Der Planet Erde drohte aus seinen Nahten zu platzen. Überbevölkerung und Platzmangel nahmen chaotische Zustände an. Gan...
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Der Planet Erde drohte aus seinen Nahten zu platzen. Überbevölkerung und Platzmangel nahmen chaotische Zustände an. Ganze Schiffsladungen von Menschen wurden zwangsweise zu anderen Planeten transportiert, wo sie als Pioniere und Farmer dafür zu sorgen hatten, daß die Erde mit den benötigten Nahrungsmitteln versorgt wurde. Einer dieser fernen Planeten war Asylia, eine Welt mit erträglichem Klima, auf der eine humanoide Rasse lebte. Die Siedler von der Erde scheuten den Kontakt mit den Eingeborenen, denn nicht nur ihr Aussehen, auch ihre Lebensweise war ihnen fremd, ja unheimlich. Bis jetzt war es gelungen, Konfrontationen zu vermeiden, aber es genügte ein Funke, um das Pulverfaß zum Explodieren zu bringen ...
Ullstein Buch Nr. 3445 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: THE LOAFERS OF REFUGE Aus dem Englischen übersetzt Umschlagillustration: Schlück/Young Artists Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1965 by Joseph Green Übersetzung © 1978 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1978 Gesamtherstellung: Ebner, Ulm ISBN 3 548 03445 4
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Green, Joseph Die Welt der Chaoten: Science-fictionRoman. – hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein, 1978. ([Ullstein-Bücher] Ullstein-Buch; Nr. 3445: Ullstein 2000) Einheitssacht.: The loafers of refuge
ISBN 3-548-03445-4
Joseph Green
Die Welt der Chaoten SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
1 Die Sonne war eine sanftglühende, purpurfarbene Kugel, die rasch im grauen Meer versank, als Carey von der Schule nach Hause kam. Er schloß die Eingangstür gegen den durchdringenden Wind und hängte Mütze und Mantel in die Garderobe. Das Gaslicht brannte schon, und in dem großen Blockhaus war es warm und hell. Aus der Küche drangen Stimmen, und er ging hinüber. Seine Schwester Doreen, ein naseweiser magerer Rotschopf von fünfzehn Jahren, deckte gerade den Tisch und lächelte ihm verschmitzt zu. Maud beugte sich über den Gasherd. Sie war eine große schlanke Frau Anfang Fünfzig und war, seit ihr Mann vor elf Jahren unter den Hufen eines Grogrocs sein Leben verloren hatte, das Oberhaupt der Familie aus fünf Kindern und ihrem verkrüppelten Bruder. Unter ihrer Fürsorge war die Sheldon-Familie gediehen; die beiden ältesten Söhne hatten eigene Höfe, und die verheiratete Tochter erwartete ihr erstes Kind. »Hallo, Carey«, sagte sie und lächelte ihrem großen Sohn freundlich zu, der morgen seinen achtzehnten Geburtstag feiern würde und ein Mann geworden war. »Tag, Mutter. Kann ich dir helfen, Schwester?« Er
zog die Besteckschublade auf und legte Löffel und Gabeln aus. Doreen schwieg. Sie hatte sofort gemerkt, daß er etwas auf dem Herzen hatte, und ließ ihn in Ruhe. Sie verstanden sich gut; beide waren auf Asylia geboren, und andere konnten den Gleichklang zwischen ihnen weder verstehen noch teil daran haben. Er fragte sich, wie er es seiner Mutter sagen sollte, wie er sie in eine verständnisvolle Stimmung bringen konnte. Aber er merkte, daß es nicht ging, und sagte schließlich: »Mutter, ich – morgen werde ich mit den jungen Gammlern an den Lenker-Riten teilnehmen.« Maud drehte sich überrascht um. Ihr Gesicht war blaß. Das hatte sie nun davon, daß sie Carey den Umgang mit den behaarten Urmenschen erlaubte. Man hatte sie gewarnt; die Nachbarn sagten, daß sie ihn von den nackten Wilden fernhalten sollte. Aber sie glaubte an gute Beziehungen mit den Eingeborenen und hatte nichts dagegen gehabt, wenn er ihre kleine Stadt besuchte, und ließ die ernsten, unverdorbenen Kinder mit Carey und Doreen im Hof spielen. Na ja, sie hatte schon manche Klippe umschifft. Sie faßte sich und sagte ruhig: »Ich weiß nicht, warum du ausgerechnet an diesem primitiven Ritus teilnehmen willst, Carey, und ich will es auch gar nicht wissen. Du gehst morgen in die Schule wie immer, und damit hat sich's.« »Morgen bin ich achtzehn, Mutter. Dann bin ich
erwachsen und mein eigener Herr. Meinetwegen haben sie extra die Freisprechung um eine Woche verschoben. Ich – ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Aber ich muß hin.« Er sah seiner Mutter gerade in die Augen und kam sich schäbig vor, weil er ihr wehtat. Sie war sonst immer so verständnisvoll gewesen; wie sollte er ihr seine Überzeugung klarmachen? Konnte er ihr von den langen Spaziergängen und ernsten Gesprächen unter dem hellen Nachthimmel berichten, die Harmonie erklären, die er in der Gruppe der jungen Gammler fand und die auch zwischen ihm und Doreen bestand? Wie sollte er das Gefühl der Eintracht und der Erfüllung beschreiben, das die Menschen der Erde nicht kannten und nicht verstanden? Und was das Schwierigste war: Wie sollte er erklären, daß auch die Gammler hart arbeiteten und Achtung verdienten? Noch begriff er nicht, worin die Gammler den Sinn des Lebens sahen. Aber er hatte einen kleinen Einblick in ihre Macht über die Natur gewonnen und gesehen, wie sie die Tiere beherrschten, wie sein Freund Timmy und dessen Vater sich über große Entfernungen finden konnten. Diese Fähigkeiten waren erst ein paarmal zutage getreten, als betrunkene Kolonisten in die Dörfer der Gammler eingedrungen waren und versucht hatten, junge Gammlermädchen zu verführen: Elend, erschreckt und erschüttert wa-
ren die Rowdies zurückgekommen – ohne daß man ihnen ein Haar gekrümmt hatte. Und als man sie ausfragte, konnten sie nur unzusammenhängend von Visionen berichten, Illusionen, Ohnmacht, von Kämpfen mit unsichtbaren Feinden und Prügeleien mit ihren Kumpanen. Nach ersten Zwischenfällen dieser Art ließ man die Gammler in Ruhe. Sie besaßen in den bewaldeten Regionen große Ländereien, an deren Kultivierung niemand interessiert war, und die beiden Rassen kümmerten sich wenig um einander. Asylia war groß genug für beide. »Ich fürchte, du wirst ihn nicht umstimmen können, Maud«, sagte eine Stimme. Unbemerkt war Onkel Harvey in die Küche gekommen und stand ruhig in der Tür. Maud drehte sich um und spürte nur zu gut, daß sie ihrem Sohn und der Zustimmung ihres Bruders nichts entgegensetzen konnte. Sie hatte Tränen in den Augen. »Rede du mit ihm, Harvey. Kannst du ihm nicht klarmachen, daß die Mannbarkeitsriten nichts für uns Menschen sind? Harvey, er darf nicht gehen!« Langsam trat der verkrüppelte Mann näher. Auf der Erde hatte er vor vielen Jahren ein Bein verloren und sich nie an die Prothese gewöhnen können. Mit dem Bein hatte er auch den Wunsch verloren, sein Leben selbst zu gestalten. Jetzt fand er sein Glück in der Arbeit, und darin waren er und seine resolute
Schwester sich einig: Beide waren nach einem anstrengenden Arbeitstag zufrieden, und auf dem 130 Hektar großen Hof gab es viele solcher Tage. »Wenn ich könnte, würde ich es ihm ausreden, Maud. Jedes Jahr kommen einige nicht aus der Wildnis zurück. Natürlich, Carey ist praktisch unter Gammlern aufgewachsen. Aber ich glaube nicht, daß er es ihnen gleichtun kann. Ich weiß nicht, was sie treiben. Jedenfalls ist es nicht ungefährlich.« »Das stimmt nicht«, sagte Carey rasch. »Es ist doch nur eine Art Fastenzeit.« Maud setzte sich an den Tisch und faltete die verarbeiteten Hände. Doreen legte ihr beruhigend den Arm um die Schulter. Mit beherrschter Stimme sagte Maud: »Füttere inzwischen die Fettvögel und laß mich und Onkel Harvey die Sache durchsprechen. Nach dem Abendessen reden wir weiter.« »Ich weiß nicht, was es da noch zu besprechen gibt, Mam, aber meinetwegen.« Er ging auf den Hof und zu der Sirene an der Scheune. Er packte die Kurbel und drehte sie kräftig. Eine knappe Sekunde lang war das Kreischen der Sirene zu hören, bis die Turbine schneller wurde und in den Ultraschallbereich überging. Er drehte die Kurbel etwa eine Minute lang, ließ los und hielt sie an, als das Kreischen wieder hörbar wurde. Er ging in die Scheune, öffnete die Luke des Erd-
nußspeichers, nahm eine Schaufel und verteilte die Erdnüsse auf der Tenne. Er arbeitete angestrengt. Der Staub wirbelte in dichten Schwaden, und er kam langsam ins Schwitzen, als er draußen die ersten Flügelschläge und das Schaben von Krallen auf der harten Erde hörte. Der Fettvogel watschelte durch das Scheunentor, den großen Schnabel witternd erhoben, mit schwarzen, funkelnden Augen nach Atzung suchend. Mit Tausenden seiner Artgenossen von den anderen Bauernhöfen hatte er den Tag im Urwald verbracht, der ein paar Kilometer im Norden lag, wo sie nach Beeren und Früchten suchten, die zu Beginn des Winters noch in genügender Menge zu finden waren. Aber sein unersättlicher Hunger war kaum zu stillen. Die Fettvögel waren Riesen unter den fliegenden Geschöpfen Asylias, und Gefräßigkeit war ihr Tod. Wenn sie zu schwer zum Fliegen geworden waren, fielen sie den Raubtieren zum Opfer, die sich in den Wäldern herumtrieben. Während der harten Jahreszeit fanden sie bei den Bauern Unterschlupf und Nahrung und mästeten sich, bis sie ein hervorragend zartes Fleisch lieferten. Die Fettvögel wurden von den Bauern geschlachtet – im gleichen Umfang, wie die Natur sie dezimierte –, und ihr Fleisch bildete den Hauptanteil des Eiweißexports, den Asylias Höfe jeden Tag auf die Erde transmittierten. Im Ausgleich schickte die Erde Werkzeug und alles, was nötig war,
um das Land zu roden, noch mehr Fettvögel zu züchten und weitere Äcker zu pflügen, die nach und nach die fruchtbare jungfräuliche Welt in eine riesige Landwirtschaft verwandelten. Die Milliarden der Erde durften nicht verhungern, und ihre bombenzerfetzte Heimat bot nicht genug urbares Land, um sie zu ernähren. Seit der Erfindung des Transmitters war es rentabel geworden, Nahrungsmittel auf anderen Planeten anzubauen, und der große Exodus von der Erde begann. Allerdings konnten die Transmitter keine Lebewesen durch das Kontinuum schicken, und weil selbst die größten Raumschiffe weniger als tausend Menschen an Bord nehmen konnten, ging die Emigration nur langsam vonstatten. Asylia war einer von hundert Planeten, die landwirtschaftliche Produkte exportierten, und wenn der Tag kam, an dem man das Problem der Biotransmission gelöst hatte, würde die Erde eine Auswanderungswelle erleben wie nie zuvor. Noch immer gab es Menschen, die sich danach sehnten, Arme und Beine ausstrecken, reine Luft atmen und selbständig arbeiten zu können – nur sich selbst Rechenschaft schuldig zu sein. Carey wartete ein paar Minuten, als der letzte Fettvogel sich über die Erdnüsse hermachte, schaute noch einmal in den Himmel und verriegelte dann das Scheunentor. Wenn die letzte Erdnuß aufgepickt war,
würden die Vögel sich zur Nacht auf die Balken hokken, die in langen Reihen an der Scheunenwand befestigt waren. Die Familie saß am Tisch, als er eintrat. Sein ältester Bruder Robert, der Stevens' jüngste Tochter geheiratet hatte und den Hof neben dem ihren bewohnte, war zum Abendessen herübergekommen. Sie ließen Carey in Ruhe essen, aber als er sich zurücklehnte, eröffnete Robert die Diskussion. Er war der kleinste der drei Brüder, der dickköpfigste und verlor leicht die Beherrschung. »Was muß ich da hören, du willst an den Mannbarkeitsriten der Gammler teilnehmen?« fragte er und gab sich Mühe, die Stimme freundlich und beherrscht klingen zu lassen. Carey zuckte mit den breiten Schultern. »Genau. Ich gehe in die Prüfung.« »Und was willst du damit beweisen? Daß ein Mensch genauso faul wie ein Gammler sein kann? Hör mal, ich weiß, du hast eine Menge Zeit mit den Gammlern vertrödelt und viele Freunde unter ihnen. Aber mußt du deswegen gleich anfangen zu vagabundieren?« Carey stieg das Blut ins Gesicht. »Sie sind keine Gammler! Und Landstreicher sind sie auch nicht! Sie sind Menschen wie du und ich und arbeiten genauso schwer wie wir. Bloß auf ihre Weise. Ich habe gefragt,
ob ich an der Freisprechung teilnehmen darf, weil ich lernen will, wie sie mit den Tieren umgehen. Und wenn ich ein Lenker geworden bin, dann werde ich dir schon beweisen, daß sie ebenso tüchtig sind wie wir. Es gibt noch ein paar andere Werte als Raumschiffe und Transmitter und 3-D-Apparate. Sie haben etwas, das uns fehlt.« »Du meinst, wie sie der Natur den Lebensunterhalt abringen?« »Ja. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Wir nennen sie Gammler, weil sie verspielt sind und stundenlang untätig herumsitzen. Stell dir mal vor, wenn Vater ein Grogroc hätte lenken können, dann wäre er noch am Leben. Wir können eine Menge von ihnen lernen, wenn wir nicht die Augen davor verschließen, was sie können, und nicht immer nur das sehen, was sie im negativen Sinne von uns unterscheidet.« »Na? Was wissen wir denn schon? Im Sommer laufen Sie splitternackt herum, und sonst tun sie keiner Fliege was zuleide.« Robert Sheldon war halsstarrig und hielt sich an die Tatsachen. »Wir mußten ihnen schließlich verbieten, im Sommer in die Stadt zu kommen, weil sie sich weigern, Kleider anzuziehen. Und wenn wir ihnen Arbeit anbieten, lachen sie uns aus. Ich glaube, sie sind ausgewachsene Faulpelze und taugen nichts, und du hast nichts bei ihnen verloren. Erst recht nicht bei ihren heidnischen Riten.«
»Du darfst nicht vergessen, wie gefährlich es ist«, fügte Maud hinzu. »Dein Onkel hat ja selbst gesagt, daß jedes Jahr zwei oder drei versagen. Und das, obwohl sie seit Kindesbeinen als Lenker ausgebildet werden. Was für eine Chance rechnest du dir dabei aus?« Carey stand auf. Er war müde. »Wenn sie versagen, Mutter, dann müssen sie verhungern oder zu einem anderen Stamm wandern, der ihnen eine zweite Chance bietet. Wenn ich versage, kann ich nach Hause kommen und die Sache vergessen. Und was meine Chance betrifft, ich habe seit Jahren gelernt und gelernt. Ich weiß bestimmt genauso viel wie jeder andere aus meiner Gruppe. Ich gehe jetzt ins Dorf runter. Meine letzte Lektion heute. Gute Nacht.« Carey zog den Mantel an, setzte die Wollmütze auf und ging hinaus; die Familie blieb überrascht und schweigend am Tisch sitzen. Er wollte lieber zu Fuß gehen, als das Pferd satteln, und ging zum Strand hinunter auf das Dorf zu, das man Gammlerstadt nannte und das etwa drei Kilometer vom Hof der Sheldons entfernt lag. Die Strahlen der untergehenden Sonne funkelten auf den schneebedeckten Hügeln im Nordosten. Kurz außerhalb des Gehöftes traf er auf den Strandweg und blieb überrascht stehen. Eine junge Gammlerfrau und zwei kleine Kinder standen auf einer Mole, die etwa dreißig Meter weit in das aufge-
wühlte Meer ragte. Mit hoher klarer Stimme sang die Frau ein Lied. Vor ihr im Wasser schwamm ein Whampus, dessen großer schwarzer Leib von den Wellen hin und her gestoßen wurde. Carey kannte die Frau; es war Tharie, die Schwester Nijubs, der Kanzler des Dorfes war, und sie war die Tante seines besten Freundes Timmy. Vor zwei Jahren war ihr Mann bei einem Unfall ums Leben gekommen, und sie hatte nicht wieder geheiratet, sondern zog ihre Kinder allein auf. Carey sah und hörte gespannt zu. Das Lied der Frau änderte sich, klang leise und schmeichelnd, und das Whampus kam näher, bis es an die Steine stieß. Tharie hörte auf zu singen und streichelte beruhigend den großen schwarzen Schädel. Plötzlich rauschte das Meer, und das Whampus schien zu tauchen. Aber kurz darauf erschien sein Körper wieder an der Oberfläche. Carey kam die Silhouette verändert vor, bis er merkte, daß das Tier mit dem Bauch nach oben schwamm. Aus dem Bauch und über das Wasser ragten vier geschwollene Zitzen. Die beiden Kinder traten vorsichtig auf den Leib des Tieres. Carey sah sich um. Ein paar hundert Meter weiter draußen schwammen drei kleine schwarze Gestalten und spielten im ruhigeren Wasser. Er beobachtete die Kinder und sah, wie sie sich über die Milchdrüsen beugten und tranken. Carey hatte Whampusmilch probiert, wenn auch
nicht direkt aus der Quelle; Whampusmilch blieb lange frisch, und die Gammler molken die Kühe, wenn sie in der Säugeperiode waren. Die Milch war nahrhaft; er hatte sie in der Schule analysiert und entdeckt, daß sie doppelt so fett war wie Kuhmilch. Eigentlich war es die Aufgabe der Männer, so große Tiere wie ein Whampus zu lenken. Aber es war auch nicht ungewöhnlich, wenn eine Frau wie Tharie ein riesiges Grogroc kontrollierte. Als die Kinder sich sattgetrunken hatten, reichte Tharie ihnen Lederbeutel, und die beiden molken sie voll. Es schien sie nicht zu stören, daß das Whampus sich hin und her wälzte. Nach fünf Minuten war alles vorbei. Die Kinder sprangen auf die Buhne zurück. Als sie in Sicherheit waren, beugte sich Tharie vor und klopfte dem Tier leicht auf den weichen dunklen Bauch. Klatschend wälzte sich das Tier herum, richtete sich auf und schwamm ins Meer. Die drei Kälber schwammen rasch zu ihrer Mutter und tauchten, um ihrerseits zu säugen. Dann war nur noch der sanft schwankende Leib des Whampus' zu sehen, der langsam durch die Brecher in die offene See schwamm. Carey wartete am Ende der Mole, bis Tharie und die Kinder auf den Strand kletterten, und begrüßte sie. Die Gammler hatten menschliche Gestalt – bis auf den Pelz, der fast ihren gesamten Körper bedeckte.
Tharie trug einen schweren Mantel aus Wirtlblättern, der die einzige Winterkleidung der Gammler war. Sie war eine ernste Frau, die selten lächelte, aber sie blickte freundlich, als sie den Freund ihres Neffen erkannte. Micka und Sanda rannten auf ihn zu und verlangten lautstark, daß er sie tragen sollte. Er bückte sich und nahm sie links und rechts auf die Arme. Er hatte keine Mühe, sie und ihre vollen Milchsäcke bis ins Dorf zu tragen. Er erzählte Tharie von dem Streit mit seiner Familie, und sie nickte ernst. »Deine Leute verstehen uns kaum, Carey. Aber das wird nicht so bleiben. Nächstes Jahr schicken wir einige unserer Kinder in die erste Klasse eurer Schule. Unser Ältestenrat hat beschlossen, daß eure naturwissenschaftlichen Leistungen studiert werden müssen. Und wenn es dir gelingt, ein Lenker zu werden, hoffen wir, daß eure Ältesten davon überzeugt sind, daß auch wir brauchbares Wissen besitzen.« Als sie die ersten Häuser erreichten, hörten sie ein Grogroc gedämpft brüllen. Carey ließ die Kinder herunter und verabschiedete sich. Er folgte dem Geräusch und war bald durch das Labyrinth der gewundenen Pfade am Ziel. Ein Lenker baute ein neues Haus. Die Gammler hatten viele Methoden, ein Haus zu bauen, aber am liebsten wählten sie die gewaltigen Kürbisse des Wa-
quilbaumes, deren weiches Inneres sie von Grogrocs auffressen ließen. Timmy und einige andere Novizen sahen gespannt zu. Timmy war einen halben Kopf größer als Carey, aber er war mager, wenn auch zäh und muskulös. Sein schmales Gesicht sah meistens nachdenklich aus. Seit früher Kindheit waren sie befreundet, obwohl die meisten Kolonisten diese Freundschaft mißbilligten. Der Lenker stand ruhig neben dem Vorderbein des zehn Tonnen schweren Ungetüms und lenkte es mit leiser Stimme und sanftem Händedruck. Der schwere häßliche Schädel, der eine Krone aus vorwärtsgerichteten Hörnern trug, stieß wieder und wieder in den Waquilkürbis. Die Grogrocs waren Asylias größte Landtiere. Man hatte sie aus den Siedlungsgebieten der Kolonisten vertrieben, aber die Gammler benutzten sie zu verschiedenen Arbeiten. Nachdem der Lenker die Umrisse der Tür vollendet hatte, lenkte er das Tier in die Mitte und veranlaßte es, die Hörnerkrone hineinzustoßen. Ein Ruck mit dem Kopf, und der Ausschnitt war herausgerissen. Schnaubend wich das Grogroc zurück, und der Lenker entfernte rasch und geschickt die zerbrochene Schale. Dann führte er das Tier wieder vor den Kürbis, und der Pflanzenfresser begann das weiche Fruchtfleisch zu verschlingen. Die Öffnung, die die Tür werden sollte, war groß genug, um den Schädel
hineinzulassen. Wenn das Grogroc die Frucht leergefressen hatte, würde der Lenker den Rest der Arbeit von kleineren Pflanzenfressern vollenden lassen. Dann käme ein Vorhang aus weichen schweren Wirtlblättern vor den Eingang, und das Haus wäre bezugsbereit. Im Hain prasselte ein großes Lagerfeuer. Eine Gruppe älterer Frauen saß im Kreis um die Flammen. Mit leisen Stimmen sangen sie ein Lied, so alt wie das Meer. Als Carey und Timmy zu dem Feuer gingen, legte sein Freund ihm den behaarten Arm um die Schultern. Carey war der erste Erdenmensch, der sich den Mannbarkeitsriten der Gammler unterwarf. Und das war richtig, weil er der erste auf Asylia geborene Kolonist war. 40 000 Menschen lebten auf dem Planeten, und er war der erste, der mit Gammlern aufgewachsen war. Er wußte, selbst wenn er nicht der einzige Mensch gewesen wäre, der die Gammler mochte, respektierte, er würde dennoch zu einer Minderheit gehören. Die Kolonisten, die Asylia in ein Arkadien verwandeln wollten, verachteten die Eingeborenen. Die Gammler hatten ihren Namen von einer Verballhornung ihres Namens bekommen, die zufällig genau zu der Meinung der Kolonisten paßte. Carey und Timmy fanden einen Platz in der Nähe
des Feuers, saßen ruhig nebeneinander und hörten den schönen alten Liedern zu. Nach und nach trafen die anderen Jugendlichen ein, und die Lieder wechselten. Die alten Sagen verstummten, und Lehrstücke wurden rezitiert, die im Wechselgesang mit den Ältesten vorgetragen wurden. Carey kannte die Texte und ließ seine Gedanken abschweifen. »Glaubst du, daß wir es schaffen, Timmy?« »Wenn du es nicht schaffst, bist du selber schuld«, sagte Timmy leise. »Vater sagt, daß du die Fähigkeit besitzt. Genauso wie wir. Schließlich hat er dir denselben Unterricht gegeben.« »Ja, aber ich bin kein Gammler. Ich stamme nicht von euch ab und ich –« »Psch. Still. Wir alle haben die Kraft. Doreen genau wie Tharie. Du wie mein Vater. Sie muß nur geweckt, geübt und angewendet werden. Mach dir keine Sorgen. Du schaffst es.« »Ich wünschte, du hättest recht«, sagte Carey und schwieg. Nach einer Weile beendeten die Lehrer das Lied. Zwei junge Mädchen streiften die Mäntel ab und tanzten nackt im flackernden Licht des Feuers. Carey sah die wirbelnden Glieder, die lächelnden Gesichter, und spürte, daß er dieses Volk liebte. Vor langer langer Zeit hatten sie einen anderen Weg eingeschlagen und ihre Intelligenz zur Lenkung ihrer Umwelt eingesetzt, statt sie, wie die Erdenmenschen
es taten, umzuformen. Sie hatten nicht die Energie, mit der die Erdenmenschen sich den Weg aus dem dunklen Chaos ihrer Primitivität gebahnt hatten: Die Fähigkeit zu langwieriger, eintöniger Arbeit. Statt dessen entwickelten sie ihre geistigen Kräfte. Bis zu einem gewissen Grade waren sie telepathisch und arbeiteten angestrengt daran, diese Qualität zu verbessern. Sie kannten weder Gier noch Neid und ließen sich nicht von der Zeit diktieren, obwohl Carey die Art und Weise, wie sie davon Gebrauch machten, oftmals unverständlich blieb. Die Jungfrauen beendeten den Tanz, und Nijub stand auf und beendete die Lehrstunde mit ein paar kurzen Sätzen. Carey verabschiedete sich von Timmy und ging nach Hause. Allein ging er durch die frische kalte Nacht, allein und voller Zweifel. Als am nächsten Morgen die Sonne über den Rand der purpurnen Welt kletterte, war Carey wieder in das Dorf der Gammler zurückgekehrt.
2 Sieben junge Gammler standen neben der Asche des gestrigen Feuers; drei Mädchen und vier Jünglinge. Sie waren unbekleidet, so nackt und schmucklos wie Neugeborene, und froren erbärmlich. Carey zog sich aus und ging zu ihnen. Sein braungebrannter Körper hob sich fremdartig von ihren pelzigen Gestalten ab. In der Nacht hatte es geschneit, und die frischen Flocken lagen dünn und kalt auf der Erde. Außer Nijub war kein Erwachsener erschienen. Der alte Kanzler nickte Carey grüßend zu und lächelte, als er sah, daß er vor Kälte zitterte. Hinter Nijub stand ein Korb, aus dem er einen schweren, farbenfrohen Umhang nahm, das einzige Kleidungsstück, das die Freizusprechenden tragen durften, und ihn Carey reichte. Dankbar legte Carey ihn sich um die Schultern und wartete, bis Nijub jedem einen Poncho gegeben hatte. Die Umhänge bestanden aus Wirtlblättern, waren aber so dicht und fest gewoben, daß sie gut wärmten. Rasch stieg die Sonne empor, und es wurde Zeit. Noch einmal betrachtete Nijub nachdenklich die Gruppe, dann sagte er: »Noch seid ihr Kinder. Ihr werdet uns verlassen und in die großen Wälder gehen. Wenn es Zeit ist, kehrt ihr als Männer und Frauen zu-
rück. Des Menschen Macht liegt in ihm selbst. Ein jeder muß sie in sich finden und benutzen. Jetzt geht und kämpft mit euch und kehrt zurück als Lenker.« Er entließ sie mit einer knappen Geste, drehte sich um und ging. Die jungen Leute zögerten, aber dann drehten sie sich um und liefen auf den dunklen Saum des Waldes zu. Der weiche Schnee dämpfte ihre Schritte. Am Waldrand trennten sie sich, und jeder ging allein in die Wildnis. Waffen oder Werkzeug durften sie nicht haben, aber Carey wußte, daß er alles nutzen durfte, was die Natur ihm bot. Am ersten Wirtlbaum blieb er stehen und pflückte sich Blätter, die er rasch zu einfachen Schuhen zusammenflocht. Die Finger waren steif vor Kälte, aber schließlich hatte er etwas, das die Füße vor dem Schnee schützte. Die Gammler hatten es leichter; sie brauchten keine Schuhe, und die Kälte machte ihren pelzigen Sohlen nichts aus. Vor ihm lag der Urwald unter einer dichten Schneedecke. Die Fleischfresser, die diese Wälder gefährlich machten, waren meist Nachttiere. Aber es war Winter, und Beute war rar. Aufmerksam sah er nach oben, während er weiterlief, und achtete auf Flugkatzen. Nach einer Weile drang die Kälte durch den Umhang und betäubte seine Glieder. Es wurde Zeit, sich nach einem Unterschlupf umzusehen.
Er war stetig auf die Weißhutberge zugelaufen, die zwanzig Kilometer entfernt im Osten eine niedrige Kette bildeten. Er wußte, daß er an deren Hängen am ehesten einen warmen Platz finden würde. Als er schließlich die ersten Felsmassen erreichte, war er müde und taub vor Kälte. Keine Höhle war zu sehen; eine Wand aus Granit ragte dreißig Meter hoch aus dem Wald. Er lief an der Felsenwand entlang, suchte nach Spalten und Höhlen. Er wußte, daß sich seine Lage verschlechterte; er mußte bald einen Unterschlupf finden, oder Hände und Füße würden ihm erfrieren. Schließlich fand er eine Höhle. Aber sie war zu groß. Die nächste und übernächste auch. Die vierte war ein kleines Loch, nur ein paar Meter tief und so flach, daß er nur mit Mühe hineinkriechen konnte. Glücklicherweise hatte sich ganz in der Nähe eine Schneeverwehung aufgetürmt. So schnell es seine klammen Finger erlaubten, dichtete er die Spalten und Risse mit Schnee ab, den er so fest es eben ging zusammenballte. In der Mitte ließ er ein Loch frei, durch das er ins Innere kroch. Dann verschloß er die Schneemauer, rollte sich in den Umhang und suchte sich zu wärmen. Es dauerte nicht lange, bis ihm langsam wärmer wurde. Er blieb ganz ruhig liegen und konzentrierte sich auf das Wärmegefühl. Er dachte an zu Hause, an
Gemütlichkeit und Mutter. Schließlich löste sich der Krampf, und er wußte, daß ihm nichts mehr passieren konnte. Stunden später begann sein Magen zu knurren. Rasch schob er den Poncho beiseite und nahm eine Handvoll Pulverschnee in den Mund. Er hatte ausgiebig gefrühstückt, weil er wußte, daß er ein paar Tage lang nichts essen durfte. Aber er hatte nur den Schnee, um den Durst zu löschen, und durfte noch nicht einmal die trockenen Beeren essen, die klein und hart an den Kitzlsträuchern hingen. Er hatte seiner Mutter nichts von dem wahren Zweck des Ritus erzählt, aber es stimmte, daß Fasten untrennbar dazugehörte. Gegen Abend schlief er ein, und als er mitten in der Nacht aufwachte, war er so hungrig, daß er es kaum aushielt. Noch schlimmer: Er konnte nicht wieder einschlafen. Jetzt machte er die ersten zaghaften Versuche, wie man es ihn gelehrt hatte, obwohl er ahnte, daß es noch zu früh war. Aber er hatte nichts Besseres zu tun, und so überraschte es ihn nicht, daß es nicht klappte. Lange, sehr lange lag er bewegungslos in der Dunkelheit, bis er endlich in einen leichten Schlaf fiel und wild und seltsam träumte. Die beiden nächsten Tage vergingen ruhig. Sein Magen wurde gefühllos und schmerzte nicht mehr, und
die erste Übelkeit verschwand. Regelmäßig aß er Schnee, aber er brauchte immer weniger und merkte, daß sich sein Stoffwechsel verlangsamt hatte und er noch ein paar Wochen Zeit hatte, bevor er verhungern würde. Am vierten Tag, als der Schnee vor seinen Augen aufleuchtete, wußte er, daß er eine ganze Nacht traumlos geschlafen hatte und es Zeit für einen neuen Versuch war. »Wenn die Zeit des stillen Schlafes kommt, dann träume du am Tag« war einer der Lehrsätze gewesen, die man ihm während der Ausbildungszeit eingehämmert hatte. Er schloß die Augen und entspannte sich. Er ließ seinen Gedanken freien Lauf und dämpfte sie, bis er an nichts mehr dachte. Als er sich bereit fühlte, konzentrierte er sich erst einmal auf Tiere. Er dachte an die Muscheln, die sich an die steinige Küste klammerten, dachte an ihre zarten Fühler, die in der Wasserströmung wallten, an die Diatomeen, die in der fruchtbaren See schwammen und von den Wimpern ins Innere der Muscheln gestrudelt wurden. Und ganz weit weg, schwach und undeutlich, kaum zu trennen von seiner Phantasie, spürte er den Sog des Wassers auf der Muschelschale, den Zug des ebbenden Wassers. Dann war er wieder in seiner Höhle und zitterte. Aber er fühlte, daß sein Bewußtsein neu gestärkt war.
