Kriminalroman Delikte Indizien Ermittlungen
DIE Reihe
Porfiri Korshajew leugnet beharrlich, daß das bei einem Verkehr...
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Kriminalroman Delikte Indizien Ermittlungen
DIE Reihe
Porfiri Korshajew leugnet beharrlich, daß das bei einem Verkehrsunfall zurückgebliebene Valocordinfläschchen ihm gehöre. Er scheint gewichtige Gründe zu haben, denn statt des zu erwartenden Herzmittels enthält das Fläschchen diverse Uhr enteile. Haben Milizhauptmann Prichodko und Oberinspektor Tichonow einen ähnlichen Fall wie vor drei Jahren zu lösen? Damals verschwanden aus einer Moskauer Uhrenfabrik Gehäuse, Platine und Gläser sowie andere wertvolle Einzelteile. Als plötzlich Markenuhren zu Schwarzmarktpreisen angeboten wurden, hatte man eine heiße Spur gefunden. Doch hier ist vieles anders, wohl auch komplizierter. Denn die Spuren, die überhaupt erst nach mühevoller Kleinarbeit freigelegt werden, führen diesmal nicht in die Aufkaufstellen und Marktbuden. Dafür lernt der Leser dieses Kriminalromans ein Milieu kennen, das weitgehend schon anachronistisch geworden ist.
Arkadi und Georgi Wainer
Uhren für Mister Kelly Delikte Indizien Ermittlungen
DlE Reihe
Verlag Das Neue Berlin
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage ■ 1974 Verlag Das Neue Berlin, Berlin Lizenz-Nr.: 409-160/87/74 ■ LSV 7204 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 220 7 EVP 2,-
Titel der Originalausgabe: Часы для Мистера Келли. Aus dem Russischen von Harry Burck
1. TEIL Porfiri Korshajew spricht nicht mehr Das Valocordinfläschchen Als Porfiri Wikentjewitsch Korshajew die Straße überquerte, blickte er kurz nach rechts und sah, wie in einem Stummfilm, die stumpfe, heiße Motorhaube eines Wolga lautlos auf sich zuschießen. Er bekam nicht mal einen Schreck, es durchzuckte ihn bloß: Das fehlt grad noch! Und alles versank in die wattige Finsternis der Bewußtlosigkeit. Jeder Verkehrspolizist wird Ihnen lebhaft bestätigen, daß mit dem Schnellhilfewagen auch die meisten Schaulustigen vom Unfallort verschwinden. Nur wenige, die Allerneugierigsten, behindern die Miliz noch eine Zeitlang. Als sich Milizhauptmann Prichodko in den Wagen schwang, um ins Krankenhaus zu fahren, wohin Korshajew eine halbe Stunde vorher abtransportiert worden war, befanden sich am Ort nur noch die echten Unfallfanatiker. „Hören Sie mal, Podoprigora, Sie sind doch wenige Minuten nach dem Unfall hier gewesen“, wandte sich Prichodko an den aufgeregten Milizwachtmeister, „hat sich hier niemand gefunden, der die Nummer des Wolga weiß?“ „Wenn’s mitten auf der Straße passiert wäre! Der Mann aber lief doch direkt hinterm Tabakkiosk hervor auf den Damm. Der Wolga hat ihn mit dem Kotflügel erwischt und war gleich um die Ecke, in der Gospitalnaja. Genau gesehen hat ihn niemand.“ Der behandelnde Arzt, der sich mit einem Handtuch die
kräftigen, rötlich behaarten Hände wischte, griente. „Er hat Glück gehabt. Der Wagen hat ihn beiseite geschleudert – heftiger Schock, Bewußtlosigkeit, ein paar Quetschwunden, aber keine Frakturen. Wenn Sie wollen, können Sie ihn sprechen. Wir werden ihn auf jeden Fall zur Beobachtung hierbehalten. Immerhin ist er siebenundsechzig. Übrigens, hier ist die Liste der Sachen, die er bei sich führte.“ Prichodko nickte, nahm die Liste, setzte sich und las. Als Inspektor der OBCHSS* hatte Prichodko mit Verkehrsunfällen im allgemeinen nichts zu tun, heute aber ging es hoch her, er hatte Bereitschaftsdienst, und so hatte er die Fahrt halt übernehmen müssen. „Passierschein des Zentralen Konstruktionsbüros auf den Namen P.W. Korshajew; eine Uhr, Marke Pobeda; zwei Rubel sechsundsiebzig; ein Valocordinfläschchen, angefüllt mit Metallteilchen.“ Mechanisch unterbrach er die Lektüre und fragte den Arzt: „Wo ist das Fläschchen?“ „Fläschchen?“ „Das Valocordinfläschchen!“ „Moment.“ Der Arzt ging zur Tür und rief ins Nebenzimmer: „Dascha, bringen Sie mal Korshajews Sachen!“ Durch das dunkle Glas des Arzneifläschchens glimmerte die Masse der Teilchen wie Quecksilber. Ja, dem Gewicht nach konnte es reines Quecksilber sein. Prichodko schraubte vorsichtig den Verschluß ab und schüttete auf einen sauberen Bogen Papier einige winzige funkelnde Metallteilchen. „Geben Sie mal bitte eine Pinzette.“ Der Arzt hatte interessiert Prichodkos Tun verfolgt. Er fragte: „Was mag das sein?“ ♦Abteilung zur Bekämpfung von Vergehen am sozialistischen Eigentum
„Das möchte ich auch gern wissen. Übrigens ist das im Moment nicht so wichtig, wir können ja nachher den Unfallpatienten fragen.“ Korshajew lag am Fenster, und seine langen mageren Beine schauten unter der Baumwolldecke hervor. Während das graue Bürstchen auf der Oberlippe in fortwährender Bewegung begriffen war, berichtete er Prichodko langatmig, wie es passiert war. „Nein, Verehrtester ich will gar nicht sagen, daß ich nicht auch schuld hätte! Gott bewahre. Natürlich, ich wollte an einer unmarkierten Stelle über den Damm, aber wer so in die Leute hineinrast, der ist doch ein Rowdy!“ Dabei machte er die Augen zu, und die Lider zogen feine Häutchen über die Pupillen. Prichodko indessen kam es vor, als ob Korshajew ihn durch die Lider hindurch beobachtete. „Sagen Sie – die Farbe des Wagens haben Sie auch nicht erkannt?“ „Die Farbe? Meiner Meinung nach war es ein heller Wolga. Vielleicht aber ist es auch Einbildung… die Sonne hat so geblendet.“ Ein verdrehter, verwirrter alter Mann, übersät mit blauen Flecken. Prichodko wurde klar, daß aus dem nichts Vernünftiges herauszubekommen war. Am Schluß des Gesprächs entsann er sich, warum er gekommen war, er zeigte dem Alten das Fläschchen. „Was ist das?“ „Wie meinen? Verstehe nicht.“ Der Alte plinkerte kurzsichtig. „Anscheinend doch ein Herzmittel.“ „Nein, kein Herzmittel. Schauen Sie mal genauer hin.“ Prichodko drückte ihm das Fläschchen in die Hand. Da krähte Korshajew erstaunt, mit hoher Fistelstimme: „Ich begreife Sie nicht, junger Mann, was fragen Sie
mich danach? Ich sehe das Ding zum ersten Mal.“ Wo hast du den Krösus ausgebuddelt? Prichodko kehrte aufs Präsidium zurück und stürzte sich erneut in den Trubel des Wachdienstes. Unaufhörliches Schrillen der Telefone, Benachrichtigungen, Anzeigen, Anfragen: Wo mochte ein siebzehnjähriger Jüngling stecken, der von den Eltern nicht die Erlaubnis hatte, allein baden zu gehen? Wieso meinte ein Wartungstechniker, daß für den Abfluß der Wasserleitung der Mieter verantwortlich sei, der ja keine Ahnung hatte, daß die Rohre Linksgewinde hatten, und die Einsatzschraube folglich rechtsherum drehte, und so weiter und so fort. Fürwahr, kein Pappenstiel, die Ordnung in einer großen Stadt aufrechtzuerhalten! Als die Einsatzgruppe auf die nächste Tour (Einbruch, Bebelstraße 7) ging, suchte Prichodko nach Zigaretten und stieß in der Tasche auf das Valocordinfläschchen. Was war denn das? Ziemlich schwer. Fremdkörper. Er raste zur wissenschaftlich-technischen Abteilung hinauf. Der Sachverständige Senja Rapoport saß vor seinem Mikroskop. Prichodko reichte ihm das Fläschchen. „Senja, schau mal, was dies sein könnte!“ „Immer zu Diensten, Auskünfte allwegs gratis.“ Der Sachverständige wog das Fläschchen auf der Handfläche. „Oho!“ Er schüttete ein paar Metallteilchen auf den Tisch und nahm aus der Tischlade ein Vergrößerungsglas. „Joijoijoi. Wo hast du das her?“ „Von einem Verkehrsverletzten. Was könnte das sein?“ „Sieht nach Uhrenteilen aus. Genaues kann ich nicht sagen.“
„Ich tappe völlig im dunkeln. Ich wurde erst hellhörig, als der Eigentümer sich von diesem Zeug partout distanzierte. Im Krankenhaus versichert man demgegenüber, das Fläschchen stamme aus der Tasche des Eingelieferten.“ „Schön, ich werde vor Feierabend anrufen.“ Rapoport rief um neun an. „Hör mal, Sergej, dein Fläschchen hat’s in sich!“ „Fläschchen?“ Im Wirbel des Tages hatte Prichodko das Fläschchen vergessen. „Na weißt du!“ Senja war beleidigt. „Entschuldige, ich bin völlig durchgedreht. Was ist also?“ „In dem Fläschchen sind Wellen, Unruhwellen von Uhren. Ohne so ein winziges Stecknadelköpfchen kannst du deine Uhr auf den Schrotthaufen werfen. Diese Unruhwellen entstammen dem neusten Modell der Stoliza. Phantastische Uhr, sag ich dir! Einfach Klasse: so flach, wie zwei Drei-Kopeken-Stücke aufeinandergelegt. Im Ausland sehr gefragt. Ich habe gleich Erkundigungen eingeholt: Im Einzelhandel sind diese Wellen gar nicht zu haben. Der Betrieb liefert Ersatzteile bloß an Reparaturwerkstätten. Die haben aber noch nie welche zu sehen bekommen. Und mehr noch: Die Wellen in deiner Flasche sind keine Ersatzteile.“ „Wieso?“ „Es handelt sich um eine Maßanfertigung, die in die Produktion geht. Die Wellen sind gehärtet, poliert, an den Enden rundgeschliffen. Wie man mir versichert hat, kommt der Posten direkt aus dem Herstellerbetrieb.“ „Wie teuer ist so eine Unruhwelle?“ „Zwanzig Kopeken. In diesem Fläschchen befinden sich
mindestens zehntausend Stück. Macht zweitausend Rubel. Ich möchte mal wissen, wo du den Krösus ausgebuddelt hast, der, ohne mit der Wimper zu zucken, zweitausend Rubel wegschenkt?“ „In der Aufnahme des Städtischen Krankenhauses.“ Prichodko rief gleich an im Krankenhaus. Die diensthabende Schwester antwortete mit schläfriger Stimme: „Korshajew ist schon entlassen, er ist mit dem Taxi nach Hause gefahren.“ Der Streich des Hinkepink Korshajew zog die Tür hinter sich zu, und sie quietschte widerwärtig in den ewig nicht geölten Angeln. Er zuckte zusammen und ließ den Blick durch das staubige, vollgepfropfte, fremd anmutende Zimmer fliegen. Setzte sich auf den alten, durchgedrückten Stuhl und dachte nach. Wirrwarr, nichts als Wirrwarr, und rundum Lumpen, durchweg Lumpen. Das Herz raste wie wild in seiner Brust. Porfiri Wikentjewitsch kochte auf der Spiritusflamme Kaffee, hüllte sich in den geblümten Morgenmantel und streckte sich auf das Sofa. Das von einem kleinen selbstgefertigten Leuchter erhellte Zimmer lag im Halbdunkel. Gelackmeiert, gelackmeiert, dachte Korshajew. Wie ein grüner Junge bist du reingeschlittert. Du hättest sagen sollen: mein Zeug, für die Arbeit, neue Konstruktion. Ob dieser Doktor oder der Milizmann viel von Uhren verstehen? Hätt ich gesagt, es war meins, wär alles bestens gewesen, und aus. Ich wär sie los gewesen. Junge, Junge! Da sag ich nein, ich Dämlack! Klar ist das verdächtig. Die sind nicht blöd – sie haben mir das Zeug doch eigenhändig abgenommen. Schöne Scheiße. Jetzt kann ich bloß hoffen, daß der Nibich, der Penner, das
Fläschchen im Krankenhaus behält. Sonst heißt’s Knast. Zuerst will ich Hinkepink warnen. Ist doch alles drin. Soll er sich auf Besuch einstellen. Auf ihn war ja gepfiffen, aber wenn sie ihn an den Kragen nehmen, und er singt, was dann? Jaja, ich schein alt zu werden. Herrje, wieviel Jahre ist alles bon gegangen, nichts, nichts, und nun alles mit einem Schlag… Dieser Blödsinn mit dem Wolga. Lieber Gott, wofür strafst du mich? Zwei Mille – weg wie nichts… Er stand auf, trat an den alten, rissigen Schreibtisch, wühlte eine Zeitlang in den Schubladen und kramte endlich ein Kuvert und einen zerdrückten Bogen Papier hervor. In sauberer Schrift schrieb er: „Dshaga, Furashkin hat zufällig die letzten Zugvögel heruntergeholt. Doch haben die Hunde keine Witterung genommen. Sie haben die Spur verfehlt. Sag Hinkepink, er soll nicht zur Jagd gehen, er soll die Saison abwarten.“ Er sann, dann schrieb er auf den Umschlag: „Moskau, Bolschaja Grusinskaja Uliza 112, Wohnung 7, J. Mossin.“ Befeuchtete mit der Zunge den Rand des Umschlags, klebte zu, fuhr nochmals mit der Hand darüber, geriet abermals ins Grübeln. Aus den unerfreulichen Gedanken riß ihn ein kurzes Klingeln an der Haustür. Einmal, für mich. Wer mag das noch so spät sein? Korshajew ließ den Brief in die Tasche des Morgenmantels gleiten, trat auf den Korridor und öffnete. Auf der Treppe stand ein gutaussehender junger Mann, elegant, Brille. „Ich möchte Porfiri Wikentjewitsch Korshajew sprechen“, sagte der Besucher halblaut. „Das bin ich.“ „OBCHSS. Erlauben Sie!“ Der junge Mann ließ aus der Obertasche der Jacke salopp ein rotes Büchelchen her-
vorflutschen und betrat die Wohnung. „Bitte schön“, murmelte Korshajew, dem es kalt über den Rücken rieselte. Aha, wegen den Unruhwellen, durchzuckte es ihn. „Ich bin von OBCHSS“, wiederholte der junge Mann, als er Korshajews Zimmer betrat. „Soll auf Anweisung des Staatsanwalts bei Ihnen Haussuchung durchführen. Waffen, Wertgegenstände, Giftstoffe empfehle ich, mir freiwillig auszuhändigen.“ „Was soll ich alter Mann mit Waffen?“ stammelte Korshajew. „Und Wertgegenstände, lieber Herr, habe ich noch nie besessen, da können Sie alles um und um kehren…“ Die verdammte Brillenschlange weiß doch was! Korshajew starrte haßfunkelnd auf den Besucher. „Das sagen sie zuerst alle“, unterbrach ihn der junge Mann. „Sowie da aber erst die Obligationen und Brillanten fliegen, geht das Heulen und Zähneklappern los – das ist doch nicht meins, das hab ich von Großmuttern geerbt, dabei ist Großmutter vorm Krieg verstorben, von dreiprozentigen Obligationen hat die nicht mal geträumt!“ „Ich habe keine Obligationen“, wiederholte Porfiri Wikentjewitsch. „Suchen Sie doch!“ „Unterschreiben Sie hier das Protokoll, und dann können wir anfangen.“‘ Mit zittrigen Händen unterschrieb Korshajew das Formular, und die Brillenschlange ging an die Durchsuchung. Mit methodischer Gelassenheit, routiniert und sicher, öffnete der junge Mann die Laden von Kleiderschrank, Wäschespind, Schreibtisch, warf den Inhalt aufs Sofa, besah ihn, schwippte die Sachen achtlos zurück in die Laden. Das alles ging in völliger Ruhe vor sich. Korsha-
jew faßte sich allmählich. Er stand unter Druck wie einer, der sich an etwas Bekanntes, Gewesenes zu erinnern sucht, das sich dem Zugriff jedoch hartnäckig entzieht. Die Gedanken schepperten in seinem Kopf so wirr wie Münzen in einer Sparbüchse. Sein Gedächtnis hing an einem blödsinnigen Gaunerliedchen fest: „Hab ich gedreht das Ding, zum Intippel ich sput und bring der Mutt das Gut.“ Was für Gut, zum Teufel? Zum Gotterbarmen ist das ja! Zur Mutt im Intippel? Wieso Intippel? Hier ist kein Intippel in der Puschetschnaja. Hier, wo ich bin, ist ein kleines Zimmer, die reinste Bonbonniere, so nett und so still. Zu Mutt, Mutt? Wieso Mutt? Meine Frau. Ja, meine Frau sitzt im Polstersessel, während ich da am Schreibtisch steh. Und ebenso wie jetzt, findet im Zimmer Durchsuchung statt. Ebenso wie jetzt. Ebenso wie jetzt. Ebenso? Nein, nicht ganz. Ich hab’s, ich hab’s, es war nicht so still! Im Zimmer war Krach: Die Hofmeistersfrau schnatterte laut mit der Nachbarin, der Zeugin; und die andere Nachbarsfrau, ebenfalls Zeugin, seufzte in einem fort geräuschvoll: „Hatte er denn das nötig, hatte er denn das nötig!“ Der grauhaarige Untersuchungsrichter sprach mit dem Einsatzleiter. Endlich fiel ihm ein: Bei der Haussuchung waren doch Leute gewesen, viele Leute, und vor der Durchsuchung hatte der Untersuchungsrichter ihm ein Papier zu lesen gegeben, in dem klipp und klar stand, was, welche Verdachtsmomente den Anlaß zur Durchsuchung lieferten. Und jetzt? Keine Zeugen, kein Untersuchungsrichter, keinerlei Papiere! Und dann, er entsann sich genau, dies Formular fürs Durchsuchungsprotokoll. Ein Formular!
Ein Vordruck und kein mit der Maschine getipptes Papier. Nein, hier stimmt was nicht! Er räusperte sich, fragte heiser: „Darf ich erfahren, junger Mann, wieso Sie bei mir durchsuchen?“ „Als wenn Sie das nicht selber wüßten! Tun Sie doch nicht so.“ „Ich weiß es beim besten Willen nicht. Sagen Sie es mir, wie sich das von Rechts wegen gehört!“ „Schau da, ein Rechtsfanatiker! Stör mich nicht. Komm mir nicht mit solchem Salm. Sag lieber, wo die gestohlenen Uhrenteile stecken!“ „Außerdem fehlen die Zeugen, Bürger. Eine Unkorrektheit…“ „Zeugen? Bitt schön, rufen wir doch die Nachbarn! Ich hab ja bloß an dich gedacht, alter Esel. Der Blamierte bist allemal nachher du!“ „Na und? Was heißt Blamierter. Zeigen Sie mir doch mal Ihre Legitimation, verehrter Chef. Sonst suchen Sie und suchen Sie, und ich weiß nicht mal, wer da sucht.“ „Wie oft soll ich dir noch sagen, ich bin vom OBCHSS. Du hast es nötig, dich um meine Papiere zu kümmern, denk lieber an dich selber!“ Ein Ganove, klar! Grad noch auf die Schliche gekommen, dem Halunken. Ganz Hinkepinks Marke! Haß schlug in ihm hoch gegen den Gauner. Daß ich angeknackst bin, will er für sich nutzen, mich erleichtern, ausnehmen… „Schluß“, sagte Korshajew resolut, „hören wir auf mit den Possen! Her den Ausweis, oder ich ruf die Miliz!“ „Übergeschnappt, was, Opa? Oder, willst du der Miliz was von hübschen kleinen Uhren erzählen?“ sagte die Brillenschlange und trat auf Korshajew zu.
„Halt!“ knirschte der Alte, halb toll vor Wut. „Ich schreie die Leute, die Nachbarn herbei. Ich werd dir’s zeigen, du Dreckskerl, ehrliche Leute zu überfallen!“ Das Bewußtsein, gegen diesen Gauner im Recht zu sein, versetzte Korshajew in Ekstase. Er war nunmehr der festen Überzeugung, daß das auf Hinkepinks Konto ging. So trat er, fieberhafte Verwünschungen ausstoßend, dem Ganoven entgegen. „Keinen Schritt weiter!“ sagte der plötzlich eiskalt. „Da hast du meinen Ausweis!“ Er fuhr mit der Hand in die Innentasche der Jacke, riß sie blitzartig hervor, und Porfiri Wikentjewitschs Augen, die Nasenwurzel durchzuckte ein wahnsinniger, betäubender Schmerz, schlug in den Nacken, kippte Porfiris ganze Welt um und zerflackerte, mitsamt dem Unbekannten, dem Zimmer, allen Gedanken und Kümmernissen. Bericht betrifft: Vorkommnisse in der Stadt am 22. Juni 196* Mord Der Bürger Porfiri Wikentjewitsch Korshajew, geboren 1898, wurde in seiner Wohnung, Uliza Tschishikowa 77, um 7 Uhr 20 von den Nachbarn tot aufgefunden. Am Tatort befanden sich die Einsatzgruppe des Städtischen Bereitschaftsdienstes und der gerichtsmedizinische Sachverständige. Es wurde festgestellt, daß der Tod des Bürgers Korshajew durch einen starken Schlag mittels eines schweren Gegenstandes auf die Nasenwurzel erfolgt ist. Geld und Wertgegenstände wurden nicht vorgefunden. Die Vollständigkeit von Mobiliar und Eigentum wurde bezeugt durch Nachbarn und Bekannte. Am Tatort wurden sichergestellt:
1. eine Tischuhr mit frischen Fingerabdrücken, die sich nach dem Hautrelief von denen Korshajews unterscheiden; 2. ein chiffrierter Brief an den Bürger J. Mossin in Moskau. Laut Aussage der Nachbarin des Ermordeten – einer O. A. Ossowez – befand sich bei diesem um 23 Uhr 30 ein Besucher, ein Mann, dessen Stimme sie gehört hat. Eine Beschreibung des Besuchers liegt nicht vor. In Mordsache Korshajew wurde die Fahndung aufgenommen, Sofortmaßnahmen zur Ermittlung des Täters wurden eingeleitet. Das Allerliebste Ich, Hauptmann der Miliz Prichodko, habe als Zeugin die Bürgerin Olga Andrejewna Ossowez vernommen, welche folgendes aussagte: „Mit dem verstorbenen Korshajew wohnte ich zusammen in einer Wohnung. Da er alleinstehend war, regelte ich auf Bitten der andern Nachbarn die Beerdigungsangelegenheiten. Ich fuhr zum Neuen Friedhof, wo Korshajew letztes Jahr seine Frau bestattete. Mit der Friedhofsverwaltung kam ich überein, daß Korshajew neben seiner Frau beerdigt werden sollte. Dann ging ich mit den Erdarbeitern zu diesem Grab. Darauf stand ein kleiner Stein mit dem Bild der Verstorbenen und der Inschrift: ,Hier ruht mein Allerliebstes im Leben. Meiner unvergeßlichen Anna’. Nachdem die Arbeiter den Grabstein abgetragen hatten, schoben sie eine Steinrabatte fort, und darunter kam eine eiserne Kiste zum Vorschein. Die Arbeiter öffneten die Kiste und fanden darin sowjetische und ausländische Banknoten, Goldmünzen, Brillanten. Bald darauf
erschienen die Mitarbeiter der Miliz, verfaßten ein Protokoll, und wir alle haben unterschrieben…“ An das Milizamt Odessa Genossen S. W. Prichodko Auf ihre Anfrage teilt das Hauptbüro der Staatlichen Spar-und Kreditkassen mit, daß P. W. Korshajew in den Moskauer Sparkassenfilialen vier persönliche Konten mit einer Gesamteinlage von 7888 Rubel unterhält. An das Milizamt Odessa Auskunft Auf Ihre Anfrage teilt die Zentrale Registratur mit: Porfiri Wikentjewitsch Korshajew, geb. 1898 in Rostow, wurde verurteilt: 1. im Jahre 1935 vom Stadtgericht Magadan wegen Aufkauf von gediegenem Gold; 2. im Jahre 1954 vom Stadtgericht Moskau wegen Schwarzhandel mit Uhrenteilen…. Dienstanweisung 803 24. Juni 196* Am 22. 6. 196* wurde Porfiri Wikentjewitsch Korshajew, Jahrgang 1898, in seiner Wohnung von einem unbekannten Täter tödlich verletzt. Korshajew, mehrfach vorbestraft, verfügte über größere Valuta-Beträge und erhebliche finanzielle Mittel. Bei ihm fanden sich gestohlene Uhrenteile Moskauer Herkunft und ein chiffrierter Brief nach Moskau. Zur Aufklärung der kriminellen Kontakte Korshajews und Ermittlung in seinem Mordfall wird Oberinspektor Hauptmann der Miliz S. W. Prichodko nach Moskau ent-
sandt. Dauer der Dienstreise: zwanzig Tage. Stellvertretender Chef des Kriminalamtes Gortschakow
2. TEIL Die Schwerkraft der Erde Maulwurf Er saß am Fenster und wagte nicht die Augen zu schließen. Sobald er die Lider senkte, tauchte vor ihm das Gesicht des toten Alten auf, und alles, was vorher in seinem Leben gewesen war, kam ihm nun, sooft er die Augen schloß und den Toten sah, banal, nichtig, weit entfernt vor. Er merkte, daß das, was in Odessa passiert war, jenen Rhythmus zerstörte, nach dem er seine ganzen dreißig Jahre lang gelebt hatte. Und er ahnte, daß er mit diesem Mord sich selber ein für allemal um seine Ruhe gebracht hatte. Halt, unterbrach er sich bei diesen Gedanken, entweder jetzt alle oder keiner. Damit hat sich’s. Finish. Sonst schnapp ich über. Er schaute durchs Fenster auf die Erde hinab und zwang sich, an anderes zu denken, gleichviel an was, nur nicht an das, was geschehen war. Was für ein Spaß, wenn diese ganze IL abstürzte. Gäbe das ein Palaver! Den ganzen Flugsicherungsdienst würden sie zur Miliz schleppen. Und für mich müßte man auch herhalten. Genau wie für alle andern. Und wenn mir einer eins über den Schädel hauen und mich mausetot ausliefern würde? Ob er wohl einen Orden bekäme? Als Wächter der bestehenden Ordnung, der mustergültigen, wie? Oder gesellschaftlichen? Bloß diese Nummer zieht
nicht. Eher hau ich selber dem den Schädel ein. Auch mit der Miliz denk ich nicht dran, länger Katz und Maus zu spielen. Ich werd mir jetzt mal Hinkepink vorknöpfen. Soll er mal nachdenken, ich hab getan, was ich konnte. Ich muß untertauchen. Klammheimlich verschwinden, hab getan, was ich konnte. Alles. Also muß er blechen. Ich brauch jetzt Kies. Viel Kies, oder man wird mich einknasten wie den letzten Blödmann. Hab ich Kies, können sie mich mal. Wenn ich bei Kasse war, hatte ich sie immer alle an der Leine. Ich werd weg nach Sibirien verduften, so für drei Jährchen, bis Gras über alles ist, und dann wieder auftauchen. Sibirien, das ist groß! Da sucht mal einen fixen Jungen! Da kannst du die Puppen tanzen lassen, Genka, noch und noch! Oder ich geh nach Samarkand. Warme Stadt, Weintrauben und Aprikosen das ganze Jahr hindurch. Die Liska nehm ich mit. Andererseits, warum soll ich mit Gefolge aufkreuzen? Ist ja doch bloß eine Gans. Nicht aus Schoflichkeit, einfach aus Dämlichkeit könnt die einen anschwärzen. Also wird wohl unsere liebe Braut Jelisaweta Alexejewna Strohwitwe bleiben müssen! Auf dem Tableau leuchteten die Worte auf: Nicht rauchen, bitte anschnallen! Aus dem Cockpit trat der Kopilot und schaukelte langsam, die Reihen der Fluggäste musternd, zum Heckraum durch. Sogleich überfiel Maulwurf die Angst, schlug aufs Herz und blieb in der Kehle hängen! Sie haben aus Odessa ‘nen Funkspruch hergekabelt, daß der Alte ermordet wurde. Sie wollen mir an den Kragen. Na, das wollen wir doch mal sehen… Maulwurf reckte den Hals und drückte das Gesicht ans Bullauge. Unten krochen winzige Automobile die grauen Bänder der Straßen entlang.
Er konzentrierte sich dermaßen, daß er meinte, mit bloßliegenden Nerven alles wahrzunehmen, zu sehen, was hinter ihm vorging. Dort aber ging nichts vor. Erneut schlug eine Tür, Lachen ertönte, und aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie der Kopilot, die Stewardeß untergehakt, in sein Cockpit zurückschaukelte. Maulwurf richtete sich im Sessel auf, schloß erschöpft die Augen. Nein, das hielt er nicht lange durch. Da war er ja dem Schlaganfall nahe. Oder dem Herzinfarkt? Alles eine Soße! Nicht darum ging es. So würde er schlappmachen. Kurz vor dem Ziel… Maulwurf sah, wie die Gangway herangerollt wurde, die Tür mit einem Pfeifton aufging und die Fluggäste hastend zum Ausgang drängten. Maulwurf ließ sich Zeit. Wenn er diese Partie verlor, dann alles. Möglich, daß er, obwohl er Korshajews Zimmer mit Handschuhen untersuchte, irgendwo Spuren hinterlassen hatte. Er hatte sie erst später übergezogen, danach, vorsichtshalber. Fanden sich Fingerabdrücke von ihm, dann konnte er sein Testament machen. Die Daktyloskopie war nicht zu bemogeln, und eine nasse Sache kostete den Kopf. Kein Zweifel! Maulwurf schaute prüfend durchs Bullauge. Nein, auf dem Feld schien keiner zu sein. Nur Reisende und Gepäckträger. Die Stewardeß sah in die Kabine. Maulwurf machte die Augen zu, stellte sich schlafend. „Bürger, wachen Sie auf! Wir sind in Moskau…“ Er fuhr mit der Hand übers Gesicht, dehnte den muskulösen Körper, daß es knackte. „Danke. Man schläft doch zu gut im Flugzeug. Hat Ihnen übrigens noch niemand gesagt, daß Sie wie Lucia Böse aussehen?“ Das Mädchen lachte.
„Wirklich?“ Er sagte: „Eine frappierende Ähnlichkeit, wirklich! Ich hab dafür ein Auge, ich bin im Kino sozusagen groß geworden. Möchten Sie mir nicht verraten, wo ich Sie abends anrufen kann? Wir könnten einen netten Abend zusammen verbringen.“ Sie lachte ganz reizend, offenbar wollte sie ihn nicht kränken. „Vielen Dank, aber ich bin längst verheiratet.“ Maulwurf blickte erneut zum Bullauge hinaus. In der Nähe der Maschine war niemand zu sehen. Er stand auf und fragte trocken: „Na und?“ Die Stewardeß zuckte die Achseln. Maulwurf taxierte sie. Nette Puppe, aber im Kopf nur Stroh. Kann mich mal! Kühl warf er über die Schulter hin: „Ganz wie Sie meinen.“ Ging ins Flughafenrestaurant, um in Ruhe zu überlegen. Wählte einen leeren Tisch in der Ecke, bestellte Kognak, Zigaretten, Kaffee. Noch während er der Kellnerin einen Blick nachsandte, dachte Maulwurf: Hier werd ich man lieber nicht sitzen, das ist Quark. Wenn sie den Alten entdeckt haben, wimmelt’s von ihnen auf Bahnhöfen und Flughäfen, Hier verduft ich mal lieber. Die Kellnerin war nicht zu sehen. Er stand auf, ein Zittern in den Knien und eine gähnende Leere im Herzen. Wenngleich er sich zwischen den Tischen hindurch möglichst langsam zu gehen bemühte, der Abstand zur Tür sich stetig verringerte und er sich in einem fort zurief: Immer ruhig! Nicht zu schnell! Halt an dich! gehorchten die Beine ihm nicht, und an der Tür rannte er fast. In dem riesigen langgestreckten Vestibül, unter Aufbietung seines ganzen Willens, verlangsamte er den Schritt und trat auf die Esplanade hinaus.
Es dämmerte. Ein unaufhörlicher Strom von Taxis ergoß sich hin und her, Leute hasteten mit Kindern, Blumen und Koffern. Und jeder konnte sich als ein Kriminaler erweisen. Von ihnen drohte Gefahr, es waren ungeheuer viele, und jeder konnte plötzlich herantreten und sagen: Sie sind festgenommen! Sie waren alle gefährlich, Maulwurf hatte sie alle gegen sich. Das würde so sein bis… Maulwurf dachte den Gedanken nicht zu Ende, ließ sich in ein heranrollendes Taxi fallen und rief heiser: „Moskau!“ Maulwurf ließ das Taxi eine Straße vor Liskas Haus halten. Schlenderte dann, wie ein Müßiggänger, hin und her, bat einen Passanten um Feuer und drehte sich wieder und wieder blitzartig um. Nein, Beschatter gab es augenscheinlich nicht. Trotzdem ging er nicht in Liskas Hauseingang, sondern in den benachbarten. Flur mit dem Fahrstuhl zum fünften Stock, gelangte über den Dachboden ins Nebenhaus und sauste zum dritten hinab. Unhörbar trat er zur Tür, indem er auf den Hacken auftrat und die Fußsohle weich zur Spitze abrollte. Im Treppenhaus herrschte Totenstille. Er schmiegte sich mit Ohr und Händen an die Tür, als wollte er sie umarmen. Aus der Wohnung scholl leise Musik und Wasserrauschen, in Badezimmer oder Küche. Das sah weiß Gott nicht nach Falle aus. Verdammte Nerven! Er öffnete mit seinem Schlüssel. Legte im Korridor ab, hängte den Mantel auf und trat ebenso geräuschlos in die Küche. Liska stand am Herd und trällerte im Takt der Radiomusik: „Oh, wenn der Tau tropft, wenn der Tau tropft, lacht die Sonne mir…“ Maulwurf lehnte sich mit der Schulter an den Türrahmen und sah auf ihren Rücken. Die Haare ringel-
ten sich bis zum Hals, und Liska mochte es, wenn er diese Löckchen um seine Finger haspelte. Maulwurf stand zwei Meter hinter ihr, und sie hörte ihn nicht. Zwischen Vergnügen und Entsetzen dachte er, daß er es allmählich zur Gewandtheit einer Raubkatze brachte. Er bückte sich und schlug mit der Handkante leicht unterhalb ihrer Kniekehlen. Mit einem erstickten Aufschrei sank sie in seine Arme. „Bist du toll, Genka! Was soll denn das! Da kann ja das Herz aussetzen!“ Dann zog sie seinen schönen großen Kopf an sich und küßte wie wild die geborstenen Lippen. Gegen Ende der Nacht träumte er, was ihn schon am Tage verfolgt hatte und was sich darum seinem schlafgetrübten Bewußtsein noch fürchterlicher darstellte. Kälte. Grausige, wahnsinnige, schneidende Kälte. Mindestens vierzig Grad. Scheinwerferkegel über der Sperrzone, bläulich aufflammende Schneelohen. Schon hat er fast den Todesstreifen überquert – unendliches Feld hinter dem Stacheldraht und rundum Taiga. Noch ein Schritt nur, noch hundert Meter… Dumpf schrillt in der frostklirrenden Stille das Heulen der Sirene über dem Lager – Alarm! Ausbruch! Ein Scheinwerfer wühlt im Feld. Und Maulwurf kommt es so vor, als ob sein pfeifender Atem das Sirenengeheul und Tosen des Windes übertönt und die Wachen ihn schnappen werden nicht seiner Spuren, seines Geruchs wegen, sondern wegen dieses unheimlichen, lungenzerfetzenden Pfeiftons. Der Scheinwerferkegel tastet hinter ihm her wie die Fangarme eines Kraken. Und ergreift ihn. Maulwurf rennt durch die schmale Lichtschleuse, die der Scheinwerfer ihm öffnet, jeden Moment gefaßt auf eine Kugel zwischen den Schulter-
blättern. Das Entsetzen lähmt ihn dermaßen, daß er nicht mal imstande ist, zur Seite zu springen. Sinnlos aber auch das, denn da knallt ihm der Schin die ganze Ladung in den Rücken. Sogar zwei Ladungen. Er staunt, daß er das denkt und daß der Schin nicht schießt. Obschon sie doch schon hinter ihm herlaufen. Dann kracht ein Schuß – einer, ein zweiter. Doch pfeift keine Kugel, und Maulwurf kapiert, das sind Warnschüsse, in die Luft. Er rennt noch schneller, mit den Fäusten das froststarre Gesicht bearbeitend, der Taiga, der vermeintlichen Freiheit, der ewigen Angst entgegen, und schafft es. Er röchelte und schrie im Schlaf, Tränen stürzten über sein Gesicht, die Augen quollen aus den Höhlen, und die verschreckte Liska trommelte ihm ins Gesicht, damit er zu sich kam. Dann beruhigte er sich, indem er die Tränen mit den Fäusten wegrieb, grub das Gesicht in Liskas volle warme Brüste, kühlte die durchgebissenen, ätzenden Lippen an ihrer zarten Haut und sagte kaum hörbar: „Immerhin, eine Chance ist noch. Entweder alle oder keiner.“ Wer kann nicht im Ballett tanzen? Die Bremsen faßten eben, die Wagen schoben sich langsam, einer nach dem andern, in die Halle des hell besonnten Kiewer Bahnhofs. Wie Geschosse ins Magazin, dachte Prichodko und sprang ab. , „Serjoshka, Serjoshka! Heiliger Strohsack!“ hörte er hinter sich rufen. Fuhr herum und sah vor sich seinen alten Studienkameraden Stas Tichonow. „Stas! Ich hab dich ja hundert Jahre nicht gesehn!“ Er klopfte ihm auf die Schulter, der andere ihm auf den Bauch, beide einander auf den Rücken, dann fielen sie
sich in die Arme. „Stassik! So ein Zufall! Ohne diesen Zufall hätten wir uns vielleicht noch zehn Jahre nicht gesehen!“ „Weniger Zufall, alter Junge, als unerkannte Notwendigkeit.“ „Hör sich einer den traurigen Philosophen an! Was machst du hier eigentlich?“ „Sie werden lachen, Sir – ich wollte einen alten Bekannten aus Odessa abholen.“ Tichonow sah auf sein Telegramm. „Er hatte die Absicht, just mit diesem Transkontinental-Expreß einzutrudeln.“ „Komisch. Vielleicht kenne ich ihn?“ „Nicht ausgeschlossen.“ Tichonow beugte sich zum Ohr Sergejs und murmelte furchtsam: „Es handelt sich um den Oberinspektor der OBCHSS Hauptmann Prichodko.“ „Ach nee!“ „Wenn ich mich vorstellen darf, Genosse Hauptmann: Oberinspektor der Moskauer Miliz Tichonow. Wenn Sie sich ab sofort bitte zu meiner Verfügung halten wollen…“ In Tichonows Zimmer, Petrowka 38, schob Prichodko den Aschbecher von sich, räusperte sich und schloß: „Demnach hätten wir zwei Spuren, die wir, glaub ich, zu verfolgen haben: die Adresse des Mossin alias Dshaga, an die Korshajew den Brief schrieb, und die Unruhwellen, die sich bei Korshajew fanden.“ Tichonow schrieb etwas in seinem Notizblock. „Merkwürdiges Zusammentreffen“, sagte er und verkniff die Augen im Zigarettenrauch. „Dieser Tage kam mir ein Fall auf den Tisch, an den ich sofort denken muß, wo du das von den Unruhwellen sagst. Aus einer Uhrenfabrik wurde auf dreiste Weise ein größerer Posten Uhrengehäuse der Marke Sto-
liza entwendet. Saubere Arbeit, im Grunde keine Spuren. Gehäuse und Unruhwellen: das gleiche Modell. Im Werk hörten wir, daß auch schon früher Einzelteile dieses Uhrentyps verschwunden sind, allerdings haben wir dem nicht viel Bedeutung beigemessen.“ „Ja, interessantes Zusammentreffen.“ Prichodko grinste. „Bloß dürfte das reiner Zufall sein.“ „Das will ich nicht sagen. Zufall ist, wie wir schon auf dem Bahnhof festgestellt haben, lediglich unerkannte Notwendigkeit. Du weißt ja, Kriminalität hat ihre verborgenen Gesetze.“ Tichonow stand auf und ging zu dem großen braunen Panzerschrank in der Ecke des Zimmers. „Gewiß“, erklärte Prichodko in gelangweiltem Ton. „Die Gauner stehlen in der Regel Einzelteile zu gängigen Markenuhren. Die sind dann besser abzusetzen. So ein Gesetz gibt es. Hier aber geht es um die Stoliza. Sie ist noch gar nicht in den Handel gelangt. Andererseits klaut man Gehäuse, die selten mal kaputtgehen, also besteht danach kaum Nachfrage. Was heißt da Gesetz!“ „Die Wissenschaft komprimiert uns die Erfahrung des rasch vergänglichen Lebens“, sagte Tichonow, machte den Panzerschrank auf und durchblätterte flüchtig irgendwelche Akten. „Schlußfolgern Sie nicht voreilig, Hauptmann, ich könnte Ihnen so manches erzählen.“ Prichodko entzündete eine Zigarette, blies mit dem Rauch das Streichholz aus und ließ sich in den Stuhl zurücksinken. „Nicht schlußfolgern? Warum?“ Tichonow schaute ihn an, verzog spöttisch den Mund. „Das will ich dir sagen. Vor drei Jahren begannen aus einer Uhrenfabrik und Uhrmachereien Gehäuse, Platine, Gläser zu verschwinden. Ferner Einzelteile, an denen zum Teil durchaus kein Mangel war. Ich weiß noch, wie
sehr wir uns wunderten. Dann wurden Aufkaufstellen und Marktbuden mit einer Flut von Schwarzmarktuhren überschwemmt. Da lüftete sich das Rätsel. Die Uhren waren in Einzelteilen aus dem Werk gestohlen worden. Die Gauner bauten sie zusammen, verschleuderten sie auf dem Markt. Sie kamen auf jeden Fall auf ihre Rechnung: der Preis lag noch immer über ihren Selbstkosten, und die Uhren gingen weg wie warme Semmeln.“ „Und du meinst, hier liegt der Fall so ähnlich? Dann wär’s ja unverzeihlich, nicht dazwischenzufunken.“ Sergej schüttelte den Kopf. „Siehst du, deshalb sollten wir neben den andern Versionen auch diese berücksichtigen.“ Tichonow langte aus dem Panzerschrank einen dünnen Hefter. In gestochener Handschrift war auf den Deckel geschrieben: Strafsache 1831, Diebstahl von Uhrenteilen. Tichonow setzte sich an den Tisch, schlug die Akte auf. „Wollen wir mal Bilanz ziehen: Zum einen hätten wir den Nicht-Moskauer Besitzer der Unruhwellen Korshajew, der Gefahr wittert und sie eiligst diesem Dshaga signalisiert. Er dringt vor allem darauf, Hinkepink zu warnen. Der Person des Dshaga werden wir uns mühelos versichern können, da wir seine Adresse haben. Mir schwant, daß Hinkepink offenbar eine wichtige Figur in diesem Spiel ist, sonst hätte er keine Extrawarnung erhalten sollen. Ohne auf den Rang eines Hellsehers Anspruch zu erheben, möchte ich doch mit Fug und Recht annehmen, daß dieser Hinkepink mit der Produktion oder Montage von Uhren unmittelbar zu tun hat. Hier sollten wir ansetzen: Die Person des Dshaga ermitteln und sorgsamst alle seine Kontakte prüfen; sonderlich ist Ausschau zu halten nach jenen; die schon nicht mehr im Ballett tanzen können –
will sagen, nach Hinkenden. Dieser Hinkepink, von dem Korshajew derart unverblümt und ungeniert schreibt, wird wohl tatsächlich an diesem Defekt leiden. Meinst du nicht?“ „Gewiß. Schließlich wissen wir ja vorläufig nichts anderes über ihn.“ Prichodko lachte. „Wir müssen ihn halt an Hand dieses Kennzeichens suchen. Fangen wir damit an, daß wir Uhrenfabriken und einschlägige Werkstätten nach Hinkenden durchkämmen. Und den Dshaga unter die Lupe nehmen.“ „Ich werd mir zunächst die Allroundhändler am ehemaligen Uhrenladen in der Kolchosnaja vornehmen“, sagte Tichonow. „Und außerdem die Fühler ausstrecken, ob momentan in den Stadtbezirken nichts an Ersatzteilen angeboten wird. Das wär’s.“ Balaschow „Saucierter Tabak, daher das feine Aroma der Zigaretten…“ Alla drehte in den Händen gleichmütig die elegante Schachtel. „Was interessiert mich deine Kent oder Pamir.“ „Das sollte dich aber interessieren. Solche Kleinigkeiten, ob du gute Zigaretten rauchst, legen die Aura einer Frau fest. Man muß Stil haben in allem. Du brauchst nicht zu rauchen, doch sofern du rauchst, dann sollte in deinem Täschchen Kent, Marlborough, Pall Mall stecken und nicht irgendsolche Pamir.“ „Ich finde, das ist doch Unsinn. Die einen wie die andern sind Gift. Wer will sagen, welche schlimmer sind.“ Alla ließ das Feuerzeug aufblitzen und sog den Rauch tief in die Lungen.
„Manchmal beneide ich dich, meistens aber bedaure ich dich.“ Balaschow füllte aus dem silbernen Milchkännchen Sahne ein und schmierte genüßlich Butter aufs Brot. „Und warum?“ Alla hob die Braue. Balaschow horchte nach dem am Tor warm laufenden Wolga. Der Motor schnurrte gleichmäßig und tief. „Du siehst den Kern nicht. Wenn nichts anderes da ist, schmeckt auch die Pamir, gewiß. Du hast bis zweiundzwanzig Jahren zum Feuermachen in der Regel Streichhölzer benutzt, Marke Majak, Schachtel zu einer Kopeke, und hattest keine Ahnung, daß so ein Ronssori-Feuerzeug existiert, mit dem du da herumspielst. Für dies Feuerzeug hab ich dem Schieber Bob ganze fünfzig Rubel hingeblättert. Simple Rechnung, daß wir für besagten Betrag fünftausend Schachteln kaufen könnten, die dreihundertfünfundsiebzigjausend Streichhölzer enthalten.“ Alla kannte seit langem die bewunderungswürdige Fähigkeit ihres Mannes, mit Zahlen zu jonglieren, nun aber lächelte sie unwillkürlich. „Du brauchst gar nicht zu lachen“, fuhr Balaschow in allem Ernst fort. „Ich bin überzeugt, daß dies Feuerzeug nicht ein Drittel ihrer Heizkraft liefert. Trotzdem habe ich das Feuerzeug gekauft und habe an ihm meine Freude, weil es schön ist. Und doch ist das nur das wenigste. Das Feuerzeug macht mir Freude vor allem darum, weil ich in der Lage war, es zu kaufen. Aus demselben Grund nehme ich für fünfunddreißig Kopeken Lord, die die Firma Philipp Morris auf den Markt bringt, und nicht Pamir von Jawa für zehn.“ „Wenn du Geld verpulvern willst, ist es da nicht sinnvoller, es an die Armen zu verteilen?“ Alla lachte auf. „Mit solchen Äußerungen beweist du wenigstens dreierlei: daß ich vorhin mit meiner Ansicht recht hatte, es politisch mit
dir nicht weit her ist und außerdem das völlige Unverständnis meiner Ansprüche und Bedürfnisse. Auf das erste bin ich bereits eingegangen. Zum zweiten: Lies Zeitungen, und du weißt, daß es Armut bei uns nicht gibt, weil ihr der soziale Boden entzogen ist. Drittens: Ich gebe Geld ja nicht gern für nichts aus. Ich gebe es gern für mich aus und für dich. Ich habe allerhand getan, um dir Geschmack beizubringen, offenbar aber bleibt in dieser Hinsicht noch eine Menge zu tun.“ „Weitere Wünsche hast du nicht? Ist dein Mädchenname nicht Makarenko?“ spottete Alla. „Madam, kommen Sie mir nicht unverschämt“, erwiderte Balaschow unerschütterlich. „Du weißt, daß meine Brieftasche immer zu deinen Diensten steht. Bloß möchte ich, daß du, wenn du etwas kaufst, nicht nur daran Freude hast, sondern auch an dem Gefühl, es dir erlauben zu können. Dann erst lernst du einen Genuß kennen, der gar nicht zu vergleichen ist mit bloßer Besitzerfreude.“ Alla zerdrückte die Zigarette im Aschbecher, schaute zum Fenster und sagte: „Manchmal mein ich, das sind auch so deine Gedanken, wenn du mit mir schläfst.“ Balaschow lachte, kam um den Tisch herum und küßte sie auf den Nacken. Sie zuckte zurück, eine kaum wahrnehmbare Geste, die er gleichwohl bemerkte, er überlegte und sagte: „Mach keine Zicken. Wir sind sehr aufeinander angewiesen.“ Damit wandte er sich zur Treppe. Balaschow hatte auch früher Wagen gehabt, keiner von ihnen jedoch hatte ihm so gefallen wie dieser Wolga. Schwarzlackiert, sanfte Rundungen, gediegen wie ein Konzertflügel. Die in dem kompakten Motor gebändigten
fünfundsiebzig Pferdestärken gaben sich fügsam nervös wie ein edles Rennpferd. Balaschow drückte aufs Gas, und der wie ein Brett auf der Straße liegende Wagen stimmte seine sonore Asphaltmelodie an. Nachts hatte es geregnet, der Asphalt war noch nicht ganz abgetrocknet, und die Strahlen der Morgensonne funkelten darauf, als wäre die Straße aus Gold gegossen. Balaschow setzte die Spiegelbrille auf, und sofort tauchte alles in gedämpfte Grün- und Blautöne. Er blickte aufs Tacho – die vibrierende Zeigerspitze hatte sich auf einhundertzehn eingependelt. Er kam an einen Bahnübergang, schaltete auf Leerlauf und lächelte selig bei dem satten behaglichen Schnurren des Motors. Wippend hielt der Wagen vor der gesenkten Schranke. Fast im selben Augenblick ertönte im Westen das Gebrüll einer Diesellock, und an der Schranke dröhnten die langen grünen Kästen der Waggons des D-Zuges Berlin-Moskau vorbei. Balaschow schaute auf die Abteilfenster und dachte: Möglich, daß mein Kunde jetzt mit ebenso kühler Neugier aus einem dieser Fenster nach mir gafft. Sein Herz erwärmte sich vor Freude, weil er den Ausländer schon mechanisch seinen Kunden nannte. Gestern noch hatten seine Hände gezittert, als er das Telegramm aufriß: „Vater völlig genesen. Alles in Ordnung. Bin bald zu Hause. Mascha.“ Mascha! Haha! Tüchtiger Kerl, dieser Maulwurf! Der Junge kommt allmählich dahinter, wie man ernste, konspirative Arbeit leistet. Er wird zwar allmählich patzig, aber sei’s drum! Wird er zu übermütig, wird er halt weg müssen, und fertig. Obgleich es schade wäre. So einer will erst wieder gefunden werden. Dieser Kerl schreckt vor nichts zurück.
