Rose Kahnt
Allein in der Stadt
Ensslin & Laiblin Verlag Reutlingen
Schutzumschlag nach einem Foto von Bildarchiv ...
31 downloads
755 Views
931KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Rose Kahnt
Allein in der Stadt
Ensslin & Laiblin Verlag Reutlingen
Schutzumschlag nach einem Foto von Bildarchiv K. Schuster,
Oberursel/Ts.
1.-10. Tausend
K-Lesung by Thesky
©Ensslin & Laiblin Verlag GmbH & Co. KG Reutlingen 1976. Sämtliche
Rechte, auch die der Verfilmung, des Vertrags, der Rundfunk- und
Fernsehübertragung, der Verbreitung durch Kassetten und Schallplatten
sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Satz: ensslin
typodienst. Schrift: IBM-Aldin Roman. Gesamtherstellung: Wilh. Rock,
Weinsberg. Printed in Germany. ISBN 3-77090-371-4
NÄCHTLICHE FAHRT
Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, hätte eigentlich niemals passieren dürfen. Das war jedenfalls die einhellige Ansicht aller Erwachsenen, die später davon erfuhren. Die beiden Kinder freilich, die sie erlebten, waren ganz anderer Meinung; doch sprachen sie selten darüber, und so geriet nach und nach alles wieder in Ver gessenheit. Auch als das umstrittene Kraftwerk schließlich doch gebaut wurde, hielt es niemand mehr für nötig, die Sache noch einmal aufzurollen. Es begann alles ganz normal an einem schönen Sommerabend um die Jahrtausendwende. An diesem Abend saßen die Kinder des Ferienlagers „Winnetou” am Großen See zum letzten Mal um das Lagerfeuer, gaben einander zum letzten und einzigen Mal die Hand und gingen dann auseinander, um ihre Heimreise anzutreten. Damals verkehrten bereits zwischen den meisten Städten des Kontinents die jetzt üblichen Superschnellzüge, so daß der Großteil der Kinder noch vor Mitternacht zu Hause sein konnte. Zu den wenigen, die eine etwas längere Fahrt hatten, gehörten die Geschwister Winter, die als einzige Teilnehmer des Zeltlagers aus der im Norden gelegenen kleineren Stadt Holmelund gekommen waren. Die Leute im Norden lebten damals noch etwas altertümlicher als die aus dem Süden; beispielsweise gab es dort noch Straßen, wo man mit Privatautos ohne besondere Er laubnis fahren durfte. Das war wohl auch der Grund dafür, daß Jules und Anne schon um elf Uhr ganz allein in ihrem Abteil saßen und nichts hörten als das leise Rollen der Räder und das eigene Atmen. Jules döste in seiner Ecke; er war müde und sehnte sich nach sei nem Bett. Anne war nervös und aufgeregt vor Freude, wieder nach Hause zu kommen: Zu Hause, da war die Bahn aus künstlichem Eis, auf der sie jeden Tag trainieren konnte, da waren ihre Bücher, und da waren vor allen Dingen ihre Entwürfe, mit denen sie ihr ganzes Zimmer tapeziert hatte. Anne wollte Architektin werden;
ihre Lieblingsbeschäftigung war es, die Anlagen riesiger Wohnblocks oder ganzer Städte zu zeichnen. Sie duldete nicht, daß auch nur ein einziges solches Blatt in die Papiermühle wanderte. Jules richtete sich danach, aber er konnte es nicht verstehen, genauso wenig, wie Anne begreifen konnte, warum er im Ferienlager so glücklich war und die Zeit dort ihm viel zu kurz vorkam. „Es gibt doch nichts Schöneres, als den ganzen Tag tun und lassen zu können, was man will!”, war sein gewöhnliches Argument. Und Anne antwortete dann: „Das kann ich ja eben nicht, wenn ich die Sachen nicht um mich habe, mit denen ich mich am liebsten beschäftige!” Dabei blieb sie dann, wenn Jules ihr auch noch so oft zu erklären versuchte, daß es tausenderlei Dinge gibt, mit denen man sich beschäftigen kann. Jetzt hatte Anne keine Lust, mit Jules zu streiten, aber sie lang weilte sich ein bißchen, weil draußen nichts mehr zu sehen war. Der Zug fuhr durch das Naturschutzgebiet, und die ununterbrochene Folge hellerleuchteter Städte war durch undurchdringliche Dunkelheit abgelöst. Deshalb sagte sie nach einer Weile: „Ich finde es blöd, daß Papa und Mom uns unbedingt wieder abholen müssen. Wir sind doch schließlich keine kleinen Kinder mehr!” Jules seufzte; er war so schön am Einschlafen gewesen. „Du schon!” meinte er. Anne ärgerte sich. „Ich habe neulich gelesen, daß Mädchen sich viel schneller entwickeln als Jungen. Demnach bin ich geistig eigentlich älter als du!” Jules grinste. „Ach, Entschuldigung, daß ich das vergessen habe, Tante Anne!” „Idiot!” Anne schwieg wieder und starrte beleidigt zum Fenster hinaus, wo es nichts zu sehen gab. Jules lehnte sich zurück und versuchte, noch einmal einzuschlafen. Insgeheim tat es ihm leid, daß er seine Schwester geärgert hatte, und die frühere Schläfrigkeit wollte sich nicht wieder einstellen. Er war jetzt hellwach. Plötzlich fiel ihm auf, wie still es ringsum war. „Komisch, man könnte meinen, wir wären ganz allein im Zug.” Anne, die nicht nachtragend war, wandte sich vom Fenster ab und sah ihn gespannt an. „Das wäre ja toll! Wollen wir nachsehen? Stell dir vor, der
Zug fährt ganz allein für uns!”
Jules zuckte die Schultern. „Unsinn! Ein paar Leute werden schon
noch dasein. Aber wir könnten vielleicht sehen, ob wir jetzt etwas
zu essen kriegen. Mom ist sicher froh, wenn sie uns kein Abendbrot
mehr zu machen braucht.”
Da der Zug nur fünf Restaurantwagen hatte, war es den Kindern seit
ihrer Abfahrt nicht möglich gewesen, Essen zu bekommen. Die
Wagen waren zu überfüllt gewesen, und sie hatten keine Lust
gehabt, lange zu warten. Jetzt aber meldete sich von neuem der
Appetit. Anne sprang auf, Jules streckte sich und erhob sich eben
falls. Sie liefen an einigen geschlossenen Abteilen vorbei.
Anne wollte hineinsehen, aber Jules hinderte sie daran. „Laß die
Türen zu! Wenn Leute darin sind, wollen sie jetzt ihre Ruhe ha
ben.”
Anne murmelte etwas, aber sie sah es ein. Als sie den Restaurant
wagen betraten, blieben sie einen Augenblick erstaunt stehen: Er
war tatsächlich leer, obwohl die Vitrine mit den kalten Speisen, der
Grillautomat sowie die Fächer für Obst und Getränke noch immer
die delikatesten Sachen enthielten.
„Ich hätte nicht gedacht, daß heute so wenig Leute den Zug nach
Holmelund nehmen!” meinte Jules. „Hoffentlich ist das nicht
immer so, sonst werden bei uns auch noch die Autos
verboten!” Anne hatte eine Vorliebe für Autos.
Diese Bemerkung wäre wieder Anlaß für einen Streit gewesen, aber
Jules ließ sich nicht darauf ein. Ihm lief das Wasser im Mund
zusammen. Ein paar Sekunden klimperte er mit den Münzen in
seiner Tasche, dann ging er zum Grillautomaten, steckte ein Geld
stück in den Schlitz und drückte auf einen Knopf, um sich ein
Hähnchen braten zu lassen. Anne setzte inzwischen an der Vitrine
das Fließband in Bewegung und wählte aus den vorüberziehenden
Herrlichkeiten zwei Stück Torte und ein Schälchen Eiscreme – ein
Abendessen, das Jules mit gelindem Abscheu erfüllte. „Was glaubst
du, wie du eislaufen könntest, wenn du nur einmal in deinem
Leben etwas Vernünftiges essen würdest!”
Anne zuckte die Achseln. „Ich laufe gut genug.” Sie holte sich
noch eine Flasche Kakao und ließ sich an einem der kleinen Ti sche nieder. „Das habe ich noch nie erlebt, daß man hier einmal in Ruhe essen kann!” Jules lachte. Es amüsierte ihn immer, wenn Anne sich erwachsen benahm. Er holte sein Hähnchen aus dem Grill und setzte sich seiner Schwester gegenüber. Wenn die Geschwister sich auch gerne zankten, so verstanden sie sich im Grunde doch gut, und keines der Kinder nahm die häufigen kleinen Reibereien besonders wichtig. Sie aßen mit Appetit und unterhielten sich dabei über das Ferienlager, das sie gerade verlassen hatten. Obgleich sie sich täglich gesehen hatten und auch öfter gemeinsam an Spielen oder Ausflügen teilnehmen konnten, hatten sie doch in Wirklichkeit das Lager von zwei ganz verschiedenen Seiten erlebt. Anne war anfangs besonders von den Jungen sehr umschwärmt gewesen. Da sie aber ziemlich bald merken ließ, daß ihr an neuen Bekanntschaften wenig gelegen war, und sich immer häufiger zurückzog, um zu lesen oder in ihr Tagebuch zu schreiben, verloren die anderen das Interesse an ihr und ließen sie schließlich in Ruhe. Sie wäre vielleicht die ganzen Ferien über sich selbst überlassen geblieben, wenn nicht einer der jungen Lehrer, die sich für das Lager verpflichtet hatten, sie eines Tages angesprochen hätte. Er gehörte zu einer Gruppe von Lehrern und Lehrerinnen, die den Kindern die Möglichkeit geben sollten, Unterricht in Schulfächern oder Freizeitbeschäftigungen zu nehmen. Natürlich war dieser Unterricht vollkommen freiwillig. Herr Forster war begeistert gewesen, Anne wiederzusehen; sie hatte vor ein paar Jahren einmal einen Mathematikkurs bei ihm mitgemacht. Er schlug ihr vor, sie im Schachspielen zu unterrichten, und Anne ging bereitwillig darauf ein. Als es ihr jedoch schon nach kurzer Zeit gelang, ihren Lehrer zu schlagen, verlor sie die Lust an diesem Spiel und begann wieder die Tage bis zur Abreise zu zählen. Jules hätte sich am liebsten die ganzen Ferien über nur mit Sport beschäftigt. Leider hatten ihn aber die Eltern darum gebeten, we nigstens einige Schulkurse mitzumachen, weil er bisher weniger Kurse mit Erfolg absolviert hatte als die meisten Jungen seines Alters. Jules hielt dies zwar nicht gerade für nötig, aber aus
Gutmütigkeit richtete er sich danach. Er sorgte nur dafür, daß er
diese unangenehme Aufgabe in der ersten Ferienhälfte erledigen
konnte. So hatte er die zweite Hälfte für seinen geliebten Sport frei.
Er gründete mit mehreren anderen Jungen zusammen eine
Basketballmannschaft, lernte reiten und beteiligte sich an
Schwimmveranstaltungen. Es war kein Wunder, daß die Ferien ihm
viel zu kurz vorkamen. Heimlich beneidete er seine Schwester, die
sich um die Schule keine Sorgen zu machen brauchte und viel mehr
Freizeit hatte als er. Daß sie damit nicht mehr anzufangen wußte,
war ihm unbegreiflich. Immerhin fand er es bemerkenswert, daß
sie wenigstens einen Kurs mitgemacht hatte.
„Zu Hause mußt du unbedingt einmal mit Papa Schach spielen”,
meinte er. „Ich möchte wissen, ob du auch ihn schlagen kannst!”
Anne schnaubte verächtlich. „Ph! Papa ist ja ganz helle, aber er hat
doch schon seit Jahren nicht mehr gespielt! Wenn ich Herrn
Forster schlagen konnte, kann ich das bei Papa noch lange!”
„Nun gib mal nicht so an! Erstens hast du Herrn Forster auch nicht
jedes Mal besiegt, und zweitens weißt du überhaupt nicht, ob Papa
nicht trotzdem besser spielt als er. Schließlich bist du doch noch
Anfänger und hast kaum Erfahrung.”
Anne fuhr auf. „Was willst du denn! Du verstehst ja selbst
überhaupt nichts davon!”
Sie konnte es nicht vertragen, wenn jemand an ihren Fähigkeiten
zweifelte, und es hätte wohl einen heftigen Wortwechsel gegeben,
wenn nicht im selben Augenblick der Gong des Lautsprechers ertönt
wäre. „Achtung! Achtung! In fünf Minuten Holmelund West!
Holmelund West!” Die seltsam ausdruckslose Roboterstimme holte
die Kinder in die Gegenwart zurück. Anne sprang auf und stürzte
zum Fenster. Seit etwa einer halben Stunde fuhren sie schon
wieder durch bewohntes Gebiet; auf den ersten Blick machte die
unablässige Folge strahlend hell erleuchteter Straßen und gleich
aussehender turmhoher Wohnblocks es ganz unmöglich, zu
erkennen, wo sie sich gerade befanden. Auch flog der Zug mit
solcher Geschwindigkeit vorbei, daß Anne noch nicht einmal die
Anfangsbuchstaben der Reklameaufschriften an den Häuserwänden
lesen konnte. Erst als sie an die Stelle kamen, von wo ab der Bahndamm einige Kilometer weit mit niedrigen, halbverkrüppelten Büschen bewachsen war, wußte sie, daß es nun wirklich höchste Zeit war, sich fertigzumachen. Jules war gemächlich aufgestanden, hatte das Pappgeschirr auf dem Tisch eingesammelt, in den Müllschlucker geworfen und wandte sich jetzt zum Gehen. „Nun komm schon, Anne!” Mit einem Seufzer trennte sich Anne von dem Fenster. Wer sie nicht kannte, hätte vielleicht geglaubt, daß sie das Ende der Reise bedauerte, aber tatsächlich war es ein Seufzer der Erleichterung. Endlich waren diese Wochen vorbei! Endlich würde sie wieder in ihrer gewohnten Umgebung sein können! Sie freute sich unbeschreiblich auf ihr Zimmer, und ohne es sich selbst einzugestehen, freute sie sich ebensosehr auf ihre Eltern, deren Liebling sie war. Sie erfüllten ihr jeden Wunsch, wenn es nur irgend möglich war. Übermütig rannte sie hinter Jules her, der schon vor ausgelaufen war. Im Abteil angekommen, holten sie ihre Reisetaschen aus den Klappfächern unter den Sitzen und zogen sich rasch an. Sie hatten Spaß daran, gelegentlich völlig gleiche Kleidung zu tragen; als sie jetzt durch den Gang zu den Türen gingen, beide in hellen langen Hosen, hellen Mänteln und mit bunten Mützen und Schals, hätte wohl niemand sagen können, ob sie Jungen oder Mädchen waren. Meistens hielt man sie beide für Jungen. Gespannt warteten sie auf das Auslaufen des Zuges, der ganz sanft abbremste und dann mit einem fast unmerklichen Ruck hielt. Auch Jules war froh. Er war wieder müde und dachte daran, welche Vorteile doch ein gemütlich eingerichtetes Zuhause bietet. Außerdem fiel ihm ein, daß er morgen seinen Freund Ben besuchen könnte, denn es dauerte immerhin noch ein paar Tage, bis die Schule wieder begann. Die Kinder griffen nach ihren Taschen, die automatischen Türen schoben sich langsam auseinander, und wenige Sekunden später standen Jules und Anne allein auf dem leeren Bahnsteig.
SELTSAME HEIMKEHR
Wo waren die Eltern? Anne, die doch „kein kleines Kind” mehr war, vermochte ihre Enttäuschung kaum zu verbergen. Mit Sicherheit hatte sie erwartet, noch im Augenblick des Aussteigens von zwei Seiten stürmisch umarmt und geküßt zu werden. „Das versteh' ich nicht! Das wäre das erste Mal, daß sie uns nicht ab holen. Sie müssen doch unseren Brief gekriegt haben!” Jules nahm die Sache mit mehr Ruhe. Er sah keinen Grund zur Aufregung. „Sie haben sich wahrscheinlich verspätet, das kann vorkommen. Wir müssen eben solange warten.” „Meinst du etwa, wir sollen hier stehenbleiben?” „Das beste wäre es schon, denn hierher kommen sie bestimmt. Wenn wir in die Halle gehen, kann es sein, daß wir uns verfehlen.” Anne sah das ein. „Na gut, lange kann es ja nicht dauern.” Sie setzte sich auf ihre Tasche und nahm sich vor, geduldig zu sein. Jules hatte natürlich recht: Jeder konnte sich einmal verspäten, wenn es auch bei den Eltern in solchem Falle noch nie passiert war. Aber sie warteten fünf Minuten, sie warteten zehn Minuten, und niemand kam. Annes Enttäuschung schlug mit einem Mal in Wut um. „Ich finde es unmöglich, einen mitten in der Nacht hier auf dem kalten Bahnhof warten zu lassen! Dann sollen sie nicht erst ver sprechen, uns abzuholen, wenn sie doch nicht kommen wollen! Ich hole mir bestimmt einen Schnupfen oder sonst eine furchtbare Krankheit!” Jules grinste trotz seiner Müdigkeit. „Schnupfen ist auch wirklich eine furchtbare Krankheit!” Aber nun wurde Anne erst recht böse. „Du bist auch so ein Schafskopf! Da stehen wir hier und frieren uns kaputt, und dabei sind Papa und Mom wahrscheinlich längst in der Halle und warten auf uns. Ich bin selbst blöd, daß ich immer mache, was du sagst.” Jules seufzte. Er war auch enttäuscht und fror, und nun mußte er sich noch das Schimpfen seiner Schwester anhören. Er wußte genau, daß sie nicht recht hatte, denn sie waren immer auf dem Bahnsteig abgeholt worden. Aber er konnte ja die Zeit benutzen und die
Koffer holen. „Ich könnte mal in die Halle gehen und nachsehen, ob sie vielleicht wirklich dort sind.” Anne stand sofort auf. „Na endlich wirst du vernünftig! Wir hätten das schon längst tun sollen!” Aber jetzt wurde Jules energisch. „Ich habe gesagt, i c h gehe in die Halle und sehe nach! Das wäre doch der größte Unsinn, wenn wir beide weggingen. Wenn sie dann noch kämen, verfehlten wir uns bestimmt. Siehst du das nicht ein?” „Gut, dann gehe ich eben. Es fällt mir gar nicht ein, noch länger für nichts und wieder nichts hier in der Kälte rumzustehen. Ich bin schon ganz steifgefroren.” „Du übertreibst mal wieder maßlos. Es ist September. Von Kälte kann nicht die Rede sein.” „Ich bin eben empfindlicher als du!” „Ach was! Ich glaube eher, das kleine Mädchen hat Angst, hier draußen allein zu bleiben.” Anne verstummte. Jules hatte nicht ganz unrecht, aber nicht um alles in der Welt hätte sie zugegeben, daß dieser Gedanke ihr wirklich unangenehm war. „Sei doch nicht albern …”, begann sie zögernd, doch Jules schnitt ihr kurz entschlossen das Wort ab: „Es ist nur deshalb, weil ich die Koffer holen möchte. Für dich sind sie zu schwer. Aber ich verspreche dir, daß ich sofort zurückkomme - ob ich Papa und Mom nun gefunden habe oder nicht. Es hat wahrscheinlich wirklich keinen Zweck mehr, noch lange zu warten.” „Sieh aber trotzdem richtig nach, ob sie da sind!” mahnte Anne, die den Eindruck, daß sie Angst hätte, gern verwischen wollte. „Nicht, daß du sie übersiehst!” „Das glaube ich nicht. Zu so später Stunde werden ja nicht mehr viele Leute in der Halle sein.” „Hier!” Anne kramte ihre Koffermarke aus der Manteltasche und reichte sie Jules hin. Er steckte sie ein und lief die Treppe zum Fußgängertunnel hinunter. Auf dem ruhigen und men schenleeren Bahnhof klangen seine Schritte ungewohnt laut und hart. Der Tunnel war taghell erleuchtet. Die Gesichter der grellfarbigen Reklamefotos an den Wänden starrten den einsamen Jungen mit unangenehmer Aufdringlichkeit an. Lauter fröhliche und kräftige
Gestalten waren da zu sehen, die Freizeitgeräte aller Art anpriesen, schicke Freizeitkleidung vorführten oder gute Sachen aßen. Dazwi schen bot ein vergnügt lächelnder grauhaariger Herr „garantiert unschädliche” Pillen an, um das Leben zu verlängern und „die Vitalität zu erhalten”. Jules bemühte sich, gerade dieses Bild, das ihm besonders unangenehm war, nicht anzusehen. Er wußte, daß es solche Menschen, wie sie hier gezeigt wurden, kaum noch gab. Die Männer und Frauen, die er in Wirklichkeit täglich vor Augen hatte, waren mit dreißig Jahren kaum mehr fähig, eine Treppe hi naufzugehen, wenn der Aufzug einmal ausfiel, und mit vierzig Jahren hatten sie ihren ersten Herzinfarkt. Jules hatte sich schon lange fest vorgenommen, daß es ihm selbst einmal nicht so gehen sollte und daß er auch andere vor diesem Schicksal bewahren wollte. Deshalb würde er Sportlehrer werden, deshalb verschmähte er die Rollsteige und Rolltreppen und rannte jetzt mit einem Schwung die Treppe hinauf. Als er die riesige Halle betrat, war er einen Augenblick lang über rascht. Daß die Eltern nicht zu sehen waren, erstaunte ihn nicht; er hatte nichts anderes erwartet. Aber daß überhaupt niemand da war! Doch dann fiel ihm ein, daß es ja mitten in der Nacht war. Drei Viertel eins war es jetzt. Er war zu dieser Zeit eigentlich noch nie auf dem Bahnhof gewesen. Irgendwie hatte er die Vorstellung gehabt, daß auf einem Bahnhof immer etwas los wäre. Er ging hinüber zu den Gepäckfächern und drückte die numerierten Koffermarken in die dazugehörigen Schlitze. Die Türen sprangen auf, und Jules holte seinen und Annes Koffer heraus. Als er sie auf einem der vielen kleinen Gepäckwagen, die überall in der Halle herumstanden, verstaut hatte, zögerte er. Eigentlich hatte er ja gleich zu Anne zurückkehren wollen, aber die Gelegenheit war so günstig! Wann hatte man denn sonst einmal einen so riesigen Raum ganz für sich allein! Besonders der weite, spiegelglatte Fußboden hatte es ihm angetan. Er holte sich einen der leeren Gepäckwagen heran, stellte sich mit einem Fuß darauf und stieß sich mit dem anderen ab, während er sich mit beiden Händen an den Schie begriffen festhielt. Er hatte schnell heraus, daß er das Gleichgewicht
halten konnte, wenn er sich möglichst weit vornüber beugte. Er
probierte, wie oft er sich mindestens abstoßen mußte, um durch die
ganze Halle zu kommen. Nach einigen vorsichtigeren Versuchen
sauste Jules wie auf einem Roller quer durch die große Halle; es war
ein herrliches Gefühl. Als kleiner Junge hatte er einen sehr guten
Roller besessen, aber so viel Spaß hatte er damit doch nie gehabt.
Plötzlich hörte er etwas hinter sich. Erschrocken sprang Jules ab
und drehte sich um. Es war Anne, die ihn mit vorwurfsvollen Augen
anstarrte.
„Du bist wohl verrückt geworden!” rief sie empört. „Ich warte und
warte, und mein lieber Bruder fährt in der Zeit Roller wie ein
kleines Kind. Dich braucht man nur mal einen Moment allein zu
lassen, und schon schnappst du über!”
Wenn Jules im ersten Augenblick auch etwas verlegen gewesen war,
so brachte ihn Annes Empörung doch schnell wieder zu sich
selbst zurück. „Nun tu doch nicht so erwachsen, Anne! Du solltest
das lieber mal selbst ausprobieren. Es ist wirklich Klasse, was man
hier für ein Tempo kriegt!”
„Was du machst, ist Quatsch!” Anne überlegte, aber ihre Augen
funkelten unternehmungslustig. Dann drehte sie sich um, schlitterte
hinüber zu ihrem Koffer und öffnete ihn. Aus einem Chaos von
Kleidungsstücken zog sie ihre Rollschuhe hervor, schnallte sie an,
legte den Mantel ab und versuchte im nächsten Augenblick schon
eine Pirouette. Zu Jules' Vergnügen setzte sie sich erst einmal hin,
aber sie stand sofort lachend wieder auf. „Es ist noch glatter, als ich
gedacht habe!” meinte sie, fuhr einen schwungvollen Halbkreis und
probierte dann nacheinander alle Kunstfiguren, die sie auf dem Eis
so gut beherrschte, mit denen sie auf Rollschuhen aber immer etwas
Mühe gehabt hatte.
Jules sah ihr zu und bedauerte, daß er seine Rollschuhe nicht mit
hatte. So eine Gelegenheit wie diese kommt so bald nicht wieder,
dachte er. Eine normale Rollschuhbahn ist nichts gegen diese Halle.
Erst als Anne ein zweites Mal stürzte, sich dabei etwas weh tat
und schwer atmend auf dem blanken Boden sitzen blieb, erin
nerten sich beide daran, daß sie eigentlich nach Hause wollten.
„Papa und Mom kommen jetzt bestimmt nicht mehr. Das beste ist, wir gehen einfach heim. Irgendwie wird sich die Sache schon aufklären.” Anne, die durch ihren Sturz etwas ernüchtert war, stimmte zu. Sie legte die Rollschuhe zurück in den Koffer, zog ihren Mantel wieder über und gähnte. „Langsam werde ich auch müde. Machen wir, daß wir heim ins Bett kommen! Aber mit Papa werde ich morgen ordentlich schimpfen!” Sie luden ihre Koffer auf einen der Gepäckwagen, gaben ihm einen Stoß, daß er quer durch die Halle sauste, holten ihn ein, gaben ihm noch ein paar Stöße und gelangten so etwas umständlich bis zum Ausgang. Der Bahnhofsvorplatz wirkte ungewohnt still und fast fremd im gleißenden Scheinwerferlicht. Der Taxistandplatz mit den unzähligen kleinen Autos, die doch immer in Bewegung gewesen waren, schien zu schlafen. Kein Mensch war zu sehen. Jules und Anne hätten jetzt eigentlich zum nur wenige Schritte entfernten Eingang der U-Bahnstation gehen müssen, aber statt dessen betraten sie ohne Zögern den Platz mit den Autos. Schon damals gab es in Holmelund wie fast in allen anderen Städten eine Unzahl von praktisch unverwüstlichen Sicherheitsautos, die städtisches Eigentum waren. Für einen geringen Betrag durfte sie jeder benutzen. Da sie elektrisch betrieben wurden, machten sie weder Lärm noch Gestank. Durch das stoßsichere Material sowie die etwas primitiven Polsterungen, mit denen sie rundum versehen waren, waren sie bei Zusammenstößen für ihre Insassen völlig gefahrlos. Passieren konnte nur dann etwas, wenn man sich nicht vorschriftsmäßig anschnallte. Die Zeiten, in denen man noch ei nen Führerschein brauchte, um ein Auto steuern zu dürfen, waren längst vorbei. Denn ein solches automatisch betriebenes Fahrzeug zu lenken, war so lächerlich einfach, daß die Kinder es nebenbei von ihren Eltern oder im Sportunterricht in der Schule lernten. Die wenigen idiotensicheren Verkehrsregeln gehörten schon zum Lehrstoff des ersten Schuljahres. Als hoffnungslos altmodisch galt es deshalb nicht nur bei Kindern, sondern auch bei den Erwachse nen, daß man erst fünfzehn Jahre alt sein mußte, um Auto fahren
zu dürfen. Zu der Zeit, von der hier erzählt wird, waren allerdings schon Bestrebungen im Gange, das Mindestalter auf zehn Jahre herabzusetzen. Immerhin wußten die beiden Kinder ganz gut, als sie sich in eines dieser sogenannten Taxis setzten, daß sie sich nicht erwischen lassen durften, denn auch Jules war noch keine fünfzehn Jahre alt. Aber es war nicht das erste Mal, daß sie ohne Begleitung eines Erwachsenen zusammen fuhren, und sie waren trotzdem noch nie aufgeschrieben worden. Deshalb waren sie auch nicht besonders aufgeregt, zudem weit und breit kein Mensch zu sehen war. „Wir wären schön dumm, wenn wir das schwere Gepäck zur U-Bahn schleppten und von dort wieder nach Hause!” meinte Jules, als er die Koffer verstaute. Er setzte sich zu Anne vorne in den Wagen, warf ein Geldstück ein und drückte auf den Knopf. Mit einem kleinen Ruck fuhr das Auto an und kam innerhalb weniger Sekunden auf seine Normalgeschwindigkeit. Jules lenkte durch fast leere Straßen, nur zweimal mußte er am Straßenrand parkenden Taxis ausweichen. Ihre Benutzer hatten sie, wie es üblich war, nach Gebrauch einfach stehenlassen. Es war ein herrliches Fahren. Jules bedauerte nur, daß er nicht schneller fahren konnte, aber die Autos in der Innenstadt waren blockiert, so daß die Normalgeschwindigkeit nicht überschritten werden konnte. Kurz nach der Fahrt über eine der Hochstraßen, die eine noch aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts stammende Kreuzung überquerte, hielt Jules an und forderte Anne auf, sich doch auch einmal ans Steuer zu setzen. Aber zu seiner Verwunderung weigerte sie sich. „Ich habe keine Lust”, sagte sie nur. Jules, der wußte, wie gern sie sonst selbst einmal fuhr, konnte sich diese Ablehnung nicht erklären. „Es ist ganz ausgeschlossen, daß uns einer sieht!” sagte er. „Es ist niemand mehr auf den Straßen, sogar die Polizei schläft.” Aber Anne schüttelte nur stumm den Kopf und preßte die Lippen fest aufeinander. Sie hat wieder mal Launen, dachte ihr Bruder. Er wußte, daß mit ihr nicht zu reden war, wenn sie eine solche Miene machte. Trotzdem beobachtete er sie vorsichtig, als sie weiterfuhren. Es schien ihm,
als halte sie nur mit Mühe die Tränen zurück.
Nach einer halben Stunde bogen sie in die 176. Weststraße ein, wo
sie zu Hause waren. Es gab über dreihundert Wohnstraßen in diesem
Viertel, und alle waren schnurgerade, gleich lang und gleich breit.
Die Häuser an beiden Seiten der Straßen waren ebenfalls völlig
gleich. Es waren rundum verglaste Wohnblocks von zwanzig
Stockwerken Höhe. Jeder stand mitten in einem schmalen, schlecht
gepflegten Rasenstück und blickte mit der einen Breitseite auf die
Autostraße, mit der anderen auf die parallel dazu laufende kleinere
Spielstraße. Die Spielstraßen, die in diesem Stadtteil, der nur von
Familien mit Kindern bewohnt werden durfte, vorgeschrieben
waren, waren in Jules' Augen das einzig Gute in dieser sonst
trostlos eintönigen Gegend. Dort konnte er mit seinen Freunden
Handball spielen, Rollschuh laufen oder radfahren. Als kleiner Junge
hatte er geglaubt, alle Leute wohnten so oder so ähnlich wie er.
Denn wenn er mit seiner Mutter die Großeltern besucht hatte, die
im Stadtteil für kinderlose Ehepaare wohnten, oder Tante Katie im
Viertel für alleinstehende Berufstätige, hatte er festgestellt, daß jede
Wohngegend in sich völlig einheitlich war. Im Familienviertel
waren die Häuser natürlich am größten, aber sonst gab es auch in
der Weststadt äußerlich kaum Unterschiede.
Innen freilich sah es ganz anders aus. Da war jeder bemüht, aus
seiner Wohnung etwas ganz Besonderes zu machen. Jules' und
Annes Eltern gehörten wohl zu denen, die es verstanden, eine
Wohnung schön und gemütlich einzurichten, so daß man sich darin
wirklich wohlfühlen konnte.
Anne hatte dieses Talent geerbt und Freude daran, aber Jules war
auf die Dauer nicht recht zufrieden. Er wußte selbst nicht, was er
eigentlich wollte, aber er dachte manchmal fast mit Sehnsucht an die
immer geringer werdende Anzahl von Leuten, die am Rande des
Stadtzentrums kleine Häuser mit manchmal nur einer oder zwei
Wohnungen mit ihren Angehörigen bewohnten. Als er solche
Häuser zum erstenmal bewußt gesehen hatte, war er ganz begeistert
gewesen, aber seine Mutter hatte ihn ausgelacht.
„Was stellst du dir denn vor, Junge”, hatte sie gesagt, „das sind
ganz arme Leute, die da drinnen wohnen! Die haben nicht mal Geld, um in Urlaub zu fahren. Denk doch nur, was für eine feine Reise wir dieses Jahr nach Mirapolis gemacht haben!” Mirapolis war für den fünfjährigen Jules mehr verwirrend als „fein” gewesen, außerdem verstand er den Zusammenhang nicht, und er fragte noch einmal. „Die Leute hier müssen so viel Steuern zahlen, daß sie kaum Geld für das Notwendigste haben”, erklärte Mom, und Jules, der noch nicht wußte, was Steuern sind, schwieg, weil sie es nicht mochte, dauernd gefragt zu werden. Inzwischen hatte er seine Meinung über das Reisen geändert, aber die kleinen Häuser kamen ihm immer noch schön vor. Doch selbst wer wie Jules schon über vierzehn Jahre in der 176. Weststraße wohnte, hätte Mühe gehabt, sein Haus zu finden, wenn nicht die fast meterhohe, rot strahlende Leuchtschrift der Hausnummer über der Tür es kenntlich gemacht hätte. Als die Nummer 83 in Sicht kam, drückte Jules auf den Stopper, ließ das Auto langsam auslaufen und stieg aus. Anne erwachte zu neuer Lebhaftigkeit. Sie sprang eilig aus dem Wagen und fuhr ihren Bruder ärgerlich an, als es ihr nicht sofort gelang, ihren Koffer aus dem Gepäckraum herauszuziehen. „Nimm doch endlich mal deinen Koffer da weg! Er liegt so, daß ich meinen kaum rauskriege.” Jules zog gerade wieder seinen Mantel über, den er im Taxi abgestreift hatte. „Nun warte doch den Moment! Dann hole ich beide raus.” „Ach du mit deiner verdammten Gemütsruhe!” Anne riß und zerrte, bis sie ihr Gepäck hatte. Dann verschwand sie in der Haustür. Jules beeilte sich nun auch, aber nachdem er seinen Koffer geholt, Gepäckraum und Türen des Wagens ordnungsgemäß verschlossen und den Hausflur betreten hatte, war Anne ihm schon mit dem Aufzug davongefahren.
EINE UNRUHIGE NACHT
Jules war zu müde, um sich ernstlich über Annes seltsames Be nehmen zu ärgern. Geduldig wartete er, bis der Lift wieder zu-
rückkam und er einsteigen konnte. Belustigt stellte er sich vor,
wie er sie damit aufziehen würde, daß sie die Begrüßung ganz allein
für sich haben wollte. Doch als er den Aufzug in der 12. Etage
verließ, bot sich ihm ein unerwartetes Bild: Vor der verschlossenen
Wohnungstür stand noch immer Anne und trommelte wie in Panik
mit beiden Fäusten dagegen. Als Jules
hinter sie trat, drehte sie sich erschreckt um. Die Tränen liefen ihr
beide Wangen hinunter.
„Was ist denn los?” Jetzt war Jules genauso erschrocken wie sie.
„Warum heulst du denn?”
„Ich heule ja überhaupt nicht!” fauchte Anne. Dann setzte sie
sich auf ihren Koffer und schluchzte herzzerreißend. Jules sah ein,
daß seine Frage ziemlich dumm gewesen war, denn die Sachlage war
wahrhaftig deutlich genug. Trotzdem konnte er es so schnell nicht
fassen: Erst waren sie nicht abgeholt worden, und nun war auch noch
niemand in der Wohnung. Wie war das möglich? Sie konnten sich
doch nicht verfehlt haben! Aber wo waren die Eltern?
Jules setzte sich nun auch auf seinen Koffer und versuchte, sich zu
sammeln. Trotz der Außergewöhnlichkeit der Situation ärgerte es
ihn, daß Anne so fassungslos war. Aber sie war eben die Jüngere.
Er war es gewohnt, für beide vernünftig sein zu müssen.
„Vielleicht haben sie uns geschrieben, daß sie nicht zu Hause sind”,
meinte er nach einer Weile, „und wir haben den Brief bloß nicht
gekriegt.”
Anne stand auf und schnaubte sich heftig die Nase. „Wenn sie
uns erst so spät hätten schreiben können, daß wir die Post vielleicht
nicht gekriegt hätten”, erklärte sie, „dann hätten sie uns überhaupt
nicht geschrieben, sondern angerufen.”
Jules war zu bekümmert, um sich über ihre geschraubte
Ausdrucksweise zu amüsieren. „Du meinst, sie hätten nichts ris
kiert.”
„Natürlich nicht!” Anne schluchzte wieder. „Bestimmt ist irgend
etwas Furchtbares passiert. Papa hat wieder einen Herzinfarkt oder
so. Oder einer ist verunglückt. Ich habe schon die ganze Zeit im
Auto so ein komisches Gefühl gehabt. Ich hab' schon geahnt, daß
irgend etwas los ist.”
„Jetzt redest d u aber Unsinn! Wenn wirklich einer krank wäre,
dann würden sie uns doch Bescheid geben. Dann wäre doch
mindestens ein Zettel an der Tür.” „Ja, aber wenn sie nun
verunglückt sind, vielleicht alle beide? Dann können sie uns doch
nicht Bescheid geben. Vielleicht sind sie auf dem Weg zum
Bahnhof verunglückt!”
„Jetzt spinn doch nicht, Anne! Das hast du wieder aus deinen Bü
chern. Du weißt so gut wie ich, daß hier in der Stadt überhaupt
niemand verunglücken kann. Alles ist gesichert. Wir leben
schließlich nicht mehr wie vor fünfzig Jahren!” Beide schwiegen
eine Zeitlang.
„Wenn es nicht gerade mitten in der Nacht wäre”, begann Jules
nach einer Weile wieder zögernd, „dann könnten wir ja bei den
Großeltern anrufen und fragen, was los ist. Sie wissen das am
ehesten.” Anne sprang auf. „Natürlich! Das machen wir auch. Wir
hätten das schon gleich vom Bahnhof aus tun sollen.” „Aber das
geht doch nicht! Wir können doch nicht um diese Zeit anrufen!”
Jules war von klein auf gewohnt, auf andere Menschen Rücksicht
zu nehmen; der Schlaf seiner Großeltern war ihm heilig.
Andererseits war ihre Lage so ungewöhnlich, daß man vielleicht
doch einmal etwas Ungewöhnliches tun durfte.
„Erst machst du selbst den Vorschlag, und dann willst du nicht!
Also ich gehe jetzt jedenfalls telefonieren.” „Dann komme ich
mit.” Jules stand auf und folgte seiner Schwester. Sie fuhren
wieder hinunter ins Erdgeschoß, wo bei der Hausmeisterloge ein
Fernsehtelefon installiert war. Mit bebenden Fingern drückte Anne
auf den Wahltasten die zehn bekannten Ziffern. Das übliche
Summen ertönte. Gespannt blickten die Kinder auf die milchige
Scheibe, doch sie blieb leer. Sie warteten, bis der Summton von
selbst verstummte. „Immer beklagt sich Omi, daß sie einen so un
ruhigen Schlaf hat”, sagte Anne mit unsicherer Stimme, „und
jetzt wacht sie noch nicht einmal auf, wenn man stundenlang das
Telefon klingeln läßt. Ich denke, wir rufen Tante Katie an.”
Sie wählte. Jules sagte nichts mehr. In seinem Kopf überschlugen
sich die Gedanken. Alles war so sonderbar. Ihm fiel der leere Bü fettwagen ein, der öde Bahnhof, die verlassenen Straßen. Gewiß, es war mitten in der Nacht, und so spät waren sie noch nie heimgekommen. Trotzdem … Unwillkürlich fragte sich Jules, ob er wohl träumte. Er war nicht überrascht, daß auch Tante Katie sich nicht meldete. Annes Stimme klang immer kläglicher. „Sicher ist sie wieder mit ihrer Clique die ganze Nacht aus.” Da fiel Jules etwas ein. Er hatte vor dem Betreten des Hauses im dritten Stock Licht gesehen. Er sagte es Anne, und ihre offensichtliche Erleichterung zeigte ihm, daß sie insgeheim schon ähnliche Befürchtungen hegte wie er. Ohne den Aufzug zu beachten, stürmten sie beide die Treppen hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. „Millers werden eine schöne Wut haben, wenn sie mitten in der Nacht gestört werden”, meinte Anne, während sie etwas außer Atem vor der Tür standen und auf den Klingelknopf drückten. „Frau Miller ist auch sonst schon immer giftig genug, aber jetzt ist mir alles egal.” Sie klingelten dreimal, fünfmal, zehnmal. Ihre Gesichter waren blaß, als sie einander ansahen. „Jetzt ist mir auch alles egal”, sagte Jules kurz entschlossen. „Nun wird überall geklingelt, so lange, bis uns einer aufmacht.” Zuerst nahmen sie sich Zeit, klingelten an jeder Wohnungstür ausgiebig und warteten minutenlang, bis sie hinauf ins nächste Stockwerk stiegen. Aber als das Ergebnis überall das gleiche war – die Wohnungen blieben still, nichts rührte sich hinter den Türen –, da wuchs ihre Erregung und damit ihre Ungeduld ins fast Unerträgliche. Sie sprachen nicht mehr miteinander, sondern rannten die Treppen hinauf, drückten ein paarmal kurz hinterein ander auf den Knopf und rannten schon weiter. Als sie ganz oben angelangt waren, erinnerte Jules vorsichtig daran, daß sie ja die drei ersten Etagen außer acht gelassen hatten. Aber Anne zuckte nur mit den Schultern und setzte sich resigniert auf die Stufen. Jules lief noch einmal nach unten und klingelte gewissenhaft auch an den noch übriggebliebenen Wohnungen, dann stieg er hinauf in den 11. Stock, wo ihn Anne mittlerweile erwartete. Wenn sie schon vor einer Tür sitzen mußte, so sollte es doch wenigstens ihre eigene sein.
Hoffentlich heult sie nicht wieder! dachte er. Man weiß dann nie,
was man tun soll.
Aber Anne erwies sich wie immer als unberechenbar. Als Jules
zurückkam, kniete sie neben ihrem halbgeleerten Koffer inmitten
eines Wustes von Kleidungsstücken und war gerade dabei, auch
Jules' Koffer zu öffnen. „Was suchst du denn?”
„Ich suche gar nicht, ich hole mir nur etwas.” Das Schloß
sprang auf, und Anne begann, nun auch in Jules' Sachen
herumzuwühlen.
Er war mit einem Sprung bei ihr. „Was fällt dir denn ein? Das ist
mein Koffer, wenn du das vielleicht noch nicht weißt!”
Anne machte ein halb erstauntes, halb beleidigtes Gesicht.
„Worüber du dich gleich wieder aufregst! Ich wollte mir nur die
Decke holen. Das werde ich wohl noch dürfen!”
„Was für eine Decke?” Jules ärgerte sich so sehr über ihre Eigen
mächtigkeit, daß er sich dumm stellte. Natürlich wußte er genau,
was sie meinte. Er besaß nämlich eine bunte, sehr große und sehr
warme Dralondecke, um die Anne ihn immer beneidete. Aus
Gutmütigkeit hatte er sie ihr schon oft geliehen, aber daß sie jetzt
ein Recht darauf zu haben glaubte, war ihm doch neu. Anne
antwortete nicht. Sie zog die Decke hervor und betrachtete sie
wohlgefällig. Jules trat neben sie, schaute ihr über die Schulter und
riß ihr blitzschnell die Decke weg. Das war ein Trick, den er selbst
ursprünglich von seiner Schwester gelernt hatte.
