heiBt: Die Sozialpolitik eines aktivierenden Staates kann nicht nur an vorhandenen Ressourcen ankmipfen. Sie muss bereit sein, die Bildung von

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Kompetenzen gerade bei Benachteiligten aktiv zu unterstiitzen. Es geht urn „Empowerment", um Befahigung oder „Ermachtigung" im Sinne von Ausstattung mit Macht. Unter dieser Perspektive besteht der Kern der Sozialpolitik nicht in der finanziellen Unterstiitzung, die nicht selten neue Abhangigkeiten schafft und langfristig zementiert anstatt alte aufzuheben, sondern darin, die Teilhabe an Bildungsprozessen zu gewahrleisten, das Selbstbewusstsein und die vorhandenen solidarischen Beziehungen zu starken. „Hilfe zur Selbsthilfe" ist auch hier das richtige Wort. Eine Gruppe, die starker als bisher im Mittelpunkt solcher sozialpolitischer Bemilhungen stehen sollte, sind beispielsweise die Migrantinnen und Migranten. Spatestens mit dem Alterwerden der ersten Einwanderergeneration wird klar, dass Migrantinnen und Migranten nicht nur als Beitragszahler zum Funktionieren unseres Sozialsystems beitragen, sondern auch auf seine Leistungen angewiesen sind. Aber die Leistungen erreichen die Betroffenen oft gar nicht - ihre Sprachprobleme und ihre Beriihrungsangste gegenuber professionellen, oft anonymen sozialstaatlichen Institutionen stehen dem entgegen. Familiare und kulturelle Netzwerke sind zwar verbreitet, leistungsfahig und vielfach noch immer belastbarer als in der alteingesessenen deutschen Bevolkerung, konnen aber nicht alles auffangen - versteckte Altersarmut ist eine haufige Konsequenz. Der aktivierende Staat muss auch hier das Ziel haben, Selbsthilfepotenziale zu entdecken und zu starken: Die Vielfalt so genannter „eigenethnischer" Vereine und Netzwerke, die innerhalb einer kulturellen Gemeinschaft Kontakte und gegenseitige Hilfe vermitteln, ist noch ein weitgehend unbekannter Teil der Burgergesellschaft in Deutschland. Die Selbstorganisation von Migrantinnen und Migranten mit Integration, interkultureller Solidaritat und der Verantwortung des Sozialstaats zu verbinden, ist eine zentrale Anforderung an die Zukunftsfahigkeit einer deutschen Einwanderungsgesellschaft. Ein aktivierender Sozialstaat kann unterschiedlich vorgehen. Er kann im Sinne kommunaler Sozialpolitik die Verantwortungsbereitschaft des Einzelnen starken, er muss aber auch das Sozialkapital der iiberindividuellen Strukturen und Beziehungsnetzwerke starken. Das Ziel, die Einbindung der Menschen in die Gemeinschaft, kann vor allem dadurch erreicht werden, dass sozialstaatliche Institutionen wie Kindertagesstatten, Jugendzentren, Schulen und soziale Dienste fur Senioren so umgestaltet werden, dass sie die jeweiligen Nutzergruppen an der konkreten Ausgestaltung dieser Einrichtungen und ihren Leistungen aktiv beteiligen.

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11. Fur einen burgerschaftlichen Aufbruch Biirgerschaftliches Engagement bietet die Chance, Demokratie und Sozialstaat in Deutschland in mancherlei Hinsicht neu zu erfmden. Orientiert an der Vision groBt-moglicher Selbstbestimmung und Gestaltungskompetenz der engagierten Biirgerinnen und Burger, die kooperativ und nach demokratischen Regeln ihr Gemeinwesen organisieren, konnte die konsequente Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche durch biirgerschaftliches Engagement zur Grundlage eines neuen Gesellschaftsvertrages werden. Das Leitbild der Burgergesellschaft gibt wichtige Orientierungen fur die notigen Reformen in Staat und Gesellschaft, die vor uns liegen.

Literatur Brendgens, Ulrich; Braun, Joachim (2000): Freiwilliges Engagement alterer Menschen. In: Picot, Sibylle: Freiwilliges Engagement in Deutschland. Freiwilligensurvey 1999, Ergebnisse der Reprasentativerhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und burgerschaftlichen Engagement. Bd. 3: Frauen und Manner, Jugend, Senioren, Sport. Stuttgart u.a.: Kohlhammer, 209-301. Burgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfahige Gesellschaft (2002): Bericht der Enquete-Kommission „Zukunft des Burgerschaftlichen Engagements", Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Drucksache 14/8900 Klie, Thomas (2003): Burgerschaftliches Engagement im Alter. In: Enquete-Kommission „Zukunft des Burgerschaftlichen Engagements" Deutscher Bundestag (Hrsg.): Burgerschaftliches Engagement und Sozialstaat. Opladen: Leske + Budrich, 109-124. Knopf, Detlef; Schaffter, Ortfried; Schmidt, Roland (Hrsg.) (1995): Produktivitat des Alters. 3. Auflage. Berlin: DZA. Meyer, Thomas (Hrsg.) (2002): Die Burgergesellschaft: Perspektiven fur Biirgerbeteiligung und Biirgerkommunikation. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Organisierte Solidaritat in der Btirgergesellschaft? Biirgerschaftliches Engagement in Schleswig-Holstein Peter Zdngl

1. Problemstellung und Begriffsklarungen 1.1

Ausgangssituation

Biirgerschaftliches Engagement - als Klammerbegriff fur Ehrenamt, Selbsthilfe und neue Formen des Engagements - bedeutet Mitgestaltung und Mitverantwortung fur unsere Gesellschaft. Es ist unverzichtbarer Bestandteil fur die Demokratie und fur das humane Miteinander der Menschen und somit weit mehr als eine Erganzung staatlichen Handelns. Durch aktiv handelnde Burgerinnen und Burger werden die demokratischen und sozialen Strukturen unserer Gesellschaft gestarkt, verandert und auf die sich wandelnden Bediirfnisse der Gesellschaft zugeschnitten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass durch eine Starkung des biirgerschaftlichen Engagements staatliche Sozialpolitik obsolet wird bzw. werden soil, denn: Ein friedlich-demokratisches Zusammenleben kann nur das Ergebnis zivildemokratischer Strukturen sein. Dies kann eine umverteilende, fursorgende Sozialpolitik nicht garantieren. Jedoch fehlt der Bilrgergesellschaft eine organisierte Form von sozialer Gerechtigkeit, wie es der Sozialstaat garantiert, die wiederum die Menschen motiviert, vertrauensvoll fureinander einzustehen. In den letzten Jahren hat sich in Deutschland das Bewusstsein herausgebildet, die Vielzahl der einzelnen Bereiche, Formen und Initiativen einer Btirgergesellschaft als Ganzes und - verbunden mit der offentlichen Diskussion iiber einen „Dritten Sektor zwischen Staat und Wirtschaftsunternehmen" - als eigenstandiges Politikfeld mit vielfaltigen Querschnittsbeztigen zu anderen Politikfeldern zu begreifen. Dieses Politikfeld - Engagementpolitik - muss so ausgestaltet sein, dass ein Prozess der gesellschaftlichen Umgestaltung und der individuellen Bewusstseinsanderung in Gang gesetzt wird. Zu beachten ist jedoch, dass dieser Prozess vermutlich viele Jahre in Anspruch nehmen und sich uberwiegend in kleinen Schritten und MaBnahmen vollziehen wird, da eine starke Btirgergesellschaft in der deutschen, eher staatszentrierten Kultur bislang keine groBe Tradition hatte.

Peter Zdngl

230 1.2

Begriffsklarungen

Derzeit scheint es so, dass in einer wie auch immer gearteten Burgergesellschaft die Losung (fast) aller drangender gesellschaftlichen Probleme zu finden ist. Dementsprechend konnen (mindestens) ftinf Debatten identifiziert werden, zu denen die Biirgergesellschaft einen wichtigen Beitrag zu leisten im Stande sei: • • • • •

Biirgergesellschaft und die Reform des Sozialstaates, Biirgergesellschaft und die Heilung der destruktiven Folgen von Individualisierangs- und Pluralisierungsprozessen der modernen Gesellschaft, Biirgergesellschaft und die Weiterentwicklung der Demokratie (insbesondere der politischen Teilhabe), Biirgergesellschaft und die Zukunft der Arbeitsgesellschaft, Burgergesellschaft und die Wissens- bzw. Informationsgesellschaft.

Um jedoch den Begriff der biirgergesellschaft" nicht dem Vorwurf der Beliebigkeit auszusetzen - und ihm damit das Etikett einer Leerformel anzuheften -, miissen seine Konruren gescharft werden. Theoriebildung und empirische Forschung zur Burgergesellschaft stehen jedoch noch am Anfang, so dass auf eine allgemeingiiltige Definition noch nicht zuriickgegriffen werden kann. Hilfreich sind allerdings in diesem Zusammenhang die Uberlegungen von Heinze und Oik (2001), die die Burgergesellschaft folgendermafien beschreiben: Die Burgergesellschaft ist der offentliche Raum, in dem die Biirgerinnen und Burger als zivilgesellschaftliche Akteure freiwillig und selbstbestimmt an der Diskussion offentlicher Belange teilhaben und durch aktives Handeln zum Gemeinwohl beitragen zu konnen. Das zentrale Wesensmerkmal der Burgergesellschaft ist das biirgerschaftliche Engagement. Dabei sind seine drei Bedeutungskomponenten zu beachten: • • •

Btirgerschaftliches Engagement ist angesiedelt zwischen den Spharen der privaten Familienhaushalte, dem Markttausch und der staatlichen Intervention. Biirgerschaftliches Engagement spielt sich im offentlichen Raum der Burgergesellschaft ab. Biirgerschaftliches Engagement muss immer einen Gemeinwohlbezug haben.

Aus diesen beiden Definitionen ergibt sich ein Beziehungsgeflecht zwischen dem offentlichen Raum der Burgergesellschaft, den Wesensmerkmalen des burgerschaftlichen Engagements - Freiwilligkeit und Selbstbestimmung und seinen Handlungsfeldern - Partizipation und aktives Handeln mit Gemeinwohlbezug.

Organisierte Solidaritat in der Burgergesellschaft?

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2. Ziele staatlicher Engagementpolitik Ziel staatlicher Engagementpolitik muss der Aufbau und die Unterstutzung einer breiten, engagementfreundlichen Infrastruktur sein. Dieser Anspruch geht weit ilber die exemplarische Forderung einzelner biirgerschaftlicher Projekte hinaus. Hierfur miissen die Rahmenbedingungen auf alien staatlichen Ebenen - Kommune, Land, Bund - so ausgestaltet sein bzw. geschaffen werden, dass sich biirgerschaftliches Engagement entwickeln kann und nicht behindert wird. Bei alien Bemuhungen darf dabei jedoch nicht verkannt werden, dass es eine staatlich verordnete Burgergesellschaft nicht geben kann und dies die Leitideen der Burgergesellschaft konterkarieren wtirde. Vielmehr muss beachtet werden, dass die Starkung der Burgergesellschaft durch die Forderung des burgerschaftlichen Engagements eine kontinuierliche Aufgabe in gemeinsamer Verantwortung von Burgerschaft, Politik, Verwaltung, Organisation, Verbanden, Fachkraften und Wirtschaft ist. 2.1 Blickwinkel der

Engagementpolitik

Zu unterscheiden sind in diesem Zusammenhang zwei Herangehensweisen auf der Basis eines individuellen bzw. eines institutionellen Blickwinkels: 2.1.1 Individuelle Sichtweise Zum einen geht es dabei datum, die vorhandenen Potenziale von engagementwilligen Bilrgerinnen und Btirgern auszuschopfen (vgl. In/ratest Burke 1999). Fur diesen Personenkreis und fur die sich bereits Engagierenden gilt es, Hemmnisse abzubauen, die den Einzelnen bei seinem aktiven Tun fur die Gemeinschaft behindern. Die Entwicklung hin zu einer starken Burgergesellschaft ist ein Lernprozess, auf den sich alle Akteure gemeinsam einlassen miissen. Daher miissen Qualifizierungs- und Fortbildungsangebote entwickelt und bereits vorhandene Angebote begleitet werden, um sowohl die so genannten soft skills wie z.B. Gesprachsfuhrung, Moderationstechniken, Zeitmanagement, Leitungskompetenz und Konfliktmanagement als auch fur das jeweilige Handlungsfeld spezifische Kenntnisse z.B. in den Bereichen Offentlichkeitsarbeit, Marketing, Rechtsfragen zu verbessern. Gleiches gilt auch fur die Vermittlung der Grundgedanken einer aktiven Burgergesellschaft. Dartiber hinaus ist es notwendig, geeignete - i.S. von zielgruppengerechten und zeitgemaBen - Formen der Anerkennung fur das freiwillige Tun zu entwickeln, um sowohl den Stellenwert des burgerschaftlichen Engagements fur die Starkung des Gemeinwohls zu verdeutlichen als auch die aktiv handelnden Personen zu weiterem Engagement zu ermutigen.

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2.1.2

Institutionelle Sichtweise

Die zentrale Fragestellung, die sich an die individuelle Sichtweise anschlieBt, ist: Wie miissen sich staatliche und nichtstaatliche Institutionen/Organisationen wandeln, damit sich der Einzelne engagieren kann und will? Der sich hieraus ergebende Handlungsbedarf zeigt sich beispielsweise anhand der Klagen • • • • •

der Verbande der freien Wohlfahrtspflege ilber die zunehmend schwierige Rekrutierung von Ehrenamtlichen, der Vereine iiber die Unlust ihrer Mitglieder zur Ubernahme von Vereinsarbeit, der politischen Parteien und der Parlamente ilber zunehmende Politikverdrossenheit, der Kommunen ilber die mangelnde Bereitschaft ihrer Bilrgerinnen und Burger zur Ubernahme eines Ehrenamtes, der Verwaltungen ilber bestehende bilrokratische Strukturen, die das Verhaltnis zu den Bilrgerinnen und Burger belasten.

Dabei unberilcksichtig bleibt jedoch, dass viele Institutionen und Organisationen geradezu engagement-unfreundlich organisiert, bzw. nicht auf die sich gewandelten und noch wandelnden Bediirfnisse der Bilrgerinnen und Btlrger zugeschnitten sind. Dies lasst sich jedoch nur dann entscheidend andern, wenn die Starkung der Biirgergesellschaft von den beteiligten Institutionen/ Organisationen und Akteuren als ein Organisationsentwicklungsprozess im Sinne eines geplanten, gelenkten und systematischen Prozesses zur Veranderung ihrer Kultur, ihrer Arbeitsweisen und ihr Verhalten verstanden wird. Um dies zu erreichen, ist ahnlich wie bei der individuellen Sichtweise ein organisationsumgreifender Lernprozess anzustoBen, der iiber unmittelbare Verhaltensanderungen einzelner Mitglieder hinaus auch die Organisationsstrakturen und -prozesse verandert. Staatliche Aufgabe ist es dabei - unabhangig des individuellen und institutionellen Blickwinkels -, diese Prozesse - sofern noch nicht geschehen anzustoBen, Plattformen fur den Austausch der Beteiligten zur Verfugung zu stellen, den Informationstransfer zwischen den Beteiligten zu gewahrleisten sowie Konzepte zur Engagementforderung zu entwickeln und umzusetzen. 2.2 Ziele staatlicher

Engagementpolitik

Das Hauptziel staatlicher Engagementpolitik .Starkung der Biirgergesellschaft' muss so verstanden werden, dass die Verbesserung der Rahmenbedingungen fur das Engagement des Einzelnen im Fokus steht; hierzu gehort auch das Ausschopfen vorhandener Potenziale sowie die Verbesserung der Aner-

Organisierte Solidaritat in der Biirgergesellschaft?

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kennungskultur. Auf der anderen Seite miissen durch staatliche Engagementpolitik Impulse zur Modernisierang des Sozialstaates ausgehen. Was kann also der Staat tun, damit sich burgerschaftliches Engagement weiter entwickeln kann? Die im Subsidiaritatsprinzip postulierte ,Vorfahrtsregel' sagt aus, dass erst wenn der Einzelne nicht selbst seine sozialen Probleme erledigen kann, dann sollten die Familie, Sozialvereine und -verbande, dann erst die kommunale und zuletzt die staatliche Sozialpolitik tatig werden. Nichtsdestotrotz lasst sich hieraus ein Gleichheitsgrundsatz im Sinne einer Unterstutzungsverpflichtung der Gesellschaftstatigkeit fur den Staat ableiten, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich alle Gesellschaftsmitglieder selbst helfen oder organisieren konnen. Diesem Grundgedanken folgend fallt dem Staat die Aufgabe zu, die Rahmenbedingungen dafiir zu schaffen, dass es seinen Btirgerinnen und Btirgern moglich ist, Hilfe zur Selbst- und zur Gemeinschaftshilfe zu leisten (fordern und fordern). Das staatliche Leitbild kann daher nicht mehr der ,Vater Staat' sein, sondern muss sich zu einem ,Partner Staat' entwickeln. Hierzu gehoren auch Aufgaben wie Moderation von Netzwerken der Beteiligten und eine Impulsgeberfunktion. Damit der Spagat zwischen Selbstverwirklichung/Selbstbestimmung und staatlichen Vorgaben gelingt, ist ein behutsames Vorgehen bei der Starkung des burgerschaftlichen Engagements vonnoten. 2.3

Problembereiche

Im Sinne der sozialen Gerechtigkeit sind jedoch zwei Problembereiche zu beriicksichtigen: 1. Sind Btirgerinnen und Burger zukunftig uberhaupt bereit, sich freiwillig fur das Gemeinwohl zu engagieren, wenn der Staat sich auf seine Kernaufgaben konzentriert, wie es von vielen Kritikern der Biirgergesellschaft befurchtet wird? Dieser Entwicklung kann nur entgegengewirkt werden, wenn deutlich wird, dass der Staat aktiv zur Verbesserung der Rahmenbedingungen fur burgerschaftliches Engagement beitragt (Gewahrleistung des Informationstransfers, Moderation, Forderung). 2. Insbesondere die Infratest-Studie zum freiwilligen Engagement (Infratest 1999) hat verdeutlicht, dass sich freiwilliges Engagement an bestimmte Statusmerkmale knupft. Zum einen wird zwar verdeutlicht, dass freiwilliges Engagement unbezahlbar ist (vgl. Werbekampagne im IJF), andererseits ist offensichtlich geworden, dass man sich freiwilliges Engagement auch leisten konnen muss. Dies bedeutet, dass das Ausiiben freiwilligen Engagements haufig an Erwerbsarbeit gekniipft ist. Die Forderung der Participatory skills (Einkommen, Bildung, Gesundheit etc.) birgt jedoch

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auch die Gefahr, die Kluft zwischen Engagierten und Nicht-Engagierten weiter zu vergroBern (Selbstrekrutierung). Der Politik kommt dabei die Aufgabe zu, Strukturen zu schaffen zwischen der einerseits notwendigen staatlichen Zurtickhaltung und der produktiven Einmischung andererseits. Freiwilliges Engagement kann zwar angeregt, gefordert und vernetzt, aber nie abschlieBend erfasst, geplant und verwaltet werden. Im Wissen um diese Zusammenhange hat die Landesregierung Schleswig-Holsteins die Starkung des biirgerschaftlichen Engagements zu einem der Schwerpunkte der Regierungsarbeit dieser Legislaturperiode bestimmt. Sie hat sich in den Diskussions- und Gestaltungsprozess auf verschiedenen Ebenen aktiv eingebracht und entwickelt eigene Vorstellungen fur die Starkung des biirgerschaftlichen Engagements durch konkretes politisches Handeln.