Andererseits hat er, sowie er jetzt per Zufall in eine Schlägerei gerät und ertappt wird, für den alten Knicker mit der Höchststrafe zu rechnen. Um so mehr wird er in meinen Händen wie Wachs sein. Die Schranke ging hoch, und hinten hupten ungeduldig die angestauten Wagen. Balaschow grinste: Ihr kommt schon noch zurecht – nach mir! Legte den Gang ein und gab Gas. Balaschows Tag teilte sich auf wie ein Notenblatt. Damit er sich, wie ein Dirigent zu dem sich einstimmenden Orchester, jeden Moment sagen konnte: Also, Opus siebzehn, c-Moll! Neun Uhr. „Genossen, auf dieser Kurzbesprechung muß ich Ihnen in aller Schärfe die Frage stellen: Der Plan des zweiten Quartals ist gefährdet, der Termin sitzt uns im Nacken, geb’s Gott, daß wir es bis zum dreißigsten auf siebenundneunzig, achtundneunzig Prozent bringen. Wir, die Leiter, sind uns also einig: Wenn das Kollektiv seine Unterstützung gibt, sind alle Werktätigen, ohne Rücksicht auf ihre private Zeit, an der Arbeitsfront zu organisieren. Uns steht es schlecht an, errungene Positionen preiszugeben. Jaja, natürlich dürfen wir auch nicht vergessen, daß sonst alle Prämien wegfallen!“ Neun Uhr dreißig. „Galotschka, ich muß ein offenes Wort mit Ihnen reden. Sie als Sekretär der Komsomolorganisation sind in erster Linie verantwortlich für die Arbeit des KomsomolScheinwerfers. Mein liebes Kind, so geht das doch nicht. Wie nehmen Sie teil an der Bewegung für die Kultur der Produktion? Überhaupt nicht. Wie geht es vorwärts mit
der obligatorischen technischen Weiterbildung? Miserabel, hundsmiserabel. Shenja Jermilow kommt überhaupt nicht mehr zum Unterricht. Wie hat Ihre Organisation reagiert? Sie hat ihn verurteilt, eine Entschließung gefaßt. Dabei müßte man ihm helfen, vernünftig, nicht nur herumreden. Er ist ein schwieriger Junge, doch ist Ihr Kollektiv ja nicht irgendeins – sondern eins ganz vorne, ein starkes! Beschäftigen Sie sich bitte also mit dem Scheinwerfer, möge er voll aufgeblendet leuchten!“ Zehn Uhr. „So geht das nicht, Nikolai Semjonytsch! Wir werden noch aneinandergeraten, auf Ehre, tüchtig aneinandergeraten. Für Sie, einen Buchhalter mit zwölf Dienstjahren, sind solche Pannen unverzeihlich. Jaja und nochmals ja! Keine Widerreden! Ich weiß, das geschah weder aus Vorsatz noch aus Ehrgeiz, wie aber konnte das mit den Rechnungen passieren? Gewiß, es liegt alles am Mangel Ihrer Organisationsfähigkeit. Doch werden Sie mir zugeben, daß, wenn ich mit Leib und Seele im Kollektiv aufgehe, ich wohl verlangen darf, daß mein guter Ruf von Ihnen nicht ruiniert wird. Schönschön, betrachten wir den Fall als erledigt, wenn Sie mir versprechen, daß das nie wieder vorkommen soll. Sie kennen ja meinen Grundsatz: In der Buchhaltung muß alles flutschen wie eine Rechenmaschine.“ Elf Uhr. „Freunde! Ich habe soeben auf der Produktionsberatung die Beiträge der Genossen gehört, und ich meine, daß Sie alle einen wichtigen Aspekt aus dem Auge gelassen haben. Sobald wir die Frage der Erhöhung der Wachsamkeit im Zusammenhang mit den im Betrieb festgestellten Diebstählen von Ersatzteilen erörtern, haben wir uns
doch alle die Frage vorzulegen: Habe ich auch alles getan, damit diese unerhörten Dinge…“ Zwölf Uhr. „Wassili Gordejitsch, was macht eigentlich meine Touristenreise in die Schweiz? Den Lebenslauf habe ich schon vor zwei Monaten abgegeben. Aha. Klar. Jaja, meinetwegen könnte es losgehen. Was soll ich viel mitnehmen: Beine in die Hand und ab die Post. Gruß an Galina Iwanowna. Bis dann! Danke, mein Lieber, danke!“ Betr.: Strafsache 1831 Auskunft (über zwei Straftaten des Juri Fjodorowitsch Mossin, geb. 1920, Spitzname Dshaga) Mossin wurde das erste Mal straffällig, als er kupferne Trauringe für goldene verkaufte. Im zweiten Falle wurde Mossin abgeurteilt wegen illegalen Verkaufs größerer Mengen Uhrenteile in diversen Städten des Landes. Zusammen mit Mossin als dem Anstifter dieser kriminellen Handlung stand der Bürger Genrich Awgustowitsch Lande vor Gericht, bekannt auch als Orlow alias Gennadi Andrejewitsch Kostjuk. Obleich Mossin durch das Beweismaterial eindeutig überführt war, hat er weder bei den Vorermittlungen noch im Hauptverfahren sich als schuldig bekannt. Im Jahre 1963 wurde Mossin nach Verbüßung seiner Strafe aus der Haftanstalt entlassen. Oberinspektor Tichonow Der Treff Maulwurf meldete sich so um eins. Er rief an, und Bala-
schow hörte in der gelassenen ausdruckslosen Stimme doch die neuen Töne. Er fragte: „Bist du bei deiner Madam?“ „Ja“ „Dann bleib dort. Ich bin in einer halben Stunde bei dir.“ Balaschow rief seinen Stellvertreter und sagte, er fahre zur Bank, um wegen zusätzlicher Kredite zu verhandeln, möglicherweise komme er heut nicht zurück. Der Julimittag war voll Lärm und Gehaste, Balaschow aber merkte nicht die helle Sonne, und die heiteren Gesichter rundum. Der in Jahren ausgebildete, trainierte sechste Sinn – der Sinn für nahe Gefahr – verhieß ihm Wolken, die kein Wetterdienst registrierte. Diese Wolken vermochten ihm die eigne Sonne zu verhüllen – jene Sonne, die den andern leuchtete, was ging sie ihn an! Er hatte diese Wolken in Maulwurfs Stimme gehört. Noch zogen sie erst am Horizont herauf. Jetzt mußte man sich auf Abwehr einstellen. Und das konnte Balaschow! Er konnte, was der ganze Wetterdienst nicht zustande brachte: drohende Gewitterwolken beizeiten wahrnehmen und vertreiben. Nicht von ungefähr führte er Jahre, endlose Jahre lang diesen unablässigen lautlosen und unsichtbaren Krieg mit dem ihm verhaßten System. Einer gegen eine riesige Welt, die nicht mal ahnte, daß Balaschow sie bekriegte. Doch, kämpfte er klug und sicher, biß gierig zu, sooft es nur ging, und bisher ging es. Bisher reihten sich die kleinen stillen Siege zu einer ganzen Kette. Die großen Bosse des Unterwelts-Busineß waren verschütt gegangen, der Staatsanwalt hatte harte Bestrafung für Valuta-Schieber gefordert; über die Barriere gebeugt, hatten sich mit den Anwälten die kahlgeschorenen „Trikotagenmillionäre“
besprochen; Hände auf dem Rücken, verließen den Gerichtssaal unter Bewachung die erwischten Schmiergeldnehmer. Balaschow pflegte diese Säle – sehr selten – immer nur als Zuschauer aufzusuchen. Seine Komplizen versuchten vergeblich von ihm einen aufmunternden Blick oder ein paar tröstliche Zeilen zu erhalten – sie waren für ihn bereits gestorben. Er kam hierher nicht aus Furcht, daß sie auspacken könnten – er wußte ihre Zungen durch Angst gelähmt. Auch nicht das Mitleid führte ihn her. Er kam, um noch einmal mehr zu hören und zu bedenken: Wo und wann hatten sie Fehler gemacht. Und diese Fehler wiederholte er nicht. Er stand allein gegen das ihm verhaßte System. Unter den Leuten dieses Systems konnte er keine Freunde haben, und seinesgleichen traute er nicht, schätzte er nicht und betrachtete sie lediglich als Objekte zu einmaliger Verwendung. Nie nahm er für neue Unternehmungen seine alten Kumpane. Sooft er in den Zeitungen las, jemand sei wegen Handlangerdiensten für ausländische Geheimdienste zur Verantwortung gezogen worden, lachte er vergnügt und froh: Das geschieht diesen Schafsköpfen recht! Ich würde sie alle ohne weiteres an die Wand stellen. Verkaufen ihre Freiheit, das Leben für ein Butterbrot! Er erinnerte sich, wie er einmal in einer Sechsergang zwei so kleine Krauter hatte. Als er mit ihnen sprach, merkte er mit tiefem Erstaunen: Diese Hammel meinten, daß hier, jenseits der Gesetze, das gelobte Land lag. In höchsten Tönen schwärmten sie von rasanten Wagen, deren Anblick alle Frauen weichmachte, diese Erzdämlacke die. Jaja, hier war das alles. Allerdings nur für ihn, Balaschow, und nicht für diese degenerierten Krauter, die wegen schlechter Noten vom Institut geflogen waren.
Dafür ging er ja Jahr um Jahr Risiken ein, überlegte Unternehmungen wieder und wieder bis ins kleinste, prüfte Papiere bis zum letzten Komma. Und gewann immer! Und diese Nullen wollten nach seinen Sternen greifen! Schön, vielleicht plapperten sie so vor lauter Dummheit, vor lauter Nichtstun, dennoch konnte er diesen Nichtsnutzen nicht verzeihen, er ließ sie fallen, und dann sandte er der Miliz einen anonymen Schrieb, sie seien schon zwei Jahre ohne geregelte Arbeit und betrieben Hehlerei. Beide wurden verknackt als arbeitsscheue Elemente. Ja, Maulwurf war von anderm Schlag, Maulwurf war, ohne Zweifel, eine Entdeckung. Er hatte viel getan, daß Balaschow nun bald seinen Hauptcoup landen konnte. Das sollte Balaschows letzter werden, dann wollte er unbesiegt aus dem Ring gehn, ohne Fanfarenklänge und Salut, dafür aber winkten dicke Bündel Geld, die er dann in Salut und Fanfarenklänge würde ummünzen können. Dieser Fall würde den Kriminalmuseen zur Zierde gereichen können, nur hatte Balaschow diese Art Ruhm nicht nötig. Seit fünfzehn Jahren war dies die erste Unternehmung, in die Balaschow mit so einer Art Kompagnon eingestiegen war. Man mußte es dem verblichenen Alten lassen, er war ein ausgemachter Fuchs gewesen, er hatte den Ausländer angeheuert und den bevorstehenden großen Coup entworfen. Nur war er, Balaschow, ein noch größerer Fuchs, und der Alte hätte nicht so ein Raffke sein dürfen. Immer nach dem fettesten Brocken gierte er, nun war ihm einer im Halse steckengeblieben. Der Alte war ja so eine Art Gläubiger gewesen, er, Balaschow, würde ihm in Paris in der russischen Kirche eine schöne Kerze aufstellen. Mochte seine Sünderseele wenigstens
im Himmel Ruhe finden. Ein alter Sünder war dieser Korshajew schon gewesen, so rachullig wie er war. Balaschow ging um die Ecke, wo der Wagen parkte, und der Wolga schoß los, in Richtung Preobrashenka. „Hallo, Genka! Dann erzähl mal von deinen Bravourstückchen!“ „Hallo, Viktor Michalytsch! Ich habe alles gemacht, wie es abgesprochen war.“ „Alles?“ „Ja, alles!“ „Wie hat der Alte den erhebenden Augenblick aufgenommen? Mit Gebrüll, Geheul?“ „Dazu ist er nicht gekommen.“ „Unsern Trick hast du angewendet?“ „Wie verabredet.“ „Wieso hat es so lange gedauert?“ „Er hat sich drei Tage zu Hause nicht sehen lassen.“ „So! Komisch. Wo kann er denn drei Tage gewesen sein?“ „Keine Ahnung. Die Miliz konnte ich darüber schlecht befragen.“ Balaschow sann, er merkte nicht mal Maulwurfs unverschämten Ton. Ob der Alte noch Tochterunternehmen hat? Oder noch eine Agentur? Daß er im Moment nichts zu laufen hat, davon bin ich nahezu überzeugt. Wo mag er die drei Tage gewesen sein? „Hast du keine Spuren hinterlassen?“ „Wie Ihnen bekannt sein dürfte, Viktor Michalytsch, trage ich meine Visitenkarten an den Fingerspitzen, und für einen Milizmann ist es doch recht mißlich, bei der Durchsuchung mit Handschuhen zu paradieren.“
„Na und?“ „Was na und? Die Handschuh hab ich erst danach angezogen. Möglich, daß ich manches mit bloßer Hand angefaßt habe.“ „Daß du das nicht bedacht hast!“ „Von hier aus kann man natürlich gut raten und herumexaminieren! Jeder Esel versucht auf fremdem Buckel ins Paradies zu gelangen…“ „Reiß dich zusammen!“ „Das tu ich schon! Bloß wer das erste Mal so eine Nacht durchmacht, altert um zehn Jahre.“ „Nun werd nicht sentimental, Maulwurf. Wenn deine Nerven zu schwach sind, such dir was anders. Ich kann Jämmerlinge nicht gebrauchen, die fliegen bei mir!“ „Sehen Sie, Viktor Michalytsch, Sie könnten das bedauern. Mich könnte doch jemand auffangen, der außer meinen Händen auch meinen Kopf gebrauchen kann. Hier drin…“ – er klopfte sich an die Stirn – „ruht doch manch Interessantes. Daher schlage ich vor, von der Politik der Stärke zu Verhandlungen überzugehen…“ „Soso“, murmelte Balaschow. „Das wird ja tatsächlich interessant….“ In der Wohnung befand sich sonst niemand. Um sich zu vergewissern, hatte Balaschow, als er herkam, ein Glas genommen, war in die Küche gegangen, gleichsam um zu trinken. Jetzt rekelte er sich im Sessel und schaute gespannt auf Maulwurf, der rittlings auf seinem Stuhl schaukelte. Maulwurfs Kinn lag auf der Lehne. Die Augen blicklos, wie abgeschaltet. Balaschow dachte, daß es wohl eine Dialektik der Gerechtigkeit gab, die die spiralförmige Entwicklung der Dinge belegte. Nur hatte sich eine Spirale tüchtig herausgeschoben. Maulwurf sah wieder wie vor zwei Jahren…
Dringend! An die zentrale Registratur Ersuche um Auskunft über Vorstrafen und Aufenthaltsort des Bürgers Genrich Awgustowitsch Lande (alias Orlow, alias Gennadi Andrejewitsch Kostjuk). Außerdem wollen Sie bitte beigefügten Fingerabdruck mit dem Landes vergleichen. Oberinspektor Hauptmann Tichonow Moskau, Petrowka 38 Rückkehr in die Geschichte (Der alte Korkin) Maulwurf sah wieder wie vor zwei Jahren… Dshaga kam zu Balaschow und bot ihm die Dienste eines zu allem entschlossenen Mannes an. Maulwurf hatte wegen desselben Delikts mit Dshaga eingesessen. Der hatte seine Strafe verbüßt, während Maulwurf seine vier Jahre nicht durchhielt und aus der Haftanstalt flüchtete. Wieder in Moskau, stöberte er schließlich Dshaga auf. Balaschow hielt ihn sich fürs erste vom Leibe, erteilte Dshaga jedoch eingehende Instruktionen, wie Maulwurf auf die Probe zu stellen sei. Als er mit Maulwurf dann das erste Mal zusammentraf, merkte er, in welch verzweifelter Lage der sich befand. Kein Geld, keine Papiere, kein Unterkommen und die ständige Angst, geschnappt zu werden. Seitdem führte er äußerst riskante Aufträge seines Chefs aus. In einem Holzhaus des alten Ostankino hatte er bei einem vereinsamten Mütterchen ein Feldbett gemietet, Balaschow besorgte einen gestohlenen Ausweis, kunstvoll umfrisiert, doch mit echten Stempeln, was Adresse und Arbeitsstelle betraf. Dann erfuhr Balaschow von seiner Frau, daß der jungen Frisöse Lisa, die Alla bediente,
kürzlich eine Ein-Zimmer-Wohnung zugewiesen worden war. Er setzte Maulwurf geschickt auf sie an, und offenbar, das Mädchen vermochte nicht, dem jungen, gutaussehenden, hoffnungsvollen Mitarbeiter des Außenhandels zu widerstehen. (Maulwurf gab sich gern als Funktionär des Außenhandels oder Kameramann aus. Beide Berufe kamen ihm wohl besonders attraktiv vor.) Maulwurf nahm an Gewicht und Eleganz zu, zumal er in Kommissionsgeschäften Dacron- und Terylene-Anzüge unterm Ladentisch bezog. Er konnte sich dies erlauben – Balaschow bezahlte riskante Jobs gut. Und er merkte sich ein für allemal: Sollte er hochgehen – von Balaschow kein Mucks. Der würde ihm entweder noch während der Voruntersuchungen oder aus dem Lager heraushelfen, davon war Maulwurf felsenfest überzeugt. Dann kam die Affäre Korshajew. Der Alte war vorsichtig wie der Teufel. Selbst Balaschow wußte von ihm nur, daß er aus Odessa stammte und Porfiri Wikentjewitsch Korkin hieß. Korkin kaufte größere Posten Einzelteile für das neue Uhrenmodell Stoliza auf. Der erfahrene Geschäftsmann Balaschow witterte gleich, daß hier mehr als eine der üblichen Schiebereien dahintersteckte. Er hatte keine Beweise in der Hand, stürzte sich aber waghalsig in dies Abenteuer, da er an seine Intuition glaubte. Vier Monate trieb er sein Spiel mit Korkin, des Anscheins, als habe er bloß den Absatz der aus dem Herstellerbetrieb und der eigenen Werkstatt gestohlenen Uhrenteile im Auge. Balaschow wußte nicht, wo Korkin bei seinem Aufenthalt in Moskau abstieg. Seine Koordinaten gab Korkin ihm nicht bekannt, er rief an und verabredete sich lediglich auf der Straße. Dabei wählte er solche Stellen, die
von weitem gut zu übersehen waren. Augenscheinlich war Korkin ein gehetzter Wolf und fürchtete, daß Balaschow, der sich den Anschein eines harmlosen Gauners zu geben versuchte, einen Baldower mitbrachte. Sie trafen sich auf einem freien Platz bei den Lenin-Bergen, am Nordausgang der Volkswirtschaftsausstellung, auf dem Bolschoi Kamenny Most, auf der Zentralnaja Alleja Lushnikow. Der verzweifelte Balaschow war schon nahe daran, Maulwurf einzuschalten, damit der sich den andern irgendwo vornahm und dessen Papiere prüfte. Das Risiko jedoch war zu groß – der Alte konnte es mit der Angst bekommen und aus dem Geschäft aussteigen. Balaschow beschloß, seine Hypothese praktisch zu erhärten, andere Möglichkeiten blieben ohnehin nicht. Er ging von einer ganz simplen Überlegung aus: Der Alte kleidete sich eher ärmlich als bescheiden, und Vermögen besaß er, wie vermutet werden durfte. Bei diesen alten Krautern ging die Konspiration, was Kleidung anbetraf, eher vom Instinkt als vom Verstand aus. Höchstwahrscheinlich war der Alte einfach knauserig, und falls Balaschows Ansicht sich als richtig erwies, mußte Korkin den Köder schlucken wie der Hecht den Weißfisch, würde um nichts zu halten sein, nur um an das schöne Geld zu gelangen. Gleichsam verlegen, den Blick zur Seite, sagte Balaschow beim nächsten Treff: „Porfiri Wikentjewitsch, ich hätte da was für Sie, streng vertraulich.“ „Und was?“ „Sie haben mir da einen ziemlichen Betrag für den Posten bezahlt.“ „Entspricht das etwa nicht der Vereinbarung?“ „Aber gewiß doch, jaja.“ Balaschow zuckte mit den
Schultern. „Natürlich entspricht es. Ich meine etwas anderes.“ „Worum geht es?“ fragte Korkin, der die Geduld verlor. „Könnten Sie mir das Geld nicht in harte Währung umtauschen?“ „Woran denken Sie?“ „Na, Grüne würde ich gern kaufen oder Pfund oder so…“ „Sie meinen Dollars, wenn ich Sie richtig versteh?“ fragte Korkin kühl. In Balaschows Brust erstarb alles. „Wenn dies möglich wäre…“ „Ich weiß nicht, ich weiß nicht“, murmelte Korkin vage. „Ich müßte mal bei Bekannten herumfragen. Wieviel wollten Sie denn umtauschen?“ Balaschows Herz gab es einen Stoß, noch einen, und es schlug einen Trommelwirbel. „Eigentlich, wenn es geht, den ganzen Betrag…“ „Wissen Sie, daß der Kurs eins zu fünf steht?“ „Recht teuer, natürlich“, seufzte Balaschow heuchlerisch, „wenn es aber halt billiger nicht geht…“ „Sie tun mir keinen Gefallen damit, Verehrtester. Ich wollte von Ihnen nichts. Und wenn es teuer ist, so wissen Sie doch: Ihre Sache“, schnarrte Korkin frostig. „Ich kann Ihnen natürlich nicht böse sein, Porfiri Wikentjewitsch, im Gegenteil, ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet“, schmeichelte Balaschow, „aber abgesehen davon, ist der Kurs tatsächlich sehr hoch. Geht es nicht eins zu vier?“ Balaschow konnte es einerlei sein, zu welchem Kurs er tauschte, mochte es eins zu zehn sein, er holte sich schon seinen Teil. Gleichwohl spielte er seinen Part richtig. Zu fasche Nachgiebigkeit mochte bei dem Alten Verdacht
erwecken. Er wollte mit eigenen Waffen geschlagen werden, mit den ihm vertrauten Mitteln des Marktschachers. „Eins zu vier ist nicht drin“, antwortete er scharf. Und fuhr nachgerade weichgestimmt fort: „Womöglich kann ich für viereinhalb festmachen. Weil Sie mir, wie man so sagt, sympathisch sind. Ich werde Sie übermorgen anrufen und vom Ergebnis unterrichten.“ Wenn Korkin damals doch in den Kopf gekommen wäre, daß er selber sein Urteil sprach! Wenn er es nur gewußt hätte! [Am nächsten Morgen klapperten Balaschow und Maulwurf per Wagen sämtliche Hotels der Stadt ab und fragten immer dasselbe: ob ebenda nicht ein Mann namens Profiri Wikentjewitsch Korkin abgestiegen sei. Am Abend, als sie alle durch waren und sicherheitshalber auch bei den Motels rückgefragt hatten, zweifelten sie nicht, daß Korkin entweder irgendwo schwarz wohnte oder er gar nicht Korkin hieß. Am nächsten Tag flog Maulwurf nach Odessa, in der Tasche die Flugkarte für die Abendmaschine zurück nach Moskau. Er fragte im Adressenbüro nach dem Wohnsitz eines P. W. Korkin. Und da kam es zu dem Eklat, der Balaschow überzeugte, daß er sich auf dem richtigen Weg befand. „Die bezeichnete Person wohnt nicht in Odessa“, bekam Maulwurf zur Antwort. Darüber informierte Maulwurf Balaschow als erstes, als der seinen Kurier in Wnukowo abholte. „Die bezeichnete Person wohnt offenbar unter anderm Namen dort.“ Balaschow grinste. Er setzte Maulwurf am Lenin-Prospekt ab und fuhr weiter zur Sofiskaja Nabereshnaja, wohin er Korkin zu neun bestellt hatte. Schon von weitem sah er die hagere Gestalt des Alten. Unwillkürlich lachte er.
Schneid hat er, der Alte. Der ist ja kilometerweit nach jeder Richtung zu sehen. Hätte ich doch bloß probiert, Maulwurf hinter mir herzulotsen, dann hätt er ihn jetzt am Schlafittchen! Na laß nur, mein Lieber, wir kriegen dich auch so! Balaschow bremste neben Korkin und rief ihn an. Der Alte blickte nach links, blickte nach rechts, sprang zur offenen Tür herein und rief los. Unterwegs sah er sich ein paarmal um, spähte eine ganze Weile durch die Heckscheibe: ob sich nicht jemand an sie hängte. Balaschow schwieg. Als sie lange genug durch die Straßen gekurvt waren, räusperte sich der Alte und sagte: „Hier, lieber Freund, ich hab Ihnen das Gewünschte mitgebracht. In diesem Umschlag befinden sich zweihundertfünfzig englische Pfund und achthundert Dollar.“ Balaschow überschlug rasch: Um fünfzig Dollar hat er mich beschuppt, der Halunke. Wart nur, das sollst du mir büßen. Er sagte: „Ich bin Ihnen von Herzen dankbar, Porfiri Wikentjewitsch. Sie haben ja doch Zeit verloren und sind in Ihren nicht mehr jungen Jahren für mich herumgelaufen. Das verdient honoriert zu werden.“ „Ach, nicht der Rede wert! Wir sind doch intelligente Leute, wir werden uns immer einig. Von Freunden aber nehm ich nichts für Vermittlung. Sehen Sie…“ Er besann sich und brachte es dann doch nicht über sich: „Nun ja, wenn Sie durchaus wollen, ein kleines Aufgeld, ein Erinnerungspräsent vielleicht…“ Anderntags überreicht Balaschow ihm goldene Manschettenknöpfe, und an Korkins freudiger Bewegung merkte er, daß er das Richtige getroffen hatte. Vier Wochen darauf ging ihm der Alte blindlings ins Netz, das
ihm Balaschow so beharrlich und emsig geknüpft hatte. Entweder wagte sich Korkin nicht mehr in seinen alten Unterschlupf, oder jemand anders hielt ihn besetzt, oder es war sonstwas passiert, wovon Balaschow nichts wußte, jedenfalls bat ihn der Alte eines Tages, für ihn in Moskau ein Quartier zu beschaffen, wo er während seiner kurzzeitigen Aufenthalte Station machen könnte. Es sollte sich möglichst um eine separate, wenig belegte Wohnung handeln. Balaschow, der in den Fingern ein Zittern zurückhielt, versetzte nachdenklich: „Mit Rücksicht darauf, daß die Wohnung höchst zuverlässigen Leuten gehören muß, ist das keine ganz leichte Aufgabe. Ich hoffe jedoch, Ihnen behilflich sein zu können. Wenn Sie das nächste Mal kommen, werde ich Ihnen eine Adresse nennen, wo Sie sich wie zu Hause fühlen können…“ „In Anbetracht Ihrer besonderen Finanzinteressen dürfte das ebenfalls recht vorteilhaft sein“, verhieß Korkin. Telefontelegramm Moskau, Petrowka 38 An Oberinspektor Genossen Tichonow Bei unsern Untersuchungen ist als Verursacher des Unfalls, den Korshajew erlitten hat, der Fahrer des Wohnbautrusts D. M. Pawljuk ermittelt worden. Da er in angetrunkenem Zustand am Steuer saß, hat er auf die grobe Fahrlässigkeit des Korshajew, der die Fahrbahn einen Meter vor dem Wolga betrat, nicht schnell genug reagiert und hat ihn mit dem Seitenteil des rechten vorderen Kotflügels gestreift. Dieser Sachverhalt wird durch das kraftfahrzeugtechnische Gutachten bestätigt. Aus Angst, zur Verantwortung gezogen zu werden, be-
ging Pawljuk Fahrerflucht. Im Zuge einer operativ-kriminologischen Überprüfung wurde festgestellt, daß Korshajew und Pawljuk miteinander nicht bekannt waren und indirekte Kontakte zwischen ihnen nicht bestanden. Kopie der Unterlagen schicken wir per Post nach. Unterschrift: Untersuchungsrichter Arefjew durchgegeben: Samsonow Rückkehr in die Geschichte (Fallstricke werden gelegt) „In Anbetracht Ihrer besonderen finanziellen Interessen dürfte das ebenfalls recht vorteilhaft sein“, hatte Korkin zugesichert. Darauf hatte Maulwurf Lisa eine ganze Woche bearbeitet. Er wußte ihr einen solchen Nebel in den Kopf zu setzen, daß sie am Ende wirklich genau nur eines wußte: Sein Freund und Chef Viktor Michailowitsch würde ihr einen Mann bringen, irgendein hohes Tier, der ein paar Tage bei ihr wohnen wollte. Am besten sei es, daß sie weiterhin als Viktor Michailowitschs Verwandte galt. Der Gast sei über nichts zu befragen, und alles sei prompt zu besorgen, worum er bäte. Morgens, bevor sie gehe, solle sie ihm, Maulwurf, eingehend über alles berichten. Lisa verwirrte dieser merkwürdige Auftrag, doch konnte sie Genka nichts abschlagen. Der Empfang wurde bis aufs kleinste vorbereitet, und endlich war es soweit. Korkin zeigte sich mit allem zufrieden: separate Wohnung, nicht zu nahe dem Zentrum, eine offenbar recht beschränkte, schweigsame und nicht neugierige Wirtin. Befragt, ob er auch fernerhin jeweils für ein paar Tage bei ihr unterkommen könnte, sagte sie
ja. Und was besonders erfreulich war, sie verlangte kein Geld. „Vielleicht könnten Sie Ihre Lebensmittel selbst kaufen“, fügte sie melancholisch hinzu, das hatte ihr Maulwurf eingeschärft. Die Ereignisse überstürzten sich förmlich. Schon einen Tag später brachte Maulwurf Nachricht, daß sich Balaschow entsetzt zum Herzen faßte: Er hatte gehört, daß man auch vor Freude einen Infarkt bekommen konnte. Folgendes war geschehen: Am Morgen hatte Maulwurf Lisa getroffen, und die hatte berichtet, Korkin habe sie dreimal gefragt, wann sie nach Hause komme. Als sie schon in der Tür stand, habe der Alte zögernd, doch unmißverständlich gesagt, wenn sie etwas in der Stadt erledigen müsse, so brauche sie sich nicht zu beeilen – mit dem Mittag würde er warten. „In Ordnung, Lisa, wir sehen uns abends.“ Maulwurf küßte sie auf die Wange und winkte ihr nach. Dann, als sie um die Ecke verschwunden war, schlenderte er langsam zu ihrem Haus zurück. Klar, dachte er, der Alte beabsichtigt, irgendwen zu Hause zu empfangen. Ich will mir doch mal anschauen, wen diese Spinne umgarnt. Maulwurf betrat das Treppenhaus und fuhr mit dem Lift zum dritten Stock. Schaute nach Lisas Tür und fuhr eine Etage höher. Er drückte lautlos die Tür des Fahrstuhls zu und ging hinunter auf den Treppenabsatz. Fläzte sich möglichst bequem aufs Fensterbrett, so, daß von oben Lisas Tür zu sehen war, steckte eine Zigarette an, rauchte mit Bedacht und Genuß, wohl wissend, daß er hier noch lange sitzen konnte. Aus dem Fahrstuhl konnte er nicht gesehen werden, und sooft jemand die Treppe herunterkam, stand Maulwurf auf, faßte das Geländer und tat, als ob er auf dem Treppenabsatz Luft holte. Sobald die
Schritte unten verstummt waren, hockte er sich erneut aufs Fensterbrett. Die Zeit zog sich quälend hin. Maulwurf dachte an sich, an Lisa, an Balaschow, an den Alten, der da, betuppt werden sollte. Er sah zwar nicht ganz durch, was der Chef mit diesem gewieften Zausel vorhatte, doch kannte er inzwischen Balaschows Allüren und ahnte, daß, wenn der sich hinter diesen Korkin klemmte, es auch lohnen würde. Das Türschloß klirrte so um halb zwei, und der kaum hörbare Laut erinnerte Maulwurf an das Knacken eines Gewehrschlosses. Er rutschte vom Fenster und preßte sich an die Wand. Man hörte, wie der Alte herumtrampelte, sich räusperte, mit der Tür klappte und in seinen Tretern „Anno Knicks“ die Treppe hinabschlorrte. Maulwurf hätte, bei seiner Freiheit, tausend Eide geschworen, daß Korkin da vor sich hin summte: „Meine Stunde ist gekommen, dem Tode bin ich nah…“ Blödsinn, Alter! Solche sehnigen alten Zausel wie du werden hundert Jahre alt, die sind nicht umzuhauen, dachte Maulwurf. Als alles verstummt war, wutschte er mit einem Satz zur Tür hinab und schloß sie mit seinem Schlüssel auf. Der Alte war sicher telefonieren gegangen. Der Weg hin und zurück, das Gespräch einbegriffen, würde zwanzig Minuten sicher dauern. Das reichte ihm. Unterdessen war alles picobello durchsucht und er wieder abgeschoben! Bloß wollte er beim Gehen noch einen Blick auf den Besucher des Alten werfen. Maulwurf zog hinter dem Sofa den Fiberkoffer hervor und warf ihn auf den Tisch. Er war verschlossen. Fragt sich, wozu sie solche Schlösser an die Koffer setzen! Ein Freier geht auch nicht an den offnen, unsereins aber hat ihn schneller auf als einen Splitter aus dem Daumen. Maulwurf stocherte mit dem langen
Dietrich, Einkerbungen und Einschnitte am Ende, ein paarmal in den Schlössern herum, bis die knackten, hob den Deckel und durchwühlte den Koffer. Unter der Wäsche lag ein großes Bündel Geld. Jetzt müßte ich mir diesen Fünf-Kilo-Zasterkoffer aufladen können und ans Ende der Welt abdampfen, dachte Maulwurf. Wenn das gehen würde! Balaschow würde mir todsicher die Miliz auf den Hals hetzen. Singen? Die Miliz hat eine Vorliebe für gewisse Tatsachen, die ich nicht habe. So muß ich schon noch für ihn jobben bis zu einer günstigen Gelegenheit. Dann werden wir sehen. Ah, hier ist ja auch sein Ausweis. Als Maulwurf den Kofferdeckel zuklappte, hörte er im Treppenhaus den Fahrstuhl halten. Er schaute zur Uhr – vierzehn Minuten waren vergangen – , ließ die Schlösser schnappen, setzte seinen Klamonis an, drehte um und schwippte den Koffer lautlos unters Sofa. Im Türschloß drehte sich schon mit metallischem Knirschen der Schlüssel. In solcher Sardinendose zu stecken! Und in der eigenen Bude passiert dir das wie dem letzten Fiesel! Hinkepink wird schön sauer sein! rasselten in seinem Kopf die Gedanken, als fahre ein D-Zug über eine Brücke. Der Blick saugte sich an der angelehnten Tür des Wandschrankes fest. Dort hatte Lisa ihre Kleider hängen. In der Diele ertönte eine Stimme: „Wir wären also da, Herr Max…“ Egal, ich muß es riskieren! Es ist nichts mehr zu verlieren. Maulwurf huschte auf Socken durchs Zimmer und quetschte sich durch die schmale Tür in den Schrank, der nach Parfüm, Puder und Mottenpulver roch. „… Mr. W. Kelly, Vizepräsident der Company Time Pro-
ducts Ltd., die den englischen Uhrenimport aus der Schweiz, Frankreich, Westdeutschland, Japan und der UdSSR besorgt, erklärte gestern gegenüber dem TimesKorrespondenten, daß die russischen Uhren billig seien, weil die Sowjetbetriebe nach dem Grundsatz der Großproduktion organisiert sind…“ Der englische Korrespondent verwies ebenfalls auf die ausgezeichnete Qualität sowjetischer Uhren und ihre Zuverlässigkeit… Times, den 11. Februar 196*, London Rückkehr in die Geschichte (Der Ausländer) Draußen, im Zimmer, machten es sich die zwei am Tisch bequem, scharrten mit Füßen, rückten mit knarrenden Stühlen. Korkin sprach von schlechtem Wetter, klagte über Gliederschmerzen. Dann fragte er: „Möchten Sie einen Tee? Das geht im Handumdrehen…“ Und da hörte Maulwurf erstmals die Stimme des Besuchers: „Sie meinen wohl, ich war zum Teetrinken nach Moskau gekommen? Sie wissen, was mich interessiert.“ Obwohl Maulwurf die zwei nicht sah, spürte er, wie Korkin verlegen wurde. Der sagte noch devoter: „Jaja natürlich, Verehrtester, ganz meiner Meinung, ich dachte nur, daß es besser…“ „Am besten ist es, wir verlieren keine Zeit und kommen zur Sache.“ Wie merkwürdig der redet, dachte Maulwurf. „Leider konnte ich nicht die ganze Nomenklatur der vereinbarten Waren für heute beschaffen. Es gab Stockungen bei der Anlieferung, ich kann Ihnen jedoch garantieren, Max,
daß ich bei Ihrem nächsten Besuch alles parat habe“, sagte der Alte gedrückt und schnaufte. Maulwurf merkte, daß Korkin nicht wohl in seiner Haut war. „Sehr schlecht. Ein sehr teurer Löffel zum Essen, wie man bei Ihnen zu Lande sagt. Sie sollten endlich begreifen, daß ich größere Lieferungen nicht mitnehmen kann. Und nächstes Mal habe ich die allergrößten Teile auszuschleusen.“ Ein Ausländer, dämmerte es Maulwurf. So eine alte Spinne! Donnerwetter! In Schmuggelware macht er, und wie! „Ich schwör Ihnen bei Gott, daß ich nichts dafür kann. Ich hab mich quasi grad als Großlieferant etabliert, daher konnte ich Ihnen die vereinbarten Mengen an Rädern, Trieben, Hemmungen, Reglern garantieren. Für alles andere bestanden ja schon Vereinbarungen.“ „Trotzdem muß ich Ihnen das Honorar kürzen. Ohne Sicherheiten geht es auch bei mir nicht. Wir sind Geschäftsleute, daran müssen Sie sich gewöhnen.“ „Wir haben doch Absprachen getroffen! In einem halben Jahr sind Sie im Besitz aller Teile. Sie haben das Wort eines Ehrenmannes!“ „Worte interessieren mich nicht. Alles Emotionen! Ich wiederhole noch mal: Jeder meiner Besuche kostet nicht nur viel Geld, sondern auch viel Angst und Nerven. Das sind auch Emotionen. In dieser Hinsicht halten sich die Dinge die Waage. Bei Geschäften allerdings spielen drei Faktoren eine Rolle: Ware, Geld oder Sicherheiten. Ich habe Geld, Sie keine Ware, möglicherweise haben Sie Sicherheiten?“ „Lieber Gott, haben wir doch Vertrauen zueinander!“ „Niemals! Vertrauen bei Geschäften, das ist, als wär der Wurm im Holz – er zerfrißt es von innen her. Vertrauen
plus Sicherheiten, da könnten beide Parteien zustimmen.“ „Sehn Sie doch ein: Meine will Sie nicht betrügen, meine hat gar keinen Grund dazu.“ Vor Aufregung redete Korkin schon in Kürzeln. Maulwurf griente: Schau da, wie er sich schafft. Möchte besser verstanden werden. Bloß ist bei dem Knicker nicht viel rauszuschinden. Das sind mir Wölfe! Wie die aufeinander losgehn! Maulwurf war so bei der Sache, daß alle anfängliche Angst vergessen war. Nun fürchtete er nur noch, etwas Wichtiges in diesem Disput zu überhören. Er wußte, daß, sofern er hier heil herauskam, Balaschow sich das Gehörte was kosten lassen würde. Ihm war klar, daß dieser Ausländer eine Pistole besaß. Erwischt er mich, wird dieser Schrank mein Sarg, versteht sich! Was in der Puste drin ist, pumpt er in mich hinein. Der Besucher unterdessen lachte. „Sie meinen wahrscheinlich, ich würde schlechtes Russisch besser verstehen? So ist das nicht. Ich spreche zwar schlecht, verstehe aber ganz gut. Ich war nämlich schon hier, bevor ich als Kaufmann in Ihr Land kam, Anno 41 bis 43. Doch gehört das nicht hierher. Ich fasse zusammen: Sie erhalten jetzt dreißig Prozent Ihres Honorars, das andere bei der Schlußabrechnung.“ Korkin merkte wohl, daß er bei seinem Partner auf taube Ohren stieß. Zum Schluß sagte der Besucher: „Machen Sie den Posten zum ersten Juli komplett. Ich werde vom zwanzigsten bis dreißigsten in Moskau sein und Ihnen vom Hotel eine Karte schicken. Mit irgendeinem Absender. An der Hausnummer werden Sie den Tag und an der Wohnungsnummer die Uhrzeit ersehen, wann Sie mich
hier erwarten sollen. Das wär’s. Ja, schreiben Sie mir die Adresse hier auf. Sie meinen, die Wohnung ist sicher?“ „Absolut.“ Korkins Bleistift knirschte übers Papier, dann traten sie in den Korridor, und im nächsten Moment klappte die Tür. Maulwurf klebte an der Schranktür: Aus der Wohnung kam kein Laut. Der Alte schien seinen Besucher hinunterzubringen. Maulwurf pirschte sich wie eine Raubkatze in den Korridor, horchte ins Treppenhaus. Alles still. Lautlos öffnete er die Tür, sprang auf den Treppenabsatz und hockte sich auf seinen angestammten Platz, das Fensterbrett. Fünf Minuten später kehrte der Alte zurück. Das Klappen der Wohnungstür kam Maulwurf wie ein Salut vor. Er fegte die Treppe hinab, immer über zwei Stufen hinweg. Stürzte auf die Straße, vergaß die gewohnte, ihm so wohltuende Beherrschung und brüllte einem grünen Lichtzeichen entgegen: „Hallo Taxi!“ Jurka? Das ist ein Spitzbube Stas Tichonow stand an der Ecke und überlegte, wohin er zuerst sollte. Obschon die Zeiger der Uhr am Ende des Strastnoi Bulwar eben erst ihre Tour auf die Elf zu begannen, war es schon heiß. Tichonow trat an einen Kiosk und bestellte ein Glas Wasser mit doppeltem Schuß. Sein Hang für Süßigkeiten aller Art war ihm peinlich, solchen Luxus mit doppeltem Schuß gestattete er sich lediglich, wenn er allein war. Der Uhrzeiger hüpfte auf Viertel elf, und Tichonow entschied, zuerst zu Mossin zu gehen. Am Abend vorher hatte er den ABV eine geschlagene Stunde nach Dshaga ausgefragt, doch wußte der trotz
allen guten Willens nichts Wesentliches mitzuteilen. Erst am Ende des Gesprächs fiel ihm ein, daß in der Wohnung mit Mossin die Rentnerin Nina Pawlowna Sacharowa wohnte, Aktivistin und überdies eine vortreffliche Person. „Vielleicht weiß sie was. Sie kennt ihn ja besser“, schloß der dicke ABV halb krank vor Hitze. „Wo arbeitet er?“ fragte Stas. „Weiß ich nicht.“ Der ABV zuckte mit den Schultern. „Kürzlich, als Sie anriefen, war ich extra bei der Hausverwaltung, aber selbst da liegen Angaben nicht vor.“ Stas klopfte zweimal an die Tür des alten zweigeschossigen Hauses in der Grusinskaja Uliza. Jemand rief: „Gleich, gleich, Moment, sonst läuft mir die Milch über.“ Es öffnete eine grauhaarige, tadellos frisierte Frau mit energischen lebhaften Zügen. „Nina Pawlowna?“ „Ja, das bin ich.“ „Schönen guten Tag. Grade Sie suche ich.“ „Mich braucht man nicht zu suchen. Kommen Sie, unterhalten wir uns im Zimmer. Setzen Sie sich, junger Mann“, nötigte sie Tichonow in einen Sessel. „Erzählen Sie, was Sie auf dem Herzen haben. Zu mir kommen allerhand Leute“, fuhr sie fort, „und jeder hat so seine Kümmernisse.“ Die Alte musterte ihn aufmerksam. „Aus welchem Haus sind Sie denn? Ich kenne Sie ja gar nicht.“ „Ich heiße Tichonow, Nina Pawlowna, und bin von der Miliz. Ich komme dienstlich. Vielleicht können Sie mir einen Rat geben.“ „Ah, so ist das!“ rief sie. „Ich alte Frau soll Ihnen wohl noch Ihren Dienst machen?“
„Sie und alte Frau!“ sagte Tichonow listig. „Knappe sechzig, schätz ich.“ „Schöne Sprüche!“ Die Sacharowna lachte. „Sagen Sie, was Sie wollen!“ Tichonow wies sich aus und bat, alles zu berichten, was sie von Mossin wußte. „Der Jurka? Das ist ein Spitzbube“, sagte die Sacharowa überzeugt. „Ich habe seinetwegen noch und noch mit dem ABV gesprochen und immer nur gehört: Wird geprüft, wird geprüft.“ „Wieso meinen Sie, daß Mossin ein Spitzbube ist?“ fragte Tichonow vorsichtig. „Wie soll ich sagen“, meinte Nina Pawlowna nachdenklich. „Ich habe ihn selbstverständlich nicht in flagranti ertappt, nur haben sich ja das Sprichwort ,Bloß der Ertappte ist ein Dieb’ die Spitzbuben selber erfunden“, fuhr sie ebenso überzeugt fort. „Hat er zweimal gesessen? Ja. Und was ist jetzt? Andere Leute bekommen Besuch, bei ihm heißt’s: Komm mal raus, Jurka! Fünf Minuten wird auf der Treppe gewispert und dann adieu! Auch so einen Räubernamen hat er sich zugelegt – Shigan oder so!“ „Dshaga?“ half Tichonow. „Jaja, Dshaga, so nennt er sich. Und noch eins: Die Familie besteht aus fünf Personen, arbeiten geht nur Jurka, als er aber aus dem Gefängnis kam, was hat er da nicht alles Neues angebracht: Anzug, Mantel, ein Klavier wurde angeschleppt, neuer Kühlschrank und noch vielerlei anderes. Und das Gefängnis, das wissen Sie selber, ist kein Ausland. Woher, frag ich Sie, kommt das Zeug? Ein Spitzbube, sag ich nur!“ schloß die Sacharowa unerbittlich. „Nina Pawlowna, haben Sie nicht zufällig bemerkt, daß ihn einer besucht, der hinkt?“ fragte Tichonow nicht ohne
Hoffnung. „Einer der hinkt? Nein, was ich nicht mit eigenen Augen gesehen habe, will ich nicht behaupten. Da ist niemand bei gewesen, der hinkt.“ „Und Sie wissen nicht, wo Mossin augenblicklich beschäftigt ist?“ „Natürlich weiß ich das. In einem Uhrenwerk, entweder als Monteur oder als Schlosser. Dusska, seine Schwester, hat es in der Küche erzählt.“ Tichonow ließ seine Telefonnummer zurück. „Vorsichtshalber. Falls Ihnen etwas mitteilenswert erscheint oder einer auftaucht, der hinkt. Dann rufen Sie uns an.“ „Werd ich“, versicherte die Sacharowa. „Das ist ja keine Mühe, und Telefon hab ich.“ Eine gescheite Frau, dachte Tichonow, als er die Treppe hinabging, und Takt hat sie auch! Hat nicht mal gefragt, worum es eigentlich geht. Rückkehr in die Geschichte (Der Dritte ist überflüssig) Ja, auch vor Freude kann ein Infarkt eintreten. Balaschows blasse Wangen färbten sich mit ungleichmäßiger, fleckiger Röte. Er starrte auf die polierte Platte des Tisches und strich, um das Zittern der Hand zu verbergen, auf dem mit Maulwurfs Schrift bedeckten Bogen herum. „P. W. Korshajew, Jahrgang 1898, Russe, ständiger Wohnsitz in Odessa, Uliza Tschishikowa 77, Wohnung 112.“ Schön reingeschlittert, der Alte. Also hatte ich recht. Hatte das schon so, im Animus. Tüchtig, Balaschow, tüchtig! Gut, daß ich den schon parat liegenden Posten Korshajew nicht geliefert habe. Soso, dieser Besucher will etliche
tausend Stoliza-Uhren in Einzelteilen exportieren. Klarer Fall. Zu Hause werden sie zusammengebaut und unverzollt abgestoßen. 300 Prozent Gewinn – tolles Geschäft! Dabei kassiert er mindestens eine Viertelmillion! SowjetUhren werden ihm doch nur so aus den Händen gerissen, in zwei Wochen sind sie weg. Weil sie billiger als Schweizer Uhren sind. Was ist denn mit den Schweizer Uhren? Formschön? Unsere sind nicht schlechter. Ausgezeichnete publicity – russischer Kaviar, russische Uhren, russische Sputniks! Aber Worte erübrigen sich, wo doch eine grundsolide Firma im Westen, die Time Products Ltd. Hunderttausende davon in der UdSSR einkauft. Mister William Kelly weiß, was und wo man kaufen muß. Ist das eine Schlange! So was von Unternehmungsgeist, so was von Phantasie! Das nenn ich einen Partner! Fürs erste war aus diesem Spiel Korshajew auszubooten. Nach Maulwurfs Angaben hatte Max den Alten ganz schön im Griff. Korshajew gab sich zu plump, zügellos, raffig. Trotz aller Gerissenheit war er ein ausgemachter russischer Gobseck. Hundert Jahre hinter der Zeit her. Er merkt nicht, daß er für den Ausländer mehr wert ist als die eigne Mutter, daß der ihm vom großen Kuchen nur Krumen hinwirft. Der Ausländer wendet den richtigen Dreh an, er hält ihn knapp. Und dieser alte Esel hat Angst, der könnte abspringen. Schwachkopf! Dieser ausländische Fuchs hat sicher jahrelang gesucht, bis er so einen fand. Aber der Alte, der tut ja bloß groß mit seiner Hühnerbrust! Über meinen, Balaschows, Buckel wollte er hochkommen, der Esel… „Da hast du dich schön verrechnet…“ „Was?“ fragte Maulwurf.
