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Als Pullover noch mitwuchsen und Strümpfe gestopft wurden
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Wilhelm Schröder
Als Pullover noch mitwuchsen und Strümpfe gestopft wurden Erinnerungen an meine Kindheit im „Größten Dorf im Münsterland“ GREVEN 1943 bis 1957
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http://www.jahreszeitenhaus.com http://buecherschatz.eshop.t-online.de
Layout und Satz Ingeborg Bauer
ISBN 978-3-938986-79-0 © Copyright VIER JAHRESZEITENHAUS Gedichte, Bilder und Fotografien vom Autor, dem Heimatverein Greven und anderen 1. Auflage Verlag im Münsterland, Dülmen 2009 Datenkonvertierung ebook: Tyll Bauer
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Gewidmet unseren geliebten Eltern, Paula und Wilhelm Schröder, die so viele Entbehrungen auf sich genommen und uns nach besten Kräften gefördert haben und zu dem machten, was wir heute sind. Dank gebührt allen, die meiner Erinnerung auf die Sprünge geholfen haben, in besonderem Maße aber unserer „Lieblingstante“ Hedwig ( Heti ) Trahe, die uns wie ihre eigenen Kinder behandelte und stets von dem Wenigen, das sie besaß, großzügig und gern abgab und deren gute Laune schier unverwüstlich scheint.
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Die Eltern und die beiden Söhne
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VORWORT Kinder werden bei ihrer Sozialisation von ihrer Umwelt geprägt eine alte Binsenweisheit. Neben den sozio-ökonomischen Bedingungen (Gesamtheit aller gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren), in die ein Kind hineingeboren wird, neben den Genen, die es mit auf die Welt bekommt, bilden auch Menschen die Umwelt ab. Wie beim Prägen einer Münze hinterlassen diese Menschen ihre „Eindrücke“ in der Biografie von Kindern. Erste und wichtigste Kontaktpersonen sind in aller Regel die Eltern, die neben ihren Genen auch noch ihre ganz individuelle „Ausprägung“ weiter geben. Hinzu kommen Verwandte, Nachbarn, Freunde, Lehrer, Sportkollegen, aber auch Menschen, denen man nur wenige Male oder gar nur einmal begegnet ist. Im Folgenden geht es um meine primäre und sekundäre Sozialisation (Primäre Sozialisation: Sozialisation in den ersten etwa fünf Lebensjahren)- um es soziologisch zu formulieren.
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Natürlich sind auch nach erfolgter primärer und sekundärer Sozialisation noch „prägende“ Eindrücke und Einflüsse vorhanden, doch zu keinem Zeitpunkt seines Lebens ist der Mensch so formund bildbar wie in seiner Jugendzeit und bereit, Normen und Werte der ihn umgebenden Gesellschaft zu internalisieren (Übernahme von Normen und Werten der umgebenden Gesellschaft in die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen). Man spricht auch noch von einer tertiären Sozialisation im Erwachsenenalter - um die geht es hier nicht.
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Ja, wir waren arm - wie -zig Millionen andere Deutsche auch. Die erfahrene Armut und die damit verbundene Stigmatisierung (Gesellschaftlich negativ bewertete Merkmale, die zur Ausgrenzung führen können) wirken bis heute nach - zumindest im Unterbewusstsein. Armut ist immer relativ, und aus unserer Verwandtschaft ist niemand verhungert, auch wir nicht, aber die kriegsbedingten Verwerfungen führten bei nahezu allen zu extrem erschwerten Lebensbedingungen. Die Suche nach der eigenen Identität, nach den eigenen Wurzeln, ist höchst spannend und birgt manch Überraschendes, das schon verschüttet ist.
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Bauer Kolkmann beim Pflügen
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ZEITSIGNATUREN Um den Zeitgeist der 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts zu erfassen, ist ein kurzer Abriss der „braunen“ Geschichte Grevens erforderlich. Dabei beziehe ich mich ausschließlich auf die im Anhang genannte Literatur, die für vertiefende Studien nur empfohlen werden kann. Seit der Machtergreifung Adolf Hitlers am 30.01.1933 war die Hauptintention der" braunen" Machthaber, die Wirtschaft des Landes „kriegsfähig“ zu machen.
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Auf dem Vormarsch nach Russland Die Regierung reduzierte die Entscheidungsspielräume der Landwirte (z. B. über den Anbau von Getreide etc.), und die Textilindustrie erhielt in großem Umfang Rüstungsaufträge. Insgesamt wurden im Raum Greven 13 Schießstände errichtet; in
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Abendkursen wurde die Bevölkerung auf den Ernstfall vorbereitet, Luftschutzmaßnahmen wurden durchgeführt, die Bevölkerung mit den akustischen Warnsignalen der Sirenen vertraut gemacht. Am 01.09.1939 befahl der Führer den Überfall auf Polen. Nach dem „Blitzsieg“ im „Blitzkrieg“ (06.10.1939) läuteten eine Woche lang von 12 -13 Uhr die Glocken der Kirchen – das so genannte Siegesläuten. Am 03.09.1939 übrigens war der erste Grevener Soldat auf dem „Feld der Ehre“ gefallen. Ab dem 01.09.1939 war es bei Strafe verboten, ausländische Radiosender zu hören - das Fernsehen gab es ja noch nicht. Die Kontrolle der deutschen Bevölkerung wurde immer intensiver, die Überwachung immer differenzierter.
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Versorgungsengpässe in der Lebensmittelversorgung der Bevölkerung gab es schon seit der Mitte der 30er Jahre, Bezugsscheine für Lebensmittel ab 27. August 1939, und zwar für - 700 g Fleisch pro Woche - 280 g Zucker, 110 g Marmelade, - 63 g Kaffee und 20 g Tee. pro Person. - 0,2 l Milch pro Tag Kinder unter sechs Jahren erhielten zusätzlich 0,5 l Milch pro Tag, stillende Mütter 0,3 l Milch auf Antrag. Schwerstarbeiter erhielten geringfügige Zuschläge. Ab 25.09.1939 wurden auch Brot, Kartoffeln, Zwiebeln, Fisch, Eier, Süßwaren u.v.a. bezugsscheinpflichtig. Durch die Einberufung zahlreicher Männer zum Wehrdienst ent-
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stand in der Landwirtschaft ein Arbeitskräftemangel. Für die Fabrikarbeiter entfielen Urlaubsansprüche, Zuschläge zum Lohn für Akkordarbeit, Nachtschichten u.a. durften nicht mehr ausgezahlt und mussten an das Reich abgeführt werden.
Kampfpause
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Ab 01.09.1939 war es verboten, bei Dunkelheit Straßen und Schaufenster zu beleuchten, die Fenster der Häuser mussten bei Beleuchtung abgedunkelt und verhängt werden. In der Kriegsphase von 1939 - 1942 war die Versorgungslage der Bevölkerung zwar sehr bescheiden, doch unter den Kriegsbedingungen noch eben hinreichend. Schulkinder wurden aufgefordert, Altmetall und Heilpflanzen zu sammeln. Ganze Klassen waren im Einsatz, um Kartoffelkäfer einzusammeln. Stets gab es Appelle der Führung, die Produktivität zu steigern. Gravierend war für die Bevölkerung vor allem der Ausfall von Produkten für den privaten Bereich. So gab es z.B. ein generelles Bauverbot, da zunächst Fliegerschäden behoben werden mussten und Luftschutz- und Befestigungsanlagen absolute Priorität erhielten.
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Zerstörte Häuser nach einem Angriff Eisen und Stahl waren kaum zu beschaffen, da sie für die Kriegsproduktion wichtig waren. Kfz-Individualverkehr wurde bereits ab 06.09.1939 durch den Reichsverkehrsminister verboten, nur amtlich freigestellte Fahrzeuge mit besonderer Kennzeichnung durften fahren.
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Im Raum Greven wurden ab 1940 etwa Gebrauchsgüter wie Fahrraddecken, Ersatzteile für Radios, Zahnpasta, Schnuller, Schuhe für Frauen u.v.a. knapp. Im strengen Winter 1942 fehlte es an Kohlen, 1943 konnten Dreschmaschinen kaum eingesetzt werden, da es an Treibstoff mangelte. Diese Notsituationen ließ auch in Greven einen blühenden Schwarzmarkt entstehen. Die russische Gegenoffensive ab 05.12.1941 führte zum Ende der „Blitzkriege“ und der Kriegswirtschaftskonzeption, und die Rationen für die Bevölkerung wurden - ohnehin nicht üppig - drastisch gekürzt. Die Amtsverwaltung Greven ließ am 01.06.1943 verlauten, dass niemand mehr mit einem raschen „Endsieg“ rechnen dürfe. In der Bevölkerung wurde der Mangel an Ärzten beklagt, da viele
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eingezogen worden waren. Die Region Greven, die stark landwirtschaftlich geprägt war, hatte natürlich eine viel bessere Versorgungslage als z. B. die Städte im nahen Ruhrgebiet. Im Münsterland verfügten viele Haushalte über Gärten oder waren gar Nebenerwerbslandwirte und konnten so die schwierige Zeit besser überstehen.
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Eltern mit Willi im Garten von Nolde
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Im Jahre 1944 wurden sogenannte Tauschzentralen eingerichtet, um die Schwarzmarktaktivitäten einzudämmen - mit nur geringem Erfolg. „Schwarzschlachtungen“ und Wilddieberei nahmen stark zu, obwohl harte Strafen drohten.
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Zerstörte Brücke Schöneflieth in Greven
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Im März 1940 begann eine so genannte Metallmobilisierung als Geburtstagsgeschenk für den Führer. Alle Glocken aus Bronze mussten gemeldet werden, Privathaushalte sollten Metallgegenstände abliefern, da die Versorgung mit Importrohstoffen immer stärker zurück ging. Sogar die Pokale des Grevener SC 09 wurden als Metallspende zur Verfügung gestellt. Schon 1938 gab es kaum noch private Bauherren, Mitte 1940 fehlten in Greven 420 - 480 Wohnungen. Bis 1940 waren die Gebäudeschäden durch Luftangriffe relativ gering, es gab lediglich zwei zerstörte Häuser.
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Flak-Batterie Erfolge wurden sichtbar gemacht“, schrieb unsere Mutter zu diesem Kriegsfoto. Unten rechts Willis Vater. Jeder Streifen am Geschützrohr steht für einen abgeschossenen russischen Panzer.
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Problematisch wurde die Wohnraumsituation durch Evakuierungen aus Großstädten, vor allem aus Münster. Am Stichtag 01.09.1943 gab es über 1000 Evakuierte in Greven. Als gefährlich und wehrkraftzersetzend stufte die Führung Flugblätter ein, die aus hoch fliegenden britischen und amerikanischen Flugzeugen abgeworfen wurden.
Jagdgesellschaft ca. 1940
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Gegen geflohene Kriegsgefangene und „Herumtreiber“ wurde ab 1942 die sogenannte Landwacht ins Leben gerufen, eine Art Hilfspolizei, die reguläre Polizeikräfte im Kampf um öffentliche Sicherheit und Ordnung unterstützen sollte. Im Jahre 1943 gab es in Greven 74 Landwacht-Männer, bewaffnet mit Privat-Gewehren und -Pistolen, jedoch weitgehend ohne Taschenlampen, da es die nicht gab. Die Sportpalast-Rede Josef Göbbels am 18.02.1943 wird von Historikern allgemein als Kriegswende eingeordnet („Wollt Ihr den totalen Krieg?“) Im Juni 1943 fanden in Greven Propagandaveranstaltungen für die Waffen-SS. statt. Da deutsche Männer wegen des Kriegseinsatzes in immer geringerer Zahl zur Verfügung standen, sollten germanischblütige Ausländer die Reihen füllen. Im Jahre 1943 – meinem Geburtsjahr - waren aus dem Amtsbezirk Greven 1300 Männer im Krieg. Zunehmend lösten Durchhalteparolen die bis dahin verkündeten Meldungen über den baldigen Endsieg ab.
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Das „Munni-Lager“ (Munitionslager) - wie es im Dorf hieß - lag in der Gronenburg am Dortmund-Ems-Kanal in unmittelbarer Nähe zum Dorf Greven. Dieses wichtige strategische Ziel war bei den Alliierten offensichtlich nicht bekannt. Luftangriffe häuften sich zunehmend und lediglich Ärzte, Hebammen und Wehrmachtsangehörige, Bau- und Störtrupps so wie Mitglieder der technischen Nothilfe durften sich auf den Straßen aufhalten. Diese Personengruppen trugen Armbinden, an denen sie zu erkennen waren. Viele Grevener nahmen den Alarm nicht ernst. So ist dokumentiert, dass Fabriken z.T. weiter arbeiteten und Kinder ihr Spiel auf der Straße nicht unterbrachen. In den letzten Kriegsmonaten häuften sich die Bombenabwürfe, Tiefflieger schossen mit ihren Bordkanonen auf alles, was sich bewegte. Lkw und Pkw durften nur noch nachts mit abgedunkeltem Licht und maximal 30 km/h fahren.
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Wegen kriegsbedingten Mangels an Männern musste die Freiwillige Feuerwehr einen Trupp „HJ-Feuerwehrschar“ einrichten. Die Jugendlichen mussten mindestens 15 Jahre alt und 165 cm groß sein, um aufgenommen zu werden. In einem Schnellkurs von 33 Stunden wurden sie theoretisch und praktisch geschult und dann auch eingesetzt.
Die Bevölkerung war durch Luftschutzkeller nur unzureichend geschützt. So gab es nur drei öffentliche Schutzbunker mit einer Kapazität von 500 Personen, in denen nur 6,2% der Grevener Bevölkerung Schutz finden konnte. Private Kellerräume boten in aller Regel keinen hinreichenden Schutz, da die Sicherheitsstandards zu gering waren. Der Dortmund-Ems Kanal war eine wichtige Wasserstraße und wurde seit 1940 aus der Luft mit Bomben angegriffen. Um den
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„echten“ Kanal zu schützen, legte man einen „Tarnkanal“ an, der tatsächlich auch bombardiert wurde. Erfolgten Angriffe bei Tage, wurde der Kanal eingenebelt, um ihn zu tarnen. Über 100 Flakgeschütze waren auf Grevener Gebiet im Einsatz, um den Kanal zu schützen. Den schwersten Angriff musste Greven am 08.02.1945 erleben: neun Menschen fanden den Tod, 720 Wohngebäude und zwei Bauernhöfe wurden völlig zerstört, 88 beschädigt. Im Jahre 1943 fiel die Verbrauchsgüterproduktion durch die forcierte Rüstungsproduktion auf den Stand von 1938 zurück. Nur Lebenswichtiges wurde produziert, die Arbeiter wurden bis zur Erschöpfung eingespannt.
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Metzgerei Theißing
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Von Jahr zu Jahr nahm der Arbeitskräftemangel sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie zu. Am 18.07.1944 wurde durch den Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion verfügt, dass die wöchentliche Arbeitszeit auf 60 Stunden zu erhöhen sei. In der Bevölkerung herrschte Unmut darüber, dass Parteifunktionäre in der Regel UK (Unabkömmlich) gestellt wurden, alle übrigen wehrdienstfähigen Männer aber in den Krieg ziehen mussten. Im Oktober 1941 wurden die Feiertage Christi Himmelfahrt, Fronleichnam, Reformationstag sowie Buß- und Bettag für die Dauer des Krieges abgeschafft und auf einen Sonntag verlegt. Im katholischen Münsterland kam diese Entscheidung bei der Bevölkerung nicht gut an, viele Arbeiter boykottierten diese Verfügung und machten an diesen Tagen „blau“, indem sie sich krank meldeten. Wegen der desolaten Situation auf dem Arbeitsmarkt wurden Rentner reaktiviert und Jugendliche zu ehrenamtlichen Tätigkeiten herangezogen.
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Die Gruppe der Frauen stellte ein gewaltiges Arbeitskräftereservoir dar. Zwar hatte die NS-Ideologie die Rolle der Frau in der Gesellschaft anders definiert, nämlich als „Gebärmaschinen“ und zuständig vor allem für Heim und Herd, aber flugs wurde „umdefiniert“. Fremdarbeiter und Kriegsgefangene zu beschäftigen stellte keine ideologischen Probleme dar. Schon 1939 gab es die ersten polnischen Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft, 1940 folgten holländische Arbeiter für die Textilindustrie, nach dem Überfall auf die Sowjetunion russische und ukrainische Arbeitskräfte. Die braunen Machthaber sahen in diesen Zwangsarbeitern Arbeitssklaven, die bis zu ihrer „Entsorgung“ für die Produktion zu funktionieren hatten. – Eine wahrlich barbarische Ideologie. Wegen Rohstoffmangels wurden in den Grevener Textilfabriken auch metallverarbeitende Abteilungen eingerichtet, die z.B. Zün-
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der herstellten, Teile für die Flugzeugproduktion o.ä. In der NS-Verwaltung wurde zwischen „Zivilarbeitern“ und „Kriegsgefangenen“ unterschieden. Erstere wurden angeblich „angeworben“, die andere Gruppe bestand aus Armeeangehörigen feindlicher Staaten. Im August 1940 waren im Deutschen Reich ca. 7.600.000 Menschen zur Arbeit gezwungen worden, die oft unter inhumanen Bedingungen ihr Dasein fristeten. In Greven gab es 13 Gefangenenlager. Aus „luftgefährdeten Gebieten“, so z.B. aus Mülheim an der Ruhr, wurden Industrie- und Gewerbebetriebe nach Greven verlegt. Da Grevens Textilfabriken dringend Facharbeiter benötigten, wurden aus holländischen Textilfabriken Arbeiter zwangsverpflichtet. Auch in der Landwirtschaft waren Holländer im Einsatz. Aus den Lagern in Greven gelang etwa 20 Gefangenen die Flucht. Der Großteil der Zwangsarbeiter kam aus dem Osten. Sie waren
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i.d.R. auf den Bauernhöfen in den Bauernschaften eingesetzt. Alle Zwangsarbeiter erhielten einen besonderen Pass, der sofort ihren Sonderstatus erkennen ließ. Aus Osteuropa waren über 900 Zwangsarbeiter in Greven im Einsatz, 70% von ihnen waren Männer. In den Kriegsjahren 1939 - 1945 waren in Greven insgesamt 1700 Zwangsarbeiter im Einsatz, die 1300 Grevener im Kriegsdienst ersetzen mussten. Der Kontakt zu Deutschen war den Zwangsarbeitern bei strenger Strafe untersagt. Misshandlungen der Zwangsarbeiter waren an der Tagesordnung, ihre Versorgungslage war oftmals desolat. Die NS-Rassenideologie mit entsprechenden Gesetzen, aber auch gesellschaftliche Normen, verboten den Umgang deutscher Frauen mit Zwangsarbeitern. Auch in Greven kam es zu Exekutionen von Zwangsarbeitern, vermutlich auf Anordnung der Gestapo. Bei einer Hinrichtung
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von zwei Polen mussten andere polnische Zwangsarbeiter an den aufgehängten Leichen vorbeimarschieren. Sexuelle Kontakte zwischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern wurden geduldet. Wurden Kinder in solchen Beziehungen gezeugt, musste ein Gutachten über die „rassischen Merkmale“ des Kindes erstellt werden. Im ersten Lebensjahr starben auffällig viele dieser Kinder. Schon seit Mitte 1944 war Greven Aufnahmeort für ca. 2000 Evakuierte. Hinzu kam die Einquartierung von Militäreinheiten, die auf dem Rückzug waren. Es wurde eng in Greven. Mit Führererlass vom 25. 09.1944 hatte Hitler den Volkssturm als letztes Aufgebot angeordnet. Alle Männer zwischen 16 und 60 erhielten eine Kurzausbildung. Diese Einheiten unterstanden der Partei, nicht der Wehrmacht. Am 28. Februar 1945 wurde verfügt, dass die Zeitungen nur noch
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in einem Umfang von zwei Seiten erscheinen durften. Am 31. März 1945 wurde Greven durch die Kanadier befreit. Alle NS-Funktionäre erhielten ein ordentliches Gerichtsverfahren. Viele dieser Funktionäre versuchten in den Entnazifizierungsverfahren ihre Verstrickung und Schuld zu minimieren. Am Ostersonntag 1945 war für Greven der Krieg zu Ende, die „Festung Greven“ war gefallen. Das „Munni-Lager“ nahe dem Dorf Greven wurde in Etappen gesprengt, bis zum Schluss hatten die Alliierten von der Existenz dieses großen Lagers offensichtlich keinerlei Kenntnis. Vereinzelt versuchten fanatisierte Deutsche noch einen sinnlosen Widerstand gegen eine große Übermacht mit schweren Waffen. Im „letzten Gefecht“ um Greven fielen noch 58 deutsche Soldaten, neun Zivilisten und acht alliierte Soldaten. Während für das Dorf Greven der Krieg zu Ende war, nämlich am
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ein 31. März 1945, gingen die Kämpfe in Deutschland andernorts noch weiter, die Kapitulation Deutschlands erfolgte erst 6 Wochen später, am 8.Mai 1945. Die Bilanz des Zweiten Weltkrieges für das Dorf Greven sah wie folgt aus: 780
Grevener fielen,
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Zivilisten starben
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Deutsche und
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alliierte Soldaten wurden getötet.
957 Gebäude wurden in Greven-Dorf, 1515 im gesamten Amtsgebiet Greven zerstört, nur 658
Gebäude im Amtsgebiet Greven blieben intakt.
