GÜNTHER WENDEKAMM
Absprung bei Hormersdorf
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Tatsachenbericht Fot...
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GÜNTHER WENDEKAMM
Absprung bei Hormersdorf
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Tatsachenbericht Fotos u. Karte: Archiv
1.-70. Tausend © Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB) — Berlin, 1975 Cheflektorat Militärliteratur Lizenz-Nr. 5 P125/75 LSV: 7002 Lektor: Joachim Warnatzsch Umschlag: Erhard Schreier Vorauskorrektor: Johanna Pulpit Korrektor: Ilka Krienitz Hersteller: Ingeburg Zoschke Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin
EVP 0,50 Mark
Flug zum Einsatzort Fritz Krenkel hält die Armbanduhr dicht vor die Augen; zu spärlich ist.das Licht der Notbeleuchtung in dem engen, fensterlosen Raum hinter der Pilotenkanzel. 18.15 Uhr. Draußen ist es bestimmt schon dunkel. Er ist etwas nervös. Sein erster Absprung — und über dem Gebiet seiner Heimat. „Hast noch Zeit, reichlich eine Stunde", bemerkt Sergej, der sowjetische Oberleutnant, der neben ihm auf der Holzbank sitzt. Er steckt sich eine Zigarette an. „Aufgeregt?" „Kaum mehr als du", antwortet Fritz. „Sag einmal, die wievielte rauchst du denn schon seit Warschau?" Das Dröhnen der beiden Flugzeugmotoren schluckt fast die Worte. „Hast ja bald die ganze Packung aufgeraucht." Der Oberleutnant reicht ihm die Schachtel. „Für dich reichen die Dinger noch. Willst du nicht eine versuchen? Es beruhigt." ,,Ich fange damit gar nicht erst an." Der Freund rückt die Tragetasche vor seinen Füßen zurecht; er vermag sie nur zu ertasten, sehen kann er sie nicht. „Und warum bist du so erregt? Die Front haben wir schon hinter uns gelassen. Ein Jagdflugzeug werden uns die Faschisten schon nicht auf den Hals schicken. Ihr werdet mich bestimmt gut zur Absprungstelle bringen."
„Ach, und dann? Springen wirst du. Allein. Über dem Hinterland der Faschisten. Weißt du, was dich dort erwartet? Und da soll ich nicht aufgeregt sein?" „Sergej, das brauchst du wirklich nicht. Schließlich bin ich dort zu Hause, und ein paar Genossen werde ich schon finden, bei denen ich untertauchen kann." „Untertauchen, untertauchen! Meinst du nicht, daß sich einiges geändert hat? Du bist schon einige Jahre nicht mehr in Chemnitz gewesen." Der Oberleutnant zieht hastig an der Zigarette. „Ich glaube es dir gern, daß du nur Leute aufsuchen wirst, die du kennst. Aber erst mußt du wissen, ob deine Bekannten überhaupt noch am Leben sind, ob sie verhaftet worden sind oder unter Kontrolle der Gestapo stehen. Die Nazis haben überall ihre Spitzel. Und wenn du vor Ruinen stehst, was dann? Wo sind dann deine Leute, he?" „Mal doch den Teufel nicht an die Wand", unterbricht ihn Fritz. „Meinst du, ich hätte an all die Dinge nicht gedacht? Ich kann es mir vorstellen, wie es sein wird. Aber ich werde vorsichtig sein." „Machen wir uns doch nichts vor, Fritz. Ich weiß, daß du bereit bist, auch das Äußerste zu wagen. Du sollst Genossen um dich scharen, möglichst viele. Du sollst eine Menge Leute davor bewahren, daß sie noch in den letzten Tagen den Faschisten zum Opfer fallen. Ihr braucht jeden, ja, jeden für den Wiederaufbau." „Ich habe das nicht vergessen." Fritz sagt es mehr mechanisch. Wie oft hat er in den Wochen vorher
die Worte gehört: Kein unnötiges Risiko! Größte Vorsicht! Du mußt am Leben bleiben! Es war nach der Abschiedsfeier in der Antifaschule bei Moskau. Hermann Matern leitete den Lehrgang für die Genossen, die illegal in Deutschland arbeiten sollten. Er hatte Fritz zu sich rufen lassen. „Genosse Krenkel, wenn alles gut geht, fliegst du bald zum Einsatz nach Deutschland." Langsam, jedes Wort abwägend, fügte Hermann Matern hinzu: „Du wirst in der Nähe von Chemnitz abspringen. Du kennst die Gegend, du kennst Genossen. Die Nachteile: Mancher, an den du dich nicht mehr erinnerst, kann dich erkennen und der Gestapo melden. Hast du die erst einmal auf den Fersen, kannst du schwer untertauchen. Denke immer daran und achte auf dich!" „Ich werde vorsichtig sein." ,,Der Terror dort hat schon vielen das Leben gekostet. Ich will dich wiedersehen nach dem Sieg. Möge es dir gelingen, viele Genossen auf unsere Stunde vorzubereiten, sie ist nahe." Hermann Matern reichte ihm die Hand, drückte sie kräftig. „Auf Wiedersehen." Wenige Tage darauf, Ende Februar 1945, fuhr Fritz Krenkel nach Moskau. Im Zentralkomitee der KPD empfing ihn Walter Ulbricht, dem die Leitung der operativen Einsätze unterstand. Er ließ sich von Fritz Krenkel unterrichten, wie weit seine Ausbildung im Fallschirmspringen fortgeschritten
sei, ob er sich sicher fühle oder Angst habe. Und dann fragte er ihn, welches Absprunggebiet Fritz wählen würde. Fritz machte zwei Vorschläge. Einmal könnte er nördlich von Chemnitz abspringen, in der Nähe von Rochlitz. Von dort aus wäre es für ihn leicht, sich nach Göhren durchzuschlagen. „Ist das nicht zu gefährlich?" fragte Walter Ulbricht. „Deine Mutter wohnt dort. Die Gestapo könnte aufmerksam werden. Dort sucht sie dich zuerst." Er könnte aber auch südlich von Chemnitz abspringen, in einem Waldgebiet, nicht weit von Adorf. Dort habe Fritz einen guten Bekannten, Alfred Grimm. Der würde ihn gewiß verstecken und ihm weiterhelfen. „Und der Grimm ist verläßlich?" „Er ist ein kleiner Bauhandwerker", antwortete Fritz. Verschiedentlich habe er bei ihm gearbeitet, wenn Alfred Grimm einen Steinmetzen brauchte. Vor 1933 hätten sie sich auch politisch gut verstanden. Als dann Hitler an die Macht kam, habe sich Alfred zurückgezogen. Er sei aber ein anständiger Kerl geblieben, habe ihn auch zeitweilig beschäftigt, als Fritz nach über vier Jahren Gefängnis und Zuchthaus keine Arbeit gefunden habe. „Vielleicht ist der Absprung südlich der Stadt doch am sichersten. Immerhin brauchst du von Anfang an Sicherheit: Auch für die Genossen, mit denen du Kontakt aufnimmst. Daran mußt du immer
denken." „Du hast recht, bei Adorf ist es sicherer. Dann kommt es nur noch auf Wind und Wetter an." „Aber auch darauf, wie du ankommst. Ich meine es im doppelten Sinne: auf der Erde und bei den Genossen. Doch komm, Genosse Krenkel, Wilhelm Pieck will dich noch sprechen." Als sie beide Piecks Arbeitszimmer betraten, erhob sich der Parteivorsitzende und begrüßte Fritz. „Wir kennen uns ja schon vom Vorbereitungslehrgang. Setzt euch." Er wies auf die Stühle. „Genosse Krenkel, wie fühlst du dich? Wirst du den Einsatz gesundheitlich durchstehen?" „Ich glaube schon, Genosse Pieck", antwortete Fritz. „Die Ärzte meinen das auch. Ja, und ich fühle mich gesund, stark und voller Tatendrang." „Aber Vorsicht ist geboten, du mußt am Leben bleiben. Tollkühnheit schadet nur, auch unüberlegter Tatendrang." Dann fragte er Fritz nach diesem und jenem, ob er sich schon für ein Absprunggebiet entschieden habe. Er sprach auch über die Gefahren, die der Einsatz mit sich bringe. Dann faßte der Parteivorsitzende alles zusammen. „Also, Genosse Krenkel, dein Auftrag ist dir bekannt. Es kommt nicht nur darauf an, recht viele Genossen und Antifaschisten für den Wiederaufbau zu sammeln, sondern es steckt noch ein bißchen mehr Perspektive darin. Denke an die beiden Konferenzen von Brüssel und Bern, wie wir sie
nennen; konkretisiert für die bevorstehende Etappe wurden die Beschlüsse im Aktionsprogramm des Blocks der kämpferischen Demokratie vom Oktober vorigen Jahres. Und über die anderen Beratungen der Arbeitskommission der KPD zur Neugestaltung Deutschlands bist du informiert worden. Nach dem Krieg wird in Deutschland eine antifaschistische Umgestaltung beginnen. Und das müssen wir vorbereiten. Es gehört eine ganze Portion Mut dazu, aber vor allem Vorsicht und strenge Konspiration. Ihr müßt versuchen, eine möglichst breite Kampffront zu schaffen, und dann den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Chemnitz vorbereiten. Wichtig ist es, daß die Arbeiterstadt kampflos übergeben wird. Was dazu notwendig ist, wirst du an Ort und Stelle selbst feststellen. Ich wünsche dir viel Glück und uns allen viel Erfolg." Am nächsten Morgen startete seine Maschine, eine für Fallschirmsprünge etwas modifizierte Li-2. Sie landete auf einem Feldflugplatz bei Warschau, wo ihn der sowjetische Oberleutnant Sergej abholte. In der provisorischen Unterkunft vertieften sie sich in die Karte. Auf einer Karte war das gesamte Erzgebirge detailliert dargestellt, mit allen Dörfern, Weilern, Städten, Bergen, Tälern. Alles mit genauen Angaben. Das war für den Absprung wichtig. Nach langer Unterhaltung einigten sich beide, den Absprung über einem größeren, geschlossenen Wald südlich von Chemnitz zu wagen.
