Kapitel 1 Die Schlächter
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Kapitel 1 Die Schlächter
»Ein Wächterzauber – das ist sehr alte Magie«, sagte Tailonna nachdenklich. Sobald die Perechon den Hafen von Meerburg verlassen hatte – mit neuen, straffen, weißen Segeln an den frisch verstärkten Masten –, hatte Maquesta die Meerelfe und Ilyatha in ihre Kabine gebeten. Sie hatte ihnen berichtet, was auf der Insel geschehen war, hatte von Lendles Dienst als Gärtner erzählt, von der Höhle voller Schätze und Waffen, von Mandrakors Auftauchen und von dem Zauber. »Ich bin überrascht, daß ein einfacher Kaufmann oder auch ein Pirat solche Dinge wie Wächterzauber kennt, besonders aber, daß sie einen in die Hände bekommen haben«, fuhr Tailonna fort. »Also, Mandrakor hat dauernd von Freunden geredet, für deren Interessen er sich einsetze. Ich wünschte, ich wüßte, wer sie sind«, sagte Maque. Als sie aufblickte, sah sie, daß Lendle in die Kabine geschlüpft war. »Wie geht es Fritzen?« fragte Maque den Gnomen. Lendle hatte wieder die Waffenkammer zur Krankenstube umfunktioniert, doch Fritzen war sein einziger Patient. »Er ist störrisch, Maquesta Kar-Thon, und er murmelt dauernd, daß es in deiner Nähe sehr gefährlich sei. Ich mache mir Sorgen um ihn. Er hat eine Menge Blut verloren, und er hatte sich noch nicht richtig von dem Angriff der Meerhexen erholt«, antwortete Lendle, wobei er sich besorgt das Kinn rieb. »Ich bin nicht sicher, was ich zu seiner Heilung
brauche. Ich bin gekommen, um Tailonna und Ilyatha zu fragen, ob wir uns über seine Behandlung beraten könnten.« Wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre, hätte Maquesta über Lendles Ausdrucksweise gelächelt. Der Gnom gab ungern Wissenslücken zu. Und er bat nicht gern um Hilfe. »Tailonna, würdest du bitte einen Blick auf Fritzen werfen?« fragte Maque widerwillig. Die Meerelfe nickte wortlos, und Maque unterdrückte einen Anflug von Ärger. Tailonna war bereits eine große Hilfe gewesen und würde das bestimmt wieder sein, noch bevor diese Reise zu Ende ging. Aber Maque gefiel die Unnahbarkeit der Meerelfe nicht. »Wir werden dich über seinen Zustand auf dem laufenden halten«, versprach der Gnom. »Oh, eines noch, Maquesta Kar-Thon. Fritzen Dorgaard hat sich in der Schatzhöhle die Taschen voll Goldmünzen gestopft. Er hat sie von mir an die Mannschaft verteilen lassen. Das hat die Moral sehr gehoben.« Maquesta grinste. Sie freute sich über Fritzens Großzügigkeit. »Ilyatha, ich würde gern mit dir sprechen, bevor du mit den anderen gehst«, sagte sie überflüssigerweise. Der Schattenkrieger hatte keinen Schritt auf die Tür zu gemacht, weil er Maques Wunsch telepathisch gespürt hatte, noch bevor sie ihn ausgesprochen hatte. »Hattest du mit Beiwar Kontakt, seit er uns neulich verlassen hat?« fragte Maque, nachdem die anderen beiden sich auf den Weg zur Waffenkammer gemacht hatten. »Nein. Weshalb fragst du?« »Sieh zu, ob du mit ihm Verbindung aufnehmen kannst.
So wie ich Mandrakor kenne, wird er versuchen, uns zu folgen, und er hat mir in Meerburg Grund zu der Annahme gegeben, daß er weiß, was wir vorhaben«, sagte Maque besorgt. »Ich weiß, wie wichtig es auch dir ist, daß wir nach Lacynos zurückkehren. Jede Einmischung des Räubers könnte unsere Rückkehr über den Zeitpunkt… über das Ultimatum hinaus verzögern, das Attat uns gesetzt hat.« Maquesta konnte einfach nicht laut aussprechen, daß ihr Vater womöglich sterben könnte. »Woher kann der Pirat wissen, was Attat getan hat?« fragte Ilyatha überrascht. »Das weiß ich nicht, aber ich werde es herausfinden«, antwortete Maque. »Mandrakor hat Freunde in Lacynos erwähnt. Der Minotaurus Koraf hat in den Werften der Hörnerbucht gearbeitet. Ich will ihn fragen, was er über den Räuber gehört hat. Ich brauche deinen Rat – wieviel darf ich ihm erzählen? Meinst du, ich kann Koraf trauen? Ich habe ihn zum Ersten Maat gemacht, weil das die Mannschaft gezwungen hat, seine Anwesenheit zu akzeptieren. Aber könnte er ein Spion sein, den Attat auf die Perechon geschleust hat?« Maquesta merkte, daß sie dem Schattenmenschen Fragen stellte, die sie früher ihrem Vater vorgelegt hätte. Ilyatha dachte über die Fragen nach. »Ich spüre große Wut in dem Minotaurus, dazu ein fast gleiches Maß an Sanftheit«, erwiderte er schließlich. »Sein Wesen kommt mir nicht verlogen vor. Du hast bisher bei deinen Handlungen ein gutes Urteilsvermögen bewiesen, Maquesta. Vertraue deiner eigenen Einschätzung. Ich glaube, du kannst dich auf Korafs Loyalität verlassen.« Maque schenkte Ilyatha ein warmes Lächeln, denn sie
war ihm für sein Lob ebenso dankbar wie für seinen Rat.Fritzen lag, blaß und fiebrig, mit geschlossenen Augen auf einem Feldbett. »Zeig mir, was für Medizin du vorrätig hast«, sagte Tailonna zu Lendle. Es war mehr ein Befehl als eine Bitte. Aber da auch der Gnom keinen Sinn für Höflichkeitsfloskeln hatte, nahm er daran keinen Anstoß. Lendle ging in die Ecke, wo er seinen Arzneikoffer stehen hatte, einen Holzkasten mit Griff und Schnalle. Doch statt einen Deckel aufschnallen und hochklappen zu können, wie bei den meisten Koffern dieser Art, mußte man diesen durch das Betätigen von Federn an allen vier Seiten öffnen. Als Lendle auf eine der Federn drückte, weil er nur die Vorderseite aufmachen wollte, klappten alle vier Seiten herunter, worauf er nur noch Deckel und Boden des Koffers in der Hand hatte, die an den Ecken durch Lederriemen miteinander verbunden waren. Prompt tauchten drei offene Tabletts mit Kräutern und Tränken auf, die sich sogleich über den Boden der Waffenkammer verteilten. »Dieser Koffer ist meine Erfindung. So ist es viel leichter, an alle meine Kräuter zu kommen«, erklärte Lendle, während er eilig seine Vorräte aufsammelte. »Aber so etwas ist mir noch nie passiert. Bisher hat alles immer richtig funktioniert.« »Du hast eine sehr nützliche Arzneimittelsammlung«, sagte Tailonna. Lendle strahlte über das Kompliment. »Laß mich erst Fritzen untersuchen, dann werden wir sehen, ob du auch das hast, was er braucht.« Tailonna beugte sich über den Patienten und berührte leicht seine Brust. Fritzen schlug mühsam die Augen auf, senkte aber sofort wieder die Lider, als er Tailonnas Blick
auffing. Sie entfernte den Verband, den Lendle angelegt hatte, und tastete vorsichtig die Ränder von Fritzens Wunde ab. Trotz ihrer Vorsicht schrie der Halboger vor Schmerzen auf. Tailonna erhob sich. »Die Säbelwunde muß dazu geführt haben, daß die kleine Menge Meerhexengift, die er noch im Blut hatte, stärker wirkt«, sagte sie stirnrunzelnd. »Und das passiert jetzt jedesmal, wenn Fritzen verletzt wird?« fragte Lendle. »Nur bis sein Körper sich ganz von dem Gift gereinigt hat, aber Meerhexentoxine sind sehr wirksam. Es werden noch viele Monde über den Himmel ziehen, bis diese Reinigung vollzogen ist. Wie ist er denn eigentlich zu der Meerhexenwunde gekommen?« wollte Tailonna wissen, während sie anfing, verschiedene Päckchen und Gläschen aus dem Arzneikoffer auszuwählen. »Ich habe noch nie gehört, daß jemand die Begegnung mit einer Meerhexe überlebt hätte. Mein Volk hält sich von den Gewässern fern, in denen Hexen leben sollen. Wir finden, daß es nicht nötig ist, diesen verschlagenen Kreaturen Opfer darzubringen.« Lendle erzählte ihr kurz von dem Angriff auf die Torado während des Rennens. »Ich dachte, Fritzen hätte sich an den Korallen verletzt, als die Hippocampi ihn retteten«, erklärte er, »aber das würde nicht eine solche Infektion verursachen. Er war der einzige aus der Mannschaft der Torado, der es auf die Perechon geschafft hat.« »Ah, das erklärt das Leiden, das ich eben in seinen Augen gesehen habe, etwas, das körperliche Schmerzen übersteigt«, meinte Tailonna, und Lendle nickte. »Dieser einzige Überlebende trägt viele Verletzungen mit sich herum.« Nachdem sie die Medikamente vor sich noch einen Mo-
ment angesehen hatte, wandte sich Tailonna an den Gnomen. »Es gibt noch etwas anderes, das ihm helfen würde, aber das hast du hier nicht.« »Wo können wir es bekommen?« fragte Lendle. »Ich glaube nicht, daß Maquesta es zulassen würde, daß wir nach Meerburg zurückkehren.« »Dazu muß man nicht nach Meerburg reisen, sondern an einen viel entfernteren Ort. Komm mal mit«, sagte Tailonna unvermittelt. »Ich brauche vielleicht deine Hilfe, um vom Schiff zu kommen.« Lendle folgte Tailonna bereitwillig, denn er wollte natürlich sehen, was sie vorhatte. Die Meerelfe trat durch die Tür der Waffenkammer auf das Hauptdeck, wo sie sich an eine der Seitenrelings stellte. Das Gesicht der See zugewandt, nahm Tailonna die muschelbesetzten Netze ab, die ihre langen Haare bändigten, und reichte sie dem Gnomen, der sie ehrfurchtsvoll betrachtete. Behutsam betastete er die Netze, denn er erinnerte sich, welche Magie sie während des Angriffs der Teufelchen entfesselt hatten. Als nächstes schloß Tailonna die Augen und breitete die Arme aus. Ihre Handflächen zeigten nach oben, Daumen und Mittelfinger berührten sich. Den Kopf in den Nacken gelegt, rief sie ein paar Worte, die irgendwie nach Musik klangen. Lendle, der hinter ihr stand, sah zu, wie der Umriß des Körpers der Meerelfe zu einem durchscheinenden, blaugrünlichen Dunst verlief und sich dann aufzulösen schien. Nach kurzer Zeit wirkte ihr ganzer Körper halb flüssig und fast durchsichtig. Dann begann er zu schimmern und vor Energie zu pulsieren. Der Gnom bekam eine Gänsehaut. Die Luft selbst schien aufgeladen zu sein. Sobald Tailonnas Körper sich in winzige Tröpfchen aufgelöst
hatte, die in der Seeluft hingen, vereinigten sich diese Teilchen zu einer konzentrierten Masse, die sich dicht über dem Deck langsam drehte, erst ein tiefes Dunkelblau annahm und schließlich erdbraun wurde. Gleich darauf schwoll die Masse an und nahm wieder eine feste Form an – ein schlanker, silberbrauner Seeotter war geboren. Das Tier erhob sich auf die Hinterbeine und setzte seine Vorderpfoten auf die Reling, so daß sein muskulöser Körper fast so hoch aufragte wie Lendle. Der Otter blickte auf die See und neigte seinen Kopf fragend zur Seite. Dann warf er über die Schulter einen Blick auf den Gnomen. Seine Augen waren von einem schimmernden Blaugrün, das Lendle verzauberte. Das Tier pfiff schrill, stupste Lendle mit seiner kalten, nassen Schnauze an und blickte dann wieder auf die See hinaus. Lendle schüttelte verwundert den Kopf, dann legte er vorsichtig die Haarnetze mit den Muscheln auf das polierte Deck. »OhjaichhelfedirTailonnaderOtter«, plapperte er. Er hob die Hinterläufe des Otters hoch und half ihm, über die Seite der Perechon hinunterzuspringen. Mit weit aufgerissenen Augen sah Lendle zu, wie das Tier sich im Wasser auf den Rücken rollte und ihm mit einer Vorderpfote zuwinkte. Anschließend drehte es sich wieder auf den Bauch und schwamm davon. Lendle blickte auf die sanften Wogen hinaus, bis der kleine Kopf des Otters nicht mehr zu sehen war. Danach sah er sich auf dem Hauptdeck um. Von den wenigen Seeleuten, die hier draußen ihren Pflichten nachgingen, schien niemand Tailonnas Verwandlung bemerkt zu haben. Lendle war stolz, daß die Meerelfe etwas so Besonderes mit ihm geteilt hatte. Er bückte sich und hob ihre muschelbesetzten Netze auf. Dann rannte er aufgeregt da-
von, um Maquesta zu suchen.Maque fand den Minotaurus Koraf auf dem Unterdeck, wo er die Riemendollen überprüfte und ölte. Sie stand am Fuß der Treppe zum Oberdeck und wartete, bis er sie zur Kenntnis nahm. Währenddessen überlegte sie genau, was sie sagen wollte. »Wolltest du mit mir reden?« fragte Koraf, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. »Ja, ich brauche deine Hilfe, Kof«, sagte Maque. »Bitte, nimm dir einen Moment Zeit…« Der Minotaurus wußte ihre Aufrichtigkeit zu schätzen und freute sich zudem – mit der typischen Arroganz seiner Rasse –, daß er um Hilfe gebeten wurde. Er setzte das Ölkännchen ab und sah Maque an. Sie ging zu ihm hinüber und setzte sich auf eine der Ruderbänke. Dann klopfte sie neben sich auf die Bank, und nach kurzem Schweigen gehorchte der Minotaurus und ließ sich schwer auf dem Holzbrett nieder. »Kennst du einen Piraten namens Mandrakor?« fragte Maquesta. »Mandrakor der Räuber? Der Halboger?« Maque nickte. »Natürlich kenne ich den.« Koraf schnaubte. »Er will, daß man ihn kennt. Er hat eine sehr hohe Meinung von sich, dieser Kerl.« Der Minotaurus schüttelte seinen Stierkopf und fuhr mit dem Daumen die Außenseite der Ölkanne nach. »Sein Schiff, die Schlächter, liegt oft in der Hörnerbucht vor Anker. Es ist ein gutes Schiff. Viel zu gut für einen wie ihn.« »Weißt du, was er in Lacynos macht? Zu wem er dort geht?« fragte Maque gespannt. Koraf schnaubte wieder und zuckte mit den Schultern.
»Ich verschwende meine Zeit nicht damit, großmäuligen Halbogern nachzulaufen. Warum willst du das wissen?« Maque erzählte ihm das Wichtigste von ihrer Begegnung mit Mandrakor in Meerburg, einschließlich der Tatsache, daß der Halboger einen Groll gegen ihren Vater hegte und von ihrer augenblicklichen Reise zu wissen schien. Koraf dachte einen Augenblick nach und fingerte dabei abwesend an seiner Schärpe herum. Man sah, daß er nur ungern über seine Erfahrungen sprach. »Vor Monaten, bevor ich eingesperrt wurde, habe ich ihn unten an der Werft mit Chot Es-Kalin gesehen. Sie waren allein und schienen etwas auszuhecken. Ich habe keine Ahnung, was«, erinnerte sich Koraf. »Aber ich fand es seltsam, daß Chot Es-Kalin, der noch reicher und mächtiger ist als Attat, sich offen mit jemandem wie dem Räuber zeigt. Manche Minotauren meinen, daß es ihrer Würde abträglich ist, mit Menschen oder anderen Rassen Umgang zu haben.« »Aber das war nur einmal, vor Monaten?« hakte Maque nach. »Ja, aber seit meiner Gefangenschaft bei Attat hatte ich auch keine Gelegenheit mehr, Chot zu sehen. Chot und Attat sind erbitterte Rivalen«, betonte Koraf. »Attat hat sich vorgenommen, Chot an Reichtum zu übertreffen und Herrscher von Lacynos zu werden. Wenn Chot nicht aufpaßt, könnte Attat damit Erfolg haben. Aber auch Attat muß auf seine Taktik achten.« Maque nickte, denn ihr fiel ein, wie Attat gesagt hatte, aus welchem Grund er den Morkoth für seine Menagerie brauchte. »Der Morkoth könnte ihm helfen«, sagte sie leise. »Damit dürfte Attat sich allerdings verrechnen«, warf Koraf ein.
»Was soll das heißen?« fragte Maque. »Attat will seine Macht vergrößern, indem er seinen Besitz zur Schau stellt. Er glaubt, wenn er eine Monstersammlung aufbaut und über sie herrscht, würde er damit Eindruck schinden und seine Überlegenheit beweisen«, erklärte Koraf. »Chot dagegen will seine Macht vergrößern, indem er sie benutzt. Seine Methode ist effektiver – jedenfalls bisher.« »Und warum kümmert es Chot dann, was Attat macht? Warum ist die Rivalität beiderseitig?« »Attat ist Chot ein Dorn im Auge, ein Ärgernis, das durch seine Beständigkeit noch größere Bedeutung bekommen hat«, sagte Koraf. »Chot würde Attat gern demütigen und ihn dadurch vernichten. Er könnte scheitern, wenn seine Versuche, Attat zu demütigen, erfolglos bleiben. Dann wäre Chot der Gedemütigte und würde einen Teil seines Einflusses verlieren.« Während Maque über das Gehörte nachdachte, musterte sie den Minotaurus vor ihr. Er bewies einen Scharfsinn, den sie bei Angehörigen seiner Rasse nicht erwartet hätte. Sie war froh, daß sie ihm vertraut hatte. »Ich weiß nicht, was Mandrakor mit alldem zu tun hat, aber ich fürchte, wir werden es herausfinden, ob wir wollen oder nicht«, sagte Maque schließlich. »Ich erwarte, daß er uns verfolgt, und da Fritzen verletzt ist, muß jeder doppelt so wachsam sein wie sonst.« Koraf grunzte und kehrte mit seiner Ölkanne zu seiner selbstgewählten Aufgabe zurück.Am nächsten Morgen näherte sich die Perechon der Ostküste von Endflucht und bog langsam nach Norden. Mit den neuen Segeln, die den Wind nicht durch tausend Flickstellen ziehen ließen, kam das
Schiff schneller voran. Tailonna war immer noch nicht auf das Schiff zurückgekehrt. Lendle hatte Maque genau berichtet, wie die Elfe ihre Gestalt verändert hatte, und Maque war nicht erfreut darüber, daß Tailonna das Schiff ohne ihre Erlaubnis verlassen hatte. Vielleicht würde sie nicht zurückkommen. Und wer würde dann die Tränke brauen, mit denen sie unter Wasser atmen konnten? Wie sollten sie dann den Morkoth fangen? Maquesta suchte nach dem Gnomen und fand ihn in der Kombüse, wo er Tee kochte. Sie mußte den Kopf einziehen, als sie hereinkam, denn Lendle war es gelungen, seine Sammlung von Töpfen, Pfannen und sonstigen Utensilien an einem Flaschenzugsystem aufzuhängen, das noch komplizierter aussah als die vorherige Vorrichtung. Maquesta seufzte und wählte einen Weg weitab von Messern und Gabeln. Der Gnom sah erschöpft aus, denn er hatte den Großteil der Nacht bei Fritzen verbracht und auf dem harten Boden der Waffenkammer nicht viel Schlaf gefunden. »Wie geht es ihm?« fragte Maque, die beschlossen hatte, nicht wegen Tailonna mit ihm zu schimpfen. »Unverändert«, gab Lendle ungewöhnlich kurz zur Antwort. Maque wurde plötzlich von Schuldgefühlen geplagt. Sie zögerte, den Anlaß zu erwähnen, aus dem sie mit dem Gnomen sprechen wollte. »Lendle, bist du schon mit der Reparatur deines Rudermotors weitergekommen?« Die Augen des Gnomen leuchteten auf, und die Müdigkeit fiel von ihm ab. »Ilyatha und ich konnten die meisten Reparaturen schon erledigen, bevor wir in Meerburg vor
Anker gingen. Ich muß aber noch ein paar Dinge ändern, bevor der Motor richtig laufen kann. Ich kümmere mich sofort darum, wenn du willst.« Maquesta verzog das Gesicht. Lendle und seine ewigen Änderungen. »Wenn – falls – Tailonna zurückkommt, möchte ich, daß sie die Pflege von Fritzen übernimmt und du dich darauf konzentrierst, den Motor richtig zum Laufen zu bringen«, sagte sie. Ihres Wissens nach war der Motor überhaupt noch nie gelaufen. »Wir brauchen vielleicht jeden nur greifbaren Trick, um rechtzeitig nach Lacynos zurückzukommen. Die neuen Segel bringen uns schnell vorwärts, aber dennoch…« Sie hielt inne und schluckte hörbar. »Ich will, daß wir sicherheitshalber unseren Zeitplan übertreffen. Ich möchte das Leben meines Vaters nicht aufs Spiel setzen.« Lendle richtete sich empört auf. »Mein Motor ist kein Trick, Maquesta Kar-Thon, sondern Wissenschaft, und er wird dir helfen, rechtzeitig genug in Lacynos zu sein.« »Wie dem auch sei, ich denke, wir werden ihn brauchen«, sagte sie. Als Maquesta die Kombüse verließ, summte Lendle glücklich vor sich hin, während er seinen Tee umrührte. Sie machte kurz in der Waffenkammer halt, wo Fritzen schlief. Sie stellte sich neben ihn und legte ihm die Hand auf die Stirn. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht blaß und ausgezehrt. Seine Haut war heiß, was auf hohes Fieber hindeutete. Maque sah sich nach einem feuchten Tuch um und legte es ihm auf die Stirn. »Ich wünschte, ich könnte etwas für dich tun«, sagte sie leise. »Mir kommt es so vor, als wäre das alles meine Schuld.« »Du könntest ein Weilchen bei mir bleiben«, antwortete
Fritzen, ohne die Augen aufzuschlagen. Maque fuhr zusammen; sie hatte geglaubt, er würde schlafen. Ohne ein Wort zog sie einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn, bis sein leises Schnarchen anzeigte, daß er endlich in einen heilsamen Schlaf gefallen war.Es war später Nachmittag, als Hvel vom Ausguck aus das schwarze Segel am Horizont entdeckte. »Schiff in Sicht!« Seine Worte ließen Maque aus ihrer Kabine eilen, wo sie einen Plan zum Einfangen des Morkothen entwickelt hatte. Sie rannte die Stufen zum oberen Achterdeck hoch, wo Koraf am Ruder stand, und holte ihr Fernrohr hervor. Sie brauchte das Gerät nicht, um das schwarze Segel der Schlächter hinter der Perechon zu sehen und zu erkennen, daß das fremde Schiff aufholte. Statt dessen richtete sie das Fernrohr auf die Männer an Deck der Schlächter, denn sie wollte wissen, wie stark die Mannschaft war. Es waren viel zu viele Piraten, und sie arbeiteten hart daran, die Segel zu trimmen und die Takelung anzupassen, um alles aus ihrem Schiff herauszuholen. Maquesta preßte die Lippen fest aufeinander. »Er kann uns nicht einholen. Das ist unmöglich.« Doch trotz der neuerdings erhöhten Geschwindigkeit der Perechon machte sie sich Sorgen. Die Schlächter war ein Dreimaster, der mehr Segel und damit bei starkem Wind das Potential für höhere Geschwindigkeiten hatte. »Vartan!« schrie sie. »Besetzt die Schoten und Brassen und trimmt die Segel. Mal sehen, ob wir aus unserer Perechon noch etwas herausholen können.« »Ja, Kapitän!« rief er zurück. »Hvel, du gehst hinunter und rufst Ilyatha. Sag ihm, wir
brauchen seine Flöte des Tanzenden Windes!« Maquesta sah den Rest der Mannschaft an. »Gebt acht. Mandrakor ist uns auf den Fersen!« Maquesta benutzte das magische Instrument nur ungern, denn sie fürchtete um ihre Masten, und es war ihr nicht wohl dabei, den Schattenmenschen bei strahlendem Sonnenschein an Deck zu holen. Aber sie sah keine andere Möglichkeit. Als sie das Fernrohr wieder vor ihr Auge hob, stellte sie fest, daß die Schlächter mit ihren vielen pechschwarzen Segeln tatsächlich näher kam. Die offene See spielte zwar dem Auge so manchen Streich, doch war die Schlächter bei ihrem ersten Auftauchen zweifellos viel weiter von der Perechon entfernt gewesen. Ilyatha war in einen weiten Mantel gekleidet und hatte seinen Kopf im Schatten der Kapuze verborgen, als er an Deck trat. Ich hoffe, du hast einen wichtigen Grund, mich zu rufen, vermittelte er Maquesta. Es ist schmerzhaft für mich, in diesem Licht zu stehen. Maque zeigte auf die Schlächter, und Ilyatha las den Rest ihrer Gedanken. Mit einem Nicken bezog der Schattenmensch am Bug Position und setzte die Flöte an die Lippen. Zuerst war die Melodie geisterhaft, fast unheimlich. Die Töne strömten aus dem Instrument und breiteten sich über dem Deck aus, bis sich die Segel aufblähten. Das Schiff schlingerte und schwankte, aber es nahm mehr Fahrt auf. Dann veränderte sich die Melodie, wurde schriller, schneller, und als Reaktion darauf verstärkte sich der Wind. Rund um das Schiff frischte er auf, bis die Masten leise stöhnend protestierten. Maquesta schaute auf das Wasser. Die Wellen im unmittelbaren Umkreis der Perechon kräuselten sich immer hefti-
ger, doch weiter draußen war das Wasser ruhiger. Dort war der Wind weniger stark, weil er von den verzauberten Tönen der Flöte des Tanzenden Windes nicht erreicht wurde. Maquesta merkte, wie Ilyatha in Gedanken zu ihr sprach. Die Schlächter ist für mich zu weit weg, um den Wind in ihren Segeln abzuschwächen, teilte er ihr mit. Und ich kann diese Flöte nur noch ein paar Minuten benutzen, danach muß sie ihre Magie wieder neu aufbauen. Ich verstehe, gab Maquesta konzentriert zurück. Sie war zufrieden, daß Ilyatha ihre Gedanken gelesen hatte. Sie erinnerte sich, daß die Flöte auch auf der Katos während des Rennens auch nicht lange erklungen war – nur zum günstigsten Zeitpunkt. Und es kam ihr so vor, als hätte Ilyatha das Instrument jetzt gut genutzt, um der Perechon so viel Vorsprung zu verschaffen, daß die Schlächter nur noch wie ein schwarzer Punkt auf dem Wasser aussah. Da die Magie vorläufig erschöpft war, kehrte Ilyatha auf das Unterdeck zurück, nachdem er Maquesta mitgeteilt hatte, daß die Flöte am frühen Abend wieder zur Verfügung stehen würde. Während der langen Stunden des Nachmittags holte die Schlächter erneut stetig auf, denn ihre zahlreichen Segel konnten den immer stärkeren Wind zu ihrem Vorteil nutzen. Schließlich ging Maque zur Waffenkammer. Sie rief Lendle zum Eingang und reichte ihm einen Enterhaken, einen Dolch und ein Kurzschwert. »Du sorgst dafür, daß Fritzen eine Waffe zur Hand hat, falls Mandrakor und seine Mannschaft uns entern. Ich will nicht, daß er wehrlos ist«, erklärte sie dem Gnomen mit leiser Stimme. »Mandrakor wird sich an dir und auch an Fritzen rächen wollen. Jeder von euch hat einen seiner Männer getötet.«
Es war bereits später Nachmittag, doch Ilyatha sagte Maquesta, daß die Flöte noch nicht genug magische Energien zurückgewonnen hätte. »Laß ihr noch ein oder zwei Stunden«, bat er. Maque wußte, daß sie soviel Zeit vielleicht nicht hatten. Während sie zusah, wie Mandrakors Schiff sich näherte, geriet ihr Blut ins Wallen. Sie verscheuchte die Gedanken daran, der Schlächter zu entkommen. Wenn Mandrakor einen Kampf wollte, würde sie ihm einen Kampf liefern, den er nicht so schnell vergessen würde. »Alle mal herhören!« Maque war auf das Achterdeck gestiegen und hatte sich neben das Ruder gestellt. »Ich denke, ihr alle kennt die Schlächter und ihren Kapitän, Mandrakor den Räuber.« Die unten versammelten Matrosen stießen bestätigende Flüche aus. »Nun, es sieht so aus, als wollte er etwas von uns. Wollen wir es ihm geben?« rief Maquesta. »Nein!« schrien die Seeleute einstimmig und reckten die Fäuste gen Himmel. »Wenn er sein eigenes Schiff in den Hals gestopft haben will, kann er das gerne haben!« brüllte Hvel von hinten. Alles jubelte. »Dann haltet eure Waffen bereit«, befahl Maque. »Wenn wir ihm schon nicht entkommen können, werden wir ihm einen Kampf liefern, den er niemals vergißt.«Nur für das Vergnügen, Mandrakors Ärger zu schüren, manövrierte Maquesta die Perechon kreuz und quer über das Wasser, um sie noch eine Weile außer Reichweite des Räubers zu halten. Obwohl sie es leid war, in diesem Katz-und-MausSpiel die Maus zu sein, wußte sie, daß der Kampf gegen Mandrakor – obwohl sie ihn eigentlich herbeisehnte – die Perechon, die ganze Mannschaft und ihren Vater in Gefahr
bringen würde. Doch Mandrakors Schiff kam immer näher, und als die Abendsonne tief am Himmel hing, schlug Maquesta einen geraden Kurs ein und wartete, bis die Schlächter gleichzog. Der erste Enterhaken traf die Perechon mittschiffs. Bald folgten drei weitere Leinen. Sobald die Schlächter und die Perechon in dieser erzwungenen Verbindung nebeneinander trieben, befahl Maque Hvel und Rawl, die an den Hauptgeschützen standen, das Feuer zu eröffnen. Runde Geschosse aus der armbrustähnlichen Waffe begannen auf die Matrosen der Schlächter herabzuregnen, während diese versuchten, Leitern über die Lücke zwischen den beiden Schiffen zu schwingen und an Bord der Perechon zu kommen. Als ihr auffiel, daß Koraf am Ende einer solchen Leiter stand und darauf wartete, den ersten Piraten in Empfang zu nehmen, der einen Fuß auf die Perechon setzen wollte, rief Maque nach ihm. »Kof! Kof!« Als er zu ihr herüberschaute, machte Maquesta eine Schiebebewegung mit den Armen. Der Minotaurus nickte. Obwohl bereits drei Männer aus der Mannschaft der Schlächter die Leiter bestiegen hatten und herüberzukommen versuchten, hob der Minotaurus ihr Ende mit Leichtigkeit hoch und schubste die Leiter zur Schlächter zurück, um sie dann im letzten Augenblick hinunterzureißen, damit sie mitsamt ihrer Passagiere ins Meer kippte. Maque lächelte zufrieden. Bald jedoch hatte trotz solcher Taktiken und der Geschütze ein Dutzend Piraten von der Schlächter die Perechon betreten und Maques Mannschaft in heftige Kämpfe verwickelt. Und es kamen noch mehr Männer herüber. Maque
befahl Vartan, am Ruder zu bleiben, sprang ins Getümmel, zog ihr Kurzschwert und stieß laute Flüche über Mandrakor aus, der nirgends zu sehen war. Schon als kleines Kind hatte sie viel mit Schwertern gespielt und oft mit Holzstäben bewaffnet gegen Lendle, Averon oder ihren Vater gekämpft. Anders als viele Seeleute zog sie dem gekrümmten Säbel jedoch ein Schwert mit gerader Klinge vor. Das schwang sie jetzt, um einen Piraten zu entwaffnen, der Rawl an die Treppe zum oberen Achterdeck gedrängt hatte. Rawl las sein eigenes Schwert auf und brachte die Sache selbst zu Ende. Maque sah sich an Deck nach Mandrakors buntem Kopftuch um, konnte es aber nirgends entdecken. Gerade als sie nach Vartan am Ruder sehen wollte, durchzuckte ein heftiger Schmerz ihre Knöchel – ein Peitschenhieb riß sie von den Beinen. Der Fall raubte ihr den Atem. Auf dem Rücken liegend, sah Maque zu einem gewaltigen, blauhäutigen Oger von der Schlächter auf, der eine Peitsche in der Hand hielt. Er ruckte daran, was die Schlinge um Maquestas Knöchel noch fester zog. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß sie bewegungsunfähig war, stellte der Unhold sich breitbeinig über sie, damit sie sich nicht wegrollen konnte, und zog sein Schwert. Maque umklammerte das Heft ihrer eigenen Waffe und spannte jeden Muskel an. Sie bereitete sich darauf vor, dem Hieb des Ogers auszuweichen und zurückzuschlagen. Doch noch bevor sie handeln konnte, umschlangen zwei dicke, mit braunem Fell bedeckte Arme Brust und Oberarme des Ogers und drückten derart fest zu, daß das Monster Schwert und Peitsche fallen ließ. Schnell rollte Maque sich weg und befreite sich von der Peitschenschnur. Koraf, der
den Oger von hinten festhielt, hob diesen hoch und schleuderte ihn mit Wucht auf das Deck. Außer Atem taumelte der Oger vorwärts, war jedoch zu langsam. Koraf knurrte und zog seinen Dolch. Er packte den Oger an den Haaren und schlitzte ihm die Kehle auf. »Maquesta! Maquesta!« Maque sprang auf, um zu sehen, woher der drängende Ruf kam. Koraf, der die Klinge seines Messers an seinem Schenkel abwischte, zeigte mit der freien Hand zum Bug. Als Maque in diese Richtung blickte, entdeckte sie Hvel, der an der Tür zur Waffenkammer herumsprang und wild mit den Armen wedelte. »Kof, du begleitest mich!« befahl sie. Zusammen kämpften sie sich nach vorne durch und töteten unterwegs drei Matrosen von der Schlächter. Als sie die Tür zur Waffenkammer erreichten, sah Maque endlich, warum sie Mandrakor noch nicht entdeckt hatte. Lendle lag bewußtlos in der hinteren Ecke des Raumes. Aus seinem rötlichbraunen Gesicht war alle Farbe gewichen. Aus einer häßlichen Wunde an seinem Kopf rann Blut und färbte die weißen Haare des Gnomen rot. Mandrakor und drei seiner Oger standen mit gezückten Schwertern und Messern am Kopfende von Fritzens Lager. Der schenkte Maque ein mattes Lächeln, als sie und Koraf an die Tür kamen. Der Piratenkapitän hielt den Enterhaken und den Dolch, die Maque Lendle gegeben hatte, in den Händen. Den Haken benutzte er jetzt, um grausam in der verletzten Schulter des Halbogers herumzubohren. Fritzen biß die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien. »Tut mir leid, Maque«, sagte Hvel händeringend. »Er sagte, wenn ich dich nicht rufe, oder wenn ich versuche,
jemand anderen zu rufen, schlitzt er Fritzen die Kehle auf.« »Ist schon gut, Hvel«, erwiderte Maque und klopfte dem Seemann auf die Schulter. »Der Räuber setzt die Regeln gern so fest, daß er nie einen ehrlichen Kampf ausfechten muß.« Ein Anflug von Ärger tauchte auf dem Gesicht des Piraten auf, aber er beherrschte sich. »Sag deiner Mannschaft, sie soll aufhören zu kämpfen, Maquesta«, befahl er. »Warum sollte ich das tun?« fragte Maque unschuldig. »So wie die Sache aussieht, sind wir am Gewinnen.« »Wenn du ihnen nicht befiehlst, die Waffen zu strecken, bringe ich deinen kranken Freund hier um und schlitze dem Gnomen die Kehle auf. Danach bist du selbst dran«, drohte der Pirat. »Ich schätze, das wirst du alles sowieso tun«, sagte Maque gefaßter, als sie sich in Wirklichkeit fühlte. Verzweifelt suchte sie nach einem Ausweg aus dieser Situation. Es gab ihr neue Hoffnung, als sie meinte, Lendle, der hinter Mandrakor auf dem Boden lag, die Augen aufschlagen zu sehen. Dann wurde ihr klar, daß der Gnom, selbst wenn er wieder zu Bewußtsein kommen sollte, in seiner Verfassung gegen Mandrakor und die anderen wenig ausrichten konnte. Da Mandrakor wußte, daß Maquesta die Wahrheit ausgesprochen hatte, erwiderte er nichts. Maquesta spannte die Beinmuskeln an. Sie war bereit, sich auf Mandrakor zu stürzen, wenn einer von seinen Leuten sich anschicken sollte, Fritzen etwas anzutun. Lieber im Kampf umkommen, als in den Händen so verworfener Kreaturen um Gnade betteln, schwor sie sich. Nur der Gedanke, daß ihr Tod unweigerlich zum Tod ihres Vaters führen würde, machte
Maquesta sehr unglücklich. Lendles Augenlider flatterten wieder, und diesmal blieben die Augen offen. Maque zwang sich, nicht direkt zu ihm hinzusehen, um ihn nicht zu verraten. Mandrakor hatte sich gerade einem seiner Oger zugewandt, als auf dem Deck vor der Waffenkammer der Kampflärm plötzlich erstarb. Die kurzfristige Stille endete jedoch gleich darauf mit einem explosionsartigen Krachen wie von einem Donnerschlag – nur herrschte draußen kein Sturm. In der Waffenkammer standen alle wie erstarrt da. »Kapitän Mandrakor! Kapitän Mandrakor!« Erst schrie nur einer, dann nahm ein halbes Dutzend Stimmen den Ruf auf. Fluchend stieß Mandrakor den Haken noch einmal in Fritzens Wunde, dann befahl er einem der Oger, ihm den Rücken zu decken, während er nachschaute, was geschehen war. »Ihr anderen«, befahl er seinen Gefolgsleuten, »bleibt hier. Du da! Leg dem Halboger dein Messer an die Kehle. Und du bewachst den Gnomen! Wenn einer von ihnen sich rührt, tötet zuerst den Halboger. Er hat meinen Ersten Maat umgebracht!« Maquesta hörte Koraf leise neben sich knurren. Sie hoffte, der Minotaurus würde sich noch so lange zügeln können, bis sich eine passende Gelegenheit bot – eine, die nicht das Leben von Fritzen oder Lendle riskierte. Draußen an Deck kämpften nur noch vereinzelte Paare. Der Rest der Piraten und Matrosen starrte wie gebannt auf die Schlächter, auf der ein Chaos ausgebrochen war. Beiwar kreiste über dem Piratenschiff, umgeben von einem Lichtschein, der von den Strahlen der untergehenden Sonne verursacht wurde, welche sich warm in seinen goldenen
Schuppen widerspiegelten. Unter ihm lag der Hauptmast der Schlächter. Er war zersplittert, denn der Ki-Rin hatte eine Metallkugel von der Größe eines Felsbrockens von oben auf ihn herabgeworfen. Als die Kugel das Hauptdeck durchschlagen hatte, war Feuer ausgebrochen und hatte das Schiff in Rauch und Flammen gehüllt. Die Hitzewellen der Flammen erreichten auch die Perechon. Die Luft war vom Geruch nach brennendem Holz und Segeltuch erfüllt. Die Piraten, die auf der Schlächter geblieben waren, sprangen über Bord oder versuchten auf die Perechon zu gelangen. Im Feuerschein beobachtete Maquesta, die auf der Türschwelle zur Waffenkammer verharrte, wie Ilyatha vom Unterdeck heraufstieg. Er trug seinen Schattenstab. Das Licht des Feuers spiegelte sich auch in anderen Waffen wider, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, und die er jetzt an seinem Gürtel festgemacht hatte. Maques Augen begegneten seinem Blick. Nachdem sie ihren Geist von störenden Gedankenfetzen gereinigt hatte, konzentrierte sie sich darauf, dem Schattenmenschen die wichtigen Informationen zu übermitteln. Der Halboger mit dem Kopftuch und dem Ohrring ist Mandrakor. Maque starrte den Piratenkapitän an und sah zu ihrer Erleichterung, daß Ilyatha ihrem Blick folgte. Einer von seinen Ogerkriegern steht in der Waffenkammer neben Fritzens Lager. Lendle ist verwundet, aber wach. Er wird von einem zweiten Oger bewacht. Ich kümmere mich zuerst um Mandrakor, gab Ilyatha zurück. Da nun neue Piraten von der Schlächter herüberkamen, war der Kampf auf dem Hauptdeck der Perechon wieder ausgebrochen, diesmal noch erbitterter als zuvor. Maque
sah, wie Hvel und Vartan versuchten, die Enterhaken zu lösen, damit die Perechon von der brennenden Schlächter davontreiben konnte. Aber weil sie immer wieder angreifende Piraten abwehren mußten, konnte keiner von beiden das Vorhaben zu Ende führen. Mandrakor, der über das Schicksal seines Schiffes sichtlich wütend war, hatte gerade auf dem Absatz kehrtgemacht, um sich eine passende Strafe für Maquesta auszudenken, als Ilyatha angriff. Der Schattenkrieger, der mit seinem dunklen Pelz im Dämmerlicht schlecht zu erkennen war, glitt lautlos vor und stieß Mandrakor seinen Hakenstab mit einer schnellen Bewegung in den Leib. Der Pirat schrie auf, mehr vor Wut als vor Schmerz, kippte nach vorn und griff mit einem ungläubigen Ausdruck im Gesicht nach dem Stab. Genauso schnell, wie er zugestoßen hatte, drehte Ilyatha jetzt den Stab in der Wunde, was neuen Unglauben über Mandrakors Gesicht huschen ließ. Der Schattenkrieger riß den Stab zurück, und Mandrakor fiel auf die Knie. Dann stürzte er mit dem Gesicht voran auf das Deck. Ilyatha kniete sich hin und benutzte Mandrakors Mantel, um das Blut von seinem Stab abzuwischen. Der begriffsstutzige Ogerwächter neben dem Piratenkapitän hatte erst begriffen, daß mit seinem Herrn etwas nicht stimmte, als Mandrakor in sich zusammensank. Mit einem Schrei, der einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte, stürzte er sich auf Ilyatha, der gerade seinen Stab reinigte. Der Schattenkrieger ließ Mandrakors Mantel fallen und fuhr herum. Er hielt den sauberen Stab hoch, um den neuen Angreifer abzuwehren, und das Schwert des Ogers prallte von dem Holz ab. Nachdem Ilyatha auf den Beinen war, vollführte er einen neuen, kräftigen Stoß mit dem Stab
und trieb dessen scharfes Ende dem Oger in den Bauch. Die häßliche Kreatur stand nur noch aufrecht, weil Ilyatha den Stab hielt, doch als der Schattenmensch die Waffe herauszog, brach der Oger neben seinem Kapitän zusammen. Wieder wischte Ilyatha seine Waffe ab und sah sich an Deck nach einem neuen Gegner um. Weil er in unmittelbarer Nähe niemanden sah, rannte Ilyatha zur Waffenkammer. Maquesta beobachtete, wie ein Pirat hinter einem Wasserfaß auftauchte und sich auf Ilyatha stürzte. Sie wollte dem Schattenmenschen eine Warnung zurufen, erkannte aber, daß dies gar nicht nötig war. Ihre Gedanken reichten aus. Ilyatha zog eine Schnur aus dem Gürtel, an deren einem Ende eine hakenbewehrte Klinge und am anderen Ende ein schwerer Ring befestigt war, fuhr herum und warf sie gekonnt nach dem angreifenden Piraten. Die Schnur wickelte sich um den Hals des unglücklichen Seemanns und trieb ihm den Haken in die Kehle. Der Schattenkrieger machte sich wieder auf den Weg zur Waffenkammer. Maque spähte hinein. Die verbliebenen Oger, die nicht wußten, was draußen vor sich ging, wurden allmählich nervös. Aus dem Augenwinkel sah Maquesta, daß Lendle jetzt hellwach war, obwohl er immer noch Bewußtlosigkeit vortäuschte. Als der Oger, der ihn bewachte, kurz wegschaute, schlug Lendle die Augen auf und entdeckte seinen Dolch, der knapp außer Reichweite zwischen ihm und seinem Wächter auf dem Boden lag. Was jetzt geschah, mußte schnell und lautlos geschehen, das wußte Maque, sonst war das Risiko groß, daß der andere Oger einfach das Schwert benutzen würde, das er Fritzen an die Kehle hielt. Der Halboger war sich der Gefahr gar nicht
bewußt, denn er hatte wieder die Besinnung verloren. Maquesta nagte nervös an ihrer Unterlippe. Sie wollte Fritzen nicht verlieren. Nicht so. Überhaupt nicht. Ruf Mandrakors Namen, dann geh von der Tür weg, hörte Maque Ilyatha denken. Koraf, der neben ihr stand, mußte eine ähnliche Botschaft empfangen haben, denn sie sah, wie er blinzelte und die Stirn runzelte. Der Minotaurus hatte sich noch nicht recht an die Kommunikationsform des Schattenkriegers gewöhnt, deshalb zuckte er leicht zusammen und warf dann Maque einen fragenden Blick zu. Die nickte kaum wahrnehmbar. »Mandrakor!« rief Maque. Von Koraf begleitet, trat sie hinaus und machte damit den Eingang frei. Im selben Augenblick glitt Lendle über den Boden und schnappte sich seinen Dolch. Er schloß die kurzen Finger um den abgegriffenen Knauf und machte sich bereit, aufzuspringen und Fritzen zu beschützen oder den Oger anzugreifen, der ihn so unzureichend bewachte. Der Ogerwächter des Gnomen war ihnen eine unschätzbare Hilfe, weil er seine Befehle vergaß. Als er nämlich sah, daß die Tür frei war, stürmte er vor, weil er wohl annahm, Maque und der Minotaurus hätten sich einem neuen Angriff auf Mandrakor angeschlossen. Der Oger, der bei Fritzen stand, stieß einen Befehl aus, der dem ersten Wächter klarmachte, daß er seinen Posten nicht hätte verlassen dürfen. Wie aus dem Nichts tauchte Ilyatha auf, baute sich vor der Wache auf und stieß ihr mit einem dumpfen Geräusch das hölzerne Ende seines Schattenstabs in die Brust, so daß der Oger rückwärts taumelte. Der Oger bei Fritzen knurrte und hob sein Schwert, um es dem Halboger in den Hals zu bohren. Lendle sah den Angriff kommen, schoß über den Boden und stach den O-
ger von hinten in den Schenkel, worauf der Unhold zu ihm herumfuhr. Er lachte, als er seinen winzigen Gegner sah. Das war sein Fehler. Der Gnom griff wieder an und stieß dem Piraten seinen Dolch von unten her tief in den Bauch. Wütend und mit schmerzverzerrtem Gesicht, packte der Oger Lendle an den Schultern und schüttelte ihn so fest, daß der seinen Dolch fallen ließ. Nachdem er den Gnomen hochgehoben hatte, knurrte der Oger bedrohlich und riß das Maul weit auf. Dann schickte er sich an, dem Gnomen die Zähne in die Kehle zu rammen. »Nein!« fluchte Maque und eilte zurück in die Waffenkammer. Ihr Ruf lenkte den Oger kurzfristig ab, was Lendle eine kurze Atempause verschaffte. Der Gnom trat mit beiden Beinen nach vorn und schlug dem Piraten die Schneidezähne aus. Der Oger heulte auf und ließ seinen kleinen Angreifer fallen. Lendle landete sicher auf den Beinen. Maquesta zog ihr Schwert und stürzte vorwärts. Erst fing sie den Schlag von Fritzens Bewacher ab, dann zog sie ihre Waffe zurück und schwang sie nach vorn, doch als sie zum Angriff ansetzte, rutschte sie auf der wachsenden Pfütze Ogerblut aus und landete auf dem Bauch. Der Oger grinste. Er hob sein Schwert über den Kopf und wollte es auf Maquesta niedersausen lassen. Die jedoch war schneller und stieß ihr Kurzschwert hoch, so daß sie seinen Bauch durchbohrte. Dann rollte sie zur Seite, um seinem fallenden Körper zu entgehen. Sie fühlte, wie der Boden erzitterte, als der Unhold stürzte. Nachdem sie sich die Hände abgewischt hatte, rollte sie den Piraten auf den Rücken und zog ihre Waffe heraus. »Lendle, alles in Ordnung?« fragte sie.
