Theodore Low De Vinne Alt und Neu
Gescannt aus: Typographie und Bibliophilie : Aufsätze und Vorträge über die Kunst de...
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Theodore Low De Vinne Alt und Neu
Gescannt aus: Typographie und Bibliophilie : Aufsätze und Vorträge über die Kunst des Buchdrucks aus zwei Jahrhunderten / ausgewählt und erläutert von Richard von Sichowsky …. Hamburg : Maximilian-Gesellschaft, 1971. (Jahresgabe der Maximilian-Gesellschaft in Hamburg ; 1969)
Theodore Low De Vinne Alt und Neu 1896 Ein freundschaftlicher Disput zwischen Juvenis und Senex nebst einer Nachbemerkung von Frederic W. Goudy 1933
juvenis: Was nur findet Ihr so bewundernswert an den Typen alter Bücher? Schätzt Ihr sie nicht mehr ihrer Besonderheit als ihrer Schönheit wegen? Ich habe die Originale oder anerkannte gute Faksimiles der besten Drucke eines Gutenberg, Jenson, Aldus, Kerver, Caxton und anderer namhafter Drucker gesehen, und doch ziehe ich die modernen Typen vor. senex: Dann saht Ihr nicht die spitze Gotisch, die Rundgotisch, die Aldus-Kursiv, die flämische Civilité und die frühen Antiquaschriften. Hat keiner dieser frühen Stile Euch gefallen? juvenis: Nicht einer. Der Versuch, die spitze Gotisch eines Gutenberg oder Kerver zu lesen, ist abstoßend wie ein Gang durch die Krypta einer alten Kirche. Die Rundgotisch wirkt dürr wie ein Haufen Austernschalen; die Buchstaben der Kursiv des Aldus stehen zu eng beieinander, sind übertrieben schmal und mit absurd kleinen Großbuchstaben unangemessen verbunden; und die flämische Civilité gleicht dem Bravourstück eines BuchstabenAkrobaten. In allen diesen Lettern sehe ich nur mangelhafte Zeichnung und Mißachtung der Proportionen. Auch ist der Guß so schlecht wie die Zeichnung; etliche Typen sind zu dicht aneinander gerückt, andere stehen zu weit auseinander, und viele Lettern halten nicht Linie. senex: Schwerlich könnt Ihr Jensons Antiqua als schlecht zugerichtet tadeln. 5
juvenis: Zugegeben. Denn Jenson verstand sich auf sein Handwerk, und für Kerver gilt dasselbe. Ihre Lettern sind gut zugerichtet und halten gut Linie. Indessen kann ich Jenson für seine vielgepriesene Antiqua nur geringes Lob spenden. Kein Zweifel, sie war besser als jede Antiqua ihrer Zeit; war sie aber vollkommen? Die Bibliophilen übersehen, daß sie schon fünfzig Jahre nach Jensons Tode überholt war und seine Typen von jedem späteren Schriftschneider abgeändert worden sind. senex: Wie erklärt Ihr dann aber die Gunst, die man den neuen Typen eines William Morris bezeigt? Seine Golden Type beruht doch auf Jensons Vorbild? Seine Troy- und Chaucer-Typen sind doch der Rundgotisch des fünfzehnten Jahrhunderts nachgebildet. juvenis: Ich maße mir nicht an, modische Auswüchse in der Typographie zu erklären, so wenig ich mir anmaße, solche der Religion, der bildenden Kunst und der Musik zu deuten. Die Athener, die einem unbekannten und vergessenen Gott dienten, haben in jeder Generation ihre Nachbeter. Es gibt mit dem Katechismus aufgezogene Engländer, die devote Buddhisten zu sein trachten; es gibt Impressionisten, Präraffaeliten und Wagnerianer. Wer das Einmalige liebt und nichts Neues zu erfinden weiß, muß etwas Altes oder doch Ausgefallenes aufstöbern, um sein Ansehen, als gescheiter Kopf zu gelten, zu wahren. Mir 6
genügt zu wissen, daß die literarische Welt außerhalb Deutschlands einmütig alle frühen Typen verworfen hat. Die geheiligte Gotisch eines Gutenberg und andere Formen fielen aus gutem Grund der Vergessenheit anheim. Sie alle waren formal schlecht und schwer lesbar — sie fielen auf durch Abkürzungen, den Mißbrauch von Großbuchstaben, absurde Worttrennungen und eine inkonsequente Orthographie. Mag ein Gelehrter unserer Zeit dem frühen Buchdruck noch so große Bewunderung zollen, zur Klärung eines strittigen Textes wird er sich nicht an Gutenbergs 42Zeilen-Bibel halten, wenn er eine besser lesbare zur Hand hat. senex: Ihr vermengt zwei Wesenszüge der Typographie, die getrennt beachtet werden sollten. Wir sollten die Formen alter Typen unabhängig vom Vermögen oder Unvermögen ihrer Setzer ins Auge fassen. Die gedruckten Texturschriften des fünfzehnten Jahrhunderts sind häufig grobe Kopien der bewundernswerten Handschriften ihrer Epoche. juvenis: Ich kann in der Gotisch eines jeden frühen Druckers nur die sklavisch durchgeführte Kopie der just zur Hand liegenden Handschrift sehen. Mißbildungen wurden kopiert, doch die flüssige Anmut der Schreibkunst ließ sich mit mechanisch hergestellten Typen nicht reproduzieren. Kein Schriftschneider jener Zeit hat je die Handschrift verbessert. In allen frühen 7
Büchern wimmelt es von Mängeln in Zeichnung und Schnitt, und eben darin zeigt sich, daß bei der Arbeit nicht mit der Sorgfalt wie heute bei ähnlichen Arbeiten verfahren wurde. Wir weichen dem wahren Sachverhalt aus, wenn wir annehmen, die alten Schriftgießer seien Halbgötter gewesen. Zu erklären, sie hätten recht getan, hieße behaupten, daß Albrecht Dürer und Geoffroy Tory, die über die wahren Proportionen der Buchstaben Bücher geschrieben haben, und Granjon und Garamond, die ihr ganzes Leben dem Scharfen von Typen gewidmet haben, Unrecht hatten. Ich ziehe vor, den Lehren bekannter Künstler höhere Autorität zuzugestehen. senex: Liegt nicht die Schwierigkeit, alte gotische Typen zu lesen, in deren uns nicht vertrauten Abkürzungen und ihren jetzt aus der Mode gekommenen Manierismen des Satzes? Würden nicht moderne Typen, verführe man ähnlich mit ihnen, ebenso undeutlich wirken? juvenis: Gewiß. Aber der Fehler beginnt mit den Formen der gedruckten Lettern. Man sieht es an der modernen deutschen Fraktur, die für jeden Gelehrten englischer Zunge seit je eine Quelle der Verlegenheit war. Die Deutschen selber geben praktisch ihre Unterlegenheit zu. Ihre wissenschaftlichen Werke sind allgemein in Antiqua gedruckt. Daß sie hier der Antiqua den Vorzug geben, beweist, daß diese Typen besser sind und daß die Drucker des 8
siebzehnten Jahrhunderts gut taten, als sie allgemein die Fraktur aufgaben. Die lesende Welt war ihr entwachsen. Warum sollten wir sie wieder aufleben lassen? senex: Machen wir uns keine Gedanken über die Fraktur. Es ist nicht zu erwarten, daß die Amerikaner sie jemals für die Texte gewöhnlicher Bücher übernehmen werden. Betrachten wir statt dessen die Antiqua, wie sie seit drei Jahrhunderten bei den romanischen Völkern und englischsprechenden Menschen im Gebrauch ist. Sind moderne Typen so gut lesbar wie die eines Jenson? Hier habe ich seinen Plinius von 1472 und hier die Type Soprasilvio Bodonis, wie er sie in seinem Manuale Tipografico von 1818 vorführt. Welcher Druck ist der bessere? juvenis: Die Frage überrascht mich. Jeder Buchstabe in der Schrift Bodonis ist korrekt gezeichnet, jedes System von einheitlicher Stärke, jeder Haarstrich und jede Serife messerscharf. Die Kurven verlaufen natürlich und anmutig; Satz und Zeilenführung sind über jede Kritik erhaben. Bei Jenson findet sich nicht ein einziger vollkommener Buchstabe. Die Haarstriche sind unangemessen und von unterschiedlicher Stärke, die Serifen klobig, die Grundstriche ungleich breit, und die Lettern stehen in keinem rechten Verhältnis zueinander. Die leidlich gute Zurichtung sowie die Zeilenführung können nicht über die ungleichmäßige Zeichnung der Typen und ihren robusten Schnitt 9
