Stefan Murr
AFFÄRE NACHTFROST
Roman
Dieses Ebook ist nicht für den Verkauf bestimmt s by Doc Gonzo c by Tigger
Liz...
181 downloads
693 Views
964KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Stefan Murr
AFFÄRE NACHTFROST
Roman
Dieses Ebook ist nicht für den Verkauf bestimmt s by Doc Gonzo c by Tigger
Lizenzausgabe mit Genehmigung des Kindler Verlages GmbH, München für die Europäische Bildungsgemeinschaft Verlags-GmbH, Stuttgart die Bertelsmann Club GmbH, Gütersloh die Buchgemeinschaft Donauland Kremayr & Scheriau, Wien und die Buch- und Schallplattenfreunde GmbH, Zug/Schweiz Diese Lizenz gilt auch für die Deutsche Buch-Gemeinschaft C. A. Koch’s Verlag Nach., Berlin • Darmstadt • Wien © Kindler Verlag, GmbH, München Umschlaggestaltung: Gerhard Axmann Foto: til-ZEFA Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Printed in Germany • Bestellnummer 04099 8
Meiner geliebten Frau und kritischen Mitarbeiterin
Die höchste Kunst besteht darin, den Widerstand des Feindes ohne Kampf auf dem Schlachtfeld zu brechen. Nur auf dem Schlachtfeld ist die direkte Methode des Krieges notwendig; nur die indirekte kann aber einen wirklichen Sieg herbeiführen und festigen. Zersetzt alles, was im Lande des Gegners gut ist. Verwickelt die Vertreter der herrschenden Schichten in verbrecherische Unternehmungen; unterhöhlt auch sonst ihre Stellung und ihr Ansehen; gebt sie der öffentlichen Schande vor ihren Mitbürgern preis; nutzt die Arbeit der niedrigsten und abscheulichsten Menschen; stört mit allen Mitteln die Tätigkeit der Regierungen! Aus den Regeln für die politisch-psychologische Subversion des Chinesen Sun-Tsu um das Jahr 500 v. Chr. Das Werk Sun-Tsus fand Dutzende und aber Dutzende von Kommentatoren, deren Aussagen, zusammen mit den Lehren des Meisters selbst, einen vollständigen, im übertragenen Sinne auch heute noch anwendbaren Leitfaden für Aufgaben, Aufstellung, Organisation und Führung eines Auslandsnachrichtendienstes abgeben könnten. Reinhard Gehlen, Generalmajor a. D. Die Aufgaben für das strategische Agentennetz werden vom Generalstab der Roten Armee gestellt. Aus Merkmale der Agentenverbindungen und der Agentenführung in den Vereinigten Staaten von Amerika. Ausbildungsvorschrift 1961 von Oberstleutnant I. E. Prichodko, UdSSR
1 Der Abend, der sein Leben zum zweitenmal von Grund auf veränderte, war dunkel, windig und kalt. Der Schnee knirschte unter seinen Schuhen, was in dieser Gegend selten genug geschah. Wo sein Weg bisweilen aus den schützenden Kulissen des etwa 30jährigen Fichtenbestandes heraustrat, trieb der eisige Wind zarte Schneewirbel über den gefrorenen Boden. Stoffel und Steffi hatte er von der Leine gelassen, und die beiden Cockerspaniels schossen als Schatten mit langwedelnden Ohren schnüffelnd über die Schneefläche hin und her. Manchmal tänzelten sie vor Kälte oder blieben stehen und blickten zitternd mit angewinkeltem Vorderbein zurück zu ihrem Herrn. Der hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und einen langen Wollschal lose darumgeschlungen. Er kannte diesen Weg. Er ging ihn jeden Tag, und er ging ihn jeden Tag fast um dieselbe Zeit, denn die Hunde brauchten ihre Regelmäßigkeit. Während er sie hier oben im Wald spazierenführte, stellte unten Anne das einfache kalte Abendessen auf den Tisch, an welches sie sich seit einiger Zeit gewöhnt hatten. Der Himmel war nicht sternklar, nur der Schnee leuchtete etwas. Nach einigen Minuten kam er an die Stelle, wo sich durch eine Schneise der Blick auf das Moseltal öffnete. Dort säumten Lichterketten den Flußlauf, Autoscheinwerfer huschten hin und her, 5
hinter Fenstern erloschen Lichter oder wurden eingeschaltet. Er kannte jedes einzelne Gebäude, jede Straßenbiegung, jede Lichtreklame. Von ihrem Haus aus hatten sie fast den gleichen Blick. Während er die Augen von diesem Bild abwendete, um, wie er es stets an dieser Stelle tat, umzukehren, schienen ihn einen Augenblick lang seine Sinne zum Narren zu halten. Er sah auf dem leicht abfallenden Waldweg plötzlich drei anstatt zwei Cockerspaniels tollen und mit den Nasen Schnee in die Winterluft werfen. Da er mit sich im unreinen war, ob er sich getäuscht hatte oder nicht, rief er die Namen seiner beiden Lieblinge, die aufs Wort gehorchten und mit gesenkten Nasen auf ihn zuliefen, im Stehenbleiben die langen Ohren schüttelnd. Schließlich öffneten sie die Lefzen, ließen die Zungen heraushängen und sahen ihn an. Der dritte Spaniel schoß noch eine Weile in der Schneise hin und her und näherte sich dann auch. Fritz Seyfried schüttelte den Kopf. »Ich dachte schon, ich sehe Gespenster«, sagte er zu dem Mann, der plötzlich aus dem Dunklen aufgetaucht war und neben ihm stand. Das gehe ihm auch manchmal so, lachte der Fremde vor sich hin und beschäftigte sich angelegentlich mit einer kalten Pfeife; und danach, fuhr er fort, stelle sich doch alles als ganz normal heraus. Fritz Seyfried betrachtete den Mann aus den Augenwinkeln. Ungefähr ein Mensch wie ich selbst, dachte er, 50 oder etwas mehr, Wintertrenchcoat mit Seidenlammkragen, glatt zurückgekämmtes, etwas schütteres Haar, wahrscheinlich nicht gerade ein 6
Topmanager, aber auch nicht voll abhängig, einer, der sich unter Ausnutzung aller Bausparfinessen und Staatsdarlehen ein Eigenheim erwirtschaftet hat und am Wochenende den Garten umgräbt, wobei er sich einbildet, daß das gesund sei und Spaß mache. Nur, wie das Gesicht des Mannes eigentlich aussah, das zu beurteilen fiel Fritz Seyfried ausgesprochen schwer. Es war jedenfalls flächig und glattrasiert, eine Brille, die auch jetzt in der Dunkelheit eine opalisierende Tönung zeigte, verdeckte die Augen. Alles in allem erweckte der Fremde einen jovialen, freundlichen Eindruck. Aber wenn Fritz Seyfried später gefragt wurde, wie der Mann denn ausgesehen habe, war seine Erinnerung immer ein und dieselbe: nichtssagend, unscheinbar – wie Herr Jedermann. »Originelle Namen haben Sie ihnen gegeben«, sagte der Fremde. »Ein Rüde und eine Hündin«, antwortete Fritz Seyfried und streichelte das seidenweiche Haar der Köpfe, mit denen sich die Hunde gegen seine Beine drängelten. »Aber alle beide Schmuser von Gottes Gnaden.« »Ein Wurf?« wollte der Fremde wissen. »Ein Wurf, ja«, sagte Fritz Seyfried, während er die Karabinerhaken der Doppelleine an die Halsbänder der Tiere schloß. Der Hund des Fremden sah dabei pumpend, mit in der Dunkelheit glänzenden Augen und langausgelegter Zunge zu. »Dreieinhalb Jahre alt«, fuhr Fritz Seyfried fort. »Gerade im schönsten Alter.« 7
»Ich weiß«, sagte der Fremde. »Asta ist im gleichen Alter.« »Ich muß nach Hause«, sagte Fritz Seyfried und nahm die Leine in die rechte Hand. Er schlang sie einmal um das Gelenk, denn die Hunde zogen. Mit der freien Hand deutete er den Waldweg hinunter. »Haben Sie die gleiche Richtung?« »Nein, nein«, antwortete der Fremde. »Ich bleibe noch, aber wir werden uns sicher öfter hier begegnen.« Fritz Seyfried wollte etwas sagen, eine Höflichkeitsfloskel, einen Gruß, denn er war ein zuvorkommender Mann, aber die Hunde drängten heimwärts, zogen und bellten, und so nickte Seyfried nur mit dem Kopf. Unbeweglich stand der Fremde an der gleichen Stelle wie bisher und sah ihm nach, wie er in den Schatten der Bäume eintauchte und nach einer Weile weiter unten verschwand. Da Fritz Seyfried den Hausschlüssel im anderen Mantel hatte, läutete er. Anne öffnete. Weil sie nasse Hände hatte, tat sie es mit dem Ellbogen, ließ die Tür offenstehen und ging sofort wieder in die Küche, wo sie sich die Hände trocknete und anschließend mit Geschirr klapperte. Fritz zog den Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe. Er band die Hunde los und warf die Leine über den gleichen Haken. Dann rieb er sich die Hände und sah zufrieden um sich. Er liebte sein Haus, seine Behaglichkeit, seine praktische Einteilung. Aus der Küche heraus auf ihn einredend, wollte Anne, wie jeden Abend, genau alles wissen. Fritz sah sie dabei, obschon er die Küche gar nicht 8
betrat, vor sich, wie sie an der Arbeitsplatte stand, Brot aufschichtete, Käse zusammenstellte, Salz, Pfeffer und Senf auf einem Tablett ordnete. Schließlich hörte er das Klappern der Kühlschranktür, hinter der sie das Bier hervorholte. Was er für einen Arbeitstag gehabt habe, wollte Anne wissen, wie es mit dem Verkehr gewesen sei, ob er Appetit habe. Sie fragte das alles, obschon sie gar keine Antwort erwartete, oder wenigstens nicht gleich. Dann erzählte sie von ihrem Tagesablauf, obwohl er gar nicht zuhörte, wenigstens nicht gleich. Fritz ging ins Zimmer und lächelte. Wenn sie den ganzen Tag alleine gewesen war, mußte sie reden und er mußte sie reden lassen. Später, wenn sie sich unter der Lampe gegenübersaßen, würde dieses ganze Gespräch noch einmal geführt werden. Während er pedantisch, wie es seine Art war, die Gardinen vor das Panoramafenster zog und die Winternacht aussperrte, brachte Anne das Abendessen. Anne war 15 Jahre jünger als er und dunkelblond. Sie hatte eine stämmige Figur und trug gerne Hosen. Das tat sie auch heute und dazu einen curryfarbenen Rollkragenpullover. Sie war keine Schönheit, jedoch galt sie in der Gesellschaft für Konzertfreunde, im Tennisclub und bei Veranstaltungen von Fritz Seyfrieds Amt als apart, war eine begehrte Tänzerin und eine geschickte, diplomatische Gesprächspartnerin. In der Tat, wenn sie sich dazu überwand, ein Kleid anzuziehen, zum Friseur zu gehen und Make-up aufzulegen, brachte sie es fertig, wie 9
Fritz zu sagen pflegte, auszusehen wie das, was man früher eine Dame nannte. Es war unglaublich, worüber man während eines einzigen Abendessens reden konnte. Von der Frage, ob Anne noch vor oder erst nach ihrem Geburtstag zum Friseur müsse, über den alten Kullnau, Pförtner in Fritz’ Amt, der über ein reiches Repertoire von launigen Schnurren sowie zwei- oder eindeutigen Herrenwitzen verfügte, bis hin zu dem Problem, wie oft man Stoffel und Steffi im Winter baden sollte, kam alles zur Sprache. »Übrigens, Stoffel und Steffi«, sagte Anne und biß in ein Käsebrot, »du warst heute ziemlich lange mit ihnen weg.« »Ich habe eine Bekanntschaft gemacht«, antwortete Fritz. »Da muß einer zugezogen sein. Hat auch einen Cockerspaniel.« »Noch nie gesehen?« fragte Anne kauend. »Nein«, sagte Fritz, »aber er muß hier in der Nähe wohnen. Wir würden uns sicher noch öfter treffen, sagte er. Na, irgendwann werde ich schon erfahren, wer er ist.« Diese Annahme erwies sich indessen als Irrtum. Den bürgerlichen Namen seines neuen Bekannten sollte Fritz Seyfried niemals kennenlernen. Er besaß keine wirkliche Existenz. Der Name, unter dem ihn sein Vermieter, sein Fußpfleger und der Briefträger kannten, war falsch, und seinen angeborenen Namen kannten außer ihm 10
selbst derzeit nur noch drei Männer, von denen kein einziger ihn jemals preisgeben würde. Diese Männer waren völlig unbestechlich. Sie wußten genau, was sie wollten, und hatten die Macht, es zu tun. Sie waren außerdem zutiefst davon überzeugt, daß das, was sie taten, das Richtige war. Zwei von ihnen glaubten überdies daran, daß dem System, dem sie dienten, die Zukunft gehörte. Der dritte, ein Zyniker, glaubte, daß die Zukunft überhaupt keinem der bestehenden Systeme gehörte und war deshalb zu einem mechanischen Arm der Macht pervertiert, einem kalt-intelligenten Organisator der größten Konspirations- und Subversionsmaschinerie, welche die Welt je gesehen hat. Er war der einzige unter den drei Männern, der seine intellektuellen Fähigkeiten, seine moralische Skrupellosigkeit und seine immensen Erfahrungen jedem System zur Verfügung gestellt hätte, das ihm die höchste Machtfülle verlieh und ihn am großzügigsten bezahlte. Dieser Mann besaß eine bedeutende Begabung zur logischen Analyse, deren Ergebnisse er ohne Zeit- und Wertverschiebung in Konzepte und in die Tat umzusetzen vermochte. Außerdem verfügte er über einen unerschöpflichen Einfallsreichtum an Wegen, Umwegen, Konstruktionen und Kombinationen, um ein einmal für notwendig gehaltenes Ziel zu erreichen. Und dennoch war auch dieser befähigte Kopf namens Leonid Konstantinowitsch Alikin, Oberst im KGB, dem russischen Komitee für Staatssicherheit und 11
Koordinator der gemeinsamen Aktivitäten der UdSSR und der Deutschen Demokratischen Republik zur Aufklärung operativer Geheimnisse der westdeutschen Bundeswehr, ein ausführendes Organ. Der zweite jener Männer, von denen die Rede ist, hieß Fjodor Petrowitsch Popow. Dieser Mann trug stets einen Zivilanzug von unbestimmter Farbe und hatte im übrigen das Aussehen eines kleinen, ausgemergelten Mathematiklehrers an einer gehobenen Mädchenschule, mit schütterem, angegrautem Haar, verkniffenem Mund und einer randlosen Brille, die stets dann zu reflektieren schien, wenn jemand versuchte, ihm in die Augen zu sehen. Nichtsdestoweniger zählte er zu den gefährlichsten Männern der Welt, und unzählige Menschen hätten ihn gefürchtet, wenn sie überhaupt gewußt hätten, daß sie mit ihm in Berührung gekommen waren. Denn es war eine seiner Eigenheiten, daß er besonderen Einfluß auf das Schicksal von Menschen nahm, die nicht einmal ahnten, daß Fjodor Petrowitsch Popow überhaupt existierte. Seine Stärke war nicht so sehr die Analyse und die gewagte Konstruktion interkontinentaler Aktivitäten. Er war der Mann der Systematik, des Fleißes, der Ordnung und der psychologischen Intuition. Ihm unterstand der legendenumwitterte Zentralindex des sowjetischen Generalstabes im Zentrum Moskaus, in dessen Akten und auf dessen Datenträgern eine so große Anzahl von Personen, Querverbindungen und Informationen gespeichert ist, daß Fjodor Petrowitsch 12
selbst sie im einzelnen gar nicht kannte; und wenn er sie kennen sollte, hätte er sie niemandem mitgeteilt. Er war der Mann, dessen Lebensaufgabe darin bestand, herauszufinden, wie man an Personen irgendwo auf der Welt herankommen konnte, deren Bereitschaft zur Mithilfe der dritte der Männer besonders aus militärischen Gründen für unbedingt notwendig hielt. Dieser Dritte war Alexejew Andrianowitsch Soltjakin, Chef der II. Abteilung des Glawnoje Raswedjwatelnoje Uprawlenije, des sogenannten GRU, des Zentralen Geheimdienstes des Generalstabs der Sowjetarmee. Dieser Mann besaß nicht nur einen militärischen Rang, wie Leonid Konstantinowitsch Alikin, weil es eben so üblich ist, daß Mitglieder des GRU einen militärischen Rang besitzen, sondern er war wirklich Soldat. Und das seit langem und mit Überzeugung. Er war ein großer, kräftiger Mensch mit einer Neigung zur Körperfülle, der die maßgeschneiderte erdbraune Uniform eine würdige Bedeutsamkeit verlieh. Er hatte ein breitflächiges Gesicht, in welchem listige Äuglein glitzerten. Darüber sprangen buschige Brauen vor, die dunkel geblieben waren, obwohl das dichte Haupthaar schon silbrigweiß glänzte. Seine ganze Erscheinung deutete auf bäuerliche Herkunft. Aber das änderte sich, sobald er etwas lesen mußte, die große dunkle Hornbrille aus der Brusttasche des Waffenrocks fischte, mit einer energischen Handbewegung die Bügel auseinanderschnellen ließ und sie vor die listigen Äuglein schob. Dann wurde das Genießerische im Gesicht des 13
Generals zielbewußt, sachlich und abwägend. In seiner Gesamtkontur ähnelte er etwas seinem großen Vorbild, dem Volkshelden Marschall Shukow, und war deshalb einer Reihe von Genossen aus der Politik verdächtig und unbequem. Er arbeitete indessen eng und reibungslos mit dem Chef des Generalstabs zusammen, von dem er die Zielrichtung der Arbeiten erhielt, für deren Durchführung er verantwortlich war und überdies volle Aktionsfreiheit besaß. Alles andere ging ihn nichts an. Diese drei Männer saßen in einem zum Innenhof gehenden Konferenzraum des Verteidigungsministeriums. Alikin und Soltjakin waren weit in ihre Sessel zurückgelehnt und hörten Fjodor Petrowitsch Popow zu, der Aktenordner und Papiere vor sich auf dem Tisch ausgebreitet und soeben einen Teil der Ausführungen abgeschlossen hatte, deretwegen die drei Männer hier zusammengekommen waren. Eine Weile, nachdem Popow geendet hatte, blieb Alikin noch mit halbgeschlossenen Augen in der bequemen Haltung, die er beim Zuhören eingenommen hatte, und dachte nach. Dann hörte er das knackende Zuklappen der Silberdose, aus der General Soltjakin eine Papyrossa holte, und öffnete die Augen. »Und wie seid ihr auf diesen Mann aufmerksam geworden?« fragte er, wuchtete sich aus seiner halbliegenden Stellung hoch und dankte, als ihm Soltjakin leutselig die Papyrossidose hinhielt. »Ich muß es zugeben, durch einen Zufall«, sagte 14
Popow mit einem gewissen Bedauern in der Stimme, dem zu entnehmen war, daß er den Zufall nicht für das effizienteste Arbeitsmittel seines Dienstbereiches hielt. Soltjakin fühlte sich bemüßigt zu ergänzen: »Das ist nicht wahr, Genosse Alikin. Es war sein phänomenales Gedächtnis, und zwar physisch, denn damals hatten wir noch keine Computer für so etwas. Erzähl es ihm, Fjodor Petrowitsch, und sei nicht so verdammt bescheiden.« »Das Ganze hat zwei Komponenten«, ließ sich wieder Popows leise, aber eindringliche Stimme vernehmen, die wie ein melodischer Singsang im Raum schwebte, denn Popow sprach das Russische nach der Schrift und ohne jegliches Idiom. Es hörte sich an, als lese er aus einem Roman von Tolstoi. »Es fing damit an, daß wir damals den Auftrag erhielten, unser gesamtes Aufklärungsmaterial aus den Kriegstagen zu überprüfen und alle Vorgänge von Bedeutung neu zu systematisieren und zu archivieren. Das war überhaupt der Grundstock für den Aufbau des Zentralindex. Dabei stieß ich auch auf unsere Stabsakte über v. Loßwitz. Da mich das interessierte, las ich sie vollständig durch.« »Und was steht da drin? Machen Sie es kurz«, sagte Alikin. »So kurz wie möglich, Leonid Konstantinowitsch. Aber so ganz einfach ist die Sache eben nicht. Henning v. Loßwitz war uns bekannt als der dienstgradjüngste Obersturmführer der deutschen Waffen-SS. Soviel also wie ein Oberleutnant. 15
Er war der Chef einer Kompanie in einer Panzereinheit der Deutschen, der die Fronterprobung der jeweils neuesten Panzerentwicklungen der Faschisten anvertraut war. Ein fanatischer Soldat mit hoher Fachkunde und persönlicher Courage. Einer von denen, die wir gerne lebend gehabt hätten, wenn wir sie hätten kriegen können. Die Offiziere dieses Verbandes wurden häufig in Hitlers Hauptquartier kommandiert, um die Neugier ihres Chefs zu befriedigen und durch ihre Berichte über die neuen Waffenentwicklungen seine angeschlagenen Zukunftshoffnungen zu stärken. Als sich 1943 bei Kursk und Orel das Blättchen wendete und die Faschisten zurück mußten, stiegen unsere Chancen, solcher Leute habhaft zu werden, und es entstand eine Akte. Diese Akte schloß mit einem schriftlichen Bericht aus dem Februar 1945, als unsere Truppen an der Oder angelangt waren und die Kommandeure ein paar Wochen Zeit hatten, um schriftliche Berichte abzufassen. Dieser Bericht besagte folgendes …« Popow beugte sich vor und suchte aus den auf dem Tisch liegenden Dokumenten drei mit einer Klammer zusammengeheftete vergilbte Blätter hervor, die mit einer schon leicht verblaßten Tinte beschrieben waren, »v. Loßwitz’ Einheit war zum Zeitpunkt unserer Baranow-Offensive am 12. Januar 1945 der 4. Panzerarmee des Generals Graeser unterstellt.« Soltjakin hatte eine zur Faust geballte Hand auf der Tischplatte ruhen und nickte bestätigend. »Von denen blieb nicht viel übrig damals. Die Front der Faschisten 16
riß schon in den ersten beiden Stunden auseinander und wir trieben sie im Verlauf von zwei Tagen zurück bis an den Pilica-Fluß. Dort mußten wir stehenbleiben, munitionieren und auftanken. Jetzt erzähl weiter, Fjodor Petrowitsch.« »In diesem Bericht hier«, fuhr Popow fort, »steht, daß der Obersturmführer Henning v. Loßwitz an den Abwehrkämpfen um den Pilica-Übergang beteiligt gewesen ist. Am 15. Januar überrannten unsere Truppen einen deutschen Hauptverbandsplatz, auf dem die Faschisten nur ihre Toten zurückgelassen hatten. Unter ihnen fanden wir auch einen Toten, der das Soldbuch und die Erkennungsmarke von Henning v. Loßwitz bei sich trug und in dessen Uniform samt dem Ritterkreuz am Kragen steckte.« Alikin hatte sich jetzt vollends aufgerichtet und hörte aufmerksam zu, während General Soltjakin seinen Zigarettenrest in einem Aschenbecher ausdrückte, der bereits so voll war, daß Soltjakin der an der Tür stehenden Ordonnanz winkte, ihn auszuleeren, was der Mann lautlos und unbewegten Gesichtes tat. »Und wie kam der Berichterstatter damals darauf, daß der Tote nicht v. Loßwitz war?« fragte Alikin und rief damit ein dröhnendes Lachen des Generals hervor. »Das ist es ja gerade, Leonid Konstantinowitsch. Die kamen überhaupt nicht darauf. Er kam darauf, er …« Soltjakins massiges Kinn deutete in die Richtung von Popow. »Und das erst Jahre danach.« »Nicht nur die Toten des Hauptverbandsplatzes fielen uns damals in die Hände«, fuhr Popow fort, 17
»sondern auch die Dokumente und Listen. Daraus war zu ersehen, daß schwerverwundet eingeliefert worden war ein einfacher SS-Gefreiter namens Fritz Seyfried. Unter den Toten fehlte dieser Fritz Seyfried aber. Und seine Papiere fehlten auch. Sie wissen, daß wir damals die Papiere gefallener Faschisten brauchten, um mit ihnen unsere eigenen Leute nach drüben zu schicken. Aus diesem Grund wurde es vermerkt.« »Und daraus haben Sie auf der Stelle geschlossen …« begann Alikin einen Satz, der aber vor Popows eisigem Lächeln gefror. »Ich habe das ad acta gelegt, Genosse Oberst, und es fiel mir erst wieder ein, als einige Jahre später die zweite Komponente dazukam. Irgendeiner unserer Leute schickte damals eine Routinemeldung aus Westdeutschland, die besagte, daß ein Mann namens Fritz Seyfried als Experte für Panzerfragen in die damalige Organisation des Generals Gehlen eingetreten war. Die Amerikaner betrieben die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik. Sie erinnern sich, Kreuzzugspolitik des damaligen amerikanischen Außenministers. Und dieser Name, Fritz Seyfried, ging mir monatelang nicht aus dem Kopf. Ich wußte genau, daß ich einer Sache von allergrößter Bedeutung auf der Spur war und fand das verbindende Glied nicht. Ich hätte ja anordnen können, daß alle diese alten Vorgänge noch einmal herausgezogen und überprüft werden. Ich hätte das auch selbst tun können, aber das hätte vielleicht weitere Monate beansprucht. Deshalb tat ich 18
etwas anderes.« »Und was taten Sie, Fjodor Petrowitsch?« fragte Alikin. Zunächst antwortete Soltjakin für ihn. »Er meditierte«, sagte er. »Er … was?« Alikin schien nach Fassung zu ringen. »Er meditierte, Leonid Konstantinowitsch.« Alikins matte graue Augen unter dem niedrigbreiten, dunkelbraunen Haaransatz wanderten mit einem verblüfft fragenden Ausdruck hinüber zu Popow und blieb auf dessen Gesicht mit dem Interesse haften, mit dem man im Zoo ein seltenes und etwas verrücktes Tier betrachtet. »Und damit hatten Sie Erfolg, Genosse Popow?« »Ich sage doch, sein phänomenales Gedächtnis«, wiederholte der General. Popow setzte schließlich hinzu: »Jawohl, damit hatte ich Erfolg. Ich hielt mir Nacht für Nacht den Verlauf unserer damaligen Fronten noch einmal vor Augen, versuchte, mich in Operationen, Stimmungen, Wetterlagen, Landschaften, Jahreszeiten hineinzuversetzen, und ganz allmählich entstand in meinem Unterbewußtsein wieder dieser 14. Januar an der mit Treibeis bedeckten Pilica. Ich sage Ihnen, es war in einer Nacht gegen drei Uhr morgens, als ich mich ins Amt fahren ließ und mir diesen Vorgang v. Loßwitz noch einmal herauszog. Und da wurde ich dann endlich fündig.« Popow breitete die drei engbeschriebenen Blätter vor sich auf der Tischplatte aus und strich mit der Handkante zärtlich glättend darüber. »Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß der damalige 19
Obersturmführer Henning v. Loßwitz in der Nacht vom 14. auf den 15. Januar die Identität jenes gefallenen SS-Gefreiten Fritz Seyfried angenommen hat und unter diesem Namen direkt an derjenigen Stelle in Westdeutschland sitzt, auf die Genosse Rodionowsky unsere Bemühungen konzentriert sehen will.« Eine Weile war Schweigen in dem Raum. Soltjakin unterbrach es, indem er erneut die Ordonnanz rief und befahl, Sekt zu bringen. Wenn nicht für alle, so doch für ihn. Die Ordonnanz sah fragend von einem zum anderen. Alikin und Popow schlossen sich an. Popow hatte lange gesprochen und die beiden anderen hatten lange zugehört und viel geraucht. Das machte durstig. »Haben Sie keinen Zweifel oder haben Sie Beweise?« fragte Alikin, als die Ordonnanz die Gläser brachte und durch einen Seiteneingang das Zimmer verließ, um die Flasche zu entkorken. Als der Soldat zurückkam, um einzugießen, trug er der Vorschrift entsprechend Handschuhe aus weißem Zwirn. »Wie man es nimmt«, antwortete Popow und gab seinerseits der Ordonnanz einen Wink, den Raum zu verdunkeln. Der Mann betätigte einen Schalter, und Elektromotoren ließen gleichzeitig eine über die gesamte Fensterfront reichende Verdunklungsfolie und eine breitflächige Projektionsleinwand ausrollen. Indirektes Licht verbreitete gedämpfte Helligkeit. »Den Beweis lieferte mir der Führer persönlich.« Popow betätigte einen Originalvorlagenprojektor, ein Transportmechanismus klapperte, und unversehens 20
befanden sich die drei Männer in jenem unterirdischen Befehlsbunker, von dem aus der Führer in den letzten Kriegsmonaten nach dem Attentat seine Dispositionen getroffen hatte. Hitler selbst war auf der rechten Bildseite zu sehen, wo er durch eine Lupe eine Fotografie betrachtete, die ihm augenscheinlich von einem der drei jungen SS-Führer übergeben worden war, die ihn in schwarzer Panzerfahreruniform auf der linken Bildseite halbkreisförmig einrahmten. »Makaber«, sagte Alikin angewidert. »Woher haben Sie das Foto?« »Aus einer Hitlerbiographie, die in Westdeutschland veröffentlicht worden ist. Mir fiel die Ähnlichkeit sofort auf, als ich es sah. Ich gebe allerdings zu, um sie zu bemerken, muß man die Zusammenhänge kennen. Ein Außenstehender würde darüber hinwegsehen. Haben Sie den geringsten Zweifel?« Popow rückte in dem Projektor an der Vorlage und legte ein Bild Fritz Seyfrieds aus jüngster Zeit daneben. Es zeigte Seyfried, der in gebückter Haltung mit einem seiner Hunde spielte und dabei über die linke Schulter blickend in das Objektiv sah, so als hätte er das Klappen der Kamera gehört, obschon dieses Bild nur mit einer langen Brennweite und aus großer Entfernung mit einem Teleobjektiv aufgenommen worden sein konnte. Obwohl das Haar schütterer und das Gesicht satter geworden waren, waren die Zeichnung der Augenbrauen, der Augenschnitt, die breite Nasenwurzel und die schmale, noch immer straffe Form der Lippen 21
unverkennbar. »Kein Zweifel? Oder Beweis, Genosse Alikin?« fragte Popow mit einem Anflug von Triumph in seiner trockenen Stimme. Alikin nahm einen Schluck Krimsekt zu sich und starrte auf die Projektionsfläche. »Wie alt ist der Mann heute, Fjodor Petrowitsch?« »Wenn ich es richtig sehe, knapp 56 Jahre. Jahrgang 1924.« »Und wie alt wäre der echte Fritz Seyfried?« »Über den echten Fritz Seyfried war wenig in Erfahrung zu bringen. Wir haben einen Suchantrag beim Roten Kreuz stellen lassen. Das einzige, was wir dabei erfahren haben, war, daß noch ein zweiter Suchantrag gestellt worden ist. Aber ich vermute, daß dieser zweite Antrag von Loßwitz selbst gestellt worden ist, mit dem gleichen Ziel wie unser eigener: nämlich um herauszufinden, ob es jemanden gibt, der sich um ihn kümmert. Es scheint niemanden zu geben. Familien dieses Namens gab es im Banat, in den Karawanken, im Sudetenland. Der echte Seyfried scheint Volksdeutscher gewesen zu sein, wie sie die SS-Verbände damals zu Zehntausenden verheizt haben.« »Und die Familie von Loßwitz? Hat sich da auch niemand um den Sprößling bemüht?« Alle drei sahen auf die Projektionsfläche, verglichen, wogen ab. »Schlesische Junker«, sagte Popow. »Dickköpfig wie die nun einmal waren. Die glaubten fest, daß nicht sein kann, was nicht sein darf 22
und blieben auf dem Rittergut, bis es zu spät war.« »Und es ist ja einiges passiert damals«, sagte Alikin kühl. »Da gibt es nur noch zwei entfernte Verwandte«, fuhr Fjodor Petrowitsch Popow fort. »Für die ist v. Loßwitz als vermißt gemeldet und die Sache erledigt. Und Seyfried ist niemand, dessen Bilder durch die Presse gehen. Die müßten ihm schon persönlich begegnen und ihn direkt erkennen. Das ist unwahrscheinlich und auch bisher noch nicht geschehen. Auch über v. Loßwitz hatten wir einen Suchauftrag beim Roten Kreuz lanciert. Seine Spur endet am 15. Januar 1945, 26 Kilometer westlich der Stadt Tomaszów, wahrscheinlich in einem Sammelgrab zusammen mit zahlreichen anderen.« Wieder betrachtete Alikin nachdenklich das weit überlebensgroße Foto auf der Projektionsfläche. »Schön«, sagte er nach einer Weile, »ich bin mit allem einverstanden. Denn Seyfried ist der Mann, der angeblich Zugang zu allem hat, was wir wissen müssen. Von mir aus haben Sie grünes Licht, Genossen.« In diesem Augenblick wurde der eine Flügel der schweren eichenen Doppeltür geöffnet und schwang nach innen. Fast zur gleichen Zeit zog auch die Ordonnanz den zweiten Flügel nach innen und nahm Haltung an. Durch die Tür betraten zwei weitere Männer mit raschen, energischen Schritten den abgedunkelten Raum. Die drei Anwesenden erhoben 23
sich leger. Der eine der Eintretenden, im dunkelblauen Maßanzug mit Nadelstreifen, mittelgroß, mit randloser Brille und in die Halbglatze übergehender hochgewölbter Stirn, war D. F. Ustinow, Verteidigungsminister der UdSSR. Der zweite, untersetzt, in zweireihigem Waffenrock mit dunklem Binder und langer dunkler Hose, war Lubjew Abramowitsch Rodionowsky, General der Raketentruppen und Chef des Generalstabs der Roten Armee. Hinter diesen beiden Männern wurde auch der dritte sichtbar, der den anderen die Tür geöffnet hatte und sie jetzt hinter sich selbst schloß. Dieser trug zum Waffenrock die ausladende Stiefelhose und sehr elegante schmalschäftige Reitstiefel. Er war Major und der Adjutant des Generals, ein tüchtiger Offizier, dennoch tut sein Name nichts weiter zur Sache. Einige Augenblicke lang blieb der Minister mitten im Raum stehen und starrte auf Adolf Hitler. »Ekelhaft«, sagte er und wendete sich um. »Wie kommen Sie denn auf so etwas?« Er reichte jedem der drei anwesenden Männer kurz und gemessen die Hand. Dann machte er eine abfällige Bemerkung über Flasche und Gläser; Ustinow war als spartanisch disziplinierter, rein pragmatischer Intellektueller gefürchtet und als solcher vielleicht am ehesten mit Alikin vergleichbar. Beide waren Technokraten einer ökonomisch orientierten neuen Richtung, völlig abhold dem Lebensgenuß als Existenzzweck. Eine weitere knappe Handbewegung ließ die 24
Männer Platz nehmen. Adolf Hitler und seine jungen Offiziere verschwanden vorübergehend von der Projektionsfläche, indirekt gedämpftes Licht kroch an den geschmacklos tapezierten Wänden hoch und bestrahlte geisterhaft die übergroßen Fotos Lenins und Breschnews. »Haben Sie die Genossen schon informiert, Soltjakin?« fragte der Minister und wendete sich an den General. »Wir haben soeben Details besprochen als Sie eintraten«, antwortete Soltjakin. »Man kommt an jeden Mann im Westen heran. Die Frage ist nur, zu welchem Preis.« »In diesem Fall ist es anders«, sagte Popow. »Wir wollen keinen V-Mann auf die übliche Ochsentour anwerben, sondern wir brauchen einen bestimmten Mann für bestimmte Informationen.« »Und diese Informationen sollen so brisant sein, daß Sie von mir verlangen, meine Gruppe Nachtfrost dafür zu gefährden?« Alikin brachte das in seiner trockenen Art fast beiläufig heraus. »Dazu wollten Sie uns etwas sagen, Genosse Ustinow.« Der Minister ließ seinen Blick über die Gesichter der anwesenden Männer schweifen. Dabei funkelten die Gläser der scharfen, goldgeränderten Brille. Dann begann er, nachdem er die Ordonnanz mit einer Handbewegung aus dem Raum geschickt hatte, zu sprechen: »Um Ihnen das begreiflich zu machen, muß ich etwas weiter ausholen, Genossen. Unser politischstrategisches Konzept für Westeuropa darf ich als 25
bekannt voraussetzen. Wir gehen von zunehmenden weltwirtschaftlichen Schwierigkeiten mit zunehmenden sozialen Spannungen und Unruhen aus. In Italien, Großbritannien und Frankreich am meisten, in Westdeutschland am wenigsten. Wir schüren diese Unruhen nicht, weil uns unter dem Eindruck unserer eigenen Schwierigkeiten in Afghanistan und Volkspolen an einer explosiven Lage vor unserer westlichen Haustür nicht gelegen sein kann. Wir halten aber an der alten Einschätzung der kapitalistischen Mentalität durch Lenin fest, daß Kapitalisten letzten Endes dazu neigen, die Flucht nach vorn anzutreten, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Es gibt starke Kräfte, die Westeuropa in Spannungszustände in anderen Teilen der Welt involvieren wollen. Unsere Bestrebungen zielen auf das Gegenteil. Operativ heißt das alles für uns, kein unprovozierter Angriff auf Westeuropa.« Der Minister blickte hoch und sah in fast suggestiver Weise nacheinander direkt in die Gesichter jedes der Anwesenden. »Das heißt aber auch, Genossen, niemals wieder ein Krieg auf unserem eigenen Boden. Deshalb müssen wir im Falle eines uns aufgezwungenen Konfliktes offensiv werden und mit größter Schnelligkeit bis an die Atlantikküsten vorstoßen, bevor es den Amerikanern gelingt, dort in großem Umfang anzulanden. Besteht bis hierhin Einigkeit?« Der Minister blickte wieder in die Runde und erhielt Zustimmung. »Ich weiß«, fuhr er fort, »daß dieses 26
Konzept für Sie nichts Neues ist, aber es ist die Grundlage für den Auftrag, den Sie vom Generalstab erhalten. Wenn Sie jetzt fortfahren wollen, General Rodionowsky, damit wir rasch zur Sache kommen.« Ustinow lehnte sich zurück, nahm die Brille ab und rieb ihre Gläser mit einem Batisttaschentuch, das er aus der Außentasche seines Jacketts gezupft hatte, als der kahlköpfige, mürrische Generalstabschef zu sprechen begann. »Wir haben diesen Vorstoß zum Meer massiv mit schwersten Waffen und starken, schnellen Panzerverbänden geplant. Zahlenmäßig hat uns die NATO wenig entgegenzusetzen. Moralisch noch weniger. Die Westregierungen sind unfähig, ihren Wohlstandsgesellschaften Opfer für ihre Sicherheit abzufordern. Sie wollen die volle Sicherheit und dazu noch einen vollen Bauch. Deshalb setzen sie auf ihre Technik. Besonders erfinderisch sind die Deutschen …« »Ja«, fiel General Soltjakin mit einem dröhnenden Lachen ein. »Da gibt es eine alte russische Weisheit, die besagt, ›die Deutschen haben den Affen erfunden‹.« Rodionowsky warf dem Kollegen einen Blick zu, aus dem zu entnehmen war, daß er die Angelegenheit für zu schwerwiegend hielt, um alte russische Weisheiten auf sie anzuwenden. »In diesem Fall nicht den Affen, Leonid Konstantinowitsch, sondern ein Verfahren zur Panzerungsherstellung, das ihren kommenden Kampfpanzer 27
Leopard II praktisch unverwundbar macht. Das ist es, was uns Sorgen bereitet und weswegen wir hier zusammensitzen. Wenn wir also auch von uns aus nach Westen nicht angreifen wollen, so können wir doch eines Tages dazu gezwungen werden. Mit einer praktisch konventionell unverwundbaren NATOPanzerwaffe können auch gegen unsere an Zahl und Feuerkraft überlegenen Korps tödliche Stöße in die tiefe Flanke geführt und so unsere Voraussetzung Nr. 1, nämlich die Schnelligkeit, zunichte gemacht werden.« Ustinow, der seine Brillengläser blankpoliert hatte, sagte: »Da wir uns in der Offensivphase auf keinen unserer Verbündeten verlassen können, würde das den Verlust des Krieges bedeuten oder die Notwendigkeit, die Atomschwelle zu überspringen.« So trocken hatten die Teilnehmer der Konferenz diese einfache Wahrheit noch nie aus dem Munde eines Mitglieds des Politbüros vernommen. Der eine oder andere von ihnen rückte unbehaglich auf seinem Sessel hin und her. Soltjakin goß sich trotz des sichtbar zum Ausdruck gebrachten Widerwillens des Ministers Sekt nach und stürzte ein ganzes Glas hinunter. Danach fuhr er sich mit dem Zeigefinger zwischen Hals und Hemdkragen und drehte das Kinn. Er gehörte einer Generation an, die im Großen Vaterländischen Krieg gekämpft hatte. »Den Verlust des Krieges«, schnaufte er. »Nicht noch einmal, Genossen. Nicht noch einmal.« 28
Auf einen verwundert fragenden Blick Alikins hin: »Sie denken daran, daß wir den letzten Krieg gewonnen haben, Leonid Konstantinowitsch. Jawohl, das haben wir. Aber was dieses Land zu leiden hatte, bis wir wußten, daß wir ihn gewinnen würden und bis wir ihn dann auch wirklich gewonnen hatten, das haben Sie nicht mitgemacht, und das können Sie sich auch gar nicht vorstellen. Dazu sind Sie zu jung.« »Um so wichtiger ist der Auftrag, den Sie erhalten werden«, sagte Ustinow. »Wenn wir nicht innerhalb von etwa, sagen wir, zwölf Monaten im Besitz dieses Geheimnisses sind und es auswerten können, könnten wir vor die Situation gestellt sein, unsere operative Planung umzukrempeln, unsere Verbände in der DDR und in der CSSR neu zu gliedern und zusätzliche Divisionen nach Polen zu verlegen – in der gegenwärtigen Lage ein Spiel mit dem Feuer, das wir keineswegs wünschen. Wenn Sie also an eine Person herankommen, die Zugriff zu den Unterlagen hat sowie den politischen Hintergrund überblickt, dürfte dieser Mann unsere wichtigste Figur der 80er Jahre auf dem westeuropäischen Schachbrett sein. Prägen Sie sich das gut ein. Haben Sie einen solchen Mann?« Es trat Schweigen ein. Nach einigen Sekunden betätigte Popow den Schalter des Projektors. Überlebensgroß erschien wieder der Führer im Kreise seiner jungen Offiziere im Raum. »Wir haben ihn, Genosse Ustinow. Diesen hier.« Ein Lichtpfeil geisterte über die Projektionsfläche, blieb über dem Kopf eines der jungen Männer stehen. 29
»Obersturmführer Henning v. Loßwitz, schon damals Hitlers Panzerexperte für die Fronterprobung neuer Typen, lebt heute unter geänderter Identität, aber an maßgebender Stelle, im gleichen Geschäft wie damals, beim Amt für Waffentechnik und Beschaffung der Bundeswehr.« »Und an diesen Mann ist heranzukommen?« Popow antwortete: »Wir sind schon an ihm dran. Das Ganze läuft im Bereich der Gruppe Nachtfrost an. Das sind unsere am besten getarnten und informierten Leute in Westdeutschland. Nachtfrost hat ihm zunächst Drohne angehängt. Der Kontakt läuft zwanglos über die Hunde. Und zwar so, daß er jederzeit ausgebaut oder abgebrochen werden kann, je nach Bedarf.« Der Minister zeigte sich befriedigt. General Rodionowsky lachte sein sibirisches Lachen, entblößte die Zähne und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel. »Über die Hunde, sehr gut. Über die Hunde kommen Sie in Westdeutschland an alles heran. Über die Hunde und über die Weiber.« »Über die Hunde vielleicht«, sagte Popow humorlos. »Aber nicht über die Weiber. Mit Groschenheftmätzchen können wir bei Seyfried nichts ausrichten. Wünschen Sie Einzelheiten zu wissen, Genosse Ustinow?« »Keine Details«, sagte der Minister. »Ist der Mann Ihnen sicher?« »Absolut sicher«, sagte Popow. »Er kann nur einsteigen oder Selbstmord begehen.« Ustinow wehrte mit einer Handbewegung weitere 30
Erläuterungen Popows ab, sah auf die Armbanduhr und erhob sich. »Wie gesagt, bitte keine Details. Je weiter nach oben, desto weniger darf von Ihrem Job bekannt sein. Bedenken Sie, daß wir in der Lage sein müssen, glaubhaft zu dementieren, wenn ein Fehler passiert. Die Verantwortung liegt alleine bei Ihnen, Genosse Alikin.« Die übrigen Herren waren dem Beispiel des Ministers gefolgt und hatten sich ebenfalls erhoben. Soltjakin und Rodionowsky als alte Waffenkameraden tauschten einen Händedruck. Der Major ging mit ausgreifenden Schritten hinüber zur Flügeltür, die er öffnete und durch die der Minister und sein eigener Chef den Raum verließen. Als diese Tür sich hinter den drei Männern geschlossen hatte, ließen Alikin und Popow sich wieder in ihre Sessel fallen. Nur der General blieb mit einem Zwinkern seiner bäuerlich listigen Augen stehen und goß neuen Krimsekt nach. »Da seht ihr es wieder. Wenn es ein Sieg ist, hat er tausend Väter. Die Niederlage ist ein Hurenkind, das war schon immer so. Davon wollen sie dann nichts wissen.« Und nachäffend: »Die Verantwortung liegt alleine bei Ihnen, Genosse Alikin.« Der General nickte bestätigend und unter Bildung eines wuchtigen Doppelkinns. »Nasdrownje«, sagte er dann und leerte sein drittes Glas. »Das muß so sein«, sagte Alikin, der für seinen Job Humor weder besaß noch brauchte. »Und das ist auch gut so. Jetzt erläutern Sie uns bitte, weshalb Sie sich 31
Ihres Mannes so sicher sind.« Popow öffnete ein zweites Dossier mit mattgelbem Umschlag, das vor ihm auf dem Tisch lag und auf der Vorderseite eine aus Buchstaben und Zahlen bestehende Kennziffer trug, die auf eine elektronische Speicherung der darin enthaltenen Daten hinwies. Popow faßte noch einmal zusammen: »Im Index haben wir diesen Mann also seit Mitte der fünfziger Jahre. Wie er da hineingekommen ist, habe ich schon dargelegt. Darüber, daß er von der Informantenseite her der Mann ist, den wir brauchen, gibt es überhaupt keinen Zweifel. Ebensowenig darüber, daß in diesem Fall die übliche Masche nicht verfängt, Sex, Schulden, aufwendige Lebensweise, Drogen, Wetten und diese ganze Litanei von herkömmlichem Mist. Aus diesen gesammelten Daten läßt sich klar erkennen, daß man an Fritz Seyfried nur auf zwei Wegen herankommen kann.« »Und die sind?« fragte Alikin. »Einmal seine gesellschaftliche Stellung, seine bürgerliche Reputation sozusagen, und zum zweiten seine Frau Anne. Diese beiden hängen untereinander und außerdem mit seiner Vergangenheit sehr eng zusammen. Seyfrieds Schwiegervater ist Reinhard Hobarth …« Popow unterbrach sich und schickte einen fragenden Blick in die Runde. Seine beiden Gesprächspartner zuckten bedauernd mit den Schultern. Also fuhr Popow fort: »Ein Altliberaler im Abgeordnetenhaus von Westberlin. Mann mit Prinzipien, früher Nazigegner, Zentralfigur der 32
Koalitionsquerelen im Berliner Senat. Ein Mann, der eine saubere Weste hat und sie auch braucht, weil ihn sonst seine sozialdemokratischen Freunde durch den Wolf drehen würden, wo immer sie könnten. Da ist der Schwiegersohn fest einbetoniert in die bourgeoisen Gesellschaftsstrukturen und voll etabliert. Das wirkt sich bis in seine Stellung im Amt und die gesellschaftliche Reputation des Ehepaars in dessen Kreisen am Wohnort aus. Seyfried kann sich die normalen kleinen Sauereien, die bei denen üblich sind, gar nicht leisten und hat dementsprechend eine saubere, sagen wir fast saubere, Gegenwart. Zusammenfassend steht hier die Gesamtbeurteilung integer. Bei ihm ist das Sachzwang, mindestens aber Intelligenz.« Soltjakin starrte auf die Leinwand, sah dem jungen Mann mit dem straff nach rückwärts gescheitelten Haar und dem gläubigen Idealistenblick ins Gesicht. »Vielleicht ist er es auch wirklich«, murmelte der General und dachte zurück an eine längst vergangene Zeit, da auch er Ideale besessen hatte. »Vielleicht«, sagte Alikin. »Aber das ist nicht unsere Sache, Alexejew Andrianowitsch.« »Woraus schließen Sie, daß Seyfried so reagieren wird, wie Sie es wünschen?« fragte Soltjakin. Anstelle Alikins antwortete Popow. »Erstens muß er das, weil uns sonst das Nachtfrostnetz platzt. Zweitens können wir an ihn nur herangehen, wenn wir das mit überwiegender Wahrscheinlichkeit wissen. Und drittens: Daß wir das mit überwiegender Wahr33
scheinlichkeit wissen, sagt uns sein Soziogramm. Wir haben nämlich über jede einzelne Person unserer Dateien ein mehr oder weniger vollständiges Soziogramm. Keiner von ihnen ist uns ein völliges Rätsel, und der Charakter von vielen liegt vor uns wie ein offenes Buch. Das Soziogramm über Fritz Seyfried ist ziemlich umfassend. Wo immer er jemanden ins Vertrauen ziehen würde, würde er sich sein eigenes Grab schaufeln. Das beginnt beim gesellschaftlichen Verkehr des Ehepaares, geht über die Kollegen und Vorgesetzten im Amt bis hin zu seiner eigenen Frau. Die von uns gehaltenen Karten sind Sprengstoff. Faßt Seyfried sie selbst an, begeht er Harakiri.« »Und wenn er das dennoch tut?« fragte Alikin. »Es soll ja solche geben. Sehen Sie sich doch sein Gesicht an.« Alle wandten ihre Köpfe wieder der Projektionsfläche zu und betrachteten abwägend die Gesichtszüge des jungen v. Loßwitz. »Da war er 20 Jahre alt«, antwortete Popow, »geborener Junker und überzeugter Nazi. Inzwischen ist er fünfundfünfzig, Wohlstandsspießer und arrivierter Würdenträger. In diesem Alter und in dieser Stellung hat man im Westen viel zu verlieren. Glauben Sie, das nimmt so einer in Kauf, nur aus Treue zur BRD? Dafür stellt ein geteiltes Vaterland zuwenig dar. Außerdem ist Seyfried klug genug, um nicht auf verlorenem Posten zu kämpfen. Das zeigt sein Verhalten in den letzten Kriegstagen. Wenn wir das alles anamnetisch berücksichtigen, bleibt Fritz 34
Seyfried nichts anderes übrig als mitzuspielen. Glauben Sie mir das, Genossen.« »Man sollte es meinen«, antwortete Alikin. »Und die Erfahrungen in anderen Westländern sprechen dafür. Aber ist es nicht ein Unterschied, ob wir einem moralisch verkommenen Wissenschaftler oder Politiker in England oder Amerika Geld für die Befriedigung seiner Perversitäten anbieten …« »Ich weiß, was Sie sagen wollen, Genosse Alikin«, sagte Popow. »Aber die Drohung mit der Enthüllung, daß ein etablierter bürgerlicher Rüstungsfunktionär, Schwiegersohn Hobarths, Geheimnisträger der Bundeswehr, Hitlers Vertrauter in Panzerfragen war, zusammen mit der Eröffnung, daß dieser Mann Dutzende unschuldiger Zivilisten aus Feigheit in die Luft gesprengt und dann einen Generalstabsmajor des deutschen Heeres kaltblütig ermordet hat, das alles dürfte genügen, um auch einen stahlharten Fritz Seyfried gefügig zu machen.« Und nach einer Pause: »Wenn er überhaupt noch stahlhart sein sollte. So etwas überlebt sich im Westen.« »Zivilisten? Mord?« fragte Alikin, und ein sichtlich erwachendes zusätzliches Interesse straffte den hageren, bisher eher lässig in seinem Sessel ausgestreckt gewesenen Körper. »Damit kommen Sie erst jetzt heraus, Fjodor Petrowitsch?« »Der Minister hat uns unterbrochen«, antwortete Popow. »Sonst wüßten Sie es schon. Sie erinnern sich, daß 35
Genosse Ustinow keine Einzelheiten zu wissen wünschte.« »Was für ein Mord?« beharrte Alikin. »Wann ist das geschehen?« »Diese Details wird General Soltjakin Ihnen anschließend vortragen. Beim Übergang unserer Truppen über die Pilica am 14. Januar 1945 ist nämlich noch mehr geschehen als das, was Sie bereits wissen.« »1945? Januar ’45 …«, Alikin schüttelte den Kopf. »Das ist 35 Jahre her. Das ist doch bei denen verjährt.« Popows Gesicht zeigte das feine, aber leblose Lächeln, das man an ihm kannte, wenn er einen Gegner durch seinen überlegenen Intellekt endgültig zur Strecke gebracht hatte. Es war das Lächeln eines Totenkopfes. »Sie werden noch nicht direkt damit befaßt gewesen sein, Leonid Konstantinowitsch. Gewöhnlich denkt man dabei nur an die Naziverbrechen in den Konzentrationslagern und an die Endlösung der Judenfrage. Aber die Abgeordneten des westdeutschen Bundestages haben die gesetzliche Verjährungsfrist für Mord nicht nur für diese Verbrechen aufgehoben, sondern generell. Sie haben dabei unter einem weltweiten moralischen Druck gehandelt, aber unserer Sache haben sie damit einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Danach kann Seyfried wegen eines Mordes im Jahr 1945 unbegrenzt verfolgt und belangt werden.« Alikin erhob sich und sah auf Popow herunter, während er sich jetzt doch eine Zigarette anzündete. 36
»Ein Mord vor 35 Jahren, Popow … Wenn Sie da mit einem Strafprozeß operieren, werden Sie Beweise liefern müssen. Haben Sie daran gedacht? Haben Sie daran gedacht, wie hartleibig Gerichte in Westdeutschland solche Prozesse aufnehmen, wenn keine erdrückenden Beweise vorliegen?« »Natürlich habe ich daran gedacht«, sagte Popow. »Und ich versichere Ihnen, ich hätte die Sache gar nicht angefaßt, wenn ich diesen Beweis nicht liefern könnte.« Es trat ein längeres Schweigen ein, während dessen Dauer Soltjakin ein viertes Glas Sekt trank und Alikin die Arme vor der Brust verschränkte, sich mit der Hand, die die Zigarette hielt, die Wange rieb und dabei immer noch auf Popow herunter sah. »Dieses Mal waren Sie mir über, Fjodor Petrowitsch«, sagte er nach einer Weile langsam bewundernd. Popow wußte, wie gefährlich diese Feststellung für jeden anderen im Gestrüpp des KGB und GRU gewesen wäre. Aber Popow hatte keine Furcht. Niemand kannte den komplizierten Aufbau, die raffinierte Technik und die teuflische Sprengkraft des legendären Zentralindex des GRU so intim wie er, und niemand anderer hätte es derzeit verstanden, so geschickt mit diesem scharf geschliffenen Instrument umzugehen. Er, Fjodor Petrowitsch Popow, war im System unersetzlich und wußte das, und deshalb nahm er Alikins Bemerkung, die für jeden anderen eine unverhüllte Drohung gewesen wäre, als Kompliment. Er lächelte noch einmal und wendete sich an 37
Generalmajor Soltjakin. »Und nun bist du an der Reihe, Alexejew Andrianowitsch. Erzähle uns, was das 3. Gardeschützenkorps beim Übergang über die Pilica am Morgen des 15. Januar 1945 vorgefunden und protokolliert hat. Setzen Sie sich wieder, Leonid Konstantinowitsch, denn es handelt sich um einen längeren Bericht.« Soltjakin rief mit dröhnender Stimme nach der Ordonnanz und bestellte, als der Mann den Raum betrat, neuen Sekt. Alikin ließ sich wieder in seinen Sessel fallen, lehnte sich zurück, stützte die Ellbogen auf, nahm den Kopf zwischen die weit gespreizten Hände und starrte auf die Projektionsfläche, wo das Hitlerbild jetzt erlosch und an seiner Stelle die Wiedergabe einer Landkarte erschien, welche die Gegend um die Pilicaschleife bei Tomaszów in Polen zeigte. »Hören Sie zu, Genossen …«, begann Soltjakin, wartete aber dann, bis die neue Sektflasche geöffnet war, um seine Kehle anzufeuchten.
38
2 Am 12. Februar war die Kälte, die für eine gewisse Zeit geherrscht hatte, längst gebrochen. Ein starker Südwestwind schlug wie mit lauwarmen nassen Tüchern auf das Land, ließ entlaubte Bäume dumpf rauschen, wenn er durch die Wälder brauste, und legte eine schwärzlich-glänzende Nässe auf Hausdächer und Straßen. Jedermann sah zu, daß er rasch nach Hause kam, und wer es nicht vermeiden konnte, seine Wohnung zu verlassen, hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und den Hut ins Gesicht gezogen. An diesem Tage trat der Mann, von dem in Moskau unter dem Namen Drohne gesprochen worden war, aus seinem unauffälligen Laden in einer Kleinstadt, etwa 25 Kilometer vom Hause der Seyfrieds entfernt, nachdem er seiner schon ältlichen Lebensgefährtin, einer noch hübschen, aber etwas verhärmten Person mit kurzgeschnittenem, graumelierten Haar, nahegelegt hatte, in einer halben Stunde das Geschäft zu schließen, die Abrechnung fertig zu machen und das Licht zu löschen. In dem Laden wurden Zigaretten, Feuerzeuge und Zeitungen verkauft, und außerdem betrieb das Paar eine Annahmestelle für Lotto- und Tototips, was draußen durch ein Leuchtschild angezeigt wurde. Den Namen des Städtchens würde jeder, der ihn nicht kannte, umgehend wieder vergessen, und deshalb braucht er 39
auch nicht genannt zu werden. Der Mann zog einen unauffälligen mittelgrauen Wettermantel an, setzte des herrschenden Windes wegen einen Hut auf und pfiff aus den Räumen hinter dem Laden, wo die Wohnung der beiden lag, den Spaniel heran, der mit schlappernden Ohren, auf dem Fußboden schnüffelnd, herangefegt kam und sich lässig den Karabinerhaken der geflochtenen Leine an das Halsband schließen ließ. Die grauhaarige Frau liebte Hunde nicht besonders. »Dauernd dieser Dreck und für das Fressen sorgen. Wann ist denn nun endlich Schluß damit? Du hast versprochen, ihn vor dem Frühjahr wieder zu verkaufen.« »Reg dich nicht auf«, sagte der Mann. »Vielleicht kann ich ihn schon morgen abstoßen, vielleicht nächste Woche. Vielleicht auch erst in vier Wochen. Vor dem Frühjahr bestimmt. Glaubst du, mir macht das Spaß? Aber im Augenblick brauche ich ihn noch.« »Wann bist du denn zurück?« fragte die Frau. »Nicht allzu spät«, sagte der Mann. »Es ist nur eine Sitzung des Jägervereins.« Damit verließ er sein Geschäft, zog wie alle anderen den Hut tiefer in die Stirn, schritt ein paar Meter die belebte Straße entlang und bog dann um die Ecke, wo in einer Nebengasse ein unauffälliger, gemieteter Wagen geparkt stand. Der Mann schloß ihn auf, ließ den Hund hinter die Vordersitze schlüpfen und setzte sich ans Steuer. Er legte gewissenhaft den Sicherheitsgurt um, bevor er den Motor startete. In 40
dieser Hinsicht befolgte er alle Vorschriften und Gesetze, parkte nie an einer verbotenen Stelle und hielt sämtliche Geschwindigkeitsbegrenzungen genau ein. Er hatte absolut kein Interesse daran, mit Beamten in Berührung zu kommen, die Papiere überprüften, Namen festhielten, Fragen stellten. Und schon gar nicht war er daran interessiert, daß so etwas wegen einer Lappalie geschah. Er war absolut sicher, daß die Frau völlig ahnungslos war. Sie kannte zwar seine Jagdleidenschaft und glaubte, daß alles, was ihr ab und zu sonderbar vorkam, damit zusammenhing. Auch die Anwesenheit dieses Köters übrigens, der sie in ihrem eingefahrenen Trott störte und ihr Mutterpflichten abforderte, denen sie zeitlebens geflissentlich aus dem Wege gegangen war. Sie ahnte indessen nichts von dem einfach möblierten, anspruchslosen Dachzimmer, das er in einem benachbarten Ort wieder unter einem anderen Namen gemietet hatte, wo er mitunter vorübergehend Dinge, Dokumente und Papiere aufbewahrte, die er in der Wohnung hinter dem Laden nicht aufbewahren wollte, und wo ein hochempfindlicher Kurzwellenempfänger installiert war, den er an die Sammelantenne angeschlossen hatte und der aus diesem Grunde niemandem auffiel. Dort gab es auch einen Fernsprechanschluß. Allerdings hatte die Frau auch von dem Konto keine Ahnung, das er bei einer Sparkasse unterhielt und das inzwischen auf eine namhafte Summe angewachsen war, denn der Mann, 41
den sie Drohne nannten, war ein sparsamer Mensch. In nicht allzu ferner Zukunft würden sie den Zigarettenladen in jener Kleinstadt aufgeben, fortziehen, und die grauhaarige Frau würde erstaunt sein, wieviel dieser Laden doch erbracht hatte. Denn von allem anderen wußte sie nichts. Natürlich wußte sie auch nichts davon, daß der Mann, den sie bisweilen für ein wenig sonderbar hielt, die Weisungen, denen er heute abend folgte, an einem Tage in Berlin erhalten hatte, an dem sie ihn zusammen mit Jagdkameraden, die sie ebenfalls nicht kannte, in einem dörflichen Gasthaus in der Schneeifel vermutet hatte. Er war mit seinem unauffälligen Wagen frühmorgens zum Flughafen Wahn gefahren und hatte schon bald darauf in der ersten Maschine nach Berlin gesessen, wo er eine Stunde später in Tegel durch die Sperren geschritten war. Dort hatte er ein Taxi genommen, das ihn zu dem Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße gebracht hatte, wo er die Demarkationslinie zum Ostteil der Stadt ohne weiteres für einen Tag mit seinem westdeutschen Reisepaß überschreiten konnte. Der Mann, den sie Drohne nannten, erfuhr übrigens bis zu seinem Ende nicht, ob die Grenzsoldaten der DDR, die seine Papiere prüften, wußten, wer er war, oder ob sie ihn wirklich für einen beliebigen westdeutschen Touristen hielten, wie sie häufig in die Hauptstadt der DDR reisen, um das Zeughaus oder das Pergamonmuseum zu besuchen. Nachdem er die Grenze überschritten hatte, hatte er sich wieder ein Taxi genommen und war mit diesem 42
hinaus zum Stadtteil Oberschöneweide gefahren, wo er in einer altmodischen Kneipe, die in einer altmodischen Straße lag, durch die eine altmodische Straßenbahn klapperte, mit zwei Männern zusammengetroffen war, die er nicht kannte und die ihm ihre Identität vorenthielten. Der eine von ihnen hatte deutsch gesprochen und die Verhandlung geführt. Der andere haue kein Wort gesagt und sich damit begnügt, ihn schweigend und äußerst aufmerksam zu betrachten. Der deutsch Sprechende war Viktor Seidenschwang, Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee, kommandiert zu einem Sonderstab des Staatssicherheitsdienstes für Spezialaufträge im Interesse des Generalstabs der Roten Armee. Es hätte dem Mann, den sie Drohne nannten, ohne Zweifel einen Schauder über den Rücken gejagt, wenn er gewußt hätte, daß der schweigsame zweite Mann Leonid Konstantinowitsch Alikin und damit einer der mächtigsten Männer der Sowjetunion war. Diese drei Männer hatten etwa vier bis fünf Stunden an einem abgeschirmten Ecktisch der Kneipe gesessen, während derer Seidenschwang einige Biere und ein einfaches Mittagessen bezahlte. In diesen vier bis fünf Stunden hatte Seidenschwang dem Agenten jenen Bericht erläutert, den vor nicht allzu langer Zeit Generalmajor Alexejew Andrianowitsch Soltjakin seinen beiden Zuhörern im Verteidigungsministerium am Sokolniki-Prospekt gegeben hatte. Es dauerte deswegen so lange, weil Drohne jede der 43
komplizierten Einzelheiten aufnehmen und sich einprägen mußte, nachdem Seidenschwang es ihm strikt verboten hatte, sich jetzt oder auch zu einem späteren Zeitpunkt schriftliche Aufzeichnungen über das zu machen, worüber sie sprachen. Zunächst war Drohne gefragt worden, wie sich seine Verbindung zu Fritz Seyfried angelassen habe. Das sei alles in Ordnung, hatte Drohne geantwortet. Das laufe befehlsgemäß ebenso locker wie harmlos. Er, Drohne, sei dabei voll getarnt geblieben. Er könne jederzeit zum Angriff übergehen oder sich aus der Sache zurückziehen. Seidenschwang hatte ihn dann davon in Kenntnis gesetzt, daß er zum Angriff übergehen sollte. Drohne habe den Auftrag, Seyfried an einem von Nachtfrost zu genehmigenden günstigen Tage vor die vollendete Tatsache zu stellen, daß man von ihm bestimmte Informationen zu erhalten wünsche. Für diesen Angriff mußte Drohne zwei verschiedene Komplexe in seinem Gehirn speichern: einmal die Einzelheiten der technischen und metallurgischen Informationen, um die es bei diesem Auftrag ging, und zum zweiten jede der zahlreichen im Zentralindex gespeicherten Daten aus dem Leben Seyfrieds und jede Einzelheit der weit zurückliegenden militärischen Vorgänge, mit deren Hilfe man beabsichtigte, Seyfried die Daumenschrauben anzulegen. Als das nach mehreren Stunden endlich geschafft war und Seidenschwang ihn wiederholt scharf abgefragt hatte, war Drohne schweißnaß gewesen. Nur noch am Rande hatte er registriert, daß man ihm für die 44
Erfüllung dieses Auftrages 10 000 Mark auf das Konto bei seiner Sparkasse überweisen werde, von dem seine Lebensgefährtin und übrigens auch das Finanzamt nichts ahnten. Erst nach Drohne hatten auch die beiden anderen Männer die Kneipe verlassen. Von irgendwoher aus den Gassen von Oberschöneweide war urplötzlich die große schwarze Limousine aufgetaucht, hatte gehalten, die Tür war vom Fahrer offengehalten worden, und die beiden Männer waren eingestiegen. Einige Zivilisten waren stehengeblieben und hatten neugierig zugesehen. Die beiden Männer im Fond des Wagens hatten die Gardinen vor die rückwärtigen Seitenfenster und die Heckscheibe gezogen. Der Fahrer hatte auch ohne ausdrückliche Anweisung gewußt, daß sein Ziel die Kaserne in Karlshorst war, wo der Oberkommandierende der sowjetischen Truppen sein Hauptquartier hatte. Alikin hatte eine Weile schweigend vor sich hingesehen. Jetzt wendete er sich hinüber zu Seidenschwang und sagte in fließendem, fast akzentfreiem Deutsch: »Halten Sie den Mann für geeignet für diesen Auftrag, Genosse Seidenschwang?« »Er ist von Nachtfrost persönlich eingestellt worden, und Nachtfrost hat bisher noch immer gewußt, was er tat.« »Er ist nicht belastbar, leicht aus der Fassung zu bringen und schon reichlich alt. Der Typ des deutschen Besitzbürgers, reaktionär und von engem Horizont.« »Dafür ist er völlig skrupellos«, antwortete 45
Seidenschwang. »Wie gesagt, ich vertraue der Menschenkenntnis und der Umsicht von Nachtfrost.« Alikin seufzte. »Ich kann mir das leider nicht leisten. Ich lebe von Tag zu Tag davon, immer wieder aufs neue alles in Zweifel zu ziehen, mich jeden Tag wieder zu fragen, ob heute alles noch richtig ist, was ich gestern gedacht, getan und angeordnet habe.« Seidenschwang verzichtete auf eine Antwort. Er war mit Alikin schon einige Male zusammengetroffen. Er hatte jedesmal wieder festgestellt, daß der Russe äußerst geeignet für den Posten war, den er innehatte, verdammt geeignet sogar, das mußte der Neid ihm lassen. Und jetzt wußte Seidenschwang, daß Alikin seit dem Gespräch mit dem Mann, den sie Drohne nannten, der Sache, um die es hier ging, skeptisch gegenüberstand. Davon allerdings wußte dieser Mann nichts, der jetzt, den schnaufenden Spaniel hinter sich, den Wagen in Gang brachte, in die Hauptstraße einbog und die Richtung auf jene Stelle einschlug, von der aus es ihm möglich war, unverfänglich bei seinen abendlichen Spaziergängen mit Fritz Seyfried zusammenzutreffen. Während der Fahrt memorierte er noch einmal gewissenhaft und ein wenig verkrampft alles, was Viktor Seidenschwang ihm in vielstündiger Arbeit eingebleut hatte. Denn es würde bei dem Gespräch, mit welchem er Fritz Seyfried überrumpeln wollte, darauf ankommen, daß jedes Wort und jedes Faktum hiebund stichfest saßen und bei Seyfried vor allem keinerlei Zweifel an der Ernsthaftigkeit der 46
Repressalien aufkamen, die man gegen ihn aufzubauen beabsichtigte. Für Fritz Seyfried verging dieser zwölfte Februar in einer anderen Weise erregend. Im Gegensatz zu dem Mann, den sie Drohne nannten, konnte er seiner Frau fast alles, was er tat, offen sagen. So hatte er Anne schon am Abend vorher gebeten, den Wecker rechtzeitig zu stellen, weil er diesen Tag auf einem Panzerschießplatz der Bundeswehr verbringen mußte und den Hubschrauber bereits um sechs Uhr auf den Start- und Landepunkt vor seinem Amt bestellt hatte. Aus Gründen, die ihm von früher her nur noch schwach im Gedächtnis hafteten, bevorzugte das Militär für alles, was es tat, stets die frühen Morgenstunden. Also hatte der Wecker im Schlafzimmer der Seyfrieds im Giebel ihres Hauses schon um vier Uhr nachts gesummt. Im Morgenmantel hatte Anne ein rasches Frühstück herangezaubert, während Fritz Überfallhosen, Schnürstiefel, ein grobes Hemd und einen Pullover angezogen hatte. Das Frühstück nahm er im Stehen in der Küche ein, nachdem er seiner Frau zuvor zu ihrem Geburtstag gratuliert hatte. Dabei hatte er ihr versprochen, pünktlich zu dem kleinen Fondue-Essen wieder zurück zu sein, das sie für ihren Vater, die Schwester und ein oder zwei befreundete Ehepaare heute abend arrangiert hatte. Nachdem er seinen zu solcher Stunde ohnehin nicht sehr großen Appetit befriedigt hatte, trank er wie 47
gewöhnlich einen Klaren hinterher, zog sich eine graugrüne Mütze mit langem Schirm über die Haare und fuhr in einen schon ziemlich mitgenommenen Parka, der lediglich am Oberarm die Bundesfarben zeigte. Zwar bat Anne darum, Fritz möge sie anrufen, wenn er dort, wo er hinmüsse, gelandet sei, aber Fritz sagte ihr, daß das vielleicht nicht so einfach sei. Immerhin könnte er jemanden vom Begleitpersonal bitten, ihr mitzuteilen, daß sie ohne Störung gelandet seien. Danach verließ er das Haus, fuhr den Wagen aus der Garage und schlug die Richtung auf sein Amt ein. Als er in die Nähe des Gebäudes kam, sah er in das Licht von Scheinwerfern getaucht den dunkelgrünen Hubschrauber bereits warten. Auf dessen Rücken zuckte auffordernd eine orangerote Lichtkuppel, und die Rotorblätter zitterten. Seyfried fuhr den Wagen vor das Hauptportal und bat den Nachtportier, ihn auf seinen Platz in die Tiefgarage zu bringen. Er ging rasch hinüber zu der wartenden Maschine, wo er die Besatzung und den Major aus dem Ministerium begrüßte, den man ihm zur Begleitung geschickt hatte. Die Männer bestiegen das Flugzeug, die Türen wurden geschlossen, und lärmend und knatternd fegten die in Bewegung versetzen Rotorblätter das auf der Betonscheibe stehende Wasser zur Seite, bevor die Maschine abhob und auf Kurs ging. Man flog in nordöstlicher Richtung und überquerte nach wenigen Minuten den Rhein. In niedriger Flughöhe passierten sie den Westerwald, einen Teil des Sauerlandes, das 48
Rothaargebirge und erreichten in der Nähe von Bielefeld die Autobahn, der sie folgten bis hinauf nach Hannover und Soltau. Auf dem Landeplatz Munsterlager trafen sie 90 Minuten nach dem Start ein. Es waren starke Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden. In einer halben Stunde begann die Übung. In einer Baracke versammelten sich bei einem Becher Kaffee die Offiziere und Techniker, Wissenschaftler und Industriellen, die an diesem Tage an der ersten praktischen Erprobung des epochemachenden, in deutschen Labors entwickelten Panzerstahls teilnahmen. Fritz Seyfried, der bei Entwicklung, Erprobung und Verwendung dieses Materials an einer zentralen Koordinationsstelle saß, begrüßte fast alle der Anwesenden. Schon nach wenigen Minuten meldete eine Ordonnanz, daß die Fahrzeuge bereitstanden, um das Erprobungsfeld abzufahren. Man begab sich nach draußen in einen Morgen, der, wie es schien, niemals hell werden wollte. Grauer Regendunst verschleierte die Waldränder, und auch hier bog der Wind die Wipfel der Kiefern und Fichten. Die Männer bestiegen ungedeckte geländegängige Fahrzeuge. Das Erprobungsgelände war offen, weitläufig und leicht hügelig. Im Spätsommer blühte hier zwischen ausgefahrenen Panzerspuren ein Meer von Heidekraut. Der Konvoi fuhr die Aufstellung der Zieldarstellungen ab. Ein Offizier im schwarzen Barett erläuterte. Es handelte sich um Protostücke des neuen Materials, quadratische Panzerplatten im Durchmesser von etwa zweimal zwei Meter, die in verschiedenen Neigungswinkeln, teils in 49
Betonbettungen, teils in Holzattrappen eingebaut, im Gelände standen. Zur besseren Sichtbarmachung waren sie dort, wo sie getroffen werden sollten, mit großen weißen Kreuzen gekennzeichnet. Alle waren angeschlossen an feinnervige Registriersysteme, denn die Reaktion des beschossenen Materials mußte nicht nur dem Augenschein nach, sondern auch wissenschaftlich-technisch bis in die winzigsten Einzelheiten hinein analysiert und ausgewertet werden. Der so entstehende Bericht war ein Teil jenes Informationsprogrammes, das Fritz Seyfried den Verteidigungsministern des Bündnisses in einer geheimgehaltenen Konferenz in Brüssel später präsentieren sollte. Nachdem das Zielgelände abgefahren war, steuerte der Konvoi einen von den Attrappen etwa zwei Kilometer entfernten und von einem sonderbaren zuckerhutähnlichen Bunker aus Beton gekrönten Hügel an, wo hinter einer hölzernen Brustwehr Feldstecher bereitlagen und Scherenfernrohre ihre neugierigen Linsen in die trübe Regenluft spreizten. Die Fotoaufnahmen von der Beschießung der Platten wurden von einer anderen Stelle aus vorgenommen. Nachdem sämtliche Teilnehmer des Erprobungsschießens noch einmal kontrolliert worden waren und ihre Plätze eingenommen hatten, führte der Panzergeneral, der die Übung leitete, ein kurzes Telefongespräch und erklärte den übrigen Herren, daß er soeben das Feuer freigegeben habe. Die Feldstecher richteten sich auf einen ebenfalls etwa zwei Kilometer entfernten Waldrand zur Rechten, 50
wo nach wenigen Augenblicken Panzerfahrzeuge zwischen den Bäumen hervorbrachen und nach einem genau ausgearbeiteten Plan das Feuer auf die Attrappen im Gelände eröffneten. Dort drüben quollen blitzartig orangerote Feuerbälle aus den Mündungen der Geschütze, weißgraue Qualmwolken waagerecht vor sich herfegend, die sich alsbald mit dem Regendunst vermischten und seitwärts davontrieben. Dazu hallte die Weite der Lichtung wider von dem scharfen Par-raff des Mündungsknalles, dem Dröhnen der Motoren und dem Klirren und Krachen der Ketten, mit deren Hilfe sich die Ungetüme durch das morastige Gelände fraßen. Mittels eines Megaphones erläuterte der leitende Offizier den Beobachtenden jede einzelne Phase des Programms. Die Fahrzeuge, die feuerten, waren Jagdpanzer, Kampfpanzer, Kanonenpanzer mit den unterschiedlichsten Patronen oder Raketenwaffen und den unterschiedlichsten Munitionsarten, von der einfachen Geschützpatrone bis hin zu den wirkungsvollen und heimtückischen Panzersprengund Hohlladungsgranaten, in allen bisher geführten Sinaikriegen der Schrecken der Panzerbesatzungen auf beiden Seiten. Fast auf die Minute genau drei Stunden lang war das Übungsfeld ein Hexenkessel hin und her jagender Panzerriesen, waagerechter Leuchtspurbahnen, heulender Geschosse, sich aufwerfender Einschlagfontänen und im Winde abtreibender weißgrauer Qualmschwaden. Die Männer waren durchnäßt und klamm, als endlich ein aufgezogener blauer Stander und ein weiteres Telefongespräch das 51
Ende des Erprobungsschießens anzeigten. Aber sie mußten noch eine Stunde ausharren, denn auf den gleichen Fahrzeugen, die sie hierher gebracht hatten, wurde nunmehr das Zielgelände abgefahren und die Feuereinwirkung auf die einzelnen Attrappenziele in Augenschein genommen. Dort gab es erhebliche Überraschungen. Manche der Stahlplatten waren aus den Bettungen gerissen und umgeworfen worden, manche zeigten oval geformte, großkalibrige Schrammen, wo Geschosse aufgetroffen und wieder abgeglitten waren, wieder in anderen staken Projektile wie eingewachsen und untrennbar verbunden mit dem Material, das sie hätten durchschlagen sollen. Dies war nur in einem einzigen Fall geschehen und auch erwartet worden, aus einer – wie der Übungsleiter ausführte – kürzesten Entfernung von weniger als fünfzig Metern mit einer Spezialgranate, die im sogenannten Ernstfall im Inneren eines Fahrzeugs keinerlei Schäden angerichtet hätte. Angesichts des positiven Ergebnisses dieses Großversuchs stieg die Stimmung unter den Herren beträchtlich. Mit erhöhter Geschwindigkeit fuhren die Geländefahrzeuge zum Barackenlager zurück, wo ein einfacher Feldimbiß und ein Umtrunk vorbereitet waren. In der Wärme der Baracke und befeuert durch die herumgereichten Schnäpse lockerte sich die Stimmung noch weiter. Trinksprüche wurden ausgebracht, Gespräche wurden lauter. Wie alle anderen wurde Fritz nach seinem fachkundigen Urteil über das Erprobungsergebnis 52
gefragt. Fritz Seyfried antwortete jedoch einsilbig. Natürlich war er zufrieden mit der offensichtlichen Widerstandskraft des neuentwickelten Materials. Es sei ja immer etwas wert, wenn eine Erfindung gemacht werde, welche die Abwehrkraft erhöhe. Man dürfe jetzt doch etwas rosiger in die Zukunft blicken. Aber in Wirklichkeit war Seyfrieds Blick sekundenlang zurück in die Vergangenheit gerichtet. Zu oft hatte er diese orangeroten Blitze aufflammen sehen, zu deutlich erinnerte er sich an die Orgien aus Tod und Verwüstung, die sie angerichtet hatten, um Freude zu empfinden. Nein, für ihn gehörte das zum Job, sonst nichts. Andere spürten das und hielten seine Reserve für Arroganz. Manche betrachteten ihn mit Abneigung, weil trotz aller persönlicher Zurückhaltung sein Ressort reibungslos funktionierte. Aber in gleicher Weise war es unumgänglich, ihn zu respektieren, und deshalb war er mit seiner hohen Gestalt und der leichten Stirnglatze, die Schirmmütze hier im geschlossenen Raum in die Schrägtasche des Parka geschoben, Mittelpunkt mancher Diskussionsgruppe, bis er gegen drei auf die Uhr sah und sich verabschiedete. Heute sei der Geburtstag seiner Frau, und er habe versprochen, pünktlich zu sein. In einem Geländewagen wurde Fritz Seyfried zu seinem Hubschrauber zurückgefahren, startete wenig später und landete kurz nach halb fünf auf der kreisförmigen Betonpiste vor seinem Amt. Da er nun schon einmal hier war, beschloß er, wenigstens noch nach der Tagespost zu sehen. Serafin Kullnau, der 53
Chefpförtner, staunte nicht schlecht, als er Seyfried mit dreckigen Hosen und Stiefeln, nahezu feldmäßig gekleidet, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zum Hauptportal heraufkommen sah. Er eilte zur Schwingtür, riß sie auf und begrüßte Seyfried, der immerhin die Dienstgeschäfte eines Ministerialdirigenten versah. »’n’n Abend, Herr Seyfried. Verdammt dreckiges Wetter heute für ’n Flug mit so einem Vogel, was?« »Es geht, es geht, Kullnau. Man darf nur nicht ins Phantasieren kommen, dann überlebt man das schon.« »Herr Lockschmidt hat schon geäußert, daß Sie wahrscheinlich einen Schnaps brauchen.« Seyfried lachte, während er auf den Aufzug wartete. »Das ist in Ordnung. Der kennt meine Leidenschaft für das Fliegen. Tun Sie mir einen Gefallen, Kullnau?« »Aber immer, Herr Seyfried.« »Dann rufen Sie bei meiner Frau an, daß wir gut runtergekommen sind. Und sagen Sie ihr, daß ich pünktlich zu Hause bin.« Kullnau zog Seyfried die Aufzugstür auf. »Mach ich, Herr Seyfried. Und Herr Lockschmidt wartet auf Ihren Anruf, vergessen Sie das nicht.« Die zufahrende Aufzugstür schob sich zwischen Seyfried und den Pförtner. In der Kabine nahm Seyfried die Schirmmütze ab und fuhr sich mit der flachen Hand über das schon ein wenig schütter werdende Haar. Oben im 9. Stock verließ er den Aufzug und schritt den Flur entlang. Beamte und Angestellte, für die soeben der Feierabend begann, 54
begegneten ihm. Auch in seinem Büro brach man auf. Die Maschinen waren schon zugedeckt und die Schränke geschlossen. Diese Stahlblechschränke waren im übrigen eine Farce. Sie verursachten eine Menge Ärger und erforderten Aufmerksamkeit wegen des Zugriffs und wegen der Schlüssel, und doch boten sie viel zu wenig Schutz für wirklich vertrauliche Vorgänge. Akten, die einer Geheimhaltungsstufe unterworfen waren, kamen also ohnehin in den mehrfach elektronisch gesicherten Tresorkeller, der vor zwei Jahren mit großem Aufwand gebaut worden war. Zu seinem Zimmer angelangt, nahm Fritz Seyfried den Hörer hoch. Lockschmidt war schon von Kullnau verständigt worden, daß Seyfried wieder im Amt war und stand auf Abruf. Den in Aussicht gestellten Schnaps habe er auch selbst im Schreibtisch, sagte Seyfried, und ob sonst noch etwas anliege? »Ja«, sagte Lockschmidt. »Das Ministerium hat ein Memorandum wegen der NATO-Ministerkonferenz geschickt.« »Wie kommt denn so etwas an dich, Hans?« fragte Seyfried. »Das ist doch gar nicht dein Ressort.« Hans Lockschmidt hatte im Amt für Waffentechnik und Beschaffung drei heikle Aufgaben, nämlich die Pflege der Öffentlichkeitsarbeit, die Wahrnehmung der Pflichten als Sicherheitsbeauftragter und den Vorsitz des Personalrats im Amt. Er stand dabei, wie er manchmal selbst festzustellen pflegte, stets mit einem Bein schon im Gefängnis. 55
»Es geht dabei nicht um Sachfragen«, beeilte er sich festzustellen. »Es geht nur um Zeitpunkt, Ablauf und Organisation. Aus diesem Grund ist der Vorgang auch bei mir gelandet. Wenn es dir recht ist, komme ich damit rauf. Dann bin ich es los, und wir können sofort darüber sprechen. Wie war das Schießen?« »Der erwartete Erfolg«, sagte Seyfried. »Es ist mir recht. Ich warte auf dich.« Seyfried legte den Hörer auf und begann die während des Tages eingelaufene Post durchzusehen. Schon nach wenigen Augenblicken trat Hans Lockschmidt in sein Büro, mit dem gewohnten elastischen Schritt des 15 Jahre Jüngeren. Er hatte den aus dem Ministerium eingetroffenen rosagebundenen Schnellhefter in der Hand, den er auf Seyfrieds Schreibtisch klatschen ließ, bevor er sich selbst Seyfried gegenüber setzte. Seyfried nahm den Schnellhefter hoch und blätterte ihn flüchtig durch. »Ich verstehe das nicht«, sagte er. »Wenn man schon nicht will, daß diese ganze Konferenz an die große Glocke kommt, warum nimmt man dann nicht auch das hier unter eine Geheimhaltungsstufe?« Lockschmidt zuckte gottergeben mit den Schultern. »Du hast es immer noch nicht begriffen, Fritz. Des Ministeriums Beschlüsse mit vernünftigen Maßstäben messen zu wollen, bedeutet auf die Wirkung eines Kindergebets gegen das Toben des Ozeans zu warten.« »Ich habe gar nicht gewußt, daß du ein lyrisches Gemüt hast«, sagte Seyfried. »Ich, offengestanden, auch nicht. Es ist mir gerade 56
eingefallen. Aber im Ernst, geheimhalten läßt sich so was ohnehin nicht. Warum soll man sich dann Bauchschmerzen machen? Im Rohbau ist das alles ja schon durch die Presse gegangen. Schau dir das Ding mal durch. Als Referent bist du selbst vorgesehen, das weißt du ja schon. Du bist schließlich der einzige, der diese ganze Entwicklung von Anfang an miterlebt und im Griff hat. Es geht nur um zwei Punkte: das Datum …« Seyfried legte nachdenklich den Schnellhefter zurück auf den Schreibtisch. »In drei bis vier Wochen können sie die Analyse und Auswertung über das heutige Erprobungsschießen fertig haben, sagte General Harms.« »Das wäre dann ungefähr Anfang bis Mitte März.« Lockschmidt machte sich eine Notiz und legte den Schreibstift wieder weg. »Und der zweite Punkt?« fragte Seyfried. »Der zweite Punkt betrifft die Form, in der du das Ganze präsentieren willst.« »Teile den Leuten auf der Hardthöhe mit«, antwortete Seyfried nach einer ganzen Weile, »daß die Frage nach dem Umfang und der Form dieser Präsentation unserer Meinung nach ihre Angelegenheit ist. Wie kommen wir dazu, unsere Finger in eine Sache zu stecken, die unter der Regie des Ministeriums läuft? Das hätten die wohl gerne: die Verantwortung los und die Lorbeeren einheimsen. Es ist immer das gleiche.« »Und es ist vor allem überall das gleiche«, sagte Lockschmidt, machte sich eine zweite Notiz, klappte 57
den Block zu und steckte den Stift in die Innentasche des Jacketts. Seyfried öffnete den Seitenschrank und holte die Kognakflasche hervor. Auf einen auffordernden Augenwink hin stand Lockschmidt auf und holte zwei Gläser, von denen er nach vielen Konferenzen in Seyfrieds Zimmer wußte, in welchem Fach der Vitrine sie standen. Seyfried goß sie voll und schob eines von ihnen zu Lockschmidt hinüber. »Eine Riesenschau haben die abgezogen, da drüben in Munsterlager«, sagte er stehend und drehte sein Glas zwischen den Fingern, während er ans Fenster trat und in die sinkende Nacht hinaus sah. Dann wendete er sich Lockschmidt wieder zu. »Aber ein überzeugendes Ergebnis, das muß man zugeben. Mit diesem Stahl kann man die Fahrzeuge um Tonnen leichter, um Grade schneller und fast unverwundbar machen.« »Da werden die Herren vom Ministerium und von der Truppe ja begeistert sein«, sagte Lockschmidt. »Ich habe die Stimmung in der Baracke nach dem Ende der Erprobung genau beobachtet, Hans. Natürlich waren die Troupiers auch begeistert. Aber am begeistertsten waren ganz andere Leute. Die Stahlmanager von den Vereinigten Hütten, beispielsweise, und die Bosse von dem Fahrzeugwerk, wo das Ding nachher gebaut wird. Für die einen ist das ein winziges Schlupfloch aus dem Sack ihrer ewigen Stahlkrise und für die anderen winkt schon ein fetter Exportbrocken auf ihrer Habenseite. Für die Geldleute wirkt sich das neue Verfahren todsicher aus. Für die Truppe nur 58
vielleicht und hoffentlich nie. Das ist der feine, aber bedeutsame Unterschied.« »Es lebe die Freiheit«, sagte Lockschmidt und prostete Seyfried zu. »Mach dich nicht lächerlich«, sagte Seyfried, der keinen Sinn für Ironie besaß. »Mit der Freiheit hat das nichts zu tun. Freiheit und Geld sind bei uns eine zu innige Ehe eingegangen. Aber daran können wir schließlich alle nichts mehr ändern. Wir müssen auf dem Schlitten mitfahren, ob wir wollen oder nicht.« Erneut sah Fritz Seyfried auf die Armbanduhr. »Jetzt mach ich, daß ich nach Hause komme. Ihr erscheint ja heute abend auch?« Lockschmidt und seine Frau Ray, eine charmante Indonesierin, die fließend Chinesisch und Französisch und in einer reizenden Art gebrochen Deutsch sprach, gehörten zu den Gästen, die Anne Seyfried zu dem Fondue-Essen erwartete. »Natürlich«, sagte Lockschmidt. »Wie war das mit dem Anzug?« »Leger«, sagte Seyfried und hob den Hörer des Telefons ab, um Kullnau zu bitten, ihm den Wagen aus der Tiefgarage vor das Hauptportal zu fahren, weil er es ausnahmsweise eilig habe. »Okay«, sagte Lockschmidt und ging mit dem rosa Schnellhefter in der Hand aus dem Zimmer. Seyfried ordnete und versperrte noch seinen Schreibtisch, löschte das Licht und verließ den Raum wenige Minuten später auch. Unten in der Eingangshalle kam ihm Kullnau bereits entgegen, die Wagenschlüssel in 59
der erhobenen Hand. »Der Wagen steht vorne, Herr Seyfried. Ihre Batterie hätte es nötig. Wenn Sie ihn mal ein paar Stunden nicht brauchen, lasse ich Ihnen das machen.« Seyfried nahm die Schlüssel in Empfang. »Danke, Kullnau. Immer dasselbe bei diesem Wetter. Ich komme darauf zurück.« Mit langen Schritten verließ Seyfried das Gebäude, dessen gläserne Schwingtür der Pförtner gewissenhaft hinter ihm versperrte. Am unteren Ende der Treppe bestieg Seyfried seinen bereitstehenden Wagen, ließ ihn an, wendete und schlug die Richtung zu seiner Wohnung ein. Als er den Berg heraufkam und um die Kurve bog, sah er schon Friskas Wagen vor dem Haus stehen. Obschon er gewußt hatte, daß Friska und sein Schwiegervater heute zum Geburtstagsfondue kommen würden, hatte er den Tag über nicht mehr daran gedacht und war jetzt überrascht. Aber es machte ihm nichts aus. Im Gegenteil, es war ihm durchaus recht, heute abend Menschen um sich zu haben. Er mochte seinen Schwiegervater, den weißhaarigen alten Herrn, mit fast 80 noch immer angefüllt mit liberalen Prinzipien und demokratischen Idealen. Mit dem alten Hobarth, in der gesamten liberalen Partei und weit darüber hinaus bekannt für seine Ansicht, daß nur persönliche Bemühung und Integrität jedes einzelnen den Karren aus dem Dreck ziehen könnten, konnte man zäh und überaus intelligent debattieren. Er hatte wegen seiner Unbeugsamkeit und seiner 60
kompromißlosen Ablehnung alles Vulgären von rechts schon im Tausendjährigen Reich 20 Monate gesessen, während seine Ablehnung des Vulgären von links ihn auch den Koalitionsfreunden von heute zum steten Ärgernis machte. Friska war eine ganz und gar zu einem solchen Vater passende Tochter, Annes Zwillingsschwester und folglich ebenfalls heute Geburtstagskind, in Wesen, Äußerem und Charakterzügen Anne außerordentlich ähnlich, aus unerfindlichen Gründen einstmals Franziska getauft, was Anne nicht hatte aussprechen können. Deshalb war ihr das kürzere Friska geblieben bis auf den heutigen Tag. Als Fritz den Wagen geparkt hatte und das Haus betrat, hörte er bereits die dröhnende Stimme des alten Herrn und das Lachen der Frauen. Er hängte seine Feldmütze an einen Haken in der Garderobe und betrat, während er die Knopfleiste des Parka öffnete, das Wohnzimmer mit dem schönen Blick auf das Lichtermeer des Mosel- und Rheintales. Der alte Herr stand mit einem halbgeleerten Whiskyglas in der Hand vor dem Kamin, den Seyfried später anzuheizen beabsichtigte, und erzählte Anne und Friska ein Histörchen aus den Interna der Berliner Verwaltung, in der ihm eigenen leicht übertriebenen und grotesken Weise, welche die beiden Frauen zum Lachen brachte. »Hallo«, rief er, als er seinen Schwiegersohn sah, und hob sein Glas in Richtung auf ihn. »Hallo, da bist du ja.« Er ging auf Fritz zu, wartete, bis dieser die Frauen begrüßt hatte, hieb Fritz die freie Rechte erst 61