Zögernd und vorsichtig probierte er es noch einmal, richtete seine Gedanken auf das wogende Meer, die Kraft der Wellen, die Empfindungen, die armselig und schwach in den kleinen Geschöpfen steckten. Diesmal merkte er, wie sein Bewußtsein schwand, wie es sich auf die ferne Küste zu bewegte, wie sein Körper mit einem zarten, aber kräftigen Band an dem fliehenden Ich festhielt, bis er das Geheimnis der Bewegung entdeckte und den Projektionsprozeß langsam unter Kontrolle brachte. Deutlich spürte er, wie das Land unter ihm dahinglitt, er wußte, daß er sich dem Strand näherte, schmeckte die Gischt und ließ sich auf die dunklen Steine hinuntersinken. Das Leben unter ihm pulsierte und glühte seltsam und in fremder Schönheit. Er ließ sich hineinsinken, lebte mit ihm und wurde zu einem Schalentier. Das Lebewesen wedelte mit den Flimmerhärchen im Wasser, das um den Stein strudelte, an den es sich klammerte, und ernährte sich von den fast unsichtbaren Teilchen, die im Wasser schwammen, und er wurde eins mit ihm und aß. Als er müde wurde, unwillig seinen Gastgeber verließ und sich von dem Band des Unterbewußtseins in seinen Körper zurückziehen ließ, wußte er, daß er gewonnen hatte, daß er auf die Reise gehen konnte, daß er die erste Fähigkeit gemeistert hatte.
Er schlug die Augen auf. Der Schnee in der Höhle stand wie eine weiße Wand vor ihm, und er war durstig. Er verschlang mehrere Hände Schnee. Er stellte fest, daß der starke Schneefall sein Fluchtloch noch dichter abgeriegelt hatte. Nachdem er den Durst gestillt hatte, schloß er die Augen und sammelte sich. Diesmal wollte er draußen schweben und empfing den Eindruck in voller Klarheit. Nach einer Weile merkte er, daß in dem nahen Gebüsch ein Tier schlief. Sein Bewußtsein näherte sich und schwebte über dem Tier. Das Tier spürte seine Nähe und sah sich unruhig um. Carey öffnete die Pforten der Wahrnehmung und ließ die Gefühle des Tieres in sich dringen. Das Tier hungerte und fror. Er wußte, daß die Kälte erst schwinden würde, wenn es aufstand und wie ein dunkler Schatten über den Schnee rannte. Er hatte einen Läufer entdeckt, einen der seltsamen Pflanzenfresser, die wie vom Teufel besessen durch den winterlichen Wald rasten, scheinbar ohne Ziel und Sinn, weil kein Feind sie verfolgte. Jetzt wußte er, warum. Das Tier hatte keinen Schutz gegen die Kälte und hielt sich im Winter nur durch körperliche Bewegung am Leben. Aber Laufen kostet Energie, und das Tier mußte fressen. Und im Winter gab es nicht viel Futter. Viele Läufer erfroren und fielen den Fleischfressern zum Opfer. Er versuchte, in den Geist des Tieres einzudringen,
ihm seinen Willen aufzuzwingen, und spürte die wilde Angst, die ihm bewies, daß er Erfolg hatte. Rasch zog er sich zurück, blieb am Rand des tierischen Bewußtseins und versuchte, es auf weniger direkte Weise zu beeinflussen, indem er ihm Bilder von Nahrung und Gefährten sandte, von Wärme und Geborgenheit, bis er endlich den Schlüssel zu dem Wesen des Tieres fand, die Instinkte, die es bewegten und lenkten. Jetzt hatte er gelernt, wie ein Lenker arbeitete. Der Geist eines wilden Tieres konnte direkte Beeinflussung nicht ertragen, sondern es geriet in Panik, wenn jemand es »übernehmen« wollte. Ein Lenker ging vorsichtig zu Werke, hielt sich am Rand des Bewußtseins, beeinflußte es, suchte und drängte es sanft in die Richtung und Aufgabe, die er ihm zumessen wollte. Am achten Tag aß Carey noch einmal Schnee, als er aufwachte. Dann erweiterte er das Loch und kroch hinaus. Das Fasten hatte ihn so geschwächt, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Aber die frische Luft belebte ihn mit ihrer Kälte, und er sah sich nach Nahrung um. Ein Wärmeeinbruch hatte den meisten Schnee geschmolzen, der das offene Land bedeckt hatte, so daß nur noch in den Schluchten und Felsspalten Schneemassen übriggeblieben waren. Er hatte nicht mehr
viel Wärme im Körper; er ahnte, daß er sich bewegen mußte – genau wie der Läufer –, wenn er nicht erfrieren wollte. In der Nähe fand er einen Kitzlbusch, an dem die Fettvögel und das andere Getier noch ein paar Beeren hatten hängen lassen. Er aß langsam und kaute sorgfältig. Als sein geschrumpfter Magen genug hatte, ging er tiefer in den Wald und spürte, wie die Kälte ihm langsam in die Knochen kroch. Er schritt schneller aus, bis er in einen Dauerlauf fiel und schließlich in leichten langen Sätzen weiterlief. Die Kälte wich. Wenn die Kräfte ihn nicht verließen, würde er nicht erfrieren. Er orientierte sich. An bekannten Landmarken sah er, daß er seinem Zuhause näher war als dem Dorf der Gammler. Der Wald schwieg. Das Leben ruhte im hellen Glanz des Tages. Er lief durch den Wald, seine in Wirtlblätter gehüllten Füße machten kaum ein Geräusch, und er ging auf das Bauernhaus zu. In der Nähe von Stevens' Haus trat er aus dem Busch und beschloß, daß er ohne Hilfe nach Hause gehen würde. Er wollte nicht von den Verwandten seiner Schwägerin ausgefragt werden. Aber er war am Ende seiner Kräfte, als er den Hof von der Rückseite betrat und zum Hintereingang stolperte. Er kam an der Scheune vorbei und hörte das lauter und lauter werdende Brummen eines Grogrocs. Dann
brüllte das Tier voller Zorn, und jemand schrie um Hilfe. Er erkannte die Stimme von Onkel Harvey. Seine müden Beine trugen ihn in die Scheune. Entsetzt blieb er stehen. Die Tür des Erdnußspeichers lag in Trümmern, der zersplitterte Rest hing dem Grogroc um den Hals, das aus kleinen Wunden blutete. Harvey stand mit einer Forke in der Hand in der Ekke, wo sonst der Traktor parkte. Die tonnenschwere Masse des Grogrocs wälzte sich auf ihn zu. Der schwere Schwanz peitschte hin und her, und das Tier war zum Angriff bereit. Carey wußte, was geschehen war. Harvey mußte oben auf dem Heuboden gewesen sein, als das Tier in die Scheune einbrach. Wahrscheinlich hatte er an der Schüttelrinne des Silos gearbeitet, die schon lange repariert werden mußte. Aber statt sich ruhig zu verhalten, bis das Grogroc sich den Bauch vollgeschlagen hatte, war Harvey heruntergeschlichen, um aus der Hintertür ins Haus zu gelangen, wo er ein Gewehr aufbewahrte. Natürlich hatte das Tier ihn bemerkt und ein Ziel für seine stets schwelende Wut gefunden. Carey drehte sich um, weil er das Lichtbogengewehr holen wollte, das über der Küchentür hing. Aber dann zögerte er. Seine neuen Sinne sagten ihm, daß das Grogroc zum Sprung ansetzte. Die Wut und
die arrogante Stimmung des Tieres waren überdeutlich, und er konnte damit rechnen, daß Harvey in eine blutige Masse verwandelt wurde, bevor er aus der Küche zurückkam. Und aus diesem Wissen kam die Tat. Er hatte keine Zeit, Angst zu haben, nachzudenken. Er wußte, daß ein wütendes Grogroc schwer zu lenken war, daß nur die besten und erfahrensten Lenker sich an diese Aufgabe wagten. Wenn er versuchte, das Biest zu beruhigen, mußte er damit rechnen, zusammen mit Harvey getötet zu werden. Aber versuchen mußte er es. Rasch ging Carey auf das Grogroc zu. Als er an dem peitschenden Schwanz vorbeikam, projizierte er, und die Szene verschwamm vor seinen Augen. Die Sinne des großen Pflanzenfressers glommen wie Kohlen. Er zielte auf das undeutliche Es, hielt sich am Rande des Bewußtseins und sah die Welt durch die trüben Augen des Monsters, dessen Leib sich träge vorwärtsbewegte. Dann stand er neben dem Schädel des Tieres und legte die Hand auf dessen massiven Kamm. Der große gehörnte Kopf drehte sich um, als Careys Präsenz den Nebel aus Wut und Zorn durchbrach, und der körperlose Teil von Carey projizierte: RUHE LEERER BAUCH RUHE REIFE FRUCHT RUHE SONNENLICHT SCHATTEN BEFRIEDIGUNG RUHE.
Die Schulter glitt unter seiner Hand weg, die Hörner stießen auf ihn zu, und er wußte, daß er versagt hatte. Sein Es riß ihn schmerzhaft in den Körper zurück. Er wich in letzter Sekunde aus. Die spitzen Hörner verfehlten ihn um Haaresbreite, als er beiseite sprang. Bevor das Biest zu einem neuen Angriff ansetzen konnte, projizierte er sich mitten in den glühenden Kern des Tierlebens und kämpfte entschlossen um die Kontrolle über die gewaltigen Muskeln. Panik. Schrecken. Zitternd blieb das Tier stehen, während Careys Geist mit dem Grogroc kämpfte. Ein Teil seines Bewußtseins sagte ihm, daß er auf Harvey zuging und den entsetzten Mann aus der Scheune führte. Als die Tür sich hinter ihnen schloß, gab er den Kampf auf und zog sich an die Schwelle des Bewußtseins zurück. Die Angst verflog. Die Wut des Tieres verschwand, löste sich auf in der panischen Freude, den eigenen Körper wieder zu beherrschen. Es spürte Hunger, und Carey verstärkte das Gefühl, bis es dem Tier unerträglich wurde. Das große Tier drehte sich um, zerschmetterte einen Stützbalken mit dem Schwanz und stapfte auf den Erdnußspeicher zu. Das Grogroc verschlang einen weiteren Zentner der saftigen Nüsse, die es wenigstens für eine Stunde sättigen würden, und Carey spiegelte ihm das Bild
saftiger Waquilfrüchte und den Geschmack und Geruch guter sättigender Nahrung vor, bis er ihm den Appetit auf Erdnüsse vergällt hatte. Grunzend und brummend wälzte sich das Grogroc aus der Scheune und trabte auf das ausgedehnte Gehölz in der Nähe des Gammlerdorfes zu. Careys Körper war mit Harvey weitergegangen. Er dämpfte die Projektionen, ließ sich von seinem Körper zurückziehen und wurde wieder eins. Sein Gesichtssinn kehrte zurück, und er merkte, daß er in Harveys besorgte Augen sah. Careys Körper forderte sein Recht, und die Füße versagten ihm den Dienst. Rasch trat Harvey vor und fing ihn in den Armen auf. Langsam gingen sie weiter. Maud, die gerade von einem Besuch bei den Stevens' zurückgekommen war, öffnete ihnen die Tür. Sie nahm ihren ohnmächtigen Sohn in die Arme. Nein, er war kein Jüngling mehr, ihre Arme hielten den Körper eines jungen Mannes.
3 »Carey!« rief Doreen aufgeregt. »Das Zentralkomitee will was von dir!« Carey stand vom Frühstückstisch auf, an dem er mit Onkel Harvey eine Tasse Kaffee getrunken hatte, und ging zum Funksprechgerät. In letzter Zeit hatte das ZK oft nach ihm verlangt, seit Timmy und ihm es gelungen war, die allwinterliche Nagetierinvasion auf die Höfe im Norden zu stoppen; das Unternehmen hatte hohe Anforderungen an ihre jungen Kräfte gestellt, und sie waren stolz auf die Leistung. Carey lächelte, als er das schmale, aufgeregte Gesicht seiner Schwester bemerkte. Doreen war im Frühling sechzehn geworden und wuchs langsam aus der mageren Figur heraus, die sie als Kind gewesen war. Bald würde sie eine attraktive junge Frau sein. Carey und Timmy gaben ihr Unterricht im Lenken, und kommenden Winter würde sie an der Freisprechung teilnehmen können. Das Lernen fiel ihr leicht, und es schien Carey, als lerne sie schneller als er. Er nahm das Mikrofon und drückte die Sprechtaste. »Carey Sheldon am Apparat.« »Hallo, Carey«, näselte die gelangweilte Stimme von Varinov English, dem Vorsitzenden der Sicherheitssektion im Zentralkomitee. »Das Obere Süßwas-
sertal macht uns wieder Schwierigkeiten. Letzten Herbst hat sich dort eine neue Familie niedergelassen, die Harpers. Scheint, als könnten sie sich nicht mit den Gammlern vertragen. Ich habe gehört, daß sie sich über ein kleines Waldstück streiten, das auf ihrem Land liegt. Der Mann will die Bäume fällen, und die Gammler haben was dagegen. Können Sie und Timmy nicht morgen mal hinfahren und die Sache geradebiegen?« »Klingt ziemlich weit hergeholt. Normalerweise respektieren die Gammler unsere Besitzrechte«, sagte Carey überrascht. »Aber wir werden es uns ansehen. Kriege ich wieder den Flitzer vom ZK? Bis zum Süßwassertal ist es ganz schön weit.« Eine kurze Pause, dann sagte English: »Werde sehen, was sich machen läßt. Kommen Sie morgen so früh wie möglich.« »In Ordnung«, sagte Carey und schaltete ab. »Ich will mitkommen«, sagte Doreen rasch und gab ihm keine Gelegenheit zum Widerspruch. »Du hast mir versprochen, daß ich das nächstemal mitkommen darf, wenn es nicht zu gefährlich ist. Wenn ich an der Freisprechung teilnehmen soll, dann muß ich viel üben, und das ist eine gute Gelegenheit –« Carey legte ihr einfach die Hand auf den Mund. Lächelnd sagte er: »Okay. Du kommst mit, wenn Timmy nichts dagegen hat.«
Doreen quietschte vor Freude, umarmte ihn und lief hinaus, um Onkel Harvey und Mutter von der Neuigkeit zu berichten. Timmy würde bestimmt nicht nein sagen; Careys pelziger Freund schaute immer so blöd drein, wenn er sie ansah ... Langsam ging Carey hinter ihr her. Maud war vom Hof hereingekommen und hörte Doreen mit leicht gerunzelter Stirn zu. Sie hatte es aufgegeben, Carey den Wunsch, Lenker zu werden, auszureden, und Doreen gestattet, Unterricht zu nehmen. Aber die fünfzig Kilometer lange Reise mit Carey und Timmy, die vielleicht doch gefährlich war, machte ihr Sorgen. Trotzdem wußte sie, daß sie mit Argumenten nichts ändern konnte; seit ihr Jüngster Lenker geworden war, spürte sie, daß ihr die Zügel langsam aus der Hand glitten und Carey immer öfter die Geschicke der Familie bestimmte. Nicht, daß sie etwas dagegen hatte. Zwölf lange beschwerliche Jahre hatte sie die Last getragen. Heute war sie froh, daß sie sich auf ihn stützen und verlassen konnte. »Paß gut auf sie auf, Carey«, sagte sie schließlich und ersparte sich eine nutzlose Debatte. »Ich laß ihr nichts geschehen, Mam. Ich gehe jetzt mal rüber in das Dorf. Timmy muß sich morgen freinehmen.« Er sattelte ein Pferd und ritt die drei Kilometer in leichtem Galopp über das offene Land zum Meer. Er
fand Timmy, der mit einer Gruppe junger Gammler fischte. Rasch erklärte Carey seinem Freund, was sie erwartete, und Timmy nickte zustimmend. »Ich kenne ein paar Leute vom Süßwasserfluß. Entfernte Verwandte von mir leben in dem Stamm dort. Sie pflegen allerdings Sitten, die ihre Nachbarn nicht kennen und verstehen. Stell dir vor, sie behandeln Bäume wie leibliche Kinder.« »Nun, offenbar müssen wir sie davon überzeugen, daß Harper das Land gehört und daß sie ihn in Frieden lassen sollen. Oder sie müssen eben sein Leben ändern und den umstrittenen Hain in ihre Gemeinde übernehmen«, sagte Carey. »Aber darüber zerbrechen wir uns den Kopf, wenn wir dort sind. Ich hole dich morgen früh ab. Und – Doreen will mitkommen. Ich habe ihr gesagt, daß ich nichts dagegen habe, wenn du zustimmst.« Timmy drehte sich um und gab den drei jungen Novizen ein Zeichen. Sie holten die Netze ein und kamen auf sie zu, während die Fische wieder ins offene Meer schwammen, da das projizierte Whampusbild verschwunden war. »Ein wenig Praxis kann ihr nicht schaden, Carey. Allerdings sieht es nicht so aus, als sei es ein Problem, das nur Lenker lösen können.« »Ich weiß auch nicht, warum man uns geholt hat«,
entgegnete Carey. »Aber wenn wir die Sache bereinigen können, ersparen wir beiden Seiten möglicherweise ein paar bittere Erfahrungen.« Timmy nickte. Carey machte sich wieder auf den Nachhauseweg. Die jungen Erdnußpflanzen steckten gerade die ersten grünen Spitzen aus der Erde und mußten gepflegt werden. Carey landete den Flitzer in einiger Entfernung vom Hof, und die drei stiegen aus. Harper holte sie ab. Er war ein großer blonder Mann, der sich die helle Frühlingssonne auf den unbedeckten Kopf scheinen ließ. Er war etwas älter als die meisten neuen Kolonisten. Offenbar hatte er die Gestellung erst ein paar Jahre vor Erreichung der Altersgrenze bekommen. »Sag mal, er ist ja fast so groß wie Rübezahl«, flüsterte Doreen erschreckt. Sie meinte den exzentrischen Eremiten, einen riesigen Mann namens Brian Jacobs, der allein in seinem Versteck in den Weißhutbergen lebte und nur dann ins Tal kam, wenn er etwas aus den unbewachten Bauernhäusern stehlen wollte. »Na, hoffentlich ist er freundlicher«, sagte Carey ebenso leise. Aber dann war Harper herangekommen und streckte die Hand aus. Für irdische Begriffe war er groß, fast einsachtzig, aber auf Asylia war seine Gestalt nicht außergewöhnlich. Carey mochte ihn so-
fort; Harper machte den Eindruck eines zähen, sachkundigen Mannes, der auf Asylia seinen Weg gehen würde. Carey stellte sich und seine Begleiter vor. Harper zögerte, aber dann schüttelte er auch Timmy die Hand. Er lächelte, als Doreen ihre kleine sommersprossige Hand ausstreckte, und behandelte sie wie eine Erwachsene, was ihr großartig gefiel. »Als das ZK mir sagte, sie schicken ein Team, das mit den Gammlern verhandeln soll, habe ich eigentlich ältere Leute erwartet«, sagte Harper. »Arbeiten Sie für die Regierung?« »Nicht im eigentlichen Sinn, Mr. Harper. Ich bin so eine Art inoffizieller Unterhändler für die Gammler, und Timmy und ich haben schon früher ein paarmal ausgeholfen. Ich bin achtzehn, und das heißt, daß ich volljährig bin.« »Ich wollte Ihre Fähigkeiten nicht in Frage stellen«, sagte Harper amüsiert. »Ich fürchte, Sie kriegen viel zu tun.« »So habe ich Sie auch nicht verstanden«, erwiderte Carey. »Ich bin mit den Gammlern aufgewachsen, müssen Sie wissen, und ich kenne sie gut. Ich bin übrigens der erste Kolonist, der auf Asylia geboren wurde.« Höflich zog Harper die buschigen Augenbrauen in die Höhe, dann drehte er sich um und ging voraus.
Carey fragte sich, wie man sich als unfreiwilliger Immigrant fühlte, den die Gesetze gezwungen hatten, den Heimatplaneten zu verlassen und eine Reise durch das Weltall zu einem neuen und fremden Leben auf einer fernen Welt anzutreten ... Während des Frühstücks trödelte Sam Harper, bis seine Frau wütend sagte: »Nun mach schon und iß! Du kommst noch zu spät zur Arbeit! Du weißt, daß es nicht leicht ist, eine solche Stellung zu behalten!« Harper spielte mit dem Löffel und rührte das lauwarme Gebräu um, das sich Kaffee schimpfte. Letzte Nacht hatten er und Kay sich bitter gestritten. Es war eine harte Auseinandersetzung gewesen, und das Baby war aufgewacht. Als Kay das Kind endlich beruhigt hatte und wieder ins Bett gekommen war, drehte sie ihm den Rücken zu. Er lag in der dunklen Stille und erkannte, daß er das Leben auf der Erde nicht mehr ertragen konnte. Er faßte einen Entschluß, von dem er wußte, daß er ihn nicht mehr rückgängig machen konnte. »Ich habe eine Neuigkeit für dich, Liebling. Ich gehe nicht zur Arbeit.« »Was? Bist du wahnsinnig geworden? Sollen wir wieder von der lausigen Wohlfahrt leben?« Diese Antwort hatte er erwartet. Kay konnte nicht anders denken. Sie war schön, aber sie hatte kein Gefühl und weder die Fähigkeit noch den Mut, etwas
Neues anzufangen. Wie die anderen 80 Milliarden Erdenbewohner führte sie ein bequemes graues Leben, das von Geburt bis zum Tod im gleichen Rhythmus verlief. Die Regierung nährte und schützte sie, versorgte sie, wenn sie krank wurde, brachte ihre Kinder auf die Welt, und wenn sie die gesetzlichen zwei Gören produziert hatte, würde man sie sterilisieren. Im Jahre 2092 wurde der statistische Durchschnittsbürger 150 Jahre alt, und die Erde erstickte schier unter dem Schmutz des Milliardenheeres. »Mit der Wohlfahrt habe ich nichts mehr zu tun, Baby. Nur du. Ich werde mich diesen Monat stellen.« Sie stieß den Stuhl zurück, sprang auf und starrte ihn ungläubig an. »Du bist verrückt! Nur Verrückte melden sich freiwillig. Was ist nur los mit dir?« »Das weißt du doch. Hast du nicht mit dem Hauspsychiater gesprochen?« Beschämt senkte sie den Kopf. »Es ist so schwer, mit dir zu leben –« »Schlimmer kann es nicht werden, Kay. Ich habe es dir gestern nicht sagen können, aber meine Versetzung in die Fabrik ist abgelehnt. Die Warteliste ist so lang, daß sie keine neuen Bewerber annehmen. Ich habe es satt, noch länger hinter dem sinnlosen Schreibtisch zu sitzen und nichtssagende Akten zu wälzen. Ich halte es einfach nicht mehr aus. Ich muß
raus, oder ich werde wirklich so verrückt, wie du es von mir glaubst.« »Natürlich kann nicht jeder in den Fabriken arbeiten, Sam. Du mußt dich eben anpassen.« »Anpassen! Glaubst du etwa, daß man Nichtstun lernen kann? Sieht so die Anpassung aus? Nichts denken, nichts tun, nicht lachen und bald auch nicht mehr bewußt leben? Nein, vielen Dank! Nicht mit mir!« »Aber du kannst die Welt nicht ändern!« »Nein, aber ich kann sie verlassen!« Er ging die paar Schritte durch die kleine Wohnküche und wollte Kay in die Arme nehmen. »Komm mit, Kay. Wir suchen uns ein neues Leben, wo man sich ändern und mehr tun kann.« »Ich will mich aber nicht ändern, danke«, sagte sie kühl. Und zum erstenmal merkte Harper, daß seine Frau nicht nur körperlich klein war, sondern auch im Geiste. Daß sie sich ihrer Umgebung angepaßt hatte. Er war schon fünf Jahre mit ihr verheiratet ... und es fiel ihm verdammt nicht leicht, seinen Sohn zu verlieren. Er hätte damit rechnen sollen. Weniger als ein Viertel der Ehepartner neuer Kolonisten folgte dem Gatten. Pioniergeist hatte man dem normalen Erdenbürger abgewöhnt. Harper sah seine hübsche kleine Frau an. Kay konnte nicht anders handeln, sie mußte sich
weigern. Sie hatte kein Verständnis für seinen Wunsch nach einem ungebundenen, anspruchsvollen Leben, das die Erde nicht bieten konnte. Rasch zog Harper sich an und verließ die 26 Quadratmeter umbauten Raums, die seine Wohnung ausmachten. Mit dem Expreßlift fuhr er auf das Dach und stellte sich in die Schlange, die auf die in kurzen Abständen landenden und startenden Taxis wartete. Das Appartementhaus, 112 Stockwerke Stahl und Beton, war nur eines von vielen, die wie ein Teppich die Nordinsel Neuseelands bedeckten. Der Kolonialdienst hatte seine Büros auf der Südinsel, wo auch die anderen Regierungsgebäude standen. Sam lehnte sich in die weichen Polster zurück und starrte aus dem Fenster auf die Planktonfarmen, die sie bei ihrem Flug über das Meer passierten. Jedes Jahr wurde die Meeresfläche, die eigentlich der Freizeitgestaltung dienen sollte, ein Stückchen kleiner. Die gewaltigen Leichtmetallplattformen, von denen man die Algen erntete, pflügten mit unwiderstehlicher Langsamkeit durch den grünen Schleim; die Menschen mußten ernährt werden, und Vergnügungsfahrten waren nicht lebenswichtig. Er hatte gehört, daß die wöchentliche Arbeitszeit bald von 40 Stunden auf 48 Stunden verlängert werden sollte. 80 Milliarden Menschen durften nicht ohne Beschäftigung bleiben; die Freizeit- und Erho-
lungszentren reichten nicht, und es gab keinen Platz, sie zu erweitern. Die Südinsel unterschied sich kaum von der Nordinsel – außer, daß die Gebäude, die zumeist Industrie und Verwaltung beherbergten, etwas höher waren. Wie grauer Schimmel überwucherten die Häuser das Land, und Millionen Menschen lebten, arbeiteten und starben in ihrem Innern, ohne daß ihnen je die Sonne ins Gesicht schien oder der frische ungefilterte Wind ihre Haare zauste. Ein trüber Tag folgte dem anderen: Soundsoviele Stunden sinnloser Arbeit am Schreibtisch, soundsoviele Stunden Langeweile vor dem 3-D, soundsoviele Stunden genau abgemessener Trimmdich-Zeit. Der Kolonialdienst lag an der dritten Haltestelle des Taxis. Harper stieg ins Innere des Turms, und in einer knappen Stunde hatte man ihn interviewt, eingetragen und nach Hause geschickt, damit er seine Sachen packen und zum Materietransmitter bringen konnte. Seine Maschine flog am Tag darauf. Während der Heimfahrt blätterte er in den Prospekten und Broschüren, die ihm der Einstellungsbeamte gegeben hatte. Vieles kannte er schon; die automatische Scheidung, wenn jemand die Gestellung bekam oder der Gatte nicht mit auswandern wollte. Neu war ihm nur der Bestimmungsort, ein Planet namens Asylia im Antares-System, und die Größe
des Landes, das er und seine neue Frau – die er noch nicht kannte – bewirtschaften sollten: 130 Hektar. Als er am nächsten Tag das Raumschiff betrat, mußte er feststellen, daß es der Erde ähnlicher war als dem Zielplaneten: Von Bug bis Heck war es mit Menschen vollgestopft. Männer und Frauen wurden in gleicher Zahl eingezogen, und man gab sich Mühe, sie alle auf Trab zu halten, damit niemand an zu Hause oder an die Familie denken konnte, von der man sich trennte. Sie mußten an immer neuen Schulungskursen teilnehmen, lernen, wie man mit landwirtschaftlichen Maschinen umging, Säuglinge und Kinder pflegte, sich an Kursen für Erste Hilfe und praktische Hausmedizin beteiligen und sich eintrichtern lassen, was die Gesetze des Kolonialdienstes von ihnen verlangten. Die Reise dauerte zwölf Wochen. Bereits nach der Hälfte der Zeit konnte er sich kaum noch an Kays Gesicht erinnern. Harper ertappte sich dabei, daß er unter den alleinstehenden Frauen nach einer passenden Lebensgefährtin suchte, und als er schließlich seine Wahl getroffen hatte, fragte er sich, ob er nicht unbewußt das genaue Gegenteil von Kay gesucht hatte: Die Frau, auf die er ein Auge geworfen hatte, war groß und kräftig, mehr geschmeidig als schlank, hatte eine dunkle Haut und pechschwarzes Haar. Sie war das genaue Gegenteil der kleinen zarten blonden
Kay. Sie hatte eine sechsjährige Tochter, die ihr sehr ähnlich war. Und es fiel Harper mehr als einmal auf, daß sie ihn während des gemeinsamen Unterrichts nachdenklich ansah. Das war nicht überraschend, wenn man wußte, daß er der größte Mann an Bord war – und sie die größte Frau. Behutsam zog er Erkundigungen ein und entdeckte ohne Überraschung, daß er nicht der einzige Freiwillige war. Unter den 600 Männern und Frauen und den etwa 40 Babys und Kindern gab es 25 Freiwillige. Aber nur eine Frau hatte sich freiwillig gemeldet: Sie hieß Cassie McDougal. Eines Tages traf er sie im Observatorium. Zwischen Abendbrot und Schlafenszeit seiner Schicht gab es manchmal unausgefüllte Stunden. Sie war allein und starrte gedankenverloren in das sternenübersäte Dunkel des Alls. Er trat auf sie zu und stellte fest: »Sie sind Cassie McDougal.« »Und Sie sind Sam Harper. Ich wollte Sie schon lange treffen.« »Das freut mich. Heiraten Sie mich, wenn wir landen?« Sie schwieg überrascht und sah aus der Kuppel auf die Sterne. »Sie müssen nicht«, sagte er rasch. »Selbst wenn Sie keinen anderen mögen. Sie können drei Monate Karenzzeit beantragen, wenn Sie niemand auf dem Schiff kennengelernt haben. Und wenn Sie sich we-
gen Jeannie Sorgen machen sollten – ich habe meinen kleinen Sohn zurückgelassen.« Sie drehte sich um und sah ihm ins Gesicht. Ihre Augen schwammen. »Ich brauche die Karenzzeit nicht«, sagte sie rauh. Sie lächelten sich zaghaft an. Das matte Sternenlicht hüllte sie ein, als sie sich küßten. Ihre Zuneigung wuchs mit jedem Tag. Eine Woche später baten sie den Kapitän um eine Bordtrauung. Aber er lehnte ab, weil alle Doppelkabinen belegt waren. Die letzten Wochen verbrachten sie in gedrückter Stimmung, aber sie hatten keine Zeit, sich zu bemitleiden. Die Zeit verging wie im Fluge, und Antares' große Scheibe füllte das Observatorium mit purpurnem Licht. Es dauerte nicht lange, bis sich die Schiffsmagnetrone in das Magnetfeld Asylias einschalteten und das Raumschiff sicher zu Boden brachten. Die Luken öffneten sich und ließen die seltsam duftende Luft des Planeten ein. Der Ausstieg begann. An den Rampen warteten Führer auf die Familien, die sie sofort in das Einwanderungsbüro brachten; den restlichen hundert hielt der Kapitän eine kleine Rede. »Ich bedaure außerordentlich«, sagte er mit Nachdruck, »daß von den 480 Einzelstehenden immer noch acht kein Aufgebot bestellt haben. Ich halte es
für meine Pflicht, diese acht daran zu erinnern, daß sie trotz der dreimonatigen Karenzzeit nicht gut daran tun, sie auszunutzen. Es gibt nicht viele alleinstehende Männer und Frauen auf Asylia. Es mag sein, daß sie später unzufriedener sind, als wenn sie jetzt ihre Wahl getroffen hätten.« Die bewußten acht traten nervös von einem Bein auf das andere. Dann kamen zwei nach vorn: Eine junge Frau mit rundem Gesicht und ein magerer Mann, der neben ihr recht kümmerlich wirkte. »Wir wollen es versuchen, Kapitän«, sagte der junge Mann verlegen. Zweifelnd sahen sich die letzten sechs an; aber sie rührten sich nicht. »Ausgezeichnet«, freute sich der Kapitän. »Gehen Sie zu den anderen und nehmen Sie sich bei der Hand. Sprechen Sie mir nach und nennen Sie Ihre Namen, wenn ich den meinen sage. Ich, Joshua Heinemann, verspreche feierlich ...« Der Orientierungskurs war darauf angelegt, daß sie sich auf Asylia heimisch fühlten, und das klappte ganz gut. Sie sahen sich 3-D-Aufnahmen der örtlichen Fauna und Flora an und lernten die gefährlichen Tiere kennen – wie das riesige Grogroc und den kleinen Killer, der Flugkatze hieß. Man gab ihnen Landkarten der Umgebung von Asylianum, der Hauptstadt, und sagte ihnen, daß es zehn größere Städte auf
Asylia gab, die jeweils eine Transmitterstation beherbergten. Die Gesamteinwohnerzahl lag bei 50 000, wobei bereits die hier Geborenen mitgezählt waren. Asylianum war die erste Stadtgründung, die jüngste war gerade zwei Jahre alt. Zum erstenmal hörten sie das Wort Gammler, und das 3-D zeigte ihnen, wie und wo die haarigen Humanoiden lebten und anständiger Arbeit aus dem Weg gingen. Die Gammler besaßen große Ländereien, und das Gesetz, auf das auf Asylia ein Zentralkomitee achtete, schützte sie. Die neuen Kolonisten erhielten eine Liste, auf der alles stand, womit das Kolonialbüro sie versorgte und was sie selbst beitragen mußten. Es war offensichtlich, daß das Kolonialbüro nicht viel mehr als Rat und Unterweisung zu bieten hatte. Die neuvermählten Paare verließen den Schulungsraum und stellten sich in die lange Schlange, die langsam auf das erste Besitzstück vorrückte, das sie erhalten sollten: Ein großer Traktor mit Kernreaktor und allem Zubehör – darunter ein eingebautes Funkgerät. Auf Asylia gab es keine andere Art persönlicher Kommunikation über lange Strecken. Die Trekker zogen mittelgroße Anhänger, die mit einem zerlegbaren Zweizimmerzelt, Handwerkszeug, verschiedenen kleinen Maschinen und einer Reihe anderer Gegenstände beladen waren, unter denen sich auch die mitgebrachte Habe befand.
