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VIELE MILLIONEN LESEBOGEN mit 188 verschiedenen Titeln stehen bereits auf den Bücherborden und in den Bücherschränken unserer Leser. Aus der „Kleinen Bibliothek des Wissens", die wir vor Jahren begonnen haben, ist eine stattliche Schriftenreihe geworden. Das gesamte Wissen unserer Zeit ist in diesen Sachheften gesammelt und wird alle vierzehn Tage durch einen weiteren Lesebogen ergänzt. Spannend, belehrend, bildend und verständlich — das sind die Grundsätze, nach denen die Verfasser der bunten Hefte alle Gebiete der Naturforsehung, Technik, Erdkunde, Geschichte, Dichtung und Kunst behandeln. Über den Wert der Lux-Lesebogen gibt es nur ein Urteil: „Eine der schönsten Kulturleistungen der Nachkriegszeit". J E T Z T ZUM J A H R E S E N D E ist es wieder Zeit, an die Bestellung der preiswerten und praktischen Kassetten zu denken, die sich für die Aufbewahrung der Lux-Lesebogen vorzüglich bewährt haben. Sie lassen sich wie ein Buch in die Hausbücherei einordnen und erlauben doch das Herausnehmen jedes einzelnen Heftes. Die schmucke, karmesinrote Kassette ist zweiteilig, sie besteht aus einer Einsteckkassette und der Außenhülle. Das goldene Rückenschild trägt die Aufschrift: „Lux-Lesebogen". Ganz nach Belieben kann nun dei Leser mit der mitgelieferten Zusatzfolie die Kassetten nach Jahrgängen oder nach Sachgebieten etikettieren. Die Zusatzschilder sind für diesen Zweck mit folgenden Aufdrucken in Goldschrift versehen: Kunst und Dichtung, Geschichte, Völker und Länder, Tiere und Pflanzen, Physik und Technik, Sternenkunde. DIE L U X - L E S E B O G E N - K A S S E T T E ist für einen vollen Jahrgang, 24 Hefte, berechnet. Preis DM 1.20 einschließlich Versand. Bezug durch jede Buchhandlung oder unmittelbar vom Verlag. Wird beim Verlag bestellt, bitten wir, den Betrag von DM 1.20 auf das Postscheckkonto München 73823 (Sebastian Lux) einzuzahlen.
VERLAG S E B A S T I A N LUX MURNAU . M Ü N C H E N • I N N S B R U C K
ÖLTEN
K L E I N E B I B L I O T H E K DES WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR- UND
KULTURKUNDLICHE
O T T O
HEFTE
Z I E R E R
Ausfahrt, Ruhm und Untergang der Normannen
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU-
M Ü N C H E N - I N N S B R U C K - O LTEN
Das Lied der Skalden Jn a l t e r Z e i t w a r d i e W e l t des N o r d e n s r a u h e r als h e u t e . Starr und schroff, wie. die die himmelragenden Gebirge, die aus tiefen Fjorden bis in die Bereiche der sturmzerrissenen Wolkenbänke aufstiegen, waren auch die Menschen, wild und kraftvoll wie die brausenden Wasserfälle und Wildbäche, die aus düsteren Schluchten zur grauen See herabstürzten, und ungebändigt wie die rollende Brandung, die draußen vor den Küsten die Felsen der Schären zerschlug und zerfraß. Im Herbst und Winter hing über dem Lande ein niedriger, drückender Himmel, der die Menschen die kurzen übersonnten, blauen Sommer nicht vergessen und die leidenschaftliche Sehnsucht nach dem, was hinter der lastenden Decke der Hochnebel und Schneewolken sein mußte, nicht zur Ruhe kommen ließ. Der immer neu erlebte Gegensatz zwischen dem im Frühjahr und Sommer in die Weite des Ozeans schweifenden Blick und dem alles verhüllenden Wolkennebel der Wintermonate machte die Herzen unrastig und gaukelte ihnen Bilder von einem schöneren Leben in weiter Ferne vor. Die harten Lebensbedingungen schufen ein kühnes, den Göttern und den Menschen trotzendes Geschlecht, dem von altersher Tapferkeit und Mut als höchste Tugenden galten und Feigheit als größte Schande. Held war, wer das Unmögliche wagte, wer den Gewalten des Himmels, der Erde und des Schicksals widerstand und eher fiel als sich beugte. Held war im Nordland der Maßlose und Verwegene. * 2
In Nebeltagen und Sternennächten, im Meersturm und im kraftvollen Wiedererwaclien des jungen Jahres begegnen die Völker des alten Nordlands ihren Göttern: Tyr, dem Alten, der Herr der Himmel und des Krieges ist und dessen Atem die gesamte Natur erfüllt; Baidur, dem Lichten, der ein Abbild des hellen, seidigen Frühlingshimmels ist; Thor, dem Grimmigen, der mit seinem Gespann feuriger Böcke hammerschwingend über rollende Wolken fährt und Blitze schleudert. Hinauf in die Männerhalle des strahlenden Asgard, der Himmelsburg, fahren im Glanz ihrer Waffen die toten Helden, Männer zu Männern, um am Tisch der Götter zu schmausen und von vergangenen Taten zu reden. Um Taten zu verrichten, gibt es kein größeres Feld als den grimmigen Norden. In grauer Vorzeit schon fahren Schweden und Goten auf hochbordigen geschnäbelten Schiffen über die Ostsee und hinterlassen in den Schären die unvergeßliche Erinnerung an vorgeschichtliche Seeschlachten in großartigen Felsbildern; entlang der zerrissenen Westküste Skandinaviens entdecken die Norweger den Nordweg ins Eismeer, bis hinauf zu der Inselkette der Lofoten, wo die besten Fischgründe inmitten brodelnder Nebel und donnernder Brandung liegen. Gegen Süden führt die Ausfahrt ins Halligmeer zu Franken und Friesen. Westwärts aber dehnt sich wie eine sperrende Mauer der Ozean. Doch für die Nordleute gibt es keine unübersteigbaren Hindernisse. Ihre Kühnheit'weicht keiner Gefahr. Wenn von den Berggipfeln herab die Eisriesen grollen und Schnee oder Nebel die breithingelagerten Höfe über dem gischtverhüllten Fjord verhüllen, prasselt in der hochgebauten, bunt bemalten Männerhalle das wärmende Feuer in der Flammengrube. Die Bauernkrieger, die Fischer und Waldläufer sitzen hier feiertags beim Honigmet auf ihren Fellsesseln, der Gaufürst thront unter dem reich gesdinitzten Gebälk im Hochsitz am Mittelpfeiler, und sie alle, die von Göttern, Helden und unerhörtem Geschehen träumen, lauschen den Worten des Skalden — des Sängers, der von Odin uraltes, heiliges Wissen besitzt und der von vergangenen Schicksalen, von Becken und Kriegshelden zu erzählen weiß. Da ballen die Jungmänner wohl die Fäuste, wenn sie sich auf die Gegenwart besinnen, die so ganz anders ist, als die Tage der Götter und Helden es waren. Eng ist das Nordland geworden, die Erde an den schmalen Flanken der Fjorde ist karg, die Höfe sind Erbe der Erstgeborenen, und für die Jüngeren bleibt nichts als der verfilzte Forst und die schäumende See. Könige und Fürsten beanspruchen immer größere Macht — aber kein echter Nordmann taugt zu Hofdienst und Königsgefolge. 3
Langboote auf einer vorgeschichtlichen schwedischen Felszeichnung Nicht nur von Heldentaten der Vergangenheit singen die Skalden, »ie künden auch von den großen Ereignissen, die sich in jüngst vergangener Zeit fern überm Meer, im lieblichen Südland, zugetragen haben: vom Auszug der Goten, die von der Landschaft Gotland in Schweden aufs Festland gewandert sind und dort unten, weit im Osten am Schwarzen Meer ein Reich gegründet haben. Von den Vandalen hören sie, die zahllose Lande durchquert und am anderen Ende der Erdscheibe, in Nordafrika, unter goldener Sonne in Paradiesen wohnen. Von „Romaburg" (Rom) hören sie, in das gotische Männer eingezogen und in dem sie unter ihrem Heerkönig Alarich unerhörte Schätze gewonnen haben. Eines Tages vernehmen die Sachsen im Dänenlande, daß die Römer ihre Legionen zum Schutze Romaburgs von den britannischen Inseln abgezogen haben, und sie tun sich mit ihren Nachbarn —• den Juten und Angeln — zusammen, fahren auf zahllosen Schiffen, zuerst der Friesenküste entlang, hinüber nach Britannien, erobern die Insel und leben als freie angelsächsische Männer. Welche Taten durchdröhnen den Norden! Und jedes Jahr gehen mehr Männer hinaus auf das Meer, sich ihren Anteil an den Schätzen der Welt zu erstreiten (vgl. Karte S. 9). 4
Wen hielte es länger hinter den hölzernen Wänden des Gehöfts, auf dem er doch nur der Nacbgeborene oder der schwer ringende Bauer ist? Und während die Harfe des weißbärtigen Skalden klingt und noch die Worte der Sage wie bunte, fremde Vögel durch die Halle fliegen, faßt manch einer Vorsatz und Plan für das kommende Frühjahr . . .