gegen den Oberarm und hielt sie ihm dann hin. Seitdem Fritz die 50 überschritten hatte, hatte er aber wenigstens damit aufgehört, ihn mit »mein Junge« anzureden. »Wie bist du hergekommen, Papa?« erkundigte sich Fritz. leichter, als er jemals zu hoffen gewagt hatte. Die Saat des Fremden, die Geduld, die Ausdauer, die Beständigkeit, mit der er sich an Seyfrieds Fersen geheftet hatte, war tatsächlich aufgegangen. Ihre Zusammentreffen waren so unverfänglich und so harmlos inszeniert gewesen, daß bei Seyfried offenbar nicht der geringste Verdacht, nicht die leiseste Beunruhigung aufgekommen waren. Allerdings hatte seine Frau ihn gefragt, wer denn der neue Nachbar sei und wo er wohne, und Fritz Seyfried hatte ihr versprochen, es herauszufinden. So glaubte der Fremde zunächst zu träumen, als Seyfried seiner belanglosen Bemerkung über das Wetter die unerwartete Geste folgen ließ, mit der Linken an seiner Mütze zu rücken und zu sagen: »Eigentlich wird es Zeit, daß wir uns bekanntmachen …« Er hielt dem anderen die Rechte hin und stockte, als der Fremde keinerlei Anstalten traf, sie zu ergreifen. »Aber das ist doch nicht notwendig, Loßwitz. Ich weiß genau, wer Sie sind.« Nicht länger als eine Sekunde war Seyfrieds Rechte in der Dunkelheit nach vorn gestoßen, dann zog er sie zurück. Er hatte nicht damit gerechnet, daß es noch einmal kam. Jetzt nicht mehr. Er schwieg und starrte den anderen an, versuchte in der Dunkelheit die 62
Gesichtszüge zu erkennen, was ihm an diesem Abend ebenso mißlang wie an allen Abenden vorher. Daß dieser Mann nach nichts und nach niemandem aussah, hatte Seyfried verschiedene Male festgestellt, dieser Tatsache aber niemals Bedeutung beigemessen. Jetzt wußte er, daß dies ein gefährlicher Fehler gewesen war. Was konnte dieser Mann von ihm wollen, der ohne Zweifel in Seyfrieds Vergangenheit eingedrungen war? Es gab drei Möglichkeiten, und an methodisches Denken gewöhnt, ließ Fritz Seyfried diese Möglichkeiten wie auf einem Bildschirm in seinem Gehirn aufleuchten. Die erste und einfachste von ihnen war, daß der Mann durch einen Zufall auf die Spuren seiner früheren Existenz gestoßen war, aber keine Detailkenntnisse besaß; daß er nun auf gut Glück versuchte, in Erfahrung zu bringen, was aus der Sache herauszuschlagen war. Diese Möglichkeit wäre harmlos. Er würde dem Mann die kalte Schulter zeigen und ihm anheimstellen, sich mit seinem, Seyfrieds, Rechtsanwalt auseinanderzusetzen. Die zweite Möglichkeit lag in intimerer Detailkenntnis und einer gezielten privaten Erpressung. Auch in diesem Fall, überlegte Fritz Seyfried kühl, war es zweifellos das beste, Hochmut zu zeigen, den Mann mit der reflektierenden Brille an seinen Anwalt zu verweisen, den Hunden zu pfeifen, sich auf dem Absatz umzudrehen und ohne ein weiteres Wort nach Hause zu seinen Gästen zu gehen. Die dritte Möglichkeit allerdings war die gefährlichste von allen. Es war die 63
Möglichkeit, daß hinter diesem Mann andere Männer standen, andere Interessen, Systeme und Welten. Fritz Seyfried wußte natürlich, daß seine Kenntnisse über waffentechnische und -politische Zusammenhänge für viele andere von unschätzbarem Interesse waren. In seinem Amt war er deshalb Geheimnisträger Nummer eins. Seine unmittelbaren Mitarbeiter, seine Sekretärinnen, ja sogar seine eigene Frau waren von beiden Diensten immer und immer wieder routinemäßig durchleuchtet und für absolut vertrauenswürdig befunden worden. Alles war hier getan, überwacht, abgecheckt worden, dessen Vernachlässigung in zahlreichen Abwehrskandalen der Republik durch die Presse und die Öffentlichkeit zu spät und deshalb zähneknirschend, aber dafür um so lautstarker beanstandet worden war. Es traf zu, fuhr es Seyfried durch den Kopf, der Sekretärinnentrick, die Spekulation auf Leichtsinn und Lebensgenuß verfing bei ihm nicht. Wenn sie wirklich an ihn, an seine Kenntnisse und Erfahrungen heranwollten, mußten sie es anders machen. Seyfried versuchte in das Gesicht seines Gegenübers zu sehen. Ja, vielleicht wirklich so … Mehr und mehr verdichtete sich während der wenigen Sekunden, die er schwieg, die Befürchtung, daß es sich um diese dritte und gefährlichste Methode handelte. In diesem Fall kam es darauf an, zu erfahren, was der Mann wußte und was er wollte. Mochte Leonid Konstantinowitsch Alikin in vielen Punkten der aus den Akten des GRU stammenden Beurteilung Fritz Seyfrieds recht haben, in einem 64
jedenfalls irrte er sich: ein Wohlstandsspießer war Fritz Seyfried in der Zwischenzeit nicht geworden. Er war ein skeptischer, kühl überlegender und wachsamer Mann geblieben, der die Risiken bestimmter Situationen, auch im Hinblick auf sich selbst, abzuwägen verstand. Nachdem ihm alles dies in computerhafter Schnelligkeit durch den Kopf gegangen war, fragte Fritz Seyfried den Fremden, wer er sei, woher er den genannten Namen zu kennen glaube und was er schließlich mit all dem wolle. Der Fremde schien etwas Ähnliches erwartet zu haben. Er war jedenfalls nicht überrascht. »Wer ich bin, muß ich Ihnen leider verheimlichen. Es zu wissen würde Ihnen auch nichts nützen und an der Sache nichts ändern. Was ich mit all dem von Ihnen will, werde ich Ihnen zu gegebener Zeit mitteilen. Und was ich von Ihnen weiß, sage ich Ihnen jetzt. Ich habe vor mir Klaus Heinrich, genannt Henning, v. Loßwitz, geboren am 25. April 1924, das war ein Dienstag, in Rodtkau in Schlesien. Schüler der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt von Feldafing am Starnberger See, zuletzt Obersturmführer in der 7. SS-Panzerdivision.« Der Sprecher wendete sein Gesicht mit den reflektierenden Brillengläsern so direkt Seyfried zu, daß dieser vermutete, der andere blicke ihn jetzt direkt an. »Träger des Ritterkreuzes zum Eisernen Kreuz und gefallen am 15. Januar 1945 in Tomaszów an der Pilica.« Jetzt machte der Fremde eine bedeutsame Pause, bevor er fortfuhr: »Ihr Leichnam ruht in polnischer 65
Erde, Loßwitz. Trotzdem werden Sie kaum bestreiten können, daß ich diesem Mann derzeit gegenüberstehe.« Fritz Seyfried nickte vor sich hin. Der Mann wußte viel. Er brauchte ihn gar nicht mehr zu fragen woher. »Es wird Ihnen bekannt sein«, sagte er mit rauher Stimme, »daß Klaus Heinrich von Loßwitz in den Verlustlisten der 4. Panzerarmee nicht als gefallen, sondern als vermißt geführt worden und auch in dieser Form in die Nachkriegsarchive übernommen ist.« Der Mann, den sie Drohne nannten, schwieg für einige Sekunden. Seyfried stieß nach. »Schön, woher wissen Sie also, wie es wirklich war?« Der Fremde schwieg immer noch. Diese Schwierigkeit war in der Bierkneipe in Oberschöneweide nicht berührt worden. Und der Mann, der selbst niemals Soldat gewesen war, kam auch spontan dem feinen rechtlichen Unterschied zwischen einer Vermißtenmeldung und dem nachgewiesenen Heldentod nicht auf die Spur. Nach einer Weile fuhr Seyfried fort: »Ihre Informationen können demnach nur aus Unterlagen in den Archiven der sowjetischen Armee stammen. Ich nehme das zur Kenntnis. Ich bin also derjenige, den Sie in mir vermuten. Ich gebe das zu. Was wollen Sie damit erreichen? Ich war Soldat wie Millionen andere. Ich war wahrscheinlich ein tapferer Soldat, überzeugt, für die richtige Sache einzutreten. Auch wie Millionen andere. Die Alliierten haben dem nach dem Kriege Rechnung getragen. Meine Waffengattung war ein 66
kämpfender Verband, keine verbrecherische Organisation. Mein Jahrgang und mein Dienstgrad fallen unter die Jugendamnestie.« Jetzt schien es Fritz Seyfried, als ob der Mann ihm gegenüber hinter seinen Brillengläsern lächelte. »Dann ist die Frage also nur noch, Loßwitz, weshalb Sie damals in die Identität des Gefreiten Fritz Seyfried geschlüpft sind und warum Sie diese bis zum heutigen Tage behalten haben. Hatten Sie etwas zu verbergen, waren Sie an der Endlösung beteiligt? Hat Ihre Einheit im Bandenkampf Repressalien durchgeführt? Sowjetische und polnische Zivilisten liquidiert, Sachen oder Anlagen von humanitärem Wert vernichtet?« »Hören Sie«, sagte Fritz Seyfried, »damals war Krieg. Es sind Menschen umgekommen und Sachen und Anlagen auf beiden Seiten zerstört worden, ohne daß man sagen kann, wer im einzelnen daran schuld war. Meine Einheit hat keine anderen als Kampfaufträge erhalten. Ich selbst habe keine anderen Befehle als solche erteilt. Genügt Ihnen das?« Der Mann, den sie Drohne nannten, lächelte erneut. Er hatte seine Selbstsicherheit wiedergefunden. Die gefährliche Klippe war umrundet. »Und persönlich, Loßwitz? Einen Grund mußten Sie doch verdammt nochmal haben, von nun an in der sterblichen Hülle eines einfachen Gefreiten an der Weltgeschichte teilzunehmen.« »Was für ein Jahrgang sind Sie?« fragte Seyfried nach einer Pause. »Das tut nichts zur Sache«, antwortete der Fremde. 67
Offenbar befand Fritz Seyfried sich allmählich dort, wo er ihn haben wollte. »Sie meinen, wenn man diese Zeit nicht selbst erlebt hat, kann man vieles nicht verstehen. Man war froh, wollten Sie sagen, nicht zur Verantwortung gezogen zu werden. Es gab Studienbeschränkungen für Waffen-SS-Offiziere an den Universitäten. Es gab als Vermieter frischgebackene Antifaschisten, die einen die Treppen hinunter warfen, wenn sie dahinter kamen. Man wurde zum Trümmerschippen und Steineklopfen abkommandiert, in Verhöre und Gegenüberstellungen verwickelt, an Polen oder Rußland ausgeliefert …« »Nun«, sagte Fritz Seyfried, »dann wissen Sie ja aufs Wort, was ich Ihnen sagen würde. So gut wissen Sie das, als hätte ich es selbst gesagt.« »Eben«, antwortete der Fremde. »Um so mehr nimmt es wunder, daß ein Mann wie Sie, ein Mann aus guter alter Familie, als die Zeiten wieder besser wurden, als die Jugendamnestie kam, nicht den Mut gefunden haben soll, zu seiner Vergangenheit zu stehen.« »Ach wissen Sie«, sagte Seyfried, der sich selbst nicht schlüssig werden konnte, ob der Mann auch den Rest seiner Geschichte kannte oder ob er Katz und Maus mit ihm spielte, »ach wissen Sie, zu diesem Zeitpunkt war es nun einmal so. Ich hatte mich einfach daran gewöhnt. Ich hatte einen Arbeitgeber gefunden, der mich unter diesem Namen kannte, eingestellt hatte und beschäftigte. Warum sollte ich schließlich jetzt noch etwas ändern? Es hätte nur Umstände und 68
Schwierigkeiten gemacht. Später lernte ich meine Frau kennen. Was sollte es schon …« »Ja, was sollte es schon«, wiederholte der Fremde. »Vor allem, wenn Sie an die Nacht von Tomaszów dachten, nicht wahr? An Vorgänge, von denen es auf jeden Fall besser war, daß sie im Schoß der Vergessenheit ruhten.« Der Mann, den sie Drohne nannten, machte eine Pause und fragte mit verändertem Tonfall: »Der Name Kayser ist Ihnen doch gegenwärtig, Loßwitz? Herbert Kayser, Major i. G., 1a der 103. Volksgrenadierdivision, oder?« In Fritz Seyfried glomm die Vergangenheit auf. Gleichzeitig war ihm die Gegenwart schmerzlich bewußt. Sein Gesicht wirkte in der Dunkelheit zerstört, von bisher an ihm nicht bekannten tiefen Falten durchzogen und blaß. Womit zum Teufel hatte er es verdient, daß diese Erinnerungen gerade heute aus der Vergessenheit emporstiegen? »Ich habe das Haus voller Gäste«, fuhr er den Fremden an. »Muß das alles ausgerechnet jetzt sein? Hat das nicht Zeit bis …« »Nein«, sagte der andere kurz. »Der tote Major läßt sich aus Ihrem Leben nicht mehr streichen. Sie haben gehofft und vielleicht auch gebetet, daß die Verjährungsfrist für Mord verstrich, bevor man Ihre wirkliche Identität entdeckte.« Der Fremde unterbrach sich, hob den Kopf und drehte das Gesicht. Auch Seyfried hatte es gehört. Eine dünne Stimme, die noch 69
sehr weit unten am Waldrand seinen Namen rief. Der Fremde wendete Seyfried sein Gesicht wieder zu. »Mein Gott im Himmel«, sagte Seyfried, »das war doch alles ganz anders.« »Das können Sie leicht behaupten«, sagte der Fremde ungerührt. »Aber haben Sie dafür Zeugen? Können Sie das beweisen?« »Zeugen«, sagte Seyfried. »Beweise? Wie wollen Sie heute nach 35 Jahren noch etwas beweisen?« »Wir können das«, sagte der andere. »Wir werden beweisen, daß es so war, wie wir sagen. Und wie es auch durch den Augenschein gestützt wird. Daß Sie mit Ihrer Abteilung Tigerpanzer beim Rückzug in Polen verbrannte Erde machten.« »Das war Befehl«, sagte Seyfried. »Deswegen kann niemand mehr beschuldigt werden. Auch wenn es nicht schön war.« »Stimmt« sagte der Mann. »Aber das meinen wir auch gar nicht. Unsere Akten besagen, daß Sie in der Nacht von Tomaszów die Pilicabrücke aus Angst zu früh gesprengt haben …« »Nein«, sagte Seyfried, »das ist nicht wahr.« »Und daß Sie«, fuhr der Fremde fort, »den Generalstabsmajor Herbert Kayser, der Sie daran hindern wollte, durch zwei Pistolenschüsse in den Rücken ermordet haben.« »So«, sagte Seyfried nach einer Weile, »dann müssen Sie wahnsinnig sein. Das wollen Sie also alles beweisen?« »Ja«, sagte der Mann mit der Brille. »Die Sache hat 70
mehr als nur eine Seite für Sie, von Loßwitz. Auch die Angehörigen des toten Majors leben noch. Wenn wir sie davon in Kenntnis setzen, daß der Major nicht im Kampf vor dem Feind gefallen, sondern hinterrücks von einem Untergebenen erschossen worden ist, der noch lebt und sich der Verantwortung bis heute entzogen hat, werden sie sich hinter diesen Prozeß stellen und außerdem Schadenersatzansprüche erheben. Der älteste Sohn Kaysers ist ein einflußreicher Staatsbeamter geworden. Wir wissen, daß mit ihm nicht zu spaßen ist. Ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, wie alles das von Ihren Vorgesetzten im Amt, von der Öffentlichkeit oder von Ihrem Schwiegervater aufgenommen würde, von Ihrer Frau ganz zu schweigen.« »Hören Sie auf«, herrschte Seyfried den mondgesichtigen und durch nichts aus der Ruhe zu bringenden Unbekannten an. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich das Haus voller Gäste habe. Glauben Sie, daß man das, was Sie mir da servieren, vor einer Runde von Geburtstagsgästen einfach kaltschnäuzig überspielen kann?« Fritz Seyfried brauchte jetzt Zeit. Ihm wurde immer deutlicher bewußt, daß hinter dieser Offensive aus dem Dunkel höchst gefährliche Kräfte standen. Man brauchte ihn nicht als billigen kleinen Agenten, dem man Geld für seine Laster anbot, sondern er schien nach einem von langer Hand vorbereiteten, intelligenten Plan als Schlüsselfigur für das Konzept 71
der europäischen Panzerrüstung sorgsam ausgewählt worden zu sein. Und zwar von Leuten, die ihn weit besser kannten, als er sie. Diesen Leuten mußte er von großem Wert sein. Das war für ihn eine echte Chance, die er bereit war auszunützen. »Ich brauche Bedenkzeit«, sagte er deshalb zu dem Fremden. »Wenn Sie im übrigen keine begabteren Leute haben als die, die mich mit einer solchen Sache ausgerechnet vor dem Geburtstagsessen meiner Frau konfrontieren, dann wird es sehr gefährlich sein, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Hören Sie …« Wieder hallte die suchende Stimme zwischen den Bäumen, und Seyfried glaubte jetzt, diejenige Lockschmidts zu erkennen. »Was soll ich denen denn sagen?« »Irgend etwas wird Ihnen schon einfallen«, antwortete der Mann. »Und denken Sie daran: Wenn ich sage ›wir‹, dann sind das Leute, die die Macht haben, alles das, was vorhin besprochen wurde, endgültig dem Schoße des Schweigens zu überantworten, oder es in einem Monsterprozeß aufzurollen, wie ihn diese Republik noch nicht gesehen hat. Seien Sie sich auch darüber im klaren, Seyfried – ich gebrauche diesen Namen jetzt wieder, um Ihnen unsere Bereitschaft anzudeuten, es dabei zu belassen –, daß Sie es mit einer Organisation zu tun haben, die große Erfahrung in der Anwendung von Mitteln besitzt, mit denen sie erreicht, was sie erreichen will. Jeder Kontakt, jeder falsche oder für uns verdächtige 72
und unerwartete Schritt würde tödliche Folgen haben, soweit kennen Sie unseren Job. Wir unsererseits kennen Ihre Gewohnheiten, wir kennen die Gewohnheiten Ihrer Frau, wir hören jedes Wort, das Sie in Ihrem Hause und auch in Ihrem Amt sprechen. Wir kennen jedes Telefonat, das Sie oder Ihre Frau führen. Sie können uns nirgends entrinnen, Seyfried. Sie haben nur zwei Möglichkeiten, entweder Sie schließen sich uns an, oder …« Erneut unterbrach sich der Mann. »Oder …?« fragte Seyfried. »Oder Sie nehmen alles in Kauf, was sich daraus ergibt, daß Sie es nicht tun.« In Seyfrieds Magengrube kochte ein ohnmächtiger Zorn. »Gegen Sie sind Stadtguerillas und Politkriminelle vom üblichen Schlage ein frommer Knabenchor«, entfuhr es ihm. Sein Gegenspieler blieb überlegen. »Keine Beschimpfungen«, sagte er. »Diese Sache ist zu ernst für Beleidigungen. Für uns. Und auch für Sie. Ein paar Tage werden Sie Zeit haben, um sich auf Ihre neue Situation einzustimmen. Danach werden Sie zu einer unerwarteten Zeit und an einem unerwarteten Ort erneut angesprochen werden. Man wird Ihnen dann Einzelheiten mitteilen. Gute Nacht.« Mit diesem zynischen Gruß waren der Mann mit der Brille und sein Hund ebenso plötzlich zwischen den Fichten verschwunden, wie sie aus ihnen aufgetaucht waren. Fritz Seyfried sah sich mit Stoffel und Steffi, die sich inzwischen ausgetobt hatten und mit 73
langschlenkernden rosa Zungen helläugig und pumpend zu ihm hochsahen, allein. Weiter unten erkannte er jetzt in der Dunkelheit das weiße Leuchten, das zu Hans Lockschmidts Regenmantel gehörte. Seyfrieds erster Impuls bestand in dem übermächtigen Wunsch, niemanden zu sehen, nichts zu hören, mit keinem zu reden, bevor er nicht den Schock der vergangenen halben Stunde verarbeitet und überwunden hatte. So wie die Dinge lagen, half jetzt aber nur der Versuch, Haltung zu bewahren oder andernfalls eine Ausrede. »Fritz, Menschenskind, warum sagst du denn nichts«, hörte er die atemlose Stimme des Freundes, der sich rasch näherte. »Steht hier mitten im Wald herum, hört, wie ich mir die Kehle herausschreie …« Hans Lockschmidt hatte Seyfried erreicht, stand ihm schnaufend und vorwurfsvoll gegenüber und starrte in das völlig veränderte Gesicht mit den stark hervortretenden Kinnbacken und den tief eingegrabenen, ungewohnten Falten zwischen Nasenflügel und Mundwinkel. »Was ist denn mit dir? Anne ist völlig aus dem Häuschen wegen des Essens.« »Bei einem Fondue kann doch gar nichts verderben«, sagte Seyfried tonlos, gleichgültig und entmutigt. Lockschmidt faßte ihn unter, sah ihm in der Dunkelheit noch einmal ins Gesicht und sagte: »Dir ist doch nichts passiert, Fritz? Du siehst ja völlig verstört aus.« Fritz Seyfried schüttelte den Kopf. »Mir ist nichts 74
passiert, Hans. Mir ist nur nicht ganz wohl. Vielleicht spürt man doch, daß man älter wird. Der Streß auf dem Schießplatz heute, die Fliegerei bei diesem Schweinewetter. Wer weiß …« »Du solltest dir vielleicht wirklich nicht mehr alles zumuten, was sie so mir nichts, dir nichts von dir verlangen«, sagte Lockschmidt und drängte Seyfried in Richtung auf den Nachhauseweg. Die Hunde liefen, mit den Ruten wedelnd, vor und blieben von selbst an der Stelle stehen, wo ihnen Fritz Seyfried gewöhnlich die Leine anlegte. Sie winselten überrascht, als er es an diesem Tage einfach vergaß. Es war nicht zu übersehen, daß der Abend verdorben war. Nicht einmal die lautstarke vitale Bonhomie des alten Hobarth vermochte daran noch etwas zu ändern. Anne bekämpfte ebenso verbissen ihren Ärger wie Friska ihre Verwunderung. Lockschmidt und seine wunderschöne Frau Ray, die Fritz immer in der Mitte zwischen einer sanften Lotosblüte und einer fleischfressenden Orchidee angesiedelt hatte, versuchten, eine Konversation aufrechtzuerhalten, und Dr. Bastian, immerhin der Hausarzt der Seyfrieds, beobachtete Fritz, sein leichenblasses Gesicht, seine zerfahrenen Antworten, seine sichtbare Unaufmerksamkeit und seine unruhigen Hände mit steigender Sorge. Fritz Seyfried sah die Runde seiner Gäste, den gepflegten Tisch mit den schimmernden Kerzen, die wohltemperierte Schönheit der Damen und die bürgerliche Behaglichkeit seiner Umgebung wie durch einen Schleier. Zweifellos hatte seine Welt oder das, 75
was er bisher für diese gehalten hatte, seit heute abend einen tiefen, klaffenden Sprung. Er konnte jetzt, in diesem Augenblick, keine Überlegungen mehr anstellen. In seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Plötzlich sah er das bärtige Gesicht Doktor Bastians neben sich, auf der anderen Seite spürte er Lockschmidt. Die beiden Männer brachten ihn nach oben. Die wertvollen Stiche alter englischer Städte, die im Treppenhaus hingen, segelten an ihm vorüber und schließlich lag er ohne Jackett, mit offenem Hemdkragen auf seinem Bett und sah das sorgenvolle Gesicht Doktor Bastians direkt über sich schweben. Er spürte die nach seinem Puls suchenden Fingerspitzen. Etwas später brachte Anne das Instrumentenköfferchen, das sie aus Doktor Bastians Wagen geholt hatte. Er hörte überlaut das paffende Zischen, als Bastian das Blutdruckgerät betätigte. Er vernahm, wie Bastian Anne mitteilte, daß sein Blutdruck 160 zu 100 betrage und mithin für sein Alter etwas zu hoch sei. Mein Gott, wenn ihr wüßtet … fuhr es durch seinen Kopf, … wenn ihr wüßtet, daß mein Blutdruck die allergeringste meiner Sorgen ist. Fritz sah Bastian später das Stethoskop zusammenklappen und zu Anne eine beruhigende Gebärde machen. »Bleib ein paar Minuten ruhig liegen«, sagte der Arzt. »Dann kannst du ja wieder runterkommen, wenn dir danach ist.« Ein Glas Wasser auf dem Nachttisch, zwei Dragees daneben, das Klicken der sich schließenden Tür, dann empfand Fritz Seyfried endlich das beruhigende 76
Gefühl des Alleinseins. Er öffnete die Augen und starrte an die Decke des behaglichen Schlafzimmers. Er dachte nicht daran, Wasser zu trinken oder die Dragees zu schlucken. Er verschränkte die Hände unter dem Nacken, fing die eine Hälfte der Unterlippe mit den Schneidezähnen und überdachte seine Lage. Diese Schweine, dachte er, diese gottverdammten brutalen Schweine. Sie hatten ihn möglicherweise ziemlich fest im Griff. Zwangsläufig dachte er an die Abgeordneten im Parlament, die zwar unter rechtsstaatlichen Bauchschmerzen, aber schließlich doch der Aufhebung der Verjährungsfrist zugestimmt hatten. Und das, obwohl viele Stimmen Zweifel darüber erhoben hatten, daß eine Beweisführung nach mehr als 30 Jahren überhaupt noch exakt möglich war. Mochte für die Befürworter der Gesetzesänderung die Vielzahl der Fälle und die Schrecklichkeit einzelner von ihnen maßgeblich gewesen sein, für ihn, Fritz Seyfried, war ausschließlich und allein sein eigener Fall maßgeblich; und der lag so, daß dem Geheimdienst eines mächtigen potentiellen Feindstaates durch dieses Gesetz Tür und Tor geöffnet worden war, seine persönliche Existenz, seine Reputation, seine gesellschaftliche Stellung zu vernichten – und sei es auch mittels eines kaltblütigen Meineides. Während Fritz Seyfried über alles das nachdachte, hörte er unten jemanden Klavier spielen. Es war ein Rondo von Chopin. Das konnte nur Friska sein, die niemals einen Besuch im Haus der Schwester machte, ohne ihre allmählich etwas spröde gewordene Kunst 77
auf dem Flügel aufzupolieren. Über diesem Klavierspiel mußte er ein wenig eingeschlummert sein. Er bemerkte nicht mehr, wie es schließlich aufhörte, vernahm auch nicht, wie die Gäste sich verabschiedeten, wie Anne und Friska unten noch Ordnung schufen, wie der alte Herr und Friska schließlich auf ihre Zimmer gingen. Er wachte auf, als Anne kam. Er hörte sie nebenan im Bad rumoren wie jeden Abend. Danach kam sie herüber ohne etwas auf dem Leib, denn sie liebte es, nackt zu schlafen. Als sie vor dem Bett stand und auf Fritz heruntersah, bemerkte sie, daß er die Augen weit geöffnet hatte. Nach einer Weile drehte er den Kopf zu ihr hinüber und sah sie an. Sie bemerkte dabei noch immer den Ausdruck in seinem Gesicht, vor dem sie beim Abendessen so erschrocken war. Sie sah, daß er weder die Dragees genommen hatte, noch das Glas Wasser getrunken hatte und daß seine Stimmung gespannt wachsam und nicht frei von Angst war. Sie konnte sich in dieser Situation nicht sofort zurechtfinden. »Willst du dich nicht endlich ausziehen, Fritz?« fragte sie deshalb, während sie ihre Bettspreite zurückschlug und unter die Decke schlüpfte. Fritz erhob sich wortlos, öffnete das Hemd vollständig und begann sich auszukleiden. »Sag mal«, hörte er vom Badezimmer aus die Stimme seiner Frau, »was ist eigentlich in dich gefahren? Erst kommst du eine halbe Stunde zu spät zu unserem Geburtstagsessen, dann redest du kein Wort, entschuldigst dich damit, daß dir nicht gut ist, läßt dich 78
von Doktor Bastian versorgen und denkst nicht daran, seine Mittel zu nehmen. Nachdem du mir so den ganzen Abend verdorben hast, komme ich rauf und du liegst mit offenen Augen da und siehst aus wie ein Primaner, der nicht genug für die Schulaufgabe gelernt hat.« Fritz Seyfried ließ im Bad Wasser rauschen, danach klapperte die Munddusche. »Bist du fertig mit deiner Standpauke?« fragte er dazwischen. Er vernahm, daß Anne der Ansicht war, er sei ihr eine Erklärung schuldig und bestritt das, klapperte wieder laut mit dem Zahnputzglas, ließ noch einmal Wasser rauschen und kam schließlich, nachdem er im Bad das Licht gelöscht hatte, herüber in den Schlafraum. Er legte sich neben Anne ins Bett und blieb mit offenen Augen auf dem Rücken liegen. »Dein Benehmen ist unglaublich«, hörte er sie endlich sagen. »Mit dir ist doch irgend etwas los. Du verschweigst mir doch etwas.« »Nichts«, sagte Seyfried. »Du leidest an Einbildungen. Nimm ein Mittel und schlaf jetzt. Für mich war heute ein anstrengender Tag. Morgen früh sieht alles anders aus.« Anne schnaubte und wälzte sich vorwurfsvoll im Bett herum, nachdem sie noch ein gequetschtes »gute Nacht« gemurmelt hatte. Aber dann geschah das Unglaubliche. Nachdem schon eine ganze Weile ihrer beider Atemzüge regelmäßig die Schlafstube erfüllt hatte, spürte sie die 79
Hand ihres Mannes, die zu ihr herüber tastete. Sie stieß sie mürrisch und ohne die Augen zu öffnen von sich fort. Aber plötzlich spürt sie seinen Arm, der sie hart umklammerte, und wollte etwas sagen. Sie konnte es nicht, weil seine freie Hand sich fest auf ihren Mund preßte. In ihre aufkeimende Befremdung hinein näherte Fritz seinen Mund ihrem Ohr und flüsterte: »Keine Angst, Anne. Kein lautes Wort. Sprich auf keinen Fall, hörst du? Tu, was ich tue.« Sie fuhr im Bett hoch, setzte sich aufrecht und starrte ihn an, als er sich in dem schwachen, durch das Fenster hereinfallenden Licht aus dem Bett schwang, zu ihr zurückblickte und dabei warnend den Finger auf den Mund legte. Er öffnete die Tür zum Bad, nahm ihrer beider Morgenmäntel, warf Anne den ihren zu und schlüpfte in seinen eigenen. Sie tat kopfschüttelnd, was Fritz ihr vormachte, schlang den Gürtel um, griff sich ihre Steppdecke und folgte ihrem Mann, der ihr immer noch beschwörende Zeichen machte, den Mund zu halten. Sie schlichen abwärts in das Erdgeschoß, das dunkel und stumm dalag. Fritz bog um die Ecke zum Kellerniedergang, spürte auf der Treppe wieder, daß Anne etwas sagen wollte und hielt seine Hand vor ihren Mund. Drunten im Tiefgeschoß öffnete er zwei Stahlblechtüren und schloß sie wieder, nachdem sie diese durchschritten hatten. Schließlich befanden sie sich im Heizungsraum. Da dieser keine Fenster ins Freie besaß, konnte Fritz das Licht einschalten und sah die Augen seiner Frau mit einer Mischung aus 80
Neugier, ungläubiger Duldsamkeit und Spott auf sich gerichtet. »Bist du denn eigentlich von allen guten Geistern verlassen?« »Hier kannst du reden, aber leise«, antwortete Fritz. Anne erkundigte sich noch einmal, ob er etwa übergeschnappt sei. In diesem Raum überwinterten die Gartenmöbel. Fritz klappte anstelle einer Antwort zwei Gartenstühle auseinander, legte die Steppdecken über sie und schob einen der Stühle Anne hin. »Übergeschnappt, nein. Aber ich gebe zu, daß es dir so vorkommen kann.« »Was soll dieses alberne Theater, Fritz?« Wenn er es genau betrachtete, kam es auch Fritz Seyfried mehr als lachhaft vor, daß er hier mit seiner Frau in Steppdecken gewickelt auf Gartenstühlen im Heizungskeller hockte, um mit ihr zu sprechen. »Wir werden uns für lange Zeit nur noch hier unten offen unterhalten können, Anne. Dieser Raum ist wahrscheinlich abhörsicher. In jedem anderen werden wir überwacht. Auch am Telefon.« »Abhörsicher? Überwacht? Also ist doch etwas los.« »Natürlich ist etwas los. Jemand will uns brutal unter Druck setzen. Was immer aus dieser Sache wird, oben mußte ich vortäuschen, daß ich dir gegenüber schweigen würde. Und das müssen wir auch weiterhin aufrechterhalten.« »Unter Druck setzen«, sagte Anne. »Will jemand Geld von uns? So viel haben wir doch gar nicht.« »Anne«, sagte Seyfried, »wenn es nur das wäre, 81
dann wäre ich sehr froh.« »Aber irgendeinen Grund muß derjenige doch haben, Fritz. Hängt es mit deiner Arbeit zusammen?« »Wahrscheinlich. Aber das beschäftigt mich im Augenblick am wenigsten.« In seiner lächerlich unmännlichen Aufmachung, in diesem lächerlichen Heizungskeller, in dem alle zehn Minuten der Ölbrenner losdonnerte, rückte Fritz Seyfried auf seinem Gartensessel weit nach vorn und ergriff beschwörend die Hände seiner Frau. »Anne«, wiederholte er, »was du jetzt hören wirst, wird dich ziemlich schaffen. Die anderen rechnen damit, daß ich nicht den Mut habe, es dir zu sagen. Aber ich werde es doch tun. Ich kann es jetzt gar nicht mehr verschweigen. Hör mir zu und versuche, mich zu verstehen, und wenn es etwas zu verzeihen gibt, mir zu verzeihen.« Danach erzählte Fritz Seyfried seiner Frau die Geschichte seines Lebens, so wie Fjodor Petrowitsch Popow sie den zusammengetragenen Akten entnommen und in die Datenspeicher des Zentralindex des GRU in Moskau eingespeist hatte. Er brauchte dazu etwas mehr als eine halbe Stunde. Dieser Bericht nahm seine Frau stark mit. »Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll, weißt du«, murmelte sie, als er zunächst geendet hatte. »Vielleicht kannst du gar nicht verstehen, was das bedeutet, wenn eine Frau jahrelang ihren Mann in einen äußeren Rahmen gestellt hat und nun erfährt, daß dieser Rahmen gar nicht stimmt. Daß er nun plötzlich 82
eine Jugend, eine Vergangenheit, eine Familie hat, die er vorher nicht hatte, daß sie von vorn mit ihm beginnen muß. Daß sie anfangen muß, ihn neu einzuordnen.« Sie zuckte ein wenig hilflos mit den Schultern. »Ich bin so schrecklich bürgerlich. Für mich ist das sehr schwer, verstehst du?« Sie legte die Hände zwischen ihren Knien aneinander und sah eine Weile vor sich auf den Boden. Schließlich hob sie den Kopf und blickte ihm ins Gesicht. »Wirst du es versuchen?« fragte er bittend. »Natürlich«, antwortete sie. »Und mit dieser Geschichte wollen sie dich fertigmachen? Oder gibt es noch etwas? Dann sage mir bitte alles.« »Es gibt noch etwas«, sagte er nach einer Weile. »Ich habe lange nachgedacht, während ich oben auf dem Rücken lag. Für diese Leute sind die Fakten, die sie von mir haben wollen, so wichtig, daß sie alle Mittel einsetzen. Wenn meine Vermutung stimmt, dann haben wir den ganzen Geheimdienstapparat der Russen gegen uns. Und das ist verdammt ernst. Sie haben da eine alte Geschichte aus den letzten Kriegsmonaten ausgegraben. Das heißt, für mich sogar aus den letzten Tagen dieses verdammten Krieges, denn kurz danach wurde ich schwer verwundet und kam als Fritz Seyfried zurück nach Deutschland. Es geht um eine Sache, wegen der sie mir mit einer Mordanklage drohen. Eine Sache, die jetzt auch nicht mehr verjährt, nachdem sie die Fristen aufgehoben haben.« 83
»Einer Mordanklage? Nicht mehr verjähren kann? Um Gottes willen, Fritz, wer tritt denn da gegen dich auf?« »Es ist der Kerl mit dem Hund, dem ich seit ein paar Wochen ab und zu da oben begegnet bin. Es tut mir leid, aber ich bin darauf hereingefallen, Anne.« Sie schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Vorwürfe. Wenn du auf den nicht hereingefallen wärst, hätten sie einen anderen geschickt. Und wie ist das mit der Mordanklage? Da kann doch nichts dran sein.« »Ich habe am 14. Januar 1945 einen deutschen Generalstabsmajor erschossen. Wenn sie das so nachweisen, wie sie es darstellen, wäre es nach Motiv und Begehungsart tatsächlich ein Mord. Sollten sie wirklich einen haben, der das beschwört, bleibt mir nichts anderes übrig, als zu tun, was sie von mir wollen.« »Fritz«, sagte Anne, »Fritz … verflucht nochmal, ich weiß ja nicht einmal, ob ich überhaupt noch Fritz zu dir sagen kann … in was für eine Lage hast du uns gebracht. Und wenn sie das beweisen können? Und wenn du tun mußt, was sie von dir wollen, was ist dann?« »Dann lassen sie das alles ruhn, behaupten sie. Sie sagen, daß dann äußerlich alles beim alten bleibt.« »Äußerlich«, wiederholte Anne. »Und sonst? Zwischen uns?« »Zwischen uns kann es nur die Wahrheit geben, Anne. Ganz gleich, was sie mir vorwerfen, womit sie drohen, um ihre Zwecke zu erreichen.« 84
»Und was ist die Wahrheit?« fragte Anne Seyfried ihren Mann. »Die Wahrheit ist, daß ich keinen Mord begangen habe. Wieviel Zeit auch inzwischen vergangen ist, was auch immer unaufgeklärt geblieben ist, eines weiß ich gewiß: Ich habe mir nichts vorzuwerfen.«
85
3 Seit den frühen Morgenstunden des 12. Januar 1945 befanden sich Hitlers Armeen erneut auf der Flucht nach Westen. Seitdem vor eineinhalb Jahren sein wahnwitziger Raum- und Rassekrieg auf den Ebenen vor Kursk den Kulminationspunkt überschritten hatte und die sowjetischen Armeen mit zermalmender Wucht aus dem Raum von Orel zum Gegenangriff angetreten waren, hatte es für des Führers Heeresgruppen kein Atemholen mehr gegeben. Nur für Wochen, manchmal auch nur für Tage war es ihnen geglückt, sich an den Ufern der Ströme und an anderen natürlichen Hindernissen festzukrallen. Die zweite Schlacht an der Beresina hatte nicht wie 1812 im eisigen Winter, sondern in der Hitze des Sommers stattgefunden, unter einer Glocke aus Staub und Sonnenglut. Hitler und seine Generale hatten aus der Geschichte nichts gelernt. Jetzt blieb ihnen nichts anderes mehr übrig, als mit allen Mitteln zu versuchen, Deutschland das Schicksal, das es Rußland bereitet hatte, zu ersparen. Im Spätherbst 1944 war auf diese Weise eine Linie von der Ostsee entlag der Weichsel bis hinunter an die schneebedeckten Waldberge der Karpaten erreicht worden. Wie gebannt hatten militärische Fachleute und unvoreingenommene ausländische Beobachter des 86
östlichen Kriegsschauplatzes auf einen Brückenkopf gestarrt, den die Sowjets westlich der Weichsel im Gebiet von Baranow über den Fluß vorgetrieben hatten. Niemand hatte den geringsten Zweifel daran, daß jetzt, nachdem auch die entscheidende Schlacht in Frankreich für die Deutschen verloren gegangen war, die Sowjets den Elan, den Willen und die Mittel aufbringen würden, die geschwächten deutschen Armeen den restlichen Weg durch Polen vor sich herzujagen. Nur Adolf Hitler und sein verblendeter Wehrmachtführungsstab hatten, in Wunschdenken verfallen, die sich Jenseits der Weichsel aufbauende Offensivwucht bagatellisiert, beherzte Warner verlacht oder einsperren lassen und die den Winter über eingefrorene Weichselfront mit Kräften besetzt, die den sowjetischen Stoßarmeen, die ihnen in undurchdringlichen Wäldern gut getarnt gegenüberlagen, im Schnitt um das Zehnfache unterlegen waren. Hitler vertrat mit fanatisch glänzenden Augen, jedoch bereits mit gebeugter Gestalt, fahrigen Händen und schwammig aufgedunsener Haut, seine unreflektierten und unbeweglich gewordenen Vorstellungen. »Der Gegner ist verbraucht, meine Herren. Auch an ihm geht die Abnutzungsschlacht nicht spurlos vorüber. Der Gegner hat keine Kräfte mehr, jetzt mitten im Winter über die Weichsel eine Offensive vorzubringen, die ihn über ungedecktes offenes Gelände in einem Zuge bis an die Oder führen müßte.« Hitler sah hoch, nahm die Brille von den Augen, mit 87
der er nicht fotografiert werden durfte, blickte auf die drei Offiziere, die ihm gegenüberstanden, und dann auf Keitel und Jodl an der linken Seite des Kartentischs. Keitel hatte unter dem sich in unappetitlichen Falten spannenden Waffenrock den fülligen Bauch vorgeschoben und Jodl hatte, wie gewöhnlich an die Betonwand gelehnt, die Beine in unvorschriftsmäßigen schwarzen Uniformhosen salopp gekreuzt. Er hielt den Fuchskopf gesenkt und pulte sich mit dem Ende eines Bleistifts im rechten Mundwinkel. Beide stimmten ihrem Führer vorbehaltlos zu, während die drei jungen Männer, keiner von ihnen älter als 23 Jahre, in strammer Haltung vor Hitler standen. Einem jedoch, dem Obersturmführer Henning v. Loßwitz, glänzte am Hals das Ritterkreuz, das sein Führer ihm vor wenigen Minuten eigenhändig umgehängt hatte. Hitler wendete sein aufgedunsenes Gesicht jetzt den drei Offizieren in der schwarzen Panzeruniform mit den breiten Kragenaufschlägen zu und richtete sich auf, soweit sein verbrauchter Körper dazu noch in der Lage war. »Und wenn das wider alle Erwartungen doch geschehen sollte«, sagte er mit seiner dunklen, jedoch brüchig und müde gewordenen Stimme, »dann wird der Fanatismus, der Todesmut und die Tapferkeit der deutschen Soldaten, wie schon sooft in der Geschichte, auch mit diesem Tatarenansturm aus dem Osten fertig werden.« Keitel und Jodl nickten beifällig, die drei jungen Männer nahmen eine noch straffere Haltung ein, die Bunkertür öffnete sich und ließ den Leibarzt 88
Dr. Morell, ebenfalls mit dicklicher Figur und spannendem Waffenrock, sichtbar werden, der verkündete, daß es für Hitler Zeit zur täglichen Mittagsruhe sei. Der weiche Druck einer schlaffen Hand, ein schlurfender Schritt, der Anblick eines gebeugten Rückens im schlechtsitzenden grauen Waffenrock, den die sich schließende Stahltür 20 Meter unter den zerbombten Ruinen der Reichskanzlei seinen Blicken verbarg – damit endete für Henning v. Loßwitz, damals noch keine 21 Jahre alt, seine erste und einzige Begegnung mit seinem Führer. Sie wurde festgehalten durch eine auf Hitlers Wunsch aufgenommene Fotografie, jener Fotografie, die 36 Jahre später vor den kritisch-kühlen Augen D. F. Ustinows von der Projektionsfläche im Konferenzraum des Verteidigungsministeriums am Sokolniki-Prospekt in Moskau zurückstrahlte. Die jungen Männer wurden nach einem weiteren flüchtigen Händedruck durch Keitel und Jodl entlassen. Sie stiegen, von bewaffneten Leibwächtern geleitet, zahllose Stufen nach oben und erblickten das Tageslicht durch die treibenden Qualmschwaden eines amerikanischen Bombenangriffes, der soeben über einen Teil der Stadt hinweggerollt war. Die Reichskanzlei war schon ausgebrannt, leer und öde die gigantischen Hallenfluchten und Flure; die herunterhängenden Portieren baumelten im Wind, die Hoheitsadler, die einst so arrogant ihre marmornen Gefieder gespreizt hatten, waren geborsten. Der 89
bewaffnete Wachposten, der sie hierher gebracht hatte, nahm Haltung an, die drei jungen Männer setzten ihre Mützen auf und grüßten. Sie alle hatten noch einen zusätzlichen Urlaubstag erhalten und würden sich auf dem Gefechtsstand der Einheit, zu der sie gehörten, westlich der Weichsel wieder treffen. Für den jungen v. Loßwitz war die Audienz bei Hitler, der er mit der Begeisterung seiner 20 Jahre entgegengefiebert hatte, eine entsetzliche Enttäuschung. Wie es an den Fronten stand, konnte jeder, der wollte, täglich sehen. Seitdem v. Loßwitz in dem muffigen Tiefbunker jenem bleichen, schwammigen und phrasendreschenden Hitler gegenübergestanden hatte, wußte er, daß dieser Mann die Dinge nicht mehr unter Kontrolle hatte. Bei dem jungen v. Loßwitz stellten sich Zweifel ein, ob es wirklich wahr sei, daß der Führer alles wisse. Jahrelang hatte man ihm im Jungvolk, in der Hitlerjugend, im Eliteinternat und bei der Truppe die Eigenschaften einer nationalsozialistischen Führungspersönlichkeit eingebleut: Härte gegen sich selbst, dynamisches Zielbewußtsein, nüchterne Lageeinschätzung, mitreißende Begeisterungsfähigkeit, schnelle, mutige und richtige Entschlüsse. Mit dieser Devise hatte er sich sein Ritterkreuz erkämpft, und nichts von alledem hatte er bei dem kranken und verklemmten Mann bemerkt, der es ihm soeben umgehängt hatte, nichts davon in der stickigen, unguten und wirklichkeitsfremden Atmosphäre des Betonloches, in welchem jener Mann residierte. Der junge Loßwitz brauchte eine ganze Nacht und den 90
ganzen folgenden Tag, um diese Eindrücke zu ordnen, sich darüber klar zu werden, daß er sie wirklich und wahrhaftig erhalten hatte, und sich damit auseinanderzusetzen. Am Abend des nächsten Tages bestieg Henning v. Loßwitz am Bahnhof Friedrichstraße einen Schlafwagenzug des Armee-Oberkommandos der 4. Panzerarmee, der ihn nach Litzmannstadt und Kieke bringen sollte. In diesem Zug hatte er ein Erlebnis, an das er nicht ganz zwei Tage später zurückdenken sollte. Während der Zug langsam über notdürftig nach schweren Luftangriffen wieder hergestellte Weichenstraßen nach Südosten rollte, betrat ein weiterer Offizier das Abteil, grüßte und belegte das zweite Bett. In solchen Situationen war es damals üblich, sich einander vorzustellen. Auf diese Weise erfuhr v. Loßwitz, daß sein Bettnachbar ein Hauptmann des Heeres, der 1c-Gehilfe im Stabe der 4. Panzerarmee des Generals Graeser und als solcher zuständig für Feindkräfte, Gliederung und Absichten des Gegners war. Bei gedämpftem Licht blickten die beiden Männer noch eine Weile aus dem geöffneten Fenster auf Schienenstränge und die allmählich rascher und rascher vorübergleitenden Ruinenfluchten der südöstlichen Vorstädte Berlins. Als Dampfschwaden feucht und mit fadem Gestank in das Abteil drangen, schloß der Hauptmann das Fenster und zog das Rollo nach unten. Etwas später, als die Männer in den Betten lagen, der Hauptmann hatte das obere Bett belegt, sah 91
er beim leisen Rütteln des Waggons v. Loßwitz’ Ritterkreuz am Uniformrock im schwachen Licht blinken. »Neu, die Auszeichnung?« fragte er. v. Loßwitz antwortete von unten: »Gestern.« »In Berlin verliehen?« »Vom Führer selbst«, sagte v. Loßwitz. Der Mann über ihm schwieg. »Dieser Zug fährt heute zum letztenmal nach Kielce. Wahrscheinlich auch zum letztenmal nach Litzmannstadt«, kam es nach einer ganzen Weile von oben. »Wie kommen Sie darauf, Herr Hauptmann?« fragte v. Loßwitz. »Der Russe greift an«, antwortete der Ältere. »Morgen?« »Zwischen dem 11. und 14. Januar, Herr Kamerad. Wir haben das abgehört.« »Der Führer glaubt es nicht.« »Die haben das doch nie geglaubt, was man ihnen gesagt hat, wenn es nicht in ihren Kram paßte. Was für einen Eindruck macht der Führer?« Der junge Loßwitz schwieg eine lange Weile. »Ich verstehe«, sagte schließlich der Hauptmann. »Ich verstehe auch, daß Sie schweigen. Mein Chef war heute in Zossen bei Halder. Und in der Reichskanzlei. Er erbat drei Divisionen als Reserve.« »Und?« »Nicht ein einziges Regiment. Die vierte Panzerarmee hält, wo sie steht.« Der Mann im Oberbett seufzte. »Wenn der Russe morgen früh 92
angreift«, sagte er schließlich, »dann ist er in drei Tagen in Litzmannstadt und Ende des Monats an der Oder.« »Ob Sie das nicht zu schwarz beurteilen?« fragte der junge Loßwitz. »Wir werden sehen«, antwortete der Hauptmann. »Ihnen stehen drei sowjetische Heeresgruppen gegenüber. Die sind nicht zum Murmelspielen aufmarschiert, Herr Kamerad. Und das Schlimmste werden die Flüchtlinge sein. Was glauben sie, daß sich da abspielen wird, wenn es losgeht. Aber jetzt lassen Sie uns schlafen, solange noch Zeit dazu ist.« Zwei Tage später riß in der Dunkelheit der allerersten Morgenfrühe das Vorbereitungsfeuer des russischen Angriffs bei Baranow v. Loßwitz aus einem unruhigen Schlaf. Das lehmbeworfene Bauernhaus, das ihm und einem Teil seiner Männer als Quartier diente, lag nicht in der vordersten Linie. Die gepanzerte Abteilung, die insgesamt noch über acht intakte TigerKampfwagen verfügte, war als bewegliche Reserve zur Abriegelung örtlicher Durchbrüche vorgesehen. Das schlagartig einsetzende Feuer ging drei bis vier Kilometer weiter vorne auf die Stellungen der Grenadiere nieder. Dennoch warf seine Erschütterung den Verputz von den Wänden und schlug die Scheiben klirrend nach innen. Die Männer sprangen von den Strohsäcken und stürzten nach draußen. Sie erblickten ein Artilleriefeuer, das auch eine spätere Geschichtsschreibung noch mit der Bezeichnung »Hölle von Baranow« belegen sollte. 93
Es war noch vollständig dunkel, aber der gesamte östliche Horizont war eine einzige feuerspeiende Wand, soweit das Auge reichte, und wahrhaftig … sogar der Boden hier unter ihren Füßen schien zu kreisen und zu zittern. Die Augen der Männer, die dort hinüberstarrten, waren vor Schreck geweitet. Die Nachrichtenverbindungen wurden lebendig. In der Kate schrillte das Telefon. Der Kommandeur wünschte Lageberichte. Hier bei ihnen sei noch alles ruhig, meldete v. Loßwitz, aber vorne bei den Grenadierregimentern … jawohl, man könne das ohne Übertreibung als eine Art von Weltuntergang bezeichnen. Nach vorne sei telefonisch überhaupt nicht mehr durchzukommen, sagte der Kommandeur, und das nach 20 Minuten Feuervorbereitung. So etwas sei überhaupt noch nie dagewesen. Dann wurde v. Loßwitz mit seiner Kompanie Alarm befohlen. Aufsitzen, anwerfen und weitere Befehle abwarten. Mit dröhnenden Maschinen standen die Panzer da, Front nach Osten, die Geschütze und Maschinenwaffen durchgeladen und feuerbereit, v. Loßwitz stand bei offener Luke im Turm seines Chefpanzers, das Kehlkopfmikrophon am Hals, die schweren Kopfhörer übergezogen, und starrte nach Osten. Nach einer weiteren halben Stunde sah er von dort vorne ein Fahrzeug zurückkommen. Es war ein Beiwagenkrad. Der Fahrer war ohne Helm, der Mann im Beiwagen hing nach draußen. Er war tot. Der Fahrer hielt das Krad an und schrie zu Loßwitz hinauf: »Der Iwan ist durch. Bei den 170ern und bei den 94
212ern auch. Er kommt mit Panzern und Infanterie. Die rechts und links halten noch, aber da vorne ist alles hin. Wo ist der Verbandsplatz, Kamerad?« v. Loßwitz machte mit dem Daumen eine deutende Bewegung und ging auf Sendung. Er meldete seinem Kommandeur, daß er mit seiner Kompanie nach vorne in den Abschnitt der 170er und 212er fahre, wo der Russe durchgebrochen sei. Er bekam die Erlaubnis. Die Luken knallten zu und mahlend setzten sich die Ungetüme in rüttelnde Bewegung. Das Feuer schien sich noch weiter zu verstärken. Nach einer Weile begann sich das nächtliche Feld rechts und links der vorrückenden Panzer und die Straße, auf der sie fuhren, zu beleben. Als v. Loßwitz, aufmerksam geworden, für kurze Zeit die Turmluke öffnen ließ und sich emporschwang, sah er, daß es sich um zurückgehende Fahrzeuge, einzelne Soldaten und auch um in Gruppen fliehende eigene Leute handelte. Und es wurden immer mehr von ihnen, Offiziere darunter, Stabsfahrzeuge. Manche machten Zeichen, Gesten, schrien etwas zu v. Loßwitz herauf, was dieser im Lärm seiner eigenen Panzer und dem Gefechtslärm nicht verstand. Aber ihm schien es, als bewege sich die fauchende, krachende Feuerwand der Einschläge, ununterbrochen weißlich überstrahlt von dem horizontbreiten Zucken der Abschüsse weiter im Osten, auf ihn und seine Fahrzeuge zu. Dann erschien der Russe. Seine flachen, kleinen, wendigen T-34Wagen tauchten aus der vorrückenden Feuerwand auf wie Schatten. Gleichzeitig hörte v. Loßwitz die 95
Stimme seines Fahrers im Kopfhörer: »Die greifen durch eigenes Feuer durch an, siehst du das?« Loßwitz sah es. Er sah auch andere Fahrzeuge der Russen, vollgepackt mit Klumpen erdbrauner Infanterie. Dazwischen sah er fliehende eigene Grenadiere, Fallende, später Gefallene, brennende Gehöfte, verqualmte Fahrzeuge, die ganze blutige, stinkende, zerstörerische Kraft des Krieges. Ihm zuckte das Wellington-Wort durchs Gehirn, daß das Schlimmste nach einer verlorenen Schlacht eine gewonnene Schlacht sei. Und dies hier war eine verlorene Schlacht. v. Loßwitz erinnerte sich an das Bild seines obersten Kriegsherrn vor zwei Tagen. Der Todesmut und die Tapferkeit unserer Soldaten … wie sooft in der Geschichte … er dachte an den mürrischen Hauptmann in dem Schlafwagenbett über sich … die vierte Panzerarmee hält, wo sie steht … wie kurz war das alles erst her. Maschinengewehrgarben splitterten klirrend gegen die Panzerung seines Fahrzeuges, v. Loßwitz ließ den Lukendeckel wieder zuknallen. Die Russen waren bereits neben ihm, hinter ihm, und ihm wurde bewußt, daß die Deutschen, die jetzt noch vor ihnen lagen, tot oder verwundet waren. Das Kriegstagebuch der vierten Panzerarmee meldete, daß die russische Offensive von Baranow die deutsche Front in weniger als zwei Stunden aufgerissen habe. Die kleine Einheit von Henning v. Loßwitz’ Panzern glich einem Kiesel in einem reißenden Hochwasser, der zuerst widerstrebend und dann schneller und schneller von den 96
unaufhaltsamen Fluten mitgerissen wird. Im Kopfhörer wieder der Abteilungsstab: Es gäbe keinen Kontakt mehr nach vorne und auch nicht mehr nach oben. Um die Umfassung zu umgehen, schnellstmöglich zurück bis zum Fluß Pilica. Offenhalten der Brücke für Trosse, Versprengte und Flüchtlinge bis zum letzten Augenblick vor dem Eintreffen der Russen. Erst dann würden Pioniere die Brücke sprengen. Die graue, schneeschwangere halbe Helligkeit des 12. Januar 1945 dämmerte herauf. Sie sah herunter auf zwei ineinander verkrallte und verfilzte, sich westwärts über schneebedeckte, mit Wald gefleckte Ebenen wälzende Armeen, v. Loßwitz war es durch Einsatz seiner überlegenen Feuerkraft und größeren Schnelligkeit geglückt, sich mit vier seiner Tigerpanzer vom Russen zu lösen. Später am Tage zogen die Fahrzeuge Menschenkörper an wie rumpelnde Riesenmagneten. In Trauben klammerten sich Fliehende, Versprengte, Verwundete, Zivilisten an Handgriffe, an die geringsten Vorsprünge der Panzerung solange es eben ging, um nur ein paar tausend oder auch nur ein paar hundert Meter weiter nach Westen voranzukommen. Auf diese Weise näherten sich Henning v. Loßwitz und seine Kameraden in den späten Vormittagsstunden des 14. Januar der leichten Schleife, wo in einer flachen Senke das Flüßchen Pilica an der kleinen Stadt Tomaszów, damals ein Ort mit 15 000 Einwohnern, vorbeifließt. In diesen Tagen war die Pilica von Treibeis bedeckt, gesäumt von flachen, schnee97
bedeckten Uferhängen, die verbunden waren durch eine eiserne Bogenbrücke, über die auch die Gleise einer Schmalspurbahn liefen. An dieser Brücke herrschte zum ersten Male seit der Katastrophe von Baranow wieder ein Anflug militärischer Ordnung. Eine Einheit Feldgendarmerie unter Führung eines zu dicken, brutalen und unsympathischen Hauptmanns regelte den ununterbrochenen Strom der Truppen, Verwundetentransporte und Zivilisten, die zu Fuß oder mit Fahrzeugen jeder Art an die Brücke herandrängten. Es gab einen Wortwechsel, bis der junge v. Loßwitz sich verständlich gemacht hatte, daß er Befehl hatte, westlich der Pilica eine Riegelstellung aufzubauen und die Sowjets solange als irgend möglich am Übergang über den Fluß zu hindern. Schließlich mochte wohl der magische Glanz des Ordens an Loßwitz’ Kragen den Ausschlag gegeben haben. Eingewinkt von den Feldpolizisten, krochen die verschrammten Panzer in ihrem schmutzigweißen Tarnanstrich über die Brücke nach Westen. In dem Städtchen war die Hölle los. Durch die Straßen zwischen seinen zweistöckigen schmalbrüstigen Häusern drängte sich der Flüchtlingsstrom, und wer in der Stadt selbst nur irgend konnte, rüstete sich zum Aufbruch, während deutsche Heeresverbände sich zögernd sammelten, um sich auf eine vorübergehende Verteidigung des Pilicaübergangs einzurichten. Dem jungen Loßwitz leuchtete es ein, als man ihm sagte, diese Verteidigung sei notwendig, um weiter rückwärts die in alle Winde zerstreuten eigenen 98
Einheiten notdürftig wieder zusammenzufassen und zu gliedern, damit der Iwan nicht in einem einzigen Anlauf deutschen Boden erreichte. Denn die letzten Illusionen waren mittlerweile zerstoben. Jedem, der denken konnte, war klar geworden, daß es nicht mehr darum ging, diesen Krieg zu gewinnen oder zu verlieren, sondern nur noch darum, nicht in einem Strom von Blut und Chaos von ihm verschlungen zu werden. v. Loßwitz baute also seine verbliebenen Panzer, der kampfkräftigste Typ den es damals gab, an Punkten des Stadtrandes von Tomaszów ein, die er für die günstigsten hielt. Nachdem dies geschehen war, gab es zum ersten Mal seit dem Durchbruch vor zwei Tagen warme Verpflegung und Zigaretten. Irgendwoher wurde Munition herangekarrt, Betriebsstoff, Motorenöl. Es kam sogar wieder Funkverbindung mit dem Stab zustande, der ein paar Kilometer weiter, am Westrand von Tomaszów einen Gefechtsstand bezog. Im Lauf des Tages richtete v. Loßwitz eine Kompaniebefehlsstelle in einem dem Flußlauf und der Brücke zugekehrten Haus am östlichen Stadtrand ein. Dort stand eine Reihe zweigeschossiger Gebäude in Ziegelbauweise, die sogar unterkellert waren, v. Loßwitz besichtigte das Haus. Es mußte einem Schneidermeister gehören, denn er fand Stoffpuppen mit halbfertigen Anzügen, darunter sogar den gespenstisch unvollendeten Waffenrock für einen deutschen Heeresbeamten im Majorsrang. Im Oberstock gab es Schlafstuben und Betten, die so belassen worden waren, wie die Schlafenden sie heute 99
früh verlassen hatten, als sie sich auf die Flucht machten. Nicht alle Bewohner Tomaszóws hatten diesen Weg gewählt. Viele gingen ihn, um den Gefahren der zu erwartenden Kämpfe zu entrinnen. Andere, die sich inzwischen mit der deutschen Besatzung arrangiert hatten, wie wahrscheinlich auch dieser Schneidermeister, hielten dafür, daß die Schrecken, die sie bei den Sowjets erwarteten, weit größer sein würden als die Schrecken, die ihnen die Deutschen bereitet hatten, immer vorausgesetzt, daß man kein Jude und der barbarischen Verschleppung anheimgefallen war oder diese noch erwarten mußte. Wieder andere, Polen mit nationalem Stolz oder ehrenhaften Traditionen, begrüßten innerlich die Stunde, die angebrochen war. Sie zogen von ihren Schlafstuben in die Keller und richteten sich so gut es ging auf das ein, was unvermeidlich bevorstand. In eifrig diskutierenden Gruppen zusammenstehend, tauschten sie ihre Ansichten darüber, welche Absichten die Sowjetarmee in den von ihr eroberten polnischen Gebieten wohl verfolgen werde. Diese Polen betrachteten die fieberhaften Bemühungen der Deutschen, eine Verteidigungsstellung einzurichten, mit offenem Mißbehagen. Jedoch hatten die Deutschen mit sich selbst, mit ihren Schwierigkeiten, Sorgen und Ängsten viel zu viel zu tun, um hierauf zu achten. Der junge v. Loßwitz besichtigte also das verlassene Schneidermeisterhaus. Der relativ massive Keller war zu drei Vierteln in den Boden versenkt und von 100
rückwärts her zugänglich. Nach vorne zum Fluß hin gab es in Höhe des Bürgersteigs zwei Luken, durch eiserne Lochplatten verschließbar, die nach innen an die niedere Decke hochgeklappt und dort befestigt werden konnten. In diesen Raum ließ Loßwitz seine Nachrichtenmittel verlegen, nachdem er den Kellerinhalt bis auf zwei alte Portweinkisten und eine eiserne Bettstelle ohne Matratze mit ausgeleierten Sprungfedern hatte ausräumen lassen. Die Kellerfenster boten einen günstigen Ausblick auf die Brücke, auf die zu ihr hinführende Straße und auf das gegenüberliegende Ufer des Flusses, wo die gleiche Straße in einer Biegung den abgeflachten Gegenhang hinauflief und oben hinter dessen Kamm verschwand. Auf dieser Straße herrschte ein von Viertelstunde zu Viertelstunde zunehmendes Chaos. Nachdem die Feldpolizisten in ihren plumpen Stahlhelmen und glänzenden Kettenkrägen vor der Brust, wie sie befehlsgemäß wohl mußten, den fliehenden deutschen Verbänden und Versprengten die Brücke bevorrechtigt freimachen ließen, sammelte sich auf der gegenüberliegenden Seite zwischen einem Konglomerat von Schuppen, Werkstätten und Wohnhauszeilen ein stetig größer werdender Haufen von Menschen, Fahrzeugen und Tieren an. Quer über die dunkelgrüne, mit Treibeisschollen bedeckte Pilica wagte sich niemand. Und doch, wußte v. Loßwitz, würden es welche wagen, wenn erst Konjews Panzerspitzen drüben auf dem Kamm der Höhe erschienen. Und das konnte nicht mehr lange dauern. v. Loßwitz sah auf die 101
Armbanduhr und ging hinaus, um seine Besatzungen zu inspizieren. Während er sich auf dem Wege befand, den man zu einem etwas anderen Zeitpunkt und an einem etwas anderen Ort vielleicht als Uferpromenade hätte bezeichnen können, beobachtete er einen feldgrauen Geländewagen des Heeres, der sich den durch die Gassen von Tomaszów fliehenden Kolonnen entgegen drängte und an der Stelle, wo die Straße zwischen den Häusern heraustrat, anhielt. Ein jüngerer Major im Mantel mit Pelzkragen und ein Oberleutnant, der ein Kartenbrett in den Händen hielt, stiegen aus. Diese beiden Offiziere begutachteten die Lage, die sie an der Brücke vorfanden, während der Wagen in die Deckung der Häuser zurückstieß und wendete. Danach stieg der Fahrer aus und schlug die Arme um den Oberkörper. Die Offiziere bemerkten die Kabel, welche in den Keller hineinliefen und schlossen daraus das Vorhandensein einer Vermittlung oder einer Befehlsstelle, v. Loßwitz eilte dort hinüber und meldete. Er bemerkte, als der Major den Mantel zurückschlug, um eine Zigarettenpackung hervorzuholen, die karmesinroten Streifen an seiner Reithose, welche die Zugehörigkeit zum Generalstab anzeigten und damit zu erkennen gaben, daß ihr Inhaber der höheren Weihen militärischer Führung teilhaftig war. Diesen Mann stellte der Oberleutnant als Major Kayser, 1a der 103. Volksgrenadierdivision vor, sich selbst als Oberleutnant Sturm eines dieser Division unterstellten Pionierbataillons. »Wann, glauben Sie, werden die Russen hier sein?« 102
war die erste Frage, die der Major dem jungen v. Loßwitz stellte. »Das kann jeden Augenblick der Fall sein, Herr Major«, sagte v. Loßwitz und sah den Major an, als erwarte er von ihm Aufschluß über die Lage. Jedoch war es genau umgekehrt. »Die 103. kommt hier gerade zur rechten Zeit«, sagte der Major und suchte das gegenüberliegende Ufergelände mit dem Feldstecher ab. Dann setzte er das Glas ab und sah v. Loßwitz ins Gesicht. »Wir haben sie im Raum Litzmannstadt gerade neu aufgestellt. Sie wird im Lauf der Nacht mit Teilen als Korsettstangen hier in die Pilica-Front geschoben.« »Als Korsettstangen, so«, sagte v. Loßwitz. »So ist es. Und solange, bis unsere Bataillone hier eingewiesen sind, halten Sie die Flußschleife und den Stadtrand, Obersturmführer. Zeigen Sie mir bitte jetzt Ihre Befehlsstelle.« v. Loßwitz wendete sich knapp um und ging voraus. Von rückwärts betraten sie den Kellerraum. »Dann dürfte ich Ihnen unterstellt worden sein, Herr Major?« Der Major trat an das Kellerfenster, blickte nach draußen und sah den Fluß, die Brücke und das nicht endenwollende Gedränge, das auf ihr herrschte. Er wendete sich um. »Unterstellt, jawohl. Hat Ihnen das noch niemand gesagt?« Von Loßwitz wollte soeben verneinen, aber das Telefon schnurrte. Der Nachrichtendienstgrad nahm ab und reichte v. Loßwitz den Hörer. Auf diese Weise 103
erfuhr v. Loßwitz auf dem direkten Wege, was ihm soeben auch Major Kayser verkündet hatte. Daß er für die kommende Nacht der 103. direkt unterstellt sei und deren Weisungen zu befolgen habe. v. Loßwitz legte auf. Der Major nickte. »Sehen Sie, den Laden hier werden wir schon schmeißen. So eine Pleite wie an der Weichsel wird uns hier nicht passieren. Da sorgen wir schon dafür.« Er forderte v. Loßwitz durch die Bewegung seines Kinnes auf, durch die Kellerluke zu blicken. Er tat es und sah, daß draußen an der Brücke weitere Feldgendarmen und Offiziere aufgetaucht waren, die mit gezogener Pistole und brutalen Bewegungen die versprengten Soldaten aus dem Menschenstrom fischten und ein wenig seitlich zu einem abgerissenen, frierenden und vor Angst schlotternden Haufen antreten ließen. »Waren Sie zufällig vorgestern morgen um 1 Uhr 30 am Brückenkopf, Herr Major?« Der Major musterte v. Loßwitz von oben bis unten. Er wußte nicht recht, wie er diese Frage auffassen sollte. »Nein«, sagte er deshalb. »Warum?« »Weil Sie dann wüßten, daß man Konjews Artillerie und Panzer mit denen da nicht aufhalten kann.« Der Major schnaufte vor Wut und sein unreifes, hochfahrendes Kindergesicht lief signalrot an, so daß es wie eine Tomate auf dem dunklen Biberkragen thronte. »Was erlauben Sie sich«, schrie er v. Loßwitz an. 104
»Glauben Sie, wegen dieses Lamettas da am Hals oder weil Sie Ihren Verein für eine Art Garde halten, können Sie Dienstälteren gegenüber unverschämt werden? Nehmen Sie Haltung an und hören Sie zu, was ich Ihnen für Weisungen gebe.« Der Pionieroberleutnant trat einen Schritt zurück, als wolle er nicht in die Schußlinie geraten. Aber der Major hatte sich schon gemäßigt. Loßwitz hatte nicht reagiert. Der Major fuhr fort: »Die Brücke ist zur Sprengung vorbereitet. Der Kommandeur hat befohlen, daß das Pionierbataillon vorsorglich zum Bau einer Auffangstellung weiter südlich eingesetzt wird. Ich lasse Ihnen den Zündapparat durch Herrn Sturm hier hereinlegen. Sie können die Brücke selbst sprengen, wenn Sie die Lage für brenzlig halten.« v. Loßwitz bestätigte den ihm erteilten Befehl, und der Oberleutnant verschwand, um die Zündschaltung einrichten zu lassen. »Und Ihnen rate ich, nicht noch einmal eine solche Lippe zu riskieren, sonst komme ich Ihnen disziplinarisch.« Loßwitz wendete sich abrupt um und ging ein zweites Mal hinüber zum Fenster. Er hatte für dieses Geräusch ein äußerst feines Ohr. Und jetzt hörte er es wieder. Der Wind wehte von Osten und brachte von dort einen wogenden Schleier leichten Schneefalls mit. In diesem Gewebe aus beginnender Dämmerung und fallenden Flocken schwang ein leiser, trocken hustender Ton. Das war der Abschußknall der Kanone eines T 34. »Was haben Sie denn?« fragte der Major, als er v. 105
Loßwitz mit vorgerecktem Kopf lauschend stehen sah. »Merken Sie nichts?« sagte er zu dem Major, der ihn unsicher ansah und dann auch ans Fenster trat. Draußen rollten zwei ausgemergelte Pioniersoldaten von einer Trommel das Zündkabel ab und wuchteten die Trommel durch das andere Fenster in das Innere des Kellers. »Was soll ich denn merken?« fragte der Major. »Der Russe kommt«, sagte v. Loßwitz. »Woher wollen Sie das wissen?« fragte der Major. »Erstens höre ich es«, antwortete v. Loßwitz. »Und zweitens, sehen Sie einmal, die Straße …« v. Loßwitz reichte dem Major das Glas, und der richtete es ein. »Kaum noch Flüchtlinge«, bestätigte er und erstarrte. Oben auf dem Kamm der Uferböschung sah er erst einen und dann einen zweiten hochbeladenen Schlitten erscheinen, deren Fahrer aufrecht auf dem Bock standen und mit langen Peitschen aus Leibeskräften auf die im Galopp ausgreifenden Pferde einschlugen. Da wußte der Major, daß v. Loßwitz recht hatte. »Das heißt, daß der Russe die Straße schon abgezwickt hat«, sagte v. Loßwitz. »Wann?« fragte der Major. v. Loßwitz wog ab. »Bei diesem Wind und dieser Lautstärke ist der T 34 ungefähr 20 Kilometer entfernt.« »Also wann?« wiederholte der Offizier. v. Loßwitz hob die Schultern. »Nicht vor einer Stunde, schätze ich. Aber sie werden noch bei Tageslicht erkunden wollen, was hier los ist. Wenn wir großes Glück haben, 106
kriegen wir den größten Teil der Leute dort drüben herüber.« »Was gehen Sie denn diese Leute an?« »Sie haben mir die große Lippe verboten, Herr Major.« »Also reden Sie schon, Mann«, sagte der Major. »Ich erlaube es Ihnen.« »Weil der Russe«, sagte v. Loßwitz, »nach unseren Erfahrungen in eineinhalb Rückzugsjahren in solchen Situationen alles rücksichtslos zusammenschießt, was ihm vor einer Brücke im Wege ist, die er unzerstört haben will. Möchten Sie sich das ansehen, Herr Major?« »Nein«, sagte der Major entgeistert. »Eben«, sagte der junge Loßwitz. »Ich auch nicht ein zweites Mal. Deshalb gehen mich die Leute dort drüben etwas an.« Jetzt hörte auch der Major durch das stärker werdende Schneetreiben das leise, trockene, noch weit entfernte Pochen. Einmal, und gleich darauf noch einmal. Er biß sich auf die Unterlippe und drehte sich auf dem Absatz herum. »Ich muß zum Gefechtsstand«, sagte er. »Vermutlich hat der Kommandeur noch keine Ahnung.« »Vermutlich«, knurrte Henning v. Loßwitz ihm nach und schob die verbeulte Mütze ins Genick. Unter der Tür rannte der Major fast mit Oberleutnant Sturm zusammen, der, den kastenförmigen Zündschalter unter dem Arm, den Kellerraum betrat. Er schloß das Gerät an das freie Kabelende an und stellte den 107
viereckigen Kasten auf die umgeworfene Kabeltrommel. Der Fernsprechgefreite nahm ein Gespräch entgegen und übermittelte Sturm einen neuen Befehl. Hastig erläuterte Sturm Loßwitz die Bedienung des Zündschalters. »Und wenn sie nicht hochgeht?« fragte v. Loßwitz. »Sie geht hoch«, sagte Sturm. »Wir haben das eineinhalb Jahre lang eingeübt. Aber wir werden es nur noch ein einziges Mal brauchen. Nämlich an der Oder.« Der Pionieroffizier, hartgebrannt und illusionslos geworden im täglichen Umgang mit dem Sterben, sah v. Loßwitz provozierend an. »Oder sind Sie vielleicht auch einer von denen, die sich für ihren Führer bei lebendigem Leibe rädern ließen?« Damit legte er die Rechte an den Mützenschirm, obwohl das seit dem 20. Juli verboten war. Dann war er verschwunden. »Seitdem ich ihn gesehen habe nicht mehr«, murmelte v. Loßwitz und suchte nach einer Zigarettenpackung, bis er merkte, daß ihm sein Gefreiter eine hinhielt. Ein hübscher Junge, etwa zwölf Jahre alt und mit klarem Blick, stand, seitdem er in einem schiebenden und stoßenden Pulk von Pferden, Wagen und Menschen über die Brücke gekommen war, an ihrem westlichen Ende und wartete. Dabei hatte er mehr und mehr Gelegenheit, auch diese Brücke selbst zu betrachten. Dabei fielen ihm die ungemütlich aussehenden grauen Pakete auf, mit welchen die frisch ausgebohrten Löcher in dem Betonsockel dieser Brücke ausgefüllt waren. Er war 108
intelligent und durch das Elend dieser Jahre gereift genug, um zu wissen, daß die Brücke gesprengt werden würde. Mit den Augen folgte er dem schwarzen Kabel, das diese Pakete und Löcher miteinander verband, dann in einem langen Bogen durchhing und sich vor seinen Augen die verschneite Uferböschung emporschlängelte, auf zwei hohe Masten geständen die Uferstraße überspannte und weiter drüben in einer Kellerluke verschwand. Wenige Sekunden nur dauerte die Unschlüssigkeit des Jungen, bis er sicher war, daß dort drüben die Sprengung der Brücke ausgelöst werden würde. Er überlegte nur kurz, blickte noch einmal zurück über den Fluß und überquerte die Straße bis hinunter zu der Kellerluke, in der das daumendicke Kabel verschwand. Dort sah Henning v. Loßwitz ihn stehen, als er zur Luke blickte, weil sich das ohnehin schon schwächer werdende Tageslicht durch den Jungen noch weiter verdunkelte. »Was ist los, Junge!« rief er dem Buben zu. Der Junge hatte schöne braune Augen, einen blonden Haarschopf, auf dem eine unförmig große Ballonmütze saß, und schlotterte vor Kälte, weil er nur ein kariertes Hemd mit offenem Kragen und darüber eine Leinenjacke trug, wie manche polnische Bauern sie zur Sommerzeit anziehen. »Sind Sie der Offizier, der die Brücke sprengt?« fragte der Junge zu v. Loßwitz’ Überraschung in einem etwas ungewohnt klingenden Deutsch. Er hatte sich nach vorne gebeugt und seine Lippen zitterten vor Furcht und Kälte. 109
»Komm herein, Junge«, sagte v. Loßwitz und schickte den Nachrichtengefreiten hinaus, um den Kleinen hereinzubringen. Der Schneefall hatte sich noch weiter verstärkt. Sorgsam schüttelte der Junge die Flocken von der Mütze, bevor er zu v. Loßwitz in den Kellerraum trat, wo der Soldat jetzt schon ein flackerndes Wachslicht angezündet hatte. »Warum willst du das wissen mit der Brücke?« fragte v. Loßwitz den Jungen. »Meine Eltern und meine Schwester …«, der Junge deutete mit dem Daumen. »Was ist mit denen?« »Die sind abgetrennt worden. Mich haben welche auf einem schnelleren Wagen mitgenommen, aber meine Leute sind noch drüben. Wenn Sie rausschauen, können Sie sie vielleicht sehen. Darf ich mal?« Der Junge griff nach dem Fernglas, das der Major vorhin hatte stehen lassen, und versuchte, auf den Zehenspitzen durch das Fenster zu sehen, bis ihm der Soldat eine der Portweinkisten hinschob, auf die der Junge stieg. v. Loßwitz sah das Wachslicht abrupt flackern. Gleichzeitig zerriß ein flacher, scharfer Knall die schneegeschwängerte Luft. Soldaten stürmten in den Keller, v. Loßwitz gab verschiedene Weisungen und sah dann auch durch das Fenster. »Da«, sagte der Junge. »Ich sehe sie. Das ist das rote Kopftuch meiner Mutter. Sie sind ziemlich weit hinten, Herr Offizier. Aber sie werden doch noch herüberkommen?« v. Loßwitz jedoch sah nicht nach dem roten Kopftuch der Mutter des Jungen. Seine 110
Augen suchten den Kamm der jenseitigen Uferböschung ab und sahen zweimal einen aufleuchtenden gelblichweißen Schein, dem ein zweimaliger scharfer Knall, ein widerlich rasantes Rauschen und das Krachen zweier Einschläge ziemlich weit hinten folgte. Das waren Konjews erste beide T 34. v. Loßwitz schätzte, daß sie noch gut 500 Meter hinter dem Böschungskamm standen und zunächst ohne eigene Sicht das Gelände mit ihren Kanonen abtasteten. Loßwitz rief seine Kommandanten zu sich in den Keller und gab seine Befehle. Da er nach draußen sehen mußte, hob er den Jungen von seiner Portweinkiste und stellte ihn neben sich auf den Boden. »Sie werden doch noch herüberkommen?« flehte der Junge noch einmal. Flüchtig sah v. Loßwitz auf ihn herunter. »Wir sprengen erst im allerletzten Moment«, sagte er. »Das verspreche ich dir. Vielleicht haben sie Glück. Und jetzt nimm eine Kiste und setz dich da hinten in die Ecke. Ich tue für deine Leute, was ich kann.« Er verlangte eine Verbindung zum Stab der 103. und erstattete Meldung, daß er in Kürze Feindberührung haben werde. Er erfuhr, daß der 1a Major i. G. Herbert Kayser bereits auf dem Wege nach vorn sei. v. Loßwitz erläuterte seinen Kommandanten ihre Aufgabe und erklärte: »Mir hat man die Verantwortung für diese Scheißbrücke aufgehängt. Wenn sie hochgeht, steige ich auch ein. Von da an starre Verteidigung bis zum Morgengrauen. Dann neue 111
Weisungen, verstanden?« Die Männer hatten verstanden und verschwanden in der beginnenden Dämmerung, v. Loßwitz nahm das Glas und suchte das jenseitige Ufer ab. Die Feldgendarmerie wurde zurückgezogen. Drüben vor der Brücke bahnte sich eine Panik an. Rascher und rascher aufeinander folgte jetzt der scharfe Doppelknall von jenseits der Höhe. An der Ausfahrt zur Brücke verkeilten sich Wagen, Pferde und Menschen ineinander. Manchmal löste sich aus diesem tödlichen Knäuel ein Gespann und fegte in gestrecktem Galopp über die Brücke, auf Fußgänger mit Handkarren und Gebrechliche keinerlei Rücksicht mehr nehmend. Sekundenlang suchte v. Loßwitz in der jetzt stark einfallenden Dämmerung nach dem roten Kopftuch der Mutter des Jungen und fand es auch. Aber es war zu weit zurück, um ernsthaft Hoffnung zu haben. Er bemerkte, daß der nächste Doppelknall bereits ein dreifacher war. Er ließ das Glas von dem roten Kopftuch nach oben wandern. Und wie so oft war er der erste, der die verräterische Silhouette, die verhaßte, vertraute Kontur des T 34 mit dem wanzenförmigen Turm und dem Schwenkstachel des Geschützes entdeckte, weit dort drüben, wo sich die Straße durch eine sanfte Strecke über den Hügelkamm bog. Der Russe feuerte, kaum daß v. Loßwitz ihn gesehen hatte. Orangeroter Feuerpilz, grauweiße Qualmschwaden, der Knall hart und direkt. Die Granate schlug einige hundert Meter weiter in ein 112
Gebäude ein und setzte es sofort in Brand. Aber auch einer von Loßwitz’ eigenen Richtkanonieren hatte ihn entdeckt. Schnee fegte von dem Dach des Hauses, neben dem er getarnt stand, als er schoß. Und er traf exakt. Drüben, in der flachen Schneesenke, stieg eine öliggelbe Flammensäule in das grauer werdende Schneetreiben. Die Panzerschlacht hatte begonnen. v. Loßwitz schickte die Männer, die sich noch im Keller befanden, auf ihre Gefechtspositionen. Sie stießen, als sie den Keller verließen, mit dem Major Kayser zusammen. Fluchend drängte sich der Offizier durch die ihm entgegenstürmenden Soldaten. »Was ist mit der Brücke?« schrie er und starrte auf v. Loßwitz. Loßwitz deutete auf das Fenster. »Noch zu früh.« Auch er mußte den einsetzenden Gefechtslärm überschreien. »Schauen Sie doch raus.« Der Major stürzte ans Fenster und blickte vorsichtig ins Freie. Er sah vor sich die Brücke, an deren anderem Ende noch immer mehrere hundert Menschen und Gespanne drängten, schrien und mit den Armen gestikulierten. Er sah den Flammenschein, den auf dieser Seite der Häuserbrand und drüben der schwelende T 34 verbreiteten. Er sah weiter dort drüben auf dem flachen Hügelkamm die Umrisse der beiden nächsten T 34 auftauchen. »So lassen Sie doch endlich diese verdammte Brücke hochgehen«, schrie der Major und wendete das Gesicht v. Loßwitz zu. Aber Loßwitz ergriff den Kopf des Majors und zwang ihn, wieder hinauszusehen. 113
Denn Loßwitz kannte seine Richtkanoniere und er behielt recht. Zweimal fuhr der Feuerball seiner Geschütze aus der Häuserfront und setzte dort drüben einen weiteren Panzer in Brand. Der dritte Schuß traf den zweiten von ihnen. »Wo haben Sie denn Ihre Nerven, Mann?« schrie v. Loßwitz und deutete hinaus. »Die kriegen keinen Fuß auf den Boden, solange wir sie so erledigen können. Lassen Sie doch den Menschen da drüben ihre Chance, über den Fluß zu kommen. Brenzlig wird’s erst, wenn die schwere Werfer nachziehen und uns hier mit Stalinorgeln eindecken. Solange haben wir Zeit mit der Brücke.« »Sie sind wahnsinnig, Mann«, kreischte der Major. »Sie sind ein Hasardeur.« »Wenn wir das nicht wären, wären wir gar nicht bis hierher gekommen, Herr Major.« Der Gefechtslärm verstärkte sich. Quer über den Fluß lieferten sich Konjews T 34 und v. Loßwitz’ Tigerpanzer ein wildes, heulendes Gefecht. Von draußen kroch der eklige Gestank des Krieges in den Keller, Brand, blakendes Öl, Pulverqualm. Aber keiner der Russenpanzer kam so weit, daß er gezielt auf die kleiner werdende Menschentraube am anderen Ende der Brücke schießen konnte. Noch hatte jeder von ihnen seine Chance. Jedoch hielten die Nerven des Majors Herbert Kayser dieser für ihn ungewohnten Belastung nicht stand. Mit verzerrtem Gesicht und erhobenen Fäusten stand er vor Loßwitz. »Ich bin verantwortlich dafür, 114
daß mir hier kein Sowjetpanzer über den Fluß kommt. Sprengen Sie jetzt die Brücke. Das ist ein ausdrücklicher Befehl.« »Ich widersetze mich«, sagte v. Loßwitz. »Ich widersetze mich, diese Brücke zu früh zu sprengen. Ich gebe Ihnen die Garantie …« »Ich wünsche keine Garantien, ich befehle die sofortige Sprengung.« Es trat eine Pause ein. In seiner Ecke heulte der verängstigte Junge vor sich hin. »Gut, wenn Sie ein Kriegsgerichtsverfahren vorziehen …« Der Atem des Majors pfiff. Er wendete sich abrupt um. v. Loßwitz hatte nur Zehntelsekunden zu lange gebraucht, um die Nullacht aus dem Halfter zu bringen, nachdem er die Absicht des Majors erkannt hatte. Eigentlich hatte er ihm nur drohen, ihn mit vorgehaltener Waffe davon abhalten wollen, durch einen einzigen übereilten Hebeldruck für die Menschen dort drüben die unwiderrufliche Katastrophe auszulösen. Aber als v. Loßwitz ihn mit überkippender Stimme von rückwärts anschrie, hatte der Major es schon eingeleitet, den Zündhebel schon nach oben gezogen. Es konnte nur noch darum gehen, ihn daran zu hindern, den Schalter wieder nach unten zu stoßen. Wenn v. Loßwitz das erreichen wollte, mußte er schießen. Er tat es. Entschlossen, ohne zu zögern und schnell. Zweimal kurz hintereinander. Danach ließ Loßwitz die Pistole fallen und stürzte nach vorn, aber der taumelnde Körper des Offiziers stieß den 115
Zündhebel wieder nach unten und löste im Fallen die Sprengung aus. Sekundenlang glich die Nacht einem berstenden Inferno, in dem das nachhallend prasselnde Herabstürzen der in die Luft geblasenen Materie nie mehr aufzuhören schien. Geblendet und verstört suchte sich v. Loßwitz in dem durch die Kellerluken eingedrungenen Explosionsqualm zurechtzufinden. Er hörte das Schluchzen des Jungen in seiner Ecke, tastete nach ihm und zerrte ihn aus dem Keller. Draußen sah er, daß sich Panzer von drüben auf einen oder zwei seiner Wagen eingeschossen hatten. Sein eigener war dabei. Dort mußte er einbooten. Einer seiner Männer aus einer anderen Besatzung kam ihm entgegen. »Alles in Ordnung, Henning?« »In Ordnung. Hier, pack den Jungen, kümmert euch um ihn. Seine Leute hat es eben erwischt … oder es erwischt sie in diesem Augenblick …« Von drüben war das hektische Schnarren feuernder Maschinengewehre zu hören. Im Chaos der Brückeexplosion war es den Russen geglückt, in Schußposition zu kommen. Gottverdammter, dreckiger, sinnloser Krieg … Wenige Sekunden später wurde Henning v. Loßwitz beim Einsteigen in seinen eigenen Wagen von den Splittern einer russischen Panzergranate getroffen und an der Hüfte, Gesäß und Oberschenkel schwer verletzt. Er erwachte von dem Rütteln und Stoßen eines Lkw, wo er und zahlreiche andere auf einer Strohschütte lagen. Es war Nacht. Der Hauptverbandsplatz befand 116
sich auf einem weitläufigen Gutshof und war im Aufbruch. Aber noch operierten die letzten Ärzte im Dunst von Alkohol und schwelenden Petroleumlampen, noch waren die letzten zurückgebliebenen Schwestern in Aktion. In Reihen warteten die mit Morphiumspritzen zwischenversorgten Verwundeten auf das Skalpell. Einem nach dem anderen verpaßten die Schwestern und Sanitäter die Evipanspritze, und wie am Fließband landeten sie unter den Händen völlig erschöpfter Chirurgen, nachdem man sie, soweit erforderlich, entkleidet hatte. Manche kamen indessen nicht unter das Messer, weil sie ihre Leiden überstanden hatten. Zu diesen gehörte der SS-Gefreite Fritz Seyfried, dem man die Augen zudrückte, nachdem er schon zur Operation vorbereitet gewesen war. Als sie Henning v. Loßwitz operiert hatten, war es eine junge, energische, freiwillig bei der letzten Mannschaft zurückgebliebene Operationsschwester aus der Gegend von Hannover, die den noch in tiefer Bewußtlosigkeit liegenden jungen Mann wieder ankleiden und für einen der letzten Transporte fertigmachen mußte. Sie griff nach den ihm gehörenden Uniformstücken, der Mütze mit dem Totenkopf, sah die Kragenspiegel mit den aggressiven stilisierten Siegrunen, spürte den Halsorden zwischen den Fingern. »Doktor«, sagte sie zu einem der Ärzte, der flüchtig stehen blieb, um die Gummihandschuhe zu wechseln. »Sind Sie ganz sicher, Doktor, daß wir die alle noch wegkriegen, bevor die Russen die Transporte 117
überrollen?« Sie hielt dem Arzt die Dienstgrad- und Waffenabzeichen Henning v. Loßwitz’ vor die übermüdeten rotgeränderten Augen. »Nichts ist sicher, Schwester Beate«, sagte der Arzt. »Das Gegenteil ist wahrscheinlich. Kümmern Sie sich nicht darum. Sie können nichts mehr daran ändern.« »Die Russen sind morgen früh über der Pilica«, sagte die Schwester. »Das meinen alle hier. So dürfen sie den nicht erwischen. Sonst war Ihre ganze Mühe umsonst, Doktor, verstehen Sie?« Der Arzt verstand nur zu gut. Er wußte, was kam, wenn er auch zu den wenigen Einsichtigen gehörte, denen es nicht als ungerecht erschien, daß die Russen ihre Widersacher mit nicht weniger Schrecken, Greuel und Terror aus dem Land jagten, als sie selbst in diesem Lande verbreitet hatten. »Was wollen Sie dagegen machen, Schwester? Denken Sie nicht daran, sonst drehen Sie durch.« Die Augen der Schwester wanderten hinüber zu dem noch warmen Leichnam des Fritz Seyfried. Der Gedanke war ihr gekommen, als sie die Uniform des Gefreiten in der Hand gehabt und überlegt hatte, was damit zu tun sei. »Der da drüben ist auch von denen. Mit dessen Uniform könnte er es schaffen. Mit dem Stempel unter dem Arm muß er eben leben, aber als gemeiner Mann könnte er durchkommen.« Der Arzt sah von der Schwester auf den Toten und wieder zurück in ihr entschlossenes Gesicht. Wenn er 118
nicht so erschöpft gewesen wäre, hätte er vielleicht gelächelt. »Ich habe nichts gesehen, Schwester«, sagte er. »Die Toten, die wir hierlassen müssen, werden ohnehin als vermißt gelten. Wer weiß, wie viele Erkennungsmarken und Soldbücher in diesen Wahnsinnstagen verloren gehen. Wenn Sie etwas für ihn übrig haben, dann tun Sie, was Sie nicht lassen können.« So zog die energische Rote-Kreuz-Schwester aus der Nähe von Hannover dem jungen bewußtlosen v. Loßwitz die verdreckten Uniformstücke des Gefreiten Fritz Seyfried über, in deren Taschen das gültige Soldbuch dieses Mannes steckte, hängte ihm auch Seyfrieds Erkennungsmarke, die an einem abgewetzten braunen Schnürsenkel befestigt war, um den Hals. In der gleichen Nacht verließ der Verwundetenkonvoi den Gutshof und erreichte die Oder vier Tage später, noch vor Konjews Spitzen. Auf dem verschneiten, mit blutigem Mull, Uniformen und Tragbahren übersähten Gutshof blieben 27 tote Soldaten zurück, einer davon mit Uniform und Papieren des Obersturmführers Klaus Heinrich v. Loßwitz. Jedoch gab dieser Tote der Kommission der Sowjets, die damit beauftragt war, die Papiere gefallener Deutscher für ihre subversiven Aufträge hinter der deutschen Front aufzubereiten, Rätsel auf. Am 15. Januar in den frühen Morgenstunden beschoß ein ganzes Regiment sowjetischer Salvengeschütze das Städtchen Tomaszów und machte es dem Erdboden 119
gleich. Nur kleine Teile der kampfunerfahrenen 103. und nur wenige der Männer aus der Kompanie des jungen v. Loßwitz entkamen nach Westen. Der sowjetische Kommandeur ließ am Ostufer des Flusses die toten Zivilisten und Pferde beiseite schaffen, die in der Nacht gefallen waren, und die Trümmer wegräumen. Dann schlugen seine Pioniere eine Pontonbrücke über den Fluß. Einer der ersten, die ihren Fuß in das zerstörte Städtchen setzten, war der Kapitän im Stabe des 3. Gardeschützenkorps, Alexejew Andrianowitsch Soltjakin, damals 29 Jahre alt. Er ließ die verbliebenen polnischen Männer zusammentreiben und fragte sie nach Einzelheiten der deutschen Verteidigung aus, die sich an dieser Stelle nicht einmal einen ganzen Tag hatte halten können. Dann besichtigte er die zerstörten Stellungen, die ausgebrannten Panzer der Deutschen und kam auch in den Keller des Schneidermeisters, wo er die Leiche des Majors Herbert Kayser fand, der von rückwärts aus einer deutschen Armeepistole erschossen worden war. Er wendete sich zurück zu der Gruppe der verschüchterten unrasierten Polen: »Was ist hier losgewesen?« »Totenkopfteufel«, sagten die Männer. »SS, verstehen Sie, Kapitän? Hat wahrscheinlich die Zivilisten drüben noch retten wollen, der tote Offizier da. Aber Waffen-SS, Panzer … man kann sich ja vorstellen, wie das war …« Dann fand Kapitän Soltjakin die Befehle und 120
Papiere, die in dem Bunker zurückgeblieben waren, und wonach der Obersturmführer v. Loßwitz den Auftrag gehabt hatte, die Pilica-Brücke rechtzeitig vor der Inbesitznahme durch die Sowjets zu sprengen. Nachdem Kapitän Soltjakin das alles überprüft und studiert hatte, schloß er sich der Meinung der polnischen Männer an. Wo immer ihm die Verbände der Totenkopfteufel begegnet waren, hatte er sie als wilde, fanatische und rücksichtslose Kämpfer kennengelernt. Dieser Stabsoffizier hier konnte, soweit Soltjakin das zu beurteilen vermochte, nur ein Opfer eines Restes von Menschlichkeit geworden sein, den er sich vielleicht noch bewahrt gehabt hatte. Hierüber fertigte Kapitän Soltjakin befehlsgemäß ein umständliches, in russischer Breite abgefaßtes Protokoll.