Der Gnom stand immer noch auf den Beinen, war aber vom Kampf etwas wackelig. Er nickte zustimmend und hob seinen Dolch auf. Aus seiner Kopfwunde floß kein Blut mehr, aber er war totenbleich. »Natürlich ist alles in Ordnung«, schimpfte er, machte einen Schritt nach vorn und brach zu Tode erschöpft neben Fritzens Pritsche zusammen. »Kof, du bleibst hier bei Lendle und Fritz!« befahl Maque. Sie wußte, daß der Minotaurus lieber eine andere Aufgabe übernommen hätte, doch sie hoffte, ihm war klar, daß sie nicht vielen die Aufgabe anvertrauen würde, ihre Freunde zu verteidigen. Koraf runzelte die Stirn, stellte sich jedoch mit gezückten Waffen vor die Tür zur Waffenkammer. An Deck hatten Hvel und Vartan es doch noch geschafft, alle Enterhaken zu lösen. Maquesta sah zu, wie sie die Haken und Leinen zu Mandrakors Schiff zurückwarfen. Jetzt war die Perechon von der Schlächter befreit, die inzwischen von den lodernden Flammen verzehrt wurde – eine orangeleuchtende Fackel, die auf dem Meer trieb. Beiwar drehte ab und brauste über die Perechon hinweg. Mit seinem Horn und seinen Hufen half er, die Piraten loszuwerden, die immer noch kämpften, was nicht viele taten. Der Anblick ihres brennenden Schiffes und die sich verbreitende Nachricht von Mandrakors Niederläge hatte die meisten Piraten von der Schlächter, die noch an Bord der Perechon waren, so demoralisiert, daß sie in fassungslosem Schweigen zusammenstanden und die Hände von ihren Schwertern und Messern ließen. Sie hatten die Waffen zwar noch nicht übergeben, machten jedoch keine Anstalten mehr, sie zu benutzen. Es war deutlich zu sehen, daß sie sich ergaben.
Neben dem brennenden Schiff strampelte eine Reihe Piraten im Wasser herum. Maque sah, daß es jemandem gelungen war, die drei Beiboote der Schlächter auszubringen. Einige Matrosen hatten sich bereits in die Boote gezogen. Die Schlächter hatte schwere Verluste erlitten. Nachdem Mandrakor verwundet war, vielleicht sogar im Sterben lag, verspürte Maque nicht den Drang, die fremde Mannschaft niederzumetzeln und damit noch mehr Verletzungen bei ihren eigenen Leuten zu riskieren. »Als Kapitän der Perechon erkläre ich uns zum Sieger!« rief Maque aus. »Werft eure Waffen weg. Jeder von der Schlächter, der dies wünscht, kann sich seinen Kameraden im Wasser anschließen. Die anderen landen in unserem Schiffsgefängnis und werden den zuständigen Behörden übergeben, sobald wir einen Hafen anlaufen. Dies ist eine vielbefahrene Schiffahrtsstraße, ihr könntet Glück haben und hier aufgelesen werden. Ansonsten dürft ihr euch auf die Gastlichkeit des nächsten Hafenkerkers freuen.« »Und vielleicht auf den Galgen!« brüllte Vartan. Die Matrosen der Perechon jubelten. Daraufhin sprang jeder Pirat, der sich noch über Wasser halten konnte, über die Decksreling in die See. Zwei Oger hoben den schlaffen Körper von Mandrakor auf, der noch flach atmete, und sprangen mit ihrem Kapitän ins Wasser. »Warum hast du zugelassen, daß sie Mandrakor mitnehmen?« fragte Hvel Maquesta. »Du hättest ihn von uns erledigen lassen sollen.« »Ich lehne es ab, auf sein Niveau herabzusinken, und wenn ich ihn in unser Loch stecke, stirbt er und stinkt uns alles voll«, antwortete sie kalt. »Und ich will nicht, daß Lendle seine Zeit darauf verwendet, jemanden zu heilen,
den ich tot sehen möchte. Sollen die Elemente ihn sich holen. Das ist ohnehin das passendere Ende für ihn.« »Und wenn die Oger Hunger bekommen…« Hvel lachte. »Es wird kaum die See sein, die seine Überreste frißt.« Vartan stellte ein paar Männer zusammen, welche die toten Matrosen von der Schlächter ins Wasser warfen. Die meisten waren Oger, so daß man zwei bis drei Männer brauchte, um ihre Leichen aufzuheben. Niemand wehrte sich gegen die grausige Aufgabe; man sah deutlich, daß jeder die Kadaver so schnell wie möglich loswerden wollte. Vartan, der die Mannschaft der Perechon überprüfte, konnte seinem Kapitän erfreut mitteilen, daß es – noch – keine Toten unter ihnen gegeben hatte, obwohl genug Verletzte da waren, um Lendle und Ilyatha für viele Tage zu beschäftigen. Sobald die Decks der Perechon von den Piraten befreit waren, verschwanden zum allgemeinen Erstaunen die Flammen, die die Schlächter umgeben hatten. Kein Rauchwölkchen hing mehr in der Luft. Maque konnte ihren Augen kaum trauen. Die Schlächter war immer noch durch einen gebrochenen Mast behindert, aber sie schien nicht einmal angesengt zu sein. Beiwar, der über dem Deck der Perechon flog, brach in ein tiefes, zufriedenes Gelächter aus, als er die fassungslosen Gesichter sah, die aus den Beibooten nach oben schauten. »Das Feuer war nur eine Illusion von Beiwar«, erklärte Ilyatha, der sich zu Maque gesellt hatte. »Eine Illusion? Wie ist das möglich?« wollte sie wissen. »Ich habe die Hitze gespürt. Ich habe den Rauch gerochen.« »Die Magie eines Ki-Rin ist sehr mächtig«, sagte Ilyatha nur.
Maque starrte immer noch die Schlächter an. »Aber der Mast, der geborstene Mast, der ist doch echt?« fragte sie. »Ja, der geborstene Mast ist echt, aber der Eisenklumpen, der ihn zerbrochen hat, wurde von Beiwar geschaffen«, teilte Ilyatha ihr mit. »Sieh, auch der Klumpen ist verschwunden.« Das Loch, das die riesige Metallkugel ins Deck der Schlächter gerissen hatte, war noch zu sehen, der Eisenbrocken selbst jedoch nicht. »Wenn ein Ki-Rin etwas so Hartes wie Metall erschafft, existiert es nicht lange«, erklärte der Schattenkrieger. Maque seufzte. Dann drehte sie sich um und sah sich ihr Schiff an. »Nun, ich wünschte, er könnte etwas Weiches, Eßbares erschaffen, das länger existiert«, sagte sie. »Lendle ist nicht in der Lage zu kochen, wir haben eine lange Nacht vor uns, und ich bin am Verhungern.« »Oh, aber das kann er doch«, sagte Ilyatha entzückt, rief nach dem Ki-Rin und wiederholte ihm Maquestas Bitte. Deshalb endete der Abend, der ziemlich verzweifelt begonnen hatte, für den Kapitän und die Mannschaft der Perechon sehr angenehm mit einem köstlichen Mahl aus Braten und Brotpudding, und Pilzen für Ilyatha. Maquesta, die an die mageren Vorräte dachte, welche ihr in Meerburg so wichtig gewesen waren, sah die Köstlichkeiten vor ihnen und lachte vor Glück laut auf. Wenn nur Vater hier wäre, um das zu sehen, dachte sie. Wenn nur.
Kapitel 2 Erwachen
Nachdem sie sich wenigstens ein paar Stunden Schlaf gegönnt hatte, stand Maquesta am nächsten Tag noch vor der Dämmerung auf, um ihr Schiff abzugehen. Sie verzog das Gesicht, als sie die sechs mit Segeltuch bedeckten Leichen der verwundeten Matrosen sah, welche die Nacht nicht überstanden hatten. Sie lagen auf dem Hauptdeck dicht am Heck, und Maquesta nahm sich vor, gleich nach Tagesanbruch eine kurze Zeremonie für sie abzuhalten. Sie seufzte traurig. Einer der Toten war der Schiffsjunge, dem während des Rennens schlecht geworden war. Sie würde seine Habseligkeiten durchsuchen und herausfinden müssen, wo seine Eltern lebten. Sie hatten zumindest einen Brief verdient. Maquesta senkte den Kopf. Jeder dieser Männer hätte Besseres verdient, als unter den Händen von Mandrakors Piraten zu sterben. Dann fluchte sie über sich selbst. Diese sechs Männer waren tot, weil sie darauf aus war, einem einzigen Mann zu helfen – ihrem Vater. Hatte sie das Leben der Seeleute für seines geopfert? Und würden auch Lendle und Fritzen ihr Leben für ihn geben müssen? Welchen Preis war sie bereit zu zahlen? Doch wenn sie jetzt umkehrte, hätten die Toten sich umsonst geopfert. Bedrückt wog Maque alle Möglichkeiten gegeneinander ab, während sie zur Waffenkammer ging. Neben dem persönlichen Verlust, den Maquesta verspürte, bedeutete der Tod der sechs Matrosen aber auch, daß
die Perechon für den Rest der Reise gefährlich unterbesetzt sein würde. Wenn auch nicht so unterbesetzt wie die Schlächter, dachte Maque mit einer gewissen Befriedigung. Viele andere in der Mannschaft der Perechon hatten bei dem Kampf Verletzungen davongetragen, wenn auch nur vergleichsweise geringfügige, zumeist Schnitte und Blutergüsse. Diese Matrosen schliefen noch in ihren Hängematten, und Ilyatha, der sie kurz versorgt hatte, sagte, sie würden später am Tag aufstehen und ihren Pflichten nachgehen können. Der Schattenmensch hatte sich auch um Lendle gekümmert. Die Wunde des Gnomen mußte gefährlich sein, denn Ilyatha war letzte Nacht stundenlang bei ihm gewesen. Dennoch hatte der geheimnisvolle Telepath es abgelehnt, Maque mitzuteilen, wie schwer die Verletzung war – ja, er hatte sich offen geweigert, es Maque zu verraten, obwohl sie wiederholt darum gebeten hatte. Irgendwann am Abend war er sogar so weit gegangen, daß er Maquesta befohlen hatte, das Krankenzimmer zu verlassen. Maquesta blieb vor der Tür zur Waffenkammer stehen. Heute morgen würde sie ein paar Antworten von Ilyatha fordern. Der Telepath mußte ihr genau erklären, wie schlimm es um Lendle und Fritzen stand. Sie holte tief Luft, stieß die Tür auf und trat ein. »Ich habe mich letzte Nacht die ganze Zeit um deine Freunde gekümmert«, sagte Ilyatha, der ihre Gedanken gelesen hatte, und blickte auf. »Ich wollte keine Zeit mit Reden und Erklären verschwenden, und ich wollte nicht, daß du dir um Lendle und Fritzen unnötig Sorgen machst. Du brauchtest Schlaf. Außerdem wollte ich erst sehen, ob es ihnen im Laufe der Zeit von selbst besser geht.«
Und…? dachte Maquesta, die ihre Befürchtungen nicht laut aussprechen konnte. »Lendle geht es etwas besser, wenn auch noch nicht viel. Wenigstens atmet er gleichmäßig. In ein, zwei Tagen läuft er vielleicht schon wieder herum, aber…« Die Stimme des Schattenmannes wurde leiser, und er zeigte auf den Gnomen. »Dir muß klar sein, daß Kopfverletzungen schwer einzuschätzen sind. Er könnte noch ein paar Tage, vielleicht auch ein paar Wochen bewußtlos bleiben. Vielleicht noch länger. Und er könnte eine Weile nicht ganz er selbst sein. Der Kopf ist oft schwerer zu heilen als der Rest des Körpers.« Als Maquesta den Gnomen betrachtete, füllten sich ihre Augen mit Tränen, die sie jedoch hartnäckig unterdrückte. »Er wird aber wieder gesund? Nicht wahr? Sag mir, daß er wieder gesund wird.« »Mein Geist kann den seinen nicht berühren. Ich kann seine Gedanken nicht spüren«, erwiderte Ilyatha sanft. »Das ist es, was mir Sorgen macht. Ich kann dir nicht versprechen, daß er gesund wird, weil ich es einfach selbst nicht weiß.« Maquesta biß sich auf die Lippe, um nicht zu weinen. Kapitäne weinen nicht, sagte sie sich. Kapitäne sind nicht schwach. »Lendle muß gesund werden, oder wir werden alle verhungern«, sagte sie im verzweifelten Versuch, sich gelassen zu geben. »Hvel und Vartan haben gesagt, sie würden sich an Lendles Aalsuppe versuchen – ohne die Kartoffeln. Aber sie sind lausige Köche.« Sie starrte Ilyatha an und versuchte ihre Gedanken zu unterdrücken. Maque fand plötzlich selbst, sie sei zu jung, um die Perechon zu führen. Sie konnte nicht mit Fragen von Leben und Tod
umgehen, wenn es um Menschen ging, an denen ihr wirklich etwas lag. Sie wünschte, ihr Vater wäre hier. Sie wünschte, Fritzen und Lendle wären wohlauf. Sie wünschte, sie wäre stärker. Der Schattenmensch warf ihr einen besorgten, aber müden Blick zu. Er antwortete nicht auf ihre drängenden, persönlichen Gedanken, sondern glitt statt dessen auf einen Stuhl neben dem Gnomen. Er sank auf das flache Kissen, streckte sich und gähnte. Als Maque nach Fritzen fragte, schüttelte Ilyatha nur den Kopf. »Mit Meerhexengift kenne ich mich nicht aus, auch mit den meisten anderen Wassergiften nicht«, sagte er traurig. »Er kämpft um sein Leben, aber ich fürchte, er kämpft auf verlorenem Posten. Über Nacht hat sich sein Zustand verschlechtert. Siehst du, wie blaß er ist? Das Gift in seinem Blut ist stark.« »Kannst du seine Gedanken fühlen?« fragte Maque. Der Telepath nickte. »Er träumt von seinen gefallenen Kameraden von der Torado – wenn er nicht gerade an dich denkt.« Maquesta lief in der Waffenkammer auf und ab. Sie sah Lendle an, ihren alten Freund, dann Fritzen Dorgaard, für den sie seltsame, bislang ungeahnte Gefühle hegte. Der Schattenkrieger döste im Sitzen neben seinen Patienten ein. Fritzen und Lendle lagen auf dem Rücken. Beide atmeten flach. Maquesta legte ihnen die Hand auf die heiße Stirn, und nun, da keiner wach war und es sehen konnte, ließ sie endlich ihren Tränen freien Lauf. In solchen trüben Gedanken gefangen, hörte Maque es zuerst nicht, als ihr Name gerufen wurde. Als sie es dann doch vernahm und die Waffenkammer verließ, um heraus-
zufinden, woher die Stimme kam, konnte sie zunächst nicht sehen, wer nach ihr rief. Das Deck war leer. »Maquesta«, ertönte die Stimme wieder. »Maquesta!« Nachdem sie sich die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte, warf Maque schließlich einen Blick über die Reling. Unten im Wasser schwamm Tailonna, deren lange Haare sie wie ein Fächer umringten. Die Meerelfe winkte und wies Maquesta an, ihr die Strickleiter herunterzuwerfen, mit der man sonst das Beiboot bestieg. Während Maque dies tat, schwankte sie zwischen der Erleichterung über Tailonnas Rückkehr und dem Ärger über deren lange Abwesenheit hin und her. Die Meerelfe kletterte schnell die Leiter hoch, obwohl das Gewicht der vollgestopften Seetangtaschen, die sie dabeihatte, sichtlich an ihren Schultern zerrte, sobald sie das Wasser verließ. Maquesta machte keine Anstalten, ihr freiwillig zu helfen, doch sobald die Elfe über die Reling geklettert war, reichte sie Maque zwei große Taschen. Die beiden kleineren behielt sie bei sich. »Bring mir die in die Waffenkammer, Maquesta«, sagte Tailonna und schüttelte sich, so daß das Wasser nach allen Seiten spritzte – und Maque durchnäßte. »Ich habe Meereskräuter mitgebracht, um Fritzen zu heilen.« Damit lief Tailonna auf die Tür zur Waffenkammer zu, ohne sich darum zu kümmern, ob Maquesta ihr folgte. Maque sah der davoneilenden Elfe nach, dann auf die tropfnassen Seetangtaschen an Deck. Kochend vor Zorn darüber, daß sie so herumkommandiert wurde, machte sie schon den Mund auf, um Tailonna eine vorwurfsvolle Antwort zu geben, überlegte es sich dann aber doch anders. Die Meerelfe wollte Fritzen helfen. Die Vorwürfe
konnten warten, bis die Medizin verabreicht war. »Lendle!« rief Tailonna überrascht, sobald sie die Krankenstube betrat. »Was ist denn mit dir passiert?« Beim Klang ihrer Stimme erwachte Ilyatha und erklärte der Meerelfe, was während ihrer Abwesenheit alles vorgefallen war. Erschrocken und aufgeregt glitt die Elfe zu einer leeren Bank, kniete davor nieder und begann ihre Taschen auszupacken, aus denen sie verschiedene Stücke Riementang, veralgte Muschelschnecken, dicke Stränge Seegras, ungewöhnlich aussehende Austern, Algenklumpen, zwiebelartige Wurzeln, einen sechsarmigen Seestern und vieles andere hervorholte. Sie legte alle Teile sorgfältig auf die Bank und achtete darauf, daß sie sich nicht gegenseitig berührten. »Maquesta, ich brauche meine anderen Taschen. Hier herüber, und zwar schnell. Ich muß schnell machen, solange meine Ingredienzien noch naß und frisch sind.« Maque warf die Taschen neben die Meerelfe, dann stellte sie sich neben Fritzen. Ihr Blick ging zwischen dem Halboger, Lendle und Tailonna hin und her. Der Meerelfe öffnete eine der größeren Taschen und holte ein paar faustgroße Felsstücke heraus, aus denen winzige bunte Pflanzen wuchsen. Danach griff sie in die andere Tasche und hob einige Seeigel ans Tageslicht, deren scharfe, spitze Stacheln kreuz und quer in die Luft zeigten. »Ich brauche ein Messer und eine Schale«, ordnete Tailonna an. »Und zwei Tassen. Je eine für Lendle und Fritzen. Ich glaube, ich habe genug Medizin mitgebracht, um Tränke für beide zu mischen.« Ilyatha machte keine Anstalten, der Meerelfe zu Hilfe zu eilen, also machte sich Maque auf den Weg, wobei sie resigniert die Luft ausstieß. »Ich hole alles aus der Kombüse.«
Als sie zurückkam – mehrere kleine Schalen, vier Tassen, drei Messer, einen großen Stahllöffel und ein hölzernes Schneidebrett in den Armen –, sah Tailonna auf, lächelte schwach und zeigte Maque, wohin sie die Sachen legen sollte. »So viel hätte ich nicht gebraucht«, sagte die Meerelfe. »Ist schon gut«, erwiderte Maquesta. »Ich wollte nicht noch einmal laufen müssen.« Gefesselt von dem, was die Meerelfe mischte, zog Maque sich einen Stuhl neben Ilyatha und setzte sich hin, um ihr zuzusehen. Sie machte keinen Versuch, die Feindseligkeit zu verbergen, die sie gegenüber der hochmütigen Tailonna empfand, und sie fragte sich, ob es dem Schattenmenschen wohl genauso ging. Die Elfe benutzte einen Farn, um die Stacheln des einen Seeigels herunterzudrücken, dann stach sie mit einem Messer in das kleine Tier und klappte die brüchige Schale mit einem ekelerregenden Knacken auf. Sorgfältig hielt sie die Hälften über eine kleine Schüssel und wartete, bis alle Flüssigkeit – Maque nahm an, daß sie einer Art Blut entsprach – herausgelaufen war. Dasselbe machte Tailonna mit zwei weiteren Seeigeln, dann ging sie daran, die Zwiebelwurzeln mit der Flüssigkeit zu vermischen. Sie murmelte ein paar Worte, die Maquesta nicht verstehen konnte, und bewegte ihre Finger über der Schale. Sobald sie mit ihrem Gebräu zufrieden war, stand Tailonna auf, ging zu Lendle hinüber und machte dem Gnomen den Mund auf. Dann legte sie ihm eine Hand in den stämmigen Nacken, neigte seinen Kopf nach hinten und goß ihm den Trank in den Schlund. Der Gnom schluckte unwillkürlich das meiste davon, doch eine ganze Menge lief ihm auch aus dem Mund und über das Kinn.