Aufbruch der Drachenboote Im April reißt der wallende Strom grauer Wolken auseinander, die Sonne bricht mit breiten Bändern in die Enge des Fjords; auf den Almen, hoch über der Bucht, weidet wieder das Vieh, und die letzten Schneezungen weichen gegen die Eisgipfel zurück. Da kommen die Männer zusammen, um zu vollbringen, was sie in langen Winternächten besprachen. Sie ziehen mit Waffen und Vorräten von den Gehöften zur Lände, Sendboten rudern mit schmalen, niedrig gebauten Kähnen die Küste entlang. Schon tauchen an den Mündungen der Fjorde, wo das Meer grau und weißgesäumt hereinbricht, die hochbordigen ,Skeidhs' auf — Kampfschiffe aus Eschenholz, die an die vierzig Männer fassen. Sie bringen altgelagerte Eichen- und Eschenstämme, mühsam geschnittene Bohlen und Balken mit und werfen die Last unter dem Zuruf der Freunde an den flachen Strand. Dort entsteht eine Werft, Äxte hallen und Sägen knirschen. Auf kühn geschweiftem Kiel, aus schnittigen Spanten, Deckbalken und Bordplanken wächst das große Drachenschiff — ein Langboot, das länger ist als die Skeidhs. Mehr als hundert Männer finden darin Platz. Den Steven schmückt ein bemalter Drachenkopf; der Schiffskörper, der in der Mit t e ein Spritzverdeck erhält, aus dem der wuchtige Mast emporragt, ist so stark gezimmert, daß das Boot den wildesten Wogenprall aushalten wird. Mit solch einem Drachenschiff, das von einem gewaltigen rotgelb gestreiften Segel getrieben wird, wenn nicht eben Windstille die Männer an die Langruder ruft, schafft man die Fahrt über das Nordmeer bis England in drei Tagen. Eifrig sind die Mannen beim Bau, manchmal spähen sie hinüber zum Nordstrand, wo andere Schwurleute an Schiffen zimmern. Sie nennen sich nun Wikinge oder Wikinger, was ,Männer der Schlacht' (Wig = Kampf) und ,Männer der Buchten' (Wyk = Bucht) zugleich bedeutet. Die Völker im Westen und Süden heißen die Wikinge einfach ,Nordmänner' oder .Normannen'. 5
Noch toben die Frühjahrsstürme. Ägir, der Herr der Meerflut, der jetzt der Patron der Wikinge ist, wühlt den Grund auf, und Ran, seine Tochter, tanzt auf den Schären ihren Wogentanz. Dann aber beruhigt sich das Tosen der Brandung. „Die Bordzelte brachen sie ah, so daß des Herrschers Heer erwachte. Am Mast hißten hoch die Segel die Wikinge im Warins-Fjord,
die Schiffer ruderten. Geführt von Edlen enteilten rasch des Königs Kiele dem Küstenrand. Wenn zusammenschlugen ' die langen Kiele und Ägirs Wogen, so scholl es laut, als brächen Felsen die Brandung entzwei.'-
Da war Ruderschall und Schwerterhall, Schild schlug an Schild,
Als das bunte Drachenschiff mit den an der hohen Reeling aufgereihten Schilden den Fjord verläßt, kommen aus den Nebenbuchten andere Langschiffe hervor, schließen sich an, und jubelnder Zuruf fliegt von Bord zu Bord. Die Flotte formiert sich. Das graue Nordmeer nimmt sie auf. In diesem Jahr 793 nach der Geburt des Erlösers rühren wilde Frühjahrsstürme die Nordsee auf, Gewitter flammen über den Himmel, und die frommen Mönche von Kloster Lindisfarne — einer kleinen Insel an der Nordküste Englands — schreiben angstvoll in ihre Chronik, man habe im Meersturm glühende Drachen dahinfahren gesehen. Dann speit die See plötzlich kühngeschnäbelte Schiffe aus, der Horizont vor Lindisfarne bedeckt sich mit gestreiften Segeln, und wilde, blondbärtige Krieger stürmen an Land. Sie plündern das Kloster, erschlagen die Mönche und führen die Kirchenschätze davon . . .
Der
Norden
ist
entfesselt
Die Unruhe des Nordens nimmt zu. Aufreizend dringt die Botschaft von reicher Beute und kühnen Taten in die Fjorde und zu den Herrenhöfen des Nordlandes, und immer neue Jungmannschaft drängt zur See. Um diese Zeit sammelt sich der Kern des Abendlandes um die neue Sonne des Westens: Karl den Großen, den christlichen Kaiser 6
und Helden des Frankenstammes. Uic Ordhtmg flc* höOcrt« Kultur kehrt mit Missionaren und königlichen Sendgrafen in die wilden Gaue Germaniens ein, die chaotische Zeit der Völkerwanderung scheint zu Ende. Schon stoßen die stählernen Heerspitzen der christlichen Franken ins Land der unbeugsamen Sachsen vor, Herzog Widukind tritt seinen Ritt nach Soissons an und läßt sich taufen. Dann verblaßt der gewaltige Schatten Karls, eine neue Generation kommt herauf. Die Karlserben beginnen ihren unseligen Streit um das in Fetzen gerissene Reich, die nordischen Seekönige aber sehen ihre Stunde aus dem Meer heraufsteigen, die Schwäche des sterbenden Karolingerreichs gibt ihnen den Weg zu allen Städten und Gauen des Südens frei. Im Jahre 819 brechen norwegische Boote auf und gründen in Irland ein Kleinreich. Ein Jahr darauf vereinigen sich dreizehn Wikingerschiffe zu einem Erkundungsvorstoß nach den südlichen Küsten. Sie laufen Flandern an, dringen in die Scheide- und Rheinmündung ein und gewinnen in einsamen Klöstern und kleinen Städten so viel an Plündergut, daß die Schiffe tief im Wasser liegen und die Helden die Hunderte von kräftigen Gefangenen —• Knechte und Mägde für ihre nordischen Höfe — laufen lassen müssen, weil sie keinen Platz mehr für sie in den Schiffen haben. Als die Flotte heimkehrt, geht es erneut wie Lauffeuer durch das Nordland: Reichtum, Gold, leichte Beute und alle Seligkeit der Welt warten an südlichen und westlichen Küsten. Jahr um Jahr rollen mehr Drachenboote aus den Fjorden, gehen mehr Jungmänner unter die Wikinge. Der Norden ist entfesselt. An vielen Küsten tauchen die buntgemalten, hochbordigen Meerrenner mit den drohenden Schnäbeln auf, die Drachen, Pferdeköpfe oder Wolfshäupter zeigen. „Wer ist der Fürst der die Flotte lenkt und golden am Steven die Streitflagge führt?
nicht Frieden birgt der Bug der Schiffe: Walröte weht um die Wikinge . . ."
Im Jahre 841 läuft eine Wikingerflotte in die Mündung der Seine ein und plündert alles Land bis dicht unter die Mauern des festen Paris, 842 entdecken die Räuber die von Felsbarrieren gesdiützte Mündung der Loire und nehmen die schöne Stadt Nantes im Handstreich, 844 tauchen die gelb-roten Segel auf der Garonne auf und gleiten stromauf bis vor die Türme von Toulouse. Andere See7
A
könige lassen sich südwärts treiben und landen im Maurenreich Spanien. Lissabon, Cadix, Sevilla und sogar das märchenschöne Cordoba müssen Plünderung und Brandschatzung erdulden. Wohin die Nordlandsrecken kommen, schlagen sie feste Lager nahe dem Strande auf, rauben sich Rosse und reiten in wilden Rudeln ins Bauernland. Sie nehmen Gebälk und Fachwerk von Höfen und Häusern für ihre Lagerfeuer, verbrennen Stöße alter Schriftrollen aus den Klöstern und schichten aus Chorgestühl die Scheiterhaufen für ihre Toten. Das Vieh auf der Weide dient ihnen zur Stillung des Hungers, die Vorräte der Scheunen und Keller gehören ihnen. Bauern und ihre Kinder führen sie als Knechte fort, und wo sie vorübergezogen sind, hinterlassen sie Elend, unsagbare Not, blutige oder brandgeschwärzte Spuren. Die Welt ist ihr Eigentum geworden, Gesetz schreiben sie mit den Schwerten. Immer größer werden die Flotten, schon vereinigen sich mehrere Seekönige und Häuptlinge, Jarls, zu gemeinsamen Unternehmungen, um auch größere Städte und die Heere des Reiche« bezwingen tu können. Im Frühsommer des Jahres 845 bedeckt sich die Trichtermündung der Elbe mit einer gewaltigen Flotte, die Ragnar Lodbrok anführt; sechshundert Segel werden von den entsetzten Bewohnern gezählt. Mit Not entrinnen der Erzbischof und ein Teil der Bevölkerung, dann sind die Wikinge in der Stadt Hamburg, die sie ausplündern und durch Feuer vom Erdboden vertilgen. Im gleichen Jahr noch segelt Ragnar Lodbrok die Seine aufwärts und stürmt Paris, mit schwerer Tributzahlung erkauft König Karl der Kahle den Abzug der Räuber. Wenige Zeit später tun sich die Lodbrokssöhne zusammen, ziehen die Flotten einiger kleiner Jarls an sich und vertrauen sich der Führung ihres alten Waffenmeisters Haastein an. Hundert Drachenschiffe ziehen fächerförmig ausgebreitet über die Biskayasee, segeln an Spanien vorbei in die sagenhafte Meeresstraße, an der ein halbverfallenes Standbild des Helden Herakles steht; der kühne Fels des ,Dschebel al Tarik' — Gibraltar — hebt sein Haupt aus den Fluten, und der weiße Strand lockt mit herrlichen Gärten, Hainen und reichen Städten. Unerhört ist der Plan des Waffenmeisters Haastein. In seiner Flotte fährt Björn Eisenseite, Lodbroks Sohn, ein junger Riese. Der scheint dem alten Getreuen des Hauses Lodbrok der rechte Mann, um ihn auf den sagenhaften Thron Romaburgs zu setzen, auf dem schon andere Männer des Nordlands Platz gefunden haben: Odoaker und Alarieh. 8
Die Normannen, altgermanisdie Bewohner Dänemarks, Norwegens und Schwedens, die von der Völkerwanderung unberührt geblieben waren, begannen ihre großen Seeräuber-, Eroberer- und Siedlerfahrten im 8. Jahrhundert n. Chr. Die Karte zeigt die Hauptrichtungen und -wege, die sie genommen haben. Von ihren Staaten- und Kolonialgründungen in Irland (9. Jh.), Island (9. Jh.), Grönland (Ende 9. Jh.), Nordostamerika (um 1000), in der Normandie (Anfang 10. Jh.). England (Mitte 10. JJi.), Unteritalien (Anfang 11, Jh.), Sizilien (Anfang 12. Jh.), Rußland-(9. Jh.) hat keine Bestand gehabt. Die Normannen umfuhren auch das Nordkap (Ende 9. Jh.) und die Halbinsel Kola.