121
4 Stunden waren vergangen, bevor Fritz Seyfried in dem Heizungskeller seines Hauses seinen Bericht über die Nacht von Tomaszów – soweit er sie selbst erlebt hatte – beendet hatte. Seine Frau hatte ihn ohne Unterbrechung, ja ohne auch nur eine Frage zu stellen, sprechen lassen. Gegen Ende des Berichtes hatte es sie nicht mehr auf ihrem Gartenstuhl gehalten. Sie hatte die Steppdecke abgestreift und stand aufrecht, die Hände entschlossen in die Taschen ihres Morgenmantels geschoben, vor ihrem Mann und sah auf ihn herunter. »Und das ist die volle Wahrheit?« »Das ist die volle Wahrheit, Anne. Wenn es nicht so lächerlich wäre, würde ich es dir schwören. Eine Einschränkung allerdings. die Wahrheit, soweit ich mich an diese Nacht erinnere.« »So etwas vergißt man nicht«, sagte Anne. »Und damit wollen sie dich jetzt fertigmachen.« Fritz Seyfried nickte. »Du warst doch völlig im Recht, Fritz.« »Ich weiß es nicht, Anne. Moralisch gewiß. Aber wie Juristen das sehen, weiß ich nicht. Wenn sie mich damals erwischt hätten, wäre mir das Standgericht sicher gewesen. Heute sieht man das vielleicht anders.« 122
»Da müßten wir doch Heinz fragen können.« »Kein Gedanke daran, Anne. Ich muß dir noch einmal sagen, wie ungeheuer vorsichtig wir sein müssen. Diese Sache ist kein Scherz. Die scheuen nicht nur vor Erpressung nicht zurück, sondern auch vor Mord und Entführung nicht. Diese Art von Leuten ist, was ihren Beruf betrifft, völlig skrupellos. Für die heiligt der Zweck jedes Mittel. Ich möchte nicht ein Foto von dir bekommen, mit der Ankündigung, daß sie dich …« Seyfried stockte und schob es von sich weg. »Fritz«, sagte Anne. »Ich will es nicht, zum Teufel«, fuhr Fritz hoch, aber er schien es mehr zu sich selbst zu sagen als zu Anne. Sie ließ sich wieder neben ihm nieder und fragte: »Du hast mir noch nicht erzählt, wie es war, als du merktest, daß du in eine andere Uniform gesteckt worden warst.« »Stimmt«, sagte Seyfried. »Daran erinnere ich mich noch ziemlich genau. Wir fuhren von dem Gutshof in Polen vier Tage und vier Nächte und kamen eines Nachts in der Festung Glogau an. Das Feldlazarett befand sich in einem Teil der Kasematten. Ganz Glogau war ein aufgescheuchter Bienenschwarm, voller Angst vor den Russen. Im Lazarett suchten sie die, die sich noch selbst bewegen konnten, heraus, schoben ihnen eine Knarre in die Hand und schickten sie auf die Wälle. Die anderen, zu denen ich auch gehörte, wurden aufgerufen, kriegten ein Schild um den Hals und wurden in Güterzüge mit Viehwagen 123
verfrachtet. Ich sehe noch in der dämmerigen, nassen Kasematte den Sani vor unserer Pritsche stehen und unentwegt Seyfried Fritz, Seyfried Fritz rufen und in die Runde blicken. Bis mich endlich einer von uns angestoßen hat. ›Heißt du nicht Seyfried? Mensch, melde dich doch, du Kohlkopp, sonst bleibst du noch hier und wirst verheizt, damit der Führer drei Wochen länger regiern kann.‹ Als ich immer noch nicht reagierte, fummelte mir der Kamerad das Soldbuch aus der Brusttasche, drückte es mir in die Hand und schrie ›hier‹. ›Na endlich‹, sagte der Sani und las meine Verletzungen vor. Die stimmten. Der Kamerad neben mir sagte zu dem Sani: ›Und einen Dachschaden hat er auch, schreib das gleich noch mit dazu‹. Nun fing ich zu überlegen an, überprüfte meine Erkennungsmarke, die zu Fritz Seyfried paßte. Die Uniform, die Wäsche, die Rangabzeichen, die paßten ebenfalls nicht zu mir, sondern zu Fritz Seyfried. Irgend jemand mußte mich also ausgetauscht haben, wie man das nennt. Und zwar mit Absicht. Denn wenn es ein Versehen gewesen wäre, hätte irgend etwas differiert. Aber es differierte nichts. Jemand mußte also, während ich noch in Narkose war, ein Interesse daran gehabt haben, aus mir jemand anderen zu machen als den, der ich wirklich war. Nachdem ich wieder soweit auf den Beinen war, daß ich alle Ereignisse der letzten Tage einordnen, beurteilen und auseinanderhalten konnte, beschloß ich den Versuch zu machen, es bei Fritz Seyfried zu belassen. Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein Gefühl das war.« 124
»Doch«, sagte Anne. »Natürlich kann ich das. Vergiß nicht, daß ich seit drei Stunden ein ähnliches Gefühl habe. Und wie ging es weiter?« »Zunächst hatte ich fast ein schlechtes Gewissen. Ich war schließlich Offizier und fühlte als solcher noch immer Verantwortung für diejenigen, die weiterkämpften – wenn sie wohl auch kaum wußten, warum sie es taten. Andererseits hatte ich Adolf Hitler gesehen. Ich hatte der Wahrheit ins Gesicht geblickt. Darum empfand ich allmählich ein Gefühl der Befriedigung, daß ich nicht mehr zu kämpfen brauchte. Ich begann auf den langen Transporten von Lazarett zu Lazarett an mich selbst zu denken. Unsere Truppen waren an die Oder zurückgeworfen worden. Ich hatte seit Kursk und Orel nur Rückzüge mitgemacht, denn da war ich ja erst an die Front gekommen. Ich konnte mir keinen Grund vorstellen, warum der Russe an der Oder stehenbleiben sollte, wenn es auch Millionen in Wunschdenken verfallene Traumtänzer, Gläubige, Verrückte und Verbrecher hofften – von den Lumpen im Führerbunker bis zu den Hitlerjungen auf den Havelbrücken, die sich für ihn noch mit dem Kolben erschlagen ließen, als er schon tot war. Ich hatte den Russen gesehen. Ich kannte sein Land. Für mich war die Hoffnung lächerlich, daß die ihren Triumphzug in Reichweite des endgültigen Sieges stoppen würden. Bis heute ist mir unklar, wie so viele Millionen etwas anderes glauben konnten. Für mich war es eine Frage von Wochen. Und außerdem hatte ich einen von unseren Leuten kaltblütig und von rückwärts 125
erschossen. Mit diesem Vorfall quälte ich mich noch jahrelang herum. Man wußte ja damals nicht, ob man im Recht war, wenn man etwas aus Menschlichkeit oder um des Gewissens willen tat. Wochenlang lebte ich in der Spannung, daß mich jemand erkannte, daß irgendwo ein Landser auftauchte, der an der Pilica dabeigewesen war, Vermutungen anstellte, plötzlich schärfer zu mir herübersah. Aber es geschah nichts. Wir lagen in dem Gebiet, das der Engländer übernahm, als das Ende kam. Jetzt wurde es spannend. Als Henning v. Loßwitz war ich schlesischer Adliger. Von meiner Familie wußte ich nichts. Ich konnte nur ahnen, was da auf dem Gut passiert war, so wie ich meinen Vater und meinen Großvater kannte. Und alle diese Befürchtungen wurden mir später in schrecklicher Weise bestätigt. Als Fritz Seyfried las ich in meinem Soldbuch, daß ich am 9. August 1921 geboren worden war. Du hast also einen drei Jahre jüngeren Mann, als du bisher dachtest, Anne.« Die Frau lächelte. »Damit werde ich noch am leichtesten fertig werden.« »Nun«, fuhr Seyfried fort, »auch meinen Geburtsort konnte ich aus dem Soldbuch entnehmen. Aber ich brauchte volle fünf Jahre, um herauszubekommen, wo der überhaupt lag. Es ist ein 300-Seelen-Dorf im tiefsten Banat. Ich war also, wie man so sagte, Strandgut dieses Krieges. Ich konnte auch gar nichts anderes nachweisen als die Existenz des Fritz Seyfried. Dafür hatte ich wenigstens eine Erkennungsmarke, ein Soldbuch und die aufgrund dieser Dokumente 126
ausgestellten Lazarettpapiere. Eine Rückkehr in den Familienschoß derer v. Loßwitz hätte mich in eine Mühle von Untersuchungen, Überprüfungen, Fragen, Verhören und schließlich in des Teufels Küche gebracht. Deshalb beließ ich es bei Fritz Seyfried.« Anne betrachtete ihren Mann eine ganze Weile. Über den Gedanken, die sie bei seinem Bericht bestürmten, vergaß sie vorübergehend sogar den Ernst der augenblicklichen Situation. »Dann bin ich also jetzt doch endlich adlig geworden«, spottete sie. »Das habe ich mir schon immer gewünscht. Wenn Papa in seiner altbadischen liberalen Tradition das wüßte.« »Dessen Großvater hat ja noch auf unsereins geschossen«, sagte Fritz. »Das darfst du ihm niemals sagen. Nicht nur deswegen nicht, sondern auch wegen uns. Und vor allem seinetwegen. Es würde ihn viel zu sehr aufregen und in entsetzliche Konflikte stürzen. Auf keinen Fall darf er jemals etwas davon erfahren.« »Womit wir wieder beim Thema wären«, sagte Anne nachdenklich. »Das wird eine der Karten sein, auf die deine Gegner setzen, vermute ich.« Fritz Seyfried sah seine Frau an. Er tat es nicht ohne Stolz. »Der Schweinehund mit dem Köter hat es sogar ausdrücklich erwähnt. Die wissen genau, wo sie ansetzen. Das ist keine einfache Erpressung, das ist eine ganze Konstruktion von Erpressungen, in Stufen aufgebaut und mit Querverbindungen und Seitensträngen. Von den Schwierigkeiten mit Papa bis hin zu 127
dem angedrohten Strafprozeß. Die rechnen sogar damit, daß ich es nicht einmal dir sage. Aber ich bin froh, daß ich es getan habe. Mir ist wohler jetzt. Nur können wir gar nichts tun.« »Fritz«, sagte Anne, »wir haben doch bei uns auch einen Geheimdienst oder so etwas. Kann man denn denen das nicht sagen?« »Ich habe schon dran gedacht«, sagte Fritz. »Aber die überwachen uns mit den raffiniertesten Mitteln, da darfst du gewiß sein. Jeder, mit dem ich spreche, kann schon der nächste Mann von denen sein. Der Nachbar, der Gasmann … du glaubst gar nicht, wie weit das geht.« Anne schwieg und überlegte. »Und wenn wir versuchen, uns irgendeinen Trick auszudenken? Gibt es da gar keine Möglichkeit?« Jetzt war es Fritz, der eine ganze Weile schwieg, in seinem Gedächtnis kramte, sich zurückerinnerte an die Jahre zwischen den Ereignissen, die er berichtet hatte, und den Problemen, vor denen sie jetzt standen. »Doch«, sagte er nach einer langen Pause. »Doch, es gibt vielleicht eine schwache Möglichkeit, Anne. Lange, bevor ich in das Amt eintrat, hatte ich mit denen zu tun. Damals hat der Nachrichtendienst damit gerechnet, daß einem seiner Leute einmal so etwas passieren könnte wie mir jetzt. Für so einen Fall war vorgesehen, ein bestimmtes Inserat in einer bestimmten Zeitung aufzugeben. Die hatten dann die Möglichkeit, das zu überwachen und sich hintenrum an den Betreffenden heranzupirschen.« 128
»Was für eine Zeitung und was für ein Inserat?« fragte Anne. Fritz sah seine Frau an. »Keine Ahnung. Weder von der Zeitung noch von dem Text.« »So etwas merkt man sich doch, Fritz«, sagte sie. »Wie kann man etwas so Wichtiges vergessen?« »Ich habe es gar nicht vergessen«, antwortete Fritz. »Ich habe es überhaupt nie gewußt. Ich erinnere mich, daß es ein verschlossener Umschlag war, den sie mir übergeben haben. Ich erinnere mich sogar, wie dieser Umschlag ausgesehen hat. Ockerfarben, mit dem Behördenaufdruck und dem Bundesadler darauf.« »Und wo hast du diesen Umschlag aufgehoben?« Fritz Seyfried sah seine Frau schuldbewußt an. »Ich habe keine Ahnung. Ich war leichtsinnig genug, nicht damit zu rechnen, daß mir so etwas jemals passieren könnte. Es ist ja auch schon viele Jahre her. So lange, daß es zweifelhaft ist, ob die Zeitung noch existiert, ob der Dienst noch in Funktion ist, der diese Inserate überwacht hat.« »Ich will dir etwas sagen, Fritz. Darauf kommt es überhaupt nicht an. Ich glaube, wir müssen jetzt Nägel mit Köpfen machen. Wir sind uns doch einig, daß du denen nicht nachgeben willst, oder?« Fritz lachte. »Das hängt davon ab, ob wir etwas dagegen machen können. Kaltblütig umlegen lasse ich weder dich noch mich für diesen Staat. Dazu bedeutet er mir zu wenig. Trotz der Leute, die es nicht lassen können, in ihren Sonntagstiraden dauernd das deutsche Vaterland zu beschwören. Das deutsche Vaterland ist ’33 gestorben und ’45 beerdigt worden. Und alles 129
andere ist Krampf. Aber wenn es nicht sein muß, werde ich denen da drüben nichts zukommen lassen, was für die Sicherheit der NATO wichtig ist. Das verspreche ich dir.« »Gesetzt den Fall«, sagte Anne, »wir finden diesen Umschlag mit dem Bundesadler irgendwo, und gesetzt den Fall, das mit der Übermittlung klappt noch so, wie du es dargestellt hast, und weiterhin gesetzt den Fall, die kommen mit dir ins Gespräch: Was kann dir dann passieren?« Fritz Seyfried hob die Schultern. »Weiß ich es, Anne? Ich habe keinen blassen Schimmer, was diese Leute wirklich ins Feld führen können. Wegen der Identität habe ich die wenigsten Sorgen. Waffen-SSMänner, die nichts Besonderes verbrochen haben, sind heute rehabilitiert. Aber schließlich habe ich etwas Besonderes verbrochen. Ich habe einen Major des deutschen Generalstabs erschossen, was Hunderte von Flüchtlingen dann das Leben gekostet hat, und diese Scheißkerle vom KGB und GRU wissen es. Ich kann mich nicht vor eine Kammer zerren und durch ein Schwurgericht feststellen lassen, ob ich damals einen Mord begangen habe oder nur einen Totschlag, oder ob ich sogar nur Nothilfe geleistet habe. Genausogut könnte ich mich vorzeitig pensionieren lassen und mich aus der Gesellschaft zurückziehen. Und außerdem müßte ich denen noch etwas sagen, was sie gar nicht gerne hören würden.« »Was meinst du damit, Fritz?« Fritz Seyfried stand auf und wanderte, die Hände in 130
die Taschen seines Morgenmantels geschoben, mit großen Schritten nachdenklich hin und her. Schließlich blieb er vor Anne stehen und sah auf sie herunter. »Daß dieser Mann der einzige Mensch in diesem Scheißkrieg war, den erschossen zu haben ich keinerlei Reue empfinde. Das einzige, was mir leid tut, ist, daß es vergeblich war.« »Das kann ich verstehen, Fritz«, sagte Anne. »Und daran könnte für mich kein Urteil etwas ändern.« Eine Weile war Schweigen. Der Brenner der Ölheizung donnerte los. Fritz Seyfried stellte ihn mit einer knappen Handbewegung ab und sah seine Frau an. »Du wolltest noch etwas sagen.« »Wir müssen dieses Risiko mit dem Inserat eingehen, Fritz«, sagte sie. »Irgendwas wird schon geschehen. Alles ist besser, als sich widerspruchs- und tatenlos in diese Sache hineinziehen zu lassen. Wem würdest du es anvertrauen, dieses Inserat aufzugeben? Soll ich es tun?« »Um Himmels willen.« »Friska? Papa?« »Nein, nein, Anne. Am unverfänglichsten ginge das noch von meinem Amt aus. Der alte Kullnau tut mir schon mal so einen Gefallen. Oder Hans …« Seyfried brach so plötzlich ab, daß Anne zu ihm hochblickte. »Was denkst du?« Fritz antwortete nicht. Er konnte seiner Frau unmöglich sagen, was ihm bei Nennung dieses Namens durch den Kopf geschossen war. Daß Hans 131
Lockschmidt mit fast allen sein Ressort berührenden Organisations- und Öffentlichkeitsfragen direkt zu tun hatte. Wie viele Dinge aber auch über Hans’ Schreibtisch liefen, die ihn strenggenommen gar nicht zu interessieren hatten. Zuletzt wieder gestern das Memorandum des Ministeriums wegen der Ministerkonferenz in Brüssel. Daß Hans schließlich auch sein persönliches Leben so genau kannte … Mein Gott, das traf zum Beispiel aber auch auf Bastians zu, oder auf jeden beliebigen anderen, mit dem er oder Anne Verbindung hatten oder befreundet waren. Nein, er konnte Anne unmöglich sagen, daß mit dem Einbruch dieses Eishauches in ihr Leben unsichtbar und lautlos auch die Angst und das Mißtrauen eingetreten waren und sie nicht mehr verlassen würden, bis diese Affäre zu irgendeinem Ende gelangt wäre. Er schob das alles mit einem innerlichen Ruck zur Seite. »… Hans, ja«, wiederholte er. »Ich glaube, das ist das richtige. Und jetzt laß uns nach oben gehen und sehen, ob wir diesen Umschlag finden. Aber lautlos. Und kein Wort.« »Glaubst du denn wirklich, daß sie uns hier in unserem eigenen Haus abhören?« »Ich weiß es nicht, Anne. Angedroht hat er es. Und ich halte es auch für wahrscheinlich. Es ist für sie von enormer Bedeutung. Technisch außerdem kein Problem. Da braucht man nicht einmal einen Raum zu mieten. Ein einfacher Kastenwagen irgendwo um drei Ecken herum genügt zur Anpeilung. Und davon, daß 132
sie in unserem Telefon irgendwie drin sind, bin ich überzeugt. Das ist heute eine Lappalie. Also noch einmal, Anne: Außerhalb dieses Raumes kein einziges Wort, aus dem hervorgehen könnte, daß wir über diese Sache zusammen gesprochen haben. Im Gegenteil, je mehr du mich wegen meiner Mürrischkeit und Unausstehlichkeit angreifst, desto besser.« Fritz schaltete den Brenner wieder ein und das Licht aus. Im Dunklen begaben sie sich nach oben und betraten in dem von der Straße hereinfallenden ungewissen Licht Fritz Seyfrieds Arbeitsraum. Das war ein kleines, aber sehr männliches Zimmer. Die Wände waren von deckenhohen Regalen bedeckt, in einer Ecke stand der Schreibtisch, auf dem sich Akten, Schriften und Fachbücher häuften, ein großer Reliefglobus dämmerte in einer anderen Ecke vor sich hin, und irgendwo schimmerten matt und geheimnisvoll die Bedienungsknöpfe einer sündhaft teuren Stereoanlage, deren Boxen mit unterschiedlich großen Kalottenkratern aus den Bücherregalen in die Dunkelheit glotzten. Überall in diesen Geräten, dachte Seyfried, müßte ich ab heute Wanzen befürchten, Mikrophone, geheime Sender. Sie verständigten sich durch Kopfnicken und Handzeichen und begannen lautlos und vorsichtig ihre Suche nach dem gelben Umschlag. Sie durchwühlten Schubladen und Konferenzmappen, inspizierten Hängeregistraturen, leerten Kartons und Schachteln, die schon Jahrzehnte nicht mehr berührt worden waren. Plötzlich fuhren beide hoch. Draußen in der 133
Diele schimmerte ein Lichtschein. Kurz danach verdunkelte ein Schatten die halb offen stehende Tür. Unter dem Rahmen stand der alte Herr und knipste das Licht an. Er machte ein grimmiges Gesicht unter dem schlohweißen Haarschopf und der weiße Schnauzer zuckte vor Entrüstung. Er war offensichtlich darauf gefaßt gewesen, einen Einbrecher zu ertappen und war entgeistert, als er statt dessen eines solchen seine Tochter und seinen Schwiegersohn entdeckte, die mit allen Anzeichen konspirativer Heimlichkeit Fritz Seyfrieds eigenen Schreibtisch durchwühlten. Gottlob konnte der alte Herr sich aus alledem nicht den geringsten Reim machen und mußte deshalb zwangsläufig genau für die Dauer der wenigen Sekunden schweigen, die Anne brauchte, um beschwörend den Finger auf die Lippen zu legen, zu ihm hinüberzugehen, und bei ihm das gleiche zu tun, bevor er einen Laut hervorgebracht hatte. Annes Verhalten wirkte so suggestiv, daß der alte Hobarth tatsächlich stehenblieb wo er war, bis Anne auf einen Zettel gekritzelt hatte, daß Fritz eine Wanze in seinem Zimmer vermute, daß sonst nichts Besonderes los sei und der alte Herr wieder schlafen gehen solle. Näheres morgen. Als sie ihm den Zettel in die Hand drückte, machte Hobarth ein Zeichen, daß er seine Brille nicht dabei habe. Anne drehte ihn einfach um und schob ihn gutmütig ein paar Schritte in Richtung Treppe. Oben, in seinem Zimmer, setzte er die Brille auf, ließ sich auf dem Bettrand nieder und las entgeistert den Zettel. Eine Wanze. Und das im Haus seiner Tochter. Eine 134
Wanze, du lieber Himmel. Was waren das für Zeiten, in denen man lebte. Während einen Stock höher der alte Hobarth kopfschüttelnd seine Brille wieder von der Nase zog, das Licht löschte und sich sorgenvoll wegen der vermuteten Wanze wieder umdrehte, fanden Fritz und Anne den Umschlag mit dem Aufdruck des Bundesadlers. Fritz hielt ihn in der Hand. Beide sahen sich an. Vorsichtig und schon eingeübt lautlos öffnete Fritz die Hülle. Mit dem darin befindlichen Bogen traten beide ans Fenster und lasen ihn im fahlen Lichtschein der Straßenlampe. Danach sahen sie sich wieder ins Gesicht. Der Text auf dem Bogen war mit Maschine geschrieben und lautete: »Streng vertraulich. Zeitschrift: Der Rheinland-Pfälzische Elektrohandel. Text: Gebrauchte Bügelmaschine zu verkaufen. Chiffre: KR 799 B 14.« Über das Datum, an welchem dieses Schreiben abgefaßt oder Fritz Seyfried übergeben worden war, fand sich keinerlei Hinweis. Es fiel ihnen sehr schwer, sich daran zu halten, im eigenen Hause mit keinem Wort, keiner Andeutung über die Ereignisse zu sprechen, die seit gestern abend ihr Leben in dramatischer Weise verändert hatten. Es gelang immerhin, auch dem alten Herrn begreiflich zu machen, daß es besser sei, vorläufig nur über unverfängliche Themen zu sprechen. Beim Frühstück lud Friska Anne zu einem schon lange versprochenen Besuch bei ihr und ihrem Mann in Berlin ein und konnte sich keinen Reim auf den Blick machen, den 135
Anne ihrem Mann zuwarf, als sie die Einladung nicht allzu auffällig annahm. Fritz jedoch verstand seine Frau sofort. Sehr gut, hieß das, dann kann ich alles gefahrlos mit Heinz durchsprechen. Dann wissen wir über das Rechtliche Bescheid, ohne daß du dich exponierst. Da es Anne aber riskant und unklug erschien, diesen Besuch überstürzt zuzusagen, stellte sie ihn für irgendeine der kommenden Wochen in Aussicht. Sie würde mit Friska darüber noch telefonieren. Anne wunderte sich über sich selbst, wie rasch und mühelos es ihr gelang, unverfänglich zu reagieren. Als Fritz in sein Amt fuhr, musterte er aus dem Wagen heraus mit seinem neu erwachten Mißtrauen jede Einzelheit in der näheren Umgebung seines Hauses. Jedoch bemerkte er keinerlei Veränderungen und entdeckte auch keinen verräterischen Kastenwagen. Aber das bedeutete nichts. Die anderen wären Stümper, wenn sie ihm, nachdem der Angriff auf ihn gestern angerollt war, ihre Methoden und Mittel auf seine in jedem Fall mißtrauisch gewordene Nase binden würden. Im Amt angekommen, verhielt Fritz sich so normal wie möglich. Er zwang sich dazu, mit der Vorstellung zu leben, daß jeder, der ihm hier begegnete, auch zur Gegenseite gehören könnte. An seinem Schreibtisch stellte er fest, daß die Zeitschrift »Der Rheinland-Pfälzische Elektrohandel« tatsächlich in dieser Stadt erschien und daß es sie auch noch gab. Er nahm Füller und Papier und schrieb den Text, den sie nachts so mühevoll gesucht hatten, nieder. Eine 136
Briefmarke und einen Briefumschlag hatte er in seinem Schreibtisch. Er legte dem Text einen Geldschein bei und verschloß den Brief. Dann bat er Hans Lockschmidt zu sich. Als Lockschmidt das Zimmer betrat, war er erfreut, daß Seyfrieds Zustand sich anscheinend wieder gebessert hatte. »Was hast du gestern abend nur gehabt? Das war ja beängstigend. So haben wir dich noch nie gesehen. Ray meinte, es sei ein Glück gewesen, daß Bastians mit dabei waren. Und jetzt? Geht es wieder?« Ja, es gehe wieder, bestätigte Seyfried. Vielleicht sei es gestern doch ein kleiner Kollaps gewesen. Er habe sich jetzt von Anne überzeugen lassen, daß er sich einmal gründlich durchsehen lassen müsse. Ach hier, übrigens, wenn Hans so nett sein wolle, er verlasse doch mittags fast immer das Haus, einfach in den nächsten Briefkasten. Lockschmidt nahm den Brief entgegen, drehte ihn hin und her und deutete dann fragend in Richtung auf das Sekretariat. »Eine Privatsache«, sagte Seyfried. »Du bist doch so nett?« »Natürlich«, sagte Lockschmidt. »Hauptsache, du bist wieder in Ordnung.« Damit schob er den Brief in die Brusttasche seines Jacketts, stand auf und verließ das Zimmer. Natürlich wußte Fritz Seyfried nicht, daß Hans Lockschmidt in seinem eigenen Büro den Umschlag sorgfältig öffnete, von seinem Inhalt Kenntnis nahm und auf dem Tischkopierer im Nebenraum eine Fotokopie davon anfertigte, wie es sein Auftrag war. Dann schob er das Original und das 137
Geld wieder in den Umschlag, verschloß diesen erneut und tat im übrigen das, worum Fritz ihn gebeten hatte. Der Tag und der Abend verliefen so wie in normalen Zeiten. Friska und der alte Hobarth wollten am nächsten Tag zurück nach Berlin reisen und Anne hatte für ihren Vater schon telefonisch das Ticket bestellt. Abends saß man um den Kamin. Der alte Hobarth erzählte aus seinem Leben, die Frauen strickten und Seyfried rauchte seit langer Zeit zum erstenmal eine Pfeife. Befriedigt machte er sich klar, daß niemand, der jetzt etwa die Gespräche abhörte oder auch das Telefon überwachte, auf den Gedanken kommen könnte, daß sich in diesem Hause etwas Ungewöhnliches ereignet hatte. Es konnte keinem etwas schaden, den kämpferischen Ansichten eines unbeugsamen Altliberalen zuzuhören, die, je weiter der Pragmatismus in der Politik dieses Landes sich breitmachte, immer seltener wurden. »Ich bin der Partei treu geblieben«, schnaubte der alte Herr verächtlich. »Auch als sie mit den Sozialisten paktierte und die Mendes und Zoglmanns sich abseilten. Für mich gibt es keine andere Partei als diese, und eines Tages wird sie auch wieder anders koalieren.« »Schade, daß Heinz nicht da ist«, sagte Friska. Sie sah Fritz und Anne an. »Mit dem streitet er nämlich immer darüber.« »Ha, diese jungen Anwälte«, knurrte der Alte. »Das ist ja alles Zucker für deren Affen. Wenn ich daran 138
denke, wofür unsere Altvorderen auf die Barrikaden gegangen sind: für Bürgerfreiheit, gegen Fürstenwillkür. Da war noch ein Geist und ein Zug in dieser Partei. Und heute? Einen Justizsenator nach dem anderen müssen sie feuern. Den ersten, weil er die Schwerverbrecher auskneifen läßt, den zweiten, weil seine Freigänger am Wochenende die Leute ermorden, und was der dritte sich alles leisten wird, ist vorläufig noch offen. Früher haben die Liberalen die Bürger gegen den Staat verteidigt. Und heute? Heute verteidigen sie die Kriminellen gegen die Gerechtigkeit. Aber das Finanzamt hat unbeschränkte Macht, ohne daß ihm einer die Nägel schneidet. Das nennt man dann Koalitionsabsprache.« »Papa«, sagte Friska mahnend. Aber der alte Herr war ganz in seinem Element. »Hab’ ich vielleicht nicht recht?« »Natürlich hast du recht«, sagte Friska. »Aber du brauchst ja nicht unbedingt so laut recht zu haben.« »Friedrich Naumann hätte sich im Grabe herumgedreht«, sagte Hobarth. »Und Thomas Dehler auch, wenn sie gewußt hätten, was die mal aus der Partei machen.« Als er das sagte, wußte Friska aus Erfahrung, daß das Thema für heute abgehakt war. Jetzt kam eigentlich wie ein vergrollendes Gewitter stets nur noch eines. Und er sagte es auch: »Nur damit diese Opportunistenbürschchen an der Macht bleiben, anstatt wie weiland mit brillanten Reden die Regierungspartei auf eine parlamentarische 139
Höllenfahrt zu schicken.« »Er sagt jedesmal das gleiche«, entschuldigte sich Friska für den alten Herrn. »Es wird nicht dadurch falsch, daß er es immer wieder sagt«, meinte Seyfried. »Auch wenn er es stark vereinfacht.« »Wahrheit ist eben einfach«, sagte der alte Herr. »Das müßt ihr mit eurem Expertenfimmel von heute nur erst wieder lernen.« Da das Feuer stark herabgebrannt war, erhob er sich, um schlafen zu gehen. Nach einer halben Stunde war das Haus ruhig. Eine weitere halbe Stunde später tastete Fritz im Ehebett nach dem Arm seiner Frau und schüttelte ihn leicht, um sie zur nächtlichen Lagebesprechung im Heizungskeller zu animieren. Aber Anne hatte bereits darauf gewartet und war sofort aus dem Bett. »Hat es geklappt mit dem Inserat?« wollte sie von Fritz wissen, als sie sich neben dem brausenden Ölbrenner eingerichtet hatten. »Ja«, sagte Fritz. »Hans hat es gemacht. Ich glaube, das war unverfänglich. Ich bin gespannt, ob da überhaupt noch jemand reagiert.« »Wie habe ich das mit dem Besuch bei Friska gemacht, heute früh?« »Hervorragend, Anne. Und selbst wenn das nicht mitgeschnitten sein sollte, kannst du jetzt ganz unverfänglich mit ihr telefonieren. Du hast völlig recht, das ist alles besser, als widerspruchslos den Kopf in den Sand zu stecken. Und Heinz wird uns gut beraten.« 140
»Sag mal«, fuhr Anne nach einer Weile fort, »ich habe mir deine ganze Geschichte noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Der Mann mit dem Spaniel hat dich gefragt, ob du Zeugen hättest?« »Natürlich. Ich habe ihm angedeutet, daß das alles ganz anders war, als es vielleicht ausgesehen hat. Da fragte er, ob ich das beweisen könne. Das ist eigentlich logisch.« »Und du sagtest nein?« »Ja. Was sollte ich sonst sagen?« »Du warst mit diesem Major, während die Brücke in die Luft flog, allein?« »Ja. Es gab keine Zeugen.« »Fritz, wie wollen die denn dann beweisen, daß es so war wie sie behaupten?« Fritz Seyfried lachte ein wenig abschätzig vor sich hin. »Nichts leichter als das. Ich denke, daß die Sowjets auf diese ganze Sache aufmerksam geworden sind, nachdem sie die Stadt eingenommen hatten. Die waren damals hinter Uniformen und Papieren von uns her, damit sie Leute vom Nationalkomitee Freies Deutschland hinter unsere Front schicken konnten. Außerdem sind die Russen ebenso große Bürokraten wie wir. Da ist wahrscheinlich ein Bericht aufgenommen worden, und auf den ist jetzt der GRU oder der KGB da drüben gestoßen. Und die haben das überprüft. Und jetzt kaufen sie sich irgend jemanden, der ihnen den Eid dazu schwört.« »Ist so etwas möglich, Fritz?« 141
Seyfried machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es ist noch viel mehr möglich, als du denkst, Liebling. Fast möchte ich sagen, sei froh, daß du nicht alles weißt, was möglich ist. Überleg doch mal, Tomaszów liegt heute in Polen. Dort haben die Russen das Sagen. Die benennen zwei oder drei, die damals in der Stadt waren und heute noch leben, als Augenzeugen. Dann reist eine Gerichtskommission von uns dorthin und vernimmt die. Was glaubst du, was da wohl herauskommt? Da wird doch alles von Auschwitz überschattet. Und ein Vorfall der WaffenSS dazu. Da hat eine kleine Wahrheit in einem kleinen Fall, der zufällig anders lag als die meisten, keine Chance, glaub mir das. Und das wissen die im GRU genausogut wie wir. Auf diesem Gaul reiten sie vollkommen sicher. Die wissen doch auch, daß ich es mir gar nicht leisten kann, die Sache bis vor ein Gericht kommen zu lassen, wenn ich nicht sicher bin, daß ich mich glasklar entlasten kann.« »Ich weiß nicht, Fritz, ich hab’ da einen verrückten Gedanken.« »Was für einen?« »Aber lach mich nicht aus.« »Du hast mir noch niemals einen Grund dazu gegeben. An was denkst du?« »Es ist komisch, aber mir geht der Junge nicht aus dem Kopf, von dem du erzählt hast. Kannst du mir nicht diesen Teil deiner Geschichte noch einmal wiederholen?« »An den Jungen habe ich auch schon gedacht, Anne. 142
Aber das ist sinnlos, glaube es mir.« »Erzähl es mir trotzdem noch einmal, Fritz.« Fritz Seyfried erzählte also die Geschichte der Nacht von Tomaszów noch einmal bis dahin, wo er sich nach der Explosion der Pilica-Brücke in dem raucherfüllten Bunker wieder zurechtzufinden versuchte. »Und da hörtest du also das Weinen dieses Buben?« fragte Anne. »Ja«, sagte Fritz. »Ich suchte ihn in dem Qualm und Staub der Explosion nach seinem Schluchzen, und ich fand ihn auch.« »Also warst du doch gar nicht mit dem Major allein, als es passierte?« »Der Junge saß in einer Ecke auf einer Portweinkiste und heulte«, sagte Fritz Seyfried. »Das stimmt. Was hätte er auch sonst tun sollen?« »Wie alt war das Kind, sagtest du?« »Zehn, elf«, sagte Seyfried. »Vielleicht auch zwölf. Wer kann das so genau sagen.« Anne dachte nach. »Was denkst du?« fragte Fritz. »Ich versuchte gerade festzustellen, ob ich mich an irgend etwas erinnern kann, das passierte, als ich zwölf Jahre alt war. Und ich kann es, Fritz. Da fällt mir manches ein. Und viele Einzelheiten. Das ist gar nicht so ausgeschlossen.« »Aber du bist viel jünger, Anne.« »Das macht nichts. Wenn der Junge den Krieg überlebt hat, dann ist er heute etwa 47 Jahre alt. Und diese Nacht war ein einschneidendes Erlebnis für ihn. 143
Vielleicht, nein sicher sogar eines der entscheidensten Erlebnisse seines ganzen bisherigen Daseins. Wenn er noch lebt, dann kann er sich an diese Nacht in allen Einzelheiten erinnern.« Fritz Seyfried schüttelte zweifelnd den Kopf. »Habe ich das nicht plastisch genug geschildert, Anne? Oder kannst du dir wirklich nicht recht vorstellen, wie es damals zwischen Weichsel und Oder ausgesehen hat? Es spricht nichts dafür, daß der Junge da durchgekommen ist, und wenn ja, daß wir ihn jemals finden.« »Sag das nicht. Es sprach auch nichts dafür, daß du es überleben würdest, und du hast es doch geschafft. Über seinen Namen, seine Familie, seine Herkunft hat er dir nichts gesagt?« »Ich kann mich nicht erinnern, Anne. Ich glaube, er war ein Wolhyniendeutscher, das ist alles, was ich weiß. Und so klang auch seine Aussprache.« »Als du ihn in dem verqualmten Bunker gefunden hattest, was hast du da gemacht?« »Ich zerrte ihn zuerst an den Händen hinter mir her zum Ausgang. Draußen war es schon fast völlig dunkel. Der Russe hatte sich auf zwei meiner Wagen eingeschossen. Einer davon war mein eigener. Da mußte ich rein. Wir standen mitten im Panzerfeuer, als mir einer von meinen Unterführern entgegenkam, dessen Panzer sie noch nicht ausgemacht hatten. Ich habe ihm den Jungen gegeben und ihn gebeten, sich um ihn zu kümmern. Ich glaube, daß ich ihm eine flüchtige Andeutung gegeben habe, was mit den Eltern 144
des Kindes passiert war. Was der mit ihm gemacht hat und was dann weiter geschehen ist, weiß ich nicht. Ich wurde wenige Sekunden danach aus dem Verkehr gezogen.« »Und was war das für ein Mann, dem du das Kind gegeben hattest?« Fritz Seyfried starrte seine Frau an. »Das war der Hauptscharführer Ansgar Gottwald, der Kommandant meines Wagens drei. Ich weiß noch, daß er aus Solingen stammte. Die Eltern hatten einen kleinen Kürschnerladen.« »Also eine Art Handwerksbetrieb«, sagte Anne. »Solche Familien sind oft recht konservativ. Vielleicht existiert die Firma noch.« Wieder hing ein abwägendes Schweigen in dem Raum. »Ich habe deine angeborene Hartnäckigkeit manchmal ein bißchen belächelt, Anne. Aber du hast recht. Wir müssen den Versuch wagen. Gottwald muß ja, wenn er noch leben sollte, wissen, was er mit dem Buben gemacht hat. Nur, ich kann das nicht tun.« »Dann werde ich es tun«, sagte Anne. »Auf ein Postamt werde ich ja unverfänglich noch gehen können. Da hole ich mir die Adresse aus dem Telefonbuch. Und wenn ich sie finde, dann fahre ich hin. Ob sie uns beschatten?« »Das kann man nicht wissen. Auf jeden Fall ist es nicht unwahrscheinlich.« Anne überlegte. »Gut«, sagte sie schließlich, »aber damit, daß sie in unserem Telefon drin sind, kann man doch wenigstens sicher rechnen?« 145
»Das kann man«, sagte Fritz. »Wenn ich also will, daß sie etwas wissen, brauche ich nur zu telefonieren?« Fritz mußte fast gegen seinen Willen lächeln. »Sieh dich vor, Liebling, daß diese Sache nicht anfängt, dir Vergnügen zu machen. Vergiß nie bei allem, was du tust, wie gefährlich sie ist.« »Du hast den Daumen in der Wunde, Fritz. Es juckt mich in den Fingern, diesen Kerlen das Handwerk zu legen.« Fritz lachte jetzt wirklich. »Das ist dem KGB wahrscheinlich noch nie passiert, daß eine Frau wie du sich vorgenommen hat, ihm das Handwerk zu legen. Sozusagen aus Trotz.« »Ich sehe das gar nicht ein, Fritz«, sagte sie. »Ich weiß«, antwortete er. »Aber frag mich trotzdem bei allem, was du machst. In diesem Genre habe ich mehr Erfahrung als du.« »Also gut«, sagte Anne. »Morgen früh verabrede ich mich telefonisch mit meiner Friseuse. Anschließend fahre ich in die Stadt. Das dauert bei einer Frau immer zwei, drei Stunden. Solange wird keiner auf mich aufpassen, falls es überhaupt jemand tut. Und außerdem kann ich ja auch darauf achten. Wenn ich fertig bin, versuche ich auf irgendeinem Postamt herauszufinden, ob es Gottwald in Solingen noch gibt. Wenn ich eine Adresse finden sollte, fahre ich nach Hause und rufe Doris in Köln an. Ich werde mich bei meiner besten Freundin bitter beklagen, daß das Vertrauensverhältnis zwischen dir und mir immer 146
schlechter wird. Seit ein paar Tagen bist du überhaupt unausstehlich. Ich fürchte, daß eine Frau im Spiel ist. Ich muß mich einfach mal richtig ausheulen, verstehst du. Ich werde ihr Intimitäten erzählen, daß jedem, der uns bespitzelt, Hören und Sehen vergeht. Die werden nur noch darauf lauern, daß Anne Seyfried wieder telefoniert. Schließlich werde ich mit Doris einen Besuch ausmachen und zu ihr fahren. Dort muß ich nämlich ohnehin vorbei, wenn ich nach Solingen will. Übermorgen fahre ich von dort aus nach Solingen und spreche mit Gottwald. Was hältst du davon?« »Klingt alles recht unverfänglich. An dir ist wirklich eine Abwehragentin verlorengegangen.« »Die zwingen uns ja dazu, ihre Methoden anzunehmen. Was ist denn zwischen dir und dem Kerl mit dem Hund noch offen?« »Ich soll in Kürze an einem unerwarteten Ort und zu einem unerwarteten Zeitpunkt wieder angesprochen werden. Ich werde so tun, als stiege ich auf die Sache ein, um ihnen keinen Grund zu geben, die Schraube anzuziehen. Dann können wir nur noch warten, ob sich auf das Inserat hin jemand meldet. Und wie es weitergeht, selbst wenn das geschehen sollte, steht in den Sternen. Mehr ist vorläufig nicht drin.« Das stimmte. Am nächsten Tag verlief alles wie abgesprochen. Kurz nach dem Frühstück reisten Friska und der alte Hobarth ab. Friska brachte ihn zum Flughafen und fuhr selbst von dort aus weiter nach Berlin. Soweit Anne Seyfried sich, ohne Verdacht zu erwecken, überzeugen konnte, hatte man ihr keinen 147
Schatten angehängt, als sie hinunter in die Stadt fuhr. Nach dem Friseur begab sie sich auf das Postamt und sah mit Spannung das Telefonbuch der Stadt Solingen durch. Unter dem Namen Gottwald fand sie den Eintrag: »Gottwald, Lilli und Ansgar, Moden«. Das mußte es sein. Anne schrieb sich die Adresse und Rufnummer auf. Anschließend betrat sie eine Konditorei, bestellte sich eine Portion Schokolade und überlegte. So, wie der Eintrag im Telefonbuch lautete, war das ein Geschäft, in dem beide Ehegatten arbeiteten. Dort konnte man tagsüber also nur stören. Ebenso unklug allerdings wäre es, bei diesen Leuten anzurufen. Was sollte sie am Telefon sagen? Zu erkennen geben konnte sie sich telefonisch auf keinen Fall, und alles würde nur Unruhe auslösen und die Sache, um die es ihr ging, mit Spekulationen und Schwierigkeiten befrachten. Es schien ihr am erfolgversprechendsten, mit Gottwald spontan in Kontakt zu kommen. Und das würde sie am besten morgen abend versuchen. Nachdem sie sich das alles zurechtgelegt hatte, holte sie ihr schwarzes, kleines Kabriolett aus dem Parksilo und fuhr nach Hause. Dort lümmelte sie sich genüßlich in einen bequemen Sessel, zündete sich eine Zigarette an und führte das Telefongespräch mit Doris. Die Freundin fiel natürlich aus allen Wolken. Da sie verwöhnt und etwas geschwätzig war, eine Arztwitwe, der ihr Mann eine Menge Geld und Papiere hinterlassen hatte, hatte Fritz Seyfried niemals besondere Sympathie für sie aufbringen können. Das 148
beruhte, wie in solchen Fällen häufig, auf Gegenseitigkeit. Aber was Anne Doris jetzt über Fritz und ihre Ehe mit ihm auftischte, schlug dem Faß den Boden aus. Gerade in den letzten Tagen habe sich alles noch mehr zugespitzt. Anne gelang es, ihre Lage so bemitleidenswert darzustellen, daß Doris vor Teilnahme alsbald zerfloß und resolut, wie sie war, zu Anne sagte: »Dann pack deinen Koffer, setz dich ins Auto und komme zu mir.« Dieses Angebot kam Anne wie gerufen. Mit einem zufriedenen Lächeln drückte sie ihre Zigarette aus und sagte zu. Anschließend rief sie Fritz im Amt an und bereitete ihn drauf vor, daß er sie heute abend nicht antreffen würde, wenn er nach Hause käme. Er nahm es mit Fassung auf und versprach ihr auf ihre Mahnung hin, sich wie gewöhnlich um die Hunde zu kümmern. Anne versorgte den Haushalt, richtete für Fritz etwas zu essen und verließ gegen drei Uhr das Haus, um nicht in die Rush-hour des Köln-Bonner Ballungsraumes zu geraten. Es fiel Anne nicht leicht, bei Doris die vernachlässigte Ehefrau zu spielen, zumal Doris Fragen stellte und auf Einzelheiten einging, auf die Anne nicht vorbereitet war. Sie dachte an Fritz’ Einschätzung, zuverlässig, aber geschwätzig, und wollte es aus diesem Grunde nicht riskieren, Doris in die Wahrheit einzuweihen. Schließlich gelang es ihr, sie abzulenken. Dann überlegten sie, wie sie die beiden geschenkten Tage am schönsten ausnützen konnten. Fritz Seyfried war auf ein Treffen mit dem Mann, 149
den sie Drohne nannten, vorbereitet. Wenn es Anne und ihm wirklich geglückt war, überlegte er, sozusagen einen Türken aufzubauen, dann mußte der heutige Abend genau der richtige Zeitpunkt für diesen Mann sein. Es mußte sich für ihn günstig treffen, daß Fritz alleine war. Der Abend war ausnahmsweise windstill und von trockener, angenehmer Kälte. Und tatsächlich sah Fritz zuerst, wie auch an den Abenden vorher, den dritten Hund mit Steffi und Stoffel in der Dunkelheit herumtollen. Unmittelbar danach trat der Mann aus dem Schatten der Fichtenschonung heraus und gesellte sich so neben ihn, als seien die beiden Männer schon seit längerer Zeit in angeregtem Gespräch nebeneinander hergegangen. »Ich hatte Sie so verstanden, als wollten Sie zu einem unerwarteten Zeitpunkt und an einem unerwarteten Ort …« sagte Seyfried. »Niemand würde unser Treffen heute hier erwartet haben«, sagte Drohne. »Und am wenigstens Sie, Seyfried. Geben Sie das ruhig zu. Wohin ist Ihre Frau verreist?« »Woher wissen Sie, daß sie verreist ist?« »Wir haben diese Sache nicht mit blinden Augen angefaßt, Seyfried. Wir wissen, was bei Ihnen vorgeht und was nicht.« »Also, wohin?« »Wenn Sie ohnehin alles wissen, wozu dann die Frage?« sagte Seyfried. »Sie haben es tatsächlich geschafft, zwischen mir und meiner Frau eine Krise 150
heraufzubeschwören. Mit Ihrem genialen Volltreffer, mir das alles ausgerechnet an ihrem Geburtstagsabend vor die Füße zu werfen. Meine Frau ist deshalb erst mal zu einer Freundin nach Köln gefahren.« »Mit Ihrer Frau werden Sie schon einig werden, Seyfried. Wie haben Sie sich entschlossen?« »Das, was Sie eben so elegant von sich wegschieben wollen, macht mir die größte Sorge«, sagte Seyfried. »Ich bin mir nicht klar, ob Sie vertrauenswürdig genug sind, um mit Ihnen zusammen eine Sache von solchem Umfang durchzuziehen.« Etwas Ähnliches war dem Mann während seiner langen Tätigkeit als Agent noch nie vorgekommen. Man stellte ihm Bedingungen. Man forderte ihn sogar heraus. Es war eben doch etwas anderes, ob man versuchte, einen leichtgewichtigen Spitzel anzuwerben, der mit seiner Drogensucht oder seinen sexuellen Perversitäten von ihnen abhängig war, oder ob die höchsten Stellen in Moskau befohlen hatten, einen Mann an die Kandare zu bekommen, von dessen Kenntnissen sie selbst abhängig waren. Wenn sie diesen Mann hier neben Drohne nicht an die Kandare bekamen, mußten sie eine neue Informationsoffensive auf einer völlig geänderten Basis von vorne anfangen. Und das war erfahrungsgemäß eine Angelegenheit von Jahren. Auf so eine Sache wie Seyfried war er zum ersten Mal angesetzt. Da galten möglicherweise andere Gesetzlichkeiten als die, an die er bisher gewöhnt gewesen war. Wie sollte er sich verhalten? Zunächst 151
schwieg er also eine ganze Weile, was sein Gegner mit Genugtuung vermerkte. Die Angriffsvorbereitung war ja nicht seine Sache, sondern die Sache von Nachtfrost selbst gewesen. Er hatte die Persönlichkeit studiert, das Gelände sondiert und die grundlegenden Anweisungen getroffen. Der Mann, den sie Drohne nannten, kannte Nachtfrost nur als Stimme. Als eine bei verschiedenen Telefongesprächen mit unterschiedlichen Methoden verstellte Stimme, die zu einer Person gehörte, der man Zielbewußtsein und Entschlußkraft zutraute. Dieser Stimme hatte Drohne Datum und Stunde des Angriffs auf Fritz Seyfried vorgeschlagen, und die Stimme war nach kurzer Überlegung damit einverstanden gewesen. Aber als er sich dies jetzt alles noch einmal blitzschnell durch den Kopf gehen ließ, durchfuhr Drohne Angst. Drohend stand plötzlich die Erkenntnis vor ihm, daß es ihm niemals gelingen würde, der Stimme eine Verantwortung zuzuschieben. Wenn irgend etwas an dieser Sache schiefging, war er es, er ganz allein, der dafür bezahlte. Und dieses Bewußtsein führte dazu, daß er Seyfried gegenüber mit einem Mal das Gefühl einer gewissen Kumpelhaftigkeit empfand. In einer ganz bestimmten Weise saßen sie im selben Boot. »Sie haben sich also entschlossen, Seyfried«, sagte er nach einer langen Pause. »Sie müssen das verstehen«, sagte Seyfried. »Ich bin nicht daran interessiert, daß die Vorgänge von damals unterdrückt bleiben und ich statt dessen wegen Landesverrat vor Gericht komme. Was für Garantien 152
können Sie mir geben?« »Garantien«, sagte Drohne. »Garantien, in diesem Job? Wissen Sie, was Sie von mir verlangen?« »Wissen Sie denn, was Sie von mir verlangen?« antwortete Seyfried. »Was meinen Sie?« »Landesverrat, ich sagte es vorhin schon. Kommen wir zur Sache. Es geht Ihnen doch um den Panzerstahl aus Herne?« »Landesverrat«, murmelte der Mann mit der Brille. »Sehen Sie, das ist nur ein Wort im Strafgesetzbuch. Wir brauchen diese Unterlagen nicht, um ihr Land anzugreifen. Aber wenn es zu einem Konflikt kommt, darf kein langer Krieg daraus werden. Das ist für Europa ebenso wichtig wie für uns.« »Ich bin nicht verpflichtet, mir darüber Gedanken zu machen. Aber ich bin verpflichtet, mein Fachwissen vor Ihnen geheimzuhalten«, sagte Seyfried. »Sie würden uns in diesem Falle zwingen …« »Nein«, unterbrach ihn Seyfried, »das werde ich nicht. Denn meine Frau ist mir wichtiger als dieser Halbstaat, von dem keiner so recht weiß, ob er ein Vaterland oder eine Zweckschöpfung ist. Also sagen Sie schon, was Sie mir zu sagen haben.« »Es wird in absehbarer Zeit«, sagte der Mann und ließ seine Brille reflektieren, »zu einer Ministerkonferenz von sieben Verteidigungsministern interessierter NATO-Staaten kommen, denen Sie diese Neuschöpfung in einer streng geheimen Sitzung präsentieren werden.« Seyfried nickte. 153
»Es ist bekannt«, fuhr der andere fort, »daß die wissenschaftliche Denkschrift über Forschung, Entwicklung, Fertigung und Anwendung dieser Substanz bei der Vereinigten Hütten in Herne ausgearbeitet und dokumentiert wird. Auch das Testergebnis des Probeschießens in Munsterlager vom vergangenen Donnerstag fließt in diesen Bericht mit ein.« »Sie sind wirklich sehr gut informiert«, sagte Seyfried, der innerlich sprachlos darüber war, wie weit man in diese Dinge bereits eingedrungen zu sein schien. »Sehen Sie«, sagte Drohne, »Sie sind also nur ein letztes Glied in dieser Kette. Sie brauchen keine Skrupel zu haben.« »Mit meinen Skrupeln werde ich selbst fertig«, sagte Seyfried. »Was soll ich tun?« »Wir wollen zwischen dem Tag, an dem Sie in Herne diese Denkschrift abholen, und der Ministerkonferenz in den Besitz der Denkschrift kommen. Wir erwarten demzufolge, daß Sie den Termin der Ministerkonferenz so vorschlagen, daß Sie dazu Gelegenheit haben.« »Glauben Sie denn, daß diese Schrift in Form eines Schnellhefters ausgeliefert wird, Mann, den man einfach unter den Kopierer legt?« »Nein«, sagte der Fremde höflich. »Sie erhalten diese Denkschrift gespeichert auf ein Magnetband, das in Ihrem Rechenzentrum in Mikrofiches umgesetzt wird. Ein Exemplar davon möchten wir gerne haben. 154
Das ist alles.« »Ich habe das zur Kenntnis genommen«, sagte Seyfried. »Jetzt interessiert mich nur noch, welche Sicherheiten Sie haben, daß ich Ihnen bei der Stange bleibe?« Drohne fuhr mit der Hand in die Innentasche seines Mantels und zog aus ihr ein Instrument heraus, das nicht größer als eine Zigarettenschachtel war. »Sie haben soeben hier auf einen hochsensibilisierten Tonträger gesprochen«, sagte er freundlich. »Sie selbst haben auf die Ereignisse von damals angespielt, die Sie gerne verheimlichen möchten. Ich glaube nicht, daß es sich für Sie lohnen würde, uns Schwierigkeiten zu machen.« Nach diesen Worten pfiff er seinem Hund und war kurz darauf im Schatten der Fichten verschwunden. Da auch der Mann, den sie Drohne nannten, menschliche Regungen besaß, freute er sich darauf, seiner Lebensgefährtin mitteilen zu können, daß er ihrer Bitte gemäß den Spaniel nach diesem Gespräch würde abstoßen können. Er selbst bedauerte dies, denn er hatte sich an das Tier gewöhnt.
155
5 Anne Seyfried erreichte die Stadt Solingen gegen 18 Uhr 30 des folgenden Tages. Dieses Mal war sie um den Stoßverkehr wirklich nicht herumgekommen und mußte das schwarze Kabriolett in endlosen Kolonnen durch zu enge Straßen quetschen, zwischen lauter Leuten, denen man einmal eingetrichtert hatte, daß es schick war, möglichst weit vom Arbeitsplatz entfernt zu wohnen, und denen dieser Irrtum jetzt von Woche zu Woche lästiger wurde. Anne mußte sich durchfragen. Während dieser Zeit wurde es vollends dunkel. Das Haus, das sie suchte, lag am anderen Ende der Stadt in einer Straße, die wohl früher einmal eine ruhige Wohnstraße gewesen war, in der sich aber jetzt ebenso viele Autos stauten wie in allen anderen Straßen auch. Es war zweistöckig mit einem ausgebauten Dachgeschoß, stammte aus der Zeit der Rentenmark kurz nach dem Ersten Weltkrieg und lag an der Ecke zu einer Seitenstraße, in welche Anne einbiegen konnte, um das Kabriolett in einem Hofraum zu parken. Sie stieg aus. Das Untergeschoß dieses Hauses war umgebaut worden und zeigte jetzt als Laden einen Charakter, der zu dem übrigen Haus nicht mehr recht paßte. Große, von kunststeinverkleideten Säulen geteilte Schaufenster waren eingerichtet worden; der 156
Ladeneingang befand sich zwischen geschickt angeordneten Spiegeln. Gottwald-Moden stand in der gleichen geschwungenen Goldschrift quer über der Tür, in welcher der Namenszug auch in Leuchtbuchstaben oben über der Vorderfront entlang lief. Drinnen gab es von bunten Kleidern bis hin zu Regenmänteln mit pelzbesetzten Kragen und modischen Mützchen und Pullovern so ziemlich alles für Damen. Eine Etagere mit lässig darübergestreutem Modeschmuck und ledernen Accessoires war von innen vor die Tür geschoben. Anne suchte nach dem Privateingang und fand ihn auf der Rückseite des Hauses, die sie von der Seitenstraße aus erreicht hatte. Im Oberstock waren zwei Fenster erleuchtet. Eines von ihnen wurde geöffnet, als sie läutete. Sie erkannte die Silhouette eines Mannes. »Ja«, rief der Mann, als er Anne unten stehen sah. »Ja bitte, zu wem möchten Sie denn?« »Zu Ihnen«, sagte Anne. »Falls Sie Herr Gottwald sind.« »Herr Gottwald?« antwortete der Mann. Er wußte nicht recht, was er aus der Sache machen sollte. »Wissen Sie nicht, daß Herr Gottwald im vorigen Jahr gestorben ist? Was hätten Sie denn von ihm gewollt?« Anne war unschlüssig. »Das kann ich Ihnen so zwischen Tür und Angel schwer erklären. Wer sind Sie denn?« Der Mann war offensichtlich auch etwas gehemmt. 157
»Ich? Ich bin Rolf Schubert. Ich … na ja, ich kümmere mich sozusagen ein bißchen um das alles hier. Kommen Sie privat oder geschäftlich? Wenn Sie privat kommen, sollten Sie vielleicht besser mit Frau Gottwald sprechen.« »Ist sie da?« rief Anne nach oben. »Nein«, sagte der Mann. »Aber ich kann Ihnen sagen, wo sie ist. Es haben sich ein paar von den Läden und Boutiquen hier zusammengetan, die machen heute abend im Eugeniensaal eine Modenschau. Da hat sie die Conference. Vielleicht interessiert Sie das auch.« »Wo ist der Eugeniensaal?« fragte Anne. »Warten Sie«, sagte der Mann. »Ich komme runter. Bis ich Ihnen das beschrieben habe, habe ich Sie auch hingefahren.« Das Fenster klirrte, als er es schloß. Oben erlosch das Licht, dafür ging es im Treppenhaus an. Kurze Zeit später stand der Mann ihr gegenüber und war, wie Anne fand, gar nicht so übel. Ungefähr in ihrem Alter, mittelgroß, dunkle Haartolle, sonnengebräuntes Gesicht. Marbella, schätzte Anne, oder vielleicht auch Torremolinos. Der unkomplizierte Typ, der im Sommer gerne auf Surfbrettern über die Wellen gleitet und im Winter an elektrischen Spielzeugeisenbahnen herumbastelt. Zu allem, um das er sich hier kümmerte, gehörte ganz sicher auch Ansgar Gottwalds Witwe. Er gab ihr die Hand, musterte fachkundig ihren Zobelmantel, warf bei dieser Gelegenheit einen ebenso fachkundigen Blick auf Annes Beine und öffnete schließlich das Kipptor einer der beiden Garagen. »Bis 158
Sie sich nämlich in den Einbahnstraßen zurechtfinden und dann auch noch einen Parkplatz kriegen, bin ich dort und wieder zurück«, sagte der Mann, als sie neben ihm im Wagen saß. Das Hotel Eugenienhof war ein Jugendstilgebäude und für den Kern der Stadt etwas zu groß geraten. Es besaß ein gemütliches Restaurant und im Oberstock einen Saal mit Balustraden, Emporen und Tischnischen sowie mit einer Bühne. Es gab blitzendes Messing, schwere Plüschportieren und riesige Lüster aus Messing und Glas. Aus dem Saal klangen die Rhythmen einer Band. Am Eingang stand ein Tisch, darauf eine eiserne Kasse, dahinter saß eine Frau, die Anne nach ihrer Einladung fragte, da der Platz beschränkt war. Wahrscheinlich gaben ihr eleganter Zobelmantel und die Gutmütigkeit der Einlaßdame den Ausschlag. Jedenfalls verkaufte sie Anne eine Eintrittskarte und zeigte ihr Frau Gottwald. Kurz darauf saß Anne an einem der Tische, nippte an einem Glas Orangensaft und betrachtete die Frau, von der für sie und Fritz möglicherweise eine Menge abhing. Aber sie gab sich keinen allzu großen Hoffnungen hin. Sie beobachtete, wie die Einlaßdame Frau Gottwald auf sie aufmerksam machte und Lilli Gottwald, die mit einem Mikrophonkabel kämpfte, zu ihr herübersah und dann der Einlaßdame noch eine Frage stellte. Das Licht der Lüster erlosch, Spotlights flammten auf und die Show begann abzurollen. Zu den Rhythmen der Band tänzelten auf dem erhöhten 159
Laufsteg Mannequins in Hosenanzügen, schwangen und wendeten Pelze, Mäntel, Kasacks, Kostüme. Und Lilli Gottwald sagte das alles mit viel gutem Willen und etwas verkrampftem Humor an. Sie mußte, wie Anne selbst, etwa 40 sein, war sehr blond und wohlfrisiert und trug ein Abendkleid aus flaschengrünem Taft, dessen Rock kokett geschlitzt war. Anne wartete geduldig, was geschehen würde. Sie rechnete mit der Pause und behielt damit recht. Als das Licht der Lüster wieder heller wurde, die Bongo pausierte und die Leute den Saal verließen, um frische Luft zu schnappen, kam Lilli Gottwald an Annes Tisch. Aus der Nähe sah sie älter aus. Eine der Frauen, die so wirken, als ob sie genau wissen, was sie wollen, es aber nie ganz erreichen. »Ich bin Lilli Gottwald«, sagte sie und setzte sich halb auf einen der freien Stühle, nachdem sie versucht hatte, Anne einzuschätzen. »Sie sind nicht von hier, nicht wahr?« »Nein«, sagte Anne. »Ich bin nicht von hier. Und eigentlich bin ich gekommen, um mit Ihrem Mann zu sprechen. Aber Herr Schubert …« Lilli Gottwald nickte wissend. »Rolf hat Sie schon aufgeklärt und dann hierher gebracht.« »Woher wissen Sie das?« »Weil das seine Art ist, Frau … wie darf ich Sie anreden?« Anne nannte ihren Namen und Lilli Gottwald nickte wieder. »Was hätten Sie denn von Ansgar gewollt? Kannten 160
Sie meinen Mann?« »Nein«, sagte Anne. »Ich kannte ihn nicht.« »Ach so. Ich dachte schon …«, dann unterbrach sie sich. »Sie haben das ja ziemlich groß aufgezogen, hier«, sagte Anne. »Das hätte er alles gar nicht sehen dürfen«, antwortete Frau Gottwald. »Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann säßen wir noch immer auf einer überalterten Werkstatt und würden die Pelzkragen der Hautevolee reparieren. Wie er aus dem Krieg zurückgekehrt ist, hat er gemeint, daß er nur mit Arbeit zu etwas kommen würde, der arme Kerl.« »Nun«, sagte Anne, »anscheinend ist er doch wirklich zu etwas gekommen.« Lilli Gottwald sah Anne ein wenig mitleidig an. Dann sagte sie: »Ja, zu einer Kürschnerlunge ist er gekommen. Das war alles, und daran ist er dann auch gestorben. Zusammen mit dem, was er sich für seinen Adolf Hitler geholt hat. Das hat mein Mann bis zuletzt nie begriffen, daß man durch mehr Arbeit nicht unbedingt mehr Geld bekommt. Man muß Geld zu mehr Geld machen. Das ist es, Sie sehen es ja …« Lilli Gottwald machte eine ausholende Handbewegung in die Runde. »Und dazu braucht man erst mal Kredit. Um den zu kriegen, braucht man eine Idee, die man der Bank verkaufen kann.« »Und die hatten Sie?« »Gott sei Dank, ja. Sehen Sie, ihre Pelzmäntel kaufen die Leute von hier in Köln oder Düsseldorf ein. 161
So ist der Markt nun mal. Lager, Auswahl, das wäre für die wenigen, die sich hier eindecken, alles viel zu teuer. So ein Pelz hat ja auch ein Etikett, das ab und zu nach außen gedreht ist, verstehen Sie. Wenn da Kö draufsteht oder Breite Gasse, dann ist man wer. Aber ihre normalen Klamotten, mal rasch für’n paar Hunderter oder so, die kaufen die Leute schon auch mal hier. Und das hat mir die Bank geglaubt. Und der Rolf … Herr Schubert meine ich … der denkt da genauso wie ich.« Lilli Gottwald machte eine Pause und erinnerte sich, daß das Gespräch ja eigentlich ganz anders begonnen hatte. »Aber was wollten Sie eigentlich von meinem Mann?« fragte sie und erhob sich, weil die Bongo ihre Plätze wieder einnahm, die Gäste der Modenschau strömten zurück in den Saal. Das Stimmengewirr schwoll an. »Kaufen werden Sie ja nichts wollen.« »Nein, Frau Gottwald«, sagte Anne. »Ich will etwas ganz Persönliches. Ein paar Fragen, die Ihren verstorbenen Mann betreffen.« Lilli Gottwalds Gesicht drückte unverhohlene Ablehnung aus. Offenbar wollte sie an Dinge, die ihren verstorbenen Mann betrafen, nur sehr ungern erinnert werden. Deshalb beeilte sich Anne Seyfried hinzuzusetzen: »Es ist für mich und meinen Mann sehr wichtig und bringt für Sie keinerlei Nachteile.« Die Tatsache, daß Anne einen Ehemann erwähnt hatte, daß also nichts in die Richtung deutete, die sie 162
befürchtete, ließ Lillis Gesichtsausdruck freundlicher werden. »Dann ist es am besten«, sagte sie nach kurzer Überlegung, »wenn Sie nachher mit mir und Rolf nach Hause fahren. Hier kommen wir doch zu keinem ruhigen Wort.« Damit wendete sie sich wieder ihrer Tätigkeit zu, während der zweiten Hälfte der Show Kleider, Abendroben, Strand- und Bademoden für den zu erwartenden Sommer anzusagen. Nach Ende des zweiten Teiles stiegen die beiden Frauen zu Rolf, der schon auf sie wartete, in den Wagen. »Ich habe mir schon gedacht, daß sie nochmal mit heraus zu uns kommt«, sagte der Mann, als er den Wagen beschleunigte. »Ich habe was kalt gestellt.« Er wendete sich zurück zu Anne. »Sie mögen doch ein Glas Schampus, oder? Lilli und ich machen das manchmal, wenn es abends spät wird. Oder auch, wenn uns wieder mal alles zum Hals heraushängt.« Auch Lilli wendete sich halb zu Anne um. »Ich hab’ schon gedacht, Sie wären vielleicht so eine Verflossene von ihm.« Sie machte eine Pause. »Die hat er nämlich haufenweise gehabt, wissen Sie. In Wirklichkeit konnte er aber gar nicht mehr, und solange, bis die es gemerkt haben, hat er sich mit ihnen geschmückt und die ganze Stadt hat ihn für einen tollen Hecht gehalten.« Anne sah, daß Rolf der Frau begütigend auf das Knie klopfte. Reg dich nicht auf, sollte das zum Ausdruck bringen. Das ist ja vorbei und bei mir bist du gut aufgehoben. 163
»Gott hab ihn selig«, sagte Lilli, als sie in das Grundstück einbogen. Später, als sie oben zusammensaßen und Lilli berichtet hatte, wie die Show abgerauscht war, wie sie es ausdrückte, fragte sie Anne, um was es denn nun eigentlich ginge. »Tja«, sagte Anne, »eigentlich geht es um die Zeit, als Ihr Mann Soldat war.« Lilli verzog das Gesicht, trank ihr Glas aus, schob es Rolf Schubert zum Nachfüllen hin und verzog noch einmal das Gesicht. »Ausgerechnet«, sagte sie. »Muß das sein?« »Er hat ihr nämlich immer die Geschichten von seinen Heldentaten erzählt und das ist Lilli ganz schön auf die Nerven gegangen«, sagte Schubert, während er nachschenkte. »Hat Ihr Mann denn dabei auch einmal Namen genannt?« fragte Anne. »Früher schon mal. Ab und zu. Und er war ja in so einem Veteranenverein. Da waren auch hin und wieder ein paar davon hier. Warum?« Mit dieser unkomplizierten Frage hatte Lilli Gottwald ihre Besucherin direkt in Zugzwang manövriert. Anne hatte zwar verschiedene Möglichkeiten der Annäherung an ihr Ziel durchgespielt, dann aber beschlossen, nach Möglichkeit bei der Wahrheit zu bleiben. Jetzt arbeitete ihr Gehirn fieberhaft, und sie versuchte, ihre beiden Gesprächspartner einzuschätzen. Lilli Gottwald war eine vom Leben gezeichnete Frau, dem krankhaften Erfolgsmythos der Zeit verfallen, 164
resigniert und schnodderig, aber handfest. Das Schlimme war, daß sie von ihrem verstorbenen Mann und seiner militärischen Vergangenheit nichts zu halten schien und daß sie das alles auch nur sehr wenig interessierte. Das Leben war kurz, vor allem als Frau, der Verflossene war tot und Pietät lag nicht im Zug der schnellebigen Zeit. Rolf Schubert aber war gegenwärtig. Da er jünger war, fungierte er offensichtlich als Sohn-Ersatz, tüchtiger Liebhaber und alltäglicher unkomplizierter Kümmerer gleichzeitig. Sicher war er in das Geschäft eingestiegen oder hoffte, dort einzusteigen, was für Annes Zwecke noch günstiger gewesen wäre. Wenn Annes Menschenkenntnis nicht trog, hing Rolf Schubert an Lillis Haken und würde nichts tun, was Lillis Absichten zuwiderlief. Der Drehpunkt für Anne lag bei Lilli Gottwald. Wenn es ihr gelang, Ansgar Gottwalds Witwe für ihre Sache zu interessieren oder ihr ein menschliches Gefühl abzugewinnen, hatte sie gewonnen. Allerdings nur dann. Anne gab sich einen Ruck und beschloß, es zu versuchen. »Haben Sie jemals von ihm den Namen Loßwitz gehört? v. Loßwitz?« »Den Namen habe ich sogar oft von ihm gehört. Das war eine ganze Weile sein Boß, damals. Worauf wollen Sie denn eigentlich hinaus?« »Es ist mir ziemlich ernst mit dem, was ich sage«, antwortete Anne. »Natürlich könnte ich Ihnen 165
irgendein Märchen aufbinden, mich als Loßwitz’ Schwester ausgeben, entfernte Verwandte, Interesse an Familiengeschichte oder sonst was. Aber das würde mir nichts nützen, denn schließlich müßte ich doch die Wahrheit sagen und mit einem Hintenrum hätte ich mir Ihr Vertrauen verscherzt.« »Ich bin nicht für hintenrum«, sagte Lilli Gottwald. »Da haben Sie recht. Machen Sie es doch nicht so spannend, reden Sie schon endlich. Was haben Sie mit diesem Loßwitz zu schaffen?« »Ich bin seine Frau.« Rolf Schubert stellte die Flasche, die er noch in der Hand gehalten hatte, unter den Tisch, sah zuerst Anne an, dann Lilli. »Ist der nicht …? Wieso …!« »Ich denke, Sie heißen Seyfried«, sagte Lilli. »Wie verstehe ich denn das alles? Was stimmt denn da nicht? Dieser Loßwitz ist übrigens tot. Er ist gefallen, ziemlich zum Schluß zu. Irgendwo in Polen, wie hieß das doch gleich …?« »Tomaszów«, sagte Anne. »Sie schwindeln offensichtlich doch«, sagte Lilli. »So hat das nicht geheißen.« »Dann war es ein Fluß«, sagte Anne. »Und dieser Fluß heißt Pilica.« »Ja, so hat es geheißen«, sagte Lilli Gottwald kopfschüttelnd. »Wie haben Sie das geraten?« In Lillis Gehirn arbeitete es. Es konnte ja sein, daß diese Frau da irgend etwas mit der Vergangenheit zu tun hatte. Aber man 166
mußte auf der Hut sein. »Hören Sie«, sagte sie, »was kann denn von dem ganzen Blödsinn von damals heute noch wichtig sein? So wichtig, daß Sie von Koblenz hier in dieses gottverlassene Kaff fahren, sich das ganze Theater mit ansehen … In was wollen Sie uns da denn reinbringen? Und dann wollen Sie mir noch aufbinden, daß Sie dem Loßwitz seine Witwe sind.« »Seine Frau«, verbesserte Anne. »Das ist ein Unterschied.« »Jetzt will ich Ihnen mal was sagen«, erwiderte Lilli Gottwald. »Ich habe mir ja von dem ganzen Quatsch, den er daherschwadroniert hat, weiß Gott wenig gemerkt. Aber daran erinnere ich mich genau. Der Loßwitz, hat Ansgar immer gesagt, das war ein Kamerad, wie er im Buche steht. Von dem hat er eine ganz riesige Menge gehalten. Wenn der noch am Leben wäre, der wäre der erste, der sich gemeldet und sich gesorgt und umgetan hätte.« »Und wenn er das nicht gekonnt hätte?« fragte Anne. Lilli Gottwald zuckte mit den Schultern. »Sie können uns ja in Gott weiß was reinzerren bei dem, was in der Nazizeit alles passiert ist«, schaltete sich Rolf Schubert ein. »Da hat Lilli doch ganz recht. Bevor wir überhaupt weiterreden – können Sie denn irgendwie beweisen, was Sie sagen?« »Nein«, sagte Anne. »Nichts kann ich beweisen. Sie müssen es mir glauben.« Rolf Schubert sah Lilli mit einem Gesichtsausdruck an, als ob er sagen wolle: Siehst du, was habe ich dir 167
gesagt. Lilli stand auf. »Aber ich kann das Gegenteil beweisen«, sagte sie und verließ das Zimmer. Rolf Schubert beugte sich vertraulich vor, bestrebt, die Sache gütlich in Ordnung zu bringen, bevor sie nach Lillis Rückkehr gänzlich aus dem Ruder laufen würde. »Seien Sie vernünftig. Machen Sie uns kein Theater vor, sondern sagen Sie ehrlich, was Sie wollen.« »Wenn das so einfach wäre, hätte ich es längst getan«, sagte Anne. »Aber bevor das möglich ist, müssen Sie mir erst glauben, daß Henning v. Loßwitz noch am Leben ist und daß ich wirklich seine Frau bin.« In diesem Augenblick betrat Lilli das Zimmer wieder. Sie hatte eine Fotografie in der Hand, auf der sich sechs oder sieben junge Männer mit dem damals gebräuchlichen kurzen Haarschnitt und mit nackten Oberkörpern offensichtlich an einem glühendheißen russischen Sommertag vor der Kulisse eines verstaubten Panzers hatten fotografieren lassen. Lilli Gottwald legte das Bild vor Anne auf den Tisch. »Welcher von denen ist denn nun Ihr Mann?« fragte sie triumphierend. Rolf Schubert rückte näher und betrachtete ebenfalls die Fotografie. »Sieht wirklich einer aus wie der andere«, sagte er. »Wenn Sie uns jetzt da drauf Ihren Mann zeigen, haben Sie gewonnen.« Anne brauchte das Foto gar nicht ein zweites Mal anzusehen. Figur, Gesichtsschnitt und Haaransatz des 168
zweiten der Männer von links waren so unverkennbar die von Fritz, daß sie ohne das geringste Zögern mit dem Nagel des kleinen Fingers auf diesen zeigte und sagte: »Da steht er doch. Und welcher ist Ihr verstorbener Mann?« »Der rechts neben ihm, dem Ihrer den Arm um die Schultern gelegt hat«, sagte Lilli Gottwald verblüfft. »Ich weiß, daß sie sich immer gut verstanden haben.« »Vertrauen Sie mir jetzt?« sagte Anne. »Eins zu null«, sagte Lilli Gottwald. Sie warf sich wieder in ihren Sessel, kreuzte die Beine, so daß der lange Schlitz eines von ihnen freigab, starrte Anne neugierig an und fügte hinzu: »Also, dann schießen Sie los.« Anne Seyfried weihte Rolf Schubert und Ansgar Gottwalds Witwe soweit in die Geschichte Fritz Seyfrieds ein, wie es ihr notwendig erschien, und beendete ihren Bericht mit den Worten: »An diesem Abend erschoß mein Mann in dem Befehlsbunker einen deutschen Major, der die Nerven verloren hatte und die Brücke zu früh in die Luft jagen wollte, während noch Hunderte von Menschen auf ihr waren. Daraus will man ihm jetzt einen Mordprozeß machen.« »Also Erpressung?« sagte Rolf Schubert fachkundig. »So ähnlich«, antwortete Anne. »Aber er hat eine Chance. Während sich das alles im Bunker abspielte, war bei ihm ein etwa zwölf Jahre alter, offenbar Volksdeutscher Junge. Wenn wir den finden würden, könnten wir versuchen, die Wahrheit zu beweisen. Das 169
letzte, was meinem Mann vor seiner schweren Verwundung noch bewußt in Erinnerung geblieben ist, war, daß er das Kind Ihrem Mann übergeben und ihn gebeten hat, sich darum zu kümmern, weil es vermutlich in diesem Augenblick seine ganze Familie verloren hatte. Das war es, was ich Ihren verstorbenen Mann fragen wollte: Was ist mit diesem Kind geschehen?« Anne Seyfried schwieg. Auch die beiden anderen sagten lange nichts. Schließlich war es Lilli, die redete. »Jetzt bin ich aber platt«, sagte sie, mehr zu Schubert als zu Anne gewendet. »Da muß ich meinem Verewigten eine ganze Menge abbitten.« Sie wendete das Gesicht Anne zu. »Von dieser Nacht hat er mir oft erzählt, wissen Sie. Aber ich habe das immer für so einen Quatsch gehalten, wie ihn sich die Männer manchmal aus den Fingern saugen, um sich groß zu tun. Das ganze Gedöns mit der Brücke und der Sprengung und dem Loßwitz, den es Sekunden danach erwischt hat. Das habe ich ihm nie abgenommen. Und das soll also alles stimmen?« Anne Seyfried nickte. »Ja. Mein Mann hat es mir genauso erzählt. Nur, daß er es überlebt hat, was Ihr Mann nicht wissen konnte.« »Wenn das alles stimmt«, sagte Lilli, »dann kann ich Ihnen auch sagen, wie es weiterging. Denn dann stimmt ja das andere, was mein Mann alles erzählt hat, auch. Mein Mann hatte also plötzlich ein schreiendes verzweifeltes Bündel Mensch in den Armen. Das ganze Ufer lag unter Beschuß. Die Stadt stand in 170
Flammen. Loßwitz hatte es soeben erwischt. Was sollte er tun? Er hob das Kind seinem Richtkanonier hinauf, der aus der Luke hing und nach meinem Mann schrie. Dann stieg Ansgar auch ein und ließ den Lukendeckel zufallen. Sie hielten diese Stellung bis etwa Mitternacht, wurden dann aus ihren Deckungen geschossen und mußten türmen. Es ging rückwärts. Und immer dieses Kind in dem stinkenden Stahlkasten. Irgendwo zwischen Weichsel und Oder trafen sie dann in einem Dorf noch auf eine deutsche Zivildienststelle. Rotes Kreuz oder sowas ähnliches. Auch auf der Flucht natürlich. Aber denen konnte er den Jungen übergeben.« »Und der Name?« fragte Anne. »Wußte er denn den Namen nicht?« »Doch«, sagte Lilli Gottwald. »Den Namen dieses Jungen wußte mein Mann ganz genau. Sie müssen sich vor Augen halten, der Junge hatte soeben seine ganze Familie verloren. Er war mutterseelenallein auf der Welt und das mitten in diesem erbarmungslosen Krieg. Er schrie und weinte in einem fort. Als mein Mann ihn abgab, klammerte sich das Kind an ihn und mein Mann hat ihm dann einen Zettel mit seinem Namen und seiner Adresse aufgeschrieben. Wenn er mal einen Freund brauchte nach dem Krieg, hat mein Mann gesagt, dann solle ihm der Junge schreiben.« »Und?« Anne konnte ihre innere Anspannung kaum beherrschen. »Hat er das getan?« »Mein Mann sagt, er habe es getan. Zweimal sogar. 171
Aber das war noch vor meiner Zeit, wissen Sie.« »Hat er Ihnen den Namen denn nicht genannt?« fragte Anne. »Können Sie sich an gar nichts erinnern?« »Nein«, sagte Lilli Gottwald. »Ich habe diesen Namen überhaupt nicht gewußt. Er hat ihn mir nicht gesagt und ich habe nicht danach gefragt. Für mich hatte dieser Name keinerlei Bedeutung. Ich konnte ja nicht wissen, daß es einmal jemanden geben würde, für den er von Bedeutung ist. Aber warten Sie mal …« Sie wendete sich an Rolf Schubert. »Hast du die Kiste mit den Sachen von Ansgar schon fortgebracht?« »Sie steht noch unten in der Garage«, sagte Schubert. Lilli Gottwald wendete Anne wieder das Gesicht zu. »Mein Mann hat nämlich nie etwas weggeworfen. Wir wollten jetzt eine Menge Sachen von ihm, die niemanden mehr interessieren, zur Müllverbrennung bringen. Wenn es stimmt, was mein Mann immer erzählt hat, dann sind die beiden Postkarten in dieser Kiste.« Die zum Abtransport bestimmte Kiste war von Rolf Schubert gewissenhaft zugenagelt worden und stand an der Rückwand der Garage, bereit zum Einladen in den Kombiwagen der Firma. Rolf Schubert, den Annes Erzählung mehr gefesselt hatte als er zugeben wollte, hatte die Strickjacke ausgezogen und war mit Hammer und Stemmeisen damit beschäftigt, den Deckel wieder aufzubrechen. Endlich war es soweit. Beim Schein einer schirmlosen Deckenbirne begannen Rolf Schubert und Lilli Gottwald den Nachlaß noch einmal 172
zu durchwühlen. Sie fanden Dinge aus der Kindheit und Jugend. Zeugnisse, Sportdiplome, Fotos von Jugendfahrten, Briefe, die er seinen Eltern aus dem Feld geschrieben hatte, eine Zigarrenschachtel mit Kriegsauszeichnungen, von denen ihm manche noch Fritz angeheftet haben mochte. Es folgten Nachkriegsurkunden, Entnazifizierungsunterlagen, Bewerbungsschreiben, Briefe, Diplome. Endlich richtete Lilli Gottwald sich auf. In der Hand hielt sie zwei durch eine verrostete Büroklammer zusammengehaltene, stark mitgenommene Postkarten. »Kommen Sie, lesen wir das oben«, sagte sie. »Laß alles hier liegen, Rolf. Wir können es morgen in Ordnung bringen.« Im Wohnzimmer hielt Anne die Postkarten unter das helle Licht einer Stehlampe. Die erste von ihnen stammte aus dem Jahr 1945. Sie begann mit der noch kindlichen Anrede: Lieber Onkel Ansgar. Als Absender trug sie den Namen, der für Anne in diesem Augenblick mehr bedeutete als alle anderen Namen der Welt: Jost Marschal. Die Karte stammte aus einem der zahlreichen Sammellager für verschleppte Personen in der damaligen sowjetischen Besatzungszone. Ihr Inhalt schilderte in gedrängter Kürze den Leidensweg des jungen Marschal bis in dieses Lager und drückte den Wunsch aus, daß Onkel Ansgar ihn dort doch bald einmal besuchen möge. Die zweite Karte aus dem Jahre 1949 begann mit den förmlichen Worten: Sehr geehrter Herr Gottwald. 173
Als Absender war zu erkennen der Bezirk Berlin, Stöttnerstraße 14, Rückgebäude. In dieser Karte teilte Jost Marschal mit, daß er das große Glück habe, von dem verdienten Vorkämpfer für die Rechte der Arbeiterklasse, Max Wentzell, adoptiert zu werden und daß ihm eine Laufbahn im Dienste der Errichtung des ersten Arbeiter- und Bauernstaats auf deutschem Boden offenstehe. Lilli Gottwald überließ Anne die beiden Karten zu treuen Händen. Als Anne sie und Rolf Schubert noch einmal eindringlich darauf hinwies, wie gefährlich es sein könnte, wenn jemand von ihrem Besuch erfahren würde, versprachen beide, niemandem gegenüber auch nur ein Sterbenswort zu sagen. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen jemals danken soll«, verabschiedete Anne sich schließlich durch das offene Fenster ihres Kabrioletts. »Indem Sie uns mal eine Nachricht zukommen lassen, was aus der Sache geworden ist«, antwortete Lilli Gottwald und schlotterte in dem zu dünnen Mantel, den sie über das flaschengrüne geschlitzte Abendkleid geworfen hatte. Rolf Schubert öffnete das Gartengatter zur Straße, winkte Anne nach draußen und sah den Rücklichtern nach, als das Auto in die Hauptstraße einbog. Dann schloß er die Torflügel und hängte die Eisenstange ein. Er bemerkte Lilli, die ihm fröstelnd dabei zusah. »Nachdenklich?« fragte er. Sie kam näher und hakte sich bei ihm unter, als sie zusammen zurück zum Haus gingen. Plötzlich blieb sie 174
noch einmal stehen. Schubert drehte sich zu ihr um. »Ist was?« »Ich glaube, ich habe ihm manchmal Unrecht getan«, sagte Lilli. »Denk nicht mehr dran«, murmelte Schubert. »Du kannst es sowieso nicht ändern.« »Mich würd’s freuen, wenn sie das klar kriegte, mit ihrem Mann.« »Komm jetzt«, sagte Rolf Schubert. »Sonst wirst du dich noch erkälten.« Das wird alles nur vorübergehend sein, dachte er, als sie zusammen zurück zum Haus gingen. Und morgen werde ich diese verdammte Kiste endlich auf den Müll fahren. Dann wird sie hoffentlich nie mehr daran erinnert werden. Und das war für Rolf Schubert zunächst das Wichtigste.