hinwegtäuschen. Kein Verleger der letzten zweihundert Jahre hätte gewagt, ein zeitgenössisches Buch in dieser Type drucken zu lassen, und kein Leser würde sich zu seinem Kauf herbeigelassen haben. senex: Sagt Euch diese Jenson-Type nicht noch ein weiteres? Ist sie nicht lesbarer? Ich stelle sie in einer Entfernung von drei Metern nebeneinander, hier Bodoni, dort Jenson; aus dieser Entfernung vermögt Ihr Jenson zu lesen, nicht aber Bodoni. juvenis: Sehr wahr. Aber Typen in Tertia-Größe werden nicht gemacht, um aus einer Entfernung von drei Metern gelesen zu werden. senex: Gleichfalls wahr. Aber die Manierismen, die bei Bodoni, aus drei Meter Abstand betrachtet, zurücktreten, stören weniger bei seinen kleinen Typen, die gewöhnlich aus einer Entfernung von vierzig Zentimetern gelesen werden. Sein überscharfer Haarstrich, seine uns betörenden Serifen und auslaufenden Kurven irritieren in den kleineren Schriftgraden mehr als in den größeren. Ein normales Auge erfaßt das Gesamtbild der Type nicht auf einen Blick; nur undeutlich sieht es Haarstriche und Serifen; es nimmt lediglich die Grundstriche wahr; es sieht nur die eine Hälfte der Buchstaben und errät nur, was unsichtbar bleibt. Die Bodoni wirkt auf das Auge ermüdend und anstrengend. 10
juvenis: Mit Euren Bemerkungen werdet Ihr Lesern mit guten Augen nicht gerecht. senex: Sie gelten für die Mehrzahl aller Leser. Es ist falsch, für normale Texte Typen mit Strichen zu machen, die nicht von allen gelesen werden können. juvenis: Wenn Ihr klare Zeichnung für das wichtigste Element einer Type haltet, warum erhebt Ihr dann die eines Jenson zu Eurem Vorbild? Warum dann nicht noch weiter zurückgehen? Warum dann nicht die Stein-Inschriften der alten Römer, Griechen oder Etrusker wiederaufnehmen? senex: Sie sind ungeschlacht und gehen verschwenderisch mit dem Raum um. Dazu bestimmt, in Stein gemeißelt zu werden, eignen sie sich nicht für Drucktypen. Die karolingische Minuskel als Grundlage unserer Antiqua ist gedrängter, ebenso bewegt und viel lesbarer. juvenis: Wenn Ihr meint, zwischen dem ersten und dem fünfzehnten Jahrhundert habe schrittweise eine Verbesserung in der Gestaltung der Buchstaben stattgefunden, warum dann beim fünfzehnten Jahrhundert stehenbleiben? Warum nicht zugeben, daß diese Verbesserung fortschreitet? senex: Weil die dann folgenden Veränderungen nicht immer auch Verbesserungen waren. Die untadeligen Kurven, scharfen Striche und akkuraten Winkel eines Bodoni waren 11
Entstellungen auf Kosten der Lesbarkeit. Typen werden gemacht, um gut lesbar zu sein, nicht aber, um das Können des Zeichners herauszustellen. Lassen sie es an Lesbarkeit fehlen, so ist der Fehler verheerend. Die organische Entwicklung der Typographie wurde gehemmt durch die ihr auf dem Fuße folgende Erfindung des Kupferstichs. Die durch ihn ermöglichte subtile Linienführung, die feine Abstufung der Schatten, die kräftigen Schwarztöne und die mit ihr leicht zu erreichende Wiedergabe perspektivisch weit in den Raum zurücktretender Hintergründe brachte die kräftige und männliche Arbeit auf Holz aus der Mode. Dürers Kleine Passion, Holbeins Totentanz und Simon Vostres Livre d’heures wurden beiseite getan, und an deren Stelle traten die blassen Verweichlichungen übertrieben fein gestochener Linien. Die Typenschneider des sechzehnten Jahrhunderts meinten, der Druck lasse sich verbessern, wenn sie die Methoden des Kupferstichs nachahmten, und so schnitten sie ihre Typen schärfer und dünner. Sie wollten nicht sehen, daß der Hochdruck, bei dem die druckende Form ein Hochrelief bildet, und der Tiefdruck, bei dem die druckende Linie in die Metallplatte eingegraben ist, einander in Theorie und Praxis diametral gegenüberstehen, und daß sich unmöglich das eine Verfahren vom andern imitieren läßt. Wiederholt erfolgte Fehlschläge haben diesen Wunsch, 12
nachzuahmen, nicht aufhalten können, und mit der zunehmenden Verfeinerung der Typen kam es zu einer entsprechenden Entartung im Druck. Die an den durchschnittlichen Druckerzeugnissen des achtzehnten Jahrhunderts zu beobachtende Minderwertigkeit läßt sich weitgehend auf das angeblich verbesserte Typenbild zurückführen. Von allen Kupferstichimitatoren verfuhr Bodoni in Parma am hemmungslosesten. Und William Morris hat recht mit der Behauptung, daß sich in dessen Imitationen der dem Kupferstich eigenen Subtilitäten eine offenkundige Verhunzung der typographischen Kunst bekundet. juvenis: Wenn nun aber akkurate Zeichnung, richtige Proportion und letzter Schliff in anderen Künsten als Vorzüge gelten, warum sollten sie dann Mängel bei der Herstellung von Typen sein? senex: ›Letzter Schliff‹ ist Verdienst und Vorzug nur dann, wenn wir damit eine Verbesserung erzielen. Wird mit ihm des Guten zuviel getan und führt er den Leser dazu, mehr an die angewandten Mittel als an den erstrebten Gegenstand zu denken, so ist er ein Fehler. Bodonis behutsame Zeichnung und allzu peinlich genauer Schnitt entwerten den Zweck, demzuliebe diese Typen gemacht wurden. Sie zeigen nicht den Buchstaben als solchen, wohl aber zeigen sie den, der sie machte: Bodoni; und es darf mit Fug und Recht angenommen 13
werden, daß ihm mehr daran lag, sein Können zu zeigen, als daran, dem Leser beim Lesen zu helfen. Für Euch besteht der höchste Vorzug einer Type in dem der technischen Präzision. Doch vergeßt Ihr dabei, daß Buchstaben unterschiedlich sind in der Absicht, sie deutlich zu machen. Je mehr Unterschiedlichkeiten Ihr wegschneidet, desto undeutlicher werden sie. Leser nehmen nicht jeden Buchstaben einzeln auf, um ihn kritisch unter die Lupe zu nehmen. Sie lesen Wörter auf einen Blick und ziehen Lettern vor, die unterschiedlich genug sind, das Auge festzuhalten und den Gedanken des Autors aufzunehmen. Und was für Typen gilt, gilt gleichermaßen für die Schreibkunst. Ist Euch schon einmal das Unglück widerfahren, ein langes Manuskript durchlesen zu müssen, geschrieben in einem femininen Stil mit einer spitzen Feder, in bewundernswerter Präzision, aber mit fast unsichtbaren Haarstrichen? Dann entsinnt Euch Eures dabei sich einstellenden Verdrusses über die mechanische Präzision und die ermüdende Monotonie. Wie dankbar wandtet Ihr Euch darauf einem grobgezackten und maskulinen, dafür aber lesbaren Stil der Schreibkunst zu, bei dem Ihr es zufrieden wart, daß hier gegen alle Regeln der Schreibmeister verstoßen wurde. Entsinnt Euch dieser Erfahrungen und begreift dann, warum ich den frühen Typen den Vorzug gebe. Nicht weil sie alt oder von 14
untadeliger Form, sondern weil sie deutlicher sind. Sie wurden nicht gemacht, um die Kunstfertigkeit des Schriftschneiders zur Schau zu stellen; sie wurden gemacht, um dem Leser zu helfen, und sie verdienen diese Ehre wegen der an sie gewandten ehrlichen Arbeit.
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Eine Bemerkung von Frederic W. Goudy Im Jahre 1898 sagte mir der Name ›De Vinne‹ nicht viel mehr als die Bezeichnung einer damals beliebten Auszeichnungstype, bis ich dann eines Tages in einer Buchhandlung in Detroit zufällig an ein Exemplar des Book-Lover’s Almanack for 1896 geriet. Von den im Inhaltsverzeichnis aufgeführten acht oder zehn Beiträgen war einer von Theodore Low De Vinne. Der Beitrag war in die Form eines Disputs zwischen ›Senex‹ und ›Juvenis‹ gekleidet und behandelte die jeweiligen Vorzüge früher Drucktypen gegenüber denen eines Bodoni und seiner Nachfolger. Damit wurde mir, wie ich glaube, zum ersten Male klar, daß ›De Vinne‹ der Name eines Menschen von Fleisch und Blut war. Das war um die Zeit, als ich mich für die Geschichte der Typographie zu interessieren begann und mich außerdem mehr mit dem Zeichnen von Typen befaßte, ohne damals zu ahnen, daß diese Beschäftigung einmal zur praktischen Betätigung in der Kunst, die ich seitdem zu meiner eigenen gemacht habe, führen sollte … Als ich De Vinnes Beitrag zum ersten Male las, wollte es mir scheinen, als habe ›Senex‹ die besseren Argumente auf seiner Seite, und in den seither vergangenen fast vierzig Jahren habe ich nirgendwo Behauptungen entdeckt, die meine damals 17