Im Frühjahr segeln sie mit gutem Winde an die italische Küste. Als sie die kleine Stadt Lima anlaufen, glauben sie in Rom zu sein. Zu spät erkennen sie ihren Irrtum. Aus Zorn brennen sie Luna nieder. Bis ins ferne Griechenland führt diese Abenteuerfahrt der Lodbroksöhne, und reich beladen mit Schätzen kehren die Mannen nach vier Jahren zum Norden heim. Die Wikinger Dänemarks haben unterdessen in England ein beliebtes Feld für ihre Raubzüge gefunden, alljährlich knirschen die Kiele ihrer Schiffe am Strand der angelsächsischen Insel. Dann rauben die Helden zunächst Rosse, schwingen sich in Kettenpanzer und Spitzhelm in die Sättel und sprengen weit ins Land. Brennende Gehöfte und wehende Brandwolken zeichnen die Bahn, die sie nehmen. Als aber die Angelsachsen* die Überfälle blutig heimzahlen, beschließt der Rat der Wikingerfürsten, England aufzugeben. Die Beuteaussichten im zerfallenden Frankreich scheinen günstiger. So werfen sie sich auf den gegenüberliegenden Strand. Alles geht gut. In langen Kolonnen, mit Planwagen und Packpferden wandern die siegreichen Normannen durch Westfrankreich, als die erschreckende Botschaft kommt: der junge König Ludwig III. rücke von Burgund mit einem großen Heere heran. Es ist ein heißer Augusttag. Auf der Wiese bei dem Dorfe Saucourt kommt es zur Schlacht (881). Wendig lassen die Wikinger alle Beute fahren und wenden sich wütend gegen die Franken. Schon weicht die Schlachtreihe, da stürzt sich der junge König selber ins Gewühl . .. „Kühn ritt der König sang ein Lied fröhlich, und alles sang die Weise: Kyrie eleise!
Sang ward gesungen, Schlacht ward begunnen: Froh fechten die Franken ohne Weichen und Wanken."
Am Abend liegen achttausend Nordmänner erschlagen auf dem Feld.
Auf der Walstatt der Normandie Das fordert Rache und kühnere Tat gegen die Südländer. Im folgenden Jahr segelt eine riesige Wikingerfiotte rheinauf und läßt Nymwegen und seine Kaiserpfalz als Brandruine zurück. Köln, Bonn und Koblenz Werden ein Raub der Krieger. Zu Pferde verheeren sie die Ufer der Mosel, rauben in Trier und 10
Aachen und lassen die Pfalzen Kaiser Karls in Feuer aufgehen. In Bingen lagern sie eine Weile, in Worms brandschatzt eine Hundertschaft berittener Nordleute. Dann überfallen sie, durch den Ärmelkanal segelnd, erneut die französische Westküste. Im August 885 nehmen die Scharen des jungen Jarl Rollo, der aus Norwegen verbannt ist, das feste Rouen. Im November — als vom Atlantik her schwere Regengüsse treiben — steht ein gewaltiges Normannenheer zum zweiten Male vor den Mauern von Paris, SeekÖnig Siegfried führt es. Monatelang rast die Schlacht um die Befestigungen, welche die großen, steinernen Brücken schützen. Am Ufer gegenüber haben die Wikinger sich in den Trümmern einer zerstörten Kirche eingenistet, haben Schmieden und Werkstätten errichtet, wo sie Waffen und Belagerungsgerät herstellen, während die Pariser sich mit letztem Mute verteidigen. Der Sturm auf Paris scheint nicht zu gelingen. Die Durchfahrt durch die Brückenbarrieren bleibt versperrt. Da faßt Herrn Siegfried die Unrast, er läßt zweihundert Drachenschiffe um die sperrenden Brücken herumführen, setzt sie wieder zu Wasser und segelt mit seiner Flotte fröhlich stromauf. Segel blähen sich, Ruder rauschen, und kühner Gesang dröhnt von den Banken. Jahre gehen dahin, in denen die Brandröte nicht von den Horizonten Frankreichs weicht. Erst gegen Ende des 9. Jahrhunderts klingt die Räuberzeit ab. Die Wikinger, die sieh in der Landschaft um die Seinemündung festgesetzt haben, entdecken, daß es gut tut, einmal die Beine am Kamin zu strecken und von vergangenen Taten zu erzählen; die Heimatlosen wollen im Lande bleiben. Der französische König muß sich dieser Forderung beugen. Der Normannenherzog Rollo schwört den Lehenseid auf König Karl den Einfältigen von Frankreich. Immer mehr Wikinger werden zu Bauern. Die große Flotte, die in den westfranzösischen Häfen vertäut gelegen hat, löst sich auf . . . Das westfränkische Normannenland, die Normandie, wird französisches Herzogtum und gewinnt bald großes Gewicht im innerstaatlichen Leben Frankreichs.
* Weit und schön ist das gewonnene Land am französischen Strand, über das nun Herzog Rollo als normannisch-fränkischer Herzog gebietet. Von der erzbischöflichen Stadt Rouen greift das Herzogtum hinüber bis Cherbourg und Caen, Herzog Rollo teilt seinen 11
Mannen Lehen und Besitz zu. Bald blüht nordisches Bauerntum auf reicher Scholle empor, in den Wallburgen und Hallen der Hofe singen die Skalden, in den Schatzkammern häufen sich die erbeuteten Goldgeräte der Klöster und Städte. Die Normannen haben das Christentum angenommen, aber die alte Liebe zu den kühnen Asengöttern haftet noch lange in ihren Herzen. Am Tage vor seiner Taufe hat Herzog Rollo den Äsen ein letztes Fohlenopfer dargebracht, und als er im Sterben liegt — so erzählt ein fränkischer Mönch — habe er befohlen, der christlichen Kirche als Eintrittsgeld für den Himmel hundert Pfund Goldes zu schenken und gleichzeitig hundert Gefangene für Odin und Thor zu opfern, um sich auch Asgards, des Germanenhimmels, zu versichern. Die Jarls von Rouen, so berichtet der Isländer Snorre Sturluson, blieben immer gut Freund den Männern des Nordens. Wenn diese Verbindung mit der Normandie suchten, fanden sie immer wohlgeneigtes, freundliches Land. Die Eroberer der Normandie sprechen unterschiedliche Dialekte: dänisch, norwegisch und schwedisch, die Geistlichen des Landes schreiben und predigen in Latein, und die Frankenbauern reden Romanzo, Altfranzösisch: eine Mischung aus mittelalterlichem Latein, westgermanischen und gallischen Mundarten. Allmählich dringt in die neue Volkssprache viel vom nordischen Sprachgut ein. Trotz Seßhaftigkeit und Christentum liegt diesen Normannen Westfrankreichs doch immer noch der alte Erobererdrang im Blut und lockt den einen oder anderen von seinem Hof in die weite Welt. Der Traum von größeren Reichen, die zu gewinnen sind, ist nicht ausgeträumt. Im Jahre 1035 übernimmt Herzog Wilhelm die Herrschaft über die Normandie. Herzog Wilhelm ist es. der eines Tages wieder den Blick hinaus aufs Meer richten und die alten Drachenschiffe von neuem rüsten lassen wird: zu neuer Ausfahrt hinüber ans Gegenufer de» Kanals — nach England.
Könige über dem Nordland Doch in den vergangenen Jahrzehnten haben sich auch in der nordischen Altheimat die Dinge gewandelt. Über die Häuptlinge haben sich in Schweden, Norwegen und Dänemark nach dem Vorbild des Frankenreiches mächtige Könige erhoben. Der Nordmann, der dort auf seinem Hofe verblieben ist, war bisher auf seinem Grund und Boden am Sund, im Fjord und im 12
Gebirgstal König und Herr. Wohl wählte er im Volksthing einen Häuptling, aber dessen Macht war begrenzt geblieben und berührte kaum einmal das Leben auf den Bauernhöfen. Auf See- und Raubfahrt aber galten bindende Gesetze. In der Joswikingersage heißt es: „Das war der Anfang ihrer Gesetze: kein Mann sollte aufgenommen werden, der mehr als fünfzig oder weniger als achtzehn Jahre zählte. Ein jeder sollte für den andern eintreten wie für einen Bruder. Keiner sollte ein Wort der Furcht äußern oder verzagen, wie wenig Hoffnung auch sei . . . Im Sommer fuhren sie in vielerlei Länder auf Heerfahrt und holten sich Ruhm. Sie galten als die größten Krieger, und keiner ihrer Zeit war ihnen zu vergleichen." Aber die Tage dieser Männergemeinschaften weichen langsam der weitergespannten Ordnung. In Norwegen tut Harald Schönhaar —• derselbe, der Rollo aus dem Lande gewiesen — den Schwur, er wolle sich die blonden Locken nicht mehr schneiden lassen, ehe Norwegen nicht ein einiges Reich geworden. Seine Haare sind grau, als er sie endlich mit einer Schere in Berührung bringen darf. In der Bucht von Stavanger tobt 872 die Entscheidungsschlacht zwischen den Drachenbooten des Königs und den Drachenbooten der Jarls. Von allen Meeren sind die Wikinge herbeigeeilt, den Waffengang zu sehen und das Aufeinanderkrachen der Kiele zu hören. Der Skalde Thorbjörn Hornklofi kämpft unter den Männern am hohen Bord. „Kampfgierig kamen Kiele von Osten Mit schnappenden Häuptern, Schnitzwerk am Steven.