»Wisch ihn ab. Ich arbeite derweil an einem Umschlag für Fritzen«, wies Tailonna Maquesta an. Maque biß die Zähne zusammen und stand auf. Sie suchte sich ein kleines Handtuch, mit dem sie dem Gnomen sorgfältig die zähe, übelriechende Flüssigkeit vom Gesicht wischte. Dann wandte sie sich an die Elfe. »Was hast du ihm gegeben? Und wie wird es genau wirken?« Tailonna war damit beschäftigt, Algen zu schneiden und in Seeigelblut einzuweichen. Offenbar würde sie nun doch alle Gegenstände benutzen müssen, die Maque ihr gebracht hatte. »Es war ein Trank, dessen Zubereitung mein Vater mich gelehrt hat«, sagte sie schlicht. »Er hat unglaubliche Heilkräfte. Ein wenig Magie ist auch dabei.« Die Meerelfe griff an Maque vorbei und suchte ein paar der seltsam geformten Austern aus. Nachdem sie die erste geknackt hatte, pulte sie das Fleisch heraus und fügte es ihrer Mixtur hinzu, dann rührte sie ein paar andere Algen hinein. »Ich brauche ein Tuch.« Ärgerlich stapfte Maque zu einem Schrank. Da sie keine Tücher fand und feststellen mußte, daß das Handtuch, welches sie für Lendle benutzt hatte, das einzige in der Waffenkammer war, nahm sie sich die Schärpe vom Leib und reichte sie der Elfe. »Geht das?« »Muß wohl«, antwortete Tailonna, nahm Maque das Stück Stoff ab und tauchte es in die übelriechende Flüssigkeit. Dann erhob sie sich, schritt zu dem Halboger hinüber, setzte sich an sein Bett und wickelte die Schärpe um seinen Arm und die Schulter. »Das wird das Meerhexengift herausziehen«, erklärte sie. »Es müßte ziemlich schnell wirken, besonders da in seinen Adern Wasserogerblut fließt. Es ist merkwürdig – obwohl er ein Halboger ist, sieht er so
menschlich und so ansprechend aus. Salzwasseroger sind für gewöhnlich ein häßliches Volk. Fritzen hat Glück, daß er nur ihre Größe und Stärke, nicht aber ihre Gesichtszüge geerbt hat.« »Haftet diesem Brei auch etwas Magisches an?« fragte Maquesta knapp. »Natürlich.« Die Elfe ging zu ihrer Bank zurück und nahm ihre Arbeit wieder auf. »Und was machst du jetzt?« Maquestas Tonfall war fordernd, denn sie war mit ihrer Geduld am Ende. »Ich will einen zusätzlichen Heiltrank für Fritzen herstellen, und ich habe vor, etwas Belebendes für Lendle anzurühren. Aber wenn ich schon dabei bin, sollte ich vermutlich gleich so viele Heiltränke wie möglich herstellen. Ihr scheint sie hier zu brauchen.« Die Meerelfe wandte sich von ihrer Bank ab, und ihre blaugrünen Augen fingen Maques Blick auf. »Ich weiß, was ich tue, Maquesta. Meine Fähigkeiten sind beachtlich, und meine Tränke werden deine Leute retten. Aber ich könnte etwas Hilfe gebrauchen… falls es dir nichts ausmacht.« Ob Ilyatha Maquestas Ärger spürte oder der Meerelfe nun doch noch helfen wollte – jedenfalls stand er von seinem Stuhl auf und ging zu der Bank. »Laß mich das machen«, bot er Tailonna an. »Maquesta hat auf diesem Schiff viele andere Dinge zu tun, und sie hat drängendere Sorgen.« »Ich muß die Toten bestatten«, sagte Maque, drehte sich um und verließ die Waffenkammer. Sie betete inständig darum, daß Tailonnas Künste und Mixturen ausreichen würden, um den zwei Freunden zu helfen, die ihr so am Herzen lagen.Der Morgen brach über dem Meer an. Die
Sonne ging auf, färbte das Wasser und überzog den Himmel mit einem zarten Rot. Die Matrosen kamen an Deck. Koraf übernahm das Ruder, und Vartan und Hvel beschäftigten sich mit dem Trimmen der Segel. Sobald genug Männer versammelt waren, ging Maquesta zu den Leichen und zog das Segeltuch von ihren Gesichtern. Die Mannschaft umringte ihren Kapitän. Maque war nervös, aber sie versuchte, es nicht zu zeigen. Sie hatte schon miterlebt, wie ihr Vater Seeleuten letzte Worte mitgab, aber niemals bei so vielen Männern zur selben Zeit. Jetzt fiel diese Aufgabe ihr zu. Das Gesicht der aufgehenden Sonne zugewandt, fuhr sie sich geistesabwesend mit den Fingern durch die Locken. Dann riß sie sich zusammen und drehte sich zur Mannschaft um. Langsam sprach sie die Namen der toten Männer aus. »Diese Matrosen haben ihr Leben für euch gegeben, für die Perechon und für die Hoffnung, daß Melas zu uns zurückkehrt. Sie haben den höchsten Preis gezahlt, den ein Seemann zahlen kann, und wir stehen hier, um sie für ihre mutigen Taten zu ehren.« Ihre Stimme war fest, und sie sah, daß alle Augen auf sie gerichtet waren. »Möge Habbakuk, der Gott des Meeres und des ewigen Lebens jenseits der Welt, über sie wachen, wenn ihre Seelen die neue Reise antreten. Jetzt übergeben wir unsere Freunde und Kameraden dem Wasser. Möge die See diejenigen umarmen, die sie so sehr geliebt haben.« Koraf blies in eine Stahlpfeife, erst tief, dann hoch. Die scharfen Töne zeigten das Ende der kurzen Zeremonie an. Maquesta rückte von der Reling ab, damit die Mannschaft die toten Kameraden über Bord werfen konnte. Maque hörte das Aufplatschen hinter sich, als sie zu ihrer Kabine ging,
um ihrem Plan für den Fang des Morkothen den letzten Schliff zu geben. Das Geräusch klang so endgültig, daß es ihr einen Stich gab.Eine Stunde später riß ein hartnäckiges Pochen an der Tür Maquesta aus ihren Gedanken. Bevor sie den Klopfenden hereinbitten konnte, schwang die Tür schon auf, und Tailonna trat ein. Sie hatte sich die Haare wieder mit den kleinen, muschelbesetzten, magischen Netzen kunstvoll hochgesteckt. »Wo warst du?« stieß Maque hervor. »Wir hätten dich hier gebraucht.« »Ich war in der Waffenkammer, das weißt du. Ich habe mich um Fritzen und Lendle gekümmert. Ich habe sie gerettet.« »Das meine ich nicht«, fuhr Maquesta aufgebracht fort. »Wo bist du über einen Tag lang gewesen? Du hast mich nicht einmal um Erlaubnis gebeten, bevor du verschwunden bist.« »Ich brauche niemanden um Erlaubnis…«, begann Tailonna. »So?« unterbrach sie Maquesta. »Ich bin der Kapitän der Perechon, eine Tatsache, die du ständig zu übersehen scheinst. Kapitäne geben auf ihrem Schiff die Befehle. So einfach ist das. Und solange du auf meinem Schiff bist, gehörst du zu meiner Mannschaft und befolgst meine Befehle. Verstanden?« Tailonna richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und bedachte Maquesta mit einem kühlen Blick. »Ich habe die nötigen Kräuter geholt, um Fritzen zu heilen. Glücklicherweise helfen sie auch Lendle.« »Wo mußtest du hin, um sie zu holen?« fauchte Maque. »Den ganzen Weg zurück nach Lacynos? Wenn du keine
Lust zu dieser Reise hast, Tailonna, steht es dir frei, zu gehen. Obwohl ich es zu schätzen wüßte, wenn du uns vorher noch diese Tränke machst, mit denen wir Wasser atmen können.« Maque stand auf. Die Hände in die Hüften gestemmt, das Kinn vorgereckt, stand sie der Meerelfe gegenüber. »Ich glaube, ich werde nie verstehen, warum du dich überhaupt bereit erklärt hast, zu helfen. Aber wenn du bei uns bleibst, dann denk daran, daß du unter meinem Kommando stehst und nicht wieder verschwinden kannst, ohne vorher mit mir darüber gesprochen zu haben!« Die Augen der Meerelfe verdunkelten sich, und sie erwiderte Maquestas eisigen Blick. »Ich kehre zurück in die Waffenkammer. Dort weiß man meine Talente zu schätzen. Wenn du dich von deinen Plänen losreißen kannst, darfst du uns gerne besuchen – aber nur kurz. Meine Patienten brauchen Ruhe und viel Schlaf.« Wie eine Tänzerin wirbelte sie auf den Ballen ihrer nackten Füße herum und glitt aus der Kabine. Maquesta war klar, daß Tailonna die Zurechtweisung nicht gefallen hatte. »Nun, aber mir gefällt es auch nicht, wenn man mich respektlos behandelt«, murmelte Maque vor sich hin. Sie schaute ihre Papiere an und beschloß, nur noch ein Weilchen an ihren Plänen zu arbeiten und dann nach ihren Freunden zu sehen. Sie wollte sehen, ob Tailonnas Heilmagie so wundersam wirkte, wie die Elfe es behauptet hatte.Tailonna stürmte in die Waffenkammer. Sie war wütend über Maquestas Unhöflichkeit. »Oh, hallo, schöne Dame«, begrüßte sie Fritzen. Der Halboger saß mit verschränkten Beinen auf seinem Lager. Um seine breiten Schultern war eine Decke gewickelt. »Soweit ich Ilyatha verstehe, habe ich meine verbesserte Gesundheit
dir zu verdanken.« Tailonnas Gesicht wurde freundlicher, als sie Fritzen sah. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen, und sie warf heimlich einen Blick auf den Telepathen. Ilyatha war mit Lendle beschäftigt und schien sie überhaupt nicht zu bemerken. Lächelnd glitt Tailonna auf den Halboger zu und setzte sich neben ihn. Die Meerelfe war wütend auf Maquesta und auch ein wenig wütend auf sich selbst, weil sie sich von diesem Bewohner der Erdoberfläche, den sie als Halbblut ansah, angezogen fühlte. »Du bist stark«, stellte sie fest. »Ich hätte nicht gedacht, daß mein heilender Umschlag so schnell wirken würde.« »Ich bleibe nur ungern lange liegen«, erwiderte er. »Bettruhe ist langweilig, und ich habe schon immer daran geglaubt, daß man schneller wieder gesund wird, wenn man aufsteht und sich bewegt.« »Gib acht, daß du es nicht übertreibst«, mahnte sie. »Das Meerhexengift wird noch eine ganze Weile in deinem Blut bleiben, und jede neue Verletzung kann dazu führen, daß es wieder zu wirken beginnt.« Tailonna legte ihm die Hand auf die Stirn. »Du bist immer noch etwas warm, aber das Fieber ist schon sehr gesunken.« Sie ließ ihre Hand etwas länger auf seiner Stirn liegen als nötig. Tailonna, Lendle wacht auf! Die Meerelfe hörte die Worte in ihrem Kopf. Ilyathas Drängen zog sie von Fritzen weg zum Lager des Gnomen. Lendles Augenlider zuckten, und sein Kopf rollte langsam hin und her. Schließlich schlug er die Augen auf und starrte den Schattenmenschen und die Meerelfe an. »MeinKopftutweh«, stieß er aus, während er versuchte, sich aufzusetzen. »HörtdochaufmirmiteinemHammeraufden-
Kopfzuschlagen.« »Bleib liegen.« Tailonnas feste Stimme und ihre noch festere Hand auf seiner Schulter hielten den Gnomen zurück. »Du bist ernsthaft verletzt. Du brauchst Ruhe.« »Ich muß Frühstück kochen«, sagte er, wobei er sein Sprachtempo herunterschraubte. »Frühstück ist längst vorbei«, erklärte die Meerelfe. »Aber wenn du Hunger hast, kann ich dir etwas bringen lassen.« Ilyatha wich vom Lager zurück und ging auf die Tür zu. »Maquesta wird erfahren wollen, daß es den beiden besser geht. Ich hole sie.« »Warte!« rief die Meerelfe. »Ich könnte wirklich noch eine Zeitlang ohne sie auskommen. Außerdem ist sie mit ihrem Plan für den Fang des Morkothen beschäftigt. Sie wird später hereinsehen. Laß sie vorläufig allein, und gönn Fritzen und Lendle etwas Ruhe.« Ilyatha sah die schöne Elfe an. Als Kapitän muß sie Bescheid wissen, teilte er ihr mit. Damit raffte er seinen Umhang um sich und zog sich die Kapuze über den Kopf, bis sein Gesicht im Schatten verborgen lag. Dann schob er die Ärmel bis über die Fingerspitzen herunter, holte tief Luft und trat hinaus in das schmerzhafte Morgenlicht. »Ich sollte Maque bei ihren Plänen helfen«, sagte Fritzen. »Nein!« Tailonnas Stimme war mehr eine Drohung als ein Befehl. »Maquesta kommt ganz gut allein zurecht.« Der Halboger sah die Meerelfe forschend an. »Du magst sie nicht besonders, hm?« »Ich finde, sie überschreitet ihre Kompetenzen«, sagte Tailonna schlicht. »Sie bürdet sich zuviel Verantwortung auf, und sie liebt es, das Kommando zu führen.«
»Ich finde, sie ist ein guter Kapitän«, erwiderte er. »Du siehst sie zu kritisch.« »Das ist meine Art. Meerelfen sind anders als Landbewohner. Wir leben abgeschieden, für uns allein. Wir sehen die Welt mit anderen Augen. Vielleicht liegt unser Mangel an Toleranz anderen gegenüber daran, daß wir so viel erwarten. Wir haben hohe Maßstäbe.« Sie setzte sich wieder neben Fritzen, so nahe, daß ihre Schulter die seine berührte. »Dein Blut ist auch mit dem Meer verbunden. Du müßtest doch verstehen, wie ich fühle.« Er starrte in ihre blaugrünen Augen. »Alle guten Seeleute haben wahrscheinlich einen Tropfen Salzwasser im Blut und im Herzen. Und ich glaube, es täte dir gut, dich dazu durchzuringen, Maquesta Kar-Thon etwas mehr Respekt entgegenzubringen. Du solltest sie um Verzeihung bitten. Sie hat mehr Lasten auf ihren Schultern, als du vielleicht jemals begreifen wirst, und ich denke, sie macht ihre Sache bewundernswert. Außerdem finde ich, daß sie dir gegenüber ungewöhnlich tolerant ist. Ich habe unter vielen Kapitänen gedient, und die meisten hätten dich wegen mangelnden Gehorsams vom Schiff geworfen. Sie hätten deine Einstellung nicht einen Tag lang geduldet.« Bevor die Meerelfe etwas erwidern konnte, schwang die Tür auf, und eine müde und erleichterte Maquesta trat ein. Sie lächelte breit, als sie sah, daß Fritzen aufrecht saß, doch als sie erkannte, wie nah Tailonna bei ihm saß, kniff sie die Augen zusammen. Ohne ein Wort zu sagen, ging sie rasch zum Lager des Gnomen und setzte sich auf den Rand. »Maquesta Kar-Thon«, sagte Lendle langsam, »ich freue mich, dich zu sehen. Und ich habe Hunger. Was gibt es zu essen?«
»Eine ganz annehmbare Aalsuppe. Sieh zu, daß du wieder gesund wirst – und zwar schnell, alter Freund. Denn ich glaube nicht, daß mein Magen Vartans und Hvels… Kochkünste lange überleben wird.« »Wo ist Ilyatha? Er war sehr gut zu mir. Ich möchte mich bei ihm bedanken, daß er mich geheilt hat.« Hinter Maquesta öffnete die Meerelfe den Mund, um den Gnomen zu berichtigen und das Lob für seine Heilung für sich zu beanspruchen, aber ein strenger Blick von Fritzen ließ sie schweigen. »Ilyatha ist auf dem Unterdeck«, erwiderte Maquesta. »Er schläft in der Dunkelheit des Laderaums. Er hat die ganze Nacht bei euch gewacht. Aber er sagte, er würde nach Sonnenuntergang wieder nach euch sehen.« Maquesta drehte sich zu Fritzen um und erklärte ihm, daß sie den Überfall auf den Bau des Morkothen geplant habe. »Ich glaube, Beiwar wird uns helfen, obwohl er heute nirgends zu sehen ist. Ilyatha meint, er ist auf einer anderen Ebene unterwegs. Wir werden heute abend über die Pläne sprechen, wenn Ilyatha sich ausgeruht hat. Vielleicht ist Beiwar bis dahin zurück.« Sie stand auf, nickte Fritzen und Tailonna zu und verließ dann die Waffenkammer.»Es tut mir leid.« Maquesta zuckte erschrocken zusammen. Sie stand am Ruder, starrte auf die Wolken am Horizont und hoffte, sie kündigten keinen Sturm an. Als sie sich umdrehte, sah sie die Meerelfe hinter sich stehen. »Ich bin es nicht gewohnt, unter Landbewohnern zu leben«, erklärte Tailonna ohne Umschweife. »Meine Art ist nicht eure Art, und ich entschuldige mich dafür, daß ich deinen Anweisungen nicht Folge geleistet habe. Unter
Wasser haben wir keine Kapitäne. In meiner Gesellschaft sind die Ältesten weise, aber es gibt nur wenige davon, und Hierarchie und Autorität sind nicht so genau festgelegt. Ich wollte dich nicht beleidigen. Und ich werde versuchen, daran zu denken, dich in Zukunft um Rat und Erlaubnis zu bitten, bevor ich etwas tue.« Maquesta klappte vor Überraschung den Mund auf. »Ich erkenne an, daß du den Oberbefehl über dieses Schiff hast«, fuhr Tailonna fort, »und daß du alle Entscheidungen triffst.« »Aber ich bitte häufig um Rat«, schränkte Maque ein. »Ich brauche das Wissen und die Unterstützung der gesamten Mannschaft. Und ich weiß wirklich zu schätzen, was du für Lendle und Fritzen getan hast.« Sie sah Tailonnas Augen aufleuchten, als sie den Halboger erwähnte, und das beunruhigte sie. Doch diese Gedanken behielt sie für sich. Tailonna hielt ihre Hände in die Luft und spielte mit ihren Fingern, die durch Schwimmhäute verbunden waren. Sie genoß den Wind. Kurz darauf trat die Meerelfe vor das Steuerrad und schaute zwischen den Speichen hindurch in Maquestas dunkle Augen. »Als ich das Schiff verlassen habe, um Kräuter und andere Heilmittel zu suchen, bin ich zu meiner angestammten Gemeinschaft geschwommen. Dort habe ich eine Menge Informationen bekommen, die dir bei deinen Bemühungen, den Morkothen zu fangen, helfen sollten – sie sind aber auch besorgniserregend.« Sie berichtete Maquesta von einer Kuo-Toa-Kolonie in der Nachbarschaft des Morkothenbaus. »Obwohl die Kolonie nicht mit dem Ungeheuer verbündet ist, gibt es da ein
ungeschriebenes Friedensabkommen. Der Morkoth greift die Kuo-Toas nicht an, dafür halten diese keine anderen Wesen oder Tiere davon ab, in seinen Bau zu schwimmen. Es gibt sogar Gerüchte, daß die Kuo-Toas dem Morkothen Opfer darbringen sollen. Um zum Morkothen zu gelangen, mußt du mit deinen Leuten wahrscheinlich erst die vielen Kuo-Toas überwinden.« Maque stöhnte leise. »Auf dieser Fahrt wird uns aber auch nichts geschenkt«, sagte sie. Sie zeigte etwas mehr von ihren Gefühlen, denn nun fühlte sie sich in Gegenwart der Meerelfe nicht mehr so unwohl. »Anscheinend ist es unser Schicksal, immer wieder herausgefordert zu werden.« »Ich werde tun, was ich kann, um euch zu helfen«, bot Tailonna an. »Ich hege keine Liebe zu den Kuo-Toas oder zu ihren Verbündeten, die häufig Meerelfen fangen und gewaltsam zu Sklaven machen. Meine Leute haben mir erzählt, daß die Kuo-Toa-Kolonie mit einer anderen Unterwassergemeinschaft in der Nähe zusammenarbeite. Es handelt sich um ein Dorf der Koalinths. Sie ähneln den Hobgoblins, die über das Land ziehen, aber die Koalinths sind Wasserbewohner und böse, vielleicht noch böser als der Morkoth und die Kuo-Toas.« »Ich weiß nicht, ob ich genug Männer habe, um mit einer Kolonie Kuo-Toas oder Koalinths fertigzuwerden«, sagte Maquesta nachdenklich. »Vielleicht wäre es klüger, sie zu meiden und direkt zum Morkothen vorzustoßen.« Sie bemerkte den niedergeschlagenen Gesichtsausdruck der Meerelfe und beschloß, ihr einen Kompromiß anzubieten. »Wenn der Morkoth sicher in Lord Attats Händen ist, wird mein Vater auf sein Schiff zurückkehren. Vielleicht könnten
wir dann in Lacynos noch ein paar Matrosen anheuern und zurückkommen. Mit einer stärkeren Mannschaft und mit der Hilfe deines Volkes wäre eine Schlacht gegen diese Wesen aussichtsreicher.« Die Meerelfe nickte. »Fritzen hat recht. Du bist klug. Und ich war… vielleicht… schwierig. Um unseren Zwist zu beenden, möchte ich dir eine Gunst erweisen.« Tailonna ging in den hinteren Teil des Achterdecks und holte einen Eimer. Nachdem sie ihn an ein Seil gebunden hatte, warf sie ihn über die Reling, damit er sich mit Salzwasser füllte, und zog ihn dann wieder herauf. Anschließend trug sie den Eimer zu Maquesta ans Ruder, setzte sich mit gekreuzten Beinen auf das Deck und schaute ins Wasser. Sie nahm eine der kleineren Muscheln aus ihren Haaren, blies sanft darüber, murmelte ein paar melodische Worte und ließ die Muschel in den Eimer fallen. »Ich habe einen Zauber gesprochen, der mich Momente aus der Vergangenheit heraufbeschwören läßt«, sagte Tailonna. »Sieh in den Eimer und konzentriere dich. Du wirst bekannte Orte und bekannte Menschen sehen, aber nur die Vergangenheit wird sich dir erschließen.« »Mein Vater?« drängte Maque. »Wenn du dich konzentrierst, kannst du Tage, Wochen, oder auch Jahre in die Vergangenheit sehen. Es wird so sein, als ob du dort wärst. Du kannst wieder erleben, was auch immer du willst.« Tailonna fuhr mit der Hand über den Eimer. Das Wasser schimmerte und bildete glitzernde Kräuselwellen. Maquesta starrte auf das Wasser und sah zu, wie die Wellen sich plötzlich wieder glätteten und Melas’ Gesicht erschien. Als sie sich konzentrierte, wurde das Wasser wie-
der unruhig. Dann glättete es sich erneut und zeigte Maquestas Vater, wie er im Bett lag und von einem Minotaurenheiler versorgt wurde. Durch das Zimmerfenster sah Maque, wie sie selbst, Tailonna, Koraf und Ilyatha das Gelände um Attats Palast verließen. Es mußte genau der Zeitpunkt sein, nachdem Maquesta zwangsläufig Attats Auftrag zugestimmt hatte, und kurz nach der Vergiftung ihres Vaters. Erleichtert, daß ihr Vater so gepflegt wurde, wie der Minotaurenlord versprochen hatte, konzentrierte sich Maque auf einen anderen Zeitpunkt in der Vergangenheit. Wieder breiteten sich Kräuselwellen von der Mitte des Eimers zum Rand aus, und Maquesta sah sich selbst als kleines Mädchen mit langen Haaren, die zu Zöpfen geflochten waren. Sie konnte höchstens sieben oder acht sein, und sie hüpfte über das Deck der Perechon und rannte gefährlich nah am Rand des Schiffes entlang. Es war ein gefährliches Spiel, das sie spielte, wenn niemand zusah, aber an diesem Tag war es besonders gefährlich, denn die See war rauh, und immer wieder wurde die Gischt über das Deck gespült. Kichernd rannte Maquesta schneller, dann schrie sie überrascht auf, als sie mit einem Fuß ausglitt und seitlich vom Schiff rutschte. Einen Augenblick fühlte sie, wie sie fiel, aber dann wurde sie hoch in die Luft gehoben. Melas’ starke Arme hatten sie gerettet, und er drückte sie fest an sich und schimpfte sie liebevoll aus. Im nächsten Hafen, den die Perechon angelaufen war, hatte Melas damals jede Münze, die er besaß, dafür ausgegeben, rund um das Deck eine Reling anbringen zu lassen. Es war dieselbe Reling, die das Schiff heute noch schmückte. Wieder änderte sich die Szene. Maquesta war älter, zwölf vielleicht, schätzte sie aus der Art, wie sie ihre Haare trug.
Es war jetzt kurzgeschnitten, wie viele andere Seeleute es trugen, und ihre Ohren schauten hervor. Aber sie waren nicht mehr spitz, deshalb spielte es keine Rolle. Maque stattete ihrem Vater am Ruder einen Besuch ab. Breit grinsend hob er eine Kiste hoch und stellte sie hinter das Ruder. Dann plazierte er Maque darauf und legte ihre rechte Hand an die Königsspeiche. »Steuer das Schiff!« befahl er mit seiner vollen, dröhnenden Stimme. »Bring uns in die Bucht!« Das war das erste Mal, daß sie allein am Ruder stand. Melas nickte ihr zu und lief zum Bug. Er vertraute ihr das Schiff an, ihr, einem Kind. Er sah nicht einmal hin. Er mußte ihr einiges zugetraut haben. Maquesta fühlte, wie ihr Herz voller Stolz war, als sie diesen ehrenvollen Moment neu durchlebte. Aber es war so lange her, und die Vision verblaßte schon. Als sie sich stärker konzentrierte, schienen die Wellen sich schneller zu kräuseln, und die Jahre flossen rückwärts dahin. Diesmal war Maquesta kaum älter als ein Baby, und ihre Mutter wiegte sie in den Armen. Ihre Mutter trug ein unförmiges, dunkles Kleid, um ihre Elfennatur zu verbergen. Sie sang ein leises Lied und versuchte Maquesta in den Schlaf zu wiegen. Es war ein Elfenlied über die Wälder, eines, das Maque inzwischen vergessen hatte. Aber jetzt ging ihr die Melodie wieder durch den Kopf, als sie in die Augen ihrer Mutter schaute, in dieses schöne, blasse Gesicht. Würde man die Elfen nicht jagen und sie zwingen, sich in bestimmten Teilen der Welt vor den Menschen zu verstecken, hätte Maques Mutter ihre wahre Natur nicht verbergen müssen. Maquesta sah sich aufwachsen. Sie sah, wie sie laufen
lernte, auf dem schwankenden Deck eines Schiffes eine schwierige Aufgabe für ein Kind, und sie lachte, als sie versuchte, alles auch nur entfernt Eßbare in den Mund zu stecken, einschließlich der Karten ihres Vaters. Dann sah sie sich eines Nachts allein an Deck der Perechon. Sie konnte nicht älter sein als vier. Warum bloß war sie so spät allein hier draußen? Nein, bemerkte Maquesta, als sie in den Schatten an der Winde schaute. Sie war nicht allein. Ihre Mutter war da. Ihre Mutter hatte sie hierhergetragen, zur Strickleiter, die über der Seite des Schiffes herabhing. »Ich kann dieses Spiel nicht länger ertragen, süße Maquesta«, hörte sie ihre Mutter sagen. »Ich kann nicht länger verstecken, wer ich bin, was ich bin. Ich kann meine Herkunft nicht mehr leugnen. Ich liebe deinen Vater, und ich liebe dich. Aber ich muß auch für mich selbst sorgen, und ich muß zu meinem eigenen Volk zurück – wo ich nichts zu verbergen habe. Du wirst mich nach dieser Nacht nie wiedersehen, mein Kind. Aber du sollst wissen, daß du immer in meinem Herzen sein wirst.« Maquesta sah zu, wie ihre Mutter auf der Strickleiter nach unten kletterte. Dort wartete ein kleines Boot auf sie, das mit zwei Elfen besetzt war. Einer der Elfen blies ein glitzerndes Pulver in die Luft, und Maque hustete, als die Wolke sie umfing. Dann sah sie, wie die Dunkelheit ihre Mutter verschluckte, und sie vergaß alles, was in dieser Nacht geschehen war. Am nächsten Morgen sah sie ihren Vater weinen, als er merkte, daß seine Frau verschwunden war. Melas glaubte, sie wäre womöglich über Bord gefallen und ertrunken. Dann sorgte er sich, es wäre vielleicht jemand über Nacht gekommen und hätte ihm seine Frau geraubt. An jenem Morgen schnitten Melas und Lendle Ma-
que die Ohrenspitzen ab – aus Angst, daß auch sie spurlos verschwinden könnte, wenn jemand entdeckte, daß das kleine Mädchen eine Halbelfe war. Maquesta schwor sich, ihrem Vater zu erzählen, was wirklich geschehen war, sobald sie ihn wieder auf der Perechon hatte. Er hatte es verdient, die Wahrheit zu erfahren. »Maquesta?« Die Meerelfe riß Maque aus ihren Erinnerungen. Die Bilder verblaßten. Der Zauberbann war gebrochen. »Geht es dir gut?« »Ja«, sagte Maque. »Danke für die Visionen. Ich habe meinen Vater gesehen. Man hat sich um ihn gekümmert, während wir den Hafen von Lacynos verlassen haben.« Tailonna nahm den Eimer und kippte das Wasser über die Reling. »Wenn du willst, kann ich dir morgen eine weitere Wasservision ermöglichen.« Maquesta lehnte dankend ab. »Ich denke, ich konzentriere mich lieber auf die Gegenwart.« Die Meerelfe lächelte. »Ich gehe jetzt zurück und sehe nach Fritzen und Lendle. Fritzen geht es viel besser, und ich glaube, er braucht jemanden zum Reden.« Maquesta hatte sich noch nicht recht an Tailonnas neue Höflichkeit gewöhnt, und es störte sie, daß die Meerelfe von nun an noch mehr Zeit mit Fritzen verbringen würde. Sie schüttelte den Kopf, um den Anflug von Eifersucht zu verscheuchen. Fritzen ist zur Hälfte Wasseroger und wäre besser dran, wenn er jemanden hätte, der enger mit dem Wasser verbunden ist, dachte sie betrübt. Dann versuchte sie sich auf etwas anderes zu konzentrieren und winkte Koraf zu. Der Minotaurus stand am Spill, wo er mit Hvel sprach. Er nickte ihr zu und kam rasch über das Deck herbei.
»Ich habe dich die ganze Zeit ›Kof‹ genannt«, sagte Maque. »Vielleicht war das zu vertraulich von mir. Ich hätte dich fragen sollen, ob es dir etwas ausmacht. Das wäre höflicher gewesen.« »Mein Name ist für menschliche Zungen ungewöhnlich schwer auszusprechen«, sagte der Minotaurus leicht belustigt. »Und gegen Vertraulichkeit habe ich nichts. Ich fühle mich dadurch… akzeptiert.« Maquesta sah zu, wie der Minotaurus zu Hvel zurückstapfte. Anscheinend hatte Kof in dem Matrosen einen guten Freund gefunden. Während die zwei weiterplauderten, begann Maque, eine leise Melodie zu summen, ein Elfenlied über die Wälder. Kurz nach Sonnenuntergang versammelten sich Maquesta, Ilyatha, Tailonna und Hvel in der Waffenkammer. Fritzen saß auf einem Stuhl. Nur ein dünner Verband an seiner Schulter deutete noch darauf hin, daß er verwundet gewesen war. Maque erläuterte ihren Plan, die Kuo-ToaGemeinschaft zu umgehen, um den nahen Bau des Morkothen zu erreichen. Tailonna zog eine Karte heraus und zeigte ihnen, wo sie die Kolonie vermutete und wo wahrscheinlich der Bau lag. »Mein Volk nimmt an, daß das Ungeheuer in diesem felsigen Grat lebt, in den er sich Tunnel gebaut haben könnte. Wir können jedoch nicht sicher sein«, sagte sie. »Ich werde eine ganze Menge Flaschen mit einem Trank herstellen, der euch Wasser atmen läßt. Das wird euch helfen, die Zeit zu überbrücken, bis wir den Bau des Ungeheuers gefunden haben.« Ilyatha betrachtete die Zeichnung der Meerelfe. »Ich kann meine telepathischen Fähigkeiten benutzen, um nach
dem Morkothen zu fahnden und seinen Aufenthaltsort zu bestimmen. Gleichzeitig kann ich uns von den Kuo-Toas fernhalten.« Maquesta stand auf und nickte ihren Kameraden der Reihe nach zu. »Dann sind wir uns also einig.« Sie erwiderten das Nicken. »Ich, Tailonna, Ilyatha, Kof und Hvel gehen runter. Tailonna hat sich bereit erklärt, ihre magischen Netze zum Fangen der Kuo-Toas zu benutzen.« »IchauchichauchMaquestaKar-Thon.« Lendle saß aufrecht auf seiner Pritsche, denn er war ganz aufgeregt bei der Aussicht, Wasser zu atmen und eine neue Welt zu erforschen. »Diesmal nicht, mein Freund«, sagte Maque streng. »Was ist mit mir?« Fritzen stand auf und bewegte seine Schulter. »Ich möchte dieses Abenteuer nicht verpassen. Und es geht mir gut.« »Wir werden sehen«, sagten Maque und Tailonna fast gleichzeitig.
Kapitel 3 Der Morkoth
Fritzen ging es viel besser – zu gut, um in der Waffenkammer-Krankenstube mit einem genesenden Gnomen eingepfercht zu bleiben, der pausenlos über alle möglichen Erfindungen sprach, einschließlich der Konstruktion einer besseren mechanischen Geldbörse. Als Fritz genug gehört hatte und weil er sich frische Luft und angenehmere Gesellschaft wünschte, wartete er, bis Lendle auf seinem Lager saß und eifrig Verbesserungen für seine Rudermaschine zeichnete, und schlich sich dann hinaus. Seine Schulter schonte er immer noch, doch der Ausblick lenkte ihn sofort von dem dumpfen Schmerz ab. Am Horizont ging gerade die Sonne über dem Blutmeer unter, und als würden sie aus einer umgekippten Farbflasche auslaufen, verwandelten die Orangetöne das unruhige Wasser in ein schillerndes Farbenmeer. Rosafarben getönte Seevögel schwebten auf der Suche nach etwas Eßbarem über den Wellen. Einer, der einen kleinen Fisch gefangen hatte, stieß einen schrillen Schrei aus und stieg mit seiner zappelnden Beute zum wolkenverhangenen Himmel auf. Bas-Ohn Koraf stand am Bug. Er hielt sich ein Fernrohr ans Auge und hatte es auf die Küste gerichtet. Maquesta war am Ruder. Sie steuerte die Perechon auf die Küste zu und summte dabei eine Melodie, die einem nicht mehr aus dem Kopf ging. Fritzen verharrte eine ganze Weile im Schatten, beobachtete Maque und versuchte zu erraten, wohin sie das Schiff
wohl steuerte. In die Nähe der Landspitze wahrscheinlich, überlegte er. Das war der Ort, den er gewählt hätte, denn er lag dicht am offenen Meer und würde ihnen gestatten, sich am Morgen schneller wieder auf den Weg zu machen. Der Halboger lächelte. Er fühlte sich immer wohler in Maques Nähe. Der Platz hinter dem Ruder schien ihr zu gefallen, und die Mannschaft befolgte ihre Befehle, ohne zu zögern. Auch Fritzen hatte gewiß nichts dagegen, dieser zierlichen Frau zu gehorchen. Aber was wird Maquesta Kar-Thon machen, fragte er sich, wenn ihr Abenteuer erfolgreich verläuft und ihr Vater gesund auf die Perechon zurückkehrt? Zurücktreten natürlich, entschied Fritzen. Sie würde das Schiff wieder ihrem Vater anvertrauen. Oder würde sie sich ein eigenes Schiff suchen, nachdem sie nun einmal am Kapitänsposten Geschmack gefunden hatte? Wenn ja, so vermutete Fritzen, daß er mit ihr gehen würde. Ohne den Beobachter zu bemerken, beendete Maque ihr Lied und sog tief die salzige Luft ein. Sie nagte an ihrer Unterlippe und verfluchte sich, weil sie nicht früher auf die Küste zugehalten hatte. Sie wollte nicht bei Nacht auf offener See erwischt werden – der Kampf mit den Teufelchen des Blutmeers war schlimm genug gewesen. Wie als Antwort auf ihre Gebete blähte ein Windstoß die Segel auf und beschleunigte die Fahrt der Perechon. Sie waren nun nahe bei Endflucht, wie Maque aus einer Gruppe turmhoher Felsformationen schloß. Endflucht war ein Ort, über den ihr Vater ihr großartige Geschichten erzählt hatte. Ihr Vater. Maque schüttelte den Kopf und kämpfte gegen die Tränen an. Hielt er noch durch? Dachte er auch an sie? Sie fuhr sich mit den schlanken Fingern durch die Locken und sah zur Landspitze hin, vor der sie die Perechon ankern
wollte. Nein, entschied sie kurz darauf. Zu nahe am offenen Meer. Statt dessen wählte sie die kleine Bucht, und das Schiff reagierte sofort auf die leichte Drehung, die sie dem Ruder gab. Fritzen schlich sich lautlos von hinten an sie heran, um sie zu überraschen. »Geht es dir besser?« fragte sie, ohne sich auch nur umzudrehen. »Wie bitte?« »Der heilende Umschlag auf deiner Schulter. Er stinkt wie toter Fisch. Genaugenommen ist wahrscheinlich auch toter Fisch drin.« Fritzen grinste einfältig. »Ich sehe, du hältst auf die Bucht zu. Ausgezeichnete Entscheidung. Hätte ich auch getan. Die Bucht ist sicherer vor dem Wind und vom Meer aus schlechter zu erkennen.« Nun drehte sich Maquesta doch um und sah ihn an. Einen Augenblick schauten sie sich in die Augen, und er rückte ein Stück näher, dann brach sie den seltsamen Bann, indem sie einen Blick auf seine Schulter warf. »Es geht mir gut, Maque. Wirklich«, beantwortete Fritzen ihre unausgesprochene besorgte Frage. »Tailonna macht wunderbare magische Heiltränke. Lendle geht es auch besser. Er arbeitet gerade an einer Zeichnung. Danach wollte er der Kombüse einen Besuch abstatten und Hvel und Vartan in die Kunst des Suppewürzens einführen. Wo wir gerade von Essen reden, es müßte bald fertig sein. Kommst du mit?« »Erst nach dem Ankersetzen«, sagte sie und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Küste. »Dann will ich die Segel und die Takelung überprüfen und alles festzurren.
Sieh dir diese Wolken da oben an. In diesem Teil der See ist es die richtige Jahreszeit für Stürme, und wenn ich diese Wolken richtig deute, dann können wir uns heute nacht auf einen Orkan gefaßt machen. In diesem Fall müßte die Bucht den Wind ein wenig abhalten.« Fritzen blieb bei ihr, bis die Perechon so nah vor der Küste lag, wie es angesichts ihres Tiefgangs noch sicher war, und er wartete, bis Maque sich davon überzeugt hatte, daß die Segel eingeholt und in gutem Zustand waren. Eine ganze Stunde lang kümmerte sie sich noch um dieses und jenes, dann setzten sie, Kof und Fritzen sich mit verschränkten Beinen auf das Deck und aßen eine warme, sättigende Austernsuppe. Als die Wolken weiterzogen und den befürchteten Sturm mitnahmen, kamen die Sterne heraus. Abwechselnd zeigten die drei Freunde auf die verschiedenen Konstellationen und erzählten sich alte Geschichten über Seeungeheuer, und wie die Götter nach Krynn gekommen waren und sich in die Geschäfte der Seefahrer eingemischt hatten. Zum ersten Mal, seitdem sie Attats Palast verlassen hatten, entspannten sich die drei und ließen es sich gemeinsam gutgehen. Doch diese Stimmung war dahin, als Maquesta gähnend aufstand. »Zeit für ein wenig Schlaf«, erklärte sie. »Die meisten Männer sind schon vor über einer Stunde schlafen gegangen. Ich habe ihnen gesagt, wir würden morgen früh aufbrechen.« Sie wischte einen Fleck Suppe ab, der ihre Tunika verunzierte. »Kof, bleib noch eine Zeitlang oben. Ich traue diesen Gewässern nicht, nicht einmal so dicht am sicheren Land. Fritzen, schick Berem und einen Ausguck hoch, damit sie Koraf Gesellschaft leisten. Ich löse dich später ab. Im Morgengrauen segeln wir los.«
Fritzen stand auf, um nach unten zu gehen, und Maque drehte sich um und hielt auf die Treppe zu. »Danke für den angenehmen Abend, meine Herren«, sagte sie über die Schulter hinweg. »Maque…« Kofs gedämpfte Stimme ließ sie auf halbem Wege zu ihrer Kabine innehalten. Sie fuhr herum und erstarrte beim Anblick des Minotaurus. Seine Nase zuckte, und in seinem Nacken sträubten sich kurze, borstige Haare. »Da draußen ist etwas.« Maquesta lief auf das Spill zu, wo ihr Schwert lag. Doch dann blieb sie abrupt stehen, als sie eine Klauenhand mit Schwimmhäuten über die Reling greifen sah. Ein kratzendes Geräusch hinter ihr ließ sie herumwirbeln. Auf der anderen Seite des Schiffes waren zahlreiche weitere Klauenpaare zu sehen – die alle zu entsetzlichen Gestalten gehörten. »Kuo-Toas!« brüllte Kof. »Zu Dutzenden. Die Teufel der Tiefe!« »Fritzen!« schrie Maquesta. »Lauf runter und schlag Alarm. Wir werden geentert!« Damit hetzte sie zum Spill, hechtete die letzten paar Meter nach vorn und rutschte auf dem Bauch über das blankgeputzte Deck. Sie hielt erst an, als ihre Finger sich um das Heft ihres Schwertes schlossen, und sie war gerade rechtzeitig auf den Knien und hatte ihre Waffe gezogen, als sie eine dunkle Gestalt auf sich zuschreiten sah. Das Wesen hatte einen dicken Kopf wie von einem Seebarsch, doch sein Mund war voller scharfer Zähne, die im Mondlicht glänzten. Es war mit Schleim bedeckt, der düster glitzerte, und es stank nach verfaultem Seetang. Maquesta schluckte heftig und unterdrückte die aufkommende Übelkeit. Der Leib der Kreatur war wie der eines
Menschen, wenn auch etwas größer und mit blauen und grünen Schuppen bedeckt. Arme und Beine waren fast menschenartig. Aber statt Füße hatte der Kuo-Toa lange Flossen, mit denen er Tangstränge hinter sich herzog, und einen Fischschwanz, der hinter ihm über das Deck schleifte. Er trug gekreuzte Lederriemen über der Brust, an denen in Scheiden gesteckte Messer hingen. Eine dünne Schnur hielt einen Speer auf seinem Rücken, und er griff mit seinen Klauenhänden danach, während er vorwärts taumelte. Maque riß ihr Schwert in hohem Bogen nach oben, so daß sie dem Wesen den Bauch aufschlitzte, als es sich über sie beugte. Der Kuo-Toa stieß einen schrillen Schrei aus, schaute nach unten und sah, wie seine Eingeweide herausquollen. Maque sprang auf die Beine und schlug wieder zu. Diesmal traf sie das Wesen in der Brust, was ihm einen weiteren entsetzlichen Schrei entlockte, der bald erstarb. Als Maquestas Opfer vornüber aufs Deck kippte, sprang sie zurück und starrte in stummem Entsetzen zwei weitere KuoToas an, die vorwärtsstürmten, um den Platz ihres toten Genossen einzunehmen. Einer hatte einen prächtigen Schild und war sehr groß. Er trug eine eindrucksvolle Kette aus Korallen und Knochen, was auf eine wichtige Stellung hinwies. Er stieß einen gurgelnden unverständlichen Wortschwall aus, dann zückte er seinen Speer, der mit Widerhaken versehen war. Sein kleinerer Begleiter tat dasselbe, zielte dabei aber auf Maques Bauch. Sie duckte sich, um nicht aufgespießt zu werden, und fühlte, wie der Schleim der Wesen auf ihre Schultern tropfte. Hinter sich hörte sie Kof mit weiteren Ungeheuern kämpfen. Sein Grunzen vermischte sich mit dem Kauderwelsch und den Schreien der
Kuo-Toas. »Ihr Monster!« fluchte sie, zog ihr Schwert zurück und kam auf die Beine. »Ihr bekommt mein Schiff nicht!« Sie packte den Speer des kleineren Kuo-Toa und zog fest daran. Ihr überraschter Gegner verlor für einen Moment das Gleichgewicht und ließ die Waffe los, um nicht zu stürzen. Während sie einem weiteren Speerstoß des größeren Gegners auswich, wirbelte Maque ihre erbeutete Waffe wie einen Taktstock herum, bis die scharfe Metallspitze auf ihren eindrucksvollen Gegner zeigte. Sie trat einen Schritt zurück, stellte sich breitbeinig hin, um einen besseren Stand zu haben, und schwenkte den Speer vor sich, um den KuoToa in Schach zu halten und einen Moment Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Der große Kuo-Toa rollte mit seinen riesigen Augen, um den Kampf an Deck zu überschauen. Maque riskierte einen kurzen Blick über die Schulter und erschrak, als sie sah, wie Kof von einem halben Dutzend Kuo-Toas über Deck getrieben wurde. Polternde Schritte kündigten die Ankunft der Mannschaft der Perechon an, angeführt von Fritzen, doch Maquesta wußte, daß ihre Männer diesen bösartigen Meerwesen kaum gewachsen sein würden. Ein Knurren lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den großen Kuo-Toa. Auch er hatte seinen Speer ausgestreckt, um Maquesta auf Abstand zu halten. Zu ihrem Entsetzen sah sie, wie der kleinere Kuo-Toa mehrere Messer aus seinem Lederharnisch zog. Geschickt machte sie einen Schritt zur Seite, um dem ersten Wurf auszuweichen, doch der zweite streifte ihren Arm, so daß sie fast den Speer fallengelassen hätte. Ein heißer, scharfer Schmerz durchzuckte ihren Arm. »Achtung!« schrie sie der Mannschaft zu. »Ich
glaube, sie verwenden Gift!« Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der kleinere Kuo-Toa von einem Wurfspieß in die Brust getroffen wurde und zu Boden fiel. Der große Kuo-Toa warf den Kopf zurück und stieß ein halb gackerndes, halb gurgelndes Gelächter aus. Dann schoß er vor, schneller, als Maque es für möglich gehalten hätte, und stach sie in den Schenkel. Der Speer drang tief ein, und Maquesta schrie vor Überraschung und Schmerz auf. Sie fühlte, wie das warme Blut ihr das Bein hinunterfloß, als ihr Angreifer den Speer herauszog, was ihr neue Schmerzen bereitete. Doch sie biß die Zähne zusammen, blieb stehen und stieß gleichzeitig mit ihrem Speer zu. Der große Kuo-Toa riß seinen lederbeschlagenen Schild hoch, und Maques Speerspitze blieb darin stecken. Das Wesen machte ein grollendes Geräusch tief im Hals und schleuderte seinen Schild – mit Maques Speer – auf das Deck. Dann machte er einen Schritt auf seine Gegnerin zu. Hinter sich hörte Maque die Schreie ihrer Mannschaft, in denen sich Schmerz und Triumph vermischten. »Kümmert euch um den Minotaurus; er liegt am Boden!« hörte sie einen Seemann rufen. »Ich komme nicht durch«, rief ein anderer. »Wir sind umzingelt!« »Ohneinohneinohneinohneinohneinohneinohnein!« »Wo ist die Meerelfe? Da, sie kommt an Deck. Tu doch etwas, Tailonna!« »Macht Feuer! Vielleicht hält sie das zurück!« brüllte der Steuermann. »Sie haben beschwerte Netze! Ich bin gefangen!« »Maquesta?« Das war Fritzens Stimme. »Nein! Maque!« Sie fühlte, wie die Schwimmhände des Kuo-Toa sich um
ihre Taille schlossen und sie so mühelos hochhoben wie ein Kind seine Puppe. Die Klauen gruben sich tief ein, und sie kniff die Augen zusammen, als der große Kuo-Toa die Arme um sie schlang und zudrückte. Sie spürte, wie die Luft aus ihren Lungen entwich. Der Schmerz stach wie Nadeln am ganzen Körper, und die Welt begann sich um Maquesta zu drehen. Dann wurde sie plötzlich nach hinten geworfen und landete unsanft mit dem Kopf auf dem Deck. Benommen öffnete sie langsam die Augen. Sie sah Fritzen rittlings über ihr stehen und den großen Kuo-Toa zurückdrängen. Der Halboger tänzelte vor und zurück lenkte damit seinen Gegner von Maquesta weg, bis beide deutlich von ihr entfernt waren. Dann sprang Fritzen hoch und trat dem Kuo-Toa mit einem Bein gegen die Brust, wodurch dieser auf den Rücken stürzte. Dann setzte der Halboger dem Kuo-Toa den Absatz ins Gesicht. Doch das Meerwesen rächte sich sogleich, indem es Fritzen am Knöchel packte und ihn auf das Deck riß. Während das Paar miteinander rang, schüttelte Maquesta ihre Benommenheit ab und rappelte sich mühsam hoch. Der verletzte Arm brannte von oben bis unten. Sie entdeckte Ilyatha, der im Schatten verborgen auf den Großmast zueilte. Er bedeutete ihr, still zu bleiben, und sie sah fasziniert zu, wie er sich hinter zwei Kuo-Toas schlich, die gegen Lendle kämpften. Er bewegte sich so leise, daß keine Planke knarrte, dann hob er zwei Dolche und stach sie den nichtsahnenden Gegnern gleichzeitig in den Rücken. Lendle schrie dankbar auf und hüpfte beiseite, um den fallenden Gegnern auszuweichen. Hinter dem Gnomen sah Maque einen jungen Seemann mit einem anderen Unhold kämpfen. Der Mann saß zwi-
schen dem Schild des Meerwesens und der Reling fest, und er schlug hilflos um sich, während die Hiebe des Kuo-Toa auf ihn herabprasselten. Maque griff haltsuchend ans Spill. Ihr verwundetes Bein und ihr Arm taten entsetzlich weh, und sie mußte sich mit aller Macht darauf konzentrieren, nicht ohnmächtig zu werden. Sie sah sich nach einer Waffe um, aber in unmittelbarer Reichweite gab es keine. Sie überlegte fieberhaft, wo ihr Schwert geblieben sein mochte. Trotz aller Widrigkeiten war sie entschlossen, die Schlacht bis zum bitteren Ende durchzustehen – das allerdings drohte nur allzubald zu kommen, und es bedeutete auch das Ende für die Mannschaft der Perechon und das Leben ihres Vaters. Deshalb schob Maquesta sich vorwärts und taumelte zur Decksmitte, wo Wurfspieße und Harpunen auf sie warteten. Hinter sich hörte sie Füßegetrappel: Kuo-Toas, die über das polierte Holz liefen. Mindestens eines der Wesen war hinter ihr her, wurde ihr klar. Sie biß sich auf die Unterlippe und versuchte schneller zu laufen. »Runter, Maquesta!« Die Stimme gehörte Tailonna. Maque ließ sich vornüber auf das Deck fallen. Sie hob gerade rechtzeitig den Kopf, um ein Gazenetz durch die Luft fliegen zu sehen. Nachdem sie sich auf Hände und Knie aufgerichtet hatte, fuhr sie herum und sah drei Kuo-Toas, die wie Insekten in einem Spinnennetz gefangen saßen. Tailonna eilte an Maques Seite und half ihr auf. Dann zog die Meerelfe ein zweites der zarten Netze aus ihren Haaren. Während sie es auf eine andere Gruppe Kuo-Toas warf, bewegte sie ihre Finger geheimnisvoll und sprach Zauberworte. Das winzige Netz schimmerte in der Luft und wuchs auf die Größe eines Fischernetzes an. Es landete wie beabsichtigt über seinen Opfern und setzte sie gefangen.