Balaschow war dermaßen in Gedanken, daß er gar nicht merkte, wie er die letzten Worte vor sich hin sprach. „Wir beide sind ein Ganzes: Ich der Kopf, du die Hände. Solange die Hände tun, was der Kopf will, droht ihnen nichts. Klar?“ „Nicht ganz.“ „Dann wird dir’s jetzt klarwerden. Du hast doch wohl die größte Lust, Maulwurf, dich von mir loszumachen und Unternehmungen auf eigene Faust zu betreiben?“ „Wie kommen Sie denn darauf?“ tat Maulwurf entrüstet. „Weil ich’s im Kaffeegrund gelesen habe, darum. Du hast dazu größte Lust, Schwindel nicht! Bloß kommst du ohne mich keinen Schritt weit. Ich geb dir Geld, ich habe dir Papiere besorgt, und den Unterschlupf habe ich auch gefunden. Das Allerwichtigste aber ist das Geld. Geld kann dir alles verschaffen: Spaß, Selbstbewußtsein, Freiheit schließlich auch. Was du bisher verdient hast, hat bestenfalls für ein bißchen Spaß gelangt. Freiheit, mein Lieber, die ist teuer! Geld zum Fenster rauswerfen ist nicht meine Sache. Darum mußt du dir das große Geld, den Preis der Freiheit, erst verdienen.“ „Wie kann ich von Freiheit reden, wenn ich jeden Polypen doppelt seh?“ „Ich kenne einen Arzt, der wird dich äußerlich vollkommen verändern, mittels einer kleinen kosmetischen Operation. Der ätzt dir die Haut an den Fingern mit Säure weg und pflanzt neue auf. Ich kann dir bombensichere Papiere besorgen, und dann magst du mit deinem schönen Geld irgendwo in Sicherheit sitzen, bis eine Amnestie erlassen wird. Ist das nichts?“ „Prima, klar…“ „Nur will das alles verdient werden, weil ich keine Sozi-
alfürsorge bin und Wohltätigkeit mir nicht liegt.“ „Soll ich Ihnen meine Seele verkaufen?“ „Auf deine Seele bin ich nicht scharf, ich handle nicht mit Psychologie. Ich hab dir schon gesagt: Ich brauch deine Hände, deine Geschicklichkeit, deine Courage.“ „Und wofür?“ „Du wirst in ein paar Monaten nach Odessa gehn und das mit dem Alten ins reine bringen.“ „Wie meinen Sie das?“ „Na, ein für allemal: aus, Ende!“ „Machen Sie Witze, Viktor Michalytsch?“ „Witze sollen meinetwegen Stepsei und Tarapunka machen, ich hab anderes zu tun und für Witze keine Zeit. Was ist, hast du Schneid, dir die Freiheit zu erkaufen?“ „Viktor Michalytsch, das ist eine nasse Sache, die kann den Kopf kosten!“ Balaschow überlegte fieberhaft. Sollte er Maulwurf ein wenig in die Karten schauen lassen oder nicht. Maulwurf war ein heller Junge. Er mochte Zinken auf den Karten wittern. Ein weggestochenes Blatt, und Maulwurf würde werfen. Er entschloß sich. „Hör mal gut zu, Genka. Wir beide haben ein großes Unternehmen gestartet. Wenn wir es zu Ende bringen, wie sich das gehört, können wir uns eine ganze Zeit lang zur Ruhe setzen. Fehler allerdings dürfen uns nicht passieren, sonst riskieren wir Kopf und Kragen. Immerhin lohnt die Sache. Du hast gehört, von welchen Währungen sie sprachen?“ „Ja, Dollar, glaub ich.“ „Eben, von Dollar und englischen Pfund. Es gibt bei uns noch Leute, die hoffen, die Verhältnisse würden nicht ewig bleiben, und die sich darum mit Valuta eindecken.
Ich weiß nicht, wie das bei denen ist, wir beide jedenfalls, Genka, werden diese Zeiten wohl kaum erleben. Wir werden ihnen also die Valuta von dem Ausländer umrubeln. Immerhin können wir uns auch mit Rubel einen guten Tag machen. Klar?“ „Natürlich!“ „Also weiter. Den Alten können wir so ohne weiteres aus dem Geschäft nicht ausbooten. Sonst wird er über seine Kanäle mit dem Ausländer Verbindung aufnehmen und den Treff vereiteln – wir können ihn ja beobachtet haben. Stellen wir ihn beim Treff, kriegen wir bloß ein Butterbrot: Zum einen wird der Alte verhandeln, und der ist schon infantil und wird diesen Vogel nur halb so gut rupfen wie ich. Zum andern müßten wir diese paar Kröten mit ihm teilen – für unsere Ängste, für das ganze Risiko, ja, und für unsere eigene Ware kriegen wir einen Quark. Und das ist noch das wenigste, die Hauptsache liegt woanders. Was, wenn uns der Alte vor lauter Wut anzeigt? Wie gefällt dir das – statt Dacron-Dreß Lagerkluft? Das ist der Kern der Sache. Also überleg dir’s, und möglichst rasch.“ „Wie lange hab ich Zeit?“ „Zeit hast du genug, Maulwurf. Sagen wir, fünf Minuten. Reicht das?“ „Wieviel?“ fragte Maulwurf leise. „Fünf Minuten! Der alte Vertrag zwischen uns gilt noch fünf Minuten, worauf er sich entweder automatisch verlängert oder ein für allemal – ich betone: ein für allemal – annulliert wird.“ „Sie setzen mir die Pistole auf die Brust?“ „Aber, aber, warum denn so hart? Ich dreh dich bloß mit dem Gesicht zur Sonne. Ich finde, du hast Grund, ja zu
sagen. Ich mein es gut mit dir.“ „Was bleibt mir sonst?“ „Offen gesagt, nicht allzuviel. Also?“ „In Ordnung, ich bin dabei. Wieviel?“ „Das klingt nun schon geschäftlich. Ich allerdings halte es im Moment für nicht angezeigt, von Geld zu reden. Du weißt, ich bin nie kleinlich gewesen zu dir.“ „Das stimmt…“ So schrieb Maulwurf sich sein Urteil. Er konnte nicht wissen, daß Balaschow nicht im geringsten daran dachte, die ausländischen Geldmittel weiter zu veräußern. Balaschow selber wollte sie haben. Dort, wohin er zu gehen beabsichtigte, konnte er auf einen Komplizen wie Maulwurf gut verzichten. Eilt! Moskau, Petrowka 38 An Oberinspektor Genossen Tichonow Die Zentrale Registratur teilt auf Ihre Anfrage mit, daß der Bürger Genrich Awgustowitsch Lande (alias Orlow, alias Gennadi Andrejewitsch Kostjuk), der nach dem Urteil des Moskauer Stadtgerichts wegen Schieberei mit Uhrenteilen eine Haftstrafe verbüßte, am 19. Dezember 1963 aus der Haftanstalt entwichen ist und gegen ihn landesweite Fahndung läuft. Das Daktylogramm auf der von Ihnen eingereichten Fotografie ist identisch mit dem Abdruck des Mittelfingers von Landes (Orlows, Kostjuks) Hand (Daktylokarte Lande 78162). gezeichnet Archipowa „Ausgezeichnet!“ Tichonow schob den blauen Bogen auf
den Tisch. „Immer wieder ergeben sich neue Momente. Was sagst du denn zu alldem, Serjosha?“ „Mir ist vorläufig nur eins klar: Die Verbindung Dshaga zu Korshajew ist kein Zufall.“ Prichodko hob die Schultern. „Ich kann es noch nicht beweisen, bin aber überzeugt, daß zwischen beiden Lande/Kostjuk stand, der höchstwahrscheinlich Korshajew zu seinen Ahnen schickte. Aber wozu? Warum? Ich sehe kein Motiv. Und welche Rolle spielt Hinkepink?“ „Da diese beiden Gauner schon früher Uhrengeschäfte machten, liegt der Verdacht nahe, daß Hinkepink ein Mann der Uhrenindustrie sein könnte. Ich bin sehr versucht zu glauben, daß wir ihn irgendwo zwischen Chronometern finden werden.“ „Probieren wir es.“ Rückkehr in die Geschichte (Das Valocordinfläschchen und kein Ende) Das stimmt, hatte Maulwurf gesagt. Verschwinden konnte er sowieso nirgendwohin. Balaschow hatte ihn so fest im Griff, daß er sich nicht rühren konnte. Weg aus Moskau? Wohin? Wo untertauchen. Kein Gedanke auch, mit dieser Fleppe Arbeit zu finden. Sie würden ihn gleich wieder einfangen. Und was sollte er tun? Er hatte nie einen Beruf ausgeübt. Als Fahrer könnte er gehen zu irgendeinem Privaten. Er fuhr blendend Auto. Nur gab es davon wenige. Auf einen Kipper? Für hundertfünfzig Rubel im Monat? Für das Geld sollen sie einen Roboter ans Lenkrad setzen. Bei mir nicht! Andererseits kommt man nicht umhin, die Fahrerlaubnis von der Miliz zu holen, und mit der hat er lieber nichts zu tun. Es bleibt kein Ausweg. Einer wäre allerdings – zur Petrowka 38
gehen und auspacken. Balaschow ans Messer liefern, sagen, ich bin zur Besinnung gekommen, will meine Schuld sühnen – seht, was für einen großen Fisch ich euch bringe. Schön, werden sie sagen, und was ist es für ein Fisch? Pardauz, da verschlägt’s dir die Sprache! Weil ich nichts Genaues weiß von ihm. Und Balaschow ist nicht aus dem Holz, daß er sich kaputtmachen läßt. Sag ich beispielsweise, ich hab verschiedene Pakete in allerlei Städte gebracht. Zu wem denn? Weiß der Teufel! Auf Bahnhöfen und Flugplätzen sind sie gekommen, haben die Pakete genommen und Päckchen gegeben – das Geld. Balaschow wird einfach erklären: Wem wollt ihr glauben, liebe Genossen Polypen: Mir, dem braven, unbescholtenen Mann, oder diesem flüchtigen Zuchthäusler, den ich das erste Mal zu Gesicht bekomme? Man salmt und seicht ein bißchen zusammen. Und dann lassen sie ihn laufen. Jetzt haben wir ja doch die Demokratie – ohne Beweise ist da nichts. Und ich geh den alten Knast abmachen, mit Nachschlag dazu. So wird die Chose nur laufen. Nein, ich hab nichts zum Unterkriechen. In ein paar Monaten werd ich in das schöne Odessa abdampfen müssen und dem Alten ein Scheinchen für eine unbefristete Dienstreise ausschreiben. Bloß meint Balaschow irrtümlich, ich würd nur seinetwegen hingondeln. Wenn ich mich zu dem Alten schon auf die Socken mach, werd ich nebenbei mal seine Bude unter die Lupe nehmen. Sperr ich die Augen nur auf und hab ein bißchen Dusel, dann kann mir Balaschow mit seinem ganzen Krempel womöglich gestohlen bleiben. Maulwurf wußte nicht, daß Korshajew sein Vermögen nicht im Zimmer verwahrte. Er wußte auch nicht, daß der Alte sich erneut in Moskau befand und derzeit mit Balaschow eine Verabredung traf.
„Viktor Michailowitsch! Hallo, ich bin’s, Korkin!“ „Seien Sie gegrüßt, mein lieber Porfiri Wikentjewitsch. Wo stecken Sie denn?“ „Am Bahnhof. Ich möchte fragen, ob ich wieder zu diesem netten Mädchen fahren könnte.“ „Ich habe Ihnen doch gesagt, daß diese Wohnung vorläufig zu Ihrer Verfügung steht.“ „Fabelhaft! Dann werd ich hinfahren und hoffe nur, Sie dort bald zu sehen. Wie stehn die Aktien?“ „Wir müssen uns unterhalten.“ „Was denn, Schwierigkeiten? Ich habe mich schon um Ihre Extrawünsche gekümmert…“ „Nichts am Telefon davon! Ich laß mich bald sehen.“ Balaschow grinste. Ganz schön konfus, der Korkin! „Schön, ich warte.“ Balaschow legte auf und dachte plötzlich voller Unruhe: Wenn er dort bloß nicht auf Maulwurf trifft. Ich habe ihm zwar verboten, dort aufzukreuzen, doch bei diesem Kerl muß man auf alles gefaßt sein. Nach dem Besuch des Ausländers in Lisas Wohnung hatte Balaschow Maulwurf wieder zurück in seine alte Behausung geschickt, nach Ostankino. Maulwurf hatte dies sichtlich gar nicht gepaßt, er hatte sich aber gefügt. Korshajew öffnete. „Wie schade, die Lisa ist grad weg, Besorgungen machen.“ Balaschow begrüßte den Alten und dachte unwillkürlich: Der Lump schwindelt natürlich. Hat sie selber weggeschickt. Fühlt sich hier schon ganz zu Hause. Und alles auf meine Kosten. Na warte, für alles das kriegst du die Rechnung serviert. Korshajew holte aus der Reisetasche eine Flasche Wein. Balaschow lächelte. So ein Prasser! Zu einem Fläschchen
Tscherwone, siebenundsiebzig Kopeken, hat er sich aufgerafft. Ich möchte wissen, was er sich als Gegenleistung gedacht hat? Aber deine Karte, mein Lieber, ist gestochen! Aus mir holst du nichts mehr heraus. „Ich habe Ärger, Porfiri Wikentjewitsch. Im Moment haben wir eine größere Revision. Ich kann kein Schräubchen durchschmuggeln. Ich bin nur froh, wenn die früheren Geschichten nicht herauskommen.“ Korshajew bekreuzigte sich inbrünstig vor einem Foto Marcello Mastroiannis. „Allmächtiger! Was nun, Viktor Michailowitsch? Wenn bis zum fünfzehnten Juli die Ware nicht da ist, bin ich geliefert!“ „Wieso?“ fragte Balaschow einfältig. „Gott wird ein Einsehen haben, die Revision überstanden werden, und Ende des Sommers werde ich Sie in vollem Umfang beliefern können.“ „Was heißt, in drei Teufels Namen, Ende des Sommers! Sind Sie bei Trost? Ich benötige die Ware zum fünfzehnten Juli, sonst können Sie sie auf den Misthaufen schmeißen!“ „Warum auf den Misthaufen?“ fragte Balaschow wieder mit einfältigem Staunen. „Für clevere Geschäftsleute ist unsere Produktion das ganze Jahr über brauchbar.“ „Was heißt hier Geschäftsleute, Quatsch!“ Balaschow richtete sich schon im Stuhl auf; Korshajew jedoch hatte sich wieder in der Hand und fuhr im gleichen Ton der Entrüstung fort: „Ich habe es mit soliden Leuten zu tun und kann sie nicht an der Nase herumführen wie dumme Jungen. Was zum Fünfzehnten ausgemacht war, muß zum Fünfzehnten da sein. Ich kann denen ja statt der Teile keine Revisionsakten vorlegen! Ich kann sie nicht mal unterrichten!“ jetzt
glichen sie zwei muskelbeladenen Boxern, die voreinander Angst hatten. Jeder Schlag konnte die Entscheidung bringen, nur mußte es ein K.o. sein. Vorsichtig trommelten sie aufeinander ein, duckten sich weg, federten hin und her, und jeder füllte die Hand mit Wut, um den entscheidenden Schlag anzubringen. Balaschow entwarf schon seinen Angriffsplan: Falls sich der Alte einer Lieferung; Ende des Sommers mit aller Entschiedenheit widersetzt, so heißt das, daß, anderweitige Kanäle zu dem Ausländer nicht bestehn. In diesem Fall muß seine Ausschaltung zurückgestellt werden. Obwohl Maulwurf ja saubere Arbeit leistet, ist es doch äußerst riskant. Es kann einen Riesenkrach geben. Eine einfachere Lösung wäre angebracht. Willigt er dagegen aber ein, dann muß er zu dem ausländischen Kaufmann noch über einen Draht verfügen. In diesem Fall muß der Alte dran glauben. Korshajew war nicht gewappnet für diese Runde und leitete aus dem Stegreif den Gegenangriff ein: Ich habe Max rund ein Viertel der ganzen Ware geliefert. Er hat schon einen Batzen Geld in die Sache gesteckt, nicht gerechnet die Fahrten hierher, und wird kaum so leicht alles hinwerfen. Doch wird er meinen Teil sicher beschneiden wollen. Wenn ich bloß wüßte, um wieviel? Damit ich diesem verdammten Esel das Doppelte abnehme. Zwanzig Prozent wird Max mir wohl abziehn? Ich muß ihn hier im Juli erwarten und den endgültigen Treff auf den September verlegen. Möglicherweise, wenn ich es richtig anstelle, springt noch was heraus dabei… „Also können Sie mir im Augenblick nichts liefern?“ fragte Korshajew mißgestimmt. Balaschow überlegte.
„Bloß diese zehntausend Unruhwellen. Ich habe sie schon vor der Revision abgezweigt.“ Er reichte Korshajew das mit winzigen Metallteilchen gefüllte Valocordinfläschchen. „Schön, wenigstens eine Haarlocke vom räudigen Schaf“, erklärte der Alte grob und unmißverständlich. „Durch Ihre Unzuverlässigkeit habe ich den größten Ärger. Jaja! Ich werde gezwungen sein, meinem Geschäftspartner eine beträchtliche Konventionalstrafe zu zahlen. Und alles Ihretwegen!“ „Was geht mich das an!“ Balaschow zuckte die Achseln, und es schoß ihm durch den Kopf: Er will den Treff verschieben, also muß eine Verbindung existieren. „Nicht ich habe schließlich in meinem Betrieb die Revision angesetzt.“ „Du lieber Gott, seit wann sind Sie denn schon Geschäftsmann? Ihre objektiven Gründe interessieren doch niemand. Das ist halt das Geschäftsrisiko. Ich sehe keine andere Möglichkeit, als daß wir uns die Konventionalstrafe teilen.“ „Wie hoch schätzen Sie, daß sie sein wird?“ fragte Balaschow gespannt. Korshajew überlegte kurz und bewegte dann kaum die Lippen: „Die Hälfte Ihres Honorars.“ „Was? Dann bleibt mir ja gar nichts!“ „Und was bleibt mir? Sie meinen wohl, ich in meinen Jahren sollte landauf, landab eilen für Null ouvert? Wohlgemerkt, mir zahlt keiner meine Tage und meine Reisen.“ „Ein Drittel könnt ich noch verstehen…“ „Minimum: fünfundvierzig Prozent, sonst blasen wir das Ganze, ab.“
„Aber hören Sie doch, da kann ich ja kaum meine Leute auszahlen.“ „Vierzig Prozent, und genug der Debatten.“ Balaschow seufzte tief. „Also dann…“ Korshajew nahm einen Schluck von dem lauen Wein und sagte: „Sollte sich was verändern, werde ich Ihnen schreiben.“ Balaschow überlegte. „An meine Adresse schreiben Sie lieber nicht. Sehen Sie, ich habe eine junge, eifersüchtige Frau, die die dumme Angewohnheit hat, in meiner Korrespondenz zu schnüffeln. Da ich sie in meine Geschäfte nicht einweihe, ist es besser für sie, gar nichts zu erfahren. Merken Sie sich die Anschrift: J. Mossin, Bolschaja Grusinskaja Uliza 112, Wohnung 7. Er wird mich sofort unterrichten.“ „Er ist nicht neugierig?“ „Schreiben Sie ihm nur, was Sie mir auszurichten haben. Er ist unbedingt zuverlässig. Ich habe schon beiläufig von ihm gesprochen, er heißt Dshaga. Wollen Sie auch diese Anrede im Brief benutzen, ich werd dann wissen, daß er von Ihnen ist. Zu unterschreiben brauchen Sie nicht.“ „In Ordnung, notfalls werd ich diesen Briefkasten ins Auge fassen.“ Korshajew war eindeutiger Verlierer der Runde. Als er hinter Balaschow die Tür schloß, beherrschten ihn vage Zweifel. Dieser Mann mochte ein Tölpel sein, jedenfalls war er aalglatt. Merkwürdig, er schien einigermaßen unheimlich. Vorsicht gegen ihn war geboten. Korshajew wußte nur nicht, daß er dazu kaum mehr Zeit hatte. Noch diese Nacht flog er nach Odessa zurück. Balaschow saß unterdessen bei Maulwurf in Ostankino.
„Wir haben wenig Zeit. Heute habe ich mit dem Alten gesprochen, und ich finde, er sollte dem Ausländer keine Nachricht mehr zukommen lassen. Obwohl er nichts Derartiges angedeutet hat, möchte ich meinen Kopf wetten, daß er vor der Ankunft des Ausländers wieder hier auftaucht, um ihn zu treffen. Offenbar kann er nicht hierbleiben und auf ihn warten.“ „Na und?“ „Gar nichts. Überlegen wir, wie wir ihn am besten aus dem Wege räumen. Du bist doch bereit? Oder?“ „Ich bin bereit“, erwiderte Maulwurf gleichgültig. Wie die alten Lateiner sagten… Abends kam Tichonow in die Petrowka. Er fegte, immer zwei Stufen auf einmal, die Treppe hinauf zum ersten Stock und stürmte, ohne zu klopfen, ins Zimmer seines Chefs Major Schadrin. „Boris Iwanytsch! Neuigkeiten!“ „Schön, aber setz dich erst mal und verpuste.“ Schadrin grinste. „Nein, ist mir völlig ernst, Boris Iwanytsch! Vorläufig lächelt Fortuna uns!“ sprudelte Stas. Schadrin lehnte sich im Stuhl zurück, nahm in aller Gelassenheit eine Zigarette, entzündete sie, ohne daß sein längliches, hageres Gesicht Anzeichen von Freude oder Ungeduld zeigte – es war das gefaßte Gesicht eines vielbeschäftigten Mannes. „Dann schieß mal los, laß mich an deiner Kriminalistenfreude teilhaben.“ „Folgendes: Unser Freund, der Mossin, alias Dshaga, ist, wie sich herausstellt, in einer Uhrenfabrik beschäftigt. Für mich war das eine erste freudige Überraschung: Da-
her also kommen die ganzen Schräubchen, Rädchen, Wellen! Ich fahre also ins Werk, um mich mit diesem Dshaga etwas näher zu befassen. Erkundige mich nach einigen Leuten, darunter auch Dshaga. Wie das bei Sprudel ist, weiß ich nicht, Wodka jedenfalls pflegt unsern Freund tüchtig in Fahrt zu bringen: Von seinem Lohn wurde auf Antrag der Ausnüchterer schon zweimal Bußgeld abgezogen. Und Wodka kostet Scheinchen…“ „Scheinchen?“ Schadrin faltete die Stirn. „Na, Geld, viel Geld… Was ganz bezeichnend ist für Dshaga, offen gesagt, einem ausgemachten Hallodri. Allerdings ist ihm noch kein Diebstahl nachgewiesen worden, es gab immer nur Verdachtsmomente.“ „Was für welche?“ „Die üblichen. Wie es im römischen Recht heißt: Post hoc, ergo propter hoc…“ „Wie, wie?“ fragte Schadrin. „So sagten die alten Lateiner, es heißt deswegen, also daher“, warf Stas unbekümmert hin. „Also folgendermaßen: Verschwinden in der einen oder anderen Abteilung irgendwelche Teile, dann heißt es ran, und alle überlegen – da oder da könnten sie sein. Dann taucht was auf: Der Montagearbeiter Jurka hat über Mittag bei den Werkbänken, unter den Kabeln herumgesucht. Ein-, zweimal geht das so, dann haben sie ihn selber am Schlafittchen, er, klar, ist ganz Empörung: Ihr habt mich geschnappt? Nein? Dann schwirrt ab! Damit hatte es sich denn auch immer.“ Schadrin lachte schallend. „Mein lieber Tichonow, seit wann bist du denn so ein Schwabbelkopf? Dein unglückseliges ,post hoc’ heißt doch wohl noch ,danach, also deshalb’! Und es stammt auch nicht aus dem römischen Recht, sondern aus der
Logikvorlesung. Es ist die Formel für einen drastischen Fehlschluß, klar?“ „Aber gewiß doch“, versetzte Tichonow ohne die geringste Verlegenheit. „Hören Sie aber weiter: An der Stelle, wo die Gehäuse verschwanden, sitzt nämlich Kondratjewa Sinaida, Dshagas Nichte.“ „Wirklich hochinteressant“, sagte Schadrin. „Was schlägst du also jetzt vor?“ „Das ist doch einem Blinden klar!“ „Ich habe keine schlechten Augen, und doch ist es mir recht unklar. Also sprich dich aus!“ „Wir sollten Dshaga heute noch festnehmen“, sagte Stas. Schadrin machte entsetzte Augen und blies die Backen auf. „Uff! Heute noch?“ „Was sonst? Das ist doch begründet.“ „Darf ich fragen, mein lieber Tichonow, weswegen wir ihn eigentlich festnehmen sollen?“ „Wen wollen Sie festnehmen?“ fragte der eingetretene Prichodko. „Tritt näher, Serjoscha. Ich schlag grad vor, Dshaga in Haft zu nehmen. Und Boris Iwanytsch setzt mir den Kopf zwischen die Ohren. Überlegen wir zusammen. Dshaga ist doch ein ausgemachter Halunke. An wen hat Korshajew seinen Brief geschrieben? An Dshaga! Sobald wir ihn erst einen Tag hier haben, wird er gesprächig werden wie ein Papagei. Wir kommen ihm mit dem Brief, und er erwähnt Korshajew, dann liefert er Hinkepink aus, wir besuchen die Nichte, und das mit den Gehäusen klärt sich.“ „Welch Scharfsinn! Wirklich imponierend, dies Staatsanwaltspathos“, sagte Schadrin, unerschütterlich seine Schipka rauchend.
Prichodko drehte den Bleistift in den Händen, dann hob er den Blick zu Stas. ,,Nö, alter Junge. Irgendwie hast du dich da vergaloppiert.“ „Und wieso?“ „Mäßige deinen operativen Drang. Im Augenblick bringt der nichts ein.“ „Hört bloß auf, an mir herumzumäkeln!“ erboste sich Stas. „Sachte, sachte! Man soll den Gegner nicht unterschätzen oder wenigstens doch in Betracht ziehen, was das so für Burschen sind, wie in unserem Fall.“ Sergej lächelte. „Schön, schön. Unterschätzen wir sie nicht. Und wozu ist das gut?“ „Unter Gaunern gibt es keineswegs mehr Dummköpfe als unter ordentlichen Menschen.“ „Ganz meiner Meinung“, sagte Schadrin. „Stell dir vor: Irgendein vielbeschäftigter Staatsanwalt gibt uns seinen Segen, Mossin festzunehmen. Und wir wären so komplette Narren und würden ihn verhaften. Hast du mit Mossin mal gesprochen?“ „Nein.“ „Ich auch nicht. Und Sergej auch nicht. Mit welchem Recht dürfen wir also annehmen, daß er entschieden dümmer ist als wir? Er wäre ein schöner Schafskopf, wenn er sich die Schlinge selber umlegt. Praktisch haben wir keinerlei Beweise gegen ihn. Auf Angst setze ich nicht gern. Das ist keine Aussage, sage ich dir, die aus Angst gemacht wird. Wir wollen ja nicht nur, daß er wahre Aussagen macht, er soll auch das Gestohlene, Papiere, geheime Notizen, herausrücken, Mittäter nennen. Und deswegen brauchen wir gegen ihn Tatsachen und keine Surrogate. Hast du solche Tatsachen? Brief, Buß-
geld, Nichte! Tatsachen? Sind das welche? Nimm nur mal den Brief. Bedenke, daß er an Dshaga bloß adressiert war. Nicht mal abgeschickt. Derzeit ist er in einer Fabrik beschäftigt. Na und? Dort sind viele Leute beschäftigt. Er trinkt Wodka? Den kann jeder kaufen, nicht nur Gauner trinken Wodka. Darf ich dir ein Geheimnis anvertrauen: Auch ich bin ein alter Sünder, der sich ab und zu einen genehmigt. Nichte? Ist es vielleicht bewiesen, daß sie die Gehäuse gestohlen hat? Nein, nichts ist bewiesen. Obschon es nicht ausgeschlossen ist.“ „Außerdem gibt es einen weiteren interessanten Punkt“, sagte Prichodko. „Sie erinnern sich sicher an Korshajews Brief?“ Schadrin nickte. „Allerdings“, meinte Stas. „Selbst wer ihn nur flüchtig liest, merkt, daß Dshaga hier eine Nebenfigur ist. Genauer: er dient diesem Hinkepink als Strohmann. Und kennst du diesen Hinkepink, Stas?“ „Nein.“ Tichonow machte schmale Augen. „Eben darum geht es“, sagte Schadrin. „Das meine ich auch. Wir kennen weder Hinkepinks Rolle, noch wer er ist. Ich halte es für denkbar, daß nicht mal er der Chef ist. Dshaga scheint mir jedenfalls ein kleiner Fisch zu sein. Falls wir ihn jetzt wegfangen, werden unsere Hechte in die Tiefe gehn – dann haben wir sie mal gesehn. Ebenso wenig dürfen wir Dshaga festsetzen, im Gegenteil, wir müssen ihn in Sicherheit wiegen, und das auf eine Weise, daß er es gar nicht merkt. Das wäre meine Meinung. Beim derzeitigen Stand der Dinge, versteht sich.“ „Schön, ich geb mich geschlagen.“ Tichonow lachte. „Ihr habt mich zerbrochen, zurückverwandelt in Asche und Staub, die ich mir denn auch über das sündige Haupt streue. Ich gebe auf. Und schlage einen anderen Plan
vor.“ Wir kehren nicht mehr in die Geschichte zurück (Nein, niemals konnte Bolivar zwei verkraften…) Ich bin bereit, hatte Maulwurf müde gesagt. Und in seinen Augen flackerten so viel Angst, Verzweiflung und Haß, daß sich in Balaschows Innern so etwas wie Erbarmen rührte. Doch drückte er dieses Rudiment eines längst gestorbenen Empfindens aus, wie man eine Zigarette in den Aschbecher drückt – mechanisch, ohne Überlegung. Damals hatte es Maulwurf mit der Angst bekommen, und wie er es mit der Angst bekommen hatte! Nun aber, nach Beseitigung des Alten, stellte er unverschämte Forderungen. Balaschow dachte an O. Henry: „Bolivar konnte zwei nicht verkraften…“ „Schaun Sie, Viktor Michalytsch, Sie hacken sich selber ins Bein. Andere könnten mich ganz passabel finden. Irgendwer wird vielleicht außer meinen Händen auch meinen Kopf gebrauchen können. Hier“ – er tippte an seine Stirn – „ist eine Menge Interessantes gespeichert. Deshalb schlage ich vor, die Politik der Stärke zugunsten echter Verhandlungsbereitschaft aufzugeben.“ „Soso“, murmelte Balaschow. „Wirklich sehr interessant.“ Balaschow war fest entschlossen: Nein, Bolivar konnte wirklich keine zwei verkraften. Gewiß, fürs erste war Maulwurf nur zu neutralisieren, damit er ihm nicht vor den Beinen herumtanzte. Den Kopf gesenkt, trommelte er mit dem Finger auf die Armlehne. „Ach, Genka, einen Freund verliert man rasch. Jahrelang sucht man dann jemand. Vor allem unsereins.“ „Was wollen Sie – daß ich Ihnen aus Freundschaft meinen Anteil lasse?“
„Ist davon die Rede! Warum bist du denn so krötig? Du weißt, daß ich neulich die finanzielle Seite ausgespart habe. Da war das noch nicht spruchreif. Jetzt läßt sich darüber reden. Was verlangst du?“ „Die Hälfte.“ „Was?“ Balaschow, der Maulwurf keinen Pfifferling zu geben gedachte, knirschte gleichwohl mit den Zähnen ob solcher Unverschämtheit. „Halbe-halbe. Die Hälfte. Und keine Kopeke weniger.“ „Genka, das ist glatter Wucher. Du steckst keine Kopeke in die Sache, und ich steh derentwegen bald in Unterhosen da.“ „Nicht so schlimm – Sie haben ja die Benzinkutsche, da sieht Sie ja keiner.“ „Vergiß nicht, Maulwurf, daß wir den Freier noch nicht gerupft haben. Noch ist die Kasse leer.“ „Ich hab von Dollars nichts, Sie verdienen beim Weiterverkauf noch mal das Doppelte im Vergleich zu mir. Wie wär’s mit einer Leibesvisitation?“ „Weißt du, ohne Vertrauen kommen wir beide nicht weit.“ „In der Sechsergang damals, da haben Sie mir nicht grad groß vertraut.“ Flegel! Unverschämter, saudummer Flegel, dachte Balaschow kalt. Er meint wohl, daß er jetzt höher im Kurs steht. Ob man der Miliz ein kleines Briefchen schickt? Nein, noch zu früh jetzt, sonst wird er noch singen vor Wut. Soll er sich zugrunde richten, wie er es versteht, ohne mich. Am besten, ich werf ihm jetzt einen Köder hin. „Ergib dich nicht der Philosophie und laß deinen Dünkel. Versuch mal dran zu denken, daß von uns beiden Rubel
bisher nur ich besorgen konnte. Du kannst höchstens kaputt machen. Das aber spricht auch nicht für dich. Also ernsthaft: Ich zahle dir zwanzig Prozent.“ „Vierzig.“ „Fünfundzwanzig.“ „Vierzig.“ „Also hör: ein Drittel oder du kannst mir gestohlen bleiben!“ „Und einen Abschlag jetzt.“ „Da, das reicht vorläufig.“ Maulwurf bekam ein dickes Bündel Banknoten in die Hand gedrückt und stopfte es, ohne zu zählen, in die Jakkentasche. „Dies Geld wirst du mir quittieren“, sagte Balaschow, bemüht, ihren Beziehungen den Anschein des Geschäftsmäßigen zu geben. „Wozu?“ staunte Maulwurf. „Zum Zeichen, daß du nicht mehr Angestellter, sondern mein Kompagnon bist und dieses Geld bei der Endabrechnung verrechnet wird.“ „Aber trotzdem, Viktor Michailowitsch, wozu eine Quittung?“ fragte Maulwurf amüsiert. „Sie wollen wohl Ihre Außenstände, wenn was schiefgeht, übers Volksgericht einklagen?“ „Ob Gericht oder nicht, jedenfalls muß Ordnung sein.“ „Schön. Nur welchen meiner Namen soll ich druntersetzen; Welcher behagt Ihnen mehr: Kostjuk, Lande, Tarassow oder Orlow?“ „Mir egal.“ Maulwurf unterschrieb, und Balaschow faltete die Quittung sorgsamst und steckte sie in die Brieftasche. Dann sagte er: „Heiß heute. Hol mal ein Glas Wasser aus der
Küche. Laß es aber erst ablaufen.“ Sowie Maulwurf zur Tür hinaus war, richtete Balaschow sich im Sessel auf, stemmte sich hoch und balancierte, damit die Dielen nicht knarrten, auf einem Bein, während er nach Maulwurfs Jacke langte. Im Nu hatte er die Taschen abgetastet und das für Maulwurf Wertvollste, den Ausweis, herausgezogen. Die Pistole, die Balaschow ihm mit nach Odessa gegeben hatte, befand sich nicht in der Jacke. Als Maulwurf mit dem Glas wieder im Zimmer erschien, saß Balaschow in der vorherigen Haltung im Sessel und fächelte mit der Zeitung. Das Wasser schlürfte er mit Genuß, während er überlegte, wie er an die Pistole kommen konnte. Dann stand er auf. „Also alles klar, Genka. Du bleibst hier und wartest auf die Karte. Sie muß ja bald kommen.“ „Okay.“ „Übrigens kannst du mir die Kanone zurückgeben, sonst kriegt Liska sie noch zufällig in die Hände, und es gibt Fragen, wozu und warum.“ „Seien Sie unbesorgt, sie kriegt sie nicht in die Hände. Ich trag sie ständig bei mir.“ Er klopfte auf die Gesäßtasche der Hose. Der Schuß in den Ofen Tichonow schüttelte die Regentropfen vom Mantel und warf ihn achtlos auf den Stuhl. Er hockte sich auf den Rand des Schreibtisches. „Was gibt’s Neues in Sachen Konzern Dshaga and Co.?“ fragte er Sergej. „Nach deiner Miene gibt’s bei dir nichts Neues.“ Prichodko machte lustige Augen.
„Halt die Luft an, Alter, ich war lange nicht so in Fahrt.“ „Trotz allem?“ „Trotz allem!“ wiederholte Tichonow nachdenklich. Dann lächelte er traurig. „Wenn deine Hühnerbrust statt in eine Uniform in eine Weste geschnürt wäre, ich würde sie mit meinen Tränen netzen.“ Sie bewegten sich auf dem dünnen Eis ihrer Witzeleien, foppten und stichelten, und doch merkte Prichodko, daß Tichonow dieser Tage hundemüde war. „Wer Ersatzteile für seine Uhr braucht, kann zu mir kommen“, sagte Tichonow. „Ich habe ein ganzes Schieberkollektiv zu Freunden.“ „Hinkende gibt’s darunter nicht zufällig?“ „Nein. Ich meine auch, daß du unseren Hinkepink weder zufällig noch sonstwo dort finden wirst.“ „Wieso?“ „Das will ich dir sagen. Ich hab mich ja nicht zum Spaß unter Schiebern umgetan. Ich hab mit ihnen noch und noch geredet. Das alles sind kleinkarierte Gauner, man schachert kleinklein – klaut, kauft, verkauft. Einer wie der andere: versoffen und so. Wo die bloß alle herkommen? Platterdings wie Basilisken an verwilderten Brunnen. Ich bin sicher, dass niemand von ihnen eine solche Operation – einen größeren Posten Einzelteile stehlen und veräußern – fertigbringt. Solche Mengen kennen sie nicht mal vom Hörensagen. Ich bin überzeugt: Fehlanzeige. Schuß in den Ofen.“ „Und wie verhält sich Dshaga? Du wolltest ihn doch im Auge behalten.“ „Versteht sich, wir waren Tag und Nacht hinter ihm her. Ich habe sogar Tagebuch über ihn geführt.“ Tichonow nahm den nassen Mantel vom Stuhl, schüttelte ihn aus
und zog aus der Seitentasche ein Notizbuch. „Da, amüsier dich mit meinem Schützling.“ Sergej schlug das Notizbuch auf. „Dienstag, 7.30: M. verläßt Haus, Arbeit. 15.30: Verlassen des Betriebs. Trifft am Beloruss. Bahnh. neue Metro, mit zwei unbekannten Männern zusammen, mit denen er Eck-Gastr. Flasche Wodka kauft und am Brausestand mit ihnen leert, worauf, er in die B. Grusin. Ul. geht. Im Hof wird so dreißig Minuten Domino mit Nachbarn gespielt, dann zu viert Flasche Wodka, auf jeden einen Viertelliter. Um achtzehn Uhr M. nach Hause und läßt sich nicht mehrsehen. Mittwoch, 7.30: M. zur Arbeit. Dann zu dritt im EckGastr. dann Domino und so weiter und so fort. Donnerstag… … dann Domino…“ „Offen gesagt, unser Freund lebt in Saus und Braus, direkt zu beneiden.“ Prichodko lächelte und schüttelte den Kopf. „Und welcher Informationsfluß über seine Verbindungen, Tag für Tag neue Leute aus dem Kreis gelegentlicher Zechgenossen, und nicht einer, zum Verrücktwerden, ist darunter, der hinkt. Trotzdem, Stas, würde ich ihn nicht aus den Augen lassen.“ Abends regnete es wieder. Die Scheibenwischer fegten unermüdlich Spritzer, vor jedem Pendelschlag übersprühte erneut Wasser die Scheibe. Im Radio schluchzte leise Musik. Balaschow warf einen Seitenblick zu Dshaga. „Schläfst du?“ „Aber wo, Viktor Michalytsch! Ich überlege.“ „Streng das Köpfchen nur an, ich laß mich nicht lumpen,
wenn es was hervor befördert.“ „Das ist ja die Kalamität, daß ihm nichts einfallen will.“ Balaschow lächelte gutmütig. „So ein Kopf, und dem will nichts einfallen! Schwerlich zu glauben.“ „Lachen Sie nicht, Viktor Michalytsch, dort ist jetzt keine Stecknadel mehr herauszuschmuggeln. Nach dieser Versammlung sind die Wachmänner wie wild. Unsere Berufsehre, sagen sie, ist angegriffen. Als ob das ein Beruf wäre!“ „Dafür ist dein Beruf lukrativ. Ohne mich würdest du hingehn und betteln. Da wird dir doch was einfallen, wie du sie leimen kannst.“ „Als ob es um sie geht, Viktor Michalytsch?“ „Um wen sonst? Um meine Schwiegermutter?“ „Es geht doch darum, daß nach dieser Versammlung im ganzen Betrieb Wambule herrscht. Sogar eine Kontrolle, eine Volkskontrolle, ist organisiert worden. Und nach jedem Arbeitsgang wird registriert. Dann haben sie den Kampf um die ausgezeichnete Qualität, so daß bei Schichtwechsel nicht nur die Menge, sondern auch die Beschaffenheit der Teile kontrolliert wird. Ein Kreuz ist das! Man traut sich ja keinen Schritt heran.“ „Für sowjetische Begriffe, Dshaga, bist du ein ebenso schädliches wie einmaliges Element! Deine ganze Fabrik steht Wache, und du fluchst Stein und Bein!“ „Sie lachen?“ „Ich bin nie ernster gewesen!“ „Dann wären Sie ja der geborene Aktivist, wo ich doch ein so großer Schädling bin!“ „Ein Schädling bist du für die Sowjetmacht, ich hab ja nichts gegen dich. Bloß, daß du zu träge bist. Und
ängstlich dazu.“ „Wer will schon brummen? Sie waren ja nicht drin, ich aber habe Knastkraut und Fischsuppe lange genug genossen. Durch Skorbut habe ich alle Zähne verloren.“ Dshaga entblößt zwei Reihen Metallzähne. „Schwindel doch nicht. Ich bin kein ausländischer Korrespondent – solche billigen Tricks verfangen bei mir nicht. Die Zähne hast du nicht durch Skorbut und auch nicht im Gefängnis verloren, sondern bei einer Schlägerei, bei Schnüffelspringer.“ „Woher wissen Sie das?“ fragte Dshaga verblüfft. „Ich weiß es eben. So hat es sich doch abgespielt, oder?“ Balaschow lachte. Dshaga grinste schlau und fuhr mit der Hand über die Glatze. „Unwichtig, Viktor Michalytsch. Was ist nun aber mit den Gläsern?“ „Das wollte ich eigentlich dich fragen, Freundchen.“‘ „Ist der Posten nicht ohne Gläser loszuwerden?“ „Bist du noch zu retten!“ „Wieso? Bieten wir doch statt der Gläser einen ebenso großen Posten Zifferblätter an – davon haben wir noch einen Rest. Ist denn diesen Gaunern nicht egal, womit sie schachern?“ „Mein Gott, Dshaga, bist du begriffsstutzig! In den Papieren der Stoliza steht schwarz auf weiß und in englisch und russisch: stoßfest, wassergeschützt, antimagnetisch. Wie meinst du, könnten sie diese Eigenschaften auch ohne Glas besitzen?“ „Was geht uns das an?“ „Ich hab dich schon öfters gemahnt, dein Firmenzeichen in Ehren zu halten! Ich habe dir auch wieder und wieder
erklärt, ich brauche einen ganzen Satz Stoliza-Teile a la Katalog. Wozu, richtig, das geht dich nichts an.“ „Wenn das so ist, bemühn Sie doch Ihr eigenes Köpfchen.“ „Werd nicht kiebig, alter Flegel.“ „Wenn ich aber nicht weiß, wo ich die Gläser hernehmen soll.“ „Und deine Nichte, die Sinka Kondratjewa?“ „Die traut sich nicht mal jetzt, mit mir zu reden! Seit wir damals die Gehäuse herausgeschafft haben, da ist’s aus! Ich bekam vor Aufregung Schlucken, und sie heulte Rotzblasen. Du hast mich da, sagt sie, in schmutzige Dinge hineingezogen, sie werden euch alle einsperren und mich dazu. Bleib mir damit vom Halse weiterhin. Sehn Sie, so ist sie! Du kannst Gott danken, sagt sie, daß ich so weit mit drinstecke, sonst würde ich zur Miliz gehen und die erste sein, die dich anzeigt.“ „Das sind ja schöne Sachen.“ Balaschow stieß einen Pfiff aus. „Hast du ihr das ganze Geld gegeben?“ „Aber natürlich!“ „So natürlich scheint mir das gar nicht zu sein. Schau mich mal an!“ Das klang wie ein Peitschenschlag. „Was plierst du so? Hast du mich wirklich angeschissen, Dreckskerl du?“ „Lieber Viktor Michalytsch, ich bin unschuldig wie eine Jungfrau! Ich habe ihr alles gegeben.“ Aus einer Kurve schoß ein LKW mit auf geblendetem Fernlicht. Das rettete Dshaga: Balaschow riß den Blick nach vorn, in das trübe Gespinst des Regens hinein, worin die Scheinwerferkegel wühlten. Da fing sich Dshaga wieder und murmelte in betroffenem Ton: „Sie tun mir unrecht, Viktor Michalytsch! Sie wissen
doch, wie ich Ihre Großzügigkeit schätze. Erst durch Sie weiß ich sozusagen, was Leben ist, ich würde mir nie getrauen, Sie zu betrügen…“ „Sowie ich herauskriege, daß du das Geld nicht abgeliefert hast, dann Gnade dir Gott!“ Dshaga dachte: du und rauskriegen, haha! Du hast ja Sinka persönlich nie gesehen. Das Geld werd ich aber doch neu verstecken. Dem ist zuzutrauen, daß er einem ins Haus schneit und alles umkrempelt. Wenn sie das Geld nicht wollte, anständig bleiben wollte, was sollte ich denn tun, ihm das Geld zurückbringen? Ich habe ja auch nicht gerade zu viel davon. Da hatte er auf einmal eine Erleuchtung: Heiliger Bimbam! Das Geld lag ja wirklich auf der Straße! Kürzlich war doch die alte Glaspresse ausrangiert worden, gestern hatte man sie auf den Hinterhof geworfen! Man brauchte sie nur mit dem Altmetall abtransportieren zu lassen. Die Formen konnte er aus der Hütte besorgen! „Viktor Michalytsch!“ „Ja?“ „Und wenn wir selber die Gläser pressen?“ „Womit? Mit deinem Glatzkopf vielleicht?“ „Lassen Sie nur meinen Kopf, Sie werden ihn noch nötig haben. Ich weiß was Besseres.“ „Schieß los! Vielleicht ist es brauchbar.“ „Ein Bekannter von mir, der hat eine Glaspresse, und Formen kann ich besorgen. Die Presse ist nicht groß, so wie eine Nähmaschine. Und dabei gar nicht zu hören. Wenn wir sie auf Ihrer Datsche aufstellen, kann ich Ihnen die fehlenden Gläser in ein paar Tagen pressen. Material haben wir doch.“ „Dein Kopf ist ja wirklich noch zu gebrauchen. Bloß hat
er etwas Sand im Getriebe. Was hat das so lange gedauert?“ „Ich habe überlegt, wie ich an den Bekannten komme.“ „Na und?“ „Ich glaub, ich weiß es.“ „Was wird er für die Presse verlangen?“ Dshaga witterte eine Falle und hob die Schultern. „Keine Ahnung. Damals hat er nicht daran gedacht zu verkaufen. Ich denke aber so an dreihundert.“ Balaschow zog eine Grimasse. „Zweihundert sind mehr als genug. Mehr gibt’s nicht! Und sieh zu, daß Presse und Formen Ende der Woche auf der Datsche sind.“ „Ich will’s versuchen.“ „Du schaffst alles gleich hierher.“ Der Wagen bog ins Tor der Datsche ein. Die Verandatür ging auf, und im hellen Licht erschien eine Frauenfigur. Alla winkte, den Kopf unterm Regenschirm. „Rasch, das Abendbrot wird kalt!“ Ein paar Tage darauf rollte aus der Einfahrt der Uhrenfabrik ein mit Altmetall beladener Dreitonner. Der Beifahrer zeigte dem Wachmann einen Passierschein: zur Lagerstelle Schrott. Im Wagenkasten saß Dshaga, dem unversehens eingefallen war, Überstunden zu machen. Wohin fahren die Züge der Metro? Tichonow und Prichodko setzten sich auf die marmorne Bank am Ende des Bahnsteigs. Aus dem dunklen Schlund des Tunnels schlug ihnen ein feuchtes kühles Lüftchen entgegen, das ein wenig nach Gummi roch. Irgendwo in der unergründlichen Tiefe glommen noch die roten Schlußlichter des Zuges, der soeben aus der Halle gedonnert war.