„Du ekelhafter Kerl!” Anne sprang hoch und stürzte sich
zornbebend auf ihn. Tatsächlich bekam sie einen Zipfel der Decke
zu fassen, und nun zogen sie beide daran, jedes an einem Ende,
wie beim Tauziehen. Jules war bei weitem der Stärkere. Er hätte
schnell gesiegt, doch plötzlich ließ Anne los, und er kugelte
mitsamt seiner Decke auf den Rücken. Anne krümmte sich vor
Lachen, das ganze Haus widerhallte von ihrem Gelächter. Jules
erhob sich und grinste etwas verlegen. Daß sie ihn doch immer
überlisten mußte! Er knäuelte die Decke zusammen und warf sie ihr
an den Kopf. „Da, nimm sie meinetwegen! Aber das nächste Mal
fragst du mich gefälligst, bevor du an meine Sachen gehst!”
Anne wurde sofort wieder ernst. „Ich hätte dich ja gefragt, wenn
du dagewesen wärest. Aber du hättest sie mir ja sowieso geliehen,
das macht doch gar keinen Unterschied.”
„Ich weiß nicht recht.” Irgendwie hatte Jules das Gefühl, daß da
doch ein Unterschied war. Andererseits hatte Anne natürlich
recht: Wenn sie ihn gefragt hätte, wäre es ihm nicht im Traum ein
gefallen, ihr die Decke nicht zu geben. Der ganze Streit kam ihm auf
einmal töricht vor, und ihm fiel ein, daß es doch viel
verwunderlicher war, daß Anne hier im Treppenhaus saß und die
Koffer auspackte.
„Was machst du da eigentlich?”
„Ich mach' mir ein Bett.” Sie antwortete, ohne ihren Bruder an
zusehen. Ihre Stimme schwankte wieder bedenklich.
„Ein Bett?” Jules war einen Augenblick sprachlos. „Ja, willst du
denn hier übernachten?”
Anne drehte sich um, in ihren Augen glitzerte es wie von Tränen.
„Wo soll ich denn sonst übernachten? Kannst du mir das viel
leicht verraten?”
Jules überkam wieder das sonderbare Gefühl von vorhin. Die so
unerwartet leere Bahnhofshalle stand vor seinem inneren Auge.
Vielleicht hatte Anne wirklich recht, und es war sinnlos, noch ir
gend etwas zu unternehmen. Man konnte nur abwarten. Er bemühte
sich, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. „Das
vernünftigste wäre, jetzt zur Polizei zu gehen und zu fragen, ob die
Beamten etwas wissen. Dort ist immer jemand, auch mitten in der
Nacht. Und wenn sie nichts wissen, können wir immer noch dort
unterkommen.”
„Du meinst, wir sollen bei der Polizei übernachten?” „Natürlich!”
„Das kann dir vielleicht gefallen. Ich bleibe auf alle Fälle hier!”
Jules überlegte. Wenn Anne etwas strikt ablehnte, war es unmöglich,
sie zu überreden. Vielleicht war es aber wirk
lieh günstiger, wenn sie hier blieb. Wenn die Eltern nun doch noch
kamen … Laut sagte er: „Na gut, dann geh' ich alleine. Wenn wir
dort übernachten müssen, können wir dich ja immer noch holen.”
Anne schwieg und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Jules sprang
die Treppen hinunter. Als er auf die Straße hinaustrat, kam ihm zuerst alles ganz ver ändert und fremd vor. Er konnte sich dieses Gefühl nicht gleich er klären, aber dann ging ihm auf: Die Straßenbeleuchtung war erlo schen, und jetzt war es wirklich Nacht geworden. Jules, der un willkürlich immer geglaubt hatte, die ganze Nacht über sei die Stadt so strahlend hell erleuchtet, und die finsteren Nächte stets für eine Besonderheit ländlicher Gegenden gehalten hatte, blieb einen Augenblick stehen und sah in die Höhe. Der Himmel war wolkig, aber die Wolken waren aufgerissen. Sie trieben schnell, obwohl hier unten gar kein Wind war. Da und dort blinkten zwischen ihnen einzelne Sterne hervor. Jules überkam plötzlich schreckliches Heimweh nach dem Ferienlager. Das Stückchen Himmel dort oben zwischen den dunklen Häusern kam ihm vor wie eine sichtbar gewordene Erinnerung daran. Aber er war kein Junge, der sich lange mit solchen Gefühlen aufhielt. Um sich abzulenken, kam er auf den Gedanken, den ganzen Weg zur Wache zu Fuß zurückzulegen. Nach dem vielen Herumsitzen in der Bahn würde ein kleiner Langlauf ihm guttun. Außerdem war er ohnehin bestrebt, jede Gelegenheit zum Training zu nutzen. Jules lief mitten auf der Fahrbahn. Es war gerade hell genug, um den Weg sicher zu erkennen. Kein Auto be gegnete ihm. Darüber war er insgeheim froh, denn wenn er auch immer behauptete, die Meinung anderer Leute sei ihm gleichgültig, so wäre es ihm doch etwas peinlich gewesen, für verrückt gehalten zu werden. Und das hätten die Autofahrer gewiß getan, wenn sie ihn auf seinem nächtlichen Lauf durch die Stadt beobachtet hätten. Daß er überhaupt lief, war ja schon verrückt genug, aber daß er dazu auch noch die Autostraße und nicht die Bürgersteige oder die neben oder unter den Fahrbahnen herlaufenden Fußgängerstraßen benutzte, wäre wahrscheinlich der Gipfel gewesen. Doch Jules empfand es als sein gutes Recht, jetzt, wo die Straßen wie ausgestorben dalagen, den höchsten und schönsten Teil des Verkehrsnetzes für sich in Anspruch zu nehmen. Er hatte schnell die eigentlichen Wohnviertel verlassen und war bei der ersten Gelegenheit eine der Hochstraßen hinaufgelaufen, die ins
Zentrum führten. Ein paarmal machte er halt, trat an das Geländer und sah hinab in die Tiefe. Er war zwar schwindelfrei, aber es war doch ein erregendes Gefühl, die letzten Stockwerke der Häuser neben sich aufragen zu sehen und die Straßenschluchten unten kaum ahnen zu können. Als er jedoch bei einer dieser kurzen Verschnaufpausen auf einmal die dunklen Baumkronen des Westparks unter sich erblickte und in einiger Entfernung die Fläche des kleinen Sees im matten Mondlicht schwach blinken sah, änderte er seinen Plan. Er bedachte, daß er noch eine gute halbe Stunde für den Weg zur Polizeistation brauchen würde, wenn er auf der Autostraße weiterlief. Ginge er aber quer durch den Park, so wäre er schon in einer Viertelstunde da. Kurz entschlossen stieg er auf einer der schmalen Treppen, die im Notfall die Verbindung bildeten, hinab in die Tiefe. Jules ging jetzt langsam. Tatsächlich hatte er keine besondere Eile, zur Wache zu kommen. Er schlug den Weg durch den Park im Grunde nur ein, weil es ihn reizte, den Park einmal bei Nacht und ganz allein zu erleben. Es ging ihm insgeheim jetzt so, wie es Anne auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause gegangen war: Angst und Beunruhigung vor der Aufklärung ihrer Situation hatten ihn gepackt, wenn er es sich auch nicht eingestehen wollte. Während Anne es aber gar nicht eilig genug haben konnte, nach Hause zu kommen und damit Antwort auf ihre Frage zu bekommen, reagierte Jules genau umgekehrt. Er fürchtete so sehr, etwas Unangenehmes oder gar Schlimmes zu erfahren, daß es ihm angenehmer war, noch eine Zeitlang in Ungewißheit zu sein. Wußte man noch nichts, so war eben noch alles möglich. Aber wer weiß, wie ihnen vielleicht schon bald zumute sein würde! Im Park war es so dunkel, daß es schwer war, auf dem richtigen Weg zu bleiben. Ein paarmal geriet Jules in das taufeuchte Gras, und einmal stand er unversehens auf einem Blumenbeet. Einmal hörte er ein kurzes Rascheln neben sich in den Büschen, und sogleich fielen ihm die Amseln ein, die er im Frühsommer mit seinen Freunden hier beobachtet hatte. Die Amseln, die vor einigen Jahren von der Stadtverwaltung hier angesiedelt worden waren, waren eine große
Attraktion des Westparks. Sonst gab es nur im Zentralpark Singvögel – die anderen Parks beherbergten lediglich Schwäne und Enten –, und aus allen Stadtteilen kamen an den Wochenenden die Leute, um die Amseln singen zu hören. Jules hörte noch ein paarmal ein Rascheln hinter sich. Ihm fiel ein, wie wachsam Vögel sind, und daß sie schon beim kleinsten fremden Geräusch aufmerksam werden. Sein Weg führte ihn jetzt am See vorbei, dessen Ufer an dieser Seite aber so von Schilf und Gebüsch verwachsen war, daß er das Wasser nicht sehen konnte. Er bog in den breiten Hauptweg ein, der wie eine Allee an beiden Seiten mit hohen Bäumen bestanden und asphaltiert war. Plötzlich hatte er ein sonderbares Gefühl. Ihm war, als ginge jemand hinter ihm her, und zwar so, daß dessen Schritte mit seinen eigenen zusammenklangen. Jules war kein Junge, der leicht Angst hatte. Deswegen sagte er sich auch sofort, daß das Einbildung sein müsse. Er blieb stehen und lauschte. Nichts war zu hören. Als er sich umdrehte, war auch nichts zu sehen. Der Widerhall seiner eigenen Schritte mußte ihn getäuscht haben. Er nannte sich einen Dummkopf und ging weiter. Kaum war er aber noch ein Stück gegangen, wurde das gleiche Gefühl so stark in ihm, daß er fast in Panik geriet. Er mußte sich sehr zusammennehmen, um nicht blindlings loszurennen. Wieder blieb er stehen, drehte sich aber gleichzeitig blitzschnell um. Da war ihm, als sähe er unter den Bäumen am Wegrand einen Schatten verschwinden. Er ging ein paar Schritte darauf zu, aber wie sehr er auch seine Augen anstrengte, in der Finsternis war nichts zu erkennen. Alles blieb ruhig und unbewegt. „Ich fange schon an zu spinnen!” sagte er laut zu sich, doch war ihm etwas unbehaglich zumute, als er weiterging, und er war froh, daß der Ausgang des Parks nahe war. Wieder auf der Straße, erreichte er das Haus, wo die Polizei stationiert war, in wenigen Minuten. Zu der geisterhaften Stimmung des Parks, aber auch zu den unerklärlichen Erlebnissen der Nacht schien es zu passen, und Jules war daher nicht besonders überrascht, daß nirgends in dem hohen Gebäude Licht zu sehen war. Die Fenster waren alle dunkel. Der lange und anstrengende Weg hatte Jules
abgelenkt, aber nun fiel die frühere Beunruhigung wieder über ihn her. Ja, eigentlich war es schon keine bloße Beunruhigung mehr, sondern Angst. Vielleicht lag es daran, daß Jules jetzt ganz allein war und mit niemandem sprechen konnte, vielleicht war er auch übermüdet. Jedenfalls, als er in der unbeleuchteten Straße vor dem düsteren Haus stand, fühlte er, wie sich sein Inneres vor Angst und Bangigkeit zusammenkrampfte. Allerdings sagte er sich bald, daß die Fenster der Wache auch nach hinten hinaus gehen konnten. Er betrat den Korridor, knipste das Licht an und lief nach oben. Die Wache war im dritten Stock. Jules klingelte und wartete fünf Minuten lang, dann gab er es auf und verließ das Gebäude. Auf einmal hatte er überhaupt keine Angst mehr. Ich bin ein Esel, daß ich überhaupt hierher gekommen bin, dachte er. Ich hätte mich schlafen legen sollen - Anne hatte ganz recht. Morgen ist auch ein Tag. Morgen werden wir schon sehen, was los ist. Aus einem gewissen Trotz heraus, weil er sich auf dem Hinweg seiner Meinung nach unnötigerweise hatte ängstlich machen lassen, rannte er noch einmal quer durch den Westpark, ohne daß er etwas Verdächtiges bemerkte, fand dann ein abgestelltes kleines Auto und war damit in fünf Minuten zu Hause. Als er das Treppenhaus der 12. Etage betrat, lag Anne auf dem Boden und schlief. Sie hatte sich aus ihren Kleidern ein Lager gemacht und lag nun dort, fest in die bewußte Decke gewickelt, mit ihrem Mantel zugedeckt und das Gesicht in einem Kopfkissen aus Pullovern vergraben. Jules betrachtete sie mit einem gewissen Neid. Dann wickelte er sich in Annes Decke ein, legte sich auf einen Haufen Kleidungsstücke und war im Augenblick eingeschlafen. TRAUM ODER WIRKLICHKEIT ?
Anne schlief gegen Morgen sehr unruhig. Im Halbschlaf merkte sie, daß sie fror. Sie versuchte immer wieder, sich besser zuzudecken, aber es wollte nicht gelingen. Schließlich wachte sie endgültig auf. Im ersten Augenblick war sie verwirrt, aber dann fiel ihr schnell ein, wo sie war und was gestern geschehen war. Sie setzte
sich auf, strich sich das Haar aus dem Gesicht und sah Jules ein
Stück entfernt auf dem Boden liegen und schlafen. Er schnarchte
leise mit offenem Mund. Anne überlegte. Ihr war, als ob sie irgend
etwas Wichtiges vergessen hätte. Ja, richtig! Jules war doch gestern
zur Polizei gegangen! Er hatte sie holen oder wenigstens selbst dort
übernachten wollen, und nun lag er hier, als ob er gar nicht weg
gewesen wäre. Auch in diesem Punkt schien etwas nicht zu
stimmen.
Anne ärgerte sich, daß Jules so ruhig dalag und schlief. Durch die
hochgelegenen kleinen Fenster des Treppenhauses drang helles
Tageslicht. Anne ging hinüber zu ihrem Bruder und rüttelte ihn
kräftig an der Schulter. Jules' Schnarchen brach mit einem
Seufzer ab. Er schreckte hoch.
„Was ist denn los?” brummte er. Dann sah er sich verwundert um. Er
wußte offensichtlich nicht, wo er war. Anne lachte über seine
Verwirrung, wurde aber schnell wieder ungeduldig. „Das will ich
eben von dir wissen, was los ist! Aber du liegst hier und schläfst
und machst dir keine Gedanken!”
„Du hättest mich ruhig noch schlafen lassen können!” sagte Jules,
immer noch nicht ganz wach. Er blickte umher und versuchte
mühsam, die Gedanken in seinem Kopf zu ordnen.
„Wieso, wenn ich doch wach bin?” Anne war ganz verwundert über
dieses Ansinnen. „Außerdem ist mir kalt”, setzte sie hinzu. Ihr kam
nicht in den Sinn, daß sie selbst schon geschlafen hatte, als Jules
noch in der Nacht unterwegs gewesen war. „Also, wie war es denn
nun bei der Polizei? Was haben sie gesagt?”
„Nichts.” Jules stand auf, gähnte, streckte sich und ging mit steifen
Schritten umher.
„Wie?” Anne traute ihren Ohren nicht. „Nun red doch schon end
lich! Irgend etwas müssen sie doch gesagt haben!”
Jules gehörte zu den Menschen, die am frühen Morgen einsilbig
sind und gerne ihre Ruhe haben. Annes Lebhaftigkeit war ihm zu
dieser Tageszeit einfach unerträglich. Außerdem war er immer
noch zu benommen, um sich ihre Lage wieder klar vergegen
wärtigen zu können. „Nun ja, wir müssen eben noch einmal hin.”
„Warum denn?” Anne begriff noch immer nicht. „War etwa gar
niemand da?” „Nein! Hab' ich doch gesagt!”
„Gar nichts hast du gesagt!” Anne wurde wütend. Jules' Phlegma
hätte allerdings auch einen Engel in Ungeduld versetzen können. „Du
bist einfach gemein, daß du einen so zappeln läßt!”
„Jetzt weißt du es aber doch!” Jules ging zum Fenster und erhob
sich auf die Zehenspitzen, um hinauszublicken. Mit einem Schlage
war er hellwach. Auf der Hochstraße, deren höchstgelegenen Teil er
von hier aus sehen konnte, war kein einziges Auto zu sehen. Jules
sah auf seine Armbanduhr. Es war zehn Minuten vor acht. Da die
meisten Angestellten zwischen acht und halb neun mit ihrer
Arbeit begannen, hätte normalerweise der Berufsverkehr jetzt in
vollem Gange sein müssen. So schnell er konnte, stürmte Jules
die Treppe hinunter, sehr zu Annes Verwunderung, die erst
verdutzt stehen blieb, dann aber einfach hinterherrannte. Fast
gleichzeitig kamen beide unten an. Zuerst sagten sie gar nichts, als
sie auf die sonst so belebte Straße blickten. Kein Mensch war zu
sehen, kein Auto fuhr. Das Taxi, das sie gestern abend benutzt
hatten, stand immer noch an genau derselben Stelle am
Straßenrand, wo sie es abgestellt hatten. Nichts rührte sich.
Ringsum herrschte absolute Stille.
„Träume ich oder wach' ich?” fragte Anne nach einer Weile, und es
klang, als sei diese Frage ernst gemeint. „Ich glaube wahrhaftig,
ich träume!” „Wir können doch nicht beide dasselbe träumen!” ant
wortete Jules mit einem Lachen. Tatsächlich war er mindestens
genauso betroffen wie seine Schwester – er zeigte es nur nicht so
deutlich.
„Aber das ist doch nicht möglich! Es können doch nicht auf einmal
alle Leute weg sein.”
„Sie müssen nicht weg sein. Sie können ja auch in ihren Wohnungen
geblieben sein.”
„Ja, aber warum denn? Dafür gibt es doch gar keinen Grund!
Kannst du dir vorstellen, was das bedeuten soll?”
Jules konnte es sich genausowenig vorstellen wie sie. Natürlich war
der Gedanke absurd, daß die Leute jetzt alle in ihren Wohnungen
saßen, aber etwas anderes fiel ihm beim besten Willen nicht ein, höchstens vielleicht der noch absurdere Gedanke, daß sie überhaupt verschwunden waren. Und gerade diese ganz und gar verrückte Vorstellung kam ihm langsam immer wahrscheinlicher vor. „In unserem Haus ist niemand, das ist sicher”, begann er zö gernd. „Ich meine …” „Ich schlage vor, wir klingeln jetzt in der Nachbarschaft, bis einer rauskommt”, unterbrach ihn Anne. „Dann werden wir wohl erfah ren, was los ist.” Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte sie quer über die breite Fahrbahn hinüber zum gegenüberliegenden Haus und betätigte mehrere Klingelknöpfe auf einmal. Jules beobachtete sie gespannt, obgleich er eigentlich schon ein ungutes Gefühl hatte. Im Haus schien sich nichts zu rühren. Anne versuchte die Haustür aufzudrücken, aber sie war offenbar verschlossen. Da lief sie hinüber zum nächsten Haus. Jules versuchte ihr zuzurufen oder ihr Zeichen zu geben, aber erfolglos. Sie achtete überhaupt nicht darauf. Jules seufzte. Wenn Anne jetzt wieder anfing, sich wie ein Baby zu benehmen, würde er selbst kaum noch wissen, was er in dieser sonderbaren Situation unternehmen sollte. Er lief noch einmal nach oben, zog seinen Mantel über, nahm Annes Mantel über den Arm und stürzte wieder nach unten. Trotz aller Eile konnte er seine Schwester zunächst nirgends erblicken. Während er noch überlegte, trat sie aus der Tür des Hauses, an dem er sie zuletzt gesehen hatte, und steuerte schon auf das nächste zu. Jules rannte hinter ihr her und hielt sie am Arm fest. Anne versuchte vergeblich, sich zu befreien. „He du!” sagte er, selbst noch etwas außer Atem. „Was du machst, ist Quatsch. Du siehst doch, daß hier niemand ist. Auf diese Weise kriegen wir nichts heraus.” „Ja, was sollen wir denn machen?” Anne weinte beinahe. „Irgendein Mensch, der uns sagen kann, was los ist, muß doch zu finden sein!” „Das sicher, aber doch nicht hier! Ich meine, wir sollten in einen anderen Stadtteil fahren.” „Wohin denn? Wir haben doch nur in der Weststadt Bekannte.” „Das ist egal. Es geht doch nicht nur darum, daß Papa und Mom und Großmutter und unsere Nachbarn weg sind, sondern … ”
Jules stockte, und Anne sah ihn mit großen, erschrockenen Augen
an. Sie brachte nur noch ein Flüstern heraus: „Du meinst, daß die
Weststadt leer ist?” „Ich glaube schon.”
„Aber wieso denn? Wie kommst du darauf?” Jules fiel es schwer,
seine Gedanken zu ordnen. „Nun ja, erstens einmal, weil wir seit
unserer Ankunft keinem Menschen begegnet sind.”
„Aber es war doch Nacht, als wir kamen! Da ist natürlich niemand
draußen!”
„Das habe ich auch erst gedacht. Aber so sicher bin ich mir jetzt
doch nicht mehr. Irgendwie komisch ist es schon.”
Anne schwieg und überlegte. Sie konnte Jules in diesem Punkt zwar
nicht recht geben, dafür aber schienen ihr das vergebliche
Telefonieren und die vergebliche Klingelei an den Wohnungstüren so
deutliche Beweise, daß ihr graute. Mit einemmal erschien es ihr
ebenso sinnlos wie ihrem Bruder, von Haus zu Haus zu laufen, um
jemanden zu finden. Aber irgendwie mußte sich ihre Lage doch
klären lassen!
„Außerdem”, fuhr Jules fort, „wundere ich mich mehr als über
alles andere darüber, daß bei der Polizei niemand war. Ich meine, ich
habe gehört, daß dort immer jemand ist, zu jeder Tages- und
Nachtzeit.”
Anne wurde plötzlich wieder optimistisch. „Du warst vielleicht auf
der falschen Dienststelle.” Jules wollte einwenden, daß es in der
Weststadt nur diese eine Dienststelle gab, aber Anne ließ ihn nicht
zu Wort kommen. „Weißt du was, Jules?” rief sie und begann
vor Aufregung auf und nieder zu hüpfen. „Bestimmt … Ach, ich
hab' eine ganz tolle Idee!”
Jules hatte eine ziemlich hohe Meinung von Annes Intelligenz, und
zudem hatte er das Gefühl, daß „eine tolle Idee” gerade das war, was
sie jetzt brauchten. Deshalb wurde auch ihm etwas
hoffnungsvoller zumute. „Nun hör schon auf zu hüpfen! Was
für eine Idee hast du denn?”
Anne blieb stehen. „Also, bestimmt… ich glaube sicher… be
stimmt ist etwas ganz Besonderes los, und … ”
„Das habe ich allerdings auch schon bemerkt”, unterbrach Jules
sie etwas sarkastisch. „Wenn das deine ganze Idee ist!”
„Ach, du bist blöd! Ich meine doch, bestimmt ist irgendwo eine
furchtbar wichtige Veranstaltung, der Präsident ist gekommen oder
so etwas, und die Leute sind alle hin. Wir müssen nur noch
rauskriegen, wo hin.” Jules war etwas enttäuscht; er hatte erwartet,
nun wirklich eine Lösung zu hören. Immerhin mußte er zugeben,
daß er im Augenblick auch keine bessere Erklärung hatte.
Trotzdem hatte er seine Zweifel. „Warum denn dann die ganze
Nacht über?”
„Aber das ist doch ganz klar!” Anne war in ihrem Element. „Denk
doch mal dran, wie das ist, wenn bei der Oper die Spielzeit
beginnt, oder wenn ein ganz toller Sportler kommt! Da stehen die
Leute auch manchmal tagelang an, um einen Platz zu bekommen!”
„Ja, aber doch nicht alle!”
„Na also, wenn der Präsident kommt, ist das eben etwas noch viel
Wichtigeres!”
„Warum denn ausgerechnet der Präsident? Du stellst dir das schon
gleich so vor!”
„Na ja, es kann auch sonst jemand schrecklich Bedeutender sein.
Jedenfalls müssen wir jetzt schleunigst ins Zentrum fahren. Da
werden wir schon sehen, was passiert ist.”
Dieser Vorschlag war genau das, was Jules schon die ganze Zeit
über für das Vernünftigste hielt. Er lief noch einmal nach oben, weil
ihm eingefallen war, daß er noch nicht alles Geld eingesteckt hatte.
Annes Gedanke kam ihm recht wahrscheinlich vor. Trotzdem hatte
er das unangenehme Gefühl, als ob dabei irgend etwas nicht recht
stimmte.
Plötzlich fiel es ihm ein: Es war ganz undenkbar, daß die Eltern zu
einer auch noch so wichtigen Veranstaltung gegangen waren, ohne
ihnen Nachricht zu hinterlassen. Er lehnte sich gegen die Wand.
Ihm war etwas schwindelig. Sicherlich hatte er zu wenig geschlafen,
war nun übermüdet und konnte seine Gedanken nicht mehr klar
ordnen. Ihm war zumute wie damals in der Schule, als er zum
erstenmal eine Abschlußklausur nicht geschafft hatte. Es war ein
Kurs für praktisches Rechnen gewesen, den er unbedingt hatte hinter
sich bringen wollen. Die meisten Teilnehmer waren ein oder zwei
Jahre jünger als er. Die erste Aufgabe, an die er sich gewagt hatte,
weil sie so leicht aussah, brachte ihn zur Verzweiflung. Zwar hatte
ihm ein anderer Junge das Endergebnis heimlich zugesteckt, aber es
nützte ihm nichts. Er rechnete und rechnete, und immer wieder kam
eine ganz unmögliche Zahl dabei heraus.
Wie solch eine Aufgabe, die er nicht lösen konnte, so kam ihm
seine jetzige Situation vor. Ihm fiel aber auch ein, daß er den Kurs,
bei dem er so kläglich versagt hatte, ein halbes Jahr später dann doch
geschafft hatte. Freilich hatte er schrecklich dafür büffeln müssen.
„Wenn ich jetzt noch überlege, was wahrscheinlich ist und was
nicht”, sagte er schließlich laut zu sich selbst, „dann bin ich jeden
falls bestimmt auf dem Holzweg. Wahrscheinlich ist nämlich im
Augenblick überhaupt nichts.”
Bei dieser Feststellung fühlte sich Jules sehr erleichtert. Fruchtlose
Grübelei war ohnehin etwas, was er haßte. Ihm war es immer
lieber, etwas zu tun. Und was er jetzt tun wollte, das wußte er. Auf
einmal kam ihm der Gedanke, daß sie ein sonderbares und
aufregendes Abenteuer erlebten, auf das sie vielleicht später
einmal stolz sein würden. Bei diesem Gedanken mußte er über sich
selbst lachen, denn das war eine Vorstellung, die eher Anne
ähnlich gesehen hätte.
Als er die Treppe wieder herunterkam, pfiff er vor sich hin. Er
hörte sofort auf, als er Anne erblickte, die mit erhitztem Gesicht aus
der Telefonkabine trat. Sie sagte kein Wort, und Jules fragte auch
nicht, denn er sah ihr an, daß sie wieder keinen Erfolg gehabt hatte.
„Am besten fahren wir jetzt nicht mit dem Taxi”, schlug er vor, als
sie wieder auf der Straße standen. „Mit der U-Bahn geht es viel
schneller. Wir werden dort auch eher Leute treffen.” Anne folgte
ihm stumm. Sie machte einen so verstörten Eindruck, daß sie
ihm leid tat. Er hätte sie gerne getröstet, aber er wußte nicht, wie er
es anfangen sollte.
Die nächste U-Bahnstation befand sich in der Nachbarstraße. Die
Kinder überquerten den Rasen zwischen den Häusern. Anne achtete
wenig darauf, wohin sie trat. Es war ja doch niemand da, der sie
hätte schelten können, wenn sie die Trittsteine nicht benutzte. An
der Spielstraße hatte jemand ein paar kümmerliche Birken
gepflanzt. Ihr Laub war schon gelb, obwohl es noch nicht spät im
Jahr war. Aber es sah hübsch aus, wie die Sonne darauf schien.
Allerdings bemerkte Jules mit Bedauern, daß eines der Bäumchen
geknickt war. Er blieb stehen.
„Wenn das einer mit Absicht gemacht hat!” sagte er erbost. „Wenn
ich den erwische! Der kann sich freuen!” Anne sah ihn verwundert
an und setzte ihren Weg fort. Jules war wirklich manchmal son
derbar! Da war wer weiß was für eine schreckliche Katastrophe
über sie hereingebrochen, und er regte sich auf wegen eines Bäum
chens! Anne kam sich auf einmal sehr erwachsen vor. Das Gefühl,
so viel klüger zu sein als ihr Bruder, erfüllte sie mit einer gewissen
Befriedigung. Plötzlich wurde sie ärgerlich. „Möchtest du denn gar
nicht wissen, wo ich eben versucht habe anzurufen?” fragte sie.
Jules, der ein paar Schritte zurückgeblieben war, hatte sie nicht
richtig verstanden. „Was sagtest du? Wen soll ich anrufen?”
Er war etwas erschrocken, als Anne sich umdrehte, ihm einen
wütenden Blick zuwarf und vor Ärger mit dem Fuß aufstampfte.
„Du bist unausstehlich! Dich interessiert das alles wohl gar
nicht?”
„Was denn? Ach so!” Jules verstand nachträglich ihre Frage.
„Natürlich interessiert mich das. Aber ich dachte, du wolltest nichts
sagen.” Für gewöhnlich machte es ihm nicht besonders viel aus,
wenn Anne wegen einer harmlosen Kleinigkeit in Zorn geriet; er
lachte sogar manchmal darüber. Aber heute war es ihm aus ir
gendeinem unerfindlichen Grund unangenehm, deshalb hätte er sie
gern besänftigt.
„Außerdem konnte ich dir ja ansehen”, fügte er beschwichtigend
hinzu, „daß du wieder niemand erreicht hattest!”
„Ich habe zwei Polizeistellen im Zentrum angerufen”, schrie Anne
vorwurfsvoll, so als sei Jules an allem schuld, „und das
Fremdenverkehrsamt! Und niemand hat sich gemeldet!”
„Warum denn das Fremdenverkehrsamt?” „Weil die es am ehesten
wissen müssen, wenn irgendeine große Veranstaltung ist, du
Schafskopf! Aber niemand hat sich gemeldet! Am Ende sind sie auch aus dem Zentrum fort, genau wie hier, und wir treffen dort ebenfalls keinen Menschen!” Jules fröstelte ein wenig, obwohl er auch diese Möglichkeit schon ins Auge gefaßt hatte. Trotzdem sagte er: „Das müssen wir erst einmal sehen. Aus diesem Grund fahren wir ja hin.” „Ach du mit deiner Gemütsruhe!” Annes Stimme wurde schrill vor Empörung. „Wenn du nicht gewesen wärest, wäre mir das alles überhaupt nicht passiert! Dann säße ich jetzt friedlich bei Papa und Mom.” „Wieso denn das?” Jules war ehrlich verblüfft. Annes Spitzfindigkeiten zu folgen, war für ihn nicht immer ganz einfach. „Weil du immer ins Ferienlager willst und ich dann deinetwegen mit muß! Ich wäre viel lieber zu Hause geblieben, dann wüßte ich jetzt, was los ist.” „Dann wärest du jetzt jedenfalls bestimmt nicht zu Hause.” Jules war wirklich empört. Anne hatte eine Art, die Dinge auf den Kopf zu stellen, die für einen normalen Menschen wahrhaftig nicht so leicht zu begreifen war. Außerdem stimmte es überhaupt nicht, daß er sie jemals veranlaßt hatte, ins Ferienlager zu gehen. Das waren eher die Lehrer, die so große Stücke auf sie hielten und sie immer wieder dazu überredeten. Die Eltern sahen es gern, wenn sie fuhr, weil sie hofften, daß sie neue Leute kennenlernen und dadurch vielleicht etwas umgänglicher werden würde. Aber niemals würde jemand in der Familie versu chen, Anne zu etwas zu zwingen, das sie wirklich nicht wollte. Deshalb war ihr Vorwurf nicht nur unsinnig, sondern auch un gerecht. Langsam und stumm schlenderten beide der U-Bahnstation zu. Jules war böse über diesen nutzlosen Streit. Er dachte, daß sie zur Zeit wirklich wichtigere Probleme hatten, als sich wegen nichts und wieder nichts herumzuzanken. Anne war bedrückt, weil sie insgeheim wußte, daß sie sich unmöglich benahm, es aber nicht zugeben konnte. Auf einmal erschien ihr dieser Umstand viel wichtiger als ihre äußere Situation, auf die sie ja doch keinen Einfluß hatten.
ALLEIN IN DER STADT
Als sie in dem hellerleuchteten hohen Gewölbe standen und auf die nächste Bahn warteten, die aus den westlichen Vorstädten in Richtung Zentrum fuhr, froren sie beide. Gerade als sie die breite Rolltreppe heruntergekommen waren, war ihnen eine Bahn vor der Nase weggefahren. Beim Betreten des Bahnsteiges konnten sie ge rade noch das Schlußlicht sehen. Jetzt mußten sie zehn Minuten warten. Das war nicht besonders lange, aber es war kalt. Die Bahnsteige konnten zwar von unten her beheizt werden, doch die automatische Heizung schaltete sich erst bei null Grad Celsius ein; diese Temperatur wurde für gewöhnlich nicht vor Oktober erreicht. Im Sommer war es hier unten ange nehm kühl, aber in der Zwischenzeit mußte man eben frieren. Anne wünschte, sie hätte ihren Wollschal bei sich, anstatt ihn im Koffer gelassen zu haben. Sie hüllte sich fester in ihren dünnen Mantel und schimpfte innerlich auf den Geiz der Stadtverwaltung. Endlich kam die Bahn. Sie hielt lautlos. Die Türen schoben sich auseinander, die Kinder stiegen ein, und nach einer kurzen Haltezeit setzte sie sich wieder in Bewegung -Es war schon eine alte Bahn. An den Eingangstüren zu den Abteilen befanden sich geschlitzte Kästchen, ähnlich wie Sparbüchsen, in die man früher sein Fahrgeld gesteckt hatte, als die Stadt noch glaubte, sich den Nulltarif nicht leisten zu können. Damals fuhr die Bahn automatisch erst dann weiter, wenn jeder, der die Plattform betreten, auch bezahlt hatte. Jules war froh, daß die U-Bahn nichts kostete, denn sie hatten nicht mehr allzu viel Geld bei sich und wußten nicht, wie lange sie damit auskommen mußten. Die Kinder ließen sich einander gegenüber an einem der Fenster nieder und blickten nach alter Gewohnheit hin aus, obwohl nichts zu sehen war als Reklame und immer wieder Reklame. Die unsichtbaren Wände des schmalen, hohen Tunnels waren in grellbunten Leuchtfarben beschrieben und bemalt. Plötzlich und drohend tauchten sie aus der Dunkelheit auf, und ebenso plötzlich verschwanden sie wieder. Es war eigentlich
unmöglich, in dieser Schnelligkeit irgend etwas zu lesen, selbst wenn man sich sehr konzentrierte, aber Jules und Anne wußten aus dem Psychologieunterricht, daß die meisten Beeinflussungen unbewußt geschehen und daß ihr Vater deshalb recht hatte, wenn er manchmal lautstark gegen die fortwährende Einkesselung durch Werbung protestierte. Wenn die Kinder mit ihm zusammen in der U-Bahn fuhren, verbot er ihnen sogar, zum Fenster hin auszusehen. Das war erstaunlich bei ihm, denn er war ein sehr sanfter Mensch, der eigentlich nie wütend wurde. Besonders Anne konnte nicht verstehen, was an dem Einfluß der Reklame so schlimm sein sollte. Als Anne noch klein war, hatte sie sich immer gefürchtet, wenn für Bruchteile von Sekunden aus dem Dunkel beispielsweise ein Mann in gelb und blauem Arbeitsanzug auftauchte, mit unnatürlich rosigem Gesicht, der in der Hand ein gefülltes Bierglas schwenkte. Oder wenn plötzlich eine Familie da war mit sonderbar gelben Haaren, krampfhaft lachend und mit Sprechblasen vor dem Mund. Oder wenn eine riesige, bauchige grüne Flasche heranschwebte; ihre Banderole schien hinter ihr herzuflattern. Als sie älter war, hatte sie Spaß daran, wie die Schnelligkeit bewirkte, daß Gegenstände und Figuren wie lebendig aussahen, und sie bemühte sich angestrengt, die Schrift zu erraten. Wenn es ihr gelang, freute sie sich. Doch heute fesselte das gewohnte Spiel sie nicht in gleicher Weise wie sonst. Die Bahn war leer und blieb leer. Alle paar Minuten hielt sie an einem leeren Bahnsteig, die Schiebetüren öffneten sich, niemand stieg ein, sie schlossen sich wieder, und der Zug fuhr weiter. Es herrschte tiefe Stille, die die Kinder in der U-Bahn noch nie erlebt hatten, denn die Abteile waren sonst immer gedrängt voll von Menschen und ihren verschiedenartigen Geräuschen. Diese Stille und das unaufhörliche vergebliche Halten und Öffnen der Türen gaben der roboterhaften Selbsttätigkeit der Bahn etwas Gespenstisches, das sie nie zuvor empfunden hatten. Es war, als sei die Bahn ein lebendes Wesen, in dessen Macht sie sich befanden und von dem sie nicht wissen konnten, was es mit ihnen vorhatte. Eine unbestimmte Angst legte sich wie ein Alpträum immer dichter über sie, so daß sie wie unter
einem Bann dasaßen und nicht zu sprechen und sich nicht zu rühren
wagten.
Nicht nur Anne, auch Jules war lange Zeit außerstande, sich aus
dieser merkwürdigen und qualvollen Stimmung zu lösen. Er regi
strierte kaum, daß sie bereits unter dem Zentrum fuhren, und emp
fand nicht die leiseste Verwunderung darüber, daß auch hier niemand
einstieg oder sich auf den Bahnsteigen zeigte. Er hatte das
Gefühl, als könnte es gar nicht anders sein. Endlich gelang es ihm,
diese Stimmung abzuschütteln. Plötzlich bemerkte er, daß sie auf
dem besten Wege waren, das Zentrum wieder zu verlassen.
Anne saß da und schien mit offenen Augen zu schlafen. Jules stand
auf und zog sie hastig am Arm. „Schnell! Komm, sonst verpassen
wir auch noch die Haltestelle!” Er sprang zur Tür, Anne folgte ihm
taumelnd. Sie war ganz benommen von der Fahrt, die über eine
Stunde gedauert hatte.
Als sie wieder auf dem Bahnsteig standen und das Schlußlicht der
Bahn in dem finsteren Tunnel verschwinden sahen, waren beide wie
aus einem bösen Traum erwacht. Sie hatten nur noch den Wunsch,
schnell weg und hinauf ins Freie zu gelangen.
„Ich möchte eigentlich wissen, warum wir ausgerechnet hier aus
gestiegen sind”, sagte Anne, als sie auf die Rolltreppen zugingen. Die
Frage klang mehr vergnügt als spöttisch, doch Jules lachte etwas
verlegen. „Ich weiß auch nicht. Weil es uns nicht eher einfiel,
vermute ich. Außerdem können wir ja auch wieder ein paar
Stationen zurückfahren.”
„Nein danke!” sagte Anne. „Ich hab' genug vom Fahren, mir ist
jetzt jede Gegend recht.”
So ganz abwegig war Jules' Gedanke aber nicht. Das sahen sie, als
sie oben angelangt waren. Denn sie befanden sich nicht nur in einer
ihnen völlig fremden Gegend, sondern auch in ganz besonders
grauen, häßlichen und unfreundlichen Straßen, wie sie sie noch gar
nicht kannten und deren Existenz sie in ihrer Stadt nie vermutet
hatten. Es waren offensichtlich Wohnstraßen, die vor fast
hundert Jahren angelegt worden waren. Alles war entsetzlich
verwahrlost. Die Fahrbahnen waren bräunlichgrau von Schmutz, die
Bürgersteige voller Müll und Unrat; Jules und Anne wußten gar nicht, wohin sie treten sollten. Selbst die Blätter der Bäume links und rechts des Weges, auf dem sie gingen – Jules erkannte, daß es Linden waren –, waren dick bedeckt mit Staub. Die nur wenige Stockwerke hohen, aber sehr breiten Wohnblocks hatten eine undefinierbare Farbe. Der Verputz war an vielen Stellen abge blättert. Die Reklamebilder, wie sie die Häuser aller ärmeren Wohngegenden trugen, waren verblaßt und wohl schon seit Jahren nicht mehr erneuert worden. Die Straßen waren ruhig und leer, wie die Kinder es nun fast nicht mehr anders erwartet hatten. Aber Anne ertappte sich jetzt bei dem Wunsch, daß auch die Häuser menschenleer sein sollten, damit ihnen nicht doch noch jemand begegnete. Wenn wir noch Leute finden, dachte sie, dann hoffentlich nicht gerade hier! In dieser Gegend fürchtete sie, was sie vor kurzem noch brennend ge wünscht hatte, und die Vorstellung, aus einem dieser trostlosen Häuser könnte plötzlich ein Mensch treten, erfüllte sie mit Schrecken. Wie viele verwöhnte und behütete Kinder hielt sie Menschen, die aus irgendwelchen Gründen in Schmutz und Armut lebten, für geborene Kriminelle, von denen nichts Gutes zu erwarten war. Sie erschrak deshalb ein wenig, als Jules vor einem düsteren kleinen Restaurant stehenblieb und interessiert durch die schmierigen Scheiben ins Innere spähte. Der Raum war nur schwach beleuchtet, und es waren eine Theke und die Umrisse von Möbelstücken zu erkennen. Quer über eine der großen Fensterscheiben stand in un geschickten Buchstaben, die schon halb verwischt waren: „Hier wird selbst gekocht!” Und dieser ungewöhnliche Werbespruch war es, der Jules vor allem anzog. „Das dürfen wir uns nicht entgehen lassen!” sagte er begeistert zu Anne. „Stell dir doch bloß vor! Die kochen wirklich noch selbst! Ein richtiges altmodisches Restaurant!” Anne wollte nicht zugeben, daß ihr unbehaglich zumute war und sie diese Gegend so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. „Hier ist es bestimmt schrecklich unhygienisch!” sagte sie deshalb. „Solchen Hunger hab' ich noch nicht, daß ich dafür in so ein
finsteres Loch kriechen müßte.”
Das stimmte nicht. Tatsächlich war sie so hungrig, daß sie sich
schon ganz schwach auf den Beinen fühlte. Wenn doch wenigstens
irgendwo ein Taxi stünde! Aber seit sie ausgestiegen waren, hatten
sie keines gesehen. Im nachhinein fiel ihr auf, daß eine ganz un
gewöhnlich große Menge von Autos am Westbahnhof versammelt
gewesen waren, während sie in der Weststadt selbst nur sehr wenige
gesehen hatten. Irgendwie schien ihr dieser Gedanke wichtig, aber
Jules ließ sie nicht zum Nachdenken kommen.
„Also ich habe jedenfalls solchen Hunger”, stellte er fest. „Du
weißt ja nicht, wann wir wieder Gelegenheit haben, etwas zu es
sen. Oder kennst du dich etwa hier aus?”
„Natürlich nicht. Aber …” Anne verstummte von selbst, ihr war
wirklich ganz elend vor Hunger. Sie fühlte, wie ihre Knie ein
zuknicken drohten, und gab sich einen Ruck.
„Also meinetwegen. Es wird ja sowieso kein Mensch dasein.” Sie biß
sich auf die Lippen. Jetzt hatte sie sich verraten. Aber Jules hatte
gar nicht richtig hingehört, sondern betrat schon den kleinen
dunklen Flur, der ins Innere des Lokals führte. Neben der
Eingangstür hing eine Tafel, die als Speisekarte diente. Jules las
laut vor: „Spaghetti mit Tomatensoße, Wurst mit Ketchup, Ge
kochte Kartoffeln, Maisbrei, Erbsengemüse. – Na, viel Auswahl ha
ben die ja nicht!” stellte er etwas enttäuscht fest.
Die modernen automatischen Restaurants, die die Kinder gewohnt
waren, wurden von ausgesuchten Speisenherstellern beliefert und
hatten normalerweise eine Auswahl von dreißig bis fünfzig
Gerichten. Die Speisefabriken lagen weit im Osten der Stadt und
bedeckten eine große Fläche. Dort wurde Tag und Nacht
gearbeitet. Doch was hergestellt wurde, reichte bei weitem nicht
aus, den ungeheuren Bedarf zu decken, und es wurden darum
ausgefallenere Speisen aus allen Teilen des Landes bezogen,
besonders aus dem Süden, wo die Landwirtschaft in voller Blüte
stand.