»Jetzt sind wir also Pioniere«, sagte Harper leicht enttäuscht, als er die wenigen Utensilien betrachtete, mit denen er 130 Hektar bewirtschaften sollte. »Sie bekommen mehr, wenn Sie sich niedergelassen haben«, entgegnete der Beamte, der ihre Ausweise überprüfte. »Starten Sie jetzt bitte den Traktor und reihen Sie sich ein.« Fahrunterricht hatten sie an Bord bekommen; vorsichtig kletterte Sam auf die ungewohnte Maschine, nahm im Schalensitz Platz und schaltete den Reaktor ein. Die Maschine summte. Er packte das Lenkrad und gab Gas. Der Trecker zischte und rollte an. Langsam fuhr er zur nächsten Reihe. Cassie und Jeannie gingen nebenher. Sie erhielten eine Ration Nahrungskonzentrat, die mehrere Monate reichen würde, obwohl sie nur wenig Raum auf dem Anhänger beanspruchte. Am nächsten Kontrollpunkt gab man ihnen Waffen, die Cassie vorsichtig, in Empfang nahm. Der letzte Beamte reichte ihnen einen Stapel Bücher und Hefte, unter denen Gebrauchsanweisungen für die Landmaschinen waren, die sie bereits verstaut hatten, meistens aber Verfahren beschrieben, wie die anzubauenden Feldfrüchte kultiviert werden sollten. Als sie endlich alles überstanden hatten, war der Anhänger brechend voll. Zu guter Letzt erhielt Sam eine Urkunde für das Land, das er unter den üblichen
Rückzahlungsbedingungen übereignet bekam und zu bestellen hatte. Vor sich auf dem Instrumentenbrett breitete er die Landkarte aus. »Sam, wollen wir noch heute hinausfahren? Oder bleiben wir über Nacht im Durchgangslager?« fragte Cassie, die ihm über die Schulter sah. Sie wies mit dem Kopf auf Jeannie, die schüchtern neben dem Traktor stand und das bunte Treiben beobachtete. Harper riß sich von den Gedanken an sein Land los. Zum erstenmal wurde ihm bewußt, daß er wieder verheiratet war und die Hochzeitsnacht vor ihnen lag. Er schaute auf die große dunkelhaarige Frau, die seit zwei Stunden seine Gemahlin war. »Wir fahren. Unsere erste Nacht sollten wir auf unserem Land verbringen.« Cassie nickte und kletterte mit Jeannie auf den Anhänger. Vier Straßen führten aus Asylianum in die vier Himmelsrichtungen; sie waren kaum mehr als Feldwege mit flachen Gräben links und rechts. Ihr Land war auf der Karte markiert und lag etwa 50 Kilometer außerhalb der Stadt. Langsam fuhren sie durch die Stadt. Die Blockhäuser der Regierung scharten sich eindruckslos um den stählernen Rundbau der Transmitterstation. Die meisten Leute lebten auf dem Land. Jeder Kolonist war sein eigener Herr, dessen Wohlergehen von ihm selbst
abhing, wenn er auch seine Geschäfte mit dem Zentralkomitee abwickeln mußte. Die Beamten des ZK bedienten den Transmitter, kostenlos, aber sie kauften alle Produkte, die auf Asylia hergestellt wurden; durch ihre Hände gingen alle Lieferungen und Bestellungen von der Erde. Zwar war der Kolonialdienst der irdischen Zentralregierung, dem Bund, verantwortlich, aber ein geschäftstüchtiger Bauer konnte mit harter Arbeit und ein wenig Glück in wenigen Jahren den Komfort und die Bequemlichkeiten erringen, wie er es von der Heimat her kannte. Jedenfalls genoß er die Vorzüge, die ihm als freiem Bürger in einer Welt mit viel Bewegungsfreiheit offenstanden. Eine ganze Reihe Bauern, die Arbeit nicht scheuten, hatten es bereits geschafft, beachtliche Guthaben auf ihren Konten anzusammeln. Und die Erde bekam, was sie so dringend brauchte: Nahrung. Viele Millionen Tonnen Nahrung jede Woche. Eine Besonderheit der Atmosphäre verlieh Antares einen leichten Purpurstich; die große Sonne stand im Zenit, als sie das offene Land erreichten. Das Land war zwar gerodet und kultiviert, aber es hatte nichts von seinem ursprünglichen Reiz verloren. Überall lockten schattige Haine und Wälder. Die Flora war grün mit einem leichten Ockerton. Harper hatte noch nie Wildwuchs gesehen; seine Heimat waren die grauen Betonwände der Hochhäuser gewesen.
Nach zwei Stunden Fahrt erreichten sie ihr Land. Das Gebiet lag in einem lieblichen Tal und war an drei Seiten von den Weißhutbergen eingeschlossen. Am nördlichen Ende bog das Tal abrupt nach Westen zur offenen See ab. Der Talboden war verhältnismäßig eben und mit gelbgrünem Rasen bedeckt. Die Hänge der Berge verbargen sich hinter Bäumen. Sie kamen aus südlicher Richtung ins Tal. Ein kleiner Fluß, der Süßwasserfluß hieß, strömte ruhig durch das Tal. Zwei kleine Häuser waren bereits an seinem Ufer gebaut worden; bestellte Felder kreisten sie ein, aber man merkte, daß die Kolonisten noch nicht lange hier wohnten. Die Häuser waren klein und nach Blockhausart aus rohen Baumstämmen gezimmert; die Äkker trugen das rauhe Aussehen frischer Rodung. »Willst du anhalten und unsere Nachbarn begrüßen?« fragte Cassie aus dem Anhänger. »Später vielleicht«, schrie Sam zurück. »Ich möchte lieber am Fluß hinauffahren, bis wir da sind und einen Platz für das Zelt gesucht haben.« Der holprige Weg, dem sie folgten, lief etwa einen Kilometer vom ersten Haus entfernt entlang, bis er sich gabelte. Sam fuhr gerade auf den Weg, der sie an der Rückseite des Hauses vorbeiführen würde, als das Funkgerät schnarrte. Er schaltete es ein, nahm das Mikrofon und sagte: »Hallo? Sam Harper hier.«
»Hallo, Sam! Ich bin Ihr Nachbar, Willy Müller. Lenken Sie rum und kommen Sie rüber, bevor ich Ihren Namen auf die schwarze Liste setze«, sagte eine freundliche Stimme. Sam schaute zu dem Haus hinüber und erkannte in der Ferne eine kleine Gestalt, die an einem Traktor lehnte. Er bremste und sah, wie der Mann den Arm hob und winkte. »Halte doch, Sam«, sagte Cassie fröhlich. Jeannie kicherte aufgeregt. Sam lachte, schaltete das Funkgerät auf SENDEN und sagte: »Okay, Sie haben mich überredet. Wir kommen.« Ein paar Minuten später schüttelte er Müller die Hand. Müller war ein untersetzter Mann mit hellrotem Haar und einem ansteckenden Lächeln. Simone, seine Frau, kam zur Begrüßung heraus und lud sie zu einer Tasse Kaffee ein. Die Müllers hatten zwei Kinder; das jüngste war schon auf Asylia auf die Welt gekommen. »Gott sei Dank sind Sie eine Familie«, sagte Müller, als er sie durch die Brettertür in das kleine Wohnzimmer bat. »Viele heiraten erst bei Ankunft und machen sich und den anderen das Leben schwer, bis sie sich aneinander gewöhnt haben. Simone ist mitgekommen, als ich die Gestellung bekam.« »Jeannie ist meine Tochter aus erster Ehe, Mr. Müller«, sagte Cassie rasch. »Sam und ich haben auf dem Flughafen geheiratet.«
Der kleine Mann wurde so rot wie sein Haar. »Da bin ich mal wieder voll ins Fettnäpfchen getreten. Es tut mir leid, ich –« »– bin ein altes Plappermaul«, beendete Simone den Satz. »Wie wär's, wenn du deinen Mund zur Abwechslung mal voll Kaffee nimmst? Passen Sie auf, ich habe eine Idee. Warum bleiben Sie nicht die Nacht über bei uns? Sie bekommen das Schlafzimmer, und Willy und ich schlafen hier vorn auf der Couch.« »Vielen Dank. Aber Sam möchte die erste Nacht auf eigenem Boden verbringen, selbst wenn wir in einem Baum übernachten müssen«, sagte Cassie. »Und ich habe nichts dagegen.« »Ich kann Sie verstehen. Dann lassen Sie wenigstens Jeannie bei uns. Sie kann bei meiner Tochter schlafen. Bis Sie sich eingerichtet haben, behalte ich sie gern bei mir. Jeannie«, rasch ging sie auf das Kind zu, »was meinst du, willst du heute nacht bei mir bleiben? Deine Mutter und dein neuer Vati müssen auf der Erde schlafen. Und wenn es dunkel wird, laufen überall Tiere und andere schlimme Dinger herum. Möchtest du die Nacht bei Clara schlafen?« Das kleine Mädchen sah seine Mutter fragend an, und Cassie nickte. Bei Anbruch der Nacht hatte Harper den Anhänger abgeladen und das kleine Hauszelt aufgebaut. Cassie
kochte ein Fertiggericht, während Sam die letzten Heringe in den Boden rammte. Sie hatten einen Platz am Fluß ausgewählt. Das Ufer bildete in einem langgestreckten Bogen eine Art Halbinsel; der Wald lag etwa fünfhundert Meter entfernt. Nach dem einfachen Mahl starrte Harper nachdenklich in die Flammen. Cassie spülte das Geschirr im Fluß ab. Als sie in den Schein des Feuers trat, merkte er, daß sie gebadet hatte. Sie sah seinen Blick und lächelte. »Es gibt eine schöne sandige Stelle, wo das Wasser nur einen halben Meter tief ist, Sam. Das Wasser ist eiskalt. Aber es ist so sauber, daß man davon trinken möchte.« Er stand auf, räkelte sich und spürte eine Zufriedenheit, die keinen Namen hatte, einen Frieden, der ihn ganz ausfüllte. Mit drei Schritten stand er bei seiner Frau, nahm sie in die Arme und küßte sie. Dann verschwand er mit Seife und Handtuch. Hinter ihm öffnete Cassie den Reißverschluß der Tür, kroch ins Zelt, zog sich aus und schlüpfte in den warmen Schlafsack. Am Flußufer warf Harper die Kleidungsstücke ab und blieb einen Moment nackt am Wasser stehen. Ein Mond war im Nordwesten aufgegangen und zeichnete eine dünne helle Linie über den leise fließenden dunklen Fluß. Er hob die Arme, ballte die Hände und
ließ die Schönheit des Flusses und die Schatten am anderen Ufer auf sich einwirken. Er atmete tief und hielt die Luft an. Seine Muskeln spielten, und in diesem Moment verschrieb er sich voll und ganz dem neuen Leben. Auf diesem Kontinent war es Herbst, und das Schneewasser war betäubend kalt. Rasch badete er und wusch seine Sachen. Dann stieg er triefend aus dem Fluß und trocknete sich ab. Mit den nassen Sachen am langen Arm lief er zurück. Er hängte die Kleidungsstücke über die Seitenwand des Anhängers und lief auf das kleine Zelt zu. Ein nackter Arm griff aus der Dunkelheit und hielt den Eingang offen. Er bückte sich, kroch hinein und suchte die warme Umarmung seiner Frau.
4 In den sechs Monaten, die Sam Harper bereits auf Asylia war, hatte er über vierzig Hektar Land zwischen Fluß und Wald gepflügt. Im großen Garten neben dem üblichen Ersthaus – einer hübschen kleinen Blockhütte, deren Stämme er selbst auf den Hügeln gefällt und ans Flußufer geschleppt hatte – streckten die ersten Blumen die Köpfe aus dem Boden. »Das kann sich sehen lassen«, bemerkte Carey, als sie auf das gepflegte Haus zugingen. »Cassie hilft mir, und die Arbeit macht mir so viel Spaß, daß sie mir eher wie ein Spiel vorkommt«, erwiderte Harper. Bevor die kleine Gruppe das Haus erreichte, hörten sie das leise Summen von Traktoren. Zwei Männer kamen auf den Hof gefahren und stiegen ab. Carey kannte Willy Müller, aber den Mann mit dem schwarzen Vollbart, der ihm als Earl Kronstadt vorgestellt wurde, hatte er noch nie gesehen. Es waren Harpers Nachbarn. Carey mußte seinen Ärger unterdrücken, als er sah, daß Kronstadt Timmys ausgestreckte Hand übersah. Verwirrt ließ der junge Gammler die Hand sinken. Auch Doreen war der Affront nicht entgangen; sie errötete.
»Wir sind rübergekommen, weil wir die gleichen Symptome gefunden haben«, sagte Müller zu Harper. »Als ich auf dem hinteren Feld arbeitete, fiel mir auf, daß die letzten Saatreihen in der Nähe der Bäume anfingen braun zu werden. Ich dachte gleich an dich und habe nachgegraben.« Er zeigte ein paar dünne braune Wurzeln, die etwa einen Zentimeter dick und sehr weich und biegsam waren. »Auf Earls Feldern auch. Im Augenblick trifft's nur die Pflanzen am Waldrand. Aber der Schaden breitet sich aus. Schätze, in zwei Wochen sind zwei Hektar zum Teufel.« Verwirrt starrte Carey auf die Wurzeln. So etwas hatte er noch nie gesehen. Er gab sie Timmy, aber dessen Miene sagte ihm, daß er genauso wenig damit anzufangen wußte. »Das ist die Ursache des Streits mit den Gammlern«, sagte Sam. »Die Wurzeln stammen von einem niedrigen, dickstammigen Baum, der dort hinten im Wald ziemlich zahlreich wächst. Auf meinem Land in der Nähe der Hügel steht eine ganze Menge davon. Und ich weiß nicht warum, aber jeder Baum, der fünfhundert Meter von meiner Plantage entfernt wächst, streckt seine Wurzeln ausgerechnet in meine Erdnußfelder und richtet sie zugrunde. Ich habe noch keinen Baum so schnell wachsen sehen. Die ersten Wurzeln, die ich fand, habe ich durchgeschnitten. Aber schon nach zwei Tagen waren neue da, und drei andere
Bäume haben neue Ableger ausgestreckt. Sie hungern die Erdnüsse buchstäblich aus.« »Zeigen Sie uns bitte das Feld, wo Sie den Schaden zuerst bemerkt haben«, bat Carey. »Klar. Kommen Sie mit.« Harper führte die Gruppe über die Felder, auf denen unter der violetten Sonne Mais in die Höhe schoß und Reihe auf Reihe grüner Erdnußpflanzen ihre gefiederten Blättchen in den Himmel reckten. Wie die meisten Kolonisten baute Harper im ersten Jahr hauptsächlich Erdnüsse an; das Kraut gab ein gutes Trockenfutter für die Rinder, die er sich anschaffen würde, mit den Nüssen konnte er die Fettvögel mästen und den Rest der Erdnüsse an die Erde verkaufen. Sie erreichten den Rand des Ackers, und Harper zeigte ihnen das verdorbene Feld. Auf etwa einem Hektar waren die Pflanzen vergilbt und vertrocknet, und viele verrotteten auf den Stengel. Es war deutlich zu sehen, daß die Krankheit sich ausdehnte. Harper hatte einen Spaten mitgebracht. Er ging ans Ende des Feldes, das etwa hundert Meter vom Waldrand entfernt war, und grub. Nach ein paar Spatenstichen stieß er auf die Ableger. Rasch legte er einen halben Quadratmeter frei und rief sie heran. Sie starten auf das Netz feiner Wurzeln. Harper grub ein Stück auf den Wald zu. Ein Muster wurde deutlich; drei getrennte Bahnen
aus je drei Wurzeln liefen in direkter Linie auf die Bäume zu. »Mein Land reicht fast bis an den Hügel dort«, sagte Harper und zeigte Carey die Landmarken. »Dieser Hain steht auf meinem Land. Ich hatte sowieso vor, ihn bald abzuholzen und damit ein Haus zu bauen. Als ich entdeckte, daß die Wurzeln von der gleichen Baumart stammten, wollte ich sie schon jetzt schlagen, um wenigstens meine erste Erdnußernte zu retten. Aber dann sind Gammler aufgetaucht und haben mich daran gehindert. Ich wollte gerade mit der Kettensäge auf die Bäume los, als drei Gammler mich davonjagen wollten. Na, ich habe versucht, ihnen zu erklären, daß das mein Land ist und daß ich Bäume fällen kann, wann es mir paßt. Aber sie sprachen kein Englisch. Dann wurde es mir zu dumm, und ich wollte weitermachen. Da haben sie mich – aufgehalten.« In seinen Augen spiegelte sich die Angst, die er gespürt hatte. Carey mußte ein Lächeln unterdrücken. Es kam selten vor, daß die Gammler ihre geistigen Fähigkeiten bei einem Fremden anwendeten, aber wenn das geschah, hatten sie meistens durchschlagenden Erfolg. »Carey«, sagte Timmy plötzlich, »ich spüre etwas – eine Präsenz, die ich nicht erklären kann. Werde bitte rezeptiv und sag mir, ob du es auch fühlst.«
»Ja!« rief Doreen aus. »Seit wir hier sind, habe ich so ein komisches Gefühl. Es ist, als ob – eine unsichtbare Menschenmenge hier ist, die sich nicht bewegt, nicht spricht und nicht denken kann, Komisch!« Carey schloß die Augen und tat, was Timmy wollte. Er beeilte sich, weil er nicht mochte, daß Harper und seine Nachbarn sie für verrückt hielten. Schließlich mußte wenigstens einer mit ihnen verhandeln. Aber der kurze Moment Konzentration genügte schon. Er spürte die seltsame Präsenz, schwach nur, aber höchst massiv, als stünden sie Hunderten von Kretins oder einer einzigen großen Intelligenz schwacher Feldstärke gegenüber. Noch nie hatte er etwas Ähnliches erlebt, und er konnte es ebensowenig beschreiben wie Doreen. Er öffnete die Augen. »Können Sie uns einen Baum zeigen? Vielleicht den, der als erster Ihre Plantage angegriffen hat?« Harper winkte und ging in den Wald. Der Boden unter und zwischen den Bäumen war sauber und frei von Unterholz wie in einem Park. An Baumarten war zumeist die hohe Kanna vertreten, eine Konifere, die der irdischen Rottanne ähnelte, fast überall in der gemäßigten Zone des Planeten wuchs und ein ausgezeichnetes Bauholz lieferte. In ziemlich regelmäßigen Abständen, fast wie gepflanzt, standen viele niedrige Bäume mit stark ver-
zweigtem Astwerk, deren Stamm in Bodennähe sehr umfangreich war. »Da ist der Sünder«, sagte Harper und zeigte auf einen der dicken Bäume. »Die ersten Wurzeln stammen von ihm. Aber jetzt machen die anderen Bäume es ihm nach.« »Carey, ich muß raus hier«, sagte Timmy drängend. Carey warf seinem Freund einen Blick zu, drehte sich um und ging rasch aus dem Wald. Die drei Bauern folgten verwundert. Es schien Timmy besser zu gehen, als sie wieder unter freiem Himmel standen. Carey merkte es daran, wie Timmy die verkrampften Schultern sinken ließ und die harten Linien um den Mund verschwanden. Irgend etwas hatte Timmy unter den Bäumen Angst gemacht. »Das beste ist, wenn wir als nächstes die Gammler besuchen und sie fragen, warum sie nicht wollen, daß diese Bäume gefällt werden«, sagte Carey zu Harper. »Sie mischen sich nur selten in unsere Angelegenheiten. Ohne Grund haben sie Sie bestimmt nicht behindert.« »Das ist mir schnuppe«, warf Kronstadt ein. »Ich lasse mir das nicht gefallen, und wenn Ihre Gammlerfreunde sich mir in den Weg stellen, dann gibt's Ärger.«
»An ihrer Stelle würde ich keine Bäume fällen, bis wir die Sache geklärt haben, Mr. Kronstadt«, sagte Carey ruhig. »In Ihrem eigenen Interesse.« »Ich kann schon selber auf mich aufpassen, vielen Dank«, sagte Kronstadt wütend, drehte sich um und ging. »Sorgen Sie nur dafür, daß die Langhaarigen sich nicht auf meinem Land herumtreiben!« »Leihen Sie uns zwei Pferde?« bat Carey Harper, als Kronstadt gegangen war. »Die Gammler können Maschinen nicht leiden. Ich möchte nicht mit dem Flitzer hinfahren.« »Ich leihe Ihnen meine zwei«, warf Willy Müller ein, und Carey merkte, daß Sam Harper noch keine Pferde besaß. »Und was mache ich?« fragte Doreen. »Du bleibst bei Mrs. Harper, bis wir zurückkommen. Wahrscheinlich werden sie nur mit Lenkern verhandeln wollen.« Sie sah ihn wütend an, bis Sam Harper den Arm um ihre Schultern legte. »Doreen, ich möchte Ihnen gern meine Frau vorstellen. Wir kriegen in vier Monaten unser erstes Baby, und sie hat nicht oft Abwechslung und Gesellschaft. Vielleicht können Sie sie ein bißchen aufmuntern.« Sie gingen ins Haus und tranken Kaffee, während Müller die Pferde sattelte. Cassie und Doreen mochten sich sofort und unterhielten sich bald wie alte Be-
kannte. Als Willy mit den Pferden kam und Carey und Timmy losritten, hatte Doreen ihren Ärger vergessen. Die Gammler lebten im letzten Hain des Tales, wo es sich verengte und der kleine Fluß aus den steinigen Hügeln herunterstürzte. Die Wohnungen der Gammler waren Lauben aus rasch wuchernden Schlingpflanzen, die man in mehreren konzentrischen Kreisen um einen Baum pflanzte und zu Wänden und Dach zusammenwachsen ließ, bis selbst ein Grogroc Mühe hätte, das Dickicht zu zerstören. Den Eingang bildete ein etwa mannshohes dünneres Geflecht. In scheinbarer Unordnung wuchsen Nutzpflanzen im ganzen Hain. Obwohl mehrere Kitzlsträucher im Hain standen, sah Carey, daß alle auf diesem Erdteil vorkommenden Kulturpflanzen vertreten waren und Früchte trugen. Trotzdem nahm keine Pflanze der anderen Platz weg, das Gras wuchs ungestört, keine Schlingpflanze schadete dem sie stützenden Baum. »Was das für Zeit gekostet hat«, bemerkte Timmy. »Wir brauchen nur einen Tag, um ein Waquilhaus zu bauen. Im Sommer muß es hier herrlich kühl und schattig sein.« Carey hatte schon manches Bewundernswerte gesehen, das die Gammler mit der Natur anstellten. Aber diesmal schüttelte er überrascht den Kopf. Diese
Gemeinde war der in der Kultivierung der Flora am meisten fortgeschrittene Stamm, den er gesehen hatte. Ein paar kleine Kinder starrten die Fremden mit aufgerissenen Augen an, aber sonst achtete niemand auf sie. Timmy schickte ein kleines Mädchen nach dem Kanzler, mit dem er verwandt war. Einige Minuten später trat ein alter Mann mit weißem Bart und schütterem Pelz aus einer Laube, um sie zu begrüßen. Er und Timmy wickelten ein kompliziertes Begrüßungszeremoniell ab, bis der Alte sie in sein Haus bat und sie sich durch die lockeren Zweige Eingang verschafften. Innen warteten drei altersgraue Männer und ein Gammler mittleren Alters, dessen Pelz pechschwarz war. Sie saßen um ein kleines Feuer mitten auf dem Boden aus weichem Laub. Sie erhoben sich und murmelten Grußworte, als die jungen Männer eintraten. Carey merkte, daß sie in eine Konferenz geraten waren. Oder war es umgekehrt? Waren die Leute zusammengekommen, weil man sie erwartet hatte? Der Kanzler hockte sich hin und griff nach der Frucht, die er gegessen hatte, bevor das Kind ihn holte. Sie warteten, daß die Besucher mit der Sprache herausrückten. »Ich bin Carey Sheldon, Adoptivsohn von Nijub, dem Kanzler von Lindorn, und ein Lenker«, stellte
Carey sich vor. Sie reagierten nicht. Wahrscheinlich hatten sie bereits gehört, daß es ein Erdenmensch geschafft hatte, Lenker zu werden. Auch Timmy stellte sich vor, und Carey fuhr fort: »Wir kommen im Auftrag des Rates der Pelzlosen, weil zwischen euch und den Bauern des Tals ein Streit entstanden ist. Wir haben mit den Bauern gesprochen. Sie sagten uns, ihr habt ihnen verboten, Bäume zu fällen, die auf ihrem Land stehen. Wir möchten wissen, warum.« Minutenlang schwiegen sie. Dann stand der Kanzler auf und starrte sie aus wäßrigen Augen an. »Ich spreche für den Rat. Wir haben den Bauern verboten, die Breschwarbäume zu fällen, weil sie heilig sind. Seit Generationen pflegen wir sie. Als wir den Vertrag schlossen, baten wir nicht um Schutz der Breschwarbäume, weil wir uns nicht vorstellen konnten, daß jemand sie fällen wollte. Da wir jetzt wissen, daß die Bauern sie fällen wollen, müssen wir den Rat der Pelzlosen um Rückgabe des Landes bitten, damit wir die Pflegschaft fortsetzen können.« Carey ließ sich nichts anmerken, aber er dachte blitzschnell nach: »War« bedeutete in der Gammlerspache Baum, und mit »Bresch« bezeichneten sie die belebte Natur, unterschieden sie das Beseelte vom Seelenlosen. Breschwar hieß also etwa lebender Baum oder Baum mit Seele. »Wir haben nachgedacht. Wir glauben nicht, daß
damit das Problem gelöst wäre«, sagte Carey. »Die Bäume strecken Wurzeln aus, die weit durch die Erde reichen. Die Wurzeln beschädigen die Pflanzen der Bauern. Das ist nicht richtig und muß verhindert werden, weil die Bauern von den Erdnüssen leben. Ich möchte wissen, warum das Volk der Laubenbauer die Breschwar verehrt. Ist es nicht nur ein Baum, dessen Wurzelwerk schnell wächst?« Der schwarzhaarige Gammler sprang auf. »Der Breschwar ist kein gewöhnlicher Baum«, sagte er wütend. »Nur in diesem Tal wächst der Breschwar! Jedoch wachsen jedes Jahr weniger Schößlinge heran. Eines Tages werden wir die Ursache dafür finden, und der Breschwar wird wieder so hoch und stark werden, wie die Kanna, und der Gamla Freund sein.« »Warum wollt ihr seine Freunde sein?« fragte Timmy. »Weil der Breschwar klug ist und das Wissen der Zeitalter bewahrt und uns vieles lehrt.« »Was kann ein Baum euch lehren, die ihr doch so viel über Pflanzen zu wissen scheint?« fragte Carey. Der schwarzhaarige Gammler lächelte nur und nahm wieder Platz. »Ich werde für Bixta sprechen«, sagte der Alte. »Der Breschwar spricht. Und wer ihm zuhört, lernt vieles. Der heilige Breschwar hat uns gelehrt, Lauben zu bauen und zu ernten. In Notzeiten war er unser
Freund, und wir sind seine Freunde. Er ist der Lebensbaum, und wir wohnen in seinem Schatten. Das ist alles.« »Aber –« Carey hielt inne. Es war zwecklos. Ein Gammler ließ sich nie auf einen Disput ein. Meistens bestand seine Rede aus Feststellungen. Ihr Gespräch war beendet. »Gehen wir, Carey«, drängte Timmy, bevor Carey wieder sein gutes Benehmen vergessen konnte. Carey seufzte enttäuscht. Umständlich verabschiedeten sie sich. Er versprach, über die Bitte um Rückgabe des Landes verhandeln zu lassen, dann gingen sie. »Was hältst du davon?« fragte Carey, als sie zu Harpers Hof zurückritten. »Die Bäume scheinen eine unbekannte Eigenschaft zu besitzen«, sagte Timmy nachdenklich. »Holen wir Doreen ab und sehen wir uns den ersten Baum noch einmal an.« Carey zuckte verwirrt die Achseln und folgte seinem Freund durch den Wald. Manchmal konnte Timmy ihn auf die Palme bringen. Sie ließen die Pferde bei Harper, lehnten seine Begleitung ab und gingen auf den Hain zu. Als sie den Acker verließen und in den Wald traten, mußte Timmy wieder die Zähne zusammenbeißen, ging aber entschlossen weiter. Doreen spürte den Einfluß auch.
Sie streckte die Hand nach Carey aus und klammerte sich an seinen Arm. Carey starrte auf die Erde und gab sich Mühe, weder zu empfangen noch zu projizieren. Er spürte nicht, was Timmy und Doreen beeinflußte. Vor dem kleinen dicken Baum, der in gelassener Häßlichkeit zwischen den schlanken Kannas wuchs, blieben sie stehen. Einen Augenblick lang verharrte Timmy und musterte den Breschwar mit ernstem Blick. Dann streckte er sich im dichten Gras aus und schloß die Augen. »Carey, ich will Kontakt aufnehmen. Ich weiß nicht, was ich finden werde. Vielleicht mußt du ... mich zurückholen. Es ist besser, du kontaktierst erst, wenn du mich suchen mußt.« »Das mußt du wissen«, sagte Carey und setzte sich neben ihn. Doreen nahm ihm gegenüber Platz. Timmy atmete ein paarmal tief ein, dann wurden seine Atemzüge flacher und länger. Fast sofort fiel er in Trance, und der gespannte Ausdruck seines Gesichtes verschwand. Eine Minute verging und noch eine; dann verkrampfte sich sein Körper wie in einem epileptischen Anfall. Er hatte Kontakt mit einer anderen Lebensform. Timmy öffnete die Lippen und machte ein wortloses Geräusch. Rasch streckte sich Carey neben ihm aus und nahm seine geballte Hand. Aber bevor er
projizieren und Timmy folgen konnte, entspannte sich Timmy. Sein Gesicht wurde wieder normal, und er sagte mit belegter Stimme: »Nein ... bleib draußen, Carey ... keine Gefahr.« Langsam ließ Carey nach, hielt aber Timmys Hand fest. Doreen, die ihnen gespannt zusah, merkte, daß Timmy die Lippen spitzte und leise weitersprach: »Ich ... habe sie gefunden ... mitten unter ihnen ... alt ... alt ...« Seine Stimme versagte. Eine Weile war alles still, dann fand Timmy das Gleichgewicht zwischen Projektion und Kommunikation und sprach flüssiger: »Der Breschwar lebt ... hat Bewußtsein ... ist intelligent! Aber so langsam ... wie ein unterirdischer Fluß ... gewaltig ... auf der Suche ... die Gamla im Tal ... jetzt haben sie Nahrung gefunden ... die Nahrung der Erkenntnis ... Salz ... weiße Kristalle ...« Seine Stimme verebbte. Die Hand, die Carey hielt, ballte und lokkerte sich, dann schlug Timmy die Augen auf. Der Kontakt hatte weniger als fünf Minuten gedauert, aber Timmy war erschöpft. Langsam richtete er sich auf, und Carey stützte ihn. Der junge Gammler atmete tief und erholte sich, bis er aufstehen und schwankend weitergehen konnte. »Gehen wir zurück«, sagte er gedämpft. Doreen trat an Timmys Seite und wollte ihm helfen, aber er dankte lächelnd. Als sie den Acker erreichten, hatte er sich wieder in der Gewalt. Carey
und Doreen verzichteten darauf, ihn auszufragen, bis sie an Harpers Tisch saßen, eine Tasse heißen Kaffees vor sich. Timmy schwieg nachdenklich. Sam und Cassie Harper warteten gespannt. Schließlich richtete Timmy sich auf und hob den Blick. »Die Breschwar leben«, sagte er lakonisch. »Früher gab es in diesem Tal ein seltenes Salz, das den Bäumen half, intelligent zu werden. Obwohl alle Breschwar im Lauf der Zeit intelligent werden, brauchen sie dazu dieses spezielle Salz. Seit Hunderten von Jahren blieben die Breschwar in ihrer geistigen Entwicklung gehemmt, denn ihre Vorfahren haben die letzten Salzspuren verbraucht. Als dann ihr Bauern herkamt und im Tal neue Pflanzen anbautet, war das Salz plötzlich wieder da.« Carey bewunderte Sam Harper, der die Tatsache, daß es auf seinem Land intelligente Bäume gab, mit einem kurzen Zwinkern akzeptierte. »Die Gamla kennen die Bäume seit unzähligen Generationen. Sie pflegen die Breschwar und betrachten es als heilige Pflicht, das Leben der einzigen intelligenten Pflanzenart zu bewahren. Als Gegenleistung lehrten die Bäume sie, wie man Pflanzen züchtet. Deshalb erzielen sie so gute Ernten. Die Entwicklung stagnierte jedoch, bis ihr Bauern kamt. Das Salz, das ihr in die Erde tut, macht es den Breschwar möglich, ihre geistigen Kräfte zu entwickeln. Sie brauchen das
Salz, sonst wird ihr Bewußtsein schwinden. Sie wollen die jungen Pflanzen nicht schädigen. Wenn die Breschwar das Salz absorbieren, gehen eure Pflanzen ein. Das ist in etwa alles.« »Und was ist das für ein Salz?« fragte Carey. »Das weiß ich nicht. Sie haben dafür keinen Namen. Wir wissen nur, daß es auf Asylia selten vorkommt. Entweder habt ihr es von der Erde mitgebracht, oder eure Pflanzen erzeugen es beim Wachstum.« »Der Dünger!« Sam Harper sprang auf. »Das ZK hat mir vier Tonnen Superphosphat gegeben, und im Handbuch steht, daß ich vor der Aussaat damit düngen soll. Das Salz muß im Dünger sein!« »Aber Kali kann es nicht sein«, sagte Carey verwirrt. »Das kommt hier so häufig vor, daß wir daraus unsere Düngemittel selbst herstellen.« »Aber wir kennen die Bestandteile des Kunstdüngers nicht, Carey«, warf Doreen ein. »Vielleicht mischen sie auf der Erde etwas hinein, das es hier nicht gibt.« »Na, das läßt sich ja schnell ermitteln«, erwiderte Carey. »Ich fahre mit dem Flitzer in die Stadt und frage in der Fabrik. Wer will mitkommen?« Bevor jemand antworten konnte, hämmerte eine Faust gegen die Tür, und Willy Müller trat unaufgefordert ein. Sein Gesicht war so rot wie sein Haar.