Das nächste Netz warf Tailonna auf das große Wesen, das mit Fritzen kämpfte. Wieder fand das magische Netz sein Ziel und umfing den gewaltigen Kuo-Toa. Auch die Beine des Halbogers wurden von den klebrigen Strängen gefangen, doch er kämpfte sich frei. »Da drüben!« rief Maque. Lendle, der mit einem Dolch und einem Holzlöffel bewaffnet war, war wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt – diesmal wurde er von einer Vierergruppe Kuo-Toas umringt. Tailonna nickte und schoß ein weiteres Netz ab, das sich den Meerwesen über Kopf und Oberkörper legte, so daß Lendle genügend Raum blieb, zwischen den Beinen seiner Gegner hindurch zu entkommen. »Ich habe ihm doch gesagt, er soll in der Krankenstube bleiben«, murmelte die Meerelfe. »Hört er denn niemals zu?« »HelftKoferhatProblemetutdochbittewas!« schrie Lendle. Maque und Tailonna sahen, wie ein Kuo-Toa den leblosen Minotaurus hinter dem vorderen Mast zur Reling stieß. Da Koraf bewußtlos war, würde er schnell ertrinken. Wieder sprach die Meerelfe geheime Worte, aber diesmal wurden diese von lavendelfarbenen Lichtpfeilen begleitet, die aus ihren Fingern schossen. Sie trafen den Kuo-Toa an der Schulter und ließen ihn herumfahren, worauf er prompt eine zweite Ladung magischer Pfeile in die Brust bekam. Unter den Jubelrufen der Matrosen der Perechon fiel das Seewesen rücklings über Kof. Dank der Elfe hatte sich das Blatt schlagartig gewendet, und die Seeleute stürmten vor, um die verbliebenen Kuo-Toas zu überwältigen. »Das muß ihr Anführer sein!« übertönte Fritzen den Höllenlärm. Er zeigte auf den großen Kuo-Toa im Netz. Es war derjenige, der Maque verwundet hatte. »Ich hörte, wie er
den anderen Befehle zurief. Jetzt haben wir ihn.« Der Halboger hatte Maques Schwert aufgehoben und hielt dem Wesen durch das Netz die Spitze an den Hals. Tailonna und Maquesta kamen langsam zu dem großen Kuo-Toa herüber. »Was machen wir mit ihm?« überlegte Maque. »Wir können ihn nicht einfach laufenlassen, aber wir sind hinter einem Morkothen her, nicht hinter einem Meeresteufel.« Sie biß die Zähne zusammen und schüttelte ihren verletzten Arm. Er war jetzt gefühllos und nicht zu gebrauchen. Fritzen sprang vor und hob Maquesta hoch. Er wiegte sie wie ein Kind in seinen starken Armen, so daß Tailonna freie Hand für die Erschaffung weiterer Netze hatte. »Ich glaube, diesmal bist du diejenige, die einen gräßlich stinkenden heilenden Umschlag braucht.« Seine dunklen Augen verrieten seine Sorge, obwohl sein Tonfall leicht klang. »Ich bringe dich in die Waffenkammer, dort bist du sicher. Deine Mannschaft wird mit den restlichen Gegnern allein fertig.« »Kof wird es schaffen!« rief Lendle über das Deck herüber. Er zog den toten Kuo-Toa von dem Minotaurus und grinste. Dann machte er ein finsteres Gesicht, denn er hatte Maques blutiges Bein gesehen. »Er ist nur betäubt, aber in besserer Verfassung als du. Ich sehe noch nach den anderen, dann kümmere ich mich um dich, Maquesta KarThon.« »Im Wasser sind noch mehr Kuo-Toas«, flüsterte Maquesta Fritzen zu. »Ich kann sie sehen. Es müssen mindestens zwei Dutzend sein. Du bringst mich nirgendwohin, bevor ich nicht weiß, daß die Perechon außer Gefahr ist.« Der Halboger suchte das Wasser ab und schüttelte den
Kopf. »Ich sehe nichts.« »Glaube mir. Sie sind da draußen.« Tailonna ging zum Bug, wo sie sechs weitere Kuo-Toas mit ihren Netzen gefangen hatte. Ein Stück hinter ihr hatten Vartan und Hvel ein Dutzend der Meerwesen gezwungen, ihre Waffen fallen zu lassen und sich zu ergeben. Der Kampf war endlich vorüber. Tailonna winkte Fritzen und Maque zu sich. »Ich kann verstehen, was diese Wesen sagen. Jedenfalls ein wenig davon. Ihre Sprache ist so unfein.« »Ich kann alles verstehen, was sie sagen.« Ilyatha trat vor und steckte seine Dolche ein. »Obwohl ich nicht sicher bin, ob ihr die Übersetzung hören wollt. Diese Kuo-Toas sind ein bösartiger, beleidigender Haufen.« »Ich will es hören«, beharrte Maque und stieß Fritzen an, damit er sie herunterließ. Fritzen runzelte die Stirn, stellte sie aber sanft auf das Deck und stützte sie, damit sie ihr verletztes Bein nicht belasten mußte. Rundherum stieß die Mannschaft der Perechon die toten Kuo-Toas über Bord und fesselte diejenigen, die verletzt waren oder sich ergeben hatten. Vier Matrosen der Perechon waren bei dem Kampf umgekommen und wurden an Deck aufgebahrt. Maquesta verzog das Gesicht vor Schmerz. Wieder hatten einige Männer für ihren Vater mit dem Leben bezahlt, und jetzt bestand die Mannschaft der Perechon nur noch aus einer Handvoll Leute. Ilyatha begann dasselbe Kauderwelsch auszustoßen, das Maque von dem großen Kuo-Toa gehört hatte. Der Schattenmensch beugte sich über ein Paar, das Rücken an Rücken zusammengebunden war. Einige Seeleute standen dabei und versuchten aus den gurgelnden Geräuschen
Wörter herauszuhören. »Ihr König hat den Überfall angeordnet«, sagte Ilyatha, als er sich zu Maque umdrehte, und lenkte sie damit von den toten Matrosen ab. »Scheint so, als hättest du eine königliche Hoheit an Bord – und praktisch eine komplette Kolonie Kuo-Toas.« Er zeigte auf das große Wesen, mit dem Maque und Fritzen gekämpft hatten. Der große KuoToa war an den vorderen Mast gefesselt, wo drei Seeleute ihn bewachten. »Er hat die Kolonie zu einem Unterwasserschrein geführt. Sie hatten eine besondere Zeremonie zu Ehren der Meermutter geplant, ihrer bösen Göttin. Als wir uns der Landspitze näherten, haben sie die Perechon gesichtet und beschlossen, die Mannschaft in Sklaven und Essen zu verwandeln – abgesehen natürlich von den paar, die der Meermutter geopfert werden sollten.« Maquesta machte sich von Fritzen los. Ohne auf die Einwände des Halbogers zu achten, hinkte sie auf den KuoToa-König zu. »Ich wollte nicht gegen dein Volk kämpfen«, sagte sie, obwohl sie vermutete, daß er sie nicht verstand. »Wir wollten dein Territorium umfahren. Ihr hättet uns nicht angreifen sollen.« Maque betastete die Korallenkette um seinen Hals und riß das Schmuckstück ab. »Ich hatte mir schon gedacht, daß du wichtig bist. Ich wußte nur nicht, wie wichtig. Wir werden dich benutzen, Majestät. Du wirst uns verraten, wo wir den Morkothen finden. Ja, ich denke, ein paar deiner treuen Untertanen sollten uns zu dem Ungeheuer führen – wenn sie wollen, daß ihr König den Tagesanbruch überlebt.« Fritzen verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Du bist genial, Maque.« Er und Ilyatha liefen zu dem König, und wieder sagte
der Schattenmensch etwas in der verrückten Kuo-ToaSprache, die wie Knurren, Zischen und gurgelndes Wasser gleichermaßen klang. Die Antwort des Königs war laut und rauh, und zwischendurch spuckte er immer wieder. Die anderen gefangenen Kuo-Toas begannen ebenfalls zu zischen und zu knurren und zerrten vergeblich an ihren Fesseln. »Er hat sie zur Flucht aufgefordert«, sagte Ilyatha. »Er sagt, sie sollten sich befreien – im Namen der Meermutter.« Fritzen trat dem König unsanft in die Seite. »Vielleicht ist ihm nicht klar, daß wir es ernst meinen«, höhnte er. Auf dem linken Bein stehend, schwang er das rechte hoch, bis sein Fuß sich vor dem grimmigen Gesicht des Königs befand. Blitzschnell ließ er das Bein hinuntersausen und schwang das andere hoch, das den Kopf des Kuo-Toa nur um Haaresbreite verfehlte. »Vielleicht sollten wir ihn eines Besseren belehren.« Tailonna trat vor und begann etwas zu murmeln, während sie mit den Händen ein Muster in die Luft malte. »Wir brauchen nicht noch mehr Blutvergießen, obwohl ich nicht verhehlen kann, daß mich die große Anzahl der toten KuoToas freut. Wenn du diesen König der Ungeheuer tötest, Maquesta, hast du nichts davon, außer daß ich zufrieden bin. Aber ich kann ihn zur Vernunft bringen und ihn zwingen, mit uns zusammenzuarbeiten.« Eine kleine, durchschimmernd blaue Kugel erschien auf ihrer rechten Handfläche. Sie blies darauf, und die Kugel schwebte vorwärts, wurde größer und legte sich um den Kopf des Königs. Einen Augenblick schimmerte das Gesicht des Kuo-Toa in demselben blauen Licht, dann verschwand die Farbe, als hätte es die Magie nie gegeben. »Versucht es jetzt.«
Ilyatha starrte dem Kuo-Toa-König in die Augen und stieß ein paar Worte in dessen seltsamer Sprache hervor. »Ich kann einiges verstehen«, erklärte Tailonna Maque. »Ilyatha erzählt ihm, daß wir sein Leben verschonen werden – auch das der gefangenen Krieger. Aber…« »Aber er muß uns einen Führer zum Bau des Morkothen stellen. Was er gerade zugesagt hat«, beendete Ilyatha ihren Satz. »Die beiden am Bug sind seine Söhne. Sie bringen uns zum Morkothen, obwohl der König uns warnt, daß das Ungeheuer gefährlich sei. Jetzt brauchen wir nicht nach seiner Höhle zu suchen und sparen dadurch mehrere Stunden. Dieser verfluchte Angriff ist für uns zum Segen geworden.« »AberdukannstnichtmitMaquestaKarThon.« Lendle stellte sich neben sie und zeigte auf ihr blutendes Bein. Er hielt seinen kurzen Zeigefinger hoch und wackelte damit hin und her, als wäre sie ein ungezogenes Kind. »Und du solltest gar nicht hier draußen sein. Du gehörst in die Krankenstube«, warf sie ihm vor. »Genauwiedu«, antwortete der Gnom. Maquesta ließ sich nicht gern von ihm zurechtweisen. Die Perechon war ihr Schiff, und als Kapitän erteilte sie die Befehle. Aber dann siegte die Weisheit, und Maque beschloß nachzugeben. »Ich weiß, Lendle. Ich werde deine zärtliche Pflege und einen von Tailonnas Tränken brauchen. Aber während du mich versorgst, möchte ich, daß Fritzen, Kof, Ilyatha und Tailonna den Morkothen jagen. Wir werden Tailonnas Netze und ihre Magie brauchen, um das Untier zu fangen.« Fritzen deutete auf den Minotaurus, der gerade wieder zu sich kam. »Jetzt sofort, Maque?«
»Nein. Morgen früh. Bei Nacht ist die See so finster, daß ihr genausogut in Tinte schwimmen könntet. Ihr würdet nicht einmal die Hand vor Augen sehen.« Sie schüttelte den Kopf und zeigte auf das Wasser. »Außerdem sind da draußen noch diese anderen Kuo-Toas. Und ich möchte, daß Seine Majestät sie wegschickt.« »Ich sehe sie auch«, bestätigte Tailonna. »Zwanzig oder mehr, schätze ich. Ich kümmere mich darum.« Damit begann die Meerelfe, mit dem König zu sprechen. »Kof!« freute sich Maque, als der Minotaurus zu ihr gelaufen kam. »Das wird ja auch Zeit, daß du aufstehst und dich dem Spaß anschließt. Ich möchte, daß du dafür sorgst, daß alle unsere Gäste heute nacht sicher im Laderaum untergebracht werden. Und wirf Seine Majestät ins Loch. Wenn das erledigt ist, läßt du unsere Toten in Segeltuch einwickeln. Wir bestatten sie morgen auf See.« Maque spürte, wie sie von starken Armen hochgehoben und in die Krankenstube getragen wurde. Als Fritzen sie auf ein Feldbett legte, wurde Maquesta von der Erschöpfung übermannt. Die letzten Worte, die sie hörte, bevor sie wegdämmerte, waren Lendles und Tailonnas eilige Anweisungen an Fritzen, mit dem Kräutermischen zu beginnen.Am Morgen kümmerte sich Fritzen um Maquesta und wischte ihr mit einem kühlen Lappen die Stirn ab, während Lendle sich mit einem neuen Trank beschäftigte. Maques Bein war mit mehrere Schichten Verband umwickelt und lag auf einem Kissen. In ihren Arm kehrte langsam das Gefühl zurück. »Diesmal bist du dran«, sagte Fritzen. »An den Kuo-ToaWaffen haftete Gift, aber Lendle und Tailonna haben etwas zusammengebraut, das das Gift herauszieht. Die Meerelfe
ist in den Mannschaftsräumen, wo sie die anderen Verletzten behandelt. Sie hat mir versichert, daß ihre Mixtur magisch ist. Jeder – selbst du – soll in ein paar Stunden wiederhergestellt sein.« Maque lächelte und versuchte sich zu erheben, doch der Halboger legte ihr fest die Hand auf die Schulter. »Du bist hier Kapitän, und du kannst mir befehlen, dich aufstehen zu lassen. Dann gehorche ich. Aber ich würde lieber einem gesunden Kapitän folgen – einem, der noch eine Weile auf den Beinen steht. Ruh dich aus, Maque. Auf der Jagd nach dem Morkothen übernimmt Kof die Leitung, und bis wir zurück sind, wird es dir viel besser gehen.« Maquesta verzog den Mund, nickte aber. Obwohl sie an Deck gehen wollte, um die anderen zu verabschieden, wußte sie, daß Fritzen durchaus recht hatte. Sie haßte es, schwach zu sein und keine Kontrolle über die Lage zu haben, und sie war wütend, daß mittlerweile fast ihre gesamte Mannschaft schon in der Krankenstube gelegen hatte. Doch sie schloß die Augen, versuchte sich zu entspannen und konzentrierte sich darauf, dem Gnomen zu lauschen, der seine Zutaten vor sich hinmurmelte. Ein stechender Geruch erfüllte den Raum, und Maque wußte, daß sie lange Zeit stinken würde, bevor sie wieder gesund war. »Paß auf dich auf«, flüsterte Fritzen, als er sich anschickte aufzustehen. Dann hielt er inne und starrte sie an. »Du hast heute nacht noch mehr Kuo-Toas im Wasser gesehen. Welche Gabe hast du, Maquesta, daß du so gut sehen kannst?« »Brauchst du ihm nicht zu sagen«, warf Lendle ein, der Fritzens Worte offenbar mitgehört hatte. Dann machte sich der Gnom wieder an das Mischen des Zaubertrankes. »Ist schon gut. Ich vertraue ihm«, erwiderte Maque,
schlug die Augen auf und starrte an die Decke. »Ich bin nur zur Hälfte Mensch«, fing sie an. »Meine Mutter war eine Elfe. Sie hat meinen Vater vor langer Zeit verlassen. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt. Sie ging, als Menschenbanden auf Elfen und deren Angehörige Jagd machten. Ich vermute, sie ist verschwunden, um keine Aufmerksamkeit auf die Perechon zu lenken. Mein Vater, der um meine Sicherheit besorgt war, ließ Lendle die Spitzen meiner Ohren abschneiden, als ich noch ganz klein war. Er wollte nicht, daß irgendjemand erfuhr, daß ich eine Halbelfe bin. Er hatte Angst, er würde auch mich verlieren. Deshalb habe ich die elfische Sehkraft. Ich kann besser sehen als Menschen, wenn auch nicht ganz so gut wie die meisten Elfen.« »Jetzt kennst du also Maquestas Geheimnis«, sagte Lendle streng. »Es ist eines, das nur von den hier Anwesenden geteilt wird – und von ihrem viele Meilen entfernten Vater. Und es sollte sich besser nicht weiter ausbreiten.« Die Knopfaugen des Gnomen fixierten den Halboger. »Verstanden?«An Deck warteten Ilyatha, Tailonna und Bas-Ohn Koraf, alle mit Kuo-Toa-Speeren bewaffnet. Der Minotaurus hielt das Ende eines Taus in der Hand. Einige Mannschaftsmitglieder hatten sich neugierig um sie herum versammelt, und als Fritzen sich zwischen ihnen einen Weg bahnte, warf Ilyatha ihm ein großes Netz zu und sagte, damit würden sie den Morkothen festhalten, sobald sie ihn gefunden und gefangen hatten. Tailonna griff in einen Beutel an ihrem Gürtel und zog sechs Fläschchen heraus, die das magische Elixier enthielten, welches ihnen gestatten würde, Wasser zu atmen, als wäre es Luft. Sie reichte jedem von ihren Begleitern zwei Fläschchen. »Ein Fläschchen müßte viele Stunden reichen, etwa acht bis zwölf, vermute
ich. Es könnte aber bei jedem von uns unterschiedlich lange wirken«, fügte sie mit einem Blick auf den Minotaurus und den Halboger hinzu. »Aber wenn wir zügig vorgehen, dürfte das kein Problem sein.« Kof nickte und zog am Ende des Taus, das er in der Hand hielt. Am anderen Ende waren die Söhne des Königs; das lange Seil war um ihre Hälse gebunden, als wären sie Hunde an einer Leine. »Bringen wir es hinter uns«, grollte der Minotaurus. »So sehr ich die See liebe, am Schwimmen liegt mir wenig, und an der Gesellschaft von Kuo-Toas noch weniger.« Fritzen hätte seine Fläschchen beinahe fallen gelassen, als ein gelber Lichtblitz, heller als die Mittagssonne, das Deck traf. Als der Glanz verblaßte, erschien Beiwar, dessen scharfe Hufe dicht über dem Holz schwebten. Der Ki-Rin nickte zum Gruß, und die Mannschaft wich zurück, als er sich den Vieren näherte. »Ich begleite euch«, kündigte er an. »Heute nacht war ich fort und bin gerade erst rechtzeitig zurückgekommen, um das Ende des Kampfes zu sehen. Zwar konnte ich euch dabei nicht helfen, doch will ich jetzt meine Hilfe anbieten. Morkoths sind trickreich und tödlich.« »Dann auf unseren Erfolg!« sprach Fritzen, hob sein Fläschchen in die Luft, setzte es dann an die Lippen und kippte den Inhalt in einem Zug hinunter. Die anderen taten dasselbe und liefen dann zur Seite, um ins Wasser zu springen. Auch der Ki-Rin tauchte ab – sein Sprung ins Meer durchnäßte die Zuschauer aus der Mannschaft bis auf die Haut. Koraf schnappte nach Luft, als er zu sinken begann, und schlug um sich wie ein verwundeter Fisch, während er sich
gleichzeitig verzweifelt bemühte, das Seil festzuhalten, an dem die Kuo-Toas hingen. Er hielt die Luft an und sank wie ein Stein, gefolgt von Ilyatha, Fritzen, Tailonna und den Meerwesen. Der Ki-Rin trieb dicht unter der Oberfläche und sah ihnen zu. Ganz ruhig, besänftigte Ilyathas Geist seine Begleiter. Atmet das Wasser, als wäre es Luft. Atmen. Der Minotaurus schloß die Augen und atmete ein wenig ein. Es war ein seltsames Gefühl, als das Wasser in seine Nase eindrang und in seine Lungen floß. Zuerst hatte er Angst zu ertrinken – vielleicht war das Elixier nur ein grausiger Scherz, den Attat zu ihrer aller Untergang ersonnen hatte. Dann atmete er vor Angst tief ein und sog das Salzwasser in langen Zügen in die Lunge. Es brannte im Hals, aber nur einen Augenblick lang. Das merkwürdige Gefühl verging, und er machte die Augen auf. Er atmete! Sobald sie den sandigen Grund erreicht hatten, zog Koraf an dem Seil und starrte den Königssöhnen in die Augen. Er zuckte mit den Schultern und zeigte in verschiedene Richtungen. Dann zog er wieder an dem Seil. Schließlich verstanden die Kuo-Toas, was der Minotaurus meinte, und der Größere der beiden zeigte nach Südwesten. Er ist aufrichtig, versicherte Ilyathas Stimme in Kofs Kopf. Der Bau des Morkothen liegt in dieser Richtung. Der Ki-Rin über ihnen begann nach Südwesten zu schwimmen. Seine langen Beine wirbelten das Wasser auf, und der Rest der Gruppe konnte das Mythenwesen nur mit Mühe im Auge behalten. Sie passierten eine Korallenbank, wo Seefarne, die wie zarte Fächer aussahen, in der Strömung hin und her wehten. Eine Schule Engelbarsche schwamm über ihnen vorbei und schlug einen weiten Bo-
gen um die ungewöhnlichen Besucher. Auf dem Sandboden huschten Krabben vor ihnen davon. Kof begann sich an seiner Umgebung zu erfreuen, und er drehte den Stiernacken unablässig hin und her, um alles in sich aufzunehmen. Nachdem sie fast zwei Stunden unterwegs waren, entdeckte er eine Felsformation, die sich wie die Wirbelsäule eines schlafenden Riesen über den Sandboden zog. Die Kuo-Toas zeigten auf die Steinbrocken, und der Minotaurus sah Ilyatha an, der zustimmend nickte. Der Ki-Rin tauchte hinab. Die Mitglieder der Gruppe drosselten umsichtig ihr Tempo, als sie sich den Felsen näherten. Der Grat sah aus wie das, was Tailonna am Vortag in der Krankenstube aufgezeichnet hatte. Wenn ihre Skizze stimmte, mußte der Rest der Kuo-Toa-Kolonie ein Stück nördlich auf der anderen Seite der Anhöhe liegen. Als sie näher kamen, entdeckten sie eine Höhle, die kaum mehr war als ein enger Spalt. Der Wohnsitz des Morkothen, dachte Ilyatha für jeden von ihnen. Die Kuo-Toas haben Angst vor dem Tier und sagen, er lebt dort. Sie möchten bitte nicht gezwungen werden, hineinzugehen. Nur einer von ihnen war schon einmal so nahe an der Öffnung wie wir jetzt, als er vor ein paar Monaten ein Opfer hergebracht hat. Kof schaute den Spalt an, dann den Ki-Rin, der sicher nicht hindurchpassen würde. Das Horn des Ki-Rin glänzte leicht, und er sprach im Wasser, so daß jeder es hören konnte. »Ich werde eure Gefangenen bewachen, da ich euch nicht folgen kann. Nicht einmal meine Magie wird mich hineinbringen. Aber ich werde euch trotzdem helfen.« Er schloß die Augen, und Feuer tanzte an seinem goldenen Horn entlang, ein magisches Lodern, das selbst dem Salzwasser trotzte. Die Flammen schossen nach vorn, trafen die
Ränder des Spalts und drangen tiefer in das Gestein. »Das Feuer ist nicht echt, jedenfalls nicht wie richtige Flammen. Es wird euch nicht verbrennen. Aber es überzieht die Wände des Steinlabyrinths. Es wird euren Weg erleuchten und mag dazu dienen, den Morkothen zu erschrecken, der gern im Dunkeln lebt. Ich wünsche euch alles Gute.« Der Ki-Rin nahm das Seil, mit dem die Kuo-Toas gefesselt waren, zwischen die Zähne und zog sich vom Spalt zurück. Bas-Ohn Koraf atmete tief durch und trat ein. Fritzen und Tailonna folgten ihm. Ilyatha blieb vor dem Spalt stehen. Der Schattenmensch fürchtete helles Licht, und er brauchte einige Augenblicke, bis ihm klar war, daß das Licht des Feuers ihn nicht blenden würde. Die Flammen flackerten wie ein prasselndes Lagerfeuer an den Wänden auf und ab und malten unheimliche Lichtmuster darauf. Kof mußte hier und dort seitlich gehen, wenn der Weg schmaler wurde, und mehr als einmal schürfte sich der Minotaurus an einem Vorsprung den Rücken auf. Tiefer und tiefer drangen sie ein, bis Kof schon glaubte, sie würden bestimmt gleich auf der anderen Seite der Felsen herauskommen. Dann begann der Tunnel sich nach unten zu winden, und teilte sich in zwei Gänge auf. Der Minotaurus schnupperte, merkte aber, daß sein scharfer Geruchssinn unter Wasser nutzlos war. Beide Gänge wurden von den Flammen erleuchtet, doch die lieferten auch keinen Anhaltspunkt dafür, welcher der richtige Weg war. Nachdem er seinen Speer nach vorn ausgestreckt hatte, machte Kof einen Schritt in den linken Tunnel, blickte dann über die Schulter zurück und winkte Fritzen zu, den rechten zu nehmen. Der Halboger nickte, und Tailonna folgte ihm, so daß der Schattenmensch Kof folgen
mußte. Der Minotaurus war gerade erst ein paar Schritte gegangen, als er unter den Hufen etwas Brüchiges ertastete. Als er sich bückte, entdeckte er einen Haufen Gräten, die einmal einem großen Fisch gehört haben mußten, einem Barrakuda vielleicht. Der Feuerschein ließ die ausgebleichten Überreste glitzern. Kof erschauerte und schob sich weiter in die Tiefe. Als er sah, daß der Gang sich vor ihm wieder teilte, knurrte er, was eine Reihe von Luftblasen erzeugte. Er wählte wieder den rechten Tunnel, wo er sich an den Wänden festhalten mußte, um nicht zu stürzen. Ein Blick nach hinten verriet ihm, daß Ilyatha den linken Tunnel nehmen wollte. Der Minotaurus winkte mit seinem behaarten Arm, um die Aufmerksamkeit des Telepathen auf sich zu ziehen, und hätte dabei fast das Gleichgewicht verloren. Ilyatha sah den Minotaurus fragend an. Ich will nicht, daß wir uns auch noch trennen, konzentrierte sich Kof in der Hoffnung, daß Ilyatha seine Gedanken auffangen würde. Also gut, erwiderte der Schattenmann. Ich lasse die anderen wissen, daß sie auch zusammenbleiben sollen. In dem anderen Gang fanden Fritzen und Tailonna einen ähnlich steilen Gang mit einem Abgrund vor, der sie fast fünfzig Fuß nach unten sinken ließ. Von dort aus setzte sich der Tunnel fort und wand sich noch weiter in die Tiefe. Der Halboger preßte beide Hände an die Schläfen und ließ dabei Netz und Speer fallen. Der Druck hier unten wurde langsam schmerzhaft, und er fragte sich, wie weit sie schon gekommen waren, und wie lange das Elixier wohl noch reichen würde. Er griff nach dem Beutel an seinem Gürtel, um sich zu vergewissern, daß das andere Fläschchen noch heil war. Tailonna legte ihm sanft eine Hand auf die Schul-
ter und schob sich an ihm vorbei. Sie befanden sich im Element der Meerelfe, und Fritzen hob seine Sachen wieder auf und überließ ihr die Führung. Fast eine Stunde später starrten Tailonna und Fritzen über einen Abgrund hinweg – auf dessen anderer Seite Kof und Ilyatha standen. Am Rand der Grube, die wie ein Schlot in eine unnatürliche Finsternis hinabführte, brach das magische Feuer ab. Der Minotaurus stieß den Schattenmenschen an und konzentrierte sich. Seine breite Stirn legte sich in Falten, als er versuchte, seinen Begleitern eine Nachricht zu übermitteln. Ich bin derselben Meinung wie Kof, teilte Ilyatha den anderen über den Abgrund mit. Seine Worte klangen streng. Ich glaube, der Morkoth befindet sich dort unten, und er hält das Feuer davon ab, sich weiter auszubreiten. Damit trat der Schattenmann über den Rand und sank in die undurchdringliche Schwärze des Spalts hinab. Kof schluckte schwer und folgte ihm. Bald glitt er an Ilyatha vorbei, weil sein hohes Gewicht ihn schneller hinunterzog. Als Fritzen und Tailonna sich ihnen anschlossen, war die Dunkelheit um sie herum bereits vollkommen. Es schien den vieren, als seien mehrere Stunden vergangen, als sie in einer großen Höhle auftauchten, die tief im Schatten verborgen lag. Der Druck war hier beträchtlich, ein Zeichen dafür, daß sie sich sehr weit unter der Wasseroberfläche befanden. Sie konnten im Dunkeln kaum etwas sehen, und Ilyatha wies sie an, zusammenzubleiben, damit keiner verlorenginge. Allein würden sie für den Morkothen eine leichte Beute abgeben, befürchtete der Schattenmensch. Kof schwang seinen Speer vor dem Körper hin und her und drängte vorwärts, bis er eine Felswand er-
reichte. Wie Höhlenforscher umkreisten die vier die Höhle, bis sie sechs Öffnungen entdeckt hatten, jede so schmal, daß sie sich nur mühsam hindurchquetschen konnten. Wenn jeder eine nimmt, dann sind noch zwei übrig, dachte Ilyatha. Wir sollten eine auswählen und uns beeilen; das Elixier… Kof nickte, doch trotz Ilyathas Warnung entschied er, daß jeder einen anderen Gang nehmen sollte. Immerhin würden sie alle durch die telepathischen Kräfte des Schattenmenschen fest verbunden sein. Er schickte Ilyatha in den engsten Gang, Fritzen in den daneben. An den nächsten zwei Gängen lief der Minotaurus vorbei, weil ihm das Gefälle zu steil war. Dann wies er Tailonna den fünften zu und nahm selbst den letzten. Jeder tastete sich im Dunkeln mit einer Hand an der Wand entlang und hielt in der anderen eine Waffe. Und alle verloren das Gleichgewicht, als plötzlich der Boden unter ihren Füßen verschwand und sie noch tiefer fielen, durch wild gewundene Felsgänge nach unten stürzten. Wieder kamen die vier in einer düsteren Höhle heraus, denn die Tunnel führten alle zu demselben Ort. Kof knurrte, wodurch er einen langen Strom von Luftblasen erzeugte. Dann wies er die anderen an, zusammenzubleiben, während er die Höhle abschritt und die Wände abtastete. Als er zurückkam, glühten seine Augen vor Wut, und Ilyatha zuckte zusammen, als er sich in den Kopf des Minotaurus schlich, um dessen Gedanken zu erforschen. Kof sagt, es ist dieselbe Höhle, die wir vorhin verlassen haben. Es gibt sechs Öffnungen – angeblich dieselben, durch die wir nach unten gestiegen sind, übermittelte Ilyatha den anderen
die Nachricht. Ich vermute, wir haben diese Höhle gar nicht erst verlassen. Ich glaube, sie ist eine Illusion, und wir werden irregeführt. Ich weiß nicht, wo wir sind, aber… Bevor der Schattenmensch fortfahren konnte, wich die Finsternis in der Höhle einem allmählich heller werdenden Licht. Sie sahen Felswände, die mit Juwelen besetzt waren. Hoch über ihren Köpfen war der Rand der Höhle vom magischen Feuer des Ki-Rin erhellt. Die Flammen tanzten noch immer fröhlich herum und beleuchteten eine schwarze Gestalt, die sich gerade zum Höhlenboden hinunterließ. Die dunkle Gestalt hielt auf halben Weg schwebend über den vieren inne. Der Morkoth! teilte Ilyatha allen mit. Er hat mit uns gespielt. Von der Taille aufwärts sah das abstoßende Wesen wie eine Seeschlange aus, obwohl es einen zackigen Flossenkamm hatte, der bis zum Scheitel seines breiten, fischähnlichen Kopfes verlief. Vier dürre Arme staken wie Hummerbeine aus seinen schuppigen Seiten hervor. Sie endeten in dünnen Scheren, die sich mit einem fast rhythmischen Klappen öffneten und schlossen. Die Augen des Morkothen saßen wie die eines Menschen auf der Vorderseite seines Kopfes, doch es waren dunkle, runde Kreise mit roten Flecken in der Mitte. Die Kreatur hatte keine Ohren, jedenfalls keine sichtbaren, dafür aber einen Mund, der wie der Schnabel eines Tintenfisches aussah. Dieser Schnabel öffnete und schloß sich wiederholt. Das scharfe Geräusch brachte das Wasser irgendwie zum Vibrieren und beunruhigte die vier Freunde. Dann streckte der Morkoth seine lange, rosa Zunge aus, die wie ein vielgliedriger Meerwurm aussah, und züngelte damit. Die untere Körperhälfte ähnelte einem Tintenfisch, denn
sie hatte sich windende Tentakel, an denen Saugnäpfe saßen. Der Morkoth war ein ganzes Stück größer als Kof und am ganzen Körper schwarz wie die Nacht. Nur hier und da sah man ein paar silbrig reflektierende Schuppen. Als er näher kam, indem er langsam im Wasser hinuntersank, klickte er weiter mit dem Schnabel, winkte mit seinen Scherenarmen und wiegte seine Tentakel fast hypnotisierend hin und her. Ilyatha und Tailonna standen regungslos da und starrten das Wesen an. Die Speere fielen ihnen aus der Hand, während ihre Augen den Mustern der Blasen folgten. Schluß damit, konzentrierte sich Kof. Er hoffte inständig, daß der Schattenmensch und die Meerelfe seine Gedanken mitbekamen. Reißt euch zusammen! Er hypnotisiert euch. Wacht auf! Doch seine Warnung verhallte ohne Antwort. Nur er und Fritzen schienen von den Bewegungen des Morkothen nicht beeindruckt zu sein. Der Minotaurus knurrte und stellte sich vor Ilyatha und Tailonna. Mit erhobenem Speer stach er nach dem Morkothen, doch die Tentakel des Wesens blieben knapp außer Reichweite. Es setzte seine Bewegungen fort, und Kof merkte, wie ihm selbst ganz seltsam zumute wurde. Er schloß die Augen und wehrte sich so gegen den hypnotisierenden Anblick, stieß aber weiter blind nach oben. Hinter ihm trat Fritzen neben die Meerelfe. Nachdem er seinen Speer hingelegt und sich das Netz unter den Arm geklemmt hatte, griff er nach ihren Schultern und schüttelte sie kräftig. Der Schattenmann neben ihm erwachte zum Leben, und einen Augenblick lang huschte ein Ausdruck der Erleichterung über das grimmige Gesicht des Halbogers. Ilyatha zog seine zwei Dolche, doch als es gerade so
aussah, als ob er den Morkothen angreifen würde, drehte er sich zu Fritzen um und sprang vor. Der Halboger ließ Tailonna los, warf sich auf den Boden der Höhle und stöhnte vor Überraschung, als Ilyatha mit den Dolchen nach vorn stürzte und dort zustieß, wo kurz zuvor noch Fritzen gestanden hatte. Der Schattenmann fuhr herum und sah ihn mit Augen an, in denen rote Punkte tanzten. Der Morkoth! Fritzen fluchte in sich hinein. Erst hat er die Meerelfe in seine Gewalt gebracht, und jetzt hatte sich die Gefahr auch noch verdoppelt. Er drehte sich auf die Seite, stieß dabei Tailonna um, dann rollte er sich zusammen und stieß sich mit seinen starken Beinmuskeln vom Boden ab. Und so schoß er durch das Wasser hoch, doch der Schattenmensch folgte ihm. Sie kamen an dem Morkothen vorbei, der noch immer seine Tentakel hin und her schwenkte und Luftblasen erzeugte. Fritzen fühlte, daß ihn die Benommenheit wie eine Woge überkam, wenn er die Blasen anschaute, doch er kämpfte dagegen an und konzentrierte sich auf Ilyatha, der immer näher kam. Der Schattenkrieger grinste böse, als er auf den Halboger zukam. Obwohl Fritzen flink und agil war, konnte er seine Sportlichkeit am besten an Land einsetzen. Unter Wasser war ihm der Schattenmensch mit Leichtigkeit überlegen. Fritzen wußte, daß er sich allein auf seine Kraft verlassen konnte. Ilyatha schoß mit den Beinen voraus auf Fritzen zu, während der Halboger an Ort und Stelle Wasser trat, um den Angriff zu begegnen. Als Ilyatha ihn erreichte, schob Fritzen die Arme vor und umklammerte die dunklen Handgelenke des Schattenmenschen, damit die Dolche ihr Ziel nicht finden konnten. Aus dem Augenwinkel sah Fritzen, wie Tailonna sich bewegte. Unsicher stand sie auf und
schaute zu Fritzen und Ilyatha hoch. Dann warf sie einen schnellen Blick auf den Morkothen. Der Halboger dankte den Göttern dafür, daß in ihren Augen keine roten Punkte tanzten. Die Meerelfe hob die Hände und ließ ihre Finger kreisen. Dazu sprach sie Beschwörungsformeln. Als sie nach einem ihrer Haarnetze griff, achtete sie darauf, nicht direkt auf die Tentakel des Morkothen zu blicken, sondern konzentrierte sich statt dessen auf eine Stelle an seinem Leib. Sobald sie den Zauberspruch vollendet hatte, rauschte ihr magisches Netz durch das Wasser auf das Ungeheuer zu. Doch kurz vor dem grotesken Wesen hielt es plötzlich an und trieb einen Augenblick im Wasser. Dann machte das magische Netz genauso schnell wieder kehrt und legte sich über Tailonna. Fritzen fluchte verbissen. Die Meerelfe war seine größte Hoffnung gewesen. Der Schattenmensch in seinen Händen wand sich wie wild, und der Halboger griff fester zu, bis er auf Ilyathas Gesicht einen Ausdruck von Schmerz sah. Dann trat er mit den Beinen nach vorn und stieß den Schattenmenschen unsanft gegen die Höhlenwand. Doch statt das Bewußtsein zu verlieren, wehrte sich der dunkle Krieger jetzt nur noch heftiger. Unten ließ sich der Morkoth langsam auf Kof heruntersinken. Der Minotaurus schlug immer noch blind mit seinem Speer um sich, weil er sich weigerte, die Augen aufzumachen, aus Angst, von den Bewegungen des verschlagenen Wesens verhext zu werden. Durch die Netzmaschen hindurch sah Tailonna den Morkothen hinter Kof schwimmen. »Er ist hinter dir!« schrie sie. Der Klang ihrer Meerelfen-
stimme war im Wasser nur schwach zu hören, erreichte aber Kofs empfindliche Ohren. »Er bewegt die Fangarme nicht mehr. Du kannst die Augen aufmachen.« Ihre Warnung kam fast zu spät. Der Morkoth schlang dem Minotaurus von hinten ein Tentakel um den Hals. Doch Kof fuhr herum und schlug gerade noch rechtzeitig die Augen auf. Er duckte sich und stieß mit dem Speer zu, und dessen Spitze blieb in dem gummiartigen Tentakel stecken. Schwarzes Blut strömte ins Wasser. Kof wußte, daß Attat das Wesen unversehrt haben wollte, aber wenn die Netze der Meerelfe nicht einsetzbar waren, hatten sie kaum eine andere Wahl, als zu kämpfen oder selbst getötet zu werden – oder zu kämpfen und trotzdem getötet zu werden. Er zerrte an seinem Speer, doch dessen Widerhaken hatte das Tentakel ganz durchstoßen und steckte fest. Grollend ließ Kof den Schaft los, griff nach einem anderen Tentakel und begann sich auf den Leib des Morkothen zuzuziehen. Der Morkoth stieß einen schrillen Schrei aus, der durch das Wasser gellte und dem Minotaurus die Tränen in die Augen trieb. Der Schmerz in Korafs Kopf war unerträglich, doch er wußte, wenn er das Monster jetzt losließ, bedeutete das seinen Untergang. Also biß er die Zähne zusammen, verdoppelte seine Anstrengungen und kämpfte sich weiter. Die anderen Tentakel des Wesens schlangen sich um seine Beine und hielten ihn fest. Koraf wehrte sich, indem er seine Nägel in den Fangarm grub, an dem er sich festhielt, und noch mehr schwarzes Blut herausströmen ließ. Jetzt begann sich das gräßliche Wesen zu winden, um den hartnäckigen Minotaurus abzuschütteln. Seine Scherenarme klapperten bedrohlich, und er beugte sich vor, damit er mit dem Schnabel nach Kof schnappen konnte.