Am nächsten Tag brachte Sergej den Ausweis, der auf den Namen Fritz Erich Lindner lautete, geboren am 26. Juni 1900 in Wechselburg, Kreis Rochlitz, Mechaniker bei der Autoreparaturwerkstatt Zöls und Lange in Chemnitz, Annaberger Straße. Dieser Ausweis war natürlich keine sichere Legitimation, denn schnell hätten die Nazibehörden überprüfen können, ob in der Chemnitzer Firma wirklich ein Herr Lindner arbeitete. Aber für die allgemeine Kontrolle war dieser Ausweis vorzüglich. Doch die beiden mußten erst ein paar Tage in ihrer behelfsmäßigen Unterkunft ausharren; Stürme, Schnee und Regen erlaubten keinen Start. Auch über dem Absprungsgebiet fiel Schnee. Sicherheit aber war oberstes Gebot. Im Neuschnee sind Spuren besonders deutlich zu erkennen. Schließlich erhielt Fritz die Nachricht, die ihn erschütterte und seinen Einsatz zunächst in Frage stellte: In der Nacht vom 5. zum 6. März 1945 hatten anglo-amerikanische Fliegerkräfte Chemnitz angegriffen und das Zentrum der Stadt völlig zerstört. Sergej verstand die Sorge seines Genossen. In der Stadt lebte Krenkels Schwester; womöglich waren sie und ihre Familie unter den Opfern. Und dann noch: Können in einem solchen Chaos noch Genossen gefunden werden? Fragen über Fragen tauchten auf. Aber bevor nicht konkrete Informationen über Chemnitz vorlagen, konnte
man nichts planen, mußte der Start der Li-2 verschoben werden. In dieser Zeit des Wartens trainierte Sergej mit Fritz, fragte ihn seine Legende ab, sie unterhielten sich beide über die Zeit nach dem Krieg. Endlich, am 16. März, kam der Startbefehl. Die Motoren heulen laut auf, reißen Fritz aus seinen Erinnerungen. Ihm ist es, als würde er kräftig gegen die harte Bretterbank gedrückt. „Der Pilot zieht die Maschine höher!" brüllt Sergej. „Sind bald über Dresden. Müssen die Stadt umfliegen." Unwillkürlich streicht Fritz über die Wand, als wolle er eine angelaufene Fensterscheibe abwischen. „Schade, nichts kann man sehen, nichts. Warum hat eure Kiste keine Fenster? Soll ja alles ein Trümmerfeld sein, da unten, das Schloß, der Zwinger, die Frauenkirche..." „Du kennst den Zwinger, aber ich nur von Abbildungen. Hätte ihn auch gern einmal gesehen." „Nein, jetzt nicht mehr, er soll ein einziger Trümmerberg sein, eine Barockruine. Schönheit, Fleiß — alles Trümmer!" „Erzähl mir doch etwas über den Zwinger. Ich interessiere mich sehr für ihn. Wunderschön muß er gewesen sein. O, hätte ich ihn nur einmal sehen können." „Was soll das alles? Zerstört das, alles zerstört — Vergangenheit!" Dabei dachte Fritz bei sich, daß es gut ist, wenn sich Sergej für diesen Zwinger
interessiert. Er, Fritz, hat ihn auch nur einmal gesehen, als Steinmetzlehrling. Aber kenne ich ein einziges Kunstwerk in der Sowjetunion? Nicht einmal aus Büchern. Sie zu lesen hatte ich wenig Zeit vor 1933. Und dann? KZ Colditz, sechs Monate Bautzener Ortenburg, dreieinhalb Jahre Zuchthaus Osterstein in Zwickau. Und jetzt ist der Zwinger ein riesengroßer Schutthaufen. „Alles Geschichte, alles!" „Ihr werdet ihn wieder aufbauen, Fritz", spricht Sergej beruhigend auf den Freund ein» froh, endlich ein Thema gefunden zu haben, mit dem er ihn von seinen Grübeleien losreißen kann. Und Fritz erzählt ihm, wie er damals den Zwinger empfunden hat, als er noch in die Lehre ging. Die wenigen Minuten bis zum Absprung kommen den beiden trotzdem ewig lang vor. Doch bald wird der Pilot das Zeichen geben... Flucht im Phosphorregen Langsam verstummt das auf- und abschwellende Heulen der Sirenen. Von fern klingen ein paar Klagetöne nach, die kaum noch in die Zellen des Untersuchungsgefängnisses auf dem Chemnitzer Kaßberg dringen. Kurt Kretschmar vernimmt Klopfzeichen. Langsam geht er zur gegenüberliegenden Wand des kleinen Raumes, preßt das Ohr dagegen.
Karl Schuster, sein Zellengefährte, hat das Klopfen auch vernommen. „Es wird Klippel Walter sein." „Er müßte aber gemerkt haben, daß die nebenan nichts weitergeben." „Weißt du denn, ob sie die Signale überhaupt kennen? Vielleicht ängstigen sie sich auch. Was wissen wir schon über die beiden?" ,,Karl, ich kenne die Nachbarn auch noch nicht, habe nur erfahren, sie hätten Sender London gehört. Von einem Nazi aus ihrem Haus wären sie angezeigt worden. Mehr weiß ich nicht. Sollten wir uns nicht um Walter kümmern, wenn wir in den Keller kommen? Seit seinem Fluchtversuch hat er nichts zu lachen." „Ja, müssen wir", gibt Karl zurück. „Wir müssen im Keller zusammenbleiben. Vielleicht können wir ausbrechen. Die beiden Jungen damals haben es doch auch geschafft." „Nichts überstürzen, mein Lieber, jetzt, wo es mit dem Pack zu Ende geht, da legt es uns auch ohne Urteil um. Muß gut überlegt sein!" meint Kurt. „Erst die Lage peilen." „Aber nicht zu lange. Hast ja selbst gesagt. Peng." „Meinst du, ich will nicht hier heraus? Nur, hau' ich allein ab, toben sie sich an meiner Frau aus. Wenn ich nur wüßte, wie ich Edith mitnehmen könnte!" Karl kennt die Sorgen seines Zellengefährten. Mit ihm und Edith ist er schon viele Jahre bekannt. Vor 1933, als er selbst noch in Chemnitz lebte, waren
sie oft zusammen. Es sind Genossen, denen er vertraut. Trotzdem erlaubt es ihm die Konspiration nicht, Kurt zu sagen, daß er Verbindungsmann zwischen einer Berliner und der Chemnitzer Widerstandsgruppe von Rudolf Harlaß ist. Ob die Berliner Genossen überhaupt erfahren haben, daß der größte Teil der Gruppe hier verhaftet wurde? Er müßte sie warnen. Freundschaftlich legt er Kurt die Hand auf die Schulter. „Ich muß unbedingt versuchen, hier herauszukommen, koste es, was es wolle!" „Ich verstehe dich doch", antwortet Kurt. „Hör nur!" Wütend trommeln m den oberen Stockwerken die Häftlinge mit den Fäusten gegen die Türen. „Schließt doch endlich auf!" — „Wir wollen in den Keller!" Von Zelle zu Zelle pflanzen sich die Rufe fort. Schreiend rennen die Wärter über die Korridore. „Wollt ihr Ruhe halten!" — „Gleich gibt es was mit dem Knüppel", drohen sie. Kurz darauf ist aber zu hören, wie am Ende des Ganges Türen aufgeschlossen werden und wie die erste Gruppe von Häftlingen zur Treppe stürmt. „Tempo! Tempo", treiben die Wärter sie an. „Denkt ihr, wir bleiben hier oben?" Endlich wird auch die Zellentür zu Kurt und Karl aufgeschlossen. „Seid wohl lebensmüde", raunzt sie der Wärter an, weil die beiden nicht gleich losstürzen. „Ach so", murmelt er, als sie vor der Tür von Walter Klippeis Zelle sind. Der Wärter gehört zu denen, die nicht mehr so recht an die von
Kurt Kretschmar Hitler angekündigte Wunderwaffe glauben, und gibt sich lieber etwas freundlicher gegenüber den Politischen als die anderen Wärter. „Jetzt aber schnell in den Keller", mahnt er, als auch Walter auf dem Gang ist. „Es scheint, ernst zu werden. Starke Bomberverbände sind gemeldet. Sie sollen schon ziemlich nahe sein." An der Tür zum Luftschutzkeller stößt Kurt Kretzschmar Karl Schuster an. Einen Moment verharren beide. Die Geräusche von Flugzeugmotoren sind deutlich zu hören. Ein paar
erregte Häftlinge und die nachfolgenden Aufseher drängen sie weiter. „Halten wir uns lieber in der Nähe der Tür auf", flüstert Kurt. Karl nickt zustimmend und zieht ihn zu einer freien Bank, die er im Halbdunkel erspäht hat. Walter Klippel folgt ihnen. Minuten später ist das Dröhnen der Bombergeschwader so laut geworden, daß es bis in den Keller dringt. Ein Aufseher kommt herein. „Sie setzen Christbäume!" ruft er den Posten am Eingang zu, so laut, daß es auch die Häftlinge im äußersten Kellerwinkel vernehmen können. Bald darauf ertönen dumpf die ersten Detonationen. Sie scheinen noch fern zu liegen. Doch die Donnerschläge sind immer deutlicher zu hören. Kurt gibt den Versuch bald auf, sich auszumalen, welche Stadtviertel getroffen sein könnten. Einer sagt: „Wenn ich nur wüßte, ob meine Frau und die Kinder bei den Schwiegereltern im Gebirge , sind." Kurt kennt den Mann nicht, möchte ihm aber ein paar beruhigende Worte sagen. „Klar, die sind dort, bestimmt sind sie im Gebirge", meint er schließlich und spürt selbst, daß er dem Gefährten damit die Zweifel nicht zerstreut. Eine heftige Detonation schreckt die Männer auf. „Das kann nicht weit sein! Vielleicht am Falkeplatz!" „Das kam mehr von der Weststraße her!"
Die Gefangenen stellen das Raten bald ein; mächtige Schläge lassen die dicken Kellermauern des Gefängnisses erzittern. Die Einschläge scheinen von allen Seiten zu kommen. Plötzlich werden die Männer, wie von einer gewaltigen Macht ergriffen, zu Boden gedrückt. Polternd stürzt über ihrem Keller Mauerwerk zusammen. „Das Gefängnis ist getroffen!" Aus vielen Kehlen kommt der Schrei. Ein paar Häftlinge sind aufgesprungen, wollen zur Tür, bleiben dann doch unentschlossen stehen. Einige der Aufseher fingern drohend an ihren Pistolentaschen. Kurt hat die Wärter aufmerksam beobachtet. Ihm ist nicht entgangen, daß sie immer ängstlicher wurden. Sie fürchten, zusammen mit den Häftlingen unter den Trümmern des Gefängnisses begraben zu werden, wie das am 13. Februar in Dresden geschah, denkt er. „Worauf warten wir noch?" fordert er die zögernden Gefangenen laut auf. „Los, 'raus! Vielleicht hat es gar den Frauenflügel erwischt, und die Mädchen brauchen unsere Hilfe!" „Wollt ihr hier umkommen?" unterstützt ihn Karl. Mit ein paar Sprüngen ist er an der Tür, faßt einen der Aufseher am Kragen. „Los, das Schlüsselbund 'raus!" Immer mehr Häftlinge drängen nach. Wie von einem Strudel gepackt, wird Kurt die Kellertreppe hochgeschoben, hinaus auf den in blutrotes Licht
getauchten Gefängnishof. In dem Tumult nimmt er kaum wahr, daß in der Umgebung noch Bomben fallen. Er will nach Karl rufen; der Lärm verschluckt seine Worte. Auf einmal steht der Gefährte wieder neben ihm. „Schnell zu den Frauen. Die Frauen herausholen!" brüllt Kurt. „Ist schon geschehen", antwortet Karl. Jetzt erst sieht Kurt die Frauen, die auf der anderen Seite des Hofes zum Gefängnistor laufen, das weit offen steht. Kurt zwängt sich zur anderen Seite durch, hält eine der Frauen am Arm fest. ,,Wo ist Edith? Edith Kretzschmar?" „Kenne ich nicht, kann dir nicht helfen. Bestimmt ist sie schon 'raus, denn ich war im Keller ziemlich weit hinten. Laß mich los. Ich will weg!" „Sie hat recht", sagt Karl, der dem Freund gefolgt ist. „Kennt Edith deinen Anlaufpunkt?" „Natürlich." „Dann wird sie auch kommen. Los, jetzt schnell weg, bevor es zu spät ist!" Am Gefängnistor stauen sich die Menschen. Viele der Häftlinge, die schon hinausgerannt waren, drängen wieder zurück in den Hof. ,,Da ist kein Durchkommen. Nur ein Flammenmeer.'' „Wo wollt ihr denn hin", fragen einige Häftlinge unsicher. „Die Gestapo wird euch jagen, euch erwischen und totschlagen!"