»Kronstadt!« keuchte er. »Er hat die Kettensäge auf den Traktor montiert und fährt zu den Bäumen auf seinem Land! Ich wollte ihn aufhalten, aber er hat gar nicht zugehört. Und dann habe ich gesehen, wie vier Gammler das Tal herunterliefen. Das gibt Ärger!« »Dieser Dummkopf!« Carey war wütend. Die Lösung war so nahe, und Kronstadt machte in letzer Minute alles kaputt. »Ich vertrete das ZK. Wenn nötig, werde ich ihn mit Gewalt daran hindern!« »Aber was ist mit der Analyse?« fragte Doreen. Sofort fügte sie hinzu: »Ich fahre.« Doreen studierte Chemie und würde das Salz bestimmt genauso schnell wie Carey analysieren können. Aber sie war noch nie mit einem Flitzer geflogen. »Jemand wird dich fliegen müssen«, sagte Carey. Auf Timmy konnte er nicht verzichten, wenn er die Gammler beschwichtigen wollte, und Willy Müller war ein unbekannter Faktor; Cassie durfte natürlich nicht. »Ich bringe sie hin«, meldete Harper sich. »Ich werde schon mit dem Flitzer klarkommen.« Carey zögerte, vertraute Harper jedoch und nickte. »Gut. Gehen wir.« Carey und Timmy kletterten auf Harpers Traktor und folgten Müller in halsbrecherischem Tempo durch das rauhe Gelände. Der kleine rothaarige
Mann fuhr etwa einen halben Kilometer weit den Flußlauf an Harpers Äckern entlang, dann lenkte er in den Wald. Als sie in die grünen Schatten fuhren, hörten sie das schrille Kreischen der Motorsäge. Willy Müller fuhr wie ein Verrückter und lenkte das ungeschlachte Fahrzeug geschickt zwischen den Bäumen hindurch. Dann hatten sie die Stätte der Zerstörung erreicht: Ein großer alter Breschwar hatte sein Ende gefunden. Kronstadt beendete gerade den zweiten Schnitt, als sie ankamen. Die buschige Krone neigte sich zur Seite. Krachend fiel der Baum um. Der Boden zitterte. Aus dem zackigen Stubben und dem Stamm quoll dünner gelbgrüner Saft. »Es stirbt ... der Todeskampf ...«, flüsterte eine Stimme, und Carey drehte sich rechtzeitig um, bevor Timmy ohnmächtig zusammenbrach. Das Gesicht des jungen Gammlers war eine traurige Maske. Er hatte Tränen in den Augen. »Die Breschwar weinen ... die Gamla haben es gehört ... sie kommen ... sie sind hier ...« Timmy schwieg und unterbrach den Kontakt mit dem sterbenden Baum. Sekunden später tauchten vier stumme Gestalten aus dem Wald auf und sahen die Erdenmenschen anklagend an. Der schwarzhaarige Brixta leitete die Gruppe. Kronstadt kletterte vom Traktor und ging wütend auf sie zu. Hinter ihm lief noch immer die Kettensäge, die er vergessen hatte abzustellen.
Brixtas Gesicht war kalt und beherrscht. Er blieb vor Carey stehen und zeigte auf den gefällten Baum und auf Kronstadt. »Ein Leben ist genommen und Strafe wird gegeben«, sagte er auf Gamla. Bevor Carey etwas erwidern konnte, machte Brixta eine Geste, und Kronstadt blieb wie angewurzelt stehen. Die Gammler hatten die Augen geschlossen. Kronstadts Gesicht verzerrte sich. Ein geistiger Kampf entbrannte. Kronstadt stöhnte und schrie schluchzend auf. Wie eine Marionette taumelte er auf die kreischende Säge zu. Carey zögerte. Wertvolle Zeit verstrich. Er könnte die Lenker mit physischer Gewalt stoppen. Aber wenn er das täte, würden ihm die Gammler das nicht so leicht vergessen. Er durfte sie aber auch nicht Kronstadt töten lassen; nicht, weil er ein Kolonist war, sondern weil die Kräfte der Lenker zu gut bekannt waren. Sie würden sich verantworten müssen und damit das heikle Verhältnis zwischen Gammlern und Kolonisten belasten. Nach irdischem Recht hatte Kronstadt sich korrekt verhalten. »Halt! Statt eines Lebens will ich euch viele geben!« rief Carey und hob befehlend die Hand. »Ich kann die Breschwar retten!« Kronstadt machte zwei weitere stolpernde Schritte und kam der rotierenden Schneidkette immer näher.
Plötzlich blieb er stehen. Er schwankte hin und her, dann fiel er schluchzend zusammen. Mit leichtem Vorwurf sah der Kanzler Carey an. Der junge Mann senkte beschämt den Kopf. Einen Augenblick lang hatte er vergessen, daß er mit Gammlern zu tun hatte, und unbewußt von ihnen die gleichen Haß- und Rachegefühle erwartete wie von seinesgleichen. Das Leben war den Gammlern heilig, und niemals nahmen sie es ohne Grund. Sie wollten Kronstadt nicht töten, sondern ihm nur einen Denkzettel verpassen. Und nach dem hysterischen Weinkrampf zu urteilen, war ihnen das gelungen. Zwei Stunden später landete Harper den Flitzer in der Nähe des heiligen Hains. Kronstadt hatte sich beruhigt und war gegangen. Der Breschwar blutete nicht mehr und verdorrte zusehends; Kreislauf und Metabolismus liefen deutlich schneller ab als bei normalen Bäumen. Doreen trug eine große Papiertüte, die sie glücklich lächelnd Carey in die Hand drückte. Er machte sie auf. Sie war mit einer weißen, körnigen Substanz gefüllt, die feinem Salz ähnelte. »Hoffentlich ist es das Richtige«, seufzte Carey inbrünstig, als er sie zu einem Breschwar führte und mit Harpers Schaufel zu graben begann. Bald stieß er auf eine zarte Wurzel, die auf die Erdnußfelder wies.
Er streute eine Prise Salz darauf und schaufelte das Loch wieder zu. »Timmy, nimm Kontakt mit ihm auf und horche mal, ob wir richtig geraten haben«, schlug er vor. »Aber es dauert Stunden ...«, protestierte Doreen, bis ihr einfiel, daß dies zwar für normale Pflanzen, aber nicht für den Breschwar galt. Sie fragte sich, worin sich Breschwar von anderen Pflanzen unterschieden. Sie würde gern den gefällten Baum untersuchen, wenn die Gammler es ihr gestatteten. Timmy legte sich hin und schloß die Augen. Diesmal erreichte er den Kontakt schneller. Einen Augenblick lang blieb Timmy ruhig liegen, dann stand er auf. »Das ist das Salz, Carey.« »Doreen, was ist es? Wie hast du es gefunden?« Doreen lächelte zufrieden. »Das war nicht schwierig. Sam hatte uns ja schon einen Hinweis gegeben. Du weißt, wir fördern Kalziumfluorphosphat und behandeln es mit Schwefelsäure, um es in Kalziummonophosphat und Kalziumphosphat zu spalten. Der Flußsand liefert bessere Ernten, wenn wir ihn vor der Aussaat mit Superphosphat düngen; deshalb steht diese Empfehlung im Handbuch. In der Fabrik stellten wir fest, daß Asylias Boden arm an Bor ist. Die Pflanzen hier haben sich daran gewöhnt. Aber irdische Nutzpflanzen brauchen es, damit sie gedeihen und gute Saaten bringen. Also geben wir dem Dün-
ger Borax bei und die Schwefelsäure verwandelt es in Borsäure. Das weiße Pulver ist weiter nichts als gewöhnliches Borax. Der Transmitter schafft es tonnenweise von der Erde heran.« Sie hatten Englisch gesprochen und Carey übersetzte. Die Gammler lachten glücklich. Der Kanzler hatte Tränen in den Augen. »Das ist gut. Sehr gut. Wenn ihr es uns gebt, werden wir die Breschwar nähren können.« Carey übersetzte seine Worte für die Harpers. Sam nickte. Carey wendete sich wieder an den Alten. »Wir geben euch das Salz, das wir Borax nennen. Wir haben jetzt nur diese kleine Menge, aber ihr sollt alles bekommen, was die Bäume brauchen. Jetzt und in Zukunft. Aber die Breschwar müssen ihre Wurzeln aus den Feldern zurückziehen. Ich habe noch eine Bitte. Der Bauer, der den Breschwar tötete, darf nicht weiter bestraft werden.« Der Alte schloß kurz die Augen. Dann sagte er: »Wenn die Breschwar das Salz bekommen, brauchen sie die kleinen Pflanzen nicht mehr zu berauben. Der Bauer ist genug bestraft. Es sei, wie Sie sagten.« »Dann ist es gut. Ich werde den Rat der Pelzlosen bitten, das Land, auf dem die Breschwar stehen, an die Gammler zurückzugeben, damit sie die Aufgabe fortsetzen, die sie durch Generationen getragen haben.«
»So soll es sein. Wir wollen beweisen, daß unsere Herzen ohne Falsch sind und werden den Fremden im Tal zeigen, wie man Pflanzen züchtet.« Der Alte lächelte leicht. »Sie müssen noch viel lernen.« Lange und ernst sah er Sam Harper an, streckte die abgearbeitete Hand aus und berührte Sams Schulter. Dann drehte er sich um und humpelte davon. »Damit ist eine weitere Gefahrenquelle versiegt«, sagte Carey erleichtert, als er den Flitzer vom Boden abhob. »Stell dir mal vor, was deine Freunde über Ackerbau lernen werden!« sagte Timmy lachend. »Und was ich alles gelernt habe!« strahlte Doreen. »Wenn ich nur daran denke, daß ich bald mit einem Baum sprechen kann! Ich kann es kaum glauben!« »Seit neunzehn Jahren leben wir auf diesem Planeten und haben gerade eben die Oberfläche seiner Kultur berührt«, sagte Carey ernst. »Vielleicht entdecken wir morgen etwas, das die Bäume in den Schatten stellt.« »Ja, ich warte schon ungeduldig darauf«, antwortete Doreen. Sie streckte die Hand aus und legte sie in Timmys. Sie lächelten sich an, als warteten sie auf Wunder, von denen Carey nichts wissen würde.
5 Micka spürte die starke tröstende Hand ihrer Mutter auf der Schulter, die sie sanft vorwärtsdrängte, spürte die beruhigende Gegenwart ihres großen Neffen neben sich. Aber sie zögerte trotzdem. Sie hatte die seltsamen Höhlen, die die nacktgesichtigen Erdenleute in großer Zahl bauten, nicht oft betreten, und sie fürchtete sich. Ihr zartes Gesicht, das von feinem braunen Haar verborgen war, spiegelte deutlich ihre Angst wider. Plötzlich drehte sich das kleine Mädchen um und sah zu ihrer Mutter auf. »Ich will nicht in die fremde Schule gehen!« Tharie kniete sich nieder, öffnete den Umhang und drückte ihre Tochter an sich. »Du mußt, Kleines. Timmy und dein Onkel, der Kanzler, verlassen sich auf dich und die anderen Kinder.« Micka schwankte zwischen Pflicht und Angst und begann zu weinen. Zärtlich streichelte Tharie Mickas Schulter. Timmy beugte sich tröstend nieder. Als Tharie merkte, daß sie Micka nicht beruhigen konnte, schloß sie die Augen und projizierte WÄRME TROST FRIEDEN SPIEL GLÜCK LIEBE, bis die warmen Gefühle Mickas Angst zudeckten. Der starke Kern ihrer Mutter war da, unerschütterlich wie die Welt unter
ihren kleinen Füßen. Die Tränen versiegten, und Micka genoß das goldene Glühen, bis Tharie den dunklen Kopf hob und aufstand. »Ich bin immer da. Du mußt nur laut genug rufen, und ich höre dich.« Timmys Lächeln machte Micka Mut. Das kleine Mädchen nickte und ging auf die Schule zu. Im Haus warteten die häßlichen Kinder der Pelzlosen, und sie würde ihre Abneigung spüren, ihre neugierigen, bohrenden Gedanken. Aber Mutter war da und nur einen Gedanken weit entfernt; sie würde es schaffen. Ein siebenjähriger Junge tauchte auf, lief an ihnen vorbei, blieb ebenso plötzlich stehen und ließ sie vorbei. Dann rannte er wieder los und erreichte die Schulpforte vor ihnen. Die drei Gammler waren unter den ersten, aber die beiden Lehrerinnen waren bereits da. Die Jüngere, Marge Anders, eine große gesetzte Blondine, war vor zwanzig Jahren als Kind nach Asylia gekommen und hatte, als die Beziehungen zwischen Kolonisten und Gammlern noch herzlich gewesen waren, häufig mit Gammlerkindern gespielt. Die andere Lehrerin war Miss Kaymar, eine stille farblose Frau, die verzweifelt nach einem Mann suchte, bevor sie alt und reizlos wurde. Lächelnd trat Marge heran, um Micka, Tharie und Timmy zu begrüßen. Bevor sie etwas sagen konnte,
wurde die Tür aufgerissen und ein Bauer stampfte ins Klassenzimmer, seinen krausköpfigen Sohn an der Hand. Er sprach laut und zornig und gab sich keine Mühe, die Stimme zu senken. »Ich habe gehört, daß dies Jahr die Gammler ihre nackte Brut auf unsere Schule schicken wollen. Das dulde ich nicht. Ich bin mit meinem Sohn gekommen, weil ich mich selbst davon überzeugen will. Ich stelle fest, daß es stimmt. Entweder verschwindet das Balg, oder ich nehme meinen Sohn wieder mit.« Timmy verstand genügend Englisch; er drehte sich um und starrte dem feisten Mann ins Gesicht. Er richtete sich auf und ging auf den Bauern zu. Marge trat dazwischen. »Mr. Isakson, Sie wissen doch, daß Kinder bis zum achtzehnten Lebensjahr die Schule besuchen müssen. Und Sie wissen auch, daß das ZK letzten Winter einen Beschluß gefaßt hat, daß Gammlerkinder unsere Schulen besuchen dürfen. Außer Micka werden drei andere Gammlerkinder die erste Klasse besuchen. Und ich fürchte, dagegen können Sie nichts tun. Seien Sie vernünftig und lassen Sie Jay auf die Schule.« »Und wenn nicht?« brüllte Isakson. Marge wurde blaß vor Wut. Sie kreuzte die Arme über der fülligen Brust, holte tief Luft und sagte: »Dann muß ich der Provinzverwaltung Mitteilung
machen. Und die sagt dem Sicherheitsbüro Bescheid, das mit Ihnen sprechen wird. Wenn Sie Jay dann immer noch nicht zur Schule schicken, werden Sie angeklagt und eingesperrt.« »Dann komme ich also vors Schwurgericht, wie? Und wer werden wohl die Geschworenen sein? Meine Nachbarn und Freunde, nicht wahr: Glauben Sie etwa, daß sie mich bestrafen oder zur Zwangsarbeit verurteilen, wenn sie wie ich denken? Nein, Fräulein Klugscheißer, ich mache mir keine Sorgen. Das sollten Sie tun.« Er stieß den Kopf vor, bis ihre Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt waren. »Ich werde noch heute beantragen, daß man Sie feuert. Solche Lehrer wie Sie brauchen wir hier nicht – Erziehung oder nicht!« Isakson drehte sich um und stampfte hinaus, Jay im Schlepptau. In der Tür drehte der Junge sich um und schnitt eine Grimasse. Marge starrte wütend und hilflos hinter ihnen her. Isakson machte keine leeren Drohungen. Es konnte leicht geschehen, daß er genügend Unterschriften für die Petition bekam, so wie die Dinge heute in Asylianum standen. Zwar hing sie nicht sehr an ihrem Beruf, aber sie war die einzige Lehrerin, die auf der Erde das neue Unterrichtssystem studiert hatte. Und wenn die Bauern sie rauswarfen, war das Integrations-Experiment zum Scheitern verurteilt, und sie
würden nie die wahren geistigen Fähigkeiten der Gammler kennenlernen. »Was ist Isakson denn über die Leber gelaufen?« fragte eine fröhliche Stimme. Carey Sheldons breite Schultern füllten die Tür. Micka erkannte ihren großen Freund und lief ihm mit einem Freudenschrei in die Arme. Carey nahm sie hoch und ging auf die verstörte Gruppe zu. »Schätze, ich kenne die Antwort schon«, fuhr Carey lächelnd fort. »Der alte Knabe hat nicht damit gerechnet, daß Micka hier ist.« »Das ist die Untertreibung des Jahres«, sagte Marge bitter. Sie war drei Jahre älter als Carey, aber sie hatten sich bereits vor Marges Studienreise kennengelernt. »Nun, wir wußten ja, daß ein paar Hitzköpfe gegen den Gemeinschaftsunterricht sind. Aber wir haben damit gerechnet, daß die vernünftigeren Bauern uns verstehen«, erinnerte sich Carey laut. »Das wäre auch besser so«, entgegnete Marge knapp. Sie sah ihn mit schmalen Augen an. »Stimmt es, daß du vergangenen Winter an der Lenkerfreisprechung teilgenommen hast?« »Stimmt. Ich bin zwar kein Meister, aber lenken kann ich.« »Dann versuche mal dein Glück, die wütenden Bürger auf den richtigen Weg zu bringen«, sagte Marge verschmitzt lächelnd.
Micka langweilte das Gespräch. Sie ging auf die Reihe kleiner Stühle zu, vor denen je ein 3-D-Schirm stand und setzte sich. Zu Hause gab es keine Stühle, aber sie hatte gesehen, wie die Kolonisten sie benutzen. Miss Kaymar erschien mit Bleistift und Block und fragte sie nach dem Namen. Langsam füllte sich das große Klassenzimmer, das fünfzig Schülern Platz bot. Einige Kinder starrten Micka neugierig an, andere sahen über sie hinweg. Sie blieb ruhig sitzen, bis drei erwachsene Gammler mit ihren Kindern die Klasse betraten. Sie winkte dem einen Jungen, der sich neben sie setzte. Marge ließ die Kinder miteinander sprechen, bis sie sicher war, daß keine Nachzügler mehr kamen. Dann klopfte sie auf das Katheder. Zufrieden stellte sie fest, daß nur fünf Plätze leer geblieben waren; Isakson fand also doch nicht die Unterstützung, mit der er gerechnet hatte. Als der Lärm verstummt war, nahm sie die Liste von Miss Kaymar und setzte rasch ein paar Kinder um. Danach fanden sich die vier Gammlerkinder auf allen Seiten von Kolonistenkindern umgeben. Marge ließ die Kinder sich selbst vorstellen, weil die Bauernhöfe weit verstreut lagen und nur wenige Kinder sich kannten. Micka kannte nur die anderen kleinen Gammler.
Die Schule war für Kinder bis zum zwölften Lebensjahr, die in drei Klassen unterrichtet wurden. Nur die erste Klasse hatte zwei Lehrer, denn wenn die Kinder sich erst das autogene Gedächtnis angeeignet hatten, genügte für den Rest der Schulzeit eine lenkende Hand – und das war es, worin man sie in den ersten beiden Schuljahren unterrichtete. Miss Kaymar verteilte die Lehrbogen, Marge schob das passende Dia in den Projektor, und die erste Sunde begann. Carey, Timmy und die anderen Großen gingen langsam hinaus. Es schien, als ob Asylias erste integrierte Schule einen guten Start hatte. Brian Jacobs marschierte auf dem steinigen Boden seiner Höhle hin und her und sang den Felsen ein Protestlied vor. Der mächtige Baß dröhnte in der Höhle, als zöge ein Gewitter über den Bergen auf. Die Töne stiegen hinauf und drangen durch die tiefe Schlucht des Berges, den die Leute Kahlkopf nannten. Auf dem Felsboden prasselte ein kleines Feuer, und der Rauch stieg als dünne sich ausdehnende Wolke nach oben, so daß man sie erst sah, wenn man dicht vor der Felsspalte stand. Der einzige Zugang zur Höhle war ein langer Tunnel, den Jacobs mit einem runden Stein von etwa eineinhalb Meter Durchmesser verschlossen hatte. Seit sechzehn Jahren lebte er
schon hier, und niemals war er angegriffen worden. Trotzdem machte er sich die Mühe, den schweren Stein vor den Tunnel zu wälzen. Jacobs war einsneunzig groß und wog etwa einhundertzwanzig Kilo. Er paßte nicht in eine Welt, deren Durchschnittsgröße bei einsfünfundsechzig lag, aber er hatte sich nicht freiwillig als Kolonist gemeldet. Als er dann seine Gestellung erhielt, kurz nach seinem zweiten Kuraufenthalt im Rehab-Zentrum, wußte er, was er schon immer geahnt hatte: Nur die Außenseiter, die Unzufriedenen, erhielten den Gestellungsbefehl. Er war unter der zweiten Gruppe Kolonisten, die nach Asylia kam. Damals war er noch nicht so stark gewesen, aber er war schon ausgewachsen. Keine der kleinen Frauen aus dem Raumschiff hatte ihn haben wollen, und so war er einer der wenigen Junggesellen, die es auf Asylia gab. Es dauerte nicht lange, und er steckte wieder bis zum Hals in Schwierigkeiten. Doch diesmal konnte er weglaufen – Platz dazu gab es hier. Die Leute hatten zwei halbherzige Versuche unternommen, ihn zu fangen. Aber die Suche in den Bergen war beschwerlich, und sie ließen ihn in Ruhe. Sie nannten ihn Rübezahl und drohten kleinen Kindern mit seinem Namen. Seine Strafe war längst verjährt, aber er blieb freiwillig in der Einöde. Zum erstenmal in seinem Leben fühlte er sich frei – befreit
von den Menschenmassen, die ihn bedrückt und erstickt hatten. So wollte er nicht wieder leben. Es war Zeit zu gehen. Er hörte auf zu singen und lauschte auf das verhallende Echo. Mit einer einzigen Bewegung rollte er den Stein beiseite. Er drehte sich noch einmal um. Die Höhle war sauber – wie immer. Das Bett, das aus Sachen bestand, die er den Kolonisten von der Wäscheleine gestohlen hatte, war gemacht. Getrocknete Früchte und Beeren hingen an langen Schnüren von der Decke. Seit mehr als zwanzig Jahren hatte er kein Fleisch gegessen, und er vermißte es nicht. Die Tiere des Waldes kannten ihn und fürchteten sich nicht. Das Feuer hatte Nahrung für wenigstens zwölf Stunden und trocknes Holz gab es überall. Er rollte den Felsen zurück und ging gebückt durch den Tunnel, der an der steilen Flanke des Kahlkopfs ins Freie führte. Rasch kletterte er den kahlen Abhang hinunter, und als er den Wald erreicht hatte, fiel er in einen leichtfüßigen Dauerlauf, den er steigerte, als das Gelände ebener wurde. Er war stolz auf seine Kraft. Er konnte den ganzen Tag lang laufen, wenn es nötig war. Drei Stunde später hockte er in einem Busch am Rande der Straße zwischen dem Dorf der Gammler und Asylianum. Wieder spürte er die Menschenmassen in der Stadt und auf den Höfen. Das Gefühl
war schwach, weil es aus weiter Ferne kam, aber trotzdem wirklich und echt. Sogar in seiner Höhle konnte er sie spüren, wenn er sich konzentrierte. Aber das tat er nicht oft. Als kleiner Junge hatte er zum erstenmal gespürt, daß er anders war. Und je älter er wurde, desto stärker fühlte er sich abgesondert, desto stärker nahm er die Menschen um sich wahr. In der Pubertät hatte sich sein Wahrnehmungstalent so geschärft, daß es ihn schmerzte und er die ersten asozialen Handlungen beging, die schließlich zu dem Leben in freiwillig gewählter Isolation führten. Er wollte den Sicherheitsbeamten erklären, daß ihn der Zwang zur Gewalt wie eine Explosion erschütterte. Aber es war sinnlos. Der Mann, den er angegriffen hatte, war ein Freier seiner geschiedenen Mutter gewesen, die ihn während Jacobs Aufenthalt im RehabZentrum geheiratet hatte, und der personifizierte Durchschnittsmann. Als er sich einmal über Jacobs Größe lustig machte, war Brians Frustration in einem Akt der Gewalt aufgebrochen. Also steckte man ihn zwei Jahre lang in eine psychiatrische Klinik, aber nach seiner Entlassung litt er noch immer unter Eindrücken und Gefühlen, die er niemandem erklären konnte. Die Psychiater glaubten ihm nicht, daß er Eindrükke von den Gefühlen der Menschen empfangen und stets sagen konnte, was sie wirklich von ihm hielten.
Sie wollten ihn entmündigen. Doch in einer Gesellschaft, die selbst nicht ganz normal war, unterschied er sich kaum von der Norm. Nach seiner zweiten Kur hatte er versucht, das Beste aus seiner Gabe zu machen, aber gerade, als er anfing, Fortschritte zu machen, erhielt er die Gestellung und kam nach Asylia. Hier fühlte er sich nicht so beengt. Mag sein, daß er sich gefangen hätte, aber er konnte die Angewohnheit, auf alles mit Gewalt zu reagieren, nicht abstreifen und brauchte sie als Ventil. Kinderstimmen näherten sich, so, wie ein leichter Schauer auf das Laub des Waldes rieselt. Er wurde aus seinen Erinnerungen gerissen. Er duckte sich, spannte die Muskeln und erweiterte das Guckloch mit dem Finger. Zwei kleine Mädchen in Wirtlcapes kamen auf sein Versteck zu und unterhielten sich aufgeregt über die Erlebnisse ihres ersten Schultages. Jacobs beobachtete die beiden Kinder mit wachsender Erregung. Er kam gut mit Kindern aus. Sie waren unverdorben und ohne Falsch. Ihre Gegenwart konnte er viel leichter ertragen als die der Erwachsenen. Oft hatte er mit ihnen gespielt, als er noch ein Mitglied der Gesellschaft war. Dann erregte selbst dies den Argwohn der Großen. Nie würde er einem Kind ein Leid antun, und er war zu vorsichtig, um ihren Eltern zu erklären, daß er die Gedanken der Kinder zum Teil lesen konnte.
Während der sechzehn Jahre seines Eremitenlebens war Jacobs oft und eng mit den Gammlern in Kontakt gekommen. Bald erkannte und respektierte er ihre geistigen Kräfte, von denen man so wenig wußte. Er hatte geistige Projektionen miterlebt, halb verstanden und sogar selbst versucht. Doch in mehr Jahren, als er sich zu erinnern wagte, hatte er nur wenige Fortschritte gemacht. Es ging langsam, zu langsam, und er wußte, daß er alt und grau sein würde, bis er die Meisterschaft der Gammler erreicht hätte – es sei denn, jemand würde ihm dabei helfen. Insgeheim hatte er die Gammler besucht und drei verschiedene Gemeinden um Anleitung gebeten. Sie lehnten seine Bitte traurig lächelnd ab und sagten, daß es für ihn keine Hoffnung gäbe. Sie glaubten ihm nicht, als er erklärte, daß er allein schon Fortschritte gemacht hatte. Und deshalb hockte er hier im Gebüsch und konnte nicht mehr zurück. Micka und Hasel sprachen über ihre Erlebnisse und teilten sie, wie es die Art der Gammler war, miteinander, obwohl sie fast das Gleiche erlebt hatten. Sie waren sich einig, daß die Schule der Pelzlosen nicht mit der ihrigen zu vergleichen war, an der sie täglich teilnahmen: Sie war viel interessanter, wenn auch ziemlich fremdartig. »In Carey Sheldons Haus gibt es auch so einen Kasten wie auf unserer Schulbank«, vertraute Micka
Hasel an. »Er heißt 3-D, und auf seinem Gesicht tanzen Leute und tun die komischen Dinge, die die Pelzlosen tun. Aber es hat nicht so viel Spaß gemacht wie die Geschichten unserer Lehrer, weil man nur sehen und hören konnte.« »Was? Keine Empfindungen?« fragte Hasel leicht enttäuscht. »Wie kann man Spaß an einer Geschichte haben, die man nur hört und nicht teilt?« Micka wollte antworten. Im Gebüsch raschelte es, als wolle ein großes Tier sie angreifen. Die Mädchen sahen sich nach einem Versteck um, aber es gab keins. Micka konnte einmal kurz und tonlos schreien, dann war Jacobs über ihnen und packte ihre langen Haare. Er starrte sie wortlos an, dann ließ er Hasel los. Sie wich zurück und sah mit aufgerissenen Augen in sein gerötetes Gesicht, bis sie Mut fand, sich umzudrehen und davonzulaufen. Sie floh nach Hause, lief zu ihrem Vater. Der würde schon mit Rübezahl fertig werden. Jacobs nahm das widerstandslose Mädchen auf die Schulter und ging hinter Hasel her. Als er an die Weggabelung kam, ging er nach Osten in die Berge. Er erhöhte das Tempo, als er die Biegung hinter sich hatte und lief leichtfüßig durch den Wald. Das Gewicht des kleinen Körpers spürte er kaum. Wenn der Mond aufging würde er die Höhle über der Baumgrenze erreicht haben.
6 Nijub hatte eine Versammlung einberufen. Außer den Gammlern waren drei Pelzlose anwesend. Carey und Doreen Sheldon, sowie Sam Harper, der zusammen mit Brixta gekommen war. Timmy hatte darauf bestanden, daß der große Erdenmensch dabei war, obwohl Nijub ihn nicht kannte. Die Mitglieder des Rates saßen auf Wirtlmatten in dem weiträumigen Waquilhaus, das Versammlungen diente. Nijub eröffnete die Sitzung und hieß die Besucher auf Englisch willkommen. Dann stand Timmy auf. »Vater, Brixta aus dem Süßwassertal bringt gute Nachricht. Seine Gemeinde hat die heiligen Breschwar mit dem Pulver genährt, das die Erdenmenschen Borax nennen. Er will darüber berichten.« Der junge Gammler setzte sich, und Brixta nahm seinen Platz ein. Er war ein starker Mann, auf der Höhe seines Lebens. Obwohl er nach irdischer Zeitrechnung hundert Jahre alt war, zeigte sein dichter schwarzer Pelz keine graue Strähne; er sah fast wie ein Bär aus. Wie alle Gammler hatte er eine natürliche Begabung für fremde Sprachen, und nach ein paar Monaten Nachbarschaft mit Sam Harper und den anderen Siedlern konnte er sich gut verständigen. Er sah sich mit scharfen Augen um, bevor er sprach.