Der Minotaurus nutzte die Bewegung des Ungeheuers aus, ließ das Tentakel los und griff nach den Seiten des fischähnlichen Kopfes. Der Schnabel schlug zu und grub sich in die Schulter des Minotaurus, was diesem heftige Schmerzen verursachte. Über Koraf setzte Fritzen sein Ringen mit dem hypnotisierten Ilyatha fort, den er wiederholt gegen die Höhlenwand schlug, bis der Schattenkrieger endlich das Bewußtsein verlor. Der Halboger vergewisserte sich, daß Ilyatha noch atmete, und ließ dankbar den schlaffen Körper auf den Höhlenboden gleiten, wo Tailonna noch immer mit ihrem Netz kämpfte. Dann stieß er sich wieder ab und schwamm auf Koraf und den Morkothen zu. Der Minotaurus grub seine Finger ins Fleisch des Morkothen, riß ihm mit den Nägeln die Haut und die Schuppen auf und brachte das Monster zum Schreien. Das Wesen schlug wie verrückt mit den Fangarmen um sich, die schließlich an Kofs kräftigem Leib Halt fanden. Sie drückten zu, versuchten dem Minotaurus das Wasser aus der Lunge zu pressen. Koraf spürte, wie ihm schwarz vor Augen wurde, aber diesmal grub er dem Morkothen seine Nägel in den Hals und versuchte das Ungeheuer zu erdrosseln, während er gierig nach Atem rang. Fritzen griff nach einem der Tentakel, die den Minotaurus hielten, und zog daran. Obwohl er es nicht lösen konnte, schaffte er es, den Griff gerade so weit zu lockern, daß Kof atmen konnte. Der Minotaurus verwendete seine wiedergekehrte Kraft dazu, dem Morkothen noch fester den Hals zuzudrücken, damit er erstickte. Fritzen quetschte seine Hand mit aller Kraft zwischen das Tentakel und Kofs Bauch, um den Fangarm zu lösen. Nach einer scheinbaren
Ewigkeit gab der Morkoth endlich nach, und seine Tentakel fielen schlaff herab. Der Minotaurus, der Morkoth und Fritzen sanken übereinander auf den Boden der Höhle. Der Morkoth blieb reglos liegen, und einen Augenblick befürchtete der Halboger, er wäre tot. »Nein, er lebt. Gerade noch«, sagte Tailonna. Sie hatte sich endlich aus ihrem Netz befreit. »Aber Kof hätte ihn beinahe umgebracht, und wenn wir ihn nicht schnell zum Schiff bringen und seine Wunden versorgen, könnte er immer noch sterben. Allerdings bin ich nicht sicher, ob ich ihm einen Heiltrank brauen kann.« Fritzen erschauerte bei dem Gedanken, einem so bösartigen Ungeheuer auch noch zu helfen. Vielleicht kann Lendle ihn heilen, dachte er. Der Gnom schien Wunder bewirken zu können. Kof betastete vorsichtig seine Rippen und nickte dem Halboger dankbar zu. Die Bißwunde in seiner Schulter war tief, aber nicht gefährlich, und er drückte leicht mit den Fingern darauf. Der Minotaurus verzog das Gesicht, tat den Schmerz dann jedoch mit einem Achselzucken ab. In der Arena von Lacynos hatte er schon viel schlimmere Wunden davongetragen. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß er ansonsten keine Verletzungen hatte, ging er zu dem Schattenkrieger hinüber, der langsam zu sich kam. Kof bückte sich, um Ilyathas Dolche aufzuheben, und dabei fielen ihm die juwelenbesetzten Höhlenwände ins Auge. Er drehte sich zu Ilyatha um und runzelte die Stirn. Dann suchte er die Gedanken des Schattenmenschen. Bringt den Körper des Morkothen hier raus und bittet den KiRin, ihn für euch zu tragen. Ich bleibe noch einen Moment hier und nehme ein paar von den Steinen mit, erklärte der Mino-
taurus. Ilyatha wollte protestieren, aber ein strenger Blick von Kof ließ ihn schweigen. Wenn der Morkoth stirbt, oder wenn Attat aus der Abmachung aussteigt, könnte Maquesta etwas Wertvolles brauchen, das sie gegen ihren Vater und die Perechon eintauschen kann. Ilyatha übermittelte den anderen Kofs Vorhaben. Tailonna reichte dem Minotaurus ihre Bauchtasche, dann half sie Ilyatha beim Aufstehen, und beide schwammen eilig aus der Höhle hinaus. Fritzen hob den Morkothen auf und wickelte ihn in das Netz. Er legte dem Minotaurus eine Hand auf die Schulter und nickte. Dann stieß er sich ab, seine bewußtlose Beute im Schlepptau. Sobald Koraf allein war, begann er mit seiner Arbeit, löste Smaragde, Diamanten, Rubine und Hyazinthe aus den Wänden der Morkothenhöhle und stopfte sie in seine Taschen und Tailonnas Beutel. Er wählte die größten Edelsteine aus, diejenigen, die das Licht des magischen Feuers über seinem Kopf am besten einfingen. Als er nichts mehr einstecken konnte und sicher war, daß er ein Vermögen bei sich hatte, wurde ihm allmählich schwindelig. Vermutlich hatte er für das Schätzesammeln ein paar Stunden gebraucht. Er holte den zweiten Trank aus dem Beutel um seinen Bauch und sog ihn ein. Dann suchte er sich einen Weg aus der Höhle. Der Ki-Rin hatte den Morkothen zum Schiff gebracht und war zurückgekommen, um Bas-Ohn Koraf abzuholen. Dankbar nahm der Minotaurus, der mit seinem funkelnden Schatz beladen war, Belwars Einladung an, und kletterte auf dessen Rücken. Innerhalb von einer Stunde betraten sie das Deck der Perechon. Maquesta hatte ihr Fieber überstanden. Sie stand an
Backbord am Bug und unterhielt sich lebhaft mit dem immer noch triefnassen Fritzen und Tailonna, die in eine Decke gewickelt waren. Ein dünner weißer Verband war um Maques Bein geschlungen, und sie stützte sich auf einem Speer ab, aber es sah so aus, als ginge es ihr schon viel besser. Ilyatha befand sich ganz in ihrer Nähe. Er sprach mit dem Kuo-Toa-König, dessen Hände und Füße gefesselt waren. Die anderen Kuo-Toas waren auf das Deck getrieben worden und standen an der Reling, während die Mannschaft der Perechon sie mit Speeren und Harpunen in Schach hielt. Der Ki-Rin landete hinter Maquesta, und sie drehte sich um und grinste Beiwar und den Minotaurus an. »Beiwar, vielen Dank, daß du meinen Ersten Maat zurückgebracht hast. Lendle sieht nach dem Morkothen. Das Biest ist in Attats Käfig, den wir am Heck des Schiffes festzurren konnten – gerade so weit unter Wasser, daß der Morkoth überleben wird. Lendle glaubt, er kriegt ihn durch; er hat rundherum Kräuter ins Wasser gestreut. Aber wir müssen gut aufpassen, daß der Morkoth uns keinen seiner häßlichen Streiche spielt. Ich glaube, jetzt wird alles gut«, sprudelte es aus Maquesta hervor. »Wir können meinen Vater retten – und die Perechon zurückerobern.« Der Ki-Rin nickte ihr zu, aber seine Augen waren traurig. »Ich hoffe wirklich, daß für dich alles gut wird, Maquesta. Ich muß jetzt fort, aber ich werde zurückkehren, wenn ihr mich braucht.« Der Minotaurus tastete in seinen Taschen nach den Edelsteinen, ließ seine Finger über ihre glatten, facettenreichen Oberflächen gleiten. Dann klopfte er auf Tailonnas ausgebeulte Tasche, die ihm von der Schulter hing. »Ich habe
hier eine Versicherung, Kapitän«, sagte er zu Maquesta, nachdem er sich vergewissert hatte, daß der Rest der Mannschaft anderweitig beschäftigt war. Er zog einen großen Smaragd hervor und hielt ihn so, daß Maque ihn sehen konnte. »Ich habe noch mehr davon. Genug, um viele Schiffe zu kaufen, vielleicht genug für alle Schiffe in Lacynos mitsamt ihrer Mannschaften.« Er gab ihr Tailonnas Tasche und ging mit Maquesta zu deren Kabine, wo er die Edelsteine aus seinen Taschen über ihren Tisch rollen ließ. Maques Augen funkelten. Das war mehr Reichtum, als sie in ihrem ganzen Leben gesehen hatte, sogar mehr Reichtum als in der Schatzkammer des Kaufmanns. »Ich hoffe, wir werden die nicht alle für Attat brauchen«, sagte sie. »Ich kann mir eine viel bessere Verwendung dafür vorstellen, einschließlich der Heuer für eine Mannschaft, die schon viel zu lange ohne Lohn fährt.« Maquesta verstaute den Schatz sicher unter ihrer Koje, dann kehrte sie mit Kof an Deck zurück. Tailonna eilte auf die beiden zu und bat darum, die verbliebenen Kuo-Toas töten zu dürfen. »Wir haben weit mehr als die Hälfte der Kolonie umgebracht, als sie gestern nacht das Schiff angegriffen haben«, hielt Maquesta dagegen. »Ich finde, das ist ein ziemlich massiver Verlust. Sie werden Jahre brauchen, um sich davon zu erholen. Gefangene Gegner abzuschlachten ist ein grausames Massaker.« Die Meerelfe nickte widerstrebend. »Ihre Zahl stellt für mein Volk vielleicht wirklich keine Bedrohung mehr dar. Und wenn doch, werden wir nun leicht mit ihnen fertig. Wir sind ihnen jetzt überlegen.«
Damit winkte Maquesta Ilyatha zu, der dem König die Fesseln durchschnitt und ihm befahl, vom Schiff zu springen. Die Mannschaft schob auch die anderen Kuo-Toas zur Reling, damit sie ins Wasser hechteten. »Die Königssöhne sind im Laderaum«, verriet Maque Tailonna. »Wenn wir weit genug fort sind, lassen wir auch sie frei. Der König hat uns eine ungehinderte Fahrt zugesagt, solange es ihnen gutgeht. Jetzt segeln wir ins tiefe Wasser. Wir übergeben unsere Toten der See, dann machen wir uns auf zu Attat.«
Kapitel 4 Die Rückfahrt
»Du mußt nicht länger bei uns bleiben«, sagte Maquesta zu Tailonna. »Wir können für dich den Hafen von Endflucht anlaufen. Er ist nicht weit, und es ist ein tiefer Hafen, in den wir ganz hineinfahren können. Das kostet uns nicht mehr als eine Stunde, höchstens zwei.« Die Frauen standen am Bug des Schiffes und blickten auf den frühmorgendlichen Himmel und die rauhe See. Der Wind blähte die Segel, so daß die Masten bei jeder Bö ächzten. Das Schiff hob und senkte sich von einem Wellenkamm zum nächsten, und die Gischt durchnäßte Maque und Tailonna. Trotz des guten Windes kamen sie nur langsam voran, denn sie mußten den Morkothenkäfig mitschleppen, was ihre Geschwindigkeit beträchtlich verringerte. Die Meerelfe sah Maquesta an. Ein Lächeln umspielte ihre schmalen Lippen. »Ich weiß, daß ich euch verlassen könnte«, sagte sie leise. »Nachdem der Morkoth gefangen ist, habe ich meine Pflicht erfüllt. Aber…« Sie hielt inne und sah zum wolkenlosen Himmel hinauf. »Ich muß wissen, wie die ganze Sache ausgeht, Maquesta. Ich bin jetzt so weit mit euch gereist, und ich möchte diese Fahrt bis zum Ende durchstehen. Außerdem kannst du es dir nicht leisten, eine oder zwei Stunden zu verlieren.« »Und was willst du nach dieser Reise machen?« »Die Perechon ist ein feines Schiff. Ich habe gesehen, daß du dich als Kapitän ausgezeichnet machst, und du hast ei-
ne fähige Mannschaft. Aber wenn du weiter in Gewässern wie diesen unterwegs bist, wirst du jemanden brauchen, der ein wenig Magie beherrscht.« Sie zwinkerte Maque zu. »Vielleicht bleibe ich bei euch. Jedenfalls eine Zeitlang.« »Ich denke, das würde der Mannschaft gefallen«, erwiderte Maque, die noch nicht sicher war, ob ihr selbst die Anwesenheit der Meerelfe an Bord gefallen würde. »Ich sollte dem Morkothen jetzt ein paar Fische fangen«, schloß Tailonna. »Meine Leute sagen, er frißt nur lebende Tiere, und ich vermute, daß du den Morkothen in gesundem Zustand bei Lord Attat abliefern willst. Wenn du also gestattest…« Die Meerelf in zeigte über die Reling. Maquesta nickte. Sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, daß Tailonna um Erlaubnis fragte, bevor sie etwas tat. Dann drehte Maque sich um und ging auf die Backbordseite des Schiffes. Hinter sich hörte sie ein Aufplatschen – das Zeichen, daß die Meerelfe über Bord gesprungen war. Maquesta hoffte, Tailonna würde reichlich Fische fangen können. Dann hätten sie und die Mannschaft auch etwas Frisches zum Abendessen. Maque kam an Kof vorbei, der seine Zeit am Ruder offenbar genoß. Sie fragte sich, worüber er nachdachte. Sie waren auf dem Weg zurück nach Lacynos, wo er wieder Lord Attats Eigentum sein würde. Maquesta würde später noch mit ihm darüber sprechen, denn sie hatte sich überlegt, ob sie ihn nicht gegen Bezahlung von Attat auf Dauer »ausleihen« könnte. Sie winkte ihm zu, und Minotaurus nickte seinerseits. Ihr Bein hatte sich erholt – dank des magischen Balsams der Meerelfe und Lendles Kräutern –, aber es war noch ein wenig steif. Sie schwor sich, an diesem Tag soviel wie mög-
lich zu laufen, damit es wieder beweglich wurde – eine Anweisung des Gnomen. Einen Augenblick dachte sie daran, unter Deck zu gehen und Fritzen zu suchen. Sie fühlte sich wohl in seiner Gesellschaft, und sie hätte gern noch einmal die Geschichte von der Gefangennahme des Morkothen und den gewundenen Tunneln in seinem Bau gehört. Aber dann änderte sie ihre Meinung. Der Halboger war mit mehreren anderen Mannschaftsmitgliedern in einer Kabine untergebracht und ruhte sich aus, hoffentlich schlief er. Sie würden die Wache übernehmen, wenn die Nacht hereinbrach. Da der Käfig sie mehr bremste, als Maque erwartet hatte, mußte die Perechon unablässig weiterfahren, ganz gleich, wie gefährlich eine nächtliche Reise auf dem Blutmeer war. Sie würden nicht mehr haltmachen, und Ilyatha würde die Flöte des Tanzenden Windes jeden Abend so lange spielen müssen, wie die Magie vorhielt. Maque entdeckte Lendle, der beim Morkothenkäfig über die Reling gebeugt war, und beschloß, ein paar Minuten mit ihm zu plaudern. Sie wollte sich bei dem Gnomen dafür bedanken, daß er ihr Bein versorgt hatte. Sie hatte ihm bisher noch nicht gedankt – sie war ganz mit dem Schiff und mit der Sorge um den Morkothen beschäftigt gewesen. Sie hatte den Einsatz des Gnomen für selbstverständlich gehalten. Es wurde Zeit, daß sie ihre Einstellung änderte. »DubistjedenfallsdashäßlichsteWesendasichjegesehenhabe«, erzählte Lendle dem Morkothen. Der Gnom lehnte sich so weit über die Reling, wie es seine kleine Statur erlaubte, betrachtete den Morkothen und sprach laut mit ihm, um Wind und Wellen zu übertönen. Obwohl das Wesen unter Wasser blieb, lag sein Kopf dicht unter der Oberfläche, und er beobachtete den Gnomen seinerseits interes-
siert. Lendle sah zu, wie er den Schnabel öffnete und schloß und wie die rotgepunkteten Augen sich verengten. Der Gnom versuchte sogar, den Morkothen zu imitieren, dann gab er es auf und drohte ihm etwas kindlich mit den Fingern. »Seiliebernettzumir«, sprudelte Lendle hervor. »IchhabedichmitmeinenKräuternamLebenerhalten.« »Langsamer, bitte.« Maque trat an seine Seite und strich ihm liebevoll über den Scheitel. »Ich kann dich kaum verstehen, und ich bezweifle, daß der Morkoth ein Wort begriffen hat.« »Meinst du?« »Ja, meine ich.« »Hmm.« Lendle rieb sich die Spitze seiner breiten Nase und lächelte. Für Maque bemühte er sich, langsamer zu sprechen. »Ich habe sowieso nicht wirklich mit ihm geredet. Er ist häßlich, was?« »Ja.« »Er sieht aus, als hätte man einen Haufen Lebewesen zusammengesetzt. Ein Teil Oktopus. Ein Teil Barrakuda. Ein kleines bißchen Tintenfisch dazu. Vielleicht auch eine Seeschlange oder ein Aal. Wäre ein guter Köder für einen richtig großen Fisch. Zu schade, daß wir ihn hergeben müssen.« »Tja.« »Weißt du, Maquesta Kar-Thon, ich könnte einen Apparat bauen, der auch solche Tentakel hätte, nur daß die starr wären statt biegsam. Und ich würde sie viel breiter und flacher machen, natürlich, wie Ruder. Aus Stahl oder Hartholz – das wäre das Beste. Man will schließlich nicht, daß sie sich so winden wie seine Tentakel. Außerdem müßten sie widerstandsfähig und wasserfest sein. Ich würde sie
erst auf dem Boden ausbreiten – wie die Beine eines Seesterns oder wie die Speichen an einem Rad –, und dann befestige ich sie an einem Faß. Schau, so wie der gerade Teil seines Körpers da. Wenn ich das Ding dann an einer Winde festmachen könnte, an etwas, womit man die Tentakel dreht, dann wette ich, ich könnte den Apparat hinter der Perechon festmachen. Ich würde ihn aufziehen, wie man ein Kinderspielzeug aufzieht, und das würde uns helfen, durch das Wasser zu schießen. Wir würden viel schneller werden.« Maquesta schenkte Lendle ein schwaches Lächeln. »Klingt ganz gut«, sagte sie. »Aber wie wäre es, wenn du nach unten gehst und an deinem Rudermotor weiterbastelst? Den gibt es immerhin schon; er muß nur richtig funktionieren. Wir kommen wegen des Morkothenkäfigs nicht schnell genug vorwärts. Und wir können das Biest nicht anders transportieren, denn er würde vermutlich sterben, wenn wir ihn aus dem Wasser holen.« »Mein Rudermotor!« Der Gnom strahlte. »Damit würdest du auf jeden Fall schneller vorwärtskommen, Maquesta Kar-Thon, wenn ich den zum Laufen brächte!« »Genau.« »Ich mache mich gleich an die Arbeit.« »Wunderbare Idee.« »Aber vorher koche ich schon mal das Essen.« Der Gnom löste sich von der Reling und lief auf die Treppe zu. Dann blieb er stehen, kratzte sich am Kopf und drehte sich zu Maquesta um. »Was soll ich denn dem Morkothen geben? Glaubst du, er würde meine Braune-Bohnen-Suppe essen? Wie wäre es mit Maismehltörtchen? Oder Dörrfisch?« »Mach dir um den Morkothen keine Gedanken, Lendle.
