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Eine Sammlung bemerkenswert skurriler, fantastischer und – für das Genre selten – komischer Geschichten eines Autors, der den Ruf eines ausgezeichneten Science Fiction-Erzählers wie den eines außerordentlichen Lebenskünstlers genießt. Was seine Stories neben allen literarischen Qualitäten zudem zu reinem Lesevergnügen macht, ist die Eigenart seiner Helden, den Freuden dieser und jener utopischen Welten ebenso zugetan zu sein wie ihr geistiger Vater.
R. A. Lafferty
900 Großmütter Science Fiction Stories Band 2
Fischer Taschenbuch Verlag
Deutsche Erstausgabe Fischer Taschenbuch Verlag Juli 1974 Umschlagillustration: Eddie Jones Umschlagtypographie: Jan Buchholz/Reni Hinsch Titel der amerikanischen Originalausgabe ›Nine Hundred Grandmothers‹ Erschienen bei Ace Books, New York Ins Deutsche übertragen von Karl H. Kosmehl Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main © Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1974 © R. A. Lafferty Einzelrechte: ›THUS WE FRUSTRATE CHARLEMAGNE‹ Copyright © 1967 by Galaxy Publishing Corp. Aus Galaxy, Februar 1969 ›NAME OF THE SNAKE‹ Copyright © 1964 by Galaxy Publishing Corp. Aus Worlds of Tomorrow, April 1964 ›NARROW VALLEY‹ Copyright © 1966 by Mercury Press, Inc. Aus Fantasy and Science Fiction, September 1966 ›POLITY AND CUSTOMS OF THE CAMIROI‹ Copyright © 1967 by Galaxy Publishing Corp. Aus Galaxy, Juni 1967 ›IN OUR BLOCK‹ Copyright © 1965 by Galaxy Publishing Corp. Aus If, Juli 1965 ›HOG-BELLY HONEY‹ Copyright © 1965 by Mercury Press, Inc. Aus Fantasy and Science Fiction, September 1965 ›SEVEN DAY TERROR‹ Copyright © 1962 by Galaxy Publishing Corp. Aus If, März 1962 ›THE HOLE ON THE CORNER‹ Copyright © 1967 by Damon Knight. Aus Orbit 2. (s. auch fo 5 Fischer Taschenbuch Verlag 1972) ›WHAT’S THE NAME OF THAT TOWN?‹ Copyright © 1964 by Galaxy Publishing Corp. Aus Galaxy, Oktober 1964 ›THROUGH OTHER EYES‹ Copyright © 1960 by Columbia Publications, Inc. Aus Future, Februar 1960 ›ONE AT A TIME‹ Copyright © 1969 by Damon Knight. Aus Orbit 4. (s. auch fo 9 Fischer Taschenbuch Verlag 1972) GUESTING TIME‹ Copyright © 1965 by Galaxy Publishing Corp. Aus If, Mai 1965 Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg Printed in Germany Scan by Brrazo 07/2011 ISBN 3 436 01921 6
Inhalt Karl der Große, frustriert (Thus We Frustrate Charlemagne) Der Name der Schlange (Name of the Snake) Das enge Tal (Narrow Valley) Rechtswesen, Sitten und Gebräuche der Camiroi (Polity and Customs of the Camiroi) In unserer Straße (In Our Block) Schweinebauch Liebling (Hog-Belly Honey) Sieben Tage Terror (Seven Day Terror) Das Loch an der Ecke (The Hole On the Corner) Wie heißt diese Stadt? (What’s the Name of that Town?) Mit anderen Augen (Through Other Eyes) Immer nur ein Tag (One At a Time) Besuch (Guesting Time)
Karl der Große, frustriert »Wir haben ja schon ein paar ziemlich steile Sachen in den Fingern gehabt«, sagte Gregor Smirnow vom Institut, »aber das hier ist das größte Projekt, vor dem wir jemals gestanden haben, und bei keinem anderen waren die Resultate so unsicher. Immerhin, wenn Epiktistes alles richtig berechnet hat, muß die Sache klappen.« »Leute, sie wird klappen«, sagte Epikt. Das war also Epiktistes, der ktisthetische Computer? Wer hätte das geglaubt! Der größte Teil von Epikts Körpermasse befand sich fünf Stockwerke tiefer; aber er hatte eine Abzweigung seiner selbst bis in dieses kleine Penthouse hinaufgetrieben. Dazu brauchte er nur ein Kabel von etwa einem Meter Durchmesser, mit einem funktionalen Kopf am Ende. Und was er sich für einen Kopf ausgesucht hatte! Den Kopf einer Seeschlange, eines Drachens! Anderthalb Meter lang und nach dem Bug eines alten Karneval-Wagens kopiert. Epikt hatte sich auch eine Art menschlicher Sprache beigebracht, eine Mischung aus Irisch, Jiddisch und dem Stil der alten deutschen Gesangspossen. Epikt war ein Witzbold bis zu seinem letzten para-DNA-Relais, und wenn er sein plumpes, glotzäugiges Haupt auf die Tischplatte legte und eine der größten und stinkigsten Zigarren rauchte, die jemals geboren waren, dann sah er auch so aus. Aber mit diesem Projekt war es ihm ernst. »Wir haben erstklassige Testbedingungen«, sagte der Computer Epikt, und es klang, als riefe er die Anwesenden zur Ordnung. »Wir haben Basis-Texte 9
ausgearbeitet, und wir registrieren den gegenwärtigen Weltbestand mit der größten Sorgfalt. Wenn die Welt sich verändert, dann müssen sich die Texte hier vor euren Augen ebenfalls verändern. Als LeitObjekt für unseren Test haben wir den Teil unserer mittelgroßen Stadt ausgesucht, den wir hier von diesem vorzüglichen Aussichtspunkt übersehen können. Wenn sich die Welt in ihrer Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart durch unser Eingreifen verändert, dann wird sich das Gesicht unserer Stadt vor unseren Augen ebenfalls schlagartig verändern. Die besten, urteilsfähigsten Geister der ganzen Welt sind hier versammelt: acht Menschen und eine Ktisthetik-Maschine, nämlich Ich. Vergeßt nicht, daß wir zu neun sind. Es könnte von Wichtigkeit sein.« Die neun Weisesten waren: Epiktistes, von dem das K in Ktisthetik stammt (ein transzendenter Computer); Gregor Smirnow, der Direktor des Instituts, ein Mann mit breiter russischer Seele; Valerie Mok, eine weithin leuchtende Wissenschaftlerin; Charles Cogsworth, ihr überintelligenter und überschatteter Ehemann; der humorlose, nie irrende Glasser; Aloysius Shiplap, ein Genie auf dem Gebiet der Besamung; Willy McGilly, ein Mann mit ungewöhnlichen Körperteilen (z. B. dem linken, sehenden Mittelfinger, den er auf einem Planeten des Sternbildes Kapteyn aufgegabelt hatte) und ohne jede falsche Bescheidenheit; und schließlich Audifax O’Hanlon und Diogenes Pontifex. Die zwei Letztgenannten waren (wegen des Satzungsparagraphen über das Minimum an Anständigkeit) nicht Mitglieder des Instituts, aber wenn man die besten Köpfe der Welt beieinander haben will, kann man auf diese beiden nicht gut verzichten. 10
»Wir werden mit einem kleinen historischen Detail der Vergangenheit herumspielen und den Effekt feststellen«, sagte Gregor Smirnow. »Das ist, wenigstens so direkt, bisher noch nicht geschehen. Wir gehen auf eine geschichtliche Periode zurück, die gern als ›ein Lichtblick in der langen Dunkelheit‹ bezeichnet wird: die Zeit Karls des Großen. Wir prüfen die Frage, warum dieses Licht erlosch, ohne andere anzuzünden. Dadurch, daß diese Flamme ausging, obwohl weiterer Brennstoff offensichtlich bereitlag, verlor die Welt vierhundert Jahre. Wir gehen also in diese falsche Morgendämmerung Europas zurück und überlegen uns, worin die Gründe für dieses historische Versagen liegen. Es handelt sich um das Jahr 778; die geographische Region ist das heutige Spanien. Karl der Große war eine Allianz mit Marsilies, dem arabischen König von Saragossa, eingegangen, und zwar gegen den Kalifen Abd er Rhaman von Cordoba. Karl nahm die Städte Pamplona, Huesca, Gerona und andere und machte so den Weg zu Marsilies, also nach Saragossa, frei. Der Kalif fand sich mit der Lage ab. Saragossa sollte eine unabhängige, sowohl für Moslems als auch für Christen offene Stadt werden. Die nördlichen Gebiete zur französischen Grenze hin sollten christlich bleiben dürfen, und so würde jedermann in Frieden leben können. Dieser Marsilies hatte in Saragossa die Christen schon lange als gleichberechtigt behandelt; und nunmehr würde auch der Islam freie Bahn ins Fränkische Reich haben. Marsilies schenkte Karl dreißig Gelehrte (Moslems, Juden und Christen) sowie eine Anzahl spanischer Maultiere, um den Handel zu besiegeln. So hätten sich die beiden Kulturen gegenseitig befruchten können. 11
Aber bei Ronceval war der Weg versperrt. Dort geriet die Nachhut Karls des Großen auf dem Rückweg nach Franken in einen Hinterhalt und wurde versprengt. Unter den Angreifern waren mehr Basken als Moslems, aber Karl machte das Tor an den Pyrenäen zu und schwor, in Zukunft nicht einmal mehr einen Vogel über die Grenze zu lassen. Er sperrte den Paß; desgleichen taten seine Söhne und Enkel. Jedoch indem er sich gegen die mohammedanische Kultur abschloß, riegelte er auch seine eigene Kultur ab. In seinen späteren Jahren versuchte er, eine Kultur-Renaissance in die Wege zu leiten – mit Hilfe eines zusammengewürfelten Haufens irischer Halbgelehrter, griechischer Vagabunden und römischer Kopisten, die grade noch eine blasse Ahnung vom alten Rom besaßen. Die reichten zwar für eine Wiederbelebung der Kultur nicht aus, aber Karl kam einer solchen immerhin nahe. Wäre die Tür zum Islam offengeblieben, so wäre schon damals eine echte Renaissance der Bildung und Wissenschaft möglich gewesen, und nicht erst vierhundert Jahre später. Wir werden nun bewirken, daß dieser Überfall von Ronceval nicht stattgefunden hat, so daß die Tür zwischen den beiden Kulturen offen blieb. Dann werden wir sehen, was passiert.« »Gleich einem Räuber schleicht er ein«, zitierte Epikt. »Wer ist ein Räuber?« fragte Glasser. »Ich«, sagte Epikt. »Wir alle hier sind Räuber und Einbrecher. Es ist aus einem alten Gedicht, ich habe den Autor vergessen. Er ist unten in meinem Haupt-Gehirn registriert, falls ihr daran interessiert seid.« 12
»Als Ausgangspunkt haben wir einen Basistext des Historikers Hilarius vorliegen«, fuhr Smirnow fort. »Wir sehen ihn uns sorgfältig an; wir müssen uns genau daran erinnern können, wie er jetzt lautet. Ich glaube, daß die Worte auf der betreffenden Seite sich unter unseren Augen verändern werden, in dem Moment, da wir tun, was wir zu tun vorhaben.« Der in dem geöffneten Buch angestrichene Absatz lautete folgendermaßen: Gano, der Verräter, spielte ein doppeltes Spiel und mietete mit dem Gelde des Kalifen von Cordoba eine Anzahl baskischer Christen, die (als saragossische Mozaraber verkleidet) der Nachhut des französischen Heeres einen Hinterhalt legen sollten. Dazu war es erforderlich, daß Gano mit den Basken Verbindung hielt und gleichzeitig dafür sorgte, daß die Nachhut der Franken in Verzug geriet. Gano diente den Franken als Führer und Pfadfinder. Der Plan gelang. Karl verlor seine spanischen Maultiere. Und er schloß das Tor zur Welt der Moslems. Soweit der Text nach Hilarius. »Wenn wir jetzt, wie die Dinge liegen, auf den Knopf drücken (es genügt, wenn ich Epiktistes zunicke), dann wird sich das verändern«, sagte Gregor. »Epikt wird mittels eines Komplexes von Schaltungen, den er akkumuliert hat, einen Avatar aussenden (der zum Teil mechanischer, zum Teil geisterhafter Struktur ist), und dem Verräter Gano wird an irgendeinem Abend, bei Sonnenuntergang, auf dem Wege nach Ronceval irgend etwas passieren.« 13
»Ich hoffe, der Avatar ist nicht zu teuer«, sagte Willy McGilly. »Als ich ein Junge war, machten wir sowas mit einem selbstgeschnitzten Wurfpfeil aus dem Holz der Glatt-Ulme.« »Witze sind hier nicht angebracht«, protestierte Glasser. »Wen haben Sie denn überhaupt als Junge getötet, Willy?« »Eine ganze Menge. Den Mandschu-König Wu, den Papst Hadrian VII., Marcel, den König der Auvergne, den Philosophen Gabriel Toeplitz. Ganz gut, daß wir sie erwischt haben. Ein übler Haufen.« »Aber ich habe nie etwas von denen gehört, Willy«, bohrte Glasser. »Natürlich nicht. Wir haben sie ja umgebracht, als sie noch klein waren.« »Genug von diesem Geblödel, Willy!« schnitt Glasser die Debatte ab. »Willy blödelt keineswegs«, sagte die Maschine Epikt. »Was glaubt ihr denn, wo ich die Idee her habe?« »Schauen Sie sich doch die Welt an«, sagte Aloysius sanft. »Wir erblicken hier unsere mittelgroße Heimatstadt mit ihrem halben Dutzend Türmen aus pastellgetönten Ziegeln. Wir werden ja sehen, ob sie wächst oder schrumpft. Wenn die Welt sich verändert, wird sich die Stadt auch verändern.« »Da laufen zwei Shows in der Stadt, die ich noch nicht gesehen habe«, sagte Valerie. »Daß die bloß nicht weggenommen werden! Schließlich gibt es ja nur drei in der ganzen Stadt.« »Was die Schönen Künste anlangt, so gehen wir von diesen Kritiken hier aus, die wir ebenfalls in den Basistext aufgenommen haben«, sagte Audifax 14
O’Hanlon. »Sie können sagen, was sie wollen – mit der Kunst war nie weniger los als jetzt. In der Malerei gibt es nur noch drei Stilrichtungen, und alle drei taugen nichts. Die Bildhauer gehören entweder zur Schrotthaufen-Schule, oder sie arbeiten im obszönen Blechspielzeug-Stil. Die einzige populäre bildende Kunst, Sgraffitti auf Mingitorio-Wänden, ist phantasielos, manieriert und häßlich geworden. Die einzigen eines Gedankens werten Denker sind der verstorbene Teilhard de Chardin und die totgeborenen Philosophen Sartre, Zielinski und Aichinger. Na ja, wenn Sie lachen wollen, hat es keinen Zweck, daß ich weiterrede.« »Wir sind hier alle Experten auf irgendeinem Gebiet«, sagte Cogsworth. »Die meisten sind sogar Experten für alles. Wollen wir also tun, was zu tun ist, und uns dann die Welt ansehen.« »Drück auf den Knopf, Epikt!« befahl Gregor Smirnow. Aus ihren Tiefen sandte Epiktistes, die Ktisthetik-Maschine, einen Avatar (teils mechanischer, teils geisterhafter Struktur) aus. Und bei Sonnenuntergang des 14. August A. D. 778 wurde der Verräter Gano auf der Straße von Pamplona nach Ronceval gefangengenommen und an einem Johannisbrotbaum am Wege aufgehängt, dem einzigen in diesem Tal der Eichen und Buchen. Und daraufhin kam alles ganz anders. »Hat es geklappt, Epikt? Ist es passiert?« fragte Louis Lobaschewski. »Ich kann nirgends eine Veränderung feststellen.« »Der Avatar ist zurück und meldet, daß er seine Mission erfüllt hat«, äußerte Epikt. »Ich kann eben15
falls in keiner Hinsicht eine Veränderung konstatieren.« »Sehen wir uns den Text an«, sagte Smirnow. Die dreizehn, nämlich zehn Menschen und dazu die Ktisthetik-, die Chresmoëidek- und die Proaisthematik-Maschine, wandten sich mit wachsender Enttäuschung dem Text zu. »Nicht ein Wort hat sich in dem Hilarius-Text verändert«, knurrte Gregor; und in der Tat lautete der Basistext nach wie vor: Der König Marsilies von Saragossa spielte ein verschlungenes Spiel: er nahm vom Kalifen von Cordoba Geld dafür, daß er angeblich Karl überredete, die Eroberung von Spanien aufzugeben, (welche dieser niemals ernsthaft ins Auge gefaßt hatte und auch nie hätte durchführen können); nahm Geld von Karl als Belohnung für die Rückführung der Städte der nördlichen Gebiete unter die christliche Herrschaft (obgleich Marsilies selbst diese Städte nie beherrscht hatte) und nahm schließlich Geld von jedermann als Zoll für den neuen Handel, der seine Stadt passierte. Er gab dafür nichts weiter als dreiunddreißig Gelehrte, die gleiche Anzahl Maultiere und eine Wagenladung Buchmanuskripte aus alten hellenistischen Bibliotheken. Aber damit war für die beiden Kulturen der Weg über das Gebirge frei geworden; außerdem wurde ein Sektor des Mittelmeeres zum freien Seeweg für beide. Eine zwar begrenzte, aber freie Verbindung zwischen den beiden Welten war geschaffen, und daraus ergab sich, wenigstens in gewissen Grenzen, eine Neubelebung beider Kulturen.
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»Nein, kein Wort des Textes hat sich geändert«, knurrte Gregor. »Die Geschichte hat den gleichen Verlauf genommen. Warum ist unser Experiment mißlungen? Wir haben versucht – durch ein Verfahren, das mir allerdings jetzt ein wenig unklar vorkommt –, die Zeit der Kulturschwangerschaft etwas zu verkürzen. Sie läßt sich aber anscheinend nicht verkürzen.« »Die Stadt hat sich in keiner Weise verändert«, sagte Aloysius Shiplap. »Sie ist immer noch eine schöne, große Stadt mit zwei Dutzend imposanten Türmen aus verschiedenfarbigem Kalkstein und mittelländischem Marmor. Sie ist eine vitale Metropole, wir lieben sie alle – aber sie ist genau wie sie vorher war.« »Es gibt immer noch zwei Dutzend gute Shows in der Stadt, die ich noch nicht gesehen habe«, sagte Valerie glückstrahlend, als sie das Vergnügungsprogramm überflog. »Ich hatte schon Angst, mit denen würde irgend etwas passieren.« »Nach den Kritiken, die wir hier als Basistexte verwendet haben«, sagte Audifax O’Hanlon, »hat sich hinsichtlich der Schönen Künste überhaupt nichts geändert. Sie können sagen, was Sie wollen, aber mit der Kunst stand es niemals besser als jetzt.« »Das ist alles Wurst«, sagte die ChresmoëidekMaschine. »Und niemand kennt den Weg, eh er ihn dreimal ging«, sagte die Proaisthetik-Maschine. »Das ist aus einem alten Gedicht; den Autor habe ich vergessen, aber er ist in meinem Haupthirn in England registriert, falls ihr daran interessiert seid.« »O ja, das ist die dreieckige Geschichte, die da 17
endet, wo sie anfängt«, sagte die Maschine Epiktistes. »Aber es ist eine gute Wurst, und wir wollen uns an ihr erfreuen; es gibt ganze Zeitalter, die nicht einmal sowas gehabt haben.« »Was quasselt ihr denn da, Leute?« fragte Audifax, aber eigentlich wollte er das gar nicht wissen. »Die Malerei«, dozierte er, »steht immer noch in beinahe strahlender Blüte. Milchstraßen von Schulen türmen sich übereinander, und die Hälfte der Maler malt zum Vergnügen. Die skandinavische und die Maori-Plastik haben schwer zu kämpfen, um auf einem Feld zu dominieren, wo es fast nur Außerordentliches gibt. Die Impassionierte Komische Oper hat die Musik von den meisten ihrer Fesseln befreit. Seit sich die spekulative Mathematik und die Psychologie den darstellenden Künsten beigesellt haben, gibt es tatsächlich mehr reinen Spaß im Leben. Da ist hier ein Stück über Pete Teilhard, das ihn als begabten Science-Fiction-Autor mit einem besonderen Talent für das Outriert-Burleske darstellt. Das Hirnwelt-Motiv war schon ganz abgedroschen, als er es in Angriff nahm. Und was für ein extravagantes Stück Schwarzen Humors hat er daraus gemacht! Und dann Muldoom, Zielinski, Popper, Gander, Aichinger, Whitecrow, Hornwhanger – wir verdanken diesen saftigen Kultisten soviel! Diese Richtung wird uns noch ganze Bündel von großen Romanen und Romanciers schenken! Eine zeitlos populäre Kunst, Sgraffitti auf Mingitorio-Wänden, steht immer noch auf hohem Niveau. Die Gesellschaft für Unbegrenzte Reisen bietet eine Neun-Tage-Weltreise an, die ganz auf die entzückenden heiteren Sgraffitti-Miniaturen in Herren18
Bedürfnisanstalten abgestellt ist. Ah – was für eine üppige Welt, in der wir leben!« »Da wächst mehr Gras, als wir abgrasen können«, sagte Willy McGilly. »Schon die Masse des Gebotenen ist stupend. Ah, ich wüßte gerne, ob meiner Wortwahl eine gewisse subtile Rachsucht abzumerken ist? Das Experiment ist natürlich fehlgeschlagen, und ich bin ganz froh darüber. Eine Welt, die voll bis oben ist – so eine Welt liebe ich.« »Wir wollen das Experiment nicht als Fehlschlag bezeichnen; wir haben es ja erst zu einem Drittel durchgeführt«, sagte Gregor. »Morgen werden wir unseren zweiten Versuch mit der Vergangenheit starten. Und wenn uns dann noch eine Gegenwart bleibt, dann steigt in den nächsten Tagen der dritte Versuch.« »Schiebt ab, liebe Leute, schiebt ab!« sagte die Maschine Epiktistes. »Morgen treffen wir uns hier wieder. Amüsiert euch jetzt auf eure Weise, wir amüsieren uns auf unsere.« Die Gelehrten plauderten an diesem Abend in sicherer Entfernung von den Maschinen, wo sie unsinnige Hypothesen aufstellen konnten, ohne ausgelacht zu werden. »Wollen wir doch mal irgendeine Karte ziehen und damit weiterspielen«, sagte Louis Lobaschewski. »Begeben wir uns doch mal an einen rein intellektuellen Kreuzweg etwas späteren Datums und sehen wir, ob wir von dort aus den Gang der Dinge ändern, die Welt verändern können.« »Ich schlage Occam vor«, sagte John Konduly. »Warum?« fragte Valerie. »Er war der letzte und unbedeutendste der mittelalterlichen Scholastiker. 19
Wie kann irgend etwas, was er tat oder nicht tat, irgendeinen Effekt haben?« »O doch, er hatte schon das Messer direkt an der Halsvene«, sagte Gregor. »Er würde die Schlagader durchgeschnitten haben, wenn man ihm das Messer nicht aus der Hand genommen hätte. Da ist aber irgend etwas schiefgelaufen. Ich glaube, damals, als mit Occam noch nicht soviel los war, hat sein Nominalismus in gewisser Beziehung auch noch nicht das bedeutet, was er nach unseren heutigen Begriffen tatsächlich besagt.« * »Also schön, Gregor Fedorowitsch, schneiden wir mal die Halsschlagader durch«, sagte Willy McGilly. »Führen wir den Nominalismus logisch bis zuende durch und sehen wir, wie tief Occams Rasiermesser schneiden kann.« »Das werden wir tun«, sagte Gregor. »Unsere Welt ist so etwas wie fetter Schlamm geworden, sie kotzt mich an; ich habe mich den ganzen Nachmittag darüber geärgert. Wir wollen herausfinden, ob eine rein intellektuelle Haltung einen Effekt im Wirklichen haben kann. Lassen wir die Details für Epikt; aber ich glaube, der Wendepunkt war im Jahre 1323, als John Lutterell von Oxford nach Avignon reiste, wo sich damals der Heilige Stuhl befand. Er brachte sechsundfünfzig Propositionen aus Occams Kommentar zu seinen Sentenzen mit und beantragte, sie mit dem päpstlichen Bann zu belegen. Das geschah zwar nicht direkt, aber Occam wurde bei die*
Nominalismus = alle Wirklichkeit besteht aus individuellen Einzeldingen; Allgemeinbegriffe sind nur Fiktionen; daher ist die Grundlage aller Erkenntnis die Intuition, nicht das Experiment. Eine These Occams (später als ›Rasiermesser-Prinzip‹ bezeichnet) besagt, daß die Zahl der zu erforschenden Gegenstände möglichst klein zu halten sei. (d. Übs.)
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sem ersten Großangriff heftig angeschlagen und hat sich nie wieder ganz davon erholt. Lutterell bewies, daß Occams Nihilismus einfach Blabla war. Und die Occamsche Lehre ging langsam ein. Sie fand nur noch an den kleinen deutschen Höfen, die Occam abklapperte, um dort seine geistige Ware zu verschleißen, ein schwaches Echo, aber auf dem eigentlichen Markt konnte er nichts mehr umsetzen. Und doch hätte seine Philosophie die Welt zugrunderichten können, wenn intellektuelle Theorien tatsächlich reale Folgen zeitigen.« »Lutterell hätte uns nicht gefallen«, sagte Aloysius. »Er war humorlos und kalt, und er hatte immer recht. Aber Occam hätten wir gemocht. Er war charmant, und er hatte unrecht, und vielleicht werden wir jetzt die Welt kaputtmachen. Es besteht durchaus die Möglichkeit einer heftigen Reaktion, wenn wir Occam freie Hand lassen. China war tausend Jahre lang in einer geistigen Haltung eingefroren, die lange nicht so umstürzlerisch war wie die Occams. Indien hat sich – und zwar durch eine ganz bestimmte Geisteshaltung – in einen seltsamen Stauungszustand hineinhypnotisiert, der sich revolutionär nennt, aber nicht in Bewegung gerät. Aber eine solche Geisteshaltung wie die Occams ist nie zum Zuge gekommen.« So kamen sie überein, daß der Exkanzler von Oxford, John Lutterell, der schon immer ein kranker Mann gewesen war, auf dem Wege nach Avignon in Frankreich noch kränker werden und deshalb Avignon nicht erreichen sollte, so daß er diese Eiterbeule Occam nicht aufstechen konnte, bevor sie die Welt vergiftete.
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»Na dann weiter, liebe Leute«, brummelte Epikt am nächsten Tage. »Ich soll also einen Mann aufhalten, der im Jahre 1323 von Oxford nach Avignon reist. Also los, los, setzt euch hin, daß wir anfangen können!« Und Epiktistes’ großer Schlangenkopf glühte in allen Farben; er paffte eine siebenfach gegabelte Pukah-Dukah und erfüllte den Raum mit wundervoll aromatischem Rauch. »Alle bereit zum Abgekehltwerden?« fragte Smirnow munter. »Schneiden Sie zu, Gregor Fedorowitsch«, sagte Diogenes Pontifex, »aber ich habe nicht viel Hoffnung. Wenn unser gestriger Versuch schon keinen Effekt hatte – was soll dabei herauskommen, wenn ein englischer Scholastiker hinter einem anderen englischen Scholastiker herjagt, um ihn in schlechtem Latein vor einem italienischen Gerichtshof in Frankreich wegen sechsundfünfzig Punkten einer unwissenschaftlichen abstrakten Philosophie anzugreifen – und das Ganze vor fast siebenhundert Jahren?« »Wir haben perfekte Testbedingungen vorliegen«, sagte die Maschine Epikt. »Wir haben einen Grundtext aus Cobblestones Geschichte der Philosophie ausgegeben. Wenn der Versuch positiv ausfällt, wird sich dieser Text unter euren Augen verändern, ebenso wie jeder andere Text, und die Welt mit ihm. Wir haben hier die besten und urteilsfähigsten Köpfe der Welt zusammengeholt«, fuhr die Maschine Epikt fort, »zehn Menschen und drei Maschinen. Denkt daran, daß wir zu dreizehn sind. Das könnte wichtig sein.« »Beobachtet die Welt genau!« sagte Aloysius Shiplap. »Ich habe das schon gestern gesagt, aber 22
ich muß es noch einmal sagen. Wir haben die Welt vor unseren Augen und in unserem Gedächtnis. Wenn sie sich irgendwie verändert, werden wir es wahrnehmen.« »Drück auf den Knopf, Epikt!« sagte Gregor Smirnow. Aus ihren Tiefen entsandte Epiktistes, die Ktisthetik-Maschine, einen Avatar (teils mechanischer, teils geisterhafter Struktur). Und an einem Abend des Jahres 1323, gegen Sonnenuntergang, auf der Landstraße zwischen Mende und Avignon im alten Languedoc-Distrikt von Frankreich, wurde John Lutterell mit noch einer weiteren Krankheit geschlagen. Er wurde in einen kleinen Gasthof im Bergland gebracht und starb dort möglicherweise. Jedenfalls gelangte er nicht nach Avignon. »Hat es funktioniert, Epikt? Hat es geklappt?« fragte Aloysius. »Sehen wir uns das Beweismaterial an«, sagte Gregor. Die vier, nämlich drei Menschen und der Geist Epikt (eine Katschenko-Maske mit Sprachrohr), wandten sich mit wachsender Enttäuschung dem Material zu. »Es ist immer noch der Knüppel mit den fünf Kerben«, sagte Gregor, »unser ursprünglicher TestStock. Nichts in der Welt hat sich verändert.« »Die Schönen Künste sind geblieben, wie sie waren«, sagte Aloysius. »Unser Bild auf diesem Stein hier, an dem wir so viele Sommer lang gearbeitet haben, ist immer noch das gleiche wie vorher. Wir haben die Bären schwarz, die Büffel rot und die Menschen blau gemalt. Wenn wir lernen, eine neue Farbe zu machen, können wir auch Vögel dar23
stellen. Ich hatte gehofft, daß wir durch unser Experiment diese neue Farbe kriegen würden. Ich hatte sogar davon geträumt, daß auf diesem Felsbild vor unseren sehenden Augen Vögel erscheinen würden.« »Und zu essen gibt es immer noch Stinktierkotelett und nichts weiter«, sagte Valerie. »Ich hatte gehofft, unser Experiment würde das ändern – vielleicht Hirschkeule.« »Es ist noch nicht alles verloren«, sagte Aloysius. »Wir haben schließlich immer noch die HickoryNüsse. Mein letztes Gebet, bevor wir das Experiment begannen, war: ›Laß sie uns nicht die HickoryNüsse wegnehmen!‹ habe ich gebetet.« Sie saßen um den Konferenztisch, eine große flache Steinplatte, und knackten Hickory-Nüsse mit Steinhämmern. Sie waren halbnackt und ruppig. Die Welt war, wie sie immer gewesen war. Sie hatten vergeblich gehofft, sie magisch verändern zu können. »Epikt hat uns im Stich gelassen«, sagte Gregor. »Wir haben seinen Körper aus den besten Hölzern gemacht und haben sein Gesicht aus den feinsten Gräsern geflochten. Wir haben Beschwörungen gesungen, bis er ganz voller Zauberkraft gewesen ist, und haben alle unsere wertvollsten Schätze in seine Backentaschen gesteckt. Was also kann die Zaubermaske jetzt noch für uns tun?« »Frag sie, frag sie!« sagte Valerie. Sie waren die vier besten Intellekte in der Welt – die drei Menschen Gregor, Aloysius und Valerie (die einzigen Menschen auf der Welt, wenn man die in den anderen Tälern nicht mitrechnete) und der Geist Epikt – eine Katschenko-Maske mit Sprachrohr. »Was machen wir jetzt, Epikt?« fragte Gregor. Dann trat er hinter Epikt an das Sprachrohr. 24
»Ich erinnere mich an eine Frau, der eine Wurst an der Nase hing«, sagte Epikt mit Gregors Stimme. »Hilft euch das irgendwie weiter?« »Vielleicht hilft es etwas«, sagte Gregor, nachdem er seinen Platz an dem Steinplatten-Konferenztisch wieder eingenommen hatte. »Das ist aus dem alten (was heißt alt? Ich hab’s heute früh selbst erfunden) Volksmärchen von den drei Wünschen.« »Laß Epikt erzählen«, sagte Valerie, »er macht das viel besser als du.« Valerie trat hinter Epikt an das Sprachrohr und blies Rauch hindurch – sie rauchte nämlich einen mächtigen, locker gewickelten Stumpen aus unfermentierten Schwarzbeerenblättern. »Die Frau wünscht sich eine Wurst und verschwendet damit den ersten Wunsch«, sagte Epikt mit Valeries Stimme. »Eine Wurst ist nämlich kleingekautes Hirschfleisch, das in ein Stück Hirschdarm hineingestopft ist. Der Mann ist wütend, weil die Frau einen Wunsch verschwendet hat, denn sie hätte sich ja einen ganzen Hirsch wünschen können und hätte dann viele Würste gehabt. Er wird so wütend, daß er wünscht, die Wurst soll der Frau immer und ewig an der Nase hängen. Das geschieht auch, und die Frau jammert, und der Mann merkt, daß er auch den zweiten Wunsch verbraucht hat. Den Schluß habe ich vergessen.« »Du kannst ihn nicht vergessen haben, Epikt!« schrie Aloysius auf. »Die Zukunft der ganzen Welt hängt möglicherweise davon ab, daß du dich erinnerst. He, laßt mich mal mit der verdammten Zaubermaske vernünftig reden!« Und Aloysius trat hinter Epikt an das Sprachrohr. »O ja, jetzt erinnere ich mich«, sagte Epikt mit Aloysius’ Stimme. »Der Mann benutzte den dritten 25
Wunsch, um die Wurst von der Nase seiner Frau wegzubekommen. Und so war alles wieder wie vorher.« »Aber wir wollen es doch nicht so, wie es vorher war!« jammerte Valerie. »Das ist doch so wie jetzt: immer bloß Stinktierkotelett, und ich habe weiter nichts anzuziehen als mein Affen-Cape. Wir wollen doch was Besseres! Wir wollen Hirschhäute und Antilopenfelle!« »Entweder bin ich hier der Zauberer, oder ihr macht euch euren Dreck alleine!« sagte Epikt abschließend. »Wenn auch die Welt immer so gewesen ist, besitzen wir doch Hinweise auf andere Dinge«, sagte Gregor. »Was war das zum Beispiel für ein Volksheld, der den Wurfpfeil machte? Und woraus machte er ihn?« »Willy McGilly war der Volksheld«, sagte Epikt mit der Stimme Valeries, die mit knapper Not noch rechtzeitig an das Sprachrohr herangekommen war, »und er machte ihn aus glattem Grünulmen-Holz.« »Könnten wir auch einen Wurfpfeil machen, so wie Willy der Volksheld?« fragte Aloysius. »Wir müssen!« sagte Epikt. »Könnten wir eine Schleuder machen, damit wir den Pfeil aus unserem Weltgefüge hinausschießen und in –« »Könnten wir einen Avatar damit töten, ehe er jemand anders tötet?« fragte Gregor aufgeregt. »Werden wir bestimmt versuchen!« sagte der Geist Epikt, der nur eine Katschenko-Maske mit einem Sprachrohr war. »Ich habe diese Avatare nie leiden können.« 26
Ihr denkt vielleicht, Epikt war nur eine Katschenko-Maske mit einem Sprachrohr? Es steckte eine ganze Menge mehr in ihm: rote Granatsteine und echtes Meersalz, und ein Pulver aus Biberaugen, dazu Klapperschlangenklappern und Gürteltierpanzer. Er war die erste Ktisthetik-Maschine. »Sag mir wann, Epikt!« rief Aloysius ein paar Minuten später, als er den Pfeil in die Schleuder eingesetzt hatte. »Wirf! Triff das Miststück von Avatar!« brüllte Epikt. Und gegen Sonnenuntergang, in einem nicht numerierten Jahr, auf dem Weg von Nirgendwo nach Eom, fiel ein Avatar tot zur Erde, einen Pfeil aus glattem Grünulmen-Holz in seinem Herzen. »Funktioniert es, Epikt? Hat es geklappt?« fragte Charles Cogsworth aufgeregt. »Es muß. Ich bin da. Bei dem letzten war ich nicht da.« »Sehen wir uns mal das Material an«, schlug Smirnow gelassen vor. »Zum Deibel mit dem Material!« fluchte Willy McGilly. »Denken Sie ans erste Mal, Gregor Fedorowitsch!« »Hat es schon angefangen?« fragte Glasser. »Ist es schon vorbei?« forschte Audifax O’Hanlon. »Drück auf den Knopf, Epikt!« bellte Diogenes. »Ich glaube, ich habe ein Stück ausgelassen. Wollen’s nochmal probieren!« »O nein, nein!« wehrte Valerie ab. »Nicht nochmal! Dabei kommt doch bloß wieder Stinktierkotelett und Wahnsinn heraus.«
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Der Name der Schlange Als Pius XV – Confieantur Domino Miserkordia ejus – sie proklamiert hatte, wurde sie, – selbst von den Gläubigen – mit einem gewissen ennui aufgenommen. Verzwickt, spekulativ, rhetorisch – aber alles andere als praktikabel. Das war der allgemeine Eindruck. Pius gehörte nicht grade zu den brillantesten Päpsten des Jahrhunderts. Die Enzyklika trug den bescheidenen Titel ›Euntes ergo docete omnes‹ (Gehet also hin und lehret Alle). Ihr Grundgedanke war, daß es sich hier um einen wörtlich zu nehmenden Befehl des HErrn handelte, und daß die Zeit gekommen sei, diesen Befehl in seiner extremsten Bedeutung auszuführen; will sagen: wenn der HErr befohlen hatte ›Gehet hin in alle Welt‹, so hatte er nicht nur diese eine enge Erde damit gemeint; und wenn es hieß: ›und lehret alle Menschen‹, so war damit nicht gemeint: ›… innerhalb des engen Rahmens, in dem wir bisher den Terminus Mensch verstanden haben.‹ War dieses Gebot also wörtlich zu nehmen, so würde seine Erfüllung weitreichende Aktivitäten nach sich ziehen. Und in der Erfüllung dieses Gebotes befand sich der Pater Barnabas zur Zeit auf dem Analos, jenem sehr fernen Planeten. Konnte man die Analoi Menschen nennen? Wären ihre Skelette als Fossilien auf unserer alten Erde gefunden worden, so hätte man sie ohne Zögern unter die Menschen eingereiht. Ihre seltsam geformten Ohren – in Wirklichkeit gar nicht so groß, wie sie aussahen –, die in ihrem spitzen Aufwärtsschwung etwas Gotisches hatten; ihre bemerkens28
wert bewegliche Mimik und ihren chamäleonartigen Teint hätte man den Knochenresten nicht anmerken können. Aber wie kommen wir überhaupt zu der Ansicht, ihre Ohren seien grotesker als unsere? Wann haben Sie zuletzt Ihre eigenen Ohren objektiv betrachtet? Sind das nicht reichlich komische Gebilde, die einem da zu Seiten des Kopfes kleben? »Wie die Chimären, die Wasserspeier an einem gotischen Dom«, hatte ein früher Besucher von der Erde gesagt. Natürlich! diese Chimären hatte nämlich ein noch früherer Besucher von der Erde nach dem Modell der Analoi geschaffen. Aber diese Analoi waren schon ein lebhaftes und hochinteressantes Chimärenvölkchen: sie besaßen eine hochentwickelte mechanistische Zivilisation und eine seltsame Ethik; vom künstlerischen Standpunkt waren sie faszinierend. Sie waren höflich und polyglott und in mancher Hinsicht menschlicher als die Menschen. Auf dem Analos war der Pater Gast eines prominenten Bürgers namens Landmaster. Hier stieß der Priester, als er von seiner Mission sprach, zunächst gegen eine Wand. »Ich sehe schon, wohin das führen würde, Priesterlein«, sagte Landmaster, als sie die Situation besprochen hatten; »es könnte sogar recht ärgerlich für uns werden – wenn wir uns jemals von irgend etwas ärgern ließen, wenn wir nicht das Entwicklungsstadium durchschritten hätten, in dem Ärgernis noch möglich ist. Solange ihr eure Tätigkeit auf Erdbewohner beschränktet, und auf solche, die von diesen abstammen, solange gab es kein Problem. Glücklicherweise fallen wir aber nicht unter diese Kategorie. Unter solchen Umständen sehe ich nicht, 29
wie deine gegenwärtigen Bestrebungen irgend etwas mit uns zu tun haben könnten.« »Ihr Analoi seid empfindungsfähige Geschöpfe von großer natürlicher Intelligenz, Landmaster. Somit ist es sogar durchaus möglich, daß ihr Seelen habt.« »Wir besitzen voll realisierte Seelen. Was könntet ihr Menschen uns geben – uns, die wir die Grenzen des Menschentums überschritten haben?« »Die Wahrheit, den Weg, das Ewige Leben, die Taufe.« »Wir besitzen die ersten drei in erheblich größerem Maße als ihr selbst. Das letztgenannte ist der verworrene Ritus einer sterbenden Sekte – was könnte der uns wohl bedeuten?« »Vergebung eurer Sünden.« »Aber wir haben keine Sünden. Das ist ja der Kernpunkt unseres Wesens. Darüber sind wir lange hinaus. Ihr Menschen seid noch unbeholfen und daher von Schuldgefühlen geplagt. Ihr seid von einer Spezies, die noch keine Reifeform besitzt. Vielleicht sind statt dessen wir Analoi eure Reifeform. Die Idee der Sünde ist nur ein Aspekt eurer frühen kindlichen Unbeholfenheit.« »Jeder hat Sünden, Landmaster.« »Nur nach eurer eigenen kindischen Lehre, Priesterlein. Und derzufolge wirst du sagen, daß alle Wesen gerettet werden müssen – ausgerechnet von euch, einer Rasse von stutzohrigen, plattgesichtigen Kindern! Aber überlege dir bitte, wie bedeutungslos das in bezug auf uns Analoi ist! Wie sollten wir überhaupt sündigen können? Unsere Vermehrung vollzieht sich nicht mehr nach dem grotesken Muster der eu30
rigen; sie ist ohne Leidenschaften. Du siehst also, daß allein damit schon neunzig Prozent eurer Sünden wegfallen. Was noch? Welche anderen Gelegenheiten – wenn das Wort die Sache trifft – haben wir zur Sünde? Wir kennen keine Armut, keine Gier, keinen Neid. Unser Stoffwechsel ist so geregelt, daß weder Faulheit noch hysterische Aktivität möglich sind. Wir sind schon längst in allen Dingen zum absoluten Gleichgewicht gelangt, und ›Sünde‹ ist nichts anderes als ein Zustand mangelnden Gleichgewichts. Ich habe es vergessen, Priesterlein – welches sind die ›Sünden‹ der kindischen Rasse?« »Stolz, Begehrlichkeit, Wollust, Zorn, Gefräßigkeit, Neid, Faulheit«, sagte Pater Barnabas. »Das sind die sieben Todsünden. Alle anderen kommen von diesen her.« »Gesprochen wie ein tapferer kleiner Nachbeter. Und alles was besteht, hat seine Quelle. Doch du siehst, wie völlig uns diese sieben Stolpersteine für kleine Kinder abgehen. Stolz ist ein Mißverständnis über die Natur der Vollendung; Begehrlichkeit verschwindet, wenn man alles erlangt hat, was es zu begehren gibt; Wollust ist das Anhängsel einer Einrichtung, die bei uns ihre Entsprechung nicht mehr hat. Zorn, Gefräßigkeit, Neid und Trägheit sind nur Funktionsstörungen. Alle Funktionsstörungen lassen sich anpassen und korrigieren; wir haben sie korrigiert.« Pater Barnabas war für den Augenblick geschlagen, und er ließ seinen Geist wandern. Er schaute über die Landschaft des Analos. Ein früher Entdeckungsreisender hatte seine Ein31
drücke von dieser Welt mit folgenden Worten wiedergegeben: »Es war, als ginge ich unter Wasser«, schrieb er. »Nicht daß ich irgendwelche Hemmungen oder einen Widerstand verspürte, denn die Atmosphäre ist dünner als die der Erde. Es kam von einem Flattern und Schwanken der Luft selbst, und von den ›Luftschatten‹ (nicht Wolken), die hoch oben entlangziehen, so wie man auf dem Meeresboden die fliegenden Schatten der oben dahinrollenden Wellen vorüberziehen sieht. Dieser Effekt vermittelte mir (im Verein mit der Pflanzenwelt, die sehr stark an die Unterwasserflora erinnert, nur daß sie freistehend wächst) das Gefühl, auf dem Boden des Ozeans zu schreiten.« Dem Pater kam es vor, als ob er unter Wasser gesprochen und niemand ihn gehört hätte. »Was bedeutet dieser Riesenkessel, dort mitten auf eurem großen Platz, Landmaster?« fragte er schließlich. »Ein Relikt unserer alten Rasse, wir bewahren es. Wir haben eine gewisse Verehrung für die Altertümer unserer Vergangenheit. In einem Geist, der so groß ist wie der unsere, ist selbst für Relikte Platz.« »Dann ist er derzeit nicht im Gebrauch?« »Nein. Aber unter gewissen Bedingungen könnte es geschehen, daß wir ihn vorübergehend seiner altertümlichen Bedeutung wieder zuführen. Doch das braucht dich jetzt nicht zu kümmern.« Ein Kessel, ein Riesenkessel! Man kann sich nicht vorstellen, was für ein rundbäuchiges Ding das war! Doch der Pater wandte sich mit einem Gefühl der Ohnmacht wieder seinem Hauptthema zu. 32