175
6 Einige Kilometer südlich von München liegt in einem Areal zwischen der Bundesstraße elf, die nach Wolfratshausen führt, und dem tief eingeschnittenen Flußlauf der Isar das Dorf Pullach. Einstmals ein idyllischer Bauernflecken mit kühn über die Isarsteilhänge hinausgebauten Bierterrassen, an lauen Sommerabenden Geheimtip als Treffpunkt für Bohemiens und solche, die es gerne wären, leidet der Ort heute an Schizophrenie. Seit einst die Nationalsozialisten auf den Gedanken gekommen waren, nahe diesem Dorfe ein festungsähnliches Wohnghetto für ihre Funktionäre einzurichten, ist es mit der behäbigen Ruhe dort vorbei. Nördlich des Ortes umschließt eine kilometerlange Mauer eine ganze Stadt für sich. Die Mauer ist nur durchbrochen von wenigen mit Stahltoren bewehrten Einfahrten und gesichert durch vorspringende Beobachtungskanzeln. Auf der Mauerkrone verläuft Stacheldraht und auf den an ihr entlangführenden Straßen herrscht für alle zivilen Kraftfahrzeuge absolutes Halteverbot. Bei Nacht bestrahlen starke Scheinwerfer das Vorfeld. Über die Mauer ragen an manchen Stellen des ausgedehnten Geländes geheimnisvolle Antennenmasten, Sendetürme und Radareinrichtungen. Auf den Zieltabellen sowjetischer Raketenbasen rangiert das Dorf Pullach 176
aus diesem Grund in der Kategorie II, Aufklärungs-, Erkundungs- und Informationszentren, Nachrichtenmittel, Koordinationsstäbe, Nachschub- und Abwehrbasen, während zur Kategorie I bekanntlich ausschließlich operative Ziele zählen. Hier residiert, ins Leben gerufen in enger Zusammenarbeit zwischen Amerikanern und Deutschen durch den ehemaligen Wehrmachtgeneral Gehlen, der Nachrichtendienst der Bundesrepublik unter der Bezeichnung BND. An diesem 14. Februar 1980 herrschte im südlichen Bayern starker Föhn. Mallée hatte am Morgen nicht die B 11 genommen, sondern war auf Nebenwegen von Thalkirchen aus über die Prinz-Ludwigshöhe und Großhesselohe nach Pullach gelangt. Er fuhr den Wagen mit mäßiger Geschwindigkeit an der eintönigen Mauer entlang, welche das Dienstgelände umgab. Vor ihm breitete sich in unwirklich scheinender Nähe wie ein in der Bewegung eingefrorener Wogenkamm die Gipfellinie der Alpen aus, obwohl sie in Wahrheit noch fast 100 Kilometer entfernt waren. Der warme Föhnsturm hatte den Schnee von den Bäumen der ausgedehnten Nadelwälder gefressen, die dadurch unnatürlich tiefgrün wirkten. Mallée betätigte frühzeitig die Lichthupe. Der Polizist in seiner vorspringenden Glaskanzel bemerkte das Zeichen und sorgte dafür, daß das Tor offenstand, als Mallée in das Gelände einbog. Ein anderer Polizist, bewaffnet mit einer schußbereiten Maschinenpistole, kontrollierte wie jeden Morgen Mallées Papiere und 177
Wagen und bedeutete ihm dann weiterzufahren. Seit der Zeit der Nazis war hier vieles geschehen. Ursprünglich nur als Wohnsiedlung gedacht, waren seit dem Krieg auf diesem Gelände enorme Zweckbauten auf und unter dem Erdboden entstanden. Es gab Sende- und Empfangsstationen, Einrichtungen für Satellitenverbindung, Rechenzentren, Auswertungs-, Befehls- und Leitbunker. Die leitenden Beamten dieser Einrichtung hätten es gerne gesehen, wenn man sie wie auf den Territorien der Supermächte in ausgedehnten Waldgebieten dem Einblick der Öffentlichkeit vollständig hätte entziehen können, jedoch bot der zersiedelte, überindustrialisierte und übervölkerte Boden der Bundesrepublik hierzu keine Möglichkeit mehr. So hatte man aus der faschistischen Not eine demokratische Tugend gemacht und das ausgedehnte Gelände der Nazis für die neue Spionageorganisation übernommen. Günther Mallée war, wie die meisten der Beamten hier, kein Mann der ersten Stunde mehr. Damals waren Männer mit subversiver Erfahrung gebraucht und bevorzugt worden, auch viele, deren Kenntnisse und Fähigkeiten man schätzte, wenngleich sie im Dienste des tausendjährigen Reiches erworben und ausgeübt worden waren, und obwohl man wegen des politischen Lebensweges mancher von ihnen eigentlich zu ideologischem Bauchgrimmen verpflichtet gewesen wäre. Aber die Amerikaner hatten sich schon frühzeitig für die pragmatische Lösung entschieden. Diese war 1956 legalisiert worden. Seitdem ersten 178
April jenes Jahres wehte an dem hohen Mast, den Günther Mallée umfahren mußte, die schwarz-rotgoldene Flagge der westdeutschen Republik. Mallée versah im Räderwerk dieses geheimen Nachrichtendienstes, ausgestattet mit der Autorität und den Bezügen eines leitenden Regierungsdirektors, eine nicht allzu typische Aufgabe. Er war Chef derjenigen Abteilung, die sich mit der Abwehr operationeller Aktivitäten ausländischer Geheimdienste auf dem Boden der Bundesrepublik beschäftigte. Dies geschah nicht selten in Konkurrenz zu anderen Einrichtungen, die einen ähnlichen Aufgabenbereich versahen, wie etwa dem Militärischen Abschirmdienst – dem sogenannten MAD der deutschen Bundeswehr – oder den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder. Mallée arbeitete nach einer streng geregelten und gleichbleibenden Methode. Ähnlich wie sein Gegenspieler am Sokolniki-Prospekt in Moskau mußte der Mann an dieser Stelle in erster Linie ein Systematiker sein, der in der Lage war, die Fäden der geheimen Netze, die von dort ausgeworfen wurden, aufzuspüren, ohne sie zu zerreißen, und sie mit den modernsten technischen und elektronischen Mitteln zu sammeln, zu ordnen und auszuwerten. Dazu gehörten großer Überblick, psychologisches Einfühlungsvermögen in Absichten und Ziele des sogenannten potentiellen Gegners und eine kühl berechnende Entschlußkraft, denn in nachrichtendienstlichen Organisationen der ganzen Welt, der westlichen ebenso wie der östlichen, wäre nichts schädlicher und 179
gefährlicher, als bürokratische Behinderungen von Männern, die rasche Entscheidungen zu treffen haben. Zu Günther Mallées festem Tageskonzept gehörte es, als erstes die schriftlichen Eingänge durchzusehen, die auf seinem Schreibtisch lagen, wenn er das Büro betrat. Nachdem er sich in seinem Vorzimmer bemerkbar gemacht und sich gesetzt hatte, zog er die Eingangsmappe zu sich heran. Da die Vormittagspost noch nicht zugestellt und sortiert war, handelte es sich nur um dienstinterne Vorgänge. Es genügte, sie zur Kenntnis zu nehmen und das jeweilige Blatt mit dem kurzen Handzeichen zu versehen. Als Mallée das erledigt hatte, rief er die Sekretärin und gab ihr die Mappe. »Zur Ablage«, sagte er. »Und dann bitten Sie Herrn Pless zu mir.« Auf diesen Auftrag folgte regelmäßig Mallées Morgen-Zigarette, deren erste Züge er in den wenigen Minuten genoß, die Rüdiger Pless brauchte, um aus dem Nachbarbau zu ihm herüberzukommen. Mallée war ein großer Mann, um die 1,90 in herum, schlank und sportlich, obwohl er die Vierzig überschritten hatte. Ein Willy-Birgel-Typ, Haar und Oberlippenbart bereits angegraut, mit einem langen Pferdegesicht, das gleichzeitig Ehrgeiz und einen Charme ausdrückte, der auf Frauen wirkte. Mallée war Kybernetiker und als solcher ähnlich wie Fjodor Petrowitsch Popow überzeugt davon, daß nur intelligente Organisation die Massenprobleme der Zukunft würde bewältigen können. Im Gegensatz zu dem überzeugten Marxisten Popow glaubte er 180
allerdings nicht an eine rein funktionelle Logik des menschlichen Charakters. Er räumte vielmehr dem Antrieb durch moralische und ethische Motive eine gewisse Kraft ein. Günther Mallée war Oberstleutnant der Reserve. Nur seine Frau und Rüdiger Pless wußten, daß er den Ehrgeiz besaß, nach den schwergewichtigen Vorgängern Gehlen und Wessel der erste Chef des Dienstes zu werden, der als Offizier nicht mehr unter Hitler gedient hatte. Pless kam nicht durch das Vorzimmer und er kam, wenn Mallée ihn gerufen hatte, ohne anzuklopfen. Er war mittelgroß, zehn Jahre jünger als sein Chef, mit beginnender Stirnglatze und randloser Brille. Ein agiler, fleißiger Kanzleiarbeiter mit guter Allgemeinbildung; er hatte die unbezahlbare Gabe, Mallées Gedankengänge sofort zu begreifen und durch eigene Maßnahmen weiterzuentwickeln und voranzubringen. Ein hervorragender, loyaler und vertrauenswürdiger Mitarbeiter. Pless trug eine ähnliche Mappe in der Hand wie diejenige, die Mallée soeben nach draußen gegeben hatte. Die erste Begrüßung der beiden Männer geschah seit Jahr und Tag durch Handschlag. Danach setzte sich Pless vor die Untergebenenseite des Schreibtisches, und Mallée schob ihm eine ausfahrbare Platte entgegen, auf der Pless für gewöhnlich seine Unterlagen ausbreitete, während er vortrug. Dabei hatten, wie auch an diesem Morgen, die routinemäßig abzuhakenden Vorgänge den Vorrang. »Noch etwas?« fragte Mallée, nachdem dies alles erledigt war. 181
»Ja«, antwortete Pless und zog aus dem letzten Fach der Vorgangsmappe eine handgeschriebene Notiz hervor, die er nicht zu Mallée hinüberreichte, sondern von der er Einzelheiten ablas. »PÜ Bonn gibt ein Notinserat durch.« Mallée rückte sich im Sessel zurecht und sah Pless erstaunt an. »Ein Notinserat? Wen betrifft es?« »Ich weiß es noch nicht«, sagte Pless. »Ich weiß nicht einmal, was ich damit anfangen soll. Sie haben es gerade eben durchtelefoniert und ich wollte nicht fragen. Die Zentrale muß informiert erscheinen, auch wenn sie es nicht ist. Darf ich Sie um eine Information bitten?« »Na ja, solange sind Sie ja auch wirklich noch nicht bei uns«, sagte Mallée. »PÜ, was das ist, wissen Sie?« »Natürlich«, sagte Pless. »Die Presseüberwachung. Sie arbeiten die Anzeigen aller Zeitungen durch, um Leuten auf die Spur zu kommen, die sich durch Inserate verständigen wollen. Aber was ist in diesem Zusammenhang ein Notinserat?« »Ein Notinserat gehört überhaupt nicht in diesen Zusammenhang. Notinserate betreffen immer Leute auf unserer Seite der Medaille«, sagte Mallée und drückte den Rest seiner Zigarette im Aschbecher aus. »Es hat einmal eine Zeit gegeben, in der wir gezwungen waren, viele Leute in den Dienst zu nehmen, die mit ihrer Vergangenheit erpreßbar waren. Für die hatten wir eine Einrichtung geschaffen, die gewährleistete, daß sie sich nicht in Panik jagen lassen mußten, sondern die Möglichkeit hatten, sich mit uns 182
abzusprechen, wenn sie angeworben oder umgedreht werden sollten. Wenn man berücksichtigt, daß solche Leute von der Gegenseite beschattet werden, ist der Weg über ein Zeitungsinserat immer noch der unverfänglichste. Aus der Chiffrenummer des Inserates war genau zu ersehen, um wen es sich handelte.« »Dann kann es hier also nur noch um einen Nachzügler gehen«, sagte Pless. »Denn soviel ich weiß, sind doch alle auf diese Weise erpreßbaren Leute inzwischen ausgemustert worden.« »Das stimmt«, sagte Mallée. »Aber was Sie vielleicht nicht wissen, ist, daß wir dieses Prinzip ausgebaut haben zu einem ziemlich umfassenden, aber leider unfertig gebliebenen Abwehrsystem. Sehn Sie mal … wir wissen ungefähr, was Genosse Popow drüben in Moskau in seinen Zentralindex speichert. Der naheliegendste Gedanke war doch wohl, das, was die machen, auch zu tun. Das heißt, wir gingen auf die Suche nach den gleichen Leuten wie die drüben. Wir begannen, eine Datei derjenigen Personen anzulegen, die wir für Geheimnisträger und gleichzeitig für nachrichtendienstlich gefährdet hielten. Dadurch hielten wir zunächst die gleichen Karten in der Hand, wie die drüben auch.« »Das ist richtig«, sagte Pless. »Dann ist nur noch die Frage, welchen Grad von Deckungsgleichheit man damit erreichen konnte.« »So ist es. Und das war exakt das Problem, mit dem mein Vorgänger sich herumschlagen mußte. Wir mußten Militär, Wirtschaft, Forschung und Politik 183
ebenso konsequent durchschnüffeln, wie es die Russen mit ihrem KGB und die DDR mit ihrem SSD tun.« »Und?« fragte Pless interessiert. »Haben Sie das getan?« »Wir haben damit angefangen«, sagte Mallée trocken und nicht ohne Spott. »Leider unfertig geblieben, sagten Sie vorhin«, meinte Pless. »Wie ist das zu verstehen?« »Das Vertrauensmännergremium hat mir die Weiterführung dieses Konzepts verboten«, sagte Mallée bedauernd. »Sie hatten Bedenken wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte und wegen der Datenschutzprobleme. Der Chef und ich haben die Leute bekniet und beschworen, um sie von der Wichtigkeit dieses Systems zu überzeugen. Leider vergeblich. Das ist eine Frage der Prioritäten. Der Chef hielt die Sicherheit des Staates für vordringlicher, die Vertrauensmänner dagegen die Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien. Hart stoßen die Dinge sich im Raum, Pless. Aber von seinem Standpunkt aus hat wahrscheinlich jeder recht.« »Wie verfahren wir also in dieser Sache?« fragte Pless und hob den Zettel, den er immer noch in der Hand hielt. »Geben Sie mal her«, sagte Mallée anstelle einer Antwort, und Pless reichte ihm die Notiz über den Schreibtisch, in die Mallée sich vertiefte. »Haben Sie auf die Chiffre geachtet?« fragte er nach einer Weile. 184
»Ich habe den ganzen Vorgang überhaupt noch nicht überprüft«, sagte Pless. »Ich sprach gerade mit Bonn, als Sie mich rufen ließen. Die Sache ist sozusagen taufrisch.« »Sehen Sie mal«, sagte Mallée und wartete, bis Pless um den Schreibtisch kam und ihm über die Schulter sah. »KR 799 B 14. Das ist eine alphanumerische Chiffre von acht Zeichen. Daß dies ein elektronisches Zuordnungsmerkmal ist, kann jeder sehen, der das Inserat überprüft. Deshalb sind in den letzten Jahren diese Chiffren nicht mehr vergeben worden.« »Die haben ja auch gar nicht mitgeteilt, in welcher Zeitung das Inserat erschienen ist«, sagte Pless kopfschüttelnd. »Das ist auch vollständig gleichgültig«, antwortete Mallée und erhob sich hinter seinem Schreibtisch. »Die Chiffre enthält alle wichtigen Merkmale. Kommen Sie, begleiten Sie mich runter ins Rechenzentrum. Mal sehen, ob die noch was ausspucken. Und wenn ja, was.« Mallée öffnete die Tür und hinterließ in seinem Vorzimmer, wo er zu finden sei. »Ich denke, die haben das unterbunden«, sagte Pless, während die beiden Männer durch den sulzigen Schneematsch des viel zu warmen Föhntages hinüber zum Tiefbunker stapften. »Sie haben Bedenken wegen der Weiterführung geäußert«, sagte Mallée. »Von einer Löschung der Daten ist nicht die Rede gewesen.« Eine Weile schritten die Männer schweigend 185
nebeneinander her. Schließlich fuhr Mallée fort: »Oder hätten Sie ohne ausdrückliche Anweisung die Arbeit von ein paar Jahren durch einen Knopfdruck einfach ausgelöscht?« »Nein«, sagte Pless, »das hätte ich auch nicht getan. Vor allem, wenn die Möglichkeit der Effizienz besteht. Ich bin wirklich gespannt. Hat es denn schon Fälle gegeben, in denen sich jemand gemeldet hat?« »Dieser Dienst ist weitgehend auf Vertrauen aufgebaut, Pless. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit: Ja, es hat sie gegeben. Und es sind uns aufgrund dieser Fälle schon Operationen geglückt. Auch Erfolge, die in die Öffentlichkeit gelangt sind. Nur die Methode ist geheim geblieben, mit der sie erreicht wurden.« »Wer hat das verantwortet?« fragte Pless. »Ich«, sagte Mallée. »Und ich würde es auf dieser Basis auch wieder tun. Es ist ganz gut, wenn Sie sich das alles mal mit ansehen.« Der Zugang zum Tiefbunker der Elektronik befand sich im Inneren eines der Gebäude, die wie gewöhnliche Siedlungshäuser über das Gelände verteilt waren. Jedoch traf man hier nicht auf Bauknechtküchen, Wohnzimmer mit Fernsehecke und Schlafcouch, sondern auf Beton, Stahl und Technik. Und außerdem auf einen bewaffneten Posten. Mit einem Aufzug ging es unter die Erde. Als die Männer den Aufzug verließen, befanden sie sich 20 Meter unter dem Boden in einem mit Spannteppichen ausgelegten und durch gedämpftes Licht erhellten 186
Vorraum. Eine Lichtschleuse blinkte auffordernd, und als sie diese durchschritten hatten, leuchtete ein in die Wand eingelassenes Transparent auf, wo sich der Kennungsschlitz befand. Mallée fütterte ihn mit seiner Sicherheitskarte und eine Stahltür schwang zurück. Sie befanden sich jetzt in einem ebenfalls von gedämpftem Licht und gedämpften Geräuschen angefüllten Großraum von ziemlicher Ausdehnung. Zahllose Bildschirme schimmerten in fluoreszierendem Grün, bedient, wie es schien, von einem verschworenen Team von Robotern in schneeweißen Mänteln. In diesem Raum herrschte der empfindlichen Geräte wegen eine im Sommer wie Winter stets gleichbleibende Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Für den Fall, daß der Netzstrom ausfiel, machte eine eigene Generatoranlage das Rechenzentrum unabhängig. Mallée fragte sich zu dem Chef der Systemtechnik durch und zeigte ihm die Notiz, die Pless ihm übergeben hatte. Nachdem der Mann in seinem weißen Mantel eine Weile überlegt hatte, forderte er die beiden Besucher auf, ihm zu folgen. In einer entfernteren Ecke des Großraumes sprach er einen Operator an, der damit beschäftigt war, eine neue Bandspule auf ein kompliziertes Gerät zu legen. »Sehen Sie mal, das gehört doch zu Ihrem Bereich?« Der Operator prüfte die Kennziffer. »Ja«, sagte er. »Aber ein ziemlich altes Programm. Wollen Sie es gleich haben?« Mallée nickte. »Es kann sehr wichtig sein.« 187
Der Operator nahm das Band, das er soeben auf die Maschine gelegt hatte, wieder heraus, verschwand damit und kam nach einigen Minuten mit einem neuen Speicherband und einer Programmspule zurück. Nachdem er beides eingelegt hatte, streckte er die Hand noch einmal nach dem Zettel aus. Von diesem ablesend gab er Programm und Kennung ein. Dann deutete er stillschweigend auf einen freien Bildschirm und ließ Mallée und Pless allein. Über die gewölbte Glasscheibe geisterten grünliche Striche und Schatten. Doch es dauerte ziemlich lange, bis sich diese Lichtpunkte formierten, Kolonnen und Zeilen bildeten und schließlich flimmernd stehen blieben. Interessiert näherten Mallée und Pless ihre Gesichter dem Bildschirm. Dort lasen sie ab, daß die Chiffre sich auf ein Inserat bezog, das in der Fachzeitschrift »Der Rheinland-Pfälzische Elektrohandel« eingerückt worden war. Wenn danach alles noch seine ursprüngliche Richtigkeit hatte, dann mußte der Auftraggeber laut Kennziffer ein gewisser Fritz Seyfried sein, geboren am 9. August 1921 in Kronenfeld im Banat, von April 1951 bis Juni 1961 Angehöriger der ehemaligen Organisation Gehlen und später des Bundesnachrichtendienstes, danach versetzt zum Amt für Waffentechnik und Beschaffung in Koblenz, Leiter der Projektstelle 14, zuständig für gepanzerte Fahrzeuge des Heeres und deren Ausrüstung. Als zusätzliche Information flimmerten aus der Braunschen Röhre die Feststellungen, daß Seyfried Geheimnisträger, abwerbungsgefährdete 188
Persönlichkeit, verheiratet und in geordneten finanziellen Verhältnissen sei. Über Leichtsinn, Schulden, Leidenschaften sei nichts bekannt. Seyfried sei als loyaler Beamter von bürgerlicher Lebensweise und gefestigtem Charakter anzusehen. Mit diesen Feststellungen endete das Bild auf dem Schirm. Mallée und Pless richteten sich auf und sahen sich an. »Also doch nichts von erpreßbarer Vergangenheit«, sagte Pless nachdenklich. Auch Mallée dachte nach. Seine Hand tastete gewohnheitsmäßig in der Rocktasche nach der Zigarettenpackung, bis ihm einfiel, daß das Rauchen hier unten verboten war. »Können Sie mir diesen Text ausdrucken lassen?« fragte er den Operator, der inzwischen wieder herangekommen war und mit den Händen in den Taschen seines weißen Mantels ebenfalls auf den Bildschirm blickte. »Selbstverständlich, Herr Mallée«, antwortete er und machte sich eine Notiz. Mallée und Pless schritten durch den riesigen unterirdischen Raum zurück zum Ausgang und fuhren mit dem Aufzug wieder an die Oberfläche. In Mallées Arbeitszimmer angelangt, zündeten sie sich Zigaretten an. »Nichts von erpreßbarer Vergangenheit«, sagte Mallée. »Wenigstens nicht, soweit es sich aus dieser Speicherung ergibt. Wie beurteilen Sie die Sache?« »Entweder ist der Mann unter Druck«, sagte Pless, 189
nachdem er eine Weile nachgedacht hatte. »Oder die Gegenseite testet, was bei uns auf so ein Inserat hin noch passiert.« »Dann müßten sie Seyfried schon angeworben oder umgedreht haben, denn über die Chiffre verfügt er allein. Ich möchte unterstellen, daß Seyfried das Inserat selbst aufgegeben hat. Wenn das der Fall ist, beweist es, daß der Mann überwacht wird oder mindestens glaubt, daß er überwacht wird. Das heißt im Klartext, daß wir mit unserer Reaktion äußerst vorsichtig sein müssen.« In diesem Augenblick wurde die Tür zum Sekretariat geöffnet und eine Dame überbrachte den Ausdruck des Textes, den Mallée und Pless vor wenigen Minuten auf dem Bildschirm gehabt hatten. Mallée nahm die Papierfahne in Empfang, lehnte sich in seinem Sessel zurück und las den Ausdruck noch einmal aufmerksam durch. Schließlich legte er das Papier vor sich auf den Schreibtisch, stützte die Arme auf die Seitenlehnen seines Sessels und sah Pless über die Spitzen der aneinandergelegten Finger an. »AWB, Projektstelle 14, Pless, wissen Sie, was das nur bedeuten kann?« »Natürlich«, sagte Pless. »Panzerrüstung.« Pless sah Mallées Gesicht nur gegen das helle Licht, das durch die Fenster hereinfiel. Aber er wunderte sich dennoch, als er darin einen Zug zu entdecken glaubte, den er bisher in dem Wesen seines Vorgesetzten noch nie bemerkt hatte. Es war der aufmerksame und angespannte Ausdruck eines leidenschaftlichen Jägers, der nach langem und vergeblichem Ausharren 190
unerwartet doch noch auf die Spur eines seltenen Wildes gerät. »Panzerrüstung«, knurrte es abschätzig aus dem Schatten heraus, in dem Mallées Gesicht lag. »Sie sagen das so, als ob sich der luxemburgische Geheimdienst für das Modell einer neuen Leuchtpistole interessiere.« Mallées Körper rückte nach vorne, sein Gesicht kam näher. »Aber ich sage Ihnen was anderes, Pless … das da …«, Mallées Hand pochte energisch und mehrfach rasch hintereinander auf das Blatt Papier, als wolle sie es auf die Schreibtischplatte nageln, »… das da ist der erste Auftritt von Nachtfrost, so wahr ich hier sitze.« Pless wollte in diesem Augenblick keine Fragen stellen. So gut kannte er seinen Chef, daß er wußte, daß Günther Mallée weitersprechen würde, wenn er einmal so angefangen hatte wie eben. Und Pless täuschte sich nicht. Mallée hielt es in diesem Augenblick nicht mehr auf seinem Sessel. Zuerst zwischen Schreibtisch und Fenster hin- und herwandernd und schließlich mit vor der Brust verschränkten Armen vor Pless stehenbleibend und auf ihn heruntersehend, sagte er: »Seit Jahren ist mir klar, daß Rodionowsky und Alikin hinter dem Projekt SR 707 her sind. Sie müssen es sein, wenn sie das Geld wert sein wollen, das ihnen der Sowjetstaat zahlt. Wir wissen aber auch noch etwas anderes, nämlich daß die Leute um Alikin eine Operationsgruppe auf das Projekt angesetzt und eingeschleust haben, die drüben unter dem Deckwort Nachtfrost läuft. Das ist aber auch alles. 191
Hinter SR 707 verbirgt sich eine Panzerungsentwicklung für den Leopard II, die durch ein Zusammenwirken von metallurgischer Legierung und fahrzeugtechnischer Verarbeitung praktisch eine neue Dimension im Panzerbau darstellt und jede mit dem Leopard II ausgerüstete Panzerwaffe bis auf weiteres unverwundbar macht. Projektstelle 14 ist die Nahtstelle, an der Planungsanstoß, Entwicklung, Fertigung, Erprobung und Lieferung dieses Materials zusammenlaufen. Die Panzerung ist das einzige, was an dieser Kiste wirklich geheimgehalten wird. Und dieser Mann … wie heißt er doch gleich …?« »Seyfried«, sagte Pless. »Fritz Seyfried.« »Gut, dieser Seyfried scheint der Mann zu sein, auf den die Sowjets ihre Bemühungen konzentrieren. Es könnte sein, Pless, daß es uns jetzt gelingt, Nachtfrost auf die Spur zu kommen.« »Wenn es kein Bluff ist«, sagte Pless. Aber davon wollte Mallée nichts hören. »Stellen Sie sich nur mal vor, da schleust uns Alikin vor drei Jahren eine ganze Operationsgruppe in die Republik ein, von der wir zwar genau wissen, was sie beabsichtigt und wie sie sie nennen, aber sonst nichts. Und die verhält sich einfach still, stellt sich tot, als gäbe es sie überhaupt nicht, um in dem Augenblick aufzutauchen, wo ihre Operationen Erfolg versprechen. Und jetzt meldet sich genau der Mann, den ich auch anvisieren würde, wenn ich an ihrer Stelle wäre. Das ist kein Zufall. Und auch kein Bluff. Das ist System. Und ich will genau wissen, was dahintersteckt. Was schlagen 192
Sie vor?« »Wenn Sie recht damit haben, daß die Sache so brisant ist und der Mann beschattet wird, geht nichts schriftlich und auch nichts über das Telefon«, meditierte Pless mehr als daß er vortrug. Mallée nickte zustimmend. »Wir haben doch für solche Fälle eine Klempnerfirma an der Hand«, fuhr Pless fort. »Wie wäre es mit der?« Günther Mallée war mit diesem Einfall einverstanden. »Gut«, sagte er. »Lassen Sie Seyfried in einem Werbebrief durch Boten eine Aufforderung zukommen, daß er sich unter einer Adresse, die wir ihm ebenfalls mitteilen, einen Klempner ins Haus bestellen soll. Diese Briefe müssen aber in jedes Haus und jeden Briefkasten der ganzen Gegend kommen, damit der Einwurf bei Seyfried nicht auffällt, vergessen Sie das nicht. Und für den Besuch schicken Sie einen erfahrenen Mann nach Koblenz, der einen Sachverhalt rasch erfassen, analysieren und Maßnahmen treffen kann. Seyfried ist ja schon für den Dienst tätig gewesen. Ich hoffe, daß er weiß, wie er sich zu verhalten hat. Und denken Sie daran, Pless, wenn ich recht habe, ist jeder Fehler, auch der geringste, gefährlich für die Sache.« »Und auch für Seyfried.« »Von mir aus auch für Seyfried. Aber Sie werden mir zustimmen, daß das Interessanteste an dieser Sache die Möglichkeit ist, Nachtfrost aufzudecken.« Pless stand auf. »In Ordnung, Herr Mallée. Ich 193
werde Sie auf dem laufenden halten.« Pless ging zur Tür. Als er den Griff schon in der Hand hatte, hörte er noch einmal Mallées Stimme und wendete sich um. »Und lassen Sie einmal die Archive durchsehen, Pless. Ich bin sicher, daß es über Seyfried eine Akte gibt. Die möchte ich hier auf meinem Schreibtisch haben. Je schneller, desto besser.«
194
7 Anne sah den Jungen kommen. Er benützte ein Mofa und hatte eine Segeltuchtasche umgehängt, aus welcher er bei jedem Anwesen so viele Briefe entnahm, wie zu dem Haus Briefkästen gehörten. Sie sah ihn gewissenhaft die Briefe abzählen, die Vorgärten durchqueren und die Umschläge in die Schlitze stecken. Schließlich schwang er sich wieder auf sein Mofa und fuhr einige Häuser weiter, wo er es wieder aufbockte und das Spiel von vorne begann. Als er zu ihrem eigenen Hause kam, hörte Anne das Gartentor klappen, die Schritte des Jungen auf dem Plattenweg und endlich das Klappern des Briefkastens. Hätte Anne nicht nasse Hände gehabt, so hätte sie ihm zugerufen, daß er sich seine Mühe sparen solle, denn Seyfrieds gehörten zu jenen Konsummuffeln, die seit Jahr und Tag Wert darauf legten, ihre Bedürfnisse selbst zu bestimmen und nicht durch eine dummdreiste Werbeindustrie vorprogrammieren zu lassen. Aus diesem Grunde landeten Werbeschriften bei ihnen ausnahmslos und unabhängig vom Gegenstand der Anpreisung stets im Papierkorb. So geschah es auch mit dem hektographierten Schreiben einer Schneiderfirma für Herrenmaßhemden, das außerordentlich günstige Angebote bei Abnahme von mindestens drei Stück an aufwärts verhieß. 195
In der Nacht, nachdem Anne mit dem Namen und der Adresse des Jungen von Tomaszów aus Solingen zurückgekehrt war, hatte sie ihre Ungeduld kaum beherrschen können. Schon beim Abendbrot hatte sie Fritz, begleitet von Schweigezeichen, die beiden mit der rostigen Büroklammer zusammengehefteten Postkarten, die ihr Lilli Gottwald überlassen hatte, über den Tisch gereicht und bedeutungsvoll auf den Absender der einen von ihnen gezeigt. Fritz hatte sich in die Karten vertieft und sofort begriffen, um was es sich handelte. Anne hatte seinem Gesichtsausdruck angesehen, daß er niemals damit gerechnet hatte, daß sie diesen Namen und außerdem eine Adresse in Erfahrung bringen würde, wenn diese Adresse nun auch schon fast 30 Jahre alt war. Sie hatten sich gezwungen, den Abend so normal zu verbringen wie alle Abende vor dem Einbruch der Weltpolitik in ihr persönliches Leben. Sie hatten sich über Belanglosigkeiten unterhalten, ferngesehen und waren schließlich wie gewöhnlich zu Bett gegangen. Wie sie es schon seit Tagen taten, begaben sie sich später lautlos in den Heizungskeller, um sich auszusprechen. »Fritz, was sagst du?« hatte Anne ausgerufen und hinzugefügt, das sei mehr, als sie selbst jemals zu hoffen gewagt hatte. Danach hatte sie Fritz alle Einzelheiten ihres Besuches bei Lilli Gottwald berichtet. Sie sei fest entschlossen, hatte sie zu Fritz gesagt, diese Spur zu verfolgen, obschon ihr Mann skeptisch geblieben war und ihre Hoffnung auf einen positiven Verlauf dieser Spurensuche zu dämpfen 196
versucht hatte. Sie hatten dennoch beschlossen, den eingeschlagenen Weg konsequent weiterzuverfolgen. Das hieß, ihre Gegner auf jeden Fall in dem Glauben zu lassen, daß Fritz bereit sei, auf ihr Spiel einzugehen, parallel dazu eine Chance zu nützen, sich in Berlin mit Annes Schwager zu beraten und gleichzeitig zu versuchen, im Ostteil der Stadt etwas über das Schicksal von Jost Marschal in Erfahrung zu bringen. Neben alldem hofften sie darauf, daß das Inserat zu einer wie immer gearteten Reaktion des eigenen Abwehrdienstes führen würde. Dies allerdings hatte sich Anne als viel zu dramatisch und aufregend vorgestellt, um es mit dem mofafahrenden Jungen und einem Werbebrief für maßgeschneiderte Herrenoberhemden in Verbindung zu bringen. Sie war deshalb überrascht über die Reaktion ihres Mannes, als sie ihm auf seine Frage nach der Post antwortete, daß nur die Stromrechnung und ein Werbebrief gekommen seien. Er sah sie aufmerksam und fragend an. Anne deutete mit den Schultern zuckend auf den Papierkorb und Fritz bückte sich, um die Fetzen des Werbeschreibens mühsam wieder zwischen den Fetzen anderer Papiere hervorzuwühlen. Anschließend setzte er sie unter dem Licht der Lampe auf seinem Schreibtisch zusammen und zeigte Anne die unauffällig mitten in den übrigen Text lancierten Zeilen: Rufen Sie unter der Nummer 24 73 8 die Firma Wallmann an und bestellen Sie wegen verstopfter Toilette einen Installateur. Warten Sie auf jeden Fall, bis dieser Sie auf das Problem 197
anspricht. Anne war so überrascht, daß Fritz sie nur mit Mühe daran zu hindern vermochte, auf der Stelle offen über die Mitteilung zu sprechen. Sie mußte ihre Ungeduld bezähmen bis zu dem nächtlichen Gespräch im Keller. Als sie endlich in ihren Betten lagen, verlor Anne zum ersten Mal die Nerven. Fritz hatte es schon seit einigen Tagen befürchtet. Er hörte ihr unterdrücktes Schluchzen dicht neben sich. Sie hatte ihr Gesicht in das Kissen gepreßt und ihre Schultern zuckten. Er näherte seinen Mund ihrem Ohr: »Du darfst jetzt nicht durchdrehen, Anne«, hauchte er. »Jetzt nicht. Versuch es zurückzuhalten, bis wir im Keller sind.« Für ein paar Sekunden nahm Fritz sie in seine Arme und streichelte ihr Haar. Dann verließ er das Bett und holte die Morgenmäntel. Annes Gesicht war tränenüberströmt, als sie sich in dem Ungewissen, von draußen hereinfallenden Licht die Treppen abwärts tasteten. Aber es gelang ihr, das Weinen zu unterdrücken. »Mein Gott, mein Gott, mein Gott«, schluchzte sie los, als Fritz endlich die Eisentür hinter sich geschlossen hatte. »Wie kommen diese Menschen eigentlich dazu, sich in unser Leben zu drängen. Das geht sie doch gar nichts an. Was für eine Bosheit treibt sie nur?« Fritz Seyfried beschwor seine Frau. »Du warst doch bis jetzt tapfer, Anne. Und viel gefaßter als ich selbst. Du hast diese Adresse herausgefunden und jetzt ist auch die Nachricht von der Abwehr da.« 198
»Das ist es ja gerade«, sagte Anne, noch immer von einem stoßweise aus ihr herausbrechenden Weinen geschüttelt. »Diese Nachricht hat mir die Wirklichkeit vor Augen geführt. Diese Kälte, diese Sachlichkeit … in was sind wir da nur hineingekommen, Fritz?« »Nun beruhige dich wieder«, sagte Fritz. »Das ist nur vorübergehend. Wenigstens kümmert sich jetzt jemand um uns. Wenn du durchhältst, kann vielleicht alles noch gut werden, Anne …« Fritz rüttelte sie aufmunternd an den Schultern. »Du mußt die Nerven behalten, hörst du.« »Das will ich ja auch«, sagte sie. »Aber es hat mich alles so überfallen da oben in der Dunkelheit, diese Rücksichtslosigkeit und Brutalität. Und letzten Endes doch das Ausgeliefertsein. Was wissen wir, was diese Leute für Ziele verfolgen, die sich da eingeschaltet haben.« »Aus diesem Grunde müssen auch wir unsere Ziele verfolgen, Anne. Laß uns unsere Gedanken sammeln und methodisch vorgehen. Das mit dem Installateur mußt du in die Hand nehmen. Genauso harmlos und gleichzeitig raffiniert, wie du alles bisher gemacht hast. Der Mann wird zu einer Zeit kommen, wenn ich nicht hier, sondern im Amt bin. Du mußt ihn über alles informieren und dir Verhaltensmaßregeln geben lassen. Frage ihn nach allem, was dir unklar ist, je mehr desto besser. Das machst du alles gleich morgen vormittag. Dann rufst du Friska an und verabredest mit ihr deinen Besuch in Berlin. Auch bei Friska beklagst 199
du dich über meine Unausstehlichkeit, aber maßvoll, nicht zu auffällig, denn unsere Gegner sind geschulte Psychologen. In Berlin berätst du dich eingehend mit Heinz und läßt dir sagen, wie wir uns verhalten sollen.« »Ich gehe auch in den Ostteil und versuche etwas über Jost Marschal zu erfahren.« Fritz sah seine Frau leicht überrascht an. Die Vorstellung, daß sie in einer so komplizierten Sache ausgerechnet in Ostberlin Nachforschungen anstellen wollte, gefiel ihm gar nicht. Nach kurzem Überlegen aber nickte er zustimmend und sagte eindringlich: »Frage aber auf alle Fälle Heinz über notwendige Vorsichtsmaßnahmen und riskiere nichts, hörst du, absolut nichts.« Fritz Seyfried war Realist. Er sah in der Sache mit dem Jungen von Tomaszów keine große Chance. Anne spürte das und es entmutigte sie. Aber da Fritz mit ihrer Reise nach Berlin einverstanden war, stand es ihr ja frei, diesen Weg einzuschlagen; und sie war entschlossen, es zu tun. »Anne«, sagte Fritz, »sei mir nicht böse, aber wir müssen jetzt die Toilette verstopfen.« Trotz ihrer Bedrückung mußte Anne lachen. »Du bist ein alter Idiot, Fritz.« »Nein nein, es ist mein Ernst, glaub mir, ich habe in diesen Dingen etwas Erfahrung. Und es steht zuviel auf dem Spiel, um alles an einer Nachlässigkeit scheitern zu lassen. Such altes Zeitungspapier zusammen, das möglichst stark aufquillt, und mach 200
alles, wovon es immer heißt, daß man es nicht darf. Nimm das WC im Erdgeschoß, damit du den Monteur unverfänglich in den Keller führen und dort ungestört mit ihm sprechen kannst.« Anne schüttelte den Kopf. »Kindereien«, sagte sie, aber schließlich überzeugte Fritz sie doch davon, daß in ihrer Situation Kindereien und Ernst gefährlich nah beieinander lagen. Schweigend arbeiteten sie also die nächsten 20 Minuten daran, die Toilette im Erdgeschoß in einen für einen Installateur glaubwürdig verstopften Zustand zu versetzen, bevor sie sich wieder zu Bett begaben. Der nächste Vormittag bewies, daß Fritz mit seiner Vorsichtsmaßnahme durchaus recht gehabt hatte. Nachdem er und Anne sich lang und breit über den Defekt im Abfluß der unteren Toilette unterhalten hatten, rief Anne die ihnen durch den Werbebrief übermittelte Telefonnummer mit etwas klopfendem Herzen an, sobald Fritz das Haus verlassen hatte. Es meldete sich in der Tat die angekündigte Firma. Anne teilte dem Mann den Fehler mit, und dieser machte sich eine Notiz. Er werde den Monteur in den nächsten Tagen schicken. Jedoch bat Anne, daß dieser Besuch schon am heutigen Tage stattfinden solle, da sie eine Reise nach Berlin beabsichtige und sonst tagsüber niemand zu Hause sei. Schließlich sagte der Mann am Telefon zu, daß sein Monteur am späten Vormittag bei Seyfrieds vorbeikommen werde. Um so überraschter war Anne, als sich bereits gegen 10 Uhr 30 ein Mann sehen ließ. Dieser Mann kam mit 201
einem unscheinbaren Kleinwagen, trug einen fast neuen hellblauen Arbeitsoverall und einen gelben Plastikhelm und hatte keine Tasche bei sich. Er läutete, kam den Plattenweg herauf und erklärte, er komme von der Firma Wallmann. Danach verlangte er den defekten Toilettenabfluß zu sehen. Anne führte ihn dorthin. Der Mann begutachtete den Schaden ohne besonderes berufliches Interesse und erklärte alsdann, daß er dafür nicht das notwendige Gerät mitgebracht habe. »Aber ich habe Ihrem Chef doch genau gesagt, um was es sich handelt«, meinte Anne. »Ja, wissen Sie«, sagte der Mann, »der hat mich nur über Funk erwischt, weil Sie es eilig gemacht haben. Ich hole mir die Spirale und komme noch einmal wieder.« »Aber noch vor der Mittagszeit«, sagte Anne. »Noch vor der Mittagszeit«, versprach der Mann. Anne sah ihm nach, wie er den Plattenweg zurück zu seinem Auto ging, einstieg und, nachdem er gewendet hatte, davonfuhr. Der von der Installationsfirma Wallmann wirklich geschickte Mann kam über eine Stunde später. Auch er in einem blauen Monteuranzug, jedoch ohne Helm, dafür aber mit einem erforderlichen Arbeitszeug. Auch er ließ sich die Schadenstelle zeigen und machte sich sofort an die Arbeit. Anne machte eine Bemerkung darüber, daß ja nun ein anderer Mann geschickt worden sei als der, der die Sache begutachtet habe. Ohne seine Arbeit zu unterbrechen, fragte der Mann, 202
wie der andere denn ausgesehen habe. Anne beschrieb es ihm: »Er war groß, rasiert und hatte einen gelben Helm auf«, sagte sie. »Alles in allem sah er eigentlich mehr nach Aufsicht und nicht so sehr nach Arbeit aus.« »Mehr nach Aufsicht, so«, antwortete der Mann und schob die Spirale vorsichtig nach. »Von uns ist kein Mann geschickt worden, Frau Seyfried. Das kann nur ein Irrtum sein.« »Aber es ist kein Irrtum«, sagte Anne beunruhigt. »Er sagte, daß er von der Firma Wallmann kommt.« Der Mann warf Anne einen Blick zu, aus dem sie schloß, daß er sich sehr wohl einen Reim auf diesen Widerspruch zu machen wußte. Danach sagte er: »Machen Sie’s mit dem Chef aus, Frau Seyfried. Mich geht das nichts an. So … und jetzt zeigen Sie mir noch den Keller, wo das Rohr durchläuft, ob da genug Gefälle ist und kein zu starker Knick.« Im Keller veränderte der Mann sein Wesen völlig. Er zog Notizbuch und Stift hervor und sagte: »Fassen Sie sich kurz, Frau Seyfried. Wir können hier nur wenige Minuten bleiben.« »Ist das wirklich alles so … so … manchmal glaube ich, daß mein Mann übertreibt.« Der Mann im blauen Overall lachte vor sich hin. »Das, was hier zwischen uns passiert, ist das einzige, was der Gegner unter allen Umständen vermeiden muß, weil es für ihn gefährlich wird, wenn wir die Nase da reinstecken. Und die Konkurrenz war ja auch bereits da, soweit Sie erzählt haben. Das ist der 203
Beweis, daß Ihr Mann recht hat. Und jetzt geben Sie mir bitte knappe Antworten.« Der Mann hatte angegrautes Haar, Geheimratsecken und sah mit der goldgeränderten Brille, die er nun aufgesetzt hatte, wie ein routinierter Steuerberater aus. Er fragte Anne nach dem Zeitpunkt des Kontaktes, dem ersten und dem letzten, nach der Art, auf die man an Fritz herangetreten war, nach dem Aussehen und nach Besonderheiten des Agenten, der das gemacht hatte, nach den Informationen, um die es ging, und nach Art und Intensität des Druckes, unter den man Fritz gesetzt hatte. Anne antwortete ihm, so gut sie es vermochte. Mit Ausnahme aller Fakten, die den Tod des Majors Herbert Kayser betrafen. Denn bezüglich dieser Vorgänge, so hatte Anne mit ihrem Mann abgesprochen, sollte sie solange und jedem gegenüber schweigen, bis Klarheit darüber herrschte, ob es Fritz gelingen würde, sich zu entlasten. Als letztes stellte der Mann mit einem eindringlichen Blick durch seine goldgeränderte Brille die Frage, ob Fritz Seyfried im Zusammenhang mit dieser Affäre jemals den Begriff Nachtfrost gebraucht habe. »Nachtfrost?« sagte Anne. »Nein, ich glaube, das ist ein Wort, das mein Mann überhaupt noch nie verwendet hat.« »Wenn er es getan hätte, könnten Sie sich daran erinnern?« »Aber ganz gewiß«, sagte Anne. »Und ganz sicher, wenn er es im Zusammenhang mit dieser Sache getan 204
hätte.« Der Mann nickte. Er steckte Stift und Buch zurück in seine Kleidung. »Weshalb fragen Sie nach diesem Nachtfrost?« wollte Anne wissen, obschon der Mann nicht den Eindruck machte, als ob er es sehr schätze, seinerseits Fragen gestellt zu bekommen. »Es wäre am besten, wenn Sie dieses Wort wieder vergessen würden«, sagte er. »Nachtfrost ist eine gefährliche Naturerscheinung, wie Sie wissen. Und jetzt prägen Sie sich gut ein, was ich sage: Sie sind bei uns an der richtigen Adresse. Wir haben jetzt den Fuß zwischen der Tür, nachdem Sie und Ihr Mann sich so vernünftig benommen haben. Sagen Sie Ihrem Mann, daß er sich so verhalten soll, als ginge er auf die Sache ein, weil ihm gar nichts anderes übrig bleibt.« »Das hat er bisher auch schon getan.« »Das war richtig. Wir schalten uns zum notwendigen Zeitpunkt und an der richtigen Stelle wieder ein. Er soll mit niemandem mehr über diese Sache sprechen. Auch und gerade nicht in seinem Amt. Davon hängt vieles ab. Alles sozusagen.« »Und mein Mann? Ich nehme an, Sie werden den Burschen mit dem Hund verhaften, sobald er sich wieder an meinen Mann wendet?« Diese Frage paßte durchaus nicht in das Konzept des Mannes. Er schwieg einige lange Sekunden. »Das werden wir allerdings mit Sicherheit nicht tun, Frau Seyfried. Sagen Sie das Ihrem Mann. Hinter dem Burschen mit dem Hund stehen andere Männer. Und 205
auf die kommt es uns an.« »Aber das kann doch gefährlich werden«, sagte Anne entschlossen. Der Mann erwiderte: »Diese ganze Sache ist gefährlich. Und Ihr Mann kann gar nichts anderes tun als das, was wir von ihm erwarten. Wenn er sich an die Polizei wendet, bringt er die Bombe zur Explosion. Aber an einer falschen Stelle und zur falschen Zeit. Ihr Mann muß Vertrauen zu unserer Umsicht und unserer Erfahrung haben. Er kennt unsere Arbeitsweise und deren Sachzwänge. Sie nicht, Frau Seyfried.« »Vertrauen«, sagte Anne geringschätzig. »Zu wem und zu was? Wie heißen Sie eigentlich? Wo kommen Sie her? Wer sind Sie denn?« Der Mann lächelte eigenartig. »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Dann könnte ich gleich das alles in der Zeitung veröffentlichen.« »Das haben Sie jedenfalls mit dem Burschen mit dem Hund gemeinsam. Wer schützt uns denn überhaupt davor, daß später irgendein Staatsanwalt daherkommt, der keine Ahnung davon hat, daß Sie von meinem Mann erwarten, dieses Spiel mitzuspielen? Und der das Verhalten meines Mannes für echt hält und Anklage gegen ihn erhebt? Kommen Sie dann von selbst zur Verhandlung, um April, April zu sagen? Oder wie ist das? Wer trägt denn dafür die Verantwortung?« Der Mann in seinem Monteuranzug war durch Anne Seyfrieds Angriff ohne Zweifel überfordert. So etwas war ihm bisher bei seiner Tätigkeit noch nie vorgekommen, und er hatte auch noch nie daran ge206
dacht. Deshalb schwieg er noch einmal. »Sie werden mir dieses Gespräch mit Ihrer Unterschrift bestätigen«, sagte Anne. »Oder ich spreche den Fall mit meinem Anwalt durch.« »Seien Sie vorsichtig«, sagte der Mann zu Anne und wendete sich zum Treppenschacht als Zeichen, daß er das Gespräch zu beenden wünsche. »Und im übrigen wird Ihnen Ihr Anwalt das gleiche sagen wie ich. Vorausgesetzt, er versteht seinen Job.« Oben verließ der Mann das Haus ebenso unverdächtig, wie er es betreten hatte, nachdem er Anne einen Personal-Leistungsschein hatte unterschreiben lassen. Als er fortfuhr, bemerkte Anne, daß der Lieferwagen, mit dem er gekommen war, tatsächlich den Schriftzug der Installationsfirma Wallmann & Sohn trug. Mit dem Verschwinden dieses Kombiwagens war für Anne der Zeitpunkt gekommen, mit ihrer Schwester Friska in Berlin zu sprechen. Die Voraussetzungen waren jetzt gegeben, die Weichen waren gestellt. Das Wichtigste war, juristische Klarheit zu erhalten, und danach würde es sich zeigen, ob sie auf die Suche nach Jost Marschal gehen mußte oder nicht. Am Abend sprach sie sich auf die gewohnte Weise mit Fritz ab und berichtete ihm von dem Besuch am Vormittag. Fritz erkundigte sich eindringlich danach, ob es ihr geglückt sei, die Sache mit dem Major für sich zu behalten und war zufrieden, als Anne ihm das bestätigte. »Dann haben wir jetzt Zeit bis kurz vor 207
meinem Flug zu den Stahlwerken nach Herne«, sagte er und überprüfte seinen Kalender. »Das sind knappe drei Wochen.« »Ich tue, was ich kann«, sagte Anne. »Aber begib dich nicht in Gefahr«, bat Fritz sie. »Sprich alles, was du tust, mit Heinz ab.« »Fritz«, sagte sie, »hast du im Zusammenhang mit dieser Affäre jemals das Wort Nachtfrost gehört?« »Nachtfrost? Nein«, sagte Fritz. »Warum willst du das wissen?« »Der Mann wollte es wissen. Und er sagte, daß Nachtfrost bekanntlich eine gefährliche Naturerscheinung sei, als ich ihn danach fragte. Und ich sollte dieses Wort so schnell wie möglich vergessen.« Fritz sah eine Weile seiner Frau ins Gesicht. »Im Gegenteil«, sagte er. »Merke dir dieses Wort gut. Und wenn du irgendwann darauf stößt, sieh dich vor.« Am nächsten Tag saß Anne Seyfried in der zweiten Morgenmaschine nach Berlin-Tegel. Sie war schon häufig in die alte geteilte Reichshauptstadt geflogen, aber sie hatte es noch nie mit soviel Anspannung und Aufregung getan wie dieses Mal. Alles, was sie dort unten sah, schien ihr heute eine veränderte und beunruhigende Bedeutung zu haben. Die bleiern heraufglotzende Platte der Havelseen, der Stachel des Schäferbergturms, das von Panzern zerfahrene Übungsgelände von Döberitz, der gezackte sandgelbe Todesstreifen der Grenze, schließlich das von Straßenschluchten gefurchte Häusermeer der Stadt, das 208
sich ihr entgegenhob, als die Boeing 727 in ihre Kurve zum Landeanflug ging. Heinz stand am Gate und erwartete sie. Er hielt einen Blumenstrauß in der Hand, den er ihr überreichte, als er sie zur Begrüßung küßte. Er hatte keine Ahnung. Anne fand es besser, ihn nicht schon jetzt über den wahren Grund ihrer Reise aufzuklären, wo er keine Zeit hatte und sich über Bruchstücke nur beängstigende Gedanken machen mußte. Heinz brachte Anne nach Kohlhasenbrück, wo sie wohnten, fuhr dann zurück zum Gericht und anschließend in seine Kanzlei. Kohlhasenbrück ist eine Siedlung älterer Einfamilienhäuser, in hübschen, eingewachsenen Gärten gelegen, eingebettet in ein weites Gebiet dichter Kiefernwaldungen am südwestlichen Ende der Stadt. Es ist durchzogen von einer Kette idyllischer, von Wald oder von gepflegten Parks gesäumten Seen mit märkischem Landschaftscharakter. Man gelangt in diesen Winkel, wenn man hinaus nach Wannsee fährt, den Kleinen Wannsee überquert und in einigen Kilometern Länge einen Wald durchfährt. Früher hatte es hier eine S-Bahn-Verbindung gegeben, die an warmen Sommersonntagen zahllose Menschen in die dichten Wälder brachte. Heute sind die Gleise verrottet, die Weichenanlagen rostig, und alles stößt irgendwo zwischen Gärten an die Betonmauer, die in skurrilen Winkeln und Zacken dem kommunalen Grenzverlauf zwischen dem Gebiet des Westteils von Großberlin und dem in der DDR gelegenen Bezirk Potsdam folgt, überragt von den pilzförmigen 209
Wachtürmen, in deren Kanzeln man die Silhouetten einzelner Wachtposten erkennen kann, die ab und zu einen mißtrauischen Blick durch den Feldstecher auf das Territorium des Klassenfeindes werfen. An dem Tag, an welchem Anne Seyfried dort eintraf, lag das alles grau, schmutzig, in der Freudlosigkeit eines schneearmen und von einer gleichmütigen dunklen Wolkenschicht überdeckten Wintertages da. Kahle Gärten zeigten schamlos ihr winterlich ungepflegtes Gestrüpp und es roch überall nach Moder und Nässe. Nur das spitzgiebelige Haus, das Heinz und Friska bewohnten, bot Geborgenheit und Wärme. Es war in den dreißiger Jahren gebaut worden und strahlte Behaglichkeit aus. Das ebenerdige Wohnzimmer stand voller Bücher und gemütliche Butzenscheiben ließen noch weniger Licht herein, als draußen ohnehin herrschte. Hier klärte Anne ihre Schwester bei mehreren Gläsern trockenen Martinis über den wirklichen Grund ihres Besuches auf – ohne dabei jedoch schon die ganze Geschichte ihres Mannes preiszugeben. Friska konnte zunächst überhaupt nicht begreifen, daß sich all dies an dem Abend abgespielt haben sollte, als sie zusammen bei Fritz und Anne Geburtstag gefeiert hatten. Aber rückblickend ließ sich dadurch doch Fritz’ Gemütsverfassung und Verhalten an diesem Abend erklären. Wie immer, wenn Friska etwas aufregte, bekam sie Hunger. In der Küche machten sich die beiden Frauen Spiegeleier und Bratkartoffeln. Das habe sie ja alles gar nicht gewußt, 210
sagte Friska kauend. Sonst hätte sie Papa nicht zum Abendessen eingeladen. Aber jetzt konnte sie ihn natürlich auch nicht wieder ausladen, denn sonst müßte sie ihm den Grund erklären. Beide wußten noch aus ihrer Mädchenzeit, daß der alte Herr nur die Wahrheit akzeptierte. Belügen lassen hatte er sich noch nie. »Dann müssen wir eben über uns ergehen lassen, zwei Stunden zu politisieren«, sagte Friska. »Aber danach wird Heinz dir sicher helfen, soweit er kann.« Ihre Bemühungen, noch mehr Einzelheiten von Anne zu erfahren, waren fruchtlos. Ihre Schwester vertröstete sie auf später und bat sie, sich vor dem Essen noch etwas ausruhen zu dürfen. Heinz Pankraz kam um kurz nach sieben und brachte den alten Herrn gleich mit. Friska beeilte sich mit dem Abendbrot. Sie hatte Lendchen vorbereitet, dazu Kroketten, Gemüse und Salat. Heinz, der von allem immer noch nichts wußte, zog eine Flasche von der Auslese auf, die sein Schwiegervater mochte. Schließlich saßen sie um den runden Tisch und ließen es sich schmecken. Wie immer befeuerte der Wein das Temperament des alten Hobarth. »Habt ihr das gesehen«, trompetete er, das Weinglas in der Hand, von einem zum anderen blickend und mit zitterndem Schnauzbart. »Habt ihr das gesehen? Um sechs ist es durchgekommen. Im Ersten Programm. Die fünf Mann von uns, die im Bundestag gegen diesen schnellen Brüter in Kalkar waren, die haben sie heute in der Fraktion in Bonn in der Mangel gehabt. Der Genscher, der Mischnick und noch ein paar 211
andere. Gehirnwäsche haben die gemacht mit denen. Die haben mir imponiert, die jungen Kerle, die sind einfach dagegen und sie haben es gesagt.« »Papa«, meinte Heinz Pankraz, »um diesen Atomstrom kommen wir doch nicht herum, wenn der Lebensstandard bleiben soll.« »Das sagen die alle«, schnaubte der alte Herr und leerte sein Glas. »Aber die wissen es auch nicht. Keiner weiß, ob das gut geht oder ob es nicht gut geht. Die, die dafür sind, wissen das ebenso wenig, wie die, die dagegen sind. Und in so einem Fall haben schon die alten Römer die Finger davon gelassen. Und von denen, die dagegen sind, haben viele den sogenannten Lebensstandard gar nicht, von dem die anderen wollen, daß er erhalten bleibt. Wenn du mich fragst, Junge, ein bißchen weniger Lebensstandard und ein bißchen mehr Vernunft und Menschlichkeit würden diesem Land weiß Gott nicht schaden. Lebensqualität hängt nicht nur vom Eisschrank und von der Sonnenbank ab. Wir hatten keinen so hohen Lebensstandard und sind doch aufrechte Liberale geworden.« »Wenn die die fünf nicht in die Mangel genommen hätten, wäre die Koalition geplatzt«, sagte Heinz. »Na und?« sagte der alte Herr. »Laß sie doch platzen. Dann hätten wir Neuwahlen gemacht und nachgefragt, was die Leute eigentlich wirklich wollen. Immer besser, eine Koalition platzt über einer Gewissensfrage, als sie rettet sich mit einer Erpressung.« »Papa«, lachte Heinz gutmütig und goß seinem 212
Schwiegervater Wein nach. »Wenn ihr ihn gesehen hättet, würdet ihr mir recht geben.« »Wen?« fragte Friska. »Den Mischnick«, sagte der Alte. »Wie der rausgekommen ist nach absolvierter Gehirnwäsche aus dem Beratungszimmer, mit triumphierender Miene und sächselnder Stimme: In meiner Fraktion wird niemand mit ›nein‹ stimmen, hat er posaunt, als die Reporter ihn gefragt haben. Und hinter ihm die Charakterhelden, bärtig, verschwitzt und fertiggemacht. Von selbst sind die nicht zu Kreuze gekrochen, das kann ich euch sagen. Denen haben sie die Daumenschrauben angelegt, so wahr ich der alte Hobarth bin.« Einmal muß schließlich auch ein Altliberaler von der Vitalität des alten Hobarth Atem holen. Und diese Pause nützte Friska aus. »Es ist doch besser, wir haben diese Koalition, als eine absolute Mehrheit der anderen.« Aber das war schon wieder Wasser auf die Mühlen des alten Herrn. »Diese Koalition … diese Koalition … wenn ich das schon höre. In dieser Koalition jubeln doch die einen die Ansprüche hoch bis zum Gehtnichtmehr und die anderen bauen die Hemmschwellen ab. Auch bis zum Gehtnichtmehr. Das muß ja zum Kollaps führen.« »Wir haben aber nun mal keinen anderen Partner für die Koalition«, sagte Heinz Pankraz und begann, seine Serviette zusammenzurollen. »Das ist es ja«, sagte der alte Herr. »Weil sie 1949 213
mit ihrer Fünfprozentklausel die denkende Minderheit von der Politik ausgesperrt haben. Die denkende Minderheit ist immer kleiner als fünf Prozent, das mußt du dir merken, mein Junge. Alles andere sind Mitläufer und Opportunisten. Das hätten die damals wissen müssen, direkt nach dem tausendjährigen Reich, wo sie 95 Prozent Mitläufer hatten, drei Prozent Verbrecher und zwei Prozent Denkende. Was glaubst du, wie viele es heute gibt, die keine Opportunisten sind und Grips im Hirn haben, aber sich nirgends mehr engagieren können? Und vor allem bei den jungen Leuten. Ich kann die jungen Leute verdammt gut verstehen, die dann zu irgendwelchen Alternativen oder Grünen laufen. Wenn ich heute so jung wäre, wäre ich vielleicht auch bei denen. Obwohl es nichts schaden könnte, wenn sie sich waschen würden.« »Laßt uns rübergehen«, sagte Friska. »Heinz will den Kamin schüren.« »Mein Glas nehme ich aber mit, um es auszutrinken«, sagte der alte Herr. »Danach ruf mir bitte ein Taxi. Ich will frühzeitig nach Hause.« Heinz Pankraz schloß im Wohnzimmer die Jalousien, zog die Vorhänge zu und kämpfte eine Weile mit dem feuchten Holz, bis der Kamin brannte. Eine halbe Stunde blieb der alte Hobarth noch, dann brach er auf. Friska bestellte ein Taxi und brachte ihren Vater hinaus, als der Fahrer läutete. Als Friska zurückkam, hatte ihr Mann sich eine Cashmereweste übergezogen und eine Pfeife angezündet. »Gottlob sitzt du«, sagte sie zu ihm, der erstaunt zusah, wie sie sich 214
in einen Sessel lümmelte und den weiten Pullover zurechtzog, bis sie bequem hockte. »Also Anne, schieß los«, sagte sie. Und zu Heinz gewendet: »So schnell kommst du nämlich heute nicht ins Bett, Heinz. Was du jetzt hören wirst, hättest du dir dein Leben lang nicht träumen lassen.« Heinz Pankraz schob die Pfeife in den anderen Mundwinkel. »So schlimm wird’s schon nicht sein.« »Er ist allerhand gewöhnt, weißt du, von seinem Beruf her«, sagte Friska zu Anne. »Du brauchst dir keinen Maulkorb umzuhängen«, meinte Heinz beruhigend, während er seine Pfeife nachstopfte und danach seine Schwägerin aufmerksam ansah. »Ist etwas mit Fritz?« »Es ist etwas mit Fritz«, antwortete Anne. »Ob du es glaubst oder nicht, er ist in eine Spionageaffäre verwickelt worden.« Nun nahm der Anwalt seine Pfeife endgültig aus dem Mund und sah Anne mit zurückhaltendem Staunen an. »Das glaubst du doch selber nicht«, brachte er endlich heraus. »So wahr ich hier sitze«, warf Friska ein, die auf diese Reaktion ihres Mannes förmlich gewartet hatte. »Mit einem Agenten, geheimen Treffs, Telefonüberwachung und allem Drum und Dran.« »Es geht um Verschlußsachen aus seinem Amt«, sagte Anne. »Um die Panzerung der nächsten Leopard215
Generation, sagt er. Ich verstehe nicht viel davon, aber die meinen es ziemlich ernst. Wir können uns in unseren eigenen vier Wänden nicht mehr offen unterhalten und müssen uns nachts in den Heizungskeller schleichen, wenn wir es tun wollen.« »Ihr laßt euch aber wirklich ganz schön ins Bockshorn jagen«, sagte Friska fast etwas amüsiert. »Keineswegs«, entgegnete ihr Mann ernst, erhob sich und schaltete mit überraschender Energie die Stereoanlage auf eine sehr hohe Lautstärke. »In einer solchen Lage kann man nicht vorsichtig genug sein. Bei euch zu Hause befürchtet Fritz wahrscheinlich Telefonüberwachung und eingebaute Mikrofone.« »Wanzen«, sagte Anne. »Er vermutet überall Wanzen. Er hätte da Erfahrung, meint er. Ich glaube ihm das.« »Wenn es hier eine Gefahr gibt, dann nur von draußen«, sagte Pankraz. »Und gegen Richtmikrofone reicht schon das Fernsehgerät.« »Das ist doch alles Unsinn, Heinz«, sagte Anne gequält. »Wenn überhaupt jemand auf den Gedanken kommt, uns hier zu überwachen, dann ist die Sache schon gelaufen. Dann kann er auch ruhig hören, was wir darüber sprechen. Daß ich hier sitze, ist schließlich ein Teil unserer ganzen Inszenierung, um die andere Seite nicht auf dumme Gedanken zu bringen: Ich habe versucht, eine perfekte Ehekrise zu spielen. Wenn sie mir das abgenommen haben, sind wir hier sicher. Wenn nicht …« Sie beendete den Satz nicht 216
und zuckte nur mit den Schultern. »Es ist so widerlich«, setzte sie schließlich hinzu. »Wir sind schon fast am Ende mit unseren Nerven.« »Aber so etwas kann man doch sofort abwimmeln, Anne. Warum geht Fritz nicht zum nächsten Polizeirevier und meldet es? Wieviel bieten sie ihm denn? Fritz ist doch normalerweise ein entschlossener Charakter.« »Leider ist das alles viel komplizierter«, sagte Anne. »Aus diesem Grund bin ich auch hergekommen. Wir brauchen deinen juristischen Rat. Es geht schon damit los, daß Fritz gar nicht Fritz heißt, sondern Henning, Klaus Heinrich genauer gesagt, und auch nicht Seyfried, sondern von Loßwitz. Und damit, daß er in den beiden letzten Kriegsjahren Obersturmführer in der Waffen-SS und Ritterkreuzträger war und am 14. Januar 1945 einen deutschen Generalstabsmajor über den Haufen geschossen hat, mit dem er bei einer Brückensprengung in Konflikt geraten war.« Die Pfeife in der halberhobenen Hand, sah Heinz Pankraz seine Schwägerin sprachlos an. Auch Friska wendete sich überrascht ihrer Schwester zu. »Und das haben die ausgegraben und erpressen ihn damit?« fragte der Anwalt schließlich. »Ja«, erwiderte Anne. »Hm.« Heinz Pankraz zögerte noch einen Augenblick überlegend. »Was hat denn die Sache mit dem deutschen Major auf sich? Du mußt mir alles erzählen, was du weißt.« Anne empfand eine gewisse Erleichterung über die 217
zupackende Sachlichkeit, mit der ihr Schwager sich auf das Wesentliche konzentrierte: auf den Tod des Majors. Alles andere war nebensächlich, allenfalls gesellschaftlich von Bedeutung, oder wegen des alten Hobarth, dem Enthüllungen dieser Art vielleicht einen Schock versetzen würden. Während ihr Schwager sich wieder setzte und umständlich die Pfeife erneut anzündete, begann Anne mit ihrem Bericht. Sie benötigte fast zwei Stunden, bis sie alles wiedergegeben hatte, was ihr Mann ihr erzählt hatte – bis zu dem Augenblick, wo die Brücke in die Luft geflogen war. »Also in den Rücken«, sagte Heinz nachdenklich. »Er sagt es. Was für einen Grund könnte er haben, mir nicht die Wahrheit zu sagen?« »Er hat dir sicherlich die volle Wahrheit gesagt, Anne. Was er dir erzählt hat, ist nämlich nicht sehr günstig für ihn. Für den, der die Sache nach den Indizien beurteilt, liegt danach ein klarer Mordfall vor. Heimtückisch … aus niedrigen Beweggründen … Das Ganze soll aus sowjetischen Akten stammen?« »Fritz hat mir ein paar Buchstaben an den Kopf geworfen. Ich habe sie nicht behalten.« »KGB? GRU?« »Ja, das war es.« Heinz Pankraz nickte bestätigend vor sich hin. »Das sieht ziemlich übel für Fritz aus. Aber du wolltest noch weiter erzählen, Anne.« Nun berichtete Anne Seyfried, wie sie auf den Gedanken gekommen war, den Jungen in ihre 218
Überlegungen einzubeziehen und auf welche Weise es ihr tatsächlich geglückt war, über den Verbleib dieses Kindes etwas in Erfahrung zu bringen. Als sie an dieser Stelle ihres Berichtes angelangt war, griff sie nach ihrer Handtasche, zog die beiden mit der rostigen Büroklammer zusammengehaltenen Postkarten hervor und reichte sie ihrem Schwager. Der Anwalt beugte sich vor, um sie im Lichtkreis der Stehlampe zu lesen. Schließlich lehnte er sich wieder zurück, umspannte die Kartenränder vorsichtig mit vier Fingern, während er die Ellbogen auf die Armlehnen seines Sessels stützte und Anne ansah. »Wenn du diesen Mann wirklich findest«, sagte er, »und wenn dieser Mann in der Lage und bereit ist, etwas auszusagen, und falls er dann die Wahrheit sagt, so könnte das an der Sache eine ganze Menge ändern.« Anne zog die Luft ein und stieß sie hörbar und erleichtert wieder aus. »Du darfst nicht zu früh hoffen, Anne«, sagte Pankraz. »Aber nehmen wir einmal das Günstigste an – der Zeuge bestätigt Fritz’ Ausführungen. Dann hätten wir folgende Sachlage: Auf der anderen Brückenseite warteten Hunderte von Menschen. Diese Leute befanden sich im unmittelbaren Operationsgebiet. Was die Sowjets in solchen Fällen mit diesen Leuten machten, glaube ich Fritz aufs Wort. Es würde im übrigen sogar genügen, wenn Fritz nur geglaubt hätte, daß sie so vorgehen würden, sofern diese Vermutung nicht fahrlässig war. Wenn man das so sieht, war Fritz 219
in einer ausgesprochenen Nothilfesituation. Zur Nothilfe ist man nicht nur berechtigt, wenn man selbst angegriffen wird, sondern auch wenn andere rechtswidrig angegriffen werden. Und das war bei all diesen Leuten ohne jeden Zweifel der Fall. Der Angriff auf sie erfolgte durch die sowjetischen Panzerspitzen und durch den Major, der die Nerven verlor und die Brücke sprengen wollte, obwohl sich Menschen auf ihr befanden und andere noch darauf warteten, sie zu überschreiten. So gesehen, nehme ich an, daß Fritz keine Folgen der Tat befürchten müßte.« Wieder atmete Anne tief auf. »Ich hätte mir auch gar nichts anderes vorstellen können, Heinz«, sagte sie. »Fritz hätte nämlich nicht so gehandelt, wie man es anderen in zahllosen Nachkriegsprozessen vorgeworfen hat, indem sie die Befehle ihrer Vorgesetzten blind, kritiklos und widerspruchslos befolgten. Fritz hätte in einer Situation schwerster Belastung Rücksicht auf sein Gewissen genommen, was ungezählte andere nicht getan haben und was man ihnen angelastet hat. Meiner Ansicht nach müßte so jemand in jedem Prozeß freigesprochen werden.« »Mein Gott, Heinz«, sagte Anne, »ich weiß gar nicht, wie ich dir jemals danken soll.« »Gar nicht«, sagte der Anwalt. »Das hätte dir jeder andere Jurist auch gesagt. Aber das ist nicht das Wichtigste. Die Nothilfe – oder Notwehrsituation muß derjenige beweisen, der sich auf sie beruft. Und die da drüben werden wissen, daß das ziemlich schwierig für Fritz werden dürfte.« 220
»Fritz meint, daß sie sich jemand gekauft haben, der gegen ihn einen Meineid schwört«, sagte Anne. Pankraz nickte. »Damit hat er wahrscheinlich recht.« »Er meint aber, daß das nicht gelingen könne, wenn wir jemanden finden, der nicht gekauft ist und seine Darstellung bestätigt. Wenn uns das glückt, sagt Fritz, dann könnten wir zu unseren eigenen Behörden gehen und denen sagen, so und so war es und das können wir auch beweisen. Wir werden mit einer bewußt unwahren Darstellung erpreßt und jetzt, bitteschön, tut etwas für uns. Er meint, auf den Prozeß könnte er es ankommen lassen, wenn er sicher ist, sich entlasten zu können.« »Auch damit hat er recht, Anne«, sagte der Anwalt. »Aber was ist, wenn ihr diesen Mann nicht findet? Oder wenn er nicht bereit ist, auszusagen? Oder wenn er es nicht kann?« »Wieso nicht kann?« sagte Anne. »Eine Zeugenaussage kann doch jeder machen.« Heinz Pankraz klammerte die beiden Postkarten auseinander und hielt Anne die eine von ihnen hin. »Hast du dir das genau durchgelesen, Anne? Der Mann ist drüben …« Er machte eine Bewegung mit dem Kopf in die Richtung, wo außerhalb des Hauses in nicht viel mehr als 50 Metern Entfernung die Grenzsperren der DDR verliefen. »Selbst wenn du ihn da finden würdest, ist es sehr zweifelhaft, ob die ihn in einem westdeutschen Strafprozeß als Zeugen auftreten ließen. Zumal es immerhin um einen Offizier der Waffen-SS geht, das darf man nicht vergessen. Was 221
macht Fritz also, wenn ihr nicht mit einem Zeugen rechnen könnt?« Beide, Heinz und Friska, sahen gespannt in Annes Gesicht, Anne antwortete: »Für dich gibt es ja so eine Art Berufsgeheimnis, Heinz, nicht wahr?« »Die anwaltschaftliche Schweigepflicht, ja«, sagte Heinz. »Ich kann dir nur wiedergeben, was Fritz mir gesagt hat.« »Und was hat er gesagt?« »Er hat gesagt, daß es ihm dieser Staat nicht wert ist, daß einer von uns in eine ernsthafte Gefahr gerät. Und er hat außerdem gesagt, daß er es auf einen Strafprozeß vor einem Spruchkörper der heutigen Richterqualität nicht ankommen lassen wird.« Heinz Pankraz lachte vor sich hin. »Womit er zum dritten Mal recht hat. Niemand kann das besser beurteilen als ein Anwalt wie ich.« »Und das heißt im Klartext«, fuhr Anne fort, »daß Fritz tun wird, was diese Leute von ihm verlangen, wenn er keine Möglichkeit sieht, die Wahrheit zu beweisen. Es tut mir leid, aber ihr habt mich gefragt, und ich habe euch geantwortet.« »Um Himmels willen«, sagte Friska, »das darf doch einfach nicht passieren.« »Was würdest du uns denn als Anwalt für einen Rat geben?« wandte Anne sich an ihren Schwager, der sich paffend in dichte Wolken bläulichen Pfeifenrauches hüllte. Heinz Pankraz versuchte gerade, die Tragweite dessen, was Anne ihm mitgeteilt hatte, zu ermessen. Er 222
war sich über die strategischen und politischen Konsequenzen durchaus im klaren. Endlich nahm er die Pfeife aus den Zähnen und schüttelte immer noch leicht verwundert den Kopf. »Normalerweise käme es ja auf die einzelnen Zusammenhänge gar nicht mehr an, weil das alles längst verjährt wäre«, sagte er. »Durch die Aufhebung der Verjährungsfrist für bestimmte Verbrechen hat sich die Situation aber grundlegend verändert. Weil das ziemlich komplizierte Sachverhalte sind, muß ich zur Erklärung vielleicht etwas weiter ausholen: Nachdem während der Nazizeit echte Naziverbrechen natürlich nicht verfolgt wurden, weil Sie denen ja in ihren schmutzigen Kram gepaßt haben, sagte man, daß in dieser Zeit die Verfolgung der Taten geruht habe und damit auch die Verjährung. Dann befahlen die Alliierten den Ländern, sogenannte Ahndungsgesetze zu erlassen, und die taten das auch. Sechs oder sieben verschiedene Gesetze verkündeten sechs oder sieben verschiedene Fristen. Ein Nazimörder, der in Mainz wohnte, hätte ohne weiteres seine Taten verjähren lassen können, wenn er nur über den Rhein hinüber nach Wiesbaden verzogen wäre oder umgekehrt. Als dann Ende 1965 die ersten Nazimorde mit der 20jährigen Frist wirklich zu verjähren drohten, wachten sie in Bonn auf und verkündeten auf sanften alliierten Druck hin rückwirkend, daß auch in der Zeit von Mai ’45 bis Ende ’49 Verfolgung und Verjährung dieser Verbrechen geruht hätten, mit der Begründung, daß es während dieser Zeit keine deutschen Gesetze zu ihrer 223
Ahndung gegeben habe. So erreichten sie, daß die Verjährung der Naziverbrechen erst am 1. Januar 1950 wirklich begann. Soweit sie nicht am 14. April 1965 bereits verjährt waren«, fügte er nach einer Pause bei. »Aber Heinz«, sagte Anne, »dann ist doch alles in Ordnung. Vom 14. Januar 1945 an ergeben 20 Jahre nach meiner Rechnung den 13. Januar 1965. Und das war vor dem Datum, das du eben genannt hast.« »Schön«, antwortete Heinz Pankraz. »Aber gerade da beißt sich die Katze in ihren juristischen Schwanz. Das gilt eben nur für Taten, die keine typischen Nazitaten waren.« Anne stand aufrecht vor ihrem Schwager. Der Anwalt blickte zu ihr hoch, sah die Erregung in ihrem Gesicht, die weißlich hervortretenden Fingerknöchel an den verkrampften nervigen Händen. »Es war keine typische Nazitat. Ich habe es dir doch in allen Einzelheiten erzählt. Fritz hat aus Gewissensgründen und aus Menschlichkeit geschossen. Es war das genaue Gegenteil von einer Nazitat.« »Beruhige dich doch«, sagte der Anwalt geduldig. »Das weiß Fritz und du, und wir glauben es ihm – aber auf uns kommt es zunächst gar nicht an. Denn wenn da jetzt irgendeiner daherkommt und dem Staatsanwalt die Geschichte genauso auftischt, wie der Kerl mit dem Hund sie Fritz aufgetischt hat, dann muß er Anklage erheben. Er muß. Von Gesetzes wegen. Ob er will oder nicht. Und dann gibt es genau das Verfahren, das ihr nicht haben wollt. Es sei denn, ihr könntet beweisen, daß es wirklich ein Fall von Nothilfe und keine Nazitat 224
war.« Es entstand ein bedrücktes Schweigen, das Friska endlich brach. »Mit anderen Worten: Einem Bürger wird die Frage ob er noch verfolgt werden kann, nur beantwortet, wenn er bereits verfolgt worden ist und in diesem Verfahren selbst bewiesen hat, daß er eigentlich gar nicht verfolgt werden darf.« »So ähnlich ist es«, sagte Pankraz. »Du bist ja verrückt, Heinz«, sagte Anne brüsk. »Keineswegs«, antwortete der Anwalt. »Es handelt sich um die juristischen Klimmzüge des Gesetzgebers dieser Republik«, fügte er nach einer Reihe anheizender Züge an seiner Pfeife hinzu. »Es wäre schön, wenn man sich über die Ironie dieses Sachverhaltes amüsieren könnte«, sagte Anne. »Aber leider sind wir von diesem Klimmzug direkt betroffen. War das Ganze dann nicht wenigstens 1969 verjährt?« »Mitnichten. Da haben sie diese Kunstfristen erst mal um zehn Jahre verlängert und dann, als das 1979 auslief, ganz aufgehoben. Das bedeutet, daß Fritz, für den dieser Vorfall schon ab 1965 allenfalls noch eine Gewissenssache hätte sein dürfen, und dann ab 1979 noch einmal, sich aufgrund zweier rückwirkender Parlamentsbeschlüsse für alle Zukunft nicht nur seinem Gewissen, sondern auch noch der unbegrenzten Strafverfolgung ausgesetzt sieht, die, wenn die Gegenseite einen Meineid liefert, durchaus mit einer Verurteilung enden könnte. Und damit nicht genug. Daran hängen auch noch die nicht verjährten 225
Schadenersatzansprüche der Familie des toten Majors, die sie euch in einem Zivilprozeß aufhängen kann, wenn Fritz in einem Strafprozeß verurteilt werden würde.« »Aber Heinz«, sagte Friska nach einer langen Pause, »das ist ja eine Katastrophe.« Sie hatte ihren sprichwörtlichen Humor völlig verloren und starrte ihren Mann hilfesuchend an. »Einen Augenblick, Anne«, fuhr Heinz Pankraz fort, als er merkte, daß Anne etwas einwerfen wollte. »Ich bin noch nicht ganz fertig. Das, was ich jetzt sage, gehört alles dazu. Ich weigere mich einfach, den Staat in einer solchen Sache als ein abstraktes Neutrum jenseits von Gut und Böse und von Schuld und Unschuld anzusehen. Kurzsichtigkeit macht allemal mitschuldig. Nur wagt das selten jemand auszusprechen. Ich habe noch die Argumente des damaligen Justizministers vor dem Parlament im Ohr: Wenn er daran denke, sagte er, daß nur ein einziger unentdeckter Nazimörder nach eingetretener Verjährung daherkommen und sich seiner Taten rühmen könne, dann gebe es für ihn keinen Zweifel, daß die Verjährung aufzuheben sei. Nach meiner Meinung wäre es die Pflicht eines Justizministers gewesen, daran zu denken, daß es auch Unschuldige geben könnte, die ihre Unschuld nicht mehr beweisen können. Dann wäre es unter Umständen fraglich gewesen, ob das Parlament genauso entschieden hätte.« »Und was bedeutet die jetzige Rechtslage konkret 226
für uns?« fragte Anne. Heinz Pankraz stützte die Hände auf die Armlehnen ihres Sessels und beugte sich zu ihr hinunter. »Ich weiß nicht, was du von mir erwartet hast. Aber wenn ich mir das alles vor Augen halte, muß ich Fritz recht geben. Ich würde an eurer Stelle versuchen, diesen Jost Marschal oder Wentzell zu finden und zu fragen, ob er etwas aussagen kann. Falls ihr keine Aussage bekommt, könnte ich Fritz verstehen, wenn er versucht, den Kopf auf die billigste Weise aus der Schlinge zu ziehen. Aber auch das ist gefährlich, und ich weiß nicht, welche Risiken größer sind.« »Und kann er nicht einfach hingehen«, sagte Friska, »ich meine zu einem Gericht oder zu einem Staatsanwalt, und denen alles sagen und um eine Aussetzung der Strafverfolgung bitten?« »Das würde heißen, daß Fritz Vertrauen zu einer Strafbehörde aufbringen müßte«, sagte der Anwalt. »Vertrauen«, sagte Anne. »Daß ich nicht lache. Von Vertrauen hat auch schon der Bursche vom Nachrichtendienst gefaselt. Die Zeiten sind vorüber. Vertrauen investiert Fritz überhaupt nur noch im ganz persönlichen Bereich. Bei mir, bei euch, bei Papa natürlich. Aber nicht einmal Lockschmidts vertraut er mehr voll.« »Was hat das mit Vertrauen zu tun?« fragte Friska. Heinz Pankraz antwortete: »Wenn jemand erpreßt wird, dann kann die Staatsanwaltschaft von der Strafverfolgung eines Deliktes, mit dem er erpreßt wird, absehen, wenn nicht wegen der Schwere der Tat 227
eine Sühne unerläßlich ist. Du bist doppelt vom persönlichen Ermessen eines beliebigen Juristen abhängig. Er kann die Strafverfolgung aussetzen, aber muß es nicht einmal, und das auch nur, wenn es sich um eine leichtere Straftat handelt. Im Fall von Fritz kann die Frage, ob seine Tat so schwer war, daß – immer nach Ansicht des Staatsanwaltes, wohlgemerkt – eine Sühne unerläßlich ist, nur entschieden werden, wenn ein Verfahren gelaufen ist. Wenn also das geschieht, was wir nicht wollen. Ich kenne keinen Staatsanwalt, dem ich dieses Problem anvertrauen möchte. Nein, nein, eure größte Chance wäre, zu einer Aussage dieses Jost Marschal zu kommen. Wenn ihr das sicher habt, könnt ihr den Prozeß riskieren. Sonst nicht.« »Dann fahre ich morgen rüber in den Ostteil«, sagte Anne, während sie die beiden Postkarten, die Pankraz ihr zurückgegeben hatte, wieder in die Handtasche schob. »Wie fange ich das an?« »Indem du einfach durch die Grenzübergangstelle gehst«, sagte Friska. »Mit deinem westdeutschen Paß brauchst du für einen 1-Tages-Ausflug keine Formalitäten zu erfüllen. Nachts um zwölf mußt du nur wieder im Westteil sein. Du darfst kein Geld mit herausnehmen und mußt gewisse Zollvorschriften beachten. Das ist alles. Für Westdeutsche gibt es außerdem einen bestimmten Grenzübergang, am Moritzplatz. Drüben nennen sie ihn Heinrich-HeineStraße.« »Stell dir das trotzdem alles nicht so leicht vor«, 228
warf der Anwalt ein. »Schließlich bewegst du dich dort auf dem Boden eines Polizeistaats – auch wenn die das natürlich weit von sich weisen – und du stellst Nachforschungen in einer sehr heiklen Angelegenheit an. Du mußt dich also so unauffällig wie möglich benehmen, von der Kleidung bis zum Trinkgeld, von deinen Fragen bis zu deinen Einkäufen. Es ist nicht so, als ob du in die Schweiz oder nach England reisen würdest, um von jemandem eine Aussage zu erbitten. Das da drüben ist eine andere Welt, vergiß das nicht. Wenn du etwas falsch machst, kannst du in recht unangenehme Situationen kommen, und Fritz gefährden.« »Du kannst einem ja richtig Angst machen«, entgegnete Anne. »Ehrlich gesagt ist mir auch nicht sehr wohl bei dem Gedanken, daß du wegen einer so brenzligen Sache rüberfährst. Du kennst die Tücken und Fallen der Verwaltung und der Polizei nicht und hast auch niemanden, an den du dich vertrauensvoll wenden könntest …« »Aber ich muß rüber, ich habe doch gar keine andere Wahl«, unterbrach seine Schwägerin ihn. »Anne hat recht, ich würde es genauso machen«, stimmte Friska ihrer Schwester zu. »Wenn du schon mußt, dann sieh dich bitte vor und sei nicht so forsch«, schloß Heinz Pankraz resigniert. Als Anne ihm das versprochen hatte, wünschte er ihr eine gute Nacht mit den Worten: »Am besten nehme ich dich morgen früh im Wagen mit in die Stadt und 229
setze dich an der richtigen Stelle ab.« Das Frühstück am nächsten Morgen war um Viertel vor acht. Eine halbe Stunde später saß Anne neben Heinz Pankraz im Wagen auf dem Weg ins Zentrum. Von der breiten Königstraße an, die einst über die Glienicker Brücke Potsdam mit Berlin verbunden hatte, ging es, an Zehlendorf und Steglitz vorbei, schnurgerade zum Bezirk Tiergarten. Dort, wo die Straße zur Abwechslung wieder einmal Potsdamer Straße heißt, standen trotz der Morgenfrühe grotesk aufgemotzte Huren am Bordstein vor ekelerregenden Spelunken, aus deren geöffneten Türen der Muff der Nacht auf die Gehsteige strömte. Etwas weiter in der Genthinerstraße und am Magdeburger Platz bemerkte Anne eine Galerie fadenscheiniger 12und 13jähriger Mädchen in Parkas und ausgefransten Jeans. »Was machen die denn da?« fragte sie. »Das ist der Hasch-Strich«, sagte Heinz. »Die Dealer machen die Mädels erst süchtig und treiben sie dann auf den Strich, damit sie dort das Geld für ihre Drogen verdienen.« »Und weshalb tut man nichts dagegen?« »Man will nicht, Anne. Ich habe vor ein paar Wochen darüber mit dem zuständigen Polizeidirektor gesprochen. Er sagt, man duldet das eben wegen der Freiheit und weil Berlin sein Weltstadtflair braucht.« »Darf denn ein Beamter ungestraft so einen 230
Blödsinn reden?« »Nur ein Beamter. Und ein höherer sogar«, sagte Heinz und bog auf die Fahrbahn am Landwehrkanal ein, wo sie nach kurzer Fahrt die Potsdamer Brücke erreichten. Heinz überquerte sie aber nicht, sondern blieb auf dem südlichen Ufer des Kanals, den er erst an der übernächsten Brücke kreuzte. Von dort aus ging es hinüber zur Sektorengrenze und dann entlang den mit Inschriften bemalten Quadern der Mauer, über deren Rohrkrone sich alsbald der Betonklotz des Hauses der Ministerien, ehemals Hermann Görings Reichsluftfahrtministerium an der Leipziger Straße, erhob. Sie kreuzten die Friedrichstraße, die wenige Meter links von ihnen durch die Sperranlagen des Checkpoint Charlie von der Gegenseite abgeschnürt war. Schließlich passierten sie das in provozierender Protzigkeit aufgetürmte Hochhaus des Springerkonzerns, diesen einsamen Glaskloß auf leergebombten Trümmerflächen, und die Bundesdruckerei und erreichten nach wenigen Minuten den reizlosen Moritzplatz. Die ihn einrahmenden zigarrenschachtelförmigen Mietskasernen unterschieden sich so wenig voneinander, daß man zweimal hinsehen mußte, um sich darüber schlüssig zu werden, ob sie vor der Grenzmauer standen oder hinter ihr. Hier ließ Heinz Pankraz seine Schwägerin aus dem Wagen steigen und erklärte ihr den Weg. Dieser Weg führte vorbei an einer mit Flammschutzfarbe 231
dunkelbraun gestrichenen Baracke westlicher Grenzpolizei, auf eine Lücke in der Betonmauer zu, hinter der es eine zickzackförmig angeordnete Ansammlung halbhoher Betonprellböcke gab, die die Geschwindigkeit der Autos drastisch herabzwangen. Heinz Pankraz sah Anne nach, wie sie, entschlossen den Riemen ihrer Umhängetasche über die Schulter schiebend, die Hände in den Manteltaschen versenkt, diesen Weg einschlug. Immer noch um eine Spur zu elegant, dachte er, als er sie drüben zwischen den Betonbarrieren verschwinden sah. Jeder würde sie sofort als Westlerin erkennen. Anne Seyfried durchschritt die Mauer, danach die Sperren, sah rechts und links einen feinbesandeten Streifen hinter der Sperrmauer, Fahrzeug- und Drahthindernisse darauf. Ein Grenzpolizist sprach sie an, forderte ihren Ausweis. Sie stand einige Minuten an einem Schalter, um Geld umzuwechseln, danach an einem anderen, um ihren Paß wieder in Empfang zu nehmen. Ein zweiter Grenzpolizist prüfte ihn, verglich mit wiederholt mißtrauisch auf ihr Gesicht gerichteten Blicken dieses Gesicht mit dem Paßfoto und wies ihr, nachdem er ihr das Dokument und die in ihm liegenden Informationspapiere übergeben hatte, den Weg zu dem rückwärtigen Ausgang der Grenzübergangsstelle. Dort prüfte ein dritter Grenzpolizist ihren Paß zum letzten Mal, wünschte ihr stereotyp einen angenehmen Aufenthalt in der Hauptstadt der DDR und ließ sie passieren. Sie befand sich jetzt, an einem normalen Arbeitstag 232
bei bedecktem Himmel, in einer sozusagen fremden Stadt, eine Stimmung, die sie schon als junges Mädchen geliebt und genossen hatte. Es waren nur wenige Menschen unterwegs, da die Heinrich-HeineStraße vor allem Wohngebiet war. Und die Zahl der Westdeutschen, die an gewöhnlichen Werktagen hier herüberkamen, war seit der drastischen Erhöhung des Mindestumtausches deutlich kleiner geworden. Nachdem Anne einige Minuten in Richtung Innenstadt gegangen war, sah sie am Bordstein eines der in hechtgrauer Farbe gespritzten Taxis stehen und um dieses herum eine Gruppe gestikulierender bulgarischer Gastarbeiter, die sich damit abmühten, einen nagelneuen Küchenherd aus dem Kofferraum zu zerren. Gerade als Anne vorbeikam, war dies geglückt und mit einem blechernen Poltern landete das Gerät auf dem Bürgersteig. Während man sich nun auf bulgarisch um die Verteilung des Fahrpreises stritt, blieb Anne stehen und fragte den Fahrer, ob das Taxi frei sei. Der Mann nickte und zeigte auf die offenstehende Wagentür. Anne stieg ein und zog die Tür zu. Nach einigen Minuten waren die Verhandlungen zwischen dem Taxifahrer und den Bulgaren abgeschlossen, und der Mann schwang sich auf seinen Platz. Er wendete sich zurück zu Anne, schob atemlos die Mütze ins Genick und sagte: »Diese Kerle müssen Sie sich ansehen. Kommen aus dem tiefsten Balkan zum erstenmal in die Zivilisation, 233
kriegen Wohnungen, die wir nie kriegen, eingerichtet mit Sachen, die wir auch nicht kriegen. Und was machen die? Sie räumen die Küchen aus und verhökern die Geräte. Daß da keiner einschreitet. Aber wahrscheinlich ist da wieder mal keine Dienststelle zuständig. Wo soll’s denn hingehen, junge Frau? Zum erstenmal hier bei uns im Arbeiter- und Bauernstaat?« Anne schmunzelte. Das war ein Berliner Taxifahrer, wie sie ihm ebenso gut drüben auf der anderen Seite der Mauer hätte begegnen können. »Gibt es hier ein Einwohnermeldeamt?« fragte sie ihn und der Mann sah sie in seiner halb zu ihr umgewendeten Stellung erstaunt an. »Und ob es hier ein Meldeamt gibt, junge Frau. Wenn Sie nirgends auf der ganzen Welt ein Einwohnermeldeamt finden, hier bei uns finden Sie bestimmt eins. Wollen Sie dort hin?« »Ja, ich brauche eine Adresse«, sagte Anne. Der Mann nickte, ließ den Motor an und legte den Gang ein. »Sie müssen aber vorsichtig sein«, sagte er nach einiger Zeit und suchte im Rückspiegel Annes Gesicht. »Hier bei uns gibt es jede Menge Leute, die Westverbot haben. Ich weiß nicht, ob sie das in den Listen vermerken. Zuzutrauen wäre es ihnen. Wenn sie es tun, könnte es sein, daß Sie die Leute in Schwierigkeiten bringen, die Sie suchen, wenn Sie auf dem Meldeamt nach ihnen fragen. Nicht, daß ich sie ausquetschen möchte, junge Frau, aber zu wem wollen Sie denn?« Anne öffnete ihre Handtasche und zog die vergilbten 234
Postkarten hervor. Sie nannte dem Mann die Adresse: Stöttnerstraße 14, Rückgebäude, zweiter Stock. »Das ist oben am Prenzlauer Berg«, sagte der Mann. »Haben Sie sich da auch nicht geirrt, junge Frau?« »Nein«, sagte Anne. »Warum meinen Sie?« Das sei nicht gerade die feinste Gegend in der Hauptstadt der DDR, antwortete der Fahrer, während er das Taxi jetzt unter einer Bahnunterführung heraus auf die weitläufigen Straßenflächen um den Alexanderplatz lenkte. Im Gegensatz zu den repräsentablen Neubauten hier gäbe es dort ziemlich alte Kästen, noch stehengeblieben von früher her. Auch nicht allzuviel gemacht worden dran. Aber das gehe eben alles erst nach und nach, was ja auch verständlich sei bei dem Zustand, in dem die Stadt gewesen sei, als man mit dem Wiederaufbau angefangen habe. »Was meinen Sie denn, wenn ich Sie da erst mal hinfahren würde? Vielleicht kriegen Sie was raus, ohne daß Sie zur Polizei müssen.« »Aber die Adresse ist fast dreißig Jahre alt«, sagte Anne zweifelnd. »Versuchen können wir es trotzdem, wenn es Ihnen recht ist.« Anne war einverstanden, und der Mann steuerte den Wagen quer über die Karl-Marx-Allee und durch die Hans-Baimler-Straße nordwärts in Richtung Prenzlauer Berg und Weißensee. Nach etwa 20 Minuten und nachdem er immer schmaler werdende Straßen durchfahren hatte, hielt er vor dem Haus 235
Stöttnerstraße 14 an. Er schaltete die Taxameteruhr ab und sah mit einem Gesichtsausdruck zu Anne zurück, als ob er sagen wollte, sehen Sie, junge Frau, ich habe also doch recht gehabt. Anne blickte durch das Wagenfenster auf eine Häuserreihe, die bereits zwei Weltkriege überlebt hatte. Es waren vierstöckige Mietskasernen, von deren Fronten der Verputz in großen Platten abgesprungen war. Unter den Balkonen fehlten Gesimseteile, leere Wäscheleinen baumelten im kalten Wind. Am Bordstein standen einige wenige Trabants, die auch hier immer weniger benutzt wurden, je höher die Treibstoffkosten stiegen. Anne zog aus ihrer Handtasche einen größeren Geldschein in westdeutscher Währung hervor, faltete ihn zusammen und steckte ihn dem Fahrer zu, während sie ihn bat, hier auf sie zu warten, wobei sie die Vermutung äußerte, daß es in dieser Gegend vielleicht nicht so einfach sein werde, erneut ein Taxi zu finden. Der Mann faltete den Geldschein auseinander, strich ihn sorgfältig glatt und legte ihn wie einen Schatz zwischen die Seiten seines Fahrtenbuches. Von nun an konnte Anne von ihm fast alles bekommen. Sie stieg aus. Die Namensschilder befanden sich in der Durchfahrt, eingeschoben in eine Tafel mit verschnörkeltem Holzrahmen. Daneben hingen Briefkästen aus grauem gehämmerten Blech. Anne überflog die Namen. Der, den sie suchte, war nicht dabei. Sie erinnerte sich, daß die Adresse mit dem Zusatz »Rückgebäude« angegeben worden war und durchquerte den Hofraum. Aber auch im Hausflur des 236
Rückgebäudes fand sie weder den Namen Jost Marschal noch Wentzell irgendwo verzeichnet. Dennoch stieg sie die vier Treppenläufe nach oben, um sich an den Wohnungstüren selbst zu überzeugen. Jedoch war dieser Versuch vergeblich. Im obersten Stockwerk läutete Anne an einer der beiden Wohnungstüren. Drinnen erklang ein klägliches Schnarren. Aber immerhin wurden Schritte hörbar. Eine noch junge Frau in ordentlicher Kleidung, die gerade dabei war, sich ihre Lockenwickler aus dem Haar zu entfernen, öffnete die Tür. Ihr Gesichtsausdruck drückte Erstaunen aus, offenbar hatte sie jemand anderen erwartet. Sie musterte Anne, aber nicht unfreundlich. Anne nannte ihren Namen und fragte nach Jost Marschal oder Wentzell. Die junge Frau schüttelte jetzt ihre Locken und sagte: »Der wohnt nicht hier. Der hat auch in den letzten fünf Jahren nicht hier gewohnt, solange wohnen wir nämlich schon in diesem Haus.« Die Frau bemerkte Annes enttäuschtes Gesicht. Sie fuhr deshalb fort: »Aber unten, im ersten Stock rechts, wohnt Frau Elisabeth Butte. Vielleicht haben Sie das Namensschild gelesen.« »Ja, das habe ich«, sagte Anne. »Sehen Sie, das ist eine alte Dame, die schon seit vor dem Krieg hier wohnt. Die müßte etwas darüber wissen. Wenn Ihnen überhaupt jemand etwas sagen kann, dann Frau Butte. Aber seien Sie nicht zu forsch, sie ist ein bißchen 237
ängstlich. Oder soll ich … ja warten Sie, ich gehe eben mit Ihnen runter. Mich kennt sie, denn ich kaufe ab und zu für sie mit ein.« Die junge Frau wendete sich um und nahm ihren Wohnungsschlüssel vom Brett. Dann trat sie zu Anne auf den Treppenflur, zog die Tür hinter sich zu und begleitete Anne hinunter in den ersten Stock. Dort läutete sie an der Tür, auf welcher der Name E. Butte stand. Als die Tür geöffnet wurde, spannte sich die vorgelegte Sperrkette, über welcher im Inneren der Wohnung zwei matte, hellgraue Augen und eine Wolke feiner schlohweißer Haare sichtbar wurden. »Ich bin’s nur, Frau Butte«, sagte Annes Begleiterin. »Ich bringe Ihnen eine Dame, die gern eine Auskunft von Ihnen gehabt hätte.« Das Mißtrauen schwand ein wenig aus den Augen oberhalb der Sperrkette. »Ach, Sie sind’s, Frau Jung. Kommen Sie nur herein. Und Sie auch …« Die Tür wurde ganz geöffnet. Die grauen Augen wanderten herüber zu Annes Gesicht und blieben auf ihm ruhen. Frau Butte war mindestens 80 Jahre alt, und ihre Augen schienen durch dieses ärmliche Treppenhaus hindurch entweder weit in die Vergangenheit oder aber in eine Zukunft zu blicken, die schon hinter dem diesseitigen Leben lag. Frau Jung verabschiedete sich wieder. Sie müsse weg, um ihre Kleine aus der Schule zu holen. Aber wenn sie zurück komme, werde sie nach Frau Butte sehen. Die alte Frau führte Anne in eine einfache Wohnküche, die aber hell und freundlich war. Sie nötigte Anne, Platz 238
zu nehmen und setzte sich selbst auf die Kante des Stuhls, den sie wohl auch sonst immer benützte. Ob Anne aus dem Westen komme, fragte sie, und woher da? O ja, im Rheinland sei sie auf der Hochzeitsreise mit ihrem ersten Mann gewesen, das sei aber schon sehr lange her. Damals seien dort noch die Franzosen einquartiert gewesen. Ihr erster Mann sei dann im Zweiten Weltkrieg gefallen und die Ehe mit dem zweiten hatte auch nur kurz gedauert. Aber sicher langweile sie ihre Besucherin mit ihrer persönlichen Lebensgeschichte und womit sie Anne denn nun helfen könne? Anne stellte auch ihr die Frage nach Jost Marschal oder Wentzell. Dabei zog sie die Postkarten des Jungen aus ihrer Handtasche und reichte die spätere von ihnen Frau Butte. Die alte Frau suchte auf dem Wandbord neben ihrem Rundfunkempfänger ihre Brille, setzte sie umständlich auf und las Text und Absender der Karte. Danach zog sie ihre Brille wieder ab und sah Anne ins Gesicht. »Ja, an den Namen Wentzell erinnere ich mich. Damals, wissen Sie, als alles zusammenbrach und die Freunde, so haben wir nämlich die Russen zu nennen, hier einrückten, waren zuerst alle froh, daß es zu Ende war. Daß keine Flieger mehr kamen, daß nicht mehr geschossen wurde. Sie können sich das alles ja gar nicht mehr vorstellen. Und dann fingen die Freunde an, von drüben die alten Kommunisten einzufliegen, denen sie leitende Posten zuschanzen wollten. Und die mußten dann ja bevorzugt untergebracht werden. Da 239
waren natürlich auch Idealisten dabei, Leute, die das Beste wünschten, aus dem Zusammenbruch etwas Neues machen wollten. Zu denen hat der Max Wentzell gehört. Oben in der Wohnung, wo jetzt die Jungs drin sind, hat damals der Robert Boenisch gewohnt. Der war von Beruf Gefängniswärter gewesen, irgendwo in Tegel oder Plötzensee. Eine grüne Uniform hat der gehabt und niemand was zu Leide getan. Aber den haben sie verpfiffen. Der ist dann abgeholt worden und nie wiedergekommen. Irgend jemand hat den noch in einem Kriegsgefangenenlager der Freunde gesehen. Da soll er dann an Flecktyphus gestorben sein.« »Wie? Als Zivilist?« »Was glauben Sie? Tausende haben die mitgeschleppt, nur weil sie Mützen mit einem Schirm trugen. Briefträger, Gasmänner, Wachleute. Ich habe das mit meinen eigenen Augen gesehen. Damals hatte ja fast jeder bei uns eine Mütze mit einem Schirm. Wenn Sie das heute jemand sagen, dann ist das antisowjetische Lügenpropaganda. Aber was kann die Wahrheit mit Propaganda zu tun haben? Na, jedenfalls haben sie dann dem Boenisch seine Wohnung beschlagnahmt, die Frau rausgesetzt und den Wentzell da einquartiert.« Die alte Frau machte eine erschöpfte Pause. »Mir ist jetzt manchmal so übel«, sagte sie dann. »Und es regt mich immer so auf, wenn ich von diesen Tagen erzähle. Möchten Sie mir nicht ein Glas Wasser einlaufen lassen?« 240