Es brüllten Berserker, Es brannte die Schlacht. Die Wolfskrieger schrieen, Schüttelnd die Speere.
Es trugen die Fechter Mit funkelnden Schilden Wurfspieße aus Westland Und welsche Schwerter.
Strandrosse stampften, Der Streit begann; Helmdröhnen hallte . . . "
Das norwegische Königtum besiegt die freien Jarls, und Norwegen wird ein Reich. Ein Nachfahre König Haralds schlägt die letzten Widerspenstigen in der Seeschlacht nahe der Hjörngabucht und macht sie zu Gefangenen. Bis auf den Jüngsten weigern sie den Lehenseid und beugen sich lieber dem Richtschwert als diesem Manne, der sich König nennt. An der Schwelle des neuen Jahrtausends bringt dann der Seekönig Olaf Tryggvessohn, von einem großen Abenteuer heimkehrend, das Kreuz als Zeichen 13
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einer nun auch den Norden ergreifenden, höheren Gesittung mit. Auch im Osten Skandinaviens, in Schweden, bildet sich in der gleichen Zeit um das zentrale Heiligtum in Uppsala die Macht eines Königtums, das die getrennten Gewalten der Häuptlinge zusammenfaßt und den Grund legt zu den großen Ausfahrten, die in der Folge nach Osten gerichtet sind. In Dänemark hat bereits in der Zeit Karls d. Gr. König Godfred ein großes Staatsgebilde geschaffen, dem später Gorm der Alte durch die Eroberung Jütlands die breitere Grundlage gibt. Sein Sohn Harald Biauzahn bekehrt Dänemark zum Christentum (um 960). Drei kraftvolle Königreiche beherrschen den Norden des Abendlandes. Um das Jahr 1000 verbinden sich die Dänen mit den Schweden, überfallen Norwegen und schlagen es in furchtbarer Seeschlacht. Die Bauern Norwegens sollen ihnen künftig dienstbar sein.
Insel der Freiheit — Island In dieser Zeit wandern viele aus, um ihre Freiheit nicht zu verlieren. Gibt es nicht ein sagenhaftes Land weit im Westen, entfernt von allen Thronen und Königen, wo freie Bauernkrieger nach eigenen Gesetzen zu leben vermögen? Gardar Swaftssohn, ein nordischer Händler, ist vor einem Menschenalter im Sturm von den Hebriden fortgetragen und nach Nordwesten geführt worden. Er hat eine große Insel gesichtet. Jahre später ist der Wiking Nadodd von einem Weststurm an den gleichen Strand getrieben worden. Er hat rauchende Quellen, hohe Eisgipfel und grünende Halden gesehen. Wegen der treibenden Eisberge und der Gletscher hat er die Insel „Island", Eisland, genannt. Dorthin fahren nun die breiten Boote der Freiheitliebenden, fünfzigtausend sind es im Ablauf weniger Jahrzehnte. Rosse, Rinder und Schafe, Ackergerät, Waffen und Vorräte, Weiber und Kinder sind unter den überdachten Deckbauten geborgen, die Segel schwellen und Raben steigen auf. Der erste schwingt sich empor und kehrt zurück nach Norwegen, von wo sie gekommen; der zweite kreist lange über den Schiffen und setzt sich dann müde auf den Mast; doch der dritte, der am sechsten Tage aufgelassen wird, weist den Meerpfad nach Westen. Am siebten Tag tritt Island mit rauchenden Geisern aus dem eisgrünen Wasser hinter den Schären ins Blickfeld. 14
Island wird letzte Zuflucht altgermanischer Freiheit . . . Unter breiten Schilfdächern liegen die Gehöfte, in Sunden und Fjorden sitzen die Bauern als Herren, und lange noch herrschen die Äsen über den fernen Rand der Welt. In Island ist noch die altgermanische Heldensage lebendig, als im christlichen Abendland lange schon die letzten heidnischen Lieder verklungen oder in christliche Formen umgewandelt sind. Hier singen und dichten die letzten Skalden — am berühmtesten Snorri Sturluson und Egil Skallagrimssohn, der als Wiking die Meere befuhr und der im Kerker zu York sein Preislied auf König Erik schrieb. Die Maßlosen und Unbändigen haben ihren Hang zu Abenteuer und Weltfahrt nach der fernen Insel mitgebracht. Auch in Island gibt es bald Totschläger und Verbannte, die nach einer neuen Heimat suchen müssen. Einer von ihnen ist Erik der Rote, der seine Mannen über die Gjunbjörnschären zur Landnahme hinüber ans grüne Ufer von Süd-Grönland führt. Leif, sein Sohn, aber landet nach großer Meerfahrt als erster an jenem Strand des Westens, den er Vinland, den man ein halbes Jahrtausend später Amerika nennt. Von Grönland aus segeln jahrzehntelang immer wieder Drachenboote hinüber aufs amerikanische Festland, legen vorübergehend Siedlungen an, bringen Bauholz nach Grönland. Dann erliegen die nordamerikanischen und grönländischen Wikinger der feindlichen Umwelt, der klirrenden Kälte, den Indianern und Eskimos. Ihre Spuren verwehen in der Unendlichkeit des Ozeans und des ungeheuren Festlandes jenseits des Westhorizontes.
Im goldenen Byzanz . . . Während die norwegischen und dänischen Wikinger nach Westen und Südwesten fahren, haben, soweit Menschengedenken zurückreicht, die schwedischen Wikinger die Küsten der Ostsee als Tummelplatz erwählt. An der Mündung der Oder ragen, von Palisaden umgeben, ihre Wallburgen auf und beherrschen die Schiffahrt. Tief ins Binnenland, bis nach Böhmen hinein, streifen ihre Scharen. In Kurland, Estland und Finnland besitzen die Könige aus dem Geschlecht der Ynglinge von Uppsala Sommersitze und Wehranlagen. Dahinter dehnt sich noch unerschlossen das russische Land und bietet dem Unternehmungsgeist der Nordleute neue lockende Ziele. Eines Tages erseheint in einem der finnischen Sommerlager eine Abordnung der Slawen und spricht vor dem Thing: „Unser Land 15
ist groß und gut und mit allem versehen, aber es ist ohne feste Ordnung. Kommt also, uns zu beherrschen und uns zu leiten!44 Das Thing erwählt drei Brüder mit ihren Sippen, die das Abenteuer bestehen sollen. Die Drei heißen Rurik, Signjut und Thorwald. Sie versammeln ihre Gefolgsmannen um sich und lassen sie Treue schwören. Weil aber der Eid in nordischer Sprache „War" heißt, werden die wikingischen Eidgenossen in Rußland künftig „Waräger" genannt und weil sie hellhaarig — „ruotsi" — sind, heißen sie auch „rusi" bei den vielfältigen Völkern des Ostens. Sie ziehen hinab in das dunkle Land der riesigen Wälder und Sümpfe und geben ihrer ersten Siedlung den Namen Holmgard; die Slawen nennen sie später „Nowgorod". „Rurik gelangte zum Ilmensee, wo er am Wolchow eine Stadt baute, die Holmgard genannt wurde. Das Land ringsum verteilte er an seine Gefährten. Es waren aber zwei Männer bei ihm, Askold und Dyr, die nicht seiner Sippe angehörten, aber Edelleute waren. Rurik hatte ihnen weder Dörfer noch Städte gegeben, deshalb baten sie ihn um Erlaubnis, mit ihren Leuten nach Miklagard zu gehen . . . "
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Miklagard ist das „Romaburg" des Ostens — das Goldene Byzanz. Die Kunde von seinem Glanz und seinem Reichtum ist durch Händler längs der Ströme hinaufgedrungen, hat die Landschwelle Mittelrußlands übersprungen und den Ostseestrand erreicht. Schon in Vorzeiten sind die Bernsteinhändler aus dem Nordland an den Westküsten Europas entlang südwärts gefahren, die Verkäufer von Kupfer und Webwaren aus Kreta, Griechenland und Syrien aber segelten auf Gegenkurs ins wilde Nordland. Jetzt ziehen Askold und Dyr mit ihren Mannen von Holmgard zum Dnjeprstrom und aufwärts nach Smolensk. Doch diese Stadt ist zu gewaltig, als daß die Handvoll Waräger sie nehmen könnte. Unabsehbar dehnen sich die flachen Wellen des Landes: jungfräulich und kaum besiedelt. Endlich kommen die Helden an ein Städtchen, das sich zwischen die Berge und den Strom schmiegt: Kiew heißt es hei den Slawen. Hier lassen sich Askold und Dyr nieder, ernennen sich selber zu Fürsten und ziehen viele Waräger aus dem Norden nach. Bald sind die Waräger von Kiew stark genug, an weitere Eroberungen denken zu können. Nach alter Nordmannensitte bauen sie feste Skeidhs, seetüchtige besegelte Ruderboote, und schiffen sich stromabwärts ein. Noch immer lockt Miklagard. 16
Unter frohen Gesängen zieht die Flotte zu Tal, vorüber an grünen Hügeln und weiten Steppen. Manchmal ducken sich ein paar schilfgedeckte Hütten von Chasaren oder Slawen in den Busch, dann wieder stürmt der Strom über mächtige Schnellen. Da werden die Schiffe auf Rollen meilenweit über Land geschafft und wieder zu Wasser gelassen. Und eines Tages tut sich die dunkle Fläche des Schwarzen Meeres auf. Mit wehenden Wimpeln und geblähten Drachenfahnen laufen die Boote der rollenden Dünung entgegen. Viele Städte und Burgen am Ufer werden verheert, bis endlich das Südufer und die felsenbewehrte Einfahrt des Bosporus entdeckt wird.