»Im vergangenen Sommer sind die Breschwar gediehen wie nie zuvor. Es scheint, als wären sie wieder jung geworden. Selbst die alten Bäume, deren Gedanken bereits so undeutlich waren, daß wir sie zur Pflanzenwelt zählten, haben neue Kräfte gewonnen. In einem Jahr sind die Schößlinge gewachsen, wie sonst in zehn. Das Band unserer Freundschaft mit ihnen ist stärker geworden, und endlich ernten wir die Früchte vieler Jahre Arbeit und Mühe. Die Breschwar sprechen jetzt häufiger mit uns und lassen uns umfassender an ihren Erfahrungen teilhaben. Unsere Nutzpflanzen gedeihen, unsere Scheuern sind gefüllt, und all dies schafften wir in kurzer Zeit mit wenig Mühe. Wir haben Sam Harper unser Wissen und das, was wir Neues lernten, mitgeteilt. Er hat seine Felder gut bestellt, und aus der ganzen Gegend kommen Leute, die seinen Mais und seine Erdnüsse bewundern. Die beiden anderen Farmer ließen wir ohne Beratung, wie unser kluger Freund Carey es wollte. Der Nutzen unserer Beratung wird augenscheinlicher, weil diese zwei Höfe sich negativ von Harpers Land unterscheiden. Die Erdenmenschen wollen sehen und begreifen. Sie haben sich umgesehen und wissen Bescheid.« Er setzte sich und neigte den schwarzen Kopf. Langsam stand Carey auf. »Es beschämt mich, daß ich meine junge Stimme in der Gegenwart der Älte-
ren erheben darf«, sagte er die förmliche Floskel junger Lenker auf, die Timmy vergessen hatte. Die Mitglieder des Rates nickten beifällig und Carey fuhr fort: »Jeder von uns weiß, daß die Zahl der Erdenmenschen auf Asylia mit jedem Tag wächst. Die Raumschiffe landen häufiger und bringen mehr Kolonisten mit. Und doch ist deren Zahl nur ein Regentropfen im Sturm, eine Schneeflocke in einer Lawine, wenn wir sie mit den Massen vergleichen, die kommen werden, wenn unsere Forscher ein großes Problem gelöst haben. Und dieses Problem, an dem wir seit Jahren arbeiten, heißt: Wie können wir lebende Wesen durch das TransmitterKontinuum schicken, ohne sie zu töten. In Erwartung dieses Tages bereiten wir alles vor. Auch jene, die nach uns kommen, werden dieses Ziel verfolgen. Wir müssen die Kolonisten ernähren, die kommen. Müssen ihnen Unterkunft, Kleidung, Schulen, ihren Händen Arbeit geben. Immer noch ist die Erde voller Menschen. Ihre Zahl ist so groß, daß keiner von euch sie begreifen kann. Die Erde ist zu klein und hat nicht genügend guten Boden, um Nahrungsmittel hervorzubringen. Das ist der Grund, warum wir hier auf Asylia und auf vielen anderen Planeten Nahrungsmittel erzeugen und sie zur Erde schicken. Die Erfahrungen, die Brixta Sam Harper mitteilt, helfen unseren Bauern, die Erträge zu steigern. Als Gegenleistung erhält Brixta Borax von uns, was er und seine Gemeinde für die
Breschwar brauchen. Bis jetzt haben alle von diesem Informationsaustausch profitiert.« Carey setzte sich, und Harper war an der Reihe. »Ich habe viel von Brixta und seinem Volk gelernt«, sagte er bedächtig. Seine tiefe Stimme füllte den Raum. »Vieles von dem, was ich lernte, gilt nur auf Asylia. Aber manches kann auch auf der Erde und auf den Nachbarplaneten angewendet werden. Ich will darüber zwei 3-D-Filme drehen. Einen, der für Asylia, einen zweiten, der für andere Planeten Gültigkeit hat. Was uns die Gammler und die Breschwar lehrten, soll allen Menschen zum Nutzen sein.« Zustimmend nickte Carey. Die Methoden, die Sam lernte und zusammentrug, würden der Landwirtschaft neue Impulse geben. Sein Hof war das beste Beispiel für den Erfolg der neuen Agrikultur, die eine kluge Mischung aus Gammler- und Breschwarwissen und irdischem Ackerbau war. Plötzlich wurde die Sitzung gestört. Der Vorhang aus Wirtlblättern wurde beiseitegerissen und Tharie trat ein. Sie atmete schwer, als sei sie schnell gelaufen. Sie rang nach Luft, nahm sich zusammen und sprach rasch und atemlos auf Gamla: »Micka hat mich gerufen. Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber ein Überfall hat sie erschreckt. Jetzt schweigt sie. Die kleine Hasel kommt gelaufen, und die Angst eilt ihr voraus wie ein Sturm.«
Entsetzt sprang Carey auf. Hatten Isakson und seine Kumpane Micka entführt? Wenn das stimmte, dann waren sie dümmer als er gedacht hatte. Das ZK würde hart und schnell zuschlagen, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie zu Zwangsarbeit verurteilt waren. Sie brauchten nicht lange zu warten. Hasel rannte wie ein Wiesel und lief Tharie in die Arme. Tharie hob sie hoch und tröstete sie, während sie stumm Hasels Mutter rief. Hasel beruhigte sich und erzählte rasch, was geschehen war: Rübezahl hatte Micka entführt. Carey zögerte. Nach Antaresuntergang gab es kaum eine Chance, Jacobs zu finden. Selbst wenn die Gammler ihre geistigen Fähigkeiten einsetzten. Und es genügte nicht, Jacobs zu finden. Man mußte ihn überraschen. Dabei durfte Micka nichts geschehen. »Ich mache folgenden Vorschlag«, sagte Carey zu Harper. »Ich kenne den Berg, wo er lebt. Wir gehen zu mir, ich bitte in English telefonisch um den Flitzer, und wir versuchen, Jacobs zu überholen. Wenn wir seine Höhle finden und ihn bei der Heimkehr überraschen, sollten wir Micka befreien können, ohne daß ihr etwas passiert.« »Ich komme mit, Carey«, sagte Tharie. »Du brauchst mich, wenn du die Höhle nicht findest. Ich werde Micka finden.«
»Ich lasse die Schwester meines Vaters nicht allein«, sagte Timmy. »Das reicht. Drei Männer sollten mit Jacobs fertig werden können.« Carey war zu Pferd ins Dorf der Gammler gekommen. Jetzt galoppierte er die drei Kilometer zur Farm zurück. Als die anderen auf der Farm ankamen, hatte er Varinov in English die Lage erklärt, und der Flitzer war auf dem Weg zum Hof der Sheldons. Antares sank, als sie in die kleine Maschine stiegen. Bestürzt sah Carey, daß der Flitzer von Dane Isakson gelenkt wurde, dem ältesten Sohn des Bauern, der sich in der Schule so schlecht benommen hatte. »Seit wann bist du beim Sicherheitsdienst, Dane?« Der Ältere lächelte. »Nun ja, freiwillig bin ich nicht dabei, Carey. Richter Cavanaugh hat mir sechs Monate wegen Körperverletzung aufgebrummt. Sie meinte, wenn ich mich schon schlagen muß, dann wenigstens für die Seite des Gesetzes. Varrie hatte nichts dagegen, daß ich so lange Dienst bei der Polizei tue. Da bin ich. Wo geht's hin?« »Jacobs wird meist in den Kahlkopfbergen gesehen. English glaubt, daß er eine Höhle am Westhang bewohnt. Oberhalb der Baumgrenze. Dort sehen wir uns mal um. Wir haben eine Stunde Zeit, bevor er aus dem Wald kommt und uns sehen kann.« Langsam stiegen sie auf. Der Kahlkopfberg stand
rund und deutlich im Nordosten. Er war nicht so hoch wie seine Nachbarn, und die Bäume standen bis dicht unter seine kahle Kuppe. Dane flog parallel zu den Weißhutbergen direkt auf den Gipfel zu. Die Nacht war klar, und Asylia lag im sanften Sternenlicht. Nur die Wälder standen wie dicke Tintenflecke, während sich die Hochplateaus der Steppen und die zackige Kette der alten Berge im Osten deutlich abzeichneten. »Was war denn heute morgen mit meinem alten Herrn los?« »Er hat was gegen die Integration. Hoffentlich gibt sich das.« »Ach, der Alte nimmt immer den Mund so voll. Er meint es nicht so. Paß mal auf, nach einer Woche kommt Jay wieder zur Schule.« »Hoffentlich hast du recht.« Carey stieß Timmy an und zeigte hinunter. Die steile Böschung, auf der sie ihre Freisprechungszeit verbracht hatten, zog unter ihnen vorbei. Timmy lächelte und nickte; es war alles gutgegangen, und niemand war durchgefallen. Carey wußte, daß das nicht häufig vorkam. Alle jungen Gammler mußten die Prüfung durchmachen – und entweder schafften sie es, oder sie verhungerten oder wurden ausgestoßen. Trotz dieser natürlichen Auslese steckten die Gammler in einer geistigen Sackgasse, weil sie nicht
über das Stadium projizierter Gefühle und Empfindungen hinausgekommen waren. Ein direkter Informationsaustausch fand nicht statt. Carey, der eine Menge über ESP – extrasensorische Perzeption – und PSI gelesen hatte, wußte, daß die behaarten Humanoiden nur knapp unter die Oberfläche der verborgenen Kräfte getaucht waren. Trotz großer Anstrengungen und ständigen Trainings hatte er es nicht geschafft, es Timmy und seinen Freunden gleichzutun. Sie kannten die Begriffe Hellsehen, Telekinese und Präkognition nicht, obwohl sie eine schwache Abart des Hellsehens erlebten, wenn sie projizierten. Dane lenkte den Flitzer dichter an die Felsen. Eine halbe Stunde lang suchten sie schweigend nach dem Eingang der Höhle. Zweimal landeten sie, aber sie hatten sich getäuscht. Als sie nach der zweiten Landung aufstiegen, sagte Tharie leise: »Carey, ich ... ich spüre Micka. Sie kommt.« Carey sah auf die Uhr. Jacobs hatte die Strecke in der Hälfte der Zeit zurückgelegt, die er geschätzt hatte. Der Mann war entweder ein Riese oder ein hervorragender Athlet. »Wir landen hinter der Kuppe. Wir müssen warten, bis er in der Höhle ist und schläft. Nach dem Eilmarsch wird er nicht lange wach bleiben.« Dane lenkte den Flitzer über den Gipfel. Auf der anderen Seite fand er eine breite Schlucht, deren Boden in
undurchdringlichem Schatten lag. Er schaltete kurz die Scheinwerfer an und landete sanft in der Tiefe. Tharie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sie warteten eine Viertelstunde, dann bewegte Tharie sich und setzte sich hin. »Sie laufen nicht mehr. Sie sind in einer Höhle, und Micka weiß, daß ich in der Nähe bin.« »Tharie, können Sie Micka sagen, daß sie wach bleiben und uns rufen soll, wenn – Rübezahl eingeschlafen ist?« »Ich weiß nicht. Aber ich werde es versuchen.« Tharie lehnte sich wieder zurück. Fünf Minuten angestrengter Konzentration vergingen, dann sagte sie: »Es tut mir leid, Carey. Micka versteht zwar ›Schlaf‹ und ›Mann‹, aber ich kann ihr nicht verständlich machen, was Sie meinen.« »Lassen wir Jacobs also eine Stunde Zeit. Dann sollten Sie versuchen, uns zu ihm zu bringen.« »Einverstanden. Ruhen Sie sich aus. Ich sage Ihnen Bescheid«, sagte Tharie und schloß wieder die Augen. Carey sah zu Timmy hinüber, der ebenfalls die Augen geschlossen hatte. Aber er schien zu schlafen und nicht zu projizieren. Harper saß mit gefalteten Händen untätig neben Dane; er hatte nicht viel von der Unterhaltung verstanden. Carey unterrichtete ihn über den Entschluß und machte die Augen zu.
Der weißhaarige Riese hatte Micka auf sein Bett gelegt. Ihre dunklen Augen starrten Jacobs vorwurfsvoll an. Jacobs stopfte sich saftige Kitzlbeeren und gerösteten Mais in den Mund; er hatte Micka davon etwas neben das Bett gelegt, aber sie rührte nichts an. Jetzt betrachtete sie den großen runden Stein, der den Tunnel versperrte. Der Stein verdeckte den Eingang, aber rechts oben war ein schmaler Spalt zu sehen, durch den sie sich vielleicht zwängen konnte, auch wenn sie dabei ein Stück Pelz lassen mußte. Jacobs beendete das einfache Mahl und drehte sich nach dem kleinen Gammlermädchen um. Sie war so winzig und zart, und doch besaß sie Kräfte, die man von außen nicht beurteilen konnte. Von ihr würde er lernen, was ihm noch fehlte. Er ging durch die Höhle auf sie zu, setzte sich auf das Bett und legte den schweren Arm zärtlich um ihre Schultern. Micka sah ihn ruhig an, sie fürchtete sich nicht und empfand keinen Abscheu vor ihm. »Wir werden uns schon verstehen, Kleines«, brummte Jacobs. Sein Akzent war ausgeprägt, und die Aussprache nicht korrekt, aber er konnte Gamla sprechen. »Wir werden gute Freunde. Du wirst mich lehren, wie man Tiere lenkt. Ja, das wirst du. Ich lerne schnell, kleines Mädchen. Sehr schnell. Und wenn ich so stark bin wie deine Leute, dann zeige ich den Angebern aus Asylianum, was eine Harke ist. Darauf
kannst du dich verlassen. Jetzt rück mal zur Seite und mach Platz für deinen Freund Brian. Ja, ich bin dein Freund, selbst wenn du es noch nicht glaubst.« Er streckte sich lang aus und nahm das kleine Mädchen in die Arme. Sie lag mit dem Gesicht auf seinem Bart, der dem Fell ihrer Mutter so seltsam ähnlich war, und Jacobs starker Arm hielt sie fest. »Ja, du und ich werden gute Freunde und lernen, wie man ein Lenker wird«, sagte Jacobs schläfrig. »Jetzt bin ich müde, weil ich so weit gelaufen bin. Wir müssen schlafen. Ängstige dich nicht, bei mir bist du in Sicherheit.« Er schlief fast sofort ein, und Minuten später war nur noch das schwere Geräusch seines Atems zu hören. Micka wartete geduldig. Der Arm hielt sie fest und sie wurde schläfrig. Sie nahm noch einmal ihre ganzen Kräfte zusammen und projizierte NOT SUCHE BEDARF, bis ihr mit LIEBE SYMPATHIE TROST BERUHIGUNG geantwortet wurde. Die Antwort kam so klar, daß sie wußte, ihre Mutter war nicht weit entfernt. Vielleicht stand sie schon vor der Höhle. Micka streifte die Müdigkeit ab. Sie drehte sich langsam um, aber Jacobs Arm hielt sie fest. Sie blieb ruhig liegen, um ihn nicht aufzuwecken, und dachte nach. Nach einigen Minuten legte sie ihm die kleinen Hände auf die Brust und drückte. Jacobs bewegte
sich, murmelte im Schlaf und gab schließlich dem störenden Schmerz nach. Er drehte sich um und ließ sie los. Micka kletterte aus dem Bett und ging leise durch die Höhle. Der Stein war glatt, aber nur einszwanzig hoch, so daß sie ohne Mühe hinaufklettern konnte. Der Spalt war enger, als sie erwartet hatte, und ihr Kopf ging nicht hindurch. Unentschlossen blieb sie stehen. Mit ihren schwachen Kräften konnte sie den Stein nicht bewegen. Plötzlich spürte sie eine zweite Welle von Gedanken. Ihre Mutter war da. Draußen waren leise Schritte und Flüstern zu hören. Sie erkannte die Stimme ihres Onkels Timmy. Ein Schatten erschien hinter dem Felsen, und ein Arm langte durch den Spalt und nahm ihre Hand. Es war Mutter und fast schrie sie vor Freude. Tharie sagte kein Wort, aber für Micka war der Händedruck Beruhigung genug. Im Tunnel hinter dem Felsen war es stockdunkel. Tharie zog mit der freien Hand Careys Kopf zu sich und flüsterte ihm ins Ohr: »Was sollen wir tun? Wenn wir den Stein beiseite rollen, wecken wir Jacobs auf.« Carey tastete den Stein ab. Bestimmt wog er mehrere Zentner. Um ihn überhaupt beiseite rollen zu können, brauchte man viel Kraft. »Warten Sie hier«, flüsterte er. Er zog Harper, Timmy und Dane hinter sich her. Vor dem Tunnel
berieten sie leise. Dann gingen sie zu Tharie zurück. Der Plan, den sie gefaßt hatten, war unter den gegebenen Umständen der beste. Timmy löste Tharie am Felsen ab und flüsterte rasch mit Micka, die mit einem Händedruck bestätigte, daß sie verstanden hatte. Sie kletterte vom Stein und kroch unter das Bett. Jacobs rührte sich nicht. Carey und Sam Harper warteten, bis sie meinten, daß Micka sich versteckt hatte. Dann packten sie den runden Felsen und stemmten sich mit aller Kraft dagegen. Der Stein gab nach und polterte mit einem Krach beiseite, der selbst einen Bären im Winterschlaf aufgeweckt hätte. Jacobs sprang auf Timmy zu, der sofort an seinen Freunden vorbeigelaufen war, und traf ihn am Kopf. Der junge Gammler flog bewußtlos gegen die Höhlenwand. Dann mußte Jacobs sich gegen Carey und Harper zur Wehr setzen und ein paar harte Schläge einstecken, bis er sich befreien konnte und mit dem Rücken an der Wand zum Stehen kam. Die Atempause war kurz. Harper und Dane stellten ihn und trafen ihn am Kopf und in den Magen. Carey schnellte sich vor und packte Jacobs Beine. Aber Jacobs stemmte sich mit den Schultern gegen die Felswand. Er stand fest wie ein Baum, und sie konnten ihn nicht umwerfen. Dann bekam Harper eins auf die Nase, und Dane Isakson fing einen Schlag ein, der ihn betäubt rück-
wärtstaumeln ließ. Der Riese wandte sich Carey zu. Er packte ihn am Kragen und hob ihn hoch, als wäre er ein Kätzchen. Carey strampelte, bis er mit den Füßen auf die Erde kam und einen Kinnhaken anbringen konnte. Jacobs rammte ihm die Faust in den Magen. Carey klappte zusammen wie ein Taschenmesser. Wenn Harper und Dane ihm nicht zu Hilfe gekommen wären, hätte Jacobs ihm mit dem nächsten Schlag das Genick gebrochen. Jacobs brüllte wie ein Stier. Seine Schreie dröhnten in der Höhle. Er steckte einen Treffer von Harper ein und schlug ihn ein zweites Mal zu Boden. Dane bekam einen Tiefschlag und krümmte sich würgend auf dem Boden. Unter dem Bett schaute Micka dem Kampf mit aufgerissenen Augen zu. Tharie lief zu ihr und zog sie heraus. Aber das kleine Mädchen weigerte sich, ihr in den Tunnel zu folgen. Sie sah, wie Jacobs Carey am Hosenbund packte und hochhob, sah, wie Jacobs die Muskeln spannte, um den Jungen gegen die Höhlenwand zu schleudern. Mit einem wortlosen Schrei rannte Micka auf Jacobs zu. »Halt! Hör doch auf!« schrie sie mit schriller Stimme, die Jacobs unartikuliertes Brüllen wie ein Messer durchschnitt. Das kleine Mädchen berührte seine Arme, daß er wie versteinert innehielt, die Arme über
dem Kopf, Haß und Verachtung mit aufgerissenem Mund herausschreiend. Carey fiel aus Jacobs starren Händen, drehte sich in der Luft und landete auf allen vieren. Das Mädchen verlor die Kontrolle. Der Riese konnte sich wieder bewegen und stürzte sich erneut auf Carey. Micka öffnete ihren Geist und sammelte die neuen Kräfte, die plötzlich in ihr gewachsen waren, entwikkelte sie, ließ sie anschwellen. Die Atmosphäre der Höhle begann zu vibrieren, zu knistern, zu glühen, als wäre der ganze Berg zum Leben erwacht und die Höhle sein pochendes Herz. Micka stand Jacobs ruhig mit erhobener Hand gegenüber. Sie lenkte den Kraftstrom, der in ihr pulsierte. Jacobs zitterte. Seine Füße hoben sich vom Boden. Er schwebte. Er schrie gellend und prallte gegen die Wand. Ein häßliches Knirschen. Ein dumpfer Fall. Stille.
7 Tharie taumelte und fiel hin. Sie war so eng mit Mikkas Gedanken verbunden gewesen, daß der Rückschlag sie wie ein Brecher traf. Als sie die Augen aufschlug, sah sie, daß Micka zu Jacobs gelaufen war, dessen großen Kopf in den Schoß genommen hatte und ihm das Blut von der Stirn wischte. Noch einmal wob die geistige Kraft sprühende Schleier in die Luft. Aber diesmal war der Strom geordnet. Tharie spürte, daß Jacobs versiegender Atem stehenblieb, sich sammelte und zurückfloß. Der große Brustkorb hob und senkte sich, Jacobs öffnete die Lippen und hustete. Er wälzte sich herum, nahm den Kopf in die Hände. Timmy war noch immer bewußtlos. Als Micka merkte, daß Rübezahl die Lust am Kampf verloren hatte, lief sie zu ihrem Neffen. Timmy hatte eine große Beule auf der Stirn, die Haut war geplatzt und tränkte das Fell mit Blut. Aber sein Herz schlug kräftig. Sie drehte sich um. Carey kniete neben Harper und untersuchte ihn auf Knochenbrüche. Harper stöhnte laut. Carey half ihm auf und stützte ihn, während der Bauer sich langsam erholte. Timmy machte endlich die Augen auf und suchte Micka. Das Kind hockte still im Mittelpunkt der Gruppe. Den beiden Gammlern und Carey erschien
sie verändert, mit Kraft und einem Wissen weit über ihre Jahre begabt. Um sie lag eine Aura, eine stille Kraft, die jeder Lenker sofort spürte. Jacobs stand taumelnd auf und verschwand. Harper wollte ihm nach, aber Carey stoppte ihn mit einer Handbewegung. »Laß ihn gehen. Wir kriegen ihn schon, wenn wir ihn haben wollen.« »Was war los?« fragte er Tharie und warf Micka einen Blick zu. »Ich war nicht ganz da, aber ich habe gemerkt, was Micka gemacht hat. Was war das?« »Ich weiß es nicht, Carey. Ich kenne es nicht. Ich wußte nicht, daß jemand von uns die Kraft besitzt. Und jetzt hat ein Kind diese Kraft. Ich weiß, daß die Kraft in jedem von uns ruht, daß wir sie nur nicht ans Tageslicht bringen können. Micka braucht die Freisprechung nicht. Ich spüre, daß sie noch zu anderem fähig ist.« »Micka, kannst du ohne Worte mit mir sprechen?« fragte Carey und öffnete seine Wahrnehmung. Und in seinem Gehirn antwortete klar und deutlich eine Kinderstimme: ›Warum soll ich das tun, Carey‹. Dane startete, und Carey nahm den Erste-HilfeKasten und verarztete Harpers Wunden und Beulen. Micka sah gespannt zu. Zu ihrer Mutter gewandt sagte sie: »Rübezahl geht es jetzt besser. Ich fühle, daß er
kaum noch Schmerzen hat. Er weiß noch nicht, daß er ein Lenker ist. Er hatte die Kraft. Aber erst, als ich ihn hochhob und an die Wand warf, kam sie zum Vorschein. Ich habe ihn in unser Dorf eingeladen. Wir werden ihm die letzten Geheimnisse beibringen. Die Wolke, die seinen Geist verschleiert hat, ist verschwunden.« Carey starrte Micka nachdenklich an. Wenn er sich vorstellte, daß er sie noch vor ein paar Monaten auf den Schultern getragen hatte ... Sie sprach mit unüberhörbarer Autorität. Wenn sie es sagte, dann war Jacobs wirklich kuriert. Welche Ironie, daß er sein Ziel erreicht hatte, das er mit Mickas Entführung zu gewinnen hoffte ... »Ja, wir werden ihn schulen«, sagte Timmy, »weil sein Geist wieder ihm gehört.« Er legte seiner Nichte die Hand auf die Schulter und lächelte. »Aber du hast selber Sorgen, Kleines. Die Nacht ist fast vorbei, und du mußt wieder in die Schule der Pelzlosen. Selbst ein kleines Mädchen, das seine Kräfte frühzeitig entdeckt hat, braucht Schlaf.« »Und das Problem mit dem Schulstreik ist auch noch nicht gelöst«, sagte Harper. »Glauben Sie, daß Mickas neue Kraft die Vorurteile gegen die Integration besiegen kann?« Carey lächelte knapp. »Das bezweifle ich, Sam. Vorurteile lassen sich nur mit der Zeit und durch Er-
ziehung beseitigen. Es gibt aber immer noch die Schulpflicht. Und ich denke, daß die Kinder schon noch kommen werden. Ich mache mir mehr Gedanken über Micka. Wir müssen jetzt mit ihr arbeiten und herausfinden, warum sie ihre Fähigkeiten so früh entwickelt hat und warum neue darunter sind.« »Was den Schulstreik angeht«, warf Dane Isakson ein, »da kann ich ein bißchen nachhelfen. Nach dem, was ich heute erlebt habe, ist es mir lieber, wenn ich die Gammler auf unserer Seite habe. Mein alter Herr hat bei den Dickköpfen das Sagen, und ich verspreche euch, heute morgen gibt's eine lange Diskussion mit ihm!« Micka war müde geworden und hatte es sich im Schoß ihrer Mutter bequem gemacht. Sie legte den Kopf an Tharies Brust und war bald fest eingeschlafen, wie es nur Kinder können. Die Schulglocke klingelte, und Marge Anders sah den Kindern nach, die sich durch die Tür hinausdrängten. Zwei Wochen waren seit Schulbeginn vergangen, und inzwischen war viel geschehen. Isakson hatte seine Dienstaufsichtsbeschwerde zurückgezogen, und zwei Tage später kam Jay in die Schule. Natürlich waren nicht alle Kolonisten von der Integration begeistert, aber aktive Opposition war selten geworden, weil niemand es riskieren wollte, zur Erde zu-
rückgeschickt zu werden. Nach und nach würden die Gammlerkinder an dem sozialen Leben der Kolonisten teilnehmen. Und nächstes Jahr würden alle Kinder aus der Lindorngemeinde die Schule besuchen. Auch Abendschulen für die älteren Jugendlichen und interessierte Erwachsene waren geplant. Die vier Gammlerkinder stellten sich als gelehrige Schüler heraus und – was vielleicht noch wichtiger war – schlossen rasch Freundschaft mit den Erdenkindern. Nur Micka hielt sich etwas abseits, als habe sie keine Lust, sich unter die anderen Kinder zu mischen. Miss Kaymar war schon gegangen, und Marge war allein in der Klasse. Rasch sammelte sie die Hefte ein und schob sie nacheinander in den Schlitz ihres Pultes, damit der Computer die Benotung vornahm. Carey Sheldon hatte sie zu einem Besuch des Gammlerdorfes eingeladen, und sie wollte sich nicht verspäten. Ihre Verabredung hatte nichts Romantisches – redete sie sich ein –, sie sollte nur das Leben der Lindorn etwas besser kennenlernen, hatte Carey gemeint. Außerdem war sie drei Jahre älter als er. Soziale Kontakte und Vergnügungen waren auf Asylia ziemlich selten. Deshalb ließ kein unverheiratetes Mädchen es sich entgehen, mit einem Begleiter gesehen zu werden. Und die Fahrt zum Dorf führte zweimal durch Asylianum.
Sie beendete die Arbeit, ritt mit der alten Stute zum fünf Kilometer außerhalb der Stadt gelegenen Hof, aß, zog sich um und war um halb sieben startbereit. Carey war pünktlich, und ihm schien das pulvergraue Kleid mit dem langen Rock, der ihrer nicht ganz schlanken Figur vorteilhaft stand, zu gefallen, obwohl er nichts sagte. Ein paar Minuten später holperten sie mit dem Buggy der Sheldons über den Feldweg. Fast bedauerte sie es, als die Fahrt durch die sternklare Nacht vor den dunklen Schatten der Waquilhäuser zu Ende war. Carey sprang vom Wagen und band die Pferde an. Mitten im Dorf flackerte ein Lagerfeuer. Sie hakten sich ein und Carey brachte sie zu einem Platz am Feuer. Das ganze Dorf war anwesend. Auf der anderen Seite des Feuers saß ein großer Mann mit schön gestutztem weißen Vollbart, der dem Schauspiel ruhig zusah. Endlich war Brian Jacobs aus den Bergen gekommen. Etwas weiter abseits saß Doreen, begleitet von Timmy. Sie hielten sich an den Händen und sahen den drei Knaben zu, die neben dem Feuer spielten. »Ich wußte gar nicht, daß Doreen und Timmy miteinander befreundet sind«, flüsterte Marge in Careys Ohr. »Sie kennen sich schon lange. Aber richtig roman-
tisch wurde es erst, als Doreen sich auf die Freisprechung vorbereitete«, antwortete Carey leise. »Ich mache mir Sorgen. Doreen verliert leicht den Kopf, wenn ihre Gefühle ins Spiel kommen. Sie vergißt, daß Timmy Verpflichtungen übernehmen muß, die seine Entscheidungsfreiheit einengen werden.« Das kleine Spiel hatte den Höhepunkt erreicht, als einer der Knaben auf den Händen davonbalancierte. Alle lachten. Marge konnte den Sinn nicht verstehen, aber sie sah, daß Doreen mitlachte und Carey in sich hineinkicherte. Sie war enttäuscht, daß sie den Spaß nicht begriff. Carey drückte ihren Arm, und sie sah ihn fragend an. »Mir ist gerade etwas eingefallen, Marge. Wenn Brian Jacobs sein Lenkertraining beendet hat, wird er wieder einen Hof bekommen. Er sucht eine Frau. Er ist kaum über vierzig, obwohl er älter aussieht. Mir scheint, er und Miss Kaymar ...« »Das ist eine gute Idee«, sagte Marge, obwohl sie überrascht war. »Ich werde sie morgen miteinander bekanntmachen.« Tharie erschien und setzte sich neben Marge. Carey nickte ihr grüßend zu und erklärte Marge, daß Tharie ihr die Geschehnisse des Abends erklären möchte. »Mache deine Gedanken einfach frei, und ich verspreche dir ein Erlebnis, das du nie vergessen wirst.« Zuerst wollte Marge aufspringen und davonlaufen.
Sie mochte es nicht, wenn jemand anderes in ihre Gedanken eindrang. Aber eine sanfte warme Präsenz drängte leicht gegen ihren Widerstand, und sie gab nach und überließ Tharie ihre Empfindungen. Carey drückte ihre Hand, und sie merkte, daß er ihr Befremden und ihre Überwindung gespürt hatte. Eine kleine Gestalt lief in den Lichtkreis des Feuers und blieb mit hoch erhobenen Armen anmutig stehen. Es war Micka, deren schlanker Kinderleib gebückt an den Rand des Feuerscheins glitt und in einer Folge wirbelnder Verbeugungen wieder zurück an die prasselnden Flammen huschte. Marge spürte das Spiel der Muskeln, die Erde unter den Füßen, eine Leichtigkeit und Ungebundenheit wie nie zuvor. Sie war eins mit der kleinen Tänzerin und genoß die Gefühle, freute sich an den rhythmischen Bewegungen. Ihr Über-Ich wußte, was mit ihr geschah, aber sie ließ es geschehen und versenkte sich in den Zauber des Augenblicks. Der Tanz wurde komplizierter und näherte sich einem Höhepunkt, an dem sie meinte, über der Erde zu schweben. Sie roch und schmeckte den Rauch, bis sie plötzlich merkte, daß Micka mehrere Meter hoch über den Flammen schwebte. Geschmeidig landete das Kind auf dem Gras und ließ die Schwerkraft langsam wieder auf sich einwirken. Marge Anders fand sich wieder unter den Zuschauern und sah ein kleines Mädchen rasch in die schützende Dunkelheit laufen.
Sie fühlte Careys Hand, fühlte die ruhige Gegenwart Tharies, fühlte ihren eigenen plumpen Körper, seine Masse, sein Gewicht. Erst nach einer ganzen Weile wurde ihr bewußt, daß die Versammlung beendet war. Die Nacht war schön und die Heimfahrt ruhig. Als sie endlich vor der Tür ihres Elternhauses standen und sie sich bedanken wollte, umarmte Carey sie und suchte mit den Lippen ihren Mund. Und zum zweitenmal bedrängten fremde Gedanken ihre Abwehr, überwanden sie, drangen in sie ein und wurden zu einem Teil ihres Bewußtseins. Der Kuß verschmolz mit den Gefühlen, die sie beide spürten, und sie konnte den wunderbaren Augenblick nicht beschreiben. Es war ein langer Kuß, der sie ermattete. Als ihre Lippen sich trennten, atmete sie zitternd ein. Carey drehte sich um und ging wortlos in die Dunkelheit. Und es war gut so, denn Worte hätten die zarte Stimmung zerstört. Nachdenklich fuhr Carey Sheldon nach Hause. Marge Anders war wunderbar, und die Leichtigkeit, mit der sie die Projektionen aufgenommen hatte, erstaunte ihn. Er hatte deutlich gespürt, daß sie seine Gefühle während des Kusses reflektierte, obwohl sie schier nichts davon geahnt hatte. Nijub und die Wesen von Lindorn hatten wohl recht, wenn sie sagten,
daß alle Vernunftwesen die Kraft zur Projektion besaßen und sie üben und entwickeln konnten. Als er schlafen ging, beschloß er, Marge öfter zu sehen. Wenn sie nichts dagegen hatte, wollte er die bittere Süße wieder erleben, die er gespürt hatte. Am nächsten Morgen saß Doreen schweigsam und zurückgezogen am Frühstückstisch, obwohl Carey zweimal die zarten Anstrengungen ihrer Projektionsversuche spürte. Als er nicht darauf reagierte, sagte sie: »Carey, mir ist gestern nacht etwas Tolles eingefallen. Du weißt, daß ich bis zur Freisprechung noch viel üben muß. Aber wenn ich bestehe, dann will ich mich so oft wie möglich mit den Breschwarbäumen beschäftigen. Es gibt noch so viel zu lernen ...« »Das stimmt schon, Schwesterchen. Aber ist es nicht besser, wenn wir das den Gammlern vom Süßwassertal überlassen? Schließlich ist das ihre Aufgabe. Selbst aus zweiter Hand kannst du immer noch genug lernen.« »Ja, aber das will ich nicht. Ich fürchte, daß ich dabei nicht so viel mitbekomme.« Ihr schmales Gesicht trug den hartnäckigen Ausdruck, den Carey nur zu gut kannte. »Also wundere dich nicht, wenn dein Pferd öfter mal weg ist.« Carey wunderte sich nicht. Fast jeden Abend verbrachte Doreen bei den Lindorn, unterhielt sich oft
mit Nijub, aber auch mit den anderen Ältesten, und Carey hörte, daß eigentlich alle mit Doreens Fortschritten zufrieden waren. Ein Wochenende verbrachte sie bei den Gammlern im Süßwassertal. Aber außer Kopfschmerzen trug ihr der Versuch, mit den Breschwar zu kommunizieren, nichts ein. Immerhin konnte sie Harper bei seinen schriftstellerischen Bemühungen behilflich sein. Das landwirtschaftliche Lehrbuch nahm langsam Gestalt an – fast wie das Babymädchen, das sie unter dem toleranten Lächeln von Cassie gründlich verwöhnte. Die kühlen Herbsttage flohen mit einer Schleppe aus raschelnden Blättern. Der erste Schnee ließ auf sich warten. Die Freisprechungszeremonie wurde verschoben. Aber dann kam der Tag, an dem Carey von dem Gewisper der Schneeflocken, die gegen das Fenster rieselten, aufgeweckt wurde. Es schneite den ganzen Tag und die Nacht, und der Wind wurde von Stunde zu Stunde ungestümer. Als der Sturm verebbte und der Schneefall versiegte, war die Schneedecke mehr als dreißig Zentimeter dick, die Bäume am Nordrand des Feldes hatten einen silbernen Mantel angelegt, und die Thermometersäule stand ein gutes Stück unter der Nullmarke. Timmy kam abends vorbei und lächelte, als er Do-
reens aufgeregtes Gesicht sah. »Viele junge Leute gehen mit Zittern und Bangen in die Freisprechung. Warum bist du so glücklich?« »Weil ich es schaffen werde«, antwortete Doreen, und der Klang ihrer Stimme machte Carey nachdenklich. »Schwesterchen, ich hoffe, du weißt, wann du aufgeben mußt.« Doreen lächelte. »Mach dir keine Sorgen, Carey. Kümmere du dich um deine PSI-Studien und um Micka.« »Eigentlich kümmere ich mich mehr um Sanda, ihren kleinen Bruder. Er ist erst fünf und kann schon gut levitieren. Das müßtest du mal sehen. Er läuft und springt – sechs Meter weit.« »Weiß er, warum?« »Nein, er hat keine Ahnung. Er sagt, er springt und gibt sich Mühe. Und dann passiert's.« »Er wird sich nicht freisprechen lassen müssen«, sagte Timmy trocken. »Aber du, meine kleine magere Katze. Und zwar morgen.« »Wer nennt wen mager!« sagte Doreen mit undamenhafter Heftigkeit. »Und außerdem hab' ich schon geahnt, daß das Ritual morgen anfängt. Ich bin bereit.« »Timmy, du stammst aus derselben Familie wie Micka und Sanda. Hast du schon probiert zu levitieren – oder so?« fragte Carey.