Anne stand auf, nahm ein Glas aus dem altertümlichen Küchenbüfett und füllte es. Die alte Frau trank mit vorsichtigen Schlucken. »Vielen Dank«, sagte sie, als sie das Glas absetzte und zurück auf den wachstuchüberzogenen Küchentisch stellte. »Tja«, fuhr sie schließlich in ihrer Erzählung fort, »und dann war plötzlich auch dieser Junge da. Erst hat das ein riesiges Gerede gegeben, ob das dem Wentzell sein Sohn ist, oder ob der ein Verhältnis mit dem hat, oder was da los ist. Und dann hat er ihn schließlich adoptiert. Da wurde es dann ruhig.« »Und das war Jost Marschal?« fragte Anne. »So wie es hier steht, ja.« Die Frau nahm noch einmal die Karte vor die Augen, bemerkte, daß sie keine Brille trug und gab Anne die Karte zurück. »Jedenfalls hat der Max Wentzell in dieser Zeit nur diesen einen Jungen adoptiert. Seinen Namen oder Vornamen habe ich nie gehört.« »Und bis wann hat Max Wentzell mit dem Jungen hier gewohnt?« fragte Anne. »Ja, warten Sie mal …« Frau Butte dachte nach. »Der Junge hatte dann eines Tages Uniform an, kasernierte Volkspolizei hieß das zuerst, dann später Volksarmee. Da war er nur noch selten hier. Der Wentzell ist dann nach einer Nierenoperation in der Charite gestorben. Vielleicht bis ’55 oder ’56. Später habe ich ihn nicht mehr gesehen. Nein, später ganz gewiß nicht mehr.« »Und wo er hingezogen ist, Frau Butte, wissen Sie das?« 241
»Nein«, sagte die alte Frau. »Nein, das weiß ich nicht. Da kann ich Ihnen wirklich nicht helfen. Entschuldigen Sie mich … mir ist schon wieder so schwindlig.« Frau Butte erhob sich schwer von ihrem Stuhl, um sich noch einmal Wasser einlaufen zu lassen. Anne stützte sie. »Soll ich Ihnen einen Arzt rufen, Frau Butte?« fragte sie. »Oder soll ich Sie irgendwohin mitnehmen? Draußen wartet mein Taxi.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, nein, lassen Sie nur«, sagte sie. »Das ist bald vorbei, und wenn Frau Jung zurückkommt, wird sie nach mir sehen. Gehen Sie nur, und ich hoffe, daß Sie ihn finden werden.« Nur schweren Herzens verließ Anne die Wohnung der alten Frau. Geduldig wartete draußen das hechtgraue Taxi. Als Frau Jung um die Ecke bog, sah sie es noch wegfahren. Vor der Wohnung der Elisabeth Butte blieb Frau Jung einen Augenblick stehen, weil sie drinnen in der Küche den Wasserstrahl in das Becken prasseln hörte. Sie wartete draußen, daß Frau Butte ihn zudrehen würde. Aber sie wartete vergeblich. Nach einer oder zwei Minuten bekam sie es mit der Angst. Sie klopfte, läutete, klopfte ein zweites Mal. Schließlich schickte sie die Kleine nach oben und trommelte hastig an die nächsten erreichbaren Türen. Als zehn Minuten später zwei Männer mit ihren Körpern die Wohnungstür aufsprengten, lief das Wasser noch immer. Die Scherben eines zersprungenen Glases waren auf dem Küchenboden verstreut. Zwischen ihnen lag auf dem Rücken die alte 242
Frau. Sie war tot. Von alldem hat Anne Seyfried niemals etwas erfahren. Sie saß, als es geschah, in dem Taxi, das sie zurück zur Innenstadt brachte. Der weißlich schimmernde konische Spargel des Fernsehturmes, der in seinem obersten Drittel die schillernde Facettenkugel der Dienst- und Nutzräume aufgespießt hatte, lag jetzt direkt vor ihr. In seiner unmittelbaren Nähe hielt der Fahrer vor dem Gebäude der Polizeizentrale an. »Na, dann wünsche ich Ihnen recht viel Erfolg mit Ihrem Jost Marschal, junge Frau«, sagte er und ließ das Wechselgeld in ostdeutscher Mark, das Anne ihm zusammen mit seiner Hand wieder zuschob, in seine Jackentasche klimpern. Er griff vor Anne vorbei und ließ die rechte Tür aufspringen. Er sah Anne nach, als sie mit entschlossenen Schritten in dem Gebäude verschwand, vor dessen Portal ein Volkspolizist im Mantel und in einer grauen Pelzmütze hin und her wanderte und ihr mit auf dem Rücken verschränkten Händen in unverhohlener Neugier nachsah, bis sie in der dämmerigen Vorhalle verschwunden war. Anne suchte auf der Orientierungstafel nach der Dienststelle, welche das zentrale Melderegister verwaltete, und fand sie im ersten Obergeschoß. Sie stieg die breite steinerne Treppe empor und betrat einen größeren, durch hölzerne Pultbarrieren unterteilten Raum, über deren einzelnen Arbeitsplätzen Pappkartons die Anfangsbuchstaben der Namen anzeigten, die hier verwaltet wurden. Anne begab sich zu dem Platz, über dem sie den Buchstaben W 243
entdeckte. Hinter diesem Schalter saß eine vollbusige Frau mit einem unnatürlich schwarzen, wie ein Toupet wirkenden Haarwust auf dem Kopf, die nach einiger Zeit wortlos und fragend zu Anne hochsah. »Ich hätte gerne die jetzige Adresse eines Herrn Jost Wentzell gewußt«, sagte Anne. »Seine letzte Adresse war Prenzlauer Berg, Stöttnerstraße 14.« Die Frau rollte sich den Karteiwagen näher heran und begann zu suchen. »Welcher Vorname, sagten Sie?« »Jost«, wiederholte Anne. Sie war so überzeugt davon, daß diese Frau nunmehr die richtige Karte ziehen und ihr die zutreffende Auskunft geben würde, daß sie sich im Saal umblickte und dabei auch die zweite Angestellte bemerkte, die der Vollbusigen direkt gegenüber saß, grau, unscheinbar und geduckt. Sie warf nur schüchtern und verstohlen ab und zu einen Blick durch ihre nickelgeränderte Brille, und einem dieser Blicke begegneten Annes Augen, als sie die kleine ängstliche Maus betrachtete. Anne lächelte ein wenig und senkte grüßend den Kopf, während die Frau sofort wieder ihren Blick auf das Papier richtete, das sie bearbeitete. Anne hörte die Stimme der Vollbusigen. Sie hielt eine Karteikarte in der Hand und sah zu Anne hoch. Anne fragte sich, ob sie wohl den Kontakt bemerkt hatte, der mit ihrem Gegenüber zustande gekommen war. »Darf ich Sie fragen, was Sie von Herrn Wentzell wünschen?« Es folgte ein prüfender Blick auf die Karte. »Wentzell-Marschal übrigens, wie ich sehe.« 244
Der Blick wanderte wieder hoch zu Annes Gesicht. »Ja«, sagte Anne. »Natürlich. Jost Marschal ist damals von Herrn Wentzell adoptiert worden.« »Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie von Herrn Wentzell wünschen«, sagte die Frau. Anne beschlich ein merkwürdiges beunruhigendes Gefühl, als sie die kalten Augen der Frau sah, die noch immer mißtrauisch und fragend zu ihr emporgewendet waren. »Ich möchte nur seine jetzige Adresse wissen«, antwortete Anne. »Sonst nichts.« »Sie sind doch aus dem Westen, nicht wahr?« fragte die Frau plötzlich. »Ja«, sagte Anne. »Aus Westdeutschland, warum?« »Woher haben Sie den Namen des Herrn Wentzell?« fragte die Frau. »Wie kommen Sie dazu, sich darum zu kümmern, wo er wohnt?« »Es geht um eine ziemlich alte Sache«, sagte Anne, holte zum dritten Mal an diesem Tage ihre Tasche nach vorn und entnahm ihr Jost Marschais Postkarten, die sie der Frau über den Tresen reichte. »Ist das verboten? Ich möchte nur eine Auskunft von ihm haben, aber ich kann Ihnen das hier nicht in allen Einzelheiten erklären.« »Nur eine Auskunft, so«, sagte die Frau und las aufmerksam, was auf den Karten stand. Anne erschrak erneut, als sie die gleichzeitig routinierte und wichtigmacherische Geste der Frau beobachtete. Ihr wurde plötzlich bewußt, wie weit sie sich vorgewagt hatte und daß sie es jetzt nicht mehr 245
mit freundlichen Taxifahrern zu tun haben würde, wie dem, der sie hierher gebracht hatte. Und hatte der nicht auch etwas über Leute mit West-Verbot gesagt? Als sie der Frau zusah, wie sie Jost Wentzells Postkarten hin und her drehte wie eine höchst unerwünschte und dennoch brandheiße Sache, vergegenwärtigte Anne sich, daß die Vollbusige einen wichtigen Teil ihrer Legitimation gegenüber Jost Wentzell in der Hand hielt. Sie spürte in diesem Augenblick, daß sie sich, über die unvermeidlichen und üblichen Polizeischikanen hinaus, in eine persönliche Gefahr begeben hatte, die mit dem Mann zusammenhing, den sie suchte. Aber noch konnte sie Grund und Art dieser Gefahr nicht klar erkennen. Plötzlich sah die Frau sie mit ihren heidelbeerfarbenen mißtrauischen Augen direkt an. »Nur eine Auskunft, so«, sagte sie und las aufmerksam noch einmal, was auf den Karten stand. »Die Karten sind an Herrn Ansgar Gottwald gerichtet. Sind Sie Frau Gottwald?« »Nein«, sagte Anne. »Mein Name ist Seyfried.« »Wie kommen Sie dann zu diesen Karten?« wollte die Frau wissen. »Ich sagte Ihnen doch schon, daß das ziemlich kompliziert ist, es ist eine rein private Angelegenheit«, murmelte Anne. »Können Sie mir nicht endlich die neue Anschrift geben?« Mit Skepsis sah sie, daß sich die Frau jetzt hinter ihrem Arbeitstisch erhob und den Drehstuhl 246
zurückschob. »Sie müssen ein paar Minuten warten«, sagte sie zu Anne. »Dort drüben ist eine Bank. Sie werden aufgerufen!« Mit diesen Worten wendete die Frau sich um, ging zwischen den Aktenböcken und Arbeitstischen hindurch und verschwand im Hintergrund durch eine Tür, die ehedem einen Glaseinsatz gehabt hatte, der jetzt aber mit einer Sperrholzplatte zugenagelt war. Anne spürte durch die Nickelbrille hindurch den Blick der kleinen grauen Maus teilnahmsvoll auf sich gerichtet. Es tut mir leid, schien dieser Blick auszudrücken, es tut mir wirklich um Sie leid, aber ich kann auch nichts dafür. Bei uns hier ist das nun mal so. Anne lächelte der Maus noch einmal zu und ging dann hinüber, um auf der Holzbank, die man ihr angewiesen hatte, zu warten. Es verging fast eine Viertelstunde, bis Anne die Frau wieder erblickte. Diesmal hatte sie durch eine andere Tür den Mittelteil der Halle betreten, der für die Öffentlichkeit bestimmt war. Als sie bemerkte, daß Anne zu ihr herüberblickte, blieb sie stehen und winkte Anne, ihr zu folgen. Anne erhob sich und tat es. Sie durchschritt die gleiche Tür, durch welche die Frau die Halle betreten hatte und an der ein Schild mit dem Hinweis prangte, daß der Zutritt für Unbefugte verboten war. Es ging noch um eine Ecke und durch einen kurzen Flur, dann öffnete die Frau eine Tür und ließ Anne in ein Büro vorangehen. In diesem Büro befanden sich zwei Männer. Der eine von ihnen war in Zivil, hatte ein fliehendes Kinn 247
und blondes, glatt zurückgekämmtes Haar über abstehenden Ohren und eine dunkle Hornbrille, mit der er bestrebt war, seinem Gesicht einen intellektuellen Anstrich zu geben. Der andere war ein Dienstgrad der Volkspolizei in zu kurzen Stiefeln und zu kurzem Mantel, dessen Mütze mit dem eichenlaubumrankten Emblem des Staates auf dem Tisch lag. Der Blonde saß hinter seinem Schreibtisch, der Uniformierte stand mit hinter dem Rücken verschränkten Händen in einer Ecke und beobachtete den Vorgang. »Das ist sie, Genosse Amtsvorsteher«, sagte die Vollbusige triumphierend und blieb vor der geschlossenen Tür stehen, als wollte sie um keinen Preis versäumen, das Ergebnis ihrer Aufmerksamkeit zu erfahren. Aber der Amtsvorsteher entließ sie mit dem Satz: »Es ist gut, Genossin Angerer. Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit.« Anne hörte das Klappen der Tür. Danach erhob der Blonde sich, reichte Anne die Hand über den Schreibtisch und nannte einen Namen, den sie sich nicht merkte. Er wies flüchtig auf einen der beiden Holzstühle, die vor dem Schreibtisch standen, und Anne setzte sich. Der Amtsvorsteher war um äußerste Höflichkeit bemüht. »Frau Seyfried, wenn ich richtig gehört habe?« Anne bejahte. Der Amtsvorsteher hielt die Postkarten Jost Marschals zwischen den Fingern und las sie noch einmal durch. »Und Sie interessieren sich für den Genossen Jost Wentzell-Marschal?« »Ja«, sagte Anne. »Ich habe das alles Frau Angerer 248
schon erklärt.« »Und was möchten Sie gerne von dem Genossen Wentzell-Marschal wissen, Frau Seyfried?« »Ich möchte ihn um eine Auskunft über persönliche Angelegenheiten bitten, über ein Ereignis, das im Januar 1945 stattgefunden hat.« »Im Januar ’45«, sagte der Amtsvorsteher staunend und nahm die Karteikarte in die Hand, die vor ihm auf der Schreibtischplatte lag. »1945 war WentzellMarschal noch ein Kind.« Der Amtsvorsteher wechselte mit dem stehenden Volkspolizisten einen Blick, der zu sagen schien: Sehen Sie, so schlimm, wie es der Genossin Angerer vorgekommen ist, scheint es ja nun doch nicht zu sein. Der Vorsteher wendete das Gesicht Anne wieder zu. »Haben Sie Herrn Wentzell-Marschal jemals von Angesicht zu Angesicht gesehen? Kennen Sie diesen Mann?« »Nein«, sagte Anne. »Wissen Sie irgend etwas Näheres über ihn? Über seinen Beruf, über sein Aufgabengebiet?« »Nichts«, sagte Anne. »Ich wußte nicht einmal, ob er überhaupt noch lebt. Ich schließe das nur jetzt im Augenblick aus Ihren Fragen.« Der Amtsvorsteher nickte, musterte noch einmal flüchtig die Karteikarte und ließ sie dann zurück auf die Schreibtischplatte gleiten. »Und glauben Sie wirklich, daß Ihnen der Genosse Wentzell eine Auskunft zu Dingen oder Ereignissen geben kann, die er als Kind erlebt hat?« 249
»Ich weiß es nicht. Ich hoffe es«, sagte Anne. »Sehen Sie, Frau Seyfried«, der Amtsvorsteher rückte nach vorn und faltete die Hände vor sich auf der Schreibtischplatte, »uns sind hier in gewisser Weise die Hände gebunden. Wir haben bestimmte gesetzliche Vorschriften für die Staatssicherheit. Und in einem Rechtsstaat müssen gesetzliche Vorschriften beachtet werden. Ich kann Ihnen in dieser Sache leider nicht helfen.« »Es ist aber sehr wichtig, daß ich mit ihm spreche«, sagte Anne entmutigt. Der Amtsvorsteher hob bedauernd die Schultern. Von rückwärts trat der Volkspolizist an Anne heran. »Sie sind heute aus Berlin-West eingereist, Frau Seyfried?« Anne wendete sich um. »Ja«, sagte sie. »Weshalb fragen Sie?« »Bitte, weisen Sie Ihre Ausweis- und Reisepapiere vor, Frau Seyfried.« »Haben Sie Polizeibefugnisse?« fragte Anne und sah von einem zum anderen. »Nur die Sicherheitsorgane sind in der Deutschen Demokratischen Republik befugt zu Identitätskontrollen, Frau Seyfried. Eine reine Formsache. Ich sagte Ihnen schon … gesetzliche Vorschriften im Interesse der Staatssicherheit.« Anne zog ihren Reisepaß hervor, in welchem auch die Einreisepapiere lagen, die man ihr am Grenzübergang ausgehändigt hatte. Der Polizeibeamte nahm sie in die Hand, verglich lange und prüfend das 250
Paßfoto mit Annes Gesicht und die Einreisepapiere mit den Angaben im Paß. Schließlich schichtete er alles wieder gewissenhaft ineinander und reichte Anne den Reisepaß zurück, wobei er sich höflich bedankte. Der Amtsvorsteher kam um seinen Schreibtisch herum und öffnete Anne die Tür. »Kann ich bitte die Karten von Jost Marschal zurückbekommen?« bat Anne. Der Amtsvorsteher zögerte. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte er dann. »Wir werden diese Karten dem Genossen Wentzell-Marschal übermitteln. Und wenn er es für zweckmäßig hält, wird er sich selbst mit Ihnen in Verbindung setzen.« In diesem Augenblick läutete schrill durch das ganze Gebäude die Glocke. »Jetzt müssen Sie sich aber beeilen«, sagte der Amtsvorsteher. »Sonst müssen Sie bis 14 Uhr 30 hier im Hause bleiben. Und das werden Sie kaum wollen.« Natürlich blieb es Anne verborgen, wie sich nach ihrem Weggang der Amtsvorsteher und der Polizeibeamte zusammensetzten, eine Sekretärin kommen ließen und dieser einen ausführlichen Bericht diktierten. Als Anne die Schalterhalle durchschritt, befanden sich fast alle Angestellten in der Mittagspause. Einzig die kleine graue Maus hockte hinter der Barriere vor ihren Akten und es schien Anne, als sie zu ihr hinüberblickte, als gebe sie ihr ein Zeichen. Anne durchquerte die Halle und beugte sich über die Barriere. Unruhig ließ die kleine Frau ihre furchtsamen Augen hin und her wandern und rückte 251
dann im Sitzen näher an Anne heran. »Stellen Sie keine Fragen, meine Dame«, flüsterte sie hektisch und nur schwer verständlich Anne zu. »Prägen Sie sich ein: Strausberg, General-Tschuikow-Kaserne.« Anne war so aufgeregt, daß sie sich anschickte, trotz der Warnung der Maus eine Frage an sie zu richten. Aber ein kurzes energisch abwehrendes Kopfschütteln der kleinen Frau hielt sie zurück. »Sie tut sich immer dick mit ihrer Linientreue, die Angerer«, fuhr die Maus fort und blickte wieder unruhig um sich. »Es macht mir Spaß, ihr mal eine reinzuwürgen. Jetzt gehen Sie. Und merken Sie sich: Strausberg, General-TschuikowKaserne.« Im Hintergrund klappte die Tür. Dann war es wieder still. Die Maus blätterte in ihren Papieren, als hätte sie nie mit irgend jemandem gesprochen. Anne durchquerte die Halle und kam durch die Schwingtür ins Treppenhaus. Ihre Schritte hallten laut auf den breiten, jetzt menschenleeren Steinstufen. Unten im Vestibül sah ihr der Volkspolizist entgegen. »Auf welcher Dienststelle sind Sie gewesen?« fragte er. »Ich war bei dem Vorsteher des Meldeamtes«, sagte Anne. Der Uniformierte schob den Mantelärmel zurück und sah auf die Armbanduhr. »Warten Sie etwas«, sagte er und begab sich in die glasumkleidete Pförtnerkabine, wo er sorgsam hinter sich die Tür schloß. Anne sah ihn den Telefonhörer aufnehmen, eine Nummer wählen und dann mit jemandem sprechen, wobei er sie durch die Glasscheibe hindurch 252
teilnahmslos betrachtete. Endlich war das Gespräch beendet. Der Polizist legte auf, verließ die Loge und schloß das Portal auf. »In Ordnung, meine Dame«, sagte er, als er Anne hinaus ins Freie ließ. »Und weiterhin noch einen angenehmen Aufenthalt in der Hauptstadt der DDR.« Die Stimmung dieses Wintertages schien Anne Seyfried, als sie hinaus auf die Straße trat, noch trostloser als vorher. Zudem schien es ihr, als beginne es bereits dämmerig zu werden. Sie machte sich klar, in welche Ferne die Hoffnung gerückt war, Jost Wentzell in der kurzen Zeit aufzufinden, in der das notwendig war. Niedergeschlagen machte sie sich auf den Weg zurück zu dem Grenzübergang, an dem sie Westberlin wieder betreten mußte. Als sie die Unterführung der Stadtbahn durchschritten hatte, sah sie vor sich am Bordstein ein Westberliner Auto stehen, an dessen Vorderkotflügel ein schweratmender Mann lehnte. Ein zweiter saß am Steuer und rauchte eine Zigarette. Der Mann, der am Wagen lehnte, sprach Anne an und fragte sie, ob sie auch zum Grenzübergang wolle. Anne bejahte. »Können Sie ein Auto steuern?« fragte der Mann, und der, der am Steuer saß, stieg aus und kam um das Fahrzeug herum. Er sah Anne gespannt an. »Natürlich«, sagte Anne. »Ich habe einen Führerschein.« »Würden Sie uns den Wagen bis vor zum Grenzübergang steuern?« fragte einer der Männer. »Wir könnten dann beide schieben und es ginge viel 253
schneller.« Anne erklärte sich sofort bereit, das zu tun. »Haben Sie eine Panne?« fragte sie. »Oder ist Ihnen das Benzin ausgegangen?« »Nein«, sagte der andere. »Uns hat eine zivile Verkehrsstreife erwischt. Mein Freund hat etwas getrunken und ich kann nicht fahren. Die haben uns 50 Mark abgeknöpft und den Führerschein und Wagenschlüssel vor zum Grenzübergang geschickt. Betrunken könnten wir dann drüben wieder fahren, in Berlin-West, haben sie gesagt. Hier, bei ihnen, müßten wir den Wagen schieben.« Anne schüttelte den Kopf und setzte sich hinter das Steuer des Wagens. »Wieviel haben Sie denn getrunken?« fragte sie und nahm den Schalthebel in Leerlaufstellung. »Ganz wenig«, sagte der Mann. »Aber die sind hier rigoros.« »Da gibt es keinen Streit um Promille, meinte der Genosse«, ergänzte der andere Mann. »Nüchtern oder angetrunken. Das ist leicht festzustellen. Und mein Freund sei nicht nüchtern, also sei er angetrunken.« »Ja, und denken Sie«, setzte der zweite Mann hinzu, als er die Hand in den Rahmen des offenen Fensters stemmte und zu schieben begann, »die Schuld hat er auch noch unseren Gesetzen gegeben. Wenn wir nicht bei uns diese Fusel-Lobby hätten, sondern auch eindeutige Gesetze, dann wüßten wir das und brauchten jetzt nicht unseren Wagen zu schieben.« Auf diese Weise erreichte Anne Seyfried in etwas 254
mehr als einer Viertelstunde den schon von hellem Neonlicht überstrahlten Komplex des Grenzübergangsgeländes. Sie absolvierte die Formalitäten und hielt erschöpft auf der anderen Seite der Sperrmauer ein Taxi an, dessen Fahrer erfreut zur Kenntnis nahm, daß Anne bis in den äußersten südwestlichen Winkel der Stadt wollte. In Kohlhasenbrück angekommen, sehnte sich Anne zuerst nach einem heißen Bad und dann nach einer Stunde Ruhe. Als sie zum Abendessen in einem Kaminkleid mit langem Rock nach unten kam, war Heinz Pankraz schon zu Hause. Sie sprachen fast ausschließlich über das, was Anne an diesem Tag erlebt hatte. »Was kannst du aus alldem machen?« fragte Anne ihren Schwager, als sie mit ihrem Bericht zu Ende gekommen war. »Das erste und das Wichtigste«, sagte der Anwalt, »daß Marschal überhaupt noch am Leben ist. Und daß er auch zu finden ist. Das zweite, daß es nicht so leicht zu sein scheint, ihn zu sprechen. Hattest du den Eindruck, daß das Mißtrauen auf der Meldebehörde auf der Nennung des Namens beruhte oder auf einem Vermerk auf der Karteikarte?« »Auf einem Vermerk«, sagte Anne. »Die Angerer wurde schlagartig völlig anders, als sie die Karte in der Hand hatte. Und diese Karte lag ja dann auch bei dem Vorsteher auf dem Schreibtisch.« »Und es gehe um die Staatssicherheit, sagten sie?« Anne nickte. »Sie hätten bestimmte gesetzliche 255
Vorschriften für die Staatssicherheit, wie sie es ausdrückten. Der Taxifahrer hatte mir schon gesagt, daß es Leute mit Westverbot gäbe. Vielleicht gehört er dazu.« »Dann wäre dieser Jost Wentzell-Marschal mit Gewißheit bei denen ein wichtiges Tier.« »Nur, was für eines?« fragte Friska. »Das wird sich nicht so leicht feststellen lassen«, sagte Pankraz nachdenklich. »Bei denen drüben hat so ziemlich jeder Huster etwas mit Staatssicherheit zu tun. Und daß er bei denen mit eingestiegen ist, schreibt er ja auch schon in seiner letzten Mitteilung. Hast du die Postkarte noch mal bei der Hand, Anne?« »Nein«, sagte Anne leicht resigniert. »Ich habe sie denen leichtsinnigerweise gezeigt und die haben sie natürlich gleich dort behalten. Sie sagten, sie würden die Karte Wentzell-Marschal übermitteln. Und wenn er das für zweckmäßig hielte, würde er sich selbst mit mir in Verbindung setzen.« Anne schwieg einige Augenblicke, denn was ihr jetzt durch den Kopf schoß, hatte sie sich bisher noch gar nicht klargemacht. »Aber das kann er gar nicht«, fuhr sie fort. »Denn die haben von mir nicht einmal eine Adresse.« »Mein Gott, Anne, das wäre das wenigste. Sie haben deinen Paß gesehen, deinen Namen und deinen Wohnort notiert, glaubst du, sie kriegen nicht heraus, wer du bist und wo sie dich erreichen können?« Er stoppte, als er sah, daß Anne plötzlich leichenblaß wurde. 256
»Dann kann es ja sein, daß ich Fritz viel mehr geschadet als genützt habe, Heinz.« »Das kann durchaus sein«, sagte Friska. »Aber das konnten wir alle nicht wissen.« »Doch«, sagte der Anwalt. »Wenn wir ein bißchen mehr auf die Formulierung auf der Postkarte geachtet hätten, die jetzt drüben bei denen ist. Aber so krumm kann keiner denken, wie sie handeln.« Eine lange Weile herrschte Schweigen. »Du hast also nicht den geringsten Anhaltspunkt, Anne?« »Doch«, antwortete Anne. »Ich habe einen winzigen Anhaltspunkt. Als ich durch die Schalterhalle zum Ausgang zurückging, machte mir die Frau, die der Angerer am Arbeitstisch gegenüber sitzt, ein Zeichen. Ich ging zu ihr hinüber und sie flüsterte mir zu, ich solle mir zwei Worte einprägen. Das Wort Strausberg und das Wort General-Tschuikow-Kaserne. Die Angerer täte sich immer so groß mit ihrer Linientreue und sie hätte Spaß daran, ihr mal eins auszuwischen.« Heinz Pankraz richtete sich auf und rückte in seinem Sessel interessiert nach vorne. »Die hat also irgendwie Einblick gehabt«, sagte er. »Entweder kannte sie den Vorgang oder sie hat die Karte angesehen.« »Kannst du denn mit diesen Begriffen irgend etwas anfangen?« fragte Anne hoffnungsvoll. »Natürlich«, sagte Heinz. »Strausberg ist ein Städtchen, vielleicht 30 Kilometer ostwärts von Berlin. Dort sitzen die obersten Kommandostellen der Nationalen Volksarmee und die Verbindungsstäbe zur 257
Besatzungstruppe und zum Warschauer Pakt. Und Tschuikow hieß der General, der 1945 Berlin eingeschlossen und erobert hat. Ich möchte glauben, daß dein Jost Marschal in dieser Kaserne einen wichtigen Posten hat, Anne.« »Dann muß ich versuchen, dorthin zu kommen, Heinz«, sagte Anne. »Ich muß diesen Mann finden und mit ihm selbst sprechen, koste es, was es wolle.« »Den Kopf würde es wahrscheinlich nicht gerade kosten. Aber ein paar Wochen oder Monate, möglicherweise auch Jahre, schon.« »Auch das wäre schon zuviel. In zwei bis drei Wochen muß ich den Zeugen haben, weil dann die Sache für Fritz brisant wird.« »Aber Anne«, sagte Friska, »an so etwas ist gar nicht zu denken. Nach Strausberg kannst du nicht in einem Tagesausflug mit deinem westdeutschen Paß kommen. Dorthin brauchst du eine persönliche Einladung und eine Bestätigung der dortigen Polizei. Dann kannst du ein Visum beantragen. Das alles dauert schon allein drei bis vier Wochen.« »Aber was soll ich denn dann tun?« fragte Anne verzweifelt. Weder die Schwester noch der Anwalt konnten ihr in diesem Augenblick eine Antwort geben. »Die ganze Sache ist überhaupt ziemlich verfahren«, sagte Heinz Pankraz, nachdem er sich alles noch einmal durch den Kopf hatte gehen lassen. »An Wentzell-Marschal kommst du mit ziemlicher Sicherheit nicht ran. Und selbst wenn, so lassen die doch nie einen Militär vor einem westdeutschen 258
Gericht aussagen. Wir müssen außerdem damit rechnen, daß sie drüben deine Personalien notiert haben und früher oder später darauf kommen, daß du mit dieser Sache in Verbindung stehst, die für sie so wichtig ist. Es bleibt für Fritz eigentlich gar nichts anderes übrig, als das Spiel der eigenen Nachrichtenleute mitzuspielen. Denn wenn er jetzt aussteigt und denen drüben liefert, was sie haben wollen, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis man ihn dafür zur Rechenschaft zieht. Daß die drüben diese Informationen haben, kann auf die Dauer nicht verborgen bleiben. Und von wem sollen sie sie nach allem, was der BND von der Sache weiß, schon anders haben als von Fritz?« »Aber die kochen ihr eigenes Süppchen, Heinz«, sagte Anne eindringlich. »Das ist mir doch klar geworden, als der Bursche von der Klempnerfirma bei mir war. Denen ist ganz egal, was aus uns wird. Denen geht es doch ausschließlich um die Sache.« »Das kann sein«, sagte Heinz Pankraz. »Dennoch weiß ich im Augenblick keinen besseren Rat.« Anne bemerkte, daß Friska sie plötzlich lange, ein wenig starr und dabei doch nachdenklich ansah. Schließlich hielt sie es nicht mehr auf ihrem Stuhl. Sie stand auf und zündete sich eine Zigarette an. »Aber ich weiß einen«, sagte sie. »Komm mal mit, Anne, dann zeig ich dir was.« Anne stand ebenfalls auf und folgte Friska hinaus in die Diele. Dort hing über einer Ablegekonsole ein Wandspiegel. Friska schaltete das Deckenlicht ein, 259
stellte sich vor den Spiegel und zog Anne neben sich. »Wozu sind wir schließlich Schwestern«, sagte sie. »Der Gedanke ist mir gekommen, als ich darüber nachdachte, daß mein Haar viel kürzer ist als deines. Sieh mal …« Sie griff in Annes Haar und raffte es so nach hinten, daß die Ohren frei wurden. Heinz Pankraz stand unter der Tür, stopfte sich eine Pfeife und sah den beiden Frauen zu. »Ihr seid verrückt«, sagte er. »Das ist ein Risiko, das ihr nicht eingehen könnt.« »Ich verstehe gar nichts«, sagte Anne und sah von einem zum anderen. »Sie will dich mit ihrem Berliner Personalausweis nach drüben schicken«, sagte Pankratz trocken. »Mit dem kann sie nämlich einen Antrag für eine Fahrt auch außerhalb Berlins stellen. Das dauert keine drei Wochen, sondern nur drei Tage.« »Friska«, sagte Anne, »das ginge? Das wäre möglich? Wirklich und wahrhaftig?« »Wenn du dich auf eine Reise in des Teufels Küche einlassen willst, ja«, sagte der Anwalt und setzte seine Pfeife wieder in Brand. »Hol mir deinen Ausweis, Friska. Aber rasch«, sagte Anne und war bereits von fieberhafter Ungeduld gepackt. »Ich warne euch«, sagte Pankraz. Friska brachte den Ausweis und schlug die Lichtbildseite auf. Anne hielt das Dokument in der Hand und verglich das Foto mit ihrem Gesicht im Spiegel. 260
»Heinz«, sagte sie, »schau dir das an, Heinz. Das geht ohne weiteres, meinst du nicht?« »Ich bringe sie zu meinem Friseur, der färbt und schneidet ihr das Haar genau wie meines, da ist überhaupt nichts dabei.« »Beim Haarefärben vielleicht nicht«, sagte der Anwalt. »Aber wenn du dann mit den gefärbten Haaren und Friskas Papieren in einer heißen Sache bei denen dort drüben illegal einreisen willst, da ist schon etwas dabei.« »Mein Gott, Heinz, du wirst doch kein Spielverderber sein«, sagte Friska. »Ich kenne dich überhaupt nicht mehr, Friska«, antwortete Heinz Pankraz scharf. »Seit Jahr und Tag wohnst du in dieser Stadt, verfolgst die Verhandlungen, die Tagespolitik, liest die Zeitungen, siehst fern. Du kennst diesen ganzen perversen Überwachungsapparat, den die da drüben aufgebaut haben und ermutigst deine eigene Schwester, da blindlings reinzutappen. Bei solchen Spielchen mache ich nicht mehr mit.« »Aber du hast doch bisher mitgemacht, Heinz«, sagte Anne. »Warum gerade jetzt nicht mehr, wo es Aussicht auf einen Erfolg gibt?« »Bisher war das alles deine Sache«, sagte der Anwalt. »Ich verstehe«, sagte Anne. »Soweit geht die Liebe also nicht, deinem Schwager auch dann zu helfen, wenn es für dich ein Risiko ist.« »Das Risiko ist in dieser Stadt zu groß, versteh doch. 261
Wenn die auf den Ausweistrick kommen, stehen wir morgen bei denen auf einer Liste, kriegen Scherereien bei Reisen nach drüben, vielleicht sogar beim ganz normalen Transit in den Westen. Wir sind dann von heute auf morgen erpreßbar und kommen bei denen in die Mühle. Und was das bedeutet, erlebst du ja selbst gerade hautnah mit. Wenn es wenigstens nur um eine lächerliche Übertretung ginge, würde ich noch nicht einmal was sagen. Aber hast du dir mal ernsthaft überlegt, in was du da drinsteckst?« »Du willst es Friska also verbieten?« fragte Anne trocken. Heinz Pankraz antwortete: »Ich habe meiner Frau nichts zu verbieten. Friska ist ein erwachsener Mensch. Sie muß selber wissen, was sie tut.« »Immerhin führe sie ja unter einem anderen Namen«, sagte Friska. »Das würde es vereinfachen, wenn sie heute wirklich ihre Identität notiert haben sollten.« »Es würde es nicht nur nicht vereinfachen, Friska, sondern das Ganze möglicherweise zum Platzen bringen«, sagte Heinz Pankraz. »Und das in einer sehr gefährlichen Weise. Was dazu zu sagen ist, habe ich gesagt. Und obwohl ich dir nichts verbieten kann, erwarte ich, daß du dich daran hältst.« Heinz Pankraz deponierte seine erloschene Pfeife auf dem Kaminsims und verließ das Zimmer. Das Knallen der zugeschlagenen Tür dröhnte durch das ganze Haus. »Was sagst du dazu?« fragte Anne nach einer Weile ihre Schwester. 262
»Daß er recht hat.« »Was würdest du an meiner Stelle tun?« Friska dachte lange nach, bevor sie antwortete. »Ich würde trotzdem fahren«, antwortete sie dann. »Ich weiß, daß Fritz in dieser Republik erledigt ist, wenn sie ihm das alles mit Erfolg anhängen. Und dafür ist er zu jung. Ich würde auch versuchen, diesen Mann zu finden. Es steht dafür.« Beide Frauen drehten ihr Gesicht zur Tür, die Heinz Pankraz noch einmal geöffnet hatte. »Wenn du morgen zum Frühstück kommst, komm angezogen, Anne. Ich zeige dir dann noch etwas, damit du verstehst, wovon ich rede.« An diese Bitte erinnerte sich Anne am folgenden Morgen. Nach dem Frühstück zog Pankraz seinen Mantel an und half den beiden Frauen in die Pelze. Sie durchschritten eine Bahnüberführung und gingen durch einige Straßen, gesäumt von älteren Einfamilienhäusern, mit holprigen Kopfsteinen gepflastert. Oben auf dem von wildwucherndem Gestrüpp halb verborgenen Damm kroch in Schrittgeschwindigkeit ein Eisenbahnzug. »Das ist der Fernschnellzug aus Hannover«, sagte Heinz Pankraz. »Und jetzt paß auf.« Unerwartet standen sie plötzlich vor der Grenzmauer. »Von der Stelle, wo du sie gestern passiert hast, bis hierher sind es rund 100 Kilometer von diesem Bauwerk, überragt von mehreren hundert dieser Wachtürme, kontrolliert von einer motorisierten 263
Armee von rund 10 000 Mann in Mehrschichtendienst.« Ihnen gegenüber zeigte diese Sperrmauer eine Unterbrechung. Von dort aus führten rechtwinklig zwei Mauerstücke hinaus in das Gebiet der DDR, die einen Schlauch von nicht wesentlich mehr als 50 Meter Breite bildeten. Durch diesen Schlauch führten eine Straße und eine eingleisige Bahnlinie. Außerhalb des Schlauches schichteten sich Mauerzungen und Hindernisblöcke in ein scheinbar unentwirrbares Sicherheitssystem zusammen, überragt von mehreren verglasten Pilztürmen aus tristem Beton mit Scheinwerfern auf dem Dach. »Das sind die Sicherheitsanlagen für den Durchlaß der Reisezüge von und nach Berlin«, erklärte Heinz Pankraz. »Und da vorne umgibt diese Sperrmauer die Siedlung Steinstücken. Die beherbergt 400 Einwohner und war bis vor ein paar Jahren nur mit dem Hubschrauber erreichbar. Diesen Schlauch hier hat der Senat in dreieinhalbjährigen Verhandlungen der DDR abgerungen.« Sie gingen weiter durch den Schlauch und erreichten nach wenigen Minuten die Siedlung. Heinz Pankraz führte die Frauen auf eine Fußgängerbrücke, die sich im Bogen über die eingleisige Bahnspur spannte. Sie starrten südwärts die Fäden der mattglänzenden Gleise entlang. Diese durchbrachen die Sperrmauer in einer etwa drei Meter breiten Lücke. Dahinter sah man Häuser und die Bäume einer Waldparzelle. »Dieses Gleis hier dient zum Austausch der S-Bahn264
Garnituren, die drinnen gefahren und draußen repariert und gewartet werden. Da vorne, wo das Gleis durch die Mauer läuft, sieht alles so harmlos aus. Aber der Mann, der es wagen würde, die beiden Schritte von der einen Seite auf die andere Seite dieser Mauer zu tun, wäre auf der Stelle ein toter Mann.« »Wird hier immer noch soviel geschossen?« fragte Anne. »Nein, hier wird nicht mehr soviel geschossen«, antwortete Pankraz. »Aber nur deshalb, weil nicht mehr soviel geflohen wird. Der goldene Westen ist weniger reizvoll geworden, seitdem sich hier die Folgen des Schlaraffenlandwahns und Wunderglaubens einstellen. Aber für einen, der das Attraktionsgefälle falsch einschätzt und es versuchen würde, wäre dieser Irrtum nach wie vor tödlich.« »Und warum zeigst du mir das alles, Heinz? Um mir Angst zu machen?« fragte Anne. »Nein«, sagte der Anwalt. »In die Verlegenheit, hier von einer Seite auf die andere zu gehen, würdest du ohnehin nie kommen. Aber vielleicht hilft es dir, die Denkweise richtig einzuschätzen, mit der es jemand zu tun haben würde, der mit einem falschen Paß in dieses Land reist. Bei allem, was hier passiert, geht es absolut nicht um Wahrheit und Gerechtigkeit, und schon gar nicht um das Wohl der Menschen. Hinter dem Deckmantel der Ideologie geht es hier nur noch um Machtpolitik. Was du vorhast, ist ein gefährliches Spiel mit dem Feuer.« 265
8 Für Fritz Seyfried vergingen diese Tage viel zu langsam. Sein Kalender über dem Schreibtisch wurde mehr und mehr für ihn zur Uhr, die nicht Monate, Wochen oder Tage, sondern allenfalls noch Stunden anzeigte. Im Zusammenwirken mit dem Leiter des Amtes und dem Ministerium auf der Hardthöhe war die Konferenz der NATO-Minister für Donnerstag, den 12. März, vorgesehen. Das bedeutete, daß sein Flug zur Vereinigten Hütten nach Herne am Dienstag, den 10. März, stattfinden mußte. Um seine Präsentation vor den Ministern zu vervollständigen und zu koordinieren, mußte er bis spätestens Mittwoch, den 4. März, im Besitz der Denkschrift über das Ergebnis des Testschießens sein, an dem er am Tage von Annes Geburtstag teilgenommen hatte. Neben der Organisation und Koordination der Geheimkonferenz galt es, auch die Tagesarbeit abzuwickeln, ohne daß in seinem dienstlichen und persönlichen Verhalten eine Veränderung erkennbar wurde. Das fiel ihm schwer, aber es glückte. Er wußte natürlich, daß er von Anne über die Erfolge oder Mißerfolge ihrer Reise nichts würde erfahren können, bevor sie nicht von dort zurückgekehrt war und sie sich im Heizungskeller aussprechen konnten. Dabei war nicht viel mehr als höchstens noch zwei Wochen Zeit. 266
In den Nächten grübelte er und hielt es bisweilen für ausgeschlossen, daß diese Affäre zu einem glücklichen Ausgang zu bringen sei. Obwohl er seine gesamte Umgebung, vom Pförtner bis zum Amtschef, vom Nachbarn bis zum Postboten, mit geschärfter Aufmerksamkeit beobachtete, gab es nichts, was ihm als ungewöhnlich oder verdächtig aufgefallen wäre. Auch im Verhalten Hans Lockschmidts gab es keine Veränderungen, obschon die Äußerungen des Mannes, den sie Drohne nannten, in ihrer Informiertheit und Intimität am ehesten noch in diese oder eine ähnliche Richtung deuteten. Es wäre aber auch völlig abwegig, ja töricht gewesen, jetzt Mitarbeitern gegenüber ein verändertes Verhalten zu zeigen oder ihnen Vertrauen zu entziehen, das er ihnen vorher erwiesen hatte. Mit Lockschmidt besprach er die Einzelheiten der Reise nach Herne. Nachdem ihm durch den Nachrichtendienst übermittelt worden war, daß er scheinbar auf die gegen ihn aufgebaute Erpressung eingehen solle und im übrigen auf Weisungen zu warten habe, die man ihm rechtzeitig zugehen lassen werde, sah er keinerlei Veranlassung, auch in dieser Hinsicht irgend etwas zu verändern. »Sind die Vorschläge für den 12. März an die Minister schon rausgegangen, Hans?« fragte Fritz. Lockschmidt saß vor seinem Schreibtisch und antwortete: »Sie sind. Und Antworten sind auch schon da. Belgien ist einverstanden, und Kanada auch.« Fritz schüttelte bei dieser Bemerkung staunend den 267
Kopf. »Ich frage mich schon seit Jahrzehnten, was Länder wie Kanada bewegen mag, sich eine Panzerwaffe zu leisten. Mit den Staaten werden sie ja Frieden halten und jeder andere Gegner müßte seine Angriffsmittel über Tausende von Seemeilen an ihre Küsten bringen.« »Prestige«, sagte Lockschmidt. »Und die Geheimwissenschaft der Bündnisstrategie.« »Wenn ich die NATO wär’, würde ich den Kanadiern Seestreitkräfte, eine Luftwaffe, Lenkwaffen und ein Warn- und Abwehrsystem aufschwätzen.« »Du vergißt, daß man in München Panzer verkaufen möchte, keine Lenkwaffen. Und aus Kanada kann auch der bornierteste Jurist im Bundestag kein Spannungsgebiet konstruieren.« »Ich bin nicht zuständig für die NATO-Strategie«, sagte Fritz. »Gottlob. Und mit der Zustimmung der anderen ist hoffentlich zu rechnen.« »Das koordiniert das Ministerium, Fritz. Aber ich habe keinen Zweifel.« »Schön«, sagte Fritz Seyfried. »Das würde dann bedeuten, daß wir das Material aus Herne am 11. März hier haben müssen, damit es noch vervielfältigt werden kann.« »Wie hast du dir das gedacht?« fragte Lockschmidt. »Willst du selbst fliegen oder willst du es holen lassen?« »Ich fliege selbst«, sagte Fritz. »Ich kenne die Herren, ich kenne die Vorgänge. Und bei mir scheint mir das Zeug am besten aufgehoben zu sein. Mit dem 268
Testbericht der Truppe kann ich mich dann am Wochenende vorher vertraut machen …« Fritz konsultierte erneut seinen Kalender. »Das wäre zwischen dem fünften und dem achten März. Die geheime Denkschrift darüber ist mir für Mittwoch, den vierten, zugesichert.« »Wird es dazu auch Fotografien geben?« fragte Lockschmidt. »Natürlich«, sagte Fritz Seyfried. »Ich denke, das wird überhaupt das Wesentliche an diesem Bericht sein. Und vor allem das, was die Herren am besten verstehen. Nicht nur bei uns macht man jeden xbeliebigen zum Minister, sondern auch anderswo. Hauptsache politisch bequem, die Sachkunde fällt dann vom Himmel. Und das Ergebnis kann man täglich in der Zeitung lesen.« »Das ist eben der feine Unterschied zur Diktatur«, sagte Lockschmidt. »Wie meinst du das, Hans?« »Bei denen ist das genauso. Nur kannst du es dort nicht in der Zeitung lesen. Wie stellst du dir denn die Technik der Präsentation vor? Wir werden mit einem Kreis von ungefähr 30 Herren zu rechnen haben. Da die Verantwortlichen keine Fachleute sind, werden die ihre Experten mitbringen müssen.« »Die Sicherheitsfragen stimmst du mit den NATOStäben ab«, sagte Fritz Seyfried. »Darüber brauchst du mich nur zu informieren, mehr nicht. Und das andere … ich würde am liebsten gar kein Material rausgeben. Aber sollen es doch die weiter oben entscheiden, ob 269
wir nur eine Projektion machen oder ob die Teilnehmer individuell etwas in die Hand bekommen.« »Wenn über eine Adaption dieser Technik entschieden werden soll, müssen sie früher oder später prüfungsund bearbeitungsfähige Unterlagen erhalten«, sagte Lockschmidt. »Vom Bildschirm weg oder nur von der Projektionsleinwand kann niemand eine Entscheidung treffen.« »Du hast wahrscheinlich leider recht«, sagte Fritz. »Wir werden uns auf eine Vervielfältigung des in Herne gespeicherten Materials vorbereiten müssen. Du kannst das schon mal vorsichtshalber mit dem Rechenzentrum abklären.« »Gut«, sagte Lockschmidt, ließ seinen Schreibstift zurückschnappen und steckte ihn weg. »Das wäre im Augenblick alles. Was hörst du von Anne?« »Nichts«, sagte Fritz. »Sie ist für ein paar Tage bei Heinz und Friska. Ich habe das Gefühl, daß ihr das recht gut tut.« »Bei euch hat es in der letzten Zeit Spannungen gegeben, nicht wahr?« Lockschmidt schob seine Unterlagen zusammen und erhob sich. Seyfried sagte: »Wir sind recht gute alte Freunde, Hans, das weiß ich. Aber Spannungen wie zwischen Anne und mir sollten wir unter uns ausmachen, verstehst du das?« »Ich wollte mich nicht aufdrängen«, sagte Lockschmidt. »Ich weiß«, antwortete Fritz. »Was ich sagte, war 270
nur zur Klarstellung.« Nachdenklich sah Fritz Seyfried seinem Mitarbeiter nach, als dieser das Zimmer verließ. Es fiel ihm schwer, sich wirklich vorzustellen, daß es vielleicht auch Hans Lockschmidt sein könnte, der skrupellos genug war, Anne und ihn in die schwerste Krise ihres bisherigen gemeinsamen Lebens zu stürzen. Der Rest des Tages verlief wie Hunderte von anderen Tagen. Da er zu Hause allein war, blieb Fritz länger als gewöhnlich und schloß seine Schränke und Schubladen erst ab, als es Zeit wurde, sich um die Hunde zu kümmern. Wenn er das Haus um diese Zeit verließ, war es meist schon ziemlich ruhig. Er benützte den Aufzug. Als er ihn unten in dem marmorverkleideten Vestibül verließ, sah er Kullnau mit sorgenvollem Gesicht quer durch die Halle auf sich zukommen. »Gut, daß ich Sie mal alleine erwische, Herr Seyfried«, sagte der alte Pförtner. Seyfried blieb stehen. »Was gibt es, Kullnau?« Der alte Mann druckste herum und schien sich innerlich zu winden. »Na, reden Sie schon«, ermunterte ihn Fritz. »So schlimm kann es ja nicht sein.« »Hoffentlich nicht«, sagte der Pförtner. »Ich wollte Sie schon seit einiger Zeit einmal darauf ansprechen … Sie bearbeiten doch in Ihrem Büro auch vertrauliche Vorgänge, nicht wahr?« »Ja gewiß«, sagte Fritz verwundert. »Hier im Haus 271
werden viele vertrauliche Vorgänge bearbeitet. Warum fragen Sie danach?« Kullnau näherte Fritz sein Gesicht noch ein wenig mehr. »Es kommt mir manchmal so vor, als würde in Ihrem Zimmer herumspioniert, Herr Seyfried. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich muß es Ihnen sagen.« »Wie kommen Sie darauf?« fragte Fritz. »Haben Sie denn Beobachtungen gemacht?« »Ich bin schon ein alter Mann«, sagte der Pförtner. »Ich kann mich natürlich auch täuschen. Aber manchmal habe ich mir in der letzten Zeit eingebildet, ich hätte Lichtschein dort oben gesehen, vor allem, wenn ich bei nächtlichen Runden durch den Garten komme und zufällig mal nach oben sehe.« »Wie? Die Raumbeleuchtung etwa?« fragte Fritz. »Nein«, sagte Kullnau. »Eher wie das Spielen einer Taschenlampe oder auch ein Blitzgerät oder so etwas. Haben Sie denn noch nie Veränderungen oder etwas Verdächtiges bemerkt?« »Nein«, sagte Fritz. »Noch nie. Ich kann mir das auch gar nicht vorstellen. Wer noch im Haus ist, können Sie doch feststellen. Und anders als auf dem normalen Weg ist hier gar nicht hereinzukommen.« »Das stimmt nicht, Herr Seyfried. Für den, der sich auskennt, gibt es mehr als einen Weg, in dieses Gebäude zu kommen.« »Haben Sie das schon einmal mit dem Sicherheitsbeauftragten besprochen, Herr Kullnau?« »Jawohl, Herr Lockschmidt weiß das und will auch Abhilfe schaffen.« 272
Wirre Gedanken schossen Fritz Seyfried durch den Kopf. Gedanken an Dutzende von Sekretärinnenfällen, wo Vertrauenspersonen Nachschlüssel und Minikameras besaßen und damit mehr oder weniger wichtige Dokumente fotografierten, wobei sie sich für eine mehr oder weniger schlechte Bezahlung als Jahrhundertspione vorkamen und dafür zu mehr oder weniger langen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Darum ging es in seinem Falle nicht. Die Gruppe, die gegen ihn vorging, hatte keine Routineaufgaben. Sie war auf eine spezielle, zeitlich begrenzte Aufgabe angesetzt. Irgendwoher mußte der Bursche, der ihn mit seiner Hundeliebe hereingelegt hatte, natürlich die Einzelheiten der Arbeitsunterlagen seines Bereiches kennen. Demnach konnte Fritz bereits drei verschiedene Funktionsträger ausmachen: den Kerl mit dem Hund, der ihm unmittelbar im Genick saß und ihm seine Weisungen gab, einen zweiten, der wahrscheinlich hier im Hause arbeitete, und einen dritten, der das alles in der Hand hatte, das Ergebnis in Empfang nahm und zur Auswertung an seine Auftraggeber weiterleitete. Um diesen dritten ging es selbstverständlich den Leuten vom Nachrichtendienst, die den Klempner mit dem Touch intellektueller Intelligenz zu Anne in den Keller geschickt hatten, da machte Fritz Seyfried sich selbst nicht das geringste vor. Derjenige, der möglicherweise hier im Hause saß, war keinesfalls das, was man im Fachjargon einen Maulwurf nannte, sondern allenfalls eine Ratte. Wenn 273
auch ein gefährliches Exemplar dieser Gattung. Mit der Bezeichnung Nachtfrost mußte jedenfalls der Drahtzieher gemeint sein. Und das war ein anderer als der, der möglicherweise mit Taschenlampe und Minikamera in seinem Büro zweitrangige Vorgänge ablichtete. »Gut, daß Sie mich darauf angesprochen haben, Kullnau«, sagte Fritz, nachdem ihm diese Gedanken durch den Kopf gegangen waren. »Wenn Ihnen wieder etwas auffallen sollte, verständigen Sie Herrn Lockschmidt.« Fritz begann, auf das Portal zuzugehen. Kullnau begleitete ihn, zog dabei das Schlüsselbund hervor und suchte den Hauptschlüssel heraus. Fritz Seyfried überdachte noch einmal, was er soeben gesagt hatte. Als der Pförtner die Tür aufgeschlossen hatte und den Flügel öffnete, korrigierte Fritz sich. »Nein«, sagte er, »verständigen Sie nicht Herrn Lockschmidt, verständigen Sie lieber mich selbst.« Kullnau grüßte und verschloß hinter Fritz Seyfried gewissenhaft, wie es seine Art war, das Haus. Wenn Kullnau recht hatte, überlegte Fritz, dann mußte er von dem Mann, den sie Drohne nannten, schon in Kürze wieder angesprochen werden. So geschah es auch. Und zwar bereits am folgenden Abend. Fritz hatte nicht erwartet, daß der Mann ohne seinen Hund auftauchen würde und suchte gewohnheitsmäßig noch nach dem dritten Schatten, als der Mann, an den er dachte, schon neben ihm herschritt. Fritz buchte es als einen Erfolg, daß der Mann ihn in aller Offenheit 274
und an der gewohnten Stelle wieder ansprach. Es war ein Beweis dafür, daß es Anne und ihm bisher geglückt war, den beabsichtigten Schein zu wahren. »Wo haben Sie denn Asta?« fragte Fritz, als er den Fremden neben sich bemerkte. »Ich brauche Asta nicht mehr«, sagte der andere. »Wir sind ja nun ganz gut ins Gespräch gekommen, nicht wahr. Und ich habe eine Frau zu Hause, die Hunde nicht schätzt. Deshalb habe ich Asta verkauft. Aber es geht ja auch ohne sie. Wohin ist Ihre Frau verreist, Seyfried?« »Warum fragen Sie eigentlich noch, wenn Sie es doch ohnehin schon wissen? Sie ist bei ihrer Schwester in Berlin, weil sie der Stimmung überdrüssig ist, die Sie uns ins Haus geliefert haben.« Der Mann nickte. »Sie sollten mit Ihren Vorwürfen sparsamer sein, Seyfried. Das sagte ich Ihnen schon einmal. Sie sind selbst nicht ganz unschuldig an Ihrer eigenen Lage.« Seyfried lachte. Der Mann fuhr fort: »Sie haben sich anscheinend mit Ihrer neuen Situation abgefunden. Wir halten das für ein Zeichen von Vernunft.« »Ich freue mich, daß Sie zufrieden sind«, sagte Seyfried. »Ich habe noch eine Frage an Sie«, sagte der Fremde und blieb stehen. Fritz Seyfried folgte seinem Beispiel. »Sie haben natürlich Überlegungen angestellt. Was, glauben Sie, wird mit Ihnen geschehen, wenn Sie uns die gewünschten Details geliefert haben?« »Ich nehme an, dann werden Sie mich in Frieden 275
lassen.« »Wie kommen Sie zu diesem Schluß, Seyfried?« »Ganz einfach: Es ist nur eine einzige und einmalige Sache, die Sie von mir haben wollen, keine laufende Information. Wenn Sie haben, was Sie brauchen, müssen Sie daran interessiert sein, geheimzuhalten, daß Sie es haben. Sie wissen auch genau, daß Sie von mir nicht mehr erfahren können als das, was Ihnen gerade jetzt so wichtig zu sein scheint. Sie können nicht daran interessiert sein, daß meine Verbindung zu Ihnen durch eine weiterhin aufrechterhaltene Erpressung herauskommt. Aus dem gleichen Grund können Sie an mir keinen Mord riskieren. Sie persönlich werden rechtzeitig verschwinden und andere Personen werde ich, wenn Sie exakt arbeiten, nicht kennenlernen. Ihre Organisation ist also vor mir ziemlich sicher. Daß Ihre Auftraggeber meine Information tatsächlich besitzen, wird, wenn überhaupt, erst viel später bekannt werden, wenn über das alles längst Gras gewachsen ist. Es ist für Sie also das Vernünftigste, Ihre Zusagen einzuhalten.« »Das ist Ihre Begründung dafür, daß Sie bereit sind, unsere Bedingungen zu erfüllen?« »So ist es.« Der Fremde war äußerst zufrieden. »Das sind haargenau die Überlegungen, von denen wir glauben, daß Sie sie anstellen müssen, Seyfried. Sie lassen sich wirklich von der Vernunft leiten. Das ist sehr selten. Dafür habe ich eine gute Nachricht für Sie.« 276
»Und die wäre?« »In zwei oder drei Wochen ist das alles für Sie erledigt. Sie können dann Ihre innere Anspannung wieder abbauen, die Beziehung zu Ihrer Frau neu ordnen und das Ganze vergessen. Ihre Vergangenheit bleibt tot. Sie können weiterleben wie bisher auch.« »Wie angenehm«, sagte Fritz Seyfried. Den anderen ärgerte dieser Sarkasmus. Da sich aber ein Agent der oberen Mittelklasse nicht von Emotionen leiten lassen soll, schluckte er den Ärger wortlos hinunter. »Sie werden bis zum 5. März im Besitz des Berichtes über das letzte Probeschießen sein und ab 10. März die Fertigungsunterlagen aus Herne in der Hand haben. Dazu kommen die verarbeitungstechnischen Verfahrensanweisungen für den Einbau der Panzerung in den Kampfwagen, die jetzt schon in Ihrem Tresor liegen. Von allen diesen Unterlagen werden in Ihrem Haus voraussichtlich Duplikate für die Ministerkonferenz am 12. oder 13. März in Brüssel gefertigt. Hiervon brauchen wir je ein auf Mikrofiches genommenes Exemplar zu einem Zeitpunkt zwischen dem 11. und dem 13. März. Die genaue Zeit, den genauen Ort und die Übergabemodalitäten werden Ihnen durch den Fensterschlitz Ihres Wagens rechtzeitig zugehen. Hieran müssen Sie sich sehr genau halten. Wie gesagt, die Sache ist für uns von äußerster Wichtigkeit.« »Dann werden wir uns also bei der Übergabe zum letztenmal sehen?« »Vermutlich«, sagte der Fremde. »Tut Ihnen das 277
leid?« »Ich weiß nicht«, sagte Fritz Seyfried und pfiff seinen Hunden. »Ich habe mich fast ein bißchen an Sie gewöhnt.« Dieses Mal blieb der Mann mit der Brille auf dem Waldweg stehen und sah Fritz nach, wie er mit Stoffel und Steffi zwischen den Bäumen davonschritt. Nach einer Weile glaubte Fritz Seyfried in seinem Rücken ein sonderbares Geräusch zu hören, etwas, das wie eine Mischung aus Pochen und Schnalzen klang. Er dachte, der Fremde habe ihm ein Zeichen gegeben, blieb stehen und wendete sich um. Aber er konnte den Mann mit der Brille nirgends mehr entdecken. Auch die Hunde blieben stehen und starrten mit schlappernden Zungen rückwärts. Dann rannten beide zur gleichen Zeit los in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Aber ein scharfer Pfiff ihres Herrchens brachte sie zum Stehen und ließ sie widerwillig umkehren. Am nächsten Morgen schlang Fritz Seyfried – wie immer, wenn seine Frau verreist war – sein Frühstück in der Küche stehend herunter. Während er dabei nachdenklich durch das Fenster auf die Straße schaute, erschrak er plötzlich. Mit ungewohnt hoher Geschwindigkeit fuhren drei Polizeifahrzeuge zwischen den Häusern und Gärten hindurch nach oben in Richtung Wald. Ein normaler Funkstreifenwagen, ein Kastenwagen mit kriminalistischem und technischem Gerät und als letzter ein Transportwagen. Er stellte die halbgeleerte Kaffeetasse ab, ging nach 278
draußen in die Garderobe und fuhr in den grüngrauen Parka. Er nahm die Hausschlüssel vom Haken, pfiff den Hunden und verließ, nachdem er sie an die Doppelleine genommen hatte, mit ihnen das Haus. Oben im Wald bemerkte er schon aus der Ferne die Ansammlung von Menschen und Fahrzeugen, ungefähr an der Stelle, wo er am vergangenen Abend geglaubt hatte, das sonderbare Schnalzen zu hören. Als er sich der Gruppe genähert hatte, sah er, daß Vermessungen vorgenommen und in der halben Dämmerung des frühen Wintermorgens Blitzlichtaufnahmen gemacht wurden. Mitten auf dem Wege lag auf dem Rücken mit leicht gespreizten Beinen und krallenförmig verkrampften Händen die Leiche eines Mannes, dessen Mantel Fritz Seyfried sofort erkannte. Sein Gesicht indessen war mit einem roten Gummituch zugedeckt. Einige andere Bewohner der Häuser am Habichtsberg in flüchtig übergeworfenen Mänteln standen herum und sahen den Polizeibeamten zu. Ihren Gesprächen entnahm Fritz, daß die Polizei schon ziemlich früh durch einen Anwohner verständigt worden war, der bei seinem Morgen-Jogging den Leichnam entdeckt hatte. Dort befand sich im Augenblick ein Kriminalbeamter, um ein Protokoll aufzunehmen. Die Taschen des Mannes seien sorgfältig geleert gewesen. Die Frage, ob irgend jemand aus der Nachbarschaft diesen Mann schon einmal gesehen habe, hätte 279
ohnehin gar nicht erst gestellt werden können, weil der Mann mit einem stumpfgefeilten Projektil in das Gesicht geschossen worden und infolgedessen bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet war. Fritz Seyfried wurde von niemandem eine Frage gestellt. Der Tote konnte auch späterhin nicht identifiziert werden. In einer Entfernung von einer Viertelstunde zu Fuß fand man einen bei einer bekannten Firma gemieteten Leihwagen. Aber der Name des Mieters war falsch. Die kriminaltechnischen Untersuchungen am Tatort ergaben nichts. Man fand weder Fingerabdrücke noch die Hülse der abgefeuerten Patrone, noch diese Patrone selbst. Auch Fußspuren waren nicht zu entdecken. Entweder hatte es keine gegeben oder sie waren sorgfältig verwischt worden. Der Leichnam mußte, nachdem die Staatsanwaltschaft ihn freigegeben hatte, auf Gemeindekosten bestattet werden. Die Akten wurden später unter der Rubrik »ungeklärte Mordfälle« abgelegt. Ein schon beinahe auf eine sechsstellige Summe angewachsenes Konto bei der Sparkasse einer etwa 30 Kilometer entfernten Kleinstadt wurde niemals mehr abgehoben.
280
9 Anne Seyfried gestand sich ein, daß sie Angst hatte. Sie hatte einen innen mit Pelz gefütterten Wildledermantel Friskas angezogen. Dazu trug sie ihre Wollmütze. Die Ledertasche hing über ihre Schulter. Nach eingehenden Gesprächen mit Heinz und Friska hielt sie es für unauffälliger, nicht den Wagen ihrer Schwester zu benutzen, die ihn ihr angeboten hatte, sondern die Grenze zu Fuß zu überschreiten. Sie war auf der westlichen Seite des Überganges aus einem Bus gestiegen und bewegte sich im Zug der Invalidenstraße auf die Barackenansammlung des Überganges zu. Rechts von ihr dehnten sich die Gebäude der Charité. Die Übergangsstelle selbst wurde flankiert von zwei pompösen Granitbauwerken aus der Zeit der Jahrhundertwende, mit säulengeschmückten Portalen und voluminösen Ziegeldächern. Anne gelangte an den Fahrbahnteiler, schritt dann direkt auf die verglaste Wachkanzel zu und passierte die Durchfahrt der Sperrmauer. Der Grenzbeamte unmittelbar dahinter überprüfte lediglich die Ordnungsmäßigkeit und Gültigkeit der Dokumente und bildete keine Gefahr. Er gab Anne den Personalausweis ihrer Schwester zurück und deutete auf die überdachte Durchfahrt, wo die Kontrolle der Identität und der Geldwechsel vollzogen wurden. Da der dort tätige Grenzbeamte mit zwei oder drei 281
Fahrzeugen beschäftigt war, mußte Anne warten. Endlich wendete der Mann sich ihr zu. Sie gab ihm den Ausweis. Er gehörte zu der blassen, asketischen Sorte mit stechenden Augen und überkorrektem Benehmen. Anne kannte zwar die prüfenden Blicke dieser Männer schon von ihrem letzten Grenzübertritt her, dennoch schien dieser Mann sich öfter und intensiver in ihr Gesicht, in das Paßfoto und wieder in ihr Gesicht zu vertiefen. Er schien seine Augen unmittelbar in den verderbten Kern des westlichen Kapitalismus zu bohren und Anne kam sich fast kriminell vor. Schließlich bog er den Ausweis noch weiter auseinander, ging ein paar Schritte hinüber zu der grau gestrichenen Holzbaracke und schob das Dokument durch einen Schlitz, den ein Milchglasfenster an seinem unteren Ende offen ließ. Er schickte Anne zu einem anderen Schalter, wo sie ihr Geld wechseln konnte und wendete sich wieder einem Kraftwagen zu, der neben Anne gehalten hatte. Anne wußte, daß damit die größte Gefahr überwunden war. Hinter der Milchglasscheibe wurde nur das Dokument geprüft, und das Dokument war echt. Sie durften nur keinen Verdacht fassen, daß zu dem echten Dokument eine falsche Frau gehörte. Mit der größten Sorgfalt hatte Anne sich unter Friskas Mithilfe in dem Frisiersalon ihrer Schwester das Haar genauso schneiden, tönen und legen lassen, wie auch Friska es trug. Eine Schwierigkeit hatte sich dadurch ergeben, daß 282
Friska die Ohrläppchen durchbohrt hatte und kleine Perlen darin trug. Jedoch hatten sie auch dies geregelt, und selbst Heinz Pankraz hatte zugeben müssen, daß eine glänzende Täuschung geglückt war. Mit Erleichterung vermerkte Anne, daß auch der Blasse mit der kerzengerade auf dem dunklen Haar sitzenden Schirmmütze die Täuschung akzeptiert hatte. Nachdem sie ihr Geld gewechselt hatte, kam Friskas Ausweis wieder aus dem Schlitz. Der Blasse gab ihn ihr zurück und legte die Hand an den Mützenschirm. Die Zollkontrolle fand weiter rückwärts statt. Der dortige Beamte prüfte die Zettel, die Anne mit Friskas Hilfe schon vorgefertigt hatte. »Sie wollen nach Strausberg, Frau Pankraz?« Der Mann gab ihr die ineinandergesteckten Papiere zurück und sah sie interessiert an. Anne lächelte. Der Mann erwiderte das Lächeln. »Märkische Schweiz«, sagte sie. »Es soll sehr hübsch dort sein.« »Aber sicher«, sagte der Mann. »Ich stamme aus einem Dorf dort in der Nähe. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik.« Das letzte hatte der Mann ihr schon halb nachgerufen. Anne wendete sich noch einmal um und dankte ihm. Dann umrundete sie die rot-weiß bemalten Sperrbalken und befand sich im Ostteil der Stadt. Zu Fuß ging sie die wenigen hundert Meter bis zur Chausseestraße. Dort hielt sie ein Taxi an und ließ sich zum Ostbahnhof fahren. Vor dem schmucklosen 283
Quaderbau, hinter dem sich die dunkle Glastonne der Bahnsteighalle hochwölbte, hielt das Taxi an. Anne bezahlte und betrat die ebenerdig gelegene Schalterhalle. Sie löste eine Fahrkarte hin und zurück nach Strausberg und forschte auf den großen Tafeln nach der Abfahrt eines Zuges. Sie hatte Glück, denn der nächste fuhr in etwas weniger als zehn Minuten. Auf breiten Treppen stieg sie nach oben zu den Bahnsteigen und stieg in einen der bereits wartenden Waggons ein. Als der Zug anfuhr, sah Anne draußen die gleichen Häuser, Fabriken und Bahnanlagen vorübergleiten, die auch Fritz, zusammen mit dem Hauptmann des Heeres, hatte vorübergleiten sehen, der ihm die vorletzte Offensive der Russen fast auf die Stunde genau vorausgesagt hatte. Der Zug dampfte auf der SBahnrampe entlang, rumpelte über eiserne Brücken, die stille Kanäle überspannten, legte sich kreischend in sanfte Kurven und fuhr endlich über flaches, mit Parzellen entlaubter winterlicher Bäume bestandenes Land, das ganz allmählich ein wenig hügeliger wurde. Auf einem Bahnhof namens Eggersdorf mußte sie umsteigen. Für den Rest der Strecke brauchte der Zug nicht mehr viel länger als eine Viertelstunde. Der Bahnhof machte einen fast dörflichen Eindruck, obschon Strausberg selbst ein Städtchen war, in welchem ein reges Leben herrschte. Es schien in der Tat vollgestopft zu sein mit feldgrau uniformierten Soldaten, von denen manche auch Fahrräder oder 284
Kleinkrafträder benutzten. Anne hielt nach einem Taxi Ausschau, aber es war gar nicht so leicht, an eines heranzukommen. Endlich gelang es ihr bei einem, mit dem eben drei junge Soldaten angekommen waren, die offensichtlich mit dem gleichen Zug zurückfahren wollten, der Anne soeben hierher gebracht hatte. Lärmend verschwanden die jungen Männer im Bahnhofsgebäude. Anne drängelte sich an das Taxi heran und fragte den Fahrer, ob er die GeneralTschuikow-Kaserne, kenne. »Natürlich kenne ich die«, antwortete der Mann. »Die kennen wir alle hier. Wollen Sie etwa dorthin?« Im Gegensatz zu den Fahrern, denen Anne bisher in Berlin begegnet war, war dieser ein noch junger Mann, nicht älter als 25, schätzte Anne. Er trug eine sportlich karierte Schirmmütze mit einer flauschigen Bommel darauf, die ihm einen Hauch von Westlichkeit verlieh, der noch dadurch unterstrichen wurde, daß er einen Kaugummi zwischen den Zähnen hin- und herschob. Unter seinem Mützenschirm heraus musterte er Anne interessiert. »Nicht von hier, was?« setzte er, nachdem er seine Personenbeurteilung abgeschlossen hatte, hinzu. »Na, dann steigen Sie mal ein.« Er griff quer durch das Fahrzeug und ließ die rechte Vordertür aufspringen. Anne setzte sich neben ihn und zog die Wagentür zu. Der Mann fuhr los. Der Bahnhof lag ein wenig außerhalb des Ortes. Nach einer Weile bog das Taxi in den Stadtkern ein. Das Städtchen besaß eine schmale, ein wenig altertümliche Hauptstraße, von zweistöckigen Bürgerhäusern gesäumt. Sie 285
war mit Kopfsteinen gepflastert, auf denen das Taxi stark holperte. Einspurig wand sich ein ziemlich breites Straßenbahngleis durch die Straße, an manchen Stellen zu einer doppelgleisigen Ausweichstelle verbreitert. Wenn sich dort zwei Bahnen begegneten, wurde der Autoverkehr erheblich behindert. Durch diese Straße mußte sich das Taxi hindurchquetschen. Manchmal gab der Blick durch die Häuserzeile nach links einen langgestreckten See frei, der sich längs des Städtchens hinzog. An seinem verlassenen Ufer hielt eine Badeanstalt ihren Winterschlaf. »Die Kaserne liegt aber ziemlich weit außerhalb«, sagte der Mann und schaltete einen größeren Gang ein, sobald eine etwas freiere Fahrstrecke vor ihm lag. »Die lassen nicht gerne jeden die Nase da reinstecken, verstehen Sie?« »Mich interessiert überhaupt nicht, was die dort machen«, sagte Anne. »Ich möchte jemanden besuchen.« Der Mann warf ihr einen zweifelnden Blick zu: Noch nie war ihm jemand begegnet, der zu einem privaten Besuch in die Tschuikow-Kaserne wollte. Und schon gar nicht eine Frau, die es kaum verheimlichen konnte, daß sie aus dem Westen kam. »Na ja, wenn Sie meinen«, sagte er also und beschleunigte den Wagen, als er jetzt die letzten Häuser des Städtchens hinter sich ließ. Die Fahrt ging durch eine Hügellandschaft von sanftem Charakter. Leichter Schnee in den 286
Ackerfurchen ließ die Felder aussehen wie ausgebreitete Stücke braunweiß gestreiften Samtes. Dazwischen schob sich pastellfarben die Kulisse entlaubter Buchenwaldungen. Nach einigen Kilometern Fahrt dehnte sich links ein großer Gebäudekomplex in eine Geländemulde. Er bestand aus zahlreichen flach angeordneten Bauten, überragt von graugestrichenen Sendetürmen, und war umgeben von einer stacheldrahtbewehrten Mauer. In regelmäßigen Abständen erhoben sich Wachttürme in den lustlosen grauen Winterhimmel. Die Straße weitete sich zu einem ausgedehnten Platz, auf dem zahlreiche zivile und militärische Fahrzeuge abgestellt waren. Die rechte Seite dieses Platzes war eingesäumt von einer Reihe einfacher Gebäude. Darunter auch der neuerrichtete Bau eines Restaurants mit Cafeteria. Die Mauer war durchbrochen von einer breiten Einfahrt, an die sich ein Flachbau angliederte. Im Hintergrund sperrte eine Schranke die Einfahrt, vor welcher ein bewaffneter Posten im Stahlhelm hin- und herpatrouillierte. Auf dem Platz vor dem Wachgebäude hielt der Fahrer das Taxi an und nannte Anne den Fahrpreis. Anne hielt ihm einen aufgerundeten Betrag in Westmark hin. »Dürfen Sie das so nehmen?« »Nee, nee, gute Frau«, sagte der Mann. »Wir sind ein volkseigener Betrieb. Da müssen Bons und Kasse zusammenstimmen. Sie müssen mir das schon in der Landeswährung zahlen.« 287
Anne suchte also das Geld in östlicher Währung zusammen und gab es ihm, fügte aber einen westlichen Schein hinzu. »Das dürfen Sie aber sicher annehmen.« Der Mann dankte, steckte das Geld weg und ließ Anne aussteigen. »Da drüben müssen Sie sich anmelden.« An der Kaserne herrschte starker militärischer Verkehr. Fahrzeuge wurden hinein- und herausgefahren. Soldaten betraten oder verließen das Areal, Ausweise wurden kontrolliert und Ehrenbezeigungen erwiesen. Anne Seyfried fiel auf, weil sie die einzige Frau war, welche die mit modernem Mobiliar ausgestattete Eingangshalle betrat. Über einer Theke prangte eine Aufschrift mit dem Hinweis, sich hier anzumelden und seine Ausweispapiere bereitzuhalten. Unter dem Schild versah ein Unteroffizier seinen Dienst. Anne trat vor die Theke und fragte: »Ich hätte gerne Herrn Jost Wentzell-Marschal gesprochen. Ist er im Haus?« Der Mann hinter der Theke hatte ein breitflächiges gutmütiges Gesicht, gekrönt von einer Tolle dunkelblonder Haare. Von der Schulterklappe bis zum Kopf der Brusttasche baumelte ihm eine silbergeflochtene Schnur. Über dem ebenfalls mit einer Silberborte umrandeten Kragen blickte er Anne mit einem Erstaunen an, als habe Anne soeben nach dem Oberkommandierenden der Truppen des Warschauer 288
Paktes persönlich gefragt. Nachdem er sich von seiner Verblüffung erholt hatte, stemmte er die Hände auf die Tischkante und sagte: »Den Genossen WentzellMarschal, so. Würden Sie bitte sagen, was Sie vom Genossen Wentzell-Marschal wollen?« »Das möchte ich ihm gerne selbst mitteilen«, antwortete Anne. »Können Sie mir nicht sagen, ob er hier ist?« Der Mann hatte sein Erstaunen jetzt überwunden und fand zu seinem normalen dienstlichen Ton zurück. »Darf ich bitte Ihre Personaldokumente sehen«, sagte er. Anne zog aus der Umhängetasche den Westberliner Ausweis ihrer Schwester und gab ihn dem Mann, der ihn mit dem Gesichtsausdruck entgegennahm, als habe er so etwas Ähnliches schon die ganze Zeit erwartet. Er öffnete ihn nicht einmal, sondern ließ ihn zwischen zwei Fingern wippen und sagte: »Das geht nicht, meine Dame. Mit einem Westausweis ist jedes Betreten des Dienstgeländes verboten. Strenggenommen dürften Sie sich nicht einmal in diesem Raum hier aufhalten. Hier, nehmen Sie Ihre Papiere. Ich habe nichts gesehen. Aber gehen Sie.« Anne nahm den Personalausweis nicht entgegen, den der Mann ihr hinhielt. »Könnte darüber nicht Herr Wentzell-Marschal entscheiden? Ich bin sicher, daß Herr Wentzell-Marschal erlauben würde, daß ich ihn besuche, wenn er hört, um was ich ihn bitten möchte.« »Ausgeschlossen«, sagte der gutmütige Unteroffizier. »Das sind Anordnungen, an denen auch ein Oberst nicht rütteln kann. Hier können Sie den 289
Genossen Wentzell-Marschal nicht sprechen.« »Können Sie mir denn nicht wenigstens die Privatadresse oder die Telefonnummer geben?« fragte Anne. »Es ist wirklich sehr wichtig, und ich habe eigens aus diesem Grunde die Reise hierher gemacht.« Die Kompetenz des jungen Mannes war überfordert. Er zog die Hand mit Annes Ausweis wieder zurück, legte diesen vor sich auf die Tischplatte und schlug ihn auf. »Nehmen Sie Platz und warten Sie«, sagte er und deutete mit einer vagen Handbewegung quer durch die Halle, wie schon vor Tagen die linientreue Frau Angerer auf dem Meldeamt in Berlin. Zwei oder drei Soldaten, die hinter Anne warteten, machten ihr neugierig Platz. Während sie zu einer Sitzgelegenheit hinüberging, telefonierte der Mann mit seinem Vorgesetzten. Er sagte ihm, daß hier an der Wache eine Frau aus Berlin-West sei – er las ab, eine gewisse Klara Franziska Pankraz –, die mit Oberst Wentzell-Marschal zu sprechen wünschte und sich nicht abweisen lasse, obwohl er ihr pflichtgemäß bekanntgegeben habe, daß der Aufenthalt mit einem Westausweis auf dem Kasernengelände untersagt sei. Er erhielt die Zusicherung des Vorgesetzten, daß dieser in Kürze selbst nach dem Rechten sehen werde, legte auf und wendete sich den anderen Wartenden zu. Es dauerte nicht lange, bis der wachhabende Offizier die Halle betrat: eine korrekte Erscheinung in klassisch geschnittener Reithose, schmalschäftigen Stiefeln, großgewachsen, aber mit leerem und ein wenig hochmütigem Gesicht. Er schritt zu dem jungen Mann 290
hinter dem Schalter hinüber, ließ sich von ihm informieren und nahm Annes Ausweis entgegen. Dann sah Anne ihn auf sich zukommen. Sie nahm ihre Tasche an sich und erhob sich. Der Mann blieb vor ihr stehen, legte die Hand an den Mützenschirm und nannte einen Namen, den Anne vergaß. »Frau Klara Franziska Pankraz?« las er von dem Ausweis ab und sah Anne fragend an. Sie nickte. »Sie haben nach dem Oberst Wentzell-Marschal gefragt?« »Ja«, sagte Anne. »Ich möchte ihn gerne sprechen.« »Das können Sie hier nicht, Frau Pankraz. Personen aus dem westlichen Ausland sind auf diesem Gelände nicht zugelassen. Sie kennen den Oberst?« »Nein«, sagte Anne. »Mein Unteroffizier hat mir angedeutet, daß Sie den Oberst privat zu sprechen wünschen. Also müssen Sie ihn doch kennen?« »Nein, ich kenne ihn nicht«, wiederholte Anne. »Auch er kennt mich nicht.« »Was wollen Sie dann von ihm, Frau Pankraz?« »Das kann ich Ihnen nur schwer erklären«, sagte Anne. »Es geht um eine Sache aus den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges.« »Aus dem Zweiten Weltkrieg? Frau Pankraz, seit damals hat sich vieles auf der Welt verändert.« Der Mann sah Anne noch eine kurze Zeit ins Gesicht und Anne glaubte sogar, einen Zug von Neugier in seinen Augen zu entdecken. Dann klappte er betont den Ausweis zu, faltete ihn mit zwei Fingern wie bestätigend am Rücken und gab ihn Anne zurück. 291
»Ich gebe Ihnen den Rat, nach Berlin-West zurückzureisen und den Oberst Wentzell-Marschal tunlichst so rasch wie möglich zu vergessen.« Anne sah wieder die Hand am Mützenschirm, der Offizier ging ihr voran und hielt ebenso höflich wie unmißverständlich die Tür auf. Diesen Vorgang beobachtete der Fahrer des Taxis, das Anne hierher gebracht hatte. Er hatte ohnehin nicht daran gezweifelt, daß es so und nicht anders kommen würde und wunderte sich deshalb nicht, als er Anne unschlüssig auf dem Platz vor der Kasernenzufahrt stehen sah. Sie blickte sich um und bemerkte jetzt auch, daß das Taxi noch nicht fortgefahren war. Der Fahrer sah sie quer über den weitläufigen Platz zu ihm herüber kommen. »Nicht geklappt, was?« fragte er und öffnete Anne wie auf der Herfahrt von innen die Tür. Anne stieg ein. »Nein«, sagte sie und fügte dann, während sie dem Fahrer das Gesicht zuwendete, hinzu: »Sie sagten vorhin, daß Sie sich hier sehr gut auskennen.« »Ja, sicher«, sagte der Mann. »Warum?« Anne zog einen größeren Geldschein aus ihrer Tasche, reichte ihn dem Fahrer und sagte: »Kennen Sie den Oberst Wentzell-Marschal?« Der Mann faltete den Geldschein wie beiläufig zusammen und musterte Annes Gesicht. Schließlich schob er das Geld in die äußere Tasche seines Blousons, die er sorgfältig zuknöpfte, und sagte: »Ja, ich kenne ihn. Ich habe ihn schon öfter gefahren. Wollen Sie zu dem?« 292
»Ja«, sagte Anne. »Wie kann ich das anstellen?« Der Fahrer sah auf die Armbanduhr. »In etwa 25 Minuten wird der Oberst die Kaserne verlassen und wie jeden Montag nach Karlshorst fahren. Wenn Sie mir die Zeit bezahlen, warte ich hier und zeige ihn Ihnen. Trinken Sie dort drüben eine Tasse Kaffee oder essen Sie etwas und seien Sie um fünf Minuten vor halb eins wieder hier.« Anne sah den Mann dankbar an, verließ den Wagen und folgte seinem Rat. Sie aß eine würzige Soljanka und nahm danach eine Portion Kaffee und ein Stück Torte zu sich. Durch das Panoramafenster sah sie unbeweglich das Taxi auf dem Platz stehen. Endlich saß sie wieder neben dem Fahrer, der die Einfahrt zur Kaserne beobachtete. Der Oberst war, wie nicht anders zu erwarten, äußerst pünktlich. Es war zwei oder drei Minuten nach halb eins, als sich ein eisengrauer Wartburg vom Inneren der Kaserne her dem Schlagbaum näherte. Die Schranke schnellte hoch, der Posten trat zur Seite und nahm Haltung an. »Das ist er«, sagte der Taxifahrer. »Können Sie dem Wagen folgen?« fragte Anne. »Er fährt nach Karlshorst«, wiederholte der Taxifahrer. »Folgen Sie ihm bitte trotzdem«, sagte Anne. »Vielleicht kann ich ihn ansprechen, wenn er dort fertig ist.« »Wissen Sie eigentlich, was das ist, wo er hinfährt?« 293
fragte der Fahrer und startete den Motor. »Nein«, sagte Anne, »keine Ahnung.« »Das sowjetische Oberkommando«, erklärte ihr der Fahrer. Anne beobachtete den Wartburg, der jetzt aus dem Kasernengelände auf die Straße bog und die Richtung nach Südwesten einschlug. Sie sah einen uniformierten Fahrer auf dem Vordersitz. Im Fond jedoch bemerkte sie einen Mann in Zivil, der einen Hut trug und in Papieren las. »Da sitzt ja ein Mann in Zivil drin«, sagte Anne. Das Taxi fuhr jetzt hinter dem Armeefahrzeug in einer Entfernung von etwa 70 Metern her. »Der Oberst trägt meist Zivil«, sagte der Fahrer. »In Uniform habe ich ihn erst ein- oder zweimal gesehen. Er muß ein wichtiges Tier sein. Wissen Sie, was er macht?« »Nein«, sagte Anne. »Aber es interessiert Sie?« »Nein, es interessiert mich auch nicht. Mein Interesse an ihm ist rein privater Natur.« Nach einiger Zeit bog das vorausfahrende Armeefahrzeug nach rechts auf eine kleinere, aber ebenfalls geteerte Straße ab, die zwischen zwei Reihen jetzt entlaubter knorriger Apfelbäume dahin lief. Der Fahrer des Wartburg wendete sich halb zu dem Oberst um. »Uns folgt ein Taxi, Genosse Oberst.« Der Mann in Zivil ließ sich nicht in der Lektüre der Dokumente stören, die er aus seiner Aktentasche gezogen hatte. 294
»Das ist ein Zufall, Dirk«, sagte er. »Wer soll uns in einem Taxi folgen? Kümmere dich nicht darum.« Aber den Fahrer mit seinem roten pausbackigen Bubengesicht unter der unförmigen Wintermütze irritierte das Taxi. Er beobachtete es im Außenspiegel. »Jetzt gibt er mir ein Blinkzeichen«, sagte er. »Also laß ihn vorfahren«, brummte der Oberst. »Nein«, sagte der junge Soldat. »Er will nicht vorfahren. Er will, daß wir anhalten.« Der Oberst drehte sich jetzt um, zog die Gardinen vor der Heckscheibe zu einem Spalt auseinander und spähte nach rückwärts. In diesem Moment betätigte der Fahrer von Annes Taxi seine Lichthupe erneut. »Also, halt an, Dirk«, sagte der Oberst. »Steig aus und frage, was er will.« Der Fahrer bremste den Wartburg ab und ließ ihn am Straßenrand ausrollen. »Was machen Sie denn da?« fragte in dem Taxi Anne den Fahrer. »Ich denke, Sie wollen ihn sprechen«, sagte der Taxifahrer. Er hielt das Taxi etwa 20 Meter hinter dem Armeefahrzeug auf der winterlich einsamen Landstraße an. »Aber doch nicht hier, auf der Straße«, sagte Anne. »Sie können sich das nicht aussuchen, meine Dame.« Der Fahrer zog die quietschende Bremse an, stieg aus und ließ die Tür offen. Auch aus dem Wartburg stieg der Fahrer aus. Auch er ließ die Tür seines Fahrzeugs geöffnet und 295
kam nach hinten. Anne sah, wie der Fahrer ihres Taxis die Brusttasche seines Blousons öffnete, den Geldschein hervorzog, den sie ihm gegeben hatte, und ihn dem Uniformierten zeigte. Dabei deutete er mit dem Daumen nach rückwärts. »Ich hab’ da eine Frau drin, aus Berlin-West oder sonst aus dem Westen. Die hat mir Geld gegeben, damit ich ihr behilflich bin, deinen Chef zu bespitzeln. Sag das dem Genossen Oberst. Du hast doch den Genossen Oberst Wentzell bei dir drin?« »Hab’ ich«, sagte der Soldat. »Was ist denn das für eine? Und was will sie von dem Oberst?« Der Taxifahrer zuckte mit den Schultern. Anne sah, wie er sich umwendete und mit dem Soldaten auf das Taxi zukam. Neugierig beugte sich der junge Mann herab und starrte sie an. Anne war vor Spannung in diesem Augenblick wie gelähmt. Sie wußte ganz genau, daß die nächsten zehn Sekunden darüber entscheiden würden, ob sie zu dem Mann, der vor mehr als 30 Jahren ein heulender Junge im Feuer einer Panzerschlacht in Polen gewesen war, einen Zugang finden würde oder nicht. Der Soldat würde jetzt eine Frage stellen, und das, was Anne darauf antworten würde, würde entscheiden. Sie war versucht, darum zu beten, daß ihr das Richtige einfallen möge. Aber dafür war nicht mehr genügend Zeit. »Was wollen Sie von dem Genossen Oberst Wentzell?« Der junge Mann hatte sich davon überzeugt, daß die Situation allenfalls ungewöhnlich, 296
nicht aber gefährlich war. Anne lächelte ihn an. Dann wurde sie ernst. »Fragen Sie Herrn Wentzell-Marschal, ob er sich nicht an den 14. Januar 1945 erinnert«, sagte sie. Der junge Soldat antwortete zunächst nichts, weil er sich klarzumachen versuchte, wie lange das Datum schon zurücklag und was daran wohl Besonderes sein mochte. »Das war der Tag, an dem seine Eltern ums Leben kamen«, setzte Anne nach einer kleinen Weile hinzu. »Gehen Sie und fragen Sie ihn.« Das Gesicht des jungen Mannes verschwand aus der Fensteröffnung. Mit dem Taxifahrer wechselte er einen verwunderten Blick. Dann sah Anne ihn nach vorne zu dem Wartburg stapfen. Dort öffnete er die Fondtür, nachdem er die Vordertür zugeschlagen hatte. Der Taxifahrer zündete sich eine Zigarette an und wanderte neben dem Wagen hin und her. Dirk sagte zu dem Oberst: »Die Frau läßt fragen, ob Sie sich noch an den 14. Januar 1945 erinnern.« Er sah, wie der Oberst ihm sein Gesicht zuwendete, fragend, voll ungläubiger Überraschung. Aber er sagte nichts. »Ich weiß nicht …«, fuhr der Soldat also fort, »… ich weiß nicht, was ich daraus machen soll, Genosse Oberst. Aber sie sagte, das sei der Tag, an dem Ihre Eltern ums Leben gekommen seien.« »Das gibt es nicht«, sagte der Oberst nach einer Weile. »Ich habe es genau verstanden«, sagte der Soldat. 297
»Und ich habe es auch wörtlich gemeldet.« »Schon gut, Dirk«, sagte der Oberst. Der Soldat sah zu seinem Erstaunen, wie sein Chef die Papiere, in denen er gearbeitet hatte, neben sich auf den Rücksitz legte und sich anschickte, den Wagen zu verlassen. Der junge Mann richtete sich auf, nahm Haltung an und legte die Hand auf den Türgriff, als WentzellMarschal ausstieg. Anne sah ihn auf das Taxi zukommen und verließ ebenfalls ihren Platz. Der Mann, der ihr entgegenkam, war groß und stattlich. Er hatte ein breites und dennoch scharfgeschnittenes Gesicht, in dem das Auffallendste die weit auseinanderstehenden, dunkelbraunen Augen und ein Mund mit ein wenig aufgeworfenen Lippen waren. Dieses Gesicht strahlte Kälte aus und Mißtrauen. Außer seiner straffen Haltung und dem ablehnenden Gesichtsausdruck hatte der Mann nichts Militärisches an sich. Er trug einen Mantel von unbestimmbar bräunlicher Farbe, einen karierten Allerweltsschal und einen schwarzen runden Hut mit breiter Krempe, der ihm sehr gerade auf einem mächtigen Schädel saß. Er hatte beide Hände in die Taschen des Mantels geschoben und blieb vor Anne stehen. »Ihr Name?« sagte er und es klang eher wie ein Bellen, kurz und feindlich. »Ich heiße Franziska Pankraz.« »Der Fahrer sagt, daß Sie mir nachspionieren.« »Ich weiß nicht, warum er das tat«, sagte Anne. Es 298
wehte hier draußen ein kalter scharfer Wind über die flachen Felder her und Anne schlug den Pelzkragen hoch, so daß er ihre Ohren verbarg. »Ich habe nicht die Absicht, Ihnen nachzuspionieren. Aber ich muß Sie sprechen.« »Wieso müssen?« sagte Wentzell. »Was haben Sie mit diesem Datum zu schaffen, das mein Fahrer mir übermittelt hat?« »Sie erinnern sich also an dieses Datum?« fragte Anne. Der Oberst stand vor ihr und sah ihr lange und aufmerksam in das Gesicht. »Zeigen Sie mir bitte Ihre Papiere«, sagte er anstelle einer Antwort. Anne zog die Tasche nach vorn und entnahm ihr den Ausweis, den sie dem Oberst hinhielt. Sie bemerkte, daß der Fahrer des Obersten und der Fahrer des Taxis in einiger Entfernung beieinander standen, sich die Beine vertraten und zu ihr und Wentzell-Marschal herübersahen. Der Mann nahm den Ausweis, schlug ihn auf und verglich Gesicht und Foto mit den gleichen prüfenden Blicken, die sie nun schon so gut kannte. Anstatt ihr jedoch das Dokument zurückzugeben, behielt er es in der Hand, nachdem er es wieder zugeklappt hatte. Mit der anderen Hand griff er in den Mantel. Er zog einen Briefumschlag aus der Brusttasche und entnahm ihr die Postkarten, die man Anne auf der Meldebehörde abgenommen hatte. »Sind Sie die Dame, von der diese Karten hier stammen?« »Ja«, sagte Anne. »Und Sie sind dann wirklich Jost Wentzell-Marschal. Sonst hätte man sie Ihnen nicht geschickt.« 299
»Dann sind also jetzt drei verschiedene Namen im Spiel«, sagte Wentzell-Marschal und ließ den Ausweis zwischen den Fingern wippen. »Der erste ist Ansgar Gottwald in Solingen, an den diese Karten hier gerichtet sind. Der zweite ist Karla Franziska Pankraz, der in diesem Ausweis steht und den Sie mir genannt haben. Und der dritte ist Anne Seyfried, den mir die Meldebehörde in Berlin als Überbringerin dieser Karten genannt hat. Können Sie mir sagen, was ich davon halten soll?« »Das ist eine sehr komplizierte Sache, Herr Wentzell-Marschal. Sie hängen mit diesem 14. Januar 1945 zusammen, den Sie hoffentlich noch in Erinnerung haben.« Wieder sah der Oberst Anne eine lange Zeit prüfend an. »An diesem Tag, den Sie ständig nennen, dürften Sie meiner Schätzung nach noch gar nicht gelebt haben. Was wollen Sie also damit?« »Herr Wentzell«, sagte Anne, »es geht um das Schicksal meines Mannes. Es war nicht einfach, Sie zu finden und bis hierher vorzudringen. Ich habe viel auf mich genommen. Das hat seinen Grund. Ich bin die Frau des damaligen Obersturmführers Henning v. Loßwitz, der am 14. Januar 1945 die Sprengung der Brücke über die Pilica hinausschieben wollte, bis Hunderte von Flüchtlingen die Brücke passiert haben würden und dabei einen deutschen Major erschoß, der die Nerven verloren hatte. Später kam mein Mann durch verschiedene Umstände zu dem Namen Seyfried, den er noch heute trägt.« 300
»Ein SS-Obersturmführer? Eine Brücke in Polen gesprengt? Frau Loßwitz, Seyfried, Pankraz oder wie Sie wirklich heißen, ich zweifle an Ihrem Verstand, mich hier mitten in unserem Land mit einer solchen Geschichte zu belästigen.« Der Oberst klappte noch einmal den Ausweis auf und las die Eintragungen. »Und was ist dies für ein Ausweis?« »Es ist der Ausweis meiner Zwillingsschwester«, sagte Anne. »Ich mußte Sie schnell sprechen und der ordentliche Weg hätte Wochen gedauert.« »Dann sind Sie also mit einem falschen Dokument in die Deutsche Demokratische Republik eingereist«, sagte Oberst Wentzell-Marschal. »Und das sagen Sie mir direkt ins Gesicht.« »Was hätte ich sonst tun sollen?« sagte Anne. »Es war die einzige Chance für meinen Mann und für mich.« Der Mann hielt Annes Ausweis zwischen den Fingern und sah hinüber zu der Stelle, wo die beiden Fahrer sich unterhielten. »Hallo, Sie da«, rief er dem Taxifahrer zu, der sich sofort in Trab setzte und zu Anne und dem Oberst herüberkam. Vor Wentzell-Marschal blieb er stehen. »Ich belobige Sie wegen Ihrer Aufmerksamkeit und sozialistischer Wachsamkeit. Wie heißen Sie?« »Wilfried Turner, Genosse Oberst.« »Haben Sie gedient?« »Jawohl, Genosse Oberst. Sechste Panzer in Jüterbog.« 301
»Gut, Genosse Turner. Nennen Sie der Dame Ihren Fahrpreis. Sie wird mich nach Karlshorst begleiten müssen.« Der Mann der sozialistischen Wachsamkeit sah Anne triumphierend an und nannte einen korrekten Preis. Anne bezahlte und der Mann gab ihr mit dem Wechselgeld auch den Westgeldschein zurück, den sie ihm vor kurzem zugesteckt hatte. »Bestechen und bespitzeln können Sie dann im Westen wieder«, sagte er, nahm vor dem Oberst in Zivil Haltung an, bestieg seinen Wagen und wendete. »Was habe ich ihm nur getan?« sagte Anne. »Dazu sind die Taxifahrer in unserer Republik verpflichtet. Verfolgungsjagden à la Chicago sind hierzulande Sache der Polizei. Steigen Sie jetzt bitte ein.« »Was haben Sie mit mir vor?« fragte Anne, während sie in den Wartburg stieg. Wentzell-Marschal schob sich von der anderen Seite neben sie. »Das weiß ich noch nicht«, sagte er. »Wahrscheinlich werde ich Sie dem nächsten Polizeiposten übergeben.« Der Fahrer öffnete von außen die Tür und stieg ebenfalls ein. »Fahr zu, Dirk«, sagte der Oberst. »Wir sind ziemlich spät dran heute.« Jedoch ging dem Oberst der Nationalen Volksarmee Jost Wentzell-Marschal jener 14. Januar 1945, den diese Frau immer wieder genannt hatte, nicht mehr aus dem Kopf. Wie schon bei der überraschenden Ankunft 302
der alten Postkarten wanderten seine Gedanken – völlig gegen seinen Willen – wieder zurück, verdichteten sich bruchstückhafte Erinnerungen, vage und lange verdrängte Eindrücke, Fakten, die er erst später durch Nachforschungen erfahren hatte, zu einem immer klareren Bild. Denn in einem Punkt hatte Anne Seyfried bei den Besprechungen mit ihrem Mann durchaus recht gehabt: Die damaligen Ereignisse gehörten zu den entscheidendsten im bisherigen Leben des Obersten. Vor seinen Augen zog wieder jener kalte Winterabend vor mehr als 35 Jahren vorbei. Er spürte förmlich die beißende Kälte, fühlte, wie er zitterte und vor Angst schrie. Aber sein Weinen vermochte absolut nichts auszurichten gegen den Höllenlärm, der diese Nacht erfüllte. Der Fahrer, dem Ansgar Gottwald das weinende Kind an der schartigen Stahlwandung hinaufreichte, hatte ein zorniges, übermüdetes und unrasiertes Gesicht, das vor Empörung verzerrt war. »Was soll ich denn mit dem Kind, Ans? Bist du übergeschnappt? Mach daß du raufkommst, bevor sie uns ins Visier kriegen.« »Den hat mir der Henning gegeben«, schrie Gottwald zurück. »Seine Leute hat es erwischt da drüben. Um den Henning kümmern sich schon die Sanis. Los, nimm das Kind.« Gottwald trat in die Laufrollen, und der Mann nahm ihm schließlich das Kind ab, zerrte es nach oben und hob es an den Schultern durch das Turmluk in das Innere des Panzers. Drinnen war es finster und 303
gleichzeitig stickig und kalt. Die Männer, die in dieser Stahlhölle lebten, erschienen dem Kind wie riesige geschwärzte Teufel. Der Junge roch den Gestank von Schmieröl, Pulverdämpfen und Schweiß. Er hörte in der Dunkelheit das Scharren und Klirren von Stahl und das Scheppern der Granathülsen, die den Boden bedeckten. Murmelnde Stimmen gaben Zahlen an, und von Zeit zu Zeit jagte die Explosion eines abgefeuerten Schusses Luftdruck, Feuer und Qualm durch das ganze Gefährt. So erstaunlich es auch war, in irgendeinem Winkel dieses Infernos gab es für Jost Marschal doch einen Platz. Sie schoben ölgetränkte Lumpen, zerfetzte Ladehandschuhe und Werg zusammen, legten ihn darauf und deckten ihn mit einer Uniformbluse oder einem Mantel zu. Irgendeiner der Männer, der glaubte, daß der Junge vor Hunger weinte, schob ihm ein hart gewordenes Stück Brot hin und strich Marmelade darauf. Während Jost Marschal das in sich hineinschlang, schlief er wirklich ein. Übermüdet, erschöpft und leergebrannt wie er war, schlief er den Schlaf eines Toten. Er hörte nicht mehr, wie sich der Lärm des Kampfes ringsum steigerte, er hörte auch nicht mehr das prasselnde Klirren, als Maschinengewehrgarben ab und zu die Panzerung trafen und wirkungslos von ihr abprallten. Als er erwachte, geschah es dadurch, daß zu den Geräuschen, die er schon vor dem Einschlummern und dann noch im Halbschlaf gehört hatte, ein neues getreten war: das Stoßen, Knallen und Dröhnen des Motors und das ununterbrochene Krachen des 304
Getriebes, wenn der Fahrer die Gänge wechselte. Außerdem begann es dem Jungen übel zu werden. Der Panzer stampfte und schlingerte wie ein Schiff, als seine Ketten sich durch die Reste von Tomaszów wühlten, über auseinandergerutschten Trümmerschutt, niedergewalzte Gartenzäune und herabgestürztes Dachgestühl. Umgeben vom Gestank des Wergbündels und unter dem dürftigen Schutz der verschwitzten Uniformbluse entwickelte sich bei dem Kind allmählich ein Gefühl des Geborgenseins, vor allem seit der Panzer nicht mehr getroffen wurde und auch die saugenden, hellen Explosionen seiner eigenen Kanone verstummt waren. Die Männer seiner Besatzung unterhielten sich, wenn er hielt und der Motor zum Auskühlen abgestellt wurde, mit ruhigen Stimmen. Dann schlief der Junge von neuem ein. Damals war ihm noch keineswegs bewußt, daß die Fahrt, die er miterlebte, nicht etwa ein geordneter und wohlgeplanter Rückzug war, sondern eine wilde Flucht. Nicht nur die unteren Verbände der Truppe waren vernichtet, auseinandergerissen und versprengt, auch die Stäbe, Nachrichtenverbindungen und Versorgungseinrichtungen existierten nicht mehr. Allzu oft waren die Besatzungen gezwungen, sich Treibstoff, Verpflegung, Munition mit Androhung von Waffengewalt zu beschaffen. Wenn Ansgar Gottwald ihn bisweilen hinauf in das Turmluk hievte, damit er frische Luft schöpfte, sah der Bub nichts als Chaos, Ströme flüchtender Menschen, so wie vor Tagen auch seine Familie und er auf der Flucht gewesen waren, 305
dazwischen zerflatternde Marschkolonnen, Teile motorisierter Einheiten, bespannte Trecks, alle in überstürztem Marsch nach Westen. Die beiden Panzer Gottwalds hatten noch Glück, weil sie auf die verstopften Straßen nicht angewiesen waren. Wo immer es möglich war, dröhnten sie schaukelnd über die verschneiten Äcker, lange Schneefahnen hinter sich herziehend, oder durchbrachen die dünnen Stämme lichter Wälder. An die vier Männer in seinem rumpelnden Gefängnis hatte Jost Marschal sich gewöhnt. Vor allem an Ansgar Gottwald. Er gab ihm zu essen und zu trinken, ließ das Ungetüm anhalten, wenn der Kleine seine Notdurft verrichten mußte, und nahm ihm so für Stunden die Angst. Gegen Abend des 17. Januar erreichten die Flüchtenden auf diese Weise ein polnisches Dorf, das bereits im Warthegau – einem dem Reich einverleibten Gebiet – lag und dessen Namen in Goldensee eingedeutscht war. Auch hier trafen sie auf wirre Flucht, disziplinlose Truppen, Versprengte und eine im vollen Aufbruch befindliche Bevölkerung, die allzu lange den Beteuerungen ihres Gauleiters vertraut hatte, daß kein sowjetischer Soldat die Barriere der Weichsel überschreiten würde. Aber in diesem Dorf gab es noch die Reste einer Versorgungsorganisation, eine Frontleitstelle und eine Dienststelle des Roten Kreuzes. Auf dem Marktplatz dieses Dorfes standen Küchen aufgefahren, es wurde warmes Essen ausgegeben und letzte Männer und Frauen, die sich ihrer Verantwortung noch nicht 306