3. Engagementpolitik in Schleswig-Holstein - Bilanz der LandesinitiativeBiirgergesellschaft Zur Starkung des biirgerschaftlichen Engagements in Schleswig-Holstein ist seit dem 1. November 2001 im Ministerium fur Arbeit, Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz die „Landesinitiative Burgergesellschaft" (LiBG) angesiedelt. Die Landesinitiative Burgergesellschaft - als ein Instrument der konkreten Politikgestaltung im Land - will den Stellenwert des biirgerschaftlichen Engagements und des Ehrenamtes aufwerten, Hilfe zur Selbsthilfe anbieten und neue Impulse fur die Verwirklichung der Burgergesellschaft geben. 3.1

Kabinettbeschluss

Durch Kabinettbeschluss vom 26.672.7.2001 wurden die Aufgaben der Landesinitiative Burgergesellschaft bestimmt. Aufgaben der Landesinitiative Burgergesellschaft sind: •

•

die Schaffung einer geeigneten engagementfreundlichen Infrastruktur, innerhalb derer sich alle Beteiligten auf Gemeinde-, Stadt- und Landesebene miteinander austauschen und gemeinsam Konzepte und Strategien zur Starkung des biirgerschaftlichen Engagements / Ehrenamtes und zur Motivierung von Biirgerinnen und Biirgern entwickeln konnen, die Entwicklung und Forderung von Qualifizierungs- und Forfbildungsangeboten fur freiwillig Engagierte sowie Multiplikatoren,

Organisierte Solidaritdt in der Biirgergesellschaft? • • • • •

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die Entwicklung von Konzepten zu ausgewahlten Handlungsfeldern des bilrgerschaftlichen Engagements, die Auswertung der Ergebnisse der Enquete-Kommission des deutschen Bundestages „Btirgerschaftliches Engagement", die Koordinierung der Aktivitaten der Landesregierung zur Starkung des freiwilligen Engagements, die Entwicklung eines neuen Handlungs- und Rollenverstandnisses in der Offentlichen Verwaltung, mit dessen Hilfe mehr freiwilliges Engagement ermoglicht wird, die Berichterstattung tiber die Entwicklung des burgerschaftlichen Engagements in Schleswig-Holstein,

3.2 Mafinahmen zur

Zielerreichung

3.2.1 Netzwerke Durch die Aktivitaten der Landesinitiative ist es bereits in vielen Bereichen gelungen, eine engagementfreundliche Infrastruktur zu schaffen, innerhalb derer sich alle Beteiligten auf Gemeinde-, Stadt- und Landesebene miteinander austauschen und gemeinsam Konzepte und Strategien zur Starkung des burgerschaftlichen Engagements / Ehrenamtes und zur Motivierung von Biirgerinnen und Bilrgern entwickeln konnen. Die Landesinitiative ist an der Bildung einer Vielzahl von Netzwerken im Rahmen des burgerschaftlichen Engagements beteiligt. In diesem Zusammenhang hat sie beispielsweise zahlreiche Treffen, Besprechungen und Veranstaltungen zu unterschiedlichen Themenbereichen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen fur das burgerschaftliche Engagement mit den in Schleswig-Holstein tatigen Freiwilligenagenturen/-foren, Spendenparlamenten, dem Landeskuratorium des Schleswig-Holsteinischen Heimatbundes und den Kontakt- und Informationsstellen der Selbsthilfe initiiert, moderiert und/oder durchgefuhrt. Sie hat dariiber hinaus in mehreren Kommunen des Landes (z.B. Danischenhagen, Heide, Kiel) die Einfuhrung und Umsetzung sog. ,runder Tische, Planungszellen oder andere Konzepte zur Burgerbeteiligung finanziell und konzeptionell unterstutzt und begleitet. Zuletzt war sie Mitveranstalter der .Zukunftskonferenz zur Biirgerbeteiligung', deren Ziel es war, gemeinsam mit uber 100 Biirgerinnen und Bilrgern, Vertreter/innen der Landesregierung, den kommunalen Landesverbanden, 13 (hauptamtlichen) Verwaltungsspitzen (Landraten, Oberbilrgermeistern und Biirgermeistern aus Stadten und Gemeinden) neue Wege zur Btirgerbeteiligung aufzuzeigen und diese umzusetzen Aktuell wirkt die Landesinitiative bei dem Aufbau eines tragerubergreifenden Verbundes zum Burgerengagement in Kiel von Wohlfahrtsverbanden,

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Kirchen, privaten Vereinen und Kommune mit dem Titel „Nette Kieler" mit, um auch in der Landeshauptstadt ein Signal fur gemeinsames Handeln fur das Gemeinwohl zu setzen. Das Konzept einer Freiwilligenagentur hat sich fur und in Kiel als nicht tragfahig erwiesen. Auf der Bundesebene ist die Landesinitiative Burgergesellschaft Mitglied des Bundesnetzwerks zum burgerschaftlichen Engagement - BBE, das aus der Enquete-Kommission zur Zukunft des burgerschaftlichen Engagements hervorgegangen ist. Darilber hinaus arbeitet die LiBG zusammen mit den Nordlandern an einer gemeinsamen Werbeaktion zum burgerschaftlichen Engagement. 3.2.2 Qualifizierung und Fortbildung Durch die Arbeit der Landesinitiative Burgergesellschaft sind unterschiedliche Qualifizierungs- und Fortbildungsangebote fur freiwillig Engagierte sowie Multiplikatoren entwickelt und gefordert worden. Neben der finanziellen Forderung von Einzelprojekten zu Fort- und Weiterbildungskonzepten auf dem Gebiet des burgerschaftlichen Engagements verfolgt die Landesinitiative insbesondere zwei MaBnahmen zur Qualifizierung burgerschaftlich Engagierter: Zum einen ist die LiBG am Bundesmodellprojekt „Erfahrungswissen fur Initiativen" (vgl. Burmeister in diesem Band) beteiligt. Ziel ist es dabei, altere Menschen in der Wertigkeit ihres Erfahrungswissens zu bestarken und dieses Wissen fur die Gesellschaft besser zu nutzen. Das Programm will die Neufindung der gesellschaftlichen Position alterer Menschen und die offentliche Anerkennung ihres Beitrages fur die Gemeinschaft fordern. Hierzu werden altere Menschen als so genannte SeniorTrainerinnen und SeniorTrainerinnen ausgebildet, um sie so zu befahigen, dass sie ihr Erfahrungswissen in die Gesellschaft einbringen konnen. In Schleswig-Holstein erfolgt diese Ausbildung an der EFH Koppelsberg und findet in Kooperation mit der Freiwilligenagentur Liibeck, dem Seniorenburo Neumunster und der Agentur fur Biirgerschaftliches Engagement Meldorf statt. Zum anderen entwickelt die LiBG in Kooperation mit dem Landesverband der Volkshochschulen und der Landeszentrale fur politische Bildung derzeit ein Konzept ,Zusatzqualifikation biirgerschaftliches Engagement', das zum Ziel hat, in Schleswig-Holstein einen Verbund entstehen zu lassen, dessen Zweck die Qualifizierung und Fortbildung schleswig-holsteinischer Btirgerinnen und Burger ist, die sich burgerschaftlich engagieren wollen bzw. dieses bereits tun. Damit sollen gleichzeitig die Ergebnisse aus dem Modellprojekt ,EFI' so verstetigt werden, dass eine tragfahige und von offentlichen Mitteln weitestgehend unabhangige Finanzierung nach Ende der Modellphase gewahrleistet ist.

Organisierte Solidaritdt in der Biirgergesellschaft?

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3.2.3 Verschiedene Handlungsfelder Die Landesinitiative hat in unterschiedlichen Handlungsfeldern des burgerschaftlichen Engagements Konzepte entwickelt, umgesetzt oder mit Partnern befordert. Nachfolgend werden Beispiele fiir Konzepte und Umsetzungen in ausgewahlten Handlungsfeldern, an denen die Landesinitiative Burgergesellschaft maBgeblich beteiligt war, aufgezeigt. Unabhangig davon hat die Landesinitiative zahlreiche Projekte finanziell und im Sinne von Projektberatungen auch konzeptionell gefordert: Handlungsfeld: Schutz der Engagierten, Versicherung: Die Landesinitiative hat erreicht, dass der individuelle Schutz des Einzelnen, der nicht einem groBen Verband oder der Kirche angeschlossen ist, bei der Ausubung seines Ehrenamtes erheblich verbessert wurde. Dementsprechend wurde mit den Partnern Provinzial und dem SHHB ein kostengunstiges Versicherungsangebot entwickelt, das bundesweit Aufmerksamkeit gefunden hat. Handlungsfeld: Qualitdtsmanagement und Beratung von Vereinen und Projekten: Die Landesinitiative hat in Kooperation mit dem Landesfrauenrat den Aufbau eines Qualitatsmanagementsystems zur Beratung und Organisationsentwicklung von burgerschaftlichen Projekten und Vereinen initiiert. Aus diesem Projekt wird bis Anfang 2005 ein Handbuch entstehen, das jedem interessierten Verein zur Verfilgung gestellt wird. Handlungsfeld: Aufbau eines Netzwerks offener Hilfen in der Behindertenpolitik: CareNet hat zum Ziel, den Menschen mit Behinderung eine selbststandige und selbst bestimmte Lebensfuhrung in der eigenen Hauslichkeit zu ermoglichen. Hierfur ist unterhalb der Kreisebene eine Infrastruktur aufzubauen und zu befordern, innerhalb derer die notwendigen UnterstutzungsmaBnahmen und Hilfen unter Einbeziehung des burgerschaftlichen Engagements organisiert werden konnen. Die Landesinitiative hat dieses Konzept entwickelt und wird dies in den beiden Kreisen Schleswig-Flensburg und Segeberg zusammen mit den Kommunen und einem externen Partner umsetzen. 3.2.4 Enquete-Kommission des deutschen Bundestages „Zur Zukunft des Burgerschaftlichen Engagements" Die Landesinitiative hat friihzeitig die Ergebnisse der Enquete-Kommission des deutschen Bundestages „Zur Zukunft des Burgerschaftlichen Engagements" (vgl. Enquete-Kommission 2002) ausgewertet und in ihr Arbeitsprogramm aufgenommen. Schleswig-Holstein hat durch die LiBG als erstes Bundesland offentlich Stellung zu den Ergebnissen der Enquete-Kommission des deutschen Bundestages „Burgerschaftliches Engagement" genommen. Der Bericht der Enquete-Kommission wird als ein wichtiger Beitrag zur

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Starkung der Biirgergesellschaft und des btirgerschaftlichen Engagements gesehen. Er stellt in sehr umfassender Weise Problembereiche dar, die sich derzeit noch Engagement hemmend auswirken. Besonders deutlich wird, dass es sich bei der Starkung der Biirgergesellschaft durch die Forderung des btirgerschaftlichen Engagements um eine kontinuierliche Aufgabe handelt und in der gemeinsamen Verantwortung von Burgerschaft, Politik, Verwaltung, Organisation, Verbanden, Fachkraften und Wirtschaft liegt. Dementsprechend mtissen auch weiterhin alle Beteiligten die sich aus dem Bericht ergebenden Handlungsernpfehlungen uberprufen und auf Umsetzungsmoglichkeiten hinarbeiten. Die Engagementpolitik des Landes Schleswig-Holstein muss einen Prozess der gesellschaftlichen Umgestaltung und der individuellen Bewusstseinsanderung unterstiitzen und begleiten. Hierbei ist zu beachten, dass dieser Prozess viele Jahre in Anspruch nehmen und sich iiberwiegend in kleinen Schritten und MaBnahmen vollziehen wird. In Schleswig-Holstein sind hierfur mit der Einrichtung der Landesinitiative Burgergesellschaft bereits die Grundstrukturen geschaffen. Das Arbeitsprogramm der LiBG richtet sich auch zukiinftig an den Ergebnissen der Enquete-Kommission aus. Dabei liegen die Schwerpunkte ihrer Arbeit in der Verbesserung der Rahmenbedingungen fur das Engagement (z.B. rechtlicher Schutz), in der Entwicklung von Konzepten zur Qualifikation von Engagierten (z.B. EFI, .Zusatzqualifikation'), in der Organisation ,des Sozialen' vor Ort durch Starkung der Nachbarschaftshilfe, der Selbsthilfe und der Engagementbereitschaft (z.B. CareNet) und in der Verbesserung der Anerkennungskultur. 3.2.5 Koordinierung innerhalb der Landesregierung Die LiBG hat verschiedene Koordinierungsaufgaben der Aktivitaten der Landesregierung zur Starkung des freiwilligen Engagements wahrgenommen und ist dartlber hinaus an verschiedenen Gemeinschaftsprojekten mit anderen Ministerien und Fachreferaten beteiligt. Die Landesinitiative war bislang in verschiedenen Querschnittsfunktionen sowohl innerhalb des MSGV als auch Ressort iibergreifend tatig. Hierzu gehoren insbesondere: • • •

die Entwicklung eines weitgehend auf burgerschaftliches Engagement abgestiitzten Strukturkonzeptes zur Schaffung eines Netzwerkes offener Hilfen in der Behindertenpolitik, die Aufgabe als Koordinierungsstelle fur den Zukunftsdialog ,Demografischer Wandel', die Zustandigkeit fur Grundsatzfragen der Seniorenpolitik,

Organisierte Solidaritdt in der Biirgergesellschaft? • •

•

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die Mitwirkung in den interministeriellen Arbeitskreisen ,Nachhaltigkeitsstrategie zukunftsfahiges Schleswig-Holstein' und ,Konsequenzen des demografischen Wandels', die gemeinsame Projektentwicklung mit der Staatskanzlei (SH-Tag, Internet-Portal), IM (Zukunftskonferenz Biirgerbeteiligung, Projektbeirat ,Markttreff), MJF (Veranstaltungsreihe ,Mein Weg in die Politik', Gemeinschaftsveranstaltung zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen, MUNF (Lebensraum Schulhof) sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Forderung des biirgerschaftlichen Engagements, die an alle Ressorts verschickt wurden.

Durch die Arbeit der LiBG wurde ein neues Handlungs- und Rollenverstandnis in der offentlichen Verwaltung entwickelt, mit dessen Hilfe mehr freiwilliges Engagement ermoglicht wird. Ziele der LiBG sind der Aufbau und die Unterstiitzung einer breiten, engagementfreundlichen Infrastruktur. Dieser Anspruch geht weit uber die exemplarische Forderung einzelner burgerschaftlicher Projekte hinaus. Hierfur mtissen die Rahmenbedingungen auf alien staatlichen Ebenen - Kommune, Land, Bund - so ausgestaltet sein bzw. geschaffen werden, dass sich bilrgerschaftliches Engagement entwickeln kann und nicht behindert wird. Das staatliche Leitbild kann dabei nicht der ,Vater Staat' sein, sondern muss sich zu einem ,Partner Staat' entwickeln. Hierzu gehoren auch Aufgaben wie Moderation von Netzwerken der Beteiligten und eine Impulsgeberfunktion. Dementsprechend versteht sich die Landesinitiative Biirgergesellschaft nicht als verordnende Instanz, sondern vielmehr als Informations- und Anlaufstelle fur Biirgerinnen und Burger, die sich freiwillig und selbst bestimmt engagieren bzw. engagieren wollen. Dass dieses im Verstandnis der Biirgerinnen und Burger angekommen ist, zeigt die Vielzahl von Informationswunschen gegeniiber der Landesinitiative beztiglich Steuer-, Rechtsfragen, Versicherung, Freistellungen, Finanzierungen sowie Projektberatung und -forderung. Einen Schwerpunkt der Arbeit der Landesinitiative bildet in diesem Zusammenhang die Beratung von neu entstehenden und von bereits etablierten Projekten. Die Themenpalette deckt dabei das ganz Spektrum ab, in dem sich btirgerschaftliches Engagement entwickelt. Sie reicht von der Unterstiitzung bei der Weiterentwicklung eines Planetariums uber die Durchfiihrung von Veranstaltungen zur Verbesserung der Teilhabechancen von Frauen in der Kommunalpolitik bis hin zur Beratung von Projekten aus dem sozialen Bereich. Auch innerhalb des Ministeriums fur Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz bemuht sich die LiBG um Veranderungen im Verstandnis fur eine starke Biirgergesellschaft. Dies findet beispielsweise Ausdruck in der Entwicklung von Richtlinien, die eine Forderung biirgerschaftlich orientierter Projekte erleichtern, in dem das Engagement als Eigenleistung anerkannt wird. Ein weiteres Beispiel hierfur ist die Entwicklung des Informations-

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blattes ,Wir in Schleswig-Holstein', das mithilfe einer ehrenamtlich Tatigen entstanden ist, die hierfur die Hauptredaktionsarbeit iibemommen hat. 3.2.6 Offentlichkeitsarbeit Die Landesinitiative berichtet regelmaBig iiber die Entwicklung des burgerschaftlichen Engagements in Schleswig-Holstein sowie liber ihre Arbeit. Das Engagement braucht keine Generalkampagne oder Mobilmachung und auch nicht das standige Beschworen von dessen Bedeutung, sondern Information, Transparenz und eine sensible Forderpolitik. Populismus und rein appellative Politik fuhren zu kontraproduktiven Ergebnissen; Formen der direkten Kommunikation mit den Menschen muss der Vorzug gegeben werden. Die Landesinitiative Burgergesellschaft hat auch zum Ziel, die Grundgedanken der Burgergesellschaft der Offentlichkeit vorzustellen und zu diskutieren. Dies geschieht durch •

• • •

Veranstaltungen zu ausgewahlten Themenbereichen des blirgerschaftlichen Engagements wie der Presentation anlasslich des Schleswig-Holstein-Tages in Bad Segeberg, der Vorstellung der Ergebnisse der Enquete-Kommission „Zukunft des burgerschaftlichen Engagements" im Ministerium fur Arbeit, Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz mit dem Vorsitzenden der Kommission, der Tagung „Partizipation von Kindern und Jugendlichen in Kooperation mit dem Ministerium fur Jugend und Frauen, zweier Podiumsdiskussionen mit dem Titel ,Mein Weg in die Politik' unter Beteiligung von Bundes-, Landes- und Kommunalpolitikerinnen, der Aktion der Landesinitiative unter dem Motto , SchleswigHolstein in Bewegung', Grafiworte und Reden zum Thema burgerschaftliches Engagement und Ehrenamt (ca. 50 seit Bestehen der LiBG), Fachvortrage und Podiumsdiskussionen zu speziellen Themen sowie durch Veroffentlichungen/Berichterstattung (Artikel in Printmedien des Gemeinde- und Stadtetages, den Mitteilungen der Akademie fur landliche Raume, dem Forum des Landesseniorenrats, Faltblatt, Namensartikel von Ministerin Heide Moser in Zeitschrift fur politische Psychologie, div. Presseartikel, im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie des Landes und der Studie zum Demografischen Wandel).