„Man kann eben nicht viel machen, wenn man selbst kocht”,
meinte Jules entschuldigend, und kurz entschlossen traten sie ein.
Es ging ein paar Stufen abwärts. Die Luft in dem kleinen, kellerartigen Raum war dumpf und säuerlich. Die gegenüberlie gende Wand wurde fast ganz von der Theke eingenommen. Hinter Glas lagen einige nicht mehr ganz frische Sandwichs. Die Wurst und Käsescheiben krümmten sich vor Trockenheit. Vergeblich sahen sich die Kinder nach einem Automaten um, aus dem sie sich Essen hätten holen können, wie sie es gewohnt waren; nichts dergleichen war zu sehen. „Meinst du, daß hier das Essen direkt ausgegeben wird, über die Theke, wie vor fünfzig Jahren?” fragte Jules zögernd. Er fühlte sich etwas blamiert, weil er durchgesetzt hatte, daß sie hierher gingen. Das war ja ein Witz: Nun waren sie in einem Restaurant, und es gab nichts zu essen. Das einzige Eßbare, an das sie gelangen konnten, waren angetrocknete Weißbrot Scheiben, die in staubigen Körbchen auf den kleinen dunklen Tischen gegenüber der Theke lagen. Sie wirkten nicht sehr appetitanregend. „Vielleicht sehen wir mal in die Küche!” schlug Jules vor. „Wir können uns ja etwas holen und den Leuten dafür Geld hinlegen.” Um hinter die Theke zu gelangen, mußten sie eine niedrige Tür überklettern, die jetzt abgeschlossen war, wahrscheinlich um den Zugang zur Küche zu erschweren. Die Kinder stießen die dahinterliegende, lose hin und her schwingende Tür auf, und ein ekelhafter Geruch von verdorbenen Speisen schlug ihnen entgegen, der Anne fast bis zum Brechen reizte. Auf einem Tisch lagen bläulich verfärbte Stücke rohen Fleisches, auf einem Teller daneben schimmlige gekochte Kartoffeln. In einem Eimer auf dem Fußboden schwammen geschälte rohe Kartoffeln und welke Salatblätter im trüben Wasser. Allerlei Gemüse lag in einer Ecke. Alle Lebensmittel waren entweder unzubereitet oder verdor ben. Es nützte auch nichts, daß Jules in den Kühlschrank blickte. Zwar war er vollgestopft mit allem möglichen, aber Würstchen, Suppen, Gemüse und Kuchenstückchen, alles war steinhart gefroren. Es hätte Stunden gebraucht, um etwas davon in genießbaren Zustand zu versetzen. Wie alle Kinder ihres Alters und übrigens auch die meisten Erwachsenen hatten Jules und Anne zudem keine Ahnung
von der Zubereitung von Speisen. Wie es bei fast allen Familien üblich war, bezogen auch ihre Eltern das Essen fertig zubereitet von der Fabrik und brauchten es dann nur noch zu erhitzen. Gelegentlich gab es zwar auch Leute, die gern selbst kochten, aber das war ein Hobby wie manches andere auch und außerdem sehr teuer. Eine Familie konnte sich diesen Luxus im allgemeinen nicht leisten. „Komm”, sagte Jules, „es hat keinen Zweck hier.” Sie verließen die Küche und standen noch einige Augenblicke vor der Vitrine, in der die Sandwichs lagen, aber sie wußten nicht, wie sie sie öffnen sollten. Die Leute, denen das Lokal gehörte, waren offenbar in großer Eile aufgebrochen. Wie anders war es zu erklären, daß zum Beispiel die wichtige Außentür offen war und die Tür zur Theke abgeschlossen, oder daß gut haltbare Lebensmittel wie Kuchen im Kühlschrank lagen, während das Fleisch auf dem Tisch verdarb? Die Leute mußten sehr verwirrt gewesen sein, als sie das Haus verließen. Anne kletterte als erste über die Tür, ging zu einem der kleinen Tische und begann, von dem Brot zu essen. Es schmeckte nicht recht, war aber doch besser als nichts. Jules tat es ihr nach. Dann legten sie jeder ein kleines Geldstück auf den Tisch und gingen. Sie waren beide sehr niedergeschlagen. Besonders Jules empfand den Aufenthalt in diesem schäbigen Restaurant wie eine Niederlage. Es beschämte ihn, daß sie so hilflos waren, sobald ihnen einmal ausnahmsweise kein Automat zur Verfügung stand. Wenn alles wieder in Ordnung ist, mache ich vielleicht doch einmal einen Kochkurs mit, dachte er. Man weiß doch nie, wie man so etwas brauchen kann. Doch hatte er das dunkle Gefühl, daß es unzählige unvorhersehbare Situationen geben könnte, wo Kenntnisse und Fertigkeiten nötig wären, die er nicht hatte. Das war ein ungewohntes und unangenehmes Gefühl. Anne überlegte, wieviel besser es wäre, wenn die Besitzer des Lokals noch dagewesen wären. Vielleicht hätten sie ihr nicht gefallen, aber bestimmt hätten sie von ihnen Essen bekommen. Manchmal braucht man einfach andere Menschen, dachte sie etwas verwundert. Das war ein Gedanke, den sie noch nie gehabt hatte.
Immerhin hatte das wenige Brot sie so weit gekräftigt, daß sie
ohne Mühe noch einmal ziemlich weit laufen konnten. Doch die
Häuserreihen blieben immer die gleichen. Manchmal schien es
Jules, als seien sie an eine Stelle gelangt, wo sie vorher schon
einmal gewesen waren. Wenn er auch jedesmal gleich merkte, daß er
sich getäuscht hatte, so wünschte er doch immer dringender, endlich
in bekanntere Gegenden zu kommen. Auch fürchtete er, Anne
könnte wieder anfangen, sich aufzuregen, wenn es noch lange so
weiterging. Aber Anne lief ruhig neben ihm her, ohne eine Spur
von Ängstlichkeit in ihrem blassen Gesicht, an jeder Straßenecke
genau wie er gespannt um sich blickend.
Plötzlich schrien sie beide gleichzeitig laut auf vor Freude. Etwa
hundert Meter vor ihnen wurde zwischen den Häusern eine
charakteristische schwarzgraue Mauer sichtbar, hinter der die
Spitzen hoher Fichten emporragten. „Der Wald! Der Wald!” Wie
auf Verabredung rannten beide auf die Mauer los.
Der sogenannte „Wald” war eigentlich gar kein Wald, aber er
wurde so bezeichnet, weil dort einmal ein richtiger Wald gewesen
war und sich noch lange mitten in der Stadt erhalten hatte. Jetzt war
er ein Vergnügungspark für Kinder und Erwachsene und eine der
Sehenswürdigkeiten der Stadt. Selbst die Leute, die vor zwanzig
Jahren gegen die „Verschandelung” des Waldes protestiert hatten,
mußten zugeben, daß er ein erstklassiger Vergnügungspark
geworden war, wenn sie auch immer noch behaupteten, daß ein
richtiger Wald durch nichts zu ersetzen sei.
Die Kinder kannten den „Wald” sehr gut, sie waren schon oft
dort gewesen. Aber sie hatten sich ihm noch nie von der Rück
seite genähert, so daß sie jetzt beide vom unerwarteten Anblick
der Mauer überrascht waren. Ihre Erleichterung war grenzenlos, daß
sie nun endlich wieder wußten, wo sie sich befanden. „Wir müssen
unheimlich weit gelaufen sein”, sagte Jules, als sie keuchend
angelangt waren und begannen, an der Mauer entlangzugehen. „Es
liegen ja mindestens vier U-Bahnhaltestellen zwischen dem
Bahnhof Wald und dem, wo wir ausgestiegen sind.”
„Wir sind eben sportlich!” stellte Anne befriedigt fest und steckte
die Hände in die Taschen. „Jules!” schrie sie auf einmal und begann sogleich wieder zu rennen. „Dort drüben steht ein Taxi!” Tatsächlich! Hinter der nächsten Mauerbiegung stand ein Auto. Jules rannte hinter Anne her, die sich in ihrer Freude schon ans Steuer gesetzt hatte. „Ich dachte schon, die Dinger sind ausgestorben”, sagte Jules lachend. Sie fuhren los und erreichten in wenigen Minuten den riesigen Platz, an dessen östlicher Seite das Hauptportal des „Waldes” lag. Er wirkte in seiner Größe noch ungeheuerlicher als sonst, da ihn immer Leben und Bewegung er füllt hatten. Kein Mensch und kaum ein Auto waren jetzt zu se hen, nichts rührte sich. Doch Jules und Anne waren in den letzten zwölf Stunden so oft erschrocken und hatten sich so viel gewundert, daß sie nun die Verlassenheit des Platzes kaum be achteten. Anne hatte Spaß daran, wie eine blasierte Erwachsene im Bogen vor eines der feinsten Restaurants der Stadt zu fahren und dort zu halten. Sie fuhr wirklich ausgezeichnet, das mußte man zugeben. Die Kinder sprangen aus dem Wagen und traten ein.
IM ZENTRUM
Jules wußte schon, was er essen wollte. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, wenn er nur daran dachte. Er hatte einen un bändigen Hunger. Es war zwar etwas ungewöhnlich für ihn, zu Mittag Putenbraten mit Klößen zu essen, aber dafür hatte er ja auch kein Frühstück gehabt. Anne brütete noch immer unentschlossen über der Speisekarte, während er schon mit einem Geldstück einen der Automaten in Betrieb gesetzt hatte und durch die unzer brechliche Scheibe die Zubereitung seines Essens beobachtete. Dieser Anblick faszinierte Jules immer wieder, denn er war eher eine Seltenheit für ihn, weil den Eltern ein solches Restaurant meist zu teuer war. Der Unterschied zu anderen Restaurants bestand darin, daß die Speisen hier in den Automaten nicht einfach bloß erhitzt, sondern wenigstens zu einem Teil frisch zubereitet wurden. Der Einwurf des Geldstückes löste in einem bestimmten Fach ein
ganzes Programm maschineller Bewegungen aus, und so sah Jules mit Vergnügen, wie silbern glänzende metallene Greifhände die halbgaren Klöße in kochendes Wasser legten, wie ein selbsttätiger Quirl die Soße vorsichtig umrührte und eine Zange den Braten auf dem Rost wendete. Anne hatte sich gerade für ein Omelett mit Kirschen entschieden, als Jules' Automat klingelte, das Fach sich öffnete und der wohl gefüllte Teller sich ihm auf einer Platte entgegenschob. Er setzte sich an eines der kleinen hohen Tischchen mitten im Raum, begann zu essen und beobachtete schadenfroh Anne, die mit rasch wachsender Ungeduld vor ihrem Automaten stand und wartete. „Das dauert ja ewig!” behauptete sie und warf einen bösen Blick zu ihrem Bruder hinüber, als dieser lachte. „Lach doch nicht so blöd! Du hast ja zu essen!” „Könntest du auch haben, wenn du nicht so lange überlegt hättest”, entgegnete er friedlich mit vollem Mund. Doch als er hinuntergeschluckt hatte, fügte er hinzu: „Aber du kannst dich eben nie entscheiden.” Annes Unentschlossenheit, die Jules oft ärgerte, war ein häufiger Streitpunkt zwischen ihnen. Anne wollte auffahren, aber da klingelte es wieder, und der ge schwisterliche Frieden war für diesmal gerettet. Anne zog sich mit ihrem Teller in eine der dunkelrot gepolsterten Seitennischen zurück, wo es eigentlich nur erlaubt war zu trinken, und widmete sich hingebungsvoll ihrer Mahlzeit. Als Jules fertig war und Teller und Besteck in der Spülmaschine untergebracht hatte, setzte er sich ihr gegenüber, legte die Ellbogen auf den Tisch und sah ihr aufmerksam zu. Nach einer Weile begann Anne sich zu ärgern. „Was starrst du mich so an? Ist etwas komisch an mir?” „Komisch würde ich nicht gerade sagen”, entgegnete Jules grinsend, „aber du siehst so harmlos und gemütlich aus, wenn du ißt.” „Und du siehst so scharfsinnig aus, wenn du einen so beobachtest, wie man es nicht für möglich halten sollte!” erwiderte Anne rasch, und im selben Augenblick tat es ihr leid. Jules hatte einen Scherz gemacht, aber sie hatte mit Kanonen nach Spatzen geschossen und etwas gesagt, was ihn kränken mußte. Jules' trotz seines Fleißes nur
mittelmäßige Leistungen in der Schule waren nicht nur für die
Eltern, sondern auch für ihn selbst ein wunder Punkt, besonders
auch, weil die Mutter ihn schon mehrmals zu Intelligenztests
mitgenommen hatte, deren Ergebnis er dann nie erfuhr.
Jules lachte nicht mehr, aber sonst ließ er sich nichts anmerken. Er
fuhr mit der Hand in die Hosentasche und begann, sein Geld zu
zählen. Dann zählte er noch das im Mantel und machte ein ernstes
Gesicht. „Meinst du, wir haben nicht genug?” fragte Anne, die
froh war, einen neuen Gesprächsstoff zu haben. „Wir werden doch
nicht viel brauchen.”
„Da bin ich nicht so sicher. Ich bin doch ein Schafskopf! In der U-
Bahn habe ich daran gedacht, daß wir uns vorsehen müssen, und
vorhin hab' ich es ganz und gar vergessen!”
„Ja, meinst du denn, es wird lange dauern, daß wir hier allein sind?”
fragte Anne ängstlich. „Die Leute können doch nicht verschwunden
sein – wir müssen sie bloß finden!”
„Ja, und bis wir sie finden und vor allem jemand finden, der uns
helfen kann, müssen wir mit dem Geld rechnen. Ich habe auch
keine Ahnung, wie lange es dauert, aber wir haben nicht viel.”
„Ich hab' aber keine Lust, dauernd mit der U-Bahn zu fahren, bloß
weil wir sparen müssen!” Annes Stimme klang weinerlich.
Jules schwieg. Auch ihm war die einsame Fahrt in der U-Bahn in
irgendwie schauerlicher Erinnerung. Aber was war daran nur so
schlimm gewesen? Natürlich würden sie wieder mit der U-Bahn
fahren. Sie waren doch keine kleinen Kinder, die sich vor
Gespenstern fürchteten! „Jedenfalls können wir nicht zu Fuß
durch die Stadt gehen und Leute suchen, das weißt du wohl!” sagte
er entschlossen.
„Nein, natürlich nicht!” Anne schob bedrückt ihren Teller von sich.
Plötzlich leuchteten ihre Augen auf. „Weißt du was, Jules?” rief sie
aufgeregt.
„Ach, du hast wohl wieder so einen Einfall wie mit dem
Präsidenten!”
Anne hörte gar nicht hin. „Ist dir nicht auch aufgefallen, daß am
Westbahnhof so viele Taxis standen und in der Stadt nur ganz
wenige?”
Jules überlegte zögernd. „Ja, schon. Aber ich weiß nicht, was daran
aufregend sein soll.”
„Aber das ist doch klar! Die Leute sind alle mit dem Taxi zum
Bahnhof gefahren, deshalb gibt es keine in der Stadt.” „Aha!” Jules
begriff immer noch nicht. „Aber so werden die Taxis doch auch
sonst verwendet!” „Ja, aber der Witz ist doch” – Anne wurde lang
sam ungeduldig –, „daß die Taxis nur zum Bahnhof gekommen
sind und nicht wieder zurück! Sonst gleicht sich das doch immer
wieder aus. Das heißt also, daß eine Menge Leute aus der Weststadt
mit dem Zug weggefahren sind, daß danach aber niemand oder
kaum jemand mehr angekommen ist.”
„Ach so!” Jules dachte nach. Annes Beweisführung war durchaus
einleuchtend. Demnach konnten also zumindest die Bewohner der
Weststadt sich nicht irgendwo in der Stadt, sondern mußten sich
in den Außenbezirken befinden. Aber Anne widersprach, als er
diese Vermutung äußerte.
„Sie können ja auch zum Hauptbahnhof oder zu einem anderen
Bahnhof gefahren sein. Allerdings glaube ich auch eher, daß du
recht hast.” Sie schwieg eine Weile. „Jedenfalls wissen wir jetzt mit
Sicherheit, daß sie mit dem Zug weggefahren sind.”
„Ehrlich gesagt, habe ich auch nicht gedacht, daß sie vom Erd
boden verschluckt sind”, bemerkte Jules ironisch.
Anne schnaubte verächtlich. „Quatsch! Und weißt du, was wir jetzt
nur noch machen müssen? Wir fahren zu jedem Bahnhof in der Stadt
und gucken, ob es dort mit den Taxis genauso ist! Dann wissen wir,
ob es überhaupt Zweck hat, in dem Stadtteil nach Leuten zu suchen
oder nicht, und wir brauchen nicht die ganze Stadt zu durchsuchen.”
Jules mußte zugeben, daß Annes Gedanke gut war. Freilich hatte er
keine besondere Lust, sich jetzt gleich wieder aufzumachen. Hier
in diesem gemütlichen Restaurant, wo der Zutritt für Kinder ohne
die Begleitung Erwachsener eigentlich verboten war, wollte er gern
noch eine Zeitlang bleiben. Er bückte sich und zog seine Schuhe
aus.
„Der Tag ist noch lang genug, wir können auch später noch zum
Bahnhofgehen.”
Anne sah ihn erstaunt an. „Was hast du denn vor?” fragte sie.
„Außerdem müssen wir ja noch zu mehreren Bahnhöfen!”
„Ich will mich jetzt erst einmal ausruhen.” Jules war wirklich
müde. Im Gegensatz zu Anne schlief er gern und viel. Nach der un
ruhigen Nacht bildete die weichgepolsterte Bank, auf der er saß, eine
unwiderstehliche Versuchung für ihn.
„Ja, ist dir denn auf einmal alles egal? Beunruhigst du dich denn
gar nicht? Also, ich kann es jedenfalls nicht mehr aushaken, bis ich
Bescheid weiß.” „Ach, ich hab' mich so viel beunruhigt, daß ich
jetzt einfach fertig damit bin. Wir können uns doch nicht deswegen
verrückt machen! Im Grunde können wir nichts weiter tun, als
darauf warten, daß wieder Leute auftauchen.” Damit streckte er
sich lang auf seiner Bank aus. „Na gut, dann gehe ich eben allein
zum Bahnhof!” Anne hoffte, daß dieser Vorschlag Jules veranlassen
würde, es sich anders zu überlegen. „Du willst ja doch nur deine
Ruhe haben”, fügte sie empört hinzu. Jules machte keine Miene, ihr
zu widersprechen. „Meinetwegen. Zum Zentralbahnhof ist es ja
nicht weit.” Als Anne sah, wie ihr Bruder sich behaglich auf die Seite
drehte, blieb sie ratlos eine Weile am Tisch sitzen. Sie wußte nicht,
was sie nun anfangen sollte. Schließlich erschien es ihr doch als das
Beste, ihren zunächst gar nicht ernst gemeinten Vorschlag wahr zu
machen. Mit einem erbitterten Blick auf den friedlich
schlummernden Jules verließ sie möglichst geräuschvoll das Lokal.
Auf dem großen freien Platz blieb sie unschlüssig stehen. Sollte sie
ein Auto benutzen oder nicht? Jules' Bedenken wegen des Geldes
hatten doch einen gewissen Eindruck auf sie gemacht. Da fiel ihr
Blick zufällig auf das gegenüberliegende Hauptportal des „Waldes”,
und sofort fiel ihr ein, wie herrlich es wäre, jetzt allein dort herum
zustreifen. Tatsächlich war auch Anne zu diesem Zeitpunkt nicht
mehr fähig, die fieberhafte Angst und Aufregung zu empfinden, die
sie gestern abend und noch heute morgen erfüllt hatten. Ihre
Angst hatte sich in gewisser Weise erschöpft, und wenn ihr auch die
Unruhe als ein unbehagliches Gefühl im Magen saß, so hatte sie sich doch schon irgendwie daran gewöhnt. Deshalb war es kein Wunder, daß der Gang zum Hauptbahnhof ihr mit einemmal gar nicht mehr so dringend erschien, wie sie eben noch gedacht hatte. Vergnügt rannte sie quer über den Platz, löste an einem der au tomatischen Schalter eine Eintrittskarte und trat durch das unge heuer große eiserne Gittertor, das sich beim Näherkommen quietschend öffnete. Erst als das Tor sich schon wieder hinter ihr geschlossen hatte und sie im düsteren Schatten der alten Ka stanien stand, die die Eingangsallee bildeten, fiel ihr ein, daß sie den „Wald” genausogut auch ohne Karte hätte betreten können. Es waren doch gewiß nicht gerade die Aufsichtsbeamten, die die Besucher des Parks gelegentlich nach ihren Eintrittskarten fragten, allein in der Stadt zurückgeblieben. Aber was hatte sie für Gedanken! Anne schoß das Blut ins Gesicht, denn eine peinigende Erinnerung überkam sie. Sie hatte geglaubt, den Vorfall längst vergessen zu haben. Sie waren beide noch recht klein gewesen, sie sechs und Jules acht Jahre alt, als sie ihren Bruder überredet hatte, einmal ohne Eintrittskarte mit ihr in den „Wald” zu gehen, wie es auch andere Kinder manchmal taten. Jules war erwischt worden, und der Direktor ihrer Schule, dem die Geschichte sofort gemeldet worden war, hatte ihm schwere Vorwürfe gemacht: Gerade von ihm, Jules, hätte er niemals gedacht, daß er so etwas tun würde. Ja, Diebstahl am Besitz der Allgemeinheit sei es, was er gemacht habe. Auch die Eltern waren sehr böse mit Jules gewesen, und was das schlimmste an der Geschichte gewesen war: Sie selbst hatte es trotz aller Ge wissensbisse nicht fertiggebracht einzugestehen, daß sie die ganze Sache angestiftet hatte. Jules hatte auch nichts gesagt, aber eine Zeitlang nicht mehr mit ihr gespielt. Danach war alles wieder wie vorher gewesen, und sie hatte die Sache nach und nach vergessen. Anne dachte beschämt daran, daß Jules auch später immer zu ihr gehalten und sie oft vor größeren Kindern und auch vor Er wachsenen beschützt hatte. Diese Tatsache war ihr eigentlich noch nie so recht zu Bewußtsein gekommen. Es ist gut, daß ich jetzt aus
Gewohnheit eine Karte gelöst habe, dachte sie, sonst hätte ich doch wieder ein schlechtes Gewissen. Die Musikpavillons auf der rechten Seite schienen hastig verlassen worden zu sein. Ein paar Blechblasinstrumente standen noch herum, und auf einem geöffneten Flügel lag ein Berg von Notenblättern. Anne entschied sich für den linken Weg. Es war so still, daß sie den feinen gelben Sand unter ihren Füßen knirschen hörte. Der Weg schlängelte sich zwischen der Mauer und den Teichen hin; ab und zu sah sie durch das dichte Buschwerk hindurch das Wasser blinken. Ihr Ziel war die chinesische Pagode in der Mitte der großen Teiche. Sie konnte sie noch nicht sehen, hörte aber schon das feine, hohe Klingeln ihrer unzähligen Glöckchen. Anne liebte es, am Fuß der Pagode zu sitzen und die Enten zu füttern. Als sie am „Bauernhaus” vorbeikam, einem aus Holz gebauten Re staurant in altertümlichem Stil, das zur Hälfte auf Pfählen ins Wasser gebaut war, lichteten sich die Hecken, und Anne erblickte am gegenüberliegenden Ufer den Turm der Pagode, der sich hell braun und rötlich im Wasser spiegelte. Zu ihrer Freude bemerkte sie, daß an einer Ecke der hölzernen Terrasse des „Bauernhauses” ein Boot angebunden war. Als sie die Terrasse betrat, ertönte plötzlich lautes Gequake, und ein Schwärm bunter Enten, der sich vorher gar nicht gerührt hatte, stürzte, schwamm und flatterte von allen Seiten auf sie zu. Die armen Tiere hatten offensichtlich den ganzen Tag noch nichts zu fressen gehabt, und Anne sah ein, daß sie mit dem wenigen Weißbrot, das sie noch von heute morgen in der Tasche hatte, nicht weit kommen würde. Sie ging erst einmal ins Haus, wechselte Geld und holte sich aus einem Automaten, der Brotscheiben lieferte, eine solche Menge, daß ihre Taschen fast zu platzen drohten. Dann kletterte sie geschickt über das Geländer, ließ sich vorsichtig in das Boot hinab und löste die Ankerkette. Das Geschrei der aufgeregten Enten übertönte das leise Schnurren des Motors. Immer noch mehr von ihnen kamen von entfernteren Teichen herbei, und Anne machte die Zudringlichkeit des hung rigen Federviehs solchen Spaß, daß sie sich von ihnen verfolgen
ließ und erst in der Mitte des Teiches anhielt, um mit der Fütterung zu beginnen. Manche Enten waren so dreist, daß sie auf den Bootsrand flogen, um ja bevorzugt zu werden. Sie verfütterte alles Brot, das sie hatte. Trotzdem wurde sie immer noch verfolgt, als sie weiterfuhr. Als die Tiere merkten, daß es nichts mehr gab, flatterten sie mit empörten Rufen wieder davon, so als hätten sie gar nichts bekommen. Anne mußte lachen, und doch taten sie ihr irgendwie leid. Sie nahm sich vor, sie auf dem Rückweg noch einmal zu füttern. Die frühe Nachmittagssonne brannte auf das Wasser, daß es Anne in ihrem Sommermantel zu warm wurde. Sie zog ihn aus und setzte sich darauf. Er war ziemlich zerknittert, weil sie ihn in der Nacht als Bettzeug benutzt hatte. Es war ihr aber immer noch sehr warm, und so änderte Anne ihren Plan. Was soll ich jetzt an der Pagode sitzen, dachte sie, da bin ich schon oft genug gewesen. Die Enten sind auch gefüttert. Ich fahre lieber in den Schatten. Rechts neben der Pagode führte ein gemauerter Uferweg am Teich entlang, von alten Weiden bestanden, die ihre Zweige ins Wasser hängen ließen. Eine dieser Weiden war besonders groß und prächtig und bog sich ungewöhnlich weit fast waagerecht über den Wasser spiegel. Darunter lenkte Anne ihr Boot und befestigte es an einem Ast, der vom Wasser umspült wurde. Sie mußte sich ducken, um nicht überall anzustoßen. Mit den Schuhen in der Hand, den Mantel über die Schulter geworfen, watete sie vorsichtig an Land und setzte sich aufatmend auf die niedrige Ufermauer, um die Schuhe wieder anzuziehen. Gut, daß der Uferschlamm nicht so tief war, wie sie befürchtet hatte! Das hätte unangenehm werden können. Anne hatte etwas vor, was sie sich ihre ganze Kindheit über gewünscht hatte und was ihr immer wieder streng verboten worden war: Sie wollte auf die große Weide klettern. Sie konnte sehr gut klettern; auf den Kinderspielplätzen des „Waldes” und der Weststadt gab es keinen noch so schwierigen Kletterbaum, den sie nicht bewältigt hatte. Doch der Reiz der Gefahr fehlte dort völlig, denn alle diese Bäume standen in einem großen Sandkasten voll Holzwolle, so daß kein Kind sich verletzen konnte, wenn es hinunterfiel. Alle anderen
Bäume in den Parks oder im „Wald” waren verboten. Doch heute würde niemand sie hindern können! Es war im übrigen lächerlich leicht, die Weide zu besteigen; man mußte nur aufpassen, daß man nicht ausrutschte. Flink wie eine Katze lief Anne den nur sanft ansteigenden Stamm hinauf, sich ab und zu behutsam an den Zweigen festhaltend. Am höchsten, äußersten Punkt saß sie dann rittlings in dem grünen Blättergewirr, blickte über das Wasser und fühlte sich königlich. Jules würde sie beneiden, wenn er wüßte, wo sie war! Eine Dummheit wäre es gewesen, nicht auszunutzen, daß sie den ganzen „Wald” für sich allein haben konnte. Sie vergnügte sich damit, Rindenstückchen und Teile abgestorbener Zweige möglichst weit in den Teich zu werfen. Ob sie wohl Fische sehen konnte, wenn sie scharf aufpaßte? Seit ein paar Jahren versuchte die Stadtverwaltung, in einigen der Teiche Fische verschiedener Art zu halten. Sie rutschte etwas tiefer, legte sich auf den Bauch und schob die Zweige mit beiden Händen wie einen grünen Vorhang auseinander, um das Wasser besser beobachten zu können. Im er sten Augenblick erschrak sie und wäre fast vom Baum gefallen, als sie in dem silbrig glänzenden Wasser ihr Spiegelbild erblickte, das zu ihr hinaufstarrte: ein kleines, mageres Mädchen in buntem Pullover mit unordentlichem braunen Haar und großen grauen Augen in dem blassen Gesicht. Anne legte sich vorsichtig zurecht und sah sich an. Es ist etwas anderes, ob man in den Spiegel sieht, um sich zu kämmen oder sich in einem neuen Kleid zu bewundern, oder ob man sich unversehens selbst gegenübersteht. Anne hatte so wenig mit dem Anblick ihres Spiegelbildes gerechnet, daß sie sich zunächst fast nicht erkannt hatte. Wie fremd sah das Bild im Wasser sie an! Es war ein hübsches Bild, daran war nicht zu zweifeln. Aber je länger sie wie hypnotisiert hinabstarrte, desto mehr wurde ihr mit Verwunderung bewußt, daß die Vorstellung, die sie von sich selbst hatte, von diesem Bild irgendwie verschieden war. Doch sie konnte nicht herausbekommen, wo der Unterschied lag. Lag es daran, daß sie so ungewohnt klein aussah, wie sie sich an den mächtigen Stamm drückte? Anne grübelte und schaute, bis ihr die Hände erlahmten und sie den grünen Vorhang wieder zufallen ließ.
Ihre gute Stimmung war geschwunden, ohne daß sie hätte er klären können, warum. Sie schob sich den Stamm entlang zu rück und war erleichtert, als sie wieder auf dem Boden stand. Ihre Hose war furchtbar schmutzig geworden, aber sie achtete nicht darauf. Sie nahm ihren Mantel von der Mauer, legte ihn sich um die Schultern und schlug den Weg über den Rummelplatz ein. Bei einem der Karussells blieb sie stehen und überlegte, ob sie fahren sollte. Es versprach eine Reise zum Mond, die damals noch aus finanziellen Gründen für viele Menschen ein unerfüllbarer Wunschtraum war. Es war eine recht respektable Anlage von etwa dreißig Meter Länge und zehn Meter Höhe. Knapp über dem Boden schwebte eine naturgetreu nachgebildete kleine Erde mit einer unproportional großen Startrampe für die Rakete, und darüber hing der Mond mit einem Modell seines größten Flughafens „Moon Harbour”, den Anne leider noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Sie verstand ihre Eltern nicht, daß sie nicht für eine Mondreise sparten, was sie erübrigen konnten. Wenn beispielsweise nicht jedes Jahr wieder diese Ferienlager wären! Aber sie hatte keine Lust, jetzt allein in die kleine Rakete zu steigen. Auch die anderen Bahnen und Karussells lockten sie nicht. Wenn doch Jules dabei wäre! Zu zweit war immer alles viel lustiger. Außer den Automaten mit Eßwaren gab es noch ein paar Buden mit Süßigkeiten auf dem Platz, die von Robotern bedient wurden. Als Anne an die eine Bude herantrat, leuchteten die Lämpchen auf, und der Roboter, der aussah wie eine alte Frau mit Jacke und Kopftuch, eilte mit steifen Schritten herbei. „Bitte sehr?” krächzte er mit schnarrender Stimme. „Eine Tüte gebrannte Mandeln!” sagte Anne möglichst deutlich und legte ein paar Geldstücke in die ausgestreckte Hand. Der Roboter lief hin und her, ließ das Geld in einen offenen Kasten fallen, in dem es sofort zu rumpeln begann, drückte ein paar Knöpfe an der Hinterwand der Bude, holte nach einigen Minuten das Gewünschte aus einem Fach und legte es auf die Theke. Anne stand die ganze Zeit still dabei. Sie hatte sich schon so oft mit dem Roboter unterhalten, daß sie jetzt auch dazu keine Lust
mehr hatte. Außerdem war sie sicher, daß sie schon sein ganzes Programm kannte. Sie nahm ihre Tüte und ging. Am Wachsfigurenkabinett blieb sie nochmals stehen. Das war doch etwas anderes als diese langweiligen Roboter, die immer dasselbe sagten und taten! Zwar bewegten sich die Figuren nicht, sie standen nur da, ohne sich zu rühren, dafür aber sahen sie wirklich wie lebendige Menschen aus, die nur plötzlich erstarrt schienen. Anne kannte und liebte sie alle; sie waren wie gute Freunde, auch die finsteren Gestalten unter ihnen. Und sie merkte es sofort, wenn welche fehlten oder neue dazu gekommen waren. Diesmal waren zwei neue dabei: eine zierliche Dame mit hohem, spitzem Hut und langer Schleppe, von der Anne gleich wußte, daß sie ein Edelfräulein aus dem europäischen Mittelalter darstellte, und ein kleiner buckliger Kerl, der in der hintersten Reihe stand und Anne aus blutunterlaufenen Augen böse anzufunkeln schien, so daß es ihr unheimlich wurde und sie sich abwandte. Das unheimliche Gefühl blieb. Sie ging immer schneller und schrak zusammen, als sie hinter einer der Buden ein Geräusch zu vernehmen glaubte. Obwohl sie sich ihrer Ängstlichkeit schämte, begann sie zu rennen, rannte immer schneller und hielt erst inne, als sie das große steinerne Rondell erreicht hatte, wo man Tauben füttern konnte und an normalen Nachmittagen die Luftballons verkauft wurden. Sie atmete auf, beachtete die träge her antrippelnden Tauben gar nicht und wandte sich in Richtung Hauptportal. Es war überhaupt Zeit, daß sie den „Wald” wieder verließ! Jules hatte bestimmt längst ausgeschlafen und würde sicher auf sie warten. Es wurde schon kühler. Die Sonne stand bereits tief und schien ihr auf dem Wege gerade ins Gesicht, aber sie wärmte nicht mehr recht. Als Anne unter den Bäumen war, begann sie zu frösteln und bemerkte auf einmal, daß sie ihren Mantel nicht mehr bei sich hatte. Sie blieb unschlüssig stehen. Verflixt! Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Wo konnte sie ihn nur liegengelassen haben? Anne versuchte vergeblich, sich genau zu erinnern. Hatte sie ihn an der Mondbahn noch gehabt oder an der Bude mit den Süßigkeiten? Insgeheim graute ihr bei dem Ge danken, zurückzugehen und ihn zu suchen. Schließlich ging sie
weiter. Es ist jetzt ohnehin zu spät, entschied sie bei sich. Ich kann
Jules nicht zumuten, noch länger auf mich zu warten. Wir können
morgen zusammen hingehen und ihn holen. Dann können wir
vielleicht auch miteinander die Mondfahrt machen.
Erleichtert trat sie durch das Hauptportal, das sich wieder quiet
schend vor ihr öffnete, und lief quer über den Platz zu dem Re
staurant, wo Jules gewiß auf sie wartete. Doch als sie den schon
dämmrigen Raum betrat, war er zu ihrer Verblüffung leer.
SCHWIERIGKEITEN
Jules hatte fest und gut geschlafen. Als er erwachte und auf die Uhr sah, stellte er mit Verwunderung fest, daß schon über zwei Stunden vergangen waren und Anne noch immer nicht zurück war. Wo mochte sie geblieben sein? Zum Bahnhof hin und zurück konnte sie selbst zu Fuß höchstens eine Stunde brauchen; dabei war es wahrscheinlich, daß sie ein Auto benutzt hatte. Jules war nicht ängstlich. Deshalb kam er auch nicht auf die Idee, daß ihr irgend etwas passiert sein könnte. Aber beunruhigt war er doch. Es war ein Fehler von uns, dachte er, uns zu trennen. Es ist schon schlimm genug, daß wir hier sonst keinen Menschen treffen. Wenn wir uns jetzt auch noch gegenseitig verlieren, ist es ganz aus. Anne war so hilflos und unüberlegt in manchen Dingen. Sie hatte zwar oft gute Ideen, aber trotzdem war immer er es, der entschied, was getan wurde. Sie hatte viel körperlichen Mut und konnte es darin mit jedem Jungen aufnehmen, dafür aber litt sie sehr leicht unter eingebildeten Ängsten und fürchtete sich vor Hirngespinsten. Wenn sie sich vielleicht verirrt hat, dachte Jules, dann ist sie bestimmt schon in Panik! Seine Beunruhigung nahm überhand. Obgleich er sich sagte, daß es viel vernünftiger wäre, wenn wenigstens einer an dem Ort bliebe, wo sie sich zuletzt gesehen hatten, konnte er es nicht mehr aushaken und beschloß, sich auf den Weg zum Bahnhof zu machen. Je länger er ging, desto wahrscheinlicher kam es ihm vor, daß er ihr
begegnen würde. Der Hauptbahnhof lag mitten im Geschäftsviertel; hier gab es unzählige Ablenkungsmöglichkeiten. Glücklicherweise waren die meisten Geschäfte geschlossen, denn wenn Jules auch noch in allen Läden hätte suchen müssen, wäre er wohl kaum jemals fertig geworden. Es war auch so schon schwierig genug. War sie nun die Hauptgeschäftsstraße gegangen, die auch befahren werden durfte, oder hatte sie die darunterliegenden, nicht minder eleganten Tunnelstraßen für Fußgänger benutzt? Nach einigem Nachdenken kam er zu dem Schluß, daß sie sicher nicht nach unten gegangen war. Allein in den Tunnels herumzuwandern, konnte ihr kein angenehmer Gedanke sein. Aber als Jules eine Weile gegangen war, wurde er doch wieder unsicher. Ihm fiel ein, daß das Auto, das sie zuletzt benutzt hatten, eben noch dagewesen war, als er das Restaurant verlassen hatte. Also war Anne doch zu Fuß gegangen. Jules seufzte, und ein unterdrückter Ärger begann sich in ihm zu regen. Anne machte es ihm wirklich nicht leicht! Wer weiß, was sie jetzt tat oder wo sie sich herumtrieb! Immer machte sie gerade das, was ihr im Augenblick einfiel, und er war am Ende für alles verantwortlich, nur weil er der Ältere war. Er verlangsamte seinen Schritt und überlegte, ob er nicht wieder zurückkehren sollte. Aber er war schon fast am Bahnhofsvorplatz angelangt, und als er um die Straßenecke bog, fühlte er sich einen Augenblick wie betäubt. Jeder andere Gedanke in seinem Kopf war wie ausgelöscht von dem Anblick der ungeheuren Menge Taxis, die sich dicht an dicht auf dem riesigen Platz drängten. Alle Autos aus der ganzen Stadt schienen hier versammelt zu sein. Obgleich Jules wußte, daß es nicht so war, konnte er sich doch dieses Eindrucks nicht erwehren. Sein erster Gedanke, als er sich etwas erholt hatte, war: Wenn Anne das gesehen hat, ist sie übergeschnappt! Nein, im Zentrum brauchten sie wahrhaftig nicht nach Menschen zu suchen, das war hoffnungslos überflüssig. Merkwürdigerweise war der hauptsächliche Eindruck, den dieser Anblick auf Jules machte, dieser handgreifliche Beweis einer allgemeinen Auswanderung oder Massenflucht aus der Stadt, nach dem ersten Schrecken eher beruhigend, ja fast belustigend. Der
unverständlichen Situation, in der sich die Kinder befanden, war nun wenigstens ein Teil des Spukhaften genommen: Man konnte ja mit eigenen Augen sehen, daß alles mit rechten Dingen zuging, sogar ein Stück des Weges, den die Einwohnerschaft genommen hatte, ließ sich verfolgen. Nun, wenn sie alle zusammen weggefahren waren, dann würden sie auch alle zusammen wiederkommen. So lange galt es eben zu warten. Jules war entschlossen, sich wegen Dingen, die er doch nicht ändern konnte, keine grauen Haare wachsen zu lassen. Aber wo war Anne? Vielleicht sollte er in das Bahnhofsgebäude gehen und dort nach ihr suchen. Er schickte sich schon an, den Platz zu umgehen, denn es war unmöglich, sich zwischen den eng stehenden Autos durchzuquetschen, da fiel sein Blick auf den ko lossalen, walzenförmigen Bau des Titania-Palastes, und er wandte sich sofort dorthin. Dieses größte und modernste Kino der Stadt hatte eine besondere Anziehungskraft für Anne. Seit sie das vorgeschriebene Alter für Kinobesuche erreicht hatte, nämlich zehn Jahre, sparte sie sich manchmal das letzte Taschengeld ab, um die teuren Vorstellun gen besuchen zu können. Ihr ging es damit allerdings nicht viel anders als den meisten Kindern; auch Jules ging mit Begeisterung dorthin. Die übrigen Lichtspielhäuser der Stadt zeigten damals noch das bewährte plastische Filmbild. Über das einfache zweidimensionale Bild, das am Anfang der Entwicklung des Filmes gestanden hatte, war man natürlich hinaus, aber viel weiter war man doch noch nicht gekommen. Der Besitzer des Titania-Palastes jedoch steckte ein Vermögen in die Verwirklichung einer faszinierenden Idee und zeigte dem entzückten Publikum, was heutzutage möglich war. Während Jules noch auf dem Bahnhofsplatz stand, war ihm, als hörte er ganz leise Musik und Stimmen. Und als er sich dem Ti tania-Palast näherte, wurde dieses Geräusch unbestreitbar immer deutlicher. Offensichtlich hatte man vergessen, die Vorführanlage abzuschalten, und der Film lief immer weiter. Es war mehr als wahr scheinlich, daß sich Anne vor dem erschreckenden Anblick der
vielen Autos in ihr geliebtes „Titania” geflüchtet hatte, um sich dort erst einmal abzulenken. Jules löste eine Eintrittskarte und schlüpfte durch die schmale, lautlos sich öffnende Tür ins Innere. Sofort umfing ihn dumpfe, staubige Luft, die von den schweren dunkelroten Vorhängen, Portieren und Teppichen herrührte, mit denen der gesamte Vorraum ausgekleidet war. Auch in dieser Hinsicht unterschied sich der Titania-Palast von den anderen Kinos, die sich alle bemühten, einen hellen, freundlichen und vor allem hygienischen Eindruck zu machen. Der geschäftstüchtige Besitzer des „Titania” glaubte zu wissen, daß die geheimnisvolle al tertümliche Feierlichkeit der Ausstattung auf seine Kunden viel anziehender wirkte als alle Freundlichkeit der anderen Theater. Und auch hierin gab ihm der Erfolg recht. Jules brauchte eine Weile, bis er sich an das Halbdunkel, das in dem düsteren Raum herrschte, gewöhnt hatte. Dann trat er an einen der Zugänge zum Vorführraum, die von je zwei Robotern, schlanken Herren in dunkler, goldbetreßter Livree, bewacht wurden. Einem von ihnen gab Jules seine Eintrittskarte, worauf beide sich verbeug ten und den schweren roten Vorhang auseinanderzogen, damit der Besucher eintreten konnte. Der Vorhang schloß sich wieder hinter ihm, und augenblicklich befand sich Jules in einer anderen Welt. Herden brauner Pferde galoppierten so nahe an ihm vorüber, daß sie ihn zu streifen schienen. Die Männer auf ihren Rücken waren kräftig und braungebrannt. Sie schwangen ihre Hüte und Lassos und riefen etwas Unverständliches. Eine unendlich weite, gelbgebrannte Steppenlandschaft, auf die die Sonne glühte, erstreckte sich bis zum Horizont. Irgendwo mitten darin stand ein kleines Farmhaus, das sich immer weiter zu entfernen schien. Jules ging langsam in die Landschaft hinein, wobei sie kaum merklich vor ihm zurückwich, und tastete nach einem Platz. Er war überwältigt wie jedesmal im ersten Moment, wenn er diesen Raum betrat. Noch während er sich setzte, wechselte das Bild. Die heißglühende Steppe verschwand, und kühles, grünes Dämmerlicht trat an ihre Stelle. Er war in einem Wald, und in was für einem Wald! Solche Wälder gab es bestimmt auf der
ganzen Welt nicht mehr. Als er vor fast fünf Jahren eine solche Szene zum ersten Mal ge sehen hatte, hatte er versucht, nach dem Gras und den Pflanzen zu greifen, die so dicht vor ihm in der Luft hingen, obwohl er wußte, daß es Täuschung war. Auch jetzt war Jules entzückt, als am Rande des kaum ausgetretenen Pfades, auf dem er einem der tapferen Männer von vorhin durch das Dickicht folgte, eine blaue Glockenblume erschien, auf der eine Biene sich sonnte. Das Mor genlicht, das in Flecken durch die Blätter der Bäume auf den Weg fiel, zitterte auf der Blume, die plötzlich ins Ungeheure vergrößert mitten im Raum stand. Man hörte das zarte Summen der Biene. Jules, der zwar nicht so romantisch veranlagt war wie viele seiner Zeitgenossen, aber doch zu wissen glaubte, was schön war, begriff bei einem solchen Anblick gut, daß Anne manchmal bei einem Spaziergang im Park oder im „Wald” bewundernd ausrief: „Wie schön! Fast wie im Titania!” Es gab mittlerweile eine Filmgesellschaft in der Stadt, die sich fast ausschließlich mit der Herstellung von Filmen für den TitaniaPalast befaßte und nicht schlecht dabei fuhr. Im Gegensatz zu den älteren Unterhaltungsfilmen, wo eine fesselnde Handlung oder vielleicht sogar die Musik die Hauptsache waren, kam es hier vor allem darauf an, großartige oder idyllische Landschaften, Gebäude und Städte zu filmen. Was früher der Rahmen war, war jetzt das eigentliche Thema. Denn die raffinierte und komplizierte Hohlspiegeltechnik, mit der diese Filme vorgeführt wurden, die alles Dargestellte nicht nur ins Überdimensionale vergrößerte und unmittelbar vor den Beschauer hinstellte, sondern zudem noch unterstützt wurde durch die Verwendung von Temperatur unterschieden, Düften und Gerüchen aller Art, gab jedem Kinobesucher das Gefühl, sich mitten in der dargestellten Umgebung zu befinden. Viele Filmproduzenten alter Schule beklagten diese Erfindung, weil sie ihrer Meinung nach den Untergang der Schauspielkunst bedeutete. Das Bild fiel wieder in sich zusammen. Aus dem Fichtenwald traten zwei Männer, um miteinander zu kämpfen. Jules ging nach vorne, wo das Bild für ihn mit einem
Schlag völlig verschwand, drehte sich um und suchte mit den Augen die Sesselreihen ab. Niemand war zu sehen. Sollte Anne doch nicht hier gewesen sein? Er ging durch den ganzen weiten Raum, konnte sie aber nirgends entdecken. Der Film interessierte ihn nicht weiter, so ging er wieder, etwas enttäuscht und verwirrt, da er mit Sicherheit angenommen hatte, sie hier zu treffen. Sollte er noch im Bahnhof nachsehen? Wenn sie nicht hier im „Titania” ist, dann ist sie überhaupt nicht am Bahnhof gewesen! schoß es ihm durch den Kopf. Das vernünftigste war es, sofort zum Restaurant zurückzukehren. Im Dauerlauf mitten auf der Fahrbahn legte er die Strecke bis zu dem großen Platz vor dem „Wald” zurück. Dort angekommen, verlangsamte er sein Tempo, damit Anne nicht denken sollte, er beeile sich ihretwegen so sehr. Denn zu seiner großen Erleichterung sah er sie schon von weitem auf den Stufen vor dem Restaurant sitzen. Sie leckte ein Eis und sah ihm mit bösen Augen entgegen. Im Grunde war sie natürlich genauso froh wie er, daß sie sich wieder getroffen hatten. „Daß man dich auch einmal sieht! Wo bist du denn die ganze Zeit gewesen?” „Dasselbe möchte ich dich fragen”, antwortete Jules streitlustig. „Du hast vielleicht Nerven! Bleibst stundenlang weg und machst dann auch noch ein vorwurfsvolles Gesicht. Das ist vielleicht eine Logik!” „Du warst weg, als ich zurückkam. Glaubst du, es ist schön, wenn man herkommt, und kein Mensch ist da?” „Ich war am Bahnhof und habe dich gesucht. Schließlich hättest du ja längst zurück sein müssen.” Anne schwieg betreten. Jules sah sie prüfend von der Seite an. „Aber du bist überhaupt nicht am Bahnhof gewesen!” setzte er triumphierend hinzu. Anne war erstaunt. „Wie willst du das wissen?” „Weil du sonst im Titania hängengeblieben wärst.” „Im Titania?” Annes Augen leuchteten. „Warst du dort? Sind dort Leute? Was für ein Film läuft denn gerade?” „Leute sind dort natürlich keine, aber sie haben vergessen, den Film abzustellen. Der alte Karl-May-Film läuft, den wir schon so oft gesehen haben.” „Ach, das ist doch ein unglaublich toller Film!” Und Anne begann von den Aufführungen im Titania-Palast zu schwärmen, bis es Jules zuviel wurde. Er unterbrach sie darum
etwas brüsk: „Jedenfalls waren am Bahnhof so viele Taxis, wie ich
noch nie auf einem Haufen beisammen gesehen habe. Hier in der
Innenstadt ist bestimmt niemand mehr.”