entzogen hatten, hielten eine Art von Ordnung aufrecht. In diesem Dorf übergab Ansgar Gottwald den kleinen Jost Marschal, den er drei Tage bei sich im Panzer gehabt hatte, an Angehörige des Roten Kreuzes. Das Kind war verwirrt und verzweifelt, weil es trotz der Strapazen und der Flucht bei Gottwald und den anderen schwarzen unrasierten Männern seines Kampfwagens eine Art von Geborgenheit gespürt hatte. Er weinte und schrie so stark und klammerte sich so heftig an Gottwald, daß dieser ihm hastig einen Zettel zuschob, auf dem er ihm seine Heimatadresse aufgeschrieben hatte. Das letzte, was Gottwald von dem Jungen sah, war, daß man ihm eine Pferdedecke um die Schultern hängte und einen großen Kanten Brot in die kleine Hand drückte, in welchen das Kind heißhungrig hineinbiß. Von Goldsee aus zog Jost Marschal mit einem großen Treck in nordwestlicher Richtung. Der Treck bestand zu einem guten Teil aus Menschen, deren Art und Aussprache ihm vertraut waren. Denn es waren wie er selbst Deutsche aus Wolhynien, die damals, als 1941 die vorrückenden Hitlerarmeen ihre Heimat besetzten, ausgesiedelt und hierher in den Warthegau verpflanzt worden waren. Da sie mit den Deutschen kolaboriert hatten, mußten sie jetzt erneut auf die Flucht vor den Sowjets gehen. Viele von ihnen starben an den Entbehrungen und Strapazen. Noch bevor dieser Elendszug die Oder zu erreichen vermochte, überholte ihn die vormarschierende Sowjetarmee. In den Wirren und Gefechten 307
kam ein weiterer Teil der Leidensgenossen des kleinen Jost Marschal ums Leben. Für die sowjetischen Truppen, welche den letzten Ansturm auf das deutsche Reich in einer ungeheuren Anstrengung und ohne nennenswerte Reserven vollzogen, bildeten diese Menschen schon bald ein größeres Problem als der fliehende Feind. Die Sowjetarmee, bei ihrem stürmischen Vormarsch selbst nur mit dem Notwendigsten versorgt, angewiesen auf weit ausgedehnte Nachschublinien, setzte jeden Mann, jedes Pferd und jeden Wagen für ihre eigenen Aufgaben ein. Wer dafür nicht taugte, vor allem Alte, Gebrechliche, Frauen und Kinder, mußte sehen, wie er durchkam. Mit dem Überschreiten der deutschen Grenzen jedoch fielen den Sowjets auch diejenigen Anlagen und Einrichtungen in die Hände, in denen die Deutschen ihre Kriegsgefangenen, vornehmlich die abgeschossenen Flieger der westlichen Alliierten untergebracht hatten, und die jetzt leerstanden. Nach und nach bedienten sich die Russen dieser Lager, um einen Teil des menschlichen Strandgutes, welches der große Sturm zurückgelassen hatte, zu sammeln, zu sichten und zu registrieren. Der Frühsommer des Jahres 1945 war heiß und staubig. Es war die Zeit, da die sonnendurchglühten Landschaften zwischen Weichsel und Oder voll waren von Kolonnen von Menschen, die auf Leiterwagen ihre Habe westwärts hinter sich herschleppten und sich Fähnchen mit ihren Nationalfarben zusammengenäht hatten, die sie als Niederländer, Spanier, Briten, 308
Franzosen oder Belgier auswiesen. An einem dieser Tage wurden schon frühmorgens zwischen den hellgetünchten und flachgedeckten Großraumbaracken des Lagers Woldenberg rohe Tische in den Schatten getragen und wackelige Stühle dahinter gestellt. Kurz danach saßen auf diesen Stühlen die Offiziere einer sowjetischen Kommission mit ihren weiblichen Gehilfinnen. Vor den Tischen stauten sich in langen Schlangen die Lagerinsassen, um registriert zu werden. Zu der verantwortlichen Kommission gehörte auch der Major beim Stabe des 3. Gardeschützenkorps, Alexejew Andrianowitsch Soltjakin, der sich erfolgreich damit beschäftigt hatte, das deutsche Operationsgebiet durch Leute mit den Papieren gefallener Deutscher unterwandern zu lassen, wodurch der sowjetische Vormarsch noch beschleunigt werden konnte. Eine Qualifikation übrigens, die ihn viele Jahre später dazu befähigte, den wichtigen Posten des Leiters der Abteilung II des GRU, zuständig für die Aufklärung in westeuropäischen Ländern, einzunehmen. In der langen Reihe der Lagerinsassen, die darauf warteten, in die vorbereiteten Listen eingetragen zu werden, stand auch Jost Marschal, der eben an diesem Tage seinen 13. Geburtstag recht freudlos feierte. Er fiel dem Major schon auf, als er nach einer Stunde Wartezeit an den Tisch herantrat und dabei höflich, wie er erzogen war, die Mütze vom Kopf nahm. Außerdem gab es zwar viele Familien, bei denen während der Flucht die weniger widerstandsfähigen 309
Kinder umgekommen waren, der Fall aber, daß ein Kind alleine die Flucht überlebt hatte, war selten. Dem Offizier, der schon damals sein flächiges bäuerlich zuverlässiges Gesicht hatte, gefielen die großen braunen traurigen Augen des Jungen. Er stellte ihm in gutmütig holprigem Deutsch die sich aus der vorgedruckten Liste ergebenden Fragen: Name, Vorname, Vorname des Vaters, Geburtsort. Nachdem der weibliche Feldwebel alles das eingetragen hatte, interessierte der Major sich für die Geschichte des übriggebliebenen Kindes, die sich aus den Fragen und den auf diese gegebenen Antworten nicht ergab. So fragte der Major zum Beispiel, was aus den Eltern des Kindes geworden war, und erhielt die Antwort des Jungen, daß sie ums Leben gekommen seien. Die Frage, wo das geschehen war, war gewiß in diesem Augenblick bedeutungslos, und der Major stellte sie offenbar mehr aus einem persönlichen Interesse als aus einem genau definierbaren Grund. Als er jedoch die Antwort des Jungen hörte, daß dies alles in Tomaszów an der Pilica gewesen sei, wurde sein Interesse sichtbar größer. Er fragte den jungen Jost Marschal nach Einzelheiten seiner Erlebnisse in Tomaszów aus, und der Junge erzählte dem sowjetischen Offizier alles, was er wußte. Nur eines wußte er nicht mit Sicherheit, nämlich den genauen Augenblick, in dem seine Eltern und seine Schwester den Tod gefunden hatten. Für ihn verschwammen alle diese Erlebnisse zu einem einzigen Bild des Schreckens. So glaubte er, daß seine Leute mit der Explosion der Brücke in die Luft gejagt 310
worden waren. Der Major Soltjakin versuchte, den Jungen etwas zu trösten, klopfte ihm auf die Schultern und sprach ihm Mut zu. In der Seele des Jungen nahm er nun als dritter nach dem SS-Obersturmführer v. Loßwitz und dessen Oberscharführer Gottwald die Stelle ein, die durch den Tod seines Vaters vakant geworden war. »Was machen wir nun mit ihm?« hörte der Junge ihn in russischer Sprache den weiblichen Feldwebel fragen. Dabei schob der Offizier die flache, erdbraune Mütze mit dem zackigen roten Stern und dem breiten, erdbraunen Schirm weit in das Genick, während er sich mit dem ganzen Stuhl nach hinten lehnte. »Sehen Sie ihn vor für ein Waisenhaus oder ein Erziehungsheim, Towarischtsch Major«, sagte die Frau. Der Major wendete dem Jungen das Gesicht wieder zu, als er ihn ebenfalls in russischer Sprache sagen hörte: »Bitte, bitte nicht in ein Heim, Herr Offizier.« »Du sprichst Russisch, Junge?« »Der Herr Offizier kann es sich aussuchen«, sagte der Junge. »Ich kann mich mit ihm in Russisch, Ukrainisch, Polnisch und Deutsch unterhalten. Aber bitte, bitte nicht in ein Heim.« Er sei auch fleißig, sagte der Junge, sei an die Arbeit gewöhnt, Kartoffeln schälen, Schweine füttern, Kühe melken, Schafe scheren, das alles sei besser als ein Heim. In ukrainischer Sprache fragte ihn der weibliche Feldwebel nach seinem Geburtsdatum. Der 27. Juni 1933, antwortete der junge Jost Marschal in der 311
gleichen Sprache. Der weibliche Feldwebel und der Major sahen einander erstaunt an. Dann wieder den Jungen. Schließlich fiel dem weiblichen Feldwebel ein, daß dieser heiße, allmählich auf den staubigen Mittag zugehende Sommertag heute auf eben den 27. Juni fiel. »Dann hat der Junge heute Geburtstag«, stellte der weibliche Feldwebel zu dem Major gewendet fest. Und diese einfache Bemerkung entschied über das Leben von Jost Marschal. Der Major winkte den Jungen aus der Reihe der übrigen Wartenden heraus, an die sonnendurchglühte Barackenwand, wo das Kind den ganzen Nachmittag auf einem Sägebock hockte und die Beine baumeln ließ. Als die Sonne sank und die Kommission zusammenpackte, nahm Major Alexejew Andrianowitsch Soltjakin den jungen Jost Marschal, der heute 13 Jahre alt geworden war, mit aus dem Lager. In einem rumpeligen Geländewagen der Roten Armee hielt Jost Marschal seinen Einzug in Berlin, wo der Major zum Stab der sowjetischen Militäradministration gehörte, die in einer unversehrt gebliebenen Kaserne in Karlshorst ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Es war wohl gar nicht zu vermeiden, daß der Oberst Jost Wentzell-Marschal auf dem gleichen Wege, auf dem heute, 35 Jahre später, sein Fahrer Dirk den Wartburg der Nationalen Volksarmee steuerte, an all dies dachte. Er dachte auch daran, wie er die folgenden Monate bei den Russen in der Kaserne zugebracht hatte, verwöhnt und verhätschelt von den dicken Küchenfrauen, die die Borschtschsuppe und den 312
Kascha für die Stäbe zubereiteten; wie er in der Küche und in den Werkstätten ausgeholfen hatte und wie er auf diese Weise den russischen Menschen in seiner einfachen Derbheit, seiner gemütvollen Melancholie und in seinem aufbrausenden Temperament lieben gelernt hatte. Er dachte auch an die Zeit, als die siegreichen Russen aus Moskau diejenigen deutschen Kommunisten der ersten Stunde in das von ihnen besetzte Gebiet einflogen, die vor den Verfolgungen Hitlers geflohen und der Vernichtung oder Dezimierung in den Konzentrationslagern entgangen waren. Zu ihnen hatte Max Wentzell gehört, ein Dreher aus Oranienburg bei Berlin, den Oberst Tulpanow für einen wichtigen Posten beim Wiederaufbau der Stadt und später beim Aufbau des sozialistischen deutschen Staates vorgesehen hatte. Der Major Soltjakin, auf der Suche nach Adoptiveltern deutscher Herkunft, war auf Max Wentzell aufmerksam gemacht worden und hatte ihn zu sich nach Karlshorst bestellt. Der alte Wentzell und der junge Jost hatten sich gut leiden können, und Soltjakin hatte Wentzell beschworen, die außerordentlichen Fähigkeiten in sprachlicher, organisatorischer und praktischer Hinsicht, die er bei dem jungen Jost entdeckt hatte, zu fördern und zu entfalten. So war Max Wentzell mit dem Kind in eine Wohnung im Bezirk Prenzlauer Berg gezogen, die man von einem ehemaligen Nazihenker beschlagnahmt hatte, und kurz darauf hatte ihn Max Wentzell 313
adoptiert. Er hatte den Jungen auf Schulen geschickt und ausbilden lassen, und als er die 20 überschritten gehabt hatte, war eines Tages Max Wentzell in Josts Zimmer gekommen und hatte sich auf sein Bett gesetzt. Er hatte dem Jungen auseinandergelegt, daß man eine außerordentlich wichtige Entscheidung gefällt habe. Um die Errungenschaften des Sozialismus nach außen hin abzusichern und den weiteren friedlichen Aufbau des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden wachsam zu gewährleisten, werde man in brüderlicher Verbundenheit mit der großen Sowjetunion eine Streitmacht schaffen, die diese Aufgaben übernehmen werde. Zuerst solle als Kader eine kasernierte Polizeitruppe gebildet werden, aus der dann später eine Nationale Volksarmee entstehen werde, eingegliedert in ein großes sozialistisches Paktsystem. Oberstleutnant Alexejew Andrianowitsch Soltjakin, der das sprachliche Talent des jungen Jost kenne, habe sich erboten, seinen Einfluß für eine bedeutende Laufbahn Josts im Rahmen des militärischen Paktsystems geltend zu machen. Max Wentzell hatte nicht lange gebraucht, um Jost zu überzeugen. »Du hast den Krieg doch kennengelernt, Junge. Wer sollte da mitreden können, wenn nicht so einer wie du? Damit so etwas nie wieder geschieht, niemals wieder, hörst du, brauchen wir junge Leute wie euch in einer starken Armee. Und du kennst doch Tulpanow. Soltjakin hat sich für dich eingesetzt …« So hatte Jost Wentzell-Marschal nach kurzer Zeit 314
eingewilligt. Aus ihm war einer der ersten Offiziersanwärter der kasernierten Volkspolizei geworden. Als diese in die Nationale Volksarmee überführt wurde, stand Jost Wentzell-Marschal kurz vor der Beförderung zum Oberleutnant. Draußen wurde das Gelände vertrauter. Der Oberst schreckte aus seinen Gedanken hoch und wurde sich der Frau wieder bewußt, die neben ihm saß. Er hatte sie, weiß Gott, völlig vergessen. Anne Seyfried hatte wirklich nicht die geringste Ahnung von dem Zusammenhang, als der Oberst in Anlehnung an die Frage, die damals der Major Soltjakin an den weiblichen Feldwebel gerichtet hatte, zu ihr sagte: »Was machen wir nun mit Ihnen?« Anne schwieg. Was sollte sie auch anderes tun. Es war eine Frage, die sie dem Oberst nicht beantworten konnte. »Ich kann Ihnen keinen Rat geben, was Ihre Dienstpflichten betrifft«, sagte sie nach einer Weile. »Aber ich habe nicht grundlos diese Reise gemacht und dabei gesetzliche Vorschriften übertreten. In dieser Sache geht es um Wahrheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit.« Der Mann neben Anne im Fond des Wagens zeigte ein mühsames Lächeln. »Woher wissen Sie, daß diese Dinge bei mir den gleichen Stellenwert haben wie bei Ihnen?« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie irgendwo im Bereich der Zivilisation einen geringeren haben«, sagte Anne. »Können Sie sich das vorstellen, Oberst 315
Wentzell?« »Das kommt auf den Sachverhalt an«, sagte der Offizier. »Ich kann mich nicht mit Ihnen auf eine Grundsatzdiskussion über Moralfragen einlassen.« »Der Sachverhalt ist so, daß mein Mann wegen eines Mordes verurteilt werden kann, an dem ihn keine Schuld trifft, weil er in Notwehr für bedrängte Menschen gehandelt hat. Und der Sachverhalt ist so, daß ich Ihnen zu den Vorgängen an jenem Tag, den Ihr Fahrer genannt hat, noch vieles sagen kann, was Sie nicht wissen können, weil Sie einfach zu jung und zu verängstigt waren, um es zu begreifen.« »So«, sagte der Oberst. »Und Sie meinen, daß das von Bedeutung ist?« »Für die drei Dinge, die ich genannt habe, ja«, sagte Anne. »Von denen Sie mir noch nicht gesagt haben, wie wichtig sie für Sie sind.« »Gesetzt den Fall, sie wären das«, sagte der Mann nachdenklich, »Sie würden also einfach von mir verlangen, daß ich Ihnen das glaube, was Sie sagen. Sie haben sich hier eingeschlichen, ich begegne Ihnen zum ersten Mal, Sie kommen aus einem Land, für das ich nichts übrig habe. Und Sie verlangen von mir, daß ich Ihnen glaube.« »Es wäre für Sie zweifellos die einfachste Lösung, mir nicht zu glauben«, sagte Anne. »Damit wären Sie jede Verpflichtung los, über diese Sache nachzudenken. Sie gingen keinerlei Risiko ein, und niemand könnte Ihnen etwas vorwerfen. Ich kann Sie 316
natürlich nicht daran hindern, es sich leicht zu machen.« »Schön«, sagte der Mann nach einiger Zeit. »Ich habe mir jetzt angehört, was Sie vorzubringen haben. Und ich habe Ihnen dazu nichts weiter zu sagen.« Der Oberst beugte sich vor. »Dirk, wo ist das nächste Polizeirevier?« »In Neuenhagen, Genosse Oberst«, sagte der Fahrer, indem er den Kopf halb zu seinem Vorgesetzten zurückwendete. »Dann fahr dorthin.« Der Mann nickte und blickte wieder nach vorn. Die Fahrzeit war nur kurz. Das Revier der Volkspolizei befand sich in einem bauernhausähnlichen einstöckigen Backsteingebäude mit ausgebautem Dachgeschoß. Dirk konnte den Dienstwagen fast unmittelbar vor dem Eingang anhalten. »Soll ich sie reinbringen, Genosse Oberst?« »Bleib beim Fahrzeug«, sagte Wentzell. »Ich bringe sie selbst rein.« Dirk öffnete die Tür. Wentzell verließ den Wagen und ließ auch Anne aussteigen. Den Vorgang beobachtete durch das Fenster ein Wachtmeister des Reviers. »Ein Dienstwagen von der Armee«, sagte er zu seinem Kollegen, der an der Schreibmaschine einen Bericht tippte. »Mit Fahrer. Ist in Zivil. Aber scheint ein höheres Tier zu sein. Die Frau ist nicht schlecht, die er dabeihat.« Kurz danach betraten Anne Seyfried und Oberst 317
Wentzell-Marschal die Revierstube. Der Oberst nahm den Hut ab und wies sich aus. »Wentzell«, sagte er. »Oberst der Nationalen Volksarmee.« Der eine Beamte nahm dienstliche Haltung ein und der andere hörte zu tippen auf. »Diese Frau hat mich angehalten«, fuhr der Oberst fort. »Sie behauptet, aus Berlin-West zu sein. Sie hat ihre Geldmittel irgendwie verschlampt und muß zurück zum Grenzübergang. Überprüfen Sie das.« »Jawohl, Genosse Oberst«, sagte der Polizist und wendete sich an Anne. »Ihre Ausweispapiere bitte.« Wie in Trance zog Anne Seyfried die Umhängetasche nach vorn und entnahm ihr die Papiere, die sie dem Polizisten reichte. Der Mann überprüfte sie, der Blick ins Gesicht, wieder auf das Foto. »Und Sie haben keinerlei Zahlungsmittel?« Anne wußte nicht, wie ihr geschah. Endlich begann sie zu begreifen, daß dieser unzugängliche Mann mit der kalten Ablehnung in der Stimme beabsichtigte, ihr eine Chance zu geben. Aus welchen Gründen auch immer, aber Jost Wentzell-Marschal tat es. Der Wachtmeister der Volkspolizei konnte nicht wissen, daß der Oberst ihre unzutreffende Identität bereits entdeckt hatte. Der Fahrer, der es vielleicht ahnen konnte, saß draußen im Wagen. Wenn der Polizist sich von der Ähnlichkeit mit Friska ebenso täuschen ließ wie die Grenzkontrolle, hatte der Oberst sich nichts vorzuwerfen, und sie selbst kam weder in Schwierigkeiten noch konnte sie irgend jemanden in 318
Schwierigkeiten bringen. Sie stotterte: »Ja … nein … vielmehr, ich meine … ich habe mein Portemonnaie verloren, irgendwo … im Taxi vielleicht, oder auf der Straße. Jetzt kann ich mit keinem Verkehrsmittel fahren. Und zu Fuß kenne ich mich nicht aus.« Der Polizist gab Anne die Dokumente zurück und wendete sich an Oberst Wentzell. »Die Papiere sind in Ordnung, Genosse Oberst. Was soll geschehen?« »Geben Sie der Frau das Geld, daß sie fahren kann … sonst gibt es nur Scherereien. Und bevor wir deren Ständige Vertretung bemühen … oder warten Sie …« Oberst Wentzell öffnete den Mantel, schlug ihn zurück und brachte Kleingeld hervor. »Was kostet das? Bus? Stadtbahn? Mit welchem Verkehrsmittel kann man von hier aus fahren?« »Stadtbahn«, sagte der Polizist. »Direkt bis Bahnhof Friedrichstraße.« Er nannte einen geringen Geldbetrag, den Oberst Wentzell Anne hinhielt. Danach knöpfte er den Mantel wieder zu. »Sie bringen das in Ordnung, Wachtmeister. Die Dame wird eine Verlustanzeige aufgeben wollen.« Wider ihren Willen bewunderte Anne diesen Mann. Er hatte sich mit einer Eleganz aus der Affäre gezogen, die eine Mischung aus hoher Intelligenz und intimer Erfahrung im Umgang mit dem System dieses Landes verriet. Denn jetzt unterband er es sogar, daß sie noch ein einziges Wort mit ihm zu wechseln vermochte. Noch bevor sie sich darüber schlüssig werden konnte, wie sie sich verhalten sollte, hatte Wentzell-Marschal 319
die Revierstube verlassen. Anne starrte auf die geschlossene Tür, dann auf das Kleingeld in ihrer Hand, schließlich in das breite, nicht einmal ablehnende Gesicht des ältlichen Wachtmeisters. »Haben Sie Glück gehabt, meine Dame«, sagte der Mann. »Sonst nehmen die nie jemand mit von der NVA. Und jetzt geben Sie Ihre Anzeige auf. Wenn wir etwas in Erfahrung bringen, verständigen wir Sie.« Der andere Wachtmeister spannte einen Bogen ein und begann, Anne die Fragen zu stellen, die für seine Ausfüllung notwendig waren. Draußen stieg Wentzell-Marschal in den Wartburg. »Fahr zu, Dirk«, sagte er. »Sonst kommen wir tatsächlich noch zu spät.« »Haben Sie die …?« Dirk brach ab und machte mit der Hand eine Gebärde des Einkassierens. »Die überprüfen das«, sagte der Oberst wortkarg und begann sich erneut in die Papiere zu vertiefen, deren Lektüre er unterbrochen hatte, als Anne Seyfried zu ihm in den Wagen gestiegen war. Der Helm des sowjetischen Feldpolizisten glänzte so blank wie verchromt. Seine Vorderseite war verziert mit einem blutroten Stern. Der Mann prüfte mit äußerster Gewissenhaftigkeit die Papiere des Obersten Wentzell, salutierte und ließ den Wartburg passieren. Dirk wußte, zu welchem Gebäude er in dem ausgedehnten Kasernenkomplex fahren mußte und hielt vor einem langgestreckten Stabsbau an. Der Oberst raffte seine Papiere zusammen, schob sie in die 320
Mappe, verschloß diese und verließ das Fahrzeug. Dirk hielt ihm die Tür offen. »Halte dich in der Fahrerkantine auf, Dirk, bis ich dich rufe.« Der junge Mann nahm Haltung an. Es gab eine Kantine mit Kaffeeautomaten und Kuchenverkauf. Dort konnten die Fahrer telefonisch erreicht werden. Sobald der Oberst Wentzell im Gebäude verschwunden war, setzte Dirk sich hinter das Steuer, um auf den Parkplatz zu fahren. Auf dem Gelände herrschte Stabsbetrieb. Offiziere eilten von Gebäude zu Gebäude, die dunkelolivgrünen Armeefahrzeuge waren von peinlicher, etwas steriler Sauberkeit. Wentzell war beim Verbindungsstab des Sowjetischen Oberkommandos zur Nationalen Volksarmee wohlbekannt. Er wurde begrüßt, grüßte wieder und betrat schließlich ein Büro, in welchem sich General Rajewskij hinter seinem Schreibtisch erhob. Der Besuch, den Oberst Wentzell General Rajewskij jeden Montag abstattete, war eine Routinesache. Die Unterhaltung wurde in russischer Sprache geführt. Es lag nichts Besonderes oder Außergewöhnliches vor. Später kam der Adjutant des Generals hinzu, der einige Anweisungen seines Chefs mitstenographierte und sie danach noch einmal vorlas. Als das Sachliche erledigt war und der Adjutant das Zimmer verlassen hatte, erhob sich General Rajewskij hinter seinem mächtigen Schreibtisch. »Und jetzt habe ich noch eine persönliche Überraschung für Sie, Oberst Wentzell.« 321
Der General war ein noch jugendlicher Mann und nicht von russischem Typ. Er glich eher einem Armenier mit hagerem Gesicht, scharfer Nase, unter der ein schwarzer Schnauzbart seine Oberlippe in englischer Manier verbarg. Schwarzgraues, kräftiges Haar bedeckte einen gutgeformten Schädel mit hohem Hinterkopf. Die Figur war schlank, fast hager und lässig nach vorn gebeugt, als er zur Tür in der hinter seinem Schreibtisch liegenden Wand ging und sie aufschloß. Sie führte in einen neben dem Büro liegenden kleineren Konferenzraum. Dort stand am Fenster ein weiterer Mann in Generalsuniform, der sich umwendete, als die Tür geöffnet wurde. Rajewskij hielt sie am Griff und machte mit dem Kopf eine auffordernde Bewegung, als Wentzell verblüfft stehenblieb. »Alexejew Andrianowitsch«, sagte er langsam. »Das darf doch nicht wahr sein. Das ist wirklich eine Überraschung. Du hast mir gar nichts mitgeteilt.« Die beiden Männer umarmten sich wie Männer, die sich lange nicht gesehen haben. General Soltjakin hielt Wentzell an den Oberarmen und betrachtete ihn fast väterlich. Seine Prüfung schien zufriedenstellend verlaufen zu sein, denn nach kurzer Zeit tätschelte er die Oberarme des Jüngeren und sagte: »Es ist auch ziemlich plötzlich gekommen, Jostin. Und General Rajewskij hat mir am Telefon gesagt, daß du jeden Montag hier bist. Warum sollte ich dich nicht überraschen? Bist du heute abend frei? Natürlich bist du frei, wenn dein alter Kumpel eigens aus Moskau 322
kommt, um mit dir einen heben zu gehen.« Die Männer gingen jetzt hinüber in General Rajewskijs Zimmer. »Also, Alexejew Andrianowitsch«, sagte Rajewskij, »ich habe dir deinen Jostin angeliefert. Aber wenn du mit ihm einen heben willst, zieh dir Zivil an.« »Was glaubst du, Brüderchen«, sagte Soltjakin. »Wofür habe ich mein Luxusappartement. Dort hängt alles, was ich brauche, um Berlin inkognito zu genießen.« Soltjakin schob den Ärmel zurück und sah auf seine teure Armbanduhr. »Es ist gerade die richtige Zeit, Jostin. Ich ziehe mich um, dann fahren wir in die Stadt und essen zu Abend. Ich lade dich ein, und wir plaudern von alten Zeiten.« »Dann muß ich Dirk nach Hause schicken«, sagte Wentzell und trat an den Schreibtisch Rajewskijs. Der General machte eine zustimmende Kopfbewegung, und Wentzell rief hinüber in die Kantine. Er sagte dem Fahrer, daß er ihn nicht mehr brauche. Dafür morgen früh um die gewohnte Zeit an seiner Wohnung. »Wo sollen wir hingehen, Brüderchen?« fragte Soltjakin Rajewskij, als Wentzell auflegte. »Ins Budapest, Bukarest, Praha, Hotel Berlin? Was meinst du?« General Rajewskij sagte, daß er manchmal in einer Gaststätte namens Parkrestaurant sei, gegenüber dem Ehrenmal. Aber Soltjakin verzog das Gesicht. Wenn er schon einmal in Berlin sei, wollte er ins Zentrum, nicht an die Peripherie. »Nun«, meinte er, »mit Jostin werde ich schon einig 323
werden.« Beide Männer zogen ihre Mäntel an und verabschiedeten sich von dem Hausherrn. Sie verließen das Gebäude und gingen zu Fuß zur Wache. Als sie die Kontrollprozedur überstanden hatten, begaben sie sich zu der von einer hohen Mauer umgebenen Siedlung, wo höhere Offiziere aus Moskau ihre Bleibe hatten, wenn sie sich in Karlshorst aufhielten. Dort standen ältere Einfamilienhäuser. In einem von ihnen war für Alexejew Andrianowitsch Soltjakin ein Geschoß mit einem Schlafraum, einem Wohnraum und einem Bad reserviert. Eine ältere Deutsche sorgte für Ordnung und bereitete auf Wunsch das Frühstück. Die Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte hausten spartanisch. Auch die Generale. Die Zimmer waren klein, fast unmöbliert und erleuchtet durch eine einfach von der Decke herunterbaumelnde, schirmlose Glühbirne. In diesem Appartement bewahrte General Soltjakin Zivilkleidungsstücke auf, die er auch bei seinen Besuchen im Ministerium für Staatssicherheit in der Feldmannstraße dem großen Lametta sowjetischer Generalsuniformen vorzog. »Setz dich«, sagte er zu Jost Wentzell. »In einer Viertelstunde bin ich bereit.« Er schob sich in das kleine Schlafgemach. Dort hörte Jost Wentzell ihn sich auskleiden und später die Brause aufdrehen. »Wie bist du hergekommen?« fragte Wentzell. »Geflogen«, kam die Antwort von nebenan. »Nicht über Schönefeld, über Marxwalde. Aber dort können keine großen Vögel landen. Man hat immer Angst, daß 324
man sich den Hals bricht, wenn man da runter muß.« Jost Wentzell schmunzelte. Er kannte die Abneigung des Generals gegen das Fliegen ganz allgemein und gegen zu kurze Landebahnen im besonderen. Soltjakin war Bauernsohn und war deshalb ein Charakter, der weite Räume um sich brauchte. Die bedrückende Enge der Flugzeugkabinen war ihm zuwider. Aus dem gleichen Grund verabscheute er auch das Loch, in dem er sich jetzt umkleidete. Wentzell hörte ihn schnaufen und rumpeln. »Wie geht es Jalewa?« fragte Soltjakin unter der Brause heraus. Dort konnte er nichts hören, und deshalb antwortete Jost Wentzell gar nicht erst. Aber er dachte darüber nach, was er geantwortet hätte, falls Alexejew Andrianowitsch ihn hätte hören können. Als er Jalewa vor fünf Jahren bei einer Stabstagung der Pakt-Streitkräfte in Warschau kennengelernt hatte, war die 27jährige Redakteurin einer polnischen Gewerkschaftszeitschrift gewesen. Schlank, schwarzhaarig, rassig und intellektuell. Aus einem Elternhaus im gehobenen Staatsbedienstetenmilieu, überzeugte Marxistin-Leninistin, verheiratet mit einem Funktionär der Gewerkschaft, für deren Zeitschrift sie schrieb. Dieser Mann war, wie Jalewa ihm gesagt hatte, ein kriecherischer Opportunist mit nichts als seinem Posten im Kopf, liebedienerisch nach oben und um Macht buhlend nach unten. Mit Jalewa brüstete er sich auf Kongressen und Parteitagen, im übrigen vernachlässigte er sie in jeder Beziehung. Wentzell war nicht auf seichte Abenteuer aus, wie 325
sie ihm sein Dienst in Hülle und Fülle ermöglicht hätte. Aber damals hatte er mit Jalewa zehn Tage einer stürmischen Leidenschaft verbracht, während welcher Jalewa alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte. Am Ende der Konferenz hatte der Funktionär die Scheidung eingereicht. Seit drei Jahren lebte sie mit Jost Wentzell-Marschal zusammen in einer Dreizimmerwohnung in Strausberg-Johanneshof. In dieser Umgebung, wo jeder auf den anderen achtete, drängte sie seit kurzem auf Heirat. Aber Jost Wentzell zögerte. Die ersten berauschenden Jahre waren vorbei. Wentzell hatte erfahren, daß Jalewas körperliche Schönheit und ihre wilde Unersättlichkeit im Bett das meiste ihrer Reize ausmachten. Ihr fehlte Wärme und Mütterlichkeit. Ihr Zusammenleben war zu einer Routinesache geworden. Was hätte er also dem General, der in diesem Augenblick seinen weißen, etwas zu weit auseinandergegangenen Körper im Nebenzimmer mit einem Handtuch rotrieb, auf seine Frage nach Jalewa antworten sollen? Soltjakin selbst hatte seine eigene Frage schon vergessen, als er kurz danach in das Zimmer kam, in welchem Jost Wentzell auf ihn wartete. Er trug einen altmodischen Anzug unbestimmbarer Farbe und sah so nichtssagend aus wie die Offiziere aller Armeen der Welt, wenn sie sich in Zivil kleiden. Nur der schiefergraue Binder, den der General trug, weil er keinen anderen besaß, erinnerte daran, daß es sich bei ihm nicht um den Direktor einer Gaststätte oder um den Planchef einer volkseigenen 326
Fabrik handelte. Er fuhr in einen altmodischen zweireihigen Mantel, als er zu Jost Wentzell ins Zimmer trat. Das silbrigweiße volle Haupthaar ließ er unbedeckt. Er setzte sich erst gar nicht mehr hin. »Also«, dröhnte er und hieb Jost Wentzell auf die Schulter, als dieser sich erhob. »Ich habe Appetit, Jostin Wilgelmowitsch.« Für die russische Zunge bedeutet der Buchstabe »h« eine Schwierigkeit. Die Russen sprechen ihn aus wie »g«, und Jost Wentzell mußte immer ein wenig schmunzeln, wenn er seinen alten Freund diesen Namen aussprechen hörte. »Laß uns in die Stadt fahren«, fuhr der General fort. »Was willst du mit deinem Aktenkoffer machen? Willst du ihn vielleicht mit zum Abendessen nehmen? Laß ihn hier. Da kannst du ihn nachher wieder abholen. Du mußt ohnehin ein Taxi nehmen, um zurück nach Strausberg zu kommen. Und dieses Taxi muß hier vorbeifahren.« Soltjakin faßte den Griff von Wentzells Aktenkoffer und trug ihn ins Nebenzimmer, wo er ihn lautstark auf das Bodenfach eines Kleiderschrankes pfefferte, dessen Schlüssel er unter dem zurückgeschlagenen Mantel in die Tasche des Jacketts gleiten ließ. Die beiden Männer verließen das Haus. »Also, wohin gehen wir?« fragte der General auf dem Weg zu dem Taxistandplatz, der sich in der Nähe der Zufahrt zum Stabsgelände befand. Jost Wentzell erinnerte sich an den Namen eines Lokals, der ihm schon das eine oder andere Mal von Kameraden genannt worden war, die in der Lage und bereit waren, 327
für ein Abendesssen in der Hauptstadt einiges auszugeben. »Wie wäre es mit dem Ganymed?« sagte er. »Das ist an der Weidendammer Brücke, Schiffbauerdamm, neben dem Theater.« »Nicht schlecht«, sagte Soltjakin. »Bahnhof Friedrichstraße. Aber dort werden wir abgehört.« »Woher weißt du das, Alexejew Andrianowitsch?« Der General blieb im Lichtkreis einer Peitschenlampe stehen, kramte ein Notizbuch aus der Brusttasche des Wintermantels und schlug es auf. »Weil ich selbst es angeordnet habe, mein Sohn. Hier: Berlin, Fangohr, Frisco, Fritzi, Gamba, Ganymed … da hast du es. Treffpunkt eurer Leute mit Westlern jeder Art. Theaterleute, Journalisten, Politiker, Geschäftemacher. Was glaubst du, was da alles geredet wird. Das läßt Fjodor Petrowitsch sich nicht entgehen.« »Wer ist Fjodor Petrowitsch?« »Fjodor Petrowitsch?« Der General schob das Notizbuch zurück an seinen Platz und hakte Jost Wentzell zum Weitergehen unter. Der Name Fjodor Petrowitsch zerging ihm auf der Zunge. »So heißt Popow, Jostin. Und Popow betreut das große La-Lu-La unserer Arbeit, den Zentralindex. Der mir untersteht«, setzte er nicht ohne Stolz hinzu. »Dort wird jedes Wort gespeichert, das von Interesse ist.« »Auch Liebesgeflüster?« fragte Jost Wentzell lachend. Aber der General blieb ernst. »Liebesgeflüster ganz besonders, Jostin. Es ist 328
unglaublich, was man alles draus machen kann. Da mußt du mal mit Fjodor Petrowitsch sprechen. Dir werden die Augen übergehen, mein Sohn.« Sie erreichten den Taxistandplatz, und Jost Wentzell öffnete die Tür eines Wagens. »Aber wir haben ja schließlich keine Geheimnisse, nicht wahr«, fuhr General Soltjakin fort, während sie Platz nahmen. »Also«, sagte er zu dem Fahrer, »Schiffbauerdamm, mein Sohn. Restaurant Ganymed.« Der Fahrer beschleunigte den Wagen. Soltjakin führte die Unterhaltung jetzt in russischer Sprache, welche die Leute vom Bildungsstand eines Taxifahrers meistens nur bruchstückhaft verstanden. »Achte einmal darauf«, sagte er zu Jost Wentzell, »daß in diesem Lokal die Tische nur an den Wänden entlang angeordnet sind. Und dann frage dich, warum?« Über Niederschöneweide und Treptow nahm das Taxi seinen Weg in die Innenstadt. Man passierte den modernen Ausbau des Zentrums um den Alexanderplatz, bog ein, links das Rote Rathaus mit seinem charakteristischen viereckigen Turm, das Gebäude des Staatsrates, die Glasquader des Außenministeriums und des Palastes der Republik, das gerüstumkleidete Gemäuer des Domes. Schließlich mündete die Fahrt in die noblen, von warm leuchtenden Scheinwerfern bestrahlten Gebäudezeilen, welche den oberen Teil der Straße Unter den Linden säumten. Das alte Zeughaus, die Schinkelwache, die würdige Universität, das Kronprinzenpalais schräg 329
gegenüber und die Staatsoper daneben. Im Hintergrund dämmerte klassizistisch der breite Säulenportikus des Museumsbaues. Grünlich angestrahlt sah General Soltjakin am Ende der Allee den weltberühmten Klotz des Brandenburger Tores, bevor das Taxi nach rechts in den Schacht der Friedrichstraße einbog. »35 Jahre sind es her, seit wir uns hier auf unseren Kanonenrohren besoffen haben, aus Freude, daß es endlich vorbei war und daß wir es überlebt hatten«, sagte der General. Vor ihnen lag die rußige, rauchgeschwärzte Glastonne des Bahnhofs Friedrichstraße. Die Fahrbahn kroch darunter hindurch, dann über die Weidendammer Brücke. Darunter das unbewegte, träg schillernde dreckige Wasser der Spree. Links zeigte eine grünlich fluoreszierende Leuchtschrift den Namen des Lokals. Der Fahrer mußte noch ein Stück die Friedrichstraße entlang fahren, bog dann links ein, umrundete einen Häuserblock und hielt unmittelbar an der Gebäudefront des Brechttheaters, an deren Ecke das Lokal lag. Der General ließ es sich nicht nehmen, das Taxi zu bezahlen. Als sie den Wagen verlassen hatten, sahen die Männer den Block des kuppellosen Reichstagsgebäudes, der schon jenseits der Grenzmauer lag. Auf seinem Dach, geisterhaft angestrahlt, eine in den gleichen Farben gehaltene und dennoch fremde Flagge. Die beiden Männer gingen auf den Eingang des Lokals zu. »Ob überhaupt noch etwas frei ist?« sagte Jost Wentzell, als sie die Tür aufstießen. General Soltjakin 330
warf ihm einen Blick zu, wie man ihn einem Provinzler zuwirft, den man in die Geheimnisse einer Metropole einweiht. »Wo denkst du hin, Jostin? Ich bekomme überall Platz, wo ein Resident des GRU sitzt. Und hier in Berlin sitzen gleich mehrere.« Nietzmann war 55 und seit 37 Jahren Oberkellner im Ganymed. Er hatte einen Kopf, glatt und rund wie ein Seehund, darauf einige Strähnen schwärzlich-grauer zurückgekämmter Haare, sowie abstehende Ohren. Er trug eine schwarze Schleife, eine speckige schwarze Weste und die knöchellange weiße Schürze der Kellner. Er stand Soltjakin schon gegenüber und zuckte bedauernd mit den Schultern, bevor die Garderobenfrau herausgebracht hatte, daß leider alle Tische bestellt seien. Der General öffnete den Mantel, zog wie beiläufig einen Ausweis aus der Brusttasche und hielt ihn nicht länger als eine oder zwei Sekunden Nietzmann vor das Gesicht. Die Wirkung war jedoch erstaunlich. Nietzmann wurde um mehrere Zentimeter kleiner, machte mit hängenden Armen eine Verbeugung und half Soltjakin aus dem Mantel. Dann eilte er wieselgleich zu der Schwingtür, die in das Innere des Lokals führte, und machte eine ruckartig befehlende Geste mit der Hand, gefolgt von einer weiteren Bewegung, welche die Eilbedürftigkeit anzeigte. Er war rechtzeitig wieder zur Stelle, um auch Jost Wentzell aus dem Mantel zu helfen. Sekunden später hielt er die Schwingtür auf. Nietzmann hatte unter zwei autoritären Regimen gelernt, rechtzeitig die Aura der Mächtigen zu wittern. Und er paßte sich 331
dieser an, weil ihm gar nichts anderes übrigblieb. Er hatte schon früher für die braunen Herren bespitzelt, so wie jetzt für die roten. Er wies auf einen behaglichen Ecktisch, von welchem gerade ein Kellner die Reservierungskarte nahm, um sie auf einen anderen Tisch zu stellen. Der junge Mann wedelte mit dem Serviertuch über die Tischdecke und drehte die Weingläser um. Nietzmann rückte an den Stühlen und brachte später die Karten, für den General in russischer Sprache, denn wie gesagt, er hatte ein untrügliches Gespür für die Aura der Macht. Die beiden Herren an dem Ecktisch entschieden sich, der Deutsche für eine Soljanka, der Russe für eine Lady-Curzon, beide für ein geräuchertes Forellenfilet und Kaviar Malossol – mal sehen, was sich machen läßt, meine Herren, und es ließ sich machen –, beide für ein Mitternachtssteak, die Spezialität des Hauses, und für eine Ganymed-Überraschung als Nachtisch. Und dazu Tokajer, viel Tokajer vom Jahrgang 1976. Auch hier mußte Nietzmann erst sehen, was sich machen läßt, aber auch dies war schließlich möglich. Als alles das geregelt war, begannen Jost Wentzell und Alexejew Andrianowitsch Soltjakin zu tafeln. Der Russe genießerisch und wohlgelaunt, der Deutsche hingegen eher lustlos. Er war kein Mensch des Lebensgenusses. Erst als der General ihn zwischen zwei mächtigen Schlucken Tokajerwein fragte, ob es ihm denn gar nicht schmecken wolle, raffte Jostin Wentzell sich zu dem Entschluß auf, dieses Essen mit dem alten Freund zu genießen. 332
Sie waren schon beim Dessert und der dritten Flasche Tokajer, als Soltjakin auf das zu sprechen kam, was ihn nach Karlshorst geführt hatte. »Weißt du eigentlich, Jostin«, sagte er, nachdem er sich mit der gestärkten Serviette den Mund gewischt hatte, »daß du drauf und dran bist, zur Schlüsselfigur unserer Strategie für den Rest dieses Jahrhunderts zu werden?« Jost Wentzell lachte. »Du machst wohl einen Scherz mit mir, Alexejew Andrianowitsch.« »Nein«, sagte der General. »Es ist mein verdammter Ernst, Jostin.« Trotzdem lachte er glucksend vor sich hin, als er an die Unterhaltung zurückdachte, die er mit Leonid Konstantinowitsch Alikin und Fjodor Petrowitsch Popow geführt hatte. »Was lachst du, wenn es dein verdammter Ernst ist?« »Die Deutschen haben den Affen erfunden, mein Sohn. Das wollte Genosse Alikin von den Nachbarn gar nicht gerne hören.« »Was meinst du mit Nachbarn, Alexejew?« fragte Jost Wentzell. »So nennen wir unsere Intimfeinde vom KGB, mein Junge. Und die uns auch. Die meinen doch, daß sie allein das Gras wachsen hören. Aber in dieser Sache haben wir das Gras wachsen gehört. Keiner kann einen Schritt ohne den anderen tun.« »Und was für einen Affen, meinst du, den wir erfunden haben sollen?« General Soltjakin nahm wieder einen gewaltigen Schluck Tokajer und setzte das geleerte Glas ab. 333
»Danke«, sagte er, als Jost Wentzell es ihm erneut füllte. »Diesen Affen haben nicht unsere Deutschen erfunden, sondern die amerikanischen Deutschen. Paß auf: Das ist als Feindlage-Information schon über deinen Schreibtisch gegangen. Ich weiß das, ich weiß nämlich fast alles, Jostin. Die haben doch tatsächlich einen Panzerstahl entwickelt, bei dem wir das Nachsehen haben, wenn es je zum Ernstfall kommen sollte, was alle guten Geister verhüten mögen. Sie posaunen zwar sonst alles in die Öffentlichkeit, weil sie meinen, daß diese Dummheit zu ihrer Freiheit gehört. Aber ausgerechnet das halten sie geheim, diese Hundesöhne. Darüber kannst du nirgends etwas erfahren. Rodionowsky meint, daß unser Offensivkonzept zum Atlantik gefährdet ist, wenn wir die NATO-Panzer nicht mehr wirksam ausschalten können. Deshalb will er wissen, wie die das gemacht haben. Ich habe ihm versprochen, es herauszukriegen. Und du mußt mir dabei helfen, Jostin.« »Und wie soll ich das machen, Alexejew Andrianowitsch?« Der General rückte näher an Jost Wentzell heran und beugte sich vor. Der Deutsche roch den Weindunst, der aus Soltjakins Kehle kam, und sah unter den buschigen Brauen die grauen bäuerlichen Augen glänzen. »Wir haben da einen Mann im Fadenkreuz«, sagte der General, »der uns alles verschaffen kann, was wir brauchen. Der sitzt an der Schaltstelle für diese Dinge, drüben in Westdeutschland. Und du kennst diesen Mann.« 334
»Ich?« Die Frage kam mit gedehntem Erstaunen. »Alexejew Andrianowitsch, ich bin einer der Leute mit dem strengsten Westverbot in der Republik. Ich kenne überhaupt keinen westdeutschen Bürger. Und ich habe auch gar keine Lust, einen von ihnen kennenzulernen.« »Und doch kennst du ihn«, beharrte der Russe in der starren Penetranz des beginnenden Weinrausches. »Nur war er damals noch nicht Bürger der westdeutschen Revanchistenrepublik, verstehst du. Erinnerst du dich an den Tag, an dem wir uns kennenlernten?« »Als wenn es gestern gewesen wäre. Ich habe sogar heute an diesen Tag gedacht. Ich denke manchmal daran, wenn ich die gleiche Straße nach Karlshorst fahre, auf der ich damals zum ersten Mal mit dir gefahren bin.« »Gut, mein Junge. Und du erinnerst dich auch noch an das, was du mir damals erzählt hast, in diesem Sammellager voller halbverhungerter Flüchtlinge, aus dem ich dich herausgefischt habe?« »Natürlich«, sagte Jost Wentzell. »Ich werde das alles niemals vergessen.« »Siehst du«, sagte Soltjakin. »Das habe ich auch gar nicht anders erwartet. Du hast mir damals von der Nacht vom 14. auf den 15. Januar 1945 berichtet … was hast du? Was siehst du mich so an?« Bei der Nennung dieses Datums war es dem General nicht entgangen, daß die Augen Jost Wentzells sich verengt und einen verblüfft fragenden Ausdruck angenommen hatten. Der Deutsche war eine kurze Zeit 335
versucht, seinem Freund zu erklären, wie erstaunt er darüber war, heute schon zum zweiten Mal auf dieses Datum angesprochen zu werden. Jedoch erinnerte er sich noch rechtzeitig an die Warnung des Generals, daß Gespräche, die in diesem Restaurant geführt wurden, unter Umständen nicht bei denen blieben, die sie geführt hatten. Es war an diesem Tisch hier vielleicht nicht der richtige Platz, um darüber zu reden. »Sprich nur weiter, Alexejew, alter Freund«, sagte Jost Wentzell. »Ich höre dir zu. Was ist mit dieser Nacht vom 14. zum 15. Januar 1945?« »Ich bin darauf aufmerksam geworden, daß mit dir etwas Besonderes los ist, Jostin, als du mir erzähltest, was du in dem Befehlsbunker der Faschisten an der Pilica erlebt hast.« Jost Wentzell nickte. »Das habe ich dir erzählt, ja.« »Und da wußtest du noch nicht, daß mich das besonders deswegen interessiert hat, weil ich zu dem Stab gehörte, der über diese Ereignisse das Protokoll gemacht hat.« »Stimmt«, sagte Jost Wentzell. »Das hast du mir erst viel später gesagt. Wenn du es damals in dem Barackenlager getan hättest, hätte ich es wahrscheinlich auch gar nicht verstanden. Aber was hat das alles mit dem westdeutschen Rüstungsboß zu tun, den ich angeblich kennen soll?« »Nur Geduld«, sagte General Soltjakin, wendete sich im Sitzen um und winkte Nietzmann, die nächste Flasche Tokajer zu bringen. Und dann den Kaffee. »Nur Geduld«, wiederholte er, als das erledigt war und 336
Nietzmann begriffen hatte, was er tun solle. »Du hattest mir doch erzählt, daß einer von den Faschisten einen anderen erschossen hat, als sie die Brücke in die Luft jagten.« »Ja«, sagte Wentzell. »Der, der erschossen wurde, hatte einen Mantel mit Pelzkragen an. Ich kannte mich damals mit deren Dienstgraden und Rangabzeichen nicht so aus.« »Es waren die gleichen, die es heute bei euch sind, Jostin. Der, der erschossen wurde, war der Major im Generalstab der Faschisten, Herbert Kayser. Sein Mörder ist nicht belangt worden.« »Gospodin«, sagte Jost Wentzell, »was geht es uns heute, nach so langer Zeit, noch an, ob die Faschisten bestraft werden, die sich damals gegenseitig umgebracht haben?« »Gerade, gerade geht es uns etwas an. Es geht nämlich nicht um den, der erschossen worden ist, sondern um den, der ihn erschossen hat.« Der General griff in die Brusttasche des Jacketts und zog die Brieftasche heraus. Er klappte sie auseinander und entnahm ihr jene Fotografie, die vor nicht allzu langer Zeit am Sokolniki-Prospekt in Moskau den Abscheu der Genossen Ustinow und Rodionowsky erregt hatte. Er reichte sie Jost Wentzell. Über des Obersten Schulter betrachtete Nietzmann mit vor Staunen geweiteten Augen das wohlvertraute Konterfei des Führers und die Uniformen der SS-Offiziere, während er mit geschickten Bewegungen den Korken aus der vierten Tokajerflasche zog. 337
»Ist der dabei, der den Major mit dem Pelzkragen erschossen hat?« erkundigte sich der General und beugte sich seitwärts, um mit Jost Wentzell auf das Foto sehen zu können, während Nietzmann nachgoß. Oberst Jost Wentzell-Marschal erkannte den Obersturmführer Henning v. Loßwitz beinahe sofort. Nur für wenige Augenblicke mußte er überlegen. Es war kein glattrasierter und gekämmter junger Mann gewesen, dessen Bild in seinem Gedächtnis haftengeblieben war, wie dieser hier, der in disziplinierter Haltung vor einem schlaffen und deprimierten Hitler stand, sondern einer, der von den Kämpfen, der Ernüchterung und Desillusionierung gezeichnet gewesen war. Aber es gab für Jost Wentzell keinen Zweifel. »Tatsächlich«, sagte er. »Dieser hier.« Er zeigte auf den gleichen Mann, auf den auch schon damals in Moskau der Leuchtpfeil der Demonstrationslampe gezeigt hatte. Befriedigt nickte Alexejew Andrianowitsch Soltjakin und nahm die Fotografie wieder an sich. »Das ist der Mann, der uns über den neuen Panzerstahl der westdeutschen Bundeswehr alles sagen kann, was wir darüber wissen müssen. Prost, mein Junge, Nasdrownje.« Die beiden Männer stießen die Gläser aneinander, tranken und setzten sie ab. Soltjakin schob die Fotografie zurück in die Brieftasche, aus der er gleichzeitig ein doppelt gefalztes Blatt Papier zog, das er auseinanderfaltete und vor Jost Wentzell auf den 338
Tisch legte. »Dann lies dies hier durch, mein Sohn, und unterschreib es. Dann wirst du verstehen, daß ich sagte, daß du unsere strategische Schlüsselfigur werden wirst.« Jost Wentzell-Marschal nahm das Papier in die Hand, lehnte sich zurück und begann zu lesen. Der Text war in russischer Sprache und Schrift abgefaßt und mit Maschine geschrieben. Er war ungefähr zwei Seiten lang und lautete: Ich, Jost Wentzell, Angehöriger der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik, gebe hiermit Folgendes zu Protokoll und bin damit einverstanden, daß diese Aussage vor allen zur Entgegennahme einer eidesstattlichen Erklärung berechtigten Stellen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland als solche gewertet wird: Am 14. Januar 1945 erreichte ich auf der Flucht vor den zu erwartenden Kämpfen zwischen der zurückweichenden Nazi-Armee und den siegreichen Sowjettruppen die an dem Fluß Pilica gelegene polnische Stadt Tomaszów. Über ein Fluß führte eine Brücke, die noch intakt war, als ich die Stadt erreichte. Ich konnte über diese Brücke gelangen. Auf dem Westufer des Flusses wurde ich gewahr, daß die Brücke bereits zur Sprengung vorbereitet war. Die Sprengsätze waren angebracht und die Zündleitung war verlegt. Da ich von meiner Familie getrennt worden war, ging ich in den Keller, von dem ich vermutete, daß von ihm aus die Sprengung vorgenommen werden sollte. 339
Dort traf ich den Obersturmführer der Waffen-SS, Henning v. Loßwitz, wie ich beeide, identisch mit dem jetzigen Fritz Seyfried, wohnhaft in Koblenz, Am Habichtberg 14. Ich flehte ihn an, mit der Sprengung doch solange zu warten, bis meine Eltern und meine Schwester außer Gefahr seien, die ich unter zahlreichen anderen Flüchtlingen, die sich am jenseitigen Ufer der Brücke drängten, schon sehen konnte. Dieser SS-Offizier wies mich barsch zurecht. Die militärischen Erfordernisse könnten nicht an den persönlichen Wünschen einzelner orientiert werden. Er habe den Befehl, die Brücke zu sprengen, und das werde er tun. Noch während ich den SS-Offizier anflehte, Menschlichkeit zu üben, betrat ein Major der deutschen Wehrmacht im grauen Mantel mit Pelzkragen den Bunker. Dieser bemerkte, was vor sich ging. Der Major sah die Menschen auf der anderen Seite der Brücke und befahl dem SS-Offizier, mit der Sprengung noch zu warten, bis die Flüchtenden vom anderen Flußufer die Brücke überschritten hätten. Der SS-Offizier widersetzte sich. Es kam zu einem scharfen Wortwechsel, in dessen Verlauf der Major den angeschlossenen Zündapparat aus der Reichweite des SS-Offiziers zu bringen suchte. Um die Sprengung doch sofort durchführen zu können, tötete der SSOffizier den Major mit zwei Schüssen in den Rücken. Anschließend löste der SS-Offizier die Sprengung aus, obschon sich zu diesem Zeitpunkt Hunderte von Menschen, darunter auch meine Eltern und meine Schwester, auf der Brücke befanden und weitere 340
Hunderte auf der anderen Seite noch darauf warteten, sie zu überschreiten. Ich bin bereit, diese Aussage im Rechtshilfeverfahren vor Richtern oder Staatsanwälten der Bundesrepublik Deutschland, auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik auch mündlich zu wiederholen. Jost Wentzell ließ das Papier sinken. »Und damit willst du diesen Seyfried vor Gericht bringen, Alexejew Andrianowitsch?« »Nein, nein«, sagte der General. »Damit will ich vermeiden, daß das geschieht. Wenn er uns sagt, was wir von ihm wissen wollen. Es geht mir wie dir, Jostin. Es ist mir egal, was mit diesen Hundesöhnen passiert, die damals unser Land verwüstet haben und heute schon wieder an ihren Panzern, Kanonen und Raketen verdienen. Aber mit diesem hier ist es etwas anderes. Der ist für uns wichtig. Hast du alles gelesen?« »Wer hat dir diese Geschichte erzählt, Towarischtsch General?« fragte Jost Wentzell. »Niemand, Jostin. Ich habe sie persönlich recherchiert. An Ort und Stelle. Am Morgen, nachdem es geschehen war. Polnische Genossen, die in der Stadt geblieben waren, haben sie mir bestätigt. Warum fragst du?« »Weil sie nicht wahr ist«, sagte Oberst WentzellMarschal. Der General glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Er starrte Jost Wentzell sprachlos an. »Nicht wahr? Was fällt dir ein? Du hast sie mir doch erzählt. 341
Und ich habe mich selbst überzeugt …« Der General hielt inne, drehte das Gesicht und rief nach Nietzmann. »Alles zusammen«, sagte er, als Nietzmann mit gezücktem Block neben ihm stand, und machte eine großartige, weit ausholende Handbewegung. Er legte Jost Wentzell die Hand auf den Unterarm, als dieser etwas sagen wollte. Nicht hier, mein Junge, hieß das, laß uns draußen weitersprechen, wo wir sicher sind, daß uns niemand zuhört. Der General nahm den Zettel in Empfang und bezahlte die Rechnung. Er war aus Prinzip kein Freund hoher Trinkgelder und enttäuschte Nietzmann. Dennoch hielt Nietzmann den Herren die Flügeltür auf und half ihnen in die Mäntel. Soltjakin und Wentzell traten ins Freie. Die kalte Winterluft wirkte kaum ernüchternd. »Wieso ›nicht wahr‹?« setzte Soltjakin das Gespräch fort, als sie über die Weidendammer Brücke gingen. Zu ihrer Linken hob sich das Dessin des alten Reichsadlers, der das Brückengeländer zierte, von dem schwach blinkenden Wasser der Spree ab. Oben kroch ein langer Fernzug mit erleuchteten Fenstern unter die Tonne der Bahnhofshalle. Sogar hier unten konnte man das Kreischen der Bremsen und das Klirren der Kupplungen hören. Eine Stimme verkündete, daß der fahrplanmäßige Schnellzug Paris-Warschau soeben eingefahren sei. Wentzell hakte den Älteren unter, denn er spürte, daß der Gang Soltjakins unsicher war. »Daß alles nicht wahr ist, was in dem Bericht steht, stimmt auch nicht, Gospodin«, sagte Wentzell. »Natürlich ist ein Teil wahr. Aber es ist nicht der 342
Major gewesen, der die Leute retten wollte, sondern der andere. Es ist übrigens das erste Mal heute, daß ich seinen Namen höre. Und das gleich zweimal.« »Wieso gleich zweimal?« wollte Soltjakin wissen. »Ach, nichts«, sagte Jost Wentzell nach einigen Augenblicken der Überlegung. »Jostin«, sagte der General. Sein Körpergewicht hing schwer in Jost Wentzells Arm. Jetzt blieb er stehen und wendete dem anderen das Gesicht zu. »Es kann doch nicht der SS-Mann gewesen sein … du mußt dich täuschen.« »Ich täusche mich nicht, Alexejew Andrianowitsch. Ich erinnere mich genau. Es ging schließlich um meine Mutter, meinen Vater und meine Schwester.« Die beiden Männer gingen langsam weiter und erreichten wieder die Straße Unter den Linen. Es war spät geworden, und der Verkehr war geringer. Jost Wentzell hob den Arm, und ein Taxi hielt. Der General versank im Rücksitz. Wentzell sah im Dämmerlicht des Wageninneren den weißen Haarschopf des alternden Offiziers sich hin und her bewegen, als verstehe er noch immer nicht recht, daß die Sache nicht so gewesen sein sollte, wie er sie sich zurechtgelegt hatte. Jost Wentzell nannte dem Fahrer als Ziel die Kaserne in Karlshorst. Der Mann stellte die Taxameteruhr. Er fuhr nach Westen, heran bis an das grünlich schimmernde Brandenburger Tor, wendete dann und nahm die Gegenfahrbahn zurück ins Zentrum der Stadt. Seine Fahrgäste waren in Gedanken versunken. 343
»Wie ist das eigentlich gewesen, damals?« fragte Wentzell, als das Taxi über die Treptower Spreebrücke fuhr. »Wovon sprichst du, Junge?« »Ich habe sie noch gesehen, als ich aus der Kellerluke blickte«, sagte der Oberst. »Meine Mutter hatte ein rotes Kopftuch auf. Sie waren ziemlich weit hinten in der Traube, welche an die Brücke stürmte. Dann hob mich einer von den Faschisten von der Kiste herunter, auf der ich stand, und schob mich in die Ecke. Von da an weiß ich nichts mehr, fast nichts mehr.« »Was denkst du darüber nach?« sagte der General, schob die Fäuste tief in die Taschen des Mantels und sah nach draußen auf das schwarze Wasser, auf dem gespenstisch der Abglanz der Peitschenlampen lag, welche die Sperrmauer in kurzen regelmäßigen Abständen begleiteten. »Vorbei ist vorbei. Diese Schweine haben sie in die Luft gejagt. Sie haben wohl nicht leiden müssen, Jostin. Wie vielen ist es so gegangen in diesem Krieg. Denk nicht darüber nach.« Aber es gelang dem Obersten nicht. »Die Brückensprengung war der Weltuntergang für mich, verstehst du das, Alexejew? Jetzt ist es zu Ende, dachte ich. Dann zerrte mich einer an den Händen raus aus diesem Weltuntergang. Draußen schoß es wie wild. Ich erinnere mich an noch etwas: Der, der mich rausgezerrt hatte, warf mich jemand anderem an die Brust. ›Kümmere dich um ihn‹, schrie der erste dem zu, ›seine Leute hat es gerade erwischt … oder es erwischt 344
sie in diesem Augenblick … Und dann hörten wir alle das Feuer von Maschinengewehren. Aber die Faschisten hatten gar keine Maschinengewehre. Das kam vom anderen Ufer der Pilica.« »Laß es ruhen, Jostin«, sagte der General. »Es nützt dir nichts mehr, wenn du darüber nachgrübelst.« Er versank erneut in Schweigen. Vor seinen Augen erstand wieder das Bild des Grauens, als er am Morgen des 15. Januar in seinem Stabsjeep vom Hochufer der Pilica zum Fluß heruntergefahren war und die Berge der Leichen gesehen hatte, die vor der Rampe zur Brücke aufgetürmt gewesen waren. Er hatte damals die Kinnbacken zusammengekrampft und weggesehen. Aber jetzt, in dem Inneren dieses Taxis, wurde es zu einer Art Zwangsvorstellung, und es war ihm, als erinnere er sich genau, zwischen den Toten ein rotes Kopftuch gesehen zu haben. Schließlich schob er das alles mit einer gewaltsamen Anstrengung von sich weg. Die beiden Männer schwiegen, bis das Taxi vor dem Haus anhielt, das General Soltjakin bewohnte. Soltjakin raffte sich auf und stieg aus. »Warten Sie hier«, sagte er in seinem harten Deutsch. »Sie müssen meinen Freund nach Strausberg fahren.« Auf der anderen Seite verließ Jost Wentzell das Taxi. Der Fahrer stellte den Motor ab und zündete sich eine Zigarette an. Der General faßte Wentzell unter und zog ihn mit sich, schlenderte mit ihm die nächtlich stille Villenstraße entlang. Der Nebel des Alkoholrausches war jetzt verflogen. General Soltjakin 345
sah in diesem Augenblick sehr klar. »Ich habe Angst«, sagte er. »Wovor?« fragte Jost Wentzell. »Wovor … wovor …? Das ist gar nicht wichtig. Um wen, das ist viel wichtiger. Und ich habe um dich Angst, mein Sohn. Ich muß mit dir allein sein. Vor diesem Taxifahrer konnte ich nicht reden. Manche von diesen hinterhältigen Hundesöhnen verstehen das Russisch doch. Und ich muß dich etwas fragen, was niemand hören darf.« »Also frage«, sagte Jost Wentzell. Der General blieb stehen und zog den Arm aus dem des Deutschen. Die beiden Männer sahen sich ins Gesicht. »Hast du etwas übrig für Faschisten, Jostin?« Jost Wentzell lachte. Aber es klang nicht wie ein behagliches, zufriedenes Lachen. »Wie kannst du nur so etwas fragen?« sagte er. »Ich weiß schon … weil ich dir gesagt habe, daß deine Geschichte anders war, als du sie mir erzählt hast. Und so, wie sie wirklich war, paßt sie nicht in Rodionowskys operatives Konzept. Das bedeutet nicht, daß ich für Faschisten, Revanchisten und Profitler etwas übrig habe, Väterchen, glaube mir das.« Der General ergriff eindringlich die Revers an Jost Wentzells Mantel und zog sein Gegenüber näher an sich heran. »Kannst du mir das bei allem, was dir heilig ist, schwören, Jostin?« »Alexejew Andrianowitsch«, setzte Wentzell an, und der General gab seine Mantelaufschläge frei. »Ich 346
habe niemals vergessen, was du für mich getan hast. Und ich werde es auch niemals vergessen. Ich werde dich immer vor mir sehen, wie du dort gesessen hast zwischen den sonnendurchglühten Baracken, die Mütze ins Genick geschoben, und Mitleid hattest, Interesse an meinem Schicksal, Menschlichkeit mitten in dem grauenhaften Elend, das nicht eure Schuld war, sondern die der Hitlerfaschisten. Das weiß ich sehr wohl. Du warst zu mir wie ein echter Freund, noch mehr, wie ein wirklicher Vater, Alexejew Andrianowitsch. Alles, was ich erreicht habe und bin in diesem Staat, verdanke ich dir.« »Aber du bist schwankend geworden, Jostin. Ich spüre es genau.« »Ich habe lange nicht mehr an all das gedacht, was damals geschehen ist«, sagte Jost Wentzell. »Der heutige Tag hat vieles wieder in mir aufleben lassen. Ich kann es nicht ändern, Alexejew Andrianowitsch. Mit dem Willen ist da nichts zu machen. Ich war bis jetzt fest davon überzeugt, daß es die faschistischen Offiziere waren, die meine Leute mit der Brücke in die Luft gesprengt haben.« »Und jetzt? Jetzt hast du Zweifel? Du mußt das alles endgültig begraben, Jostin. Selbst, wenn es anders war.« Eine lange Weile standen sich der Russe und der Deutsche auf der nächtlichen Straße gegenüber. »Könnte es denn sein, daß es anders war?« sagte Jost Wentzell endlich. »Könnte es sein, daß eure Leute sie auf dem Gewissen haben?« 347
»Junge«, sagte der General, »damals war Krieg. Und keiner ist zimperlich, der einen Krieg gewinnen will. Von der Antike bis in unsere Tage war das immer das gleiche. Die Faschisten waren es nicht und unsere waren es vermutlich auch nicht. Denke an heute und nicht an damals.« »Ich könnte die Wahrheit ertragen«, sagte Jost Wentzell. »Aber nicht das Zwielicht, das über dieser Sache liegt.« Der General schob erneut seinen Arm unter den des Deutschen und zog ihn mit sich, zurück in Richtung auf das Taxi. »Jost«, sagte er während des Gehens, »ich muß dir nicht erst sagen, welche Dimension die Sache hat, in der wir stecken. Du mußt das Persönliche davon trennen. Du mußt, verstehst du. Du mußt es einfach können, denn alles andere wäre tödlich. Wir brauchen den Druck gegen Seyfried. Du weißt, was diese Information für uns bedeutet. Man kennt deinen Namen bis hinauf ins Politbüro. Mit dir steht und fällt die wichtigste Aufklärung in Westeuropa seit dem Zweiten Weltkrieg. Auf dich setzen Ustinow, Rodionowsky und Alikin.« »Und du«, sagte Jost Wentzell. »Ich auch«, antwortete General Alexejew Soltjakin. »Ich kann erst wieder ruhig schlafen, wenn ich deinen Namenszug auf diesem Papier habe.« Jost Wentzell bemerkte mit Erstaunen die fahrige Erregung des Älteren, als er den Mantel öffnete, das Papier aus der Brusttasche zog, es auseinanderfaltete 348
und es ihm fast flehentlich hinhielt. »Dann gib es her«, sagte Oberst Wentzell, ergriff den Bogen und legte ihn vor sich auf die noch warme Motorhaube des wartenden Taxis. Er griff auch nach dem Schreibstift, den der General ihm hinhielt, und setze im kalten Licht der Peitschenlampe mit fester Hand seinen vollen Namen unter den Text. »Hier, Towarischtsch«, sagte er. »Damit du wieder ruhig schlafen kannst.« Er ließ den Stift zurückschnappen, faltete das Papier und gab beides dem älteren Mann mit den silbergrauen Haaren, durch die Windschutzscheibe staunend beobachtet von dem Taxifahrer. »Du hast meine Akten noch oben in deinem Kleiderschrank«, bemerkte Jost Wentzell. Der General nickte. »Komm mit, ich gebe sie dir«, sagte er. Die Männer schritten durch den Vorgarten und betraten das Haus. Oben ließ General Soltjakin die schirmlosen Birnen aufflammen, die an langen Kabeln von der Decke baumelten. Er schloß den Kleiderschrank auf, schob den eleganten erdbraunen Uniformmantel mit den roten und goldenen Aufschlägen und den breiten Schulterstücken zur Seite und zog Jost Wentzells schmalen Aktenkoffer heraus. Er trug ihn ins Nebenzimmer, wo Wentzell wartete. Als General Soltjakin ihn dort stehen sah, zögerte er eine kleine Weile, stellte das Köfferchen auf den kahlen Tisch, ging auf Jost zu und umarmte ihn. »Ich liebe dich eben, mein Junge«, sagte er. »Ich habe dich schon damals ins Herz geschlossen in dem 349
Flüchtlingslager in Woldenberg, als du deine Mütze zogst und mich in russischer Sprache angeredet hast. So wie du müßte mein Sohn aussehen, habe ich mir gedacht. Daß so ein Junge wie du diesen verdammten, widerlichen Faschistenkrieg überlebt hat, erschien mir wie ein Wunder und wie eine Hoffnung. Jetzt könnte alles nur noch besser werden, dachte ich.« »Das dachte auch Max Wentzell«, sagte Jost. »Und er starb daran, daß es anders war.« »Das dachten damals fast alle anständigen Menschen auf allen Seiten«, sagte General Soltjakin. »Und was ist daraus geworden? Eine Welt, in der ich froh bin, deine Unterschrift auf diesem Fetzen Papier hier zu haben, um sicher zu sein, daß sie dich ungeschoren lassen. Eine Welt, in der ich um einen Angst haben muß, der sich noch Gedanken über die Wahrheit macht.« Eine Weile schwieg der alte Offizier. »Manchmal bin ich froh, daß ich es bald hinter mir habe«, sagte er dann. Und er fügte hinzu: »Früher, in dem Dorf bei Nowosibirsk, wo ich herstamme, hat meine Mutter mir viel von Gott erzählt. Ich habe das meiste davon vergessen. Aber wenn es so einen gibt, mein Junge, dann soll er dich schützen.« Noch einmal umarmte der General den Obersten Jost Wentzell-Marschal, dann drückte er ihm den Aktenkoffer in die Hand, trug ihm einen Gruß an Nastja Jalewa auf und schob ihn energisch aus dem Zimmer. Durch das Fenster sah er unten den Deutschen das 350
Haus verlassen und in das wartende Taxi steigen. Beide, der Mann, der in dem Taxi davonfuhr, und auch der andere, der diesem Taxi aus dem Fenster nachblickte, bis seine roten Schlußleuchten verschwanden, konnten ein Gefühl nicht unterdrücken, als sei es sehr unwahrscheinlich, daß sie sich noch einmal begegnen würden.
351
10 Über Moskau schien eine strahlende winterliche Sonne. Sie leuchtete auf einer zarten Schneedecke, die sich über die Parks, Flußufer und Hausdächer gebreitet hatte und die grünlichen Kuppeln des Kreml-Palastes wirken ließ wie ein heiteres Schmuckstück aus Jade und Eis. Wie viele der prominenten Mitglieder der höheren Militär-, Partei- und Verwaltungskader wohnte auch Leonid Konstantinowitsch Alikin in einem der vielstöckigen Appartementhäuser an der Maxim-Gorkij-Straße. Um 10 Uhr war die Besprechung in Ustinows Ministerium am SokolnikiProspekt angesetzt. Da Alikin anschließend eine Fahrt in die Umgebung der Stadt machen mußte, hatte er sich einen Wagen bestellt, obschon er für gewöhnlich ein leidenschaftlicher Fußgänger war. Um 9 Uhr 15 verließ er seine Wohnung im 9. Stockwerk, fuhr mit dem Aufzug nach unten und betrat im dunklen Zivilmantel, die buschige Wintermütze aus Zobelpelz auf dem Kopf, auch er den obligaten schmalen Aktenkoffer in der linken Hand, den Bürgersteig. Der Fahrer des Wagens trug Uniform und hielt Leonid Konstantinowitsch Alikin die Fondtür offen. Die Menschen, die es beobachteten, wußten wohl, daß viele Prominente der Führungselite diese Häuser bewohnten. Aber sie kannten Alikin nicht, denn Leonid Konstantinowitsch hielt sich bewußt von der 352
Öffentlichkeit fern, erschien selten auf einer offiziellen Veranstaltung der Partei und niemals auf einer Fotografie in einer Zeitung, weder im Inland noch im Ausland. Die meisten der in der UdSSR akkreditierten Geschäftsträger wußten nicht einmal wie er aussah, oder – wenn sie ihm begegneten – wer er war. Also rätselten nur einige wenige Menschen, die ihn vor seinem Haus in den wartenden Wagen mit der offen gehaltenen Tür steigen sahen, welch wichtiger Natschalnik da wieder mit teurem Benzin abgeholt wurde und dachten schon nach wenigen Schritten erneut an ihre eigenen Sorgen, während der große schwarze Dienstwagen an ihnen vorüberglitt, um Alikin zum Sokolniki-Park zu bringen. Diese Fahrt dauerte nur wenige Minuten. Als der Wagen um die Ecke zum Park bog, sah Alikin mit Mißvergnügen den wuchtigen, kunststeinverkleideten Klotz des Ministeriums vor sich, der seiner Meinung nach zu modern, westlich und zu unsowjetisch war, und alles in allem zu viele Konzessionen an eine neuzeitliche Denkweise machte, deren Leichtfertigkeit Alikin mißfiel. Denn schließlich beherbergte ja dieser Bau die Spitze der Roten Armee, jenes Instrumentes, das dazu bestimmt war, der weltweit operierenden Sowjetmacht Nachdruck zu verleihen. Das Fahrzeug bog in den geräumigen Hof ein. Die Einfahrt bewachten keine Posten mit Gewehr. Ein Unteroffiziersdienstgrad in erdbraunem Mantel machte Front und legte die Hand an die Pelzmütze, als er den Fahrgast der schwarzen Limousine erkannte. Diese 353
umrundete den geräumigen Innenhof und hielt vor dem eigentlichen Eingang an. Eine Kontrolle, der sich auch Leonid Konstantinowitsch Alikin unterziehen mußte, erfolgte durch einen Offizier in der Eingangshalle. Erst danach schoben sich wie durch Geisterhand bewegt die riesigen Glasflügel der Doppeltür auseinander, welche den Weg in das Allerheiligste des Gebäudes freigaben. Leonid Konstantinowitsch Alikin durchschritt sie. Da man keine Projektionsgeräte und Verdunkelungsmechanismen brauchte, traf man sich dieses Mal nicht in dem zum Innenhof gelegenen Konferenzsaal, sondern in den Diensträumen des zuständigen Ressortchefs des GRU für Westeuropa, Generalmajor Alexejew Andrianowitsch Soltjakin. Schon im Vorzimmer nahm man Alikin den Mantel und die schwere Pelzmütze ab. Ein junger Soldat riß die Tür auf, und mit dem schweren Aktenkoffer in der Hand betrat Leonid Konstantinowitsch das Dienstzimmer des Generalmajors. Niemand, der diesen Raum sah, hätte es für möglich gehalten, daß sein Inhaber sich, wenn er sich in Berlin aufhielt, mit dem bescheidenen Domizil begnügte, in welchem er sich noch gestern abend mit dem Obersten der Nationalen Volksarmee Jost Wentzell getroffen hatte. Eine luxuriöse Sitzgruppe westlichen Zuschnitts erstreckte sich über die ganze Breite einer getäfelten Wand. An dem kostbaren Paneel hingen die Fotografien der militärischen Führer, deren Persönlichkeit, Tapferkeit und Standvermögen in schwerer Zeit dem General Soltjakin viel bedeuteten. Das waren die Marschälle Shukow, Tschuikow, 354
Rokossowskij und Konjew, unter welchem Soltjakin die Deutschland-Offensive mitgemacht hatte und der später bis zu seinem Tode Oberkommandierender der Streitkräfte des Warschauer Paktes gewesen war. Alikin bemerkte zu seinem Mißvergnügen, daß er der letzte war, der zur Gesprächsrunde eintraf. Er fiel nicht gern auf und schätzte es nicht, wenn andere sich erhoben, um ihn zu begrüßen. Auch mißfiel ihm, daß Soltjakin schon wieder Sekt und Gläser hatte auffahren lassen. Es erinnerte ihn an jene lächerliche Karnevalsduselei, die derzeit in westlichen Ländern vorherrschte und die er verachtete. »Fehlen nur noch Luftschlangen, Konfetti und Pappnasen«, sagte er, nachdem er allen die Hand gereicht hatte, und setzte sich in den tiefen Fauteuil, den Soltjakin ihm hinschob. »Schon wieder zurück aus Deutschland, Alexejew Andrianowitsch?« »Heute früh, Genosse Leonid Konstantinowitsch«, sagte der General. »Die Verbindungen sind mustergültig, wie Sie wissen.« Außer Alikin und dem General befand sich derzeit nur noch Fjodor Petrowitsch Popow im Zimmer, dieser wie stets in seinem unscheinbaren Zivilanzug und mit betont gleichgültiger Miene. »Neue Eindrücke aus Deutschland?« fragte Alikin, nachdem er sich in seinem Sessel zurechtgeschoben und den Aktenkoffer neben sich auf den mächtigen Afghan-Teppich gestellt hatte. »Die Deutschen scheinen in der Polenkrise auf 355
unserer Seite zu stehen, was man so hört«, meinte Soltjakin. »Ein Glas Sekt, Leonid Konstantinowitsch?« Alikin hielt die flache Hand über das für ihn vorgesehene Glas. »Ich brauche das für meinen Kreislauf«, sagte der General entschuldigend. »Die beiden Tage in Deutschland waren anstrengend.« Es ist nicht gut, wenn Generale so alt werden, daß sie auf ihren Kreislauf Rücksicht nehmen müssen, dachte Alikin. Er ging auf Soltjakins Bemerkung nicht ein, sondern kam auf das zurück, was dieser auf seine Frage geantwortet hatte. »Was man so hört, ja«, sagte er. »Die Deutschen hassen die Polen noch mehr als uns.« »Und deshalb gelten sie derzeit als unsere zuverlässigsten Verbündeten«, fügte Popow anzüglich hinzu. »Rodionowsky vertraut ihnen sogar so, daß er 50 000 Deutsche an der polnischen Westgrenze aufmarschieren läßt«, sagte Alikin. »Genau wie damals der Führer«, sagte Popow und nahm gemessen und diszipliniert einen kleinen Schluck aus seinem Sektglas. Unerhört, was diese Leute vom Militär sich herausnehmen, dachte Alikin, nur weil diese Clique vom GRU zufällig dem Generalstab untersteht. Jedoch erinnerte sich Leonid Konstantinowitsch Alikin noch rechtzeitig daran, daß die Affäre, wegen welcher man hier zusammengetroffen war, eine Gemeinschaftsarbeit der beiden Nachrichtendienste darstellte, und daß es 356
sich aus diesem Grund von selbst verbot, irgend jemanden gegen einen anderen auszuspielen, was sonst durchaus zu Alikins Operationsmethoden zählte. Auf jeden Fall mußte er warten, welchen Erfolg dieser rotbackige Lebemann von General in der Sache Seyfried aufzuweisen haben würde. Rodionowsky kam nur wenige Minuten später und betrat das Zimmer durch die Tür hinter Soltjakins Schreibtisch, wo es eine Suite gab, in welcher der Generalstabschef arbeitete, wenn er sich im Ministerium aufhielt. Auch er gab den Anwesenden flüchtig die Hand und versank in einem freien Sessel. Soltjakin reichte ihm eine Mappe mit Unterlagen, und Alikin empfand aufs neue das Unbehagen, das ihn jedesmal befiel, wenn er das kameradschaftliche Verhältnis zwischen den beiden Offizieren beobachtete. Rodionowsky zog einen Gegenstand aus der Außentasche seines Waffenrocks, der im Ministerium, und nicht nur hier, belächelt worden wäre, hätte General Rodionowsky nicht den Nimbus absoluter Autorität um sich. Er benützte nämlich, wenn er las, einen nickelumrandeten Zwicker. Die letzten prominenten Persönlichkeiten im öffentlichen Leben der Sowjetunion, die diese Art von Augenglas bevorzugt hatten, waren Maxim Maximowitsch Litwinow, Leo Dawidowitsch Trotzkij und Wjatscheslaw Molotow gewesen. Rodionowsky zog den kahlen Schädel in Falten, wenn er den Zwicker von der Nasenwurzel gleiten ließ, so daß manche 357
glaubten, er wolle einen Scherz machen. Wer jedoch Rodionowsky kannte, wußte, daß das so gut wie nie geschah. »Also, Towarischtschi, berichten Sie«, sagte er und ließ die listigen, kirgisisch geschnittenen Augen mit dem Geflecht der tiefeingekerbten Krähenfüße in ihren Winkeln aufmerksam in die Runde gehen. »Ich nehme an, über die Sache SB 707, Panzerstahl der Westdeutschen aus der Vereinigten Hütten in Herne«, sagte Alikin. »Natürlich. Was sonst?« sagte Rodionowsky. »Wie ist diese Sache angelaufen?« »Diese Sache ist ausgezeichnet angelaufen«, sagte Leonid Konstantinowitsch Alikin. »Der Mann, den wir anvisiert haben, ist vorbehaltlos eingestiegen.« »Was habe ich euch gesagt?« murmelte Popow befriedigt. »Meine Soziogramme haben sich noch nie geirrt.« »War das nicht die Sache, die über die Hunde ging?« fragte General Rodionowsky, der als passionierter Jäger und Hundefreund galt. »So ist es«, knurrte Alikin. »Und dennoch hat sich der Hundetrick als gefahrvoll erwiesen.« »Wieso?« fragte Soltjakin. »Weil sich der V-Mann, den Nachtfrost eingesetzt hatte, einen unverzeihlichen Fehler hat zuschulden kommen lassen. Sie erinnern sich an den Tag, an dem wir zusammen diese Operation entworfen haben und Sie uns grünes Licht gaben, General Rodionowsky?« 358
»Natürlich«, sagte der Generalstabschef. »Nun gut«, fuhr Alikin fort. »Dieser Mann mit dem Decknamen Drohne hat das Gelände sondiert, den Mann beobachtet und studiert und dann Nachtfrost einen Vorschlag gemacht, der die Sache beinahe in eine Katastrophe hätte münden lassen. Um Haaresbreite, Genossen. Und nicht wiedergutzumachen. Hätte Seyfried nicht wider Erwarten gut gespurt, hätten wir fünf Jahre verloren und mehr.« »Jop twoyu mat«, fluchte Rodionowsky los. »Fick deine Mutter. Wie hat er das angestellt, dieser Hundesohn?« Alikin zog den ledernen Aktenkoffer auf seine Knie, öffnete ihn und entnahm ihm ein Wiedergabegerät von der Größe einer kleinen Zigarrenschachtel. »Am besten hören Sie selbst«, sagte er und legte einen Schalter um. Ein wenig krächzend und mit störenden Geräuschen unterlegt, klang aus dem Gerät das zweite Gespräch, das Drohne mit Fritz Seyfried geführt hatte. Die Männer lauschten interessiert. »Sie haben es tatsächlich geschafft, zwischen meiner Frau und mir eine Krise zu schüren mit Ihrem Volltreffer, mir das ausgerechnet an ihrem Geburtstagsabend vor die Füße zu knallen.« »Mit Ihrer Frau werden Sie schon einig werden, Seyfried. Wie haben Sie sich entschlossen?« »Das, was Sie da eben so elegant von sich wegschieben wollen, macht mir die größte Sorge. Ich bin mir nicht klar, ob Sie vertrauenswürdig genug sind, um mit Ihnen zusammen eine Sache von solchem 359
Umfang durchzuziehen.« »Das ist der Gipfel der Frechheit«, sagte Popow leise. Alikin schaltete das Gerät ab. General Rodionowsky war der einzige, welcher das Deutsche nicht verstand. Er ließ sich den Sinn dieser Worte von Soltjakin übersetzen. Er grunzte, als das geschehen war. »Von wem haben Sie diese Aufnahme, Leonid Konstantinowitsch?« »Von Nachtfrost über Seidenschwang«, sagte Alikin. »Und wer ist Seidenschwang?« General Soltjakin antwortete: »Wir haben der Nachtfrost-Gruppe einen Führungsoffizier des Staatssicherheitsdienstes gegeben, Lubjew Abramowitsch, der wiederum von Genosse Alikin direkt überwacht wird. Auf diesem Weg ist das Tondokument hierher gekommen.« »Ich habe diesen Menschen, der Drohne hieß, nur ein einziges Mal persönlich gesehen«, sagte Alikin. »Ich war schon damals skeptisch. Ich hielt ihn für zu alt und zu geschwätzig. Wollen Sie den Genossen Viktor Seidenschwang hereinbitten lassen, Alexejew Andrianowitsch?« General Soltjakin erhob sich, ging zu seinem Schreibtisch und betätigte die Gegensprechanlage, die ihn mit seinem Vorzimmer verband. Er ließ wissen, daß die Anwesenheit des deutschen Oberstleutnants Seidenschwang jetzt erwünscht sei. Viktor Seidenschwang betrat das Zimmer kurze Zeit 360
danach. Er trug die feldgraue Uniform der NVA, silbergeflochtene Fangschnüre unter der rechten Achsel, die Mütze vorschriftsmäßig zwischen Arm und Körper geklemmt. Er sah General Rodionowsky und erstarrte in straffer Haltung. Der General erhob sich mühsam, um Seidenschwang die Hand zu reichen. Mit zwei oder drei raschen Schritten trat Seidenschwang vor, um sie zu drücken. Dazu eine knappe preußische Verbeugung. Als der Russe sich setzte, hatte er das Gesicht gesenkt. Aber es sah so aus, als habe er, wenn auch versteckt, ein wenig geschmunzelt. Er wies auf den letzten noch freien Sessel, und der Oberstleutnant nahm Platz, blieb jedoch auf der vorderen Kante sitzen. »Berichten Sie kurz über unser Gespräch im Wagen auf der Fahrt nach Karlshorst, nachdem wir Drohne eingewiesen hatten.« »Sie äußerten Zweifel an der Tauglichkeit dieses Mannes für die gestellte Aufgabe, Genosse Alikin. Sie sagten, der Mann sei zu alt, zu wenig belastungsfähig. Der Typus des deutschen Besitzspießers, reaktionär und von engem Horizont.« »Was sage ich«, murmelte Alikin. »Er wiederholt es wörtlich.« »Und warum ist es dann doch bei diesem Mann geblieben?« fragte General Rodionowsky. »Weil alles schon eingeleitet, ein Terminplan erstellt und die Gesamtoperation zeitig festgelegt war, Genosse General.« 361
Rodionowsky nickte. »Zur Katastrophe ist es ja auch nur um Haaresbreite gekommen, wie Sie sagen, nicht wirklich. Und wie ist es dann weitergegangen mit diesem Herrn aus der BRD?« »Hören Sie zu«, sagte Alikin, schaltete das Gerät wieder ein und ließ die Spule ein Stück weiterlaufen. Krächzend erklangen die Stimmen im Raum. »Wissen Sie denn, was Sie von mir verlangen?« »Was meinen Sie?« »Landesverrat, ich sagte es vorhin schon. Kommen wir zur Sache. Es geht Ihnen doch um den Panzerstahl aus Herne?« »Landesverrat, sehen Sie, das ist nur ein Wort im Strafgesetzbuch. Wir brauchen diese Unterlagen nicht, um Ihr Land anzugreifen. Aber wenn es zu einem Konflikt kommt, darf kein langer Krieg daraus werden. Das ist für Europa ebenso wichtig wie für uns.« Auf einen Wink Popows hin stoppte Alikin das Gerät. »Ich höre Ustinow reden«, sagte Rodionowsky, nachdem Popow das Gespräch übersetzt hatte. »Das habe ich dem Kerl auch persönlich eingebleut«, sagte Alikin. »Und dabei habe ich ihm nur eines verschwiegen, nämlich daß das nur solange gilt, bis sie Westeuropa endgültig so weich liberalisiert haben, daß es uns wie ein fauler Apfel in den Schoß fällt. Verfolgen Sie die Symptome in Berlin?« »Wir verfolgen alle Symptome, Genosse Leonid Konstantinowitsch«, sagte Popow trocken. »Und 362
werten sie aus.« Alikin ließ das Gerät wieder weiterlaufen. Man hörte die Stimmen Drohnes und Seyfrieds. »Ich bin nicht verpflichtet, mir darüber Gedanken zu machen, aber ich bin verpflichtet, mein Fachwissen vor Ihnen geheimzuhalten.« »Sie würden uns in diesem Fall zwingen …« »Nein, das werde ich nicht. Denn meine Frau ist mir wichtiger als dieser Halbstaat, von dem keiner so recht weiß, ob er ein Vaterland oder eine Zweckschöpfung ist. Also sagen Sie schon, was Sie mir zu sagen haben.« Das Gerät schaltete ab. »Ganz schön arrogant«, sagte General Soltjakin. »Brav«, sagte Popow. »Genauso stellen wir uns das vor.« Über seine Züge huschte die Befriedigung eines Wissenschaftlers, der nicht einen Augenblick daran gezweifelt hat, daß sein Experiment gelingt. Er übersetzte in knappen Worten. »So schlecht ist dieser Drohne doch gar nicht«, sagte General Rodionowsky. Alikin richtete seine kalten Augen unter der niederen Stirn auf das Gesicht des Generals. »Drohne ist überhaupt nicht mehr, Lubjew Abramowitsch. Vielleicht wissen Sie das noch nicht. Bei Drohne sind höchst mißliche Umstände eingetreten.« Alikin sah jetzt die Augen aller Anwesenden fragend auf sich gerichtet. 363
»Nun, Alikin, zieren Sie sich nicht«, sagte Rodionowsky endlich. »Es scheint«, sagte Alikin, »als ob auch Nachtfrost zu dem gleichen Urteil über Drohnes Qualifikation gekommen ist wie ich selbst. Dieser Mann ist nämlich nicht mehr am Leben. Und zwar genau seit dem Tag, an dem er Seyfried die entscheidenden Weisungen zur Beschaffung des von uns gewünschten Materials gegeben hat.« General Rodionowsky nahm den Zwicker ab, mit dessen Hilfe er nochmals in den Unterlagen auf seinen Knien gelesen hatte. Er ließ das Augenglas zurück in die Tasche des Waffenrocks gleiten und knöpfte diese pedantisch zu. Er erhob sich und sah auf die Uhr an seinem Handgelenk. »General Rolenko trägt in wenigen Minuten dem Minister und Breschnew über Afghanistan vor, Towarischtschi. Ich werde dort erwartet. Sie entschuldigen mich.« Der General erhob sich und bemerkte, daß dies auch die anderen zu tun beabsichtigten. »Behalten Sie Platz, Genossen«, sagte er. »Du hältst mich über die Sache auf dem laufenden, Alexejew Andrianowitsch, nicht wahr?« Man sah ihn mit energischen Schritten auf die Tür zugehen, durch die er das Zimmer Soltjakins auch betreten hatte. Erst als sein kahler heller Schädel hinter dem glänzenden braunen Holz verschwunden war, sagte Popow leise: »Sie haben nicht mehr daran gedacht, Leonid Konstantinowitsch, daß der Minister 364
und der Generalstabschef keine Details zu wissen wünschen.« Alikin versteckte sein Grinsen hinter einer Geste, als müsse er mit der Zunge ein Stück Fleisch aus den Zähnen holen. »Es schadet auch dem Chef des Generalstabes nichts, wenn er daran erinnert wird, daß die Arbeit, die wir für ihn machen, dreckig ist«, sagte er und wendete sich an den Deutschen. »Sie sind der Führungsoffizier Seidenschwang. Wissen Sie etwas Näheres?« »Nein«, antwortete Seidenschwang. »Nachtfrost operiert vollkommen selbständig. Ich bekomme von ihm nur Ergebnisse und halte ihm den Rückzug offen, wenn er ihn beantragt. Das ist zwischen meinem Chef und Ihnen vereinbart.« »Ich weiß, ich weiß«, sagte Alikin. »Es wäre ja möglich, daß Nachfrost sich geäußert hat.« »Er hat es nicht. Aber ich stimme mit Ihnen überein, daß Nachtfrost Drohne für ein Sicherheitsrisiko hielt.« »Weiß man etwas über die Untersuchungen?« fragte Popow. Alikin antwortete: »Es ist dafür gesorgt, daß die polizeilichen Ermittlungen im Sand versickern, wie bei Todesfällen dieser Art üblich. Sie werden herausfinden, daß etwas gelaufen ist, aber nicht, was.« Soltjakin fragte: »Und wie hat dieser Vorfall auf Seyfried gewirkt? Als Drohung oder als Warnung?« »Er kann nur als Warnung gewirkt haben«, sagte Alikin. 365
»Hören Sie …« Mit der nun schon gewohnten Bewegung schaltete er den Recorder ein. »Ich habe auch eine Frage an Sie. Sie haben natürlich Überlegungen angestellt. Was, glauben Sie, wird mit Ihnen geschehen, wenn Sie uns die gewünschten Details geliefert haben?« »Ich nehme an, dann werden Sie mich in Frieden lassen.« »Wie kommen Sie zu diesem Schluß, Seyfried?« »Ganz einfach: Es ist nur eine einzige und einmalige Sache, die Sie von mir haben wollen, keine laufende Information. Wenn Sie haben, was Sie brauchen, müssen Sie daran interessiert sein geheimzuhalten, daß Sie es haben. Sie wissen auch genau, daß sie von mir nicht mehr erfahren können als das, was Ihnen gerade jetzt so wichtig zu sein scheint. Sie können nicht daran interessiert sein, daß meine Verbindung zu Ihnen durch eine weiterhin aufrechterhaltene Erpressung herauskommt. Aus dem gleichen Grund können Sie an mir keinen Mord riskieren. Sie persönlich werden rechtzeitig verschwinden und andere Personen werde ich, wenn Sie exakt arbeiten, nicht kennenlernen …« »Halt«, sagte Popow an dieser Stelle des Tonbandes mit leiser, aber eindringlicher Stimme. »Halt, Leonid Konstantinowitsch.« Er wartete das Knacken des Schalters ab. Danach fuhr er fort: »Diese Voraussetzung hat sich mit dem Tod Drohnes geändert, nicht wahr?« »Wie kommen Sie darauf, Fjodor Petrowitsch?« »Sie sagten vor einiger Zeit, Sie würden das 366
Material SB 707 niemals einem toten Briefkasten anvertrauen, Leonid Konstantinowitsch. Dazu sei es zu wertvoll und zu einmalig. Denken Sie immer noch so?« »Gewiß«, sagte Alikin. »Worauf wollen Sie hinaus?« »Ich will darauf hinaus, daß, wenn Sie immer noch so denken, Seyfried das Material an Nachtfrost persönlich wird übergeben müssen.« »Das ist richtig«, sagte Alikin nach einer Pause. »Dann werden wir dafür beten müssen«, sagte Popow nicht ohne zynische Schärfe in seiner leisen und prägnanten Stimme, »vorausgesetzt, einer von uns kann das, daß Seyfried diese Überlegung nicht ebenfalls anstellt. Denn wenn er das tut, weiß er ebenso gut wie Sie und ich, daß das sein Todesurteil wäre.« Popow drehte den Kopf hin und her und lauschte in das Gewirr der Stimmen, die sich nach diesen Worten im Zimmer erhoben. »Towarischtschi«, überlagerte das Organ des Generals Soltjakin die Unruhe. »Dann war diese Aktion Nachtfrosts taktisch das Dümmste, was er tun konnte.« »Und psychologisch auch«, setzte Popow hinzu. »Ein Beweis mehr dafür, wie schädlich es sein kann, wenn wir die Zügel schleifen lassen und den Leuten an der Front Entscheidungsfreiheit übertragen.« Alikin wand sich. Dieser Punkt war seit langem ein Stein des Anstoßes zwischen den Strategen des KGB 367
und GRU. Und dieses Mal hatte der verdammte Oberlehrer mit seinem Psychotick und seinen Soziogrammen auch noch recht. »Sie werden mir zustimmen müssen«, stieß der Mann mit dem schütteren Haar und dem melodischen Singsang in der Stimme nach, »daß es unsere ganze Front in Westdeutschland zum Einsturz bringt, wenn wir Seyfried mit Nachtfrost konfrontieren.« »Und wenn Seyfried das überleben sollte«, setzte Alikin kalt hinzu. »Wir werden uns darauf einstellen müssen. Aber Ihre Befürchtungen, daß Seyfried aussteigen könnte, sind unbegründet, Genossen. Seyfried hat keine Ahnung, was Drohnes Tod für ihn bedeuten kann. Er weiß ja nicht einmal irgend etwas über die Existenz von Nachtfrost. Es ist Ihre Aufgabe, Seidenschwang, dafür zu sorgen, daß er darüber auch weder etwas erfährt noch vermutet. Wie Nachtfrost dann agiert, muß ihm überlassen bleiben. Das wird auf die Situation ankommen.« General Soltjakin sah den deutschen Oberstleutnant fast unmerklich zusammenzucken. Alikin und Popow witterten ebenfalls die winzige Störung der Atmosphäre und hefteten ihre Augen auf Seidenschwang. »Niemand wird gerne zum Mörder, Genosse Seidenschwang«, sagte Soltjakin nach einer Weile. »Und schon gar nicht, wenn es um seine eigenen Landsleute geht.« »Honecker dürfte dich nicht reden hören, Alexejew Andrianowitsch«, sagte Popow süffisant. »Landsleute 368
… als ob Marxisten und Kapitalisten Landsleute sein könnten …« »Lassen wir die Politik beiseite, Fjodor Petrowitsch. Ich kann jedenfalls die Deutschen sehr gut verstehen. Wir hatten auch mal eine Zeit, in der es wichtiger war, Russe zu sein als Marxist.« »Ich habe nichts eingewendet«, sagte Viktor Seidenschwang. »Aber Sie haben gezuckt«, sagte Alikin. »Sie brauchen es ja auch nicht selbst zu tun. Und bedenken Sie, es geht um einen Mann, der immerhin mit seiner Truppe an der Zerstörung dieses Landes teilgenommen hat. Wenn wir Nachtfrost verlieren, bedeutet das im Ernstfall den Verlust von zwei bis drei unserer besten Panzerkorps. Es kann keine Zweifel geben bei der Frage, wen wir zu opfern haben, ihn oder diesen SSOffizier. Seyfried brauchen wir nur ein einziges Mal. Danach ist er für uns so unwichtig wie ein Blatt im Wind. Wenn Sie verstehen, was ich meine.« »So vertrauen Sie Ihrem Mann, daß Sie ihm diese Entscheidung wirklich selbst überlassen?« fragte Popow. »Nachdem ihr ihm dieses Recht einmal eingeräumt habt, bleibt gar nichts anderes übrig«, sagte Soltjakin. »Prinzipiis obsta. Wer kann lateinisch?« »Wehret den Anfängen«, übersetzte Fjodor Petrowitsch Popow. »Der wichtigste Grundsatz, nach welchem die römische Republik ihre Politik betrieb. Liberale Demokratien sind dazu unfähig. Aber wenigstens wir sollten uns daran halten.« 369
Es trat eine Pause ein. »Ist bekannt, wie Seyfried überhaupt auf die Offensive reagiert hat?« fragte General Soltjakin. »Er scheint gar nicht reagiert zu haben«, antwortete der Deutsche, der das Russische nicht perfekt, aber doch ausreichend beherrschte. Ihm fehlte die geschliffene Eleganz Popows und ebenso die polternd rustikale Intensität der Sprechweise des Generals. »Wir haben sämtliche Unterhaltungen zwischen ihm und Drohne auf dem Recorder und außerdem drei volle Tonbandspulen mit Telefongesprächen des Ehepaares. Es ist nicht das geringste Verdächtige dabei. Seyfried ist scharf attackiert worden. Er reagiert gereizt. Seine Frau schiebt das auf eine Weibergeschichte. Sie heult sich aus, zuerst bei einer Freundin in Köln, dann in Berlin.« »In Berlin?« fragte Soltjakin. »Was zum Teufel macht sie in Berlin?« »Du erinnerst dich«, sagte Popow. »Ihr Vater ist bei den Liberalen im Abgeordnetenhaus, die Schwester verheiratet mit einem Anwalt in Kohlhasenbrück.« »Die Reise war schon verabredet, bevor Drohne offensiv wurde«, erläuterte Alikin. »Trotzdem ist mir nicht wohl in meiner Haut«, sagte Soltjakin, stand auf, goß sein Glas voll, nahm es in die Hand und drehte den Stiel zwischen den Fingern, während er nachdenklich auf die Runde herunter sah. »Kohlhasenbrück … das habe ich schon gehört. Wo ist Kohlhasenbrück?« Seidenschwang beeilte sich zu antworten: »Im 370
Südwestwinkel von Berlin-West, Genosse General. Dort, wo wir den Schlauch nach Steinstücken abtreten mußten.« »Das liegt doch direkt an der Grenzsperre«, sagte Sokjakin. »Können Sie da nicht mal reinhorchen? Anwalt … das hat einen schlechten Geruch, finde ich, ihr nicht?« »Haben Sie die Adresse, Seidenschwang?« fragte Alikin. Der Deutsche bejahte. »Und die technischen Möglichkeiten haben Sie auch?« »Gewiß«, sagte Seidenschwang. »Elektroakustische Richtmikrophone neuester Ausführung, modernste Phonotechnik aus Japan. Wir können das versuchen. Aber ich muß telefonieren.« »Gedulden Sie sich«, sagte Alikin. »Wir sind ohnehin gleich am Ende.« Er wendete sich wieder der Runde zu. »Die Angelegenheit tritt in ihre Endphase, Genossen. Am 10. März reist Seyfried zur Vereinigten Hütten nach Herne.« Alikin schob den Ärmel seines Anzugs vom Handgelenk und blickte auf seine Armbanduhr. »Das ist in zehn Tagen. Von dort bringt er das Material mit in das AWB, wo es für die Ministerkonferenz dupliziert wird. Eines dieser Duplikate ist für uns bestimmt. Den Übergabetreff wird Nachtfrost selbst festlegen. Es ist dafür gesorgt, daß die Nachricht unauffällig und kürzestfristig übermittelt werden kann. Es kann nichts passieren. Ich sage den Erfolg voraus.« 371
»Was Nachtfrost mit Seyfried vorhat«, sagte Popow, »hängt also ganz von seinem eigenen Ermessen ab?« »Wir haben unseren erfahrensten Mann dorthin geschickt, Fjodor Petrowitsch. Wir vom KGB vertrauen diesem Mann.« Das bedeutete, wie Popow wohl wußte, die Erwartung Alikins, daß dies auch die Führungsspitze der GRU tat. Popows Intelligenz sagte ihm, daß dies wieder eine der versteckten Warnungen Alikins war. Eine Sekunde lang machte er sich klar, daß er in dieser Sache ein einsamer Wanderer zwischen zwei Eisbergen war. Sollte er wünschen, daß es gelang? Oder war es besser, wenn es mißglückte? Dann aber aus einem Grund, den Alikin nachweislich selbst zu verantworten hatte. Nach Ablauf dieser Sekunde entschied Popow sich doch, das erstere zu wünschen. Soltjakin hatte sich eine Papyrossa angezündet. Die übrigen Männer stemmten sich aus ihren Sesseln hoch. Oberstleutnant Seidenschwang trat an des Generals Schreibtisch. »Ach übrigens«, sagte Soltjakin, »wir haben das Material gegen Seyfried komplett. Hier haben Sie eine Fotokopie der Aussage, die wir in einem Prozeß gegen ihn verwenden werden. Sie können nach Ihrem Ermessen Gebrauch davon machen.« Der General reichte dem Deutschen eine schmale Konferenzmappe aus weichem Leder, welche die schriftlich festgehaltene Aussage des Oberst Jost Wentzell-Marschal enthielt. »Gehorsamsten Dank, Genosse General«, sagte der 372
Mann in seiner feldgrauen Uniform und schob die Konferenzmappe unter den einen Arm. »Kann ich jetzt telefonieren?« General Soltjakin zeigte auf das eine der beiden Telefone auf seinem Schreibtisch. Während er sich wieder den anderen Herren zuwendete und einen Schluck Sekt aus seinem Glas nahm, verlangte der Deutsche eine Blitzverbindung mit dem Ministerium für Staatssicherheit in Berlin.