3.2.7 Derzeitige Vorhaben Zur Starkung des burgerschaftlichen Engagements und insbesondere zur Verbesserung der Rahmenbedingungen fur biirgerschaftlich Engagierte und ehrenamtlich Tatige verfolgt die Landesinitiative Burgergesellschaft derzeitig - neben der Projektforderung aus dem Ehrenamts- und Selbsthilfebereich und

Organisierte Solidaritat in der Biirgergesellschaft?

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den mittlerweile routinemaBigen Aufgaben der Landesinitiative - verschiedene Vorhaben: • • • •

•

Entwicklung eine Rahmencurriculums fur Schulungen und QualifizierungsmaBnahmen fur btirgerschaftlich Engagierte (Kooperation mit dem Landesverband der VHS und der Landeszentrale fur politische Bildung), Angebot und Durchfuhrung entsprechender Schulungsmaflnahmen, Aufbau eines Qualitatsmanagementsystems zur Beratung und Organisationsentwicklung von btirgerschaftlichen Projekten und Vereinen in Kooperation mit dem Landesfrauenrat, Auslobung eines Bilrgerpreises ,fur mich, fur uns, fur alle' zur Auszeichnung auBergewohnlichen Engagements von Einzelpersonen, Vereinen, Projekten und Unternehmen in Schleswig-Holstein in Kooperation mit dem Sparkassen- und Giroverband Schleswig-Holstein, Entwicklung neuer Handlungskonzepte fur Biirgerengagement auf der kommunalen Ebene zur Verbesserung der Situation von Menschen mit Unterstiitzungsbedarf (s.a. CareNet).

4. Fazit Das freiwillige Engagement der Biirgerinnen und Burger hat heute einen beeindruckenden Umfang erreicht. Die Landesregierung in Schleswig-Holstein will sich damit aber nicht zufrieden geben. Sie will insbesondere mit der Einrichtung der Landesinitiative Biirgergesellschaft die Potenziale weiter erschlieBen und ausbauen, Hemmnisse und Risiken fur freiwilliges Engagement abbauen, die Potenziale nutzbar machen fur die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft, fur eine Neubestimmung des Verhaltnisses von Staat und Burgern, fur den Weg in eine aktive Burgergesellschaft. Die Reformfahigkeit unseres Staates wird durch eine Reihe von gesellschaftlichen Anderungsprozessen herausgefordert. Demografische Entwicklung, Informationsgesellschaft und der so genannte Wertewandel sind Stichworte aus der aktuellen Diskussion. Das Leitbild des subsidiaren Rechts- und Sozialstaats sieht in der Sicherung der individuellen Freiheit, der sozialen Sicherheit, der Gerechtigkeit und des sozialen Friedens gleichrangige und miteinander verbundene Ziele. Es kommt darauf an, diese Ziele auch unter sich verandernden Bedingungen zu wahren. Subsidiarit&t verlangt Achtung und Forderung der eigenen Entscheidungs- und Handlungsfahigkeit von Individuen und Gruppen. Die Menschen wollen keinen omnipotenten Versorgungsstaat, der in alle Lebensbereiche hineinregiert. Ein solcher Staat lahmt die Eigeninitiative seiner Biirgerinnen und Burger, er verhindert, dass die Menschen zusammen mit anderen die

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Gestaltung ihres Lebens und ihres Umfeldes selbst in die Hand nehmen. Entscheidungsprozesse konnen nicht nur in den Zirkeln der Berafspolitik stattfmden. Wenn wir Menschen wieder fur die Aufgaben der Politik gewinnen wollen, dann milssen wir genau zuhoren - nicht nur vor Wahlen, und wir milssen den Menschen den Gestaltungsraum auch geben. Dazu braucht die Politik Mut! In der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts sind Wissen und Konnen weit weniger als fruher in den Ministerien und Parlamenten aufgehoben, sondern breit in der Gesellschaft verteilt. Dieses Wissen und Konnen muss der Staat freilegen und aktivieren - unabhangig von den jeweiligen politischen Grunduberzeugungen der Menschen und von bestimmten Strukturen, denn besonders fur junge Menschen ist wichtig, dass sie bei ihrem Engagement weder institutionell noch ideologisch vereinnahmt werden. Die Burgergesellschaft stiftet Gemeinschaft und ein Bewusstsein der Zusammengehorigkeit, und das sind heutzutage durchaus knappe Outer. Dieser Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt ist ein besonderes Verdienst, aber er ist auch eine besondere Verantwortung. Wer Gemeinschaft stiftet, der kann zu ihr einladen, er kann aber auch von ihr ausschlieBen; er kann willkommen heiBen, er kann aber auch abweisen. Beim freiwilligen Engagement geht es deshalb immer auch um die Frage: Ist unsere Gemeinschaft - im Dorf, in der Stadt, im ganzen Land - fur andere offen, oder schlieBt sie andere aus? Die Burgergesellschaft ist jedoch keine Zauberformel, mit der alle Steuerungs- und Integrationsprobleme des Staates gelost werden. Deswegen kann es auch nicht sein, dass das Konzept der Burgergesellschaft - wie es in manchen politischen Debatten geschieht - mit allumfassenden Erwartungen uberfordert wird. Die Burgergesellschaft ist nicht die Antwort auf staatliche Defizite, sie ist nicht die LuckenbiiBerin fur einen Ruckzug des Staates aus sozialen, kulturellen oder okologischen Aufgabenfeldern. Es ware fatal, wenn die Menschen den Eindruck hatten, dass ihre Leistungen nur im Rahmen der Sanierung von Qffentlichen Haushalten von Bedeutung sind. Politisches Ziel muss vielmehr sein, der staatlich organisierten Solidaritat etwas Wesentliches hinzuzufugen, namlich die Solidaritat des freiwilligen Engagements. Die Neubestimmung des Verhaltnisses von Staat und Biirgerinnen und Btirgern ist deshalb kein Konkurrenzverhaltnis. Es geht nicht um mehr oder weniger Staat, sondern um einen aktivierenden, ermoglichenden Staat, der den Rahmen bildet fur eine jeweils angemessene Mischung von burgerschaftlichem Engagement und staatlicher Untersttitzung.

Organisierte Solidaritat in der Burgergesellschaft?

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Literatur Enquete-Kommission „Zukunft des btirgerschaftlichen Engagements" Deutscher Bundestag (2002): Bericht Biirgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfahige Burgergesellschaft. Opladen: Leske + Budrich. Heinze, Rolf G.; Oik, Thomas (Hrsg.) (2001): Bilrgerengagement in Deutschland, Bestandsaufnahmen und Perspektiven. Opladen: Leske + Budrich. Infratest Burke (1999): Freiwilligenarbeit, ehrenamtliche Tatigkeit und burgerschaftliches Engagement, representative Erhebung 1999 - Uberblick tlber die Ergebnisse. Manuskript.

Altere Menschen als ,^em'orTrainerinnen": Das Modellprogramm „Erfahrungswissen fur Initiativen" (EFI)i Joachim

Burmeister

1. Einleitung Ausgestattet mit dem Titel „EFI - Erfahrungswissen fur Initiativen" lauft seit 2002 bundesweit ein Modellprogramm, dessen Absicht es ist, das Erfahrungswissen alterer Menschen fur die Gesellschaft einzusetzen und damit die offentliche Anerkennung des Alters zu starken" (BMFSFJ 2001). In zwei Richtungen soil gedacht, geforscht und umgesetzt werden: Zum einen mochte man - zunachst beispielhaft - die am Programm beteiligten Alteren in der Wertigkeit ihres Erfahrungswissens bestarken und andererseits mochte man Strategien entwickeln, damit ihr Wissen in die Gesellschaft insgesamt besser hineinwirken und fur alle in groBerem Umfang wirksam werden kann. Das bis 2006 dauernde Modellprogramm wird vom Bundesministerium fur Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Kooperation mit derzeit zehn Bundeslandern durchgefuhrt: Bayern, Brandenburg, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Thuringen. An der Umsetzung des Programms sind sowohl 35 ortliche Agenturen fur Biirgerengagement beteiligt (dies sind: Seniorenbtlros, Freiwilligenagenturen, Selbsthilfekontaktstellen u.A.) als auch zwolf iiberortliche Trager von Weiterbildungs- bzw. Seniorenbildungseinrichtungen, die Kurse fur interessierte Altere durchfuhren, die als seniorTrainerinnen tatig werden wollen.

2. Ziele und Profll des EFI-Programms Die zentrale Vorstellung des EFI-Programms, auf das Erfahrungswissen Alterer zuruckzugreifen und seine Wertigkeit fur Individuen und die Gesellsew'orTrainerin ist als Schreibweise und logo im EFI-Modellprogramm eingeflihrt und wird daher auch im folgenden Beitrag verwendet.

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schaft hervorzuheben, greift - neben historischen Vorbildern von der Lebenserfahrenheit „des Alters" - gesellschaftliche Entwicklungen und wissenschaftliche Erkenntnisse sowie politische Interessen auf: Auf der seniorenpolitischen Seite des Programms wird davon ausgegangen, dass im Zuge sowohl gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse, die alien Generationen bedeutende - gegeniiber friiheren Generationen groBere Freiheiten des Handelns gleichermaBen eroffnen und aufgeben, als auch des Strakturwandels des Alters altere Menschen zunehmend selber gefordert sind, ihre Teilhabe an der Gesellschaft und die ihnen wichtigen sozialen Einbindungen zu erschlieBen und zu gestalten. In diesen Entwicklungen liegen offenbar gleichermaBen Chancen und Risiken: So ist beobachtbar, dass neben der mit zunehmendem Lebensalter zumeist stattfindenden Verringerung familiengebundener Aufgaben und dem fruher oder spater erfolgenden Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, das haufig mit Verlusten an Sozialkontakten verbunden ist, der Wandel der Lebens- und Familienformen Risiken der Desintegration und der Ausgrenzung in sich bergen konnen. Untersuchungen hierzu zeigen, dass Altere die mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben verbundenen Kontaktverluste oftmals durch eine Intensivierung der verbleibenden Familienkontakte ausgleichen mochten - was aber aufgrund sich verandernder Familienstrukturen (Single-Haushalte, Mobilitat u.a.) oder aufgrund divergierender Interessen nicht unbedingt gelingen muss (Braun et al. 2004). Der gesellschaftliche Wandel, der von nicht wenigen Alteren (zunachst) als Verlust an Sinn und Orientierung, an Aufgaben und sozialer Zugehorigkeit erlebt wird {Kade 2001), macht Neuorientierungen fur die nachberufliche Lebensphase, die etwa zwei Jahrzehnte und langer dauern kann, notwendig und die Suche nach sinnstiftenden Aufgaben - uber Familie, Hobby und gegebenenfalls andere lokale Anschlusse hinaus - fur viele Senioren/innen zu einer Herausforderung {Karl 2004). Fur das EFI-Programm wird dabei angenommen, dass mit der Entwicklung einer neuen Verantwortungsrolle fur Altere, die mit dem Begriff seniorTvainerin beschrieben wird, solchen Entwicklungen und sich verandernden Interessen Alterer Rechnung getragen werden kann. Mit dem Begriff Verantwortungsrolle (Klages 2002) wird dabei ein allgemeines Leitbild der Rollengestaltung bezeichnet: „Es bringt zum Ausdruck, dass es sich um Rollen handelt, in denen Menschen im Alltag auf wirksame Weise Verantwortung iibernehmen" (Braun et al. 2004: 33). Der Kerngedanke ist: Das Programm mochte Alteren neue Formen der gesellschaftlichen Teilhabe eroffnen, die es ihnen ermoglichen, ihre Erfahrungen, Fahigkeiten und Interessen in ein Engagement fur und mit anderen Menschen einzubringen, das neben der personlichen Sinnstiftung, neuen sozialen Einbindungen und Anerkennung eine explizite gemeinwohlbezogene Ausrichtung ermoglicht. In diesem Zusammenhang spielt auch die Intention eine Rolle, am Beispiel des sem'orTraineriwwen-Engagements zur Forderung

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eines positiveren Altenbildes beizutragen und die Innovationsinteressen und -fahigkeiten der Alteren in der Gesellschaft deutlicher zu konturieren. In seiner engagementpolitischen Begrilndung geht das EFI-Programm zweitens von einem beachtlichen (potenziellen) Interesse alterer Burger aus, sich fur Gemeinwesen und Gemeinwohl zu engagieren bzw. engagieren zu wollen. Verschiedene Untersuchungen zeigen die Entwicklung auf: Das empirische Wissen ilber ehrenamtliches Engagement grtindete bis vor wenigen Jahren auf recht heterogenen Studien, die sich hinsichtlich der Methodik, Auswahl und vor allem der Definition des ehrenamtlichen Engagements unterschieden. Wahrend man 1984 bei einer Befragung von 1.900 Personen (Braun, Rohrig 1986) eine Engagementquote von 42% ermittelte, zwischenzeitlich dann von weniger als 30% die Rede war (Gaskin et al. 1996), fand der 1999 durchgefuhrte Freiwilligensurvey bei einer reprasentativen Untersuchung bei 15.000 Bundesbiirgern iiber 14 Jahren eine Quote von ca. 34% Aktiven heraus, wobei man annimmt, dass noch einmal bei einem weiteren Drittel der Bevolkerung Potenziale fur ein ehrenamtliches, freiwilliges Engagement vorhanden sein diirften (von Rosenbladt 2001). In den verschiedenen Studien liegt die Engagementquote der Alteren unter dem Durchschnitt: 1984 waren rund 29% der 65- bis 70-Ja.hrigen tatig und im Survey von 1999 kommt man auf etwa 31% der 60- bis 70-Jahrigen, die in sehr verschiedenen Funktionen ehrenamtlich tatig sind. Wahrend Hochaltrige ab dem 75. Lebensjahr aus plausiblen Griinden mit unter 20% der Senioren weniger engagiert sind, zeigen Menschen zwischen 50 bis 59 Jahren ein uberdurchschnittliches Engagement - obschon, oder gerade weil sie beruflich oder anderweitig in die Gesellschaft eingebunden sind. Solche ,jungen Senioren" sind offenbar zu mehr als einem Drittel (38%) an/in der Gesellschaft „aktiv beteiligt", davon wiederum 58% langer als 10 Jahre und fast die Halfte (46%) in irgendwelchen Leitungsfunktionen (Brendgens, Braun 2000: 159). Fur das EFI-Programm ist dabei interessant, dass von diesen jtingeren Alteren „um die 60 Jahre", die aus dem Erwerbsleben auszuscheiden beginnen (bzw. begonnen haben), fast 60% der im Survey Befragten ein Interesse an ausfuhrlicheren Informationen und Beratung iiber Moglichkeiten zum ehrenamtlichen Engagement haben, viele gern auch ihre Erfahrungen und ihr Kenntnisse weitergeben wurden und fast 40% von ihnen auch weiterbildungsinteressiert sind. Auf dem Hintergrund der bekannten demografischen Erwartungen, wonach der Anteil Alterer an der Gesamtbevolkerung in den kommenden Jahren noch erheblich wachsen und die Alterspyramide nachhaltig verandern wird, geht das Programm auch von einer gleichsam (mit)wachsenden Zahl engagementbereiter Menschen aus, die ihre Kompetenzen aus Beruf, Familie, Alltag, Hobby usw. der Gesellschaft - und hier vor allem kleineren Vereinen, aktiven Initiativen und Gruppen - zur Verfugung stellen konnen und wollen.