Sergej zog eine Schachtel Zigaretten hervor, schnippte geschickt eine mit dem Finger in die Luft und fing sie zwischen den Lippen auf. „Rauchen verboten“, sagte Tichonow. „Metro, Sicherheitsvorschriften, du weißt ja.“ „Schade, gegen die Kälte hier wär’s just das Richtige.“ Sergej grinste. Er klapperte mit den Streichhölzern und versenkte die Schachtel zurück in die Tasche. Dann zog er ein ernstes Gesicht. „Stas, hast du nie überlegt, wohin die Züge der Metro fahren, wenn Dienstschluß ist?“ „Wohin? Ins Depot sicherlich.“ Tichonow zuckte die Schultern. „Sicher. Als ich noch ein kleiner Steppke war, hat mich diese Sache mächtig beschäftigt. Ich wollte brennend gern sehn, wo sie dort übernachten, wie sie wenden. Fünfmal habe ich damals versucht, mich durchzuschmuggeln, wurde aber immer erwischt. Schade, daß ich es nicht erlebt habe.“ „Du steckst ja noch halb in der Pubertät. Neurotisches Trauma aus der Kindheit, würde ich sagen.“ „Menschenskinder, drückst du dich gelehrt aus. Du redest ja wie ein Popularisator.“ „Das habe ich mir bei meinem Chef abgeguckt. Er macht das oft, ein wichtiges Wörtchen sagt er ausländisch. Andererseits sind wir ja nicht umsonst auf die Universität gegangen. Haben uns Latein eingebüffelt. Haben weiß Gott wieviel Examen gemacht, schon bei der Erinnerung läuft’s einem kalt über. Weißt du noch, der alte Pereterski: Der englische König sitzt auf dem Thron, bezieht Gehalt und beschäftigt sich mit Boxen.“ „Der wird wohl ein anständiges Gehalt haben.“ „Der König ist tot. Sie haben längst eine Königin.“
„Darum aber ist das Gehalt nicht geringer geworden.“ „Hältst du eigentlich viel vom Geld, Sergej?“ „Vom Geld?“ Sergej überlegte. „Ich glaub schon. Allerdings ist es nie zu einer großen Leidenschaft gekommen, ich habe nie im Überfluß davon gehabt. Da fällt mir ein, wie ich nach dem Mord in Korshajews Zimmer kam. Du kannst mir glauben, der Alte hat mir sogar leid getan – ein Bild schreiendster Armut! Dann, als ich das Versteck öffnete, ist mir fast die Luft weggeblieben. Stell dir vor: in einem einzigen Kästchen alles, was ich verdient habe und je verdienen werde und dazu die Rente bis zu meinem Ableben. Und alles gehörte diesem armen, tölpligen Alten.“ „Schön, lassen wir diese freundliche Erinnerung bis zum nächsten Mal. Ende der imaginären Rauchpause. Wie wir weiter nach diesen Hinkepinks fahnden, hast du wohl nicht überlegt?“ fragte Tichonow. „Habe ich – und habe auch eine Idee. Die meisten Betriebsangehörigen sind Frauen. Sie können wir von vornherein ausnehmen, da es, glaube ich, keinen Zweifel gibt, daß Korshajew an einen hinkenden Mann dachte. Der Betrieb arbeitet in zwei Schichten. Schichtwechsel ist um vier. Um Viertel vor okkupieren wir die beiden Pförtnerlogen und zählen alle männlichen Betriebsangehörigen, die, wie schon gesagt, im Ballett nicht tanzen können. Was hältst du davon?“ „Nicht viel.“ „Warum?“ „Technisch schwierig durchzuführen: die jeweiligen Namen müssen nachher festgestellt werden, das zum einen. Und zum anderen: die Leute würden angesichts zweier neuer junger Pförtner von so intelligentem Ausse-
hen unweigerlich stutzig werden.“ „Überschätzt du sie nicht?“ Prichodko lachte. „Wen? Die Gauner?“ „Unsere Intelligenz.“ „Ich dachte an dich dabei.“ „Danke, mein Lieber.“ „Schon gut. Ich schlage einen Gegenplan vor. Bei deinem intelligenten Äußeren wirst du als Arzt vom Städtischen Gesundheitsdienst nicht den geringsten Verdacht erwecken. Ich könnte vielleicht als irgendein Schmalspurmediziner, wenn’s dir recht ist, als Feldscher passieren. Derart getarnt, könnten wir beide die Sanitätsstube des Betriebs aufsuchen und eine Überprüfung der Krankenkartei vornehmen. So können wir, ohne sonderliche Aufmerksamkeit zu erwecken, erst die Karteikarten der Männer und dann die der Hinkenden aussortieren. Was hältst du davon?“ „Das Ei des Kolumbus! Wie lange hast du gebrütet?“ „Kleiner Genieblitz!“ Sie gingen von der Metro zum Bahnhof, bogen links ab und passierten die Unterführung zum Werk. Männer mit Gebrechen? „Auf operativem Wege wurde ermittelt, daß in den Moskauer Uhrenbetrieben, Reparaturwerkstätten und einschlägigen Geschäften sechsundneunzig Leute beschäftigt sind, die wegen dieser oder jener Fußleiden hinken…“ Prichodko schüttelte den Füllhalter und sagte: „Gehen wir die Kandidaten, Boris Iwanytsch, nochmals durch.“ Schadrin spitzte mit dem Messer Farbstifte an. Vor ihm lag eine lange Liste mit Namen, die mit verschiedenfarbigen Zeichen markiert waren: Kreuzen, Kreisen, Häk-
chen; etliche waren ganz gestrichen. Schadrin blies den Rotstiftstaub von der Glasplatte. In der Uhrenfabrik gab es also fünf, die hinkten: Wodolasow, Meister der Montageabteilung. Bobkow, Schlosser. Nikonow, Heizer des Kesselraumes. Salnikow, Monteur am, Hauptfließband. Der Wachmann Nikitin. Drei von ihnen kamen als Helfer Dshagas kaum in Frage. Wodolasow war Betriebsaktivist, Kriegsinvalide und Abgeordneter des Stadtbezirkssowjets. Der Heizer Nikonow besaß, abgesehen von seinen persönlichen Eigenschaften, gar keinen Zutritt zu den Produktionsräumen. Der Monteur Salnikow war kürzlich unter die Straßenbahn geraten und Invalide geworden. Ihn konnte Korshajew, als er von Hinkepink sprach, kaum gemeint haben. Übrig blieben zwei – Bobkow und Nikitin. An diesem Abend trommelte Tichonow aus den Reparaturwerkstätten alle Uhrmacher zusammen, die hinkten: die Uhrmachermeister Seglin und Scharonow und den Leiter der Werkstatt 86, Brodjanski. „Entschuldigen Sie die Ungelegenheiten, Genosse Bobkow. Alles Gute!“ „Sehen Sie, Genosse Nikitin, es hat ja nur eine halbe Stunde gedauert. Auf Wiedersehen…“ „Also, Genosse Seglin, Sie haben mein Interesse als Amateur in vollem Maße zufriedengestellt. Bis zum nächsten Mal. Vielen Dank.“ „Zeigen Sie Ihren Passagierschein her, Genosse Scharonow, damit ich unterschreibe. Wenn mir meine Uhr kaputtgeht, werde ich zu Ihnen kommen.“ Prichodko ließ sich abgespannt auf den Stuhl fallen und trommelte mit dem Bleistift auf den Tisch. Diese vier
hatten mit dem Fall nicht das geringste zu tun. Alles vertane Energie! Es müßte ein Meßgerät der geistigen Energie geben. Am Abend zeigt es an: zwanzigtausend Gedankensekunden verbraucht. Schlafenszeit! Auf ins Bett! Aber wozu führte das? Zweifellos könnte irgend so ein Archimedes einen Divisor ausknobeln, um die Gedanken durch cosinus zu teilen – schönes Denkspiel, weiter nichts. Am Ende würde das für heute null Ganze oder 0,10 anzeigen. Dann würdest du dich vor Wut dem Wodka ergeben. Kurzum, eine Hoffnung blieb – vielleicht hatte Tichonow aus diesem Brodjanski etwas herausgeholt. Was mag das für ein Mensch sein? Ja, bei Tichonow schien es günstiger auszusehn. Er saß im engen Büro der Werkstatt 86, die langen Beine mit den unwahrscheinlich spitzen Mokassins zwischen den Tischen hindurch geschoben. Rundum herrschte geschäftiges Treiben, während Tichonow, in Zeitschriften blätternd, gemütlich auf das Kommen des Leiters Brodjanski wartete. Zuweilen pfiff er vergnügt vor sich hin. In seiner Tasche steckte die vierfach gefaltete Urkunde über die planmäßige Inventur der Restbestände, die gestern hier abgeschlossen worden war. Sie verzeichnete auch, daß der Revisor Überbestände an Uhrenteilen für nicht weniger als dreihundertsechzig Rubel vorgefunden hatte. Und Überbestände hieß außerordentliches Vorkommnis. Verbarg sich hinter ihnen nicht ein Rechenfehler, so waren entweder Kunden betrogen worden, oder die Werkstatt empfing Ware ohne Papiere, sogenannte linke, wie man unter Schiebern sagte. Brodjanski kam gegen vier. Als Tichonow aufstand und
sich vorstellte, nahm Brodjanskis Miene einen leidenden Zug an. „Ich habe erwartet, daß Sie kommen.“ Das linke Bein merklich nachziehend, führte er Tichonow in sein winziges Zimmer und deutete auf den Stuhl neben seinem Schreibtisch. „Bitte.“ Tichonow musterte ihn aufmerksam. Dies war ein nicht mehr junger Mann mit krankhaft blassen Zügen. In den großen verstörten Augen spürte Tichonow Angst. Die knöchernen langen Finger knüllten nervös irgendwelche Papiere auf dem Schreibtisch. „Ich ermittle in einer Strafsache und möchte Ihnen ein paar Fragen stellen“, begann Tichonow. „Strafsache? So rasch geht das?“ stammelte Brodjanski. Tichonow begriff, daß Brodjanski an die festgestellten Überbestände dachte, sonst hätte er kaum so unverblümt gefragt. Allerdings mußte da nachgehakt werden. Tichonow sagte halblaut: „Erzählen Sie mir bitte alles, absolut alles, was Ihnen zur Sache bekannt ist.“ Brodjanski besann sich, wischte die Stirn und begann: „Eigentlich weiß ich nicht, was ich erzählen soll. Solch Fall passiert mir ja zum ersten Mal im Leben. Überbestände, noch dazu für dreitausend Rubel nach alter Währung, sind nach meinen bisherigen Begriffen einfach unfaßbar! Ehrlich gesagt, wenn es für diese Summe bei uns ein Manko gäbe, ein Loch sozusagen, es wäre hundertmal weniger verwunderlich. Bei Mankos ist das so eine Geschichte: Lehrlinge können Ware verschludert, ein Kunde nicht quittiert oder schlimmstenfalls einer der Meister lange Finger gemacht haben, obschon das bei uns noch nie passiert ist. Möglich jedoch ist alles! Überbestände, erlauben Sie, das ist doch einfach unbegreiflich!
Sie fragen wieso? Meine Antwort: Weil ein Manko mir im Betrieb jedes Mäuschen verursachen kann: wenn man will, der Meister, wenn man will, die Putzfrau, obschon ich sie weiß Gott nicht verdächtigen möchte! Überbestände aber, entschuldigen Sie, kann ich mir bloß selber herbei organisieren, durch raffinierte Gaunertricks!“ Exakt formuliert, dachte Tichonow, der Brodjanski nicht aus den Augen ließ. Er verdreht nichts, vertuscht nichts, nimmt alles auf sich. Und doch ist da eine Hintertür, und er weiß das nicht schlechter als ich. Also stimmt etwas nicht mit diesen Überbeständen… Unterdessen fuhr Brodjanski hitzig fort: „Ich leugne meine Schuld nicht, mir hat kein großer Unbekannter Salz in die Suppe getan! Nur weiß ich wirklich noch nicht, wo der Fehler steckt, und wenn Sie mich erschießen, mit Urlaub…“ Nachdem er mit Brodjanski übereingekommen war, daß mit der aus dem Urlaub zurückgerufenen Wassiljewa, Buchhalter ihres Zeichens, nochmals alle Unterlagen durchgeprüft werden sollten, fuhr Tichonow zur Petrowka. Schadrin hörte gespannt zu und resümierte: „Brodjanski ist aufgeschreckt und durcheinander, fürchtet offenkundig Recherchen. Mich stört allerdings, daß sich seine ganze Angst auf diese rätselhaften Überbestände richtet. Nichts anderes hat er im Kopf. Nun ja, wir werden uns morgen noch mal seine Buchhalterei vornehmen. Überprüfen wir mal, was für Bestände zu viel sind, dann werden wir weitersehen.“ In diesem Moment schrillte das Telefon. „Hier das Passierscheinbüro, Boris Iwanytsch. Es wird nach Tichonow gefragt. Ist er bei Ihnen?“ „Er ist hier. Und wer ist dort, Anetschka?“ „Ein Brodjanski und eine Wassiljewa. Können sie passie-
ren?“ „Wer ist Wassiljewa? Fragen Sie mal.“ „Aus der Buchhaltung, sagt sie.“ „Schön, sollen raufkommen.“ „Für dich“, sagte Schadrin. „Da die solche Eile haben, werden sie wohl vor Mitteilungsbedürfnis platzen.“ Die Besucher zeigten in der Tat ein enormes Mitteilungsbedürfnis. In einem fort die Tränen wischend, plapperte die Wassiljewa, eine junge, nette Frauensperson, wie aufgezogen los. „Sehen Sie, Genossen, Sie können mich totschlagen, ich bin an allem schuld, ich habe Michail Semjonytsch in diese Lage gebracht, er ist völlig durchgedreht, mit den Nerven fertig…“ „Moment mal, immer schön ruhig und der Reihe nach.“ „Ich erzähl ja der Reihe nach!“ Damit machte sie ihre Handtasche auf und entnahm ihr ein zerdrücktes, halb zerfledertes Papier. Schadrin ergriff es und sah, es handelte sich um den Lieferschein Nummer 86 der Garantiewerkstatt des Uhrenbetriebes für diverse Uhrenersatzteile und Werkzeuge zu einem Gesamtbetrag von dreihundertzweiundsechzig Rubel und elf Kopeken. „Das paßt ja wie die Faust aufs Auge.“ Er reichte Tichonow den Schein. Dem weiteren konfusen Bericht der Wassiljewa war zu entnehmen, daß sie Ende letzten Monats in der Garantiewerkstatt die diversen Ersatzteile abgeholt hatte. Sie war jedoch in Eile gewesen, um in Urlaub zu kommen, und hatte daher den Lieferschein nicht verbuchen lassen. So erwies sich dann die übernommene Lieferung gleichsam als Überbestand. Nachdem er Brodjanski entlassen hatte, nahm Tichonow
die Aussage der Wassiljewa zu Protokoll. Hin und wieder richtete er an sie präzise, gezielte Fragen: Wann die Ware entgegengenommen, Art der Ware, aus welchem Anlaß geholt, wer ausgegeben. Da wetterte sie in plötzlichem Groll los: „Wer, wer schon? Natürlich der Chef selber, dieser Hinkefuß! Wegen dem ist das alles ja passiert. Ich habe doch zu dem Sechs-Uhr-Zug gemußt, und er trödelt und trödelt, zählt jede Feder mit eigenen Händen! So hat er mich denn bis fünf festgehalten. Ich hab den Schein in die Tasche gestopft, bin raus, mit Wassja, dem Fahrer, in den Wagen, und los. Als wir bei der Metro vorbeikommen, denke ich: Ich verpaß noch den Zug! Weißt du, sag ich zu Wassja, bringe du alleine den Kram hin, unterschreiben kann ich auch später noch. Da bin ich ausgestiegen, der Schein war bis heute in der Tasche. Heute morgen hat der Hauptbuchhalter zu mir geschickt, und da ist mir der Schein wieder eingefallen. Er war mir doch ganz aus dem Kopf. Was werden Sie deswegen tun?“ „Vermutlich erhalten Sie eine Prämie“, sagte Tichonow düster. Dann fügte er hinzu: „Im übrigen dürfte es eine Ungehörigkeit sein, einen älteren Menschen Hinkefuß zu nennen.“ „Der ist noch gar nicht alt, der Chef, und mich hatte die Wut gepackt, den ganzen Tag ist er nach einer Helferin herumgehumpelt wie ein Rumpelstilz, davon kam ja der ganze Ärger!“ Tichonow war, als würden ihm die Ohren wachsen und sich aufstellen wie bei einem Schäferhund. „Da sind wir ja schön angeführt, Sergej“, sagte Tichonow eine halbe Stunde später. „Da prahlen wir: Ein Netz haben wir geknüpft, oh, was für ein Netz! Und du fängst damit kaum was im Aquarium! Wie konnte es passieren,
daß Balaschow uns entgangen ist?“ „Wie schon, wie!“ Prichodko ahnte, daß sie sich nicht gerade mit Ruhm bedeckt hatten, und er ereiferte sich. „Wir haben die Körperbehinderten nach der Krankenkartei der Betriebe ausgesucht, und die Garantiewerkstätten werden, hören wir nun, von den Polikliniken der Stadtbezirke betreut. Da liegt der Hund begraben. Nun werden wir das aber gründlich nachholen.“ „Schön. Das heißt, für den Leiter der Garantiewerkstatt werden wir uns zu allererst interessieren. Was mag das für ein Mensch sein?“ Fragen Sie doch den Taxifahrer! Als Prichodko und Tichonow vom Mittagessen zurückkämen, hörten sie schon im Flur das Telefon im Zimmer läuten. Prichodko drehte hastig den Schlüssel und stürzte zum Schreibtisch. „Jaja, den haben wir hier, bitte sehr.“ Er reichte Stas den Hörer und sagte: „Hier, eine Frau verlangt nach dir.“ Stas hob erstaunt die Brauen. „Hier Tichonow.“ . . , „Hallo, Tichonow, hier Sacharowa.“ „Hallo, Nina Pawlowna!“ „Wozu haben Sie mir eigentlich Ihre Nummer gegeben, wenn Sie doch nie da sind?“ „Viel um die Ohren, sehn Sie, die ganze Zeit auf den Beinen. Es ist wie bei den Wölfen: Die Beine ernähren uns.“ „Ich weiß nicht, wer Sie ernährt, jedenfalls habe ich seit gestern fünfmal angerufen.“ „Was Interessantes?“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Entscheiden Sie selber: Der Jurka ist gestern abend mit einem Sack angekommen und hat ihn in der Küche neben seinen Tisch in eine Wandnische gestopft. Als er essen war, hab ich mir den Sack angesehen – irgendwelcher Eisenkram. Schwer, nicht hochzukriegen. Wie er dann gegessen hat, sich gewaschen, sich umgezogen, ist er mit dem Sack auf der Schulter abgezogen. Ich hab ihn vom Balkon aus beobachtet – Jurka hat einer Taxe gepfiffen, ist eingestiegen und losgefahren. Seitdem ruf ich Sie an, und es meldet sich keiner. Endlich erreiche ich Sie.“ „Vielen Dank, Nina Pawlowna, für Ihre Bemühungen, das interessiert uns natürlich brennend. Schade bloß, daß wir nicht wissen, wohin er gefahren ist.“ „Fragen Sie doch den Taxifahrer!“ „Und wo fassen wir den?“ „Sicherheitshalber habe ich die Nummer aufgeschrieben: ML 04-61.“ „Sie sind mir ja der reinste Detektiv, Nina Pawlowna! Vielen Dank!“ „Bitte keinen Schmus! Wenn ich wieder was seh, ruf ich an. Hoffentlich sitzen Sie mal in Ihrem Zimmer.“ „Übrigens, Nina Pawlowna, haben Sie zufällig gemerkt, ob der Taxifahrer den Jurka kannte?“ „Ich glaube nicht. Der Wagen fuhr mitten auf dem Damm. Erst als Jurka pfiff und winkte, ist er scharf rangefahren…“ „Besten Dank und alles Gute!“ Prichodko schrieb angestrengt an seinem Schreibtisch, während Tichonow, sein Triumphgefühl zügelnd, gleichmütig bemerkte: „Soll ich dir die Nummer des Taxis verraten, mit dem Dshaga gestern einen schweren
Sack mit metallischen Gegenständen transportierte?“ Prichodko hob den Blick. „Die Sacharowa?“ „Ja. Es wäre denkbar, daß er gestohlene Gehäuse und Platine transportierte.“ „Durchaus möglich.“ „Obwohl ich bezweifle, daß er sie, wenn auch nur vorübergehend, mit nach Hause nehmen würde. Zunächst ist also der Taxifahrer ausfindig zu machen. Womöglich wird uns das Fahrtziel etwas sagen.“ Tichonow rief den Taxieinsatz an. „Könnten Sie mir wohl den Fahrer eines Wagens nennen, von dem ich nur die Nummer weiß?“ „Worum handelt es sich?“ „Sehen Sie, ich bin hier auf der Durchreise und das erste Mal in Moskau. Gestern hatte ich für eine längere Tomeinen sehr höflichen und sehr tüchtigen Fahrer. Mir ist erst nachher eingefallen, daß ich mich bei ihm bedanken sollte. Ich möchte Ihnen schreiben, weiß aber seinen Namen nicht. Ich habe mir nur das Kennzeichen gemerkt – 04-61. Ich glaube, es war ein grauer Wolga.“ „Nein, kein grauer, ein kaffeebrauner. Gefahren hat ihn gestern Jewgeni Latyschew.“ „Vielen Dank. Wann hat er wieder Dienst? Ich könnte mich auch persönlich bedanken.“ „Er hat die zweite Schicht. Das heißt ab vier.“ Tichonow schaute zur Uhr: halb vier. „Serjosha, zu vier hab ich Besuch bestellt. Den Taxifahrer müßtest du übernehmen.“ „In Ordnung.“ Zehn vor vier stand Sergej an der Telefonzelle, fünfzig Meter entfernt von der Einfahrt des Taxihofes. Drei Minuten nach vier rollte der braune Wolga mit dem Kenn-
zeichen 04-61 heraus. Prichodko trat auf den Damm und winkte. Der Wagen bremste. Sergej klappte die Tür zu und sagte: „Zum Zentrum.“ Der stämmige junge Mann am Steuer lachte auf. „Das haut ja heut hin. Gleich vom Hof weg die erste Tour. Dufte!“ „Einer meiner Bekannten pflegt immer zu sagen, jeder Zufall wäre eine unerkannte Notwendigkeit“, versetzte Prichodko. „Ich meine damit, Kollege Latyschew, daß wir uns eigentlich nicht zufällig treffen. Ich habe hier auf Sie gewartet.“ Der Fahrer starrte ihn verständnislos an. „Auf mich? Woher kennen Sie mich?“ „Sehen Sie, das ist so. Ich heiße Prichodko und komme von der Petrowka 38.“ Latyschew sagte: „Es muß sich um ein Mißverständnis handeln. Was soll ich denn verbrochen haben? Ich habe gegen keine Verkehrsregel verstoßen. Seit drei Jahren fahre ich ohne Stempel.“ „Sehen Sie, ich bin nicht von der Verkehrsmiliz, wie Sie wohl annehmen. Ich bin Inspektor der BCHSS, und Verkehrsdelikte gehn mich nichts an, ich möchte Sie als Zeuge einer strafbaren Handlung…“ „Irrtum! Ich bin nie Zeuge einer strafbaren Handlung gewesen!“ „Das können Sie ja gar nicht wissen.“ Prichodko lachte. „Versuchen Sie mal, sich an alle Einzelheiten ihrer gestrigen Fahrten zu erinnern, und erzählen Sie mir alles möglichst genau. Fahren Sie rechts ran, dann können wir plaudern.“ Latyschew ließ den Strom der Wagen vorbei, wechselte vorschriftsmäßig die Fahrspur und parkte gegenüber dem RGW-Gebäude. Einen Augenblick besann
er sich, die Stirn in Falten gezogen, dann erklärte er: „Also, gestern habe ich um drei Uhr angefangen. Zuerst habe ich zwei Fahrgäste von der Dorogomilowskaja nach Kunzewo gefahren, zum Möbelhaus. Da mußte ich warten. Sie kauften einen Leuchter, und es ging weiter zur Bereshkowskaja, bis kurz vorm Heizwerk. Dort habe ich eine Zigarette geraucht und anschließend einen älteren Herrn zur Universität gebracht. Dann, ja, wer kam dann eigentlich? Ah, weiß schon! Ein Mann im blauen Kittel hat irgendwelche Formulare transportiert, Pakete, zur Marossejka. Wir haben sie auf einem Hof ausgeladen. Danach habe ich in der Dsershinskaja im Automaten einen Happen zu mir genommen und später zwei Ausländer zum Belorussischen Bahnhof gebracht. Am Taxistand dort hab ich mich nicht länger aufgehalten, da standen genügend freie Taxen. Ich also zum Zentrum. In der Grusinskaja bekam ich wieder einen Fahrgast, so einen untersetzten Burschen, Glatze, trug einen Sack. Wir fahren nach Shaworonki, sagt er. Also auf nach Shaworonki! Die Fahrt dorthin, auf der Minsker Chaussee, ist ein Vergnügen, und dazu normmäßig ein Geschenk. Dann ging’s wieder zurück nach Moskau, an der Kutusowskaja habe ich eine ältere Frau eingeladen, sie wollte nach Presnja….“ „Soso“, unterbrach Prichodko den erinnerungsfreudigen Shenja, „ich seh schon, Sie haben ein vortreffliches, sozusagen ein professionelles Gedächtnis…“ „Ich kann nicht klagen.“ Latyschew wurde rot. „An Verkalkung leide ich noch nicht.“ ‘ „An den Fahrgast nach Shaworonki erinnern Sie sich noch gut, an den mit dem Sack?“ „Wie an alle andern. In ein bis zwei Wochen wär er mir
wohl aus dem Gedächtnis. Man hat ja mit zu viel Leuten zu tun Tag für Tag, jetzt aber hab ich sein Bild noch gut vor Augen: dickes Gesicht und den Mund voll Metall.“ „Wissen Sie noch den Ort, wo Sie ihn hingebracht haben?“ „Weiß ich ganz genau noch. Wie ich gewendet habe, ist er hinter einer Pforte verschwunden. Den Straßennamen, entschuldigen Sie, weiß ich nicht mehr, ich hab einfach nicht hingesehen. Aber notfalls finde ich das Haus auf Anhieb wieder.“ „Möglicherweise besteht ein Notfall“, sagte Prichodko vergnügt und ging dann unbekümmert zum Du über. „Ich verhehle nicht, Kollege Latyschew, daß du mir sehr geholfen hast. Und du redest von Mißverständnissen…“ Sergej zog einen Stoß Paßbilder aus der Tasche, zählte fünf ab und reichte sie dem Taxifahrer. „Schau mal, ob du deinen Fahrgast mit dem Sack wiedererkennst!“ Latyschew betrachtete sie wieder und wieder und sagte dann mit Bestimmtheit: „Nein, der ist nicht dabei.“ Da reichte Sergej ihm noch drei. „Das ist er!“ rief der Taxifahrer und tippte auf Dshagas Bild. „Der ist gestern nach Shaworonki gefahren.“ „Shenja, was wäre, wenn wir jetzt deine gestrige Route wiederholen?“ Latyschew kraulte sich am Nacken. „Menschenskinder, da hab ich gedacht, ich wär mit der Norm dicke da. Nun brennt sie wieder auf Sparflamme.“ „Begreif doch, Shenja, es ist sehr wichtig. Und vor allem brandeilig. Bis morgen können wir nicht warten, womöglich ist es dann zu spät. Die Fahrt kriegst du von mir bestätigt. Ausfälle sollst du nicht haben.“ Der Fahrer winkte
resigniert ab. „Egal, fahren wir!“ Er schaltete den Zähler ein und zwinkerte schlau: „Wenn mich aber eine weiße Maus schnappt, hoffentlich kann ich auf dich rechnen.“ Der Wagen hielt 100 Meter vor der Datsche, wo Dshaga am Vortag ausgestiegen war. Sie schlenderten an der Pforte vorbei und dann weiter am Zaun entlang. Hinter dem Tor stand ein schwarzer Wolga, und in einer Hängematte vorm Haus schaukelte eine junge, hübsche Frau. Sie sprach mit jemand auf der Terrasse, der von der Straße nicht auszumachen war. Sie schlenderten bis zur Kreuzung hinauf, da reichte Sergej Latyschew die Hand. „Herzlichen Dank, Shenja. Du hast mir eine große Gefälligkeit erwiesen. Ich habe bloß eine Bitte: Behalte das mit unsrer Fahrt für dich. Sollte ich dich noch brauchen, rufe ich an.“ „Verstehe. Aber willst du denn nicht mit in die Stadt zurück?“ „Nein, mein Bester, ich habe hier noch zu tun. Und du fieberst sowieso schon wegen deiner Norm.“ Als Prichodko in den Zug stieg, fielen auf dem Bahnsteig die ersten Regentropfen. Sergej stand im Windfang und schaute auf die nassen Bäume, auf die aufgerissenen Wolken am Horizont. Alles, was er heute erfahren hatte, wirbelte ihm wirr im Kopf herum, und er vermochte es nicht zu einem klaren, logischen Bild zu ordnen. Im Gemeindesowjet war ihm gesagt worden, das Grundstück Maistraße 10 gehöre einer älteren Dame, der Rentnerin Viktorina Karlowna Palmowa, weiland Musiklehrerin. Sie habe das Grundstück vor zwei Jahren erworben und
im letzten Jahr ein neues Haus gebaut. Die junge Frau in der Hängematte hatte doch wohl sichtlich keine Beziehung zu Leuten im Rentenalter. Prichodko zog das Notizbuch heraus und notierte: Klären: erstens, wer wohnt auf der Datsche. Zweitens, wem gehört der schwarze Wolga mit dem Kennzeichen MOI 11-94. Drittens, was kann die Rentnerin Palmowa mit Dshaga zu tun haben. Was für wertvolle Eilfracht, zum Teufel, mochte Dshaga zu ihr gebracht haben, dazu im Taxi, wo er in aller Seelenruhe für dreißig Kopeken per Bahn hätte fahren können. Er ist völlig fertig Die Angst hörte auf, Instinkt zu sein, sie verwandelte sich in ein lebendiges Organ, das, ohne eine Sekunde auszusetzen, in Maulwurf ebenso emsig wie kräftig am Werke war wie Herz, Lunge und Leber. Sogar in seinen Träumen ließ dies Organ ihm keine Ruhe, und das empfand er als besonders beängstigend, weil er ihm in seinen Träumen völlig ausgeliefert war. Sooft Maulwurf nachts schweißgebadet und zitternd aus dem Schlafe fuhr, erhob er sich leise, um Liska nicht zu wecken, schlich sich in die Küche und schlürfte noch und noch, gleich aus dem Hahn, kaltes Wasser. Auf den Balkon wagte er sich nicht hinaus, hockte sich an der offenen Balkontür am Boden hin und rauchte Zigarette auf Zigarette, die Kippen in den Ausguß werfend. Sobald im Treppenhaus das verschlafene Summen des Lifts ertönte, glitt er lautlos ins Zimmer und holte die Pistole aus der Jacke. Die kühle Berührung des Metalls stärkte sein Selbstvertrauen. Der Lift fuhr vorbei, und Maulwurf, die Pistole an das glühend feuchte Gesicht gedrückt, dachte: fauler Zauber! Wenn sie mich
holen, hilft die Kanone auch nichts! Angenommen, ich verschwinde. Und dann? Was wird dann? So vergingen die Nächte. Gegen Morgen schlief er völlig erschöpft ein. Eines Tages wachte er so gegen zwölf auf und sagte sich: Irgendwas muß passieren. Bis der Ausländer auftaucht, schnapp ich über vor Angst. Dieser Balaschow! Der Judas hat den Ausweis aus der Jacke genommen, andere waren ja nicht da! Verloren hab ich den Ausweis nie und nimmer, ich hab ihn gehütet wie meinen Augapfel. Ich muß mich mit Dshaga zusammentun – mich mit ihm besprechen. Dshaga hält zu mir, der verrät mich nicht. Wieviel haben wir beide zusammen durchgemacht! Balaschow hat mir zwar das Ausgehen verboten, aber ich werd schon auf mich aufpassen. Was für ein Mistkerl, dieser Balaschow! Den Hals müßt man dem umdrehn. Ich will es auch tun – lieber allein sein! Mir ist jetzt nicht mehr nach dolce vita zumute. Den versprochenen neuen Ausweis will ich haben und wenigstens ein Scheibchen von dem Kuchen – und dann weit, weit weg von hier. Die Zeit dehnte sich quälend lang. Der Tag wollte kein Ende nehmen. Maulwurf beschloß, seinen Ausflug auf den Abend zu verlegen: Einmal war er im Dunkeln nicht so zu erkennen, und dann wußte er nicht, wann Dshaga von der Arbeit kam. Morgens um neun verließ der das Haus. In der Bankowskigasse erwischte er ein Taxi, ließ sich im „Gastronom“ absetzen und kaufte zwei Flaschen Kognak, Kisljar. In der Gorkistraße schaute Maulwurf auf das bunte Treiben der Menge und dachte: Es ist, als komm ich von einem andern Planeten. Der Gedanke behagte ihm, und er kostete das Empfinden seiner Einmaligkeit aus und sann darüber bis zu Dshagas Haus.
Dshaga öffnete. Vor Verwunderung bekam er runde Augen. Erwartungsvoll lächelnd, entblößte er zwei Reihen Metallzähne. „Duu?“ „Du hast mich wohl nicht erwartet. Mach’s Maul zu, ‘s zieht! Du darfst mich getrost in die gute Stube bitten!“ „Klar, komm. Ich bin allein.“ Das Zimmer war ungemütlich, der Staub lag fingerdick, in den Ecken häufte sich allerhand Gerümpel. Auf dem Tisch standen eine leere Flasche und Reste vom Abendbrot. Dshaga zuckte die Schultern und sagte: „Zum Wodka kommst du zu spät, ansonsten kannst du zugreifen.“ Grinsend stellte Maulwurf die Flasche Kognak auf den Tisch. „Was hilft’s, mein Leben lang habe ich im Kino den Anfang verpaßt.“ Dshaga wurde von freudiger Geschäftigkeit ergriffen, schwenkte eilfertig im Zimmer herum. „Moment, ich schaff nur ein bißchen Ordnung.“ Maulwurf schnalzte verächtlich mit den Fingern. „Räum das Zeug vom Tisch.“ „Wird sofort besorgt, mein Lieber. Wie in der Kneipe sollst du’s haben.“ Maulwurf nahm den saubersten Stuhl, setzte sich, schlug ein Bein übers andere, steckte eine Zigarette an. „Wie steht’s, Dshaga? Schiebst du immer noch kleinklein, nach dem Motto, Gott läßt Tag werden und gibt jedem das Seine?“ „Ach du liebe Güte! Nicht die Bohne hab ich die letzte Zeit verdient. Ich sitz völlig blank.“ „Nicht Geld macht glücklich“, sagte Maulwurf vergnügt.