Die Anzahl der traumatisierten Einwohner war hoch. Durch die Sprengung der Ems-Brücken war ein normaler Stra-
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ßenverkehr unmöglich, die Versorgungslage war desolat. Die Sieger verboten alle Fahrten mit Pkw, Motorrad oder Fahrrad und erließen eine Sperrstunde ab 18 Uhr. Alle Waffen und NSSymbole mussten abgegeben werden, bei Waffenbesitz drohte die Todesstrafe. Auch alle Orden und Ehrenzeichen unseres Vaters landeten in der Ems. Am 06.10.1946 wurde die Sperrstunde aufgehoben. Gesetz Nr. 1 der Sieger vom 1. April 1945 verfügte die Aufhebung aller NSGesetze. Im Zuge der Entnazifizierung entfernte die Bevölkerung alles, was an Nationalsozialismus erinnern konnte. Alle Archive wurden „gesäubert“. Alle Straßen und Plätze, die nationalsozialistische Namen trugen, wurden umbenannt, der Arier-Nachweis war bei Behörden nicht länger erforderlich. Obwohl zivile Kleidung sehr knapp war, wurde am 28.11.1945 ver-
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fügt, dass keine Kleidung militärischen Ursprungs getragen werden durfte - mit Ausnahme von Schuhen und Stiefeln der Armee, da Fußbekleidung knapp war. Die Schulen standen ebenfalls vor gigantischen Problemen: bisher verwendete Schulbücher durften nicht mehr eingesetzt werden, Kartenmaterial war unbrauchbar, nicht einmal Musikbücher durften weiter benutzt werden. Bei der Entnazifizierung der Grevener Bevölkerung ging die britische Besatzungsmacht sehr pragmatisch vor. Partei- und Verwaltungsfunktionäre wurden zwar verhaftet, für die Engländer hatte jedoch die Beschaffung von Wohnraum, die Ankurbelung der lokalen Wirtschaft so wie die Wiederherstellung der Verwaltung absolute Priorität. Nazifunktionäre wurden zu schwerer körperlicher Arbeit verurteilt. Hart und unnachgiebig wurde Waffenbesitz verfolgt. Ein Grevener Polizeibeamter, der Waffen im Garten vergraben
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hatte, wurde erschossen. Im gesamten Kreis Münster wurden lediglich 124 Nationalsozialisten verhaftet, 85 aus dem Amt entfernt. Im Januar 1946 gab es einheitliche Richtlinien des Kontrollrates zur Entnazifizierung. Der Fragebogen umfasste 12 Seiten und wurde allen Selbstständigen, Beamten und Angestellten vorgelegt. In fünf Kategorien wurde eingeteilt: I = Verbrecher, II = Übeltäter, III = weniger bedeutende Übeltäter, IV = Parteigänger, V = Entlastete. Die Mitglieder der Entnazifizierungsausschüsse mussten natürlich Nicht-Nationalsozialisten sein und den Bevölkerungsquerschnitt repräsentieren.
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Der Kategorie I und II Zugewiesene wurden in den Lagern überprüft, für Kategorie III gab es eine Bewegungseinschränkung, eine Konten- und Vermögenssperre, für IV (und die übrigen Kategorien I bis III) den Verlust des aktiven und passiven Wahlrechtes. Für Kategorie V gab es keine Sanktionen. 18 Grevener galten als Hauptschuldige und wurden z.T. länger interniert. Viele brachten sogenannte „Persilscheine“ bei, d.h. Erklärungen von Pfarrern, Freunden, Verwandten, in denen sie als „sauber“ bezeichnet wurden. Erst am 10.02.1952 erklärte die Landesregierung die Entnazifizierung offiziell als beendet. Nach dem Krieg wurden Entschädigungsleistungen für materielle und immaterielle Schäden gezahlt, wobei ehemalige KZ-Insassen und überlebende Juden besonders bedacht wurden. Ein besonderes Problem stellten die" Displaced Persons "nach
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dem Krieg dar. Darunter verstand man Ausländer, die ohne Hilfe nicht in ihre Heimatländer zurückkehren konnten. Allein in Greven und Umgebung waren das einige Tausend Menschen. Greven war eine von mehreren Sammelstellen für Displaced Persons, ein Teil Grevens musste geräumt werden, um die ca. 5000 Menschen aufzunehmen. Manche Grevener mussten bis zu 5 Jahre auf ihre eigene Wohnung verzichten.
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DP Lager Greven
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In Greven wurden 375 Häuser beschlagnahmt, im Reckenfeld 126, daneben Schulen, Fabriken und Hotels. Statistisch stand in Greven pro Person 3,1 m² Wohnfläche zur Verfügung. Die Versorgung der Displaced Persons mit Lebensmitteln führte zu katastrophalen Verhältnissen. Das soziale Klima war durch die räumliche Enge, und die schlechte Versorgung stark belastet. Das Zusammenleben so vieler verschiedener Nationalitäten war aufs Äußerste angespannt, die dörfliche Struktur des Dorfes Greven verkraftete das alles nicht. Nach der Räumung der Häuser und Wohnungen erhielten die Eigentümer eine Entschädigung, die eher symbolisch war. So erhielt eine Familie z.B. 35,75 Reichsmark als Entschädigung - eine Zigarette kostete damals etwa 6 Reichsmark. Zigaretten waren in dieser Zeit so etwas wie die Leitwährung. So entsprachen etwa 9 Zigaretten dem Lehrlingsgehalt für einen Monat.
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Viele Displaced Persons versuchten auf eigene Faust, sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Es kam zu Überfällen, die Angst der einheimischen Bevölkerung wuchs. Einige der Displaced Persons, vor allem die aus dem Baltikum, wollten nicht in ihre Heimat zurück, da diese von den Russen annektiert worden war und sie auch dort "DISPLACED“ waren. Auf Grund der starken Überbevölkerung kam es zu Unruhen, es gab Schießereien und einige Tote. Im Herbst 1945 waren ca. 80% der Displaced Persons repatriiert1. Von den Polen wollten jedoch nur ca. 55% in ihre Heimat zurück, da Ostpolen durch den HitlerStalin-Pakt jetzt zur UdSSR gehörte und sie auch dort „Displaced“ gewesen wären. So blieben vor allem Polen und Letten in Camps, sie wurden beschult und so weit wie möglich beruflich qualifiziert. Es gab für sie kulturelle Veranstaltungen, Kino, Tanz u.a. Erst am 30. Juni 1950 wurde das Grevener Camp geschlossen, da alle Personen untergebracht waren. 1
d. h. in ihre Heimatländer zurück gekehrt
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Im Sommer 1947 wurden die ersten 125 der beschlagnahmten Häuser an die Eigentümer zurückgegeben. Die Häuser waren in einem desolaten Zustand, alles, was abzumontieren ging, war entfernt, alles Holz zu Heizzwecken genutzt worden. Zahlreiche Berichte belegten eine katastrophale Wohnsituation in dieser Zeit, nicht selten lebten 8 Personen in einem Zimmer. Bis Mai 1950 waren alle Häuser und Wohnungen wieder im Besitz der Eigentümer. In der Grevener Bevölkerung blieben als Bild der Displaced Persons Zerstörung, Raub, Überfälle und Vergewaltigungen. Die Schäden an Gebäuden und Wohnungen durch Displaced Persons in Greven wurden auf 1.300.000 Mark geschätzt, die Bevölkerung wurde zu Spenden aufgerufen. Die Nachkriegsjahre waren geprägt von extremem Mangel an allem Lebensnotwendigen. Ein wichtiges Nachkriegsereignis in Greven war der Antrag des „Größten Dorfes im Münsterland“ auf die Bezeichnung „Stadt“.
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Am 22. November 1949 war es so weit, Greven erhielt die Stadtrechte verliehen, die Urkunde wurde am 22. Januar 1950 überreicht. In diesem Jahre endete auch die Lebensmittelrationierung. Am 20. Juni 1948 gab es die Währungsreform, die Reichsmark wurde durch die Deutsche Mark abgelöst, jeder Bürger erhielt 40 DM „Startgeld.“ Am 23. Mai 1949 wurde die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Sie sollte in ökonomischer Hinsicht ein Erfolgsmodell werden, man sprach später auch von einem „Wirtschaftswunder“. Das ist aus heutiger Sicht wenig verwunderlich, lag doch das Land in weiten Teilen in Trümmern. Fast jeder sechste Deutscher hat im Zweiten Weltkrieg sein Leben verloren. Zwischen 1950 und 1959 verdoppelte sich das Bruttosozialprodukt. Nach der faschistischen Diktatur wurde aus Deutschland in relativ
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kurzer Zeit eine stabile, gefestigte Demokratie - für viele das eigentliche „Wunder.“
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Ehepaar Schröder hinter dem Haus Münsterstraße in Greven
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DIE ERSTEN JAHRE Am 28. Juli 1943, in einem sehr heißen Sommer, kam ich, Willi Schröder, morgens um vier Uhr „blau“ zur Welt. Nein, nein, meine Mutter war keine Alkoholikerin, ich hatte nur keine Lust zu atmen und lief daher blau an. Die Hebamme packte mich bei den Beinen, hielt mich kopfabwärts unter die Pumpe, die Tante Hedwig bediente, gab mir einen kräftigen Klaps auf den Po - und schon kam der erste Schrei.
Mutter mit Sohn im Kinderwagen
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Dass ich getreu einer alten Familientradition den Namen Wilhelm trage, habe ich erst 18 Jahre später gemerkt. Als ich den Führerschein mit „Willi Schröder“ unterschrieb, fragte mich der Beamte, ob ich Urkundenfälschung begehen wolle.
Klein Willi im Garten Nolde
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Mein Geburtsort ist Greven, früher das „Größte Dorf im Münsterland“, heute eine Stadt mit ca. 32.000 Einwohnern. Natürlich muss ich zunächst von den Menschen berichten, ohne die mein Leben nicht wäre: meinen Eltern. Das heißt, von meinem Vater kann ich aus den ersten Jahren recht wenig erzählen, er war in den ersten fast drei Lebensjahren gar nicht da - mit Ausnahme einiger weniger Urlaubstage im Krieg. Wie Millionen anderer Männer diente er dem „Deutschen Volke“ als Soldat im Zweiten Weltkrieg, und zwar vom ersten Kriegstag an bis zu seiner Gefangenschaft in Russland.
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Mein Vater
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Ich bin das Produkt eines Heimaturlaubes meines Vaters. Ob ich als „Geschenk an den Führer“ gedacht war, weiß ich natürlich nicht - ich will es aber nicht hoffen.
Bei Nolde hinter dem Haus
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Meine Mutter war 27 Jahre alt, als sie mich bekam. Von Beruf war sie Köchin und kochte in einem Lazarett im Sauerland für verwundete Soldaten, in dem auch mein Vater behandelt wurde. Mehrfach wurde er im Krieg verwundet, fast 100 kleine Metallsplitter steckten in seinem Körper, vor allem im linken Arm, die später verkapselten und „nur" noch Wetterumschwünge anzeigten. In eben diesem Lazarett haben sich meine Eltern kennen und lieben gelernt. Als ich geboren wurde, bewohnte meine Mutter ein Zimmer auf der Wöstenstraße 9 in einem Haus, das Änne und Wilhelm Nolde gehörte. Änne war die Schwester meiner Oma Spiekermann von der Münsterstraße 80. Die Ehe von Änne und Wilhelm war kinderlos geblieben, und weil meine Oma sechs Kinder hatte, konnte sie eins hergeben, und das war eben meine Tante „Heti" (Hedwig). Sie hatte es bei dem kinderlos gebliebenem Paar natürlich viel besser als zu Hause, wurde im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten verwöhnt, bekam fast alles, was machbar
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war und wurde von ihren Geschwistern heftig beneidet. Im Jahre 1943 kam der Krieg auch schon in die Heimat, und während mein Vater noch vom kurz bevorstehenden „Endsieg“ schrieb - wie meine Mutter oft erzählte - fielen die ersten Bomben auf Greven. In der Hüttruper Heide war ein Militärflugplatz - heute der Flughafen Münster/Osnabrück - und damals ein bevorzugtes Ziel alliierter Bomber. Hunderte von Stunden verbrachte ich in meinen ersten Lebensjahren im Luftschutzkeller der Firma Anton Cramer und Co, der von der Wöstenstraße aus zu Fuß in etwa 5 Minuten zu erreichen war. Die Tatsache, dass ich bis heute extreme Schlafstörungen habe, liegt vielleicht im fehlenden Tag-Nacht-Rhythmus der ersten Jahre begründet - wer weiß. Die Erwachsenen - so erzählten sie mir später - beteten den Rosenkranz und in den Gebetspausen spielten sie mit mir. Ich muss wohl ein recht aufgewecktes Kerlchen gewesen sein, denn die Erwachsenen brachten mir allerlei „Dressuren“ bei, die ich auf Kommando abgespulte. Das war meine frühkindliche Förderung
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in dieser schweren Zeit, und sie war offensichtlich effektiv. Die Angriffe der Alliierten erfolgten vor allem bei Nacht, um der deutschen Flugabwehr das Abschießen zu erschweren. Meine Mutter ist durch die Bombennächte ihr Leben lang traumatisiert gewesen. Bei jedem lauten Geräusch schreckte sie zusammen, bis in ihr hohes Alter hinein. Schon das ein wenig heftigere Schließen einer Tür ließ sie erschreckt zusammen zucken. Am 23.11.1946 wurde mein Bruder Werner geboren. Der Krieg war ja am 8. Mai 1945 mit der Kapitulation des Deutschen Reiches zu Ende gegangen - (in Greven schon früher, s. Zeitsignaturen) - doch die Versorgungslage der Bevölkerung sogar auf dem Lande war katastrophal. Meine Mutter sagte später immer, mein Bruder habe uns das Leben gerettet, weil es für Familien mit Kleinkind mehr Lebensmittelmarken gab.
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Mutter mit beiden Söhnen Lebensmittel wurden zugeteilt, nach Alter gestaffelt. Fast alle, die so arm waren wie wir, gingen hamstern, d.h. sie gingen oder fuhren mit dem Fahrrad - falls sie eins besaßen - zu Bauern und versuchten, im Tausch gegen Sachen aus dem bescheidenen Haushalt Kartoffeln, Mehl oder Speck zu erhalten. Meine Mutter hat so ihre gesamte Aussteuer, die sie für ihre Ehe gekauft und gehortet hatte, „umgesetzt“, um sich und ihre zwei Kinder zu ernähren. Dabei hatte sie noch das große Glück, dass die Tauschwaren nicht durch Treffer des Hauses verschüttet wurden.
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Ausweis meines Vaters
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Nach dem Krieg war es verboten, Nazi-Symbole im Haus zu haben. Mein Vater hatte zahlreiche Auszeichnungen erhalten, sie landeten ebenso wie „Mein Kampf“ in der Ems. Anfang 1946 kam mein Vater aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause. Ihm war mit zwei anderen Kameraden die Flucht gelungen. Tagsüber hielten sie sich versteckt, nachts marschierten sie Richtung Westen oder sie sprangen auf fahrende Züge. Mehrfach seien sie entdeckt worden, jedoch sei dies von der Bevölkerung nie an die Behörden gemeldet worden. "Die russische Bevölkerung wollte eben so wenig den Krieg wie die meisten Deutschen", sagte er später häufig. Ich habe später immer wieder versucht, meinen Vater dazu zu bewegen, seine Kriegserlebnisse und vor allem seine abenteuerliche Flucht aufzuschreiben, vergebens. Darüber mochte er nicht reden, geschweige denn schreiben, und so hat er diese Erlebnisse
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mit ins Grab genommen. Im Jahre 2004 starb mein Vater im Alter von 88 Jahren - ein Kämpfer und „zäher Hund“ - wie seine Kollegen ihn nannten, sein Leben lang. Gelegentlich hat er seinem Enkelsohn vom Krieg erzählt, den er nie verherrlichte, sondern immer als größte aller menschlichen Katastrophen schilderte. Er sagte, er sei nie Nazi gewesen, habe aber keinerlei Möglichkeit gesehen, sich dem Arbeitsdienst und dem anschließenden Wehr- und Kriegsdienst zu entziehen. Wer im Nazi-Regime nicht linientreu war, wurde liquidiert oder wanderte ins KZ. Mein Vater, Jahrgang 1916, sagte häufig: „Hitler hat mir meine besten Jahre gestohlen und mein Leben ruiniert“. Bei seinen Talenten hätte er - wie viele anderer seiner Generationin vielen Bereichen Erfolg haben können. Um diese Option haben ihn und Millionen andere die "braunen Gesellen", wie er sie oft nannte, gebracht.
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HOCHWASSER In den Jahren 1946 und 1949 wurde Greven von Überschwemmungen heimgesucht, die Ems trat über die Ufer, die Straßen standen meterhoch unter Wasser. Die Menschen wurden von Booten aus mit Lebensmitteln versorgt, die zu den Dachböden, auf die sie sich geflüchtet hatten, mit langen Stangen hoch gereicht wurden.
Fußpfad über die Flut zum Krankenhaus
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Greven unter Wasser Auch das Vieh, Schweine und Hühner, mussten auf den Dachboden verfrachtet werden. Bei den Hühnern war das ja noch relativ einfach, bei den Schweinen schon deutlich schwieriger. Die für die Hausschlachtung vorgesehenen Schweine waren nicht - wie heute üblich - Leichtgewichte von ca. 100 kg, nein, das waren zwei- bis dreijährige richtige Kawenzmänner, die 200 - 250 kg auf die Waage brachten. Fast jeder, der die Möglichkeit dazu hatte, hielt
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sich in diesen schwierigen Nachkriegsjahren Schweine, um die Versorgungssituation zu verbessern. Dabei wurde auch häufig „getrickst": Man hielt zwei Schweine, gab aber nur eins an. Wenn man aufflog, war nicht nur das Schwein futsch, es gab auch drastische Strafen. Meine Eltern erzählten, dass sie einmal ein Schwein hatten, das einen Bandwurm hatte. Trotz aller Bemühungen kam an das Vieh nichts dran. Es wurde heimlich geschlachtet, quiekte aber so laut, dass die ganze Straße es hörte. Die Solidarität war damals offensichtlich noch größer als heute, jedenfalls zeigte niemand der Nachbarn von der Wöstenstraße die Schwarzschlachtung an, Dieses Schwein schmeckte, so unsere Eltern, auch ohne amtlichen Stempel, auf den in dieser schweren Zeit sicherlich so manches arme Schwein verzichten musste.
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Beim Schreiben dieser Zeilen ist mir erstmalig die Bedeutung der idiomatischen Wendung "Da habe ich Schwein gehabt" richtig deutlich geworden. Wer in diesen harten Zeiten ein Schwein hatte, musste nicht verhungern.
Tante Änne und Onkel Wilhelm hatten zwei dieser Schwergewichte, die partout nicht Treppen steigen wollten. Vier Männer aus der Nachbarschaft waren zusätzlich erforderlich, um die Schweine das Treppensteigen zu lehren. Das war ein Quieken und Schreien, als hingen sie am Spieß! Die ganze Aktion dauerte mehrere Stunden. Eines dieser feisten Biester schnappte sogar einen „Aufstiegshelfer“, und man musste dem Schwein die Schnauze zubinden. An diese Aktion im Jahre 1949 erinnere ich mich sehr lebhaft, vielleicht weil sie so außergewöhnlich, laut und spannend war. Bis das Hochwasser wieder fiel, mussten nun Mensch und Vieh auf engstem Raum Seit an Seit und nicht durch Wände getrennt, leben. Und ob sie wollten oder nicht, die Schweine mussten sich an
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den Gestank der Menschen gewöhnen. „Dat wet mol en Pastor“, meinten Onkel und Tanten. Der Treppenabsatz im Hause Nolde wurde von mir zur Kanzel umfunktioniert und ich hielt dort meine „Predigten“, die wohl nur ich verstand. Erste rhetorische Übungen - auf Platt natürlich. So hat mich schon als 4- oder 5-Jähriger die Kirche in ihren Bann gezogen Wenn ich heute gefragt werde: "Wie hälst du´s mit der Religion?", so antworte ich mit Goethe: "Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen." Wer von Kindesbeinen an so stark in Religion eingetaucht wurde, kann sich kaum davon befreien - und ich glaube, das gilt für alle Konfessionen.
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Ich habe bei meinen Großeltern, bei meinen Eltern und Verwandten erlebt, welche Kraft, wie viel Mut und Zuversicht sie aus dem Glauben schöpften. Warum sollte ich heute auf einen solchen Kraftquell verzichten? Als ich später erfuhr, dass mit den Mädeln nichts läuft als Pastor, war mein erster Berufswunsch erledigt. Evangelische Kirchenmänner haben es in dieser Hinsicht besser.