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Das EFI-Programm versteht sich insofern auch als ein Angebot zur Rollenfindung fur diejenigen Alteren, die als seniorYxamsxinnen Neues initiieren und Gruppierungen aller Art, die in der Regel selber ehrenamtlich agieren, begleiten und beraten wollen. Auf dem Hintergrund dieses bemerkenswerten (potenziellen) Engagementinteresses Alterer operiert das Programm in seiner Konzeption zudem mit Erkenntnissen und Empfehlungen, die u.a. im Bericht der Enquete Kommission (2002) zur Zukunft des burgerschaftlichen Engagements gegeben werden. Mit der Schaffung einer „Verantwortungsrolle sem'orTrainerw" mochte es den beobachteten Interessen- und Motivlagen vor allem der so genannten ,jungen Alten" Rechnung tragen, denn mit der Engagementbereitschaft der mittleren und alteren Generation handelt es sich um Zielgruppen, die vielfach „schon neben ihrem Alltag, immer offer nach ihrem Erwerbsleben bereit stehen, ihre im Beruf erworbenen ,unternehmerischen' Kompetenzen und Kontakte (...) verantwortlich einzubringen. Gerade solche Fachund Fuhrungskrafte sind in den ,sozialen Unternehmen' des Dritten Sektors sonst unbezahlbar und miissen deshalb dringend gesucht werden." (Pankoke 2002: 81) Fur das EFI-Programm gilt, dass seniorTrainerinnen aus alien Bevolkerungsgruppen kommen und neben „Kompetenzen und Kontakten" Lebenserfahrenheit aus alien Erfahrungszusammenhangen mitbringen sollen. Unter engagementpolitischen Aspekten handelt es sich beim seniofYxaxneri«-Programm somit um ein Angebot zur Rollenfmdung fur diejenigen alteren Burger, die in dieser Rolle „Verantwortung ubernehmen wollen, Neues initiieren und ihr Erfahrungswissen zur Unterstiitzung, Beratung und Begleitung von Initiativgruppen alien Alters einbringen wollen" (Braun et al. 2004: 17). seniorXxavcvsxinnen engagieren sich dabei nicht „nur" freiwillig fur andere und auch im eigenen Interesse, sondern auch in dem als Teil dieser Rolle verfassten Bewusstsein (und mit dem Konnen), eine gezielte und kompetente Leistung fur die Entwicklung des Gemeinwohls bzw. Gemeinwesens zu erbringen. Mit der .vew'orTrainerirc-Rolle ist eine ausdriickliche zivilgesellschaftliche Orientierung des Engagements im Alter gewollt, das neben seinem Bezug an Initiativen, Gruppen usw. und dem Gemeinwesen generationsubergreifend gemeint ist und einen „Beitrag zur Herstellung einer gesellschaftlichen Balance zwischen Alt und Jung" leisten soil (Braun et al. 2004: 18). Mit Blick auf die institutionelle und strategische Umsetzung dieser senioren- und engagementpolitischen Ziele schlieBt das EFI-Programm noch an eine andere Entwicklung an: Mit Blick auf die Rahmenbedingungen des freiwilligen Engagements in Deutschland, die gleichfalls von der Enquete Kommission thematisiert worden sind, sucht es die seit etwa zwei Jahrzehnten - in vielfaltigen Formen und mit sehr unterschiedlichen Bezeichnungen stattfmdende Herausbildung von (neuen) Unterstutzungsstrukturen fur das Biirgerengagement aufzunehmen und zu fordern. Am Programm sind so

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genannte Agenturen fur Freiwilligenengagement (Freiwilligenagenturen, Seniorenbiiros und Selbsthilfekontaktstellen) in verschiedener Tragerschaft beteiligt, deren gemeinsames Aufgabenprofil im Kern dadurch gekennzeichnet ist, dass sie zwischen der Offentlichkeit, dem Freiwilligensektor, „den Initiativen" und Burgern sowie - nun auch - den seniofYmmexinnen Netzwerkfunktionen inne haben. Dazu ein genauerer Blick auf das Profil dieser Einrichtungen, die im Programm als Anlaufstellen fur seniorTrainerinnen wahrend und insbesondere nach dem Abschluss der Weiterbildung fungieren: Die beteiligten Agenturen, Koordinations- oder Kontaktstellen sehen ihre professionelle Aufgabe darin, in der Gesellschaft entstehende Engagementimpulse, -potenziale, -ressourcen und -bedarfe sowie die sich hauptsachlich lokal entwickelnden Organisationsformen - wie Initiativen, Projekte, Vereine, (Selbsthilfe-) Gruppen usw. - anzuregen, aufzunehmen und fur sie eine Plattform fur die Ermoglichung von Anschliissen und Weiterentwicklungen darzustellen. Als ortliche, gemeinwesenbezogene Drehscheiben fur Information und Beratung bieten sie ein Leistungsprofil in ftinf Bereichen an, das fur seniorTrainerinnen als einer gesellschaftlich „neuer" Gruppe in besonderer Weise anschlussfahig ist: •

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Sie regen zu Selbsthilfe und Burgerengagement an, sie vermitteln Betroffene (in der Selbsthilfe) bzw. an Freiwilligentatigkeit interessierte Menschen ganz unabhangig von Mitgliedschaften in Tatigkeitsfelder bzw. an Gruppen, Initiativen u.A., sie unterstiitzen Gruppen, Initiativen und Vereine, in denen das freiwillige Engagement vorrangig ist, durch gezielte Information, Beratung und Begleitung, durch Vermittlung von Fachleuten, durch Mithilfe bei Weiterbildung, gelegentlich auch durch kleine fmanzielle Leistungen, sie fordern auBerdem gezielt die Zusammenarbeit von Burgern und Gruppen / Vereinen mit Fachleuten und anderen Organisationen / Einrichtungen; sie bieten ein „coaching" bei der Entwicklung neuer Formen der Selbstorganisation und der Vernetzung an, sie unterstiitzen Gruppen und Vereine bei ihrer Offentlichkeitsarbeit in vielfaltigen Formen, sie erbringen schlieBlich weitere Serviceleistungen und unterstiitzen durch Beteiligung an Gremien, Arbeitskreisen die Entwicklung eines freiwilligenfreundliches Klima in einer Kommune (Burmeister 2002: 31).

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3. Rollenfindung und Weiterbildung Zu den bildungspolitischen Zielen des Modellprogramms zahlt drittens die Entwicklung und Erprobung eines Curriculums zur Weiterbildung von Alteren zu semorJrmnQxinnen. Der leitende Gedanke ist dabei, die Suchbewegungen und Annaherungen an eine neue gesellschaftliche Verantwortungsrolle seniorYxzxasxin im Zusammenspiel zwischen wissenschaftlicher Diskursarbeit, Curriculumentwicklung und Weiterbildungsszenarien zu befordern. Die am Programm beteiligten Alteren erhalten dabei die Gelegenheit, • • •

ihr Erfahrungswissen zu thematisieren, ihre Vorstellungen fur ein zu ihnen passendes Rollenprofil fur kilnftige Verwendungssituationen im Freiwilligensektor zu artikulieren und zu entwickeln sowie die fur Begleit- und Unterstiitzungsprozesse wichtigen Kompetenzen (Wissen, Einsichten und Konnen) zu erwerben bzw. zu erweitern.

Das 2002 erstmals erprobte und seither erheblich weiterentwickelte Rahmencurriculum zur Weiterbildung von seniorTrainerinnen (Knopf 2002; Burmeister et al. 2003, 2004) hat eine Schliisselrolle im Programm und umfasst folgende Kerngedanken (vgl. Braun et al. 2004: 81 ff): Lemprozesse zur Anregung und Begleitung einer neuen Verantwortungsrolle („ role making ") In Lernprozessen, in denen vor allem die Rollenfindung als seniorTraimrin angeregt und begleitet wird, wird den Alteren zunachst sowohl die Artikulation ihres mitgebrachten Erfahrungswissens (wer bin ich, was kann ich?) angeboten als auch ein sozialer Prozess, in dem miteinander liber Erfahrungswissen in seinen verschiedenen Anteilen (u.a. Sozial- und Bildungserfahrungen, erworbene Kompetenzen) gesprochen und untereinander verglichen werden kann (wer sind die anderen?). Dabei wird dieser Austausch von Erfahrungen von Beginn an nicht nur als eine aufschlieBende und heranfuhrende, motivierende Methode im Hinblick auf kunftiges Engagement aufgefasst. Vielmehr wird eine Aussprache uber authentische und personlich wichtige Themen gefordert - und zwar insbesondere solche, die in der Phase des Ubergangs vom hauslichen bzw. Erwerbsleben in „ein Leben danach" vermutlich ohnehin bestimmend sind: die Erfahrung des Alter(n)s, soziale Ubergangserfahrungen, Reflexion auf den gesamten Lebenszyklus „nach hinten und vorne", vor allem auch mit Blick auf ihre kunftigen Engagementinteressen und ihnen sympathische Verantwortungsrollen (was mochte ich tun?). Methodisch gesehen bieten die Empfehlungen des erweiterten Rahmencurriculum zur Konkretisierung der individuellen Engagementinteressen

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„Rollenannaherungen durch Rollen(bei)spiele" an. In ihnen kann Rollenvielfalt erlebt, Rollenwechsel spielerisch durchgefiihrt und Vergewisserangsprozesse der Beteiligten dariiber begleitet werden: welches Rollenprofil sie verfolgen und fur sich konkretisieren wollen. In diesem Zusammenhang konnen die zuktlnftigen seniorTxaixiexinnen auch eine groBere Klarheit iiber die von ihnen mitgebrachten bzw. einzubringenden Kompetenzen gewinnen. Dariiber hinaus konnen sie verdeutlichen, wo Themen liegen, zu denen sie in den weiteren Kursblocken noch hinzulernen wollen (Themenspeicher, Lernschwerpunkte). Diese auf Erfahrungsvergewisserung und Rollenfmdung abzielenden Lernprozesse umfassen zwei Praxisphasen zwischen drei Kursblocken, die einen erkundenden und erprobenden Charakter haben. Das Rahmencurriculum gibt den zukunftigen seniorTxaixiexinnen erkenntnisforderliche Lernformen (z.B. Felderkundung durchfuhren) mit auf den Weg, die es ihnen (noch) in der Rolle der Lernenden ermoglichen, ihren Rollensympathien zu folgen, ihre Anliegen vor Ort „auszuloten", Kontakte zu kntipfen und moglicherweise ersten (kleinen) Vorhaben nachzugehen. Insbesondere in der zweiten Praxisphase kann das „role making" dann schon deutlicher „Ernstcharakter" haben, wenn die kunftigen seniorTxaixiexinnen sowohl individuelle als auch Gruppenprojekte zur Unterstutzung im Freiwilligensektor (selbst) organisieren (lernen). In der Zusammenarbeit mit den beteiligten Agenturen fur Biirgerengagement, die sich vor Ort auskennen und die seniorTxaixiexinnen bei ihrer Selbstorganisation begleiten, erproben sie sich dabei auch gleichsam als eine neue Unterstutzungsform im Bereich des burgerschaftlichen Engagements. Die curricularen Empfehlungen sehen am Ende der Weiterbildung vor, die angehenden seniorTxaixiexinnen zur Prazisierung passender - individuell zugeschnittener - Rollenangebote bzw. Rollenprofile anzuregen, darin ihre bisherigen Uberlegungen und Kurs- und Praxiserfahrungen zusammenzufuhren und vorzustellen (Rollenprasentation). Lernprozesse zur Erweiterung von rollenspezifischen Handlungskompetenzen Schon im ersten curricularen Ansatz (Knopf 2002) wird davon ausgegangen, dass Altere, die in einem Bereich des freiwilligen Engagements aktiv werden wollen, ihren mitgebrachten Kompetenzschatz an Lebens-, Bildungs- und Berufserfahrungen in neue Verwendungszusammenhange einbringen konnen. Das Rahmencurriculum gibt den angehenden seniorTxaixiexinnen daher einen Raum sowohl fur deren Darstellung und Vergewisserung als auch fur die Frage, welche Kompetenzen sie fur ihr freiwilliges Engagement hinzulernen und weiterentwickeln wollen bzw. sollten, um - im teilweise recht unbekannten Freiwilligensektor - als burgerschaftlich Engagierte auch „wiedererkannt" (Knopf 2002) zu werden. Unter dem Begriff der „rollenspezifischen Kompetenzen" sind hierzu acht Themenblocke und Methoden aufgenommen, mit deren Hilfe die angehenden seniorTxainerinnen ihr Konnen fur ihr kiinf-

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tiges Handeln „im Feld" erweitern. Ftir die Weiterbildung im zweiten Kursblock fmden sich curriculare Empfehlungen zu den Themen Kommunikation / Gesprachsfuhrung, Beraterrolle, Arbeit mit Gruppen, Konflikte / Moderation, Initiierung von Projekten und Aktionen im Gemeinwesen, fur die Weiterbildung im dritten Kursblock werden folgende Themen empfohlen: Anregung, Forderung und Vernetzung von burgerschaftlichem Engagement, Vermittlung von Themen der Lebenserfahrung sowie Vortrags- und Prasentationstechniken. Wahrend die Lernangebote und Lernformen zur Rollenfmdung die Alteren bei ihren Erfahrungsaustauschen, Interessenartikulationen, Suchbewegungen und Reflexionsprozessen begleitend untersttitzen und die Kursleiter die Rolle von Moderatoren einnehmen, geht es beim Lernen von rollenspezifischen Kompetenzen vor allem um anwendungsbezogenes, nutzliches Konnen, das die kiinftigen senioflram&rinnen bei ihren beratenden, begleitenden, projektentwickelnden oder Gemeinwesen aktivierenden Tatigkeiten als Handlungswerkzeuge gebrauchen konnen. Der Gedanke ist: Wer Initiativen bzw. Projekte beraten will, sollte auch beraten konnen; wer Menschen in einem Wohnquartier zum biirgerschaftlichen Engagement aktivieren mochte, sollte einige aktivierende Methoden und Formen beherrschen; und wer auf die eigene neue Verantwortungsrolle als seniorTrainerin aufmerksam machen und diese durchsetzen mochte, sollte iiber offentlichkeitswirksame, koordinierende sowie vernetzungsforderliche Strategien verfugen - oder aber recherchieren konnen bzw. wissen, wie man sich entsprechendes Know-how beschaffen kann. Dieses anwendungsbezogene Lernen geht darauf hinaus, dass die Kursleiter gleichsam in der Rolle des Trainers (coach) auftreten, der den Lernenden zeigt, „wie es geht" (z.B., wie Regeln in der Beratung anzuwenden sind), mit ihnen Fall- und Ubungssituationen (z.B. dialogische oder Gruppenberatungskonstellationen, Konfliktsituationen) durchspielt und mit ihnen zusammen uberlegt, welche Moglichkeiten und Grenzen die Anwendung einer Methode im Freiwilligensektor hat. Die curricularen Empfehlungen bieten hierzu entsprechende thematische Hinweise sowie Ubungs-, Spiel- und Projektformen an, mit deren Verwendung die angehenden seniorXramerinnen Qualifikationen mit Blick auf ihr rollenspezifisches Handeln im biirgerschaftlichen Zusammenhang erwerben bzw. erweitern konnen. Lernprozesse zur Aneignung von rollenspeziftschen Kenntnissen Das dritte Strukturmerkmal des Rahmencurriculums liegt schlieBlich darin, die an der Weiterbildung zum/zur seniorTrainerin interessierten Alteren mit rollenspezifischem Wissen vertraut zu machen. Nachdem schon friih erkennbar geworden war, dass ein betrachtlicher Teil der angehenden seniorTrairiQrinnen wenig iiber die Strukturen und Besonderheiten des burgerschaftlichen Sektors allgemein und speziell in ihren Kommunen weiB, sind in die curri-

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cularen Empfehlungen Fragen, Aufgaben und Texte aufgenommen worden, mit deren Hilfe sich die Beteiligten (Hintergrand-)Wissen zu Strukturen, Rahmenbedingungen und zur Praxis des biirgerschaftlichen Engagements unter Berucksichtigung lokaler Zusammenhange und Besonderheiten (z.B. iiber Unterschiede in den alten/neuen Bundeslandern) aneignen. Weiterhin werden Texte, Hinweise usw. zum Thema „Alter(n)" und „Demografischer Wandel" dargestellt, die bei der Zielgruppe Relevanz besitzen und zu (gemeinsamer) Lektiire und Aussprachen fuhren konnen. Die Empfehlungen des Rahmencurriculums erscheinen in diesem Punkte noch besonders ausbaufahig, die Einbeziehung weiterer Themenbereiche ist sinnvoll. Anschlussfahige Themen waren z.B. systematische Ausfuhrungen und Hintergrundtexte zu Leistungsprofil und Arbeitsweisen von Agenturen fur Biirgerengagement, mit denen seniorTvainerinnen im Rahmen des Modellprogramms - und vermutlich auch danach - eng kooperieren, oder Ubersichtstexte und anwendungsbezogene Arbeitsmaterialien zu den Themen Selbstorganisiertes Lernen / Neue Lernkulturen sowie zu Strategien und Formen von Selbstorganisation, die bei der weiteren offentlichen Ausgestaltung der sew'orTrainer/n-Rolle bedeutsam sein werden. Insgesamt gesehen bietet das Curriculum in seiner gegenwartigen Entwicklung (Burmeister et al. 2004) ein Kompendium, mit dessen Unterstiitzung die Weiterbildung erkenntnis- und handlungsforderlich durchgefuhrt werden kann. Es stellt Lernarrangements vor, die es den Lernenden ermoglichen wollen, selber die Anschliisse und Verkmipfungen zwischen ihrem mitgebrachten und darstellbaren „Erfahrungswissen" und dem durch die „Weiterbildungsumwelt" arrangierten Erfahrungsmoglichkeiten und Perspektiven herzustellen - und hieran gesellschaftlich aktiv zu werden.