Dshaga schaute ihn verblüfft an. „Hör doch damit auf! Was denn sonst?“ „Die Freiheit des Geistes.“ Maulwurf lachte. „Doch das ist zu hoch für dich.“ „Allerdings“, willigte Dshaga ein. „Wenn was ist, spunnen sie nämlich meinen Körper ein.“ ‘ „Was denn, so ohne weiteres?“ Maulwurf zog eine Grimasse. „Wir haben doch einen Chef, einen hochintelligenten Mann, wie du doch selber gesagt hast. Der wird das doch nicht zulassen?“ „Freilich, Viktor Michalytsch ist ein kluger Kopf, doch manchmal, weißt du, wandert das Glück von den Klugen zu den Gimpeln.“ „Von ihm zu uns jedenfalls wandert es nicht, das laß dir gesagt sein.“ „Wer weiß?“ Dshaga wusch Teller in einer Schüssel, stellte sie auf den Tisch und heftete den Blick auf Maulwurf. Maulwurf dachte: Ob er wohl weiß, daß ich den Alten in Odessa umgelegt habe. Wenn ja, wird er mit mir kaum gegen Balaschow gehn. So ein Kumpan mag ihm nicht liegen. Er packte die Flasche, schlug unten mit aller Wucht dagegen, der Pfropf flog heraus, und goldgelbe Flüssigkeit gluckste auf den Tisch. Maulwurf zog das weiße Tüchelchen aus der oberen Jackettasche und wischte am Rand des Glases entlang. „Trink, Junge, und sei nicht so mäklig.“ Dshaga lächelte. „An Dreck ist noch keiner gestorben, Sauberkeit hat noch niemand von den Toten erweckt.“ „Mach keine Sprüche.“ Maulwurf verzog das Gesicht. „Hör lieber zu, was ich dir sage. Wir sind alte Freunde, und ich traue dir. Wenn du mich aber aufs Kreuz legen willst, dann sollst du mich kennenlernen…“
„Junge, Junge, was du zusammenspinnst“, grunzte Dshaga beleidigt. „Darauf trinken wir einen, prost!“ Sie tranken, kauten Zitrone, und Maulwurf setzte sich bequemer. „Ich werd dir mal eine Geschichte erzählen, und du sollst raten, was sie sagen will. Auf einer kleinen Station sitzen drei Männer, sie warten auf den Zug und trinken Bier. Der eine hat in der Tasche Papiere, Fahrkarte und Geld, und die andern führen die Laus auf Stelzen und den Floh an der Kette spazieren. Der erste also, der Freier, sitzt da und philosophiert: ,Egal, Jungs, ich warte auf den Zug, und ihr wartet, vielleicht habt ihr Glück, und ihr könnt unter einem Waggon mitfahren. Das ist so schlimm nicht, ihr seid ja Vagabunden.“ „Na und?“ „Was na und?“ „Sind sie mitgekommen?“ „Aber gewiß. Kurz bevor der Zug kam, gingen sie zusammen aufs Klo, nahmen dem Freier Fahrkarte und Geld ab und sperrten ihn dort ein.“ „Und du bist mit dem Zug abgedampft?“ „Vielleicht ich, vielleicht ein anderer. Unwichtig. Kapee?“ „Die Vagabunden, das sind wir. Bloß ist Viktor Michalytsch kein Freier. Ihn kannst du nicht ins Klo sperren. Und ich will dir ganz offen sagen: Ich seh keinen Grund, mich von ihm zu trennen. Er hat Köpfchen!“ „Und wenn ihm auf einmal einfällt, sich von dir zu trennen? Plötzlich rappelt’s bei ihm, und du kriegst einen Tritt…“ Dshaga kippte noch ein Glas, zog eine Flappe, winkte ab. „Und wenn! Ein bißchen habe ich ja auf der
Kante, ich komm auch so durch.“ Maulwurf maß ihn mit verächtlichem Blick und spöttelte: „Soso! Was du für ein großer Mann geworden bist! Früher warst du so“ – er deutete mit der Hand in Höhe des Hockers –, „und nun bist du gewachsen, schau!“ Maulwurf hob die Hand fünf Zentimeter. „Mein lieber Genka, du darfst mich nicht mir dir vergleichen. Du bist jung, kerngesund, die Mädels sind hinter dir her, du lebst einen schönen Tag, brauchst eine Menge Mäuse. Was sollte ich damit anfangen? Die Weiber habe ich längst abgeschrieben, ich bin ein alter Mann.“ „Spiel nicht den Bedauernswerten! Er braucht kein Geld! So ein Jesus Uneigennütz hat mir grad noch gefehlt. Tisch lieber was Ordentliches auf.“ „Wirklich, außer dem, was auf dem Tisch steht, ist nichts da. Du weißt doch, ich esse nie zu Hause…“ Maulwurf grinste hinterhältig. „Bloß Gabelbissen zum Wodka, was?“ „Genauso, Genka.“ Dshaga stürzte hoch ein Glas hinunter. Maulwurf sah mit Abscheu auf ihn, stand auf und sagte mit einem inbrünstigen Seufzer: „Junge, Junge, ist mir mulmig.“ „Dann geh hin und mach dir einen Spaß, sonst kommst du so bedripst nach Hause, und deine Madam murrt.“ „Von ihr weißt du auch?“ fragte Maulwurf feindselig. „Allerdings, Genka. Warum auch nicht?“ „Du weißt viel. Das ist mitunter nicht gut. Paß bloß auf, du tanzt auf einem Seil.“ „Was soll man tun, Genka! Ich arbeite mein ganzes Leben ohne Netz.“ Maulwurf saß und merkte, wie er berauscht wurde, das
Gespräch nicht gelang und Dshaga letzten Endes Balaschows Seite hielt. Das Gefühl einer solchen Hoffnungslosigkeit ergriff ihn, daß er am liebsten geheult hätte. Wie ich sie alle hasse! Wäre ich nicht ein so dummes Schwein, ich hätte neulich Korshajews Koffer mitgehen lassen! Dann hätte ich Geld, Papiere, hätte mir keine nasse Sache aufgehalst, brauchte nicht mit der ewigen Angst herumzulaufen, an die Wand gestellt zu werden… „Hör mal, Dshaga, weißt du nicht, wie eine Exekution so vor sich geht?“ fragte Maulwurf gleichgültig. „Lieber Himmel! Weißt du, mir hat mal ein Krebser auf Transport erzählt, daß Todeskandidaten auf Einzelzelle liegen. Und zwei Stunden vor dem Ende wird in der Zelle ein Licht angesteckt, und alle fünfzehn Minuten wird ein Gong geschlagen.“ „Aufhören! Aufhören, du Scheißkerl!“ Dshaga zuckte zusammen und sagte ruhig: „Was trompetest du denn wie ein Walroß! Mim nicht den Verrückten, für unsere kleinen Dinger wird keiner erschossen.“ Maulwurf stand auf, schaute in den fleckigen Spiegel. Sah in seinen Augen Angst und Hoffnungslosigkeit. Dachte: Kehr ich also wieder zurück auf meine Bude und mach mich kaputt. Und morgen wird wieder so ein langer mieser Tag sein, sture Stille, Hoffnungslosigkeit und Angst – und das so ohne Ende. Er wandte sich zu Dshaga und schrie: „Wie ich euch alle hasse!“ und stürzte aus dem Zimmer. Die Wohnungstür knallte. Dshaga durchquerte das Zimmer, schaute zum Fenster hinaus, kippte den Rest Kognak, dann verließ er die Wohnung. Im Telefonhäuschen an der Ecke wählte er eine Nummer und flüsterte, Hand überm Mund, in die Muschel: „Viktor Michalytsch? Maulwurf war eben da. Er ist völ-
lig fertig.“ Der Schuß auf das letzte Quadrat An diesem Morgen beschloß Tichonow Bilanz zu ziehen. War es nicht purer Leichtsinn gewesen, sich bei der Suche nach Hinkepink auf Uhrmacherkreise zu beschränken? Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand indessen schien dies erfolgversprechend. Und nun sollte es doch verkehrt gewesen sein? Sah es nicht so aus, als ob Hinkepink zwar ein Ersatzteilschieber größten Formats war, doch nach Art seiner Tätigkeit nichts mit Uhrenproduktion oder Reparaturen Korshajews zu tun hatte? Eine Verbindung zwischen Hinkepink und Dhaga festzustellen war nicht gelungen, Maulwurf alias Kostjuk blieb spurlos verschwunden. Außer der verdächtigen Fahrt nach Shaworonki hatte sich, was Dshaga anging, kein weiterer Anhalt ergeben. Doch eine Schieberbande existierte, und daß darin Dshaga, Maulwurf und der unbekannte Hinkepink zusammenwirkten, konnte keinem Zweifel unterliegen. Seit seinem Besuch beim Staatsanwalt Sacharow, der in Sachen Dshaga das letzte Mal die Ermittlungen geleitet hatte, stand für Tichonow vollends fest, daß Dshaga in diesem Fall die kleinste Rolle spielte. Sacharow hatte berichtet, daß schon seinerzeit, als gegen Maulwurf und Dshaga die Voruntersuchungen liefen, Mossin gänzlich unter dem Einfluß Kostjuks stand. Sacharow meinte, daß Mossin zwar nicht sehr intelligent, aber dafür gerissen und störrisch wie ein Esel sei und Kostjuk intelligent und berechnend. Seine Beherrschung sei bewunderungswürdig gewesen, und den ganzen geschäftlichen Teil der Gaunereien habe er in der Hand gehabt. Dshaga habe
lediglich dessen Aufträge ausgeführt und ganz offenkundig widerspruchslos. Gegenwärtig jedoch, wie es den Anschein hatte, spielte auch Maulwurf hier nicht die erste Geige. Nein und abermals nein! Man mußte Hinkepink finden. Hier lag der Schlüssel zu dem ganzen Fall. Obwohl sich nicht behaupten ließ, daß Hinkepink der Boß war. Von ihm aus jedenfalls schien man der Lösung dieses Rätsels am nächsten. Indessen war Hinkepink vorläufig nicht greifbar. Fand Prichodko heute nichts Neues über Hinkepink heraus, mußte man Mut beweisen und an die Ausgangsposition zurückkehren, um neue Wege zu verfolgen und Dshagas Kontakte in Erfahrung zu bringen. Tichonow erinnerte sich, wie er in seiner Kindheit Seekrieg gespielt hatte. Auf hundert Planquadraten waren fast alle gegnerischen Schiffe vernichtet, nur ein U-Boot blieb unauffindbar, ohne dieses war das Spiel nicht gewonnen. Noch ein paar Fehlschüsse, und der Feind würde unbesiegt abdrehen. Damals jedoch hatte man gespielt, jetzt war der Feind echt, nicht auf hundert Planquadrate beschränkt und vermochte mit der Beute ein für allemal zu verschwinden. Das letzte Quadrat nahm Prichodko an diesem Tag unter Feuer. „Weißt du was, Stas“, berichtete er angeregt, „ich habe mir die Krankenkarte des Leiters der Garantiewerkstatt angesehn, dort heißt es, er ist Schwerbeschädigter der Gruppe 3, Invalidenrentner. Schön, denk ich mir, schau ich mir mal seine Rentenakte an. Ich fahre zur Sozialfürsorge und sehe, du lieber Himmel, voriges Jahr hat Balaschow sieben Monate lang seine Rente nicht abgeholt! Er kam erst nach Aufforderung. Dabei, mußt du wissen, hat er damals nicht gearbeitet, seine einzige Existenzquelle hat er schlankweg vergessen. Er hat nie viel verdient im Leben. Man
erzählt allerdings, er fährt einen nagelneuen Wolga, im Sommer lebt er außerhalb der Stadt, scheint eine eigene Datsche zu haben. Seine Frau arbeitet nicht und hat auch nie gearbeitet.“ „Und das Kennzeichen des Wolga?“ fragte Tichonow. „Wie soll es schon sein – MOI 11-94.“ Sergej grinste. „Bester Kintopp.“ Tichonow überflog den Auszug der Rentenakte. Prichodko sagte: „Das Allerschönste kommt aber erst noch. Nimm mal meinen Bericht über die Fahrt des Taxifahrers Latyschew nach Shaworonki zur Hand.“ „Na und?“ „Sieh dir die Auskunft des Gemeindesowjets an.“ „Aha! Das Grundstück Maistraße 9 gehört der Palmowa. Palmowa? Viktorina… Moment! In deinem Auszug aus der Rentenakte heißt es doch, Balaschows Mutter sei eine Viktorina Karlowna Palmowa? Haben wir ihn wirklich gefunden?“ fragte Tichonow. „Wenn wir zudem berücksichtigen, daß ich gestern abend auf der Datsche Viktorina Karlownas den Wolga MOI 11-94 gesehen habe, dann möchte man meinen, daß wir mit dem Vortrieb unserer Stollen richtig liegen.“ „Sonnenklar! Aber siehst du denn nicht, du Fischblut, daß wir nicht irgendeinem hinkenden Mann, sondern dem gesuchten Hinkepink auf der Spur sind?“ „Ich habe es geahnt.“ Prichodko nickte unerschütterlich. „Du schaffst mich noch! Jetzt ist doch klar, zu wem Dshaga in der Maistraße 9 gefahren ist! Wie wir uns jetzt entfalten werden!“ „Entfalten ist gut!“ Sergej lachte. „Jaja, wir haben zu tun noch genug: Die in Odessa haben den Mord an Korshajew aufzuklären und wir hier die ganze Bande auszuhe-
ben.“ „Ich glaube, wir sind in die Zielgerade eingebogen.“ Tichonow stand auf. „Zunächst nimm seine Werkstatt unter die Lupe. Ohne alles Aufhebens natürlich. Sodann darf von heute, spätestens von morgen an Balaschow keinen Schritt mehr unbeobachtet tun, sonderlich in der außerdienstlichen Zeit. Mir scheint, als ob er vornehmlich während dieser Zeit seinen ganzen Elan aufbietet.“ Buchhaltersinfonie Indem er an das Mißverständnis mit Brodjanskis Werkstatt anknüpfte, einigte sich Prichodko mit dem Direktor des Uhrenwerkes rasch über die Durchführung einer Inventur in der Garantiewerkstatt. „Wir können Ihnen das Ergebnis in zweierlei Weise vorlegen“, erklärte der Revisor, ein energischer junger Mann mit dem Absolventenabzeichen der Universität. „In Form eines Endbetrages, was wesentlich schneller geht, und der nach Warenpositionen – dazu brauchen wir aber anderthalb Wochen.“ „Machen Sie, wie’s am schnellsten geht“, erwiderte Prichodko. „Wir müssen mit der Werkstatt 86 so schnell wie möglich fertig werden, und ohne Ihr Ergebnis hängen wir in der Luft.“ Prichodko dachte, daß er ja sein brennendes Interesse an Balaschows Geschäften durchaus nicht zur Schau stellen mußte. Sollen sie meinen, wir erledigen eine bloße Formalität, dachte er. Eine Aufschlüsselung nach Warenpositionen können wir ohne weiteres selber vornehmen, sobald das Inventurergebnis vorliegt. In Balaschows Werkstatt herrschte mustergültige Ordnung. Und so konnten die Revisoren der Zentralbuchhaltung bereits
nach zwei Tagen das Ergebnis der Inventur vorlegen. Alles tipptopp, lautete das Urteil der Revisoren. Und in der Tat, unter dem Strich entsprach das Ersatzteilsoll genau dem Haben. „Wunderbar!“ sagte Prichodko und bat die Gruppe erfahrener Revisoren, in seinem geräumigen Arbeitszimmer Platz zu nehmen. „Und jetzt werden wir mit diesen Zahlen ein bißchen Magie betreiben. Sehen wir uns an, was sich hinter diesen unangreifbaren Zahlen verbirgt.“ Er wußte nur zu gut, daß ein Zerlegen der Zahlenharmonie oftmals zu frappierenden Ergebnissen führte, daß hinter den schönen Kolonnen vieler Zahlen nicht selten aufregende Bilder hervortraten. Was für ein Unterschied schon, pflegte Prichodko in derlei Fällen zu spotten, ob ein Tiger oder hundert Katzen! Der Wert ist derselbe, und alle mauzen sie… „Sie belieben immer zu scherzen“, hatte einmal der Direktor eines Industriewarenlagers, ein Erzgauner, zu Sergej gesagt, „aber wirklich und wahrhaftig, wo ist der Unterschied? Die Mädchen vom Lager haben eben die Waren nicht richtig registriert. Der Staat hat doch keine Einbuße erlitten, ihm sind die Einnahmen bis zur letzten Kopeke zugeflossen…“ „Das mag schon sein, verehrtester Alexej Iwanytsch“, erwiderte Prichodko belustigt, „bloß wie wollen Sie erklären, daß Ihr Bestand an Ladenhütern übergroß ist, während die gängigen, die Mangelwaren fehlen. Beispielsweise sind wattierte Jacken für 4000 Rubel zu viel da, und Wollpullover fehlen für denselben Betrag.“ Der Direktor zuckte verständnislos mit den Schultern. „Wie das nur kommt?“ „Tun Sie nicht so erstaunt, Alexej Iwanytsch. Ich kann
Ihnen das Geheimnis lüften. Die Wattejacken hat Ihnen die Näherei, der Schelm Schura Terechow, um den drittel Preis abgelassen, ohne Lieferschein sozusagen. Die Wollpullover haben Sie innerhalb einer Woche an Schieber abgesetzt, über Mittelsleute, mit Aufschlag, versteht sich. Sie hatten für 100 000 Rubel Ware am Lager, und für 100 000 Rubel sind es immer noch, aber Sie hatten einen doppelten Gewinn – die Bilanz stimmt, niemand kann Sie einen Betrüger nennen. Auch wir nennen Sie nicht so“, schloß Prichodko hart. „Wir haben dafür ein anderes Wort: Langfinger – oder genauer gesagt: Wirtschaftsverbrecher.“ Prichodko wurde von allen operativen Aufgaben freigestellt. Er sortierte von früh an mit den Revisoren Warenlisten, holte aus dem Schrank Rechenmaschine und Rechenbrett, und dann ging’s los! Sie subtrahierten, multiplizierten, addierten, Sergej notierte, strich, liniierte Blätter und füllte sie nach und nach mit Zahlenkolonnen. Fortwährend kamen Mitarbeiter seiner Abteilung herein, kochten Tee auf der Kochplatte, witzelten, und Tichonow sagte in vollem Ernst: „Hast du denn überhaupt noch deine Pistole, Sergej? Oder trägst du eine Rechenmaschine an der Hüfte?“ Sie frotzelten beständig. Doch wußte jedermann, daß Prichodko jetzt mit dem Wichtigsten beschäftigt war. Prichodko rechnete. Rechnete tags, rechnete abends. Schritte und Gespräche verstummten in den endlosen Gängen des Amtes. Die Rechenmaschine schepperte, und die Kugeln des Rechenbretts klapperten wie Kastagnetten. „Nichts gegen die Buchhalterei“, sagte Prichodko selbstgefällig, als er ein paar Tage darauf mit Tichonow in Schadrins Zimmer trat. In der Hand schwenkte er einige
kreuz und quer mit Zahlen bedeckte Bogen Papier. „Schauen Sie, Boris Iwanytsch, hier habe ich den Entwurf einer Gegenbilanz von Balaschows Werkstatt. Ziemlich verschmiert, gewiß, doch im Ergebnis richtig, dreimal geprüft.“ Schadrin verließ die gewohnte Beherrschung. „Strapazier mir nicht die Nerven! Was hast du herausbekommen?“ fragte er nervös. „Herausbekommen?“ Prichodko lachte. „Herausbekommen habe ich folgendes: Allein in den letzten drei Monaten hat sich bei Balaschow ein Überbestand diverser Uhrenteile im Werte von 4789 Rubel angesammelt.“ „Schön was zusammengeramscht hat er!“ sagte Tichonow stolz. „Das ist aber noch nicht alles“, fuhr Prichodko fort. „Für denselben Betrag fehlen bei ihm andere Teile.“ „Für welche Uhrenmarken?“ fragte Sehadrin gespannt. „Nichts Aufregendes“, versetzte Prichodko leise, indem er schlau ein Auge zukniff. „Alle fehlenden Teile gehören zur Stoliza!“ Kinder brauchen frische Luft Die Elektrolok heulte auf, rasselte in allen ihren metallischen Gelenken und fuhr davon. Die wenigen Fahrgäste verliefen sich rasch auf dem Bahnsteig, nur zwei blieben unter dem großen weißen Schild mit der Aufschrift Shaworonki zurück: eine junge Frau und ein stubsnäsiges Mädchen, etwa acht Jahre alt. Die Frau hielt das Mädchen fest bei der Hand, und das bemühte sich fortwährend, ihr in die Augen zu sehen. „Mama, sag schon warum!“ „Moment, du Wildfang, laß uns wenigstens erst schauen,
wo wir lang müssen. Ah, ich glaub rechts.“ Sie verließen den Bahnsteig, überquerten die Gleise und gingen auf der schmalen Landstraße zur Datschensiedlung, die gleich hinter einem Feld in einem kleinen Wäldchen begann. „Mama, Mama! Sag doch, wieso?“ Die Frau lachte… „Rate doch mal!“ „Für die Eins in der Schule? Oder weil ich helfen soll? Ja? Oder weil ich selber den Kragen an die Bluse genäht habe?“ Die Frau machte ein ernstes Gesicht, „Erst fang mich, dann sag ich’s.“ Damit stürmte sie los. Das Mädchen stutzte kurz und stürzte dann hinter der Mutter her. Holte sie im Nu ein, und sie liefen zu zweit, Hand in Hand. Am Wäldchen blieb die Mutter stehn. „Bringen wir uns erst in Ordnung. Solche Struwwelköpfe läßt ja niemand rein. Du siehst aus wie ein Clown.“ „Und du wie meine Puppe, die Bauersfrau.“ Die dunkelgelockten, zu zwei Zöpfen geflochtenen Haare des Mädchens waren aus den Schleifen gerutscht und klebten in verschwitzten Ringeln auf der Stirn. Die Mutter kämmte das Mädchen. Dann schlang sie das eigene volle Haar im Nacken zu einem ordentlichen Knoten, und sie zogen weiter. „Mama“, ließ das Mädchen nicht locker, „du hast doch selber gesagt, ich soll ins Lager fahren. Hast du das gesagt? Und jetzt hast du Urlaub genommen und gehst mit mir auf die Datsche. Hast du mich absichtlich so angeflunkert? Ja? Und kommst jetzt mit, weil ich immer brav war?“ „Weil du auf dem Bahnhof nicht gebettelt hast, du möchtest Eis haben, dann hättest du wieder eine Halsentzündung gehabt, und mit den Ferien wär’s aus gewesen.“ „Ich will es ja auch nie wieder essen! Ich mag es ja gar nicht!“ plapperte die Kleine.
Zur Linken der Straße begannen die Datschen. Die Frau streifte sie mit einem Blick und las die Schilder an den Zäunen. „Mama, wo ist denn nun unsere Datsche?“ „Gleich sind wir da. Wir beide brauchen ja bloß ein Zimmer.“ „Mama, und zwei Bäume, um die Hängematte aufzuhängen. Papa hat doch geschrieben, du möchtest mir eine Hängematte kaufen, und er wird eine Schaukel schicken.“ Gemächlich kam ihnen eine ältere Frau mit einem Kinderwagen entgegen, sie las im Gehen ein dickes Buch. „Oma, wo wird hier denn ein Zimmer mit zwei Bäumen vermietet?“ fragte das Mädchen. Die Frau blieb stehen und blickte sie belustigt an. „Nein, liebe Leute, hier vermietet niemand. Hier wohnen fast nur kinderreiche Familien. Gehn Sie nur weiter, dort können Sie vielleicht ein Zimmer finden.“ Sie deutete vage zur Siedlung. Sie gingen weiter und blieben vor einem blaugestrichenen Zaun mit schönem Schnitzwerk an Tor und Pforte stehen. Es war ein schönes schattiges Grundstück, saubere Wege führten zu Haus und Steingarage in der Tiefe des Hofes. Hinter dem Haus befand sich ein Anbau. Die Frau stand, überlegte, dann nahm sie das Mädchen bei der Hand und ging zur nächsten Datsche. Sie klingelten an der Pforte. Eine rundliche Frau öffnete und maß sie mit unfreundlichem Blick. „Entschuldigen Sie, würden Sie eventuell ein Zimmer vermieten?“ Das Mädchen versteckte sich hinter der Mutter. „Wenn sich das Mädchen mal die Augen sauberwischen wollte, damit sie nicht so rabenschwarz sind, dann hätte ich ein Zimmer im ersten Stock. Wie heißt du denn, Mohrchen?“
„Aljonka.“ „Und ich Maria Fominitschna“, sagte die Frau und wandte sich zur Mutter. „Ihr Mädchen ist ja schon groß, es kann schon munter die Treppe rauf- und runterspringen, wir müssen ein paar Sachen rauf schaffen, Bettwäsche und so. Ein Bett steht ja drin, ein Klappbett können wir dazustellen, Geschirr hab ich in der Küche genug, Sie können sich bedienen. Und wenn Ihr Mann kommt, werden wir weitersehen.“ „Der wird kaum kommen.“ Walja schüttelte den Kopf. „Der befindet sich auf einer längeren Dienstreise.“ „Da sieht man’s mal wieder, alles ist auf Reisen. Bloß ich sitz mein Leben lang hier wie angewurzelt. Meine Kinder sind in den Süden gefahren, sie wollten ans Meer, ihnen gefällt’s hier nicht. So werd ich halt die Aljonka statt meiner Enkel vier Wochen da haben.“ „Hallo! Wenn ich mich vorstellen darf: Alla ist mein Name.“ Der Feriengast in der Hängematte hob den Kopf und schaute über die Hecke zu der hübschen, braungebrannten Frau in kurzen Ledershorts und flottem Hawaiihemd. „Ich heiße Walja.“ „Ich bin Ihre Nachbarin. Das ist unsere Datsche.“ Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf das Haus. „BeiMaria Fominitschna werden Sie es sicher blendend haben, sie ist eine famose Frau, Schade, daß wir nicht die erste Etage vermieten: allein ist es doch recht langweilig! Jetzt, wo Sie da sind, habe ich ja Unterhaltung^“ „Ich liege aber gern in der Hängematte.“ Walja lächelte. „Ich werde Sie schon aufscheuchen“ sagte Alla und lief in die Küche, während Walja das Buch, nahm und sich
rekelte. Das Angenehme mit dem Nützlichen, verbinden, dachte sie und vertiefte sich in die Lektüre. Aljonka hatte in Maria Fominitschnas Garten drei Kaninchen entdeckt und war von ihnen nicht wegzubringen. So verging der Tag ruhig träumerisch, und sorglos. Ein gewöhnlicher Datschentag. Gegen sieben fuhr vor der benachbarten Datsche ein schwarzer Wolga vor, und Walja sah Alla zum Tor laufen. Der Wagen rollte aufs Grundstück, der Motor jaulte auf und verstummte, der Wagenschlag klappte, ein Mann in mittleren Jahren stieg aus, leicht meliert, einfach, doch geschmackvoll, gekleidet, „Das ist ihr Mann“, murmelte Maria Fominitschna an Waljas Ohr. „Ein anständiger Manns, fürsorglich, häuslich, trinkt nicht, sagt nie ein böses Wort. Schade, daß sie keine Kinder haben, es wäre ihnen zu wünschen…“ Balaschow trat kurz darauf in elegantem Pyjama aus dem Haus und setzte sich in einen flachen Sessel, einen winzigen Transistorapparat in der Hand. Jazz dudelte. Man sah wie müde und doch konzentriert Balaschows Miene wirkte. Dann aß er mit Alla in der natürlichen Laube. Balaschow sagte; „Ich glaube, wir haben noch von dem Camus da? Gieß mir doch einen ein. Ich bin heut abgespannt. Mach den Kaffee extra stark.“ „So spät noch? Dann kannst du doch nicht schlafen.“ „Egal, ich muß den Kopf von dem ganzen Ärger mal freibekommen,“ Balaschow lehnte sich im Sessel zurück und genoß in kleinen Schlucken den würzigen goldgelben Kognak. „Wer ist diese Frau?“ Alla hob den Kopf. „Welche?“ „Da, bei der Alten.“
„Ach so, das ist der neue Feriengast von Maria Fomitschna. Eine sehr nette Frau, mit Kind.“ „Ich mag keine Feriengäste.“ Alla schaute ihn nachdenklich an. „Sag mal, Witja, wen magst du überhaupt?“ „Dich beispielsweise.“ Alla antwortete nicht, schüttelte bloß den Kopf. Balaschow stand auf. „Morgen wird mein Mechaniker herkommen, der Jurka. Du kennst ihn schon, er war mit mir hier und hat die Werkbank gebracht. Er wird ein paar Tage bleiben. Dringende Terminarbeit…“ Die Zauberbrille Am Morgen lag Walja wieder im Liegestuhl und schmökerte. Plötzlich hörte sie eine Männerstimme. Sie hob den Blick – auf Balaschows Grundstück harkte ein langer stämmiger Mann das Laub auf den Wegen zusammen. Er kehrte Walja den Rücken zu. Sie sah den fast kahlen Rundkopf und einen dicken Hals. Der Mann harkte das Laub zu einem Haufen, warf Bruchholz und trockene Äste dazu und verschwand im Haus. Walja vertiefte sich erneut in ihre Lektüre. Zu Abend aßen die Balaschows in der Laube mit ihrem Besucher. Anscheinend entbrannte dort eine heftige Auseinandersetzung. Alla warf die Serviette auf den Tisch und stürmte wütend in die Küche. Wenig später folgte Balaschow. Der Besucher blieb allein in der Laube. Er rauchte, verschwand im Haus, tauchte wieder mit einem großen Papierpaket auf, stand da, überlegte, lief ums Haus und warf das Paket auf den am Morgen zusammengeharkten Haufen Laub. Laut schnaufend hockte er sich hin, riß
Streichhölzer an blies in die auf knisternde Flamme. Sich die Brust schubbernd, sah er ins Feuer, dann spuckte er aus und ging schlafen. In der stillen Abendluft über den Datschen schwebten blaue Rauchschwaden mit scharfem Geruch. Am nächsten Morgen beim Frühstück knurrte Maria Fominitschna mißmutig: „Der Glatzkopf hat gestern das ganze alte Zeug verbrannt, der Qualm hat einem ja die Augen zerfressen. An den Zaun hätte er’s lieber kehren sollen, damit’s dort fault und der Boden sein Gutes davon hat. Aber die säen ja nichts, was interessiert sie der Boden! Was für ein Kerl das ist, zum Fürchten! Haben Sie ihn mal gesehen? Ich bin ja schon der reinste Kinderschreck, aber das ist eine Fratze, Allmächtiger!“ „Du bist kein Kinderschreck, Oma, ich mag dich sehr“, schaltete Aljonka sich ein. „Gibst du mir dein Pionierwort, daß du mich magst? Ja?“ „Ich geb mein Pionierwort.“ „Dann schenkt dir die Hexe mit der Krücke auch diesen Zauber.“ Sie lächelte und reichte dem Mädchen etwas Brillenähnliches – ein Stück dünnes Glas mit gleichmäßig runden Löchern. „Durch diese Brille siehst du, wer die Wahrheit spricht und wer lügt. Und Mama bekommt diese, damit du sie nie beschwindeln kannst.“ Die Alte kramte aus der Tasche ihrer Schürze eine zweite Brille hervor. „Wo haben Sie die denn her, Großmutter?“ fragte Aljonka. Die Alte deutete mit der Faust hinüber zur Nachbardatsche. „Aus dem Tempel geholt!“ „Im Ernst, Maria Fominitschna, wo haben Sie nur diese spaßigen Brillen aufgetrieben?“ „Wie ich heut in aller Früh aus den Federn bin, hat mir noch immer dieser gestrige Rauch in der Nase gesteckt. Mein Gott, denk ich, qualmt denn der verflixte Haufen
immer noch. Und da hab ich in der Asche ein paar dieser lustigen Dinger gefunden. Abendlicher Besuch Am Abend schaukelte Walja Aljonka in der Hängematte, und die, wie immer, schnatterte unaufhörlich. Die Nachbarn, Balaschow und Alla, tranken in der Laube Tee. Der Besucher war schon wieder abgefahren. „Mama, näh dir doch so einen schönen Morgenrock, wie ihn Tante Alla hat. Und wenn ich groß bin, Mama, kaufst du mir auch solche Hosen und solche Schuhe.“ Waljas Blick folgte dem ihrer Tochter. Von der Pforte zu Balaschows Datsche hinauf ging ein hübsches schlankes Mädchen. Sicher Alias Freundin, dachte Walja. Das Mädchen schritt zur Laube und grüßte. Balaschow stand sofort auf und führte sie ins Haus. Alla blieb am Teetisch zurück. Fünf Minuten später traten sie aus der Veranda. Die Besucherin sprach noch einige Minuten mit Alla, doch bot Balaschow ihr nicht mal einen Stuhl an, und das Mädchen verabschiedete sich. Als Balaschow die Pforte öffnete, sagte er klar vernehmlich: „Schön, bis morgen; richten Sie ihm aus, ich komme.“ Er schloß die Pforte wieder und kehrte zur Laube zurück. Walja sah zur Uhr: Viertel vor neun. „Maria Fominitschna, wenn Sie bitte noch mal nach Aljonka schauen könnten. Ich will rasch telefonieren gehen, irgendwie bin ich in Unruhe: eine ganze Woche keine Nachricht.“ „Sie wissen doch, daß hier nichts passiert. Du enttäuschst mich doch nicht, Mohrchen?“ Die Alte schaute Aljonka an. „Wenn du mir ein Märchen erzählst, geh ich auch gleich ins Bett“, sagte das Mädchen schlau. „Also dann marsch nach oben!“
Walja ging eilig zum Bahnhof. Der Bahnsteig war fast leer. Wenige Leute saßen in Erwartung des Zuges auf den Bänken. Walja betrat die Telefonzelle, wählte, vier kurze Zeichen, besetzt. Sie wählte erneut, wieder besetzt. Dabei könnte sie jetzt so gut reden – niemand war in der Nähe der Telefonzelle. Endlich lange Summtöne, im Hörer ein Knacken. „Tag, Boris Iwanytsch! Hier Radina.“ Wieder ein Blick in die Runde, „Schön, Walja. Wie steht’s bei Ihnen dort? Ich komme um vor Langeweile. Sie nicht? Da haben Sie’s! Was machen meine Brillen? Interessanter Fund? Das freut mich aber! Sonst lieg ich ja nur da und pausiere, als wäre ich zur Kur. Was? Alles beim alten. Unsere Bekannten sind alle da. Was? Nein, nein, mehr haben sie nicht verbrannt;“ Wieder ein Blick in die Runde: niemand in der Nähe. „Heute ist eine interessante Dame gekommen.“ Walja berichtete eingehend über den abendlichen Besuch. „Ja, so hat er gesagt: Bis morgen; richte aus, daß ich komme. Ich glaube, das eilt. In Ordnung. Aljonka? Sie schläft. Mit der Wirtin habe ich unwahrscheinliches Glück gehabt. Was? Hören Sie auf, hier läuft alles ausgezeichnet, kein Grund zur Aufregung. Ist Vitali zurück? Hat er angerufen? Wie kommt er zurecht ohne mich? Sicher hat er nichts zu essen. Sagen Sie ihm, ich bin bald wieder da. Sagen Sie, Aljonka langweilt sich enorm ohne ihn und hofft, daß er ihr die Schaukel rausschickt; Jawohl, weiter Urlaub machen, Genosse… Schön, Boris Iwanytsch! Ich danke für die Grüße, Grüßen Sie auch alle von mir…. Bis dann!“ Walja verließ den Bahnsteig und ging ohne Eile zurück.
Die Einkäufer nicht verpassen! Resümee des gerichtlich-technologischen Gutachtens: „Ich, Gutachter und Technologe der Uhrenindustrie, A. D. Sobolewa, Universitätsabschluß, Beruf Technologe für Plaste, 19 Jahre berufstätig, auf die strafrechtlichen Folgen fälschlicher Aussagen hingewiesen, habe die Untersuchung des, zur Begutachtung vorgelegten Plastmusters, durchgeführt. … Bei Verwendung der im Untersuchungsteil vorliegenden Gutachtens beschriebenen Methodik gelangte Unterzeichnender zu dem Schluß, daß die Muster rechteckige Stücke eines organischen Flachglases mit paarweisen kreisförmigen Öffnungen darstellen, die mittels erhitzter Metallformen (Poincon) ausgestanzt wurden. Die Stärke des organischen Glases in Verbindung mit dem Durchmesser und der speziellen Form der ausgeschnittenen Stücke berechtigt zu der Annahme, daß die beschriebenen Muster Abfälle von handbearbeiteten Gläsern für die Herrenarmbanduhr Marke Stoliza sind…“ „Tüchtig, die Walja!“ sagte Prichodko. „Beeil dich, alter Junge, sonst sind hier keine Lorbeeren mehr zu ernten.“ Tichonow stieß ihn in die Seite. Schadrin klopfte mit dem Bleistift auf den Aschenbecher. „Was wissen wir also nun? Erstens, Korshajews Unruhwellen.“ Schadrin rückte den Aschenbecher in die Mitte des Tisches. „Zweitens, der Diebstahl der Uhrengehäuse im Werk.“ Er schob den Bleistift zum Aschenbecher. „Ferner das Manko diverser Uhrenteile bei Balaschow. Und endlich die Herstellung der Uhrengläser durch Dshaga.“ Zum Bleistift gesellten sich Schadrins Füllhalter und Feuerzeug. „Auf den ersten Blick scheinen diese Tatsachen unvereinbar zu sein“, fuhr Schadrin fort. „Man sieht keine
Verbindung zwischen ihnen. Nichtsdestoweniger wurde festgestellt, daß die bei Korshajew gefundenen Unruhwellen, die im Werk gestohlenen Gehäuse und die Ersatzteile, die in Balaschows Werkstatt fehlen, daß all das Uhrenteile der Stoliza sind. Wie Sie eben vernommen haben, gehören die Uhrengläser, die Dshaga auf Balaschows Datsche herstellt, ebenfalls zur Stoliza.“ „Kurz gesagt, ein kompletter Satz für den jungen Do-ityourself-Konstrukteur“, flocht Tichonow ein. „Eben das!“ Schadrin nickte. „Wir sehen also, daß Stas’ ursprüngliche Annahme, unsere Gauner wären darauf aus, eine bestimmte Uhrenmarke zusammenzusetzen, gar nicht so verkehrt war. Diese Marke heißt Stoliza.“ „Übrigens“, sagte Tichonow, „die Gläser stanzen sie im Handbetrieb. Warum? Sehr einfach, das mit den Gehäusen hat Wind gemacht, der Betrieb ist in Aufregung, man kriegt keine Stecknadel mehr raus, Gläser aber müssen her! Also müssen sie Handarbeit leisten.“ „Die Angelegenheit scheint für sie sehr wichtig zu sein“, sagte Prichodko. „Man bedenke, mit welcher Präzision sie durchgeführt wird! Es geht ja dabei nicht um zehn, nicht um Hunderte, es geht um Tausende von Stück! Und nicht nur in Moskau, bis zum Schwarzen Meer agieren sie! Ich meine, Kostjuk hat nicht umsonst bei uns seine Spuren hinterlassen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß unser alter Freund Dshaga bei Korshajew die Unruhwellen gesucht hat und nur ein bißchen zu spät kam.“ „Das wäre also klar“, sagte Schadrin, „die Bande versucht mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln, einen allem Anschein nach größeren Warenposten zu komplettieren. Außerdem erfolgt der Absatz nicht über Mittelspersonen oder Geschäfte. Dies konnte Tichonow mit Si-
cherheit feststellen. Mithin beabsichtigen die Gauner, die Ware en gros abzustoßen. Da Balaschow den Posten weder zu Hause noch auf der Datsche länger zu lagern vermag, müssen wir annehmen, daß die Operation in absehbarer Zeit ausläuft. Darauf haben wir uns einzustellen.“ „Damit wir die Einkäufer nicht verpassen.“ Prichodko lachte. In diesem Moment klingelte die Radina an und berichtete von dem überraschenden abendlichen Blitzbesuch bei Balaschow. Die Männer der Einsatzgruppe verstummten und horchten auf das Gespräch. „Die Ereignisse treiben ihrem Höhepunkt zu!“ sagte Prichodko mit einem Blick auf Schadrins gespanntes Gesicht. „Boris Iwanytsch, vergiß nicht, Walja von uns zu grüßen“, erinnerte Tichonow. Schadrin zwinkerte zum Zeichen, daß er daran dachte. Als er auflegte, herrschte im Zimmer einen Augenblick Schweigen. „Vor einer halben Stunde wurde Balaschow von einer Frau besucht, hatte eine kurze Unterredung mit ihr, und dann ging sie wieder. Es besteht kein Zweifel, daß sie eine Nachricht überbrachte. Balaschow, der sich an der Pforte von ihr verabschiedete, versprach, morgen unbedingt irgendwo hinzukommen. Gut möglich, daß dies die Botin des bewußten Großhändlers war. Die ganze Situation spricht dafür. Wohlan! Sehen wir, mit wem Balaschow sich morgen treffen wird.“
3. TEIL Der längste Tag des Jahres 8 Uhr morgens Das invalide Bein schmerzte heftig, unerträglich, und dies war das letzte drückende Empfinden in dem verdrehten, verworrenen Traum. Balaschow verzog das Gesicht, stöhnte und war plötzlich hellwach. Heute wird’s heiß werden, dachte er. Er wälzte sich auf die andere Seite, indem er das schmerzende Bein vorsichtig mit den Händen drehte. Alla lag mit dem Rücken zu ihm, Arm überm Kopf. Balaschow strich leicht über ihre wirren schwarzen Locken, doch sie, ohne aufzuwachen, stieß die Hand beiseite und murmelte etwas im Schlaf. „Schlimm!“ Balaschow grinste. Die Welt verlangt nach Freiheit. Die Völker Afrikas verlangen sie, die Frauen verlangen sie. Was sie bloß damit wollen, mit dieser Freiheit. Komisch… Er setzte sich im Bett auf, wälzte das Bein vorsichtig über die Kante, stützte sich aufs gesunde und war mit einem Ruck hoch. Verdammt, heute paßt mir das mit dem Bein aber gar nicht. Heute darf mich nichts ablenken, so ein Tag kommt nur einmal in vielen Jahren. Wie eine Sonnenfinsternis. Möglicherweise nur einmal im Leben. Balaschow ging, indem er möglichst leise auftrat, hinaus auf die Veranda und beschirmte die Augen gegen das grelle Sonnenlicht. Sehr heiß wird das heute, dachte er abermals und trat in die Dusche, knüpfte vorm Spiegel den Schlips, sah zur Uhr – die Zeit war knapp. Frühstücken werde ich in der Stadt, sagte er sich und hatte die allergrößte Lust, zurück ins Schlafzimmer zu laufen, Alla
zu umarmen, ihr zu sagen, er habe vielleicht unrecht, aber es lohne den Streit nicht: sie sei doch der einzig ihm nahestehende Mensch. Dann besann er sich: Tob dich woanders aus, zum Schäkern ist nicht die Zeit. Während der Motor warm lief, blickte Balaschow aus Kneifaugen zum Himmel, der in der Glut rasch verblich, und brummte etwas Unbestimmtes vor sich hin. Dann schaltete er den ersten Gang ein, rollte aus dem Tor und kurvte nach links und drehte auf. Im Betrieb verbrachte er genau fünf Minuten. Nachdem er die Zimmertür abgesperrt hatte, zog er die Schreibtischlade auf und ertastete am hinteren Brett eine kleine, mit Isolierband verklebte Vertiefung. Er riß das Band ab und nahm sein Dutzend Zettel heraus, die mit Korshajews verschnörkelten Schriftzügen bedeckt waren. Maulwurfs Notiz lag gesondert: „Porfiri Wikentjewitsch Korshajew, Russe, Jahrgang 1898, wohnhaft…“ Balaschow überlas alles noch einmal aufmerksam, klemmte die Zettel mit einer Büroklammer zusammen und steckte sie in die Brieftasche. Seine Lippen kräuselten sich spöttisch: Das war alles, was von einem Menschen geblieben war. Wenn der wüßte, daß ich mich jetzt mit seinem Grossisten treffe! Er öffnete die Tür und warf einen Blick zu seinem Stellvertreter. „Fjodor Ignatjewitsch, ich gehe für etwa zwei Stunden außer Haus; sollte jemand fragen, ich bin zum Stadtsowjet!“ Der Stellvertreter lächelte verständnisvoll. „Gehen Sie nur, Viktor Iwanytsch. Sie können sich ganz auf mich verlassen!“ Nachdem er sich in den Fahrzeugstrom hineinkatapultiert hatte, fuhr der schwarze Wagen der Preobrashenskaja Plostschad zu.
Balaschow war zu sehr mit sich beschäftigt, als daß er darauf achtete, daß das graue Taxi, das an der Ampel der Kirowskaja neben ihm hielt, das auf der Komsomolskaja Plostschad weit hinten herumkurvte und auf der Krasnosselskaja Uliza an ihm vorbeifegte, ein und dasselbe war. Gewohnheitsgemäß hielt Balaschow nicht vorm Haus. Er stellte den Wagen um die Ecke ab und humpelte das letzte Ende am Stock zu Fuß. Vor der Haustür blieb er stehn, drehte sich in den Schatten des lauen Windes, steckte eine Zigarette an, spähte die Straße entlang. Hinter ihm: alles leer. Ihm entgegen kam ein Junge mit Eisenbahnermütze geschlenkert. Balaschow trat ins Haus. 9 Uhr 30 Als Balaschow den Fahrstuhl öffnete, rief es hinter ihm: „Nicht zumachen!“ Er fuhr herum und sah den Burschen mit der Mütze herbeilaufen. Das Köfferchen unterm Arm, schaute er im Gehen in ein liniiertes Heft. Balaschow ließ ihm den Vortritt. „In welchen?“ Der Bursche schob die Mütze in die Stirn und kratzte den Nacken. „Weiß der Kuckuck, ich bin hier noch nicht gewesen…“ Tichonow schoß es durch den Kopf: Das Haus hat sechs Geschosse, im zweiten hält der Lift in der Regel nicht. Also bleiben vier. Am besten sage ich das fünfte, wahrscheinlich will er ins vierte oder fünfte. Natürlich, vielleicht auch ins dritte. Dann kann ich vom fünften die Wohnung nicht sehen, in die er verschwindet. Aber in den drei oberen Stockwerken sind die Chancen größer. Ich muß es riskieren. Im Erdgeschoß beginnen die Woh-
nungen mit Nummer 16. Drei Wohnungen sind auf jeder Etage. Also muß auf der fünften… Tichonow schaute in sein Heft. „Ich muß in Wohnung 30. Ich glaube, fünfter Stock.“ Ihn überlief es eiskalt: Wenn der nun auch dahin wollte! Balaschow bemerkte, daß der Bursche keine Eisenbahner-, sondern eine Postmütze trug. Baumlanger Kerl, Erbauer des Kommunismus. Für 90 Rubel saust er wie verrückt den ganzen Tag treppauf, treppab. Vermutlich überlegt er jetzt, wo er was für einen Schnaps herkriegt. Er wandte sich ab und drückte auf Knopf 4. Nachdem Balaschow ausgestiegen war, hantierte der Bursche an der Schalttafel herum, doch der Fahrstuhl rührte sich nicht. Da machte er rasch die Tür auf und knallte sie mit Wucht wieder zu. Der Lift entschwand langsam nach oben, und Balaschow, der schon die Klingel drückte, hörte den Postmonteur rufen: „Nächstes Mal machen Sie die Tür richtig zu!“ Balaschow dachte nur erstaunt: Frecher Hund! und wiederholte das verabredete Klingelzeichen: dreimal kurz, einmal lang. Maulwurf öffnete, käseblaß, unordentlich angezogen, rötliche Bartstoppeln. Die Wohnung war vollgequalmt, kaum daß man Luft bekam. „Hallo, Genka, du scheinst ja heute nicht gerade blendendster Laune.“ „Warum sollte ich! Ich tummel mich nicht in Sotschi am Strand. Sie haben mir ja keinen Ferienscheck fürs Metallarbeiterheim besorgt.“ „Wie komme ich dazu! Du kriegst deinen Anteil und kannst ihn selber besorgen. Allerdings halte ich es im Augenblick gar nicht für ratsam, daß du dich an Badestränden tummelst. Du bist doch dies Jahr schon im Ku-
rort gewesen.“ „Meinen Sie das als Arzt?“ „Als Sozialarzt, der die Krebsschäden der Gesellschaft kuriert. Nach Art deiner Erkrankung brauchst du eher eine Kur in mittleren Klimazonen oder hinter dem Ural, in Sibirien. Das sage ich dir in aller Freundschaft, wirklich. Also…“ „Woher auf einmal diese Sorge um mich? Ich muß mich ja fragen, ob Sie mir vielleicht eine Freikarte dorthin besorgt haben, eine auf Staatskosten, im vergitterten Schlafwagen.“ „Das hast du von diesem hinterhältigen…“ „Genau! Sie sind ein fähiger, kluger Kopf. Sie rechnen vielleicht, dort wäre ich besser aufgehoben. Aber ich bin doch auch nicht von gestern. Ich kalkuliere so: Sie werden die Sorge um mein leibliches Wohl keinem andern übertragen. Sie werden mich hüten wie Ihren Augapfel. Andernfalls, sollte die Miliz meine Behandlung übernehmen, haben auch Sie mit dieser Gesundheitsbehörde zu rechnen.“ „Du brauchst mir nicht zu drohen. Denk du lieber an dein Seelenheil,“ Balaschow grinste schief. „Dazu ist es zu spät. Mit dem Seelenheil ist es vorbei. Ich denke jetzt immer mehr an meine körperliche Hülle. Jawohl!“ „Also gut, begraben wir das. Zeig mal die Karte her.“ Maulwurf, ohne Balaschow aus den Augen zu lassen, langte aus der Innentasche eine normale Postkarte hervor, schaute darauf und reichte sie mit sichtlichem Bedauern hin. Balaschow las langsam vor: „Übersende Ihnen herzliche Grüße. Bin wieder in Moskau. Vielleicht schaue ich mal vorbei.“ Er lachte und
schaute auf den Absender: Uliza Koslowa 31, Wohnung 10. „Sieh da, Uliza Koslowa! Ich glaube, in Moskau gibt es solche Straße gar nicht!“ „Keine Ahnung! Bin ich ein Studierter, daß ich alles weiß!“ „Man sollte aber seine Heimatstadt kennen und liebem“ „Meine Heimat ist Arsamas.“ „Nanu? Ein Landsmann Arkadi Gaidars?“ „Lassen Sie Gaidar aus dem Spiel!“ „Wieso denn?“ „Weil, wenn es jemand auf der Welt gibt, den ich schätze, dies Arkadi Gaidar ist.“ „Donnerwetter! Das wirft mich ja um! Wie lange kenn ich dich nun, Maulwurf, und jedesmal entdecke ich eine neue Seite deiner Begabung. Wie habe ich: denn ahnen können,, daß du ein Bewunderer literarischer Heldenromantik bist! Und mehr, daß du Bücher liest“ „Das ist für Sie zu hoch.“ „Aber gewiß doch! Ich futtere ja meine Krautsoljanka mit dem Filzpantoffel. Erklär mir lieber eins; Warum ist ein Durchschnittsganove immer sentimental?“ „Was könnte ich Ihnen: antworten? Sie haben doch die Weisheit für sich gepachtet. Sprechen wir lieber vom Geschäft.“ „Bitte sehr, nichts dagegen;“ „Sie werden mit ihm allein sprechen?“ „Meinst du, daß ohne dich diese ökonomische Konferenz nicht zustande kommen kann?“ „Das weiß ich nicht. Bloß möchte ich gern auf dem laufen den bleiben.“ „In diplomatischen und kommerziellen Kreisen gibt es so einen Begriff wie Verhandlungsniveau.“
„Ihnen gefällt meins nicht?“ „Mir schon, ihm kaum. Infolgedessen werde ich unseren Konzern repräsentieren, und du könntest die Rolle des geheimen Beraters, Experten; Sekretärs und Leibwächters deines Chefs übernehmen;“ „Wie ist das zu verstehen?“ „Folgendermaßen: Du wirst wieder deinen dir schon bekannten Platz in diesem schönen Schrank einnehmen. Kanone hast du mit?“ „Immer.“ „Sehr schön. Ich werde mit dem Rücken zu dir sitzen, damit du den Kerl dauernd durch den Spalt im Auge hast. Dem kann man alles zutrauen. Bedenken?“ „Nein.“ „Danke für das Vertrauen.“ „Wenn er anbeißt, gedenken Sie dann vorzuschlagen, die Ware hier zu übergeben?“ „Gleich erhebst du noch Anspruch, an den wirtschaftlichen Geheimverhandlungen teilzunehmen! Weh mir altem Knaben, Schmerz meinem Greisenhaupt!“ „Kommen’ Sie mir nicht so, Viktor, Michalytsch, mir ist sowieso mies genug, offen gesagt…“ „Du bist ein Dämlack, Maulwurf! Wie stellst du dir das denn vor: Soll er mit den vollen Koffern von hier losziehn? Und wenn ihn der ABV an der Haustür festhält? Oder willst du ihm nahelegen, er soll sie mit Gütertaxi befördern lassen?“ „Ich will aber dabei sein…“ „Wobei? Wenn die Ware übergeben wird?“ „Die Ware und das Geld.“ „Ach so, das Geld beschäftigt dich! So ist das! Wie es mit den Waren wird, interessiert dich nicht. Dich interes-
siert das Geld. Wie genau das doch bei uns mit den Kompetenzen geordnet ist! Ich schufte wie ein Maulesel, um diese Ware zu beschaffen, zu kaufen, heranzuorganisieren, schließlich zu montieren, zum Teufel, und an den Ausländer loszuschlagen, und dich kümmert bloß, wie du mir Geld abzapfst!“ „Wenn ich nicht wär, wüßten Sie einen Dreck von dem Ausländer. Der Alte würde an Ihrer Stelle da im Sessel sitzen, wenn ich nicht wär.“ „Dafür habe ich deinen Anteil auf ein Drittel festgesetzt. Funk mir also nicht dazwischen, wenn ich die Sache zu Ende bringe. Und was das Geld angeht, so darfst du getrost auf das Wort eines Ehrenmannes bauen.“ „So, darf ich das…“ „Was hast du Manschetten! Überleg doch: Wenn ich dich hierlasse, werd ich doch mit offenen Karten spielen. Das werd ich auch künftig tun. Laß die Nase nicht hängen, glaub mir, ich bin dein Freund. Bloß ein bißchen gescheiter bin ich als du und älter. Also Schluß damit! Es ist Zeit, fünf vor. Um zehn wollte er hier sein, und diese Leute sind pünktlich. Sei so gut und steig in den Schrank.“ 10 Uhr Balaschow legte die Uhr vor sich hin. Innerlich fröstelte ihn irgendwie, und mitunter war ihm, als ob sein ganzes Innere klirre vor Anspannung. Er sog gierig an der Zigarette, das half beim Warten. Großer Gott, was für ein scheußlicher Mief! Die Nerven, die Nerven. Ließen sie nach? Man müßte sie stimmen können wie eine Violinsaite. Nach einem Schlüssel auf jeden benötigten Grundton. Ach was, Scheibenkleister…
Maulwurf saß mäuschenstill im Schrank. Ich kann mir vorstellen, dachte Balaschow, wie ihm dort die Luft knapp wird. Einerlei, mag er schwitzen. Die Klingel schlug an, und es war, als fahre ein Reibeisen über seine Haut. Es ging los. Hinkepink stand auf, schaute in den Spiegel. Frisur tadellos, Schlips saß, das Spitzentüchelchen stand zwei Zentimeter aus der Tasche. Er löschte im Korridor das Licht; sollte der andere, der aus dem Hellen kam, erst mal blind sein. Wie er wohl mit Nachnamen hieß? Er zog den Schnapper zurück. „Treten Sie bitte näher, Herr Max.“ Draußen stand ein großer hagerer Mann im grauen Tweedjackett. Der feste Kragen des gestreiften Hemdes schnitt in die Adern des rotfaltigen Halses. Der kräftige Adamsapfel hüpfte auf und nieder. „Ich wollte Porfiri Korshajew sprechen.“ „Ich bin ermächtigt, Sie in seinem Namen zu empfangen.“ „Das interessiert mich nicht.“ „Ich halte es kaum für opportun, unsere Angelegenheiten im Korridor zu erörtern.“ „Mit Ihnen habe ich nicht die Absicht, irgendwas zu erörtern.“ „Umgekehrt! Allein mit mir werden Sie in Zukunft zu tun haben.“ „Hochinteressant! Aber wie Sie meinen.“ Damit trat er in die Wohnung, den Blick auf Balaschow geheftet. Hand in der Tasche und bemüht, Balaschow nicht den Rücken zuzuwenden, ging er ins Zimmer. Auf seiner grauen, pergamentenen Haut perlte Schweiß, vor Hitze und Anspannung. Der elegante Rock des Ausländers saß tadellos, und gleichwohl hatten seine Bewegungen etwas Eingedrilltes, Steifes, das der Berufsoffizier sein Leben lang