Tailonna fängt gerade Fische für ihn. Sie behauptet, Morkoths würden nur Lebendiges fressen. Und ich würde an deiner Stelle nicht zu dicht an diesen Käfig gehen. Die Tentakel sind lang, und ich möchte der Mannschaft nicht erzählen müssen, daß der Koch gefressen wurde.« Der Gnom machte auf seinen winzigen Füßen kehrt und ging wieder in Richtung Treppe. »Ach, Lendle?« Wieder blieb er stehen und blickte über die Schulter. »Danke, daß du mein Bein versorgt hast. Und meinen Arm. Und daß du dich um die anderen Verletzten in der Mannschaft kümmerst. Ohne dich würden wir alle in der Krankenstube liegen.« Der Gnom lächelte und winkte ab. »Das war doch nicht der Rede wert«, murmelte er. »Außerdem haben Tailonna und Ilyatha mir geholfen.« Dann flitzte er unter Deck. Maquesta starrte den Morkothen im Wasser an. Er schwamm ruhig in seinem Käfig herum und warf ihr gelegentlich einen Blick zu. Sie griff über die Seite, um den Käfig von oben zu berühren, und sah, wie die roten Flecken in den Augen des Morkothen viel größer und heller wurden. Auch seine Tentakel bewegten sich schneller. Als sie die Hand zurückzog, schien das Ungeheuer wieder gefügiger zu werden. Maque bezweifelte, daß er seinen Widerstand aufgegeben hatte. Vermutlich spielte er auf Zeit und lauerte darauf, daß jemand sich zu dicht heranlehnte. Sie beschloß, die Mannschaft anzuweisen, einen weiten Bogen um das Wesen zu machen. Sie konnte es sich nicht leisten, noch mehr Matrosen zu verlieren – oder gar den Morkothen.Das tägliche Füttern des Morkothen übernahm Tailonna. Sie fing Fische, brachte sie zum Käfig und steckte sie durch die
Stäbe hindurch, wobei sie darauf achtete, ihre Finger nicht in die Nähe des Morkothenschnabels zu bringen. Das Monster schien kräftiger zu werden, und obwohl die Gitterstäbe des Käfigs stabil waren – und der Riegel stark und außer Reichweite –, beunruhigte seine Gegenwart die Elfe. »Glaubst du, wir werden damit Probleme haben, den Morkothen zu Lord Attat zu bringen?« fragte sie, als Maquesta und Fritzen einmal gekommen waren, um ihr beim Füttern zuzusehen. »Ganz und gar nicht«, erwiderte Maquesta. »Ich habe vor, den Minotaurenlord dazu zu bringen, daß er ihn selbst abholt.« Die drei lachten minutenlang, bevor Maquesta zum Achterdeck weiterspazierte. Fritzen folgte ihr. »Wenn wir nach Lacynos kommen…«, setzte der Halboger an. »Falls wir es rechtzeitig schaffen«, unterbrach ihn Maque. »Der Käfig behindert uns, trotz der Magie der Flöte. Das macht mir Sorgen; das Gewicht des Käfigs ist etwas, womit ich nicht gerechnet hatte.« »Wir schaffen es«, sagte er. »Und wenn wir es geschafft haben, was wirst du dann tun, Maquesta?« Sie sah ihn fragend an. »Du hast jetzt Geschmack daran gefunden, selbst Kapitän zu sein. Ich kann mir nicht vorstellen, daß du wieder etwas anderes tust.« Maque mußte zugeben, daß der Respekt, den die Mannschaft der Perechon ihr entgegenbrachte, sie befriedigte. Es gab keine Andeutungen mehr, daß sie nur das Schiffsmaskottchen wäre oder ein Mädchen, das man mit Samthandschuhen anfassen mußte, weil es die Tochter des Kapitäns
war. Sie war Kapitän der Perechon – jedenfalls noch eine Woche lang, und jedermann an Bord erkannte das an. Ihr war schon der Gedanke gekommen, wie es sein würde, wenn Melas seinen Posten wieder übernahm und sie wieder Befehle befolgen mußte. Aber solche Gedanken hatte sie immer als unverzeihlich illoyal verdrängt. »Mein Vater ist der Kapitän der Perechon. So einfach ist das.« »Kof hat Taschen voller Edelsteine mitgenommen. Genug, damit du dir ein eigenes Schiff kaufen kannst«, gab Fritzen zu bedenken. »Und noch eine Menge dazu.« Maque senkte den Kopf. »Ich weiß. Ich habe schon darüber nachgedacht. Ich will Attat einen Teil der Juwelen anbieten und versuchen, Kof zu kaufen. Er hat seine Freiheit verdient. Lord Attat wird ihn vermutlich nicht ziehen lassen wollen – einfach um uns zu ärgern. Aber wenn Attat darauf eingeht, sind immer noch genug Edelsteine übrig, um dieser Mannschaft eine Jahresheuer zu bezahlen und einen voll getakelten Zweimaster zu kaufen. Ich hasse den Gedanken, meinen Vater zu verlassen. Aber irgendwie würde es mir schon gefallen, das Kommando auf einem eigenen Schiff zu führen.« Fritzen grinste. »Das glaube ich.« »Ich müßte eine Mannschaft haben«, träumte Maquesta. »Na, für den Anfang hättest du Kof, wenn Attat sich in Versuchung führen läßt. Und du hast mich.« Maquesta sah zu ihm auf, und Fritzen zog sie an sich. Er küßte sie, und sie schmiegte sich in seine Arme. Dann trat sie verwirrt einen Schritt zurück, beunruhigt, obwohl jemand zugesehen hatte. »Ich – ich muß das Ruder übernehmen«, stammelte sie. »Das ist meine Schicht.« »Ich löse dich in ein paar Stunden ab«, bot er grinsend
an. Maquesta nickte und wich errötend zurück. Als sie sich umdrehte und die Treppe hochsprang, umspielte ein breites Lächeln ihre Lippen.Im Laderaum machte sich Lendle daran, seine Rudermaschine zu verbessern. Ilyatha half ihm, denn er liebte die Dunkelheit im Bauch des Schiffes und fühlte sich wohl in der Gesellschaft des Gnomen. Der Schattenmensch verriet dem Gnomen, daß die Arbeit ihn von den Gedanken an seine Tochter Sando ablenkte. Dennoch blickte Ilyatha von Zeit zu Zeit wie in Trance in die Ferne. Lendle vermutete, daß er dann versuchte, telepathisch mit seiner Tochter Kontakt aufzunehmen. Schließlich bestätigte der Schattenmensch diese Vermutung. »Wir sind immer noch zu weit weg, als daß ich sie geistig erreichen könnte, um ihr zu versichern, daß wir kommen«, sagte Ilyatha voller Kummer. Lendle versuchte ihn zu trösten. »Wir sind noch viele Tage von Lacynos entfernt«, sagte er. »Es geht ihr bestimmt gut. Du wirst schon sehen.« Der Schattenmensch machte hier und da ein paar Änderungen an der seltsamen Rudermaschine des Gnomen, dann sah er Lendle an. »Aber was geschieht, mein Freund, wenn wir zu spät kommen? Kof sagt, wir brauchen noch acht Tage bis Lacynos. Unser Ultimatum von dreißig Tagen läuft in sieben Tagen ab.« Der Gnom runzelte die Stirn und holte eine Kiste mit Stäben, Zylindern, Klammern, Bolzen, Winden und Flaschenzügen hervor. »Wir schaffen es«, sagte er langsam und traurig. »Maquesta Kar-Thon wird sich etwas ausdenken. Sie wird nicht zulassen, daß wir zu spät kom-
men.«Belwar überwachte die Reise der Perechon weiterhin. Hin und wieder stieß der wunderbare Ki-Rin aus den Wolken herab, kreiste über dem Schiff und grüßte die Seeleute. Ein paarmal brachte er ihnen Brotlaibe, Käseräder, Säcke voller Orangen und andere gute Dinge zu essen. Oft hatte das Essen auch die Form mythischer Vögel oder von Fischen mit langen Flossen, da der Ki-Rin es aus seiner Phantasie erschuf. Bei seinen Besuchen unterhielt sich das große Wesen meistens mit der Meerelfe, doch mitunter durfte auch Maquesta seinen weisen Worten lauschen. »Ich spüre, wie das Böse wächst«, erzählte ihr der Ki-Rin bei einer dieser besonderen Gelegenheiten. Bald würde die Sonne untergehen, und Beiwar hatte deutlich klargemacht, daß er auf diesem Besuch ausschließlich mit Maquesta sprechen wollte. »Das Fangen des Morkothen hat die Woge des Bösen, das im Blutmeer erstarkt, nur an einer kleinen Stelle aufgehalten.« Maquesta sah in Belwars schillernde Augen. »Von diesem Bösen hast du schon bei unserer allerersten Begegnung gesprochen. Wie kannst du das spüren? Und kannst du feststellen, was dieses Böse ist?« »Es liegt in meiner Natur, daß ich die guten und die schlechten Strömungen in dieser Welt fühlen kann. Außerdem kann ich Gut und Böse auf Ebenen spüren, die Seite an Seite mit Krynn, eurer Welt, existieren.« Der Ki-Rin schüttelte traurig den Kopf. Seine goldene Mähne glitzerte und blendete Maquesta. »In jeder Welt gibt es Böses, aber wenn sein Puls stärker wird, wenn diejenigen mit üblen Absichten erstarken, werde ich unruhig. Ich bin jetzt unruhig, und deshalb weiß ich, daß das Böse faßbarer wird.«
Der Ki-Rin schwebte über dem Deck und schaute in den Himmel. »Ich habe wieder auf einer anderen Ebene zu tun, doch ich nehme an, daß es mich höchstens ein paar Tage beschäftigen wird. Ich werde zu euch zurückkehren, wenn meine Aufgabe erfüllt ist.« Damit stieg er hoch und verwandelte sich in eine durchsichtige, glitzernde Wolke, die im Wind zerstob.Als die Perechon sich dem Teil des Blutmeers näherte, der als Blutsenke bekannt war, weil dort so viele versunkene Schiffe lagen, stand Maquesta mit dem Fernrohr am Auge am Spill. Allmählich machte sie sich ernste Sorgen, ob sie rechtzeitig in Lacynos ankommen würden. Die Flöte hatte ihnen viel geholfen, aber bis zu der Hafenstadt der Minotauren waren es noch vier Tage, und ihr Ultimatum lief in drei Tagen ab. »Das Wasser ist irgendwie so merkwürdig.« Maquesta setzte das Fernrohr ab, als sie Tailonna über die Reling klettern sah. Maque hatte sich daran gewöhnt, daß die Meerelfe häufig Ausflüge ins Wasser machte, um Fische für den Morkothen zu fangen oder einfach zu schwimmen. »Merkwürdig, wieso?« fragte Maque und ging auf die Meerelfe zu. »Es gibt keine Fische. Jedenfalls keine so kleinen, wie ich sie sonst für den Morkothen fange.« Tailonna schüttelte sich, diesmal aber so weit von Maquesta entfernt, daß sie sie nicht durchnäßte. »Ich habe ein paar Barrakudas gesehen und einen großen Bullenhai. Das war alles. Mag sein, daß diese Fische die kleineren verjagt haben, aber ich bin weit genug geschwommen, daß ich wenigstens eine Schule Königsengel oder ein paar Drückerfische in Bodennähe hätte sehen müssen.«
Maquesta blickte zum Achterdeck. Dort unterhielt sich Hvel mit Kof, der am Ruder stand. Maque rieb sich das Kinn. »Vielleicht ist die Gegenwart des Morkothen ihnen unheimlich; mich jedenfalls beunruhigt sie. Bisher hat das den Fischen nichts ausgemacht, aber vielleicht jetzt, weil er stärker wird…« Sie machte ein paar Schritte zur Mitte des Decks und winkte Hvel zu. »Sieh mal nach dem Morkothen!« Hvel nickte, und Maquesta nahm ihr Gespräch mit Tailonna wieder auf. Obwohl Maquesta die Meerelfe immer noch hochnäsig und irgendwie irritierend fand, wurde sie langsam warm mit ihr, hatte inzwischen sogar einen gewissen Respekt vor der schönen Tailonna entwickelt. Die Meerelfe hatte ihr von vielen Spalten im Blutmeer erzählt, Dinge, die bestimmt nicht einmal Maques Vater wußte. Tailonna hatte ihr beschrieben, wo die Korallenstädte der Meermenschen waren, und wo andere Meeresrassen sich häufig aufhielten, und sie hatte Maque erklärt, daß die Meermenschen oft überaus bereitwillig mit den Landbewohnern Handel trieben, daß sie aber gerissene Händler wären. »Weit im Westen liegt die Grube von Istar«, begann Tailonna, Maque mit Geschichten einer anderen Besonderheit des Meeresbodens zu beschenken. »Dort ist das Wasser über dreihundert Fuß tief, und auf halbem Wege nach unten gibt es einen Strudel über einer alten, runenbedeckten Säule.« Maque lauschte der Erzählung, warf aber gelegentlich einen Blick über die Schulter zu Hvel. Er schien sich an der Kette des Käfigs zu schaffen zu machen. Vielleicht zieht er Tang davon ab, dachte Maquesta. Hvel arbeitete weiter am Käfig, dann begann er plötzlich, an der Vorrichtung her-
umzunesteln, mit der dieser am Deck verzurrt war. »Nein!« schrie Maque, als ihr endlich klarwurde, was er vorhatte. Maquesta ließ die Meerelfe stehen und hastete nach Backbord. Ihre Sandalen klapperten laut auf dem polierten Holz. Die barfüßige Meerelfe folgte ihr auf den Fersen. »Laß das, Hvel! Du machst doch den Käfig los!« Hvel schaute auf und lächelte seinem Kapitän entgegen. Während er Maque zunickte, löste er die letzte Klemme, die den Morkothenkäfig mit dem Heck des Schiffes verband. »Was hast du getan!« schrie Maque auf, als sie neben ihm zum Stehen kam. Hvel sah sie verständnislos an. In seinen Augen glänzten rote Punkte. »Der Morkoth mußte frei sein«, sagte er mit dumpfer, monotoner Stimme. »Aber ich konnte den Käfig nicht aufmachen, obwohl ich mir solche Mühe gegeben habe. Deshalb habe ich den Käfig abgeklemmt. Ich dachte, er bricht vielleicht auf, wenn er auf dem Meeresgrund aufkommt. Mein Freund, der Morkoth, mußte frei sein. Das hat er zu mir gesagt.« »Alle Segel weg!« brüllte Maquesta aus Leibeskräften. Augenblicklich eilten die Matrosen vom Deck in die Takelage, um die Segel einzuholen. »Anker setzen!« fuhr Maque mit ihren Befehlen fort. »Sofort!« »Aye, Kapitän!« Das war Vartan vom Spill her, wo er sich fieberhaft bemühte, den Anker abzufieren. Mit donnernden Schritten rannten Kof und Fritzen zu dem Teil des Hecks, wo man den Käfig befestigt hatte. Hvel grinste sie an und erklärte ihnen mit stolzgeschwellter
Brust, wie erfolgreich er seinen neuen Freund befreit hätte. Wütend schüttelte Maquesta ihn durch. Die roten Punkte verblaßten, und Hvel blickte benommen auf das Wasser. »Was ist denn mit dem Käfig passiert?« fragte er verwirrt. »Wieso haben wir gestoppt? Warum seht ihr mich alle so an?« Maque ignorierte ihn. Eilig wandte sie sich an die Elfe: »Tailonna, wie lange würde es dauern, bis du noch ein paar Tränke des Wasseratmens gemischt hast?« »Nicht lange«, sagte die Meerelfe. »Aber ich habe wahrscheinlich nur noch genug Zutaten für ein einziges Fläschchen.« Sie eilte in die Waffenkammer, wo sie den Rest ihrer Kräuter aufbewahrte. »Mach schnell!« rief Maque ihr nach. »Ich springe dem Käfig hinterher.« Dann wandte sie sich an Koraf: »Bring Hvel ins Unterdeck. Ich will, daß Lendle nach ihm sieht.« Der Minotaurus schleppte den verwirrten Hvel davon, so daß nur noch Maque und Fritzen an Deck standen. »Laß mich dem Käfig nachspringen«, bot der Halboger an. »Ich habe mich dem Morkothen schon einmal gestellt – in seinem Element. Ich weiß, was ich zu erwarten habe. Außerdem bin ich kräftiger als du, und der Käfig ist schwer.« Maquesta schüttelte entschlossen den Kopf. »Das ist meine Aufgabe. Ich muß das machen.« Sie ließ die Schultern sinken. »Wir waren schon so nah dran. Wie konnte das nur passieren?« Fritzen stand hinter ihr und legte ihr die Arme um die Taille. »Wir sind noch nicht geschlagen, aber diesmal mußt du nachgeben. Du kannst diesen Käfig nicht allein hochziehen.« »Du auch nicht«, schimpfte sie, fuhr herum und befreite
sich aus seinen Armen. »Nicht einmal du bist dafür stark genug. Aber ich könnte deine Hilfe hier oben gebrauchen. Lendle hat eine Sammlung von Flaschenzügen unten im Laderaum. Ich habe sie neben seiner Rudermaschine herumliegen sehen. Wenn ihr die verbindet und auf dem Achterdeck verankert, könnte ich ein paar Taue um den Käfig schlingen, und wir ziehen ihn wieder hoch.« Fritzen strich sich nachdenklich über das Kinn. »Und wenn der Käfig aufgebrochen ist, Maquesta? Wenn der Morkoth frei ist?« »Dann sind wir geschlagen«, sagte sie leise. »Mein Vater wird sterben, und Ilyatha wird seine Tochter nie wiedersehen. Aber ich lasse für diese Sache keinen Seemann mehr sterben.« »DasMonsteristfrei?« Lendle eilte hinter ihnen herbei und steckte den Kopf durch die Reling. »AlleerzählendaßderMorkothentkommenist.« »Vorläufig entkommen«, bestätigte Tailonna, die sich mit einem Fläschchen in der Hand zu ihnen gesellte. »Genug für einen Schluck, aber keinen großen. Ich vermute, der reicht höchstens für ein paar Stunden.« Maque nahm das Fläschchen in ihre zitternde Hand. »Dann muß es eben so gehen.« Sie kippte die Mischung in einem Zug hinunter, vergewisserte sich, daß Kurzschwert und Dolch fest an ihrem Gürtel hingen, dann schwang sie sich über die Reling und stürzte sich in das unruhige Wasser. Tailonna sah Fritzen und Lendle an. »Ich begleite sie«, sagte sie. Dann war auch die Meerelfe verschwunden. Der Gnom spähte durch die Stützen der Reling, während die beiden abtauchten. »IchhabeeinschlechtesGefühlbeiderSa-
che«, schnatterte er. Der Halboger tippte ihm auf die Schulter, und der Gnom wäre vor Schreck beinahe auch noch über Bord gegangen. »Die Flaschenzüge.«Das Wasser wurde kälter, je tiefer Maquesta tauchte. Ihre Tunika klebte an ihrer Haut und erschwerte alle Bewegungen. Nach kurzer Zeit zog sie die Sandalen aus und ließ sie davontreiben. Sie merkte, wie das Wasser durch ihre Nase tief in ihre Lunge strömte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, doch der Trank wirkte, und Maque staunte darüber, wie sie Wasser statt Luft atmen konnte. Dunkle Umrisse ragten unter ihr empor. Felsformationen, ein kleines Korallenriff, das Wrack eines alten Schiffes. Sie blinzelte und schlug noch fester mit den Beinen, was sie weiter in die Tiefe führte. Ein weiteres Wrack kam in Sicht, dann noch eines. Maque knirschte mit den Zähnen. Der Morkoth hatte für seine Flucht das Zentrum der Blutsenke gewählt. In diesen Gewässern sollten alle möglichen Meereslebewesen hausen, die von den leeren Hüllen der einst stolzen Karavellen, Schoner, Kriegsschiffe und Karacken angezogen wurden. Taucher, die in der Senke die Schätze aus den Wracks bergen wollten, waren selten erfolgreich. Die meisten fielen Bullenhaien zum Opfer. Haie waren jetzt Maquestas kleinste Sorge. Es war sogar so, daß sie überhaupt keine Fische sah. Halt! Da war doch ein Bullenhai, und zwar ein gewaltiger. Träge schwamm er über dem größten Wrack, wahrscheinlich auf der Suche nach Nahrung. Das erklärt das Fehlen der kleinen Fische, dachte Maque. Bullenhaie griffen alles an, was kleiner war als sie selbst. Maquesta versuchte, dem großen Hai nicht zu nahe zu
kommen, während sie ein Stück über dem Meeresboden schwamm und auf der Suche nach dem Morkothenkäfig durch die Düsternis spähte. Doch alles, was sie sah, waren der Schiffsfriedhof und ein paar Felsen, die spiralförmig nach oben zeigten. Nachdem sie abgeschätzt hatte, wo der Käfig vor dem Halt der Perechon gelandet sein müßte, schwamm Maque weiter. Sie umrundete die Schiffe, weil sie vermutete, daß der Käfig noch ganz war. Wenn der Morkoth frei war, konnte er sich in jedem dieser verrottenden Wracks verbergen – oder er konnte bereits davongeschwommen sein, so schnell und so weit seine Tentakel seinen häßlichen Körper tragen wollten. Als ihre Halbelfenaugen sich besser an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte Maquesta Einzelheiten erkennen. Die meisten Schiffe lagen schon Jahrzehnte auf Grund. Die Entenmuscheln und Algen, die an ihren Seiten wuchsen, saßen dicht beieinander und verdeckten den Namen auf ihrem Rumpf. Gebrochene Masten ragten in alle Richtungen, als wäre der Meeresboden ein riesiges Nadelkissen. An einigen Masten flatterten zerfallende Segelfetzen, die aussahen wie Gespenster, welche durch das Wasser spukten. Goldener Segelfisch, Beute des Blutmeers, Felicias Traum und Roter Roland waren einige der Namen, die Maque auf den jüngeren Wracks lesen konnte. Vielleicht Opfer der Blutmeerteufelchen, überlegte sie, während ihr Weg sie um den Schiffsfriedhof herum zu einem abfallenden Korallenriff dahinter führte. Wenigstens hatte der Morkoth Hvel nicht bei Nacht hypnotisiert, wenn die Teufelchen unterwegs waren. Etwas streifte Maquestas Beine, und sie zog den Dolch,
wirbelte im Wasser herum und hielt gerade noch rechtzeitig inne. Hinter ihr schwamm Tailonna. Die Meerelfe zeigte auf das Korallenriff. Maquesta folgte mit den Augen dem Finger der Elfe und entdeckte den Umriß des Käfigs genau am Rand einer Erhöhung. Sie kniff die Augen zusammen. Der Morkoth war noch drin! Doch er bekam bereits Hilfe für seine Flucht. Nein! Maquesta schrie innerlich auf, während sie wie wild paddelte, um näher an das Korallenriff zu gelangen. Ein Tintenfisch, den der Morkoth offenbar hypnotisiert hatte, versuchte die Gitterstäbe mit seinen Tentakeln auseinanderzubiegen. Der Morkoth unterstützte ihn mit der Kraft seiner eigenen Fangarme. Maquesta riß die Augen auf, als sie sah, wie die Stangen sich allmählich bogen. Die Meerelfe schoß an ihr vorbei, stürzte sich auf den Tintenfisch, stieß das knollenartige Tier vom Käfig und spießte es auf einen scharfen Korallenast. Auch Maquesta schwamm schneller, obwohl ihre Lunge vor Anstrengung schmerzte. Sie klemmte sich den Dolch zwischen die Zähne und tauchte zum Käfig hinab. Als sie daneben auf dem Riff landete, schnitten ihr die scharfen Kanten der Korallen in die Füße. Ohne auf den Schmerz zu achten, zog Maquesta ihr Kurzschwert, trat vor und stieß die Klinge zwischen den Stäben hindurch, um den Morkothen zurückzutreiben. Sie untersuchte die nach außen gewölbten Stangen. Nicht genug Platz, als daß der Morkoth hindurchschlüpfen könnte, befand sie, aber mehr als genug Platz, um einen Tentakel herauszustrecken. Bei einem Blick über die Schulter sah sie, wie Tailonna den aufgespießten Tintenfisch erledigte. Ein zweiter bewegte sich langsam auf Maquesta und den Käfig zu, und
die Meerelfe scheuchte ihn weg, wie man einen lästigen Hund verjagt. Maquesta sah den Morkothen an, dann ließ sie ihren Blick nach oben schweifen, wo sie vage den Rumpf der Perechon ausmachen konnte. Der Bullenhai schwamm jetzt neugierig unter dem Schiff hindurch. Du kommst mit uns nach Lacynos, dachte sie, während sie finster den gefangenen Morkothen betrachtete. Und keine Tricks mehr. Die kannst du dir von mir aus für Lord Attat aufheben. Aber vorher, sagte sie sich auf einmal, müssen wir dich aus diesem Käfig holen, damit du frei herumschwimmen kannst. Es gibt keinen Grund, dich in diesem schrecklichen Käfig festzuhalten. Maquestas Augen waren rotgefleckt, ein Spiegelbild der Augen des Morkothen. Das Monster schwamm in seinem engen Käfig herum und malte mit seinen Tentakeln Luftblasenmuster ins dunkle Wasser. Maque betrachtete die Blasen eine Weile, dann stieß sie sich vom Korallenriff ab und schwamm zur Oberseite des Käfigs. Dort sind die Stangen wahrscheinlich am schlechtesten verschweißt, überlegte sie, während sie ihre Beine zum besseren Abstützen an den Stäben einhakte und mit dem Dolch am Metall zu schaben begann. Die Spitze ihrer Waffe brach ab, doch der Rest der Klinge hielt stand. Schneller, drängte der Morkoth. Schneller, antwortete sie innerlich. Maquesta war es fast gelungen, eine der Schweißstellen aufzubrechen, als sie von zwei starken Armen rückwärts durch das Wasser geschleudert wurde. Tailonna hatte Maquesta vom Käfig weggerissen, schob sie nun auf das Korallenriff zu und stieß sie solange dagegen, bis das Wasser
aus Maques Lungen wich. Du verstehst das nicht, versuchten Maques Augen Tailonna zu vermitteln. Mein Freund, der Morkoth, muß frei sein. Tailonna packte Maquestas Kopf und sah ihr direkt in die Augen. »Hör mir zu«, sagte die Meerelfe. Im Wasser klangen ihre Worte verzerrt. »Das Monster hat dich hypnotisiert, genau wie Hvel. Und genau wie Ilyatha, als wir im Morkothenbau waren. Kämpfe dagegen an!« Maque blinzelte und versuchte, sich auf Tailonnas Worte zu konzentrieren, auf die glitzernden blaugrünen Elfenaugen vor ihr. Tailonna schüttelte sie grob. »Der Morkoth«, rief Maque schließlich aus. »Der Morkoth hat mich hypnotisiert!« Sie stieß sich vom Riff ab und schwamm auf den Käfig zu. Die roten Punkte in ihren Augen waren verschwunden. Sie schlug mit dem Knauf ihres Dolches auf die Oberseite des Käfigs, um den Morkothen auf sich aufmerksam zu machen. Dann bedachte sie ihn mit wütenden Blicken, stellte sich auf den Käfig und zeigte nach oben zur Perechon. Sie winkte Tailonna zu und deutete ihr, zum Schiff zu schwimmen. Die Meerelfe schüttelte heftig den Kopf. Vielleicht wußte sie nicht recht, ob Maquesta wieder ganz sie selbst war. Doch Maque zeigte wieder hoch und dann auf den Käfig. Tailonna verstand. Sie sollte zum Schiff schwimmen und ein Tau herunterholen. Die Meerelfe wartete einige Augenblicke, bis der Bullenhai weitergeschwommen war, dann stieß sie sich mit ihren kräftigen Beinen vom Meeresboden ab und hielt auf die Oberfläche zu. Maquesta sah die Elfe aufsteigen und beneidete sie um ihre Fähigkeit, so schnell und anmutig zu schwimmen.
Plötzlich fiel ein Schatten über Maques Sichtfeld. Sie blinzelte und schaute nach oben, denn sie fürchtete zunächst einen zweiten Bullenhai. Als sie die Augen zusammenkniff, erhaschte sie wieder eine Bewegung. Eine der Felsensäulen zwischen den versunkenen Schiffen erbebte, als würde sie gleich umkippen. Dann knickte die Säule in der Mitte ab und begann sich auf merkwürdige Art zu winden. Zuerst dachte Maquesta, sie wäre das Opfer einer optischen Täuschung, die von der Strömung verursacht wurde. Doch als sie weiter zusah, entdeckte sie, daß sich mittlerweile auch die anderen Säulen bewegten. Sie warf dem Morkothen einen Blick zu. Der hielt still. Seine Tentakel rührten sich nicht, obwohl seine großen Augen böse zu Maquesta hochblickten. Keine Illusion des Morkothen, überlegte sie. Tailonna war jetzt zu weit weg, um noch zu sehen, was hier vorging. Maquesta konnte nur noch ein schwaches Glitzern erkennen, als die Meerelfe an Bord der Perechon kletterte. Die schwankenden Felsen beunruhigten sie, deshalb stieß sich Maquesta vom Käfig ab. Sie versuchte, knapp über dem Meeresboden zu bleiben und einen besseren Blick auf die lebenden Säulen zu werfen. Als sie ein Stück aufstieg, stellte sie fest, daß die Felssäulen an einem größeren Felsen hingen, der in der Mitte des Schiffsfriedhofs lag. Maquesta erstarrte, als ihr klarwurde, daß sie kein Gestein vor sich hatte, sondern ein Lebewesen, einen wahren Leviathan, der sich vom Meeresgrund erhob. Zwei große Augen strahlten ihr aus dem unförmigen, felsähnlichen Körper entgegen, und Maque riß vor Schreck den Mund auf. Ein Riesenoktopus! Maques Gedanken überschlugen sich. Deshalb lagen hier so viele zerborstene Schiffe herum.
Das waren keine Opfer der Blutmeerteufel – es waren die Opfer dieses gräßlichen Ungeheuers! Und das war auch der Grund, weshalb es hier so wenig Fische gab. Der Bullenhai war neben diesem Ding unbedeutend. Als das Wesen sich rührte, fielen die Muscheln und Algen ab, die als Parasiten auf seinen Tentakeln gesessen hatten, und enthüllten eine glatte, schwarzgrüne Haut. Die Gestalt des Oktopus, sein taschenförmiger Körper, war größer als jedes der umliegenden Schiffswracks. Überdimensionale Augen blinzelten Maquesta von unten her an. Acht Tentakel, jedes länger als eine Riesenseeschlange, wanden sich und wirbelten dabei Sand auf. Die Unterseiten der Fangarme hatten eine viel hellere Farbe und wiesen Hunderte von kleinen Saugnäpfen auf. Als die Tentakel über den Meeresboden wischten, erhaschte Maque einen Blick auf den klaffenden Mund an der Unterseite des Tieres. Vor ihren Augen hellte sich die Farbe des Wesens auf, bis sie fast mit der des Sandes und der zerstörten Schiffe verschmolz. Das Wesen mußte wochenlang geschlafen haben, weil sich so viele Algen auf seiner Haut angesammelt hatten. Was hatte das Untier geweckt? Maquesta sah zu dem Morkothen hinunter und stellte fest, daß dessen Augen regelrecht glühten. Ein einzelnes Tentakel streckte sich wie ein lockender Finger dem Riesen entgegen. Maquesta schoß im Wasser nach oben und paddelte verzweifelt mit den Beinen. Sie mußte zur Perechon gelangen, mußte das Schiff von hier fortbringen. Der Fang des Morkothen hatte einfach zu viel gekostet. Sie durfte nicht die ganze Mannschaft in Gefahr bringen. Luftblasen stiegen unter ihr auf. Maque sah, wie das Licht über ihr heller wurde, ein Zeichen, daß sie sich der
Oberfläche näherte. Ilyatha! rief sie in Gedanken. Laß den Anker lichten! Laß… Aus den Augenwinkeln sah Maque, wie ein gigantisches Tentakel sich um die Ankerkette wickelte. Das große Ungeheuer begann daran zu ziehen, und Maquesta beobachtete erschüttert, wie die Perechon zur Antwort schaukelte. Sie änderte ihre Taktik und schob sich unter das Schiff. Ihre Lungen taten weh, doch sie stieß sich noch heftiger vorwärts. Sie war jetzt fast unter dem Schiffsrumpf, nur noch ein Stück von der Kette entfernt. Sie tastete an ihrem Gürtel nach ihrem Dolch, stellte aber fest, daß sie ihn irgendwo auf dem Meeresgrund verloren haben mußte. Doch ihr Kurzschwert war noch da. Sie zog es, schwamm damit weiter und erreichte schließlich die Kette. Hör mir zu, Ilyatha! konzentrierte sie sich wieder auf den Schattenmenschen, in der Hoffnung, er würde ihre Gedanken empfangen. Du mußt die Perechon von hier fortbringen. Nachdem sie ihre Beine so um die Ankerkette geschlungen hatte, daß sie mit dem Kopf nach unten hing, zum Oktopus hin, zog sich Maquesta näher an das Tentakel heran und schlug mit ihrem Schwert zu. Sie trennte die Spitze des Tentakels halb durch, dann zog sie die Waffe zurück, um erneut zuzuschlagen. Hier bin ich, Maquesta. Die Stimme in ihrem Kopf gehörte Ilyatha. Ein Riesenoktopus! schrie Maquesta zurück. Er hat die Ankerkette gepackt. Ich schneide ihn los. Holt den Anker hoch! Sag Kof, er soll die Perechon von hier wegbringen! Wir werfen dir ein Seil herunter, teilte Ilyatha ihr mit. Seine telepathische Stimme klang besorgt. Kümmert euch nicht um mich! protestierte Maquesta. Das
Schiff. Rettet das Schiff. Wieder schlug sie nach dem Tentakel. Diesmal schnitt sie das gummiartige Ding ganz durch. Eine Wolke dunkelrotes, fast schwarzes Blut strömte ins Wasser. Sie merkte, wie die Spannung der Kette nachließ. Bringt das Schiff in Bewegung! Das ist ein Befehl. Tailonna kann euch um die Blutsenke herumlotsen! Maque wurde klar, daß sie mit diesem Befehl das Todesurteil für ihren Vater gesprochen hatte. Ohne den Morkothen würde Melas kein Gegengift bekommen. Ilyathas Tochter würde nicht freigelassen werden. Doch wenn sie über der Blutsenke blieben, war das Leben der gesamten Besatzung der Perechon in höchster Gefahr. Das konnte sie nicht riskieren. Maquesta hatte die Kette in diesem Moment losgelassen, als diese nach oben zu gleiten begann. Sie beschloß, für die Perechon Zeit zu schinden. Deshalb schwamm sie auf ein anderes Tentakel zu, stieß ihr Schwert nach vorn und stach in die gummiartige Masse. Vorsichtig hielt sie sich von den unzähligen Saugnäpfen fern, blieb außer Reichweite der Tentakel. Immer wieder stach sie zu. Plötzlich wurde das Wasser um sie herum schwarz wie der Himmel um Mitternacht. Maque drehte den Kopf nach allen Seiten, doch um sie herum war alles dunkel. Nicht einmal ihre empfindlichen Augen konnten die Finsternis durchdringen. Dann begannen ihre Augen zu brennen, und ihr wurde klar, daß der Oktopus eine tintenartige Flüssigkeit abgesondert hatte, die das Wasser schwarz färbte. Maque verlor die Orientierung. Sie wußte nicht mehr, wo oben und unten war, wo der Meeresboden lag, wo der Oktopus lauern mochte. Deshalb setzte sie sich einfach in Bewegung – in die Richtung, wo sie die Oberfläche vermutete. Ihr Schwert hielt sie fest umklammert und schwenkte es
vor ihrem Körper hin und her, um etwaige Tentakel abzuwehren. Als ein scharfer Schmerz durch ihr Bein schoß, merkte sie, daß sich dennoch ein Tentakel um ihren Knöchel geschlungen hatte. Vielleicht konnte das Ungeheuter trotz seiner dunklen Wolke sehen. Der Oktopus zog seinen Griff fester zu, und Maque biß die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerzen laut aufzuschreien. Sie wand sich im schwarzen Wasser und schlug weiterhin verzweifelt mit dem Schwert um sich. Wieder und wieder schwenkte sie ihr Schwert durch das Wasser, bis sie schließlich auf Widerstand stieß. Dort stach sie zu und fühlte, wie ein Schwall Luftblasen gegen ihren Körper sprudelte. Sie mußte das Ungeheuer verletzt haben. Als sie wieder zustach, zuckte sie zusammen, denn ein Tentakel hatte sich um ihren Schwertarm gewunden. Doch sie war fest entschlossen, den Schwertknauf nicht loszulassen. Während das andere Tentakel noch immer ihr Bein festhielt, begannen die zwei Fangarme, sich voneinander weg zu bewegen – der Oktopus wollte Maque in Stücke reißen! Maquesta kämpfte gegen den Schmerz an und tastete mit ihrer freien Hand herum, bis sie ihre gefangene Hand und den Schwertknauf fand, den sie immer noch fest umklammerte. Nachdem sie das Schwert mit der freien Hand gepackt hatte, säbelte sie damit an dem Tentakel herum und versuchte, ihren gefangenen Arm zu befreien. Das Tentakel ließ nicht locker, kugelte Maques Schulter fast aus, doch sie hielt durch. Die Schmerzen waren so stark, daß sie aufschrie, aber das Wasser schluckte jeden Laut. Sie schnitt schneller, und endlich wurde sie belohnt: Das Tentakel gab ihren Arm frei. Als sie sich bückte, ertastete sie den Fang-
arm, der sich um ihren Knöchel geschlungen hatte. Wieder begann sie zu schneiden. Dieses Tentakel ließ schnell von ihr ab, um nicht durchtrennt zu werden, und sie paddelte verzweifelt, um schnell von dem Wesen wegzukommen. Sie merkte, wie sie höherstieg, und schlug fester mit den Beinen. Maquesta wußte, wenn dieser Riesenoktopus seinen kleineren Verwandten ähnelte, würden seine gummiartigen Gliedmaßen wieder nachwachsen. Aber das würde einige Wochen dauern, und bis dahin wären sie und die Perechon längst verschwunden. Ihr Herz hämmerte so wild, daß das Blut schmerzhaft in ihren Ohren rauschte. Atemlos und schwindlig vor Angst schwamm sie weiter, bis sie schließlich mit dem Kopf die Wasseroberfläche durchbrach und Luft holen konnte. Sie prustete und spie das Salzwasser aus, das in ihrer Lunge gewesen war. Dann blinzelte sie, weil das Licht der Morgensonne sie mitten im Gesicht traf, drehte sich im Wasser um und hielt Ausschau nach der Perechon. Der Anker baumelte vom Schiff herunter, das etwas mehr als hundert Schritte von ihr entfernt lag. Die Segel wurden bis zur Mastspitze hochgezogen und blähten sich auf. Nachdem sie ihr Schwert eingesteckt hatte, begann Maque, auf das Schiff zuzuschwimmen. Es hatte keinen Sinn, gegen den Riesenoktopus zu kämpfen, wenn sie ihn in dem tintenschwarzen Wasser nicht sehen konnte. »Da ist Maque!« Das war Fritzens Stimme. »Wartet auf sie!« Wartet nicht auf mich! schimpfte Maque in Gedanken, denn sie hoffte, daß Ilyatha immer noch mit ihr in Verbindung stand. Wenn ich das Schiff aus eigener Kraft erreiche, gut. Aber verschwindet von hier, bevor… Ihr letzter Gedanke ver-
hallte, als sie sah, wie ein Riesententakel sich aus dem Wasser erhob und sich um den Bug der Perechon legte. Maquesta geriet in Panik. Sie schwamm schneller, holte in tiefen Zügen Luft und sah zu, wie die Matrosen auf den riesigen Fangarm starrten, der das Schiff zum Kentern bringen wollte. Als sie näher kam, begann das Wasser vor ihr zu brodeln wie die Suppe in Lendles Kessel. Ein riesiger runder Kopf brach durch die Wellen. Der Leviathan war aufgestiegen und machte sich daran, seiner Trophäensammlung auf dem Meeresboden ein weiteres Schiff hinzuzufügen. »Du wirst die Perechon nicht bekommen!« schäumte Maquesta. »Mein Schiff kriegst du nicht!« Das große Ungeheuer schien Maque gar nicht zu bemerken, sosehr war es auf das Schiff versessen. Wieder schwenkte es zwei Tentakel durch die Luft und senkte sie auf das Deck herab, eines zwischen Besanmast und Großmast, das andere über das Achterdeck. Der Riesenoktopus begann das Schiff wild hin und her zu schaukeln, und Maque sah, wie Vartan und Hvel ins Wasser geworfen wurden. Koraf gab den Versuch auf, die Perechon lenken zu wollen. Er zog sein Schwert, griff nach einer Harpune und stürzte sich auf das Tentakel, das zwischen den Masten lag. Der gummiartige Arm hatte auf beiden Seiten des Decks die Reling zerbrochen und angefangen, sich wie eine Schlange um den Rumpf des Schiffes zu schlingen. Der Minotaurus verzog das Gesicht, als er hörte, wie das Holz stöhnend aufbegehrte. Mit heftigen Gesten brachte er die meisten Matrosen dazu, sich ihm anzuschließen. Sie versammelten sich auf beiden Seiten des Fangarmes und be-
gannen, auf das Tentakel des Leviathans einzuhacken oder zumindest die dicke Haut zu verletzen, wenn sie schon das ganze Ding nicht losreißen konnten. Fritzen hatte das Tentakel im hinteren Teil des Schiffes gepackt und versuchte, es abzuziehen. Die Adern an der Seite seines Halses traten vor Anstrengung hervor. Den linken Arm um das Tentakel gewickelt, das nach Backbord zeigte, griff er mit der Rechten an seinen Gürtel, und seine Finger schlossen sich um den Griff seines Dolches. Nachdem er die Waffe gezogen hatte, hob er sie bis über den Kopf und ließ sie dann plötzlich hinabsausen, so daß sie tief in das Fleisch des Tieres eindrang. Dunkelrotes Blut sprudelte hervor und machte das Deck rutschig. Der Halboger hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Auf einmal ließ das Tentakel das Deck los, wo das Holz bereits gesplittert war, riß ein klaffendes Loch in die Kombüse und hob sich dann hoch in die Luft. Wie eine Schlange stieß es hinunter und wickelte sich um Fritzen. Es hob ihn vom Deck hoch und schüttelte ihn wie ein Kleinkind seine Rassel. Der Halboger konzentrierte sich darauf, nicht den Dolch fallen zu lassen. Während das Ungeheuer ihn durch die Luft schwenkte, stach er wiederholt auf das Tentakel ein. Ein lauter Schrei entrang sich dem großen Maul des Ungeheuers. Fritzen und die anderen hatten es empfindlich verletzt! Erbost schleuderte der Riesenoktopus Fritzen gegen den Besanmast. Der Halboger flog durch die Luft, bis er mit dem Rücken gegen den Mast prallte. Atemlos stürzte er auf das Deck, wo es Koraf und den anderen gerade gelungen war, das Tentakel zu durchtrennen, welches sich um die Mitte des Schiffes geschlungen hatte.
Der Halboger stöhnte und schüttelte den Kopf. Einen Augenblick kam es ihm so vor, als stünden dort zwei Minotauren, als sähe er alles doppelt. Er schüttelte sich wieder, und langsam bekam er einen klaren Kopf. Taumelnd ließ er sich auf das Tentakel fallen und begann, den abgetrennten Teil ins Wasser zu schieben. Der verbliebene Stumpf peitschte wild hin und her. Koraf befahl den Seeleuten, zurückzubleiben, damit das Ding sie nicht traf. Da traf der zuckende Stumpf den Besanmast und ließ das Holz splittern. Der ganze Mast zitterte einen Augenblick, dann brach die obere Hälfte ab und krachte auf das Deck, wo sie zwei flüchtende Matrosen unter sich begrub und die übrigen mit dem heruntergerauschten Segel bedeckte. Tailonna und Ilyatha kämpften gegen ein Tentakel am Bug des Schiffes. Die Meerelfe summte konzentriert vor sich hin, während der Schattenmann mit seinem Stab mit Widerhaken auf die gummiartige Masse einschlug. Violette Pfeile schossen aus Tailonnas Fingerspitzen, trafen das Tentakel und ließen es vor Schmerz zurückzucken. Als der Fangarm sich schließlich zurückzog, traf er Ilyatha und warf ihn ins Wasser. Maquesta sah den Schattenmenschen fallen. Er war in seinen weiten Mantel verheddert und schlug mit den Armen um sich, konnte sich jedoch nicht über Wasser halten. Maque schwamm auf ihn zu, wobei sie aus dem Augenwinkel bemerkte, daß Hvel und Vartan einen Teil der Reling ergriffen hatten, der im Wasser trieb. Keuchend erreichte Maquesta schließlich den Schattenmenschen und begann, ihm den nassen Mantel auszuziehen. »Ich weiß, daß die Sonne dir Schmerzen bereitet«, keuchte Maquesta. »Aber mit all diesen Kleidern am Leib wirst
du ertrinken.« Deshalb ließ sie Mantel und Kapuze davontreiben, packte Ilyatha unter den Achseln und schwamm mit ihm auf Hvel und Vartan zu. Die Schreie der Mannschaft an Deck und das durchdringende Kreischen des Oktopus’ waren ohrenbetäubend. »Maque!« rief Vartan. »Wir dachten, du wärst tot.« Maquesta schob Hvel den Schattenmenschen in die Arme. »Halt ihn fest«, schnaufte sie. »Ich kümmere mich um den Tintenfisch. Wenn wir dieses Biest nicht töten können, werden wir alle sterben.« Sie tauchte wieder unter, atmete das Wasser in tiefen Zügen ein und war dankbar, daß Tailonnas Trank noch wirkte. Maquesta schwamm vom Schiff weg und unter den Oktopus. Von unten sah sie, daß zwei seiner Glieder durchgeschnitten waren. Aus den ausgefransten Rändern drang dunkles Blut. Der Mund des Wesens stand offen, und seine lange, spitze Zunge, die von zwei Reihen zackiger Zähne gesäumt wurde, stieß immer wieder vor und zurück. Als Maque mit erhobenem Kurzschwert auf seine Unterseite zuschwamm, führte eines der unverletzten Tentakel gerade einen zappelnden Seemann an den Mund des Ungeheuers. Maque schlug heftiger mit den Beinen, um dem Matrosen zu Hilfe zu eilen, aber der Oktopus stopfte den unglückseligen Seemann in sich hinein und schnitt ihn mit seiner Zunge entzwei, bevor Maque auch nur erkennen konnte, wer es war. Maquesta schloß einen kurzen Moment die Augen, weil sie das grausige Ende des Mannes nicht mitansehen wollte. Als sie sie langsam wieder öffnete, sah sie, wie der Oktopus seinen Schnabel auf- und zumachte, um sein Mahl zu zerkauen. Sie stieß sich vorwärts, schlüpfte zwischen zwei
Tentakeln hindurch und stach von unten auf den Leib des Untiers ein. Wieder kreischte der Oktopus, aber diesmal war der Schrei lauter als zuvor. Das Ungeheuer löste seine Tentakel von der Perechon und begann, im Wasser um sich zu schlagen, immer auf der Suche nach seinem Angreifer. Maquesta bemühte sich, nicht von den Tentakeln erwischt zu werden und unter dem Riesenoktopus zu bleiben, wo dessen Augen sie nicht sehen konnten. Dann stieß sie wieder mit dem Schwert zu. Fast augenblicklich war sie von der schwarzen Tinte umgeben. Unerschrocken zog sie ihre Klinge zurück und stach noch einmal blind zu.An Deck ließen Fritzen und Koraf eine Strickleiter für Vartan und Ilyatha hinunter. »Bitte macht schnell!« rief Vartan. »Das Biest hat Hvel erwischt. Hat ihn runtergezogen. Wir sind die nächsten!« Tailonna sprang ins Wasser und half Ilyatha auf die Leiter. Der Schattenmann hatte die Augen geschlossen und schlug sich die Arme vor das Gesicht, um die Sonnenstrahlen abzuhalten. Vartan hechtete auf die Leiter, so daß er höher als Ilyatha war, kletterte mehrere Sprossen hoch und streckte dann einen Arm nach unten, um Tailonna zu bedeuten, daß sie ihm den Schattenmann hochreichen sollte. Nachdem Tailonna sicher war, daß Ilyatha es an Bord geschafft hatte, tauchte sie unter, um Maquesta zu suchen, die irgendwo in der finsteren Wolke stecken mußte. Sie murmelte ein paar Worte, worauf eine Kugel aus leuchtend blauem Licht auf ihrer Handfläche erschien und den Tintennebel durchbrach. Daraufhin entdeckte die Meerelfe Maque unter dem Körper des Riesenoktopus. Maquesta zitterte, und Tailonna bemerkte, daß der Leviathan seine zahnbesetzte Zunge um Maques linkes Bein geschlungen
hatte. Die Meerelfe keuchte auf, denn ihr wurde klar, daß der Oktopus sein Nervengift ins Wasser abgegeben haben mußte, eine seiner letzten Waffen. Maquesta muß das Tier schwer verletzt haben, überlegte Tailonna, während sie auf das Maul des Oktopus zuschwamm und hoffte, sie würde es noch rechtzeitig schaffen.Maque fühlte, wie ihre Finger taub wurden. Sie mußte das Heft ihres Kurzschwerts mit beiden Händen festhalten, damit sie es nicht fallen ließ. Heiße und kalte Schauer rasten durch ihren Körper, und sie hatte das Gefühl, als würde ihr Bein an der Stelle absterben, wo die Zunge es gepackt hielt. Sie biß sich auf die Unterlippe, weil sie hoffte, daß der Schmerz ihr helfen würde, sich zu konzentrieren. Dann riß sie sich zusammen, stach mit dem Schwert zu und durchbohrte dem Oktopus die Zunge. Das Ungeheuer ließ sie los. Seine Zunge schlug wild hin und her, denn Maques Schwert steckte immer noch darin. Jetzt war Maquesta waffenlos. Sie sah sich um und entdeckte Tailonna, die auf sie zueilte. Die Meerelfe hatte einen Dolch in ihrem Gürtel stecken, und als Maquesta mühsam in ihre Richtung schwamm, zeigte sie auf die Waffe. Tailonna hatte Maque nach wenigen Zügen erreicht und erkannte an dem glasigen Ausdruck in den Augen des Kapitäns, daß das Nervengift sich bereits in seinem Körper verteilt hatte. Die Meerelfe schüttelte den Kopf, zeigte vom Oktopus weg und versuchte Maquesta in Sicherheit zu bringen. Doch Maque war entschlossen, die Sache auszufechten. Mit tauben Fingern griff sie nach dem Dolch und zog Tailonna die Waffe aus dem Gürtel. Auch die andere Hand legte Maque um den kleinen Griff, denn sie wollte
das Messer nicht fallen lassen. Tailonnas magische Lichtquelle half ihr, den Riesenoktopus zu sehen, der sich jetzt so gedreht hatte, daß er die zwei winzigen Gestalten unter sich beobachten konnte. Die Meerelfe begann wieder zu murmeln und ließ violette Pfeile aus ihren Fingerspitzen schießen, die den Oktopus neben dem Maul trafen. Er riß seine lidlosen Augen zornerfüllt weit auf, während er mit seinen Tentakeln wedelte, um näher an diese kleinen Wesen zu gelangen, die ihm so viele Schmerzen zufügten. Gleichzeitig drängte Maquesta, wenn auch ungeschickt, so doch entschlossen vorwärts, wich mit viel Glück einem Tentakel aus und schwamm zum Kopf des Seeungeheuers hoch. Dessen gewaltige Augen sahen sie bösartig an, und Maque starrte zurück, verzog grimmig das Gesicht und stieß dem Ungeheuer ihren Dolch in das eine Auge. Im nächsten Augenblick verwandelte sich das Meer um die Perechon in einen schäumenden, brodelnden See. Der Riesenoktopus schlug um sich und stieß einen so schrillen Schrei aus, daß die Leute an Bord des Schiffes sich die Ohren zuhielten. Das Schiff neigte sich, und viele Seeleute stürzten auf die Knie. »An die Arbeit!« brüllte Kof. Wegen des schrecklichen Lärms des Leviathans hörten nur die Seeleute den Befehl, die in seiner Nähe waren. Maquesta und Tailonna wurden plötzlich durch das Wasser nach hinten geschleudert. Der Riesenoktopus hatte einen riesigen Wasserstrahl ausgestoßen. Der plötzliche Schub brachte das Ungeheuer von der Perechon weg, und der Rückstoß warf Maque und die Meerelfe hart gegen den Rumpf des Schiffes.