Anne verstummte sofort. „Ja, was machen wir denn da?”
„Wir müssen tun, was du selbst vorgeschlagen hast, und auch an den
anderen Bahnhöfen nachsehen. Aber jetzt geht das nicht mehr, es
wird sonst zu spät. Am besten fahren wir sofort nach Hause.”
„Nach Hause? Glaubst du denn, daß die Eltern inzwischen heim
gekommen sind?”
„Das glaube ich nicht. Aber irgendwo müssen wir über Nacht
doch schließlich bleiben. Und außerdem haben wir dort alle un
sere Sachen.” „Na gut. Dann fahren wir aber mit dem Taxi.”
„Kommt gar nicht in Frage! Erstens kostet es Geld, und zweitens
geht es viel zu langsam. Wir nehmen die U-Bahn.”
„Dann fahr alleine!”
Jules schwieg und überlegte. Auch ihm war die lautlose, einsame
Fahrt unter Tage unheimlich gewesen. Aber er dachte nicht daran,
sich von solch kindischen Ängsten bestimmen zu lassen. Doch Anne
versuchte es auf andere Weise.
„Ich weiß überhaupt nicht, was wir zu Hause sollen. In die
Wohnung können wir doch nicht, und ich habe keine Lust, wieder
auf dem Hausflur zu schlafen. Dort ist es kalt, und der Boden ist
hart. Ich finde, wir sollten hier bleiben. Wir können auf den Pol
sterbänken schlafen, und zu essen haben wir auch.”
Dieser Vorschlag war nicht übel. Auch Jules hatte das Übernachten
vor der Wohnungstür nicht gerade als ideal empfunden. Wenn sie
nur ihre Sachen bei sich gehabt hätten! Nachdem er fast zwei Tage
und eine Nacht nicht aus den Kleidern gekommen war, fühlte er
sich verschwitzt und unbehaglich. Er wunderte sich, daß es
Anne nicht genauso ging.
„Wenn wir hier übernachten wollen, brauchen wir unser Gepäck.
Sonst können wir uns wieder nicht ausziehen und nicht zudecken,
denn kalt wird es hier auch, wenn auch nicht so kalt wie in unserem
Flur. Außerdem haben wir kein Waschzeug.”
„Waschen können wir uns auch so, und hier genügt es, wenn wir
uns mit unseren Mänteln zudecken. Ich … ” Anne stockte und
sah ihren Bruder mit einem Blick an, der einen Stein hätte
erweichen können. „Was hast du denn?”
„Ich … Ich habe meinen Mantel ja liegenlassen!” „Deinen Mantel?
Ja, wo denn?”
„Im Wald. Ich bin heute nachmittag im Wald gewesen.” „Aha! Dann
habe ich also doch recht gehabt. Weißt du denn wenigstens noch,
wo du ihn zuletzt hattest?” „Nein, das weiß ich eben nicht mehr.
Wir müßten ihn suchen.” Und sie erzählte ihm, wo sie überall
gewesen war und was sie gemacht hatte. Jules lachte. Er war ihr
nicht böse.
„Da brauch' ich mich ja nicht zu wundern, daß du ewig nicht wie
derkommst. Aber den Mantel können wir jetzt nicht mehr finden, es
ist stockdunkel, bis wir richtig im Wald sind. Da geht kein Weg
mehr dran vorbei – wir müssen unser Gepäck holen.”
„Das ist doch Unfug! Das mach' ich nicht mit! Ich setz' mich doch
jetzt nicht nochmals zwei Stunden in die U-Bahn, um das Zeug zu
holen, das wir gar nicht unbedingt brauchen! Das kannst du alleine
machen.” Noch vor kurzem hätte Jules das auch getan. Aber jetzt
war er fest entschlossen, sich nicht noch einmal von Anne zu
trennen. Er wurde ärgerlich. „Was willst du denn nun eigentlich?
Zu allem, was ich sage, sagst du nein, aber einen vernünftigen
eigenen Vorschlag hast du auch nicht. Alleine fahr' ich nicht, wer
weiß, wo du dann wieder bist, wenn ich zurückkomme. Ich habe es
satt, hinter dir herzurennen!” „Sei doch nicht so eklig! Ich überlege
ja schon. Aber warum sitzen wir eigentlich immer noch hier
draußen?” Während ihrer Unterhaltung war es kühl und dämmerig
geworden. Sie froren schon eine ganze Weile, ohne es recht zu
merken. Als sie das Restaurant betraten, flammte das Licht auf, und
das kalte Büfett begann sich langsam zu drehen. Anne holte sich
ein Stück Torte und aß mit nachdenklicher Miene. Als sie
aufgegessen hatte, war ihr Plan fertig.
„Du kennst doch Renee aus dem vorvorigen Ferienlager, die Stu
dentin, die dort den Schwimmkurs geleitet hat?” Jules erinnerte
sich dunkel an ein hübsches, burschikoses Mädchen, für das alle
Kursteilnehmer heftig geschwärmt hatten. Er selbst hatte an dem
Kurs nicht teilgenommen. „Renee hat mich doch später noch ein
paarmal eingeladen, und ich habe bei ihr übernachtet. Es war ganz
toll. Wir sind ins Schwimmbad gegangen und hinterher ins Titania.
Sie hat eine schicke Wohnung ganz hier in der Nähe.”
„Ja, und? Sie wird doch genausowenig zu Hause sein wie irgend
jemand sonst.”
„Freilich. Aber die Wohnung liegt zu ebener Erde. Wir müßten
eben versuchen, irgendwie reinzukommen.” „Wir können doch
nicht einfach in die Wohnung fremder Leute eindringen!”
„Was heißt denn fremd! Renee würde es uns bestimmt erlauben,
wenn sie es wüßte. Ich werde ihr alles erklären, wenn sie
zurückkommt. Du kennst Renee nicht, sonst würdest du gar keine
Bedenken haben.” Jules war sehr wenig angetan von Annes Vor
schlag. Er fand es einfach nicht richtig, ohne zu fragen, eine fremde
Wohnung zu benutzen. Freilich, fragen konnten sie ja nicht. Wenn
es wenigstens die Wohnung eines Verwandten oder die eines seiner
langjährigen Freunde gewesen wäre! Aber die einer Lehrerin! Denn
das war Renee für Jules. Aber alle bekannten Wohnungen, an die er
sich erinnerte, lagen zwischen dem fünften und einundzwanzigsten
Stock.
Seufzend gab Jules seinen Widerstand auf, als Anne schließlich mit
Bestimmtheit erklärte: „Dann versuche ich es eben allein. Du
kannst meinetwegen machen, was du willst.”
Jules merkte mit Unbehagen, daß er, wollte er vermeiden, daß sie
sich wieder trennten, im Grunde alles tun mußte, was Anne wollte.
Anne aber war sehr erleichtert, denn nicht um alles in der Welt hätte
sie die Nacht allein verbringen wollen. Als sie sah, wie
niedergeschlagen Jules war, fügte sie besänftigend hinzu: „Renee hat
ein sehr hübsches Gästezimmer. Wenn wir nur das benutzen,
kann doch kein Mensch etwas dagegen haben.” Jules mußte zugeben,
daß ein Gästezimmer immerhin ein Argument war. Außerdem,
dachte er, möchte ich sehen, wie wir überhaupt in diese Wohnung
hineinkommen wollen. Es wird doch alles abgeschlossen sein. Anne
zog Jules' Mantel an, den er ihr gutwillig überließ. Dann verließen
sie das Restaurant.
UNTERKUNFT FÜR DIE NACHT
Es war schon Nacht, als sie auf den großen Platz hinaustraten, aber es herrschte keineswegs Dunkelheit. Die fast natürlich wirkende Straßenbeleuchtung, die sich bei einem bestimmten Grad der Dämmerung von selbst einschaltete, war so hell, daß sie das Ta geslicht an einem trüben und wolkigen Tag noch übertraf. Dann unterschied sich paradoxerweise in der Innenstadt die Nacht vom Tage nicht durch ihre Dunkelheit, sondern durch ihre Helligkeit. Nachdem Anne Jules erklärt hatte, wo sich Renees Wohnung be fand, beschlossen sie, zu Fuß zu gehen. Das heißt, Jules be stimmte es so, und Anne gab nach, weil ihr eingefallen war, daß die zwei kleinen Münzen, die sie noch in der Hosentasche hatte, ihr letztes Geld waren. Wenn sie die Fußgängertunnel benutzten, brauchten sie nur etwa eine halbe Stunde zu gehen, denn Renees Wohnung lag im Universitätsviertel, dem einzigen größeren Teil des Zentrums, wo Menschen nicht nur arbeiteten oder ihrem Vergnügen nachgingen, sondern auch wohnten. Das Universitäts viertel war eine kleine Stadt in der Stadt mit eigenen Wohnblocks, Läden, Kinos, Restaurants und natürlich Lehrgebäuden. Anne fand es dort wunderbar. Sie wünschte sich sehr, in einigen Jahren auch dort zu leben, aber Renee hatte einmal zu ihr gesagt, sie fühle sich wie im Ghetto. Eingänge zu den Fußgängertunnels waren an allen vier Seiten des Platzes. Jeweils zehn nebeneinanderlaufende schmale Rolltreppen führten in die Tiefe. Dort unten befand sich noch einmal ein ebensogroßer Platz, von dem ein Labyrinth bunt beleuchteter Straßen ausging, die alle ihren eigenen Namen hatten. Der Platz war mit echten buckligen Steinen gepflastert – ein Luxus, der der Stadtverwaltung nicht enden wollende Vorwürfe eingebracht hatte –, die im gedämpfteren Licht leicht glitzerten. Der Platz war umgeben von Beeten mit künstlichen Blumen, die sogar dufteten und
täuschend echt aussahen. Dazwischen standen weiße Bänke. In der Mitte befand sich ein weites, flaches Becken, mit Mosaik ausgelegt, in dem stets wechselnde Kaskaden von Springbrunnen spielten. Anne war immer wieder begeistert von dem Platz. Im Sommer, wenn die Hitze über der Stadt brütete, saßen viele Leute hier unten und genossen die Kühle. Im Winter aber war hier immer noch Sommer. Anne bewunderte wieder einmal den prächtigen Regenbogen, der hinter der höchsten Fontäne aufschimmerte, und war nicht von der Stelle zu bewegen. „Du hast ihn doch oft genug gesehen!” sagte Jules. „Aber so etwas ist doch immer wieder schön! Weißt du noch, der Regenbogen im Ferienlager, nach dem Gewitter, der war ganz blaß und dünn, und alle Kinder haben ihn angesehen und bestaunt. Was hätten die erst zu dem hier gesagt!” „Na ja, aber es ist doch langweilig, daß man ihn immer sehen kann.” „Ach, du hast ja keinen Sinn für Schönheit!” Jules dachte seuf zend, daß sie vielleicht recht hatte. Dafür aber kannte er sich hier unten sehr gut aus. Das war nötig, denn es gab hier eine Unzahl von Straßen, parallelen und sich kreuzenden, die alle gleich aussahen oder sich wenigstens zum Verwechseln ähnelten. Die Straßenfläche selbst war dreigeteilt: Rechts und links befanden sich betonierte Gehwege, in der Mitte aber war keine Fahrbahn, sondern ein Rollweg, eine sich langsam vorwärtswälzende Bahn, auf der man gehen konnte und gleichzeitig vorangetragen wurde. Die Bahn hatte etwa die Geschwindigkeit eines sehr guten Fußgängers. Wer zu faul zum Gehen war oder nicht gut laufen konnte, hatte die Möglichkeit, sich die Straßen entlang fahren zu lassen. Nur wenn sich zwei Straßen kreuzten, mußte man ein paar Schritte gehen: An einer Kreuzung lief der Rollweg in eine unbewegliche Fläche aus. An der hohen Betondecke hingen bunte Lampen wie Lampions, und das rote, gelbe oder grüne Licht gab den Straßen ein festliches und zugleich lustiges Aussehen. Festlich und bunt wirkten auch die Geschäfte und Restaurants mit ihren glänzenden Schaufenstern zu beiden Seiten. Anne fand alles sehr hübsch hier unten, trotzdem ging sie nur noch selten hierher, nachdem sie sich einmal verlaufen
hatte und von ein paar jungen Männern angesprochen worden war, die ihr irgendwie zwielichtig vorkamen. Jules lachte sie deswegen aus, aber sie ließ sich nicht beirren. Die Kinder hatten es heute eilig, sie waren beide gespannt, ob sie wohl in Renees Wohnung Unterschlupf finden würden. Deshalb blieben sie auf dem Rollweg und kümmerten sich nicht um die Schaufenster, die durch das bunte Licht besonders verführerisch wirkten. Außerdem begann sie wieder das Gefühl ihrer Rat- und Hilflosigkeit zu bedrücken, da sie sich so ungewohnt einsam in den sonst so belebten Tunnels fanden. Jules machte sich dabei mehr Sorgen als Anne, weil er sich als der Ältere für beide verantwortlich fühlte. Aber er hatte keine Angst mehr – sondern seine Besorgnis war auf die praktische Bewältigung ihrer Situation gerichtet. Gerade darüber aber machte Anne sich kaum Gedanken. Diese Seite ihrer Erlebnisse nahm sie besonders jetzt, wo sie vorhatten, in eine fremde Wohnung einzudringen, mehr als amüsantes Abenteuer. Dafür überkamen sie immer wieder Wellen von Angst, gegen die sie vergebens anzukommen versuchte. Sie fürchtete, sie könnten hier in der Stadt allein bleiben. Sie fürchtete, etwas Schreckliches könnte mit der Stadt geschehen, dessentwegen alle geflüchtet waren. Sie fürchtete, Jules könnte sie noch einmal allein lassen. Sie hatte große Angst gehabt, als sie vor dem Restaurant auf Jules gewartet hatte, obwohl sie doch genau wußte, daß er zurückkommen würde. Angst um die Eltern hatte aber auch sie keine mehr. An einem Lebensmittelgeschäft blieb Jules stehen. Sein Magen hatte schon ein paarmal vernehmlich geknurrt, ohne daß er sich darum gekümmert hätte. Angesichts dieser Köstlichkeiten aber konnte er seinen Hunger nicht länger ignorieren. „Ich verstehe nicht, daß du schon wieder ans Essen denkst”, sagte Anne vorwurfsvoll. Sie hatte völlig vergessen, daß sie eben erst gegessen hatte. „Wenn ich Eis und Torte im Magen hätte, hätte ich dort bestimmt auch kein so komisch leeres Gefühl”, erwiderte Jules trocken und musterte das Schaufenster. Es enthielt Obst aller Art, Süßigkeiten, fertig belegte Sandwichs, fertig zubereitete Fleischwaren und Schälchen mit Salaten, alles verlockend glän-
zend. Jules wußte wohl, daß der Glanz auf den Lebensmitteln nicht der natürliche Glanz ihrer Frische war, sondern künstlich aufgespritzt, um sie besonders appetitlich erscheinen zu lassen. Da er aber gleichzeitig wußte, daß dieser Firnis die Speisen auch schützte, ihre Frische erhielt und verhinderte, daß sie fremde Ge rüche annahmen, wurde sein Appetit dadurch nur gesteigert. Auch Anne machte schon wieder begehrliche Augen und murmelte, das wenige, das sie gegessen hätte, sei nicht der Rede wert. Der Laden, vor dem sie standen, wurde wie die meisten Geschäfte in der unterirdischen Stadt ohne Personal, nur von einem Roboter versorgt und war deshalb Tag und Nacht ununterbrochen geöffnet. Der Besitzer kam täglich nur für kurze Zeit mit ein paar An gestellten, um die Regale aufzufüllen. In dem Augenblick, als die Kinder die kleine Plattform mit der Drehtür betraten, schaltete sich im Innern des Ladens eines der Augen des Roboters ein und folgte ihnen wie der Strahl einer Fernsehkamera leise summend bei jedem Schritt. Der Roboter hier war einer derjenigen, wie sie sich in den Ge schäften bewährt hatten und vielfach üblich waren. Kleine Kinder, die sie noch nicht oft gesehen hatten, fürchteten sich manchmal vor ihnen. Er stand wie ein mächtiger stählerner Schrank im Hintergrund des Geschäftes und füllte eine ganze Nische aus. Menschenähnlich war er wohl, aber nicht so wie die freundlichen Damen und Herren aus dem „Wald” oder dem Titania-Palast. Mit seiner weit übermenschlichen Größe und Breite, seinen gewaltigen Armen und Beinen, seinem unproportional großen viereckigen Kopf und den zehn grünen Augen am Kopf und auf der Brust war er ein schreckliches Ungeheuer, das den ganzen Raum beherrschte. Es war durchaus möglich, diese Art Roboter auch als kleine, harmlos aussehende Kästen zu bauen, aber dann waren sie nur halb so brauchbar. Denn immer wieder kam es vor, daß Leute stahlen oder den Roboter zu betrügen versuchten, wobei sie natürlich automatisch erwischt wurden, und das gab für den Geschäftsinhaber endlose Scherereien. Vor dem großen, menschenähnlichen Roboter aber hatte jeder unwillkürlich mehr
Respekt. Jules und Anne nahmen sich einen Einkaufskorb und gingen durch den Laden. Jules wußte sehr genau, was er wollte. Er holte sich ein Paar Würstchen und ein Schälchen Artischockensalat. Anne aber konnte sich nicht entschließen. Sie nahm eine Eßzitrone und legte sie wieder zurück, ebenso ein Sandwich. Schließlich ent schied sie sich für zwei große rote Apfelsinen und eine Tafel Schokolade. „Das soll doch wohl nicht dein Abendbrot sein?” fragte Jules besorgt. „Entweder wirst du nicht satt oder du verdirbst dir den Magen. Warum nimmst du das Sandwich nicht?” „Du hast doch eben noch gesagt, daß ich schon gegessen hätte!” Das stimmte zwar, aber trotzdem schüttelte Jules bedenklich den Kopf. Als sie zum Roboter ging, um ihre Einkäufe berechnen zu lassen, kehrte er noch einmal um und holte einen Mayonnaisesalat. Kaum hatten sie sich getrennt, als sich das zweite Auge des Roboters einschaltete. Der Strahl folgte Jules in jeden Winkel. Anne war schon fertig, sie stand neben dem Roboter und wurde bereits ungeduldig. Nun öffnete auch Jules die große Klappe auf dem Bauch des Ungeheuers, schob nacheinander die restlichen Einkäufe hinein und wartete zwei Minuten. In dem Bauch rumpelte und rumorte es, und als die Klappe von selbst wieder aufsprang, lagen die Sachen darin sorgfältig verpackt und mit einer aufgeklebten Rechnung versehen. Jules nahm sein Päckchen, und die Kinder gingen zum Ausgang, vor dem die Kasse stand. Erst wenn, der Kunde hier Geld und Rechnung eingeworfen und Quittung und Wechselgeld zurückerhalten hatte, öffnete sich die Drehtür wieder nach draußen. Diese Art Läden, die heutzutage in verbesserter Form allgemein üblich sind, waren damals die modernsten, die man in der Stadt finden konnte. Nicht nur Jules und Anne machte es großen Spaß, dort einzukaufen. Tatsächlich aber waren sie schon lange in den großen Städten des Landes gebräuchlich; die Entwicklung in Holmelund hinkte in dieser Beziehung etwas hinterher. Anne wäre gern noch in ein paar andere Geschäfte gegangen, aber Jules drängte zur Eile. „Wenn wir bei Renee nicht rein können, müssen wir doch nach Hause fahren und unsere Sachen holen. Das wird mir zu spät,
ich habe keine Lust, die ganze Nacht mit Sack und Pack nach
einer Unterkunft zu suchen.”
„Wieso denn? Du tust ja gerade, als müßten wir zu einer
bestimmten Zeit im Bett sein. Es ist doch kein Mensch da, der
uns etwas vorschreiben kann!” „Ich brauche niemand, der mir
extra sagt, daß ich müde bin und letzte Nacht schlecht geschlafen
habe.” „Du meine Güte! Ich möchte wissen, wie ich zu so einem
phlegmatischen Bruder komme! Andere würden sich freuen, wenn
sie aufbleiben könnten, solange sie wollen.” „Genau das will ich ja
auch nur.”
Anne fügte sich widerstrebend. Sie war sich völlig sicher, daß sie in
Renees Wohnung hineinkommen würden und sich deshalb nicht zu
beeilen brauchten. Aber sie getraute sich nicht, es Jules zu sagen,
weil sie zu merken glaubte, daß er noch gar nicht fest entschlossen
war, dort zu übernachten. Wenn er vor vollendeten Tatsachen
steht, dachte sie, dann kann er nicht mehr gut zurück. Jetzt würde
er vielleicht noch umkehren.
Auf den Rollwegen kamen sie schnell vorwärts, bis sie auf einen
kleinen, mit Betonplatten belegten Platz gelangten, an dessen einer
Seite eine Art Bühne muschelförmig in die Wand eingelassen war.
Diesen Platz kannte Anne gut; er lag unmittelbar unter dem
Universitätsgelände, und sommers wie winters saßen die Stu
denten an den zahlreichen weißen Tischen, die über den ganzen
Platz verstreut waren, aßen, tranken und diskutierten. Die um
liegenden Restaurants waren ganz auf die Versorgung der Studenten
eingestellt. Auch Anne hatte schon öfter einmal hier zu Mittag
gegessen, wenn sie bei Renee zu Besuch war.
Jules war etwas erstaunt. „Ich hab' immer gedacht, die Studenten
essen in so einer Art Kantine. Mensa heißt das, glaub' ich.”
Anne lachte. Sie war stolz, einmal mehr Erfahrung zu haben als ihr
Bruder. „Das gibt es auch noch. Aber seitdem das Essen in der
Mensa kostenlos ist, essen nur noch die Studenten da, die es nötig
haben oder die sparen wollen.”
„Ißt denn Renee niemals dort?”
„Nie!” versicherte Anne im Brustton der Überzeugung. Einige Jahre
später erfuhr sie, daß Renee fast immer dort gegessen, sich aber geniert hatte, es einzugestehen. Sie sparte alles, was sie erübrigen konnte, um eine kranke Großtante zu unterstützen, denn für alte oder kranke Menschen war das Leben in der Stadt fast uner schwinglich teuer. „Auf der Bühne dort gibt es fast jeden Abend Kabarett oder Kon zerte”, erzählte Anne. „Manchmal machen die Studenten das sogar selbst.” Sie fuhren auf einer Rolltreppe empor und standen nun mitten auf dem strahlend hell erleuchteten Universitätsplatz, der umgeben war von den Blocks mit Studentenwohnungen, die schmal und dunkel wie Türme in die Höhe ragten. Es waren die schlanksten und höchsten Häuser der Stadt. Der niedrige Hügel, auf dem sie standen, wurde deshalb scherzhaft „das Nadelkissen” genannt. Jetzt war es Anne, die sich auskannte. Ohne zu zögern bog sie in einen der völlig gleich aussehenden schmalen Gehwege ein, die sich zwischen den Häusern schlängelten. Jules folgte ihr um ein paar Ecken, und schon standen sie vor dem gesuchten Haus. Die Haustür und die großen, niedrigen Fenster der Wohnung im Erdgeschoß waren fest verschlossen, sehr zu Jules' Erleichterung. Sofort aber schalt er sich insgeheim einen Dummkopf, daß er eingewilligt hatte, den Weg hierher zu machen, obwohl er doch wußte, daß es sinnlos war. Wer ließ denn schon seine Wohnung offen! „Vielleicht könnten wir auch in der Mensa übernachten”, über legte er. Aber Anne lachte. „Ach was! Wir übernachten hier. Halt mal!” Sie drückte Jules ihre Einkäufe in die Hand, kletterte auf eines der breiten Fensterbretter und stellte sich aufrecht darauf. So konnte sie das kleine Lüftungsfenster erreichen, das sich in etwa zwei Meter Höhe zwischen Tür und Fenster befand und gekippt war. Als sie ihre Hand vorsichtig in den Spalt schob, erwachte Jules aus seiner Verblüffung. „Was machst du denn da? Willst du einbrechen?” Er wußte mit einemmal ganz genau, daß er auf gar keinen Fall in diese fremde Wohnung hinein wollte. Allerdings wagte er auch nicht, Anne mit Gewalt daran zu hindern; er fürchtete, sie könnte stürzen.
Annes Herz klopfte heftig. Sie hatte schon vorausgesehen, daß
Jules protestieren würde. Trotzdem ließ sie sich nicht stören. Be
hutsam öffnete sie das Fenster ganz, hangelte sich dann hoch und
schob sich durch die Öffnung, die gerade breit genug war, um ein so
dünnes und gelenkiges Wesen wie sie durchzulassen.
Im Innern war es stockdunkel. Gut, daß sie sich auskannte! Sonst
hätte sie böse fallen können. Sie tastete nach der Wäschestange,
die links an der Wand befestigt war, ergriff sie und zog sich vor
sichtig ganz in den Raum. Und dann stand sie in der Badewanne.
Jules sah seine Schwester verschwinden, und in seinem Kopf
jagten sich die Gedanken. Wie hatte er nur so dumm sein kön
nen! Anne hatte von Anfang an ganz genau gewußt, wie sie in
Renees Wohnung gelangen würde, und hatte ihn mit Absicht im
unklaren gelassen. Dieses Biest! Sie hatte ihn regelrecht übers Ohr
gehauen. Aber im Grunde war alles seine eigene Schuld. Wenn er
nicht hierher wollte, hätte er sich von vornherein gar nicht darauf
einlassen dürfen.
Drinnen ging das Licht an. Das große Fenster, vor dem Jules stand,
wurde geöffnet, und Anne erschien. Ihre Augen funkelten
triumphierend. Ohne Zweifel erwartete sie eine gehörige Straf
predigt von ihrem Bruder und stellte sich schon innerlich darauf
ein. Aber Jules war so geschlagen, so völlig am Ende seiner
Weisheit, daß er, ohne ein Wort zu sagen, durch das Fenster stieg
und sich in den erstbesten Sessel sinken ließ.
Anne hatte diese Fügsamkeit so wenig erwartet, daß auch ihr
ganz betreten zumute wurde. Sie schloß das Fenster wieder und
sagte: „Hier können wir nicht bleiben, das Gästezimmer ist ne
benan.” Und mit noch kläglicherer Stimme fügte sie hinzu: „Wir
müssen aber erst ins Badezimmer. Das Fenster muß wieder einge
hängt werden, es hängt nur noch an einem Zapfen.”
Jules folgte Anne in den hübschen, rot gekachelten Baderaum und
brachte die Luke, durch die sie eingestiegen war, wieder in Ord
nung. Eigentlich eine sehr sportliche Leistung, dachte er. So leicht
kann ihr das keiner nachmachen.
Als er sich umdrehte, saß Anne auf dem WC-Deckel und zog
Schuhe und Strümpfe aus. Jetzt erst sah er, daß ihre Beine bis zu
den Knien naß waren, und fand die Sprache wieder. „Wie kommt
denn das?” fragte er und hatte Mühe, nicht zu lachen. Eigentlich
war er doch böse. „In der Badewanne war noch Wasser.” Anne
war den Tränen nahe. Wenn Jules im Ernst zornig war, machte
auch ihr die ganze Sache keinen Spaß mehr. Aber als er nun auch
noch Annes jammervolles Gesicht sah, konnte Jules sich nicht
mehr beherrschen und lachte laut heraus. „Das geschieht dir recht!”
Anne war ungemein erleichtert, daß Jules wieder lachte, und fing
sofort an zu schimpfen. „Du bist ein sturer, dickköpfiger,
moralinsaurer Pedant! Du hättest es ja sagen können, wenn du
nicht hierher wolltest!” „Ich habe es ja gesagt! Aber nun hör auf,
Anne, es ist doch jetzt egal. Daß du mich gewaltig reingelegt
hast, wirst du ja wohl zugeben.”
Anne lachte nun auch. „Aber sag mal”, fuhr Jules fort, während
sie in das Gästezimmer gingen, „wieso warst du dir denn so sicher,
daß du durch das Fenster könntest? Du kannst es doch nicht
vorher ausprobiert haben!” „Freilich habe ich das!” versicherte
Anne. „Als ich das letztenmal bei Renee zu Besuch war, waren
wir abends aus und hatten den Schlüssel vergessen. Und da bat
mich Renee, es auf diese Weise zu versuchen, und es klappte.” „Na,
hoffentlich hat dich niemand gesehen! Sonst könnte Renee eines
Tages unerwarteten Besuch bekommen.”
Anne war fast ein wenig beleidigt. „Du glaubst doch nicht im
Ernst, daß irgendwelche Einbrecher so schlank sind, daß sie durch
dieses Loch passen! Noch nicht einmal Renee kommt da durch.”
„Die Einbrecher selbst ja nicht. Aber vielleicht könnten sie jemand
dazu anstiften.”
„Ach, was du immer für Ideen hast! Das ist doch an den Haaren
herbeigezogen.”
Die Kinder betraten das Gästezimmer, das reizend eingerichtet war
und bei der Erinnerung an die vorige Nacht sofort auch auf Jules
anheimelnd wirkte. Seine letzten Bedenken schwanden völlig
angesichts der großen Ausziehcouch, die an der einen Wand auf
ihn zu warten schien. Er merkte jetzt erst richtig, wie müde er war.
Das schmale Bett gegenüber wollte er gerne Anne überlassen. Während Anne wieder im Bad verschwand, machte er sich mit Kissen und Decken sein Lager zurecht. Dann zog er seine Kleider aus, setzte sich auf die Couch und wartete. Er hörte, wie Anne Badewasser einließ. Das konnte lange dauern. Eigentlich komisch, daß er überhaupt keinen Hunger mehr hatte! Ach, wozu brauchte er sich denn heute abend noch zu waschen! Jules legte sich hin, deckte sich gut zu und war in fünf Minuten eingeschlafen.
EIN SONDERBARES ERLEBNIS
Jules wachte mitten in der Nacht davon auf, daß jemand ihn am
Arm packte. Er knurrte unwillig und öffnete die Augen. Anne stand
vor ihm in einem viel zu großen geblümten Schlafanzug und zitterte
vor Angst. Sie sagte etwas, aber Jules war noch so benommen,
daß er sie zunächst nicht verstand. Dann hörte er: „Schnell,
mach das Badfenster zu!”
Ohne darüber nachzudenken, torkelte Jules aus dem Bett und
stolperte im Dunkeln hinüber ins Badezimmer. Erst als er auf
dem kalten Fliesenfußboden stand, wurde er wirklich wach. und
fragte sich, was das bedeuten sollte. Sie spinnt ein. bißchen,
entschied er nach kurzem Nachdenken. Wahrscheinlich hat sie
schlecht geträumt. Es kam ihm recht lächerlich vor, das winzige
Fenster zu schließen, aber Anne zuliebe tat er es doch. Als er
zurückkam, saß sie auf seinem Bettrand und bebte immer noch
am ganzen Körper.
„Reg dich doch nicht so auf!” versuchte er sie gutmütig zu
beruhigen. „Sicherer kann man doch nicht sein vor Einbrechern,
als wenn man in einer Stadt ganz und gar allein ist!"
„Das ist es ja gerade”, stotterte Anne, „ich meine, das ist es ja
gerade nicht… Ich glaube… ich bin davon aufgewacht, daß
jemand draußen vorbeiging.” Jules war starr vor Staunen.
„Was redest du da?” Anne wieder holte, was sie gesagt hatte,
und als sie Jules' ungläubige Miene sah, fügte sie ärgerlich und
fast weinend vor Aufregung hinzu: „Aber du glaubst mir natür lich wieder nicht! Hier kann wunder was passieren, du schläfst wie ein Murmeltier, hörst nichts und glaubst es noch nicht: einmal!” „Na, nun mal langsam! Passiert ist ja auch nichts. Aber wenn d u meinst, daß du nicht geträumt hast, dann weiß ich eigentlich nicht, warum du dich so aufregst. Seit vorgestern abend sind wir allein und versuchen, Leute zu finden, und wenn du welche bemerkst, schlotterst du vor Angst. Natürlich glaub' ich es nicht recht, aber wenn es wahr wäre, mußten wir uns doch freuen!”
„Du meinst also, daß ich spinne?” „Keineswegs! Ich glaube, daß du geträumt hast.” „Ich habe nicht geträumt!” erklärte Anne mit so fester Stimme, daß Jules unsicher wurde. „Und ich verstehe nicht, warum du meinst, wir müßten uns freuen. Wir haben die ganze Zeit überall gesehen, daß die Leute weg sind, und zwar mit den Behörden, der Stadtverwaltung und so. Das heißt aber, daß die Behörden damit zu tun haben, sonst wäre wenigstens die Polizei noch da. Wenn dann noch einer in der Stadt rumschleicht, tut er etwas Verbotenes und ist ein verdächtiges Subjekt.” „Dann bist du aber auch ein verdächtiges Subjekt und ich auch!” amüsierte sich Jules. „Wie willst du denn wissen, ob es verboten ist, in der Stadt rumzuschleichen?” „Ja, glaubst du denn, die Leute sind freiwillig alle weggefahren?” Das war allerdings wirklich unwahrscheinlich. Jules schwieg und überlegte. Im Grunde hatte Anne so unrecht nicht. Wenn auch nicht jeder, der etwas anderes tat als alle, gleich verdächtig sein mußte, so war es doch durchaus denkbar, daß Kriminelle die Abwesenheit der Bewohner der Stadt nutzen wollten, um ungestört zu stehlen und einzubrechen. Ihn fröstelte bei dem Gedanken. „Eins wäre ja noch möglich, obgleich ich es mir nicht vorstellen kann”, meinte Anne nachdenklich, „daß nämlich die Süd- oder die Nordstadt noch bewohnt ist und von dort jemand vorbeigekommen ist.” Jules fiel ein Stein vom Herzen. „Aber natürlich! Das ist der Grund! Anders kann es doch gar nicht sein.” Anne zuckte die Achseln. „Da bin ich nicht so sicher. Warum sollte jemand von so weit her in
der Nacht durchs Universitätsviertel spazieren? Mir kommt das un
wahrscheinlich vor.”
Jules dachte nach. „Kennst du jemand aus der Nordstadt?”
fragte er dann. „Nein. Warum?”
„Dann könnten wir dort mal anrufen!” „Ich kenne jemand in der
Südstadt. Es ist ein Junge, der mit mir in die Anfangsklasse ging
und dann umgezogen ist. Wir können es ja mal versuchen.” Anne
stand auf und zog einen Morgenmantel über, der an der Tür hing.
Im Gästezimmer hatte sie die Bodenheizung über Nacht an
geschaltet, weil sie so leicht fror, aber draußen im Korridor und in
den anderen Räumen war es kühl. Die Kinder gingen in Renees
Schlafzimmer, wo das einzige Telefon der Wohnung war. Die Stu
denten lebten damals in mancher Hinsicht noch etwas ärmlich. Jules
suchte die Nummern aus dem Tabellenbuch und diktierte sie Anne.
Sie drückte die Wahltasten, nachdem sie vorher den Bildempfang
ausgeschaltet hatte. Sie wollte sich dem ehemaligen
Schulkameraden nicht gerade in Nachtkleidung zeigen.
Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich als überflüssig. Als das ge
wohnte Summen ertönte, sahen sich Jules und Anne mit blassen
Gesichtern an, und beide wünschten, sie hätten gar nicht erst
wieder damit angefangen. Zu deutlich hatten beide das Gefühl, daß
sie nur ihre Versuche von letzter Nacht fortsetzten, ohne jedoch
etwas an ihrer fatalen Situation ändern zu können. Natürlich
meldete sich niemand.
Jules raffte sich als erster wieder auf. „Ich glaube ja nicht, daß es
Zweck hat”, sagte er, „aber wenn wir schon einmal wieder mit
Telefonieren angefangen haben, so können wir ja noch versuchen,
Polizeistellen in der Nord- und der Südstadt anzurufen. Damit wir
ganz klar sehen, meine ich.”
Jules diktierte, und Anne wählte mit zitternden Fingern. Sie begann
jetzt wieder, sich aufzuregen, wenn sie auch nicht mehr in so
panischer Angst war wie vorhin. Aber sie konnten versuchen, was
sie wollten: Sie hatten keinen Erfolg. Es gab keinen Zweifel – die
Nord- und die Südstadt waren ebenso leer wie die beiden anderen
Stadtteile, in denen Wohnungen waren. Die Oststadt hatte
ohnehin so gut wie keine Einwohner; dort gab es nur Industrie.
„Das einzige, was wir noch tun können, ist, in eine andere Stadt zu
telefonieren”, sagte Jules schließlich düster. „Ich verstehe nicht,
wieso wir nicht schon längst auf die Idee gekommen sind.”
„Weil wir nur innerstädtische Telefontabellen haben!” erwiderte
Anne so giftig, als wäre ihr Bruder an allem schuld. Aber Jules
wühlte schon in dem Schränkchen, in dem die Tabellenbücher un
tergebracht waren, und zog triumphierend eines heraus.
„Was sagst du nun?” Er hatte eine Tabelle von Estville gefunden.
„Sieh an!” Anne staunte. „Ich dachte … Aber Renees Freund
wohnt ja in Estville.”
„Na siehst du!” Jules war stolz. Nun hatte er auch einmal eine gute
Idee gehabt. Wieder suchten sie die Nummer einer Polizeistelle
heraus, und wieder wählte Anne. Das Bild hatten sie diesmal wieder
angestellt. Vielleicht würde der Beamte mehr Mitleid mit ihnen
haben, wenn er sah, daß es sich um zwei Kinder handelte. Beide
erschraken, als das Summen plötzlich abbrach. Auf der
Bildscheibe erschien eine dicke Frau im Nachthemd. Sie schimpfte
sofort los. „Was fällt Ihnen ein, einen mitten in der Nacht … Ach,
Kinder sind es, natürlich! Ihr unverschämten Gören …”
Anne hatte eigentlich sprechen wollen, aber sie war so erschrocken,
daß sie keinen Ton herausbrachte. Jules faßte sich schneller.
„Entschuldigen Sie bitte! Wir wollten Sie nicht stören. Wir sind
hier in Holmelund und wollten eine Polizei –” Doch die schrille
Stimme übertönte Jules' schüchterne Versuche. „So! In Holmelund
seid ihr! Da habt ihr euch ja was Schönes ausgedacht! Für wie
dumm haltet ihr denn die Leute? Bei der Polizei werde ich euch
melden! Jawohl! Da seid ihr gerade richtig! Solche Fratzen!” Der
Kontakt brach ab, das Bild erlosch. Anne saß mit schreckgeweiteten
Augen da, aber Jules begann zu lachen. „So eine Furie! Nein, was
die sich aufgeregt hat!” Anne stöhnte gequält. „Du bist albern!”
verwies sie ihn dann in so strengem Ton, daß er gleich wieder
lachen mußte.
„Jawohl, Tante Anne! Aber du mußt doch zugeben, daß das ko
misch war!”