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UMZUG Mit drei Personen in nur einem Raum wurde es zu eng nach der Geburt meines Bruders Werner, und so zogen wir ein Haus weiter in die Wöstenstraße 7 zu Gerda und Peter Kues. Dort hatten wir immerhin zwei Zimmer, Plumpsklo außerhalb unmittelbar neben dem Brunnen, aus dem mittels Kette, Eimer und Kurbel unser Trink- und Kochwasser zu holen war. Eines der Zimmer war Küche und Wohnzimmer zugleich, das andere Schlafzimmer. Gerda und Peter waren schon älter und kinderlos. „Wi willt bloos Ruh und Friärn unner‘t Dack“,2 war ihr Standardspruch. Doch mit zwei kleinen Kindern ist das nicht so einfach, obwohl wir uns alle Mühe gaben. Stand „dat Paortken“3 mal auf, schoss einer von ihnen heraus, klopfte ans Fenster oder an die Tür und 2 3
Wir wollen nur Ruhe und Frieden unter unserem Dach. Das Tor zur Straße
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tobte. Bei jedem geringsten Geräusch klopfte es an die Wand, jemand brüllte „Ruhe“.
Haus in der Münsterstraße
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Es begann für unsere Mutter eine Zeit der schlimmsten Schikanen, oft habe ich sie weinen sehen. Nie wieder habe ich einen Menschen so gehasst wie diesen Peter, den Tyrannen, den ich hätte ermorden können. Unsere Mutter tat mir so leid, aber mit meinen fünf Jahren konnte ich ihr nicht helfen, nur mit ihr leiden und sie trösten. Lebhaft in Erinnerung ist mir noch das Baderitual einmal pro Woche, jeweils samstags. Hinter dem Wohnhaus befand sich ein Schuppen für die Schweine. Dort stand ein großer Kessel, in dem das Schweinefutter gekocht wurde. Samstags wurde der Kessel mit Wasser aus dem Brunnen gefüllt, angeheizt mit Holz, und wenn das Wasser die Badetemperatur erreicht hatte, wurde es mit Eimern in eine Zinkbadewanne gefüllt.
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Das Luftbad
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Erst kam mein kleiner Bruder dran, dann wurde der „Schmand“ vom Wasser abgeschöpft, dann war ich an der Reihe. Wer fertig war, wurde in ein Handtuch gehüllt und die 15 m zum Fenster der Wohnung getragen. Zum Schluss stieg Mutter in die Wanne, bei ihr musste es immer ganz schnell gehen, denn sie konnte uns zwei nicht lange alleine lassen. Besonders im Winter war der Rückweg in die warme Stube problematisch, es gab nach Aussage unserer der Mutter keinen Winter, in dem wir nicht starken Husten gehabt hätten. Hilfe und Zuflucht vor den Tyrannen fanden wir bei Tante Heti nebenan. Sie hatte inzwischen auch schon Kinder, wir durften im Garten und im Hof spielen. Wir waren wie ihre eigenen Kinder. Im Alter von fünf oder sechs Jahren muss es begonnen haben, das allabendliche Lebertran - Zeremoniell, das immer mit "Theater" verbunden war, weil ich Lebertran so „liebte“. Es war offensich-
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tlich dem Zeitgeist geschuldet, dass kein Kind ohne diesen Zaubertrank aufwachsen dürfe, der gegen Kinderkrankheiten jeglicher Art schützen sollte. "Nicht so viel" schrie ich regelmäßig, wenn Mutter den Löffel mit der öligen, stinkenden, gelblichen, zäh fließenden, aus der Leber bestimmter Fischarten gepressten Saft füllte. Versüßt wurde die Einnahme durch einen Löffel Zucker, den es nach der Lebertran - Einnahme gab. Heute werden Kinder ohne Lebertran groß, sie wissen nicht, was ihnen entgeht. Ein Fisch - Esser wurde ich dank Lebertran nicht. Dies ist nur ein Beispiel von sicherlich Tausenden, dass wohlmeinende Eltern in aller Regel darauf bedacht sind, ihrem Kind optimale Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten, sicherlich auch oft unter Verzicht auf eigenen Konsum. Leider fehlt einem als Kleinkind - oft auch noch als "Großkind" - die Einsicht, dass Eltern ihren Kindern nur Gutes wollen.
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Ohnehin weiß man erst dann zu würdigen, was es heißt, ein Kind zu haben, die Verantwortung für Gesundheit und Erziehung zu tragen, wenn man selbst die Elternrolle übernommen hat.
Sorry, dieser kurze Exkurs musste sein. Nie vergessen werde ich die leckeren Käsebrote, die Tante Heti uns gab. Sie war kinderreich mit 6 Kindern und bekam Extrazuwendungen, unter anderem diesen goldgelben Butterkäse, den ich so liebte. Hier wurde der Grundstein für meine lebenslange Käseliebe gelegt. Noch heute ziehe ich Käse jeder Wurstsorte und jedem Schinken vor. Unerreicht waren auch die Birnen aus Noldes Garten. Vielleicht
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waren sie so aromatisch, weil der Baum 5 m von einem Misthaufen entfernt stand. Nur mussten die Birnen wochenlang lagern, bis sie gelb und saftig waren. Ja, man konnte sie fast trinken. „Ihr seid wie meine Kinder“, sagte Tante Heti oft. Wir bekamen genauso viele Birnen wie ihre eigenen Kinder. Sie ist einer herzensgute Frau, mit viel Empathie und die letzte Überlebende von 6 Kindern meiner Großeltern. In den Knien etwas schwach, im Kopf hellwach, lebt sie heute, Anfang 2009, bei ihrem Sohn in einer Einliegerwohnung des neuen Hauses, nachdem das alte Haus Wöstenstraße 9 vor ca. 8 Jahren abgerissen worden ist. Sie hat mir manche Episode erzählt, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Im Sommer gab es bei uns fast täglich Milch und Zwieback als Mittagessen. Der Milchbauer von der Königstraße kam täglich außer Sonntag - mit seinem von einem Rappen gezogenen Milch-
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wagen, immer pünktlich zur gleichen Zeit. Aus einem großen Tank wurde die Milch in Behältnisse der einzelnen Haushalte umgefüllt, eine Hebelbewegung war ein halber Liter. Auf ein Hühh-Kommando des Milchbauern ging das Pferd weiter und wusste genau, wo es wieder stehen bleiben musste. So dumm können Pferde doch wohl nicht sein. Sehr gut erinnere ich mich auch noch an das all abendliche Ritual des „Läusekämmens“. Mit einem sehr fein gezahnten Kamm fuhr Mutter uns durchs Haar, um Nissen und Läuse auszukämmen. Diese wurden auf einem Fingernagel „geknackt“. Nicht eben selten wurde Mutter fündig, die hygienischen Standards waren eben nicht die der heutigen Zeit. Aber auch jetzt gibt es – das weiß ich aus meiner Zeit als Lehrer und Schulleiter – in jedem Jahr „Läusealarm“ in einigen Klassen, doch es handelt sich um ein endemisches4 Problem und die Gesundheitsämter sind sehr wachsam und beraten die betroffenen 4
begrenztes Problem
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Familien. Nissen- und Läusebefall heute bedeutet Ausschluss vom Unterricht, bis ein ärztliches Attest über „Läuse-Frei“ vorliegt. Ein anderes – ebenfalls abends durchzuführendes – Ritual war nicht so appetitlich: Meinen Bruder und mich plagten häufig kleine weiße Würmchen, die vornehmlich am Abend zu starkem Juckreiz im Anus führten. Natürlich bekamen wir eine übel schmeckende Tinktur, aber die Quälgeister meldeten sich sehr schnell zurück. Wenn es wieder so weit war, mussten wir uns hinknien, Kopf auf den Boden, und unserer Mutter den nackten Po entgegenstrecken. Sie spreizte dann die Pobacken und die im Enddarm befindlichen Würmchen strebten dann dem Ausgang zu und wurden von Mutter heraus gepult. Mindestens einmal pro Woche war eine dieser „WurmInspektionen“ erforderlich.
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Den ersten Ausflug in die große, weite Welt erlebte ich mit sechseinhalb Jahren: eine Eisenbahnfahrt von Greven nach Münster, ca. 16 km. Nie zuvor hatte ich das „Größte Dorf im Münsterland“ verlassen. Zu Fuß ging es zum Bahnhof, und dann sah ich sie erstmalig: die zischende, dampfende, schwarze, kolossale Lok – ganz aus der Nähe. Ich hatte Angst vor diesem Ungetüm. Mutter, mein Bruder Werner und ich fuhren in der dritten Wagenklasse, der so genannten Holzklasse. Die Bänke waren aus ca. 5 cm breiten, hellbraun lackierten Leisten. Mit einem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung, die Landschaft flog nur so vorbei, als der Zug auf der kurzen Strecke seine „Reisegeschwindigkeit“ erreicht hatte. Das Ratta - Tatta des Zuges beim Überqueren der „Dehnungsfugen“ im Schienenstrang ist mir noch heute im Ohr. Höhepunkt des Tages war der Besuch des Zoos am Aasee in Münster. Zum ersten Mal sah ich wilde Tiere, von denen ich bislang nur gehört hatte. Erwachsene sagten uns oft, wenn wir parieren wollten: „Gleich kommt der böse Wolf.“ Wie war ich ent-
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täuscht, als ich den „bösen Wolf“ dann sah. Ich hatte mir ein zähnefletschendes großes Ungeheuer vorgestellt und sah einen Wolf, der Schäferhund groß etwa war und friedlich seine Runden im Gehege drehte. Diese Drohung hatte ab sofort ihren Schrecken verloren. Am imposantesten fand ich die Elefanten -Kolosse, wie ich sie nie erwartet hatte. Am späten Nachmittag ging’s dann zurück nach Greven – ein toller, aufregender Tag in einer fremden, ungewohnten Umgebung. Vielleicht ahnte ich schon damals, dass in einem Dorf, und sei es noch so groß, nicht meine Zukunft liegen wird.
Bei Butts, Finkenstraße
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Sobald mein Vater etwas mehr verdiente und eine höhere Mietzahlung möglich war, zogen wir etwa 1953 in die Finkenstraße 16. Herr Becks hatte auf einem großen Grundstück ein kleines Häuschen gebaut, Küche, Wohn- und Schlafzimmer, ja, das Häuschen hatte sogar ein Badezimmer und fließendes Wasser. Das kannte ich bisher nur von kurzen Besuchen bei Tante Ida – einer Schwester meines Vaters – in Dortmund. Dort aß ich auch zum ersten Mal Apfelsinen und Bananen, die ich vorher nie gegessen hatte. Tante Ida saß an der Quelle: Sie war Filialleiterin in einem Konsum. Das kleine Häuschen auf der Finkenstraße hatte nur einen ganz großen Nachteil: das Dach war nicht dicht. Wenn es regnete,
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standen überall Eimer und Wannen, über die Betten war eine Plane gespannt, alles war im Winter oft klamm und feucht und musste am Ofen getrocknet werden. An anderer Stelle noch mehr zur Finkenstraße 16. Gut erinnere ich mich auch an den Bau der Marienkirche ab 1951. Mit „Störtkarren“, einachsigen Pferdekarren mit großen Holzrädern und Kippvorrichtungen, wurde das Fundament Schüppe für Schüppe von freiwilligen Helfern ausgehoben und von den Fuhrleuten gegen „Gotteslohn“ weg gefahren. Firma Papenbrok wurde mit dem Bau der Kirche beauftragt. Einer der Bauhelfer war Emil Frensing von der Wöstenstraße. Er musste Steine und Speis - Speis im sog. Speisvogel, einer ca. 1 m langen, ca. 30 cm breiten metallenen Tragevorrichtung mit Griff vorne, Steine mit einem Holzbrett, das man sich auf die Schulter
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packte, wie natürlich auch den Speisvogel, zu den Maurern schleppen. „Emil-Speis, Emil- Steine“, riefen die Maurer. Je höher die Mauern und vor allem der Kirchturm wuchs, desto höher musste Emil über Leitern Speis und Mörtel zu den Maurern schleppen. Motto des Vorarbeiters: „Nich so viel küern, immer men müern“.5 An einen Kran kann ich mich nicht erinnern. Ich glaube, einer der Kräne hieß Emil. Er hat auch die Rentenkasse nicht lange belastet, er hat sich - wie viele andere auch - kaputt malocht. Er tat mir damals sehr leid. Emil war es auch, der den tollwütigen schwarzen Schäferhund von Onkel Lengermann mit einer Axt erschlagen hat. Der Hund wurde in einem Zwinger auf dem Hof gehalten, und seit Tagen konnte sich niemand dem Hund nähern. Er hatte Schaum vor dem Maul und gebärdete sich wirklich toll. Nach langen Versuchen gelang es, den tollwütigen Hund mit ei5
Nicht so viel reden, immer nur mauern.
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nem Seil von außen so zu fixieren, dass Emil gefahrlos mit der Axt in der Hand den Zwinger betreten konnte. Immer wieder schlug er mit der Axt auf den Hund ein, bis das arme Tier erlöst war – ein „Schauspiel“, das mich als Kind in meinen Träumen verfolgte. Bei Onkel Lengermann habe ich auch kopflose Hühner laufen und fliegen sehen. Martin Lengermann, Sohn von Onkel Lengermann, machte sich einen Spaß daraus, den geschlachteten Hühnern noch „Bewegungsmöglichkeit“ zu geben, nachdem er auf einem Holzklotz den Kopf der Hühner mit einem Beil abgeschlagen hatte. Einige liefen noch ein paar Meter, eines flog sogar mal bis auf das Dach - kopflos, und blieb in der Dachrinne liegen.
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UNSERE ARMUT – SPIELE FÜR „ARME“ Spiele in der Natur und mit der Natur mussten uns damals gekauftes Spielzeug ersetzen, da unsere Eltern sich nicht leisten konnten, Spielzeug zu kaufen. Ein Defizit aus dieser Zeit ist bei mir bis heute geblieben: ich bin kein „homo ludens“, keiner, der Gesellschaftsspiele oder heute Computerspiele mag, ich kann nur Mau-Mau, Mensch ärgere dich nicht und Mikado. Die Zeit, die man mit und beim Spielen „vertut“, empfinde ich als vertane Zeit, als Zeit, die man dem lieben Gott stiehlt und in der man Sinnvolleres tun kann, z.B. im Garten arbeiten, sich mit Freunden treffen, Lesen, Schreiben oder einfach auch meditieren. Auch mit dem Computer verliert man viel Zeit, und wenn Freunde sagen: „Ich muss mal eben meine Mails checken“, weiß ich, dass man sie für die nächsten zwei bis drei Stunden vergessen kann. Mir ist das reale Leben allemal lieber als das noch so spannende
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virtuelle Leben, aber vielleicht bin ich ja auch einer der letzten Fossile aus einer anderen Zeit. Ja, wir waren arm. Ein Zimmer, später zwei, Lebensmittelkarten, Vater in Kriegsgefangenschaft - unsere Mutter wusste oft nicht, wie sie uns satt bekommen sollte. Kartoffeln gab's zwar von Opa’s Acker, davon mussten aber viele satt gemacht werden, nicht zuletzt auch die Schweine, für die die „Schweinekartoffeln“ immer nach dem Trocknen auf dem Hof ausgelesen wurden. Schweinekartoffeln waren die kleineren Kartoffeln, die man heute in der Wohlstandsgesellschaft bevorzugt, die damals im „ Schweinepott“ gekocht wurden, mit Schrot zu einer klebrigen Masse vermengt, mit Wasser verdünnt den Schweinen als Fraß dienten. Die 2 - 3 jährigen Schweine mussten ja eine möglichst dicke Speckschicht bilden, die als Energiespender dann gebraten auf den Tisch kam. Für unseren Opa Fritz war eine Mahlzeit ohne eine zwei Zentimeter dicke gebratene Scheibe Speck einfach unvorstellbar. Obwohl er täglich Fett aß, hatte er kein Gramm Fett am Körper, er bestand nur aus Knochen, Muskeln und Sehnen. Dass ein so ha-
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gerer Mensch so hart arbeiten konnte, hat mich immer wieder erstaunt. „Richtiges“ Fleisch gab es bei uns nur zu hohen Festtagen wie Weihnachten, Ostern oder Pfingsten und wenn Mutter von ihren Eltern oder Tante Änne etwas abbekam. Unser Frühstück bestand aus „Söppken“, das waren Brotstücke meist alt und trocken - die in einer braunen, kleinen BakelitSchale mit heißem „Muckefuck“ (Malzkaffee) übergossen wurden und auf die dann etwas Zucker gestreut wurde. Wenn es mittags mal Gemüse gab, dann kam es ebenfalls von Opas Scholle, etwa Stielmus, Spinat, Kohl, o.ä.. Auch aus Futterrüben wusste unsere Mutter eine Mahlzeit zu bereiten, schließlich war sie ja gelernte Köchin. Ob meinem Bruder und mir dieser „Schweinefraß“ mundete, weiß ich nicht mehr. Es galt die Devise: Hunger ist der beste Koch.
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Da wir kein Geld für Süßigkeiten hatten, machte Mutter uns in der Pfanne gelegentlich aus Zucker Karamellbonbons - jedes Mal ein Festtag für uns. Der Zusammenhalt in der Großfamilie, mit den Kindern ca. 25 Personen, war extrem stark, man half sich, wo immer man konnte. Was der eine nicht konnte, konnte vielleicht der andere. Jeder besorgte und „kungelte“ so gut es ging. Unsere Armut zeigte sich auch an der Kleidung. Alles wurde immer wieder in den Kreislauf eingespeist, Pullover wuchsen quasi mit. Entweder wurden sie ausgeribbelt und neu gestrickt, oder sie bekamen ein anders farbiges „Bördchen“, da ja die erste Farbe oft nicht mehr zur Verfügung stand. So entstanden im Laufe der Jahre farbenfrohe Kleidungsstücke. Ständig wurde vergrößert, verkleinert, um- und angenäht, aus mehreren Teilen ein neues kreiert, nichts verkam. Natürlich war unsere Mutter auch eine Virtuosin auf der von Tante Änne geborgten Singer-Nähmaschine. Hatten die Sachen bei meinem Bruder und mir endlich ausge-
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dient, wurden sie an Tante Heti weiter gegeben. „Schön“ waren auch die selbst gestrickten Socken und Strümpfe aus dicker Wolle. Hatten sie Löcher, wurden sie mit noch dickerer Wolle - so hatte es zumindest den Anschein - gestopft, was dazu führte, dass die gestopften Stellen schön im Schuh rieben und häufig große Blasen entstanden. Doch trotz der dicken Socken verging kein Winter, in dem mein Bruder und ich keine dicken Frostbeulen an den Füßen hatten, die besonders abends im Bett entsetzlich juckten. Gegenseitig versuchten wir, den Juckreiz durch „Behandlung“ mit Bürsten zu lindern. Eine von Mutter empfohlene „Therapie“ bestand auch darin, vor dem Schlafengehen mit nackten Füßen durch Schnee zu gehen, wenn welcher lag. Welches Kind kennt heute noch Eisblumen an den Wohnungsfenstern? Die Fenster unserer Wohnung waren an Wintermorgen stets mit Eisblumen „verziert“, da abends der Ofen
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ausbrannte, weil man Holz sparen musste, und der Ofen erst am nächsten Morgen wieder angeheizt wurde. Bis zu ihrem Tod im Dezember 2000 hat unsere Mutter nichts weggeworfen, allein ihre „Knopfsammlung“ umfasste mindestens 1000 Stück, und manche Teile wären gut im Knopfmuseum aufgehoben gewesen - was leider nicht geschah. Dabei sammelte sie nicht nur Knöpfe. Gab es später Geschenke in Geschenkpapier eingewickelt, so wurde das Papier geglättet, die Bänder hübsch aufgerollt und deponiert in irgendeiner Schublade. Ihre Generation hatte wohl total verinnerlicht, dass alles irgendwo wieder sinnvolle Verwendung finden könnte, wenn man es nur lange genug aufhob. Ich weiß noch sehr gut, wie ich mich in der ersten Sportstunde in der Volksschule schämte, als wir uns umziehen mussten. Bis auf
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einen weiteren Schüler trugen alle anderen Jungen gekaufte Strumpfhosen, nur wir zwei trugen Leibchen, an denen mit „Strapsen“- dicken Gummibändern - die von Mutter gestrickten derben Strümpfe befestigt waren. Auch das, - wie meine Vorliebe für Käse - eine frühkindliche Prägung: Nie konnte ich bei Frauen mit Strapsen einen erotischen Reiz verspüren. Gekauftes Spielzeug - wie bereits gesagt - gab es erst viel später. Wir spielten mit alten Fahrradfelgen, die man mit einem Stock treiben konnte. Mit Steinen bauten wir einen Parcours, durch den man die Felgen treiben musste - gar nicht so einfach, denn es war verboten, den Stock innen an der Felge anzusetzen, um sie zu bremsen. Felgen konnte man auch mit einem wuchtigen Drall so nach vorne werfen, dass sie zu einem zurück kamen. "Kinnerkes, Kinnerkes kuemt non Lambertibaum bi Lergermann up de Wöstenstrot."6 6
Kinder, Kinder, kommt zum Lambertusbaum bei Lengermann auf der Wöstenstraße
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Dieses Sammellied klingt mir noch im Ohr. Wir Kinder zogen dann mit selbst gebastelten Laternen zum Lambertusbaum, bildeten einen Kreis und sangen Lambertuslieder - auf Münsterländisch - Platt natürlich. Da heute wahrscheinlich kaum noch ein Kind Platt spricht, singt man heute: "Kinder kommt runter, Lambertus ist munter". Höhepunkt des Lambertusspieles,. bei dem mehrere Personen agieren, z. B: Bauer, Knecht, Magd u.a. ist das Lied: „Nu sökt sick de Bur ne Frau..."7 - und dann wird der Bauer glaube ich – vertrieben. Brauchtumskundige mögen mir meine rudimentären Erinnerungen und fehlende Recherche nachsehen. Gefeiert werden die Lambertusspiele im September zu Ehren des Hl. Lambertus, einem Heiligen des 7./8. Jahrhunderts. 7
„Jetzt sucht sich der Bauer eine Frau“…
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Zum Kleben der Laternen kochte unsere Mutter übrigens Kartoffeln, ein ganz hervorragendes Klebemittel. Alleskleber gab es wahrscheinlich zu dieser Zeit schon, aber es durfte ja alles nichts kosten. Mit großer Freude habe ich von Christel Lengermann, einer Klassenkameradin, gehört, dass man sich der alten Tradition besinnt und in einigen Stadtteilen wieder Lambertusspiele stattfinden. Ein Spiel, das schon Kinder im alten Rom gespielt haben sollen, ging so: Drei hingeworfene Kieselsteine - nicht zu groß, nicht zu klein - bildeten auf dem Boden ein Dreieck. Mit einem Fuß musste man nun einen Stein so spielen, dass er durch die beiden anderen flog und ein neues Dreieck entstand. Verloren hatte, wer einen Stein so spielte, dass kein neues Dreieck entstand. Experten konnten dieses Spiel recht lange spielen, sie schafften 20 Spielzüge und mehr. Ich weiß nicht mehr, wie das folgende Spiel hieß, vielleicht nann-
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ten wir es „Schlagstock". Man benötigte dazu einen etwa fingerdicken, 20 cm langen Stock, gerade, am besten Nuss, den man an beiden Enden anspitzte. Ferner benötigte man einen Schlagstock, je nach Körpergröße unterschiedlich lang, etwas stärker im Durchmesser als der angespitzte Stock. Mit diesem Stock schlug man auf ein angespitztes Ende des am Boden liegenden kurzen Stockes, der dann bei einem gut geführten Schlag einen Satz in die Luft machte und in der Luft mit dem Schlagstock möglichst weit getrieben werden sollte. Wer am weitesten schlug hatte natürlich gewonnen. Dieses Spiel erforderte eine sehr gute Auge-HandKoordination, es war gar nicht so einfach! Knickern war ebenfalls ein billiges und beliebtes Vergnügen. Man machte eine Kuhle in einen möglichst festen, sandigen Boden, deren Durchmesser ca. 10-12 cm betrug bei einer Tiefe von mindestens 5 cm. Aus einer Distanz von 5 -6 Metern musste man versuchen, den Knicker, andernorts heißt es Murmel, in das Loch zu werfen. Das gelang natürlich nicht so oft. Man musste dann versuchen, mit dem gekrümmten Zeigefinger den Knicker in den
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„Pott“ - so nannten wir das Loch - zu befördern. Dabei durfte der Zeigefinger den Knicker nur anstoßen, keinesfalls den Knicker über eine auch noch so kurze Distanz mit dem Zeigefinger über den Boden führen - das war gepfuscht! Weil das jeder Teilnehmer unterschiedlich sah, kam es zwangsläufig bei fast jedem Spiel zu „Interessenskollisionen“, die ebenso zwangsläufig in „Kloppe“ oder „Senge“ endeten. Auch schon damals gab es „Konflikte“, im Ergebnis nicht selten mit blutigen Nasen. Vor allem, wenn nicht zum „Familien-Verband“ gehörende Kinder dabei involviert waren, wurde schon mal skandiert: „Haut’se, haut’se immer in die Schnauze.“ oder: „Blut muss fließen.“ oder: "Willst du nicht mein Bruder sein, so hau ich dir die Fresse ein."