373
11 Anne Seyfrieds Ausreise aus Ostberlin hatte sich unerwartet reibungslos vollzogen. Mit dem Fahrgeld, das der Oberst ihr ausgehändigt hatte, in der Tasche, hatte Anne das Polizeirevier verlassen und sich auf den Weg zum Bahnhof gemacht. Als sie schließlich in dem träge vor sich hinrumpelnden rotgelben Zug saß, hatte sie erste Bilanz gezogen. Es war ihr also gelungen, Fritz Einzelheiten über den möglichen Verbleib dieses Jungen zu entlocken und über Umwege seinen Namen zu erfahren. Es war ihr mit großer Hartnäckigkeit auch geglückt, seinen Aufenthaltsort und schließlich sogar ihn selbst ausfindig zu machen. Es gab diesen mittlerweile erwachsenen Jungen, und sie hatte mit ihm gesprochen. Sie wußte, wie Jost Wentzell aussah, sie kannte seine Stimme, seine Kleidung, seine Hände, die Farbe seines Haares und die seiner Augen. Sie waren noch immer groß und dunkelbraun, genau wie Fritz sie ihr beschrieben hatte. Aber sie waren nicht mehr fragend und träumerisch, sondern hart und kompromißlos. Jawohl, dieser Mann hatte sich an die Ereignisse, auf die Anne ihn angesprochen hatte, erinnert. Er hatte das zwar mit keinem Wort direkt zum Ausdruck gebracht, aber er hatte es auch nicht verbergen können. Jedoch war es dabei geblieben. Anne machte sich klar, daß sie von diesem Mann eine ganze Menge wußte, nur eines, 374
das Wichtigste, nicht: was er dachte. Mit großer Spannung hatten Heinz und Friska ihrem Bericht zugehört. »Und dann hat er plötzlich seinen Fahrer nach dem nächsten Polizeirevier gefragt?« sagte Heinz Pankraz kopfschüttelnd. »Das hat er. Und der Junge ist auch dort vorgefahren. Ob er mich hineinbringen soll, hat er Jost Wentzell noch gefragt, aber der hat ihm befohlen, beim Wagen zu bleiben, und mich dann selbst hineinbegleitet.« »Und drin hat er von Anfang an so getan, als hätte er dich ohne Geld auf der Straße aufgelesen?« fragte Friska. »Ja«, sagte Anne. »Das ist ihm aber nicht einfach spontan so eingefallen, sondern das hatte er offensichtlich vorher genau überlegt. Die Art, wie er den pausbackigen Tausendsassa von Fahrer ausmanövriert hat …« »Den hat er bestimmt ganz bewußt aus der Sache rausgehalten«, sagte Pankraz nachdenklich. Und Friska setzte hinzu: »Das pauken sie diesen Buben doch von Anfang an ein: Westler sind Subversive und Spione und folglich in aller Regel zu verhaften.« »Fast so klang es, ja«, sagte Anne. »Und auf dem Revier hat Wentzell es dann plötzlich den Polizeibeamten überlassen, meine Papiere zu überprüfen, obwohl er vorher schon gewußt hatte, daß sie nicht stimmten. Das Märchen mit dem Fahrgeld hat er ihnen so selbstverständlich erzählt, daß ich beinahe 375
nicht begriffen hätte, was überhaupt vor sich ging.« »Und was hat er zuletzt gesagt, bevor er dich zum Polizeirevier fahren ließ?« fragte der Anwalt. »Ich habe mir jetzt angehört, was Sie vorzubringen haben. Und ich habe Ihnen dazu nichts weiter zu sagen«, wiederholte Anne die Worte des Obersten Wentzell. »Dann hat er es sich in der Zwischenzeit anders überlegt«, sagte Friska nach einer langen Pause. Aber die Erfahrungen ihres Mannes in der Analyse der Motive menschlichen Handelns brachten ihn zu einem anderen Ergebnis. Wie immer, wenn Heinz Pankraz seine Gedanken besonders konzentrierte, stand er auf. Mit mächtigen Zügen brachte er seine Pfeife wieder in Schwung und sah auf seine Frau herunter. »Du glaubst wohl wirklich an Märchen, Friska. Versuche doch einmal, dich in diesen Mann hineinzudenken. Er ist ein wichtiger Mann im Warschauer Pakt, vielleicht sogar eine Schlüsselfigur. Anne ist mehrfach gefragt worden, ob sie wüßte, wer er ist, was er tut. Auf jeden Fall ist Wentzell ein Mann mit Westverbot. Jemand, der einen Westkontakt zu melden verpflichtet ist, wenn er ihn schon nicht vermeiden kann. Und dieser Mann wird nun in unmittelbarer Nähe wichtiger militärischer Verbindungsstäbe mit einem solchen Westkontakt konfrontiert. Und das auch noch in Anwesenheit eines Taxichauffeurs und seines eigenen Fahrers, die den ganzen Vorgang beobachten und bezeugen können. Was soll so ein Mann bei denen da drüben denn 376
machen? Meldet er die Sache pflichtgemäß, bringt er sich selbst in die größten Schwierigkeiten, setzt Untersuchungen in Gang, gibt Dinge der Vergangenheit preis, die er vielleicht auch lieber ruhen lassen möchte. Nein, für Wentzell-Marschal ist es doch wirklich am besten, er sieht nichts und hört nichts, läßt seinen Westkontakt weder festnehmen noch verhören, sondern so schnell wie möglich dorthin abschieben, wo er hergekommen ist. Hat das von den beiden Fahrern einer bemerkt, Anne, daß Wentzell dich sozusagen als illegal eingereist entlarvt hat?« Anne schüttelte den Kopf. »Die Fahrer haben sich in diesem Augenblick die Füße vertreten, geraucht und über etwas anderes gesprochen«, sagte Anne. »Das habe ich genau beobachtet.« Der Anwalt nickte bestätigend. »Seht ihr. Gebt euch keiner Täuschung hin. Das alles hat nichts mit Menschlichkeit zu tun. Oder gar mit Mitgefühl. Das ist einfach Berechnung, sonst nichts. Ein Mann in dieser Position wird bei denen sogar von seinem eigenen Fahrer bespitzelt. Und wenn er Pech hat auch von seiner Frau. Wenn ich mir das alles noch einmal überlege, was du erzählt hast, Anne, dann konnte Wentzell gar nichts anderes tun als das, was er getan hat. Den Taxifahrer wegschicken, seinen eigenen Fahrer einlullen und für eine Mark und fünfzig Fahrgeld sich selber aller Schwierigkeiten entheben. Wenn du mich fragst, ich halte das für reinen Selbsterhaltungstrieb.« Um so mehr wunderte es Friska Pankraz, als sie am 377
nächsten Tag etwa gegen 11 Uhr vormittags das Telefon abhob und eine unbekannte Männerstimme vernahm. Dieser Mann meldete sich nicht mit seinem Namen und nannte ihn auch später nicht, als Friska danach fragte. Jedoch erkundigte er sich, ob Friska eine Zwillingsschwester habe. Als Friska diese Frage bejahte, trug der Mann ihr auf, ihrer Schwester zu bestellen, daß sie sich am folgenden Tag, also am Mittwoch den 2. März, um Punkt 10 Uhr vormittags im Museumsbau, und zwar im Saal des Pergamonaltars, einfinden solle. Keine Minute früher und auch keine Minute später. Friska Pankraz stellte noch Rückfragen an den Mann, woher er Name und Telefonnummer habe, zum Beispiel von wo aus er anrufe, und anderes mehr. Jedoch beantwortete der Fremde keine von ihnen, sondern sagte nur noch, daß Friskas Schwester über alles genau Bescheid wisse und daß keine Erklärungen notwendig seien. Friska sagte dem Anrufer, daß Annes Koffer schon zur Abreise gepackt bereit stünden. Der Mann erwiderte, die Vereinbarung werde in Annes persönlichem Interesse getroffen, und Anne wisse das. Anne müsse selbst entscheiden, ob sie der Fahrt in den anderen Teil der Stadt oder dem Rückflug nach Westdeutschland den Vorzug geben wolle. Danach knackte es in der Leitung, und Friska Pankraz hielt einen stummen Telefonhörer in der Hand, den sie noch einige Sekunden lang verständnislos anstarrte, bevor sie ihn langsam auf die Kontakte legte. 378
Unmittelbar darauf hob sie ihn wieder hoch und wählte die Nummer der Kanzlei ihres Mannes. Anne war mit ihm in die Stadt gefahren, um ihre Flugtickets für die Abendmaschine in den Westen zu buchen. Es war durchaus möglich, daß sie jetzt bei Heinz erreichbar war. Friska behielt recht. Sie berichtete ihrer atemlos lauschenden Schwester von dem Telefongespräch, das sie soeben geführt hatte. Anne stellte zahlreiche Rückfragen. Es waren die gleichen, die auch Friska dem Anrufer gestellt hatte und die Friska ihrer Schwester ebensowenig beantworten konnte, wie der Fremde sie ihr beantwortet hatte. Annes Entschluß war innerhalb von Sekunden getroffen. Es war selbstverständlich, daß Heinz Pankraz sie erneut warnte. Sie könne nicht wissen, sagte er, wo, wie und durch wen ihre beiden Besuche in der Republik dort drüben registriert und ausgewertet worden seien. Es sei mehr als wahrscheinlich, daß man drüben die Zusammenhänge längst rekonstruiert und sie ins Fadenkreuz genommen habe. »Anne«, sagte der Anwalt eindringlich. »Wenn sie das herausgefunden haben, dann brauchen sie dich bei einem Besuch morgen nur drüben zu behalten, um alles zu erreichen, was sie erreichen wollen.« »Das stimmt doch nicht, Heinz«, erwiderte Anne. »Fritz ist mit dem Bundesnachrichtendienst in Kontakt. Er muß ohnehin machen, was die von ihm wollen. Die haben ihn doch an der Kandare, und er kann sich dort nur abkoppeln, wenn er sicher ist, daß Wentzell für ihn 379
aussagt.« »Nimm mal an, euer Kontakt mit dem BND ist denen drüben entgangen. Und nimm weiter einmal an, dein Kontakt mit Wentzell ist ihnen nicht entgangen … Dann müssen sie einfach herausfinden, was du von Wentzell willst. Verstehst du denn das nicht? Und sie werden es erfahren, wenn sie dich drüben behalten. Der Bund freiheitlicher Juristen und Amnesty International haben dafür Dutzende von Beispielen.« Anstelle einer Antwort ließ Anne sich mit dem Büro der Fluggesellschaft verbinden und buchte ihren Flug nach Westen von heute auf die letzte Maschine für den morgigen Abend um. Einen weiteren Versuch ihres Schwagers, sie in ihrem Entschluß wankend zu machen, entwaffnete sie mit der Bemerkung: »Ich nehme nicht an, daß du für dich die gleichen Bedenken hättest, wenn Friska in der Lage von Fritz wäre.« Danach lehnte sie ein Angebot ihres Schwagers ab, an ihrer Stelle an dem vereinbarten Treffpunkt zu erscheinen und verließ das Büro, um bei Friskas Coiffeur die Ähnlichkeit zu dem Foto in ihrem eigenen Reisepaß so gut wie möglich wiederherstellen zu lassen. Anne war fest entschlossen, jede, auch die entfernteste Möglichkeit wahrzunehmen, Fritz aus dem Teufelskreis herauszuholen, in den er geraten war. Es gab für sie keine Überlegung. Sie benützte wie bei ihrem ersten Besuch den Grenzübergang an der Heinrich-Heine-Straße. Gespannt beobachtete sie den nun schon gewohnten Ablauf der Formalitäten. Ihr 380
Reisepaß wurde überprüft, verschwand im Inneren der Baracke, erschien wieder, Warten, Geldwechsel, noch einmal Warten, eine letzte Überprüfung, dann war sie durch. Der Weg zur altehrwürdigen Museumsinsel war kurz. Anne Seyfried legte ihn zu Fuß zurück. Zwischen dem Palast der Republik und dem Außenministerium betrat sie den Marx-Engels-Platz. Am Dom wurde gearbeitet. Ihn umgaben Baugerüste. Der Eingang zu den alten Sammlungen befand sich noch immer am Kupfergraben. Man erreichte ihn auf einer Notbrücke, die über einen Kanal führte. Eine schmale Steintreppe klebte an einer hochaufragenden Mauer, die sich in dem düsteren Wasser spiegelte und durch welche in das Innere des verzweigten Komplexes eine Pforte führte, die früher wohl nur als Notausgang gedient hatte. Hier stauten sich bereits Besucher. Omnibusse waren drüben am Kupfergraben an den Bordstein gefahren. Es waren Busse aus Ost und West. Die Fahrer rauchten und unterhielten sich. Noch weiter rückwärts die Eisenkonstruktion der Stadtbahnrampe, auf der ein Fernzug zwischen dem Quaderwerk der Museumsbauten hindurchratterte. Über allem ein lustloser, bleigrauer Winterhimmel, aus dem Kälte kam. Anne erschrak, als sie die Besucherkolonne auf der Zugangstreppe bemerkte. Keine Minute früher und auch keine später hatte Friska ihr eingeschärft. Und der Mann, wer es auch immer war, der sie dort erwartete, wußte sicherlich, warum er das forderte. Aber noch war genügend Zeit. Die Menschenschlange bewegte 381
sich träge vorwärts. Endlich befand Anne sich in dem Inneren des Gebäudes. Eine beengte Kasse, beengte Garderobe, eine schmale steinerne Treppe, dann öffnete sich in diffusem gelblichgrauen, aber warmen Licht ein Saal, angefüllt mit assyrischen Kultfiguren. Es war fünf Minuten vor zehn. Anne drängte sich durch die Menschen in Richtung auf den Saal des Pergamonaltars. Der Weg dorthin führte durch die beeindruckende leuchtend glasierte Bläue der babylonischen Prozessionsstraße, die ihr Licht wie einst in Wirklichkeit nur von oben erhielt, abgeschlossen durch das monumentale Ischtar-Tor. Anne hatte kein Auge für die Ästhetik und Würde der sie umgebenden Architektur. Sie drängte sich durch Besuchergruppen, vorbei an Reisegesellschaften, die sich um ihre Führer geschart hatten, und betrat den Saal, der beherrscht wird von dem realistischen Figurenfries des rekonstruierten Markttores von Milet. Kalte Schönheit vollkommener, aber seelenloser Körperlichkeit. Helles Licht auf behauenem Stein, dazwischen das gleichmütige Scharren Hunderter von Füßen, das gedämpfte Murmeln Hunderter von Stimmen, aus denen sich einzelne heraushoben, wenn jemand seinen Zuhörern etwas erklärte. Durch ein weiteres Portal zur Linken kam Anne endlich in den Saal des Pergamonaltars. Überwältigt blieb sie eine kurze Zeit stehen und stellte sich den leuchtend blauen Himmel Kleinasiens vor, von dem sich einst dieses Bauwerk abgehoben hatte, bestrahlt von einer niemals sich verdüsternden Sonne. 382
Wentzell-Marschal bemerkte sie erst, nachdem es ihr gelungen war, ihren Blick von der schimmernden Marmorpracht abzuwenden. Ihre Armbanduhr sagte ihr, daß es Punkt zehn Uhr war. Der Mann, der sie treffen wollte, hatte einen aufgeschlagenen Reiseführer in der Hand und war vertieft in die Betrachtung des Inhaltes einer Glasvitrine, welche Details des Pergamonfrieses enthielt. Anne vermochte nicht zu sagen, was sie wirklich empfand, als sie gewahr wurde, daß es tatsächlich der Oberst war, der auf sie wartete. Eine Falle oder Tücke schloß sie aus. Dazu hätte Wentzell-Marschal bei ihrem letzten Treffen eine bessere Gelegenheit gehabt. Anne blieb es nicht verborgen, daß der Mann an der Vitrine auf Unauffälligkeit Wert legte. Sie trat neben ihn und betrachtete ebenfalls das Ausstellungsstück, so als befinde sie sich mit diesem Begleiter schon geraume Zeit in dem Museum. Jost Wentzell-Marschal führte die Unterhaltung, während er mit Anne von Vitrine zu Vitrine schlenderte, dabei manchmal den Eindruck erweckend, als erkläre er ihr Schaustücke aus dem Buch, bisweilen auch dem dozierenden Führer einer der Besuchergruppen zuhörend. Schließlich zog er Anne in die Nische hinter dem Marmorsockel eines der beiden Seitenaltäre, wo er sich mit ihr auf die Treppenstufen niederließ. An dieser Seite fiel das Paar nicht auf, aber Jost Wentzell konnte jeden beobachten, der den Saal betrat. »Also hat man es Ihnen ausgerichtet.« »Wie Sie sehen«, sagte Anne. »Sie werden 383
verstehen, daß ich überrascht bin.« »Stellen Sie keine Fragen«, sagte WentzellMarschal. »Auch wenn Sie überrascht sind. Sie werden doch nie verstehen, warum ich Sie gebeten habe, noch einmal hierher zu kommen.« »Ich nehme an, daß es der gleiche Grund ist, aus dem Sie mich nach Hause geschickt haben, anstatt mich verhören und verhaften zu lassen«, sagte Anne. »Ich bewundere Ihren Mut«, sagte der Oberst. »Was bringt eine Frau dazu, für ihren Mann das alles zu tun?« »Ich sagte es Ihnen schon«, antwortete Anne. »Es geht um Wahrheit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Ich habe keine Geheimnisse.« »Also, dann reden Sie.« »Erinnern Sie sich an den Tag, den ich Ihnen genannt habe, Herr Wentzell?« »Ich erinnere mich an ihn.« »Sind Sie bereit, mir dieses Mal zu glauben?« »Das kommt darauf an, was Sie mir erzählen werden.« »Glauben Sie mir, daß ich die Frau von Henning v. Loßwitz bin, die Frau des Mannes, an den Sie sich damals gewendet haben, als die Brücke gesprengt werden sollte?« »Haben Sie eine Fotografie Ihres Mannes dabei?« fragte Jost Wentzell und blätterte interessiert den Reiseführer durch, den er in der Hand hielt. Anne schwieg betreten. »Daran habe ich nicht gedacht«, sagte sie 384
schließlich. »Das ist das Wichtigste, wenn man auf eine solche Reise geht wie Sie.« »Sie haben recht. Ich habe nicht daran gedacht. Aber er sieht jetzt auch anders aus als damals.« »Darauf kommt es nicht an«, sagte Oberst Wentzell. »Sie werden verstehen, daß ein Mann in meiner Lage auf einem Nachweis bestehen muß, wenn er aus dem Westen anvisiert wird. Es ist ohnehin illegal, daß ich hier mit Ihnen spreche.« »Was könnte ich Ihnen schaden?« sagte Anne. »Was könnte ich schon Ihrem Lande schaden?« Der Oberst verglich angelegentlich das Original einer hellenistischen Jünglingsfigur mit deren Abbildung im Reiseführer. »Das sind ganz normale Überlegungen«, sagte er. »Aber in der Angelegenheit, in der wir hier zusammentreffen, gibt es keine normalen Überlegungen. Hat Ihnen Ihr Mann das nicht gesagt? Was soll ich übrigens davon halten, daß Sie sich mir damals mit dem Namen Seyfried vorgestellt haben und behaupteten, in Wirklichkeit Frau v. Loßwitz zu sein? Wenn ich Sie nicht so schnell wie möglich außer Reichweite hätte haben wollen, wäre ich dieser Sache schon damals nachgegangen, als Sie mich bei Strausberg anhielten.« »Die Frage, die Sie mir stellten, betrifft genau die Frage, die ich Ihnen zu stellen habe, Oberst Wentzell. Dazu muß ich etwas weiter ausholen. Darf ich erzählen?« 385
»Erzählen Sie«, sagte der Offizier. »Deshalb habe ich Sie hierherkommen lassen.« Anne erzählte Jost Wentzell-Marschal in wenigen Sätzen die Lebensgeschichte ihres Mannes bis zu dem Tag, da der Obersturmführer Henning v. Loßwitz im Tiefbunker der Reichskanzlei von Adolf Hitler das Ritterkreuz verliehen bekommen hatte. »Und das hat er wirklich angenommen?« murmelte Jost Wentzell. »Darauf ist er womöglich noch stolz gewesen. Auf was habe ich mich da eingelassen mit Ihnen?« »Er war an diesem Tag genau 20 Jahre alt«, sagte Anne. »Er war in einer autoritären Doktrin aufgewachsen und erzogen. Er hatte von den Verbrechen des Systems, dem er diente, nicht die geringste Ahnung. Und er glaubte, für eine gerechte Sache zu kämpfen.« »Was wollen Sie damit sagen?« fragte Jost Wentzell. Anne sah ihn von der Seite her erstaunt an, so mürrisch und widerwillig hatte diese Bemerkung geklungen. »Damit will ich Ihnen auf Ihre Frage antworten«, sagte sie. »Nichts weiter. Jeder anständige Mensch glaubt, für eine gerechte Sache einzutreten. Wer weiß, daß es nicht so ist und es dennoch tut, ist entweder kein anständiger Mensch oder er steht unter Zwang. Was können Sie einem 20jährigen Idealisten schon vorwerfen? Daß er Idealist ist?« Jost Wentzell-Marschal dachte nach. Er dachte dabei 386
an sich selbst und an die Geschichte seines eigenen Lebens. Er erinnerte sich, daß es im höheren operativen Interesse eines militärischen Paktes lag, in einen Erkenntniskomplex einzudringen, zu welchem der Mann dieser Frau den Schlüssel besaß. Er erinnerte sich, daß man diesen Mann dazu zwingen mußte, seine Informationen preiszugeben, da er es freiwillig nicht tun würde. Und er erinnerte sich schließlich, daß sein alter väterlicher Freund und Vertrauter, Generalmajor der Sowjetarmee Alexejew Andrianowitsch Soltjakin, um seine, Jost Wentzells, Sicherheit fürchtete, sofern er nicht seine Aussage gegen den Mann dieser Frau abzugeben bereit war. Und das, obwohl der General wußte, daß es eine falsche Aussage sein würde. Wirklich, in was hatte er sich eingelassen. »Ich lasse mich nicht von Ihnen in ein politisches Gespräch ziehen«, sagte er. Anne Seyfried erwiderte: »Ich habe nicht die geringste Absicht zu politisieren, glauben Sie mir das. Außerdem verstehe ich gar nichts von Politik.« »Dann erzählen Sie weiter«, sagte der Mann. »Damit wir zur Sache kommen.« Anne Seyfried berichtete hastig weiter. Als sie zum ersten Mal den Jungen mit den braunen Augen erwähnte, unterbrach sie Wentzell. »Was erzählte Ihr Mann darüber?« fragte der Offizier. »Sprach er den Jungen an, oder hat der Junge ihn angesprochen?« »Mein Mann sprach den Jungen an«, sagte Anne. »Er sah das Kind vor der Kellerluke stehen und 387
hereinblicken. Er fragte den Jungen, was los sei, noch bevor er ein Wort gesagt hatte. Also noch bevor er wußte, daß der Junge unter anderem auch deutsch sprach … wenn Sie das mit Ihrer Frage meinen.« »Ja, das meine ich«, sagte der Mann. »Sein Rassenfimmel scheint es demnach nicht gewesen zu sein.« »Nein, sein Rassenfimmel war es nicht. Es herrschte Chaos an der Brücke. Es gab Versprengte und Flüchtlinge, auch Polen. Der Junge tat meinem Mann leid, mitten in diesem Wahnsinn um ihn herum.« Oberst Wentzell-Marschal nickte. »Und weiter?« »Der Junge kam zu meinem Mann in den Bunker. Mein Mann erinnert sich, daß er so wohlerzogen war, sogar in dieser Situation noch beim Hereinkommen die Mütze zu ziehen.« »Bleiben Sie bei der Sache«, sagte der Mann neben ihr mit rauher Stimme. »Der Junge erzählte meinem Mann, daß er von seinen Eltern abgeschnitten worden sei. Seine Familie befinde sich noch auf der anderen Seite des Flusses. Er zeigte meinem Mann durch das Kellerfenster das rote Kopftuch, das seine Mutter trug. Mein Mann erinnert sich, daß er dieses Kopftuch auch gesehen hat, aber noch weit hinten in der Menschenmenge, die über die Brücke gelangen wollte. Die Feldgendarmerie war schon zurückgezogen. Auf dem anderen Flußufer gab es niemanden mehr, der die Ordnung aufrechterhielt. Es war meinem Mann unmöglich, etwas für den Jungen und seine Familie zu tun. Außer, mit der 388
Sprengung der Brücke bis zum letzten möglichen Augenblick zu warten. Und das versprach er ihm.« Oberst Jost Wentzell-Marschal klappte das Buch, das er in der Hand hielt, zusammen. Er steuerte jetzt mit Anne auf den Platz neben dem Altarsockel zu, wo der letzte Teil des Gespräches stattfand. Er drängte Anne, sich niederzulassen, und setzte sich, während seine Augen aufmerksam die Menschen, die sich im Saal drängten, überflogen, neben sie. »Weiter«, sagte er. »Sie sind selbst Soldat«, fuhr Anne fort. »Sie verstehen das vielleicht noch viel besser als ich. Bei den Rückzügen aus Rußland hatten es sich die Deutschen zur Regel gemacht, die Brücken erst im letzten Augenblick vor den nachrückenden Angreifern zu sprengen, um noch möglichst viel Material, möglichst viele Truppen und Flüchtlinge in Sicherheit zu bringen. Dasselbe wollte mein Mann mit der PilicaBrücke tun. Es war auch das einzige, womit er vielleicht dem Jungen helfen konnte. Plötzlich erschien in der Befehlsstelle ein Major, der einen Mantel mit einem Pelzkragen trug. Er war wohl an höherer Stelle für irgend etwas verantwortlich und hatte wahrscheinlich bereits die Nerven verloren. Er befahl meinem Mann, die Brücke sofort zu sprengen, auf der Stelle, viel früher als mein Mann das verantworten konnte und wollte. Es kam zuerst zu einem Wortwechsel und dann zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf mein Mann diesen Major erschoß, um ihn an der Brückensprengung zu hindern. Im Fallen 389
löste der Major jedoch die Zündung aus und die Brücke ging in die Luft. Nachdem das alles geschehen war, riß mein Mann den weinenden Jungen mit sich aus dem verqualmten Bunker ins Freie, übergab ihn dem Oberscharführer Ansgar Gottwald, damit der sich um ihn kümmerte, und wurde wenige Sekunden danach schwer verwundet. Auf dem Hauptverbandsplatz muß ihn jemand in die Uniform eines gewissen Fritz Seyfried gesteckt haben, und da mein Mann immerhin einen Wehrmachtsoffizier von rückwärts erschossen hatte, entschloß er sich, es dabei zu belassen. Das ist alles.« »Und wie kamen Sie auf den Namen des Jungen?« fragte Jost Wentzell-Marschal. »Ich fragte meinen Mann aus, bis er mir den Namen des Unterführers nannte, dem er das Kind übergeben hatte. Von seiner Witwe erhielt ich die Postkarten des Jungen, die Sie in Ihrer Brieftasche haben. Ich nehme an, Sie werden nicht leugnen, daß Sie der Junge sind.« »Und was wollen Sie nun von mir?« fragte Jost Wentzell, nachdem er eine ganze Weile geschwiegen hatte. »Wegen des Todes des Majors in dem Mantel mit dem Pelzkragen und dem damit verbundenen Tod Hunderter von Menschen droht man meinem Mann jetzt mit einem Mordprozeß. Sie sind der einzige Mensch, Oberst Wentzell, der vor Gericht bezeugen kann, daß mein Mann nicht aus Mordabsicht geschossen hat, sondern vielmehr aus Nothilfe für schuldlose und bedrohte Menschen. Und ich will, daß 390
Sie diese Aussage für meinen Mann machen, weil sie die Wahrheit ist.« Jost Wentzell-Marschal antwortete nicht sofort. »Was wissen Sie noch von diesen Vorfällen, Frau Seyfried?« fragte er statt dessen. »Nichts«, antwortete Anne. »Ich habe Ihnen alles gesagt.« »Was ist aus den Eltern des Jungen geworden? Und aus seiner Schwester?« Nach einer langen Pause antwortete Anne: »Sie wissen so gut wie ich, daß Ihre Familie damals ums Leben gekommen ist, Jost Wentzell. Warum fragen Sie mich danach? Es fällt mir schwer, Ihnen darauf zu antworten.« »Weil die Faschisten sie in die Luft gesprengt haben, verstehen Sie. Ob das der Mann von der Waffen-SS gemacht hat oder der andere bleibt sich gleich. Die Sowjets haben diesen Krieg nicht angefangen. Aber ihr habt es getan. Und Ihr Mann gehört zu denen, die da mitgemacht und sie auf dem Gewissen haben.« »Das stimmt nicht ganz«, entgegnete Anne ruhig. »Zumindest nicht, was diesen und ähnliche Fälle betrifft. Nicht nur die Deutschen hatten nämlich beim Rückzugskampf um die Flußübergänge eine besondere Taktik entwickelt, sondern auch die Russen. Keine sowjetische Truppe nahm Rücksicht auf Zivilisten und Flüchtlingstrecks, wenn sie in Reichweite einer Brücke kam, die sie unzerstört in ihren Besitz bringen wollte. Eine zerstörte Brücke hielt die Armee damals einen Tag lang auf. Das wissen Sie als Offizier besser als 391
ich. Und auf einen Tag kam es den Oberkommandierenden in diesen entscheidenden Wochen an. Wer im Wege stand, wurde niedergeschossen. Ihre Leute sind auf diese Weise ums Leben gekommen, Oberst Wentzell. Nicht durch die Sprengung.« Es entstand erneut eine lange Pause. »Sie haben mir noch nicht gesagt, ob Sie mir jetzt glauben«, sagte Anne. »Ich glaube Ihnen«, sagte Oberst Wentzell. »Sie haben diese Ereignisse genauso geschildert, wie ich sie in meiner schwachen Erinnerung habe. Aus diesem Grunde glaube ich auch, was Sie über meine Familie berichten.« »Und werden Sie Ihre Aussagen zu Gunsten meines Mannes machen?« »Sehen Sie«, sagte der Oberst, »Sie sind zwar mutig, aber naiv. In dieser Sache stoßen übergeordnete Interessen aufeinander, gegenüber denen Ihre und meine Interessen eine völlig untergeordnete Rolle spielen. Die Aussage, die Sie von mir wünschen, könnte ich nur drüben machen, in Ihrem Land. Ich könnte sie nur mündlich machen und nur dann, wenn ich dort bliebe. Daß ich für dieses Land nichts übrig habe, für sein Profitdenken, seine Kriminalität, seinen Egoismus und seinen rücksichtslosen Kommerz, habe ich Ihnen schon damals in meinem Wagen gesagt. Das ändert nichts daran, daß Sie eine mutige Frau sind und Ihr Mann vielleicht wirklich nicht zu den Schlimmsten gehörte, die es damals gab. Mein Versprechen, die Aussage zu machen, würde bedeuten, daß ich bereit 392
wäre, dieses Land hier zu verraten und zu verlassen. Auch ich habe Bindungen, Freunde, Pflichten. Eine Frau wie Sie wird verstehen, daß ich das nicht kann.« In diesem Augenblick sah Oberst Wentzell den Mann. Er war allein und hatte soeben den Saal betreten, den er aufmerksam und doch unauffällig mit den Augen absuchte. Er trug einen dunkelblauen Anorak, wie sie derzeit in den Textilgeschäften angeboten wurden, dazu eine braune Pelzmütze; er hatte lange, rötlichbraune Koteletten vor den Ohren. Oberst Wentzell wußte sofort, als er ihn sah, daß dieser Mann damit beauftragt war, ihn zu beobachten. »Und auch vielleicht gar nicht mehr könnte«, setzte er den vorangegangenen Satz fort, nachdem er sich über den Auftrag des Mannes im blauen Anorak schlüssig geworden war. Dann senkte er die Stimme. »Stehen Sie sofort unauffällig auf und verlassen Sie den Saal. Sofort …«, herrschte er sie an, als Anne ihn fassungslos anstarrte. »Gehen Sie und fragen Sie nicht.« Er versenkte sich in die Lektüre des Reiseführers und spürte, wie Anne neben ihm aufstand und aus seinem Gesichtskreis verschwand. Unter den gesenkten Augenlidern heraus beobachtete er, wie sie an dem Mann sich vorbeidrängend den Pergamonsaal verließ, wie der Mann im blauen Anorak ihr einen Augenblick lang unschlüssig nachsah und dann wieder den Saal mit seinen Augen absuchte. Es schien Jost Wentzell-Marschal, als habe ihn dieser Mann soeben erst entdeckt. Aber sicher war er sich dessen nicht. 393
Als Anne den Museumsbau verließ, fühlte sie sich wie vor den Kopf geschlagen. Nach allem, was Jost Wentzell-Marschal ihr gesagt hatte, wie er sich ihr gegenüber verhalten hatte, nach all dem war es ihr unbegreiflich, warum er sie so abrupt weggeschickt hatte. Wen hatte sie vor sich gehabt? Einen Parteigänger, Opportunisten, Furchtsamen oder Getriebenen? Würde sie jemals erfahren, was in dieser Stunde mit Jost Wentzell-Marschal in den Sammlungen des Alten Museums wirklich geschehen war? An der Ecke zur Straße Unter den Linden erklang Marschmusik. Ein dichtes Menschenspalier säumte die Fahrbahn. Kraftfahrzeuge waren angehalten worden. Es war Mittwoch mittag, der Aufzug der Wache. Anne Seyfried blieb stehen und sah dem Schauspiel zu. Ein Musikzug blies schmetternd preußische Marschmusik. Auf der Spitze des Schellenbaumes sogar der traditionelle Preußenadler, in dessen Schnabel jedoch ein schwarz-rot-goldener Wimpel schwankte. Junge Soldaten, angezogene Karabiner, weißes Koppelzeug, flache Stahlhelme darüber. Ein Major im Mantel, mit gezogenem Degen, auf dessen Kommando die Stiefel dreier Kompanien das Pflaster traten wie eh und je auf diesem Platz. Und welcher Major auch immer dieses Bataillon kommandiert haben mochte, zu Zeiten des Königreichs Preußen, des deutschen Kaiserreichs, der Republik von Weimar oder des Nazistaates, immer hatte er jungen Männern kommandiert, denen man eingetrichtert hatte, bereit zu sein, für eine gerechte 394
Sache zu sterben. Und noch nie hatte es gestimmt. Abteilung halt … links um … Achtung, präsentiert das Gewehr … Auch diese rotbackigen jungen Männer hier glaubten es. Aber es stimmte auch diesmal nicht. Es war kurz vor 18 Uhr, als Dirk den Dienstwagen vor dem Block anhielt, in welchem Wentzell-Marschal wohnte, und seinem Chef die Fondtür offen hielt. Wentzell verließ den Wagen und bestellte Dirk für den nächsten Morgen zur gewohnten Zeit. Er schloß die Haustür auf und stieg nach oben zu seiner Wohnung. Auch höhere Offiziere der Nationalen Volksarmee wohnen nicht komfortabel. Für einen Oberst in einer Stabsstellung sieht das Programm eine DreieinhalbZimmer-Wohnung, in einem Ghetto, zusammen mit anderen Offizieren, vor. Sind Kinder vorhanden, bringt er es auf maximal vier Wohnräume. Es gibt eine Küche mit Elektroherd und Warmwasserspeicher, ein Bad mit Waschautomat, ein Wohn-, ein Schlaf- und ein Arbeitszimmer sowie einen Abstellraum. Im Wohnzimmer flimmerte der Fernseher und brachte einen Bericht über den Besuch Jaruzelskis und Kanias. Jalewa wirtschaftete in der Küche. An einem Bügel hing einer der Dienströcke des Obersten. Schon seit Monaten war Jost Wentzell des Nachhausekommens überdrüssig. Die Begrüßungen waren kühl, die Gespräche schleppten sich hin. Später starrten sie auf das Programm. Es gab keine besonderen Hoffnungen, keine großen Aussichten, mit Ausnahme der einen, daß Jost Wentzell zur Beförderung zum General anstand, 395
womit sich ihre Wohnverhältnisse etwas bessern würden, und einer zweiten, daß sie vielleicht im Mai für zwei Wochen zur Erholung in ein Offiziersheim der sowjetischen Armee auf die Krim fliegen würden. Aber dazu brauchten sie die Heiratsbescheinigung. So sehr Jost Wentzell auch das fade Ritual der abendlichen Begrüßung nun schon kannte, an diesem Tag war es anders. Er spürte instinktiv, daß irgend etwas nicht stimmte. Von Jalewa ging eine noch mürrischere Ablehnung aus als sonst, und fast greifbar lag eine dumpfe, auf Entladung drängende Spannung in der Atmosphäre der Wohnung. In dem kleinen Raum, der ihm für häusliche Arbeiten, Basteleien und Hobbies diente – Jost Wentzell war ein passionierter Anhänger des Modellflugsportes –, erledigte der Oberst ein paar schriftliche Kleinigkeiten und ging dann hinüber in das Wohnzimmer, um sich die Reportage über den Besuch der Polen anzusehen. Jalewa kam herein und stellte kaltes Essen auf den Tisch. Sie war einmal wirklich schön, dachte Jost Wentzell, während er ihr zusah, schlank, schwarzhaarig, mit den hohen Backenknochen und dem ausdrucksvollen, schmallippigen Mund der Polinnen aus alten Familien. Ja, sie war einmal wirklich schön gewesen. Aber jetzt begann sie, schlampig zu werden. Die dunklen Augen hatten keinen Glanz mehr, das Haar hing strähnig um ihren Kopf, und ihre einst aufregend spitzen Brüste waren langweilig und flach geworden, wo sie sich unter dem Pullover 396
abzeichneten. Jost Wentzell spürte, daß Jalewa neben ihm stehen blieb und unschlüssig auf ihn herunter blickte, während er der Aufzeichnung von dem frostigen Empfang der Polen durch Stoph und Honecker zusah. »Hast du etwas von dem Empfang gesehen, Jost?« hörte er sie nach einer Weile in ihrem harten Deutsch fragen. »Sie sind in Schönefeld angekommen, nicht in Marxwalde«, sagte Wentzell. »Das war ein großer Bahnhof in der Hauptstadt. Wir hatten nichts damit zu tun.« »Ich denke, du warst in der Hauptstadt«, sagte Jalewa. Jost Wentzell sah zu ihr hoch. »Wie kommst du darauf?« »Warst du in der Hauptstadt, Jost, oder warst du nicht in der Hauptstadt? Antworte mir. Mit ja oder mit nein. Warst du in der Hauptstadt?« Sie kam näher und ließ sich endlich, während sie ihm ununterbrochen ins Gesicht sah, auf einem zweiten Sessel nieder, auf dessen Kante sie hochaufgerichtet und voller Spannung sitzenblieb. »Ich war in der Hauptstadt. Was ist dabei?« »Warum verschweigst du es mir dann, wenn nichts dabei ist?« »Es war dienstlich, Jalewa. Du mußt nicht alles wissen.« »Nein«, sagte die Frau und lehnte sich jetzt in ihren Sessel zurück, befriedigt wie ein Insektensammler, dem es endlich gelungen ist, ein seltenes Stück 397
einzufangen. »Nein, mein Freund, es war nicht dienstlich. Du hattest dir einen Tag Urlaub geben lassen. Und du bist in Zivil in die Hauptstadt gefahren. Das kannst du alles machen, Jost. Ich habe nicht die Absicht, dich gefangen zu halten. Aber warum lügst du mich an?« Jost Wentzell schwieg eine lange Zeit, während er blicklos auf die Szene starrte, wo die Polen lächelnd eine endlose Reihe von Händen drückten und Bruderküsse tauschten. »Woher weißt du, daß ich Urlaub genommen habe?« Jost Wentzell riß seine Augen von dem Bildschirm los und richtete sie auf Jalewas Gesicht. Er sah zu, wie sie mit ihren nervigen Fingern eine Zigarette aus der Packung zerrte, sie zwischen die Lippen schob und dann in Brand steckte. »Du hast einen großen Fehler gemacht, Jost«, sagte sie, nachdem sie den ersten Rauch inhaliert und wieder ausgestoßen hatte. »So«, sagte der Mann. »Welchen?« »Du hast nicht mit der Neugier von Taxifahrern gerechnet. Dirk hat den Mann getroffen, der vor ein paar Tagen, ich glaube es war Montag, die Frau aus dem Westen gefahren hat. Streite es nicht ab, Jost, ich weiß es, obwohl du mir kein Wort darüber gesagt hast. Für den Taxifahrer war das ein einschneidendes Erlebnis. Besonders, nachdem er von einem Oberst für sein Verhalten belobigt worden war. Er wollte gerne wissen, wie die Sache weitergegangen ist und fragte Dirk danach.« 398
Jost Wentzell schüttelte ungläubig staunend den Kopf. »Und Dirk fragte dich. Was sagtest du ihm?« fuhr Jalewa fort. »Daß ich das nicht weiß. Und daß es mich auch nicht interessiert«, antwortete Jost Wentzell wahrheitsgemäß. »Siehst du«, sagte die Frau, »und das kam Dirk komisch vor. Als er vorgestern bei dem Revier der Volkspolizei in Neuenhagen vorbeikam, hielt er an, ging rein und fragte nach.« »Dafür werde ich ihn belangen lassen«, sagte Jost Wentzell ruhig. Jalewa stand auf, ging hinüber zum Fernseher und schaltete ihn aus. Sie blieb mit verschränkten Armen vor Jost stehen und sah auf ihn herunter. Zwischen den Fingern ihrer rechten Hand verqualmte die Zigarette. »Ich glaube nicht, Jost Wentzell, daß du das tun wirst«, sagte sie. »Denn du weißt nicht, was der Wachtmeister Dirk geantwortet hat. Er hat ihm gesagt, daß Oberst Wentzell sich dafür eingesetzt hat, die Frau aus dem Westen so rasch wie möglich zurück über die Staatsgrenze zu schicken, anstatt sie pflichtgemäß festnehmen zu lassen und diese Sache sofort zu melden.« »Und was willst du jetzt?« fragte Jost Wentzell nach einer langen Pause. »Mich in den Schwitzkasten bringen? Mir die Staatssicherheit auf den Hals hetzen? Oder was?« 399
»Ich will wissen, ob du diese Frau heute in der Hauptstadt noch einmal getroffen hast, Jost. Und sage mir die Wahrheit, denn wenn ich sie nicht von dir höre, höre ich sie von anderen.« »Gut«, sagte der Oberst. »Ich habe sie in der Hauptstadt getroffen. Und jetzt?« »Jost«, sagte Jalewa, »ich spüre seit einiger Zeit, daß dein Stehvermögen nachläßt. An dem Abend des Tages, an dem du diese Frau getroffen hast, wo warst du da?« »Ich war bei Alexejew Andrianowitsch in der Hauptstadt, Jalewa. Ich habe es dir erzählt, und ich habe dir Grüße von ihm bestellt.« »Dirk weiß nichts von Alexejew Andrianowitsch Soltjakin. Dirk hast du nach Hause geschickt. Dirk sagt, von General Soltjakin keine Spur.« »Das kann Dirk doch gar nicht wissen. Es geht ihn auch gar nichts an. Und dich auch nicht.« »Mich schon«, sagte Jalewa. »In dieser Nacht bist du um ein Uhr dreißig mit einem Taxi nach Hause gekommen. Um 24 Uhr mußte diese Frau über die Staatsgrenze. Kann ich wissen, wo und zu welchem Zweck du dich mit ihr in der Hauptstadt verabredet hast? Wir sind zwar nicht verheiratet, Jost. Aber eine Verpflichtung hast du trotzdem. Und daß es eine aus dem Westen sein muß, ist dabei das Schlimmste.« Jost Wentzell starrte Jalewa sprachlos an. »Du bist vollkommen verrückt, Jalewa. Das sind Hirngespinste, die du dir in deiner Eifersucht aus den Fingern saugst. Frag doch Alexejew.« 400
Jalewa nahm die Arme vor der Brust auseinander und drückte die Zigarette auf einem Teller aus. Das Abendessen stand noch immer unberührt auf dem Tisch. »Alexejew«, sagte sie. »Alexejew Andrianowitsch ist Russe, mein Freund. Und ein Towarischtsch hackt der anderen Krähe kein Auge aus. Ihr seid eine Kaste für euch. Von Soltjakin würde ich ebenso belogen wie von dir. Und was würde der General denn sagen, wenn er wüßte, daß du schon lange nicht mehr an deine eigene Sache glaubst, daß du schon aufgeweicht bist und keine konsequente Linie mehr vertrittst? Das weiß niemand, Jost. Außer mir. Und ich kenne dich durch und durch.« Auch Oberst Wentzell wuchtete sich jetzt aus seinem Sessel hoch, ging an der starr dastehenden Frau vorbei, hinüber zum Fenster, schob den Vorhang etwas beiseite und sah in die nur von wenigen Peitschenlampen erhellte Nacht hinaus. Endlich wendete er sich um. »Du meinst, weil ich manchmal Kritik an den Maßnahmen der Führung geübt habe? Das steht mir in meiner Stellung zu. Wenn ich das tue, ist es zu Gunsten des Sozialismus und nicht zu seinem Schaden.« »Das hast du nicht zu beurteilen, Jost. Dazu ist das Politbüro da. Hundertprozentige Männer. Keine demokratischen Aufweichler, Besserwisser und Kompromißler. Das siehst du ja an Myslensky. Mein Verflossener war in der Ehe und privat ein krummes 401
Holz. Aber wo steht er jetzt? Konsequent auf der richtigen Seite. Wenn es hart auf hart geht, weiß ein Myslensky, wo die Errungenschaften der Arbeiterklasse wirklich verteidigt werden, nämlich in der Parteispitze, im Politbüro, im Zentralkomitee, nicht bei Träumern und Schwächlingen vom Schlage eines Dubcek oder Walesa.« »Jalewa«, sagte Jost Wentzell, »in deiner Heimat stehen sechs Millionen Arbeiter hinter dem Träumer Walesa. In Polen wird geschossen, wenn es zu einer offenen Intervention kommt. Über meinen Schreibtisch laufen die geheimsten Informationen. Dort wird auf beiden Seiten das Blut überzeugter Sozialisten fließen, verstehst du das denn nicht?« »Dann schießt doch. Besser, es wird eine Woche lang geschossen, als es geht für immer alles kaputt, was wir für unser sozialistisches System erarbeitet haben. Wo wären wir, wenn nicht damals in Ungarn geschossen worden wäre? Und dann in der CSSR?« »Und morgen bei euch in Polen, meinst du?« Jost Wentzell schwieg eine Weile. »Kannst du dir eigentlich vorstellen, Jalewa, was für ein Gefühl es ist, wenn du in den Stäben in deiner Uniform auftrittst, in der sie damals 1939 aufgetreten sind, und zu der einzigen deutschen Armee gehörst, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in feldgrau auf fremden Boden stand? Die Kameraden der anderen Bruderländer sagen zwar nichts. Aber du spürst genau, was sie denken. Und auf der Ebene der Unteroffiziere und Mannschaften kommt es nicht selten zu Schlägereien.« 402
Jalewa lachte gezwungen vor sich hin. »Das sind die Anfänge, Jost. Jetzt zweifelst du bereits an der Weisheit der sozialistischen Politik, morgen wirst du an der Wahrheit des dialektischen Materialismus zweifeln und übermorgen an der zwingenden Logik des Marxismus-Leninismus schlechthin.« Die Frau zündete sich die zweite Zigarette an. Beim Rauchen entlud sich ihre aggressive Nervosität und ihre Befriedigung, endlich alles aus sich herausreden zu können, was sich seit Monaten in ihr angestaut hatte. »Glaubst du denn, ich habe nicht bemerkt, daß du deinen Rückzug vorbereitest? Deine Zweifel an der Richtigkeit und Notwendigkeit unserer Politik treiben dich zwangsläufig dem Westen in die Arme. Wenn du an der Richtigkeit unserer Politik zweifelst, wirst du unfähig dazu, entschlossen die Entscheidungen zu treffen, die diese Politik dir in deiner Stellung abverlangt. Bisher waren das wohl alles nur vage Überlegungen, Gedankenspiele. Aber jetzt bist du dazu übergegangen, sie in die Tat umzusetzen. Du bist im Begriff, deinen Posten feige zu verlassen, Jost Wentzell, und diese Frau und deine geheimen Treffen mit ihr spielen dabei eine Rolle.« »Willst du damit sagen, daß ich mich mit dem Gedanken trage, in den Westen überzulaufen, Jalewa?« Oberst Wentzell verließ seinen Platz am Fenster und trat vor die Frau, der er direkt und forschend ins Gesicht sah. »Ja, das will ich«, sagte Jalewa. »Und deine Abenteuer mit dieser Frau haben mir die letzte 403
Ungewißheit genommen. Ich war mir lange nicht sicher, Jost, aber jetzt weiß ich es genau. Du zweifelst an unserer Politik. Du glaubst, diese Politik nicht mitverantworten zu können, obschon du sie gar nicht verantworten mußt. Du brauchst nur zu gehorchen, sonst nichts.« »Dann sind wir genau da, wo die Faschisten auch waren, Jalewa. So viel Unglück konnte nur geschehen, weil sie alle gehorcht haben, ohne nachzudenken.« »Da sieht man, wie verdorben du schon bist. Wie kannst du so einen Vergleich anstellen. Die Faschisten waren Verbrecher. Aber wir arbeiten und kämpfen für die richtige Sache.« Jost Wentzell sah Jalewa noch immer ins Gesicht, legte die Hände an ihre Oberarme und rüttelte sie beruhigend. Aber die freundschaftliche Geste hatte keine Wirkung. »Das kommt alles zusammen«, sagte sie. »Wir haben uns auch auseinandergelebt. Du hast mich satt, ich weiß es. Für dich wäre es das Bequemste, die Fahne einzuholen und hinüber zu gehen. Was glaubst du, was die dir bezahlen für das, was du ihnen erzählen kannst. Nach dir lecken die sich alle Finger ab.« Sie machte eine erschöpfte Pause, die sie mit einem tiefen Zug aus ihrer Zigarette ausfüllte. »Aber das wird nicht geschehen, Jost«, fügte sie hinzu, löste ihre Schultern aus seinem Griff und drückte auch diese Zigarette energisch aus. Jost Wentzell stand mitten im Zimmer und sah sie an. 404
»Jalewa«, sagte er, »hast du zu irgend jemand außer zu mir mit einem einzigen Wort über das gesprochen?« »Warum willst du das wissen?« Wentzell kam auf die Frau zu. Er blieb stehen, als er hörte, daß unten vor dem Haus die Tür eines Kraftwagens zugeschlagen wurde. »Weil du nicht ahnst, was du damit anrichten kannst«, sagte er, änderte seine Richtung und trat ans Fenster. Vor der Haustür stand am Bordstein ein geländegängiges Stabsfahrzeug der Armee. Das Allwetterverdeck war geschlossen. Aus dem Fahrzeug stiegen ein Feldwebel und ein Hauptmann. Den Fahrer, der am Steuer sitzen blieb, sah Jost Wentzell schemenhaft durch die Windschutzscheibe. Der Oberst beobachtete, wie der Hauptmann dem Feldwebel die Weisung gab, neben dem Fahrzeug zu warten. Der Mann gehorchte und begann, mit auf dem Rücken verschränkten Händen auf dem Gehsteig hin und her zu wandern. Wenig später läutete die Türglocke. Jalewa öffnete dem Hauptmann, der salutierte und nach Oberst Wentzell fragte. Wortlos ließ sie den Mann eintreten. Er kam ins Zimmer, salutierte erneut und nannte Dienstgrad und Namen. Danach erklärte er Jost Wentzell, daß er ihm ein Schreiben des Genossen Armeegeneral zu übergeben habe, welches er gleichzeitig aus seiner Kartentasche holte. Wentzell nahm es in Empfang und überflog es. Das Schreiben enthielt einen Befehl des 405
Oberkommandos, der Oberst Wentzell-Marschal habe an einem morgen beginnenden gemeinsamen Manöver sowjetischer und deutscher Streitkräfte im Raum Görlitz teilzunehmen. »Wo muß ich mich melden und wann?« fragte der Oberst, während er das Schreiben zusammenfaltete und zurück in den Umschlag schob. Der Hauptmann antwortete: »Gestatten Sie, Genosse Oberst, daß wir Sie an Ort und Stelle bringen.« »Wie, sofort?« fragte der Oberst. »Sofort«, sagte der Hauptmann. »Für Unterkunft und Ausrüstung ist gesorgt.« »Dann muß ich Sie bitten, sich eine Viertelstunde zu gedulden.« Jalewa forderte den Offizier auf, das im Vorraum zu tun. Der Mann nahm die graue Pelzmütze vom Kopf und stellte sich vor die Flurgarderobe, um zu warten, während Jost Wentzell sich zurückzog, um sich umzukleiden. Das war rasch geschehen. Nach kurzer Zeit trat Wentzell in voller Uniform wieder in den Flur. »Wir können fahren, Genosse Hauptmann«, sagte er. »Wie lange wird die gemeinsame Übung dauern?« »Darüber hat man mir nichts mitgeteilt«, sagte der Offizier, setzte die Mütze auf und öffnete die Flurtür, um den Oberst vorangehen zu lassen. »Es kommt ein bißchen plötzlich«, sagte Jost Wentzell zu Jalewa. »Aber bei gemeinsamen Manövern brauchen sie mich. 406
Ich lasse von mir hören.« Jalewa sah ihn nur an und machte keine Anstalten, sich von ihm zu verabschieden. Also verließ Jost Wentzell die gemeinsame Wohnung. Der junge Hauptmann salutierte ein weiteres Mal und zog die Flurtür hinter sich zu. Jalewa lauschte auf die Schritte, welche die Treppe abwärts polterten. Sie ging zurück ins Zimmer, schob die Gardine zur Seite und blickte auf die Straße hinunter. Sie beobachtete, wie der Fahrer aus dem Kübelwagen sprang und die Türen aufriß. Sie sah Jost Wentzell, der sich die Handschuhe überstreifte und dann auf den Rücksitz stieg. Von der anderen Seite her schob sich der Hauptmann neben ihn. Der Feldwebel stieg auf den Beifahrersitz. Die Türen knallten zu, und schwankend setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Jalewa sah ihm nach, bis die schwachen roten Schlußleuchten um die nächste Ecke verschwanden. Nein, dachte sie verhärtet, nein, das wird dir nicht gelingen. Du bleibst hier. Tot oder lebendig, aber du bleibst in diesem Land. Sie ging zurück und schaltete den Fernseher wieder ein. Das Bild zeigte Kania und Jaruzelski, die sich steif neben Erich Honecker auf einer Sitzgarnitur niederließen, um mit dem Staatsratsvorsitzenden über die deutsch-polnischen Probleme zu sprechen.
407
12 Es war der neunte März, und in den feuchten Wäldern sprossen die ersten Palmkätzchen. Mit wachsender Unruhe hatten Fritz und Anne Seyfried den morgigen Tag näherkommen sehen. Kein Bote war erschienen und hatte eine verschlüsselte Nachricht oder Anweisung in den Briefkasten geworfen, kein Telegramm war eingetroffen, absolut nichts war geschehen, woraus hätte geschlossen werden können, daß Günther Mallée dem von ihm aufgespürten und in seinen Akten unter dem Stichwort Nachtfrost laufenden Nachrichtenkomplex SR 707 überhaupt noch Beachtung schenkte. Was Anne aus Berlin mitgebracht hatte, war niederschmetternd. Zwar hatte Fritz staunend und fast ungläubig zur Kenntnis genommen, daß es Anne tatsächlich geglückt war, den Jungen von Tomaszów ausfindig zu machen und sogar mit ihm zu sprechen. Aber die Erkenntnis, daß aus diesem Jungen offenbar ein wichtiger Stabsoffizier der Streitkräfte des Warschauer Paktes an zentraler Position geworden war, hatte die Hoffnung, eine Aussage dieses Mannes zu Gunsten der Sache von Fritz zu erreichen, zunichte gemacht. Genauso wenig ermutigend war Fritz’ Bericht über das Ende des Mannes mit dem Cockerspaniel Asta. Jetzt, am letzten Abend vor dem Flug zur 408
Vereinigten Hütten nach Herne, hielt es das Ehepaar nicht zu Hause. Gegen sechs Uhr zogen Fritz und Anne sich an, nahmen die Hunde an die Leine, verließen das Haus und machten einen ausgedehnten Spaziergang hinauf in die Wälder des Habichtsberges. An einer Stelle, wo sie sicher waren, unbeobachtet sprechen zu können, fragte Anne: »Was willst du jetzt tun, Fritz?« »Von wollen kann ja wohl keine Rede mehr sein, Anne. Wenn unsere Leute nichts von sich hören lassen, werde ich tun, was die anderen von mir verlangen. Der Anblick des Toten, den sie mir vor die Füße gelegt haben, war eine eindringliche Erinnerung an diese Tatsache. Es war ein großes Glück, daß du zu dieser Zeit gar nicht hier warst. Ich hätte nicht gewußt, wie ich dir diese Sache ohne Schock hätte beibringen sollen.« »Hältst du es für möglich, daß es unsere eigenen Leute waren, die das gemacht haben?« Fritz Seyfried blieb stehen und pfiff den Hunden. »Ausgeschlossen«, sagte er. »Meinst du, die tun so etwas nicht?« Fritz lachte. »Das weiß ich nicht, Anne. Ich weiß nicht, was unsere Leute tun, wenn es unumgänglich wird. Sie wären wahrscheinlich schlechte Nachrichtenleute, wenn sie so etwas nicht auch täten. Aber ich denke gar nicht an die moralische Seite, sondern an die rationale. Der Kerl mit dem Köter war ein winziges Licht in diesem Gestrüpp. Wenn unsere Leute den im Visier gehabt hätten, hätten sie ihn nicht umgebracht, 409
sondern über ihn versucht, an die Hintermänner heranzukommen. Und die haben etwas mit diesem Decknamen Nachtfrost zu tun, den der Mann von der Installationsfirma dir genannt hat. Aus diesem Grunde glaube ich eher, daß es die anderen waren, die ihren eigenen Mann auf die Seite geschafft haben. Vielleicht war er ihnen gefährlich geworden, oder unbequem. Der Mord war so geschickt vertuscht, daß die Staatsanwaltschaft ihn kaum wird aufklären können. Einerseits unaufklärbar und andererseits für mich eine unübersehbare Warnung. Glänzend eingefädelt, das muß man ihnen lassen.« »Fritz«, sagte Anne, »ich flehe dich an, gehe noch heute abend zu irgendeiner Polizeistelle, erzähle ihnen alles und bitte um einen Rat.« »Das wäre glatter Selbstmord, Anne«, sagte Fritz Seyfried. »Wenn die haben, was sie von mir wollen, werden sie uns in Ruhe lassen. Das gebietet ihnen die Vernunft. Und darauf, daß sie die haben, kannst du dich verlassen. Diese Sache verläuft genau nach Plan. Die Polizei könnte uns nicht wirksam schützen, und andererseits die Gegenseite zum Äußeren treiben.« »Das sagte der Installateur eben auch«, murmelte Anne kleinlaut. »Wenn Ihr Mann zur Polizei geht, bringt er die Bombe zur Explosion. Aber an einer falschen Stelle und zur falschen Zeit.« »Siehst du«, sagte Fritz. »Und was sagt Heinz?« »Dasselbe«, sagte Anne. »Was sollen wir nur tun?« »Ich habe meine Dienstpflichten erfüllt«, sagte Fritz Seyfried. »Und diese Farce von einem Eid, den sie mir 410
damals abgequetscht haben, auch. Ich konnte nicht mehr tun, als mich an die für einen solchen Fall zuständigen Stellen zu wenden. Wenn diese Stellen nichts dafür tun, ist das ihre Sache.« Den einmal eingeschlagenen Weg beschritt Fritz Seyfried am folgenden Tag, dem zehnten März. Um 11 Uhr vormittags hörte er den Hubschrauber der Luftwaffe auf dem Landepunkt im Garten des Amtes herunterknattern, den Lockschmidt für seinen Flug nach Herne geordert hatte. Lockschmidt kam ins Zimmer, um ihm die Ankunft mitzuteilen. »Ich habe es gehört, Hans«, sagte Fritz. »Bei dem Krach, den die machen, gar nicht zu verheimlichen.« Er fuhr in den hellen Trenchcoat und schloß den Gürtel. »Hast du alles für die Sicherheit des Materials vorbereitet, das ich mit zurückbringe? Ich will das sofort vervielfältigen und dann in den Stahltresor bringen.« Hans Lockschmidt nickte. »Das Rechenzentrum ist besetzt. Die warten. Die Maschine, die sie brauchen, ist freigehalten. Und für den Zutritt zum Tresor übernimmt Kullnau den Nachtdienst. Der ist auf das Ding eingespielt und vereidigt. Der Neue noch nicht. Für den Rückflug warten auf dich zwei Gorillas vom MAD in Herne. Es kann nichts passieren. Ich habe für alles gesorgt.« »Fein«, sagte Fritz Seyfried. »Dann kann’s ja losgehen.« Von Lockschmidt begleitet verließ er sein Dienstzimmer und verschloß es. »Wie hat der Minister entschieden?« fragte er, als er 411
mit dem Rücken an die Wand gelehnt im Aufzug stand. »Sollen die Konferenzteilnehmer das Material, über das ich referiere, mit nach Hause nehmen oder wieder abliefern? Es wäre lächerlich, wenn wir uns hier ein Bein für die Geheimhaltung ausreißen würden, und sieben fremde Minister würden das Zeug mit nach Hause nehmen und dann dort verschlampen.« »Noch nicht entschieden«, sagte Lockschmidt. »Die warten erst wieder, ob nicht vielleicht doch ein anderer entscheidet, und wenn sie gar nicht mehr anders können, entscheiden sie nur halb und zu spät. Und dabei muß selbst jemand, der völlig falsch entscheidet, noch nicht mal mit Konsequenzen rechnen. Um je mehr Milliarden es geht, desto weniger. Bestes Beispiel dafür ist doch dieser …« »Tornado«, ergänzte Seyfried, löste sich mit dem Rücken von der Aufzugswand und durchschritt die sich öffnende Teleskoptür. »Aber steige du mal in eine Straßenbahn, wenn du deine Wochenkarte vergessen hast. Was dir dann passiert!« Kullnau grüßte. »Sie haben den Turnus gewechselt, Kullnau«, sagte Seyfried. »Gleich für die ganze Woche, Herr Seyfried«, erklärte Kullnau. »Das macht mir nichts aus. Meine Frau ist ohnehin auf einer Kur. Was soll ich abends zu Hause.« Er hielt Seyfried die Tür auf. Fritz verließ das Haus und schlug den Kragen hoch. Hans Lockschmidt begleitete ihn zur Maschine. Der kreisende Rotor ließ die Mäntel flattern. Der Pilot hielt die Tür offen. 412
»Also dann, bis später«, sagte Fritz, schüttelte Lockschmidt die Hand und bestieg den vibrierenden olivgrünen Kasten. Die Tür schlug zu, wenig später erhob sich die Maschine taumelnd in die Luft. Unten sah Fritz verschwommen Hans Lockschmidt winken, dann drehte die Kiste ab wie von einer Windbö weggeweht, stieg weiter und ging auf Kurs. Im Grunde haßte Fritz Seyfried das Fliegen und ganz besonders in einem Apparat wie diesem. Aber wichtige Fahrten konnte man gar nicht mehr mit dem Auto riskieren, weil die regelmäßigen Verstopfungen keine Pünktlichkeit mehr zuließen. Fritz sah hinunter auf die Zubringer-Kleeblätter, auf denen endlose Wagenkolonnen hin- und herkrochen. Weiter vorne staute sich das alles zu einem unentwirrbaren Knäuel, in dessen Mitte Blau- und Orangelicht zuckten. Dort war soeben ein weiterer Beitrag zu den runden 20 Milliarden Mark geleistet worden, welche die Versicherungswirtschaft jährlich für die von Kraftfahrzeugen verursachten Schäden in dieser Republik aufwenden muß, überlegte er. Und die gleiche Versicherungswirtschaft errechnet statistisch, daß 90 Prozent dieser Schäden vermeidbar sind, weil sie auf Trunkenheit, Streß, Drogen, auf Geltungsbedürfnis, Selbstüberschätzung, Leichtsinn oder Dummheit beruhen. Innerhalb von zehn Jahren hat der Verkehr mehr Opfer gefordert, als die Verluste der legendären 6. Armee in der Schlacht von Stalingrad. Wirklich ein enormer Fortschritt. Unten legte man leuchtende Tücher aus und winkte, 413
weil man die Maschine für den Rettungshubschrauber hielt, ohne den die Verletzten in aller Regel nicht mehr rechtzeitig unter das Messer zu bringen waren. Sekunden später lag die Szene hinter ihnen. Von Nordwesten kam Regen auf. Tiefziehende Wolken strichen über die Höhenrücken und verwandelten die Straßen in glänzende Bänder. Zersiedeltes Land, erstickte Erde, und nach einer Stunde das Konglomerat des Ruhrgebiets. Fritz Seyfried sah nach unten. Eine Stadt ging in die andere über, zusammengekettet durch die Stränge der Autobahnen und Bahnlinien, Fabrikkomplexe, Hochofenbatterien, weißliche Qualmballen ablassend, die sich alsbald mit den dahertreibenden Regenwolken vermischten und zurückblieben. Fritz Seyfried bewunderte den jungen Piloten, der es anscheinend verstand, aus dem Wald von Schloten und Fabrikanlagen genau denjenigen Komplex herauszufinden, der zu den Vereinigten Hütten gehörte. Die Maschine legte sich schief, kreiste, blieb stehen. Drunten hatte man auf einem Werkshof ein gelbes Landekreuz ausgelegt und winkte mit Kellen. Wie ein bösartiger Moskito senkte sich der Hubschrauber zwischen die Schlote und Hochöfen und setzte mit einem sanften Ruck auf. Dieses Mal stellte der Pilot den Motor sofort ab, und der Rotor kam zum Stillstand. Ein Techniker kam herangelaufen und öffnete die Tür. Fritz Seyfried stieg aus, schob die Hände in die Taschen des Trenchcoats und sah sich um. Zwei Herren kamen auf ihn zu, fragten nach dem Namen, stellten sich vor. Sie wiesen auf einen in der 414
Nähe wartenden Wagen. Nebeneinander gingen sie hinüber und stiegen ein. Das Stahlwerk war wie eine Stadt für sich. Zwischen hochaufragenden Kühl- und Förderanlagen, dreckigen Hallen, Batterien von Schloten, ging die Fahrt in einen entfernten Teil der Werksanlage. Sie holperten über Schienenstränge, warteten vor heranklirrenden Diesellokomotiven, wichen Gabelstaplern und Lastzügen aus. Endlich wurde der Wagen vor einem modernen Hallenbau angehalten. Sie betraten ihn und bestiegen einen Aufzug. Dann ging es einen Flur ohne Tageslicht entlang. Am Ende des Flurs gab es eine Tür. »Von hier aus wird die Walzstraße gesteuert«, sagte einer von Seyfrieds Begleitern und öffnete sie. Seyfried trat in einen Raum, durch dessen kanzelförmige Glaswände man in eine riesige Halle sah, auf deren Grund weißglühende Stahlmassen wie unmittelbar aus den Pforten der Hölle hervorschossen, in Bettungen geleitet und kanalisiert wurden. Der Steuerraum war ausgestattet mit einem trapezförmigen Schaltpult, hinter dessen zahllosen Hebeln, Anzeigen und Leuchtknöpfen ein einzelner Mann saß, der den Ablauf der Vorgänge dort draußen steuerte. Der Mann wendete sich kurz um und nickte grüßend flüchtig mit dem Kopf. Trotz des Höllenlärms, der draußen vor der Glaskanzel herrschen mußte, hörte man hier drinnen keinen Laut. Durch eine nach seitlich rückwärts führende weitere Tür ging es in einen fensterlosen Raum, an dessen Wänden Plantafeln, Berechnungen, Netzpläne und andere Ablaufschemata angebracht 415
waren. Er diente anscheinend der Arbeitsvorbereitung. In der Mitte gab es eine Sitzgruppe um einen niederen Tisch, auf dem Dokumente ausgebreitet werden konnten. Der eine der beiden Männer ließ Seyfried eintreten und schloß hinter ihm wieder die Tür. Mallée erhob sich und reichte Seyfried die Hand. Auch die beiden anderen anwesenden Männer erhoben sich. Den einen von ihnen stellte Mallée als Rüdiger Pless vor, den anderen als Hauptmann Kurt Steinkopf vom Militärischen Abschirmdienst der Bundeswehr. »Sie werden überrascht sein, nicht die Herren von Vereinigte Hütten zu sehen, die Sie erwartet haben«, sagte Mallée. »Wollen Sie nicht Ihren Mantel ablegen?« Fritz Seyfried öffnete seinen Trenchcoat, und der Hauptmann nahm ihn ihm ab. Sie setzten sich. »Kaffee, Kognak, Fruchtsäfte, Gebäck? Was möchten Sie?« fragte Pless. »Kaffee und etwas Gebäck«, sagte Seyfried, und Pless hob den Hörer des Telefons ab, um das Gewünschte zu bestellen. Er legte wieder auf. »Sie haben mich auf eine harte Probe gestellt, meine Herren«, eröffnete Fritz Seyfried das Gespräch. »Es ging nicht anders«, sagte Mallée. »Zeitpunkt und Ort hier boten sich an. Jede frühere Nachricht an Sie hätte absolut nichts gebracht und wäre gefährlich gewesen. Meine Begleiter und ich haben mit den Massen der Arbeiter und Angestellten heute morgen das Werk betreten. Und dieser Raum ist absolut abhörsicher. Wir konnten nichts Besseres tun. Ich 416
hoffe, wir haben Ihnen keine Schwierigkeiten bereitet.« »Meine Frau hat es ziemlich mitgenommen«, sagte Fritz Seyfried. Mallée bedauerte höflich. Auf dem Tisch lag ein Schnellhefter. Pless nahm ihn hoch, öffnete ihn und las eine Notiz. »Sie haben eine mutige und energische Frau, Herr Seyfried. So wie sie unserem Mann eingeheizt hat, den wir Ihnen geschickt haben.« »Das ist richtig«, sagte Fritz Seyfried. »Für mich ist es sehr wichtig, daß es heute zu diesem Gespräch kommt, denn es ist schließlich fünf vor zwölf. Und wenn Sie mir aus dieser Geschichte heraushelfen wollen, brauchen Sie vielleicht noch ein paar Einzelheiten.« »Heraushelfen?« Die drei Herren sahen einander überrascht an. »Wie meinen Sie das? Und von welchen Einzelheiten sprechen Sie?« »Meinen Sie die Sache mit dem Mord in Ihrer unmittelbaren Umgebung?« sagte Mallée. »Können Sie uns dazu Angaben machen?« »Die Sache haben wir erst aus der Zeitung erfahren«, sagte Steinkopf. »Aber der Tatort drängte uns die Vermutung auf, daß sie mit Ihrem Problem zusammenhängt. Morde, die so geschickt vertuscht werden, sind meist Morde aus dem nachrichtendienstlichen Bereich. Können Sie uns dazu etwas sagen?« »Natürlich«, sagte Seyfried. »Der Tote war der Mann mit dem Hund, der mich angezapft hat.« 417
Mallée und Pless lehnten sich überrascht zurück, und Steinkopf verlangte Einzelheiten. Seyfried gab sie ihm, und Steinkopf machte sich Notizen. »Ich nehme an, Nachtfrost hat mit der ganzen Sache etwas zu tun«, schloß er. »Was oder wer verbirgt sich eigentlich hinter diesem Decknamen?« Pless antwortete: »Vermutlich hat Ihre Frau Ihnen diesen Namen weitergegeben? Unser Verbindungsmann hatte ihn ihr ja genannt. Zu Ihrer Information: Nachtfrost ist die uns bekannte Chiffre für eine nachrichtendienstliche Operationsgruppe, die der sowjetische KGB eingeschleust hat, mit dem ganz eng umrissenen Ziel, die neue Panzerung für den Leopard II zu erkunden. Aus diesem Grunde sitzen wir hier zusammen.« Steinkopf schaltete sich ein. »Für diesen Zweck scheinen die Sowjets einen eigens eingeschleusten Agenten aufgebaut und eingesetzt zu haben, und zwar gleich zu dem Zeitpunkt, als wir anfingen, hier mit der neuen Legierung zu experimentieren. Zu diesem Mann haben wir bisher nicht die geringste Spur. Unsere Kollegen vom Bundesnachrichtendienst haben zwar in der Sowjetunion den Decknamen herausgebracht und sind darüber informiert, daß es sich um einen sowjetischen Spitzenmann in der Größenordnung von Sorge oder Abel handeln muß, mehr aber nicht.« »Es spricht viel dafür, daß es sich bei diesem Mord um ein Deckungsmanöver handelt«, sagte Pless. »So etwas passiert, wenn einem illegalen Residenten sein eigener Mann zuviel weiß.« 418
»Was hat Ihnen der Mann noch für Details gegeben, bevor er starb?« fragte Steinkopf. Fritz Seyfried antwortete: »Sie wollen eine Dublette des für die Ministerkonferenz bestimmten Materials zwischen heute und Donnerstag. Der Übergabetreff soll mir rechtzeitig mitgeteilt werden. Sie wußten, auf welche Weise das Material gespeichert ist, das ich hier abhole, und mit welcher Technik es dupliziert werden kann. Sie erwarten das Material reproduziert auf Mikrofiches.« »Also warten Sie jetzt auf die Aufforderung zum Übergabetreff?« fragte Pless. »Ja«, sagte Seyfried. »So ist es vereinbart.« »Und wie soll Ihnen diese Mitteilung zugehen?« »Die Vorderfenster meines Wagens haben Tag und Nacht so weit offen zu stehen, daß eine schriftliche Mitteilung eingeworfen werden kann«, sagte Seyfried. »Und welches Zeichen ist vereinbart, daß Sie das Material in Händen haben?« erkundigte sich Steinkopf. »Keines«, sagte Fritz Seyfried. Die Männer sahen einander verblüfft an, dann wieder Seyfried. »Keines?« sagte Mallée. »Denken Sie doch bitte noch einmal nach, Herr Seyfried. Das ist unmöglich.« »Keines«, sagte Seyfried. »Ich brauche gar nicht noch einmal nachzudenken. Wenn es so wäre, wüßte ich es. Und wenn ich es wüßte, würde ich es Ihnen sagen.« »Aber das ist doch das Allerwichtigste«, sagte Pless. »Daran kann eine gesamte Übergabe scheitern. Ein 419
Resident darf sich doch nicht darauf verlassen, daß bei dieser Beschaffung nichts dazwischen kommt …« Er brach ab und schüttelte den Kopf. »Sie rechnen fest damit, daß ich das Material heute hier mit hinausnehme«, sagte Seyfried. »Das kann ich mir schwer vorstellen«, sagte Mallée. »Nachtfrost soll zur Topgarnitur von denen gehören. So ein Mann verläßt sich nicht auf Zufälle. Sie bleiben also dabei, Herr Seyfried: kein Zeichen vereinbart, daß Sie das Material in Händen haben?« »Nein«, sagte Seyfried noch einmal. »Ich kann Ihnen nichts anderes sagen.« Es klopfte, und die Männer blickten überrascht zur Tür. Es war nur die Kantinenfrau, die auf einem Tablett Kaffee und Gebäck brachte. Sie ordnete, was sie mitgebracht hatte, auf dem niederen Tisch, nahm ihr Tablett wieder an sich und verschwand. »Ich dachte eigentlich, daß Sie mich fragen würden, welchen Grund ich hatte, auf diese Sache einzugehen und nicht sofort alles abzulehnen«, sagte Seyfried, während Mallée mit seinen geisterhaften Spielerhänden manieriert Kaffee in die Tassen goß. Seyfried sah, wie die über einer Tasse schwebende Kanne plötzlich abrupt stehenblieb und dann auf den Tisch zurückgesetzt wurde. »Aber warum denn?« fragte Mallée. »Das, worauf Sie da anspielen, wissen wir doch alles.« »Was wissen Sie?« fragte Seyfried. Er glaubte, falsch verstanden zu haben. »Wollen Sie mir das bitte näher erklären, Herr Mallée.« 420
Mallée gab Zucker und Milch in seinen Kaffee, schob das Tablett dann zu Seyfried hinüber und rührte um, wobei er den kleinen Finger abspreizte. Als er damit fertig war, griff er nach dem Schnellhefter, den Pless auf den Tisch zurückgelegt hatte, und schlug ihn auf. »Sie erinnern sich doch, Herr Seyfried, daß Sie von April 1951 bis zum Juli 1961 in den Diensten unserer Organisation standen?« »Sehr gut sogar. Sonst hätte ich ja auch die Chiffre für das Inserat gar nicht in Händen gehabt, mit dem ich mich an Sie gewendet habe.« Mallée nickte und blätterte in der Akte. »Sie haben sich dem General damals als hervorragender, in der Fronterprobung erfahrener, und in der Analyse solcher Erfahrungen versierter Experte in Panzerfragen empfohlen.« Fritz Seyfried nickte und nahm einen Schluck Kaffee. »Gewiß. Ja, ich weiß.« »Der General hat sich mit Ihnen mehrfach unterhalten, und Sie haben ihm ausgezeichnet gefallen. Er hat Sie in die Auswertungsabteilung eingestellt, mit dem Auftrag, sämtliche nachrichtendienstlichen Erkenntnisse und auch sämtliche Presseveröffentlichungen über Konstruktion, Bewaffnung, Motorisierung der Panzerstreitkräfte unserer östlichen Nachbarn, aber auch über deren Gliederung, taktische Einsatzkonzepte, Ausbildungsvorschriften und so weiter zu sammeln, zu sichten, zu analysieren und regelmäßig detaillierte Berichte hierüber vorzulegen.« 421
Fritz Seyfried nickte wieder. Etwas nachsichtig sogar. Gewiß, aber das wisse er doch alles selbst. »Schön«, fuhr Mallée fort. »Aber was Sie natürlich nicht wissen konnten, ist, daß unsere Organisation die hervorragenden Fachkenntnisse und Erfahrungen, die Ihre Gespräche mit dem General verrieten, nicht in Übereinstimmung bringen konnten mit den Personalien des einzigen Fritz Seyfried, den wir im deutschen Wehrmachtsarchiv ausfindig machen konnten, nämlich einem gewissen Fritz Seyfried, geboren am 9. August 1921 in Kronenberg im Banat, zuletzt Gefreiter in einer Artillerieabteilung der 4. Panzerarmee, vermißt seit dem Gefecht an der Pilica am 15. Januar 1945. Das schien unseren Sicherheitsleuten damals nicht zusammenzupassen. Und da Sie Ihre Einheit, Ihren Dienstgrad und Ihre Verwendung über den uns genannten und als falsch erkannten Namen hinaus verschwiegen, schloß der General, daß Sie einer Eliteeinheit, einer Sondereinheit, oder irgendeinem Verband angehört haben, dem man Kriegsverbrechen vorwarf, oder daß Sie selbst sich solcher Verbrechen schuldig gemacht hatten. Da wir uns davor sichern mußten, daß uns die DDR ihre Maulwürfe gleich haufenweise in den Dienst hereinschleuste, waren wir natürlich verpflichtet, diesen Widersprüchen nachzugehen. Wir taten das mit der gebotenen Diskretion, während Sie, wenn auch ohne gefährliche Einblicke, schon für die Organisation arbeiteten – und zwar mit großem Erfolg.« »Und was fanden Sie heraus?« fragte Fritz Seyfried, 422
dem es schwerfiel, seine Überraschung über das eben Gehörte zu verbergen. »Wir durchwühlten die greifbaren Kriegstagebücher. Nachdem Fritz Seyfried als vermißt geführt wurde, sprach eine gewisse Möglichkeit dafür, daß er auch auf einem Hauptverbandsplatz oder in einem Lazarett versorgt worden war, das dann von den vorrückenden Sowjets überrollt wurde. Wir überprüften die Sanitätsorganisation der 4. Panzerarmee. Ich will Ihnen Einzelheiten ersparen, jedenfalls fanden unsere Leute in mühevoller Kleinarbeit Frau Beate Mengendorff, die damals als Operationsschwester auf dem Hauptverbandsplatz arbeitete, der dem Pilica-Abschnitt zugeteilt war. Wir konnten ihr auch eine Fotografie vorweisen, die Sie zusammen mit zwei Kameraden bei einem Vortrag vor Adolf Hitler zeigte, auf die wir im Zuge einer anderen Ermittlung gestoßen waren. Frau Mengendorff erinnerte sich sehr gut an den Vorfall und erklärte uns schriftlich, daß sie damals Ihre Identität gegen diejenige des Gefreiten Fritz Seyfried austauschte, der auf dem Operationstisch seinen Verwundungen erlegen war.« »Und warum hat sie das getan, wissen Sie das auch?« fragte Fritz Seyfried und mußte sich räuspern. »Schwester Beate sah ihre Menschenpflicht darin, möglichst viele verwundete Soldaten dem Zugriff des Gegners zu entziehen, ohne Rücksicht auf Dienstgrad, Truppenteil oder Waffengattung. Da dies bei dem gefallenen Fritz Seyfried nicht mehr möglich war, beschloß sie, Sie mit dessen Identität zu tarnen. Und 423
wie Sie sehen, mit Erfolg.« Günther Mallée löste ein schon leicht vergilbtes Blatt aus dem Ordner und hielt es Fritz Seyfried hin. »Hier ist ihre eidesstattliche Erklärung. Wollen Sie sie sehen?« Fritz Seyfried nahm das Blatt und las die mit der festen Hand der Schwester Beate geschriebene Erklärung, die das letzte Rätsel löste, das für ihn bisher noch über den Ereignissen von damals gelegen hatte. »Lebt diese Frau noch?« fragte er nach einer Weile. Mallée blätterte. »Ja«, sagte er. »In einem Damenstift in der Nähe von Hannover. Aber warum sind Sie so überrascht. Das ist Ihnen doch alles selbst am besten bekannt.« Fritz Seyfried gab das Blatt zurück. »Nein, Mallée«, sagte er. »Das wußte ich nicht. Sie schreibt, daß ich während dieses Vorganges noch in tiefer Narkose lag. Und später konnte mir niemand mehr etwas darüber sagen.« Mallée nahm das Blatt in Empfang und heftete es geschäftsmäßig zurück in den Ordner. »Wie dem auch sei«, sagte er zu Seyfried, »fast ein Jahr haben unsere Leute damals dazu gebraucht. Aber seit 1952 wußte die Organisation, daß sie es mit einem Henning von Loßwitz, Obersturmführer und Chef einer Panzerkompanie derselben Division wie Fritz Seyfried, zu tun hatte.« Mallée schloß den Ordner und sah Seyfried an. »Kann ich Ihnen noch irgendeine Aufklärung geben? Ist Ihnen etwas unklar geblieben, Seyfried? Oder v. 424
Loßwitz? Oder wie wollen Sie es haben?« »Meine Papiere lauten auf Fritz Seyfried. In den Karteien und Listen stehe ich unter dem gleichen Namen. Unter diesem Namen habe ich geheiratet und meinen Dienst gemacht. Ich kann ihn gar nicht ändern. Außerdem steht da noch einiges im Feuer. Nachdem der Dienst auf Fritz Seyfried mit eingestiegen ist, muß es vorerst dabei bleiben. Aber eine Frage noch, Mallée …« »Bitte, fragen Sie.« »Aus welchem Grund haben Sie mir eigentlich damals alles das verschwiegen, was Sie mir eben mitgeteilt haben?« Mallée lächelte vielsagend vor sich hin. »Das hat alles Herr Pless rekonstruiert. Pless, wollen Sie Herrn Seyfried auf seine Frage antworten?« Pless zog den Aktenordner zu sich herüber. Aber er ließ ihn vor sich auf dem Tisch liegen, ohne ihn zu öffnen. Was er Seyfried zu sagen hatte, wußte er auch so. »Fünf Jahre lang hoffte die Welt damals, daß sie nach diesem wahnwitzigen Krieg und seinen noch wahnwitzigeren Verbrechen eine bessere Welt werden würde. Aber dann zeigte sich, daß diese Hoffnung trog. Bald wurden wieder Experten gesucht. Sie waren einer von ihnen. Und was für eine Vergangenheit ein Mann hatte, den wir brauchten, war – wenigstens vorerst – nicht so wichtig.« »Es lag in der Natur der Sache«, ergänzte Mallée, »daß die Experten von 1950 keine anderen sein 425
konnten als die Experten von 1939 oder 1944.« »Der General war froh, Sie zu haben«, fuhr Pless wieder fort. »Es war für ihn auch gleichgültig, was Sie vorher gemacht hatten, wenn Sie Ihr Fach verstanden. Nur wissen mußte er es. Und als er es erfahren hatte, kam es ihm gelegen, daß Sie mit geänderter Identität in seiner Organisation arbeiteten. Nachdem die Sowjets schon während des Krieges hinter Ihnen als kompetenter Experte und Geheimnisträger her waren, traf es sich günstig, daß wir ihnen verbergen konnten, daß Sie noch lebten und für uns tätig waren. Und da Sie selbst sich unter einer geänderten Identität bei uns beworben hatten …« Ein Schulterzucken und ein Lächeln. »Warum sollten wir uns in Dinge mischen, die uns nach dem Ergebnis unserer Ermittlungen nichts mehr angingen und geklärt waren? Ihre Identität betrachteten wir von da an als Ihre Privatsache.« »Soll das heißen«, sagte Fritz Seyfried, »daß Sie wegen des Todes des Majors Kayser auch eine Mordanklage für nicht haltbar ansahen?« Die Herren horchten auf, und Steinkopf nahm die Brille ab, um Seyfried eingehender mustern zu können. »Tod eines Majors Kayser?« fragte Mallée. »Mordanklage? Wovon reden Sie denn da, Seyfried?« »Sie haben doch vorhin selbst von dem Verdacht von Kriegsverbrechen gesprochen«, sagte Seyfried konsterniert. »Ich dachte …« »Das hat Herr Mallée nur ganz allgemein gesagt«, schaltete sich Pless ein. »Haben Sie das auf sich bezogen?« 426
»Oder haben Sie etwa Anlaß, eine solche Anklage zu fürchten?« sagte Mallée. »Vielleicht jetzt, da die Verjährungsfristen aufgehoben worden sind? Das wäre uns neu.« »Ich wundere mich«, sagte Fritz Seyfried, »daß Sie mit Ihren nachrichtendienstlichen Erfahrungen eine Erpressung gegen meine Person mit einem Sachverhalt für ausreichend hielten, der durch Jugendamnestie und die Rechtsprechung rehabilitiert ist.« »Mit dem Sachverhalt, wie er hier bei uns vorliegt, meinen Sie?« sagte Pless und klopfte mit der Hand auf den Aktenordner. »Jawohl«, sagte Seyfried. »Daß Ihnen nicht der Gedanke gekommen ist, hinter der Erpressung könnte mehr stecken als die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Truppenteil, ein Dienstgrad und eine damals kriegswichtige Aufgabe.« »Und dieses ›mehr‹, das dahintersteckte, war der Tod eines Majors Kayser?« fragte Mallée interessiert. »Darüber werden Sie uns berichten müssen, Seyfried. Das ist sehr wichtig.« »Wie Sie wollen«, sagte Seyfried. »Zumindest Sie wissen dann, wie es wirklich war, gleichgültig, wie ein Prozeß ausgehen würde.« »Sprechen Sie«, sagte Mallée. Die Herren lehnten sich in ihren Sesseln zurück, und Seyfried begann seinen Bericht. »Der Mann mit dem Hund setzte bei einem Ereignis an, das an dem Abend stattfand, bevor ich auf dem besagten Hauptverbandsplatz eingeliefert wurde. Ich 427
hatte den Befehl, die Panzerspitzen Konjews eine Nacht lang auf dem Ostufer des Flusses Pilica in Mittelpolen zu halten und die Pilica-Brücke im taktisch richtigen Augenblick zu sprengen. Die Entscheidung, wann dieser Augenblick eintrat, war mir überlassen. Straße, Brücke und die Stadt Tomaszów waren vollgestopft mit Flüchtlingen. Konjews Spitzen erschienen mit schwachen Vorauskräften auf dem ostwärtigen Pilica-Ufer. Wir hätten die Brücke noch für ein bis zwei Stunden offenhalten können. Da erschien der 1a der frisch aufgestellten 103. Volksgrenadierdivision, der einer solchen Situation noch niemals hatte standhalten müssen, und befahl die Sprengung, obwohl die Brücke voll von Menschen war und Hunderte noch drüben warteten. Es kam zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf ich ihn erschoß. Er löste aber dennoch im Fallen die Sprengung aus. Aus diesem Sachverhalt konstruierten die Sowjets einen kaltblütigen Mord, wonach nicht der Major, sondern ich die Nerven verloren habe und nicht ich ihn, sondern er mich an der vorzeitigen Sprengung der Pilica-Brücke gehindert haben soll. Sie drohten mir an, diesen Tatbestand auch erhärten zu können.« »Und was taten Sie?« »Ich sagte ihnen, daß es anders war.« »Aber dafür werden Sie Beweise brauchen«, sagte Steinkopf. »Richtig«, sagte Seyfried. »Ich erinnerte mich eines kleinen wolhyniendeutschen Jungen, der sich während dieses ganzen Vorganges in meinem Bunker am Ufer 428
der Pilica befand. Meine Frau fuhr los und brachte den Namen heraus. Dann reiste sie nach Berlin und auch nach Ostberlin, wo sie herausfand, daß dieser Junge noch lebt und auch zu erreichen ist. Die Spur führte nach Strausberg in der Märkischen Schweiz.« »Nach Strausberg, sagen Sie?« Steinkopf rückte interessiert auf seinem Sessel nach vorn. »Die Garnison der zentralen Verbindungsstäbe zwischen NVA und Warschauer Pakt?« »Ja«, sagte Seyfried. »Und dort und später noch einmal in Ostberlin konnte sie mit dem Mann sprechen, der damals als Kind Zeuge der Ereignisse in meiner Befehlsstelle an der Pilica war. Er heißt Jost Wentzell-Marschal und ist Oberst der Nationalen Volksarmee der DDR.« Die Verblüffung der drei zuhörenden Männer war perfekt. Mallée faßte sich als erster und sagte: »Sie wollen damit doch nicht andeuten, daß Ihre Frau zweimal mit Oberst Wentzell-Marschal persönlich gesprochen hat, Seyfried?« »Was heißt andeuten?« sagte Seyfried. »Es war so.« »Wissen Sie eigentlich, wer Wentzell-Marschal in Wirklichkeit ist?« platzte der völlig überraschte Pless heraus. »Keine Ahnung«, sagte Seyfried. »Das war für uns auch nicht so wichtig wie das, was er über diese Ereignisse möglicherweise noch wußte.« »Wentzell-Marschal«, sagte Mallée, noch immer den Kopf über die Ungeheuerlichkeit schüttelnd, 429
»Wentzell-Marschal ist ein Günstling Generalmajors Alexejew Andrianowitsch Soltjakins, des zuständigen GRU-Chefs für unseren Bereich. Er spricht deutsch und vier slawische Sprachen fließend und ist als Koordinator des gesamten Übersetzungswesens im Warschauer Pakt einer der wichtigsten Geheimnisträger dieser Organisation. Über sein Büro läuft restlos alles. Von den geheimsten operativen Plänen und Studien, über die Nachrichten- und Befehlschiffren, die Kriegsstärkenachweisungen und dem Einsatz chemischer und atomarer Streitkräfte, bis hin zu den Truppen- und Ausbildungsvorschriften. Er steht an zur Beförderung zum General. WentzellMarschal hat bisher noch kein westlicher Bürger auch nur zu Gesicht bekommen. Und Sie wollen behaupten, daß Ihre Frau zweimal mit diesem Mann gesprochen hat. Bei allem Wohlwollen, Seyfried, aber das nehme ich Ihnen nicht ab.« »Es ist aber so«, wiederholte Seyfried. »Ob Sie es glauben oder nicht. Fragen Sie meine Frau, wenn Sie Einzelheiten wissen wollen.« »Und was soll Wentzell-Marschal Ihrer Frau gesagt haben?« fragte Pless, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte. »Er hat ihr bestätigt, daß die Vorgänge sich so abgespielt haben, wie ich sie geschildert habe«, sagte Fritz Seyfried. »Sie sind sich doch klar darüber, daß Sie damit eine sensationelle Figur wären?« sagte Pless. »Und ist Wentzell bereit, diese Aussage auch vor 430
einem deutschen Gericht zu machen?« fügte Steinkopf ungläubig hinzu. »Bisher noch nicht«, antwortete Seyfried wahrheitsgemäß. »Aber meine Frau ist überzeugt, daß sie ihn soweit bringt, daß er es tut.« »Das habe ich mir doch gedacht«, sagte Mallée, seltsam erleichtert, wie jemand, der seine begründeten Zweifel schließlich bestätigt sieht. »Was wollen Sie also damit? Ihre Frau wird diesen Mann nie wieder zu Gesicht bekommen, Seyfried. Daß es ihr einmal geglückt sein soll, klingt wie ein Märchen. Niemals werden die Ostdeutschen oder die Sowjets diesen Mann einen einzigen Schritt ins westliche Ausland tun oder auch nur vor einer westdeutschen Richterkommission eine Aussage machen lassen. Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, Mann. Und glauben Sie unserer größeren Erfahrung in diesen Dingen.« »Ich kann dazu nichts sagen«, meinte Fritz Seyfried. »Ich war bei diesen Gesprächen nicht anwesend. Wie soll es weitergehen? Was schlagen Sie vor?« Mallée goß neuen Kaffee nach, schob Zucker und Milch weiter und rührte um. »Sehen Sie«, sagte er nach einer Weile des Nachdenkens, »die Sache mit dem toten Major stellt uns natürlich vor eine ganz neue Situation …« »Und zwar vor keine unangenehme«, vollendete Seyfried den Satz. »Allmählich fange ich an, das richtig zu verstehen. Sobald Sie meine Annonce erhalten hatten, vermuteten Sie, endlich an Nachtfrost heranzukommen – von dessen Existenz Sie ja schon 431
lange wußten. Aber solange ich nur mit meiner falschen Identität und meiner militärischen Vergangenheit erpreßt wurde, wie Sie vermuteten, hätte ich ja noch abspringen können. Die Folgen für mich wären nicht so gravierend gewesen. Mit dem fetten Köder eines Mordes dagegen sieht die Sache für mich natürlich ganz anders aus – und damit auch für Sie.« »Nun ja …« Mallée zögerte. »Wir wissen noch gar nicht, ob es uns überhaupt glückt, an Nachtfrost heranzukommen. Aber versuchen müssen wir es.« Wieder war eine Weile Schweigen im Raum, unterbrochen von dem Klappern einer zurückgestellten Tasse oder dem Rühren eines Löffels. »Sie sind also entschlossen, mich zu verheizen, damit Sie Nachtfrost ausschalten können.« »So dürfen Sie es nicht nennen, Seyfried.« »Wie soll ich es sonst nennen? Das ist ein hinterhältiger Trick, Mallée. Da mache ich nicht mit. Wie soll ich das meiner Frau beibringen?« »Gar nicht«, sagte Mallée trocken. »Alles wird unter einem Höchstmaß von Sicherheitsvorkehrungen ablaufen. Es ist fast kein Risiko damit verbunden.« »Fast«, sagte Seyfried. »Ich bin kein Mann der Nachrichtendienste, Mallée. Da ist mir ein ›fast‹ als Berufsrisiko schon zu hoch. Ich werde Ihnen diesen Gefallen nicht tun, verstehen Sie?« »Sie werden müssen«, sagte Mallée. »Sie können gar nicht mehr anders. Sie stecken in der Sache schon viel zu tief drin. Wir können Sie nicht zwingen. 432
Aber wenn Sie jetzt aussteigen, gefährden Sie sich selbst, Ihre Frau und Sie riskieren die Drohung mit diesem Prozeß, in dem Sie sich, wie Sie selbst sagen, nicht entlasten können. Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten, können Sie das alles vermeiden.« »Und riskiere dafür meinen Kopf«, sagte Seyfried. »Wie komme ich denn dazu? Können Sie mir das sagen?« »Ja, das kann ich, wenn Sie darauf bestehen«, sagte Mallée. »Ich muß Sie daran erinnern, daß Sie dem Dienst eine Menge verdanken, Seyfried. Mit Bürgerpflicht und Vaterland komme ich Ihnen gar nicht erst.« »Das wäre auch verfehlt«, knurrte Seyfried. »Ich weiß«, sagte Mallée. »Aber der Dienst hat Sie seinerzeit eingestellt, ohne zu wissen, wer Sie sind. Er hat Sie auf das Risiko hin, mit Ihnen einen Maulwurf der DDR oder einen untergetauchten Kriegsverbrecher aufgefischt zu haben, ein Jahr beschäftigt, er hat Ihnen dann die von Ihnen gewählte Existenz belassen und Sie dem Amt in Koblenz empfohlen, wo Sie eine steile Karriere gemacht haben und eine maßgebende Position einnehmen. Das brachte eine glänzende Heirat und eine angesehene gesellschaftliche Position mit sich. Und außerdem einen gewissen Wohlstand, den Sie auch in Ihr Kalkül mit einbeziehen sollten.« »Sehen Sie das nicht auch als eine Art Erpressung, Mallée … ich meine … wenn wir die Dinge mal beim Namen nennen …« Günther Mallée wurde ernst. »Es gibt ein 433
abgedroschenes altes Sprichwort, daß der Zweck die Mittel heiligt. Die Frage, ob das stimmt, ist ein philosophisches Problem. Aber etwas davon ist in meiner Situation, Seyfried. Ich und mein Kollege Steinkopf vom Militärischen Abschirmdienst sind nun einmal für die Sicherheit dieses Staates an maßgebender Stelle verantwortlich. Und wir haben die Möglichkeit, mit Hilfe Ihrer Person einen breit angelegten subversiven Angriff auf diesen Staat abzuwehren. Wie soll ich es verantworten, einen solchen möglichen Erfolg in den Wind zu schlagen, nur weil Fritz Seyfried nicht will?« »Was Sie vorbringen, ist die perverse Moral des Krieges«, sagte Seyfried. »Wir sind im Krieg«, sagte Mallée. »Nur verdrängen das die meisten Leute. Und wir werden diesen Krieg verlieren, wenn wir bei unserer Kriegsführung andere moralische Prinzipien anwenden als der Aggressor. Aus diesem Grund hätte die Welt beinahe gegen Hitler verloren.« »Ich war immer für Recht und Moral«, sagte Seyfried. »Auch wenn die Gegenseite sie mit Füßen tritt.« »Das können Sie sich überall leisten, nur nicht in meinem Job. Und jetzt hören Sie zu, Mann: Die Mordverjährung ist aufgehoben. Ihre Flanke in dieser Sache ist vollkommen offen. Sie können Ihren Rechtfertigungsgrund für den Tod des Majors nicht beweisen. Sie müssen mit mir zusammenarbeiten, weil es Ihre einzige Chance ist, der Schlange den Kopf 434
abzuschlagen. Ich wiederhole, Sie müssen, Seyfried. Aber es wäre mir hundertmal lieber, Sie würden wollen.« Es entstand eine Pause, in der alle drei Männer Fritz Seyfried gespannt ansahen. Endlich fügte Mallée hinzu: »Noch eine Frage, Seyfried: Können Sie mir einen Rat geben, wie ich mich sonst verhalten soll?« Noch einmal verstrichen Sekunden, die einer Ewigkeit gleichkamen. »Also gut«, sagte dieser endlich. »Es ist doch nichts anderes als ›friß oder stirb‹. Geben Sie mir Ihre Weisungen, Mallée.« Es war eine Kapitulation vor den Argumenten dieser Vernunft. Die Spannung wich. Die Männer räusperten sich wieder, tranken Kaffee. »Schön«, sagte Pless. »Dann wären wir uns ja einig. Sie erhalten jetzt von uns einen Aktenkoffer, Seyfried, in welchem sich Magnetbänder mit gespeichertem wissenschaftlichen Material befinden. Dieses Material ist fingiert, aber das könnte erst festgestellt werden, wenn es systematisch ausgewertet wird. Nicht von dem technischen Vervielfältiger und auch nicht von dem Übernehmer. Sie brauchen also keine Angst vor der Verantwortung zu haben, wenn es trotz aller Sorgfalt in die Hände des Gegners fallen sollte. Von entscheidender Bedeutung bei diesem Unternehmen ist, daß wir sofort von dem Übergabetreff Kenntnis erhalten. Sofort, Seyfried, verstehen Sie? Denn die Gegenseite wird auf Tempo drängen, um die Sache hinter sich zu bringen. Unsere 435
Leute liegen in ständiger Bereitschaft, aber wir müssen die Nachricht ebenso schnell in Besitz haben wie Sie.« »Wie soll ich das machen?« »Die Nachricht wird schriftlich in Ihren Wagen geworfen, sagten Sie?« »Ja.« »Sie werden sie also irgendwann und irgendwo in einem Augenblick vorfinden, in dem Sie wegfahren wollen.« »Das ist wahrscheinlich, ja.« »Gut. Haben Sie eine Tankstelle, an der Sie regelmäßig tanken?« »Ja«, sagte Fritz Seyfried. »Warum?« »Wie lange ist diese Tankstelle geöffnet?« »Rund um die Uhr. Ich brauche das, weil ich oft sehr unregelmäßig unterwegs bin.« »Wunderbar«, sagte Pless. »Sorgen Sie von jetzt ab dafür, daß Ihr Tank immer soweit leer ist, daß es unverfänglich ist, wenn Sie zum Tanken fahren. Und von der Stelle weg, wo Sie die Nachricht vorfinden, ist Ihr erster Weg zu dieser Tankstelle, wo Sie zusammen mit dem Geld dem Tankwart oder dem Mann an der Kasse auch diese Nachricht übergeben. Wir sorgen dafür, daß kein Mißverständnis auftritt. Dann befolgen Sie genau die Anweisungen, die Ihnen erteilt worden sind. Das ist alles. Das andere machen wir. Welche Tankstelle ist es?« Fritz Seyfried nannte Namen und Adresse. Pless schrieb beides auf und wiederholte es gewissenhaft. »Was passieren wird, kann ich Ihnen nicht 436
voraussagen«, meinte Mallée. »Aber ich kann Ihnen versichern, daß wir das Menschenmögliche tun werden.« »Um Nachtfrost in den Griff zu bekommen«, vollendete Seyfried den Satz, stand auf und knöpfte sein Jackett zu. Die anderen Herren erhoben sich ebenfalls. »Auch, um Ihnen Schutz zu geben«, sagte Pless. »Mit allem einverstanden?« fragte Mallée den Hauptmann. Er wendete sich an Seyfried: »Alles geschieht in enger Zusammenarbeit mit dem Militärischen Abschirmdienst. Denn was hier passiert, gehört eigentlich in dessen Aufgabenbereich.« »Wie abgesprochen, Herr Mallée«, sagte der Offizier. Er bückte sich, um einen neben seinem Sessel stehenden Aktenkoffer aufzuheben, den Fritz Seyfried bis dahin für Steinkopfs eigenen Aktenkoffer gehalten hatte. »Würden Sie bitte Ihren Mantel anziehen, Herr Seyfried.« Fritz Seyfried fuhr in seinen Trenchcoat und schloß Knöpfe und Gürtel. »Und jetzt Ihren linken Arm, bitte.« Steinkopf schloß mittels der Schlaufe einer kurzen Kette den Koffer an Seyfrieds Handgelenk, und Seyfried nahm den Griff in die Hand. Steinkopf behielt den Schlüssel. »Allright, dann kann die Sache also anrollen«, sagte Mallée. 437
Ein kurzes Kopfnicken, eine knappe Verbeugung. Seyfried verließ in Steinkopfs Begleitung das Zimmer und durchschritt den Schaltraum, wo der Mann in seinem blauen Plastikhelm aufmerksam die zischenden Glutbarren vor seinem Kanzelfenster beobachtete. Draußen, auf dem fensterlosen Flur, warteten zwei Männer, die nicht verbargen, welche Aufgabe sie hatten. Ihre Mäntel trugen sie offen, so daß die Neunmillimeter in den Achselhalftern unter den Jacketts sichtbar waren. Steinkopf übergab dem einen von ihnen den Schlüssel zur Stahlkette an Seyfrieds Handgelenk. Anschließend verabschiedete er sich. Rechts und links begleitet von den beiden Männern schritt Fritz Seyfried durch den langen Flur, bestieg den Wagen und fuhr zum Landeplatz, wo der Hubschrauber wartete. Zu dritt gingen sie hinüber und verschwanden in der offenen Einstiegluke. Die Tür knallte hinter ihnen zu. Vor dem Amt erwartete eine Anzahl von Männern die Ankunft der Maschine. Unter ihnen Hans Lockschmidt. In einer eng geschlossenen Gruppe begaben sich die Männer hinüber zum Portal, stiegen die Treppen nach oben und verschwanden im Inneren des Gebäudes. Von der Vorhalle aus ging es in den Garten, wo der langgestreckte Flachbau des Rechenzentrums lag. Neuner, der Tagesportier, beobachtete den Vorgang. In das Innere des Rechenzentrums begaben sich Seyfried, der Sicherheitsbeamte, der den Kettenschlüssel bei sich trug, und Hans Lockschmidt. Der zweite 438
Sicherheitsbeamte postierte sich vor dem Eingang des Rechenzentrums und patrouillierte dort auf und ab. Lockschmidt überprüfte den Abschluß der Vorbereitungen, die Anwesenheit des nötigen Personals und die Einsatzbereitschaft der erforderlichen Maschinen. »In der Zwischenzeit ist auch die Weisung des Ministeriums eingegangen«, sagte Lockschmidt. »Das Material soll nicht nur wiedergegeben, sondern vervielfältigt werden. Willst du selbst anwesend sein?« Fritz Seyfried bejahte. »Die Sache ist mir zu wichtig, Hans. An mir hängt es, wenn irgend etwas schiefgeht.« Hans Lockschmidt hatte Verständnis. »Ruft mich an, kurz bevor ihr fertig seid, damit ich die Unterbringung im Tresor vorbereiten kann.« Damit verließ er das Rechenzentrum. Der Sicherheitsbeamte wanderte in der Nähe des Eingangs hin und her, nachdem er Seyfried den Koffer abgekettet hatte. Später ließ er sich auf einer Sitzgelegenheit nieder und wartete. Da Seyfried nicht die Aufgabe hatte, wirklich zu spionieren, bedurfte es auch keiner besonderen Vorsichtsmaßnahme. Er bestellte ohne Skrupel acht Duplizierungen des gespeicherten Materials auf Mikrofiches, und die Techniker machten sich an die Arbeit. Später gab es Kaffee aus einem Getränkeautomaten. Der Sicherheitsbeamte schnarchte mit hängendem Kopf auf einem Hocker. Kurz bevor nach zwei Stunden die Arbeiten abgeschlossen und die 439
Abzüge entwickelt waren, weckte Fritz Seyfried den Gorilla und rief hinauf zu Lockschmidt. Als dieser das Rechenzentrum betrat, hatte Seyfried bereits die acht Päckchen in dem Aktenkoffer bei den Originalbändern untergebracht. Im kleinen Konvoi brachten die Männer den Aktenkoffer ins Haupthaus, wo Kullnau mit bereitgehaltenem Schlüssel auf sie wartete. In Kullnaus Loge befand sich ein Wandtresor. Von diesem aus waren die elektronischen und Selenzellensicherungen des Haupttresors abzuschalten. Zur Öffnung des Wandtresors bedurfte es eines Schlüssels, den der Pförtner in Verwahrung hatte, und eines zweiten, den nur einige Beamte im Rang eines Regierungsdirektors des Amtes besitzen durften. Zu ihnen zählte Hans Lockschmidt. Die Öffnung des Panzertores im Stahlkeller selbst erforderte einen weiteren Schlüssel und die Kenntnis der achtstelligen, täglich wechselnden Chiffrezahl. Diese Öffnung durfte nur allein durch dazu berechtigte Beamte, ohne Anwesenheit der Pförtner oder Außenstehender, vorgenommen werden. Verstöße wurden disziplinarisch geahndet. Nach diesem Ritual wurde der Tresor geöffnet und der Aktenkoffer in einem mit einer Gitterklappe verschließbaren Fach verwahrt. »Ich bin heilfroh, das heiße Zeug hinter Schloß und Riegel zu haben«, sagte Seyfried zu Lockschmidt, als sie endlich den Tresor verschlossen und in der Pförtnerloge die Sicherungen eingeschaltet hatten. Lockschmidt klopfte Seyfried auf die Schulter: »Damit hast du den ersten Akt absolviert, 440
Fritz. Jetzt fahr nach Hause und schlaf dich aus.« Während Lockschmidt hinüber zu den beiden Sicherheitsbeamten ging, die in einer Ecke, der Vorschrift entsprechend, ihre Neunmillimeterpistolen entluden, zog Kullnau Seyfried zur Seite. »Seien Sie wachsam, Herr Seyfried. Ich habe vorhin in der Tiefgarage den Eindruck gehabt, als hätte jemand an Ihrem Wagen herumgemacht. Ich habe ihn sofort überprüft, aber nichts gefunden. Haben Sie ein Auge auf den Wagen. Ich werde den Eindruck nicht los, daß es irgend jemand auf Sie abgesehen hat.« Seyfried dankte und stellte keine weiteren Fragen. Er wußte, daß um diese Zeit noch jeder, der sich auskannte, von außen in die Tiefgarage gelangen konnte. Was hätte der Pförtner schon tun können? Als er drunten auf seinem reservierten Platz den Citroën aufschloß, sah er die Nachricht in dem Augenblick, da die Innenbeleuchtung sich einschaltete. Im schwächlichen Schein des Lämpchens las er die kurze Mitteilung: Fahren Sie morgen nacht Punkt 22 Uhr 30 auf die Autobahn in Richtung Cochem. Sie erhalten dann eine unmißverständliche weitere Weisung. Fritz Seyfried verkleinerte den Zettel so, daß er zwischen einen zusammengefalteten größeren Geldschein paßte, und steckte beides in die Tasche seines Mantels. Dann fuhr er entsprechend den Weisungen, die Pless ihm gegeben hatte, auf dem direkten Weg zu seiner Tankstelle. 441
Pless’ Leute hatten rasch gearbeitet. Die Frau an der Kasse wußte Bescheid. Sie sah Seyfrieds Wagen an die Zapfstelle fahren. Als er bezahlte, fühlte sie die Mitteilung in dem gefalteten Geldschein und schob ihn unbewegten Gesichtes in die Schublade der Registrierkasse. Ebenso unbewegten Gesichtes gab sie Seyfried das Wechselgeld heraus und wünschte dem Kunden einen guten Abend und angenehme Fahrt.