Kurt Kretzschmar und Karl Schuster zwängen sich durch die Unentschlossenen hindurch. Auf der Straße aber bleiben sie wie gebannt stehen: Hoch schlagen Flammen aus dem brennenden Stadtzentrum vor dem Kaßberg, entfachen einen Sturm, der riesige Wolken von Funken vor sich her treibt. Eine junge Frau kommt auf sie zugelaufen. „Ich wollte in Richtung Falkeplatz. Dort ist nicht durchzukommen." „Decken müßten wir jetzt haben, nasse Decken", meint Karl. ,,Halten wir uns nicht auf", brüllt Kurt. ,,Wir müssen zum Küchwald durchkommen." Kurt Kretzschmar und Karl Schuster stürmen los. Die junge Frau schließt sich ihnen an. Zunächst geht es besser, als erwartet, voran. Doch dann stehen sie vor einer Flammenwand. „Schnell zurück", keucht Karl. Sie stolpern über Steinbrocken. Donnernd stürzt hinter ihnen ein Haus zusammen. Staubsäulen steigen hoch. Eine von den Bomben verschonte Häuserschlucht bietet Schutz vor dem Funkenregen. Mit ihnen laufen andere, von Verzweiflung gehetzt, und so beachtet keiner die drei Häftlinge. Alle möchten schnell aus der brennenden Stadt. Endlich tauchen die Villengrundstücke des Küchwaldringes vor ihnen auf, die von den Bomben
verschont blieben. Gespenstisch tanzt der Widerschein der Flammen über die Gärten. Die Fliehenden verlaufen sich in unterschiedliche Richtungen. Bald sind die drei allein. Leiser wird das Tosen der berstenden Häuser. Die mächtigen Bäume des Küchwaldes verdecken mehr und mehr den Feuerschein. Zögernd laufen die drei langsamer, lauschen in die Nacht. Flugzeuge hören sie nicht mehr. Die drei spüren, wie ihnen die durchgeschwitzte Kleidung an den Körpern klebt. Erst jetzt finden Kurt und Karl Gelegenheit, die junge Frau danach zu fragen, wo sie wohnt und warum sie verhaftet worden ist. Sie sei, so sagt die Frau, aus Erfenschlag und festgenommen worden, weil sie einen desertierten Soldaten bei sich verborgen hatte. Gut zwei Stunden sind die drei unterwegs, dann klopft Kurt in der Glösaer Straße an ein Fenster. „Wer ist da?" fragt nach einer Weile eine Stimme. „Mach auf, Onkel. Ich bin es, Kurt." „Hast du es geschafft!" Der Onkel umarmt Kurt, begrüßt auch Karl und die junge Frau freundlich. „Ich kann euch nicht viel bieten", stottert er aufgeregt. „Eine Scheibe Brot und etwas Quark. Mehr habe ich nicht. Setzt euch einstweilen an den Ofen. Er ist noch warm." „Mach dir keine Umstände. Wir wollen gleich weiter. Bevor es hell ist, müssen wir untertauchen. Gib uns nur etwas zum Anziehen."
,,Wollt ihr nicht bleiben'', fragt der Onkel enttäuscht. „Das ist zu gefährlich für dich und für uns", antwortet Kurt. „Morgen werden uns die Bullen suchen." „Gut, aber etwas essen müßt ihr", sagt der alte Mann kategorisch, und er eilt aus der Tür. Nach einer Weile bringt er ein paar Scheiben Brot und eine Schüssel Quark. Während sie essen, holt der Onkel warme Unterwäsche und Wintermäntel hervor. „Die sind schon alt, aber sie wärmen." Schnell ziehen sie sich um. Nebenbei beißen sie immer einmal in die Brote. Nach den Anstrengungen der letzten Stunden schmeckt ihnen das bescheidene Essen wie ein Festmahl. Schließlich ziehen sie sich die warmen Wintermäntel an. Dankbar drückt Kurt den Onkel an sich. „Noch eine Bitte: Falls Edith bei dir auftaucht, sage ihr, daß ich auf sie warte. Sie weiß, wo sie mich findet." Auch Karl drückt dem alten Mann herzlich die Hand, dann verschwinden sie in der Nacht. Am frühen Morgen erreichen sie das Gartengrundstück bei Auerswalde. Unter einem Holzstapel kramt Kurt den Laubenschlüssel hervor. Karl folgt dem Freund in das kleine Haus. Aus einer Truhe holt Kurt ein paar Schlafdecken, dann strecken sie sich erschöpft auf den eingebauten Betten aus.
Früh am Morgen erwacht Karl und rüttelt Kurt munter. „Ich werde mich auf die Socken machen, muß fort!" Kurt kennt die konspirativen Regeln: Sage es dem, der es wissen muß, nicht dem, der es wissen kann. Deshalb fragt er auch nicht nach dem Grund der Eile. Aus einem Regal holt Kurt ein Glas eingelegtes Obst. Karl öffnet es, während die unbekannte Frau auf der Spiritusflamme Wasser kocht. Dann brüht sie ein Kännchen Kaffee auf. Nach dem Frühstück sagen sich die drei Lebewohl. Das Warten voller Ungewißheit wird für Kurt zur Qual. Endlich, in den frühen Abendstunden kommt Edith zur Laube. Nach dem Ausbruch aus dem Gefängnis und der kräftezehrenden Flucht fand sie in Borna bei Leibingers Unterkunft. Es waren Genossen, die sie noch vom KJVD her kannte. Die Strapazen der Haft haben an Ediths Kräften gezehrt, die Flucht hat sie erschöpft. Eine Erholungspause ist notwendig, denkt Kurt, als er seine Frau in die Arme schließt. Zwei Tage halten sich beide in der Laube auf. Doch die Zeit drängt, sie muß genutzt werden, da unzählige Obdachlose die Stadt verlassen und in die Dörfer gehen. In dem Durcheinander können sie vielleicht durchkommen. Kurt und Edith machen sich auf den Weg ins obere Erzgebirge.
Verzögerter Absprang Fritz Krenkel wartet auf das Zeichen zum Absprung. Sergej schweigt; hastig zieht er an seiner Zigarette, ein schwacher Glutschimmer huscht über sein Gesicht. Fritz spürt, wie die Maschine fällt. Wieder blickt er auf das Leuchtzifferblatt der Armbanduhr. 20.15 Uhr. Bis jetzt lief alles planmäßig ab, denkt er. Da trommelt der Pilot mit der Faust gegen die Trennwand, unterbricht Fritz in seinen Gedanken. Das Signal! Sergej hilft Fritz, die Tragetasche vor der Brust aufzuhocken, so daß die Riemen den Fallschirm nicht einklemmen. Noch ein paar Kleinigkeiten reicht ihm Sergej zu, die sich Fritz in die Taschen steckt. Dann klopft der Oberleutnant energisch gegen die Wand. Das Flugzeug zieht eine Schleife. Die Bodenluke wird geöffnet. Ein kräftiger Händedruck, dann läßt sich Fritz durch die Öffnung gleiten. Kaum ist er mit den Beinen draußen, spürt er, wie sich die Lasten verklemmen. Aufgeregt drückt und zerrt er, die Bodenluke bleibt zu eng. Trotz des eisigen Luftstroms bedecken Schweißperlen seine Stirn. „Ruhe bewahren!" schreit Sergej ihm zu. Der Oberleutnant zieht ihn ein Stück ins Flugzeug zurück. Er drückt die Gepäckstücke am Körper des Freundes zurecht. Das alles dauert nur wenige
Ich hatte Angst, entdeckt zu werden... Fritz Krenkel nicht weit von Seinem Absprungort bei Hormersdorf Sekunden, doch es kostet wertvolle Zeit. Endlich vermag sich Fritz durch die Bodenluke zu
zwängen. Wie ein Stein schießt sein Körper zur Erde. Plötzlich ein kräftiger Ruck; der Fallschirm hat sich entfaltet. Fritz vermag, um sich zu blicken. Er sieht in eine klare, helle Nacht. Wenn er an den Leinen seitlich ausschwingt, kann er die schmale Mondsichel über sich sehen. Ein merkwürdiger Ton kommt ihm entgegen. Fritz hört genauer hin; es ist ein auf- und abschwellender Klang — eine Sirene! Fritz blickt nach unten: Ein Dorf, auf das er zuschießt. Verdammt! Zu weit abgekommen durch die Verzögerung während des Ausstiegs. Fritz zwingt sich zur Ruhe, zieht an den Leinen. Ein wenig treibt er nun seitlich, dem Ortsrand zu. Fritz erkennt ein größeres, an eine Fabrik erinnerndes Gebäude und ein paar Häuschen. Dann peitschen ihm Zweige ins Gesicht, die Beine stauchen auf hartem Boden, obwohl er sie leicht angezogen hat. Mitten zwischen mannshohen Fichten zieht Fritz hastig den Fallschirm von den Bäumen, entledigt sich der Haltegurte, rafft die Seide und die Leinen zusammen. Als er sich wieder aufrichtet, sieht er, nur wenige Baumreihen entfernt, einen Zaun und die Umrisse einer Villa. Aus dem Tal hört er undeutliche Rufe. Schnell preßt Fritz den Schirm an sich und läuft geduckt durch die Fichtenschonung. Dann kriecht er einen steilen Hang hoch, stolpert über Steine und verfängt sich
in den Leinen. Stürzt ein paarmal, steht wieder auf, läuft, kriecht, läuft. Endlich erreicht er einen Hochwald, in dem er für einen Moment verharrt. Gespannt lauscht er in die Nacht. Von fern dringt Hundegebell herauf. Sonst vermag Fritz nichts Verdächtiges zu hören. Gefolgt ist ihm anscheinend niemand. Im Schutz der Bäume steigt er am Waldrand weiter den Berg hinauf. Am Fuße eines kleinen Felsens hält er inne und legt die Lasten ab, nimmt den Feldspaten aus dem Rucksack. Wieder lauscht er, doch es bleibt still. Unter einer Fichte, deren ausladende Äste über dem Boden hängen, versucht er ein Loch zu graben, doch die gefrorene Erde läßt sich nur schwer bewältigen. Nicht mehr als eine flache Grube kann er ausheben, gerade tief genug, um den Schirm hineinzudrücken und die ausgegrabene Erde wieder darüber zu werfen. Schön sieht das nicht aus, denkt er, und scharrt noch ein paar Tannennadeln und Reisig darüber. Weg, nichts als weg! Er läuft zum Waldrand, um sich zu orientieren. Unten im Tal sieht er das Dorf liegen. Wieder läuft er in den Wald zurück, erklimmt einen steilen Hang, schaut um sich. Er weiß nicht, wo er ist. Dann geht es bergab. Nach einer Weile stößt er auf einen Bach, der ihm, auch wenn er eisig kalt ist, gefällt. In ihm wird er ein Stück weitergehen! Als das Wasser in die Schuhe läuft, mußt er sich sehr
beherrschen, um nicht wieder ans Ufer zu gehen. Ihn fröstelt es, doch er überwindet sich und geht den Bach abwärts. Dann steigt er wieder aus dem Wasser. Am anderen Rand des Gewässers beginnt sein weiterer Aufstieg. Wenige Schritte nur, und er gelangt an eine Straße, die er ein paar Meter entlangschleicht, immer darauf bedacht, es könne jemand kommen. Da, ein Ortsschild. Hormersdorf (Erzgebirge) kann er lesen. Ganz schön abgetrieben in den paar Sekunden! Er betrachtet auch die Rückseite des Schildes. Mit Mühe entziffert er: Gornsdorf. Die Kilometerangabe ist abgewettert. Wenigstens weiß er Jet, wo er sich befindet und welche Richtung er einzuschlagen hat. Nächtlicher Besucher Am 17. März 1945 wird Alfred Grimm gegen fünf Uhr in Adorf durch ein klapperndes Geräusch an seinem Schlafzimmerfenster aus dem Schlaf gerissen. Noch glaubt er zu träumen, denn wer kann das schon sein, so früh. Da wiederholt sich das leise Klappern. Der alte Grimm reibt sich die Augen. Jetzt hört er kleine Steinchen an die Scheibe schlagen. Er springt aus dem Bett, öffnet die Fensterflügel. „Wer ist denn da? Was soll der Unfug!" „Leise, Alfred. Mach auf. Fritz. Ich bin Fritz." „Welcher Fritz?"