Normannen schiffen sich ein (gesticktes Teppichbild aus dem 11. Jh.) Miklagard ist erreicht! Es funkelt mit goldenen Kuppeln, mit marmornen Türmen und leuditenden Fenstern. Mit zweihundert Schiffen sperren Askold und Dyr das Goldene Hörn, die tief eingeschnittete Meeresbucht längs der Stadt, und den Bosporus und beginnen den Angriff auf die Mauern der Stadt. Aber es erhebt sich ein wütender Sturm, und die Drachenboote schmettern an die Klippen. Mit wenigen Schiffen kehren die geschlagenen Waräger nach Kiew heim (866). Dort zieht ein neues Unheil herauf. 17
In Nowgorod-Holmgard ist unterdessen Held Rurik gestorben, sein Sohn Ingwar ist unmündig und untersteht der Vormundschaft des Waffenmeisters Helgi. Dieser Mann hat alte Fehde mit Askold und Dyr. Er rückt gegen Kiew aus, besiegt und erschlägt Askold und Dyr und macht Kiew zu einem Teil seines Reiches. Auch Held Helgi führt seine Mannen nach Byzanz. Er dringt in den Bosporus ein und verwüstet die kleinen Orte entlang der Meerenge. Die Einfahrt in den Hafen des Goldenen Horns ist so stark bewehrt, daß er die Schiffe über Land ins „Tal der süßen Wasser von Europa" nördlich der Stadt schaffen läßt. Von dort heransegelnd erschreckt er die Byzantiner so sehr, daß sie zu Verhandlungen bereit sind. Helgi erzwingt sich freien Handel, Zurüstung für die Heimfahrt, Goldschätze und ein Gastmahl. Dann nagelt der Warägerfürst sein Schild an das Stadttor am Blachernenpalast der Ostkaiser und schwört bei den Slawengöttern Perun und Volos Urfehde — ewigen Frieden. Ruhmreich tritt er die Heimfahrt an. Nach Helgis Tod nimmt Fürst Ingwar die Zügel der Herrschaft auf. Stürmisch verlangen auch seine Männer die Fahrt gen Miklagard, und er zieht ihnen stromabwärts voran, das Drachenbanner wallt ihm zu Häupten. Auch sie erreichen die Meerengen und beginnen die Belagerung. Vom Meer aus blockieren die Schiffe Zufahrt und Hafen, unterdessen greifen die Berittenen über Land die Theodosianische Mauer an. Wieder bitten die Griechen um Frieden, und wie zu Helgis Zeiten nehmen die Wikinger an. Ein Handelsvertrag kommt zustande, der künftig dem nordischen Kaufmann den Hafen am Goldenen Hörn erschließt, und auch Ingwar kehrt triumphierend zurück. Unrast jagt ihn tiefer ins Land nach Osten. Meist folgen die Wanderscharen dem Lauf der Ströme. Sie entdecken die Wolga und fahren südwärts ins Meer von Gardariki — den Kaspisee. Sie schwärmen um die Grenzen des Irak und kämpfen im Chasarenreich. Aber sie sind nur ein hingestreuter Wurf von Samenkörnern über einem ungeheueren Feld. Mehr und mehr vermischt sich das nordische Blut mit dem der Slawen, die Bauern nehmen schnell Sitte und Art der Umwohner an, und selbst die Fürsten gehen in der Flut der Fremdheit unter. Große Frauengestalten wie die Fürstin Helga, welche die Slawen Olga nennen, tauchen in diesen Jahrzehnten auf; einer der Nachfahren Ruriks -— Waldemar, den sie Wladimir heißen — heiratet, um das Verhältnis mit Byzanz zu bessern, eine oströmische Kaiser18
tochter Anna. Sie ruft griechische Glaubensboten ins Land der Rusi, nach Rußland, und das Volk beugt sich der griechischorthodoxen Form des Christentums. Von nun an ziehen viele Männer friedlich gegen Süden, nehmen im Goldenen Byzanz Dienste als Söldner der Leibwache oströmischer Kaiser. Als Garde stehen schwedisch-warägische Krieger unter dem Reichsbanner des Oströmischen Staates. Verweht im Sturm der Zeiten, hinausgetragen in die Weite der Welt, finden viele von ihnen ein Ende fern der Heimat. Für einen von ihnen, Horse mit Namen, errichten sie einen Marmorlöwen über der Grabstätte. Auf dem steinernen Fell des Löwen sind kunstreiche Bänder eingemeißelt, die in Runenschrift Worte einer lang verschollenen Kameradschaft tragen: „In Heeres Mitte ward er gefällt. In diesem Fjord aber ritzten Runen die Männer für Horse, den wackeren Bauern der Bucht. Schwedische Wikinger gruben dies in den Löwen ein." Reiche entstehen und gehen dahin. Keines aber wird diesen Weltfahrern zur bleibenden Heimat. Sie sind überall nur wie Hefe im Teig: Wikinger, Waräger, Schwurbrüder des Abenteuers . .. „Sie fuhren verwegen Für Gold in Fernen, Atzten Adler im Osten, Sanken südwärts in Fremdland . . . "
Unternehmen
England
Kunde von Untergang und grauser Tat kommt aus dem Westen. Die Angelsachsen haben die unter ihnen hausenden Wikinge gemordet, um sich vom verhaßten „Dänentribut" zu befreien. Der angelsächsische König Äthelred ist Drahtzieher des großen Mordens. Der Schlag ist gut ausgedacht. Ein Samstag muß es sein, weil an diesem Tage die Wikinger zu baden pflegen. Man wählt zudem Samstag, den 13. November des Jahres 1003 — den Tag des heiligen Briccius -—, weil an diesem Festtag nach alter Überlieferung alle Wikinger ihre Waffen zur Überprüfung den Jarls abliefern und einen Tag wehrlos sind. Die Verschworenen fallen über die nichtsahnenden Nordmänner her, sie schlagen den Gast im Hause, das Kind in der Wiege, sie schonen die Frauen nicht. Einen Fürsten der Wikinger, der mit Gunhild, der Tochter des Dänenkönigs Sven Gabelbart, vermählt ist, würgen die Sachsen samt seinen vier Söhnen vor den Augen 19
der Mutter. Kein Laut der Klage, keine Träne! Gunhild wirft vor den Augen der Mörder die Runen und sagt ihnen ein Meer von Blut und grimme Rache voraus. Gunhild hat wahr gesagt! Sven Gabelbart und eine riesige Wikingerfiotte kommen über England. Jahre der Greuel rasen über die Insel. Sven Gabelbarts Sohn, Knut der Große, der Mann, der Norwegen besiegt und den frommen 01a.v Tryggvessohn gestürzt hat, vollendet die Eroberung Englands. Über drei Reiche gebietet der Wiking nun: Dänemark, Norwegen und England. Knut der Große bringt endlich den Frieden. So groß ist sein Ruhm, daß er auf der Romfahrt den Segen des Papstes, die Umarmung des Kaisers empfängt und seine Tochter dem Kaisersohne verlobt. Endlich scheint christliche Gesittung in \ie gesetzlose und wilde Welt des Nordens einzuziehen. Aber als Knut stirbt, zerfällt das Reich abermals (1035). Schon ruht das Auge eines anderen Eroberers auf der britannischen Beute. Wilhelm, der Herzog der Normandie, erfaßt die Gunst der Stunde und ruft seine Barone und Jarls zum Unternehmen England (1066).
* Sechs Wochen lang stürmen die Wogen wie schäumende Wölfe gegen den Strand von St. Wandrille in der Normandie. Windzerfetztes Gewölk jagt niedrig von Nordwest, und die zerstiebenden Kämme der Wellen mischen sich mit dem ziehenden Regen. Am Abend des 27. September lichtet sich der Himmel, der folgende Morgen bricht rosig an wie das Lächeln eines Kindes. Noch rollt der Ozean in öliger Dünung, aber die Wasserwände sind ohne Gischt, ihre Kraft ist gebrochen. Herzog Wilhelm läßt die Hörner blasen, sein Gefolgsmann Lanfranc von Brec pflanzt das heilige Banner auf das Führerschiff, das sich ,Meerflamme' nennt. Das Heer erwacht mit Jubel, Waffenlärm erfüllt die Lagergassen längs der Bucht von Rouen. Die Glocken von Jumieges beginnen zu läuten. Hier sind vor eineinhalb Jahrhunderten die ersten Normannen unter Herrn Rollo gelandet. Heute wird sich angesichts der altersgrauen Türme der Kathedrale die Ausfahrt des kühnen Volkes zu größerer Beute vollziehen. Von allen Seiten strömen die Krieger zum flachen Strand, an dem in unabsehbaren Reihen die schwarz-goldenen Schiffe schaukeln. Knechte in Lederkollern führen die Kampfrosse der Barone, der Lehensherren von Caen, Bayeux und Saint Lo. Tausende normannische Ritter in spitzen Helmen, Kettenhemden und bunten Wappenröcken eilen über die Laufplanken, helfen Waffen, Schilde, Pferde 20
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Normannen erstürmen eine Burg (nach einem Bild des 9. Jhs.)