4. Zwischenergebnisse Der folgende Teil mit Zwischenergebnissen aus der Programmevaluation und -kommunikation zwischen 2002 bis Anfang 2004 (Braun et al. 2004) nimmt zwei Programmausschnitte in den Blick, die sich einerseits auf die Umsetzung der engagementpolitischen Zielsetzungen und andererseits auf die Kommunikation iiber die Ausdifferenzierung der Rollenprofile von seniorTrainerinnen beziehen. Absicht des Modellprogramms ist es, wie zuvor skizziert, bei alteren Menschen (potenziell) vorhandene Engagementinteressen aufzunehmen und Strategien zu entwickeln, damit Wissen und Erfahrungen in die Gesellschaft besser hineinwirken und dort wirksam werden konnen. In der programmbegleitenden Evaluation werden dazu u.a. folgende Fragen verfolgt: Welche alteren Menschen werden durch das Programm erreicht, welche (berufs-)

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biografischen Erfahrungen bringen die Alteren mit, welche Motive und Erwartungen gehen in das freiwillige Engagement als seniorTramerin ein und wie verandern sie sich ggf. durch Weiterbildungsprozesse und Lernerfahrungen? - Ausschnitte aus der Evaluation, die vor allem in der Form schriftlicher Befragungen 2002 /2003 bei bislang ca. 400 teilnehmenden seniorTramerinnen durchgefuhrt wurde, zeigen bisher folgendes Bild (Braun et al. 2004: 44 ff.): Soziodemografisches Profil • Der Frauenanteil unter den seniorTramerinnen ist mit 56% holier als der Anteil der Manner mit 44%. Damit sind Frauen uberreprasentiert, wenn man beriicksichtigt, dass in der Gesamtbevolkerung der Frauenanteil in der Altersgruppe zwischen 55 und 70 Jahren 51% betragt. • Alter der Teilnehmer: Es beteiligen sich vor allem die so genannten „Jungen Alten". Das durchschnittliche Alter der Teilnehmer/innen liegt bei ca. 61 Jahren, die Halfte der seniorTramerinnen ist zwischen 60 und 65 Jahren alt, ein Viertel von ihnen ist im Rentenalter ab 65 Jahren, aber ebenso ist ein Viertel jiinger als 60 Jahre. • Schul- und Berufsbildung: Das Bildungsniveau der seniorTramerinnen ist uberdurchschnittlich hoch. 89% der Befragten haben eine weiterfuhrende Schule besucht, iiber die Halfte (rd. 60%) haben Abitur oder Fachabitur (Manner etwas haufiger als Frauen). • Berufliche Abschlusse sind bei den Kursteilnehmer/innen uberdurchschnittlich hoch. Uber die Halfte der am Bundesmodellprogramm Beteiligten hat einen Fachhochschul-, Hochschul- oder Universitatsabschluss. Facharbeiter/innen und Meister/innen sind mit einem Anteil von 15% in der Minderheit. • Ehemalige Berufstatigkeit: Die Beteiligten kommen vorwiegend aus der Gruppe der (ehemaligen) Angestellten und Beamten (85%), ilberwiegend mit hoherer schulischer und beruflicher Qualifikation. Etwa jede/r Zehnte (11%) war im friiheren Erwerbsleben selbststandig, wahrend Arbeiter/innen nur selten am Kurs teilnehmen (Anteil nur 2%). Etwa die Halfte der seniorTramerinnen sind Rentner/innen und Pensionar/innen, aber auch Vorruhestandler/innen, Erwerbsgeminderte, Hausfrauen etc. fmden einen Zugang zum EFI-Programm. Ein nicht geringer Teil ist arbeitslos, bei den Mannern ist es sogar etwa jeder Siebte. In den neuen Landera ist dies besonders auffallig, denn hier zahlt nahezu jede/r Ftinfte der Kursteilnehmer/innen (18%) zu den Arbeitslosen, wahrend dieser Anteil in Westdeutschland nur 8% betragt. Insgesamt 7% der Befragten sind noch voll oder in Teilzeit erwerbstatig sind und engagieren sich neben dieser Erwerbstatigkeit als seniorTramerinnen. • Wohnorte: Die seniorTramerinnen kommen gleichermaBen aus stadtischen und landlichen Gebieten. Etwa jede/r Dritte gibt die Wohnorte mit

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weniger als 20.000 Einwohner an, ein weiteres Drittel der Teilnehmer/innen wohnt in Orten bis 100.000 Einwohnern und ebenfalls rd. ein Drittel lebt in GroBstadten mit mehr als 100.000 Einwohnern. Motive Die Motive, aus denen sich Biirgerinnen und Burger freiwillig engagieren wollen, liegen auf einer groBen Bandbreite: Anderen Menschen helfen oder „etwas fur das Gemeinwohl tun" zu wollen, steht neben dem Interesse, eigene Kenntnisse und Erfahrungen zu erweitern und der Erwartung, personliche bzw. soziale „Gewinne" zu bekommen (Erfahrungsaustausch, „mit sympafhischen Menschen zusammenkommen"). Vielfach ist der Wunsch zu horen, zum Teil langjahrige Engagementerfahrungen fortsetzen und das Erfahrungswissen (bzw. Kompetenzen) in neue Zusammenhange bzw. Tatigkeiten etwa die Beratung und Begleitung von Initiativen und Projekte in kulturellen und / oder sozialen Engagementbereichen - einbringen zu wollen. Insgesamt sieht das Modellprogramm hoch motivierte Altere, die verantwortliche Tatigkeiten ubernehmen wollen und bereit sind, sich dafur weiterzuqualifizieren. Die Hinwendung in eine neue Rolle im Freiwilligensektor („fur Initiativen") setzt dabei offenbar fort, was in fruheren Lebensphasen nicht fundamental anders gewesen sein durfte: verantwortungsgeleitetes Handeln in Beruf und Familie, die Bereitschaft weiterzulernen und das Motiv, auch im Alter privates Handeln und freiwilliges / burgerschaftliches Engagement in ein sinnvolles Passungsverhaltnis zu bringen. Rollenprofile Die bisherigen Diskussionen zu den Zielen und Strategien im EFI-Programm befassen sich intensiv mit der Frage, wie die Verantwortungsrolle und die sie kennzeichnenden Handlungsprofile von Alteren als seniorTmmsxinnen aussehen konnen. Welche Merkmale und Tatigkeiten waren dieser Rolle zuzurechnen und welche Unterscheidungen sind im Blick auf das Handeln anderer ehrenamtlich tatiger (alterer) Menschen festzustellen? - Wie auch an anderen Punkten versteht sich das Modellprogramm hierbei als ein „lernendes System". Dies trifft in besonderer Weise auf die Beschreibung und Realisierung der neuen Verantwortungsrolle von Alteren als seniorTvainerinnen zu, fur die in der zweiten Programmphase weitere Prazisierungen ausgearbeitet werden sollen. Gegenwartig gehen die Akteure davon aus, dass seniorTrainerinnen mindestens folgende Merkmale gemeinsam sind: •

Zunachst durfte sie die Situation der Nachberuflichkeit (Renten- bzw. Pensionarsstatus) und ihr Interesse an freiwilligen, ehrenamtlichen Tatigkeiten verbinden, in die sie ihr personengebundenes Erfahrungswissen als „Fahigkeiten, Fertigkeiten, Kompetenzen, Gebrauchswissen, Urteilskraft oder Erfahrung" (Wieland 1982: 230) aus Familie, Aus- und Fortbildung, Beruf und Hobby bewusst und gezielt einbringen wollen.

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Joachim Burmeister Hinzu kommt, dass alle eine engagementbezogene Weiterbildung zu seniorTramerinnen durchlaufen, in der sie einerseits gezielt und anwendungsbezogen ihre Fahigkeiten und Fertigkeiten erweitern und auf ein personliches Engagement im Freiwilligensektor beziehen lernen (Qualifikationsaspekt). Andererseits erhalten sie, wie zuvor skizziert wurde, die Gelegenheit, ihre individuellen Lebenserfahrungen und Lebenserwartungen in der Phase des Ubergangs in das Alter mit Blick auf gesellschaftliche Erwartungen an Altere zu verbinden und dabei einen - fur sie - passenden, sinnvollen Anschluss fur ein verantwortungsbezogenes Engagement „ftir Initiativen" zu priifen und zu formulieren (Reflexionsaspekt).

Was immer seniorTramerinnen konkret tun, sie diirften (und sollten) es gleichsam mit einem - nunmehr geschulten - „burgerschaftlichem Blick" tun (konnen), der tlber die individuellen Interessen und Erwartungen hinaus die gedeihliche Entwicklung des Gemeinwohls im Auge hat - und ggf. wiederum andere fur eine solche Perspektive anstiften mochte. Ob man mit Blick auf die von seniorTramerinnen ausgeilbten Tatigkeiten nun von verschiedenen Rollen oder - vermutlich plausibler ~ von unterschiedlichen und kombinierbaren Rollenprofilen sprechen kann, wird ebenfalls noch genauer zu fassen sein. In der Programmkommunikation der ersten Modellphase konnen in Verbindung mit den genannten Merkmalen Rollenprofile beschrieben werden, die besonders in den Weiterbildungskursen thematisiert und „fur Initiativen" im Freiwilligenbereich von den seniorTramerinnen angeboten werden. Das Engagement der bisher tatigen seniorTramerinnen zeigt folgende Rollenprofile: • • • •

Innerhalb einer bestehenden Freiwilligenorganisation (Initiative, Verein, Verband, Stiftung oder Einrichtung), in einem neuem Projekt und/oder Gruppe, die von ihr/ihm ins Leben gerufen wurde, im Freiwilligenbereich ihrer Kommune zur Verbesserung der Rahmenbedingungen und Zugangschancen zum freiwilligen Engagement, als Unterstiltzer der Selbstorganisation von mehreren seniorTramerinnen zu einem Team in enger Kooperation mit einer ortlichen Agentur fur Burgerengagement.

Die von seniorTramerinnen in verschiedenen Engagementbereichen wahrgenommenen Tatigkeiten und Funktionen lassen sich dabei nach den bisherigen Erfahrungen zufiinf Rollenprofilen bilndeln (vgl. Burmeister et al. 2004): •

Unterstiltzer und Berater: seniorTramerinnen in dieser Rolle haben ein Interesse daran, bestehenden Gruppen, Initiativen und Vereinen in verschiedenen Feldern des burgerschaftlichen Engagements bei der Gestaltung von Kommunikations- und Gruppenprozessen, bei der Losung von

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Konflikten, Struktur- und Finanzierungsfragen, Offentlichkeitsarbeit, Gewinnung von Mitstreitern sowie bei der Entwicklung neuer Gruppenprojekte behilfreich zu sein. Ihre Beratungs- und Unterstiitzungsleistungen haben Prozesscharakter und werden in der Regel zeitlich begrenzt sein. Initiator und Griinder: seniorTminerinnen erkennen einen gesellschaftlichen Bedarf und sind daran interessiert, eine neue Gruppe, Initiative oder einen neuen Verein an den Start zu bringen. Sie entwickeln dafur die Konzepte, suchen Mitstreiter, indem sie andere zum bilrgerschaftlichen Engagement anregen, machen Offentlichkeitsarbeit. Nach einer gewissen Anlaufzeit iibergeben sie die Leitung (falls sie sie am Beginn hatten) in verantwortungsvolle Hande innerhalb der Initiative und konnen sich einer neuen Aufgabe zuwenden. Referent und Zeitzeuge: seniorTrainerinnen vermitteln anderen Interessierten ihr Fachwissen bzw. Zeitzeugenwissen in Form von Vortragen, Seminaren, Erzahlwerkstatten usw. Anreger und Vernetzer: seniofYramerinnen nehmen das ganze btirgerschaftliche Engagement einer Kommune in den Blick. Sie beobachten „mit seniorTrainerinnen-Augen" ihr Gemeinwesen, in dem sie zu Hause sind, und kennen die verschiedenen Gruppen, ihre Arbeit und ihre Probleme. Sie erkennen Handlungsbedarfe und -potenziale, sie suchen - mit anderen - nach Wegen und Losungen dafur, machen Offentlichkeitsarbeit, regen andere Burger an, sich im Freiwilligenbereich zu engagieren, bringen Gruppen, Burger und andere Akteure zusammen, entwickeln Vernetzungsstrategien, die den Bilrgern, den Akteuren und der Kommune insgesamt von Nutzen sind. Organisator und Koordinator: seniorTvamerinnen haben die Absicht und die Kompetenz, den Zusammenhalt und die Zusammenarbeit eines (ihres) seniorTrainerinnen-Teams zu fordem. Sie organisieren und moderieren Teamtreffen, treffen mit dem Team Vereinbarungen iiber Regeln und Strukturen der Zusammenarbeit, sind bei Fragen und Problemen inhaltlicher und ,klimatischer' Art erste Ansprechpartner, sie halten Kontakt zur Agentur fur Burgerengagement usw.

Das Modellprogramm versteht sich gleichermaBen als ein „lernendes Programm", in dem die Raume zur Erprobung, Beobachtung und Ausdifferenzierung der mit der Verantwortungsrolle seniorJxaincxin verbundenen Profile und Umsetzungsstrategien gegeben sind.

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5. Ausblick In der zweiten Programmphase bis 2006 soil das Modellprogramm so weiterentwickelt werden, dass es in den beteiligten Kommunen mit Hilfe der Netzwerkakteure (insbesondere Weiterbildner, Agenturen, Projektsteuerung, wissenschaftliche Begleitung) erfolgreich umgesetzt werden kann. Es sollen weitere Altere gewonnen, weitergebildet und in den Bereichen des freiwilligen Engagements tatig werden. Weiterhin wird die Frage erneut zu stellen sein, wie die „Rolle seniorTrainerin" und die damit verbundenen Merkmale und Profile genauer zu beschreiben sind. Uberlegungen zur Stabilisierung der Rahmenbedingungen fur die Unterstiitzung des freiwilligen Engagements von seniorTxa'merinnen sind schlieBlich ebenso weiterzuentwickeln wie die Aufgaben, Themen und Methoden der Weiterbildung diskursiv zu prazisieren und auf Dauer zu stellen sind.

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Seniorenvertretungen1 in Nordrhein-Westfalen als Beispiel politischer Partizipation alterer Menschen Barbara Eifert

1. Einfuhrung Seniorenvertretungen (SV) arbeiten seit den 80er-Jahren als Interessenvertretungen alterer Menschen mit implizitem generationsubergreifendem Ansatz (BAG LSV 2004). Als Bindeglied zwischen Offentlichkeit, Politik und Verwaltung sind sie im vorparlamentarischen Raum tatig und arbeiten ehrenamtlich auf verschiedenen Ebenen. Von der kommunalen Ebene werden iiber die Landerebene bis zur Bundesebene politische Prozesse transportiert und Mitwirkung angestrebt. Gleichzeitig findet ein Ruckfluss statt, d.h. von der Bundesebene konnen liber die Landerebene politische Prozesse mit Hilfe von Seniorenvertretungen auf die kommunale Ebene gebracht werden. Daraus wird die Organisationsstruktur von Seniorenvertretungen insgesamt deutlich: Die kommunalen Seniorenvertretungen sind in den Landesseniorenvertretungen (LSV) zusammengeschlossen bzw. vertreten und diese wiederum bilden die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesseniorenvertretungen (BAG LSV). Diese verknupfte Struktur von der Basis (kommunale SV) bis zur „Spitze" (BAG LSV) macht Seniorenvertretungen unter den moglichen Engagementformen politischer Teilhabe alterer Menschen einmalig (BAG LSV2004). Auf kommunaler Ebene sind Seniorenvertretungen freiwillige Einrichtungen, d.h. sie sind keine gesetzlich vorgeschriebenen Beteiligungsgremien.2 Sie bilden sich in der Regel durch demokratische Verfahren (Wahl und Delegation) und haben das grundsatzliche Ziel, die politische Teilhabe alterer Menschen zu starken. Seit ihren Anfangen Mitte der 80er-Jahre sind Seniorenvertretungen in Wissenschaft und Politik umstritten (BMFSFJ 1997). Aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus werden in dieser andauernden Diskussion grundsatzliche Fragen zur Existenz von Seniorenvertretungen gestellt. Die dabei gestellten Fragen und formulierten Problematisierungen betreffen die grund„Seniorenvertretung/en" wird im Folgenden als Oberbegriff fur Seniorenrate, Seniorenbeirate usw. verwendet. Als „Kann-Bestimmung" sind SV in den Gemeindeordnungen der Lander Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz (seit 2004) verankert. Empfohlen wird die Einrichtung von SV von den kommunalen Spitzenverbanden in Baden-Wurttemberg.

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Barbara Eifert

satzliche Legitimitat einer vorparlamentarischen Interessenvertretung alterer Menschen, ihre Unabhangigkeit, ihre Abgrenzung zur Seniorenpolitik allgemein, die Gefahr ihrer Instramentalisierung und ihre Durchsetzungschancen. Rahmenbedingungen, sowohl forderlicher als auch hindernder Art, wurden und werden in der Diskussion eher vernachlassigt. Dabei sind diese von entscheidender Bedeutung, wie am Beispiel von Seniorenvertretungen in Nordrhein-Westfalen und ihrer Dachorganisation - der Landesseniorenvertretung - im Folgenden aufgezeigt wird.

2. ... und es gibt sie doch: Seniorenvertretungen Warum Seniorenvertretungen? Diese Frage steht am Beginn einer Handreichung der LSV NRW zur Griindung von Seniorenvertretungen (LSV NRW 2002) und ist als Eroffnungsfrage fur positive Antworten konzipiert. Denn die Handreichung stellt mit ihren praxisbezogenen Antworten, Hinweisen und Hilfestellungen die Chancen politischer Teilhabe durch Seniorenvertretungen in den Mittelpunkt des Interesses. Grundsatzliche Legitimationsfragen zu Seniorenvertretungen werden hier nicht behandelt, sie haben an anderen Stellen ihren Platz. Denn Seniorenvertretungen haben sich seit ihren Anfangen parallel zu der in Theorie und Praxis immer wieder aufflackernden Diskussion weiterentwickelt. Trotz ihrer durchschnittlich mangelhaften Rahmenbedingungen (Scholl 2000) stieg die Anzahl von Seniorenvertretungen in den letzten Jahren an, 2004 wurden bei einer Erhebung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesseniorenvertretungen insgesamt tiber 1.000 Seniorenvertretungen3 in Deutschland erhoben, zum Vergleich: 1986 waren es 147 und 1996 wurden bereits 735 gezahlt (Mayer 1997:206). Eine umfassende Analyse der Hintergrilnde und moglichen Ursachen dieser Entwicklung steht bislang aus. An dieser Stelle ist die Entwicklung der Seniorenvertretungen zunachst in den Kontext einer allgemein giiltigen Entwicklung, die im Folgenden kurz skizziert wird, zu setzen. Mit dem Wandel in der Altersstruktur der Bevolkerung geht eine Differenzierung der Lebenslagen alterer Menschen einher. Dies hat unter anderem Anderungen im Selbstbild alterer Menschen zur Folge. Bei aller Pluralisierung und Differenzierung der Lebensphase Alter sind dennoch allgemein gtiltige Tendenzen feststellbar. Vornehmlich bestimmend ist diesbezilglich die Differenzierung der Lebensphase Alter, die den demografischen Wandel begleitet. Veranderungen im SelbstDiese Anzahl muss als Annaherung bewertet werden, denn auch hier gilt, dass nicht alle Seniorenvertretungen automatisch Mitglied in den Landesseniorenvertretungen sind. Zudem ist die Zahlung durch die unterschiedlichen Aufteilungen von Gebietskorperschaften in den Landern erschwert.