„Der Steinmetz aus Göhren." Alfred Grimm sagt das genug. Seit Jahren hat er nichts mehr von diesem Fritz gehört. Wenn er früher bei ihm auftauchte, dann brauchte er meist seine Hilfe. Grimm kratzt sich den Kopf. Der braucht mich. „Warte, ich komme." Ohne Licht anzuzünden, tastet Grimm sich zur Haustür, öffnet sie vorsichtig. Alfred tritt ein paar Schritte hinaus auf den Gartenweg, blickt sich um. Er nimmt nichts Außergewöhnliches wahr. „Los, rein!" dann schließt er die Tür. Den Schlüssel dreht er gleich zweimal herum. Sicher ist sicher! „Tag, Fritz. Wo kommst du denn her", fragt Grimm, als die beiden in der Stube am Tisch sitzen. „Du wirst lachen, direkt vom Himmel!" „Mensch, Fritz, mir ist nicht nach Witzen. Dich haben sie wohl wieder einmal?" „Das ist kein Witz, Alfred. Aber erst einmal schönen Dank, daß du mich hereingelassen hast." Ruhig und knapp erzählt er, wo er hergekommen ist und was er vorhat. „Natürlich", brummt Grimm, „und da kommst du ausgerechnet zu mir." Ihm ist der Schreck richtig in die Glieder gefahren. „Ist dir überhaupt bewußt, was mit uns beiden passiert, wenn dich die Nazis hier erwischen? Na, da hast du mich ja schön erschreckt!" „Natürlich ist mir das alles bewußt. Ich will dir ja auch nicht lange zur Last fallen. Du mußt mir nur
helfen, schnell nach Chemnitz zu kommen." ,,Nach den Bombenangriffen willst du dort jemanden finden? Nein, Fritz. Du ruhst dich erst einmal ein paar Stunden aus, dann werden wir weitersehen. Hast verführt nur zu Dummheiten." Fritz lächelt dankbar. „Schön, also warte ich eine Weile." Alfred steht auf. „Du weißt ja, wo du dich waschen kannst. Ich mache dir inzwischen das Bett zurecht." Dankbar vernimmt Fritz die Worte und spürt auf einmal, wie müde und zerschlagen er ist. Am nächsten Tag sieht sich Alfred im Dorf um. Als kleiner Bauunternehmer hat er viele Bekannte, die gern seine Hilfe in Anspruch nehmen, ja froh sind, wenn er sich mit ihnen auf einen kleinen Plausch einläßt. Auch der Dorfpolizist unterhält sich gern mit ihm. Und so findet der es nicht ungewöhnlich, daß Grimm so früh schon bei ihm auftaucht. Vorsichtig versucht Grimm, das Gespräch auf die Bombenangriffe und die vielen Flüchtlinge zu bringen, die nun auch in die Gebirgsdörfer kommen... Wieder zu Hause, kann Alfred mitteilen, daß alles noch gut steht für Fritz. Nach einem Fallschirmspringer wird zumindestens in Adorf noch nicht gesucht. Alfred gibt seinem alten Freund das Fahrrad und etwas Geld. Zunächst fährt Fritz nach Göhren bei Rochlitz zu seiner Mutter. Alles verläuft glücklich. Er kann auch seine Schwester Olga sprechen; in Chemnitz
bringt sie ihn bei der Antifaschistin Liesel Horn unter; auf dem Altchemnitzer Pfarrhügel findet er ein geeignetes Quartier. Aufregung bei der Gestapo Wütend läuft Munkelt, Kommissar der Geheimen Staatspolizei, in seinem Dienstzimmer in der Villa an der Kaßbergstraße auf und ab. „Haben wir nicht genug getan? Was sich der Alte nur einbildet", tobt er. „Setz' dich endlich", brummt der andere Kommissar, Obst. „Mit dem Herumgerenne änderst du auch nichts. Laß uns lieber in Ruhe nachdenken." Eigentlich hatten beide ein Lob erwartet, als man sie am Morgen zu Wackerow, dem Chef der Chemnitzer Gestapo, bestellte. Einige Häftlinge, die in der Bombennacht vom 5. zum 6. März aus dem Untersuchungsgefängnis ausgebrochen waren, glaubten wohl nicht durchzukommen und fürchteten, daß die Nazis ihre Familien schikanieren würden. Deshalb kehrten sie zurück. Unübersehbar war das Durcheinander in der Stadt. Tausende irrten durch die Trümmer, um ihre vermißten Angehörigen oder ein paar Reste ihrer einstigen Habseligkeiten zu finden. Hinzu kamen die unzähligen Evakuierten aus dem Osten. Viele Tote, die aus den Trümmern geborgen wurden, konnte man nicht identifizieren. Trotz dieses Chaos schickte die Gestapo Spitzel los, die versuchen
sollten, die geflohenen Kaßberghäftlinge wieder in ihre Gewalt zu bringen. Auch Albert Hähnel, Walter Klippel und Alfons Pech hatten sie erwischt. Aber der Gestapochef hatte Munkelt und Obst angeschrien: „Wo ist dieser Schuster? Treiben Sie den Schuster auf! Dazu den Kretschmar samt seiner Frau!" Munkelt wußte, daß Schuster und Kretschmar seit 1933 der Chemnitzer KPD-Führung angehörten. Er schlug vor, die Berliner Gestapo zu informieren und eine Großfahndung einzuleiten. Doch sein Chef war hochgefahren. „Sie sind wohl verrückt, Munkelt! Sollen uns die Berliner für unfähig halten?" Wackerow hatte sich so erregt, daß ihm fast die Luft ausging. Nur mühsam beruhigte er sich. Dann knallte er eine Mappe mit den bisherigen Untersuchungsergebnissen über einen ominösen Fallschirmspringer auf den Tisch. „Und davon haben Sie wohl gar keine Ahnung", fügte er zynisch hinzu. „So verläßlich ist Ihr Kommissariat!" Er gab beiden die Mappe. „Lesen Sie!" Nach den ersten beiden Blättern lief es den beiden kalt über den Körper. Am frühen Morgen des 17.03., so lasen sie gemeinsam, habe der Strumpffabrikant Pfüller aus Homersdorf den dortigen Polizeiposten aufgesucht und gemeldet, er habe am Vorabend, während des Fliegeralarms, verdächtige Geräusche in der Nähe
seines Villengrundstücks wahrgenommen. Beide hätten dann die Fichtenschonung abgesucht und bemerkt, daß bei einigen Bäumen Kronen und Zweige abgebrochen seien. Sie hätten auch Spuren festgestellt, die auf einen Fallschirmabsprung schließen ließen, Der Ortspolizist hatte eine Untersuchungskommission angefordert, die dann zu dem Ergebnis gekommen war, es handele sich um einen Fallschirmabsprung. Allerdings, und das brachte die beiden Leser in Wut, habe sich die Untersuchung lange hingezögert, weil die Meldung des Ortspolizisten irgendwo liegengeblieben sei. Erst nach mehreren Mahnungen hätte die Kreisdienststelle der Gestapo einen Hundeführer zur Absprungstelle geschickt. Ein Fallschirm sei gefunden worden, vergraben, sowjetischer Herkunft. Weiter stand im Bericht, daß der Luftalarm ausgelöst worden wäre, weil man den Einflug von Maschinen aus dem Osten gemeldet habe. Die Flugroute hätte man jedoch nicht exakt bestimmen können, da der Kurs oft gewechselt worden wäre. Der Luftalarm sei nur aus Vorsicht ausgelöst worden... „Ich wette, daß der Kerl längst in der Stadt ist!" Wackerow befahl: „Zunächst benennen Sie mir sechs oder sieben Häftlinge, an denen wir ein
abschreckendes Exempel für die Flucht vom Kaßberg statuieren werden. Lassen Sie dann die Häuser überwachen, in denen alte Bekannte von uns wohnten; dort könnte der Fallschirmspringer auftauchen. Möglicherweise arbeiten auch hier welche für dieses Nationalkomitee, Freies Deutschland'." Erster Kontakt Zwei Tage geht Fritz Krenkel nicht aus dem Haus. Zwar drängt es ihn, mit Genossen zusammenzukommen, doch er erinnert sich an die Mahnung der Parteiführung: Sicherheit zuerst! Weder sich noch andere unnötigen Gefahren aussetzen! Liesel Horn und Olga beobachten inzwischen gewissenhaft die Umgebung des illegalen Quartiers. Doch den beiden fällt nichts Verdächtiges auf. Dann gehen sie auch noch an den Häusern vorbei, in denen Arno Schreiter und Otto Schütze wohnen. Mit ihnen will Fritz zuerst in Verbindung treten; er kennt sie noch vom Zuchthaus Zwickau-Osterstein her. Auch in der Wohngegend der beiden ist nichts Auffälliges festzustellen. Fritz freut sich über diese Nachricht. Am nächsten Tag geht er zum Sonnenberg, zu Arno Schreiter. Er trifft ihn an. Arno zieht ihn schnell in den Flur
seiner kleinen Wohnung; dann umarmen sie sich. Lange halten sie sich nicht bei der Wiedersehensfreude auf. Arno berichtet, er habe gehört, einige Genossen seien verhaftet worden. „Hast du eine ungefähre Vorstellung von der Stärke der Parteiorganisation in der Stadt, Arno?" „Das ist zuviel verlangt, Fritz. Ich weiß nur, daß die Gestapo nach dem mißglückten Attentat auf Hitler alle jene ehemaligen kommunistischen und sozialdemokratischen Abgeordneten des Stadt- und Landtags verhaftet hat, die noch nicht in KZ oder Zuchthäuser verschleppt worden waren. Ja, und wie ich von Paul Roßner erfahren habe, sind vor kurzem viele Genossen unserer Chemnitzer Widerstandsgruppen verhaftet worden; Rudolf Harlaß und Ernst Enge, die leitenden Genossen, sollen von der Gestapo ermordet worden sein. Paul hat mich beauftragt, alle erreichbaren Verbindungsleute zu den Zellen zu warnen und die Verbindung zu den Widerstandsgruppen zeitweilig zu unterbrechen. Das ist alles Fritz, was ich dir sagen kann." „Nicht gerade viel. Was aber wird weiter?" „Die Fronten rücken näher. Wir sollten etwas unternehmen, dazu noch andere Hitlergegner gewinnen. Vielleicht kommen wir an Waffen heran." „Natürlich werden wir, wenn es notwendig ist, auch mit der Waffe kämpfen und unser Leben nicht
schonen. Doch der Einsatz muß sinnvoll sein. Wir sollten auch daran denken, wie es nach der Befreiung in der Stadt weitergehen soll. Aber darüber später. Zunächst kommt es darauf an, daß wir mit möglichst vielen kommunistischen Gruppen in Verbindung treten, aber auch mit Sozialdemokraten und parteilosen Antifaschisten. Doch das alles unter größter Vorsicht!" Dann erkundigt sich Fritz nach Kurt Kretschmar. „Lebt er noch? Ist er in Freiheit oder im Gefängnis? Vielleicht kannst du mir helfen, ihn zu finden, Arno?" „Meines Wissens hat ihn die Gestapo verhaftet." Er will versuchen herauszubekommen, was mit dem Genossen passiert ist. „Vielleicht weiß Artur Hujer Bescheid. Er hat bis vor ein paar Tagen selbst noch auf dem Kaßberg gesessen." „Laß das lieber bleiben", mahnt Fritz. Nach einer Denkpause fragt er: „Der Hujer, ist der verläßlich?" „Für den lege ich meine Hand ins Feuer!" antwortet Arno. „Auf den ist Verlaß." „Gut, dann werde ich ihn selbst aufsuchen. Wo kann ich ihn finden?" Arno erklärt den Weg. „Sei aber vorsichtig. Möglicherweise beobachtet man ihn, vielleicht haben sie ihn nur herausgelassen, um jemandem auf die Spur zu kommen." . „Ich danke dir. Ich werde schon aufpassen. Bleibe aber auch du auf der Hut. Keine voreiligen Schritte.