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Nie jedoch waren irgendwelche „Knüppel“ oder gar schlimmere „Waffen“ im Einsatz, das galt als unsportlich. Uns reichten die Fäuste. Wer Alpha-Tier sein wollte, musste der Stärkste, nicht unbedingt der Klügste, sein, was häufig in einem Ringkampf geklärt werden konnte. Gewinner des Pottes mit allen Knickern war natürlich der Spieler, der mit den wenigsten Spielzügen seine Knicker ins Loch gespielt hatte. Hatte ein Mitspieler aus der Großfamilien alle oder fast alle Knicker erbeutet, meinte Tante Änne dann regelmäßig, das könne nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, zog alle Knicker ein und verteilte sie wieder gleichmäßig auf alle Kinder, damit am nächsten Tag das Spiel von Neuem beginnen konnte. Döppkes nannten wir kleine Holzkreisel mit einer Eisenspitze. Sie wurden in den Rillen mit einer Schnur umwickelt und dann mit lockerem Schwung auf einen festen Untergrund geworfen, wo sie
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kreiselten, wenn man denn die Technik beherrschte. Ziel des Döppken -Spieles war es, mit der Eisenspitze ein Stück Holz aus dem sich drehenden Kreisel des Mitspielers heraus zu brechen und ihn unbrauchbar zu machen, da er dann eierte, wenn ihm ein Stück fehlte. Dieses Spiel wurde meist zu zweit gespielt, abwechselnd mussten die Spieler dann ihre Döppkes kreisen lassen, und so lange es lief, hatte der Mitspieler die Chance, das Döppken zu zerstören. Da bei jüngeren Mitspielern Zielgenauigkeit und Wucht des Wurfes noch suboptimal waren, blieben die Döppkes lange unbeschädigt. Man musste sich nur davor hüten, mit älteren Jungen zu spielen, deren Technik schon ausgereift war, so dass sie häufig trafen und Ecken ausschlagen konnten. Ich erinnere mich gut daran, wie traurig ich war, als ein älterer Junge mein Döppken „spielunfähig“ gemacht hatte. Oma kaufte mir dann ein neues, und damit das Unglück nicht noch einmal geschah, bestückte Opa die Oberfläche mit Heftzwecken, an denen dann die feindlichen Döppkes abprallen sollten. Hat auch ge-
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klappt, aber ich wurde disqualifiziert, weil die anderen keinen Spaß daran fanden, auf ein Döppken zu zielen, das quasi „unverwundbar“ war. „Dat löpp äs‘n Döppken“ ist Münsterländer Schnack und meint, dass etwas sehr gut klappt. „Pitschen-Döppken“ ist ein Spiel, das nicht auf Zerstörung aus war. Die Schnur, die das Döppken umwickelte, endete an einen langen Stock. Wenn das Döppken sich drehte, wurde es mit der „Peitsche“ weitergetrieben - eher was für Mädchen. Gummitwist und Hinkelspiele waren quasi für Jungen tabu, man spielte ohnehin nicht mit den Mädels. Einen Fußball, einen richtigen, hatten wir natürlich auch nicht, oft musste eine Blechdosen herhalten. Ballbesitzer ließen uns oft gnädig mitspielen - zum Glück ist Fußball ja ein Mannschaftspiel. Auch gefährliche Spiele spielten wir, nämlich mit Feuer. Gerne
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entzündeten wir im Herbst das trockene Kartoffellaub und garten darin Kartoffeln, die wir auf abgeernteten Äckern noch fanden. Manchmal geriet so ein Feuerchen auch schon mal etwas größer, wenn wir Gras und Buschwerk anzündeten. Einmal musste gar die Freiwillige Feuerwehr ausrücken, weil der Wind so ungünstig stand und ein Haus in Mitleidenschaft hätte gezogen werden können. Beim Spiel mit einem Feuerzeug in dem Häuschen der Finkenstraße 16 hätten mein Bruder und ich fast die Bude abgefackelt. Die Eltern waren bei Nachbarn, wir hantierten mit einem Feuerzeug, bei dem wir Benzin nachtanken wollten, und plötzlich stand eine Gardine in Flammen. Mit einigen Eimern Wasser haben wir noch Schlimmeres verhindern können. Auf dem Küchenschrank - für uns unerreichbar hoch und auch mit Stuhl nicht zu erreichen - lag immer eine siebenschwänzige
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Lederpeitsche mit einem ca. 40 cm langen Holzgriff. An diesem Abend bekam sie viel zu tun. Als der „Ältere“ und der vermeintlich „Vernünftigere“ bekam ich mehr ab als mein kleiner Bruder Werner. Ich will nicht behaupten, dass die „Siebenschwänzige“ an diesem Abend Premiere hatte, aber oft sind wir nicht „gezüchtigt“ worden, nur eben bei „besonderen Anlässen“ wie dem Gardinenbrand. Ein Blick von Mutter zum Küchenschrank hoch reichte oft schon aus, um erwünschtes Verhalten herbeizuführen. Geschlagen hat uns seltsamerweise nur unsere Mutter, von unserem Vater haben wir nie eine „Tracht“ verabreicht bekommen. Uns wurde auch nie gedroht:"Warte, bis Papa heute Abend kommt." Das bisschen Erziehung regelte unsere Mutter alleine. Ich glaube nicht, dass unsere Eltern einen Leitfaden, eine Maxime, für unsere Erziehung hatten, wir sollten halt parieren.
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"Jungs weinen nicht", haben wir oft zu hören bekommen, und bei kleineren Verletzungen: "Ein Indianer kennt keinen Schmerz". Ein Slogan, der uns heute in der Fernsehwerbung täglich begegnet. Ja, wir hatten Respekt vor unseren Eltern, deren Strenge für uns als Kinder nicht immer einsichtig war, die uns aber nicht geschadet hat, und die sich aus heutiger Sicht als positiv darstellt. Unsere Eltern haben uns gelehrt, was Kinder heut zu selten erfahren: Es gibt Grenzen, die wir euch aufzeigen. Überschreitet ihr sie, erfolgen Sanktionen. Es gab klare Regeln und Strukturen. Wir haben unsere Eltern geliebt, über ihren Tod hinaus bis heute. Aufgewachsen ohne Fernseher, ohne Playstation und Spielekonsolen, ohne Handys und ohne überbordende Kinderzimmer haben wir eine Jugend mit vielen Entbehrungen und Verzichten erlebt, die aber sicherlich weitaus spannender war als die Jugendzeit, die
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heute viele Kinder leben müssen. Dieses Fazit ziehen mein Bruder Werner und ich gleichermaßen. Wollten Erwachsene uns Kinder ängstigen oder "gefügig" machen, drohten sie mit dem „Bullemann", der käme, um uns Kinder zu holen. Was wir uns darunter vorstellten, weiß ich heute nicht mehr, Jedenfalls musste es etwas Fürchterliches sein, die Drohung verfehlte ihre Wirkung nie. Auch mit dem Einsperren im dunklen Keller wurde gern gedroht. Als pädagogisches Konzept ist das sicherlich eben so fragwürdig wie die Peitsche, aber es war halt eine andere Zeit mit z.T. noch ein wenig archaischen Vorstellungen. Wie lange der "Glaube" an den Bullemann währte, vermag ich heute nicht mehr zu sagen. Ich denke, er ist mit dem Glauben an den Osterhausen, den Nikolaus, das Christkindchen und den Klapperstorch gestorben, also spätestens mit dem Eintritt in die Volksschule. Die "aufgeklärten" Kinder fragten dann: „Glaubst du noch an das
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Christkindchen?“ oder „Weißt du, woher die kleinen Kinder kommen?“ Das waren hoch interessante Fragen, jedoch nicht für lange - es gab dann wieder Spannenderes. Hauptsache, man konnte sich als „Wissender" wichtig machen. Ich gehörte übrigens nicht zu den Wissenden.
Als älterer Bruder musste ich natürlich auch auf meinen kleinen Bruder aufpassen. So sollte ich ihn im Kinderwagen auf der Wöstenstraße spazieren fahren, und zwar immer bis Buller, rund 100 m, dem Spediteur auf der Schützenstraße gegenüber dem Beginn der Wöstenstraße. "Du immer mit deiner Bullerei" soll mein Standard-Kommentar gewesen sein.
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Erst 1957 in Moers bekam ich mein erstes teures Spielzeug, einen Stabilbaukasten, mit dem ich nicht oft spielte. Es war vielleicht schon zu spät, den Technik-Spieltrieb in mir zu entwickeln. Ich war und bin ein Kind der Natur und lieber draußen als in der „Bude“. Mein Fußball-begeisterter kleiner Bruder Werner bekam erst auf der Finkenstraße sein Tipp-Kick-Tischfußballspiel, das er sich schon so lange gewünscht hatte und das er wie seinen Augapfel hütete. Stundenlang übte er Torschüsse, und Klaus Gronotte und ich durften nur mitspielen, wenn wir vorher versicherten, mit den Spielern pfleglich umzugehen. Nach einigen Wochen Training war er unschlagbar. Seine Fußballleidenschaft "plagt" meinen Bruder noch heute als "alten Herren".
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Emsschleife
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TANTE HETI „Ihr“ - mein Bruder Werner und ich - „ward wie meine eigenen Kinder.“ Diese Aussage von Tante Heti ( eigentlich Hedwig ) machte sie uns gegenüber auch noch, als wir längst erwachsen waren. Ab 1948 gebar sie in schneller Folge 6 Kinder, die genau das Gleiche durften bzw. nicht durften wie mein Bruder und ich. Eine solche warmherzige und gute Frau wie Tante Heti habe ich nie mehr kennen gelernt - kein Wunder, dass sie unsere „Lieblingstante“ war und noch ist. Von gleicher Herzensgüte und Wärme war aber auch Oma Nolde, die auch viel für uns getan hat. Sie war eine Schwester der Mutter meiner Mutter, und beide Omas sind mir als grau, alt, mit langen Röcken bekleidet in Erinnerung, obwohl sie damals vielleicht erst um die 60 Jahre alt waren.
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Mit 6 Kindern galt Tante Heti als kinderreich und bekam, da ihr Mann, Onkel Heinz, als Schreiner nicht viel verdiente, Hilfe von der Gemeinde. In diesen Hilfspaketen waren u.a. die schon erwähnten Käse, die einfach köstlich waren. An der Rönne - jenem Bach hinter dem Garten des Hauses - stand ein Mirabellen-Baum, dessen Früchte in reifen Zustand süß wie Honig schmeckten. Ansonsten gab es in dem Garten für uns Kinder nicht viel zu holen. Die ca. 1000 m² wurden von Onkel Nolde, seiner Frau und Tante Heti mit dem Spaten bearbeitet. Onkel Heinz hatte sich in einem kleinen Schuppen eine MiniHolzwerkstatt eingerichtet und stand für Gartenarbeit nicht zur Verfügung, da er in Auftragsarbeit Kleinmöbel baute. Das führte oft zu Auseinandersetzungen zwischen den Alten und den Jungen, an die ich mich gut erinnere. Tante Änne versuchte dann immer zu schlichten. Solche Konflikte liefen aber meist so ab, dass wir Kinder davon nichts mitbekommen sollten.
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Theo Hiddings mit zerlegter Sau Die Hälfte des Gartens diente dem Kartoffelanbau, die andere Hälfte war mit Gemüse aller Art bestückt. Ich erinnere mich daran, dass Möhren im Herbst in mit gelbem Sand gefüllte große Steinguttöpfe gefüllt wurden, in den Keller kamen und im Winter
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bei Bedarf entnommen wurden. Kühlschränke oder gar Tiefkühltruhen gab es ja noch nicht. „Wer im Sommer Kappes klaut, hat im Winter Sauerkraut“, hörte ich oft von Erwachsenen. Die kopf-großen, natürlich nicht geklauten Kappes-Köppe wurden mit einer handbetriebenen kleinen Schneide in Streifen geschnitten und dann irgendwie weiter verarbeitet zu Sauerkraut. Unsere Tante Heti, die mit sechs Kindern wahrlich kein leichtes Leben hatte, habe ich nie missmutig gesehen, sie war immer guter Laune, konnte immer trösten, teilte immer und gab von dem Wenigen, das sie besaß, immer noch ab. Wenn es einen Orden für Lebensbewältigung in schweren Lebenslagen gäbe, sie hätte ihn in Gold verdient. Sie hat einen Tag vor mir Geburtstag und vollendet - wenn Gott will - in diesem Jahr (2009) ihr 90. Lebensjahr.
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RÖNNE Hinter dem Haus von Onkel Wilhelm Nolde, den alle nur NollOnkel nannten, fließt die Rönne, heute in Rohren versteckt. Zu meiner Kinderzeit war sie ein kleiner Bach, ca. 50 cm breit und bei normalem „Pegelstand“ ca. 30 cm tief. Eine steile Böschung von etwa 3 m führte zum Bach hinab. Für uns Kinder war das ein idealer Spielplatz. Auf ausgetretenen Stufen stiegen wir zum Bach hinab, um Staudämme zu bauen, mit allem, was wir fanden. Im Sommer fingen wir Stichlinge. Zum Fangen brauchten wir Zwirn, einem Angelstock von ca. 1m Länge, den wir aus irgendwelchen Büschen oder Hecken herausschnitten und vor allem einen Regenwurm, den wir aus dem Garten holten. Wir nahmen eine Mistgabel, stießen sie ihn den guten Mutterboden, wackelten ein wenig hin und her, und schon kamen die ersten Regenwürmer
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ans Licht. Der Wurm wurde an den Faden gebunden und die Sticklinge bissen oder saugten sich daran fest. Es galt dann, blitzschnell den Stock nach oben zu schlagen und den Stichling an Land zu werfen. Im hohen Gras der Uferböschung waren sie oft schwer zu finden. Beim Schneiden einer Angelrute habe ich mich mit einem Taschenmesser verletzt und die Sehne des rechten Ringfingers so beschädigt, dass der Finger nicht mehr grade gestreckt werden konnte - bis heute nicht. Wie ich das als Rechtshänder hinbekommen hab, ist mir ein Rätsel geblieben. Wir hatten ein kleines Aquarium, in das wir die Stichlinge einsetzten. War es im Sommer heiß - und es gab zu meiner Kinderzeit noch heiße Sommer und kalte Winter - erwärmte sich das Wasser rasch, der Sauerstoffgehalt des Wassers langte den Stichlingen dann schnell nicht mehr und sie übten sich im Rückenschwimmen an der Oberfläche. Wir fingen uns dann am nächsten Tag eben neue, an Stichlingen herrschte kein Mangel, wir jedenfalls haben die Population nicht
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auslöschen können. Stundenlang konnten wir uns an dem Bach vergnügen, und jeden Tag gab es einen „Angelkönig“. Wer die meisten Stichlinge fing, bekam diesen Ehrentitel. Frösche waren schon schwieriger zu fangen, sie tauchten ab und wühlten sich in den Schlamm ein. Gut zu fangen waren sie aber an Land, wenn sie in den Wiesen der Wöste auf Insektenjagd gingen. Ich selbst mochte Frösche nie anfassen, sie waren so kalt und so glitschig. Froschlaich haben wir auch ins Aquarium gegeben und beobachtet, wie sich aus den Kaulquappen kleine Frösche entwickelten. Wir haben immer reichlich Wasserpest in das Aquarium gefüllt, damit die Kaulis genug zu fressen hatten. Kaulis waren offensichtlich auch zäher als Stichlinge, jedenfalls waren bei ihnen die "Ausfälle" deutlich geringer, woran immer es gelegen haben mag.
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Waren die Kaulis zu kleinen Fröschen mutiert, haben wir sie in der Rönne ausgesetzt, und zwar da, wo früher die Ziegendeckstation stand. An dieser Stelle stank es zwar erbärmlich, aber das war den Fröschen sicherlich egal. Dort jedenfalls war die Rönne gut einen Meter breit und ca. 80 - 100 cm tief, sie war quasi dort ein stehendes Gewässer und die Fröschlein konnten nicht abgetrieben werden. Sicher haben wir dann später manch selbst gezüchteten Frosch wieder eingefangen. Manch ein „Todessprung“ von uns Kindern an dieser breiten Stelle landete im Wasser und erschreckte die Frösche. Auf der Wöstenstraße gab es einen Jungen, etwas älter als wir, der mit einem Strohhalm Frösche aufgeblasen hat - jedenfalls erzählte man das, ich selber habe das nie gesehen, es wäre mir auch zu ekelig gewesen. Mit einer Schleuder soll er dann die Frösche be-
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schossen haben, bis sie zerplatzten. Was ich auch noch sehr gut erinnere ist ein Pony, das auf der Weide gegenüber der Gärtnerei Naber, wo heute die Hauptschule steht, graste, und dem ein Spinner wahrscheinlich mit einem Messer den Bauch aufgeschlitzt hatte. Gedärme hingen seitlich heraus, und was ich nicht verstand, das Pony fraß weiter. Das arme Tier wurde später durch einen Jäger von seinen Schmerzen erlöst. Bei aller Pflicht zur Mithilfe schon in jungen Jahren verlebten wir eine Jugendzeit, die uns Freiräume ließ und uns die Möglichkeit bot, uns in der Natur auszutoben. Nie hatte ich bei der Arbeit im Garten oder auf dem Acker von Opa das Gefühl, Kinderarbeit zu leisten und ausgebeutet zu werden.
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Emsblick
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VATERS HEIMKEHR Ende Januar 1946 kehrte unser Vater aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück. Bekleidet war er mit zwei linken Schuhen und einem dicken Wehrmachtsmantel, der ganz schnell von Mutter auf "zivil" umgearbeitet werden musste, da es verboten war, Wehrmachtskleidung zu tragen. Zusammen mit zwei weiteren Kameraden war ihm die Flucht aus dem Gefangenenlager gelungen. Nie hat er darüber reden wollen, nur soviel: er sei in russischen Dörfern mehrfach versteckt worden und habe zu essen erhalten, obwohl die Russen selbst kaum was zu essen gehabt hätten - wie schon an anderer Stelle erwähnt. Er muss fürchterlich ausgesehen haben, abgemagert, traumatisiert, aber, wie Mutter oft versicherte, froh, dass „alles vorbei“ war.