Seniorenvertretungen in Nordrhein- Westfalen

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bild alterer Menschen hangen dabei entscheidend von deren materieller Lage ab. Zentrale Kriterien dafur sind das Einkommen, der Gesundheitszustand, die Wohnsituation, das Bildungsniveau sowie strukturelle Rahmenbedingungen. Diese Kriterien sind eng miteinander verknupft bzw. bedingen einander. So finden hohere Einkommen ihren Ausdruck u.a. in guten Wohnbedingungen, wozu auch eine gute infrastrukturelle Anbindung zahlt. Entsprechend finden niedrige Einkommen ihren Niederschlag in schlechteren Wohnbedingungen. Hinzu kommen eine insgesamt verbesserte gesundheitliche Gesamtsituation, die erst die Langlebigkeit erklart sowie - besonders auch bei Frauen - ein hoherer Bildungsstand alterer Menschen. Der allgemeine Trend in der Entwicklung des Selbstbildes alterer Menschen verlauft vor diesem Hintergrund zu einer starkeren Wahrnehmung positiver Aspekte im Sinne der Nutzung individueller Moglichkeiten der Alltagsgestaltung und gesellschaftlicher Partizipation (MGSFF: 2003: 133f.). Bedingt durch diese Anderungen wandeln sich Bedarfe, Gesellschaft und Politik im Alter mitzugestalten (Bundestag Drucksache 14/1717). Inmitten dieser Entwicklung bieten Seniorenvertretungen - wenngleich eingeschrankt - Mitwirkungsmoglichkeiten fur ein vergleichsweise offenes politisches Engagement. Seniorenvertretungen ermoglichen und praktizieren vor diesem Hintergrund politische Teilhabe alterer Menschen. Sie stellen daher und aufgrund ihrer verkniipften Organisationsstruktur (von der Basis zur Spitze) eine besonders wichtige Form des burgerschaftlichen Engagements dar. Hinzu kommt, dass mit dem demografischen Wandel nicht nur Differenzierungen in den Lebenslagen alterer Menschen einhergehen, sondern die Lebenslage Alter einen eigenen Reprasentationsbedarf entwickelt (Pitschas 2001), auch dazu bieten Seniorenvertretungen innerhalb ermoglichender Rahmenbedingungen Chancen. 2.1 Seniorenvertretungen

in Nordrhein- Westfalen

Nordrhein-Westfalen ist mit 17 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern das bevolkerungsreichste Land in Deutschland. Das Land hat funf Regierungsbezirke (Arnsberg, Detmold, Dilsseldorf, Koln und Miinster) mit 54 Kreisen und kreisfreien Stadten (26 Stadte, 28 Kreise). In den Kreisen bestehen kreisangehorige Stadte und Gemeinden. Insgesamt werden 396 Kommunen in NRW gezahlt. Der durchschnittliche Anteil alterer Menschen an der Gesamtbevolkerung liegt bei derzeit rund 23 Prozent.

Barbara Eifert

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Im August 2004 waren 118 Seniorenvertretungen in der Landesseniorenvertretung Mitglied, weitere Grundungen sind in Vorbereitung.4 Die Anzahl der Mitglieder in der Landesseniorenvertretung ist in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen, 1996 waren es 71, 2002: 107 und 2003: 116. Mit den 118 Seniorenvertretungen im Jahr 2004, die auf freiwilliger Grundlage bestehen, existieren in rund 32 Prozent der Kommunen Nordrhein-Westfalens Seniorenvertretungen. Die folgende Tabelle gibt einen Uberblick. Tabelle //Anzahl von Seniorenvertretungen (die Mitglied in der LSV NRW sind) aufgeteilt nach Regierungsbezirken 2002 und 2003 Regierungsbezirk

Arnsberg Detmold DOsseldorf Koln Munster Insgesamt

Anzahl der SV im Vergleich 12/2002 24 19 24 20 20 107

12/2003 25 21 28 22 20 116

Anzahl der Kommunen im Regierungsbezirk 83 70 66 99 78 396

Anteil der Kommunen mit SV im Regierungsbezirk (v.H.) 12/2002 12/2003 28,91% 30,12% 27,14% 30% 36,36% 42,42% 22,22% 20,20% 25,64% 25,64% 31,43% 28,99%

Quelle: Rechenschaftsbericht der LSV NRW 2003 Seniorenvertretungen in NRW existieren iiberwiegend in Kommunen mit 20.000 bis 50.000 sowie in Stadten mit ilber 200.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Zu Beginn der Griindung von Seniorenvertretungen Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre waren diese auch in NRW vor allem in den grofieren Stadten des Landes angesiedelt. Zwischen den Stadten und den landlichen Regionen besteht nach wie vor ein Gefalle, allerdings wachst die Anzahl von Seniorenvertretungen in landlichen Regionen an. Durch ein landesgefordertes Projekt zwischen 1997 und 1999, unter dem Titel „Seniorenbeirate im landlichen Raum - Strategien zur kommunalpolitischen Aktivierung alterer Menschen" (Stehr 1999), wurde die Anzahl von Seniorenvertretungen in landlichen Gebieten erhoht. Sieben Neugrundungen von Seniorenvertretungen schlossen sich direkt an das Projekt an, weitere wurden durch diese neu gegrilndeten Seniorenvertretungen im Schneeballverfahren initiiert. Dennoch trifft auch in NRW nach wie vor zu, dass in den landlichen Regionen, wie z.B. im Munsterland, in Ostwestfalen und den siidlichen Kreisen des Landes weiBe Flecken beztiglich der Existenz von Seniorenvertretungen bestehen.

Unterschiedliche Angaben zur Anzahl von Seniorenvertretungen resultieren oftmals aus der fehlenden Unterscheidung zwischen Seniorenvertretungen insgesamt und Seniorenvertretungen als Mitglieder von Landesverbanden.

Senior•envertretungen in Nordrhein-Westfalen

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Da Seniorenvertretungen freiwillige Einrichtungen der Kommunen sind, d.h. ohne eine verbindliche Rechtsgrundlage in der Gemeindeordnung (nur eine Ableitungsmoglichkeit aus der Gemeindeordnung NRW, s. Kap. 3) existieren, sind sie in ihren Strukturen und Ausgestaltungen entsprechend vielfaltig sowie unterschiedlich. Dennoch sind einige zusammenfassende Aussagen, die einen Uberblick geben konnen, moglich. Die Mitgliederanzahl der Seniorenvertretungen liegt durchschnittlich bei 11-15 Mitgliedern. In der Praxis erweisen sich dabei vor allem diejenigen Seniorenvertretungen als effektiv, deren Vorstande arbeitsfahige GroBen von bis zu sieben Personen aufweisen und ilber motivierende Vorsitzende bzw. ein Fuhrungsteam verfligen. Die durchschnittliche Amtszeit von Seniorenvertreterinnen und -vertretern betragt fiinf Jahre. Ihr Lebensalter liegt durchschnittlich zwischen 65-75 Jahren mit einer Tendenz zu jilngeren Altersgruppen. Diese Tendenz ist auch Folge der Bermihungen von Seniorenvertretungen um „Nachwuchs" und einer damit einhergehenden entsprechenden Herabsetzung der Altersgrenze zum Eintritt in eine Seniorenvertretung. Der Frauenanteil in Seniorenvertretungen ist so hoch wie in keiner anderen politischen Interessenvertretung, er liegt bei 50 Prozent. Dies hat vermutlich mit den relativ offenen Strukturen von Seniorenvertretungen zu tun, die einen Einstieg in die politische Arbeit im hoheren Lebensalter ermoglichen, ohne eine langjahrige Mitgliedschaft vorauszusetzen. Uber Erfahrungen in der etablierten politischen Arbeit verfligen Seniorenvertreterinnen tiberwiegend nicht, auch dies kann als Hinweis auf die relativ offenen Strukturen bewertet werden. Seniorenvertreterinnen und -vertreter waren wahrend ihres Erwerbslebens zum uberwiegenden Anteil als Angestellte/r oder Beamtinnen und Beamte tatig, wobei sich ihre berufliche Tatigkeit vor allem auf den sozialen Bereich bezog. 2.1.1

Entstehung und Grundung von Seniorenvertretungen

Bei der Grundung von Seniorenvertretungen kommt den Verwaltungen eine maBgebliche Rolle zu, sie sind oftmals die Initiatoren von Seniorenvertretungen. Inwiefern diese Initiativen auch aufgrund von Anregungen alterer Menschen entstehen bzw. entstanden sind, lasst sich im Nachhinein oft nicht mehr feststellen. In diesem Zusammenhang ist auf die bislang fehlende, tiefere Analyse der Zusammenarbeit zwischen Seniorenvertretungen und Verwaltungen hinzuweisen, die auch Spannungs- und Konfiiktfelder, wie z.B. Konkurrenzen, thematisieren sollte. Dessen ungeachtet wird die Grundung von Seniorenvertretungen, neben den Verwaltungen, vor allem durch altere Menschen selbst forciert. Dies ist eine in den letzten Jahren zunehmend feststellbare Tendenz. In der Regel schlieBen sich Interessierte zu einer Gruppe zusammen und beginnen fur die Grundung einer Seniorenvertretung in Hirer Kommune zu werben und Informationen dazu einzuholen. Dabei kann sich die Freiwilligkeit der Einrichtung von Seniorenvertretungen (§ 24 Gemein-

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Barbara Eifert

deordnung NRW) als Hemmschuh erweisen, denn ohne das Wohlwollen von Politik und Verwaltung kann eine Seniorenvertretung zwar gegriindet, letztlich aber nicht wirksam werden. In Nordrhein-Westfalen gibt es Beispiele von Kommunen, in denen die Griindung und Etablierung einer Seniorenvertretung seit Jahren verhindert wird: Leverkusen und Monchengladbach. Wenn innerhalb einer Kommune eine Gruppe interessierter alterer Menschen oder die Verwaltung eine Seniorenvertretung griinden wollen, spielt die Landesseniorenvertretung als Begleiter eines solchen Griindungsprozesses eine wichtige Rolle. Vorstandsmitglieder der LSV NRW ubernehmen dann oftmals langere Begleitungen, die durch kontinuierliche Information und Beratung gekennzeichnet sind. Ein Blick auf die Vergangenheit zeigt, dass ein groBer Teil der Seniorenvertretungen in Nordrhein-Westfalen zwischen 1988 und 1994 gegriindet wurde. Ursachen fur die Grilndungen von Seniorenvertretungen waren und sind zum einen der faktische Anstieg des Anteils alterer Menschen in der Gesellschaft und zum anderen, die Wahrnehmung dieser Entwicklung durch professionelle Akteure der Seniorenpolitik und alterer Menschen selbst. Zum anderen ist es der Wunsch und Wille alterer Menschen, an der Gestaltung der Gesellschaft (auch) nach dem Erwerbsleben mitzuwirken und eine individuell sinnvolle Tatigkeit mit Bezug auf andere Menschen wahrzunehmen. Als wichtige Grundungsanlasse sind ein vorhandener Hilfebedarf alterer Menschen, festgestellte Mangel in der Seniorenarbeit, der Wunsch nach einer altersspezifischen Interessenvertretung gepaart mit dem Wunsch nach einer vor allem parteienunabhangigen politischen Interessenvertretung feststellbar. Interessanterweise zeigt sich bei der Suche nach Ursachen fur Grilndungen von Seniorenvertretungen, neben denen zur politischen Partizipation gesellschaftlicher Gruppen allgemein, dass es z.B. keinen Zusammenhang zwischen dem Anteil alterer Menschen in einer Kommune und der Griindung einer Seniorenvertretung gibt. Ebenso wenig existiert ein Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein alterer Ratsmitglieder und der Griindung einer Seniorenvertretung. Kommt es zur Griindung einer Seniorenvertretung, geschieht dies zu einem Drittel in Urwahl, zu einem weiteren Drittel durch Delegiertenwahl und Mischverfahren sowie zu einem weiteren Drittel durch andere Verfahren. Urwahlen nehmen tendenziell an Bedeutung ab. Dabei spielt das Argument der hohen Kosten fur ein Urwahlverfahren eine zunehmende Rolle. Dagegen muss immer wieder auf praktische erprobte Konzepte und Formen kostengiinstiger Urwahlverfahren hingewiesen werden, denn nach wie vor sind die in Urwahl konstituierten Seniorenvertretungen gut etabliert und in ihrer Arbeit effektiv. Die Wahlbeteiligung hangt maBgeblich vom Bekanntheitsgrad der Seniorenvertretung ab. Wahlperioden sind in der Regel zwei bis funf Jahre und haufig an den Rhythmus der Kommunalwahl angepasst.

Seniorenvertretungen in Nordrhein- Westfalen 2.1.2

267

Zielsetzung, Funktionen und Merkmale von Seniorenvertretungen

Zielsetzung: Kommunale Seniorenvertretungen verfolgen als primares Ziel die Interessenvertretung alterer Menschen gegenuber der Verwaltung, den Parteien, den Ratsfraktionen, den Wohlfahrtsverbanden und alien weiteren relevanten Akteuren. Sie bieten dabei einer wachsenden Bevolkerungsgruppe, namlich der der alteren Menschen, eine Moglichkeit politischer Teilhabe (Partizipation) innerhalb der Kommune. Sie wirken in ihrer Arbeit stets generationsiibergreifend, derm Alter betrifft im Prinzip alle Menschen. Seniorenvertretungen biindeln und koordinieren Interessen alterer Menschen auf der kommunalen Ebene. Funktionen: Seniorenvertretungen konnen dabei in verschiedenen Funktionen agieren: • biindeln: das heiBt, sie biindeln Interessen und Belange alterer Menschen in der Kommune, • mitteln: das heiBt, sie mitteln zwischen alteren Menschen der Politik, der Verwaltung und weiteren relevanten Akteuren, • koordinieren: das heiBt, sie koordinieren Interessen und Interessengruppen in der Kommune, • beraten: das heiBt, sie beraten aus der Perspektive alterer Menschen Politik und Verwaltung und weitere relevante Akteure, • wachen: das heiBt, sie wachen ilber die Einhaltung der Rechte und Wilrde alterer Menschen. Seniorenvertretungen arbeiten und wirken dabei im vorparlamentarischen Raum. Sie beanspruchen im Gegensatz zu anderen seniorenpolitisch relevanten Verbanden und Vereinen, explizite politische Organisationen zu sein. Daraus resultierend obliegt ihnen primar die Interessenvertretung alterer Menschen. Fur die Aufgabendefmition von Seniorenvertretungen ist diese grundlegende Zielrichtung von Bedeutung, denn sie schlieBt unter anderem aus, dass Seniorenvertretungen z.B. staatliche Aufgaben, die sich aus dem § 75 BSHG ergeben, ilbernehmen. Eng verkniipft mit der Zielsetzung sind die charakteristischen Merkmale von Seniorenvertretungen, namlich die, eigenstandig und neutral zu sein. Merkmale: Als unabhangige Nicht-Regierungsorganisationen sind Seniorenvertretungen in ihrer Arbeit den folgenden Grundsatzen verpflichtet: • • •

Parteipolitische Neutralitat Konfessionsungebundenheit Verbandsunabhangigkeit.

Insbesondere diese Merkmale konnen als Griinde fur das offensichtlich attraktive Engagement in Seniorenvertretungen bewertet werden. Erfahrungen aus der Praxis weisen darauf hin, dass gerade die Unabhangigkeit des Enga-

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gements in Seniorenvertretungen eine Motivation fur altere Menschen darstellt, sich in diesen Gremien einzubringen. Denn trotz durchschnittlich mangelhafter Rahmenbedingungen und einer kritischen Diskussion um die Legitimitat von Seniorenvertretungen ist ein Anwachsen der Seniorenvertretungen zu verzeichnen, was zu einem Teil der Unabhangigkeit des Engagements geschuldet ist. Zudem driickt sich darin der Wunsch und Wille zur politischen Teilhabe alterer Menschen, jenseits der Kritik an Seniorenvertretungen und den mangelhaften Rahmenbedingungen, aus. 2.1.3

Aufgaben von Seniorenvertretungen

Aufgaben: Aus der Zielsetzung und den Grundsatzen ergeben sich vier zentrale Aufgabenbereiche fur Seniorenvertretungen als unabhangige politische Interessenvertretungen, die es auf kommunaler Ebene mit fnhalten zu fullen gilt: • • • •

Mitwirkung bei Planungen in der Kommune (z.B. bei der Stadtplanung), Vermittlung von Informationen und Interessen an Politik, Verwaltung und altenpolitische Akteure (= Politikberatung), Vermittlung und Beratung alterer Menschen (Informationen bereitstellen, Weiterleitung an Experten), Offentlichkeitsarbeit fur altere Menschen und das Alter.

Mitwirkung: Seniorenvertretungen sind in Nordrhein-Westfalen in § 5 PfG NW (MAGS 1996) als Mitglieder der kommunalen Pflegekonferenzen gesetzlich verankert. Innerhalb dieser Gremien haben Seniorenvertretungen bislang einzigartig - Mitwirkungsmoglichkeiten im Politikfeld Pflege innerhalb der Kommune. Doit, wo es von der Kommune ermoglicht wird, sind Seniorenvertreterinnen und -vertreter als sachkundige Einwohner uberwiegend in Sozialausschtlssen tatig. Da Altenpolitik eine Querschnittsaufgabe ist, die sich nicht auf einen Ausschuss (auch nicht auf einen Seniorenausschuss) reduzieren lasst, wird die Teilhabe an alien relevanten Ausschussen fur die Seniorenvertretungen in NRW von der Landesseniorenvertretung angestrebt. Da Partizipation Teilhabe bedeutet, nicht aber Entscheidungsbefugnis, ist es ebenso Ziel der LSV NRW, ein Antrags- und Rederecht, nicht aber ein Stimmrecht in alien relevanten Ausschussen zu erreichen. Die Mitwirkung von Seniorenvertretungen bezieht sich indes nicht nur auf die Arbeit in den Pflegekonferenzen und Ausschussen einer Kommune, sondern findet im Vorfeld, innerhalb der Meinungsbildung und -gestaltung sowie innerhalb der politischen Diskussionen in der Kommune statt. Seniorenvertretungen agieren dabei oftmals auf der Ebene der Anregung, dabei obliegt es ihnen, dass sie bei der Umsetzung ihrer Anregung auch als Initiatoren genannt werden.