Du hörst bald von mir. Inzwischen versuchst du, mit dir bekannten Genossen zu sprechen." Verdächtige Spaziergänger An mehreren Tagen geht Fritz in jene Straße, die ihm Arno genannt hat, vorbei an dem Haus, in dem der Genosse Hujer wohnt. An einem Morgen kommt ihm langsam ein Mann entgegen. Fritz erinnert sich, ihn am Vortag gesehen zu haben. Er spürt förmlich, wie ihn der Fremde mustert. Nichts wie weg, denkt er, der Besuch muß verschoben werden. Aber Hujer muß er unbedingt sprechen, viel Zeit hat Fritz nicht. Was tun? Er will schon weggehen, da ist der Mann verschwunden. Noch einmal geht Fritz seine Runde. Vielleicht war das ein Zufall? Aber Zufällen hat man aus dem Wege zu gehen. Trotzdem betritt er das Haus, wo der Genosse Hujer wohnt. Er klingelt. Die Tür geht auf. Fritz greift zur Pistole: Der Mann von vorhin! „Komm herein", flüstert er. „Los, mach schnell!" Das freundliche Gesicht, in dem kein Argwohn ist. veranlaßt Fritz einzutreten. „Guten Tag, ich bin Artur Hujer", sagt der Mann und schließt die Tür. „Genosse Krenkel?" Sein Gesicht drückt im Lächeln auch die Bitte um Verständnis aus. „Ja. Und du bist also der Hujer." „Arno hat dich angekündigt. Ich habe schon seit ein
paar Tagen die Umgebung beobachtet, ob irgendwelche Nazis hier herumschnüffeln. Ich habe keine bemerkt, und ich habe dafür regelrecht einen
siebenten Sinn. Ich spüre das." Die Worte beruhigen Fritz. Und trotzdem, denkt er, wird es für uns beide besser sein, wenn ich mich nicht so lange hier aufhalte. Und so kommt er gleich zum Kern der Sache. „Was weißt du über Kurt Kretschmar? Wie kann ich an ihn herankommen?" „Kurt ist es anscheinend gelungen, zu fliehen und auch unterzutauchen. Mich haben sie nämlich, obwohl sie mich nach dem Bombenangriff eingesperrt hatten, wieder freigelassen. Ich darf aber nicht aus der Stadt und muß mich täglich bei Munkelt, dem Gestapokommissar, melden. Gestern war ich dort. Ein Halunke hat versucht, mir auf den Zahn zu fühlen. Er wollte, daß ich ihnen helfe, Kurt zu finden. Dafür würden sie mich in Ruhe lassen. Und so weiß ich, daß Genosse Kretschmar noch nicht gefaßt worden ist." „Es ist also möglich, daß dich die Nazis sofort holen, wenn sie nicht weiterkommen bei der Suche?" „Noch schlimmer. Ich nehme an, der Munkelt glaubt, daß mich Kurt besucht, ja, und da sind die aus der Villa auf dem Holzweg. Und was mich betrifft, ist das ganz einfach. Im Moment haben die andere Sorgen. Mich haben sie schon seit Tagen nicht mehr beobachten lassen." „Das kann auch eine Falle sein", gibt Fritz zu bedenken.
„Ihr Plan hatte nicht den erwünschten Erfolg. Vielleicht haben sie auch bemerkt, daß ich deren Spitzel immer wieder entdecke." „Und nun sollst du dich sicher fühlen, unbedachte Schritte tun." „Kann schon sein. Doch da muß noch etwas anderes sein. Als ich gestern dort war, herrschte dicke Luft." „Trotzdem ist es für alle Genossen gefährlich, dich jetzt aufzusuchen." „Ist mir klar. Deshalb habe ich ja mit Arno gesprochen, damit er die anderen warnen kann. Außerdem habe ich mich schon nach einem anderen Quartier umgesehen, außerhalb der Stadt." „Wir bleiben aber in Verbindung. Über Arno." „Einverstanden.'' „Dann will ich mich mal auf die Socken machen. Ich danke dir. Mach's gut." Artur erklärt Fritz, wie er am sichersten das Haus verlassen kann. Während Artur den Ausgang zur Straße benutzt, um mögliche Spitzel abzulenken, nimmt Fritz die Hintertür und erreicht über ein Trümmergelände eine Nebenstraße. Ein paarmal überzeugt er sich davon, ob ihm auch keiner folgt, dann biegt er in eine Gasse ein. Statt der früheren breiten, von hohen Häusern gesäumten Straße führt ein Trampelpfad zwischen Geröllhalden hindurch. Im weiten Bogen windet er
sich um mächtige Steinbrocken; an einigen Stellen ist der Weg so eingeengt, daß kaum zwei Menschen aneinander vorbeikommen. Ob wir das jemals schaffen, diese Stadt aufzubauen? Fritz hatte sich auf alles gefaßt gemacht, als er mit der Li-2 nach Chemnitz geflogen wurde. Doch was er dann erfuhr, sah, begreifen mußte, übertraf alle seine Befürchtungen. Desto mehr aber überrascht ihn dieses eine Haus an dem kleinen Bach der Chemnitz, das wie durch ein Wunder inmitten von Ruinen und Trümmerhalden stehengeblieben ist, etwas roh und zerkratzt — aber es ist bewohnbar. In diesem Haus wohnen Schuberts. Fritz betritt den Hur, steigt die ausgetretenen Treppen hinaus. Unterm Dach — die Tür. Er klingelt. Die Klingel funktioniert nicht. Fritz klopft, horcht, klopft noch einmal. Schlürfende Schritte. „Wer da?" „Ein alter Freund." Anna Schubert öffnet die Tür und mustert Fritz erstaunt. „Was wollen Sie?" Sollte Anna ihn wirklich nicht erkannt haben? „Kann ich Hans sprechen", fragt er und fühlt, daß er hier unerwünscht ist. „Mein Mann ist nicht zu Hause. Was wollen Sie überhaupt von ihm? Soll ich etwas ausrichten?" Die Frau ist sichtlich erregt. Da aber steckt Hans Schubert den Kopf durch die Zimmertür, so, daß ihn Fritz sehen kann. „Tag, Hans."
Wütend zerrt Anna Fritz in den Flur. „Dann komm wenigstens herein!'' Völlig kopflos läßt sie die Tür offen und zischt ihn an: „Mußt du unbedingt zu uns kommen?" „Nein", gibt Fritz müde zurück, „das mußte ich nicht. Aber mach wenigstens die Tür zu." Während Anna die Tür schließt, tritt Fritz zu Hans ins Zimmer. Hans blickt ihn an, brummt nur: „Tag schön. So, und das ist alles. Kannst wieder gehn." „Aber Hans, was soll denn das!" Fritz tritt auf ihn zu. „Laß mich in Ruhe! Ich will die letzten Tage nicht noch meinen Kopf einbüßen! Verstehst du das?" „Ja und nein. Aber du weißt doch gar nicht, was ich will? Und dann gleich mit 'nem Rausschmiß begrüßen?" „Was du willst, kann ich mir denken", fährt Hans auf. Da versucht Anna, die inzwischen hereingekommen ist, zu vermitteln. „Versteh' uns doch, Fritz. Wir wollen keine Scherereien. Ist das denn zuviel verlangt?" Die letzten Worte sagte sie sehr scharf. Was ist nur aus den beiden geworden, denkt Fritz. Wie oft hatte er Hans bremsen müssen, wenn er vor dreiunddreißig mit seinen radikalen Ansichten über das Ziel hinausschoß. „Andere denken nicht an sich zuerst", sagt Fritz vorwurfsvoll. Er spürt, daß es sinnlos ist, weiter mit den beiden ehemaligen Freunden zu sprechen. Schon an der Tür angelangt,
dreht er sich noch einmal um. „Tut mir wenigstens den einen Gefallen: Vergeßt schnell, daß ich hier war." Scharf setzt er hinzu: „In eurem eigenen Interesse! Denkt daran!" Dann verläßt er erregt die Wohnung, stürmt die Treppe hinunter. Auf einem Treppenabsatz verharrt er erschrocken. Was ist bloß los mit mir? Jede Vorsicht zu vergessen. Langsam, ganz normal, steigt er die letzten Stufen hinab. Nur nicht auffallen! Dennoch findet er nur schwer zu sich. Heinz Häßler müßte jetzt da sein. Wo mag er nur stecken? Einige Tage nach ihm sollte der Genosse auch in der Nähe von Chemnitz abspringen. Bisher hat Fritz noch nicht erfahren, ob er gut gelandet ist. Strikte Weisung: Beiderseitige Verbindung nur über vorher genau überprüfte Genossen! Also, wo ist Heinz Häßler? Es gelingt Fritz nicht, diesen Gedanken abzuschütteln; jetzt ist er das erstemal in die Lage gekommen, sich unbedingt mit jemandem auszusprechen. Die Pleite vorhin, bei Schuberts — noch erregt sie ihn. Obwohl Fritz jetzt gegen die Regeln der Konspiration handelt, geht er in die Theaterstraße, gelangt bald vor das von Bomben angeschlagene Haus, wo die Mutter von Heinz wohnt. Vielleicht ist Heinz dort? Schon will er seine Schritte in das Haus lenken, da erblickt er einen verdächtigen Mann, der vor dem Haus auf- und abläuft. Vorsichtig blickt er sich um. Die vielen Passanten, die vom Bahnhof kommen, drängeln sich den
schmalen Pfad zwischen den Trümmerbergen vorwärts. Kurz darauf entdeckt er zwei weitere Männer, die, ein paar Schritte vor ihm, so tun, als würden sie sich angeregt unterhalten; dabei beobachten sie aber ganz genau die Eingänge der wenigen stehengebliebenen Häuser. Weg, nichts wie weg! hämmert es in ihm. Im Schutz der vielen Passanten drängelt er sich den Pfad weiter, vorbei an dem Gebäude, wo sie offensichtlich auf Heinz lauern, vorbei an den Spitzeln. Endlich ist er aus der Theaterstraße heraus. Zwischen den Ruinen am Johannisplatz bleibt er einen Moment stehen, fragt einen älteren Mann, wie er nach Bernsdorf komme. Geduldig hört er sich dessen langatmige Erklärung an, dabei blickt er vorsichtig in die Richtung, aus der er gekommen ist. Er nimmt nichts Verdächtiges wahr. Niemand verfolgt ihn. Nach ein paar Minuten wiederholt er den gleichen Trick in der Poststraße. Aber auch hier hat er den Eindruck, daß ihn niemand verfolgt. Beruhigt macht er sich auf den Weg in sein Quartier. Er ist froh. Heinz haben sie noch nicht entdeckt, sonst würden sie nicht vor dem Haus seiner Mutter sitzen und herumschnüffeln! Mich haben sie auch nicht! Aber etwas ist drohende Wirklichkeit: Sie haben entdeckt, daß jemand abgesprungen ist. Ob sie wissen, daß es sich um zwei Mann handelt? Daß Häßlers beobachtet werden, ist klar, Heinz gehört
direkt dem Nationalkomitee an, von mir wissen sie nichts! Aber besser, ich verschwinde wieder einmal aus meinem Quartier, suche mir ein anderes... Mord im Pfarrholz „Von dem Fallschirmspringer haben Sie sicherlich noch keine Spur, stimmt's?" Gestapochef Wackerow schreit Munkelt an. „Nein", antwortet der Kommissar verlegen, „obwohl wir alle verfügbaren Kräfte aufgeboten und Ihre Weisung, die gewissen Häuser zu beobachten, strikt eingehalten haben." „Mich interessiert nicht, was Sie alles getan haben! Ich will Ergebnisse sehen! Und da sieht es faul aus bei euch!" Er schlägt mit der Faust auf den Tisch. „Das muß man sich einmal klarmachen: Moskau schickt uns Läuse in den Pelz. Und wir lassen sie ruhig untertauchen und sich, auf was weiß ich alles, vorbereiten!" Munkelt versucht, sich herauszureden, doch Wackerow läßt keine Ausflüchte zu. „Sie können es sich aussuchen: Entweder Sie bringen mir den Kerl bald angeschleppt, oder Sie und Obst wandern ab, und zwar direkt an die Front. Unfähige Leute kann ich hier nicht gebrauchen." Munkelt knallt, obwohl es die Halbschuhe nicht zulassen, die Hacken zusammen. Wackerow wendet sich von ihm ab, blickt aus dem