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Bis dahin vaterlos aufgewachsen, soll ich meine Mutter immer wieder gebeten haben: „Schick den fremden Onkel weg.“ Ich versteckte mich anfangs vor ihm, sah aber nach und nach in ihm einen „Familienzuwachs“, der dann auch zunehmend von mir akzeptiert wurde. Mit Vaters Anwesenheit gingen die Schikanen von Änne und Peter zurück, es war für Mutter gut, ihren Mann wieder an ihrer Seite zu wissen. Aufgrund seiner körperlichen Konstitution konnte mein Vater nicht gleich arbeiten. Am 13.2.1916 wurde Vater als Sohn eines Bergmannes als siebtes von acht Kindern in Dortmund geboren und setzte nach der 9jährigen Volksschule die Familientradition fort und fing auf " Zeche Hansa" in Dortmund-Huckarde als Bergjungmann an. Da die Ausbildung im Bergbau schon früher wohl sehr gut war, konnte
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mein Vater handwerklich ziemlich viel: mit Holz arbeiten, Metallbearbeitung, Mauern, Fliesen legen, Schweißen und anderes, er war ein Universalhandwerker. Das heißt, er hätte auch bei der Stadtverwaltung Dortmund Karriere machen können, da er zusammen mit zwei anderen aus über einhundert Bewerbern ausgewählt worden war. Ein paar Wochen lang war er dann auch Lehrling bei der Stadtverwaltung und erfuhr dann von seinen Kumpeln aus dem DJK Huckarde, seinem Fussballverein, was sie auf der Zeche verdienten - ein Vielfaches seines bescheidenen Lehrlingsgehaltes. Da er die Arbeit bei der Stadt auch nicht sonderlich spannend fand, wurde er Bergjungmann.
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Vater – vorn im Bild – fährt im Pütt ein
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Unser Vater hatte übrigens in seinem Fußballverein in Dortmund - Huckarde den Spitznamen „Schimmel“ - auf Grund seiner hellblonden Haare. Auch mein Bruder und ich waren in unserer Jugend richtige „Schimmel", später dann wurden die Haare immer dunkler. Nachdem seine Kräfte wieder zugenommen hatten, fing er bei Firma Drees in Aldrup an, einem damals noch kleinen Betrieb für landwirtschaftliche Fahrzeuge. „Nebenbei“ machte er nach einem Jahr seine Gesellenprüfung als Schlosser. Er erzählte oft, dass er nicht wusste, wie er von den paar Mark Lohn seine Familie satt bekommen sollte.
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Onkel Josef Spiekermann, Bruder meiner Mutter, Vater von Paul, Helmut und Maria
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Onkel Heinrich Spiekermann und mein Vater fanden einen Ausweg: Sie bauten in ihrer Freizeit - also wohl hauptsächlich sonntags und in Nachtschichten - gummibereifte Wagen für Bauern, in der Regel für Pferdegespanne. Meist wurde in „Naturalien“ bezahlt. Wie schon erwähnt, war der heutige Flugplatz Münster/Osnabrück früher ein Militärflughafen. Dorthin fuhren mein Vater und Onkel Heinrich ("Heini") häufig, um auf einem Pferdewagen sich alles, was noch eben brauchbar erschien, zu holen. Wichtig waren für sie besonders Kugellager, Achsen, Räder und alles, was noch irgendwie Verwendung beim Bau von bäuerlichen Gerätschaften Verwendung finden könnte. Ich erinnere mich, dass ich manchmal Eisenkugeln aus einem Lager bekam – heiß begehrte Knicker bei den Mitspielern.
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Josef Spiekermann mit Auto
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Onkel Heini hatte eine kleinere Drehbank in seinem Keller, auf der Werkstücke angefertigt wurden, die für den Wagenbau benötigt wurden. Später, auf der Finkenstraße 16, stand in einem Schuppen hinter dem Häuschen eine riesige Drehbank, die sich die beiden gekauft hatten. Ich erinnere mich, dass Vater immer recht sauer war, wenn mein Bruder und ich an der Drehbank spielten und an den Rädchen drehten. Onkel Heini fuhr einen Mercedes - LKW für die Firma Cramer, den er pflegte und der auch nach 500.000 km aussah wie neu. Für diese unfallfreie Fahrleistung erhielt Onkel Heini eine Urkunde von Mercedes. Nie fuhr er auf seinen Touren schneller als 60 km/h.
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Im Jahre 1950 fing mein Vater auf einer Zeche in Bochum-Linden an. Deutschland brauchte für den Wiederaufbau Kohle, und mein Vater fing an, mit Kohle „Kohle“ zu machen. Vater kann jetzt nur noch am Wochenende. Da auch samstags gearbeitet werden musste, blieb nicht viel Zeit. Anfangs kam er mit dem Zug, ich weiß nicht, wie lange es dauerte und wie oft er umsteigen musste. Sonntagnachmittag musste er früh wieder zurück. Ein Wagen musste nun her, und Vater erstand 1951 einen alten VW-Käfer.
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Vater mit den Söhnen und dem „neuen“ VW Käfer Mein Bruder und ich gingen Vater samstags oft ein Stück entgegen, manchmal fast bis Münster, wenn Vater nicht pünktlich wegkam oder der Wagen streikte. Der Slogan „er läuft und läuft“ war von VW noch nicht erfunden, und so bastelten Onkel Heini und mein Vater am Wochenende oft an dem Auto herum.
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Einmal blieb Vater kurz hinter Münster mit dem Auto liegen, es gab keine Hilfsmöglichkeit am späten Samstagnachmittag. Er informierte „Onkel“ Lengermann, der sich auf sein Pferd setzte und den Wagen „abschleppte“. War das eine Gaudi auf der Wöstenstraße! Immerhin war aber mein Vater der erste auf der Straße, der ein Auto besaß. Das Geld – 1000 DM - hatten Oma und Opa ihm geliehen, die so sparsam lebten, wie man sich das heute kaum noch vorstellen kann und die wirklich jeden Pfennig umdrehten, ehe sie ihn ausgaben. Dennoch haben sie nie gejammert, nie mit ihrem Schicksal gehadert - zwei ganz starke Menschen. Leider merkt man so etwas richtig erst posthum. Ich muss aber sagen, dass wir schon als Kinder tiefen Respekt vor unseren Großeltern hatten. Sie strahlten Würde aus. Finanziell ging es uns nun zunehmend besser. Endlich konnten wir 1953 aus der 2-Zimmer-Wohnung bei Kues ausziehen in die Finkenstraße 16. Die Probleme dort habe ich schon skizziert, nur noch ein Nachtrag: Frau und Herr Becks bestellten den Garten
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vor dem Haus, den wir nicht betreten durften. Wir durften nur den Pflanzen beim Wachsen zusehen, Ernten streng verboten! Für mich wurde der Schulweg recht lang, er führte durch den Heidesand, einen festen Weg gab es da nicht. Durch das undichte Dach roch es im Winter muffig in der Wohnung, die Kleidung war klamm - soviel man auch heizte. Aber das habe ich ja schon erwähnt. Kohle (zum Heizen) war nun kein Problem mehr. Vater bekam Deputat - Kohle, die von der Zeche Ibbenbüren geliefert wurde. Von diesem Deputat profitierten auch Oma und Opa, und Opa musste nun keine „Knuppen“ mehr ausmachen. Die große Freiheit war die neue Wohnung auch nicht, zumal Becks fast täglich zur „Kontrolle" und zum Arbeiten in ihren Garten kamen, zumindest von Frühling bis Herbst. Mein Bruder und ich hatten aber einen tollen Spielplatz: Zu dem Haus gehörte ein Stück Heide, dort konnten wir „Bunker“ bauen
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und Ei-dechsen fangen. Die gesamte Heide, eine Fläche von vielleicht einem Quadratkilometer, gehörte einem Bauern, nämlich Pleggen-Anton aus Aldrup, für den mein Vater und Onkel Heini mehrere gummibereifte Wagen für die Landwirtschaft gebaut hatten. Für 0,05 DM pro Quadratmeter hatte Pleggen-Anton meinem Vater die gesamte Fläche angeboten. „Watt sall ik daomet doon? “8 fragte er. Er hatte auch wohl Angst, sich zu verschulden - in dieser Zeit kein Wunder!
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Was soll ich damit anfangen?
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Aldrup, Hofzufahrt
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Etwa 20 Jahre später wurden mindestens 100 Bauplätze aus der Heide. Für uns Jungen war - wie gesagt - diese Heidelandschaft ideal zum Spielen. Wir gruben Erdlöcher, bauten Baumhäuser, kletterten auf Bäume, spielten mit Eidechsen, die übrigens erstaunlich laut fauchen können, wenn man sie fangen wollte. Interessant war auch ihr „Schwanz-Abwurf-Mechanismus“: Wenn man sie am Schwanz erwischte, warfen sie den kurzerhand ab. Natürlich probierte ich mit 9 oder 10 Jahren auch das Rauchen, und zwar in den Tonpfeifen der Stutenkerle (woanders heißen sie Weckmänner). Zum Glück wurde mir beim ersten Mal so schlecht, dass ich bis heute leidenschaftlicher Nichtraucher bin. Um den neuen „Reichtum“ zu demonstrieren, kauften meine Eltern einen gebrauchten Löwe - Opta mit 10-Platten-Spieler von einem Nachbarn - ein vermeintliches Schnäppchen. Pech nur, dass der Vorbesitzer das Gerät nicht bezahlt hatte, und so wurde
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es nach vier Wochen vom Händler abgeholt. Mein Bruder und ich hatten uns so sehr ein Aquarium gewünscht und Vater gebeten, uns eins mitzubringen. Es war aber Winter, mein Vater hatte das Aquarium mit Fischen im Auto, rutschte aber auf vereister Fahrbahn in den Graben, das Aquarium und alle Fische waren hin. Wir suchten später im Auto die FischLeichen, die dann eine würdige Bestattung erhielten. Wenn Vater samstags kam, war das für meinen Bruder und mich immer ein Festtag: Immer hatte Vater für uns Süßigkeiten dabei, Sachen, die wir vorher nicht kannten.
„Düwel, dat Dingen löpp nich!“ 9– Diesen Fluch von Onkel Heini habe ich oft gehört, und: „Emaol is 9
Verdammt, das Ding läuft nicht!
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Schluss“10. Damit meinte er wohl, dass die „alte Möhre“ wohl nicht mehr lange zu reparieren war, und so musste sich Vater ein neues Altes natürlich wieder VW - Käfer - kaufen. Ja, zu erwähnen ist noch, dass meinem Vater bei der Rutschpartie in den Graben nichts passiert ist. Er rutschte, wie er sagte, ganz sanft in einen Graben und der VW legte sich etwas schräg. Durch die harten Entbehrungen im Krieg und die Kriegsgefangenschaft hatte unser Vater einen gigantischen Nachholbedarf, was Essen und Trinken betraf, und so wurde viel Geld in Lebensmittel investiert. „Fleisch“ war ein Muss zu jeder Mahlzeit, und bis ins hohe Alter war für Vater ein Essen ohne Fleisch undenkbar. Durch die Mangelernährung im Krieg und vor allem in der Gefangenschaft hatte mein Vater viele Probleme mit den Zähnen. Fast 10
Einmal ist Schluss.
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jeden Sonntag nach der Messe ging er zur Zahnärztin Kipper, die ihre Praxis gegenüber der Martinikirche hatte und oft nur für Vater die Praxistür öffnete. „Was hat der Junge schöne Zähne“, sagte sie oft, wenn ich meinen Vater begleitete. Frau Kipper hatte dann auch beschlossen, dass ich Zahnarzt werden und die Praxis mal übernehmen sollte.
1957 verzogen wir nach Moers in die Lessingstraße 3, in das Haus des Zechendirektors Strombach. Es war eine andere Welt. Mein Vater war nach dem Besuch der Bergschule zum Steiger ernannt worden, er machte eine im Ruhrbergbau wohl einzigartige Karriere und schied später als Betriebsführer aus. Bergbau war und ist ein gefährliches Unterfangen. Mehrfach wurde unser Vater schwer verletzt, mehrfach hat er unter Einsatz seines Lebens Verschüttete gerettet.
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Sein Glaube an die Heilige Barbara, Schutzpatronin der Bergleute, war unerschütterlich. Vater war für uns das große Vorbild: seine Willenskraft, seine Härte gegen sich selbst, sein fachliches Wissen und seine Kompetenz, aber auch sein Einsatz für andere waren beispielhaft. Von einem "unmoralischen Angebot" an unseren Vater, von dem ich erst als Erwachsener erfuhr, dass aber noch von unseren Eltern zu Lebzeiten mehrfach bestätigt wurde, muss ich noch berichten. Unsere Eltern waren befreundet mit einem Ehepaar, das auf Grund einer Zeugungsunfähigkeit des Mannes keine Kinder bekommen konnte. Fertilisation und Insemination waren noch nicht erfunden, und so erhielt mein Vater das "Angebot", gegen Honorar und bei Anwesenheit unserer Mutter mit dieser Frau ein Kind zu zeugen. Diesen Vorschlag lehnten unsere Eltern empört ab, auch mochten
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sie weder meinen Bruder noch mich zur Adoption freigeben. Ich bitte um Verständnis, dass ich bei dieser Episode auf eine Namensnennung verzichte. Dass mit der Freundschaft nach diesem Angebot Schluss war, versteht sich. Als unser Vater im Frühjahr 2004 verstarb, erschien eine Delegation ehemaliger Steiger und Kumpel von ihm in traditioneller Bergmannskluft, um an seinem Sarg die Totenwache zu halten. Wir möchten als letzten Ehrendienst für unseren "Häuptling", wie sie Vater oft liebevoll nannten, versuchen, etwas von dem zurück zu geben, was er uns gegeben hat. Das sind wir „unserem Alten schuldig“, sagten sie. Einige bekamen feuchte Augen.
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Auf seinen Totenzettel schrieb ich folgende Zeilen:
Geliebter Vater! Du hast als Bergmann Untertage geschafft, Du warst ein Mann von großer Kraft, Du hattest so viel Gottvertrauen, Du wirst nun ewig den Schöpfer schauen, Du bist uns auch im Tod nicht fern, geleite uns dereinst zum Herrn!
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KINDERGARTEN UND SCHULE „War mein Händchen auch noch klein, so konnte es doch fleißig sein.“ Das schrieben die Kindergarten-Tanten auf ein kleines Heftchen, das ich zum Abschluss der Kindergartenzeit erhielt. Neben einigen Kritzelzeichnungen enthält es mit Nadeln ausgestochene Häuser, Blumen, Bälle, Autos usw. Nach dem Kindergarten besuchte ich ab April 1950 die katholische Volksschule Greven neben dem Krankenhaus. Das Gebäude ist längst abgerissen, es musste der Krankenhauserweiterung weichen. Das Foto meines ersten Schultages zeigt die "Erstausstattung":
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Tornister, Schiefertafel, Griffel, Schwämmchen und Wischläppchen, das häufig an der Schiefertafel befestigt war. Die Schiefertafeln waren sehr praktisch, man benötigte keine teuren Hefte, keinen Füllhalter oder Tintenkiller. Nur einen Nachteil hatten die Tafeln: Sie zerbrachen sehr schnell, wenn man die "Tonne" warf, oder wenn man auf dem Schulweg "Kloppe" hatte, war schnell ein Sprung in der Tafel. Es gab dann nicht gleich eine neue, sondern es wurde gewartet, bis die Tafel richtig hinüber war. Ich meine, dass wir in der dritten Klasse angefangen haben, mit Tinte in ein Heft zu schreiben. Nein, nein, nicht mit einem Gänsekiel,- das war weit vor meiner Zeit- sondern mit einem Feder Halter, einem Holzstift, in den man vorne eine Metallfeder einstecken konnte, die eine unterschiedlich dicke Spitze hatte ,je nachdem, ob man dünner oder dicker schreiben wollte. In die Schülertische - fast immer waren es Zweiertische mit Stahlrahmen- waren Tintenfässchen integriert. Ich erinnere mich, dass es anfangs eine schöne Kleckerei gab und die Oberflächen der Schülertische
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immer mehr die Farbe blau annahmen. Im zweiten Schuljahr hatten wir Fräulein Pingsten, eine ältere, gehbehinderte, sehr strenge Lehrerin, bei der aber richtig gut gelernt wurde und die die große Klasse dank eines kleinen Stöckchens gut im Griff hatte. Wer nämlich nicht parierte, bekam was mit dem Rohrstöckchen in die Innenhand, je nach Vergehen abgestuft. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es ordentlich „zwiebelte“, wenn man bedacht wurde. Die „Rohrstock-Autorität“ funktionierte gut. Ach ja, Zwiebeln: Kleine „Experten“, die jeden Tag mit dem Stöckchen Bekanntschaft machen mussten, rieben sich die Hände gern mit einer Zwiebel ein, da dann die Hand schön anschwoll und man zu Hause Mitleid erheischen konnte. Nicht selten gab es dann aber daheim zur „Belohnung“ noch was in die andere „Pfo-
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te“. Eltern gingen wohl grundsätzlich davon aus, dass man verdiente, was man in der Schule bekam. Im dritten Schuljahr erhielten wir eine junge, bildhübsche Lehrerin, die soeben mit ihrer Ausbildung fertig geworden war, und in die ich mich verliebte. Fräulein Offermann reiste täglich mit dem Zug aus Emsdetten an. Mir war klar, dass ich sie heiraten würde, wenn ich groß wäre. Ich lernte nur noch für unser „Frollein". Die Sympathie war offensichtlich auf beiden Seiten groß, denn ich war ihr „Kaiser“ - sorry - ihr Klassenprimus. Beate war die „Königin“, die Zweitplatzierte. Als mir klar wurde, dass meine schöne Lehrerin zu alt ist, wenn ich im heiratsfähigen Alter wäre, beschloss ich eben, Beate zu heiraten, die übrigens auf der Schützenstraße wohnte. Doch Beate wehrte sich aus mir noch heute unverständlichen Gründen gegen meine Avancen.
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Ich erinnere mich an einen Besuch des Schulrates in unserer Klasse, der damals noch unangemeldet erschien. Wir hatten Rechnen - für heutige Schüler heißt das Mathematik- und beschäftigten uns mit der schriftlichen Addition. Es standen Aufgaben an der Tafel. Normalerweise addiert man ja von unten nach oben. Der kluge Schulrat fragte nun, ob es auch möglich sei, von oben nach unten zu addieren und ob das Ergebnis wohl das Gleiche sei. Unser „Frollein“ war perplex, damit hatte sie nicht gerechnet. Es entstand eine peinliche Pause, bis ich sagte: „Das hat unser „Frollein“ uns doch schon erklärt. Das geht auch. Das Ergebnis ist natürlich das gleiche.“ Die „Zuneigung“ von unserem „Frollein" mir gegenüber wurde dadurch nicht geringer.
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Unser "Frollein" hatte die Idee, Päckchen nach „drüben" in die DDR zu schicken. Natürlich musste der „Primus" dazu einen Brief schreiben. Sie hatte dazu ein kleines Gedicht verfasst. Wir konnten nicht ahnen, dass wir an einen Poeten gerieten, nämlich an „Onkel Grimm" aus Walbeck (ehemalige DDR). Einige interessante Gedichte von ihm sind noch erhalten. Walbeck, den 14. März 1954 Mein liebes Freunderl Willi Schröder! O nein, Du bist bestimmt kein Blöder. Dies sag ich überzeugt und laut, nachdem ich Euer Bild beschaut. Ich denke, Du wie auch Klein-Werner, Ihr seid sehr aufmerksame Lerner. Meinst Du, Du seist mit kaum elf Jahren
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Im Reimen noch zu unerfahren, So glaub ich, daß du’s noch erfaßt, weil Du’ne helle Mutti hast. Mein guter Willi! Kannst Du schweigen? Dann mach‘ Dir einen Tipp zu eigen: Man muß zu guten Geistesgaben Auch einen festen Willen haben, dann kann man es zu etwas bringen und Angestrebtes wird gelingen. Die Willenskräfte muß man üben. Zu welchem Zweck, sei kurz beschrieben: Jüngst hörte ich, im Westen hätten Sie siebenhundert Zigaretten Pro Kopf im letzten Jahr verraucht.
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Mensch, was wird da für Geld verschmaucht. Bringst Du mal fertig, statt zu paffen, Dir für Dein Geld was anzuschaffen, So hast du nach und nach ein Plus, Das macht Genuß und spart Verdruß. Und fragst Du nun: Woher? Und Wie? Dann sag ich kurz: durch Energie! Als Fingerzeig sei angegeben: Nichtraucher haben mehr vom Leben! Was, 30 Zeilen schrieb ich schon? Na, dann für heute Schluß mein Sohn! Ich grüße Dich, mit froher Stimm‘ Auch Deine Lieben Onkel Grimm
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Nachschrift: Das Fräulein grüß‘ und sag ihr doch, Ein heit’res Verslein kommt schon noch. Du lieber guter Willi Schöder! Nun endlich greife ich zur Feder, und tippe dann, daß wir die Gaben sowie den Brief bekommen haben. Zwei Wochen war ich jüngst verreist, und dies verschuldete zumeist, daß ich das Schreiben unterließ. Ich bitte sehr, verzeihe dies. Erlaub dem Tischer, der sonst leimt,
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daß er Dir seine Gedanken reimt. An Dosenmilch und Margarine, Am Speck, wie auch am Mondamine, An Talg, an Mehl und gleicherweise An Äpfeln und der Götterspeise, Am Reis und am Kakaopacke, Auch an der Wurst, der warmen Jacke, An Apfelsinen, Schokolade, Begeistern wir uns nachgerade. Die Blinkesternlein, alle vier, sind prächtig, die verwahren wird. Zum Heimatgruß noch aus Westfalen: Gerollten Schicken, schön zum Malen, Hat uns das Herz im Leib gelacht.