nicht los wird. Spricht ja anständig russisch, dachte Balaschow. Hat es sicher während des Krieges gelernt, der Fuchs. Er fläzte sich breit in den Stuhl und bot dem Gast den Sessel vis-avis an. Der nahm Platz mit einem Blick in die Runde. Balaschow, ohne aufzustehen, langte aus der Anrichte eine Flasche Dwina, goß sich einen Kognak ein und schob dem Ausländer die Flasche hin. „Bedienen Sie sich, Herr Max. Der nimmt es mit jedem Martell auf.“ Der Ausländer rührte sich nicht. „Danke. Keinen Appetit – draußen ist es brütend heiß.“ Balaschow nippte und stellte das Glas auf den Tisch. „Wie Sie meinen. Es ist leider so, daß unser gemeinsamer Kompagnon, Porfiri Wikentjewitsch Korshajew, vor vierzehn Tagen einem Herzinfarkt erlegen ist.“ Max schaute ihn schweigend an. Seine runden, wimperlosen Augen saugten sich an Balaschows Gesicht fest. „Der verstorbene Korshajew hat bei uns den Absatz gemacht. Deswegen habe ich Sie nie kennengelernt.“ Der Besucher verzog keine Miene. Er schwieg. „Nach dem überraschenden Ableben sah ich mich genötigt, diese Dinge in die Hand zu nehmen, um das Geschäft zu Ende zu führen. Darum bin ich hier; ich finde, daß der überaus bedauerliche Umstand von Korshajews Tod kein Hindernis sein sollte, das Begonnene zu erfolgreichem Abschluß zu bringen.“ Max gab keinen Ton von sich. Die Stickluft war unerträglich, Balaschow spürte Schweiß am Hals rinnen. Die Kehle dörrte aus. „Ich stehe also zu Ihren Diensten…“ Da lachte der Ausländer mit einem Male. Leise, gefaßt,
mit den Lippen, die zwei Reihen perlweißer Porzellanzähne entblößten. Sein Blick klebte immer noch fest an einem Punkt auf Balaschows Stirn, und bei diesem Lachen überlief Eiseskälte Hinkepinks fieberheißen Rücken. Max beugte sich zu ihm vor und fragte in ausdruckslosem Ton: „Sie müssen Korshajew sehr nahe gestanden haben?“ „Selbstverständlich! Wir waren geschäftlich und auch persönlich befreundet.“ „Sicher haben Sie einen amtlichen Totenschein?“ Im Augenblicke versagte Balaschow die Stimme, doch hatte er sieh rasch im der Hand. „Kein, was sollte ich auch damit. Ich habe doch viel wertvollere Belege – seine Bestellscheine, auf die er bei uns Ware an Sie bezog,“ Balaschow zog aus dem Portemonnaie die zusammengeklammerten Scheine und reichte sie dem andern. Max warf nur einen flüchtigen Blick darauf und stand auf. „Mir geht der Tod dieses tapferen Mannes außerordentlich nahe. Indessen liegt hier ein Mißverständnis vor. Ich bin nicht der, für den Sie mich halten. Wie gesagt, ein Mißverständnis. Ich darf mich empfehlen.“ Er lachte wiederum sein leises Lachen. Komplette Abfuhr, dachte Balaschow fast hysterisch. Der glaubt mir nicht, der Halunke. „Ich bitte, mich zu entschuldigen.“ Max wandte sich zur Tür. So leicht gab Balaschow nicht auf. „Augenblick noch, Herr Max.“ Der Ausländer drehte den Kopf. „Setzen Sie sich noch einen Moment. Falls Ihnen meine Erklärung nicht ausreicht, so können Sie gehen, festhalten werde ich Sie nicht.“ „Ich bin ganz Ohr.“
„Sie scheinen nicht zu glauben, daß ich Korshajews Nachfolger bin und halten mich für sonst jemand. Aber diese Annahme ist insofern absurd, als ich doch genau weiß, wer Sie sind.“ „Sie verwechseln mich.“ „Ich kann Ihnen beweisen, daß ich über all unsere Geschäfte bis ins einzelne informiert bin, von der Stückzahl und Nomenklatur der Ware bis zu dem Betrag, den Sie mir zu zahlen haben. Bei allem Respekt für Ihre Selbstbeherrschung – wollen Sie aber aus übergroßer Vorsicht unser Geschäft platzen lassen, so wäre das für Sie ein enormer Ausfall.“ „Und für Sie?“ „Ich habe auch einige Ungelegenheiten, gewiß, aber ich habe doch keine Einbußen – ich werde die Ware in kleineren Partien auf dem schwarzen Markt reißend los. Zugegeben, ich bin mehr an Valuta interessiert.“ In Maxens Gesicht zuckte es, und Hinkepink ahnte, daß die eiserne Entschlossenheit des andern bereits angeknackst war. Trotzdem sagte der: „Ich kenne Sie nicht.“ „Richtig! Aber ich verfüge über Informationen, die ein Außenstehender nicht kennen kann.“ „Ein Mitarbeiter des KGB, der Korshajew verhaftet hat, wird das auch alles wissen.“ „Komische Vorstellung! Wäre ich ein Tschekamann, würde ich mit Ihnen hier kein Plauderstündchen halten. Dann wären wir jetzt in Ihrem Hotel und machten eine Durchsuchung.“ „Weswegen? Für eine Durchsuchung bedarf es einer Handhabe, und wie Sie sagten, ist Korshajew doch tot.“ Da lachte Balaschow von Herzen. „Sie erwarten wohl nicht, Herr Max, daß ich Ihnen die
Teile um Ihrer schönen Augen willen überlasse? Sie sollen dafür in harter Währung zahlen, und zwar ein erkleckliches Sümmchen. So dürfte der doppelte Boden Ihres Koffers, oder wo immer Sie die transportiert haben, vollgepfropft sein mit grünen Scheinen. Das zum einen.“ „Und weiter?“ „Was weiter? Und die Karte hier? Dem Stil nach haben Sie sie geschrieben. Ein Graphologe könnte das im Auftrag des KGB im Handumdrehen beweisen. Und nicht zuletzt Ihre Anwesenheit hier. Das dürfte genügen, um Sie wegen Übertretung sowjetischer Gesetze festzunehmen.“ „Ich bin Ausländer.“ Hinkepink schlug erneut eine triumphierende Lache an. „Sie brauchen mir nichts vorzumachen, die Immunität erstreckt sich lediglich auf Diplomaten. Oder wollen Sie behaupten, daß Sie diplomatischer Kurier sind?“ Der Ausländer schwieg. „So wäre das also, wenn ich KGB-Mitarbeiter wäre“, fuhr Balaschow fort, „ich bin aber keiner. Ich bin Geschäftsmann, und insofern dürfte uns an deren Aufmerksamkeit nicht gelegen sein. Ist das nicht überzeugend?“ „Wer garantiert mir, daß Sie mich nicht reinlegen wollen und dort in der Küche oder in diesem Schrank…“ „…. dem Schrank?“ „Ja, dem Schrank da, ein Spitzel unsere Unterhaltung mitschreibt?“ „Wieder Fehlschuß. Stehen Sie auf, und sehen Sie nach.“ „Schön, ich möchte Ihnen vertrauen. Können Sie mir sagen, wann ich Korshajew das letzte Mal getroffen habe?“ „Zwischen dem fünfzehnten und zwanzigsten März. Ge-
nau weiß ich den Tag nicht mehr, aber er hat Ihnen damals einen Posten Räderwerke, Antriebe und Gangregler geliefert. Sie können sich diese Kontrollfragen schenken, Herr Max. Ich habe Ihnen doch gesagt, wenn ich vom KGB wäre, so würde unsere Unterredung nicht hier, sondern in der Lubjanka stattfinden.“ „Möglich…“ „Und ich wiederhole noch mal: Platzt die Sache, verlieren Sie mehr als ich.“ Die Luft im Zimmer war zum Schneiden dick. Der Schweiß rann nur so über ihre glühenden Gesichter: Hitze, Mißgunst und Mißtrauen nahmen ihnen den Atem. Der Ausländer hielt es nicht aus. „Bitte, sprechen Sie.“ Balaschow stieß einen Seufzer aus. „Ich habe die Lieferung fertiggemacht, die Korshajew Ihnen zustellen sollte. Leider hat mich sein überraschender Tod den größten Unannehmlichkeiten ausgesetzt. Die Lieferanten haben unsre Eile ausgenutzt und mir den doppelten Preis abverlangt.“ „Das interessiert mich nicht…“ „Das wird Sie sehr wohl interessieren, sofern Sie nämlich fünfunddreißig Prozent mehr zu zahlen haben.“ „Niemals!“ „Doch, doch! Ich kann ja die Mehrausgaben nicht allein tragen;“ „Wir haben einen Vertrag.“ „Sogar im Clearingverfahren sind Preiskorrekturen vorgesehen, die sich nach der Konjunkturlage am Markt richten.“ „Ausgeschlossen! Eher trete ich vom Geschäft zurück.“ Balaschow lachte innerlich: Du und zurücktreten, du Fuchs! Hast du vorm KGB keine Angst gehabt, dann
werden dich ein paar Tausender mehr auch nicht schrecken…. Dann standen Ort und Art der Warenübergabe zur Verhandlung. „Geld gegen Ware.“ „Mit dem größten Vergnügen. Allerdings kann ich, wie Sie einsehen werden, das Geld auf der Straße nicht zählen. Ich habe keinen Zweifel, es wird alles seine Richtigkeit haben, Sie sind ja tagelang unterwegs bis zur Grenze, so daß Sie, um Unannehmlichkeiten auf dem Zollamt zu vermeiden...“ „Verstehe. Aber wer garantiert mir, daß Sie die ganze Ware liefern und nicht die Hälfte?“ „Das Vielversprechende unserer Verbindung. Sie werden doch nach diesem Geschäft weiterhin kommen wollen. Ich wäre nicht abgeneigt. Im Augenblick geht ein neues Uhrenmodell der Sonderklasse in Serie, das Projekt läuft durch meine Hände, so daß…“ „Sie drücken einem die Kehle ab, und doch sind Sie ein richtiger Geschäftsmann. In Ordnung. Bis morgen.“ Es war Viertel vor zwölf, als ein Mann aus der Haustür trat. Auf seinem hageren, verrunzelten, geröteten Gesicht lag eine gelassene Verachtung gegenüber allem um ihn her. Nachdem er die Nase mit einer dunklen Brille bewaffnet hatte, steuerte er gemächlich, den Blick vor sich hin, auf die Preobrashenskaja Plostschad zu. Bog um den nächsten Häuserblock. Hundert Meter von der Ecke entfernt parkte ein Mercedes 220. In ebensolcher Ruhe bestieg der Mann den Wagen, schaltete den Motor ein und brauste davon. Der Bursche mit der Postmütze sandte dem schnittigen Wagen, über dessen hinterer Stoßstange die auffallende Nummer HBC-714 hing, einen gleichgültigen Blick nach. Dann zog er die Mütze vom Schädel, wischte
die verschwitzte Stirn, winkte einem daherkommenden Taxi, einem klapprigen grauen Wolga. 12 Uhr Balaschow schloß die Tür und ging zurück ins Zimmer. „Komm schon raus!“ Maulwurf meldete sich nicht. Hinkepink trat zum Schrank, zog die Tür auf. Maulwurf hockte zwischen den Kleidern und ließ den Kopf merkwürdig hängen. „Bist du eingeschlafen?“ Balaschow stieß ihn an, und Maulwurf gab ebenso unnatürlich nach und fiel steif wie eine Wattepuppe aus dem Schrank. Hinkepink zuckte zusammen und prallte unwillkürlich zurück. Trotz der Hitze war Maulwurfs Gesicht von erdiger Blässe, und zwischen den stumpfen Bartstoppeln hingen Tropfen klebrigen Schweißes. „Teufel, der ist ja ohnmächtig!“ Balaschow nahm eine Karaffe mit lauem Wasser vom Tisch und schwappte sie über Maulwurfs Kopf. Die weißlichen, feingeäderten Lider begannen zu zittern, und dem Mund entfuhr ein tiefer Seufzer: „Oooch!“ Balaschow ließ sich in den Sessel fallen. Na so was! Soweit ist es also gekommen, Balaschow, daß deine knallharten Gorillas in Ohnmacht fallen wie Jungfrauen. Die Hitze hat ihn wohl geschafft. Das hat noch gefehlt, um ein Haar hätt er uns das ganze Geschäft geschmissen. Hätt schön ausgesehen, wär er aus dem Schrank genau dem Ausländer vor die Füße geplumpst. Sackt da drin um und gibt keinen Mucks von sich. Lebensinstinkt, weiter nichts! Hofft ja auch, seinen Schnitt zu machen. Irrtum, mein lieber Maulwurf, deine Aktien stehen schlecht! Bolivar kann keine zwei verkraften. Nicht mal, daß mir das
Geld leid tut, Unsinn! Du hast voriges Mal richtig bemerkt, du weißt viel, zu viel! Maulwurf öffnete die Augen, die stumpf waren, leer an die Decke stierten. „Komm hoch, genug geruht. Trink einen Kognak, der bringt dich wieder auf die Beine.“ Maulwurf wandte ihm den Kopf zu, grinste. „Es war verdammt heiß, ich bekam keine Luft mehr, roch nur noch Mottenpulver, und dann war’s aus.“ „Daß es für dich nicht die reine Freude war, seh ich. Da, trink.“ „Keine Lust, ich krieg noch schwer Luft. Auf Wasser mit Eis hätt ich Lust.“ „Schampus mit Ananas vielleicht gefällig? Trink, sag ich, dann wird dir gleich besser.“ Maulwurf, mit den Zähnen am Glas klappernd, schlürfte das Feuerwasser. „Na, wieder auf dem Damm?“ „Ich glaub schon.“ „Wann kommt Liska?“ „Vor acht nicht.“ „Was sagst du ihr, warum du nicht ausgehst?“ „Ich mach Urlaub, sag ich. Auf Arbeit haben sie mir eins verpaßt, mich runter gestuft mit dem Geld. So kurier ich halt meinen Kummer zu Haus aus.“ „Und sie?“ „Sie redet gut zu. Fahren wir nach dem Süden, sagt sie, da kannst du dich erholen, amüsieren. Sie weiß ja nicht, was ich für Amüsements…“ „Schon gut. Ich hab mich für morgen mit ihm verabredet. Du bleibst hier und rührst dich nicht von der Stelle. Morgen abend komme ich wieder und sag dir, wie’s weiter-
geht.“ „Und wie sieht’s mit Kröten aus?“ „Komm mir nicht wieder damit. Ich hab dir doch gesagt: So zwei Wochen braucht’s schon, um das Geld umzutauschen. Du bleibst hier und steckst die Nase am besten ins Buch. Zumal du doch solche Leseratte bist!“ „Einen neuen Ausweis besorgen Sie?“ „Der wird enorm teuer sein, mein Lieber! Wenn morgen alles klappt, beschaff ich dir in vierzehn Tagen auch einen Ausweis. Alles, was von deinem Anteil dann noch bleibt, servier ich dir auf einer Schüssel mit blauem Rand…“ „Sie sind wie ein Vater zu mir, Viktor Michalytsch, ich hab bloß Angst, daß Sie mich zu Tode hätscheln!“ „Keine Angst, dir passiert schon nichts. Also, reiß dich zusammen und steck den Rüssel nicht raus. Bis morgen!“ „Hals- und Beinbruch.“ „Geh zum Teufel!“ Balaschow glaubte in einen Backofen zu geraten, als er aus der Tür trat. Das erhitzte Gestein atmete sengende Glut, der Asphalt drückte sich schief unter den Hacken. Er steuerte auf die Telefonzelle zu und rief in seiner Werkstatt an. „Fjodor Ignatjewitsch, hier Balaschow. Ich erfahre eben, daß sich meine Frau nicht wohl fühlt – Temperatur, Erbrechen. Ich bin gerade im Begriff, den Arzt zu ihr zu fahren, Sie werden ja dort wohl ohne mich…“ „Sie können sich ganz auf mich verlassen, Viktor Michalytsch, seien Sie unbesorgt. Ich wünsche Alla Matwejewna gute Besserung!“ „Danke. Sollte es was Ernstes sein, wird es morgen wohl
etwas später werden.“ Er warf den Hörer auf, schweißgebadet, und verließ fluchtartig die Telefonzelle. Der schwarze Lack glühte dermaßen, daß man nicht anfassen konnte. Balaschow öffnete den Wagenschlag, und ein Schwall glühender Luft schlug ihm entgegen. Er trat das Gaspedal, und der schwarze Wagen schoß mit zunehmender Geschwindigkeit stadteinwärts. Er kurvte im Verkehrsstrom, keilte sich in jedes freie Stück Straße, fuhr aber doch konzentriert und genau, kaum daß er an Ampeln hielt, zuweilen auf den Mittelstreifen der Straße ausscherend. Ließ das Zentrum hinter sich, Kutusowka, Panorama, die Neubauten von Kunzewo und Setun. Vor ihm flimmerte der graue Streifen der Minsker Chaussee. Das Gas war durchgedrückt, der Motor dröhnte bei den enormen Umdrehungen, die Pneus zischten nur so über den Asphalt, Bäume und Häuser zerflossen zu einem flimmrig grünen Streifen. In Balaschows Mundwinkeln saß ein Grienen. 13 Uhr Der Mercedes stand vor dem Hotel. Tichonow streifte mit einem Blick das Kennzeichen und betrat das Vestibül, das einigermaßen erträglich war gegen die Höllenglut der Straße. Er warf die Jacke über die Schulter und wandte sich zur Rezeption. Hier gelangte er tatsächlich ins Paradies – drei Ventilatoren rotierten mit surrenden Flügeln nach allen Richtungen und durchfluteten den Raum mit Wogen kühler Luft. Knallige Plakate empfahlen Flüge allein mit der Air India, Reisen nach Paris im Frühling, Sonnenbäder am Strand von Mamaia. Palmen, Segeljachten, gebräunte Mädchenkörper, elegante Athletenfiguren. Nichts als Schönheit!
Die Dolmetscherin, gleichwohl noch vor Hitze vergehend, schrieb an einer Liste. Tichonow versuchte sein allergalantestes Lächeln. Jetzt schalt auf Späßchen und Witzchen, dachte er, sonst wird das nichts. Und das bei meiner Mattscheibe, in dieser Hitze! „Entschuldigen Sie, sind all diese Vergnügen bei Ihnen zu erwerben?“ Tichonow zeigte auf die Plakate. Das Mädchen lächelte matt. „Austausch von Touristenwerbung, weiter nichts.“ Tichonow hatte bereits den Sessel vor ihrem Tisch okkupiert. „Wenn ich dies Plakat sehe, möchte ich wieder mal nach Paris reisen.“ „Waren Sie schon mal da?“ „Nein, aber letztes Jahr wollte ich dasselbe.“ Die Dolmetscherin lachte. „Das ist ein so alter Hut, daß ich ihn schon vergessen hatte.“ „Kein Argument! Alles Neue ist nur Altes, das gründlich vergessen wurde, wie mein Freund immer zu sagen pflegt.“ „Das sagt nicht Ihr Freund, das sagt Sokrates.“ „Auch nicht übel. Sokrates war doch ebenfalls ein belesener Junge.“ „Leuten, die bei dieser Hitze noch zu Witzen aufgelegt sind, würde ich einen Orden verleihen.“ „Ich habe einen.“ „Für Witze?“ „Für Tapferkeit.“ „Dachte ich mir’s.“ „Probieren Sie mal zu scherzen, wenn draußen achtzig Grad sind.“ „Grade kam im Radio durch – es seien nur achtunddrei-
ßig.“ „Ich rechne nach Fahrenheit, das klingt imposanter.“ „Wie ich merke, haben Sie einen Hang zum Übertreiben.“ „Ist das eine Rüge?“ „Soll ich Sie loben?“ Stas schüttelte bekümmert den Kopf. „So sind Sie alle. Wenn Sie aber meinen schnittigen Mercedes sehen könnten, mit dem ich vorgefahren bin, würden Sie meine kleinen Eigenarten gewiß einsichtsvoller beurteilen.“ Das Mädchen lachte. „Heißen Sie Max Zinkler?“ „Nein, wieso?“ „Weil ich nämlich grad heute für Herrn Zinkler aus Bremen die Ausreisepapiere fertiggemacht habe. Ihm gehört der Mercedes am Eingang, mit dem Sie gekommen sind.“ „Na und? Dann eben kein Mercedes, sondern ein Moskwitsch. Was tut das schon? Fahren wir nun im Frühling zusammen nach Paris oder nicht?“ „Sprechen Sie im Frühling wieder vor, dann werden wir sehen.“ Tichonow winkte ihr zu und trat ins Vestibül. Ein paar Inder saßen in den Sesseln und rauchten genußvoll schwarze Zigarillos. In der glühenden Sonne leuchteten die Kolossalscheiben der Vestibülfenster wie Scheinwerfer. Tichonow streifte die Inder mit einem Blick und dachte: Ich wette einen Rubel gegen hundert, daß in ihren Turbanen eine Eisblase steckt… Schwenkte die Jacke von der Schulter und trat auf die Straße.
14 Uhr In der Wohnung 26 wurde lange nicht geöffnet, dann ertönte eine Jungenstimme: „Wer ist da?“ „Telefondienst.“ „Uns hat Mutter verboten aufzumachen, wenn sie nicht da ist.“ „Habt ihr eine Kette an der Tür?“ „Eine Kette haben wir.“ „Leg sie vor, mach die Tür auf und red mit mir durch den Spalt.“ Tichonow merkte, wenn er jetzt nichts zu trinken bekam, würde er glatt den Geist aufgeben. Hinter der Tür hörte er, beratschlagten halblaut zwei Stimmen. Dann schnappte plötzlich das Türschloß. „Kommen Sie schon.“ Im Korridor standen zwei semmelblonde Knirpse, so neun Jahre alt und sich dermaßen ähnlich, als wären sie im Druckverfahren hergestellt worden. Tichonow lachte. „Seid ihr Zwillinge?“ „Ja, und ich heiße Boris und der Bruder Shenka, wie die Gebrüder Majorowy.“ „Eishockey spielt ihr auch?“ „Und wie! Bloß laufen wir nur auf Rutschern, Mutter will uns schon das ganze Jahr Kanadier kaufen und vergißt es immer. Und dann fehlt uns nur noch ein Starschinow, dann würden wir sie alle jagen! So scheuchen uns nämlich immer die Jungen aus Haus 13.“ „Nehmt mich für Starschinow“, empfahl Tichonow. „Sie sind ja schon so groß“, sagte Shenka und trat sicherheitshalber hinter seinen Bruder zurück. „Na und?“ rief Tichonow erstaunt. „Große spielen doch auch Eishockey!“ „Sie sind aber nicht von unserm Hof, und austauschen
dürfen wir ja nicht“, erwiderte Borris mit Bedauern. „Jungens, gebt mir einen Schluck zu trinken, ich komme um vor Durst“, bat Tichonow. „Kommen Sie in die Küche, wir haben im Kühlschrank Kwaß.“ Das Küchenfenster ging nach Norden, hier herrschte angenehme Kühle. Der eiskalte Kwaß, nach Schwarzbrot riechend, hatte den Beigeschmack des Glücks. Tichonow setzte sich auf den weißen Hocker und legte die Hand auf Boris’ Schulter. „Nehmt doch in eure Mannschaft den Onkel, der immer zu eurer Nachbarin, Tante Lisa, kommt!“ „Der kann sicher gar nicht spielen. Der ist, glaub ich, wie Onkel Stezenko Seemann.“ „Wie kommst du auf die Idee?“ „Weil er auf dem Arm einen tätowierten Anker trägt. Und dann hat er mal im Pulli unten die Zeitung geholt – die ganze Brust hat er tätowiert. Ein ganzes Segelschiff schwimmt da, bombig! Bloß hab ich ihn schon zwei Wochen nicht gesehen.“ „Was denn, kommt er nicht mehr?“ „Er ist krank“, sagte Shenka unerwartet. Boris guckte ihn erstaunt an. „Woher weißt du das?“ Puterrot, glühend vor Erregung, ereiferte sich Shenka: „Bestimmt, er ist krank! Wenn ich nachts aufwach und trinken geh, hör ich, wie er in der Küche drüben rumläuft: immer hin und her, hin und her. Heute nacht hab ich es auch gehört.“ „Sag mal, kann das nicht auch Tante Lisa sein?“ fragte Tichonow. „Nein, er ist so schwer, daß die Dielen unter ihm knarren.“
„Wie schwer kann er schon sein, wenn er so aussieht wie ich?“ Tichonow zuckte mit den Schultern. „Au Backe, Sie sind doch blond, wie Boris und ich, und er ist schwarz, mit schwarzen Augen und einen Kopf größer als Sie!“ „Schön, du magst recht haben. Sag deiner Mutter, vom Telefondienst war man dagewesen, hätte sich das Leitungsnetz angesehen…“ „Sie haben ja gar nichts angesehen!“ „Für einen Fachmann, Boris, genügt ein flüchtiger Blick. Sagt mir lieber, warum ihr bei solcher Glut nicht im Freien seid und in dieser brütenden Hitze sitzt?“ „Wir fahren übermorgen ins Lager, dritter Durchgang.“ „Zusammen?“ „Klar. Wir machen alles zusammen.“ „Tadellos! Ich danke euch, Jungens, für den Kwaß, für die Gastfreundschaft und auch sonst für alles.“ „Keine Ursache!“ krähten die Jungen unisono. Shenka fügte hinzu: „Kommen Sie mal wieder, damit wir über Eishockey sprechen können.“ „Zu Befehl, Genosse Shenja. In Zukunft solltet ihr aber, bevor ihr einen Fremden in die Wohnung laßt, wenigstens über die Kette gucken.“ „Ach Quatsch!“ Boris winkte ab. „Wir haben doch keine Angst, Mutter sagt das bloß immer.“ Tichonow stand nachdenklich auf der Treppe und atmete gierig die staubdurchflutete glühende Luft des Treppenhauses. Dann trat er an die Tür der Wohnung 25, horchte, klingelte und glaubte ein kurzes, gleich wieder verstummtes Tapsen zu hören. Hinter der Tür herrschte anhaltende Stille. Er preßte das
Ohr ans Schlüsselloch, kein Laut. Auf der andern Seite klebte Maulwurf an der Tür. Er witterte hinter der Tür den Fremden. Lisa hatte einen Schlüssel. Hinkepink und Dshaga klingelten anders. Draußen stand ein Fremder. Das Herz hämmerte betäubend bis zum Hals hinauf. Er stand hingekrümmt zur Tür und umklammerte den glühenden Griff der Pistole. Ob er durch die Tür schoß? Der Fremde lief auf und ab, schlug nochmals die Klingel an. Noch einen Augenblick, und Schritte entfernten sich die Treppe hinunter, verstummten. 15 Uhr „Was? Nein nein, die Frage haben wir mit unseren operativen Kräften gelöst. Wer? Jaja, den Kontaktmann werden Sie schicken, wir werden ihn über alles informieren.“ Schadrin warf den Hörer auf die Gabel und blickte dem eingetretenen Tichonow fragend entgegen. „Bitte meine Verspätung zu entschuldigen. Ich wurde im Hause der Kulikowa aufgehalten. Dafür bringe ich sensationelle Nachrichten: In ihrer Wohnung hält sich unangemeldet ein junger, etwa dreißigjähriger Mann auf, groß, kräftig, schwarzäugig und dunkel. Brust und Arm tätowiert. Nach vorliegenden Informationen verläßt er die Wohnung der Kulikowa bereits seit zwei Wochen nicht mehr. Allem Anschein nach ein recht ungeselliger Patron. Von den Nachbarn kennt ihn niemand.“ „Na und?“ Prichodko sah Tichonow erwartungsvoll an. Alle dachten dasselbe. „Wie’s aussieht, hat dieser Mann eine ziemliche Ähn-
lichkeit mit unserm Maulwurf!“ schloß Tichonow seinen Gedanken. „Nicht übel“, sagte Schadrin beifällig. „Betrachten wir dies als Arbeitshypothese. Zeit, glaub ich, daß wir die Ärmel hochkrempeln.“ „Ich glaub auch“, pflichtete Tichonow bei. „Wer hält’s denn hier mit den Handelsleuten? Du, Sergej? Um einen Handelsmann scheint es sich ja zu drehen, und zwar um einen, daß dir die Ohren schlackern!“ „Moment mal“, mischte sich Schadrin ein. „Erzähl der Reihe nach.“ „In Gottes Namen denn: Gestern hat eine junge, hübsche Dame Balaschow in seiner Datsche aufgesucht und ihm anscheinend eine eilige Nachricht überbracht. Heute morgen fährt Balaschow in die Wohnung dieser Dame. Wer ist die Dame? Wir stellen fest: die Frisöse Jelisaweta Alexejewna Kulikowa. Eine halbe Stunde später taucht dort eine weitere, uns gänzlich unbekannte Person auf. Balaschow spricht mit dem Mann etwa zwei Stunden. Und nun kommt das Allerinteressanteste: Dieser Handelsherr, stellt sich heraus, fährt einen Mercedes mit ausländischer Nummer!“ „Und ist selber ein Ausländer“, sagte Schadrin seelenruhig. „Nachdem du angerufen und mir das KfzKennzeichen durchgegeben hattest, habe ich ein wenig recherchiert. Es handelt sich um einen gewissen Max Zinkler, Großkaufmann und Vertreter eines renommierten Bremer Handelshauses für Uhren und Präzisionsgeräte. Manches weist darauf hin, daß er ein ganz großer Fisch ist. Er war verschiedentlich geschäftlich bei uns, diesmal kam er als Tourist. Sein Visum für die UdSSR läuft übermorgen ab. Ausreisen muß er über Brest…“
„Ich kann noch hinzufügen“, bemerkte Tichonow, „daß Balaschow nach der Unterredung mit diesem Zinkler in eine öffentliche Telefonzelle ging und danach in irrsinnigem Tempo, so mit hundertdreißig; hundertvierzig Sachen, zu seiner Datsche jagte. Als angeblicher Freund habe ich mich im Betrieb erkundigt und die Auskunft erhalten, Viktor Michalytschs Frau wäre ernsthaft erkrankt und er in aller Eile nach Hause gefahren.“ „Unsinn!“ schaltete sich Prichodko ein. „Nach unsern Informationen ist seine Frau kerngesund.“ „Es ergibt sich demnach folgendes Bild“, sagte Schadrin. „Balaschow stellt einen größeren Posten heißer Ware zusammen, stößt ihn aber nicht ab, wartet auf einen Großhändler. Gestern nun wird er dringend zu einem Treff mit Zinkler bestellt, worauf er Dienst Dienst sein läßt, nach Hause fährt, wo Dshaga sitzt. Andererseits muß Zinkler spätestens morgen früh abreisen – auch das erklärt Balaschows Eile. In Moskau einen größeren Posten Schieberware unbemerkt zu übergeben ist nicht ganz einfach und riskant. Ich nehme daher an, sie werden sich irgendwo unterwegs treffen. Das einzig Unklare ist noch, wo Maulwurf steckt und was er mit diesem ganzen Unternehmen zu tun hat.“ „Fürs erste müßte die Rolle der Kulikowa geklärt werden, dann werden wir je nach Lage weitersehen“, sagte Tichonow. „Schön. Das kannst du übernehmen. Besprechen wir jetzt den Einsatz für heute und morgen…“ „In Ordnung“, sagte Prichodko. „Ich schlage vor, unsere Kräfte wie folgt einzusetzen…“
17 Uhr Überm Feuer dampfte der Kupferkessel. Die Früchte, die all ihren Saft hergegeben hatten, erstarrten langsam im Zucker, und in der unbewegten glühenden Luft verschwebten, den Geruch von Rauch und Blumen übertönend, Duftwogen von Kirschen. „Das Wichtigste ist, daß jede Kirsche säuberlich entkernt wird. Dann schmeckt die Marmelade ganz anders, und jede Kirsche ist zum Malen schön.“ Maria Fominitschna zeigte anschaulich mit ihren pummligen Fingerchen, wie schön dann die Kirschen gerieten. Aljonka lachte. „Tante Mascha, Sie haben so dicke Finger, daß ich ihren Ring als Armband tragen könnte.“ Die Alte zwinkerte ihr zu. „Mit den Händen schnackschnackschnack, mit den Fingern grappgrappgrapp.“ „Daß Sie Lust haben, bei solcher Hitze noch Marmelade einzumachen“, sagte Alla. „Die essen Sie doch allein nicht auf.“ „Ich nicht“, stimmte die Alte zu. „Aber mein Besuch. Es ist doch eine Freude, solche Marmelade auf den Tisch zu bringen.“ Walja döste unter einem Baum im Liegestuhl, und Maria Fominitschna scheuchte mit einem Tannenwedel die summenden Bienen vom Einmachkessel. „Dieser Sommer ist komisch: mal Regen, mal Hitze. So eine Demse heute wieder. Das mag wohl ein schönes Gewitter geben.“ Die Alte schöpfte den Kirschschaum ab. „Solch eine Kirschernte hatten wir noch nie.“ Alla kraulte Aljonka hinterm Ohr wie einem Kätzchen, und das Mädchen gurrte und schnurrte wohlig. „Bist du
meine Namensschwester?“ „Ja.“ Maria Fominitschna stand vom Hocker auf. „Ich geh jetzt ins Haus, und ihr Namensschwestern paßt auf, daß nichts überkocht. Holz braucht ihr nicht nachlegen, das reicht.“ Die Alte nickte. Die schwüle sommerliche Glut machte ganz benommen. Auf einmal fragte Alla: „Sagen Sie mal, Walja, sind Sie glücklich?“ Die Zeitung, die Walja vor der Sonne geschützt hatte, fiel ins Gras. „Wie soll ich sagen, Alla! Glück ist ein ziemlich vertrackter, nebulöser Begriff. Mit meinem Leben aber bin ich zufrieden.“ „Das grenzt nicht mitunter an Selbstzufriedenheit?“ „Nein. Ich würde bloß das Leben nicht neu beginnen wollen.“ „Ich habe alle Maße im Leben verloren. Ich würde gern noch mal von vorn anfangen!“ „Warum?“ „Nein, antworten Sie mir lieber: Was macht Ihr Leben zufrieden?“ „Daß es ausgefüllt ist. Ich habe einen Mann, den ich nicht bloß liebe, ich schätze ihn als Menschen, der auf seine Art großartig ist. Und diese Achtung hilft mir die kleinen unvermeidlichen Meinungsverschiedenheiten überbrücken.“ Alla sagte „Eins“ und bog einen Finger auf. „Ich habe eine Arbeit, die mir liegt, trotz all ihrer Schwierigkeiten und Unbequemlichkeiten. In ihr gehe ich ganz auf, was mir zwar mitunter das Letzte abfordert, aber auch ungeheure moralische Genugtuung gibt.“ „Zwei“, sagte Alla und bog noch einen Finger auf. „Ich
habe Freunde. Das sind recht interessante Leute, fast über jeden von ihnen ließe sich ein fesselndes Buch schreiben. Sie haben sich in schwierigen Augenblicken als famose Leute und treue Freunde erwiesen.“ „Drei“, sagte Alla und bog den dritten Finger auf. „Und Aljonka, natürlich.“ Walja lachte. „Vier“, sagte Alla. „Alla, ich will hier beileibe keine Rechnung aufmachen. Doch wenn wir schon rechnen, so sind diese Punkte Pole, die unserm Leben die notwendige Spannung verleihen…“ „Ach, liebe Walja, was heißt Rechnung, arithmetische, physikalische oder moralische! Wichtig ist, daß Sie was haben zum Aufrechnen. Was kann ich aufrechnen? Meine Lumpen? Oder die Dosen mit französischer Creme? Zum Kuckuck mit dem ganzen Kram!“ schluchzte sie plötzlich dumpf, ohne Tränen. Aljonka bekam es mit der Angst, und sie streichelte über Allas Haare, über das Gesicht, über die Hände. „Tante Alla, liebe, beste Tante Alla, wein nicht, du weißt doch, Mama und ich sind deine Freunde.“ „Ich weiß, Mädel, ich weiß.“ Alla hatte sich schon wieder in der Gewalt und blickte auf Walja mit glänzenden Augen. „Was tun? Man lebt so hin. Wir lieben uns nicht, halten nichts voneinander, verstehen einer den andern nicht, obwohl wir beide doch dieselbe Sprache sprechen. Sehen Sie, heute hat er frei, hat sich mit diesem Saufkopp eingesperrt, und den halben Tag geht das Getuschel: pst, pst. Keinen einzigen netten Bekannten hat man – alles diese undurchsichtigen Kerle. Früher, da hatte ich Freunde. Sämtlich hat er sie mir vergrault. Sie passen nicht zu dir, laß sie laufen, das gibt doch Neid und Klatsch! Schöner Neid! Sie sind alle längst Ärzte und Ingenieure – und
ich ein Dienstmädchen in Orlon-Kostüm. Worauf denn neidisch? Auf den Export-Wolga? Was soll ich denn mit dem, wo ich viel lieber zu Fuß laufe. Ich will nicht mehr! Ich muß etwas tun. Ich bin doch schon fünfundzwanzig! Alles hab ich verpatzt, überall bin ich im Leben zu spät gekommen.“ „Großer Gott, wenn fünfundzwanzig Jahre schon das Ende sind, was soll ich dann mit meinen fünfunddreißig sagen! Sie sind nett, nicht dumm und im Grunde ein anständiger Kerl, Sie haben doch noch alles vor sich!“ 18 Uhr Heute passiert ein Unglück. Wieso, warum? Wer will das sagen. Aber ein Unglück passiert. Das wußte Lisa genau. Sie war schon aufgewacht im Vorgefühl des Unglücks. Mehr noch. Diese Ahnung hatte sie schon vorher beschlichen. Sie erinnerte sich – es war halb vier. Sie erwachte vor Schwüle, und noch im Halbschlaf langte sie, wie üblich, nach Genkas Gesicht. Ihre Hand blieb in der Luft hängen und fiel dann auf das leere kühle Kissen. Lisa fuhr im Bett mit einem Ruck hoch – Genka lag nicht neben ihr. Rundum Stille. Sie stand auf und tastete sich, ohne Licht zu machen, in die Küche. Im grauenden Morgenlicht sah sie ihn am Boden sitzen, an den Kühlschrank gelehnt und die Beine gekreuzt wie ein Türke. Sein Kopf hing auf der Brust. Erst kam es ihr vor, als wäre ihm schlecht. Und fast im selben Augenblick bemerkte sie in seiner Hand den matt schimmernden Lauf einer Pistole. Ihr wurde unheimlich. Sie schlich sich auf Zehenspitzen näher, in der Hoffnung, sie habe sich im Dunkeln geirrt. Nein, sie hatte sich nicht geirrt, es war eine richtige Pistole. Ebenso eine hat ihr Vater besessen, und ihr fiel
plötzlich ein, daß er immer von einer Walther gesprochen hatte. Lieber Gott, was ist nur los? dachte sie entsetzt. Will er sich wirklich, weil er Ärger im Betrieb hatte, eine Kugel durch den Kopf jagen? Und wo hat er die Pistole her? Sie ließ sich neben ihm nieder und wurde vom Gefühl solcher Verlorenheit ergriffen, wie vor fünfzehn Jahren, als sie an einem Tag beide Eltern verlor. Was tun? Ihn wach machen und fragen? Aber nach diesen Dingen fragt man nicht. Maulwurf schlief unruhig, gequält von Alpträumen. Er stöhnte und knirschte im Schlaf mit den Zähnen. Lisa dachte mit Bitterkeit, daß sie den Hausmeister Stepan Sacharowitsch besser kannte als diesen Mann. Wovon er lebte, was er tat, wo er immer steckte, nichts wußte sie, manchmal kam es ihr vor, als ob er gar nicht im Außenhandel beschäftigt sei. Eines Nachts, als sie nicht schlafen konnte, meinte sie plötzlich, Genka wäre bei der Spionageabwehr. Das glaubte sie eine ganze Zeit, ohne je Fragen zu stellen. Dann kam sie von dem Gedanken wieder ab. Sie kannte niemand von der Spionageabwehr, doch aus unerfindlichen Gründen glaubte sie, die wären ganz anders. Das mußten doch Männer mit Überzeugung sein. Genka, nein, der hatte keine Überzeugung. Und die Härte fehlte ihm auch dazu. Das wußte sie genau, obwohl er sich ziemlich selbstsicher, manchmal sogar unverschämt gab. Lisa stellte sich vor, daß er im Dienst ebenso auftrat und alle ihn für einen äußerst resoluten Mann hielten. Sie aber war eine Frau und wußte es besser als die andern. Sie hoffte nur, daß er nie ernste Schwierigkeiten bekam: Er war zu schwach. Das Großtun zehrte alle seine Kräfte auf, er hatte drinnen nichts mehr, kein Mark. Bei
Schwierigkeiten mochte er leicht über die Stränge hauen. Davor mußte sie ihn bewahren, weil sie ihn liebte und sie viel robuster war als er. Das war ihr längst klar. Nun schien das einzutreten, was sie in langen schlaflosen Nächten befürchtet hatte. Er hatte Schwierigkeiten. Sie strich ihm über den Kopf. „Genka, ist dir schlecht?“ „Wie, was?“ Maulwurf fuhr zusammen und stierte sie verständnislos an. Allmählich fand er zu sich. „Ist dir schlecht, Genka?“ Er kehrte ihr die Seite zu, bemüht, die Walther unauffällig in der Tasche verschwinden zu lassen. „Was hast du, Genka?“ „Mir geht’s schlecht, Liska, gesundheitlich und so – ich kann nicht schlafen, die ganze Nacht bin ich in der Wohnung herumgetigert.“ „Das ist alles?“ „Dir zuwenig?“ „Mir reicht es, Genka, Weißt du, fahren wir in den Süden, in ein Erholungsheim. Du bist ja fix und fertig. Du mußt ausspannen, ein bißchen Abwechslung haben, dann vergißt du deinen ganzen Ärger.“ „Ach, Lisa, Lisa, ein wenig Geduld nur noch. Noch eine Woche, dann fahren wir. Eine Wucht wird das.“ „Genka, was war das da für eine Karte, die für Viktor Michalytsch kam?“ Maulwurf stutzte kurz. „Weißt du, das ist eine ganz heikle Sache, ich möchte darüber vorläufig nichts sagen. Mich und dich jedenfalls betrifft es nicht.“ „Und wozu hast du zu Haus eine Pistole?“ Maulwurf starrte ihr ins Gesicht, und sie merkte, wie in seinen dunklen Augen helle Funken der Wut sprühten. „Wenn es so ist, wird es wohl nötig sein.“
„Das ist keine Antwort.“ „Ich sage dir, es ist eine Antwort.“ Er schaute beiseite und sagte: „Du bist kein Kind mehr, begreif doch, daß es Dinge gibt, über die man nicht spricht. Zu keinem.“ „Schade. Dann gehen wir wieder schlafen, hier ist nicht gerade der gemütlichste Ort.“ Sie glaubte ihm kein Wort und wälzte sich schlaflos bis zum Morgen. Dann sank sie in einen kurzen, unruhigen Schlummer, und als sie wach wurde, wußte sie: Heute passiert ein Unglück. Lisa frisierte an diesem endlosen heißen Tag wie immer sauber und höflich, doch ohne den Schick, der den Künstler unter den Figaros verrät. Sie ondulierte, drehte Wickler, färbte Strähnen, trocken klapperte die Schere in den Händen, die Türme und Toupets verschlungener Damenfrisuren wuchsen, sie schrieb Kassenzettel aus und schien bloß immerfort „Die nächste bitte!“ zu rufen, schnaufend vor Hitze und unbegreiflicher Angst, in der Erwartung, dass das Unglück sie ereilte. Als der Chef in den Salon trat und sagte: „Lisa, komm doch mal einen Moment zu mir…“, wußte sie, es war soweit. In dem kleinen Chefzimmer sah sie einen aufgeschossenen jungen Mann. Der Chef sagte: „Das ist unsere Lisa Kulikowa.“ Entschuldigte sich und zog sich zurück. „Setzen Sie sich doch, Jelisaweta Alexejewna.“ Der Mann rückte ihr einen Stuhl hin. „Danke, ich stehe lieber. Lange herumsitzen kann ich nicht, ich habe Kunden.“ „Schauen Sie, wir haben Ernstes zu besprechen, so daß Sie sich vielleicht doch besser setzen – auf schnellem Bein kein reiner Wein, sagt man doch. Und reinen Wein
wollen wir uns doch gegenseitig einschenken. Oder?“ „Wer sind Sie eigentlich, daß ich Ihnen reinen Wein einschenken soll?“ „Ich bin von der Petrowka achtunddreißig. Inspektor Tichonow. Sagt Ihnen das was?“ „Nein“, versetzte Lisa verwirrt, und ohne recht zu begreifen, wieso, dachte sie: Nun ist es soweit! „Sehen Sie, nun sind wir schon gute Bekannte.“ Tichonow lächelte so strahlend, daß Lisa unwillkürlich gequält zurücklächelte. „Wir haben viel zu besprechen, und ich möchte, daß wir es als Freunde tun.“ „Und warum?“ „Nicht meinetwegen. Sondern weil es im Sinne von Recht und Gesetz ist. Das Gesetz schützt uns alle, auch Sie. Wir sind fast gleichaltrig. Darf ich Sie Lisa nennen?“ „Freilich…“ „Ich bitte darum, Lisa, daß Sie mir ein paar Fragen beantworten. Dabei wollen wir uns über eins gleich klarwerden: Alles, was wir sagen, ist die reine Wahrheit! Klar?“ „Ja.“ Lisa nickte. „Sie kennen einen Mann namens Balaschow?“ „Nein.“ „Lisa!“ „Auf Ehre, ich kenne keinen Balaschow!“ „Schön. Schauen Sie sich mal diese Fotos an, vielleicht kennen Sie eine von diesen Personen.“ Lisa warf einen Blick auf die drei Fotos und tippte sofort auf das, das Balaschow zeigte. „Das ist Viktor Michalytsch!“ „Wer ist das?“ „Der Chef meines Genka.“
Tichonow gluckste es schon in der Kehle, doch schluckte er die Frage grad noch rechtzeitig herunter. „Das ist Balaschow.“ „Das habe ich nicht gewußt.“ „Ich glaube Ihnen. Sagen Sie, wie stehn Sie zu ihm?“ Lisa zuckte mit den Schultern. „Ich habe ihn ein paarmal gesehen.“ „Kennen Sie die Familie, besuchen Sie sich?“ „Ich kenne seine Frau gut, sie ist Stammkundin bei mir. Wir sind dann durch Zufall darauf gekommen, daß er Genkas Chef ist. Er war mal von Dienst wegen bei mir zu Hause.“ „Wann war das?“ „Im Frühjahr ungefähr, ich glaube, im März.“ „Was wollte er?“ ‘ „Er brachte mir einen Logiergast für ein paar Tage.“ „War der Logiergast dann noch öfter da?“ „Ja, vor einem Monat für einen Tag.“ „Wie sah er aus, dieser Logiergast? Versuchen Sie mal, ihn möglichst genau zu beschreiben.“ „Schon älter, so um die Sechzig, grau, mit Schnurrbärtchen, groß, sehr mager. Länglicher Kopf, Mittelscheitel, Augen, glaub ich, grau…“ „Gradezu ein Steckbrief!“ rief Tichonow erfreut aus. „Ich bin doch Frisöse, ich habe einen geschulten Blick“, erklärte Lisa verlegen. „Sie wissen nicht mehr, wie er hieß?“ „Den Nachnamen kenne ich gar nicht, er wurde Porfiri Wikentjewitsch genannt.“ „Sehen Sie mal bitte, erkennen Sie ihn auf einem dieser Bilder?“ Lisa zeigte prompt auf Korshajews Foto. „Schön. Kennen
Sie den Namen Max Zinkler?“ „Nein, nie gehört.“ „Stimmt das auch?“ „Die Wahrheit war ausgemacht!“ „Richtig! Bitte um Entschuldigung. Wann haben Sie Balaschow das letzte Mal gesehen?“ „Gestern abend.“ „In welchem Zusammenhang?“ „Genadi hat mit der Post irgendeine Karte bekommen. Er hat sich nicht wohl gefühlt und mich daher gebeten, zu Viktor Michalytsch auf die Datsche zu fahren und auszurichten, die Karte sei eingetroffen. Außerdem sollte ich sagen, daß er morgen unbedingt zu einer Besprechung kommen sollte.“ „Schön. Sie behaupten also, Balaschow wäre seit dem Frühjahr nicht mehr bei Ihnen zu Hause gewesen?“ „Ja. Jedenfalls soviel ich weiß.“ „Was heißt das? Konnte er denn auch ohne Ihr Wissen…“ „Er konnte doch Genadi besuchen, wenn ich arbeiten war.“ „Genadi – ist das Ihr Mann?“ fragte Tichonow wie beiläufig. „Ja“, erwiderte sie nach einigem Zögern. „Ist er bei Ihnen gemeldet?“ „Nein. Standesamtlich registriert sind wir nicht.“ „Wie ist sein voller Name?“ „Genadi Alexandrowitsch Tarassow. Er ist im Außenhandelsministerium beschäftigt.“ „Da ich schon mal in der Tasche ein ganzes Album mit mir herumschleppe – wollen Sie bitte noch mal so nett sein und schauen, ob nicht Ihr Mann dabei ist?“ Ticho-
now hielt ihr Maulwurfs Bild hin. Er spürte plötzlich Atemnot, fingerte am Hemdkragen, wollte den obersten Knopf öffnen, bekam den Knopf nicht durch das verschwitzte Knopfloch, riß ihn ab. „Ist er das?“ „Ja, das ist Genka“, murmelte Lisa, Maulwurfs Bild in den Händen. Sie ahnte: Etwas Furchtbares war passiert, und Genka hatte damit zu tun. Aber wie sie ihm helfen konnte, das wußte sie nicht. Lügen? Wie lügen, wenn sie nicht wußte, ob es dadurch für alle noch schlimmer wurde. Für ihren Genka, für sie und für diesen Tichonow mit den weißen Zähnen, für alle! „Sagen Sie, Lisa, befindet sich Ihr Mann augenblicklich in Moskau oder vielleicht auf Dienstreise?“ „Hören Sie, Inspektor Tichonow, ich merke allmählich, dass es um etwas sehr Unangenehmes geht. Ich sage Ihnen, dass Genadi damit nichts zu tun hat. Er ist augenblicklich krank geschrieben, weil er gesundheitlich nicht in Ordnung ist, und geht schon seit zwei Wochen überhaupt nicht mehr aus dem Haus.“ „Lisa, wir sind übereingekommen, uns die Wahrheit zu sagen. Sie sollen daher wissen, daß sich Balaschow heute morgen in kriminellen Absichten bei Ihnen zu Haus mit einem Unbekannten getroffen hat. Ich müßte daher mit Ihrem Mann sprechen und bei Ihnen eine Haussuchung durchführen.“ „Da haben wir’s!“ Lisas Hände fielen in den Schoß. „Was?“ „Nein nein, das war nur so…“ „Warten Sie hier einen Moment.“ Damit eilte Tichonow ins Nebenzimmer, ließ aber die Tür offen, um den Korri-
dor zu übersehen. Wählte eine Nummer. „Boris Iwanowitsch? Hier Tichonow. Wir fahren zu Maulwurf, schicken Sie die Einsatzgruppe hin. Man soll am Haus auf mich warten.“ 19 Uhr Die Sonne schien lodernd ins Fenster. Die Wanduhr, als wäre sie von den Strahlen geweckt, knarrte plötzlich und schlug sieben. Maulwurf zuckte zusammen und spähte nach dem dunklen Zifferblatt. Junge, diese Warterei! Hinkepink will morgen um diese Zeit kommen. Noch einen ganzen Tag. Vierundzwanzig Stunden. Tausendvierhundertvierzig Minuten. Gar nicht auszurechnen, wieviel Sekunden! Quälende, höllische Minuten, endlos! Ob Gefängnis schließlich oder nicht, fürs erste hat Hinkepink mir jedenfalls eine Einzelbuchte organisiert. Der will mich foppen, tüchtig einseifen. Einfach den Anteil verweigern, das traut er sich nicht. Er weiß, ich würd ihm eine Kreuzlage verpassen. Er führt was im Schilde, bestimmt eine Gaunerei! Zum Teufel mit dem Anteil! Wenn er wenigstens ‘nen anständigen Paß und ein Weggeld rausrückt, dann könnt ich mich in irgendein Nest verkrümeln. Bloß weg von der Miliz, weg von der OBCHSS, raus aus dieser Ein-Zimmer-Buchte! Aber hat das mehr Wert? Miliz ist doch allenthalben. Was nur tun? Maulwurf holte aus der Anrichte die Flasche Dwina, die Balaschow zurückgelassen hatte, goß ein Glas voll und leerte es, das Gesicht verziehend, in großen Schlucken. Fand einen Apfel, biß hinein, hatte aber keinen Appetit, spuckte den Bissen aufs Parkett. Wälzte sich auf die
Couch, kniff die Augen zu, und alles geriet in sacht schaukelnde Bewegung. Wie ihn dieser lahme Hund geschafft hatte! Raffiniert war der schon. Maulwurf dachte an die erste Unterhaltung mit ihm. Er hatte ihm damals bescheiden gegenübergesessen und an der Brille herumgeputzt. Hinkepink hatte ihn scharf fixiert. „Wozu trägst du eine Brille?“ „Wozu?“ fragte Maulwurf erstaunt. „Wegen meiner Kurzsichtigkeit…“ „Unsinn!“ sagte Balaschow seelenruhig und erklärte geringschätzig: „Schlechte Maske. Kurzsichtige ohne Brille sehen ziemlich dumm aus. Du aber, schau, hast so ein richtiges Raubvogelgesicht. Du scheinst das Geld zu lieben?“ „Wie kommen Sie auf die Idee?“ „Schwindel nicht wieder. Du brauchst nicht verlegen zu werden. Ich kann solche Leute gebrauchen.“ Dann, und Maulwurf wußte nicht, ob im Spaß oder Ernst, sagte er: „Brillen mit Fensterglas sind auch ein Indiz. Setz lieber eine Sonnenbrille auf, wie Panikowski.“ Das war lange her, viel Wasser war seitdem ins Meer geflossen. Endlich schien der Augenblick gekommen, wo er ihn auf die Schultern werfen konnte, und da mußte er aufpassen, daß er nicht selber ausgezählt wurde, und erwartete, wie eine Gnade, Hinkepinks Almosen. Seinen Anteil! Den sauer verdienten! Und dieser Lump machte Sperenzien: zahlte oder zahlte nicht, je nach Laune. Du hast es weit gebracht, Maulwurf! Er war nicht fähig, zu brüllen, zu toben, zu rasen. Ihn graute vor dem Gedanken, was sein würde, und so dachte er bloß daran, was unabänderlich geschehen war. Wieso hatte er sich nur nach Odessa schicken lassen! So ein
Idiot zu sein! Ich geh nicht, und fertig! Hätten sie ihn gefaßt, na schön, dann hätte er seine fünf Jährchen abgerissen und wäre fein heraus gewesen. Er war doch noch jung und kräftig. Er hätte Lisa geheiratet oder eine andere. Und sein Leben irgendwie bestritten. Er hätte ja seine frühere Sache wieder aufnehmen können, falls er keine Lust hatte zu arbeiten. Seinen Spitznamen trug er ja nicht von ungefähr. Er erinnerte sich, wie er vor langen, langen Zeiten dazu gekommen war: Um der Miliz nicht als eine Person ohne ständige Beschäftigung aufzufallen, schloß er einen Vertrag mit einem Handelskontor für Pelzbeschaffung. Alle seine Kumpane brachen in neidisches Gelächter aus, als er ihnen das Schriftstück zeigte, das ihn als „Beauftragten für Maulwurffang“ auswies. Tatsache! In allem Ernst! So konnte er in aller Seelenruhe seine Geschäftchen abwickeln. Und jetzt – finish! Ein Schwerverbrecher! Wenn ich bei dem Alten in Odessa Spuren hinterlassen habe, wird jetzt jeder Milizmann auf der Straße meinen Steckbrief haben. Junge, was hab ich nur angestellt! Wie dieser Kerl mich an die Kette gelegt hat! Nicht die Nase darf ich aus dem Bau stecken. Was bleibt mir jetzt noch – hier versauern, was? Maulwurf sprang gereizt von der Couch auf, rannte im Zimmer auf und ab, goß noch einen Kognak ein, kippte ihn gierig. Dies Herumrennen aber machte ihn ganz schwach, und er streckte sich wieder hin. Warum Hinkepink bloß so darauf bestanden hat, daß ich nicht ausgeh? Was, wenn er mir die Bullen auf den Hals hetzt? Durch einen anonymen Schrieb. Der flüchtige Zuchthäusler, nach dem ihr euch die Hacken abrennt, sitzt im Augenblick da und da… Ihm ist ja klar, daß ich ihn nicht verpfeifen kann – sonst kommt das mit Odessa
heraus, und unterdessen versilbert er die Ware bei diesem dreimal verflixten Max und verschwindet in der Versenkung. Bin ich dann nicht vollkommen erledigt? Am Ende haben sie bei dem Alten doch meine Abdrücke entdeckt, und die Kugel ist mir sicher. Auch Gauner dürfen ja nicht eigenmächtig umgelegt werden. Was du mit mir bloß gemacht hast, Rumpelstilz. Wie du mich umgarnt hast, die Luft bleibt mir weg, allein mit Worten hast du mich eingewickelt, mit raffinierten, gescheiten Worten – und ich zapple darin! Wie ihm das von den Lippen fließt: Dein wesentliches Manko, mein lieber Maulwurf, ist, daß du keine Grundsätze hast. Du siehst doch selbst das neunte Gebot nur im Licht der einhundertsechsundvierzig Artikel des Strafgesetzbuches… Keinen, keinen hab ich mehr! Dshaga, diese Flasche, dieser Nieswurz, wäre ich nicht gewesen, wär er doch im Lager verreckt! Ich hab ihn durchgefuttert mit herbei organisierten Rationen. Und dieser Sack kommt mir jetzt: Ich hab meine Sicherheit… So eine Lauserei! Komm ich bloß hier heraus, dann gnade euch Gott. Für dies Eingesperrtsein sollt ihr zahlen, euer Leben lang sollt ihr an Maulwurf denken! Liska allein auf der Welt liebt mich. Und auch sie hegt sicher so einen kleinen Gedanken, im stillen. Denkt bestimmt, ich war ein großer Außenhandelsboß, und will mit mir ins Ausland reisen. Sonst noch was gefällig? Ins Gefängnis, in die Potma, hast du keine Lust mit mir zu gehn, liebste Braut? Du möchtest durchaus mit mir nach Montreal zur Weltausstellung! Schön wär’s ja! Du meinst vermutlich, bei mir im Ministerium gäb’s nur eine Verzögerung mit dem Auslandspaß? Darin ist die Rubrik Vor- und Nachnamen zu klein – meine sechs passen nicht hinein. Jawohl! Dir gefällt das nicht?