Anne hörte gar nicht mehr hin. „Das war die falsche Nummer!”
„Gewiß! Du hast falsch gewählt!”
„Ich habe die Nummer gewählt, die du mir diktiert hast!”
Jules hob friedfertig das Buch wieder auf, das auf den Boden
gefallen war. Er sah auf das Deckblatt. „Das Buch ist schon ein
Jahr alt”, gestand er betreten. „Die Nummern sind wohl alle
veraltet.” „Das hättest du auch gleich merken können!” „Mein
Gott, Anne, sei doch nicht immer so gouvernantenhaft! – Aber da
muß doch auch noch eine neuere Tabelle vorhanden sein!”
Beide wühlten wieder in dem Schrank, aber es war umsonst.
„Wahrscheinlich hat Renee das neue Tabellenbuch mitgenommen”,
schloß Anne betrübt, „und von einer anderen Stadt ist auch keines
da.”
„Am besten gehen wir wieder schlafen!” Jules gähnte. „Jetzt
kriegen wir doch nichts raus. Und wenn ich ehrlich sein soll, so
glaube ich trotzdem, daß du vorhin geträumt hast.”
„Ich wünschte, du hättest recht!” Anne seufzte. „Aber es war
wirklich unheimlich deutlich.” „Träume sind manchmal so deutlich.
Ich habe einmal …”
Anne fuhr erschreckt hoch, Jules verstummte. Jetzt hörte er es
auch: einen gedämpften, deutlichen Laut wie von Schritten, die
sich langsam näherten. Jules löschte das Licht und ging zum
Fenster. Wenn man auch von außen nicht durch die Scheiben se
hen konnte, so wollte er doch nicht, daß ein Fremder in der Woh
nung Licht bemerkte. Anne folgte ihm. Der schmale Weg zwischen
den Häusern und die kleine Rasenfläche waren hell beleuchtet.
Niemand war zu sehen. Trotzdem näherten sich die Schritte. Anne
hielt den Atem an. Auf einmal entfernten sich die Schritte wieder.
„Ich geh' jetzt raus!” flüsterte Jules. „Mach das Fenster hinter mir
bis auf einen Spalt zu. Wenn du mich kommen siehst, läßt du mich
möglichst schnell wie der rein!” „Ich will mit!”
„Das geht nicht. Wir können das Fenster ja nicht unbewacht offen
lassen.”
„Dann will i c h raus!” Das war typisch für Anne. Eben hatte sie
noch vor Angst gezittert, wenn es aber um eine Mutprobe ging, war
sie sofort dabei. Zwar fürchtete sie sich immer noch, aber sie wollte auf gar keinen Fall weniger mutig erscheinen als ihr Bruder. „Kommt nicht in Frage!” Jules schüttelte energisch den Kopf. „Papa und Mom würden mir das nie verzeihen, wenn dir etwas passierte.” Ehe Anne noch Einwände machen konnte, öffnete er leise das Fenster und stieg hinaus. Die Schritte näherten sich wieder, und Anne fühlte eine gewisse Erleichterung darüber, daß sie in der Wohnung geblieben war. Gleichzeitig lauschte sie voller Spannung. Jules drückte sich in den Schatten der Haustür und horchte an gestrengt. Es war wirklich merkwürdig. Eben hatten die Schritte sich noch genähert, jetzt begannen sie wieder, sich zu entfernen, und noch immer war niemand zu sehen. Jules wartete etwa fünf Minuten und beobachtete das sonderbare Hin und Her der un sichtbaren Schritte. Dann raffte er all seinen Mut zusammen und beschloß, dem Geräusch nachzugehen. Als er auf den asphaltierten Gehweg trat, fiel ihm erst auf, daß es regnete. Es war ein dichter, feiner Sprühregen, der nur im direkten Schein der Stablampen zwi schen den Wohnblocks als silberner Vorhang sichtbar wurde. Irgendwie fühlte sich Jules durch diesen Anblick ermutigt. Immer noch war niemand zu sehen. Jules ging ein Stück auf dem Weg, bis er auf einmal das Gefühl hatte, an den Schritten vorbeigegangen zu sein. Jetzt verstummten sie ganz. Er kehrte um. Plötzlich begann es heftiger zu regnen, und mit einemmal hörte Jules die Schritte unmittelbar neben sich. Und da sah er auch endlich, was los war: Auf der Überdachung der Haustür des gegenüberliegenden Wohnblocks lief wie in einer Traufe das Regenwasser zusammen und tropfte in unregelmäßigen Abständen bald leiser und bald lauter auf den Boden einer leeren Plastikdose, die zufällig darunter lag. Der Regen war es, der ihnen solche Angst eingejagt hatte. Jules seufzte erleichtert auf und gab der Dose einen Tritt, daß sie in hohem Bogen über den Weg flog. Das Geräusch verstummte sofort. Gleichzeitig mit dem Gefühl der Erleichterung überkam Jules auch die Beschämung darüber, daß er sich so unnötigerweise hatte Furcht einjagen lassen. Anne kann einen aber auch ganz
verrückt machen mit ihrer Phantasterei! entschuldigte er sich vor sich selbst, ohne daß er diese Entschuldigung im Ernst bei sich gelten ließ. Daß er es fertiggebracht hatte, diese „Phantasterei” mitzumachen, nahm er sich trotzdem übel. Jetzt kam es ihm un glaublich vor, daß er das klopfende Geräusch für Schritte hatte halten können. Anne hatte ihren Bruder hinter dem Fenster zuerst voll Spannung, dann aber mit wachsender Ungeduld beobachtet. Als er die Dose weggetreten hatte, war auch ihr der Sachverhalt klar geworden, und sie stand in noch tieferer Beschämung in Renees hübschem Zimmer als Jules draußen im Regen. Doch über dieses Gefühl siegte schnell das der Erleichterung. Sogleich verspürte sie heftigen Hunger. Leider hatte sie das Obst und die Schokolade, die sie gestern abend gekauft hatte, aufgegessen, als Jules schon schlief. Aber ihr fiel ein, daß Jules seine Sachen noch gar nicht angerührt hatte. Er hat es noch nicht mal in den Kühlschrank getan, dachte sie. Es ist doch schade, wenn das Zeug verdirbt. Glücklicherweise hatte sie das Fenster ein wenig offen gelassen, so daß Jules wieder hinein konnte. Er wunderte sich nicht, daß Anne das Zimmer verlassen hatte. An ihrer Stelle würde ich mich auch genieren, dachte er mit einer gewissen Genugtuung, und sein Humor gewann wieder die Oberhand. Es war doch zu komisch, wie sie beide eine leere Plastikdose belauert hatten! Wenn sie da jemand beobachtet hätte, er wäre vor Lachen erstickt! Als Jules das Gästezimmer betrat, saß Anne auf seinem Bett und aß seinen Mayonnaisesalat. Sie wurde rot, als sie Jules erblickte, und es wurde ihr sichtlich noch unbehaglicher zumute, als sie sein Grinsen sah. Hätte sie nicht gerade den Mund voll gehabt, so wäre er nicht als erster zu Wort gekommen. „Ich hoffe, der Salat schmeckt dir!” sagte Jules. „Es ist gut, daß du was ißt. Ein leerer Magen macht böse Träume.” Anne warf ihm einen giftigen Blick zu und schluckte endlich hinunter. „Der Salat schmeckt überhaupt nicht. Er ist viel zu fett.” „Warum ißt du ihn dann?” fragte Jules böse. Er ärgerte sich wirk lich, denn er hatte den Salat nicht für sich, sondern für Anne gekauft. „Ich habe dir doch schon tausendmal gesagt, du sollst
nicht immer an meine Sachen gehen.” „Weil ich Hunger habe!” erklärte Anne. „Du willst mir doch nicht erzählen, daß du das ganze Zeug allein aufessen wolltest!” Jules wußte nicht mehr, was er sagen sollte. Er nahm seine üb rigen Lebensmittel und ging in Renees kleine Küche, um sich seine Würstchen warm zu machen. Wie in fast jedem Haushalt gab es auch hier einen sogenannten Grillkocher, ein Gerät, in dem man grillen, backen, toasten und Speisen erhitzen konnte. Jules füllte den Appa rat mit heißem Wasser, schaltete ihn an und schob seine Würstchen hinein. Dann setzte er sich hin und wartete. Er hatte nicht vor, sich lange über seine Schwester zu ärgern. Anne war nun einmal so, sie war noch nie anders gewesen. Er wollte jetzt nur seine Ruhe haben. Als die Würstchen fertig waren, aß er sie zusammen mit dem Artischockensalat und holte sich dazu eine Flasche klares Trinkwasser aus dem Kühlschrank. Er hatte großen Durst und wußte nicht, was er sonst tun sollte. Einfaches Trinkwasser war immer noch das Billigste, was er Renee wegnehmen konnte. An der Wand hing eine weiße Kunststofftafel, auf der sonst die Einkäufe verzeichnet wurden. Darauf schrieb er, bevor er die Küche wieder verließ: „Wir haben entnommen: 1. Eine Flasche Trinkwasser”. Ihm fiel ein, daß sein Vater einmal erzählt hatte, früher hätte man auch das Wasser aus der Leitung trinken können. Ich muß ihn doch noch einmal danach fragen, dachte er, ich kann mir das gar nicht vorstellen. Das wäre doch viel zu teuer geworden! Draußen auf dem Korridor begegnete er Anne, die gerade aus dem Wohnzimmer kam. Sie trug ein paar Bücher und sah Jules mit strahlenden Augen an. „Renee hat unwahrscheinlich tolle Bücher. Ich weiß gar nicht, was ich zuerst lesen soll!” Jules lachte. Er konnte nie verstehen, was Anne an Büchern so faszinierte, aber es machte ihm Spaß, wenn sie sich so freute. „Übrigens kannst du meinen Mayonnaisesalat aufessen, wenn du willst!” sagte sie, als sie das Gästezimmer betraten. „Er schmeckt vielleicht gar nicht so schlecht, aber ich habe keinen rechten Hunger mehr.” Gutmütig aß Jules den Rest auf und streckte sich dann wieder auf der Couch aus. Anne saß im Bett und las in einem
der Bücher.
„Hoffentlich hast du keinen Krimi am Wickel!” „Wieso das? Ich
kann doch lesen, was ich will!” „Am Tag schon”, meinte Jules,
„aber in der Nacht habe ich gern meine Ruhe.” „Du brauchst ihn ja
nicht zu lesen.”
„Ja, aber nachher muß ich dich wieder vor Plastikbüchsen be
schützen!”
„Blöder Kerl!” Anne wurde rot und sah sich vergeblich nach einem
Gegenstand in greifbarer Nähe um, den sie ihrem Bruder an den
Kopf werfen könnte. Dann dachte sie einen Augenblick nach und
sagte: „Außerdem war es zuerst doch irgendwie anders.” „Was?”
„Das Geräusch, wovon ich wachgeworden bin.” „Ach, dummes
Zeug, Anne! Wenn man noch im Schlaf ist, hört sich alles ir
gendwie anders an.” Anne wurde wieder nachdenklich. „Ja, es
stimmt schon. Zum Beispiel, wenn der Wecker klingelt, träume ich
manchmal, ich bin im Wald und höre Musik. – Aber ich weiß
trotzdem nicht … ”
Jules war zu müde, um noch länger zu diskutieren. Eigentlich
hätte ich mir wenigstens die Zähne putzen müssen, dachte er noch
und schlief sofort ein. Als er irgendwann in der Nacht für einen
kurzen Moment aufwachte, saß Anne immer noch im Bett und las.
ES -WIRD BEDENKLICH
Als Jules am Morgen erwachte, war es bereits neun Uhr. Einzelne Sonnenstrahlen drangen durch die dicht geschlossenen roten Fen stervorhänge und gaben dem kleinen Zimmer genug Licht, um Einzelheiten erkennen zu lassen. Der Regen hatte offenbar aufge hört. Jules gähnte und streckte sich. Er war es nicht gewohnt, als erster aufzuwachen. Sonst war es immer Anne, die mehr oder we niger geräuschvoll durch die Wohnung lief und die ganze Familie weckte. Aber Jules fühlte sich frisch und ausgeschlafen. So stand er leise auf und ging hinüber zu Annes Bett, um nach ihr zu sehen. Sie hatte sich so tief in die Kissen verkrochen, daß nur noch ein
dunkler Haarschopf zu sehen war. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Es war nicht schwer zu erraten, aus welchem Grunde sie immer noch schlief. Ein Buch lag vor ihrem Bett auf dem Boden, ein weiteres erblickte Jules im Bett, zwischen Kopfkissen und Wand eingeklemmt. Er konnte es nicht herausziehen, wenn er Anne nicht wecken wollte. So begnügte er sich damit, wenigstens das eine Buch aufzuheben und auf den Tisch zu legen. Dann schlich er sich vorsichtig ins Badezimmer. Auf Anne würde er wohl noch eine Zeitlang warten müssen, bis sie von allein aufwachte. Im Grunde war es Jules ganz lieb, daß Anne noch schlief. So hatte er die Wohnung eine Weile für sich allein, konnte in Ruhe ein Bad nehmen und wurde nicht von Annes Lebhaftigkeit bedrängt und zur Eile getrieben. Es war wunderbar, im warmen Wasser zu liegen und zu dösen, ohne daß jemand mit den Fäusten gegen die Tür hämmerte und schimpfte. Als er fertig war und sich im Gästezimmer noch immer nichts rührte, ging er ins Wohnzimmer und öffnete das Fenster. Die he reindringende Morgenluft war frisch und kühl, aber angenehm. Der Rasen um das Haus glänzte noch vom Regen. Jules konnte der Versuchung nicht widerstehen: Leise kletterte er aus dem Fenster, zog den Flügel behutsam hinter sich zu und trat hinaus auf den Weg. Zuerst ging er langsam und vorsichtig, um Anne nicht zu stören, aber als er weit genug vom Haus entfernt war, begann er zu laufen. Sein Gedanke war, einen Trainingslauf durch das Universitätsviertel zu machen und in einer Viertelstunde wieder zurück zu sein. Er war noch nicht weit gelaufen, als ihm klar wurde, auf was er sich da eingelassen hatte. Ein Wohnblock war wie der andere, ein Rasenstück wie das andere. Ohne sich im geringsten zu verändern, schlängelte sich der schmale, asphaltierte Weg zwischen den Häusern hin, und Jules versuchte sich vergeblich zu erinnern, wie oft er schon von einem ebensolchen Weg gekreuzt worden war. Jules blieb stehen. Wenn er sich nicht hoffnungslos verlaufen wollte, mußte er schleunigst umkehren. Aber schon nach wenigen Schritten merkte er, daß er sich bereits verlaufen hatte. Was für eine
Dummheit von ihm, daß er sich nicht wenigstens die Hausnummer gemerkt hatte! Vergeblich versuchte er sich zu erinnern, wie oft er über eine Kreuzung gelaufen war. Aber es war aussichtslos. Selbst wenn er sich hätte erinnern können, so wußte er doch an keiner Kreuzung mehr, ob er nach rechts oder nach links abbiegen mußte. Jules setzte sich ins Gras und überlegte. Tatsächlich war es einfach lächerlich! Gewiß war er nur wenige Minuten von dem Haus entfernt, ja vielleicht befand es sich sogar in seiner unmittelbaren Nähe, aber es war unmöglich, es in diesem überall gleich aussehenden Labyrinth zu finden. Ihm fiel ein, was er im Ferienlager auf einem Ausflug gehört hatte: daß ein Mensch, der sich im Naturschutzgebiet, zum Beispiel in der Heide, verirrt, unwei gerlich nach ein paar Stunden wieder an seinen Ausgangspunkt zurückkehrt. Das waren ja schöne Aussichten, jetzt ein paar Stunden lang in diesem Häusergewirr herumrufen zu müssen! Es mußte noch eine andere Möglichkeit geben. Einige Sekunden dachte er daran zu rufen. Anne hatte einen leichten Schlaf. Wenn er in genügender Nähe war, würde sie gewiß aufwachen und ihn hören. Aber er verwarf diesen Gedanken wieder, als er an den Spott dachte, mit dem sie ihn dann ganz bestimmt überschütten würde. Er würde sich aber auch selbst komisch vorkommen, wenn er herumlief und wie ein kleiner Junge nach seiner Schwester schrie. Schließlich fiel ihm noch etwas ein, was er im Ferienlager gelernt hatte. Es war wahrhaftig seltsam, daß er diese Dinge, die er nur zum Spaß gelernt hatte und die ihm als Großstadtjungen ganz fremd waren, gerade hier im Herzen der Stadt im Ernst ge brauchen konnte. Er traute sich zu, vom Universitätsplatz aus den Weg, den sie gestern gekommen waren, wiederzufinden. Jetzt galt es nur noch, den Platz selbst zu finden. Seine Erinnerung an den Stadtplan, den er recht gut im Kopf hatte, half ihm dabei wenig, denn die Wohnblocks der Studenten bedeckten nicht nur eine sehr große Fläche, sondern umgaben auch mehr als die Hälfte des Platzes. Er erinnerte sich aber, daß die Strahlen der Vormittagssonne die Fenster der Wohnung erreicht hatten. Demnach
lag die Wohnung an der Westseite des Platzes. Die einzige Schwierig keit bestand nur noch darin, den Stand der Sonne ausfindig zu machen, die von den Häusern meistens verdeckt wurde. Es war ein schöner, heller Tag. Nachdem es Jules einmal gelungen war, die Richtung der schräg zwischen den Blocks einfallenden Sonnenstrahlen zu erkennen, lief er erleichtert nach einer Seite, die er vorher niemals für die richtige gehalten hätte. Nach kurzer Zeit erblickte er zwischen den sich lichtenden Häusern den weiten Platz. Freilich kam er doch ein gutes Stück von der Stelle entfernt heraus, wo sie gestern die unterirdische Stadt verlassen hatten. Er hatte nicht bedacht, daß die Sonne inzwischen weitergewandert war. Und mit einer gewissen Beschämung bemerkte er, daß er sich nur wenige Häuser entfernt von den Lehrgebäuden befand, die er von Schulausflügen her kannte und von denen aus er bestimmt weitergefunden hätte. Aber seine Erleichterung überwog, und er erkannte nun auch mit Freude, daß er sich an derjenigen Seite der Gebäude befand, wo der Komplex der Sporthallen war, der erst im letzten Jahr abgerissen und wieder aufgebaut worden war. Hier gab es noch Neues für ihn zu sehen. Es wäre vielleicht an der Zeit gewesen, jetzt in die Wohnung zu rückzukehren, aber Jules wollte wenigstens noch einen Blick auf die Schwimmhalle werfen, die vor einem halben Jahr in den Zeitungen besonders gerühmt worden war und ihm am nächsten lag. Jules erkannte sie sofort an der blaugrünen, mit Meerestieren und pflanzen bemalten Rückwand, und als er um die Ecke bog, sah er, wovon alle Berichterstatter damals geschwärmt hatten: Nicht nur die beiden Längswände, sondern auch das Dach des Gebäudes waren aus spiegelfreiem durchsichtigem Glas, das einen ungehinderten Blick ins Innere gestattete. Wenn Wettkämpfe stattfanden, konnten draußen für die Zuschauer Tribünen aufgestellt werden. Aber auch drinnen waren an den Schmalseiten des Innenraumes Tribünen aufgebaut, die bei der Größe des Raumes klein wirkten und doch erstaunlich viele Menschen fassen sollten. Jules stellte es sich herrlich vor, dort zu schwimmen, wenn die Sonne hereinschien oder am Abend die künstlichen Höhensonnen
das Wasser erwärmten. Spaß hätte es ihm auch gemacht, die Wasserspiele einzuschalten und darunter hindurchzuschwimmen oder ein sogenanntes „Meeresschwimmen” mitzumachen, wobei die künstlich erzeugten Wellen immer höher und wilder wurden. Immerhin war aber auch dieses Schwimmbecken nur fünfzig Meter lang wie in jedem normalen Hallenbad. Das tröstete Jules ein wenig darüber, daß es für ihn unzugänglich blieb. Nur mit Studentenausweis konnte man dieses luxuriöse Bad betreten. Der Roboter, der den Eingang bewachte, war unmenschlich genug, keine Ausnahme zuzulassen. Seufzend löste sich Jules von dem Anblick, rannte quer über den sonnigen Platz und fand nach kurzem Überlegen den Weg zu der Wohnung. Er erkannte sie sofort an dem halboffenen Fenster. Er stieß es ganz auf und sprang nicht gerade leise in den Raum. Wenn Anne wirklich noch schläft, dachte er, dann kann sie jetzt jeden falls aufwachen. Er hatte einen ordentlichen Hunger und ging sofort in die Küche. Neben dem Kühlschrank saß Anne und kaute mit vollen Backen. „Schönen guten Morgen! Hoffentlich hast du noch nicht alles auf gegessen!” Anne überhörte diese taktlose Frage. „Wo bist du denn gewesen?” „Ach, ich habe nur einen kleinen Trainingslauf gemacht.” Jules spürte, wie er rot wurde. Es war besser, Anne nichts von seinem Mißgeschick zu erzählen. „Ich habe das Schwimmbad gesehen. Es ist ein Jammer, daß wir da nicht rein können.” „Ich bin schon drin gewesen, mit Renee.” Jules hatte begonnen, den Kühlschrank zu inspizieren. Viel war ja nicht mehr darin, am besten, er hielt sich wieder an Würstchen. „Ja, wie denn das?” fragte er erstaunt. „Ein Bekannter von Renee hatte mir seinen Studentenausweis geliehen. Guck nicht schon wieder so komisch! Das ist erlaubt!” „Wenn es nicht zu verhindern ist, wird es wohl erlaubt sein”, ent gegnete er trocken, „aber gerecht ist es wirklich nicht.” „Wieso? Findest du es etwa gerecht, daß nur die Studenten ein so tolles Schwimmbad haben?” „Ja, wenn es doch extra für die Stu denten gebaut ist.” Jules wußte selbst, daß das eine dumme
Antwort war, und ärgerte sich darüber. Außerdem hatte er keine
Lust, am frühen Morgen schon wieder zu diskutieren. Aber Anne
ließ nicht locker.
„Natürlich ist es nicht gerecht, daß mit einem Ausweis jeder rein
kann. Aber nicht so, wie du denkst. Ich finde, eigentlich müßte
überhaupt jeder ohne Ausweis rein können.”
„Aber das geht doch nicht!” stöhnte Jules. „Es wäre doch sofort
überfüllt, und mit dem Trainieren für die Studenten wäre es wieder
nichts.”
„Dann hätte man es eben nicht so attraktiv machen dürfen, son
dern wie die anderen Bäder auch.” „Also …” Diese
Schlußfolgerung verschlug Jules zuerst einmal die Sprache. „Ja,
findest du es denn nicht schön, so wie es gemacht ist?”
„Selbstverständlich. Aber ich will ja auch gar nicht, daß jeder rein
kann.”
„Was? Aber du hast doch gesagt, daß …” Jules verstummte und
begann schweigend sein Frühstück zu verzehren. Er hatte das Ge
fühl, auf einmal nicht mehr zu wissen, wo rechts und links ist.
„Übrigens ist das Schwimmbad wirklich unwahrscheinlich toll!” fuhr
Anne begeistert fort. „Beispielsweise fällt der Boden ganz steil ab
und ist an der tiefsten Stelle acht Meter tief, so daß man dort auch
richtige Tauchübungen machen kann.”
Jules hörte nicht mehr hin, denn er sah, daß Anne ihr Frühstück
beendet hatte und Miene machte, die Küche zu verlassen. „Was
hast du denn gegessen?” „Wieso denn?” Anne sah ihn verwundert
an. „Ich werd' mich schon nicht überfressen haben.” „Das meine
ich nicht. Aber wir müssen aufschreiben, was wir verbraucht ha
ben.”
„Ach so, ja.” Anne ging zu der Tafel und begann zu schreiben. „Du
bist immer so pingelig. Wir sind doch eigentlich Gäste.”
„Gewiß! Bloß, daß wir uns selbst eingeladen haben.” Anne wurde
rot vor Ärger. Nun hatte sie geglaubt, Jules hätte endlich Vernunft
angenommen! Aber hier war offenbar ein Punkt, über den sie sich
nicht einig werden konnten. Sie verließ die Küche und versuchte
dabei vergeblich, die schaumstoffgepolsterte Tür laut hinter sich
zuzuschlagen.
Jules tat es leid, daß er sie schon wieder verärgert hatte. Im Grunde
kam er sich selbst pedantisch vor, trotzdem konnte er nicht anders.
Er nahm sich vor, heute morgen besonders nett zu sein.
Als er ins Gästezimmer zurückkam, saß Anne wieder auf ihrem Bett
und las. Na, wenn sie Bücher hat, dann kann ich ja machen, was ich
will, dachte er mit geheimer Enttäuschung. Aber zu seiner
Überraschung schlug Anne das Buch zu, als sie ihn kommen hörte,
und sprang auf. „Weißt du was? Ich hätte Lust, nochmals in den
Wald zu gehen!”
„Wir könnten natürlich deinen Mantel holen”, meinte Jules.
„Magst du denn nicht mehr lesen?” „Nein. Das Buch ist blöd. Ich
möchte was unternehmen.” Es war Jules klar, daß Anne etwas ganz
Bestimmtes vorhatte. Aber er wußte auch, daß es keinen Zweck
hatte, in sie zu dringen, wenn sie es nicht sagen wollte. Er war sofort
bereit zu gehen, aber Anne lief noch einmal in die Küche und ließ
auf sich warten. Ihm war es ganz recht, daß sie in den „Wald”
gehen wollte, denn ihm fielen sofort die Enten ein, die gefüttert
werden mußten. Wer weiß, ob die armen Tiere in der Lage waren,
sich selbst zu versorgen! Er zählte noch einmal sein Geld nach. Ja,
er hatte genug bei sich, auch mit dem Taxi konnten sie noch fahren.
Endlich kam Anne. Die Kinder sprangen aus dem Fenster und
liefen hinüber auf den Universitätsplatz, wo sie am Abend ein Auto
gesehen hatten. Erst als sie einstiegen, bemerkte Jules, wie
merkwürdig seine Schwester aussah: Ihre Hosentaschen waren
prall vollgestopft, so daß sie kaum sitzen konnte. Sogar unter dem
Pullover war sie ungewohnt dick geworden. Jules brach in Lachen
aus. „Was hast du denn gemacht?”
„Wie? Ach …” – Anne versuchte eine möglichst gleichgültige Miene
aufzusetzen –, „ich hab' nur ein bißchen Brot mitgenommen für die
Enten.”
Jetzt kannte Jules' Vergnügen keine Grenzen mehr. „Also
deswegen wolltest du in den Wald! Aber darum brauchst du doch
nicht Renees ganze Vorräte mitzuschleppen!”
Annes Gesicht wurde ganz unglücklich. „Ich habe ja gewußt, daß
du mich auslachst. Du bist einfach gemein.” Jules wurde wieder ernst. „Ich lache ja nicht, weil du die Enten füttern willst, sondern weil du dich so ausgestopft hast. Natürlich müssen wir sie füttern – die Idee habe ich auch schon gehabt. Aber wir können doch im Wald Futter kaufen.” „Ich nicht.” „Was soll das heißen?” „Ich habe kein Geld mehr”, antwortete Anne mit abgewandtem Gesicht, aber trotziger Stimme. Jules fiel aus allen Wolken. „Ja, hast du denn schon alles ausgegeben? Hast du nichts mehr im Mantel?” „Nein. Ich hatte von vornherein nicht viel bei mir.” Jules war zu entsetzt, um Anne Vorwürfe zu machen. Natürlich war es unbegreiflich gedankenlos von ihr gewesen, bereits am ersten Tag ihr gesamtes Geld auszugeben, aber auch er selbst war mit daran schuld. Statt einfach nur zu fordern, daß sie sparen müßten, hätte er gestern sogleich, nachdem ihnen klar geworden war, daß sie allein auf sich gestellt waren, sich einen Überblick über ihre finanzielle Lage verschaffen müssen, notfalls gegen Annes Widerstand. Jedes Geldstück war kostbar, denn was nützten ihnen die schönsten Läden und Restaurants mit Automaten, voll von köstlichen Dingen, wenn sie sich nur beim Einwurf von Geldstücken öffneten oder von unerbittlichen Robotern bewacht wurden? Ohne Geld mußten sie verhungern. Das hätte er wissen müssen. Und er hatte es auch gewußt, aber nur nicht richtig bedacht. Sein eigenes Geld reichte noch etwa zwei Tage. Wenn er wenigstens wüßte, wie man sich möglichst billig ernähren könnte! Aber leider hatten sie beide von solchen Dingen keine Ahnung. Hätten sie wenigstens jetzt das Taxi gespart! Aber nachdem es einmal fuhr, war das hineingesteckte Geld nicht mehr zurückzuholen. Als sie Jules' verzweifeltes Gesicht sah, wurde auch Anne die Lage mit einem Schlag klar. Aber ebenso klar war ihr auch sofort, daß sie tatsächlich beide kaum Schuld daran hatten. „Wenn du meinst, daß uns mein Geld großartig geholfen hätte … Das hätte höchstens noch einen Tag gereicht.” „Ein Tag ist ein Tag!” erwiderte Jules unglücklich. „Stell dir mal vor, die Leute bleiben eine Woche weg!” Beide Kinder hatten keine Ahnung, wie lange ein Mensch hungern kann. Sie hielten auf dem
großen Platz, betraten ohne Eintrittskarten den „Wald” und setzten sich dort trübselig gegenüber den Musikpavillons auf eine Bank. An das Füttern der Enten war vorläufig nicht zu denken.
WIEDER EIN SCHRECK
„In Renees Kühlschrank sind noch Vorräte für ungefähr einen Tag”, sagte Jules. „Nehmen wir mein Geld dazu, so sind wir etwa noch für drei Tage versorgt. Mit heute sind es vielleicht fast vier, wenn wir den ganzen Tag nur das Brot essen, das du an die Enten verfüttern wolltest.” Annes Augen füllten sich mit Tränen. Der Gedanke, daß sie ihre geliebten Enten verhungern lassen mußte, war ihr schrecklicher als alles andere. Daß auch zahme Enten sich selbst versorgen können, wußte sie nicht. „Wir haben alles ganz falsch angefangen”, begann Jules wieder. „Wir hätten auf der Stelle wegfahren müssen, gleich als wir gemerkt haben, daß wir allein in der Stadt sind. Aber mit dem bißchen Geld, das wir noch haben, kommen wir jetzt kaum über die Vorstädte hinaus. Und dann beginnt das Naturschutzgebiet.” „Vielleicht kommen die Leute ja doch bald zurück.” „Vielleicht. Aber wir können uns nicht darauf verlassen. Die einzige Möglichkeit ist, daß wir versuchen, um jeden Preis jemanden telefonisch zu erreichen.” Anne schauerte beim Gedanken an die vielen vergeblichen Versuche zu telefonieren, die sie schon hinter sich hatten. „In einer anderen Stadt natürlich”, fuhr Jules fort. „Der Nachteil ist bloß: Wenn wir wieder keinen Erfolg haben oder man uns nicht glaubt, verbrauchen wir nutzlos unser Geld.” Das war leider wahr, denn die schönen Zeiten, wo man sein Geld zurückbekam, wenn man keinen Anschluß hatte, waren schon damals lange vorbei. Anne seufzte. Aber insgeheim war sie nicht so verzweifelt wie Jules. Sie wußte es zwar, konnte es sich aber nicht praktisch vorstellen, daß man in einer Stadt ernstlich in Not geraten könnte. Vielleicht vertraute sie auch zu sehr auf ihren Bruder. „Ich sehe uns schon durch die Stadt schleichen”, meinte Jules sar-
kastisch, „und so schmutzige kleine Restaurants suchen wie das
von gestern morgen und dort rohe, dreckige Kartoffeln und
vertrocknete Sandwichs stehlen.”
Anne fühlte plötzlich Übelkeit aufsteigen. Sie stand schnell auf.
„Komm, wir holen jetzt wenigstens meinen Mantel.”
Um die Teiche zu vermeiden, gingen sie den direkten Weg zu
den Buden und Karussells und suchten jeden Platz auf, wo Anne
am Vortag gewesen war, doch der Mantel war nirgends zu finden.
Schließlich gingen sie auch ans Wasser, blickten in das Boot, das
sie benutzt hatte, wobei nun doch die armen Enten schreiend her
beigeflattert kamen, und kletterten sogar noch einmal auf den
Baum. Aber es war ergebnislos. Erst ganz zuletzt fiel Anne wieder
das Wachsfigurenkabinett ein, wo ihr gestern so unheimlich
geworden war. Vielleicht hatte sie es deshalb vergessen.
„Ich glaube allerdings, daß ich dort den Mantel schon nicht mehr
hatte.”
„Na, irgendwo muß er ja sein!” antwortete Jules, dem die Suche
langsam zu viel wurde. Mit Anne gab es aber auch dauernd Sche
rereien! Etwas versöhnlicher fügte er hinzu: „Da kann ich mir ja
auch gleich die beiden neuen Wachsfiguren ansehen, von denen du
erzählt hast.” Anne genierte sich etwas vor sich selbst, daß die Fi
guren ihr gestern so unbegründet Furcht eingejagt hatten. Gut, daß
sie Jules davon nichts gesagt hatte! „Bei den vielen Figuren fallen
die neuen natürlich nicht so leicht auf”, erklärte sie eifrig, als sie die
große Bude vor sich sahen. „Aber wenn man sie gut kennt, sieht
man sie sofort. Dort drüben ist das Burgfräulein. Goldig, nicht?
Und der komische bucklige Mann …” Anne verstummte jäh. Sie
stand plötzlich wie zu Stein erstarrt. „Was hast du denn?” fragte
Jules. Er stand schräg hinter ihr und konnte ihr Gesicht zunächst
nicht sehen. Als er näher kam und sie ansah, erschrak er. In ihren
Augen stand blankes Entsetzen.
„Was ist denn los?” fragte er noch einmal. Anne löste sich aus ih
rer Erstarrung und wandte sich ihrem Bruder zu.
„Er ist fort!” „Wer?”
„Der Bucklige.”
Jules fürchtete sich nicht so leicht. Aber nun fühlte auch er einen
Schauer über seinen Rücken laufen. „Bist du denn sicher, daß du
ihn gesehen hast?” „Ja.” Sie starrte wieder voll Entsetzen auf die
Stelle, wo sie die Figur gesehen hatte. In Jules' Kopf überstürzten
sich die Gedanken. War heute nacht vielleicht doch nicht alles nur
Phantasterei gewesen? Er hatte die fragliche Wachsfigur nicht ge
sehen, aber konnte denn alles wirklich nur Einbildung sein?
„Vielleicht ist die Figur nur umgefallen?” meinte er. „Unsinn!
Wovon soll sie denn umfallen?” Trotzdem spähten sie beide an
gestrengt über die Brüstung, die die Figuren fast zu einem Drittel
verdeckte. Aber der Platz war wirklich leer.
„Komm, wir gehen!” Jules wandte sich um und faßte seine
Schwester am Arm, um sie mit sich fortzuziehen. Aber Anne stieß
einen Schrei aus und schwang sich im nächsten Augenblick über die
Brüstung, mitten unter die Wachsfiguren. „Mein Mantel!”
Nun sah es auch Jules, und er wunderte sich, daß sie das nicht
gleich bemerkt hatten: Eine der Figuren, ein stattlicher Indianer mit
Häuptlingsschmuck und Tomahawk, trug Annes Mantel um die
Schultern. Er wirkte dadurch nicht weniger kriegerisch, sondern trug
ihn so selbstverständlich, als habe er ihn von einem feindlichen
Bleichgesicht erbeutet.
Jules mußte lachen. Aber Anne sprang mit einem empörten
Schnauben auf den unschuldigen Indianer los und riß ihren Mantel
an sich. „So eine Frechheit!” Als sie Jules' amüsiertes Gesicht
sah, ärgerte sie sich erst recht. „Ich versteh' nicht, was es da zu
grinsen gibt!” „Und ich versteh' nicht, warum du dich darüber so
aufregst!” erwiderte Jules. „Das beweist doch, daß der Mensch,
der hier herumgespukt hat, jedenfalls Humor hat. Ich finde das
vielmehr recht beruhigend.” Anne wurde wieder nachdenklich. „In
gewisser Weise hast du vielleicht recht. Aber mit Sicherheit ist es
nicht gesagt, daß es Humor war.”
„Ja, was denn sonst? Der Anblick war doch sehr komisch.”
,Das schon. Aber vielleicht wollte er den Mantel besonders raffi
niert verstecken.”
„Ich weiß nicht. Du hast die Neigung, immer gleich von Leuten,
die du nicht kennst, etwas Schlechtes anzunehmen. „Also, ich will dir mal etwas sagen. Als ich heute nacht die Schritte gehört habe, bist du selbst erschrocken und hast Angst gehabt.” Jules wollte widersprechen, aber Anne ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Aber wenn du den kleinen Buckligen gesehen hättest, den ich gestern hier gesehen habe, dann hättest du jetzt wahr scheinlich mehr Angst als ich. Wie der aussah! Wie der geborene Kriminelle! Vor dem würde ich davonlaufen, selbst wenn ich ihm mitten unter tausend anderen Leuten begegnete!” Und noch einmal begann sie mit beredten Worten zu schildern, wie gräßlich er ausgesehen hatte mit seiner klobigen, krummen Gestalt, dem struppigen Haar und den böse funkelnden rötlichen Augen unter den buschigen Brauen. Auch Jules wurde unheimlich zumute, aber aus einem anderen Grunde als Anne. Wenn sich hier in der Stadt wirklich noch ein Mensch herumtrieb, woran jetzt wohl nicht mehr zu zweifeln war, warum versteckte er sich dann vor ihnen, obwohl er sie doch längst bemerkt haben mußte? Warum nahm er nicht Kontakt mit ihnen auf? Wenn er aber nichts Böses im Schilde führte, warum kam er dann immer wieder in ihre Nähe? Die Stadt war wahrhaftig groß genug, es konnte doch kein Zufall sein, daß sie heute schon zum dritten- oder viertenmal seinen Spuren begegnet waren! Das war ein Benehmen, das Jules im Ernst verdächtig vorkam und das ihn, je länger er darüber nachdachte, um so mehr beunruhigte. Er schreckte aus seinen Gedanken hoch, als Anne ihn an der Hand faßte. „Warum sagst du denn nichts?” jammerte sie. „Findest du etwa immer noch nicht, daß ich recht habe?” „Ja … Nein, doch.” Jules riß sich zusammen, denn er sah mit Be unruhigung, daß Anne ganz außer sich war vor Aufregung. Ihr Gesicht glühte, und in ihren Augen funkelten Tränen. Er hielt es nun doch auf jeden Fall für das beste, ihr seine eigenen Befürchtungen zu verschweigen. Anne hatte zweifellos viel schlechtere Nerven als er, und das Wichtigste war zunächst einmal, sie zu beruhigen. „Was stehen wir hier rum!” sagte er in möglichst unbeschwertem Ton. „Komm, nimm deinen Mantel! Wir gehen ein Stückchen und
überlegen uns die Sache!” Anne gehorchte ohne Widerrede. Sie faßte ihren Bruder am Handgelenk und ließ ihn erst wieder los, als die unheimliche Bude mit den Wachsfiguren nicht mehr zu sehen war. Ein paarmal sah sie vorsichtig hinter sich, dann schämte sie sich ihrer übergroßen Ängstlichkeit, faßte dafür aber wieder Jules am Arm. Der Griff ihrer kleinen, harten Hand lockerte sich erst, als der chinesische Pavillon hinter den Bäumen hervortrat, ihr Lieblingsplatz, wo sie sich instinktiv sicherer fühlte. Die mit flachen Steinen belegte, sanft ansteigende Fläche zwischen dem letzten der drei kleinen Seen und dem Pavillon war auch der Lieblingsplatz der Enten. Jules hatte nicht den Mut, Anne daran zu hindern, als sie in ihre Hosentaschen griff, sich niederhockte und das schnatternde Federvieh mit dem kostbaren Brot zu füttern begann. Erst nach einer Weile ermahnte er sie aufzuhören. Zu seiner Verwunderung gehorchte sie auch diesmal wieder, setzte sich auf die kleine Mauer, an die das Wasser plätscherte, und sah wie geistesabwesend in die Ferne. „Also, weißt du”, begann Jules zögernd, „du solltest dich wirk lich nicht so aufregen! Was tut es, daß außer uns noch jemand in der Stadt herumläuft? Wahrscheinlich ist es ein ganz harmloser Mensch. Gestern früh wärst du noch glücklich gewesen, irgendeinem zu begegnen.” „Na hör mal!” unterbrach ihn Anne brüsk. „So jemandem zu begegnen wäre ich überhaupt nie glücklich!” „Ich weiß nicht, warum du unbedingt denkst, es wäre der kleine Bucklige. Der kann doch wirklich eine Wachsfigur gewesen sein!” „Und warum ist er dann fort?” „Nun ja, weil ihn eben jemand weggeräumt hat!” Anne sah Jules verächtlich von oben bis unten an. „Das glaubst du ja selbst nicht!” Trotzdem schien sie über diese Vorstellung nachzudenken. Sie schwieg eine Zeitlang, holte dann Brot aus ihren Taschen, anstatt aber wieder die Enten damit zu füttern, aß sie es gedankenverloren selbst auf. Plötzlich stieß sie sich mit einem Schwung von der Mauer ab, daß das seichte Wasser ringsum hochspritzte. „Mensch, ich hab's! – Mist, jetzt hab' ich nasse Füße bekommen!” „Das ist wohl nicht zu vermeiden, wenn man mitten ins Wasser
springt”, meinte Jules. „Aber was fällt dir denn auf einmal ein?” „Ich hatte vergessen, daß darunter Wasser ist. – Nein, was ich sagen wollte: Ich weiß jetzt, wer hier herumspukt.” „Wer denn?” „Das ist doch ganz klar. Ich verstehe nicht, wieso ich nicht gleich darauf gekommen bin: der Besitzer des Wachsfigurenkabinetts.'' Jules war verblüfft. Er hatte Anne nur beruhigen wollen, und seine Vermutung, der kleine bucklige Mann, der ihr so unheimlich war, sei eine Wachsfigur, war wirklich nicht sein Ernst gewesen. Aber wenn Anne die Sache so sah! Sie kannten beide den Besitzer des Kabinetts. Es war ein unfreundlicher, hagerer Mann mit gelblicher Gesichtsfarbe, der kaum jemals mit einem Menschen sprach und sich nur für seine Figuren interessierte. Er wohnte allein in einem der Restaurants des „Waldes”, und man erzählte sich, daß er sich dort mit den wächsernen Abbildern seiner Familie umgeben habe, die vor zwanzig Jahren bei einer Flugzeugkatastrophe ums Leben gekommen war. „Dem möchte ich ja nun auch nicht so gern begegnen”, meinte Anne. „Schrecklich, ein Mensch, der immer nur mit Toten umgeht! Aber er ist doch wenigstens ein normaler Mensch – Angst hätte ich vor ihm keine.” „Das natürlich nicht. Aber irgendwie komisch ist er schon. Das ist doch nicht normal, wenn einer zwanzig Jahre lang so ein Leben führt.” „Ja, jeder andere hätte eben einfach noch einmal geheiratet, wenn es ihm so viel ausmacht, ohne Familie zu sein.” „Vielleicht ist er depressiv geworden durch das Unglück. Vielleicht hat er nicht die richtigen Medikamente genommen.” „Na, dann wäre er aber wirklich selbst schuld.” Anne setzte sich auf die Erde und zog ihre Schuhe aus. Sie kippte sie um und ließ das Wasser herausfließen. Aber als sie sie wieder anzog und ein paar Schritte ging, quietschten sie trotzdem. Jules mußte lachen. „Du bist jetzt wirklich ein Muster! Der Mantel zerknautscht und schmutzig, die Hose verdreckt von oben bis unten, und nun auch noch die Schuhe durchgeweicht! Wenn Papa und Mom wiederkommen, werden sie dich nicht wiedererkennen.” „Hoffentlich kommen sie überhaupt wieder!” erwiderte Anne dü ster, indem sie an sich hinunterblickte. „Ich seh' wirklich furchtbar
aus, dabei bin ich sonst immer so pingelig. Komisch, jetzt macht es mir gar nichts aus. – Vielleicht bleibt diese Stadt ewig leer.” „Quatsch!” sagte Jules mit Überzeugung. „Am besten gehen wir jetzt wieder nach Hause und gucken, ob wir unter Renees Schuhen ein Paar finden, das du anziehen kannst, wenn es dir auch nichts ausmacht. Aber am Ende erkältest du dich noch. Danach gehen wir zur Post und versuchen von dort zu telefonieren.” „Ja, wenn wir rein können! – Wollen wir über den E-Spielplatz gehen?” Der Weg, den die Kinder jetzt einschlugen, führte durch den soge nannten „Sportwald”, der von den Kindern und jungen Leuten spöttisch „Erwachsenen-Spielplatz” oder einfach „E-Spielplatz” genannt wurde, weil sich dort zum Teil dieselben Geräte und Spielmöglichkeiten befanden wie auf den Kinderspielplätzen. Es war derjenige Teil des „Waldes”, der seinen Namen noch nicht ganz zu Unrecht trug, denn Fichten und Pappeln standen hier in lockeren Gruppen, die zur Mauer hin immer dichter wurden. Der Boden war mit Gras oder Büschen bestanden, die sorgfältig sauber gehalten wurden. Die Stadtverwaltung bemühte sich sehr, den Charakter eines echten Waldes aufrechtzuerhalten, der hier wirklich einmal gewesen war. Nur eines wollte nicht gelingen: Es war nicht möglich, hier Vögel anzusiedeln. Jeder Versuch, Vögel aus dem West- oder Zentralpark hier heimisch zu machen, war fehlgeschlagen, und da niemand sagen konnte, was der Grund dafür war, blieb der „Sportwald” stumm. Jules und Anne schlenderten die hübschen asphaltierten Wege entlang und amüsierten sich über die Balancierstangen, Klettergerüste und Schaukeln, die zwischen den Bäumen angebracht waren. „Hier fehlt nur noch der Sandkasten!” spottete Anne. Da der Besuch des „Sportwaldes” für Kinder unter vierzehn Jahren nur in Begleitung Erwachsener erlaubt war und ihre Eltern kein Interesse an Sport hatten, kannte Anne diesen Teil des „Waldes” nur vom Hörensagen. Sie fand die Vorstellung unglaublich lächerlich, daß Erwachsene sich mit solchen Geräten beschäftigen sollten. Aber Jules versicherte ihr ernsthaft, daß dies wirklich getan wurde. „Nein, wenn ich mir das vorstelle!” Anne amüsierte sich königlich.