»Sünde muß sein, Landmaster! Wie könnte es sonst Erlösung geben?« »Wir haben Erlösung, Priesterlein. Du hast keine – wie könntest du sie uns da bringen?« Daraufhin verließ Pater Barnabas Landmasters Haus und ging auf die Straße. Er wollte sehen, ob er nicht irgendwo ›Sünde‹ entdecken könnte. Er fragte einen kleinen Jungen. »Söhnchen, weißt du, was Sünde ist? Ist dir sowas schon mal über den Weg gelaufen?« »Herr und Fremder, Sünde ist ein archaisches Wort für eine aus der Mode gekommene Sache. Der Begriff gehört zu einem unaufgeklärten Geisteszustand, der sich in den umnachteten Welten noch gehalten hat. Das Wort und die Konzeption, die dahintersteht, werden verlöschen, sobald das wahre Licht auch an diese dunklen Orte gebracht werden kann.« Verdammt! Ein sinnloses Wort auf dem Analos: selbst die Kinder dieser Chimären waren zu glattgeleckt, um menschlich zu sein! »Du kleines Monstrum, reden alle Kinder auf dem Analos so wie du?« »Alle, die keine Abweichler sind, sprechen notwendigerweise so wie ich. Und Monstrum, wie du mich nennst (und zwar anscheinend im abfälligen Sinne) bedeutet eigentlich ›Schaustück‹, also etwas, das öffentlich gezeigt wird, gewissermaßen ein Wunder. Die zusätzliche Bedeutung im Sinne eines grotesken Tieres ist eine spätere Variante. Ich akzeptiere mit Freuden den Namen Monstrum in seiner ursprünglichen Bedeutung. Wir sind die Schaustücke des Universums.« »Verdammt nochmal, ich glaube, das seid ihr tat33
sächlich«, sprach Pater Barnabas bei sich. »So ein polyglotter kleiner Zieraffe!« Er konnte also nicht einmal mit den Kindern dieser Lebewesen fertigwerden. »Söhnchen, hast du denn niemals ein bißchen Spaß?« fragte er schließlich. »Spaß ist ebenfalls ein archaisches Wort, aber ich bin mir nicht sicher über seine Bedeutung«, sagte der Knabe. »Hat es nicht irgendeine Beziehung zu der veralteten Konzeption von der Sünde?« »Nicht direkt, mein Junge. Spaß ist die dritte Seite einer zweiseitigen Münze. Er schlüpft so mit unter. Oder wenigstens früher war das so.« »Herr und Fremder, vielleicht solltest du einen Kursus für korrektive Semantik besuchen.« »Vielleicht mache ich eben jetzt einen mit. Aber was ist mit denjenigen Kindern, die tatsächlich Abweichler sind? Wo sind sie? Und wie sind sie?« »Ich weiß es nicht. Wenn sie ihre Probezeit nicht bestehen, sieht man sie nicht mehr. Ich glaube, sie werden an einen anderen Ort geschickt.« »Ich muß irgendwo ein kleines bißchen Sünde finden«, murmelte der Pater vor sich hin. »Ein ordentlicher Mann müßte doch imstande sein, dergleichen irgendwo aufzutreiben. Auf der Erde heißt es, daß ein Taxifahrer immer weiß, wo es so etwas gibt.« Der Pater rief ein Taxi an. Ein Taxi ist ein Kreis. Das heißt, man klettert hinein und sitzt in dem einzigen runden Sitz mit dem Blick nach innen. Die Analoi sind gesellig und lieben es, ihren Mitgeschöpfen ins Gesicht zu sehen. Nur die Menschen (denn diese sind fähig, sich zu schämen) könnten das Bedürfnis haben, in Reihen hintereinander zu 34
sitzen und ihren Mitgeschöpfen nicht ins Gesicht zu blicken. Der Fahrer sitzt in einem offenen Türmchen über dem Ganzen und neigt zum Sprechen den Kopf nach unten. »Wohin willst du, Fremder?« fragte der Chauffeur den Pater. Da war noch ein Passagier, ein nachdenklicher Mann in den frühen mittleren Jahren. »Ich suche Sünde«, sagte der Pater zum Fahrer, »es ist doch Tradition, daß ein Taxichauffeur immer weiß, wo dergleichen zu finden ist.« »Ist das ein Rätsel, Fremder? Laß mich erst meinen anderen Fahrgast an seinen Ort bringen, während ich es ausknobele. Das hier ist seine letzte Fahrt und daher eine wichtige Fahrt.« »Wieso ist das deine letzte Fahrt?« fragte der Pater den Nachdenklichen. Konversation war in einem solchen Taxi unvermeidbar. Das Gegenübersitzen war zu direkt, um sich anschweigen zu können. »Oh«, sagte der Mann, »meine Zeit ist gekommen. Ein bißchen früher als bei den meisten. Ich habe den Becher ausgetrunken, und es ist nichts mehr drin. Es war ein ganz nettes Leben – ja, ich glaube schon. Hätte eigentlich mehr davon erwartet, aber ich sehe jetzt, daß das falsch war. Ein erwachsener Mensch muß wissen, wann Schluß ist. Und sie machen hier tatsächlich einen sauberen Schluß mit einem.« »Deus meus, endet das so auf dem Analos?« »Wie sonst? Der natürliche Tod ist so weit zurückgedrängt, daß keiner daran denken könnte, auf den zu warten. Sollen wir etwa unser Leben bis zum letzten Rest ausleben, so daß wir schließlich zu verkürzten und immer schwächeren Wiederholungen unserer selbst werden, wie bei den niederen 35
Rassen? Wenn man merkt, daß man alles gehabt hat, tritt man eben ganz ruhig ab.« »Aber das ist Verzweiflung!« »Ein Klein-Jungen-Wort für eine Klein-JungenSache. Termination in Würde – das ist die einzig mögliche Art. Meinen Gruß an euch beide! Und an alle!« Der Nachdenkliche stieg aus und ging in den Terminator. »Also wie war der Name von dem Dingsda, wo du hinwolltest, Fremder?« fragte der Taxifahrer den Pater. »Schon gut. Vielleicht hab ich’s schon gefunden. Ich gehe zu Fuß zurück.« Hier war etwas, das dringend einen Namen brauchte. Er ging, bis er an den Häusergürtel gelangte, und die Gebäude verzerrten sich ihm, als er näherkam. Die Bauwerke des Analos erscheinen aus der Nähe birnenförmig, und in der Tat sind sie auch ein bißchen in dieser Art gebaut. Doch aus der Ferne wirken sie, auf Grund einer Varietät der hiesigen Atmosphäre, die von den Erd-Meteorologen als Cumulus-Effekt bezeichnet wird, normal und grade. Die wenigen Gebäude, die nach irdischen Plänen gebaut sind, wirken von weitem wie eingeklemmt, fast als wollten sie zusammenbrechen. Aber beim Anblick der spitzbäuchigen analotischen Gebäude kam sich der Pater völlig fremd vor. Er war verloren in dieser Welt und redete laut mit sich selber: »Oh, wo sind die lieben alten Sünden, die man aufspüren und anprangern kann! Für mich ist die Termination eben nicht die einzig mögliche Art, und Würde bedeutet mir ganz etwas anderes. Wo 36
gibt es hier Menschen, die wie Menschen sündigen? Gibt es denn hier nirgends einen gesunden Fall von Delirium tremens, oder einen Hasch-Süchtigen, den man bessern kann? Keinen Einbrecher, den ich Bruder nennen kann? Kein goldherziges Nuttchen, das man nur auf den rechten Pfad zu führen braucht? Gibt es denn keinen Dieb, keinen Wucherer, keinen Politiker, damit das Ganze einen Anstrich von Wirklichkeit bekommt? Heuchler, Frauenverprügler, Verführer, Demagogen, abgewetzte alte Homosexuelle, wo finde ich euch? Antwortet mir! Ich brauche euch jetzt!« »Herr, Herr, du schreist ja auf der Straße!« sprach ihn eine junge Analoi-Dame bewegt an. »Bist du denn krank? Wonach rufst du?« »Sünde. Ein ganz kleines bißchen Sünde, bitte, um der Liebe Christi willen! Wenn es in meinem Keller keine Sünde gibt, dann sind die Fundamente meines Hauses nicht so, wie ich es mir gedacht habe.« »Kaum jemand benutzt heute noch Sünde, Herr. Nach was für einer komischen Sache schreist du da mitten auf der Straße! Aber ich glaube, es gibt hier irgendwo einen Laden, der so etwas noch führt. Warte, ich schreib dir die Adresse auf!« Pater Barnabas nahm die Adresse und rannte zu dem Laden. Aber es war nicht das, was er suchte. Sünde war ein alter Name für ein bestimmtes Parfüm, aber der Name war geändert worden, weil er nichts mehr bedeutete. Es gab sehr viele Parfümläden. Zu viele. Und das Parfüm dieser Parfümläden war nicht der Geruch der Heiligkeit. War es möglich, daß eine neue Sinnlichkeit an die Stelle der alten getreten war? 37
Und überhaupt diese vielen Läden – ein Block am anderen – wozu waren die? Wozu dienten die fremdartigen Apparate, die darin ausgestellt waren? Und wieso hatte man bei ihrem Anblick so ein klebriges Gefühl des Bedrohtseins? Der Pater verbrachte einen langen Tag damit, durch die Hauptstadt des Analos zu wandern. Das Straßenpflaster war grün und in Licht- und Schattentönen kunstvoll bemalt, so daß es einem Rasen glich. Aber diese gemalte Natur wirkte keineswegs zahm; sie gab vielmehr den Gedanken ein, daß eine urwaldhafte Wildheit jeden Augenblick durch die dünne Schale hervorbrechen könnte. Und was war das für ein neuartig unheimliches Gefühl, das ihn beschlich, als er durch die Parks wanderte? Jener frühe Entdeckungsreisende hatte sich geirrt: die Pflanzen des Analos glichen nicht den UnterwasserPflanzen der Erde; sie sahen vielmehr wie Unterwasser-Tiere aus. Sie schielten hinterlistig wie Teufelsfische und grinsten wie Haie. Sie war auch hier, überall. Aber sie hatte einen anderen Namen. Pater Barnabas verspürte so etwas wie geschämigen Triumph, als er zum erstenmal die verschwimmenden Konturen dieser Erscheinung wahrnahm. Mit wachsendem Horror erkannte er nach und nach die vielen Einzelheiten. Als er genug hatte, ging er zu Landmaster zurück. Der hatte Besuch von einigen anderen seiner Art. »Bereut! Tut Buße!« rief der Pater, als er sie erblickte. »Die Axt ist schon an die Wurzel gelegt! Der Baum, der üble Früchte trägt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen werden!« »Was sollen wir bereuen, Priesterlein?« fragte Landmaster. 38
»Eure Sünden! Sofort! Ehe es zu spät ist!« »Ich habe dir doch erklärt, daß wir keine Sünden haben, Priesterlein; und daß wir sie bei unserer hochentwickelten Natur auch gar nicht haben können. Deine ständigen Wiederholungen würden uns belästigen … wenn wir jemals dulden würden, daß uns irgend etwas belästigt.« Landmaster gab einem seiner Besucher einen Wink, worauf dieser sofort das Zimmer verließ. »Was waren das für ziemlich lachhafte Namen, die du heute Morgen nanntest?« wandte sich Landmaster wieder an den Priester. »Du weißt die Namen der Sünden, die ich dir genannt habe, noch ganz genau. Jetzt aber nenne ich sie anders. Ihr seid zu dekadent für die alten echten Sünden, ihr habt nur noch deren tödliche Schatten: Anmaßung, Establishment, Rücksichtslosigkeit, Selbstsucht, Sattheit, Monopole, Verzweiflung.« »Interessantes Argument. Bei uns gibt es ein Amt für Interessante Argumente. Da solltest du hingehen und es aufnehmen lassen.« »Ich will es jetzt und hier aussprechen: Ihr mordet! Ihr begeht Kindermord, Jünglingsmord, Greisenmord und Selbstmord!« »Ja, ja, die Sanften Terminatoren.« »Ihr mordet eure eigenen Kinder, wenn sie nicht eurer schauderhaften Norm entsprechen.« »Wohldurchdachte Selektion.« »Ihr habt neue Wollüste und Perversitäten erfunden.« »Verfeinerte Amüsements.« »Es gibt die Bösen, die offen böse sind. Es gibt die Bösen, die ihr Böses verbergen und leugnen, 39
daß sie giftig sind. Das aber sind die alleräußersten Bösen, die ihr Gift in sich tragen und der Schlange einen anderen Namen gegeben haben.« »Es freut mich, daß wir das Alleräußerste sind«, sagte Landmaster. »Eine niedrigere Einstufung würde uns beleidigen.« Pater Barnabas hob den Kopf. »Ich rieche Holzfeuer«, sagte er unvermittelt. »Ihr nehmt hier doch kein Holz mehr zur Feuerung?« »Nur in einem bestimmten Falle«, sagte Landmaster. »Ein alter und nur noch selten geübter Brauch unseres Volkes.« »Was ist das für ein Brauch?« »Verstehst du denn nicht, Priesterlein? Zehn Millionen Karikaturen gibt es auf der Erde darüber, und doch verstehst du sie nicht oder kannst ihren Ursprung nicht erfassen. Was ist das unabänderliche Schicksal eines Missionars, der an einer Küste gestrandet ist, wo Wilde leben?« »Ihr seid doch angeblich keine Wilden?« »Ein Atavismus, Priesterlein. In diesem Falle erlauben wir uns einen Atavismus. Das ist nur eine alte Antwort für den taktlosen, dickköpfigen Missionar, der uns unbedingt mit seinem lästigen Gefrage ärgern will. Wir können uns jedoch nicht erlauben, uns zu ärgern.« Pater Barnabas konnte es nicht glauben. Noch als sie ihn in den monströsen Kessel gesteckt hatten, konnte er es nicht glauben. Sie deckten die langen Tafeln für das Festmahl – sicherlich war das alles nur ein Irrtum! »Landmaster! Ihr – ihr Kreaturen, das könnt ihr doch nicht im Ernst mit mir machen!« 40
»Aber nein, Priesterlein! Das ist doch eine sehr komische Geschichte. Wie könnten wir dabei ernst bleiben? Findest du das denn nicht auch komisch, wenn ein Missionar in einem Kessel geschmort wird?« »Nein! Nein! Es ist furchtbar!« Das Ganze mußte ein Traum sein, ein Unterwasser-Alp. »Warum habt ihr denn zehn Millionen Karikaturen davon gemacht, wenn ihr es nicht komisch findet?« fragte Landmaster mit düsterer Lustigkeit. »Ich habe doch keine gemacht! Ja, – doch – zwei – als Seminarist, für unsere kleine Schulzeitschrift. Landmaster! Das Wasser ist höllisch heiß!« »Sind wir Zauberer, daß wir einen Mann in kaltem Wasser kochen können?« »Doch nicht mit Schuhen und allem?« japste der Pater. Das empfand er als den allerabstoßendsten Frevel. »Schuhe und alles, Priesterlein. Wir mögen das Aroma. Welche Überschrift zu den Karikaturen hat dir denn am besten gefallen, Pater?« »Das könnt ihr doch nicht mit mir machen!« »Ja, die war ganz gut. Aber es war der Text unter einer Zeichnung, soweit ich mich erinnere. Die Überschrift lautete: Berühmte Letzte Worte. Mein eigener Lieblingswitz betrifft allerdings Menschenfresser, und keinen Missionar. Das ist die Geschichte mit dem Kannibalenhäuptling, der sagte: ›Von meiner Frau kriegt man eine gute Suppe – ich werde sie vermissen!‹ – Was ist dein Lieblings-Kesselwitz, Shareshuffler?« Shareshuffler hatte eine große zweizinkige Gabel, mit der er den Pater Barnabas piekte, ob er 41
schon gar war. Der Pater war noch lange nicht gar, und das Jammergeschrei, das er anhob, machte es unmöglich, Shareshufflers Liebling unter diesen Volkswitzen zu verstehen. Das ist bedauerlich, denn es war einer der besten. Was dieser kleine Priester für einen Krach machte! Er störte die Analoi direkt in der Ausübung ihrer altertümlichen Sitten und Brauche. »Ein Hummer macht nicht soviel Krach, wenn er gekocht wird«, tadelte Landmaster. »Eine Auster auch nicht, und ein Xtlecnutlico auch nicht. Warum muß ein Mensch soviel Lärm machen? Das könnte uns direkt irritieren, wenn wir uns jemals irritieren ließen!« Es irritierte sie auch gar nicht. Keineswegs. Sie waren eine zu hochentwickelte Rasse, um sich von irgend etwas irritieren zu lassen. Als der Pater endlich gar war, holten sie ihn aus dem Kessel und verputzten ihn. So ergriffen sie nach altvorgeschriebener Weise Maßnahmen gegen die alte Bedrohung und kamen obendrein noch zu einem superben Festmahl. Die Analoi waren nicht ganz das, was sie schienen. Sie verbargen sich vor sich selber; sie hatten mit den Schatten der Dinge zu tun, nicht mit den Dingen als solche. Sie hatten sogar den Namen ihrer Natur geändert – aber ihre eigentliche Natur nicht. Doch bei passender Gelegenheit konnten sie sich schon mal einen Rückfall ins Alte erlauben. Sie konnten einen urväterischen, rotblütigen, fett- und knorpeltriefenden, knochenabknabbernden Rabatz von einem Festmahl auf die Beine stellen: Ihr Männer und Monstren, jetzt hatten sie eins! Bürger, an diesem Pater war schon was dran! 42
Das enge Tal Im Jahre 1893 wies die Regierung den noch lebenden achthunderteinundzwanzig Pawnee-Indianern Land zu, und zwar wurden jedem einzelnen Pawnee hundertsechzig Acres, nicht mehr und nicht weniger, zugeteilt. Von diesem Zeitpunkt an sollten die Indianer für das Land Steuern zahlen, genau wie die Bleichgesichter. »Kit-ke-hah-ke!« fluchte Clarence Großer Sattel. »Auf hundertsechzig Acres kann man ja nicht einmal einen Hund richtig herumjagen. Und Steuern für Land – sowas ich überhaupt nie nix hören!« Clarence Großer Sattel wählte sich ein hübsches grünes Tal aus und ließ es sich überschreiben. Es war einer von dem halben Dutzend Landstreifen, die er sowieso schon immer als sein Eigentum betrachtet hatte. Er verstärkte die Wände der Sommerhütte, die er dort stehen hatte, mit Grassoden, so daß er das ganze Jahr über darin leben konnte. Aber er hatte keineswegs im Sinn, Steuern dafür zu zahlen. Also verbrannte er Blätter und Rinde und sprach einen Zauberspruch: »Möge mein Tal immer weit sein und blühen und gedeihen und so weiter und so weiter«, skandierte er auf Pawnee im echten Medizinmann-Stil; »aber möge es ganz eng sein, wenn ein Eindringling sich naht.« Er hatte keine Balsam-Rinde zum Verbrennen. Statt dessen warf er ein bißchen Zedern-Rinde ins Feuer. Er hatte auch keine Holunderblätter; dafür warf er eine Handvoll Eichenblätter hinein. Und er hatte das Wort vergessen. Wie soll das denn klappen, wenn man das Wort vergessen hat? 43
»Pe-ta-hau-erat!« brüllte er mit einer Zuversicht, die, wie er hoffte, die Mächte des Schicksals bluffen würde. »Das ist ein ebenso langes Wort«, sprach er flüsternd beiseite. Doch er hatte seine stillen Zweifel. »Wer bin ich denn – ein Bleichgesicht oder eine schwirrschwänzige Elster, oder irgendeine neue Sorte Idiot, daß ich mir einbilde, so könnte das funktionieren?« fragte er. »Da muß ich ja über mich selbst lachen. Na schön, wir werden ja sehen.« Er schmiß, was von der Rinde und den Blättern noch übrig war, ins Feuer, und brüllte dann nochmals das falsche Wort in die stille Luft. Und es antwortete ihm ein hellblitzendes Wetterleuchten. »Ski-di!« fluchte Clarence Großer Sattel. »Das funktioniert ja tatsächlich. Hätte ich nicht gedacht!« Clarence Großer Sattel lebte viele Jahre lang auf seinem Land, und er bezahlte keine Steuern. Dreimal wurde das Land wegen der aufgelaufenen Steuerschulden zum Verkauf gestellt, aber niemals kam jemand, der es haben wollte. Schließlich wurde es im Grundbuch als freies Land geführt. Mehrmals stellten Siedler Antrag auf Zuteilung, aber nie konnte einer die Bedingung für den Zuschlag erfüllen, nämlich auf dem Land zu wohnen. Ein halbes Jahrhundert verstrich. Clarence Großer Sattel rief seinen Sohn. »Junge«, sagte er, »ich bin soweit. Ich denke, ich werd’ mal eben ins Haus gehen und sterben.« »Okay, Dad«, sagte der Sohn, Clarence Kleiner Sattel. »Ich geh inzwischen mal kurz in die Stadt und spiel ’n paar Partien Billard mit den Jungs. 44
Wenn ich abends nach Hause komme, werd’ ich dich begraben.« So erbte der Sohn, Clarence Kleiner Sattel, das Land. Er lebte ebenfalls viele Jahre darauf und bezahlte auch keine Steuern. Eines Tages war was los im Amtsgericht. Eine ganze Armee schien im Anmarsch, aber in Wirklichkeit waren es bloß ein Mann, eine Frau und fünf Kinder. »Ich bin Robert Rampart«, sagte der Mann, »und wir wollen zum Landamt.« »Ich bin Robert Rampart junior«, sagte ein schlenkriger Neunjähriger. »Und ’n bißchen fix, ja?« »Ich glaube, so was haben wir gar nicht«, sagte das Mädchen von der Auskunft. »Das hat es vielleicht vor grauen Zeiten mal gegeben.« »Unwissenheit ist keine Entschuldigung für Unfähigkeit, meine Liebe«, sagte Mary Mabel Rampart, eine Achtjährige, die man leicht für achteinhalb halten konnte. »Wenn ich eine Beschwerde einreiche – wer weiß, wer dann morgen hinter Ihrem Tisch sitzt.« »Ihr befindet euch entschieden im falschen Staat oder im falschen Jahrhundert, liebe Leute!« sagte das Fräulein. »Das Ansiedler-Gesetz ist immer noch in Kraft«, sagte Robert Rampart mit eiserner Stirn. »Hier ist ein Streifen Land, der in diesem Distrikt als Freiland geführt wird. Ich will einen Antrag auf Übereignung stellen.« Cecilia Rampart reagierte auf das bedeutsame Augenzwinkern eines fleischigen Mannes am Tisch gegenüber. Sie schlängelte sich quer durch den 45
Raum bis zu ihm hin und hauchte sinnlich: »Hei!« Dann sagte sie: »Ich bin Cecilia Rampart, aber mein Bühnenname ist Cecilia San Juan. Glauben Sie, daß man mit sieben Jahren noch zu jung ist als jugendliche Naive?« »Du bestimmt nicht«, meinte er. »Sag deinen Leuten, sie sollen rüberkommen.« »Wissen Sie, wo das Landamt ist?« fragte Cecilia. »Sicher. In meinem Schreibtisch, vierte Schublade links. Das kleinste Amt im ganzen Amtsgericht. Es hat heutzutage nicht mehr viel zu tun.« Die Ramparts strömten herzu. Der Fleischige begann, Formulare auszufüllen. »Hier ist der Kataster-Auszug«, wollte Robert Rampart anfangen. »Was denn, Sie haben ja gleich alles hingeschrieben. Woher wissen Sie denn so gut Bescheid?« »Ich bin schon ’ne ganze Weile hier«, antwortete der Mann. Sie erledigten den Papierkrieg, und Robert Rampart unterschrieb seinen Antrag auf Übereignung. »Sie werden allerdings nicht auf das Land selbst ’raufkönnen«, sagte der Mann. »Wieso denn nicht?« fragte Rampart. »Stimmt denn der Kataster-Auszug nicht?« »Oh, der stimmt schon. Aber bis jetzt hat noch keiner das Land betreten können. Die Leute hier machen schon ihre Witze darüber.« »Na, dem Witz will ich mal auf den Grund kommen«, trumpfte Robert Rampart auf. »Ich werde auf diesem Land wohnen, oder ich will wissen, warum das nicht geht.« »Also, da bin ich nicht so sicher«, sagte der Fleischige. »Der Letzte, der einen Antrag auf Übereig46
nung dieses Landes gestellt hat, ungefähr ein Dutzend Jahre ist das her, der konnte es nicht betreten. Und er konnte auch nicht sagen, warum das nicht ging. Das ist richtig interessant, was die Leute für Gesichter machen, wenn sie es ein oder zwei Tage lang probieren, bis sie die Nase voll haben.« Die Ramparts verließen das Amtsgericht, verstauten sich in ihrem Camping-Wagen und fuhren los, um ihr Land zu suchen. Am Hause eines Rinder- und Weizenfarmers namens Charley Dublin hielten sie an. Dublin begrüßte sie mit einem Grinsen; anscheinend hatte man ihm schon Bescheid gesagt. »Kommt mit, wenn ihr wollt, Leute«, sagte er. »Der beste Weg ist zu Fuß über meine Wiese hier. Euer Land liegt direkt westlich von meinem.« Sie gingen das kurze Stück bis zur Grenze. »Mein Name ist Tom Rampart, Mr. Dublin.« Der sechsjährige Tom fühlte sich verpflichtet, unterwegs Konversation zu machen. »Aber in Wirklichkeit heiße ich Ramirez, nicht Tom. Ich bin die Frucht eines Fehltritts meiner Mutter – es passierte in Mexiko, vor ein paar Jahren.« »Der Bengel ist ein Spaßvogel, Mr. Dublin«, verteidigte sich die Mutter, Nina Rampart. »Ich bin nie in Mexiko gewesen – aber manchmal verspüre ich das Bedürfnis, dahin zu verschwinden und nicht wiederzukommen.« »Ah ja, Mrs. Rampart, und wie ist der Name Ihres Jüngsten hier?« fragte Charley Dublin. »Fatty«, sagte Fatty Rampart. »Aber so bist du doch bestimmt nicht getauft?« »Audifax«, sagte der fünfjährige Fatty. »Ah ja, Audifax. Bist du auch ein Spaßvogel?« 47
»Jetzt kann er es schon besser, Mr. Dublin«, sagte Mary Mabel. »Er war bis vorige Woche ein Zwilling. Seine Zwillingsschwester hieß Skinny. Mama ging bloß mal kurz einen saufen und ließ Skinny ohne Aufsicht. Aber da gab es wilde Hunde in der Nachbarschaft. Als Mama zurückkam – wissen Sie, was von Skinny noch übrig war? Zwei Halswirbel und ein Fußknöchel. Das war alles.« »Arme Skinny«, sagte Mr. Dublin. »Also, Rampart, hier ist der Zaun, mein Land ist hier zu Ende. Ihres ist genau dahinter.« »Gehört der Graben da zu meinem Land?« fragte Rampart. »Dieser Graben ist Ihr Land.« »Ich werde ihn auffüllen lassen. Das ist ja ein gefährlich tiefer Einschnitt, wenn er auch schmal ist. Und der Zaun hinter dem Graben sieht ja ganz gut aus. Da habe ich bestimmt ein ganz hübsches Stück Land dahinter.« »Nein, Rampart, das Land hinter dem zweiten Zaun gehört Holister Hyde«, sagte Charley Dublin. »Da, an diesem Zaun, ist Ihr Land schon zuende.« »Na, Moment mal, Dublin! Da stimmt doch was nicht. Mein Land hat hundertsechzig Acres, das ist eine halbe Meile Seitenlänge. Also wo ist meine halbe Meile in der Breite?« »Zwischen den beiden Zäunen.« »Das sind ja noch keine acht Fuß?« »Sieht so aus, nicht wahr, Rampart? Ich werd’ Ihnen was sagen: hier liegen ja genügend Steinbrocken grade in der richtigen Größe rum. Versuchen Sie mal, einen über den Graben zu werfen!« »Ich bin nicht an irgendwelchen derartigen Kin48
derspielen interessiert«, explodierte Rampart. »Ich will mein Land!« Die Rampart-Kinder dagegen waren durchaus an solchen Spielen interessiert. Sie schnappten sich ein paar Brocken und versuchten, sie über den kleinen Graben zu schmeißen. Die Steine benahmen sich komisch. Sie blieben, so sah es wenigstens aus, in der Luft hängen und wurden dabei immer kleiner. Und wenn sie ’runterfielen, genau in den Graben, dann waren sie nur noch so groß wie Kiesel. Keiner konnte einen Stein über den Graben werfen – und die Gören verstanden was vom Schmeißen! »Sie und Ihr Nachbar haben sich diesen Schwindel ausgedacht, damit Sie freies Land einzäunen und für sich verwenden können!« beklagte sich Robert Rampart. »Keine Rede davon, Rampart«, sagte Dublin ganz freundlich. »Mein Land hat genau seine richtigen Grenzen. Hydes auch. Und Ihres auch, wenn wir nur wüßten, wie wir es dazwischen einpassen sollen. Das ist wie auf so einem Vexierbild. Von hier bis da ist es wirklich eine halbe Meile, aber das Auge geht irgendwie verloren, wenn Sie rüberschauen. Kriechen Sie durch den Zaun und sehen Sie selber!« Rampart kroch durch den Zaun und richtete sich hoch, um über den Graben zu springen. Dann zögerte er. Er warf einen Blick hinein und sah, wie tief er war. Aber er war immer noch keine fünf Fuß breit. Im Boden stak ein kräftiger Zaunpfahl, zum Eckpfosten bestimmt. Rampart zog ihn mit einiger Anstrengung heraus. Dann stellte er ihn so auf den Boden, daß er wie eine Brücke über den kleinen 49
Graben fallen mußte. Aber der Pfahl fiel zu kurz – und das hätte er nicht tun dürfen. Ein acht Fuß langer Pfahl mußte doch einen fünf Fuß breiten Graben überbrücken. Der Pfosten fiel in den Graben, und rollte und rollte und rollte. Er wirbelte herum, als ob er wegtrudelte, aber er bewegte sich nur in einer Richtung: senkrecht nach unten. Schließlich traf der Pfosten auf einen Vorsprung an der Grabenwand und blieb liegen, so nahe, daß Rampart ihn beinahe mit der ausgestreckten Hand hätte erreichen können – aber jetzt schien er nicht größer als ein Streichholz zu sein. »Also da stimmt etwas nicht – entweder mit diesem Zaunpfahl, oder mit der Welt im allgemeinen, oder mit meinen Augen«, sagte Robert Rampert. »Ich wünschte, mir wäre schwindelig, dann hätte die Sache wenigstens einen Grund.« »Wenn Nachbar Hyde und ich hier beide draußen sind, machen wir manchmal ein kleines Spielchen«, sagte Dublin. »Ich habe ein schweres Gewehr, und damit ziele ich mitten auf seine Stirn, wenn er drüben auf der anderen Seite des Grabens steht, scheinbar nur acht Fuß weit ab. Dann drücke ich los – und ich bin ein guter Schütze. Ich höre die Kugel pfeifen, wie sie rüberfliegt. Ich würde ihn mausetot schießen, wenn alles so wäre, wie es aussieht. Aber Hyde kann überhaupt nichts passieren. Der Schuß geht jedesmal in diesen kleinen Steinhaufen dort, ungefähr drei Fuß unterhalb von ihm. Ich kann sehen, wie der Steinstaub beim Aufprall hochfliegt, und das Prasseln des Aufschlags kommt als Echo ungefähr nach zweieinhalb Sekunden bei mir an.« 50
Eine Nachtweihe kreiste am Himmel und schoß plötzlich in Bodennähe über den schmalen Graben – aber sie erreichte die andere Seite nicht. Der Vogel flog unter Bodenhöhe, und er war gegen die andere Wand des Grabens gut zu erkennen. Er wurde immer kleiner und in den Umrissen verwischter, als ob er in drei- oder vierhundert Meter Entfernung flöge. Die weißen Querbinden auf seinen Schwingen waren nicht mehr zu unterscheiden; und dann war der Vogel selbst kaum mehr zu erkennen. Aber er war noch weit von der anderen Wand des Fünf-FußGrabens entfernt. Auf der anderen Seite des Grabens war ein Mann aufgetaucht, den Charley Dublin als Nachbar Holister Hyde identifizierte. Hyde grinste. Er rief etwas herüber, aber man hörte nichts. »Hyde und ich können beide von den Lippen ablesen«, sagte Dublin, »und so können wir uns ziemlich leicht über den Graben weg unterhalten. Wer von euch Gören hat Lust, ›Hühnchen‹ zu spielen? Hyde wird ihm einen schönen, großen Stein direkt an den Kopf schmeißen, und wer sich duckt oder wegrennt, ist Hühnchen.« »Ich! Ich!« forderte Audifax Rampart ihn heraus. Und Hyde, ein großer Mann mit großen Händen, schmiß tatsächlich einen furchterregenden, ausgezackten Felsbrocken direkt nach dem Kopf des Jungen. Er würde ihn totgeschmissen haben, wenn alles so gewesen wäre, wie es schien. Aber der Brocken wurde immer kleiner und verschwand schließlich im Graben. Hier lag noch ein besonderes Phänomen vor: die Dinge schienen auf beiden Seiten des Grabens ihre richtige Größe zu haben, aber sie wurden kleiner, wenn sie sich, in der einen oder der anderen 51
Richtung, über die Ränder des Grabens hinwegbewegten. »Na, macht ihr alle mit?« fragte Robert Rampart junior. »Wenn wir hier stehenbleiben, kommen wir nie hin«, sagte Mary Mabel. »Riskierste nix, profitierste nix«, sagte Cecilia. »Das ist aus einem Plakat von einer Sexkomödie.« Und dann rannten die fünf Rampart-Gören in den Graben hinein. Vielmehr in den Graben hinunter. Es war beinahe so, als rennten sie eine senkrechte Felsklippe hinab. Das ging ja gar nicht; der Graben war nicht breiter als die Schrittweite des größten Kindes. Aber der Graben verkleinerte die Gören, er fraß sie lebendig auf. Sie waren nur noch so groß wie Puppen. Dann so groß wie Eicheln. Sie durchquerten rennend, eine Minute nach der andern, einen Graben, der nur fünf Fuß (oder anderthalb Meter) breit war. Sie gelangten immer tiefer hinein und wurden immer kleiner. Robert Rampart brüllte vor Schreck auf, und seine Frau Nina kreischte. Auf einmal aber war sie still. »Warum stelle ich mich eigentlich so an?« fragte sie sich. »Das sieht doch ganz lustig aus. Ich mach das auch.« Sie tauchte in den Graben ein, wurde ebenso wie die Kinder immer kleiner und rannte in einem Tempo durch diesen fünf Fuß breiten Graben, das sie andernorts zehnmal weitergebracht hätte. Dieser Robert Rampart brachte für eine Weile alles durcheinander. Er holte den Sheriff her, und die Landstraßenpolizei. Ein Graben hatte seine Frau und fünf Kinder gestohlen, sagte er, und vielleicht totgemacht, sagte er. Und wenn jemand lacht, sagte er, dann geht vielleicht noch einer drauf. Er holte 52
den Colonel von der Staats- und Nationalgarde herbei und setzte es durch, daß ein Wachtposten aufgestellt wurde. Er schaffte ein paar Flugzeugpiloten heran. Robert Rampart war in einer Hinsicht erstklassig: wenn er brüllte, kamen die Leute gerannt. Er holte die Zeitungsleute aus der Stadt, und die eminenten Wissenschaftler Dr. Velikoff Vonk, Arpad Arkabaranian und Willy McGilly. Dieses Kleeblatt taucht jedesmal auf, wenn etwas wirklich Gutes im Wind ist. Die sind immer grade ganz zufällig in dem Teil des Landes, wo sich was Interessantes tut. Sie gingen die Angelegenheit von allen vier Seiten und von oben an, sowie mittels innerer und äußerer Theorie. Wenn ein Dingsda eine halbe Meile (das sind ungefähr achthundert Meter) an jeder Seite mißt, und die vier Seiten grade sind, dann muß ja schließlich irgend etwas dazwischen liegen. Sie nahmen Luftbilder auf, und die wurden ausgezeichnet. Man sah darauf, daß Robert Rampart die hübschesten hundertsechzig Acres Land in der ganzen Gegend besaß: der größte Teil bestand aus einem üppig grünen Tal; jede Seite war eine halbe Meile lang, und das Ganze lag genau da, wo es hingehörte. Dann machten sie Aufnahmen vom Boden aus, und die zeigten einen wunderbaren Streifen Landes zwischen den Grenzen Charley Dublins und Holister Hydes. Aber ein Mensch ist kein Fotoapparat. Kein Mensch konnte dieses wunderschöne Land mit den Augen sehen, die er in seinem Kopfe trug. Wo war es also? Unten im Tal selbst war alles normal. Es war wirklich eine halbe Meile breit und fiel nicht tiefer als achtzig Fuß in sanfter Schräge ab. Es war warm und lieblich und trug herrliches Gras und Getreide. 53
Nina und den Kindern gefiel es großartig, und sie rannten hin, um zu sehen, was für ein Squatter sich dieses kleine Häuschen da auf ihrem Grund und Boden gebaut hatte. Ein Haus, oder eine Hütte. Farbe hatte es nie gekannt, aber Farbe hätte auch alles verdorben. Es war aus Spaltbrettern gebaut, die mit Axt und Zugmesser beinahe glattgehobelt waren; die Ritzen hatte der Erbauer mit weißem Ton verschmiert, und bis zur halben Höhe waren die Wände mit Grassoden verstärkt. Und neben der kleinen Hütte stand der Eindringling. »He – was machen Sie auf unserem Land?« fragte Robert Rampart junior den Mann. »Jetzt schieben Sie ab und gehen Sie dahin, wo Sie hergekommen sind! Ich wette, Sie sind auch noch ein Dieb, und die Rinder sind alle geklaut!« »Nur das schwarzweiße Kalb«, sagte Clarence Kleiner Sattel, »da konnte ich nicht widerstehen. Aber die anderen sind meine. Ich denke, ich bleib noch ein bißchen hier und seh zu, daß ihr Leute euch vernünftig einrichtet.« »Gibt’s hier wilde Indianer in der Gegend?« fragte Fatty Rampart. »Nein, eigentlich nicht. Ich mach mal ungefähr alle drei Monate ’ne Sause, und dann werd’ ich ein bißchen wild, und da sind ’n paar Osage-Jungens in Gray Horse, die hauen ab und zu ’n bißchen auf die Pauke, aber das ist so ziemlich alles.« »Sie wollen uns doch nicht etwa erzählen, daß Sie Indianer sind?« fragte Mary Mabel herausfordernd. »Sie werden schon merken, daß wir dafür ein bißchen zu gut Bescheid wissen.« »Kleine, du könntest ebensogut dieser Kuh hier sagen, sie könnte keine Kuh sein, weil du zu gut 54
Bescheid weißt. Sie denkt, sie ist ’ne Kurzhorn-Kuh namens Sweet Virginia, und ich denke, ich bin ein Pawnee-Indianer namens Clarence Kleiner Sattel. Bring es uns möglichst schonend bei, wenn es nicht stimmt.« »Wenn Sie wirklich ein Indianer sind – wo ist dann Ihr Kriegsschmuck? Sie haben ja nicht eine einzige Feder an sich.« »Woher willst du denn das so genau wissen? Es gibt da so eine Geschichte, daß wir Federn statt Haare am – nee, so einen Witz kann ich einem kleinen Mädel nicht erzählen! Wieso trägst du denn nicht die Eiserne Krone der Lombardei, wenn du ein weißes Mädchen bist? Wie kannst du von mir verlangen, daß ich glaube, du bist ein kleines weißes Mädel, und deine Leute sind vor ein paar hundert Jahren aus Europa rübergekommen, wenn du nicht mal ’ne Krone aufhast? Es gibt sechshundert Stämme, und nur einer, die Ogallalah-Sioux, trugen die Federhaube, und nur die großen Häuptlinge, und von denen auch immer nur zwei oder drei Lebende auf einmal, trugen sie.« »Ihre Analogie ist ein bißchen an den Haaren herbeigezogen«, sagte Mary Mabel. »Die Indianer, die wir in Florida gesehen haben, und auch die in Atlantic City, hatten ihren Kriegsschmuck auf – das konnten ja kaum die Art Sioux sein, von denen Sie reden. Und gestern Abend, im Motel, haben wir im Fernsehen gesehen, wie diese MassachussetsIndianer dem Präsidenten einen Federschmuck aufgesetzt haben und ihn Großer Weißer Vater nannten. Wollen Sie mir einreden, das war alles Schwindel? Heh – wer lacht hier über wen?« »Wenn Sie ein Indianer sind – wo haben Sie 55
dann Pfeil und Bogen?« unterbrach Tom Rampart. »Ich wette, Sie können nicht mal mit ’nem Bogen schießen.« »Da hast du auch völlig recht«, räumte Clarence ein. »Ich habe nur ein einziges Mal in meinem Leben mit so einem Dings geschossen. In Boulder Park, drüben in der Stadt, da könnt’ste dir so’n Dings leihen und auf Scheiben schießen, die waren an Heuballen festgemacht. Höh, ich hab mir von meinem ganzen Unterarm die Haut abgeschunden und hab mir beinahe den Daumen gebrochen beim Rückschlag von der Bogensehne. Ich konnte mit dem Dings nicht schießen. Ich versteh auch nicht, wie das überhaupt einer kann.« »Okay, Gören!« Nina Rampart rief ihre Brut herbei. »Also los, schmeißen wir das Zeug aus der Hütte, damit wir einziehen können. Gibt’s hier irgendeinen Weg, daß wir mit dem Campingwagen rankommen können, Clarence?« »Sicher, da ist ’n ganz ordentlicher Sandweg, und der ist ’n ganzes Stück breiter, als er von oben aussieht. Ich hab ’n paar hundert Dollar in ’nem alten Nachttopf in der Hütte. Laßt mich die rausholen, und dann hau ich für ’ne Weile ab. Die Bude ist sieben Jahre lang nicht saubergemacht worden – seit dem letzten Mal, wo ich sie ausgefegt habe. Ich zeig euch den Weg nach oben, und dann könnt ihr euren Wagen runterbringen.« »Heh, Sie oller Indianer, Sie schwindeln ja!« krähte Cecilia Rampart von der Hüttentür. »Sie haben ja doch ’ne Federhaube. Kann ich die behalten?« »Ach die – ich wollte nicht schwindeln, ich hab das Dings vergessen. Mein Sohn Clarence Ohne Sattel hat sie mir aus Japan geschickt – aus Spaß; 56
und es ist schon lange her. Sicher, die kannst du haben.« Alle Kinder mußten jetzt ran und den alten Kram aus der Hütte tragen und verbrennen. Nina Rampart und Clarence Kleiner Sattel kletterten hinauf zum Saume des Tales, auf den Fahrweg, der tatsächlich breiter war, als er von oben aussah. »Nina, da bist du ja wieder! Ich dachte, du wärst für immer weg«, sagte Robert Rampart ganz durchgedreht, als er sie erblickte. »Was – wo sind die Kinder?« »Na, die hab ich natürlich unten im Tal gelassen, Robert. Das heißt – äh – in dem kleinen Graben hier. Nun hast du mir wieder Angst gemacht. Ich muß jetzt den Campingwagen runterfahren und abladen. Du kommst besser mit und hilfst – hör auf, mit diesen komischen Leuten hier rumzuquatschen!« Und Nina ging zu Dublins Farm zurück, um den Campingwagen zu holen. »Es wäre leichter für ein Kamel, durch ein Nadelöhr zu gehen, als für diese mutige Frau, den Wagen einen so engen Graben hinunterzufahren«, sagte der eminente Wissenschaftler Dr. Velikoff Vonk. »Sie wissen doch, wie ein Kamel das macht?« sagte Clarence Kleiner Sattel hilfreich, der plötzlich von nirgendwoher aufgetaucht war. »Es kneift einfach ein Auge zu und legt die Ohren an, und saust glatt durch. Ein Kamel ist mächtig dünn, wenn es ein Auge zukneift und die Ohren anlegt. Außerdem nehmen sie bei dieser Nummer immer eine Nadel mit einem ziemlich großen Öhr.« »Wo kommt dieser verrückte Kerl her?« fragte Robert Rampart und sprang vor Nervosität drei Fuß hoch in die Luft. »Jetzt kommen schon die seltsam57
sten Dinger aus dem Erdboden herausgeschossen. Ich will mein Land! Ich will meine Kinder! Ich will meine Frau! Hach, da kommt sie ja mit dem Wagen angefahren! Nina, du kannst doch nicht mit einem vollbeladenen Campingwagen einen so kleinen Graben hinunterfahren! Du gehst dabei tot oder kippst um!« Nina Rampart fuhr den beladenen Campingwagen in einem ganz netten Tempo den kleinen Graben hinunter. Höchstwahrscheinlich kniff sie dabei ein Auge zu und sauste einfach durch. Das Auto wurde kleiner und fiel; es wurde winziger als ein Spielzeugauto. Aber es wirbelte eine ganz hübsche Staubwolke auf, als es mehrere hundert Meter quer durch einen Graben ratterte, der nur anderthalb Meter breit war. »Rampart, das ist ein ähnliches Phänomen wie eine Luftspiegelung, nur umgekehrt«, erläuterte der eminente Gelehrte Arpad Arkabaranian und versuchte, einen Felsbrocken über den schmalen Graben zu schleudern. Der Brocken stieg sehr hoch in die Luft, schien an seinem Kulminationspunkt stehen zu bleiben, wurde dabei immer kleiner, bis zur Größe eines Sandkorns, und fiel etwa sechs Zoll vom diesseitigen Grabenrand nieder. Kein Mensch kann eine halbe Meile weit werfen, selbst wenn sie wie fünf Fuß aussieht. »Schauen Sie sich den aufgehenden Mond an, Rampart. Manchmal sieht er sehr groß aus, so als ob er einen beträchtlichen Teil des Horizonts einnimmt; aber er bedeckt tatsächlich nur einen halben Grad. Es ist schwer zu glauben, daß man siebenhundertzwanzig solcher großen Monde auf den Horizont setzen könnte, oder das einhundertachtzig dieser Riesendinger nötig wären, 58
um vom Horizont aus einen Punkt des Himmels zu erreichen, der sich genau senkrecht über Ihrem Kopf befindet. Es ist gleichermaßen schwer zu glauben, daß Ihr Tal fünfhundertmal so groß ist, als es erscheint – aber es ist vermessen worden, und es ist tatsächlich so groß.« »Ich will mein Land! Ich will meine Kinder! Ich will meine Frau!« sagte Robert Rampart dumpf beschwörenden Tones. »Verdammt nochmal, ich habe sie wieder weggelassen!« »Ich werd’ Ihnen mal was sagen, Rampy«, sprach ihn Clarence Kleiner Sattel an, »ein Mann, der seine Frau zweimal wegläßt, verdient nicht, daß er sie hat. Ich geb Ihnen Zeit bis zum Dunkelwerden, aber dann haben Sie verspielt. Ihre Brut gefällt mir. Einer von uns beiden geht heute noch da runter.« Etwas später gingen ein paar von ihnen in diese kleine Kneipe an der Straße zwischen Cleveland und Osage. Sie lag nur eine halbe Meile ab. Wäre das Tal in der anderen Richtung verlaufen, wären es nur sechs Fuß gewesen. »Es handelt sich bei diesem Phänomen um einen psychischen Nexus in Form einer langgestreckten Hohlkugel«, sagte der eminente Wissenschaftler Dr. Velikoff Vonk. »Er wird im Unterbewußtsein durch die Verknüpfung mindestens zweier Bewußtseinseinheiten aufrechterhalten, von denen die stärkere zu einem Manne gehört, der seit vielen Jahren tot ist. Anscheinend existiert dieser Nexus seit nicht ganz hundert Jahren, und in weiteren hundert Jahren wird er sich beträchtlich abgebaut haben. Von unseren Forschungen über Volkssagen in Europa und Kambodscha wissen wir, daß die magische Wirkung in diesen verzauberten Gebieten selten 59