»Haltet euch an der Strickleiter fest!« rief Fritzen ihnen zu. In Maquestas Finger kehrte allmählich das Gefühl zurück. Mit letzter Kraft zog sie sich an der Leiter hoch und fiel vornüber auf das Deck. Tailonna folgte ihr eilig. Als Maque den Kopf hob, sah sie das ganze Ausmaß der Verwüstung um sich herum. Der Besanmast lag zerbrochen an Deck und schaute noch schlimmer aus als der Mast, den Beiwar auf der Schlächter zerstört hatte. Die Reling rund um das Schiff existierte nur noch in Bruchstücken, und wo die Tentakel des Ungeheuers die Planken aufgerissen hatten, übersäten Löcher das Deck. Rund um Maque arbeitete die Mannschaft fieberhaft daran, das Chaos aufzuräumen. Fritzen half ihr auf die Beine. Seine Augen hielten ihre fest, und diesmal wich sie seinem Blick nicht aus. »Ich dachte schon, ich würde dich verlieren«, sagte er. »Ich habe meinen Vater verloren«, erwiderte sie schlicht. »Jetzt schafft die Perechon Lord Attats Ultimatum nicht mehr. Der Morkoth liegt auf dem Meeresgrund. Und wir können nur mit Hilfe der Riemen vorwärtskommen. Wir werden Wochen bis Lacynos brauchen.« Fritzen küßte sie auf die Stirn. »Wir haben auch Hvel verloren«, sagte er schließlich. »Der Oktopus hat ihn nach unten gezogen. Außerdem wurden zwei Matrosen verletzt, als der Besanmast fiel, aber es ist nichts Ernstes. Ilyatha wird es auch schaffen, falls dich das tröstet. Er liegt in der Waffenkammer unter einer Decke. Die Sonne hat ihm die Haut verbrannt und ihn vorläufig blind gemacht.« Tränen quollen aus Maquestas Augen. Der Preis war wirklich sehr hoch geworden.Fast eine Stunde lang hörte
man an Deck nur die Geräusche der Mannschaft, welche die Maststücke aufräumte und das Segel zusammenlegte. Maquesta saß auf dem erhöhten Deck und blickte über das Wasser. Vartan tauchte hinter ihr auf. »Auf deine Bitte hin haben wir Rudermannschaften aufgestellt. Sie fangen…« Er brach ab. Ein disharmonisches Durcheinander aus Stöhnen, Pfeifen, Klicken und Surren drang aus dem Unterdeck herauf. Dann hörte man ein lautes prustendes Rülpsen, und eine dicke, schwarze Rauchwolke drang durch jedes Loch an Deck. Maquesta sprang auf die Beine und hielt sich die Ohren zu. Die Luft war von einem unglaublichen Klappern, Mahlen, Knirschen und Hämmern erfüllt. Wieder strömte Rauch heraus, und plötzlich machte die Perechon einen Satz nach vorn. Maque kletterte vom Achterdeck und eilte durch den Rauch. Sie stellte sich an die Reling und blickte nach unten. Die Riemen bewegten sich. Alle zugleich. »MeineMaschinefunktioniert!« schrie Lendle. Der Gnom kam aufs Deck gerannt. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Ein vielstimmiger triumphierender Jubelruf empfing den Gnomen, und Tränen der Rührung traten in Lendles Augen. Seine Kleider hingen ihm in Fetzen herab, und sein ganzer kleiner Körper war mit Brandmalen übersät. Die Spitzen seiner Stiefel waren weggebrannt, und seine rußbedeckten Zehen wackelten aufgeregt. Von seinem Bart war nicht mehr viel übrig, und seine früher weißen Haare waren jetzt so schwarz wie Maquestas. Auch sein Gesicht war rußgeschwärzt, doch auf jeder Wange sah man eine schmale helle Linie, die seine Tränen saubergewaschen hatten. »MaquestaKarThonmeineMaschinefunktioniert!«
Sie rannte zu dem Gnomen und hob ihn hoch, um ihn fest zu drücken, wobei sie sich selbst mit Ruß und Schmutz beschmierte. Er verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen, und nun redete er langsamer, um ihr einen Gefallen zu tun. »Jetzt schaffen wir es rechtzeitig nach Lacynos. Mit dem einen Großsegel und meiner Rudermaschine kommen wir schneller vorwärts als je zuvor.« »Aber der Morkoth!« rief Maquesta. »Tailonna! Glaubst du, der Oktopus ist noch da unten?« Die Meerelfe eilte an Maques Seite und tätschelte Lendle liebevoll den Kopf. »Ich glaube, dieser Oktopus ist längst aus diesen Gewässern verschwunden. Laß mich ein Tau über die Seite ziehen und nachsehen, ob der Morkoth noch in seinem Käfig steckt. Wenn ja, können wir ihn hochhieven. Wenn nicht, gehen wir wieder auf die Jagd.« Maque schüttelte den Kopf. »Diese Fahrt hat uns schon zuviel gekostet. Ich habe nicht vor, noch mehr Leben für Lord Attats Monsterjagd aufs Spiel zu setzen.« Die Elfe nickte, denn sie verstand, was Maquesta auf der Seele lag. Sie lief zum Heck des Schiffes und sprang über Bord. Beinahe lautlos tauchte sie ins Wasser. »Lendle, kannst du die Riemen anhalten – ohne die Maschine abzustellen? Vielleicht einfach nur aus dem Wasser heben, damit wir nicht weiterfahren?« Maquesta hoffte, daß sie mit ihrer Anweisung keinen neuen Fehler beging. »Ich fürchte, wenn du sie abstellst, bekommst du sie nicht wieder in Gang.« »Oh, von jetzt an funktioniert sie, Maquesta Kar-Thon.« Lendle strahlte vor Stolz. »Als du uns angewiesen hast, einen Flaschenzug auf dem Achterdeck anzubringen, um den
Morkothenkäfig hochzuziehen, mußte ich das größte Rad aus meinem Rudermotor ausbauen. Anscheinend hatte ich ein paar Teile zuviel in der Maschine, denn als ich sie wieder zugemacht und eingeschaltet habe, ist sie sofort angesprungen. Natürlich ist da noch die Sache mit dem Rauch.« »Ihr habt also eine Winde aufgebaut?« »Aber ja, das haben Vartan und ich gemacht, während du… unter Wasser beschäftigt warst.« »Und es sieht so aus, als würden wir diesen Flaschenzug auch benötigen!« rief Fritzen vom Achterdeck herüber. »Ich brauche mal Hilfe an dieser Kurbel. Tailonna sagt, der Morkoth ist immer noch gefangen!«Einige lange Minuten später tauchte Tailonnas Kopf aus dem Wasser auf. »Ich habe das Tau festgehakt. Und es sieht so aus, als wäre der Morkoth ausgesprochen unglücklich da unten.« Als sie an Deck kletterte, erklärte die Meerelfe, daß sie eine ganze Armee von Krabben habe verjagen müssen, die sich kräftig abgemüht haben, den Morkothen zu befreien. Die Stahlstangen seien härter als ihre Scheren, und deshalb habe dieses Erlebnis die kleinen Krustentiere nur verärgert, fügte sie hinzu. Drei Gruppen arbeiteten abwechselnd daran, den Käfig mit Hilfe der Kurbel hochzuhieven. Als die Oberseite die Wasseroberfläche durchbrach, befahl Maquesta den Männern, wegzusehen. Sie eilte in den Laderaum und holte eines der alten Segel, die sie für den Fall aufbewahrt hatte, daß eines ihrer neuen geflickt werden mußte. Tailonna zog den Stoff über den Käfig, damit der Morkoth nicht zwischen den Stäben hindurchsehen und jemanden hypnotisieren konnte. Sie ließ nur ein kleines Loch offen, durch das sie Fische stecken konnten, um den Mor-
kothen zu füttern. Und über diesem Loch wurde eine Stoffklappe befestigt, damit das Wesen kein Stückchen Himmel zu sehen bekam, wenn es nicht gerade fraß. »Erinnert mich an einen orangefarbenen Papageien, den meine Mutter mal hatte«, überlegte Fritzen. »Der kleine Kerl war so laut, daß sie den Käfig jede Nacht völlig abdecken mußte. Sie nahm dazu immer ein weißes Tuch, und als Kind hatte ich Alpträume von dem Gespenst in der Küche.« »Ich würde sagen, der Morkoth ist in jedem Fall unangenehmer als ein Vogel«, gab Maque zu bedenken. »Ich wäre mir nicht so sicher, daß du meine Mutter davon überzeugen könntest.« »Wenigstens hast du noch eine Mutter.« »Ja, aber sie ist weit weg«, antwortete Fritzen. Nachdem der Käfig am Heck des Schiffes festgemacht worden war, nickte Maquesta Lendle zu, seine Rudermaschine wieder auf volle Kraft zu bringen. Die ganze Mannschaft hatte sich an Deck versammelt, um die Erfindung des Gnomen in Aktion zu bewundern. Ängstlich starrten die Matrosen über die Seiten auf die Riemen, die dicht über dem Wasser schwebten. Schließlich begannen sich die Riemen zu bewegen. Die Riemenpforten knarrten. Erst ging es langsam, dann wurden die Schläge schneller und stärker. Die Mannschaft brach in spontanen Beifall aus, und Lendles Erröten war selbst durch den Ruß auf seinem Gesicht zu sehen.Während des größten Teils des folgenden Tages kümmerte sich Lendle um die Maschine, als wäre sie ein neugeborenes Kind. Er kam nur aus dem Laderaum, um hin und wieder etwas zu essen, und zwang Vartan, als Koch einzuspringen. Die Perechon war so schnell wie nie
zuvor – und machte auch mehr Lärm, als Maquesta jemals für möglich gehalten hätte. Sie nahm sich vor, Lendle nach ihrer Ankunft in Lacynos zu fragen, ob er die Rudermaschine nicht auch leise laufen lassen konnte. Im Moment wollte sie ihm diese Frage nicht stellen, denn es bestand die Gefahr, daß er etwas veränderte, woraufhin das Ding nicht mehr funktionieren würde. Maquesta und Fritzen standen am Bug, lauschten den seltsamen Geräuschen der Maschine und sahen zu, wie die Sonne auf den Horizont zuwanderte. Es war der Abend des zweiten Tages, seitdem sie die Rudermaschine in Gebrauch hatten, und in weniger als zwölf Stunden würde die Perechon sich dem Eingang der Hörnerbucht nähern – den kostbaren Gefangenen im Schlepptau, und über einen halben Tag vor Ablauf des Ultimatums von Lord Attat.
Kapitel 5 Entscheidungen
Klappernd, pfeifend und schwarze Rauchwolken ausstoßend, lief die Perechon am nächsten Morgen kurz nach Tagesanbruch in die Bucht von Lacynos ein. Damit war Lord Attats Ultimatum eingehalten. Die Seefahrer auf der Werft bestaunten das angeschlagene Schiff, das da anmutig, aber lautstark heransegelte. Maquesta wies Lendle an, die Rudermaschine zu drosseln. In einem Bereich des Hafens, wo ein Minotaurenmatrose die Innereien eines großen Tieres über die Seite eines Schoners warf, stank das Wasser abscheulich. Maque wendete sich naserümpfend ab und war dankbar, daß Melas und die Perechon in ein paar Stunden wieder aus Lacynos verschwunden sein würden – für immer, sofern es nach ihr ging. Sie bezweifelte, daß der Minotaurenlord Streit über die Perechon anfangen würde, wenn er den schlimmen Zustand des Schiffes erkannte, dem zudem der Besanmast fehlte. Fritzen fragte, wie es mit Reparaturen im Hafen aussah, doch Maque machte nur ein finsteres Gesicht. »Sobald wir meinen Vater haben, und Ilyatha seine Tochter, verschwinden wir. Ein paar Tagesreisen weiter finden wir bestimmt einen anderen Hafen. Vielleicht bietet der weniger gute Möglichkeiten, aber ich bin sicher, daß die Gastfreundschaft dort größer sein wird«, erklärte ihm Maquesta. Bas-Ohn Koraf stand am Bug. Maquesta konnte sehen, daß der Minotaurus zutiefst niedergeschlagen war. Noch
vor Sonnenuntergang würde ihm die Freiheit wieder genommen werden, obwohl Maquesta die Hoffnung hegte, daß Attat ihr gestatten würde, den Minotaurus gegen einige der Morkothenjuwelen freizukaufen. Dann war da noch die Frage, ob ihr Vater sich an einen Minotaurus in seiner Mannschaft gewöhnen konnte. Nach allem, was Attat ihm angetan hatte, konnte das schwierig werden, doch Maquesta hatte sich in der letzten Zeit so oft auf Koraf verlassen können, daß sie auf ihren Ersten Maat nicht mehr verzichten wollte. Sobald die Perechon sicher vor Anker lag, schickte Maque Vartan und Fritzen im Beiboot zur Küste – mit einer Botschaft für Lord Attat. Er sollte zur Werft kommen und Melas und Sando mitbringen. Ferner stand in der Botschaft, daß Maque sich an Deck der Perechon mit ihm treffen wollte, um ihm dann den Morkothen zu übergeben, womit ihre Verpflichtung gegenüber dem Minotaurenlord erfüllt sein würde. Sie sah die Sache als Gefangenenaustausch an. Maque hatte keine Ahnung, wie der Minotaurenlord den Morkothen vom Hafen in seinen Palast transportieren wollte, da sie davon ausging, daß das Wesen sterben würde, sobald man es aus dem Salzwasser holte. Aber das war nicht mehr Maquestas Problem. Sie hatte ihren Teil der Abmachung eingehalten, und was Attat mit dem Ungeheuer vorhatte, war ihr gleichgültig. Sie winkte, als Fritzen und Vartan das Boot zu den Anlegeplätzen lenkten, dann begann sie, auf und ab zu laufen und sehnsüchtig die Rückkehr ihres Vaters zu erwarten. Sie hatte ihm so viel zu erzählen. Erzählen! Natürlich! Sie rannte unter Deck, wo Ilyatha sich vor der Sonne versteckte. »Ilyatha«, sprudelte Maquesta hervor, »konntest du mit
deiner Tochter Kontakt aufnehmen? Geht es Sando gut?« Die Andeutung eines Lächelns huschte über das Gesicht des Schattenmenschen. »Meine Tochter ist am Leben, doch sie ist immer noch in diesem verhaßten Steingefängnis im Garten. Die Sonnenstrahlen kriechen zur Zeit auf sie zu. Aber ich habe ihr versichert, daß sie nicht mehr lange warten muß. Wir werden bald zusammen sein – und frei.« »Und dann wird die Perechon euch so nah wie möglich zu eurer Heimat bringen«, bot Maque ihm an. Maquesta freute sich für Ilyatha, aber sie sehnte sich auch nach einer beruhigenden Nachricht über Melas. »Kannst du auch den Geist meines Vaters berühren? Kannst du ihm sagen, daß er bald wieder an Bord der Perechon sein wird?« Ilyatha schüttelte langsam den Kopf. »Ich kann mit Sando nur deshalb aus dieser Entfernung in Verbindung treten, weil auch sie Telepathin ist. Und während unserer Reise konnte ich mit dem Ki-Rin Kontakt aufnehmen, weil er einen starken, magischen Geist hat – der viel höher entwickelt ist als mein eigener. Meine Fähigkeiten, jemanden zu erreichen, der nicht so begabt ist, sind begrenzt.« »Aber du wußtest doch, daß wir aus Lord Attats Gefängnis flohen«, setzte Maque an. »Du konntest…« »Attats Kerker lag am Rande meiner Reichweite, weiter konnte mein Geist nicht in seinen Palast eindringen. Attat hat mich so plaziert, daß ich überwachen konnte, was unten geschah.« Maquestas Schultern sackten herab, aber Ilyatha tröstete sie mit der Bemerkung, daß die Perechon es immerhin vor Ablauf des Ultimatums von Lord Attat geschafft hatte, eine Leistung, auf die sie und Melas stolz sein sollten. Sie würden nicht mehr lange zu warten haben.
Maque und der Schattenmensch unterhielten sich noch eine Weile darüber, wohin Ilyatha und Sando fahren würden, wo die Perechon in den nächsten Monaten hinsegeln sollte, und ob Maquesta versuchen würde, ein eigenes Schiff zu kaufen. Sie überlegten, wo der Ki-Rin sein mochte, denn sie waren davon ausgegangen, daß er sie in den Hafen begleiten würde. Aber Ilyatha sagte, sein Geist könne den von Beiwar nicht berühren – der Ki-Rin mußte auf einer anderen Ebene verweilen. Als Maque merkte, daß mehrere Stunden vergangen waren, stieg sie zum Deck hinauf. Dem Sonnenstand nach war es bereits Nachmittag – zu diesem Zeitpunkt hatte sie Vartan und Fritzen längst zurückerwartet. Wo waren sie? War etwas schiefgegangen? Wollte Lord Attat Zeit schinden und sie absichtlich warten lassen? Damit sie sich aufregte und sorgte? Die Mannschaft wußte, daß sie nervös war. Maquesta legte es auch nicht darauf an, ihre Gefühle zu verbergen. Die Matrosen stromerten unruhig über das Deck, warteten und beobachteten ihren Kapitän. Tailonna kam ebenfalls herbei. Sie sah Maque schweigend an, dann gab sie sich einen Ruck. »Betrachte dies als Geschenk, Maquesta.« Sie zog eine Grimasse, rümpfte die Nase und schritt zum Bugspriet. Auf der Reling balancierend, blickte sie auf das stinkende Wasser hinunter. Mit einem Ausdruck des Abscheus im Gesicht hielt sie den Atem an, hechtete über die Seite des Schiffes und begann, rasch zum Kai zu schwimmen. Maque lief zum Bug, um ihr nachzusehen. Sie beobachtete, wie die Meerelfe um treibende Fässer, von Insekten wimmelnden Unrat und aufgedunsene Tierkadaver herumschwamm. Unter anderen Abfällen, die den Hafen ver-
unzierten, tauchte sie hindurch, denn das Wasser war im Umkreis von über fünfzig Armlängen vom Ufer verschmutzt. Als Tailonna schließlich auf den Kai kletterte, runzelte Maque die Stirn. Die vorher schöne, blaue Haut der Elfe war nun schmutzig braun, und an ihren Haaren und Kleidern hingen schmierige Moosklumpen. Vergeblich versuchte Tailonna, den Unrat abzuschütteln, und starrte wütend die Seefahrer am Kai an, die sich vor Lachen auf die Schenkel schlugen und mit den Fingern auf sie zeigten. Es sah so aus, als hätte Tailonna ihnen eine scharfe Erwiderung gegeben, denn einer der Seeleute sprang auf und rannte auf die Elfe zu. Tailonna trat einfach beiseite, so daß er vom Kai in das stinkende Wasser stürzte. Während seine Kameraden sich vor Lachen bogen, schlüpfte die Meerelfe in das Beiboot und ruderte es zur Perechon zurück. Tailonna winkte Maquesta zu, die Leiter herunterzulassen. »Ich fahre nach Lacynos, damit ich mich waschen und neue Kleider kaufen kann. Die wirst natürlich du bezahlen.« Die Meerelfe grinste. »In der Zwischenzeit kannst du Lord Attat besuchen.« Warte auf mich, Maquesta, meldete sich Ilyatha. Ich werde der Sonne trotzen, um meine Tochter zu sehen. Nein! protestierte Maquesta entschieden. Ich lasse nicht zu, daß Attat einen Grund findet, dich auf seine Seite zu zwingen, damit du ihm enthüllst, was ich denke oder vorhabe. Du bleibst hier. Ich bringe dir Sando her. Maquesta kletterte die Leiter hinunter, dicht gefolgt von Lendle. Noch ehe sie sich vom Schiff abstoßen konnten, beugte sich Koraf über die Seite und stieg ebenfalls die Leiter hinunter. »Ich komme mit«, sagte er schlicht. »Ich lasse euch nicht allein zu Lord Attat gehen. Ich kenne den Palast,
und ich kenne meinen Herrn. Der Gedanke, dorthin zurückzukehren, gefällt mir gar nicht. Aber ich habe keine Wahl.« Maquesta, die den Beutel an ihrer Seite betastete, dachte, daß es in der Tat besser wäre, Koraf dabeizuhaben. Sie hatte reichlich Edelsteine mitgenommen, für die sie ihm hoffentlich die Freiheit erkaufen konnte. Als der Minotaurus das Boot zurück zum Kai lenkte, bedankte sich Maque bei der Meerelfe und drückte ihr einen der Edelsteine in die Hand. »Dafür solltest du schöne, neue Kleider bekommen«, sagte Maquesta. »Und es soll dir helfen, den Hafengestank loszuwerden.« »Das Bad kommt jedenfalls zuerst«, sagte die Meerelfe naserümpfend. »Das Hafenwasser ist giftig. Hier gedeiht nichts als Schleim und Insekten und kleine, giftige Schlangen. Man sollte die Minotauren dafür hinrichten, daß sie das Wasser so verseuchen.«Einige Minuten später liefen Maquesta und Koraf durch den Hafen, während Lendle sich große Mühe gab, mit ihnen Schritt zu halten. Auf dem Weg zur Hauptstraße, die zu Lord Attats eindrucksvollem Herrenhaus führte, kamen die drei an mehreren großen Kais vorbei. »MaquestaKarThonbittelangsamer!« schimpfte der Gnom. Lendle war ganz außer Atem, denn für jeden von Maques und Korafs langen Schritten mußte er vier Schritte machen. Schnaufend hüpfte er neben ihnen her und schlug dabei mit den Armen, als könnte ihn die Bewegung schneller vorwärtsbringen. »Ich habe es eilig, Lendle«, fauchte sie zurück. »Ich bin beunruhigt.« Ihr Gesicht spiegelte ihre Sorge wider, aber
der Gnom achtete nicht darauf. »Bittelauflangsamer«, ächzte er. Plötzlich riß er die Augen auf, denn er hatte etwas entdeckt, was Maquesta und ihr Erster Maat nicht gesehen hatten. »HaltMaquestaKarThon!« Verwirrt blieb Maquesta ohne Vorwarnung stehen, und Lendle prallte von hinten gegen ihre Beine und warf sie beinahe um. »Seht nur!« rief er. »Sieh mal, da drüben, Maquesta!« Maque war aber zu besorgt, um sich ablenken zu lassen, und so mußte der Gnom an ihrer Hand zerren und immer wieder auf das zeigen, was er erblickt hatte. Endlich drehte Maquesta sich um, und sie erschauerte. Einige Schiffe von der Perechon entfernt, im Schatten einer großen Karavelle, lag die Schlächter. Vom Deck der Perechon aus hatte man das Schiff nicht erkennen können. Das bedeutete hoffentlich, daß die Mannschaft der Schlächter – oder das, was noch von ihr übrig war – auch Maquestas Schiff nicht sehen konnte. Die Schlächter sah fast so schlimm aus wie die Perechon. Maquesta beobachtete, wie ein paar Matrosen gerade den Großmast reparierten, den Beiwar ruiniert hatte. Eine zweite Gruppe schien das Loch im Deck in Ordnung zu bringen. Das Beiboot war auf dem Schiff festgezurrt, was vielleicht bedeutete, daß niemand an Land gegangen war. »Wir müssen uns beeilen«, sagte Maquesta zu dem Gnomen. »Wir müssen meinen Vater, Fritzen, Vartan und Sando befreien. Und wir müssen von hier verschwinden. Ich will keinen Ärger.« »Oh, ich würde sagen, Ärger hast du schon, Kapitän KarThon.« Maquesta und Koraf wirbelten herum. Ein grausiger An-
blick bot sich ihnen, denn ein ziemlich mitgenommener Mandrakor kam auf sie zu. Begleitet wurde er von einem Paar Wasseroger, die aussahen, als wären sie Zwillinge. Beide hatten einen zerzausten Haarschopf auf dem Kopf, der wie getrockneter Seetang aussah. Ihre Haut hatte einen blaugrünen Schimmer, und Schultern, Hals und teilweise auch die Arme waren mit Schuppen bedeckt. Jeder der beiden trug einen ledernen Brustpanzer, der ihre dicken Muskeln kaum verbergen konnte. Auch Mandrakor trug eine Rüstung aus schwarzem Leder, das mit Stahlstücken verstärkt war. Sein Gesicht zeigte frische Narben – die auffallendste Verletzung war ein langer roter Wulst, der oberhalb seines rechten Auges begann und sich über die ganze Wange zog. Als Maque genau hinsah, fiel ihr auf, daß das rechte Auge des Piraten sich nicht bewegte und daß die Pupille glasig war. Um Mandrakors Hals hing eine schwere goldene Kette, an der ein großer Anhänger in Form einer geschlossenen Faust baumelte. Maque vermutete, daß der Schmuck aus der Schatzkammer des Kaufmanns stammte. Als der Piratenkapitän näher kam, hielt er seinen rechten Arm sorgfältig unter seinem weitschwingenden, roten Umhang verborgen, und er hinkte deutlich. Maque befürchtete, daß er eine Waffe versteckte, deshalb sprang sie vor Lendle und legte die Hand an ihr Kurzschwert. Koraf knurrte tief in der Kehle. »Du willst hier mit mir kämpfen?« fragte Mandrakor, während er mit dem linken Arm einen Bogen beschrieb. Maque sah sich um. Einige Ladenbesitzer schauten heraus, mehrere Passanten waren stehengeblieben. »Nun, siehst du, da steht ein Stadtwächter! Ein seltener
Anblick in Lacynos, gewiß. Vielleicht sieht er gerade in die andere Richtung, hm, Maquesta? Vielleicht sieht er nicht, wie du mich durchbohrst? Oder vielleicht sieht er doch, wie du dein Schwert gegen einen ehrenvollen und angesehenen Mann wie mich ziehst, und wirft dich ins Gefängnis – für lange Zeit. Vielleicht endest du in Lord Attats Kerker. Wie ich höre, kauft er Gefangene und läßt sie in der Arena antreten. Ich frage mich, wie lange du dich dort halten würdest. Natürlich könntest du auch deinen Ersten Maat fragen. Wie ich höre, ist er ein Meister unter den Grubenkämpfern des Lords.« »Ich dachte, du wärst tot«, zischte Maquesta. »Oh, und damit hättest du fast richtig gelegen, meine Liebe«, erwiderte Mandrakor. »Bullenhaie.« Er schlug den Umhang zurück und enthüllte einen Stumpf, wo früher sein rechter Arm gewesen war. »Ohne meine treuen Ogerfreunde hätten die Haie mich ganz gefressen. So aber mußten die Biester sich mit ein paar meiner Matrosen begnügen – und mit meinem Schwertarm. Ich habe die Schlächter nur knapp erreicht, was ich nicht dir zu verdanken habe. Während der gesamten Rückreise brannte in mir ein Haß, wie ich ihn noch nie gefühlt habe. Was du mir angetan hast, ist viel schlimmer als das, was mir vor Jahren dein Vater angetan hat.« Der Pirat fauchte. Sein Atem hatte einen üblen, stechenden Biergeruch. »Wir sind seit Tagen dabei, die Schlächter zu reparieren, und bei jedem Sonnenaufgang habe ich darum gebetet, dich wiederzusehen. Heute endlich wurden meine Gebete erhört, als ich dein Schiff in den Hafen einlaufen sah. Wäre die Perechon in besserem Zustand als mein eigenes Schiff, so würde ich sie übernehmen und dir das überlassen, was von der Schlächter noch
übrig ist.« Mandrakor trat noch einen Schritt auf Maquesta zu, und sie machte Anstalten, ihr Schwert zu ziehen. Eine kleine Hand an ihrem Handgelenk hielt sie zurück. Lendle kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Dann nickte er zu der Stadtwache von Lacynos hin. Mandrakor ist es nicht wert, formte der Gnom lautlos mit den Lippen. »Du bist mir etwas schuldig, Kapitän Kar-Thon«, höhnte Mandrakor. »Du hast mich um meinen Schwertarm gebracht, um einige meiner besten Matrosen und um eine ganze Menge Geld. Wenn ich hätte verhindern können, daß du das Untier bekommst, das du für Lord Attat gefangen hast, hätte ich eine hübsche Summe kassiert. Also, meine liebe Maquesta, du wirst deine Schuld begleichen müssen. Verstanden? Vielleicht hole ich mir das, was mir zusteht, noch während ihr im Hafen liegt, sobald die paar Wachen hier in eine andere Richtung sehen. Oder ich hole es mir, wenn ihr wieder auf offener See seid. Aber eines ist sicher, Kapitän Kar-Thon, so sicher, wie die Sonne über dem Blutmeer aufgeht: Ich werde mir alles holen, was du mir schuldig bist.« Mit diesen Worten rauschten Mandrakor und seine Oger an Maquesta, Koraf und Lendle vorbei, und der Schweißgestank ihrer Körper erfüllte die Luft, so daß Maque davon fast übel wurde. Als sie sich umdrehte, um dem Piratenkapitän nachzusehen, rann Maquesta ein Schauer über den Rücken. »Ich hätte sichergehen sollen, daß er tot ist«, flüsterte sie. »Laß deine Feinde nie hinter dir zurück, solange sie noch einen Atemzug tun.« Mandrakor der Räuber hatte in Lacynos einflußreiche Freunde. Maque wußte, daß sie hier nicht
die Hand gegen ihn erheben konnte, während er ihr und der Perechon wahrscheinlich in aller Dreistigkeit antun konnte, was er wollte. »Wir müssen Lacynos bald verlassen«, flüsterte sie Lendle und Kof zu. »Mandrakors Feinde verschwinden oft spurlos, und es sieht so aus, als ob ich im Moment ganz oben auf seiner Liste stünde. Den Großmast hat er wahrscheinlich frühestens in einem Tag repariert. Ich will weit fort sein, ehe er auch nur ein einziges Segel setzen kann.« Der Gnom nickte und eilte hinter ihr her. Wieder gab er sich Mühe, mit ihren langen, schnellen Schritten mitzuhalten. Koraf warf einen letzten Blick auf den Hafen und auf Mandrakors verkrüppeltes Piratenschiff. Dann kam er rasch hinterher. Als die drei sich Lord Attats Haus näherten, bemerkte Maquesta, daß die Straßen wie ausgestorben waren. In großem Umkreis um den Palast war niemand unterwegs. Die Türen waren geschlossen, die Fensterläden zugeklappt. Es war fast, als ob die Nachbarn Unheil erwarteten. Maque biß die Zähne zusammen, ignorierte das nervöse Gefühl in ihrem Bauch und lief auf das Haupttor zu. Zwei bullige Minotauren versperrten ihr den Weg. »Ich möchte zu Lord Attat«, bellte sie. »Er erwartet mich.« Die Minotauren sahen sie finster an, doch sie hielt dem Blick stand. »Laßt mich jetzt ein!« schäumte sie, während ihre Hand zu ihrem Schwertknauf glitt. Noch immer rührten sich die beiden nicht. Wütend warf sie ihnen ein paar Worte in ihrer eigenen Sprache an den Kopf, Worte, die sie von Koraf gelernt hatte. Endlich verstanden die Wachen und nickten ihr zu. Sie
traten beiseite und gestatteten ihr, Koraf und dem Gnomen den Zutritt. Lendle stieß Maque an, als sie den Hof betraten, und zeigte auf die Minotauren, die sie beobachteten. Maquesta hatte noch nie so viele Minotauren auf einem Haufen gesehen. Es waren jetzt noch mehr als nach ihrem Ausbruch aus Attats Kerker. Alle waren bewaffnet, und sie beäugten Maquesta höchst aufmerksam. Daß Attat so viele Wachen für nötig hielt, um mit ihr fertigzuwerden, befriedigte Maque außerordentlich. Sie lief gezielt auf das Hauptgebäude zu, wo ihr die Türen geöffnet wurden, und behielt ihre Richtung bei – durch die Gänge mit dem Marmorboden, wo unzählige kostbare Kunstwerke an den Wänden hingen, am Wohnraum mit seinen wertvollen Saiteninstrumenten vorbei bis in die gewaltige Halle des Minotaurenlords. Attat saß auf seinem Thron unter der Ki-Rin-Haut an der Wand. Auf dem Schoß hielt er einen Käfig. Mit einem schmalen Stilett stocherte er im Inneren des Käfigs herum. Der Raum war so lang, daß Maquesta nichts Genaues erkennen konnte, nur daß das unglückselige Wesen im Käfig grau war – vielleicht ein Eichhörnchen oder eine große Ratte. Die zwei breitschultrigen Wachen zu beiden Seiten des Minotaurenlords traten näher an ihren Herrn heran. Als Maque näher kam, griffen sie zu ihren dicken, langen Speeren. Auch diesmal waren Attats Kreaturen an die Säulen gekettet – der große, weiße Bär, der wütend brummte, als Maquesta vorbeikam; der Greif und der Pferdegreif, die einander immer noch bedrohten, obwohl die Ketten um ihren Hals sie davon abhielten, einander zu berühren; dazu ein paar Tiere, die Maque vorher nicht gesehen hatte, darunter eine dicke, rötlichbraune Schlange mit goldenen
Punkten, die sich um ihre Säule gewickelt hatte. Maque schätzte sie auf mindestens zwanzig Fuß. Außerdem war da noch ein falkenköpfiger Mann mit dunkelgelben Klauen statt Füßen. »Ein Kenku«, flüsterte Lendle. »Ein höchst ungewöhnliches Wesen, das weder Elfen noch Menschen mag.« »Und Minotauren jetzt wohl auch nicht mehr, möchte ich wetten«, flüsterte Maquesta zurück. Als sie, Koraf und der Gnom weiterliefen, kamen weitere Säulen in Sicht. An eine war ein gelbhäutiger Menschenaffe mit großen rosafarbenen Augen gekettet. Als Maquesta ihn ansah, sprang der Affe zurück und gab damit den Blick frei auf zwei weitere Gefangene von Lord Attat. Maquesta erschauerte. An die hinterste Säule waren Fritzen und Vartan gekettet. Allem Anschein nach hatte man sie geschlagen. Der Halboger hob den Kopf, als Maque näher kam, und schenkte ihr ein mattes Lächeln. »Sei gegrüßt, Maquesta Kar-Thon«, dröhnte Attat. »Wir haben dich erwartet.« »Was habt Ihr Fritzen und Vartan angetan?« stieß sie hervor. Sie lief direkt zum Thronpodest, und die Wachen traten vor, um sicherzustellen, daß sie Attat nicht bedrohen würde. Aus der Nähe konnte Maque jetzt sehen, was sich in dem Käfig auf seinem Schoß befand. Es war ein winziger Elefant, der an den Stellen, wo der Minotaurus nach ihm gestochert hatte, tiefe Wunden aufwies. Nachdem Attat den Käfig unsanft auf den Boden gestellt hatte, stand er auf. Der Minotaurus war diesmal zwar weniger königlich gekleidet, trug aber immerhin eine kostspielige Robe, die einigermaßen zu dem tief purpurfarbenen Mantel paßte, der um seine Schultern gelegt war.