„Wenn so ein dicker Opa dort auf der Schaukel sitzt! – Nein, aber im Ernst, vernünftige Leute machen das doch nicht. Es wäre viel besser, den E-Spielplatz auch für Kinder zu öffnen, dann würde er wenigstens ausgenutzt. Das ist doch Geldverschwendung, was die Stadtverwaltung sich da ausgedacht hat!” „Vielleicht hast du recht”, erwiderte Jules zweifelnd, „bis vor acht Jahren war es ja auch noch erlaubt. Aber angeblich haben sich die Erwachsenen vor den Kindern geniert, und es war praktisch ein Kinderspielplatz wie andere auch.” „Na, da müssen sie sich aber auch genieren, wenn sie solche Kindereien machen!” Damit sprang Anne auf eine der langen Schaukeln und begann so wild zu schaukeln, daß das Gerüst quietschte und ächzte und Jules fürchtete, sie werde sich überschlagen. Natürlich schaukelte sie im Stehen, und Jules konnte es wieder einmal kaum glauben, als er ihr so zuschaute, daß dies dasselbe ängstliche Mädchen war, das sich vor eingebildeten Geräuschen fürchtete oder auch vor einem buckligen kleinen Mann, den sie überhaupt nicht kannten. Als sie sich dann wirklich überschlug und laut über Jules' entsetztes Gesicht lachte, bekam er ein flaues Gefühl in der Magen grübe, wandte sich ab und kletterte auf einen der Hochsitze, von denen aus man einen schönen Blick über den „Wald” hatte. Anne mußte sich erst einmal austoben. Wenn er sie bitten würde, vor sichtiger zu sein, würde sie es nur noch viel toller treiben. Sonst hätte er wohl auch gern geschaukelt – noch vor ein paar Tagen wäre es ihm undenkbar gewesen, herumzusitzen, während Anne sich amüsierte. Aber es kam ihm vor, als sei er inzwischen ein paar Jahre älter geworden. Das Gefühl der Verantwortung für sie beide und die Sorge darum, was als Nächstes und Bestes zu tun sei, bedrückten ihn, ohne daß er sich eigentlich dauernd dessen bewußt war, und hatten jeden Spieltrieb in ihm erstickt. Er kam erst wieder von seinem Hochsitz herunter, als Anne ihn rief. Zusammen gingen sie über den großen Sportplatz, der die Mitte des „Sportwaldes” bildete, und drückten ihre Nasen an die Fenster der weiten Turnhalle, die von Büschen umgeben an seiner Nordseite
stand. Leider konnten sie trotzdem nichts sehen, denn das Glas
war nur von innen her durchsichtig. Abgeschlossen war die Halle
auch, und besonders Jules war darüber enttäuscht, denn er hatte
Anne gern die neuen, anspruchsvollen Turngeräte und die
Kegelbahnen gezeigt, damit sie eine bessere Meinung vom „E-
Spielplatz” bekam, den er selbst im Grunde für eine sehr gute Ein
richtung hielt. Er war kurz nach seinem vierzehnten Geburtstag
einen ganzen Sonntag lang hier gewesen und hatte mit seinen
Freunden großen Spaß gehabt. Anne betrachtete mit Verwunderung
die breiten Wege aus Kunststoff, die um den Sportplatz und die
Halle herumführten und sich dann zwischen den Bäumen verloren.
Sie waren so glatt, daß sie glänzten.
„Das sind Rollschuhbahnen”, erklärte Jules, „sie führen zum
Waldschwimmbad, darum herum und wieder zur Halle zurück.”
„Ach, das ist aber toll! Schade, daß wir unsere Rollschuhe nicht
dabei haben!”
Jules zögerte einen Augenblick, dann sagte er: „Du kannst dir
auch welche leihen, es ist nicht teuer.” Anne war sofort begeistert.
Jules zeigte ihr den Automaten an der Vorderseite der Halle, der
alle möglichen Sportwerkzeuge enthielt und gegen Geldeinwurf das
Gewünschte ausspuckte.
„Wie will man denn verhindern, daß hier geklaut wird?” fragte
Anne, während sie die Rollschuhe anschnallte. „Das würdest du
schon merken!” Jules grinste. „Denn nach einer Stunde klingelt es
im Schuh, und nach weiteren zehn Minuten ist der Rollschuh mit
einemmal blockiert, so daß du nichts mehr damit anfangen
kannst.”
Anne war empört. „Aber da kann man ja stürzen!” Jules lachte.
„Gewiß. Aber du sollst sie ja auch vorher zurückbringen.” „Willst
du nicht auch fahren?”
„Nein, ich laufe neben dir her. Das ist gut für meine Kondition.”
Anne wußte wohl, daß Jules nur deshalb laufen wollte, um nicht
noch mehr Geld auszugeben, und daß sie auch aus demselben
Grunde sein Angebot nicht hätte annehmen dürfen. Aber sie hatte
solche Lust, Rollschuh zu fahren, daß sie nicht widerstehen
konnte. Jules sah ihr zu, wie sie mit weichen, geschmeidigen
Bewegungen anlief und im Nu eine solche Geschwindigkeit er
reicht hatte, daß er, der doch ein ausgezeichneter Läufer war, ihr
kaum noch folgen konnte. Er kam sich fast etwas komisch vor,
wie er hinter ihr herkeuchte, während sie immer weiter vor ihm
davonflog. Erst als sie zwischen den Bäumen verschwunden war,
überkam ihn das gewohnte Wohlgefühl, das das Laufen sonst in
ihm erzeugte.
Am Rande des Waldschwimmbades traf er sie wieder. Dieses
hundert Meter lange Wasserbecken, das an der einen Seite von
Fichten, an den drei anderen von dunkelgrünem Rasen umgeben
war, bot einen wunderschönen Anblick. Das blaugrüne, tiefe Wasser
war spiegelglatt und warf überdeutlich das Bild der Bäume an seinem
Rande zurück. Wo die Sonne auf die Wasserfläche fiel, blendete sie
so, daß man die Augen abwenden mußte. „Es sieht aus wie echt!”
sagte Anne andächtig. „Nur die Pflanzen am Ufer fehlen. Aber so
etwas stört ja beim Baden nur.”
Auch Jules verglich in Gedanken dieses Schwimmbad mit dem
echten kleinen See im Naturschutzgebiet, in dem sie während des
Ferienlagers hatten baden können. Er wußte nicht recht, was ihm
besser gefiel. Wahrscheinlich hatte Anne recht.
Nach kurzem Aufenthalt lief er zurück in Richtung Turnhalle. Auf
halbem Wege überholte ihn Anne, wendete und fuhr dann langsam
neben ihm her. „Es ist hier doch ganz schön”, gab sie zu. „Es ist
nicht alles so kindisch, wie ich erst gedacht habe.” Ohne eine
Antwort abzuwarten, spurtete sie wieder voraus und hatte schon
ihre Rollschuhe abgelegt und zurückgestellt, als er ankam. Jetzt
hatten sie es beide eilig. Sie hatten alles gesehen, was es hier zu
sehen gab, es wurde Mittag, und langsam meldete sich wieder der
Hunger. Es wurde Zeit, daß sie in Renees Wohnung zurückkehrten.
EINE UNERWARTETE BEGEGNUNG
Als sie den „Sportwald” verließen, bemerkten sie, daß der
Himmel sich verfinstert hatte. Dicke schwarze Wolken bedeckten
die Sonne. In der Ferne grollte es leise. Jules sah besorgt in die
Höhe. „Hoffentlich kommen wir jetzt nicht in den Regen!”
Aber Anne lachte. „Dann würden wenigstens meine Sachen
wieder etwas sauberer!”
„Ja, aber dann müssen wir uns umziehen, und es ist doch nicht
gesagt, daß dir von Renees Sachen etwas paßt!”
„Ach, du redest ja schon wie Mom. Horch mal, vielleicht gibt es
ein Gewitter!”
Als kleine Kinder hatten sie alle beide große Angst vor Gewitter
gehabt, aber sie hatten es fertiggebracht, sich diese Angst regel
recht abzugewöhnen. Anne war es gewesen, die sich zuerst ihrer
Angst geschämt hatte und sich und ihren Bruder gezwungen
hatte, so oft unter der Haustür sitzend Gewitter mitanzusehen, bis
ihnen dieses Abenteuer nicht mehr interessant vorkam und sie
ihre Furcht verloren hatten. Sieben und acht Jahre alt waren sie
damals gewesen, und bei jedem Gewitter erinnerten sie sich
seitdem mit Vergnügen daran, wie sie dicht aneinanderge
schmiegt auf der Schwelle gehockt und bei jedem Donnerschlag
einträchtig gezittert hatten.
Es war nun auch kühler geworden. Anne hüllte sich in ihren
Mantel. Die Kinder gingen auf dem kürzesten Weg an den
Buden und Karussels vorbei, möglichst ohne einen Blick darauf zu
werfen, denn die Versuchung war zu groß, sich schnell noch ein
kleines Vergnügen zu machen. Als sie in eine der kleinen,
schmalen Gassen ein bogen, die mittelalterlichen Straßen
nachgebildet waren und wo ein putziges kleines Haus sich an das
andere reihte, wurde es so dunkel, als würde es Abend, und die
ersten Tropfen fielen. Jules packte Anne am Handgelenk, um sie
mit sich zu ziehen, weil sie noch immer keine Anstalten machte,
sich wirklich zu beeilen, aber Anne protestierte lachend und
versuchte ihn gegen das Schienbein zu treten. Doch Jules war
mindestens so geschickt wie sie, und so gelang es ihr nicht ein
einziges Mal, ihn zu erwischen. Schließlich verlegte sie sich aufs
Bitten. „Laß mich doch los, du Spinner! Ich geh' ja auch freiwillig
heim!” „Ja, aber du trottelst so rum. Nachher bin ich es wieder gewesen, wenn du dich erkältest!” „Natürlich. Einer muß es doch gewesen sein!” „Na gut!” Jules mußte nun auch lachen. „Aber sei so nett und mach jetzt ein bißchen voran! Wir müssen ja nicht unbedingt in einen Platzregen geraten!” In diesem Augenblick donnerte es heftiger, so als ob das Gewitter schon fast über ihnen wäre. Jules fiel mit einemmal ein, daß sie das Fenster in Renees Wohnung offengelassen hatten. Wenn es besonders stark regnete, könnte vielleicht Wasser eindringen. Er begann zu laufen. Anne hastete neben ihm her und schien es auf einmal auch eilig zu haben. Als sie in eine Seitengasse einbogen, blitzte und donnerte es wieder. Das war wohl auch der Grund dafür, daß sie gerade diesmal keine Schritte hörten. Plötzlich und unerwartet, wie aus dem Boden gewachsen, stand eine Gestalt vor ihnen, die Jules sogleich erkannte, obwohl er sie noch nie gesehen hatte, und bei deren Anblick sie beide unwillkürlich anhielten und zwei Schritte zurückwichen. Anne stieß einen leisen Schrei aus und faßte ihren Bruder am Ärmel, aber auch Jules konnte seinen Schrecken nicht verbergen und fühlte, wie blaß er wurde. Vor ihnen stand der kleine Bucklige, krumm, plump und unförmig, wie Anne ihn geschildert hatte, und starrte die Kinder aus blutunterlaufenen Augen haßerfüllt an. Jules verstand sofort, warum Anne sich so vor ihm gefürchtet hatte. Er mußte sich sehr zusammennehmen, um seinem ersten Impuls, einfach davonzulaufen, nicht blindlings zu folgen. Aber das wäre freilich gerade das Dümmste gewesen, was sie hätten tun können, denn wie es schien, war der kleine Mann ohnehin schon aus unerfindlichen Gründen böse auf sie, und durch solch kindisches Benehmen hätten sie ihn sicher nur noch mehr erzürnt. Jules wollte gerade ansetzen, in möglichst harmlosem Ton „guten Tag” zu sagen, als der Mann ihm zuvorkam und mit merkwürdig hoher, piepsiger Stimme ärgerlich fragte: „Was glotzt ihr denn so? Was hat die Kleine? Ist sie nicht ganz richtig im Kopf?” Jules drehte sich verwirrt nach Anne um, die den Buckligen mit weit aufgerissenen
Augen in dem weißen Gesicht zu Tode erschrocken anstarrte, und spürte jetzt erst, daß sie ihn so fest am Arm gepackt hielt, daß ihre Fingernägel sich in sein Fleisch bohrten. „Nein … doch …” Jules fing an, vor Aufregung zu stottern. Dann riß er sich zusammen und erwiderte ruhig: „Wir dachten nur nicht, daß wir hier in der Stadt noch jemandem begegnen würden.” Aus dem Gesicht des Mannes wich der gespannte Ausdruck. Jules bemerkte mit Verwunderung, daß das, was sich jetzt in seinen Zügen spiegelte, eher Mißtrauen, ja fast eine Art Ängstlichkeit war. Im nachhinein fiel ihm auf, daß auch er bei ihrer Begegnung einen Schritt zurückgewichen war. Aber ehe er sich dieser Beob achtungen noch richtig bewußt werden konnte, wurde die Miene des Mannes schon wieder feindselig, und er antwortete in höhnischem Ton: „Glaub mal nur nicht, daß es für mich ein Vergnügen ist, euch zu begegnen! Ich hätte hier auch lieber meine Ruhe gehabt! Kinder kann ich sowieso nicht ausstehen.” „Wir wollen Sie keinesfalls belästigen”, antwortete Jules so höflich wie möglich. Er war es nicht gewohnt, von Erwachsenen un freundlich behandelt zu werden, und es fiel ihm schwer, den höf lichen Ton zu wahren. Aber es war besser, sich mit dem unheimlichen Menschen gutzustellen, wenn sie schon mit ihm allein in der Stadt waren. „Belästigen ist schon der richtige Ausdruck!” erwiderte der Mann grob. „Aber ihr seid nun einmal hier, da be lästigt ihr mich ohnehin. Ihr belästigt mich schon die ganze Zeit.” Jules fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg, aber ehe er etwas sagen konnte, rief Anne, die mit einemmal die Sprache wiederge funden hatte: „Was fällt Ihnen ein, so mit uns zu reden!” Der Mann beachtete sie überhaupt nicht. Er wandte sich noch einmal Jules zu und sagte in etwas sanfterem Ton: „Wegen eurer Trödelei kommt ihr jetzt nicht mehr trocken nach Hause. Hier ist ein Restaurant offen, wo ihr bleiben könnt, bis der Regen aufhört.” Ohne eine Antwort abzuwarten, begann er den Weg, den die Kinder gekommen waren, entlangzugehen und winkte ihnen, ihm zu folgen. Als er ihnen den Rücken zukehrte, sahen sie seinen schrecklichen Höcker – ein Anblick, der Jules mit einem
zwiespältigen Gefühl aus Mitleid und Abscheu erfüllte. Er zögerte. Anne hielt ihn fest und flüsterte ihm so leise wie möglich zu, sie sollten doch schnell davonlaufen, aber der Bucklige hatte es trotzdem gehört. Er drehte sich um und funkelte sie mit seinen rötlichen Augen böse an. „Kannst du deine Schwester nicht zur Raison bringen? Los jetzt, kommt mit! Ich freß' doch keine kleinen Kinder!” Jules und Anne folgten verschüchtert. Jules wunderte sich über sich selbst, daß er so widerstandslos mitging. Er hatte noch nie ei nen so häßlichen Menschen gesehen, und doch war etwas in dem Wesen dieses Mannes, das ihn neugierig machte und auf un erklärliche Weise anzog. Anne ging mit, weil sie sich nicht von Jules trennen wollte und weil es ihr außerdem peinlich gewesen wäre, weniger mutig zu erscheinen als er. Trotzdem zögerten sie beide einen Augenblick, als der Bucklige vor einem besonders düsteren kleinen Haus anhielt, hinter dessen rundgeschliffenen Fensterscheiben ein schwaches, gelbliches Licht schien. Waren dort vielleicht noch mehr Leute? Anne mochte diese Häuser ohnehin nicht: Kein Zwischenraum war zwischen ihnen, schmal und gleichsam gebrechlich lehnten sie sich aneinander, und die winzigen Fenster ließen kaum Licht und Luft herein. Es war ihr unvorstellbar, daß vor ein paar hundert Jahren Menschen wirklich noch in solchen Häusern gewohnt hatten. Noch weniger konnte sie begreifen, was ihr Großvater einmal erzählt hatte: daß es vor dreißig Jahren noch immer Leute gegeben hatte, die die letzten solcher baufälligen Häuserreihen in den Städten unbedingt erhalten wollten und erbittert gegen ihren Abbruch gekämpft hatten. Die Vernunft hatte schließlich doch gesiegt. Es genügte ja auch völlig, wenn eine Stadt in ihrem Vergnügungspark ein paar dieser unhygienischen Häuser hatte. Der Bucklige stieß die schwere Holztür auf und drehte sich nach den Kindern um. Jetzt war es endgültig zu spät zum Davonlaufen. Der Mann brummte etwas Unverständliches, die Kinder traten ein, stolperten und fielen fast die schlecht beleuchtete Treppe hinunter. „Paßt doch auf! Ich habe doch gesagt, da sind Stufen!” „Das hätten Sie lauter sagen müssen!”
antwortete Jules wütend; er hatte den Ton des kleinen Mannes jetzt endgültig satt. Anne hatte ganz recht: Was fiel ihm ein, sie dauernd anzufahren? Zugleich hatte er mit Erleichterung bemerkt, daß sich keine weiteren Leute in dem Raum befanden. Er war noch nie in einem solchen Haus gewesen und war gleich im ersten Moment überrascht, wie gemütlich es war. Ob es daran lag, daß hier alles aus Holz war? Der Fußboden war mit Brettern belegt, und über die niedrige Decke zogen sich derbe, dunkle Balken. Auch die Tische und Stühle waren aus dunklem Holz, und an einer Wand stand ein großer hölzerner Schrank, der sogar mit Schnitzereien verziert war. Aber es war noch etwas, was hier anders war als gewohnt. Jules ließ sich mit Anne an einem der Tische nieder, die der Tür am nächsten standen, und blickte prüfend um sich. Der Mann ging zu dem Schrank, öffnete ihn, wobei ein Selbstbedienungsautomat sichtbar wurde, und kümmerte sich nicht weiter um die Kinder. „Es ist scheußlich dunkel hier, nicht?” flüsterte Anne und sah ir ritiert an die Decke. Und jetzt ging Jules auch auf, was ihm hier so ungewöhnlich erschienen war: Von der Decke hing an einer Schnur herab eine Lampe, ein Holzgestell mit Stoffverkleidung, wie er sie sonst nur als Ziergegenstand kannte, und beleuchtete als einzige Lichtquelle den ganzen Raum. Im Gegensatz zu den üblichen, an der Decke und den Wänden fast unsichtbar angebrachten Lichtröhren, die ein diffuses, angenehmes Licht gaben, das vom Tageslicht nicht zu unterscheiden war, war diese Beleuchtung ungleichmäßig und erzeugte starke Schatten. So war es schon verständlich, daß Anne der Raum düster vorkam. Der sonderbare Fremde hatte bisher merkwürdigerweise noch nicht auf Jules' weniger höflichen Ton reagiert. Jetzt schloß er den Schrank wieder und kam mit einem Tablett auf die Kinder zu. Auf dem Tablett standen Getränke und drei Schüsseln mit gebratenen Hähnchen. Jules und Anne wurden rot vor Überraschung, zugleich aber auch aus einem anderen Grund, der ihnen alles andere als angenehm war. Der Mann sah sie grimmig an. „Los, jetzt wird gegessen! Nach Hause könnt ihr jetzt nicht, und Hunger werdet ihr
wohl haben. Es ist schließlich Mittag.”
Nach Hause gehen konnten sie wirklich nicht, denn es hatte in
zwischen begonnen, in Strömen zu gießen. Jules lief das Wasser im
Munde zusammen, er schluckte ein paarmal, dann sagte er gepreßt:
„Aber wir können uns das nicht leisten, wir haben nicht mehr
genug Geld.” Die rötlichen Augen funkelten ihn böse an. „Das
kann ich mir denken, daß ihr kein Geld mehr habt. Gören wie ihr
können ja nicht einteilen. Also eßt und ziert euch nicht so
albern!”
Jules wagte es kaum, ein „Danke” zu murmeln, und fiel dann mit
Heißhunger über seine Portion her. Aber Anne saß immer noch da
und blickte unglücklich und angewidert in ihre Schüssel. Der
Bucklige wandte jetzt ihr seine Aufmerksamkeit zu.
„Was hast du denn? Glaubst du, ich will dich vergiften?”
Anne wurde noch röter. Dann sagte sie leise mit gesenktem Kopf:
„Nein, aber ich kann das nicht essen.”
„Was soll das heißen: ‚Ich kann nicht!’?” fragte der Mann er
staunt. Er war offenbar so verwundert, daß er zu schimpfen vergaß.
Anne schwieg, sie wäre lieber in den Boden versunken, so peinlich
war ihr die Sache. „Sie ißt sonst nur Süßes!” sagte Jules, um ihr zu
helfen, aber damit hatte er das Gegenteil von dem erreicht, was er
wollte. Der Mann wurde so wütend, daß er wünschte, sie hätten
sich beizeiten aus dem Staub gemacht. „Was?” schrie er. „Sie ißt
sonst nur Süßes? Das hat ja die Welt noch nicht gehört! Ich hab' ja
gewußt, daß die Kinder heutzutage verwöhnt sind, aber so etwas! Ja,
dann verhunger doch, verreck doch, wenn du nicht magst, was man
dir gibt! Das ist mir doch egal! Von mir kriegst du jedenfalls nichts
mehr, da kannst du sicher sein!” Anne hatte solche Mühe, die
Tränen zurückzuhalten, daß sie kein Wort erwidern konnte. Jules
legte sein Eßbesteck hin und stand auf. „Sie werden einsehen, daß
ich das nicht zulassen kann, wie sie meine Schwester behandeln”,
sagte er in möglichst erwachsenem Ton, aber seine Stimme zitterte.
„Wir sind es jedenfalls nicht gewöhnt, daß man so mit uns
spricht, und wir wollen uns auch nicht daran gewöhnen.” Er
nahm Anne bei der Hand und wollte gehen, aber der Bucklige
sprang mit zwei Sätzen zur Tür und lehnte sich dagegen. „Seid doch nicht gleich so beleidigt!” sagte er mit plötzlich veränderter Stimme. „Ich hab' nicht viel mit Menschen zu tun, deshalb habe ich diesen Ton an mir. Außerdem kann ich Kinder eigentlich nicht leiden, doch da könnt ihr ja nichts dafür. Aber ihr könnt jetzt un möglich raus in den Regen!” Anne zupfte Jules am Ärmel, aber er stand unschlüssig. „Wenn du das Hähnchen nicht magst”, fuhr der Bucklige fort und wandte sich an Anne, „dann gib es doch deinem Bruder. Aber in diesem Restaurant gibt es keine süßen Sachen, ich kann dir nichts anderes geben, und etwas essen mußt du. Du bist furchtbar dünn.” „Ich will ja gar nichts haben von Ihnen!” antwortete Anne leise und trotzig, aber der Mann überhörte es. Die Kinder setzten sich wieder an den Tisch – sie sahen ein, daß sie gegen seinen Willen das Lokal nicht verlassen konnten. Jules aß weiter, auch ihr merkwürdiger Gastgeber aß, und Anne legte das Bruststück ihres Hähnchens frei und probierte es vorsichtig. Der Bratengeschmack war ihr zuwider, aber davon konnte sie vielleicht doch etwas essen. Im übrigen hielt sie sich an das beigegebene Brot. „Ihr braucht übrigens nicht immer ‚Sie’ zu mir zu sagen”, sagte der Bucklige, als sie mit dem Essen fertig waren; vorher hatten sie die ganze Zeit geschwiegen. „Ich bin nur ein einfacher Mann und lege auf solche Förmlichkeiten keinen Wert. Ich heiße Tobias. Daß ihr Geschwister seid, sieht man sofort, aber ich weiß eure Namen noch nicht.” Jules nannte sie ihm, und Tobias fuhr fort: „Und wie alt seid ihr? Ich kann so etwas nie schätzen.” „Anne ist dreizehn, und ich werde nächsten Monat fünfzehn”, antwortete Jules. Anne gab ihm unter dem Tisch einen Tritt; es ärgerte sie, daß er so bereitwillig auf alle Fragen antwortete. „So? Dann seid ihr älter, als ich vermutet habe. Ich meine, daß du fünfzehn bist, hätte ich schon gedacht, aber daß die Kleine … Na ja, ist auch egal. Ich beobachte euch schon die ganze Zeit.” „Warum das?” wollte Jules wissen. Als Tobias nicht antwortete, fügte er hinzu: „Sind Sie vielleicht in der letzten Nacht auch durch das Universitätsviertel gegangen?” „Ich sagte, ihr sollt mich duzen.
– Ja, das war ich.”
„Und warum haben Sie sich gestern nachmittag unter die
Wachsfiguren gestellt?” Annes Stimme war schrill vor Aufregung.
Tobias lachte. „Damit du denken solltest, ich wäre eine
Wachsfigur.” „Ja, aber warum?”
Tobias stand auf und räumte den Tisch ab. „Es hat aufgehört zu
regnen. Was habt ihr jetzt vor?” Jules wollte antworten: „Nichts
Bestimmtes!”, aber Anne kam ihm zuvor und sagte schnell: „Wir
gehen jetzt nach Hause!”
„Was heißt nach Hause? Eure Eltern sind noch nicht wieder da!”
Mit einem Schlage stand Jules wieder die Außerordentlichkeit ihrer
Situation vor Augen, an die sie sich schon fast gewöhnt hatten. Was
sagte Tobias da? Das klang ja beinahe, als ob er etwas wüßte! Über
dem seltsamen Erlebnis ihrer Begegnung mit ihm hatten sie ganz
vergessen, ihn nach dem Nächstliegenden zu fragen. „Was ist
eigentlich los in der Stadt?” fragte Jules. Das Herz klopfte ihm bis
zum Hals vor Spannung und Aufregung. Anne umklammerte mit
beiden Händen die Tischkante, als wollte sie sich daran festhalten.
Tobias lachte wieder.
„Das interessiert euch also auch! Ich dachte schon, ihr vermißt die
anderen Leute gar nicht. – Ich wünschte jedenfalls, sie blieben im
mer fort!” setzte er plötzlich bitter hinzu.
„Dann kommen sie also wieder? Und wo sind sie denn jetzt, und
warum sind sie fort?”
„Ja, sie kommen leider wieder. Regt euch nicht auf, es ist nur eine
vorübergehende Evakuierung.” Tobias versank einige Sekunden in
düsteres Nachsinnen, dann fuhr er fort: „Ich will es euch erklären.
Es ist ganz einfach. Ich verstehe nur nicht, wie ihr durch die
Maschen geschlüpft seid. – Das Ganze ist eigentlich ein Manöver.”
„Ein Manöver?”
„Ja, gewissermaßen. – Vielleicht habt ihr schon einmal davon ge
hört, daß seit zwei Jahren ein Streit darum geht, ob das neue
Kernkraftwerk, das für die Energieversorgung der Stadt notwendig
ist, auf dem Stadtgebiet oder im Norden unseres Staates gebaut
werden soll.” „Das ist doch längst entschieden!” warf Anne ein,
die von der Sache gelesen hatte. „Im Randgebiet der Oststadt soll es gebaut werden, da gibt es doch gar keinen Streit mehr!” „Ganz geklärt ist das noch nicht”, widersprach Tobias. „Es ist viel rentabler, das Werk in der Stadt zu haben, deshalb wollen es auch eigentlich alle, aber es gibt immer noch Stadtverordnete, die befürchten, die Bevölkerung könnte durch die Radioaktivität ge fährdet werden.” „Kann sie das denn?” fragte Jules. Er hörte diese Geschichte nicht zum erstenmal, hatte sich aber bisher nicht sonderlich dafür interessiert. Er hatte immer darauf vertraut, daß die Stadtverwaltung das Richtige tun würde. „Im Normalfall nicht. Aber wenn im Werk ein Unfall passiert oder irgend etwas nicht in Ordnung ist – ich bin kein Fachmann und versteh' da nichts davon – , dann könnte es schon passieren, daß schädliche Strahlen nach außen dringen und eventuell die ganze Stadt gefährden.” „Dann verstehe ich nicht, wie man überhaupt in Erwägung ziehen kann, das Werk in die Stadt zu legen!” „Das sagst du so, Junge! Unsere Stadtväter haben eben nicht unbedingt deinen gesunden Menschenverstand. Außerdem ist die Gefahr, daß so etwas wirklich passiert, auch nur etwa eins zu tausend.” Anne wurde langsam ungeduldig. „Aber was hat das denn damit zu tun, daß –” Tobias winkte ab. „Ich bin ja schon soweit. Unsere Stadtväter haben sich eben etwas ausgedacht. Die Leute sollen alle Schutzanzüge bekommen, die sie im Falle der Gefahr anziehen. Dann soll die Stadt innerhalb von vier Stunden total geräumt wer den. Angeblich wäre bis dahin die Schädigung durch Radioaktivität auf ein Minimum beschränkt. Um aber auszuprobieren, wie weit man in so kurzer Zeit kommt, hat man einfach vorgestern die ganze Bevölkerung evakuiert und sie für ein paar Tage in den Nachbarstädten untergebracht. Die Regierung ist selbst interessiert an dem Kraftwerk und hat das Projekt unterstützt. Jetzt werden sie mit ihrem Manöver wohl sehr zufrieden sein, und das Werk wird nun sicherlich gebaut.” Die Kinder saßen eine ganze Weile stumm da. Sie hätten eigentlich froh sein müssen über diese Erklärung: Alles ging ganz natürlich zu,
und es war auch nichts Schlimmes geschehen, wie sie anfangs
befürchtet hatten. Trotzdem war ihnen nicht wohl dabei. Tobias
hatte eine Art, die Sache zu berichten, daß Jules und Anne
nicht wußten, ob er sich darüber empörte oder sie wirklich spaßig
fand.
Besonders Jules fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. „Es sind
also wirklich überhaupt keine Leute mehr in der Stadt?” Irgendwie
kam es ihm dumm vor, die Frage nochmals zu stellen, aber
nach Tobias' Erzählung erschien ihm dieser Umstand plötzlich
wieder fast ebenso unwirklich wie vor zwei Tagen. „Was heißt:
keine! Hier sitzen doch drei!” Das sollte wohl ein Scherz sein, aber
Jules und Anne war nicht zum Lachen zumute.
„Kann man das denn machen”, fragte Jules schließlich langsam,
„den Leuten einfach befehlen, die Stadt zu verlassen? Hat man ihnen
gesagt, warum?” „Wenn die Leute gewußt hätten, was wirklich los
war”, warf Anne rasch ein, „dann sähe es in der Stadt anders aus.
Die meisten sind weggegangen, ohne sich umzusehen, haben
einfach alles stehen und liegen lassen!” „Das ist richtig”, sagte
Tobias. „Über das Manöver aufgeklärt wurden die Menschen erst in
den Lagern und Quartieren, wohin sie gebracht wurden. Die
Stadtverwaltung hat zunächst gar keine Begründung für die Evakuie
rung gegeben, weil sie wahrscheinlich fürchtete, die Leute
würden sich dann nicht genügend beeilen. So entstand der Eindruck,
es passierte etwas Schlimmes. Tatsächlich hatten die Menschen
ziemliche Angst.” „Aber das ist doch eine Gemeinheit!” entfuhr es
Jules. „Und undemokratisch ist es auch!”
Tobias lachte spöttisch. „Ja, in der Schule, da erzählen sie immer
noch von Demokratie. In Wirklichkeit weiß die Regierung längst,
daß solche Menschenmassen sich demokratisch nicht mehr lenken
lassen. Jedenfalls glaubt sie das zu wissen.”
Jules war es unangenehm, Tobias so reden zu hören. Er hatte von
Politik eine andere Vorstellung. „Sicher hat man aber doch vorher
die ganze Aktion rechtzeitig angekündigt!”
Anne ärgerte sich über ihren Bruder: Er war manchmal aber auch
zu begriffsstutzig. „Das ist doch ganz unlogisch! Außerdem,
glaubst du, die Eltern hätten uns nicht Bescheid gegeben, wenn sie etwas gewußt hätten?” Tobias warf ihr einen bösen Blick zu und wandte sich nun ganz Jules zu. „Nein, wenn man das getan hätte, wäre das Manöver weitgehend sinnlos geworden. Die Menschen hätten packen können, hätten sich eine Unterkunft besorgen können und so weiter. Nein, die ganze Geschichte mußte sich genau so abspielen, als ob wirklich Gefahr bestünde, damit nicht im Ernstfall unvorhergesehene Schwierigkeiten auftauchen. Deshalb wurden vorgestern um Punkt zehn Uhr alle zehntausend behördeneigenen Lautsprecher in Betrieb gesetzt und die Leute aufgefordert, schnellstens zu den Bahnhöfen zu kommen. Um elf Uhr begannen Polizisten und Beamte systematisch sämtliche Wohnungen zu kontrollieren. Gegen 14 Uhr war die Stadt dann leer, und die Gegner des Kernkraftwerkes waren unterlegen.” Jules seufzte. „Unsere Eltern machen sich sicher schreckliche Sorgen um uns. Ich versteh' nicht, warum es nicht verhindert worden ist, daß wir noch in die Stadt hineinkamen. Sie hätte dann doch auch von außen gesperrt werden müssen.” „Das wurde sie auch. Und eure Eltern denken natürlich, daß ihr wieder an euren Ferienort zurückgefahren seid wie alle Reisenden, die die Möglichkeit dazu hatten. Die Hotels und Ferienlager bekamen am Nachmittag offizielle Anweisungen. Aber ich wunderte mich ja schon die ganze Zeit, daß ihr durchgeschlüpft seid. Die Straßen sind alle gesperrt worden, und die Züge wurden kontrolliert. Die Reisenden mußten spätestens in den Nach barstädten aussteigen.” „Da sind also nur wir komischerweise übersehen worden. Warum hat man die Leute denn nicht mit Lautsprechern dazu aufgefordert, den Zug zu verlassen?” „Das weiß ich auch nicht. Vielleicht glaubte man, den Zug ohne viel Aufregung räumen zu können, und hielt die Kontrolle der Beamten für ausreichend. Es war natürlich ein Fehler, daß man die Züge einfach hat weiterfahren lassen. Aber eine automatische Bahnanlage für ein paar Tage umzustellen, ist eben viel zu kostspielig. – Na ja, es ist schon eine komische Geschichte. Nun wißt ihr es, und spätestens in ein paar Tagen
kommen eure Eltern zurück. Dann ist für euch alles wieder im Lot.” Tobias stand auf und ging zum Fenster. „Ich glaube, das Wetter wird wieder schön. Wenn ihr nichts weiter vorhabt, könnt ihr mit mir kommen und sehen, wo ich wohne.” „Nein, wozu? Das ist nicht nötig!” entfuhr es Anne. Die Informationen, die sie bekommen hatten, waren ja sehr wichtig und interessant gewesen, aber nun mußte einmal Schluß sein mit dieser sonderbaren Bekanntschaft. Vielleicht war Tobias wirklich nicht so gefährlich, wie er aussah, aber mit ihm befreunden wollten sie sich doch auf gar keinen Fall. Doch Jules sagte zu ihrem Erstaunen mit völliger Selbst verständlichkeit: „Ja, ich glaube, es ist gut, wenn wir das wissen!” und schien die empörten Blicke, die seine Schwester ihm zuwarf, gar nicht zu bemerken. Es fiel Anne schwer, sich zu beherrschen, aber sie nahm sich vor, Jules gehörig die Meinung zu sagen, sobald sie wieder allein waren.
TOBIAS Es hatte tatsächlich aufgehört zu regnen, die Sonne schien wieder und brachte den feuchten Boden zum Dampfen. Tobias schlug den kürzesten Weg durch den „Wald” ein, Jules ging neben ihm. Anne folgte unwillig. Es lag ihr viel daran zu zeigen, wie ungern sie mitging, und sie bereute jetzt, sich eben noch mit Tobias unterhalten zu haben. Freilich waren die Neuigkeiten, die er zu berichten wußte, so interessant gewesen, daß sie darüber ganz vergessen hatte, wie unheimlich und unsympathisch er ihr war. Jules jedoch war tief in Gedanken versunken und bemerkte überhaupt nicht, daß Anne nicht neben ihm ging, sondern mit betont verdrießlicher Miene hinterherschlenderte. Er war verwirrt, ohne eigentlich zu wissen, warum. Statt der Erleichterung, die er bei Tobias' Bericht empfunden hatte, wurde ihm jetzt immer dü sterer zumute. Wenn er an die Stadtverwaltung dachte, die die ganze Geschichte so bewunderungswürdig organisiert hatte, befiel ihn ein gemischtes Gefühl von Enttäuschung und Erbitterung, das
er selbst nicht zu deuten vermochte. Er schrak zusammen, als
Anne ihm plötzlich etwas zuflüsterte. Erst beim zweitenmal
verstand er sie. „Warum fragst du ihn nicht selbst?” gab er zu
rück. „Aber das ist ja eigentlich wahr! Tobias, wie kommt es, daß
du auch noch in der Stadt bist? Bist du auch später gekommen?”
„Nein, ich bin hier geblieben. Das können die mit mir nicht ma
chen, daß sie mich einfach wegschicken!” „Aber warum denn nicht?
Wenn es doch alle machen!” platzte Anne heraus. Sie ärgerte sich
über sich selbst, daß es ihr nicht gelang, in ihrem Schmollwinkel zu
bleiben. Aber dieser Mensch war auch zu sonderbar, da konnte
man nicht ruhig sein!
Tobias verzog das Gesicht zu einer höhnischen Grimasse. „Wenn es
doch alle machen! Ist das ein Grund?” Anne schwieg beleidigt,
aber Jules fragte interessiert: „Aber wie hast du es denn
vermeiden können? Du bist doch ebenso registriert wie alle
anderen Leute auch.” „Ich habe mich versteckt. – Ich mag es übri
gens nicht, wenn man mich so ausfragt.”
Jules antwortete mehr erstaunt als empört: „Aber du hast uns
doch selbst vorhin allerhand gefragt!” „Das ist auch etwas ande
res.”
Sie hatten mittlerweile den „Wald” verlassen und waren auf den
großen Platz hinaus gekommen. Tobias steuerte auf die U-Bahn
station zu. Er war jetzt wieder mürrisch und wortkarg. Wenn die
Kinder sein unfreundliches Wesen auch nicht begriffen und sich
daran stießen, hüteten sie sich doch, ihm noch mehr Fragen zu
stellen, die ihn vielleicht ärgern könnten. Anne ergab sich in ihr
Schicksal und tröstete sich damit, daß sie in Kürze wieder allein sein
würden. Jules war auf eine merkwürdige Weise so fasziniert von
diesem neuen Bekannten, daß es ihm nicht mehr besonders wichtig
erschien, ob dieser freundlich war oder nicht.
Erst als sie unten auf dem Bahnsteig standen, fiel ihm ein, daß
Anne sich noch vor kurzem geweigert hatte, mit der U-Bahn zu
fahren. Er sah sie fragend an. „Wenn du vielleicht lieber …”, begann
er, aber Anne, die sofort merkte, was er sagen wollte, brachte ihn
mit einem wütenden Blick zum Schweigen. Das fehlte gerade
noch, daß er diesem Fremden gegenüber verriet, wie ängstlich sie noch vor kurzem gewesen war. „Red keinen Quatsch!” Aber Tobias hatte einen sehr scharfen Blick. Anne empfand es als ausgesprochene Bosheit von ihm, daß er, unmittelbar nachdem sie eingestiegen waren und sich gesetzt hatten, scheinheilig fragte: „Magst du etwa auch die U-Bahn nicht?” Wahrscheinlich war das sogar witzig gemeint, aber Anne errötete vor Scham und Ärger. Doch ehe sie etwas erwidern konnte, sagte Jules schnell: „Wir fahren fast immer U-Bahn, wenn wir zusammen sind.” Schlagfertigkeit war sonst nicht seine Stärke, und Anne wäre ihm vor Überraschung und Dankbarkeit am liebsten um den Hals gefallen. Tobias sah die beiden Kinder prüfend an. „Ich fahre sonst immer Auto”, sagte er schließlich. Es stellte sich heraus, daß Tobias ebenfalls in der Weststadt wohnte, und zwar in unmittelbarer Nähe des Westparks. Jules fiel sofort wieder die vorgestrige Nacht ein, als er geglaubt hatte, im Park hinter sich Schritte zu hören, und er wagte es, Tobias danach zu fragen. Doch dieser reagierte unerwartet friedfertig. „Ja, das war ich”, gab er zu. „Da habe ich dich zum erstenmal bemerkt. Es tut mir leid, daß ich dich er schreckt habe – das war nicht meine Absicht.” Anne war ganz entsetzt über diese Neuigkeit. „Warum hast du mir davon nichts gesagt?” fragte sie vorwurfsvoll. „Und gestern nacht hast du mich ausgelacht, als ich etwas gehört hatte!” „Weil du dich nicht aufregen solltest. Außerdem dachte ich, ich hätte mich getäuscht. – Aber warum bist du mir denn nachgegan gen?” wandte Jules sich wieder an Tobias. „Oder habe ich mir das bloß eingebildet?” „Wir müssen aussteigen!” Tobias stand auf und ging zur Tür. „Nein, das hast du dir nicht eingebildet.” Sie stiegen aus und fuhren mit der Rolltreppe hinauf. Die Kinder sahen sich um. Sie kannten diese Gegend gut. Die Straße, auf der sie sich befanden, bildete hier die Grenze zwischen dem nördlichen Teil des Westparks und dem Wohnviertel für alleinstehende Berufstätige. Auf der einen Seite standen hohe, grüne Bäume, sich im Wind leicht bewegend und vom Regen noch tropfend, auf der anderen die viel höheren schlanken, hellen Wohnblocks, die mit ihren unzähligen
Fenstern wie mit Augen über den Park hinblickten.