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Drum sei Euch vielmals Dank gebracht. Ich glaube, diese Liebesspende Entstand vom Wirken vieler Hände. Den Lehrern sag‘ und dem Herrn Leiter Von der Johannesschule weiter, Auch Schülern, Eltern und Verwandten, Die sich so lieb zu uns bekannten: Dies Christpacket beweist am besten, Zum deutschen Osten steht der Westen In Treue fest. Das ist erquicklich, Denn es bestärkt und macht uns glücklich. Ihr Freunde im Westfalenland! Wir drücken dankbar Euch die Hand. O, sei uns bald der Tag beschieden,
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Der Deutschland Einheit schenkt und Frieden; Dann schmerzt nicht mehr, was jetzt noch schlimm. Es grüßt euch herzlich Tischler Grimm Auch meine Annafrau schickt Grüße Und sagt, daß sie Euch danken ließe.
Später hat meine Mutter die Aktion der Klasse privat weitergeführt und "Onkel Grimm" mit Geknitteltem erfreut. Von meiner Mutter habe ich sicher auch das "Knittel-Gen" geerbt.
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Helmstedt, am Sonntag, den 2. Mai 1954 Ja, meine lieben Schröder-Leutkens, heute schreibe ich Ihnen von diesseits der Zonengrenze und wenn ich ganz viel Zeit und Geld hätte, dann setzte ich mich auf die Bahn und stattete Ihnen in Greven eine Stippvisite ab. – Für wenige Tage bin ich unter Benutzung eines Interzonenverkehrsausweises hier in Helmstedt bei zugeneigten Freunden und will die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, Ihnen einmal mit aller Offenheit einen Brief zu schreiben. Von drüben aus der Ostzone kann ich das ja nicht, weil die Post überwacht wird und man gut daran tut, seine Zuund Ab- und Neigungen überhaupt nicht allzu offen zu äußern. Fürchten Sie, bitte, nicht, daß ich ein Verschwörer gegen den Staat und die ganze Gesellschaftsordnung bin. So viel muß ich Ihnen aber kundtun, daß die Art meiner Arbeit für das allgemeine Wohl nicht im Rahmen der vorgeschriebenen Politik liegt und darum manchen heute maßgeblichen Leuten nicht gefällt. Ich mache mir daraus nichts und tue, was mein Herz und mein Verstand mir vorschreiben und dabei bin ich so glücklich, daß ich
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von meinem Glück etwas abgeben kann. Diese Vorrede hat nur den einen Zweck, Sie zu bitten, daß wir unseren Meinungsaustausch immer nur rein menschlich und völlig frei von politischen Erörterungen gestalten wollen. Es ist sowieso viel zu viel Politik (das heißt: Berechnung) in der Welt. Just heute bekam ich von meiner Frau einen Brief nachgesandt, in welchem sie mir mitteilt, daß von Ihnen ein Brief ankam und schließlich auch noch ein Packerle von Willi mit Vogelfutter. Lassen Sie mich Ihnen herzlich dafür danken. Ich habe von hier aus auch an Frl. Offermann einen Brief geschrieben. Von ihr bekam ich nämlich Ostern auch ein Schreiben. Das war sehr schön gehalten und darum wollte ich sie auch nicht lange auf Antwort warten lassen. Unter andrem habe ich Fr. O. auch gebeten, sie möchte Ihnen Einsicht in den Brief geben. Es steht nämlich einiges darin, was auch für Sie von Interesse sein wird, weil es das schwere Problem der Teilung unseres Vaterlandes berührt und den Versuch unternimmt, diese Last ein wenig zu lindern. – Mein lieber Willi!
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Ich mache Dir einen Vorschlag: wenn Du Spaß an der Haltung von einigen Mäuschen hättest, so würde ich Dir gern dazu behilflich sein. Ich könnte Dir dann einen Behälter dazu schicken und ferner einige Turn- und Tanzgeräte für die Tierlein. Du mußt Dir dann dort nur die Glasscheiben zu dem Behälter schneiden lassen und der Zirkus wäre fertig. Du, das würde ein Vergnügen. Wenn Du und Wernerle Euch satt daran gesehen habt, könnte Ihr es für einige Zeit der Johannesschule überlassen, damit auch dort Freude damit verbreitet wird. Die Tierchen sind ganz leicht zu füttern: ein wenig Brot, ein paar Körnlein (Haferflocken, Weizen, Graupen oder sowas), ein paar Blättchen Löwenzahn, ein kleines weithalsiges Fläschchen mit klarem Wasser und fertig ist die Mahlzeit. Unten in den Kasten tut man am besten einige Hände voll Maschinenhobelspäne. Siehst Du, mein lieber Freund, auf diese Weise kriegten die Kinder von Greven doch auch mal einen Begriff, was der Onkel Grimm in Walbeck so treibt und wie er den Kindern Vergnügen bereitet. Du Willi! Fräulein Offermann hat mir Gutes von Dir geschrieben
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und ich bin ja nun schon mächtig stolz auf Dich. Es wäre doch schön, wenn das Fräulein in unsere Freundschaft einbezogen würde, indem Du ihr meine Briefe an Euch auch zum Lesen gibst. Ich kann nämlich nicht an jeden von Euch dort dasselbe schreiben und schicken, aber wenn Du es sie von meiner Post an Euch unterrichten könntest und sie Euch von der an sie gerichteten, dann wären alle Freunde stets bestens im Bilde und ihr habt schließlich alle eine klare Vorstellung von Walbeck und dem, was dort geschieht. Es kann sein, daß unser Briefwechsel nicht immer so engmaschig sein kann wie in der letzten Zeit, doch eine völlige Stockung braucht nicht hinein zu kommen, wenn wir uns herzlich zugetan sind. … Ja, nun ist dieser Brief eine richtige Lektion geworden und ich will hoffen, daß er Euch nicht langweilt. Wissen sollt Ihr in Westdeutschland, daß bei uns alles getan wird, um das gute Menschwesen zu bewahren, weil es einfach nicht verlorengehen darf, wenn anders das Leben nicht allen Sinn und Wert verlieren
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sollte. Wo die Rücksichtslosigkeit alle Macht in den Händen hat, da ist es unmöglich, dagegen anzugehen. Darum bleibt nichts übrig, als das Schöne, das Gute, das Wahre daneben zu stellen „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, so steht es in dem Buch der Bücher. Gut denn, sollen die Früchte verschiedener Art verglichen werden und bemühen wir uns, daß unsere Früchte nicht als die schlechteren verachtet und verworfen werden. Nicht wahr, und Ihr helft mit dazu, daß gute Früchte in meinem Kindergarten wachsen und reifen können. Wie sehr danke ich Euch dafür! Die fernere Entwicklung wird es beweisen, daß unser Streben richtig und nützlich war, damit es uns gut gehe auf unsere alten Tage und damit unsere Kinder und kommende Generationen nicht in Lüge und Schmach und Knechtschaft leben und leiden müssen. Dieser Brief ist nur für gute, treue Menschen bestimmt. In herzlicher und dankbarer Zuneigung grüßt Ihr getreuer Grimm
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Dann gab es noch Lehrer Henschel, der wenige Häuser entfernt von dem Haus meiner Großeltern lebte. Er war Lehrer an der Hilfsschule in Greven, schon in reiferem Alter mit Silberhaar. Auch seine Ehe war kinderlos geblieben - er hatte mich in sein Pädagogen-Herz geschlossen. Ich verbrachte viele Stunden bei ihm, auch in seiner Klasse, wenn ich Zeit hatte. Er war ein echter Philanthrop, wie ich keinem in meinem weiteren Leben mehr begegnet bin. Seine Milde, seine Güte, seine Empathie, waren ansteckend, er war mein leuchtendes Vorbild, ich wollte werden wie er. Er trägt die „Schuld“ daran, dass ich nicht Zahnarzt wurde, sondern mich später der Sonderpädagogik zugewandt habe. Paul und Helmut Spiekermann, zwei ältere Cousins, besuchten schon in höheren Klassen die Volksschule, was für mich praktisch war. Sie haben mir bei so manchen Konflikt geholfen und mir manche „Kloppe“ erspart. Ihnen gilt noch ein eigenes Kapitel.
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Paul und Helmut Spiekermann
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Nach der 4. Klasse der Volksschule besuchte ich das Städtische Gymnasium Greven. Nach bestandener Aufnahmeprüfung wurde ich Sextaner, d.h. ich besuchte die 5. Klasse. Für Jüngere heute unvorstellbar, dass man Schulgeld zahlen musste und die Schulbücher selber zu bezahlen hatte. Neben Michael, dessen Vater „nur“ Polizeibeamter war, war ich ein echtes Proletarierkind zwischen all den Fabrikantensöhnchen, den Söhnen von Ärzten, Lehrern und Geschäftsleuten und all der besseren Leute so wie denen, die sich dafür hielten. „Leicht war es nicht als einziges Arbeiterkind.“ Sagt man heute, die soziale Herkunft eines Kindes ist ausschlaggebend für den Schulerfolg, so galt das damals in besonderem Maße. Meine Eltern, die „nur“ die Volksschule besucht hatten, konnten mir kaum helfen, weder bei Mathe, Deutsch, erst recht nicht bei Latein.
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So wurde aus dem sehr guten Volksschüler bald ein mäßiger bis schlechter Gymnasiast, ausgesetzt den Schikanen, ich vermeide bewusst den Terminus Mobbing - ja, ich wiederhole - den Schikanen mancher, nicht aller Studienräte. Bildung war in den Augen vieler Lehrer in den 50er Jahren Privileg der „höheren Stände“, wozu Kinder von Bergleuten nicht zu zählen waren. Studienräte jener Zeit hatten offensichtlich zu wenig Pädagogik in ihrem Studium, sie wussten wohl nicht, dass man Kinder zum Lernen auch motivieren kann, das Lernen auch Spaß machen muss. "Friss Vogel oder stirb", war augenscheinlich die pädagogische Maxime Diese "Studienrat-Schelte" gilt natürlich nicht generell und pauschal. Wir hatten einen Biologielehrer, der in fast jeder Stunde Anschauungsmaterial mitbrachte, der mit uns einen Trickfilm drehte, uns häufig Filme zeigte - es ging also auch anders. Sicher, der Lateinlehrer Dr. Koch konnte schlecht Römer mit in die Klasse bringen Die einzigen Andenken, die das Gymnasium wohl noch heute von
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mir, bzw. meinem Vater hat, dürften in Vitrinen der Biologie oder Geographie - Sammlung liegen. Es handelt sich um Versteinerungen von Blättern, Farnen, Tieren etc., die mein Vater bei seiner Arbeit unter Tage fand. Nun, ich bin dennoch zum Abitur gekommen, aber möglicherweise nur deshalb, weil meine Eltern 1957 nach Moers zogen. Viele Spielkameraden von der Finkenstraße wandten sich übrigens von mir ab, seit ich das Gymnasium besuchte, weil sie mich offensichtlich für was „Besseres“ hielten. Klaus Gronotte ist ein Klassenkamerad, wir freundeten uns an und er lud mich zu sich nach Hause ein. Er wohnte etwa 800 m entfernt, in einem großen, für mich villenähnlichen Haus. Sein Vater war selbständiger Handelsvertreter für Textilien und war sicherlich kein Armer.
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Zum ersten Mal habe ich bei Klaus gesehen, wie Wohnen, wie ein Zuhause auch aussehen kann. Es gab ein Kaminzimmer mit Trophäen, denn sein Vater war Jäger, es gab eine Diele, so groß wie unsere gesamte Behausung auf der Finkenstraße. Es gab alte, wertvolle Möbel, eine imposante Treppe, die ins Obergeschoss führte.
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Ich habe Klaus nie gern zu uns nach Hause eingeladen, da ich mich schämte, unsere Wohnung zu zeigen. Viel lieber besuchte ich Klaus. Lebhaft in Erinnerung ist mir, wie der Vater von Klaus seinen Jagdhund trainierte. Er band ein totes Kaninchen an die Stoßstange seines Autos und fuhr dann auf einen Feldweg. Der arme Hund musste dann hinter dem Auto her hecheln und wurde so fit gehalten. Mein erstes Fahrrad bekam ich mit 11 Jahren. Bei dem Fahrrad handelte es sich natürlich nicht um ein neues, sondern mein Vater hat aus 4 Schrotträdern eins zusammen gebaut, das auch noch so halbwegs fuhr. Egal, ich war stolz darauf, endlich ein Fahrrad zu haben und den langen Schulweg per Fahrrad zurücklegen zu können. Als Kleinkind durfte ich ein Dreirädchen für einige Zeit fahren, bis es weitergegeben werden musste, denn alle Enkelkinder von Oma und Opa sollten in den Genuss des Dreirades kommen.
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Opa hatte es - nach Feierabend - in der Schlosserei der Firma Anton Cramer selber zusammen geschweißt - ein Rad für Jahrhunderte. Wenn es nicht beim Schrotthändler gelandet ist, müsste es in irgendeinem Museum stehen.
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OMA THERESIA UND OPA FRITZ SPIEKERMANN Neben meiner Mutter, später auch meinem Vater, meiner Tante Heti ( Hedwig )Trahe waren Oma Theresia und Opa Fritz Spiekermann meine wichtigsten Bezugspersonen. Oma wurde 1879, Opa 1876 geboren, Oma stammte aus Gimbte, Opa von einem Bauernhof in Lembeck, den es noch heute gibt und dessen Existenz bis ins 16. Jahrhundert urkundlich belegt ist. Da immer nur der älteste Sohn den Hof erbte, musste mein Opa ein Handwerk lernen und wurde Schmied und Hufschmied. Solange ich meine Großeltern kannte, wohnten sie auf der Münsterstraße 80 in einem älteren Fachwerkhaus, das der Firma Cramer gehörte, dem Arbeitgeber meines Opas. Im Jahre 2006 wurde das Haus abgerissen, noch bevor ich ein Foto machen konnte, weil die Idee zu dieser „Jugendbiografie“ erst nach meiner Pensionierung am 31.07.2008 entstand.
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Hinter dem Haus befand sich ein weiteres Haus, in dessen Vorderteil Stallungen und Strohboden untergebracht waren, im hinteren Teil befand sich noch eine Wohnung. Die Großeltern väterlicherseits habe ich nicht kennenlernen können, sie verstarben wenige Jahre nach Kriegsende letztlich an den Folgen des Krieges. Auf dem Grab von Opa Fritz müsste stehen: Arbeit war sein Leben. Er arbeitete als Schmied bei Cramer, und zwar 50 - 60 Stunden die Woche. Ich kenne Opa hauptsächlich im "Blaumann", seiner Arbeitskluft. Nur sonntags machte er sich fein und trug den einzigen Anzug, den er besaß, mit Weste und Taschenuhr, die er mir kurz vor seinem Tod schenkte und die ich in Ehren halte.
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Nach Feierabend kam die zweite Schicht zu Hause, er musste die zwei Äcker bestellen, die er gepachtet hatte, Holz für den Ofen machen und sich um die Schweine kümmern. Schon als kleiner Junge mit vielleicht 9 Jahren musste ich Opa helfen, was ich gern tat und nie als Fron empfand. In einem 200 l-Fass fuhr Opa die menschliche Gülle aus dem Plumpsklo und die Schweinegülle mit einem Bollerwagen auf den Acker, und wir beiden waren die Zugtiere. Für das Plumpsklo im Hof gab es natürlich kein Toilettenpapier, sondern Opa schnitt fein säuberlich die Münsterländische Tageszeitung in Stücke von ca. 10x15 cm. Um die Gülle nicht zu stark mit Papier zu „belasten“ und den Düngewert zu reduzieren, waren pro „großem Geschäft“ maximal 4 Stücke Zeitungspapier erlaubt. Nach der Getreide-und Kartoffelernte - worüber noch zu berichten ist - ging es „Knuppen“ ausmachen. Opa hatte von Waldbesitzern, meist Bauern, die Genehmigung erhalten, den Stammrest der abgesägten Bäume, meist Eichen und Buchen, ausmachen zu dürfen, was eine unvorstellbare Schufterei bedeutete. Meist hat-
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ten die Knuppen einen Durchmesser von 70 - 90 cm, es waren schon recht kapitale Stammreste, die einst die Bäume waren. Zunächst mussten die Wurzeln mit einem Spaten freigelegt und mit der Axt gekappt werden. Dann wurde der Knuppen mit Keilen in Teile gespalten, die man tragen und transportieren konnte. Diese Teile wurden dann auf den Bollerwagen verladen und nach Hause gefahren. Dort wurden die noch immer zu großen Knuppenteile weiter gespalten und zum Trocknen in einem Verschlag aufgeschichtet. Weil sie mindestens ein Jahr lang trocknen mussten, wurden stets die Knuppen des Vorvor- oder Vorjahres verheizt. Um mit Kohle oder Briketts zu heizen waren meine Großeltern zu arm. Für den Winter wurden schon mal ein paar Zentner Briketts zugekauft. Opa sagte oft: „Sechs Stunden reichen zur Ruh, sieben kommen dem Schläfer zu."
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Ich glaube nicht, dass er immer sechs Stunden Schlaf bekam. Wir Kinder mussten natürlich helfen, so gut wir es vermochten. Bei der Kartoffelernte hat Opa die Kartoffelknollen mit einer Mistgabel ausgehoben, seine Töchter und Enkelkinder mussten sie auflesen, in einen Bollerwagen die Drahtkörbe ausschütten, die Kartoffeln nach Hause zu Opa fahren, wo sie im Hof ausgeschüttet wurden. Mit einem harten Besen wurde dann die noch vorhandene Erde von den Kartoffeln entfernt und sie blieben zum Trocknen dann liegen. Ich erinnere mich auch, dass Opa uns im Herbst in die Wälder geschickt hat, um Eicheln und Bucheckern zu sammeln. Die Eicheln bekamen die Schweine, sie sollten dem Schinken ein besonderes Aroma und ich glaube auch eine besondere Farbe verleihen. Die Bucheckern kamen auf Pfannkuchen, die Oma oder Mutter buken.
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Maikäfer, die wir sammelten, landeten im Magen der Hühner von Noll-Onkel. Die waren ganz verrückt danach, eben so nach Kartoffelkäfern. Für Hühner eine willkommene Abwechslung auf dem Speiseplan. Ich erinnere mich, dass es Jahre gab mit Maikäfern in großen Mengen. Man musste nur ein paar Bäume schütteln und hatte ein ganzes Marmeladenglas voll. In anderen Jahren konnte man schütteln so viel man wollte, es fielen kaum Maikäfer herab. Mein Opa Fritz war ein sehr hagerer, nicht so großer, aber außerordentlich zäher und belastbarer Mann, der offensichtlich hart arbeiten konnte, ohne dadurch zu ermüden. In der Fabrik war um 12 Uhr für eine Stunde Mittagspause. Opa kam dann zu Fuß nach Hause, das Essen musste dann schon auf dem Tisch stehen. Dazu gehörte immer eine Scheibe gebratener Speck. Wenn man mittags mit „Mahlzeit" grüßte, sagte er gern; "Noch mal so weit" , um anzudeuten, dass jetzt erst "Halbzeit" ist. Natür-
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lich sprach er das auf Platt. Als Kind habe ich diesen Gruß nicht verstanden. Auffallend an Opa Fritz war auch sein Oberlippenbart, dessen Enden schön gezwirbelt ca. 5-8 cm zu beiden Seiten empor ragten. Sechs Kinder haben die beiden großgezogen. Ein Sohn, Josef, ist noch in den letzten Kriegstagen in Belgien gefallen. Nur meine Tante Hedwig lebt heute (2009) noch von den sechs Kindern der Großeltern. Besonders schweißtreibend war das Dreschen des Getreides im Sommer. Mit der Sense mähte Opa die Halme des ca. 2000 m² großen Ackers, Oma und ihre Töchter banden die Halme zu Garben, die dann zum Trocknen gegeneinander gelehnt auf das Stoppelfeld gestellt wurden. War das Korn trocken, das Wetter gut, kam „Onkel“ Lengermann mit Pferd und Leiterwagen, die Garben
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wurden mit einer Forke11 aufgeladen und sauber aufgeschichtet, damit möglichst viel auf den Wagen passte. Um die Ladung zu stabilisieren, wurde auf die Fuhre ein gut armdicker Baumstamm gespannt.