Fenster. In den Frühlingstag spricht er gehässig: „Und, Munkelt, wie steht es mit den Häftlingen?" Mit einem Ruck dreht er sich um, blickt seinen Untergebenen scharf an. „Ist alles zur Erschießung vorbereitet?" In der Markersdorfer Straße, im Südwesten der Stadt, erreichen Munkelt und Obst den Trupp. Mühsam schleppen sich die sieben Gefangenen die Straße entlang, angetrieben von Kommissar Bienert und seinen Mordgehilfen Fläming, Schlupper und Großer. In einigen Vorgärten der Siedlung stehen Leute. Dümmer konnte es dieser Bienert auch nicht anstellen, denkt Munkelt wütend. Obst und Munkelt klettern aus dem Fahrzeug, brüllen die Leute in den Gärten an. ,,Wer nicht sofort verschwindet, kann gleich mitkommen!" Ihr Gebrüll zeigt die beabsichtigte Wirkung: Die Bewohner der Siedlung verschwinden in den Häusern. Nachdem dieser traurige Zug die letzten Siedlungshäuser passiert hat, setzt sich der Wagen mit den beiden Kommissaren an die Spitze. Am Pfarrholz, einem Wäldchen bei Neukirchen, wartet schon das Exekutionskommando der SS aus der Unteren Schule von Neukirchen. Einer meldet: „Alles vorbereitet, Posten verteilt!" Munkelt weist zwei SS-Männer an, dem Trupp mit
entsicherter Waffe entgegenzugehen. „Hat schon genug Aufsehen bei den Siedlern gegeben!" Es dämmert, als die sieben das von SS umstellte Wäldchen erreichen. Bienert verhöhnt die Gefangenen. „Nun macht' mal, beweist zum letztenmal, daß ihr arbeiten könnt. Arbeit macht frei. Na, dann befreit euch 'mal! Aber ein bißchen dalli!" Albert Hähnel und Walter Klippel werden die Handschellen abgenommen. Grinsend drückt ihnen Bienert Spaten in die Hände. „Ich mach das zuerst." Er haßt sie, ihre Standhaftigkeit, auch unter der Folter nichts preiszugeben. Auch Obst und Munkelt lassen es sich nicht nehmen, ihren letzten kalten Triumph an den Gefangenen abzureagieren. Auch sie verteilen die Grabewerkzeuge. Obst wirft Alfons Pech einen Spaten hin, der dem Genossen ins Gesicht trifft. „Jetzt hat deine letzte Stunde geschlagen, du Russenfreund!" Auch diesem Gestapomann war es nicht gelungen, etwas aus Alfons Pech herauszuprügeln. Er weiß nur, daß er sowjetischen Kriegsgefangenen Lebensmittel zugesteckt hatte. Daß Alfons Pech aber die Zusammenarbeit des Chemnitzer Arbeitskomitees mit den sowjetischen Kriegsgefangenen im Chemnitzer Industriegebiet organisiert hat, davon hat Obst keine Ahnung. Umringt von den SS-Männern, die ihre Maschinen-
pistolen auf die Häftlinge richten, schaufeln am Abend des 27. März 1945 sieben Chemnitzer Antifaschisten ihr Grab. Albert Hähnel, Max Brand, Albert Junghans, Walter Kuppel, Kurt Krusche, Alfons Pech und Willi Reinl. Sie wissen, was ihnen bevorsteht, doch den Mördern zeigen sie auch in diesen letzten Minuten kein Zeichen von Schwäche. Hin und wieder tritt Bienert ein paar Schritte näher, zu tief soll die Grube auch wieder nicht werden, denn sie müssen sie ja schließlich wieder zuschaufeln. Nach einer Weile winkt er Schlupper und Großer heran. Sie stoßen mit den Kolben ihrer MPis drei Gefangene, die noch außerhalb der Grube stehen, in das Grab. Ein Befehl ertönt: „Hinlegen! Mit dem Gesicht zur Erde!" Dann ertönen die Kommandos des Erschießungstrupps, schon prasseln die Schüsse. Zuletzt feuern noch Großer und Schlupper ihr Magazine auf die sieben leer... Entschluß zur Rückkehr Auf Umwegen erreichen zu der Zeit Kurt Kretschmar und seine Frau ihren Unterschlupf bei der Familie des Genossen Arno Bach in Niederschmiedeberg. Nun sitzen sie um das Radio und hören den Moskauer Rundfunk und danach den Baseler Sender. Zum Teil können sie sich nun ein
Bild über den Frontverlauf machen. Im Raum Küstrin haben sowjetische Truppen einen Brückenkopf gebildet, und weiter südlich, im Raum Breslau, operiert die Rote Armee erfolgreich. Die westlichen Alliierten haben den Rhein überquert und Köln eingenommen. Lange wird es nicht mehr dauern, bis die Nazis geschlagen sind. Kurt berät sich mit seiner Frau; er will unbedingt nach Chemnitz. „Dort brauchen sie jeden Genossen. Die Antifaschisten müssen vereint werden, sonst gelingt nicht eine Aktion, denn die Stadt wird bestimmt zur Festung erklärt." „Meinst du? Das wäre schlimm für alle." „Im Erzgebirge können sich die Faschisten noch einmal festsetzen, verstehst du, hier ist noch eine Chance für sie, ihren Untergang hinauszuzögern. Und wäre es nicht möglich, daß Hitler Hilfe bei den Engländern und Amerikanern sucht? Die Kapitalisten stecken doch schon immer zusammen, wenn es gegen die Arbeiter und gegen die UdSSR geht." „Das wäre kaum zu glauben, doch wenn ich so überlege, Kurt, etwas ist dran." „Ja, und vielleicht könnten wir in Chemnitz die Russen etwas unterstützen." „Ist das überhaupt real, an so etwas zu denken?" „Real? — Ja, ich weiß es auch nicht. Die meisten Genossen und Hitlergegner sind eingesperrt worden, ermordet. Andere müssen sich verborgen halten, wie wir, Edith. Es scheint fast unmöglich zu sein. Doch auch das Unmögliche
muß man wagen. Vielleicht gelingt es uns, eine kleine Organisation aufzubauen, die verhindern könnte, daß Brücken oder wichtige Werke gesprengt werden. Man muß auch an die Zeit danach denke, Edith: Wir werden jeden brauchen, um all das Schreckliche der letzten Jahre zu bewältigen." „Also, wie ich sehe, steht es für dich fest, nach Chemnitz zu fahren. Gut, das ist wohl richtig. Ich fahre natürlich mit." Während beide sich über die Route nach Chemnitz einigen, kommt unerwartet Herbert Leibiger; nur er kennt das illegale Quartier der Kretschmars. Herbert berichtet über Fritz Krenkel, daß er schon seit Tagen Kurt suche. Über Arno Schreiter habe er es erfahren. Das gibt den Ausschlag für die Reise in die Stadt. Am frühen Morgen des nächsten Tages sieht man beide auf Fahrrädern, die ihnen die Bachs geliehen haben, auf Nebenstraßen, Feldwegen und Waldwegen nach Chemnitz radeln. Sie fahren erst einmal um die Stadt herum, nach Auerswalde. Abends treffen sie auf ihrem geheimen Gartengrundstück ein, wo sie zwei Tage lang bleiben. Dann bemüht sich Kurt, Fritz Krenkel zu erreichen. Dabei erfährt er, daß trotz Verhaftungen die illegale Parteiorganisation in Chemnitz arbeitet. Und das ist schon Grund zur Freude. Endlich hört er, daß Fritz Krenkel ihn treffen will.
Alfred Grimm (links) und Fritz Krenkel erinnern sich gern ihres unerwarteten Wiedersehens im März 1945 in Adorf/Erzg.
Illegale Beratung Als Fritz Krenkel am späten Abend jenes Tages, da er in der Theaterstraße die am Haus von Heinz Häßlers Mutter lauernden Spitzel entdeckt hatte, in
sein Quartier zurückkehrt, wartet Liesel Horn schon ungeduldig auf ihn. Sie berichtet ihm von dem Marsch der sieben Gefangenen nach Neukirchen. Sie habe diese Nachricht von Bekannten erhalten, die in der Siedlung wohnen. Über ihr weiteres Schicksal wisse sie nichts. Aber beide ahnen, was das bedeutet... Die Gefahr für Fritz verdichtet sich. Er wohnt schon zu lange bei Liesel. Also bittet er sie, ein anderes Quartier zu besorgen. Aber sie hat schon daran gedacht und überrascht ihn nun. Sie habe in der Krügerstraße eine neue Bleibe für ihn gefunden. „Das ist in Hilbersdorf. Die Familie ist sicher." Am nächsten Tag sucht er die neue Unterkunft auf. Es ist ein ausgezeichnetes Versteck für ihn, und, wie er feststellen kann, eignet es sich auch für Beratungen mit mehreren Genossen. Einige Tage verbringt er noch damit, die Bewohner der näheren Umgebung zu beobachten, die Straße genau zu erkunden. Ob nicht irgendwelche Leute ihn und das Haus bespitzeln. Bald, so denkt er, kann ich mit Arno sprechen und ihm den Termin für die erste Beratung mit den Genossen vorschlagen. Doch da kommt etwas dazwischen, was für Stunden alles umwirft: Bei der Familie erscheint ein Mann und bittet um Aufnahme, Alfred Friedemann aus Meerane, der, so stellte es sich heraus, aus der Kaserne in der
Planitzstraße desertiert ist. Seine Quartiergeber handeln in guter Absicht, als sie auch ihm Unterkunft gewähren. Doch das bringt neue Gefahren mit sich. Fritz muß die geplante Zusammenkunft verschieben. Nach einigen Tagen ist es ihm klar, daß von Friedemann nichts zu befürchten ist. Ja, er erfährt sogar von ihm, daß es in seiner Kaserne eine kleine illegale Widerstandsgruppe gibt, die ein Erhard Lehnert leitet. In der Stadt verstärkt sich das Durcheinander. Am 14. April 1945 erreichen die Panzerspitzen der 3. amerikanischen Armee den Raum HohensteinErnstthal-Limbach. Nur zögernd gehen sie weiter vor. Am 21. April stoppen die Amerikaner ihren Vormarsch am westlichen Stadtrand von Chemnitz gänzlich und beschränken sich darauf, gelegentlich einige Granaten in die Stadt zu feuern. Die dadurch ausgelöste Panik wird durch die wachsende Anzahl von Flüchtlingen noch vergrößert. Die Zeit drängt, die in den letzten Wochen gebildeten Widerstandsgruppen der Stadt unter eine gemeinsame Leitung zu stellen. Über seine engsten Verbindungsleute gibt Fritz Krenkel die Nachricht über Termin und Treffpunkt weiter. Fritz Lange überrascht ihn mit der Mitteilung, daß er endlich Kurt Kretzschmar getroffen habe. An einem Nachmittag, Ende April, ist es soweit. Kurt Kretzschmar trifft als erster in Fritz Krenkels
Quartier ein. Er hat das Treffen mit dem Kampfgefährten kaum erwarten können. Herzlich schütteln sich beide Genossen die Hände, umarmen sich. „Wie hast du dich durchschlagen können", fragt Kurt. „Und du? Wie hast du alles überstanden", fragt Fritz. Seit zwölf Jahren haben sich beide nicht mehr gesehen, seit jenem Februarabend im Jahre 1933, als sie gemeinsam die letzte Versammlung der Partei in Wechselburg durchführten. Kurt Kretzschmar, damals Unterbezirksleiter der KPD in Limbach, hatte den Genossen die Hinweise der Parteiführung für den illegalen Kampf übermittelt. Den beiden Freunden bleibt nicht viel Zeit, Erinnerungen auszutauschen. Arno Schreiter, Fritz Lange, Artur Hujer und die anderen eingeladenen Genossen kommen, und die Zusammenkunft darf nicht über Gebühr ausgedehnt werden. Noch sind sie vor den Nazis nicht sicher. „Beginnen wir mit dem Wichtigsten", eröffnet Fritz Krenkel diese erste Parteiberatung vor der Befreiung der Industriestadt. „Welche Kontakte habt ihr in den letzten Tagen noch knüpfen können? Wo bestehen organisierte Parteizellen?" „Mit neun Genossen vom Sonnenberg und aus Gablenz habe ich ständig Verbindung'', antwortet Arno Schreiter.