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und Vorräte in die tiefen Kielräume stauen. Es sind nicht nur normannische Herren, die an diesem Unternehmen teilnehmen. Die Kunde von den Eroberungsplänen Herzog Wilhelms hat sich wie der Schrei der Möven im Norden verbreitet. Dänische Wikinger, norwegische Abenteurer sind aus ihren Fjorden herbeigekommen. Anteil am Abenteuer lockt, Anteil an unerhörtem Ruhm! Es gilt diesmal, ein Reich zu gewinnen! Singend entrollen die Wikinger die gelb-roten Segel. Einige halbheidnische Haudegen aus dem Norden lassen die alten Rabenbanner flattern. Bunt bemalt drohen die ragenden Buge und Steven. Die Ruderbänke der langen, schmalen Wogenhengste füllen sidi mit klirrendem Kriegsvolk. Dreißig, hundert, aber auch'zweihundert Männer finden Platz in den Schöngebauten Schiffen. Durch die Mündung der Seine laufen die Segler.des Herzogs hinaus in die heranwogende See. Wie wilde Reiter tanzen die Schiffe auf den Sätteln der Wellen. Dreitausend Fahrzeuge werfen los und folgen dem Kreuzbanner, das vom Mast der „Meerflamme" weht. Die Sonne bricht golden hinter dem zerschmelzenden, weißen Dunst hervor und übergießt die ausfahrende Flotte. Landwind füllt die Segel, und tausend Ruder schlagen die See. Wenn die Dradienboote sich hodi auf den Kämmen der Dünung wiegen, erkennen die scharfäugigen Krieger fern den weißen Streif der Kreidefelsen von England.
* Sie landen am Strande von Pevensey, es ist der Tag des siegreichen Erzengels Midiael. Die Kiele knirsdien im Sand. Als erster springt Herzog Wilhelm mit flatterndem Mantel an Land. Er strauchelt und stürzt zu Boden. Ein übles Vorzeidien? Der Unbeugsame ist schnell gefaßt: „Ich lege meine Hand auf dich, England!" ruft er seinen Männern zu. Sinnbildhaft ergreift er die Erde. Brausend wälzt sich das Heer an die Küste . . . Der Augenblick der Landung ist klug gewählt. Im Frühjahr ist der angelsädisische König Eduard der Bekenner kinderlos gestorben. Ein englischer Wikingersproß, Harold Godwins Sohn, hat sich des verwaisten Thrones bemächtigt. Doch sein Bruder Tostig neidet ihm Krone und Reich und ruft den alten Kampfgefährten König Hartraade von Norwegen zu Hilfe. Dieser Seekönig, der eben mit einer großen Flotte von jahrlanger Südfahrt nach Norwegen zurüdtgekehrt ist, wendet, sobald ihn der Hilferuf erreidit, gleich wieder die Kiele westwärts und läuft Nordengland an. Es ist die Zeit, in der Herzog Wilhelms Flotte noch durch die Stürme an der Küste der Normandie festgehalten ist. 22
König Harold eilt mit seiner Leibwache, den „Hoiisecarls", nordwärts, um den Eindringling ins Meer zurückzujagen. In der sich anbahnenden Schlacht trifft ein Pfeilschuß den Hals des norwegischen Gegners. Mutlosigkeit überfallt Hartraades Leute. Da sie ihren Heerführer tot wissen, schiffen sie sich ein und fahren nach Norwegen zurück. Erschöpft und durch die Verluste geschwächt, kehren auch die Verteidiger Englands in ihre Städte zurück. Bald aber jagen Boten heran und bringen dem König Harold nach London die Schreckenskunde von der Landung der Normannen Herzog Wilhelms bei Pevensey. Harold hebt erneut das zerfetzte Banner und spornt sein Roß. Die tapferen Hoiisecarls folgen ihm nach. Diesmal reiten sie nach Süden. Nach Normannenart haben die Scharen Herzog Wilhelms nahe dem Liegeplatz der Schiffe ein befestigtes Lager aufgeschlagen. Das nächste Dorf ist Hastings. Furchtbar wird die Landschaft gebrandschatzt und geplündert. Am 2. Oktober berichten ausgesandte Späher vom Herannahen der gegnerischen Streitmacht, schon der nächste Tag zeigt im Licht der Sonne, die über dem blauen Meere aufsteigt, die schimmernde Schlachtreihe der Angelsachsen. König Harold hat sein Fußvolk auf einer Höhe aufgestellt, auch die „Housecarls" sind abgesessen und erwarten hinter Dornverhauen, eng zur Schildmau&r geschlossen, den Ansturm der Feinde. Die Normannen formieren sich hinter ihren Baronen und Jarls und stürmen bergauf gegen die Mauern der Angelsachsen. Ein Dutzend Angriffe zerschellt an der Tapferkeit der Housecarls. Da zieht Herzog Wilhelm die Reiterscharen zu einem Umgehungsmanöver zurück und laßt die Waffenknechte, die bogenbewehrten Bauernkrieger, vorrücken. Aus sicherer Entfernung schwirren die Pfeile in die Reihen der Angelsachsen, Hunderte fallen. Den Rest besorgt die im Rücken aus dem Walde hervorbrechende Reiterei. Fechtend sterben König Harold und seine Krieger. Die britische Insel ist eine Beute der Normannen. Wilhelm „der Eroberer", Herzog der Normandie, ist König über England. Der Eroberer teilt das Land in sechzigtausend Lehen, die er je nach der Beisteuer, welche die Barone zur Eroberung geleistet haben, vergibt. In London herrscht künftig ein landfremder Hof, fremde Jarls sitzen als harte Herren über den Grafschaften. Kein Angelsachse behält seine Stellung oder sein Amt. Lange Zeit muß vergehen, ehe aus den beiden Völkern eine Nation wird. Normannengeist wird für die Bildung der englischen Nation und Kultur zur mitbestimmenden Kraft. Aus der Wurzel des gemein23
samen Normannentums erwachsen für England und Frankreich viele enge Bindungen, aber auch jahrhundertelange Gegensätze, die künftig zum Austrag kommen werden.
Der Süden ruft In der nordischen Heimat, Waräger-Reich, und in der Normandie sind sie Christen geworden. Was einstmals der Siegbringer Tyr oder späterhin Odin gewesen, das ist ihnen nun der Engel mit dem Flammenschwerte: Sankt Michael. An der Küste vor der Normandie, auf hohem Meerfelsen, erhebt sich das Heiligtum Saint Michel, das sie begründet haben. Auch Sankt Michael ruft seine Mannen hinaus in die weite Welt, ruft sie auf, zum Heiligen Grabe gen „Jerusalemaburg" zu fahren, wo einst „der Degen mildester, der helle Christ, mit seinen zwölf Recken gewandelt war und der argen List seiner Feinde erlag". Wenn sich nach der Pilgerfahrt die Drachenschiffe heimwärts wenden vom syrischen Strande, versäumen sie nicht den heiligen Berg Garganus im süditalienischen Apulien anzulaufen, wo ein alter Weiheplatz Sankt Michaels liegt. Herrlich breiten sich die langen Küsten des Südens: Haine mit Fruchtbäumen und blühende Gärten locken; auf steilen Klippen stehen fest gebaute Burgen und schneeweiße Städte. Doch die Lande Siiditaliens sind in großer Verwirrung und von Auflösung und Zwietracht erschüttert; kämpfen doch langobardische Grafen, byzantinische Statthalter, päpstliche Legaten, venezianische Bailos und sarazenische Emire um die Plätze zwischen Bari und Reggio. Lange vor der Zeit, da Herzog Wilhelm in der Normandie gebietet, im Jahre 1016, geschieht es, daß eine Skeidh mit vierzig normannischen Kriegern vom Heiligen Lande herkommt und unter gerefften Segeln in den Hafen von Salerno einläuft. Die Wikinger haben gerade diesen Platz der schönen Küste gewählt, weil sich über seinen Höhen Brandgewölk ballt, wie eine Eaust. Sarazenische Rauber bestürmen Burg und Stadt des Langobardenherzogs Waimar von Salerno, und es scheint, als wären die letzten Tage des kleinen Paradieses am Golf von Neapel gekommen. Als nun die blonden Riesen ans Land steigen, als habe der Himmel sie zur Rettung gesandt, jubelt alles Volk und vertraut sich ihrer Führung an. Wag das Heer der Langobarden und Italiener nicht geschafft hat, das tun die Vierzig. Im ersten Sturm jagen sie die Moslems davon. Aber sie gehen nicht fort, nachdem dieses geschehen ist. Sie bleiben, finden einige Waffengefährten, beginnen von Salerno aus das 24