Dann schwirr ab, Puppe! Maulwurf kippte den Rest Kognak gleich aus der Flasche. Nein, mein lieber Freund und Kupferstecher, Bürger Hinkepink! Sollten Sie den Wisch schon abgeschickt haben, so wird die Miliz hier einen feuchten Kehricht finden. Jawohl, verehrter Viktor Michalytsch! Ich muß verschwinden. Schleunigst! Und wenn das Haus schon umstellt ist? Korshajews wegen? Das rote Licht wird angehen, und dann der Gong… Maulwurf sackte entkräftet auf den Stuhl. Er war pitschnaß und von einem Schwindel ergriffen, wie morgens im Schrank. Der Ohnmacht nahe. Nein, Unsinn, ich fall nicht in Ohnmacht! Ich habe keine Lust, das rote Licht zu sehen, den Gong zu hören. Ich will leben. Leben! Das schrie er heraus. Ich will nicht sterben, sollen sie doch alle leben lassen! Ich will nicht sterben! Auf einmal riß er den Hemdkragen auf und schluchzte hysterisch los. Wofür sterben? Ich bin jung, leben, leben! Hände und Gesicht überlief ein Zittern, er stieß den Kopf auf den Tisch und winselte immer wieder das eine Wort: Leben! Leben! Dann sprang er auf, ließ den Blick aus trüben, geröteten Augen durchs Zimmer fliegen. Bloß weg, rasch fort! Hinkepink werd ich dann schon finden, telefonisch. Ich muß zu der Alten hinaus, nach Ostankino. Da findet mich keiner. Er fuhr in die Jacke, schaute zur Uhr. Sieben Uhr zweiundzwanzig. Dann fiel ihm ein, daß er ja so nicht auf die Straße konnte: in diesem Aufzug, bärtig, zerrissenes Hemd, er würde auffallen. Er stürzte ins Bad, fuhr mit dem Elektrorasierer im Gesicht herum, ratschte die wuchernden Stoppeln weg. Wusch sich, kämmte sich, streifte ein sauberes Hemd über, langte einen Koffer aus dem
Schrank, warf einen Packen Geldscheine hinein, ein paar Hemden, Strümpfe. Ach zum Kuckuck! Fix, fix. Noch ein paar Zeilen an Lisa. Doch war kein Bleistift zu finden. Schön, dann ruf ich nachher an. Schon war er an der Tür, da wandte er sich zurück. Was, wenn sie es mit der Angst bekam und ihn bei der Miliz als vermißt meldete? Erneut kramte er in den Taschen, aber der Füllhalter war futsch. Er brannte ein Streichholz ab und kratzte mit dem verkohlten Ende auf ein Stück Papier: „Mußte eilig weg, rufe an. Gena.“ 19 Uhr 30 „Hallo, Scharapow“, rief Tichonow, „schon lange hier?“ „Eben eingetroffen.“ Der Einsatzleiter, rundgesichtig, mittelgroß, nüchterne blaue Augen, schaute zur Uhr. „Vierzehn Minuten sind wir gefahren. Die Jungs orientieren sich gerade, ob ein Hinterausgang existiert.“ „Existiert nicht. Aber oben auf dem Boden gibt es einen Durchgang.“ „Schön, also los!“ „Na denn, alter Junge!“ „Was ich noch fragen wollte: Hat er eine Kanone?“ „Sie meinen wohl eine Faustfeuerwaffe, Major Scharapow? Falls ich Ihren Jargon richtig verstehe?“ „Bei meinem Kundenkreis kenn ich das nicht anders. Ihr habt gut lachen: Ihr habt’s mit der geistigen Elite zu tun, bei Haussuchungen parliert ihr mindestens über lyrische Gedichte.“ „Übrigens, unser Freund, den du da mit deiner Visite zu beehren gedenkst, fällt in die Zuständigkeit des OBCHSS.“ „Kompetenzstreitigkeiten – nicht so wichtig momentan.“
„Ich streite nicht. Ich darf Sie nur erinnern, daß Sie mir zur Verstärkung zugeteilt wurden. Und mir der Vortritt gebührt.“ Scharapow schüttelte den Kopf. „Woher denn! Die Ermittlungen gegen ihn laufen bei uns.“ „Jetzt langt’s mir aber“, sagte Stas entschlossen. „Ende der Debatte.“ Unauffällig tastete er nach der Gesäßtasche, wo die Pistole steckte. „Also dann!“ Tichonow trat zum Wagen, wischte den Schweiß aus dem Gesicht, öffnete den Wagenschlag. „Kommen Sie, Lisa. Und keine Aufregung!“ Lisa fröstelte, obwohl die feuchte Schwüle draußen schier unerträglich war. Sie faßte Tichonow am Arm. „Und nun?“ . Tichonow wollte lächeln, aber das Lächeln mißriet, und er sagte traurig: „Ich weiß nicht, Lisa. Eine brenzlige Angelegenheit.“ Er besann sich und fragte: „Hat er eine Waffe?“ Lisa dachte an den metallischen Schimmer der Walther und weinte los. „Hat er was angestellt?“ „Es sieht ganz so aus.“ Sie weinte noch heftiger. Tichonow kam es so vor, als halte sie die Schwüle, den Kummer, die Anspannung nicht aus. Er faßte sie um die Schulter und führte sie ins Haus. Scharapow, ohne ihnen nachzusehen, blieb stehen, und seinem Rundgesicht war anzumerken, daß er ein zwiespältiges Gefühl hatte. „Lisa, ich frage Sie noch mal: Ist er im Besitz einer Waffe?“ „Ich kann nicht, ich kann nicht! Ich liebe ihn doch! Dann
würde ich ihm ja in den Rücken fallen…“ „Durchaus nicht“, sagte Tichonow, „Sie würden nur menschlich handeln. Schon deshalb, weil mich im nächsten Moment eine Kugel erwischen kann. Dann würde er später erschossen werden.“ Lisa schwieg. Stas ließ sie los und wandte sich zu den Genossen um. „Wir nehmen die Treppe, Scharapow. Mach die Fahrstuhltür auf, damit ihn niemand von oben benutzen kann.“ Sie waren bereits im ersten Stock, als Lisa ihnen halblaut nachrief: „Warten Sie, warten Sie, Tichonow!“ Stas beugte sich übers Geländer und fragte: „Was ist?“ „Er hat eine Pistole, eine Walther. Ich glaube, er trennt sich: nie von ihr. Ich habe sie gesehen…“ Tichonow drehte sich zu Scharapow um. „Oha! Was nun?“ Lisa kam hinter ihnen die Treppe heraufgelaufen. „Warten Sie, ich werde vorgehen. Ich werde die Tür aufmachen. Ich will nicht, daß er erschossen wird. Ich warte, bis er…“ „Sie kommen nicht mit“, sagte Tichonow. „Sie bleiben hier, geben Sie mir den Schlüssel. Bleiben Sie hier, sonst verderben Sie noch alles. Gleich werden die Männer der Einsatzgruppe kommen, warten Sie mit ihnen auf uns.“ Dann fragte er: „Haben Sie eine Kette an der Tür?“ „Nein.“ Im nächsten Stock blieben sie stehen. „Du schnaufst ja so?“ Scharapow griente. „Heiß. Und du?“ „Mir ist einigermaßen flau“, erwiderte Scharapow und lachte. „Und das passiert dir altem Spürhund?“ „Er wird uns zum Empfang nicht gerade Sekt kredenzen.
So’n Dings knallt nicht nur, das kann auch treffen.“ „Na und?“ „Was heißt na und! Wer keine Kugeln fürchtet, hat noch keine pfeifen gehört. Aber wem sag ich das!“ Unten klappte die Tür. Scharapow beugte sich übers Geländer und sah hinab. „Sie sind da.“ „Los!“ Lautlos stiegen sie zum dritten Stock hinauf und blieben vor der Tür Nummer 25 stehen. Im Fernsehen schien es Fußball zu geben. Aus der Wohnung 26 scholl Getöse, und plötzlich hörte man einen Jungen schreien: „Elfmeter! Haut ihn rein!“ Tichonow zog die Pistole aus der Gesäßtasche und nahm sie in die Linke. In der Rechten hielt er den Schlüssel. Spuckte darauf – damit er nicht knirschte oder weil das Glück bringen sollte. Schob ihn ins Schloß und drehte lautlos um. Scharapow stieß die Tür mit der Schulter auf, und sie stürzten in die Wohnung. Stille, Halbdunkel, Leere… „Ausgeflogen, der Vogel!“ stieß Tichonow aus. „Er muß gerade fort sein! Die Zigarette im Aschbecher glimmt noch.“ Die Milizmänner begannen mit der Durchsuchung. Die beiden als Zeugen hinzugezogenen Hausmeisterfrauen atmeten schwer, machten gedrückte Gesichter. Tichonow setzte sich zu Lisa, die apathisch, teilnahmslos und aschgrau dasaß. Wie Ofenasche, dachte Tichonow. „Sagen Sie mal, Lisa“ – er hielt ihr das vollgekrakelte Blatt hin – , „wo kann er Sie anrufen wollen?“ „Sicher auf der Arbeit.“ „Ob er hierher zurückkehrt?“ „Möglich, aber unwahrscheinlich.“ „Hat er seine ganzen Sachen mit?“
„Nein, da hängen seine Anzüge.“ „Wolodja, hast du seine Sachen durchgesehen? Nichts?“ wandte er sich an Scharapow. „Alles wie ausgebürstet. Bloß im Mantel war eine Flugkarte.“ „Schön, nimm das ins Protokoll auf. Wir werden dann sehen.“ „Lisa, wieso wissen Sie denn nicht, wo er wohnt?“ „Ich weiß es halt nicht, es hat mich nie interessiert. Mir schien nur wichtig, daß er da war.“ „Hat er seine Wohnung in Moskau, oder wohnt er zur Untermiete?“ „Ich glaube, er hat ein Zimmer gemietet.“ „Wissen Sie wenigstens den Stadtbezirk?“ „Irgendwo in Ostankino. Ich glaube, er hat gesagt Mawrinskaja Uliza. Jaja, Mawrinskaja. Als wir mal im Botanischen Garten waren, da hat er gesagt, er wohnt nicht weit.“ „Haus- und Wohnungsnummer?“ „Weiß ich nicht. Ich meine aber, es ist ein altes Häuschen.“ „Wieso alt?“ „Er hat immer geklagt, es gäbe kein Bad dort; er war gewohnt, jeden Tag zu baden.“ „Besten Dank.“ Er trat an Scharapow heran. „Na, Wladimir Iwanowitsch, was Neues?“ „Nichts.“ „Laß einen Mann zurück, und ab die Post!“ 21 Uhr Es dunkelte unversehens. Die Sonne verschwand in dicken Wolkenschwaden. Trotzdem kühlte es nicht ab. Und
da aus dem Radio eine dunkle, melodiöse Stimme herzzereißend „Nur du, nur du…“ schluchzte, schien es noch schwüler. Walja knipste eine Klemme an die Rückwand des Apparats. Als sie sich auf der richtigen Welle befand, setzte sie den winzigen Ohrhörer ein und sagte gedämpft, doch akzentuiert ins Mikrofon: „Mond, Mond, hier Stern, hier Stern. Bitte kommen.“ Sie wiederholte es. Im Hörer aber krachte es nur. Walja murmelte: Schöner Mist! Atmosphärische Störungen, es gibt Gewitter. Nach einigen Augenblicken hörte sie eine entfernte, doch klar vernehmliche Stimme: „Stern! Hier Mond, ich höre. Bitte kommen…“ „Melde, Beobachtung aufgenommen, erbitte Sendezeiten. Bitte kommen.“ „Verstanden. Sie stehen in Dauerverbindung mit dem Bereitschaftsdienst. Bitte kommen.“ „Verstanden. Ende.“ 22 Uhr „Ich hätte Lust, von da oben runterzuspringen!“ Tichonow deutete auf das engmaschige Stahlgeflecht des im Bau befindlichen Fernsehturms. Die Wagen schossen quietschend in die Kurve, jaulten in die letzte Gerade und hielten vor der Einfahrt des Reviers 138. „Hör auf zu nölen. Wir finden ihn“, erwiderte Scharapow. „Meinst du?“ „Was gibt’s da zu meinen? Natürlich finden wir ihn.“ Scharapows Rundgesicht verzog sich zu einem Lächeln. „Du meinst wohl, nur du wärst scharf auf ihn? Wir sind
schon anderhalb Jahre hinter ihm her, und jetzt ist er das erstemal im Visier.“ Tichonow ließ Scharapow an der Tür den Vortritt, und in der Wachstube machten sie schmale Augen gegen das Licht. Der von der Hitze wohl ziemlich benommene ältere Wachhabende sagte zu einem Betrunkenen: „Höchste Zeit, daß dir die Erziehungsberechtigung ein für allemal aberkannt wird. Erzieher willst du sein? Die Kinder haben ja nur Ärger mit dir. Mit dieser Frage soll sich die Kommission befassen, so daß ein für allemal…“ Scharapow und Tichonow traten an die Barriere. „Ah, Genosse Scharapow!“ sagte der Wachhabende zuvorkommend. „Welche Überraschung. Was gibt’s?“ „Wir haben mit Ihnen zu reden.“ Der Wachhabende stand auf und rief im Nebenzimmer den Starschina: „Bykow! Lös mich mal ab. Ich hab mit den Genossen zu reden. Und der da“ – er nickte mit dem Kinn gegen den Betrunkenen – „soll es sich aus dem Kopf schlagen, daß er so bald nach Haus kommt, soll er sich sein Verhalten überlegen, ein für allemal.“ In dem winzigen Zimmerchen hing ein stickiger Geruch nach Gewehröl, Stiefelwichse und starkem Tabak. Der Wachhabende öffnete das vergitterte Fenster. „Womit kann ich dienen, Genosse Scharapow?“ Scharapow berichtete kurz, worum es ging, und der Wachthabende überlegte. „Hausbücher haben wir ja nicht. Obschon sie bei der Hausverwaltung eingeführt sind. Und die Meldestelle ist lange zu. Zum Verzweifeln! Moment, greifen wir uns doch den Saweljew vom Außendienst, das ist sein Revier, er kennt es wie seine Hosentasche, er wird Ihnen auf
Anhieb sagen können, wo man suchen soll. Er kann auch mitgehen und diesen…“ „… ein für allemal festsetzen?“ fragte Tichonow todernst. „Was?“ stieß der Wachhabende verblüfft hervor. „Jaja, freilich!“ „Alles klar.“ Scharapow erhob sich. „Soll ich Saweljew anrufen?“ fragte der Wachhabende. „Er ist ein fixer Junge…“ „Wo wohnt er?“ fragte Tichonow. „Gleich hier in der Tretja Ostankinskaja. Wollen Sie warten?“ „Keine Zeit“, sagte Scharapow. „Geben Sie uns einen Mann mit. Wir fahren bei Saweljew vorbei und dann gleich weiter – wir haben’s eilig. Rufen Sie an, damit er sich fertigmacht.“ Sie traten wieder in die Wachstube, Bykow las die „Wetscherka“, in der Ecke, auf der Heizplatte, grummelte still ein Kocher mit Teekessel. Und der Betrunkene ließ auf der Holzbank ein kräftiges Schnarchen hören. „Schönes Stilleben, was, Tichonow?“ „Einzig! Doch wir fahren weiter.“ Der Wachhabende sagte zu Bykow: „Fahr mit den Genossen zu Saweljew.“ Tichonow drehte den Luftregler zu sich, knöpfte das Hemd auf, und ein kräftiger Strahl warme Luft traf seine Brust. Er sog sie gierig ein, konnte gar nicht genug inhalieren, denn in seinem Innern, in der Herzgegend, spürte er einen feinen stechenden Schmerz. Zuviel in der Hitze herumgelaufen, dachte er. Der Fahrer sandte ihm einen mißbilligenden Blick zu. „Schließen Sie das Fenster, Genosse Tichonow, Sie sitzen im Zug.“
„Unsinn, draußen sind jetzt wenigstens dreißig Grad.“ „Na und? Das ist es ja, man ist patschnaß, und der leiseste Luftzug wirft einen um, das dürfen Sie mir glauben!“ Sie langten auf einem Platz an, und im Scheinwerfer glimmerte kalt der geschwungene Schweif eines Kosmonautenobelisken. „Massiv Titan. Das härteste und schwer schmelzendste Metall.“ Bykow deutete auf den Obelisken. Scharapow riß ein Streichholz an und entzündete eine Zigarette. „Zigarette, Stas?“ „Danke, immer noch Nichtraucher.“ Scharapow sog den Rauch tief in die Lungen, schwieg, dann sagte er: „Ich würde mir heut diese Qualitäten gern bei ihm ausleihen…“ „Bei wem?“ Bykow verstand nicht. „Bei dem Obelisken“, erwiderte Stas für Scharapow. Sie klingelten und klingelten – kein Laut. „Nanu, ist er nicht zu Hause?“ sagte Bykow erstaunt. „Er ist grad abgelöst worden und hat gesagt, er geht schlafen. Vielleicht schläft er so fest?“ Sie klingelten nochmals. Da ging die Tür der Nachbarwohnung auf, und eine ältliche rundliche Frau mit einem Dutzend Lockenwicklern unter dem Kaprontuch schaute hervor. „Warum läuten Sie Sturm? Es ist niemand zu Hause.“ „Ist Sascha heut nicht nach Hause gekommen?“ Scharapow trat näher. „Gewiß. Er hat sich was aus dem Kühlschrank genommen und ist gleich zu Schwiegermuttern gefahren. Er hat nur kurz bei mir geklingelt und Geld abgeliefert – die Miete.“ „Sie wissen nicht zufällig, wo die Schwiegermutter
wohnt?“ „Wer sind Sie eigentlich?“ Da erst erblickte sie den uniformierten Bykow, der hinter Scharapows breiten Schultern kaum zu sehen war. „Von seiner Dienststelle, was?“ „Ja, es ist dringend“, sagte Tichonow mit Nachdruck. „Dringend! Bei Ihnen ist’s immer dringend!“ parierte die Nachbarin schnippisch. „So ein Affendienst – Tag und Nacht keine Ruhe. Während alle anständigen Leute schlafen, muß der Saschka fast jede zweite Nacht raus: Dalli, dalli, es eilt!“ „Man holt ihn ja nur mitten in der Nacht, damit alle anständigen Leute schlafen können.“ Tichonow lächelte. „Und wozu gondeln Sie mitten in der Nacht herum und suchen die Schwiegermutter?“ „Die Angelegenheit kann nicht bis zum Morgen warten. Sie haben doch selber gesagt, wir von der Miliz wären immer in Eile“, versuchte Scharapow ein Kompliment. „Ich weiß nicht, wo seine Schwiegermutter wohnt. Nicht genau jedenfalls. Ich weiß nur, Sascha hat mal gesagt, seine Schwiegermutter und meine Tochter wohnen in einem Haus.“ „Und wie heißt die Schwiegermutter?“ „Weiß ich auch nicht. Seine Frau heißt Galja.“ „Und Ihre Tochter?“ „Xenia Romanowna. Sie wohnt Marjina Rostscha, sechster Aufgang, Haus acht, Wohnung fünfzehn.“ „Vielen Dank…“ Als sie in den Wagen stiegen, knurrte Tichonow nachdenklich: „Die Zeit vergeht und vergeht. Hoffentlich kommt Maulwurf nicht auf die Idee, sich abzusetzen.“ „Bahnhöfe, Flughäfen und Ausfallstraßen werden überwacht.“
„Schön. Du, Bykow, kommst mit. Du“ – deutete auf die Uniform – „genießt im Augenblick die größte Autorität.“ Die Einsatzwagen bogen in die Marjina Rostscha ein. Als er klingelte, zeigte Scharapow Tichonow die Uhr – zehn vor elf. „Wer ist da?“ „Öffnen Sie bitte. Miliz.“ Im erleuchteten Rechteck der Tür stand ein junger Mann im Pyjama, eine Reißschiene in der Hand. Die andere Hand rückte an der Brille. „Treten Sie bitte näher. Was kann ich für Sie tun?“ „Vor allem bitten wir, die Störung zu entschuldigen. Wir hätten Ihre Frau gern um eine Auskunft gebeten.“ Eine Frau in hübschem kurzem Morgenrock trat auf den Korridor. „Xenia Romanowna?“ „Ja, womit kann ich dienen?“ „Guten Abend, wir haben Ihre Adresse von Ihrer Mutter erfahren. Sie ist die Nachbarin eines unserer Mitarbeiter, der sich im Augenblick in diesem Haus bei seiner Schwiegermutter aufhalten soll. Vielleicht ist sie Ihnen bekannt – die Tochter heißt Galja?“ fragte Tichonow. „Ich glaube, es ist Galja Stepanowa. Sie wohnt Aufgang drei, im dritten oder vierten Stock.“ „Besten Dank. Und entschuldigen Sie bitte nochmals die Störung.“ „Keine Ursache. Ich glaube, es ist die linke Wohnung.“ Als sie an dem langen Bau entlanggingen, fragte Scharapow: „Merkst du, da regt, sich ein Lüftchen.“ „Lüftchen ist gut! Sieh mal zum Himmel, was sich da zusammenbraut. Ein Gewitter ist im Anzug. Für Maulwurf jetzt die richtige Zeit, zu türmen.“
Sie traten ins Haus. Tichonow hantierte einen Moment am Schloß des Fahrstuhls. „Welcher Idiot kommt denn bloß darauf, nachts den Fahrstuhl abzuschließen?“ „Frag mal bei der technischen Aufsicht nach, sicher ist das Vorschrift.“ „Weswegen?“ „Weiß ich? Vermutlich sollen ihn die Gören nicht in Dauerbetrieb nehmen.“ „Gören? Nachts?“ „Hör mal, stell nicht so tiefsinnige Fragen. Die Schwüle hat mich sowieso geschafft. Mein Hemd kannst du auswringen.“ Im dritten Stock klingelten sie. „Könnten wir Sascha Saweljew sprechen?“ „Hier ist kein Sascha“, bellte es wütend hinter der Tür. Sie klingelten im vierten Stock. Jemand patschte barfuß über den Fußboden, das Schloß schnappte, und vor ihnen stand ein verschlafener rothaariger Bursche in Turnhosen. „Das ist er!“ seufzte Bykow erleichtert. „Abend, Saweljew, du hast dich ja schön vergraben, möchte ich dir sagen.“ Scharapow drückte ihm die Hand. „Abend, Genosse Major. Bei der Marine hieß es früher: Willst du schlafen ungestört, tu’s in fremder Koje. Wollen Sie bitte in die Küche kommen, bei meiner Hilfstruppe wurde nämlich schon Zapfenstreich geblasen.“ Tichonow drehte den Hahn und mußte lange warten, bis Wasser floß. Er suchte mit den Augen nach einem Glas, doch der Tisch war leer geräumt und so sauber wie die ganze Küche. Er beugte sich und schlürfte unter dem Hahn das laue Wasser, ohne daß der Durst verging. In der Brust fühlte er immer noch das Stechen und dachte: Was wird das schon sein. Morgen wird sich tüchtig ausgeschlafen, und alles
ist in Butter. Ich bin einfach hundemüde. Saweljew trat wieder ein, in Hosen und Hemd, und seine roten Locken leuchteten wie ein Heiligenschein. „Du kannst dir wohl schon denken, was los ist?“ Scharapow grinste. „Sie wollen mich ja wohl nicht bloß mit Ihrem Besuch beehren“, versetzte Saweljew düster. „Sicher nicht. Dann wären wir wohl früher gekommen.“ Und dann ohne jeden Übergang: „Kannst du dich an Maulwurf erinnern, an die Fahndung? Alias Kostjuk Gennadi?“ „Ja, ich weiß. Und?“ „Er hat sich in deinem Revier eingenistet.“ Saweljews blasses Gesicht verzog sich. „Sauerei!“ „Zügel die Emotionen und laß uns überlegen, wo er auf der Mawrinskaja Uliza stecken könnte: altes Haus, kein Bad.“ „Moment!“ Saweljew wutschte zur Küche hinaus und kam mit zwei Stühlen wieder. „Setzen Sie sich, Genosse“, sagte er zu Tichonow, der am Fenster unersättlich nach Luft gierte. „Das ist Tichonow, vom OBCHSS. Sie haben Maulwurf eigentlich aufgespürt“, stellte Scharapow vor. Sie setzten sich an den Tisch. „Die Mawrinskaja Uliza bezeichnet die Grenzlinie des Bauschwerpunktes“, begann Saweljew. „Die ganze linke Seite sind Neubauten. Alte Häuser stehen bloß rechts. Auf der rechten stehen aber auch neue. Alte Häuser sind da, Moment, Moment, ja, sieben.“ Nummer vier, sechs, zehn, vierzehn, sechzehn, zwanzig und achtundzwanzig, jaja. Wenn Sie wollen, können wir jetzt zu der Berkows-
kaja fahren, sie wird uns eine enorme Hilfe sein können.“ „Wer ist das?“ „Die Berkowskaja? Diese Dame verkörpert, wie soll ich sagen, die ganze Epoche des Ostankino-Wladykino. Sie ist dort aufgewachsen und arbeitet seit zwanzig Jahren bei der Hausverwaltung. In den Neubauten wohnen ja jetzt überall neue Leute, da möchte ich mich nicht verbürgen, aber in den alten Häusern kennt sie alle ohne Ausnahme.“ „Mach dich fertig, wir fahren hin.“ „Fertig ist der Bruder Abgebrannt, sobald der Gürtel umgespannt. Ich bin soweit, ich sag bloß noch Bescheid.“ Die beiden Kriminalisten gingen schon, klapperten mit den Absätzen die Treppe hinab; unten holte sie Saweljew ein, er war geladen. „Meine Frau hat mich zum Teufel gewünscht. Mit mir, sagt sie, ist es nicht zum Aushalten.“ „Wie überflüssig! Wir werden auch ohne ihre frommen Wünsche dort landen“, warf Tichonow ein. Scharapow klappte den Wagenschlag zu und sagte vergnügt zu Saweljew: „Alles Kinkerlitzchen, mein Lieber. Du bist noch nicht so lange beim Bau. Meine Frau hat mich schon zweimal sitzenlassen. Na und? Sie kehren alle zurück. Los, vorwärts!“ Die Tür öffnete ein Mädchen mit langen dünnen Zöpfchen und traurigen Augen. „Mutter ist nicht zu Hause.“ „Und wo ist Anna Markowna?“ fragte Saweljew. „Sie ist mit Tante Sina im Kino.“ „So ein Pech!“ erboste sich Tichonow. Saweljew hatte soeben erst ins Spiel eingegriffen. Er war noch bei Kräften. „In welchem Kino?“
„Im Dzierzynskipark.“ „Weißt du nicht, Shenetschka, in welcher Vorstellung sie sind?“ „In der Neun-Uhr-Vorstellung.“ „Komisch.“ Scharapow sah zur Uhr. „Dann müßte sie doch schon zurück sein.“ „Das weiß ich nicht.“ Das Mädchen zuckte mit den mageren Schultern. „Womöglich ein Zweiteiler! Hast du nicht beim Vorbeifahren gesehen, was dort läuft?“ fragte Tichonow Scharapow. „Nein.“ „Machen wir es doch so: Bykow bleibt hier, und sowie Anna Markowna kommt, sollen sie beide ins Revier gehen. Wir fahren inzwischen zum Kino, vielleicht ist es wirklich ein zweiteiliger Film, dann erwischen wir sie dort“, meinte Saweljew. „In Ordnung“, stimmte Scharapow bei. „Wie lange soll ich denn hier sitzen?“ maulte Bykow. „Ein Stündchen fürs erste!“ Saweljew winkte ab. Die Wagen fuhren zum Ostankinskiwall. „Ist das ein Abend! Verdammte Herumgondelei!“ murrte Tichonow. „Dafür kriegst du dreißig Tage Urlaub im Jahr.“ Scharapow zwinkerte ihm zu. „Ich fürchte, ich bin morgen reif dafür.“ „Da kannst du mal sehn, wie hart beim Moskauer Kriminalamt gearbeitet wird“, stichelte Scharapow. „Versteht sich, gearbeitet wird bei euch, und wir sind ein Sanatorium.“ Die Wagen wendeten und hielten vor dem Eingang des Parks. Saweljew ging zielsicher auf den dämmrigen Alleen dem Kino zu. Als vor ihnen ein Riesenplakat „Tolle,
tolle Welt“ auftauchte, stieß Tichonow einen Seufzer der Erleichterung aus. Hinter der dünnen Bretterwand des Freiluftkinos hörte man Schießen, Johlen, Lachen. „Kurze Rauchpause! Währenddessen kannst du, Saweljew, mal nachschauen, wie’s dort aussieht.“ Sie setzten sich auf eine Bank, und Scharapow paffte genüßlich eine Zigarette. Plötzlich sprang Wind auf. Tichonow sah hoch. Am Himmel zuckten Blitze. Er wischte mit dem Taschentuch über Wangen, Hals, Stirn und dachte: Wie schön, wenn bloß im Kino geschossen würde! „Was meinst du, Wladimir Iwanytsch, ist die Welt wirklich toll?“ „Ach was, die Welt ist vernünftig. Und nicht schlecht. Man muß nur die Quellen des Bösen ausmerzen.“ „Immerhin, ein schönes Stück Arbeit!“ „Sonst würde man sich auch nicht solche Männer halten wie uns.“ Scharapow lachte. Im Dunkeln tauchte Saweljew auf, neben ihm ging eine Frau. „Donnerwetter!“ staunte Tichonow. „Er hat sie mitten aus der Vorstellung herausgefischt!“ „Hallo!“ grüßte die Frau, als seien sie alte Bekannte. Sie hielt in der Hand eine Packung Waffeln. „Saweljew und ich überlegen noch, welches Haus in Frage kommen könnte, Sie können inzwischen knabbern!“ Sie reichte die Packung herum. „Danke“, sagte Scharapow einigermaßen verwirrt. Anna Markowna schien mit Saweljew keine Übereinstimmung zu erzielen; der war nicht einverstanden mit dem, worauf sie immer wieder und wieder energisch hinwies. Am Ende erklärte Saweljew: „Anna Markowna meint, ein Zimmer kann er nur bei der
alten Larionschen gemietet haben. Sonst kommt da nichts in Frage: Entweder ist nichts zu vermieten, oder man vermietet nicht.“ Erneut fuhr ihnen ein Windstoß ins Gesicht. Er wehte aus einem Lautsprecher einen melodischen Klang herüber und erinnerte daran, daß eine Turmuhr schlug: Mitternacht. Der neue Tag begann. Und Maulwurf unterdessen… Mitternacht Schadrin horchte zum offenen Fenster hinaus. „Hörst du?“ Er wandte sich an seinen Stellvertreter Kolzow. Der trat ans Fenster. Bam – tönte es durch die laue Stille der Sommernacht. „Die Turmuhr“, sagte Kolzow nachdenklich. „Mitternacht. Gehen wir noch mal den Plan durch.“ Im Ermitage verstummte die Musik, die letzten Kinobesucher zerstreuten sich mit einem Blick auf die Gewitterwolken; der Lärm verebbte in den Tiefen der Häuser und Gassen. Stille. Nur ab und an fuhr ein Taxi die Straße entlang. Stille herrschte auch in dem Riesengebäude der Petrowka. Die unzähligen Fenster waren erloschen, am Gemäuer schimmerte bläßlich das Nummernschild 38. Auf dem Gehsteig patrouillierte der Milizposten. Im Seitenflügel des Gebäudes leuchteten große Fenster, die zum Zimmer des Bereitschaftsdienstes gehörten. Hier schlief man nicht. Licht schien auch in zwei Fenstern des Eckzimmers im fünften Geschoß. Hier wurden wichtige Nachrichten erwartet. Prichodko saß übers Schachbrett gebeugt. Er spielte gegen den jungen Inspektor der OBCHSS Tolmatschow. Die Zuschauer, Mitarbeiter des Moskauer Kriminalamtes,
Uljanow und Woronowitsch, verfolgten das Spiel mit größter Anteilnahme und wetteiferten darin, Prichodko Rat zu erteilen. Seine Feldreihen auf dem Brett waren ziemlich gelichtet, was ihn übrigens nicht verdroß. Dankbar horchte er auf die widersprüchlichen Anregungen und folgte ihnen bereitwillig in der Reihenfolge, wie sie gegeben wurden. Das schlug nicht zum Guten aus: Tolmatschow versammelte seine Springer in der Nähe des gegnerischen Königs, der von den eigenen Bauern umstellt war, machte noch einen Zug und sagte gelassen: „Ich denke, du könntest aufgeben.“ „Ich werd dir was! Das ist unfair von dir. Schaffen wir uns noch ein bißchen.“ „Na schön…“ Sergej starrte mit gefurchter Stirn auf die Figuren. Da sagte Uljanow auf einmal: „Das Weiblein hat sich in den erfahrenen Händen des Unholds nicht lange gequält.“ „Frau Matt heißt sie.“ Tolmatschow verzog spöttisch die Lippen. Endlich merkte Prichodko, daß Tolmatschow ihn mit dem letzten Zug des Springers matt gesetzt hatte. „Natürlich“, ereiferte sich Sergej, „wenn ihr mir hier alle die Ohren vollblast… Auf ein neues!“ „Und die Abmachung?“ Prichodko schnaufte, schnitt Fratzen, steckte sich eine Zigarette ins Gesicht. Die andern fixierten ihn schweigend, nicht ohne Interesse. Sie wußten, daß sein Sichwinden hier nichts half – abgemacht vor Zeiten, spart später das Streiten. Sergej trat in die Mitte des Zimmers-, warf sich in Rednerpose und deklamierte: „Ich bin eine erbärmliche Null im Schach, ich sollte Knöchel spielen und mit den Bengels auf der Straße Hunde scheuchen
und mich nicht mit Schachmeistern an einen Tisch setzen!“ Ein homerisches Gelächter schluckte die letzten Worte des glücklosen Großmeisters. Schadrin und Kolzow sahen von ihren Akten auf und blickten neiderfüllt auf die lustigen Gesellen. „Sind Waffen und technisches Gerät durchgesehen, Jungs?“ fragte Kolzow lächelnd. „Tabak und Brote für den Notfall vorhanden?“ „Seien Sie unbesorgt, Genosse Major“, erwiderte der gutgelaunte Tolmatschow für alle, „wir sind komplett wie eine Marschkompanie. Persönlich alles kontrolliert.“ Die Spieler bauten erneut die Figuren auf. Allerdings sollte Prichodko diese Partie nicht verlieren. Das Telefon schrillte, Schadrin hob die Hand, und alle verstummten schlagartig. „Schadrin. Jaja, ich höre, Stas. Gefunden? Du meinst, er ist dort? Wer ist diese Berkowskaja? Verstehe. Scharapow ist einverstanden? So, schön, wird gemacht. Führer mit Hund schicke ich raus. Jaja, hier alles normal. Die Verbindung funktioniert. Also, viel Erfolg, Stas. Und hör mal: sei kein schneidiger Husar, spiel nicht den Dollbrägen. Schön, ich denke daran… Hals- und Beinbruch, Stas… Wir erwarten dich heil zurück!“ Der Hörer krachte auf die Gabel. „Stas und Scharapow sind soweit, daß sie Maulwurf festnehmen können. Dieser Himmelhund hat eine Walther; fragt sich nur, wieviel Patronen dazu.“ Prichodko schob das Schachbrett beiseite, ein Bauer fiel zu Boden. Sergej knackte mit den Fingern.