Seniorenvertretungen in Nordrhein-Westfalen

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Vermittlung: Laut Zielsetzung gilt es, die Interessen und Belange aller alteren Menschen, d.h. die der so genannten jungen, ebenso wie die der kranken, der gesunden sowie der pflegebedtirftigen alteren Menschen zu erfassen, zu bilndeln und weiterzuleiten. Diese sind z.B. in die Offentlichkeit zu transportieren und/ oder in die Ausschusse und Gremien auf der kommunalen Ebene einzubringen. Auch die Pflegekonferenzen in Nordrhein-Westfalen bieten dabei ein wichtiges Wirkungsfeld fur Seniorenvertretungen. Beratung: Seniorenvertretungen haben nicht die Aufgabe, in Einzelfragen zu beraten, vielmehr geht es um die Vermittlung/Weiterleitung an Fachberatungen, dazu ist die Kenntnis der Angebote vor Ort unabdingbar. Eine Seniorenvertretung kann sich innerhalb der Kommune als erste Ansprech- und Anlaufstelle fur altere Menschen etablieren und somit im Hinblick auf Interessen und Belange alterer Menschen kanalisierend wirken. Offentlichkeitsarbeit: Diesem Aufgabenbereich kommt eine wesentliche Bedeutung in der Arbeit kommunaler Seniorenvertretungen zu. Die Moglichkeiten der Gestaltung von Offentlichkeitsarbeit, die auf die Verbesserung des Altersbildes abzielen, sind im Prinzip vielfaltig: So bieten fachliche Veranstaltungen immer auch eine erprobte Moglichkeit der Offentlichkeitsarbeit. Gerade im Jahr 2003 wurden viele Seniorenvertretungen in NRW aktiv und organisierten Diskussionsveranstaltungen, bei denen es um das Thema „Generationenkonflikt?" ging. Dieses Thema hatte durch die AuBerungen verschiedener Politiker an Konjunktur gewonnen. Neben Diskussionen und anderen Veranstaltungen bieten klassischerweise Lokalzeitungen und der Lokalfunk Moglichkeiten, Qffentlich wirksam zu werden. Im Zusammenhang mit den Aufgabenbereichen und Tatigkeiten von Seniorenvertretungen kommen immer wieder folgende Fragen auf: Was ist politisch? Was wird als politisches Handeln erkannt, was wird anerkannt? Dazu ist anzumerken, dass es auf kommunaler Ebene oftmals kleinere infrastrukturelle MaBnahmen sind, an denen Seniorenvertretungen mitwirken und an denen es zugelassen wird, dass sie mitwirken. Diese vergleichsweise kleineren MaBnahmen und Wirkungsfelder werden nicht immer als politisches Handeln anerkannt, obgleich sie fur altere Menschen - und nicht nur fur sie haufig groBe und zum Teil erleichternde Wirkungen haben (Stichwort: abgeflachte Burgersteige). Daher ist fur ein weites Verstandnis von politischem Handeln zu pladieren, das nicht beliebig, gleichwohl offen ist. Innerhalb dieses Verstandnisses von politischem Handeln haben Seniorenvertretungen als politische Interessenvertretungen nicht die Aufgabe, fur die Kommune im Bereich der so genannten „offenen kommunalen Altenhilfe" (§ 75 BSHG) tatig zu werden. Vielmehr sollte es Aufgabe von Seniorenvertretungen sein, z.B. die Ausgaben (Hohe und Verwendungsart) der Kommune fur die Seniorenpolitik/Altenhilfe kritisch zu beobachten, zu kommentieren und zu hinterfragen.

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An die kommunale Ebene der Seniorenvertretungen schlieBt sich die Landesebene - die Landesseniorenvertretung - an, die es in ihrer Struktur und in ihren Aufgaben naher zu betrachten gilt, da sie mit und fur die kommunalen Seniorenvertretungen wichtige Aufgaben und Funktionen erfullt. 2.2 Die Landesseniorenvertretung

Nordrhein-Westfalen

Die Landesseniorenvertretung Nordrhein-Westfalen e.V. (LSV NRW) ist die Dachorganisation der kommunalen Seniorenvertretungen, in der derzeit 118 Seniorenvertretungen Mitglied sind. Im Folgenden wird ein Uberblick uber wichtige Griindungs- und Entwicklungsdaten, uber die Organisation, den Vorstand und die Gremienmitarbeit gegeben, um daran anschlieBend zentrale Arbeitsergebnisse und Themenfelder beispielhaft aus den Jahren 2002 und 2003 zu skizzieren, die einen Eindruck der Engagementbereiche und Vielfalt der Instrumente in der Arbeit der LSV NRW vermittelt mochten. Grundung und Entwicklung 1984 Grundung der Landesarbeitsgemeinschaft nordrhein-westfalischer Seniorenvertretungen, 1991 Uberfuhrung der AG in einen eingetragenen Verein mit Gemeinnutzigkeits-Status, seit 1992 Herausgabe der viermal jahrlich erscheinenden Zeitschrift Nun Reden Wir, seit 1993 Forderungen durch das Land NRW (fur Qualifizierungsangebote, Veranstaltungen und Veroffentlichungen), seit 1999 Unterstiltzung der ehrenamtlichen Arbeit durch wissenschaftliche Beratung. Organisation: Die Mitgliedschaft in der LSV NRW gilt fur Seniorenvertretungen, die ehrenamtlich arbeiten. Einmal pro Jahr findet eine Mitgliederversammlung statt. Jahrlich wird ein Rechenschaftsbericht erstellt. Alle drei Jahre wird der Vorstand der LSV NRW gewahlt. Vorstand: Der Vorstand der LSV NRW besteht aus sieben ehrenamtlich arbeitenden Personen: einer/einem Vorsitzenden, zwei stellvertretenden Vorsitzenden, einer/einem Schriftfuhrerin/Schriftfuhrer, einer/einem Schatzmeisterin/Schatzmeister sowie zweier Beisitzer. Unterstutzt wird die Arbeit des Vorstands durch zwei Mitarbeiterinnen in der Geschaftsstelle der LSV NRW und durch die wissenschaftliche Beraterin auBerhalb der LSV NRW.

Seniorenvertretungen in Nordrhein-Westfalen

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Zielsetzungen und Aufgaben • Unterstiitzung der Seniorenvertretungen, d.h. durch Qualification, Beratung und Information, • Vertretung auf landespolitischer Ebene, d.h. Projektdurchfuhrungen sowie deren Initiierung, Stellungnahmen, Gremienmitarbeit sowie Gesprache, • Kooperationen grundsatzlich mit alien maBgeblichen Akteuren der Altenpolitik auf Landesebene, d.h. auch die Initiierung und Geschaftsfuhrung der Landesarbeitsgemeinschaft der ehrenamtlichen politischen Seniorenorganisationen = LAGSO, • Offentlichkeitsarbeit durch Veranstaltungen, Zeitung und Publikationen sowie im Internet, • Vertretung auf Bundesebene, d.h. Mitarbeit in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesseniorenvertretungen = BAG LSV und in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen = BAGSO. Tabelle 2: Beteiligungen der LSV NRW an Gremien, Instituten und Projekten auf der Landesebene Gremien/lnstitute/Projekte Landesarbeitsgemeinschaft der ehrenamtlichen politischen Seniorenorganisationen, LAGSO Landesmedienkommission (LMK) Landespflegeausschuss Nordrhein-Westfalen, (LPA) + Vorbereitender Ausschuss Landespflegeausschuss + Kleine Landeskonferenz zur Qualitatssicherung in der Pflege, sowie weitere AGs Initiative Seniorenwirtschaft (mit drei Unterarbeitsgruppen): AG 1: Telekommunikation und neue Medien fur Altere AG 2: Wohnen, Handwerk und Dienstleistungswirtschaft AG 3; Freizeit, Wellness, Tourismus und Sport Kuratorium „Betreutes Wohnen" Landesseniorenkonferenz Nordrhein-Westfalen (LSK) Forschungsinstitut fur Geragogik e.V. (FoGera), Witten Forschungsgesellschaft fur Gerontologie e.V. (FfG), Dortmund Gesellschaft zur Fbrderung der Pflegewissenschaft NRW e.V. (GFP), Bielefeld Projektverbund Senioren Online (SOL II) Fachgremium Forum Seniorenarbeit (Teilprojekt von SOL II beim KDA) Beirat der Deutschen Gesellschaft fur Gerontotechnik, Iserlohn Projekt .Altengerechte Stadt" Wuppertal WDR-Rundfunkrat, Koln

Quelle: Rechenschaftsbericht der LSV NRW 2003 Aufgabenbereiche der LSV NRW: Geschaftsfuhrung, Gremienarbeit, Stellungnahmen, Kooperationen, Mitgliederberatung, Veranstaltungen, Aktivitaten und Weiterbildungsangebote, Offentlichkeitsarbeit.

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Zentrale Arbeitsergebnisse und Themenfelder aus den Jahren 2002 und 2003 Zum Beispiel 2002 • Mit der „Aktion Rote Karte" gegen Einsparungen in der Seniorenpolitik konnte die LSV NRW dazu beitragen, dass die geplanten Kurzungen im Landeshaushalt nicht in voller Hohe realisiert wurden. • Die LSV NRW hat einen Platz in der Landesmedienkommission (ehemals Landesrundfunkrat). Die Zusage zur Untersttitzung fur die Besetzung des Platzes des „alteren Menschen" im WDR-Rundfunkrat (nach der Novellierung des WDR-Gesetzes) besteht weiterhin. • Mit der Handreichung: ,,Kommunale Seniorenvertretungen - Griindung leicht gemacht" wurden alle Kommunen in NRW, die noch keine Seniorenvertretung haben, zur freiwilligen Griindung von Seniorenvertretungen aufgefordert. • Insgesamt fiinf Stellungnahmen und Anhorungsteilnahmen zu Gesetzesvorhaben und -entwurfen verdeutlichen die zunehmende Anerkennung der LSV NRW als unabhangige Interessenvertretung alterer Menschen in NRW. • Gemeinsam mit den Sozialverbanden SoVD und VdK NRW sowie dem Landesbehindertenrat wandte sich die LSV NRW in einem offenen Brief an die Abgeordneten des Landtags NRW. In dem Brief wenden sich die Verbande gemeinsam gegen zu befiirchtende Verschlechterungen fur pflegebedurftige Menschen im Zuge der Novellierung des Landespflegegesetzes. Zum Beispiel 2003 •

• • • • •

40.000 Unterschriften wurden 2003 (im Marz 2004, am Ende der Aktion, waren es 53.000 Unterschriften) fur die Aktion der LSV NRW zur Einbindung der Seniorenvertretungen in die Gemeindeordnung des Landes von den kommunalen Seniorenvertretungen und Mitgliedern der LAGSO gesammelt. Die Landesseniorenvertretung NRW ist erstmalig Projekttrager. Das von der LSV NRW beantragte Projekt „Altengerechte Stadt" wird vom Land gefordert. 01.10.2003 Tagung Wohnen im Alter mit der Erarbeitung und Verabschiedung des Memorandums Wohnen im Alter. 26.11.2003 Tagung Pflegende Angehorige. Der Tagungsbericht erscheint 2004. Sechs Regionalversammlungen der Seniorenvertretungen fanden 2003 statt. „Der Platz des alteren Menschen" im WDR-Rundfunkrat wurde durch die LSV NRW besetzt.

Seniorenvertretungen in Nordrhein-Westfalen

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3. Forderliche Rahmenbedingungen und Strategien Um die Entwicklung zur starkeren Teilhabe alterer Menschen zu unterstiitzen, ist der Staat im Sinne der Burgergesellschaft, d.h. aktivierend und ermoglichend gefordert (Heinze, Striinck 2001). Fursorgerisches Handeln ist faktisch durch die Entwicklung und die Umsetzung angemessener Rahmenbedingungen z.B. in Form von Mitwirkungsmoglichkeiten abzulosen. Dabei muss der zunehmenden Pluralitat in der Gruppe alterer Menschen Rechnung getragen werden. Rahmenbedingungen und Mitwirkungsmoglichkeiten milssen also auch die Vielfalt der Bedarfe beriicksichtigen. Zu unterscheiden sind Mitwirkungsmoglichkeiten bezogen auf den gesellschaftlichen und den politischen Raum. Im gesellschaftlichen Raum sind Mitwirkungsmoglichkeiten durch aktivierende und unterstiitzende Projekte vor allem kleinraumig, stadtteilbezogen zu forcieren. Der Unterstutzung der Selbstorganisation und Selbstbestimmung kommt bei den Mitwirkungsmoglichkeiten an gesellschaftlichen Prozessen vor dem Hintergrund sich verandernder Bedarfe besondere Bedeutung zu. Diese Mitwirkungsmoglichkeiten sollten in ihren unterschiedlichen Ansatzen der Pluralitat (kulturelle, materielle und soziale Differenzierung des Alters) vorhandener und sich kunftig weiter ausdifferenzierender Bedarfe Bestand und Weiterentwicklung erfahren. Ferner gehort zur Starkung der Mitwirkungsmoglichkeiten im Alter unabdingbar die Unterstutzung durch Bildungsarbeit. Diese bietet fur altere Menschen vielfach eine Voraussetzung zur Teilhabe und Integration. Im politischen Raum sind Mitwirkungsmoglichkeiten im Sinne offenerer Formen der Burgerbeteiligung zu entwickeln bzw. umzusetzen. Tradierte und bislang praktizierte Beteiligungsformen miissen vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und den Erfordernissen einer Burgergesellschaft auf ihre Angemessenheit hin uberpruft werden. So sollten z.B. Anhorungsund Rederechte als Mittel anerkannter Mitwirkung gestarkt werden. Ebenso sollten sich entscheidungsbefugte Gremien fur Altersfragen offnen, um bislang nicht integrierte Interessen alterer Menschen aufzunehmen (Naegele 1999). Dariiber hinaus sind konkrete Mitwirkungsmoglichkeiten in Entscheidungsgremien auf Stadtteilebene zu initiieren und zu forcieren. Dabei sind auch neue verbesserte Zugange zur Mitwirkung alterer Menschen im politischen Raum zu erproben. Zudem erfordert das user involvement im politischen Raum professionelle Unterstutzung in Form von Information, Beratung und Vernetzung (Eifert 2001).

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274 3.1 Von auflen: Forderung

undErmoglichung

Die Bereitstellung und Schaffung forderlicher Rahmenbedingungen muss beziiglich der Seniorenvertretungen auf der kommunalen Ebene, der Landesebene und der Bundesebene ansetzen. Im hier interessierenden Zusammenhang werden die kommunale Ebene und die Landesebene in Betracht gezogen. Dabei ist zwischen der Forderung und Ermoglichung von auBen, d.h. durch die Kommunen und das Land und der Forderung und Ermoglichung von innen, d.h. durch die Landesseniorenvertretung und die kommunalen Seniorenvertretungen selbst, zu unterscheiden. 3.1.1

Die kommunale Ebene

Die freiwillige Einrichtung von Seniorenvertretungen ist in den letzten Jahren nicht nur in NRW, sondern auch in den anderen Bundeslandern fortgeschritten.5 Die Grilndung von Seniorenvertretungen ist dabei auch im Land Nordrhein-Westfalen nach wie vor eine freiwillige Angelegenheit der Kommunen. Entsprechend der Freiwilligkeit und daraus unter anderem resultierender, nicht vorhandener Gestaltungsvorgaben, sind die Strakturen von Seniorenvertretungen vielfaltig. Konstituierungsverfahren, Mitwirkungsmoglichkeiten und die Finanzierung der Arbeit von Seniorenvertretungen weisen ein breites Spektrum auf und unterliegen zudem einem steten Wandel, so dass zusammenfassende Aussagen nur bedingt moglich sind. So wird z.B. die Forderung der Sachkosten von Seniorenvertretungen in den Kommunen sehr unterschiedlich geregelt, es stehen Mittel zwischen rund 100 € und 12.000 € pro Jahr zur Verfugung. Bemerkenswert dabei ist, dass die H6he der Mittel sowohl von der OrtgroBe als auch von der Finanzkraft der Kommune unabhangig ist (Frerichs et al. 2001; LSVNRW2003). Die Strukturen von Seniorenvertretungen werden durch die Rahmenbedingungen innerhalb der Kommunen bestimmt. Zu den forderlichen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, die von auBen auf die Seniorenvertretung wirken, zahlen die Folgenden: • • •

positive Bewertung und Forderung burgerschaftlichem Engagements innerhalb der Kommune von Politik und Verwaltung, Offenheit von Politik und Verwaltung gegeniiber erganzenden, politischen Mitwirkungsformen innerhalb der Kommune, Kenntnisse iiber den demografischen Wandel und Motivation zu dessen positiver Gestaltung von Politik und Verwaltung innerhalb der Kommune, Zuwachse haben fast alle 16 Landesseniorenvertretungen zu verzeichnen. Dort, wo es zu Reduktionen gekommen ist, resultieren diese aus Gebietsreformen und Bezirksverringerungen (BAGLSV2004).

Seniorenvertretungen in Nordrhein-Westfalen • • • • • • • • •

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der Ansatz und die Orientierung von Politik und Verwaltung innerhalb der Kommune mit Alter Potenziale, statt Defizite zu assoziieren bzw. zu verbinden, der Ansatz und die Orientierung von Politik und Verwaltung vor allem mit alteren Menschen gemeinsam, statt fur sie, Seniorenpolitik innerhalb der Kommune zu gestalten, Wertschatzung gegenilber dem freiwilligen Engagement alterer Menschen innerhalb der Kommune, grundsatzlicher Wille in Politik und Verwaltung zur Einrichtung einer unabhangigen, demokratisch legitimierten Seniorenvertretung innerhalb der Kommune, Unterstutzung von Politik und Verwaltung bei der Grundung und Einrichtung einer Seniorenvertretung, Unterstutzung durch personelle Kapazitaten, Sachmittel und Bereitstellung von Raumen durch die Verwaltung innerhalb der Kommune, Akzeptanz der Seniorenvertretung als Ansprechpartner fur seniorenpolitische Interessen, Belange und Fragen innerhalb der Kommune durch Einbezug in den Informationsfluss und praktizierte Teilhabe, Aufhahme der Seniorenvertretung in die Hauptsatzung der Kommune durch den Rat, Beteiligung der Seniorenvertretung in den Ausschiissen der Kommune durch den Rat.