Auf den Stoppelfeldern am Ende der Schützenstraße, etwa 150 m hinter der Gärtnerei, die es dort gab, stand die große Dreschmaschine, ein ca. 3,5 m hohes und ca. 8 m langes Ungetüm. Über einen Riemen wurde die Dreschmaschine12 von einem Traktor angetrieben. Viele Hände waren erforderlich: ein Mann musste die Garben mit einer Forke vom Leiterwagen auf die Dreschmaschine werfen, ein auf der Maschine stehender Mann musste die Garben in die Öffnung der Dreschmaschine legen, wieder ein anderer das gebundene, jetzt kornlose Stroh auf einen Leiterwagen packen, 11
einer speziellen langstieligen Gabel Mähdrescher gab es damals noch nicht, die beim Mähen das Korn von den Ähren trennen. Das Getreide wurde von einem Binder geschnitten und gebunden und erst im Winter gedroschen - bei den Bauern zumindest häufig. 12
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ein weiterer den Leiterwagen beladen, ein anderer die Säcke mit dem Getreide zubinden, neue Säcke aufziehen, die vollen verladen.
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Das alles musste schnell gehen, weil die Dreschmaschine nach Zeit bezahlt werden musste. Bis in die späten Abendstunden ratterte die Dreschmaschine, eine außerordentlich staubige Angelegenheit! Das Getreide von Opa wurde zur Mühle gefahren, dort getrocknet und geschrotet. Dieses Schrot diente als Schweinefutter, es konnte nach und nach von der Mühle abgeholt werden. Wenn ein Enkelkind Geburtstag hatte oder wenn Grevener Kirmes war, gab es von Oma und Opa für jedes Kind eine Mark - sicherlich vom Munde abgespart. Bei der großen Enkelschar kam da schon was zusammen. Opa Fritz verstarb 1954 im Alter von 80 Jahren. Nach seiner Beerdigung spielten wir Kinder - insgesamt waren wir 14 Enkelkinder - im Hof. Weil ein Ball in die Dachrinne geworfen wurde, nahmen wir eine Leiter und ich versuchte, den Ball zu holen.
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Beim Abstieg stürzte ich und fiel mit dem linken Oberarm auf einen Stein. Der Arm war unterhalb der Gelenk-Kugel gebrochen und mein erster Krankenhausaufenthalt wurde fällig. Ich bekam einen Gips, der auch den halben Oberkörper bedeckte und den angewinkelten Oberarm waagerecht nach vorn hielt. Nach zwei Wochen stellten die Ärzte fest, dass der Knochen falsch zusammenwachsen würde. Ich wurde der erste Patient im Grevener Krankenhaus, bei dem eine Oberarm-Nagelung durchgeführt wurde. Noch heute bin ich den tüchtigen Ärzten dankbar, dass mein Arm nicht verkrüppelt ist und die OP so gut geklappt hat. Bei Beerdigungen zog der Trauerzug von der Leichenhalle neben dem Krankenhaus zum Friedhof quer durch das ganze Dorf. Der Leichenwagen wurde von zwei Rappen gezogen. Passanten blieben stehen und erwiesen dem Toten die letzte Ehre.
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Der Leichenwagen bewegte sich von der Leichenhalle am Krankenhaus zum Friedhof durch das ganze Dorf.
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Ältere Menschen hatten für ihre Beerdigung natürlich Geld zurück gelegt, aber auch für die Raue. Das "Fell versupen"13 entsprach oft dem letzten Willen der Verstorbenen und dem wurde dann auch gern und heftig entsprochen. "Spass mot sien, auck bi‘ne Beerdigung"14, hörte ich Erwachsene nach einer Bestattung oft sagen. Wer Geld hatte, machte die Raue im Wirtshaus, die anderen zu Hause. Dieses Ritual wurde natürlich nicht praktiziert, wenn Jüngere verstarben oder gar Kinder. Oma Theresia und Opa Fritz waren zwei fleißige, liebenswerte Menschen, die trotz ihres harten, arbeitsreichen Lebens nie verzagten, nie verbittert waren, die in ihrem Glauben Halt und Trost fanden. Nach dem Tod von Opa zog Oma im gleichen Haus auf zwei Zimmer. 13 14
Das Fell versaufen Spaß muss sein, auch bei einer Beerdigung
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In ihrem ganzen Leben hatten sie kein fließendes Wasser, sondern eine Pumpe im Hof, ein Plumpsklo im Nebengebäude und einen Ofen zum Kochen und Heizen. Mein Opa Fritz war im Ersten Weltkrieg von Anfang an dabei, und zwar bei der Kavallerie. In einer Schlacht - ich weiß nicht wo - ist ihm - wie er immer sagte - das Pferd unterm Hintern erschossen worden, aber die Kugel galt wohl ihm. Zur Erinnerung an „sein“ Pferd, seinen treuen Kameraden, nahm er einen Huf mit, der sein Leben lang auf einer Anrichte stand, ebenso wie sein Reservistenkrug. Heute halte ich diese beiden Stücke in Ehren und sie erinnern mich an einen aufrichtigen, fleißigen Mann, der mich gelehrt hat, hart zu arbeiten, der nie mit mir geschimpft hat und auch Verständnis dafür aufbrachte, wenn ich mal lieber spielen wollte, statt ihm zu helfen.
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Als Oma und Opa 1955 Goldene Hochzeit feierten, wurde von einem Fotografen ein Foto der großen Feiergesellschaft vor dem Kolpinghaus gemacht. Ungläubig fragte Opa: „Gehen die denn alle auf ein Bild?“ Sie gingen. Mein Opa war nie krank. Bis zu seinem 70. Lebensjahr ca. hat er in der Fabrik gearbeitet, noch mindestens 6 oder 7 Jahre seine Äcker bestellt und seine Schweine gemästet. Gestorben ist er in seinem Bett zu Hause, ohne Apparate-Medizin, versehen mit den Sterbesakramenten der katholischen Kirche und im Vertrauen darauf, dass Gott ihn in sein Reich aufnimmt. Vier Jahre später folgte ihm seine Theresia.
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Goldene Hochzeit der Großeltern
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SCHLACHTFEST Auch Opa Fritz und Theresia Spiekermann, die Eltern meiner Mutter, die auf der Münsterstraße 80 wohnten, hielten im Hinterhaus Schweine. Einmal im Jahr, meist im Januar oder Februar, wenn es richtig kalt war, wurde geschlachtet. Das war jedes Mal ein Fest für die ganze große Familie. Der Schlachter kam ins Haus, das Schwein wurde zur „Schlachtbank“ - zusammen gezimmerten Brettern - geführt, an den Beinen gefesselt und dann mit einem Bolzenschussgerät betäubt. Das Schussgerät wurde an die Stirn des Schweines gesetzt, und ein etwa 20 cm langer Bolzen drang in das Gehirn des Schweines ein, das daraufhin zusammensackte. Mit einem langen Messer stach nun der Schlachter in das Herz des Schweines, und aus der Wunde schoss das warme, dampfende Blut, das in Schüsseln aufgefangen wurde und die Grundlage bei der Herstellung von Blutwurst u.a. bildete.
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Bei dieser „Tötungsszene“ wurden wir Kinder immer ins Haus geschickt und erst später habe ich diesen Vorgang mal heimlich beobachten können. In einem großen Kessel war Wasser erhitzt worden, das nun über das tote Schwein geschüttet wurde, damit der Schlachter mit einem runden, scharfkantigen Kratzer die Borsten entfernen konnte. Wenn das Schwein von den Borsten befreit und sauber „rasiert“ war, wurde es an einer Eisenstange, die durch die Sehne des Schweines an den Hinterläufen geführt wurde, auf eine Holzleiter gelegt. Jetzt waren mehrere starke Kerle gefragt, die die Leiter mit dem Schwein schräg an eine Mauer lehnten. Hing das Schwein, musste es begossen werden, alle bekamen einen Schnaps.
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Schlachtefest
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Nun wurde die Bauchdecke aufgeschnitten, die Gedärme entfernt, die nun von den Frauen mit Löffeln vom Kot befreit und gewaschen wurden. Den Darm des Schweines benötigte man später, um Wurst hinein zu füllen. Dann musste dem Schwein eine Gewebeprobe entnommen werden, die vom Veterinär auf Trichinen untersucht wurde. War das Schwein trichinenfrei, bekam es einen amtlichen Stempel auf den Hinterschinken und war zum Verzehr frei gegeben Auf die Idee, das Schlachtfest in Bildern festzuhalten, kam niemand. Es gab auch in der gesamten Verwandtschaft nur eine einfache Kamera - wir waren eben alle arm. Das geschlachtete Schwein blieb eine Nacht zum Auskühlen draußen auf der Leiter, abgedeckt mit Tüchern, damit sich Katzen und Hunde oder sonstiges Getier nicht bedienten. Auch zweibeinige "Interessenten" soll es gegeben haben. Am nächsten Tag begann die Verarbeitung. Alle Tanten waren anwesend, der Schlachter
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kam erneut und zerlegte das Schwein. Natürlich bekam er neben Geld noch einen Braten mit nach Hause. Die Wurstproduktion dauerte den ganzen Tag, alle wuselten umher, Oma hatte das Kommando. Es gab den Brauch, daß Nachbarn und Freunde ein sog. Schlachtpaket bekamen. Voraussetzung war jedoch, dass sie auch Schweine hielten und ein Schlachtpaket zurück kam, wenn sie schlachteten. Mir schmeckte das frische Wurstebrot besonders gut, das es auf Blutbasis in dunkelrot und auf Mehlbasis in weiß gab. Die Schinken wurden gut gesalzen und in Leinensäcken an zugiger Stelle aufgehängt. Sie brauchten zum Trocknen einen ständigen Luftzug, sonst schimmelten sie und waren nicht mehr zum Verzehr geeignet, was einer Katastrophe gleichgekommen wäre, denn Geld zum Einkauf von Wurst und Schinken gab es nicht. Einige Wochen nach dem Schlachtfest gab es für uns Kinder einen
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„Ball“: Die Schweineblase wurde am Schlachttag aufgepumpt und zum Trocknen aufgehängt. War sie trocken, diente sie uns Kindern als Fußball, denn einen richtigen Fußball besaßen wir lange Zeit nicht.
„War das Schlachten früher nicht grausam?“, könnte man fragen. Auch in den modernen Schlachthöfen unserer Zeit müssen Tiere ihr Leben lassen, es gibt nun einmal kein „humanes“ Töten von Tieren. Ich persönlich finde, dass ein Schwein heute im Schlachthof mehr Stress hat als ein Schwein früher beim Töten hatte. Will man nicht Schuld am Tod von Tieren sein, gibt es nur eine Lösung: Vegetarier oder Veganer werden.
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KIRCHE Das Münsterland war früher auch schon eine Hochburg der CDU, die meisten Menschen waren sehr katholisch, die Kirche hatte großen Einfluss. In meiner Kinderzeit war selbstverständlich, dass man auch an Wochentagen - so man Zeit hatte - in die Kirche ging, sonntags sowieso. Da traf sich nach der 11-Uhr Messe die gesamte Großfamilie an der Mauer vor der Treppe an der Martinikirche, immer zwischen 15 - 20 Personen. Man plauderte, tauschte Neuigkeiten aus und die meisten gingen dann noch auf ein Stündchen zu Oma und Opa zur Münsterstraße 80. Opa aß täglich, auch sonntags, seine dicke Scheibe gebratenen Speck, nach dem Essen - nur sonntags-, gönnte er sich einen
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Schnaps. In einem Flachmann musste ich oft den Schnaps von einer schräg gegenüber liegenden Gaststätte holen. Ich sehe noch das Bild der zahlreichen Kutschen auf dem Marktplatz, mit denen die Bauern aus den umliegenden Bauernschaften zur Kirche fuhren. Oft reichte der Marktplatz an der St. Martinikirche nicht aus, dann standen die Kutschen auch noch auf der Straße. Für uns Kinder war es Pflicht, sonntags auch die Andacht um 14 Uhr zu besuchen. Dann hatten die Eltern mal eine Stunde Ruhe vor den Blagen und Zeit für sich. Natürlich mussten wir alle Wege zu Fuß bewältigen. Wenn ich heute diese Strecken mit dem Auto abfahre, muss ich schon sagen: Kurz waren die Wege nicht. Etwa 1950 sind wir wie gesagt - in die Finkenstraße gezogen in ein kleines Häuschen mit zwei Zimmern und immerhin schon einem Bad. Zwar regnete es durch, es war ein Flachdach, alles vom Ver-
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mieter Becks selbst gebaut, überall standen dann Eimer und Wannen. Aber es regnete ja zum Glück nicht ständig. Also: Von der Finkenstraße durch die damalige Sandwüste zur Martinikirche waren gut 3,5 km, hin und zurück also 7 km. Muten Sie das heute mal einem deutschen Kind zu! Die Marienkirche war zwar näher, Treffpunkt blieb jedoch die Stadtkirche. Ich habe hier aufgelistet Gebete, die ich in meiner Kinderzeit tausendfach gesprochen habe und die in mein Gedächtnis eingebrannt sind:
Lieber Gott, ich danke Dir, für das gute Essen, will auch immer artig sein, und Dich nicht vergessen. Die Eltern mein empfehl ich Dir, behüt o lieber Gott sie mir.
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Vergilt, oh Herr, weil ich's nicht kann, das Gute, das sie mir getan. Heiliger Josef, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm. Heiliger Josef, großer Mann, der uns allen helfen kann, steh uns bei in jeder Not jetzt im Leben, einst im Tod. Gott, in Deine Hände, sei Anfang und Ende, sei alles gelegt.
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Maria mit dem Kinde lieb und allen Deinen Segen gib. Mit Gott fang an, mit Gott hör auf, das ist der schönste Lebenslauf. Müde bin ich geh zur Ruh, schließe beide Äuglein zu. Vater, lass die Augen Dein, über meinem Bette sein. Hab ich Unrecht heut getan sieh es lieber Gott nicht an. Deine Gnad und Jesu Blut
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macht ja allen Schaden gut. Wie fröhlich bin ich aufgewacht, wie hab ich geschlafen so sanft die Nacht. Hab Dank im Himmel, Du Vater mein, dass Du hast wollen bei mir sein.. Lieber Gott, ich bitte Dich, beschütze auch am Tage mich! Als wir 1957 nach Moers verzogen in das Haus des Zechendirektors Strombach in der Lessingstraße 3, erhielten wir bald von unseren Vermietern das Attribut "Heilige Familie", da wir auch in Moers sonntags die Messe besuchten. Noch heute kann ich mindestens 100 Kirchenlieder meiner Jugend von der ersten bis zur letzten Strophe auswendig.
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Auf der Wöstenstraße wohnte die Familie Mersjann, sie waren die einzige evangelische Familie auf der Straße. Peter und Marion waren die beiden Kinder, und besonders Peter hatte oft unter seiner „falschen“ Religion zu leiden, d.h. er wurde oft „verkloppt“. Hermann Mersjann, Peters Vater, wurde von unserem Vater für den Bergbau angeworben. Er erlitt einen Unfall Untertage und wurde Querschnittgelähmter. Weil Peter einmal behauptete, er habe die Schule nicht besuchen können, da er 50°C Fieber gehabt habe, gab es den Spottvers: Peter, ja da geht er, mit 50 Grad Fieber sechzig wärn ihm lieber. Wenn wir ihn dann mal wieder ordentlich „verwemmst“ hatten, war der Glaubenskrieg für einige Tage wieder beendet. Von Toleranz hat uns damals keiner etwas erzählt. Außer dass Peter die für das Münsterland leider falsche Religion hatte, war er ein feiner
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Kerl. Peter demonstrierte uns auch an seiner Schwester den Unterschied zwischen den Geschlechtern. Das gewährte ihm vier Wochen Ruhe vor „Kloppe“. Da ich noch nicht zur Erstkommunion gegangen war und auch vom sechsten Gebot noch nichts wusste, fand ich die „Aufklärung“ auch nicht weiter dramatisch. Meiner Mutter soll ich dann erklärt haben: „Jungen haben ein Glied, Mädchen einen Scheitel." So ging Aufklärung um 1950, wohl nicht nur im Münsterland. Bei Gewittern, die ich häufiger und schwerer in Erinnerung habe, als sie heute sind, wurde der Rosenkranz gebetet. Es wurden Kerzen angezündet, das Radio vom Strom getrennt, und mit Inbrunst gebetet, bis das Gewitter vorbei war.
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PROZESSIONEN In lebhafter Erinnerung sind mir auch noch die Wallfahrten von Greven nach Telgte, etwa 20 km, zu Fuß natürlich. Mit 8 Jahren nahm ich an der ersten Prozession teil, die im Sommer, nach der Erntezeit, stattfand. Es ging morgens sehr früh los, um zur Messe mittags in Telgte zu sein. Unterwegs wurde kräftig gesungen und gebetet, eine Blaskapelle begleitete den langen Zug der Wallfahrer. Für Teilnehmer, die unterwegs fußlahm wurden, fuhren Kutschen und Pferdegespanne mit. So lange wir in Greven wohnten, haben meine Eltern und ich (mein Bruder blieb bei Oma) keine Prozession versäumt, nie musste ich auf einem Pferdefuhrwerk befördert werden. Ich nahm es auch wohl als sportliche Herausforderung.
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Als mein Bruder acht Jahre alt war, durfte er natürlich auch mit nach Telgte. Ebenso gut in Erinnerung sind mir die Fronleichnamsprozessionen durch die wogenden Getreidefelder. Unterwegs wurden von den Anwohnern Altäre aufgebaut und schmuckvoll hergerichtet, an denen der Priester den Segen austeilte. Die Frömmigkeit im Volke war um ein Vielfaches größer als heute. Greven war - fast hätte ich gesagt - zu 110 % katholisch. Die Kirchen waren voll, was der Pastor predigte war für viele das Maß aller Dinge und so wahr wie das Evangelium. Durch die Nähe zur Kirche und die Frömmigkeit der Großeltern und Eltern war ich geprägt, und so war mein erster Berufswunsch - wie schon gesagt - Pastor zu werden, weil man dann predigen durfte und jeden Tag nur eine Stunde arbeiten musste, außer sonntags, da gab es ja mehrere Messen.
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„ONKEL LENGERMANN“ Er war nicht wirklich mein Onkel, aber er war gut zu mir wie ein richtiger, netter Onkel. Er wohnte schräg gegenüber auf der Wöstenstraße, hatte ein starkes, großrahmiges Kaltblut, eine Kuh, 6 10 Schweine und war als Lohnkutscher den ganzen Tag mit Pferd und Wagen unterwegs. Er pflügte die Äcker der Nebenerwerbslandwirte, fuhr Mist, mit dem Leiterwagen im Sommer das Getreide zum Drescher und das Korn zur Mühle, das Stroh zu den Kunden und beförderte alles, was auf seinen Wagen passte. Jeden Morgen um 5 Uhr verließ er den Hof mit dem gummibereiften Wagen und holte aus den umliegenden Bauernschaften die vollen Milchkannen ab, die er zur Grevener Molkerei fuhr. Dort lud er die gespülten Kannen vom Vortag auf, um sie wieder zum erneuten Füllen an die Bauern zurück zu bringen. Das dauerte bis ca. 10.30 Uhr, dann wurde gefrühstückt, und es gab eine kurze
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Pause für Mensch und Tier. Danach ging es wieder weiter: es wurde gepflügt, geeggt, Umzüge gefahren, halt alles gemacht, wozu man heute einen Spediteur beauftragt. Einmal pro Woche fuhr er für eine Kohlenhandlung Kohle aus, die zu je einem Zentner in Säcken abgepackt war, und schleppte sie den Leuten in den Keller oder in ihre Schuppen. Nur wenige Menschen hatten eine Heizung, die Armen heizten mit Holz oder Kohle. Im Sommer fuhr ich oft morgens mit zum Milchfahren. Die Chausseen waren damals in den Bauernschaft mit Obstbäumen bestanden und vom Bock des Gummiwagens aus konnte ich Äpfel und anderes Obst pflücken, wenn Onkel Lengermann nah genug an die Bäume heran fuhr und dem Pferd zu stehen befahl. Sein Arbeitstag dauerte von 5 Uhr bis früh zum Einbruch der Dunkelheit. In den Sommermonaten war natürlich mehr zu tun, es kam leicht zu einem 15 - 16 Stunden-Tag. Durch die festen Tou-
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ren mit Milch und Kohle hatte Onkel Lengermann ein festes, für die damalige Zeit sicherlich gutes Einkommen. Schon als kleiner Knirps durfte ich das Pferd lenken und fand es toll, dass ein so starkes Tier mir gehorchte. Es war ein so "frommes" Pferd, dass ich gefahrlos unter seinem Bauch durchgehen konnte. Das Pferd musste täglich Schwerstarbeit leisten und bekam deshalb jeden Tag einen Eimer voll Hafer. Dort, wo der Zugriemen saß, hatte es dicke Muskelpakete. Als Onkel Lengermann das Pferd bekam, gab es zunächst einige Tage lang Probleme: Es war gewohnt, nur zweispännig zu arbeiten und musste in den ersten Tagen häufig die Peitsche spüren, um sich richtig anzustrengen. Oft musste ich die Kuh am Wegesrand weiden lassen. Es gab zwar in der Wöste, ungefähr 1,0 km vom Haus entfernt, eine Lengermann-eigene Wiese, die gab aber zu wenig her, um Kuh und Pferd
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satt zu machen. Außerdem sollte die Kuh aus melktechnischen Gründen immer wieder im Stall stehen. Wenn ich das Pferd zur Weide bringen durfte, hob mich Onkel Lengermann auf den Rücken des Pferdes und im Schritt ging es dann zur Weide. Absteigen konnte ich alleine, ich hielt mich an der Mähne fest und ließ mich hinab gleiten. Einmal war mir Schritt zu langsam, ich lenkte das Pferd an einen Apfelbaum, der am Ende der Wöstenstraße stand, brach mir einen Zweig ab und „beschleunigte“ das brave Pferd, das so geschockt war, dass es einen gewaltigen Satz machte und ich unten lag. Zum Glück hatte ich mich nicht verletzt. Das Pferd kannte den Weg zur Weide und trabte allein dorthin. Es fraß am Wegesrand und ließ sich geduldig auf die Weide führen. Als ich etwa 8 Jahre alt war, durfte ich mit dem Pferd Äcker eggen, mit ca. 10 Jahren machte ich meine ersten Versuche beim Pflügen.