1 Uhr nachts Ein Fenster klapperte. „Mach es zu“, sagte Balaschow. Dshaga stand ächzend auf und trat ans Fenster, „Das sieht nach Gewitter aus, Viktor Michalytsch.“ „Famos! Besser noch, wenn es früh kommen und nicht so rasch abziehn würde.“ „Famos? Gewitter?“ Dshaga seufzte. „Hast du Angst vorm Gewitter?“ „Nicht Angst, aber mir ist’s nicht gerade geheuer; eine Teufelsmacht.“ „Du glaubst auch an Gott?“ „Wie soll ich sagen: glauben oder nicht, Ehrfurcht hab ich schon…“ „Wieso?“ „Und wenn es ihn nun doch gibt, den lieben Gott? Oder etwas in dieser Art? Und auf einmal wird für alles Rechenschaft gefordert, was dann?“ „Hm, du kommst dem Allerhöchsten ja ziemlich kommerziell!“ „Wie sonst? Bei unsereinem entscheidet der Erfolg doch alles.“ „Du bist mir auch so ein Erfolgsmensch!“ Balaschow lachte böse. „Nein, ich bin kein Erfolgsmensch, nur ein kleiner Mann, doch habe ich meine Überzeugungen!“ ,,Überzeugungen?“ „Ich denke so: Wenn der Herrgott, falls er existiert, das menschliche Glück gestiftet hat, so hat er es in Scheiben geschnitten wie einen Kuchen. Denn Menschen sind viele, und alle möchten ihr Stück haben. Wer heller ist und kräftigere Ellbogen hat, der wird schneller beim großen Kuchen angelangt sein und sich ein tüchtiges Stück, mit
Füllung, greifen, während der, der nicht so fix ist und sich alles sauer werden läßt, bei Krumen und Krümeln sitzenbleibt.“ „Bist du selber auf diese biblische Politökonomie verfallen?“ „Ich habe sie von Vater gehört.“ „Dein Vater scheint ja ein großer Denker gewesen zu sein. Kulak, was?“ „Wieso Kulak?“ sagte Dshaga beleidigt. „Kein Kulak, sondern ein ordentlicher Landmann. Sie haben ihn kaputt gemacht, diese Strolche. Wie sie ihm die Pferde auf den Kolchoshof wegtrieben, hab ich gedacht, mit Vater geht’s zu Ende – so erdfahl war er.“ „Wo hattest du denn deinen hellen Kopf damals und die kräftigen Ellbogen?“ „Sie haben ja alle mit vereinten Kräften geplündert, und gegen alle kommst du nicht an!“ „Wärst du doch in eine Bande gegangen.“ „Nein, das hat Vater gemacht. Vier Wochen später wurde er angeschleppt und vor den Dorfsowjet geworfen – das ganze Gesicht, von Ohr bis zu Ohr, war ihm weggeschossen.“ „Und du?“ „Ich? Ich will leben.“ „Du baust also die Gesellschaft auf, die dein Vater bekämpft hat?“ „Ich hab gebaut, und wie! Keinen Tag irgendwo, wo nichts abzustauben war.“ „Du warst also dein halbes Leben im Loch?“ „Das muß ich zugeben. Man schätzt unsereins zwar nicht sehr… Aber was tun! Kraft beugt den Halm. Deshalb hab ich mir ja Sie gesucht.“
„Bin ich für dich ein Heiland?“ „Nein, Sie haben aber einen hellen Kopf und ich Ellbogen.“ „Und wenn sich auf der Petrowka hellere Köpfe und kräftigere Ellbogen finden?“ „Risiko adelt! Oder: Wer wagt, gewinnt.“ „Du bist mir ja ein richtiger Dichter!“ sagte Balaschow und dachte: Nein, es kann keine helleren geben. Alles ist bis auf die Sekunde, bis ins kleinste durchdacht. Dieser Blödmann hat auf seine Art recht: Ihre Stärke ist, daß sie mit vereinten Kräften handeln. Niemals würden sie einzeln gegen mich antreten, sie stehen alle zusammen, und ich bin allein, ganz auf mich gestellt. Ich darf mich nicht mal rühmen, wie ich gegen den ganzen Apparat ankämpfe. Ob Dshaga wohl ahnt, was ich vorhabe? Kaum. Das wissen nur zwei Leute auf der Welt: Max und Maulwurf. Wegen Max kann ich beruhigt sein. Aber da ist dieser Maulwurf! Mit Maulwurf muß ich auseinanderkommen. Ach, wenn bloß alles klappt morgen! Es muß klappen! Maulwurf bringt sowieso nichts mehr, er muß weg. Er muß jetzt verschwinden. Wird gefährlich, weiß zu viel. Und der Miliz gilt er als schwerer Junge. Wenn seine sterbliche Hülle einmal gefunden werden sollte, wird kaum ein Friedhofsdirektor dafür ein Grab suchen. Flüchtiger Krimineller – klar, daß er sich mit Gaunern seines Schlages in die Wolle bekam. Wegen so einem recherchieren? Man wird die Fahndung einstellen und danke sagen! Alles klar also. Nun zu Dshaga. Morgen, wenn ich, unberufen, toi-toi-toi, die Sache gedeichselt habe, bekommt er eins hinter die Löffel und soll sich packen! Um sieben Uhr dreißig fliegt er aus der Firma, ein für allemal, Säufer und verkommenes Subjekt. Hier
will er den Philosophen markieren, auf der Petrowka aber werden sie ihm die Zunge schon lösen. Auf keinen Fall darf ich ihn länger halten. Wenn Maulwurf ausfällt, ist Dshaga der einzige Zeuge. Angenommen, er geht verschütt, und die von der Petrowka nehmen ihn in die Mache. Was dann? Beweise? Keine! Punktum! Allein auf eine Aussage hin geht’s keinem an den Kragen. Aufpassen muß ich, daß morgen abend im Hause kein Schräubchen oder Zeiger liegenbleibt. Überhaupt ist es längst Zeit, das Uhrengeschäft aufzugeben, es hat ja genug gebracht. Dshaga schlief im Sessel, pfiff durch die Nase. Die wulstige Unterlippe hing herab. Das Schwein, dachte Balaschow. Man gebe ihm einen Hof, ein paar Pferde, und er scheißt sich vor Glück in die Hosen. Der ist schon so verkommen, daß man ihm gar keinen Job mehr geben möchte. Klauen, ja, das kann er. Bis oben stehn sie mir, diese Dreckfratzen! Merkwürdig, sich mit so einem um die besten Stücken Kuchen zu schlagen. Wenn es bloß morgen klappt! Wenn es bloß klappt! Alle leimen, und mit dem großen Geld auf und davon! Wenn bloß nichts verquer geht und ich endlich freie Luft schnuppere… Er saß lange im Sessel, ohne sich zu rühren – bis er einnickte. 2 Uhr nachts Sie stiegen aus dem Wagen, und Stas staunte über die Stille, die über Ostankino hing. Der Wind war abgeflaut, und doch war die Schwüle nicht mehr so drückend. Tichonow hob das Gesicht, und plötzlich fuhr ihm ein großer Tropfen ins Auge. Ein zweiter traf die Stirn, das Ohr,
glitt samtig in den Kragen. Warme Tropfen fielen. Ein Blitz zerriß die Dunkelheit, und Tichonow sah Scharapow ebenfalls dastehen und offenen Mundes nach Regentropfen haschen. Das dumpfe Grollen am Horizont verstummte für Augenblicke, und der Himmel riß mit furchtbarem Getöse auf. Saweljew zuckte zusammen und zitterte. „Noch zu früh zum Zittern.“ Scharapow stieß ihm in die Seite. „Habe doch vor dem Gewitter keine Angst, es kommt uns grad zurecht.“ „Ich hab ja keine Angst.“ Saweljew schüttelte den Kopf. Scharapow sagte: „Setz die Mütze auf.“ „Wozu?“ verwunderte sich Saweljew. „Deine Haare leuchten im Dunkeln wie eine Verkehrsampel.“ Saweljew und Tichonow lachten. Da hielt neben ihnen ein „Pionerka“. „Ah, der Hundeführer“, sagte Scharapow, und alle stießen einen Seufzer der Erleichterung aus, weil Warten bei solcher Anspannung das allerschwierigste war. Sie standen ein gutes Stück entfernt vom Hause der Larionschen. Der Regen durchweichte Scharapows Zigarette, er warf sie in eine rasch zusammengelaufene Pfütze. Wieder ein ungeheures Krachen, und im Flackerschein des Blitzes bemerkte Tichonow, daß Scharapow ziemlich übermüdet wirkte und dicke Säcke unter den Augen hatte. „Achtung!“ Mit diesem Befehl schaltete Scharapow alle Bedenken aus, alles, was im Moment ablenken mochte und nicht zu dem knappen, brisanten Wort Einsatz paßte. „Achtung! Die Fenster im Haus sind geöffnet. Sie gehen alle auf die Straße. Ein hinterer Eingang existiert nicht. Tichonow und Katschanow nähern sich mit
dem Hund der Tür. Du, Katschanow, mach dem Hund klar, daß er sich nicht etwa einfallen läßt zu kläffen. Saweljew, Awerkin und Siw halten sich unter den Fenstern im toten Winkel, damit er, wenn er aus dem Zimmer schießt, nicht treffen kann. Ich werde unterdessen mit dem Wagen heranfahren und den Scheinwerfer aufs Fenster richten, ihn auf Tichonows Kommando ein-oder abschalten. Die Fenster nehmt ihr dann schlagartig.“ Tichonow merkte, daß er umsonst darauf beharrt hatte, als erster zu gehen. Den brenzligsten Platz hatte Scharapow sich selbst reserviert – den unterm Scheinwerfer, er befand sich fortwährend im Licht. Doch für Erörterungen war keine Zeit. „Alles klar?“ fragte Scharapow. „Dann los!“ Wieder donnerte es. Scharapow klopfte Tichonow auf den Rücken, und aus der nassen Jacke suppte Wasser. „Los, Stas! Du bist ein Glückspilz, ich glaube…“ Der Regen wütete, als wollte er sich für den erschöpfenden glühenden Tag rächen, der wer weiß wann begonnen hatte und immer noch nicht zu Ende war; und kein Ende war abzusehen. Stas rannte gegen den Regen an, und da es rundum rauschte, krachte und heulte, brüllte er zu Saweljew aus Leibeskräften: „Nicht so schnell! Sie gehn ins Fenster, wenn ich rufe!“ Bis zum Haus waren es gut hundert Meter. Tichonow lief schneller, nur um bald da zu sein und nicht daran zu denken, was in der Brust weh tat und daß Maulwurf aus dem Dunkeln schießen konnte. Wieso ihm jetzt nur die schöne Konzentration fehlte, die er im Frisörladen, bei Lisas Vernehmung, gehabt hatte, und in seinem Kopf, wie um eine unsichtbare Achse, bloß der Gedanke kreiste: Vorwärts, der schießt nicht. Dann dachte er: Warum sollen
wir diese Gauner bloß lebend in die Hand kriegen, wenn sie schießen. Er winkte den beiden Milizleuten und lief geduckt am Zaun entlang. Schwerfällig tappte Katschanow hinter ihm, und als lautloser Schatten rannte der Hund mit. „Leiser“, zischte Tichonow wütend, strauchelte in einer lehmigen Pfütze und dachte im unpassendsten Moment: Die italienischen Mokassins sind hinüber. Über ihm krachte es, daß es Tichonow in den Ohren sang. Der Blitz zerriß den Himmel, und Stas sah den Pionerka lautlos an den Zaun heranrollen. Das klappte ja. Stas drückte an der Dielentür, und die gab quietschend nach. Bei diesem abscheulichen Quietschen erstarrte das Herz, aber wieder hallte der Donner, und dies Getöse schluckte alle andern Geräusche. In der Diele war es gedämpfter, doch das Getrommel auf dem Blechdach verbreitete Unruhe, verbot ein Verschnaufen, ein Stehenbleiben, ein Kopfwenden. Tichonow leuchtete in die Diele hinein, und der zitternde Strahl der Taschenlampe glitt über verrostete Eimer, Dosen, Lappen, Bretter, ein Brecheisen. Dann ein Krachen genau überm Haus, als dröhne ein Riesenstock aufs Eisendach, und Maulwurf schlug die Augen auf. Donner. Und Gepolter. Nein, kein Donner! Da hämmert es an die Tür. Er lag angezogen auf dem Sofa. Und wie das poltert. Gescharr und Gemurmel. Herr Jesus, Heiland und Retter… Steh mir bei, Sankt Nikolaus! Er raffte sich hoch, als sei eine Feder in ihm gebrochen, und stand dann mit einem Satz inmitten des Zimmers. Die Alte bekreuzigte sich gegen den gelblichen, unter der Lampe matt schimmernden Ikonenschrank und schlurrte zur Tür. Maulwurf bekam sie noch am Jäckchen
zu packen, doch da fragte die Alte schon: „Wer ist da?“ „Aufmachen, Miliz!“ Ehe die Alte noch antworten konnte, flog sie schon in die Ecke. Sie klatschte zu Boden, und in ihren blassen, alterstrüben Augen flackerte Entsetzen. Sie wandte den Kopf zur Ikone und wollte sich nochmals bekreuzigen, doch versagten ihre Kräfte, und sie schaute nur in die kühlen, leidenschaftslosen Augen Gottes. „Aufmachen, Jewdokija Larionowna!“ Maulwurf durchquerte das Zimmer, schnellte hoch und blies das Ikonenlämpchen aus. Alles versank in Finsternis, bloß der Regen draußen, durchhallt von dumpfem Krachen, schüttete und schüttete. Durchs Fenster, nichts als durchs Fenster! Die Pistole in der Hand, stieß Maulwurf das Fenster auf, und im selben Moment traf seine Augen ein sengender Strahl bläuliches Licht. Er durchstieß den Regenschleier, darin tanzten Unmengen winziger rauchiger Regenbogen. Maulwurf feuerte in das Licht, es krachte, und das Licht erlosch. Maulwurf jedoch war schon weg vom Fenster – dort ging es nicht hinaus! An der Tür rüttelte es, und er hörte eine wütende, vor Anspannung vibrierende Stimme: „Aufmachen, Maulwurf!“ „Ich werd dir helfen, von wegen aufmachen!“ knirschte Maulwurf und jagte zwei Schüsse durch die Tür. Tichonow spürte einen salzigen Geschmack auf der Zunge. Die Lippe schmerzte. Verdammt! Vor Wut hatte er hineingebissen. Der Halunke schießt! Doch in die Tür kann er bis morgen schießen – die Nummer zieht nicht… Er stand hinterm Türpfosten und schob das Brecheisen unter die Tür.
„Jewdokija Larionowna“, rief er, „legen Sie sich flach auf den Boden!“ Maulwurf rannte wieder zum Fenster. Und abermals fuhr ihm der Lichtkegel ins Gesicht, grimmig und gnadenlos. Er wich in die Zimmerecke zurück. Da beschert mir Hinkepink meinen Anteil komplett, mit Prozenten. Aber ihr frohlockt zu früh, so sollt ihr mich nicht kriegen! Der Scheinwerfer füllte die Stube geisterhaft mit Licht. Von hier konnte er nicht schießen. Und am Fenster stand er wie eine Zielscheibe. In der Ecke schluchzte die Alte. „Kostjuk, zum letzten Mal: Gib auf!“ Maulwurf grub das Gesicht in die Hände. Bin ich denn ein wildes Tier? Zuschanden haben sie mich gehetzt, ganz zuschanden… Die Tür knirschte, daß es durch Mark und Bein ging, und Maulwurf schoß abermals. Späne flogen. Und dann krachte die Tür ins Zimmer. Katschanow drückte sich an die Wand, hielt den Schäferhund, während Tichonow auf der anderen Seite stand, er hob die Hand, pumpte die Lungen voll Luft und schrie: „Scheinwerfer aus!“ Schlagartig lag alles im Dunkeln, Katschanow beugte den Kopf und flüsterte dem Hund zu: „Los! Faß!“ Von der jähen Dunkelheit war Kostjuk zu geblendet. Ohne zu überlegen, feuerte er auf den ihm entgegenfliegenden grauen Körper. Der Hund prallte auf seine Brust, und im Stürzen feuerte Kostjuk noch einmal auf den Schatten in der Tür. Da aber setzte Saweljew schon übers Fensterbrett und stand im Zimmer. Ein Blitz zuckte auf, und im Lichtquadrat am Fußboden sah Saweljew eine hilflos verbogene Hand mit Pistole. Saweljew überwältigte Maulwurf. Die Pistole schleuderte er unter den Tisch. Er nahm Maulwurf am Kopf, wandte
einen Nelson an, und metallisch schnappten die Handschellen. Jemand machte Licht. Tichonow, das Gesicht in den Händen, saß am Boden, Scharapow trat an ihn heran. „Verwundet?“ „Mir ist so, als hätte mir dieser Halunke ein Auge ausgeschossen.“ Scharapow zog ihm die Hände vom Gesicht, musterte es aufmerksam und lachte plötzlich. „Du liebe Güte, kleiner Streifschuß, weiter nichts.“ Tichonow grinste. „So ein Schielewipp wollte ich immer schon sein.“ Der Arzt gab der Alten eine Spritze. Überall sah man Milizmänner. Zeugen unterschrieben das Durchsuchungsprotokoll, und Tichonow, das Auge mit der Hand bedeckt, blätterte in vier Sparbüchern auf den Namen Porfiri Wikentjewitsch Korshajew. „Sieh, was ich gefunden habe.“ Scharapow reichte ihm einen mit Isolierband umwickelten Schlagring. Tichonow wog den Schlagring auf der Hand. „Nicht von Pappe. Damit wird er vermutlich Korshajew getötet haben.“ Mit seinen Handschellen lag Maulwurf bäuchlings wie ein Toter. Tichonow beugte sich über ihn, faßte ihn an die Jacke. „Hoch mit dir, Kostjuk! Du wirst noch lange genug liegen können.“ Der Regen ließ nach. Scharapow sagte: „Na, Junge, das Gewitter scheint vorüber zu sein.“ „Bei uns ja.“ Es war drei Uhr morgens. 3 Uhr morgens Balaschow öffnete schwerfällig die Augen. Es donnerte, und der Himmel schimmerte bläulich. Durchs offene Fenster spritzte Regen ins Zimmer. Dshaga schnarchte
im Sessel. Das Gewitter kommt ja wie gerufen. Sicher findet sich zweihundert Kilometer weit und breit keine Menschenseele. Er stieß Dshaga mit dem Fuß. „Aufstehen, Stinkstiebel!“ „Äh?“ „Bist du schwerhörig? Aufstehen, es geht los!“ . In der Veranda zog Balaschow den Mantel über den Kopf und fragte gereizt: „Was trödelst du so? Komm!“ „Soll ich so in den Regen raus?“ meinte Dshaga unschlüssig. „Du hast wohl Angst, deinen Frack zu verderben? Mach dir nicht in die Hosen!“ Damit ging er voraus. Walja war entgangen, daß sich die Tür von Balaschows Datsche öffnete. Erst als die Kofferklappe des im Regen glitzernden Wagens aufschlug, gewahrte sie zwei graue Schatten mit Kanistern in der Hand. Noch einmal krachte Donner, und darauf, als wollte sie einen Punkt dahinter setzen, fiel dumpf die Klappe zu. Die beiden Schatten verschwanden in der Tür der Datsche. Halb vier „Wir werden Zinkler erst an der Grenze festnehmen“, sagte Kolzow. „Tolmatschow hat Brest bereits benachrichtigt. Sie warten dort auf uns.“ „Nur dürfen wir ihn unterwegs nicht verängstigen, sonst dürfte er sich seiner Fracht frischfröhlich entledigen.“ Schadrin fingerte in einer Schachtel Zigaretten, sie war leer, er zog eine neue aus der Tischlade, riß die Banderole ab. „Die wievielte ist das heute?“ fragte Kolzow. „Du bist gut – heute? Unser Heute hat gestern angefangen, und wer weiß, wann es zu Ende ist.“ „Der längste Tag im Jahr.“ Kolzow schmunzelte. „Wir
werden Zinkler gewähren lassen, bis er die Zollerklärung ausgefüllt hat. Dann ist er festgenagelt: auf frischer Tat ertappt.“ „Was sich wohl bei Maulwurf tut…“ In diesem Moment schlug das Telefon an. „Genosse Schadrin? Hier Trifonow, Revier 138. Ihre Leute haben Kostjuk festgenommen und sind zur Petrowka unterwegs, sie werden in fünfzehn Minuten dort eintreffen.“ „Ist jemand zu Schaden gekommen?“ „Nein. Bloß tüchtig durchgeweicht sind alle, und ein paar blaue Flecke hat’s natürlich auch gegeben.“ „Danke!“ Schadrin lachte. „Uljanow, ruf mal fix Prichodko rein, er tigert ganz nervös draußen im Gang herum.“ Und wieder das Telefon. In der plötzlichen Stille war die Stimme des Wachhabenden hörbar, die in der Membrane raschelte: „Genosse Schadrin! Meldung von Stern: Vor zehn Minuten haben ihre Schützlinge vier Benzinkanister aus dem Schuppen geholt und im Wagen verladen, worauf sie ins Haus zurückgekehrt sind. Im Haus ist es dunkel. Haben Sie weitere Anweisungen?“ „Stern soll die Beobachtung fortsetzen. Wir werden einen Wagen in das Einsatzgebiet schicken. Ende.“ „Was Balaschow wohl mit den Kanistern will?“ sagte Schadrin zu Kolzow. „Hat er eine längere Fahrt vor? Irgendwie unwahrscheinlich, er muß ja doch zum Dienst. Wozu braucht er so viel Benzin?“ „Vorläufig unklar. Das werden wir an Ort und Stelle sehen. Boris, ich werde Tolmatschow mitnehmen. Ich möchte Balaschow selber im Auge behalten. Du wirst in fünfzehn Minuten dafür sorgen, daß das Kommando
Zinkler wegkommt.“ Schadrin erinnerte Prichodko: „Zinkler will um halb sechs geweckt werden. Es ist allerdings denkbar, daß er das Hotel früher verläßt. Paßt also auf und schlaft nicht. Also dann…“ „Schade, ich hätte Stas gern gesprochen“, sagte Prichodko. „Das kannst du morgen besorgen.“ „Sie meinen heute, heute morgen.“ „Natürlich, das Heute läuft ja schon auf vollen Touren. Hals und Beinbruch, Leute.“ Das Tor flog auf. Der Einsatzwagen rauschte hinaus. Pneus jaulten in der Kurve. Noch dampfte der nasse Asphalt, die Straßenlaternen erloschen. Fern verhallten die kurzen Heultöne der Wagensirene. 4 Uhr morgens Maulwurf saß auf dem Stuhl und blickte zum Fenster. Tichonow ging zum Schalter, knipste, und als das Licht erlosch, sah man, daß es draußen schon Tag wurde. „Endlich also wären wir uns begegnet, Kostjuk alias Lande alias Orlow…“ „Ich war nicht scharf auf die Begegnung.“ „Stimmt. Dafür waren wir um so mehr interessiert daran. Nun ist es also soweit.“ „Weswegen denn so viel Interesse?“ fragte Maulwurf dreist, während es ihn durchzuckte: Vielleicht wissen sie nicht alles… „Zum einen, Kostjuk, haben Sie noch Verpflichtungen gegenüber der Besserungskolonie’…“ Maulwurf atmete rascher. „Und zum andern möchte ich Sie etwas fragen.“ „Fragen?“
Stas beugte sich über den Tisch und fragte Maulwurf leise: „Weswegen haben Sie Korshajew getötet?“ Maulwurf prallte zurück und stieß mit schwerer Zunge hervor: „Was für einen Korshajew?“ „Den in Odessa. Ihren, Hinkepinks und Dshagas Komplizen.“ „Ich kenne keinen Korshajew!“ blaffte Maulwurf. „Was wollt ihr mir da anhängen. Verdammte Bullen! Ich kenne keinen Korshajew, nie gesehen den Mann. Eine Kanone hab ich, dafür könnt ihr mich verknacken, für mehr nicht! Bah!“ Tichonow saß gelassen im Stuhl und lächelte kaum merklich. Maulwurf schrie immer noch herum. Plötzlich knallte Tichonow die Hand auf den Tisch, und Maulwurf verstummte. Stas lächelte. „Hör zu, Kostjuk. Du brauchst mir hier kein Theater vorzuspielen. Momentan hab ich sowieso keine Zeit, mich mit dir zu befassen. Vielleicht muß dir erst Balaschow sagen, warum du vor zwei Wochen nach Odessa gefahren bist, damit dir wieder einfällt, wer dieser Korshajew ist.“ „Ich habe niemand umgelegt.“ Maulwurf schaltete auf stur. „Das will Hinkepink auf mich wälzen, vor Wut. Er ist selber ein Gauner.“ „Antworte auf meine Fragen. Über Hinkepink weiß ich so gut Bescheid wie du. Also: Weshalb hast du Korshajew getötet?“ „Ich habe keinen getötet.“ Tichonow musterte ihn prüfend. „Sieh mal!“ Tichonow zog die Tischlade auf und entnahm ihr Schlagring und Sparkassenbücher. „Mit diesem Schlagring hast du Korshajew den Schädel eingeschlagen. Und dies sind die Sparkassenbücher, die du nach der Tat gestohlen hast. Wir haben sie in Ostankino in deinem
Schlupfwinkel, hinter den Wasserrohren, gefunden. Du wolltest abwarten, bis einigermaßen Gras über die Geschichte gewachsen ist. Nicht wahr? Es ist aber kein Gras gewachsen, siehst du. Willst du jetzt sprechen?“ „Ich weiß nichts und werde nichts sagen.“ „Ganz wie du willst. Ich sage dir offen, du bist mir wenig sympathisch, ich bin aber verpflichtet, dich nochmals darauf hinzuweisen: Das Gericht mag ungeständige Rechtsbrecher gar nicht, es erkennt dann auf Höchststrafe für all ihre krummen Sachen.“ „Ich bin aus dem Straflager geflohen, zugegeben. Aber ansonsten müssen Sie mir beweisen, daß ich ein Rechtsbrecher bin.“ „Du bist ein Unschuldsengel?“ „Allerdings. Ich kenne keinen Korshajew, und die Sparbücher habe ich gestern im Park von Ostankino gefunden.“ Tichonow trat ans offene Fenster, stützte die Ellbogen aufs Brett, musterte Maulwurf prüfend. Trotz der morgendlichen Kühle rann dem der Schweiß, die Augen waren gerötet, die Lippen flatterten, vermutlich zitterten die Knie. „Willst du meine Geduld auf die Probe stellen, Kostjuk?“ „Was kann ich dafür. Sie müssen beweisen. Ein Mißverständnis…“ „Schön, nehmen wir das mal an, obwohl alles, was du sagst, plumper, feiger Schwindel ist. Vor einer Stunde noch hast du auf mich und meine Gefährten geschossen, und nun verlangst du juristische Beweise, die dich des Verbrechens überführen. Schön, ich werde sie dir bringen. Antworte: Wann warst du das letzte Mal in Odessa?“ „Ich war überhaupt nie da.“
„Wieder gelogen. Ich werd es dir beweisen. Die ganze erste Juliwoche hat es geregnet. Als du nach Odessa flogst, hast du vorsichtshalber den Regenmantel mitgenommen. Am sechzehnten, als du von Odessa abgeflogen bist, hat es dort genieselt. Auf dem Flugplatz, nach Erledigung der Formalitäten, hast du die Flugkarte in die Brieftasche gesteckt, in deine Jackentasche. Beim Besteigen der Maschine hast du die Platzkarte gezeigt und sie gedankenabwesend, wie du warst, in die Manteltasche geknüllt. In Moskau hast du das Flugticket gleich weggeworfen und die in Odessa abgestempelte Platzkarte einfach verschwitzt. Da du dich die letzten zwei Wochen nicht aus der Wohnung gewagt hast, hing dein Mantel gottvergessen im Schrank bei Jelisaweta Kulikowa. Und in dem Mantel steckte nicht weniger vergessen deine Platzkarte. Ist dir die Beweisführung recht?“ „Vielleicht wollte ich bloß nicht sagen, daß ich in Odessa war. Vielleicht war ich dort zur ärztlichen Behandlung?“ „Und hast zwischendurch bei Korshajew vorbeigeschaut?“ „Ich kenne keinen Korshajew.“ „Ach herrje… Sieh mal dies Bild hier: der Abdruck des Zeigefingers der rechten Hand, den du auf Korshajews Tischuhr hinterlassen hast. Was sagst du nun?“ „Ich bin unschuldig! Nicht ich bin schuld daran!“ schrie Maulwurf gellend. „Hinkepink hat mich gezwungen!“ „Sabbel. Ich gebe dir eine letzte Chance: Wo trifft sich Hinkepink mit dem Ausländer!“ „Am Kilometerpfosten hundertacht der Minsker Chaussee. Das wissen Sie von mir, von mir, vergessen Sie das nicht!“
5 Uhr morgens „Alpha, Alpha, hier Mond, Mond! Bitte kommen!“ Aus Gewohnheit, wie in den Telefonhörer, blies Schadrin ins Mikrofon und hörte auf einmal in der Ohrmuschel die durch Getöse und Entfernung entstellte Stimme Kolzows: „Hier Alpha, hier Alpha, bitte kommen.“ „Hier Mond. Ich präzisiere Anweisung nach neuer Sachlage. Begegnung der Objekte findet in zwei Stunden auf Minsker Chaussee, Kilometerpfosten einhundertacht, statt. Haben Sie verstanden?“ „Hier Alpha. Ich verstehe Sie ausgezeichnet. Ende…“ „Wega, Wega! Hier Mond, hier Mond! Bitte kommen.“ Prichodkos Stimme füllte sofort das Zimmer, als stehe er hinter der Tür. „Hier Wega! Bitte kommen.“ „Hier Mond. Ihr Objekt bewegt sich auf Minsker Chaussee zu. Treff ist vorgesehen am Kilometerpfosten hundertacht. Schlage vor, in Nähe des Treffs den Abstand zu ihm zu vergrößern. Bestätigen Sie…“ „Hier Wega. Verständigung gut. Alles klar. Hat denn Maulwurf schon gesungen?“ konnte sich Sergej nicht enthalten zu fragen. „Hier Mond. Alles in Ordnung, halten Sie nicht den Sendebetrieb auf.“ Schadrin griente. „Ende!“ Halb sechs „Gute Reise! Und beehren Sie uns bald wieder“, sagte die Etagenkellnerin. Max Zinkler ging den Gang entlang und dachte, das ist schon ein merkwürdiges Volk. Warum bloß diese überschwengliche Verabschiedung? In westeuropäischen Hotels war das Personal nicht schlechter geschult, dort zahlte sich Überschwang in Trinkgeld aus. Hier nahmen sie
kein Trinkgeld! Lag es an ihrer sprichwörtlichen Gastfreundschaft? Wohl kaum. Nur Geld erzeugte Verbindlichkeit. Er hatte es denn doch lieber mit solchen zu tun wie diesem lahmen Schelm. Der Hoteljunge trug den Koffer zum Wagen und half ihn im Kofferraum verstauen. „Gute Reise!“ Er legte die Hand an die grüne Mütze. Zinkler wollte ihm einen halben Rubel in die Hand drükken. Der Hoteljunge wehrte lächelnd ab. „Danke, nicht nötig. Dazu bin ich ja da, um den Gästen mit dem Gepäck zu helfen.“ Zinkler antwortete nichts, warf sich in den Wagen und knallte wütend die Tür zu. Der Motor vibrierte und heulte auf. Zinkler sah zur Uhr: fünf Uhr fünfunddreißig. Er mußte sich beeilen. Sah nach links, nach rechts, die Straße war noch menschenleer. Er ließ die Kupplung kommen, Steuer nach links, Blinker, Steuer nach rechts, bog in die Botanitscheskaja Uliza. „Drück drauf“, sagte Prichodko gepreßt. Fünfhundert Meter hinter ihnen schoß der Mercedes die Botanitscheskaja Uliza herab. Der Einsatzwagen kam allmählich auf Touren, und der Abstand verringerte sich langsam. Allmählich pendelte sich das Tempo ein, und sie fuhren mit gleichbleibendem Abstand, vorn der Wolga, hinten der Mercedes. Links tauchte das Scheremetjewski-Museum auf, der Eingang zum Park von Ostankino. Rauchende Frühnebel umklammerten den Fernsehturm. „Hier in der Nähe muß Stas Maulwurf festgenommen haben“, sagte Prichodko. Vor ihm rollte ein einzelner Wolga. Sicher will er ins
Stadtinnere, ich werd mich hinter ihm halten, sonst verfranz ich mich noch in diesem Straßengewirr, dachte Zinkler. „Mehr Gas“, sagte Sergej, „jetzt kann er nirgends mehr hin.“ Der Wolga schoß über eine Überführung und rauschte weiter die Scheremetjewskaja entlang. Aus der Kurve sah man den Mercedes auf die Überführung jagen. „Mond, Mond! Hier Wega, hier Wega! Bitte kommen!“ „Hier Mond. Bitte kommen.“ „Hier Wega. Der Mercedes folgt mir in einer Entfernung von einem halben Kilometer. In der Sadowaja werde ich ihn vorbeilassen.“ „In Ordnung.“ Schadrins Stimme klang brüchig. „Sie sind sicher hundemüde, Borris Iwanytsch?“ „Laß dich nicht ablenken. Hier ist Stas – er wünscht Hals-und Beinbruch.“ „Danke. Schönen Gruß. Ende.“ 6 Uhr morgens Balaschow schaltete die Zündung ein und dachte, daß er erstmals einen geplanten Coup selber ausführte. Bisher hatten das Maulwurf und Dshaga besorgt. Fixe Burschen gab es ja so allerhand! Er selber hatte sich damit nie befaßt. Er hatte Ideen, organisierte, vergab Jobs, doch legte er nirgends Hand an, das taten andere. Nun aber ging es nicht anders. Von seinem Plan durfte niemand nicht mal etwas ahnen. Allein Maulwurf wußte davon, und um den würde man sich zu kümmern haben… Dshaga hatte die Frontscheibe blank geledert und trat an ihn heran. „Viktor Michalytsch, soll ich hier auf Sie warten?“ „Warten, wozu? Fahr nach Hause, ich werd dich abends
anrufen, dann werden wir abrechnen.“ „Schön. Und falls Maulwurf anruft, was soll ich ihm sagen?“ „Wimmel ihn ab. Sag, er soll sich mit allen Fragen an mich wenden.“ „In Ordnung. Sie fahren nicht über die Stadt?“ „Was geht das dich an?“ „Ich frag ja nur… Ich könnte ja dann im Wagen mitfahren.“ „Du wirst dich noch überanstrengen. Per Bahn geht das doch wunderschön.“ „Ich mein ja nur… ich dachte, vielleicht könnte ich helfen oder so.“ „Denke weniger, das schadet deinem Seelenheil. Geh lieber das Tor aufmachen.“ Der Wagen pfefferte an Dshaga vorbei und hüllte ihn in eine Dreckfontäne. Dshaga wischte die Spritzer aus dem Gesicht, schüttelte von der Hose die fetten Lehmbrocken, sandte dem in Nebelschwaden verschwindenden Wolga einen wütenden Blick nach – lahmer Hund! Spuckte aus und marschierte zum Bahnhof. „Mond, Mond! Alpha; Alpha! Stern, hier Stern…. Schwarzer Wolga ist in Richtung Minsker Chaussee verschwunden. Nummer zwo begibt sich in Richtung Bahnhof. Verfolgung ist aufzunehmen…“ „Hier Mond! Habe Sie verstanden…“ „Hier Alpha. Nachricht empfangen. Ende.“ 6 Uhr 55 Gut, daß ich nach Westen fahre, dachte Balaschow. Da blendet die Sonne nicht so.
Voraus rumpelte gemächlich ein alter Wolga. In wenigen Augenblicken war Balaschow heran, ließ die Hupe gellen, der andere wich gehorsam auf den Sommerweg aus. Vollgas! Mühelos kam Balaschows Wolga auf Tempo und ging an dem Veteranen vorbei. Ein Geschwindigkeitsschild am Straßenrand zeigte hundert an. Nach wenigen Minuten war das alte Vehikel hinten verschwunden. „Ich rufe Wega, Wega! Hier Alpha. Soeben hat mich Balaschow überholt. Er fährt hundertzwanzig. Ich befinde mich am Kilometerpfosten neunundneunzig. Bitte kommen.“ „Verstanden. Fünf Kilometer hinter Ihnen kommt der Mercedes. Mit einer Geschwindigkeit von hundert bis hundertzehn. Erwarte Anweisung. Ende.“ 7 Uhr Am Kilometerpfosten hundertsieben schaltete Balaschow den Motor ab. Das wahnsinnige Stoßen der Kolben verstummte, das monotone Gedröhn brach ab. Bloß der Asphalt rauschte kaum hörbar unter den Rädern, und von dieser plötzlichen Stille, vom Hämmern der Schläfen, vom unrhythmischen Schlag des Herzens war Balaschow ganz taub. Der Wagen rollte so noch einen Kilometer. Passierte den Pfosten mit dem verbogenen Schild hundertacht, als Balaschow auf den Sommerweg einbog und stoppte. Seine Hände zitterten dermaßen, daß er nicht die Zigarette anbekam – alle Hölzer knickten weg. Flüchtig dachte er an den Zigarettenanzünder, zuckte die Schultern, warf die Zigarette weg, keine Zeit. Er stieg aus, öffnete den Gepäckraum, zog die vier Kanister heraus. Von hinten näherte sich der alte Wolga.
„Ich rufe Wega! Hier Alpha. Balaschow hält bei Kilometer hundertacht, hat vier Kanister aus dem Gepäckraum geholt. Bitte kommen.“ „Alpha! Hier Wega. Mercedes hat Kilometerpfosten hundertdrei passiert. In zirka drei Minuten wird er den Treff erreicht haben. Bitte kommen.“ „Ich gebe Beobachtung ab. Vor Kilometerpfosten hundertsieben ist eine unübersichtliche Biegung. Halten Sie dort. Ende.“ Der Wolga schepperte vorbei und verschwand in einer Kurve. Balaschow entnahm dem Gepäckraum den Wagenheber, setzte ihn an, spähte umher, schwang die Kurbel mit einem Ruck herum. Ein Kipper, der aus der Gegenrichtung kam, zischte mit seinen Saugluftbremsen und blieb klirrend stehen. „Wo brennt’s denn?“ rief der Fahrer hinüber. „Kann ich helfen?“ „Besten Dank, junger Mann, ich habe einen Reservereifen“, erwiderte Balaschow unerschütterlich. Der Kipper schnaufte davon. Zum Henker mit euch Aposteln der Hilfsbereitschaft! dachte Hinkepink. Zinkler, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, beugte sich zurück und zog aus der Reisetasche auf der Hinterbank ein papierumwickeltes, verschnürtes Päckchen. Wog es in der Hand und legte es aufseufzend auf den Sitz neben sich. Dann kurbelte er das rechte Fenster herab. Der Einsatzwagen bremste hart hinter der Kurve, Tolmatschow sprang heraus, überquerte die Landstraße, setzte mit einem mächtigen Sprung über den Straßengraben und war den Blicken im hohen Gestrüpp entschwunden. Er rannte, ohne nach dem Weg zu schauen, durch
ein Wäldchen, arbeitete sich durch Haselnußgesträuch, sprang über Baumstümpfe und Ameisenhaufen. Er mußte es schaffen, bloß jetzt nicht zu spät kommen. Fix, fix! Noch fixer! Schweiß verklebte die Augen. Und die Kamera mit dem Teleobjektiv nicht beschädigen. 7 Uhr 03 Balaschow hob den Kopf und sah, daß der Mercedes sich in höllischer Fahrt näherte. Er richtete sich auf und winkte. Die Pneus winselten, und der Wagen, jäh abstoppend, duckte sich weg wie ein ängstlicher Hund. Ohne von der Fahrbahn zu rutschen, blieb der Mercedes neben dem schwarzen Wolga stehen. Zinkler rief: „Packen Sie sie in den Kofferraum!“ „Steigen Sie gar nicht aus?“ „Beeilen Sie sich!“ Balaschow versuchte, zwei Kanister mit einemmal hineinzuwuchten, es mißlang, sie waren zu schwer, er mußte einen abstellen. „Schneller, zum Donnerwetter!“ Zinklers gerötete Wangen zitterten. „Den nächsten Kanister, noch einen!“ „Das Geld!“ Zinkler reichte das Päckchen aus dem Fenster. „Alles? Versehen ausgeschlossen?“ „Gehen Sie zum Teufel! Ich werde Ihnen schreiben.“ Der Mercedes zog an und schoß mit vollem Tempo in die Kurve. Tolmatschow fingerte am Verschluß der Kamera – der Film war zu Ende.
7 Uhr 06 „Ich rufe Wega, Wega! Hier Alpha. Soeben ist der Mercedes vorbeigekommen. Im Gepäckraum hat er vier Kanister. Es ist anzunehmen, daß darin die Teile sind. Balaschow hält offenbar noch an der Übergabestelle. Sie können ihn festnehmen. Ich nehme weitere Verfolgung des Mercedes auf. Bitte kommen.“ „Habe verstanden. Ende.“ 7 Uhr 08 Balaschow, das Päckchen an die Brust gedrückt, schaute dem Mercedes noch einen Augenblick nach. Na und? dachte er. Bald fahre ich auch so einen. Dann warf er das Päckchen in den Wagen und kurbelte den Wagenheber abwärts. Neben ihm hielt ein Wolga. Lieber Himmel, schon wieder diese freiwilligen Helfer. Das hört ja gar nicht auf! Böse fuhr er die aussteigenden Männer an: „Ich benötige keine Hilfe, schönen Dank! Fahren Sie nur weiter!“ Prichodko verzog spöttisch die Lippen. „Wir wollen aber zu Ihnen, Balaschow. Sie sind verhaftet.“ 7 Uhr 55 Dshaga schaute zum Himmel und dachte: Heute wird’s hoffentlich nicht so heiß. Dann kann ich nach dieser verfluchten Nacht ein bißchen auspennen. Er trat in die Haustür, und auf einmal erfaßte ihn Unruhe wegen der Dunkelheit und des Hundegeruchs auf der Treppe. Unsicheren Schritts, schnaufend und leise vor sich her fluchend, stieg er die Stufen hinan. Er schob den Schlüssel ins Schloß, öffnete, und da rutschte das Herz aus dem Takt, hämmerte wie wild in der Brust. „Bürger Mossin?“
„Ja, das heißt nein…“ „Sie sind verhaftet.“ 8 Uhr „Bringt ihn nach der Haussuchung her“, sagte Schadrin und legte auf. Trat zum Fenster und lachte ein erleichtertes, frohes Lachen, so daß Falten in die Mundwinkel rutschten. „So endet also der längste Tag.“
4. TEIL Rangeleien Wie ist das spezifische Gewicht des Benzins? „Füllen Sie bitte die Erklärung aus.“ Der Zolloffizier reichte Zinkler ein Formular und betrachtete den Paß. Sein Gesicht wirkte ruhig, höflich, undurchsichtig. Alles in Ordnung! Mit Forschheit hatte er es auch bei den unfreundlichsten westlichen Zollstellen… zigmal geschafft… Er zückte den Federhalter, setzte Vor- und Zunamen auf die Erklärung. Da wollte der Halter nicht mehr. Zinkler beschaute die Goldfeder im Licht, schüttelte sie heftig. Der Halter tat es nicht mehr. Zinkler hielt ihn neuerlich ins Licht und bemerkte vor dem Fenster der Zollstelle einen grünen Wolga. Wo hab ich den bloß gesehen? dachte er und vergaß es gleich wieder. Schüttelte nochmals den Halter und füllte in allen Spalten – Waffen, Zahlungsmittel in fremder Währung, Wertsachen – sorgfältig aus: keine. Und unterschrieb mit Schwung und Schnörkel. Der Zöllner unterhielt sich mit zwei Männern. Zinkler trommelte ungeduldig mit dem Ring auf die po-
lierte Platte der Barriere. „Ich wäre soweit. Wenn Sie mich bitte abfertigen wollen.“ „Bitte schön. Öffnen Sie Ihren Koffer.“ Zinkler ließ beide Kofferschlösser mit einemmal aufschnappen. „Bitte sehr.“ „Räumen Sie bitte den Koffer aus.“ Der Offizier trat heran. Die zwei, die mit dem grünen Wolga gekommen waren, saßen in der Ecke am Lesetisch, sprachen gedämpft miteinander und lächelten. Zinkler kniff den Mund zusammen und stülpte kurzerhand den Koffer auf dem Zolltisch um. Der Zolloffizier sah flüchtig die Sachen durch, nahm den Koffer auf. Die Finger glitten an den Nähten des Leders entlang und stockten in den Ecken. Dann hatten sie ein Einsehen, und der Koffer senkte sich brav auf den Tisch. Der Offizier schob die Mütze in den Nacken, besann sich und zog aus der Tasche einen kleinen Schraubenzieher. Der Kofferboden war mit acht Metallstiften befestigt, der Zöllner drückte den Schraubenzieher unter einen der Zierknöpfe, und der Stift sprang leicht heraus. „Sie beschädigen fremdes Eigentum“, sagte Zinkler, ohne das Gesicht zu verziehen. „Die klemmen wir wieder fest, und kein Mensch sieht, daß da jemand dran war.“ Der letzte Stift flog aus der Klemme und klirrte auf den Marmortisch. Der Offizier faßte mit dem Schraubenzieher unter den Boden und konnte ihn mit Leichtigkeit herausnehmen. Darunter wölbte sich mit blauem Nylonwanst der zweite Boden. „Vier Zentimeter wird der haben, wie?“ meinte der Zolloffizier und lächelte vergnügt. „Stimmt genau, vier Zentimeter. Soviel ich weiß, sind aber doppelte Kofferböden nicht verboten. Das ist Sache
des persönlichen Geschmacks.“ „Selbstverständlich, gegen einen doppelten Boden ist nichts einzuwenden, sofern darin nichts Verbotenes einoder ausgeführt wird. Wollen Sie bitte meine berufsbedingte Neugier entschuldigen. Wozu benötigen Sie dieses Geheimfach?“ „Das will ich Ihnen verraten. Ich bin viel geschäftlich unterwegs. Das Hotelpersonal ist meist sehr neugierig. Darum pflege ich hier meine Geschäftspapiere mitzuführen. Sie verstehen?“ „Selbstverständlich. Wollen wir uns jetzt Ihren Wagen ansehen!“ Nachdem er einen Blick in den Innenraum des Wagens geworfen hatte, bat er, den Kofferraum zu öffnen. Werkzeugtasche, Reserverad, vier ordentlich hingestellte Kanister. „Mit Benzin haben Sie sich ja tüchtig versorgt“, rief der Zolloffizier verwundert und ergriff einen Kanister. „Allerhand“, sagte er. Zinkler wurde unruhig. „Ihr Benzin ist äußerst billig. Und ich habe eine weite Tour, das langt bis nach Hause.“ „Großartig! Was für Benzin fahren Sie denn? Sie haben doch einen anspruchsvollen Motor?“ Er drückte den Kanisterverschluß auf. Zinkler sah sich wie gehetzt um. Hinter ihm standen ein unerschütterlicher Grenzer und jene zwei, die nach ihm gekommen waren, „Was für Benzin? Weiß ich nicht. Super sicherlich…“ Der Zolloffizier beugte den Kanister, Benzin plätscherte heraus, und auf dem Asphalt bildete sich eine schillernde Lache. „Herr Zinkler, Sie erinnern sich nicht zufällig an das spe-
zifische Gewicht des Benzins?“ „Ich verstehe Sie nicht.“ „Ich spreche vom spezifischen Gewicht. Das ist eine physikalische Einheit, das Gewicht der Volumeneinheit eines Stoffes. Erinnern Sie sich?“ „Jaja“, erwiderte Zinkler zerstreut. „Wieviel mag das spezifische Gewicht des Benzins betragen?“ „Keine Ahnung.“ „Ich erinnere mich auch nicht genau. Ich glaube, es liegt etwas unter dem des Wassers. Ist auch unwichtig. Nehmen wir einmal an, daß sie gleich sind.“ „Schön, bloß verstehe ich nicht, worauf Sie hinauswollen?“ „Sie werden es gleich merken“, fuhr der Offizier fort. „Sehen Sie: Ein Kubikzentimeter Wasser wiegt ein Gramm, ein Liter hat tausend Kubikzentimeter, und dieser Kanister enthält zwanzig Liter. Bei einem Eigengewicht von zwei Kilogramm, wieviel müßte er mit Füllung wiegen?“ „Zweiundzwanzig Kilo“, erwiderte Zinkler mechanisch. „Sehen Sie, zu dem Ergebnis bin ich auch gelangt. Und dieser Kanister, da halte ich jede Wette, wiegt mindestens vierzig. Was also folgt daraus?“ Zinkler funkelte den lächelnden Kontrolleur haßerfüllt an. „Ja, daß in dem Kanister noch etwas anderes ist außer Benzin. Sie schweigen? Dann wollen wir mal gemeinsam nachsehen.“ Er hockte nieder und schob einen Metallstab in die Kanisteröffnung. Der Stab verschwand etwa zehn Zentimeter weit und saß dann fest. Der Zolloffizier stocherte in dem Behälter herum, stand auf und zuckte die Schultern. „Etwas mickrig, Ihr Kanister.“ Und dann zu
dem Grenzer: „Shenja, sei so gut und besorg mal einen Eimer.“ „Damit kann ich dienen“, sagte der jüngere der beiden Spätergekommenen und langte aus seinem Wagen einen hervor. „Danke! Somit können wir den Versuch in unserer anregenden Mathematikstunde zu Ende bringen, Herr Zinkler. Dies ist ein ganz gewöhnlicher Eimer mit normalem Fassungsvermögen: zehn Liter. Ihr Kanister ist voll fast bis zum Rand, also müßte er ungefähr zwei solche Eimer füllen.“ Der Offizier kippte den Kanister über den Eimer, Benzin gurgelte durch den engen Schlund und versiegte, kaum daß der Eimer voll war. „Wir stehen vor einem neuen Rätsel, nicht das Gewicht, sondern das Fassungsvermögen betreffend. Wenn wir es lüften, werden wir, glaub ich, erneut zu dem Ergebnis gelangen: Der Kanister verbirgt irgendwas. Was meinen Sie, Herr Zinkler?“ „Möglich. Sie haben aber kein Recht…“ „Das haben wir wohl“, schaltete sich der bislang schweigsame Kolzow lebhaft ein. „Sie brauchen nicht länger Theater zu spielen, Herr Zinkler, zumal die Valutabeträge, die Sie in dem doppelten Boden Ihres Koffers mitgeführt haben, bei Ihrem Mittäter bereits sichergestellt wurden. Schweißen wir lieber Ihre Kanister auseinander.“ Na, Balaschow, habe ich recht? „Ich sage Ihnen, diese Eigenmächtigkeit wird Sie teuer zu stehen kommen! Es ist eine Schande, so mit einem ehrlichen Sowjetbürger umzuspringen! Sie werden sich bei Ihren vorgesetzten Stellen dafür zu verantworten haben, daß Sie mich widerrechtlich festhalten!“
Tichonow setzte sich bequemer und musterte Hinkepink mit augenscheinlichem Interesse. „Sie befinden sich im Irrtum, Balaschow.“ „Keinesfalls! Ich weiß, wodurch Sie und Ihre Helfershelfer sich haben leiten lassen, als sie mir das Päckchen mit den ausländischen Banknoten in den Wagen schmuggelten. Glatte Provokation ist das! Ich verlange die Hinzuziehung des Staatsanwalts!“ „Trotzdem, Balaschow, befinden Sie sich im Irrtum.“ Tichonow lachte. „Sie werden nicht festgehalten, Sie sind festgenommen. Im Namen des Gesetzes. Hier ist der Haftbefehl. Mit der Unterschrift des Staatsanwalts.“ „Ich werde mich auch über den Staatsanwalt bei jemand beschweren können! Obwohl, wie es aussieht, der Staatsanwalt lediglich getäuscht wurde.“ Tichonow lehnte sich im Stuhl zurück, trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch. „Hören Sie, Balaschow, Sie sind doch ein erfahrener Mann. Allem Anschein nach aber meinen Sie, sie hätten es mit lauter Schwachköpfen zu tun. Zum eigenen Schaden. Ihre Tricks ziehen hier nicht. Das sollten Sie einsehen.“ „Sie können mich nicht einschüchtern.“ „Wozu sollte ich? Ich will Ihnen nur helfen, die Lage zu erfassen. Ihre ganze Hysterie lohnt nicht. Offen gesagt, ich habe angenommen, Sie würden sich was Neues einfallen lassen. Das alles kenn ich schon bis zum Überdruß.“ „Ihre kleine Machtprobe wird Sie teuer zu stehen kommen.“ „Hatten wir schon. Sie wiederholen sich.“ „Ich werde es so lange wiederholen, bis ich mit der
Wahrheit durchgekommen bin.“ „Es wäre lächerlich, wollte ich Ihnen mit Argumenten antworten. Sie glauben ja selber nicht, was Sie sagen. Nur eins wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen: Mit der Wahrheit, wie Sie sie verstehen, werden Sie nicht durchkommen. Niemals. Aber was soll dies mondäne Geplauder. Zur Sache. Im Grunde wollen Sie ja nichts weiter als den üblichen Versuchsballon steigen lassen. Sie möchten brennend gern wissen, was ich weiß: Haben wir Sie zufällig aufgegriffen, oder sind wir Ihnen schon lange auf der Spur? Bin ich hinter den ganzen Segen gekommen, oder habe ich bloß einen Zipfel erwischt? Kenne ich die Mittäter oder nicht? Und, versteht sich, wer von Ihnen läuft noch frei herum, und wer sitzt im Zimmer nebenan? Na, Balaschow, habe ich recht?“ „Gewiß, ich hätte wenigstens gern gewußt, was ich getan haben soll.“ „Sie rechnen jetzt natürlich am allerwenigsten, daß ich meinen Trumpf ausspiele. Aber Sie werden staunen, Balaschow. Ich werde Ihnen jetzt einmal die Geschichte eines liebevoll geplanten, exakt organisierten und dreist ausgeführten Verbrechens erzählen.“ „Wohlan, lassen Sie mich dies phantastische Milizopus hören.“ Balaschow grinste. „Nein, ein Opus aus unserm Alltag. Und damit wir uns nicht im Dickicht eines wirren Krimis verlieren, werde ich im Laufe der Geschichte Max Zinklers Aussagen einfließen lassen, eine Gegenüberstellung mit Gennadi Kostjuk vornehmen und Einzelteile von Uhren vorlegen, die Juri Mossin auf Ihre Anweisung entwendet oder hergestellt hat.“ Tichonow trat an den Stahlschrank und langte eine dicke braune Akte hervor.
„Sehen Sie, Strafsache 1831“ – er deutete mit den Augen auf den Deckel – „betrifft Balaschow, Kostjuk und andere.“ Epilog „… Ankunft der Maschine TU-104, nächster Flug 506, Moskau-Odessa…“ „Meine Maschine, Stas“, sagte Prichodko. Tichonow schlürfte den Kaffee aus, stellte die Tasse auf den Marmortisch, die Tasse klirrte leise. Finish. Ohrenbetäubend gellte die Hupe eines Elektrokarrens. Ein ganzer Zug Wagen bewegte sich auf die riesigen Frachtmaschinen zu, deren Dröhnen auf den hintersten Pisten verstummt war. Auf den Wagen stapelten sich nagelneue Container. Tichonow las auf den gestrichenen Holzverkleidungen der Container: Vorsicht! Nicht kippen! Uhren, Stoliza Made in UdSSR. Empfänger: William Kelly Time products Ltd. London