„Eine starke illegale Gruppe arbeitet im RAW", fügt Kurt Kretzschmar hinzu. „Außerdem kann ich über Paul Roßner mit mindestens fünf Genossen aus den Niles-Werken in Kontakt kommen." Fritz Lange informiert über seine Zusammenkünfte mit Genossen aus dem Schloßviertel und der Stahlgießerei Krautheim, Artur Hujer über eine Parteizelle in Altendorf und Rottluff. „Wie abgesprochen, habe ich mich um das Gebiet Altchemnitz und Harthau gekümmert", faßt Fritz Krenkel zusammen. „Zu Parteizellen haben sich Genossen in den Pfauter-Werken, bei Hartmann, bei Schubert und Salzer zusammengefunden. Mit mehreren Genossen aus Altchemnitz und Harthau steht Otto Schütze in Verbindung. Rechnen wir alle zusammen, so sind wir über fünfzig Kommunisten, die in nahezu allen Stadtteilen wohnen." Die Genossen beauftragen Fritz Krenkel, Kurt Kretzschmar, Paul Roßner und Max Hofmann mit der Leitung der illegalen Parteiorganisation. „Wie wollen wir Sozialdemokraten gewinnen?" fragt Fritz Krenkel nach einer kurzen Pause. „Mit einigen haben wir bereits Kontakt", bricht als erster Arno Schreiter das Schweigen. „Du weißt ja selbst, viele waren mit uns im Gefängnis oder KZ, da haben wir viele ehrliche SPD-Genossen kennengelernt." „Nicht wenige haben an gemeinsamen Aktionen
teilgenommen", wirft Kurt Kretzschmar ein. „Wir haben zusammen Flugblätter verteilt oder Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern geholfen." „Habt ihr mit ehemals führenden Sozialdemokraten der Stadt Kontakte?" fragt Fritz Krenkel weiter. „Habt ihr mit ihnen diskutiert, wie es nach dem Krieg in der Stadt weitergehen soll?" „Mit Albert Jentzsch und Fritz Uhle bin ich im Gespräch", antwortet Kurt Kretzschmar. „Das ist gut. Wir sollten uns mit führenden Genossen der SPD zusammentun und uns auch über die Zusammenarbeit nach dem Krieg einigen. Schließlich müssen wir daran denken, die Stadtverwaltung neu zu besetzen, die Polizei neu zu organisieren, um all das, was für einen Neubeginn im antifaschistischen Sinne notwendig ist. Am besten wird es sein, Genosse Kretzschmar gewinnt Jentzsch und Uhle für ein Einheitsprogramm. Gemeinsame Aktionsausschüsse werden notwendig sein, deren Leitung je ein Genosse von uns und einer von denen übernimmt. Bist du einverstanden, Kurt?" Kurt Kretzschmar stimmt zu, ebenso die anderen Genossen. „Besprechen wir nun, wie wir die Sowjetarmee unterstützen können, wenn sie sich der Stadt nähert", führt Fritz Krenkel die Beratung weiter. „Wir besitzen doch keine Waffen; müßten uns erst welche besorgen", wirft Artur Hujer ein.
„Klar, Waffen brauchten wir", unterbricht ihn Fritz Krenkel. „Wir müssen aber auch verhindern, daß jetzt noch sinnlos Menschen geopfert werden, daß die Stadt noch mehr zerstört wird. Jeder weiß, daß die Nazis noch sehr stark sind. Wir müssen versuchen, uns aus einigen Polizeirevieren Gewehre zu besorgen. Die Sache übernehmen Alfred Friedemann und ich. So, das dazu. Und nun zum Schutz von Werken und Brücken. Weiß jemand, ob Sprengungen vorbereitet werden?" Von Sprengvorbereitungen in Fabriken haben die Genossen bisher nichts bemerkt. Auch die Parteizellen, mit denen sie in Verbindung stehen, haben noch nichts darüber berichtet. Arno Schreiter meint jedoch, daß eine Einheit der Wehrmacht an der Autobahnbrücke über dem Tal der Chemnitz eine große Sperre errichtet hat. Ob da auch Sprengladungen angebracht worden seien, konnte er jedoch nicht feststellen. Er hat aber gesehen, daß die Sperre ständig von einem nahe gelegenen, bewaldeten Hang aus bewacht wird. Zivilisten, die sich der Sperre nähern, würden von Soldaten mit vorgehaltenem Gewehr zurückgejagt. Ein paarmal hätten Soldaten auch Warnschüsse abgegeben. Arno Schreiter übernimmt es, zusammen mit einigen Genossen und ihm gut bekannten Antifaschisten die Autobahnbrücke zu beobachten. Wenn Sprengladungen angebracht sind, wollten sie versuchen, sie zu entfernen. Er verspricht, sofort zu
signalisieren, wenn Hilfe notwendig wird. Sicherungsgruppen werden benannt, die die größeren noch nicht zerstörten Fabriken unauffällig bewachen sollen. Wenn etwas bemerkt werden sollte, das auf eine beabsichtigte Sprengung hindeutet, so ist sofort die zentrale Leitung zu benachrichtigen. Andere Genossen sollen zusammen mit ihnen vertrauten Arbeitskollegen das Gebäude der beschädigten Fabriken sichern, um zu verhindern, daß aus den Trümmern wichtige Maschinenteile und Werkstoffe geplündert werden. Zum Abschluß ihrer Beratung tauschen sie Gedanken aus, wie sie der faschistischen Antisowjethetze entgegentreten könnten, um die Einwohner und die in der Stadt stationierten Einheiten der Wehrmacht von Kampfhandlungen gegen die Sowjetarmee abzuhalten. Schließlich entwerfen sie den Text eines Schreibens an den Standortältesten der Garnison. „Der Krieg ist sinnlos geworden. Wer jetzt noch Menschen in den Tod schickt, begeht ein schweres Verbrechen, für das er schon in wenigen Stunden seinen Richter findet", schreiben sie. Unterschrieben mit „Vaterländische Front Chemnitz", fordern sie den Standortältesten auf, die Stadt nicht zur Festung zu erklären, wie es Hitler befohlen hat.
Tag des Neubeginns „Du weißt, daß die Sache gefährlich werden kann", mahnt Fritz Krenkel seine Begleiterin. „Noch können wir umkehren." „Willst du, daß der Brief an den Mann kommt oder nicht", fragt ärgerlich die junge Frau, „Natürlich will ich das. Aber noch einmal, auf keinen Fall gehst du mit in die Kaserne! Wenn sie das Schreiben nicht am Tor annehmen, gehst du sofort wieder weg." Fritz sagt es heftiger, als beabsichtigt. Er überlegt, was alles eintreten könnte, beruhigt sich aber bald. Immerhin sind in den letzten Tagen eine Menge Soldaten desertiert. Zum anderen, so glaubt er, möchte der Standortälteste, und nicht nur er, die letzten Tage noch überleben, also werden sie sich allseitig abzusichern verstehen. Und das direkte Zustellen des Briefes deutet an, daß es eine Widerstandsorganisation in Chemnitz gibt, die gewillt ist, keine unnötigen Opfer mehr zuzulassen. Daß wir nur wenige sind, braucht ja der Offizier nicht zu wissen. Welche Gewißheit hat er aber, daß die Wache auch den Brief dem Kommandeur übermittelt? Auf Lehnen ist Verlaß, versucht Fritz seine Zweifel zu zerstreuen. „Warte noch", hatte er ihn gesagt. „Wir haben da einen Oberfeldwebel, der beim Alten einen Stein im Brett hat. Übermorgen ist er
Wachhabender. Das wäre günstig. Ihr müßt versuchen, ihm den Brief zu übergeben. Sagt einfach, es sei ein persönlicher Gruß von Herrn Pfauter. Die ganze Kaserne weiß, daß der Chef oft in die Villa des Fabrikanten fährt." Während Fritz seine Zweifel unterdrückt, sind die beiden am Straßenbahndepot angelangt. Kaum zweihundert Meter vor ihnen leuchten die roten Ziegelbauten der Kaserne durch das Frühlingsgrün. „Also, kein unnötiges Risiko", ermahnt Fritz die junge Frau. „Wenn dir etwas nicht geheuer ist, dann flirte mit dem Posten und versuche dabei, so schnell wie möglich wegzukommen. Alles andere mache ich schon." „Wird schon schiefgehen!" Fritz spürt, der burschikose Ton ist ein wenig gespielt. „Mach's gut." Während die Frau zum Kasernentor geht, folgt ihr Fritz auf dem gegenüberliegenden Fußsteig. In Höhe des Kaserneneinganges hatte er am Vortage eine Toreinfahrt ausgemacht, die von einigen Sträuchern gesäumt wird. Dort bleibt Fritz stehen. Er sieht, wie die Frau mit dem Posten spricht und dieser dann in das Wachzimmer geht. Man telefoniert jetzt sicher mit dem Wachhabenden, denkt Fritz. Den Kasernenhof kann er nicht einsehen. Ruhig, ja sogar ungewöhnlich ruhig ist es im Objekt. Das fällt ihm auf und bereitet ihm Sorge. Ansonsten verließen um diese
Zeit ständig Fahrzeuge oder Gruppen von Soldaten die Kaserne. Anscheinend haben die Einheiten schon am Rande der Stadt Stellung bezogen, denkt Fritz. Nach einer Weile erscheint ein weiterer Soldat am Tor. Er wechselt mit dem Posten und der Frau ein paar Worte, geht dann wieder zurück. Fritz beunruhigt es, daß der Soldat den Brief nicht abgenommen haben könnte. Vielleicht geht er auch nur den Oberfeldwebel suchen? Was aber, wenn die Wache Verdacht geschöpft hat? Das Warten in Ungewißheit bedrückt Fritz. Unwillkürlich krampft sich seine Hand um die Pistole in der Tasche. Langsam gewinnt Fritz seine Ruhe wieder, denn er sieht die junge Frau lachen, sieht, wie sie mit dem Posten flirtet. Endlich taucht ein schon etwas älterer, kräftiger Mann am Tor auf. Fritz erkennt die Armbinde des Wachhabenden. Nach der Beschreibung von Erhard Lehnen dürfte es der Oberfeldwebel sein, der nun den Brief entgegennimmt. Dabei scheint er gleichfalls einige anzügliche Bemerkungen zu machen. Die Handbewegung und das Lachen der jungen Frau lassen das vermuten. Schließlich verabschiedet sie sich von den beiden Männern, die keinen Blick von ihr lassen. Fritz lächelt, wie er sieht, daß sie noch immer ihre Figur taxieren. Hm, ist ja auch ein ganz passables Frauenzimmer. Ein
paarmal dreht sich die Frau um, winkt kurz. Erst als sie an einer Straßenbiegung verschwindet, geht auch der Wachhabende wieder auf den Kasernenhof zurück, den Brief in der Hand. Fritz verweilt noch einen Moment, dann geht auch er, um nach einigen Schritten links in eine Nebenstraße abzubiegen, zum Sonnenberg hin. An der Gießerstraße hofft er Arno Schreiter zu treffen. Aber Arno ist nicht zu sehen. Fritz geht die vereinbarten Straßen ab, obwohl die Zeit des Treffs längst überschritten ist. Vergeblich. In Sorge um den Genossen kehrt er in sein Quartier zurück. Am Morgen des nächsten Tages sucht Fritz den Reservetreff auf. Kaum ist er am Zöllnerplatz, bleibt er erschrocken stehen: An der Ecke zum Brühl wartet Arno in Begleitung eines Polizisten. Fritz vertraut Arno, trotzdem ist ihm nicht wohl in seiner Haut. Er will schon verschwinden, sicher ist sicher, da kommen die beiden schon auf ihn zu. Verlegen begrüßt Arno ihn. „Mir fällt ein Stein vom Herzen, Fritz! Die ganze Nacht machte ich mir Sorgen, du könntest gestern in meine Wohnung gegangen sein. Mußte schnell verschwinden. Dich zu benachrichtigen war zu spät." Arno weist auf den Polizisten. „Otto hat mich gewarnt. Ich wohne jetzt bei Bekannten in der Glücksberg-Siedlung. Da ist es ziemlich sicher!" „So ein Wahnsinn", bringt der Polizist nun hervor. Stockend spricht er nach einer kurzen
Besinnungspause weiter. „Vor ihrem Abgang noch ein Blutvergießen. Das wollten die." Fritz blickt die beiden fragend an. „Nun mal der Reihe nach. Was war los?" „Gestern hat die Gestapo noch eine Razzia veranstaltet". „Inzwischen sollen sich aber ihre Fürsten abgesetzt haben", versucht Arno zu erklären. „Wackerow, Obst und Munkelt sind weg", bestätigt der Polizist. „Wir aber sollen den Kopf hinhalten." „Hör schon auf", unterbricht ihn Arno. „Du hast für uns getan, was du konntest. Wir werden das schon nicht vergessen!" „Eine Razzia?" Fritz wendet sich an den Polizisten. „Was weißt du darüber?" Otto hat sich wieder gefangen. Die Worte von Arno, der vertrauensvolle Ton von Fritz haben ihn beruhigt. „Es scheint ein Schlag ins Wasser geworden zu sein", antwortet er. „Gestern, sehr früh, haben wir ausrücken müssen. Die Polizei hat einige Wohnviertel umstellt. Dann sind die von der Geheimpolizei in die Wohnungen gegangen. Obst und Munkelt sollen danach schrecklich geflucht und herumgeschrien haben. Offensichtlich fanden sie die Gesuchten nicht. Lediglich zwei Deserteure und ein paar alte Männer, die sich vom Volkssturm drücken wollten., sind mitgenommen worden. Sie waren im Polizeipräsidium." „Wieso waren", fragt Fritz.