Diese Voraussetzungen und Rahmenbedingungen werden kaum bzw. selten in ihrer Ganze errullt und manche von ihnen stellen (Lern-)Prozesse dar. So ist beispielsweise der demografische Wandel weder ein neues noch unbekanntes Phanomen, dennoch wurde diese Entwicklung tiber viele Jahre vernachlassigt. Und erst gegenwartig entwickelt sich ein Bewusstsein tlber diesen unumkehrbaren Prozess mit entsprechenden Handlungsmotivationen. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass sich die hier detailliert aufgefuhrten theoretischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen in der Praxis bezilglich ihres Grades an Verbindlichkeit bewahren. Als unabdingbare Voraussetzungen fur eine effektive Arbeit von Seniorenvertretungen sind ihre faktische Akzeptanz und verbindliche Unterstutzung zu nennen. Bei der Akzeptanz wird der Status von Seniorenvertretungen als freiwillige Einrichtungen relevant, der die reale Gefahr der Unterlassung impliziert. Daher fordern Seniorenvertretungen gemeinsam mit der LSV NRW seit vielen Jahren eine verbindliche Einbindung in die Gemeindeordnung6 des Landes NRW, womit sie

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Auf die Diskussion urn die Nutzung von gegebenen Mitwirkungsmoglichkeiten der Gemeindeordnung durch Seniorenvertretungen wird an dieser Stelle verzichtet, da sie fur die Arbeit der Seniorenvertretungen derzeit wenig Relevanz haben.

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1. eine verbindliche Grundlage zur Einrichtung demokratisch legitimierter (moglichst per Urwahl konstituierter) Seniorenvertretungen in alien Kommunen des Landes erzielen wollen, um so die Mitwirkung von Seniorenvertretungen in die kommunale Seniorenpolitik flachendeckend zu gewahrleisten; 2. die Beteiligung von Seniorenvertretungen in den Ausschussen von Kommunen gewahrleisten wollen, um die Beteiligung und die Wahrnehmung von seniorenpolitischen Interessen durch ein Antrags- und Rederecht in den Ausschussen zu sichern.7 Diese Forderung zur flachendeckenden Einrichtung von Seniorenvertretungen in NRW stellt ein langfristiges Ziel dar. Mittelfristig wird eine Starkung von Seniorenvertretungen - innerhalb der derzeitigen rechtlichen Rahmenbedingungen - durch ihre Einbindung in die Hauptsatzung angestrebt. Die Forderung zur Einbindung der Seniorenvertretungen in die Gemeindeordnung - fur die es im Land derzeit keine politischen Mehrheiten8 gibt wird von den Seniorenvertretungen in der LSV NRW nicht als Garant fur die Effektivitat ihrer Arbeit bewertet. Gleichwohl wird in der Institutionalisierung der Seniorenvertretungen in die Gemeindeordnung ein erhohter Grad an Verbindlichkeit und Anerkennung fiir Seniorenvertretungen innerhalb des kommunalen Gefuges gesehen. Damit, so die LSV NRW, wiirde auch eine starkere Beriicksichtigung der Interessen und des Reprasentationsbedarfs von Seniorinnen und Senioren dokumentiert. Auch konnte sich in einer Einbindung der Seniorenvertretungen in die Gemeindeordnung die Wertschatzung gegenuber der alteren Generation und ihrem Engagementbeitrag fur die Kommune ausdriicken. Die weitere freiwillige Einrichtung von Seniorenvertretungen, mit dem langfristigen Ziel einer moglichst flachendeckenden Verbreitung von Seniorenvertretungen, kann hingegen nur durch gezielte unterstutzende MaBnahmen auf der Landesebene unter Beteiligung des Landes erreicht werden. 3.1.2

Die Landesebene

Seit 1993 ist das Land Nordrhein-Westfalen bezilglich der Landesseniorenvertretung in der Rolle des „ermoglichenden Staates" tatig. Die Forderung des Landes bezieht sich auf Personal- und Sachmittel. Durch die Forderung kann die LSV NRW eine Geschaftsstelle mit zwei Mitarbeiterinnen (in Teilzeit) ftihren und ein umfangreiches Angebot an Veroffentlichungen, QualifiAuf ein Stimmrecht wird bewusst verzichtet, da es um Teilhabe im Sinne der Mitwirkung, nicht aber um Mitbestimmung geht. Lediglich die Landtagsfraktion von Bundnis 90/Die Griinen und vereinzelte Mitglieder aus der Landtagsfraktion der SPD unterstiitzen die Forderung der LSV NRW zur Einbindung der SV in die Gemeindeordnung NRW. Die kommunalen Spitzenverbande sind bislang gegen die Einbindung.

Seniorenvertretungen in Nordrhein-Westfalen

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zierungsangeboten und Informationen fur die kommunalen Seniorenvertretungen bereitstellen. Die Forderung der Landessregierung schafft fur die LSV NRW grundlegende Moglichkeiten, als Interessenvertretung alterer Menschen unabhtingig zu wirken. Seit 1999 wird zusatzlich zur Unterstiltzung der LSV NRW eine wissenschaftliche Beratung gefordert. Dieses Modell zur Untersttitzung des politischen Ehrenamtes ist bundesweit einzigartig. Im Kontext der Diskussion um biirgerschaftliches Engagement ist es ein Beispiel fur die „neue" Rolle des Staates: aktivierend und ermoglichend im Hinblick auf die Unterstiltzung selbststandiger Strukturen, statt versorgend. Als Hintergrunde fur die Forderung der wissenschaftlichen Beratung sind auf Landesebene die Folgenden zu nennen: • • • •

Der 2. Landesaltenplan NRW nennt als Zielsetzung die Verbesserung der politischen Partizipation (=Teilhabe) alterer Menschen. In der Seniorenpolitik des Landes soil sich die Abkehr von der Ftirsorge gegenuber alteren Menschen hin zur Selbststandigkeit ausdrilcken. Die Ergebnisse der Studie zu Arbeitsweisen und Effektivitat von Seniorenvertretungen in NRW (Frerichs et al. 2001) verdeutlichten den Unterstutzungsbedarf fur das vorhandene, umfangliche politische Ehrenamt. Der Zuwachs an Seniorenvertretungen in NRW erh5ht die Anforderung an die Professionalitat einer unabhangigen politischen Interessenvertretung alterer Menschen auf Landesebene.

Als Kennzeichen der wissenschaftlichen Beratung lassen sich Folgende zusammenfassen: • • •

Unabhangigkeit: d.h. vom Mittelgeber (Land) und der LSV NRW (die Stelle der wissenschaftlichen Beratung ist eingebunden in das Institut fiir Gerontologie, Universitat Dortmund), emanzipatorischer Beratungsansatz: Das heiBt die Beratung unterstiitzt die ehrenamtliche Arbeit, ohne sie zu ersetzen oder zu ubernehmen, Mittlerfunktion: Die Beratung mittelt zwischen der LSV NRW und den maBgeblichen altenpolitischen Akteuren.

Zu den Arbeitsfeldern der wissenschaftlichen Beratung gehoren: 1. fachliche/ konzeptionelle und strukturelle/organisatorische Beratung fur den Vorstand der LSV NRW, 2. Aufgabengebiete sind dabei: konzeptionelle Entwicklung von Projekten, Bildungsangeboten, Fachtagungen und Vorschlagen zu Arbeitsschwerpunkten und der Arbeitsgestaltung, Transfer von Forschungsergebnissen in und fur die praktische Arbeit, Stellungnahmen (zu Gesetzen/ Anfragen etc.), inhaltliche Vorbereitungen fur Gremienarbeit, konzeptionell: Offentlichkeitsarbeit und Veroffentlichungen, Kooperationen initiieren und routinieren.

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In der Zusammenarbeit zwischen Vorstand und der wissenschaftlichen Beratung sind unter anderem Projektideen und -konzepte entstanden. Davon sind in Tragerschaft der LSV NRW: •

•

das Projekt „Altengerechte Stadt": Das Projekt wird innerhalb von 18 Monaten (Januar 2004 - August 2005) von einem wissenschaftlichen Team im Auftrag und enger Abstimmung mit dem Vorstand der LSV NRW durchgefiihrt. Projektpartner sind Kommunen, Wohnungsgesellschaften und kommunale Seniorenvertretungen. Das Projekt zielt auf die Starkung der Teilhabe Alterer an der Stadtentwicklung mit der Perspektive: Selbstorganisation und eigenbestimmtes Handelns. Dabei sollen Potenziale Alterer fur die Entwicklung einer altengerechten Stadt mobilisiert werden. Die Entwicklung eines Leitbildes, in dem stadtische Lebensbedingungen von Senioren, mit Senioren und fur Senioren verbessert werden, bildet dabei einen inhaltlichen Schwerpunkt. Das Projekt „Landesstelle pflegende Angehorige": Das Projekt ist an die LSV NRW angebunden. Zunachst soil tiber drei Jahre (Beginn September 2004) eine Anlauf- und Ansprechstelle filr pflegende Angehorige eingerichtet werden, mit der Intention, ein Forum zur Erfassung der Interessen und Bedarfe der pflegenden Angehorigen zu sein. Die Stelle soil eine Unterstiitzung pflegender Angehoriger bei der Artikulation ihrer Bedarfe und daraus folgend die Initiierung regionaler Untersriitzungsangebote bieten und perspektivisch eine Mitgliedsorganisationen pflegender Angehoriger anregen und unterstutzen.

Mit der Tragerschaft der LSV NRW von landesgeforderten Projekten wird die politische Teilhabe alterer Menschen in besonderer Weise verdeutlicht und gestarkt. 3.2 Von innen: Engagement, Kooperation und Vernetzung Seniorenvertretungen bringen freiwilliges Engagement auf kommunaler Ebene, auf Landesebene und bis hin zur Bundesebene auf und ein. Dieses Engagement ist grundlegend fur die Existenz und die Relevanz von Seniorenvertretungen. In Verbindung mit forderlichen Rahmenbedingungen kann daraus, wie das Beispiel der Landesseniorenvertretung NRW zeigt, eine etablierte und anerkannte politische Interessenvertretung alterer Menschen erwachsen. Beides bedingt einander: Engagement und forderliche Rahmenbedingungen. Die Gestaltung der Arbeitsinhalte und die Entwicklung von Strukturen und Strategien in der Arbeit obliegen den Seniorenvertretungen selbst. Sie schaffen Aufgabenfelder im Sinne einer politischen Interessenvertretung, fullen diese inhaltlich und entwickeln Strategien der Umsetzung.

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Neben den genannten Arbeitsinhalten erweisen sich insbesondere Kooperationen und Vernetzungen als wichtige, von den kommunalen Seniorenvertretungen und der LSV NRW ausgehende Strategieinstrumente zur Gestaltung der Arbeit und politischen Mitwirkung. Im Folgenden dazu einige Beispiele: Kommunale Seniorenvertretungen kooperieren mit seniorenpolitisch relevanten Akteuren (Organisationen und Initiativen) zur Umsetzung von Arbeitsinhalten und zur effektiveren Interessenvertretung seniorenpolitischer Belange innerhalb der Kommune. Organisationsintern fuhrt die LSV NRW seit 2003 so genannte Regionalversammlungen durch. Jahrlich werden in den funf Regierungsbezirken, unter Leitung der LSV NRW, Regionalversammlungen der Mitglieder durchgefuhrt. Diese zielen darauf, die Kommunikation zwischen dem Vorstand der LSV NRW und den kommunalen Seniorenvertretungen zu verbessern. Aufgrund der Grofie der LSV NRW bietet die jahrliche Mitgliederversammlung hier allein kein ausreichendes Kommunikationsforum. Zudem bieten regionale Versammlungen die Chance der schnelleren Integration neuer Mitglieder in die LSV NRW und eines zeitnahen, sachbezogenen Austausches in der Arbeit. Die mit dem Instrument Regionalversammlung angestrebten Vernetzungen konnten bereits 2003 initiiert werden und entwickeln sich zunehmend. Organisationsexfern wurde unter Federfuhrung der LSV NRW am 29. Oktober 2001 die Landesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen in NRW (LAGSO) gegrundet. Dem war ein Diskussionsprozess unter den ehrenamtlichen Vertreterinnen und Vertretern der Seniorenorganisationen vorausgegangen, an dessen Ende die Griindung der LAGSO stand. Mitglieder in der LAGSO sind 2004: SPD AG 60 plus NRW, LAG Alterpolitik NRW von Btlndnis 90/Die Grunen, Senioren-Union der CDU NRW, Liberale Senioren NRW, ver.di NRW, DGB Landesbezirk NRW, Deutscher Beamtenbund (BRH), Landesbund NRW und GEW Landesverband NRW. Ziel der LAGSO ist die verbesserte Durchsetzung von Senioreninteressen gegeniiber Politik, Verwaltung und Offentlichkeit in Nordrhein-Westfalen. Die Aufgaben der LAGSO liegen im regelmaBigen Informationsaustausch und in der Abstimmung seniorenrelevanter Sachfragen. Mindestens zweimal pro Jahr treffen sich die LAGSO-Vertreterinnen und -Vertreter. In der Grundungsversammlung sprachen sich alle Anwesenden einstimmig fur die flachendeckende Einrichtung von Seniorenvertretungen in NRW aus. Inhaltliche Abstimmungen in der LAGSO erfolgten bislang ilber Wahlprufsteine, Aktion „Rote Karte" gegen Einsparungen in der Seniorenpolitik des Landes NRW und zur Unterschriftenaktion der LSV NRW fur die Einbindung der kommunalen Seniorenvertretungen in die Gemeindeordnung des Landes NRW.

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4. Ausblick Der demografische Wandel erfordert im Interesse des Erhalts gesellschaftlicher Stabilitat und gleichwertiger Lebensraume aller Generationen Uberlegungen zu adaquateren Mitwirkungsformen (SZ 3/2000). In der Konsequenz muss dies bezogen auf altere Menschen einerseits zu einer qualitativen Weiterentwicklung der Versorgungsinfrastrukturen und einer verbesserten Nutzung der Ressourcen des Alters sowie andererseits zur Starkung von Teilhabe- und Mitgestaltungsmoglichkeiten fur altere Menschen fiihren. Entsprechend der Pluralisierung und Differenzierung des Alters beziehen sich Bedarfe zur Teilhabe alterer Menschen dabei nicht mehr unabdingbar und ausschlieBlich auf die Mitwirkung in den etablierten politischen Institutionen und Organisationen. Die Grundung bzw. die steigende Zahl von Seniorenvertretungen konnen als Anzeichen hierfur gewertet werden. Zudem kann der zunehmende Organisationsgrad auch als Hinweis darauf verstanden werden, dass es der etablierten Politik bislang offenbar nicht gelungen ist, Interessen von Seniorinnen und Senioren ausreichend zu berucksichtigen. Die Funktion als Mitwirkungsgremium im vorparlamentarischen Raum konnen Seniorenvertretungen, wenn forderliche Rahmenbedingungen vorhanden sind, erfullen. Diese bereit zu stellen, ist und bleibt eine staatliche Aufgabe im Interesse des burgerschaftliche Engagements. Was daraus erwachsen kann, lasst sich mit der Landesseniorenvertretung Nordrhein-Westfalen e.V. beispielhaft aufzeigen. Fur Seniorenvertretungen wird es kiinftig darum gehen, forderliche Rahmenbedingen zu erlangen, zu erhalten bzw. zu verbessern. Die Seniorenvertretungen sind gefordert und angetreten, die aktive politische Teilhabe alterer Menschen weiter zu intensivieren und zu verbreiten.

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Seniorenvertretungen

in

Nordrhein-Westfalen

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Gertrud M. Backes, Prof. Dr. phil, Professorin fur Soziale Gerontologie, Universitat Kassel, Fachbereich Sozialwesen, Arnold-Bode-Str. 10, 34127 Kassel ([email protected]) Kai Brauer, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut fur Soziologie der Freien Universitat Berlin, GarystraBe 55, 14195 Berlin ([email protected]) Joachim Burmeister, Prof. Dr. phil., Professor fur Padagogik/Sozialpadagogik und Jugendarbeit an der Fachhochschule Neubrandenburg, Fachbereich Soziale Arbeit, Brodaer Str, 2, 17033 Neubrandenburg ([email protected]) Michael Biirsch, Dr. jur., MdB, Vorsitzender der Enquete-Kommission „Zukunft des Burgerschaftlichen Engagements" in der 14. Legislaturperiode ([email protected]) Lars Clausen, Prof. Dr. sc.pol., Prasident der Ferdinand-Tonnies-Gesellschaft Kiel; Uni.-Prof. em. am Institut fur Soziologie der Christian-Albrechts-Universitat zu Kiel, OlshausenstraBe 40, 24098 Kiel ([email protected]) Barbara Eifert, Dipl.-Sozialw., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsgesellschaft fur Gerontologie, Dortmund, Evinder Platz 13, 44339 Dortmund ([email protected]) Michael Giinther, Dr. phil., Lehrbeauftragter an der Fachhochschule fur Verwaltung und Dienstleistung Altenholtz ([email protected]) Franz Holland, Prof. Dr. phil., Professor am Institut fur Soziologie der Universitat Wien, Rooseveltplatz 2, A-1090 Wien ([email protected]) Harald Kunemund, Dr. phil. habil., Wissenschaftlicher Assistent am Institut fur Soziologie der Freien Universitat Berlin, GarystraBe 55, 14195 Berlin ([email protected])

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Verzeichnis der Autorinnen undAutoren

Martin Oberbauer, Mag.; Wiener Hilfswerk Ehrenamtsborse, Burgerspitalgasse 4-6, A-1060 Wien ([email protected]) Klaus R. Schroeter, PD Dr. phil., Privatdozent am Institut fur Soziologie der Christian-Albrechts-Universitat zu Kiel, OlshausenstraBe 40, 24098 Kiel ([email protected]) Peter Zangl, Dr. rer.soc., Ministerium fur Soziales, Gesundheit, Familie, Jugend und Senioren des Landes Schleswig Holstein, Leiter der Landesinitiative Burgergesellschaft Schleswig-Holstein ([email protected])