Die Kinder folgten Tobias zu einem der ersten Häuser direkt an
dieser Straße. Jules schien ganz vergessen zu haben, daß sie nur bis
hierher hatten mitgehen wollen, aber Anne zögerte und wußte nicht,
was sie tun sollte. Natürlich war es Unsinn, einen so weiten Weg
zurückzulegen, um dann vor der Haustür wieder umzukehren. Unsinn
war es wahrscheinlich auch, sich vor Tobias zu fürchten. Wenn
man mit ihm sprach, war er eigentlich gar nicht mehr so
unheimlich, sondern nur noch eigenbrötlerisch. Nein, Angst hatte
sie keine mehr vor ihm, aber sie fühlte sich von ihm hintergangen
und von ihrem Bruder enttäuscht. Es war offensichtlich, daß Tobias
etwas ganz Bestimmtes vorhatte. Aber warum sagte er nicht, was
er eigentlich wollte? Und warum ging Jules so anstandslos mit,
anscheinend ohne sich die geringsten Gedanken darüber zu
machen, ob es seiner Schwester recht war? Sie erkannte ihren
rücksichtsvollen und umsichtigen Bruder gar nicht wieder. Was
fand er nur an diesem abscheulichen Buckligen, daß er sich auf
einmal so bedingungslos nach ihm richtete? Tobias bemerkte Annes
Zögern und ihre Verwirrung und sah sie zum erstenmal, seit sie
einander begegnet waren, aufmerksam an. Vorher hatte er immer
gleichsam durch sie hindurch gesehen, aber diesmal lag in seinem
Blick so viel interessierte Teilnahme, daß sie fühlte, wie ihr letztes
Mißtrauen schwand.
„Kommt doch mit rein!” sagte er in fast bittendem Ton. „Ihr
könntet wenigstens noch mit mir Tee trinken und, wenn ihr dann
genug habt, wieder gehen. Ich will euch gewiß keine Vorschriften
machen.”
„Ja, wir kommen gern mit!” beeilte sich Jules zu versichern. „Aber
wenn wir dir lästig fallen, mußt du es sagen!”
„Nein, nein, ich habe vorhin nur so geredet.” Sie fuhren hinauf in
die 23. Etage. Tobias eilte voran, schloß die Wohnungstür auf und
ließ die Kinder eintreten. Die Wohnung hatte einen winzigen Vor
raum, in dem sie ihre Mäntel ablegten. Dann betraten sie ein großes,
helles Zimmer, bei dessen Anblick sie im ersten Moment überrascht
stehenblieben. Der weite, schöne Raum mit seinen breiten Fenstern,
die eine wunderbare Aussicht auf den Park boten, war so spartanisch einfach, ja primitiv eingerichtet, wie es in diesen hochmodernen Wohnblocks wohl einmalig war. Die Wände waren schlicht gelb gestrichen ohne den üblichen Schmuck von Blumen und Ornamenten. Sämtliche Möbel aus hellem, holzähnlichem Material hatten altertümlich eckige Formen ohne die geringsten Verzierungen. Tobias bemerkte die verwunderten Blicke der Kinder und wurde beinahe ein wenig verlegen. „Ich kann mir denken, daß es euch hier nicht gefällt”, sagte er. „Mir fällt es natürlich nicht mehr auf. Aber es liegt daran, daß ich alles selbst gemacht habe.” „Selbst gemacht?” echoten Jules und Anne wie aus einem Munde. „Ja, warum denn das?” Und Jules fügte noch bewundernd hinzu: „Woher kannst du denn das?” „Ich wollte es anders haben als die anderen. Außerdem ist es nicht schwer.” Er verschwand in einem Nebenraum, und die Kinder hörten ihn dort mit Geschirr klappern. Anne hatte ganz vergessen, daß jetzt die beste Gelegenheit gewesen wäre, Jules die wohlverdienten Vorwürfe zu machen, so sehr faszinierte sie die ausgefallene und eigenwillige Einrichtung dieser Wohnung. Sie ging umher und sah sich alles an. Unter dem einen Fenster stand ein schmales, niedriges Bett, das aussah, als hätte man ein Brett auf vier Klötze gestellt. Unvorstellbar, daß jemand darin schlafen konnte! Auf dem Schreibtisch an dem anderen Fenster stand eine Vase mit einem bunten Strauß. Anne faßte ihn an und stieß einen Ruf der Ver wunderung aus: Es waren echte Blumen! Die beiden anderen Wände wurden fast völlig eingenommen von bis zur Decke reichenden, grobgezimmerten Regalen, die mit Tonbandkassetten vollgestopft waren. Anne nahm einige von ihnen heraus und las die Beschriftung. Es waren alles Hörbücher, und zwar anscheinend anspruchsvolle Werke aus allen möglichen Wissensgebieten, aber auch aus der modernen und älteren Literatur. Es waren Titel dabei, die sie aus dem Literaturunterricht kannte, andere imponierten schon durch ihre bloße Formulierung. Anne mußte sich eingestehen, daß in diesem kleinen Buckligen doch offenbar mehr steckte, als beim
ersten Eindruck zu vermuten gewesen war.
Tobias kam wieder herein und stellte ein schwerbeladenes Tablett
auf den Tisch, der die Mitte des Zimmers bildete. Erst als er jetzt
anfing, ihn abzuräumen, bemerkten die Kinder, daß die ganze Fläche
bedeckt war mit Holzstücken, Spänen und kleinen, zierlichen
Figuren, die sich beim näheren Hinsehen als geschnitzte Vögel ent
puppten. Sorgfältig nahm Tobias einen nach dem anderen und
stellte ihn auf den Schreibtisch. Anne konnte nicht widerstehen
und nahm einen von ihnen behutsam in die Hand. Ein Vogel war
wie der andere, und doch merkte man sofort, daß sie einzeln
gearbeitet waren, denn winzigkleine Unterschiede gaben jedem ein
individuelles Gepräge.
„Mach nur nichts kaputt!” sagte Tobias barsch und fügte etwas
sanfter hinzu: „Das ist keine Spielerei. – Aber nun setzt euch her,
sonst wird der Tee kalt.”
Anne war angenehm überrascht, als sie entdeckte, daß auf dem
Tisch nicht nur Tee, sondern auch süßes Gebäck und Weißbrot
sowie Marmelade und Käse standen. An dem forschenden Blick,
mit dem Tobias sie ansah, erkannte sie, daß er nur ihretwegen so
großzügig war, und sekundenlang überkam sie ein Gefühl dank-
barer Rührung, das aber gleich wieder abebbte. So leicht verzieh
sie ihm nicht, daß er vorhin so grob zu ihr gewesen war! Immerhin
hatte sie einen gehörigen Hunger, und so machte sie sich mit
Genuß über die angebotenen Köstlichkeiten her, während Tobias
und Jules gleichsam nur zur Gesellschaft dabeisaßen und lediglich
wenige Bissen zu sich nahmen.
„Ich arbeite bei Bergson”, sagte Tobias jetzt als Antwort auf die
unausgesprochenen Fragen der Kinder, wobei er sich an Jules
wandte. Die Firma Bergson war eine Fabrik für Kunstgewerbe, die
vor allem Holzschnitzereien anbot. „Bergson beschäftigt außer-
halb der Fabrik auch noch Leute, die in Heimarbeit ganze Gegen
stände allein herstellen. Dazu gehöre ich.”
Jules sah nachdenklich zum Schreibtisch hinüber. „Auf die Dauer
ist das aber sicher ziemlich langweilig.” „Bestimmt nicht so
langweilig wie für die Leute in der Fabrik, die fünf Stunden am Tag
immer denselben Handgriff tun: ein Stückchen Brett abschmirgeln
oder einem Holzengelchen die Beine ankleben.”
„Warum wird denn so etwas nicht maschinell gemacht?” fragte Jules
interessiert.
„Nun ja, Bergson legt Wert auf Handarbeit und kann sich das leisten.
Du weißt es vielleicht nicht, aber dort arbeiten zum großen Teil
geistig zurückgebliebene Menschen, deren Angehörige froh sind,
wenn sie überhaupt einen Arbeitsplatz bekommen.”
Davon hatten die Kinder bisher nur munkeln hören. Man sprach
nicht gern von solchen Dingen, und Anne wunderte sich, daß
Tobias so offen darüber redete. Es war gewiß schlimm, daß es
solche Menschen gab, aber jeder wußte, daß sie vom Staat gut
versorgt wurden. Konnte man denn der Firma Bergson einen
Vorwurf machen, daß sie diese Arbeitskräfte nicht gut bezahlte und
selbst dabei reich wurde? Es schadete doch niemandem – die
Zurückgebliebenen merkten es ja nicht. Wozu brauchten sie denn so
viel Geld?
Tobias wies auf die Kassetten in den Regalen. „Dadurch, daß ich zu
Hause arbeiten kann, habe ich es besser”, sagte er. „Bei der Arbeit
höre ich meine Bücher. Es gibt nichts Interessanteres. Wenn du
willst, Jules, könntet ihr euch irgendwas anhören. Das
Tonbandgerät ist hier.” Er öffnete den Schreibtisch, und Jules wollte
gerade verlegen gestehen, daß er sich nichts aus Büchern machte,
als Anne entzückt aufsprang. Sie hatte neben dem Gerät ein
Schachspiel entdeckt. Begeistert holte sie sofort den Kasten heraus
und bemühte sich, ihn zu öffnen, ohne Tobias' erstaunten Blick zu
bemerken. Jules mußte lachen, obwohl ihm Annes Impulsivität
manchmal etwas peinlich war. „Schach ist Annes neueste Masche”,
erklärte er. „Du kannst ihr keine größere Freude machen, als
wenn du eine Partie mit ihr spielst.” Tobias sah aus, als wollte er
etwas sagen, das er aber dann unterdrückte. „Na gut”, brummte er
nach einigem Überlegen, „aber iß erst fertig!”
Anne hatte es jetzt sehr eilig, ihre Mahlzeit zu beenden. Als Tobias
dann den Tisch abräumte, stellte sie die Schachfiguren auf und
zitterte vor Aufregung. Ob es ihr wohl gelingen würde, diesen
sonderbaren Menschen zu besiegen? Sie wußte, daß sehr gute Schachspieler oft gar nicht besonders intelligent wirken, und Tobias hatte sich bisher immer wieder von einer Seite gezeigt, die man nicht so ohne weiteres bei ihm vermutet hätte. Um so erstaunter war sie, als er jetzt anfing, mit ihr zu spielen. Er spielte ganz unerwartet schlecht. Nachdem es ihr gleich am Anfang gelungen war, ihm zwei Figuren abzujagen, konnte sie ihre Genugtuung kaum verbergen. Sie beherrschte sich mühsam, um nicht unfair zu erscheinen, warf aber doch Jules, der interessiert zuschaute, einen triumphierenden Blick zu. Als Tobias kurz darauf seine Dame verlor, nahm sie sich vor, ihn demnächst auf seine Fehler aufmerksam zu machen. Es war schließlich doch etwas un befriedigend, einen gar so schwachen Gegner zu haben! „Sie spielen wohl nicht oft Schach?” fragte sie möglichst diplo matisch. „Ich bin aber auch erst Anfänger.” „Na ja, Anfänger bin ich gerade nicht!” antwortete Tobias, und ein breites Grinsen ging über sein Gesicht. „Aber du hast mich ja ganz schön in der Klemme.” „Sie könnten eigentlich aufgeben”, wagte Anne vorzuschlagen, „ohne Dame hat es ja doch keinen Zweck mehr.” „Meinst du wirklich? Was würdest du denn an meiner Stelle tun?” „Ich gebe eigentlich nie auf, bevor ich matt bin”, antwortete Anne unschlüssig, „aber viele berühmte Schachspieler tun es, wenn die Lage aussichtslos ist.” „Gut, dann gebe ich auch nicht auf.” Tobias grinste wieder, und irgendwie wurde es Anne unbehaglich bei diesem Grinsen. „Dann will ich jetzt mal anfangen zu spielen.” Und nun begann ein langwieriges und mühsames Ringen, bei dem es Tobias gelang, die verlorenen Positionen Schritt für Schritt zurückzuerobern. Anne war eine zähe und gute Spielerin, aber die plötzlich entdeckte Überlegenheit ihres Gegners wirkte nach und nach gleichsam lähmend auf sie, und sie machte ein paar entscheidende Fehler. Als sie schließlich erschöpft und im wahrsten Sinne des Wortes schachmatt in ihren Stuhl zurücksank, standen ihr Tränen der Enttäuschung in den Augen. „Mach dir doch nichts daraus!” sagte Jules beunruhigt, und zu Tobias gewandt fügte er vorwurfsvoll hinzu: „Du hättest ihr nicht erst vormachen sollen,
daß du schlecht spielst!”
„Warum nicht?” erwiderte Tobias leichthin. „Ich dachte doch, sie
könnte Spaß verstehen. Übrigens spielt sie wirklich gut!”
Anne fühlte plötzlich Übelkeit aufsteigen. Ihr fiel mit einemmal auf,
daß Tobias immer wieder von ihr in der dritten Person sprach. Sie
hatte das Gefühl, dies auf einmal nicht mehr ertragen zu können.
Sie stand auf und wurde so blaß, daß Jules erschrak.
„Sie muß sich unbedingt hinlegen!” flüsterte er Tobias zu. Dieser
sprang nun auch beunruhigt auf, stieß zwischen zwei Regalen eine
Tapetentür auf, die vorher nicht zu sehen gewesen war, und schob
Anne in einen kleinen Raum. Sie spürte es kaum, wie Jules und
Tobias sie auf eine schmale, aber weiche Couch legten und sie
dann allein ließen. Wie aus weiter Ferne hörte sie im Nebenraum
die Stimmen der beiden, ohne ein Wort verstehen zu können. Um
sie drehte sich alles. Sie wünschte nur, daß man sie in das
Badezimmer gebracht hätte, aber sie konnte nicht aufstehen. Eine
unbestimmte Zeit kämpfte sie gegen eine heftige Übelkeit an, dann
ließ sie auf einmal nach. Anne atmete auf, sie entspannte sich,
drehte sich um und fiel unvermittelt in einen tiefen Schlaf.
ANNE
Als sie einschlief, war es dämmerig gewesen in dem kleinen Raum, als sie wieder erwachte, war es so dunkel, daß sie die Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Sie blieb ein paar Minuten regungslos liegen und versuchte, sich zu besinnen. Wo befand sie sich eigentlich? Sie fühlte sich ungewöhnlich frisch und wohl, aber die Dunkelheit beunruhigte sie, bis sie sich aufrichtete und merkte, daß sie vom Fenster abgewandt gelegen hatte. Das einzige Fenster war nun freilich winzig und ließ kaum Licht hindurch. Selbst am Tage mußte es in diesem Raum recht düster sein, aber immerhin saß sie nicht in einem lichtlosen Loch, wie ihr erst geschienen hatte. Sie stand auf und tastete sich hinüber. Das Fenster war einen Spalt geöffnet. Anne blickte direkt auf die dunklen Baumkronen des
Parks und die tiefhängenden altmodischen Bogenlampen der Straßenbeleuchtung hinab, in deren Licht einzelne Zweige grün schimmerten. Sie wandte sich seufzend ab. Sie verspürte auf einmal heftigen Hunger. Mit Erstaunen stellte sie fest, daß die Leuchtziffern ihrer Uhr bereits drei zeigten. Kein Wunder, daß sie sich so ausgeruht fühlte! Mehr als acht Stunden hatte sie also in voller Kleidung auf dieser Couch gelegen und geschlafen. Jules und Tobias hatten sich in der Zeit bestimmt einen schönen Abend gemacht. Womöglich hatte Jules sie noch nicht einmal vermißt! Mit einem Schlag stand ihr der ganze gestrige Tag wieder lebhaft vor Augen. Jules hatte sich ganz abscheulich benommen. Wirklich, so etwas war sie von ihrem Bruder nicht gewöhnt! Kaum war Tobias aufgetaucht, wurde alles getan, was er wollte. Nicht ein einziges Mal hatte Jules sich darum gekümmert, ob es ihr auch recht war. Und das, obwohl er ganz genau wußte, welche Angst und welchen Abscheu sie zunächst vor Tobias gehabt hatte! Und warum war er denn jetzt wenigstens nicht einmal hereingekommen, um zu sehen, wie es ihr ging? Sie beschloß, in die Küche zu gehen und sich etwas zu essen zu holen. Daß sie hier verhungerte, konnte man wohl nicht auch noch von ihr verlangen! Nach einigem Suchen fand sie den Lichtknopf, drückte und mußte dann die Augen vor der plötzlichen Helligkeit schließen. Als sie sie wieder öffnete, wurde sie mit Verwunderung gewahr, daß sie sich in einem zwar winzigen, aber ganz reizend eingerichteten Zimmer befand, in dem alle Ge genstände darauf hindeuteten, daß es für gewöhnlich von einer Dame bewohnt wurde. Die helle Tapete war im modernen Ornamentalstil über und über bedeckt mit grünen Ranken, die allein schon eine freundliche Atmosphäre von Park und Sommer schufen. Die wenigen dun kelbraunen Möbel waren zierlich und verschnörkelt, wie es zur Zeit beliebt war, und auf dem Tischchen am Fenster stand ein großer Korb mit prächtigen künstlichen Blumen, vor allem Rosen und Lilien, deren Bild sich in einem schräg gegenüberstehenden Spiegel wiederholte. Die Blumen waren wohl schon ziemlich alt, denn sie dufteten nur noch ganz schwach, aber das war auch das einzige, was
Anne störte. Nach der ersten Überraschung war sie entzückt von diesem Raum, der ihr wie eigens für sie gemacht schien. Das war doch etwas anderes, als Renees nüchternes Gästezimmer, in dem zwar für jede Bequemlichkeit gesorgt war, sich aber doch nichts befand, woran man bloß Spaß haben konnte! Sie ging umher und sah sich alles an. Ein ganzes Schränkchen mit Nippsachen gab es hier, Figürchen, Vasen und Tellerchen, von denen einige sogar aus echtem Porzellan oder aus Keramik waren. Anne entdeckte es, als sie den Schaukasten öffnete und einige der kleinen Gegenstände in die Hand nahm. Sie liebte Nippsachen, aber selbst besaß sie leider nur welche aus Kunststoff. Hinter einer Gruppe brauner Barockengelchen stand eine kleine Ballerina mit einem Röckchen aus kunstvoll durchbrochenem Porzellan. Anne wollte sie gerne näher betrachten, streckte die Hand aus, um sie hervorzuholen, und stieß dabei eines der Engelchen um. Hastig zog sie ihre Hand zurück, tat dies aber so ungeschickt, daß eine zweite der kleinen Figuren zu Boden fiel. Sie hielt die Luft an und horchte. Schon schien es im Nebenzimmer unruhig zu werden. Rasch bückte sie sich und hob das Engelchen auf. Es war unbeschädigt! Ein Glück, daß es aus Kunststoff war! Aber gerade, als sie es vorsichtig auf seinen Platz zurückstellen wollte, öffnete sich hinter ihr die Tür, und Tobias sah mit nicht gerade freundlicher Miene herein. So erschrocken sie war, mußte sie sich doch bei seinem Anblick Mühe geben, nicht zu lachen. Über seinem vom Schlaf geröteten Gesicht standen die schwarzen, borstigen Haare in die Höhe wie ein strubbeliger Besen. Dazu war ihm der rosafarbene Bademantel, den er sich schnell übergezogen hatte, bei seiner kleinen Statur viel zu lang, so daß er hinter ihm auf dem Boden schleifte und Tobias die Ärmel aufkrempeln mußte. Anne hatte das Gefühl, selten etwas so Lächerliches gesehen zu haben. Aber Tobias war sehr böse. „Wenn ich nicht Angst hätte, deinen Bruder zu stören”, knurrte er halblaut, „würde ich dir einmal ordentlich die Leviten lesen! Kannst du denn nirgends die Finger davon lassen? Was hast du denn jetzt kaputtgemacht?” „Überhaupt nichts!” antwortete Anne mit fester Stimme, innerlich
zitterte sie jedoch teils vor Angst, teils vor Empörung. Was fiel Tobias ein, sie schon wieder so anzufahren! Hoffentlich wachte Jules auf, um sie endlich einmal vor diesem Grobian zu beschützen! Tobias erwiderte kein Wort. Er kam zu ihr herüber und begann die Nippsachen durchzusehen, nahm ein Figürchen nach dem anderen in die Hand und drehte es hin und her, um zu sehen, ob es noch heil war. Anne schob er einfach beiseite. Dieses Verhalten empörte sie so, daß ihr jeder Anflug von Schuldbewußtsein völlig verging. „Willst du nicht vielleicht auch nachzählen, ob sie noch alle da sind?” fragte sie spitz. Aber Tobias schien den Spott in ihrer Stimme gar nicht wahrgenommen zu haben. Er sah sie mit einem merkwürdigen Blick an und begann dann tatsächlich zu zählen. Anne ging zum Fenster und sah hinaus. Sie fürchtete, jeden Augenblick in Tränen ausbrechen zu können. Oh, noch nie hatte sie einen Menschen so gehaßt! „Du hast noch mal Glück gehabt”, sagte Tobias schließlich offen kundig besänftigt. „Ich hätte dich verprügelt, wenn an dem Zeug was passiert wäre. Nicht, daß ich mir etwas aus dem Kitsch mache, aber … – Übrigens, wenn du ins Bad oder in die Küche willst, kannst du auch hier hinausgehen!” Dabei zeigte er auf eine schmale, fast unsichtbare zweite Tür, die Anne vorher nicht bemerkt hatte. „Dann brauchst du nicht durch mein Zimmer. In der Küche steht noch Abendessen.” „Was ist denn los?” fragte Jules, der auf einmal in der Tür erschien. Er trug einen blaugestreiften Schlafanzug, der ihm viel zu kurz war. „Du bist ja wieder auf, Anne! Fühlst du dich jetzt besser?” „Interessiert dich das etwa?” antwortete Anne böse. „Du siehst ja, daß es ihr ganz gut geht. Sie treibt schon wieder Un fug.” Tobias lachte. Anne hatte erwartet, daß Jules jetzt etwas dableiben und sich mit ihr unterhalten würde. Aber das tat er nicht, sondern er verschwand mit Tobias in dem dunklen Zimmer. Vielleicht genierte er sich wegen des kurzen Schlafanzuges, oder er war einfach müde. Anne fühlte keine Spur von Müdigkeit mehr, sie war hellwach und empfand nur noch den einen brennenden Wunsch, sich an Tobias
irgendwie zu rächen. Nach langem Überlegen holte sie die kleine
Tänzerin aus dem Schrank und tat etwas, das ihr im Grunde selbst
kindisch vorkam, sie aber trotzdem mit schadenfroher Genugtuung
erfüllte. Jetzt hatte sie auch wieder Appetit. Sie trat hinaus auf
den Flur und fand nach kurzem Suchen die Küche. Auf dem Tisch
standen eine Karaffe mit Saft, ein Teller mit belegten Broten und
eine völlig unberührte Schüssel mit gelbem Pudding. Anne nahm
sofort die Schüssel an sich, goß Saft über den Pudding und begann
heißhungrig zu essen. Nach einer Weile fiel ihr ein, daß sie
genausogut im Zimmer essen könnte. Sie nahm ihre Schüssel und
ging wieder hinüber, setzte sich auf die Couch und machte es
sich bequem.
Gerade als sie weiteressen wollte, bemerkte sie, daß Tobias und
Jules sich unterhielten, und zwar so laut, daß sie beinahe alles ver
stehen konnte. Vielleicht hatten sie nicht bemerkt, daß sie schon
wieder zurück war, denn sie sprachen offenkundig von ihr.
„… unwahrscheinlich intelligent”, sagte Jules gerade. „Sie hat
schon mehr Kurse gemacht als ich, obwohl sie fast zwei Jahre
jünger ist. Und dann sieht sie so süß aus. Ich kann es meinen Eltern
nicht übelnehmen, daß sie sie immer vorziehen.”
Was sagt er da? dachte Anne verwundert. Wie kommt er dazu, so
etwas zu behaupten?
„Du findest das wohl ganz in Ordnung, wie?” ertönte Tobias'
Stimme. Er sprach heftig, als ob er sich über etwas empörte, und
lauter als nötig. „Siehst du denn nicht, was dabei herauskommt?
Ich habe selten ein so egoistisches, ja eigensüchtiges Geschöpf erlebt
wie deine Schwester.”
Anne stand langsam auf. Sie fühlte sich innerlich ganz steif und
kalt werden. Fast hatte sie die Empfindung, einen körperlichen
Schlag zu bekommen, und mit beinahe schmerzhafter Gespannt
heit horchte sie und wartete darauf, daß in der entstandenen kurzen
Pause Jules widersprechen würde. Aber Jules schwieg, und die uner
bittliche Stimme sprach weiter.
„Was sie sieht, das muß sie haben. Alle und alles sind nur für sie da,
das ist ihre Welt. Ich sage dir, sie hat einen verdorbenen Charakter.”
Anne hatte das Gefühl, als sei ihr plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, taumelte sie zur Tür, tastete sich durch den schmalen Korridor bis zur Wohnungstür und zog sie leise hinter sich zu. Halb unbewußt bewegte sie sich fast lautlos, um nur ja niemanden auf ihren Weggang aufmerksam zu machen. Als sie unten auf der Straße stand, merkte sie, daß sie vor Tränen beinahe blind war. Trotzdem begann sie zu laufen. Sie lief und lief, bis sie vor Erschöpfung fast umfiel. Sie lehnte sich gegen eine Hauswand und keuchte. Sie wartete, bis das Stechen in der Seite nachließ, dann lief sie wieder weiter. Sie lief, bis sie die vertrauten Gegenden erkannte, bis sie dort war, wo jeder Riß auf dem Gehweg, jeder Fleck auf dem Rasen sie vertraut ansah und sie in „ihr” Haus hineinschlüpfen konnte wie in eine schützende Höhle. Der Aufzug war unten. Sie stürzte hinein, drückte den Knopf, und der Lift stieg in die Höhe. Plötzlich gab es einen scharfen Ruck. Für gewöhnlich hielt der Lift sachte, fast unmerklich. Leicht irritiert wandte sie sich nach der Tür, um auszusteigen, aber sie schob sich nicht wie sonst beiseite, um Ein- und Aussteigende durchzulassen. Ohne irgend etwas zu begreifen, starrte Anne die kahle Fläche an. Sie war noch zu benommen von dem eben Erlebten und von der Anstrengung des Laufens, als daß sie die Tragweite dessen, was jetzt geschehen war, wirklich hätte erfassen können. Ein paarmal drehte sie sich um sich selbst, weil sie zuerst annahm, daß sie nach der falschen Seite sah. Ein Blick auf die Schalttafel belehrte sie dann, daß der Lift gar nicht in der zwölften Etage gehalten hatte. Sie befand sich auf der Höhe der elften. Offenbar hatte sie unten auf den falschen Knopf gedrückt. Anne drückte auf den Knopf für die zwölfte Etage, der Lift rührte sich nicht. Wie war das möglich? Jetzt drückte sie auf den für das Erdgeschoß, ebenfalls ohne Erfolg. Ihre Benommenheit war mit einemmal geschwunden, alles, was sie soeben noch erlebt hatte, schien ihr in weite Ferne gerückt. Zuerst fast unmerklich fühlte sie Panik in sich aufsteigen. Schnell probierte sie nacheinander alle Schaltungen aus. Sie drückte auf den Alarmknopf und hörte, wie die
Klingel durch das leere Haus schrillte. Es war ja leer! Es war ja kein Mensch da, der ihr hätte helfen können! Anne begriff, daß sie allein und gefangen war in einem zwei Meter langen und zwei Meter breiten Käfig mit nichts als kahlen Wänden neben, über und unter sich. Eine unbändige Angst erfaßte sie und raubte ihr jede Besinnung. Sie warf sich gegen die Tür, die nicht aufgehen wollte, trommelte mit den Fäusten wie wild dagegen und schrie, bis sie nicht mehr konnte. Völlig erschöpft sank sie dann wimmernd in eine Ecke. Es dauerte lange, bis sie wieder fähig war, sich über ihre Lage klar zu werden. Daß sie geschrien und getobt hatte, kam ihr mit einemmal seltsam, ja fast unwahrscheinlich vor. Was hatte es für einen Sinn, hier zu schreien, wo kein Mensch sie hören konnte? Es war ihr, als sei sie es nicht selbst gewesen, die geschrien hatte, als habe etwas Fremdes sich ihrer bemächtigt und aus ihr herausgeschrien. Mit bisher ungekannter Angst vor der Angst spürte sie jedoch, daß dieses Fremde sie jederzeit wieder überwältigen konnte. Sie versuchte nachzudenken. Es war gewiß, daß sie ohne fremde Hilfe den Aufzug nicht wieder verlassen konnte. Wäre das Haus bewohnt gewesen, so hätte das weiter keine Schwierigkeiten ge macht, denn ständig fuhren Bewohner und Besucher hinauf und hinunter. Jetzt aber war es ganz und gar ungewiß, wann dieser Lift wieder gebraucht werden würde. Vielleicht dauerte es noch Tage, bis die Stadt wieder bewohnt war. Sollte sie so lange hier sitzen bleiben? Vielleicht verhungerte sie in der Zeit! Sie spürte, wie die Panik sich wieder in ihr regte. Sie stand auf und ging in dem engen Raum hin und her, um die erneut aufsteigende Angst niederzukämpfen. Ihre einzige Hoffnung war, daß Jules und Tobias nach ihr suchen würden. Aber würden sie auch an der richtigen Stelle suchen? Würden sie denn überhaupt nach ihr suchen? Die Erinnerung an die Erlebnisse der vergangenen Nacht überflutete Anne plötzlich mit aller Gewalt. Lag denn Jules überhaupt etwas an ihr? Sie setzte sich auf den Boden und weinte. Ihre Angst, das Ent setzen über diese ausweglose Gefangenschaft waren auf einmal ausgelöscht durch den einen großen Kummer, der sie aus Tobias'
Wohnung getrieben hatte und ihr jetzt voll zu Bewußtsein kam: Jules hatte sich mit Tobias gegen sie zusammengetan, sie hatten zusammen schlecht über sie geredet. Zum erstenmal in ihrem Leben wurde ihr klar, wie sehr sie an Jules hing. Jules war nicht nur ihr großer Bruder, auf den sie sich immer verlassen konnte, sondern er war auch stets so etwas wie ein guter Freund gewesen. Gerade wenn sie an die letzten Tage dachte: Wie gut hatten sie sich doch verstanden, bevor dieser schreckliche Tobias aufgetaucht war! Aber war es überhaupt Zuneigung und nicht bloß Pflichtgefühl gewesen, was Jules veranlaßt hatte, für seine kleine Schwester zu sorgen? War sie ihm vielleicht eine Last? Wenn sie an Tobias' Worte dachte, hatte sie wieder das Gefühl, als stehe die Welt auf dem Kopf. War sie nicht immer, solange sie denken konnte, der Liebling von je dermann gewesen, sei es nun in der Familie, bei Bekannten oder auch in der Schule? Nie hatte sie das Gefühl gehabt, jemandem zur Last zu fallen. Tobias hatte ganz recht: Alles hatte sich immer um sie gedreht. Aber war es vielleicht ihre Schuld, daß sie so hübsch und intelligent und infolgedessen so beliebt war? Wahrscheinlich haßte dieser häßliche Bucklige alle, denen es besser ging als ihm. Und nun hatte er Jules auf seine Seite gezogen. Anne hörte auf zu weinen und dachte nach. Irgend etwas stimmte nicht an der Sache. Jules ging es doch ebenfalls besser als Tobias! Warum war er dann nicht auch gegen ihn eingenommen? Inwiefern war Jules verschieden von ihr? Was veranlaßte Tobias, ihn so ganz anders zu behandeln als sie? Sie stand auf und begann wieder, auf und ab zu gehen. Sie ver suchte, sich ihren Bruder zu vergegenwärtigen, ihn einmal so zu betrachten, wie Außenstehende ihn sehen mußten. Gewiß, er sah nicht übel aus, zwar war er nur mittelgroß, aber ein kräftiger, sportlicher Typ; freilich, außergewöhnlich hübsch war er nicht. Allerdings hatte er ein offenes, freundliches Wesen und lachte gern – die Leute mochten das. Ja, wenn sie es sich recht überlegte, hatte
Jules jederzeit viel mehr Freunde, als sie in ihrem ganzen Leben
gehabt hatte.
Hatte sie überhaupt Freunde? Mit Renee glaubte sie befreundet zu
sein, aber eigentlich hatten sie sich schon sehr lange nicht mehr gesehen. Renee hatte viel zu viel mit ihrem Studium zu tun. Und in der Schule war sie zwar der Liebling der Lehrer, aber mit ihren Schulkameraden hatte sie im Grunde überhaupt keinen Kontakt. Bei Jules wußte man nie, wen er als nächsten mit nach Hause bringen würde; manche seiner Kameraden kannte Anne noch nicht einmal mit Namen. Aber Jules kannte sie alle, nicht nur ihre Namen, sondern auch ihre Familienverhältnisse, wie alt sie waren, welche Kurse sie besucht hatten, welche Hobbys sie hatten und welche Sorgen. Jules war da manchmal ganz sonderbar, sie hatte das nie recht verstehen können. Einmal hatte er wochenlang mit einem kleinen Einwandererjungen Rechtschreibung gepaukt, obwohl er es selbst, weiß Gott, nötig gehabt hätte, für die Schule zu lernen. Natürlich war er dann durch den Mathematikkurs gefallen, was er sich sehr zu Herzen genommen hatte. Aber mit dem Jungen war er immer noch befreundet; beide strahlten, wenn sie sich sahen, und hatten sich stets eine Menge zu erzählen. Es war eigentlich gar nicht so dumm, daß Jules Lehrer werden wollte. Bisher hatte sie das immer nur komisch gefunden, weil sie geglaubt hatte, ein Lehrer müsse doch so intelligent und gebildet wie möglich sein. Aber Jules hatte eine Art, sich mit anderen zu beschäftigen, die es Schülern vielleicht einmal zu einem Vergnügen machte, bei ihm zu lernen. Doch was war es nur, woran lag es? Er interessiert sich für sie, dachte Anne verwundert, darum mögen sie ihn. Ich glaube wahrhaftig, er interessiert sich sogar für diesen schrecklichen Tobias. Anscheinend macht ihm das sogar auch noch Spaß! Wie das möglich sein sollte, konnte sie sich beim besten Willen nicht vor stellen. Immerhin hatte sie Beispiele dafür genug erlebt, denn manchmal war ihr Jules' Verhalten nicht nur unbegreiflich, sondern geradezu peinlich gewesen. So hatte er im Ferienlager einmal einen ganzen Vormittag in der Küche verbracht und sich von der alten Reinemachefrau ihre Lebensgeschichte erzählen lassen. Die anderen Kinder hatten über ihn gelacht, aber er hatte hinterher auch noch behauptet, es sei sehr fesselnd gewesen. Bis heute war Anne noch nie aufgefallen, wie verschieden Jules und sie waren. Sie wunderte
sich, wie sie das bisher nicht hatte bemerken können.
DAS VERHÄNGNISVOLLE GESPRÄCH
„Was war denn los? ” fragte Jules, als er mit Tobias in das ver dunkelte Zimmer zurückging. Er sprach leise, damit Anne ihn nicht hören sollte. „Hat sie etwas kaputtgemacht?” „Glücklicherweise nicht!” knurrte Tobias. „Sie hat von den ko mischen Nippes, die meiner Schwester gehören, etwas runterge schmissen, und ich dachte erst, es wäre kaputt.” „Du hast eine Schwester?” fragte Jules erstaunt. Er hatte sich be haglich auf der Luftmatratze ausgestreckt, die Tobias für ihn auf den Boden gelegt hatte, richtete sich aber jetzt wieder auf. „Warum sollte ich keine haben? Oder glaubst du, daß ich das spaßhafte Blumenzimmer bewohne?” Jules mußte lachen. „Nein, natürlich nicht. Nur, ich dachte …” – „Ich dachte erst, du hättest eine Freundin!”, wollte er sagen, lenkte aber dann ab. – „Warum spaßhaft? Es ist doch hübsch, solche Zimmer hat man doch jetzt!” „Ich nicht!” sagte Tobias kurz. Jules legte sich wieder zurück und dachte, daß es bestimmt nicht leicht war, bucklig und häßlich zu sein. „Meine Schwester kommt nicht oft hierher”, sagte Tobias, als hätte Jules ihn danach gefragt, „aber sie hängt sehr an diesem Zimmer und an dem schrecklichen Kitschzeug, das sie selbst gekauft und gesammelt hat. Sie weint immer, wenn sie wieder von hier weg muß.” „Warum muß sie?” fragte Jules verständnislos. „Kannst du sie denn nicht hier wohnen lassen?” Beide blieben einen Augenblick still und horchten. Sie hörten, wie Anne in die Küche ging, und sprachen jetzt lauter. „Ich möchte schon, aber es geht nicht”, erwiderte Tobias mit einem bitteren Unterton in der Stimme. „Meine Schwester ist nämlich nicht sehr, na ja … sie ist etwas schwach im Kopf. Ehrlich gesagt, ist sie ungefähr wie ein sechsjähriges Kind.”
Jules war tief erschrocken. Er wußte nicht, was er sagen sollte, und
wünschte sehr, er hätte nicht angefangen, von der Schwester zu re-
den. Auch Tobias schwieg einen Moment, sprach dann aber ruhig
weiter.
„Sie ist finanziell natürlich versorgt und hat einen sehr guten
Heimplatz in der Oststadt. Früher hat sie bei mir gewohnt. Aber sie
ist fast zwanzig Jahre jünger als ich, und ich bin nicht sehr gesund.
Deshalb möchte ich, daß sie sich im Heim zu Hause fühlt. Aber sie
beharrt darauf, ihr Zimmer hier zu behalten und ihre liebsten
Sachen hier aufzubewahren. Ich sage dir ja, sie ist wie ein kleines
Kind.”
„Hast … hast du denn eine Krankheit?” fragte Jules stockend.
„Nein. Nicht, was du denkst, daß ich plötzlich abkratzen könnte.
Aber ich muß jedes Jahr ein- oder zweimal ein paar Wochen ins
Sanatorium.”
„Du hast aber wirklich viel Pech im Leben!” sagte Jules schüchtern
und ungeschickt. Tobias lachte spöttisch. „Pech ist gut! Pech ist,
wenn ich den Zug verpasse. Na ja, übrigens habe ich auch manchmal
Glück. Aber lassen wir das! Ich meine nur, du wirst vielleicht
verstehen können, daß ich nicht immer so nett und freundlich bin,
wie man es von mir erwartet.”
Jules begriff, daß dies eine Entschuldigung sein sollte, aber ehe er
etwas sagen konnte, sprach Tobias weiter. „Vielleicht liegt es auch
daran, daß ich nie unter Menschen gehe.”
„Mir macht es nichts aus!” sagte Jules ehrlich. Irgendwie war er
froh, daß Tobias auf diesen Punkt zu sprechen kam. „Aber ich
glaube, daß Anne ziemlich viel Angst vor dir hat.”
„Die hatte schon Angst vor mir, bevor ich überhaupt den Mund
aufgetan hatte! Ich gebe zu, ich bin wohl etwas zu grob mit ihr
gewesen, aber das hat sie provoziert. Nimm es mir nicht übel, aber
ich glaube, du machst etwas zu viel her mit deiner kleinen
Schwester!”
„Wie bitte?” fragte Jules schärfer und lauter, als er sonst zu sprechen
pflegte. Er merkte, daß Tobias nicht gut auf Anne zu sprechen war,
und das war etwas, was er nicht dulden konnte.
„Du nimmst viel zu viel Rücksicht auf sie”, sagte Tobias entschieden. „Merkst du nicht, daß du dich ihr gegenüber immer zurücksetzt? Warum eigentlich? Wahrscheinlich ist es bei euch in der Familie immer so gewesen, und du hast dich schon so daran gewöhnt, daß du es gar nicht mehr merkst!” Jules war verblüfft. Er mußte zugeben, daß an Tobias' Worten etwas Wahres war, was ihm bisher nur noch nicht bewußt geworden war. Aber wenn es wirklich stimmte, was Tobias sagte: Was war denn daran eigentlich so schlimm? „Du kennst sie nur noch nicht richtig”, sagte er eifrig, „sonst würdest du das verstehen! Wir sind alle furchtbar stolz auf sie. Sie ist unwahrscheinlich intelligent. Sie hat schon mehr Kurse gemacht als ich, obwohl sie fast zwei Jahre jünger ist. Und dann sieht sie so süß aus. Ich kann es meinen Eltern nicht übelnehmen, daß sie sie immer vorziehen.” Aber jetzt war Tobias empört. „Du findest das wohl ganz in Ordnung, wie? Siehst du denn nicht, was dabei herauskommt? Ich habe selten ein so egoistisches, ja eigensüchtiges Geschöpf erlebt wie deine Schwester.” Noch niemals hatte Jules erlebt, daß jemand ernstlich etwas gegen Anne einzuwenden gehabt hätte. Bisher hatte er fest geglaubt, daß Tobias' unfreundliches Verhalten ihr gegenüber auf einer rein gefühlsmäßigen Abneigung beruhte. Jetzt merkte er im Gegenteil mit ungläubigem Erstaunen, daß Tobias Anne fast besser zu kennen schien als er selbst und daß seine Abneigung ganz bestimmte, stichhaltige Gründe hatte. Tobias übertrieb natürlich, aber im Kern der Sache hatte er recht. Wieso hatte er selbst das noch nicht bemerkt? Doch, das war wohl schon der Fall gewesen, aber er hatte es immer nur selbstverständlich und manchmal sogar lustig gefunden, daß sie immer alles für sich beanspruchte, immer im Mittelpunkt stehen mußte. Er wäre nie auf den Gedanken gekommen, ihr daraus einen Vorwurf zu machen, und hatte das eigentlich jetzt auch nicht vor. Tobias merkte, daß Jules verwirrt und überrascht war, und sprach heftig weiter: „Was sie sieht, das muß sie haben. Alle und alles sind nur für sie da, das ist ihre Welt. Ich sage dir, sie hat einen
verdorbenen Charakter.”
In Jules empörte sich etwas. Er wollte Tobias nicht angreifen, aber
eine solche Beschuldigung mußte er zurückweisen. In dem Au
genblick hörte er, wie nebenan eine Tür ging.
„Sprich bitte leiser!” flüsterte er. „Anne ist zurück. -Nein, To-
bias” – er hatte sich jetzt aufgerichtet und sprach leise, aber mit
Nachdruck –, „das darfst du wirklich nicht sagen! Das ist ungerecht!
Anne mag vielleicht manchmal etwas gedankenlos sein, aber sie
meint das nie böse. Manchmal ist sie sogar ganz unvernünftig
gutherzig.” Mit gedämpfter Stimme erzählte er, wie Anne nicht
davon abzuhalten gewesen war, die Enten zu füttern, obgleich sie
doch selbst nicht genug hatten. Tobias lachte, er schien wenig
überzeugt.
„Das war wahrscheinlich genauso eine Gedankenlosigkeit wie an-
dermal ihr Egoismus. Womöglich war es überhaupt dasselbe. Es
machte ihr eben Spaß, die Enten zu füttern, und sie wollte nicht
darauf verzichten. – Aber laß mal! Ich will deine Schwester nicht
bei dir schlechtmachen.