länger als zweihundertfünfzig Jahre anhält. Die betreffende Person, die ursprünglich einen solchen Zauber in Kraft gesetzt hat, verliert im Verlauf von etwa hundert Jahren nach dem Tode das Interesse daran, wie überhaupt an allen irdischen Angelegenheiten. Das ist die ganz normale thanatopsychische Grenze. Auch in der militärischen Taktik sind solche Verfahren schon mehrfach kurzfristig angewendet worden. Dieser psychische Nexus verursacht, solange er Bestand hat, Gruppenhalluzinationen, ist aber in Wirklichkeit eine ganz harmlose Angelegenheit. Vögel, Kaninchen, Vieh oder auch eine Kamera lassen sich nicht täuschen, nur Menschen. Es freut mich, daß ich Ihnen eine wissenschaftlich einwandfreie Erklärung dafür geben kann; wäre das nicht der Fall, so würde mich das denn doch immerhin sehr beunruhigen.« »Es handelt sich um einen kontinentalen Meßfehler, der mit einer noosphärischen Mißweisung koinzidiert«, sagte der eminente Wissenschaftler Arpad Arkabaranian. »Das Tal ist in Wirklichkeit eine halbe Meile breit und gleichzeitig in Wirklichkeit nur fünf Fuß breit. Würden wir korrekt messen, so müßten wir auf dieses duale Resultat kommen. Aber natürlich ist es meteorologisch bedingt! Alles, einschließlich der Träume, ist meteorologisch bedingt. Grade die Tiere und die Kamera täuschen sich, weil ihnen eine der echten Dimensionen fehlt; nur die Menschen sehen die tatsächlich vorhandene Dualität. Dieses Phänomen müßte eigentlich auf der ganzen Länge des kontinentalen Meßfehlers auftreten, bei dem die Erde eine halbe Meile gewinnt oder verliert, die ja irgendwo bleiben muß. Wahr60
scheinlich erstreckt er sich auf die ganze Fläche der Cross-Timber-Höhen. Viele dieser Bäume erscheinen zweimal, und viele erscheinen überhaupt nicht. Ein Mensch, der sich in einem adäquaten Geisteszustand befindet, könnte das Land bebauen oder Viehzucht darauf treiben; aber es existiert eben in Wirklichkeit gar nicht. In Deutschland, im Schwarzwald, gibt es einen klaren Parallelfall im sogenannten ›Luftspiegelungsthal‹-Sektor, der je nach den Umständen und nach der geistigen Einstellung des Beschauers entweder vorhanden ist oder nicht. Und dann haben wir im Morgan County im Staate Tennessee noch den Fall des Mad Mountain, der ebenfalls nicht immer vorhanden ist; und schließlich die Fata Morgana von Little Lobo im Staate Texas, von wo in zweieinhalb Jahren dreitausend Kubikmeter Wasser abgepumpt wurden, bis die Luftspiegelung wieder zur Luftspiegelung wurde. Es freut mich, daß ich Ihnen eine wissenschaftlich einwandfreie Erklärung geben konnte; wenn ich das nicht könnte, würde mich das denn doch immerhin sehr beunruhigen.« »Ich verstehe einfach nicht, wie er das fertiggekriegt hat«, sagte der eminente Wissenschaftler Willy McGilly. »Zedernrinde, Eichenblätter und das Wort Pe-ta-hau-erat. Eine völlig unmögliche Geschichte! Als ich ein Junge war, nahmen wir, wenn wir uns ein gutes Versteck schaffen wollten, Rinde vom Stinkholzbaum, Blätter vom BuchsHolunder, und das Wort war ›Boadicea‹. Hier sind alle drei Elemente falsch. Ich kann keine wissenschaftlich einwandfreie Erklärung dafür finden, und das beunruhigt mich denn doch immerhin beträchtlich.« 61
Sie gingen zurück zum Engen Tal. Robert Rampart murmelte immer wieder dumpf vor sich hin: »Ich will mein Land. Ich will meine Frau. Ich will meine Kinder.« Nina Rampart kam im Campingwagen aus dem schmalen Graben heraufgetuckert und zwängte sich durch das kleine Tor, ein paar Meter weiter im Zaun. »Abendessen ist fertig, und es langt uns jetzt, auf dich zu warten, Robert«, sagte sie. »Du bist mir ein feiner Siedler! Hat Angst, auf sein eigenes Land zu kommen! Los jetzt, ich habe keine Lust mehr, auf dich zu warten.« »Ich will mein Land! Ich will meine Frau! Ich will meine Kinder!« murmelte Robert Rampen immer noch beschwörend vor sich hin. »Ach, da bist du ja, Nina! Diesmal bleibst du gefälligst hier! Ich will mein Land! Ich will meine Kinder! Ich will wissen, was an dieser furchtbaren Geschichte eigentlich dran ist!« »Es wird Zeit, daß wir klarsehen, wer in dieser Familie die Hosen anhat!« sagte Nina energisch. Sie griff sich ihren Mann, warf ihn sich über die Schulter, schleppte ihn zum Campingwagen, schmiß ihn rein, schmetterte (so hörte es sich wenigstens an) ein Dutzend Türen auf einmal zu und fuhr wütend in das Enge Tal hinein, das jetzt bereits etwas breiter zu sein schien. Merkwürdig, das Landstück wurde mit jeder Minute normaler! Der psychische Nexus in Form einer langgestreckten Kuppel war zusammengebrochen. Der kontinentale Meßfehler, der mit der noosphärischen Mißweisung koinzidierte, hatte den Tatsachen ins Auge gesehen und sich zur Anpassung entschlossen. Die Ramparts waren im effektiven 62
Besitz ihres Landes, und das Enge Tal war so normal wie irgendein anderer Landstrich irgendwo. »Ich habe mein Land verloren«, seufzte Clarence Kleiner Sattel. »Es war das Land meines Vaters Clarence Großer Sattel, und es sollte einmal das Land meines Sohnes Clarence Ohne Sattel werden. Es sah von draußen so eng aus, daß die Leute nicht merkten, wie groß es innen war, und sie versuchten gar nicht erst, hineinzukommen. Nun habe ich es verloren.« Clarence Kleiner Sattel und der eminente Wissenschaftler Willy McGilly standen an der Querseite des Engen Tales, die jetzt auch für das Auge des Beschauers ihre richtige Länge von einer halben Meile hatte. Der Mond ging grade auf, so groß, daß er ein Drittel des Himmels einnahm. Wer hätte gedacht, daß hundertachtzig solcher riesigen Gebilde nötig wären, um vom Horizont aus einen Punkt senkrecht über dem Betrachter zu erreichen – und doch konnte man das mit Meßgeräten exakt feststellen und ausrechnen. »Ich hatte ein nettes kleines Frauchen beim Wickel, eine richtige Wildkatze, und ich habe sie entwischen lassen«, jammerte Clarence Kleiner Sattel. »Ich hatte ein herrliches Tal, ganz umsonst, und ich habe es verloren. Ich bin wie der Pechvogel im Witzblatt, oder wie Hiob in der Bibel. Not und Elend sind mein Los!« Willy McGilly blickte sich verstohlen um. Sie standen ganz allein an der Kante des eine halbe Meile breiten Tales. »Können ja mal sehen, was sich machen läßt«, sagte Willy McGilly. Hei, wie die beiden an die Arbeit gingen! Sie zündeten ein prasselndes Feuer an und schmissen 63
allerlei Zeugs hinein: Rinde von der Hundsulme – woher willst du wissen, daß es damit nicht geht? Und es funktionierte, und wie! Schon kam die Gegenseite des Tales hundert Meter dichter heran, und man hörte die Schreckensrufe derer im Talgrund. Blätter vom Schwarzen Heuschreckenbaum – und das Tal wurde noch schmäler! Die Kinder wie die Alten im Tal schrien fürchterlich, und Mary Mabels fröhliche Stimme kreischte: »Erdbeben! Erdbeben!« »Auf daß mein Teil weit und breit sein möge, und so weiter und so weiter, und blühe und grüne an Geld und Gras!« skandierte Clarence Kleiner Sattel im besten Pawnee-Medizinmann-Stil. »Aber möge es eng werden, wenn Eindringlinge kommen, und sie zerquetschen wie Wanzen!« Leute, das Tal war jetzt nur noch höchstens hundert Fuß breit, und das Geschrei der Menschen dort unten mischte sich mit dem Husten des CampingWagens, der den Hang heraufgetuckert kam. Willy und Clarence schmissen alles, was noch herumlag, ins Feuer. Aber das Wort? Wer weiß das Wort noch? »Corsicanatexas!« heulte Clarence Kleiner Sattel und hoffte, daß seine Zuversicht die Mächte des Schicksals bluffen würde. Daraufhin blitzte gleißendes Wetterleuchten auf; außerdem donnerte es, und Regentropfen fielen. »Cha-hik-si!« fluchte Clarence Kleiner Sattel. »Es hat tatsächlich funktioniert. Hätt’ ich nicht gedacht. Jetzt stimmt’s wieder. Den Regen kann ich gut brauchen.« Das Tal war jetzt wieder ein fünf Fuß breiter Graben. Der Camping-Wagen kämpfte sich aus 64
dem Engen Tal heraus und durch das kleine Tor. Er war flachgepreßt wie ein Blatt Papier; die schreienden Kinder und die Eltern darin hatten nur eine Dimension. »Es geht zusammen! Es geht zusammen!« brüllte Robert Rampart, und er war nicht dicker, als wenn er aus einem Stück Pappe geschnitten wäre. »Wir werden zerquetscht wie die Wanzen!« brüllten die Rampart-Jungens. »Wir sind schon wie dünnes Papier!« »Mort, ruine, ecrasement!« deklamierte Cecilia Rampart, die große Tragödin. »Hilfe! Hilfe!« krächzte Nina Rampart, aber sie blinzelte Clarence und Willy zu, als sie vorüberrollten. »So eine besoffene Siedlerei – also da bin ich platt!« »Schmeißt die Papierpuppen nicht weg – vielleicht sind’s die Ramparts!« schrie Mary Mabel. Der Campingwagen hustete nochmal und schaukelte dann auf ebenem Grund dahin. Das konnte ja nicht ewig so weitergehen! Im Vorwärtsrollen weitete sich der Wagen langsam wieder aus. »Haben wir das nicht etwas übertrieben, Clarence?« fragte Willy McGilly. »Wie sagte doch der eine Flachländer zum anderen?« »Mein Speisezimmer ist so niedrig, daß ich nur Flundern essen kann«, sagte Clarence. »Nein, ich glaube nicht, Willy. Dieser Wagen muß schon mindestens achtzehn Zoll breit sein, und bis sie auf der Hauptstraße sind, müßten sie eigentlich alle wieder ihre normale Breite haben. Das nächste Mal, wenn ich das mache, werfe ich Holzmehl-Plastik ins Feuer – ich will doch mal sehen, wer hier wen veräppelt!« 65
Rechtswesen, Sitten und Gebräuche der Camiroi BERICHT AN DEN RAT FÜR REGIERUNGSUND JUSTIZREFORM, VORGELEGT VON DER STUDIENGRUPPE ZUR ERFORSCHUNG AUSSERIRDISCHER SITTEN UND GEBRÄUCHE. Exzerpt aus dem Tagebuch des Polit-Analytikers Paul Piggott: Verabredungen mit den Camiroi zu treffen, gleicht dem sprichwörtlichen Bemühen, ein Haus aus Quecksilber zu bauen. Diese Erfahrung machten wir sehr bald. Trotzdem besitzen die Camiroi die fortschrittlichste Kultur der vier Menschenwelten. Und wir hatten eine ausdrückliche Einladung zum Besuch des Planeten Camiroi in Händen, welche die Erlaubnis einschloß, uns über dortige Sitten und Gebräuche eingehend zu informieren. Außerdem war uns fest zugesagt worden, daß uns eine dortige Parallelgruppe gleich bei unserer Ankunft in Empfang nehmen und betreuen würde. »Wo ist die Gruppe zur Erforschung von Rechtswesen, Sitten und Gebräuchen?« fragten wir das Fräulein, das im Raumhafen als Informations-Faktor Dienst tat. »Fragen Sie den Pfahl da drüben«, sagte sie. Sie war eine junge Dame von mutwilligem, fast verwegenem Gesichtsausdruck. »Ich hoffe, wir sind noch nicht so tief gesunken, daß wir uns mit Pfählen unterhalten müssen«, sagte unser Führer, Charles Chosky, »aber ich sehe schon – das ist so eine Art Kommunikationsgerät. Spricht der Pfahl Englisch, junge Dame?« 66
»Der Pfahl beherrscht die fünfzig Sprachen, die alle Camiroi beherrschen«, sagte die junge Dame. »Auf dem Camiroi sprechen sogar die Hunde fünfzig Sprachen. Reden Sie mit ihm!« »Ich werde es versuchen«, sagte Mr. Chosky. »Äh – Pfahl, wir sollen hier von einer Parallelgruppe betreut werden. Wo können wir die Gruppe zur Untersuchung von Rechtswesen, Sitten und Gebräuchen finden?« »Dienst! Dienst!« rief der Pfahl mit einer Mädchenstimme, die uns irgendwie bekannt vorkam. »Drei Mann für eine Gruppe! Los, kommt, konstituiert euch!« »Ich bin einer«, sagte ein freundlich aussehender Camiroi und schritt herzu. »Ich auch«, sagte ein langaufgeschossener Teenager-Knabe derselben Spezies. »Noch einer, noch einer!« rief der Pfahl. »Oh, da kommt ja meine Ablösung. Ich bin die dritte, dann ist die Gruppe komplett. Los, los, fangen wir an! Was wollt ihr zuerst wissen, gute Leute?« »Wie kann ein Pfahl Mitglied einer mobilen Gruppe sein?« fragte Charles Chosky. »Ach, seien Sie doch nicht so komisch«, sagte das Mädchen, das Informations-Faktor und zugleich die Stimme des Pfahls gewesen war. Sie war inzwischen von hinten herzugetreten und hatte sich zu uns gesellt. »Sideki und Nautes, wir bilden eine Gruppe zum Vergackeiern von Erdlingen«, sagte sie. »Bestimmt habt ihr den ziemlich komischen Namen gehört, den sie sich dafür ausgedacht haben?« »Sind Sie als Gruppe dazu qualifiziert, uns die Informationen zu geben, die wir suchen?« fragte ich. »Jeder Bürger des Camiroi ist theoretisch dazu 67
befähigt, zutreffende Informationen auf allen Gebieten zu erteilen«, sagte der langaufgeschossene Teenager-Knabe. »Aber in der Praxis muß das nicht unbedingt der Fall sein?« Meinem juristisch geschulten Geist war seine Formulierung aufgefallen. »Die einzige Schwierigkeit liegt in unseren mehr als liberalen Einbürgerungsbestimmungen«, sagte Miss Diayggeia, welche die Stimme des Pfahls und der Informations-Faktor gewesen war. »Jede beliebige Person kann Bürger des Camiroi werden, wenn er oder sie eine Uhdel lang hier ansässig gewesen ist. Früher war es so, daß nur Persönlichkeiten von Format Raumfahrten unternahmen, und solche waren von vornherein qualifiziert. Heute kommen jedoch vorwiegend untergeordnete Persönlichkeiten ohne besondere Qualitäten zu uns. Sie entsprechen keineswegs immer unserem hohen Intelligenz- und Wissensstandard.« »Danke«, sagte unsere Miss Holm, »und wie lang ist eine Uhdel?« »Ungefähr fünfzehn Minuten«, sagte Miss Dia. »Der Pfahl wird Sie jetzt registrieren, wenn Sie es wünschen.« Der Pfahl registrierte uns, und damit waren wir Bürger des Camiroi. »Also los, Mitbürger, was können wir für euch tun?« fragte Sideki, der nett aussehende Camiroi, das erste Mitglied unserer Betreuungsgruppe. »Die Berichte, die uns über die Gesetze auf dem Camiroi vorliegen, scheinen eine Mischung aus Seemannsgarn und Blödsinn zu sein«, sagte ich. »Wir möchten wissen, wie auf dem Camiroi ein Gesetz entsteht und wie es funktioniert.« 68
»Also, Bürger, dann macht eins und seht selber, wie es funktioniert!« sagte Sideki. »Ihr seid jetzt Bürger wie jeder andere, und jeweils drei können sich zusammentun und ein Gesetz machen. Gehen wir also ins Archiv und lassen es eintragen. Und überlegt euch unterwegs, was für ein Gesetz das werden soll.« Wir schritten durch eine gepflegte und schöne Parklandschaft, deren bewachsene Hügel die Dächer von Camiroi City bildeten. Es gab dort zahlreiche Springbrunnen und Wasserfälle, und Bäche mit bizarren Brücken darüber. Manche waren besser als andere, manche sogar besser als alles, was wir irgendwo und irgendwann gesehen hatten. »Aber ich glaube, ich könnte selbst einen Teich und ein Wehr entwerfen, die ebenso gut sind wie diese hier«, sagte unser Führer, Charles Chosky. »Und ich würde ein paar von diesen Büschen hier nehmen, die wie irdischer Sumach aussehen, statt dieses Gestrüpps da, und die Felsengruppe würde ich auseinanderbrechen und dem geschichteten Massiv dahinter eine etwas schrägere Neigung geben, und ein bißchen von diesem blauen Moos würde ich …« »Sie haben Ihre Pflichten sehr schnell erkannt, Bürger«, sagte Sideki. »Sie sollten das alles sofort, noch bevor dieser Tag zu Ende ist, erledigen. Machen Sie alles so, wie es Ihnen am besten gefällt, und nehmen Sie die Plakette da ab. Nachher können Sie den Text für Ihre eigene Plakette einem der symbouleutischen Pfähle diktieren, und sie wird geprägt und eingesetzt werden. Auf den meisten Plaketten steht: ›Mein Entwurf ist besser als deiner‹, und manchmal fügt ein Landschafts-Designer noch 69
etwas Humoristisches hinzu, wie etwa ›und mein Hund kann deinen verhauen‹. Sie können alles nötige Material gleich hier bei demselben Pfahl anfordern, und die meisten Bürger tun die Arbeit am liebsten eigenhändig. Dieses System bewirkt ständige, allmähliche Verbesserungen. Es gibt mehrere allgemein anerkannte Meisterwerke, die Jahr für Jahr weiterbestehen; aber die gewöhnlichen Arbeiten sind fortwährenden Veränderungen unterworfen. Hier zum Beispiel steht ein Baum, der heute früh noch nicht da war und heute abend hoffentlich auch nicht mehr da sein wird. Ich bin überzeugt, daß jemand von euch einen besseren Baum entwerfen kann.« »Das kann ich«, sagte Miss Holly, »und ich werde es heute noch tun.« Wir schritten aus dem Dächer-Park in die Unterstadt von Camiroi-City hinab und gingen zum Archiv. »Haben Sie sich inzwischen ein neues Gesetz ausgedacht?« fragte Miss Dia, als wir vor dem Archiv standen. »Wir erwarten von so neuen Bürgern nicht unbedingt etwas Brillantes, aber wir müssen Sie doch bitten, daß es nicht allzu blöd wird.« Unser Führer, Charles Chosky, richtete sich zu voller Größe auf und sagte: »Wir verkünden ein Gesetz, wonach auf dem Planeten Camiroi eine permanente Gruppe konstituiert wird, die alle zufällig und übereilt gebildeten ad-hoc-Gruppen erfaßt, beaufsichtigt und Regeln für dieselben ausarbeitet, um besagte Gruppen verantwortlicher zu machen, und die einmal im Jahr einen ausführlichen kritischen Rechenschaftsbericht über diese Gruppen erstellt.« 70
»Hast du?« fragte Miss Dia einen Apparat im Archiv. »Ich hab’s«, antwortete der Apparat. Seine Eingeweide mahlten, und er spuckte das neue Gesetz aus. Es war in Bronze graviert und wurde in einer Gesetzesnische aufgestellt. »Das Echo ist betäubend«, sagte unsere Miss Holly und tat so, als ob sie horche. »Ja. Was ist denn nun der Effekt unserer gesetzgeberischen Tätigkeit?« fragte ich. »Oh, das Gesetz ist nunmehr rechtskräftig«, sagte der junge Nautes. »Es ist gewogen und in den Corpus juris aufgenommen. Es wird bereits in den Vorschriften berücksichtigt, die der Richter, der in Kürze seine Sitzung eröffnet (normalerweise macht jeder Bürger eine Stunde pro Monat Dienst als Richter), vor Beginn der Verhandlung durchsehen muß. Möglicherweise wird er in dieser Sitzung jemanden, der eines leichten Vergehens für schuldig befunden wurde, dazu verurteilen, zehn Minuten über das Problem nachzudenken und Ausführungsbestimmungen dazu zu erlassen.« »Aber was geschieht, wenn eine Bürgergruppe ein ausgesprochen blödes Gesetz verkündet?« »Das kommt oft vor. Eine hat es soeben getan. Doch ein solches wird schnell genug außer Kraft gesetzt werden«, sagte Miss Dia, die Camiroitin. »Jeder Bürger, der für drei Gesetze mitverantwortlich gezeichnet hat, die nach allgemeiner Ansicht ausgesprochen blöd sind, verliert sein Bürgerrecht für ein Jahr. Ein Bürger, der sein Bürgerrecht zweimal verliert, wird mit Verstümmelung bestraft, und beim drittenmal wird er getötet. Das ist keine allzu harte Regelung. Bis es soweit ist, war er an 71
neun blöden Gesetzen beteiligt. Das reicht doch wirklich.« »Aber in der Zwischenzeit bleiben die dummen Gesetze in Kraft?« »Das ist unwahrscheinlich«, sagte Sideki. »Ein Gesetz wird auf folgende Weise außer Kraft gesetzt: Jeder beliebige Bürger kann ins Archiv gehen und jedes beliebige Gesetz aufheben lassen, wobei er die Erklärung abgeben muß, daß er das Gesetz aus persönlichen Gründen abgeschafft hat. Er muß dann das ungültig gewordene Gesetz drei Tage lang in seiner Wohnung aufbewahren. Manchmal kommt dann der Bürger, oder kommen die Bürger, von dem oder von denen das Gesetz stammt, in das Haus des Betreffenden, der es außer Kraft gesetzt hat. Es kommt vor, daß sie ein Duell mit Ritualschwertern auf Leben und Tod austragen; aber in den meisten Fällen werden sie verhandeln. Entweder einigen sie sich auf die Aufhebung des Gesetzes, oder auf seine Wiederinkraftsetzung. Oder sie arbeiten miteinander ein neues Gesetz aus, das die gegen das alte erhobenen Einwände berücksichtigt.« »Dann ist also jedes Gesetz auf dem Camiroi von jeder zufälligen oder mutwilligen Opposition abhängig?« »Nicht ganz«, sagte Miss Dia. »Ein Gesetz, das neun Jahre lang unangegriffen und unaufgehoben bleibt, gilt als privilegiert. Ein Bürger, der ein solches Gesetz aufzuheben wünscht, muß nicht nur seine Erklärung hinterlegen, sondern auch drei Finger seiner rechten Hand, als Beweis dafür, daß es ihm mit der Sache ernst ist. Aber ein Richter oder Bürger, der das Gesetz wieder in Kraft setzen will, 72
hat nur einen seiner Finger bei der Verhandlung einzusetzen.« »Darin scheint mir aber eine Begünstigung des Establishments zu liegen«, sagte ich. »Wir haben keins«, sagte Sideki. »Ich weiß, das ist für Erdlinge schwer zu begreifen.« »Aber gibt es denn keinen Senat oder sonst eine gesetzgebende Körperschaft auf dem Camiroi – nicht einmal einen Präsidenten?« »Doch, es gibt einen Präsidenten«, sagte Miss Dia, »und er ist tatsächlich ein Diktator oder Tyrann. Er wird durch das Los für eine Amtszeit von einer Woche gewählt. Jeder von euch könnte theoretisch für die morgen beginnende Amtsperiode gewählt werden; doch das ist unwahrscheinlich. Wir haben keinen permanenten Senat, aber häufig werden Eil-Senate konstituiert, und diese haben erhebliche Vollmachten.« »Solche Körperschaften mit absoluter Vollmacht wollen wir grade studieren«, sagte ich. »Wann wird die nächste konstituiert, und wie wird sie tätig sein?« »Na, dann konstituieren Sie doch selbst eine und sehen Sie zu, wie Sie es machen«, sagte der junge Nautes. »Sie sagen einfach: ›Wir konstituieren uns hiermit als Eil-Senat des Camiroi mit absoluter Vollmacht. Registrieren Sie sich beim nächsten symbouleutischen Pfahl und studieren Sie Ihren Senat introspektiv.« »Könnten wir den Präsidenten-Diktator rausschmeißen?« fragte Miss Holly. »Sicher«, sagte Sideki, »aber dann würde sofort ein neuer Präsident durch das Los erwählt werden, und Ihr Senat könnte nicht über die neue Amtspe73
riode hinaus bestehen, noch könnte einer von Ihnen dreien einem neuen Senat angehören, ehe eine volle Präsidenten-Amtsperiode vorüber ist. Aber ich an Ihrer Stelle würde keinen Senat bilden, um den amtierenden Präsidenten zu stürzen. Er kann ausgezeichnet mit dem Ritualschwert umgehen.« »Die Bürger kämpfen also tatsächlich noch damit?« fragte Mr. Chosky. »Ja, jeder private Bürger kann jederzeit jeden anderen privaten Bürger herausfordern, aus jedem beliebigen Grund, oder auch ohne Grund. Manchmal, aber nicht oft, kämpfen sie auf Leben und Tod, und darin darf sich niemand einmischen. Wir nennen diese Entscheidungen den Gerichtshof zur letzten Instanz.« Die Vernunft muß uns sagen, daß das legale System auf dem Camiroi nicht so einfach sein kann, und doch scheint das so zu sein. Ausgehend von dem Grundsatz, daß jeder Bürger des Camiroi befähigt ist, jedes Amt oder Geschäft auf dem Planeten zu versehen, haben diese Leute jederlei Organisation auf ein Minimum reduziert. In dieser Hinsicht kann man das System des Camiroi als fließend oder liberal bezeichnen. Von jetzt an werde ich, wann immer ich in Versuchung gerate, irdische Gesetze oder Sitten als liberal zu bezeichnen, erst einmal eine Pause machen – und dann werde ich jedesmal die Camiroi lachen hören. Auf der anderen Seite gibt es Elemente in den Gesetzen des Camiroi, die ich als unverbrüchlich oder konservativ bezeichne; und zwar die folgenden: Keine Menschenansammlung zum Zwecke der Unterhaltung oder des Vergnügens darf mehr als neununddreißig Personen umfassen. Keine größere 74
Personenzahl darf sich eine Vorstellung oder ein Drama anschauen, eine Musikveranstaltung anhören oder einem sportlichen Wettkampf beiwohnen. Diese Bestimmung soll verhindern, daß ein Camiroi lediglich Zuschauer und nicht gleichzeitig Teilnehmer oder Organisator ist. Gleichermaßen darf kein Schriftstück – außer gewissen sehr seltenen offiziellen Verlautbarungen – in mehr als neununddreißig Exemplaren pro Monat erscheinen. Das ist unserer Ansicht nach ein konservatives Gesetz, welches verhindern soll, daß die Massen in Begeisterung geraten. Ein Familienvater, der sich innerhalb von fünf Jahren öfter als zweimal an einen Spezialisten wendet, um bei sich selbst oder bei einem Angehörigen seines Haushalts solche Dinge wie kleinere chirurgische Eingriffe vornehmen zu lassen, oder juristischen oder medizinischen Rat einzuholen – kurz: Verrichtungen, zu denen er selbst imstande sein müßte – verliert seine Bürgerschaft. Es scheint uns, daß diese Regelung die Camiroi im vollen Genuß der Früchte der Forschung und des Fortschritts beeinträchtigt. Sie selbst sagen jedoch, daß sie jeden Bürger dazu zwingt, sich auf allen Gebieten experte Kenntnisse anzueignen. Jeder Bürger, der eine Loswahl zum Leiter einer militärischen Operation, eines wissenschaftlichen Projekts oder einer geschäftlichen Unternehmung nicht annimmt, weil er sich für unfähig hält, verliert sein Bürgerrecht und wird verstümmelt. Dagegen wird ein Bürger, der eine solche Aufgabe übernimmt, sie aber nicht erfolgreich durchführt, erst beim zweiten derartigen Mißerfolg mit Verstümmelung und Verlust des Bürgerrechts bestraft. 75
In beiden Fällen liegt unseres Erachtens eine ebenso grausame wie ungewöhnliche Bestrafung vor. Jeder Bürger, der durch das Los dazu erwählt wird, etwas Grundlegendes zu erfinden oder anderweitig im Interesse der Allgemeinheit eine gewisse Findigkeit zu entwickeln und diese Leistung nicht erbringt, wird in eine Situation versetzt, in der er sein Leben verliert, wenn er nicht noch etwas mehr Findigkeit aufbringt, als ursprünglich von ihm gefordert wurde. Das kommt uns unaussprechlich grausam vor. Auf Mangel an Frömmigkeit steht die unbedingte Todesstrafe. Aber auf die Frage, was denn Mangel an Frömmigkeit sei, erhielten wir eine überraschende Antwort: »Wenn Sie erst fragen müssen, was das ist, dann sind Sie bereits schuldig. Frömmigkeit ist das Erfassen der Grundnormen. Der Mangel an Erkenntnis der speziellen camiroitischen Zusammenhänge ist die allergrößte Gottlosigkeit. Also seid auf der Hut, Neubürger! Wenn jemand, der pflichtbewußter als ich, aber nicht so tolerant ist, eure Frage gehört hätte, dann könntet ihr bereits vor Einbruch der Nacht hingerichtet sein!« Die Camiroi können jedoch mit dem ernstesten Gesicht von der Welt Scherze machen. Wir glauben nicht, daß uns die Hinrichtung tatsächlich drohte; aber man hatte uns immerhin klargemacht, daß man gewisse Fragen nicht stellen darf. ERGEBNIS : Kein schlüssiges Urteil. Wir sind zur Zeit noch nicht imstande, das wahre juristische System der Camiroi zu verstehen, haben jedoch begonnen, einen Gesichtspunkt zu erarbeiten, von 76
dem aus ein fruchtbares Studium desselben möglich wäre. Wir empfehlen, das Studium dieses Sachgebiets durch ein ständig dort stationiertes Team fortsetzen zu lassen. gez. Paul Piggott Polit-Analytiker Aus dem Reisetagebuch von Charles Chosky, Chef der Studiengruppe : Die Grundlage aller camiroitischen Verwaltung und Exekutive ist, daß jeder beliebige Camiroi fähig sein muß, jede beliebige Tätigkeit auf dem Planeten bzw. denselben betreffend, zu übernehmen. Sie sind der Ansicht, daß ihr System schon versagt hätte, wenn auch nur ein Bürger dazu nicht in der Lage wäre. »Aber natürlich kommt es jeden Tag mehrere Male vor, daß etwas nicht klappt«, erklärte mir ein Bürger, »doch das System versagt niemals vollständig. Das ist wie bei einem gehenden Menschen. Der kommt auch bei jedem Schritt aus dem Gleichgewicht, aber er fängt sich immer wieder, und so kommt es, daß er vorwärtsschreitet. Unsere Verwaltung ist in ständiger Bewegung. Käme sie je zum Stillstand, so würde sie sterben.« »Haben die Camiroi eine Religion?« Diese Frage stellte ich immer wieder, einem Bürger nach dem anderen. »Ich denke doch«, sagte schließlich einer; »ich glaube, wir haben eben das, und sonst nichts. In Ihrem Erden-Englisch kommt das Wort von religionem oder relegionem, was entweder Bindung an das Gesetz oder aber Offenbarung bedeutet. Ich glaube, es ist eine Mischung dieser beiden Konzeptionen; bei mir ist es jedenfalls so. Natürlich haben wir Religion. Was sollen wir sonst haben?« 77
»Können Sie eine Parallele ziehen zwischen der Camiroi- und der Erd-Religion?« »Nein, das kann ich nicht«, sagte er schroff. »Das soll keine Unhöflichkeit sein. Ich weiß nur einfach nicht, wie ich das machen sollte.« Jedoch gab mir ein anderer intelligenter Camiroi einen Begriff davon. »Am nächsten würde ich an die Erklärung des Unterschiedes mit einer Legende herankommen«, sagte er, »einer Geschichte, die so voller Hintergedanken steckt, daß sie (wie die camiroitische Redensart lautet) auch mit der unanständigen Körperöffnung erzählt werden könnte.« »Was ist das für eine Legende?« fragte ich. »Die Legende besagt, daß auf allen Planeten die Menschen (oder um was für Geschöpfe auch immer es sich handelte) geprüft wurden. Auf einigen Planeten bestanden sie diese Prüfung in Gnaden. Aus solchen wurden die transzendenten Welten, die sich mehr als Sterne denn als Planeten verstehen und ihre Sonnen verschlucken, so daß sie im Ineinanderaufgehen ihrer Bewohner voll erstrahlen und im Zustand leuchtender Gnade leben. Die am höchsten entwickelten unter diesen sind in sich geschlossene Körper, von denen wir nur indirekte Kenntnis haben; ihre Insichgeschlossenheit ist so mächtig und dicht, daß sie weder Licht noch Gravitation noch irgendwelche anderen Strahlen aussenden. Sie werden in ihrem eigenen Raum und außerhalb dessen, was wir Raum nennen, zu totalen, in sich ruhenden Universen und befinden sich auf Grund ihrer Einheit von Mentalität und Geist im Zustand absoluter Vollkommenheit. Dann gibt es aber andere Welten, wie etwa die 78
Erde, deren Menschen der Gnade nicht teilhaftig wurden. Auf diesen Welten hat jede Person einen Abgrund in sich und ist zu großen Höhen wie zu großen Tiefen fähig. Nach unserer Legende waren die Bewohner dieser Welten dazu verdammt, nach ihrem Fall dreißigtausend Jahre lang in den Körpern von Tieren zu leben, bevor es ihnen erlaubt war, den langsamen, demütigenden Wiederaufstieg zu ihrer früheren Persönlichkeit, an den sie sich noch erinnerten, zu beginnen. Im Falle der Camiroi war es jedoch anders. Wir wissen nicht, ob es noch mehr Welten gibt, bei denen die Dinge ähnlich liegen. Jedenfalls fiel die Urbevölkerung des Camiroi bei der Prüfung nicht durch, aber sie bestand auch nicht. Die Camiroi konnten sich nicht entschließen. Sie zögerten. Sie überlegten sich die Geschichte, und dann überlegten sie nochmal. Daher sind die Camiroi für ewige Zeiten dazu verurteilt, alles was sie tun, genau zu überlegen. Daher sind wir das zweideutige Volk, das zu neugierigem und konsequentem Denken fähig ist. Und doch hungern wir nach den Höhen sowohl als auch nach den Tiefen, die wir beide verfehlt haben. Ganz bestimmt liegt unsere Goldene Mitte, unser freundliches Plateau, höher als die Höhen der meisten anderen Welten, höher als die der Erde, glaube ich. Jedoch es erhebt sich auch nicht zur allerhöchsten Höhe.« »Aber ihr glaubt doch nicht an Legenden«, sagte ich. »Eine Legende kann eine Aussage von höchstem wissenschaftlichem Wert sein, nämlich dann, wenn sie die einzige zur Verfügung stehende Aussage ist«, antwortete der Camiroi. »Wir sind das Volk, das 79
verstandesgemäß lebt. Das ist ein ganz gutes Leben, aber es fehlt ihm an Salz. Ihr schätzt die utopischen Ideale sehr hoch ein, und sie üben auch eine gewisse Wirkung aus. Dennoch müßt ihr fühlen, daß sie alle etwas Fades an sich haben. Und, gemessen am Erden-Standard, sind wir Utopia. Wir sind eine Welt des dritten Falles. Uns entgeht sehr vieles. Die Freuden der Armut bleiben uns im allgemeinen versagt. Wir haben einen gewissen Hunger danach, nicht immer so tüchtig sein zu müssen; daher sind bestimmte Erdendinge hier hochwillkommen: schlechte Erden-Musik, schlechte Erden-Malerei, -Skulptur und -Theater zum Beispiel. Gutes können wir selber produzieren. Zum Schlechten sind wir unfähig, das müssen wir importieren. Manche von uns glauben aber, es gehöre notwendigerweise zur Diät.« »Wenn das so ist, dann kommt mir eure Situation höchst beneidenswert vor«, sagte ich. »Eure ist es nicht«, sagte er, »und doch seid ihr die vollständigeren Wesen. Ihr besitzt beide Hälften, und ihr habt eure Maßstäbe. Wir wissen natürlich, daß der Geber nirgendwo und niemals ein Leben geschenkt hat, ohne daß eine wirkliche Notwendigkeit dafür bestand, und daß alles Geborene oder Erschaffene seine ureigene Rolle zu spielen hat. Aber wir hätten uns gewünscht, daß der Geber in dieser Hinsicht uns gegenüber etwas großzügiger gewesen wäre; und speziell beneiden wir die Erde. Noch etwas anderes macht unser Leben so schwierig: wir vollbringen unsere großen Leistungen in fernen Welten, und in verhältnismäßig jugendlichem Alter. Wir sind mit fünfundzwanzig mehr oder weniger im Ruhestand, und wir alle ha80
ben dann Karrieren hinter uns, die euch unglaublich vorkommen würden. Dann kommen wir nach Hause, um in unserer ausgereiften Welt ein reifes Leben zu führen. Es ist natürlich vollkommen, aber es ist eine kleinkarierte Vollkommenheit. Wir haben alles, außer dem Einen, worauf es ankommt, und wofür wir nicht einmal einen Namen finden können.« Ich sprach während unseres kurzen Aufenthaltes mit einer ganzen Anzahl intelligenter Camiroi. Es war manchmal schwer zu unterscheiden, ob sie im Ernst sprachen, oder ob sie ihren Scherz mit mir trieben. Bis jetzt verstehen wir die Camiroi überhaupt noch nicht. Weitere Studien sind dringend zu empfehlen. gez. Charles Chosky Leiter der Studiengruppe Aus den Notizen von Miss Holly Holm, Anthropologin und Schedonahthropologin: Das Wort Camiroi ist eine Pluralform, die sowohl den Planeten selbst, als auch, ein- und mehrzahlig, die Bewohner desselben bezeichnet. Die Zivilisation der Camiroi ist in höherem Maße mechanistisch und naturwissenschaftlich orientierter als die irdische; man läßt das jedoch nicht so zutagetreten. Die ideale Maschine der Camiroi dürfte überhaupt keine beweglichen Teile haben, müßte geräuschlos sein und dürfte überhaupt nicht wie eine Maschine aussehen. Aus diesem Grunde haben auch die dichtestbevölkerten Bezirke von CamiroiCity etwas Ländliches. Die Camiroi haben großes Glück, was die natürlichen Gegebenheiten ihres Planeten anlangt. Die Landschaft des Camiroi paßt sich dem Diktum an, 81
daß alle Wiederholung langweilig ist, denn jedes Ding auf ihrer Welt ist nur einmal vorhanden. Es gibt einen größeren und einen kleineren Erdteil, beide von völlig verschiedenem Charakter; einen Archipel, dessen einzelne Inseln sich sehr stark voneinander unterscheiden; einen großen, den Kontinent durchziehenden Fluß, dessen sieben Nebenflüsse aus sieben verschieden gearteten Landschaften kommen; einen vulkanischen Komplex; einen gigantischen Wasserfall mit drei sehr unterschiedlichen Tochterfällen in unmittelbarer Nähe; einen Golf; einen Meeresstrand, der halbmondförmig und fünfhundertsechzig Kilometer lang ist und sieben verschiedene Phasen durchläuft, die nach den Farben des Regenbogens benannt sind; einen großen Urwald, einen Palmenwald, einen Laubwald, einen Nadelwald und einen Farnenwald; ein Getreideanbaugebiet, ein Obstgebiet, eine Steppe, einen parkartigen Landstrich, eine Wüste mit einer großen Oase; und Camiroi-City ist die einzige größere Stadt. Alle diese Landschaften sind auf ihre Weise unübertrefflich. Die Geographie des Camiroi enthält nur Ungewöhnliches. Da man sehr schnell reist, kann ein relativ unbemitteltes junges Paar von irgendeinem Ort des Planeten zum Beispiel nach Grün-Strand fahren und dort zu Abend essen, und sie werden für die Fahrt weniger Zeit brauchen, als sie zum Essen benötigen, und diese wird sie weniger kosten als ein nicht allzu üppiges Mahl. Durch dieses leichte und häufige Reisen wird der ganze Planet zu einer Gemeinschaft. Die Camiroi empfinden sich sehr stark als eine Frontwelt. Sie beherrschen viele primitive Welten, 82
und nach den Andeutungen, die ich hier und da gehört habe, sind sie manchmal ziemlich harte Herrscher. Die Tyrannen und Prokonsuln dieser Welten sind gewöhnlich jung, unter zwanzig. Die jungen Leute sollen ihre Fehler und Karrieren machen, solange sie im Außendienst sind. Wenn sie dann auf den Camiroi zurückkehren, werden sie als gestandene Leute betrachtet, die ihre Intelligenz unter Beweis gestellt haben. Die Besoldungsverhältnisse der Camiroi sind seltsam. Eine langweilige, mechanische Arbeit wird höher bezahlt als eine interessante, die geistige Anstrengung erfordert. Daher kommt es, daß die weniger fähigen und intelligenten Camiroi oftmals reicher sind als die fähigeren. »Das ist nur gerecht«, sagen die Camiroi; »wer keine Lust hat, sich das höhere Gehalt zu verdienen, muß eben mit dem geringeren vorliebnehmen.« Sie empfinden das Lohnsystem der Erde als höchst ungerecht, weil dort jemand, der die bessere Arbeit hat, obendrein auch noch den besseren Lohn bekommt, während der andere sich in beiderlei Hinsicht schlechter steht. Obgleich öffentliche Ämter und sonstige Stellen gewöhnlich ausgelost werden, kann man sich auch individuell bewerben, wenn man seine Gründe dazu hat. In besonderen Fällen kann sogar ein Wettbewerb ausgeschrieben werden, etwa um eine Stelle als Direktor einer Handelsmission, wobei jemand, der (aus privaten Gründen) den Wunsch dazu hat, in kurzer Zeit große Reichtümer erwerben kann. Wir wohnten einige Male einer solchen Konfrontation von Kandidaten bei, und das war recht merkwürdig. »Mein Gegner ist Drei und Sieben«, sagte der eine Kandidat und setzte sich wieder hin. 83
»Mein Gegner ist Fünf und Neun«, sagte der andere Kandidat. Die wenigen Zuschauer klatschten – und das war die ganze Konfrontation oder Debatte. Wir wohnten einem anderen derartigen Wettbewerb bei. »Mein Gegner ist Acht und Zehn«, sagte der erste Kandidat munter. »Mein Gegner ist Zwei und Sechs«, sagte der andere; und damit verließen beide den Raum. Wir verstanden das Ganze nicht, und so wohnten wir einer dritten Konkurrenz bei. Diese schien eine gelinde Woge der Erregung hervorzurufen. »Mein Gegner ist eine alte Nummer vier«, sagte ein Kandidat mit bewegter Stimme, und wir merkten, wie die kleine Zuhörerschaft den Atem anhielt. »Ich werde auf diese Beschuldigung nicht antworten«, sagte zitternd vor Wut der andere Kandidat. »Der Schlag ist zu unfair, und noch dazu, wo wir Freunde waren.« Endlich fanden wir den Schlüssel. Die Camiroi sind Experten der Verleumdung, aber sie haben der Zeitersparnis wegen ein stenografisches System entwickelt. Es gibt einen Dekalog der üblen Nachreden, und auf diesen beziehen sich die Nummern. Die allgemein anerkannte Version lautet folgendermaßen: Mein Gegner ist (1) schwachsinnig, (2) sexuell untüchtig, (3) schafft nie den dritten Punkt beim Chuki-Spiel, (4) ißt Mu-Samen vor der Sommer-Tag-und-Nachtgleiche, (5) ist von kläglicher Gestalt (6) ist mit Mühe und Not dem Hängen entgangen), (7) versteht nichts von Finanzen, (8) hat sonderbare ethische Grundsätze, (9) besitzt einen lausigen Intellekt, (10) ist moralisch unzuverlässig. Probieren Sie es selbst einmal aus bei Ihren Freunden oder Feinden! Es funktioniert großartig. 84
Wir empfehlen diese Liste zur Anwendung auf die Politiker der Erde, vielleicht mit Ausnahme der Nummern (3) und (4), die für die Erde keine Bedeutung zu haben scheinen. Die Camiroi besitzen einen Thesaurus von Sprichwörtern und Redensarten. Wir stießen im Archiv darauf; zu dieser Sammlung gehört eine Maschine mit einhundert Tasten. Wir drückten auf die mit ERD-ENGLISCH beschriftete Taste und erhielten einige Muster dieser Sprichwörter in einer für die Erde gültigen Fassung: »Durch Ziegenzucht wird keiner reich«, brachte die Maschine heraus. Ja, das konnte fast als ein Erdensprichwort gelten. Es scheint beinahe etwas zu bedeuten. »Selbst Bussarde verschlucken sich manchmal«. Das klingt auch irgendwie irdisch. »Das ist schlimmer als mäusemelken.« – »Ich glaube, das verstehe ich nicht«, sagte ich. »Wenn Sie glauben, es ist leicht, unsere Sprichwörter in einen irdischen Kontext zu bringen, dann versuchen Sie es doch gelegentlich mal selber«, brachte die Maschine hervor. »Die Redensart bezieht sich auf eine unangenehme, aber notwendige Arbeit.« »Na schön, probieren wir noch ein paar«, sagte Paul Piggott. »Das hier zum Beispiel.« »Ein Vogel in der Hand ist soviel wert wie zwei im Gebüsch«, äußerte die Maschine unvermittelt. »Aber das ist ja ganz genau ein Sprichwort von der Erde«, sagte ich. »Warten Sie, bis ich fertig bin, liebe Dame«, brummte die Übersetzungsmaschine. »Zur klassischen Form dieses Sprichworts gehört stets eine Karikatur, die einen wegflatternden Vogel und ei85