»Und ob. Ohne Erfolg. Ich kann zwar gedanklich Worte mit Micka wechseln, aber das liegt wohl eher daran, daß sie ein starker Sender und Empfänger ist. Weniger an mir.« »Wahrscheinlich«, lachte Carey. »Aber deine Kinder ...« »Ja. Für sie besteht Hoffnung. Aber das dauert noch ein bißchen.« Doreen schaute aus dem Fenster. Carey konnte Timmys Blick nicht vergessen, mit dem er Doreen angesehen hatte, als sie Kinder erwähnten.
8 Der Tag, an dem die Freisprechung begann, war klar und kühl. Carey stand mit Doreen auf und riet ihr, soviel wie möglich zu essen. Maud kam in die Küche, als sie sich fertigmachten. Ihr verhärmtes Gesicht war besorgt. Carey war es schon nicht gut bekommen, und Doreen war längst nicht so kräftig wie er. Sie hatte Grund zur Sorge. »Paß gut auf dich auf, Doreen. Carey war nur noch Haut und Knochen, als er zurückkam. Du hast nichts zuzusetzen.« »Oh, Mutter!« Leicht gereizt warf Doreen die langen Haare in den Nacken. »Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen!« »Das will ich stark hoffen«, erwiderte Maud, die sich nicht von Doreens Worten beruhigen ließ. Carey sattelte die Pferde und brachte sie nach hinten. Sie erreichten das Dorf, als Antares seine große Scheibe über den Horizont schob. Seine ersten Strahlen färbten den Schnee kitschig violett. Die anderen Novizen warteten schon. Dies Jahr waren es nur vier. Carey übernahm die Zügel, als sie abstieg. »Soll ich deine Kleider mitnehmen?« Doreen errötete und sah zu Boden. »Nein. Ich lasse sie solange hier.«
Carey lehnte sich vor und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. Dann wendete er die Pferde und ritt aus dem Dorf. Die vier Novizen waren zwei Jungen und zwei Mädchen, die Doreen seit Jahren kannte. Sie hatte sie öfter nackt als bekleidet gesehen und schämte sich nicht, sich vor ihnen auszuziehen. Aber sie war froh, daß ihr Bruder nicht zusah und daß auch Timmy nicht gekommen war. Es dauerte nicht lange bis Nijub auftauchte. Noch bevor Antares ganz über den Horizont geklettert war, befanden sie sich im Wald. Doreen hatte mehr Glück als Carey. Etwa acht Kilometer vom Dorf entfernt fand sie das verlassene Lager eines Läufers. Der Platz war gemütlich und trocken. Das dichte Buschwerk hatte den Schnee ferngehalten. Wenn es nicht zu tauen begann, war sie in Sicherheit. Sie kroch tief in das Gebüsch und versperrte das Loch mit Zweigen und Schnee. Es wurde still in der Höhle. Selbst die leisen Geräusche des Waldes waren ausgesperrt. Sie hüllte sich in den Wirtlponcho und schlief ein. Nachdenklich ritt Carey zurück. Klar, Doreen hatte gute Fortschritte gemacht. Aber ihre grenzenlose Sicherheit beunruhigte ihn. Sie schien nicht zu wissen, daß der Ritus sie das Leben kosten konnte.
Am fünften Tag kamen die beiden Gammlermädchen und ein Junge zurück. Sie hatten es geschafft; sie waren Lenker. Carey sprach mit Timmy, weil er seiner Mutter nicht zeigen wollte, wie groß seine Sorgen waren. »Du brauchst dich nicht zu ängstigen, Carey. Die Zeit ist noch nicht abgelaufen. Doreen ist zäh und kräftig. Haskehk macht mir mehr Sorgen. Er war schon als Novize nicht besonders ausdauernd. Der Rat war der Meinung, daß er sich dem Ritus unterwerfen sollte, weil er ein Jahr wiederholt hat, aber alle wußten, daß seine Chancen nicht gut stehen.« »Haskehk ist mir natürlich nicht gleichgültig. Aber Doreen ist meine Schwester. Das ist etwas anderes.« Als der achte Tag verging und Doreen noch immer nicht aus dem Wald zurückkam, wurde Timmy ebenso unruhig wie Carey. Am Ende des zehnten Tages hatten sie eine ernste Unterredung mit Nijub. »Haskehk ist nicht der Typ, der wissentlich verhungert«, sagte der Alte langsam. »Höchstwahrscheinlich ist er schon über die Weißhutberge und sieht sich nach einer anderen Gemeinde um. Aber der Rotschopf wird noch hier sein. Wohin sollte sie auch gehen.« »Sie ist bestimmt noch in ihrem Versteck. Ich kenne sie. Sie wird sich so viel Mühe geben, bis sie keine Kraft mehr hat. Sie wird lieber verhungern und ver-
dursten. Wir müssen sie finden oder unsere Suche wird zwecklos«, drängte Carey. »Nun, wenn wir uns einig sind, daß wir sie suchen müssen, dann holt Micka. Wir wollen sehen, ob sie Doreen orten kann.« Micka lächelte Carey scheu an; ihre Leistungen hatten den kindlichen Charme nicht zerstört. »Micka, wir wollen Doreen suchen«, erklärte Nijub. »Wir bitten dich um Hilfe. Benutze deinen Geist und suche sie.« »Ja, Großvater«, sagte das kleine Mädchen gehorsam und schloß die Augen. Eine halbe Minute später sagte ihre dünne Kinderstimme: »Ich habe sie gefunden. Sie stirbt.« »Sie stirbt?« Die drei Männer drängten sich um das Kind, das die Augen noch immer geschlossen hielt. »Ja. Sie stirbt. Aber das werde ich verhindern.« Und plötzlich breitete sich eine Kraft aus, die wie ein reißender Strom hinausfloß. Die Quelle des Stroms war das Kind. Die Männer konnten nichts tun. Das Kind flüsterte. »Sie lebt und wird noch ein wenig länger leben. Der Tod ist stark und die Kälte ... sie ist so kalt ... ich kann sie nicht lange halten, Großvater!« »Wo ist sie, Micka? Führe uns zu ihr«, bat Carey. Seine Stimme klang ihm fremd in den Ohren. »Ich ... kann nicht.« Mickas Stimme wurde leiser.
»Sie ist ... in der Nähe ... dort.« Ihre kleine Hand hob sich und wies in eine Richtung. Langsam sank sie zu Boden, rollte sich mit dem Kopf in den Armen zusammen und schien zu schlafen. »Wir brauchen Mäntel. Und einen Schlauch Whampusmilch«, schlug Timmy vor. »Hol du es schon«, sagte Carey. »Mir fällt etwas ein!« Während Timmy warme Sachen und die Milch holte, erklärte Carey Nijub den Plan. Der Alte schüttelte verwundert den Kopf. »Ich weiß nicht, Carey. Das haben wir noch nie probiert. Aber wir werden es versuchen. Es dauert viel zu lange, bis wir den Wald durchsucht haben.« Timmy kehrte beladen zurück, und Carey verteilte Streichhölzer, wobei er Timmy rasch den Plan erläuterte. Kurz darauf lief Timmy in den Wald und folgte der Richtung, die Micka gezeigt hatte. Nijub hinterließ Instruktionen, wie die Gemeinde die Suche ergänzen sollte. Dann folgten sie Timmy, wobei sie etwas nach links und rechts von seiner Spur abwichen. Carey öffnete seine Gedanken und versuchte dem Lebensstrom zu folgen, der von Micka ausging. Noch bewegte er sich in diesem Fluß. Dann vergrößerte er den Winkel, bis er Mickas Kraft nicht mehr spürte. Wieder änderte er den Kurs. Und als er den Strahl wiederfand, bewegte er sich parallel zu seinem äuße-
ren Rand. Er lief etwa einen Kilometer weit. Dann begann er zu projizieren und versuchte, Timmy und Nijub zu finden. Nijub reagierte. Er bewegte sich an der gegenüberliegenden Seite des Kraftstromes. Timmy dagegen antwortete nicht. Er probierte es wieder und wieder, aber er konnte den jungen Gammler nicht entdecken. Offenbar empfing Timmy nur den Strom und konnte nichts anderes hören. Mickas Projektion schien ihn zu isolieren. Carey war in guter Form. Aber bevor er den nächsten Kilometer geschafft hatte, schnappte er nach Luft. Sie waren schon fünf Kilometer vom Dorf entfernt. Hatte Micka nicht gesagt, daß Doreen in der Nähe wäre? Trotzdem war der fast sichtbare Strom von Mickas Energie noch nicht am Ende. Er verlangsamte das Tempo und wußte, daß Nijub es ihm gleichtat. Einige Minuten später konnte er wieder durchatmen und erhöhte das Tempo. Nijub ebenfalls. Plötzlich empfingen sie Timmys Projektion. Er befand sich vor und zwischen ihnen und hatte das Ende des Lebensstromes gerade eben erreicht. Nijub hatte nicht begriffen, was Carey unter Triangulation verstand, weil er nicht gewohnt war, in mathematischen Symbolen zu denken. Aber die Methode funktionierte. Timmy kehrte um und hielt sich am Rand des Kraftfeldes. Carey und Nijub bewegten sich
jetzt aufeinander zu. Wenn er und Nijub etwa die gleiche Strecke zurücklegten und auf Timmy stießen, konnte Doreen nicht mehr weit entfernt sein. Nach fünf Minuten sahen sich die Männer durch die Bäume. Sie trafen sich an der Spitze des Dreiecks, das ihre Wege bildeten. Carey hörte Mickas zarte Stimme in seinem Kopf. Die Worte waren schwach. ›Carey ich kann sie nicht mehr halten.‹ »Sie muß hier irgendwo stecken!« sagte er verzweifelt, als die beiden Männer näherkamen. »Doreen! Doreen!« Seine Rufe hallten durch die Bäume, bis die trockenen Blätter sie verschluckten. Niemand antwortete. »Laß mich es versuchen«, sagte Timmy und schloß die Augen. Er dehnte seine Wahrnehmung aus und spürte den pulsierenden Strom, aber sonst nichts. Er projizierte DOREEN DOREEN DOREEN. Seine Gedanken breiteten sich weiter aus als Careys Rufe. Verzweifelt legte er seine Gefühle offen und stieß LIEBE LIEBE LIEBE in den Raum – und schwach und klein, zart ohnegleichen, hörte er die flüsternde Antwort ... LIEBE! Die drei Männer rannten los. Sie liefen direkt auf den umgestürzten Baum zu, der ein paar hundert Meter weiter hinter einer Schneewehe lag. Sie fanden den Eingang des Baus, scharrten den Schnee beiseite, rissen Zweige aus dem Weg. Dann knieten Timmy
und Carey neben Doreen, rieben ihre steifgewordenen Glieder mit Schnee ab, und Nijub machte ein kleines Feuer. Carey deckte sie mit zwei Ponchos zu, um ihre Körperwärme zu halten und massierte sie. Langsam kam Farbe in ihr Gesicht. Ihre Sommersprossen wurden heller und sahen nicht mehr wie Tintenflecke aus. Ihre Atemzüge wurden tiefer. Aber erst als der von Micka ausgehende Strom verebbte, wußten sie, daß Doreen außer Gefahr war. Füße und Hände sahen nicht gut aus: Sie waren dunkelblau und geschwollen. Sonst schien Doreen keine Schäden erlitten zu haben. Sie richteten sie auf und versuchten, ihr warme Milch zwischen die zusammengebissenen Zähne zu flößen. Micka meldete sich: ›Wenn sie warm geworden ist, bringt sie zu mir, damit ich ihre Glieder retten kann.‹ ›Micka‹, dachte Timmy drängend, ›du mußt ihren Körper lenken. Mache ihren Mund auf und laß sie trinken.‹ ›Ich tue das nicht gern‹, dachte Micka, ›aber ich werde es tun; hoffentlich verzeiht sie mir.‹ Noch bevor ihre Gedankenübermittlung beendet war, öffnete Doreen den Mund und trank. Als sie genug getrunken hatte, legten Timmy und Carey sie wieder hin und setzten die Massage fort. Sie erwachte aus der Bewußtlosigkeit, als sie sie
hochhoben und ins Dorf trugen. Sie lächelte müde. Sie wollte etwas sagen, aber ihre Stimme versagte, und Nijub beruhigte sie mit einer leichten Berührung. Dann schlief sie ein. Es war ein langer Weg bis ins Dorf, aber Doreens abgemagerter Leib war eine leichte Last. Sie benutzten die Ponchos als Hängematte und Decke, und Nijub löste die jungen Männer dann und wann ab. Micka hatte den suchenden Gammlern mitgeteilt, daß Doreen gefunden war, und die Leute warteten, als die kleine Gruppe das Dorf erreichte. In Tharies Hütte warteten Tharie und Micka. Doreen war aufgewacht. Die Whampusmilch hatte sie belebt, und während sie die Milch noch einmal aufwärmten, beschäftigte Micka sich mit Doreens Füßen. Micka hatte Doreens Hände gefaßt und hielt sie fest. Der Kraftstrom war deutlich zu spüren. Wenn der Kampf gegen Doreens Tod Micka erschöpft hatte, so war nichts davon zu spüren. Doreens blauschwarze Hände hatten eine leichte Blässe angenommen, und die Schwellung war zurückgegangen. Carey schickte Maud und Onkel Harvey eine Nachricht, daß Doreen in Sicherheit und bei guter Gesundheit war, aber er blieb den Rest des Tages bei ihr. Gegen Abend konnte sie aufrecht sitzen und sprechen, doch sie war noch immer sehr schwach. »Nun sag mir mal, warum du nicht aufgehört hast,
als du schwächer wurdest«, fragte Carey, als er meinte, sie sei kräftig genug, sich zu verteidigen. »Du bist kein Gammler, und das weißt du. Das war alles unnötig.« »Ich wollte dich nicht ängstigen, Carey. Ehrlich, ich wäre zurückgekommen, wenn ich aufgeben müßte. Aber ich war so nahe! Ich konnte schon den Anfang spüren. Nur den Abgrund konnte ich nicht überqueren. Ich konnte einfach nicht aus meinem Körper hinaus. Und der kleine Teil, der mich festhielt, hat mich so viel Kraft gekostet. Ich habe dagelegen und probiert. Und immer, wenn ich dachte, ich wäre soweit, wurde das Gefühl schwächer, und ich mußte von vorn anfangen. Ich habe mich nicht zu rühren gewagt und nicht gemerkt, wie schwach ich wurde.« »So dickköpfig wie immer«, lachte Carey. »Aber wenn du so nah dran warst, wird man dich nächstes Jahr bestimmt noch einmal zulassen. Vielleicht nicht hier, sondern bei den Süßwasserleuten – aber immerhin.« »Das wird nicht nötig sein, Carey«, sagte Micka, die leise am Fußende des Lagers aufgetaucht war. »Doreen ist eine Lenkerin.« Das rothaarige Mädchen drehte sich überrascht um. Micka lächelte. »Es stimmt. Du hast doch Timmy geantwortet. Weißt du, als ich dir half, entdeckte ich den Block, gegen den du ankämpftest. Ich habe ihn beseitigt. Das habe ich zwar noch nie getan, aber es
ging ganz leicht. Ich glaube, ich kann es für jeden tun. Stellt euch vor, in Zukunft müssen wir Lindorns niemand mehr ausstoßen!« »Du bist ein wahrer Segen«, sagte Nijub ernst. »Das Ziel, auf das wir all die Jahre hingearbeitet haben, ist nicht mehr weit.« »Stimmt«, sagte Carey trocken. »Aber die Nacht auch nicht, und ich muß nach Hause. Kümmert euch bitte um diese kleine Vogelscheuche. Ich hole sie morgen mit dem Buggy ab.« »Vogelscheuche!« rief Doreen und sah sich nach einem Wurfgegenstand um. Schmunzelnd ging Carey aus der Hütte; sie erholte sich wirklich schnell. Am nächsten Tag brachten Carey und Timmy sie nach Hause. Prompt steckte Maud sie ins Bett. Aber bereits zwei Tage später ging sie ihrer Mutter gehörig auf die Nerven, bis sie ihr am vierten Tag gestattete, aufzustehen. Nach einer Woche ging sie wieder zur Schule; gut erholt, wenn auch noch magerer geworden. Und sie war eine Lenkerin. Es war an der Zeit, den verrückten Plan in die Tat umzusetzen. Bei dem Versuch, mit den Breschwar zu sprechen, hatte sie sich nur Kopfschmerzen geholt. Aber damals war sie auch noch keine Lenkerin gewesen ...
Es war schön, in Mrs. Marbles Klasse zu sitzen, der Lektion über Politik zuzuhören und gleichzeitig mit Micka im Dorf zu sprechen. ›Ich muß gehen, Doreen. Timmy braucht meine ganze Hilfe, wenn wir Sanda Levitation lehren.‹ Zögernd verabschiedete sich Doreen und hörte Mrs. Marble aufmerksam zu. »... Art von Psychose, und in einem Ausmaß, wie man es bislang nicht kannte«, berichtete die Frau des Regierungsbeamten. »Heutzutage hat jeder Wohnblock außer dem üblichen Pflegepersonal einen Psychiater. Trotzdem sind die Praxen der Fachärzte für Nervenleiden überfüllt. Milliarden Menschen müssen sich regelmäßig behandeln lassen. Manche Soziologen befürchten, daß die gesellschaftliche Ordnung zusammenbricht, wenn die tiefsitzenden Frustrationen erneut durch eine Protestbewegung, wie wir sie vor achtzig Jahren erlebten, entfesselt werden sollten.« Jemand meldete sich. »Aber, Mrs. Marble, wird denn die Psychose nicht gemildert, wo doch jede Woche so viele Menschen die Erde verlassen? Ich meine, es vergeht doch kaum eine Woche, daß man wieder einen bewohnbaren Planeten entdeckt, und ...«, die Schülerin, eine Brünette, deren Intelligenz leider nicht ihrer Schönheit entsprach, gestikulierte hilflos. »Ich meine, früher landeten hier zwanzig Raumschiffe im Jahr. Jetzt landen vier Schiffe jährlich in jeder Stadt
von Asylia. Und die Rate soll noch gesteigert werden. Das sind doch eine Menge Menschen. Ich meine, wir haben über hundert Planeten und ...« »Richtig, Judy. Das sind eine Menge«, lächelte Mrs. Marble. »Aber Zahlen sind relativ.« Sie setzte sich ans Katheder und schaltete den 3-D an. »Vergleichen wir also mal. Jedes Raumschiff trägt etwa 650 Menschen. Auf Asylia landen je vier Schiffe in allen zehn unserer Gemeinden. Nehmen wir an, daß Asylia den Durchschnitt darstellt, obwohl das nicht ganz stimmt. Denn wir sind eine alte Kolonie und können mehr Menschen absorbieren als die neuen Planeten. Also, zehn Städte nehmen viermal jährlich je 650 Menschen auf. Bei hundert bewohnbaren Planeten ...« Die Zahlen perlten auf die Bildschirme der Schüler. »Du siehst, Judy, das macht 2,6 Millionen pro Jahr. Gerade genug, um Madagaskar zu stabilisieren. Und was wird aus Amazonien? Nein, ich fürchte, so geht es auf die Dauer nicht mehr.« Die Diskussion ging weiter, doch Doreens Aufmerksamkeit ließ nach. Die großen Argumente waren genannt worden; die Erde war eben überbevölkert, und das Kolonisationsprogramm konnte zwar die darbenden Millionen ernähren, aber es war nicht der Weisheit letzter Schluß. Es gab nur eine befriedigende Antwort – und über diese hatte man nicht gesprochen, weil sie ein alter Hut war. Seit Erfindung des
Materietransmitters hatten sich die Wissenschaftler die Köpfe darüber zerbrochen, wie man ohne Schaden Lebewesen durch das Raum-Zeit-Kontinuum schicken konnte. Bislang ohne Erfolg. Ein lebendiges Wesen betrat den Transmitter – ein Kadaver kam in der Empfangsstation heraus. Seit vierzig Jahren hatte sich daran nichts geändert. Und die armen Irren, die es heimlich immer wieder versuchten, bewiesen nur, daß nichts gegen die unumstößliche Tatsache getan werden konnte. Aber Pflanzen überstanden die Transmission lebend. Und – waren Breschwars etwa keine Pflanzen? Natürlich unterschieden sie sich von der üblichen Flora. Die Gammler hatten Doreen erlaubt, Teile des von Kronstadt gefällten Breschwars zu untersuchen. Die Zellstruktur bewies, daß die lebenden Bäume zu den Gymnospermen gehörten, obwohl sie gut ausgebildete Tracheen besaßen; die Schiffchenzellen durchsetzten das Holz in einem Maße, daß die Festigkeit darunter litt. Immerhin versahen sie den Baum mit einem rapiden Stoffwechsel. Und als sie entdeckte, daß die Plasmodesmen – die zarten Plasmaverbindungen, die benachbarte Zellen durch die Zellwand miteinander verbinden – stark ausgeprägt waren, drängte sich ihr der Vergleich mit einem Nervensystem förmlich auf. Nichts jedoch erklärte die Intelligenz der Breschwar, und nichts bestärkte sie in dem
Gefühl, daß ihr geplantes Experiment Erfolg versprach. Sie selbst hielt ihren Einfall für verrückt, sprach also mit niemandem darüber und behielt alles für sich. Aber sie würde es Carey schon zeigen, diesem liebenswürdigen Schlaumeier, der sich immer als kluges Köpfchen der Familie aufspielte. Carey hatte die Schule hinter sich, und während des Winters gab es auf dem Hof nicht viel für ihn zu tun. Er war sofort Feuer und Flamme, ein Wochenende mit seiner Schwester bei den Harpers und den Gammlern des Süßwassertals zu verbringen.
9 »Wir sind immer auf der Suche nach neuen Erkenntnissen«, sagte Brixta, den man aus gutem Grund nach dem plötzlichen Tod des alten Kanzlers gewählt hatte. »Es stimmt zwar, daß wir uns hauptsächlich um die Breschwar und um Pflanzen kümmern, aber es stimmt auch, daß wir Wissen anderer Art suchen und teilen wollen. Ich werde einen erfahrenen Lenker bitten, dir bei den ersten Kontakten zu helfen, Doreen. Wenn du etwas Neues lernst«, lächelte er leicht, »dann verlangen wir nur, daß du das Wissen mit uns teilst.« »Ich weiß selber nicht, was ich entdecken werde«, sagte Doreen offen. »Aber du solltest nicht vergessen, daß wir den Mangel der Breschwar entdeckt haben.« »Richtig, kleine Schwester. Ich nehme deinen Tadel an. Fragen wir jetzt Harenta, ob er für dich Zeit hat.« Harenta war ein kleiner alter Mann mit schütterem weißen Pelz und bübischem Grinsen. »Meine Enkel haben Enkel in deinem Alter, Rotschopf«, sagte er nach der formellen Begrüßung. »Aber ich fühle mich nicht zu alt, um Neues zu lernen. Vielleicht haben wir beide was davon.« »Unter den Lindorn ist eine achtjährige, die mehr weiß als wir beide je voneinander lernen können«, sagte Doreen ernst.
»Stimmt. Ist aber keine Ausrede für unser Nichtstun«, sagte der Alte fröhlich. »Bist du jetzt fertig? Gut, dann komm mit in mein Haus, und ich bringe dir bei, wie man die Breschwar anspricht.« Als Doreen am späten Abend zu den Harpers ritt, brummte ihr der Schädel. Sie hatte viel gelernt und gehört und sich alle Mühe gegeben, Harentas sorgsamen Anleitungen zu folgen. Er hatte ihr versichert, daß Übung den Meister mache – aber leicht war es nicht. Sie frühstückten spät, und Harenta holte sie ab, bevor das Frühstück beendet war, und brachte sie zu dem Breschwar, den er für ihren ersten Kontaktversuch ausgewählt hatte. »Eins mußt du wissen, kleine Schwester«, sagte der Alte, als sie in den Wald gingen. »Die Breschwar führen kein gänzlich individuelles Leben, sondern haben eine kollektive Gedankenverbindung. Wenn du dich mit einem Breschwar unterhältst, sprichst du auf einer tieferen Ebene mit allen. Du wirst also die Präsenz der anderen spüren, solltest dich aber nicht darum kümmern.« Doreen nickte und wich einem kleinen Schößling aus. »Ja«, sagte Harenta, »die Breschwar vermehren sich wieder.« Überrascht merkte Doreen, daß der Schößling ein
junger Breschwar war. Sie bückte sich und betrachtete ihn genauer. Dann sah sie sich aufmerksam um. Der parkähnliche Eindruck, den der Hain machte, war seit ihrem letzten Besuch noch ausgeprägter geworden: Büsche, Farne und Unterholz waren verschwunden, außer Gras wuchs nichts anderes auf der Erde. Wie die großen Breschwar stand auch der Schößling an einem günstigen Platz, der ihm Raum zum Wachsen ließ. »Nein«, sagte Harenta, als habe er ihre Gedanken erraten, »die Büsche haben wir auf Wunsch der Breschwar entfernt. Letzten Sommer konnten wir über hundert Setzlinge pflanzen. Früher waren wir froh, wenn es fünf gab.« »Haben die Bäume Eigennamen?« »Nicht in unserem Sinne. Die älteren geben ihnen eine Art Personalität.« Der Alte schloß für einen Moment die Augen. Dann sagte er: »Dieser heißt Fas, soweit meine Zunge den Namen nachbilden kann.« »Fas. Ein hübscher Name.« Sie streichelte die zarten Blätter. »Wir werden bestimmt gute Freunde, Fas.« »Die älteren Bäume spüren dein Lob«, sagte Harenta und fuhr gedämpft fort: »Sie wissen, was du vorhast. Sie begreifen die Worte ›ohne Zeit‹ und ›Leere‹. Sie erlauben dir, Fas durch das Kontinuum zu schikken.«
Doreen hatte nicht gemerkt, daß sie ihre Gedanken gelesen hatten, und doch wußten die Bäume Bescheid. »Oh, laß mich doch versuchen, mit ihnen zu sprechen«, bat sie Harenta. »Ich will ihnen erklären, was ich erreichen möchte.« Der alte Mann zuckte die mageren Achseln. Sie spürte, daß er seine übertriebene Freundlichkeit zurücksteckte. Offenbar glaubte er, sie brauche ihn nicht mehr. Weil Entfernung keine Rolle spielte, legte sie sich neben Fas hin und bemühte sich, an nichts zu denken. Die Bäume sprachen nicht mittels Sinneseindrücken, wie es die Gammler taten. Die Empfindungen der Säugetiere waren den ihren so unähnlich, daß die beiden Lebensformen nur wenige Bezugspunkte fanden. Den Menschen zuliebe dachten die Bäume in Worten, aber es fiel ihnen sehr schwer und kostete Zeit. Während des Kontaktes war das menschliche Gehirn immer in Gefahr, von der geballten Geisteskraft der Breschwar überrollt zu werden, und man mußte ruhig abwarten, sich an seine Identität klammern, wenn Wort auf Wort im Bewußtsein entstanden. Übung erleichterte den Vorgang. Trotzdem konnte es immer wieder vorkommen, daß ein Lenker den Kontakt mit der Wirklichkeit verlor und von dem Strom davongerissen wurde. Wenn das geschah, unterbrachen die Breschwar den Kontakt. Es war ein
beunruhigender Vorgang, der alle, die ihn erlebten, an den Rand eines Nervenzusammenbruches brachte. ICH – GRÜSSE – DOREEN sprach eine gewaltige Stimme mit Untertönen aus tausend leisen Fragen und Anspielungen. Doreen ließ sich nicht ablenken und klammerte sich an die Worte. Eine der Anspielungen schmeckte nach Lob. Sie merkte, daß es von einem anderen Breschwar kam, als dem, mit dem sie Kontakt hatte. WIR – FREUEN – UNS – zeitlose Pause – DU – HIER – KÖNNEN – NICHT – SAGEN – WAS – DU WISSEN – WILLST – leichte Verwirrung – WEIL – lange Pause – WIR – GLAUBEN – ES – GEHT – MACHE – VERSUCH – BILDE – FAS – dann nichts mehr. Die weisen alten Geister schwiegen. Doreen schlug die Augen auf und fühlte sich abgespannt wie nach einem langen Arbeitstag. Harenta empfing im Stehen eine Botschaft, als Doreen sich aufrichtete. »Ich soll dir sagen, daß sie sich an deinen letzten Kontaktversuch erinnern. Sie haben absichtlich nicht geantwortet.« Die höflichen Worte des alten Mannes klangen zurückhaltend. »Es hätte dir geschadet, weil du noch keine Lenkerin warst.« »Nachdem ich mit ihnen gesprochen habe, glaube ich das auch«, erwiderte Doreen. Aber ihr unverwüstlicher Humor gewann die Oberhand, und sie lächelte ihren Mentor schelmisch an.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Harenta, großer Meister. Sie verzeihen mir, daß ich mit den Breschwar sprechen wollte, und ich weihe Sie in den Plan ein, dem die Bäume gerade zugestimmt haben.« »Ich sagte gestern schon, daß ich lernen und lehren will«, entgegnete Harenta feierlich. Doch seine Augen funkelten belustigt. Am Abend, als Doreen und Carey sich auf den langen Heimweg machten, erzählte sie von ihrem Erfolg und daß sie einen Baum adoptiert hatte. »Mutter hat's ertragen, als ich ein Polypat, ein Eichhörnchen und eine kleine Flugkatze ins Haus brachte«, schloß sie kichernd, »was sagt sie wohl, wenn ich einen Baum mitbringe?« »Mitbringen? Du wirst Fas doch nicht umpflanzen?« »Na ja, nicht für immer. Er ist ja noch jung. Ein Kübel Erde reicht ihm. Ich werde ihn auch erst in ein paar Monaten ausgraben und ab und zu mitbringen. Ansonsten bleibt er wo er ist. Übrigens, ich werde ihm aus der Schule einen besonderen Dünger mitbringen. Harenta will ihn besonders gut pflegen, und die älteren Bäume haben nichts dagegen.« »Du hast ja eine ganze Menge geschafft«, sagte Carey und schwieg. Noch hatte Doreen ihm ihren Plan nicht enthüllt. Insgeheim befürchtete er, daß er es noch bereuen würde, ihr geholfen zu haben.
Sie brachte Fas nach Hause mit, als er etwa ein Asyliajahr alt war. Es war noch nicht Sommer, aber Fas war bereits über einen halben Meter hoch, und sein Stamm nahm langsam die feiste runde Form an, die so charakteristisch für den Breschwar war. Doreen hatte ihn in einen großen Bottich gepflanzt, der nun seine bewegliche Heimstatt geworden war. Nachdem sie ihn auf die Südseite des Hauses gestellt hatte, versicherte er, daß er sich ganz wohlfühle. Der Spezialdünger, mit dem Doreen Fas in genau bemessenen Mengen »fütterte«, beeinflußte sein Wachstum ebenso günstig wie das Borax. Die Borsalze brauchten nur in Spuren vorhanden zu sein, um Fas Intelligenz und Wachstum anzuregen, und er wußte genau, wieviel er davon absorbieren mußte. Vom Spezialdünger jedoch konnte er nicht genug bekommen, was Doreen daran erinnerte, daß er schließlich noch ein Kind war. Sie fragte die älteren Breschwar, ob sie etwas wie Leckerbissen kannten. Als sie verneinten, berichtete sie von Fas Appetit. Sie berieten sich eine Weile. Dann kamen sie zu dem Schluß, daß Fas absichtlich schnell wachsen wollte. Sie beruhigten Doreen und versprachen, daß sie Fas Wachstum beobachten und korrigieren würden, wenn er zuviel des Guten tat. In den Winterferien schickte sie Fas zum erstenmal durch den Transmitter.
Fas war jetzt eineinhalb Jahre alt und einszwanzig hoch. Der Bottich mußte gegen einen größeren getauscht werden, weil ein paar seiner längeren Wurzeln bereits gegen die Wand stießen. Er wog einen Zentner, wenn man Bottich und Erde mitrechnete, und Carey und Onkel Harvey mußten ihn für sie auf den Wagen laden. Ihr Erscheinen im Transmitterhaus verursachte einen kleinen Aufstand. »Was, zum Teufel, ist das?« fragte Hamrick, der Transmitterführer und kam aus dem Führerstand. Er mochte Doreen, wenn sie auch nicht wußte warum. Er war der älteste Einwohner Asylianums und bediente die Transmitterzentrale seit ihrer Errichtung vor mehr als zwanzig Jahren. »Das ist ein Breschwar. Sehr seltsame Pflanzen. Ich will sie einer Freundin auf der Erde schicken, damit sie in der Biologieklasse untersucht werden kann. Ich habe hier nicht die Gelegenheit dazu.« »Dann mache dich mal auf einen Papierkrieg gefaßt«, lachte Hamrick. Die Transmission kostete nichts, aber private Sendungen mußten genehmigt werden. »Den habe ich schon hinter mir«, sagte Doreen und gab ihm einen Stapel Dokumente. Obenauf lag die Genehmigung, die Hamricks Vorgesetzter unterschrieben hatte. Außerdem waren ein Seuchenpaß, drei Briefkopien des Schriftwechsels zwischen Mrs.