„Der Diensthabende vom Präsidium hat abends bei der Gestapo angerufen, was mit den Leuten geschehen soll. Aber dort hat keiner mehr das Telefon abgenommen. Daraufhin hat der Diensthabende eine Streife zur Villa geschickt. Aber die war leer. Na ja, und heute Morgen hat er die Verhafteten wieder laufen lassen." „Gut. Die Gestapo hat sich also abgesetzt. Und wie sieht es im Polizeipräsidium aus?" „Ein schreckliches Durcheinander", antwortet Otto. „Von Tag zu Tag kommen weniger zum Dienst." „Du kannst ruhig alles ausspucken, was du mir gesagt hast", ermuntert Arno den Polizisten. „Es stimmt doch, daß kaum noch einer von den Offizieren da ist?" „So ist es", bestätigt Otto. „Offensichtlich haben die sich abgesprochen, wollen zum Ami. Vor der Razzia gestern hat sich der Chef in sein Arbeitszimmer eingeschlossen. Als wir zurückkamen, war er schon weg und wurde seitdem nicht mehr gesehen." „Mit Waffen, wie sieht es damit aus?" fragt Fritz weiter. „Danach habe ich auch schon gefragt", springt Arno ein. „Auf den Revieren ist wahrscheinlich nichts mehr zu holen, weil sie die Gewehre schon weggebracht haben." „Und wohin", will Fritz wissen. „Vermutlich in die Kaserne, für den Volkssturm",
antwortet der Polizist. Aber ob im Präsidium noch Waffen sind und wie viele, das weiß ich nicht. Ich bin ja erst vor ein paar Tagen aus dem Revier dorthin versetzt worden." „Was haltet ihr davon, wenn wir uns selbst einmal im Präsidium umsehen? Jetzt, sofort", meint Fritz. Arno und Otto schauen sich schweigend an. „Den meisten dort geht es wie mir; sie haben den Kanal voll", antwortet nach einer Weile Otto. „Sie treibt anscheinend nur noch die Gewohnheit, jeden Tag dazusein, ins Präsidium. Ein paar kenne ich nicht so gut. Ich glaube aber nicht, daß sie sich noch blutige Hände holen wollen." „Hältst du es für gefährlich", fragt Fritz. Der Polizist bleibt die Antwort schuldig, blickt unsicher zu Boden. „Gut", entscheidet Fritz. „Ich bin hier weniger bekannt. Ich werde mit Otto ins Präsidium gehen. Arno, du gehst zu Paul Roßner. Bringt noch zwei, drei Genossen mit. Wir treffen uns in einer Stunde an der Handwerkerschule." Als Fritz und Otto schließlich das Präsidium betreten, sind sie verwundert. Am Eingang kein Posten, der Korridor im Erdgeschoß macht einen ausgestorbenen Eindruck. Sie steigen die breite Treppe hinauf. Zwei Polizisten kommen ihnen entgegen. Sie kümmern sich nicht um Otto und Fritz. Im zweiten Stock verharren sie. Auf dem
langgestreckten Flur herrscht ebenfalls Stille. Otto drückt auf einige Türklinken. Die Türen sind verschlossen, außer einer; doch in dem Raum ist niemand. Nach längerem Suchen finden sie den Wachtmeister, von dem Otto bereits unterwegs zum Polizeipräsidium gesprochen hatte. Otto stellt Fritz als einen früheren Amtskollegen vor, der zur Kripo nach Dresden versetzt worden sei. Der Wachtmeister lächelt ungläubig. „Was wollen Sie", fragt er dann scharf. „Wenn es hier drunter und drüber geht, sind nicht die schuld, die ausharren." „Sprechen wir offen miteinander", versucht Fritz den Wachtmeister zu besänftigen. „Ich komme weder von der NSDAP noch von der Gestapo. Ich komme von Leuten, die nicht wollen, daß das Chaos noch größer wird." „Kommunist", fragt der Wachtmeister. „Tut nichts zur Sache", entgegnet Fritz. „Sie wissen, was Sie wagen?" „Ich weiß, was geschieht, wenn wir nichts wagen." „Verständigen wir uns", lenkt der Wachtmeister ein, der inzwischen bemerkt hat, daß Otto eingreifen würde, falls das Gespräch eine gefährliche Wendung nehmen sollte. „Die Ratten haben das sinkende Schiff verlassen", bemerkt der Polizist schließlich resignierend. „Mir bleibt nur noch übrig, Ihnen zu helfen. Ich hoffe nur, Sie vergessen nicht, wenn der Spuk vorüber ist."
„Darüber kann man später sprechen", antwortet Fritz. „Jetzt begleiten Sie mich erst einmal, um Verstärkung zu holen. Otto wird inzwischen hier nach dem Rechten sehen." An der Handwerkerschule warten bereits Arno, Paul und drei andere Männer. Fritz beauftragt Paul, noch einige Genossen ausfindig zu machen und sie in das Polizeipräsidium zu schicken. Außerdem soll er Kurt informieren, damit noch mehr zuverlässige Leute mobilisiert werden, um die Aktion abzusichern. In das Polizeipräsidium zurückgekehrt, schlägt Fritz dem Wachtmeister vor, den Haupteingang verschließen zu lassen und am Tor zur Promenadenstraße Posten aufzustellen. Der ist damit einverstanden. Otto hat inzwischen für die Genossen Uniformen besorgt. Sie übernehmen gemeinsam mit einigen Polizisten, von Otto ausgewählt, den Wachdienst. Fritz, der in Zivil bleibt, spürt, daß ihm ein paar Polizisten nicht glauben, daß er ein aus Dresden zukommandierter Kriminalkommissar sei. Ihm ist das egal, denn sie fügen sich seinen Anweisungen. Die Suche nach Waffen ist ergebnislos. Lediglich ein paar Pistolen finden sich. Die Munition dazu ist spärlich. Am Abend kommen ein paar Genossen im Präsidium an, die Paul zur Verstärkung geschickt hat. Fritz teilt sie zu einer zusätzlichen Wache ein, die sich in einem Zimmer postiert, von dem aus das
Tor an der Promenadenstraße gut zu übersehen ist. Fritz, Otto und der Wachtmeister quartieren sich im Zimmer für den Diensthabenden ein. Die Nacht verläuft ruhig. Was er am meisten befürchtet hat, tritt nicht ein. Weder vom Braunen Haus, dem Sitz der NSDAP, noch von den Behörden meldet sich jemand im Polizeipräsidium. Trotzdem schläft Fritz in der Nacht kaum ein paar Minuten. Am frühen Morgen versucht Fritz herauszubekommen, wo sich in der Stadt Lebensmittellager befinden, um sie vor Plünderern zu schützen. Plötzlich stürzt ein Genosse in das Zimmer. „Vor dem Tor steht ein Fahrzeug der Polizeibereitschaft", schreit er. Fritz eilt zum Korridorfenster, von dem aus er auf die Promenadenstraße sehen kann. Auf der Ladefläche des Lastkraftwagens befinden sich mehrere mit Gewehren bewaffnete Polizisten. Auf dem Fahrerhaus ist ein Maschinengewehr montiert worden. „Seid ihr verrückt", schreit Fritz die Männer ,die an die Fenster wollen, an. „Wenn die da unten Lunte riechen, wird es heiß! Los, geht hinter den Fenstern in Deckung! Haltet für alle Fälle die Waffen bereit! Aber eiserne Disziplin, keine Dummheiten!" Er selbst rennt die Treppe hinunter, hinaus auf den Hof. Als die Wache ihn kommen sieht, gibt sie dem Offizier, den sie bisher nur mit Mühe zurückhalten
konnten, den Weg frei. Schimpfend kommt er auf Fritz zu. „Kriminalkommissar Lindner", stellt sich Fritz vor. „Was ist hier los?"
Der Polizeileutnant erklärt, er habe Befehl, wichtige Staatspapiere wegzubringen. Doch sein Fahrzeug müsse aufgetankt werden. Fritz winkt den Wachtmeister heran. Nach einem kurzen Wortwechsel geht er einen Polizisten holen, der sich im Tanklager auskennt. Fritz befiehlt, das Tor zu öffnen. Langsam fährt das Fahrzeug auf den Hof.
Einen Moment durchfährt Fritz der Gedanke, die paar Leute zu überrumpeln. Doch wie würden sich die Polizisten verhalten? Und eine Schießerei im Präsidium würde nur Aufsehen erregen. Wer weiß, was dann kommt? So steht er wütend bei dem Fahrzeug mit den vermutlich wertvollen Dokumenten. Und dann die dringend benötigten Waffen! Besorgt beobachtet er immer wieder die Fenster im ersten Stock. Doch die Genossen halten sich gut verborgen. Endlich verabschiedet sich der Polizeileutnant. Das Fahrzeug rollt vom Hof. In das Dienstzimmer zurückgekehrt, drängt Fritz zur Eile. Unter Leitung jeweils eines Genossen werden Streifendienste zusammengestellt. Am Nachmittag schießt sich Artillerie näher auf das Zentrum zu ein. Fritz verlegt seinen „Befehlsstand" in den Keller. Die zurückkehrenden Streifen berichten, daß sich die Einwohner in die Luftschutzräume zurückgezogen hätten. Die ganze Nacht hindurch ist die Artillerie zu hören. Am Morgen des 8. Mai 1945 erhält Fritz die Meldung, daß sowjetische Panzerspitzen die Stadt erreicht haben und daß ihnen kaum Widerstand entgegengesetzt wird. Wie es sich bald herausstellte, hatte der Standortälteste die Stadt nicht zur Festung erklären lassen. Am Stadtrand eingesetzte Soldaten verließen ihre Stellungen. Der Volkssturm kam
kaum zum Einsatz. Die Stadt schien menschenleer. Die sowjetischen Panzer rollten bereits dem Stadtzentrum zu. Fritz verläßt mit seinen Genossen, die sich der Polizeiuniformen entledigt und ihre normale Kleidung angezogen haben, das Präsidium, sie gehen zum Neumarkt, auf dem sich schon viele Einwohner versammelt haben. Als sich die Panzer dem Platz nähern, werden sie von roten Fahnen der Arbeiterklasse gegrüßt. Kurt Kretzschmar spricht auf einer improvisierten Kundgebung. Anschließend begeben sich Fritz Krenkel, Kurt Kretzschmar, Paul Roßner und Max Hofmann zum Rathaus, dem Sitz des sowjetischen Stabes. Die Posten kennen das Losungswort nicht, das Fritz Krenkel spricht. Er versucht, ihnen das Anliegen der Abordnung verständlich zu machen. Einer der Posten holt einen Offizier herbei. Er kennt Fritz Krenkels Chiffre, bittet ihn zum Kommandanten. Herzlich schüttelt der sowjetische Oberst Fritz Krenkel die Hand. Fritz erzählt ihm, was er seit dem Absprung bei Hormersdorf erreichen konnte. Nachdem er seinen Bericht beendet hat, läßt der Oberst durch einen Offizier die wartenden Genossen herbeirufen. Die erste Beratung mit dem sowjetischen Kommandanten über den Neubeginn in Chemnitz nimmt ihren Lauf. Wenige Stunden danach werden die dort formulierten Maßnahmen in die Wege geleitet.
Fritz Krenkel hat den ersten Teil seines Auftrages erfüllt, nun verlangt der kompliziertere seine ganze Person. Wie er und die anderen Antifaschisten von Chemnitz diesen Auftrag erfüllten? Wenn man Karl-Marx-Stadt besucht, fällt einem die Antwort nicht schwer.