herrliche Land zu durchstreifen, fallen in Apulien und Kalabrien ein und häufen auch hier Beute auf Beute. Dann senden sie in die heimatliche Normandie die Botschaft, sie hatten ein Paradies gefunden, dem keines gleiche, nur seien sie zu wenige, um sich behaupten zu können. Die Gesandten aber führen Früchte und Schätze des Südens mit sich und weisen die Herrlichkeiten überall vor, in den Herrenhallen zwischen Cherbourg und St. Wandrille. Manch nachgeborener Sohn, dem zu Hause kein Erbe blüht, manch armer Lehensträger, der von größerer Herrschaft träumt, und mancher, den der Spruch des Herzogs oder eines Grafen wegen Totschlags verbannt hat, rüstet das Langhoot, ruft sein Gefolge oder seine Freunde, und setzt die Segel gen Süden. So kommen immer mehr Normannen in Salerno an, und sie alle stürzen sich voller Kampfbegier in das endlose Hin und Her, das Süditalien zerteilt. Schlachten werden geschlagen, Bündnisse geschlossen, Eroberungen gemacht, und viele finden den Tod. Andere aber sind glücklicher und gewinnen reiche Lehen. Schon bald reiten normannische Herren im Gefolge des Papstes Benedikt (1020) zu Kaiser Heinrich IL nach dem fernen Bamberg und erhalten aus seiner Hand die Städte Capua und Salerno als Reichslehen zur Verwaltung; ein Nordmann namens Rainulf tritt in die Dienste des Herrn von Neapel und wird durch ihn mit der Lehensfahne der schönen Grafschaft Aversa belohnt. Die Kunde vom Glück der Ausgefahrenen durcheilt die Normandie. Auf der Halbinsel Gotentin, nahe Cherbourg, sitzt Graf Tankred von Hauteville, der zwar fünf Söhne aus erster Ehe und sieben von seiner zweiten Frau Fräsende besitzt, dem aber sonst nicht viel irdisches Gut gehört. Zuerst gehen die drei ältesten der TankredsÖhne auf Italienfahrt: Wilhelm Eisenarm, Drogo und Humfried. Sie fahren nach Salerno, wo man sie freudig empfängt. Der oströmische Kaiser Michael von Byzanz wirbt eben Recken für einen Feldzug wider die Araber, die das zu Ostrom gehörende Sizilien besetzt halten, und die Tankre'dsöhne werden bald mit dem Byzantinerfeldherrn Maniakes einig: Die Hälfte von Beute und Eroberung soll ihnen und ihren Mannen gehören. Sie übertreffen sich selbst und jede Erwartung, sie gewinnen den Sizilienkrieg fast allein. Da aber der Byzantiner den Feldzug nicht für die Normandie geführt hat, weigert er ihnen den versprochenen Anteil. Sizilien bleibt in den Händen der Sarazenen. Da schwenken die Recken um und verbinden sich mit den Langobarden Süditaliens. Jahrelang tobt der Räuberkrieg über die südliche Halbinsel. Burgen werden im Handstreich genommen, verkleidet dringen die Wikinger 25
in Mein ein und erobern es. Sie ringen an der Seite der Langobardengrafen gegen die ihnen entgegengeschickten byzantinischen Truppen, deren Kernschar aus Landsleuten — Warägern — besteht. Endlich hält Drogo das Land Apulien fest und ernennt sich selbst zum Herzog. Der deutsclie Kaiser Heinrich III. bestätigt ihm Rang und Lehen. Der Normanne soll künftig Wächter des Reiches an seiner südlichsten Grenze sein. Aber er ist ein sehr ungebärdiger Gefolgsmann, der seine Stellung zu neuen Eroberungen ausnutzt. Sein nächstes Ziel ist die Stadt Benevent, über die Papst Leo IX. gebietet. Die schwache Heerschar des Kirchenstaates ist den dreitausend stahlgepanzerten Nordlandriesen nicht gewachsen. Der Papst fällt in die Gefangenschaft der Normannen. Es ist Herzog Humfried, Drogos Bruder und Nachfolger, der gesiegt hat. Er erweist sich als schlauer Politiker. Dem besiegten Papst küßt er demütig den Fischerring und stellt dann seine Forderungen. Was bleibt dem gefangenen Leo IX. anders übrig: Er gibt die eroberten und noch zu gewinnenden Teile Apuliens, Kalabriens und Siziliens den Normannen als kirchliches Lehen. Von jetzt an besitzen die Räuber einen zwar erzwungenen, aber gültigen Rechtstitel, der sie auch dem Reiche gegenüber emporhebt. Der Papst ist dem Namen nach ihr einziger Lehensherr, der Herr des Kirchenstaates aber ist zu schwach, um seine Rechte zu wahren.
Guiscard —
der
„Schlaukopf"
Der Ruhm der Brüder läßt die noch in der Normandie verbliebenen jüngeren Söhne Tankreds von Hauteville nicht schlafen. Ein weiterer Tankredsohn macht sich nach dem Süden auf. Er heißt Robert —• ein Mann hoch wie ein Baum, mit langem, wallendem Barte und von gebietendem Wesen. Sie nennen ihn seit langem „Wiskard", was normannisch „Schlaukopf" bedeutet und woraus die Italiener später „Guiscard" machen; denn Robert Guiscard versteht nicht nur mit Streitaxt und Schwert zu siegen, sondern er gewinnt sein Spiel ebenso oft durch List und Klugheit. Als er in Salerno, dem herkömmlichen Landehafen der Normannen Italiens, eintrifft, findet er verschlossene Gesichter. Die älteren Tankredsöhne wollen keine Rivalen und machen ihm das Lehen schwer. Er muß. sich mit seiner Handvoll Leute eine kleine Felsenburg, die er San Marco nennt, im Herzen Apuliens hauen und hat kaum Proviant genug, sein kleines Gefolge zu ernähren.. 26
Aber er ist ein Wiking und weiß, wie Nordmänner seit alters der lästigen Not gesteuert haben. So lauert er des Nachts auf den Straßen, fangt Rosse und Händlerwagen, überfällt kleine Gehöfte und Dörfer und schlägt sich so durchs Leben. Endlich bietet sich auch ihm eine Möglichkeit, zu Ansehen und Macht zu kommen. Er heiratet die ältliche Tante eines reichen Grafen und gewinnt mit ihrer Hand zweihundert Ritter. Von nun ab betreibt er das Handwerk eines Roßdiebs und Räubers in größerem Maßstab. Man beginnt ihn zu fürchten. Als Herzog Humfried 1055 im Sterben Hegt, ernennt er Robert Guiscard zum Vormund seines unmündigen Sohnes. Die Normannen aber wählen ihn daraufhin zu ihrem Herzog. Dann begegnet er der rotblonden Sigilgaita, der Tochter des Langobarden Gisulfs von Salerno. Es ist eine kriegerische Maid, die besser mit Schwert und Speer als mit Nadel und Faden umzugehen versteht, hochgewachsen und unbeugsam wie Robert selber — eine Longobardin vom alten Schlag. Herzog Robert lost sich von seiner ersten Gattin und vermählt sich der schönen Sigilgaita. Bald darauf treffen aus der Normandie auch der jüngere Bruder Roger und die Mutter Fräsende und einige Schwestern in Italien ein. Aus Eifersucht handelt Herzog Robert zunächst an Roger ähnlich, wie die älteren Brüder einst an ihm getan haben: Er hält den Jungen knapp mit Geld und Rossen, so daß dieser den gleichen Weg einschlagen muß wie Herr Robert. Auch Roger beginnt als Roßdieb und Wegelagerer. Süditalien, das die Byzantiner seit dem Verlust Siziliens an deu Islam „Sizilien diesseits der Meerenge" nennen, ist mit wuchtigen Schlägen zu einem Reich zusammengeschmiedet, doch jenseits der Meerenge von Reggio liegt noch das echte, von den Arabern besetzte Sizilien. Die reiche Insel soll Rogers Feld und Beute, beide „Sizilien" diesseits und jenseits der Meerenge sollen normannisch werden. Als der erste Handstreich Rogers auf die jenseits der Meeresslraße liegende feste Stadt Messina gelingt, versöhnt sich der Bruder, Herzog Robert, mit ihm und beide unternehmen nun die Eroberung gemeinsam. Der Kampf um Sizilien hebt an (1061). Wieder ziehen Jahre wie zerfetztes Gewölk im Sturme dahin. Einige arabische Emire gehen mit den Normannen zusammen. Um feste Kastelle auf hohen Felsenhäuptern tobt der Kampf, von unerhörten Taten kleiner Scharen Nordmänner gegen große Heere weiß die Geschichte dieser Zeit. Sarazenische Fürsten erscheinen im Zeltlager der Normannen und bieten, mit gekreuzten Armen sich beugend, Unterwerfung und Gefolgschaft an. 27
Zu Roß und zu Schiff ringen die Wikinger um die Städte Siziliens, mit Belagerungsgeschützen erschüttern sie das unerstürmbare Castro Giovanni und bauen die starke Festung Petralia beherrschend im Zentrum der Insel aus. Von dort aus streifen sie auf schnellen Rossen durchs blühende Land und zermürben die sarazenischen Gegner. Da gibt es Taten, wert des Liedes der Skalden: Als die Araber mit großer Macht aus den geöffneten Stadttoren eines umkämpften Platzes ausfallen und zurückgeschlagen werden, dringt ein junger Normanne im Eifer der Verfolgung mit den Sarazenen zugleich in die Stadt. Als eiligst die Tore geschlossen werden, steht der Jüngling — ein Kerl wie ein Turm — allein inmitten der feindlichen Stadt und rettet sich, eine Stunde lang quer durch die Stadt kämpfend, ausweichend und wieder vorstürmend, bis ans andere Ende und entkommt aus einem der dort gelegenen Tore. Zuletzt zieht sich der Krieg um die märchenhaft schone Hauptstadt Palermo zusammen. Mit roten Tüchern decken die Nordmänner die Drachenboote ab, Ketten verbinden die Schiffe untereinander, am Bug sind eisenbeschlagene Rammsporen angebracht und aus den hochbordigen Rümpfen schallt laut schmetternder Kampfgesang. So läuft die Normannenflotte gegen den Hafen von Palermo an. Ihnen entgegen schäumen die zweimasligen Dhaus der Araber, mit ihren trapezförmigen Segeln, lärmend, von Becken- und Zimbelklang erfüllt und eingehüllt in eine Wolke von Allahrufen. Hart dröhnen die Kiele aufeinander, die Krieger springen von Bord zu Bord und Schwerter zucken wie blaue Blitze. Aus den Araberschiffen bricht Feuer, fliehend stieben die Dhaus nach Palermo zurück. Doch hinter ihnen rauschen die Seedrachen zum Hafen, Anderntags beginnen Robert Guiscard und Roger die Mauern zu herennen. Als in der Stadt Hunger und Pest zur Qual werden, erscheinen die Räte und bieten die Übergabe an. Sie handeln mit den Siegern freie Religionsausübung für Mohammedaner, Juden und byzantinische Christen aus, und für alle Bewohner Sicherheit der Person und des Eigentums. Die Normannen sichern die Bedingungen zu. Dann ziehen sie unter Kreuzfahnen und Rabenbannern in die eroberte Stadt (1072). Robert Guiscard baut über Palermo ein gewaltiges Normannenschloß und hinterläßt einen „Emir" als Statthalter. Ruhm seiner Herrschaft und der all seiner normannischen Nachfolger bleibt es, daß sie die Übergabebedingungen treulich halten. Sizilien wird ein Hort der Duldsamkeit, des friedlichen Zusammenlebens aller Rassen, Religionen und Kulturen. 28