Marble und dem Stationsleiter, eine Pflegeanleitung und noch ein paar Papiere darunter. Hamrick interessierten nur die Genehmigung und das Seuchenzeugnis, die er in den Vorgang übernahm. Die Pflegeanleitung band er mit einer Schnur an Fas' Stamm fest. Die Arbeiter waren schon dabei, die Plattform zu beladen. Asylia sendete morgens und empfing nachmittags, und die heutigen Transmissionen waren fast beendet. Fas kam in die letzte Sendung. VIEL GLÜCK KLEINER FREUND dachte sie. KEINE – ANGST kam die langsame Antwort, ICH – SCHAFFE – ES. Doreen machte sich über die Transmission keine Sorgen, eher befürchtete sie, daß Fas auf der Erde eine sensitive Person entdecken und versuchen könnte, mit ihr in Verbindung zu kommen. Sie hatte ihm eingeschärft, so etwas nicht zu tun. Er wußte, daß der Empfänger kein Lenker war und nichts von seinen Fähigkeiten ahnte. Aber Fas war eben noch ein Kind und wäre ganz allein in einem fremden Land. Die Arbeiter verließen die Plattform, die gelben Warnblinker zuckten, Hamrick justierte die Einstellung und drückte auf den roten Knopf. Die Gegenstände verschwammen, zitterten und – waren weg. Doreen verließ die Station und fuhr schweren Herzens mit dem Traktor nach Hause. Eine lange Woche – dann würde sie Antwort haben.
Die Meldung im Radio, die sie zwei Tage später hörte, machte ihre Sorgen nicht gerade geringer. Ein Mann hatte sich versteckt und sich transmittieren lassen, weil er glaubte, eine Methode gefunden zu haben, den Prozeß lebend zu überstehen. Natürlich kam er dabei um. Doreen machte sich Vorwürfe, denn sie würde es sich nie verzeihen, wenn sie Fas umbrachte. Und hatte sie das Recht, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, wenn sie damit denen, die sie liebte, so viel Schmerz zufügen würde? Fas' Rückkehr war für den letzten Ferientag geplant. Doreen tat an diesem Morgen ihre Arbeiten so geistesabwesend, daß Maud sie zweimal zur Ordnung rufen mußte. Als das Funksprechgerät zirpte, war sie die erste am Mikrofon. Schon zweimal hatte sie kein Glück gehabt, aber diesmal antwortete Hamricks freundliche Stimme. »Was? Eine Sendung für mich? Ich komme sofort, Mr. Hamrick!« sagte sie und rannte hinaus. Schade, daß Carey und Onkel Harvey den Trecker brauchten und sie zwei Stunden warten mußte, bis sie ihre Arbeit beendet hatten. Dann schaukelte sie im Schalensitz des Treckers nach Asylianum. Sie entdeckte Fas sofort, als sie die Station betrat. Er stand gleich hinter der Tür. Zwischen zwei Schritten projizierte sie GESUND GLÜCK ERFOLG FREUDE und empfing ein mühsames TEILERFOLG.
Hamrick winkte sie zu sich. In der Zwischenzeit trugen zwei junge Männer den Kübel mit Fas zum Anhänger. »Hier ist der Brief von deiner Freundin. Er kam ohne Umschlag, und ich hab ihn überflogen. Sie hat offenbar entdeckt, daß es solche Bäume gar nicht gibt. Na ja, unterschreib hier mal.« Doreen lachte und unterschrieb. Dann machte sie sich auf den Heimweg. Der Traktor rumpelte über die Feldwege, und Fas überstand die holprige Fahrt in seinem Kübel recht gut. »Warum hat es nicht hundertprozentig geklappt?« fragte sie Fas. AUF – ERSTER – REISE – VERLETZT kam die überraschende Antwort. ZWEITE – TRANSMISSION – GUT – SCHADENSGRUND – NICHT – ERMITTELT. Fas' Optimismus hatte sich also nicht bestätigt. Aber Gott sei dank lebte er und schien keinen Schaden genommen zu haben. ICH – MUSS – NOCH – EINMAL – REISEN fuhr Fas langsam fort. DANN – FINDE – ICH – URSACHE. Nicht, bevor ich mit den Ältesten gesprochen habe, dachte Doreen bei sich. Offen projizierte sie: IST ES GEFAHRLOS? JA – ABER – ÄLTESTEN – MÜSSEN – UNTERSUCHEN – FÄHRST – DU – MICH – HEIM?
Doreen errötete. Glücklicherweise konnte Fas es nicht sehen. ICH – BRINGE – DICH – NACH – HAUSE projizierte sie und schwieg. Der Weg zum Süßwassertal war lang. Offenbar sprachen die Breschwar untereinander genauso langsam wie mit den Menschen. Erst drei Monate später, als sie Fas gerade von ein paar Schlingpflanzen befreite, die ihn belästigten, projizierte er ICH – BIN – BEREIT. Hinter seiner Projektion spürte Doreen die Gegenwart und Zustimmung der anderen Breschwar. Die zweite Transmission zu bekommen, klappte nicht so reibungslos wie das erstemal. Schließlich mußte sie ihre Brieffreundin teilweise einweihen und ihr schreiben, daß sie den Effekt der Transmission auf junge Bäume untersuchen wollte. Nachdem die Rücktransmission gesichert war, ging sie zu Mrs. Marble und sagte ihr, daß ihre Brieffreundin sie gebeten habe, noch einen Baum zu schicken. Die gute Dame ahnte nicht, daß es sich um denselben Baum handelte, füllte die Anforderung aus und bald darauf wurde der Antrag genehmigt. Carey betrachtete die Angelegenheit ziemlich voreingenommen, doch er half Doreen, Fas in den Bottich zu pflanzen und ihn zur Transmitterstation zu bringen. Doreen hatte sich ihm noch nicht anvertraut,
aber er ahnte etwas. Und Doreens Idee gefiel ihm ganz und gar nicht. Fas kehrte bereits einen Tag später zurück. Als Carey und Doreen ihn abholten, projizierte er sofort HABE – ANTWORT. Sie warf Carey einen Blick zu, doch der hatte offenbar nichts gehört. Sie streichelte Fas' rauhe Rinde. »Wir sprechen später darüber, kleiner Freund.« Fas wollte diesmal im Bottich bleiben und ein paar Tage auf dem Sheldonhof verbringen. Während der nächsten Wochen besuchte Doreen ihn bei jeder passenden Gelegenheit und ließ sich in das Geheimnis der Lebenskraft-Lenkung einweihen. Der Frühling ließ die ersten Knospen schwellen. Fas bat darum, wieder in die Erde gepflanzt zu werden. Sie brachte ihn ins Süßwassertal. Carey hatte mit der Frühjahrsbestellung zu tun, aber Sam Harper half ihr beim Umsetzen. Fas bedankte sich artig. Als sie gehen wollte, hielt der junge Breschwar sie auf. KOMME – 30 – TAGE – HER – BRINGE – BETT – MIT sagte er. WIR – ZUSAMMEN – REISEN. Glücklich und zufrieden fuhr sie heim und erzählte Carey endlich, daß sie sich auf die Erde transmittieren lassen wollte.
10 Varinov English war ein geduldiger Mann – Geduld war eine Voraussetzung für seinen Job als Sicherheitsbeauftragter eines Grenzplaneten –, doch diesmal wurde seine Geduld auf eine harte Probe gestellt. »Schau mal, Doreen«, sagte er gereizt. »Ich habe versucht, dich zu überzeugen. Meine Antwort ist und bleibt Nein. Außerdem möchte ich, daß du uns vom Halse bleibst und vor allen Dingen Hamrick nicht immer auf den Wecker fällst. Er hat schließlich genug damit zu tun, diesen Schrotthaufen in Gang zu halten. Er kann sich nicht dauernd um deine Wünsche kümmern.« Doreen war genauso hartnäckig. »Varrie, wenn Fas es sagt, dann stimmt's. Oder wollen Sie sich etwa der größten Entdeckung seit Erfindung des Transmitters in den Weg stellen?« English antwortete nicht, drehte sich um und winkte zwei Arbeitern. Auf seine Geste hin packten sie den schweren Kübel und schleppten ihn ächzend hinaus. Doreen stemmte die Fäuste in die Hüfte und lief rot an. Hamrick riskierte einen Seitenblick. Was sie verlangt hatte, war wirklich ein starkes Stück. Besonders für ihn. »Varrie English ... ich hoffe, Sie ersticken!« zürnte
Doreen. Ihre roten Haare flatterten wütend, als sie mit dem Fuß aufstampfte. Aber als English sich höflich verneigte und auf die Tür wies, ging sie wortlos hinaus. Trecker und Anhänger warteten vor der Tür. Fas aufzuladen überstieg ihre Kräfte. Der buschige Breschwar und sein Bottich wogen fast vier Zentner. Doreen sah sich nach Carey und Timmy um, aber die ungepflasterte Straße war leer. Sie ging um den Marktplatz und sah in die nächste Straße und entdeckte wirklich die beiden, wie sie auf sie zukamen. Timmy spürte ihren Zorn sofort. Ein breites Lächeln lief über sein haariges Gesicht, und er strahlte FRIEDEN ZUFRIEDENHEIT TROST RUHE aus. Ärgerlich verwies sie ihn aus ihren Gedanken und mußte seinen lachenden Rückzug anhören. »Na, damit hättest du rechnen können, Schwesterchen«, grinste Carey. »Hamrick und English kannst du nur mit handfesten Beweisen überzeugen.« »Keine langen Vorträge, Carey«, sagte Doreen steif und ging mit ihm zum Traktor zurück. »Ich weiß auch Bescheid. Du hast ja bloß Angst, daß ich mich irre. Deshalb bist du auch dagegen.« Carey zuckte die Schultern. »Du sagst, du kannst es, und Fas sagt, du wirst es wahrscheinlich schaffen. Das ›wahrscheinlich‹ macht mich stutzig.« »Aber ich bin die einzige, die es kann, Carey. Na-
türlich kann man es lernen. In einer Stunde könnte Fas es Timmy beibringen. Selbst ein Dickkopf wie du kann es lernen. Das ist der springende Punkt. Ich spiele doch nicht aus Jux mit meinem Leben. Die ganze Menschheit kann davon profitieren.« »Danke für das Kompliment, Schwesterchen«, entgegnete Carey trocken. Sie wuchteten den Bottich auf den Anhänger. Dann setzte sich Carey auf den Bock und Doreen und Timmy kletterten auf den Anhänger. Carey gab Gas, der Traktor zischte und rollte an. Zwei Minuten später waren sie aus der Stadt und rollten auf das ockergrüne Land. »Bringst du Fas noch heute zurück?« fragte Carey, als sie auf den Hof rollten. »Nur, wenn er will«, sagte Doreen, die nachdenklich Fas' rauhe Borke streichelte. »Eine Woche hält er es noch aus. Er würde gern hierbleiben, wenn wir nichts dagegen haben.« Sie gab Fas' Stamm einen Klaps und ging ins Haus, während die beiden Jungen Fas' Kübel in die Sonne stellten. Die Sheldons waren gerade mit dem Mittagessen fertig, als ein Trecker in den Hof fuhr. Carey ging an die Tür und ließ Sam Harper ein. Harper hielt das Lokalblättchen in der Hand und machte ein ernstes Gesicht. »Schlechte Nachrichten,
Carey. In Amazonien ist eine Revolution ausgebrochen. Revolution ist vielleicht etwas zu hoch gegriffen. Sieht eher so aus, als sei die Verwaltung zusammengebrochen. Anarchie könnte man sagen. Hat schon auf Brasilien übergegriffen und dehnt sich rasch an die Westküste aus.« Carey nahm die Zeitung und überflog sie rasch. Die Psychologen schoben die Unruhen auf eine sich seit Jahren anstauende Massenpsychose, vor der sie wiederholt gewarnt hatten: Der Mann auf der Straße suchte sein Gesicht, die stummen Puppen vor den 3D-Schirmen hatten endlich abgeschaltet. »Ich kann's ihnen nicht verdenken«, nickte Harper. »Mich wundert nur, daß es überhaupt noch ein paar Leute gibt, die was dagegen tun wollen. Eigentlich fangen doch die Frustrationen schon mit der Geburt an. Und aufhören tun sie erst, wenn der Deckel der Kompostierungsanlage hinter einem zufällt. Hast du gewußt, daß sie wieder achtundvierzig Stunden arbeiten müssen, weil es nicht genügend Freizeiteinrichtungen gibt? Hast du mal darüber nachgedacht, daß fast alle Jobs und Berufe reine Beschäftigungstherapie sind, damit man die Zeit so schmerzlos wie möglich totschlägt? Trotzdem sind die meisten Menschen so apathisch, daß man sie zum Auswandern zwingen muß.« »Ich weiß, Harper. Hundert Jahre lang könnten wir
jedes Jahr eine Million Menschen aufnehmen. Und was kriegen wir? Ein paar lausige Tausend. Auf den anderen Planeten ist es nicht anders. Mensch, Harper, jede Woche werden hundert neue Planeten entdeckt!« Harper nickte. »Wem sagst du das.« Carey drehte sich um. »Doreen!« Sein Ruf klang so drängend, daß sie sofort kam. »Ich habe Timmy gerade gerufen. Wir fahren noch mal in die Stadt. Du sollst deine Chance bekommen!« Carey koppelte den Anhänger an und fuhr den Traktor vors Haus, während Doreen Harper erklärte, woran sie im letzten Jahr gearbeitet hatte. »Man muß sich zurückziehen, Sam. Ganz in sich verkriechen, damit der Schock der Transmission keine große Angriffsfläche findet. Die Maschine übermittelt jedes Atom des Körpers. Aber während des Auflösungsund Ballungsvorgangs entsteht ein tödlicher Schock. Fas hat das beim ersten Male ziemlich schmerzhaft zu spüren bekommen. Er wußte eben noch nicht, worauf er achten sollte. Aber er sagt, daß jedes intelligente Wesen es kann. Man muß noch nicht einmal ein Lenker sein, obwohl es Lenkern natürlich leichter fällt. Stell dir mal vor, wenn es klappt! Dann gehört die ganze Galaxie uns! Und die Frustrationen haben endlich ein Ende!« »Wieso bist du so sicher? Zwischen Flora und Fauna ist ein großer Unterschied. Wer weiß denn schon,
wie groß die geistigen Fähigkeiten der Breschwar wirklich sind!« »Ich, zum Beispiel. Vergiß nicht, ich bin ein Mensch. Und der Mensch kann sich beherrschen. Ich kann meine Wahrnehmungen so weit reduzieren, wie es ein Tier niemals bewußt fertigbrächte.« »Doreen, vergißt du nicht, daß die Fanatiker genau dasselbe behaupten? Vergißt du nicht, daß sie bei ihren Versuchen allesamt draufgingen?« »Sie haben weder mein Wissen noch meine Ausbildung gehabt, Sam.« Zu weiteren Diskussionen blieb keine Zeit mehr. Timmy war angekommen und schaffte mit Carey den Baum auf den Anhänger. »Soll ich mitkommen, Carey?« fragte Harper. »Vielleicht braucht ihr noch einen starken Mann.« »Danke, Sam. Wir wollen lieber unseren Geist einsetzen.« Der Bauer sah ihnen kopfschüttelnd nach und ging zu Maud, um mit ihr auf das Ergebnis zu warten. Carey hatte eine Plane mitgenommen und breitete sie über den Anhänger, obwohl Fas leise dagegen protestierte, daß man ihm die Sonne raubte. Die Leute hatten die Sache mit Fas spitzgekriegt und wußten, daß Doreen behauptete, sie könne gefahrlos transmittieren. Sie wollten ihren Versuch nicht an die große Glocke hängen.
Hamrick saß im Leitstand und führte Buch. Er hob den Kopf und seufzte kummervoll, als er die drei jungen Leute hereinkommen sah. Doreen war wohl das hartnäckigste Mädchen, das er je getroffen hatte, schlimmer noch als ihre Mutter. Maud Sheldon war die einzige Witwe, die einen Antrag von Claude Hamrick bekommen hatte. Als sie ablehnte und es vorzog, mit der Erinnerung an ihren Mann zu leben, war er Junggeselle geblieben. Doch seine heimliche Liebe war nicht erloschen, und das war die weiche Stelle, über die Doreen sich gewundert hatte. Varinov English war nirgends zu sehen. Carey seufzte erleichtert. Sie waren gute Freunde, und er wollte sich höchstens erst nach der Transmission mit ihm streiten. Die drei Arbeiter lästerten, als sie den letzten Wagen aus der Station brachten, und Hamrick stand ächzend auf. »Ham, ich möchte, daß Sie Doreen und den Baum auf die Erde schicken. Bitte tun Sie's freiwillig. Wenn nicht, werde ich Sie dazu zwingen.« Hamrick rückte indigniert die Schultern zurecht. Carey konnte ihn zu nichts zwingen. Aber der Junge meinte es offensichtlich ernst, und er wollte ihm seine guten Absichten nicht übelnehmen. Viele Leute, die geglaubt hatten, die Antwort zu kennen, waren zugrunde gegangen; nein, rausschmeißen würde er
Carey nicht. Aber ihn überzeugen, das wolle er versuchen. Langsam schüttelte er den Kopf. Er machte den Mund auf und fand sich plötzlich wie an den Fußboden genagelt. Eine unbekannte Kraft hatte ihn gepackt, fremde Finger blätterten seine Gedanken auf, eisige Taubheit rann ihm den Rücken hinunter. Verzweifelt kämpfte er gegen die Kraft an, die die motorischen Impulse seiner Nerven lenkte, verlor und mußte dulden, daß er mit unsicheren Schritten zum Leitstand gelenkt wurde. Hamrick war nicht dumm. Bereits als er die Tür erreichte, konnte er sich wehren. Mit großer Anstrengung gewann er Kontrolle über seinen Körper, drehte sich um und bewegte stumm die Lippen. Dann waren die Finger aus seinem Kopf verschwunden. Da stand er nun, ein alter, zittriger Mann, der etwas Unbegreifliches erlebt hatte. Careys Miene war ernst. Er ließ Hamrick nicht aus den Augen. Der Alte fuhr sich mit flatternder Hand über die Stirn. »Zwinge mich nicht, Carey«, brachte er heraus. »Zwinge mich nicht dazu. Ich liebe sie wie eine Tochter. Ich kann sie nicht in den Tod schicken.« Aber dann kamen die Finger wieder, noch mehr, und er spürte Doreens Gegenwart und wußte, daß es vorher Timmy und Carey gewesen waren. Sein Kör-
per bewegte sich wie eine Marionette durch die Tür und nahm vor dem Steuerpult Platz. Er fürchtete sich vor den lappigen Bewegungen seiner Hände und ahnte, daß er die Transmission verderben würde. Sie spürten seine Angst und zogen sich zurück. Carey und Timmy stellten den Bottich auf die Plattform und Hamrick schaltete mit zitternden Fingern die Energiezufuhr ein. Die große Maschine erwärmte sich. Hamrick drückte den Signalknopf. Nach einer Weile flammte das Bestätigungssignal auf. Er schloß die Augen und fragte sich, was der Transmitterführer auf der Erde sagen würde, wenn plötzlich ein totes Mädchen auf der Plattform materialisierte. Als er die Augen öffnete, lag Doreen mit geschlossenen Augen neben dem Baum. Sie atmete flach, und ihr Gesicht war ausdruckslos. Carey machte eine ungeduldige Handbewegung. Hamrick verfluchte sich und legte den Schalter um. Doreen und der Baum verschwammen und verschwanden. Er senkte den Kopf und schluchzte in bitterer Enttäuschung. Etwas Unbekanntes drängte sich sanft in seine Gedanken, ein Gefühl der Heilung und des Trostes. Gegen seinen Willen beruhigte er sich, fühlte sich stark genug, sich wieder aufzurichten, die Tränen zu trocknen und das Armaturenbrett zu kontrollieren. Die Instrumente starrten ihn mit leeren Skalen an;
nur die leuchtenden FREI-Signale und Eichinstrumente bewiesen, daß der Transmitter arbeitete. Er regelte einen Thyristor nach, stimmte die Spannung auf den Scheitelpunkt ab und schaltete auf Empfang. Sein Herz war ein taubes Loch. Doreen war tot. Carey und Timmy traten in den Leitstand und blieben hinter ihm stehen. Er schaute ihnen in die jungen Gesichter: Carey war ruhig und unbewegt, Timmys Ausdruck ließ hinter der pelzigen Maske den üblichen Ernst erkennen. Hamrick hatte das entsetzliche, unerklärliche Gefühl, daß zwei junge Götter bei ihm waren. Die gelbe Warnleuchte blitzte. Die Erde wollte transmittieren. Seine Hände zitterten, als er die Resonanz abstimmte. Sekunden später flimmerte die Luft über der Plattform. Doreen und der Baum tauchten auf. Das Mädchen rührte sich nicht. Bevor er sich fragen konnte, warum der andere Operator eine Tote zurückschickte, flatterten Doreens Lider, hob sich ihre Brust, und Doreen stand auf. Lächelnd und stolz kam sie über die Plattform auf Hamrick zu. Dann stand sie neben ihm und umarmte ihn stürmisch. Sie stammelte Entschuldigungen und war wieder die kleine Doreen Sheldon. Er dachte, daß seine alten Sinne ihn trogen; es war wirklich Zeit, nach Hause und ins Bett zu gehen ... Auf dem Heimweg schilderte Doreen, wie einfach
die Reise gewesen war, wie leicht man den Lebensfunken im Unterbewußtsein verstecken konnte, so daß er den Schock nicht spürte, und was für ein entsetztes Gesicht der Transmitterführer auf der Erde gemacht hatte, als sie auf der Plattform materialisierte. Er wollte sie erst nicht zurückschicken, als er endlich begriff, was Doreen geschafft hatte. Aber sie und Fas konnten ihn überreden. »Bist du sicher, daß normale Menschen den Trick lernen können?« fragte Carey, als sich ihre Freude etwas gelegt hatte. »Und ob. Wer erst einmal begriffen hat, wie man sich in sich selbst verkriecht, übersteht die Transmission spielend. Man muß sich eben nur ein wenig konzentrieren. Jedes halbwegs intelligente Wesen, das sich geistig sammeln kann, kann transmittiert werden.« »Ich werde morgen den Bund unterrichten«, sagte Carey und holte tief Luft. »Ich denke, das wird die Unruhen dämpfen. Aber jetzt stehen wir vor einem neuen Problem: Wie können hunderttausend Asylianer mit Millionen Menschen fertigwerden, die nächstes Jahr kommen?« Doreen lächelte nur und schaute auf die riesige Scheibe von Antares, der purpurn hinter den Horizont sank. Der Bund bekam Arbeit. Und mußte eben damit fertig werden.
11 Das Dorf schien wohlhabend und machte einen gepflegten Eindruck. Die Blockhäuser waren nach Erdenmenschenart gebaut und standen in ordentlichen Reihen an der Straße. Das Gammler-Dorf machte eher den Eindruck einer Erdenstadt aus dem Mittelalter, wie Timmy es aus Geschichtsbüchern in Erinnerung hatte. Er war ins Dorf gekommen, als die Sonne gerade hinter dem Wald versank. Mit gemischten Gefühlen dachte er an den Abschied von Doreen, die nicht verstehen konnte, warum er ein paar Tage vor ihrer Verlobung auf Havasid gehen mußte. Sie hatte gesagt, daß sie nicht versprechen könne, auf ihn zu warten; ein Jahr war lang, und sie dachte ganz realistisch daran, wie sie beide sich in dieser Zeit ändern könnten. Auch das liebte er an ihr. Doch dann hatte er die Tochter Brixtas getroffen, Biledscha mit den goldenen Flecken, und wußte nicht mehr, ob er auf Doreen hoffen sollte. Eine Gruppe von Frauen kam die breite Landstraße entlang. Die Landstraße begann hinter dem Rand der kleinen Stadt und verschwand in der Ferne. Einige Männer folgten den Frauen, lachten und scherzten mit ihnen. Mit Bestürzung sah Timmy, daß alle irdische Kleidung trugen.
»Kann ich Ihnen helfen, Fremder?« Timmy drehte sich um und fand sich einem Mann gegenüber, der nur wenig älter als er war. »Ja, ich denke schon. Ich bin Timmy, Sohn des Nijub, der Kanzler von Lindorn ist. Ich bin auf Havasid. Sie wissen sicherlich, was das bedeutet. Sagen Sie mir bitte, was das für Gamla sind, die dort in den Kleidern der Pelzlosen ins Dorf kommen.« Der junge Mann sah Timmy respektvoll an und streckte die Hand aus. »Mein Name ist Karul. Seit dem Tode meines Vaters vor zwei Jahren bin ich Kanzler des Dorfes. Sie sind der erste Pilger, den ich mit eigenen Augen sehe. Willkommen. Und was Ihre Frage betrifft, die Leute arbeiten für die Pelzlosen. Die Frauen helfen im Haushalt, die Männer bei der Feldarbeit oder in den Geschäften der Stadt. Das Geld, das sie verdienen, hat uns wohlhabend gemacht.« »Und was ist das für ein Haus mit dem Glitzerbaum auf dem Dach?«, fragte Timmy und zeigte auf ein langgestrecktes flaches Gebäude, das den Mittelpunkt der Stadt bildete. »Das ist unser Rathaus«, sagte der Kanzler. »Und der Glitzerbaum, wie Sie es nennen, ist eine 3-DAntenne. Im Haus steht ein Empfänger, und wir alle sehen uns gern die verrückten Leute an, die auf seinem Auge erscheinen.«
Während der Unterhaltung waren sie weitergegangen. Karul blieb vor seinem Haus stehen und bat Timmy, einzutreten. Er wurde Karuls Mutter vorgestellt, die ihm den Haushalt führte, weil er nicht verheiratet war. Timmy murmelte einen kurzen Gruß und fragte Karul weiter aus. »Wir haben kein 3-D. Unsere Geschichtenerzähler versammeln die Kinder um sich und lassen sie die alten Märchen hören und erleben. Wir glauben, das ist besser als 3-D. Gibt es in Ihrer Gemeinde noch Lenker und Bilderdenker?« »Nein. Seitdem wir die Ausbildung zum Lenker einstellten, nicht mehr.« Karul sprach die verhängnisvollen Worte ohne Anteilnahme aus. Eine unerträglich lange Pause entstand. Ungeduldig wartete Karul auf die nächste Frage, bis er schließlich sagte: »Und was will der Pilger noch wissen?« »Ich habe schon genug gehört«, sagte Timmy müde und stand auf. »Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft. Ich muß mich verabschieden, weil ich nicht unter Gamla bin und die Gegenwart von Zwittern nicht ertragen kann.« Er ging zur Tür, blieb aber noch einmal stehen und sagte ernst: »Ich kann nur sagen, daß Ihre Gemeinde einmal groß war. Die Maschinen der Pelzlosen haben eure Größe zerstört. Zwei Tagesmärsche nach Westen ist ein Hain fruchtbarer Bäume, in dessen Mitte ein
hohler Breschwar steht. In seiner Höhlung hielt ich Schuhalla, die Unfruchtbare, in den Armen, bis ihr Lebenslicht erlosch. Sie war eine der besten Lenkerinnen, die ich getroffen habe und Jo'ran, Ihr Vater, war der bedeutendste Kanzler, von dem ich je hörte. Jetzt muß ich erleben, daß die Gemeinde, die diese beiden hervorragenden Gamla hervorbrachte, ihren Kindern die Geheimnisse des Lenkens vorenthält, und der Sohn des Kanzlers sie in den Untergang führt.« Mit diesen Worten beging Timmy die Todsünde, die Gefühle anderer bewußt zu schmähen und seinen Gastgeber zu beleidigen. Er wandte sich endgültig zum Gehen und schritt rasch auf den Stadtrand zu. »Warten Sie!« rief eine harte Stimme hinter ihm her. Timmy blieb stehen und wartete, bis Karul ihn erreicht hatte. Karuls Gesicht war voller Zorn und Trauer. »Ich glaube, Sie sind nicht auf Havasid, um Wissen zu sammeln, sondern um Ihre vorgefaßte Meinung bestätigt zu finden«, sagte Karul Timmy ins Gesicht. Rasch versammelten sich ein paar Neugierige, die gespannt dem Duell der Worte zuhörten. »Mir scheint, Sie verstehen nicht allzuviel von der Sache. Es stimmt, daß Schuhalla die größte Lenkerin war. Und es stimmt, daß mein Vater versuchte, ihre Gabe
nicht aussterben zu lassen. Sie wissen ja, welche Persönlichkeit mein Vater gewesen sein muß, wenn es ihm trotz unseres strengen Kodex gelang, acht Lenker zum Beischlaf mit Schuhalla zu bewegen. Und was ist daraus geworden? Es war alles vergeblich. Ersparen Sie mir die Schilderung. Und doch hätte es nicht so sein müssen! Ich habe mit dem Arzt der Pelzlosen darüber gesprochen. Und er versicherte mir, daß er Schuhalla hätte kurieren können. Glauben Sie immer noch, daß wir einen Fehler machen, wenn wir das Wissen der Pelzlosen lernen wollen?« »Auf Kosten eures eigenen Wissens«, sagte Timmy, der sich mühsam beherrschte. »Ihr greift nach der fremden Frucht hoch im Baum und laßt die eigenen Früchte vor euren Augen verfaulen.« »Ist das so schlecht? Die Geschichte der Pelzlosen reicht nur ein paar tausend Jahre zurück. Eine Zeit, die viel kürzer ist als unsere Geschichte. Sehen Sie sich die Pelzlosen an. Sie zählen heute nach Milliarden, bewohnen hunderte von Planeten und leben in Wohlstand und Luxus, wie wir armen Wilden es uns kaum vorstellen können. Was haben wir denn in all den Jahren erreicht? Einige wenige Genies wie Schuhalla und Micka, die, wie ich höre, aus Ihrem Volk stammt. Die Erdmenschen sind auf dem richtigen Weg. Wir gehen auf einem steinigen Pfad ins Nichts. Doch jetzt haben wir eine andere Richtung eingeschlagen
und kümmern uns nicht darum, was ein Emporkömmling wie Sie davon hält.« Karul war wütend und Timmy merkte, daß er Rückgrat hatte. Dieser junge Mann war ein würdiger Nachfolger seines Vaters. »Ich erkenne meinen Irrtum«, sagte Timmy langsam. Die Menge atmete erleichtert auf. »Unwissentlich nahm ich an, daß ihr die Sitten der Vorväter ohne Absicht aufgegeben habt. Ich sehe, daß dem nicht so ist: Ihr habt die Fragen durchdacht und bewußt den Weg beschritten, den ihr für den besseren haltet. Ist dies aber weise? Solltet ihr, von denen eine Schuhalla stammt, die Lehren verdammen, die sie zur Größe führten? Merkt ihr nicht, daß ihr einen hohen Baum besteigen wollt und nicht wißt, ob eure Kinder je die Krone erreichen? Habt ihr nie darüber nachgedacht, zu welchen Dingen eine Gemeinde fähig wäre, die aus Menschen wie Schuhalla und Micka besteht? Richtig, die Pelzlosen sind ein großes und mächtiges Volk. Habt ihr aber jemals einen Zufriedenen unter ihnen gesehen? Ich sage euch, der einzelne Erdenmensch ist unglücklich, während ihr unter uns nach Unzufriedenen suchen müßt. Denkt darüber nach, bevor ihr die alten Sitten gegen ein neues fremdes Leben eintauscht.« »Das taten wir«, sagte Karul ruhig. »Es wird keine Schuhalla mehr in meiner Gemeinde geben, die unter Schmerzen tote Kinder gebärt, und kein Mann wird mehr zu Handlungen gezwungen werden, die seine
Ehre, sein Gewissen und unsere guten Sitten erniedrigen. Wir gehen unseren Weg in Frieden. Und in Frieden sollten Sie den Ihren gehen.« Timmy verneigte sich und ging. Er folgte der breiten Straße zu der Transmitterstation und der reizlosen Stadt, die sich um sie scharte. Die Häuser waren schäbig und in schlechtem Zustand. Die kleine Stadt unterschied sich im Aufbau kaum von Asylianum – mit einer Ausnahme: Die Bewohner dieser Stadt kannten einen Luxus, den das ältere Asylianum nicht hatte – Gammler als Diener. Schließlich betrat Timmy den Weg, der im üblichen Kreis um die Station lief. Er legte ein Viertel der Straße zurück, bis er den in nördliche Richtung führenden Weg fand. Die beiden kleinen Monde Asylias standen hoch am Himmel, er verließ den Weg, machte sich unter dichten Büschen ein Lager und hüllte sich in den Poncho. Acht Tage später kam er in die nächste Kolonistenstadt. Der Landstrich, in dem die Stadt lag, war etwa dreihundert Meter höher gelegen als Karuls Dorf, und war ein ideales Weideland. Wenn das Vieh auch gut gedieh, wuchs es doch nicht so schnell heran wie die Fettvögel, die man in der Nähe Asylianums züchtete, war aber ein guter Ersatz. Die Kleinstadt war noch nicht alt und Timmy sah
an den neugierigen Blicken, daß er mit seinem Mantel aus Wirtlblättern offenbar einen ungewohnten Anblick bot. Niemand sprach ihn jedoch an, und man ließ ihn in Frieden. Er sah zwei Gammlerfrauen, die im Supermarkt einkauften, aber Männer und Kinder seiner Rasse sah er nicht. Die Frauen kleideten sich nach Kolonistenart, trugen kurze Röcke und tief ausgeschnittene Blusen über dem dichten Pelz, was Timmy ziemlich lächerlich fand. Immerhin schien es sie nicht zu stören, und er sah, daß sie in Kolonialwährung bezahlten. Auf der Transmitterstraße ging er nach Osten in die offene Ebene. Das nächste Dorf war recht weit gelegen, und es wurde rasch dunkel. Wahrscheinlich mußte er wieder auf der Straße übernachten. Ob die Gammlerfrauen wohl über Nacht in der Stadt blieben? Wenn ja, dann war das Dorf noch schlechter dran als Karuls Gemeinde. Die Bäche der Umgegend strömten östlich der Stadt zu einem kleinen Fluß zusammen, der in weiten Schleifen ein Tal nach dem anderen durchlief. Timmy packte das Netz aus, projizierte einen Raubfisch und konnte ein paar Fische fangen. Aus einem nahegelegenen Maisfeld opferte ein Bauer unwissentlich ein paar frische Maiskolben. Das Abendessen war gesichert, und Timmy legte sich neben dem leise murmelnden Fluß zum Schlafen nieder.