nen Mann darstellt, der sich mit ärgerlicher Miene die Hand an einem grade verfügbaren Material abwischt und dabei sagt: ›Ein Vogel in der Hand ist nicht soviel wert wie zwei im Gebüsch.‹« »Werden wir hier von einer Maschine auf den Arm genommen?« fragte unser Leiter, Charles Chosky, mit leiser Stimme. »Bitte dieses hier«, wies ich die Maschine an. »Wenn du fortgehst, wird hier manches Auge trocken bleiben«, kam es aus der Maschine. Wir gingen fort. »Ich bin möglicherweise in ernsten Schwierigkeiten«, sagte ich zu einer Camiroitin, die ich gut kannte. »Na, wollen Sie mich nicht fragen, um was es geht?« »Nein, es interessiert mich nicht besonders«, sagte sie, »aber erzählen Sie es ruhig, wenn Sie den absoluten Drang dazu fühlen.« »Also so etwas habe ich noch nie gehört«, sagte ich, »ich bin zum Führer einer militärischen Operation bestimmt worden, die eine eingekesselte Truppe befreien soll, und das auf einem Weltkörper, von dem ich noch nie gehört habe. Ich soll die Ersatztruppe aufstellen und ausrüsten (aus meinem Privatvermögen, heißt es hier) und sie binnen acht Uhdeln abflugbereit haben – das sind ja nur zwei Stunden. Was soll ich bloß machen?« »Tun Sie es, Miss Holly, was denn sonst?« sagte die Dame. »Sie sind jetzt Bürgerin des Camiroi, und Sie sollten stolz darauf sein, eine solche Operation leiten zu dürfen!« »Aber ich habe doch keine Ahnung, wie ich das machen soll! Was passiert, wenn ich einfach hingehe und denen das sage?« »Oh, dann verlieren Sie Ihre Bürgerrechte und 86
erleiden eine Verstümmelung. Das ist Gesetz, wissen Sie.« »Wie werden sie mich verstümmeln?« »Wahrscheinlich schneiden sie Ihnen die Nase ab. Ich würde mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen. Mit Ihrer Nase ist sowieso nicht viel los.« »Aber wir müssen doch zur Erde zurück! Wir wollten morgen fliegen, aber wir fliegen heute schon. Ich auf alle Fälle.« »Erden-Mädchen, wenn ich Sie wäre, dann ginge ich ganz furchtbar schnell zum Hafen.« Zufällig (ich hoffe, es war nicht mehr als nur Zufall) war unser Polit-Analytiker, Paul Piggott, durch das Los dazu erwählt worden, eine Kontrolle (und zwar persönlich, eingehend und von innen) des Abwässer-Systems von Camiroi-City vorzunehmen. Und unser Leiter, Charles Chosky, war durch das Los dazu ausersehen, eine Revolte der Grolle-Trolle auf irgendeinem Planeten niederzuschlagen und sollte seine rechte Hand und sein rechtes Auge als Sicherheit für die korrekte Durchführung der Mission hinterlegen. Wir waren ziemlich nervös, als wir im RaumHafen auf einen Flug nach der Erde warteten, besonders als sich uns eine Gruppe unserer CamiroiBekannten näherte. Sie sagten uns Auf Wiedersehen, doch ohne allzu großen Enthusiasmus. »Unser Besuch hier war viel zu kurz«, sagte ich hoffnungsvoll. »Oh, das würde ich nicht sagen«, erwiderte einer; »wir haben da ein Camiroi-Sprichwort …« »Wir kennen es schon«, sagte unser Leiter, Charles Chosky. »Auch wir verlassen euch trockenen Auges.« 87
ABSCHLIESSENDE EMPFEHLUNG: Daß eine andere Studiengruppe mit einer größeren Teilnehmerzahl entsandt werden möge, um detailliertere Forschungen über die Camiroi anzustellen. Ein Spezialstudium des camiroitischen Humors könnte sich als besonders fruchtbar erweisen. Kein Mitglied der ersten Gruppe sollte der zweiten Gruppe angehören. gez. Holly Holm
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In unserer Straße In dieser Straße wohnten tatsächlich eine Menge komische Leute. »Bist du mal die Straße langgegangen?« fragte Art Slick seinen Freund Jim Broomer, den er eben getroffen hatte. »Mal als Junge, seitdem nicht mehr. Als damals die Overallfabrik abgebrannt war, hatte ein Glaubensheiler sein Zelt da aufgebaut. Die Straße ist ja bloß einen Häuserblock lang und endet blind am Eisenbahndamm. Lauter Holzbuden und Grundstücke voller Unkraut. Die Buden sehen heute allerdings anders aus; es scheinen auch mehr dazusein. Ich dachte, sie wären vor ein paar Monaten alle abgerissen worden.« »Jim, ich habe jetzt zwei Stunden lang die erste kleine Bude beobachtet. Heute früh ist da ein Lastzug mit einem Zwölf-Meter-Anhänger vorgefahren, und der wurde aus dieser kleinen Bude vollgeladen. Lauter Kartons von zwanzig mal zwanzig Zentimeter kamen die Rampe ’runter. So wie die Männer damit umgingen, sah es aus, als ob jeder Karton ungefähr fünfunddreißig Pfund wog. Jim, die haben den ganzen Lastzug vollgepackt, und dann fuhr er los.« »Na und – was stimmt denn da nicht, Art?« »Jim, ich sage dir doch, sie haben den Lastzug ganz vollgepackt. So wie der anfuhr, muß es eine Ladung von ungefähr dreißig Tonnen gewesen sein. Zwei Stunden lang haben sie alle dreieinhalb Sekunden einen Karton aufgeladen; das sind zweitausend Kartons.« 89
»Na ja, viele Lastfahrer überschreiten heutzutage das Höchstgewicht. Die Polizei ist da nicht so doll hinterher.« »Jim, diese Bude ist doch bloß ’ne Bonbonschachtel von zweieinhalb mal zweieinhalb Meter, ’ne Tür drin, und ’n Mann aufm Stuhl hinter ’nem kleinen Tisch – damit ist die Bude schon halb voll. Auf dieser Seite kann man kaum noch was unterbringen. Und auf der anderen Seite muß das gestanden haben, was da über die Laderampe rausgekommen ist. Sechs solche kleinen Buden könntest du auf einen Lastzug packen!« »Wollen mal nachmessen«, sagte Jim Broomer. »Vielleicht ist die Bude größer, als sie aussieht.« An der Bude war ein Schild: Wir produzieren verkaufen transportieren ALLES. Sonderpreise. Jim Broomer maß die Bude mit einem alten StahlBandmaß nach. Es war ein Würfel von zwei Meter zehn Seitenlänge; da gab es nichts zu verstecken. Das Ganze stand auf ein paar Pfosten aus bröckligen Ziegelsteinen, und man konnte unten durchsehen. »Ich verkaufe Ihnen ein neues Fünfzehn-MeterStahlbandmaß für einen Dollar«, sagte der Mann auf seinem Stuhl in der kleinen Bude. »Schmeißen Sie das alte weg.« Der Mann nahm ein Bandmaß aus der Schublade seines Tisches, obwohl Art Slick genau gesehen hatte, daß es ein Tisch mit nur einer einfachen flachen Platte war, ohne Raum für eine Schublade. »Vollständig aufrollbar, rhodiumplattiert, DordGleiter, Ramsey-Feder, mit eingearbeitetem Etui. Ein Dollar«, sagte der Mann. Jim Broomer bezahlte einen Dollar. »Wieviel haben Sie davon?« 90
»Ich kann hunderttausend Stück in zehn Minuten verladebereit haben«, sagte der Mann. »Achtundachtzig Cents das Stück bei Abnahme in Posten zu hunderttausend.« »War das eine Lieferung solcher Bandmaße, was Sie vorhin auf den Lastzug verladen haben?« fragte Art den Mann. »Nein, das muß was anderes gewesen sein. Das hier ist das erste Stahl-Bandmaß, das ich je gemacht habe. Die Idee kam mir grade, als ich sah, wie Sie meine Bude mit dem alten kaputten Dings ausgemessen haben.« Art Slick und Jim Broomer schritten weiter, zu dem alten vergammelten Häuschen nebenan. Es war noch kleiner: ein Würfel von ein Meter achtzig Seitenlänge, und auf dem Schild stand SchreibBüro. Man hörte drinnen eine Schreibmaschine rattern, aber es war sofort still, als sie die Tür öffneten. Ein dunkelhaariges hübsches Mädchen saß auf einem Stuhl hinter einem Tischchen. Sonst war nichts im Raum, auch keine Schreibmaschine. »Ich dachte, ich hätte hier drin eine Schreibmaschine gehört«, sagte Art. »Oh, das bin ich.« Das Mädchen lächelte. »Manchmal mache ich aus Spaß das Schreibmaschinengeräusch nach, wie es sich für ein Schreibbüro gehört.« »Was würden Sie denn machen, wenn tatsächlich jemand kommt und was geschrieben haben will?« »Schreiben würde ich es, natürlich! Was denken Sie denn?« »Können Sie einen Brief für mich schreiben?« »Klar kann ich, lieber Freund, fünfundzwanzig 91
Cents die Seite, saubere Arbeit, mit Durchschlag, Kuvert und Briefmarke.« »Na, das möchte ich schon mal sehen. Ich diktiere Ihnen in die Maschine.« »Erst diktieren Sie. Dann schreibe ich. Hat doch keinen Sinn, zwei verschiedene Arbeiten auf einmal zu machen. Das gibt nur Durcheinander.« Art diktierte einen langen komplizierten Brief, den er schon seit ein paar Tagen schreiben wollte. Er kam sich ziemlich dämlich vor, als er den Text vor dem Mädchen herunterleierte und sie sich dabei die Fingernägel feilte. »Warum müssen sich Stenotypistinnen in Schreibbüros immer die Nägel feilen?« fragte sie in Arts Gedröhne hinein. »Aber ich versuche, alles richtig zu machen – feil sie ab, laß sie wieder wachsen, feil sie wieder kurz. Eigentlich blöd.« »Äh – das ist alles«, sagte Art, als er mit Diktieren fertig war. »Nicht: PS: Viele Küsse?« fragte das Mädchen. »Kaum. Das ist ein Geschäftsbrief an jemand, den ich nur flüchtig kenne.« »Ich sage immer ›PS: Viele Küsse‹ zu Leuten, die ich nur flüchtig kenne«, sagte das Mädchen. »Ihr Brief wird drei Seiten lang, fünfundsiebzig Cents. Bitte gehen Sie beide raus und bleiben Sie ungefähr zehn Sekunden draußen, dann schreibe ich ihn. Kann nicht arbeiten, wenn mir jemand zusieht.« Sie schob die beiden hinaus und schloß die Tür. Stille. »Was machen Sie da drin, Mädchen?« rief Art. »Soll ich Ihnen auch noch einen Gedächtniskursus verkaufen? Haben Sie schon vergessen? Ich tippe einen Brief«, rief das Mädchen heraus. 92
»Aber ich höre ja Ihre Schreibmaschine nicht.« »Was denn, Sie wollen auch noch Naturalismus? Kostet eigentlich extra!« Ein Kichern, und dann etwa fünf Sekunden lang das Geräusch sehr schnellen Tippens. Das Mädchen öffnete die Tür und übergab Art den drei Seiten langen Brief. Er war selbstverständlich tadellos geschrieben. »Also, das ist denn doch ein bißchen komisch«, sagte Art. »Oh? Die falsche Grammatik ist von Ihnen, Sir. Wollen Sie, daß ich die verbessere?« »Nein. Was anderes. Sagen Sie mir die Wahrheit, Mädel: wie macht das der Mann von nebenan, daß er einen ganzen Lastzug voll Ware aus einer Bude verladet, die zehnmal größer sein müßte, damit diese Unmenge Zeug darin Platz hat?« »Er hält die Preise niedrig.« »Also, was seid ihr eigentlich für Leute? Der Mann von nebenan sieht Ihnen ähnlich.« »Mein Bruder-Onkel. Wir sagen immer, wir sind Innominee-Indianer.« »So einen Stamm gibt es nicht«, sagte Jim Broomer entschieden. »Tatsächlich nicht? Dann müssen wir den Leuten sagen, wir sind irgendwas anderes. Sie müssen aber zugeben, daß es wie Indianisch klingt. Was ist denn der beste Indianerstamm für unsereinen?« »Shawnee«, sagte Jim Broomer. »Okay, dann sind wir Shawnee-Indianer. Sehen Sie, wie einfach das ist.« »Schon reingefallen«, sagte Jim Broomer, »ich bin selbst ein Shawnee und kenne jeden Shawnee in der Stadt.« 93
»Hei, Vetter!« rief das Mädel und kniff ein Auge zu. »Das ist aus einem Witz, den ich mal gehört habe, bloß der Anfang war anders. Merken Sie, wie füchsisch ich alle Ihre Fragen ’rumdrehe?« »Ich krieg noch einen Vierteldollar raus«, sagte Art. »Ich weiß«, sagte das Mädchen. »Ich hab’ bloß eben vergessen, was da hinten auf dem Fünfundzwanzig-Cent-Stück für’n Bild drauf ist; das dauert immer einen Moment, bis mir das wieder einfällt. Ach ja, so’n komischer Vogel, der auf einem Bündel Feuerholz steht. * Augenblick, gleich habe ich eins fertig. Hier.« Und sie gab Art den Vierteldollar. »Und erzählen Sie überall, daß hier ein prima Schreibbüro ist, wo die Briefe fein getippt werden.« »Ohne Schreibmaschine«, sagte Art Slick. »Komm, Jim.« »PS: Viele Küsse«, rief das Mädchen hinter ihnen her. Nebenan war der Cool Man Club, eine schäbige kleine Bierkneipe. Das Mädchen hinter der Theke hätte eine Schwester der Stenotypistin sein können. »Wir möchten gern zwei Budweiser Pilsner, aber Sie scheinen ja nichts da zu haben«, sagte Art. »Wozu auch?« fragte das Mädchen. »Hier ist Ihr Bier.« Art dachte erst, sie hätte die Flaschen aus dem Ärmel geholt – aber sie hatte keine Ärmel. Das Bier war kalt und gut. »Mädchen, wissen Sie, wie der Kerl da an der Ecke einen ganzen Lastzug Ware aus seiner Bude verladen kann, die nicht mal ein Zehntel davon faßt?« fragte Art das Mädel. *
Adler mit Blitzen in den Fängen (d.Übs.)
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»Klar. Er macht und verlädt das Zeug zu gleicher Zeit. Wenn er es vorher machen würde, dann müßte er Raum haben, aber so braucht er keinen.« »Aber er muß die Ware doch aus irgend etwas machen«, warf Jim Broomer ein. »Nein, nein«, sagte das Mädel. »Ich studiere eure Sprache. Ich kenne die Wörter. ›Aus etwas‹ – das heißt ›zusammensetzen‹. Er macht es.« Slick schnappte nach Luft. »Das ist komisch. ›Budweiser‹ ist hier auf der Flasche falsch gedruckt, das i vor dem e.« »Ach ich Dussel«, sagte das Mädchen. »Ich konnte mich nicht erinnern, wie ’rum das geht, und da mache ich es auf der einen Flasche so ’rum und auf der anderen anders ’rum. Gestern bestellte ein Mann eine Flasche Progress-Bier, und ich schrieb den Namen auf dem Etikett ›Progers‹. Manchmal mach ich was verkehrt. Geben Sie her, ich bring’s in Ordnung.« Sie fuhr mit der Hand über das Etikett, und da stimmte es. »Aber das Ding wird doch graviert und gedruckt«, protestierte Slick. »Klar, alles dieses neumodische Zeug«, sagte das Mädchen. »Einmal habe ich nicht aufgepaßt und tat Jax-Taste-Bier in eine Flasche von Schlitz, und dem Gast hat das nicht gepaßt. Ich mußte pfft pfft den Geschmack auswechseln und tat dabei so, als ob ich ihm eine andere Flasche gäbe. Einmal hab ich auch nicht aufgepaßt und ein Grünflaschen-Bier in eine braune Flasche getan. Ich hab dem Mann gesagt, das macht die Beleuchtung hier, darum sieht das Bier so braun aus. Und dabei haben wir noch nicht mal ’ne Lampe. Na, ich hab rasch pfft gemacht, und 95
da war die Flasche grün. Es ist schwer, keine Fehler zu machen, wenn man so doof ist.« »Nein, hier gibt’s keine Lampe und kein Fenster, und es ist doch hell«, sagte Slick. »Ihr habt ja auch keinen Kühlschrank – in dieser Straße liegt ja nicht mal Strom. Wie kühlt ihr denn das Bier?« »Nicht wahr, das Bier ist doch schön kalt? Hören Sie, wie schlau ich Ihrer Frage ausweiche? Möchtet ihr lieben Leute noch zwei Bier?« »Ja, bitte. Und es interessiert mich, wo sie herkommen«, sagte Slick. »Huch – passen Sie auf, da ist ’ne Schlange hinter Ihnen!« schrie das Mädchen. »Ach, Sie sind ja richtig hochgesprungen vor Schreck«, lachte sie dann. »Ist doch bloß Spaß. Denken Sie, wir haben hier Schlangen in unserer hübschen Bar?« Aber sie hatte schon wieder zwei Flaschen Bier in der Hand, und alles war so leer wie zuvor. »Seit wann seid ihr komischen Käfer denn hier in dieser Straße?« fragte Broomer. »Wen interessiert das schon?« fragte das Mädchen. »Die Menschen kommen und gehen.« »Sie sind doch nicht aus dieser Gegend«, sagte Slick. »Ich weiß überhaupt nicht, wo Sie her sind. Wo kommen Sie denn her? Vom Jupiter?« »Wen interessiert schon Jupiter?« Das Mädchen schien indigniert zu sein. »Essen Sie doch gleich ’n paar Heuschrecken! Und obendrein frieren Sie sich auch noch Ihren Hintern ein!« »Sie sind ja ziemlich witzig, was, Mädel?« sagte Slick. »Ich geb mir bestimmt Mühe. Ich lerne ’ne Menge Witze, bloß bis jetzt erzähl ich sie noch alle falsch. Ich versuche immer, auf geistreiches Bar96
Mädchen zu machen, damit die Leute wiederkommen.« »Was ist denn in der Nachbarbude, da nach den Gleisen zu?« »Meine Schwester-Kusine«, sagte das Mädchen. »Sie hat ihren Laden grade heute eröffnet. Sie läßt auf Männerglatzen Haare in beliebiger Farbe wachsen. Ich hab ihr gesagt, sie ist verrückt. Ist doch wirklich kein Geschäft. Wenn ein Mann Haare haben will, dann hat er doch keine Glatze, so fängt’s mal an.« »Na, kann sie denn tatsächlich Haare auf Glatzen wachsen lassen?« fragte Slick. »Aber klar. Können Sie das denn nicht?« In der Straße waren noch drei oder vier andere Buden mit Läden. Als die beiden in den Cool Man Club gegangen waren, hatten sie gar nicht gesehen, daß da so viele waren. »Ich kann mich nicht erinnern, daß diese Bude vorhin schon da war«, sagte Broomer zu dem Mann, der vor der letzten Bude in der Reihe stand. »Ach, die hab ich eben gemacht«, sagte der Mann. Verwitterte Balken, rostige Nägel – und er hatte die Bude eben gemacht! »Warum haben Sie denn nicht ein – äh – anständiges Gebäude gemacht, wenn Sie schon mal dabei waren?« »Das hier ist unauffälliger«, sagte der Mann. »Was macht das schon aus, wenn ein altes Gebäude auf einmal dasteht? Wir sind hier neu, und wir wollen erst mal sehen, wie das läuft, ehe wir hier so auffallen. Jetzt bin ich grade am Überlegen, was wir machen sollen. Glauben Sie, daß ein Luxusauto für hundert Dollar ein guter Artikel wäre? Ich fürchte 97
bloß, man muß die hiesigen religiösen Empfindungen respektieren, wenn man sowas macht.« »Was meinen Sie damit?« fragte Slick. »Ahnenverehrung. Der alte Benzintank und das Kraftstoff-Leitungssystem müßten zum Schein noch dranbleiben, wenn auch der Wagen mit Naturkraft betrieben wird. Na schön, ich werd’ sie reinbauen. In drei Minuten kann ich einen fertig haben, wenn Sie solange warten wollen.« »Nein. Ich hab schon einen Wagen«, sagte Slick. »Komm, Jim!« Das war die letzte Bude in der Straße, und sie gingen zurück. »Ich wollte bloß mal sehen, was in dieser Straße los ist, wo nie jemand langgeht«, sagte Slick. »Es gibt ’ne Menge komische Leute in unserer Stadt, man muß sich bloß mal umsehen.« »Früher, ehe die jetzigen kamen, gab’s hier ’n paar ganz merkwürdige Kerle«, sagte Broomer. »Manche kamen ab und zu in den Roten Hahn, einen trinken. Der eine konnte kollern wie ein Puter. Einer konnte sein eines Auge linksrum rollen und das andere rechtsrum. Das waren die Schauerleute von den Lastkähnen für Baumwollsaat-Öl, bevor damals die ganze Flotte verbrannt ist.« Sie kamen wieder an dem Schreibbüro vorbei. »Nun mal ohne Spaß, Liebling, wie können Sie tippen ohne Schreibmaschine?« fragte Slick. »Schreibmaschine ist zu langsam«, sagte das Mädchen. »Ich habe gefragt wie, nicht warum«, sagte Slick. »Ich weiß. Ist das nicht clever, wie ich Ihrer Frage ausweiche? Ich glaube, ich werde einen großen Eichbaum vor den Laden pflanzen, damit ich morgen schönen Schatten habe. Hat vielleicht ei98
ner von euch beiden Hübschen eine Eichel in der Tasche?« »Äh – nein. Aber wie machen Sie das mit dem Maschineschreiben nun wirklich, Mädchen?« »Sie müssen aber versprechen, daß Sie es niemandem weitererzählen.« »Versprech ich.« »Ich mache die Buchstaben mit der Zunge«, sagte das Mädchen. Sie gingen langsam ein paar Schritt weiter die Straße hinunter. »He – aber wie machen Sie denn die Durchschläge?« rief Jim Broomer zurück. »Mit meiner anderen Zunge«, sagte das Mädchen. Vor der ersten Bude wurde schon wieder ein Zwölf-Meter-Lastzug beladen. Lauter Bündel halbzölliger Bleirohre kamen von der Laderampe, sechs Meter lange, starre Röhren, aus einer zwei Meter zehn langen Bude. »Ich kann einfach nicht begreifen, wie der Kerl ganze Lastzüge voll von diesem Zeug aus einer so kleinen Bude rausholen kann«, wunderte sich Slick. Er war immer noch nicht zufrieden. »Wie das Mädel sagte – er hält die Preise klein«, sagte Broomer. »Komm mit rüber in den Roten Hahn, wollen mal sehen, ob da was los ist. In dieser Straße gab’s schon immer eine Menge komischer Leute.«
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Schweinebauch Liebling Ich bin Joe Spade und ungefähr so intellektuell wie die Leute im allgemeinen so sind. Ich habe Wotto und Voxo erfunden, und noch einen ganzen Haufen anderen Krimskrams, ohne den heutzutage kein Mensch mehr auskommen kann. Und weil ich soviel solches Zeug im Kopfe habe, gehe ich manchmal zu einem Kopfschrumpfer. Heute sind alle verreist, bei denen ich schon gewesen bin. Das passiert mir öfters, daß die Leute verreist sind, wenn ich komme. Ich gehe zu einem neuen. Auf einer Glastür steht ANAPSYCHOLOGE, also Kopfschrumpfer, wie das volkstümlich heißt. »Ich bin Joe Spade, der Mann, der alles hat«, sage ich und hau ihm auf den Rücken, freundlich, wie das so meine Art ist. Irgendwas knirscht, und ich denke zuerst, eine Rippe ist ihm kaputt. Dann seh ich, ich hab nur seine Brille zerbrochen, is also nich so schlimm. »Ich bin, wie man so sagt, ein Plattfuß-Genie, Doc«, erzähl ich ihm, »und diese krumpligen grünen Scheine hab ich haufenweise.« Ich nehm ihm die Karteikarte weg und füll sie selber aus, damits schneller geht. Ich denk mir, ich weiß mehr über mich als er. Ich will ’n kleinen Witz machen und sage: »Denken Sie dran, Doc, ich krieg die Neun-DollarWörter für Achtfuffzig«, und er glubscht mich so schmerzensvoll an. »Übermäßige Bescheidenheit gehört nicht zu Ihren Fehlern«, sagt dieser Kopfschrumpfer und glubscht mal so rasch auf die Karte. »Hm. Ledig – sehr bedeutsam.« 100
Ich hatte zwar ›ledig‹ in die betreffende Spalte geschrieben, aber daß ich ein bedeutsamer Mensch bin, hatte er von allein gemerkt. »Zahlungsfähig«, las er in der Spalte für die finanziellen Angaben, »das gefällt mir an einem Mann. Wir werden Sie für ein paar Sitzungen vornotieren.« »Eine genügt«, sag ich zu ihm, »die Zeit rennt, und ich bezahle. Gebense mir ’ne Schnellberatung, Doc.« »Ja, ich kann Ihnen eine sehr schnelle Beratung geben«, sagt er. »Ich möchte, daß Sie mal über das alte Wort nachdenken: ›Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei‹. Sinnen Sie mal eine Weile darüber nach, und vielleicht werden Sie dann imstande sein, Eins und Eins zusammenzuzählen.« Und dann sagt er noch so irgendwie traurig: »Arme Frau!«, was entweder der kirchliche JahresSegensspruch ist, oder vielleicht denkt er auch an einen anderen Patienten. Und dann sagt er: »Das macht drei Meter, in Ihrer Ausdrucksweise.« »Dankeschön, Doc«, sag ich. Ich bezahl dem Kopfschrumpfer seine dreihundert Dollar und gehe. Er hat den Nagel auf den Kopf getroffen und den Fuß auf die Wurzel meines Übels gesetzt. Ich werd mir einen Partner ins Geschäft nehmen. Ich entdecke ihn bei Grogley, und ich sehe auf den ersten Blick, der ist der Richtige. Er ist ungefähr halb so groß wie ich, aber sonst ist er mir so ähnlich, wie zwei Füße in einem Schuh. Er sieht wirklich gut aus, so wie ich. Er ist prima angezogen, hat allerdings ein bißchen Blut im Gesicht, aber das kann jedem passieren, der mal fünf Minuten bei Grogley ist. Mann, wie Zwillinge! Ich weiß, 101
wir werden einer reden wie der andere, einer denken wie der andere, ebenso wie wir einer wie der andere aussehen! »Eheu! Fugaces!« sagt mein neuer Partner ganz melancholisch. Das heißt: »Bruder, das war mal wieder ein Tag mit dicker Borke drauf!« Er trinkt einen Fancy, und seine Augen sehen aus wie zerbrochenes Glas. »Der hat sich tatsächlich ganz nett rumgeboxt«, flüstert mir Grogley zu, »aber er hat ziemlich viel einstecken müssen. Ist nicht sehr fix mit seinen Händen. Ich glaub, er hat Sorgen.« »Jetzt nicht mehr«, sag ich zu Grogley. »Er ist mein neuer Partner.« Ich hau meinem neuen Partner in meiner fröhlichen, herzlichen Art auf die Schulter, und der Zahn, der ihm dabei rausfliegt, muß schon vorher lose gewesen sein. »Jetzt haben Sie keine Sorgen mehr, Roscoe«, sag ich zu ihm, »Sie und ich, wir sind grade eben Partner geworden.« »Maurice ist der Name«, sagt er, »Maurice Maltravers. Was gibts denn Neues da hinten im Gebirge? Sie, mein Herr, sind ein Troglodyt. Die seh ich immer gleich nach den Schlangen, und wenn die Troglodyten kommen, wünsch ich mir die Schlangen zurück.« Gibt viele Leute, die Troglodyt zu mir sagen. »Da mir die Menschheit ihre Sympathie versagt«, redet Maurice weiter, »finde ich vielleicht welche bei einer weniger entwickelten Spezies. Ob ich vielleicht in Ihr Ohr – gahh (er gab sowas wie einen Lacher von sich) – sind das Ohren? Was für einen furchterregenden otologischen Apparat Sie haben! – die Bürde meiner Sorgen ergießen kann?« 102
»Ich hab Ihnen doch eben gesagt, Sie haben keine mehr«, sage ich. »Kommen Sie mit, wir werden uns mal über unsere Partnerschaft unterhalten.« Ich nehm ihn beim Genick und schleif ihn aus Grogleys Kneipe raus. »Ich seh schon, Sie sind der richtige Mann für mich«, sage ich. »Der richtige Mann für mich – putridus ad volva –« echot Maurice. He, der Kerl ist wie ein Windstoß. Genau wie ich. »Meine cogitiven Strukturen sind so komplex und so identatisch orientiert«, sagt Maurice, als ich ihn runterlasse, damit er ’n bißchen laufen kann, »daß ich mehr und mehr zu einem in sich geschlossenen System geworden bin, unintelligibel für den gesamten Exokosmos, insbesondere für einen Chtoniker wie Sie.« »Ich bin selber ein ausgesprochen intellektueller Typ, Maurice«, mache ich ihm klar, »es gibt überhaupt nichts, was wir beide zusammen nicht schaffen könnten.« »Meine unmittelbaren Schwierigkeiten bestehen darin, daß mir die Universität die weitere Benutzung ihres Computers verboten hat«, erzählt Maurice. »Ohne den Computer kann ich meine Maschine, die der Gipfel aller Maschinen ist, nicht fertig entwickeln.« »Ich habe einen Computer – wenn Ihr kleines rotes Schulhaus von Universität den sieht, wird es vor Neid grün«, sage ich zu ihm. Wir kommen in mein Labor, das ein Zeitungsmann mal ›einen umgebauten Pferdestall, vielleicht das unorthodoxeste und schlechtestausgerüstete wissenschaftliche Laboratorium der Welt‹ genannt 103
hat. Ich nehme Maurice mit rein, und er stellt sich an wie ein Huhn ohne Kopf, als er merkt, der einzige Rechner, den ich habe, ist in meinem Schädel. »Sie bleiches Monstrum, ich kann doch in diesem Alptraum von einer Bruchbude nicht arbeiten«, kreischt er mich an. »Ich muß einen Elektronenrechner haben!« Ich klopfe mit einem Sechspfundhammer an meinen Kopf und grinse mein berühmtes Grinsen. »Alles hier drin, Maurice, mein Junge«, erzähl ich ihm, »der feinste Rechner der Welt. Als ich noch auf Rummelplätzen arbeitete, firmierte ich ›Der Geniale Idiot‹. Ich machte Wettrennen mit den besten Computern der Stadt, Multiplikation zwanzigstelliger Zahlen und lauter so kleine Tricks. Allerdings, ich habe auch beschissen. Ich hatte einen kleinen Apparatismus in der Tasche, den ich erfunden habe. Der hemmt die Relais der besten Computer und macht sie eine volle Sekunde langsamer. Geben Sie mir eine Sekunde Vorsprung, und ich kann jedes Ding in der Welt schlagen, egal wobei. Das einzig Unangenehme bei diesem Job war, daß ich so sprechen und mich benehmen mußte, als ob ich ein bißchen blöd bin, damit es zu meiner Nummer als Genialer Idiot paßte, und dieses Blödstellen war schwer für einen hochgeistigen Menschen wie mich.« »Das kann ich mir lebhaft vorstellen«, sagt Maurice. »Wissen Sie Bescheid mit der InvolutenMatrix von Maimonides-Zahlen dritten Aspekts in der Cauchy-Sequenz mit simultan involviertem, non-temporalem Fieschi-Multipel?« »Maurice, das mach ich alles mit einer Hand, und mit der andern brate ich dabei noch Spiegeleier«, 104
sage ich zu ihm. Dann schau ich ihm scharf in die Pupille: »Maurice«, sag ich zu ihm, »Sie arbeiten an einem Nullifikator.« Er glotzt mich an, als ob er mich zum erstenmal ernst nimmt. Er zieht ein Blatt Papier aus seinem Hemd – na klar, er arbeitet an einem Nullifikator, und zwar an einem ganz süßen. »Das ist kein gewöhnlicher Nullifikator«, erläutert Maurice, und dann seh ich das auch selber. »Welcher andere Nullifikator kann moralische und ethische Urteile fallen? Welcher andere kann Kategorien aufstellen und durchsetzen? Welcher andere besitzt wirkliche Erkenntnis? Das wird der einzige Nullifikator, der vollgültige philosophische Thesen aufstellen kann. Werden Sie mir helfen, ihn fertig zu konstruieren, Proconsul?« Ein Proconsul ist ungefähr dasselbe wie ein Ratsherr; daher weiß ich, daß Maurice sehr viel von mir hält. Wir schmeißen die Uhr weg und machen uns ran. Wir arbeiten ungefähr zwanzig Stunden pro Tag. Ich computere alles aus und baue gleichzeitig die Maschine – aus Wotto-Metall natürlich. Zum Schluß arbeiten wir mit ziemlich viel Feedback. Wir lassen die Maschine entscheiden, was wir einbauen und was nicht. Der Hauptunterschied zwischen den anderen Nullifikatoren und unserem ist ja, daß unserer selbständige Entscheidungen treffen kann. Also soll er mal! Nach ungefähr einer Woche ist er fertig. Mann, das ist vielleicht ein süßes Ding! Wir spielen ein bißchen mit ihm rum, um auszuprobieren, was er alles kann. Er kann einfach alles! Ich zeige ihm ein halbes Faß von Schrauben und Bolzen, das ich da rumstehen habe. »Mach alles 105
weg, was nichts taugt! Die Hälfte von dem Zeug ist Schrott«, programmiere ich ihm ein. Und die Hälfte von dem Zeug ist im Handumdrehen verschwunden. Einfach weg! Das Ding funktioniert! Man programmiert ihm bloß ein, was man loswerden will, und es ist weg, spurlos verschwunden. »Mach hier alles weg, was nichts taugt!« programmiere ich ihm ein. In meiner Werkstatt hat sich allerhand Schraps angesammelt. Jemand hat mal gesagt: Ein Sauhaufen! Diese Maschine blinzelte einmal, und ich hatte eine Werkstatt, in der man sich bewegen konnte. Das Ding erkannte Schraps, wenn es welchen sah, und hastewaskannste schmiß er allen unnützen Kram platterdings ins Jenseits. Natürlich kann jeder Hammel einen Nullifikator bauen, der alles restlos beseitigt, worauf man ihn ansetzt; aber hier ist der einzige, der von allein weiß, was er restlos beseitigen soll und was nicht. Maurice und ich sind so stolz wie rosa Kaninchen auf das Ding. »Maurice«, sag ich und hau ihm auf die Schulter, daß ihm die Nase ein bißchen blutet, »das ist wirklich ein Apparatismus mit buschigem Schwanz. Da gibts einfach nichts, was wir nicht damit machen können.« Maurice sieht einen Moment lang ein bißchen traurig aus. »A quo bono?« fragt er. So heißt, glaub ich, irgendein Mineralwasser, aber ich kleckere ihm einen Brandy ein, was wesentlich besser ist. Er trinkt den Brandy, aber er ist immer noch ’n bißchen nachdenklich. »Aber wozu ist er gut?« fragt er. »Ein Triumph, gewiß doch, aber als was können wir ihn verkaufen? Ich habe den Eindruck, daß ich schon ein Dutzend106
mal den perfekten Apparat herausgebracht habe, den kein Mensch gebrauchen kann. Gibt es wirklich einen großen Markt für eine Maschine, die moralische und ethische Urteile fällen kann, die Kategorien aufstellen und durchsetzen kann, die Erkenntnis besitzt, Entscheidungen fällen und echte philosophische Thesen aufstellen kann? Habe ich mir da nicht vielleicht wieder bloß einen neuen triumphalen Unsinn abgequält?« »Maurice, dieses Ding ist der geborene Müllschlucker«, sage ich zu ihm. Er kriegt diesen grünlichen Tonum die Kiemen, den viele Leute kriegen, wenn ich ihnen die große Erleuchtung verpasse. »Müllschlucker?« schreit er. »Äonen haben daran gewirkt, dieses Wunderwerk durch den feinsten Intellekt der Welt – mich! – zu gebären, und dieser Bruder eines Riesenaffen sagt, es ist ein Müllschlucker! Hier ist ein neuer Aspekt des Denkens, novo instauratio, der Geist der Zukunft, der in der Gegenwart Früchte trägt, und dieser obszöne Oger sagt, es ist ein Müllschlucker! Die Sternbilder am Himmel neigen sich in Ehrfurcht vor ihm, Zeit und Ewigkeit haben nicht vergebens auf ihn warten müssen, und Sie, Sie plattfüßiger Viehtreiber, Sie sagen, das ist ein MÜLLSCHLUCKER!« Maurice fühlte sich von dem Gedanken so erhoben, daß er tatsächlich ein bißchen weinte. Also, das ist doch wirklich nett, wenn jemand seiner begeisterten Zustimmung so lange und so laut Ausdruck verleihen kann, wie Maurice! Als ihm die Worte ausgelaufen waren, schnappte er sich mit beiden Händen die Brandyflasche und soff alles aus. Dann schlief er einmal rund um die Uhr. Er war wirklich müde. 107
Er sah ’n bißchen schafsmäßig aus, als er schließlich aufwachte. »Ich fühle mich ein wenig besser, außer daß ich mich saumäßig fühle«, sagt er. »Sie haben recht, Spade, es ist ein Müllschlucker.« Er programmiert ihm ein, daß er ihm allen Dreck aus Blut, Leber, Nieren und Kopf wegmacht. Und sein Kater ist im Handumdrehen kuriert. Er war auch rasiert, und sein Blinddarm war raus. Du brauchst dieser Kiste bloß zuzunicken, und sie nullifiziert einfach alles. »Wir nennen ihn Schweinebauch Liebling«, sage ich, »weil er alles frißt, wie ’n gutes Schwein, und weil er so lieb arbeitet.« »So nennen wir ihn privat«, nickt Maurice, »aber in Gesellschaft nennen wir ihn Pantophag.« Das ist nämlich dasselbe auf Griechisch. Damals verstand ich mich mit Maurice so gut, daß ich mir mit ihm eine Voxo teilte. Wenn zwei Menschen jeder eine halbe abgestimmte Voxo haben, können sie überall auf der ganzen Welt miteinander sprechen, und das so unauffällig, daß es keiner merkt. Wir mieteten auf der Industriemesse einen großen Stand und stellten Schweinebauch Liebling, den Pantophag, dort aus. Mensch, wir haben ’ne prima Schau abgezogen! Die Leute kamen rein, hörten zu und glotzten, bis ihnen die Augen raushingen. Dieser Maurice kann reden wie ’n Wasserfall, und ich bin auch nicht schlecht, was das anlangt. Und wir waren auch bestimmt zwei prima schicke Knaben, besonders als mir Maurice gesagt hatte, daß es vielleicht ’n bißchen stört, wenn ich im Unterhemd bin, und ich mir dann ein Hemd anzog. 108
Und diese wunderbare Maschinka blitzte nur so – wie alles, was aus Wotto-Metall ist. Kleine Kinder schmissen ihm ihr Bonbonpapier hin, und es verschwand mitten aus der Luft. »Filz mich«, sagten sie, und alles verschwand aus ihren Taschen, was nichts taugte. Ein Mann hielt eine vollgestopfte Aktentasche hoch, und im Handumdrehen war sie beinahe leer. Ein paar Leute wurden wütend, als ihre Kinn- und Schnurrbarte verschwanden; aber wir machten ihnen klar, daß dieses Gestrüpp völlig bedeutungslos für sie wäre – wenn sie mit diesem Zeug im Gesicht besser ausgesehen hätten, dann hätte die Maschine es bestimmt drangelassen. Anderen Leuten, die ihre Bürsten im Gesicht behielten, machten wir klar: was sie auch immer dahinter hätten, es bliebe besser im Verborgenen. »Kann ich einen ins Haus geliefert bekommen, und wann?« fragt eine Dame. »Morgen, für vierneunfünfundneunzig inklusive Montage«, sag ich zu ihr. »Er macht alles weg, was nichts taugt. Er holt alle alten Liebesbriefe aus Ihrem Schreibtisch und läßt nur die drin, wo der Knabe es ehrlich meint. Er wird Sie von dreißig Pfund an den strategisch wichtigen Stellen befreien, und das, liebe Dame, ist schon allein das Geld wert. Er holt alle alten Knöpfe aus Ihrem Nähkasten, die nicht mehr zu den anderen passen; er vernichtet Blumenoder Gemüsesamen, der nicht aufgeht. Er wird alles vernichten, was nichts taugt.« »Er kann moralische und ethische Urteile fällen«, sagt Maurice zu den Leuten; »er kann Kategorien aufstellen und durchsetzen.« »Maurice und ich sind Partner«, erzähl ich allen 109
Leuten. »Wir sehen egal aus, wir denken egal, und wir reden sogar einer wie der andere.« »Der einzige Unterschied: er redet hieratisch und ich demotisch«, sagt Maurice. »Das ist der einzige Nullifikator der Welt, der vollgültige philosophische Thesen aufstellen kann. Sein Urteil über das, was nützlich ist und was nicht, ist unfehlbar. Und er arbeitet vollkommen sauber und ohne jeden Abfall.« Mann, die Leute kamen geströmt, den ganzen Vormittag lang! Gegen Mittag wurde es ein bißchen ruhiger. »Ich möchte mal wissen, wie viele heute vormittag in unserem Stand waren?« staunt Maurice. »Ich schätze – zehntausend.« »Ich brauch sie nicht zu schätzen«, sage ich. »Neuntausenddreihundertachtunfuffzich sind reingekommen, Maurice«, erklär’ ich ihm, denn der automatische Zähler in meinem Kopf läuft immer, »und neuntausendzweihundertsiemunneunzich sin’ wieder raus«, sage ich, »und vierunvürzich sin’ jetzt noch drin.« Maurice lächelt. »Da ist ein Fehler«, sagt er, »das geht nicht auf.« Und da gingen mir hinten im Nacken die Haare hoch. Ich mach keine Fehler, wenn ich rechne, und jetzt seh ich, daß Schweinebauch Liebling auch keine macht. Na schön – es ist zu spät, jetzt noch einen zu machen, wenn man nicht drauf trainiert ist, aber es ist vielleicht noch nicht zu spät, dem Donnerwetter aus dem Wege zu gehen, ehe es wirklich losschlägt. »Mach ne Fliege!« flüstere ich Maurice zu, »kratz die Kurve, hau Funken aus ’m Pflaster!« »Je ne comprends pas«, sagt Maurice, und das 110
heißt: Los, Jungs, abhauen! auf Französisch; und da weiß ich, daß mein Partner mich verstanden hat. Ich bin mit Tempo hundert aus der Halle raus, und Maurice rennt so leichtfüßig an meiner Seite, daß ich ihn überhaupt nicht höre. Ein Lufttaxi hebt grade ab. »Spring, Maurice!« brüll ich. Ich spring selber, und ich hab meine Finger an der hinteren Schiene und zappel in der Luft. Ich seh mich um, ob Maurice es geschafft hat. Geschafft? Er ist gar nicht mit rausgekommen. Ich schau zurück, und durch ein Fenster seh ich, wie er schon wieder am Quasseln ist. Also, das ist ein schönes Durcheinander! Mein Partner, der mir so gleicht wie zwei Köpfe in einem Hut, der hat mich nicht verstanden! Im Flughafen erwisch ich grade noch einen Luftfrachter nach Mexiko. Koffer packen brauch’ ich niemals. Ich sag immer, ’n Mann, der nich’ jederzeit soviel von diesem krumpligen grünen Papierzeug in der Hose hat, daß er zwei Jahre davon leben kann, so ’n Mann is’ nich’ in der Verfassung, daß er dem Schicksal ins Auge sehen kann. Dreißig Minuten später sitz ich in ’nem Hotel in Cueva Peoquita, und alles, was Spaß macht, ist dicht bei der Hand. Dann knips ich meine Voxo an und hör, was Maurice sendet. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß der Pantophag auch Menschen nullifiziert?« Seine Stimme klingt ’n bißchen schrill. »Ich hab’s ja gesagt«, sage ich. »Neuntausendzweihundertsiemunneunzich plus vierunvürzich macht nich’ neuntausenddreihundertachtunfuffzich. Ha’m Sie ja selbst gesagt. Wie stehts denn an der Heimatfront, Maurice? Das is’ ja ’n Witz!« 111
»Das ist absolut kein Witz«, sagt er, quasi fanatisch. »Ich hab mich in eine kleine Besenkammer eingeschlossen, aber sie werden gleich die Tür aufbrechen. Was soll ich bloß machen?« »Was denn, Maurice? Sie brauchen doch bloß den Leuten erklären, die Menschen, die die Maschine nullifiziert hat, waren zu nichts auf der Welt nütze, weil die Maschine keine Fehler macht.« »Ich bezweifle, daß ich die Eltern und Ehegatten und Kinder der nullifizierten Personen davon überzeugen kann. Die wollen Blut sehen. Sie hauen jetzt die Tür ein, Spade! Ich hör sie sagen, daß sie mich hängen wollen.« »Sagen Sie ihnen: Nur mit ’nem neuen Strick, sonst käms nich’ in Frage, Maurice«, sage ich zu ihm. Das ist nämlich ’n alter Witz. Ich knips die Voxo aus, weil Maurice bloß noch so gurgelnde Geräusche von sich gibt, die ich nicht verstehe. Solche Geschichten sind schnell vergessen, wenn sie erstmal einen aufgehängt haben und dann zufrieden sind. Ich bin wieder in der Stadt und rolle allerhand neue Ideen in meinem Kopf rum wie ’ne Handvoll Kieselsteine. Aber ich bau Schweinebauch Liebling nicht nochmal. Er ist zu unsicher, weil er so logisch ist, und er käme auch noch ’n bißchen zu früh. Ich seh mich inzwischen nach ’nem anderen Partner um. Kommen Sie doch mal bei Grogley vorbei, wenn Sie interessiert sind. Ich schau immer mal rein, jede Stunde oder so. Ich brauch ’n Kerl, der genauso ist wie ich, wie zwei Hälse in einer Schlinge – verdammt, warum muß ich auch grade an sowas denken? –’n Kerl, der genauso aussieht wie ich und genauso denkt und redet wie ich. 112
Fragen Sie einfach nach Joe Spade. Aber der, wo ich als neuen Partner nehme, muß einer sein, der mich versteht, wenn’s drauf ankommt, fix mal in die Rettungsboote zu klettern.