»Was ich ihnen angetan habe? Nun, ich habe sie natürlich bestraft. Sie haben dich nicht mitgebracht, sie haben BasOhn Koraf nicht mitgebracht und meinen Morkothen auch nicht.« Attat bedachte Maque mit einem kühlen Blick, in dem große Verachtung lag. »Wir hatten ausgemacht, daß du mir den Morkothen bringst. Zumindest hast du Koraf dabei. In ein paar Tagen findet ein Kampf statt, in dem ich ihn einsetzen will.« »Der Morkoth ist im Hafen, in dem Käfig, den Ihr uns gegeben habt«, schäumte Maquesta. »Ich habe keine Möglichkeit, ihn hierherzubringen. Ich habe keinen Wagen, und ich habe kein großes Wasserbecken, in dem ich ihn transportieren könnte.« »Das könnte man arrangieren«, erwiderte Attat und strich sich nachdenklich über das Kinn. »Es wird überhaupt nichts arrangiert, bevor ich meinen Vater zurück habe und er sein Gegengift bekommen hat. Und ich verlange, daß Fritz und Vartan sofort freigelassen werden.« Maques Stimme war laut und unnachgiebig. »Sando will ich auch. Ihr Vater erwartet sie auf der Perechon.« »Ach, deine kostbare Perechon. Meine Spione im Hafen berichten, daß dein Schiff ein halbes Wrack sei.« »Wo ist mein Vater, Lord Attat? Ich habe meinen Teil Eures grausigen Handels eingehalten.« Der Minotaurus machte eine Handbewegung, und eine der Wachen trat vom Podest zurück und stapfte zu einem verhängten Alkoven. Die Wache zog den schweren Stoff zurück und winkte Maque einladend zu. »Du kennst ja den Weg zu meinem Kerker, nicht wahr, Kapitän Kar-Thon?« Attats Augen verengten sich zu
schmalen Schlitzen. »Dein Vater ist da unten. Bring ihn doch bitte herauf, ja, Maquesta? Das Gegengift wartet schon auf ihn.« Der Minotaurenlord griff in die Falten seiner Robe und zog das Fläschchen mit der goldfarbenen Flüssigkeit heraus. »Wenn du unten bist, kannst du den Wachen mitteilen, daß sie Koraf schon einmal einsperren sollen. Bis du mit deinem Vater wieder zurück bist, werden deine Männer frei sein.« Der Minotaurenlord deutete auf eine seiner Wachen, die mit den Schlüsseln an ihrem Gürtel klimperte. Maquesta blickte zu dem Alkoven hinüber, dann sah sie Attat an. »Ich möchte den Minotaurus Bas-Ohn Koraf erwerben«, erklärte sie in geschäftsmäßigem Ton. »Er ist ein fähiger Seemann, und ich habe in meiner Mannschaft für ihn Verwendung.« »Oh, ich halte Bas-Ohn Koraf für unbezahlbar. Er ist mein bester Kämpfer, er ist unbesiegt, und er steht nicht zum Verkauf an. Zu keinem Preis.« Attat funkelte Koraf an und deutete auf den Alkoven. »Geh nach Hause, Sklave, und zwar schleunigst. Maquestas Vater hat nicht mehr lange zu leben.« Maque sah Koraf an, doch dessen Blick verriet keine Regung. Stoisch nickte er ihr zu und ging auf den Alkoven zu. Seine Hufe klapperten laut auf dem Marmorboden. Maquesta holte tief Luft und folgte ihm. Gemeinsam stiegen sie die lange, gewundene Steintreppe hinunter, die ins feuchtkalte Innere von Attats Palast führte. »Ich lasse nicht zu, daß man dich wieder einsperrt.« Maques Worte waren leise, denn sie wollte nicht, daß ein Wächter sie zufällig mit anhörte. »Es muß einen anderen Weg geben.«
»In dieser Stadt bin ich Lord Attats Eigentum«, erwiderte Koraf. »Du hast keine Wahl. Und anders bekommst du deinen Vater nicht wieder heil hier raus.« Als sie schließlich am Fuß der Treppe ankam, sah Maquesta die bekannte Halle mit den Zellen an der Seite. Zwei Wachen kamen auf sie zu, nickten und packten Koraf an je einem Arm. »Wir freuen uns, daß du wieder zu Hause bist«, höhnte einer von ihnen, während er Koraf zu seiner alten Zelle schob. Maque sah zu, wie ihr Erster Maat abgeführt wurde. Sie kochte vor Wut, und in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. »Nein!« kreischte sie, bevor die Wächter auch nur die Hälfte des feuchten Korridors hinter sich gebracht hatten. Sie zog ihr Kurzschwert und stürmte vor. Die Wachen fuhren herum, aber sie waren zu langsam. Maques Schwert drang tief in den Leib des einen Mannes. Stöhnend brach der Wächter zusammen und blieb zuckend auf dem Boden liegen. Maquesta zog ihr Schwert heraus und wandte sich zu dem zweiten Wächter um. Der ließ Koraf los und zog seine eigene Waffe, ein Schwert mit geschwungener Klinge, fast doppelt so groß wie Maques Waffe. Knurrend holte er zum Schlag aus, doch Maquesta schoß vor, schlitzte ihm den Bauch auf und sprang wieder zurück, noch ehe sein herabsausendes Schwert sie berühren konnte. Der Wächter warf einen ungläubigen Blick auf seinen Bauch und auf die rote Linie, die sich dort bildete, wo seine Lederrüstung aufgeschnitten worden war. Mit wütendem Gebrüll senkte er den Kopf und stürmte vorwärts, um seine Gegnerin aufzuspießen. Wieder sprang Maquesta weg und konnte gerade noch seinen Hörnern und dem Schwerthieb ausweichen. Sie tänzel-
te näher an Koraf heran und hielt das Schwert vor sich, mit dem sie den Wächter weiter reizte. »Mach das nicht«, warnte Koraf sie. »Attat wird uns beide töten, wenn die Wachen sterben.« »Ich bin sowieso des Todes«, keuchte sie. »Warum hilfst du mir nicht?« Maquesta sprang rückwärts auf die Folterkammer des Kerkers zu und duckte sich dann, um dem nächsten Angriff der Wache zu begegnen. Als der Minotaurus näher kam, stieß sie ihre Klinge hoch und trieb sie ihm durch seine Rüstung tief in das darunterliegende Fleisch. Sie biß die Zähne zusammen und zog die Klinge zurück. Dann ließ sie sich fallen und rollte weg. Der Wächter war schwer verwundet, verfolgte sie jedoch weiter. Aus dem Augenwinkel sah sie, daß die erste Wache allmählich wieder hochkam. »Kof!« brüllte sie. »Laß ihn nicht entkommen!« Sie sah, wie Koraf vorwärts glitt und dem liegenden Minotaurus den Huf an den Hinterkopf rammte. Mit einem ekelerregenden Knirschen brach der Schädel des Wächters entzwei. Aufgrund der kurzen Ablenkung war Maquesta auf den nächsten Angriff ihres Gegners nicht vorbereitet. Mit erhobenem Schwert stürmte der Minotaurus heran und schlug in hohem Bogen zu, als wäre Maque eine Fliege, die es zu zerquetschen galt. Obwohl sie auszuweichen versuchte, streifte die Klinge ihre Schulter. Maque wich an die Mauer zurück und warf einen Blick auf ihren Arm. Es war kein tiefer Schnitt, aber das Blut floß reichlich und durchtränkte bereits den Ärmel ihrer Tunika. Grimmig sah sie zu der Wache auf. Die machte einen Schritt nach vorn und hob wieder ihre Waffe. Jetzt konnte Maquesta nirgendwohin
mehr ausweichen, und die Reichweite ihres Gegners war größer als ihre. Sie duckte sich, wartete auf seinen nächsten Schritt, dann riß sie verblüfft den Mund auf, als der Minotaurus plötzlich in die Knie ging und vornüberkippte, so daß sein Kopf laut auf den harten Steinen aufschlug. Aus seinem Rücken ragte die Waffe des anderen Wächters heraus. »Kof?« »Ich konnte nicht zulassen, daß du stirbst«, sagte er, »obwohl jetzt noch mehr Minotaurenblut an meinen Händen klebt.« Maquesta kniete nieder und riß ein Stück vom Mantel der Wache ab, das sie sich fest um den Oberarm wickelte, um die Blutung zu stillen. »Hilf mir, meinen Vater zu suchen«, drängte sie. »Und was dann?« gab Koraf zu bedenken. »Wir haben die Wachen getötet. Lord Attat wird das erfahren, und er wird uns beide zu Tode foltern lassen.« »Du kannst einen wirklich aufmuntern«, sagte sie ironisch, während sie ihr Schwert säuberte und einsteckte. Sie strich ihre Tunika glatt und verschob ihre Schärpe, um einen Blutfleck zu verdecken. »Attat dachte, ich würde ihm einfach gehorchen und dich einsperren lassen. Er hat nicht miteinbezogen, daß die Fahrt uns jetzt schon zuviel gekostet hat. Für diesen Minotaurenlord bringen wir keine Opfer mehr.« Maquesta eilte von einer Zellentür zur nächsten, bis sie schließlich die kleine Kammer fand, in der ihr Vater lag. »Die Schlüssel! Schnell!« Während sie durch die vergitterte Tür blickte, hielt sie die Hand hinter ihrem Rücken und bewegte ungeduldig ihre Finger. Koraf nahm der einen to-
ten Wache einen Schlüsselring ab und legte ihn Maquesta in die Hand. Maque mußte zahlreiche Schlüssel durchprobieren, ehe sie den einen fand, der paßte. Leise rief sie nach ihrem Vater, bekam aber keine Antwort. Nachdem sie die Tür aufgerissen hatte, stürzte sie hinein und kniete sich neben ihn. »Vater?« Melas’ Gesicht war schiefergrau und völlig ausgezehrt. Seine Brust hob und senkte sich kaum merklich, und jeder Atemzug erzeugte ein leises, pfeifendes Geräusch. Maque nahm seine Hand und bemerkte, wie knochig sie war, und wie kalt und klamm er sich anfühlte. Tränen stürzten aus ihren Augen, und sie schluchzte so heftig, daß sie kaum hörte, wie Kof hinter ihr die Zelle betrat. »Vater?« wiederholte sie. Seine Augen flatterten auf, und er starrte sie fragend an. »Ich bin es… Maquesta«, sagte sie leise. »Ich komme, um dich zu holen.« Er verzog die aufgesprungenen Lippen zu einem schwachen Lächeln. »Maque?« wisperte er rauh. Sie nickte, beugte sich vor und küßte ihn auf die Wange. »Ich hole dich hier raus.« Sie stand auf, atmete ein paarmal tief durch, dann griff sie mit den Armen unter seine Knie und Schultern. Leicht gebückt hob sie ihn hoch und drehte sich zu Kof um. Sie schob ihren Vater zurecht, bis sein Kopf an ihrer verwundeten Schulter lag und das Blut auf ihrer Tunika verdeckte. »Siehst du? Attat wird nicht erfahren, was hier unten geschehen ist«, sagte sie zufrieden, während sie auf die Tür zuging. Unter Melas’ Gewicht waren ihre Schritte langsamer als zuvor. »Folge mir die Treppe hoch – sobald du alle
anderen Gefangenen befreit hast, die er hier unten haben mag. Dann bleibt ihr hinter dem Vorhang. Ich hole uns alle hier raus.« Der Minotaurus sah sie an und runzelte verwirrt die stierähnliche Stirn. »Laß mich ihn wenigstens die Treppe hochtragen«, bot er ihr an. Maquesta schüttelte den Kopf. »Es ist nicht mehr viel von ihm übrig, Kof. Er ist gar nicht so schwer. Außerdem muß ich erschöpft aussehen, wenn ich in Attats Audienzsaal ankomme. Wenn du ihn trägst, habe ich keinen Grund, so müde auszusehen. Ich will nicht, daß Attat Verdacht schöpft.« Der Minotaurus nickte und nahm den Schlüsselring wieder an sich. Maquesta hörte, wie er die Zellentüren öffnete, während sie ihren langen Aufstieg begann. Als sie den Vorhang zur Seite schob, sah sie, daß Fritzen und Vartan immer noch an die Säule gekettet waren. Lendle stand neben ihnen. Sie warf Attat einen wütenden Blick zu und betrat den Saal. Der Minotaurenlord hielt das Fläschchen hoch. »Das Gegengift«, sagte er, während er seine dicken Finger über das glatte Glas gleiten ließ. Er neigte das Fläschchen so, daß die Flüssigkeit das Fackellicht reflektierte. Maquesta machte noch einen Schritt nach vorn und sah voller Entsetzen zu, wie er das Fläschchen plötzlich über seinen Kopf hob und dann auf dem Boden zerschellen ließ, so daß die goldene Flüssigkeit in den Ritzen zwischen den Marmorfliesen verschwand. »Närrin!« blies Attat sich auf. »Ich hatte nie die Absicht, deinen Vater am Leben zu lassen. Oder dich! Ihr wart nur Werkzeuge, um meinen Morkothen zu fangen. Wachen!«
Der Minotaurenlord klatschte in die Hände, und die zwei Wachen an seiner Seite sprangen die Stufen des Podestes hinunter und rannten auf Maque zu. »Nein!« schrie sie. Sie legte ihren Vater auf den Boden und hechtete über ihn hinweg, wodurch sie knapp den Speerstößen entging. Nachdem sie wieder auf den Füßen stand und herumgewirbelt war, sah sie, wie die Wachen wieder auf sie zukamen. Voller Wut erkannte sie, daß sie nur eine einzige Chance hatte, und flitzte unter den anfeuernden Rufen von Fritzen und Vartan auf die beiden zu. Sie entriß der einen Wache den Speer, fiel dabei aber rückwärts zu Boden. Ohne aufzustehen, wirbelte sie den Speer herum, wie sie es bei Ilyatha mit seinem Stab gesehen hatte, und spießte den Wächter auf, von dem sie die Waffe erbeutet hatte. Er stürzte auf den Speer, wurde von seinem eigenen Gewicht noch weiter gegen den Schaft gedrückt, und Maque ließ die Waffe fallen und rollte sich zur Seite, um dem fallenden Körper und der anderen anstürmenden Wache zu entkommen. Lendle eilte herbei. Auch er hatte sein kleines Schwert gezogen. Er schwenkte es gegen die verbliebene Wache und schoß vor, um auf deren Beine einzuschlagen. Der Minotaurus wich zum Podest zurück. »Wachen!« rief Attat wieder. Maquesta wußte, daß er nach denen rief, die vor dem Saal standen, und sie wußte auch, daß sie schnell handeln mußte. Sie hastete die Stufen zum Podest hinauf, schlüpfte an der Wache vorbei und rammte Attat, der rückwärts fiel und dabei seinen schweren Thron zu Fall brachte. Der Stuhl zersplitterte mit einem ohrenbetäubenden Krachen,
und Maque brauchte eine Weile, um zu erkennen, daß es auf einmal nicht mehr der zerbrochene Stuhl war, der den Lärm verursachte. Bas-Ohn Koraf war eingetroffen. Er schwang das Krummschwert einer der gefallenen Wachen. Brüllend stürzte er in den Saal und hielt direkt auf den Minotaurus zu, der Maquesta angriff. Die Wache blieb für den Bruchteil eines Augenblicks stehen, gerade lange genug für Koraf. Dieser veränderte seinen Griff um das Schwert und hob die Waffe über seine Schulter. Im nächsten Augenblick schleuderte er sie wie einen Wurfspeer durch die Luft. Der Wurf war gut gezielt und durchbohrte den Hals des überraschten Minotaurus. Der Wächter war tot, noch bevor er auf dem Boden aufkam. Koraf stürmte vor, hob den heruntergefallenen Speer auf und warf ihn Maquesta zu. Sie fing ihn genau in dem Augenblick auf, als Attat aufzustehen versuchte und die Tür zum Saal aufflog. Ein halbes Dutzend Minotaurenwachen strömte herein. Blitzschnell stieß Maque Attat den Speer in die Rippen. »Sagt ihnen, sie sollen zurückbleiben!« fauchte sie. »Sagt es ihnen!« Der Minotaurenlord sah sie finster an, und seine Wachen drängten weiter, wenn auch etwas zögerlicher als zuvor. Einer knurrte laut und machte einen Schritt auf das Podest zu. »Ich bringe Euch um! Das schwöre ich!« rief Maquesta. »Ihr habt meinen Vater zum Tode verurteilt, und Ihr habt gesagt, daß Ihr auch mich töten wollt. Was also habe ich zu verlieren, Lord Attat? Jetzt sagt ihnen, daß sie die Waffen niederlegen sollen, sonst durchbohre ich Euch!« Der Minotaurenlord nickte langsam. Seine Augen glüh-
ten vor unverhohlenem Haß. »Eure Waffen«, befahl er. »Legt sie auf den Boden und tretet zurück. Tut, was ich sage!« Die Wachen gehorchten, und Koraf und Lendle eilten vor, hoben einen Haufen Speere, Krummsäbel, Äxte und Messer auf, die sie neben Fritzen und Vartan ablegten. Koraf lief zu den beiden toten Wachen und drehte sie auf den Rücken. Bei der einen fand er einen Schlüsselbund am Gürtel, mit dem er auf die gefangenen Matrosen zulief. »Ihr müßt doch noch mehr von dem Gegengift haben«, schäumte Maquesta. »Wo ist es?« Attat lachte so laut, daß seine Stimme von den Saalwänden widerhallte, während er sich mühsam aufrichtete. »Es gibt kein Gegengift mehr, Maquesta«, zischte er. »Und selbst wenn es noch welches gäbe, wäre dein Vater ohnehin schon zu schwach dafür. Es würde nicht mehr helfen. Er hat seine Kraft zu rasch verloren und hätte das Gegengift schon vor Tagen gebraucht, um zu überleben.« Maquesta wußte, daß seine Worte der Wahrheit entsprachen, und sie unterdrückte ein Schluchzen. »Wir beide verlassen diesen Ort«, erklärte sie, und biß die Zähne zusammen. »Wir gehen zur Perechon. Ihr seid mein Gefangener.« Der Minotaurenlord lachte wieder. »Du willst mich entführen? In dieser Stadt bin ich ein mächtiger Mann. Wenn du mich entführst, ist das dein Untergang.« Sie stieß ihn mit dem Speer an, bis er umständlich auf die Beine kam, dann lenkte sie ihn die Stufen des Podests hinunter und nickte Fritzen und Vartan zu, die endlich von ihren Ketten befreit waren. Der Halboger sah die Waffensammlung durch und wählte eines der gebogenen Schwerter, das er in seinen Gürtel steckte. Vartan nahm sich eine
Axt und schwenkte sie nach den Wachen, die abwehrend die Hände ausstreckten. Danach sprang Fritzen die Stufen zum Podest hoch und riß eine Kordel herunter, mit der einer der schweren Vorhänge zurückgebunden war. Der Halboger packte Attats Arme, verdrehte sie dem Minotaurus auf den breiten Rücken und schlang die Schnur mehrere Male um Attats behaarte Handgelenke. Nachdem er aufgeblickt und zufrieden festgestellt hatte, daß die Minotauren in sicherer Entfernung blieben, ging Fritzen zu Melas, kniete sich hin und hob ihn auf. Der Anblick des ausgemergelten Mannes erschütterte den Halboger, und er nickte voller Mitgefühl Maquesta zu, die entsetzlich leiden mußte. »Kof, sieh nach, ob einer der Schlüssel Sando aus dem Garten befreien kann!« sagte Maque. »Sie ist in einer kleinen Höhle bei einer Zentaurenstatue gefangen.« Kof verließ den Saal. Maquesta und der Minotaurenlord gingen zwischen den Säulen auf die Tür zu. Fritzen und Vartan folgten dichtauf. Lendle sputete sich, sie einzuholen; er hielt den Käfig mit dem winzigen Elefanten in der linken Hand. Bis sie die letzten Säulen erreicht hatten, war Koraf bereits zurück. Das kleine Schattenmädchen trug er in den Armen. »Sie ist blind«, sagte Koraf schlicht. »Es ist einfacher, wenn ich sie trage.« Maquesta nickte zur Tür und stieß Attat den schweren Speer in die Seite. In diesem Augenblick stürmte eine der Minotaurenwachen vor. Vartan hörte die Hufe über den Marmor klappern und fuhr herum. Die Wache war zwar unbewaffnet, doch sie hatte den Kopf gesenkt und griff an
wie ein wütender Stier. Vartan holte mit seiner Axt aus, stürzte vor, traf die Wache in den Arm und ließ sie herumfahren. Der Minotaurus schlitterte über den glatten Boden nach hinten – und in die Reichweite des angeketteten Greifen. Der Riesenvogel richtete sich auf seinen Hinterläufen auf, breitete seine adlergleichen Schwingen weit aus und ergriff mit seinen rasiermesserscharfen Klauen die Schultern der Wache. Dann bohrte der Greif seinen Schnabel in den Hals der Wache, und der Minotaurus stieß einen entsetzlichen Schrei aus. Der Anblick ihres sterbenden Genossen reichte aus, um die anderen Wachen von weiteren Befreiungsversuchen abzuhalten. Maquesta stieß Attat wieder an, aber diesmal ließ sie die Speerspitze in seine Seite dringen, bis Blut kam. »Macht die Türen auf!« befahl Attat. Als sie hinaustraten, fügte er hinzu: »Du wirst meinen Palast nicht lebend verlassen, Kapitän Kar-Thon. Ich habe viele Wachen im Hof. Die werden euch nicht so leicht davonkommen lassen.« Maquesta führte ihr kleines Gefolge durch die langen Gänge des Hauses in den umfriedeten Hof dahinter. Schnell deckte Koraf Sando mit ihrem Umhang zu, damit das helle Licht sie nicht noch mehr verletzte. »SiehnurMaquestaKarThon!« sprudelte es aus dem glücklichen Lendle hervor. Ein erfreulicher Anblick bot sich in der Tat ihren Augen, und ein breites Lächeln huschte über Maquestas Gesicht. Zwischen den beschnittenen Bäumen und Büschen waren magische Netze verstreut – in denen Attats Wachen gefangensaßen. In der Mitte des Hofes planschte in einem Springbrunnen fröhlich die Meerelfe, deren mittlerweile
saubere Kleider an einem steinernen Minotaurus hingen, aus dessen Mund Wasser spritzte. »Ich habe mich schon gewundert, wann ihr endlich kommt«, sagte Tailonna und duckte sich ins Wasser, bis man nur noch ihr Gesicht sah. »Ich hoffe, der Lord hat nichts dagegen, daß ich seinen Springbrunnen benutze. Das Wirtshaus, in dem ich einkehren wollte, wollte keine Meerelfe bedienen. Und ich brauchte wirklich ein Bad.« Sie zwinkerte Maque zu, dann wurde ihre Stimme ernst. »Meine Netze halten noch zwanzig bis dreißig Minuten, deshalb wäre es klug, schleunigst auf die Perechon zurückzukehren.« Maquesta nickte und stieß Attat wieder vorwärts. »Kommst du nicht mit?« rief sie der Meerelfe über die Schulter zu. »Ich komme, sobald ihr alle hier weg seid und ich mich ankleiden kann.«Etwa ein Dutzend zerlumpter Menschen, lauter Gefangene aus Attats Kerker, folgten Maquesta und ihren Leuten. Sie schlurften mühsam mit und unterhielten sich über belanglose Dinge. Koraf erklärte Maque, er wüßte nicht, welcher Verbrechen sie sich schuldig gemacht hätten, aber all das konnte man später noch klären. Was die Gefangenen gemeinsam hatten, war der brennende Wunsch, Lacynos zu verlassen, und alle waren bereit, im Tausch für eine Überfahrt auf der Perechon zu arbeiten. Ein paar von ihnen schienen erfahrene Krieger zu sein, denn der Minotaurus hatte sie im Ring kämpfen lassen, und sie hatten überlebt. Vorbeieilende Minotauren und Menschen, Ladeninhaber, fliegende Händler und Matrosen gleichermaßen starrten die seltsame Parade an. Maquestas Gruppe kam an zwei
Minotauren vorbei, die Anstalten machten, den Kapitän der Perechon zu ergreifen – bis Maque Attat anstieß und er die Wachen anwies, sie in Ruhe zu lassen. Daß der Minotaurenlord so gehorsam war, erweckte Maques Argwohn, und sie stieß ihn wieder, damit er schneller lief. Auf halben Wege zum Hafen wies Maquesta Fritzen und Lendle an, die Führung zu übernehmen. Die Straßen waren hier belebter, und sie wollte jemanden vor sich wissen, damit der Minotaurenlord nicht einfach davonlief. Vartan trat rechts neben sie, und Koraf, der Sando trug, auf die linke Seite. Attat war umringt. Der Halboger, der immer noch Maques Vater in den Armen hielt, geleitete den Zug die Hauptstraße hinunter und zum Kai, wo das Beiboot der Perechon vertäut war. Maquesta wies die befreiten Gefangenen an, am Ufer zu warten. Das Beiboot würde mehr als einmal hin und her fahren müssen, bis alle an Bord der Perechon waren. Lendle wartete mit den anderen am Kai und wiegte dabei seinen Elefanten, während Fritzen sich mit dem Rest der Gruppe dem Beiboot näherte. Es lag neben einem zweiten, festgezurrten Beiboot, in dem vier Minotauren saßen. Da warf Lord Attat den Kopf zurück. »Helft mir!« brüllte er den Minotauren zu. »Man will mich entführen!« Maquesta fluchte, als die vier Minotaurenmatrosen ihre Entermesser zogen und auf den Kai kletterten. Ihre Hufe hämmerten über die Planken des Anlegestegs, als sie sich näherten. Vartan lief an Fritzen vorbei und zog sein kleines Schwert. Der Halboger wich zurück und wollte sich mit Melas zurückziehen. »Bring ihn ans Ufer!« rief Maque Fritzen zu. Attat spannte die Muskeln an und kämpfte mit der Kor-
del die seine Hände umschlang. Maquesta stieß ihm den Speer fest in die Seite. »Sagt ihnen, sie sollen stehenbleiben, Lord Attat«, fauchte sie, »oder ich bringe Euch augenblicklich um und werfe Euren Leib in die Hörnerbucht.« Attat knurrte – und zerriß plötzlich seine Fesseln. Sein Bein schoß nach hinten, so daß der scharfe Huf sich in Maquestas Wade bohrte. Maque taumelte und hätte fast den gewaltigen Speer fallen lassen. Doch sie biß die Zähne zusammen, balancierte die Waffe wieder aus und stieß wieder nach Attat. Der Minotaurenlord drehte sich blitzschnell herum, so daß die Speerspitze nur in seiner purpurfarbenen Robe hängenblieb. Grinsend warf er sich nach vorn, um Maque den Speer aus den Händen zu schlagen, konnte sie aber nur aus dem Gleichgewicht bringen. Maquesta fiel auf die Knie, ohne den Speer loszulassen. Sie riß die Augen auf, als sie sah, wie Attat an ihr vorbeilief und auf Fritzen zurannte, der ihren Vater ans Ufer trug. »Fritzen! Paß auf!« rief sie. Der Halboger fuhr herum, dann trat er geschickt zur Seite, um dem angreifenden Attat auszuweichen. Erst da erkannte Maquesta, daß der Minotaurus gar nicht vorgehabt hatte, Fritzen anzugreifen, sondern an ihm vorbeiwollte. Seine Hufe dröhnten über die Planken des Anlegestegs, dann war er mit einem Satz an Land. Mit Hilfe des Speers rappelte Maque sich hoch und wollte ihm folgen. Doch das Schwerterklirren hinter ihr ließ sie innehalten. Sie drehte sich um und sah Vartan gegen die Minotaurenmatrosen kämpfen. Koraf legte Sando vorsichtig auf den Steg und zückte seine gekrümmte Klinge. Da der Kai nicht sehr breit war, konnten nur zwei der
Matrosen Vartan erreichen. Die anderen standen hinter ihren Kameraden und feuerten diese an. Vartan schwang seine geliehene Axt durch die Luft und versenkte ihre scharfe Schneide in der Brust des einen Angreifers. Der verwundete Minotaurus brüllte auf und wich zurück. Vartan drängte vorwärts und folgte ihm den Kai hinunter, was zwei Minotauren gestattete, aufzuschließen, und dem dritten, hinter ihn zu treten. Er war umzingelt. Maquesta eilte vor, nur einen Schritt hinter Koraf. Vartan schrie auf, als einer der Minotauren ihm das Messer tief in den Oberschenkel stieß. Ein zweiter Minotaurus hob sein Messer hoch über den Kopf, um den Seemann zu fällen. Aber Koraf war schneller. Er stieß den verwundeten Vartan aus dem Weg, riß sein eigenes Schwert hoch und parierte den Schlag. Maque stach ihren Speer tief in den Bauch des dritten Minotauren. Der Minotaurus brach zusammen, und Maquesta mußte fest ziehen, um ihre Waffe herauszubekommen. Zur selben Zeit schwang Koraf sein Schwert, traf die Hand seines Angreifers und ließ dessen Entermesser zu dem Unrat im Hafen segeln. »Ergebt euch!« befahl Koraf den Minotauren in ihrer eigenen Sprache. Die Seeleute gehorchten rasch und zerrten ihre verwundeten Kameraden ins Beiboot. »WirhabenihnMaquestaKarThon!« rief Lendle. Er trippelte mit seinen kleinen Füßen über den Kai. »Wirhabenihn!« Maque drehte sich um. Lord Attat war von seinen ehemaligen Gefangenen umringt. Sie behandelten ihn nicht allzu freundlich und drängten ihn auf den Kai zurück. Hin-
ter ihnen erschien Tailonna. Sie winkte Maquesta zu und zeigte auf das Beiboot. »Meine Netze verlieren bald ihre Wirkung!« rief sie. Maque nickte. Sie eilte zu der Stelle, wo Sando lag, allein und verwirrt. Als sie das verängstigte Kind aufhob, merkte sie, wie Sandos Geist den ihren berührte. Es wird alles gut, vermittelte Maquesta. Wir bringen dich zu deinem Vater. Er ist auf der Perechon. Er hat mir gesagt, du würdest mich beschützen, erwiderte Sando in Gedanken. Er wartet auf uns. Maquesta sah an den Matrosen vorbei zu Fritzen, der noch an Land war. Der Halboger hob vorsichtig Melas auf und lief über den Kai auf Maque zu. Lendle sprang in das Beiboot, streckte dann den Arm aus und griff nach dem Elefantenkäfig, den er neben sich stellte. Vorsichtig reichte Maque dem Gnomen das Schattenmädchen hinüber. Weil die Sonne bereits sank, nahmen Sandos Kräfte zu. Sie saß rechts neben dem Gnomen und wartete, bis die anderen sich ihnen anschlossen. Maquesta, Attat, Vartan und Fritzen füllten bei der ersten Fahrt des Beiboots die vorhandenen Plätze aus. Sobald sie an Bord der Perechon waren, umstellte die Mannschaft den Minotaurenlord, und Ilyatha eilte vor, um seine Tochter zu umarmen und an sich zu drücken. Fritzen legte Melas sanft auf das Deck, und Maquesta setzte sich neben ihn. Mühevoll öffnete er die dunklen Augen, und er hustete und wimmerte vor Schmerz. »Denk an den Leitspruch meines Lebens, Maquesta«, flüsterte Melas. »Vertraue niemandem.« Sein Mund öffnete sich erneut, und sie beugte sich näher zu ihm, damit sie ihn verstehen konnte. »Paß gut auf die Perechon auf, Kapitän
Kar-Thon.« Dann tat Melas seinen letzten Atemzug, und Maque schluchzte, ohne sich darum zu kümmern, ob es jemand sah. Fritzen legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. »Wir bestatten ihn auf See«, sagte er leise. Sie nickte und ließ sich von Fritzen auf die Beine helfen. Ein Seemann lief mit einem Stück Segeltuch an ihr vorbei. Hinter ihr kehrte das Beiboot gerade von seiner zweiten Fahrt zum Kai zurück. Als Tailonna, Koraf und eine Gruppe ehemaliger Gefangener die Strickleiter emporklettern wollten, wurde die Perechon plötzlich in helles Licht getaucht. Mit einem Wutschrei tauchte Beiwar über dem Großmast des Schiffes am Himmel auf. Er stieß auf das Deck hinunter, und die Matrosen, die Attat umstanden, flohen voller Panik, so daß ihr Gefangener ein leichtes Ziel bot. »Du hast meinen Bruder ermordet!« schrie Beiwar. »Jetzt werde ich dich dafür töten!« Das Horn des Ki-Rin bohrte sich in Attats Schulter, und sofort war der Körper des Minotaurus von einem blaßgoldenen, knisternden Licht überzogen. Beiwar schüttelte Attat ab und ließ dessen zuckende Gestalt auf das Deck fallen, dann setzte er ihm seine Vorderhufe auf die Brust und sah ihm in die dunklen Augen. Der Minotaurenlord flehte wimmernd um sein Leben. Beiwar ignorierte sein armseliges Bitten. »Du bist Teil des Bösen, das sich über das Blutmeer ausbreitet. Dein bejammernswertes Leben zu beenden dient der Gerechtigkeit und der Rache.« Beiwar schüttelte seine Mähne und sah die Mitglieder
der Mannschaft an. »Ihr da!« rief er Koraf und Fritzen zu. »Zieht den Käfig des Morkothen hoch.« Maquesta sah zu, wie Kof mit der Hilfe des Halbogers gehorchte, den Stahlkäfig heraufzog und den Riegel aufbrach. Als Koraf den Käfig langsam von oben öffnete, machte Beiwar den Mund auf und packte den Minotaurenlord an seiner Tunika. Er zerrte den protestierenden Lord über das Deck und warf ihn schließlich in den Käfig. »Soll Lord Attat doch seine kostbare Beute bekommen«, raunte der Ki-Rin. Er nickte Koraf zu, und der Minotaurus schloß den Käfigdeckel. Mit seinem Horn berührte der KiRin den Mechanismus, der den Käfig mit der Perechon verband, und die Metallklammer brach auseinander. Der Käfig sank auf den Hafengrund, und das Wasser um das Schiff herum färbte sich augenblicklich rot – der Beweis für das Ende des Minotaurenlords von Lacynos. Zufrieden erhob sich Beiwar langsam über das Deck und schwebte auf Maquesta zu. »Der Tod deines Vaters tut mir leid«, sagte der Ki-Rin. »Nicht einmal ich hätte noch etwas tun können, um ihn zu retten. Aber sei gewiß, daß seine Seele an einem friedlicheren Ort weilt, und daß er ein endloses, schönes Meer besegelt.« Das Horn des Ki-Rin schimmerte, und das Wesen stieg höher auf. »Ich werde auf den Morkothen achtgeben und sicherstellen, daß er in Lacynos keine Unschuldigen tötet. Und von Zeit zu Zeit werde ich über dir wachen, Maquesta Kar-Thon.« Ein weiterer Blitz erhellte den dunkler werdenden Nachthimmel, dann war der Ki-Rin verschwunden. Maquesta sah sich an Deck um. Ilyatha drückte immer noch Sando an sich. Er hatte beide Arme um das zierliche Schattenmädchen geschlungen. Maque beabsichtigte, die
beiden auf der anderen Seite von Mithas abzusetzen. Von dort aus konnten sie ganz leicht nach Hause gelangen. Tailonna half den letzten von Attats ehemaligen Gefangenen über die Reling. Maquesta fragte sich, wie viele von ihnen wohl auf dem Schiff bleiben würden. Sie brauchte mehr Matrosen, und sie hatte Edelsteine, mit denen sie der Mannschaft ihre Heuer bezahlen konnte. Ein paar von den Edelsteinen sollten auch dazu dienen, neue Masten und jede Menge Werkzeug und Teile für den Gnomen zu kaufen. Vartan überwachte einen Teil der Mannschaft beim Setzen der Segel am Großmast. Eine zweite Gruppe Matrosen zündete Laternen an und hängte sie auf dem Achterdeck und am Bug auf. Von irgendwo im Unterdeck her hörte Maque ein ohrenbetäubendes Prusten und Stöhnen. Lendle hatte seine Rudermaschine angeworfen. Maquesta fühlte, wie ein Ruck durch das Schiff ging, und blickte über die Seite, wo die Riemen bereits in Bewegung waren. Eine Rauchwolke drang aus dem Laderaum nach oben. Die Perechon war wieder unterwegs! Fritzen tauchte hinter Maquesta auf und nahm sie fest in die Arme. »Du schaffst das schon«, sagte er zu ihr. Sie nickte und warf einen Blick auf das Segeltuch, das die Leiche ihres Vaters bedeckte. »Ich weiß. Aber es wird eine Weile dauern.« »Irgendwelche Befehle, Kapitän?« rief Koraf. Der Minotaurus hatte sich zum Achterdeck aufgemacht und sich hinter das Ruder gestellt. »Bring uns aus dem Hafen, Kof«, sagte Maquesta. Ihre Stimme klang nun wieder ein wenig entschlossener. »Ich
will, daß wir so weit von Lacynos verschwinden, wie Wind und Wellen uns tragen können.«