gebildete Meinung über seine gesunden Ansichten hätten ändern können … Gefragt, was meiner Meinung nach mich in meiner Arbeit als Typenzeichner am stärksten beeinflußt habe, würde es schwer halten, eine befriedigende Antwort zu finden; doch steht außer Zweifel, daß die in diesem Beitrag sowie in seinem Buch Notable Printers of Italy During the 15th Century niedergelegten Grundsätze wesentlich dazu beigetragen haben, den Schriftcharakter meiner Typen zu prägen. Sein logisches Denken, seine gründliche Kenntnis alter Typen, sein Gerechtigkeitssinn im Beurteilen aller strittigen Punkte, die einfache und doch klare Formulierung seiner Gedanken und Ansichten fesselten mich, beeinflußten mein Denken und spiegelten sich in meinem Schaffen wider. Wenn bei Betrachtung dieses Disputs nach reiferer Überlegung dem Autor ein Versehen unterlaufen ist, dann will mir scheinen, daß ›Senex‹ die Forderung hinsichtlich größerer Anmut und Schönheit der Typen in engerer Verbindung mit deren Lesbarkeit nicht stark genug betont. Ich meine, daß der rechte Maßstab für Schönheit der Typen vornehmlich in ihrer Nutzbarkeit liegt, wobei es dennoch sekundäre ästhetische Attribute gibt, die sich einschließen lassen, ohne daß deshalb Lebendigkeit, Kraft und Lesbarkeit geopfert zu werden brauchen. Eine gewisse robuste Schönheit wird ohne Schwierigkeit wahrgenommen, und Unebenheiten, die bei isoliert stehenden 18
oder individuellen Buchstaben in puncto Anmut allein Anstoß erregen mögen, können sich in der komponierten Zeile als höchst wünschenswert erweisen. Lesbarkeit geht selbstverständlich vor jeder anderen Eigenschaft. Fehlt es an ihr, so fehlt es am Wesentlichen, so vortrefflich das Ganze auch sei. Und doch — wenn wir Lesbarkeit anstreben, so sollte dabei auch der schönen Form fast die gleiche Beachtung geschenkt werden … Ich wage ›Senex‹ zu widersprechen, wenn er behauptet, es seien »die Lapidarschriften der alten Römer ungeschlacht und … als Drucktypen ungeeignet«. Marlboro, N.Y., im Mai 1933 Deutsch von Wolfgang Beurlen
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Theodore Low De Vinne Theodore Low De Vinne (1828-1912) gilt als der bedeutendste Buchdrucker Amerikas im 19. Jahrhundert. Seit 1850 Druckereibesitzer, entfaltete er große organisatorische Energien. Durch seine Initiative schloß sich der Druckerverband der United Typothetae zusammen, dessen erster Präsident er wurde; er gehörte 1884 zu den Mitbegründern des Grolier-Clubs in New York, für den er auf seiner 1907 gegründeten, nach ihm benannten Presse viele Drucke ausführte. Er verschloß sich nicht vor den Notwendigkeiten der industriellen Buchproduktion, suchte jedoch auch ihre Satz- und Druckqualität zu fördern. Selbst kein Schriftzeichner, hat er sich durch geschichtliche und theoretische Studien künstlerische Maßstäbe erarbeitet. Es ist eine Eigenart der älteren amerikanischen Druckergeneration, neben der Praxis Studien zur Schrift- und Druckgeschichte zu treiben. So hat De Vinne sich mit The Invention of Printing (1876) als Fachgelehrter und mit The Practice of Typography (1902) als Fachbuchautor ausgewiesen. Den hier veröffentlichten Texte entnahmen wir der Sammlung Book and Printing, Cleveland 1963. De Vinnes Kampf galt den entarteten, dünnen klassizistischen Typen. Er steht an der Seite und in der Nachfolge des William Morris. Auch ihm ist zu danken, daß sich die Mediäval langsam wieder eingebürgert hat. 21
Frederic W. Goudy Frederic William Goudy (1865–1947) ist im 20. Jahrhundert, wie De Vinne im 19., einer der bedeutendsten Typographen Amerikas. Im Unterschied zu De Vinne war er in erster Linie Schriftschöpfer. Mit Hilfe einer vereinfachten Schnittund Gußmethode hat er über hundert Schriften gezeichnet, geschnitten und gegossen, neben mittelmäßigen so vorbildliche wie die Goudy Old Style und Goudy Garamond. Sein bevorzugtes Vorbild war die Renaissance-Antiqua; der Einfluß von William Morris war auch bei ihm wirksam. Goudy hat so besonders durch sein Schriftschaffen, aber auch als Pressedrucker (Village Press), künstlerischer Berater der Industrie und Lehrer die amerikanische Buchkunst tief beeinflußt.
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