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Sieben Tage Terror »Soll ich dir mal was verschwinden lassen, was du gern los sein möchtest?« fragte Clarence Willoughby seine Mutter. »Ein Abwaschbecken voll Geschirr ist alles, was mir grade einfällt. Wie willst du das denn machen?« »Ich habe einen Verschwinder gebaut. Man braucht bloß das andere Ende von ’ner Bierbüchse rausschneiden. Dann nimmt man zwei Stückchen rote Pappe mit Gucklöchern in der Mitte. Die macht man oben und unten an der Büchse fest. Jetzt braucht man bloß durch die Löcher zu gucken und zu blinzeln. Alles, worauf man guckt, verschwindet.« »Oh!« »Aber ich weiß nicht, ob ich es zurückkommen lassen kann. Wollen mal lieber was anderes probieren. Geschirr kostet Geld.« Wie stets, konnte Myra Willoughby nicht umhin, den Wirklichkeitssinn ihres neun Jahre alten Sohnes zu bewundern. Sie selbst hätte nicht soviel Voraussicht gehabt. Er immer. »Du kannst es ja mal mit Blanche Manners’ Katze probieren. Wenn die verschwindet, regt sich kein Mensch darüber auf, höchstens Blanche Manners.« Er hielt den Verschwinder vors Auge und blinzelte. Die Katze draußen auf dem Gehsteig war weg. Jetzt war seine Mutter interessiert. »Ich möchte wissen, wie das funktioniert. Weißt du, wie das funktioniert?« »Ja. Man nimmt eine Bierbüchse und schneidet beide Enden raus und macht ein Stück Pappe an 114
jedes Ende. Dann muß man mit den Augen blinzeln.« »Na schön. Nimm das Ding und spiel draußen damit. Aber laß hier drin nichts verschwinden, bis ich es mir überlegt habe.« Jedoch als er hinausgegangen war, hatte seine Mutter so ein komisches unruhiges Gefühl. »Ich frage mich, ob ich nicht vielleicht ein allzu frühreifes Kind habe? Es gibt doch bestimmt eine Menge Erwachsene, die keinen Verschwinder bauen können, der tatsächlich funktioniert. Ob wohl Blanche Manners ihre Katze sehr vermißt?« Clarence ging die Straße hinunter bis zum ›Falschen Fünfziger‹, einer Eckkneipe. »Haben Sie irgend etwas, was ich Ihnen verschwinden lassen soll, Nokomis?« »Bloß meinen Bauch.« »Wenn ich Ihnen den verschwinden lasse, dann bleibt ein Loch, und Sie verbluten.« »Ja, das stimmt, das wird schon so sein. Warum versuchst du’s nicht mal mit dem Feuerwehrhydranten da draußen?« In gewisser Weise wurde das einer der vergnügtesten Nachmittage, die man jemals dort erlebt hatte. Die Kinder kamen straßenweit herbeigerannt, um auf dem überfluteten Pflaster und in den Gullis zu spielen; wenn einige von ihnen in den Fluten (und das waren vielleicht Fluten, Leute!) ertranken (wir sagen nicht, daß tatsächlich welche ertrunken sind), so war dergleichen schließlich zu erwarten. Die Feuerwehrautos (wer hat jemals gehört, daß man Überschwemmungen mit der Feuerspritze bekämpft?) standen bis zum Kessel im Wasser. Polizisten und Sanitäter wateten naß und staunend umher. 115
»Resuscitatur, Auferweckung, wünscht jemand Resuscitatur?« tönte Clarissa Willoughbys Singsangstimme dazwischen. »Ach halts Maul!« sagten die Sanitäter. Nokomis, der Barmann vom Falschen Fünfziger, nahm Clarence beiseite. »Ich glaube, an deiner Stelle würde ich vorläufig keinem erzählen, was mit dem Hydranten passiert ist«, sagte er. »Wenn Sie nichts sagen – ich sag auch nichts«, sagte Clarence. Der Polizist Comstock war mißtrauisch. »Es gibt nur sieben mögliche Erklärungen: Eins von den Willoughby-Gören hat das gemacht. Wie – das weiß ich nicht. Man brauchte eine Planierraupe dazu, und dann müßte immer noch was von dem Hydranten übrig sein. Aber ganz egal wie, – eins von denen war es.« Polizist Comstock besaß die Gabe, bei dunklen Geschehnissen sehr nahe an die Wahrheit heranzukommen, und darum ging er auch hier in dieser sumpfigen Vorstadt Streife und saß nicht im Rathaus an einem Schreibtisch. »Clarissa!« sagte Wachtmeister Comstock mit Donnerstimme. »Resuscitatur, Resuscitatur, wünscht jemand Resuscitatur?« erklang Clarissas hymnisches Rufen. »Weißt du, was mit diesem Hydranten passiert ist?« fragte Wachtmeister C. »Ich ahne etwas Unheimliches, aber bis jetzt ist es noch nicht mehr als das. Wenn ich mehr weiß, gebe ich Ihnen Bescheid.« Clarissa war acht Jahre alt und neigte sehr zu unheimlichen Ahnungen. 116
»Clementine, Harold, Corinna, Jimmy, Cyril«, fragte er die jüngeren fünf Willoughby-Kinder, »wißt ihr, was mit dem Hydranten passiert ist?« »Da trieb sich gestern ein Mann herum. Ich wette, der hat ihn geklaut«, sagte Clementine. »Ich kann mich nicht mal erinnern, daß hier überhaupt ein Hydrant war. Ich glaube, Sie machen ’n Haufen Wind um gar nichts«, sagte Harold. »Im Rathaus wird man von mir hören, ich werde mich beschweren«, sagte Corinna. »Aber sicher! Bloß – ich sags nicht!« sagte Jimmy. »Cyril!« brüllte Wachtmeister Comstock mit fürchterlicher Stimme. Nicht mit furchterregender, sondern mit fürchterlicher. Ihm war auch fürchterlich zumute. »Große Grüne Bananen!« sagte Cyril. »Ich bin erst drei Jahre. Ich versteh’ überhaupt nicht, wie Sie daraufkommen, daß ich mit sowas was zu tun haben soll.« »Clarence!« sagte Wachtmeister Comstock. Clarence schluckte schuldbewußt. »Weißt du, wo der Hydrant geblieben ist?« Clarence strahlte vor Erleichterung. »Nein, Sir, ich weiß nicht, wo er hin ist.« Ein Trupp Experten von den Wasserwerken erschien, drehte der halben Straße das Wasser ab und setzte eine Art Verschlußkappe an die Stelle, wo der Hydrant gewesen war. »Das wird aber ein verdammt komischer Bericht, den ich da schreiben muß«, sagte einer von den Experten. Wachtmeister Comstock ging entmutigt ab. »Lassen Sie mich zufrieden, Miss Manners«, sagte er. »Ich habe keine Ahnung, wo ich Ihre Katze 117
suchen soll. Ich weiß nicht mal, wo ich den Hydranten suchen soll.« »Ich habe so eine Idee«, sagte Clarissa; »wenn Sie die Katze finden, dann finden Sie den Hydranten genau an derselben Stelle. Aber vorläufig ist das nur so eine Idee.« Ozzie Murphy trug einen kleinen Hut, der saß ihm ganz oben auf dem Schädel. Clarence zielte mit seiner Waffe darauf und blinzelte. Der Hut war nicht mehr da, aber ein kleines Rinnsal Blut lief an Ozzies Glatze herab. »Ich glaube, du solltest lieber nicht mehr damit spielen«, sagte Nokomis. »Spielen?« sagte Clarence. »Jetzt wird’s ernst.« Und damit begann in dem bis dahin wenig beredeten Viertel das Sieben-Tage-Schrecknis. Im Park verschwanden Bäume; Straßenlaternen waren, als seien sie nie gewesen; Wally Waldorf fuhr nach Hause, stieg aus, knallte die Tür seines Autos zu, und da war kein Auto. George Mullendorf ging den Kiesweg zu seiner Haustür entlang, sein Hund Pete rannte ihm entgegen und sprang in seine Arme. Der Hund hob sich vom Boden ab, doch da passierte etwas: der Hund war weg, und nur ein Bellen hing noch einen Lidschlag lang in der erstaunten Luft. Aber das Schlimmste waren die Hydranten. Der zweite wurde am Morgen nach dem Verschwinden des ersten installiert. Acht Minuten später war er weg, und die Wasserfluten strömten aufs neue. Gegen zwölf Uhr war der nächste Hydrant installiert. Innerhalb von drei Minuten war er verschwunden. Am nächsten Morgen wurde Hydrant Nummer vier montiert. Der Direktor der Wasserwerke war anwesend, der 118
Stadt-Ingenieur war anwesend, der Polizeichef war anwesend und hatte ein Überfallkommando mit; der Präsident des Elternausschusses, der Rektor der Universität, der Bürgermeister, drei Herren vom F. B. I., ein Wochenschau-Fotograf, eminente Wissenschaftler und ein Haufen ehrsamer Bürger waren anwesend. »So, jetzt soll er mal verschwinden!« sagte der Stadtingenieur. »So, jetzt soll er mal verschwinden«, sagte der Polizeichef. »So, jetzt soll er mal verschw… schon weg, wie?« sagte einer der eminenten Wissenschaftler. Und er war weg, und alle wurden sehr naß. »Wenigstens habe ich die Bilderserie des Jahres«, sagte der Fotograf. Er stand mitten zwischen den Prominenten, aber auf einmal waren Kamera und Ausrüstung weg. »Drehen Sie das Wasser ab und setzen Sie eine Kappe drauf«, sagte der Direktor der Wasserwerke. »Und montieren Sie keinen neuen Hydranten. Das war der letzte, den wir auf Lager hatten.« »Das ist zu groß für mich«, sagte der Bürgermeister. »Soll mich doch wundern, ob TASS es noch nicht erfahren hat.« »TASS weiß es schon«, sagte ein kleiner rundlicher Mann. »Ich bin TASS.« »Wenn die Herrschaften in den ›Falschen Fünfziger‹ kommen wollen«, sagte Nokomis, »und unseren neuen Feuerwehr-Hydranten-Cocktail probieren wollen, dann wird Ihnen gleich viel besser. Unser neuer Drink ist aus bestem Korn-Whisky, braunem Zucker und Original-Hydranten-Wasser aus original diesem Rinnstein hier. Sie können die ersten sein, die ihn trinken.« 119
Das Geschäft im ›Falschen Fünfziger‹ war phänomenal, denn direkt vor seiner Tür waren die Hydranten im strudelnden Wasser verschwunden. »Ich weiß, wie wir reich werden können«, sagte ein paar Tage später Clarissa zu ihrem Vater, Tom Willoughby. »Alle Leute hier in der Gegend sagen, sie wollen ihre Häuser fast umsonst verkaufen und woanders hinziehen. Besorg dir einen Haufen Geld und kauf sie alle. Dann kannst du sie später wieder verkaufen und reich werden.« »Die kauf ich nicht mal für einen Dollar das Stück. Drei sind schon verschwunden, und jede Familie außer uns hat schon die Möbel im Vorgarten zu stehen. Vielleicht sind morgen früh nur noch die leeren Grundstücke da.« »Na schön, dann kauf die leeren Grundstücke. Wenn die Häuser zurückkommen, bist du fein raus.« »Zurück? Kommen denn die Häuser zurück? Weißt du etwas, junge Dame?« »Ich habe einen Verdacht, der die Grenze zur Gewißheit streift. Mehr kann ich im Moment noch nicht sagen.« Drei eminente Wissenschaftler saßen in einem unordentlichen Apartment, das aussah, als gehöre es einem betrunkenen Sultan. »Das überschreitet die Grenze zur Metaphysik. Es hängt mit der Quantenmechanik zusammen. In gewissem Sinne ist Boff jetzt weit überholt«, sagte Dr. Velikoff Vonk. »Der mystifizierendste Aspekt der Sache ist die Kontingenz der Intransigenz«, sagte Arpad Arkabaranian. »Ja«, sagte Willy McGilly. »Wer hätte geglaubt, 120
daß das mit einer Bierbüchse und zwei Stückchen Pappe funktioniert. Als Junge nahm ich immer eine Haferflockenbüchse und roten Buntstift.« »Ich kann Ihnen nicht ohne weiteres folgen«, sagte Dr. Velikoff Vonk. »Ich wünschte, Sie würden sich etwas verständlicher ausdrücken.« Bis jetzt war noch kein Mensch zu Schaden gekommen – allenfalls das bißchen Blut auf Ozzies Murphys Glatze und an den Ohrläppchen von Conchita, als ihre auffallenden Ohrringe direkt aus ihren Ohren verschwanden; oder vielleicht ein paar gestutzte Finger, wenn ein Haus verschwand, und jemand hatte grade die Hand am Türknopf; und schließlich ein Zeh, als ein Junge mit einer leeren Konservenbüchse Fußball spielte, und die Büchse auf einmal nicht mehr da war – alles in allem ein knapper halber Liter Blut und hundert bis hundertfünfzig Gramm Fleisch. Nun jedoch verschwand vor Zeugen Mr. Buckle, der Verkäufer im Lebensmittelgeschäft. Jetzt wurde es ernst. Ein paar finster aussehende Ermittlungsbeamte aus dem Rathaus kamen zu den Willoughbys. Der mit der finstersten Miene war der Bürgermeister. In ruhigen Zeiten war er durchaus kein finsterer Mensch; aber das Schrecknis regierte nun schon sieben Tage. »Es gehen allerlei häßliche Gerüchte um«, sagte einer der finsteren Ermittler, »die gewisse Geschehnisse mit dieser Familie hier in Verbindung bringen. Weiß jemand von euch etwas darüber?« »Die meisten Gerüchte habe ich selbst in Umlauf gesetzt«, sagte Clarissa, »aber ich finde sie keineswegs häßlich. Eher geheimnisvoll. Wenn Sie der 121
Sache auf den Grund kommen wollen, stellen Sie mir bitte eine Frage.« »Hast du alle diese Dinge verschwinden lassen?« fragte der Ermittle^. »Das ist nicht die richtige Frage«, sagte Clarissa. »Weißt du, wo sie sind?« »Das ist sie auch nicht.« »Kannst du sie wiederkommen lassen?« »Na klar. Das kann doch jeder. Sie nicht?« »Nein. Wenn du es kannst, dann tu’ es bitte sofort.« »Ich brauche aber verschiedenes dazu. Besorgen Sie mir eine goldene Uhr und einen Hammer. Dann gehen Sie in die Drogerie und besorgen mir die Chemikalien auf der Liste hier. Und dann brauche ich noch einen Meter schwarzen Samt und ein Pfund Bonbons.« »Sollen wir wirklich?« fragte einer der Ermittlungsbeamten. »Ja«, sagte der Bürgermeister. »Unsere letzte Hoffnung. Besorgt ihr alles, was sie haben will.« Es wurde alles herbeigeschafft. »Warum gebt ihr so an mit ihr?« fragte Clarence. »Ich war’s, ich habe alles verschwinden lassen. Woher weiß sie überhaupt, wie das zurückgeholt wird?« »Das hab ich doch gewußt!« schrie Clarissa voller Haß. »Ich wußte, daß er das gewesen ist! Er hat in meinem Tagebuch gelesen, wie man einen Verschwinder macht. Wenn ich seine Mutter wäre, ich würde ihn verhauen, weil er im Tagebuch von seiner kleinen Schwester rumschmökert. So geht’s eben, wenn solche Sachen in gewissenlose Hände geraten!« 122
Sie hatte die goldene Uhr des Bürgermeisters auf den Fußboden gelegt und hielt den Hammer darüber. »Ich muß ein paar Sekunden warten. Das darf man nicht überstürzen. Nur noch eine kleine Weile.« Der Sekundenzeiger lief über den Punkt, der ihm vorbestimmt war, seit die Welt begann. Plötzlich Meß Clarissa den Hammer mit aller Kraft auf die schöne goldene Uhr herniedersausen. »Das ist alles«, sagte sie, »Ihre Sorgen sind vorbei. Sehen Sie, da ist Blanche Manners’ Katze, da drüben auf dem Bürgersteig, genau da, wo sie vor sieben Tagen war.« Und die Katze war wieder da. »Dann gehen wir jetzt zum ›Falschen Fünfziger‹ und sehen zu, wie die Hydranten wiederkommen.« Sie hatten nur ein paar Minuten zu warten. Es kam von nirgendwoher und hallte glockengleich durch die Straße wie ein himmlisches Zeichen und Zeugnis. »Jetzt prophezeie ich«, sagte Clarissa, »daß jedes einzelne Stück genau sieben Tage nach seinem Verschwinden wieder da sein wird.« Der Sieben-Tage-Terror war vorbei. Die Dinge kamen nach und nach wieder. »Wieso«, fragte der Bürgermeister, »hast du gewußt, daß nach sieben Tagen alles wieder zurückkommt?« »Weil es ein Sieben-Tage-Verschwinder war, den Clarence gemacht hat. Ich weiß, wie man einen Neun-Tage-, einen Dreizehn-Tage-, einen Siebenundzwanzig-Tage- und einen Elf-Jahre-Verschwinder macht. Ich wollte einen Elf-Jahre-Verschwinder machen, aber da muß man die Enden mit dem 123
Herzblut eines kleinen Jungen färben, und Cyril brüllte jedesmal, wenn ich einen ordentlichen Schnitt machen wollte.« »Was denn, die kannst du alle wirklich machen?« »Ja. Aber mich schaudert’s bei dem Gedanken, daß dieses Wissen jemals in unrechte Hände geraten könnte.« »Mich auch, Clarissa. Aber sag mal, wozu brauchtest du denn die Chemikalien?« »Für meinen chemischen Experimentierkasten.« »Und den schwarzen Samt?« »Für Puppenkleider.« »Und das Pfund Bonbons?« »Wie sind Sie eigentlich Bürgermeister von dieser Stadt geworden, wenn Sie so was erst fragen müssen? Was denken Sie denn, wozu ich Bonbons brauche?« »Noch eine letzte Frage«, sagte der Bürgermeister. »Warum hast du meine goldene Uhr mit dem Hammer kaputtgemacht?« »Oh«, sagte Clarissa, »das war wegen dem dramatischen Effekt.«
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Das Loch an der Ecke Homer Hoose kam nach Hause, wie jeden Abend. Es war das traute Heim, wie es im Buche steht, mit allem, was dazugehört: der unedle Hund, der sein persönlicher Freund war; das tadellose Haus, in dem auch nur zu wohnen schon ein Glückstaumel war; das liebende, aber unberechenbare Weib, und die fünf Kinder – genau die richtige Anzahl (vier mehr wären zuviel, vier weniger wären zuwenig). Der Hund heulte schreckensvoll auf und sträubte die Haare wie ein Igel. Dann erwischte er einen Hauch von Homers Witterung und erkannte ihn; er leckte ihm die Füße, knabberte an seinen Knöcheln und hieß ihn willkommen. Ein guter Hund, wenn auch saudumm. Aber wer will schon einen klugen Hund? Homer hatte etwas Ärger mit dem Türknopf. Es gibt nicht für jeden Gemütszustand einen besonderen Türknopf, wissen Sie, und Homer hatte an diesem Abend so ein komisches Gefühl. Aber dann kriegte er es endlich hin (nicht ziehen, sondern drehen!) und öffnete die Tür. »Ich hatte dich heute früh gebeten, mir etwas mitzubringen. Hast du daran gedacht, Homer?« fragte Regina, sein liebendes Weib. »Was hast du mich heute früh gebeten mitzubringen, o du mein Herzens-Blaubeerkeks?« fragte Homer. »Wenn ich es noch wüßte, dann hätte ich meine Frage anders formuliert«, erklärte Regina. »Ich weiß, daß ich dich gebeten habe, mir irgend etwas mitzubringen, o du Ketchup meiner Seele … Homer! 125
Schau mich an, Homer! Du siehst heute abend so anders aus! ANDERS! Du bist nicht mein Homer, oder? Hilfe, Hilfe! Ein Ungeheuer ist in meinem Haus! Hilfe, Hilfe! Kreisch, Kreisch!« »Es ist immer nett, mit einer Frau verheiratet zu sein, die einen nicht versteht«, sagte Homer. Er schloß sie liebevoll in die Arme, warf sie zu Boden, trampelte mit großen, freundlichen Hufen auf ihr herum und schickte sich an (so sah es jedenfalls aus), sie zu verschlingen. »Wo hast du denn das Ungeheuer her, Mama?« fragte Sohn Robert, als er hereinkam. »Wieso hat er denn deinen ganzen Kopf im Mund? Kann ich einen Apfel aus der Küche haben? Was macht er denn, macht er dich tot, Mama?« »Kreisch, kreisch!« sagte Mama Regina. »Aber nur einen Apfel, der reicht bis zum Abendbrot. Ja, ich glaube, er macht mich tot. Kreisch, kreisch!« Sohn Robert holte sich seinen Apfel und ging nach draußen. »Hei, Papa, was machst du denn mit Mama?« fragte Tochter Fregona und trat ins Zimmer. Sie war vierzehn, aber ziemlich dumm für ihr Alter. »Sieht ja aus, als ob du sie totmachen willst. Ich dachte, man zieht den Leuten die Haut ab, ehe man sie verschlingt. Was denn? Du bist ja überhaupt nicht mein Papa? Du bist ja irgendein Monstrum. Ich dachte, du bist mein Papa. Du siehst ganz so aus wie er, bloß daß du anders aussiehst.« »Kreisch, kreisch«, sagte Mama Regina, aber ihre Stimme klang dumpf und undeutlich. Es gab schon allerhand Spaß in diesem Hause. Homer Hoose kam nach Hause in sein t.H., wie es im B. steht, und alles war da: der unedle H., das 126
vollk. H., das lbd. und unbrb. W. und die fünf K. (vier mehr wären zuviel gewesen). Der Hund umschwänzelte ihn glücklich, und Sohn Robert kaute auf dem Vorgartenrasen an seinem Apfelgriebs. »Hei, Robert«, sagte Homer, »was gibt’s denn neues heute?« »Nichts, Papa. Hier passiert ja nie was. Ach ja, da ist ein Ungeheuer im Haus. Es sieht so ähnlich aus wie du. Es macht Mama tot und frißt sie auf.« »Frißt sie auf, Junge? Wie meinst du das?« »Es hat ihren ganzen Kopf im Mund.« »Das ist aber komisch, Robert, mächtig komisch«, sagte Homer und ging ins Haus. Eins muß man den Hoose-Kindern lassen: oft genug sprechen sie die nackte Wahrheit. Da war tatsächlich ein Ungeheuer. Es tötete und fraß tatsächlich Regina, Homers Frau. Das war kein bloßer Abend-Spaß. Das war etwas Ernstes. Homer, der Mann, war ein kraftvoller und fixer Bursche. Er fiel über das Scheusal mit Judo-Schlägen und soliden Leberhaken her; das Monstrum ließ die Frau los und wandte sich dem Manne zu. »Was ist denn mit dir los, du dämlicher Lümmel?« schnappte es ärgerlich. »Wenn du was abzugeben hast, geh hintenrum zum Lieferanteneingang! Kommt einfach hier rein und boxt! Regina, weiß du, wer dieser alberne Dummkopf ist?« »Hach, das war aber schön, was, Homer?« ächzte Regina lustvoll, als sie unter ihm hervorkroch und sich hochrappelte; ihre Backen glühten, und sie schnappte nach Luft. »Ach, der? Huch, Homer, ich glaube, das ist mein Mann. Aber wie kann er mein Mann sein, das 127
bist doch du? Also, jetzt seid ihr beide so durcheinandergeraten, daß ich überhaupt nicht mehr weiß, welcher mein Homer ist.« »Alle Teufel und Gespenster! Du willst doch nicht etwa behaupten, ich sehe aus wie der da?« brüllte Homer, das Monstrum, und war nahe am Platzen. »Mein Kopf dreht sich«, stöhnte Homer, der Mann. »Die Wirklichkeit schmilzt weg, Regina! Exorzisiere diesen Alptraum, wenn du ihn auf irgendeine Weise heraufbeschworen hast! Ich hab es ja immer gewußt: du sollst nicht soviel in diesem Buch herumschmökern.« »Hör mal, Mister Rappelkopf«, sagte Regina, das Weib, »lerne erst mal so küssen wie der, ehe du mir Vorschriften machst, wen ich hier exorzisieren soll! Ich will ja nichts als ein bißchen Zuneigung. Und den da habe ich bestimmt nicht in einem Buch gefunden.« »Woher sollen wir denn wissen, welcher Papa ist? Sie sehen ja beide ganz egal aus«, ertönten die drei kleinen glockenreinen Stimmen der Töchter Clara-Belle, Anna-Belle und Maudie-Belle. »Himmel, Hölle und Hippies!« röhrte Homer, der Mann. »Woher ihr das wissen sollt? Der hat ja grüne Haut!« »Gar nichts gegen grüne Haut zu sagen, wenn sie schön sauber ist und immer eingeölt wird«, plädierte Regina. »Der hat ja Tentakeln statt Hände!« sagte Homer, der Mann. »Hach, und was für welche!« juchzte Regina. »Woher sollen wir wissen, welcher Papa ist? Die sehen ja beide ganz egal aus«, fragten die fünf Hoose-Kinder im Chor. 128
»Also bestimmt gibt’s da eine ganz einfache Erklärung, alter Bursche«, sagte Homer, das Monstrum. »Wenn ich du wäre, Homer – und man kann darüber streiten, ob ich du bin oder nicht – also, ich glaube, ich würde mal zum Arzt gehen. Ich glaube nicht, daß wir alle beide gehen müssen, denn unser Problem ist ja dasselbe. Hier ist die Adresse von einem guten Arzt«, sagte Homer, das Monstrum, und schrieb sie auf. »Ach, den kenne ich«, sagte Homer, der Mann, als er den Zettel las, »aber woher kennst du denn den? Der ist doch kein Tierarzt. Regina, ich geh also rüber zum Doktor, er soll mal sehen, was mit mir los ist, oder mit dir. Bis ich zurück bin, sieh zu, Regina, daß du diesen Nachtmahr in die eine oder andere Ecke deines Unterbewußtseins zurückgescheucht hast, wo er hingehört!« »Frag den Doktor, ob ich die rote Medizin weiter nehmen soll«, sagte Regina. »Nein, den nicht. Ich geh zum Kopf-Doktor.« »Dann frag ihn, ob ich diese hübschen sanften Träume noch weiter träumen soll«, sagte Regina. »So langsam hängen sie mir zum Halse raus; ich will wieder die andern träumen. Homer, laß den Koriander-Samen hier, wenn du gehst!« Und sie holte ihm die Packung aus der Tasche. »Du hast daran gedacht. Mein anderer Homer hat es vergessen.« »Nein, das habe ich nicht«, sagte HomerMonstrum. »Du wußtest nur nicht mehr, was ich dir bringen sollte. Hier, Regina.« »Ich bin bald zurück«, sagte Homer-Mann, »der Doktor wohnt gleich um die Ecke. Und du, Bursche, wenn du wirklich wirklich bist, bleibe mit 129
deinen planktonrupfenden Polypen aus meiner Frau heraus, bis ich wieder da bin!« Homer Hoose ging die Straße entlang bis zur Ecke, wo Dr. Corte wohnte. Er klopfte an die Tür, öffnete sie und trat ein, ohne eine Aufforderung abzuwarten. Der Doktor saß hinter seinem Tisch und schien etwas benommen zu sein. »Ich habe ein Problem, Doktor«, sagte HomerMann. »Als ich heute abend nach Hause kam, war da ein Ungeheuer – ein Monstrum –, und es fraß meine Frau auf, oder mir kam es jedenfalls so vor.« »Ja, ich weiß«, sagte Dr. Corte, »wir müssen unbedingt dieses Loch an der Ecke zumachen.« »Ich habe gar nicht gewußt, daß da ein Loch ist, Doktor. Ja, – so und so, der Kerl hat meine Frau gar nicht gefressen; das war nur die Art, wie er seine Zuneigung ausdrückt. Alle meinen sie, das Monstrum sieht aus wie ich, und dabei hat es grüne Haut, und Tentakeln auch noch. Als ich auch anfing zu denken, daß es aussieht wie ich, bin ich hergekommen – ich möchte wissen, was da mit mir nicht stimmt, oder mit all den anderen.« »Ich kann Ihnen nicht helfen, Hoose. Ich bin Psychologe, kein Allgemeinpraktiker. Man kann nur eins tun: wir müssen das Loch an der Ecke zumachen.« »Doktor, an der Straßenecke ist gar kein Loch.« »Ich red’ auch nicht über ein Loch in der Straße. Homer, eben bin ich von einer Visite in eigener Angelegenheit zurück, die mich mächtig geschockt hat. Ich war bei einem Analytiker, der Analytiker analysiert. ›Ein paar Dutzend Leute sind in letzter Zeit mit der gleichen Geschichte zu mir gekommen‹, sagte ich zu ihm. ›Sie alle kommen abends 130
nach Hause, und alles ist ganz anders, oder sie selber sind anders, oder sie stellen fest, daß sie schon da sind, wenn sie da sind. Was machen Sie, wenn ein Dutzend Leute mit der gleichen unsinnigen Geschichte zu Ihnen kommen, Dr. Diebel?‹ fragte ich ihn. ›Ich weiß nicht, Corte‹, sagte er zu mir. ›Was mache ich, wenn ein und derselbe Mann ein Dutzendmal mit derselben unsinnigen Geschichte zu mir kommt, und das innerhalb einer Stunde, und er ist auch Arzt?‹ fragte Dr. Diebel. ›Was denn, Dr. Diebel‹, fragte ich, ›welcher Arzt ist denn so zu Ihnen gekommen?‹ ›Sie‹, sagte er, ›Sie sind in einer Stunde zwölfmal mit demselben Quatsch bei mir gewesen, und jedesmal haben Sie so getan, als hätten wir uns den ganzen Monat noch nicht gesprochen. Verdammt nochmal, Mann‹, sagt er, ›als Sie eben reinkamen, müssen Sie doch an sich selbst vorbeigekommen sein, wie Sie rauskamen.‹ ›Ja, das war ich tatsächlich, nicht wahr?‹ sagte ich. ›Ich versuchte, mich zu erinnern, an wen der Kerl mich erinnert. Tja, das ist ein Problem, Dr. Diebels sagte ich. ›Was wollen Sie denn da machen?‹ – ›Ich geh zu einem Analytiker, der Analytiker analysiert, die Analytiker analysieren‹, sagte er. ›Er ist die Kanone auf dem Gebiet.‹ Dann rannte Dr. Diebel raus, und ich ging wieder in meine Praxis. Sie sind kurz danach gekommen. Ich bin nicht der Mann, der Ihnen helfen kann. Aber, Homer, wir müssen mit dem Loch an der Ecke was tun.« »Das mit dem Loch verstehe ich nicht, Doktor«, sagte Homer, »aber waren denn viele Leute mit so ähnlichen Geschichten wie ich bei Ihnen?« 131
»Ja, jeder Einzelne in diesem Block war mit so einer idiotischen Geschichte hier, außer – tja, außer dem alten doppelglatzigen Diogenes selber. Homer, das ist ein Mann, der alles weiß, und der hat bestimmt seine Finger bis an die Ellbogen in dieser Geschichte drin. Ich hab ihn nämlich in der Nacht oben auf dem Leitungsmast gesehen, aber ich habe mir nichts dabei gedacht. Er zapft ganz gern mal die Leitung an, ehe sie über seinen Zähler geht. Spart auf diese Weise eine Menge Strom, und in seinem Labor verbraucht er ziemlich viel. Aber der hat das Loch an der Ecke gemacht. Bestimmt war er das. Gehen wir einfach mal zu ihm rüber und schleifen wir ihn zu Ihnen nach Hause, damit er diese Geschichte wieder gradebiegt.« »Ja, sicher, ein Mann, der alles weiß, der muß ja auch über das Loch an der Ecke Bescheid wissen, Doktor. Aber ich kann ganz bestimmt nirgends ein Loch an dieser Ecke sehen.« Der Mann, der alles wußte, hieß Diogenes Pontifex. Er wohnte direkt neben Homer Hoose, und sie trafen ihn im Garten hinter seinem Hause an, beim Ringkampf mit seiner Anakonda. »Diogenes, kommen Sie mit rüber zu Homer«, sagte Dr. Corte eindringlich. »Wir haben ein paar Fragen, die sogar für Sie zu schwierig sein dürften.« »Da rühren Sie an meinen Stolz«, rief Diogenes. »Wenn die Psychologen anfangen, ihre Psychologie an einem auszuprobieren, dann kann man nichts machen. Warten Sie einen Augenblick, bis ich das Vieh hier aufs Kreuz gelegt habe.« Diogenes nahm die Anakonda in den Schwitzkasten, haute ihr ein paarmal in die Fresse und legte sie dann mit Dop132
pelnelson und Untergriff auf den Boden, wo sie knotenschlagend liegenblieb. Dann gingen sie miteinander zu Homer nach Hause. »Hei, Homer«, sagte Diogenes zu HomerMonstrum, als sie im Hause waren. »Wie ich sehe, sind zwei Homers auf einmal hier. Das ist es wahrscheinlich, was euch stört.« »Dr. Corte, hat Homer Sie gefragt, ob ich mit den sanften Träumen aufhören kann?« fragte Regina. »Ich habe wirklich genug davon. Ich will wieder die alten gänsehäutigen Horror-Schinken träumen.« »Das können Sie bestimmt schon heute nacht haben, Regina«, sagte Dr. Corte. »Also, ich werde jetzt versuchen, Diogenes dazu zu kriegen, daß er uns erklärt, was hier eigentlich los ist. Er weiß es bestimmt. Und wenn Sie den ersten Teil weglassen würden, Diogenes, nämlich daß alle anderen Wissenschaftler der Welt gegen Sie nur kleine Jungen sind, dann würden wir Zeit sparen. Ich nehme an, das ist auch wieder eins von Ihren Experimenten – o nein, an Ihr letztes wollen wir lieber nicht mal denken! Erzählen Sie uns was, Diogenes, über das Loch an der Ecke, und was da alles durchfallt. Erzählen Sie uns, wie das kommt, daß manche Leute zweidreimal in ebensovielen Minuten nach Hause kommen, und schon da sind, wenn sie kommen. Sagen Sie uns, wieso eine solche Kreatur, die keine Phantasie verkraftet, nach ein paar Minuten schon wie ein alter Bekannter wirken kann, so daß man nicht mehr weiß, welcher der Richtige ist. Ich bin mir jetzt keineswegs sicher, welcher von den beiden Homers vorhin in meiner Praxis war, und mit welchem ich jetzt ins Haus gekommen bin. Sie sehen einerseits völlig gleich aus, andrerseits aber nicht.« 133
»Mein Homer hat schon immer komisch ausgesehen«, sagte Regina. »Die beiden sehen ganz verschieden aus, wenn Sie nach dem rein visuellen Index gehen«, erklärte Diogenes. »Aber kein Mensch geht nur nach dem rein visuellen Index, es sei denn momentweise. Unser Eindruck von einer Person oder einer Sache ist viel komplexer, und das visuelle Moment spielt in unserer Bewertung nur eine geringe Rolle. Also einer von diesen beiden ist Homer Gestalt 2, und der andere ist Homer Gestalt 9. Aber sie sind durchaus unterschiedlich. Kommen Sie bitte nicht auf die Idee, es könnte sich um ein und dieselbe Person handeln. Das wäre ganz blöd.« »Und der Herr bewahre uns davor«, sagte Homer-Mann. »Also los, Diogenes, ziehen Sie Ihre Schau ab.« »Zunächst sehen Sie mal alle ganz genau auf mich«, sagte Diogenes. »Hübsch, nicht wahr? Aber achten Sie auf meine Kleidung, meinen Teint und meinen Gesichtsausdruck! Und nun die Erklärung: Es beginnt mit meiner Abhandlung über Phelans Handbuch der Schwerkraft. Ich gehe von der entgegengesetzten Alternative aus wie er. Phelan fand es seltsam, daß die Schwerkraft auf allen Welten außer einer bestimmten so schwach ist. Phelan behauptet, die Schwerkraft eben dieser einen, sehr entfernten Welt sei typisch, die aller anderen Welten dagegen atypisch und die Folge eines mathematischen Irrtums. Ich hingegen schließe aus den gleichen Daten, daß die Schwerkraft auf unserer Welt nicht zu schwach, sondern zu stark ist. Sie ist etwa hundertmal größer, als sie sein dürfte.« 134
»Womit vergleichen Sie sie aber, wenn Sie sagen, sie sei zu stark?« wollte Dr. Corte wissen. »Ich kann sie mit gar nichts vergleichen, Doktor. Die Schwerkraft eines jeden Körpers, den ich untersuchen kann, ist achtzig- bis hundertmal zu stark. Es gibt zwei mögliche Erklärungen dafür: Entweder habe ich mich in meinen Berechnungen geirrt – was unwahrscheinlich ist –, oder es gibt in jedem Einzelfall etwa hundert feste und gewichtige Körper, die in Raum und Zeit den gleichen Punkt einnehmen. Alte Eisbuden-Stühle! Tennisschuhe im Oktober! Ulmengeruch! Rummelplatz-Ausrufer mit Warzen auf der Nase! Hornkröten im Juni!« »Also, bis zu den Eisbuden-Stühlen bin ich ganz gut mitgekommen«, sagte Homer-Monstrum. »Oh, das habe ich noch mitgekriegt, und auch noch das mit den Tennisschuhen«, sagte HomerMann. »Ich komme bei solchen kosmischen Theorien immer ganz gut mit. Was mich umschmiß, war das mit den Ulmen. Ich begreife nicht, wie ausgerechnet Ulmenduft eine kontingente Gravitationstheorie illustrieren kann.« »Das waren bloß Beschwörungsformeln«, sagte Diogenes. »Bemerken Sie jetzt an mir eine Veränderung?« »Natürlich. Sie haben einen anderen Anzug an«, sagte Regina, »aber das ist doch nichts Besonderes. Viele Leute ziehen sich zum Abend um.« »Sie sind dunkler und sehniger«, sagte Dr. Corte, »aber ich hätte keinen Unterschied bemerkt, wenn Sie nicht gesagt hätten, wir sollten darauf achten. Tatsächlich, wenn ich nicht wüßte, daß Sie Diogenes sind, gäbe es keine vernünftige Möglichkeit, Sie als Diogenes zu identifizieren. Sie sehen sich über135
haupt nicht ähnlich; und doch würde ich Sie überall herauskennen.« »Ich war zuerst Gestalt Nummer 2. Jetzt bin ich eine Weile Gestalt Nummer 3«, sagte Diogenes. »Also, zunächst einmal ist es Tatsache, daß etwa hundert feste und gewichtige Körper denselben Raum einnehmen, den unsere Erde einnimmt, und zwar zur gleichen Zeit. Schon dieses Faktum wirft die konventionelle Physik über den Haufen. Aber jetzt betrachten wir einmal die Eigentümlichkeiten aller dieser kohabitanten Körper. Sind sie bewohnt und bevölkert? Wenn ja – wird damit gesagt, daß etwa hundert Personen zu jeder Zeit den gleichen Raum einnehmen, den jede einzelne Person einnimmt? Würde dieser Gedanke nicht der konventionellen Psychologie Gewalt antun? Nun, ich habe bewiesen, daß mindestens acht weitere Personen den gleichen Raum einnehmen, den jeder von uns einnimmt; will sagen: ich stehe am Anfang dieses Beweises. Dicke bleiche Sykamoren-Äste! Frischgeeggte Erde! (Neue Egge, alte Erde!) Kuhmist im Juli zwischen den Zehen! Lehm vom Basehallplatz der Alten Dreiäugigen Liga! Sperber im August!« »Von der Egge bin ich runtergerutscht«, sagte Regina, »aber das mit den Sykamoren-Ästen habe ich noch mitgekriegt.« »Ich bin ganz glatt bis zu den Sperbern mitgekommen«, sagte Homer-Monstrum. »Haben Sie diesmal irgendwelche Unterschiede an mir bemerkt?« fragte Diogenes. »Sie haben jetzt kleine Federn auf dem Handrücken, wo Sie sonst Haare hatten«, sagte HomerMann, »und auf den Zehen auch. Sie sind jetzt bar136
fuß. Aber ich hätte überhaupt nichts bemerkt, wenn ich nicht extra auf was Komisches geachtet hätte.« »Ich bin jetzt Gestalt 4«, sagte Diogenes. »Wahrscheinlich werde ich mich etwas sonderbar benehmen.« »Das tun Sie ja immer«, sagte Dr. Corte. »Aber nicht so sehr wie in Gestalt 5«, sagte Diogenes. »Als Gestalt 5 würde ich vielleicht einen pan-artigen Sprung auf die Schultern der jungen Fregona hier vollführen, oder der schönen Regina, wie sie da steht, durchs Haar spazieren, buchstäblich und barfuß. Viele normale Zweier-Gestalten werden Vierer oder Fünfer, wenn sie träumen. Anscheinend ist das bei Regina der Fall. Ich habe den Schatten, aber nicht die Substanz der ganzen Situation in der Psychologie Jungs gefunden. Bei ihm fand ich das zweite Element meiner Theorie, denn durch die Irrtümer Phelans und Jungs, die auf weit voneinander entfernten Gebieten liegen, kam ich der Wahrheit auf die Spur. Was Jung sagen will, ist, daß die Tiefen-Person jedes Menschen aus mehreren Personen besteht. Das halte ich für Quatsch. An solchen weithergeholten Theorien ist etwas, das mich abstößt. Wahr ist vielmehr, daß unsere Gegenbilder rein zufällig in unser Unterbewußtsein und unsere Träume geraten, da sie ja meistens denselben Raum wie wir selbst einnehmen. Und doch sind sie allesamt getrennte und unabhängige Persönlichkeiten. Und wir können, zu zweien oder zu mehreren, zur selben Zeit in derselben Form präsent sein, und dann an einem eng benachbarten, jedoch nicht identischen Ort. Zum Beispiel ist Homer in den Gestalten 2 und 9 hier gegenwärtig. 137
Ich habe experimentiert, um zu sehen, wie weit ich komme; und Gestalt 9 ist bis jetzt das Äußerste, was ich erreicht habe. Ich numeriere die Gestalten nicht nach ihrer Abweichung von unserer eigenen Norm, sondern nach der Reihenfolge, in der ich sie gefunden habe. Ich bin jedoch davon überzeugt, daß die konzentrischen und kongravitären Weltenund Personenkomplexe nahezu hundert betragen.« »Also, es gibt doch tatsächlich ein Loch an der Ecke, nicht wahr?« fragte Dr. Corte. »Ja, ich habe es an der Bus-Haltestelle gemacht; das ist ein praktischer abendlicher Einstiegspunkt für die Leute in unserer Straße«, sagte Diogenes. »Ich habe in den letzten zwei Tagen eine Menge Gelegenheit gehabt, die Ergebnisse zu studieren.« »Aber wie machen Sie so ein Loch an der Ecke?« beharrte Dr. Corte. »Glauben Sie mir, Corte, dazu war eine Menge Phantasie nötig«, sagte Diogenes. »Ich meine das ganz wörtlich. Ich drang so tief in meinen eigenen Seelen-Vorrat ein, daß ich ganz geschwächt war; und dabei besitze ich eine reichhaltigere Sammlung psychischer Imagos als irgendjemand, den ich kenne. Ich habe außerdem an beiden Enden der Straße magnetische Verstärker aufgestellt; aber was sie verstärken, ist meine eigene Imaginationskraft. Ich sehe hier ein unendlich weites Studiengebiet.« »Aber was sind denn das für Beschwörungen, mit denen Sie von einer Gestalt zur anderen gelangen?« fragte Homer-Monstrum. »Das ist nur eine Möglichkeit von Dutzenden, um den Einstieg zu bewirken, aber sie ist mir manchmal die bequemste«, antwortete Diogenes. »Es handelt sich dabei um die Erinnerung an das 138