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In diesem Alter wollte ich nichts anderes als Bauer werden - so einer wie Onkel Lengermann, der immer fröhlich war, den ich nie missmutig erlebte, und der Bärenkräfte hatte. Seine Frau Grete war stark gehbehindert und für sie bin ich täglich einkaufen gegangen, meist zu Möllemann. Dafür gab es jedes Mal 10 Pfennig (ca. 5 Cent), die ich manchmal sparte und manchmal in Bonbons umsetzte. Während der Fastenzeit wanderten die Bonbons immer in ein Einmachglas - das war die absolute Härte für mich! Oft warf ich in der Fastenzeit sehnsüchtige Blicke zum Glas. Onkel Lengermann hat bis über 70 gearbeitet, er war wahrscheinlich der letzte Pferde-Fuhrwerker in Greven. Bei einem Besuch sagte er mir später einmal: „Ick häv min Leven lang up en Pärdearsch blickt.“15. 15
Ich habe mein Leben lang auf das Hinterteil eines Pferdes geschaut.
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Leider liegen von Onkel Lengermann keine Fotos vor.
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NATURLIEBE Die Liebe zur Natur hat „Onkel“ Wilhelm Nolde (von allen nur Noll-Onkel genannt) in mir entfacht. Er war Webermeister bei Anton Cramer - das war schon was, damals! Wie Sie schon wissen, blieb seine Ehe kinderlos. In mir fand er ein Pendant, einen Geistesverwandten, er musste die Liebe zur Natur nur in mir erwecken, was ihm mühelos gelang. So oft er konnte ging er mit mir spazieren, schnitzte mir Stöcke mit großartigen Mustern, bastelte mir aus Weidenzweigen Kuckuckspfeifen, benannte mir heimische Bäume, Pflanzen und Tiere. Er öffnete mir die Augen für die Schönheiten der Natur und lehrte mich, sie zu achten.
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Opa Nolde im Gespräch mit Vater
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Ein Ereignis ist mir heute noch in lebendiger Erinnerung. Bei einem Spaziergang am Altarm der Ems in Richtung Gimbte überquerten wir, um den Weg abzukürzen, eine riesengroße Weide, etwa einen Kilometer lang, die zu einem großen, an der Aa gelegenen Gutshof gehörte.. Am anderen Ende der Weide graste eine Herde Bullen, die plötzlich auf uns losstürmten. Etwa 25 - 30 Tiere ließen im wahrsten Sinne die Erde beben, und wir liefen um unser Leben. Niemals zuvor und niemals später in meinem Leben lief ich schneller, denke ich. Zum Glück erreichten wir den rettenden Zaun, bevor die schnaubende Herde uns erreichte. Wir wären mit Sicherheit zu Tode getrampelt worden. Der Zaun hielt die wütenden Tiere Gott sei Dank von der weiteren Verfolgung ab. Wir waren schweißgebadet. Die Bullen scharrten noch eine Weile mit den Hufen, schnaubten und beruhigten sich allmählich und grasten nach ca. 5 Minuten weiter, als wäre nichts geschehen. Nie wieder haben wir diese Abkürzung genommen.
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An noch etwas erinnere ich mich: Onkel Wilhelm hatte immer ein großes, sehr scharfes, vorne gekrümmtes Taschenmesser dabei. Mit diesem Messer schnitt er sich die Fingernägel, die so dick waren, wie ich nie mehr welche sah. Sein Messer schärfte er an einem runden Schleifstein von etwa 60 cm Durchmesser, der mit einer Kurbel zu betätigen war und am Schoppen stand.
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KANINCHEN UND BIENEN Onkel Bernhard Baumkötter war mit Tante Änne, einer Schwester meiner Mutter, verheiratet. Bei der Geburt ihres Kindes verstarb sie 1947, auch das Baby starb. Nach einiger Zeit heiratete er eine andere Schwester meiner Mutter, Tante Elisabet. Sie war Leiterin der Bartholomäus-Bücherei der Martinikirche. Mit einem durchschossenen Knie kam Onkel Bernhard aus dem Krieg zurück. Auch er war Webmeister bei Anton Cramer und Co. „Oma“ Baumkötter war die Mutter von Onkel Bernhard. Ich habe sie als altes, schwarz gekleidetes, zahnloses Mütterchen in Erinnerung, ganz anders als die heutigen Frauen in ihrem Alter. Ihr Hobby war die Kaninchenzucht. Sie hatte ständig zwischen 40
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- 50 Kaninchen in ihren Ställen und fütterte sie täglich mit Grünzeug und Küchenabfällen. Diese Riesenherde mümmelte am Tag schon ganz schön was weg. Es war jedesmal ein besonderes Ereignis, wenn eines der schweren Deutschen Riesen sein Leben lassen musste und wir zum Essen eingeladen waren. Oma Baumkötter war sehr katholisch, und so wurde bei Tisch vor dem Essen und nach der Mahlzeit kräftig gebetet. Ihre Gebete waren stets sehr lang, und häufig musste ihr Sohn einschreiten und sagen: „Lot guet sin, Moder, de Suppe wäert kolt.“16. Oma Baumkötter hängte trotzdem noch ein paar Vater unser und Ave Maria dran, bis Onkel Bernhard dann beschied: „Guten Appetit“ und die nun nicht mehr so heiße Suppe ausschenkte. Leider gab es für uns höchstens einmal im Jahr Kaninchenbraten. 16
Hör auf Mutter, die Suppe wird kalt.
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Nach dem Essen, das immer am Sonntag stattfand, gaben sich die Erwachsenen dem Trunke hin, wir Kinder spielten im Garten. Onkel Bernhard besaß 7 oder 8 Bienenvölker - für mich war es immer faszinierend zu sehen, wie er ohne jede Schutzkleidung zu den Bienen ging, die sich auf seine Hände und Arme setzten, ohne ihn zu stechen. Ich dachte, das könne ich auch. Eines Tages versuchte ich mein Glück und näherte mich den Bienenstöcken, wie mein Onkel mit entblößten Armen. Zwei Stiche an den Armen und drei im Gesicht waren das Resultat dieses Experimentes. Seitdem mag ich weder Bienen noch Honig.
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Änne und Bernhard Baumkötter
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FREMDSPRACHE Zu Hause bei uns, bei Oma und Opa, bei allen Verwandten wurde das Münsterländer Platt gesprochen. Bei einer Begrüßung hieß es: „Guod helpe ju.“17 Als Antwort kam dann: „Guod lohne.“18 Ich weiß nicht, ob die Lautschrift korrekt ist, beim ch handelt es sich um einen Rachenlaut, der typisch für das Münsterländer Platt ist. Ging man auseinander, hieß es „Guet gohn“, das heißt „Mach’s gut“, „Lass dir’s gut ergehn“ oder sowas. Mit dieser Sprache bin ich aufgewachsen und im Kindergarten merkte ich, dass die „Frollein“ anders sprachen - ich musste umlernen. Als wir 1957 von Greven nach Moers zogen, wurde ich von den Klassenkameraden jahrelang wegen meines harten Münsterländer R’s gehänselt. 17 18
Möge Gott dir helfen. Möge Gott dir lohnen.
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Etwa so: „Na, Schrrrröder, kannst du noch immer kein richtiges R?“ Nach einigen Jahren hatte ich mir selbst das harte R weg therapiert und die Klassenkameraden hatten sich beruhigt.
PAUL UND HELMUT SPIEKERMANN Paul und Helmut sind Cousins, 5 bzw. drei Jahre älter als ich. Die Beschützerrolle, die sie für mich spielten, ist schon erwähnt. Daneben gab es noch Maria, ihre Schwester. Ihre Mutter Elisabeth war mit Josef, einem Bruder meiner Mutter, verheiratet, der in den letzten Kriegstagen noch gefallen ist. So stand meine Tante mit drei Kindern nun alleine da. Sie betrieb gegenüber vom Grevener Krankenhaus einen Laden mit Obst, Säften, Illustrierten, Süßigkeiten, kurz: mit allem, was man Kranken so mitnimmt ins Krankenhaus. Ihr Motto lautete stets: „Und ist der Handel noch so klein, bringt er doch mehr als Arbeit ein“.
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Ein anderes: "Im Einkauf liegt der Segen."
Laden gegenüber vom Krankenhaus Tante Lisbeth war eine resolute, zupackende Geschäftsfrau, die ihre Kinder und den Laden gut im Griff hatte. Unterstützt wurde sie von ihrem Vater, „Opa“ Beuning, der in St. Martini Küster war
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und auch den Knabenchor leitete, in dem ich auch eine Zeitlang gesungen habe. Eines Tages, ich mag 9 oder 10 Jahre alt gewesen sein, mussten wir mit den Bollerwagen Müll zur Müllkippe bringen. Die war in einem alten Emsarm bei Anton Cramer, heute führt eine Straße darüber. Vielleicht sind solche Müllkippen ja in einigen 1000 Jahren Ausgrabungsplätze für Archäologen. Aber auf dieser Müllkippe wird nicht viel zu finden sein, alles, was sich zu Geld machen ließ wie Metalle, Kabel usw. wurden von Kindern - auch von Paul, Helmut und mir - gesammelt. Einmal sah ich, wie eine Pferdekarre den Müllberg hinter dem Friedhof hinabstürzte, der Fuhrmann hatte die Karre rückwärts zum Abkippen zu dicht an die Kante gefahren, die Karre riss das Pferd mit in den Abgrund, es war nicht mehr zu retten, lebte aber noch. Um das Fleisch verwerten zu können, schnitt der Fuhrmann
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mit seinem Taschenmesser die Kehle des Pferdes auf. So war das Fleisch noch zum Verzehr geeignet. Mit dem Bollerwagen machten wir es häufig so, dass ein Kind mit dem Karrenstiel vorn saß und lenkte, der andere hinten im Bollerwagen saß und dem Gefährt mit seinen Füßen Tempo verlieh. Um hinten sitzen zu können, musste natürlich die hintere Klappe entfernt werden. Zigmal hatten wir das schon so gemacht, ein schöner Spaß, je schneller der Bollerwagen lief, desto größer der Spaß. Eines Tages, wir kamen wieder von der Müllkippe zurück, war Helmut der „Motor“ und ich der „Lenker“. In einem Schlagloch schlugen die Vorderräder um, der Bollerwagen kippte, prallte gegen den Bordstein, und ich flog in hohem Bogen auf die Gehwegplatten. Eine Kopfwunde und eine Gehirnerschütterung waren die Folge. Helmut traute sich nicht nach Hause, da er sich an diesem Unfall schuldig fühlte. Er musste von Nachbarn gesucht werden und bekam zu Hause " Senge", nicht wegen des Unfalls, sondern
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weil er abgehauen war. Onkel Josef, der Vater von Paul, Helmut und Maria, war ein Auto Narr, er hatte mehrere Pkw. Tante Lisbeth war übrigens die erste Frau in Greven, die einen Führerschein erwarb. Die FabrikantenDamen hatten natürlich alle ihre Fahrer, sie brauchten keinen Führerschein. So kam Paul aus dem Fundus seines verstorbenen Vaters zu einem Auto, in einem Alter, in dem Jugendliche heute Mofa fahren dürfen. Dieser Wagen war ein Hanomag, Baujahr 1938, mit dicken Blechen, die wahrscheinlich auch für Panzer geeignet waren. Natürlich war dieser Wagen nicht zugelassen und nicht versichert, aber er lief trotzdem, obwohl Paul keinen Führerschein besaß. Auf der Bleiche, früher ein großes Wiesengelände, auf dem die Wäsche in der Sonne gebleicht wurde, fanden die Testfahrten statt. Paul hatte die technische Begabung von seinem Vater geerbt und bekam die Karre immer wieder flott. Es war für ihn und uns
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eine Riesengaudi, dort mit dem Auto zu fahren. Natürlich wusste Pauls Mutter, wusste auch die Polizei davon, aber man ließ ihn gewähren.
Schwarzfahrten mit dem Hanomag
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Paul hat die Liebe zu Autos nie losgelassen. Er wurde später Entwicklungsingenieur bei Ford in Köln. Seine ganz große Liebe aber gilt den Lkw, die er noch heute als Hobby fährt. Helmut wurde Finanzbeamter, Maria - die Tochter - übernahm den Laden, den es heute aber schon nicht mehr gibt.
SCHLUSS Gerade mal 50 bis 65 Jahre her ist die Zeitreise in meine Kinderzeit. Es war eine schlechte Zeit, kollektiv schlecht, nicht nur für unsere Familie. Wir hatten als Kinder das Glück, dass unser Vater aus dem Krieg zurückgekehrt ist, dass er durch seinen Fleiß und seinen Einsatz uns eine Plattform schaffen konnte, Abitur und Studium zu schaffen.
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Vielleicht sind diese Erinnerungen aus der kleinen Welt das kleinen Willi ein kleines Stückchen Zeitgeschichte aus einem großen Dorf im Münsterland. Auch schon in meiner Generation werden die Zeitzeugen immer weniger, und es soll ja nichts verloren gehen. Mir wurde beim Schreiben deutlich, dass mein Bruder und ich trotz aller Widerwärtigkeiten in dieser Zeit eine "gute" Kinderzeit verleben durften und wir das Glück hatten, in einem großen Familienverband aufzuwachsen, in dem einer für den anderen einstand, so gut er es vermochte.
Mein besonderer Dank gilt Tante Heti, die viele Erinnerungen in mir wieder wach gerufen hat.
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MEINE GREVENER VERWANDTSCHAFT (Oma) Theresia, geb. Schmitz aus Gimbte heiratete (Opa) Fritz Spiekermann aus Lembeck. Sie hatten 6 Kinder. Onkel Heinrich (gest.) ∞ Tante Lisabeth (gest.) – 2 Kinder Onkel Josef (gest.) ∞ Tante Lisabeth (gest.) – 3 Kinder Tante Änne (gest.) ∞ Bernhard Baumkötter Tante Lisabeth (gest.) ∞ Bernhard Baumkötter – 1 Kind unsere Mutter Paula (gest.) ∞ Wilhelm Schröder – 2 Kinder Tante Hedwig ∞ Heinz Trage (gest.) 6 Kinder
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Zum Autor: Der Autor, 1943 im „Größten Dorf im Münsterland" in Greven an der Ems geboren, macht Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend im Wesentlichen fest an Personen, die ihn geprägt haben und zu dem Menschen mit gestalteten, der er heute ist. Er verzog 1957 mit seinen Eltern wegen beruflicher Veränderung seines Vaters von Greven nach Moers, in eine für ihn andere Welt. Mit dem Jahr 1957 enden dann auch diese Erinnerungen. Der Autor wurde Sonderpädagoge und leitete über zwei Jahrzehnte eine große Fördererschule im Ruhrgebiet. Seit dem 01.08.2008 ist er pensioniert.
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NACHWORT Nach fast 40-jähriger Arbeit als Lehrer und Schulleiter habe ich meinem letzten Entlass-Jahrgang diese kompakten „Regeln“ und „Ratschläge“ mit auf den Lebensweg gegeben – vielleicht für manchen jüngeren Menschen ein lesenswertes Regelwerk moralisch-ethischen Handelns. Wie in mehreren meiner Kinderbücher bevorzuge ich die Versform, da ich immer wieder feststellen konnte, dass Verse besser im Gedächtnis bleiben als Prosa. Bildernachweis: Verlag und Autor danken folgenden Personen für ihre Unterstützung: - Stadtarchiv Greven, Dr. Schröder - Heimatverein Greven, den Herren Bez und Runde - Hedwig Trahe und Tochter Rita - Klaus Gronotte und Frau Ruth - Paul Spiekermann
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- Josef Spiekermann und Frau Agnes - Winfried Schmid RATSCHLÄGE FÜRS LEBEN Zum Abschied der Klassen 10 Zehn Jahre Schule vorbei mit Müh‘ und Plagen Oft hörtet ihr die Lehrer sagen: Tu dies, lass jenes, streng dich an, nur so wird aus dir Frau und Mann. Zum Abschied möchte ich zum Gebrauch im Leben, kompakt Euch noch mal Regeln geben. Ich habe darum mit Bedacht Erfahrungswissen zu Papier gebracht: Was du nicht willst, das man dir tu,
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das füge keinem anderen zu19. Würden alle Menschen nur dies bedenken, so könnt ich mir das Folgende schenken. Doch Menschen sind per se20 nicht gut, drum sei auch ständig auf der Hut. Vermeide das Böse, nur Gutes tu, strebe immer dem Frieden zu.21 Bedenke, du bist Teil der Natur, drum töte nichts auf Feld und Flur. Humor bewahre und aktivier, durch Gelassenheit dich stets definier.22 19
Kategorischer Imperativ von Kant Lateinisch: aus sich selbst heraus, von sich, von Natur aus 21 vgl. 1 Petrus 3, 10,11 22 Empfehlungen meines Namenspatrons Wilhelm Busch 20
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Der Mensch wird erst am Du zum Ich, daran erinnere gerne ich dich.23 Versuch der Egomanie24 zu entfliehn, wend‘ stets zum anderen dich hin. Nicht virtuell25 ist unser Leben, Gott hat real es uns gegeben. Folg‘ keinem - ismus treu und blind, sonst bist du bald ein gebranntes Kind. Gib deinem Leben Lebenssinn, es steckt so viel an Chancen drin. Wer alles schluckt, verdaut meist schlecht. Waltet deine Fantasie, so ist es Recht. 23
Martin Buber, Deutscher Philosoph Selbstsucht, Egoismus, Ichhaftigkeit 25 scheinbar, nur gedacht 24
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Nimm aktiv an Kultur stets teil, erklimm einen Berg nicht mit zerrissenem Seil. Verspiel dein Alter nicht schon in der Jugend, nicht alles, was schmerzt, ist schon eine Tugend. Treib Sport in Maßen, trink nicht zu viel, vermeide die Drogen, such Spaß dir im Spiel. Vergiss auch nie das weitere Lernen, greife nie zu kurz, doch nie zu den Sternen. Mach dich nie zu Geldes Knecht, doch gesunder Wohlstand ist nicht schlecht. Kauf‘ nicht auf Pump und spar in der Zeit, mit Schulden kommst du im Leben nicht weit. Gib Armen stets ein Stückchen Brot,
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vielleicht kommst selber du mal in Not. „Bitte“ und „Danke“ werden nie unmodern, sieh in jedem den guten Kern. Vergiss nicht, was die Eltern dir sind, genauso behandelt dich später dein Kind. Freunde sind Geschenke, die man selber sich macht, drum pflege die Freundschaft bei Tag und bei Nacht. Was du versprichst, das halt stets gern – Sieh abends nicht zu lange fern. Sei Lebenskünstler in allen Belangen, lass nie von Schmeichlern dich umfangen. Ernähr dich nicht nur bei Mac und von Snack, sonst kriegst Erkrankungen du nie mehr weg.
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Flüchtiger Sex bringt nur kurz dir Pläsier26, dein Leben mit echter Liebe verzier‘! Für all deine guten und schlechten Taten Wird am Ende der Tage das Gericht auf dich warten. Ob Jude, Muslim, Atheist oder Christ, dass du mir die Toleranz nie vergisst! Schenkst andern du Glück, kommt’s zu dir stets zurück. Noch tausend Regeln oder mehr könnt ich dir geben, für deinen langen Weg durchs Leben. Doch alles muss man selber erfahren, Erfahrung kommt eben erst mit den Jahren. Doch Frag‘ um Rat Leute, die Freunde dir sind, 26
Vergnügen, Spaß, Freude
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damit du nicht handelst wie ein Kind. Für Eure Zukunft wünsch ich mir, dass keiner leben muss wie ein Tier, dass Armut nicht Euer Leben bestimmt, dass kein Krieg Euch je die Kinder nimmt, dass Macht von Menschen über Menschen sich beschränkt, dass unser aller Gebieter Eure Schritte stets lenkt. Sei klug und weise, bleib auf der Bahn, dann kannst du einst sagen: Es war wohlgetan. Alles Gute für Euer Leben Wilhelm Schröder -Schulleiter-
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LITERATURHINWEISE „Das größte Dorf“ Greven - gestern und heute, Greven 1987 o. V. Greven 1918 - 1950, Band II: 1939 - 1950 Detlef Dreßler Hans Galen Christoph Spieker, Greven 1991
Weitere Ausgaben als Print Druck Und als
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Vier JahreszeitenHaus Verlag im Münsterland August – Brust – Str. 6, D – 48249 Dülmen, Tel.: 49 (0) 2594 – 784742 Fax: 49 (0) 2594 – 784743 http://www.jahreszeitenhaus.com
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