Die ersten beiden Stunden schlief er tief und fest. Dann kam der erste Traum. Sie hatte langes braunes Haar, das in verschwenderischer Unordnung über das weiße Kopfkissen gebreitet war. Das weiße Laken, das sie bis ans weichbepelzte Kinn gezogen hatte, ließ ihren reifen Leib ahnen. Ihre Lippen waren karminrot bemalt, und ihre großen Augen schauten aus einem geschickt geschminkten Gesicht. Sie lächelte ihn einladend an. Eine schlanke Hand kam unter dem Laken hervor und schob die weiße Decke provozierend langsam beiseite. Timmy beugte sich über sie und wurde von weichen Armen aufreizend liebkost. Als heiße Lippen seinen Mund berührten, kämpfte er sich aus der widerlichen Süße des Traumes empor. Er zitterte am ganzen Körper, Schweiß stand ihm auf der Stirn, und sein Magen revoltierte. Die Gamla betrachteten Sexualität als etwas Natürliches, das man nicht verbergen mußte, aber Promiskuität war ihnen unbekannt, und Timmy war – wie alle Unverheirateten – noch unschuldig. Eine Weile blieb er wach liegen und fragte sich, welche geistige Unruhe ihm diesen schmutzigen Traum gebracht hatte. Langsam traten ihm seltsame Einzelheiten des Traumes vor Augen. Warum hatte er von einer Frau in einem Kolonistenbett geträumt, wenn er noch nie in einem solchen Bett geschlafen
hatte? Warum hatte die Frau sich geschminkt? Warum hatte sie mit dem Laken gespielt? Gammlerfrauen schliefen nackt und würden nachts ihren Mann sicherlich nicht verführen wollen, indem sie ihren Körper verhüllten. Oder? Nur die Frauen der Kolonisten konnten sich so benehmen. Timmy entspannte sich und öffnete die Wahrnehmung. Eindringlich stürzten die Gefühle auf ihn ein. Die Projektion stammte eindeutig von einem Lenker. Die übliche Schwäche, Bilder zu übermitteln, ließ die Projektion undeutlicher erscheinen als während des Schlafes. Die Handlung war fortgeschritten: Er fand sich auf der Frau liegend, sein Glied in ihrer Scheide. Er unterbrach den Kontakt, bevor ihn die Projektion voll erreichte, und setzte sich auf. Jemand mußte in der Nähe sein, der diese Serie genau ausgedachter Erlebnisse projizierte. Der Projizierende war ein Gammler – und die Empfänger waren Kolonisten! Timmy suchte die Richtung, aus der die Projektion kam und entdeckte entsetzt, daß sie genau aus dem Dorf kam, das er suchte. Verstört richtete er eine Barriere gegen weitere Projektionen auf und schlief wieder ein. Zwei weitere Träume pochten an sein Bewußtsein, aber er sperrte sie aus. Die Sonne war schon aufgegangen, als er erwachte.
Eilig nahm er ein mageres Frühstück zu sich. Eine Stunde später war er wieder auf dem Weg und kam gegen Mittag in das Dorf.
12 Wie Karuls Dorf bestand auch dies aus Blockhäusern, die nur mit Werkzeugen der Kolonisten gebaut werden konnten. Aber damit hörte die Ähnlichkeit schon auf, denn hier gab es Schmutz, Unordnung und Schlamperei. Die Häuser waren roh, die Balken hatten sich in der Sonne verzogen, und grünes Harz quoll aus Spalten und Rissen. Unrat lag vor den Häusern, und die Gammlerkinder spielten schreiend auf der breiten Straße. In der Gasse zwischen zwei Häusern sah Timmy einen jungen Gammler in seinen Exkrementen liegen; der Gestank verdeckte kaum den Alkoholgeruch, der ihn wie eine Wolke umgab. Er ging auf das größte Haus der Gemeinde zu, und als er ein Kind fragte, das in der Nähe herumlungerte, fand er seine Vermutung bestätigt, daß hier der Kanzler wohnte. »Ich grüße den Kanzler des Dorfes. Ein Pilger auf Havasid bittet um Einlaß, damit Kunde ausgetauscht und Wissen erworben werden mag«, rief Timmy vor der Tür. Stille. Dann rief eine brüchige Stimme, daß er hereinkommen solle. Timmy trat durch die offene Tür und stand der dicksten Frau gegenüber, die er je gesehen hatte. Sie war nackt, und ihr gewaltiger Leib quoll schweißgebadet über die Seiten des Sessels.
»Ein junger Mann auf Havasid«, sagte die brüchige Stimme und Timmy merkte erstaunt, daß die Frau gesprochen hatte. Weibliche Kanzler wurden selten gewählt, und sie war die erste, die Timmy traf, und die erste fette Gamla überhaupt. »Starr mich nicht so an, als hättest du noch nie eine dicke Frau gesehen«, sagte sie nicht unfreundlich. »So, und nun setz dich und iß. Wir leiden keine Not, und du sollst kräftig zulangen.« Sie rief, und ein Mädchen, das kaum aus der Pubertät war, deckte den Tisch. Als Timmy sich sattgegessen hatte, bedankte er sich förmlich. Wieder richtete sie ihre klaren Augen neugierig auf ihn. »So, junger Fahrensmann, nun stelle deine Fragen, und ich will versuchen, darauf zu antworten.« »Es scheint mir, als ob eine Frage genügt«, sagte Timmy langsam. »Letzte Nacht schlief ich unter dem Himmel. Etwa eine Stunde von der Stadt der Kolonisten entfernt. Ich hatte einen seltsamen Traum. Eine Gamla lag in einem Bett. Einem Bett der Pelzlosen ...« »Genug«, sagte die brüchige Stimme sachlich. »Du hast fast alles erraten. Ja, unsere besten Lenker projizieren diese Träume jede Nacht. Die Pelzlosen bezahlen uns dafür. Wir brauchen nicht mehr Tiere zu lenken, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Arbeit ist leicht.«
»Und woher bekommen Sie neue Lenker, wenn die alten sterben?« Die fette Frau schwieg. »Noch eine Frage. In der Kolonistenstadt habe ich Gamlafrauen gesehen. Obwohl ich dieses Dorf nicht mehr erreichen konnte und auf der Straße übernachten mußte. Wo haben die Frauen die Nacht verbracht?« »In den Betten der Kunden, die nicht mehr mit Träumen zufrieden sind«, sagte die Kanzlerin böse. Die Stille war gespannt. Dann fügte sie entschuldigend hinzu: »Die ledigen Kolonisten zahlen gut. Und keiner hat einen Schaden davon. Pelzlose und Gamla können keine Kinder zeugen.« Timmy stand auf. Ein unerklärlicher Schauer lief ihm über den Rücken. »Ich habe keine Fragen mehr, und ich kann Euch keine Kunde geben«, sagte er mit gepreßter Stimme und ging rasch ins Freie. In den nächsten zwei Gemeinden fand er, daß Gammler und Kolonisten in Frieden und Harmonie zusammenlebten, und daß offenbar beide davon profitierten. Er entdeckte auch, daß die Saat der Wandlung aufging und die Gammler sich in die Richtung entwickelten, die Karul eingeschlagen hatte und es nicht zu bedauern schienen. Die Fragen, die ihm auf der Seele brannten und die ihn zur Havasid veranlaßt hatten, waren noch immer unbeantwortet, als er das
fünfte Dorf mit müden Schritten in östlicher Richtung verließ. Vor seinem inneren Auge tauchte das Bild eines schmalen gebräunten, von roten Haaren umrahmten Kopfes auf, dessen Gesicht von Kummer und Schmerz geprägt war. In seinen Ohren klang das narrende Echo einer längst vergessenen Stimme: ... glaube, Sie sind nicht auf Havasid um Wissen zu sammeln, sondern um Ihre vorgefaßte Meinung bestätigt zu finden ... Die Gerichtsverhandlung hatte ein großes Publikum angezogen. Und der Grund für das große Interesse war die Tatsache, daß man die Person, die abgeurteilt werden sollte, nicht auf die Erde zurückschikken konnte: Ein Gammler stand vor Gericht. Die Verhandlung schafft einen Präzedenzfall, dachte Carey Sheldon, der auf der harten Bank dicht vor dem Richtertisch Platz genommen hatte. Zum erstenmal saßen Schöffen von der Erde über einen Gammler zu Gericht, womit die Gerichte einmal anerkannten, daß Gammler menschlich und somit für ihre Handlungen verantwortlich waren, zum zweiten, daß die geistigen Kräfte der Gammler Tatsache waren. Worum ging es? Richter Hanna Cavanaugh mußte darüber befinden, ob der Jüngling Similik während eines Pferderennens, an dem er teilnahm, das Pferd von Harvey Philipps, einem Bauernjungen aus der
Gegend, bewußt zu Fall gebracht hatte, um zu gewinnen. Phillips wurde abgeworfen und brach sich das Genick. Ein anderer Gammler, der auf den Sieg von Phillips gesetzt hatte, beschuldigte Similik offen, seine Fähigkeiten als Novize benutzt zu haben, das etwa sechs Meter vor ihm befindliche Pferd mit einer Projektion zu stören. Er hatte den Kraftausbruch gespürt, ihn aber nicht orten können. Similik stritt alles ab. Und weil die Sicherheitspolizei an der Unfallstelle keinen Hinweis auf die Ursache des Sturzes fand, glaubte sie, es verantworten zu können, Similik anzuklagen. Nach drei Tagen war es klar, daß die Anklage auf schwachen Füßen stand. Ein Freispruch lag in der Luft. Nijub war vor zwei Monaten gestorben, was die Lage nicht besserte, denn sein erblicher Nachfolger, Timmy, befand sich noch auf Havasid, und Himkera, Similiks Großvater, war ein Hitzkopf, der damit drohte, seinen Enkel gewaltsam zu befreien und mit der ganzen Gemeinde in die Wälder zu fliehen, wenn man Similik verurteilte. Die Aussicht dazu war allerdings nicht groß, weil die Anklage kaum zu untermauern war. Unruhe entstand unter den Zuhörern, als der Staatsanwalt sich setzte und dem Verteidiger Platz machte. Alex Wilson, ein Bauer, der allerdings auf
der Erde Anwalt gewesen war, stand auf und wandte sich dem Gericht zu. Bevor er jedoch mit dem Plädoyer beginnen konnte, ertönte eine klare Stimme aus dem Hintergrund: »Ein Verteidiger wird nicht gebraucht.« Carey hörte, wie Doreen überrascht Luft holte, und dann sah er die schlanke Gestalt eines Gammlers den Gang herunterkommen. Der Mann war bis auf die Knochen abgemagert, trug sich aber wie ein König und strahlte eine Sicherheit und Überlegenheit aus, die es fast unglaublich erscheinen ließ, daß es derselbe Mann war, den Doreen heiraten wollte. Timmy ging genau auf Similik zu. Der junge Gammler sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Der Junge sprang auf und sprach die Formel der Unterwerfung unter die Autorität des Kanzlers. Timmys Stimme war hart und laut, als er sagte: »Similik, ich grüße dich und nehme deine Anerkennung an. Ich fordere dich auf, mir eine Frage zu beantworten. Deine Antwort sei die Wahrheit, die in dir ist. Hast du Harvey Phillips Pferd stürzen lassen?« Similik senkte den Blick, wand sich, hob wie unter Zwang die Augen und sah seinem Häuptling ins Gesicht. Timmy wartete geduldig. Dann verzog sich Similiks Gesicht, Tränen perlten von seinen langen Wimpern und mit ängstlicher Stimme sagte er leise: »Ja.«
Richter Cavanaugh konnte der Ursache nur Herr werden, indem sie den Saal räumen ließ. Mit einem raschen Blick bat Carey Varinow English, dableiben zu dürfen. Die beiden Anwälte standen vor dem Richtertisch und berieten sich. Carey hörte die Worte ›Schuldbekenntnis‹, und wußte, daß Similik ein paar Jahre Zwangsarbeit zu erwarten hatte. Eine Gruppe neugierig fragender Gammler umringte Timmy. Sie machte Carey und Doreen Platz. Nach einem langen Jahr konnte Doreen endlich wieder den geliebten Mann anschauen, und sie merkte, daß sie nichts zu sagen wußte. Timmy lächelte gequält und bitter. Er legte die magere Hand auf ihre Schulter. »Meine Gemeinde heißt mich heute nacht mit einem Fest willkommen. Darf ich dich und Carey einladen?« Sie nickte stumm und fühlte Schmerz und Freude, Angst und flüchtiges Glück, dann stiegen ihr die Tränen in die Augen, und ein Schluchzen verkrampfte ihr die Kehle. Carey brachte sie zu ihrem Platz zurück. Gelächter, Gesang, Köstlichkeiten auf Muschelschalen um das große Lagerfeuer. Die Lindorn feierten die Rückkehr ihres Kanzlers, ihres Freundes. Doreen hatte es sich zwischen Sam Harper und Brian Jacobs bequem gemacht. Jacobs war dabei, sei-
ner Frau Michele, geborene Kaymar, die Kunst des Lenkens beizubringen – Cassie Harper saß mitten unter ihren Töchtern und stillte ihren ersten Sohn – Marge Sheldon hielt ihr Baby auf dem Schoß und fütterte es mit weichen Fruchtstücken, wobei sie sich angeregt mit den anderen Frauen unterhielt. – Marge lernte gut und würde bald selbst an dem Freisprechungsritus teilnehmen. Cassie hatte allerdings keine Lust dazu, half aber Sam auf jede Weise. Carey Sheldon stand etwas abseits vom Getriebe und sprach mit zwei Stammesältesten. Es gab kein Programm, aber die Attraktion des Abends begann, als Timmy fast unbemerkt am Rand des Feuerscheins auftauchte und seine Bekannten begrüßte. Nach und nach verstummten die Gespräche, endeten die Spiele, und als Timmy in die Mitte der Lichtung schritt und sich seiner Gemeinde zuwandte, war alles still. »Ich grüße mein Volk und meine Freunde. Mein Herz ist froh, wieder unter euch zu sein. Aber es schmerzt mich, daß meine Havasid nichts als Sorge und Trauer eingetragen hat. Denn was fand ich? Ich sah, wie das Wissen unseres Volkes gering geachtet wurde und schwindet. Mit seinem Untergang vergeht auch unsere Kultur. Das ist nicht gut.«
Doreen stieg das Herz in die Kehle, drohte sie zu ersticken, und sie klammerte sich trostsuchend an den Arm von Sam Harper. »Wo auch immer die Menschen von der Erde unsere Lebensart berühren, wo immer beide Rassen sich treffen, da büßt der Gamla seinen Stolz ein. Ohne Absicht und ohne Sinn zerstört der Pelzlose mit stählernen Händen das zarte Gewebe, das wir über unsere Umwelt weben. Wir gehen im Leben der Erdmenschen unter, und wir bedeuten ihm nicht mehr als ein wundersames Ding, mit dem man eine Weile spielt und es dann wegwirft.« Stille. Niemand wagte etwas zu sagen. »Aber ich lasse mich nicht bei lebendigem Leib verschlingen«, fuhr Timmy fort. »Wir stehen zu dicht vor dem Ziel, die verborgenen Kräfte unseres Geistes freizusetzen, die Tiefen in uns auszuloten, wie wir es seit Generationen versuchen. Seht Micka und Sanda an! Sie und viele Kinder, die nach ihnen kommen, sollen wachsen und sich weiterentwickeln. Die Havasid hat mich gestärkt. Ich kann jetzt aus großer Entfernung mit Micka sprechen. Alle können das lernen. Aber ich will niemanden überreden und meine Gemeinde nicht mit Gesetzen bevormunden. Wer an unsere Zukunft glaubt, der soll mir helfen, soll mir folgen. Wenn die Erdenmenschen uns schließlich erreichen, dann werden wir die Antwort kennen und
vielleicht unseren eigenen Weg in die Zukunft planen – ohne ihren Einfluß.« »Diese Erdenfrau bittet darum, den Weg mit dir zu gehen«, sagte eine stolze Stimme, und zu ihrer eigenen Überraschung merkte Doreen, daß sie aufgestanden und zu Timmy gegangen war. Timmy legte ihr die Hände auf die Schultern und sah auf sie hinunter. »Ich wünschte, es könnte so sein«, sagte er leise, und für Doreen brach eine Welt zusammen. Timmy ließ sie los, drehte sich um und winkte. Aus der Menge löste sich die Gestalt eines jungen Mädchens, dessen Pelz mit goldbraunen Flecken gesprenkelt war. Sie blieb neben Timmy stehen und lächelte Doreen schüchtern an. Timmy legte schützend den Arm um sie. »Doreen, das ist Biledscha, Brixtas Tochter, meine Verlobte.« »Warum, Timmy? Ich habe doch auf dich gewartet!« »Ja, warum, Doreen. Ich liebte dich. Warum muß ich dir jetzt weh tun? Warum muß ich meine Freunde enttäuschen und die Bande belasten, die mich mit dir und Carey seit unserer Kindheit verbinden? Weil ich muß. Weil Micka und Sanda aus meiner Familie stammen, und weil unsere Kinder deren Stärke erben werden. Weil ich weiß, daß du und ich niemals Kinder zeugen können. Es tut mir leid, daß ich dir weh tun muß.«
Doreen nickte und umarmte wortlos das Gammlermädchen. Tief versteckte sie den Haß in ihrem Innern. Dann drehte sie sich um und lief davon. Timmy erhob noch einmal die Stimme: »Ich traf viele, die so denken wie ich. Viele verließen ihre Dörfer und sind in die Wälder gegangen. Wer mit mir kommen und sich ihnen anschließen will, der nehme meine Hand.« Alle drängten sich um ihn und nahmen seine Hand. Zuletzt kam Carey auf ihn zu; die harte Hand des Bauern packte die ledrige Faust des Gamlas. »Wenn mein Sohn freigesprochen werden kann, besuche ich dich«, sagte Carey. »Bis es soweit ist, werden die Kolonisten die Kunst der Lenkung studieren. Die Baumleute sollen ihnen helfen. Ich glaube, man kann vieles von ihnen lernen.« »Gut so. Die Breschwar und sie sind sehr klug. Und ich hoffe, daß es noch lange dauert, bis euer Leben das eure beeinflußt. Laßt nicht nach, eure Kräfte zu entwickeln – und wisse, daß ich auf unser Wiedersehen warte. Sage Doreen, ich hoffe, sie haßt mich nicht zu sehr. Ich tue nur, was ich tun muß.« »Bis wir uns also wiedersehen«, sagte Carey, drehte sich um und ging in die Nacht.
13 Maud hielt Leonard Sheldon im Arm und wünschte sich zum hundertsten Male, daß Careys und Marges zweites Kind ein Mädchen wäre. Sicher, sie hatte bereits zwei Enkelinnen, aber sie lebten nicht in der Nähe, und sie sah sie daher zu selten. Kleine Mädchen waren doch viel netter als Jungens. Der kleine Leonard gab einen fordernden Grunzton von sich, und sie steckte ihm rasch die Flasche in den Mund. Seltsam, daß eine vollbusige Frau wie Marge keine Milch hatte. Aber so war es eben. Hauptsache, Marge und Carey waren glücklich. Glücklicherweise hatten sie darauf verzichtet, ein eigenes Haus zu bauen und waren bei ihr geblieben. Nur mit Harvey und Doreen zusammenzuleben, wäre schrecklich langweilig geworden. Es schien, als bliebe Doreen für immer bei ihnen. Sie war noch magerer geworden, als sie als Backfisch gewesen war, und eine junge Frau von zweiundzwanzig sah nicht besonders attraktiv aus, wenn man Gefahr lief, sich überall an ihr blaue Flecken zu holen ... Doreen gab sich keine Mühe mehr, etwas aus sich zu machen und sprach kaum ein Wort mit Marge, obwohl sie die alte Zuneigung zu Carey bewahrt hat-
te. Fast nie kümmerte sie sich um Harvey und die Kinder. Sie war eine alte Jungfer geworden. Sie hatten versucht, sie zu überreden, das Studium auf der Erde wieder aufzunehmen. Aber sie war nur an der Kontrollgeschichte interessiert gewesen. Und als Timmy Biledscha heiratete und die Lindorn in den Wald brachte, hatte sie sogar das aufgegeben. Carey kam herein, staubig und müde vom Pflügen. Zärtlich küßte er Marge, nahm dem Baby für einen Moment die Flasche weg und scherzte mit ihm, bis der Kleine lachte. Dann wusch er sich und zog sich um. Doreen war wie immer in ein Buch vertieft. Entweder arbeitete sie wie eine Besessene oder verschlang Bücher. Letztlich schien ihr noch nicht einmal die Arbeit mehr Spaß zu machen. Während Carey sich umzog, dachte er über Doreen nach. Es mußte etwas mit Doreen geschehen, aber er wußte nicht genau, wie er es anstellen sollte. So jedenfalls durfte es nicht weitergehen. Doch er hatte nicht die Kraft, sie zu ändern oder ihrem Leben eine andere Richtung zu geben. Timmys Verhalten hatte sie tiefer verletzt, als er gedacht hatte. Mußte sie aber deswegen den Rest ihres Lebens vertrauern? Sorgfältig kämmte er sich und zwischen zwei Kammstrichen fiel ihm plötzlich etwas ein. Sofort sandte er einen Gedanken über die Weiß-
hutberge hinaus in den Hochwald: Suchend, spürend, fragende Fäden spinnend – MICKA – MICKA – MICKA – KOMM – ICH – BRAUCHE – DICH. Ihre Reaktion kam sofort. Er spürte, daß Micka sich geändert hatte, erwachsen geworden war. WIE GEHT'S CAREY WAS SCHREIST DU SO SPRICH IN GEDANKEN PROJIZIERE. Wenn er geahnt hätte, daß es so leicht ging, hätte er keine zwei Jahre gewartet, sondern es schon früher probiert. MICKA ICH MACHE MIR SORGEN UM DOREEN SIE HAT KEIN INTERESSE MEHR AM LEBEN UND AN SICH SELBST SIE HAT DEN SCHMERZ NICHT VERARBEITET DEN TIMMY IHR ZUFÜGTE WIR MÜSSEN IHR HELFEN KANNST DU NICHT IHREN LEBENSWILLEN STÄRKEN. ICH WEISS NICHT CAREY ICH WERDE ES VERSUCHEN ABER OHNE IHRE ERLAUBNIS WERDE ICH MICH NICHT IN IHRE GEDANKEN MISCHEN DU WEISST DASS ICH ES EINMAL TAT UM IHR LEBEN ZU RETTEN ICH WERDE SIE NICHT NOCH EINMAL VERGEWALTIGEN. Carey unterbrach den Kontakt kurz und dachte nach. Daß diese verflixten Gammler immer darauf bestanden, daß jeder Mensch für sich selbst verantwortlich war, selbst wenn das zum Untergang und ins Grab führte! Sie stritten einfach ab, daß jemand
anderes als der Betreffende selbst besser wissen konnte, was gut für ihn war. Er wußte nicht, ob Doreen sich die geistige Therapie gefallen lassen würde, er hatte ernste Zweifel. ICH MUSS ERST MIT DOREEN SPRECHEN projizierte er WENN SIE EINVERSTANDEN IST RUFE ICH DICH WANN KANNST DU KOMMEN. WENN SIE EINVERSTANDEN IST CAREY antwortete sie mit einem spöttischen Unterton. Dann war ihre Präsenz vergangen. Nach dem Essen nahm Doreen ihr Buch und zog sich wie üblich zurück. Carey wartete, bis alle schliefen, obwohl er selbst hundemüde war, und klopfte an ihre Tür. Sie saß im Bett, das Buch lag geschlossen auf dem Bett, die Leselampe war aus. Er setzte sich neben sie, nahm ihre magere Hand und hielt sie schweigend fest. Nach einer Weile formten ihre schmalen Lippen ein stilles Lächeln. »Doreen, Schwesterchen, du bist mir und unserer Familie zur Last geworden«, sagte Carey leise. Die Worte trafen Doreen wie ein Faustschlag. Sie errötete, versuchte zu sprechen, brachte aber nur ein Stammeln zustande. Dann konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Carey ließ sie weinen und fragte sich, wie er so grausam sein konnte, weil seine Worte doch nur ein Körnchen Wahrheit enthielten. Als sie zu schluchzen
aufhörte und nach dem Taschentuch suchte, gab er ihr seines. Langsam wischte sie sich die Augen. »Soll ... soll ich fortgehen, Carey?« fragte sie, als sie wieder sprechen konnte. Ihre Stimme klang unterwürfig und diese unerwartete Reaktion berührte ihn zutiefst. »Das hab' ich nicht gemeint. Aber ich glaube, es wäre gut so. Ich möchte, daß du zur Erde fährst und dein Chemiestudium beendest. Aber natürlich nicht in deinem jetzigen Zustand.« »Was – was meinst du damit?« »Du bist ein geistiger Krüppel. Du hast dein Leben von einer einzigen Enttäuschung zerstören lassen. Du mußt erst gesund werden, oder deine Reise ist sinnlos.« »Enttäuschung?« Doreen schneuzte sich laut und kuschelte sich in die Kissen. »Glaubst du etwa, das ist alles, Carey? Nur eine kleine Enttäuschung?« »Nein. Aber zwei Jahre sind einfach zu lang. Du solltest Timmy langsam vergessen haben. Dabei will ich dir helfen. Wirst du mir vertrauen? Mir ganz und gar vertrauen, dich in meine Hände geben?« »Oh, Carey, Carey!« schluchzte sie wieder. »Carey, ich will doch gar nicht so sein!« »Dann ist es gut. Ich möchte, daß du jetzt ganz schnell einschläfst. Wenn du schläfst, komme ich mit Micka. Sie wird in dein Unterbewußtsein eindringen
und versuchen, deinen Schmerz und deine Frustration aufzulösen.« »Micka? Ist sie hier?« »Noch nicht. Sie will allerdings nur mit deiner Zustimmung handeln. Darum«, lächelte er auf alte unbekümmerte Art, »mußte ich dich ein bißchen ärgern und durfte es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen.« »Du hast es also gar nicht so gemeint – oh, Carey, du bist ein Scheusal! Und ein alter Stinkstiefel dazu!« Zum erstenmal seit Monaten sah ihr Lächeln nicht wie angeklebt aus. Carey ging und hatte das Gefühl, als zeige die Therapie erste Wirkungen. Als er nach einer Stunde zurückkam, schlief sie fest. Er rief Micka. Sofort spürte er ihre Präsenz. Plötzlich knackten ihm die Trommelfelle. Der Luftdruck im Zimmer hatte sich erhöht. Das seltsame Gefühl, als stehe er mitten in einem Sturm, überwältigte seine Sinne – und Micka stand vor ihm. Der Luftdruck sank und langsam akzeptierten seine Sinne, was ihnen die Augen sagten. Micka lächelte ihn an, und in ihrem Lächeln lag Reife und Verständnis und eine gesteigerte ernste Lieblichkeit, wie sie Micka schon als Kind und junges Mädchen gezeigt hatte. Sie war nackt, und er bemerkte, daß sie zur Frau gereift war. Sie las seine Gedanken, und ihr Lächeln wurde
ausgeprägter. »Ja, Carey. Es stimmt. Ich bin eine Frau. Mutter und Timmy lassen grüßen und versichern dich ihrer Liebe.« »Eine Frau – und eine verdammt hübsche dazu«, sagte Carey und lachte, als sie verlegen wegsah. Die Macht hatte Micka nicht verändert. »Ich habe mit Doreen gesprochen. Sie hat nichts dagegen, wenn du ihr Bewußtsein betrittst und tust, was du für richtig hältst«, fuhr Carey fort. »Ich glaube zwar, daß sie nach unserer Aussprache schon auf dem Weg der Besserung ist, aber wenn du ihr hilfst, geht es bestimmt schneller.« »Dann gehen wir zu ihr«, sagte Micka, und er führte sie zu Doreens Zimmer. Micka setzte sich auf das Bett, nahm Doreens Kopf in die Hände und schloß die Augen. Carey öffnete seine Wahrnehmung und ließ Mickas Kraftimpulse an sich vorbeiziehen. Nach einer knappen Minute schlug Mikka die Augen auf und lächelte. Sie zog die Hände zurück. Doreen bewegte den Kopf, gähnte und richtete sich auf. Die beiden Frauen umarmten sich stürmisch. Carey wartete geduldig, bis sich die Wiedersehensfreude gelegt hatte. »Wie geht's?« fragte er Doreen. »Ich habe mich nie so gut gefühlt«, antwortete sie fröhlich. »Es war ganz leicht, Carey«, sagte Micka. »Ich habe
ihren Schmerz ein wenig tiefer versteckt und vielleicht ihre unerfüllten Wünsche etwas verkleinert. Ich glaube«, und sie kicherte mädchenhaft, »sie braucht eher ein bißchen Whampusmilch und frische Früchte, als mich.« »Na ja. Aber sag mal, seit wann kannst du teleportieren?« »Ich habe es lange probiert, Carey. Aber erst seit ich eine Frau geworden bin, hatte ich Erfolg. Ich bin sicher, daß Sanda nach der Pubertät das gleiche kann.« »Sonst niemand?« »Noch nicht. Aber wir setzen unsere Hoffnung auf ein paar Kinder ...« »Ein Fortschritt, also. Aber noch immer so langsam und beschwerlich«, entgegnete Carey enttäuscht. »Ich hatte mehr erwartet.« »Das ist Ansichtssache, Carey. Ich muß jetzt zurück. Vergiß es nicht. Du mußt dein Kind zu uns bringen, wenn es für die Freisprechung reif ist.« Sie beugte sich vor, umarmte Doreen und verschwand. Die Luft wirbelte und strömte zischend in das Vakuum, das sie hinterließ. Carey sagte Doreen gute Nacht und ging ins Schlafzimmer, wo Marge und das Baby fest schliefen. Er schmiegte sich an den warmen Leib seiner Frau und ruhte sich, in Gedanken verloren, endlich aus.
»Carey, ich bin stolz. Von heute an werden Sie für Ihre Arbeit bezahlt«, sagte Varinov English und gab Carey die Urkunde. »Diese Papierchen machen Ihre freiwillige Tätigkeit für die Verwaltung endlich offiziell. Weil Sie mir verantwortlich sind, stellen Sie sozusagen eine eigene Abteilung dar. Ich verlange nicht mehr von Ihnen, als was Sie so glänzend während der vergangenen zehn Jahre gemacht haben: Streitigkeiten zwischen Gammlern und uns auszubügeln.« Carey warf einen Blick auf das Papier und merkte, daß das Jahresgehalt sich sehen lassen konnte, wenn es auch nicht beeindruckend hoch war. Da ihm nebenbei ausreichend Zeit blieb, sich um den Hof zu kümmern, war das kombinierte Einkommen durchaus lohnend. »Danke, Varrie. Jetzt habe ich endlich die Autorität, die mir so oft gefehlt hat. Schade nur, daß ich Ihnen jetzt nicht mehr die Meinung sagen kann.« English lachte. »Was dachten Sie, warum Sie die Stellung bekommen haben?« Klein Harvey sprang als erster aus dem Flitzer und landete seine einsachtzig elegant auf dem Boden. Man nannte ihn noch immer Klein Harvey, um Verwechslungen mit seinem Onkel zu vermeiden, aber er war seinem Vater schon über den Kopf gewachsen. Neugierig musterte er das Dorf, in dem er für die nächsten vier Wochen wohnen sollte.
Langsam folgte Carey ihm. Dies war sein erster Besuch in Timmys Dorf, wenngleich er oft genug im Hochwald gewesen war, um mit den Gammlergemeinden zu verhandeln. Die Kolonisten hatten eine merkliche Bresche in die Wälder südlich der Weißhutberge geschlagen, und man hatte eine Gammlergemeinde nach Norden in das große Gebiet aussiedeln müssen, das er ihnen vertraglich sichern konnte. Timmy wartete. Tharie stand hinter ihm. Micka hielt sich still im Hintergrund. Sie trug ein Baby im Arm. Biledscha stand neben ihr; auch sie hielt ein Kind im Arm. Der junge Mann neben ihr ähnelte Timmy so sehr, daß er dessen Sohn sein mußte. Timmy hob die Hand, und das aufgeregte Geschwätz verstummte. Er streckte Carey die Hand entgegen, und als die beiden Männer den Griff schlossen, erklang eine Stimme in Careys Gedanken, und in dieser Stimme erkannte er die Gegenwart von Timmy, Tharie, Micka, Sanda und den anderen, und die Stimme sagte: »GRUSS UND WILLKOMMEN, FREUND UNSERES VOLKES DU SOLLST WISSEN DASS UNSER EXIL BALD BEENDET IST WENN DEIN SOHN ALS LENKER ZU DIR ZURÜCKKEHRT WERDEN WIR IHN BEGLEITEN UND EIN NEUES ZEITALTER WIRD ANBRECHEN.«