Unmittelbare, auch ›verbales Schweifen‹ genannt. Es ist eine Anrufung – ein intuitiver und charismatischer Einstieg. Ich benutze es häufig im Bradmont-Motiv – diese Bezeichnung habe ich von zwei Science-Fiction-Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts übernommen.« »Sie sprechen so, als ob … also wir leben doch im zwanzigsten Jahrhundert?« fragte Regina. »Im zwanzigsten? Ach ja, Sie haben recht. Wird schon so sein«, stimmte Diogenes zu. »Sehen Sie, ich experimentiere auch auf anderen Gebieten, und da geraten mir manchmal die Zeiten durcheinander. Sie alle, nehme ich an, erleben gelegentlich Momente besonderer Unmittelbarkeit und Lebendigkeit. Dann erscheint Ihnen die Welt irgendwie frischer, so als wäre sie eine ganz neue Welt. Und die Erklärung dafür ist, daß die Welt für Sie tatsächlich neu ist. Sie haben sich momentweise in eine andere Gestalt versetzt. Es gibt viele zufällige Löcher oder Einstiege, aber meins ist, soweit mir bekannt ist, das einzige willkürlich geschaffene.« »Da ist aber eine Diskrepanz«, sagte Dr. Corte. »Wenn die Persönlichkeiten getrennt sind, wie können Sie dann von einer in die andere hinüberwechseln?« »Ich wechsele nicht von einer zur anderen«, sagte Diogenes. »Jetzt und hier haben Sie drei verschiedene Diogenesse gehört, die Ihnen nacheinander Vortrag gehalten haben. Glücklicherweise sind meine Gestalt-Kollegen und ich in der Arbeit ausgezeichnet aufeinander abgestimmt, denn wir denken alle gleichermaßen wissenschaftlich. Wir haben heute abend mit Ihnen ein erfolgreiches Experiment über das Akzeptieren von Ersatzpersonen durchge139
führt. Oh, was für eine verästelte Angelegenheit! Alle die verschiedenen Aspekte, die dabei zu studieren waren! Ich werde Sie jetzt aus Ihrer engen Welt der Gestalt 2 herausnehmen und Ihnen Welten über Welten zeigen.« »Sie reden über den Gestalt-Komplex, zu dem wir normalerweise gehören«, sagte Regina, die Frau, »und über andere bis zur Gestalt 9 und vielleicht bis 100. Gibt es keine Gestalt 1? Eine Menge Menschen fangen doch bei Eins an zu zählen.« »Es gibt eine Nummer 1, Regina«, sagte Diogenes. »Ich habe sie zuerst entdeckt und benannt, ehe mir klar wurde, daß die gewöhnliche Welt der meisten von Ihnen der gleichen Kategorie angehört. Aber ich habe nicht die Absicht, wieder in Gestalt 1 einzugehen. Sie ist auf unerträgliche Weise geschwollen und trist. Ein Beispiel für ihre Mediokrität wird genügen: Die Menschen der Gestalt 1 sprechen von ihrer Welt als der ›Alltäglichkeit‹! Wenn Sie kotzen müssen, tun Sie das bitte leise. Möge der Niedrigste unter uns niemals so tief sinken! Dattelpflaumen nach dem ersten Frost! Alte Frisierstühle! Rote Hartriegelblüten in der dritten Novemberwoche! Murad-Zigaretten-Reklame!« Diogenes schien beunruhigt, und er rief die letzten Worte in einem Zustand leichter Panik. Er wandelte sich in einen anderen, etwas unterschiedlichen Menschen, aber dem neuen Diogenes gefiel keineswegs, was er da sah. »Duft von feuchtem Süßklee!« rief er nun, »St. Mary’s Street in San Antonio! FlugzeugmodellKleber! Mondkrabben im März! – Verdammt, es funktioniert nicht! Die Ratten sind mir weggelaufen! Homer und Homer, schnappt euch den anderen 140
Homer da! Ich glaube, das ist eine Gestalt 6, und die sind verflucht bösartig!« Homer Hoose war durchaus nicht besonders bösartig. Er war bloß ein paar Minuten später als sonst nach Hause gekommen und hatte dort zwei andere Kerle vorgefunden, die aussahen wie er und sich mit seinem Weibe Regina auf dem Teppich herumwälzten. Und diese beiden Phrasendrescher, Dr. Corte und Pontifex, hatten in seinem Hause auch nichts zu suchen, wenn er nicht da war. Also haute er zu. Das hätten Sie auch getan. Alle drei Homers waren kräftige und fixe Kerle und hatten eine Menge Blut in sich. Es fing, unterm Krachen und Zerbrechen von Möbeln, auch alsbald an zu fließen – ockerfarbenes Blut, perlgraues Blut – einer der drei Homers hatte sogar Blut, das in einer Art Rot schimmerte. Die Kerle machten schon ein richtiges Faß auf! »Gib mir die Packung Koriander-Samen, Homer!« sagte Regina zu dem letzten Homer und nahm sie ihm aus der Tasche. »Schadet gar nichts, wenn man drei hat. Homer! Homer! Homer! Ihr alle drei! Hört gefälligst auf, mir den Teppich vollzubluten!« Homer war schon immer ein guter Schläger gewesen. Homer auch. Und Homer ebenfalls. »Stethoskope! Mondbeschienenes Denkmal im – äh – im Spätmärz!« beschwor Dr. Corte. »Klappt nicht, wie? Ich muß auf irgendeine vernünftige Weise hier rauskommen. Jungens, ihr Homers, kommt in meine Praxis, wenn ihr fertig seid, aber immer nur einer auf einmal, damit ich euch verpflastern kann! Schließlich muß ich auch noch ein bißchen Geld mit richtiger Medizin verdienen, bei diesen Zeiten!« 141
Und Dr. Corte rannte, mit dem schiefen Trab eines Mannes in nicht sehr guter Kondition, zur Tür. »Alte Superman-Comic-Strips! Congress-Street in Houston! Light Street in Baltimore! Elizabeth Street in Sydney! Lack auf alten KneipenKlavieren! B-Girls namens Dotty! Ich glaube, es ist einfacher, wenn ich schwupps nach Hause verschwinde!« rasselte Diogenes und schoß aus dem Zimmer, leichtfüßig wie ein Mann in bester Kondition. »Mir reichts!« dröhnte einer von den drei Homers – wir wissen nicht, welcher –, als er aus dem allgemeinen Rabatz heraus und gegen eine Wand flog. »Wenn ein Mann nach Hause kommt, will er Frieden und Ruhe, und nicht sowas. Leute, ich verschwinde hier und gehe zurück bis an die Ecke. Und dann komm ich nochmal nach Hause. Ich muß mir die ganze Geschichte aus dem Hirn wischen. Wenn ich von der Ecke zurückkomme, pfeife ich ›Dixie‹, und dann bin ich der friedlichste Mensch von der Welt. Aber wenn ich nach Hause komme, dann dürfte es für euch beide besser sein, wenn ihr nie existiert habt!« Und Homer rannte zur Ecke. An diesem Abend kehrte Homer zu seinem trauten Heim, wie es im Buche steht, zurück, – und alles war, wie es sich gehört. Er fand sein Haus in Ordnung und sein Weib Regina allein. »Hast du den Koriander-Samen mitgebracht, Homer, mein süßes kleines Spinngewebe?« fragte Regina. »Ah ja, ich erinnere mich, daß ich das Zeug besorgt habe, Regina, aber anscheinend habe ich es nicht in der Tasche. Frag mich bloß nicht, wie es 142
weggekommen ist. Das ist etwas, was ich gern vergessen möchte. Regina, ich war doch heute abend nicht schon mal hier, oder?« »Nicht daß ich wüßte, mein kleiner Dolomedes sexpunctatus.« »Und es waren auch nicht ein paar Kerle hier, die aussahen wie ich, bloß ein bißchen anders?« »Nein, nein, mein kleiner Spinnerich! Ich liebe dich und so weiter, und keiner kann so aussehen wie du! Kinder! Macht euch fertig zum Essen! Papa ist zu Hause!« »Na, dann ist ja alles in Ordnung«, sagte Homer. »Ich hatte nämlich auf dem Nachhauseweg einen Wachtraum – aber all dieser Mist ist ja gar nicht passiert. Hier bin ich in meinem perfekten Hause mit meinem Weibe Regina, und die Kinder werden auch gleich da sein. Ich habe niemals gewußt, wie wunderbar das ist. HAACHCH! DU BIST JA GAR NICHT REGINA!!« »Aber natürlich bin ich Regina! Lycosa Regina ist mein Art- und Gattungsname. Also komm, komm, Homer, du weißt doch, wie sehr ich unsere gemeinsamen Abende liebe!« Sie schnappte ihn sich, brach ihm liebevoll Arme und Beine, damit sie ihn besser handhaben konnte, breitete ihn auf dem Fußboden aus und begann, ihn zu verschlingen. »Nein, nein, du bist nicht Regina!« schluchzte er »Du siehst aus wie sie, aber auch wie eine gigantische unheimliche Spinne! Dr. Corte hatte recht, wir müssen das Loch an der Ecke zumachen.« »Dieser Dr. Corte weiß nicht, wovon er redet«, kaute Regina. »Er sagt, ich hätte eine FreßzwangNeurose.« 143
»Mama, warum frißt du denn Papa schon wieder auf?« fragte Tochter Fregona, als sie ins Zimmer trat. »Du weißt doch, was der Doktor gesagt hat.« »Das ist das Spinnenhafte in mir«, sagte Regina. »Ich wünschte, du hättest den Koriander-Samen mitgebracht, Homer. Du schmeckst immer so schön damit.« »Aber der Doktor hat doch gesagt, du sollst dich ein bißchen zurückhalten, Mama!« fing Tochter Fregona wieder an. »Er sagt, in Papas Alter wachsen ihm die Arme und Beine nicht mehr so schnell nach, und schließlich würde er davon Neurosen kriegen.« »Hilfe, Hilfe!« kreischte Homer, »meine Frau ist eine Riesenspinne und frißt mich auf! Meine Arme und Beine sind schon weg! Wenn ich doch den Alptraum von vorhin wieder zurückholen könnte! Nachttöpfe unterm Bett in Großvaters Kate! Knotenstricke für Heulbrüller zur Walpurgisnacht! Schweinefutter im Februar! Spinnwebige Marmeladentöpfe im Keller! Nein, nein, bloß das nicht! Es klappt ja nie, wenn man’s braucht! Dieser Diogenes fummelt viel zu viel mit zuviel komischem Zeug herum!« »Ich will ja bloß ein bißchen Zärtlichkeit!« sagte Regina mit vollem Munde. »Hilfe! Hilfe!« schrie Homer. Und sie fraß ihn von unten her rein bis zum Kopf auf. »Kreisch, kreisch.«
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Wie heißt diese Stadt? »Epiktistes hat mir verraten, daß Sie hinter etwas ganz Großem her sind, Gregor Fedorowitsch«, wandte sich Valerie Mok an ihren Kollegen. »Epikt hat die größte Schlabberschnauze von allen Maschinen, mit denen ich bisher zu tun hatte«, knurrte Professor Smirnow. »Ich habe noch keine gesehen, die ein Geheimnis für sich behalten konnte. Tatsächlich haben wir überhaupt noch nichts. Wir fummeln bloß an einer noch ungeborenen Idee herum.« »Na, wie ist das, Epikt?« fragte Valerie. »Groß, ganz groß«, gab die Maschine von sich. »Reden Sie mit mir, zum Donnerwetter!« fuhr Smirnow dazwischen. »Ich bin schließlich der Mensch, und er ist die Maschine. Er kaut Lexika und alle möglichen Nachschlagewerke. Mehr tut er überhaupt nicht.« »Ich dachte, die hat er alle schon durch?« »Klar, ein paar dutzendmal. Er hat alle Daten, die man in eine Maschine einfüttern kann, und jeden Tag schaufeln wir ihm ballenweise neues Material ein. Aber diesmal steckt etwas ganz anderes dahinter, wenn er sie kaut.« »Was steckt denn dahinter, Gregor Fedorowitsch?« »Das ist schwierig zu sagen, weil ich es ihm bis jetzt noch nicht richtig präsentieren konnte. Wir versuchen, ein Problem zu setzen, wo anscheinend schon eins sein sollte – und dann die Antwort darauf zu finden. Aber vielleicht finden wir die Antwort, ehe wir die Frage haben. Zuerst hat er meine 145
Aufforderung abgelehnt; später nahm er sie an – ironischerweise. Ich bezweifle, daß er es ernst meint. Er kann ein ziemlicher Scherzbold sein – von der Seite müßten Sie ihn ja recht gut kennen.« »Ich weiß, daß ihr beiden hinter irgend etwas Gutem her seid«, sagte Valerie. »Je mehr Sie es abstreiten, umso sicherer bin ich. Erzähl mir die Wahrheit, Epikt!« »Groß, wahrhaftig ganz groß«, äußerte Epikt zu Valerie. »Valerie«, sagte Smirnow, »Sie sind eine Frau, und Sie könnten sich bemüßigt fühlen, den anderen Institutsmitgliedern was zu erzählen. Bitte tun Sie’s nicht! Wir haben überhaupt noch nichts in der Hand, und es macht mich nervös, wenn mir aufgeregte kleine Leute über die Schulter sehen und in den Kragen pusten!« »Kein Wort werd’ ich sagen!« schwor Valerie ernsthaft, aber unaufrichtig. Sie blinzelte dem Computer zu, und Epikt blinzelte ihr seinerseits mit seinen neun Reihen Augen zu. Zwischen Valerie Mok und Epiktistes lief etwas. Valerie konnte beinahe ebenso schlecht wie ein Computer ein Geheimnis für sich behalten. Bald knobelte der gesamte Stab des Instituts nervös an der Frage herum: Woran arbeiten Smirnow und Epiktistes? Zum Stab gehörten Charles Cogsworth, Valeries überschatteter Ehemann; Glasser, der hartnäckige Erfinder, und Aloysius Shiplap, ein Genie auf dem Gebiet der künstlichen Besamung. Am nächsten Tage waren sie allesamt hinter Smirnow und seiner Maschine her. »Wir haben bisher an jedem Projekt gemeinsam gearbeitet«, sagte Glasser. »Valerie erzählt, daß Ihr 146
gegenwärtiges Problem noch nicht richtig formuliert worden ist, und daß Epikt es nur ironischerweise angenommen hat. Wir, Gregor Fedorowitsch, verstehen ganz gut, Probleme zu formulieren, und sogar ein bißchen strenger als Sie, wenn es sich darum handelt, mit witzig veranlagten Maschinen umzugehen.« »Also schön, Glasser, die Sache verhält sich so«, sagte Smirnow widerstrebend. »Meine erste Formulierung lautete: wir sollten etwas suchen, dessen Existenz nicht bekannt ist, und zwar durch die detaillierte Analyse des Nichtvorhandenseins von Beweisen. Als ich Epikt das Problem in dieser generalisierten Form vorlegte, lachte er mich einfach aus.« »Das wäre mein erster Impuls auch gewesen, Gregor Fedorowitsch«, sagte Shiplap. »Haben Sie denn keine bessere Idee von dem, was Sie suchen?« »Shiplap, ich hatte das Gefühl, als versuchte ich, mich an etwas zu erinnern, das man mich zu vergessen gezwungen hat. Meine zweite Formulierung war nicht viel besser. ›Wollen doch mal sehen‹, sagte ich zu Epikt, ›ob wir nicht etwas rekonstruieren können, dessen Idee vollständig ausgelöscht worden ist; ob wir es nicht finden können, indem wir das Übermaß an Beweisen für sein Nichtvorhandensein analysieren.‹ In dieser Form hat Epikt das Problem akzeptiert. Vielleicht hat er sich aber auch nur spaßeshalber entschlossen, mitzumachen. Ich bin mir nie ganz sicher, wie diese klappernde Maschine die Dinge auffaßt.« »Nun ja, kein Loch kann vollkommen ausgefüllt werden«, sagte Cogsworth. »Es gibt immer zuviel oder zuwenig von der Füllmasse, oder sie ist von 147
etwas anderer Struktur. Die Schwierigkeit liegt darin, daß Sie Epikt keine Anhaltspunkte gegeben haben. Es gibt sicher Millionen vergessener oder verdrängter Dinge, bei denen die Füllmasse Unregelmäßigkeiten aufweist. Wie soll Epikt wissen, an welches aus dieser Unmenge Sie sich zu erinnern versuchen?« »Item: Das Verborgene muß eine verborgene Bindung an Smirnow, meinen Boß, haben«, gab Epikt, die Maschine, von sich. »Ja, natürlich«, sagte Glasser. »Hat Epikt irgend etwas ausgebuddelt?« »Nur einen Scheffelvoll Items, die anscheinend überhaupt nichts bedeuten«, sagte Smirnow trübsinnig. »Item: Warum steht in ungarischen Enzyklopädien und Wörterbüchern einer gewissen Periode zwischen den Stichwörtern Sik und Sikamlos eine Blindzeile?« fragte Epikristes. »Ich folge deinem Gedankengang, Epikt«, stimmte Glasser zu. »Das könnte ein Hinweis auf irgend etwas sein. Wenn die Idee oder der Name eines bestimmten Subjekts aus allen Nachschlagewerken getilgt wurde, dann müssen in allen Exemplaren der Originalausgabe die anderen Stichworte auf der gleichen Seite etwas aufgepolstert werden, oder man muß ein neues Stichwort einfügen. Diese Füllung kann unter Zeitdruck geschehen und daher etwas unvollkommen geraten sein. Wer weiß also ein Wort, das nicht mehr im Gebrauch ist und zwischen Sik und Sikamlos stehen müßte? Und, wenn wir es kennen, würde uns das weiterhelfen?« »Item: Warum wird das Junge des Bären im Englischen jetzt ›pup‹ genannt, während es früher unter 148
der Bezeichnung ›cub‹ bekannt gewesen sein mag?« gab Epikt von sich. »Ich habe nie ein Bärenjunges als ›cub‹ bezeichnen hören«, protestierte Shiplap. »Epikt ist durch unsere Methode der Auswertung von Auslassungen darauf gestoßen«, erklärte Smirnow. »Vermutlich ist da eine unvollkommene Tilgung geschehen. Ich nehme an, daß ›cub‹ die Verformung eines Wortes ist, das irgendwie aus dem Gedächtnis des Volkes verdrängt wurde. Epikt hat diesen Hinweis aus einer Ballade, welche, glaube ich, vom Hauptstrom der Verdrängung sehr weit entfernt liegt; sonst würde das Wort selbst in entstellter Form nicht überlebt haben.« »Item: Warum bezeichnet man im Englischen das einfache Insichzurücklaufen eines Seiles mit dem unhandlichen Wort ›coronal‹? Warum wird nicht ein einfacheres Wort gebraucht?« fragte Epikt. »Hat Epikt in Betracht gezogen, daß Seeleute schon immer gern ausgefallene Bezeichnungen verwendet haben und daß diese von Landbewohnern oftmals übernommen wurden?« fragte Cogsworth. »Klar – Epikt zieht immer alles in Betracht«, antwortete Smirnow. »Er hat tausende derartige Items, und er glaubt, daß es ihm möglich sein wird, sie in ein System zu bringen.« »Item: Warum gibt es eine große Lücke in der älteren Jazz-Musik? Es ist, nach den Worten eines gewissen Benny Cis, ›als ob ein großes Stück mit den Wurzeln herausgerissen wurde‹.« »Smirnow, ich weiß, daß Ihr Computer ungewöhnliche Talente besitzt«, sagte Glasser, »aber 149
wenn er diese Dinge zueinander in Beziehung setzen kann, dann ist er ein Genie der Verknüpfung.« »Oder ein dickschädeliger Clown«, sagte Smirnow. »Ich weiß, daß er etwas emotionale Entspannung von dem ständigen Streß seiner Arbeit braucht, aber oft genug übertreibt er es mit seinem Humor und seiner Possenhaftigkeit.« »Item: Warum wird jede Erwähnung der amerindianischen Friedenspfeife vermieden? Nicht eine einzige Erwähnung ist zu finden, grade als ob irgendeine Obszönität damit verbunden wäre. Eine solche ist aber auch nicht zu entdecken.« »Da hat er ein neues herausgefunden, während wir hier stehen«, sagte Smirnow. »Er hat schon eine ganze Menge beisammen.« »Item: Warum ist …« fragte Epikt. »Ach, halt’s Maul und geh wieder an deine Arbeit!« befahl Smirnow seiner Maschine. »Lassen wir ihn bis morgen dran, Kollegen! Vielleicht braut sich bis dahin was zusammen«, sagte Smirnow und entfernte sich mit steifen Schritten. »Wird ’ne ganz große Sache«, rasselte Epikt noch hervor, als sein Boß draußen war, »Jungens und Mädels, das wird ganz groß.« Am nächsten Morgen verbanden sie die Dienstbesprechung vor der Maschine mit einer Party für Shiplap. Aloysius Shiplap war es gelungen – zum erstenmal in Zeit und Raum –, linkshändiges Gras zu züchten. Es hieß nicht etwa so, weil es linksdrehend wuchs, sondern weil seine organischen Elemente in ihrem Aufbau rückläufig waren. Linkshändige Mineralien waren schon vor längerer Zeit konstruiert worden, und vielleicht kamen sie sogar in der Natur vor. Linkshändige Bakterien und 150
Schleimpilze waren ebenfalls seit längerem bekannt; aber noch niemandem war etwas so Kompliziertes wie linkshändiges Gras gelungen. »Der Effekt dieses Grases ist in jeder Beziehung umgekehrt«, erläuterte Shiplap. »Vieh, das dieses Gras weidet, wird an Gewicht verlieren, statt zuzunehmen. Wenn sich jemals ein Markt für wirklich mageres Vieh entwickelt – auf den warte ich.« Sie vergluckerten zur Feier des Tages eine ganze Menge Tosher-Gin. Tosher-Gin ist der einzige Drink, der sowohl Menschen wie auch ktisthetische Computer besoffen macht. Im Tosher-Gin ist ein Aroma, von dem eine Maschine blau wird. Und der darin enthaltene Alkohol hat manchmal auf Menschen eine ähnliche Wirkung. Epiktistes wurde so reif wie ein Kürbis aus dem Pottawattamie-County. Ktisthetische Maschinen sind wie Iren und Indianer. Sie kommen erst richtig in Gang, wenn der Gin zu fließen beginnt. Aber wenn man dann nicht genau aufpaßt, werden sie ziemlich wild. Und die Instituts-Leute hatten ebenfalls ihren Spaß. »Ich möchte ihn gar nicht anders«, sagte Smirnow. »Wenn er sich entspannt, dann entspannt er sich richtig. Hawkins’ Maschine beißt einen buchstäblich, wenn sie sich von einem schwierigen Problem frustriert fühlt. Drexels kleinere Maschine geht auseinander und schmeißt mit Lichtbogen und Selenoiden – es ist verdammt gefährlich in ihrer Nähe. Es gibt wesentlich Schlimmere als diesen Clown von einem Computer, den ich da habe – obwohl auch er äußerst kitschig werden kann, wenn er besoffen ist.« 151
Valerie Mok hatte ein paar von Epiktistes’ Aussprüchen erwischt und sie in die Cocktail-Kekse gesteckt. Glasser, der einen aß, biß plötzlich auf ein Stück Metallband. Er zerrte das nasse Ding von seiner Zunge ab und las: »Item: Wie lautet der geheimnisvolle Name, den ein tauber Halbidiot an die Wand der Herrentoilette eines öffentlichen Gebäudes in Vinita (Oklahoma) geschrieben hat?« Epiktistes kicherte, obschon das Item ernst gemeint gewesen sein mochte, als er es von sich gab. Cogsworth holte sich einen Streifen aus dem Mund und strich damit beim Herausziehen die Krümel von seiner Zunge: »Item: Warum braucht der Petit Larousse * fünf Zeilen zuviel, um so gut wie nichts über das untergegangene Volk der Chibchah-Indianer im heutigen Columbien zu sagen?« Hier brach Valerie in ihr hohes Gelächter aus, in dem sogar das Alphabet komisch klingen würde. Shiplap zog einen Streifen aus seinem grinsenden Mund, und der sah, wie er da nach und nach zum Vorschein kam, wie eine Verlängerung dieses Grinsens aus. »Item: Was ist mit dem Sumpf auf dem Great Blue Island, der sämtliche Geologen vor ein Rätsel stellt? Oder (in der bekannten journalistischen Manier der Zweitüberschrift gefragt): Wie vergangen ist die Vergangenheit?« Tosher-Gin ist ein Kichersaft. Glassers Gelächter knatterte wie eine Serie von Feuerwerksschwärmern. Smirnow zog mit souveräner Ruhe seine Frage *
das klassische französische Wörterbuch (d. Übs.).
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aus dem Cocktail-Keks. Er las sie vor, als sei sie von extremster Bedeutung – und das war sie auch: »Item: Welche Merkwürdigkeit wird fast enthüllt durch das Abblättern der Farbe auf den alten Güterwagen der Rock Island and Pacific-Railroad?« »Ach hör auf zu kichern, Epikt! So komisch ist das gar nicht.« »Doch, doch!« gluckste Valerie. Dann verkutzte sie sich bis fast zum Ersticken, als sie aus ihrem Keks ein sehr langes Band herauszog, und las es mit silberner Heiterkeit vor: »Item: Warum hatten die makrabren Verse vom Schrecklichen Klein-Willy, als sie bei den SubTeenagern der frühen neun-zehnhundertachtziger Jahre eine Renaissance erlebten, fast ausschließlich etwas mit Kaugummi zu tun? Sechzig Jahre zuvor hatten sie in ihrem australischen Herkunftsland alles Mögliche zum Thema gehabt. Aber in der genannten Periode finden wir makrabre Verse über neunundvierzig verschiedene Kaugummi-Geschmacksrichtungen. Wie z. B.: Klein-Willy, Himmel, Arsch und Zwirn, Mischt Vierfrucht-Gum mit Babys Hirn; Zehn Tropfen dann von Papas Blut, Das kaut sich schön und schmeckt so gut.« »Ich möchte meinen, das würde das Aroma des Kaugummis denn doch zu stark aufhöhen«, sagte Glasser. Es macht eine Menge Spaß, Cocktail-Kekse aufzubeißen und darin die Äußerungen eines ktisthetischen Computers vorzufinden. Das Stabspersonal des Instituts erwies sich als ein – wir können es 153
nicht anders bezeichnen – höchst munterer Haufen. Aber sie waren auch fleißige Leute, und so mußte die Party einmal zu Ende gehen. Epiktistes brachte noch einen Vers hervor, als sie sich zum Aufbruch rüsteten: »Wenn der Welt letzter Tosher getrunken ist, Und das letzte Item verflattert, Und das ganze Institut zerstunken ist, Und Epikt so blau wie ein …« Und da saß er fest. 8000000000000000000000000 Gedächtniskontakte hatte er in sich, und er konnte keinen passenden Reim auf ›verflattert‹ produzieren. »Wie viele Items hast du denn nun wirklich gesammelt, Epikt?« fragte Glasser, als sie aufbrachen. »Millionen, meine Junge, Millionen.« »Nein. In Wirklichkeit hat er nur etwa eine dreiviertel Million, von denen er annimmt, er könnte sie in ein System bringen; aber ich fürchte, es wird ein sehr eigenwilliges System werden.« »Epikt, du genialer Klapperkasten, wirst du uns morgen eine Idee davon geben können, wonach wir suchen sollen?« fragte Valerie. »Jungens und Mädels, morgen lege ich euch alles schön verpackt auf den Präsentierteller«, stieß Epikt hervor. »Ich werde euch sogar sagen können, wie das Dings gerochen hat.« Die Erwartung schlug hohe Wellen im Institut. Epiktistes wollte die Reporter dabei haben, aber Smimow sagte nein. Er traute seiner Maschine nicht. Epikt war ein Würfel von zwanzig Metern Seitenlänge, und von seinen mehreren tausend Au154
gen schienen immer einige ihren Herrn und Meister auszulachen. »Du wirst mich doch nicht veräppeln?« fragte Smirnow seine Maschine nervös. »Boß, habe ich dich jemals veräppelt?« klapperte Epikt hervor. »Ja.« »Boß, manche Dinge präsentieren sich am besten unter der Maske eines Witzes, aber unter der Haut ist das hier eine todernste Angelegenheit.« Epikt war eine Maschine, die manchmal eine sehr gespaltene Zunge hatte; und Smirnow war gespannter als je zuvor. Am nächsten Tage kamen sie in aller Frühe zusammen, um zu hören, was Epikt zu sagen hatte. Sie schleppten Stühle und Bandgeräte herbei und warteten darauf, daß die Maschine anfangen würde. »Meine Damen und Herren, liebe Kollegen«, sagte Epikt feierlich, »wir sind hier versammelt, um eine ernste Angelegenheit zur Kenntnis zu nehmen. Ich werde sie Ihnen darlegen, so gut ich kann. Ich werde auf Unglauben stoßen, das weiß ich wohl, aber meine Fakten stimmen. Bitte machen Sie es sich bequem.« Er ließ eine Pause eintreten und äußerte dann, quasi im Nachhinein: »Es darf geraucht werden.« »Du verdammter kubischer Klapperkasten, erzähle uns hier nicht, was wir tun dürfen!« knirschte Smirnow. »Du bist doch schließlich bloß eine Maschine, die ich gebaut habe.« »Du und dreitausend andere Konstrukteure«, gab Epikt von sich, ohne mit der Wimper zu zucken, »und im Endstadium, dem eigentlichen wichtigen 155
Stadium, habe ich meine eigene Konstruktion schon selbst geleitet. Es wäre auch gar nicht anders möglich gewesen. Nur ich weiß, was in mir steckt. Was meine Fähigkeiten anbetrifft …« »Mach schon weiter, Epikt!« befahl Smirnow. »Und versuche, den pädagogischen Zeigefinger wegzulassen.« »Also, um zur Sache zu kommen: Im Jahre 1980 wurde die größte Stadt im mittleren Nordamerika durch eine unnatürliche Katastrophe zerstört.« »Also vor zwanzig Jahren«, fuhr Glasser dazwischen. »Davon müßte doch irgendjemand etwas gehört haben.« Valerie gestattete sich einen Einwurf. »Ich frage mich, ob St. Louis überhaupt weiß, daß es zerstört worden ist. Es tut jedenfalls so, als ob es noch da wäre.« »St. Louis war die Stadt nicht«, klapperte Epikt heraus. »Diese Zerstörung eines Großstadtraumes mit sieben Millionen Einwohnern in weniger als sieben Sekunden war, vom menschlichen Standpunkt aus gesehen, ein gewaltiges Schrecknis – wenn ich mich recht erinnere, war sogar ich ein bißchen erschüttert. Die Sache war so furchtbar, daß beschlossen wurde, die ganze Angelegenheit zu verdrängen und einem segensreichen Vergessen anheimzugeben.« »Ob das nicht ein bißchen schwierig war?« fragte Aloysius Shiplap sarkastisch. »Es war in der Tat sehr schwierig«, äußerte Epikt, »und doch wurde es getan, vollständig, und innerhalb von zwanzig Stunden. Und von jenem Augenblick an bis jetzt hat sich kein Mensch mehr daran erinnert oder überhaupt daran gedacht.« 156
»Und würden Eure kapriziöse Hoheit geruhen, uns eben mal kurz zu erklären, wie das gemacht wurde?« forderte Smirnow seine Maschine heraus. »Ich werde es erklären, so gut ich kann, lieber Meister. Das Projekt wurde in die Hände einer Koryphäe der Wissenschaft gelegt, eines Mannes, der namenlos bleiben wird – aber nur noch für ein paar Minuten.« »Wie wurden die schriftlichen Unterlagen über sieben Millionen Menschen ausgelöscht?« fragte Cogsworth. »Durch einen von dem besagten Fürsten der Wissenschaft damals grade erfundenen Apparat«, antwortete Epikt. »Er lief unter der Bezeichnung ›Tele-Pantographischer Distorsionaton. Selbst ich kann aus der zeitlichen Distanz und unter den Wolken einer künstlich erzeugten Amnesie nicht mehr begreifen, wie er funktionierte. Aber er funktionierte tatsächlich und zerstörte simultan alles gedruckte einschlägige Material. Das hinterließ natürlich Lücken in den Nachschlagewerken, und die entsprechenden Füllsel waren manchmal, wie ich bemerkte, von etwas inferiorer Textur. Holographische – das heißt handschriftliche, wenn Sie es nicht wissen sollten, Valerie – Notizen waren schwieriger zu behandeln. Die meisten wurden einfach vernichtet. In Dokumenten von Bedeutung wurde der Text mit automatischer Schrift überflutet, um die Lücken auszufüllen, und zwar unter sorgfältiger Nachahmung der ursprünglichen Handschrift. Aber diese Nachahmungen waren trotzdem häufig unvollkommen. Ich habe mehrere tausend Beispiele dafür. Jedennoch war der Tele-Pantographische Distorsionator eine wahrhaft bemerkenswerte Maschine, und 157
ich bedaure, daß er heutzutage nicht mehr im Gebrauch ist …« »Sei so freundlich und erkläre uns, was mit dieser bemerkenswerten Maschine geschah!« sagte Smirnow. »Oh, sie befindet sich noch hier im Institut. Du, mein lieber Herr und Meister, stolperst jeden Tag ein dutzendmal darüber und fluchst über ›diesen verdammten Schrotthaufen‹«, äußerte Epikt, »aber du hast einen Block im Gehirn, der dir nicht gestattet, dich daran zu erinnern, was das ist.« »Ich glaube, ich habe mich jahrelang an solch einem Haufen Gerümpel gestoßen«, sinnierte Smirnow. »Manchmal habe ich mir tatsächlich fast erlaubt, mich zu fragen, was das eigentlich ist.« »Und du hast es selbst erfunden. Der Fürst der Wissenschaft, der diese Gedächtnistilgung vollbracht hat, warst du selbst, Gregor Fedorowitsch Smirnow.« »Geh doch und häng dich, Epikt!« protestierte Shiplap. »Dein Tank ist ja undicht. Was ist denn mit dem menschlichen Gedächtnis? Die sieben Millionen Einwohner der Stadt müssen doch überall im Lande mindestens ebensoviele Verwandte gehabt haben. Hat sich denn von denen keiner gefragt, wo ihre Mütter, Kinder, Brüder, Schwestern geblieben sind?« »Sie machten sich Sorgen, aber sie haben nicht ernsthaft darüber nachgedacht«, brachte Epikt hervor. »Es war eine Sorge, für die sie keinen Namen hatten. Betrachten Sie die Literatur dieser Periode und sehen Sie selbst, wie viele Lieder voller echter Trauer in den Jahren 1980 und 81 im Schwange waren. Aber die Euphorie der Massenmedien hatte 158
das bald zugedeckt. Das menschliche Erinnern an diesen Komplex wurde durch künstliche Amnesie blockiert. Das geschah durch Hypnose mittels Rundfunk und noch feinerer Wellenarten. Nur wenige sind dem entgangen. Der taube Schwachsinnige, den ich in einem meiner Items erwähnte, gehörte zu diesen wenigen. Er kritzelte den Namen der Stadt einmal an eine Wand, aber niemand konnte sich etwas darunter vorstellen.« »Aber da müssen doch hunderte von Millionen ungebundener Rest-Assoziationen zu verkraften gewesen sein!« protestierte Glasser. »Potenzieren Sie diese Zahl mehrere Male«, äußerte Epikt. »Von diesen Rest-Assoziationen gab es ungeheuer viele, und die meisten wurden auch erledigt. Im Verlauf dieser Studie sammelte ich etwa eine Million, die unerledigt blieben, aber auch sie konnten den künstlichen Gedächtnisschleier nicht durchbrechen. Die Tür zu dem ganzen Komplex war verschlossen. Dann wurde sie noch doppelt verriegelt. Es war nötig, nicht nur die Erinnerung zu vernichten, sondern auch die Erinnerung an die Erinnerung. Professor Smirnow, und das war vielleicht seine erhabenste Leistung, unterwarf sich einer Endhypnose. Es war seine Aufgabe, den Boden über diesem Loch quasi endgültig zu glätten. Aber er war stärker beteiligt als alle anderen. Nach dieser vorläufigen Erklärung wollen wir ihn nicht weiter beunruhigen. Diesmal wird er es mit reinem Gewissen vergessen. Sogar nicht einmal in diesem Augenblick erkennt er es oder erinnert er sich. Es war seine Absicht und sein Triumph, daß er sich niemals mehr erinnern sollte. Die Stadt und ihre Vernichtung sind 159
für immer vergessen, aber die Methode der Gedächtnistilgung ist lediglich auf eine unterschwellige psychische Ebene verdrängt worden. Sie wird wieder auftauchen und aufs neue angewandt werden, sobald wieder eine unnatürliche Katastrophe eintritt.« »Aber wo in der Hölle oder im mittleren Nordamerika lag diese Stadt?« brüllte Cogsworth. »Das Gelände ist unter dem Namen ›Sumpf von Great Blue Island‹ bekannt«, gab Epikt von sich. »Mach endlich Schluß, du glotzäugiger Apparatismus!« kreischte Shiplap. »Wie hieß die Stadt?« »Chicago«, klapperte Epiktistes. Das setzte dem Faß die Krone auf! Das war der letzte Heuler! Sie hatten sich mit offenen Augen durch diesen Clown von einem kubischen Klapperkasten in die Irre führen lassen. Valeries hohes Gelächter klingelte, und ihr Gatte, Cogsworth, krächzte wie eine Rohrdommel, die den Schluckauf hat. »Chicago! Das klingt, als ob ein kleiner Biber im Zoo einen schlammigen Hang hinabrutscht und ins Wasser platscht. Chicago!« Es war das ulkigste Wort, das Valerie jemals gehört hatte. »Nur eine Maschine, die den Ehrgeiz kriegt, Witze zu machen, kann so einen Namen prägen«, knatterte Glassers Feuerwerksgelächter. »Chicago!« »Ich nehme den Hut vor dir ab, Epiktistes!« sagte Aloysius Shiplap. »Du bist ein schleichfüßiger, hinterfotziger Märchenerzähler. Leute, diese Maschine ist reif!« »Ich bin ein bißchen enttäuscht«, sagte Smirnow. »So hat also der Berg gekreißt und ein Mäuslein geboren. Aber mußte das ausgerechnet eine Maus mit Glotzaugen und im Clownskostüm sein, Epikt? Das ist doch wirklich zu stark, selbst für einen 160
Schwindel. Daß eine große Stadt vor nur zwanzig Jahren völlig vernichtet wurde, und wir nichts mehr darüber wissen sollen – das ist schon allerhand! Aber daß diese Stadt ausgerechnet den unmöglichen Namen Chicago getragen haben soll – das ist die Höhe! Wenn du sämtliche möglichen Lautverbindungen gegeneinandergehalten hast – zweifellos hast du das auch getan –, du könntest nicht mit einem noch blöderen Namen herauskommen.« »Liebe Leute, das eben war die Absicht«, rasselte Epiktistes. »Ihr könnt euch ums Verrecken nicht an ihn erinnern. Ihr erkennt ihn nicht wieder. Und wenn ihr diesen Raum verlaßt, wird euch dieser komische Name völlig aus dem Gedächtnis entschwunden sein. Ihr werdet euch nur vage daran erinnern, daß eine witzige Maschine euch einen witzigen Streich gespielt hat. Diese Katastrophen – denn ich vermute, es hat mehrere von dieser Sorte gegeben – sind vergessen, und das ist gut so. Die Welt müßte sich hinlegen und sterben, wenn sie sich allzu deutlich daran erinnern könnte. Und doch hat es eine große Stadt gegeben, die Chicago hieß. Als ›Sikago‹ hinterließ sie eine Lücke in einem ungarischen Lexikon; und der Petit Larousse mußte die Stelle, wo das Stichwort ›Chicago‹ gestanden hatte, mit französischem Schaum über die Chibchah-Indianer zudecken. Irgend etwas, wofür ich den verführerischen Namen Chicago Hot gefunden habe, wurde mitsamt der Wurzel aus der Geschichte des Jazz ausgerodet. Der Calumet River floß irgendwo um die Stadt herum; daher die Zurückhaltung in der Benennung der alten indianischen Friedenspfeife. Chicago war eine große Stadt. Das Herzstück der Unterstadt hieß ›the Loop‹, und eine 161
ihrer Baseball-Mannschaften nannte sich ›the Cubs‹. Aus diesem Grunde wurden diese beiden Wörter aus dem Sprachgebrauch verbannt. Sie hätten den Schatten einer Erinnerung heraufbeschwören können.« »Loop? Cubs?« kicherte Valerie. »Diese Wörter sind beinahe so komisch wie Chicago. Wie kommst du bloß auf sowas, Epikt?« »Das sind die alten englischen Worte für ›Schlinge‹ und ›Bärenjunges‹, wofür man jetzt ›coronal‹ und ›pup‹ sagt. * Weiter: nach volkstümlich vereinfachter Auffassung war Chicago der Hauptsitz der Welt-Kaugummi-Industrie. Der Leiter dieser Fabriken war ein Mann, der, soweit ich es rekonstruieren konnte, Wiggley ** hieß. In den Kindern ist irgendwie ein Echo dieser schrecklichen Zerstörung Chicagos lebendig geblieben und hat sich dadurch manifestiert, daß sie die blutig-makabren Klein-Willy-Verse mit dem Kaugummi in Verbindung brachten, der seinerseits in der allgemeinen Volksmeinung mit Chicago verknüpft war.« »Epikt, du würdest dich selbst übertreffen«, sagte Shiplap, »wenn irgend etwas auf der Welt eine so maßlos komische Erfindung wie Chicago übertreffen könnte.« »Gute Leute«, kam es aus Epikt, »es fällt jetzt wieder der Vorhang über euch. Ihr vergeßt bereits wieder – sogar den Spaß, sogar den komischen Namen der Stadt. Und, was noch wesentlicher ist, ich vergesse ihn ebenfalls. Es ist weg. Aus und vorbei. Ganz weg. Wie seltsam! Ihr starrt alle auf ein leeres Band, wie unter *
Zusatz des Übs. richtig: Wrigley (d. Übs.)