Ich wollte dir nur erklären, warum ich sie nicht so mag. Jetzt möchte
ich schlafen, ich bin müde.” Dafür bin ich jetzt gründlich wach!
dachte Jules ärgerlich. Er fand es ausgesprochen ungezogen von
Tobias, daß er das Gespräch so abrupt abbrach und ihm nicht
mehr Gelegenheit gab, ihn zu widerlegen. Andererseits war er aber
auch ganz froh, über das angeschnittene Thema erst einmal in
Ruhe nachdenken zu können, denn der Standpunkt, den Tobias
einnahm, war ihm so neu, daß er zunächst einmal versuchen mußte,
seinen eigenen Standpunkt wiederzufinden. Doch er war müder, als
er dachte. In seinem Kopf verwirrte sich alles. Er sah nur immer
wieder Anne vor sich in allen möglichen Situationen, die durch
Tobias' Worte jetzt in ganz neuem Licht erschienen: Wie sie in
seinem Koffer herumwühlte und ihm die Decke wegnahm, wie sie
in Renees Wohnung eindrang und mit welchem Haß sie Tobias
angesehen hatte, als sie beim Schachspielen verlor. Aber war das
wirklich die wahre Anne? Jules war davon überzeugt, daß Tobias
nicht recht hatte, wenn er die Geschichte mit den Enten auch so
deutete. Und war es nicht rührend, wie sehr sie an den Eltern hing?
Im Ferienlager hatte sie fast täglich an sie geschrieben. Wenn er es
sich recht überlegte, war es ganz erstaunlich, daß sie unter diesen
Umständen in den letzten Tagen doch verhältnismäßig vernünftig
und ruhig geblieben war. Irgendwie war sie wirklich tapfer und ein
guter Kumpel. Es war sehr unrecht von Tobias, nur ihre negativen
Seiten sehen zu wollen.
Jules schlief endlich ein, ohne im entferntesten zu ahnen, daß
Anne verzweifelt und in Tränen aufgelöst in einem Lift gefangen
saß.
ANGSTVOLLE SUCHE
Als Jules die Augen öffnete, drang die Helligkeit durch die halb geöffneten Jalousien. Tobias saß an seinem Tisch und arbeitete. Als er bemerkte, daß sein Gast wach war, räumte er seine Schnitzereien beiseite und begann den Frühstückstisch zu decken. Jules genierte sich etwas, als er sah, daß es schon zehn Uhr war, und machte sich deshalb so schnell wie möglich fertig. Bevor er sich an den Tisch setzte, fragte er nach Anne. „Sie hat sich noch nicht gerührt”, antwortete Tobias. „Ich habe mich auch schon gewundert, wo sie doch so früh schlafen gegangen ist. Schläft sie in den Ferien immer so lang?” „Normalerweise nicht, doch gestern ist sie auch ziemlich spät auf gestanden”, erwiderte Jules. „Aber wenn ich gefrühstückt habe, weck' ich sie. Wir können ja nicht ewig deine Gastfreundschaft ausnutzen.” „Blödsinn! Wo wollt ihr denn hin? Ihr bleibt bei mir, bis eure Eltern wiederkommen!” Jules war fest entschlossen, das nicht zu tun. Wenn Tobias Anne nicht mochte, konnten sie auch nicht hier wohnen bleiben. Sie würden wieder in Renees Wohnung gehen. Aber er schwieg, weil er keine Lust hatte, sich schon beim Frühstück auf eine Diskussion einzulassen. Als er aufgegessen hatte, ging er hinüber in Annes Zimmer und blieb wie erstarrt hinter der halbgeöffneten Tür stehen.
Er fühlte, wie seine Knie weich wurden. Der Raum war leer. „Was ist denn los?” rief Tobias, dem auffiel, daß alles still blieb. Jules wandte sich langsam um. „Sie ist nicht hier!” sagte er mit tonloser Stimme. Ihm war der Schreck so in die Glieder gefahren, daß er sich kaum bewegen konnte. Tobias stand auf und kam herbei. „Dann wird sie im Bad sein! Was regst du dich auf?” brummte er, sah aber gleich, daß dies nicht der Fall sein konnte. Alles in dem Raum deutete darauf hin, daß er schon vor Stunden fluchtartig verlassen worden war: Das Fenster stand offen, Annes Mantel war verschwunden, und auf der Schlafcouch war die halbgeleerte Schüssel mit Pudding so unachtsam hingestellt, daß ein Teil des Saftes auf das Bettzeug geflossen war. Es gab im Grunde überhaupt keinen Zweifel. Trotzdem sahen Jules und Tobias im Bad und in der Küche nach. Jules sprach kein Wort. Er holte seinen Mantel und verließ die Wohnung in höchster Eile. Tobias rannte neben ihm her, so schnell er es mit seinen kurzen Beinen vermochte. Jules konnte nicht verhindern, daß er mit ihm die Rolltreppe hinunterging und sich in der U-Bahn ihm gegenüber setzte. Aber zum erstenmal erschien er auch ihm widerwärtig und abscheulich. Angestrengt blickte er aus dem Fenster und wünschte verzweifelt, in Ruhe gelassen zu werden. „Hör zu, Junge”, sagte Tobias nach einer Weile mit belegter Stimme, „ich kann gut verstehen, daß du böse auf mich bist. Aber so hat das keinen Zweck. Wir müssen überlegen, was wir tun wollen. Wenn ich dir helfe, können wir sie leichter wiederfinden. Wir müssen uns absprechen.” „Hättest du uns doch bloß in Frieden gelassen!” sagte Jules leise und erbittert. Er sah, daß Tobias gewiß so blaß war wie er selbst, und wußte, daß er mit seinen Worten recht hatte. Trotzdem wollte er seine Hilfe nicht. Er war schuld, daß Anne weggelaufen war. Warum hatte er sie so unfreundlich behandelt! Beide schwiegen und starrten vor sich hin. „Ich wollte euch doch bloß helfen!” sagte Tobias schließlich so unglücklich, daß er Jules beinahe leid tat. „Ich wollte gewiß nicht, daß das Gegenteil dabei herauskommt.” Jules schwieg.
„Ich habe euch immer beobachtet, um zu sehen, wie ihr zurechtkommt. Es ist doch keine Kleinigkeit: zwei Kinder allein in der Stadt. Als ich merkte, daß euch das Geld ausging, habe ich sehr mit mir gekämpft. Ich mag eigentlich keine Kinder. Aber schließlich habe ich doch beschlossen, euch bei mir aufzunehmen.” „Wir sind keine Kinder, wir sind Jugendliche!” sagte Jules ärgerlich. „Und wenn du die auch nicht magst, hättest du auf deine Spioniererei lieber verzichten sollen und auch darauf, uns mit List und Tücke in deine Wohnung zu locken. Wir wären schon zurecht gekommen! – Aber was haben wir dir getan, daß du uns nicht magst?” „Nichts, ihr habt mir gar nichts getan”, sagte Tobias stockend, „es ist nur so allgemein. Weil gerade Kinder mich so oft verspottet haben. Kannst du dir vorstellen, was es bedeutet, wenn man sich tagsüber nicht mehr aus dem Hause getraut?” „Aber wir haben dich doch nicht verspottet!” sagte Jules betreten. Plötzlich saß ihm ein dicker Kloß in der Kehle, und er hatte das Gefühl, als müßte er gleich losheulen. „Nein. Aber deine Schwester hat sich so offenkundig vor meinem Aussehen entsetzt. – Doch du hast natürlich recht: Wenn man jemandem helfen will, muß man ihn auch mögen. Sonst ist es eben keine Hilfe.” Jules wußte nicht, was er antworten sollte. So war das also gewesen! Tobias hatte mehr Angst vor ihnen gehabt als sie vor ihm. Und trotzdem hatte er sie nicht aus den Augen gelassen, um ihnen im Notfall seine Hilfe anbieten zu können. Was mochte er für Erfahrungen gemacht ha ben, daß er sich so vor den Menschen fürchtete? „Warum hast du denn das mit dem Mantel gemacht?” fragte er, um von etwas anderem zu reden. Tobias wußte sofort, wovon er sprach. „Ach, ich dachte, ihr würdet darüber lachen und gleich ein günstiges Vor urteil für mich haben. Ich dachte damals nämlich, ihr hättet mich bereits bemerkt.” „Halb und halb schon”, erwiderte Jules. „Da hattest du also schon vor, uns zu dir einzuladen?” „Ja. Ich wollte am Ausgang vom Wald auf euch warten, aber durch das Gewitter geriet mein Plan etwas durcheinander. So bin ich euch unabsichtlich dann doch schon
früher begegnet.” Bedrückt dachte Jules, daß Tobias gewiß recht gehabt hatte, seine Einladung nicht gleich direkt auszusprechen. „Ich hatte vor, zuerst in Renees Wohnung nachzusehen”, sagte er schließlich leise, „von da wollte ich in den Wald. Du könntest vielleicht gleich dorthin gehen, und wir treffen uns dann an den Pavillons.” „Es ist mir recht. Da muß ich aber jetzt aussteigen.” Tobias erhob sich. „Vielleicht findest du sie ja gleich.” Jules erwiderte nichts. Er blieb zurück, allein und unglücklich. Wohl noch nie in seinem Leben hatte er sich so allein gefühlt wie in diesem Augenblick. Vergeblich sagte er sich immer wieder, daß Tobias der Hauptschuldige an dieser Katastrophe war. Er wußte nur zu gut, daß er selbst für sie beide, Anne und sich, verantwortlich war. Daran war nicht nur er selbst von klein auf wie an eine unumgängliche Notwendigkeit gewöhnt, son dern immer hatten auch seine Eltern auf sein Verantwortungsgefühl und Anne auf seinen Schutz vertraut, und nie bisher hatte er sie enttäuscht. Da beide Eltern berufstätig waren, waren Jules und Anne schon als kleine Kinder viel sich selbst überlassen geblieben. Solange Jules bei allen wichtigen Dingen die Führung hatte und Anne das spielende Kind bleiben durfte, war alles gut gewesen. In den wenigen Fällen, wo er sich von Anne hatte zur Unbesonnenheit hinreißen lassen, hatte er sich bisher immer nur selbst geschadet. Jetzt aber lag die Sache anders. Er machte sich bittere Vorwürfe, daß er Anne gezwungen hatte, mit zu Tobias zu gehen. Sie war es nicht gewohnt, daß ihr Wille einfach übergangen wurde. Er hatte ihre Abneigung und Angst gegenüber Tobias viel zu leichtgenommen. Tobias hatte ihn interessiert, und erst im nachhinein fiel ihm auf, wie unglücklich Anne gewesen sein mußte. Wenn sie jetzt in Renees Wohnung ist, bin ich so froh wie noch nie in meinem Leben! dachte Jules, als er ausstieg. Bei der bloßen Vorstellung wurde ihm schon etwas leichter zumute. Er kam auf den Universitätsplatz und rannte hinüber zu dem wohlbekannten Haus, in dessen Erdgeschoß ein Fenster offen stand. Sein Herz tat einen Sprung, doch dann fiel ihm sogleich ein, daß sie ja gestern
morgen das Fenster offen gelassen hatten. Aber trotzdem, warum sollte Anne nicht hier sein? Zitternd vor Erwartung stieg er ein und ging sofort ins Gästezimmer. Es war leer, und, was noch schlimmer war, es fanden sich auch nicht die geringsten Anzeichen dafür, daß jemand inzwischen hier gewesen war. Alles war so, wie sie es gestern vormittag verlassen hatten. Jules mußte sich einen Augenblick setzen. Ihm war ganz schlecht vor Enttäuschung. Jetzt erst merkte er, wie fest er damit gerechnet hatte, Anne hier zu finden. Mutlos und nur der Form halber suchte er auch in den übrigen Räumen. Dann verließ er das Haus, versuchte das Fenster so gut wie möglich von außen zu schließen und ging wieder zur U-Bahn. Er hatte wenig Hoffnung, daß Tobias Anne inzwischen hatte finden können. Wenn sie wirklich im Wald ist, dachte er, so ist sie bestimmt vor ihm davongelaufen. Aber sie konnte doch nicht die halbe Nacht und den frühen Morgen im „Wald” verbracht haben? Jules mußte sich eingestehen, daß er vor einem Rätsel stand. Die Vorstellung, daß Anne etwas Ernstliches geschehen sein könnte, überkam Jules mit solcher Macht, daß er alles andere darüber vergaß. Er dachte nicht mehr daran, sich selbst Vorwürfe zu machen, er fragte auch nicht mehr danach, wie die Eltern auf die Nachricht reagieren würden, er hatte überhaupt keine andere Empfindung mehr als die Furcht um Anne. Er war sich kaum mehr seiner selbst bewußt, als er die Bahnstation verließ, über den großen Platz rannte und den „Wald” betrat. Er erschrak, als Tobias auf ihn zutrat – er hatte ihn ganz vergessen – und ihm sagte, was er schon wußte: daß er Anne nicht gefunden hatte. Er wehrte sich gegen Tobias, der ihn zurückzuhalten versuchte, und es war ihm wie im Traum, daß er durch den großen, ungeheuer weiten Vergnügungspark rannte und immerfort Annes Namen rief. Erst als sie wieder in der U-Bahn saßen und Tobias wie eine Geräuschkulisse ununterbrochen begütigend auf ihn einredete, kam er langsam zur Besinnung. Er merkte, daß er, ohne etwas zu sehen, zum Fenster hinausstarrte. Wahrscheinlich machte er einen sehr unvernünftigen Eindruck auf Tobias, aber merkwürdigerweise genierte ihn das gar nicht. Es interessierte ihn nicht. Auch Tobias' Worte interessierten ihn nicht.
„Wo fahren wir denn hin?” fragte er nach einer Weile und suchte
vergeblich in seinen Taschen nach einem Papiertuch, um sich das
verschwitzte Gesicht abzuwischen. Tobias reichte ihm ein Tuch.
„Das versuche ich dir seit zehn Minuten klarzumachen, aber du
hörst ja nicht hin. Sag mal selbst, was soll Anne denn schon passiert
sein? Wir fahren in die Weststadt, aber du mußt mir sagen, an welcher
Station wir aussteigen müssen.” „Ja, wo wollen wir denn hin?”
fragte Jules zum zweitenmal. Er hatte plötzlich das peinliche
Gefühl, daß er sich nicht viel besser benahm als Anne bei der ersten
Entdeckung, daß die Eltern nicht da waren. Es war wirklich das
Dümmste, was jetzt passieren konnte, wenn er auch noch die
Nerven verlor.
„Zu dir nach Hause!” antwortete Tobias geduldig. „Wir hätten ei
gentlich gleich darauf kommen müssen. Das mußte doch für
Anne das Nächstliegende sein, dorthin zu rennen.”
In Jules glomm ein neuer Hoffnungsschimmer auf, aber er wagte
dem nicht zu glauben. „Die dritte Station von jetzt!” sagte er. „Aber
ich kann mir nicht vorstellen, was sie dort wollte. Sie hat ja keinen
Schlüssel.” „Schon. Aber so gut glaube ich Anne nun doch schon zu
kennen, daß ich weiß, wie sie im allgemeinen reagiert: nämlich
gefühlsmäßig. Sie mag ein superintelligentes kleines Frauenzimmer
sein, aber sie handelt wie ein Kind. Offenbar ist sie eilig und
wahrscheinlich in Aufregung weggerannt. Was will ein Kind, wenn
es aufgeregt und unglücklich ist? Es will nach Hause, wenn es auch
noch so unvernünftig ist. Anne konnte eigentlich gar nicht woanders
hin.”
„Aber sie konnte doch nicht vergessen, daß die Eltern nicht da
sind!”
„Nun wenn schon! Sie wußte, daß die Eltern, wenn sie kommen,
dorthin bestimmt kommen. Ich bin sicher, wir werden
wenigstens einen Hinweis auf sie finden. – Komm, wir müs
sen raus!”
Sie gingen nur wenige Schritte, bis Jules Tobias das Haus zeigen
konnte, in dem er und Anne daheim waren. Jules begann zu laufen.
Er fühlte sich schwach und hatte heftiges Herzklopfen, aber es
schien ihm unmöglich, die Spannung noch länger ertragen zu können. Als er den Hausflur betrat und in den Lift steigen wollte, bemerkte er mit Verblüffung, daß das rote Lämpchen leuchtete. Er war so erstaunt, daß er diesen Umstand zuerst gar nicht in seiner Bedeutung erkannte. Der Aufzug fuhr demnach! Aber wer konnte denn anders darin fahren als – Anne? Mein Gott, wenn sie nun nicht darin wäre! Jules hatte das Gefühl, eine solche Enttäuschung nicht überleben zu können. Er wartete und glaubte es vor Ungeduld nicht mehr aushaken zu können. Das rote Licht erlosch nicht; demnach mußte der Lift kommen. Aber es dauerte unerträglich lange. Auf einmal fiel ihm auf, daß das feine Summen nicht ertönte, das sonst immer das Auf- und Abfahren des Liftes begleitete, und schlagartig begriff er die ganze Situation. Er drückte auf den Knopf, und das Summen setzte ein. „Sie wird doch nicht etwa im Lift sein?” ertönte hinter ihm Tobias' Stimme, der gerade den Hausflur betreten hatte. In diesem Augenblick schob sich die Tür zurück, und heraus wankte mit zitternden Beinen Anne. Sie wäre umgefallen, wenn Jules sie nicht gehalten hätte. „Anne!” Jules war zumute, als sei sie von den Toten auferstanden, er war aber gleichzeitig so erschrocken über ihr elendes Aussehen, daß er sie am liebsten auf den Arm genommen und fortgetragen hätte. Aber das ging ja nicht, sie war sicher böse auf ihn. Tatsächlich schob sie ihn gleich von sich und sah ihn mit einem merkwürdigen Blick an. Böse allerdings war dieser Blick nicht. „Wie lange sitzt du denn schon in diesem Aufzug fest?” Anne murmelte etwas, dann fragte sie: „Wo ist denn Tobias?” Tobias war verschwunden, Jules sah sich vergeblich nach ihm um. „Eben war er noch hier, er ist wohl weg. Er gibt sich die Schuld, daß du abgehauen bist!” „Aha!” sagte Anne ruhig und trocken. Plötzlich begann sie zu weinen. Sie setzte sich auf die Treppe und schluchzte herzzerreißend. Jules ließ sie in Ruhe. Am liebsten hätte er sich mit auf die Treppe gesetzt und geweint, aber vor Freude und Er leichterung. „Es war sicher schrecklich für dich”, sagte er nach einer
Weile, „aber du darfst es nicht so ernst nehmen, daß Tobias
unfreundlich zu dir war. Er ist nur mißtrauisch, aber ein guter
Kerl.”
„Laß nur!” sagte Anne. Sie stand auf und schneuzte sich. „Ich
werd' schon selbst schuld sein. Aber guck mich nicht so besorgt
an, Jules! Ich lebe ja noch.” Jules wandte verlegen die Augen ab.
Anne war seltsam, irgendwie anders als sonst. Sie gingen auf die
Straße hinaus, wo Tobias mit einem Auto auf sie wartete. Er war
also doch nicht weggegangen. Merkwürdigerweise schien er sie
zuerst nicht zu bemerken. Er blickte in eine andere Richtung und
sprach halblaut vor sich hin. Die Kinder sahen sich verwundert an.
Als Tobias sie hörte, drehte er sich um und steckte einen kleinen
Gegenstand in die Tasche, den er in der Hand gehalten hatte.
„Steigt ruhig ein!” sagte er. „Ich fahre euch, wohin ihr wollt. Ich
hab' es gewiß nötig, mich bei euch beliebt zu machen. Also, wohin
soll es gehen?”
Die Kinder stiegen ein. „Ins Universitätsviertel!” sagte Anne leise.
Die Geschwister saßen hinten im Wagen und begannen, sich ge
dämpft zu unterhalten. Jules war so glücklich, daß er Mühe hatte,
nicht ununterbrochen zu lachen.
DAS FREMDE HAUS
Als sie in der Nähe des Universitätsviertels waren, ließ Tobias den Wagen halten und drehte sich nach den Geschwistern um. „Ich habe versprochen, euch zu fahren, wohin ihr wollt”, sagte er, „und ich werde das auch tun. Aber trotzdem möchte ich euch noch einen Vorschlag machen. Eine alte Freundin von mir wohnt nicht weit von hier entfernt. Jetzt ist sie natürlich nicht da, aber ich habe eben mit ihr durch Funk gesprochen. Sie lädt euch sehr herzlich ein, in ihrem Haus zu wohnen, bis eure Eltern wieder zurück sind. Ich glaube eigentlich, daß ihr bei ihr besser aufgehoben wäret als in Renees Wohnung. Ihr wißt ja nicht sicher, ob Renee das überhaupt recht ist.”
Anne fuhr hoch und wollte heftig widersprechen, aber dann ließ sie
sich wieder zurücksinken. Tobias hatte am Ende recht, so genau
konnte man das vielleicht wirklich nicht wissen.
Sie schwiegen beide. Tobias' Eröffnung überraschte sie. Jules
überlegte sogar einen Augenblick, ob es nicht besser wäre, wieder
mit zu Tobias zu gehen, doch fühlte er, daß nur Anne es war, die
diesen Vorschlag machen konnte. „Was ist das für eine Frau?”
fragte er schließlich.
„Es ist eine sehr alte Dame, die früher Lehrerin war und vor
zwanzig Jahren hierher ausgewandert ist. Sie gibt ihr ganzes Geld
dafür aus, im Villenviertel wohnen zu können.”
Vor Jules' innerem Auge standen mit einem Schlag all die
gemütlichen, altmodischen kleinen Häuser, für die er sich als kleiner
Junge so sehr begeistert hatte. Noch nie hatte er ein solches Haus von
innen gesehen, aber er zweifelte nicht daran, daß die Wohnung
wunderbar sein mußte, und wünschte sehr, daß Anne das Angebot
annahm. Nach einer Weile sagte sie jedoch zögernd: „Aber wir
können doch nicht einfach in ein fremdes Haus gehen! Du kannst
das vielleicht, Tobias, wo du mit der Dame befreundet bist! Aber
uns kennt sie doch gar nicht!” Mit diesem Einwand hatte Tobias
offenbar schon gerechnet. „Das mag bei anderen Leuten so sein, in
dem Fall aber nicht. Sie freut sich, wenn sie jemandem nützlich
sein kann. Und wenn es ihr nicht gepaßt hätte, hätte sie es schon
gesagt.”
Anne konnte sich noch immer nicht entschließen. Sie blickte hil
fesuchend Jules an und versuchte an seinem Gesicht abzulesen, was
er meinte. Schließlich sagte sie überlegend: „Ich finde den
Vorschlag an sich ganz gut, wenn nur Jules einverstanden ist. Ich
meine, wenn es dir selbst angenehm ist, Jules!”
„Aber natürlich!” erwiderte Jules mit etwas gedämpfter
Begeisterung. Insgeheim hielt er es jetzt wirklich für unrecht, Tobias
wieder allein zu lassen. Aber der Gedanke an das alte Haus war zu
verlockend. Und Tobias schluckte eine kleine Enttäuschung
hinunter. Zu seiner eigenen Überraschung merkte er erst jetzt, wie
sehr er gehofft hatte, die Kinder wieder mit nach Hause nehmen
zu können. Doch er fuhr wieder an. Sie hielten vor einem niedrigen kleinen Haus, das ganz von Grün umgeben war. Grüne Ranken bedeckten die Mauern, unter denen die Fenster kaum hervorsahen, und ein kleiner Garten, dicht be standen mit Büschen und Bäumen, umschloß es von allen Seiten. Das Haus stand am Rande des Villenviertels, noch in unmittelbarer Nähe der großen Blocks, und der Garten sah aus, als wären die vielen Gewächse auf diesen engen Raum geflüchtet und suchten hier Schutz. Tobias stieg aus, Jules und Anne folgten zögernd. Mit ein paar Schritten durchquerten sie den halb verwilderten winzigen Vor garten und standen vor der Haustür. Tobias kramte einen altmodischen metallenen Schlüssel hervor, schloß auf und ließ die Kinder eintreten. Sie zögerten wieder, denn in dem düsteren Dämmerlicht konnten sie kaum etwas erkennen. Langsam unter schieden sie Kleidungsstücke, die an Haken an der Wand hingen, und die dunklen Ornamente der bräunlichen Tapete, die Decke und Wände eines schmalen Ganges verkleidete, dessen Länge nicht klar zu erkennen war. Anne zuckte zusammen und erstarrte für einen Augenblick vor Schreck, als sie am Ende des Ganges deutlich eine Bewegung wahrzunehmen glaubte. Nein, es war keine Täuschung! Stand dort etwa jemand? Im nächsten Moment schon schaltete Tobias die gedämpfte Beleuchtung an, und Anne erblickte sich selbst, blaß, mit schreckgeweiteten Augen, neben und hinter sich Jules und Tobias, in dem großen Spiegel, der den Abschluß des Ganges bildete und den Raum optisch verlängerte. Sie atmete auf und schämte sich sogleich, so ängstlich gewesen zu sein. Gut, daß die anderen nichts von ihrer plötzlichen Furcht bemerkt hatten! Tobias öffnete die Türen, die auf den Gang hinaus führten, nacheinander einen Spalt breit und bezeichnete die Räume. „Wä sche ist im Badezimmer, falls ihr etwas braucht. Wenn dir etwas paßt von den Sachen, Anne, kannst du es ruhig anziehen. Die oberen Zimmer sollt ihr bitte nicht benutzen, die sind für euch aber auch weniger interessant: drei kleine Kammern mit Büchern und
ein paar alten Wertgegenständen. Doch hier unten könnt ihr machen, was ihr wollt.” Anne errötete, als sie das Wort „Bücher” hörte, doch wußte sie im selben Moment schon, daß sie das Verbot respektieren würde. Schüchtern äußerte sie den Wunsch, zuerst einmal ein Bad nehmen zu dürfen, und ließ sich von Tobias in einen hübschen, rosa gekachelten Raum weisen, der für das kleine Haus überraschend groß war. Jules und Tobias verschwanden im Wohnzimmer. Wäh rend Anne das Badewasser einlaufen ließ, öffnete sie den großen hellen Schrank, der in der Ecke stand, und fand ihn vollgestopft mit Wäsche aller Art. Der Gedanke, nach dem Bad wieder in ihre verschwitzten, schmutzigen Sachen schlüpfen zu müssen, die sie drei Tage und Nächte nicht hatte wechseln können, war ihr unerträglich. Sie wählte einen hellgrünen Pyjama und einen geblümten Morgenmantel, die ihr passend erschienen, dann zog sie sich aus und ließ sich mit einem wohligen Seufzer in die Wanne gleiten. Sie hätte einschlafen mögen, so behaglich war ihr zumute. Die Ereignisse der letzten Tage, ja selbst die der letzten Stunden schienen ihr auf einmal wie in weite Ferne gerückt. Sie empfand eine leise Verwunderung über sich selbst, daß ihr die Fragen, die sie vor kurzem noch so gequält hatten, mit einemmal gar nicht mehr so wichtig vorkamen. Wahrscheinlich bin ich jetzt viel zu erledigt, um über Probleme nachzudenken, überlegte sie. Kaffeeduft stieg ihr in die Nase. Sie hörte, wie Tobias sich von Jules verabschiedete. Kurz darauf klopfte es sachte an die Bade zimmertür, und Jules fragte, wie weit sie sei. „Ich hab' uns etwas zu essen gemacht!” „Gleich! Ich bin in fünf Minuten fertig!” Anne stieg aus der Wanne und trocknete sich ab. Viel lieber wäre sie noch eine Weile liegengeblieben, aber sie wollte Jules nicht zu lange warten lassen. Der Schlafanzug war ihr zu kurz, aber glücklicherweise nicht eng. Der Morgenmantel paßte. Sie zog sich an und betrachtete voll Abscheu ihre eigenen schmutzigen Sachen, die sie in eine Ecke geworfen hatte. Sie kannte niemanden, der seine Wäsche selbst wusch. Dazu waren die Wasch- und Reinigungsanstalten da, von denen es in der Südstadt eine große Anzahl gab. Die Bewohner des
Viertels, in dem Jules und Anne wohnten, stellten jeden Dienstag ihre schmutzige Wäsche in einem großen Beutel vor die Haustür. Dort wurde sie abgeholt und am Freitag wieder zurückgebracht. Das war eine Aufgabe der Stadtverwaltung, wie die Müllabfuhr. Die Leute zahlten eine feste Summe dafür. Aber was sollte sie jetzt tun? Sie konnte doch nicht in Pyjama und Morgenmantel herumlaufen, bis die Städtischen Reinigungsanstalten wieder arbeiteten! Gewiß würde sie alles ganz falsch machen. Anne seufzte. Aber dann kam sie zu dem Schluß, daß es doch immer noch besser wäre, die Sachen zu verderben, als die Säuberung gar nicht erst zu versuchen. Kurz entschlossen warf sie das Bündel in die Wanne und ließ heißes Wasser darauflaufen. Als Jules zum zweitenmal klopfte, zog sie die Sachen aus dem Wasser und legte sie tropfnaß auf die Heizung. Irgendwie würden sie schon sauberer geworden sein. Vielleicht würde sie Jules nachher fragen: Er wußte über solche Dinge manchmal Bescheid. Schließlich konnte sie seine Kleidung dann auch gleich mitwaschen. Jetzt aber war sie mit einemmal sehr neugierig, die fremde Wohnung kennenzulernen. Als sie das sonnige, von grünen und blühenden Pflanzen belebte Wohnzimmer betrat, tat sie es in der Erwartung, hier etwas Un gewohntem, nicht Alltäglichem zu begegnen, das dem Äußeren des alten Hauses entsprochen hätte. Deshalb war sie zunächst enttäuscht, als alles sich ihren Blicken im wesentlichen so darbot, wie sie es eigentlich aus jeder beliebigen Wohnung kannte. Die Wandbekleidung war vielleicht etwas nüchtern, aber das wurde wettgemacht durch die echten Pflanzen. Die Möbel waren durchaus modern, und es fehlte weder der überall unentbehrliche elegante Musikschrank noch die breite Leinwand gegenüber dem Fernsehapparat, auf die man das Fernsehbild vergrößert projizieren konnte, so daß man sich fast wie im Kino vorkam; allerdings war sie jetzt aufgerollt. Das einzige, dessen Funktion Anne nicht sofort erkannte, war ein verhältnismäßig unscheinbares, kastenartiges Möbelstück am Fenster. Aber als sie den Deckel aufschlug und eine erstaunlich lange Reihe weißer und schwarzer Tasten erblickte, wußte sie sogleich, was es war.
„Jules, komm mal her! Sieh doch, ein Klavier!” Jules, der gehofft
hatte, jetzt endlich essen zu können, setzte den Teller nieder, den
er gerade in der Hand hielt, und kam halb unwillig, halb geduldig
herbei. „Und was für eine Menge Tasten! Das muß ja unwahr
scheinliche Klänge haben!”
Anne drückte eine Taste nieder, und die beiden Kinder sahen sich
verblüfft an. Ein einziger Ton erklang! Anne
versuchte es an einer anderen Stelle. Wieder nur ein Ton, wenn auch
diesmal viel höher! Nun wurde auch Jules neugierig, und beide
wiederholten immer von neuem den gleichen Versuch, jedesmal mit
dem gleichen Ergebnis: Jede Taste gab nur einen einzigen Ton.
Schließlich gab Anne es auf. „Was ist denn das für ein komisches
Instrument?”
Jules grübelte. Genau wie Anne hatte auch er in der Schule die
üblichen Klaviere spielen gelernt, die beim Spiel einer Melodie
automatisch eine Begleitung mit ertönen ließen, die man nach
Belieben auswählen konnte. Gute Klaviere hatten bis zu zehn
Möglichkeiten der Begleitung, von zarter Einstimmigkeit bis zu
machtvoll gebrochenen Akkorden. Aber so etwas wie hier hatte
er doch schon einmal in irgendeinem Museum erlebt! „Ja, ich
glaube, ich hab's! Das ist ein Konzertklavier!” „Du meinst, wo
Profis drauf spielen?” „Ja.”
„Aber ich denke, die Frau, die hier wohnt, war Lehrerin? Was soll
sie denn mit so einem Ding anfangen?” Jules zuckte die Achseln,
auch ihm kam die Sache äußerst zweifelhaft vor. Er war dafür, jetzt
endlich zu essen, aber Anne hatte schon eine neue Entdeckung
gemacht. Sie schlug ein dickes Buch auf, das auf dem Klavier
gelegen hatte. Die Seiten waren voller Linien, Striche und schwarzer
Punkte. „Sag bloß, du weißt auch, was das sein soll?” Doch Jules
wußte tatsächlich Bescheid. „Das sind Noten. Das ist eine Art
Geheimschrift, nach der man auf so einem Klavier spielen kann.”
„Woher willst du denn das wissen?”
„Ich erinnere mich jetzt wieder. Ich hab' einmal einen Kurs über
Musikgeschichte mitgemacht. Es ist schon lange her.”
Anne schwieg. Sie fühlte sich immer etwas gekränkt, wenn sich
herausstellte – was selten genug vorkam –, daß Jules einen Kurs absolviert hatte, den sie noch nicht kannte. Dann schluckte sie. „Kannst du das auch lesen?” „Nein. Wir haben es damals nur gezeigt bekommen. Aber früher soll es ziemlich viele Leute gegeben haben, die das konnten und die so ein Instrument spielten, manchmal nur so zum Vergnügen.” Er beugte sich über die Tasten und spielte mit zwei Fingern eine Melodie. Es klang sonderbar dünn und ärmlich. Anne aber verlor mit einemmal das Interesse an dem fremden Instrument und setzte sich auf die Couch, um auf Jules zu warten. Er unterbrach sofort sein Spiel und kam herbei, immer weiter von den alten In strumenten erzählend, die er in jenem Museum gesehen hatte. Aber als Anne nicht mehr darauf einging, verstummte auch er, und beide widmeten sich mit Hingabe dem Essen. Jules hatte den Tisch liebevoll gedeckt und eine reichhaltige kleine Mahlzeit vorbereitet. Anne verspürte plötzlich solchen Hunger, daß sie auch Würstchen und Eier nicht verschmähte, obwohl sie doch sonst nur Süßes aß. Jules bemerkte es wohl, aber er sagte nichts dazu, sondern holte stillschweigend Nachschub. Sie aß, als ob sie am Verhungern gewesen wäre. Doch in dem Maße, in dem sie sich körperlich nach und nach wohler fühlte, erschienen ihr auch die Fragen wieder wichtiger, die sie in der Nacht gequält hatten. Auch Jules schien sich mittlerweile innerlich mit ähnlichen Pro blemen zu beschäftigen, denn Anne bemerkte wohl, daß er immer lustloser aß und ihren Blicken auszuweichen versuchte. Die Stille zwischen ihnen wurde nach und nach beklemmend. Anne erinnerte sich, vor vielen Jahren zwischen den Eltern einmal eine ähnliche Situation erlebt zu haben: Sie hatten tagelang kaum miteinander gesprochen, weil keiner von beiden den Mut zu der notwendigen Aussprache gehabt hatte. Schrecklich war das gewesen. Nein, da war ein ernstlicher Streit immer noch besser! Kurz entschlossen rückte sie ihren Teller beiseite und sagte mit zittriger Stimme: „Ein Glück, daß ihr mich so bald gefunden habt! Wirklich komisch, wenn ich mir vorstelle, ich könnte jetzt immer noch in dem Aufzug sitzen!” Jules lachte verlegen: „Nun, komisch
konnte ich das gerade nicht finden. Ehrlich gesagt, hab' ich sogar ziemliche Angst ausgestanden.” Anne fühlte, wie ihr eine jähe Röte ins Gesicht schoß. „Ach, du hattest ja bloß Angst davor, wie du Papa und Mom mein Verschwinden beibringen solltest!” Jules wurde ganz blaß. „Wie kannst du so etwas sagen! Natürlich wäre mir das schlimm gewesen, aber du weißt doch genau, daß das nicht die Hauptsache war!” „Gar nichts weiß ich. Und weißt du denn überhaupt, warum ich weggelaufen bin?” Anne merkte selbst, wie scharf ihre Stimme plötzlich klang. Dabei empfand sie ein verzweifeltes Bedürfnis, sich mit ihrem Bruder zu vertragen. Jules aber wurde womöglich noch verlegener. „Ich weiß, Tobias war eklig zu dir, aber es war trotzdem meine Schuld, weil ich dich gezwungen hatte, mit ihm zu gehen. Das tut mir sehr leid, Anne!” Anne schössen die Tränen in die Augen. Eine Weile blickte sie angestrengt auf die Tischplatte. „Ich bin aber nicht wegen Tobias weggelaufen”, sagte sie schließlich. „Weswegen denn?” fragte Jules erschrocken. Er versuchte, seiner Schwester ins Gesicht zu sehen, aber sie hielt den Kopf zu tief gesenkt. Dann sprach sie leise weiter. „Tobias war ein Fremder, aber du … von dir hätte ich nicht gedacht … ” Sie nahm sich zusammen und begann nun aufgeregt und lebhaft das Gespräch wiederzugeben, das sie letzte Nacht gehört und das sie so erregt hatte, daß sie den Kopf verlor. Jules saß da und glühte im ganzen Gesicht, selbst seine Ohren waren feuerrot geworden. „Ich hab' mich natürlich dumm benommen”, schloß Anne, „ich hätte nicht einfach an Tobias' Sachen gehen sollen. Ich versteh' schon, daß er böse war. Aber ich habe mir gar nichts dabei gedacht, ich hab' mich nicht anders verhalten, als ich es sonst gewohnt war. Du wußtest das doch auch! Du hättest mich rechtzeitig darauf aufmerksam machen sollen, statt dann hinter meinem Rücken schlecht über mich zu reden.” Jules wäre am liebsten aufgestanden und hätte sich in irgendeinem Winkel des Hauses verkrochen. Aber es half nichts; Anne verlangte mit Recht eine Antwort. Verzweifelt versuchte er, sich auf den Wortlaut des fatalen Gespräches zu besinnen. Gewiß, Tobias hatte schlecht
über Anne geredet, aber hatte er selbst ihm denn wirklich
zugestimmt? Jules konnte sich nicht mehr genau erinnern, und er
fühlte sich immer unglücklicher. „Ja, was habe ich denn eigentlich
gesagt?” fragte er schließlich.
Anne dachte nach. Jules' Frage war berechtigt. Die kränkenden
Worte waren alle von Tobias gekommen. „Aber du hast mich nicht
verteidigt!” sagte sie schwach. Insgeheim atmete Jules auf. Endlich
konnte er sich wieder erinnern. Offensichtlich hatte Anne doch nur
einen kleinen Teil des Gespräches gehört. „Es ist also schon
richtig, daß ich mir Vorwürfe gemacht habe!” begann er mit
größerer Lebhaftigkeit. „Aber du darfst nicht meinen, Anne, daß
ich dich nicht verteidigt hätte! Das kann ich dir nicht beweisen,
aber du mußt es mir glauben! Schlimm ist nur, daß du davon
nichts gehört hast. Daß ich nicht gleich etwas gesagt habe, lag nur
daran, daß ich so überrascht war von dem, was Tobias sagte, und
darüber erst nachdenken mußte.”
„Das mußtest du, weil du gemerkt hattest, daß daran etwas
Wahres war!” warf Anne mit scharfer Stimme ein. „Ich weiß es
nicht”, erwiderte Jules unglücklich und sah sich unwillkürlich hil
fesuchend um. „Wahrscheinlich war wirklich etwas dran, aber …
Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll!”
Anne tat ihr Bruder plötzlich leid. Gleichzeitig tat sie sich selbst
so leid, daß sie die Tränen kaum mehr zurückhalten konnte. „Bin ich
denn wirklich so schlimm, wie Tobias meint? Sag doch mal ehrlich,
was du denkst!” „Nein, Anne, das heißt …” Jules mußte sich Mühe
geben, nicht zu stottern. „Ich bin vorher noch nie auf den Gedanken
gekommen. Das ist für uns – ich meine, für die ganze Familie und
so – doch gar nicht so wichtig! Wir haben dich einfach so gern, da
kannst du doch machen, was du willst. Und Tobias hat heute morgen
auch schon ganz anders geredet.”
Vielleicht hat er recht, dachte Anne. Aber ob das immer so ist? Sie
drehte sich um und schneuzte sich heftig. Irgendwie fühlte sie sich
erleichtert. Ein Gedanke schien ihr jetzt greifbar, von dem sie vorher
keine Ahnung gehabt hatte. Sie wünschte sich Ruhe, um darüber
nachdenken zu können.
Als Jules nach einer Weile anfing, Pläne für die kommenden Tage zu
machen, hörte sie nur halb hin. Auf einmal fühlte sie sich zum
Umfallen müde, und trotz des heißen Kaffees begann sie zu frösteln.
Sie nahm eine Decke von der Couch und legte sie um sich. Dann
lehnte sie sich zurück und schloß die Augen. Jules hörte auf zu
sprechen. Sie saßen eine Zeitlang, und Jules glaubte schon, Anne
sei eingeschlafen, als sie plötzlich aufsprang und zum Telefon
lief. Hastig blätterte sie im Telefonbuch, wählte, und kurze Zeit
darauf erschien Tobias auf der Scheibe. „Du bist es, Anne?” „Ja,
hör mal, Tobias, ich muß dir noch etwas sagen. Ich hab' etwas
Dummes angestellt. Es fiel mir eben erst wieder ein.”
„Na, es wird doch so schlimm nicht sein!” Tobias' Stimme klang
unsicher. Man merkte, daß er sich Mühe gab, freundlich zu sein.
„Doch. Weißt du, in dem Schränkchen die kleine Tänzerin… ”
Anne stockte, und Jules sah, wie Tobias erstarrte. „Hast du sie
kaputtgemacht?” Jules wurde ganz elend zumute. Sollten jetzt
etwa die Schwierigkeiten wieder von neuem beginnen? Anne sah
verlegen zu Boden. „Nein, nein. Es war nur so eine blöde Kinderei
von mir. Ich habe sie zwischen den Blumen versteckt.” Tobias
lachte. Anne sah auf und mußte auch lachen. Es war ja auch
komisch: Nachdem sie so viel Aufregendes und Schreckliches
erlebt hatten, machten sie sich Sorgen um ein Spielzeug! Aber
warum nicht? Schließlich hatte es doch auch für jemanden seine
Wichtigkeit!
„Mach dir nur keine Gedanken, ich werde sie schon finden!”
meinte Tobias dann beruhigend. „Fühlt ihr euch denn wohl in der
Wohnung?” Anne war froh, daß er von etwas anderem sprach. „O
ja, wir machen es uns schon schön. Du wirst es sehen, wenn du uns
besuchen kommst!”
Einen Augenblick herrschte Stille, dann antwortete Tobias mit
einer Stimme, der man die freudige Überraschung anmerkte: „Es
ist sicher nötig, daß ihr euch heute einmal ausruht. Aber morgen
werde ich gern bei euch reingucken.”
„Ja, tu das, Tobias! Bis morgen also!” „Bis morgen!”
Tobias' Bild zerfloß auf der Scheibe. Als Anne sich umdrehte, sah
sie in Jules' strahlendes Gesicht. Sie fühlte sich bis zum Haaransatz hinauf erröten, aber es war ein frohes und leichtes Ge fühl.
Zwei Tage später standen Jules und Anne im Regen auf dem Bahnhof und warteten auf ihre Eltern. Es war ein trüber, aber milder Tag. Der Bahnhof war gedrängt voller Menschen, von denen selten einer die Kinder mit einem verwunderten, doch flüchtigen Blick streifte. Endlich lösten sich auch die Eltern aus der Menge. Sie sahen Jules und Anne noch nicht, sondern blickten suchend umher. Anne wurde fast ein wenig ungeduldig. Sie hatte sich sehr darauf gefreut, die Eltern wiederzusehen und ihnen von ihren Erlebnissen zu erzählen. Per Funk war das nur sehr kurz und knapp möglich gewesen. Jetzt hatte der Vater sie entdeckt. Er stieß die Mutter an, und sein Gesicht strahlte. Er begann zu winken, und Jules winkte lachend zurück. Anne fühlte sich mit einemmal befangen. Sie bemerkte, wie müde und angestrengt beide aussahen. Am Ende hatten sie sich wirkliche Sorgen gemacht. Gewiß würde es sie bekümmern, wenn sie von echten Schwierigkeiten hören müßten. Nein, lieber wollte sie alles so abenteuerlich und lustig wie möglich darstellen! Anne spürte plötzlich, daß Jules sie verwundert ansah. Sie gab sich einen Ruck. Rasch setzte sie ihre Tasche auf die Erde, und wie sie es als kleines Mädchen immer getan hatte, rannte sie ihren Eltern entgegen. ENDE