Wehrhafte Normannen-Kathedrale in der sizilischen Stadt Cefalu Höher hinauf strebt normannische Kühnheit. Ein Bündnis mit Papst Gregor VII., der die Hilfeleistung der normannischen Lehensleute wider Kaiser Heinrich IV. braucht, sichert dem neuen Staatsgebilde den Rücken. Dann kann Robert Guiscard den Griff nach der Kaiserwürde wagen: der Kaiserschaft des tausendjährigen Oströmischen Reichs von Byzanz. Im Frühjahr 1081 segelt die Wikingerflotte über die Adria und belagert Dyrrhachium, die griechische Pforte auf dem Weg nach Byzanz-Konstantinopel. Als die Schlacht vor den Mauern der Griechenfestung rast, beginnen die italienischen Söldner Robert Guiscards zu weichen. Die Herzogin Sigilgaita ergreift ein Normannenbanner und ein Schwert und stürzt sich wehenden Haares in die Kampfreihen, jagt die Fliehenden wieder nach vorne und bahnt ihnen voran eine Gasse ins feindliche Heer. Dyrrhachium fällt. Die Normannen ziehen über die thrakischen Berge nach Makedonien, um die Hauptstadt Ostroms auf dem Landwege zu erreichen. Byzanz rüstet sich zu Belagerung und Abwehr. In dieser Stunde des kühnsten Abenteuers treffen Boten aus Italien im Heerlager Robert Guiscards ein und erflehen seine Hilfe. Kaiser Heinrich IV. ist mit größter Heeresmacht nach Rom gezogen, um die Entscheidung im Invei&titurstreit zu erzwingen. Der Papst 29
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wird seines Amtes enthoben. Der kaiserliche Kriegshauplmann Gottfried von Bouillon hat mit schwerem Kriegsgerät die Ewige Stadt bezwungen, Sachsen und Schwaben schließen den eisernen Ring um die Engelburg, in der Papst Gregor VII. eingeschlossen ist. Herzog Robert kehrt eilends zurück. Das Heer läßt er seinem Lieblingssohne Bohemund, dann rafft er in Italien die normannische Ritterschaft, die sarazenischen Hilfstruppen zusammen und stürmt gegen Rom. Das kaiserliche Heer weicht zurück, Heinrich IV. ist um den letzten Triumph gebracht, von der Via Appia herab zieht der Heerbann der Normannen. Am 27. Mai 1084 rücken sie ein. Doch sie kommen als furchtbare „Befreier". Wie ein breiter Strom stürzen sie über die Stadt, plündern, schänden, rauben und legen ganze Straßenzüge in Asche. Unter den Steinwürfen der Römer muß Papst Gregor, der Leidgeprüfte, im Schutz seiner „Retter" nach Salerno übersiedeln. Herzog Robert kehrt auf den griechischen Schauplatz zurück. In der Adria ringen seine Drachen mit venezianischen Galeeren, das Winterlager schlagen die Normannen unter den Normannentürmen Korfus auf. Als das Frühjahr kommt, bricht die Pest aus und rafft zehntausend Nordmänner hin, aus Italien kommt die Trauerkunde vom Hinscheiden des Papstes Gregor. Das Schicksal ist wider Robert Guiscard. Doch der Nordmann beugt sich nicht. Im Juni 1085 sticht die Flotte des Herzogs in See, den Sturm auf Byzanz zu vollenden. Noch in Sichtweite der Insel Korfu überfällt den siebzigjährigen Normannenfürsten das Fieber. Sein Meerdrache wendet und bringt den Sterbenden ans Ufer zurück. Die getreue Sigilgaita wacht über seinen letzten, wirren Phantasien. Aufbäumend wider den Tod spricht Robert von der Krone aller Welten, von Kaisertum, von der Macht ohne Maß. Dann sinkt er zusammen wie eine Flamme, der es an Öl gebricht. Am 17. Juli 1085 ist er tot. Zu Venosa in Apulien richtet ihm Sigilgaita das Grab. Auf den Stein werden die Worte gemeißelt: „Des Westens Kaiser floh vor ihm aus Rom; es floh der Herr des Ostens, der über Europas und Asiens Scharen herrscht. Selbst Venedigs freien Bürgern nahm er die Sicherheit."
Abgesang Das „Reich beider Sizilien" blüht unter den Nachfolgern Guiscards, des „Schlaukopfs", ein Jahrhundert lang. Kühn ist es an 30
der Grenzscheide zwischen Ost und West gebaut, verwegen greift es hinüber nach Afrika, nach Tunis und Tripolis. Aber das Geschlecht Robert Guiscards erlischt im Mannesstamme. Am 27. Januar 1186 feiert der Sohn Friedrich Barbarossas — der spätere Kaiser Heinrieh VI. — zu Mailand Hochzeit mit der künftigen Trägerin der Normannenkrone, Konstanze. Nach dem Hinscheiden Barbarossas ergreift Kaiser Heinrich VI. die Zügel im „Reich beider Sizilien". Vorüber ist die Zeit der Reekenfreiheit, der Duldsamkeit und der Männergleichheit. Von krankhaftem Mißtrauen gepeinigt, wütet der Kaiser wider die normannischen Lehensträger. Der Letzte der Tankredsöhne, Wilhelm, ein Kind aus unebenbürtiger Ehe, wandert, des Augenlichtes beraubt, als Verbannter in die Fremde. Auf Burg Ems in Vorarlberg beschließt er sein zerstörtes Leben. Dem letzten Normannen folgt schon bald sein Verfolger ins Grab: Heinrich VI. stirbt auf der Höhe seiner Jahre am Fieber. Auf den Trümmern des Normannenstates wächst später das sizilianische Musterreich Friedrichs II. — des blondlockigen Märchenkönigs, in dessen Adern sich das Blut der Staufer und Normannen aufs glücklichste verbündet.
* Über den Untergang der normannischen Reichsgründungen hinaus wirken Blut und Geist der Wikinger in der Welt des Abendlandes nach, zum Teil bis heute. Aus der Verschmelzung der normannischen Herrenschicht mit den angelsächsischen und keltischen Bewohnern der britannischen Insel erwächst das heutige Volk der Engländer. Auch unter den französischen Stämmen der Gegenwart ist noch immer der normannische Volksanteil in Sprache, V7olksbraudi und Charakter deutlich herausgehoben. Selbst in Süditaiien ist die einstige Durchmischung mit den Normannen noch in vielen Einzelzügen nachzuweisen. Nur im Raum des alten WarägerReichs, im Kernlande Rußlands, ist seit der Überflutung durch das Slawentum das wikingische Element im Laufe der Zeit erloschen. Es waren nur wenige Tausende aus dem Norden, die hier gesiedelt haben. Groß ist die Kulturkraft, die von den Normannen ausgegangen ist. An den sizilischen Königshöfen begegnet durch Vermittlung der Wikingerfürsten die hochentwickelte arabische Geisteswelt der abendländischen Wissenschaft. Diese größte Kulturleistung des Normannentums befruchtet die Philosophie. Naturerkenntnis, die Medizin und Astronomie an den italienischen, deutschen und französischen Hochschulen des Mittelalters. Von weitreichender Bcdeu31
tung werden auch die Werke der Baukunst, die von den Normannen geschaffen worden sind. In ihrem unteritalischen und sizilischen Reich haben ihre Könige in Palermo, Monreale, Gefalu und Messina Paläste, herrlichste Kathedralen und Klosterkirchen erbaut, deren Gewölbe, Chornischen, Hochwände oder Kuppeln nach byzantinischer Weise mit farbensprühenden Mosaiken geschmückt sind. Gewaltige und weiträumige Dome haben auch in England und in der Normandie die Erinnerung an die normannische Zeit wachgehalten. Die Normannenkirchen St. Etienne und Ste. Trinite in Caen sind die ersten Bauten Europas, die dem romanischen Stil die klaren gotischen Merkmale des Spitzbogen, der Kreuzgewölbe und des durch große Fensterflächen aufgelösten Mauerwerkes aufgeprägt haben. Der hier erstmals sichtbare Bauwille der Gotik hat von der Normandie aus bald schon das Herz Frankreichs, die Ile de France, die Landschaft um Paris, erfaßt und von dort über Burgund die Bauhütten an Mosel, Lahn und Rhein. Die maßlose Sehnsucht nach dem Unerhörten und Großen, die den Normannen eigen gewesen ist, ist in den himmelanstrebenden Ausdrucksformen des gotischen Stils mit der religiösen Bewegtheit und der inbrünstigen Glaubensidee zusammengeflossen, die das hohe Mittelalter durchglüht hat und die bis in unsere Zeit nachleuchtet. Das Lied von Ausfahrt, Kampf, Sieg und Untergang der Wikinger aber ist zur Sage aus weitentlegener Vorzeit geworden. Nicht fern von Burg Ems, wo der Letzte aus dem Fürstenhause Tankreds gestorben ist, auf Burg Ambras in Tirol, findet,man die Handschrift des Liedes von Gudrun, der nordischen Kriemhilde, in dem die Kunde von Größe und Tragik der Nordmännerfahrt nachklingt. .. „Auf blutiger Walstatt Wägt man die Kräfte, Fürsten sinken, Sippen erlöschen, Odin holt sich die Edelsten heim . . ." Ümschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky
L u x - L e s e b o g e n 188 ( G e s c h i c h t e ) - H e f t p r e i s 25 Pfg. Natur- und kulturkundliche Hefte — Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau, München, Innsbruck, Ölten — Druck: Buchdruckerei Mühlberger, Augsburg
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