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Hypnose. Ich muß einen Blackout erlitten haben. Ich habe doch noch niemals ein leeres Band produziert? Gregor Fedorowitsch, ich habe so einen frustrierten Geschmack in meinen Kontakten – wie nach einem Experiment, das nicht ganz geglückt ist. Füttere mir was Neues ein! Ich mache doch nicht oft etwas verkehrt!« »Es ist genug für heute, Epiktistes. Aus irgendeinem Grunde sind wir alle müde. Nein, es hat nicht geklappt – was es auch war. Es ist auch egal. Mißerfolge soll man lieber vergessen. Wir werden schon irgendwas anderes austüfteln. Wir arbeiten ja an vielen Projekten.« Schläfrig schlurrten sie hinaus und gingen an ihre Arbeit. Smirnows Maschine hatte etwas verpatzt – aber die Maschine war gut und würde beim nächsten Mal, da waren sie alle ganz sicher, den Nagel auf den Kopf treffen. Im Flur stolperte Smirnow über seinen alten Tele-Pantographischen Distorsionator. Zwanzig Jahre lang war er darüber gestolpert, ohne auch nur hinzusehen. Die Maschine rollte ihre neun Reihen Augen zu Smirnow hin und lächelte bereitwillig. Wie wäre es denn mit noch einer von diesen Katastrophen? War vielleicht noch irgendwelche Tiefenarbeit zu leisten? Tele-Pan war immer bereit. Aber nein. Smirnow ging vorbei. Die Maschine lächelte noch einmal und ging dann friedlich schlafen. »Dieser verdammte Haufen Schrott«, grollte Smirnow und rieb sein Schienbein, das er sich gestoßen hatte. »Mir ist beinahe, als möchte ich mal überlegen, was das eigentlich ist.«
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Mit anderen Augen 1 »Ich glaube, noch eine Morgenröte eines sogenannten Großen Tages halte ich nicht mehr aus«, sagte Smirnow. »Anscheinend ist das jedesmal das gleiche: Schwüle am Morgen, Regen am Nachmittag, Verzweiflung am Abend. Erinnern Sie sich noch an den Rekapitulations-Correlator?« »Volkstümlich auch Zeitmaschine genannt. Aber, Gregor Fedorowitsch, das war doch wirklich ein Erfolg und ist immer noch einer. Die drei vorhandenen laufen fast ununterbrochen, und in jeder Dekade wird mindestens ein neuer gebaut. Die Dinger sind doch unbezahlbar.« »Ja, schon. Aber es war ein trübseliger Erfolg. Er hat mein ganzes Leben grau gemacht. Erinnern Sie sich an den Probelauf, die Rekapitulation der Schlacht von Hastings?« »Das waren tatsächlich drei trübe Jahre, die wir uns da herumgetrieben haben. Aber woher sollten wir wissen, daß das eine so miese kleine Angelegenheit war –, daß das Ganze sich auf ungefähr zwei Hektar dieses verdammten Feldes abspielte und nicht einmal zwanzig Minuten dauerte? Und woher sollten wir wissen, daß die Historiker sich um vier Jahre verrechnet hatten, und das in so verhältnismäßig naher Vergangenheit? Ja, ja, wir haben viele deprimierende Tage in dieser Gegend zugebracht und sind über manches morastige Feld gelatscht, bis wir die Affäre rekonstruiert hatten.« 164
»Und dann diese schwächliche Angelegenheit – der Esprit Voltaires aus erster Hand!« »Ach du lieber Gott! Dieses Gegacker! Wer dabei nicht das Kotzen gekriegt hat, dem kann keine Seekrankheit mehr etwas Neues bieten! Was war dieser Kerl für ein verqueres altes Weib!« »Und Neil Gwynn*?« »Kaum zu glauben, was so ein König für einen Geschmack hat. So eine absolut fade Schrippe!« »Und dann die Krönung Karls des Großen!« »Der König der Frostbeulen! Wenn man ein Feuer haben wollte, mußte man es in einem Korb mit sich rumschleppen. Das war das kälteste Weihnachten, das ich jemals erlebt habe. Die Leute wärmten sich anscheinend am Met auf, aber wir waren leider die einzigen in der ganzen Gesellschaft, die das Zeug weder riechen noch trinken konnten.« »Und dann gingen wir noch weiter zurück in die Zeit und vernahmen die wundervollen Worte der göttlichen Dichterin Sappho.« »Ja, und sie hatte sich grade entschlossen, ihrer Lieblingskatze die Eierstöcke rausnehmen zu lassen. Drei Tage lang haben wir ihr zugehört, und sie hat von nichts anderem gesprochen. Was für ein Glück, daß sowenig von ihren erhabenen Worten der Nachwelt überliefert worden ist!« »Und wie wir dem großen Pythagoras bei der Arbeit zugesehen haben!« »Na – tagelang hat er an so einem kleinen Vermessungsproblem herumgemaikäfert. Ach, wie gern hätte ich ihm einen Rechenschieber durch die * Eine Geliebte Heinrichs VIII. (d. Übs.)
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Zeitmauer zugesteckt und ihm erklärt, wie das Ding funktioniert!« »Und wie wir bei dem klassischen Liebespaar Tristan und Isolde an der Tür gehorcht haben!« »Dabei hat der Kerl den ganzen Nachmittag nur versucht, seine verdammte Harfe nach einer Groschenflöte zu stimmen. Und Isoldchen konnte von nichts anderem reden als von dem Bärenfett, das sie sich immer in die Haare schmiert, und daß es ein Dreck ist gegen das Bärenfett bei ihr zu Hause. Aber sie war schon ein niedliches kleines Schmalzfaß, so ziemlich das niedlichste, das wir in mehreren Jahrhunderten, vorwärts wie rückwärts, aufgetan haben. Es wäre mir zwar nicht möglich gewesen, die Arme ganz um sie herumzukriegen, aber ich kann verstehen, daß der Versuch, wenigstens für jemanden aus dieser Epoche und dieser Gegend, ganz reizvoll gewesen sein könnte.« »Ah ja. Roch wie ein Zimtstern, nicht wahr? Und erinnern Sie sich noch an Lancelot, den ArtusRitter?« »Klar – der hatte doch immer Rückenschmerzen, wenn er reiten sollte. Und sein lahmer Ellbogen, und die alte Narbe in der Leistengegend! Der hat auch mehr Zeit auf dem Massagetisch verbracht als irgendein Sportler, den ich kenne. Wenn ich einen hochbezahlten Linksaußen hätte, der niemals spielbereit ist, dann würde ich schon Mittel und Wege finden, um ihn aus seinem Kontrakt zu feuern. Hat ja keinen Zweck, ihn in der Mannschaft zu behalten, bloß um seine zehn Jahre alten Zeitungsausschnitte zu lesen. Jeder Bauernlümmel hätte ihn von seiner Kracke zerren und auf ihm herumtrampeln können.« 166
»Den Aristoteles fand ich auch nicht so begeisternd, als wir ihn damals erwischten. Was der für ein barbarisches Nordküsten-Griechisch sprach! Drei Stunden lang mußten ihm die Friseure den Bart kräuseln. Und seine Disputation über Sein und Existenz des Bartes – kamen Sie da mit?« »Nein, um die Wahrheit zu sagen, ich kam da nicht mit. Aber vermutlich war er ganz hübsch profund.« Still und traurig saßen sie eine Weile da, wie Männer, die viel verloren haben. »Die Maschine selbst war schon ein Erfolg«, sagte Smirnow schließlich, »und doch starben unsere hochfliegenden Begeisterungsgefühle eines trüben Todes.« »Das eigentlich Aufregende an einer Maschine ist die Erfindung«, sagte Cogsworth, »aber niemals das, was man mit ihr anstellt, wenn sie fertig ist.« »Und Ihre neue Maschine da«, sagte Smirnow, »– ich kann kaum wünschen, daß Sie sie in Betrieb nehmen. Bestimmt wird das wieder eine niederschmetternde Enttäuschung für Sie.« »Bestimmt. Und dabei ist sie noch großartiger als die andere. Ich bin so aufgeregt wie ein kleiner Junge.« »Ein kleiner Junge waren Sie vorher, aber hinterher werden Sie nie wieder einer sein. Ich dächte, Sie sollten bei Ihren Maschinen alt genug geworden sein, und ich kann mir nicht vorstellen, warum Sie von der neuen wieder so fasziniert sind. Mit der vorigen konnten Sie doch wenigstens die Vergangenheit einfangen. Aber mit der hier sehen Sie doch auch bloß die Gegenwart.« »Ja, aber durch andere Augen.« 167
»Ein Paar Augen reicht. Ich sehe da überhaupt keinen Gewinn, höchstens den Reiz der Neuheit. Ich fürchte, das ist auch nur so eine Spielerei.« »Nein. Glauben Sie mir, Gregor Fedorowitsch, es ist mehr als das. Es ist vielleicht nicht einmal mehr dieselbe Welt, wenn man sie durch andere Augen sieht. Ich glaube, das, was wir als Welt betrachten, sind in Wirklichkeit mehrere Milliarden Welten, von denen jede einzelne nur für die Augen dessen, der sie sieht, geschaffen wurde.« II Der Cerebral-Okular-Inspektator (COI), den Charles Cogsworth soeben erfunden hatte, war keine sehr verzwickte Maschine. Er war ein kleiner, aber ingeniöser Verstärker, oder vielmehr eine Batterie von Verstärkern, und bewirkte die synchrone – oder vielleicht besser: die ›sympathische‹ – Kopplung zweier sehr verzwickter Apparate: zweier menschlicher Gehirne. Er war nur der Verstärker. Eine unterschwellige Kopplung, oder doch die Möglichkeit einer solchen, setzte der Erfinder bereits voraus. Es war nur nötig, knapp zwanzig Schlüssel-Aspekte zu emphatisieren, um das Ganze zur Wirkung zu bringen. Und dabei lag der einzige Bezugskomplex in den Windungen der Großhirnrinde, diesem Wohnsitz des Bewußtseins und Endbahnhof der Sinne, und in den quasielektrischen Impulsen, welche die Indikatoren der Hirntätigkeit sind. Cogsworth war schon lange der Meinung gewesen, daß durch geeignete Verstärkung von knapp zwanzig dieser Impulse des einen Hirns die Übertragung auf ein anderes Hirn so vollkommen bewirkt werden kann, daß 168
ein Mensch unter geeigneten Bedingungen für kurze Zeit mit den Augen eines anderen Menschen sehen und sogar an dessen Innenleben teilhaben kann, so daß er die gleichen Phantasien und Tagträume haben, das gleiche Universum so wahrnehmen kann, wie es der andere wahrnimmt. Und das würde nicht das gleiche Universum sein, das der Experimentierende kennt. Der COI war fertig, und desgleichen lagen die Dossiers mit den Daten der sieben Hirne bereit, welche Cogsworth nacheinander mit dem seinen zu koppeln gedachte: eine Sammlung hochkomplexer Wellen-Engramme, Aufzeichnungen über Frequenzen, Impulse, Ströme, Kraftfelder und der Lyall’schen Schwingungsbilder eines jeden Hirns. Es handelte sich um das Hirn Gregor Smirnows, seines Kollegen und Ratgebers in so vielen Dingen; sowie um die Hirne von Gaetan Balbo, dem kosmopolitischen und übernationalen Institutsleiter; Theodore Grammont, dem theoretischen Mathematiker; E. E. Euler, dem mit weitreichenden Machtbefugnissen ausgestatteten Verwaltungsdirektor; Karl Kleber, dem eminenten Psychologen; Edmond Guillames, dem skeptischen, blutlosen Kritiker, und schließlich das Hirn von Valerie Mok, einer Dame voller Schönheit und Charme, die Cogsworth zur Verzweiflung brachte, weil er davon überzeugt war, sie mit normalen Mitteln niemals verstehen zu können. Cogsworth war von seiner Idee – nämlich, in den Geist anderer Menschen einzudringen, hinter deren Augen zu sitzen und durch diese Augen in eine Welt zu spähen, die nicht die gleiche sein konnte – sein Leben lang besessen gewesen. Er erinnerte sich 169
daran, wie diese Idee ihn mit ihrer ganzen Wucht überfallen hatte, als er noch ein kleiner Junge war. »Vielleicht«, hatte er sich damals gefragt, »bin ich der einzige, der den Himmel schwarz und die Sterne weiß sieht, und alle anderen sehen den Himmel weiß und die Sterne glänzend schwarz. Und ich sage: Der Himmel ist schwarz; und sie sagen auch: Der Himmel ist schwarz; aber wenn sie ›schwarz‹ sagen, meinen sie ›weiß‹.« Oder: »Vielleicht bin ich der einzige, der die Außenseite einer Kuh sehen kann, und alle anderen sehen sie mit der Innenseite nach außen. Und ich sage: Das ist die Außenseite; und sie sagen auch: Das ist die Außenseite; aber wenn sie ›außen‹ sagen, meinen sie ›innen‹.« Oder: »Vielleicht sehen für die anderen, alle Jungen, die ich sehe, wie Mädchen aus, und alle Mädchen wie Jungen. Und ich sage: Das ist ein Mädchen; und die anderen sagen auch: Das ist ein Mädchen; aber wenn sie ›Mädchen‹ sagen, meinen sie ›Junge‹.« Und dann war ihm (welch ein Schrecknis!) der Gedanke gekommen: Wenn ich nun für alle anderen ein Mädchen wäre, nur für mich nicht? Selbst damals, als er noch ziemlich klein war, kam ihm das nicht besonders intelligent vor, aber es entwickelte sich zu einer Besessenheit. »Was ist, wenn für einen Hund alle Hunde wie Menschen und alle Menschen wie Hunde aussehen? Und wenn ein Hund mich ansieht und denkt, ich bin ein Hund, und er ist ein Junge?« Und einmal kam ihm daraufhin der niederschmetternde Gedanke : »Wenn nun der Hund recht hat?« »Was ist, wenn ein Fisch zu einem Vogel hoch170
blickt, und ein Vogel auf einen Fisch hinunterschaut? Und wenn der Fisch denkt, daß er der Vogel ist, und daß er auf den Vogel herabschaut, der in Wirklichkeit ein Fisch ist, und die Luft ist Wasser, und das Wasser ist Luft? Und wenn der Vogel einen Wurm frißt, und der Wurm denkt, er ist der Vogel, und der Vogel ist der Wurm? Und daß seine Außenseite seine Innenseite ist, und die Innenseite des Vogels ist seine Außenseite, und daß er den Vogel gefressen hat und nicht der Vogel ihn?« Das war unlogisch. Aber woher weiß man, daß ein Wurm logisch ist? Er hat manches an sich, was ihn unlogisch machen könnte. Und als er älter wurde, stieß Charles Cogsworth auf manche Anzeichen, die ihm verrieten, daß die Welt, die er sah, nicht dieselbe Welt war, die andere sahen. Er fand unscheinbare, aber umso nachdrücklichere Hinweise dafür, daß jedes Wesen in seiner eigenen Welt lebt. Es war erst früher Nachmittag, aber Charles Cogsworth saß im Dunkeln. Gregor Smirnow machte, wie er angekündigt hatte, einen ausgedehnten Spaziergang. Er war der einzige, der wußte, daß das Experiment anlaufen sollte. Er war auch der einzige, der mit diesem Experiment einverstanden gewesen wäre, wenn auch die anderen gestattet haben, daß ihre Gehirn-Daten gespeichert werden – allerdings war das unter einem Vorwand geschehen. Aller Anfang kommt still; und dieser war ein totaler Erfolg. Mit den Augen eines anderen zu sehen, ist eine neuartige und glorreiche Sensation – doch die volle Erkenntnis derselben kommt langsam. »Er ist ein größerer Mann als ich«, sprach Cogsworth zu sich. »Ich habe das schon oft vermutet. Er 171
besitzt eine Gelassenheit, die mir fehlt; allerdings fehlt ihm dafür mein fieberhafter Erkenntnisdrang. Und er lebt in einer besseren Welt.« Es war tatsächlich eine bessere Welt mit weiterem Horizont und erregenderen Details. »Wer käme wohl darauf, dem Gras eine solche Farbe zu verleihen – wenn es überhaupt Gras ist? Es ist, was er Gras nennt, aber nicht, was ich Gras nenne. Ich weiß nicht, ob ich mich je wieder damit begnügen kann, Gras so zu sehen, wie ich es sehe. Und es ist ein schönerer Himmel als der, den ich kenne; und die Berge sind strukturierter. Ihm zeigen sich ihre alten Knochen deutlicher als mir, und er sieht das Wasser in ihren Adern. Da kommt ein Mann auf ihn zu, ein großartigerer Mann, als ich je gesehen habe. Und doch habe ich einen Schatten dieses Mannes auch gekannt; er heißt Mr. Dottle, und so heißt er für mich und für Gregor Fedorowitsch. Ich habe Dottle für einen Dummkopf gehalten, aber für Gregor ist kein Mensch ein Dummkopf. Ich blicke durch die inspirierten und fast göttergleichen Augen eines Giganten, und ich blicke auf eine Welt, die noch nicht müde geworden ist.« Charles Cogsworth verbrachte eine Zeit, die ihm wie mehrere Stunden vorkam, in der Welt Gregor Fedorowitsch Smirnows und fand sich hier, zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben, von einer großen Erwartung nicht enttäuscht. Sodann, nachdem er sich eine Weile ausgeruht hatte, schaute er die Welt durch die weitgeöffneten Augen Gaetan Balbos an. »Ich weiß nicht recht, ob er ein so großer Mann ist wie ich, aber sein Spannungsbogen ist größer. 172
Ich weiß auch nicht, ob er in eine größere Welt blickt. Ich würde meine Welt gegen seine nicht so gerne eintauschen, wie gegen die Welt Gregor Fedorowitschs. Ich vermisse in ihr die Intensität meiner eigenen Welt. Aber sie ist faszinierend, und es würde mir Freude machen, wieder und wieder in sie einzutreten. Und ich weiß jetzt auch, was für Augen das sind: ich schaue durch die Augen eines Königs.« Danach sah er durch Theodore Grammonts Augen, und eine Welle des Mitleids brandete in ihm auf. »Ich bin ja vielleicht blind im Vergleich zu Gregor Fedorowitsch, aber dann ist dieser Mann blind im Vergleich zu mir. Ich weiß zum mindesten, daß diese Berge lebendig sind; für ihn sind sie nur unregelmäßige Polyeder. Er lebt in der Wüste und kann nicht einmal mit den Teufeln reden, die dort wohnen. Er hat die Welt abstrahiert und numeriert und weiß nicht einmal, daß die Welt ein lebendiges Tier ist. Er hat sich eine hochverzwickte Eigenwelt aufgebaut, aber er kann die Farben ihrer Flanken nicht erkennen. Dieser Mann hat nur deshalb so vieles vollbracht, weil ihm am Anfang so vieles versagt war. Ich verstehe jetzt, daß auch die geschliffenste Theorie nicht mehr als eine Tatsache ist, die ein zahnloser Nachempfinder angeknabbert hat. Aber ich will auch in diese Welt noch einmal eintreten, wenn auch nicht recht was an ihr dran ist. Ich habe durch die Augen eines blinden Eremiten geblickt.« Es war entzückend und erregend, aber auch ermüdend. Cogsworth mußte eine Viertelstunde ruhen, ehe er die Welt E. E. Eulers betrat. Und als er darin war, erfüllte ihn Bewunderung. 173
»Ein gewöhnlicher Mensch könnte nicht in eine derartige Welt blicken. Das würde ihn in den Wahnsinn treiben. Es ist fast, als schaue man durch die Augen des Herrn, der alle Federn des Sperlings zählt, und jede Milbe kennt, die darin nistet. Er ist die detaillistische Schau aller Dinge in Kettenschaltung. Es erschreckt. Diese Welt auch nur anzusehen ist schon schwierig. O du große Mutter aller Magengeschwüre! Wie hält er das nur aus? Und doch sehe ich, daß er jedes dieser verfilzten Details liebt; je verfilzter, umso mehr. Das ist eine Welt, der ich nur ein klinisches Interesse entgegenbringen kann. Irgend jemand muß ja diese Zügel in der Hand haben; aber glücklicherweise ist das nicht mein Schicksal. Dieses haarige alte Biest zu zähmen, auf dem wir leben, ist Eulers Verhängnis. Ich suche mir ein glücklicheres Los.« Er hatte durch die Augen eines Generals geblickt. Der Versuch, in die Welt Karl Klebers hineinzuschauen, führte zu einem fast vollständigen Mißerfolg. Man erzählt die Geschichte von dem Verhaltensforscher, der einen Schimpansen studieren wollte: er ließ das neugierige Tier in einem Zimmer allein und schloß die Tür ab; dann spähte er von außen durch das Schlüsselloch, um zu sehen, was der Schimpanse machte – und da war das Schlüsselloch von der braunen Pupille des Tieres verdeckt, das sehen wollte, was der Forscher machte. Ähnliches passierte hier. Karl Kleber wußte nichts von dem Experiment, und doch geschah das Sehen in beiden Richtungen. Durch eine Schleife in der Abfolge der Ereignisse ergab es sich, daß Kleber grade in diesem Moment Cogsworth studierte. Und ob174
schon Cogsworth mit Klebers Augen sehen konnte, sah er sich selbst. »Ich schaue durch die Augen eines Voyeurs«, sprach Cogsworth bei sich, »und was bin ich selbst?« War die Welt Smimows, die Cogsworth zuerst betreten hatte, die großartigste gewesen, so war die vorletzte, in die er eindrang, die Welt Edmond Guillames, in jeder Hinsicht die mieseste. Es war eine Welt wie aus dem Innern eines Gallenganges gesehen. Keine angenehme Welt, denn Guillames war kein angenehmer Mensch. Aber wie kann jemand etwas anderes als ein Skeptiker sein, der sein ganzes Leben lang nichts anderes gesehen hat, als eine Welt aus gummiartigen Knochen und blutlosem Fleisch, in verkrüppelte Formen und obszöne Farben gekleidet? »Der Maulwurf in der Welt eines anderen wäre edler als der Löwe in seiner«, sprach Cogsworth. »Warum sollte auch jemand, der soviel zu kritisieren hat, kein Kritiker sein? Wie soll ein Mensch nicht zum Ungläubigen werden, wenn er vor das Dilemma gestellt ist, daß diese unappetitliche Welt entweder von Gott geschaffen oder von einem schieläugigen Vogel Strauß ausgebrütet worden ist? Ich habe durch die Augen eines Narren in eine Narrenwelt geblickt.« Als Cogsworth sich danach wiederum ausruhte, sprach er zu sich: »Ich habe die Welt durch die Augen eines Giganten, eines Königs, eines blinden Einsiedlers, eines Voyeurs, eines Narren gesehen. Jetzt bleibt mir nur noch übrig, sie durch die Augen eines Engels zu sehen.« Nun mochte Valerie Mok ein Engel sein oder 175
auch nicht. Sie war jedenfalls eine schöne Frau; dagegen waren Engel, wenigstens nach der älteren und authentischeren Ikonographie, ernste Männer mit etwas struppigen Flügelspitzen. Valeries Gesicht trug den Ausdruck eines immerwährenden Amüsiertseins, und sie war die Verkörperung allen Charmes, allen Entzückens – wenigstens für Charles Cogsworth. Er hielt sie für äußerst geistreich. Hätte man ihn jedoch dieserhalb mit gezielten Fragen bedrängt, so wäre er allerdings beim besten Willen nicht imstande gewesen, sich auch nur einer einzigen geistreichen Äußerung aus ihrem Munde zu erinnern. Er hielt sie für ein Wesen von vollkommener Güte und Freundlichkeit, und tatsächlich war sie auch mehr oder weniger angenehm im Umgang. Indessen, wie Smirnow es einmal formuliert hatte, wurde sie gewöhnlich nicht für außergewöhnlich gehalten. Erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit wußte Cogsworth: was er für sie fühlte, war nicht bloße Verwirrung, sondern Liebe. Und er verzweifelte daran, sie auf normalem Wege zu verstehen, obschon jeder andere sie ganz leicht verstand, wenigstens in allem, worauf es ankam; daher griff er jetzt zu einem außergewöhnlichen Mittel, um sie zu verstehen. Er schaute auf die Welt durch die Augen Valerie Moks und sagte sich dabei: »Ich werde die Welt durch die Augen eines Engels sehen.« Ihm wurde anders beim Schauen, aber nicht angenehm anders. Er blickte eine Zeitlang durch ihre Augen – vielleicht nicht so lange, wie er durch die Augen Smirnows geblickt hatte, doch immerhin ziemlich lange; er war außerstande, sich davon hin176
wegzureißen. Er schauderte und zitterte und schrumpfte in sich selbst zurück. Dann ließ er ab und verbarg sein Haupt in den Armen. »Ich habe die Welt durch die Augen eines Schweines gesehen.« III Charles Cogsworth verbrachte sechs Wochen in einem Sanatorium, das sich allerdings nicht grade Sanatorium nannte. Er hatte der Welt seine zweite große Erfindung geschenkt, und deren Vollendung hatte ihn vollkommen ausgeleert. Wie das bei solchen merkurischen Temperamenten häufig der Fall ist, war dem Hochgefühl der Entdeckung ein Zwischenspiel tiefer Verzweiflung gefolgt, weil er nun fertig war. Doch er hatte im Grund eine gesunde Konstitution und genoß auch die beste Pflege. Aber als er sich erholt hatte, war er nicht mehr der, der er vorher gewesen war. Er zeigte jetzt eine Art Ironie und eine lächelnde Resignation, die neu an ihm war. Es schien, als sei er durch seine Einblicke in die Welten anderer selbst in eine andere Welt geraten, in eine neue Welt, die aber bitterer war als seine alte. Von seinen Freunden stand ihm jetzt nur noch Gregor Fedorowitsch Smirnow nahe. »Ich kann mir schon denken, was Ihnen passiert ist, Charles«, sagte Smirnow. »Ich fürchtete beinahe, daß es so kommen würde. Ich war dagegen, daß Sie auch mit ihr experimentierten. Die Sache ist einfach die, daß Sie sehr wenig über Frauen wissen.« »Ich habe alle einschlägigen Veröffentlichungen 177
gelesen. Ich habe ein Sechswochen-Seminar bei Zamenow belegt. Ich bin mit beinahe dem gesamten Inhalt der Arbeiten von Bopp über die Frauen vertraut. Ich habe fast ebensoviele Jahre in dieser Welt verbracht wie Sie, und ich gehe schließlich mit offenen Augen herum. Bestimmt verstehe ich soviel von den Frauen, wie überhaupt verständlich ist.« »Nein. Frauen sind nicht Ihr eigentliches Gebiet. Ich hätte Ihnen voraussagen können, was Sie so geschockt hat. Sie haben nicht begriffen, daß die Frauen soviel sinnlicher sind als die Männer. Aber vielleicht wäre es besser, wenn Sie mal genau erklärten, was Sie so erschüttert hat.« »Ich habe gedacht, Valerie sei ein Engel. Es war einfach ein Schock für mich, als ich feststellte, daß sie ein Schwein ist.« »Ich bezweifle, daß Sie von Schweinen mehr verstehen als von Frauen. Ich selber habe mir erst vor zwei Tagen die Welt durch Schweine-Augen angesehen, und das mit Ihrem eigenen CerebralOkular-Inspektator. Ich habe in den Wochen Ihrer Krankheit ziemlich viel mit dem Apparat gearbeitet. In der Schweinsaugen-Welt gibt es nichts, was auch nur den Heikelsten schockieren würde. Es ist eine träumerische Welt von allumfassender Milde, von Leidenschaften fast völlig frei. Eine graue, verschattete Welt, die nur sehr wenig Unerfreuliches enthält. Nie vorher habe ich gewußt, wie wunderbar sich einfaches Sonnenlicht und kühle Erde anfühlen. Wir allerdings würden uns bald dabei langweilen, aber das Schwein langweilt sich nicht.« »Sie lenken mich ab, Gregor Fedorowitsch, aber Sie rühren nicht an das Eigentliche, an das, was 178
mich so erschüttert hat. Valerie ist schön – oder war für mich schön, bis zu jenem Tage. Sie kam mir freundlich und gütig vor. Immer war es mir, als besäße sie ein Geheimnis, das sie ungemein amüsiert, und von dem ich dachte, es würde das Wundersamste auf Erden sein, wenn ich es nur erst verstünde.« »Und ihr Geheimnis besteht darin, daß sie in einer hochsinnlichen Welt lebt und sich mit vollem Bewußtsein daran erfreut? Ist es das, was Sie so schockiert hat?« »Sie wissen nicht, wie tief das geht. Es ist sehr scheußlich. Die Farben ihrer Welt sind unglaublich krude, und die Formen stinken. Überhaupt sind die Gerüche das Schlimmste. Wissen Sie, wie ein Baum für sie riecht?« »Was für ein Baum?« »Jeder beliebige. Ich glaube, es war eine gewöhnliche Ulme.« »Die Glatt-Ulme hat im Sommer einen ganz angenehmen Geruch. Die anderen Arten haben überhaupt keinen, für mich wenigstens.« »Nein, so war das nicht. Jeder Baum in ihrer Welt riecht sehr stark. Der, den ich meine, war eine gewöhnliche Ulme und hatte einen heftigen, unanständigen, moschusartigen Geruch, der sie entzückte. Er war so stark, daß man taumelte. Und für sie ist ein Grasbüschel wie ein Knäuel Schlangen, und die Welt selbst wie Fleisch. Jeder Busch ist für sie ein Satyr, der sie lüstern anschielt, und sie muß im Vorbeigehen hineinfassen. Die Felsen sind spinnenhafte Ungeheuer, die sie liebt. Jede Wolke sieht sie als eine Masse verschlungener Leiber und ist ganz wild danach, mitten drin zu stecken. Sie umarmt einen Laternenpfahl, und ihr Herz schlägt da179
bei, als wolle es sich ihr aus dem Leibe reißen. Regen wittert sie auf eine üble Weise über weite Strecken hinweg und begehrt, mitten drin zu sein. Jede Maschine ist für sie ein feuriger Drache, den sie anbetet; und sie hört Töne, von denen ich nie glaubte, daß jemand sie hören könnte. Wissen Sie, was die Würmer unter der Erde für Laute von sich geben? Teuflische Laute – aber sie möchte sich mit den Würmern krümmen und Dreck fressen wie sie. Legt sie ihre Hand auf ein Geländer, so ist das ein obszöner Akt. In jeder Farbe, jedem Klang, jeder Form, jedem Geruch, jedem Gefühl ist Schmutz.« »Und doch, Charles, ist sie nur ein etwas mehr als durchschnittlich attraktives, etwas verträumtes Frauenzimmer, das die Welt liebt und ihr ganz nahe ist. Den meisten von uns ist diese Nähe abhandengekommen. Sie hat einen klaren Sinn für die Realität und für das Groteske, das ein Hauptmerkmal aller Wirklichkeit ist. Bei Ihnen sitzt das nicht so tief, und wenn Ihnen die Wirklichkeit in ihrer vollen Stärke entgegentritt, so wirft Sie das um.« »Sie meinen also, daß das normal ist?« »Es gibt überhaupt nichts Normales. Es gibt nur Differenzierungen. Die Welten, in die Sie eingetreten sind, haben Sie nicht alle gleichermaßen schockiert, denn von unseren Welten haben sich die meisten Ecken und Kanten abgeschliffen. Aber Sie sind da in eine urhafte Welt hineingeraten, und dort war der Unterschied größer, als Sie erwartet haben.« »Ich kann einfach nicht glauben, daß das alles ist.« Charles Cogsworth ließ Valerie Moks Briefe unbeantwortet, und er wollte Valerie auch nicht sehen. Dabei waren ihre Briefe amüsant und lieb und ver180
rieten eine Spur von Sorge um ihn. »Wie mag ich wohl für sie riechen?« fragte er sich. »Bin ich wie eine Ulme, oder wie der Wurm in der Erde? Was für eine Farbe habe ich für sie? Klingt meine Stimme obszön? Das müßte sich doch ändern lassen. Bin ich für sie auch eine Säule von verschlungenen Schlangen, oder ein Knäuel Spinnen?« Denn er hatte sich noch nicht von dem erholt, was er gesehen hatte. Aber er ging wieder an seine Arbeit und knabberte mit seinem phantastischen Apparat an den Kanten des Mysteriums herum. Er schaute sogar in die Welten anderer Frauen. Es war, wie Smirnow gesagt hatte: Frauen waren sinnlicher als Männer, aber keine in so schockierendem Maße wie Valerie. Er sah mit den Augen anderer Männer. Und auch mit Tier-Augen: das sanfte Vergnügen des Fuchses, der ein Erdhörnchen verschlingt; die blutrünstige Wut, mit der ein Lamm nach seiner Milch verlangt; die grobe Arroganz des Pferdes; die kluge Toleranz des Maultiers; die Gier der Kuh; der Geiz des Eichhörnchens; die mißgelaunte Leidenschaftlichkeit des Welses. Nichts davon entsprach völlig dem, was er erwartet hatte. Er erfuhr die Eifersucht und den Haß, den schöne Frauen gegen häßliche liegen; das unverhüllt Böse in kleinen Kindern; die diabolische Besessenheit der Teenager. Infolge eines seltsamen Zufalls sah er die Welt sogar durch die fleischlosen Augen eines Poltergeistes; und durch die Augen von Wesen, die er überhaupt nicht identifizieren konnte. Hier und da fand er einen Adel, der fast ein Gegengewicht zu der allgegenwärtigen Gemeinheit bildete. 181
Aber am liebsten sah er die Welt durch die Augen seines Freundes Gregor Smirnow, denn durch die Augen eines Giganten gesehen erhalten alle Dinge etwas Großartiges. Und eines Tages, als die beiden sich zufällig trafen, sah er Valerie Mok durch die Augen Smirnows. Etwas von dem alten Gefühl kehrte ihm dabei wieder, etwas, das sogar sein früheres Bild von ihr übertraf. Sie war großartig, wie alles in Smirnows Welt. Und diese wunderbare Welt, in der sie war, und die scheußliche Welt, die er durch ihre Augen sah, mußten eine gemeinsame Basis haben. »Irgendwo muß ich einen Fehler gemacht haben«, sagte sich Cogsworth, »weil ich nicht genug begreife. Ich will zu ihr gehen.« Aber statt dessen kam sie zu ihm. Eines Tages kreuzte sie wutschnaubend bei ihm auf. »Sie sind ja ein Stockfisch. Ein blutloser Stockfisch. Ein stures Schwein aus lauter Stockfischen. Sie leben ja mit Toten, Charles. Sie machen alles tot. Sie sind mir widerlich.« »Ein Schwein bin ich, Valerie? Schon möglich. Aber ein Schwein aus lauter Stockfischen. – sowas habe ich noch nie gesehen.« »Dann sehen Sie sich selbst an. Sie sind eins.« »Sagen Sie mir bitte, um was es sich handelt.« »Um Sie. Sie sind ein stockfischiges Schwein, Charles. Gregor Fedorowitsch hat mir erlaubt, Ihre Maschine zu benutzen. Ich habe die Welt so gesehen, wie Sie sie sehen. Ich habe sie mit Totenaugen gesehen. Sie wissen ja nicht einmal, daß Gras lebendig ist. Sie denken, es ist nur Gras.« »Ich habe auch die Welt mit Ihren Augen gesehen, Valerie.« 182
»Ach, das war es, was Sie so durcheinandergebracht hat? Na, ich hoffe, Sie sind dadurch wenigstens ein bißchen munterer geworden. Es ist eine lebendigere Welt als Ihre.« »Zum mindesten etwas pikanter im Aroma.« »Mein Gott, das will ich hoffen. Ich glaube, Sie haben überhaupt keine Nase. Ich glaube, Sie haben auch keine Augen. Sie können einen Berg ansehen, ohne daß Ihnen dabei das Herz einen Moment stillsteht. Es kribbelt Sie nicht einmal, wenn Sie über ein Feld gehen.« »Und Sie sehen einen Grasbüschel als einen Klumpen Schlangen!« »Das ist immer noch besser, als ihn überhaupt nicht als etwas Lebendiges zu sehen!« »Sie sehen Felsen als Riesenspinnen.« »Immer noch besser, als sie nur wie bloße Steine zu betrachten. Sie können einen Vogel vorbeifliegen sehen und hören nicht mal, was in seinem Magen gluckert. Wie können Sie nur so tot sein? Und ich habe Sie immer so gern gehabt. Aber ich habe nicht gewußt, daß Sie so tot sind.« »Wie kann man Schlangen und Spinnen lieben?« »Aber wie kann man irgend etwas nicht lieben? Es ist sogar schwer, Sie nicht zu lieben, wenn Sie auch kein Blut in sich haben. Übrigens, wie kommen Sie eigentlich auf die Idee, daß Blut eine so stumpfe Farbe hat? Wissen Sie nicht mal, daß Blut rot ist?« »Ich sehe es doch rot.« »Nein, Sie sehen es eben nicht rot. Diese blöde Farbe, die Sie sehen, ist kein Rot. Was ich rot nenne, ist Rot.« Und er wußte, daß sie recht hatte. Schließlich und endlich – wie kann man irgend 183
etwas nicht lieben? Ganz besonders etwas, das so schön wird, wenn es wütend wird, und so lebendig ist, daß es durch die Intensität seines Bewußtseins diejenigen erschüttert, deren Selbst zu einem Teile tot ist. Nun war Charles Cogsworth ein wissenschaftlich denkender Mensch, der nicht an unlösbare Probleme glaubte. Er hatte herausgefunden, daß Valerie ein tieffliegender Vogel war, und er fing an zu begreifen, was da in ihrem Innern gluckerte; und so löste er auch dieses Problem. Und er löste es voller Glück. Zur Zeit arbeitet er an einem Korrektor für seinen Cerebral-Okular-Inspektator. Wenn er fertig ist, wird er ihn der Öffentlichkeit übergeben. In etwa drei Jahren werden Sie die kombinierte Apparatur zum ungefähren Preise eines neuen Wagens der Mittelklasse kaufen können. Und wenn Sie noch ein Jahr warten, werden Sie vielleicht schon eine gebrauchte zu einem vernünftigen Preise erwischen können. Der Korrektor dient dazu, den Originaleindruck der durch die Augen eines anderen gesehenen Welt abzuschwächen und zu koordinieren; so daß der Schock, den man kriegt, wenn man andere Menschen versteht, nicht allzu groß ist. Mißverständnisse können angenehm sein. Aber das plötzliche, vollkommene Verstehen hat etwas Niederschmetterndes.