442
13 »Sind wir jetzt fertig?« fragte der General und legte die schweren Hände in einer Weise flach vor sich auf die Kante des Mahagonischreibtisches, die keinen Zweifel daran aufkommen ließ, daß es für den Besucher angenehmer wäre, wenn er die Frage mit ja beantworten würde. Der Mann tat es. Er sagte sogar »Jawohl, Genosse General«, sammelte die Blätter, die er beschrieben hatte, ein, stieß sie zurecht, faltete sie einmal und schob sie in die Innentasche seiner Jacke. Danach erhob er sich und sah auf General Soltjakin herunter. Der Offizier machte keinerlei Anstalten, sich ebenfalls zu erheben. Nur seine eine Pranke löste sich von der Schreibtischplatte und wies auf die geschlossene Tür. »Sie können dort hinausgehen, wo Sie hereingekommen sind«, sagte er und wendete sich der Arbeit zu, bei welcher ihn der Besucher unterbrochen hatte. Dabei schob er die schwere, dunkle Hornbrille wieder vor die Augen und sah nicht mehr hoch, während der Mann in seinem ungebügelten zu hellen Anzug mit den zu kurzen Hosenbeinen die sieben Meter bis zur Tür zurücklegte. Soltjakin konnte sich die Kontur der Kanaille, die Alikin ihm auf den Hals gehetzt hatte, auch vorstellen, ohne daß er ihr nachstarrte und sich dabei noch etwas vergab. 443
Diese verdammte Arroganz, dachte der Mann auf seinem Weg zur Tür, den die Bemerkung des Generals zu einem erniedrigenden Spießrutenlaufen verwandelt hatte, diese Armee, dieser Staat im Staate. Welcher Genuß mußte es sein, es diesen uniformierten Großmoguln eines Tages zu zeigen, sie in ihre Schranken zu weisen, die nicht von ihnen gezogen wurden, wie sie wohl meinten, sondern von der geheimen, aber dafür wirklichen Macht des KGB. Alexejew Andrianowitsch Soltjakin erriet diese Gedanken seines scheidenden Besuchers. Welch ein Segen, daß wenigstens die Armee noch einen Staat im Staate bildete, einen Hort der Ordnung und der Disziplin in einer Gesellschaft von Denunzianten, Spitzeln, Karrieremachern und Opportunisten. Er zog die Brille von den Augen, legte sie aufgeklappt vor sich auf die Schreibtischplatte, lehnte sich tief aufatmend in seinen Sessel zurück und starrte hinüber auf das glatte Holz der Tür, hinter der sein ungebetener Gast verschwunden war. Sein erster Impuls war, sofort Rodionowsky anzurufen, den alten Waffengefährten aus der Zeit, da sie gemeinsam den Warthegau, den Oderbruch und Berlin erobert und später die Bänke in den weitläufigen Hörsälen der Frunse-Akademie gedrückt hatten, bevor sie in höhere Stabsstellungen aufstiegen. Aber dann überlegte er sich, daß er Rodionowsky mit dieser Sache erst kommen durfte, wenn er Fakten besaß. Und Fakten konnte er, so wie die Dinge lagen, nur 444
von einem einzigen Menschen bekommen, und das war Jost Wentzell-Marschal. Der General zögerte nicht lange, sondern zog dasjenige der beiden Telefone zu sich herüber, das ihn unmittelbar mit den Kommandostellen in Deutschland verband. Er verlangte und erhielt eine Sofortverbindung mit den Stäben der Deutschen in Strausberg. Jedoch meldete sich in der Operationsabteilung des Obersten Wentzell niemand. Er fragte sich von Dienststelle zu Dienststelle durch und erhielt überall unbefriedigende, unklare oder gar keine Auskünfte. Schließlich ließ er den Hörer auf die Kontakte krachen und verlangte anschließend erneut eine Verbindung, dieses Mal mit General Igor Iwanowitsch Rajewsky in Karlshorst. Der Kamerad in Deutschland war selbst am Apparat. Soltjakin nannte seinen Namen. In seiner Stimme klang die Sorge mit. »Ich kann Jostin Wentzell nirgends erreichen, Igor Iwanowitsch. Ich telefoniere in diesem ganzen verdammten Strausberg herum und kann ihn nirgends erwischen.« »Hast du es zu Hause versucht, Towarischtsch?« »Zu Hause … ja, weißt du …« Der General stockte und rieb sich mit der freien Hand den Hinterkopf. Er konnte unmöglich dem anderen sagen, daß er insgeheim Scheu davor hatte, mit Jalewa zu sprechen. Es ging schließlich niemanden etwas an, daß er gegen diese Polin eine tief eingewurzelte Antipathie empfand und überdies ganz genau wußte, daß sie gegenseitig war. 445
Er konnte diesen Tag im Mai 1955 nicht vergessen, als sie in Warschau in dem Offiziersheim der Polen auf den zehnten Jahrestag des Sieges über Hitler angestoßen hatten und Rokossowsky mitten im Toast sein Glas an die Wand gefeuert und ausgerufen hatte: »Zum Teufel, ihr polnischen Hunde, ich weiß genau, worauf ihr wirklich anstoßt: Auf den Juli 1920 stoßt ihr an, ich weiß es.« Im Juli 1920 hatten tollkühne polnische Freikorps die weit überlegenen und schwerbewaffneten russischen Truppen vom Westufer der Weichsel zurück über den Fluß nach Osten gejagt. Jedem sowjetischen Kameraden hatte damals der Oberkommandierende, Marschall Rokossowsky, mitten aus der Seele gesprochen. Auch ihm selbst, Soltjakin. Aber das war alles viel zu kompliziert, um es Rajewsky hier am Telefon auseinanderzusetzen. »Zu Hause … ja, weißt du … nein, das habe ich nicht. Ich habe nicht einmal Jostins Nummer zu Hause. Weißt du auch nichts, Igor Iwanowitsch?« »Doch, ich weiß etwas«, sagte der Mann in Karlshorst zu Soltjakins Überraschung. »Ich habe einen Zettel hier, daß Oberst Wentzell den nächsten Routinebesuch bei mir nicht wahrnehmen wird.« Soltjakin hörte, wie sein Gesprächspartner auf dem Schreibtisch herumkramte und offensichtlich nach der Notiz suchte, von der er gesprochen hatte. Endlich schien er sie gefunden zu haben. »Hier … hier ist es …«, hörte Soltjakin Rajewskys Stimme. 446
»Das muß eine Sache von höchsten Stellen sein. Der deutsche Armeegeneral scheint das persönlich verfügt zu haben. Jost Wentzell ist überraschend zu einer gemeinsamen Übung kommandiert worden. Das kocht schon seit einer Woche. Man will den Polen Dampf machen, damit sie es nicht zu weit treiben.« Soltjakin empfand eine augenblickliche Erleichterung. Eine gemeinsame Übung? Und schon seit über einer Woche im Gespräch? Dann konnte es nichts Ernsthaftes sein. »Wann ist diese Übung, Igor Iwanowitsch? Und wo?« »Sie beginnt übermorgen im Morgengrauen und findet im Raum der unteren Neiße statt. Zwischen Muskau und Görlitz. Warum fragst du danach?« »Es ist gut, Igor Iwanowitsch«, sagte Soltjakin anstelle einer Antwort. »Ich danke dir.« Die Frage konnte und wollte er dem Mann in Karlshorst nicht beantworten. Es hätte zu weit geführt, ihn mit den Gedanken vertraut zu machen, die ihn trotz der eigentlichen beruhigenden Mitteilung Rajewskys bestürmten. Erneut zog der alternde Mann die Brille von den Augen, rieb sich mit dem Handrücken die schweren Lider. Er lehnte sich rückwärts und starrte blicklos vor sich hin. Wenn Alikin seine Spitzel schon ihm hierher ins Ministerium geschickt hatte, dann hatte er sie erst recht zu Jost geschickt. Übung hin, Übung her, zu 447
lange hatte General Soltjakin in nachrichtendienstlichen Stellungen gedient, um nicht allzu genau die hinterhältigen Aktionen der Nachbarn vom KGB zu durchschauen. Und daß die Aktionen seines eigenen Verbandes nicht weniger hinterhältig waren, wußte er auch. Nur verdrängte er es meist. Aber diese unterschwelligen Erfahrungen ließen ihm keine Ruhe. Er stand auf, ging zum Fenster hinüber und blickte auf den um diese Tageszeit menschenleeren Innenhof hinunter. Was hatte er eigentlich schon? Er hatte keine Familie und keine Frau. Er hatte keinen Gott. Er hatte auch keine Zukunft. Der Stoßseufzer fiel ihm ein, den Friedrich Schiller, dieser verdammte deutsche Idealist, dem Infant von Spanien in den Mund legte: »Schon 23 Jahre, und noch nichts für die Unsterblichkeit getan.« Er selbst war jetzt 64 Jahre und hatte auch noch nichts für die Unsterblichkeit getan. Gewiß, er hatte damals unter Einsatz seines Lebens mitgeholfen, zu verhindern, daß die Deutschen sein Land vollständig und auf Dauer in Schutt und Asche legten, und dann ein halbes Leben lang daran gearbeitet, daß sich das nicht wiederholte. Aber was würde letztendlich von alldem bleiben? Nein, der eigentliche Sinn seines Lebens hieß Jost Wentzell. Und auf Jost Wentzell hatten sie die Hunde gehetzt. Als Alexejew Andrianowitsch Soltjakin sich das klargemacht hatte, wußte er, was zu tun war. Er mußte niemandem Rechenschaft ablegen. Also ging er zurück zu seinem Schreibtisch, griff nach dem 448
Hörer des Telefons und verlangte seinen Ordonnanzoffizier. Der Offizier, ein Hauptmann der Panzertruppe, betrat nach kurzer Zeit den Raum. Soltjakin bedeutete ihm, daß er überraschend morgen sehr früh eine Reise in die Deutsche Demokratische Republik anzutreten habe. Man möge ihm die seinem Stab zur Verfügung stehende Kuriermaschine bereitstellen, um ihn nach Marxwalde zu bringen; und dorthin möge man einen Wagen beordern. Die Fahrt gehe in den Raum Muskau – Görlitz. Der junge Mann machte sich gewissenhaft Notizen, wiederholte seinen Auftrag und nahm Haltung an. Er eilte herbei, um seinem Chef in den schweren Mantel zu helfen, als er sah, daß Soltjakin den Wandschrank öffnete. »Danke«, sagte der General, klopfte dem Jüngeren auf die Schulter und stülpte die goldbetreßte Mütze auf die weiße Haartolle. »Danke, mein Sohn. Besorg mir das alles und dann fahr nach Hause zu deiner Frau und mach sie glücklich.« »Und Sie, Genosse General?« fragte der Hauptmann teilnehmend. General Soltjakin rechnete sich mechanisch aus, wieviel Zeit der junge Mann wohl noch vor sich hatte, bis er ebenso abgebrüht, stumpfsinnig und gleichgültig in diesem Dienst geworden war, wie er selbst. »Ich?« sagte er, »vielleicht finde ich irgendwo in diesem verdammten Städtchen noch eine stille Ecke, wo es für einen verdienten Helden der Sowjetunion eine Flasche Tokajer gibt, oder auch zwei.« 449
General Soltjakin fand eine solche Ecke. Er wußte später nicht einmal mehr, wie die Kneipe geheißen hatte, noch weniger, wo sie gewesen war. Aber es war ihm immerhin geglückt, bei zwei Flaschen Tokajer zu klarem Kopf zu gelangen. Er hatte gegen ein Uhr Schluß gemacht und war gar nicht mehr nach Hause gefahren, sondern hatte in seinen Diensträumen genächtigt. Kurz nach halb sieben Uhr, als es gerade hell wurde, startete das Kurierflugzeug von einem Militärflugplatz im Nordosten der Stadt und flog vor einem sich ausbreitenden winterlichen Morgenrot her nach Westen. Soltjakin sah unter sich die eintönigen Ebenen Weißrußlands und erwachende Industriestädte. Wjasma, Minsk, Orscha, Smolensk, Namen aus der blutigen Geschichte seines Landes. Später dann Polen. Schon im Glanz eines sonnigen Vormittags rollte die Maschine auf der Landebahn von Marxwalde, nur wenige Kilometer westlich der Oder, aus. Von der Kommandantur aus führte Soltjakin ein Gespräch mit Igor Iwanowitsch Rajewsky, der ihm Einzelheiten der Übung im Lausitzer Raum und den Ort des Gefechtsstandes nannte, von dem aus die Übung geleitet wurde. Wenig später saß der General in der ihm hier in Deutschland zur Verfügung stehenden Limousine und rollte südwärts. Sein erfahrenes Auge entdeckte entlang der ganzen Strecke, die er befuhr, den beginnenden Aufmarsch 450
einer Armee. Noch waren es nicht die Divisionen und Regimenter der ersten Linie, sondern die Vorkommandos, vorgeschobenen Beobachtungsposten und Stäbe, die gut getarnt in Wäldern und Dörfern biwakierten. Alles andere konnte an einem Tag X rasch aufschließen und nach einem präzisen Plan anrollen. Südlich von Cottbus verließ der Wagen des Generals die Hauptverkehrsstraße, die nach Görlitz führte, und wendete sich, ein wenig ostwärts ausbiegend, dem Flüßchen Neiße zu. Es dauerte nicht lange, bis er Bad Muskau erreichte. Mit leeren Fensteraugen starrte rötlich der NeoRenaissance-Bau des ausgebrannten Schlosses der Fürsten Pückler zwischen weitausladenden, winterlich entlaubten Kastanien herüber, nicht weit dahinter die stille Neiße. Weiter südlich wand sich der Fluß durch sanft abfallende, verschneite Wiesenhänge, über welche Zungen kahlen Buschwerks talwärts krochen. Allmählich wurde der Verkehr auf der schmalen Straße stärker. Es waren fast nur noch Militärfahrzeuge, denen Soltjakin begegnete. Von Westen drängten sich lockere, aber ausgedehnte Kiefernwälder an die Straße heran. In diesen Wäldern befanden sich die Unterkünfte sowjetischer Verbände. Der Zutritt zu den Waldgebieten war durch Schilder und Barrieren versperrt. Wo sandige, ausgefahrene Wege nach rechts einbogen, standen Holzschilder mit taktischen Zeichen, Nummern und Namen. 451
Schilderhäuser gab es hier, und Posten in langen Mänteln und Pelzmützen regelten Ein- und Ausfahrt. An einer dieser Stellen bog der Wagen des Generals nach Westen ein und hielt an. Der Posten prüfte gewissenhaft Papiere und Identität, salutierte und gab die Weiterfahrt frei. Die olivgrüne Limousine rollte unter den Schutz dichtstehender Kiefern. Soltjakins Fahrer folgte den taktischen Hinweiszeichen in die Tiefe der Waldungen hinein zum Verbindungsstab der Volksarmee. Überall längs des sandigen Waldweges verbargen die Kiefern das Kriegsgerät einer modernen Armee, Panzer, Geschütze, Raketentransporter, Brückenbau- und Nachrichtenfahrzeuge. Soltjakin fand den deutschen Oberst im Schutze eines in winterlichen Tarnfarben schmutzigweiß gestrichenen Stabszeltes. Er übertrug vor einem Kartentisch stehend auf einer Generalstabskarte polnisch klingende Ortsnamen aus kyrillischen Buchstaben in lateinische. Er sah hoch, als die Gestalt des Generals den Eingang des Zeltes verdunkelte. »Gospodin.« Der General kam herein und ließ den Eingangslappen hinter sich zufallen. Im Innern des Zeltes herrschte eine gedämpfte Helligkeit. »Du sollst nicht immer Gospodin zu mir sagen.« Die Anrede Gospodin war durch und durch unsozialistisch, und die Partei verabscheute sie. Jedoch hatte der 13jährige Jost Marschal im Sammellager von Woldenberg vor 35 Jahren den Major Soltjakin aus anerzogener Höflichkeit mit diesem Wort angeredet, 452
und seither gebrauchte er es stets dann, wenn er es besonders herzlich mit dem Freund meinte. Die Männer umarmten sich. Soltjakin nahm die Mütze ab und sah sich interessiert um. »Was habt ihr denn hier zusammengezogen, Jostin?« »Drei Divisionen, Gospodin. Aber das müßtest du eigentlich besser wissen als ich.« »Ich? Nichts weiß ich. Ich habe von diesem Unternehmen durch Zufall gehört, als ich am Telefon in eurer ganzen Republik nach dir herumfragte. Und was soll das Ganze?« »Morgen früh in der Dämmerung soll eine Abteilung aus der Bereitstellung ohne Pionier- und Brückenbaugerät die Neiße durchqueren und drüben auf polnischem Boden einen gepanzerten Brückenkopf bilden. Hier, sieh es dir an.« Soltjakin trat an den Kartentisch, legte die Mütze darauf, stützte die Hände auf und ließ sich von Jost Wentzell die Operation erklären. »Wissen die Polen eigentlich etwas von dieser Übung?« fragte er, nachdem er sich orientiert hatte und richtete sich auf. »Keine Ahnung«, sagte der Deutsche. »Darüber ist nichts bekanntgegeben worden. Ich weiß nur, daß drüben auch Einheiten von euch Bereitstellungen bezogen haben.« Der General schüttelte langsam und unbehaglich berührt den Kopf. Warum hatte man das alles vor ihm verheimlicht? Zugegeben, es ging nicht um sein eigentliches Aufgabengebiet, aber wenigstens nachrichtlich hatte er bisher von solchen Operationen 453
Kenntnis gehabt. »Ich muß lange und ausführlich mit dir sprechen, Jostin«, sagte er nach einer gewissen Zeit. »Vielleicht heute abend«, antwortete Jost Wentzell. »Ich bin zu dieser Abteilung abkommandiert und fahre morgen früh in einem der Amphibienpanzer den Angriff mit. Heute nachmittag ist die Befehlsausgabe.« »Die Befehlsausgabe, soso«, sagte der General, und es war unverkennbar, daß er dabei an etwas ganz anderes dachte. »Sieh zu, daß du das möglich machen kannst, mein Junge. Es ist sehr wichtig. Aber jetzt muß ich mich wohl bei deinem Kommandeur melden, wenn ich mich schon hier in eurem Aufmarsch herumtreibe.« »Dies hier ist sowjetisches Militärgelände«, sagte der Oberst. »Wir sind hier nur Gast. Aber trotzdem, melde dich und trink einen Wodka mit ihm.« Oberst Wentzell trat mit dem General hinaus vor das Zelt und wies ihm den Weg. Soltjakin ließ seinen Fahrer die schwere Limousine unter den Schutz der Bäume bringen und stapfte breit und bärenhaft in die Richtung davon, die Jost Wentzell ihm angegeben hatte, wobei er die Unterarme tief in die Taschen des Mantels versenkte. Der Oberst sah ihm noch eine kurze Weile nach und bückte sich dann, um sein Zelt wieder zu betreten. Der deutsche Kommandeur residierte in einer der Baracken, die der hier liegenden sowjetischen Stammeinheit als Kultur- und Gemeinschaftsraum diente. Auch er war ein Oberst und vernahm in 454
steigendem Unbehagen, wer sich da bei ihm eingenistet hatte. Generalmajor Soltjakin, soso, vom Nachrichtendienst des Generalstabes in Moskau, aha, bekannt mit dem Genossen Oberst Wentzell, jaja, der sei für die Dauer der Übung zu diesem Regiment kommandiert, das sei korrekt. Darauf folgte das Prost mit dem Wodka, das in solchen Situationen in den Stäben der Vereinigten Streitkräfte obligatorisch ist. Danach stellte der Deutsche das Glas zurück auf den Holztisch und sah den Russen an wie ein Wundertier. Komisch, daß diese deutschen Stabsoffiziere alle eine Wachtmeistervisage haben, dachte Soltjakin eben in dem Augenblick, als der Deutsche sich überlegte, daß er es doch lieber nicht verantworten wolle, den hohen Genossen auf eigene Faust hier beim Regiment herumspazieren zu lassen. »Genosse General«, sagte er also in holprigem, thüringisch gefärbtem Russisch, »die Übung steht unter der Leitung von Genossen General Michalionow. Vielleicht sollten Sie doch auch dort sich anmelden. Ich lasse Sie hinbegleiten.« Wenig später stapfte also Soltjakin neben einer Ordonnanz her weiter durch den Wald und traf General Michalionow in einem ähnlichen Stabszelt wie dem, in welchem er Jost Wentzell gefunden hatte. Der General hatte sich seiner Stiefel entledigt, saß in Hosenträgern auf einem Feldstuhl und las in einer älteren Nummer der Armeezeitung, als Soltjakin eintrat. Er legte die Zeitung beiseite, fuhr in seinen Rock und ließ sich von einer Ordonnanz in die Stiefel 455
helfen, indem er sich mit der Hand schwer auf den Rücken des Burschen stützte. »Der Genosse Oberst Kuehne hat Sie schon angemeldet«, sagte er, während er den Waffenrock zuknöpfte und wieder ein annähernd militärisches Aussehen annahm. Sein Gast musterte mit kundigem Blick die breite Palette der Ordensbänder auf des anderen Brust. Nachkriegsgedienter, stellte er dabei fest, vielleicht Jahrgang ’30 oder ’32, einer von der streberhaften Sorte mit dem grauen Rattengesicht der ewig Magenkranken. Ein Intellektueller ohne Vitalität und Schwung, einer, der bestimmt keinen Kasatschok mehr konnte und sich niemals betrank, in der Lehrgangsklasse der Beste und bei den Weibern der Schlechteste, dafür aber intrigant und duckmäuserisch. Einer, dem man ein Kommando nach Afghanistan wünscht, damit er einmal wirkliche Kugeln hört anstatt der Billardkugeln in den Offiziersheimen der Armee. Den Namen Michalionow hatte Soltjakin schon einmal irgendwo gelesen, wahrscheinlich in einer der Beförderungslisten, die vierteljährlich im Ministerium kursierten. Mehr als den Namen wußte er indessen von dem Mann nicht, der ihm jetzt gegenüberstand und den obersten Knopf des Waffenrockes schloß, nachdem er die Ordonnanz hinausgeschickt hatte. – »Der GRU schickt Sie, Genosse Soltjakin?« »Der GRU schickt mich nicht, Genosse Michalionow. Ich bin sozusagen privat hier. Oberst Wentzell ist ein guter Freund von mir.« »Oberst Wentzell«, sagte der Mann mit dem 456
säuerlichen Rattengesicht. »Haben Sie ihn schon getroffen?« »Ja, ich habe ihn schon getroffen. Ich will den Abend mit ihm verbringen. Können Sie für meine Verpflegung und Unterbringung sorgen?« General Michalionow konnte das. Soltjakin bekam eine Stube in einer Baracke zugewiesen und eine Verpflegungskarte für die Offiziere des Manöverstabes. »Morgen früh können Sie einen Platz auf der Tribüne bekommen und den Neißeübergang beobachten«, sagte Michalionow abschließend. »Wird das Ganze denn auf so begrenztem Raum stattfinden?« fragte Soltjakin. »Sehen Sie, diese Operation ist eine Stabsrahmenübung zur Überprüfung der Funktionsfähigkeit der Führungstechnik gemischt nationaler Verbände. Stellen Sie sich vor, ein Gehirn und ein gesamtes Nervensystem sind in voller Tätigkeit, aber bewegt wird nicht mehr als nur eine kleine Zehe. Das ist eine Abteilung des Regiments des Genossen Oberst Kuehne.« »Diejenige, der auch Oberst Wentzell zugeteilt worden ist?« »Diejenige, ja«, antwortete Michalionow. »Die sprachliche Synchronisation der Befehlsübermittlung ist mit die wichtigste Aufgabe bei einer solchen Operation.« General Soltjakin nickte langsam vor sich hin. Das klang alles logisch, glaubhaft und plausibel. Für eine kurze Zeit wich die Sorge. Michalionow gab Soltjakin 457
eine Ordonnanz mit und ließ ihn zu seinem Quartier bringen. Ein anderer Soldat suchte den Fahrer und schickte auch den Wagen dorthin. Zum Mittagessen versammelten sich die Offiziere des Stabes in einer Baracke und aßen auf rohen Tischen und Bänken. Es gab eine Fischsuppe, einen Kartoffelkascha mit Würstchen und Dörrobst. Der General hatte nur kurz Gelegenheit, mit Jost Wentzell zu sprechen. Der Oberst sagte, daß er sich gegen 17 Uhr dreißig freimachen könne. Allerdings dürfe das Stabsgelände nicht mehr verlassen werden und er wolle trotz oder gerade wegen seines Ranges keine Ausnahme machen. General Michalionow, der am Kopfende des langen Holztisches saß, machte sich seine eigenen Gedanken, als er Soltjakin und den Oberst beim Gespräch beobachtete. Außer an seinem sehr fetten und außerdem zu scharfen Szegediner Würstchen kaute er an der Überlegung herum, ob er dem Kollegen aus Moskau von diesen Gedanken etwas hätte sagen sollen oder es jetzt noch tun sollte. Einerseits war es immer gut, sich durch Kenntnisreichtum und Informiertheit in Richtung Moskau zu profilieren. Aber andererseits konnte es auch sein, daß man gerade in dieser Sache sein Schweigen erwartete und er mit beiden Juchtenstiefeln in eine ganze Waschschüssel voll Fett trampelte, wenn er zu Soltjakin etwas sagte, was dieser vielleicht ohnehin schon wußte oder gerne mit dem Mantel des Schweigens zugedeckt hätte. Michalionow dachte an einige Merkwürdigkeiten, die Wentzells Kommandierung begleitet hatten. Der Offizier sei in 458
einem der ersten Panzer einzusetzen, die durch den Fluß tauchen würden, hatte es geheißen. Dann kam die eigentümliche Anweisung, daß die Nummer dieses Panzers nach oben bekanntzugeben sei. Sie solle außerdem weiß nachgezogen und besonders deutlich kenntlich gemacht werden. Der Kommandeur hatte alle diese Anweisungen routinemäßig befolgt und im übrigen nicht weiter nach den Gründen gefragt. Dies entsprang einer langjährigen Erfahrung im Dienst. Als er aber jetzt den leitenden Offizier des GRU für Westeuropa neben Oberst Wentzell sitzen sah, ließen ihn erneut die Gedanken nicht in Ruhe. Vielleicht war es doch nicht ganz ohne Bedeutung, daß durchgesickert war, die Staatssicherheit der Deutschen sei an dieser Sache beteiligt. Vielleicht hing die Anwesenheit dieses rotbackigen Haudegens aus dem Mekka der Partei damit zusammen. Eine Antwort vermochte sich Michalionow auf alle diese Fragen indessen nicht zu geben. Die Tage waren um diese Jahreszeit noch nicht allzu lang. »Wohin gehen wir?« fragte Soltjakin. »Hier gibt es nichts«, antwortete Jost Wentzell, »außer Kiefern und Sand. Im nächsten Dorf sind zwei Bauernwirtshäuser, auf die wirst du keine große Lust haben.« »Also entscheiden wir uns für die Kiefern und den Sand«, sagte Soltjakin. »Es ist ja schließlich egal, wo wir über das reden, was geredet werden muß.« 459
Nebeneinander herschlendernd verließen der Russe und der Deutsche den Unterkunftsbereich mit seinen hin und her eilenden Soldaten, seinem Geruch nach Essen und Holzrauch, seinen getarnten Zelten, Baracken, Antennenmasten und Fahrzeugen. Bald umgab sie dämmerige Stille und der würzige Duft naßkalter Baumrinde und Kiefernnadeln. »Was ist denn so wichtig, daß du eigens aus Moskau hierhergeflogen bist?« wollte Jost Wentzell wissen. »Die Sache mit dem westdeutschen Revanchisten hatten wir doch erledigt«. »Du bist mir so wichtig«, antwortete der General. »Hör zu, mein Sohn. Gestern erschien bei mir im Ministerium einer von diesen Herren, deren Besuch man nicht ablehnen kann. Eine Kreatur Alikins mit einer Meerschweinchenvisage, zu langen Koteletten und zu kurzen Hosen in Zivil. Der sitzt mir also mit einem Block auf den Knien an meinem Schreibtisch gegenüber und fragt mich über dich aus.« »Über mich, Gospodin?« »Über dich, ja. Und tu nur nicht so erstaunt. Auch ich hatte bei meinem letzten Besuch in Berlin schon so einen Gestank in der Nase, als ob etwas mit dir nicht ganz stimmt. Erinnerst du dich?« »Ja, ich erinnere mich. Und was wollte der Bursche von dir wissen?« »Die ganze Litanei«, antwortete der General. »Wie lange ich dich kenne, woher ich dich kenne, wie gut ich dich kenne. Er sagte mir, was er mir gar nicht erst 460
sagen muß, weil ich es selber weiß, an was für einem wichtigen Posten du sitzt. Er fragte mich, ob ich etwas über deine Zuverlässigkeit, über deine Einstellung zur Armee, zur Partei, zum Dienst wisse. Er fragte, ob du meines Wissens Verbindungen zum Westen hast. Er fragte mich, ob ich dich für fähig hielte, die Fronten zu wechseln. Etwa aus Überzeugung oder auch aus Zweifel an den Entschlüssen unserer eigenen Führung. Er fragte …« Der General brach ab und blieb stehen. Auch Oberst Wentzell blieb stehen, wendete sich zu seinem Begleiter um und sah ihm ins Gesicht. »Ja, willst du mich nicht endlich unterbrechen, Jostin?« fuhr General Soltjakin fort. »Ich bombardiere dich seit fünf Minuten mit lauter Anschuldigungen, von denen jede einzelne dich an die Wand oder nach Sibirien ins Arbeitslager bringen könnte, und du stapfst neben mir her, hörst zu und hältst einfach deinen Mund, als ginge dich das Ganze überhaupt nichts an.« »Und was hast du dem Meerschweinchen geantwortet, Alexejew Andrianowitsch?« fragte Jost Wentzell nach einer Weile. »Ich habe ihn gefragt, ob er vielleicht verrückt wäre. Ob er vielleicht nicht weiß, was er da daherredet. Daß es einen verdienten General der Roten Armee und Teilnehmer am Großen Vaterländischen Kriege automatisch vor das Kriegsgericht brächte, wenn er diese niederträchtigen Fragen jetzt mit ja beantworten würde. Weil er dann nämlich Kenntnis von einem Hochverratstatbestand besessen und diesen nicht 461
gemeldet hätte, wie es seine Pflicht sei. Das habe ich dem Kerl geantwortet und dann habe ich ihn hochkant aus meinem Büro gefeuert und wollte, aufgebracht wie ich war, Rodionowsky und Alikin anrufen.« »Und? Hast du es getan?« »Nein, Jostin, das habe ich nicht getan. Und zwar deswegen nicht, weil ich mit dir reden wollte, bevor ich das tue. Und jetzt will ich von dir die Wahrheit hören. Jetzt sind wir hier mitten in so einem verdammten deutschen Kiefernwald, weit weg von Moskau und vom KGB und keiner hört uns zu. Jetzt will ich von dir wissen, wie das alles zusammenhängt. Wie dieser Hundesohn von Alikinknecht zu diesen verdammten Fragen kommt und ob mein mulmiges Gefühl im Magen einen Grund hat, das ich seit unserem Treffen in Berlin nicht mehr loswerde.« »Ich bin mir absolut keiner Schuld bewußt, Gospodin«, sagte Jost Wentzell lachend und mit Überzeugung. Aber der General lachte nicht und war auch nicht erleichtert. »Schuld bewußt … Schuld bewußt …« dröhnte er los. »Du redest wie in einem bürgerlichen Mädcheninternat. Als ob du nicht wüßtest, wo wir leben, Jostin. Als ob du nicht wüßtest, daß es gänzlich gleichgültig ist, ob du dir einer Schuld bewußt bist oder nicht, solange ein Subjekt wie Alikin etwas in der Hand hat, das er gegen dich ausspielen kann. Und sei es auch nur, um mich damit zu treffen. Hat er etwas in der Hand?« – »Um dich zu treffen, Gospodin?« »Lassen wir das jetzt, Jostin. Hat er etwas in der 462
Hand?« »Ich bin weder fähig, Geheimnisse unserer Länder für Geld noch aus Überzeugung an den Westen zu verraten. Ich beabsichtige weder noch bin ich moralisch dazu fähig, die Fronten zu wechseln oder überzulaufen. Mich würde es auch nicht locken, im Westen ein feines Leben zu führen, selbst wenn ich nicht wüßte, daß das auch dort vorübergehend ist. Genügt dir das, Alexejew Andrianowitsch? Darauf gebe ich dir mein Ehrenwort als dein Freund.« »Soweit ja«, sagte der alte General. »Aber gibst du mir auch dein Ehrenwort darauf, daß du keine Kontakte zum Westen und keine Zweifel an den Entschlüssen unserer Regierung hast?« Jost Wentzell zögerte mit der Antwort ein paar Sekunden zu lange, um nicht in Alexejew Andrianowitsch die Sorge wieder wachsen zu lassen. »Siehst du, Jostin, was sage ich. Wer ist es? Mit wem konspirierst du? Was verschweigst du mir?« »Es hängt mit dieser alten Geschichte von damals zusammen«, sagte Jost Wentzell. »Mit der, die ich dich gebeten habe zu vergessen?« »Ja. Aber ich schwöre dir, alle Schlüsse sind falsch, die daraus gezogen werden können. Das ist eine private Angelegenheit, sonst nichts.« General Soltjakin nahm die Tellermütze vom Kopf, starrte vor sich hin zwischen die in rötlichem Dämmer verschwindenden Stämme der Kiefern und klopfte sich gleichzeitig beschwörend mit der flachen Hand mehrmals an die Stirn. Er zweifelte an Jost Wentzells 463
Verstand. »In unserer militärischen Position gibt es keine privaten Angelegenheiten, Jostin. Nicht nur bei uns, sondern auch drüben. Hast du das nicht gewußt?« »Vielleicht habe ich es deswegen nicht gewußt, weil diese Sache, so lange ich denken kann, die erste private Angelegenheit ist, der ich seit der Nacht von Tomaszów begegnet bin. An meine Familie wurde ich zum erstenmal wieder erinnert, als mich diese Frau aus dem Westen auf der Straße ansprach.« »Auf der Straße?« »Auf der Straße, ja. Zwischen Strausberg und Karlshorst.« »Und ausgerechnet eine Kapitalistenschlampe.« »Das darfst du nicht sagen, Towarischtsch, das wäre ungerecht. Du wirst es einsehen, wenn ich dir alles erzählt habe.« »Also, dann fang an, Jostin, damit ich endlich klar sehe.« So erzählte der Oberst Jost Wentzell-Marschal seinem alten Freund an diesem Abend alles, was er seit damals erlebt hatte, als ihm durch das Einwohnermeldeamt der Hauptstadt der DDR jene vergilbten Postkarten wieder zugeschickt worden waren, die er vor über 30 Jahren an den SSOberscharführer Ansgar Gottwald nach Solingen geschrieben hatte. Der alte General hörte ihm wortlos und ohne ihn zu unterbrechen zu. Es war dunkel, als Jost Wentzell seine Erzählung beendete. Vor den beiden Männern wurden die Stämme lichter. Sie erreichten den westlichen Rand des Waldes. Hinter 464
diesem dehnte sich eine frostige, leicht verschneite Ebene aus. Sie war am anderen Ende gesäumt von einem Gebirge rötlich und golden durchflammter Wolken. Hinter den Männern kroch von Osten her die Nacht über den Wald. »Gut, Jostin«, sagte der General. »Jetzt weiß ich also die Wahrheit. Nun wollen wir sehen, was wir daraus machen. Wem hast du außer mir davon erzählt?« »Niemandem«, sagte Jost Wentzell. »Ich schwöre es dir. Und trotzdem hat Jalewa davon gewußt …« »Da haben wir es«, sagte Soltjakin und setzte seine Mütze wieder auf, weil ein über die Kiefernwipfel herfahrender abendlicher Windstoß leichten Schnee herabstäuben ließ. »Wie ist denn das passiert?« »Durch Dirk«, antwortete Jost Wentzell. Er erzählte dem General von der Neugier des Burschen und von dessen Rückfragen bei der Volkspolizei in Neuenhagen. Der General stieß einen endlosen russischen Fluch aus und stampfte mit dem Stiefel auf den Boden. »Und diese Schlampe? Wahrscheinlich schläft sie mit ihm, was? Mit dir und ihr ist ja nicht mehr viel los. Das hast du mir selbst erzählt. Eine Frau, mit der ein Mann nicht mehr schläft, ist heimtückischer als ein Schlangenbiß. Das hätte ich dir schon lange einmal sagen sollen. Und jetzt ist es zu spät. Mit ihr hast du doch auch schon Auseinandersetzungen über den Polenkurs des Politbüros gehabt, oder nicht?« »Doch, Alexejew Andrianowitsch. Sie liegt eben 465
ganz auf der harten Linie. Sie meint, es würde besser eine Woche lang auf ihre Landsleute geschossen, als daß alle Errungenschaften der letzten Jahrzehnte wieder zum Teufel gingen.« »Schlampe«, wiederholte der General. »Es ist nie besser, daß geschossen wird. Nie und nirgends, das sage ich dir als einer, der es erlebt hat.« »Ich habe es auch erlebt«, sagte der Deutsche. »Vergiß das nicht. Aber sie hat es nicht erlebt. Und sie will es nicht gelten lassen.« »Man sollte in so einem Fall einen Mord begehen«, sagte der General ingrimmig. »Solche Weiber sind zu allem fähig, wenn ihr Stolz und ihr Fanatismus verletzt werden.« »Das glaube ich nicht, Gospodin. Wir haben zu lange zusammen gelebt.« Der Ältere lachte. Aber es war ein abschätziges und spöttisches Lachen. »Je länger, desto gefährlicher, du deutscher Romantiker. Woher soll dieser Knecht Alikins denn sonst den Verdacht haben, der ihm diese Fragen in das ungewaschene Maul gelegt hat? Und Alikin weiß, daß du mir wie ein Sohn bist. Nein, nein, ich habe keine Illusionen. So ein polnisches Weibsbild ist zu allem fähig, das sage ich dir.« »Du haßt sie ja, Gospodin.« »Sie hassen uns«, sagte der General. »Und euch auch. Das ist die Saat von Auschwitz und von Katyn. Eine Erbfeindschaft, die aus der Geschichte kommt. Wenn ich Pole wäre, würde ich uns auch hassen. Wir sollten das nie vergessen. Jetzt komm, es wird dunkel.« 466
Die beiden Männer wendeten sich um und stapften den Weg zurück, den sie gekommen waren. »Wir werden das in Ordnung bringen, Jostin«, sagte der General, während sie durch die Dunkelheit zurück zum Stabsgebäude stolperten. »Jetzt, wo ich die Wahrheit weiß, ist mir wohler, das kannst du mir glauben. Ich werde meinen ganzen Einfluß bei Rodionowsky geltend machen und dich nach Moskau kommandieren lassen. Rodionowsky hat die besten Beziehungen zu Ustinow. Wenn wir nur Zeit haben, alles aufzuklären, dann bringe ich dich auf diesem Weg über die Runden. Dann brauchen wir uns keine Sorgen mehr über Jalewa zu machen.« Eine fast euphorische Stimmung hatte sich des alten Generals bemächtigt. »Und morgen abend heben wir einen zusammen, wenn alles vorüber ist«, dröhnte sein Baß durch den Zelt- und Barackenkomplex, als er Jost Wentzell zum Abschied umarmte und ihm eine gute Nacht wünschte. Die Tribüne für die Beobachter des Neißeübergangs einer T-72-Abteilung des deutschen Panzerregiments Kuehne war am Waldrand aufgebaut. Von dort aus hatte man einen guten Überblick über die Senke, in der sich die Operation entwickeln sollte. Es war noch völlig dunkel, als sich die rohen Holzbänke hinter der Barriere mit den Offizieren der Paktstaaten zu füllen begannen. Unter ihnen auch Generalmajor Alexejew Andrianowitsch Soltjakin, den nur wenige der anderen kannten. 467
Als der erste Streifen der Morgenhelligkeit am östlichen Horizont sichtbar wurde, begann aus der Senke des träge vor ihnen sich hinschlängelnden Flusses ein Nebel aufzusteigen, der von Minute zu Minute dichter wurde und allmählich das Tal zudeckte. Es war 6 Uhr 20, als aus den rückwärts gelegenen Wäldern der fingierte Feuerschlag der eigenen Artillerie die Übung eröffnete. Die Flußniederung hallte wider von dem trockenen Dröhnen der Abschüsse. Schon kurz danach brachen in der frostigen Dämmerung Kuehnes Panzer aus dem Wald, rollten zu breiter Formation sich entfaltend den sanften Abhang in Richtung auf den Fluß hinunter und verschwanden, während ihre Geschütze sich zum Durchtauchen des Wassers nach rückwärts oben drehten, einer nach dem anderen in dem milchigen Weiß des Morgennebels. Viele Minuten lang war nichts anderes zu hören als das Knallen der mit Platzgranaten schießenden Artillerie und das Dröhnen und Gurgeln der den Fluß durchtauchenden Panzerformation. Endlich erschienen die ersten von ihnen drüben auf der anderen Seite des Nebelfeldes, naßglänzend wie urweltliche Ungeheuer. Sie tauchten aus der weißlichen Suppe empor, bäumten sich über die Geländewölbung des Hochufers, kippten nach vorne und begannen, während ihre Kanonen sich wieder nach vorne und abwärts drehten, sich über die vor ihnen liegenden Felder nach Osten zu wälzen. In diesem Augenblick blitzten drüben die Waldränder auf vom Mündungsfeuer der Abwehr. Gelblich und orangerot zuckte es dort, und Sekunden später 468
erreichte das Grollen der Abschüsse das Ohr der Beobachter. Feuer und Qualm vermischten sich mit dem höhersteigenden Nebel. Den Offizieren, die sich auf ihrer Tribüne erhoben hatten und ihre Feldstecher auf den östlichen Horizont richteten, bot sich das gespenstisch verwirrende Bild eines beginnenden Gefechtes. Manchen von ihnen war es vertraut. In rascher Aufeinanderfolge tauchten Kuehnes Panzer aus der Flußniederung auf, warfen sich über die Geländefalte und erhoben sich gegen den in Rauch gehüllten Morgenhorizont ab. Auch vielen der erfahreneren Beobachter fiel es in diesem Augenblick schwer, auseinanderzuhalten, ob sie einer wohlorganisierten Übung beiwohnten oder einem beginnenden Krieg. Denn eines ist sicher, dachte Generalmajor Alexejew Andrianowitsch Soltjakin, wenn es nach dem Willen fanatischer polnischer Schlampen hier einmal losgeht – so ähnlich würde es aussehen.
469
14 Die Nacht vom 10. auf den 11. März war, wie die Dinge lagen, so oder so die letzte Nacht, in welcher das Ehepaar Seyfried seine Probleme im Heizungskeller erörtern mußte. Fritz hatte Anne von dem Gespräch mit Mallée und seiner Männer berichtet. »Was hätte ich ihm antworten sollen, als er mich fragte, was ich an seiner Stelle tun würde? Nichts konnte ich ihm antworten. Ich bin nicht an seiner Stelle und bin froh, nicht an dieser Stelle zu sein. Wenn ich es wäre, würde ich das gleiche tun.« »Von der Aussage von Wentzell hat er sich nicht überzeugen lassen?« »Er ist mehr als skeptisch«, sagte Fritz. »Wentzell scheint eine zentrale und exponierte Figur auf dem Schachbrett des Warschauer Paktes zu sein. Mallée neigt dazu, überhaupt nicht zu glauben, daß du mit ihm gesprochen hast. Und daß er etwas zu meinen Gunsten ausgesagt hat, hält er für ebenso unwahrscheinlich. Den Gedanken, daß jemand in Wentzells Position vor einer westdeutschen Richterkommission oder gar einem westlichen Gericht aussagen wird, hält er für völlig ausgeschlossen – das glaube ich ja selbst nicht. Ich bin nicht einmal sicher, daß Mallée meine Version der Geschichte glaubt. Auf jeden Fall hält er es für sicherer, sein Spiel mitzumachen, als das Prozeßrisiko einzugehen.« 470
»Ich habe Angst, Fritz.« »Morgen um diese Zeit ist es vorbei. Wenn Mallée Glück hat und gut arbeitet, brauchen wir uns dann nicht mehr zu sorgen.« Aber beide wußten sehr gut, daß davor ein großes Risiko lag. Der 11. März verlief für Fritz als ein ganz normaler Arbeitstag. Wie schon so oft im Verlauf dieser Affäre mußte er sich stark zusammennehmen, um sich nichts von seiner inneren Anspannung anmerken zu lassen. Er unterschrieb seine Post, nahm Vorgänge zur Kenntnis, führte Telefongespräche, empfing Herren von der Industrie und besuchte am Nachmittag ein in der Nähe gelegenes Erprobungsgelände für Fahrzeuge mit Mehrachsantrieb. Am späten Nachmittag kam noch Hans Lockschmidt mit den letzten Weisungen des Ministeriums für die Ministerkonferenz in Brüssel am 12. März. »Morgen, Hans, morgen«, sagte Fritz Seyfried, als Lockschmidt ihm die Mappe auf den Schreibtisch knallte. Sie war hellblau und trug in dunkelblauer Prägung eine Kompaßrose, das Sinnbild des Nordatlantischen Bündnisses. Sie sah aus wie der Prospekt eines Reiseunternehmens. »So idyllisch müßte alles sein, wie es hier aussieht«, fuhr er fort, nachdem er seine Schublade geschlossen und die Schreibtischlampe gelöscht hatte. »Ich sehe mir das morgen an, Hans. Heute habe ich die Schnauze voll.« Sie trugen sich gegenseitig Empfehlungen an die Frauen auf, dann verschloß Seyfried wie gewöhnlich sein Zimmer und verließ im Erdgeschoß den Aufzug. 471
Neuner, der neue Tagesportier, stand vor seiner Loge und klimperte zwischen den auf dem Rücken verschränkten Händen mit dem Schlüsselbund. Seyfried sprach ihn an. »Ich muß heute abend gegen zehn Uhr ins Haus und in den Tresor, Herr Neuner. Ist dafür gesorgt, daß das möglich ist?« »Aber gewiß, Herr Seyfried. Der Kollege Kullnau kommt um acht Uhr.« »Es wird ein bißchen gedrängt werden«, sagte Seyfried. »Ich muß auf die Minute pünktlich sein.« »Wenn Sie mir sagen, wann Sie genau kommen, sage ich ihm, daß er hier in der Halle sein soll«, meinte Neuner. »Das wäre mir recht, Herr Neuner. Sagen wir Punkt zehn Uhr.« »In Ordnung, Herr Seyfried. Ich werde es ausrichten.« Neuner ging in seine Loge, legte das Schlüsselbund auf den Tisch und machte eine entsprechende Notiz, die er an ein schwarzes Brett heftete, welches der zweite Portier überfliegen würde, sobald er heute abend um acht Uhr seinen Dienst antrat. Fritz Seyfried fuhr nach Hause. Da sie es immer noch nicht riskieren wollten, Unterhaltungen, welche die Affäre Nachtfrost betrafen, im abhörgefährdeten oberirdischen Bau zu führen, redeten sie nicht mehr über das, was sie dennoch an diesem Abend am meisten beschäftigte. Während des Essens kam nur ein zähes Gespräch zustande. Beiläufig erwähnte Fritz, daß er heute nacht noch eine dienstliche Verabredung 472
habe. Pflichtgemäß quengelte Anne unzufrieden, er solle so etwas in Zukunft nicht in den Stunden vereinbaren, wo sie schließlich auch einmal etwas von ihm haben wolle. Nach dem Essen schalteten sie den Fernseher ein und setzten sich wortkarg davor. Die üblichen Bilder der Tagesschau geisterten vorüber. Eine Flugzeugentführung in Pakistan, ein Terrormord in Italien, Fischereikrieg in der Nordsee, ein Bericht von einem gemeinsamen Manöver sowjetischer und ostdeutscher Streitkräfte in der Lausitz, das vor einigen Tagen angelaufen war und als deutliche Warnung an Polen interpretiert wurde. Kurz vor zehn Uhr machte Fritz sich fertig, um das Haus zu verlassen. Er fuhr in den hellen Trenchcoat, knöpfte ihn zu und schloß den Gürtel. Er suchte Hausund Wagenschlüssel zusammen, griff sich eine schmale Konferenzmappe, die er unter den Arm klemmte, und öffnete die Haustür. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Anne lief in das Arbeitszimmer ihres Mannes, um abzuheben. Sie vernahm die Stimme Kullnaus, der nach Fritz fragte. »Mein Mann hat gerade das Haus verlassen, Herr Kullnau. Ich weiß nicht, ob ich ihn noch erreiche. Ist es wichtig?« »Es ist sehr wichtig, Frau Seyfried. Versuchen Sie doch bitte, ihn noch zu erreichen.« Anne legte den Hörer neben den Apparat und lief vor das Haus. Draußen sah sie Fritz noch wartend neben dem Wagen stehen. »Herr Kullnau«, rief sie ihm zu. »Er muß dich unbedingt sprechen, sagt er.« 473
»Was will er denn?« knurrte Fritz, während er eilig zurück zum Haus ging. In seinem Zimmer nahm er den Hörer hoch und nannte seinen Namen. »Was gibt’s denn, Kullnau? Ich bin in Eile. Ich komme ohnehin jetzt ins Amt. Haben Sie denn Neuners Nachricht nicht gelesen? Er hat sie Ihnen ans schwarze Brett geheftet. Ich muß für ein paar Minuten in den Tresor.« »Ich habe das schwarze Brett noch gar nicht angesehen. Aber ich bin froh, Herr Seyfried, denn ich hätte Sie gebeten, hereinzukommen. Sie haben mir aufgetragen, Sie sofort anzurufen, wenn ich irgend etwas bemerke, was mir komisch vorkommt.« »Und, haben Sie so etwas bemerkt?« Fritz Seyfried war nervös und sah auf die Armbanduhr. Anne stand unter der geöffneten Tür. »Ja«, sagte Kullnau. »Oben auf dem Flachdach. Bei meinem Rundgang. Da ist diese Reinigungsgondel, verstehen Sie? Und ich habe mir schon manchmal gedacht …« »Machen Sie es kurz, Kullnau.« »Wenn Sie sich das mal ansehen würden, Herr Seyfried.« »Kullnau«, sagte Fritz Seyfried, »ich muß nachher auf die Minute pünktlich eine Verabredung einhalten. Ich habe dafür keine Zeit.« »Ich bereite Ihnen die Tresoröffnung schon vor, Herr Seyfried. Dann verlieren Sie damit keine Minute. Aber Sie müssen das überprüfen.« Fritz Seyfried zögerte, sah noch einmal auf die Uhr. »Also gut«, sagte er. »Bereiten Sie das vor, Kullnau. 474
Aber es muß schnell gehen.« Er legte auf. »Pflichtgefühl ist ja schön und gut«, knurrte er seiner Frau zu. »Aber er hat es immer zur falschen Zeit.« Die Wagentür schlug zu. Seyfried wendete den Citroën forscher als es sonst seine Art war und fuhr rasch zwischen den gepflegten Einfamilienhäusern und schmucken Gärten die steile Straße hinunter zur Stadt. Kullnau hatte das Portal schon aufgeschlossen und wartete, als Seyfried vorfuhr. Seyfried schaltete Standlicht ein und stellte den Motor ab. Dann verließ er den Wagen. Den Schlüssel ließ er stecken. Mit der Konferenzmappe unter dem Arm nahm er zwei Stufen auf einmal. Kullnau hielt ihm die Tür auf. »Ich hätte Ihnen die Sicherungen schon ausgeschaltet, Herr Seyfried, wenn ich nicht den zweiten Schlüssel dazu brauchte.« Seyfried sah, daß in Kullnaus Loge der eine Sicherheitsschlüssel bereits in der Panzertür zum Wandtresor steckte. Er zog seinen eigenen und öffnete zusammen mit Kullnau die Tür. Während der Pförtner mittels der Hebel im Wandtresor die äußeren Sicherheitseinrichtungen ausschaltete, verschwand Seyfried auf der Treppe zum Tresorkeller. Drunten spielte er die Chiffrezahl ein, und das kreisrunde Panzertor schwang auf. Er öffnete den Aktenkoffer, den er unberührt an seinem Platz vorfand, und entnahm ihm das achte Päckchen der Mikrofiches, die er gestern im Rechenzentrum hatte anfertigen lassen. Dieses Päckchen verwahrte er in der Konferenzmappe und brachte alles an seinen alten Platz. Er ließ das elektromechanisch angetriebene Tor 475
zuschwingen, betätigte auch die mechanische Sperrvorrichtung und stieg die Treppe zur Halle wieder hinauf. Als Kullnau ihn kommen sah, eilte er in seine Loge, schaltete die Sicherungen wieder ein und verschloß zusammen mit Seyfried die Tür des Wandtresors. Der Aufzug stand schon im Erdgeschoß. »Was haben Sie denn für Sorgen auf dem Dach?« fragte Seyfried, während er mit dem Pförtner die stille Halle durchquerte. Hier und auch im Treppenhaus und in den Fluren brannte nur die schwache Nachtbeleuchtung und verbreitete ein geisterhaft gedämpftes Licht. Lediglich die Pförtnerloge glich einem festlich illuminierten gläsernen Käfig. »Die Reinigungsgondel für die Pflege von Fassade und Fenstern wird heimlich benutzt, Herr Seyfried, das lasse ich mir nicht nehmen. Ich habe das denen von der Sicherheit auch schon gesagt. Und Herr Lockschmidt meint immer, ich soll mich nicht so anstellen und ich sehe Gespenster. Aber dieses Mal habe ich etwas entdeckt, das auch Herrn Lockschmidt überzeugen wird.« »Was haben Sie denn entdeckt, Kullnau?« Der Aufzug war im obersten Stockwerk angelangt, die Teleskoptür öffnete sich, und die beiden Männer verließen die Kabine. »Sehen Sie nur selbst«, sagte Kullnau, während sie in einem engen Schacht die Betontreppe hinaufstiegen, die zu dem flachen Kiesdach führte. Oben mündete sie in einen Aufbau, der wie ein Aufzugshaus das Dach überragte. Von hier aus führte eine nach außen zu 476
öffnende Eisentür ins Freie. Kullnau zog einen Schlüssel hervor, schloß auf und stieß sie nach draußen. Fritz Seyfried trat auf das Dach hinaus. »Sehen Sie, dort drüben ist der Kran für die Reinigungsgondel, Herr Seyfried.« In einiger Entfernung zeichneten sich die hakenförmigen, nach außen schwenkbaren Arme und der wuchtige Motorblock, mit dessen Hilfe die Gondel an der Außenwand waagrecht und senkrecht bewegt werden konnte, vor dem durch die Lichter der Großstadt matt erhellten rötlichen Nachthimmel ab. Fritz Seyfried ging dort hinüber. Hinter sich hörte er die Schritte des Pförtners auf dem Kies knirschen. Seyfried wurde stutzig, als das Knirschen unvermittelt aufhörte. Er blieb stehen und wendete sich um. In einer Entfernung von wenigen Metern sah er Kullnau, in der rechten, an die Flanke gezogenen Faust eine schwere Pistole, deren Lauf durch einen langen, röhrenförmigen Schalldämpfer verlängert war. »Das wär’s, Loßwitz«, sagte Kullnau. »Geben Sie mir die Abzüge.« Gleichzeitig sah Fritz Seyfried die Leute Mallées hinter Kullnaus Rücken auftauchen. Gestaffelt, einer rechts und zwei links hinter dem kastenförmigen Aufbau des Treppenabsatzes hervortretend, angeschlagene Maschinenpistolen auf Kullnaus Oberkörper und Beine gerichtet. Seyfried blickte nicht mehr in das Gesicht eines unterwürfigen, obrigkeitstreuen, zu jeder Gefälligkeit gegen ein kleines Trinkgeld bereiten subalternen Angestellten, sondern in das Gesicht eines harten, zu allem 477
entschlossenen Mannes, der ein konkretes Ziel kompromißlos erreicht. Das einzige, was ihn in diesem überraschenden Augenblick wirklich wunderte, war, daß ihm das in der langen Zeit, in der er täglich mit Serafin Kullnau zu tun gehabt hatte, nicht ein einziges Mal aufgefallen war. Er bewunderte die Härte und Selbstdisziplin dieses Mannes. Er konnte das tun, nachdem er sah, daß Kullnaus Spiel verloren, sein Auftrag gescheitert war. Warum Mallées Leute nur nicht schossen? Oder den Mann ansprachen, festnahmen? Die drei Männer standen unbeweglich als Schatten in der rötlichen Dunkelheit da, die auf dem Dach herrschte, und Seyfried begriff, daß es Mallée darauf ankam, soviel Beweismaterial wie möglich in die Hand zu bekommen. Er begriff allerdings auch, daß er, solange Kullnaus Waffe auf ihn gerichtet war, die Initiative völlig den Leuten Mallées überlassen mußte. »Sie sind das also, Kullnau«, sagte er. »Das hätte ich nicht gedacht. Tun Sie das Ding weg. Ich bin unbewaffnet und nicht lebensmüde.« »Bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte Kullnau und ließ die Waffe zögernd sinken. »Mir geht es um die Mappe unter Ihrem Arm. Werfen Sie diese Mappe hier herüber, vor mir auf den Boden.« Eine knappe Bewegung der gesenkten Pistole verlieh dieser Forderung Nachdruck. Seyfried griff mit der rechten Hand langsam unter den linken Arm, unter welcher er die Konferenzmappe geklemmt hatte, zog sie hervor und warf sie mit einer 478
ebenso langsamen Bewegung zu Kullnau hinüber. Sie landete einen knappen Meter links hinter Kullnau und öffnete sich. Ohne Seyfried dabei aus den Augen zu lassen, bewegte sich Kullnau zwei, drei Schritte zurück, bückte sich mit weiterhin auf seinen Gegner gerichtetem Blick und raffte alles zusammen. Eigenhändig und wegen der Pistole in der anderen Hand ein wenig ungeschickt versuchte Kullnau noch zu prüfen, was er aufgehoben hatte. »Sie können sich das sparen. Es sind elf Folien Mikrofiches mit genau 99 Dokumenten, Kullnau«, sagte Seyfried. »Wie verabredet. Ich habe mich an die Vereinbarung gehalten. Tun Sie es auch.« »Aber gewiß werde ich das tun«, sagte Kullnau und begann, während er die Konferenzmappe zurück auf den Boden warf und den Umschlag mit Seyfrieds Material in der Brusttasche verstaute, erneut Schritt für Schritt sich rückwärts auf die Tür zum Treppenschacht zu zu bewegen, wobei er die Pistole wieder hob. »Ihren Wagenschlüssel, Loßwitz«, sagte er von dort aus. »Werfen Sie ihn hierher, zu mir herüber. Aber langsame Bewegungen.« »Mein Wagenschlüssel steckt, Kullnau. Wollen Sie wirklich meinen Wagen benützen? Sie müssen doch damit rechnen, daß man Sie sofort verhaftet, Mann.« Kullnau schwieg. Damit, daß Loßwitz seinen Wagenschlüssel hatte stecken lassen, hatte er nicht gerechnet. Und außerdem wußte er nicht, ob Seyfried in diesem Augenblick log oder die Wahrheit sagte. Wenn Seyfried log und die Schlüssel in Wirklichkeit 479
bei sich trug, war der Ablauf seiner Dispositionen gefährdet. Dennoch ließ er ein leises spöttisches Lächeln hören. »Man wird mich nicht verhaften, Loßwitz. Ich habe Befehl, meine Stellung hier zu räumen. Ich gehe, wie man bei Ihnen sagen würde, sozusagen in Pension. Und der Obersturmführer Henning v. Loßwitz, der an der Zerstörung unschätzbarer Werte in meinem Lande beteiligt war, deckt mir dabei den Rückzug. Das hat er ja 1945 an der Pilica gelernt.« Das Geschwätz diente Kullnau lediglich dazu, Zeit zu gewinnen für eine Entscheidung, die durch die Komplikation mit dem Wagenschlüssel nun notwendig geworden war. Mit vorgehaltener Waffe rückwärtsgehend, hatte er den Aufzugsaufbau und die eiserne Tür beinahe erreicht. »Sie bleiben auf diesem Dach, Loßwitz, denn ich brauche die Zeit, in der Sie sich hier oben aufhalten, um das Gebiet der DDR zu erreichen. Sie werden das sicher verstehen.« Serafin Kullnau hatte in diesen Sekunden seine Entscheidung getroffen. In dem gleichen Augenblick, in dem er die Pistole auf Fritz Seyfried richtete und sie, geübt in halbe Hocke gehend, mit beiden Händen ergriff, raste der kurze erlösende Feuerstoß aus der Maschinenpistole eines der Männer Mallées über das Dach und ließ Betonbrocken und Kiesel auf der Aufschüttung hochspritzen. Kullnau wurde nicht getroffen. Aber Scheinwerfer flammten an zwei in der Nachbarschaft hochragenden Kranen auf und übergossen die Szene mit weißem Licht. Seyfried warf 480
sich seitlich zu Boden, jedoch schoß Kullnau nicht mehr. »Runter mit dem Ding«, schrie Mallée ihm zu. »Oder Sie sind ein Sieb, Mann.« Langsam richtete Kullnau seinen Körper hoch, ließ die Waffe fallen und drehte sich um. Mallée stand, auch er eine Neunmillimeter zwischen den Fäusten, unter der Tür zum Treppenschacht. Hinter ihm drängten Lockschmidt, Pless und andere nach oben. Kullnau sah von einem Gesicht zum anderen. In einer Reflexbewegung der Enttäuschung und des Zorns zerrte er den Umschlag mit den Mikrofilmen aus der Brusttasche und schmiß ihn Mallée vor die Füße. »Ihr verdammten Hunde.« »Die können Sie behalten, Nachtfrost«, sagte Mallée. »Wir haben Ihnen falsche übergeben. Für alle Fälle.« Mallée schob die Waffe zurück in seinen Achselhalfter und ging Seyfried entgegen. Fritz Seyfried hatte den Mantel geöffnet, den Binder gelockert und klopfte sich ab. Trotz der Märzkälte rann ihm der Schweiß über das Gesicht, den er sich mit einem Taschentuch abwischte. »Allright?« fragte Mallée. »Alles in Ordnung?« »Zufällig«, sagte Seyfried. »Ein netter Gedanke, daß Sie auch das Gegenteil in Kauf genommen hätten, nur um ihren Gag zu haben.« Mallée hielt Seyfried eine Zigarettenpackung hin, aus der Seyfried eine Zigarette zog, die er sich anzündete, obwohl er für gewöhnlich nie rauchte. 481
Mallée hob die Schultern, als auch seine eigene Zigarette brannte. »Immerhin«, sagte er und deutete mit dem Kinn auf den Treppenschacht, in welchem soeben Serafin Kullnau inmitten einer Gruppe von Männern verschwand. »Der Kopf der Schlange, Seyfried, vergessen Sie das nie.« »Wir sind quitt, Mallée«, sagte Seyfried, zog, die Zigarette zwischen den Lippen, seine Handschuhe aus der Manteltasche und streifte sie über. »Warum haben Sie nicht zugegriffen, bevor es brenzlig wurde?« »Ich brauchte den Beweis für einen Mordversuch, Seyfried. Sonst kommt mir morgen irgendein lauwarmer Politiker oder ein Richter daher und tauscht mir den aus, bevor ich alles weiß, was mich interessiert.« »Sie sind ein verdammter Hasardeur, Mallée«, sagte Seyfried kalt und doch in einer unentschlossenen Mischung zwischen Abscheu und Bewunderung. »Darauf habe ich in meinem Job meinen Diensteid abgelegt«, antwortete Mallée. »Und solange ich gewinne, habe ich mir nichts vorzuwerfen.« Das letzte Gespräch zwischen Mallée und Seyfried in der Affäre Nachtfrost fand in einem Büro statt, welches der Dienst in Köln unterhielt. Auch Anne und Lockschmidt waren dabei. Pless hatte für eine persönliche Note durch Kaffee und Konfekt gesorgt, das eine mürrische Angestellte aus einer Konditorei im Erdgeschoß geholt hatte. Trotz dieser Bemühung herrschte die frostige Atmosphäre einer 482
Anwaltsbesprechung. »Von der nachrichtendienstlichen Seite her ein voller Erfolg, Seyfried«, sagte Mallée. »Es besteht kein Zweifel, daß Kullnau Nachtfrost ist. Auch daß er Sowjetrusse ist, steht fest. Wie er in diese Stellung kommen konnte, wird überprüft. Da müssen Lücken geschlossen werden.« »Dafür wird es neue geben«, sagte Seyfried. »Ich habe Lockschmidt für Nachtfrost gehalten.« »Auch das hätte sein können«, sagte Mallée. »Aber Hans Lockschmidt ist, wie Sie sehen, unser eigener Mann im Amt für Waffentechnik und Beschaffung. Ich muß Sie um Diskretion bitten, denn sonst muß ich jemand anderen dort unterbringen. Und Lockschmidt hat die Augen offen gehabt.« »Ich war schon an Annes Geburtstag mißtrauisch«, sagte Lockschmidt. »Denn damit, daß man dich einmal anzapfen würde, habe ich gerechnet. Es hätte dir manches erleichtert, wenn du mich angesprochen hättest.« Fritz Seyfried lachte ungut vor sich hin. »Du hast nicht die Gespräche mit dem Kerl mit dem Hund geführt. Für jemanden, der sie erlebt hat, verbot sich das von selbst. Das Mißtrauen, das er verbreitet hat, war total. Ich war zu feige.« »Als ich deinen Inserattext gelesen hatte, wußte ich sowieso Bescheid, Fritz. Von da an war es nicht mehr nötig.« »Du hast das also gelesen?« fragte Seyfried. »Obwohl ich dich um Vertraulichkeit gebeten hatte?« 483
Lockschmidt hob die Schultern. »Wir arbeiten in einer extrem exponierten Behörde, mein Lieber. Ich kann meine Pflichten nicht deshalb vernachlässigen, weil es sich zufällig um einen Freund handelt. Ich könnte es nicht einmal dann, wenn es mein Bruder wäre. Dann vielleicht sogar am wenigsten.« »Das ist pervers«, sagte Anne nach einer Weile. »Wir arbeiten in einem perversen Job, gnädige Frau«, sagte Mallée. »Vielleicht im perversesten Job der Welt. Und dieser Job ist international.« »Das bessert nichts an seinen Auswirkungen«, sagte Seyfried »Ich hatte großes Glück, daß Sie wenigstens brauchbar gearbeitet haben. Der Kerl hätte mich dort oben erschossen, nur um seine Haut und seinen Auftrag rechtzeitig über die Grenze zu schaffen. Wenn Sie Ihre Leute nicht doch auf dem Dach gehabt hätten, anstatt auf der Autobahn, wäre ich ein toter Mann.« »Sie sind es nicht«, sagte Mallée. »Und vergessen Sie das andere.« »Sie haben übrigens selbst mitgewirkt«, sagte Pless. »Ihre hartnäckige Behauptung, es sei kein Zeichen zur Bestätigung vereinbart, daß Sie das Material haben, hat uns hellhörig gemacht. Dann kann der Bursche eigentlich nur im Amt selbst sitzen, meinte Herr Mallée. Und zwar an einer Stelle, wo er kein Zeichen braucht, weil er alles, was er wissen muß, auch ohne Zeichen erfährt. Wir haben uns noch am Abend mit Lockschmidt verabredet und alle Möglichkeiten durchgespielt.« »Ich setzte auf Kullnau«, sagte Lockschmidt 484
bescheiden. »Ich erinnerte mich an manche Kleinigkeiten, die ich für schrullig gehalten habe und die ich plötzlich in einem anderen Licht sah, an manche Bemerkungen, die mir zu intelligent für Kullnaus Posten klangen. Und vor allem an Kullnaus Möglichkeit, alle Abläufe am Stahltresor zu beobachten.« »Wir überwachten Kullnau also von dieser Minute an«, fügte Mallée hinzu. »Noch in der Nacht beobachteten wir, wie er das Dach inspizierte und die Reinigungsgondel unbrauchbar machte. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß die Reinigungsgondel eine Stahldrahtleiter zu Rettungszwecken enthält. Wenn Sie versucht hätten, diese zur Flucht zu benützen, wären Sie abgestürzt. Vielleicht schien ihm dies alles in letzter Sekunde nicht mehr sicher genug, jedenfalls entschloß er sich … na ja, Sie wissen ja.« Und Pless beendete die Geschichte: »Wahrscheinlich hat er von Anfang an beabsichtigt, die Übergabe auf das Dach zu verlegen. Vielleicht war der Treff auf der Autobahn nur ein Ablenkungsmanöver für alle Fälle und um ganz sicher zu gehen. Wir haben ihm das nicht abgenommen, und das war unser Glück.« »Und meines auch«, sagte Seyfried. »Ihren Bahnhof da droben haben Sie also sozusagen auf Verdacht aufgebaut.« »Auf Grund genauer Beobachtungen, fundierter Überlegungen und logischer Schlüsse«, sagte Mallée. »Das ist ein Unterschied. Sogar mit Kameras. Denn es gibt Gerichte, die ihn womöglich wieder hätten laufen 485
lassen, um es sich bequem zu machen. Aber das können wir zum Glück verhindern.« Pless zog einen großen Umschlag heran und entnahm ihm einen Stoß großformatiger, hochglanzentwickelter Fotografien, die er Seyfried reichte. Sie zeigten in eindringlicher Schärfe und Qualität noch einmal die nächtliche Szene auf dem Dach. Kullnau, hockend mit angeschlagener Pistole, einen auf den Boden gerollten Seyfried, Mallée und die anderen, die aus dem Treppenhausaufgang stürmten. Die Sicherheitsbeamten, die mit ihren Maschinenpistolen heranstürzten, den vor Zorn tobenden Kullnau, der Mallée das Material vor die Füße warf, um das er jahrelang gekämpft hatte, und das schließlich wertlos war. Diese Fotografien hatten dokumentarischen Wert und würden auch den borniertesten Richter zur Konsequenz zwingen. »Mein Gott, wenn das schiefgegangen wäre!« sagte Seyfried und reichte das Päckchen der Fotografien Anne hinüber. Aber Anne wollte lieber nichts sehen. Seyfried gab es also zurück an Mallée. »Ihre Frau ist vernünftig«, sagte Mallée. »Für sie ist dieser Vorgang schon Geschichte. Sie ist froh, daß Sie gesund hier sitzen, und das genügt ihr.« Er wendete sich an Anne. »Damit ist für Ihren Mann der Kopf der Schlange abgeschlagen, gnädige Frau. Wir hier behalten das für uns, was Ihr Mann uns über bestimmte frühere Ereignisse erzählt hat.« »Diese früheren Ereignisse würden auch keine 486
Gefahr bedeuten, wenn Wentzell-Marschal aussagt«, sagte Anne. »Sie haben also wirklich mit Oberst WentzellMarschal gesprochen?« »Sie glauben mir nicht?« »Bitte, verstehen Sie das, gnädige Frau«, sagte Mallée. »Sie wären damit der einzige westliche Ausländer, der Wentzell-Marschal jemals von Angesicht zu Angesicht gesehen und sogar mit ihm gesprochen hat. Der Oberst ist nicht der Exponent irgendeines Teilgebietes, sondern eine Figur, die über die Kenntnis von fast allem verfügt, was die westliche Führung interessiert. Wenn Sie die Wahrheit sprechen, ist das eine Sensation.« »Ich sage die Wahrheit, Herr Mallée. Was könnte ich für Gründe haben, das zu erfinden?« »Es wäre zum Beispiel legitim, wenn Sie mit allen Mitteln versuchen würden, Ihren Mann zu entlasten.« »Was fällt Ihnen ein«, sagte Seyfried. »Meine Frau sagt die Wahrheit. Ich glaube ihr.« »Das ist das Vorrecht des Ehemannes«, sagte Mallée. »Mein Auftrag ist die Skepsis. Aber wir werden uns über Ihre Gespräche mit Oberst Wentzell noch sehr intensiv unterhalten müssen. Für uns ist jedes Wort wichtig, das so ein Mann gesagt hat, jede Einzelheit, jede Äußerlichkeit, jede Nuance in Stimmung und Atmosphäre.« »Das werde ich niemals tun«, sagte Anne. »Das waren private Gespräche. Dieser Mann hat sich korrekt verhalten. Ich werde Ihnen kein einziges Wort über all 487
das sagen. Niemals. Und niemandem.« Günther Mallée lächelte nachsichtig. »Sie werden Ihre Meinung ändern, wenn wir Ihnen das Ausmaß der Hintergründe erläutern, die uns dazu zwingen, gnädige Frau. Wir werden Sie wissen lassen, wann wir Sie brauchen. Möglicherweise müssen wir Sie bitten, zu uns nach Pullach zu kommen.« Fritz Seyfried erhob sich aus seinem Sessel. »Sie wollen also meine Frau in Ihre Geschäfte mit hineinziehen, Mallée?« Auch die übrigen Herren standen auf. »Ich muß«, sagte Mallée. »Wenn Sie das nur endlich begreifen würden, Seyfried.« Pless brachte vom Schreibtisch herüber eine Zeitschrift und blätterte suchend darin herum. Endlich fand er die richtige Seite, kniff die Zeitschrift und reichte sie aufgeschlagen Anne. »Sie brauchen übrigens nicht zu befürchten, daß Sie Oberst Wentzell durch eine Aussage schaden können«, sagte er. »Hier, die letzte Ausgabe von ›Die Volksarmee‹. Vielleicht interessiert Sie die Notiz.« Anne Seyfried nahm die Zeitung und starrte in das Gesicht des Obersten Wentzell-Marschal. Es war ein etwas hölzernes Porträt in großer Uniform mit Achselband und Mütze. Er sah Anne direkt in die Augen. Erst nach und nach nahm Anne den Inhalt der Notiz wahr, die das Foto erläuterte. Sie lautete: 488
Jost Wentzell-Marschal, Oberst der Nationalen Volksarmee, betraut mit wichtigen Aufgaben im Paktsystem der Vereinigten Streitkräfte, wurde kurz vor seiner Beförderung zum Generalmajor bei einem gemeinsamen Manöver der Vereinigten Streitkräfte im Raum südlich von Berlin in Ausübung seines Dienstes Opfer eines tragischen Manöverunfalles. Die Armee wird dem verdienten Offizier und Kameraden stets ein ehrendes Angedenken bewahren. Anne blickte hoch. Alle sahen sie an. »Dein Junge von Tomaszów ist tot«, sagte Anne tonlos und reichte Fritz die Zeitschrift hinüber. Seyfried überflog die Notiz. Er schüttelte den Kopf. »Was für ein miserables Geschäft, das ihr da betreibt, Mallée«, sagte er und gab die Zeitschrift Mallée zurück. Dann fuhr er in seinen Mantel, den er über einen Stuhl geworfen hatte. »Ich sage Ihnen doch«, sagte Pless, »die da drüben sind rigoros, wenn hochkarätige Geheimnisträger in die Schußlinie kommen.« Mallée half höflich Anne in ihren Pelz. »Nehmen Sie es nicht tragisch«, sagte er zu Fritz. »Jetzt gibt es wohl in der Tat niemanden mehr, der noch beweisen könnte, wie das damals an der Pilica wirklich gewesen ist.« »Womit Sie und ich miteinander am Ende wären«, sagte Seyfried und übersah Mallées ausgestreckte Hand. Er übersah auch die Hand Lockschmidts, der sagte: »Wann sehen wir uns gemütlich bei uns, Fritz? 489
Wir sind an der Reihe. Und wir haben ja über eine Menge zu plaudern.« Der leichte Ton in der Aufforderung Lockschmidts störte Fritz Seyfried. »Darüber muß ich noch nachdenken«, sagte er. »Ich trage mich mit dem Gedanken, um meinen vorzeitigen Ruhestand einzukommen. Ich weiß nicht, wie ich einem Staat gegenüberstehen soll, der mich juristisch nicht schützen will und statt dessen ungestraft als Köder für seine Zwecke benützen kann. Wenn ich das alles mit mir ins reine gebracht habe, lasse ich von mir hören.« Unten auf der Straße hängte Anne Seyfried ihren Arm in den ihres Mannes, während sie die Fahrbahn überquerten. Sie war schweigsam. »Du denkst an Jost Marschal?« »Ja«, sagte Anne. »Sie haben ihn umgebracht. Und ich habe ihn auf dem Gewissen. Ich hätte wissen müssen, daß ich ihn gefährde, wenn ich noch einmal hinüberfahre. Er ist beobachtet worden, anders kann ich mir sein Verhalten im Saal des Pergamon-Altares nicht mehr erklären.« »Ich weigere mich einfach, das zu glauben«, sagte Fritz. »Warum soll es nicht wirklich ein Manöverunfall gewesen sein? Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen.« »Kannst du es ausschließen?« fragte Anne. Fritz Seyfried schwieg eine ganze Weile. »Nein«, sagte er schließlich, »das kann ich nicht. Vor Beginn dieser Affäre hätte ich noch geglaubt, es zu können. Jetzt nicht mehr.« 490
»Ob das alles denn niemals ein Ende nimmt«, murmelte sie. »Nicht, solange es Menschen gibt«, sagte Fritz. »Was hat das alles mit Menschen überhaupt noch zu tun?« fragte Anne. Es ist nicht bekannt, was Fritz Seyfried seiner Frau auf diese Frage geantwortet hat. Im Oberstock des Hauses, das sie verlassen hatten, ließ Pless die Gardine vor dem Fenster zufallen, durch welches er dem Ehepaar nachgeblickt hatte. Er zog sein Taschentuch aus der Brusttasche, nahm die Brille ab und säuberte sie pedantisch. »Ich möchte doch wissen, wie es damals an der Pilica wirklich gewesen ist«, sagte er nachdenklich. Sein Chef jedoch war bereits mit Wichtigerem beschäftigt. »Schalten Sie doch ab, Pless«, sagte er. »Das müssen Sie noch lernen. Seien Sie froh, daß es uns nichts mehr angeht.« Wenige Tage darauf erschien unter der Überschrift »Spionagering aufgedeckt« in der Tagespresse eine unscheinbare Notiz folgenden Inhalts: Koblenz/Karlsruhe Im Rheinland-Pfälzischen Raum ist es gelungen, einen kleinen, aber kompakten Spionagering östlicher Geheimdienste zu sprengen. Eine Person soll schon vor einigen Tagen ums Leben gekommen sein. In diesem Zusammenhang wird noch ermittelt. Der Pförtner einer Bundesbehörde wurde festgenommen. Wie die Generalbundesanwaltschaft mitteilt, konnte die Gruppe noch keinen nennenswerten 491
Schaden anrichten. Lediglich eine auf den 12. März angesetzte streng geheime Tagung von sieben Verteidigungsministern des Nordatlantischen Bündnisses mußte um einen Tag verschoben werden. Diese Notiz hat in der Flut zahlloser Mitteilungen ähnlichen Inhaltes nirgends besondere Aufmerksamkeit erregt.
492