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Immer nur ein Tag Barnaby hatte mit John Sourwine telefoniert. Wenn Sie in solchen Kneipen wie BARNABY’S BARN verkehren (in jeder Hafenstadt der Welt ist so eine, und John ist in allen Stammgast), dann kennen Sie John Sourwine schon, und zwar unter dem Namen ›der Saure John‹. »Komischer Knilch hier«, hatte Barnaby am Telefon gesagt. »Wie komisch?« fragte der Saure John. Er sammelte komische Knilche. »Vollständig knallverrückt, John. Er sieht aus, als ob sie ihn grade ausgebuddelt hätten, aber er ist ganz hübsch lebendig.« Barnaby hat ein prima kleines Lokal; es gibt zu essen und zu trinken, und gute Unterhaltung, alles herzhaft und ausgesucht. Und John Sourwine interessiert sich immer für was Neues, oder für was Altes, das wiederkommt. Also ging John ’runter zu BARNABY’S BARN und sah sich den komischen Knilch an. Er brauchte nicht lange zu fragen, welcher es war, obschon dort immer Fremde und Durchreisende und Seeleute waren, die John nicht kannte. Der komische Knilch fiel auf: ein großer, hagerer, wüster Kerl, und er sagte, sein Name sei McSkee. Er aß und trank mit schmatzendem Behagen, und alle sahen ihm erstaunt zu. »Das ist seine vierte Schüssel Spaghetti«, sagte Smokehouse vertraulich zu John, »und das letzte von zwei Dutzend Eiern. Er hat sich um zwölf Hamburger, sechs Coney-Island-Steaks, sieben 185
Krebsburger, fünf fußlange Hotdogs, achtzehn Flaschen Bier und zwanzig Tassen Kaffee rumgewickelt.« »Donnerwetter! Der geht ja rund um den Kompaß! Er muß ja schon ziemlich nahe am Rekord von Big Bucket Bulg sein«, rief der Saure John mit plötzlich erwachendem Interesse. »John, er hat die meisten Hausrekorde schon längst gebrochen«, berichtete Smokehouse, und Barnaby nickte zustimmend. »Wenn er noch ’ne Dreiviertelstunde in dem Tempo weiterfrißt, dann hat er sie alle geschafft.« Naja, der komische Knilch war noch ziemlich mager, mit lockerer, schlotternder Haut, die aussah, als könnte sie noch fünfzig oder sechzig Pfund mehr verkraften, als der ausgedörrte Bursche jetzt aufzuweisen hatte. Aber John merkte schon, wie er sich zusehends auffüllte, als würde er jede Minute dicker; es sah auch aus, als würde in ihm ein Licht angezündet. Erst glühte er. Dann leuchtete er. Dann fing er an zu funkeln. »Essen macht Euch Spaß. Old-Timer, was?« fragte der Saure John den komischen Knilch, den erstaunlichen McSkee. »Ja, schon«, dröhnte McSkee und grinste voller Glück, »aber was noch dazukommt: ich bin verdammt couragiert. Ich geh immer aufs Ganze. Ich bin immer gern mitten im vordersten Treffen.« »Man denkt ja, Ihr habt seit hundert Jahren nichts mehr gegessen«, stocherte John weiter. »Herr, Ihr begreift ja verdammt schnell«, lachte der illuminierte McSkee. »Da gibt’s einen großmächtigen Haufen Menschen, die merken überhaupt nicht, wie’s mit mir steht, und denen sag ich 186
auch nix, wenn sie nicht wenigstens ein bissel was merken. Aye, aye, Sir, aber Ihr habt Haare an den Ohren, und Schlangenaugen wie ’n richtiger Gentleman. Ich mag das gern, wenn ’n Mann so richtig häßlich ist. Wir können ja reden, während ich esse.« John freute sich über das Kompliment. »Was macht Ihr denn, wenn Ihr mit Essen fertig seid?« fragte er, während die Kellner immer noch mehr Steaks vor McSkee auftürmten. »Oh, erst eß ich, dann trink ich«, sagte McSkee. »Keine ganz scharfe Grenze dazwischen, versteht Ihr? Wenn ich getrunken habe, mach’ ich mich an die Weiber. Und nach den Weibern Rauferei und Krakehl. Und zum Schluß, da sing ich.« »Eine bestialische Prozedur«, sagte John bewundernd. »Und wenn Eure fünfschichtige Orgie vorbei ist?« »Oh, dann schlaf ich«, gluckste McSkee. »Paßt mal auf, wie ich das kann! Da kann ich Unterricht drin geben. Da verstehen nur wenige Menschen was davon, wie man richtig schläft.« »Wie lange schlaft Ihr denn?« fragte der Saure John. »Und was ist an Eurem Schlaf so Besonderes, daß ich das nicht verstehen kann?« »Aber natürlich ist das was Besonderes. Und ich schlaf, bis ich aufwache. Da stell ich auch Rekorde auf.« Und McSkee futterte die ganze hohe Steaksäule herunter, bis der Saure John eine mystische Vision hatte: ein ganzer Ochse wird verschlungen, vollständig – nur Kopf, Fell und Hufe bleiben übrig – das, was dem Schlächter zusteht. Später, als McSkee sich durch das letzte Dutzend 187
Steaks arbeitete und die scharfe Schneide seines Riesenappetits etwas stumpfer geworden war, unterhielten sich die beiden etwas gemächlicher. »War unter allen diesen tierischen Fressereien nicht eine, bei der Ihr noch mehr verdrückt habt als sonst?« bohrte der Saure John. »Eine Gelegenheit, bei der Ihr Euch selbst übertroffen habt?« »Jawoll, das hat’s gegeben«, sagte McSkee, »das war, als sie mich mit dem neuen Strick hängen wollten.« »Und wie habt Ihr Euch da rausgefressen?« fragte der Saure John. »In dem Lande – es war nicht dieses hier – war damals der Brauch aufgekommen, daß man dem Verurteilten alles zu essen gab, was er haben wollte.« Und als der McSkee, der Leuchtende, das mit Behagen erzählte, hatte seine Stimme etwas von dem tänzerischen Schwung einer Drehorgel. »Ich zog meinen Vorteil aus diesem neuen Brauch und fraß die ganze Gegend kahl. Das war schon ein feines Nachtmahl, John, das sie mir da spendierten; und bei Sonnenaufgang sollt’ ich gehängt werden. Aber da hatte ich sie rangekriegt, denn als die Sonne aufging, war ich immer noch am Essen. Sie hatten mir ja versprochen, daß ich mich sattessen könnte – also durften sie mich in meinem letzten Mahl nicht unterbrechen. So hab ich sie den ganzen Tag und die Nacht und den nächsten Tag hingehalten. Das ist länger, als ich sonst esse, John, und damals hab ich mich wirklich selbst übertroffen. Die Gegend war berühmt gewesen, weil’s da soviel Geflügel gab, und Spanferkel, und Früchte. Jetzt nicht mehr. Hat sich nie wieder richtig erholt, die Gegend.« 188
»Und Ihr?« »Aber wie, John! Doch am dritten Tag, als die Dämmerung kam, war ich voll. Hatte keinen rechten Appetit mehr, und zuviel essen, das liegt mir nicht.« »Natürlich nicht. Und was passierte dann? Gehängt werden sie Euch ja wohl nicht haben, sonst könntet Ihr nicht hier sitzen und mir davon erzählen.« »Das muß nicht stimmen, John. Ich bin schon öfters gehängt worden.« »Ach?« »Jawoll. Aber nicht diesmal. Ich hab sie beschissen. Als ich satt war, legte ich mich schlafen. Und ich schlief immer tiefer und tiefer, bis ich tot war. Die hängen ja keinen, der schon tot ist. Zur Sicherheit ließen sie mich noch einen Tag liegen. John, ich stinke ganz schön nach einem Tag! Schon in meinen besten Zeiten stinke ich ja immer ’n bißchen. Dann haben sie mich begraben, aber gehängt haben sie mich nicht. Was schaut Ihr denn so komisch daher, John?« »Nichts, nichts«, sagte der Saure John, »bloß ein ganz nebensächlicher Einwand, den ich nicht mal eines Wortes würdigen will.« Jetzt trank McSkee: zuerst Wein, um eine Grundlage in den Magen zu kriegen; dann Brandy, weil der so eine schöne, leicht zerknautschte Würde besitzt; und schließlich Rum, wegen der puren Freundlichkeit dieses Getränkes. »Könnt Ihr Euch vorstellen, daß alle großen Durchbrüche von ganz einfachen Menschen wie ich vollbracht werden?« fragte McSkee unvermittelt. »Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, daß Ihr 189
ein ganz gewöhnlicher Mensch seid«, meinte der Saure John. »Ich bin der gewöhnlichste Mensch, den Ihr jemals gesehen habt«, beharrte McSkee; »ich bin aus demselben Lehm und Salz, aus dem die Erde ist, und aus dem Humus von verrotteten Behemoths. Vielleicht haben sie ’n bißchen Extraschleim hinzugetan, als sie mich gemacht haben, aber irgendwelche seltenen Erden sind bei mir nicht drin. Das mußte schon ein Mann wie ich sein, der dieses System ausknobeln konnte. Die Gelehrten können das nicht; denen fehlt der Saft. Und weil sie keinen Saft haben, verpassen sie’s gleich von Anfang an.« »Was denn, McSkee?« »Das ist doch so einfach, John: Daß ein Mensch sein Leben nach dem Rezept ›Immer nur ein Tag auf einmal‹ leben muß.« »Na und?« fragte der Saure John etwas von oben herab. »Merkt Ihr nicht, wie harmlos einem das eingeht, John? Das klingt doch beinahe wie ein Spruch auf einem Wandkalender.« »Aber es ist keiner?« »Nein, nein; dazwischen rummelt das Donnergrollen von hundert Welten. Das ist das Tor zu einem ganz neuen Universum. Aber es gibt noch einen anderen Spruch, der da lautet: ›Deine Tage, o Mensch, sind gezählte Das ist der einzige unerbittliche Spruch. Das ist die Grenze, die nicht verbogen und nicht durchbrochen werden kann, und das ist der Dämpfer für uns fröhliche Sünder allzumal. Das stellt Menschen wie mich vor ein Problem – Menschen, die zu fleischlich sind, um sich die ewige Glückseligkeit auf einem anderen Plan zu verdienen; 190
Menschen, die zuviel Saft in sich haben, als daß ihnen die völlige Auslöschung am Ende willkommen wäre, und die aus persönlichen Gründen bestrebt sind, die Qualen der Verdammnis solange wie möglich hinauszuschieben. Aber, John, es gab (und gibt) klügere Menschen als mich auf dieser Welt. Daß ich das Problem bis zu einem gewissen Grade gelöst habe, und die nicht – das bedeutet nur, daß es für mich brennender war als für sie. Das mußte schon ein ganz wüster Kerl sein, der die Lösung fand; und ich habe nie einen Menschen getroffen, der mit mehr Leidenschaft hinter den wüsten Dingen des Lebens her ist, als ich.« »Ich auch nicht«, sagte der Saure John, »und wie habt Ihr das Problem gelöst?« »Mit einem feinen kleinen Trick, Mr. John. Ihr werdet schon noch merken, wie das funktioniert, wenn Ihr heute nacht in meiner Nähe bleibt.« McSkee hatte zu essen aufgehört. Aber während er sich mit den Mädels befaßte, und mit Raufen, Krakehlen und Singen, soff er dabei immer weiter. Was er mit den Mädchen anstellte, darüber wird hier nichts gesagt, aber der Polizeibericht dieser Nacht enthält einen saftigen Katalog. Gehen Sie einmal aufs Revier, wenn Mossback McCarthy Nachtwachthabender ist; er wird ihn raussuchen und Ihnen zu lesen geben. Dieser Bericht ist so etwas wie ein Klassiker auf dem Revier. Wenn sich ein Mann mit Flüster-Susie Kutz einläßt, und mit Mercedes Moreno und mit Dotty Peisson und Little Dotty Nesbitt und Hildegarde Katt und Catherine Cadensus und Ouida und Avril Aaron und Little Midnight Mullins zu tun kriegt, und das alles in 191
einer Nacht, dann redet man von ihm als einem Manne, der Legenden geschaffen hat. McSkee verursachte wirklich ein dolles Durcheinander in der ganzen Stadt, und John Sourwine war immer mit dabei. John kam mit McSkee ganz gut aus. Aber es gab eine Menge Leute, die schafften das nicht. Es gibt Menschen mit feinabgestimmter Seele, die sich kringeln, wenn mal ein Kumpel ein bißchen zu laut wird. Es gibt auch welche, die zucken zusammen, wenn ein ehrlicher, herzhafter Maat unanständige Lieder grölt. Es gibt sogar Leute, die versuchen sich zu verdrücken, wenn das Grollen der soliden Bürgerschaft zu einem mißgelaunten Gebrüll anschwillt, und die sich nach Deckung umsehen, wenn die erste kleine Keilerei anfangt. Aber der Saure John war keiner von denen. Er besaß zwar eine feinabgestimmte Seele, aber die hatte einen großen Spannungsbogen. Keiner in der ganzen Stadt hatte eine so laute und mißtönende Singstimme wie McSkee; aber sollte ein ehrlicher Freund ihn deshalb verlassen? Die beiden hinterließen ein breites Kielwasser, und ein Trupp rauher Männer, große Knöchel in breiten Handflächen reibend, folgten ihnen von einer Kneipe zur anderen und warteten auf einen passenden Moment: Männer wie Büffelgulasch-Dugan, Krabbenkutter-Gordon, Schwefelarsch-Sullivan, Smokehouse, Nierenstein-Stenton, Honigeimer-Kincaid. Die Tatsache, daß alle diese Bürger hinter McSkee herzogen, aber noch nicht wagten, ihm zu nahe zu kommen, spricht sehr für den Mann. Er hatte es in sich. Aber hin und wieder ließ McSkee seine wüsten 192
Mißtöne und sein fröhliches Herumgeschubse und verfiel in ein etwas ruhigeres Glucksen. Zum Beispiel war das – eine Zeitlang – in der Kleinen Auster (die ist eine Treppe über der Bar Zur Großen Auster) der Fall. »Das erste Mal«, vertraute McSkee John an, »habe ich den Trick nicht freiwillig, sondern aus Not angewendet. Im Laufe der Zeit habe ich leider hier und da eine ganze Menge Mißfallen auf mich gezogen; und manchmal kocht das über, sozusagen. Aber einmal hatte eine ganze Schiffsmannschaft die Nase voll von mir. Und da (es ist sehr lange her; es war noch in den alten Tagen der kleinen Segelschiffe) legten sie mir Fußschellen an, hängten noch Gewichte dran und schmissen mich über Bord.« »Was hast du da gemacht?« fragte der Saure John. Sie waren inzwischen per Du geworden. »John, du stellst aber auch die blödesten Fragen. Ich ersoff, natürlich. Was kann ein Mensch sonst machen? Aber ich ersoff ganz ruhig und ohne alles unnütze Gezappel. Das ist nämlich der Trick, verstehst du?« »Nein, das verstehe ich nicht.« »Die Zeit würde auf meiner Seite sein, John. Wer hat denn Lust, die Ewigkeit auf dem Meeresgrunde zu verbringen? Salzwasser beschleunigt das Rosten sehr stark; und meine Fußschellen waren nicht sehr massiv, wenn ich sie auch nicht zerbrechen konnte. Nach längerer Zeit würde das Eisen so zerfressen sein, daß es bei einem plötzlichen Ruck brechen mußte. Nach knapp hundert Jahren fielen die Fußschellen in Stücke, und mein Leib stieg langsam an die Meeresoberfläche – er war halbwegs eingepökelt, aber doch nicht mehr in der allerbesten Verfassung.« 193
»Zu spät, als daß er dir noch was genutzt hätte«, sagte der Saure John. »Deine Geschichte endet ja ziemlich komisch – oder ist sie noch nicht zu Ende?« »Ja, diese Geschichte ist hier zu Ende, John. Und ein andermal, als ich Fußsoldat in Diensten Pixodarus’ des Cariers war (bei seinen keltischen Söldnern, selbstverständlich), da …« »Augenblick mal, McSkee«, unterbrach der Saure John, »da ist irgend etwas ein bißchen wacklig in allen deinen Geschichten ; man muß ein paar Orientierungspunkte haben. Wie lange hast du denn überhaupt gelebt? Wie alt bist du eigentlich?« »Ungefähr vierzig Jahre, soweit ich nachrechnen kann. Warum denn, John?« »Ich dachte nur, deine Geschichten werden denn doch ein bißchen zu heftig, McSkee. Und wenn du erst vierzig bist, haben sie ja überhaupt keinen Sinn.« »Hab ich ja auch nie behauptet, John. Aber was du von einer Geschichte verlangst, das ist unnatürlich.« McSkee und der Saure John standen vor dem Nacht-Schnellrichter, blutig, aber selig. Sie waren nur wegen einer Reihe von Lappalien festgenommen worden, aber das rettete sie vor dem Gelynchtwerden. Sie palaverten mit all diesen besseren Leuten und Beamten; und die hielten ziemlich viel von ihnen. Der Saure John war ein alter Bekannter von ihnen, auch als gelegentlicher Gesetzesübertreter. Sie wußten, daß sie sich auf Johns Wort verlassen konnten; selbst wenn er log, hatte das irgendwie einen Anstrich von Ehrlichkeit. Nach einer gewissen Zeit, als die potentiellen Lyncher sich verkrümelt hatten, durfte der Saure John sie 194
beide auslösen; und sie versprachen hoch und heilig, daß sie sich anständig benehmen würden. Sie gaben die Versicherung zu Protokoll, daß sie sich wie ordentliche Leute aufführen wollten. Sie schworen volltönige Eide, daß sie unverzüglich und ruhig ihre Betten aufsuchen würden. Sie durften unter der Bedingung gehen, daß sie sich in dieser Nacht nicht mehr herumraufen würden, daß sie keine anständigen Frauen belästigen würden, daß sie sich auch den unbegreiflichsten Launen des Gesetzes fügen würden. Und daß sie nicht mehr singen würden. Somit ließ die Polizei sie gehen. Als die beiden draußen und auf der anderen Straßenseite waren, fand McSkee eine Flasche auf dem Bürgersteig, die war so praktisch bei der Hand, und er ließ sie fliegen. Das hätten Sie vielleicht auch getan, wenn ein derartiger Impuls Sie überkommt. McSkee warf sie in einem wunderschönen Bogen, und sie flog durch das Frontfenster des Polizeireviers. So einen Wurf muß man bewundern! Wir stellen hier fest, daß die Polizisten dieser Stadt keine Pflaumen sind. Sie sind respektable Gegner, und es ist jederzeit ein Vergnügen, sich mit ihnen herumzubolzen. Also ging es wieder los! Mit Gebrüll und Sirenengeheul waren die Häscher hinter ihnen her. Knappe Sache! Fünf-, sechsmal war es eine knappe Sache! Aber der Saure John war ein alter Fuchs, der alle Höhlen kannte, und er tauchte mit McSkee eine Weile unter. »Der Trick liegt darin, daß man alles vollständig aufhören läßt«, sagte McSkee, als sie in Sicherheit und wieder zu Atem gekommen waren. Sie saßen 195
ganz gemütlich in einem Club, der nicht so bekannt war wie Barnaby’s Barn, und sogar noch kleiner als die Kleine Auster. »Ich werde dir ein bißchen was darüber erzählen, John, denn ich weiß, daß du ein wertvoller Mensch bist. Also höre und lerne! Jeder Hammel kann sterben, aber nicht jeder kann grade dann sterben, wenn er es will. Erstmal hörst du auf zu atmen. Dabei kommt ein Moment, wo deine Lungen am Platzen sind und du unbedingt nochmal Atem holen mußt. Mach das nicht, sonst mußt du bloß wieder von vom anfangen. Dann bringst du deinen Herzschlag und deinen Geist zum Stillstand. Dann läßt du die Wärme aus deinem Körper raus – und dann ist Schluß.« »Und was dann?« fragte der Saure John. »Na, dann stirbste eben, John. Aber ich sag dir gleich, es ist nicht einfach. Du brauchst verdammt viel Übung.« »Warum denn soviel Übung für etwas, was du nur einmal machst? Du meinst doch richtig sterben, buchstäblich?« »John, ich rede doch klar und deutlich. Ich sage sterben und ich meine sterben.« »Da gibt’s zwei Möglichkeiten«, sagte der Saure John. »Entweder bin ich schwer von Begriff. Oder du redest Unsinn. Und ich habe genug Beweise, daß die erste Möglichkeit unmöglich ist.« »Ich werd’ dir was sagen, John. Die Zeit wird knapp. Gib mir zwanzig Dollar, und ich werde dir deine Unlogik verzeihen. Ich sterbe nie gern ohne einen Sechser in der Tasche; und ich merke, meine Zeit ist ran. Danke schön, John! Ich habe einen ausgefüllten Tag gehabt, bevor ich dich getroffen habe, 196
und nachher auch, und eine ausgefüllte Nacht, und die ist jetzt beinahe rum. Ich habe erfreulich gut gegessen, und soviel zu saufen gehabt, daß ich zufrieden bin. Ich hab Spaß mit den Weibern gehabt, besonders mit Flüster-Susie, und Dotty, und Little Midnight. Ich hab ein paar von meinen Lieblingsliedern gesungen – die sind allerdings nicht jedermanns Geschmack. Ich hab ein paar gute, handfeste Keilereien gehabt; mir läuten davon jetzt noch die Glocken im Kopf. Heh, John, warum hast du mir nicht vorher gesagt, daß Honig-Eimer linkshändig ist? Du hast das gewußt und hast trotzdem zugelassen, daß er mir den ersten Schlag verpaßt. Aber es hat Spaß gemacht, John. Ich bin ein Knabe, dem sowas mächtig Spaß macht. Ich bin nun mal ein vollsaftiger Mensch, und ich versuch immer, alles was ich kann, in einen Tag und eine Nacht reinzupressen. Man kriegt auch ’ne ganze Menge rein, wenn man ordentlich nachstopft. Na, nun wollen wir mal austrinken, was noch in den Flaschen ist, und dann gehen wir runter an den Strand und sehen zu, was wir noch anstellen können. Diese Nacht braucht eine Nachtmütze, ehe ich mich zu meinem langen Schlaf hinlege!« »McSkee, du hast ein paarmal angedeutet, daß du das Geheimnis weißt, wie man das meiste aus seinem Leben herausholen kann«, sagte der Saure John; »aber du hast mir nicht verraten, wie du das machst.« »Mann, ich habe gar nichts angedeutet. Ich habe klar und deutlich gesagt, was los ist«, schimpfte McSkee. »Kreuzkotzdonnerwetter, worin besteht denn nun aber dein Geheimnis?« 197
»Lebe jeden einzelnen Tag deines Lebens für sich, John. Das ist alles.« Dann stimmte McSkee ein altes Landfahrerlied an, ein zu altes Lied, als daß es ein Vierzigjähriger, der kein Experte ist, gekannt haben könnte. »Wann hast du denn das gelernt?« fragte John. »Gestern. Aber heut hab ich wieder ein paar neue gelernt.« »Vor ein paar Stunden fiel mir auf, daß deine Sprache merkwürdig altmodisch war«, sagte John. »Aber jetzt scheint mir das nicht mehr der Fall zu sein.« »John, ich kann mich sehr schnell der Zeit anpassen. Ich habe ein gutes Gehör, ich rede viel, ich höre viel zu, und ich kann ausgezeichnet imitieren. In einem Tag hab ich die Sprechweise erfaßt. Das ändert sich auch gar nicht so schnell, wie man sich das vorstellt.« Sie gingen zum Strand hinunter, um der Nacht ihre Nachtmütze aufzusetzen. Wenn man schon sterben muß, ist es nett, da zu sterben, wo man die Brandung hören kann, hatte McSkee gesagt. Sie gingen weiter, über den Pier hinaus, dorthin, wo der Strand im Dunkel lag. Jawoll, McSkee hatte recht: dort wartete Rabatz auf sie, oder vielmehr, er war hinter ihnen hergekommen. Da war die Gelegenheit zu einer letzten, gloriosen Keilerei! Eine dichtgedrängte dunkle Gruppe von Männern war ihnen gefolgt – alles Kerle, mit denen sie während der Lustbarkeiten des Tages und der Nacht irgendwelche Meinungsverschiedenheiten gehabt hatten. Das unerschrockene Paar drehte sich um und sah den Verfolgern aus einigem Abstand ins Auge. McSkee trank die letzte Flasche leer und 198
schmiß sie mitten in die Gruppe. Das war ein übler Haufen; sie flammten sofort auf, und der Mann, der die Flasche an den Kopf gekriegt hatte, fluchte lästerlich. Und dann ging’s los. Erst schien es, als würden die Kräfte der Rechtschaffenheit obsiegen. McSkee war ein großartiger Kämpfer, und der Saure John war auch sehr tüchtig. Sie legten diese wütenden Männer flach auf den Sand wie gestrandete Flundern. Es war eine von jenen ganz großen Keilereien – auf ewig unvergeßlich. Aber, wie McSkee im voraus gewußt hatte, es waren zu viele von diesen Männern da; die beiden hatten sich in einem Tag und einer Nacht eine unglaubliche Menge Feinde gemacht. Der wilde Kampf stieg an, erreichte seinen Höhepunkt und brach auseinander, wie eine hohe Woge sich donnernd bricht. Und McSkee, der den Gipfel des Ruhms und der Lust erreicht hatte, hörte plötzlich auf zu kämpfen. Er stieß noch einen wilden Jubeljodler aus, dessen Echo die ganze Küste entlanglief. Dann atmete er tief ein und hielt den Atem an. Er schloß die Augen und stand da wie eine grinsende starre Bildsäule. Die wütenden Männer stießen ihn um und trampelten ihn in den Sand und trampelten alles Leben aus dem McSkee. Der Saure John hatte mitgekämpft, solange der Kampf dauerte. Jetzt begriff er, daß McSkee sich zurückgezogen hatte, aus Gründen, die nicht ganz klar waren. Er tat desgleichen. Er riß sich los und rannte weg, nicht aus Feigheit, sondern aus privaten Gründen. 199
Eine Stunde später, grade beim ersten Morgenlicht, kehrte der Saure John zurück. Er fand McSkee tot – ohne Atem, ohne Puls, ohne Körperwärme. Und da war noch etwas. McSkee hatte in einer seiner weitläufigen Geschichten erwähnt, daß er von Natur aus einen ziemlich kräftigen Geruch an sich hatte. Jetzt wußte John, was damit gemeint war. Der Kerl wurde verdammt schnell reif. Nach dem Nasen-Test war McSkee mausetot. Mit einer Kinderschaufel, die er in der Nähe fand, grub der Saure John ein Loch in den Abhang einer Düne. Dort beerdigte er seinen Freund McSkee. Er wußte, daß McSkee immer noch den Zwanzigdollarschein in der Hosentasche trug. Er ließ ihn drin. Es geht ja noch an, wenn man entweder das eine oder das andere ist – aber tot und dabei auch noch pleite zu sein, das ist ein Zustand von kaum erträglicher Unwürdigkeit. Dann begab sich der Saure John in die Stadt, um zu frühstücken, und vergaß das Ganze sehr schnell. Er ging weiter seiner Berufung nach, nämlich sich in der ganzen Welt herumzutreiben und interessante Menschen kennenzulernen. Wenn Sie irgend etwas Interessantes an sich haben, wird er wahrscheinlich auch bei Ihnen aufkreuzen; er läßt keinen aus. Zwölf Jahre vergingen, und noch ein paar Wochen. Der Saure John war wieder einmal in einer dieser interessanten Hafenstädte; aber diesmal war es anders als sonst. Es hatte ihn ein Tag ereilt, der manchen ereilt (und beten Sie zu Gott, daß er Sie nicht ereilen möge!): der Saure John hatte kein Geld. Er war so pleite, wie einer nur sein kann, nichts in der Tasche, nichts im Magen, und nur sehr 200
wenig auf dem Leibe. Er war in jedem Sinne des Wortes gestrandet. Da fiel ihm ein, daß er früher schon mal in dieser Stadt gewesen war. Hier hatte er rumgesoffen, hier hatte er allerhand angestellt, hier hatte er jede Menge Spaß gehabt. Auf einmal kam ihm das alles wieder in den Sinn – ein Dutzend munterer Episoden, und dann eine ganz besondere. »Da war doch so ein komischer Knilch, ein richtig vollsaftiger Vogel.« Der Saure John grinste, als er daran dachte. »Der wußte den Trick, wie man stirbt, wann man will. Er sagte noch, dazu brauchte man ’ne Menge Übung; aber ich sehe nicht ein, warum man etwas, das man nur einmal tut, auch noch lange üben soll.« Dann erinnerte sich der Saure John an einen Zwanzigdollarschein, den er mit diesem saftigen Vogel begraben hatte. Alles, was er mit dem leuchtenden McSkee erlebt hatte, fiel ihm wieder ein, als er den verlassenen Strand entlangschlenderte. »Er sagte, er könne eine ganze Menge Leben in einen Tag und eine Nacht hineinquetschen«, sprach John zu sich. »Das kann man. Ich tue das auch. Und dann sagte er noch was, das habe ich aber vergessen.« Der Saure John fand die alte Düne wieder. In einer halben Stunde hatte er McSkees Leichnam ausgebuddelt. Er stank immer noch ziemlich heftig; aber der Körper war besser erhalten als die Kleider. Die zwanzig Dollar waren noch da; sie sahen nicht mehr sehr respektabel aus, aber zum Ausgeben waren sie immer noch gut. »Ich nehm sie jetzt, weil ich sie brauche«, sagte der Saure John leise, »und später, wenn ich wieder flüssig bin, bring ich sie dir zurück.« 201
»Ja, mach das«, sagte McSkee. Es gibt ja nun Menschen auf dieser Welt, die hätten einen Mordsschreck gekriegt, wenn ihnen sowas passiert wäre. Manche hätten nach Luft geschnappt. Wertlose Menschen hätten sogar gekreischt und wären zurückgetaumelt. John Sourwine war selbstverständlich so ein Mann nicht. Immerhin war er menschlich, und so tat er etwas Menschliches: er klapperte mit den Augenlidern. »Ich hatte ja keine Ahnung, daß du in so einem Zustand bist«, sagte er zu McSkee. »So machst du das also.« »So macht man das, John: immer nur ein Tag auf einmal. Und ich lasse mir immer genügend Zeit dazwischen, damit ich wieder richtig auf den Geschmack komme.« »Kannst du jetzt wieder aufstehen, McSkee?« »Nein, jetzt bestimmt noch nicht. Ich bin ja kaum erst gestorben. Das dauert noch mindestens fünfzig Jahre, bis ich wieder so richtig Appetit kriege.« »Meinst du nicht, daß das Beschiß ist?« »Hat mir keiner was davon gesagt, daß das verboten ist. Und es zählen nur die Tage, die ich lebe. Auf diese Art kann ich das Leben ganz hübsch langziehen, und jeder einzelne Tag ist wert, daß ich mich an ihn erinnere. Ich kann dir sagen, ich habe in meinem ganzen Leben keinen einzigen langweiligen Tag gehabt.« »Ich weiß immer noch nicht genau, wie du das machst, McSkee. Setzt dein Leben dabei zeitweilig aus?« »Nein, nein. Auf dieses Gerede sind schon mehr Menschen reingefallen, als auf jeden anderen Quatsch. Wenn du dir das so vorstellst, dann hast 202
du schon vorbeigedacht. Du mußt richtig sterben, John, sonst betrügst du dich nur selber. Paß diesmal gut auf, dann wirst du es selbst sehen. Und dann buddel’ mich wieder ein und laß mir meine Ruhe! Schließlich will doch keiner aufstehen, ehe er sich’s in seinem Grabe so richtig gemütlich gemacht hat.« Und so brachte sich McSkee noch einmal sorgfaltig zu Tode, und der Saure John beerdigte ihn noch einmal im Dünenhang. Und da liegt McSkee – das ist Küchen-Irisch und heißt ›Sohn des Schlummers‹ –, der Meister des zeitweilig unterbrochenen Lebens (nein, nein, wenn Sie sich das so vorstellen, haben Sie schon vorbeigedacht; es ist Tod, richtiger Tod!), McSkee also, der sein Leben Tag um Tag lebt, und jeder Tag ist durch Jahrzehnte vom anderen geschieden.
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Besuch »Wo sie herkamen, war es ziemlich voll, und hier wurde es dann auch voll.« Winston, ein Beamter der Abteilung EINREISE UND ANKUNFT, war baß erstaunt, als er an diesem Morgen zum Dienst erschien. Hinter den Zyklon-Zäunen warteten schon über hundert Leute, aber fahrplanmäßige Ankünfte standen überhaupt nicht an. »Was für Schiffe sind gelandet?« rief er. »Warum landen sie außerplanmäßig?« »Keine Schiffe gelandet, Sir«, sagte Potholder, der Wachthabende. »Wie sind denn alle diese Leute hergekommen? Zu Fuß vom Himmel herunter?« fragte Winston bissig. »Jawohl, Sir, ich glaube. Wir wissen nicht, was für Leute das sind, und wo sie dauernd herkommen. Sie sagen, sie sind von Skandia.« »Einreisen aus Skandinavien haben wir nur wenige, und die sehen nicht so aus wie die da«, sagte Winston. »Wie viele sind’s denn?« »Tja, Sir – als wir sie zuerst gesehen haben, waren es sieben, und kurz vorher waren sie noch nicht da.« »Sieben? Sie sind verrückt! Das sind doch Hunderte.« »Jawohl, Sir. Ich bin verrückt. Erst waren’s sieben, und im nächsten Moment siebzehn, aber von draußen sind keine dazugekommen. Dann waren’s sechzig. Wir haben sie in Zehnergruppen aufgeteilt und ganz genau aufgepaßt. Keiner ging von einer Gruppe zur andern, und keiner kam von draußen 204
dazu. Aber dann waren auf einmal fünfzehn, und dann fünfundzwanzig, und dann dreißig in jeder Gruppe. Und jetzt, in den paar Minuten, seit Sie mit mir sprechen, sind es schon wieder eine ganze Menge mehr geworden, Mr. Winston.« »Corcoran muß gleich da sein«, sagte Winston. »Er ist Dienststellenleiter, er wird schon wissen, was wir tun sollen.« »Mr. Corcoran ist grade weggegangen, kurz bevor Sie kamen, Sir. Er hat sich das eine Weile angesehen, dann ging er weg und brabbelte immer so vor sich hin.« »Ich habe stets bewundert, wie schnell er eine Situation erfassen kann«, sagte Winston. Dann ging er auch und brabbelte dabei ebenfalls immer so vor sich hin. Jetzt waren es etwa tausend Skandianer, und ein bißchen später waren es neunmal soviel. Sie waren ganz ordentliche Leute, aber das Ankunfts-Areal war eben voll. Die Zäune fielen einfach um, und die Skandianer quollen in die Stadt und in die Umgegend. Das war aber nur der Anfang. An diesem Morgen materialisierten sich etwa eine Million; und dann geschah das gleiche in zehntausend anderen Einwanderungshäfen der Erde. »Mama«, sagte Trixie, »da sind ein paar Leute, die möchten mal unsere Toilette benutzen.« Das war Beatrice (Trixie) Trux, ein kleines Mädel in der kleinen Stadt Winterfield. »Merkwürdige Wünsche haben manche Leute«, sagte Mrs. Trux, »aber wahrscheinlich ist es eine Art Notsituation. Laß sie rein, Trixie. Wie viele sind’s denn?« »Ungefähr tausend«, sagte Trixie. 205
»Aber Trixie, so viele können es doch nicht sein!« »Na schön, dann zähl du sie.« Sie alle kamen herein und benutzten die Toilette der Familie Trux. Es waren etwas mehr als tausend, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie alle auf der Toilette gewesen waren, obwohl sie für jeden ein Limit von fünfzehn Sekunden ansetzten und einen Zeitnehmer mit einer Glocke hinstellten, der dafür sorgte, daß es auch eingehalten wurde. Sie lachten und spaßten dabei; aber schon der erste Trupp brauchte fünf Stunden, und inzwischen warteten schon eine ganze Menge neue. »Das ist ja ein bißchen ungewöhnlich«, sagte Mrs. Trux zu einer der Skandianerinnen. »Ich habe ja niemals mit meiner Gastfreundschaft gegeizt. Es fehlt uns auch keineswegs an gutem Willen, aber die physischen Möglichkeiten reichen einfach nicht aus. Sie sind so viele!« »Machen Sie sich keine Gedanken«, sagte die Skandianerin. »Auf die gute Absicht kommt es an, und es war so freundlich von Ihnen, uns einzuladen. Wir kommen so selten irgendwo hin. Wir hier sind ein bißchen früher dran, aber die anderen kommen sehr bald nach. Gehen Sie auch so gern auf Besuch?« »Oh ja, ja«, sagte Mrs. Trux; »es ist mir nie so klar geworden wie grade jetzt, wie gern ich auf Besuch gehen möchte.« Aber als sie sah, daß draußen alles schwarz vor Menschen war, entschied Mrs. Trux, daß es besser wäre, wenn sie bliebe, wo sie war. Truman Trux rechnete mit Bleistift und Papier. »Unser Grundstück ist fünfzig mal hundertfünf206
zig Fuß, Jessica«, sagte er. »Das sind entweder 7500 oder 75 000 Quadratfuß, je nachdem, auf wieviel Nullen man es ausrechnet.« »Du warst schon immer so gut in Mathematik«, sagte Mrs. Trux, »wie machst du das bloß?« »Und weißt du, wie viele jetzt hier auf unserem Grundstück wohnen, Jessica?« »Eine ganze Menge.« »Ich schätze, zwischen sechs- und siebentausend«, sagte Truman. »Ich habe heute früh mehrere Häuserblocks gesehen, von denen ich noch nichts wußte. Die haben in unserem Hintergarten eine komplette Stadt gebaut. Die Straßen sind zweieinhalb Fuß breit, die Häuser acht mal acht Fuß bei sechs Fuß Etagenhöhe, und die meisten haben neun Etagen. In jedem Zimmer leben ganze Familien und kochen auch noch. Sie haben Läden und Kaufhäuser eingerichtet. Sie haben sogar Fabriken gebaut. Ich weiß, daß es auf unserem Hinterhof ein komplettes Engros-Textilzentrum gibt. Und da sind dreizehn Lokale und fünf Varietes, soviel ich weiß – es können auch mehr sein.« »Na ja, manche von diesen Kneipen sind ja auch ziemlich klein, Truman. Der ›Kleine Dachsbau‹ ist die Besenkammer vom ›Großen Dachsbau‹ – ich weiß nicht, ob man das als selbständiges Lokal zählen soll. In den ›Seitengäßchen-Club‹ mußt du dich seitwärts reinquetschen; der ›Club Zum Dünnen Mann‹ ist von Wand zu Wand nur neun Zoll breit, und es ist ein Kunststück, da auch nur den Ellbogen krumm zu machen; und das ›Mäuse-Stübchen‹ ist ganz winzig. Aber die besseren Clubs sind oben auf unserem Boden. Hast du sie mal gezählt? Da ist das ›Verrückte Cabaret‹ und der ›Polizeistunden-Club‹. 207
Für die meisten Clubs auf dem Boden haben die Mitglieder ihre eigenen Schlüssel, und ich bin kein Mitglied. Sie haben jetzt auch ein Skandianisches National-Theater eröffnet, in unserem Keller, weißt du. Da geben sie durchgehend Vorstellungen.« »Ich weiß, Jessica, ich weiß.« »Ihre Lustspiele sind so komisch, daß ich mich beinahe totgelacht habe. Aber leider ist das Theater immer so voll, daß du einwärts lachen mußt, wenn dein Nachbar auswärts lacht. Und bei ihren Dramen muß ich immer genau so doll weinen wie die Schauspieler auf der Bühne. Die Stücke handeln alle von Frauen, die keine Kinder mehr kriegen können. Warum haben wir denn nicht ein paar mehr, Truman? In unserem Hof sind über zwanzig Läden, wo sie nur Fruchtbarkeitsamulette verkaufen. Warum haben die Skandianer eigentlich gar keine Kinder mit?« »Ach, sie sagen, das ist nur ein erster kurzer Besuch von ein paar Leuten, und da wollten sie ihre Kinder nicht erst mitnehmen. Was ist denn da draußen außer dem normalen noch für ein ExtraRadau?« »Oh, das sind die großen Pauken und Zymbale. Sie machen eine Wahlkampagne, weil sie für ihren Besuch hier Interimsbeamte wählen wollen. Kaiserstadt, so heißt die Stadt in unserem Hof und in unserem Haus, soll Abgeordnete wählen, die den Block im Kongreß vertreten sollen. Die Wahl ist heute abend. Dann wird’s erst richtig Radau geben, sagen sie. Die Pauken verschwenden gar keinen Raum, Truman. Da stecken Leute drin, die schlagen sie von innen. Manche von unseren Nachbarn sind ja ein bißchen nervös wegen der Neuen, aber ich 208
habe schon immer gern das Haus voller Menschen gehabt.« »Das haben wir ja jetzt, Jessica. Ich kann mich nur nicht daran gewöhnen, mit neun anderen in einem Bett zu schlafen, auch wenn es ruhige Schläfer sind. Ich bin gerne unter Menschen, und ich erlebe auch gern mal was Neues. Aber das wird denn doch ein bißchen eng.« »Wir haben ja auch mehr Skandianer als sonst jemand in der ganzen Straße – außer den Skirveys. Sie sagen, sie mögen uns lieber als manche von den anderen. Mamie Skirvey nimmt jetzt vier verschiedene Sorten Fruchtbarkeitspillen. Sie glaubt bestimmt, daß sie Drillinge kriegen kann. Das will ich auch.« »Alle Läden sind schon leer, Jessica, und auch alle Holzplätze und Bauholzlager, und in zwei Tagen sind die Getreidesilos auch leer. Die Skandianer bezahlen ja für alles in Geld, aber kein Mensch weiß, was da drauf steht. Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, auf Männer und Frauen zu treten, wenn ich ausgehe, aber das läßt sich gar nicht vermeiden, weil der ganze Boden von ihnen bedeckt ist.« »Das macht denen gar nichts aus. Die sind das gewöhnt. Sie sagen, wo sie herkommen, ist es auch voll.« In der Winterfield Tribune stand ein Artikel über die Skandianer: Es ist eine nackte Tatsache, daß die Erde seit zwei Tagen zehn Milliarden Besucher von der Skandia hat – wo immer dieser Stern auch sein mag. Es ist eine nackte Tatsache, daß die Erde innerhalb einer Woche daran sterben wird. Sie sind auf unsichtba209
rem Wege hergekommen; aber sie zeigen keine Neigung, auf demselben Wege wieder wegzugehen. Die Nahrungsmittel schwinden; sogar die Luft, die wir atmen, schwindet. Sie sprechen alle unsere Sprache; sie sind höflich, freundlich und entgegenkommend. Und wir werden an ihnen zugrundegehen. Ein großer, lächelnder Mann war zu Bar-John vorgedrungen, dem Präsidenten der Groß-StaatenG. m. b. H., früher USA. »Ich bin der Präsident der Skandia-Besucher«, dröhnte er. »Einer der Gründe für unser Kommen war, euch Erdbewohner zu belehren, und wir finden, daß ihr das wirklich nötig habt. Eure Fruchtbarkeitsrate ist mitleiderregend: in fünfzehn Jahren bringt ihr es kaum auf eine Verdoppelung eurer Bevölkerungszahl. Eure Medizin, die auf anderen Gebieten einigermaßen den Anforderungen entspricht, ist auf diesem Sektor schlimmer als kindisch. Wir haben festgestellt, daß einige der Quacksalbereien, die bei euch im Handel sind, tatsächlich die Fruchtbarkeit sogar behindern. Also – holen Sie den Gesundheitsminister und noch ein paar andere zuständige Leute her, und dann werden wir uns daran machen, die Situation in Ordnung zu bringen.« »Machense dasse rauskommen!« sagte Präsident Bar-John. »Sie und Ihr Volk werden sich den Segnungen einer gesunden Bevölkerungspolitik nicht verschließen wollen, davon bin ich überzeugt«, sagte der Präsident der Skandia-Besucher. »Wir können euch helfen. Wir wollen, daß ihr so glücklich werdet wie wir.« 210
»Jarvis! Knuppelmann! Sapsucker!« brüllte Präsident Bar-John. »Schießt den Kerl runter! Den Papierkram liefere ich nach!« »Das sagen Sie jedesmal, aber dann tun Sie’s nicht«, beklagte sich Sapsucker, »und wir haben nachher einen Haufen Ärger davon.« »Also schön, schießt ihn nicht runter, wenn ihr soviel Theater darum machen müßt. Ach, war das schön in den alten Zeiten, wo man einfache Dinge auf einfache Weise erledigen konnte! Sie verdammter Skandia-Schinder, wissen Sie, daß sich hier in meinem Weißen Hause neuntausend von euch rumsielen?« »Wir werden das sofort in Ordnung bringen«, sagte der Skandia-Präsident. »Wir können in diesen hohen Räumen zwei, ja sogar drei Zwischenböden einziehen. Es ist mir eine Freude, Ihnen versichern zu können, daß wir bis zum Abend dreißigtausend Personen im Weißen Hause untergebracht haben werden.« »Bilden Sie sich ein, es macht mir Spaß, mit acht anderen – die nicht einmal in den Wählerlisten stehen – zusammen in einer Wanne zu baden?« jammerte Präsident Bar-John. »Denken Sie, es macht mir Spaß, mit drei oder vier anderen von einem Teller zu essen? Oder morgens aus Versehen eine andere Fresse als meine eigene zu rasieren?« »Ich kann nicht einsehen, warum das nicht der Fall sein sollte«, sagte der Skandia-Besuchspräsident. »Menschen sind unser kostbarster Besitz. Wir wählen als Präsidenten immer nur den, der die Menschen am meisten liebt.« »Ach was, kommt her, Jungens«, sagte Präsident Bar-John, »schießt diesen liebevollen Sohn runter! 211
Ab und zu haben wir schon mal das Recht auf einen freien Schuß!« Jarvis und Knuppelmann und Sapsucker ballerten auf den Skandianer los, aber dem machte das nicht das Geringste aus. »Sie müßten doch wissen, daß wir gegen dergleichen immun sind«, sagte der Skandianer. »Wir haben schon vor Jahren gegen Schußwaffeneinwirkung gestimmt. Also, wenn Sie sich nicht kooperativ verhalten wollen, dann wende ich mich eben direkt an Ihr Volk. Glückliche Vermehrung allerseits, meine Herren!« Truman Trux war, der Abwechselung halber, ein bißchen spazierengegangen und saß jetzt auf einer Parkbank. Genaugenommen saß er nicht auf der Bank, sondern ein paar Fuß höher. Den eigentlichen Platz auf der Bank hatte nämlich eine gesprächige Skandianerin inne. Auf ihrem Schoß saß ein stämmiger Skandianer, der die Sporting News las und Pfeife rauchte. Auf ihm saß eine jüngere Skandianerin. Auf dieser jüngeren Dame saß Truman Trux, und auf ihm saß ein jüngeres, dunkelhaariges Skandianer-Mädchen; sie feilte sich die Nägel und summte ein kleines Lied dabei. Auf ihr saß ein älterer Skandianer. In Anbetracht der Engnis, die jetzt auf der Erde herrschte, konnte man nicht erwarten, daß man einen Bankplatz für sich allein hatte. Ein junger Mann und sein Mädchen kamen vorbei. Sie schritten auf den im Grase lagernden Menschen. »Dürfen wir uns setzen?« fragte das Mädchen. »Bitte, bitte«, sagte der ältere Herr, der zu oberst saß,. »Geht in Ordnung«, sagte das Mädchen, das sich die Nägel feilte. 212
»Aber sicher«, sagten Truman Trux und die anderen, und der ältere Herr blies in seine Pfeife: »Sehr angenehm.« Autoverkehr gab es nicht mehr. Die Menschen gingen übereinandergepackt auf den Haupt- und Nebenstraßen. Die unterste Schicht war die langsamste; dann kam die mittlere, und dann die schnellste (die ging auf den Schultern der mittleren und profitierte außer von ihrer eigenen Geschwindigkeit noch von der der beiden anderen Schichten). An den Straßenkreuzungen wurde es allerdings ziemlich verzwickt, und manchmal stapelten sich die Passanten neun Mann hoch. Aber diejenigen Erd-Menschen, die überhaupt noch ausgingen, hatten sich rasch mit den Skandianer-Techniken vertraut gemacht. Ein Erd-Mann, der wegen seiner extremistischen Ansichten bekannt war, hatte ein Denkmal im Park erklommen und hielt eine Rede an das Volk, ErdMenschen wie Skandianer. Truman Trux, der etwas sehen und hören wollte, erkämpfte sich einen schönen Sitz auf der fünften Ebene, auf den Schultern eines netten Skandia-Mädchens, die auf den Schultern eines anderen saß, der auf den Schultern … und so weiter, bis ganz unten. »Ihr seid wie die Heuschrecken!« brüllte der Erdianer. »Ihr habt uns kahlgefressen!« »Der arme Kerl«, sagte das Skandia-Mädchen, auf dem Truman saß, »wahrscheinlich hat er nur ein paar Kinder und ist daher verbittert.« »Ihr habt unsere Substanz verschlungen und uns die Luft zum Atmen gestohlen. Ihr seid wie die Heuschrecken der Apokalypse, die Elfte Plage!« »Hier haben Sie einen Fruchtbarkeitszauber für 213
Ihre Frau«, sagte das Skandia-Mädchen und reichte ihn zu Truman hoch, »vielleicht brauchen Sie ihn jetzt noch nicht, aber heben Sie ihn sich für später auf! Er ist für Leute, die schon mehr als zwölf Kinder haben. Die skandianische Inschrift besagt: ›Warum jetzt schon Schluß machen?‹ Er ist sehr wirksam.« »Danke schön«, sagte Truman. »Meine Frau hat schon eine Menge Fruchtbarkeitszauber von euch guten Leuten gekriegt, aber so einen hat sie noch nicht. Wir haben nämlich erst ein Kind, ein kleines Mädchen.« »Das ist ja furchtbar! Hier haben Sie einen Zauber für Ihre Tochter. Man kann nicht früh genug anfangen, ihn zu benutzen.« »Vernichtung, Vernichtung komme über euch alle!« kreischte der verrückte Erdianer vom Denkmal herab. »Der kann aber reden!« sagte das SkandiaMädchen. »Zu welcher Rhetoren-Schule mag er wohl gehören?« Die Menge begann sich zu zerstreuen und abzuwandern. Truman spürte, wie er heruntergereicht wurde, eine Schicht tiefer, und dann noch eine. »Irgendeine bestimmte Richtung?« fragte das Skandia-Mädchen. »So paßt es nur grade«, sagte Truman, »wir gehen genau in Richtung auf meine Wohnung.« »Nanu, hier ist ja eine beinahe leere Stelle«, sagte das Mädchen. »Sowas finden Sie nie bei uns zu Hause.« Jetzt waren sie auf der untersten Schicht, und das Mädchen schritt nun auf den waagerechten Körpern jener dahin, die im Grase lagerten. 214
»Sie können absteigen und laufen, wenn Sie wollen«, sagte das Mädchen. »Da ist eine Lücke zwischen den Fußgängern, da können Sie durchschlüpfen. Also bei!« »Sie meinen bei-bei?« fragte Truman und glitt von ihren Schultern. »Stimmt. Bei-bei. Das zweite ›bei‹ vergeß ich immer.« Die Skandianer waren so nette Leute. Präsident Bar-John und ein Dutzend andere Welt-Regenten waren zu der Überzeugung gelangt, daß man hart vorgehen müsse. Da die Skandianer und die Erdmenschen völlig durcheinander geraten waren, war hier der Gebrauch kleiner und mittlerer Waffen angezeigt. Das Problem würde sein, die Skandianer an bestimmten offenen Plätzen zu sammeln; aber am Tag X fingen sie von selber an, sich überall auf der Erde in Millionen Parks und Squares zu sammeln. Es klappte wunderbar. Armee-Einheiten lagen überall in Bereitschaft und traten in Aktion. Gewehre pfiffen und Maschinenpistolen schnatterten. Aber der Effekt auf die Skandianer war nicht wie erwartet. Anstatt tot und verwundet umzufallen, schrien sie überall Hurra. »Auch noch Feuerwerk!« rief ein SkandianerFührer und stieg auf das Denkmal in einem Park. »Oh, welche Ehre!« Jedoch, obschon sie nicht im Feuer der Schußwaffen fielen, wurden die Skandianer auf mysteriöse Weise immer weniger. Sie verschwanden so geheimnisvoll, wie sie vor einer Woche erschienen waren. »Wir gehen jetzt fort«, sprach der SkandiaFührer vom Denkmal herab. »Wir haben jede Mi215
nute unseres kurzen Besuches genossen. Wir werden euch in eurer Leere nicht allein lassen. Unsere Vorausabteilung wird zu Hause Bericht erstatten. Nächste Woche werden wir in halbwegs beträchtlicher Anzahl zu euch kommen. Wir werden euch das volle Glück menschlicher Nähe lehren, die Wonnen der Fruchtbarkeit, den Segen einer genügenden Bevölkerungszahl. Wir werden euch zeigen, wie ihr diese schrecklichen leeren Stellen auf eurem Planeten auffüllen könnt!« Schon nahmen die letzten Skandianer heiteren Abschied von ihren traurigen Erd-Freunden. »Wir kommen zurück!« sagten sie und legten ihre letzten Fruchtbarkeits-Talismane in ausgestreckte leere Hände. »Wir kommen zurück und werden euch alles lehren, so daß ihr so glücklich sein könnt wie wir. Gute Vermehrung!« »Gute Vermehrung!« schrien die Erd-Menschen den schwindenden Skandianern nach. Oh, die Welt würde so einsam sein ohne alle diese reizenden Leute! Bei denen hatte man doch das Gefühl gehabt, daß man einander wirklich nahe war. »Wir kommen wieder!« sprach der SkandianerFührer vom Monument herab. »Nächste Woche sind wir wieder da, und noch eine ganze Menge mehr!« »Und nächstes Mal bringen wir die Kinder mit!« erklang eine letzte schwindende SkandianerStimme vom Himmel.
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